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If you are not located in the United States, you -will have to check the laws of the country where you are located before -using this eBook. - -Title: Der Volksbeglücker - -Author: Rudolf Haas - -Release Date: March 13, 2022 [eBook #67619] - -Language: German - -Produced by: The Online Distributed Proofreading Team at - https://www.pgdp.net - -*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER VOLKSBEGLÜCKER *** - - - Rudolf Haas - - Der Volksbeglücker - - - - - Der Volksbeglücker - - Von - - Rudolf Haas - - - - - Drittes bis zehntes Tausend - - L. Staackmann, Verlag, Leipzig - 1920 - - - - -Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten - -Copyright 1910 by Axel Juncker in Berlin-Charlottenburg - - - - -Druck von C. Grumbach in Leipzig - - - - - Dem Prager Dichter - - Friedrich Adler, - - meinem langjährigen Freunde, - dankbar zu eigen. - - - - -Erstes Buch - - -1. - -Das niedrige Bergland, das Westböhmen von Bayern scheidet, ist eine -liebe, warme Erikagegend, die im Sommer schamhaft errötet, wenn sie -sich hüllenlos in ihrer unberührten jungfräulichen Schönheit dem -glücklichen Entdecker nach langem Sträuben endlich preisgeben muß. - -Und er entdeckte und liebte diese frische, keusche Art, der hager -aufgeschossene Junge, der jeden Nachmittag, wenn die Mittelschüler, -vom Unterricht erlöst, den sechstausend Insassen von Neuberg die Ohren -voll lärmten, durch die winkeligen Kleinstadtgassen in den lachenden -Sommer hinauslief, immer denselben Weg, den Hügel hinauf und am Kamm -fort auf schmalen Feldrainen, wo der wilde Quendel blühte und die -blauen Glockenblumen, bis er endlich mitten darin war in der roten -Erika. Stundenlang konnte er dann dort oben liegen, versunken in dem -leuchtenden, bienendurchsummten Teppich, und in die helle, silbern -flimmernde Luft blicken. Soweit er schaute, war nichts als der klare -endlose Luftraum, und nur ganz nahe, dicht vor ihm, standen die -verästelten Blütenbüschel rosenrot vor dem blauen Hintergrund. - -Die sonnenweite Unendlichkeit des Sommers war um ihn, und er fühlte -sich wie losgelöst von allem, was mit ihm und neben ihm lebte. Und in -seiner Seele erwachten die uralten Fragen nach dem Woher und Warum, -sein achtzehnjähriges Jünglingsgemüt fragte nach dem Zweck dessen, was -nie einen Zweck hatte, suchte Regel und Plan in dem, was planlos und -regellos entstanden war, wollte einheitliche schöpferische Ordnung in -dem Wirrwarr finden, der sich unbewußt gebildet hatte, wie er sich -bilden mußte nach den starren, toten Gesetzen von Urbeginn. Und gegen -den Kindersinn, der blindlings glaubt und mit ganzer Seele etwas -glaubend fassen will, drang der reifende Verstand des Jünglings an, der -Tatsachen und Beweise für den Glauben forderte. Es ist das ein schwerer -Kampf, der meist in stillen Nächten und verschwiegener Einsamkeit -durchgefochten, langsam heilende Wunden und dauernde Narben zurückläßt. -Glücklich, wer in diesen Tagen einen verständnisvollen Vater zur Seite -hat, der ihn unmerklich und dennoch sicher aus dem Wirrsal leitet. - -Fritz Hellwig hatte solches Glück nicht. Sein Vater, ein -Volksschullehrer, war schon vor vielen Jahren gestorben, und unter -der ziellosen Leitung einer überzärtlichen Mutter, die den einzigen -Sohn beständig mit dem lauen Badewasser einer weichlichen Liebe -umplätscherte, wuchs er zum verschlossenen Träumer heran. Während -seine Altersgenossen Trapper und Indianer spielten, den Tomahawk -schwangen und an ihren Lagerfeuern gestohlene Erdäpfel brieten, lag er -im Heidekraut oder saß er in einer dämmrigen Zimmerecke und füllte die -Stube mit Traumgestalten, mit Feen, Zwergen und blonden Königstöchtern. -Deswegen litt er auch mehr als sonst einer darunter, als von der -flimmernden Märchenpracht Stück für Stück der trügerische Flitter -abfiel und der nüchternen, trostlos grauen Wirklichkeit Platz machen -mußte. Und als er mit den zunehmenden Jahren nicht mehr im unklaren -über seine Entstehung bleiben konnte und als er aus den unreif-rohen -Zoten der Mitschüler den Sachverhalt zu ahnen begann, kam ihm das wie -eine Entweihung seiner Mutter vor. Er schloß sich noch ängstlicher ab -und haderte mit der Welt und grollte seiner Mutter, weil sie ihm Lügen -vorgesagt, deren Verlust jetzt so weh tat. Aber mit niemandem sprach -er darüber, hatte keinen Vertrauten und war zu stolz und zu scheu, um -einen Menschen in seine Seele blicken zu lassen. Deswegen hielten ihn -viele für eigensinnig oder hochmütig. Die weinerliche Lehrerswitwe -aber, für die es seit dem frühen Tode ihres Mannes im Leben keine -ungetrübte Freude mehr gab, konnte nur zanken oder seufzend den Kopf -in die ausgearbeitete Küchenhand stützen, und ließ im übrigen ihren -dickschädeligen Jungen unbedingt gewähren. - -Auch damals, als er ihr kurz eröffnete, daß er an den Sonntagen nicht -mehr in den Gottesdienst gehen werde. Erst schlug sie zwar die Hände -zusammen und wollte den Grund wissen und was Pater Romanus dazu sagen -werde. Denn sie war sehr fromm und fand den sanftesten Trost in der -frohen Aussicht auf eine Wiedervereinigung mit ihrem seligen Gatten, -indes die leiblichen Reste des unaufhörlich Betrauerten schon längst -in alle Winde verweht waren mit den kühlen weißen Blumenblättern -des Rosenstämmleins, das aus seinem Grabe Nahrung sog zu einem -gedeihlichen Wachstum und fröhlichen Blütentreiben. Daran dachte die -einfache Frau jedoch nicht. Sie glaubte nur den Worten der Sachwalter -Gottes auf Erden und hegte eine grenzenlose Verehrung eben für -jenen Jesuitenpriester Romanus, dem die jungen Seelen der Neuberger -Lateinschüler in Obsorge gegeben waren. Der war von knochiger Länge und -bleicher, fast krankhafter Gesichtsfarbe, aber seine wandlungsfähige -Stimme hatte einen tiefen Orgelklang, wie man ihn von solcher Stärke -in dem kaum gewölbten Brustkasten niemals vermutet hätte, und da er -überdies stets den richtigen Ton zu treffen wußte, ebenso sanft und -süß wie grimmig, hart und leidenschaftlich sein konnte, war es kein -Wunder, daß er als Kanzelredner starken Zulauf hatte. Auch war er zu -christlichem Beistand jederzeit gern erbötig, selbst wenn er nicht -darum angegangen wurde, war dann je nach Bedarf milde, salbungsvoll, -gütig, entrüstet oder ein zorniger Eiferer und hielt für schmerzhafte -Verletzungen und verwickelte Zustände der Seele erbauliche Worte -und heilsame Bibelsprüche bereit wie ein Apotheker seine Salben und -Pflaster, nur daß er seinen Kunden kein Geld, sondern lediglich -die Beichte abverlangte. Doch nahm er diese ins Ohr geflüsterten -Verfehlungen als vollgültiges Zahlungsmittel, und wenn es ihm gelungen -war, einen besonders feisten Sündenbraten aufzugabeln, dann saß er mit -niedergeschlagenen Augen und geneigtem Ohr ohne Regung im Beichtstuhl. -Nur seine Hände bewegten sich, als zählte er Sünde zu Sünde wie ein -Hausherr am Zinstag seine Taler. - -Wie so manche Mutter oder Kostfrau der hoffnungsvollen Gymnasiasten -von Neuberg war auch Frau Hellwig eine eifrige Besucherin dieser -Offizin, weshalb sie ihren großen Jungen, der mir nichts, dir nichts -auf die Segnungen der Messe verzichten wollte, auch sofort an den -Religionsprofessor erinnerte. Fritz hatte jedoch auf diese Erinnerung -und auf alle ihre Fragen und Vorstellungen diesmal nur die trotzige -Antwort, er gehe nicht. Denn er scheute sich, die gottesfürchtige Frau -in ihren teuersten Empfindungen zu verletzen mit dem Bekenntnis, daß -er den Glauben verloren habe. Für eine Mutter ihres Schlages konnte es -ja kein größeres Unglück geben als ein gott- und glaubenloses Kind. -Sie ahnte freilich den eigentlichen Beweggrund. Aber viel zu wehleidig, -sich ihn einzugestehen, fand sie sich mit dem spiegelfechterischen -Gedanken ab, daß ihr Trotzkopf von Sohn nur irgendwie gegen den -Religionslehrer aufmucken wollte. So trieb sie’s wie der Vogel Strauß -und war leidlich beruhigt dabei. - -Aus dem eigenmächtigen Fernbleiben von den religiösen Übungen -erwuchsen Hellwig übrigens fürs erste keinerlei Verdrießlichkeiten. -Denn Pater Romanus übte in den oberen Klassen keine Überwachung -durch Namenaufruf, sondern fragte lediglich ein paarmal im Jahre -seine Schüler, ob sie auch stets der Sonntagsmesse beiwohnten. Wer -gefehlt habe, solle sich melden. Durch dieses Vorgehen wollte er -dartun, daß keine Spur von Mißtrauen gegen die Wahrheitsliebe seiner -Zöglinge in ihm sei. Doch hatte er eine eigene Überwachung auch gar -nicht nötig, da seine zahlreichen Verehrerinnen eine solche aufs -trefflichste besorgten, indem sie bald klagend bald Hilfe heischend -ihren Beichtiger hinsichtlich des Verhaltens seiner Schüler fortwährend -auf dem laufenden hielten. Das wußten die schlauen Jungen ganz gut und -hüteten sich, ohne triftigen Entschuldigungsgrund eine vorgeschriebene -Andachtsübung zu versäumen. Auf Hellwig, dessen Mutter mindestens -einmal im Monat beichten ging, hatte Pater Romanus schon längst ein -scharfes Auge, weil hier wieder einmal ein Schäflein vom rechten Weg -abirren wollte. Aber er hielt die Zeit seines Einschreitens noch nicht -für gekommen. - -Die übrigen Professoren, außer einem, hatten den stillen Jüngling gern, -der stets aufmerksam und in sich gekehrt dasaß, keinen Sittenpunkt -in ihren Katalogen aufwies und mit zähem Fleiß seinen Platz unter -den mittelmäßigen Schülern behauptete. Sie schätzten seine gründliche -Arbeit, und sogar dem Klassenersten Otto Pichler wurde er manchmal als -Muster hingestellt. - -Der war das gerade Gegenteil von Hellwig, lachte sich, ein kecker -Draufgänger, in alle Herzen hinein, stieg unverfroren den Backfischen -nach und rauchte heimlich seine Pfeife. Er lernte leicht und mühelos, -war ein ebenso guter Turner wie Rechner, Schlittschuhläufer wie -Lateiner und hielt sich, über alle Tiefen wegtänzelnd, mit prächtigem -Leichtsinn immer an der Oberfläche des Lebens. Seine Mitschüler -räumten ihm wie selbstverständlich eine führende Stellung ein, für -die kleineren Studenten war er ein bewunderter Halbgott und in dem -unschuldigen Tagebuch mancher Fünfzehnjährigen prangte sein Name -als der des endlich gefundenen Ideals. Seine frischroten Wangen -und der anziehende Gegensatz, in dem die lustigen Blauaugen zu den -dunkelbraunen Locken standen, konnten hier unmöglich ihre Wirkung -verfehlen. - -Nur Fritz kümmerte sich nicht um ihn, wie er sich überhaupt um -niemanden scherte. Aber gerade dieses verschlossene Wesen reizte den -sieggewohnten Pichler, auf dessen Freundschaft viele stolz waren, und -in mannigfacher Weise suchte er, sich ihm zu nähern. - -Da sah er eines Tages -- eine sehr langweilige Unterrichtsstunde war -eben zu Ende --, wie Hellwig das Lesebuch, das er in seiner Freude -über die Erlösung ungestüm zugeklappt hatte, hastig wieder öffnete -und trübselig einen schmierigen Fleck auf den bedruckten Blättern -betrachtete. Neugierig blickte Otto ebenfalls hin und erkannte deutlich -die Überreste einer Fliege, die sich auf irgendeine Weise in das -Buch verirrt und durch das Zuschlagen den Tod gefunden hatte. Fritz -aber zog mit dem Bleistift einen Kreis um die schmutzige Stelle und -schrieb darunter: ‚Zur Erinnerung! Hier habe ich ohne Absicht ein Leben -vernichtet.‘ - -Pichler war mit seinem Spott sonst gleich bei der Hand. Aber während er -diesem Treiben zusah, kam ihm zugleich mit einer an Rührung streifenden -Gemütsbewegung heftiger als je der Wunsch, Fritz zum Freund zu gewinnen. - -An diesem Nachmittage folgte er ihm daher heimlich und fand ihn in der -Erikaeinsamkeit. Mit einer sonderbaren Frage weckte er den Träumer aus -seiner Versunkenheit. - -„Hellwig, tut dir nicht auch die schöne Erika leid?“ fragte er. - -Der Angeredete schrak zusammen, sprang auf und blickte den als Spötter -bekannten Pichler unsicher an. - -„Ist es denn nicht auch Unrecht, Pflanzen zu zerquetschen?“ fuhr dieser -fort. - -Eine jähe Röte färbte Hellwigs Wangen. Ganz verlegen stand er da und -fürchtete das Ausgelachtwerden. Als Pichler jedoch ernst blieb und ihm -mit einem herzlichen Blick die Hand entgegenstreckte, schlug er zögernd -ein. - -Auf solche Weise erreichte der braunlockige Schwerenöter seine -Absicht und kam in ein engeres Verhältnis zu Fritz. Es hatte -sogar den Anschein, als könnte sich dieses zu einer regelrechten -Jugendfreundschaft entwickeln. So gut schienen die Auffassungen -der beiden zusammenzustimmen. Im letzten Grunde hatte indes -Otto selbständige Ansichten überhaupt nicht. Um sich zu solchen -durchzuringen, war er viel zu bequem und viel zu seicht. Sein -ungemein geschmeidiger Geist ermöglichte es ihm jedoch, sich überall -zurechtzufinden und fremde Meinungen skrupellos zu den seinen zu -machen, insofern dieselben für ihn neu oder überraschend und geeignet -waren, ihren Verfechter in ein auffallendes Licht zu rücken. - -Für Hellwigs Entschluß, den Religionsübungen fern zu bleiben, war -er sogleich Feuer und Flamme. Als dieser ihm zu bedenken gab, daß -er selbstverständlich auch alle Folgen tragen und sich insbesondere -bei der nächsten Umfrage des Paters Romanus freiwillig melden müßte, -stutzte er zwar einen Augenblick, fand aber dann diesen Gedanken -großartig und schwor, daß er durch dick und dünn mithalten werde. -Aber Freunde müßten sie werden, denn Arm in Arm mit Hellwig fordere -er sein Jahrhundert in die Schranken. Bei diesen Worten warf er sich -leidenschaftlich an die Brust des Kameraden, und sie gelobten einander -mit Handschlag, nie zu lügen. - -Seither unternahmen sie gemeinsame Spaziergänge oder kamen bei -schlechtem Wetter in Hellwigs Zimmer zusammen. Dieses war zugleich -die gute Stube der Lehrerswitwe, die darin ihre besten Möbelstücke -aufgestellt hatte: einen Glaskasten, angefüllt mit goldbemalten -Porzellantassen, Tellern, Zinnkrügen und einem Kruzifix unter gläserner -Glocke, eine vielfächerige Kommode, einen eirunden Salontisch sowie -sechs Polsterstühle, die unter ihren weißen Leinenschutzhüllen aussahen -wie kopflose Damen in Frisiermänteln. In diesem Durcheinander, das -jedoch von den reinlichen Fenstervorhängen, den geflickten Tischläufern -und den gehäkelten Deckchen bis hinab zum Fußboden peinlich sauber -gehalten war, konnten die beiden Jünglinge ungestört ihre Meinungen -austauschen. Denn Frau Hellwig hielt sich gewöhnlich in der Küche -auf, wo sie auch schlief, und erschien nur im Zimmer, um eine Kanne -Kaffee nebst einem Scheiterhaufen von Butterbroten oder Kuchenstücken -hereinzubringen. Dann blieb sie ein Weilchen, lächelte gutmütig zu -Ottos Witzen und lobte ihn, daß er ihrem Traumhans von Jungen den -Hang zum Alleinsein ausgetrieben habe. Dafür erwies sie sich auch -dankbar, und seit sie erfahren hatte, daß Otto der Sohn eines mit acht -Kindern gesegneten Dorfküsters und arm wie eine Maus in dessen Kirche -sei, konnte sie’s nicht unterlassen, ihm beim Weggehen jedesmal etwas -zuzustecken, Kuchen, Äpfel oder ein Stück vom Sonntagsbraten, obwohl -sie’s wirklich nicht zum Hinauswerfen hatte. Sie mußte im Gegenteil -trotz einem Kalkulator rechnen und einteilen, um ihrem Sohne nebst -einer anständigen Lebensführung das Studieren zu ermöglichen. Aber sie -war glücklich, wenn sie jemanden bemuttern konnte, und sagte Pichlern -auch, er solle ihr nur seine schmutzige Wäsche bringen, sie werde sie -ihm rein machen, bügeln und flicken, das gehe mit der ihres Jungen in -einem hin. - -„Deine Alte ist wirklich ideal!“ versicherte Otto des öftern, -während sie vor den dampfenden Tassen saßen und die Abtragung des -Scheiterhaufens in Angriff nahmen. Dann kamen sie wieder ins Reden -und ereiferten sich mit glühenden Köpfen und vollen Backen über -Philosophie, Religion und Volkserziehung, während sie die Hände -unablässig nach den gefüllten Tellern streckten, bis der letzte Bissen -vertilgt war. -- - -Da geschah es, daß Pater Romanus in der obersten Klasse wieder einmal -die bereits seit längerer Zeit erwartete Frage stellte: Ob jemand in -den letzten Monaten die Messe versäumt habe? - -Wie der Krampus aus der Schachtel schnellte Fritz von seinem Sitze -auf, stand kerzengerade und schaute dem Professor freimütig ins Auge. -Zögernd erhob sich auch Pichler. Aber er ließ schuldbewußt den Kopf -hängen. - -„So, so, der Beste und der Fleißigste aus der Klasse!“ lächelte der -Pater und forschte leutselig nach dem Grund. - -„Ich bin freiwillig weggeblieben!“ sagte Hellwig mit fester Stimme. -Seine Augen glänzten wie Stahl, die Nasenflügel bebten. - -„Und wie oft, mein liebes Kind?“ fragte der Priester sehr sanft. - -„Seit zwei Monaten jeden Sonntag. Ich hab’ es nicht gezählt!“ - -„Aber Hellwig, was soll das heißen? Wie können Sie das rechtfertigen?“ - -„Ich habe keine Entschuldigung, Herr Professor. Ich bin nur so nicht -hingegangen!“ - -„Kind!“ Beschwörend streckte Romanus die Arme aus, als wollte er die -Worte nicht an sich heran kommen lassen. - -Mäuschenstill war es in der Klasse. Die Oktavaner in den Bänken hielten -den Atem an und starrten mit ängstlicher Bewunderung auf den stillen, -sonst so wenig beachteten Kameraden und wunderten sich, wie der -Duckmäuser gegen den gefürchteten Lehrer aufzutreten wagte. - -Pater Romanus hatte das auch nicht erwartet. Er wußte nicht recht, wie -er sich dazu verhalten sollte. Um Zeit zur Überlegung zu gewinnen, -richtete er seine Augen langsam auf Otto, betrachtete ernst und prüfend -dessen gesenktes Haupt und fragte schärfer: - -„Und was ist mit Ihnen, Pichler?“ - -„Ich ...,“ stammelte der und stockte gleich. - -„Wie oft haben _Sie_ gefehlt?“ - -Otto warf einen scheuen Blick auf die gefurchte Stirn des Lehrers und -sah schnell wieder zu Boden. Sein ganzer Mut hatte ihn verlassen. - -„Einmal ...,“ stotterte er zerknirscht. - -„Otto!“ raunte ihm Hellwig verwundert zu. - -Aber die eindringliche Stimme des Priesters forschte weiter: „Und -warum, liebes Kind?“ - -Und Otto antwortete tonlos: „Ich war unwohl.“ - -„Herr Professor, das ist ...“ brauste Fritz auf und schwieg sofort -wieder, als er die klägliche Figur des andern gewahrte. - -„Wollten Sie etwas sagen, Hellwig?“ wandte sich Pater Romanus nun -wieder an ihn. Da schüttelte er stumm den Kopf. Wozu den Angeber machen? - -Und plötzlich kam ihm zu Bewußtsein, daß sich alle Blicke der Klasse -in seiner Person wie in einem Brennpunkt vereinigten. Unerträglich, -wie ein unkeusches Betasten des Körpers, war ihm das. Und mit -einemmal konnte er es nicht über sich bringen, den Beweggrund seines -Fernbleibens anzugeben. Er hatte das Gefühl, als würde er durch ein -solches Geständnis seine Seele nackt zur Schau stellen. - -„Nun, Hellwig, haben Sie sich eines Bessern besonnen? Wollen Sie mir -Ihr sonderbares Benehmen aufklären?“ - -Die sanfte Stimme des Jesuiten rann wie ein süßes Honigbächlein durch -die Stille. - -Fritz schwieg, sah ihn an und zuckte nicht mit der Wimper. - -„Kind, nehmen Sie doch Vernunft an! Woher nur auf einmal? ... Denken -Sie doch auch an Ihre liebe Mutter!“ - -Keine Antwort. - -„Wollen Sie also den Grund Ihres Benehmens wirklich nicht angeben?“ - -„Nein!“ - -Kurz, hart, messerscharf, daß Pater Romanus zurückprallte. Aber er -faßte sich rasch. - -„Sie scheinen mir vom rechten Weg abgekommen zu sein,“ sagte er und -strich mit der schmalen Hand über die Augen. „Besuchen Sie mich doch -einmal in meiner Wohnung. Dort können Sie mir alles ungestört sagen. -Das von heute bleibt unterdessen, als wenn es nicht vorgekommen wäre.“ - -Mit einem leichten Kopfnicken gab er den beiden Schülern die Erlaubnis -zum Niedersitzen und begann mit dem Unterricht. - -Kaum war dieser zu Ende, drängten sich die Mitschüler an Hellwig heran, -sagten, daß er ganz recht gehabt habe, wenn’s auch vielleicht einen -Karzer absetzen könne, und wollten wissen, ob er zu Pater Romanus -hingehen werde. Er gab ihnen keine Auskunft, hastete, hochnasig wie -immer, davon. - -In seinem Herzen schien etwas in Unordnung geraten zu sein, zuckte, -stach und schmerzte. - -Pichler! Ach ja so, das! -- Wie fremd ihm auf einmal der Name vorkam. -Als hätte er ihn viele Jahre nicht gehört. - -Plötzlich schritt Otto neben ihm her. Er hatte brennend rote Backen und -war ganz kleinlaut. - -„Fritz, -- bist du bös?“ fragte er mit einem verlegenen Lächeln. - -Brüsk wandte sich jener ab: „Ach geh, du! Du bist feig!“ - -„Nein, Fritz, da tust du mir unrecht!“ - -„Wortbrüchiger!“ - -„Fritz, ich mußte!“ - -„Du mußtest? Das ist ja eben die Feigheit!“ - -„Hör’ doch damit auf, Fritz! Schau’, wenn ich wirklich feig wär’, -hätt’ ich dich jetzt gewiß nicht angesprochen, hätt’ mich viel eher -seitwärts in die Büsche geschlagen. Und -- ist es Feigheit, wenn ich -die Verachtung meines Freundes zu tragen gewillt bin -- meines Vaters -wegen?“ - -Er machte eine Pause. Hellwig, von der unerwarteten Wendung überrascht, -fand keine Antwort. - -„Ja!“ fuhr Otto mutiger fort. „Wegen meines alten Vaters! Ich hab’ doch -nicht wissen können, wie die Geschichte ausgehen wird. Und wenn ich -auch nur Karzer oder eine schlechte Sittennote bekommen hätt’ ... was -dann? Die Nachhilfestunden, die Freitische, die Schulgeldbefreiung -- -alles wär’ beim Teufel! Und dann hätt’ ich das Studieren eben einfach -an den Nagel hängen können! Und mein Vater ist so stolz, daß wenigstens -einer von uns achten studieren kann! Die Gründe mußt du mir gelten -lassen, Fritz!“ - -„Warum hast du mir dein Wort gegeben? Ich hab’s nicht verlangt!“ - -„Ich war wie im Rausch damals! Du hast mich fortgerissen ... da hab’ -ich mir nicht alles so überlegt --“. - -„Gut, gut! Aber laß mich jetzt in Ruh’!“ - -„Und du verzeihst mir, gelt?“ - -Zweifelnd blickte Hellwig den Kameraden an. - -„Otto, -- du kannst mir ja nicht einmal in die Augen schaun!“ - -Da hob der andere das gesenkte Antlitz. Zwei helle Tropfen rollten ihm -über die Wangen, zeichneten silbrige Streifen darauf. - -„Das Mißtrauen verdien’ ich nicht, Fritz!“ - -Die schmerzliche Spannung in den Zügen des jungen Kato ließ nach. Seine -Miene hellte sich etwas auf. - -„Machen wir einen Strich darunter, Otto, wir sind beide Schwächlinge!“ - -Eilig rannte er fort. - -Pichler ging nach Hause. Er schämte sich noch ein wenig und war -doch froh, daß die Geschichte wieder in Ordnung war. Das war ja -ausgezeichnet gegangen. Eine heiße Zuneigung zu Fritz stieg plötzlich -in ihm auf und das Verlangen, ihm etwas Liebes zu tun. Er wußte nur -nicht, was. Und wie öfters schon, faßte er wieder einmal den Entschluß, -ein guter, ganz makelloser Mensch zu werden; sich zu Wissen, Ansehn, -Bedeutung hinaufzuarbeiten. Im Geiste sah er sich schon Stufe um -Stufe erklimmen, angestaunt, beneidet, von vielen umworben. Auf -einen machtvollen Posten gestellt, erwarb er Millionen und verfügte -unumschränkt darüber, beschenkte fürstlich seine Bekannten, half dem -Freunde zu Glück und Ehren. - -Immer kühner schwang sich seine Phantasie empor. Als er vor dem -ärmlichen Hause stand, wo ihm ein biederer Spengler Kost und Wohnung -gewährte gegen die Verpflichtung, seine zwei dickköpfigen Buben durch -das Untergymnasium zu lotsen, da wurde es ihm schwer, sich in der -Wirklichkeit zurecht zu finden. Die gehobene Stimmung verließ ihn -aber den ganzen Abend nicht mehr. Seine Ungeduld drängte ihn, mit der -Erwerbung eines umfangreichen Wissens sogleich zu beginnen. Er kramte -in seiner Bibliothek, die sich zumeist aus Bändchen der Reclamschen -Sammlung zusammensetzte, nahm bald dies, bald das in Angriff und fand -keine rechte Ruhe. - -Da fiel ihm Kants Kritik der reinen Vernunft in die Hände. Er -hatte das Werk stets unverdaulich und langweilig gefunden, war -trotz wiederholter Anläufe nicht über die ersten hundert Seiten -hinausgekommen. Heute aber beschloß er, sich durch den ganzen -umfangreichen Band durchzufressen. Die Beine unterm Tisch lang -ausgestreckt, das Gesicht zwischen beiden Fäusten, saß er in der -Bodenkammer, die bei besserem Geschäftsgang gewöhnlich einem zweiten -Gesellen des Spenglers zugewiesen wurde, blies gewaltige Rauchwolken -aus einer langen Pfeife und begann zu lesen. - -‚Wenn mich Fritz so sähe,‘ dachte er selbstzufrieden und legte sich ins -Zeug, als beabsichtigte er durch eine solche Überwindung dem gekränkten -Freunde ein Sühnopfer darzubringen. - -Aber je länger er saß, je schwächer wurde seine Aufmerksamkeit. Auf -dem Fundamente einer Welt der ‚Dinge an sich‘ bauten seine Gedanken -bald wieder prunkvolle Luftschlösser in den Himmel hinein, und die -rosige Zukunftsphantasterei eines ehrgeizigen Jünglings schnitt dem -kategorischen Imperativ der Vernunft eine spöttische Grimasse. - -Unterdessen verging Frau Hellwig vor Sorgen um ihren Jungen, der heute -noch seltsamer als sonst war, kein Wort redete und das Abendessen -unberührt ließ. Hätte sie in sein Inneres schauen können, die Sorgen -wären freilich einem großen Mitleid mit dem armen Grübler gewichen. -Schwerblütig, wie er war, legte er dem Vorfall eine übergroße Bedeutung -bei. Er litt nicht so sehr unter dem Verrat Ottos, sondern weil er -sich selbst untreu geworden war und kein Recht mehr hatte, Pichlern -zu zürnen. Denn er war selber feig gewesen. Oder war es etwa nicht -Feigheit, zu schweigen, nur weil ein paar Dutzend Augen auf ihn -geschaut hatten. Wie sollte er der Wahrheit zum Sieg helfen, wenn er -sich fürchtete, sie laut auszusprechen? Beispielgeber hatte er sein -wollen -- und war vor sich selbst fahnenflüchtig geworden. Wessen er -Otto geziehen, er selbst hatte es begangen -- und besaß nicht einmal -eine Entschuldigung dafür. - -So peinigte er sich und konnte die ganze Nacht keinen Schlaf finden. -Er faßte keine guten Vorsätze, denn er hatte alles Zutrauen zu sich -verloren. Und es dünkte ihm wertlos, etwas, das er nie hätte tun -dürfen, durch den Entschluß gutzumachen, es in Zukunft nicht wieder zu -tun. In dieselbe Lage konnte er sich nicht zurückversetzen, die war -unwiderruflich vorbei und der Makel nicht mehr wegzuwischen. - -An allen Gliedern wie zerschlagen, die trüben Augen dunkel -unterrändert, erschien er den nächsten Tag in der Schule. Otto war -ebenso überrascht wie dankbar, daß Fritz mit keinem Wort auf das -Vorgefallene zurückkam und weiter mit ihm verkehrte, als hätte es nie -ein Gestern gegeben. Von dem harten Ringen, das zwischen Abend und -Morgen lautlos vor sich gegangen, hatte er freilich keine Ahnung, -hätte es auch nicht begriffen. Für ihn war jetzt alles wieder im -Gleis, zumal auch Pater Romanus nicht dergleichen tat und es schien, -als beabsichtigte er die Geschichte im Sand verlaufen zu lassen. Eine -vorläufige Folge sollte sie aber doch haben. - - -2. - -Eines Tages, es war bereits spät im Oktober, kam die schöne -achtunddreißigjährige Frau des reichen Kaufmannes Wart zu Hellwig und -bat ihn, mit ihr zu gehen, ihr Sohn verlange nach ihm. - -Fritz war über dieses Ansinnen sehr verwundert, da er den jungen -Wart, der die siebente Klasse des Gymnasiums besuchte, nur aus -einem gemeinsamen französischen Lehrkurs ganz flüchtig kannte. Er -sagte deshalb der unerwarteten Besucherin, die in ihrem schwarzen -Seidenkleide fein und fremd zwischen den vermummten Lehnstühlen -stand, hier müsse ein Irrtum vorliegen. Sie aber entgegnete, -sie irre sich nicht, ihr Junge habe schon oft von Fritz Hellwig -gesprochen, namentlich in der letzten Zeit, als die Geschichte mit dem -Religionsprofessor vorgefallen sei. - -Fritz aber, der sich nur sehr schwer an Menschen anschloß und vor -neuen Bekanntschaften förmlich Angst hatte, antwortete kurz, daß er -den Heinrich Wart viel zu wenig kenne und keinen Anlaß habe, ihn zu -besuchen. Wenn jener etwas von ihm wünsche, solle er’s in der Schule -sagen. - -Auf eine so schroffe Abweisung war die Frau nicht gefaßt gewesen. -Sie brach in Tränen aus und rief ganz aufgeregt, das sei unschön -und lieblos gehandelt. Er könne sich denken, daß ihr ungewöhnliches -Begehren auch einen ungewöhnlichen Grund haben müsse. Kurz und gut, -ihr Sohn sei schwer krank, man wisse überhaupt nicht, ob er wieder -aufkommen werde. Heute, nachdem er mehrere Tage im Fieber gelegen und -nur fortwährend phantasiert habe, heute habe er auf einmal den Wunsch -geäußert, mit Hellwig zu sprechen. Er solle nicht hart sein, vielleicht -handle es sich um den Wunsch eines Sterbenden. - -Da nahm er wortlos den Hut vom Nagel und ging mit. - -In den Gassen war es schon dämmrig, ein steter feiner Regen fiel und -schien das Leben in der Stadt langsam auszulöschen. Kein Fuhrwerk -rasselte, es bellte kein Hund und nur ab und zu hastete jemand mit -aufgespanntem Schirm eilfertig vorbei, den Rockkragen emporgestülpt -und die Hosen unten aufgekrempelt, ohne das seltsame Paar zu beachten. -Die Frau schritt unbekümmert um den Regen, der ihr ins Gesicht -schlug und Perlen in ihr Blondhaar streute, rasch vorwärts. Ihr -Kleid knisterte und rauschte über das nasse Pflaster, sie raffte -es nicht, hätte auch keine Hand hiezu frei gehabt, denn mit der -Rechten hielt sie das Taschentuch vor die Augen, während sie die -behandschuhte Linke leicht auf Fritzens Arm legte, als fürchtete sie, -er könne ihr noch im letzten Augenblick davonlaufen. Die Sorge war -unnötig. Nun er sich einmal entschieden hatte, war zugleich auch jene -ruhige Entschlossenheit über ihn gekommen, mit der er stets an die -Verwirklichung seiner Vorsätze zu schreiten pflegte. Und wenn sich auch -bisweilen mitten in der Ausführung seine noch nicht gefestigte Jugend -aus der Bahn drängen ließ, früher oder später vollendete er doch immer, -was er sich vorgenommen hatte. - -Die schlanke Frau an seiner Seite begann zu sprechen. Erst leise und -zögernd, als schämte sie sich. Bald aber vergaß sie die Zurückhaltung, -ging aus sich heraus und redete sich das Leid vom Herzen herunter, wie -wenn sie sich einem langjährigen älteren Bekannten anvertraute und -nicht dem blutjungen Schüler, der trotz seiner Größe im Schultermaß -nur wenig höher als sie auf langen Beinen nebenher lief, den Blick -geradeaus gerichtet und die Hand zur Faust geschlossen. - -Was sie sagte, war nichts anderes als die alte Klage der Mütter -heranwachsender Söhne. Aber sie gab nicht dem Sohne schuld, daß er -ihr Sorgen mache, sondern sich selbst und quälte sich mit harten -Zweifeln, daß sie ihn vielleicht in seiner Entwicklung durch eine -fehlerhafte Erziehung verpfuscht oder nicht die Fähigkeit gehabt habe, -den sonderbaren Knaben zu verstehen und sicher über die Schwelle der -Kindheit hinüberzuleiten. - -Seine Begabung, sagte sie, sei ungewöhnlich, reich und vielversprechend -seine Anlagen. Aber ihr Mann halte von solchen Sachen nichts und -sie, die Mutter, habe vieles, das ihr notwendig schien, unterlassen -müssen, um das väterliche Ansehen nicht zu untergraben. Bei dieser -zwiespältigen Führung sei der Junge ratlos geworden, sei noch immer -unselbständig und unfrei und beuge sich zu sehr vor einem fremden -Willen. Am meisten aber betrübe sie seine Art, mit den kleinen Leuten -umzugehen, mit Dienstboten, Bettlern und Landstreichern. Überzart -und vorsichtig wie mit rohen Eiern, verlegen und schüchtern wie ein -Bittender, wo er befehlen sollte -- immer in der Sorge, ja niemandem -weh zu tun. Denn er achte das Menschentum auch in seiner erbärmlichsten -Fratze, aber -- und das sei ihr Kummer -- darüber vergesse er sein -eigenes, lasse sich ausbeuten und habe schon mehr als einmal freiwillig -die Strafe auf sich genommen, die ein säumiger Laufbursche oder ein -naschhaftes Stubenmädchen verdienten. - -Die Sprecherin holte tief Atem und fuhr leidenschaftlich fort: -„Mein armer Heinz hat den Mut zum Leiden und Schweigen, aber keinen -Willen zur Tat! Drum reißt’s ihn so zu Ihnen! Weil Sie haben, was -ihm mangelt! Er schwärmt für Sie, ist einfach in Sie vernarrt! Das -hat er mir zwar nicht gesagt, aber ich weiß es doch! Ich kenn’ ihn -ja durch und durch -- aber nur so, wie Schätze in einem Glaskasten. -Ich hab’ keinen Schlüssel, kann nicht zu ihm, ohne eine Scheibe zu -zerbrechen. Sie aber könnten es ... Wenn Heinz am Leben bleibt -- er -wird -- er muß! -- dann ... nicht wahr, -- Sie werden sein Freund! Er -braucht einen starken Menschen, an den er sich klammern, aufrichten, -emporranken kann! Der ihn lehrt, auf den eigenen Füßen zu stehen und -eine eigne Meinung nicht bloß zu haben, sondern auch durchzusetzen! -Dann versprech’ ich mir viel von ihm! Nicht wahr, Sie werden ...?“ - -In banger Erwartung streckte sie ihm die Hand hin. Doch er schlug nicht -ein. Wohl war er mit wachsender Teilnahme ihrem Reden gefolgt, das -ganz neue Gebiete vor ihm aufschloß. Hatte die hohe Auffassung einer -gewissenhaften Mutter von ihren Pflichten gegenüber dem Kinde mit immer -heißerer Ergriffenheit wahrgenommen und über Worte gestaunt, die er -niemals einer Frau zugetraut hätte. Aber er war seines Vorsatzes, nie -zu lügen, eingedenk und antwortete mit jener ungelenken Rauheit, die -bei ihm stets herhalten mußte, wenn er weich zu werden drohte: „Wart -ist mir fremd. Ich kann gar nichts versprechen.“ - -Die Frau ließ mutlos den Kopf hängen. Fritz kam sich wie ein Verbrecher -vor, als er den leidvollen Ausdruck ihres Gesichtes wahrnahm. Wie aus -einer anderen, lichteren Welt erschien sie ihm, die Verkörperung alles -Lieben, Zarten, Gütigen. Eine warme Welle flutete in ihm empor. Am -liebsten hätte er ihre Hände gefaßt und um Verzeihung gebeten, daß er -ihr weh tat. Aber er biß nur die Zähne zusammen und verdoppelte den -Schritt, so daß sie ihm kaum nachkommen konnte. - -„Seien Sie wenigstens freundlich zu ihm!“ bat sie. - -Und er darauf: „Ich bin kein Lausbub!“ - -Nun standen sie vor dem alten Bürgerhause auf dem Marktplatz, das mit -Erkern und Simsen und Vorsprüngen, mit Luken, Giebeln und steilen -Dachflächen düster und massig in die Luft hineinwuchs. Kisten und -Fässer und Ballen und Tonnen türmten sich allenthalben im wölbigen -Flur, lagen im breiten Stiegenhaus und verengten die kühlen Korridore, -überhuscht von den spärlichen Reflexen schwelender Kerzen hinter -verstaubten Gläsern. - -Polternd klangen die Schritte der beiden im Hinansteigen über die -bequeme Holztreppe. Nun hielten sie vor der hohen dunklen Wohnungstür, -ein Dienstmädchen öffnete, und sie traten ein. Flüsternd erkundigte -sich die Frau nach dem Befinden ihres Kindes und erhielt befriedigende -Auskunft. Da öffnete sie eine zweite Tür, winkte Fritz, daß er ihr -folgte und schritt durch ein unbeleuchtetes Zimmer mit weitem Raum. -Undeutlich hoben sich die Gegenstände aus dem schwachen Lichtschein, -den die Straßenlaternen zu den Fenstern hinaufsandten, in florigen -Teppichen versank der Fuß, und leis klirrten ein paar Gläser im -altdeutschen Schrein. Hellwig tastete sich durch mit vorgestreckten -Händen, stieß an einen Stuhl. Da drehte sich wieder eine Tür -geräuschlos in den Angeln und ein grün gedämpftes Lampenlicht quoll -durch den Spalt. - -Sie waren im Krankenzimmer. Mit der Schmalseite an die Wand gerückt, -von den drei anderen Seiten frei zugänglich, schob sich ein breites -Eichenbett bis in die Mitte des Gelasses. Darinnen war, fast so weiß -wie die Kissen und Linnen, ein mageres Antlitz sichtbar, von einem -dichten Kranz tiefschwarzer Haare eingefaßt und von zwei mächtigen -dunklen Augen überleuchtet, die es ganz beherrschten und noch -abgezehrter erscheinen ließen. - -Frau Wart war sofort bei ihrem Sohne. - -„Wie geht’s dir, mein Junge? Hast du auch brav geschlafen?“ fragte -sie und war prächtig anzusehen in der wohltuenden und beruhigenden -Heiterkeit, hinter der sie alle ihre angstvolle Sorge barg. Der Kranke -gab keine Antwort, sondern schaute mit seinen glänzenden Fieberaugen an -ihr vorbei auf Fritz, der stumm unter dem schweren Türvorhang stand. -Sie bemerkte den Blick, nickte ihm zu und lächelte: „Ist’s dir recht? -Du hast ihn ja haben wollen.“ - -Da stieg ein sachtes Wellchen Blutes in das eingefallene Gesicht, -leuchtete durch die Haut und warf einen zartroten Schein darüber. - -„Guten Abend, Hellwig,“ sagte er leise und ließ die Augen nicht von ihm. - -Nun kam Fritz näher, hielt am Fußende des Bettes und sagte: „Servus, -Wart! Was treibst du denn für Geschichten? Krank sein -- das gibt’s -doch nicht! Sieh lieber, daß du bald wieder ins Französisch kommst.“ - -Die Mutter tat einen tiefen, freien Atemzug. Sie hatte heimlich vor -diesem Zusammentreffen gebangt, hatte gefürchtet, daß Hellwigs kantige -Art den Kranken verletzen und aufregen könnte. Nun sah sie den warmen -Blick, hörte den herzlichen Klang der vor kurzem noch so trotzig rauhen -Stimme und schämte sich im stillen ihrer argen Meinung. - -„Bleib nur liegen, du!“ flüsterte sie beglückt und drückte ihren -Jungen, der sich aufrichten wollte, in die Kissen zurück. „Herr Hellwig -setzt sich zu dir, da könnt ihr reden ... aber nicht zu lang, nicht -wahr?“ - -Bittend schaute sie den Besucher an und wies auf einen Stuhl neben dem -Lager. - -„Ich könnt’ ebenso gut stehen!“ entgegnete Fritz wieder kalt abweisend. -Als er jedoch die ängstlich-erwartungsvolle Miene des andern sah, -verstummte er und setzte sich. - -Geräuschlos glitt die Frau aus dem Gemach. Im dunklen Nebenzimmer -verließ sie die mühsam behauptete Fassung. Sie hatte Hellwig auf ihre -eigene Verantwortung herbeigeholt, versprach sich davon eine raschere -Wendung zum Gesunden. Wenn nur, ach, wenn nur endlich alle Gefahr -vorüber wäre! Und die Sorge um das Leben des Kindes senkte sich wieder -schwer und lautlos auf das blonde Haupt, die schlanken Schultern und -drückte sie nieder. Wie unter eine wuchtende Last geduckt, stand sie -ohne Regung und versuchte mit beiden Händen das übermächtig schlagende -Herz zu halten. -- - -„Was willst du von mir?“ fragte Hellwig den Kranken. Der schaute -hilflos gegen die Zimmerdecke und dann suchend im Raum umher. Da fiel -sein Blick auf einige Bücher, die in grünen Einbänden neben der Lampe -und zwischen Arzneiflaschen auf dem Tisch lagen. Wie Erlösung überkam -es ihn. - -„Mutter hat mir Darwin geschenkt!“ sagte er lebhaft. „Die große -Ausgabe. Den mußt du lesen, ich leih’ dir ihn!“ - -Eine Sekunde nur blickte Fritz in die Augen, die ihm groß und leuchtend -entgegenstanden: dann hatte er begriffen. Hatte begriffen, daß hier -vor ihm einer seines Wesens lag, gleich scheu und zurückhaltend und -zu stolz, um sich aufzudrängen. Und er wußte mit einemmal, daß dieser -schmächtige schwarzhaarige Mensch, den er im großen Troß der andern mit -übersehen hatte, schon seit langem, heimlich und ohne sich zu verraten, -sein Freund war. Und auch er fühlte sich jetzt, da er den Spuren der -scharf geprägten Züge in dem geistreichen Antlitz nachforschte, mächtig -zu ihm hingezogen. Aber er ehrte das Schamgefühl des andern. Deswegen -antwortete er scheinbar ganz gleichgültig auf dessen Anerbieten. - -„Du würdest mir damit eine große Freude machen!“ sagte er und nahm -eines der grünen Bücher vom Tisch. „Ist’s das hier?“ - -„Ja. Nimm dir nur gleich ein paar Bände mit.“ - -„Einer genügt vorläufig!“ entgegnete Hellwig kurz und erhob sich. - -„Du gehst schon?“ - -„Ja!“ - -„Du kommst aber wieder?“ - -„Ich werd’ mir doch das Buch nicht behalten!“ knurrte Fritz. - -Der Kranke hob die Hand von der Bettdecke und reichte sie ihm wortlos. -Fritz nahm sie in seine breite Rechte und hielt sie einen Augenblick -fest. - -„Gute Nacht, Wart!“ - -„Gute Nacht, Hellwig!“ - -Im Nebenraum trat ihm Frau Wart entgegen: „Nun?“ - -„Ich hab’ mir einen Band Darwin ausgeborgt!“ sagte er unwirsch, hastete -an ihr vorbei, durchs Vorzimmer und über die Treppe hinab ins Freie. - - -3. - -Der November war noch nicht zu Ende, da hatte Hellwig sämtliche -Schriften Darwins bewältigt. Die Mutter wurde auf sein Treiben -aufmerksam und drang nachts in sein Zimmer, wo er vor der Lampe über -den Büchern saß. Da schalt sie wegen seines langen Wachens, bat ihn, -seiner Gesundheit nicht zuviel zuzumuten und wich erst, bis sie ihn -ganz sicher hinter dem Wandschirm in den Federn wußte. - -Um ihr Mißtrauen zu zerstreuen, ging er die nächsten Tage früher zu -Bett. Dann aber verschaffte er sich ein Zigarrenkistchen, befestigte -darin auf dem unteren schmalen Brett eine Kerze, an dem oberen aber, um -dessen Anbrennen zu verhindern, einen ausgedienten Topfdeckel und hatte -so eine Art Diebslaterne, nach drei Seiten für das Licht abgeblendet. -Wenn nun seine gewöhnliche Schlafstunde heranrückte, stellte er dieses -Gerät knapp hinter das Buch in der Weise, daß kein Lichtstrahl durch -die klaffenden Fugen der Tür in die Küche dringen und der Mutter -sein Wachbleiben verraten konnte. Dann löschte er die Lampe, hielt -sich still und las beim flackernden Schein der Kerze mit geschnürtem -Atem weiter, bis draußen auf der Gasse die ersten Bauernfuhrwerke -über das holprige Pflaster rumpelten und der erwachte Lärm dem nahen -Morgen vorauslief. Dann suchte er endlich sein Lager und tat hinter -bleischweren Lidern einen traumlosen Schlaf, aus dem ihn jedoch meist -schon nach zwei, drei Stunden die nichtsahnende Mutter weckte mit der -Meldung, daß das Frühstück fertig und es Zeit zur Schule sei. - -Unterdessen hatte Warts Genesung rasche Fortschritte gemacht. Er durfte -bereits kurze Spaziergänge unternehmen und tat dies mit Hellwig, dessen -Seele ihm, nun das Eis einmal gebrochen, offensichtlich zuströmte. -Ganz aber fanden sie sich erst an einem frostklaren Dezembertage, als -sie nach einem schon längeren Marsch bei Milch und Butterbrot in einem -Dorfwirtshaus saßen und von den alten Juden auf die Erlöser und auf den -Gottesbegriff zu sprechen kamen. - -Sie waren die einzigen Gäste in der niedrigen Stube. Hinter dem -Kachelofen hockte zusammengeduckt eine weißhaarige Frau und summte -ihrem Enkelkind ein eintönig uralt Wiegenlied zum Schlaf. Die große -Stehuhr pochte wie das Herz der Stille, und Heinz Wart sprach: -„Darwin ist ein Erlöser und ist auch keiner. Viele alte Götzen hat er -zerschlagen, der Verstand mag damit zufrieden sein, aber nicht das -Herz. Und mit der Lösung der Frage nach _unserer_ Herkunft ist jene -nach der Herkunft unseres Gottglaubens nicht aus der Welt geschafft. -Für mich aber bedeutet Gott nichts anderes als das Ideal, nach dem sich -jeweils die Menschen gesehnt haben. Den entrechteten Hindukasten von -den Sudras bis zu den Tschandalas ist sicherlich die endliche selige -Ruhe nach einem Leben der Knechtschaft als das Herrlichste erschienen --- und Buddha hat ihnen das Nirwana gegeben. Bei den alten Deutschen -hast du Freude am Kampf und Zechgelag und hast du kriegsgewaltige -Schlachtengötter und reisige Jungfrauen, die die Helden nach Walhall -zur Metbank bringen. Dem Schwärmer von Nazareth aber ist der Mensch -selbst zum Ideal geworden. Darum ist sein Gott ein Menschengott, -der alle unsere Tugenden und Fehler, Milde und Härte, Erbarmen und -Grausamkeit, opferfreudigste Hingabe und starrste Ichsucht, zum -höchsten Maß gesteigert, in sich vereinigt. Und weil dadurch Gott den -Menschen so nahe gerückt wurde, haben sie sich ihm so bereitwillig -zugewendet. Denn in ihm beten sie ihr Menschentum an, und sie lieben -sich selber in ihrem Gott. Und die Reformationen sind nichts als -Versuche gewesen, den lieben alten Menschengott umzumodeln, damit -er zu den neuen Menschen mit ihren neuen Anschauungen wieder passe. -Und wenn wir jetzt gegen den Druck verjährter Dogmen knirschen, so -beweist das für mich nichts anderes, als daß unsere Zeit abermals reif -geworden ist für eine neue Sehnsucht. Aber wir wissen noch nicht, wo -sie wohnt und kennen den richtigen Weg nicht zu ihr, lassen uns leicht -irreführen durch die Lockungen falscher Propheten. Nietzsche ist für -mich ein solcher. Ich bewundere die rauhe Kühnheit und empöre mich -über die wahnwitzige Überhebung, mit der er das Ich zum Gott machen -will. Freilich, _die_ Ausgestaltung wäre logisch. Vom Weiteren zum -Engeren, vom Kreis zum Punkt. Nach dem Menschen als Gattung der Mensch -als einzelner. Jeder einzelne sich selbst Gesetzgeber und Richter und -Rächer des eigenen Gesetzes. Jeder sich selbst Gott. Oder Schöpfer -seines Gottes: des Übermenschen. Aber ...“ - -Er atmete tief auf und schwieg. Von der untergehenden Sonne kam ein -seltsam rötlicher Schein in die Stube, alle Gegenstände ertranken in -einem ungewissen Zwielicht, und nur vor den winzigen Fenstern stand -noch hell und durchsichtig die Luft wie ein unbewegtes, zartpurpurnes -Meer. - -Mühselig erhob sich die gebeugte Greisin von der Ofenbank und wollte -die Lampe anzünden. Aber Fritz winkte ab: „Lassen Sie nur, wir bleiben -ganz gern im Dunkeln.“ - -Dann war wieder Schweigen. Das Kind schlief in der Wiege. Eine graue -Katze strich mit gehobenem Schweif und gekrümmtem Rücken unhörbar um -ein Stuhlbein, immer rundum, rundum. Und das verhuzelte Weibchen beim -Ofen ließ den Kopf tief und tiefer sinken und schlief allmählich ein. - -Mit hämmerndem Herzen saß Fritz und starrte aufgeregt nach dem -unscheinbaren Menschen neben sich, dessen Antlitz weiß aus dem Dämmer -herausleuchtete. Was er da gehört hatte, war mehr als zusammengelesene -Weisheit, waren selbständige Ideen, die seine Seele mitschwingen -machten. Und er kam sich klein vor, fühlte seine Unfertigkeit und wie -wenig er wußte. Und plötzlich kam ihm die blonde Frau wieder in den -Sinn, die an jenem Regenabend mit rauschenden Gewändern neben ihm -gegangen. Das drohte die Weihe der Stunde zu stören. Er legte die Hand -auf den Schenkel des Freundes. - -„Weiter, Heinz! Was ist’s mit dem Aber?“ - -Wart zuckte auf und schaute ihn mit leeren Augen an, als hätte er alle -seine Gedanken auf weite Wanderung geschickt und müßte erst warten, -bis sie sich wieder zurückfanden. Dann sagte er, den Kopf in die -Hand gestützt und den Blick immerfort auf die Tischplatte vor sich -gerichtet, sagte ganz leise, wie aus einem Traum heraus: - -„Auf dem rechten Weg zur neuen Sehnsucht scheinen mir trotz allem doch -die Jakobiner gewesen zu sein, und Maximilian Robespierre, der Tauben -züchtete und Menschen mordete, hat es oft genug ausgesprochen: ‚Wir -wollen die Wünsche der Natur erfüllen und die Bestimmung der Menschheit -erreichen: den friedlichen Genuß der Freiheit und Gleichheit, ein -Reich der ewigen Gerechtigkeit. Wo der Bürger der Obrigkeit und die -Obrigkeit dem Volke dient und das Volk der Gerechtigkeit. Wo die Künste -der Schmuck der Freiheit sind, der Handel die Quelle des öffentlichen -Reichtums und nicht der ungeheuerlichen Wohlhabenheit einzelner -Häuser. Schrecker der Unterdrücker wollen wir sein und Tröster der -Unterdrückten und statt der Kleinlichkeit der Großen wollen wir die -Menschengröße.‘ -- Das geht zwar schnurstracks gegen den Kampf ums -Dasein des Individuums, aber trotzdem glaube ich, daß darin unser Heil -für die Zukunft liegt. An Stelle des Menschengottes möchte ich das -Menschentum setzen und gegen die Forderung: ‚Liebe deinen Nächsten -wie dich selbst!‘ die Formel: ‚Hilf deinem Nächsten wie dir selbst!‘ -... Die Menschheit zur Freiheit führen, den Elenden und Gequälten -ein freies, heiteres Dasein schaffen, ihnen ihr Recht auf Glück -zurückerobern, das jeder schon hier auf Erden für sich fordern darf -kraft seines Menschentums -- es ist ein Ziel, wohl wert, sein Leben -dafür aufzuwenden ...“ - -Er hatte sich in Begeisterung hineingesprochen, sprang auf und stand -mit geröteten Wangen aufrecht da, ein heiliges Feuer in den Augen. -Da war auch schon Fritz neben ihm, riß ihn an sich und sagte mit -erstickter Stimme: „Heinz -- Freund -- Bruder ... unser Leben ... wir -wenden’s dran ...“ - -Nun ward es ihnen zu eng in der Stube. Sie brachen auf und schritten -Schulter an Schulter unter einem klaren Sternenhimmel heimwärts. Und -während sie so gingen, mußte Fritz abermals an Frau Wart denken und -empfand einen dumpfen Groll, daß sie ihren Wunsch erfüllt und ihn als -Freund ihres Sohnes sehen sollte. Und gleichzeitig stemmte er sich -gegen dessen frühe Reife und den Einfluß, den sie auf ihn zu gewinnen -drohte. Seine Stimme klang beinah feindlich, als er jetzt sagte: „Woher -nimmst du eigentlich das alles?“ - -Da seufzte der andere leise und erwiderte: „Mein Gott, man sitzt nicht -umsonst mit einundzwanzig Jahren erst in der Septima!“ - -„Du bist schon so alt?“ fragte Fritz erstaunt. Denn Wart sah mit -seinem bartlosen blassen Gesicht und der schmächtigen Gestalt -kaum siebzehnjährig aus. Nun nickte er: „Jawohl -- sogar bald -zweiundzwanzig. Im Frühjahr muß ich schon das drittemal zur -Stellung. Hoffentlich ist meine Brust noch immer für den Rock des -Kaisers zu schmal. Sonst wär’s gefehlt, weil ich ja noch nicht das -Einjährigenrecht hab’.“ - -„Ja, aber ...?“ - -„Wieso das kommt? Ganz einfach! Ich war kaum mit dem Untergymnasium -fertig, da hat mich mein Alter ins Geschäft gesteckt. Aber ich hab’ -mich dort nicht zurechtfinden können. Nach drei Jahren hat er das -auch selbst eingesehen und mich wieder ins Gymnasium zurückgeschickt. -Das verdank’ ich der Mutter, ich weiß das, aber bis jetzt hab’ ich -ihr keine Ehre gemacht. Die Quinta und die Sexta hab’ ich wiederholen -müssen, für Mathematik hab’ ich nun einmal kein Verständnis, ich bring’ -das trockene Zeug nicht in den Schädel! Und dann die Bücher: Rousseau, -Proudhon, Engels, Lasalle, Marx, Adam Smith -- du kennst ja meine -Sammlung.“ - -Er schwieg und Hellwig ebenfalls. Arm in Arm schritten sie auf der -schneebedeckten Landstraße rüstig vorwärts, überließen sich ihren -nachgenießenden Gedanken und gingen auf dem Marktplatz mit einem kurzen -Händedruck stumm voneinander. - - -4. - -Seit diesem Tage waren sie Freunde. - -Sie blieben aber nicht lang zu zweit, denn Pichler wollte sich nicht -kaltstellen lassen. Hellwig mußte ihn mit Wart bekannt machen, und auch -dieser wurde dem kecken Leichtfuß bald geneigt. - -Ihre Zusammenkünfte hielten sie jetzt bei Heinz ab, der nach der -Genesung wieder sein Zimmer bezogen hatte. - -Das lag ganz oben, unterm Dach des altertümlich und weitläufig -gebauten Hauses, worin das Bürgergeschlecht Wart seit Jahrhunderten -einen schwunghaften Kaufhandel betrieb. Der jetzige Inhaber war ein -derber, knorriger Fünfziger von praktischem Verstand und tüchtigem -Arbeitssinn. Von der Pike auf im Geschäft, war er jeder geistigen -Tätigkeit abhold, sofern sie nicht auf einen realen und reellen Gewinn -unmittelbar hinzielte. Den ganzen Tag dröhnte seine Stimme durch die -hallenden Korridore, war seine untersetzte Gestalt überall zu sehen. -Bald half er mit schweißtriefender Stirn im Hof beim Aufladen der -Warenballen, bald teilte er im Kanzleiraum Befehle aus, durchlief die -weiten Speicher oder fertigte die Ladenkunden ab, in unermüdlicher -Regsamkeit für die ordentliche und glatte Abwicklung des verzweigten -Betriebs. - -Trotzdem fand er noch Zeit zur Verwaltung der verschiedenlichsten -bürgerlichen Ehrenämter, war Stadtverordneter, Waisenvater und -Ortsschulrat, Feuerwehrhauptmann und Schützenleutnant und stand bei -allen Mitbürgern wegen seines gediegenen Charakters in Ansehen. -Vornehmlich bei der Opposition, deren Leitung selbstverständlich in -seiner Hand lag. Denn die Wart hatten alle von jeher ihren eigenen Kopf. - -Darüber waren vom Wart Nikl -- unter diesem Namen war er, der Nikolaus -hieß, in der ganzen Gegend bekannt -- allerhand Geschichten im Schwang. - -Als die klerikale Vereinigung, die in Neuberg dank der werbenden -Kraft des Paters Romanus gegründet worden war, ihren ersten -Unterhaltungsabend veranstaltete, da war Nikolaus Wart an der Spitze -von zwanzig handfesten Gesinnungsgenossen lärmend in den Saal -gedrungen, wo eben eine Festvorstellung im Gange war und das Konterfei -eines bekannten schwarzen Häuptlings mit Lorbeer und Lilien bekränzt -hinter Glas und Rahmen an der Wand hing. Einen Tisch erkletternd, nahm -der Nikl seelenruhig das Bildnis vom Nagel und lehnte es in eine Ecke. -Aber als alle Gäste, darob entrüstet, auf ihn eindrangen, da hob er es -wieder, schwang es mit beiden Fäusten, und breitspurig mit gespreizten -Beinen auf dem Tisch aufgepflanzt, schrie er mit voller Lungenkraft: -„Ruh’ geben! Zurück! Sonst hau’ ich auf eure Schafsköpf’ den größten -drauf!“ - -Dann schleuderte er das Bild zu Boden, daß die Scherben splitternd -umherflogen, sprang hinterdrein und tat mit seinen Kumpanen so -gründliche Arbeit, daß die Vereinigung katholischer Männer kläglich -abziehen mußte. Worauf Wart Nikl schmunzelnd den rötlichen Vollbart -strich und eine Sitzung der Freisinnigen eröffnete, die bis zum -grauenden Morgen dauerte. -- - -Und früher -- in Zeiten schwerer nationaler Bedrängnis -- als die Stadt -Neuberg eine Kundgebung gegen die slawischen Vorstöße veranstaltete und -als von einer kurzsichtigen Regierung zur Verhütung von Ausschreitungen -ein slawisches Reiterregiment in die Stadt beordert wurde, das -denn auch alsbald mit flachen Säbelhieben in die leidenschaftlich -aufgewühlte Volksmenge einbrach, da hatte sich Wart Nikl den hitzigen -Blauröcken entgegengestellt, hatte Rock, Weste, Hemd vorn auseinander -gezerrt, und den Soldaten die nackte Brust darbietend, hatte er -gebrüllt: „Da! da! Stecht her, wenn ihr dürft! Totschlagen könnt ihr -uns, unterkriegen niemals nicht!“ - -Daraufhin hatte man sich die Sache noch einmal überlegt und gegen -die ehrenwörtliche Versicherung des Bürgermeisters, daß die Leute -freiwillig und friedlich auseinandergehen würden, die Truppen abrücken -lassen. Und als hernach die Verwundeten vorüber getragen wurden, da -waren dem Wart Nikl die Tränen aus den Augen gesprungen und mit einem -schmerzvollen Blick zum Standbild Kaiser Josefs II. hatte er gerufen: -„Schau’ her, trauter Kaiser Seff, schau’ nur her, wie’s deinen -Deutschen heutigentags geht!“ -- - -Dieser Begebenheit verdankte er übrigens das beste Glück seines -Lebens. Denn wie jedes Ausharren in einer gemeinsamen Not wildfremde -Menschen urplötzlich vertraut macht, hatte sich neben den stiernackigen -Kaufmann, der dem Übermut der slawischen Reiter mit seiner mächtigen -Stimme Einhalt tat, ein schlankes Mädchen mit wehendem Blondhaar -mutvoll aufgepflanzt und laut gerufen: „Recht so! Recht!“, wobei es den -Soldaten herausfordernd die funkelnden Augen entgegenhielt. - -An diesen Blick mußte der Junggesell fortwährend denken und kam nach -einigen Tagen rätselhafter Unrast endlich zu dem Entschluß: „Die wird’s -oder keine!“ - -Sie hieß Hedwig und war die Tochter des Stadtarztes Doktor Kreuzinger, -der aus übergroßer Liebe zur Heimat die gewählte Hochschullaufbahn und -damit auch die sichere Anwartschaft auf eine Universitätsprofessur -aufgegeben hatte, um in seiner Vaterstadt ständig leben zu können. Er -war ein ebenso ausgezeichneter praktischer Arzt wie scharfsichtiger -Forscher, und seine Abhandlungen in den Fachblättern fanden wegen -ihrer gehaltvollen Sachlichkeit Anklang und Beachtung. Wie denn -auch bei den Kongressen, zu denen er sich regelmäßig einzufinden -pflegte, manche ‚Berühmtheit‘ mit Worten schmeichelhaften Lobes des -unscheinbaren Kollegen aus der Provinz Erwähnung tat, worüber der -dann stets errötete und in eine hilflose Befangenheit hineingeriet, -bis ein neuer Redner seine Aufmerksamkeit fesselte. Dann begannen die -schlanken Finger in dem grauen Vollbart zu wühlen, die gescheiten Augen -wurden wieder lebendig, und eine Falte auf der Stirn verriet die starke -Gedankenarbeit, womit der bescheidene Landarzt dem Vortrag folgte. - -Auf die Werbung des Kaufmanns erwiderte er einfach: „Wenn sie will, -ich rede ihr da nichts hinein.“ Und der urwüchsige Gesell verlor -vielleicht zum erstenmal im Leben seine Sicherheit, wurde verlegen -wie ein Schuljunge und mühte sich mit seiner ungelenken Zunge schöne -Satzgebilde zu formen, als er dem schlank aufgewachsenen Mädchen -gegenüberstand, das ihn stirnbreit überragte, trotzdem es erst siebzehn -Jahre alt war. Aber sie sagte ja. Die aufrichtige Geradheit des Mannes, -seine ehrliche Lebensführung, die wie ein offenes Buch im vollen Licht -vor aller Augen dalag, hatten’s ihr angetan. Und sie hatte nie Ursache, -ihre Wahl zu bedauern. Auch dann nicht, als Wart Nikl erkannte, daß sie -in jener bewegten Stunde nicht Begeisterung an seine Seite getrieben -hatte, sondern lediglich die heilige Entrüstung, die jeden Guten packt, -wenn irgendwo Gewalt vor Recht gehen soll. - -Jeder ehrte die wackere Art des andern und forderte nichts Unmögliches -von ihr. Weder Hedwig, daß Nikl ihr zuliebe plötzlich ein Schöngeist -werde, noch er, daß seine schöne Frau Rosinen abwiege, kiloweise Mehl -verkaufe oder die Buchführung lerne. Er überließ ihr auch die Erziehung -der Kinder, da er wußte, daß sie ihm hierin überlegen war. Und seit -sein Versuch, auf die Berufswahl des Sohnes kraft seiner väterlichen -Gewalt bestimmend einzuwirken, kläglich gescheitert war, übersah er, -der Bücherfeind, es sogar stillschweigend, wenn Frau Hedwig ihrem -Jungen Geld zur Beschaffung von Zeitschriften oder Büchern einhändigte. - -Die erworbenen Schätze stapelte Heinz mit unverdrossenem Sammeleifer -in seiner Dachstube auf, die dadurch ein recht gelehrtes und von den -übrigen Räumen des Hauses grundverschiedenes Gepräge bekam. Allerhand -Druckwerke stauten sich hier auf Schrank und Tisch und füllten längs -der Wände hohe Regale, wogegen in den anderen Zimmern nur Preislisten, -Warenproben und Geschäftsbriefe herumlagen. Denn Vater Wart las außer -einer Tageszeitung und der deutschen ‚Grenzwacht für Neuberg und -Umgebung‘ überhaupt nur, was mit der Führung seines Geschäftes und -seiner bürgerlichen Ehrenämter unmittelbar zusammenhing. - -Um so heißhungriger fiel Hellwig über die Bücherei des Freundes her. -Der Kaufmann war ihm deswegen nicht besonders grün und äußerte zu -seiner Frau, der lange Blonde mit den Storchbeinen sei gerade so ein -Mucker wie sein Herr Sohn. Dagegen nannte er Pichler bald einen netten -und vernünftigen jungen Mann, weil dieser rasch die schwachen Seiten -des einflußreichen Bürgers aufgespürt hatte, mit ihm über das Geschäft -sprach, für Warenmuster Interesse zeigte und sich in den Marktpreisen -auskannte, kurz zu haben schien, was Nikl an seinem Heinz so ungern -vermißte: das Zeug zu einem guten Kaufmann. - -Frau Hedwig erwiderte auf diese Lobsprüche nichts. Ihr gefiel Pichler -nicht. Doch sie war zufrieden, Heinz und Fritz beisammen zu wissen -und störte ihren Verkehr nicht, trachtete im Gegenteil, daß Hellwig -sie nicht zu Gesicht bekam, weil sie das Gefühl nicht los wurde, daß -ihm ein Zusammentreffen mit ihr Unbehagen schaffe. Dem war in der Tat -so. Sie hatte auf den jungen Menschen gleich bei der ersten Begegnung -tiefen Eindruck gemacht, und so sehr er sich dagegen wehrte, er mußte -die schöne Frau lieben. Mußte sie lieben, weil sie im Vollsinn des -Wortes eine Mutter war -- und haßte sie auch vom selben Augenblick an. -Mußte sie hassen in seiner jugendlichen Parteilichkeit, weil sie nicht -seine Mutter war. Weil sie ihn zwang, Vergleiche zwischen ihr und -der eigenen Mutter anzustellen und weil diese Vergleiche immer gegen -letztere ausfielen. Sein kindliches Gemüt kämpfte dagegen an, wollte -sich das reine Bild derjenigen nicht trüben lassen, die ihn in ihrem -Schoße getragen. Aber der kalte Verstand trieb ihn stets aufs neue das -Für und Wider abzuwägen -- und immer neigte sich das Zünglein zugunsten -der blonden Frau. - -Das ging so weit, daß ihm sogar die Schamröte ins Gesicht stieg, -als er eines Tages Heinz und Otto in seine Behausung führte und die -Mutter nach einer kleinen Weile mit ihrer unvermeidlichen Kaffeekanne -anrückte. Ein schwächliches, verblühtes Frauchen, sanft, gutherzig -und rührselig, kam sie hereingetrippelt, bat um Entschuldigung, daß -sie nichts Besseres vorzusetzen habe, und auf Pichlers Frage, ob die -Hühner des Nachbarn ihr noch immer auf dem Bleichplatz im Gärtchen -die Wäsche beschmutzten, erhob sie sofort ein großes Jammern über -diese Rücksichtslosigkeit, mit reichlichem Wortschwall und Mitleid -heischender Miene. - -Fritz saß da und schämte sich vor Heinz. ‚Dort Bücher und verstehendes -Fernbleiben -- hier Kaffee und Geschwätz!‘ dachte er bitter. Denn er -war noch nicht reif genug für die Erkenntnis, daß hier wie dort ein -gleich schönes menschliches Empfinden nur seinen verschiedenen Ausdruck -fand. - -„Hör’ doch schon auf mit dem Quatsch, Mutter!“ sagte er unwillig. - -Da verstummte sie erschrocken und stahl sich mit einem unterdrückten -Seufzer aus der Stube. - -Kaum gesprochen, war ihm das Wort schon leid. Aber als jetzt Heinz -seine ernsten Augen auf ihn richtete: „Du hast sie gekränkt!“, da fuhr -er auf: „Ach was, wenn sie auch fort so herumgreint!“ Und dann heftig -zu Otto: „Warum fragst du auch immer so? Meine Mutter ist mir zu gut -für deine blöden Witze!“ - -Der Angefahrene widersprach gekränkt und beteuerte seine guten -Absichten. Aber Fritz ließ ihm nichts gelten. Schimpfend rannte er -im Zimmer herum, und es waren nicht gerade Schmeichelworte, die er -Pichlern an den Kopf warf. Je länger er so wetterte, desto mehr fühlte -er, wie grundlos eigentlich seine Vorwürfe waren. Er hörte aber -trotzdem nicht auf. Er mußte sich Luft machen, empfand eine wohltuende -Befreiung dabei. - -Unterdessen war Heinz behutsam in die Küche geschlichen, wo Frau -Hellwig, die Hände im Schoß gefaltet, beim Fenster saß und aus -tränenvollen Augen bekümmert in den Hof blickte. Als sie ihn gewahrte, -erhob sie sich schnell: „Sie wünschen wohl Trinkwasser? Gleich sollen -Sie’s haben!“ - -Bei diesen Worten hatte sie sich schon gebückt und machte sich mit der -Wasserkanne zu schaffen, damit er ihr verweintes Gesicht nicht bemerken -sollte. - -„Lassen Sie’s nur, Frau Hellwig!“ sagte Heinz darauf. „Ich hab’ keinen -Durst. Es ist nur -- Fritz hat das nicht bös gemeint ...“ - -Nun richtete sie sich lebhaft in die Höhe: „Hat er Sie geschickt?“ - -„Das nicht, -- aber ... ich weiß das eben ...“ - -„Nicht wahr, er ist ein garstiger Junge!“ seufzte sie. „Horchen Sie -nur, wie er schreit! Was er nur wieder haben mag?“ - -„Es reut ihn, daß er so schroff gewesen. Der arme Otto muß jetzt dafür -büßen. Aber der verträgt’s!“ erwiderte Heinz leichthin. - -Zweifelnd blickte sie ihn an: „Zeit wär’s schon, Herr Heinz, wenn er -einmal zu Vernunft kommen wollte. Immer ist er gleich obenhinaus. Wenn -man doch nur sein Bestes will ...“ -- ihre Tränen begannen wieder zu -fließen -- „und wenn man dann nichts als Undank davon hat, das tut weh. -Nicht ein bissel hat er mich lieb!“ - -„Er zeigt’s Ihnen bloß nicht!“ versuchte Wart den Freund zu -verteidigen. Die Witwe aber klagte unbeirrt fort: „Das kommt alles -nur daher, weil er in keine Kirche mehr geht. Wohin soll das führen? -Noch keinem ist’s gut gegangen ohne den lieben Gott, das können Sie -mir alten Frau schon glauben ... Es ist ein Kreuz, ein rechtes Kreuz -mit dem Jungen! -- Aber da steh’ ich und red’ und vergess’ ganz, ich --- hab’ ja noch ein paar Lederäpfel. Die müssen Sie kosten! Der Fritz -fliegt nur so darauf!“ - -Da sah Heinz, daß hier ein Trost nicht nötig war, und während Frau -Hellwig geschäftig die runden Früchte auf einem Teller ordnete, ging er -wieder ins Zimmer zurück. - -Fritz vermied es jedoch seit jenem Tage, die Freunde in seine Wohnung -mitzunehmen. - - -5. - -Weihnachten war vor der Tür, und damit war auch die Zeit gekommen, -da Pater Romanus seine Schäflein zur ersten von drei schuljährlichen -Beichten zu verhalten pflegte. Sämtliche verfügbaren Seelenhirten von -Neuberg, insbesondere die frommen Mönche aus dem Franziskanerkloster, -leisteten werktätige Beihilfe. Klassenweise wurden ihnen die Schüler -zugewiesen, wobei jedoch Romanus besondere Wünsche seiner Studenten -nach Möglichkeit berücksichtigte. Allen konnte er’s freilich nicht -recht machen, weil nach einzelnen Beichtvätern wegen ihrer Milde -eine allzu rege Nachfrage herrschte, die Milde nach der Kürze der -Ermahnungen und der Bußgebete eingeschätzt. - -Hellwig aber trachtete diesmal bei dem allgemein gefürchteten Pater -Guardian anzukommen, der nicht im Beichtstuhl, sondern in seiner Zelle -die Verfehlungen der Gläubigen anzuhören und endlose geharnischte Reden -gegen die armen Sünderlein loszulassen pflegte. - -Jede Rede verschlug es ihm jedoch, als Fritz, kaum auf dem Schemel -niedergekniet, rauh hervorstieß: „Meine Beichte ist kurz, ich glaube an -gar nichts!“ - -Ein langes Schweigen folgte den Worten. Die kleine, vertrocknete -Priestergestalt saß ganz unbeweglich, und der kahle Schädel leuchtete -wie eine große Billardkugel unter Hellwigs niederschauenden Augen. - -„Ich glaube an gar nichts!“ sagte er endlich nochmals. - -Nun regte sich unbehaglich der Leib in der dunklen Kutte, zwei wässrige -Augen mit roten Rändern schauten hilfeheischend zur Decke und eine -zögernde Stimme fragte: „Ja ... lieber Bruder ... lieber Bruder ... wie -sind Sie denn dazu gekommen?“ - -„Durch Nachdenken und Vergleichen, auch durch Lesen,“ erwiderte Fritz -und blickte dem Frater fest ins Gesicht. Der rutschte unruhig auf -seinem Stuhl hin und her und suchte nach einer schicklichen Einleitung. - -„Lieber Bruder,“ fing er endlich an, und Hellwig wunderte sich über -die freundliche Stimme, den warmen Blick des als unleidlich streng -Verrufenen. „Lieber Bruder, Sie sind noch jung und daher leicht zur -Übertreibung geneigt. Sie glauben an gar nichts, sagen Sie, aber Sie -sagen das nur, weil Ihnen noch nicht klar geworden ist, daß wir alle, -die wir Menschen sind, sehr wenig wissen und sehr viel glauben. Sie -glauben jetzt vielleicht den Worten eines alten Priesters ebensowenig -wie den Worten der Heiligen Schrift. Aber einen Schöpfer lassen Sie -doch gelten, nicht wahr?“ - -„Nur die Natur!“ - -„Dann haben Sie lediglich einen anderen Namen für denselben Gegenstand -und glauben nur an einen Teil unseres allumfassenden Gottes. Denn: -meinst du, daß ich ein Gott nur in der Nähe bin und nicht auch ein Gott -in der Ferne? Erfülle ich nicht Himmel und Erde, spricht der Herr. -- -Wollen Sie mir jetzt ein paar Fragen ehrlich beantworten?“ - -Der Jüngling nickte stumm. - -„Sagen Sie mir also vor allem, wie Sie es mit den zehn Geboten halten, -vom vierten angefangen. Bemühen Sie sich, die darin vorgeschriebenen -Pflichten gegen die Eltern und Nächsten sowie gegen sich selbst zu -erfüllen?“ - -„Ich will nie etwas tun, das ich nicht vor mir selbst verantworten kann -und bemühe mich, meine Kräfte für die Allgemeinheit auszubilden, so gut -ich kann,“ entgegnete Fritz nach einigem Besinnen. - -„Schön, lieber Bruder, recht schön. Das ist ganz christlich gedacht -und gehandelt. Und nun noch eins: Haben Sie sich leichtfertig oder aus -Übermut zu einer solchen Beichte entschlossen? Haben Sie skrupellos und -ohne Kampf den Glauben Ihrer Kindheit über Bord geworfen?“ - -„Es ist mir nicht leicht geworden,“ gestand Hellwig, wenn auch mit -Widerstreben. - -„Das genügt mir schon, lieber Bruder, denn: an ihren Früchten sollt -ihr sie erkennen, spricht der Herr. Und deswegen ...“ - -Der greise Priester schwieg und schien mit einem schweren Entschluß zu -ringen. Dann aber sagte er, und es zeigte sich, daß in dem verwitterten -Körper jene Liebe, die ihn einst seinem Berufe entgegengeführt hatte, -noch lebendig, daß sie nicht zermürbt oder ertötet worden war, durch -den beständigen Kampf wider den Zweck und die Bestimmung seines -Menschentums. Jenen entnervenden Kampf, den er als Jüngling in der -Begeisterung seiner Jahre freiwillig aufgenommen hatte und darin der -gereifte Mann unter allen Qualen des Entsagens und Kasteiens gegen die -Natur sündigen mußte, um nicht gegen seinen Gott zu sündigen. - -„Mein lieber Bruder,“ sagte er, „Ihre Sünde ist nicht so groß, wie Sie -anzunehmen scheinen. Und der Schmerz, die Unruhe, die Sie empfinden, -seit Sie an unserm barmherzigen Schöpfer zu zweifeln angefangen haben, -ist auch eine Buße, die gewogen und wahrlich nicht zu leicht befunden -werden wird. Darum glaube ich es vor Gott und vor meinem Gewissen -rechtfertigen zu können, wenn ich Sie Ihrer Sünden ledig spreche. -Leider habe ich nicht die Zeit, Ihnen die Gründe eingehend darzulegen, -denn draußen warten andere Beichtkinder. Auch bin ich alt und müd und -geistig nicht mehr regsam genug, um die großen Gärungen der neuen Zeit -zu verfolgen und Ihnen im Sinne unseres Glaubens auszudeuten. Wenden -Sie sich daher an Ihren Religionsprofessor und vertrauen Sie sich ihm -getrost an. Es wird Ihr Schade nicht sein.“ - -Segnend hob er die Hand, begann er die lateinische Formel zu -sprechen. Er ließ sich hierbei auch von dem Gedanken leiten, daß -durch ein Verweigern der Lossprechung, das bei den strengen -Gymnasialvorschriften leichtlich zur Ausweisung führen konnte, der -junge Zweifler nicht nur nicht gebessert, sondern erst recht zum -Verharren in der eingeschlagenen Bahn bewogen worden wäre. Hellwig -aber verstand diese Güte nicht. Rücksichtslos und hart gegen sich -und andere, forderte er dieselbe Härte und Rücksichtslosigkeit im -Verfechten der Grundsätze auch von den anderen für sich selbst wie ein -gutes Recht. Deswegen wartete er das Ende der Lossprechung nicht ab, -sondern erhob sich mit einer jähen Bewegung von den Knien und schritt -trotzig aus der Zelle. - -Er ging zu Pater Romanus. - -Der bewohnte im ersten Stockwerk eines armseligen Hauses zwei enge -Gelasse, die mit Kruzifixen, Heiligenbildern, Büchern und kaum dem -notwendigsten und dürftigsten Hausrat versehen waren. In dem einen Raum -befand sich neben einem Schrank, einem Betpult und einem Waschtisch -überhaupt nur noch ein schmales, mit Roßhaarkissen und einer groben -Kotze ausgestattetes Bettlein. Es ging jedoch die Rede im Ort, daß an -diese zwei Räumlichkeiten noch ein drittes Zimmer stoße mit behaglichen -Polstermöbeln und mit weichen Daunenpfühlen in einer breiten, fast -doppelspännigen Bettstatt, darinnen eine wunderschöne Nichte des -Paters die jungen Glieder strecken und nebenbei auch dem Oheim die -Wirtschaft führen sollte. Doch konnte das ebensogut böswillige -Verleumdung sein, denn wenn auch manche ein derartiges Frauenzimmer -bisweilen an den Fenstern oder im abendlichen Dunkel auf Spaziergängen -begriffen gesehen haben wollten, so war für alle Fälle und jedermann -sichtbar eine ungemein häßliche Weibsperson vorhanden, die in einer -winzigen Küche ein ungebärdiges Wesen entfaltete, wie ein Zerberus -den Wohnungseingang bewachte und jeden Unbekannten rücksichtslos vor -der hölzernen Lattentür im Vorflur warten ließ, bis sie ihn bei ihrem -geistlichen Herrn angemeldet hatte. - -Auch Fritz erhielt auf seine Frage, ob er den Herrn Professor sprechen -könnte, die mürrische Antwort: „Werd’ nachsehn!“ und konnte dann in -aller Muße Zug für Zug die Buchstaben des messingnen Namensschildes an -der Vorhaustür betrachten, ehe ihm diese geöffnet wurde. - -Pater Romanus empfing ihn beim Schreibtisch sitzend, und sein Kopf war -vollständig unsichtbar zwischen den dickleibigen Schmökern, die sich -rechts und links der Wangen zu Bergen türmten. Als die Tür aufging, -stieg der schwarze Haarschopf langsam aus diesem Bücherverließ, die -Augen spähten wie über eine Burgzinne nach dem Eintretenden, -- dann -sprang die schwarze Gestalt rasch vom Sessel empor und kam mit einem -freudigen „Ah!“ der Überraschung auf den Jüngling zu. - -Der aber ließ sich nicht beirren, sondern begann ohne Umschweife einen -trockenen Bericht über den Vorfall in der Beichtkammer. - -Pater Romanus hatte sich an dem Tisch in der Mitte des Zimmers -niedergelassen und hörte mit einem rätselvollen Gesichtsausdruck -aufmerksam zu. Als Hellwig fertig war, sagte er mit mühsam -behaupteter Ruhe: „Wenn das so ist, Kind Gottes, dann gehen Sie -morgen selbstverständlich nicht zur heiligen Kommunion. Auch vom -Kirchenbesuch enthebe ich Sie vorläufig unter der Bedingung, daß Sie -dafür wöchentlich einmal zu mir kommen. Wollen Sie mir das versprechen?“ - -„Ich glaube nicht, daß das einen Zweck hätte, Herr Professor,“ -entgegnete Fritz zögernd. - -Nun erhob sich der hagere Priester wieder, stand in der dunklen -Soutane, die sich glatt und faltenlos über den flachen Brustkasten -spannte, Stirn gegen Stirn dem hoch aufgeschossenen Schüler gegenüber, -und seine Stimme hatte den schwingenden Predigerton, als er jetzt rief: -„Geben Sie den Einflüsterungen des Bösen kein Gehör, der übermächtig -in Ihrem Herzen aufsteht, weil die alleinseligmachende Kirche ihre -Anstalten trifft, ihm ein vermeintlich schon sicheres Opfer zu -entreißen. Er schlägt Sie mit Blindheit, daß Sie vor lauter Finsternis -den Zweck nicht sehen können und das sonnenklare Ziel! Ihre Seele ist -in Gefahr, Fritz Hellwig! Sehen Sie in mir das Sprachrohr unseres -allgütigen Gottes, der Sie in letzter Stunde zur Umkehr mahnt!“ - -Da reckte sich der Jüngling empor: „Ich habe es nicht nötig, -umzukehren, Hochwürden. Ich will nicht zurück, sondern vorwärts!“ - -„Ihre Verstocktheit ist groß, Kind, aber mit Gottes Hilfe ist mir die -Bekehrung weit ärgerer Sünder schon gelungen, auch bei Ihnen wird sie -kein vergebliches Bemühen sein. Ich kenne Sie durch und durch, Hellwig, -und kenne auch die Ursache Ihres jetzigen Zustandes. Sie lesen zu -viele weltliche Bücher. Machen Sie sich davon frei! Die weltlichen -Bücher sind die Saatfelder des Teufels, in denen die Giftpflanze der -Seelenfäulnis üppig in die Halme schießt! Sie machen den Gläubigen -wankelmütig und bestärken den Ungläubigen in seinem gottlosen Wandel. -Satan wollte die Menschheit von Gott abwendig machen, da erfand er die -Lettern und gab ihr die weltlichen Bücher. Aller Schmutz fließt in -ihnen zusammen wie in einer Kloake und jegliches Übel kommt von ihnen. -Verbrennen sollte man sie und in Acht und Bann tun alle diejenigen, -die sie erzeugen und verbreiten! Kind Gottes, warum lasen Sie solche -Schriften, in denen die Verleumdung der Religion ihren eklen Geifer -verspritzt? Warum lasen Sie weiter, statt sie ins Feuer zu werfen, als -Sie die Verlockung zum Unglauben merkten?“ - -„Solche Bücher kenne ich nicht, Hochwürden. Nur ernste -wissenschaftliche Werke. Darwin zum Beispiel.“ - -„Darwin!“ ächzte Romanus. „Darwin! -- Auch ich habe ihn gelesen, aber -als reifer, glaubensfester Mann und nicht als haltloser Jüngling! -Wissen Sie denn nicht, daß geschrieben steht: Hütet euch vor jenen, -die im Schafspelze zu euch kommen, im Innern aber reißende Wölfe sind? -O Kind Gottes, und Darwin ist der Oberste dieser Wölfe! Ein Irrlehrer -ist er, ein schamloser Verführer und wahnwitziger Lügensprecher! Oder -ist es nicht Wahnsinn, daß wir, die Ebenbilder Gottes, für die sein -eingeborener Sohn am Kreuze blutete, entstanden sein sollen nicht -durch eines allmächtigen Schöpfers Hand, sondern durch blinden Zufall -aus einem Urschleim? Der Kot des Lebens Anfang und der Menschheit -Vater! O mein Gott! Mein Gott! Daß sich überhaupt Leute finden, die so -hirnverbrannt sind, das zu glauben!“ -- Der Eiferer schlug sich mit der -flachen Hand vor die Stirn und Fritz entgegnete bescheiden: - -„Auch in der Bibel steht, daß Gott den Menschen aus Staub erschaffen -hat.“ - -„Aus Staub, jawohl! Aber nicht aus Dreck! Aus Staub, den seine -göttliche Hand von aller Unreinheit geläutert und geadelt, sein -göttlicher Atem gewandelt hat zum köstlichen Gefäß der unsterblichen -Seele!“ - -Da sagte Hellwig und ein warmes Leuchten kam aus seinen Augen: „Auch -dieses habe ich in Darwins Lehre gefunden. Der Atem Gottes kam in den -Staub -- da war das Leben. Das Leben selbst ist dieser Atem, des Lebens -Regung in uns, das ist die Seele, unsterblich wie das einmal gewordene -Leben selbst. Und Gott ist nichts anderes als die Natur, die aus sich -selbst das Leben gebiert, dreifach und doch nur eins: der leblose Stoff -als Träger der ewigen, ehernen, großen Gesetze; der Leben gewordne -Stoff, der den unbelebten zur Selbsttätigkeit erlöst und endlich der -Selbstbewußtsein gewordene Stoff, der Geist. So hab’ ich’s mir zurecht -gelegt.“ - -„Lästern Sie nicht, Verblendeter!“ Der Pater hob abweisend die Hand. -Ruhiger fuhr er fort: „Ihre Seele, Kind, ist überwuchert von Unkraut -und Dornen! Viel Schweiß wird es kosten, diesen Boden zu jäten und für -die Aufnahme der heiligen Samenkörner zu bereiten, die da sind die -Worte der Evangelien. Wir müssen ganz von vorn anfangen und das so bald -als möglich. Morgen abend um sechs Uhr erwarte ich Sie. Jetzt aber -lassen Sie mich allein. Sie haben mich tief betrübt, ich will im Gebete -Trost und Zuflucht suchen. Und auch für Sie will ich beten, daß Ihnen -Gott die schwere Sünde nicht zu hoch anrechnet, die Sie im Angesicht -des Gekreuzigten begangen haben!“ - -Er warf sich vor dem Hausaltar, der in einer Zimmerecke errichtet -war, in die Knie, legte die Stirn auf das Holz der Betbank, hielt -die gefalteten Hände über dem Haupt empor. Wie gelöst schienen seine -Glieder, unter dem seidig glänzenden Priesterrock bebte der Leib in -Fieberschauern. - -Eine tiefe Furche zwischen den Brauen, mit stürmischem Atem und -zuckenden Nüstern schaute Fritz empört zu. Dann sagte er laut und hart: -„Herr Professor, lügen Sie doch nicht Ihrem Herrgott ins Gesicht!“ - -Jäh fuhr Romanus in die Höhe. In den Halsadern pochten ihm alle -Pulse sichtbar. „Bube!“ schrie er. Aber sogleich wieder hatte er die -aufgestörten Leidenschaften fest im Zügel. Stoßweise, mit gewaltsam -gebändigter Erregung, sprach er: „Danken Sie’s Ihrer Mutter, daß nur -der Priester und nicht Ihr Professor die frechen Worte gehört haben -will. Sie haben die Achtung vor jeder Autorität verloren. Hellwig, -Hellwig, das wird ein böses Ende nehmen! Ich wollte Ihnen ein Freund -und Berater sein, doch Sie haben meine väterlich gebotene Hand -zurückgestoßen. Gut! Ganz wie Sie wünschen! Ich werde trachten, auch -das zu vergessen. Das ist mehr Nachsicht, als Sie verdienen. Damit ist -meine Aufgabe vorläufig beendet. Wenn Sie aufrichtig bereuen, steht -Ihnen meine Wohnung wieder offen. Bis dahin -- gehen Sie!“ - -Sein ausgestreckter Finger zeigte nach der Tür. Fritz verneigte sich -stumm und ging langsam. Aber über die ausgetretene Schneckenstiege -rannte er schon in heftigen Sätzen. - -Draußen atmete er auf. Die leichte Winterluft streichelte ihm -die Stirn, schien mit frischen, kühlen Händen alle Unreinheit -fortzuwischen, die er aus dem Haus des Geistlichen an Leib und Kleidern -mitzutragen glaubte. - -Trotzdem gelang es ihm nicht gleich, den Ekel zu überwinden, den das -Gebaren des Jesuiten in ihm ausgelöst hatte und den er ganz körperlich, -wie den Nachgeschmack einer verdorbenen Speise, zu empfinden vermeinte, -so oft er sich das Bild wieder vergegenwärtigte: Die große Gebärde, mit -der sich Romanus vor dem Altar in die Knie geworfen, das heuchlerische -Spiel mit Gebet und christlicher Liebe, die schamlose Schaustellung -von Gefühlen, die, wenn wirklich empfunden, unter allen Umständen der -Einsamkeit gehören mußten. Und er empfand lebhafte Genugtuung, daß er -mit seiner Meinung nicht hinterm Berge gehalten. Vor den Folgen war ihm -nicht bang. Er wußte, daß er recht gehandelt und glaubte noch an den -Sieg des Rechts, weil er an die Menschen glaubte und, selbst vornehm, -auch anderen keine Niedrigkeit zutraute. - -Als er nach stundenlangem planlosen Herumwandern das Gleichgewicht -endlich wieder erlangte, war der Abend bereits so weit vorgerückt, daß -er Heinz nicht mehr aufsuchen wollte. Der wußte ebensowenig wie Otto -um die ganze Angelegenheit. Denn Hellwig hatte diesmal niemandem seine -Absicht mitgeteilt, weil er die Erinnerung an das Auskneifen Pichlers -noch zu lebendig mit sich herumtrug und nicht abermals einen Freund -in Versuchung bringen wollte. Das Verheimlichen war ihm schwer genug -angekommen, wie einen Vertrauensbruch empfand er es. Der Aufschub, -zu dem er sich jetzt abermals gezwungen sah, war ihm daher höchst -unlieb, und er konnte kaum den nächsten Vormittag erwarten. Dieser war -schulfrei zum Behufe eines würdigen Nachgenusses der Kommunion, die den -Studenten bei der ersten Frühmesse gespendet wurde und von der sich -Hellwig selbstverständlich fern hielt. - - -6. - -Die Uhr am Rathaus hatte noch nicht neun geschlagen, als Fritz auch -schon mit langen Beinen über die breiten Holztreppen zu Heinzens -Behausung hinaufeilte. - -Die Morgensonne hielt vor den bemalten Bogenfenstern, ließ die satten -Farben der Glasbilder aufleuchten und füllte das geräumige Stiegenhaus -mit warmem Licht. Vom Hof her drang das Lärmen der Auflader, das -Klirren der Wagenketten und das Gewieher der Pferde. Das alte Haus, -das sonst, wenn die Sonne vorübergegangen war, düster, fast mürrisch -dreinblickte, war heute gar nicht wieder zu erkennen. Jeder Winkel -schien hell und munterer Tätigkeit voll zu sein, wie ein Tempel -fröhlicher Arbeit stand es, tönte und glänzte im jungen Morgenlicht. - -Und jetzt mischte sich in den summenden Lärm der Ladestellen von oben -her Türenschlag und Schuhgetrapp. Auf schnellen Füßen kam etwas die -Stufen herabgepoltert, bog um die Ecke des Treppenabsatzes. Gewänder -rauschten, ein heller Rocksaum flatterte um schwarzbestrumpfte Knöchel, -ein dicker Blondzopf schwang den Takt dazu. Ranke, geschmeidige, -biegsame Glieder, blaue Funkelaugen, gerötete Wangen -- das war ein -Hasten, war ein Eilen, hatte nicht mehr Zeit, die wirbelnden Füße zu -hemmen und -- stieß mit Hellwig Stirn gegen Stirn zusammen. - -Wehleidig-erschrocken ein „Au!“ aus weißer, weiblicher Kehle. Der -Hut des Jünglings flog zu Boden. Lebenswarm knospende, drängende -Jugendfülle fiel zugleich mit einem strauchelnden Mädchenleib für einen -Augenblick in die Arme des Verlegenen, zehn kleine Finger klammerten -sich Halt suchend an seinem Rockkragen fest. Dann sprang ein Lachen -lustig in den Morgenglanz hinein: „Verzeihen Sie, bitte!“ und weiter -ging’s in trappelnden Schuhen und wehenden Kleidern die Stiege hinunter -durchs flimmernde Spiel der Sonnenlichter, während Fritz noch auf dem -Treppenabsatz stand und mit der Hand die Beule an der Stirn befühlte. - -„Das war die Ev!“ sagte Heinz lachend, als ihm der Freund die Begegnung -erzählte. - -„Was denn für Ev?“ knurrte Hellwig verdrossen. Er ärgerte sich über -die Heiterkeit des andern und hatte das unbehagliche Gefühl, daß -er irgendwie eine lächerliche Rolle gespielt haben könnte. Und als -nun Heinz lustig rief: „Da hört sich doch alles auf! Jetzt weißt du -Brummbär am Ende gar nicht, daß ich eine Schwester hab’?“, da wurde -Fritz wieder einmal ungemütlich. - -„Woher sollt’ ich’s wissen? Gesagt hast du mir nichts, und -herumschnüffeln tu’ ich nicht!“ polterte er los. „Überhaupt -- schöne -Freundschaft das! Wenn sie mir nicht grad’ eine Beule gestoßen hätte, -wüßt’ ich bis heute nicht, daß mein Freund eine Schwester hat!“ - -Nun mußte er jedoch selber lachen, und so unterblieb diesmal der -Auftritt. - -Heinz war in trefflicher Laune und scherzte weiter: „Dann hast du -wenigstens gleich einen Vorgeschmack bekommen! Tröst’ dich, du wirst -mit dem tollen Ding noch mehrfach zusammenrennen!“ - -Da hob Fritz die Hände wie zur Abwehr: „Das fehlte grad’ noch!“ - -„Wird dir nichts übrig bleiben!“ erwiderte Heinz. „Sie ist schon -furchtbar neugierig auf dich. Gestern ist sie auf Weihnachtsferien -gekommen -- weißt, sie ist heuer in Deutschland draußen in einem -Töchterheim -- und die Mutter muß ihr was von dir geschrieben haben. -Sie hat wenigstens gleich gestern gefragt, wann du herkommst.“ - -„Dann komm’ ich überhaupt nicht mehr, bis sie wieder fort ist! Ich -wüßt’ ja gar nicht, was man mit so einem Wesen reden soll!“ platzte -Fritz heraus und Wart setzte die Neckerei fort: „Nur Mut, Fritze! Wenn -man erst über den Anfang hinaus ist, findet sich alles von selber. Sie -wird dich nicht gleich fressen!“ - -„Aber ich kann doch um Himmels willen nicht von Buddha und Haeckel mit -ihr sprechen!“ unterbrach ihn Hellwig verzweifelt. „Und was anderes -interessiert mich nicht! Und was mich nicht interessiert, davon red’ -ich nicht! Und wovon ich gern reden möcht’, das kann doch wieder so ein -Pensionsmädel nicht interessieren, so ein Gansl! Nein, da ...“ - -‚Tu’ ich nicht mit‘ wollte er sagen. Aber der Satz blieb ihm in der -Kehle stecken. Mitten in seine Worte hinein hatte eine klingende Stimme -gerufen: „Dank’ schön für die gute Meinung, Herr Hellwig!“ - -Und da stand sie, gegen die er soeben geeifert, leibhaftig unter der -geöffneten Tür, durch die vom Gangfenster in der hinteren Giebelwand -ein breiter schräger Streifen Sonnenlicht fiel. Wie goldene Fädchen -glänzten die krausen Locken über den kleinen Ohrmuscheln, hinter den -lachenden Lippen blitzten die Zähne, und die Sonnenstäubchen tanzten -um die feinen Schultern, tanzten um die werdenden Hüften unterm roten -Gürtelband, tanzten um den ganzen schlanken Leib im hellen Tuchkleid, -der sich auf tanzbereiten Füßen wiegte und seiner jungen Schönheit -sorglos freute. - -Fritz war nicht so sorglos. Linkisch stand er, mit rotem Gesicht, -und wußte tatsächlich nicht, was er reden sollte. Heinz schaute von -seinem Schreibtisch behaglich nach den beiden, schlang die Hände um das -emporgezogene Knie und war gemütsroh genug, dem ruppigen Freunde den -fatalen Zustand vom Herzen zu gönnen. - -„Jetzt wehr’ dich!“ rief er ihm fröhlich zu. „Gib acht, daß sie dir -nicht die Augen auskratzt.“ - -„Von mir aus ...“ brummte Hellwig achselzuckend, während er sich -trotzig gegen die Wand lehnte, die er im beständigen Rückwärtsschreiten -endlich erreicht hatte. Dabei duckte er den Kopf nach vorn, denn -der aufstrebende Haarschopf fegte bereits die schiefe Decke des -Dachzimmers. Und da er noch obendrein die Hände zu Fäusten geballt -hielt, war er ganz bedrohlich anzusehen, gleich einem sprungbereiten -Tiger oder lauernden Schnapphahn, wie Heinz belustigt meinte. - -Mittlerweile hatte sich die junge Schöne mitten in der Stube -aufgepflanzt und tauschte mit dem Bruder einen verständnisinnigen Blick. - -„Also ein Gansl bin ich?“ sagte sie unter mehrfachem leichten -Kopfnicken. „Wissen Sie, daß das eine Beleidigung ist?“ - -Fritz gab keine Antwort. Er stand unbeweglich, wurde noch röter und -aufgeregter, aber scheinbar ruhig, wie das seine Gewohnheit war, sah er -dem unerwünschten Widerpart scharf und gerade in die Augen. - -‚Sie schaut der Mutter ähnlich,‘ dachte er und fühlte dabei, wie -der Zorn in ihm zu kochen begann, weil sie’s wagte, ihn zur Rede zu -stellen. Da sie ein bitterböses Gesicht aufgesetzt hatte und das -verräterische Zucken der lachlustigen Mundwinkel, so gut es ging, -unterdrückte, nahm er ihre strenge Frage für blutigen Ernst, glaubte -in eine demütigende Lage hineingeraten zu sein und ärgerte sich über -seinen Mangel an Schlagfertigkeit, der ihm keine schneidige Entgegnung -finden ließ. - -„Eine ungerechtfertigte Beleidigung!“ bekräftigte Heinz. - -„Und für die müssen Sie Abbitte leisten!“ forderte der entsetzliche -Backfisch resolut und hielt dem geraden, feindseligen Blick des -Gequälten tapfer die blauen Augen entgegen. - -Hellwig schwieg. Von den hohen Büchergestellen funkelten in -Goldschrift die erlauchten Namen der Geistesriesen, schienen des -ratlosen Menschleins an der Wand zu spotten. Immer stärker brodelte -es in ihm, und Wart, der ihn unausgesetzt beobachtete, hielt es für -ratsam, einzulenken. Er blinzelte seiner Schwester zu, die aber gab -nichts darauf, ließ sich von ihrem jungen Ungestüm fortreißen und -rief befehlend, mit schräg abwärts gestrecktem Arm und Zeigefinger: -„Abbitten! Nun?“ - -Da fuhr auch schon Hellwigs Wort wie ein Keulenschlag nieder: „Gesagt -ist gesagt und Gansl bleibt Gansl! Man hört’s am Schnattern!“ - -Das klang grob, herausfordernd und wirklich verletzend. Nun war’s, als -hätte eine ungeschlachte Hand mit einemmal alle kindliche Heiterkeit -aus dem hübschen Gesicht fortgewischt. In die blanken Augen kam ein -feuchter Schimmer. „Pfui, Sie sind roh!“ sagte Eva Wart, kehrte dem -klotzigen Gesellen energisch den Rücken, und ehe noch der Bruder -vermittelnd eingreifen konnte, hatte sie schon das Zimmer verlassen. - -Fritz sah ihr nach und wunderte sich, wie hoch so ein dicker Zopf -fliegen und wie goldähnlich seine Spitze leuchten konnte. Ihm war -keineswegs wohl ums Herz. Er verwünschte seine ungefügen Manieren, aber -auch das naseweise Ding, das ihm mit solcher Anmaßung entgegengetreten -war. Keinen Augenblick dachte er daran, daß er eigentlich ein -Spaßverderber war. Denn er hatte kein Verständnis für tändelnde -Scheingefechte, und seiner gärenden Jugend fehlte noch vollständig -der Humor, zumal sie zu wenig sonnig gewesen und die gefühlsduselige -Empfindlichkeit der fortwährend unglücklichen Mutter gerade aus den -nichtigsten Ereignissen einen Grund zum Jammern herauszuholen pflegte. - -Vergebens suchte ihm Heinz die Sache von der harmlosen Seite -darzustellen, mit beruhigenden Worten und vorsichtigem Tadel über -seine Rauhbeinigkeit. Fritz wollte nichts hören, haderte mit ihm, daß -er ihn in diese Lage gebracht, und lief endlich grollend davon. - -Inzwischen hatte Eva mit sprühenden Augen und lebhafter -Entrüstung ihrer Mutter den Vorfall erzählt. Frau Hedwig nahm ihr -temperamentvolles Kind in die Arme und klopfte ihm begütigend die -erhitzte Wange. - -„Nimm’s nicht tragisch, Mädl!“ sagte sie. „Jungens sind einmal nicht -anders.“ - -„Ich lass’ mir das aber nicht gefallen!“ rief die Kleine stürmisch. „Er -muß sich entschuldigen!“ - -„Das muß er nicht!“ erwiderte die Mutter mit freundlichem Ernst. „Denn -auch du bist nicht ganz schuldlos, Eva. Was hast du bei Heinz oben zu -suchen gehabt?“ - -„Ich war halt so neugierig,“ gestand die noch nicht Fünfzehnjährige -verschämt. - -„Und warst keck und vorwitzig. Siehst du, da hast du eben gleich deine -Strafe wegbekommen.“ - -„Du nimmst ihn noch in Schutz ...“ murmelte das Mädchen vorwurfsvoll -und konnte die locker sitzenden Tränen nicht länger zurückhalten. - -„Das tu’ ich nicht, Kind. Ich will nur sagen, daß ihr beide im Unrecht -wart. Aber auch wenn er allein schuld hätte, dürftest du keine Abbitte -von ihm verlangen. Es ist unedel, seinen Beleidiger zu demütigen. Da -weiß ich eine vornehmere Rache.“ - -„Was denn? Sag’s doch!“ drängte Eva ungeduldig, als Frau Wart eine -Pause machte und ihr die wirren Haare aus der Stirn strich. - -Ihre Gesichter waren jetzt dicht nebeneinander. Die Frau saß in der -Erkernische beim Nähtisch, das Mädchen lehnte neben ihr, den Arm hinter -der Stuhllehne um die Mutter gelegt, und schaute sie erwartungsvoll -an. Die Ähnlichkeit zwischen beiden war nicht zu verkennen. Dieselbe -glatte, ein wenig niedrige, aber fein geformte Stirn, dieselben klaren -blauen Augen neben einer geraden, an der Spitze leicht abgeflachten -Nase, dieselben sacht geschwungenen Lippen über einem rundlichen Kinn. -Aber während bei Eva die Züge noch weich, nur erst angedeutet oder -noch verhüllt waren von dem Pfirsichflaum einer zarten Kindlichkeit, -traten sie in Frau Hedwigs Antlitz bestimmter hervor, waren durch -das Widerspiegeln eines sorgfältig geschulten Geistes in eine schöne -Harmonie gebracht und von lauterster Menschenliebe überglänzt, -vereinigten sie sich zu einem Gesamtausdruck jener Güte, von der da ein -Sagen geht, daß sie alles verzeiht, weil sie alles begreift. - -Frau Wart ließ ihr neugieriges Kind erst ein bißchen zappeln, ehe sie -mit ihrem Plan herausrückte, der dahin zielte, den widerborstigen -Jungen mit einem Weihnachtsgeschenk zu überraschen. Darauf wollte die -Kleine anfangs durchaus nicht eingehen. Als jedoch die Mutter anregte: -„Weißt, wir kaufen ihm ein paar Bücher, stecken einen Zettel hinein -und schreiben darauf: ‚Vom Gansl und seiner Mutter‘, dann wird er sich -schämen und doch freuen,“ da war das quecksilberne Ding auch schon -Feuer und Flamme und brachte sofort eine Menge von Werken in Vorschlag: - -„Schiller! Oder Geibel! Oder Scheffel! Nein? Also Baumbach! Freytag! -Heyse!“ und so weiter alle Lieblinge der Pensionsliteratur. Da indessen -die lächelnde Zuhörerin immer den Kopf schüttelte, hieß es gleich -wieder unwillig: „So sag’ endlich auch du was!“ und der Schmollmund war -fertig. - -Aber schließlich fing sie doch wieder an, und endlich kam die Mutter -auf das ‚Liebesleben in der Natur‘ von Boelsche. Das sei heiter und -leicht und bringe manches Anregende, ohne eigentlich wissenschaftlich -zu sein. Aber Fritz brauche nicht immer nur die ganz gedankenschweren -Sachen zu lesen. Damit war die Kleine auch zufrieden, obwohl sie das -Buch nicht kannte. - -Und kaum waren sie im reinen, als sich die Zimmertür auftat. -Geräuschvoll prustend und die frostroten Hände reibend, kam das -Familienoberhaupt hereingestapft, schritt vorerst zum Ofen, wo es die -Handflächen an den grünen Kacheln wärmte und machte dann beim Erker -halt. Seine massige Gestalt mit den breiten Schultern füllte den -schmalen Zugang beinah ganz. - -„Nun, ihr Glucken!“ dröhnte seine tiefe Stimme und in allen Falten, -Fältchen und Pölsterchen des bartüberwucherten vollen Gesichts saßen -und lachten die fidelen Geister einer kreuzbraven Vergnügtheit. „Nun, -ihr Glucken, was für ein Ei wird denn da wieder ausgebrütet?“ - -„Wer weit fragt, wird weit gewiesen, Nikl,“ kam die Gattin dem flinken -Plauderzünglein der Tochter zuvor. Denn sie fürchtete, daß der -bücherfeindliche Mann dem Kinde durch ein abfälliges Urteil die Freude -verderben könnte. - -Der gemütliche Bürger dachte an die nahe Weihnachtszeit und gab sich -mit dem deutungsvollen Bescheid zufrieden. „Freilich, freilich,“ lachte -er behaglich, „erwarten ist besser als erlaufen. Denn: mit Geduld hat -die Katz’ den Schwartenmagen überwunden. Ich bin schon stad!“ Und dann -unvermittelt abspringend: „Aber eine Kälte hat’s heut’, Leutln, daß die -Schindelnägel krachen! Ich hab’ ein paar hundert Flaschen Krondorfer -unterwegs, da wird mir die Hälfte zersprungen herkommen! ’s ist halt -alleweil ein G’frett! -- Hast nichts zum Essen, Mutter? Ich muß gleich -wieder hinunter.“ - -Trotzdem Herr Wart auf seine Frage nach dem Gabelfrühstück täglich -dieselbe Antwort erhielt: „Es steht schon auf deinem Schreibtisch!“, -wäre es ihm niemals eingefallen, vom Laden unmittelbar in sein -Arbeitszimmer zu gehen. Denn diese kurze Pause, diese flüchtige, -meist auf wenig belanglose Worte beschränkte Unterhaltung mit seiner -Frau war ihm Ausruhn, Erholung und geistige Stärkung für die weitere -Vormittagsarbeit. - -Heute aber wurde er noch nicht fortgelassen. Eva stellte sich in ihrer -ganzen Größe vor ihm auf und sprach sehr ernsthaft: „Du, Vater, sag’, -bin ich ein Gansl?“ - -Wart Nikl schaute die sonderbare Fragerin erst verdutzt an, dann -bewegte er kräftig nickend das Haupt und rief aus einem unbändigen -Gelächter heraus: „Und was für eins, Mädl! Und was für eins! So ein -ganz ausgewachsenes! Das wär’ ein Bratl zu Martini gewesen!“ Und er -kniff sein Herzblatt in die glatt gerundete Wange. - -Die Kleine aber wandte mit einem unwilligen Ruck ihr Gesicht weg, -fauchte wie ein Kätzchen, und auf der Suche nach einer schlagenden -Widerlegung sagte sie zornig: „Ich -- ich werd’ im August schon -fünfzehn und -- und die Fräuleins sagen alle, daß ich sehr gut lerne. -Ja!“ - -Nun mußte auch Frau Hedwig lachen, und zum Unglück hob noch obendrein -das kleinste Glöcklein im Turm des Franziskanerklosters zu läuten an. - -„Hörst es?“ neckte da gleich der Vater, zum Fenster zeigend. „Hörst -es, was die Glocke sagt? ‚Tu d’ Gäns’ ein! Tu d’ Gäns’ ein!‘ sagt sie. -Komm, komm, ich muß dich in den Stall tun!“ - -Da hielt sich Eva die Ohren zu und wollte an ihrem Erzeuger vorüber -aus dem Zimmer. Der aber fing sie in den ausgebreiteten Arm, drückte -sie an sich und brachte mit Hilfe des untergelegten Zeigefingers -ihr gesenktes Kinn in die Wagrechte. Und da sah er, daß die großen -Kinderaugen voll Tränen waren. Sofort hörte der gutmütige Mann mit dem -Gelächter auf und sagte ganz unruhig: „Aber geh, Ev, wirst doch nicht -heulen? Fesch sein, Mädl! Spaß verstehn! -- Wart’, ich werd’ dir jetzt -auch erzählen, was die Glocken beim Begräbnis sagen. Alsdann: wenn so -ein recht reicher Frommer zur ewigen Ruh’ gebracht wird, dann brummen -die dicken großen Glocken immerzu: ‚Fünferbanknoten! Fünferbanknoten!‘ --- Aber wenn sie einen armen Hascher hinausschaffen, dann belfert nur -so ein kleines grantiges Glöckerl hinterher: ‚Klingl, glenkl, armer -Schlenkl!‘“ - -Das trug der Nikl sehr wirkungsvoll vor. Die ‚Fünferbanknoten‘ sprach -er dumpf und feierlich, legte die fleischige Hand auf den Magen und -schaute scheinheilig zur Decke, wogegen bei dem raschen ‚Klingl, -glenkl‘ seine Stimme in die krähendste Fistel überschnappte. Darüber -mußte Eva lachen. Und als er sie noch auf die Schulter klopfte: „Laß -gut sein, du bist schon recht!“, war sie wieder ganz versöhnt. Und -weil sie wußte, daß er’s gern von ihr leiden mochte, zupfte sie ihn am -rötlichen Bart. Nun schnappte er mit grimmigem Gesicht nach ihr, sie -zog wie erschrocken die Hand zurück und lachte laut, die Mutter lachte -mit und Wart Nikl ebenfalls, und die Fensterscheiben zitterten vor -seines Basses Grundgewalt. - - -7. - -Während es dem Mädchen mit Lachen und freundlicher Teilnahme leicht -gemacht wurde, über den kleinen Vorfall wegzukommen, mußte Fritz wie -immer allein damit fertig werden und fraß sich hiebei nur desto tiefer -hinein in seinen Groll gegen die Frauen im allgemeinen und gegen die -weiblichen Mitglieder des Hauses Wart im besonderen. Und seine Stimmung -wurde keineswegs gebessert bei der Erinnerung, daß er wegen der dummen -Geschichte nicht einmal dazu gekommen war, Heinz von der Beichte und -dem Auftritt mit Pater Romanus Bericht zu erstatten. - -Als er dies beim nächsten Zusammentreffen in den Gängen des -Schulgebäudes nachholte, meinte Wart, daß er einen Unsinn begangen -habe. „Unsinn oder Sinn!“ sagte Fritz darauf, „ich mußte einfach. Wir -werden ja sehn, ob man heutzutage wirklich ohne Lüge nicht durchkommen -kann!“ - -Da verkündete die Glocke hallend den Beginn des Nachmittagsunterrichts, -die Studenten strömten in die Klassenzimmer, und die beiden Freunde -mußten das Gespräch vorläufig abbrechen. - -In der Oktava verlas der Klassenvorstand unter lautloser Stille das -Ergebnis der am Vortage stattgehabten Monatskonferenz, verteilte -die Strafzettel mit den Tadelsworten, den Rügen und Ermahnungen und -fügte seine eigenen Bemerkungen hinzu. Die wiesen zwar in einigen -besonders schweren Fällen drohend auf schärfere Maßnahmen und auf das -Schreckgespenst eines Durchfallens bei der Reifeprüfung hin, klangen -im übrigen jedoch recht sanft und tröstlich. Denn dem alten Herrn mit -dem weißen Backenbart und den schon leise zittrigen Händen waren seine -Jungen ans Herz gewachsen. - -Name um Name wurde aufgerufen. Die Zettel wanderten in die Hände der -Schüler, und wer einen bekam, sah trübselig drein, während mancher -Schuldbewußte erleichtert aufatmete und sich freute, daß diesmal -ein schon für unabwendbar gehaltenes Verhängnis doch noch gnädig -vorübergegangen war. Schließlich blieb nur noch ein einziges Blatt -übrig. Da stellte sich der Professor in Positur, machte ein bekümmertes -Gesicht, so gut ihm das in Anbetracht seiner roten Wängelein und -fröhlich zwinkernden Augen möglich war, und begann: „Leider, und ich -bedaure das sehr, leider bin ich in die unangenehme Lage versetzt, auch -einem meiner fleißigsten Schüler, von dem ich’s nicht erwartet hätte, -mitteilen zu müssen, daß sein sittliches Verhalten nicht vollkommen -einwandfrei ist. Fritz Hellwig ...!“ - -Der Aufgerufene erhob sich und trat aus der Bank vor. - -„Fritz Hellwig, ich habe die betrübliche Pflicht, leider, Ihnen wegen -Ihres sittlichen Betragens den Tadel der Konferenz aussprechen zu -müssen, leider.“ - -Fritz nahm das weiße Blatt aus den Händen des Lehrers, verbeugte sich -und ging auf seinen Platz zurück. Er dachte an Pater Romanus, fand die -Strafe sehr mild und wunderte sich nur, warum der Pater erst davon -gesprochen hatte, daß er den ganzen Vorfall vergessen wolle. - -Mit diesem Gedanken beschäftigt, hörte er nur mit halbem Ohr hin, -wie der Professor jetzt fortfuhr: „Nehmen wir uns also zusammen und -folgen wir mit größerer Teilnahme dem Unterricht.“ Und erst als er -etwas schärfer einsetzte: „Hellwig, ich spreche mit Ihnen!“, erhob -dieser sich wieder und blickte ziemlich verständnislos. Nun kam der -behäbige Mann vom Podium herab, stellte sich neben die Bank und sagte -freundlich: „Wir sollen nicht so gleichgültig sein, namentlich im -Griechischen. Herr Kollege Hermann hat sich beklagt, leider, daß wir -seinem Vortrag gar nicht zuhören, sondern währenddessen leider immer -zerstreut in allen Himmelsrichtungen herumschauen. Auch bei seinen -Fragen melden wir uns niemals und bekunden mangelnde Teilnahme an -besagtem Gegenstand, indem wir immer wie ein Haubenstock dasitzen, -leider.“ Und mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: „Es hat nicht viel -auf sich. Nur munterer sein, munterer!“ Dann trippelte er wieder zum -Lehrpult zurück. - -Fritz stand da, als hätte der Blitz vor ihm eingeschlagen, war kalkweiß -und rührte sich nicht. Erst als der Professor fragte, ob ihm etwas -fehle, bewegte er verneinend den Kopf und setzte sich. Sein Herz -klopfte unregelmäßig, trieb das Blut bald in heftigen Stößen, bald -matt und mühsam durch die Adern. Mit leeren Augen stierte er vor -sich hin, war jetzt wirklich teilnahmslos und dachte nur immer das -eine: daß ihm ein Unrecht geschehen sei. Gerade das Griechische war -schon wegen Plato und Demosthenes sein Lieblingsgegenstand trotz des -widerwärtigen, schwindsüchtig aussehenden Lehrers, der infolge einer -Kehlkopfkrankheit fortwährend hustete und heiser sprach, als stäke ihm -ein Schleimpfropfen in der Luftröhre. Auch hatte er die Eigenschaft, -daß er beim Reden niemandem ins Gesicht, sondern mit hastenden Augen -stets an der betreffenden Person unstet vorbeisah. Deshalb konnte er -von anderen ebenfalls keinen offenen Blick vertragen, wurde unruhig und -nervös, wenn er einen solchen auf sich gerichtet fühlte. Daher mochte -er Hellwig nicht leiden, fand aber, weil dieser im Griechischen dank -einer umfangreichen Privatlektüre sehr viel wußte, keine Handhabe, ihm -irgendwie seine Abneigung fühlen zu lassen. Da hatte ihn Pater Romanus, -der tödlich Gekränkte, mit ein paar achtlos hingeworfenen Worten auf -das dehnbare Gebiet des sittlichen Betragens gewiesen und der Erfolg -zeigte, wie gut der Jesuit seine Werkzeuge zu wählen verstand. - -Davon ahnte Hellwig freilich nichts. Er hatte nur das Bewußtsein, daß -der Tadel unverdient war. Denn wenn er auch nicht, wie die meisten -anderen und namentlich Pichler, bei jeder Frage, auf die er Bescheid -zu geben wußte, gleich mit der Hand in die Höhe fuhr, so konnte er -sich doch mit ruhigem Gewissen sagen, daß er den Unterricht noch immer -mit Aufmerksamkeit verfolgt hatte, stets bei der Sache gewesen und nur -selten eine Antwort schuldig geblieben war. - -Das Unglück wollte es, daß als nächste Lehrstunde das Griechische an -die Reihe kam und Professor Hermann, durch Aufstehen von den Sitzen -begrüßt, ins Schulzimmer trat. Auch Fritz erhob sich gewohnheitsmäßig -mit. Als er jedoch das eingetrocknete gelbe Gesicht erblickte, da -wallte zugleich mit einer siedenden Wut das kindische Verlangen in ihm -auf, dem eklen Patron einen Tort anzutun und seiner Mißachtung sogleich -irgendwie Ausdruck zu geben. Er verschränkte die Arme vor der Brust, -warf den Kopf in den Nacken und sah den Professor herausfordernd an. In -dieser Stellung verharrte er noch, als seine Mitschüler bereits wieder -auf den Bänken saßen. - -Da sprang der ausgelaugte, stangendürre Mensch mit einem gewaltigen -Satz vom Podium herunter auf ihn zu: „Eh, eh, -- wie stehn S’ da? Wie -stehn S’ da?“ - -Fritz rührte sich nicht. - -Das Gesicht des Lehrers war fahlgrün geworden. Pfeifend kam der Atem -aus der kranken Kehle. - -„Hinaus! Sie Frechling! Lausbub! Klassenbuch! Sittenrüge! Karzer! -Hinaus! Hinaus!“ schrie, spuckte und hustete er und hieb mit der -geballten Rechten immerfort auf die Bank unter allen Zeichen einer -schweren Nervenüberreizung. Selbst als Hellwig das Zimmer verlassen -hatte, konnte er sich nicht beruhigen. In seinem dicksohligen -knarrenden Schuhwerk schritt er vor der Schultafel hin und her, -fortwährend Worte wie „Frechheit!“, „Bube!“ zwischen den gelblichen -Zähnen zerreibend, nahm dann das Klassenbuch aus der Pultlade und -schrieb beinah eine Seite voll. Mit einem hämischen „So!“ klappte er -endlich den grünen Deckel zu und begann ein wütendes Prüfen unter der -verschüchterten Schülerschar, wobei er raunzend, räuspernd, hüstelnd -eine ungenügende Note nach der andern in seinen Handkatalog eintrug. -Und niemand fand heute vor dem Verärgerten Gnade. - -Fritz mußte inzwischen im Korridor das Ende der Stunde abwarten. -Er lehnte sich in eine der tiefen Fensternischen und blickte durch -die eisernen Gitterstäbe in den Hof, der von zweistöckigen Gebäuden -eingeschlossen, unter der Aufsicht vieler schnurgerade ausgerichteter -Fensteraugen trübselig im Schatten lag, als schämte er sich seiner -Dürftigkeit. Wehmütig streckte ein verkrüppelter Roßkastanienbaum -die beschneiten Äste nach dem Stücklein Himmel über den geflickten -Ziegeldächern, eine hungrige Dohle saß in seiner Krone, ließ den -starken Schnabel hängen und fror. - -Die Glieder schlaff, den Kopf gesenkt, drückte Hellwig die Achsel -gegen das kalte Gemäuer. Aller Lebensmut war ihm zerbrochen, und in -sein steinstarres Antlitz meißelte tiefe und immer tiefere Furchen ein -ungeheurer Schmerz. Er hatte zum erstenmal im Leben die Ungerechtigkeit -kennengelernt. Und da war ihm, als sei der feste Boden unter seinen -Füßen weggezogen worden, als wankten alle Grundpfeiler der Ordnung, -stürzten hin und lägen begraben unter dem hereinbrechenden Chaos. - -Es war ihm so klar gewesen bisher als die erste und einfachste -sittliche Forderung: Das Recht des Nebenmenschen wahren wie sein -eigenes, als geheiligtes, unantastbares Gut. Und jetzt? Da stand er, -und ein Unrecht war ihm geschehen, und er hatte kein Mittel, gegen den -Übeltäter aufzutreten, es sei denn die rohe Kraft der Muskeln. Und -statt, daß er und alle andern mit ihm wie ein Mann sich erhoben, den -Beflecker des Rechts zu züchtigen, blieben sie untätig, als dieser -dem ersten Verbrechen das zweite hinzufügte. Und wenn auch einige -die Unbill verurteilten, so schien sie ihnen doch zu geringfügig, -um viel Aufhebens davon zu machen. Aber gab es denn hier überhaupt -eine Geringfügigkeit? Jede Beleidigung Gottes, und wäre sie noch so -klein, sollte schwerste Missetat sein und die gröbliche Verletzung -eines ersten Sittengesetzes Bagatelle? Und jetzt empfand er auch -Scham über sein unwürdiges Benehmen. Wie zu einem heiligen Krieg -hätte er ausziehen, hätte glühend für das gelästerte Menschengut in -die Schranken treten müssen, ohne der eigenen Kränkung zu gedenken. -Statt dessen hatte er in einer großen Sache klein und jämmerlich, so -recht wie ein geprügelter Knabe gehandelt. Das machte ihn verzagt und -schwunglos, drückte nieder und beraubte ihn der Kraft zum entschiedenen -Eintreten für seine Schuldlosigkeit. Und als die Stunde vorüber war und -als er an Professor Hermann vorbei in das Schulzimmer ging, da senkte -er, wiederum zum erstenmal im Leben, schuldbewußt den Kopf. - - -8. - -Den nächsten Tag begannen bereits die Weihnachtsferien, die solcherart -für Hellwig und für seine Mutter keineswegs freundlich eingeleitet -wurden. Er hatte ihr gleich nach seiner Heimkunft den Tadelszettel auf -den Küchentisch gelegt: „Da, unterschreib den Wisch!“ Sie las ihn -bedächtig vom Anfang bis zum Ende und fing sofort ein Weinen an und -ein Zanken, ohne den Sohn nach der Ursache der Maßregelung zu fragen. -Denn daß er sie verdiente und schuldig war, dafür war ihr das mit -dem Schulsiegel und der Unterschrift des Direktors versehene Blatt -todsicherer Beweis. - -Fritz versuchte nicht einmal, sich zu verteidigen. Es wäre auch ein -vergebliches Bemühen gewesen, ihren Glauben an die Behörden und an -geschriebene Amtsurkunden erschüttern zu wollen. - -Als sie endlich mit dünnen unbehilflichen Volksschülerbuchstaben -ihren Namen auf den Zettel gemalt hatte, packte er ihn mitsamt den -Schulbüchern zusammen und ging in seine Stube. Dort fand er auf seinem -Tisch ein Postpaket vor. Überrascht öffnete er es; drei schön gebundene -Bücher fielen ihm in die Hände. Zwischen den Blättern des einen stak -ein Briefumschlag. Darin war eine Karte. ‚Fröhliche Weihnachten‘ stand -auf der einen Seite und auf der anderen ‚wünschen das Gansl und seine -Mutter‘. - -Mit einem Fluch ließ Hellwig die Faust auf den Tisch fallen. Unter -zusammengezogenen Brauen funkelte der Zorn. Als Fopperei erschien ihm -die Sendung, als Zudringlichkeit und neue Beleidigung. Er hatte Frau -Wart niemals Grund zu einer solchen Vertraulichkeit gegeben, hatte -jeden Versuch schroff abgelehnt. Und nun kam sie ihm so. Denn, daß der -Plan von ihr ausgegangen, darauf hätte er Stein und Bein geschworen. -Schon schickte er sich an, die Bücher wieder einzupacken, schon schien -es, als ob Frau Hedwigs gute Saat nutzlos ausgestreut wäre. Da glänzte -ihm aus dem aufgeschlagenen Band der Name Darwin entgegen. Angeregt las -er den Satz, stutzte, las weiter. - -Und als der Nachtwächter morgens im winterlichen Dunkel der Gassen den -Ruf anstimmte: - - „Hausmagd, steh auf, heiz’ ein, kehr’ aus, - Trag ’n Bedarf Wasser ins Haus!“, - -da war Fritz Hellwig richtig mit den leichten Plaudereien so ziemlich -fertig geworden. - -Dadurch hatte er sich das Geschenk unfreiwillig angeeignet und die -Rückgabe unmöglich gemacht. Es hatte ihm nicht sonderlich gefallen. Zu -spielerisch, zu tändelnd und oberflächlich war es ihm. Und doch saß er -und träumte mit leuchtenden Augen in das Dunkel hinaus. Träumte vom -Frühling und Blütentreiben mit seltsam bewegtem Herzen, das wehmütig -und sonnig war, erwartungsfreudig und voll von tausend unsichtbaren, -heimlich pochenden Kräften wie ein Vogelnest zur Brutzeit. Erschauernd -wurde er seiner werdenden Mannheit inne, mit einer leisen, scheuen -Sehnsucht nach dem Weibe. Rein und ohne noch zum Verlangen sich zu -verdichten, war diese Sehnsucht einer jungen Blüte gleich, die kaum -entfaltet zum erstenmal dem Lichte entgegenblickt. Und der Atem der -Liebe machte ihn sanft und gütig und erfüllte ihn mit einer innig -warmen Verehrung für das Weib als einen heiligen Brunnen, in dessen -klarer Tiefe Anfang und Ende aller Menschwerdung in sich beschlossen -ruht. Und neidlos und ohne Vergleiche empfand er jetzt eine aufrichtige -Dankbarkeit für die mütterliche Frau, die ihm einen Freund geschenkt -und jetzt diese Weihnacht des Herzens bereitet hatte. - -So wurde eine Wandlung seiner Seele wohl angebahnt, aber im kalten -Licht des Tages regte sich wieder der alte Trotz. - -Damit er nicht zu Heinz gehen mußte oder Gefahr lief, von ihm abgeholt -zu werden, machte er sich gleich nach dem Frühstück auf den Weg, um -Pichler in seinem Heimatsdorf aufzusuchen, das drei Stunden von Neuberg -entfernt, schon an der bayrischen Grenze lag. - -Dort hatte der Küster und Kirchendiener Pichler ein gemauertes -Hüttlein inne, das wie ein Schwalbennest an einer schlanktürmigen -Kirche klebte und außer für zwei Wohngelasse nur noch für eine -Vorratskammer und den Kuhstall Raum bot. Hellwig fand den Kameraden -in der großen Stube, wo hinter dem überlebensgroßen Kachelofen zwei -Turteltauben gurrten und links davon unter dem Geschirrschrank die -Hühner in ihrer rot angestrichenen Steige hockten. Auf der Holzbank -aber, die sich längs aller Wände um die Stube zog, saßen verteilt sechs -junge Menschenkinder. Die älteren Buben banden Birkenreiser, die, am -Barbaratag geschnitten und ins Wasser gesteckt, nunmehr grüne Triebe -hatten, mit roten und blauen Bändern zu Ruten, mit denen sie am zweiten -Feiertag die Dirnen peitschen wollten. Und um sich zu vergewissern, ob -sie das Sprüchlein noch wüßten, sprachen sie manchmal halblaut vor sich -hin: „Frische, frische Krone, ich peitsch’ dich nicht um Lohne, ich -peitsch’ dich nur aus Höflichkeit, dir und mir zur Gesundheit!“ - -Beim Ofen wirtschaftete mit nackten Armen eine siebente, wenig jüngere -als Otto, in Töpfen und Schüsseln herum, und unter all der regsamen -Jugend saß dieser selbst, der einzige Dunkelhaarige, schnitt mit der -Schere Engel, Hirten und Lämmer aus einem Bilderbogen und steckte sie -neben die heilige Familie und die drei Könige aus dem Morgenlande in -den Moosboden der aus Pappendeckel gefertigten Krippe. - -Als Hellwig die strohgefütterte Tür öffnete, schwieg das Summen und -Tönen, die geschäftigen Hände ruhten und vierzehn helle Augen starrten -neugierig auf den Ankömmling, der mit Reif und Schnee zugleich eine -frische Winterluft in die dumpfig warme Stube brachte. Anfangs waren -sie schüchtern und sahen zu, wie der älteste Bruder in seiner lauten -Weise den Freund begrüßte. Bald aber schoben sich die kleineren, -die schmutzigen Mittelfinger im Mund oder Nasenloch, näher heran, -glucksten und umschlichen im Kreis den Fremdling. Da hob Fritz eine -kaum Vierjährige mit beiden Armen hoch über seinen Kopf, daß sie fast -an den braunen Deckenbalken stieß. Und nun wollten auch die andern -Fibelschützen nicht um diesen Genuß kommen, drängten und stießen sich, -kicherten, und als Otto mit den geflochtenen Weihnachtsstriezeln und -einer Flasche Kümmelschnaps aus der Vorratskammer zurückkehrte, lehnten -sie bereits, links zwei Männlein, rechts zwei Weiblein, alle unter zehn -Jahren, an den Knien des Gastes, der beim Eßtisch saß, und guckten -scheu-zutraulich wie junge Hunde von der Seite nach seinem Gesicht -hinauf. Die zwei älteren Burschen flochten leise pfeifend an ihren -Ruten weiter, und die Siebzehnjährige beim Ofen, die nach dem Tode der -Küsterin das Haus versehen mußte, hantierte mit ihren Kochgeräten und -bemühte sich jetzt, möglichst wenig Lärm zu machen. - -Hellwig aber war Kind mit den Kindern, und Otto gewahrte mit wachsendem -Staunen, wie viel harmlose Heiterkeit und genügsamer Frohsinn diesem -spröden, widerspenstigen Charakter eingemischt war. Er lachte und trieb -Tollheiten, sprach Schnellsagesätze vor -- „hinter Hansens Hundshütten -hängen hundert Hundshäut’“ -- und erzählte den Auflauschenden von der -versunkenen Stadt im Tillenberg, von der Sturmmutter Melusine und dem -Hehmann im Franzensbader Moor. - -Dann kam der Küster nach Hause, ein schneiderdürres Männchen mit -spitziger Nase, spitzigem Kinn und einem spitzigen grauen Ziegenbart -darunter, und brachte in einem Netz zwei schöne Spiegelkarpfen, ein -Geschenk aus dem Fischteich seines Pfarrherrn. Im Nu war er von der -Schar seiner Sprößlinge umringt, und in dem Gewoge blonder Köpfe und -greifend emporgestreckter Hände schwankte sein kümmerliches Gestaltchen -wie der Mast eines steuerlosen Kutters in sonnenüberfunkelten Wellen. - -Endlich gelang es der ältesten, das Fischnetz zu fassen und mit -hochgehaltenen Armen aus dem Bereich der neugierigen Finger zu bringen. -Aber immer wieder bettelten die Kleinen: „Zeig’ doch einmal her! -Ich möcht’ mir die Viecher ja nur anschaun!“, hingen sich an ihren -Rock und suchten den Arm der Schwester im Sprung zu erhaschen und -niederzuziehen. Scheltend wehrte sie dem Ansturm, machte sich mit -einem kräftigen Ruck frei, und nun flog die ganze leuchtende Wolke -von Gesundheit und Jugendkraft zur Anrichtbank beim Ofen, während -das Küsterlein den Schnee von den Röhrenstiefeln stampfte und den -Gast bewillkommte. Doch hielt es sich nicht lang dabei auf, sondern -verlangte gleich nach dem Mittagessen. - -Bald saßen um eine einzige gewaltige Schüssel dampfender Milchsuppe -mit Schwarzbroteinlage alle außer der ältesten Tochter, die sich -Abbruch tat und den Magen bis zum Aufleuchten der ersten Sterne leer -behalten wollte, um dann sicher das goldene Meerschweinchen über die -Zimmerdecke laufen zu sehen. Das Fasten wurde ihr gar nicht leicht, und -man merkte ihr an, daß sie gern mitgehalten hätte, als nun alle ihre -Löffel in die dickliche Flüssigkeit versenkten, auch Fritz, der die -Gastehre eines eigenen Tellers rundweg ausgeschlagen hatte. Die Kinder -aßen noch ungeschickt, mit schmatzenden Lippen und hastigen Gebärden, -indes die zwei halbwüchsigen Rutenbinder langsam, ernst und mit einer -Gründlichkeit dem Nahrungsgeschäft oblagen, daß ihnen der Schweiß auf -die Stirnen trat. - -Ganz gegen seine sonstige Gepflogenheit sprach Otto nicht viel. -Verdrießlich zupfte er an seinem sprossenden Schnurrbärtlein und -war unzufrieden mit Hellwigs Besuch, trotzdem er ihn dringend darum -gebeten. Er hatte sich’s eben ganz anders vorgestellt, ein ungestörtes -Beisammensein mit dem Freunde, wobei ihm Gelegenheit geboten war, seine -Geistesblitze flammen zu lassen. Vor den Geschwistern aber oder gar -vor dem Vater getraute er sich nicht mit hohen Themen anzufangen, da -er selten von der Leber weg sprach, sondern mit Vorbedacht je nach der -Zuhörerschaft Gegenstände auswählte, mit denen er zu blenden hoffte. -Das war jedoch beim Küster so gut wie ausgeschlossen. Der ließ sich -von niemandem ein X für ein U vormachen und hatte für die oft gewagten -Behauptungen seines ältesten noch immer einen tüchtigen Trumpf bei der -Hand gehabt. Alle Versuche aber, Fritz von den Angehörigen abzusondern -und in die kleine Stube zu lotsen, scheiterten an dem rückhaltlosen -Behagen, mit dem sich dieser den Kindern überließ, und an seiner -hellen Freude über die ihm bisher unbekannte Traulichkeit eines -quellwasserfrischen Familienlebens. - -So kam es, daß der Küster fast allein die Unterhaltung besorgte. Das -bewegliche Greislein hatte sich trotz Armut und Kindersorgen den -Humor nicht abhanden kommen lassen und trug sein Los mit heiterer -Zufriedenheit. - -„Sie müssen halt fürlieb nehmen,“ sagte er zu Fritz. „Was Extra’s -ist’s nicht. Wir machen eben unsere Schrittlein und essen unsere -Schnittlein, so gut wir können. Langen Sie zu, wenn’s Ihnen schmeckt, -oder hören Sie auf, wenn Sie genug haben. Immer tüchtig! Tüchtig! -Wie man sich zum Essen hat, so hat man sich auch zur Arbeit. Schaun -Sie unsern Christoph an,“ -- er deutete mit dem Kinn zu einem der -Rutenbinder hinüber -- „wie schön faul der einführt. Der war auch in -der Stadt im Gymnasium, er hat studiert bis zum Hals, in den Kopf ist -nichts hineingegangen.“ - -Der Christoph ließ ein unwilliges Grunzen hören, aß aber unentwegt -gemächlich weiter. - -„Da schaut den an!“ fuhr der Vater fort. „Der ist gar ein Philosoph. -Recht hast, Toffl, schweig und näh’ dich an und denk: Wenn man auf -alle Hund’ werfen wollt’, die einen anbellen, müßt’ man viel Steine -aufheben. Ob du ein Studierter bist oder nicht, ist egal. Unser -Herrgott verläßt keinen Deutschen, wenn er nur ein wenig Böhmisch -kann!“ Und er lachte über den Witz, daß er mit dem Essen innehalten -mußte. - -Viel zu rasch nahte für Hellwig die Stunde des Heimwegs, wollte er -die Mutter nicht mit dem Anzünden des Christbaums warten lassen. -Er gab allen der Reihe nach die Hand und mußte versprechen, bald -wiederzukommen. Otto begleitete ihn ein Stück und brachte jetzt das -Gespräch natürlich zuerst auf die Vorkommnisse in der griechischen -Stunde. Fritz war indes nicht in der Stimmung, darüber zu reden. Nur -als Pichler sagte: „Du hast’s dem hustenden Schleicher gut gegeben, das -war großartig!“, wehrte er kurz ab, mit gefurchter Stirn: „Laß mich in -Ruh’!“ Aber er blieb ganz kalt dabei. Wie in eine weite Ferne gerückt -kam ihm das Ereignis vor. Denn dazwischen war die Auferstehung der -Liebe und der erkennende Blick in unschuldige Kinderaugen. - -Otto suchte nunmehr seine neuesten Schlager an den Mann zu bringen, die -Ausbeute einer flüchtigen Beschäftigung mit Stirners Hauptwerk. Doch -auch damit weckte er heute keinen Widerhall. Fritz hörte nur mit halbem -Ohr hin, und Pichler sah seine geistreichsten Paradoxa wirkungslos -verpuffen. Da verlor er die Lust zur Fortsetzung des Feuerwerks und -kehrte um. - -Fritz aber bog jetzt von der Straße ab und schritt weglos in das -stille, klare Winterland hinein. Weiß, weich und schimmernd breitete -sich der Schnee, ein stolzer Fürstenmantel für die Berge, eine warme -Schlafdecke für die müden Fluren, machte den Schritt lautlos, das Auge -hell und freundlich den Tod, der auf kahlen Ästen mit vergessenen -welken Blättern spielte und in verlassenen Vogelnestern kauerte. Und -vor der weiten, toten Einsamkeit war der Himmel erschauernd hoch -hinauf zurückgewichen. Vergeblich strebte die Sonne den kalten Leib -der Erde in ihre Arme zu nehmen wie damals im Frühling. Kaum, daß sie -den fühllosen noch streicheln und mit ein paar funkelnden Edelsteinen -schmücken konnte. - -Fühllos und tot? - -Wie viele mochten jetzt, im gleichen Augenblick, gerade so wie der -hagere Junge, mit wachen Sinnen und heißem Herzen über öde Flächen -wandern und durch Frost und Eis und Winterstarrheit unbewußt dem -Endzweck ihres kurzen Daseins entgegengetrieben werden, der da ist: -Träger, Übertrager des Lebens zu sein. Liebe nennen sie’s und sind -glücklich dabei. Glücklich wie irrfahrende Schiffer, die endlich -Land gefunden. Land: das heißt fester Boden, Herd, Weib, Kind und --- ein Fleckchen zum Grab. Was sonst noch drum und dran hängt: -Religion, Gemeinwohl, Kunst, Kultur, ist gute Zier und erfreuendes -Spiel, nicht mehr. Und über die Grube des bewunderten Künstlers und -des geistesgewaltigen Denkers, des Länder einenden Staatsmannes wie -des schwärmerischen Religionsstifters schreitet mit schweren Schuhen -rücksichtslos und lachend in derber, rotbackiger Daseinslust mit seinem -Schatz der junge Bauernbursch, ein Kaiser gegen die großen Toten, nur -weil er lebt. - -Und der jetzt weiter und weiter in die Einsamkeit lief, Fritz Hellwig, -der ernste Grübler und Sucher, hatte das gleiche Empfinden. Wohl konnte -er sich nicht erklären, was das war und woher es kam. Aber es war da, -hielt ihn fest und stieß ihn vorwärts wie Sprungfedern. Er sah den -blauen Himmel und nickte ihm zu, er sah den saubern Schnee der Erde und -warf sich längelang hinein, wälzte sich darin in toller, zweckloser -Freude, sprang wieder auf und rannte mit wilden Jubelschreien weiter, -dachte an nichts und wollte an nichts denken. Er fühlte nur, daß er -lebte und daß das Leben schön war, schön und reich und verheißend -- -wie die Geschenke gütiger Frauen oder die Augen junger Mädchen. Weder -an Frau Wart noch an Eva dachte er dabei, nur ganz umrißlos schwebte -ihm die Erscheinung eines wunderherrlichen Weibes vor mit blonden -Haaren, freiem Blick und beglückender Anmut im Wesen und Bewegen. - -Da drang ein sanftes Blöken an sein Ohr und wie er aus seinem Taumel -erwachte, und wie er näher hinschaute, bemerkte er mitten im Walde, -durch unregelmäßige Zwischenräume getrennt, mit Reisig zugedeckt und -mit zartem Heu und Nadelholzknospen als Köder darüber, drei tiefe -Gruben, die ein schlauer Wilderer den Jagdtieren gegraben hatte. Und -noch eine vierte war da, bei der war das leichte Deckwerk eingebrochen. -Mit weitem Schlunde gähnte sie dunkel aus dem weißen Schnee herauf und -darinnen stand ein rötlichgraues Rehkalb, schrie und schlug mit den -Vorderbeinen immer wieder nach dem Rand der Grube. Aber es erreichte -ihn nicht, zitterte und fürchtete sich sehr. - -Fritz legte sich platt auf die Erde, griff das Viehlein behutsam mit -flachen Händen beiderseits der Brust und hob das zappelnde heraus. -Jetzt war es auf ebenem Grund und sollte davonlaufen. Aber es tat nur -kurze Sprünge, humpelte unbehilflich und zog den einen Fuß hoch. Nun -sah er, daß es dort einen offenen Schaden hatte vom Sturz in die Falle, -vielleicht auch einen Sehnenriß oder Bruch. Da nahm er das ganz junge, -magere Geschöpf vom Boden und trug’s auf seinen Armen zum Forsthaus -an der Straße. Und wie er so dahinschritt unter den stillen runden -Kiefernkronen, wußte er auch, was er damit tun wollte. - -Er sprach mit dem Förster, forderte und erhielt das Tierchen um -ein billiges Geld. Denn es war nicht mehr waldtüchtig und für den -Markt noch zu dürftig an Fleisch und Fell. Nach geschlossenem Handel -strich der Weidmann eine Salbe auf die wunde Stelle und legte einen -Leinenstreifen darüber, die Försterin aber tat noch ein übriges, nahm -das rote Bändlein aus den Locken ihrer Siebenjährigen und knüpfte es -dem Tier um den Hals. - -Mittlerweile war die Sonne untergegangen. Aber der Schnee leuchtete, -und alle Gegenstände waren nahe gerückt und standen in einer ruhevollen -Halbhelle wie Wächter vor einem schönen Geheimnis. Über den Saum des -Horizonts kam ein großer Stern herauf, strahlte und winkte der Erde: -‚Komm zu mir, ich bin deiner Rätsel Lösung‘. Doch die Erde, stolz, -leuchtend in reiner Klarheit, winkte zurück: ‚Komm du und erkenn’ in -meinem Spiegel deines Wesens Art‘. - -Mit seiner atmenden Last ging Fritz rasch vorwärts. Niemand begegnete -ihm. Von den Dörfern, die rechts und links der Straße bis zu den Bergen -hinüber allenthalben in den Fluren verstreut lagen, blinkte gelber -Lichtschein aus jedem Fenster. Alle Menschen waren schon daheim und -rüsteten sich für die Ankunft des Herrn. - -Fast ohne Biegung lief die Straße nunmehr, von hohen Pappeln begleitet, -eine sachte Lehne hinauf, und da sie sich oben gleich wieder abwärts -senkte, schien es dem Hinanschreitenden, als endigte sie gerade vor -dem riesigen Himmelstor, dessen dunkelblauer Stahl, mit silbernen -Sternennägeln beschlagen, den Raum von der Unendlichkeit schied. - -Breit, schwer, gewaltig ragte es senkrecht auf, für immerwährende -Zeiten geschmiedet und geeignet, dem brüllenden Ansturm der Ewigkeiten -von drüben wie dem Zuflattern der bang fragenden Seelen von hüben -unverrückbar und gelassen standzuhalten. Und da schien es Hellwig, als -sei das heiße, pochende Leben irgendwo weit zurückgeblieben, und vor -der Majestät des Schweigens, das machtvoll aufgerichtet ihm entgegen -stand, fühlte er zum erstenmal das Grauen vor der Einsamkeit, die ihn -zu würgen begann, während sie ihm sonst Freundin und Trösterin gewesen. -Mit schleppenden Schritten ging er weiter. Eine schnürende Beklemmung -engte ihm die Brust, und ihm war, als hätte er allen Zusammenhang mit -der Erde verloren. - -Endlich war er oben. Und der Himmel war mit einem Male hoch und fern, -und vor ihm breitete sich das weite weiße Tal im Mondglanz wie in einem -leise wallenden, ganz durchsichtigen See, und die Lichter von Neuberg -grüßten freundlich. Ganz deutlich sah er den Kirchturm, die feurige -Scheibe der Rathausuhr, das alte hochgiebelige Haus am Marktplatz. -Ein Fenster schien dort besonders hell. Und im Rahmen zwischen den -geöffneten Flügeln stand eine schlanke junge Gestalt in knappem Kleid -mit rotem Gürtelband, winkte -- und winkte ihn ins Leben zurück. - -Trugbild der Mondnacht. - -Aber jetzt gab’s kein Halten mehr. In langen Sätzen sprang er den -Abhang hinab. Das warme Geschöpf auf seinen Armen regte sich unruhig, -hob den Kopf und schrie kläglich. Er kümmerte sich nicht darum, -blickte nur nach dem leuchtenden Fenster hinüber und glaubte in alle -Herrlichkeiten der Erde zu schauen. Dann erlosch das Schimmern, Gassen -schoben sich dazwischen, er hastete hindurch und fand sich -- er wußte -nicht, wie er hingeraten -- mit seinem Rehkalb plötzlich im dämmrigen -Flur des Kaufmannshauses. - -Das laute Dröhnen seiner Stiefel auf der Treppe ernüchterte ihn. -Er fuhr zusammen, blieb stehen, besann sich. Das Tierchen blökte -immerfort. Seine rauhe Stimme füllte hallend die gewölbten Gänge. -Erschrocken legte er ihm die Hand auf die Schnauze und wollte zurück. -Das ging jedoch nicht mehr. Denn das Weib des Hausdieners stand, durch -das Geschrei herausgelockt, bereits unten auf der Stiege. - -„Gehen Sie nur hinauf, Herr Hellwig,“ sagte sie, als sie ihn erkannte. -„Die Herrschaften sind alle zu Haus.“ Da mußte er vorwärts. - -Das Rehlein spektakelte unaufhörlich. Als er bereits im ersten Stock -war, fiel ihm ein, daß er ja sein lungentüchtiges Angebinde beim -Auflader abgeben könnte. Das war wie eine Erlösung. Aber es mußte beim -Vorsatz bleiben. Die Wohnungstür tat sich auf, neugierig steckte die -kleine Eva Wart den blonden Kopf heraus. Nun durchfuhr es ihn wie den -Soldaten der Befehl. Auf gestrafften Beinen stand er kerzengerade und -hielt den Nacken steif. Unter den gefalteten Brauen blickten die Augen -wieder feindselig auf das Mädchen, von dem er sich noch vor kurzem im -Geiste die Pforten des Lebens hatte öffnen lassen. - -Das Rehkalb blökte noch immer. - -Eva war nicht weniger rot als Hellwig. Kleinlaut schob sie sich durch -den Türspalt, hatte die Wimpern gesenkt und spielte mit dem Ende ihres -dicken Zopfs, der sich über ihre Schultern nach vorn verirrt hatte. -Keine Spur mehr von Übermut und Reschheit, wie sie sie vor ein paar -Tagen im Dachzimmer gezeigt. Die Ermahnungen der Mutter machten sie -schuldbewußt und befangen. - -Fritz raffte sich endlich auf, verbeugte sich und sagte: „Guten Abend.“ - -„Guten Abend,“ kam ebenso kurz ein Gelispel zurück. Aber hinter den -niedergeschlagenen Augendeckeln begannen die losen Geisterchen schon -wieder zu rumoren. Und vom rechten glitt sogar eines zum Mundwinkel -hinab, huschte über die geschürzten Lippen und war im Nu hinter der -linken Augenklappe verschwunden. Dort lachte es fröhlich weiter. Und -das Rehkalb sorgte, daß keine Stille eintrat. - -Nach einer Weile fing Fritz von neuem an: „Ich -- danke -- für die -Bücher.“ - -Da hob sie die Stirn. Und aus ihren Augen sprang ihm der ganze Schwarm -der lustigen Kobolde entgegen, daß er ordentlich geblendet zurückfuhr. - -„Hat’s Ihnen Freude gemacht?“ forschte sie. - -Er überhörte die Frage, sprach schnell und unsicher weiter: „Da bring’ -ich Ihnen was ... wenn Sie’s halt mögen. Sonst schaff’ ich’s wieder -fort.“ - -Ihr Gesicht strahlte. „Mein?“ fragte sie zweifelnd, kam näher und -strich mit den Fingerspitzen vorsichtig über das weiche Fell. „Wie lieb -und hübsch.“ - -Er schaute auf ihre goldfarbenen Locken, die sich dicht vor seinen -Augen kräuselten und tat in fluchtartiger Eile einen Schritt zurück. - -„Passen Sie auf!“ warnte er dabei. „Es hat ein wehes Haxl!“ Doch als er -ihre bestürzte Miene gewahrte, beruhigte er gleich: „Es hat nicht viel -auf sich. In ein paar Tagen ist’s gut. Wollen Sie’s?“ - -Sie bejahte wortlos mit wiederholten heftigen Kopfbewegungen. - -„Dann lass’ ich’s also hier!“ sagte er, froh über die Erledigung der -schwierigen Angelegenheit und setzte das Tierlein behutsam auf den -Fußboden. Zitternd stand es da und tat sehr scheu. - -„Geben Sie ihm bald zu saufen und zu fressen!“ riet er noch. Und Eva -ganz ängstlich darauf: „Mein Gott, was denn? Ich hab’ ja nichts!“ - -„Im Stall unten ist Heu genug für hundert solche Vieher!“ belehrte -er sie und drängte das Reh in den Vorraum der Wohnung. Dann wandte -er sich zum Gehen. Aber die Kleine hatte noch etwas auf dem Herzen. -Unschlüssig stand sie, hielt die Klinke in der Hand und fühlte sich gar -nicht behaglich, zumal das Rehkalb immer von hinten gegen ihre Beine -stieß und hinauswollte. Doch sie nahm allen ihren Mut zusammen. „Herr -Hellwig!“ rief sie schüchtern. Und als er sich umdrehte, murmelte sie -mit fliegendem Atem: „Nicht wahr, Sie ärgern sich nicht mehr auf mich?“ - -„Weshalb sollt’ ich denn?“ kam ein Knurren zurück. - -Bittend schaute sie ihn an. „Gehn Sie, Sie wissen’s ganz gut ... von -neulich halt ...“ - -„Nein, Fräulein ... Eva!“ Gewaltsam mußte er sich ihren Namen aus der -Kehle zwingen. „Gute Nacht!“ - -Und er beeilte sich, über die Treppe hinunterzukommen, während sie, -wieder ganz fröhlich, hinterher rief: „Sie haben schon recht gehabt mit -dem Gansl!“ - -Dann fiel die Tür krachend ins Schloß und legte sich plump und klotzig -vor ein helles Mädchenlachen. - -Unten streckte Fritz beide Arme mit kräftigen Stößen ein paarmal -seitwärts und vorwärts, denn sie schmerzten ihn jetzt doch, weil er -ja die, wenn auch leichte Bürde fast zwei Stunden ohne Unterbrechung -geschleppt hatte. Dann schlenderte er langsam seiner Behausung zu in -einer sonderbar weichen, träumerischen Stimmung. Aber er freute sich -darüber und freute sich auf die Stunden, die kommen würden und begehrte -die Zeit vorwärts zu schieben, als hätte er etwas recht Fröhliches -in ganz naher Frist zu erwarten. Und einen nach allen Windrichtungen -zerflatternden Drang fühlte er, zu irgendeiner besonderen Tat, die -stark oder gut sein sollte und jedenfalls so, daß sie vor den blauen -Augen bestehen könnte, deren strahlenden Schein er heimlich im Herzen -wie in einer Schatzkammer trug. - -Aus einzelnen Fenstern schimmerten schon die Christbaumkerzen, als -er mit heiterer Miene noch einmal in das entlegenste Gewinkel der -Vorstadt hinausging, wo als vorgeschobener Posten ein Völkchen von -Straßenkehrern, Bettlern und herabgekommenen Handwerksleuten mit -vielen Kindern und wenig Brot in einer Reihe armseliger Hütten -herbergte. Dort öffnete er auf gut Glück eine der Türen, die -geradeswegs in die Stube führte, warf seine Börse hinein und lief -rasch weg, indes hinter ihm das wüste Gekeif einer harten Weiberstimme -unvermittelt in den schrillen Ruf grenzenloser Überraschung -umschlug. In jener Börse aber hatte er schon seit Jahren von seinem -Taschengeldchen Kreuzer zu Kreuzer gespart, um nach der Reifeprüfung -eine Reise in die Alpen unternehmen zu können. Doch tat ihm das -Aufgeben einer lang genährten Hoffnung heute gar nicht leid. Froh -war er darüber, und da das Opfer uneingestandenermaßen der kleinen -Eva Wart gegolten, fühlte er sich jetzt wie durch ein Band geheimen -Einverständnisses mit ihr verbunden, obwohl sie gar nichts davon wußte. - -Seine Mutter aber hatte ihn noch nie so sanft, zugänglich und -herzlich gesehen wie an diesem Abend, so daß auch für sie ein -leidlich vergnügtes Weihnachtsfest abfiel. Sie bedachte ihren -Jungen mit allerlei Dingen des täglichen Bedarfs, mit Hemden, -Taschentüchern, Socken und Kragen, erging sich eine Stunde lang in der -beschaulich-rührseligen Betrachtung einstiger, gemeinsam mit dem Gatten -verlebter Weihnachtsabende und suchte dann ihre Schlafstelle. - -Fritz dagegen begab sich, als die Glocken zur Mette läuteten, noch -einmal auf die Straße, wo von allen Seiten die Frommen heranzogen, -um beim Gottesdienst der Geburt des Erlösers dankbar zu gedenken. -Trotz der mondhellen Nacht trugen viele nach alter Gewohnheit ihre -brennenden Laternen mit sich, und auch von den Hügellehnen herab zu -den Dorfkirchen bewegten sich rötlichgelbe, schwankende Lichter, eines -hinter dem andern, wie die Glieder großer Feuerwürmer. - -Unstet strich Hellwig durch die Gassen und spähte den Wallern ins -Gesicht. Zwischen ernsten Greisen, würdigen Matronen und verschlafenen -Hausfrauen schritten blutjunge Mädchen mit lebenslustigen Augen, die -unter großen Umschlagtüchern, Kapuzen oder leichten Seidenschals -verstohlen nach den Jünglingen blickten. Insgeheim hoffte Fritz auch -Eva in der Menge zu sehen. Aber sie kam nicht. Und als er sich scheu -wie ein Dieb in die Nähe des Marktplatzes wagte, da lag das Haus der -Kaufmannsfamilie schwarz und finster ganz im Schatten, und hinter den -Vorhängen waren alle Lichter verlöscht. Nun wurde er kühner, setzte -sich auf den Rand des Brunnens, der von einer uralten steinernen -Rolandfigur bewacht, in der Mitte des Platzes aufgestellt war, und -während das Wasser hinter seinem Rücken klingend in das Becken fiel, -starrte er zu den dunklen Fenstern empor, und in seiner verwunderten -Seele begann das Keimen und Wachsen einer zaghaften Sehnsucht, eines -innigen Glücksgefühles, gleich dem Drängen und Treiben in blattlosen -Bäumen zur Vorfrühlingszeit. Noch wissen sie nicht, was da sich -regt und ihre Rinde dehnt, -- ahnungsvoll stehen sie und warten und -ängstigen sich wohl auch, bis in einer gesegneten Stunde aus allen -Knospen grüne Blätter, weiße Blüten lachend der Sonne in die Arme -springen. So träumte Fritz Hellwig unter einem hohen, frostklaren -Sternenhimmel seiner ersten, keuschen, seligtörichten Jünglingsliebe -entgegen. -- - -Als er am nächsten Morgen erwachte, schämte er sich zwar ein wenig -seines Treibens, aber die schwärmerische Empfindung war geblieben. -Doch ging er während der ganzen Ferienwoche nicht ein einziges Mal zu -Heinz, sondern trieb sich wie verloren ganz allein herum, lief alle -seine Lieblingsplätze ab und freute sich über alles mögliche: auf den -Sommer und die Erikablüte, das Baden im Fluß und das Schwämmesuchen in -den Wäldern, auf das Ende der Gymnasialstudien und auf das Leben in der -Hauptstadt, wo er im Herbst die Hochschule beziehen würde. - - -9. - -Nach den Feiertagen wurde Fritz in die Kanzlei des Direktors gerufen, -und der hielt ihm in scharfer Weise vor und sagte ihm auf den Kopf zu, -er, Friedrich Hellwig, sei an dem und dem Tage, zu der und der Stunde -in dem und dem Gasthaus beim Billardspielen gesehen worden. Das war -eine schwere Anklage, denn der Wirtschaftsbesuch war den Studenten -streng untersagt. - -„Das ist eine Lüge!“ rief Fritz ungestüm. - -Der Direktor aber entgegnete, er solle sich mit seinen Worten in acht -nehmen. Ausflüchte werden da nichts helfen, denn er sei mit vollster -Bestimmtheit erkannt worden. Übrigens müsse er sich auch schon deswegen -an den Vorfall erinnern, weil er sich beim Erscheinen des Gewährsmannes --- es sei einer der Herren Professoren gewesen -- unterm Billard -versteckt habe. „Fügen Sie also,“ schloß der Schulmann, „zu dieser -Feigheit nicht noch eine, sondern legen Sie ein mannhaftes Geständnis -ab!“ - -„Herr Direktor,“ antwortete Fritz mühsam, „ich bin kein Feigling. -Hätt’ ich’s getan, so würde ich’s auch sagen. Aber es ist nicht wahr! -Die Anzeige ist Wort für Wort erlogen! Stellen Sie mich dem Klatscher -gegenüber! Er soll’s mir ins Gesicht sagen, wenn er sich traut!“ - -Darauf erwiderte der Direktor mit seiner schrillen, metallenen Stimme, -und bei jedem nachdrücklichen Wort zuckte der breite Vollbart, stachen -die kalten Augen gegen den Verwegenen. „Vor allem,“ sagte er, „muß ich -Ihre Ausdrucksweise auf das schärfste rügen. Die Strafe hierfür wird -nicht ausbleiben, verlassen Sie sich darauf! Im übrigen werden wir mit -Ihrem unverschämten Leugnen sofort fertig sein! -- Ich bitte, Herr -Kollega!“ - -Er öffnete die Tür zu seinem Sprechzimmer, und heraus trat hüstelnd und -spuckend Professor Hermann. - -„Sie wissen, um was es sich handelt, Herr Kollega? Der Schüler hat ja -laut genug gesprochen.“ - -„Verehrtester Herr Direktor,“ entgegnete Hermann, „verehrtester Herr -Direktor, ich kann nur wiederholen, was ich Ihnen bereits mitgeteilt -habe. Der Oktavaner Hellwig hat mir gegenüber in der gröblichsten -Weise die Achtung verletzt, jene Achtung, die er seinen Lehrern -und Vorgesetzten schuldet. Dies hat mich veranlaßt, seinem Treiben -außerhalb der Schule ein wenig nachzugehen. Denn wenn ein eifriger und -fleißiger Schüler in den höheren Klassen plötzlich versagt und sein -Benehmen auffällig ändert, ist in neunundneunzig von hundert Fällen das -Wirtshaus schuld. Diese Ansicht des hochwürdigen Paters Romanus hat -sich noch immer als richtig erwiesen. Nun besteht da in der Vorstadt -ein kleines Gasthaus, wo dem Vernehmen nach fast täglich Studenten -zusammenkommen sollen, weil es entlegen, billig und mit weiblicher -Bedienung versehen ist. Mit weiblicher Bedienung! In dieser Kneipe -habe ich den Schüler Hellwig gesehen, der sich bei meinem Eintritt -hinter das Billard geduckt hat. Leider habe ich ihn nicht zur Rede -stellen können, weil meine Augengläser in der Wärme angelaufen sind, -und als ich sie geputzt hatte, war er offenbar durch einen rückwärtigen -Ausgang verschwunden.“ - -So redete der Professor, und wenn ihm jemand erwidert hätte, daß -Spitzeltum und Angeberei von anständigen Leuten zu den verächtlichsten -Charaktereigenschaften gerechnet werden, hätte er gewiß eifrig -zugestimmt und nur ganz verwundert gefragt, was diese Bemerkung denn -hier zu tun habe. Denn er fühlte sich in der schleimigen Niedrigkeit -seines Wesens über jeden Tadel erhaben und hatte noch niemals -gezweifelt, daß eine seiner Handlungen etwas anderes als vollkommen -sein könnte. - -Fritz war einfach fassungslos. - -„Es muß ein Irrtum sein!“ Der leise Ton seiner Stimme machte keinen -guten Eindruck. - -„Geben Sie das Leugnen auf!“ riet der Direktor. „Sie machen damit Ihre -Sache nur schlimmer!“ - -Nun wurde der ehrliche Junge wild. „Ich war aber nicht dort!“ rief er -ungeduldig. „Kenne die Spelunke gar nicht! Herr Professor verwechseln -mich vielleicht mit jemandem andern!“ - -Freimütig und Bestätigung heischend, oder wie die beiden Pädagogen -feststellten, frech und verstockt, blickte er von einem zum andern. -Da fuhr Professor Hermann auf ihn los: „Sie kecker Bursch! Also ich -bin ein Lügner? Was? Natürlich! Verwechselt hab’ ich Sie! Einen -Doppelgänger haben Sie! -- Zu blöd! -- Verehrtester Herr Direktor, wie -ich schon sagte, der Schüler ist ein Schandfleck für die Anstalt! Ein -Schandfleck!“ - -Gewaltsam suchte sich Fritz zu beherrschen. Aber es ging nicht. „Sie -haben mir schon einmal unrecht getan!“ keuchte er in zuckendem Zorn. -„Ohne jeden Anlaß, nur weil Sie mir aufsässig sind! Das ist gemein! Das -ist schuftig!“ - -Er spie dem Professor vor die Füße, blieb mit gespannten Muskeln noch -eine Minute hoch aufgerichtet stehen und wartete. Da jedoch die zwei -Schulmeister vor der ungeheuerlichen Tat stumm wie Steinbilder standen, -schritt er traurig durch die Tür über die Stiege hinab ins Freie und -ließ, je weiter er ging, das eben noch stolz getragene Haupt immer -tiefer sinken. - -Infolge dieser Begebenheit sah Romanus früher noch, als er gedacht, -seinen Plan verwirklicht, war die Entfernung Hellwigs, des räudigen -Schafes, das eine beständige Gefahr für die anderen bedeutete, vom -Gymnasium unvermeidlich geworden. Der Pater empfand eine starke -Befriedigung darüber. Nur daß sein Name in der leidigen Affäre nicht -ganz verschwiegen geblieben, trübte ihm die Freude. Denn er wollte ganz -rein dastehen. Nicht der leiseste Schatten eines Verdachtes durfte -auf ihn fallen, daß er auch nur mittelbar beigetragen hätte, wenn der -einzige Sohn einer bedürftigen Witwe kurz vor der Reifeprüfung so hart -gemaßregelt wurde. - -Und wie nun in einer eigens einberufenen Sitzung Hellwigs Ausschließung -von allen Mittelschulen des Reiches beim Landesschulrat beantragt -werden sollte und als alle Lehrer einig waren, daß für den unerhörten -Frevel diese strengste Strafe eigentlich noch nicht streng genug sei, -da erhob sich plötzlich der Religionsprofessor und trat aufs wärmste -für den Sohn der Witwe ein. Er konnte das beruhigt tun. Am Neuberger -Gymnasium wenigstens konnte dieser auf keinen Fall geduldet, konnte -er nicht noch weiterhin von einem Lehrer unterrichtet werden, dem er -Gemeinheit und Schufterei vorgeworfen. - -Professor Hermann aber war tatsächlich im guten Glauben gewesen. Wie -jemand, der einen Bekannten zu treffen hofft, im Menschengewühl bald -diesen, bald jenen Fremden für den Gesuchten hält, ihm nacheilt und -erst in nächster Nähe den Irrtum erkennt, -- so hatte auch er sich -vorgetäuscht, daß er Hellwig wirklich gefunden habe, weil er ihn finden -wollte. Das wußte Romanus und schonungsvoll stach er dem Professor den -Star, legte dar und stellte unter Beweis, daß der Beschuldigte an dem -bewußten Tage tatsächlich nicht in jener Kneipe gewesen, kurz, trieb -den verlegen hüstelnden Angeber so in die Enge, daß er schließlich -notgedrungen die Möglichkeit eines Irrtums zugeben mußte, worauf ihn -der Pater eines solchen in unwiderleglicher Weise überführte. - -Die Stimmung unter den Professoren schlug nun zwar zugunsten des -Jünglings um, aber die gröblich beleidigte Autorität forderte Sühne. -Der Antrag an die Oberbehörde wurde auf ‚lokale Ausschließung‘ -eingeschränkt. - -Noch im Jänner traf die Genehmigung ein, und Hellwig erhielt ein -Abgangszeugnis, in welchem das sittliche Verhalten als ‚nicht -entsprechend‘ bezeichnet und auf der Rückseite der Vermerk eingetragen -war, daß gegen den Schüler wegen ‚Beschimpfung und Bedrohung -eines Lehrers, fortgesetzt frechen Benehmens, Ungehorsams und -Widersetzlichkeit‘ die lokale Ausschließung vom k. k. Staatsgymnasium -in Neuberg verfügt worden sei. - - -10. - -Wenn man sieben Jahre ununterbrochen in derselben Schule von denselben -Lehrern unterrichtet wurde, ist es gewiß schwer, sich in den -Unterrichtsplan einer anderen Anstalt hineinzufinden, mit der Art und -den Eigenheiten anderer Professoren sich vertraut zu machen. Fritz -tat mehr. Seine Mutter hatte im Laufe der Jahre unter vielfachen -Entbehrungen ein paar Gulden zusammengebracht, um ihn für den Anfang -der Hochschulzeit über Wasser halten zu können. Die wollte sie jetzt -dranwenden, wollte ihn in der nächsten Gymnasialstadt weiterstudieren -lassen. Aber er ließ sich dort nur als Privatschüler einschreiben, -blieb in Neuberg und lernte ohne Lehrer drauflos. Es galt jetzt nicht -nur den umfangreichen Stoff für die Reifeprüfung, sondern auch den -des letzten Halbjahres ohne Leitung zu bewältigen. Da blieb alles -andere links liegen: Darwin, Nietzsche, Marx, die Spaziergänge und -Zusammenkünfte mit den Freunden. - -Erst fertig werden! Und er hockte über den Schulbüchern wie ein -Geizhals bei seinen Schätzen. - -Da fiel, es war im April, seine Mutter in eine Krankheit. Erst -Influenza. Dann Lungenentzündung. Und dann erklärte Doktor Kreuzinger -in seiner behutsamen Art dem verzweifelten Jungen, er müsse sich auf -das Schlimmste gefaßt machen. - -Das durfte nicht sein. Sie mußte leben. Noch viele Jahre leben. -Durfte nicht von ihm gehen, bevor er nicht wenigstens ein Tausendstel -abgetragen hatte von seiner drückend großen Schuld. Was war denn ihr -Leben gewesen? Unter Darben und Kümmernissen ein stetes Plagen und -Sorgen für ihn. Und die Zeit, wann er das ändern, die ganze Last des -Lebens auf seine Schultern nehmen konnte, war noch so weit. - -„Herr Doktor, es _kann_ nicht sein!“ - -Aber es war doch. Eines Nachmittags. Sie hatte die Sterbesakramente -empfangen. Segnend war der Priester gegangen. Der alte Arzt mit -dem weich fließenden Silberbart saß neben ihrem Bett. Sie lag mit -geschlossenen Lidern bleich und teilnahmslos da. Glockenklänge kamen -von draußen. Sie läuteten zu irgendeinem Begräbnis. Wie fast jeden -Nachmittag. Da regte sich die Kranke, öffnete die Augen, rief ihren -Sohn zu sich. Auf unhörbaren Sohlen zog sich der Arzt in eine Ecke -zurück. Fritz trat an ihr Bett. Sie streckte die Hände aus, zog ihn zu -sich nieder, nahe, ganz nahe. Und sah ihm aufmerksam wie prüfend ins -Gesicht. Und die Sorge um das Seelenheil ihres Kindes stieg noch einmal -in ihr auf. - -„Versprich mir,“ -- flüsterte sie -- „versprich mir, Fritzl, daß du -immer an unsern Herrgott glauben wirst.“ - -Er aber schwieg. In gedankenloser Dumpfheit schaute er in das Gesicht, -das ihm so vertraut war, und wunderte sich, daß er noch niemals früher -bemerkt hatte, wie kennzeichnend und bestimmt ausgeprägt eigentlich die -Falte war, die sich von dem papierdünnen Nasenflügel um den Mundwinkel -bis zum Kinn hinab fortsetzte. - -Und abermals, nur kaum wie ein leichter Hauch: „Versprich mir’s.“ - -Die Worte wehten an ihm vorbei, erreichten ihn nicht. - -Er blickte auf die scharfe Linie um den Mund, sah, wie sie zuckte, bald -länger, bald kürzer wurde, und mühte sich, ihr letztes Ende in der -glanzlosen Haut des Kinns zu entdecken. - -Und noch einmal, fast unhörbar, wie das Schweben einer Flocke in -unbewegter Luft: - -„Versprich ...“ - -Wie tief die Furche wurde, wenn sich die Lippen bewegten. Und wie fremd -das aussah ... - -Da hoben sich die schmalen wachsbleichen Hände. War’s zur Umarmung oder -Abwehr? Er wußte es später nicht mehr, wußte nur, daß sie sogleich -wieder schwer mit einem seltsam erschütternden, dumpfen Aufschlagen -auf die Bettdecke gefallen waren. - -Und dann war alles vorbei. Nur die Augen starrten noch groß und weit -geöffnet. Aber es war keine Angst mehr darin und kein Flehen. Nichts. -Und die Furche war jetzt ganz starr, ganz tief, wie mit dem Messer in -gelbes Holz geschnitten. - -Der Arzt war rasch hinzugetreten. Tiefernst, mit ruhigen, leisen -Bewegungen tat er, was für ihn zu tun übrig blieb. Er forschte nach -dem Leben und fand keine Spuren mehr, zog die Lider über die leeren -Totenaugen und wandte sich dann zu Fritz. Der stand mit schlaff -hängenden Armen und vorgeschobenem Kopf reglos. Da war etwas unter ihm -fortgeglitten. Etwas, das noch ganz kurz vorher geatmet hatte -- und -sich geregt hatte -- und Worte gesprochen hatte -- irgendwelche leise -Worte, deren Nachhall noch im Zimmer zitterte -- so still war es ... - -Sacht legte ihm Doktor Kreuzinger den Arm um die Schulter. „Sie ist -hinüber.“ - -Verständnislos stierte ihn Hellwig an. Kein Muskel zuckte, hart lagen -die Züge auf dem unbewegten Antlitz. Langsam wand er sich aus dem Arm -des Greises, und ohne die Haltung zu ändern, steif, schwerfällig, schob -er sich aus dem Gemach. - -Ein warmer Regen war niedergegangen und verrauscht. Ein harscher Wind -schob dunkle Wolkenklumpen vor sich her. Hinter ihm wurde blauer -Himmel. Rund und blank und frisch wie eine riesige, taubesprühte Knospe -lag die Erde im Arm des Frühlings. Lag und lachte, schrie, jauchzte, -jubelte dem starken Leben ein heiliges Ja entgegen. Und die Blumen -lachten es mit und die Bäche rauschten es mit und vom Himmel die Höhen -herunter brüllte es mit das täppische Hünenkind, der Lenzsturm, sprang -wipfelauf, wipfelab und über die sprossenden Fluren hin, tanzend, -keuchend, stöhnend in unbändiger Kraft. - -Und: „Ja -- leben -- ja!“ brüllte er dem schwachen Menschlein zu, dem -hageren Jungen im dünnen Hausrock, mit zerwirrten Haaren, der sich, -mühsam wie der aufgescheuchte Abendfalter im unerträglich grellen Licht -des Tages, zurechtzufinden suchte und mit seiner ersten großen Trauer -zur Erde hatte flüchten wollen. Aber die Erde gab heute dem Leben ein -Fest. Und die seinen Schmerz hatte lindern sollen, peitschte ihn bis -zur Verzweiflung empor durch die wilde, machtvolle Freude, mit der -neues und immer neues Werden die starre Winterhaft zerbrach und alle -Grenzen überflutete. Leben rang sich siegreich aus Leben, stürzte -glühend in die werbende Umarmung des Lebens, und des Lebens warmer Atem -quoll aus braunen Ackerschollen, dampfte aus feuchten Moosen, stieg aus -jungen Saaten und geöffneten Blumenkelchen über Getier und grüne Wipfel -himmelan wie schwerer berauschender Opferduft. - -Wozu? - -Die seinem Herzen am nächsten gewesen, hatte ihren Platz verlassen, und -keine Lücke war geblieben. So -- wie nach dem Zerstäuben eines Tropfens -die ungeheure Meerflut gleichmäßig weiterrollt. Niemand fragte nach der -Gestorbenen, vermißte oder brauchte sie. - -Und rings jauchzte die kraftvolle Frühlingswelt. Aber er konnte ihr -nicht nahekommen. Ein Fremdes, Hassenswertes drängte sich dazwischen, -gegen das er vergebens ankämpfte. Das machte ihn trostlos und -verzweifelt. Ganz leer war es in ihm. Und in den Kronen des Waldes sang -der Lenzsturm das Lied des Lebens. -- - -Stunden verrannen. In seiner leichten Jacke begann ihn zu frieren. -Da wollte er umkehren, tat ein paar Schritte, blieb wieder stehen -und besann sich. Wohin nur? Und da fiel ihm ein: Er mußte ja seine -Mutter begraben. Nun wich die steinstarre Ruhe aus seinem Gesicht. Die -Mundwinkel zuckten. Aber er konnte noch nicht weinen. -- - -Als er nach Hause kam, war Frau Hedwig dort. Sie hatte alles schon -besorgt. Die Leichenfrau war dagewesen, hatte die Tote gewaschen und in -ihr Kleid getan. Mit einem weißen Linnen zugedeckt, lag sie jetzt in -der Stube auf dem Leichenbrett, zu Häupten zwei brennende Wachskerzen -und das schwarze Kruzifix aus dem Glasschrank, zu Füßen ein Gebetbuch -und eine Schere. Ein Becken mit Weihwasser stand daneben und ein Wedel -aus Kornähren lag darüber. Ganz dem Herkommen gemäß war sie aufgebahrt, -und nichts war verabsäumt. - -Als Fritz Frau Hedwig in der Stube erblickte, wachte die alte -Abneigung wieder auf. Nur zögernd überschritt er die Schwelle. Dann -aber bemerkte er unwillkürlich die kleinen Zeichen ihrer wohltuenden -Obsorge: das geöffnete Fenster, die abgestellte Uhr, das weiße Tuch -vorm Spiegel. Und im Bewußtsein seiner Verlassenheit konnte er sich -ihrer warmen Mütterlichkeit nicht mehr entwinden. Er griff nach den -wortlos gereichten Händen, hielt sie fest und -- drückte sie rauh -aufschluchzend gegen die Augen. Nun streichelte sie ihm die Wangen, die -Stirn, das Haar. Und dann lag sein Kopf auf ihrer Schulter, während er -sich umsonst mühte, der Tränen Meister zu werden, die ihm jäh und heiß -über die Lider sprangen. - -Lautlos weinte er so, kaum eine Minute lang und doch lang genug, daß -der versteinerte Schmerz in eine sanftere Trauer sich löste. - -„Mutter!“ rief er leise. „Mutter!“ So ruft nachts ein banges Kind nach -ihrem Schutz. - -Und eine tiefe, weiche Frauenstimme sagte: „Still, Fritz, still! Lassen -Sie sie friedlich heimgehn.“ - -Er schüttelte heftig den Kopf, ohne die Stirn von ihrer Schulter zu -heben, wo es sich so gut ruhte. - -„Hier war sie zu Haus ... und übermorgen ... tragen sie mir sie fort!“ - -„Nein, Fritz, sie tragen sie heim. In den Frieden. In die Ruhe. In das -sicherste Geborgensein. Eine Mutter zur Mutter.“ - -„Sie war die meine ... mir hat sie gehört!“ - -„Ja, Fritz, Ihnen -- aber auch der Erde. Schaun Sie, Fritz, nur der -Leib, die Form wird sich nur ändern, aber ihr Zweck wird immer bleiben. -Hier bei uns hat sie ihre Bestimmung erfüllt, drum muß sie zu anderen, -muß für diese Keim und Nahrung, Wurzel und Mutterbrust sein. Alles muß -allen nützen. Das ist das Schöne, Trostreiche auf Erden.“ - -Da schaute er ihr lang wie suchend in die Augen und sagte nichts mehr. - -Ihre Aufforderung, bei Heinz zu übernachten, schlug er aus. Nun ging -sie und ließ ihn mit der Verstorbenen allein. - -Es war bereits dunkel geworden. Die Wachslichter leuchteten matt und -füllten das Zimmer mit unstet flackerndem Schein und zuckenden Schatten. - -Er trat zu der Toten und schlug das Laken zurück. Da lag sie still und -weiß in ihrem einstigen Brautkleid, und der Körper, aus dem er selbst -einst Wärme und Blut und Leben gesogen hatte, war kalt und steif und -wertlos geworden. Er schauerte zusammen. Bis in die Knochen fror ihn. -Und ihm war, als erstürbe auch sein Leib, würde bleischwer und seiner -Seele fremd, die sich plötzlich nicht mehr darin zu Haus fühlte und -erschrocken umherschaute, wie ein zur Nachtzeit angekommener Reisender -im ungewohnten Gastzimmer. - -Langsam breitete er das Tuch wieder über den Leichnam und setzte sich -an das offene Fenster, durch das die starke, kühle Frühjahrsluft -strich. Der Sturm hatte sich gelegt. Es wurde Nacht. Lampe um Lampe -erlosch in den Häusern, ganz finster wurde es unter einem sternlosen -Himmel. Und zu Häupten der Toten zwischen den schwelenden Lichtern hing -unbeweglich der Kruzifixus. - -Da fiel ihm die letzte Bitte der Mutter wieder ein. In raschem -Aufwallen erhob er sich, nahm das Kreuz und legte es vor sich auf das -Fensterbrett. Der Kerzenschein huschte über die Porzellanfigur, die -weiß und schlank auf dem dunklen Holz lag, die Arme weit gebreitet und -das Haupt mit der Dornenkrone zur Seite geneigt. - -Immerfort starrte er auf das Bildwerk. - -Und draußen lag die Erde wie ertrunken in der dickflüssigen Dunkelheit, -und die Atemzüge der schlafenden Kreaturen kamen und gingen wie -schwere, unhörbare, noch dunklere Wellen, und rundum flutete die -uferlose Stille der Nacht. - -Und jäh durchzuckte es ihn: Wenn ... wenn doch ... wenn es doch dort -drüben was gäbe? Wer weiß es denn? Wer kann behaupten oder leugnen -- -wenn sogar die eigene Seele dem Körper fremd werden kann? - -In dumpfer Qual stöhnte er auf. Seine Finger legten sich um das -Kreuzholz, als wollten sie es zerbrechen, schüttelten es, ungeduldig, -leidenschaftlich, drohend: „Gib Antwort, du!“ - -Aber rings war Dunkel und Schweigen. - - -11. - -Nach zwei Tagen war die Tote begraben, und die Notwendigkeit der -Beendigung seiner Gymnasialstudien war für Hellwig eiserner als je. -Über Zureden seines Freundes hatte er endlich eingewilligt, war zu ihm -übergesiedelt und wohnte nun Wand an Wand neben Heinz in einer noch -kleineren Dachkammer. - -Niemand störte ihn hier. Sogar das Essen wurde ihm hinaufgebracht. Und -er wühlte sich ganz in diese Abgeschiedenheit hinein, ging kaum ins -Freie und lernte nur, lernte, lernte. - -In den letzten Tagen des Mai unterzog er sich an dem Gymnasium der -benachbarten Stadt der Prüfung über den Lehrstoff des zweiten Halbjahrs -und bestand sie. Kurz darauf legte er die schriftliche und endlich auch -die mündliche Reifeprüfung ab. Und da der Landesschulrat, der dieses -Schulexamen leitete, nicht an allen Mittelschulen zu gleicher Zeit -prüfen konnte, traf es sich, daß Hellwig um volle drei Wochen früher -für reif erklärt wurde als seine Kollegen in Neuberg. - -Nun wollte er gleich nach Prag und sich auf eigene Faust durchschlagen. -Aber sie ließen ihn nicht fort. Auch Vater Wart nicht, der zielbewußte -Arbeit in jeder Form achtete und seine Meinung über den großen Blonden -mit den Storchbeinen sehr zu dessen Gunsten geändert hatte. - -„Machen Sie keine Geschichten!“ sagte er ihm. „Jetzt heißt’s erst -tüchtig faulenzen! Den Schädel ausrauchen lassen von der ewigen -Lernerei!“ - -„Ich darf Ihre Gastfreundschaft nicht mißbrauchen,“ erwiderte Fritz. -„Ich darf mich nicht länger von Ihnen aushalten lassen!“ - -Da polterte der Kaufmann los: „Jetzt das ist aber schon mehr als blöd! -Aushalten lassen! So was sagt man überhaupt nicht!“ Dann überlegte er -und fuhr fort: „Übrigens, wenn Sie sich’s justament verdienen wollen --- der Bub’ von meiner Schwester ist bei mir in der Lehr’. Wenn Sie -ihm bis zum Oktober ein bissel Stenographie und Französisch beibringen -wollen, kann’s ihm nichts schaden und mich soll’s freuen! Gilt’s?“ - -Er streckte ihm die biedere Tatze hin, und Fritz schlug ein. - -Hier bewog ihn nicht zum letzten der Gedanke an Doktor Kreuzinger. Dem -greisen Gelehrten war jener Kampf zwischen kindlicher Zärtlichkeit und -Wahrheitsliebe nicht entgangen und die geweckte Teilnahme hatte ihn -veranlaßt, den Jüngling zu einem Besuche aufzufordern. Gern war Hellwig -jetzt dieser Einladung gefolgt. Hatte ihm doch Heinz schon viel von -der Bücherei und den Sammlungen des Großvaters berichtet. Seine hoch -gespannten Erwartungen wurden auch nicht getäuscht, wurden von dem, -was er dort vorfand und erlebte, noch übertroffen. Versteinerungen, -Abdrücke und Knochen vorsintflutlicher Geschöpfe waren hier -aufgespeichert, Mollusken, Krebse, Spongien und Leptokardier jeglicher -Form und Gattung in Gläsern, Kasten und Wandschränken füllten zwei -große Zimmer. Das Wertvollste aber war die klare Art, mit welcher der -Doktor aus dem Äußerlichen den Kern herausschälte, die Zusammenhänge -bloßlegte und die vielfachen faserfeinen Verästelungen auf ihre -gemeinsame Wurzel zurückführte. Mit prunklosen Worten, scheinbar stets -bei der Sache und doch über ihr, entwarf er dem begierig Lauschenden -eine Übersicht über die Entwicklungsgeschichte der Erde und des -Lebens und leitete ihn die Quellen der Erkenntnis hinauf, soweit -Menschensinne dorthin vordringen können. - -Dem ersten Besuch folgten andere, und bald war Hellwig täglich um sechs -Uhr früh in der stillen Gelehrtenwohnung. Meist kam er allein, denn -Heinz hatte sich ganz auf die Sozialpolitik geworfen und war für nichts -anderes mehr zu haben. Für Fritz aber waren diese Morgenstunden, da -er an der Seite des verehrten Mannes zuhörend und lernend durch den -sommergrünen Garten schritt, während der Sonnenschein silbern in den -Baumkronen spielte, das Schönste, das ihm das Leben bisher gebracht -hatte, gehörten überhaupt zu dem Kostbarsten, das es ihm je zu bieten -vermochte. - -Und eines Tages lernte er dort den Doktor Albert Kolben kennen. - -Der war auch von den Pfahlbürgern Neubergs als ein verlorenes Schaf -erklärt worden, und sie hatten ihm, oder eigentlich in seiner -Abwesenheit, bei Bier, Kaffee und geselligen Zusammenkünften hatten sie -sein Verkommen so lang vorausgesagt, bis er vor ein paar Monaten den -Doktorgrad erwarb. Und Reserveoffizier war er ebenfalls. Da waren sie -baff. Dann aber entrüsteten sie sich desto mehr und fanden, der Kolben -Albert hätte das nur getan, um sie zu ärgern. Denn die genasführten -Propheten empfanden das Ausbleiben ihrer Vorhersagungen als persönliche -Beleidigung. Es war gewiß unverschämt vom Kolben Albert. Aber er ließ -sich eben überhaupt nichts vorschreiben, sondern tat, was ihm beliebte -und ließ bleiben, was ihm nicht paßte. Das konnte er um so leichter, -als er nach seinen Eltern ein beträchtliches Vermögen nebst einem -Landgut besaß und von niemandem abhängig war. Übrigens hatte er von -je auf die Nachrede der Leute keinen Deut gegeben, hatte im Gegenteil -alles getan, um sie herauszufordern. Als sechzehnjähriger Lateinschüler -hielt er sich ein Reitpferd und zwei große Hunde, als Achtzehnjähriger -soff er einmal sogar den Wart Nikl unter den Tisch, als Zwanzigjähriger -schnürte er sein Bündel und zog nach Wien. Was er dort trieb, wußte -man nicht. Es liefen jedoch die abenteuerlichsten Gerüchte um. Daß er -in der Schriftleitung einer sozialdemokratischen oder anarchistischen -Zeitung tätig sei, in Volksversammlungen Brandreden halte und -fortwährend betrunken in den Schnapsschenken herumliege. Da wurde er -als Sechsundzwanzigjähriger Doktor der Weltweisheit und tauchte wieder -in Neuberg auf. Daß es sich lediglich um einen kurzen Erholungsurlaub -handelte, wußten nur seine vertrautesten Freunde. - -Über eine so unklare Lebensführung mußten sich die wackeren Spießer -entrüsten. Sie entrüsteten sich, weil sie aus ihm nicht klug werden -konnten. Und sie wurden nicht klug aus ihm, weil er sich nicht in den -Kochtopf gucken ließ, Zudringliche mit höflicher Überlegenheit abwehrte -und lüsterner Neugierde begegnete, indem er mit trockener Sachlichkeit -und größtem Ernst die ungeheuerlichsten Behauptungen aufstellte, -verfocht und begründete. So bekannte er sich einmal gegenüber einem -waschechten deutschen Volksgenossen, der sein politisches Gewissen -erforschen wollte, zur demokratisch-alldeutsch-antisemitischen Anarchie -und spickte den unvorsichtigen Frager derart mit großen Worten und -fetten Phrasen, daß dieser ganz mürb wurde und schließlich -- etwas -angeheitert war er auch schon -- das neue Programm als einzige Rettung -des Bürgertums vor der roten Gefahr begeistert zu preisen anhob. -Nachträglich wurde er von einsichtigeren Leuten aufgeklärt, daß er -seiner leichtgläubigen Beschränktheit einen tüchtigen Bären habe -aufbinden lassen, und der Chor der Entrüsteten war wieder um eine -ausgiebige Stimme verstärkt. - -Kolben ertrug die üble Nachrede, wie man das Konzert der Frösche -im Frühjahr erträgt und verriet mit keiner Miene, wie sehr ihn das -zwecklose Lärmen belustigte. Sein rundliches, ganz glatt rasiertes -Gesicht blieb immer gleichmäßig ernst, und nur die besten Freunde -errieten aus einem fast unmerklichen Zwinkern im rechten Augenwinkel -seine heimliche Fröhlichkeit. - -Als Hellwig mit ihm zusammentraf, saß er, phlegmatisch und scheinbar -gelangweilt wie immer, auf der Gartenbank unter dem breit schattenden -Buchenbaum und grub mit dem Spazierstock Strich neben Strich in -den Kies, während Doktor Kreuzinger von den Erfolgen des letzten -Ärztekongresses lebhaften Bericht erstattete, den er bei Fritzens -Ankunft unterbrach, um die Vorstellung zu besorgen. - -Ohne seine nachlässige Haltung zu ändern, hob Kolben nur ein wenig die -Stirn, faßte den Jüngling mit einem raschen Blick und zeichnete nach -einem kurzen Kopfnicken schweigend weiter. - -Hellwig empfand das als Unhöflichkeit und Beleidigung. Hitziger, als -eben nötig war, sagte er: - -„Herr Doktor, es wird besser sein, wenn ich wieder gehe. Der Herr -scheint die Störung nicht zu wünschen!“ - -Begütigend winkte der alte Gelehrte mit beiden Händen. Bevor er jedoch -etwas sagen konnte, war Kolben schon gemächlich zur Seite gerückt und -antwortete, fortwährend eifrig weiterstrichelnd: „Was Ihnen nicht -einfällt! Setzen Sie sich nur her.“ Damit goß er aber Öl in die Flamme. - -„Eine solche Behandlung brauche ich mir nicht gefallen zu lassen!“ -brauste Fritz auf. „Sparen Sie sich das für Ihren Pferdeknecht!“ - -Nun hob der andere den Kopf. Das glatte Kinn auf den Stockknauf gelegt, -schaute er dem Zornigen mit einem erstaunten Blick in die Augen. „Was -für ein Unterschied,“ fragte er unerschüttert ruhig, „was für ein -Unterschied ist denn zwischen Ihnen und meinem Pferdeknecht?“ - -Da sah ihn Hellwig noch ein paar Sekunden streitgewärtig an. Dann -senkte er beschämt die Augen. Und jetzt stand Kolben auf, langsam, -gemessen, mit der ihm eigenen steifen Würde, trat neben ihn und sagte, -immer mit der gleichen kalten Nachlässigkeit: „Seien Sie nicht so -empfindlich. Guter Ton, feine Manieren -- mit solchen Albernheiten -werden wir uns doch _hier_ nicht abgeben. Kommen Sie. Und seien Sie -versichert: Wer in den Frühstunden bei unserm verehrten Doktor Gast -sein darf, den achte ich schon um dessentwillen. Allerdings, verbeugen -werde ich mich trotzdem nicht vor Ihnen.“ - -Bei diesen Worten glitt etwas wie ein Lächeln über seine Züge. Und da -war nichts mehr von Phlegma oder Langeweile darin. Geistvoll, klar -und klug, erhielt dieses gescheite Gesicht, das sonst hinter der -angewöhnten Ruhe wie eingefroren lag, durch die reife Verständigkeit -seines Lächelns etwas ungemein Gewinnendes und Anziehendes. - -Mit einem geschickt aufgegriffenen Thema verstand Doktor Kreuzinger -auch die letzten Reste der Mißstimmung zu beseitigen und geriet über -Kolbens Einwürfe gegen die Gasträatheorie bald in ein schönes Feuer, -wurde beredt und ausführlich. In die faltigen Wangen hinter dem -silbrigen Bartgewelle stieg eine sachte Röte, und es dauerte nicht -lang, so sprach nur mehr er allein, indes die zwei jüngeren aufmerksam -zuhörten und sich in der warmen Glut, die von dem prächtigen Greise -ausströmte, seltsam einander näher gerückt fühlten. - -Aber nicht immer war diese klare Ruhe bei Hellwig. Noch war ein -Großes, Lastendes da, mit dem er fertig werden mußte. Seit jener bei -der toten Mutter durchwachten Nacht hatten ihn die Zweifel nicht mehr -losgelassen. Und jetzt, da ihn die Prüfungssorgen nicht mehr ablenkten, -standen sie wieder übermächtig auf. Und mit ihnen der Vorwurf, daß er -seiner Mutter das Sterben schwer gemacht habe. - -Oft sprach er darüber mit Heinz. - -„Ich mußte ja, gelt, du? Es ging doch nicht anders? Aber wenn, -- -Heinz, ich such’ und such’ -- aber wenn ich einmal draufkomm ... Nicht -wahr, du, es ist nichts?“ - -Und er trug zusammen, was er an Schriften über Religionssysteme und -Weltanschauungen auftreiben konnte. An jedes Werk ging er mit Zittern -und Zagen, daß er darin vielleicht auf einen Beweis für das Dasein -Gottes stoßen könnte und auf die Bestätigung seines Unrechts gegen die -Tote. Aber er fand nichts. Der Kult der Azteken, die ihrem Kriegsgott -Huizilopochtli ‚Menschen opferten, um glückliche Kriege zu führen -und Kriege führten, um solche Menschenopfer herzuschaffen‘, erschien -ihm ebenso sinnlos oder berechtigt, wie das papierne Gohei in den -Sintotempeln der Japaner, die Apisverehrung der Ägypter oder die -Heiligkeit des Hundes bei den Iraniern. Und weder Avesta und Zend, noch -Koran, Bibel, Luther und die ganze Reihe der Denker von Spinoza bis -Spencer vermochten ihn der Wahrheit irgendwie näher zu bringen. - - -12. - -Die Ferien vergingen im Flug. Hellwigs Abreise stand in wenigen -Tagen bevor. Als eine Art Abschiedsfeier wurde ein Ausflug in die -weitere Umgebung unternommen. Auch Pichler wurde eingeladen, der die -Reifeprüfung mit Auszeichnung bestanden hatte. - -In tauiger Morgenfrühe schritt die Gesellschaft durch das noch -erhaltene alte Stadttor ins Freie. Voran Wart Nikl mit seiner schönen -Frau, hinter ihnen Eva zwischen Kolben und Pichler. Doktor Kreuzinger -mit Heinz und Fritz machten den Beschluß. - -Durch die Herbstluft segelten die kleinen Spinnen in ihren leichten -Silberschiffchen, der Rauch der Erdäpfelfeuer zog über die fahlen -Fluren, und in den Stoppelfeldern folgten die Reihen der Jagdliebhaber -ihren lohfarbenen Vorstehhunden. - -Manchmal blitzte ein Flintenlauf, rundete sich ein Rauchwölkchen, -knallte ein Schuß. Ein Hase überschlug sich und schrie, ein Hund heulte -auf, ein scharfes Befehlswort verklang. Und wieder war es still, und -lautlos glitten die Silberschiffchen, schneller, immer schneller, als -wollten sie den Menschen entrinnen und ihrer Tücke gegen die ehrlichen -Kreaturen. - -An Evas Seite fühlte sich Pichler in seinem Fahrwasser. Hier war -er der Schwerenöter, wollte Eindruck machen, zog alle Register -seiner wortgewandten Liebenswürdigkeit. Er war witzig, geistreich -und gefühlvoll, warf Artigkeiten und Schmeicheleien wie ein Gaukler -schimmernde Glaskugeln in die Luft und schwafelte und salbaderte in -einem fort. - -Eva ließ sich’s gefallen. Sie lachte über seine Mätzchen, schaute ihn -belustigt an und fand, daß es sich mit ihm ganz gut plaudern ließ. -Manchmal blieb sie auch stehen, wartete auf den Großvater und fragte -ihn nach dem Namen eines verspäteten Schmetterlings oder eines klar in -blauer Ferne aufsteigenden Berges, tauschte neckende Worte mit Heinz -oder ermahnte Hellwig, der hellen Gotteswelt kein so sauertöpfisches -Gesicht zu schneiden. Ganz heiß und eifrig war sie, hatte rote Backen -und glänzende Augen und überließ die jungen Glieder dem milden -Sonnenschein mit einem läßlichen Behagen, das wohlig war und ein wenig -sinnlich, wie in einem laulichen Bade. - -„Wenn ich Sie ansehe, gnädiges Fräulein, muß ich an Gottfried Keller -denken,“ sagte Pichler. Und das Mädchen darauf: „Jemine, wieso denn?“ - -„Ja, ganz bestimmt. Sie erinnern mich an eine seiner Frauengestalten. -Nämlich an die Figura Leu im ‚Landvogt von Greifensee‘. Die hat -mir immer ausnehmend gefallen. Warten Sie, wie sagt das nur gleich -Keller? Ja: sie war ein elementares Wesen. Ein elementares Wesen, -dessen goldblondes Kraushaar sich nur mit äußerster Anstrengung den -Modefrisuren anbequemen ließ und dem Perruquier des Hauses täglich den -Krieg machte. Sie lebte fast nur vom Tanzen und Springen. So beiläufig -heißt es. Und dasselbe gilt auch von Ihnen. Sie sind von demselben -entzückenden Übermut. Und diese widerspenstigen Löckchen hier ...“ - -Er faßte nach dem feinen Gekräusel an ihrer Schläfe. Durch eine hastige -Wendung des ganzen Körpers wich sie der Berührung aus. „Sie sind ein -Schmeichler!“ sagte sie halb verlegen, halb erfreut. - -Da machte Doktor Kolben, der bisher leise pfeifend ein paar Schritte -seitwärts von ihr gegangen war, seine erste Bemerkung: - -„Herr Pichler hat etwas vergessen, mein kleines Fräulein,“ begann er. -Sofort unterbrach sie ihn im hellen Zorn: „Ich bin nicht Ihr kleines -Fräulein!“ Ihr Auge sprühte, der Fuß stampfte die Erde. Doch der -unausstehliche Mensch fuhr gleichmütig fort: „Das meine nicht, aber -doch das kleine. Vorderhand wenigstens. Wir können ja noch wachsen. -Das müssen wir eben abwarten. Heute wollte ich nur erwähnen, daß jene -Figura Leu, die Herr Pichler an den Haaren herbeigezogen hat, von ihrem -Verehrer gemeinhin nur der Hanswurstel genannt wurde. Ob der Vergleich -in dieser Hinsicht ebenfalls stimmt, soll dahingestellt bleiben.“ - -Kolben sagte das, weil er über die junge Schöne ungehalten war, die so -mir nichts, dir nichts auf Ottos Plattheiten hineinfiel. Sie würdigte -ihn keiner Antwort, klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne und -zerrte an ihren Fingern, bis die Gelenke knackten. - -Pichler versicherte unter vielen Entschuldigungen, seine Worte seien -natürlich nicht so aufzufassen, nur die reizende Grazie habe er -kennzeichnen wollen, den Glanz der Löckchen ... - -„Hören Sie schon auf mit dem dummen Zeug!“ unterbrach da Wart Nikls -Tochter den Honigfluß seiner Rede. Nun schwieg er und tat beleidigt. - -Kolben hatte ihre letzten Worte nicht mehr vernommen. Angewidert von -Pichlers Geschwätz, hatte er sich auf dem Absatz herumgedreht und zu -Doktor Kreuzinger begeben. - -Dort machte Fritz noch immer sein sauertöpfisches Gesicht. Er blickte -nach der frischen Mädchengestalt, an der alles Verheißung war und leise -schwellendes Werden, sah ihre anmutigen Bewegungen, den Rhythmus der -Glieder beim leichten Schreiten, hörte das klingende Lachen und empfand -eine unbestimmte Sehnsucht, wie arme Schelme im Kellergeschoß nach den -hohen, luftigen Räumen der Vermöglichen. - -Heinz stritt mit dem Großvater über den Zukunftsstaat. - -Die tiefe Baßstimme Wart Nikls dröhnte hallend weithin durch den -ruhevollen Herbstmorgen. Bald rief er einem bekannten Jäger ein -Weidmannsheil zu oder erwiderte lärmend den Gruß eines Vorübergehenden, -bald hatte er ein Scherzwort für seine Tochter oder zeigte er seiner -Frau die Grenzlinien der einzelnen Besitzungen und lobte oder schimpfte -nicht gerade leise über deren Bewirtschaftung. - -Langsam schlenderte Hellwig hinter der Gesellschaft her. Da schob sich -plötzlich ein fremder Arm unter seinen. „Kommen Sie!“ sagte Doktor -Kolben. „Wir gehn Schwämme suchen.“ - -Fritz sah ihn verwundert an. Eine so vertrauliche Annäherung war bei -dem in sich verhaltenen Menschen etwas Ungewöhnliches. - -„Ich weiß hier herum ein paar famose Plätze!“ sprach dieser weiter und -tat, als merkte er das Staunen des andern nicht. „Hier links in den -Wald einige hundert Schritte aufwärts. Dort pflegen Herrenpilze zu -wachsen.“ - -Noch einmal schaute Hellwig nach dem Mädchen. Das lachte eben Pichlern -zu, der sein Schmollen aufgegeben hatte. Da fühlte er ein leises Zucken -im Herzen. Er preßte die Lippen fest aufeinander. Eine tiefe Falte -stand ihm wieder einmal über dem scharf einspringenden Nasensattel -senkrecht auf der steilen Stirn. Das hagere Gesicht bekam sein kühnes, -wie versteintes Aussehen. Ohne Widerstand ließ er sich von Kolben in -den Wald führen. - -Zwischen den geraden Kieferstämmen, die mit dürftigen Kronen wie -erschöpfte Krieger in Reih und Glied standen, gingen sie auf dem -rostroten Nadelboden, über gewundenes Wurzelwerk und dann wieder durch -rauschendes Heidelbeergestrüpp eine gute Weile stumm vorwärts. - -„Hier ist einer!“ sagte der Doktor, bückte sich und durchschnitt mit -dem Taschenmesser den Strunk eines Pilzes. Fritz sah gleichgültig -zu. Kolben steckte den Fund in die Tasche. Von Moos und Farnkräutern -umwuchert, lag ein niedriger Felsblock quer über dem Jagdsteig. Kolben -setzte sich. Fritz stand daneben und schaute düster in das bewegliche -Gitter aus Sonnenstrahlen und Wipfelschatten auf dem Boden. - -Der Doktor brach endlich das Schweigen. „Was ist eigentlich mit Ihnen -los, Hellwig? Was drückt Sie?“ - -Seine Stimme klang warm und herzlich. Aus seinem Antlitz war alle kalte -Verschlossenheit weggewischt. Aber Fritz erwiderte schroff abweisend: -„Was veranlaßt Sie zu dieser Frage?“ - -„Lassen wir den Stolz beiseite!“ antwortete Kolben. „Aussprache tut -immer gut. Sie gehn ja herum, als ob Sie jeden Halt verloren hätten.“ - -„Herr Doktor!“ - -„Ich heiße Kolben. Albert Kolben. Das ‚Herr‘ ist überflüssig. Ja, -und ... vertrauen Sie mir!“ Ein freundlich aufmunternder Blick der -gescheiten Augen begleitete die Bitte. - -Fritz erwiderte nichts. - -„Vertrauen Sie mir! Es ist nicht zudringliche Neugier oder -Unverschämtheit von mir. Nur -- ich hab’ mal einen gekannt. Der ist -genau so herumgelaufen. Und war schon nahe dran, den Sprung ins große -Dunkel zu machen. Sein oder Nichtsein. Ob’s edler im Gemüt ... Hat -ihn arg gehabt damals. Zweifel an der Welt, an Gott, an den Menschen, -an allem, was man so heilig, ehrwürdig, groß, erhaben, sittlich oder -moralisch nennt. Und kein Ausblick. Als wär’ ein Brett vor der Erde -gewesen. Soweit hat er gehalten. Und kein Ausblick. Triebleben, -Hinvegetieren, zwecklos, stumpfsinnig. Nicht wahr? -- Kultur? -- Auch -die Ameise schafft sich angenehme Lebensbedingungen. -- Moral? -- Der -Pöbel und Moral! Ein Tiger, der Gras frißt! Eher will ich aus Cäsar -einen Lakaien machen als dem Pöbel die Gemeinheit abgewöhnen. Also, da -hat er gehalten. Na ja denn, ich selber bin’s gewesen. Und da ist einer -gekommen, der hat’s gewußt und sich ausgekannt. Hat eine feine Hand -gehabt der -- Doktor Kreuzinger heißt er --, eine leichte. Und hat mir -den Star gestochen. Und hat mich ins Leben hinein gestoßen. So recht -mitten hinein ins Leben. Da steh! Laß die Woge kommen und halt stand! -Und fürcht’ dich nicht. Und -- wirf dich hinein! Brauch’ deine Arme! -Schwimm! Es geht schon, es trägt dich schon! -- -- Und wahrhaftig, es -ist gegangen. Es hat mich wirklich getragen. Hätt’s niemals gedacht. -- -Also, darauf kommt’s an. Klarer Kopf. Helles Auge. Ruhige Hand. Nicht -grübeln, Grashalme zählen, Grillen fangen. Arbeiten! Fest arbeiten! -Mitten in den Wellen gegen die Wellen. Ein Ziel vor sich und drauflos! -Ein Ziel, ja! Aber nicht oben bei den Wolken. Hier, wo du feststehst, -auf der Erde unter den Menschen ... Da geh’ drauf und dran! Schulter -an Schulter mit den andern. Oder, wenn sie das nicht wollen, lauf -allein voraus! Sie folgen schon. Und wenn sie auch das nicht wollen -- -wenigstens hast du Ruhe!“ - -Selten ließ der wortkarge, zugeknöpfte Mann jemanden so in sein Inneres -schauen. Fritz fühlte das. Und nun konnte er nicht mehr an sich halten. -Erst stockend, dann zusammenhängender, leidenschaftlicher redete er -sich alles von der Seele herunter, was ihn in letzter Zeit überstürmt -und aus der Bahn geworfen hatte. - -Kolben unterbrach ihn nicht. Seine dunklen Augen lagen wieder wie -verschleiert hinter den goldgeränderten Brillengläsern. Die Spitze des -Spazierstocks zeichnete Strich neben Strich in den glatten Waldboden. -Endlich war Fritz mit seiner langen Beichte fertig. - -„So steh’ ich da!“ knirschte er zwischen den Zähnen. „Und weiß nicht -ein und aus. Das Vergangene liegt mir wie ein Stein vor der Zukunft. -Ich kann ihn nicht wegwälzen! Er rührt und rührt sich einfach nicht! -Die ganze Kraft geht drauf! Ich verbrauch’ mich, werde hin! Von meiner -toten Mutter kann mich keiner erlösen!“ - -Er schwieg mit keuchenden Lungen. Aus den Wipfeln kam das leichte Wehen -des Windes wie der Atem der Stille. Kolben erhob sich, trat ganz dicht -zu ihm heran. - -„Mut, Fritz! Und Geduld! Du -- wir werden uns wohl von heut’ an du -sagen müssen -- du wirst bald drüber weg sein. Jetzt aber -- fürs erste --- schaun wir, daß wir zu den anderen ins Forsthaus kommen. Abends -hältst du dich dann bei mir auf. Vielleicht hab’ ich was für dich.“ - -In der Nacht, die diesem Tage folgte, schloß Fritz kein Auge. Er suchte -nicht einmal den Schlaf, hatte kein Verlangen darnach. Rastlos wanderte -er in seiner Kammer auf und ab, mit leuchtenden Augen, breitete die -Arme oft weit aus und fühlte sich endlich ganz leicht und frei. -Abgefallen war, was ihn bedrückt hatte, fortgetilgt die Unrast, das -Suchen nach einem Überirdischen. Glatt und offen lag der Weg in die -Zukunft vor ihm. - -Er hatte einsehen gelernt, daß er seine Kräfte an etwas zu verschwenden -im Begriff gewesen, das keiner ergründen konnte. Daß der Gedanke an den -Zustand nach dem Tode ein Feind des Lebens sei. Und daß die Grübler und -Dogmatiker die Menschheit um keinen Zoll vorwärts gebracht hatten, -sondern nur die Handelnden, die Blutzeugen, die Männer der Tat. - -‚Ich schreib’ getrost: Im Anfang war die Tat!‘ -- Jetzt fiel’s ihm -wieder ein, und jetzt konnte er auf einmal nicht verstehen, wie ihn -nicht schon damals, als er den Faust las, diese einfachste und klarste -aller Weisheiten auf die richtige Spur gebracht hatte. Daß er erst noch -viele Monate im Dunkeln getappt und sich gemartert hatte, bis ihn jetzt -der viel verlästerte Kolben zum Ausgangspunkte zurückführte und die -Bahn frei machte durch ein paar treffsichere Worte und mit Hilfe einer -Übersetzung der Hymne ‚An einen unbekannten Gott‘ aus dem Rigveda. Da -lag sie vor ihm im gelben Lampenlicht, Druckerschwärze auf vergilbtem -Papier, und sprach mit tausendjähriger Zunge zu ihm, tröstete, -beruhigte, richtete ihn auf durch die Erkenntnis, daß ein Rätsel, das -seit unzählbaren Jahren die Menschen zu ergründen sich mühten und nicht -ergründen konnten, kein Rätsel sei, sondern vererbter Wahn mit einem -Inhalt ohne Wert für das Leben und für die Entwicklung, eine taube Nuß. - -Wieder und wieder las er das mächtige Gedicht in der meisterhaften -Übertragung, jetzt im Zusammenhang, jetzt einzelne Strophen, und als er -sie alle auswendig wußte, sprach er die letzten noch und abermals laut -vor sich hin: - - „Wer weiß es denn, wer hat es je ergründet, - Woher sie kam, woher die weite Schöpfung? - Die Götter kamen später denn die Schöpfung -- - Wer weiß es wohl, von wannen sie gekommen? - Nur er, aus dem sie kam, die weite Schöpfung, - Sei’s, daß er selbst sie schuf, sei’s, daß er’s nicht tat -- - Er, der vom hohen Himmel her herabschaut, - Er weiß es wahrlich! Oder -- weiß auch er’s nicht?“ - - - - -Zweites Buch - - -1. - -Im Oktober kamen Hellwig und Pichler nach Prag und nahmen Quartier bei -der Frau Wondra, die in zwei Zimmern fünf Hochschülern Wohnung und -Verpflegung gegen ein sehr mäßiges Entgelt gewährte. Sie war die Witwe -eines Unteroffiziers, der ein starker Pfeifenraucher gewesen war und -ihr außer einer kleinen Pension nichts hinterlassen hatte als dreißig -Pfeifen von der billigsten Sorte, mit langen und kurzen Rohren, mit -Gips-, Holz- und bemalten Porzellanköpfen, alle wohleingeraucht und -arg mitgenommen. Als sich für die duftende Sammlung kein Käufer finden -wollte, tat es der sparsamen Hausfrau leid, sie unbenützt verstauben -zu lassen, weshalb sie sich auf ihre alten Tage selbst das Rauchen -angewöhnt und es hierin noch jedem ihrer jungen Mieter zuvorgetan -hatte. Da sie kahl war, trug sie sommers und winters dieselbe große -Haube aus braunem Taft, die den Schädel und die Ohren zudeckte und für -das gelbe Gesicht einen kreisrunden Rahmen abgab. Was auf dem Kopf an -Haaren zu wenig, wuchs dafür in gedoppelter Fülle als Schnauzbart unter -der Nase, die zum Himmel strebte, als wollte sie sich in beleidigtem -Stolz vor so unfraulicher Zierde zurückziehen, worüber sich hinwiederum -zwei kleine graue Schlitzäuglein anscheinend sehr belustigten, weil -sie fortwährend zwinkerten und blinzelten. Doch je ungeschlachter ihr -Aussehen, je derber ihre Rede war, desto milder und lockerer gerieten -ihr die Mehlspeisen, die Buchteln, Dalken, Nudeln und Kolatschen, mit -denen sie für das leibliche Wohl ihrer Studenten sorgte. Aber auch -das Seelenheil der jungen Leute war ihr nicht gleichgültig, und um die -schwankende Jugend vor Abwegen zu bewahren, suchte sie ihre Kostkinder -abends an das Haus zu fesseln, indem sie mit ihnen Schafkopf spielte -oder ein Quodlibet um ein beschränktes Bierquantum. - -In dem größeren der beiden Zimmer wohnten bereits seit einigen -Semestern der Astronom König, der Philosoph Fundulus und der Mediziner -Karg, alle drei schon bemoostere Häupter, die sich bei der Wondra -zufällig gefunden und trotz ihrer verschiedenen Neigungen Freundschaft -geschlossen hatten. - -Diese Freundschaft pflegte regelmäßig auch auf die rascher wechselnden -Mieter der anderen Stube ausgedehnt zu werden, und schon am Abend nach -ihrem Einzug erhielten Fritz und Otto unter Führung der Wondra den -Besuch der Zimmernachbarn. Die Quartiersfrau trug sechs Tabakpfeifen, -der Mediziner den großen Bierkrug, der Philosoph den Tabaktopf und -der Astronom die abgegriffenen Spielkarten. Würdevoll überreichte die -Wondra den neuen Pfleglingen zwei Rauchwerkzeuge zur ausschließlichen -Benützung für die Dauer des Mietverhältnisses und gegen die -Verpflichtung, nach einer bestimmten Reihenfolge abwechselnd mit den -übrigen für die Füllung des Tabakbehälters zu sorgen. - -Nach dieser feierlichen Handlung wurde ihnen eröffnet, daß man gesonnen -sei, sie in die Hausgemeinschaft Wondra aufzunehmen und solche Ehre -festlich zu begehen mit Hilfe eines Viertelhektoliters Bier, den die -Aufgenommenen nach Brauch und Fug zum besten geben mußten. - -Mit großem Hallo wurde das Faß aus der Schenke geholt, worauf ein -mächtiges Gelage anhob, in dessen Verlauf der Mediziner mit der -bärtigen Witwe einen Hopser tanzte, daß die Dielen dröhnten und -die Haube in greuliche Unordnung kam. Des Philosophen dagegen, der -eine sehr verliebte und schwärmerische Wesenheit war und nicht viel -vertragen konnte, hatte sich bald eine weinerliche Stimmung bemächtigt, -in der er Pichlern von seiner Liebsten daheim erzählte und ihre Treue -in Zweifel zog, um sich sogleich wieder wegen des schimpflichen -Verdachtes die bittersten Vorwürfe zu machen. - -Fritz saß mit König, einem unentwegten stillen Zecher, beim Fenster und -hielt durch einsilbige Bemerkungen ein notdürftiges Gespräch mühsam im -Gange. Doch wurde das dem Sterngucker bald langweilig. Er stand auf -und gesellte sich dem Philosophen zu, den er durch eine Bemerkung über -die Minderwertigkeit des Weibes rasch in Harnisch brachte und in der -anschließenden erregten Auseinandersetzung mit Brocken aus Schopenhauer -kräftig bombardierte. - -Unvermutet fand sich Fritz allein in der Fensternische. Niemand fragte -oder kümmerte sich um ihn, und es war ihm ganz recht so. - -Die Fenster des hoch gelegenen Zimmers gaben Ausblick in einen engen -Hof und jenseit desselben über ein Gewirr von Dächern und Türmen und -Giebeln, die in dem silberblauen Glanz der Mondnacht schimmernd ruhten. -Und dunkel aus dem sanften Glanz herausgehoben, wuchtete darüber der -Hradschin und trug den mächtigen Dom wie eine schwere, stolze Krone. -Oben wanderten und neigten sich die Sterne, unten lag die Stadt von -den beweglichen Wellen des Mondlichts umspielt, -- und inmitten stand -der alte Königsitz, aller Nähe und Ferne entrückt, in immer gleicher, -steinerner Ruhe stumm, dunkel und geheimnisvoll. - -Sonderbar ergriffen schaute Fritz auf dieses Märchen, das Glanz und -Nacht und Stille um einsam thronende Größe woben. In der Stube lärmten -und lachten die Zecher. Er achtete nicht darauf. Sehnsucht nach Arbeit -überkam ihn, nach einer schöpferischen Tat, an der er seine Kräfte -erproben, ermüden, ausgeben könnte. Und noch als die übersättigten -Trinkkumpane schon längst in dumpfen Schlaf versunken waren, lag -er wach und sehnte sich nach einer Aufgabe, riesenhaft gleich der -gewaltigen Königsburg, die von Menschenhänden über eine ganze große -Stadt gestellt, sie machtvoll und unnahbar beherrschte. - -Aber er fand nicht, was eigentlich diese Aufgabe sein sollte, und mit -schmerzendem Schädel schlief er endlich ein. - -In der Klarheit des nächsten Morgens, der über einen tiefblauen -Herbsthimmel eine silberweiße Sonne heraufleitete, erwachte er freier, -als er sich niedergelegt hatte, kleidete sich rasch an und eilte auf -die Gasse. Es trieb ihn zu den Stätten, die aus der Ferne solchen -Eindruck auf ihn gemacht. Er wollte sie durchforschen, erobern, ganz in -sich aufnehmen wollte er sie und zugleich sehen, ob auch im nüchternen -Schein des Tages der drückende Zauber bestehen blieb. - -Mit niedrigen Türen und kleinen Fenstern unter zerbröckelten Gesimsen -standen unten in der engen Gasse schmalbrüstige Häuser, mit verrußten -Mauern und vorspringenden Dächern drängten sie sich aneinander, alt, -müde, eins das andere stützend und alle vom leisen Abglanz toter -Jahrhunderte traurig umwittert. Unverändert standen sie so, ließen -die Jahre vorübergehn, und wenn aus einem der dicken Gemäuer eine -neue Öffnung herausgebrochen, eins der vielen Trödlergewölbe, wo von -altersher die armen Juden ihren Handel trieben, in ein dürftiges -Lädchen mit einem Auslagfenster umgestaltet wurde, ging es die Gasse -entlang wie raunende Verwunderung ob solch unerhörten Eindringens einer -andern Zeit. - -Als Fritz hinabkam, hatte trotz der frühen Stunde das geschäftige Leben -bereits begonnen. Mit schlau-vertraulichen Verneigungen grüßten ihn -die jüdischen Händler, riefen ihm verständnisvoll lächelnd ein paar -leise Worte zu, auf ihren angehäuften Plunder deutend, in der Hoffnung, -daß er ihnen etwas abkaufen oder in Pfand geben werde. Langsam ging -er in der Richtung, wo er den Hradschin vermutete, vorwärts. Seine -Schritte hallten laut in der engen Häuserschlucht, darüber ein schmales -Streifchen Himmel war und ein wenig vom erstarkten Sonnenschein, der -die Giebel vergoldete, ohne daß seine Quelle dem Auge sichtbar wurde. -Und Gasse folgte auf Gasse, kreuz und quer. Stille Winkel waren da, -unregelmäßige Plätzchen und dunkle Sackgassen, in denen die Häuser -geduckt und wie furchtsam verkrochen standen, als hörten sie noch den -Lärm der Verfolgungen, schauderten vor dem warmen Blut, das in Zeiten -unduldsamen Glaubenseifers auf ihren Dielen verdampfte, an ihre Wände -spritzte, in roten Bächen über die finstern Treppen rann. - -In dem Durcheinander des gleichförmig engen und schmutzigen Winkelwerks -hatte Fritz bald jede Orientierung verloren und mußte sich endlich -entschließen, einen Vorübergehenden nach dem Weg zu fragen. Der aber -maß den deutschen Studenten mit einem feindseligen Blick, brummte ein -paar tschechische Worte und gab keine Auskunft. Einigermaßen betreten -ging Hellwig weiter, und das beklemmende Gefühl, als sei er in ein -verschollenes Jahrhundert zurückversetzt, wurde stärker. Da kam ein -weißbärtiger Hebräer, der in seinem Gewölbe den Vorfall mit angesehen -hatte, auf ihn zu, dienerte und erkundigte sich in einem sonderbar -harten Deutsch nach seinen Wünschen. Fritz sah auf das freundliche -Männlein, das mit hohem Hut, fuchsigen Schaftstiefeln und schmierigem -Leibrock vor ihm in der Häuserschlucht stand und vermißte -- er wußte -nicht, wie ihm das in den Sinn kam -- die steife blaue Halskrause, die -die böhmischen Juden noch im siebzehnten Jahrhundert auf der Straße -tragen mußten. Doch zwang er sich in einem energischen Aufraffen des -spukhaften Traumzustandes Herr und der Gegenwart wieder gerecht zu -werden, brachte sein Anliegen vor und erhielt umständlichen Bescheid. - -Er bedankte sich, durchschritt noch einige Gassen und gelangte endlich -zur Karlsbrücke. Vor ihm rollte, um Inseln, Mühlen und Brückenpfeiler -brodelnd, mit braun dunklem Wasser der breite Strom, drüben baute sich -Giebel über Giebel mit Kuppeln und Türmen und Zinnen die Kleinseite -auf, und darüber ruhte, durch einen herbstlich goldigen Gartenwall -geschieden, breit und wuchtig der Hradschin, in der Klarheit des Tages -gleich hoheitsvoll und unnahbar wie im trüglichen Dämmer der Mondnacht. -Nur die Linien waren schärfer und bestimmter die gewaltige Majestät, -die der Veitsdom krönte, der im Panzer seines Gerüstwerks stumm und -dunkel vor dem blauen Himmel stand. - -Keinen Blick hatte Fritz für die altertümliche Schönheit des Platzes, -auf dem er sich befand, für den Auslug durch zwei Torbogen zum -langgestreckten Moldaukai hinab, für die Türme und steinernen Bildwerke -der berühmten Brücke. Unverwandt schaute er zur Burg hinüber, deren -lautlose Größe ihn quälte und erdrückte. - -Dann war er am andern Ufer, ging wie schlafwandelnd an alten Palästen -vorüber, hinter deren geöffneten Torflügeln die Trauer sterbender -Gärten wehmütig versunken lag; durch eine steil ansteigende Gasse -schritt er, und auch hier webte die Erinnerung, war die Stille einer -längst verwehten Zeit. Doch war hier ein anderer Stil in den Häusern, -die Fassaden waren reicher und schmuckvoller, durch schön geschmiedete -Gitter oder kunstvolle Tore vorteilhaft gehoben. Allerlei Schildereien -zierten die Fronten, hier glänzte ein silberner Schlüssel im blauen -Felde über der Haustür, dort ein Wagenrad oder Winkelmaß, da wieder -sprang ein Hirschlein mit vergoldeten Hufen, blühte eine vielblättrige -Blume, als Zeichen einer Innung oder Wappen eines längst verstorbenen -Besitzers und seines stolzen Bürgertums. - -Noch die Schloßstiege hinan, dann war er oben, trat ohne sich umzusehen -durch die kühlen Torbogen in die weiten stillen Burghöfe. Eine pochende -Unrast stieß ihn vorwärts, beklommen spähte er überall umher, aber kalt -und abweisend ragten die mächtigen Quadermauern, schauten gleichgültig -über ihn weg und ließen sich nicht nahe kommen. Und als er vor dem -Veitsdom stand, da wuchs auch dieser hart vor ihm trotz der leicht -aufstrebenden Schlankheit der Rippen, der wunderlich verzerrten Fratzen -der Wasserspeier ruhig und sicher in die Luft hinauf, wie ein Gebirge -aus Stein und Stille. - -Verzweifelt lief Hellwig von einer Örtlichkeit zur andern, ein -ohnmächtiger Zorn war in ihm, daß ihn ein Menschenwerk so klein -machen durfte, er wehrte sich dagegen und spürte doch, wie er dieser -unfaßbaren Größe mehr und mehr unterlag. - -Da fand er sich unversehens an einem seltsamen Orte. Bunte Häuschen -waren da, so klein, daß er mit der Hand den Dachsims fassen konnte, -eines neben dem andern, mit Türchen und Fensterchen, wie von Zwergen -für Zwerge geschaffen. Er war in das Alchimistengäßchen geraten. Und -wie er näher zusah und wie ihm einfiel, daß der zweite Kaiser Rudolf -mit seinen Magiern, Goldmachern und Sterndeutern hier hausete, da -- -atmete er leicht auf. - -Hier war etwas menschlich Warmes, eine Schwäche, ein mildes Licht, das -auf die riesenhaften Prachtbauten hinüber leuchtete und ihnen allen -Schrecken nahm. Tief unten lag die Stadt, zu beiden Ufern des Stroms -hingebettet, ihre hundert Türme und Kuppeln und Türmchen leuchteten, -blitzten und funkelten in der Sonne -- und wer von hier hinabschaute -mit dem Bewußtsein des Herrschers, dem konnte wohl zumute sein, als -stände er berghoch über all den geduckten Siedelungen, über all den -ameisenklein wimmelnden Menschen im flachen Lande und könnte sie -zertreten mit stampfendem Fuß nach Lust und Laune. Darum schuf er -sich und seinem schrankenlosen Machtgefühl den unnahbar stolzen, -riesenhaften Bau auf steiler Höhe, fern von allem Menschentreiben und -der Sonne näher. Doch siehe -- dicht daneben, versteckt und heimlich, -stellte er die kleinen, schwachen Hütten auf und trug aus der stolzen -Burg sein schwaches, kleines Menschentum dorthin, wenn es ihn zu quälen -anfing. Bei abergläubischem Spuk und geraunten Zaubersprüchen suchte er -daran zu vergessen, aus glühenden Gemengen in absonderlich geformten -Retorten sollte der hilflosen Ohnmacht ein Mittel zur Allmacht -erstehen, im gelassenen Lauf der Gestirne nach der Zukunft forschend, -wollte der Blinde sehend und wissend werden. - -So standen diese Häuschen als rührende Zeugen menschlicher Ohnmacht, -die vergebens über ihre Grenzen tastet, und so wirkten sie befreiend -und versöhnend auf Hellwig. Plötzlich war ihm Burg und Dom vertraut -geworden. Der Gewalt des ersten Eindrucks entronnen, bemerkte er -jetzt überall heimliche Schönheiten und anheimelnde Winkel, vom -Zauber der Romantik überhaucht. Ganz glücklich wurde er darüber. -Und jedesmal, wenn später wieder ein scheinbar unbegreiflich großes -Menschenwerk lähmend auf ihn wirken wollte, mußte er an die kleinen -Alchimistenhäuschen denken und lächelte leise fröhlich dabei. - - -2. - -Pichler hatte sich für die Juristerei entschieden, während Hellwig -nicht so ohne weiters schlüssig werden konnte. Zwar segelte er -vorläufig ebenfalls unter der Flagge der Rechtsgelehrsamkeit, besuchte -indes auch zahlreiche philosophische und naturwissenschaftliche -Vorlesungen und wollte sich erst nach dem ersten Semester endgültig -entscheiden. - -Bald sah er ein, daß er sich mit dem römischen Recht nie werde -befreunden können. Die nüchterne Sachlichkeit desselben lief seinem -nachdenklichen Wesen schnurstracks zuwider. Er begann das Kolleg -zu schwänzen, saß während der so gewonnenen Zeit lieber in der -Universitätsbibliothek. Gedrängt durch die Fülle der Erinnerungen, -die sich ernst und eindringlich allerorten in der Stadt aufzeigten, -begann er hier ein eifriges Geschichtsstudium und bemühte sich außerdem -einen Überblick zu gewinnen über die Entwicklung der Kulturen und über -die Verfassungen der Völker. Auch an den Nachmittagen verweilte er -gern in dem hohen, wölbigen Saal, wo es so flüsternd leise herging, -die Diener mit schweren Bücherpäcken nur auf den Zehen hinter den -Stuhlreihen umherschlichen und über vergilbte Schmöker gebeugt, junge -und alte Leute emsig lasen oder Auszüge machten. Das Rascheln der -starken Pergamentblätter, das Knistern des Papiers und das Gekritzel -der Bleistifte gab eine gute, zu geistiger Sammlung ladende Melodie. Im -Flug vergingen ihm die Stunden, und nach seiner Meinung gewöhnlich viel -zu früh stand der Diener hinter ihm mit der höflich-leisen Einladung, -Schluß zu machen, weil gleich gesperrt würde. Wohl entlieh er sich -auch Bücher und trug sie in seine Wohnung. Aber dort war abends an ein -ernstes Arbeiten nicht zu denken. - -Nebenan in der großen Stube fand sich täglich die geräuschvolle -Quodlibetpartie zusammen. Pichler war jetzt einer der fleißigsten -dabei, denn er hatte dem Spiel Geschmack abgewonnen und pflegte es -mit dem gleichen geschäftsmäßigen Eifer, den er tagsüber auf sein -Studium verwendete. Aber auch der einsame Bücherwurm im Nebenzimmer -blieb nicht unbehelligt. Jede halbe Stunde steckte die Wondra den Kopf -zur Tür herein und forderte ihn auf, mit ihnen lustig zu sein. Oder -es erschien der Philosoph und erlaubte sich eine spezielle Blume. Und -wenn Karg zu Hause war, kam er ebenfalls und wich nicht, bis Hellwig -endlich aufstand und sich den fröhlichen Zechern zugesellte. Dann -bemühte sich Karg so gewinnend als möglich zu sein. Denn die zwei -strammen Neuberger gefielen und schienen ihm der Fuchsenehre würdig bei -der Landsmannschaft Herminonia, der er selbst angehörte. Grün-weiß-rot -waren die Farben, unentwegt und immerdar judenrein, arisch-deutsch -die Mitglieder, gewaltig ihre Leistungen im Vertilgen des bräunlichen -Gerstensaftes, und mit neidvoller Bewunderung erzählte man sich in -den anderen Verbindungen von den ungezählten Halben, die auf den -Herminonenkneipen die schwitzenden Kellner herbeischaffen mußten. - -Dieserhalb, nicht minder aber wegen ihrer geradlinigen Ehrlichkeit war -das Ansehen der Herminonen unter der farbentragenden Studentenschaft -groß. Sie wußten es sich aber auch zu erhalten durch die immer bereite -Kühnheit, mit der sie auf dem Paukboden standen, wo sie dann die -scharfen Klingen ebenso geschickt und flink handhabten, wie sie bei den -Hochschülerkränzchen plump und ungelenk das Tanzbein schwangen, mit der -gleichen Seelenruhe dort furchtbare Rückschneidquarten in die Gesichter -der Gegner, hier nicht minder gefürchtete Tritte auf die Zehen der -Tänzerinnen austeilend. - -Den unablässigen Werbungen des Mediziners glückte es endlich, seine -beiden Stubennachbarn zur Teilnahme an der Eröffnungskneipe zu bewegen. -Pichler tat es gern mit der frohen Aussicht auf eine vergnügliche -Unterhaltung, während Hellwig mitging, um sich die Geschichte einmal -anzusehen und aus eigener Anschauung eine Sache kennenzulernen, deren -Lob ihm seit der Gymnasialzeit in die Ohren tönte. - -Wie alte Bekannte wurden sie aufgenommen, trafen hier auch einige, -mit denen sie gemeinsam die Schulbank in Neuberg gedrückt hatten, -schon in junger Fuchsenherrlichkeit mit Kappe und Band und im -Vollgefühl ihrer neuen Würde. Einer war darunter, der hatte noch -kaum vor Jahresfrist in der Geschichtsstunde behauptet, daß sein -Vaterland eine absolutistische Verfassung habe. Jetzt aber redete er -von der Notwendigkeit der Sonderstellung Galiziens, von der deutschen -Staatssprache und von der Einsicht, die Bismarck mit der Gründung des -Norddeutschen Bundes unter Ausschluß Österreichs an den Tag gelegt, -redete noch von vielen anderen Dingen, als hätte er selbst sie gemacht -und alle hohe Staatswissenschaft in der Westentasche. Und ein anderer -war da, Karl Deimling, schon ein alter Knabe, der redete beinah -überhaupt nichts, sondern trank nur immerzu, und wenn er sonst noch -die Lippen voneinander tat, war es zum Singen eines rauhen Trinkliedes -oder zu einer knappen Bemerkung, die mit harter Grobheit wie eine -Panzergranate einschlug. Doch war er ein zuverlässiger Kamerad, treu -wie ein Bulldogg, und kannte kein anderes Ideal, als die Farben der -Herminonen untadelig blank zu halten vor Feind und Freund. Schon -manchen Fuchs hatte er gedrillt. Ja fast alle, die jetzt als Burschen -an der oberen Tafel saßen, waren einst mit sprossenden Bärten und den -ungelenken Bewegungen junger großer Tiere unter seine Fuchtel gekommen. -Prachtkerle waren darunter aufgestanden, sehnige Gestalten mit -blutroten Narben in den energischen Gesichtern, mit Augen, die in einem -selbstverständlichen Mut kühl und beinah schwermütig darein blickten, -und mit einer geflissentlich zur Schau getragenen Kaltblütigkeit, -die sie älter und reifer erscheinen ließ. Doch wenn sie ganz unter -sich waren, dann warfen sie diese Würde wie einen lästigen Mantel ab, -schäumten auf und brausten in zweckloser Lebensfreudigkeit, wurden -übermütig wie Füllen, ausgelassen wie Kinder nach dem Gottesdienst. -Hellwig aber begriff weder die Notwendigkeit jenes gemessenen Gehabens, -noch hatte er Verständnis für die harmlose Freude an Unsinn, Kinderei -und Ulk. Er konnte nicht mit dem Leben spielen, hatte sich auf jede -Sache noch immer mit der ganzen Wucht seiner schweren Gründlichkeit -geworfen und kannte die Freude des Schwimmers nicht, der im Ringen mit -hoch gehenden Wogen seine überschüssige Muskelkraft um ihrer selbst -willen vergeudet. - -Feierlich wurde die Kneipe eröffnet, weihevoller Sang ertönte zum -Preise der Freiheit und des Deutschtums. Sehr anständig und förmlich -ging es zu, bis unten an der Fuchsentafel ein lustiges Trinklied -aufklang: „Sa, sa, geschmauset, laßt uns nicht rappelköpfisch sein!“ - -Da war das Eis gebrochen. Ein scharfes Zechen hob an, Blumen wurden -zugetrunken, Bierjungen gebrummt, Übermütige zum Einsteigen verdonnert. -Karg als Fuchsmajor hielt scharfes Regiment. Er ließ seine Füchse -strafweise trinken, daß sie anschwollen wie Schwämme im Wasser. Das -kleinere der Trinkhörner begann zu kreisen. Staunend sah Hellwig, wie -mit Ausnahme der allerjüngsten jeder das erzbeschlagene Gefäß in einem -Zuge leerte, ohne Atem zu holen, ohne zu verschütten oder zu ‚bluten‘. -Die Pfeifen qualmten, eine dicke Wolke Tabakdampf umschleierte die -Gasflammen, drückend heiß wurde es. Der Schläger des Erstchargierten -fiel immer öfter dröhnend auf die Tischplatte: „Silentium!“ -- -„Silentium!“ donnerte gleichzeitig Karg seinen Füchsen zu. - -Wieder stieg ein ernster ~Cantus~. Aber der klang nur so, wie in der -Kirche das Meßlied: pflichtgemäß, korrekt, ohne Wärme. - -„~Cantus ex! Colloquium!~“ - -„Heil dem ~Cantus~!“ - -„Verflucht, sind die Füchse ledern!“ rief da der schweigsame Deimling. -„Liefert endlich einen Ulk! Oder ich lass’ euch spinnen, daß ihr -Schusterbuben kotzt!“ - -Nun sammelte Karg seine Knappen, beriet sich flüsternd mit ihnen, und -die ganze Fuchsentafel zog ins Nebenzimmer. Auch Pichler ging mit, -der sich rasch hineingefunden hatte und, leicht beschwipst, alles im -rosigsten Licht sah. Nach einer Weile kamen sie mit brennenden Kerzen -zurück. Der Fuchsmajor rückte einen runden Tisch von der Wand, stellte -einen Stuhl darauf und ließ sich dort oben nieder. Die Füchse aber -umkreisten ihn und sangen: - - „Jessas, a Ringelg’spiel - Is a Hetz und kost’ net viel. - Alles draht sich um und um, - Tschindarassa bumbumbum!“ - -Immer schneller sangen sie und immer rascher bewegten sie sich in der -Runde, erst auf dem Fußboden, dann von Stuhl zu Stuhl, endlich auf -dem Tisch, so viel ihrer Platz hatten. Das Singen wurde Gebrüll, das -Getrappel Staub aufwirbelndes Stampfen, der Boden schwankte, die Gläser -klirrten, bis endlich mit einem Huronengeheul die Darsteller insgesamt -in die Knie sanken, teils auf den Dielen, teils auf den Sesseln und auf -dem Tisch, sich mit hoch gehaltenen Lichtern zu einer Art Schlußgruppe -um den Fuchsmajor vereinigend, der die Arme an den Leib gedrückt, die -Hände auf den Schenkeln wie ein ägyptischer König auf seinem Sitz -hockte. - -Da sauste plötzlich ein faustgroßer Stein durch eine splitternde -Fensterscheibe, klatschte gegen die Wand und fiel polternd nieder, -indes der Mörtel langsam nachrieselte. Ungestüm sprangen die Füchse -auf, aber schon rief Karg, vom Tisch herabspringend, sein donnerndes: -„Silentium!“ Da mußten sie bleiben. Die Burschen bewahrten eisige -Gelassenheit. - -„Der Esel von Kellner hat wieder einmal nicht zugemacht!“ sagte -Deimling, stand auf und trat an das zerbrochene Fenster, um die Läden -zu schließen. Gejohl schallte von der Gasse, ein zweiter Stein -flog knapp an seinem Kopf vorbei. „Nur keine Aufregung!“ brummte -das alte Semester, unerschüttert ruhig mit dem widerspenstigen -Rolladen beschäftigt. Der Erstchargierte, ~stud. med.~ Braun, ein -breitschultriger Hüne aus dem Egerland, hatte inzwischen das andere -Fenster verwahrt. „Sehen Sie,“ wandte er sich zu den Gästen, „die edlen -Söhne der Libuscha heißen uns auf ihre Art willkommen. Geschieht öfters -so, man gewöhnt sich daran! -- Aufgepaßt, Füchse!“ fuhr er mit scharfer -Kommandostimme fort. „Bei solchen Sachen ist die erste Pflicht: ruhig -bleiben! Nicht mit der Wimper zucken! Sonst ist der Krawall fertig! -Schreibt euch das hinter die Ohren! Und nun steigt: ‚Die Wacht am -Rhein‘. ~Cantor, incipias!~“ - -„Es braust ein Ruf wie Donnerhall!“ stimmte der Sangwart an, alle -fielen ein, und diesmal wehte wirklich etwas vom Sturmatem der -Begeisterung in den frischen Stimmen. - -Fritz aber war wärmer geworden. Das sichere Auftreten der jungen Leute, -ihre kalte Geistesgegenwart und die musterhafte Zucht, mit der sie -hinter sorgenlosem Leichtsinn und behaglicher Fröhlichkeit versteckt, -einen zähen Kampf um ihre Muttersprache führten, das alles zwang ihm, -der nicht ihre Ansichten teilte, Achtung ab, weil hier ein ehrliches -Wollen zu spüren war. Er wurde gesprächiger, taute auf und weil sich, -hierdurch angeregt, auch jene freier gaben, geschah es, daß er in ein -ganz leidliches Verhältnis zu ihnen kam. Er blieb bis zum Schluß in der -Kneipe und als beschlossen wurde, noch ein Kaffeehaus aufzusuchen, ging -er ebenfalls mit. - -Je drei oder vier in einer Reihe, zogen sie geräuschvoll durch die -spärlich erhellte Gasse zum Wenzelsplatz. Die Nacht war bereits -ziemlich vorgerückt, in den Straßen bewegten sich nur vereinzelte -Schwärmer. Unerwartet aber brach mit großem Getöse aus einem -Nebengäßchen ein Trupp meist jüngerer Leute. Sie hatten schwarze -Samtbaretts schief auf den mähnigen Köpfen, schwangen drohend dicke -Stöcke und gebärdeten sich ohne ersichtlichen Grund sehr aufgeregt und -wild. Es waren die Mützen der deutschen Studenten, die das tschechische -Jungvolk derart in Zorn brachten. Denn in ihm war die Unduldsamkeit -eines kleinen Stammes, der rings von einem großen umklammert, -eifersüchtig seinen Besitzstand wahrt, in jedem Farbenbändlein des -Feindes eine Gefahr für sich erblickend. Worte wie Provokation und -Frechheit fielen, und schon auch zerbrach ein Spazierstock an dem -harten Schädel Deimlings. Der schüttelte sich nur wie ein Auerochs, -den ein Kieselsteinchen traf, nahm Hellwig, der ihm zunächst schritt, -unterm Arm und ging weiter mit finsterer Miene, ohne ein Wort zu -sprechen. Auch die andern Herminonen hatten sich zusammengeschlossen, -marschierten Schulter an Schulter dicht gedrängt, mit unbewegten -Gesichtern, und redeten nicht. Jeder Widerstand, das wußten sie, trieb -Wasser auf die Mühlen der Gegner, und schon mehr denn einmal hatte die -unbedeutende Verletzung eines Tschechen in einem solchen Raufhandel den -Vorwand abgegeben zur Zerstörung deutschen Eigentums, zu Plünderung und -Raub. Darum dämmten sie gewaltsam ihren Zorn zurück und zogen Schritt -für Schritt gelassen weiter. Voran ging der riesenhafte Braun, mit -Schultern und Ellbogen sich den Weg durch die Erregten bahnend, die -mit heftigen Gebärden immer wieder herzu drängten und zurückwichen, -unschlüssig, ob sie einen ernstlichen Angriff wagen sollten. Ihre -lauten Stimmen erfüllten die Gasse, lockten die Gäste aus den Schenken -vor die Türen, und mancher schloß sich dem Zuge an. Und jedesmal, -wenn einer sich hinzugesellte, wurde ihm, der vordem ganz ruhig sein -Schöpplein getrunken, das Gesicht fahl vor Aufregung und in den -glitzernden Augen erwachte der Haß. Wie eine elektrische Wolke umhüllte -er das lautlose Häuflein der Studenten, und endlich mußte die Entladung -erfolgen. - -Als der Trupp an einem Neubau vorüberkam, raffte einer blind vor Wut -einen Ziegelbrocken, warf und traf einen Herminonen an die Schläfe. -Der ächzte, stolperte nach vorn und wäre hingefallen, wenn ihn nicht -seine Bundesbrüder schnell gestützt hätten. Aus einer Fleischwunde -floß ihm das Blut über Gesicht und Kleider. Hellwig aber, in dem es -schon lang brodelte, war, ehe ihn Deimling zurückhalten konnte, mitten -in den dichtesten Knäuel gesprungen, bekam den Werfer zu fassen und -schmetterte ihn in aufflackerndem Jähzorn zu Boden. Im Nu war der -Wildling zwischen den Tobenden eingekeilt, die mit Fäusten und Stöcken -nach ihm hieben, Kragen und Binde von seinem Hals rissen und ihn durch -ihre Überzahl arg bedrängten. Er wehrte sich, so gut oder schlecht es -ging. Der Hut war ihm vom Haupt geschlagen worden, sein feines Haar -flatterte im Luftzug und gab lichten Schein über der gefurchten Stirn, -die weiß aus dem Halbdunkel leuchtete, während der übrige Teil des -Gesichts darin versank. Von vorn gestoßen, gezerrt von rückwärts, von -allen Seiten geknufft, geschoben und gequetscht, mußte er sich darauf -beschränken, die Hiebe mit emporgehobenen Armen von seinem Kopfe -abzuwehren, und es wäre ihm übel ergangen, wenn nicht Deimling und -Braun zu Hilfe gekommen wären. Den Kopf zwischen die Schultern gezogen -und die vorgehaltenen Fäuste wie Rammböcke brauchend, brachen sie sich, -ostfränkische Bauernsöhne, unwiderstehlich Bahn und stellten sich -kampfgewärtig um den Bedrängten. - -Nun aber eilten Wachleute herbei und trennten die Streitenden. -Die Tschechen wurden in die Gasse zurückgedrängt, die Hochschüler -unter polizeilichem Schutz zum Kaffeehaus geleitet und dem Portier -überantwortet, der sofort die Tore hinter ihnen schließen mußte. - - -3. - -Der junge Mensch, den Fritz aufs Pflaster geschleudert, hatte -zwar nicht gefährliche, aber immerhin ernstlichere Verletzungen -davongetragen. Wie Hühner auf gestreuten Weizen, stürzten sich -Zeitungsleute auf den Vorfall und schon die tschechischen -Mittagsblätter brachten spaltenlange Berichte. Scheinbar ruhig und -sachlich gehalten, wirkten sie durch Unterdrückung oder einseitige -Beleuchtung einer Tatsache besser als die schärfsten Brandartikel und -verfehlten in ihrer geschickten Fassung die beabsichtigte Wirkung nicht. - -Leidenschaftlich erregte Volksmassen sammelten sich und zogen singend -durch die Straßen. Auf dem Graben, der sonst nach stillschweigendem -Übereinkommen den Deutschen zum Abendbummel überlassen blieb, zog in -geschlossenen Reihen die slawische Jungmannschaft auf, Jünglinge und -Mädchen mit rot-weiß-blauen Bändern und Schleifen streiften umher und -umringten die deutschen Burschenschaftler mit wüstem Geschrei. Langsam -anschwellend rollte es die Straße entlang, brandete an den Häusern -empor, ebbte ab und schwoll zurückkehrend wieder an, murrte, tobte, -donnerte ohne Aufhören hinab und hinauf, von einem Menschenschwarm dem -andern zugeworfen, bald dumpf am Boden hinrollend, bald schrill in -die schwere, nebelfeuchte Abendluft flatternd, die es sogleich wieder -niederdrückte und am Boden festhielt. - -Mit gelben Höfen leuchteten die Straßenlampen nur verschwommen in der -Dämmerung. Gleich schwarzen Käfern hasteten die Menschen durcheinander, -und wo eine Studentenkappe sichtbar wurde, entstand ein heftigerer -Wirbel in den wimmelnden Massen, stürzten alle ungestüm herzu, -fluchend, gestikulierend und aufs heftigste erbittert. - -Hellwig ging mit Braun und Deimling im Zuge der Herminonen. Pichler -war verschwunden. Als der tolle Lärm losbrach, hatte er sich sacht -davongestohlen. So stumm und kleinlaut, wie er vordem auf dem Weg -von der Kneipe zum Bummel keck und prahlerisch einem entschiedenen -Widerstand das Wort gesprochen, war er über die Straße und durch die -nächste Seitengasse heimgegangen. - -Das Gewühl wurde immer stärker und schon lieferte man sich da und dort -kleine Scharmützel. Aber sie waren nur rasch und kurz, als sollten -vorerst die Kräfte geprüft und ausgekundschaftet werden, wie weit der -Gegner zu gehen entschlossen sei. Da fiel es plötzlich einem verwegenen -Häuflein von sieben rotbemützten Teutonen ein, die Wacht am Rhein -anzustimmen. Gewaltig sangen sie mit ihren schweren Bässen das deutsche -Wehr- und Trutzlied in das einförmige Gejohl. - -„Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!“ Weiter kamen sie nicht. -Wie losgelassene wilde Tiere stürzten sich die Tschechen auf die -unbedachten Heißsporne. „~Mažte ji!~ Haut sie!“ brüllten die Jünglinge -mit der slawischen Trikolore, und manches zarte Mädchen bearbeitete -mit dem Regenschirmchen die Köpfe der Sänger, bis das luftige Dach in -Fetzen am geknickten Stäbchen flatterte. - -Aber auch die andern Hochschüler mußten die Unbesonnenheit der sieben -Kampfhähne entgelten. Eine Sturzwelle, warf sich die entfesselte Wut -gegen die Deutschen und brachte sie nun wirklich in ernste Gefahr. -Berittene Schutzleute sprengten in die Menge. Sie vermochten nichts -gegen die wache Leidenschaft. Die arg bedrohten Deutschen flüchteten in -die Fluren der Häuser. Aber mancher Hausbesorger weigerte ihnen auch -diese Zuflucht und trieb sie wieder auf die Gasse, wo die ergrimmten -Slawen neuerdings über sie herfielen. Die Geschäftsleute hatten ihre -Läden schon früher geschlossen. Nun beeilten sich auch die Wirte und -Kaffeesieder, ihre Spiegelscheiben zu verwahren, denn bereits waren -viele eingedrückt und zertrümmert. - -Vor dem deutschen Vereinshaus war das Gedränge am ärgsten. Den -meisten Studenten war es nach hartem Strauß gelungen, sich dorthin -zurückzuziehen. Die Menge aber schickte sich allen Ernstes an, das -Gebäude zu stürmen. Schon splitterte das Holz an den Fensterläden, -wurden die Torflügel bedrohlich locker, als eine Schar Dragoner -heransprengte, die im Verein mit einigen Abteilungen Fußvolk die -Volksmassen ziemlich rasch in die Seitenstraßen abdrängten. - -Aber während am Graben das militärische Lagerleben sich entfaltete, -während die angepflockten Pferde mit gesenkten Köpfen schlafend neben -Sattelzeug und Pyramiden von Gewehren standen, während die Posten auf -und nieder schritten, umsummt von den leisen Gesprächen der ruhenden -Mannschaft, -- ein Säbel klirrte, ein Pferd schüttelte sich und -wieherte leise, still und dunkel standen die Häuser, -- währenddessen -rotteten sich in den Vororten die Vertriebenen wieder zusammen, und von -den immer bereiten Scharen arbeitsscheuer Halunken unterstützt, nahmen -sie Rache dafür, daß man sie in der Wahrung ihrer vermeintlichen -Rechte mit Waffengewalt gehindert hatte. - -Deutsche Firmenschilder wurden von den Häusern gerissen, die Geschäfte -aufgebrochen, die Vorräte auf die Gasse geschleppt, vernichtet, -geraubt. Und die Steine flogen in die Säle deutscher Bildungsstätten -und wissenschaftlicher Anstalten, flogen in die Spitäler bis zu den -Betten der wehrlosen Kranken, verbreiteten Schrecken und Angst in den -Räumen, die das tiefste Menschenelend umschlossen, vermehrten die -Leiden der Schwerkranken und warfen halb Genesene in neues Siechtum. - -Die ganze Nacht dauerten die Überfälle. Sie waren so ausgezeichnet ins -Werk gesetzt, daß der Pöbel, dem ein Heer von Spähern zur Verfügung -stand, seine Arbeit regelmäßig gründlich abgetan und sich aus dem -Staub gemacht hatte, wenn endlich die Hüter der öffentlichen Ordnung -auftauchten. Auch der nächste Morgen brachte keine Ernüchterung. -Posten lauerten bei verdächtigen Häusern, stürzten sich auf jeden, der -heraustrat und mißhandelten ihn, wenn er als Deutscher erkannt wurde. -Und wo noch ein unbewachtes deutsches Kauflädchen zu finden war, wurde -es aufgesprengt und ausgeplündert. Die Behörden waren unentschlossen, -zauderten und fürchteten sich vor den möglichen Folgen energischer -Maßregeln. - -So verging auch dieser Tag und noch eine Nacht unter fortwährendem -Tumult. Während der ganzen Zeit durften die Studenten das deutsche -Vereinshaus nicht verlassen. Ein starker Militärkordon bewachte sie, -aber heraus ließ man niemanden, der nicht einen unauffälligen Hut -vorweisen konnte. Denn man wollte vermeiden, daß durch den Anblick der -bunten Mützen die Menge von neuem gereizt und zu einem Angriff gegen -die Truppen verleitet werde. - -In diesen Tagen höchster Bedrängnis wurde wieder einmal eine deutsche -Eintracht geboren. Mit pomphaften Worten und tausend Vorbehalten -erklärten sich die radikalen Fraktionen bereit, ihre gegen Judentum -und Liberalismus geschliffenen Streitäxte bis zur Wiederkehr besserer -Zeiten zu vergraben. Mit weitschweifigen Debatten und großen Reden ging -ein kleines Geschlecht daran, das neugeborene Zufallskind eines großen -Augenblicks auf die Taufe zu heben. - -Nun war da unter den Freisinnigen ein Hochschulprofessor, der in -seiner stillen Gelehrtenstube ein fleißiges Arbeitsleben führte, in -bescheidener Zurückgezogenheit seiner Wissenschaft lebte und von vielen -übersehen oder wenig beachtet wurde, weil er jedem Hervortreten fast -ängstlich auswich. Um so größeren Eindruck machte es, als er sich jetzt -unter dem Zwang einer ehrlichen Entrüstung zur ganzen Höhe seiner -hageren Gestalt erhob und die Erregung hinter einer trockenen Knappheit -bergend, mit dürren Worten darlegte, was nach seiner Ansicht zur Abwehr -weiterer Drangsal und zur Sühne der erlittenen Unbilden fürs erste zu -geschehen habe. Über seine Anregung wurde an den Ministerpräsidenten -ein Telegramm abgesendet, worin der kalte Stolz gekränkten Rechts -sofortige Abhilfe forderte, wenn es nicht zur Selbsthilfe kommen -sollte. Dann begab sich eine Abordnung zum Statthalter und verlangte -Schutz und entschiedenes Eingreifen. - -Jetzt endlich wurde der Belagerungszustand über die aufgestörte Stadt -verhängt und binnen kurzer Frist eine halbwegs erträgliche Ordnung -hergestellt. - -Durch diese Ereignisse wurde Fritz gegen Wunsch und Absicht in den -Wirbel der nationalen Bewegung mit hineingerissen. Seine zupackende -Handgreiflichkeit gegen den Ziegelwerfer hatte ihn bekannt gemacht. -Er wurde als Vertreter der Finkenschaft in die Abordnung gewählt, -und da es den Kampf gegen eine Ungerechtigkeit galt, sagte er nicht -nein. Die vollwertige Persönlichkeit jenes Universitätsprofessors -aber nahm ihn rasch gefangen, war mit ihrer ehrlichen Begeisterung -und Besonnenheit ganz darnach angetan, den unberatenen Jüngling in -der Ansicht zu bestärken, daß hier um ein Menschengut gekämpft werde, -das auch tüchtigen und reifen Männern kostbar sei. Darum legte er -sich unbesinnlich mit voller Kraft ins Zeug und gab sein Bestes her, -um den überkommenen Auftrag ehrenvoll zu bestehen und dem Volke, -dem er angehörte, nützlich zu sein, soweit er das als halbfertiger -und unerfahrener Schüler vermochte. Doch fand er trotz allem in -dieser Tätigkeit keine volle Befriedigung, spürte vielmehr ein vages -Unbehagen, ohne die Quelle zu kennen, aus der es floß. - - -4. - -Während der zwei Sturmtage hatte auch Pichler die Wohnung nicht -verlassen. Doch hielt er sich nicht in seiner eigenen Stube auf, in -die leichtlich von der Gasse ein Stein hätte fliegen können, sondern -vertrieb sich im Hofzimmer die Zeit, so gut es ging, indem er mit der -Wondra Mühle spielte, meistens aber rauchend mit gekreuzten Beinen -im Lehnstuhl des Astronomen saß und nicht zum Hradschin, sondern den -Leuten des gegenüberliegenden Hauses in die Fenster schaute. Das -behagte ihm je länger, je besser, da es zumeist dienstbare weibliche -Wesen waren, die er zu Gesicht bekam und die in hofseitigen Küchen -und Kammern tagsüber mit den Hausfrauen um die Wette geschäftig sich -regten, in einsamer Frühe mit Hemd und Unterrock bekleidet sich die -Haare ordneten und abends auch noch die Röcke auszogen, um sich rasch -zu reinigen, bevor sie die Lämpchen verlöschten. - -Die Wondra störte ihn nicht in diesem beschaulichen Treiben. Wohl -hockte sie rauchend, schwatzend und strickend im selben Zimmer, aber -sie schaute meist auf den Wollschlauch, der unter den klappernden -Nadeln zusehends wuchs und hatte durchaus nicht acht, wohin unterdessen -ihr Mietsmann die Blicke wandern ließ. - -Von den Vorfällen der letzten Tage wußte sie die übertriebensten und -blutrünstigsten Geschichten zu erzählen, mit einer Anschaulichkeit, als -wäre sie überall mit dabeigewesen. Dazu lebte sie in der beständigen -Angst, daß auch ihr die Stuben geplündert werden könnten, weil sie -Deutsche beherbergte; deswegen begab sie sich sehr zeitig zu Bett, -als ob, wenn _sie_ schlief, auch alle anderen das gleiche tun und sie -in Ruhe lassen müßten. Vorher jedoch verwahrte sie ihre Wohnung auf -das sorgsamste, und Pichler mußte ihr jeden Abend beistehen, wenn sie -den Eingang mit dem Küchenkasten verrammelte und zur Sicherheit noch -ein paar Sessel darauftürmte. Erst dann kroch sie beruhigt in die -Federn, während Otto, nunmehr mit einem Fernrohr des Sternguckers, -wieder im Lehnstuhl Platz nahm, zuvor aber die Lampe zurückschraubte, -um zu verhüten, daß die ahnungslosen Mägde ihn erblickten und durch -Herablassen der Rollvorhänge dem angenehmen Schauspiel ein Ende machten. - -Von Fenster zu Fenster ließ er sein Perspektiv wandern, und da bemerkte -er in einem hellen Kämmerlein auch ein junges Frauenwesen, das dort -an der Nähmaschine saß und unablässig weiße Leinwandflächen unter die -Nadel schob. Ganz deutlich sah er das reine Profil und den nackten, -schlanken Hals, der sich in einer anmutigen Linie hinter der Hausjacke -verlor, alles vom Lichte der seitlich stehenden Lampe voll beleuchtet. -Das gefiel ihm aus der Maßen wohl. - -Am nächsten Morgen erwachte er erst spät. Sein erster Blick galt -wieder jenem Fenster; da stand die fleißige Näherin im geöffneten -Rahmen fertig angezogen und beutelte aus einem Flanelltüchlein eine -Wolke Staubes in die Luft hinaus. Wie ein freundliches Winken war -das, und Otto winkte zurück, indem er lächelnd die Hand gegen das -Fräulein bewegte. Darüber erschrak dieses ein wenig, betrachtete aber -den hübschen Jungen mehr erstaunt als entrüstet. Nun wagte er es und -warf eine Kußhand hinüber. Sie lachte ein ganz kurzes Lachen in hohen -Kehltönen, nickte, drehte sich auf dem Absatz herum, und ihr Rocksaum -wehte, während sie im Dunkel des Zimmers verschwand. Aber nach einer -Weile kam sie wieder und blieb jetzt schon länger beim Fenster. - -Schimmernde Fädchen spannen sich, von einem Fenster zum andern zogen -sie sich wie helle Seide oder leichte Sonnenstrahlen, auf denen die -verliebten Jugendgeisterchen ein lustiges Seiltanzen begannen mit -halsbrecherischen Sprüngen und Nicken und Neigen. Zag oder mutig, -ängstlich oder keck trippelten, tollten sie hinüber, herüber, bis -hinter der lichten Mädchengestalt eine rundliche Frau mit gestrenger -Miene auftauchte, worauf die männliche Geisterschar kopfüber in den -Hof purzelte, die weibliche aber in den tiefblauen Winterhimmel hinein -lachend davonschwebte. - -Es war, wie Otto gleich vermutet hatte und von der Wondra bestätigt -erhielt, die Mama gewesen. Die Wondra wußte auch, daß sie einen -kleinen Postbeamten zum Mann und zwei Töchter besaß. Die ältere sollte -in einigen Wochen Hochzeit machen und ließ sich, während sie mit -Eltern und Bräutigam bei Freikonzerten und in Vergnügungslokalen ihre -abendliche Unterhaltung suchte, von der jüngeren Schwester, der braven -Helenka, die Aussteuer fertig nähen. - -Pichler wich den ganzen Tag nicht von seinem Lauscherposten und nahm -sich kaum zum Essen Zeit. Indes zeigte sich die Helenka erst abends -wieder in jenem Gemach, und mit verliebten Augen betrachtete er -die runde Anmut ihrer Bewegungen, wie sie flink und leicht in dem -Leinwandhaufen herumwirtschaftete. Er nahm die Lampe und stellte sie -beim Fenster so auf, daß ihr Schein auf ihn fallen mußte. Dann warf er -wieder eine Kußhand hinüber. Da ließ sie die Hände in den Schoß fallen, -lehnte sich in dem Stuhl zurück und lachte ausgelassen. Er lachte auch, -winkte und verneigte sich. Sie winkte wieder, war blutrot und lachte -fort, bis sie plötzlich ihre Arbeit zusammenpackend, nun ihrerseits die -Hand an die Lippen legte und mit den geküßten Fingerspitzen durch die -Luft fuhr, worauf das Licht blitzschnell erlosch. - -Mit glänzenden Augen schaute Otto auf das dunkle Fenster, rieb sich -die Hände, schnippte mit den Fingern und freute sich unbändig. Doch -hinderte ihn das nicht, nachher andächtig dem Treiben der schläfrigen -Mägde zuzusehen und hierauf selbst einen gesunden Schlaf zu tun, den -vergnügliche Träume begleiteten. - -Durch ein lautes Krachen wurde er mitten in der Nacht unsanft -geweckt. Gleich darauf kam die Wondra im Barchentunterrock mit einem -Angstgezeter in sein Zimmer gestürzt. Denn sie vermutete nichts -anderes, als daß ihre Landsleute bei ihr einbrechen und für den -Volksverrat Rache nehmen wollten. Auch Otto mochte Ähnliches erwarten -und machte ein bängliches Gesicht. Da erhob sich draußen mächtiger -Gesang: „Raus da! Aus dem Haus da! Rrraus! Rrraus! Rrrraus!“ - -Karg, König, Fundulus und Hellwig waren heimgekehrt und hatten sich, -da die Tür nicht nachgeben wollte, mit vereinten Kräften dagegen -gestemmt, so daß die Stühle polternd von dem Küchenkasten fielen und -dieser selbst ins Wanken kam. Nun verwandelte sich das Angstgezeter -der Witwe in einen Freudenlärm. Trotz der ungewöhnlichen Stunde wollte -sie zur Feier der glücklichen Wiedervereinigung ein kleines Gelage -veranstalten bei schwarzem Kaffee mit Rum und bei Flaschenbier, das sie -in der kühlen Jahreszeit stets in genügender Menge vorrätig hielt. Die -Studenten jedoch wollten erst wieder einmal ordentlich ausschlafen, -bedankten sich und vertrösteten die unternehmende Kostfrau auf eine -gelegenere Zeit. Ungern gab sie nach, wünschte zuvor wenigstens noch -die Erlebnisse ihrer Mieter sogleich zu erfahren und ermüdete nicht -im Fragen, bis Karg die wohlbeleibte Dame nicht gerade sanft in ihre -Kammer zurückbeförderte und die zugeschlagene Tür den rauschenden -Redeschwall vorläufig staute. - -Weniger als die Hauswirtin war Pichler über die Ankunft der -Stubengenossen erfreut, weil dadurch das begonnene Schäferspiel -unliebsam gestört wurde. Indes, die Sache war bereits eingefädelt und -spann sich ohne Schwierigkeiten weiter. Am nächsten Vormittag erwartete -er die Helenka bei ihrem Haustor und hatte die Genugtuung, daß sie -ihn erkannte und im leichten Schreiten mehrmals zurückblickte, ob er -ihr nachfolgte. Dies tat er denn auch in angemessener Entfernung. Nun -er sie im Straßenkleid sah, erschien sie ganz anders und gefiel ihm -fast noch besser. Sie war ziemlich groß, von reichen, vollen Formen, -die durch ein straff gezogenes Mieder unter einem kurzen Jäckchen und -einem knappen Rock ohne Falten aufs günstigste zur Geltung gebracht -oder vielmehr diskret unterstrichen wurden. Eine weiße Matrosenmütze, -von einem silbernen Pfeil gehalten, saß keck auf einer Fülle dunklen -Gelocks, an den leise schaukelnden Hüften wiegte sich ein gewaltiger -Henkelkorb im Takte mit. So schritt sie rasch und resch mit schnellen -Schritten vor ihm her, stramm aufgerichtet und sehr selbstbewußt im -Gefunkel ihrer jungen Schönheit. - -Als sie ihre Einkäufe besorgt hatte und mit gehäuftem Korbe heimging, -fragte Pichler mutig, ob er sie begleiten dürfe. Sie bejahte verlegen. -Aber als er sich vorgestellt hatte, begann sie sogleich ein lebhaftes -Schwatzen über ihre Näherei, ihre Familie und die bevorstehende -Hochzeit, über die winterliche Kälte und über viele andere Dinge in dem -kleinbürgerlichen Bestreben, das Gespräch nicht ins Stocken geraten zu -lassen. Fast ganz allein bestritt sie es, in einem etwas holprigen und -mühsamen Deutsch. Aber Pichler fand auch die Fehler reizend, die ohne -alle Ziererei neckisch wie Flocken von den schmalen Lippen fielen. - -Von nun an traf er sie täglich, einmal am Vormittag, einmal gegen -Abend, je nachdem sie Zeit hatte. Die Stunde gab sie ihm bekannt, indem -sie dicke Ziffern mit Tinte auf Papierblätter malte und gegen die -Fensterscheiben hielt. - -Die Stadt hatte wieder ihr gewöhnliches Aussehen, die Erregung schien -verbraust, friedlich bewegte sich jede der feindlichen Nationen auf -ihrem Bummel, die Deutschen auf dem Graben, die Tschechen auf dem -Roßmarkt und in der Ferdinandsstraße. Otto zeigte sich mit Helenka bald -da, bald dort, und je nachdem, wo sie gingen, sprach er deutsch oder -böhmisch mit ihr. Denn er hatte sie gebeten, ihm in der Erlernung -der zweiten Landessprache behilflich zu sein, und so war dieser -Liebeshandel nicht nur reizvoll, sondern auch praktisch. - -Sie war eine Vollblut-Tschechin und machte kein Hehl aus ihrer -Gesinnung, was sie aber nicht hinderte, auch an hübschen deutschen -Männern Gefallen zu finden. Doch war ihre Gunst nicht leicht zu -erringen, denn sie war sich ihrer Schönheit voll bewußt und konnte -wählerisch sein, weil sie von vielen umworben wurde. Am wenigsten -verfingen Schmeicheleien bei ihr, da sie solche schon bis zum -Überdruß zu hören bekommen. Das hatte Pichler bald weg und änderte -im selben Augenblick von Grund aus seine Kriegskunst. Er wurde kurz -angebunden, derb, sogar grob. Alles, worauf sie Wert legte oder -sich was einbildete, setzte er herab, mäkelte daran und tadelte es, -wählte aber seine Ausdrücke derart bedachtsam, daß er immer nur eine -allgemeine Ansicht zu äußern schien. Erzählte sie, stolz auf ihre -prächtige Büste, daß sie auf dem letzten Ball ein ausgeschnittenes -Kleid nur mit Armspangen getragen und was für Aufsehen sie erregt habe, -tat er höchst gleichgültig und bemerkte nur beiläufig, er habe einmal -aus einem ähnlichen Anlaß mit einem Mädchen sich überworfen, das er -gleicherweise, wie es ihn, sehr gut leiden mochte. Er habe damals mit -der Schönen nicht ein einziges Mal getanzt, und als sie Aufklärung -verlangte, habe er ihr nur kurz geraten, sie möge auf den Markt -gehen und sich dort ausstellen; er werde sie begleiten und wie ein -Pferdehändler die gediegene Wölbung der Brust anpreisen, die tadellosen -Arme, Schenkel und so weiter. Er habe sich nicht anders helfen können -damals, denn diese Schaustellung der Reize sei ihm widerlich gewesen, -und gewohnt, mit seiner Meinung nicht hinterm Berg zu halten, habe er -eben klipp und klar herausgesagt, was er sich dachte. - -Danach hatte die Helenka auf dem ganzen Heimweg kein Wort mehr geredet, -aber er war dennoch mit seiner Erfindung und ihrer Wirkung sehr -zufrieden. In der Tat blieb diese Art des Umgangs nicht ohne Eindruck -bei einem Mädchen, das zwar schön und im Plaudern gewandt, sonst aber -just kein Kirchenlicht war. Bald war ihnen der Bummel zu belebt, sie -mieden ihn und suchten einsamere Gassen, wo es die Helenka schweigend -litt, daß er ihren Arm packte und mit hastiger Zärtlichkeit an sich -drückte. Und einmal, als sie von einem ernsten Bewerber erzählte, der -auf der Bildfläche erschienen war, riß er sie heftig an sich. „Helenka, -so lasse ich dich keinem andern!“ Mitten auf der Gasse küßte er sie und -kümmerte sich nicht um ihr Sträuben und nicht um die Leute. - -Von nun an trugen sie das heimliche Sehnen ihrer klopfenden Herzen -in noch größere Abgeschiedenheit. Eng aneinander gedrängt gingen sie -längs des Moldauufers spazieren, über einen weiten ebenen Plan, wo das -geflößte Brenn- und Bauholz aus dem Böhmerwald aufgestapelt war. Gute -Verstecke gab es hier, die zu Raummetern geschlichteten Scheite waren -wie Mauern und die glatten Stämme der toten Waldriesen wie Bänke. Ganz -dunkel war es und nichts war hörbar, als das Glucksen und Plätschern, -wenn eine stärkere Welle gegen das sandige Ufer schlug. In der Ferne -blitzten die Lichter der Stadt und lagen in gelben Streifen über den -schwarzen Fluten, ein schrilles Läuten der Straßenbahn kam herüber, -eine Turmuhr schlug mit langsam verhallendem Klang -- dann war wieder -nichts als das dumpfe Rauschen im Fluß. Als wären sie beide allein auf -der Erde, so war das und so gab sich die Helenka dem Werbenden. Sie -tat es ohne Lüsternheit oder Neugierde, als schenkte sie ihm nur, was -ihm gebührte, weil es für ihn allein in dieser dunkeln Einsamkeit aus -ihrem jungen Herzen emporgewachsen war. - -Dann aber starrte sie ihn, die Hände auf seinen Schultern, mit -entsetzten Augen an und stieß ihn wild von sich. - -„Mein armer Vater!“ - -Ganz klanglos sagte sie das und wiederholte es mehrmals und wimmerte -leise. - -Otto stand ratlos und wußte nicht, wie er sie beruhigen sollte. Sie tat -ihm nicht so sehr leid, er war mehr ungehalten, daß sie ihm jetzt diese -Szene machte und die Freude verdarb. Plötzlich aber erhob sie sich mit -einem entschlossenen Ruck und drückte sich unter der runden Mütze das -Haar an den Schläfen zurecht. „Komm!“ sagte sie nur und schritt ohne -Aufenthalt schnell gegen die Stadt. Sie weinte nicht mehr, aber sie -sprach auch nicht. Stumm ging sie neben ihm her. Manchmal atmete sie -in ihr Taschentuch und preßte es an die geröteten Lider, um die Spuren -der Tränen auszutilgen. Aber durch die Stadt schritt sie wieder ganz -aufrecht, mit frei erhobenem Kopf und wagerechtem Kinn. Otto wollte -etwas sagen. Mit einer heftigen Handbewegung winkte sie ihm Schweigen. -Sie wollte nicht gestört sein in dem Belauschen ihrer aufgeschreckten -Seele und dem staunenden Hineinhorchen in den Aufruhr des Blutes. Beim -Haustor neigte sie flüchtig den Kopf und schritt rasch und fest hinein, -ohne ein Wort oder Lächeln zum Abschied. - -Er atmete auf. Seiner jubelnden Siegerfröhlichkeit war der stumme -Heimweg zur Qual geworden. Alles in ihm drängte nach lauter, lärmender -Freude. Und statt dieser Luft machen zu dürfen, hatte er mit einer -Leichenbittermiene neben ihr hergehen und seufzen müssen, wo er -jauchzen wollte. Er lief mehr als er ging in die Herminonenkneipe, -trank dort, sang und schwärmte übermütig mit den Füchsen bis zum -Morgengrauen. - -Am nächsten Vormittag stand die Helenka wieder beim Fenster und kündete -mit ihren Tintenziffern die Stunde des Stelldicheins. Und von nun an -war alles gut, und sie war lustig und fügsam und sehr verliebt. - - -5. - -Das Wintersemester war vorüber. Fritz war wenig vorwärts gekommen. -Durch den Verkehr mit den Studenten war er einem gelinden Trinken -anheim gefallen und der Gewohnheit, abends lang im Wirtshaus zu sitzen. -Anfangs hatte er sich Vorwürfe gemacht und zu bremsen versucht. Aber da -kamen ihm die Bekannten auf die Bude gerückt, und notgedrungen mußte -er als ihr Vertrauensmann mithalten. Später schwächte der reichlichere -Genuß des Alkohols seine Widerstandskraft, das Trinken wurde ihm sogar -Bedürfnis, um die Lustlosigkeit zu bannen, in der er jetzt wie in einer -halbhellen Dämmerung lebte. Er ging spät zu Bett und stand mit wüstem -Kopf spät auf, fühlte sich müde, leer, unzufrieden und konnte sich doch -zu keiner ernsten Arbeit zusammenraffen, ließ vielmehr den Herrgott -einen guten Mann und fünf gerade sein. - -Seine Barschaft schmolz bei diesem Leben rasch. Während Otto schon -drei Mittelschülern Nachhilfeunterricht erteilte, war es ihm bisher -nicht geglückt, Ähnliches aufzutreiben. Überall wurde er abgewiesen. -Der Vermerk auf seinem Zeugnis, daß er vom Neuberger Gymnasium -ausgeschlossen worden war, machte fürsorgliche Eltern stutzig; sie -wagten nicht, ihm ihre Kinder anzuvertrauen. Und er war zu hölzern -und zu stolz, um sein Licht auf den Scheffel zu stellen oder als -Vertrauensmann seine Beziehungen zu den Parteigrößen auszunützen. Da -las er in einer Zeitung, daß ein Rechtsanwalt einen Schreiber für -die Nachmittage suchte. Er bewarb sich um den Posten und erhielt -ihn. Das brachte ihn noch mehr aus der Bahn. Trüb und trostlos -eintönig schlichen die Tage neben ihm her, zwischen stumpfsinnigem -Wirtshaushocken am Abend und gleichgültiger Mattigkeit am Morgen war -einer wie der andere ausgefüllt mit dem Schreiben von Mahnbriefen, -Klagen, Pfändungsgesuchen, und alle waren sie verloren. - -Hätte er ein gemütliches Daheim oder wenigstens eine ruhige Kammer -gehabt, er wäre vielleicht eher aus diesem grauen Netz herausgekommen, -in dem er hing wie die Fliege im Spinngewebe und sich wehrlos den -Lebensmut austrinken ließ. So aber fühlte er einen Ekel vor dem Treiben -der Wondra. Er floh davor und floh vom Teufel zum Beelzebub -- in die -Kneipen und Kaffeehäuser. Manchmal kam ihm in diesen jammervollen -Monaten der Gedanke an Eva. Aber wenn dieser jemals treibende Kraft -für ihn gehabt, so hatte er sie jetzt verloren. Wie wenn einer, der im -zähen Moorgrund langsam versinkt, zu einem schönen Stern hinaufblickt -und sich denkt: ‚Den siehst du auch bald nicht mehr!‘ -- so war es und -machte ihn traurig und jeden Halt nahm es ihm. - -Bei den Studenten war er gut gelitten. Er galt als treu und verläßlich, -und die trockene Sprödigkeit, die er im Umgang an den Tag legte, wurde -von den jungen Leuten als Zeichen männlicher Reife und Wahrhaftigkeit -genommen und hochgehalten. Aber je mehr man sich um ihn riß, je scheuer -und zugeknöpfter wurde er. Er litt unter diesem Leben ohne Inhalt, das -um so leerer wurde, je weiter die hellen Kampftage in die Vergangenheit -zurücksanken. Rasch wie die Fehde entbrannt, war sie auch vergessen -und die Gegenwart wieder angefüllt mit Kneipen, Nachtschwärmen und -Raufereien unter den einzelnen Verbindungen. Und er zechte und -schwärmte mit und wenn er noch in keinen Ehrenhandel verwickelt worden -war, so hatte er das nur seiner Wortkargheit zu danken. - -Schal war das alles, belanglos und nichtswürdig. Aber loskommen konnte -er doch nicht. - -In die Hörsäle kam er nicht mehr. Er schämte sich, mit schwerem Kopf -und stumpfen Sinnen hinzugehen. Statt dessen saß er jetzt auch an den -Vormittagen in der Kanzlei. Denn die ungeordnete Lebensweise kostete -viel Geld, und schon gab er täglich mehr aus, als er, das Erworbene -eingerechnet, verbrauchen durfte. Vom Bureau ging er ins Kaffeehaus, wo -er die Tagesblätter und sämtliche ernstere Zeitschriften las, deren er -habhaft werden konnte. Gewöhnlich blieb er dort bis spät abends, begab -sich dann in eines der Studentenwirtshäuser. Er brachte es nicht über -sich, bei der Wondra das Nachtmahl zu nehmen. Sie rechnete auch bei -der Zubereitung nicht mehr mit ihm, aber den Kostpreis setzte sie ihm -deswegen doch nicht herab. - -Dann kamen wieder Abende, an denen es ihm einfach unmöglich war, ein -menschliches Gesicht zu sehen. An denen er die Kneipen mied und trotz -Frühlingswind und Regenwetter im Freien sich herumtrieb. Den Radmantel -um die Schultern, lief er pfadlos am Strand der Moldau herum. Das -aufgeweichte Erdreich klebte in Klumpen an seinen Sohlen und machte -sie schwer, unter seinen Tritten spritzte ihm das Schmutzwasser der -Regenpfützen oft bis ins Gesicht, und nach jedem solchen Ausflug -schalt die Wondra, daß seine Kleider nicht sauber zu kriegen seien. -Aber immer wieder rannte er in diese tiefdunkle Einsamkeit, als könnte -er sich dort vor seinem eigenen Ich verstecken. Aber er entkam sich -nicht. Alle Vorwürfe und aller Ekel über sein unwürdiges Treiben gingen -unablässig mit ihm durch die Finsternis, und er fühlte nur, daß er -sich Stunde um Stunde an sich selbst versündige, indem er in schlaffem -Müßiggang seine blanken Kräfte rosten ließ. Manchmal auch packte ihn -ein sinnloser Zorn, der ihm Tränen in die Augen trieb. Er schlug mit -geballten Fäusten seinen Leib, und je mehr es ihn schmerzte, mit -desto wilderer Freude schlug er weiter, auf Arme, Wangen, Schläfen, -und höhnte und beschimpfte sich mit häßlichen Worten, die in einem -Schluchzen erstickten. Jedes Ziel war ihm entglitten, er ging mit -verbundenen Augen um sein Leben herum wie der Gaul im leeren Göpel. - -Die nächtlichen Wanderungen führten ihn weit über die Holzplätze -hinaus in eine Gegend, wo der neue Hafen erstehen sollte. Die Arbeiten -hatten noch nicht begonnen, aber schon waren in der großen Kotwüste -Baggermaschinen aufgestellt und neben angehäuften Baustoffen Holzhütten -und Verschläge für die Karren und Werkzeuge errichtet worden. Nur -selten kam in den Abendstunden ein Mensch hieher. Ihn aber trieb -es immer wieder in diese Öde, die so gut zu seiner Stimmung paßte. -Stundenlang konnte er dort hocken und vor sich hinbrüten, während -der Regen kühl und traurig ohne Pausen auf ihn niederfiel. Und je -unfreundlicher das Wetter war, je länger blieb er, als wollte er mit -diesem freiwilligen Ausharren in einer Beschwerde nur irgendwie eine -sühnende Tat setzen, wenn er schon nichts anderes zuwege brachte. - -Da vernahm er einst -- es war ein naßkalter Aprilabend -- ein Husten -und Stöhnen wie von einem unruhigen Schläfer, schaute um sich und -gewahrte einen spärlichen Lichtschein, der aus einer der hölzernen -Hütten flimmerte. Leise ging er darauf zu. Und wie er vorsichtig durch -die Fugen der Bretterwand spähte, sah er im Innern des matt erhellten -Raumes zwei Gestalten auf dem bloßen Erdboden hingestreckt, während -drei andere neben einem Feuer kauerten und einem geschlachteten Pudel -das Fell abzogen. Das Feuer brannte in einem Viereck aus Ziegelsteinen, -und auf diesem Herd stand ein verbogener Blechtopf, darin das Wasser -schon zu dampfen anfing. - -Die fünf Kumpane mochten wohl schon öfters hier übernachtet haben und -schienen sich in ihrem Schlupfwinkel ganz sicher zu fühlen, weil sie -sich so sorglos gehen ließen. Gern hätte sich Fritz zu ihnen gesellt. -Aber sein Erscheinen hätte sie höchstens beunruhigt oder mißtrauisch -gemacht, und helfen konnte er ihnen doch nicht. So ließ er es bleiben. - -Das Hundefleisch war gar geworden. Nun wurden auch die Schläfer munter -und setzten sich zum Feuer. Alle schwiegen, streckten die Hände nach -den rauchenden Fleischstücken, rissen mit den Zähnen große Fetzen los, -die sie mit der Hast des Hungers verschlangen. Dazu tranken sie von -der gelblich-grauen Fettbrühe mit schmatzenden Lippen, und in ihren -knochigen Gesichtern war ein Ausdruck der Zufriedenheit, als säßen -sie bei dem alten Schlemmer Lukull zu Tisch. Satt gegessen, kramten -sie aus den Taschen die gesammelten Zigarrenstummel, setzten sie in -Brand und streckten sich längelang auf den nackten Erdboden aus, die -verschränkten Hände als Kissen unterm Kopf. Einer hatte auch eine -gefüllte Schnapsflasche mit, die im Kreis herumging und schnell -leer war. Solang das Feuer brannte, unterhielten sie sich halblaut -miteinander. Sie redeten deutsch, aber aus ihrer Aussprache hörte der -Lauscher, daß nur zwei von ihnen wirklich Deutsche waren, der ‚Schwabe‘ -und der ‚Bayer‘, wie sie genannt wurden, während die drei anderen, der -‚Tschasbauer‘, der ‚Wasserkopf‘ und der ‚Krowot‘ der slawischen Rasse -angehörten. - -Sie erzählten von ihren vergeblichen Gängen um Arbeit und verwünschten -das milde Wetter, weil es schneller den Schnee weggeräumt hatte als sie -mit ihren Schaufeln. Dann wurden sie einsilbiger und schliefen endlich -ein, indes der Regen ohne Pause rieselte und der Wind empfindlich kalt -durch die Bretterwände pfiff. - -Fritz schlich sacht davon. Seine Kleider waren schwer von Nässe, in -den Vertiefungen seines Filzhutes bildete das Wasser kleine Teiche. -Aber heim ging er noch nicht. Eine dumpfe Trauer war in ihm, und mit -doppelter Gewalt griff die Reue über so viele nutzlos verzettelte Tage -an sein Herz. Denn es war ihm gewesen, als hätte im unsteten Flackern -des dürftigen Feuerchens hinter Qualm und rauchiger Glut wie in weiter -trüber Ferne das verlorene Ziel flüchtig herüber geleuchtet. - -... Den Elenden und Gequälten ein freies, heiteres Dasein schaffen, -ihnen das Recht auf Glück zurückerobern -- ein Ziel, wohl wert, sein -Leben dafür aufzuwenden ... - -Hatte wirklich einmal einer so zu ihm gesprochen, und er hatte sich -ihm zugeschworen mit Handschlag und Gelöbnis? Und statt dessen -schritt er satt und behäbig in den Reihen der Behäbigen und Satten, -trank sein Bier in Ruhe und ereiferte sich höchstens im Streit der -Glieder untereinander, indes der ganze Körper in schwerer Not rang. -Die Menschheit war dieser Körper, und ihre Not war der Hunger. Und -wo dieser war in seinem bittersten Ernst, da war auch kein Kampf -von Volk zu Volk, von Bruder zu Bruder. Da saß der Bayer mit dem -Polen, der Deutsche mit dem Slawen beim Feuer, und sie teilten sich -einträchtiglich im Fleisch eines gestohlenen Hundes. - -Und während er in Regen und Sturm durch die Frühlingsnacht irrte, -wurde ihm immer klarer und erkannte er immer deutlicher, daß die -Unzufriedenheit, die Unlust und Leere der letzten Monate nicht -seinem Müßiggang entsprang, nicht dem Wirtshaushocken und Zechen und -Saufen. Das waren nur die Folgen, die Ursache aber war, daß er sich -an eine Sache mit halbem Herzen und gegen seine innerste Überzeugung -hingegeben. Das Unrecht, die Vergewaltigung, die der Schwächere -erdulden mußte, hatten ihn geblendet, so daß er nicht sah, daß der -ganze Kampf ein Unrecht war und ein Frevel an der Allgemeinheit. - -Als er endlich -- der Morgen brach an -- nach Haus kam, begegnete -er dem Mediziner Karg, der ohne Gruß an ihm vorüber und die Treppe -hinabeilte. Unter der Wohnungstür stieß er mit dem Astronomen zusammen. -Auch der war bleich und ernst und grüßte kaum. Fritz war zu müde, -als daß ihm das aufgefallen wäre. Er entledigte sich seiner Kleider, -aus denen in trüben Bächlein das Regenwasser rann und fiel in einen -bleischweren Schlaf. - -Nach kaum zwei Stunden wurde er von Pichler wach gerüttelt. Der hübsche -Mensch hatte blasse, zitternde Lippen und war ganz verstört. - -„Fritz, steh’ auf! Karg hat den König erschossen!“ - -Es war so. Betrunken hatten sie in einem Nachtkaffee Streit angefangen, -der mit Faustschlägen und Ohrfeigen endete. Nüchtern geworden, hatten -sie sich am nächsten Tag wieder versöhnt und das frühere Einvernehmen -hergestellt. Aber Deimling war Zeuge des Auftritts gewesen und duldete -eine so gemütliche Beilegung nicht. Ein Mitglied der Herminonia -war tätlich beleidigt worden, und dafür gab es nach seinen starren -Ehrbegriffen nur eine Sühne mit den Waffen, sollte kein Makel an den -Farben der Landsmannschaft haften bleiben. Das sagte er dem Karg, -und als der entgegnete, die Sache sei bereits durch gegenseitige -Entschuldigung aus der Welt geschafft, erklärte Deimling finster, er -hätte gedacht, der Fuchsmajor würde besser wissen, was die Ehre der -grün-weiß-roten Farben gebieterisch fordere. Für seine Person könne er -ja die Hiebe ungestraft auf sich sitzen lassen. Aber dann werde der -Fall in der nächsten Kneipsitzung zur Sprache kommen, und da werde es -sich ja zeigen, ob ein Geohrfeigter, der sich für eine solche Schmach -nicht Genugtuung mit den Waffen verschaffe, ferner noch würdig sei, das -grün-weiß-rote Band zu tragen. - -Nun war Karg mit Leib und Seele bei seiner Burschenherrlichkeit -und war viel zu oft schon auf Mensur gestanden, als daß es ihm auf -einen Ehrenhandel mehr oder weniger, selbst mit einem guten Freunde, -sonderlich angekommen wäre. Wenn Deimling wollte, ging er eben los, -da war weiter nichts dabei. Aber die Osterferien standen vor der -Tür. Und König war ein guter Fechter. Und Karg wollte seiner Mutter -nicht mit frischen Schmissen nach Haus kommen. Und der Handel mußte -binnen zweimal vierundzwanzig Stunden -- so stand’s im Kodex -- -ausgetragen sein. Also einigte man sich auf Pistolen. Deimling war ganz -Korrektheit und steife Würde. Er ordnete alles und verbot insbesondere -dem Fuchsmajor, mit dem Gegner in derselben Stube zu wohnen, so daß -ihm die Wondra für diese eine Nacht in ihrer eigenen Kammer das Lager -zurechtmachte, während sie selbst in der Küche schlief. - -Dann war es so gekommen, daß König, der den ersten Schuß hatte, ein -Loch in die Luft schoß, während Karg, vor Aufregung zitternd und -unsicher, die Waffe nicht in der Gewalt hatte. Seine Kugel fuhr dem -Astronomen ins linke Auge. Ein paar Atemzüge lang stand er noch -aufrecht, mit unverändertem, nur wie verwundertem Gesicht. Und schon -wollten alle des guten Ausgangs sich freuen, da wankte er, fiel hin -und hatte den letzten Atemzug getan, ehe noch jemand die Verletzung -wahrgenommen. - -Seinen Leichenwagen begleiteten die Herminonen in voller Wichs und -Abordnungen von vielen anderen Verbindungen. Es war ein sehr schönes -Begräbnis. Karg stellte sich den Gerichten. Er wurde zu drei Jahren -Kerker verurteilt und da er Reserveoffizier war, vom Kaiser begnadigt. -So verlief alles in schönster Regelmäßigkeit, und auf dem frischen -Grabhügel wurden die Frühlingsgräser besonders üppig grün, als -hätten sich aus dem zerstörten Jünglingskörper alle Hoffnungskeime -lichthungrig in ihre zarten Spitzen geflüchtet. - -Die Wondra weinte sehr um den Verlust ihres besten, weil beständigen -Mieters. Acht Tage rührte sie kein Kartenblatt an, und noch weitere -vierzehn Tage traten ihr jedesmal, wenn sie sich zum Spieltisch setzte, -die Tränen in die Augen, und sie weihte dem Toten einen stillen -Gedächtnisschluck. - - -6. - -Karg wurde seit diesem Zweikampf mit ausgesuchter Hochachtung -behandelt, so daß ihm das zu Kopf stieg und er einer dünkelhaften -Einbildung anheimfiel, die sich in kurzen, herrischen Gebärden und -in einem blasierten Gesichtsausdruck offenbarte. Er wurde stolz und -war beinahe froh, daß er einen ernstesten Fall gehabt und daß von ihm -erzählt werden konnte, er habe schon einen im Duell erschossen. - -Derart hatten sich alle Beteiligten in ihrer Weise rasch wieder -zurechtgefunden. - -Hellwig brauchte länger. Alles in ihm bäumte sich gegen die -Leichtfertigkeit, mit der hier über ein Menschenleben zur Tagesordnung -übergegangen wurde. Und als eines Tages nach Ostern Karg auf ihn -zutrat: „Kommen Sie heut’ mit in die Kneipe?“, wandte er sich wortlos -ab. Das war eine Beleidigung, und der Herminone, jetzt erst recht nicht -gewillt, sich dergleichen gefallen zu lassen, verlangte Aufklärung. -Fritz aber gab keine Antwort, stand mit dem Gesicht gegen das Fenster -gekehrt und rührte sich nicht. Da schickte ihm Karg seine Zeugen. Es -waren Deimling und der Erstchargierte Braun. Gemessen und förmlich -überbrachten sie die Forderung. - -„Sie haben sich umsonst bemüht!“ sagte Hellwig. „Ich schlage mich -nicht.“ - -Nun hätten sie füglich gehen können. Aber Braun tat noch ein übriges, -indem er den allseits Beliebten auf die Folgen einer solchen Weigerung -aufmerksam machte. Fritz bat ihn jedoch sehr ruhig, er möge sich das -sparen. Seinen Entschluß werde es nicht ändern. - -„Diese Methode ist sehr eigentümlich!“ nahm nun Deimling das Wort. -„Erst der Ehre eines Menschen grundlos nahe treten und dann ...“ - -„Mein bester Herr Deimling,“ fiel ihm da Hellwig in die Rede, „das -Leben eines Menschen ist wertvoller als seine Ehre!“ - -„Das ist jedenfalls ein bequemer -- und sicherer Standpunkt!“ -entgegnete der alte Herminone, setzte mit einer spöttischen -Verbeugung hinzu: „Hüten Sie also Ihr wertvolles Leben!“ und wollte -sich entfernen. Fritz vertrat ihm den Weg: „Sie haben mich falsch -verstanden. Ich habe nicht von mir gesprochen, sondern von dem armen -König.“ - -„Er ist gefallen wie ein Soldat auf dem Felde der Ehre!“ antwortete -Braun. Fritz erwiderte: - -„Ich weiß nicht, welche Ehre Sie meinen. Es gibt ihrer ja so viel -als Stände und Rassen. Ich weiß nur, daß ein Menschenleben etwas -Kostbares und Heiliges ist. Und wer eins davon vernichtet, bestiehlt -die Menschheit um tausend Möglichkeiten, versündigt sich an ihr und -besudelt jene einzige Ehre, die ich allein gelten lasse: die Ehre, -Mensch zu sein.“ - -„So behalten Sie diese Ehre!“ sagte Deimling spöttisch. „Womit ich die -Ehre habe!“ - -Braun aber machte noch einen Versuch. - -„Sie sind dann in der Gesellschaft unmöglich,“ gab er ihm zu bedenken. -Und Fritz leidenschaftlich darauf: - -„Ich will auch nichts mehr gemein haben mit jenen! Sie reden von ihrer -Liebe und brüsten sich mit ihrer Treue zum Volke. Aber das sind nichts -als Worte! Worte! Wer wegen eines Schmarrens sein Leben in die Schanze -schlägt, leichtsinnig und unbedenklich hinwirft, wer skrupellos ein -Leben vernichten kann, und alle, die dies loben und in Ordnung finden, -alle, die für die Macht ihres Volkes begeistert schwärmen, gleichzeitig -aber dulden, daß auch nur das kleinste lebendige Teilchen dieses Volkes -zwecklos zerstört wird -- alle die sind Phrasensager und Lügner und -haben keine Ehrfurcht, weder vor ihrem Volke noch vor der Menschheit. -Das ist es. Und darum schlage ich mich nicht und darum kann ich auch -_Ihre_ Verachtung ertragen!“ - -Während er redete, war er ganz ruhig geworden. In den letzten Worten -hatte sogar eine leise Überlegenheit durchgeklungen. Jetzt setzte er -sich und spielte mit dem Federkiel auf dem Tisch. Die beiden Studenten -entfernten sich wortlos. - -Fritz atmete leicht und froh. Die Brücken waren abgebrochen und -hinter ihm verbrannt. Mochte kommen, was da wollte -- er hatte wieder -pflugreife Erde unter sich. - -Seine Energie und Spannkraft waren wieder da, drängten nun, je länger -sie in müßiger Ruhe gelegen, je ungestümer vorwärts, forderten eine -unzweideutige und ganze Tat. - -Jener flüchtige Blick in das Treiben der Obdachlosen hatte ihm die -Richtung neu gewiesen. Und nach der Erschütterung über den gewaltsamen -Tod des Astronomen war wie nach einem schweren Sommergewitter reine, -klare Luft geworden. Nicht darauf konnte es ankommen, ob ein Volk -stärker, mächtiger, fortgeschrittener, besser sei, als das andere, -sondern daß alle ohne Unterschied leben konnten, wie es ihrer -Menschenehre gebührte. - -In alle Fernen und Weiten schweifte seine junge Begeisterungsfähigkeit -und entzündete sich an dieser Vorstellung zu einer hellen und starken, -ganz warmen Glut. Und in der glückhaften Erregung, die sich seiner -nach dem Weggehen der beiden Herminonen bemächtigte, begann er, zum -erstenmal, seine Gedanken niederzuschreiben und schrieb in einem Zuge -bis in die Nacht hinein an einer Abhandlung, in der er die uralte Lehre -von der Menschenverbrüderung mit seinem Feuer neu vergoldete. - -Mit der frohen Raschheit, die ein glückliches Gelingen auslöst, packte -er das Manuskript, kaum daß die Tinte trocken geworden, zusammen, -siegelte und adressierte es an die ‚Freien Blätter‘, das führende Organ -der Sozialisten in der Reichshauptstadt. -- -- - -Die silbergraue Dämmerung vor den Fenstern wich bereits dem hellen -Licht der nahen Sonne, als Pichler nach einer durchschwärmten Nacht -heimkam. Fritz erzählte ihm ohne Umschweife den Vorfall mit den -Herminonen. Auf dem Bettrand sitzend, hörte Otto nur mit halbem Ohr -hin, während er sich der Stiefel und Kleider entledigte und unter -langgezogenen Seufzern gähnend den Mund aufriß. Die Sache war ihm nicht -mehr neu. Er hatte sie bereits bei der Kneipe und in den Kaffeehäusern -genugsam zu hören bekommen. Erst als er in den Federn lag und die Decke -bis zum Hals hinaufgezogen hatte, fragte er unter fortwährendem Gegähn: -„Und was wirst du jetzt machen?“ - -„Schlaf dich erst aus!“ erwiderte Hellwig. „Wir sprechen weiter, bis -dein Schädel wieder klar ist.“ - -„Ist er ohnehin!“ knurrte der andere, drehte sich gegen die Wand und -schlief auch schon. -- -- - -Fritz wusch sich die Augen hell und goß einen großen Krug Wasser über -Kopf und Nacken. Als die Wondra bald darauf mit dem Frühstück erschien, -teilte er ihr mit, daß er die Wohnung zu verlassen gedenke. Mit -würdevollem Kopfnicken nahm sie die Kündigung zur Kenntnis, stellte -den Kaffee auf den Tisch und entfernte sich, ohne ein Wort zu sprechen. -Denn auch sie war bereits durch Karg über den Vorfall unterrichtet und -wußte als langjährige Studentenmutter, wie man sich einem Auskneifer -gegenüber zu benehmen hatte. - -Hellwig lächelte ein wenig, während er sich das feuchte Haar aus der -Stirn kämmte und den Kragen anknöpfte. Dazwischen nahm er, wie es seine -Gewohnheit war, stehend kleine Schlucke vom Frühstückskaffee, und da er -wieder tief in seine Gedanken hineingeriet, behielt er schließlich den -Topf in der Hand und schritt damit, von einer unklaren und ungeduldigen -Erwartung getrieben, rastlos um den Tisch herum. - -Auch als er ins Freie trat, wo die alten Häuser wehmütig zu der stillen -Pracht des Frühlingsmorgens hinaufschauten, wurde es nicht ruhiger in -ihm, wollte das Gefühl nicht weichen, daß ihm etwas Fröhliches ganz -nahe bevorstand. Pünktlich ging er in die Kanzlei und schrieb einen -Mahnbrief nach dem andern. Dann erschien der Anwalt und beauftragte -ihn, gegen einen nachlässigen Ratenzahler auf Grund des rechtskräftigen -Urteils das Pfändungsgesuch bei Gericht einzureichen. Während Hellwig -die Eingabe vorbereitete, kam der Schuldner und wollte die verfallene -Rate erlegen. Er habe das Geld nicht früher zusammenbringen können. -Der Advokat aber, dem es um seinen Verdienst zu tun war, erklärte, das -helfe jetzt nichts mehr. Die Frist sei versäumt, die ganze gestundete -Forderung nunmehr fällig und die Exekution bereits eingeleitet. - -Die Mitteilung traf den Schuldner, der ein anständiger kleiner -Geschäftsmann zu sein schien, ersichtlich hart, da er durch eine -Pfändung sehr zu Schaden und um jeden Kredit kommen mußte. Inständig -flehte er um Aufschub. Der wurde ihm endlich unter der Bedingung -zugestanden, daß er mit der Rate zugleich fünf Kronen für die Kosten -des Pfändungsgesuches bezahle. Das war nicht viel, aber der arme Teufel -kramte in allen Taschen und brachte endlich in Nickelmünzen vier Kronen -und dreißig Heller zur Strecke, die der Anwalt gleichmütig einstrich, -mit der Ermahnung, nunmehr pünktlich zu sein und auch die fehlenden -siebzig Heller nicht zu vergessen. Einer großen Sorge ledig, versprach -der Mann alles unter vielen Dankesworten. Da sagte Hellwig: „Das Gesuch -ist noch nicht fertig, Herr Doktor!“ - -„Wie? Ja so, ganz recht -- die Klage gegen die Seifenfabrik ...“ meinte -der Advokat diplomatisch und winkte Schweigen. - -„Nein,“ antwortete Hellwig unbeirrt, „das Pfändungsgesuch habe ich noch -nicht fertig!“ - -Der Anwalt wurde verlegen. - -„Also adieu! adieu!“ rief er lärmend. „Und vergessen Sie nicht auf die -nächste Rate! Pünktlich sein, nur pünktlich!“ - -Damit schob er den Mann zur Tür hinaus. Dann drehte er sich zornrot -zu seinem Schreiber: „Was fällt Ihnen ein, Herr Hellwig? Derartige -Äußerungen sind ganz ungehörig!“ - -„Mir fällt gar nichts ein!“ erwiderte Fritz trotzig. „Ich meine nur, -was man nicht geleistet hat, dafür läßt man sich auch nicht bezahlen.“ - -Mit großen, runden Augen blickte der Chef auf seinen sonst so stillen -Gehilfen. Denn Hellwig hatte unter dem Druck der letzten Monate -vollständig gleichgültig und ohne Nachdenken, wie eine Maschine, -gearbeitet und stumm alles getan, was ihm aufgetragen worden war. - -„Ich verbitte mir jede Kritik!“ rief der Chef. „Das wäre noch schöner! -Was glauben Sie denn eigentlich?“ - -„Ich glaube, daß dieses Vorgehen und anständig zwei -- Worte sind.“ - -Nun warf sich der Anwalt in die Brust: „Sie sind entlassen und können -auf der Stelle gehn! Ich zahle Ihnen das Gehalt für die vollen vierzehn -Tage, obwohl ich nicht dazu verpflichtet bin.“ - -„Ich danke!“ entgegnete Fritz, „es könnte sonst wieder ein armer -Schlucker dafür büßen müssen!“, stand auf und ging. - -Nun war er mit allem und gründlich fertig. Ein Jahr war vertrödelt, -mit den Studien war er nicht viel weiter gekommen und für das Leben -geleistet hatte er gar nichts. Die Bilanz quälte ihn jetzt doch, und -trotzdem, oder gerade weil der Maienhimmel so wundervoll blau, die Luft -so weich und kosend war, fiel ihn ein arger Jammer mit bösen Krallen an. - -Bedrückt ging er durch die belebten Geschäftsstraßen, schritt -teilnahmslos über die breite neue Moldaubrücke und auf weißen -Kieswegen neben blühendem Gesträuch in einen stillen Park hinein, -der einem Fürsten eignend und dem Publikum zugänglich, an einer -sachten Hügellehne hinter den Häusern emporstieg. Alte Bäume waren -da, weite Rasenpläne und in runden Beeten standen farbige Blumen im -Glanz ihrer kürzlich erblühten Schönheit, von Sonnenschein und lauer -Luft umflossen. Auf den braunen Gartenbänken saßen junge Mädchen -in hellen Kleidern und lasen in dieser begnadeten Frühe zärtliche -Liebesgeschichten oder Verse aus zierlichen Goldschnittbänden. Und -wo eine Sitzgelegenheit tiefer in die lauschigen Hecken hineingerückt -war, hatte sich auch wohl ein oder das andere Pärchen niedergelassen, -kecke Studenten zumeist und schmiegsame Backfische mit Musikmappen -oder Malgeräten, die ihre bezüglichen Unterrichtsstunden schwänzend, -kreuzvergnügt beim gütigen Lehrer Lenz in die Schule gingen. Leichte, -kühle Blütenblätter fielen von den Bäumen, und die grüne Wipfelwelt, -die reglos zwischen Himmel und Erde schwamm, erfüllte ohne Pausen laut -tönender Finkenschlag. So stellte dieser sanft ansteigende große Garten -eine ideale Frühlingslandschaft dar, aber die heitere Lebensfreude, die -blankäugig überall sich regte, war nicht danach angetan, der tristen -Gemütsverfassung Hellwigs den Garaus zu machen. Sauertöpfisch und -verdrossen bewegte er sich auf den gewundenen Fußsteigen zum Gipfel -und setzte sich oben auf eine einsame Steinbank, die abseits von den -Hauptwegen im Halbrund eines Jasmingebüschs aufgestellt war. - -Beinah die ganze Stadt konnte von dort überblickt werden, wie sie da -unten hingebreitet lag, in Leibesmitte von dem sonnenüberspiegelten -Stromband wie mit wehrhaftem Stahl gegürtet, und vergoldete Kuppeln -funkelten im Licht gleich den Zieraten auf dem Brustharnisch einer -reisigen Brunhilde. Ernst und hart war dieses Stadtbild, von einer -herben Schönheit, deren strenge Linien auch die Helligkeit des -Frühlings nicht weicher und anmutiger machen konnte. - -Aber Fritz sah nicht darauf hin, schaute darüber hinweg in eine leere -Ferne und grübelte in sich hinein. - -Der Auftritt mit dem Rechtsanwalt war ihm selbst überraschend gekommen. -Doch war ihm das jetzt ganz recht und er wünschte es nicht ungeschehen. - -Im Buschwerk, um ihn, über ihm, war es ungemein lebendig. Lichtbächlein -rannen von den Zweigen, und unsichtbare Vögel lockten und suchten -einander. Verwirrend dufteten, kaum den geplatzten Knospen entquollen, -die weißen Blüten, und das gesamte lose Lenzgesindel war geschäftig, -mit Schmeicheln und Streicheln und Fächeln und Lächeln die Sinne leise -zu umgarnen und irgendeine namenlose Sehnsucht wach zu bringen. - -Plötzlich mußte er an die kleine Eva Wart denken, und so oft er diese -Erinnerung unwillig zurückstieß, so hartnäckig stellte sie sich immer -wieder ein. Ohne daß er es wußte, wurden ihm die Lider feucht. - -Und nun sah er auch ihr ganzes Heim vor sich, das tätige Haus, den -biederen Kaufmann, den Freund -- und neben der hochgesinnten Mutter -stand das feine Jungfräulein und schaute ihn leidvoll aus ernsten Augen -an. Wenn er jetzt diesen Menschen gegenüber treten sollte, konnte er es -denn, ohne die Stirn zu senken? Die Schamröte stieg ihm in die Wangen. -Und dann -- dann legte er mit einem dumpfen Ächzen beide Hände vors -Gesicht, und zwischen den gespreiteten Fingern quollen große, warme -Tränen. - -Minutenlang saß er so, zusammengekauert, die Ellbogen auf die Schenkel -gestützt. Als er sich endlich erhob, mit einer Bewegung, als risse -er eine Handfessel jäh entzwei, da blickten unter den gewölbten -Stirnknochen die Augen hart und finster, und in dem hageren Antlitz war -Zug um Zug ein Ausdruck von gesammelter Entschlossenheit. - - -7. - -Als er heimkam, war Otto eben aufgestanden. Fritz teilte ihm nunmehr -mit, daß er die Wohnung aufgekündigt habe. Da schüttelte ihm Pichler -warm die Hand und sagte: „Das war gescheit von dir. Sonst hätt’ ich -nämlich selbst ausziehen müssen. Denn bei aller Freundschaft wirst du -zugeben müssen, daß wir nicht beisammenbleiben dürfen.“ - -„Warum denn?“ fragte Hellwig erstaunt. Und Otto erwiderte: „Das ist -doch ganz klar -- weil ich sonst gerade so unmöglich bin wie du. Man -kann doch mit einem, der keine Satisfaktion gibt, nicht in derselben -Stube wohnen, ohne daß ...“ - -„Ach so!“ sagte Hellwig und fügte hinzu: „Du bist wenigstens -aufrichtig, das ist doch etwas.“ - -„Immer!“ versicherte Otto. Dann fuhr er fort, und sein gönnerhafter -Ton bekundete, daß er sich neben dem Geächteten sehr brav und -bieder vorkam. „Deswegen,“ -- fuhr er fort -- „deswegen aber keine -Feindschaft! Wir bleiben die alten, das ist selbstverständlich. Wir -treffen uns auch regelmäßig und zwar in einem sicheren Wirtshaus, das -noch gesucht werden muß. Öffentlich, muß ich dich leider bitten, so zu -tun, als ob wir jeden Verkehr abgebrochen hätten. Ich werde es gerade -so halten, aber sonst -- unter vier Augen -- alles wie früher! Gilt’s?“ - -Er streckte ihm die Hand hin. Fritz sah über sie hinweg. „Du bist -sehr großmütig!“ meinte er mit kaltem Spott. „Aber ich hab’ solche -Heimlichtuerei nicht gern. Ein ehrliches Entweder -- Oder ist mir schon -lieber.“ - -„Wie du willst -- ich bleibe trotzdem dein Freund.“ - -„Ein Freund, der nicht den Mut hat -- -- ach, weißt du, reden wir nicht -weiter davon, es ist so müßig.“ - -Er setzte sich zum Schreibtisch, nahm irgendein Buch vor. Aus alter -Gewohnheit suchte er dabei nach seiner Pfeife, die stets handgerecht -am Tischbein lehnte. Sie war nicht mehr dort, war überhaupt aus dem -Zimmer verschwunden. Die Wondra hatte sie wieder an sich genommen, -weil so ein ehrwürdiges Erbstück von den Lippen eines Verfemten nicht -entweiht werden durfte. - -Wieder lächelte er. Ein leises, bitteres Lächeln. So kleinlich war das -alles, so überflüssig und bedeutungslos. - -Noch öfter hatte er im Verlauf dieser Tage Gelegenheit zu einem solchen -Lächeln. Wie ein Aussätziger wurde er gemieden. Sogar der sanfte -Fundulus drückte sich scheu an ihm vorbei, mit gesenkten Lidern und -allen Zeichen mitleidender Verlegenheit. Niemand erschien am Abend, um -ihm eine Blume zuzutrinken oder ihn zum Spiel aufzufordern. Auch kein -Bier holte ihm die Wondra. - -Er hatte die Absicht gehabt, die Wohnung zu verlassen, sobald er ein -anderes Zimmer gefunden. Jetzt aber entschloß er sich, die ganzen -vierzehn Tage auszuharren. Niemand sollte ihm nachsagen, daß er vor -Verachtung geflohen sei. Und gerade zum Trotz, nur um sich zu zeigen, -ging er jetzt in alle Studentenwirtshäuser, saß allein an einem Tisch, -und während ein geringschätziges Lächeln um seinen Mundwinkeln lag, -dachte er an die Zukunft und wie er sich einrichten würde. - -Steif aufgereckt schritt er dann durch die Haufen seiner früheren -Bekannten, schaute ihnen mit freien, hellen Augen ins Gesicht. Mancher -wurde dadurch verwirrt, griff zum Gruß nach seiner Kappe. Aber er -erhielt den Gruß nicht zurück. - -So vergingen acht Tage, ohne daß Hellwig mit einem Menschen sprach. -Pichler hatte gleich nach jener Unterredung Tisch und Bett des armen -König mit Beschlag belegt und vermied ängstlich ein Zusammentreffen. -Doch hatte er ein Briefchen hinterlassen, worin er sein Benehmen mit -den alten Gründen nochmals entschuldigte. Fritz riß es in Fetzen. - -Wenn er aber gedacht hatte, daß er durch seine völlige Absonderung Zeit -und Lust zum Arbeiten zurückerzwingen werde, so war das ein Irrtum -gewesen. Das Lesen der gelehrten Werke mit dem trostlos gleichförmigen -lateinischen Druck machte ihm keine Freude, zum Studieren fand er nicht -die Sammlung, den Vorträgen der Professoren hörte er nur mit halbem -Ohr zu, und es war keiner unter ihnen, der ihn zu fesseln vermocht -hätte. Zu beschaulich ging es ihm auf einmal in den Stätten der hohen -Wissenschaft her. Alle seine Kräfte waren in brodelndem Aufruhr. -Unrast war in ihm und drängende Sehnsucht, mitten im Leben, wo es am -gewaltigsten brauste, mitzutun, im offenen Widerstreit Aug’ in Aug’ und -Stirn gegen Stirn einem starken Gegner zu trotzen und im Kampfe für die -Erhöhung der heute Erniedrigten die Waffen nur siegend oder sterbend -aus der Hand zu legen. - -Alle Länder widerhallten vom Lärm dieses Kampfes und in den -Industriestädten waren die wohlgerüsteten Heerlager. Auch Prag war -mit beteiligt, aber der Streiter waren daselbst nur wenige. Die -Unzufriedenheit der Massen entlud sich hier im unfruchtbaren, aber -bequemeren Nationalitätenhader. Und wo das anders war, da waren -Tschechen die Rufer im sozialen Kampf, und Hellwig verstand ihre -Sprache nicht. Wohl traten in ihren Zusammenkünften bisweilen auch -deutsche Redner auf, aber das geschah nur selten und brachte in die -Beratungen stets etwas Fremdes und Feierliches. So fehlte die Brücke -des lebendigen Wortes, und er vermochte keine Fühlung mit ihnen zu -gewinnen, trotzdem er jetzt häufig ihre Versammlungen besuchte. - -Niedergedrückt kam er eines Abends von einer solchen heim. Seine Koffer -waren schon gepackt, in zwei Tagen wollte er in die neue Wohnung -übersiedeln. Da fand er auf seinem Tisch ein Geldaviso aus Wien und -eine Verständigung des Inhalts, daß die Schriftleitung der Freien -Blätter seine Abhandlung mit Vergnügen angenommen habe und um weitere -Beiträge ersuche. - -Aber auch von Kolben war ein Brief eingelaufen. Der Doktor schrieb: -„Lieber Fritz! Du scheinst Luft unter die Flügel bekommen zu haben. Es -war aber auch höchste Zeit. Jetzt sieh nur zu, daß du nicht wieder den -Kurs verlierst, überleg’ nicht lang und komm her nach Wien. Es gibt -hier massenhaft für dich zu tun!“ - -Da ließ Fritz sein Gepäck statt in die neue Wohnung auf den Bahnhof -schaffen und fuhr in die Reichshauptstadt. - - - - -Drittes Buch - - -1. - -Doktor Kolben saß in seinem Arbeitszimmer. Das war ein mäßig großer -Raum mit roten Tapeten und dunklen Nußholzmöbeln. Der Schreibtisch -stand schwer und massig vor einem großen Fenster, und durch die -Fensterscheiben sah man in einen gepflegten Garten mit Hecken, -Büschen, grünen Wipfeln und blühenden Rosen. Darinnen ruhte das -kleine helle Haus, das dem Doktor gehörte, wie ein weißer Vogel in -einem grünen Nest. Still war es hier draußen am Rande der Großstadt, -ihr Lärm verbrauste, ehe er bis zu dem anmutigen Tal gelangte, -das waldbestandene Hügel umsäumten und schützten. Eine Eisenbahn -vermittelte in regem Verkehr die Verbindung mit der Stadt, in kaum -zwanzig Minuten war man drinnen, und so hatte man hier alle guten Dinge -des Landlebens samt allen Bequemlichkeiten der Großstadt beisammen und -konnte sich’s wohl sein lassen. - -Der Doktor schrieb fleißig und bedeckte Bogen um Bogen eines starken -gelblichen Papiers mit regelmäßigen Buchstaben in gedrängten Zeilen. -Da klopfte es, die Tür ging auf und Fritz stand so, wie er eben vom -Bahnhof gekommen, in ihrem Rahmen. - -„Schnell kommst du!“ sagte Kolben. „Und das ist sehr vernünftig. Sieh -dir unterdessen die Bilder an, ich bin gleich fertig.“ - -Er deutete auf ein kleines, mit Mappen und Zeitschriften überladenes -Tischchen in der Ecke. Dann ließ er die Feder wieder über die -gelblichen Bogen wandern, und erst nach einer Viertelstunde legte er -sie weg. - -„So! Jetzt laß dich einmal anschaun!“ - -Er stand auf und Hellwig, der unterdessen die Zeitschriften -durchstöbert hatte, ebenfalls. Der Doktor legte ihm beide Hände auf -die Schultern und blickte ihm in die Augen. Fritz hielt eine kleine -Weile diesem forschenden Blick stand, dann senkte er halb trotzig, halb -verlegen die Lider. - -„Laß gut sein!“ sprach Kolben. „Es hat nichts auf sich. Besser ein -Jahr, als sich selbst verloren. So was macht jeder durch, wenn er -nicht gerade ein bleichsüchtiger Musterknabe ist oder eine große -Null. Also hör’ zu: Der Kampf ums allgemeine Wahlrecht soll langsam -vorbereitet werden. Ein paar große Streike werden sich nicht mehr lang -hinausschieben lassen. Die Schriftleitung der Freien Blätter hat junge -unverbrauchte Kräfte dringend nötig. Ich schätze, es könnte dir nicht -schaden, wenn du da ein bissel mittust. Willst du?“ - -„Geht denn das so einfach?“ fragte Hellwig und horchte hoch auf. - -„Wird sich machen lassen. Ich hab’ das Kunstreferat, bin auch sonst mit -den Leuten bekannt. -- Es ist keine Protektion!“ beschwichtigte er, als -Fritz eine heftig abweisende Bewegung machte. „Glaubst du, ich würde -dich empfehlen, wenn ich dich nicht bis in die Nieren kennte? Noch -einmal: Willst du?“ - -„Ich hab’ keine Ahnung von der ganzen Sache, weiß nicht, ob ich -überhaupt dazu tauge ...“ - -„Du taugst schon. Und die Handwerksgriffe lernen sich leicht. Ein paar -Wochen Einschulung, und das Werkel geht von selber. Zum dritten und -letztenmal: Willst du? Ja oder nein?“ - -Noch einige Minuten zögerte Fritz mit der Antwort. Kolben ließ ihm Zeit -zum Überlegen, trat ans Fenster und sah einem Rotschwänzchen zu, das im -Lindenwipfel flink sich regte. - -„Nun?“ fragte er endlich. - -„Ja!“ antwortete Fritz. - -Nach einigen Tagen saß er in der Redaktion der Freien Blätter, hatte -Monatsgehalt und Zeilenhonorar vertragsmäßig zugesichert und kam rasch -ins Fahrwasser. - -Um ihn tönte der Lärm, schrien die Parteien des Tages, forderten von -der Gegenwart ungestüm ihre vermeintlichen Rechte. Und er stand mitten -drin, mitten in dem heißen, tosenden Leben, das jeden Tag seine Gestalt -änderte, Verbrauchtes abstieß und neue Schlagworte ausgab. Was heute -oben war, hatte morgen seine Macht verloren, lang Niedergehaltenes -stieg plötzlich empor, ein immerwährender Wechsel war da, ohne -Stetigkeit und Ruhe, scheinbar ein Wirrwarr und doch eins durch das -andere bedingt. - -Von besonderem Reiz für ihn war es da, den Zusammenhängen nachzuspüren, -die das wertlos gewordene Gestern mit dem schillernden Heute -verknüpften, die vielen durcheinander wirbelnden Strömungen und -Gegenströmungen bis zu ihrer gemeinsamen Quelle zu verfolgen und aus -dem beständigen Auf und Ab der fließenden Erscheinungen das Bleibende -herauszufinden. - -Und er erschrak über die drückende Machtfülle, die gewaltig -aufgespeicherte Vermögen den verdienstlosen Besitzern über ganze große -Menschengruppen verliehen, sah diese vergeblich dagegen ankämpfen, -matt und mutlos werden, und fühlte mehr, als er klar erkannte, daß -eine Ordnung, in welcher derartiges möglich war, irgendwie krank sein -müsse, ohne daß er hätte finden können, wo eigentlich die Krankheit saß -und wie sie zu heilen wäre. Denn alle die Wohlfahrtseinrichtungen, die -Krankenkassen, Unfallversicherungen, Altersversorgungen, schienen ihm -bestenfalls Verlegenheitsmittel, durch die nur die Folgeerscheinung -der Krankheit erträglicher gemacht, nicht aber die Krankheit selbst -behoben werden konnte, so etwa, wie man einem schwer Verwundeten -Morphium einspritzt, um die unerträglichen Schmerzen für Augenblicke zu -übertäuben. - -Da war nun seiner grüblerischen Natur wieder ein reicher Stoff geboten. -Aber er blieb in beständiger Fühlung mit dem Leben und arbeitete -freudig drauflos, so daß es gewöhnlich sehr spät wurde, ehe er zum -Nachtmahl und in seine Wohnung kam. Aber auch dann gönnte er sich noch -nicht Ruhe, las vielmehr, schrieb und studierte, als wollte er in -Wochen nachholen, was er während der leeren Monate in Prag versäumt -hatte. - -So verging der Sommer im Flug, es wurde Herbst und eines Tages traf -Heinz Wart in Wien ein. Er hatte die Reifeprüfung abgelegt, und -zielsicherer als Hellwig schwankte er keinen Augenblick, sondern kam -mit der festen Absicht, sich ganz dem Zeitungswesen zu überantworten -und dort mitzuarbeiten, wo er am ehesten die Verwirklichung seiner -Jugendideale erhoffte. - -Er war noch blasser und stiller geworden, die Augen brannten ihm groß -und wie im Fieber unter der weißen Stirn. Von den dunklen Haaren bis in -die Fingerspitzen schien die ganze überschlanke Gestalt mit verhaltener -Leidenschaft durchtränkt, von Temperament förmlich gesättigt zu sein. -Er war einer von jenen, die mit dem Herzen entscheiden, sich an der -eigenen Glut verzehren und unbesinnlich zur Selbstopferung bereit sind, -wenn sie glauben, der Idee, für die sie brennen, dadurch dienen zu -können. - -Hellwig aber freute sich sehr, den besten Freund seiner Jugend wieder -zu haben. Sie bezogen zwei einfenstrige Stuben im selben Haus, und -da sie auch im gleichen Redaktionszimmer saßen, waren sie fast -ununterbrochen beisammen. Nur abends, wenn Fritz zu Hause arbeitete -oder an Versammlungen teilnahm, tat Heinz nicht mit. Das war nichts für -ihn, das Studieren oder Debattieren bis in die späten Nachtstunden. -Er wollte das Elend nicht bloß vom Hörensagen, sondern aus eigener -Anschauung kennenlernen. Und er ging in die Massenquartiere und -Schnapsbuden, kroch in alle Schlupfwinkel der Obdachlosen. Bisweilen -blieb er dann tagelang verschwunden. Und wenn er wieder in der Wohnung -auftauchte, hatte er statt der getragenen guten Kleider ein paar Fetzen -an, geflickt und schmutzstarrend, und Fritz mußte ihm bis zum Ersten -des nächsten Monats mit Geld aushelfen. - -Wo er sich herumtrieb, verriet er nicht. Aber er war dann noch stiller -und bleicher als sonst, und seine Augen schienen gleichsam nach innen -zu schauen, und in ihrem dunklen Grunde lag unbeweglich etwas seltsam -Starres, vereister Schreck oder versteintes Grauen, wie bei Leuten, die -hart am Tod vorübergegangen oder an einer furchtbaren Gefahr. - -Allen Fragen wich er aus. „Laß mich nur, Fritz, ich komm’ schon allein -drüber weg. Dann wirst du’s erfahren.“ - -Da drang Hellwig nicht weiter in ihn. - - -2. - -Pichler hatte sein Verhältnis mit der Helenka gelöst. Nach einem -heftigen Streit waren sie auseinander gegangen, und keins fragte -mehr dem andern nach. Jetzt diente er sein Freiwilligenjahr ab, beim -Fuhrwesen, wegen der schönen Uniform. Und die Uniform stand ihm -ausgezeichnet. Das wußte er, und konnte es kaum erwarten, bis er einen -dreitägigen Feiertagsurlaub bewilligt erhielt, den er in der Heimat -zubrachte, um sich dort den Leuten in all seinem Glanz zu zeigen. Die -Geschwister bestaunten den stolzen Krieger wie ein farbenprächtiges -Fabelwesen, und auch der lustige Küster unterließ das Witzeln und hatte -helle Freude an dem stattlichen Sohn. Den aber trieb es nach Neuberg. -Er wollte die Eva Wart sehen und Eindruck machen. - -Das alte Haus war, wenn möglich, noch schwärzer und verwitterter -geworden, aber die muntere Arbeit erfüllte es jetzt wie einst, und wie -vor Jahrhunderten schon leuchteten die bunten Glasmalereien noch immer -frisch und kräftig im Sonnenschein. Der Rehbock Hansl tummelte sich im -Garten, und unter den Bäumen am Grasplatz stand seine Herrin, zierlich -und fein, ein gefaltetes Tuch um den Leib, und befestigte Leinenwäsche -mit hölzernen Klammern an den kreuz und quer zwischen die Bäume -gespannten Schnüren. Sie trug eine blaue Hausjacke mit weiten Ärmeln, -und so oft sie ein Wäschestück hob, fielen sie bis zu den Ellenbogen -über die runden Arme zurück. Das freute die fröhlichen Sonnenlichter -und liebkosend streichelten sie die glatte Haut, durch deren Weiß -in einem ganz zarten und duftigen Schein, nur kaum wie die Farbe -junger Apfelblüten, das Blut schimmerte. Eine warme Anmut war in den -Bewegungen der fleißigen Arbeiterin, und wenn sie sich auf die Zehen -stellte, mit zurückgebeugtem Oberkörper eine höher hinlaufende Leine zu -sich niederzog, formten die kleinen Brüstlein zwei feine schattenhafte -Hügel in den leichten Stoff des losen Kleides. - -Im knapp sitzenden Waffenrock mit funkelnden Knöpfen, glänzend -gewichste Röhrenstiefel an den Füßen, kam Otto über den Hof, und -die Scheide des schweren Säbels stieß mit lautem Klingen gegen das -Pflaster. Verwundert schaute das Fräulein nach der geräuschvollen -Erscheinung und vergaß vor Überraschung die blühweiß gewaschenen -Unterhosen Wart Nikls aufzuhängen, die es gerade aus dem Korb genommen. -Unschlüssig hielt es diese in der Hand und wartete der Dinge, die da -kommen würden. - -Der fremde Krieger aber ging schnurstracks auf den Garten zu, blieb, -die Hacken zusammenschlagend, vor dem Gitter stehen stehen und -salutierte stramm: - -„Servus, Fräulein Eva!“ - -Nun erkannte sie ihn an der Stimme. „Jemine, der Herr Pichler!“ rief -sie und lief, das Gartentürl zu öffnen. Sie tat es mit einem kleinen -Knicks und sagte unüberlegt dazu: „Tretet ein, hoher Krieger!“ - -„Der sein Herz Euch ergab!“ ergänzte Otto schnell und verneigte sich -tief, wobei er die weißbehandschuhte Rechte gegen seine Brust drückte. - -Das Fräulein errötete. „Bei Ihnen muß man mit dem Zitieren vorsichtig -sein!“ lachte es. „Sie sind gut beschlagen!“ Dann wollte es ihm die -Hand zum Willkomm reichen und bemerkte, daß es noch immer des Vaters -Unterhose hielt. Unmutig weggeschleudert flog diese im Bogen neben den -Korb. Pichler gewahrte den Zorn. - -„Lassen Sie sich nicht stören!“ sagte er und zog die Handschuhe aus. -„Wenn es Ihnen recht ist, werde ich helfen.“ - -„Ja?“ antwortete sie vergnügt. „Kommen Sie, das ist lustig!“ - -Dann hängten sie mitsammen die Wäsche auf. Im Rasen blühten die -Gänseblümchen und der gelbe Löwenzahn, die jungen Blätter der Obstbäume -glänzten frisch, und mit geschmeidigen Gliedern sprang das Reh über -die grünen Wiesenflächen. Eva regte sich flink, Otto reichte ihr die -feuchten Leinenstücke und stellte sich ungeschickt, um einen Vorwand -zu haben, seine Finger mit ihrer warmen Hand oder dem kühlen festen -Fleisch der Arme in Berührung zu bringen. Sie achtete nicht darauf. -Ganz Eifer war sie, und die blonden Stirnhaare bewegten sich in krauser -Unordnung wie ein leichtes goldenes Gitterwerk vor der klaren Stirn. -Dabei plauderten sie von allem möglichen, und nur von einem sprachen -sie nicht, obwohl Eva mit still klopfendem Herzen darauf wartete: von -Fritz Hellwig. - -Aber auch Pichler dachte an ihn und wiegte sich in der frohen -Zuversicht, daß es ihm gelingen werde, den Gegner auszustechen. Denn -er wußte, daß Hellwig sein Mitbewerber war. So ängstlich dieser auch -das Geheimnis behütete, den Spüraugen Ottos war es nicht verborgen -geblieben. - -Alle Register seiner bestrickenden Liebenswürdigkeit zog er, und -das Bewußtsein, daß er fesch und vorteilhaft aussah, verlieh ihm -große Sicherheit. Er übertraf sich selbst an Witz, Geist und -drolligen Einfällen, so daß Eva fortwährend lachen mußte und in ihrer -Vertrauensseligkeit, die ohne Arg war, dem lustigen Gesellschafter mit -warmen Blicken entgegenkam. Und sie merkte auch die Absichtlichkeit -nicht, als er ihr mit zögernden Händen die Haare aus der Stirn ordnete, -mit ihrem Armband sich zu schaffen machte oder wie zufällig über ihr -Kleid hinstrich. Wie mit einem guten Kameraden unterhielt sie sich und -begegnete seinen Vertraulichkeiten auch wohl mit anderen, indem sie ihn -auf die Finger schlug oder belustigt ihren schmalen Fuß zum Vergleich -auf seinen großen Stiefel stellte. - -Otto aber deutete alles zu seinen Gunsten. Er brannte lichterloh und -glaubte, daß die Kleine nicht weniger in ihn verliebt sei als er in -sie. Seine übermütige Siegessicherheit ließ ihn immer mehr wagen. -Als er aber mit einer halben Wendung seinen Arm einen Augenblick um -ihre Hüfte legte, klatschte sie ihm ein nasses Tuch ins Gesicht. „Das -fordert Strafe!“ rief er und wollte sie jetzt erst recht an sich -ziehen. Das Mädchen aber stand plötzlich mit einer so erstaunten und -kalt abweisenden Miene vor ihm, daß er betreten seine Absicht aufgab. -Er sah ein, daß er fürs erste Mal zu weit gegangen. Um den ungünstigen -Eindruck zu verwischen, war er jetzt doppelt aufmerksam und bescheiden. -Eva hantierte indes gleich wieder fröhlich weiter und tat, als sei -nichts vorgefallen. Erst dieser vornehme und sichere Anstand brachte -ihn aus dem Text. Er wurde verlegen, verlor den Faden und einen -Augenblick stockte das lebhaft geführte Gespräch. - -Der Rehbock kam, rieb den Kopf an seiner Herrin und schaute sie mit -klugen Augen an. Da benützte sie endlich die Gelegenheit und sagte: -„Wie doch die Zeit vergeht! Jetzt hab’ ich ihn schon das dritte Jahr! -Was mag denn eigentlich der edle Spender machen?“ Ganz leichthin sagte -sie das, aber ihr Herz schlug laut dabei. - -„Wer?“ fragte Otto und wollte nicht verstehen. - -„Sie wissen wohl gar nicht, von wem er ist?“ erwiderte sie. Es war ihr -nicht möglich, den Namen über die Lippen zu bringen. - -„Ja so!“ antwortete Pichler gedehnt und gleichgültig. „Sie reden von -Fritz Hellwig? Da kann ich nicht dienen. Seit der wegen jener gewissen -Geschichte von Prag hat fortmüssen, hab’ ich nichts mehr von ihm -gehört.“ - -„Was für gewisse Geschichte?“ fragte sie und schaute ihn bang an. Da -hoffte er sein Eisen zu schmieden, begann zu erzählen und stellte die -Sache so dar, als ob Fritz aus Mangel an Mut den Zweikampf abgelehnt -hätte. - -„Man darf das nicht!“ schloß er. „Erst beleidigen und dann auskneifen. -Es ist mir schwergefallen, aber ich hab’ schließlich nicht anders -handeln können.“ - -„Wieso?“ Eine kleine Falte stand ihr zwischen den Brauen. - -„Mit einem Auskneifer verkehrt man nicht. Der ist gesellschaftlich tot. -Ich hab’ dennoch versucht, mir den Freund zu erhalten, hab’ heimlich -mit ihm zusammentreffen wollen, trotz der Gefahr, daß es herauskommt -und mich ebenfalls unmöglich macht.“ - -Er mußte innehalten. Eva hatte mit dem Fuß aufgestampft und ungestüm -dazwischengerufen: „Fritz ist kein Auskneifer!“ - -Mit einem nachsichtigen Lächeln blickte er sie groß an. - -„Sprechen wir nicht mehr davon. Mir geht die Geschichte nah, und helfen -tut das Reden doch nichts mehr!“ - -„Ihnen nicht, das seh’ ich jetzt schon selber!“ sprach sie ihm mit -funkelnden Augen entgegen. Gekränkt versetzte er: „Warum sind Sie so -bös? Sie tun ja gerade, als ob ich an allem schuld bin!“ - -„Beileibe!“ entgegnete sie und in ihrer Stimme war Spott und Zorn. -„Fein haben Sie sich benommen! Ein unschuldiger Engel sind Sie!“ Dann -aber ging ihr doch das mühsam gezügelte Temperament durch. „Wollen Sie -wissen,“ fuhr sie heftig fort, „wollen Sie wissen, wer der Feigling -ist? Nehmen Sie einen Spiegel und schaun Sie sich an! Dann sehen Sie -ihn!“ - -„Fräulein Eva!“ - -Das klang gereizt und grollend. Sie hörte nicht darauf. Rücksichtslos -warf sie ihm ihre Empörung ins Gesicht. - -„Vielleicht nicht? Sie haben nicht den Mut gehabt, offen zu Ihrem -Freund zu halten. Wie alle sich losgesagt haben, haben auch Sie ihn -aufgegeben! Das ist feig! Das ist schlecht! Pfui!“ - -Sie drehte sich auf dem Absatz herum, schritt tiefer in den Garten -hinein mit heißen Wangen und wild schlagendem Herzen. Aber ihre -blitzenden Augen waren jetzt voll Tränen. - -Pichler war sehr blaß geworden und zerknüllte seine Handschuhe. Das -Reh, das ihm gerade in die Quere kam, erhielt einen unsanften Stoß. -Doch kein Wort erwiderte er. Eine Weile stand er noch unschlüssig, dann -kehrte er sich langsam ab und schritt durch das Gartentürl in den Hof -zurück. Aber sein Säbel klang jetzt nicht mehr hell auf den Steinen. Er -hielt ihn am Korb fest und bestrebte sich eines möglichst geräuschlosen -Abgangs. - -Eva schrieb an diesem Tage noch einen langen Brief an Heinz. Aber -obwohl sie dabei fortwährend an Fritz dachte und obwohl jedes Wort -eigentlich für ihn bestimmt war, kam auf den vier eng beschriebenen -Seiten schließlich nicht einmal sein Name vor. Und nur ganz zum Schluß, -als Nachschrift, schrieb sie: „Deinen Stubennachbar lasse ich grüßen.“ -Sie schrieb es hastig und überstürzt und wagte dabei nicht auf das -Papier zu schauen, so daß diese Zeile schief und mit unordentlichen -Buchstaben dastand und von der sauberen Nettigkeit der übrigen -erheblich abstach. - - -3. - -Fritz blieb es erspart, dem Kaiser zu dienen. Eine Unregelmäßigkeit -in der Krümmung der Hornhaut beeinträchtigte das Sehvermögen seines -rechten Auges und machte ihn zum Waffendienst untauglich. Er war froh -darüber, und als er auch die letzte Musterung glücklich hinter sich -hatte, verleitete er seinen Freund Heinz zu einem kleinen Gütlichtun in -einem Weinkeller. Von dort gingen sie noch in ein Nachtkaffeehaus. Ein -Streichorchester spielte hier, und der große, schäbig elegante Raum war -gesteckt voll. Studenten, ledige junge Beamte und alte Witwer waren in -der Überzahl, saßen angeheitert, lustig oder schläfrig bei den runden -Marmortischchen und musterten die geschminkten und geputzten Weiber, -die von der Straße kamen und Liebe feilboten. Allenthalben saßen oder -standen sie bei den Herren, von den großen Hüten nickten die gefärbten -Federn, und falsche Edelsteine funkelten an billigen Spitzenblusen. - -Eine aber saß allein und abseits in einer Ecke, hatte ein schlecht -sitzendes dunkles Kleid an, und ihr Gesicht war ohne Schminke. Mit -ängstlichen Augen schaute sie in das lärmvolle Durcheinander, und wenn -ein Mann sie ansprach, begann sie zu zittern, errötete und gab keine -Antwort. Eine Anfängerin. Der Zahlkellner beobachtete sie mißtrauisch. -Er sorgte sich um sein Geld für die Zeche. Aber auch Heinz Wart ließ -sie kaum aus den Augen. - -Die Musik spielte den neuesten Gassenhauer, die Gäste sangen mit, -stampften, klatschten und pfiffen. - -Leichthin sagte Heinz: „Ich werde mich an ihren Tisch setzen. Gehst du -mit?“ - -„Was dir nicht einfällt!“ erwiderte Fritz und schaute den Epikuräer -entrüstet an. Der bemühte sich, ein unbefangenes Gesicht zu machen, -wurde aber doch rot, als er jetzt meinte: „Dann wäre ich dir dankbar, -wenn du mich allein ließest.“ - -„Wie du willst. Zugetraut hätte ich’s dir nicht!“ - -„Man täuscht sich eben. Gute Nacht.“ - -Hellwig hatte schon den Hut auf und stürmte davon. Er war nicht prüde -und kein Sittenrichter. Aber die käufliche Liebe ekelte ihn an. - -Die junge Frau zuckte erschreckt auf, als sich Heinz mit einem -ungelenken: „Erlauben Sie?“ zu ihr setzte. Aber bald verlor sie alle -Scheu. Weder Unverschämtheit noch freches Begehren war in seinem Blick, -nur ernste Teilnahme, die Vertrauen heischte und Vertrauen wachrief. - -Sie hieß Marie und war aus dem Waldviertel. Nach einem verstorbenen -Onkel hatte sie gemeinsam mit ihrer Schwester einen Milchhandel in der -Stadt übernommen. Aber da sie beide nichts vom Geschäft verstanden, -wollte es nicht gehen und wurde ihnen schließlich versteigert. Die -ältere Schwester hatte mit einem Lohnkutscher ein Verhältnis, das ihr -allwöchentlich Prügel und alljährlich ein Kind einbrachte. Die Marie -aber ging einem Heiratsschwindler ins Netz, der sie um die letzten -Kreuzer betrog und dann sitzen ließ. Weil sie zart und schwächlich -aussah, glückte es ihr nicht gleich, als Dienstmagd unterzukommen, die -Quartiersfrau wollte ihr ohne Zahlung nicht länger Unterstand geben, -bei der Schwester war Not und Elend und kein Platz für noch einen -müßigen Kostgänger. Deswegen saß die Marie jetzt hier und wollte das -Letzte, das ihr noch geblieben, feilgeben, um wieder einmal ordentlich -essen und die Miete zahlen zu können. - -Das alles erzählte sie dem Wart, und die Aussprache tat ihr wohl. Er -unterbrach sie mit keinem Wort, hörte still zu und lebte ihr einfaches -Schicksal mit, das ihn ans Herz griff, trotzdem er vorausgewußt hatte, -daß ihr Bericht so oder ähnlich lauten würde. - -Dann redeten sie noch über viele Dinge. Die Marie fühlte sich geborgen, -wurde lebhafter und wenn sie lächelte, glitt über ihr mageres -Gesicht ein wehmütig freundliches Licht. Wie wenn im Vorfrühling der -Sonnenschein über ein erstes blasses Schneeglöckchen hinhuscht, sah es -aus, und in ihren goldbraunen Augen war ein sanfter Glanz von einer -Munterkeit, die ungewiß, ob sie sich vorwagen sollte, ihre leuchtenden -Flüglein hob und senkte. - -Es war sehr spät geworden. Heinz schlug vor, zu gehen. In ihr Schicksal -ergeben, folgte sie ihm. Aber auf der Straße nahm sie doch seinen Arm -und schmiegte ihre Wange daran, zum Dank, daß er sie rücksichtsvoll und -wie ein anständiges Mädchen behandelte. Vor einem Logierhaus machte er -halt. Bevor er klingelte, bot er ihr mit behutsamen Worten ein Darlehen -an. Sie gab keine Antwort, wurde verwirrt und schluchzte kurz auf. -Aber das Geldstück nahm sie doch, mit kaum verhehlter Gier, aus seinen -Händen und barg es bebend in ihrem Täschchen. Dann wartete sie mit -fliegendem Atem, daß er anläuten und das Zimmer bestellen würde. Doch -er hielt ihr nur die Hand hin. - -„Gute Nacht!“ sagte er einfach. - -Freudig erschrocken schaute sie ihn an. - -„Sie gehn nicht mit?“ rief sie in der Ratlosigkeit ihrer Überraschung. -Und das war wie ein Aufjubeln, und die hellen Tränen stürzten ihr über -die Wangen. - -„Schlafen Sie sich aus. Wenn es Ihnen recht ist, hol’ ich Sie morgen -früh ab. Dann sehen wir weiter.“ - -Sie war ganz fassungslos und wußte nicht, wie sie ihm dankbar sein -könnte. In überströmendem Empfinden neigte sie sich über seine Hand. -Unwillig machte er sich frei, zog die Nachtglocke und wollte rasch -davon. Sie ließ es nicht zu. - -„Sie ... du ...“ stammelte sie, legte ihre Arme um seinen Hals und -küßte ihn. - -Die Sommernacht war lau und ausgesternt, rein und rund hing der Mond -im dunklen Blau, lautlos war es und niemand in der Gasse zu sehen. Und -nichts war zu hören als der Herzschlag der vielen schlafenden Menschen, -der durch die Mauern der großen Zinshäuser drang und leis und warm -durch die Stille pochte. - -„Bleib’ bei mir, du!“ flüsterte die Marie. „Geh’ nicht fort, laß mich -nicht wieder allein. Ich bin so froh, daß ich dich gefunden hab’!“ - -Der Schlüssel rasselte im Schloß. Schläfrig öffnete der Pförtner das -Tor. Nur einen flüchtigen Blick warf er auf das Pärchen, dann sagte er -mit einem verständnisinnigen Blinzeln zu Heinz: „Ein Zimmer mit zwei -Betten ist nicht mehr frei. Wenn die Herrschaften fürlieb nehmen wollen -mit Nummer einundvierzig?“ - -Heinz stand wie betäubt. - -„Geh’ nicht fort!“ bat die Marie. - -Da nahm er wortlos den Zimmerschlüssel aus der Hand des Türstehers. -Und noch ehe er im zweiten Stockwerk angelangt war, hatte er schon den -schlanken, bebenden Frauenleib ganz dicht an sich gezogen. - -Körper an Körper und Wange an Wange stiegen sie die Treppe hinan, mit -fieberndem Blut und hämmernden Herzen, und wie eine glühende Wolke -umhüllte sie die ungestüme Sehnsucht ihrer jungen lebenshungrigen Sinne. - -So kam die große Leidenschaft der Liebe über Heinz Wart. Er bezog mit -Marie eine aus Küche und Zimmer bestehende Wohnung im fünften Stock -eines Miethauses. Dort war es hell und freundlich, und die schlichten -Möbel glänzten im Morgensonnenschein mit den Zähnen, den Augen der -Marie um die Wette. Heiter ging sie an ihr Tagewerk und beschloß es -heiter, ganz geborgen fühlte sie sich, wußte sich geliebt und liebte -wieder mit aller Zärtlichkeit ihres unverbrauchten kindlichen Herzens. -Ein sachtes Rot kam in ihre schmalen Wangen, leicht und federnd schritt -sie einher. Aber ihre Arme blieben mager, und der trockene Husten -wollte nicht weichen. - -Beglückt und froh ließ sich Heinz von ihrer warmen Liebe wiegen. Seine -Starrheit löste sich, er wurde weicher, menschlicher sozusagen. Im -schnurgeraden Wandern nach dem Ziel hatte er eine heimliche Stätte -gefunden, wo er traumverloren ruhen und endlich auch einmal der Melodie -seines eigenen Lebens lauschen konnte. - -Fritz bat den Freund -- wortlos, nur mit einem festeren Händedruck -- -um Verzeihung wegen der schlechten Meinung, die er von ihm gehabt, und -mit der Marie schloß er bald gute Kameradschaft. Viele schöne Abende -verlebte er in ihrem Heim, aber auch jeden freien Tag verbrachte er mit -ihnen. - -Dann fuhren sie alle drei in den Wiener Wald oder in die Voralpen -hinaus, nach denen die Marie solche Sehnsucht hatte, daß sie sich immer -wie zu einem Fest schmückte, wenn sie die laubwaldumwachsenen Höhen -wiedersehen sollte, die weich hinfließenden Kämme und die weiten -Täler. Denn sie liebte die freie Gotteswelt, den blauen Himmel, unter -dem sie groß geworden, die blumigen Fluren, die ihr das Wiegenlied -geflüstert, die saalweiten Buchenwälder, durch die mit goldenen Mänteln -die Rehe sprangen wie verwunschene Märchenprinzen. - -Abseits von dem großen Heer der Ausflügler streiften sie, meist weglos, -den ganzen Tag umher, an kühlen Bergquellen hielten sie Rast, von -duftschweren Maiglöckchen umblüht oder umloht von der berauschenden -Glut blutroter Alpenrosen. Und je einsamer es war, desto glücklicher -waren sie, großen Kindern gleich, die hinter die Schule gelaufen. - - -4. - -Diese Ausflüge waren für Hellwig immer wie ein Jungbrunnen, aus dem -er sich Erquickung und neue Frische holte für sein aufreibendes -Tagwerk. Dieses war, je mehr er sich eingearbeitet hatte, je mühevoller -geworden. Die Partei hatte bald die Tüchtigkeit, die Werbekraft und -den Einfluß erkannt, den der junge Schriftleiter mit seiner warmen -Begeisterung und stillen Leidenschaftlichkeit auf breite Massen üben -konnte. Die Scheu vor dem öffentlichen Hervortreten hatte er rasch -überwunden, zauderte jetzt niemals mehr, in den Versammlungen als -Redner aufzustehen, und wenn er etwas zu sagen hatte, sagte er es frei -heraus und wunderte sich selbst manchmal, wie leicht und mühelos ihm -die Worte von den Lippen kamen. Mit frohen Kräften tat er sich überall -um, und je mehr man auf seine Schultern lud, desto wohler fühlte er -sich. Und seine Kräfte wuchsen, je mehr er sie brauchte. - -Immer zu eng waren ihm die Grenzen abgesteckt, sein Ungestüm -schrie nach einer ganz großen Aufgabe, an der er sich ungehemmt und -uneingeschränkt erproben und wirklich abmessen konnte, was er zu -leisten imstande sei. Und die Aufgabe wurde ihm. - -In dem ausgedehnten nordböhmischen Kohlenbecken waren die -Lohnverhältnisse schon lang unhaltbar und der Streik nicht länger -hinauszuschieben. Stürmisch verlangten ihn die Bergleute, und die -Parteileitung mußte nachgeben. Es wurde notwendig, einen verläßlichen -Mann in das unruhige Gebiet zu entsenden, der die Bewegung vorbereiten, -in geordnete Bahnen lenken und überwachen sollte. Die Wahl fiel auf -Fritz Hellwig. Eine große, verantwortungsvolle Sendung wurde ihm, der -wenig über vierundzwanzig Jahre alt war, damit auferlegt. Aber vor die -Entscheidung gestellt, schwankte er keinen Augenblick und sagte ja. - -An einem trüben Herbsttag betrat er den Ort seines zukünftigen Wirkens. -Die große lärmvolle Provinzstadt machte keinen günstigen Eindruck. -Ein trockener Geschäftsgeist, der das Zweckmäßige auch schön findet, -sprach aus ihrer ganzen Anlage. Man sah es gleich: Diese Stadt hatte -keine Vergangenheit. Ihre Insassen wohnten nur erst wie zur Miete, -waren nicht auf diesem Boden erbgesessen und mit ihm verwachsen durch -vieljährige Überlieferung. Deswegen legten sie keinen Wert auf ein -behagliches Heim, hätten auch keine Zeit gefunden, es zu schmücken, in -ihrer rastlosen Jagd nach dem Erwerb. - -Mit ihren vielen Fabriksschloten lag die Stadt, beständig von einer -Wolke schwärzlichen Qualms überschattet, mit Geratter, Gerassel und -Getöse angefüllt, in einer ungemein reizvollen Landschaft wie ein -häßliches Mal auf einem schönen Körper. Zahlreiche Berge schlossen -sie von zwei Seiten ein, ein stattlicher Strom hatte sich eine -breite Rinne durch das Gebirge gegraben und trug Frachtschiffe auf -seinem Rücken, beladen mit Obst und Korn und Kohlen, die rings in -dem großen Becken gefördert wurden. Und an seinen Ufern führten die -Schienenstränge, keuchten die Lokomotiven, knarrten die Dampfkrahne, -schwere Warenballen aus den Eisenbahnwagen hebend und in den -Schiffsrumpf senkend. - -Es war eine reiche Gegend, und die Leute verwendeten den unerschöpflich -zuströmenden Reichtum mit klugem Bedacht. Sie legten ihn in der Erde -an, vergruben ihr Pfund und wucherten doch damit, teuften Schacht -um Schacht ab, stellten immer stärkere Fördermaschinen auf, und die -schwarzen Diamanten brachten hundertfältigen Nutzen. - -Aber die Landschaft litt darunter, und schon jetzt sah man weite -Flächen mit rauchenden Löschhalden eingesunken und verrollt, wo -einst auch fruchtschwere Obstbäume standen und gelbes Korn der Ernte -entgegenreifte. Und wenn der letzte Kohlenblock dem Bauch der Erde wird -entrissen sein, dann wird eine Wüste ringsum zurückbleiben und ein -großes Elend. - -Daran dachten sie jedoch vorläufig nicht. Sie waren stolz auf ihre -Bergwerke, stolz auf ihre Fabriken, stolz auf ihren Reichtum und -hielten sich für ungemein geschäftstüchtig, weil sie sich alles -dienstbar zu machen und aus allem Vorteil zu ziehen wußten. - -Am stolzesten aber war die Stadt auf ihre chemische Fabrik. Die bildete -ein eigenes Viertel, und wohl fünfzig Schlote ragten hoch in die Luft, -gewaltige Säulen für den Thron der Königin Industrie. In dicken Wolken -hing der schwarze Rauch darüber als Baldachin und unten sausten und -grollten die Räder, knatterten die Treibriemen, ächzten die Winden, -schrillten die Dampfpfeifen: die große Sinfonie zu Ehren der Königin. - -Weit über fünftausend Arbeiter beschäftigte diese Fabrik, und weit -über fünfzehntausend Bergleute fanden in den Kohlengruben ihr Brot. -Die sollte Fritz Hellwig nun führen, organisieren und vorbereiten zum -Kampfe gegen die mächtigen Handelsherren. - -Er hatte sich außerhalb der Stadt in einem kleinen Hause am Ufer -des Stromes bei einem Faßbinder eingemietet. Hier war es still und -friedsam, die Hafenbahn führte nicht bis her und der Lärm drang nur -kaum noch wie ein leises Murmeln von fern. Um die Fenster schlang ein -edler Weinstock seine Ranken, bewaldete Berge stiegen am jenseitigen -Ufer mit anmutigen Gipfeln empor, und durch das grüne Tal glitt leise -rauschend mit eiligen Wellen der schöne Fluß. Früh morgens ging die -Sonne an den Fenstern vorbei, lag wie gleißendes Silber auf der breiten -Wasserfläche, Lastschiffe und Zillen wanderten bei günstigem Wind mit -aufgesteckten Segeln vorüber, Schleppdampfer bewegten sich an rollender -Kette stromaufwärts. - -Bisweilen auch tönte unten auf dem gepflasterten Vorplatz lustiger -Schlegelklang. Aber der Bindermeister war rücksichtsvoll und fragte -jedesmal, wenn er die Reifen antreiben wollte, seinen Mieter, ob ihm -das Gehämmer nicht lästig sei. Er war außerordentlich mager, groß, -etwas vornüber gebeugt durch die Last seiner siebzig Jahre, und um -das ganze Gesicht starrte ihm ein wahrer Urwald von grauen Haaren, -so daß nur die kleinen Vogelaugen sichtbar waren und eine Hakennase -von abenteuerlicher Form. Wie ein Meergreis schaute er aus, grün, mit -grünlich verschossenen Kleidern und grünlich-schwarzer Hautfarbe. -Denn er wusch sich nur Sonntags. Dagegen hielt er viel auf leichtes -Schankbier und Schnupftabak, wovon er unglaubliche Mengen verbrauchte. -Seine Frau war ihm darin ähnlich. Auch sie verschmähte weder eine Prise -noch einen guten Trunk. Doch ging sie immer sauber gewaschen, und Fritz -hatte keinen Anlaß zu einer Klage. Seine Stube war kühl und hell, die -Aussicht prachtvoll, der Kaffee vortrefflich. - -Wenn er zu Hause war, sah er am liebsten zum Fenster hinaus auf das -bunte Treiben im Strom, schaute den Scharen der Möven zu, die wie -Silberstreifen über die glitzernde Wasserfläche schossen und ließ sich -nachts von dem eintönigen Geplätscher der wandernden Wellen in Schlaf -singen. - -Aber er hatte nicht viel Zeit zu beschaulicher Muße. Die Agitatoren, -die vor ihm dagewesen waren, hatten schlecht gewirtschaftet. Sie hatten -verhetzt, statt aufzuklären; sie hatten aufgereizt, wo sie hätten -belehren sollen. Sie hatten den Leuten die glückliche Unwissenheit -genommen und nichts dafür gegeben. - -„Werdet Sozialdemokraten, und es wird euch gut gehen.“ - -Und sie wurden Sozialdemokraten. Aber es ging ihnen nicht gut. Es ging -ihnen schlechter. Denn zur gleichen Lebenslage war die Unzufriedenheit -gekommen. - -So war es Hellwig nicht leicht gemacht, Vertrauen zu erwerben. Aber -es gelang ihm doch. Er war fortwährend unter ihnen, bereiste das -ausgedehnte Gebiet, warb um sie und ließ nicht locker. Und langsam -begann ihr Mißtrauen zu schwinden. Sie ließen ihn näher an sich heran, -öffneten ihm ihre Stuben, ihre Herzen. Sie spürten heraus, daß er es -ehrlich mit ihnen meinte und fingen an ihn zu lieben. - -Bald kannten ihn alle Arbeiter. Es war auch nicht schwer, ihn unter -Hunderten herauszufinden. Schulterbreit, von einem kraftvollen Ebenmaß -der Glieder, überragte er die meisten um Haupteslänge. Wenn sie seinen -runden Schlapphut, den grauen Radmantel auftauchen sahen, kamen sie -näher, vertrauten ihm ihre Nöte. Und bald auch kamen sie zu ihm in die -Redaktion des Wochenblattes, dessen Leitung er mit übernommen hatte. -In den Frühstunden oder am Abend nach der Arbeit kamen sie, mit ihren -rußigen Gesichtern und schwieligen Fäusten, holten sich Rat in ihren -kleinen Kümmernissen und großen Mühsalen. - -Es gab prächtige Menschen unter ihnen. Da war Anton Stanzig, der -Glasbläser, der in seinen freien Stunden in den Bergen herumlief, -um sich eine neue Lunge zu holen, weil er sich die alte beim heißen -Schmelzofen schon zur Hälfte herausgeblasen hatte. Er spuckte Blut und -sammelte Schmetterlinge, las darüber dicke Bücher und wußte alle Arten -mit ihren lateinischen Namen zu benennen. Oder da war Ferdinand Opitz, -der nach beendeter Häuerschicht die dunkle Kohlengrube verließ, um sich -mit Spektralanalysen zu beschäftigen und dessen ständige Klage war, daß -er so selten dazu käme, das Sonnenspektrum zu beobachten. Oder da war -Franz Bogner, der alte Kesselwärter, der in den Mußestunden mit seinen -knotigen Fingern zarte Blumengewinde und Figuren modellierte. Und was -sollte man von Karl Pfannschmidt halten, dem fünfunddreißigjährigen -Bergmann, der zur Rastzeit im Schacht mit dem Speck zugleich auch -ein Buch aus dem Brotsack zog und auf einem Haufen Kohle bäuchlings -hingestreckt, beim trüben Schein der Grubenlampe Rousseaus ~contrat -social~ im Urtext zu lesen anfing. - -Er hatte eine zweiklassige Dorfschule besucht und mußte mit zwölf -Jahren ins Bergwerk. Schon längst war seine Gesichtsfarbe fahlgrün und -seine Luftröhre voll von Kohlenteilchen, die er obertags fortwährend -aushustete. Die heiße Schachtluft hatte den Körper angegriffen, aber -der Sehnsucht konnte sie nichts anhaben. Die war geblieben, und mit ihr -ein unstillbarer Hunger nach Wissen. Seine Stuben waren vollgepfropft -mit allen Lehrbüchern der Mittelschulen. Denn er hatte einst den -Ehrgeiz gehabt, es bis zum Doktor der Weltweisheit zu bringen. Da hatte -er heiraten müssen, kurz nach der Hochzeit war das erste Kind gekommen, -und die Sorge um das tägliche Brot zwang ihn, im Schachte auszuharren. - -Hellwig war bald der wahren Natur des bescheidenen Bergmanns auf die -Spur gekommen, bot ihm seine Bücherei zur Benützung an, lud ihn zu sich -ein. Und Pfannschmidt zog eines Abends nach langem Zögern seine guten -Kleider an und ging hin. Frisch rasiert war er, trug blank gewichste -Stiefeletten und an den ausgearbeiteten Händen braunlederne Handschuhe. -Linkisch stand er unter der Tür und zog und zerrte an dem Knoten seiner -Halsbinde, die himmelblau auf einer brettsteifen Hemdbrust glänzte. Die -Hemdbrust hatte sich unter der Weste verschoben und wölbte sich nun wie -ein mächtiger Frauenbusen. - -„Stör’ ich?“ fragte er schüchtern. - -„Beileibe!“ erwiderte Fritz. „Schön, daß Sie kommen.“ - -Er nahm dem Besucher den Hut aus der Hand, legte ihn aufs Bett, öffnete -den Kasten und nahm eine Flasche Wein heraus. - -„Machen wir’s uns gemütlich.“ - -Der Bergmann saß steif nur kaum auf dem Rand des angebotenen Stuhls -und hatte die Hände vor sich auf die geschlossenen Knie gelegt. Seine -Blicke wanderten in der Stube herum, blieben an den Büchergestellen -haften. - -Fritz schraubte die Lampe höher. „Ich denke, wir lesen etwas!“ schlug -er vor. Denn auch ihm fehlte die Gabe, durch leichtes Geplauder Brücken -zu schlagen, über die ihre einander noch fremden Seelen sich hätten -näher kommen können. Er holte ein paar Bände, setzte sich seinem Gast -gegenüber, der ihn stumm und erwartungsvoll ansah. - -„Vielleicht das hier!“ meinte Hellwig nach einigem Herumblättern. Und -nun las er mit verhaltener Leidenschaft Friedrich Adlers Gedicht ‚Nach -dem Strike‘. - - „... Im tiefen Schacht, von Luft, vom Lichte, - Von jedem frohen Blick entfernt, - Gefahr, wohin der Fuß sich richte -- - Wir haben tragen es gelernt. - Wir wissen uns dem Los zu neigen. - Wir gehen fürs Leben in den Tod. - Wir schweigen schon und werden schweigen, - Allein wir hungern, schafft uns Brot!“ - -Und weiter: - - „... Und laßt es nicht zum höchsten steigen, - Bedenket, Eisen bricht die Not -- - Wir schweigen schon und werden schweigen, - Allein wir hungern, schafft uns Brot!“ - -Pfannschmidt war aufgestanden. Gleich nach den ersten Versen war er -aufgestanden, ganz außer sich, mit geballten Händen und weit geöffneten -Augen. - -„Herr! ... Herr ...!“ - -„Ein schönes Gedicht, nicht wahr?“ sagte Fritz leichthin, um die -eigene Ergriffenheit zu verbergen. - -„Schön? -- Packen tut’s einem, daß man gleich mit Fäusten dreinschlagen -möcht’! Sakra! Wir schweigen schon und werden schweigen, allein wir -hungern! ... Das sind Worte, gerade solche Worte, wie sie unsereins -auch spricht ... aber was da alles drinliegt! Und was alles dazwischen -liegt, bis einer zu dem Ton kommt ... Herr, ich hab’ auch mein Lebtag -gehungert und geschwiegen und gewartet: es muß doch anders werden. Und -ein Tag nach dem andern ist vorbeigegangen, ein Jahr hinterm andern, -- -bis mir meine Frau das erste graue Haar aus dem Bart zieht. Und da hab’ -ich’s auf einmal gewußt: Du steckst drin und kannst nicht heraus ...! --- Ich hab’ angefangen, auf die Tage aufzupassen, wie sie so langsam -vorüberschleichen. Und da ist mir geworden: Ich lieg’ sechs Schuh tief -in einem offenen Grabe ... und jeder Tag ist wie eine Schaufel Erde, -die sie auf mich werfen. Bei den Beinen fängt’s an, dann kommt’s auf -die Brust, die Arme ... immer schwerer ... immer mehr Erde ... Und -endlich fällt sie auch aufs Gesicht. Dann ist das Licht fort, jeder -Strahl, jeder Schimmer -- alles. Und das ist das Ende ... Lebendig muß -man sich begraben lassen und kann sich nicht wehren. Verfluchte Armut!“ - -„Pfannschmidt!“ rief Fritz erschüttert. „Um Himmelswillen, nicht so -mutlos! Denken Sie nicht ans Untergehn, sonst _sind_ Sie ja schon -unten! Verfluchte Armut, jawohl! Aber -- Hand aufs Herz, ihr, die ihr -da arm seid -- seid ihr ganz ohne Schuld? -- Ihr habt geschwiegen und -schweigt! Laßt alles auf euch niedergehn -- und schweigt! Zum Teufel! -So wehrt euch doch! Ihr habt Fäuste -- braucht sie! Habt Rechte -- -fordert sie! Und weigert man sie euch -- erzwingt sie!“ - -Da lächelte der Arbeiter traurig und sagte: „Herr, Sie wissen eben -nicht, was jahrelang schuften und hungern heißt. Das macht einen schon -kaputt. Wenn man so Stücker zwanzig Jahre in der Tretmühle drin ist, -dann hört sich endlich alles andere auf. Man lebt nur noch so hin ...“ - -Fritz vermochte nicht zu antworten. Was er auch geredet hätte, es wären -doch nur Worte gewesen, leere Worte, die an diesen heißen Schmerz nicht -herankonnten, -- wie Wassertropfen in der Luft verdampfen, lang ehe sie -das Erz im Hochofen erreichen können. - -So war Schweigen, während vor den Fenstern der dunkle Strom vorüberzog, -schnell, lautlos gleitend, Welle um Welle ohne Anfang und Ende. - - -5. - -Tage aufreibender Tätigkeit folgten. Es galt die Forderungen -zusammenzustellen und den Grubenbesitzern bekanntzugeben. Hoch waren -die Forderungen nicht, denn die Leute waren wirklich hundejämmerlich -daran. Sechs, im besten Fall zwölf Gulden in der Woche verdienten die -Männer, die Weiber brachten es höchstens auf sieben, und zu alledem -waren die Lebensmittel schandhaft teuer. Es gedieh zwar alles in -Hülle und Fülle in der fruchtbaren Gegend und die Bauernhöfe hatten -große Viehbestände. Aber die klugen Geschäftsleute wußten auch aus -diesem Segen Gewinn zu ziehen, trieben mit Obst, Korn, Milch einen -schwunghaften Handel nach dem Ausland und den nahen Kurorten. Nur die -Ausschußware beließen sie dem heimischen Markt, forderten aber die -gleichen Preise wie für die gute. Und die Löhne waren seit Jahrzehnten -unverändert. - -Das glatte Zuströmen des Reichtums hatte die Unternehmer übermütig -gemacht. Sie vertrauten ihrem mühelosen Glück und glaubten, daß ihnen -alles gelingen müßte und nichts geschehen könnte. - -Rundweg lehnten sie die Forderungen ihrer Arbeiter ab. Alle ohne -Ausnahme, in Bausch und Bogen, brüsk, ohne Beschönigung. „Wir -bewilligen gar nichts! Wem’s nicht recht ist, der kann gehen!“ - -Da berief Hellwig die Bergleute zu einer Versammlung unter freiem -Himmel, am frühen Morgen, draußen vor der Stadt auf einem Hügel mit -weiter Fernsicht über das große Becken. Und sie, über die schroffe -Abweisung erbittert, legten trotzig die Arbeit nieder und strömten von -allen Seiten auf die frührotbeglänzte Höhe. Wohl achttausend kamen sie, -Männer mit struppigen Bärten, Weiber, die Kinder unterm Herzen trugen, -muskelbepackte Jünglinge und Mädchen mit wachsgelben Wangen. In ihren -besten Kleidern, wie zu einem Gottesdienst, kamen sie. - -Blutrot stieg im Osten die Sonne empor. Unter ihr lag die herbstreife -Erde und hob die quellenden Brüste dem Licht entgegen. Rein war der -Himmel, rein die Luft, rein die Stadt vom Fabriksqualm. Rauchlos ragten -die Schlote, mahnende, warnende Finger, aus dem Häusergewirr. - -Hellwig schwang sich auf eine Felsplatte, die in der weiten Fläche des -Gipfels wie eine natürliche Rednerbühne aufgebaut war und blickte über -die Versammelten. Eine schwankende dunkle Masse, brandete es da unten, -Kopf bei Kopf, und die Gesichter leuchteten seltsam weiß und fremd -daraus hervor. Und das Regen der Leiber, das Summen der gedämpften -Stimmen vereinigte sich zu einem dumpfen Brausen, wie der Schwall -mächtiger Wogen, die ohne Rand und Ufer im offenen Meer hinrollen. - -Einen Augenblick stand er wie erschrocken vor dem ungeheuern Andrang -des Lebens, das ihm entgegenatmete. Und es dünkte ihn Vermessenheit, -als ein Einzelner, Jugendlicher, gleichsam darüberzustehen und ihm die -Bahn zu weisen. Und er sah Hoffnung in ihren glänzenden Augen, hörte -das Brausen leiser und leiser werden -- und lautlose Stille wurde unter -der blauen Himmelsdecke, wie in einem endlos gedehnten leeren Saal. - -Alle schwiegen und hielten ihm die Gesichter zugewendet und erwarteten -etwas von ihm und waren begierig auf seine Botschaft. Da durchsengte es -ihn mit einer wilden, ganz heißen Glut. Noch einen freien, leuchtenden -Blick warf er über die Menschenmassen, dann sprach er mit weithin -tönender, schwingender Stimme. - -Er sagte: - -„Da unten liegt die schöne reiche Erde, die unser aller Mutter ist. Da -unten schläft auf Garbenbündeln die Fruchtbarkeit, biegen sich die Äste -fruchtschwer und segenbeladen. - -Unsere Mutter ist so schön und so reich. Aber ihr, die ihr Kinder -dieser Mutter seid ... schaut dort hinab, wo die Essen ragen und die -Aschenhaufen rauchen! ... ihr, die ihr dort unten in den finsteren -Schächten, fern dem Licht, in der heißen, staubigen Luft, in den engen, -stickigen Gängen schweißtriefend die Karren schiebt und halbnackt die -Hauen schwingt beim bleichen Flackern der Grubenlampen -- eure Lungen -keuchen, eure Lippen sind zerrissen und wund, eure Augen haben rote -Ränder -- ihr armen Kinder dieser reichen Erde wißt nichts von der -Schönheit eurer Mutter! - -Wenn noch die Nacht auf den Bergen träumt, müßt ihr Abschied nehmen -von Weib und Kind, jeden Tag Abschied fürs Leben, denn dort unten -lauert die Gefahr, kauert der Tod -- und eure Lieben wissen nicht, ob -sie euch lebend wiedersehen. - - ‚Wer weiß, wie nahe mir mein Ende? - Ein Grubenlicht, ein Lebenslicht, - Ein Tropfen löscht es gar behende -- - Ein Grubenlicht -- ein Totenlicht!‘ - -sagt euer alter Bergmannsspruch. Und Tag für Tag müßt ihr hinab in die -heiße, dunkle Tiefe. Und erst wenn der Tag zum Sterben kommt, wenn die -Nacht wieder auf den Bergen träumt, dann kommt ihr -- vielleicht! -- -hervor aus der dunklen, heißen Tiefe und eure Augen sehen die Sonne -nicht mehr. Tag für Tag. Und keinen Tag seht ihr den Quell alles -Lebens, die Sonne. - -Was habt ihr getan, um so gestraft zu werden? - -Wolltet ihr Umsturz und Revolte? Den Untergang des Reiches? Den Tod des -Herrschers? - -O, nichts von alledem, meine Brüder! Ihr seid nur -- arm! - -Das ist es ja, was unsere Gesellschaftsordnung so furchtbar macht und -so ungeheuerlich! Daß die Armut zum Fluch, daß die Armut zur Strafe -wurde, zu einer harten, grausamen, entsetzlichen Strafe. - -Und wenn ihr -- nicht ein Ende, beileibe! -- wenn ihr eine Milderung -wollt, wenn euere Forderungen noch so maßvoll sind, wenn ihr nichts -verlangt als nur ein wenig mehr Luft und Licht und ein wenig Würze zum -trockenen Brot -- auch dieses Wenige geben sie euch nicht! - -Wenn ihr euch auch plagt und rackert und Arbeiten auf euch nehmt, die -oft einem Schwein zu schmutzig wären, geduldig und ohne Murren auf -euch nehmt -- denn eure Kinder wollen essen -- es hilft euch alles -nichts, plagt, rackert, schindet euch, so viel ihr wollt, ihr müßt -- -ganz arm bleiben. - -Nichts gibt man euch dazu, nicht einmal ein wenig mehr Luft und Licht -und ein bißchen Würze zum trockenen Brot! - -Ballt sich euch die Faust? Will euch der wilde Zornschrei die Brust -zerreißen? - -Gemach, ihr meine Brüder! - -Nicht in Haß und Zorn dürft ihr handeln! Wägen müßt ihr, müßt alles -überlegen, und ruhig und besonnen, aber um so fester und sicherer, -strenger und unbeugsamer pocht dann auf euer Recht! - -Und das erste Recht der Erdenkinder ist ein Anrecht auf die Früchte der -Mutter. Wie euern Kindern die Brüste eurer Frauen, so gehören euch die -Früchte der Erdenmutter. Und euer bestes Recht ist, daß ihr satt zu -essen habt für euch und eure Kinder. - -Aber nicht mit der kurzen Gewalt der Fäuste dürft ihr euch dieses Recht -holen. Denn ... - -Ich sehe viele unter euch, die Väter und Mütter sind. So frage ich -euch: Wollt ihr, daß euern Kindern dasselbe Los falle, das euch -beschieden ist? Wollt ihr, daß ihnen wie euch das Geleite geben durch -das ganze lange Leben der Hunger und die Not? Wollt ihr, daß eure -Kinder einst, wie ihr, vor einer Wiege stehn und emporschreien zum -harten kalten Tod: ‚Komm doch! Komm und nimm den Wurm zu dir, eh’ er -bei uns verhungert!‘ - -Wollt ihr das? O, nein doch, nein! - -Nun denn, so unterdrückt den Zorn, laßt den Drang nach Aufruhr und -Empörung nicht mächtig werden -- um eurer Kinder willen. Denn wenn ihr -jetzt hingeht, die Maschinen zerstört und vernichtet und plündert, -werdet ihr in Ketten gelegt und in Kerker geworfen. Und eure Kinder -stehen schutzlos da, preisgegeben dem hohnlachenden Daseinskampf -- und -verderben. - -Ihr seid Söhne der Erde: so seid ihr Söhne der Arbeit. - -Ihr seid Söhne der Arbeit: so seid ihr stark und starr. - -Und so rufe ich euch zum Kampf! Zum zähen, lautlosen Kampf der -härtesten Unnachgiebigkeit! Rührt keinen Finger zur Arbeit, bevor nicht -eure Forderungen erfüllt sind: Neun Stunden Arbeitszeit und vierzig -Prozent Lohnerhöhung. - -Mehr könnt ihr vorerst nicht fordern. Mit einem Schlag fällt auch der -stärkste Mann keinen hundertjährigen Baum, aber durch viele Axtschläge -bringt ihn selbst ein Kind zu Fall. - -Söhne der Erde, Söhne der Arbeit, seid stark und starr und achtet die -Gesetze um eurer Kinder willen!“ - -Als er geendet hatte, zerriß ein lautes Jubelschreien die atemlose -Stille. Ein entfesselter Strom, drängten sie gegen ihn, streckten die -Arme aus, schwenkten Hüte und Tücher. Die Vordersten erkletterten den -Felsen, haschten nach seinen Händen, drückten und schüttelten sie, und -einige wollten ihn auf den Schultern forttragen. Er aber wehrte ihnen -und schritt ergriffen durch die entflammte Menge, mit feuchten Augen -und hämmerndem Herzen. - -Da stellte sich ihm ein Mann in den Weg, den er vorher noch niemals -gesehen hatte. Und doch mußte die kurze, gedrungene Gestalt mit -dem mächtigen Schädel, dem verwilderten Bart und den brennenden, -tiefhöhligen Augen sofort auffallen. Er war schlecht gekleidet, trug -einen abgeschabten Flausrock, Zwilchhosen, die an den Knien mit großen -Flicken ausgebessert waren, trangeschmierte hohe Stiefel, und das -blaue Leinenhemd ließ trotz der kühlen Herbstluft die haarige Brust -frei. - -Etwas erstaunt schaute ihn Fritz an, und der Fremdling sagte mit -unverhohlenem Spott: „Sie wundern sich über mein Aussehen, guter -Freund? Das bin ich gewohnt. Übrigens heiße ich Karus, komme von Odessa -und wollte mir mal anschaun, wie ihr da draußen in Freiheitskämpfen -macht. Ich habe Ihre Rede gehört, es war eine schöne Rede, eine -gehaltvolle Rede, gewiß, aber eben doch nur eine Rede. Und das, nehmen -Sie mir’s nicht übel, junger Freund, aber das alles hat verflucht wenig -Wert. Ihr redet und redet, glaubt, weiß der Himmel was ihr für die -‚Freiheit‘ und für die ‚Menschheit‘ tut. Doch seien wir ehrlich, im -Grund genommen denkt ihr verteufelt wenig an die ‚Freiheit‘ und an die -‚Menschheit‘. Ihr denkt schließlich auch nur an eure Magen, wollt, daß -ihr genug für den Wanst habt -- -- daß aber draußen irgendwo zur selben -Zeit soundsoviele Hunderttausende im Straßengraben verrecken, daran -denkt ihr nicht, ihr -- altruistischen Egoisten!“ - -Er hatte mit halblauter Stimme gesprochen und keine Falte seines -verwitterten Gesichtes verzogen. Nur die Augen blitzten lebendig in -ihren tiefen Höhlen, und durch seine Worte zitterte es wie verhaltene -Glut. - -„Stören Sie mir die Stunde nicht!“ antwortete Hellwig unwillig. „Was -geht es Sie an, wie wir für unser Recht eintreten? Ihnen zu Trost sei’s -gesagt: wir werden es auch bekommen! Weil wir uns rühren! Warum rühren -sich die soundsoviel hunderttausend anderen nicht auch? Oder, wie Sie -sagen, warum verrecken Sie lieber im Straßengraben, statt sich ihr -Recht zu holen?“ - -Da schüttelte sich die vierschrötige Gestalt des Unbekannten in -lautlosem Gelächter. Er schaute Fritz lang an, mit einem sonderbaren, -tief bohrenden Blick, dann sagte er langsam, jedes Wort betonend: - -„Weil sie frei sein wollen!“, drehte sich auf dem Absatz herum und -ging weg. Rücksichtslos brach er sich mit den groben Fäusten und dem -Stiernacken Bahn durch das Gedränge, war im Nu darin untergetaucht. - -Das ganze Auftreten des Mannes, sein hartes Wesen und dann die -rätselhaften Schlußworte, das alles hatte einen starken Eindruck auf -Hellwig gemacht. Und noch in seinem Zimmer grübelte er, suchte einen -Sinn in dem mystischen Satz: - -... Sie verrecken lieber im Straßengraben, weil sie frei sein wollen ... - -Aber er fand keine Deutung. - - -6. - -Im Kohlenbecken ruhte die Arbeit. - -Von allen Seiten liefen Spenden ein. Sogar Wart Nikl leistete einen -Beitrag. Kolben schickte tausend Gulden und schrieb dazu: „Noch einmal -die gleiche Summe steht dir in vier Wochen zur Verfügung, wenn du sie -brauchst. Es geschieht aus Freundschaft für dich, denn ich triefe nicht -von Menschenliebe. Nenn meinen Namen nicht. Ich verzichte auf den -blökenden Dank der Herde, verdiene ihn auch nicht. Halt dich tapfer!“ - -Das Geld wurde nicht verteilt, sondern zur Anschaffung von -Lebensmitteln in großen Mengen verwendet. Mehrere Küchen mit riesigen -Herden wurden aufgestellt, in denen das Essen für Hunderte auf einmal -bereitet werden konnte. So waren sie in der Lage, länger auszuhalten. - -Sparsamkeit war aber auch notwendig, denn Woche um Woche verging, in -geschlossenen Schlachtreihen standen sich Arbeiter und Unternehmer -gegenüber, niemand dachte ans Nachgeben. Alle Schächte lagen wie -ausgestorben. Fünfzehntausend Bergleute feierten. Aber die Ruhe wurde -nirgends gestört. - -Im Dezember fiel starker Frost ein. Die Lagerbestände der Gruben waren -vollständig geräumt. Der Kohlenmangel wurde immer empfindlicher, drohte -zu einer Katastrophe für Industrie und Bevölkerung zu werden. - -Und dann war die Kohlennot wirklich da. Die Preise für Brennmaterial -wurden unerschwinglich. In den Gassen der Städte wurden die -Kohlenfuhrwerke immer seltener. Und auch die wenigen mußten von -Polizisten begleitet werden. Denn allenthalben strichen Leute mit -Körben und Säcken durch die Straßen, klaubten die Kohlenbröcklein -- -wenn sie welche fanden -- gleich goldenen Münzen auf, und wiederholt -schon waren die Pferde ausgespannt, die Fuhren geplündert worden. Und -die Eisenbahnzüge, die den kostbaren Brennstoff aus dem Rheinland -und von England heranführten, rollten von der Grenze an unter -Gendarmeriebedeckung. Trotzdem aber warteten längs der Schienenstränge -Leute mit Stangen, Rechen und Harken, sprangen in die Bremshütten und -warfen von den fahrenden Zügen die Kohle ihren Genossen zentnerweise -hinab. - -Noch bedrohlicher wurde die Lage, als eine große Maschinenfabrik -nicht mehr alle Kessel heizen konnte, den Betrieb einschränkte und -achthundert Gießer entließ. Andere Unternehmer folgten diesem Beispiel, -und die Erregung wuchs ungeheuer unter den brotlos gewordenen Massen. -Fast schien es, als stände das Land am Vorabend einer Revolution. - -Beschwerden, Bittschriften, Drohbriefe liefen bei den Ministerien -ein. Unternehmer, Kaufleute, Handwerker, die gesamte Bevölkerung -forderte stürmisch von der Regierung Hilfe. Hohe Beamte gingen in das -Streikgebiet ab, um zu vermitteln, zu schlichten und ein Ende der Not -herbeizuführen. - -Das Nachgeben fiel den stolzen Gewerken in ihrem Hochmut nicht leicht. -Aber unter dem Druck der öffentlichen Meinung blieb ihnen keine andere -Wahl. Widerwillig ließen sie sich zu Zugeständnissen herbei. Nicht alle -Forderungen wollten sie bewilligen, doch was sie anboten, war immer -noch so viel, daß es, gleich gewährt, genügt hätte, den Ausstand zu -vermeiden. - -So erging denn vom Regierungsvertreter an die Vertrauensmänner der -Streikenden die Einladung zu einer gemeinsamen Besprechung. An Fritz -Hellwig war sie gerichtet als den Leiter und Führer der Bewegung. - -Er war eine stadtbekannte Persönlichkeit geworden. Man staunte über die -straffe Organisation, die er förmlich aus dem Boden gestampft hatte, -ließ ihm die geschickte Leitung gelten, lobte seinen lauteren Charakter -und seine vornehme Kampfesweise. - -Und manche, die früher den Provinzredakteur über die Achsel angesehen, -suchten jetzt seine Bekanntschaft. Aber er blieb zugeknöpft und -verschlossen und ließ sie sich nicht nahe kommen. - -Ungleich gemütlicher verkehrte er mit seinen Quartiersleuten. Der -Faßbinder war auf seine alten Tage auch Sozialdemokrat geworden. -Wenigstens behauptete er es. Die waschechte Gesinnung übte indes weder -auf seinen waschechten Hautüberzug, noch auf sein sonstiges Gehaben -einen bemerkenswerten Einfluß. Nach wie vor schnupfte er, trank -Schankbier und wusch sich nicht. Aber statt des nationalen Banners -schwang er jetzt die rote Fahne. Freilich nur seinen Reden nach. Dafür -aber gewaltig, mit dem Brustton der Überzeugung. - -Er war stolz auf seinen Mieter und sonnte sich in dem Abglanz, der von -dessen Beliebtheit auf sein Haus fiel. Jeden Besucher hielt er auf und -fing ein Gespräch mit ihm an. - -„Guten Tag, Genosse!“ - -„»Guten Tag!“« - -„Was Neues?“ - -„»Bin keine Zeitung!“« - -„Nun, nun, nur nicht so schnell! Lassen Sie doch unsern Herrn Genossen -Hellwig ein bissel ausschnaufen!“ - -„»Geht nicht, Herr Meister! Die Sache ist dringend.“« - -„Schon wieder dringend? Ja, wir Roten! Wir marschieren nicht, wir -laufen Sturm!“ - -„»Könnt da schlecht mit, was? Wenn die Beine schon wacklig werden!“« - -„Wacklig? Oho! Oho! Da schaun S’ her! La--uf--schritt!“ - -Und er lief ein Stück die festgefrorene sonnige Uferstraße entlang, -warf die langen Beine wie ein Droschkengaul, stand still und schaute -sich schnaufend und Beifall gewärtig um. Der Besucher hatte indes -die Gelegenheit benützt und war ins Haus geschlüpft. Da nahm der -Bindermeister eine Prise, spuckte in die Hände und schlug wütend auf -seine Fässer. - -Und wenn Hellwig aus dem Haus trat, frühzeitig, kaum, daß die Sonne -hinter den weißen Bergen herauf wollte, machte sich der Binder, wenn -ihn nicht noch der Kater im Bett festhielt, jedesmal an ihn heran. - -„Schon auf, Herr Genosse?“ fragte er zutunlich. „Sind Sie denn -nicht noch schläfrig? Arg spät war’s wieder. Ich hab’ schon einmal -ausgeschlafen gehabt, wie Sie die Fenster aufgemacht haben. Passen -Sie nur auf, daß Sie nicht verkühlen! Ich lieg’ immer bei zugemachten -Fenstern und doch friert mich in der Nacht wie einen Italiener. Und -jetzt gar Sie! Alle Fenster reißen Sie sperrangelweit auf. Das kann -doch nicht bekömmlich sein!“ - -„Ich bin das so gewohnt, Herr Meister. Und dann, es liegt sich so -schön, wenn’s dunkel ist und man hört draußen das Wasser am Eis -vorübergehn. Es wiegt einen ordentlich!“ - -„Jawohl, schön haben wir’s schon dahier! Und eine Luft! Eine starke -Luft! Die hält gesund und macht Appetit ... Teufelszeug noch einmal! -Hat Ihnen meine Alte den Kaffee gebracht? Man muß jetzt schon fort -hinter ihr her sein, wissen Sie, weil sie so arg viel vergeßlich wird. -Sie trinkt zu viel. Das tut den Frauenzimmern nicht gut.“ - -Nun mußte Fritz hellauf lachen, weil hier einmal der Blinde über den -Einäugigen König sein wollte. - -„Nein, Herr Meister,“ sagte er, „auf den Kaffee hab’ ich noch nie -zu warten brauchen. Und was das andere betrifft,“ -- er klopfte dem -Meergreis auf die knochige Schulter -- „da sollten Sie sich doch erst -selber bei der Nase nehmen. Groß genug ist sie ja!“ - -„Haha! -- Haha!“ fing da der Alte ein stoßweises Gelächter an, und sein -Bartwald kam in stürmische Bewegung. „Meine Nase -- haha! -- das ist -ein gar wichtiges Glied der bürgerlichen Gesellschaft. Sie zahlt ihre -Tabaksteuer und erspart meiner Alten die Nachtlampe! Also darf sie sich -auch groß machen!“ - -Dabei rieb er sich die Hände und trat stampfend von einem Fuß auf den -andern. Denn es war kalt, und vom Fluß herüber pfiff ein eisiger Wind. -Die Sonne war kaum überm Horizont herauf und stand als tiefrote Scheibe -hinter einem rauchigen Frostnebel, der zwischen Himmel und Erde düster -brodelte. Fritz drückte den Schlapphut fest aufs Haar und ging in der -grauen Dämmerung eilig die Uferstraße entlang nach der Stadt, indes der -Bindermeister in seiner Werkstatt beim glühenden Ofen schnitzelte und -manchmal glucksend in sich hinein lachte. Denn er empfand den Scherz -des sonst so ernsten Mieters als beglückende Auszeichnung. - -Vor der Redaktionsstube warteten bereits die Vertrauensmänner, -Pfannschmidt und fünf andere Bergleute, auf ihren Führer. Die Hände in -den Taschen der Winterröcke vergraben, dicke Wolltücher um den Hals und -den Rockkragen darüber, standen sie einsilbig beisammen. Als Hellwig -zu ihnen trat, rückten sie die Pelzmützen, reichten ihm die Hand und -harrten schweigend, bis er die Kanzlei aufgesperrt hatte. Dort war es -noch ungemütlich, es roch nach staubigem Papier und Druckerschwärze, -im eisernen Ofen brannte kein Feuer, und die Schreibtische, Pulte und -Schreine standen langweilig in einem unfreundlichen Halbdunkel. Der -Diener hatte sich verspätet, kam nun ganz abgehetzt keuchend gelaufen, -heizte ein und wollte abstauben. Fritz schickte ihn fort. Die Zeit -drängte, um elf Uhr sollte die Besprechung stattfinden und da gab es -noch manches zu beraten. - -„Also was?“ fing, als der Bursche gegangen, einer der Männer an. „Also -was? Wird heut’ endlich Schluß werden?“ - -„Kaum!“ versetzte Fritz achselzuckend. „So mürb sind sie noch nicht.“ - -„Mürb! Mürb!“ knurrte der andere unwirsch. „So nehmen wir doch an, was -sie uns bieten! Ich hab’s satt! Gebratene Tauben kriegen wir nicht, -drum halten wir den Spatzen fest! Ist besser wie gar nichts!“ - -„Seid ihr auch der Ansicht?“ fragte Hellwig finster die übrigen. Die -starrten stumm vor sich auf den Tisch. Nur Pfannschmidt sagte: „Der -Martin raunzt immer so herum. Wenn’s nach seinen Reden gegangen wär’, -hätten wir gar nicht anfangen dürfen!“ - -„Ich sag’, was ich sag’!“ beharrte der andere. „Wenn’s noch ein paar -Wochen so fortgeht, und wir verdienen nichts, haben wir so viel -verloren, daß wir dann beim höhern Lohn gut zwei Jahre fretten müssen, -bis wir den Verlust herein und die Schulden bezahlt haben. Ist’s nicht -wahr?“ - -Von seinen Gefährten nickte einer zustimmend. Die drei anderen schienen -unentschlossen. Pfannschmidt wollte etwas erwidern. Da brach auch schon -Fritz los: - -„Was der Martin sagt, ist zwar eine arge Übertreibung, aber nehmen -wir an, es ist so. Gut. Und was weiter? Wenn’s wirklich so ist, wie -er sagt? Und wenn’s noch ärger wäre, wenn ihr vier und sechs und -zehn Jahre braucht, um den Lohnausfall hereinzubringen. Was weiter? -Dürft ihr euch deswegen mit Halbheiten begnügen? Mit einem Erfolg, -der keiner ist, nicht Fisch, nicht Fleisch? Da hätten wir gar nicht -anfangen dürfen! Jetzt gibt’s einfach kein Biegen mehr! Jetzt muß es -brechen -- und wenn wir alle dabei zugrunde gehn! Jawohl! Schaut nicht -so entsetzt drein! Ihr könnt einfach nicht nachgeben! Könnt nicht, -versteht ihr? Denn die einmal aufgestellten und nicht befriedigten -Forderungen, die würden fort und fort in euch weiternagen, und ihr -hättet keine Ruhe, bis ihr sie früher oder später doch durchsetzt. Und -der Kampf, den ihr dann um den Rest führen müßtet, wäre größer und -schwerer als der heutige ums Ganze! Das ist es! Und sind die Opfer, die -ihr jetzt bringt, wirklich zu groß? Wenn dann euch und mindestens noch -euern Kindern, von den Enkeln will ich nicht reden, wenn auch dann ein -ruhiges Fortarbeiten bei halbwegs hinreichendem Verdienst sicher ist? -Seid mir drum nicht so verzagte Angstmeier! Kleinmütige Kreuzerbettler! -Vertraut und seid starr! Unser Sieg ist nur noch eine Frage von Tagen. -Er kann einfach nicht ausbleiben! Nur, ihr müßt auch dran glauben!“ - -Nun hatte er sie wieder fest. Der alte Nörgler wiegte zwar noch -unschlüssig den Kopf. Aber auch er sprach nicht mehr dagegen. - -Ziemlich zur selben Zeit saßen im großen Sitzungssaale des Palastes, -den sich die Grubenbesitzer erbaut hatten, ungefähr fünfzehn Herren -um einen grünen Tisch. Hagere Gestalten zumeist, mit schmalen Händen -und nervösen Bewegungen, in Gehrock oder Jackett, tadellos nach -der letzten Mode gekleidet. Nur einer war dabei, der wollte in die -elegante Versammlung gar nicht recht hineinpassen, Max Koppenstein, -ein fettes Herrchen mit einer goldenen Kette über dem Spitzbauch. -Er hatte eine ganz enge, niedrige Stirn, und daran hing, breit -ausgebaucht, mit roten Backen und mächtigem Doppelkinn, das feiste -Schlemmergesicht wie ein runder Luftballon. Aus zwinkernden Äuglein -hinter weißlichen Wimpern schaute er sehr harmlos in die Welt und war -doch der Gefährlichste unter diesen kalten Geldmenschen, unübertroffen -in der sanften, zärtlichen Grausamkeit, mit der er seine Angestellten -auspumpte und seinen Schuldnern die letzte Habe pfändete. Und wenn er -sich manchmal im Bureau in Gegenwart eines Geschäftsfreundes ein Glas -ältesten Kognaks einschenkte, dann sagte er wohl zungenschnalzend: -„Das ist ein Schnäpschen! Wie das duftet! Hm?“ und hielt dem Zuschauer -lobgewärtig das leere Becherchen unter die Nase. Aber einschenken tat -er ihm nichts. Doch schadete das seinem Ansehn keineswegs, denn er war -steinreich, besaß die meisten und die ergiebigsten Flöze und hatte -deswegen auch in der heutigen Versammlung den Ehrenplatz inne, zur -Rechten des uniformierten Vertreters der Regierung. - -Steif und förmlich, mit herablassenden Mienen und gemachtem Gleichmut, -rückten sich die Herren auf den schweren Lederstühlen zurecht, als -Hellwig mit seinem Häuflein in den Saal trat. Der Beamte wies ihnen -die Plätze an und hielt eine Rede, die dem Geist der Versöhnung, dem -friedlichen Zusammenwirken in Eintracht und Brüderlichkeit einen -Preishymnus sang. Man solle, sagte er, bedenken, daß noch kein Friede -ohne beiderseitiges Entgegenkommen geschlossen worden sei. Man solle -dem großherzigen Beispiel der Unternehmer folgen und der Allgemeinheit -zuliebe Opfer bringen, die nur scheinbar Opfer seien, denn sie werden -sich reichlich bezahlt machen durch das Blühen und Gedeihen des Staates -und der Volkswirtschaft, aus welcher Quelle dann hinwiederum allen -Bürgern Vorteil fließe. - -Und kühl und ruhig, mit ganz leichtem Spott, erwiderte Hellwig darauf: - -„Die fünfzehntausend Menschen, die zu vertreten wir die Ehre haben, -wollen nicht Großherzigkeit oder Gnade, sondern ihr Recht. Von schönen -Worten werden sie nicht satt und ebensowenig von dem großmütigen -Angebot. Das Sattwerden aber ist zum Blühen und Gedeihen zumindesten -des einzelnen eine so notwendige Sache, daß sie jedes Opferbringen -ausschließt. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Und wer -zu essen hat, braucht nicht zu arbeiten, nicht wahr, meine Herren? -Jedenfalls haben Sie zu essen. Nun, und die hinter mir stehn, wollen -das auch. Sie wollen beileibe nicht so gut, sie wollen nur genug essen. -Das ist ein so klares, einfaches und selbstverständliches Verlangen, -und ist doch so ernst und fromm, daß sich nichts davon herunterhandeln -läßt. Der Versuch zu schachern und zu feilschen ist Ihrer ebenso -unwürdig, wie es für uns unwürdig wäre, darauf einzugehen. Wir können -kein Jota nachlassen. Sie haben lang genug getrotzt, -- geben Sie es -auf! Es war ein Irrtum, -- gestehen Sie ihn ein! Denn früher oder -später müssen Sie doch nachgeben! Tun Sie es heute -- und schon morgen -wird in allen Gruben wieder gearbeitet!“ - -Auf ein so stolzes, selbstbewußtes Auftreten waren die Herren nicht -gefaßt, hatten vielmehr erwartet, daß ihr Angebot ohne Besinnen -werde angenommen werden. Wie Könige waren sie sich vorgekommen, die -unverdiente Gnaden austeilen. Jetzt schwiegen sie mit gefalteten -Stirnen und undurchdringlichen Mienen. Nur Max Koppenstein zog die -Schultern hoch, breitete die Arme aus und sagte: „Ich denke, meine -Herrn, darauf kann es nur _eine_ Antwort geben.“ Und zu dem Beamten -gewendet, fuhr er fort: „Nun haben Sie sich, verehrtester Herr -Ministerialrat, wohl selbst überzeugt, wo die Schuld liegt. Es tut -uns ja aufrichtig leid, aber“ -- wieder zog er die Schultern hoch und -wieder breitete er die Arme aus -- „schließlich kann doch kein Mensch -verlangen, daß wir uns verbluten sollen.“ - -So schien der Einigungsversuch gescheitert und der Gegensatz zwischen -den beiden Parteien verschärft. Aber es war doch anders. Denn die -Regierung bot nach wie vor alles auf, um die Unternehmer zur Annahme -der sämtlichen, in keiner Weise übertriebenen Forderungen zu bewegen. -Es gelang ihr auch, einen nach dem andern nachgiebig zu stimmen. Aber -jeder machte seine Einwilligung von der Bedingung abhängig, daß Max -Koppenstein, dem ein reichliches Achtel der gesamten Kohlengruben -gehörte, sich ebenfalls anschließe. Der indes war wie ein Aal und ließ -sich nicht greifen. Er war sehr höflich, ungemein konziliant, von einer -bestrickenden Liebenswürdigkeit. Aber nein sagte er trotzdem. Unter -tausend Entschuldigungen, überzuckert und verblümt, aber dennoch: nein. - -Nach einigen Tagen wurde ihm vorsichtig und vertraulich die Möglichkeit -einer Ordensauszeichnung angedeutet. Da legte er zehn Prozent zu. Und -es hätte wohl nicht mehr viel gebraucht, um ihn ganz zu gewinnen. Denn -es gab noch höhere Orden und es gab Adelsbriefe. - -Da kam ein unerwartetes Ereignis den Arbeitern und der Regierung zu -Hilfe. - - -7. - -Die gewaltige Braunkohlenablagerung umfaßte ein Gebiet, das gut -fünfzehn Kilometer breit und fast viermal so lang war. Von Urgebirgen -eingeschlossen und nur manchmal durch schmale Bänder eruptiven Gesteins -unterbrochen, lagen hier die Flöze neben- und übereinander, bald knapp -unter der Erdoberfläche, bald Hunderte von Metern tief. - -Offene Tagbaue gab es, in deren schwarze Vierecke die Sonne schien und -die bloßgelegte Kohle bald da, bald dort an den senkrechten Wänden in -Brand setzte, so daß beständig Rauchsäulen emporwirbelten. Und nicht -weit davon bohrten sich unterirdische Schachtanlagen dreihundert Meter -ins Erdinnere. Und überall qualmte die Lösche, zu Bergen getürmt, auf -den Halden, füllte ein brenzlicher, staubgesättigter Dunst die Luft, -hing der Rauch wie ein feiner Nebel über den verwüsteten Landstrichen, -die nach dem Abbau eines Schachtes zurückgeblieben waren, über den -noch üppigen Weizenfeldern daneben und über den -- wie lange noch? -- -lachenden Fluren. - -Und mitten in dem Becken lag, zwischen Porphyrhügel eingebettet, weit -berühmt durch ihre heilkräftigen Quellen, eine Badestadt. Rund um sie -rauchten die Schächte, wurde der Boden von den Bergleuten durchwühlt, -die Stollen und Querschächte trieben gleich Gängen riesiger Feldmäuse. -Und dicht daneben bahnten sich durch die Spalten des zerklüfteten -Porphyrs die warmen Quellen den Weg zur Stadt. - -Die Schächte aber waren seit vielen Wochen unbeaufsichtigt. Und niemand -wußte, daß in den Gruben Koppensteins seit einigen Tagen, meist zur -Nachtzeit, aus der Ferne angeworbene, schlecht geschulte Kreaturen -wieder arbeiteten. Der schlaue Fuchs traf seine Vorbereitungen, um nach -Beendigung des Streiks -- das Ende hing ja nur mehr von ihm ab, und -er konnte es herbeiführen, wann es ihm paßte, -- um nach Beendigung -des Streiks die Lieferungen unverzüglich mit aller Kraft aufnehmen zu -können. Die Kohlen blieben vorläufig noch unten in den Schächten -- -denn die Förderschalen mußten still stehn. Aber schon waren alle Hunde -voll beladen. Wo nur ein freies Plätzchen in den Stollen war, türmten -sich die Kohlenstücke und konnten nach der Aufnahme des regelmäßigen -Betriebes sofort hinaufgeschafft, sortiert und in die Eisenbahnwagen -verladen werden. Auf solche Weise hoffte Koppenstein der Konkurrenz -einen Vorsprung von einigen Tagen abzugewinnen. - -Da geschah es, daß bei diesem Abbau ohne planmäßige Leitung eine -Schwimmsandschicht angefahren wurde. Ungeheure Sandmassen gerieten in -Bewegung, durchbrachen, einmal in Fluß, die trennenden Schachtwände -und stürzten gleich riesigen Lawinen in die Gruben. Und die Erdrinde, -unter der sie seit Jahrhunderten ruhig gelegen, wurde mitgerissen von -der furchtbaren Gewalt des wandernden Sandes, kam ins Rutschen, Gleiten -und brach nieder. - -Es war eine laue, regendrohende Febernacht, als die Bewohner der -Badestadt durch ein ohrenbetäubendes Gedröhn und Geprassel aus dem -Schlaf geschreckt wurden. Der Boden schwankte, Mauern barsten, -Häuser wankten, sanken krachend in sich zusammen. Eine ganze breite -Straßenzeile, die mit schönen Gebäuden gerade über dem Schwimmsandlager -errichtet war, hatte sich gesenkt, zwanzig Häuser waren eingestürzt, -viele standen windschief mit gespaltenen Grundpfeilern, geknickten -Eisenträgern, verschobenen Dachstühlen und zitterten wie große Tiere. - -Tote und Verwundete lagen unter Ziegelschutt, Sparrenwerk und -zertrümmertem Hausrat. Aus den Betten gescheuchte Menschen rannten -halb nackt durch die dunklen Gassen, fragten, stießen sich, weinten, -schrien, heulten und rangen die Hände, ratlos, planlos irrend, von -einer entsetzlichen Angst geschüttelt. Und dazwischen tönte das -Stöhnen und Brüllen der Verschütteten, das Prasseln der Balken, das -Aufschlagen fallender Dächer. Und jedesmal, wenn eine Wand sich neigte, -ein Schuttregen niederging, hetzte die Furcht aufs neue in wirbelndem -Knäuel die aufgestörten Menschen durcheinander. Gellend schrien sie -auf, duckten sich, hielten sich die Ohren zu, prallten aneinander und -waren wie von Sinnen. Der Türmer läutete Sturm mit allen Glocken. Auf -den Bahnhöfen pfiffen die Lokomotiven in winselnden, langgezogenen, -Hilfe heischenden Klagelauten. Und die Finsternis stand unbeweglich und -schlang alle Tonwellen mit dunkel gähnendem nimmersatten Rachen. - -Endlich kam Hilfe. Ärzte, Rettungsmannschaften, Feuerwehren. Besonnene -Männer nahmen die Leitung in die Hand. Aus den Nachbarstädten trafen -in mehreren Eisenbahnzügen Verstärkungen ein. Die nervenzersetzende -Angst wich, der panische Schrecken machte einer verzweifelten -Entschlossenheit Platz. Hunderte und Hunderte regten sich im Schein der -flackernden Windlichter, handhabten Schaufel und Spaten, trugen die -Verwundeten zum Verbandsplatz, schleppten Möbel aus bedrohten Gebäuden. - -Vor den Schächten aber hatten sich die Bergleute gesammelt. Freiwillig -waren sie gekommen, im Arbeitskittel, mit Lederschurz und Grubenlampe. -Ohne Besinnen, als ein ganz Selbstverständliches, boten sie ihre Hilfe, -ihr Leben an, machten sich zur Einfahrt fertig. Die eingerosteten -Ketten der Förderschalen ächzten schrill, langsam begannen sich die -Räder zu drehen, schnurrten die Seile. - -„Glückauf!“ - -„»Glückauf!“« - -Und unter der Führung einiger Ingenieure ging es in die feindliche -Tiefe, der Gefahr zu Leibe, um nachzuforschen, einzudämmen, abzulenken, -Tote zu bergen, und die Schächte vor dem Ersaufen zu bewahren. - -Aber noch ein anderes war geschehen. - -Durch die ungeheure Erschütterung im Innern der Erde war auch eine der -dünnen Wände gesprengt worden, die die weit vorgetriebenen Stollen von -den Quellspalten trennten. Die Thermalwasser waren in die Grubenbaue -eingedrungen, breiteten sich darin aus, und im gleichen Maße, wie sie -in den Schächten stiegen, fielen sie in ihrem früheren Staubecken, -bis sie nach dem Gesetz kommunizierender Gefäße hier wie dort mit -gleich hohem Spiegel standen, in ersoffenen Schächten einerseits und -anderseits so tief unter den Badehäusern, daß die Leitungsröhren nicht -mehr bis zum Wasserspiegel reichten. Die heilkräftigen Quellen, der -Ruhm und Stolz der Stadt, drohten zu versiegen. - -Jetzt freilich wurde eine strenge Untersuchung eingeleitet. Sie -enthüllte Ungeheuerliches. Unter dem Eindruck desselben nahmen die -Gewerken alle Forderungen ihrer Arbeiter in Bausch und Bogen an, um -wenigstens _einen_ Feind vom Hals zu haben und nicht zwischen zwei -Feuer zu geraten. Sie hofften auch, daß die Regierung, dadurch zur -Milde gestimmt, Gnade für Recht üben und ein Vertuschen der Verbrechen -ermöglichen würde. Auch an Hellwig traten sie heran, baten ihn -und boten als Anzeigengelder große Bestechungssummen, wenn er die -Angelegenheit in seiner Zeitung totschweige. Er wies ihren Vertretern -die Tür. Und brachte Artikel nach Artikel, sachlich, trocken, auf Grund -amtlicher Feststellungen. - -Die Bergwerksinspektoren hatten bisher die Aufsicht nur lax oder gar -nicht ausgeübt. So war es möglich geworden, daß sich die Unternehmer -seit Jahrzehnten über alle Sicherheitsvorschriften wegsetzen konnten. -Am ärgsten schaute es in den Koppensteinschen Gruben aus. Die lagen -in der Nähe der Heilquellen und zu beiden Seiten der Eisenbahn. Dort -durfte die Kohle nicht abgegraben werden, sollten Stützen, Wände und -Pfeiler stehen bleiben zum Schutz der Quellen und der Bahn. So stand es -in der Vorschrift. Aber in Wirklichkeit war die Kohle doch abgegraben, -und die Pfeiler, Wände und Stützen waren kaum halb so dick, wie es das -Gesetz verlangte. Und unter dem Bahnkörper liefen Stollen weg und -Gänge. Und darüber, auf der dünnen Rinde, keuchten Tag und Nacht ohne -Pause die schweren Lastzüge, donnerten die Eilzüge mit den Kurgästen. - -Als durch Hellwigs Zeitung diese Dinge bekannt wurden, ging der übliche -Entrüstungssturm durch die Presse. Noch nie hatte ein Provinzblatt -solchen Aufruhr erregt. Auch die Blätter des Auslandes rauschten -mit. Sie brachten Abbildungen und ergingen sich in schauerlichen -Schilderungen der Unfälle, die möglich gewesen wären. Erzählten von -kranken Menschen, die voll Hoffnung den Bädern entgegeneilten und nicht -wußten, daß der Weg dahin über bereitete Gräber führte. Auch der Reiter -über den Bodensee wurde vielfach zitiert. Und man war darüber einig, -daß die Inspektoren ihre Pflicht in unverantwortlicher Weise verabsäumt -hatten. - -Nun wurden Beamte in Massen versetzt, gemaßregelt, entlassen. -Koppenstein aber war zugrunde gerichtet. Auf seine Kosten sollten -die Hohlräume unter den Schienen ausgefüllt, die schwachen -Pfeiler und Schutzwände durch Mauerwerk gesichert, sollte, um die -Heilquellen in ihre früheren Wege zurückzudrängen, die Verbindung -zwischen den Quellspalten und Gruben durch Dämme und Betonfüllungen -gestopft werden. Und die Bahn forderte Ersatz für die unter ihrem -Grundeigentum gewonnenen Kohlen, und die Stadtgemeinde, die Besitzer -der eingestürzten Häuser, die Hinterbliebenen der Getöteten und die -Verletzten stellten ebenfalls Ersatzansprüche. Und überdies drohte ein -Strafprozeß wegen fahrlässiger Gefährdung von Menschen, Beschädigung -fremden Eigentums, wegen Diebstahls und einer Menge anderer Verbrechen. -Das ertrug Koppenstein nicht. Aus dem Gefängnis hätte er sich -vielleicht nicht viel gemacht, aber daß die rastlos angehäuften -Reichtümer mit einem Schlag in alle Winde zerstieben sollten, das warf -ihn nieder. In der Marmorwanne seines Badezimmers öffnete er sich die -Pulsadern und verblutete. - -Seine Verwandten richteten ihm ein Begräbnis erster Klasse mit -jeglichem Pomp. Viele folgten dem sechsspännigen Leichenwagen. In den -Augen seiner Standesgenossen war er entsühnt. - -Glimpflicher kamen die andern Grubenbesitzer weg. Aber fast keiner war -ganz frei von Raubbau und Unterlassungssünden. Da wurden die stolzen -Herren gar klein. Auf einmal konnten sie geschmeidig den Rücken beugen, -sich entschuldigen, um Gnade betteln. Die Arbeiterfrage war vollständig -in den Hintergrund gedrängt. Willig zahlte man die höheren Löhne, -suchte alles zu vermeiden, was die Öffentlichkeit noch mehr aufbringen -konnte. Aber es dauerte noch geraume Zeit, bis die Anordnungen der -Behörden durchgeführt waren und der Skandal halbwegs in Vergessenheit -kam. - -Jetzt endlich konnte Hellwig aufatmen. Die Kämpfe gegen die -Lotterwirtschaft hatten mit ihren schlaflosen Nächten und furchtbaren -Aufregungen seinen widerstandsfähigen Körper doch stark mitgenommen. -Es war sein Verdienst, daß der Augiasstall gründlich gesäubert wurde. -Er war der Herold gewesen, der Rufer im Streit, hatte die anderen -wachgerüttelt und rücksichtslos alles aufgedeckt, was sonst vielleicht -nur entstellt oder gar nicht in die Öffentlichkeit gedrungen wäre. Als -hierauf das große Rauschen der Blätter anhob, schwieg er. Zu stolz, um -zu jubeln oder den Besiegten zu höhnen, schwieg er und überließ anderen -die Ausnützung des erfochtenen Sieges. - -Jetzt war er wieder viel zu Hause, saß beim Fenster und blickte über -den Strom hinüber zu den waldigen Bergen, wo schon die Blütenkätzchen -aus den Zweigen brachen und die ersten Spitzen des jungen Grüns. Eine -leise Schwermut war in ihm, eine gärende Sehnsucht, die nicht Wunsch -werden wollte. Wieder war ihm, als müßte er etwas suchen, und wußte -doch nicht was. Fühlte er den Drang zum Schaffen, das Verlangen nach -irgendeiner befreienden Tat, fand aber weder Umriß noch Plan. - -Es war bald recht still um ihn geworden. Selten besuchte ihn jemand. -Sie waren ihm dankbar, sprachen mit anerkennenden Worten von seiner -energischen Führung. Aber da sie ihn nicht mehr brauchten, hatten -sie keinen Anlaß, zu ihm zu gehen. Nur Pfannschmidt kam regelmäßig. -Der arbeitete nicht mehr im Schacht. Hellwig hatte sich an die -Parteileitung wegen Beigabe einer Hilfskraft gewendet und den -Bergmann in Vorschlag gebracht. Das war genehmigt worden, und so saß -Pfannschmidt nunmehr in der Schriftleitung, besorgte die laufenden -Geschäfte und fühlte sich endlich auf einem richtigen Platz. - - -8. - -Es war bereits Frühling geworden, als Fritz eines Tages die Nachricht -erhielt, daß Doktor Kreuzinger gestorben sei. Da fuhr er mit dem -nächsten Zuge nach Neuberg. Seit sechs Jahren war er nicht mehr dort -gewesen. Und was lag alles dazwischen. Erst als ein Vorkämpfer des -Deutschtums von den Studenten gepriesen, dann als Verräter und Feigling -in Acht und Bann getan, von allen Leuten als Verkommener und Verlorener -abgeurteilt, kehrte er jetzt wie ein Sieger zurück. Der Streik hatte -seinen Namen überall bekannt gemacht. Auch die klerikalsten Neuberger -waren stolz, daß ein Kind ihrer Stadt so was hatte leisten können. Und -kaum daß er vom Bahnhof ins Städtchen kam, sprach ihn jeder, der ihn -noch erkannte, mit grüßenden Worten an, wollte ihm die Hand drücken, -fragte, ob er sich noch seiner erinnern könne. Sein Name war aber -auch monatelang täglich in allen Wirtshäusern genannt worden. Sogar -Professor Hermann hatte voll Genugtuung erklärt, daß Fritz Hellwig sein -Schüler und wie begabt er gewesen sei. Und nur Pater Romanus hatte dann -immer säuerlich-süß den Mund verzogen und ein paar Worte fallen lassen -vom Hochmut, der vor dem Fall kommt. -- - -Doktor Kreuzinger hatte einen wunderschönen Tod gehabt. An einem warmen -Frühlingsmorgen war er auf seiner Gartenbank eingeschlafen, das neueste -Werk eines berühmten Forschers mit dessen eigenhändiger Widmung auf den -Knien. Die Vögel sangen über ihm im Buchenbaum, die Sonne streichelte -sein weißbärtiges Antlitz. Und als sie ihn so fanden, glaubten sie, -er lächle aus einem schönen Traum heraus. Nun lag er zwischen seinen -Sammlungen aufgebahrt und sollte nach Gotha zur Feuerbestattung -gebracht werden. Heinz und Kolben, Fritz und Wart Nikl trugen die -Bahre zum Bahnhof. Priester war keiner zugegen. Und nur wenige Freunde -folgten dem Sarge des als gottlos Bekannten. Denn die Stadt war ganz -in den Klauen des Klerikalismus und es gehörte Mut dazu, sich diesem -unduldsamen Riesen entgegenzustellen. - -Und über den Toten weg ging das starke Leben unbekümmert weiter. - -Eva, der kleine Backfisch von einst, war groß und reif und frauenhaft -geworden. Die Trauer um den Großvater lag über ihrem Frohsinn wie der -weiche Flaum auf der Schale einer schönen Frucht. Aber die schlanken -Glieder regten sich wie unter unerwünschten Fesselbändern, und hinter -den ernsten Mienen drängte verhalten die Daseinsfreude zum Durchbruch. -So stand sie im Garten vor Fritz, am Tag nach dem Begräbnis, und -mühte sich ruhig zu erscheinen, während ihm ihre ganze Jugend -entgegenzitterte. Gleichgültige Dinge redete sie, und hätte ihm doch am -liebsten zugerufen: „Steh nicht so hölzern da! Nimm mich in deine Arme! -Dort gehör’ ich hin, ich bin ja dein ...“ - -„Haben Sie wirklich nicht an mich gedacht? Die ganze Zeit her nicht? -Nicht einen einzigen Gruß hatte mir Heinz zu melden!“ - -Er blickte ihr in die schimmernden Augen. - -„Aber von Ihnen hat er mir einmal einen Gruß ausgerichtet,“ sagte er -langsam. Sie wurde rot. Er fuhr fort: „Ich dank’ Ihnen heute dafür. Und -wenn ich es nicht durch Heinz hab’ besorgen lassen ...“ Er stockte und -wollte hinzufügen: „Sie sind mir zu gut dafür.“ Aber das brachte er -nicht über die Lippen, sondern meinte nur: „Was hätten Sie auch davon -gehabt?“ - -„Mich hätt’s gefreut!“ antwortete sie leise. - -„Kann man sich über leere Worte freuen?“ - -„Ah -- wenn es nur leere Worte gewesen wären -- dann gewiß nicht!“ Das -klang zornig. Und als er zögernd fragte: „Wofür hätten Sie’s denn sonst -gehalten?“, zuckte sie die Achsel: „Wenn Sie das nicht selbst wissen -... übrigens, ich hab’ auch ohne das gelebt!“ - -Mit einer schnellen Wendung kehrte sie sich von ihm weg. - -Fritz konnte sich die plötzliche Ungnade nicht erklären. Und weit -entfernt, den wahren Grund auch nur zu ahnen, ritt er sich mit seiner -bärentatzigen Ehrlichkeit noch tiefer hinein: „Ich hab’ nichts -Schlimmes dabei gedacht, Fräulein Eva. Ich hab’ nur gemeint, so durch -einen Vermittler ... Wenn ich’s aber weiß ...“ - -Da unterbrach sie ihn bös: „Sie bilden sich doch nicht am Ende ein, daß -ich um Ihren Gruß stehe? Den können Sie schon behalten. Mir liegt gar -nichts daran!“, gab sich einen Ruck, warf den Kopf in den Nacken und -rauschte stolz davon. - -Fritz sah ihr nach, wie sie über den Hof ins Haus schritt und fühlte -den zornigen Wunsch, ihr nachzustürzen, sie an den Armen zu packen -und zu schütteln: „So versteh mich doch!“ Da drehte sich das Tor in -quietschenden Angeln, fiel hinter dem blonden Fräulein ins Schloß. -Und mit einem Male war der weite Hof mit den regsamen Arbeitern, den -zahlreichen Fuhrwerken und den stampfenden Pferden öd und leer. Wie von -fernher kommend rauschte der Lärm der Auflader an seinem Ohr vorüber. -Und während Minute um Minute verrann, fühlte er erst noch dumpf, dann -bewußter, deutlicher und erkannte endlich mit ganz scharfer Klarheit, -wie es um sein Herz eigentlich stand. - -Im selben Augenblick legte ihm der Kaufmann die Hand auf die Schulter. - -„Nanu?“ sagte er. „Sie stehen ja da wie der steinerne Roland beim -Röhrkasten!“ - -Fritz fuhr zusammen, schaute den gemütlichen Mann mit fremden Augen an. - -„Wissen Sie,“ sprach dieser weiter, „wissen Sie, das gefällt mir gar -nicht von Ihnen! Himmel, Schimmel, wenn man jung ist, soll man wie ein -Eichkatzl sein und die Welt zusammenreißen vor lauter Lebendigkeit! -Nicht so leutscheu und winkelheimlich! Wenn Sie sich jetzt sehn -könnten! Das Gesicht! Die Milch gerinnt, wenn Sie hineinschaun! Was ist -denn eigentlich mit Ihnen los?“ - -Und als Fritz auch darauf keine Antwort gab, schüttelte er bedenklich -den Kopf: „Sonderbar, die Leute von heute! Der meinige ist gerade so! -Wenn man Sie ansieht, meint jeder, Sie könnten nicht bis drei zählen. -Und wenn’s nicht wahr wär’, möcht’ ich niemals glauben, daß so ein -Mannl die Raubritter da oben zusammenhaut und die Kohlen so teuer -macht, daß man sie bald nicht mehr wird bezahlen können!“ - -„Es hat so kommen müssen,“ antwortete Hellwig gedankenlos, „mein -Verdienst ist’s nicht.“ - -„Kruzitürken und Chineser, bescheiden sind Sie auch? Das hat noch -gefehlt! Sagen Sie mir nur, was hat man denn von der Bescheidenheit? -Höchstens, daß man tüchtig übers Ohr gehauen wird. Auftreten muß man -heutzutage: ‚So bin ich und wenn ich euch nicht pass’, steigt mir alle -auf den Buckel!‘ -- Das gibt einem erst Gewicht! -- Mein Schwiegervater -war auch so einer. Nur ja nicht merken lassen, daß er mehr versteht wie -die andern. Und er hätt’ sie doch alle in die Tasche stecken können. -Aber der dümmste Kerl hat sich vor ihm in der Sonne den Bauch wärmen -dürfen, und er ist zufrieden im Schatten sitzen geblieben. So ein Wesen -begreif’ ich einfach nicht.“ -- - -„Er hat ...,“ entgegnete Fritz versonnen, „er hat -- die fremde Wärme -nicht gebraucht. Er hat von uns überhaupt nichts gebraucht, hat alles -in sich selber gehabt. -- Wie Bettler sind wir vor ihm gestanden. -Haben uns beschenken lassen und -- konnten nicht einmal dafür danken. -Weil er auch für unsern Dank zu reich gewesen ist. Wir -- verlieren -uns hundertmal -- an die Erde -- an die Menschen -- verzetteln und -verpulvern uns -- damit wir nur nicht an uns zu denken brauchen und -an unsere Armut. Glück suchen nennt man das. Er -- ist mit sich allein -geblieben -- ist groß genug gewesen zum Alleinsein -- und hat das -Glück _gehabt_. Von den Ranken, die sein Herz getrieben hat, ist keine -verdorrt. Sie sind um die Welt gewachsen, ja -- ganz rund herum sind -sie gewachsen und doch alle wieder in seinem Herzen zusammengekommen. -So war er.“ - -Während er sprach, schaute er unablässig auf einen blauen Ölkäfer, der -seinen dicken Leib träg über den Kiesweg ins Gras schleppte. Jetzt -schwang sich ein Spatz vom blühenden Apfelbaum, nahm das Kerbtier in -seinen Schnabel und flatterte durch den Sonnenschein davon. Ein paar -weiße Blütenblätter fielen lautlos wie Flocken vom schwingenden Ast auf -den grünen Rasen. - -Wart Nikl räusperte sich und nahm Hellwigs Hand zwischen seine beiden. - -„Ich versteh’ nicht, was Sie da gesagt haben. Aber fühlen kann ich’s -schon, wie Sie’s meinen. Ein Alter, über den die Jungen so reden, der -muß wohl viel wert gewesen sein.“ Und als ob er den düster Starrenden -trösten wollte, fügte er hinzu: „Er hat Sie sehr gern gehabt.“ - -Fritz lächelte bitter. Über den Hof herüber rief die krähende Stimme -eines Lehrbuben nach dem Kaufmann. - -„Kopf hoch, Fritz!“ sagte er noch. Und mit verlegener Herzlichkeit: -„Wissen Sie, ganz so ohne sind Sie auch nicht. Ich hab’ ordentlich -einen Respekt vor Ihnen, Kreuzdonnerwetter! Den krieg’ ich vor solchen -Grünschnäbeln nicht so bald!“ - -Und fort war er. - -Hellwig atmete auf. Fluchtartig, damit ihn nicht abermals jemand -aufhalte, hastete er durch die rückwärtige Gartentür auf die Gasse -und lief seinen alten Weg über die Brücke, die Hügellehne hinan zu -den stillen Lichtungen, wo im Sommer die Erika glühte. Jetzt standen -späte Himmelschlüssel in den Fluren und in heimlichen Waldwinkeln unter -Strauchwerk versteckt blühten die Maiglöckchen auf. - -Er suchte die Einsamkeit. Aber er fand sie nicht. Überall regte sich’s, -trieb Blätter, surrte um Blumen, flatterte, zwitscherte, lockte und -holte sich die Genossin. Da warf er sich mit dem Gesicht nach abwärts -auf den Boden und deckte die Hände vor die Augen. Er schämte sich -seiner Liebe. Weil sie ihn von einem andern Wesen abhängig machte, ihm -die Selbständigkeit raubte, als ein Fremdes von seinem Herzen Besitz -ergriff, seine Ziele verdunkelte und Zwiespalt in sein Wollen brachte, -ohne daß er sich davon befreien konnte. Er bäumte sich dagegen, wollte -das Gefühl ersticken und den Zwang abschütteln. Aber immer wieder -drängte sich das Bild des schlanken Mädchens unter seine wirbelnden -Gedanken, zwang ihn, an schimmernde Augen zu denken, an trotzig -geschürzte Lippen und blondes Haar, das über einem feinen Gesicht wie -ein Goldhelm leuchtete. - -Und endlich erlahmte ihm die Kraft zum Widerstand. Auf dem Rücken -liegend, schaute er traumverloren in das durchsonnte grüne Netz -der Äste, ließ sich von seiner Sehnsucht leise wiegen. Ein Kuckuck -schrie aus der Ferne immerzu. Und jetzt sang auch von irgendwo eine -schmetternde Männerstimme in den fröhlichen Wald hinein: - - „Es fallen drei Sterne vom Himmel, - Die geben hellen Schein. - Wer wird uns früh aufwecken - Beim braunen Mädelein? - - Ei, wer uns früh aufwecken wird? - Das tun die Waldvögelein. - Die wecken uns all die Morgen - Beim braunen Mädelein!“ - -Ein übermütiges Jauchzen klang dem Liede nach. - -Da riß sich Fritz ungestüm aus der weichen Stimmung. Was war ihm denn -so Großes widerfahren, daß er müßig sein und schlaff werden durfte? -Hatte sich eine Ranke, die _sein_ Herz getrieben, um ein blondes Mädel -geschlungen und war nach diesem Umweg wieder zu ihm zurückgewachsen? -Fast höhnisch lächelte er. Nun, und wenn? Sollten deswegen die anderen -verdorren? Er bewegte die Unterarme mit den geballten Fäusten vor sich, -wie wenn er einen Stab zerbrechen wollte. Und den trotzigen Blick -geradeaus gerichtet, als sähe er an den Stämmen vorbei nach einem nahen -Ziel, schritt er durch den Wald. Niemand sollte ihn mehr abdrängen! -Niemand! - -Andern Tags reiste er ab. Beim Abschied vermied er, Eva die Hand zu -reichen. - - -9. - -Otto Pichler hatte das letzte Rigorosum abgelegt. Glühend vor Freude -eilte er nach Haus, umarmte die Wondra, und dann, in seiner Stube, -begann er unverweilt seine neue Unterschrift einzuüben. ~Dr.~ Otto -Pichler. In markigen Buchstaben, mit einem schwungvollen Schnörkel. -Aber das genügte ihm nicht. Er kniete auf den Fußboden nieder und wohl -fünfzigmal schrieb er mit Kreide auf die braunen Bretter: ~Dr.~ Otto -Pichler. Und immer markiger wurden die Buchstaben, immer besser gelang -der Schnörkel. - -Seine Beziehungen zu Hellwig hatte er schon längst wieder lose -angeknüpft. Der Umstand, daß Heinz Wart, Kolben und Fritz bei den -Freien Blättern wirkten, hatte auch ihn zu einer Schwenkung ins -sozialistische Lager veranlaßt. Denn es schien ihm nicht unmöglich, -daß er, von den einstigen Freunden unterstützt, auf dem guten -Sprungbrett der Journalistik sich später in eine angesehene Stellung -hinüberschnellen könnte, in ein Reichsratsmandat oder ähnliches. Klug -und mit kühlem Bedacht arbeitete er auf dieses Ziel los. Er verstand -gewandt, geistreich und witzig zu schreiben, sein Stil war wie seine -Rede, flott, frisch und lebendig, und was seiner Überzeugung an Tiefe -fehlte, ersetzte er durch schöne Worte und verblüffende Wendungen. -Mit Warts Hilfe gelang es ihm, seine Aufsätze bei den Freien Blättern -unterzubringen, und bald hatte er als Feuilletonist einen kleinen -Ruf. Seine Schreibweise gefiel, das Publikum las die schaumleichten -Sächelchen gern, die sich noch obendrein wissenschaftlich gaben und -viele interessante Dinge ‚populär‘ darstellten. Aber auch mit den -Herminonen kam er deswegen nicht über Kreuz. Er wußte alle heiklen -Klippen geschickt zu umsegeln, so daß er nach wie vor ungestört in der -Gesellschaft der Studenten verkehren konnte. - -Hellwig aber hegte gegen ihn keinen Groll mehr. Er war reif genug -geworden, um das Verhalten des einstigen Freundes damals bei der -Satisfaktionsverweigerung als jugendliche Torheit zu belächeln. Nach -wie vor glaubte er an die ehrliche Tüchtigkeit, hielt er viel von den -Fähigkeiten des Schulkameraden, und von der fröhlichen Leichtigkeit, -mit der Otto das Zutrauen der Leute und ihre Sympathien eroberte, ließ -auch er sich immer wieder gefangen nehmen. - -Als ihn daher, nach dem Ende des Streiks und der Aufregungen, die Ruhe -und Tatenlosigkeit zu quälen anfing, während in Wien große Dinge sich -vorbereiteten, der Kampf um das allgemeine Wahlrecht mit aller Wucht -aufgenommen werden sollte und auch sonst dort, im Aneinanderprallen -des kühnsten Fortschritts und der verbissensten Reaktion, die Kräfte -immer frisch und stahlblank blieben, -- als ihn das nun in der tiefen, -schlaffen Stille der Provinz zu quälen und zu locken anfing, da schrieb -er an Pichler, ob er sein Nachfolger werden wolle. Wenn ja, möge er -sich bei der Parteileitung darum bewerben, er, Hellwig, gedenke wieder -zu den Freien Blättern zurückzugehen. - -Und Pichler, der neugebackene Doktor, überlegte sich das nicht zweimal. -Hier bot sich ihm ein Anfang, ein festes Einkommen, eine selbständige -Stellung und die Möglichkeit, von dort aufzusteigen, alles schöner, -als er zu hoffen gewagt. Deswegen säumte er nicht lang, fuhr nach -Wien, stellte sich vor, setzte alle Hebel in Bewegung. Und von Wart -und Hellwig warm empfohlen, von Doktor Kolben nicht im Stich gelassen, -glückte es ihm auch, den Posten zu erhalten. - -Die Begegnung der einstigen Freunde war nicht gerade herzlich, aber -auch nicht farblos. Eine Entfremdung war vorhanden, aber dafür auch -jene ruhige Kameradschaft, wie sie zwischen Männern ist, die an -demselben Werk mitarbeiten. Eine Woche verwendete Fritz daran, den -Nachfolger einzuführen und sattelfest zu machen. Dann packte er seine -Sachen und nahm Abschied von allen. Nicht leichten Herzens ging er -fort. Und ungern ließen ihn die Arbeiter ziehen. Einzeln und in -Abordnungen waren sie gekommen, hatten ihn umstimmen, zum Bleiben -bewegen wollen. Und gar der alte Faßbinder hatte sich schon lang nicht -hineinfinden können. Immer wieder war er auf die Schönheit der Gegend -zu sprechen gekommen, auf die starke Luft, die Ruhe, auf alle Vorzüge -der Gegend und seines idyllisch gelegenen Hauses. Und erst als das -alles ohne Erfolg geblieben war, hatte er sich leidvoll in seine Kammer -hinter einen Wall von Bierflaschen zurückgezogen und hatte dort mit -Tränen in den Augen ohne Aufhören getrunken und getrunken, bis ihm der -Kopf schwer auf die bier- und tränenfeuchte Tischplatte gefallen und -das jammervolle Schluchzen in ein gewaltiges Schnarchen übergegangen -war. Das war eine würdige Abschiedsfeier gewesen, denn betrinken tat -sich der hoch geeichte Meergreis nur in ganz seltenen Ausnahmefällen. -Und von jener Stunde an trug er das Unvermeidliche mit männlicher -Fassung. - -Pichler fand sich rasch zurecht. Viel brauchte es ja nicht dazu. Alle -Wege waren ihm geebnet worden, alle Räder griffen pünktlich ineinander, -Pfannschmidt arbeitete wie ein Zughund, und Otto hatte eigentlich -nichts zu tun, als sich in das bereitete Nest zu setzen und zuzusehen. -Sein schmiegsames Wesen, seine lächelnde Liebenswürdigkeit machten -es ihm leicht, mit den Arbeitern schnell in ein gutes Verhältnis zu -kommen. Und sie fanden bald, daß der Neue, der ihnen so freundlich -um den Bart ging und der sie niemals durch eine kantige Schroffheit -verletzte, daß der Neue nicht so übel wäre. Auch gefiel ihnen, daß er -stets tadellos gekleidet ging, zu repräsentieren verstand und nicht in -der Vorstadt wohnte, sondern nahe der Schriftleitung in einem schönen -Zinshaus zwei Zimmer innehatte. So streute er diesen einfachen Leuten -Sand in die Augen und blendete sie durch einen glanzvollen Schein. -Er machte sich aber auch mit der ‚guten Gesellschaft‘ der Stadt -bekannt und hielt es für nur selbstverständlich, Richard Deming, den -einflußreichen Direktor der chemischen Fabrik, höflich zu grüßen, seit -er ihm einmal in einer Versammlung vorgestellt worden war. Die Anna -Bogner aber, die achtzehnjährige Tochter des Kesselwärters, erkor er -sich -- ohne Frauen konnte er nicht mehr sein -- die Anna erkor er sich -zu seiner heimlichen Geliebten. - -Er sah das braunhaarige Mädchen, das in der Zeitungsdruckerei -beschäftigt war, fast täglich und es gefiel ihm. Klein, rund und -frisch, trug es sich immer nett und sauber, schaute aus klaren Augen -vergnügt ins Leben und ließ beim Lachen alle Zähne blitzen. Es lachte -gern und viel, war stets gutes Mutes, freute sich bei der Maschine auf -den Feierabend, wenn es regnete, auf den Sonnenschein und wenn die -Sonne schien, über den lustigen Glanz in der Welt und im jungen Herzen. - -So war die Anna, bis sich ihr Schicksal erfüllte. Ganz gewöhnlich fing -es an. Blicke herüber und hinüber, erst vorsichtig sondierend, bald -aber kühner werbend und eindringlicher. Dann griff Otto nach dem Hut -und grüßte. Da erschrak sie, sah darein, als faßte sie es nicht, war -erstaunt, verlegen, geschmeichelt, hastete purpurrot weiter. Aber sie -schaute doch noch einmal über die Schulter zurück, ob sie sich denn -wirklich nicht getäuscht habe, und da stand der fesche Doktor mit dem -dunklen Schnurrbart noch an der Ecke und winkte mit der beringten Hand. - -Andern Tags klopfte ihr das Herz bis zum Hals hinauf, als sie ihn -kommen sah. Beklommen trippelte sie vorwärts in Harren und Bangen, -fürchtete schon, er sei gleichgültig vorüber gegangen. Aber da zog -er gerade wieder höflich den Hut. Nun neigte sie, wie sie sich fest -vorgenommen, mutig den kraushaarigen Kopf zum Dank, steif genug, -verschämt und beglückt. - -Dann dauerte es keine Woche mehr, bis er ihr ein Briefchen zusteckte -und um ein Stelldichein für den Sonntag bat. Jenseit des Stromes wollte -er sie treffen, draußen im Freien, wo schon die Wälder anfingen und -nicht so leicht ein Bekannter hinkam. - -Und das junge Ding zog sein bestes Kleid an, schmückte sich wie zum -Fest und wartete eine halbe Stunde vor der angegebenen Zeit bereits am -Waldrand. - -Drei rote Rosen zwischen den Fingern, kam Otto gegangen und schon -von weitem schwenkte er grüßend den weißen Panamahut. Mit einer -Verbeugung überreichte er ihr die Blumen. Schüchtern griff sie darnach, -steckte sie mit hastenden Fingern vor die atmende Brust, kam nicht -gleich damit zurecht, schämte sich und stand mit gesenkten Wimpern -in einer argen Verwirrung. Aber er half ihr rasch darüber weg, sagte -ihr ein paar Artigkeiten im leichtesten Plauderton und benahm sich -ungezwungen, als treffe er sie nicht das erstemal, sondern kenne sie -schon lang und gut. Da verlor sie die Scheu, taute auf und fing nun -ebenfalls zu erzählen an, von ihrer Arbeit, von den Tongebilden ihres -Vaters, den Liebhabern ihrer Freundinnen. Gönnerhaft hörte er zu, fand -das Schwatzen abgeschmackt, aber das Mädel hübsch und schritt, das -Stöckchen schwingend, in fröhlicher Zuversicht an ihrer Seite. - -Der Wald war still und erwartungsvoll, durch die grünen Büsche -schimmerte es wie goldene Gewänder, blitzte wie sonnige Augen, mit -blauen Kelchen standen die schlanken Glockenblumen, und die Anna -pflückte sie zum Strauß. Weiße Waldorchideen ordnete sie mit hinein und -die nickenden Blütenturbane des Türkenbunds, durch dessen Berührung -Juno einst den Mars empfing. Geschmeidig bog sie den Körper, sprang -wie ein Hirschlein zwischen den Bäumen und funkelte ordentlich vor -Lebenslust. Immer besser gefiel sie dem jungen Manne. Unternehmend -strich er den weichen Schnurrbart empor, faßte die Warme mit der -Rechten von rückwärts um den Leib, bog mit der Linken ihr glühendes -Gesicht zu sich herüber und küßte sie auf den Mund. - -„Nein, so was ... aber Herr Doktor!“ wehrte sie ihm schämig und -versuchte loszukommen. Es war ihr jedoch nicht ernstlich darum zu tun, -sie sträubte sich zwar ein wenig, weil sie es für schicklich hielt, -schmiegte sich dabei aber nur fester in seinen Arm. Da küßte er sie -nochmals und gab sie dann frei. „Du gefällst mir, Annl!“ sagte er und -strich mit der Hand über ihre Wange. - -„Spotten Sie nur nicht!“ antwortete sie und warf ihm von unten herauf -einen schnellen verliebten Blick zu. - -„Spotten? Nein, du bist wirklich hübsch! Aber das Sie-sagen mußt du dir -abgewöhnen.“ - -Nun kicherte sie: „Was der Herr Doktor für Einfälle hat! Wir kennen uns -ja kaum!“ - -„Wer bin ich?“ - -„Der Herr Doktor!“ - -„Wer?“ - -„... Sie!“ - -„Du sollst du sagen! Trau’ dich nur, Mädl! Na?“ - -Sie schüttelte den gesenkten Kopf, daß alle Spitzen ihrer krausen Haare -zitterten. Da legte er den Arm um ihren miederlosen Leib. „Komm!“ sagte -er. „Schäm’ dich nicht, wir sind ja allein.“ - -Sie lehnte sich leicht an ihn. - -„Du!“ sagte sie erschauernd und ließ sich widerstandslos fortführen, -tiefer und tiefer in den erwartungsvollen Wald. - - -10. - -Hellwig war wieder im alten Fahrwasser, arbeitete viel, sprach in -Versammlungen und ruhte sich bei Heinz von der Hetzjagd aus. - -So oft er zu ihm kam, müd und abgerackert, oft erst spät abends, fand -er den Tisch für sich mitgedeckt, Marie, die zarte, blasse Frau, kam -ihm mit sonnigen Augen entgegen, und die Lampe leuchtete hell über -weißem Tischzeug, sauberen Dielen und blankem Hausrat. Eng war das -Gemach, war Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmer, alles in einem, aber die -freundlichen Geister des Behagens lugten aus allen Winkeln, schaukelten -sich in den Falten der baumwollenen Fenstervorhänge, tollten, ein loser -Schwarm, durch die offene Tür in die Küche, wo sie der Marie in den -Rostbraten bliesen, daß das Fett prasselnd aus der Pfanne spritzte. -Aber nicht immer gab es Rostbraten in der Pfanne. Manchmal, und -namentlich wenn der Monatsletzte nicht mehr fern war, lief Heinz zum -Greisler hinunter um Käse, Brot und Wurst, und auch ein paar Flaschen -Bier brachte er mit herauf. Aber wenn dann die Marie fragte: „Wo hast -du die Butter?“ oder „Wo ist denn der Emmentaler?“, da hatte er das -gewöhnlich unten auf dem Ladenpult liegen lassen und mußte die vielen -Stufen noch einmal hinab und hinauf. - -Und wenn sie dann alle drei unter dem weißen Schirm der Hängelampe um -den Tisch saßen, war es Hellwig, als sei alle Leidenschaftlichkeit der -Fehde verbraust und aller Streit da draußen eingeschlafen, tief ruhig -wurde er, und leise schlug ihm das stürmische Herz, ganz leise, auf daß -es die heimliche Innigkeit dieser Stätte nicht störe, die voll Liebe -und Frieden war. Und kein Schatten wäre in dieser reinen Helligkeit -gewesen, wenn Marie nicht manchmal gekränkelt und immer anhaltender -gehustet hätte. - -Und bisweilen kam jetzt über Heinz wieder der alte Hang zum -Herumstreifen in den Elendquartieren. Dann litt es ihn nicht in dem -Frieden seines Heims, und mochte die Marie auch noch so freundlich -bitten, er ließ sich nicht zurückhalten. Wie an Seilen zog es ihn fort. -Da mußte auch Fritz aufbrechen, und manchmal begleitete er dann den -Freund. - -Und da trafen sie einmal mit Robert Karus zusammen. In einem Bierbeisel -trafen sie ihn, wo er Lumpensammlern, Kanalstrottern und zittrigen -Bettelleuten die Idee des Anarchismus erläuterte und für die Propaganda -der Tat mit ungefügen Worten eintrat. - -Hellwig erkannte ihn gleich wieder. Aber auch Karus hatte kein -schlechteres Gedächtnis. Mit einem lauten „Hei!“ ließ er die Faust -auf den Tisch fallen und rief: „Da schaut her, der Bergprediger! Wie -geht’s, Herr Bergprediger, wie steht’s? Ist die friedliche Rebellion -vorüber? Fressen die Hündlein wieder hübsch brav aus der Hand?“ - -Aber ehe Fritz noch antworten konnte, hatten sich die andern Gäste -bereits um Heinz geschart. „Das ist ja der Herr Wart!“ -- „Guten Abend, -Herr Wart!“ -- „Wir dachten schon, Sie hätten uns ganz vergessen, -Herr Wart!“ hieß es. Sie schüttelten ihm die Hände, waren von dem -Wiedersehen sichtlich erfreut. - -„Also das ist der Ausbund, der so haarsträubend edle Werke tut!“ sagte -Karus und musterte den schmächtigen Mann mit einem raschen Blick von -oben bis unten. „Hand her, Heinz Wart!“ rief er dann. Er hielt ihm die -haarige Tatze hin. Wart legte seine kühle, schmale Rechte hinein. -„Endlich treffe ich Sie!“ sagte Karus mit gedämpfter Stimme. „Ist -höchste Zeit gewesen, sonst wär’ ich Ihnen nächster Tage auf die Bude -gerückt. Wir zwei gehören nämlich zusammen wie Faust und Arm!“ - -Heinz war es gewöhnt, auf seinen Streifzügen mit den absonderlichsten -Kostgängern des lieben Herrgotts in Berührung zu kommen. Deswegen -wunderte er sich nicht weiter über das Gehaben des struppigen Kumpans, -setzte sich schweigend zu ihm an den Tisch und Hellwig ebenfalls. -Diesem war die Begegnung sehr erwünscht, denn er hoffte jetzt den -seltsamen Menschen näher kennenzulernen, der mit ein paar hingeworfenen -Worten seine Gedanken wochenlang zu beschäftigen vermocht hatte. Er -konnte sich nicht klar werden über das Gefühl, das er für oder gegen -ihn hegte, spürte etwas seinem eigenen Wesen Verwandtes in ihm und doch -auch wieder etwas, was ihn schroff abstieß und zum Widerspruch reizte. - -Dem Karus mochte es ebenso gehen. Die Art, wie er den ‚Bergprediger‘ -behandelte, war halb kameradschaftlich, halb gehässig, und immer lief -daneben überlegener Spott mit. Jetzt saßen sie also beisammen in der -schweren, verdorbenen Luft, tranken schales Bier und die verluderten -und zermürbten Gesellen an den anderen Tischen rückten möglichst nahe -zu, spitzten die Ohren, und jedesmal, wenn Heinz eine Bemerkung machte, -lächelten und nickten sie einander zu, stießen sich an und taten, als -wäre ihnen ein Heil verkündet worden, wenn sie auch kaum die Hälfte -aller Worte vernehmen konnten. Karus aber rüstete sich zu einem Strauß -mit Hellwig. - -„Also was?“ sagte er. „Sind Sie in der Provinz glücklich fertig? Wo -predigen Sie denn jetzt? Und worüber, wenn’s zu fragen erlaubt ist?“ - -Fritz wurde nicht zornig und wurde nicht grob. Ganz gelassen blieb -er und antwortete so naiv und unbefangen, als es ihm möglich war: -„Gegenwärtig geht’s um das allgemeine Wahlrecht.“ - -„Schöne Sache!“ entgegnete Karus, mit dem mächtigen Schädel nickend, -tiefernst. „Schöne Sache! Würdig der edelsten Begeisterung! Nun denken -Sie sich aber mal eine große Menagerie. Da sitzen die Tiere alle in -engen Käfigen. Der Löwe, der Tiger, die Gemse, der Falk, der Adler, -alle sitzen sie in ganz engen Käfigen. Und den Menageriebesitzer -wandelt eines Tages ein Mitleid an oder eine gnädige Laune, er stellt -einen etwas größeren Zwinger auf und erteilt den Bestien die Erlaubnis, -je eine aus ihrer Mitte, welche sie halt wollen, in den größeren -Käfig zu entsenden. Und dann springen die abgesandten Löwen, Tiger, -Gemsen, Falken, Adler dort drin herum, stoßen mit den Köpfen an das -gesetzmäßige Gitter, verletzen sich die Pranken, zerbrechen sich die -Flügel, beißen sich die Zähne aus. Und die anderen Vieher sehen das und -schreien, quieken, krächzen, brüllen: ‚Hoch unsere Freiheit! Hoch unser -allgemeines Wahlrecht!‘ Aber die Eisenstäbe zerbrechen, den Wärter in -Fetzen reißen? Das fällt keinem ein! Dazu sind sie zu faul und zu träg! -Sie fauchen wohl gegen ihn, aber kommt er ihnen mit der spitzigen Gabel -an den Leib, dann ducken sie sich und heulen! Denn schließlich gibt er -ihnen doch zu fressen.“ - -„Sie sind ein sonderbarer Schwärmer, Karus,“ erwiderte Fritz. „Ich -meinerseits glaube aber trotz Ihrer schönen Vergleiche, daß das -allgemeine Wahlrecht ein guter Sturmbock ist, mit dem wir die Gitter -schon brechen wollen. Nur haben müssen wir’s erst!“ - -Karus lächelte mitleidig. - -„So sagen Sie mir doch einmal, was wir nach Ihrer Ansicht eigentlich -tun sollen, um frei zu werden?“ rief Hellwig ungeduldiger. - -Da ging ein heftiger Ruck durch die gedrungene Gestalt des wilden -Gesellen, aus seinen Augen brach ein unbändiges Feuer. Aber seine -Stimme klang beinah gemütlich, als er jetzt sagte: „Dreinschlagen!“ - -„Wozu?“ meinte Hellwig achselzuckend. „Wir erreichen auf friedlichem -Weg mindestens genau so viel.“ - -Da klopfte ihm Karus auf den Rücken und sprach: „Lieber junger Freund, -wie stellen Sie sich denn das vor: Auf friedlichem Weg? Die wilden -Tiere im Käfig wollen heraus, nicht wahr? Und wenn nun so eine graziöse -Löwendame oder ein feuriger Tigerjüngling kommt und den Wärter bittet, -er solle doch so freundlich sein und das unangenehme Gitter entfernen, -so wird der Wärter natürlich nichts Eiligeres zu tun haben, als -diesem gewiß berechtigten Wunsche zu willfahren. Alle Bestien wird er -herauslassen, damit sie dann über ihn herfallen und ihn vor lauter -Dankbarkeit auffressen. Nicht wahr, so würde es kommen? Und das ist -das, was Sie meinen mit dem ‚Auf friedlichem Weg‘?“ - -„Nicht so ganz, Herr Karus. Sie sagten ja vorhin selbst, daß der Käfig, -wie Sie sich auszudrücken beliebten, immer weiter wird. Nun, und einmal -wird er eben so groß sein, daß wir das Gitter nicht mehr sehn und -spüren. Das ist doch gewiß auf friedlichem Weg zu erreichen.“ - -Karus lachte hell auf. - -„Und das soll die Freiheit sein? So stellen Sie sich die Freiheit vor? -Wirklich so? Ich bedanke mich für so eine Freiheit! Ich will fliegen -- -und stoß’ mir den Schädel an der Decke ein. Ich will ein bissel weiter -spazieren gehn, krach, renn’ ich -- ob früher, oder später, einmal -doch -- ans Gitter und kann nicht weiter. Muß ich da nicht die Stäbe -zerbrechen, wenn ich hinaus will? Und wenn ich allein zu schwach bin -- -zum Teufel, hundert Fäuste knicken das Zeug schon entzwei! Aber feig -sind die Kerle! Feig und faul! Ihr eigenes Fleisch haben sie zu lieb, -und ihre einzige Sorge ist der Magen! Nein, nein, Bergprediger, damit -ist’s nichts! Wenn der Zwinger auch noch so groß ist, es bleibt eben -immer ein Zwinger. Und die Freiheit verträgt kein Gitter!“ - -Heinz saß da, die Linke vor den Augen und die Stirn in die Spanne -zwischen Daumen und Zeigefinger gestützt, hielt ein abgebranntes -Zündholz in der andern Hand und versah die runden Umrisse der -Bierlachen mit strahlenförmigen Ausläufern. Mit Fleiß und Sorgfalt -tat er das und bemühte sich, alle gleich lang und schön regelmäßig zu -machen. Aber als Karus schwieg, begann er unvermittelt zu sprechen. - -„Nein,“ sagte er, „kein Gitter und kein Eisen. Weil wir ja keine wilden -Tiere sind, sondern Menschen. -- Es sollte keine Fesseln unter uns -geben, keine Käfige und keine Kerker. Und es sollte auch niemand unter -uns Macht haben, andere darin festzuhalten. Weder ein einzelner noch -ein Volk oder ein Staat. Niemand. Weil -- wer nicht für mich ist, der -ist wider mich ... das ist auch eine falsche Formel. Jeder für sich --- und keiner wider den andern: so müßte es sein. Und bis das so sein -wird, dann sind wir alle edel genug, die Freiheit zu ertragen. Weißt -du, Fritz ...“ - -So redete er, und da er seine Haltung nicht änderte, war es, als ob er -in die Tischplatte hinein spräche. Aber das Zündholz war in seiner -Hand zerknickt, und seine Wangen waren ganz tiefrot geworden. - -„Gehn wir!“ sagte er nach einer langen Pause und atmete schwer auf. - -Sie traten ins Freie. Karus faßte ihn unterm Arm. „Faust und Arm!“ -sagte er noch einmal. „Oder Muskel und Nerv! Komm, Heinz Wart!“ - -Fritz ging schweigend nebenher und sah in den Himmel hinauf, der ganz -hell ausgesternt war. Und wieder fühlte er, wie schon öfter: wenn der -stille Heinz seine leidenschaftliche Stunde hatte, dann sagte er Dinge, -die seltsam überzeugend klangen. Und er sagte sie in so sonderbar -eindringlichem Ton, daß keine Entgegnung sich regen konnte. Und doch -mußte es eine Entgegnung geben, das spürte er ganz deutlich und wußte -nur nicht, wo die Lücke war, wo er den Fuß einsetzen mußte, um über die -glatte Mauer hinüberzukommen. - -Karus fing an, aus seinem Leben zu erzählen. - -Er war Hilfslehrer gewesen, aber seine vertrotzte Natur konnte sich -in kein Joch beugen. Statt die Buben zu pflichtbewußten Staatsbürgern -zu erziehen, redete er zu ihnen von der sozialen Bewegung und vom -Anarchismus, füllte ihre jungen Seelen mit dem wilden Freiheitsdrang, -der in ihm selbst brauste. Keine Verwarnung fruchtete. Schließlich -wurde er auf unbestimmte Zeit beurlaubt. Da wußte er, woher der Wind -blies und kam um seine Entlassung ein. Und dann durchwanderte der -Doktor der Weltweisheit Robert Karus fast die ganze Erde, machte -den Aufstand der Insel Kreta mit, war auf den Philippinen einer der -Insurgentenführer, wurde in Rußland wegen nihilistischer Umtriebe nach -Sibirien geschickt, floh von dort durch Persien über den Ganges nach -Indien und war jetzt endlich wieder in seine Heimat zurückgekehrt, als -Fünfzigjähriger dieselbe Glut und Freiheitssehnsucht im Herzen, die ihn -als Jüngling in die Welt hinausgetrieben hatte. Vorläufig wollte er -ausruhen, wie er es nannte, und verdiente sich sein karges Brot, indem -er armen Handelsbeflissenen, die in Anbetracht der geringen Vergütung -gern sein verwahrlostes Äußere mit in den Kauf nahmen, Unterricht in -Französisch, Englisch, Spanisch, Russisch erteilte. - -Heinz Wart schloß sich seit diesem Tage ganz an den alten Revolutionär -an, war fortwährend mit ihm beisammen und wurde noch blasser und -stiller als vorher. Und noch größer und rätselvoller als vorher standen -ihm die heißen dunklen Augen im schmalen Gesicht. - - -11. - -Pichlern ging es ungemein wohl. Sein Schifflein schwamm auf glatter -Flut, kein böser Windstoß rührte gefährliche Wogen auf, nirgends zeigte -sich eine Wetterwolke. Die Arbeit lief wie am Schnürchen, die Leute -hatten ihn gern, er war überall beliebt. Und wenn ihm etwas seine Laune -trübte, so war’s jetzt sein Verhältnis zur Anna Bogner. - -Sie hatte ihm alles gegeben, was so ein schlichtes armes Ding einem -Mann wie Pichler überhaupt zu schenken vermochte, stand nun ratlos, -fremd, wie verloren in der Welt und hatte niemanden, an den sie -sich klammern konnte, als eben ihn. Gerade das aber wurde ihm bald -lästig, der Reiz der Neuheit war vorbei, der Schmetterlingsstaub von -den Flügeln gestreift, die einfache reine Seele des guten Kindes -konnte ihn nicht fesseln. Es kam die Überlegung, die Furcht vor einer -möglichen Entdeckung, der Überdruß. Seltener bat er sie um eine -Zusammenkunft, entschuldigte sich mit dringenden Geschäften. Und sie -ließ sich alles gefallen, sah ihr Glück -- es hatte kaum sechs Wochen -gewährt -- verblassen und war geduldig und gläubig und treu wie ein -Hund. Aber ihre Munterkeit war weg, kaum lachte sie noch oder freute -sie sich über den Sonnenschein. - -Und endlich blieb Otto ganz fort. Acht, vierzehn Tage wartete sie, aber -er gab kein Lebenszeichen, war für sie wie vom Erdboden verschwunden. - -Er birschte in anderen Gefilden. Dort war Grete Deming, die Tochter -des kaiserlichen Rates Richard Deming, der bei der großen chemischen -Fabrik den Direktorposten innehatte. Das war ein scharfsichtiger und -besonnener Selfmademan, dem das kühle Blut auch in den schwierigsten -Lagen nicht in raschere Wallung kam. Er war von festgefügtem -Knochenbau, ziemlich groß, stark, doch nicht fett, hatte breite Hände -und trug den grauen Backenbart zu beiden Seiten des ausrasierten Kinnes -kurz geschoren. Nie war das Unternehmen besser geleitet, der Gewinn -größer gewesen, als seit Deming an der Spitze stand. Geschäftsmann -durch und durch, von modernem Geist erfüllt, kühn und wagemutig, wußte -er günstige Marktlagen rasch zu packen, tatkräftig auszunützen und -hatte noch immer gegen die Vorsichtigen und Ängstlichen recht behalten. -Er war seit Jahren Witwer und hatte eine Tochter, das Fräulein Grete -Deming, eine dunkeläugige Schöne, die gertenschlank auf dem Kutschbock -saß und mit festen kleinen Händen ihren Traber lenkte. Umschwärmt und -begehrt, ging sie gleichgültig an dem Schwarm ihrer Bewunderer vorbei, -nicht warm, nicht kalt, ein wenig hochmütig, ein wenig herablassend -und sehr selbstbewußt. Sie war schön, war jung, das einzige Kind -ihres reichen Vaters und deshalb nahm man ihr nichts übel, fand -auch ihre Unarten reizend, und viele Mädchen der Stadt gingen mit -leicht vorgebeugtem Oberkörper und leise schaukelnden Hüften, trugen -Reitgerten und rauchten Zigaretten, ganz wie Grete Deming. Es gab eine -Grete-Deming-Frisur, ein Barett, einen fußfreien Rock, eine Tüllkrause -~à la~ Grete Deming. Aber keiner einzigen saß die runde Nerzmütze mit -dem Reiherstoß so fesch auf welligem Haar, fiel der glatte Rock auf -einen so tadellos fein geknöchelten Fuß, hob sich pfirsichfrisch und -rassig aus den weißen Tüllwogen ein so pikantes Gesicht -- wie eben dem -Fräulein Grete. - -Pichler sah sie vorüberfahren, blickte ihr nach und stand wie gebannt. -Ein eigenes Gefühl drängte sich in sein Herz, weh und schmerzhaft, -als sei ihm ein Glück bestimmt gewesen, und er habe es leichtsinnig -selbst verscherzt. Unwürdig kam er sich vor und doch wieder wertvoll -genug, nach den höchsten Kränzen zu langen. Verheißende Möglichkeiten -blitzten in der Ferne, Ahnungen von Genüssen, um die er sich gebracht, -Sehnsucht nach einer geistreichen und glanzvollen Gesellschaft, von -der er sich freiwillig ausgeschlossen hatte. Fast reute ihn, daß er so -offen eine politische Gesinnung zur Schau gestellt hatte, statt in ein -Staatsämtchen zu schlüpfen oder einen anderen standesgemäßen Beruf zu -ergreifen. Und stärker und bestimmter kam ihm der Vorsatz, daß seine -jetzige Beschäftigung nur einen Übergang darstellen durfte, da weder -seiner Stellung als gebildeter Mensch, noch seinen Fähigkeiten der -ständige Verkehr mit den untersten Volksschichten angemessen sei. Und -so begann er denn seine Läuterung dort, wo ihm der Verkehr mit den -untersten Volksschichten dermalen am unangenehmsten geworden, bei Anna -Bogner. Er war sich selber für ein solches Verhältnis zu gut geworden. - -Die Anna wartete geduldig noch eine Woche lang, dann aber faßte sie -sich ein Herz und ging zu ihm. Sie wollte Gewißheit haben, das Harren -und Bangen quälte gar zu sehr. - -Zaghaft klopfte sie an, trat zaghaft ein. Da war gerade Karl -Pfannschmidt anwesend und beriet die Zusammenstellung der nächsten -Zeitungsnummer mit dem verantwortlichen Schriftleiter. - -Verlegen sprang Pichler auf. - -„Was bringen Sie mir denn Schönes, Fräulein?“ fragte er und bemühte -sich, seiner unsicheren Stimme einen geschäftsmäßigen Tonfall zu geben. - -„Ich bring’ nichts,“ antwortete sie leise, „ich will mir was holen.“ - -„Ach ja richtig, das hatte ich ganz vergessen!“ erwiderte Otto und -schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Jetzt fällt’s mir -wieder ein! Bitte, wollen Sie hier eintreten!“ Er führte sie ins -Nebenzimmer. „Sie entschuldigen schon einen Augenblick!“ sagte er noch -zu Pfannschmidt. - -Drinnen herrschte er das arme Ding mit scharfer Flüsterstimme an: „Was -soll das heißen, Anna? Was fällt dir ein, hieher zu kommen! Denk’ doch -an deinen Ruf!“ - -„Ich will mir was holen!“ murmelte das Mädchen. - -Nun versuchte er es in einer anderen Tonart. „Ich konnte wirklich -nicht abkommen, Annl!“ sagte er mit biederer Herzlichkeit. „War mit -Geschäften überhäuft. Das geht manchmal nicht anders. Aber sobald ich -wieder Luft hab’ ...“ - -Sie schüttelte langsam den Kopf. - -„Ich bin nicht deswegen da ...“ - -„Nicht deswegen?“ - -„Ich will mir nur was holen,“ sagte sie eintönig. - -„Ja, aber was denn nur? So sag’s doch endlich!“ - -„Meine Ehre ...“ - -Ganz gleichgültig sprach sie das vor sich hin, mit rauher, brüchiger -Stimme und schaute mit toten Augen an ihm vorbei ins Leere. - -Er wußte nichts zu erwidern, hob bedauernd die Hände und ließ sie auf -die Schenkel fallen. - -„Aber Annl -- du hast mich doch lieb gehabt ...“ - -„Ja, ich hab’ dich lieb gehabt.“ - -„Und -- und ... es konnte doch nicht immer so fortgehn. Das hättest du -im voraus bedenken sollen.“ - -„Ja -- das hätte ich im voraus bedenken sollen ...“ - -Wie ein Automat sprach sie ihm die Worte nach. - -„Annl, sei doch nicht so, ich bitte dich! Wir -- können deswegen ja gut -bleiben. Nur -- das wirst du einsehn, ich ... Herrgott, wenn nur der -Kerl nicht draußen wär’! Der paßt auf jedes Wort! -- Wir treffen uns -morgen, Annl! Um sechs Uhr! Da reden wir dann weiter. Wirst du kommen?“ - -„Ich werde schon nicht kommen. Was gibt’s auch noch zu reden? Das ist -nun einmal so, da nützt nichts mehr.“ - -„Annl!“ - -Noch immer schaute sie an ihm vorbei, mit derselben steinernen Ruhe. - -„Nenn’ mich nicht mehr so. Ich nenn’ dich auch nicht mehr so. Ich denk’ -mir nur -- so, wie du jetzt bist, das sollte doch anders sein. Es ist -nicht recht so. Nur, es wird wohl auch wieder besser werden -- oder -- -die Welt hätt’ sonst kein Gewissen ...“ - -Mit schleppenden Schritten ging sie zur Tür, öffnete und schob sich -müde durch das vordere Zimmer an Pfannschmidt vorüber zum Ausgang. Dort -schlug Pichler noch einmal den Geschäftston an. „Also die Sache ist in -Ordnung, nicht wahr?“ - -„In Ordnung,“ sagte sie tonlos und bewegte die trockenen Lippen kaum. -Nun trat sie über die Schwelle, den Kopf steif oben, und in dem starren -Gesicht regten sich nicht einmal die Lider, um die weit offenen Augen -zu kühlen. - -Als sie fort war, sagte Pichler mit gemachter Leichtigkeit: „Es war -mir so peinlich ... sie hat mir nämlich eine Novelette angeboten -für unser Blatt und sich jetzt Bescheid geholt. Ich mußte ablehnen. -Schriftlich wär’ das einfacher gegangen. Zu dumm! Jedes Frauenzimmer -will heutzutag’ schon schreiben!“ - -Pfannschmidt blätterte in den Manuskripten, die er vor sich -ausgebreitet hatte. Dann sagte er: „Also mit dem Leitartikel sind Herr -Doktor einverstanden? Was bringen wir denn unterm Strich?“ - -Otto biß sich auf die Lippe. Er fühlte, daß ihm hier die Ausrede nicht -geglaubt worden war. Aber er faßte sich schnell. - -„Unterm Strich? Haben wir nicht irgendeine verliebte Geschichte lagern? -So was zieht immer!“ - - -12. - -Fritz, Heinz und Karus schlenderten mitsammen durch die Großstadt. Es -war ein schöner Vorfrühlingstag. Die Sonne glänzte am blauen Himmel, -hing durchsichtige Silberschleier vor die Fronten der Mietkasernen, -machte die Fiakerrosse fröhlich, und sogar den geplagten Pinzgauer -Hengsten vor den schweren Fuhrwerken verlieh sie ein gemütliches -Aussehen. Zwischen lautlos gleitenden Elektromobilen, Automobilen, -Karossen und Straßenbahnwagen bewegten sich rasselnde Streifwagen, -Handkarren, Radfahrer. Eisen klirrte, Pferde wieherten, Kutscher -schrien „Ooooohb!“, das klingelte, ratterte, stampfte, dröhnte, surrte, -tutete ohrenbetäubend durcheinander. Und auf den Gehsteigen wimmelten -die Menschen, Hut neben Hut und Ellbogen bei Ellbogen, vereinigten -sie sich rechts und links der Straßenzeile zu je einem ununterbrochen -flutenden schwärzlichen Strom, der langsam wogte, still stand und -wieder vorwärtsdrängte. Es sah aus, als würde hier das Blut der Stadt -durch die Stöße eines unsichtbaren Herzens im Kreislauf erhalten. Nur -vor den Kirchen schien es zu stocken. Die Kirchentüren waren offen, -fremd leuchteten die gelben Kerzenflammen aus den dämmrigen Schiffen -in die lärmende Nüchternheit des Tages. Viele der Vorübergehenden -zogen die Hüte, bekreuzigten sich oder beugten wohl auch die Knie. Mit -einem Pack Federbetten kam ein molliges Frauchen vorbei. Während des -langen Faschings war im Haushalt das Geld knapp geworden. Aber heute -abends war ein Bürgerball. Und die Kirchenpforten waren der Schönen -nicht umsonst aufgetan. Rasch trat sie ein, legte ihr Bündel auf die -Steinfließen, kniete darauf und sprach andächtig ein Vaterunser. Dann -setzte sie gestärkt ihren Weg zum Versatzamt fort. - -Mit schlurfenden Schritten schob sich ein Bettler die Häuser entlang. -In der Hand hielt er einen irdenen Topf mit schmutziggrauem Reisbrei, -wie man ihn den Jagdhunden zum Fressen gibt. Den mochte ihm eine -gutherzige Köchin geschenkt haben, und der Alte schaute mit verzückten -Augen und wässerndem Mund auf seinen Schatz. Da war Karus blitzschnell, -mit einem Satz, bei ihm und schlug den Scherben aus der zittrigen Hand: -„Betteln, Schlappschwanz? Da! Jetzt friß!“ - -Der Mann winselte und bückte sich jammernd nach den Scherben. Fritz -packte Karus am Arm: „Was heißt das?“ Und der gleichmütig darauf: „Sie -sehen’s ja!“ - -Leute sammelten sich. Fritz zog die Börse. „Geben Sie ihm nichts!“ -knurrte Karus. Hellwig schob ihn beiseite, drückte eine Münze in die -verlangend aufgehobene Hand, schritt schnell davon. - -„Wie konnten Sie das tun?“ sagte er. „Das war grausam!“ - -„Ach was, grausam!“ rief Karus zornig. „Verdient so einer was Besseres? -He? -- Verflucht, daß doch die Kerle mit Bettelsuppen und Küchenabfall -zufrieden sind! Daß sie nicht fordern, was ihnen vorenthalten wird! Daß -sie nicht wenigstens rauben und stehlen! Aber da stehen sie blödsinnig -neben brechenden Tischen, verrecken vor Hunger und wagen nicht -dreinzuhauen. Mit einem rechtschaffenen Knüttel oder meinethalben mit -Pulver und Bomben! Pfui Schande und Feigheit!“ - -Heinz aber sah unterdessen nach einem hageren Menschen, der vor -ihnen hertaumelte, manchmal stehn blieb, sich an die Stirn griff, -umherschaute, weitertorkelte und endlich hinfiel. Im Nu war eine -johlende Menge um ihn. Heinz aber sagte ganz aufgeregt zu den Freunden: -„Schaut euch die Augen an! So blickt kein Betrunkener!“, lief hin und -beugte sich über den Gefallenen. Die Umstehenden lachten und spotteten: -„Seht den Lumpen! Schon am hellen Vormittag hat er einen Rausch!“ - -„Nein!“ sagte Heinz laut und hart. „Der hat keinen Rausch, der hat -Hunger! Und da lacht ihr und spottet noch!“ - -Und er faßte den Liegenden: „Komm, mein lieber Bruder!“ und half ihm -auf die Füße. Sie nahmen ihn in die Mitte, stützten ihn sorgsam und -führten ihn aus dem Gedränge. Vor einem gut bürgerlichen Gasthaus -machte Wart halt. - -„Heinz, das ist ein Unsinn!“ sagte Hellwig und suchte ihn -zurückzuhalten. Doch der wehrte sanft ab: „Laß mich nur, Fritz, ich bin -dem Menschentum Genugtuung schuldig in diesem hier!“ Und er öffnete die -Tür. - -An den runden Tischen saß ein zahlreiches Publikum beim Frühschoppen. -Alle Augen richteten sich auf die Ankömmlinge. Es war aber auch ein -ungewöhnlicher Aufzug. Heinz im englischen Überzieher, den rassigen -Kopf mit den langen schwarzen Haaren hoch aufgereckt, Karus, wie immer, -mit zerknittertem Hemd und tranigen Stiefeln, zwischen beiden der -dürre Mensch, von oben bis unten mit Straßenkot besudelt, endlich der -breitschultrige Hellwig mit Radmantel und Schlapphut. Der Oberkellner -kam gelaufen und fragte, ob sich die Herrschaften nicht geirrt hätten. -Die Schenkstube sei rückwärts im Hof. Da sagte Heinz: „Nein, wir haben -uns nicht geirrt, aber Sie scheinen sich in uns zu irren. Dieser -schmutzige Mensch hier ist mein Bruder. Die Speisekarte, bitte!“ - -„Bitte sehr, bitte gleich!“ antwortete der Befrackte und wußte nicht -recht, wie er sich verhalten sollte. Wart und Hellwig kannte er. Aber -die zwei andern schienen doch nicht so ganz in das feine Lokal zu -passen. Da jedoch die andern Gäste nicht beleidigt taten, glaubte er es -wagen zu können und winkte dem Speisenträger. Heinz bestellte Fasan mit -Trüffeln und Moselwein. Das imponierte. Die Gäste aber hielten ihn und -Fritz für zwei reiche Müßiggänger, Hetzbrüder oder Hausherrnsöhnchen, -die nach einer durchzechten Nacht einen Ulk ausführten. Deshalb -lächelten sie gönnerhaft oder blinzelten nachsichtig und wohlwollend zu -ihnen hinüber. - -„Seht sie euch an!“ sagte Karus halblaut. „Seht doch, wie sie dasitzen, -die Herren Hofräte und Hausbesitzer und Großkaufleute! Und wie sie -nicht zu begreifen vermögen, daß jemandem so eine Tat Bedürfnis sein -kann. Oh, wie gut sie unsern Heinz zu verstehen glauben. Wie gut -sie wissen, daß er, auch nicht anders als sie in ihrer Jugend, aus -Langweile und Übermut mit der Armut seinen Spaß treibt! Wie sie das -verstehen, entschuldigen, verzeihen! Wüßten sie, daß es ihm ernst damit -ist, sie ließen uns alle vier hinauswerfen!“ - -Unterdessen brachte man auf einer silbernen Platte den Fasan, goldbraun -gebraten und würzig duftend. Und der hungrige Mensch griff gierig -nach einem Schenkel, aß und sprach, nachdem er alles gegessen: „Mich -hungert, gebt mir Wurst!“ Den Wein aber schob er weit von sich: „Ich -trink’ nur Bier!“ - -Die Gäste sahen das, lächelten und dachten sich: „So ein Esel!“ - -Heinz aber stand auf: „Komm, mein lieber Bruder!“ - -Und sie gingen in die Schenkstube. Dort aß der ausgehungerte Mensch -fünf Knackwürste, trank einen Liter Bier dazu, wurde fröhlich und -bedankte sich. Die umhersitzenden Kutscher aber, die Dienstmänner und -Laufburschen zeigten auf ihn und meinten: „Seht den Glückspilz an, er -hat heut’ Ostern, Pfingsten und Weihnachten!“ - -Heinz drängte jetzt zum Aufbruch. Sie überließen den Gesättigten seinem -Schicksal und machten sich auf den Heimweg. Keiner sprach. Karus ging -Arm in Arm mit Wart. Fritz schlenderte nebenher und dachte allerlei. -Wohinaus wollten die zwei? Er sah noch immer nicht klar, erkannte nur, -daß sie in ganz anderen Gleisen gingen als er selbst und daß er ihnen -dorthin nicht zu folgen vermochte. - -Jetzt waren sie bei Karus’ Wohnung angelangt. Oben warfen sie ihre -Überkleider auf das Bett, setzten sich, rauchten und schwiegen eine -geraume Weile. Endlich sagte Fritz aus seinem Sinnen heraus: „Heinz, du -gehst in die Irre! Man füttert solche Leute nicht mit Fasanen!“ - -„Wissen wir auch!“ sagte Karus. - -„So? Und trotzdem ...“ - -„Jawohl, trotzdem und gerade deswegen! Unzufrieden muß man sie machen! -Ihnen die guten Dinge vorrücken, die es auf der Welt gibt und von denen -sie keine Ahnung haben. Dann werden sie lüstern. Und das stachelt sie -auf wie die Bremse den Stier!“ - -„Nun und?“ - -„Nun und dann sind sie eben reif für unsere Gilde.“ - -„Euere Gilde? Gehören dazu jene, die lieber im Straßengraben verrecken, -weil sie frei sein wollen?“ - -„Und ob die dazu gehören! Unsere braven Jungen, die lieber verhungern, -eh’ sie sich was schenken lassen. Lieber stehlen, eh’ sie betteln. Weil -...“ -- ein spöttisches Lächeln verkroch sich in Karus’ verwildertem -Bart -- „weil ihr bestes Recht ist, daß sie satt zu essen haben. Und -weil sie sich zu keinem Ausgleich hergeben. Ihr Recht wollen sie, -Bergprediger! Und gibt man’s ihnen nicht, so nehmen sie sich’s -- -wenn’s not tut mit Gewalt!“ - -Hellwig achtete nicht auf den Spott und sagte kalt: „Mit dem Argument -der Fäuste wird nichts zu holen sein! Klärt lieber die Menschen auf! -Und fangt nicht unten damit an, sondern oben, bei denen, die jetzt die -Macht haben!“ - -Da stieß Karus einen Laut aus, halb Lachen, halb Grunzen. -„Bergprediger!“ rief er. „Bergprediger, das ist ein weiter Weg! So -weit, daß die Erde nicht mehr warm ist, bis er zu Ende gegangen ist. -Nein, da lob’ ich mir schon die Kürze des Eisens. Die soziale Frage -- -lösen? Hm, sie ist wie der gordische Knoten. Man löst ihn nicht, mit -dem Schwert muß man ihn zerhauen!“ - -Während er so sprach, ging er zum Schrank, nahm ein kurzes Handbeil -heraus und warf es auf den Tisch: „Da liegt der beste Helfer! Schau’n -Sie sich das Ding gut an. Es hat Tyrannenblut geleckt! Deshalb blinkt -und lacht’s auch so fröhlich. Hei, das war ein Fest! Freilich ihr -- -ihr habt Fischblut in den Adern und könnt euch nicht vorstellen, was -das heißt: ein Aufstand in Havanna. Damals war’s, daß der Gouverneur --- der Hund ließ unter die Rebellen schießen! -- mit dieser Hacke ein -Verhältnis einging. So ein richtiges treues Verhältnis, das nur der Tod -trennen kann. Hat er auch getan, schnell und sicher! -- Und seither -nehm’ ich das Hämmerchen überall mit hin. Vielleicht könnt’ ich’s noch -einmal brauchen. Gelt, du?“ - -Liebkosend strich er über die blanke Schneide. - -Hellwig hatte sich erhoben, tiefen Ernst im Antlitz. - -„Dessen rühmen Sie sich noch? Vielleicht wollen Sie gar prahlen mit dem -nutzlosen Blutvergießen? Das ist abscheulich roh!“ - -Nun kam Leben in Heinz. „Nutzlos, Fritz? Nutzlos? O ganz und gar nicht! -Sie sind ja reif für das große Sterben! Weil sie den Keim der Fäulnis -in sich tragen! Wir brauchen heile, gesunde Menschen, kampffrohe, -sieghafte! Und weil wir sie brauchen, müssen wir ihnen den Boden -bereiten und Platz schaffen durch den Untergang der Kranken! - -Wenn wir allen nur erst den Glauben eingeimpft hätten, den Glauben -an die selbsttätige Befreiung, an die Befreiung durch die Tat! Aber -solang sie sich nur immer gütlich tun an der Sonne der Erkenntnis, so -lang werden sie nicht an den lachenden Sturm glauben lernen, der die -Sonne überwindet. Die milde weiße Sonne ist gut für kleine Mädchen -und für Greise, wir aber wollen das Brausen des Sturms, den Kampf der -Wogen, das Entstehen neuer Länder und Meere aus dem Zusammenbruch der -alten. Ewiges Sonnenlicht trocknet das Gebein und dörrt das Blut in -den Adern, das Mark in den Knochen. Ewiges Müßiggehen mit Lobgesängen -des Friedens auf den Lippen und mit dem beginnenden Verfall im Herzen -macht ungeeignet zum Kämpfen. Wir aber sollen immer bereit sein zum -großen Kampf und die Kraft nicht zersplittern in kleinen Plänkeleien, -nutzlosen Scharmützeln um Tugend, Moral und um die toten und sterbenden -Götter! - -Viel zu lang haben wir Sonne gehabt, so sind wir faul und lässig -geworden. Fechten nur noch mit den spitzigen Dolchen der Worte und -den dünnen Stoßdegen des Geistes. Aber unsere Arme können das breite -Schlachtschwert nicht mehr heben. Und durch den steten Frieden sind wir -geworden wie ein stehendes Wasser ohne Zufluß und ohne Abfluß. Auf dem -unbewegten Spiegel blühn die weißen Wasserrosen, aber im schlammigen -Grund schlafen die Keime der Fäulnis. Und so die Keime aufwuchern, -werden wir sein wie ein großer Sumpf, ein Herd aller Krankheiten und -bösen Dünste. - -Darum wollen wir, die wir dies erkennen, wie gute Ärzte an der -Menschheit handeln: zum Heile der Gesunden wollen wir die Morschen und -Siechen, die Bresthaften und Verderbten ausrotten!“ - -„Und was dann?“ rief Hellwig außer sich. „Heinz, was dann? Wenn der -Aufruhr durch die Länder jagt, über Verwundete und Tote weg, wenn der -alte Gesellschaftsbau zerschmettert liegt -- was dann? Wie willst du es -besser machen? Was willst du an die Stelle des Zertrümmerten setzen? -Etwas Großes und Herrliches müßte es sein -- und könnte die Opfer doch -nicht aufwiegen!“ - -Und kalt und ruhig erwiderte Heinz: „Du fragst verfrüht, und darauf -kann ich dir nur antworten: Ich weiß es nicht!“ - -„O du! du! So weit bist du schon? -- Du weißt es nicht? Und willst -doch das Oberste zu unterst kehren, Thron und Reiche stürzen, willst, -daß das Chaos hereinbricht -- und dann -- dann stehst du da, ratlos, -tatlos, tappst umher, versuchst, experimentierst -- bis du endlich dem -betörten Volk gestehen mußt: Ich kann euch nichts Besseres geben! Frei -hab’ ich euch gemacht, nun helft euch, wie ihr könnt! Schöne Freiheit -das! Mit dem Blute Hunderttausender erkauft -- und weiß dann nichts mit -sich anzufangen! Arzt sein nennst du das? Ich nenne es morden!“ - -Mit einem Fluch sprang Karus da auf. In jähem Zorn wollte er auf -den Beleidiger los. Aber Heinz trat dazwischen und sagte mit -tiefklingender, bewegter Stimme, die Fritz in allen Fibern erschauern -machte: - -„Einen Golddom wollen wir der Freiheit aufführen, denn Nietzsche hat -recht: das Herz der Menschheit ist von Gold! Aber viel Schlacke hat -die Zeit daran abgesetzt. Die müssen wir erst lösen. Im Feuer der -Empörung, in der Glut des Aufruhrs wollen wir die Menschheit läutern, -alle Unreinheit muß verschwinden, nichts als das blanke Edelmetall -darf übrigbleiben. -- Und bist du einmal so weit, dann greif hinein -mit beiden Händen, knete, forme, bilde, baue -- mach’ es dann, wie du -willst: immer wird ein lauteres Goldwerk sein, was unter deinen Händen -ersteht! Darum ist es besser, alles, was krank ist, falle mit einem -Mal, als daß es sich fortschleppe von den Kindern zu den Kindeskindern -und zur ewigen Pein und Pestbeule werde für die Gesunden!“ - -Fritz stand da und hielt die geballten Fäuste vor, als wollte er diese -furchtbare Auffassung von sich stoßen. - -„Heinz!“ sagte er mühsam, unter starken Atemzügen. „Heinz, du willst -die Krankheit deiner Brüder heilen -- und bist selbst einer von den -Kränksten. Widersprich mir nur nicht, es ist so! Das ist ja doch auch -ein Zeichen der Krankheit, daß sie sich selbst nicht erkennt: so glaubt -der Schwindsüchtige bis zum letzten Hauch an seine Gesundheit. Wer denn -gibt dir ein Recht über die andern? Du kannst das Leben nicht schaffen --- so darfst du es auch nicht vernichten ...“ - -Karus unterbrach ihn mit gemachter Roheit: „Predigen Sie nicht, -Bergprediger, uns stimmen Sie nicht um! Und Sie werden selbst auch -anders reden, wenn Sie nur erst einmal Blut gesehen haben. An nichts -gewöhnt man sich schneller als ans Aderlassen. An das aktive, mein’ ich -nämlich! Versuchen Sie’s nur einmal!“ - -Da stürzte Hellwig auf Wart zu, der reglos beim Fenster saß, die Hände -vor dem Gesicht. „Heinz!“ rief er in heißer Wallung, und packte ihn an -den Schultern und rüttelte ihn. „Heinz, ich bitte dich -- um unserer -Freundschaft willen bitte ich dich, mach’ dich von dem da frei!“ - -Heinz rührte sich nicht. Eine ganze Weile stand Fritz noch bei ihm und -wartete. Dann wandte er sich traurig, schritt langsam aus der Stube, -mit feuchten Augen. - -„Der Friedensengel verläßt uns! Jetzt _muß_ Krieg werden!“ rief ihm -Karus lachend nach. - - -13. - -Im lachenden Sommer starb die Marie. Ein heftiger Blutsturz, ein kurzes -Krankenlager, ein allmähliches Auslöschen -- langsam, unerbittlich und -unabwendbar. Ganz klar war es ihr, daß sie sterben mußte. Lächelnd -sprach sie davon und tröstete lächelnd den Geliebten. Aber dann, als -die Stunde kam, da klammerte sie sich an ihn und krallte die Nägel in -seinen Rock, und in ihren Augen war Angst und Grauen und Verzweiflung. - -„So hilf mir doch, du!“ - -Aber er konnte ihr nicht helfen, er konnte sie nur halten und hielt sie -doch nicht fest, fühlte, während er ihren zitternden Körper mit beiden -Armen enger und enger umschloß, wie sie ihm entglitt und wie ihr Leben -wegfloß gleich einer Welle unter greifenden Kinderhänden. Und sein -Herz mochte noch so wild an ihre Brust pochen, das ihre fand den Takt -nicht mehr, und endlich stand es ganz still. Und stand gerade in dem -Augenblick still, als der Wille und Drang zum Leben in ihm am stärksten -wurde. Als er die Tote ganz dicht an sich preßte in dem ungestümen -Wunsch, daß seine ungebrochene Lebenskraft in den erkaltenden Leib -hinüberströme und für sie beide Arbeit tue. Aber Marie war tot. - -Nach zwei Tagen begrub er sie. Und als der Leichenwagen zum Friedhof -kam, -- im schnellen Trab, denn der Weg war weit, -- da erwarteten -ihn dort die Ausgestoßenen, die Enterbten, die Parias, viele, viele -hunderte zerlumpte und verkommene Gestalten. Und als der Sarg im -offenen Grabe stand, da schritten sie, die Ausgestoßenen, die -Enterbten, die Parias, einer hinter dem andern an der kühlen Grube -vorbei. Und jeder hatte eine Handvoll roter Alpenrosen mitgebracht -und warf sie in die kühle Grube. Der Sarg verschwand unter den -glühend freudigen Blüten, die Grube füllte sich -- und als der letzte -vorübergezogen, da lag die tote Marie unter einem leuchtenden Hügel -von roten flammenden Alpenrosen, die letzte Gabe der Berge, die die -Tote so sehr geliebt. Das war der Dank der Obdachlosen, der Bettler, -Lumpensammler und Kanalstrotter für das bißchen Liebe, die ihnen Heinz -Wart gezeigt. Und er wußte nicht, daß Karus ihnen die Idee eingegeben -hatte. -- - -Wenige Tage nach dem Begräbnis erhielt Fritz von dem Freund einen Brief: - -‚Ich gehe nach Rußland. Forsche nicht nach mir. Es muß so sein.‘ - -Nichts weiter stand auf dem Blatt. Aber Hellwig war für Wochen aus -allen Gleisen. - -Von Osten herüber glühten blutrot die Brände des Aufruhrs. Eine -Verfassung forderte das Volk, Freiheit und Glück -- oder das Grab. -Die Antwort war Pulver und Blei, waren Pferdehufe, Gewehrkolben und -Nagaiken. - -Und Heinz eilte mit Karus dorthin, Heinz, der unpraktische Schwärmer, -der stille Büchermensch, der weder schlaue Seitenwege gebrauchen -konnte noch geschickte Rückendeckung, und Fritz wußte, er ging in den -Tod. Nicht suchen wollte er den Tod. Denn mit der Marie war ihm ja -nicht alles gestorben. Die Liebe zu den Entrechteten und Zertretenen -war ihm geblieben und war jetzt nur desto heißer geworden. Nicht ans -Sterben dachte er. Mithelfen wollte er, mithelfen und mitstreiten, -allen Gefahren trotzend, in frommer Begeisterung dort mithelfen und -mitstreiten, wo ihm sein Ziel am hellsten und am nächsten leuchtete. - -Und Hellwig machte sich Vorwürfe, daß er den Freund nicht besser -behütet hatte. Wieder wollte eine böse Krisis über ihn kommen. Aber die -Ereignisse, die jetzt, lang vorbereitet, Schlag auf Schlag einander -folgten, rissen ihn mit in ihren wirbelnden Strudel und ließen ihm -vorerst keine Zeit zur Grübelei. - -Als jenseit der Nordostgrenzen des Reiches die Rebellion in vollem -Wüten war, da hielten die Sozialisten die Gelegenheit für günstig und -holten im Kampf für das allgemeine Wahlrecht zu wuchtigen Schlägen aus. - -Und da geschah es auch, daß die Teilnehmer einer Versammlung, in -der August Mark, ein stimmgewaltiger Agitator, die Masseninstinkte -aufgewühlt hatte, vor das Palais des Ministerpräsidenten ziehen und -demonstrieren wollten. Sicherheitswache zu Fuß und zu Pferd versperrte -ihnen den Weg. Hellwig, von dem Vorhaben der Menge telephonisch -benachrichtigt, eilte aus der nahen Schriftleitung rasch herbei. Es war -höchste Zeit. Schon waren die Säbel aus der Scheide geflogen, fielen -die flachen Klingen auf Köpfe, Schultern und Arme. Schreiend wichen die -vorderen Reihen, die rückwärtigen, weniger gefährdeten, drängten nach -vorn, ein dampfender Knäuel, stießen sie sich, johlten und brüllten. -Und schon auch hoben sich geballte Fäuste, schlugen Stöcke, prasselten -Steine gegen die Polizei. Da drehten sich die Klingen, aus den flachen -Hieben wurden scharfe, Schmerzensschreie gellten, Blutende wankten -gegen die Häuser, fielen aufs Pflaster hin. - -„Einhalten!“ rief Hellwig mit voller Lungenkraft und schob sich durch -das Getümmel. „Einhalten!“ - -Er packte den Arm eines berittenen Schutzmanns. Das Pferd wurde unruhig -und bäumte sich. Doch er hielt fest. „Nicht morden!“ preßte er zwischen -den Zähnen hervor. Seine Linke griff nach dem Bein des Reiters, im -Handumdrehen lag dieser zappelnd auf dem Boden. - -Da fielen aber auch schon drei -- sechs -- zehn Wachleute über Hellwig -her, griffen nach seinen Armen, zerrten ihn am Rock, stießen ihn von -allen Seiten. Und einer packte ihn im Genick und schrie: „Im Namen des -Gesetzes! Sie sind verhaftet!“ - -Als das die Leute hörten und als sie sahen, wie hart einem ihrer besten -Führer mitgespielt wurde, flammte die durch den kurzen Raufhandel -angefachte Leidenschaft turmhoch empor. Ein Wald von starren, im Sturm -zitternden Ruten, hoben sich Hunderte von Stöcken über die dunkle Masse -der Hüte und Schultern, ein kurzer wilder Aufschrei krachte gegen die -nachtdunkle Himmelskuppel. Dann war der Kordon durchbrochen, Brust an -Brust, Faust gegen Faust rangen sie mit den Hütern der Ordnung um ihr -vermeintliches Recht. - -Los und ledig stand Hellwig mitten im heißesten Gewühl. Und schämte -sich. Schämte sich, daß er sich hatte hinreißen lassen, daß er, der -gekommen war, die Menge zu beruhigen, ohne Überlegung selbst als der -tollste Stürmer losgebrochen war. Und eine Weile stand er ganz untätig, -mit schlaff hängenden Armen. Aber als ihm ein Verwegener frohlockend -entgegenrief: „Drauf! Drauf! Heut’ zwingen wir sie!“, da richtete er -sich straff auf. - -„Halt!“ schrie er, und seine Stimme war wie klingender Stahl. „Halt!“ - -Und als sie stutzten und einander zur Ruhe verwiesen in der Erwartung -einer Rede, da schob sich die Wache, durch Hilfstruppen verstärkt, -rasch in das Gewimmel. Die aufgeregte Menge wollte es nicht leiden -- -drängte abermals vor -- doch Hellwig rief mit beschwörend erhobenen -Händen: „Leute, ich bitt’ euch, bleibt besonnen! Zeigt, daß ihr ernste -Männer, daß ihr reif für das Wahlrecht seid! Geht ruhig nach Haus!“ - -Noch zögerten sie. Da stimmte er das Lied der Arbeit an. Und mit -einemmal wichen sie zurück und ihre Gesichter wurden ernst und -feierlich -- und einer nach dem andern stimmte ein, bis es aus tausend -Kehlen dröhnend klang: „Die Arbeit hoch!“ Und alle ihre erhitzte -Leidenschaft strömte aus in dem Lied -- und willig folgten sie, immer -singend, den Anordnungen der Wachleute, die langsam, Schritt für -Schritt vorrückend, die Straße absperrten. -- - -Ein paar Tage darauf wurde Hellwig vor den Untersuchungsrichter -geladen. Er war der Aufreizung und öffentlichen Gewalttätigkeit -angeklagt. Das Urteil lautete auf zehn Monate Kerker. - - -14. - -In St. Petersburg. Langsam fährt die Prunkkalesche des -Ministerpräsidenten durch die Straßen. Kosaken begleiten sie, bis an -die Zähne bewaffnet. In einer düsteren Seitengasse harren zwei Männer. -Der eine ist blaß und schlank, seidiges Schwarzhaar fällt ihm bis auf -die Schultern. Dem andern steht das blaue Hemd vor der Brust offen. - -Langsam rollt die Kutsche heran. - -Da hebt der im blauen Hemd den Arm. Ein länglicher Körper schwirrt -durch die Luft, schlägt auf dem Pflaster hart auf. Ein dumpfes Gekrach. -Rauchwolken. Schmerzensschreie. Tumult. Die Pferde bäumen sich, rasen -die leer gewordene Straße hinab. Sie ziehen keinen Wagen mehr. Die -Trümmer des Wagens sind in alle Winde verstreut. - -Ein Bombenattentat. Der Ministerpräsident ist tot. Viele seiner -Gehilfen liegen im Blut. Von den Tätern fehlt jede Spur. - - * * - * - -In Moskau. Der Chef der Polizei lustwandelt in seinem großen Garten. -Es ist ein schöner Tag. Die Bäume sind grün, die Vögel singen. Der -Polizeichef lächelt. Die Stadt ist ruhig, der Aufstand vorüber. Ein -paar Dutzend sind aufgeknüpft, ein paar Salven haben das Volk zur guten -Gesinnung zurückgebracht. Die Gefängnisse sind überfüllt. Aber die -Stadt ist ruhig. Der Polizeichef hat alle Ursache, zufrieden zu sein. - -Ein schlanker Mann in der Uniform eines Polizeileutnants kommt rasch -den Kiesweg herauf. Er ist blaß und hat langes schwarzes Haar. In -strammer Haltung steht er vor dem Gewaltigen, die Hand am Mützenschirm. - -„Was gibt’s?“ fragt dieser. - -„Das hier!“ - -Schnell fährt die Rechte zwischen die Knöpfe des Waffenrocks. Ein Schuß -verhallt im Park. Ein paar Vögel flattern erschreckt auf. Die andern -singen weiter. - -Der blasse Mensch verläßt ruhig den Garten. Niemand hält ihn auf. Er -kommt vom Rapport. - - * * - * - -In Odessa. Auf dem Dachboden eines Hauses kauert ein Mann in gespannter -Erwartung. Er ist von untersetzter Gestalt, hat einen verwilderten -Bart und tranige Stiefel. In der Rechten hält er ein doppelläufiges -Gewehr. Starr äugt er durch die Dachluke hinab in den Gefängnishof -jenseit der Straße, der von niedrigeren alten Gebäuden umschlossen ist. -Der Gefängnishof ist nicht leer. Ein Galgen ragt dort in die stille -Morgenluft. Der Henker macht die Schlinge zurecht. Es schlägt sechs -Uhr. Trommelwirbel grollt auf. Die Tür in den Hof öffnet sich. Der -Verurteilte wird herausgeführt. Er ist schlank und blaß, das Haar ist -abgeschoren, der Hals entblößt. - -Einen Augenblick arbeitet es heftig im Gesicht des Wartenden. Ein -kurzes Schluchzen erschüttert ihn. Aber er beißt die Zähne in die -Unterlippe, hebt die Flinte. Sein Arm zittert. Nur einige Sekunden. -Dann ist er ganz ruhig. - -Die erste Kugel bewahrt den Freund vor einem schimpflichen Tod. Die -zweite gilt dem Leiter der Hinrichtung. Auch sie geht nicht fehl. - -Unten entsteht eine Panik. „Man hat geschossen! Die Juden haben -geschossen!“ schreit einer. Und das ist das Signal zum Gemetzel. - -Wie losgelassene Bestien stürmen die Kosaken in die Häuser, erschlagen -die Männer, hauen die Kinder in Stücke, vergewaltigen die jungen -Judenweiber. Ein Pogrom. - -Der Mann auf dem Dachboden hat sich durch die Luke gezwängt, flieht -über mehrere Dächer, entkommt unbehelligt. - -Vor der Stadt, in einem Dickicht, sitzt er, hat das Gesicht in die -Hände vergraben, weint, stöhnt und winselt. Es ist Nacht geworden. Da -erhebt er sich und trottet mit tief hängendem Kopf durch die weiten, -öden Steppenflächen gegen Norden. Unter dem Lodenrock klirrt manchmal -ganz leise ein Beil gegen die Gürtelschnalle. - - -15. - -Im Gefängnis erfuhr Fritz den Tod seines Freundes Heinz Wart. Die -näheren Umstände blieben ihm unbekannt. Die wußten nur jene, die dabei -gewesen. Und die verrieten nichts. - -Trotzdem er das tragische Geschick des Freundes vorausgesehen, brachte -es ihn jetzt, da es sich erfüllt hatte, doch um allen Lebensmut. - -Zwischen den grauen Wänden der Kerkerzelle saß er reglos auf der -Pritsche, die Ellbogen auf die Schenkel gelegt, und starrte in den -schmutzigen Bretterboden. Schaben krochen ihm über die Füße, eine -Maus steckte den spitzigen Kopf aus ihrem Loch und piepte. Er achtete -nicht darauf, rührte sich nicht und hob auch nicht die Stirn, wenn -der Aufseher den Schieber vom vergitterten Guckloch zurückschob und -den schweigsamen Häftling mit kritischen Blicken beobachtete. Und in -den Nächten lag er schlaflos, stierte mit brennenden Augen in die -Finsternis, fühlte, wie die Einsamkeit ihn würgte. So trieb er es -wochenlang, ließ die Tage vorübergehen und zählte sie nicht, wußte -nicht die Stunden, die da neben ihm wegtropften, wußte nicht, ob die -Sonne schien, ob Regen fiel oder Schnee über der Erde lag und die -Zeit war wie eine große grenzenlose Wüste. Kolben kam und wollte -mit ihm sprechen. Er weigerte die Unterredung, antwortete auch dem -Kerkermeister nicht, aß kaum das Notwendigste, dachte an nichts und -empfand weder Schmerz noch Sehnsucht -- nur Leere, entsetzliche Leere. -So lebte er hin, und es war eigentlich nicht Leben, war nur ein -triebhaftes Hinvegetieren in einer halben Betäubung. - -Allmählich aber, im Wandern der Monate, unter dem Einwirken der Stille, -der klingenden Ruhe um ihn her, löste sich doch endlich die starre -Spannung. Die Stumpfheit wich. Unablässig bohrend, heftig und heftiger -setzte das quälende Gedenken wieder ein, daß der Freund gestorben und -daß dieses Sterben zwecklos gewesen sei. - -Wie konnte das möglich werden? Wo lag die Ursache dieser stets -wiederkehrenden Erscheinung, daß Tausende und Tausende immer aufs -neue ihr Leben in die Schanze schlagen mußten im unstillbaren Drang, -den Millionen zu helfen, die von wenigen Machthabern kaltblütig und -grausam niedergehalten wurden? Drüben in Rußland bluteten die Massen, -wurden von Soldatenhorden niedergeritten, gefoltert, zusammengehauen, -reihenweise erschossen. Hüben jubelten sie dem errungenen Wahlrecht -zu, priesen sich glücklich, jauchzten im Siegestaumel. Hier wie dort -hing die Erfüllung ihres Wunsches an einem Federzug des Herrschers. -Und der eine verweigerte ebenso kalt und starr, was der andere gütig -gewährte. Wo war das Recht? Nach welcher Formel konnte die Willkür des -einen gerechtfertigt und die Gnade des andern auf eine gesetzmäßige -Grundlage gebracht werden? Durfte es überhaupt Willkür und Gnade geben? -Wo war Sinn und Logik in diesem Widerstreit? Und wer trug die Schuld, -daß Männer wie Karus nicht nur möglich waren, sondern im Recht? Zum -mindesten so weit im Recht, daß sie so gut wie er und andere als -Bekämpfer einer Krankheit auftreten und _ihre_ Mittel als die einzig -sicheren rühmen konnten? Wo lag überhaupt der Herd dieser Krankheit? -Woher das Elend, die Armut, die ewige Unzufriedenheit? Und mußte denn -das immer und ewig so bleiben? - -Die Lehren Proudhons kamen ihm in den Sinn, die Versuche Robert Owens, -und trotz ihres Mißlingens glaubte er hier eine Spur zu finden. - -Wenn man den Kommunismus mit der bestehenden Ordnung verknüpfen könnte -... Etwa so, daß je ein Unternehmen allen dabei Beschäftigten gemeinsam -gehörte, die Gewinnanteile aber verschieden wären je nach dem Maß der -Arbeitsleistung ... - -Immer tiefer wühlte er sich in diese Gedanken hinein. Und je mehr er -grübelte, desto möglicher und erreichbarer schien ihm eine solche -Lösung. Heller wurde die Fernsicht, näher rückte das Ziel. Und endlich -stand es vor ihm, zum Greifen nah, in scharfer Klarheit. So mußte es -gehen. Und da überkam es ihn mit schöner Zuversicht: Sprich es aus, -sag’ es getrost aller Welt! Sie müssen dich hören. - -Ein wunderbares Kraftgefühl durchströmte ihn. Lebendig pochten alle -Pulse, alle Gedanken drängten sich und schossen zusammen wie Kristalle -in einer übersättigten Lösung. Und während Woche um Woche verrann, -Monat an Monat sich reihte, arbeitete in der kahlen Kerkerzelle rastlos -sein Geist, trug Block zu Block und Stein zu Stein. Lückenlos fügte -sich alles, wurde groß und wuchs empor zu einem gewaltigen Bau, der ein -Totenmal werden sollte für den Freund und eine Vorhalle zum künftigen -Tempel der neuen Werte. - - - - -Viertes Buch - - -1. - -Während Hellwig im Gefängnis saß, war das allgemeine Wahlrecht Gesetz -geworden. Otto Pichler erntete wiederum, wo Fritz die Aussaat besorgt -hatte. Er wurde im Wahlbezirk der Bergleute zum Abgeordneten gewählt. -Mühelos wie alles war ihm auch das geglückt. Trotzdem er bisher -weder in einer ernsten Lage sich bewährt, noch auf besondere Erfolge -hinzuweisen hatte, vertrauten sie ihm, da sie sich daran gewöhnt -hatten, dem Nachfolger als Verdienst anzurechnen, was der Vorgänger -erkämpfte: den ruhigen Verlauf der Zeit in Zufriedenheit und Ordnung -bei reichlicherem Erwerb und kürzerer Arbeitsdauer. - -So kam Otto in die Hauptstadt, hielt eine Jungfernrede voll -geistreicher Wendungen und glänzender Nichtigkeiten, sprach dann noch -ein paarmal bei wichtigen Anlässen und befragte die Minister, so oft -es seine Wähler verlangten. Damit glaubte er fürs erste genug getan -zu haben und machte sich nun daran, das Leben auch einmal mit einem -Geldbeutel zu genießen, den die Bezüge angenehm schwellten. - -Bei den Kabaretten und Wintergärten fing er an, gewann hier Fühlung -mit Kunstbeflissenen, die dekadent und kraftlos ihre Ohnmacht hinter -Stimmungen zu verbergen und ihre Unfruchtbarkeit durch Anregungen -zu heilen suchten. Diese Leute benutzte er, um sich Zutritt zu den -Firnistagen der Ausstellungen zu verschaffen, schloß hier neue -Bekanntschaften, knüpfte die mannigfaltigsten Beziehungen an und war -bald in die Gesellschaft eingeführt. Zwar hütete er sich noch, mit -Großkapitalisten und Geldmännern öffentlich zu verkehren. Aber als er -Deming im Theater traf, verbeugte er sich doch vor ihm und hatte die -Genugtuung, daß der kaiserliche Rat, der mit seiner Tochter den Winter -in der Hauptstadt zubrachte, ihn wie einen Bekannten begrüßte und sich -leutselig nach seiner dermaligen Tätigkeit erkundigte. - -Ein paar Tage später erhielt er die Einladung zum Empfangsabend des -Direktors. Er schwankte lang, ob er hingehen sollte. Endlich tat er es -doch. Gretes junge Schönheit lockte zu stark. - -Der gewichtige Mann kam ihm freundlich entgegen, klopfte ihn -wohlwollend auf die Achsel und sagte, daß es ihn sehr freue, den Doktor -Pichler, dessen glänzend und geistvoll geschriebene Abhandlungen er -stets mit Vergnügen lese, bei sich begrüßen zu können. Der Doktor gelte -zwar für einen Freigeist und Feind der bürgerlichen Gesellschaft, aber -das tue gar nichts. Denn in seinem Hause komme es nur auf den Menschen -an, nicht auf die Gesinnung. - -Otto verneigte sich geschmeichelt und wurde den Gästen vorgestellt: -Exzellenzen, Baronen, reichen Kaufherren. Er, Doktor Otto Pichler, kam -sich ordentlich klein vor neben so viel Geld und Titel und Würden. - -Und Grete, die in ihrem weißen Seidenkleid wie ein schöner Sommertag -leuchtete, war voller Huld und Gnade. Er durfte sie zu Tisch führen, -eine Auszeichnung, um die ihn viele beneideten und die sogar er, Doktor -Otto Pichler, Feuilletonist, Schriftleiter und Abgeordneter, sogar er -sich nicht recht erklären konnte. Woher auch hätte er wissen sollen, -daß es im Kampfe gegen die Demokraten der geheime Feldzugsplan Demings -war, ihnen die besten und fähigsten Führer zu ködern und abspenstig zu -machen? - -Grete verstand zu plaudern. Sie hatte alles gelesen, alles gesehen, -was gerade Mode war, sprach mit der größten Sicherheit darüber, -und ihr Tischnachbar war der letzte, der ihr die oberflächliche -Dreistigkeit übelnahm, mit der sie über die verwickeltsten Probleme, -die schwierigsten Fragen und über die besten Männer der Zeit ihr -Urteil abgab. Er tat’s ja auch nicht anders. An jenem Abend aber kam -er gar nicht dazu, das volle Feuerwerk seines beweglichen Geistes -sprühen zu lassen. Die vornehm gedämpfte Üppigkeit der Umgebung, das -ausgesucht feine Essen, die erlesenen Weine und echten Importzigarren, -das Schimmern entblößter Schultern und milchweißer Nacken im hellsten -Lichterglanz: das alles war ihm ungewohnt, in ein schönes Zauberland -glaubte er hineinzuschauen, nur wie aus weiter Ferne drang das -Schwirren der Unterhaltung an sein Ohr. Und es wurde ihm, als glitten -unsichtbare weiche weiße Frauenhände über die zartesten Saiten seiner -Seele und ließen sie erklingen in sinnverwirrender, unsäglich süßer -Musik. - -Und als er spät nachts seiner Wohnung zuschritt, da war etwas wie -Neid in ihm. Neid gegen jene, die der Sorgen um des Lebens Notdurft -überhoben, nach Lust und Laune ihrer Neigungen leben und die Erde zum -Paradies sich wandeln konnten. - -Seither verkehrte er oft bei Deming. Aber er erzählte seinen -Parteigenossen nichts davon. - - -2. - -Es war in den letzten Tagen des Mai, als Hellwig aus der Strafanstalt -in die Hauptstadt zurückkehrte. Dort hielt er sich jedoch nur gerade -so lang auf, als er benötigte, um den Rucksack zu packen und sich einen -einjährigen Urlaub zu erwirken. Innerhalb dieser Zeit hoffte er mit -seinem Werke fertig zu werden. Über Plan, Aufbau und Einteilung war -er sich klar, brauchte nun für die Ausführung ganz freie Bahn. Seine -Ersparnisse ermöglichten ihm die Unterbrechung. - -Als er dann noch die Wohnung gekündigt und seine Habseligkeiten -nach Neuberg vorausgesendet hatte, machte er sich ungesäumt auf die -Wanderung. Er wollte den Weg in die Heimat zu Fuß zurücklegen. Denn -wie ein Rausch hatte es ihn angepackt, als er nach der langen Haft -wieder Felder erblickte, grüne Fluren, Wälder, Berge, die runde hohe -Himmelsglocke über der blumigen Erde. - -Auf einsamen Steigen und Fußwegen ging er, ging über die Kämme und -durch die engen Gebirgstäler Oberösterreichs zum Böhmerwald hinüber und -durch die düsteren, waldreichen Gebirgsmassen nordwärts, ließ sich die -Sonne ins Gesicht scheinen, den Wind um die Ohren blasen, vom Regen die -Stirn kühlen und ging nur immerzu, atmete, schaute und drängte sich -an die Brust der Erde wie ein hungriges Kind. Selten nur machte er in -einem Wirtshaus Rast, übernachtete oft im Freien. Bei schlechtem Wetter -bat er in Dörfern oder Einschichten um Unterkunft, mit den Bauern -teilte er Roggenbrot und Milch. - -Zehn Tage wanderte er so durch den werdenden Sommer. Seine Wangen -wurden rot, sein Gesicht vom Wetter gebräunt. Der Stickluft des Kerkers -entronnen, dehnten sich die Lungen, badete sich der Körper in dem -herben Ozon, wurde leicht und frisch und aller Mühsal ledig, wie ein -junger Krieger, der sich zu frohem Kampfe rüstet. - -Und am elften Tag, da schritt er mit dem erwachenden Morgen seiner -Vaterstadt zu. Die Sonnenpfeile hatten Wunden geöffnet im Leib der -Nacht, und sie verblutete langsam. Langsam stieg die Sonne herauf, -und über den Hügeln war ein Leuchten wie rotes Gold. Der Morgenwind -hatte schon ausgeschlafen, weckte die Waldsänger und läutete mit allen -Blütenglocken. Tautropfen hingen an den Blättern, die Lerchen flogen -jubelnd der Sonne entgegen, und eine große Frische war überall. Und die -Sonne stieg höher und höher. - -Mit einem wilden Schrei breitete er beide Arme aus, weit, weit -- - -Vor ihm, tief unten im Tal, lag seine Vaterstadt. Der schlanke -Kirchturm mit dem eisernen Kreuz, die roten Ziegeldächer, in grüne -Gärten eingebettet, von runden Obstbäumen bewacht, umdrängt von gelben -Ährenfeldern, die dem Herbst entgegenreiften an der treuen Mutterbrust. -Zwischen Weiden und Erlen schlang der Fluß sein stahlglänzendes Band -durch die Wiesen und unter Mühlenrädern fort. Und die Mühlenräder -drehten sich und rollten, und von ihren Schaufeln fiel ein funkelnder -Regen von Edelsteinen. - -Unter dem breit schattenden Blätterdach der hohen Linde, die, ein -Wahrzeichen seit Jahrhunderten, auf dem Hügel stand, ruhte der -Heimgekehrte und blickte in das leuchtende Tal hinab, wo tausend -Erinnerungen mit frohen Augen ihm entgegen schauten, mit weißen -Kinderhänden winkten, die Arme verlangend nach ihm streckten. Und seine -Jugend kam leise zu ihm her, legte das blonde Haupt in seinen Schoß und -lächelte ihm zu. Und ruhiger schlug ihm das aufgeregte Herz, sachter -wurde die Freude. Eine sanfte Wehmut klang hinein, unbestimmt, fernher, -wie ein weicher Mollakkord. Und ein wunschlos träumendes Gefühl des -Geborgenseins umfaßte ganz warm seine Seele, und sie ruhte darin und -bebte wie ein aus dem Nest gefallener Vogel zwischen zwei helfenden -Menschenhänden. - -Lang saß er so mit gelösten Gliedern und schaute und konnte sich -nicht satt sehen an der ruhevollen Schönheit seiner Heimat. Über dem -blühenden Wipfel hing der Himmel hell und unbewegt wie ein seidenes -Fahnentuch und leise summten die Bienen ihr süßes Lied. - -Und nach den starken Fußmärschen der letzten Tage, dem kurzen Schlaf -auf unbequemen Lagern, den Aufregungen der Stunde forderte der Körper -sein Recht. Wohliges Ermatten wiegte ihn ein, die Lider wurden ihm -schwer. Er streckte sich lang aus im leicht bewegten Gras, sah durch -das helle Wipfelgrün in den blauen Himmel hinein und ließ sich -willenlos hinübertragen in das uferlose Meer der Träume. - -Ihm träumte: - -Er ging mit Heinz durch einen großen Wald. Der war ausgetrocknet -vom Sonnenbrand, und die Zittergräser auf seinem Grunde waren fahl -und dürr. Aber die Vögel sangen in seinen Kronen, und unter den -Zittergräsern blühten die Blumen. Eine große Schönheit war in diesem -Walde, die sonnenheiße Schönheit des reifen Sommers. - -Und Heinz sprach: „Wie groß muß erst deine Schönheit sein, du warmer -Wald, wenn alle Flammen, die in deinen Stämmen und Gräsern schlummern, -mit eins erwachen und emporschlagen in lohender Glut. Wohlan, du warmer -Wald! Ich will deine Flammen wecken! Ich will dein Herold sein, dein -Befreier und Erlöser!“ - -Und sie trugen Äste zusammen und dürre Reiser. - -Die zündeten sie an. - -Bläulich fahl leuchteten Flämmchen auf mit leisem Knistern, -verschwanden wieder, tauchten abermals auf, größer, lauter knatternd. - -Und weiter und weiter liefen die Flammen. - -Und jetzt, wie ein goldrotes Eichhörnchen, sprang ein Flämmlein hinan -am honigfarbenen Kiefernstamm. - -Und da, und dort -- lauter goldrote Eichhörnchen. - -Die wuchsen und wuchsen, wurden zu gelben, fauchenden Katzen, samtroten -grollenden Leoparden -- und jetzt waren es riesige, goldhelle Löwen. - -Und die riesigen Löwen begannen ein Ringen und Balgen, zerfleischten, -verschlangen einander in rasender Wut. Und die Sieger wurden größer und -größer. - -Und ein Sausen kam von fern, dumpf und hohl, wie nahender Sturm. - -Und ein Sturm brach herein und peitschte die Flammen mit heulender -Wucht. Vor, hinter, neben ihnen lohten sie, stiegen sie, schlugen mit -gierigen Pranken zum Himmel, verrankten und verwoben sich zu glühenden -Wänden, wehten wie leuchtende Flaggentücher, vereinigten sich, himmelan -steigend, hoch, hoch oben zu einer einzigen Kuppel von blendendem -Glanz. Und eine kochende Hitze war überall. - -Sie aber, die beiden schwachen Menschenkinder, standen in diesem weiten -Feuerdom, standen darin und fürchteten sich. Fürchteten sich vor der -entfesselten Schönheit des Waldes, die sie selbst geweckt hatten. -Wollten fliehen und fanden keinen Ausweg. - -Enger drängten die Flammenwände herzu, tiefer sank die gewaltige Kuppel. - -Und jetzt schlug’s zusammen mit Heulen und Sausen. - -Ein Prasseln, Krachen, Brüllen und Funkenstieben. - -Und eine Stimme scholl durch das Getöse wie hohnlachender Donner: - -„Lernt eure Leidenschaften zügeln und euer Wollen! Euer Wollen war groß --- seht zu, ob ihr auch tragen könnt, was ihr gewollt habt!“ - -Und die Flammen brachen nieder und begruben sie unter ihrem heißen -goldenen Mantel. -- -- -- - -Fritz erwachte verstört und erschreckt. - -Die Sonne stand im Mittag, vor ihm lagen die roten Giebeldächer, und -leise summten im blühenden Lindenwipfel die Bienen immerzu ihr süßes -Lied. - -Aber aus der Landschaft war aller Glanz genommen. Die Freude war tot, -die Erinnerungen winkten und die Jugend lächelte nicht mehr. - -Traurig und schwer wurde ihm ums Herz. Und doch war eigentlich nicht -der Traum daran schuld, sondern der wieder aufgeweckte Gedanke, daß er -nun bald der Mutter des toten Freundes werde gegenübertreten müssen. -Er dachte an jenen Abend, da sie mit rauschenden Gewändern im Regen -neben ihm hergegangen war und dem kranken Kinde einen starken Freund zu -werben geglaubt hatte. Alles hatte sie von dieser Freundschaft erhofft --- und war nun um alles gekommen. - -Und das Haus dort unten stand unverändert da und deckte mit seinen -steinernen Mauern gleichmütig das Leid wie einst die Fröhlichkeit zu. - -Noch kein Gang war ihm so schwer geworden. Aber er mußte gegangen -werden. Langsam stand er auf, schritt langsam über die Lehne ins Tal. - -Jetzt stand er vor dem alten Haus, trat ein und wunderte sich, daß der -Flur so geräumig und still, der Hof so öde war. Kein Pferdegewieher, -kein Aufladerlärm. Nur ein paar Kisten lagen einsam, wie vergessen da. - -Mit geschnürtem Atem stieg er die Treppe empor, fand die Tür zum -Vorzimmer offen, ging hinein. Er nahm den Rucksack vom Rücken, hing -Hut und Wanderstecken an den Kleiderständer, klopfte an die Tür der -Wohnstube. - -„Herein!“ sagte eine weiche Stimme. Eva stand vor ihm, schlank und -blaß, in schwarzen Gewändern. - -„Fritz!“ sprach sie leise, kam auf ihn zu und legte ihm die Arme um den -Hals. „Wie gut, daß du kommst!“ - -Wie etwas Selbstverständliches tat sie das, -- so, als setzte sie nur -ein begonnenes Träumen fort. - -Unsicher schaute er auf den blonden Scheitel und wagte kaum zu atmen. - -„Ist das wahr?“ fragte er endlich schwer. - -Da schrak sie auf, ward sich ihres Tuns erst bewußt. Heftig nahm sie -die Arme von seinem Nacken. - -Doch er hielt sie fest. - -„Nein, Eva, du gehörst schon hierher!“ sagte er mit tiefem Ernst. Und -das war wie ein Gelöbnis. - -Sie wehrte ihm nicht. - -„Ich hab’ dich ja schon lange so lieb!“ stammelte sie wie zur -Entschuldigung und schmiegte sich erschauernd fest an ihn. - -Da nahm er ihren Kopf zwischen seine beiden Hände, schaute ihr in die -feuchten Augen. - -„Dank! Dank! Nun wird sich’s leichter tragen.“ - -Dann war lange Schweigen. - -Endlich richtete er sich mit einem Ruck straff auf. Sein Blick -verdüsterte sich. - -„Komm zur Mutter!“ sagte er. - -Sie blickte ihn ängstlich an und fürchtete sich beinah vor seiner -finsteren Stirn. - -„Komm!“ Sie führte ihn die Treppe hinauf zum Dachzimmer. - -„Willst du mich nicht anmelden?“ - -„Wozu? Mutter weiß, daß du kommen wirst, erwartet dich schon seit -Tagen.“ - -Da legte er die Hand auf die Klinke und stieß die Tür auf. - -Frau Hedwig saß beim Schreibtisch ihres toten Sohnes, mit dem Sichten -von Briefen und Papieren beschäftigt. Auf ihren Haaren lag ein Schimmer -wie von grauer Asche, und in das gütige Antlitz war ein müder Zug -gekommen. - -Eva schob sich an Fritz vorüber rasch ins Zimmer. - -„Er ist da!“ sagte sie und schaute die Mutter mit bittenden Augen an. -Die hatte sich schon erhoben, ging auf ihn zu: „Willkommen.“ - -Sie hielt ihm die Hand hin. Er aber nahm sie nicht. - -„Ich komm’ allein!“ murmelte er mit aufeinanderliegenden Zähnen. - -Da legte sie ihm mit einem warmen Blick die verschmähte Rechte auf den -Arm: „Machen Sie es sich und uns doch nicht gar so schwer!“ - -„Nicht so gut sein ...“ Das klang rauh, wie ersticktes Schluchzen. - -„Fritz!“ sprach nun die Frau herzlich und war ganz nahe bei ihm. „Das -dürfen Sie nicht glauben, Fritz. Nein, das nicht ... Unser Heinz, der --- hat wohl so sterben müssen. Hat sich für seinen Glauben geopfert -und über den Tod mehr gefreut als je im Leben. Drum -- es wird wohl -das beste Gedenken für ihn sein, wenn wir ihn so verstehen und auf -niemanden einen Stein werfen. Auch auf uns selbst nicht, Fritz! Keiner -hat schuld an seinem Tod -- nicht einmal er selbst. Er hat nur -- -das allerbeste Glück kennenlernen wollen -- und gern ein Leben dafür -weggeworfen, das sich anders nicht mehr hat erfüllen können ...“ - -Ihre Stimme zitterte, aber um den Mund lag etwas wie der Abglanz eines -mutigen Lächelns. Und wieder hatte sie den rechten Weg zum Herzen des -schwerblütigen Menschen gefunden. - -„Es wird schon so sein, Frau Wart,“ sprach er klanglos vor sich hin -und stand noch wie geistesabwesend da. Dann aber, im Überquellen -einer starken Empfindung, haschte er nach ihren Händen. „Meine zweite -Mutter!“ sagte er ganz leise, ganz innig. - -Sie verstand ihn gleich. - -„Ja, Fritz, Ihre zweite Mutter. Und Sie -- mein anderer Heinz. So -wird’s wohl recht sein.“ - -Und sie zog sein Gesicht zu sich nieder und küßte ihn auf die Wange. -Dann wandte sie sich an ihre Tochter: „Nun, Ev? Was sagst du zu deinem -neuen Bruder? Bist du’s zufrieden?“ - -Die aber schüttelte den Kopf. - -„Nicht?“ fragte die Mutter. „Und doch glänzen dir die Augen so stark?“ - -Verwirrt kehrte sich die Schlanke ab, drehte angelegentlich den -Fensterriegel hin und her. Sie merkte nicht, daß Fritz hinter sie trat. -Erst da er den Arm um sie legte, zuckte sie zusammen, ließ ihn jedoch -stumm gewähren. - -Als sie sich umwandten, sahen sie, daß sie allein waren. Frau Wart -hatte leise das Zimmer verlassen. - -„Wo ist die Mutter?“ fragte Eva fast erschrocken. - -Fritz sagte nichts darauf. Seine Augen leuchteten und in seinem -Gesicht war etwas von der frommen Andacht gläubiger Beter. - -Als ein Bettler hatte er das Haus betreten und war überreich geworden. -Und die Erinnerung an den Freund hatte allen Schrecken verloren. - -In heißer Ergriffenheit zog er seine schöne Braut an sich und küßte sie -zum erstenmal auf den Mund. - - -3. - -Fritz mußte lang suchen, bis er in Neuberg eine Wohnung auftrieb. -Niemand wollte ihm ein Zimmer vermieten. Seit er im Kerker gesessen, -war er wieder ein räudiger Wolf geworden. Professor Hermann stellte -nicht mehr voll Genugtuung fest, daß Fritz Hellwig sein Schüler -gewesen sei. Er behauptete jetzt im Gegenteil, daß solch ein Ende mit -Schrecken ja vorauszusehen war, denn dieser Hellwig habe schon als -Junge keine Achtung vor der Autorität gehabt. „Und keinen Glauben!“ -fügte Pater Romanus hinzu und nickte schwermütig mit dem Kopf. Und das -war der zweite Grund, weshalb sie ihn mieden. Weil er kein Klerikaler -war. Denn die Klerikalen waren in Neuberg zahlreich geworden wie -die Grundeln im Teich. Zwar nannten sie sich christlich-sozial oder -katholisch-national, aber das war nur ein anderer Name für dieselbe -Sache. Das war so gekommen, weil die freisinnige Bürgerschaft in -viele kleine Gruppen, von denen jede die deutscheste sein wollte, -zersplittert war und im Streite um des Kaisers Bart begriffen, dem -straff organisierten schwarzen Gegner eine wichtige Stellung um die -andere fast kampflos überließ. Noch gab es ja einige wackere Männer, -denen alles, was nur von weitem nach Papismus und Pfaffentum roch, in -der Seele zuwider war, aber die mußten bei der allgemeinen Zwietracht -für sich stehen und waren, wenn auch nicht auf den Hund, so doch auf -den Galgenhumor gekommen, derart, daß sie den verhaßten Schwarzen -jeden Schabernack antaten und mit Schnurrpfeifereien, Schelmenstücken -und Schalksnarrenstreichen kämpften, wenn es schon nicht anders ging. -Zu diesen Männern gehörte auch der Flickschuster Peter Kofend. Der -hatte schon viel auf dem Gewissen. Bereits dreimal war er bei der -Firmung gewesen und hatte jedesmal, noch nicht trocken vom Salböl, -das Firmgeschenk versoffen. Und bei der letzten Firmung, da hatte -er gar zuvor noch die Böller vernagelt, so daß der hochwürdige Herr -Weihbischof ohne Freudenschüsse in Neuberg seinen Einzug hatte halten -müssen. Und was das Lächerlichste war, er hatte einmal im Wirtshaus mit -dem frommen, gebrechlichen alten Sattlermeister Adam Jahn gewettet: -er, der Kofendschuster, werde trotz seiner zappeligen Munterkeit -früher ins Gras beißen als der Jahnsattler mit seinem Asthma. Und als -Einsatz stellte er das Leichenbier: Wer den andern überlebte, sollte -nach dem Begräbnis den üblichen Trunk für die Trauergäste zahlen. Und -der fromme, gebrechliche alte Jahnsattler, der vom vielen Beten eine -Hornhaut auf den Knien hatte, kam durch diesen Vorschlag in eine arge -Not. Denn er war nicht nur fromm, er war auch sparsam. Und er dachte -sich: Ich bin zehn Jahre älter als der Peter, ich bin kränklich, -ich bin fromm, der liebe Herrgott wird mir verzeihen, wenn ich das -Leichenbier sparen und der Kirche mehr vermachen kann. Vielleicht hilft -er mir sogar, der liebe Herrgott, daß ich dem Peter zum Trotz gewinne. -Und er nahm die Wette an und sie wetteten um das Leichenbier, jeder, -daß er früher sterben werde als der andere. Und während der Jahnsattler -seither noch gebrechlicher wurde, eine noch dickere Hornhaut auf den -Knien bekam und sichtlich einging, war der Peter verrucht genug, die -Geschichte in der ganzen Stadt zu erzählen. Und die ganze Stadt, mit -wenigen Ausnahmen, bedauerte den frommen, gebrechlichen alten Adam und -entrüstete sich über den gottlosen Peter. Und die ganze Stadt, mit noch -weniger Ausnahmen, entrüstete sich auch über Hellwig, daß er bei dem -gottlosen Peter wohnen wollte. Und die ganze Stadt, mit den wenigsten -Ausnahmen, entrüstete sich noch mehr über den Kofendpeter, daß er -einem abgestraften Sozialistenführer Unterstand gab. Der Kaufmann Wart -gehörte zu den Ausnahmen. Darüber wunderte sich niemand. Von dem Vater -eines Hingerichteten konnte man nichts anderes erwarten. - -Der Kaufmann war nicht mehr der behaglich polternde, vergnügte Mensch -von ehedem. Etwas Scheues und Gedrücktes war in sein Wesen gekommen, -machte sich auch äußerlich geltend durch einen schleppenden Gang mit -vorgebeugten Schultern und gesenkter Stirn. Schwere Jahre waren über -ihn weggerollt, das merkte man. Gleich nach dem Begräbnis Doktor -Kreuzingers hatte es angefangen. Da hatte die Wühlerei eingesetzt: -Pflicht jedes Christen sei es, den Kaufladen eines Menschen zu meiden, -der nicht einmal für seine Toten den Priester begehrte. Und viele -Kunden waren ausgeblieben. Dann kam, durch Vermittelung des Konsulats -in Odessa, die Nachricht, daß Heinz Wart am Galgen geendet. Des -Zwischenfalls bei der Hinrichtung wurde keine Erwähnung getan. Das -blieb kein Geheimnis, sprach sich rasch in der ganzen Gegend herum, -brachte die Familie in Acht und Bann. Wer in Neuberg und Umgegend -nur halbwegs etwas auf sich hielt, mied jegliche Berührung mit den -Angehörigen eines Gehängten. Der Kaufhandel ging immer schwächer. -Ungeduldig stampften die müßigen Rosse in den Ställen, bis sie verkauft -wurden. Die Auflader mußten bis auf einen entlassen werden. Im Kontor -ruhten alle Federn. Das alte Geschäft stand vor dem Verfall. - -Der emsige, an fortwährende Arbeit gewöhnte Wart empfand den Müßiggang -fast wie körperlichen Schmerz. Er alterte sichtlich dabei. Es waren -nicht Geldsorgen, die ihn drückten. Auch ohne den Kaufhandel waren -seine Einkünfte weit größer als die Ausgaben für den Haushalt. Und doch -schützte er immer den schlechten Geschäftsgang vor, wenn Frau Hedwig, -um ihn zur Aussprache zu bringen, vorsichtig nach dem Grund seines -veränderten Gehabens forschte. Er wußte, daß sie ihm die Ausrede nicht -glaubte. Aber er vermochte nicht von seinem Sohn zu sprechen. Seit er -die furchtbare Botschaft erhalten, war dessen Name nicht über seine -Lippen gekommen. Damals hatte er auch seine sämtlichen Ehrenämter -niedergelegt und sich von allen Bekannten zurückgezogen. - -Auf Hellwigs Werbung hatte er nur die bittere Antwort: „Recht so! -Nehmt mir nur auch das letzte noch weg!“ und ging schwerfällig in sein -Schreibzimmer, wo er sich einschloß. - -Später kam er mit keinem Wort darauf zurück, sagte auch nichts, als er -die Vorbereitungen zur Aussteuer gewahrte. Und nur einmal, als sich -Heinzens Todestag zum zweitenmal jährte, meinte er, bevor er sich -schlafen legte, traurig zu seiner Frau: „Schön sind wir dran, Mutter, -auf unsere alten Tage. Der eine ...“ -- er verschluckte das häßliche -Wort -- „die andere -- heiratet einen, der auch schon eingesperrt war. -Wer weiß, was noch kommt. Er ist ja von der gleichen Sorte!“ - -Und als Frau Hedwig mit gefalteten Händen vor ihn hintrat: „Sei doch -nicht so verzweifelt, Nikl!“, wehrte er ab: „Laß gut sein, Mutter, red’ -nichts. Es wird nicht anders durchs Reden!“ Dann zog er sich die Decke -über das Gesicht hinauf und tat, als ob er schliefe. Aber die Gattin, -die auch schlaflos lag, hörte sein unterdrücktes Stöhnen, das in Pausen -immer wiederkehrte, bis zum grauenden Morgen. - - -4. - -Hellwig arbeitete an seinem Buche und die ganze Fron des Schaffenden -lernte er kennen. Spürte am eigenen Leib, wie schwer so ein Werk auf -seinem Schöpfer lastet, wie es ihn nie zu Atem kommen läßt, vorwärts -peitscht und auch in den Stunden notwendigster Rast gefangen hält und -quält und nicht frei gibt, bis es irgendeinem Ende zugeführt ist. -Selbst die kargen Augenblicke, die er sich für seine Braut abrang, -kamen ihm wie ein Raub vor, und er konnte ihrer nie ganz froh werden. -Immer war ihm, als versäumte er etwas, das notwendig getan werden -mußte, das auf ihn wartete, nach ihm schrie und ihn mit tausend Ketten -zog. Zerstreut und fahrig war er und früher, als er gewollt, brach er -dann gewöhnlich auf. Manchmal bäumte er sich gegen diese Fron, wollte -sie abschütteln und trug sie doch auch wieder gern. - -Es war ein merkwürdiger Brautstand. Doch Eva war damit zufrieden. Sie -verlangte keine Zärtlichkeiten. Was ihm recht war, war auch ihr recht, -und nur ihn ganz verstehen wollte sie lernen und sein Leben ganz von -tief auf mitleben wollte sie. - -So störte sie ihn nicht. Aber mit dem Werk ging es doch nicht richtig -vorwärts. Das müde Wesen des Kaufmanns wirkte auf Fritz wie ein -beständiger Vorwurf. Er fühlte, daß das nicht so bleiben durfte. Gerade -hier mußte volle Klarheit herrschen. Doch die wollte nicht kommen. Der -Kaufmann ging jedem Alleinsein mit seinem zukünftigen Schwiegersohne -hartnäckig aus dem Weg. Aber endlich mußte er ihm doch Rede stehen. - -Draußen vor der Stadt in den Feldern war es. Hellwig hatte während -einer langen Wanderung den weiteren Aufbau seines Buches überdacht und -ging arbeitslustiger, als er es seit Tagen gewesen, heim. Da sah er vor -sich die untersetzte Gestalt Wart Nikls auftauchen, der einsam seinen -Abendspaziergang abtat. Fritz schritt rascher aus, holte ihn ein und -erhielt auf seinen kurzen Gruß noch kürzeren Dank. Da sagte er ohne -weitere Einleitung: „Warum weichen Sie mir aus, Herr Wart?“ - -„Lassen Sie das!“ antwortete der Kaufmann schroff. - -„Nein, so kann es nicht bleiben, Herr Wart, einmal muß es gesagt -werden: Geben Sie mir mit schuld, daß Heinz gestorben ist?“ - -„Lassen Sie das!“ Das klang zornig und klang drohend. Aber Fritz gab -nicht nach. - -„Seien Sie offen!“ bat er. „Was nützt das Versteckspielen? Nur daß alle -darunter leiden.“ - -Ganz ruhig war es rundum. Manchmal nur raschelte es in den Zweigen der -Bäume, fiel ein überreifer Apfel zu Boden. Dann war es wieder still, -und lautlos webte die Dämmerung am dunklen Mantel der Nacht. - -Der Kaufmann atmete ein paarmal tief auf. Dann sagte er: „Im Anfang, -Fritz, im Anfang, da ist’s schon so gewesen. Man sucht halt immer nach -einem Verführer, wenn einem ein Liebes Schande macht. Später aber, nach -dem Ärgsten ... da hab’ ich mir gedacht, man kann eine Kugel nicht -aufhalten, wenn sie aus dem Rohr ist. Es wird wohl auch so gewesen -sein. Wie blind ist er hineingerannt ... Ich tät Ihnen mein Mädel nicht -geben, wenn ich anderer Meinung wäre. Ich hab’ nur die eine ... Das -wird wohl genügen?“ fügte er noch hinzu, in einem Ton, der deutlich -erkennen ließ, daß er die Fortsetzung des Gesprächs nicht wünschte. - -Fritz schüttelte den Kopf. „Nein, Herr Wart, es genügt noch nicht, so -sehr ich Ihnen dafür dankbar bin. Aber Schande? Schande hat Ihnen Heinz -nie gemacht!“ - -„Der Galgen ist wohl eine Ehre?“ rief da der unglückliche Vater und -barg sein Leid hinter einem höhnischen Auflachen. - -Hellwig schaute ihm fest ins Auge. „Mitunter ganz gewiß!“ sagte -er. „Auch Savonarola haben sie aufgehängt, den Erlöser haben sie -gekreuzigt, den Huß verbrannt ...“ - -„Die haben auch nicht gemordet,“ unterbrach ihn Wart tonlos und -schauderte zusammen. - -„Heißt es Mord, einen Menschen wegräumen, von dem man weiß, daß er in -der nächsten Stunde tausend Unschuldige umbringen wird? Das ist kein -Töten, das ist Selbsthilfe der Menschheit.“ - -„So nennen Sie’s! Andere nennen’s Mord.“ - -„Heute vielleicht noch. Unsere Enkel werden wieder anders sprechen. -Von Kindsbeinen wird uns gelehrt: Du sollst nicht töten! Und niemand -lehrt uns auch jenes zweite, Größere: Du sollst nicht töten lassen! --- Aber die Zeit wird kommen, und die Menschen reif werden auch für -dieses Gebot. Dann wird wieder einmal Tugend werden, was heute noch -Verbrechen ist. Und Heinz und die vielen, die wie er gestorben sind, -werden Märtyrer und Blutzeugen heißen. Und darum glaub’ ich auch jetzt -nicht mehr, daß sein Sterben nutzlos gewesen ist. Sein Gedanke lebt -weiter, und seine Rächer sind nicht fern. Vielleicht werden es schon -jene sein, die Brot von dem Korn gegessen haben, das aus seinem Grab -gewachsen ist. Und die werden vollenden, was er angestrebt hat: Ein -heiles gesundes Volk wird aufstehn, das vor niemandem den Nacken beugt, -das sich selbst bestimmt durch seinen eigenen Geist, herrscherlos und -herrenlos, ein Volk von lauter Königen und Herrschern! Dafür hat er -gelebt -- das goldene Herz der Menschheit hat er finden wollen -- und -dafür ist er in den Tod gegangen. Das ist kein schimpfliches Sterben.“ - -Der Kaufmann erwiderte nicht. Die Abendglocken läuteten. Wie ein -schlafsuchendes Kind schmiegte sich die Erde in den Arm der Nacht. - -Als Wart vor seinem Hause stand, reichte er Hellwig die Hand. „Fritz!“ -sagte er weich. „Wir wollen’s beschlafen, Fritz!“ - - -5. - -Peter Kofend gewann seine Wette. Trotzdem er um zehn Jahre jünger und -der Jahnsattler so gebrechlich war. Eines Tages kam er mit trüben -Augen und hochroten Wangen von einem Geschäftsgang nach Haus. „Aus -is! Gar is! Ich leg’ mich hin und steh’ nimmer auf!“ sagte er zu -seiner Frau. Und während die Erschrockene in die Küche lief, um einen -Tausendguldenkrauttee zu kochen, der ihr immer gut tat, legte sich -der Peter ins Bett und -- stand wirklich nicht mehr auf. Er klagte -nicht, redete nichts, fühlte sich nur müd. Der Arzt sprach von einer -allgemeinen Schwäche, von Schonung und Ruhe und ähnlichen Dingen, -die er immer sagte, wenn er aus einem Fall nicht klug wurde. Die -Frau Kofend aber wußte am zweiten Tag ebenfalls, daß ihr Mann recht -behalten werde. Da hatte ihre schwarze Henne zu krähen versucht. Und -trotzdem der Unheilsansagerin sofort der Kragen umgedreht wurde -- eine -Henne, eine schwarze Henne, die krähte -- das bedeutete einen sicheren -Todesfall. - -Vier Tage später erhielt der Jahnsattler wirklich die schwarz -umränderte Todesanzeige und vergoß darüber Tränen eines aufrichtigen -Kummers. Er weinte aber nicht über den Gestorbenen, er weinte um das -schöne Geld fürs Leichenbier. Er bezahlte es auch. Aber dann ging er -zu Fritz Hellwig und fragte ihn, wie er es anfangen müsse, um ein -Sozialist zu werden. Denn er fühlte sich gekränkt und verletzt, weil -ihm alle seine Frömmigkeit nichts genützt hatte im Wettkampf mit dem -ruchlosen Peter. Deswegen wollte auch er jetzt vom Beten nichts mehr -wissen. Fritz aber konnte seinen Nöten weder mit Rat noch Beistand -dienen. Doch der Alte wich nicht. Starrköpfig beharrte er bei seinem -Verlangen, und Hellwig, der den höllischen Humor der Sache erfaßte, -schlug ihm endlich vor, wenn er schon unbedingt nicht anders wolle, -so möge er ihm, dem abgestraften Sozialistenführer, dem allbekannt -Glaubenlosen, ein Zimmer in seinem Hause vermieten. Denn er brauchte -wieder eins, da die Frau Kofend in ihr Heimatsdorf übersiedelte. Das -gefiel dem Jahnsattler alsogleich, weil er damit vor aller Welt seine -neue Gesinnung beweisen und, wie er meinte, den Sachwaltern Gottes -auf Erden, ja seinem lieben Herrgott selbst einen Tort antun würde. -Und die ganze Stadt bedauerte abermals den armen, gebrechlichen alten -Jahnsattler, weil er in der Hilflosigkeit des Alters dem Versucher ins -Garn gegangen war. Und die ganze Stadt entrüstete sich abermals über -Hellwig, weil er die kindische Torheit des Greises so mißbrauchte. -Weitere Folgen hatte die Geschichte aber nicht. Der Jahnsattler sorgte, -nachdem der erste Schmerz über das verspielte Geld vorüber war, nach -wie vor dafür, daß die Hornhaut auf seinen Knien nicht verschwand, und -Hellwig kam in der Wohnung des frommen Mannes mit seiner Arbeit rüstig -vorwärts. Er hatte jetzt endlich ganz freie Bahn vor sich. - -Wart Nikl war fast vom Abend zum Morgen wieder ins Gleis gekommen, -hatte seine Tatkraft und gute Laune wiedergefunden. Nicht so sehr durch -Hellwigs Argumente, sondern weil die Aussprache überhaupt beschleunigt -hatte, was früher oder später doch hätte eintreten müssen. Was lang -verstaut gewesen, hatte Luft bekommen, strömte in gedoppelter Fülle -vor, war so überreich, daß er nicht wußte, wo er zuerst mit der Arbeit -anfangen sollte. Den Neubergern zum Trotz wollte er sein Geschäft nicht -nur auf die frühere, sondern auf eine noch ansehnlichere Höhe bringen. -Wozu brauchte er den Kleinverschleiß? Kurz entschlossen ging er her und -legte den Schwerpunkt des Unternehmens in den Großhandel mit Farbwaren -und Lacken. Er nahm Vertreter und einen Reisenden auf, reiste auch -selbst, und rascher, als er gehofft, war die Sache im Gang. - -So arbeiteten der künftige Schwiegervater und Schwiegersohn, jeder auf -einem anderen Gebiete, aber beide mit dem Einsatz ihrer ganzen Kraft. -Und das Jahr war noch nicht vorüber, da hatte Fritz sein Buch vollendet. - -Als er den Schlußpunkt machte, war sein Inneres wie ein ausgeschöpfter -Brunnen. Restlos hatte er alles hergegeben, was er hergeben konnte. -Fast leid war ihm, daß er das Drängen und Gären in sich nicht mehr -spürte. Und mit leisem Bedauern, als nehme er von einem lieben Freunde -Abschied, packte er das Manuskript zusammen, um es einem Verleger -zuzusenden. - -In den folgenden Tagen machte sich eine tiefe Abspannung, die bis zur -schweren körperlichen Müdigkeit anstieg, bei ihm geltend. Doch gab er -diesem Zustand nicht lässig nach, sondern versuchte durch reichlichere -Bewegung in freier Luft ihm entgegenzuwirken. Er unternahm starke -Märsche in die Umgebung, und einmal gelangte er auch in den Geburtsort -Pichlers. - -Der Küster war seit Jahren tot, die Kinder in den Dörfern im Dienst -oder verheiratet. Nur Christoph, der ältere von den einstmaligen -Rutenbindern, befand sich noch im Ort, war hier Gemeindediener, -Polizist, Nachtwächter, Bettelvogt, Flurhüter, Fleischbeschauer und -Barbier in einer Person. Er hatte sich einen struppigen Schnauzbart, -eine rote Nase und die für seine vielen Ämter unentbehrliche Würde -zugelegt, welch letztere ihn auch dann nicht verließ, wenn seine -Ordnungsversuche bei einer Wirtshausrauferei mit seinem eigenen -Hinauswurf endeten. Er erzählte Hellwig, daß Otto für die Geschwister -so gut wie verschollen sei und sich auch nach dem Tod des Vaters -nicht um sie gekümmert habe. Doch sei es, trotzdem dann für die noch -unversorgten jüngeren Kinder schwere Zeiten gekommen, auch ohne ihn -gegangen. Sie hätten eben fest zusammengehalten und den ältesten Bruder -nicht dazu gebraucht. Jetzt seien sie so ziemlich aus dem Wasser, viel -zum Beißen habe zwar keiner, aber sie seien zufrieden, wie’s der Vater -ebenfalls gewesen, und hätten sich schon an den Gedanken gewöhnt, daß -sie für den vornehmen Herrn Bruder nicht mehr auf der Welt seien und er -nicht für sie. - -Hier unterbrach er plötzlich den Redefluß und eilte mit langen -Schritten schimpfend einigen Dorfbuben nach, die mit verdächtig dicken -Taschen aus dem Hühnerhof des Pfarrers schlichen. - -Fritz machte sich auf den Heimweg. Was er eben von Otto gehört, kam ihm -so selbstverständlich vor! Das Leichte und Spielerische im Wesen des -Freundes war ihm, je älter und reifer er wurde, desto weniger verborgen -geblieben. Aber trotz der Enttäuschungen, die ihm der einstige Freund -bereitet hatte, hielt er ihn nicht für schlecht und fand es nur -verwunderlich, wie der leichtlebige und sorglose Mensch so lang an -seiner Seite hatte aushalten können. - -Langsam schritt er weiter. Die ersten Sterne blitzten auf. Und da fiel -ihm ein, daß er fast denselben Weg ging, den er einmal vor Jahren in -Winterschnee und Kälte gegangen, um ein Geschenk für seine Braut in -einer Fanggrube zu finden. Und er sann seinem Leben nach und staunte, -wie doch alles so zufällig an ihn herangekommen war und ihn mitgerissen -hatte, fast ohne sein Dazutun. Und während er alles überdachte -- -einsam war es um ihn, ein paar Fledermäuse fuhren hastig durch die -unbewegte Luft, irgendwo schrie jämmerlich ein Vogel unter den Zähnen -eines Raubtiers -- da stieg wie eine Vision ein Bild vor ihm auf, von -dem er zeit seines Lebens nicht mehr ganz loskommen konnte. Es war -ihm, als sei alles, was Leben in sich hat, vor ungezählte Millionen -überlasteter Karren gespannt und müsse sie, gleich den Pferden vor -schweren Fuhren, mit bebenden Flanken und keuchenden Lungen über eine -steile Bergstraße hinaufziehen, die schnurgerade ansteigt, höher und -höher, in die weite Unendlichkeit hinein, wie ein Band ohne Ende. Und -über allen den zitternden, mühselig hinkriechenden Geschöpfen thront -riesengroß aufragend, gelassen vor sich blickend, mit unbewegten Zügen -ein gewaltiges Weib und hält in der Rechten eine schwere Peitsche. Und -jedesmal, wenn irgendwo ein Karren stecken bleiben will, knallt diese -Peitsche, saust ihre geflochtene Schnur hoch über gekrümmte Nacken hin, -und die geplagten Geschöpfe zucken zusammen, ducken sich furchtsam und -ziehen weiter, ziehen mit zum Platzen gestrafften Muskeln, fliegendem -Atem, verlöschender Kraft, ziehen -- ziehen. -- Und wenn eins leblos -hinsinkt, schreiten die andern, rollen die Karren gleichgültig über -den Leichnam fort. Und immerzu rollen die Karren, Millionen hinter -Millionen, die unabsehbare, schnurgerade Straße hinauf, und unablässig -knallt über ihnen die Peitsche. - - -6. - -Fast ein Jahr war es her, seit Pichler im Abgeordnetenhause seine -letzte Rede gehalten hatte. Da forderten seine Wähler Rechenschaft und -Rechtfertigung von ihm, und so kam er endlich wieder einmal in seinen -Wahlkreis. - -Gemurr empfing ihn, als er den Saal betrat, und finster sahen die -Versammelten auf ihn. Er aber stieg auf die Rednerbühne, wie gewöhnlich -mit einem liebenswürdigen Lächeln um die Lippen. Doch da reckten sich -ihm Fäuste entgegen, und ein gewaltiger Lärm erhob sich. - -„Nicht reden! Demingkreatur! Mandat niederlegen! Ausbeuterknecht!“ -rief und schrie und johlte es durcheinander. Er verfärbte sich und -fühlte etwas wie Furcht. Aber noch immer lächelte er, und dieses -Lächeln schien in seinem schönen Gesicht förmlich eingefroren zu sein. -Als jedoch der Spektakel gar nicht aufhören wollte, wurde er wütend. -Was? Diese Kerle, die tief unter ihm standen, wagten zu drohen? Statt -dankbar zu sein, daß er sich überhaupt mit ihnen abgab? Heiser schrie -er in den Saal hinab: „Wollt ihr endlich schweigen? Ich will reden! -Hört ihr? Ich will!“ - -Die Antwort war Lachen und Getöse. Man trommelte auf Tische, pfiff, -stampfte mit Füßen, schüttelte Fäuste und Biergläser. Da packte ihn -ein jäher Zorn. Er griff nach der Glocke, die ihm zur Hand stand und -schleuderte sie in die Menge. Sie traf niemanden. Aber jetzt stürmten -sie und drängten auf das Podium, faßten ihren Abgeordneten bei den -Schultern, schrien ungestüm auf ihn ein, rüttelten und zerrten, schoben -und stießen und beförderten ihn ins Freie. Dort umringten sie ihn, -und gewalttätiger Haß sprach aus ihren Gebärden, ihren Mienen und -Worten. Die Einberufer mahnten zur Besonnenheit. Pfannschmidt nahm den -übel Zugerichteten beim Arm und führte ihn aus dem Gedränge. Murrend -und ungern wichen die Leute. Das Gesicht des Bergmannes war hart -und finster. Man sah, daß er den einstigen Schriftleiter nicht aus -Freundschaft beschützte. Pichler machte jetzt keine vorteilhafte Figur. -Der Jähzorn war verraucht. Nun kam die Angst. Er schlotterte an allen -Gliedern, die Knie knickten ihm ein, er stolperte nur so vorwärts und -wäre gefallen, wenn ihn Pfannschmidt nicht gestützt hätte. Kragen und -Halsbinde waren ihm herabgefetzt, der feine Anzug hatte Löcher. - -Vor dem Gasthof ließ ihn Pfannschmidt stehen, wandte sich kurz ab und -ging ohne Gruß. In fluchtartiger Eile reiste Otto nach Wien zurück. - -Trotzig legte er sein Mandat nieder. Wenn er jedoch gehofft hatte, daß -es ihm bei seinen ausgebreiteten Beziehungen gelingen werde, sofort -eine andere Stellung zu bekommen, sah er sich arg enttäuscht. Alle -Bekannten hatten nur ein bedauerndes Achselzucken: es sei dermalen -nichts frei. Er war eben kompromittiert. Deming hätte vielleicht Rat -gewußt. Aber an ihn wollte er sich nicht wenden. Er schämte sich vor -Grete. - -Um sich über Wasser zu halten, mußte er Stück für Stück seiner -Habseligkeiten zum Trödler oder ins Leihhaus tragen. Dann borgte er -sich Geld. Aber es dauerte nicht lang, waren ihm alle Quellen versiegt. -Hungrig irrte er in der Großstadt herum. Seine Stiefel waren zerrissen, -der Rock, den er am Leib trug, wurde schäbig, und er hatte keinen -besseren mehr. In seiner Not schrieb er an Hellwig. Der wies ihn kalt -ab. Es sei Pichlern, schrieb er zurück, von je zu gut gegangen und -zu leicht gemacht worden. Er habe den Lebenskampf noch nie in seiner -ganzen Rauheit empfunden. Jetzt aber könne er zeigen, was in ihm -stecke. Durch eigene Kraft müsse er sich herausarbeiten. Unter dem -Hammer der Not werde er Stahl werden, wenn er wirklich Eisen sei. - -Drei Tage hielt Pichler dem Hunger stand. Dann war er am Ende seiner -Widerstandskraft. Vor der Wohnung Demings wartete er und wußte es so -einzurichten, daß er richtig von dem kaiserlichen Rat bemerkt wurde. -Und der Millionär erkannte ihn sofort und trat auf ihn zu und sprach -leutselig mit ihm. Er fragte, ob es dem Doktor denn gar so schlecht -gehe und warum er sich nicht an ihn gewendet habe. Und zum Schluß -drückte er dem Überraschten eine größere Banknote in die Hand, als -Darlehen, wie er sagte, und verabschiedete sich huldreich. - -Pichler stand da und schaute ihm nach und wußte nicht, ob er wachte -oder träumte. Aber der blaue Schein zwischen seinen Fingern war -greifbare Wirklichkeit. Da ging er und kaufte sich neue Wäsche und neue -Schuhe, kleidete sich vom Kopf bis zu den Füßen neu. Und als er dann -ein Bad genommen und Haar und Bart hatte zustutzen lassen, überkam -ihn ein ungestümes Verlangen nach Wohlleben und Genießen. In einem -Tingeltangel ließ er sich vorsetzen, was gut und teuer war, und am -nächsten Vormittag erwachte er mit wüstem Kopf in der Wohnung einer -Dirne. - -Zwei Tage später, als das Geld alle war, folgte er der Aufforderung -des kaiserlichen Rates, ging zu ihm und setzte ihm rundweg seine Lage -auseinander. Deming hörte ihn wohlwollend an, mit schlecht verhehlter -Freude. Und nach einer Einleitung, in welcher er beiläufig sagte, -daß man begabten Menschen helfen müsse, daß es ihm selbst auch nicht -immer gut gegangen und er auch einmal in ganz ähnlichen Verhältnissen -stellenlos herumgelaufen sei, machte er dem Doktor den Vorschlag, als -Beamter in die Fabrik einzutreten. Aber eines verlange er unbedingt: -Pichler müsse sich von seinen Parteigenossen vollständig lossagen und -die Politik links liegen lassen. - -Das versprach Otto gern. - - -7. - -In aller Stille hatten Fritz und Eva Hochzeit gehalten. Wieder -entrüsteten sich die Gutgesinnten Neubergs, weil kein Priester dabei -war, aber ihre Ungnade schadete den Betroffenen nichts. Wart Nikl blieb -fröhlich und aufrecht, obwohl es jetzt recht einsam um ihn wurde und -nur Frau Hedwig, still und tapfer den Trennungsschmerz verbergend, -in den weiten Wohngemächern waltete, die kurz vorher noch Eva mit -hellem Lachen erfüllt hatte. Jetzt war sie in der Hauptstadt, wo ihr -Mann als Anerkennung und als Entschädigung für das Kerkerjahr die -verantwortliche Leitung der Freien Blätter erhalten hatte, und nichts -war von ihr zurückgeblieben, als ein paar eingerahmte Bilder an den -Wänden und ein paar vergessene Bänder und Maschen in den Schrankfächern. - -Kolben hatte den jungen Eheleuten den ersten Stock seines -Familienhauses vermietet. Alle Zimmer ließ er neu tapezieren, die -Parketten ausbessern, die Küche malen, und ins Badezimmer kam ein -Gasofen. So war alles neu und schön und hell, ein funkelblankes Nest -der Häuslichkeit und des jungen Eheglücks. - -Und sie waren glücklich. Ein wackerer Kamerad, ging Eva vom ersten -Tage an neben ihrem Manne, heiter, blühend, mit sonnigen Augen -und verstehendem Herzen. Nicht eine Sekunde empfand er, daß mit -ihr etwas Fremdes und bisher Ungewohntes in sein Leben gekommen. -Selbstverständlich wie ihre Verlobung, war auch ihr Zusammenleben, -schlicht, einfach und natürlich, ein Ehefrühling, wie er zur Zeit der -Schneeschmelze und der ersten Weidenkätzchen ernst und keusch und -mit frommer Weihe die Erde überkommt, wenn jeder Baum mit tausend -Knospen betet und die unschuldigen Saaten sich im hellsten Sonnenglanz -dem Mutterschoß der Scholle entringen. Nie war ein falscher Ton, -ein gemachtes Empfinden zwischen ihnen. Sie gaben sich und nahmen -einander, wie sie waren, ehrlich und herzlich schritten sie Seite an -Seite, wußten, was sie aneinander hatten und brauchten es sich nicht -erst zu sagen. Ein warmer Blick, ein Kuß war alles, was ihre vornehm -zurückhaltenden Naturen an Zärtlichkeit zu verschwenden hatten. Und es -genügte ihnen. Eva war fröhlichen, kindlichen Sinns und hatte nichts -von dem tief bohrenden, grüblerischen Wesen ihres Mannes. Aber sie -fühlte mit dem Herzen, wo ihr Geist nicht fassen konnte und hatte jene -Einfalt des Gemütes, die das Echte herausspürt und das Erkünstelte -zurückstößt, ohne für die Zuneigung hier und den Widerwillen dort einen -Grund angeben zu können. So ergänzte sie ihren Gatten aufs beste und -nahm in gleicher Weise von seinem Ernst wie er von ihrem Frohsinn an. - -Nach den ersten Wochen besuchte Kolben das junge Paar fast täglich. -Als Backfisch hatte Eva den unerschütterlich gelassenen Menschen -nicht ausstehen können. Jetzt wurde er ihr bald sympathisch. Er war -ihr überall behilflich, wußte vorteilhafte Einkaufsquellen anzugeben, -wurde ihr Berater in allen den kleinen Sorgen des Haushalts, für die -Fritz durchaus kein Verständnis aufbringen konnte. Ihm war es als -Junggesellen ganz gleichgültig gewesen, ob ein Anzug hundert oder -zweihundert Kronen kostete, wenn er nur halbwegs paßte. Und wenn er -faltig wurde, gab er ihn einem Schneider zum Aufbügeln, und mochte -dessen Forderung noch so unverschämt sein, er bezahlte sie und war -deshalb ein geschätzter Kunde. Das wurde jetzt anders. Denn Eva war -sparsam und verstand zu rechnen. Sie wollte niemanden übervorteilen, -aber auch selbst nicht übervorteilt werden, ließ jedem genau das -zukommen, was ihm gebührte, keinen Heller mehr noch weniger, und -buchte Einnahmen und Ausgaben. Und wenn dann der Schuster für ein paar -Stiefelsohlen drei Kronen fünfzig verlangte, sagte sie und zeigte es -ihm schwarz auf weiß: „Vor vier Monaten hat das nur drei Kronen zehn -gemacht, wenn Sie teurer werden wollen, kann ich bei Ihnen nicht mehr -arbeiten lassen!“, worauf der Handwerker zwar von unerschwinglichen -Lederpreisen und Teuerung zu reden anfing, gewöhnlich aber doch seine -Forderung auf das frühere Maß einschränkte. So hatte sie ihre liebe Not -und freute sich, daß Kolben da war, mit dem sie darüber reden und sich -beraten konnte. - -Fritz aber steckte wieder bis überm Hals in der Arbeit. Während -der zweijährigen Unterbrechung war ihm manches fremd geworden, die -Zusammenhänge mußten wieder gefunden, das Versäumte mußte nachgeholt -werden. Dazu kam das Lesen der Bürstenabzüge seines zweibändigen -Werkes, das demnächst erscheinen sollte. Und als es erschien, aus -der Zeit heraus entstanden, sachlich und frei von einseitiger -Parteilichkeit, als es von der Kritik mit lautem Beifall begrüßt wurde -und fast alle Blätter ohne Unterschied günstige Besprechungen brachten, -einige wohl auch im Überschwang den Anbruch einer neuen Epoche der -Volkswirtschaftslehre verkündeten, als das alles eintrat, da kam -Hellwig erst recht nicht zur Ruhe. - -Sein Buch wurde rasch von der Mode den ‚allgemeinen -Bildungsnotwendigkeiten‘ beigezählt. Wer in Zeitfragen mitreden -wollte, mußte es gelesen haben. Man sprach überall davon, lud den -Verfasser zu Teeabenden und Gesellschaften, die verschiedenen Vereine, -Zirkel und Klube zur Verbreitung wirtschaftlicher Kenntnisse, Kultur, -Wissenschaft oder Bildung forderten ihn zu Vorträgen auf, Zeitungen und -Zeitschriften baten ihn um Beiträge. - -Anfangs war ihm das lästig, später gewöhnte er sich daran. Von den -Einladungen machte er keinen Gebrauch, Vorträge hielt er selten, -Abhandlungen schrieb er nach wie vor über Dinge, die ihm ans Herz -griffen, und niemals auf Bestellung. - -Als sie merkten, daß er nicht mit ihnen heulen wollte, wurden sie -kühler, setzten sein Buch von der Liste der Bildungsnotwendigkeiten -wieder ab und ließen ihn in Ruhe. - -In der Partei aber machte sich allmählich eine Strömung gegen ihn -immer bemerkbarer. Erregt und in Bewegung gehalten wurde sie von -dem ehrgeizigen Leibinger, der auf den Posten des verantwortlichen -Schriftleiters gehofft hatte und sich nun von einem jüngeren verdrängt -sah. Er war Mitglied der Parteileitung und hatte sich unentbehrlich -zu machen verstanden durch eine Art widerlicher Zuvorkommenheit und -händereibender Salbung, mit der er sich zu den unangenehmsten Aufgaben -drängte. Niemand mochte den schmalbrüstigen Menschen so recht leiden, -der mit eingeknickten Knien immer leise ging, aber man duldete und -ertrug sein unsympathisches Wesen, weil er brauchbar war, erfinderisch -und gleich gut geübt im jähen Überrumpeln, wie im langsamen Erdrosseln -der Gegner. - -Jetzt benützte er den Anlaß, fand heraus und sagte es heimlich allen, -daß viele Ansichten und Grundsätze in dem gepriesenen Werke Hellwigs -eigentlich dem Parteiprogramm zuwider liefen, ja manchmal geradezu der -heutigen Gesellschaftsordnung ein Loblied sangen. Und er hatte mit -diesen Behauptungen um so eher Erfolg, als der Parteiobmann Anheim -und alle, die mit ihm der Leitung angehörten, überzeugte Anhänger der -Marxschen Lehre und geschworene Feinde aller Revisionisten waren. - -Offen wagte man sich vorerst freilich nicht an den verdienstvollen -Mann heran. Aber zu fühlen bekam er es doch, daß man mit seinem Wirken -nicht mehr ganz einverstanden war. Man schob ihn beiseite, wo es nur -halbwegs anging, faßte Beschlüsse, ohne ihn um seine Ansicht zu fragen, -und verschwieg ihm manches, was der verantwortliche Schriftleiter -als erster hätte wissen müssen. Anfangs achtete er nicht darauf. -Aber als es sich öfter wiederholte, als er sogar in seinem eigenen -Blatt bloßgestellt wurde, fiel es ihm auf. Er wurde stutzig, führte -Beschwerde, forschte nach dem Grund. Man gab ausweichende Antworten, -entschuldigte sich wohl auch mit einem Versehen. Aber beim nächsten -Anlaß machte man es ihm wieder so. Kolben wollte ihm die Augen öffnen. -Fritz hörte nicht auf ihn. Er schrieb das geänderte Verhalten der -Genossen einer flüchtigen Verstimmung zu und ließ sich die schöne -Zuversicht nicht rauben, daß alles bald wieder seinen rechten Gang -gehen werde. - - -8. - -Da wurde der Reichsrat aufgelöst, weil er der Regierung nicht zu Willen -war. Neuwahlen wurden angeordnet. Die nordböhmischen Bergarbeiter -wandten sich an Hellwig, daß er in ihrem Wahlkreis kandidiere. -Pflichtgemäß fragte er die Parteileitung um ihre Meinung. Die sagte -weder ja noch nein, vertröstete ihn auf später. - -Und nun begann der aufreibende Wahlkampf mit seiner rastlosen Agitation -und den ungezählten Versammlungen in allen Bezirken. Und während -Hellwig von Versammlung zu Versammlung fuhr, an einem Tage oft in drei, -vier Sälen sprach, dabei die Freien Blätter leitete und, ein immer -wacher Kämpfer, die Machenschaften der Gegner aufdeckte, durchquerte -und vereitelte, waren in seiner eigenen Partei Leute an der Arbeit, -die seine Stellung zu untergraben und seinen Einfluß zu brechen sich -redlich bemühten. Er war ihnen zu bekannt, zu berühmt, zu volkstümlich -geworden. Sie fürchteten, daß er ihnen über den Kopf wachsen, daß er -sie verdrängen und die Führerschaft ganz an sich reißen könnte. Er -dachte nicht daran. Ihm ging es um die Sache, die er für gut hielt -und mit dem Einsatz aller Kräfte fördern wollte. Sie aber erwogen -alle Möglichkeiten, bangten für ihre Ämtlein und fürchteten und -beneideten und haßten ihn heimlich sehr. Die Massen jubelten ihm zu, -ihre erkorenen Führer aber saßen in geheimen Konventikeln beisammen -und rieten hin und meinten her, wie sie dem beliebten Mann Schlingen -legen und ihn unauffällig zu Fall bringen könnten. Und wenige gab es -unter diesen Ratern und Meinern, die frei und unparteiisch urteilten. -Er hatte aber auch fast jeden schon einmal vor den Kopf gestoßen, weil -er nie mit seiner Meinung hinterm Berg hielt, sondern sie immer klipp -und klar und rücksichtslos heraussagte. Das trugen sie ihm nach und -schmollten und grollten und nannten ihn grob, unduldsam, hochfahrend. -Und sahen doch ruhig zu, wie er den Hauptteil der Wahlarbeit für sie -tat. Mochte er sich plagen und abrackern, das kam der Partei zugute und -im richtigen Augenblick wollten sie schon auf dem Posten sein. - -Aber auch Kolben wachte und war sehr beschäftigt. Bedachtsam, ohne -Übereilung, wie ein schlauer Kundschafter, sondierte er und horchte -herum, und als er genug erfahren hatte, machte er sich auf und fuhr -in das nordböhmische Kohlengebiet. Denn von dort kamen beunruhigende -Nachrichten. Gerüchte von einem neuerlichen Streik waren in den -letzten Jahren mehrmals laut geworden. Jetzt aber erhielten sie sich -hartnäckig, nahmen bestimmtere Formen an und wollten nicht wieder -verstummen. - -Das Ziel seiner Reise verriet der Doktor nicht, er brauchte auch von -niemandem Abschied oder Urlaub zu nehmen. Er war ganz unabhängig und -hatte sich in der Leitung der Kunstnachrichten, die er den Freien -Blättern ohne Entgelt besorgte, vollständige Freiheit ausbedungen. Nur -Eva mußte es wissen, weil sie gewohnt war, ihn täglich zu sehen, mit -ihm Einkäufe besorgte oder spazierenging. Er war ihr einziger Bekannter -in der großen Stadt, und wenn sie ihn nicht gehabt hätte, wäre sie -den größten Teil des Tages ganz einsam gewesen. Denn ihren Mann bekam -sie jetzt fast gar nicht zu Gesicht, er kam spät nachts heim, müde -und abgehetzt, aber mit der ersten Sonne war er schon wieder auf den -Beinen, sah hastig die Morgenblätter durch und konnte das Frühstück -kaum erwarten. Und wenn sie es brachte, aß er hastig und verabschiedete -sich zerstreut und fahrig, lief manchmal auch, die bevorstehenden -Arbeiten überdenkend, überhaupt ohne Gruß davon. - -Sie fand sich auch damit ab, hoffte geduldig auf die Wiederkehr -ruhigerer Zeiten und blieb heiter und zufrieden. Wenn sie mit den -häuslichen Arbeiten fertig war, -- viel zu tun gab es nicht, weil -Fritz, um keine Zeit zu verlieren, jetzt auch das Mittagessen in -der Stadt nahm --, spielte oder sang sie sich ein Lied, ging in den -Garten, pflegte ihre fünf Rosenstämmlein, nähte oder lag lesend -oder träumend in der Hängematte unter den dunklen Kastanienwipfeln -und freute sich auf das Erscheinen Kolbens und auf das Ende ihrer -Einsamkeit. Sogar übermütig konnte sie dann werden. Der Übermut lag -ihr nun einmal im Blut und ließ sich auch von ihrer jungen Frauenwürde -nicht unterkriegen. Um den Doktor zu necken, versteckte sie sich vor -ihm ganz tief in die Fliederhecken oder in die dichten Jasminbüsche, -daß auch nicht ein Zipfelchen ihres Kleides, kein Schimmerchen ihres -Blondhaars sichtbar war. Zusammengekauert hockte sie in ihren grünen -Schlupfwinkeln und rief „Herr Doktor!“ und wenn er sie nicht gleich -fand, war sie froh wie ein Schulkind und lachte ausgelassen. - -Als er ihr seine Abreise melden wollte, lag sie in der Hängematte. Sie -erblickte ihn von weitem, wie er langsam, in seiner gemessenen Art, den -gelben Kiesweg heranschritt, machte die Augen fest zu und stellte sich -schlafend. Aber manchmal blinzelte sie doch blitzrasch zwischen kaum -geöffneten Lidern nach ihm hin und sah, wie er näher kam und zauderte -und stillstand, unschlüssig, ob er sie wecken sollte. Sie hielt sich -ruhig, veränderte keine Miene und atmete gleichmäßig fort. Da wagte er -es, tat vorsichtig einen Schritt vorwärts und noch einen. Jetzt fühlte -sie, daß er ganz nahe sein mußte, hörte das Knistern seiner Kleider -- -und wie sie, zu fröhlichem Lachen bereit, die Lider voll aufschlug, da -war sein ernstes Gesicht dicht über dem ihren -- sie bemerkte ein paar -winzige Puderstäubchen im bläulichen Anflug der eben erst rasierten -Wangen -- und von seinen Augen waren alle Schleier gefallen. Ein warmer -Glanz war in ihnen und das innige Leuchten einer großen Liebe. Nur eine -Sekunde war das so. Dann erlosch alles wieder, der Doktor stand in -lässiger Haltung, wie immer, vor ihr und gleichmütig wie immer fragte -er, ob er störe. - -Sie aber war ganz aufgeregt, sprang aus dem Netzgeflecht und in -der ersten Ratlosigkeit einer ihr neuen Erkenntnis sagte sie mit -überquellendem Empfinden: „Sie armer Doktor!“ - -„Warum?“ antwortete er ihr in seinem gemütlichsten, -freundschaftlichsten Ton. Doch sie dachte nur an das Geschaute, -hatte erkannt, daß er ihretwegen litt, vielleicht seit Jahren leiden -mußte, und um ihm nur irgend etwas Liebes zu tun, legte sie mit einem -hindrängenden Schritt beide Hände auf seine Schulter. „Armer Doktor!“ -sagte sie nochmals. Da wußte er, daß sie alles gesehen hatte, wurde -ein klein wenig blässer und richtete sich straff auf. „Ich brauche Ihr -Mitleid nicht, gnädige Frau!“ sagte er schroff. - -Nun war sie ihrer Unüberlegtheit erst inne, errötete noch mehr, und die -Tränen sprangen ihr hell von den Wimpern. „O Gott!“ rief sie bestürzt. -„Hab’ ich Sie gekränkt? Das wollte ich nicht! Ich schätze Sie ja so! -Ich kenne keinen Menschen nach Fritz, den ich lieber hätte! Sie dürfen -mir nicht bös sein! Sie sind mir nicht böse, nicht wahr, nein?“ - -Kolben war schon wieder der Alte. „Sie sind ein rechtes Kind, Frau -Eva!“ erwiderte er mit seinem spöttischen Lächeln. „Wie kann man nur -am hellichten Tag so närrisch träumen! Lassen Sie’s gut sein, mir -geht’s so kannibalisch wohl, daß ich jedem ein derart ausgezeichnetes -Wohlbefinden wünschen kann. Ich bin Herr meiner Zeit, kann mir’s -einrichten, wie ich will und Vergnügungsreisen machen, wann ich will. -Was ich beispielsweise noch heute zu tun gedenke.“ - -„Sie wollen fort?“ - -„Jawohl, in drei Stunden geht mein Zug. Um Ihnen das mitzuteilen, -bin ich eigentlich herunter gekommen. Mindestens vier Tage werde ich -fortbleiben. Es ist mir erschrecklich leid, daß ich den Stoff zu -Ihrem Herbstkleid nicht mit aussuchen kann. Denn wie ich die edle -Weiblichkeit kenne, duldet so was keinen Aufschub.“ - -„Doktor!“ rief Eva zornig. „Sie sind heute abscheulich!“ - -Er verneigte sich leicht. „Das freut mich, Frau Eva, das freut mich -sehr! Weil ich nunmehr ganz beruhigt abreisen kann, mit dem erhebenden -Bewußtsein, daß meine verehrte Gönnerin froh sein wird, von meiner -abscheulichen Gegenwart wenigstens auf kurze Zeit verschont zu bleiben.“ - -So sprach er und sprach noch manches in derselben Tonart, so daß Eva -schließlich an sich selbst ganz irr wurde und nicht mehr wußte, ob sie -in der schaukelnden Hängematte unter den dunklen Kastanienwipfeln nicht -doch vielleicht geträumt und einen Traum für Wirklichkeit genommen -hatte. - - -9. - -Als Kolben sich zu seiner Reise entschlossen hatte, war Leibinger aus -den Kohlendistrikten gerade wieder in die Hauptstadt zurückgekehrt. -Tags darauf erschien eine Abordnung der Bergleute bei der -Parteileitung. Sie erklärte, daß man zur sofortigen Arbeitseinstellung -fest entschlossen sei und fragte an, ob man mit Unterstützungen aus -der Streikkasse werde rechnen können. Fritz sprach sich entschieden -gegen alles aus. Anheim, Leibinger und die übrigen aber brauchten -Ausflüchte, wollten in Hellwigs Gegenwart nicht Farbe bekennen, und -schließlich gab Leibinger den Leuten einen Wink, sie möchten später -noch einmal vorsprechen. Und sie verstanden das und entfernten sich. -Als sie fort waren, sprach Hellwig noch eine halbe Stunde lang sehr -eindringlich über alle Hindernisse, die dem Streik gerade jetzt, knapp -vor den Wahlen, im Wege standen. Man hörte ihn schweigend an, nickte -manchmal oder schüttelte die Köpfe, wie er so seine Gründe an allen -zehn Fingern herzählte, aber kein Wort fiel dafür oder dawider. Man -müsse sich das noch reiflich überlegen, war schließlich alles, was -Anheim mit Räuspern und Hüsteln vorbrachte. Dann mußte Hellwig in eine -Wählerversammlung der Gegner und hinterher noch in zwei der eigenen -Partei, und jetzt erst, als sie sich vor ihm sicher wußten, tauten -Leibinger und Mark auf, wurden lebhaft und hatten mit den wieder -erschienenen Bergleuten eine lange Besprechung. - -Den übernächsten Tag kam Kolben am frühen Morgen zu Fritz, der noch -in Hemdärmeln mit Kamm und Bürste hantierte. Der Doktor war die ganze -Nacht gefahren und sah verstaubt und abgespannt aus. - -„Was bringst du so zeitig, Albert?“ fragte Fritz ein wenig erstaunt. - -„Nur meine Neugier!“ antwortete Kolben und ging ohne Umschweife auf -sein Ziel los. „Ich hab’ nämlich gehört, daß der Streik beschlossene -Sache sein soll.“ - -„Da hast du dich gründlich verhört!“ lachte Hellwig. „Im Gegenteil, es -ist so gut wie sicher, daß jetzt nicht gestreikt wird.“ - -„So, so ... Weißt du, ich komm’ gerade von den Schächten ... Es ist -eine Abordnung dagewesen, das weißt du ja ... nun, und die ist gestern -heimgekommen mit der Meldung, daß es am Montag, also in vier Tagen, -losgehen kann ...“ - -Dröhnend schmetterte Hellwigs Faust auf den Tisch. „Das ist nicht -möglich!“ schrie er. - -Kolben zuckte die Achseln. „Ist aber trotzdem so. Ich sag’ dir, -gejubelt haben sie über die Nachricht. Mich haben sie ausgelacht. Zwei -Agitatoren sind gleich mitgekommen. Leibinger will morgen hin ...“ - -„Das ist nicht möglich!“ sagte Fritz nochmals und war ganz blaß. - -„Wenn du mir nicht glaubst, -- im Verbandsheim wirst du’s ja erfahren.“ - -„Ja -- ich werde es erfahren ...“ murmelte Fritz mit aufeinander -liegenden Zähnen. Dann reckte er sich hoch. „Ich geh’ gleich hin! -Kommst du mit?“ - -Sie gingen. Im Beratungszimmer fanden sie Leibinger, Mark und den -Obmann Anheim. Das war ein hagerer Greis mit einem mächtigen kahlen -Schädeldach und buschigen Brauen über zwei herrischen Augen. Mit fester -Hand hielt er die Zügel, war unbestechlich, ehrlich und treu, aber -kannte auch kein Nachgeben. Was er sagte, stand wie ein Block, an dem -nicht gerüttelt werden durfte, und alle fügten sich ihm. Auch Mark, der -seichte Schwätzer, der gewaltig war im Schimpfen und im Aufpulvern der -Massen. Wie ein Kutscher sah er aus mit seinen ganz kleinen Augen, der -engen Stirn und dem pechschwarzen Haar, das reichlichste Pomade nicht -geschmeidig machen konnte. - -„Also, da seid ihr ja beisammen!“ begann Hellwig mit fliegendem Atem -und sprang ohne Umschweife mitten in die Sache hinein. „Ihr habt hinter -meinem Rücken den Streik beschlossen? Das gibt’s nicht! Das dulde ich -einfach nicht!“ - -„Oho!“ sagte Anheim. - -„Jetzt ist’s zu spät!“ ließ sich Mark vernehmen. Und Leibinger lachte -spöttisch: „Ich denke, du hast hier weder was zu dulden, noch zu -befehlen!“ - -Kolben rückte sich ein wenig auf seinem Stuhl zurecht. „So kommen wir -nicht vom Fleck!“ meinte er. „Fangen wir schön von vorn an. Warum soll -denn eigentlich gestreikt werden?“ - -„Sehr richtig, das möchte ich auch wissen!“ platzte Mark heraus. -Leibinger aber fiel ihm sofort ins Wort: „Der Grund ist doch schon -längst bekannt. Die vereinbarte Arbeitszeit soll vom Zeitpunkt des -Einsteigens in die Förderschale bis zum Zeitpunkt des Aussteigens -gerechnet werden. Nicht, wie die Kohlenbarone rechnen, von der Ankunft -bei der Arbeitsstelle im Schacht bis zum Niederlegen des Werkzeugs -dortselbst. Denn um zur Arbeitsstelle zu gelangen, müssen die Leute oft -stundenlang im Stollen gehn, so daß sie elf und noch mehr Stunden unter -der Erde sind, statt der vereinbarten neun.“ - -„Ja, aber da haben die Leute doch ganz recht, wenn sie sich das nicht -gefallen lassen!“ bekräftigte jetzt Mark und tat sehr entrüstet. - -Hellwig sagte darauf: „Die Forderung ist berechtigt, gewiß! Das habe -ich schon hundertmal gesagt! Aber ebenso oft hab’ ich euch vorgehalten, -daß es jetzt einfach unmöglich ist, sie mit Gewalt durchzusetzen. -Die Leute haben sich kaum vom letzten Ausstand erholt. Sommer ist -auch. Die Lieferungen sind nicht dringend, die Grubenbesitzer können -zuwarten, haben Zeit, haben die öffentliche Meinung für sich, da die -Ursache des Streiks zu geringfügig, zu mutwillig erscheint. Und wir -haben jetzt auch die Mittel nicht, sie wirksam zu unterstützen. Auf den -Schiffswerften streiken achttausend. Wo sollen wir’s denn hernehmen? -Fragt Kolben! -- Wie viel hast du in der Streikkasse!“ - -„Warte!“ erwiderte dieser und rechnete leise vor sich hin. -„Zwanzigtausendsechshundertzwei Kronen vierzehn-- zuletzt sind siebzehn -Kronen acht dazu gekommen: --Zwanzigtausendsechshundertneunzehn Kronen -zweiundzwanzig Heller!“ - -„Da habt ihr’s! Das reicht kaum vier Tage!“ - -Leibinger unterbrach ihn schnell: „Es ist weitaus genug, wenn man die -Spenden hinzurechnet. Und gar so lang kann’s nicht dauern!“ - -„Leibinger, nimm doch Vernunft an!“ rief Hellwig. - -„Das möcht’ ich _dir_ raten! Wir _müssen_ Erfolg haben!“ - -„Auch ich wäre für den Versuch!“ bemerkte Anheim. „Im Notfall kann die -Arbeit jeden Tag wieder aufgenommen werden.“ - -„Und soundsoviel Lohntage sind beim Teufel!“ sagte Fritz grimmig. Da -glaubte Mark ein kräftiges Beweismittel gefunden zu haben. - -„Die Wahlen stehen vor der Tür!“ rief er laut. „Hat der Streik Erfolg, -sind wir unüberwindlich!“ - -Kolben griff das unüberlegte Geständnis sogleich auf. „Ich danke Ihnen -für das erlösende Wort, Herr Mark! Ja, Fritz! Die Wahlen stehen vor der -Tür, und Leibinger will Abgeordneter werden.“ - -„Wer sagt das?“ - -„Ich, Herr Leibinger! Glauben Sie, ich weiß nicht, daß Fritz Hellwig -Ihrem Ehrgeiz im Wege ist? Daß Sie gern an seiner Stelle Schriftleiter -sein möchten? Und ihm das Abgeordnetenmandat neiden, obwohl er’s noch -nicht hat?“ - -„Nicht weiter, Albert!“ unterbrach ihn Hellwig unwillig. „Das gehört -nicht her!“ - -Und Leibinger, kühn gemacht, schrie: „Verleumdung!“ - -Kolben aber sprach unbeirrt fort, mit seinem leicht ironischen Lächeln, -mit seiner großen Ruhe und sehr sarkastisch: - -„O gewiß gehört das her! Es war kein Zufall, daß ich ins Kohlengebiet -gereist bin, gleich nachdem Herr Leibinger von dort zurück war. Ganz -und gar kein Zufall war das. Und da hab’ ich so manches gehört, mein -lieber Fritz. Das, was ich eben von ihm behauptet habe, hat Herr -Leibinger den Leuten nämlich über dich gesagt, wenn auch vielleicht -nicht mit so feinen Worten. Du, Fritz, seist der Streber, der -Mandatsjäger, der unverläßliche Mitläufer, der alles zu seinem Vorteil -nützt und so weiter. Und als Beweis soll dienen: Du werdest gegen den -Streik sein, denn du spielst mit den Grubenbesitzern unter einer Decke. -Jemand hat mir sogar anvertraut, im Rausch natürlich, du seist von -ihnen bestochen.“ - -Fritz stand da, hatte die Fäuste geballt und starrte mit weiten Augen -den Sprecher an. - -„Ist -- das -- wahr?“ - -„Ich hörte es so!“ - -„Ich verwahre mich gegen eine solche Infamie!“ rief Leibinger. Der -Doktor beachtete ihn nicht. - -„Wenn ich nach dem Ursprung dieser Gerüchte fragte,“ fuhr er trocken -fort, „hat’s immer geheißen, die Gegenpartei behauptet es. Aber einer, -der mir sehr zugetan ist und für dessen Verläßlichkeit ich jede -Bürgschaft übernehme, hat es im Interesse der Partei bitter beklagt, -daß -- Herr Leibinger solche Sachen in Umlauf setze.“ - -„Nennen Sie den Namen!“ rief Leibinger. Und Mark unterstützte ihn -mächtig: „Namen nennen! Namen nennen!“ - -„Sparen Sie sich den Atem, meine Herrn!“ erwiderte Kolben und spielte -mit seiner Uhrkette. „Den Namen geb’ ich Ihnen nicht preis!“ - -„Aha!“ frohlockte Leibinger. „Dergleichen kennt man! Alles ist -erstunken und erlogen!“ - -Kolben lehnte sich faul zurück: „Ich pflege zwar sonst nicht zu lügen, -aber wenn Herr Leibinger es sagt ...“ - -Fritz aber trat mit schweren Schritten hart vor diesen hin, der -aufgesprungen war und sich vergebens mühte, den unschuldig Gekränkten -zu spielen. Mit seinem hellen Blick schaute ihm Hellwig ins Gesicht -und sprach leise, mit erzwungener Ruhe: „Also -- deswegen! Damit du -- -deine eigenen Ziele -- erreichst, sollen Zehntausende -- sollen sie -tage- -- vielleicht wochen- und monatelang -- hungern. Höre, Leibinger, -ich bin“ -- er tat einen tiefen Atemzug und seine Stimme war spröd wie -splitterndes Glas -- „ich bin nicht gewohnt, -- mit Lumpen dieselbe -Luft zu atmen!“ - -Leibinger lachte schrill auf und schrie: „Ich bin hier genau so -viel wie du! Übrigens -- mit Beleidigungen wirst du dich nicht -rechtfertigen! Eher bestärkst du unsere Gegner in dem Verdacht, daß -doch was Wahres an der Geschichte ist!“ - -Anheim hielt sich für verpflichtet, einzuschreiten. - -„Hellwig, das geht zu weit!“ mahnte er. Und Mark sekundierte: „Wir sind -keine Lausbuben!“ - -Der Obmann fuhr fort: „Auf eine Anschuldigung, die sehr -unwahrscheinlich klingt, -- ich sage nichts gegen Herrn Doktor Kolben, -er kann falsch berichtet worden sein, -- auf eine vage Anschuldigung -hin willst du den Stab über einen verdienten Genossen brechen? -~Audiatur et altera pars!~ Sei gerecht!“ - -Und Mark sekundierte: „Wo sind die Beweise?“ - -Da schäumte Fritz auf. - -„Der das gesagt hat,“ rief er leidenschaftlich, „der wiegt mir hundert -Zeugen auf!“ - -Nun erhob sich der Obmann, räusperte sich und sprach, als redete -er in einer Volksversammlung. „Ich muß,“ sprach er, „mich im Namen -der gesamten Partei, die zu führen ich die Ehre habe, auf das -nachdrücklichste gegen ein solches Vorgehen verwahren. Wer bist du -denn, Hellwig, daß du glaubst, mit uns wie mit Schuljungen umspringen -zu können? Jedenfalls steht hier, wie ich schon betont habe, Behauptung -gegen Behauptung und erst die einzuleitende strenge Untersuchung wird -ergeben, auf wessen Seite das Recht ist!“ - -„Beweise! Wo sind die Beweise!“ rief Mark. - -„Herr Mark!“ sagte Kolben. „Wir sind nicht taub. Wozu beweisen, was -schon längst nicht nur mir allein bekannt ist. Ihr wißt es ja alle -recht gut und freut euch darüber, daß Leibinger für euch die Arbeit -tut. Ihr wollt den Hellwig los sein. Er ist euch zu groß geworden, drum -soll er ganz klein werden! So oder so!“ - -Fritz stand ganz dicht vor den drei Männern. - -„Leute!“ bat er mit gefalteten Händen. „Seid aufrichtig! Wenn ihr schon -etwas gegen mich habt, so hetzt nicht heimlich in so gemeiner Weise -gegen mich, daß die, denen ihr Führer und Berater sein sollt, das Bad -aussaufen müssen, sondern habt den Mut, mir’s offen und ehrlich ins -Gesicht hinein zu sagen!“ - -Da sprach Anheim mit erhobener Stimme: „Hellwig, es ist durch nichts -bewiesen, daß sich Leibinger in irgendeiner Weise unkorrekt benommen -hat. Daran müssen wir festhalten. Daß du nunmehr auch uns in Bausch -und Bogen verdächtigst, zeigt, wie falsch dein Standpunkt in dieser -Angelegenheit ist. Deine Mitarbeiterschaft war uns stets wertvoll ...“ - -„Das heißt, sie ist es gewesen!“ erläuterte Mark. - -„Aber,“ fuhr Anheim fort, „aber in letzter Zeit sind Dinge vorgefallen, -die geeignet sind, dich und deine Stellung zu unserer Sache in einem -schiefen Licht erscheinen zu lassen. Namentlich als dein Buch -herausgekommen ist, das du auf den Markt geworfen hast, ohne uns zu -fragen --“ - -Da sagte Kolben mit unverhohlenem Spott: „Ich denke, die Herren sind -entschiedene Gegner der Zensur!“ - -Steif wehrte der Obmann den Ausfall ab: „Hier liegt der Fall doch -anders! Ein Parteimitglied schreibt gegen die eigene Partei! So was ist -noch nicht dagewesen! Ja, Hellwig, dein Werk kommt vielen von uns vor -wie die Schriften der Jesuiten. Man kann das, was du sagst, so oder so -deuten.“ - -„Wasch’ mir den Pelz und mach’ mich nicht naß!“ nickte Mark eifrig. - -Jetzt tat der Doktor, was selten bei ihm vorkam, er lachte hell auf: -„Klarer als Hellwig hat doch nicht so bald einer seine Ansichten -niedergeschrieben!“ - -„Das dachten wir im Anfang auch. Als jedoch fast alle Gegner das -Buch eines ihrer gefürchtetsten Widersacher zu loben anfingen -- von -_dem_ Lob fällt ein ganz eigentümlicher Widerschein auf die etwas -krausen Wege des Verfassers. Das wäre der erste Punkt. Zweitens hast -du, Hellwig, oft und oft scharfe Artikel erprobter Anhänger entweder -gar nicht oder nur in sehr verwässerter Form in das Parteiblatt -aufgenommen. Und sonderbarerweise waren das immer Artikel, die gewissen -geld- oder einflußreichen Leuten auf die Finger klopfen sollten.“ - -Fritz war einfach sprachlos. Er hatte die schöne Gepflogenheit, jeden -Aufsatz, der die mangelnde Sachlichkeit durch Schmähungen zu verdecken -suchte, dem Verfasser zurückzuschicken. Das war alles. - -Anheim setzte seine Anklage fort: - -„Drittens endlich widerrätst du auch den Streik, von dessen -Notwendigkeit wir alle überzeugt sind. Kurz und gut: Ich halte es -entschieden für einen Fehler, der scharfe Mißbilligung verdient, wenn -sich Leibinger des von Herrn Doktor Kolben behaupteten, aber durch -nichts bewiesenen Vorgehens gegen dich schuldig gemacht hat. Indes, -nach dem Vorgesagten, hätte er -- nach meiner Ansicht und nach der -Ansicht vieler Parteimitglieder -- gegen den Freund Otto Pichlers zwar -in der Form, kaum aber in der Sache unrecht gehabt. Bedingungslos -vertrauen können wir dir nicht mehr. Wir haben das übrigens in -einer vertraulichen Sitzung schon früher festgestellt, und ich bin -beauftragt, alle diese Dinge beim nächsten Reichsparteitag zur Sprache -zu bringen. Wenn ich sie dir vorher mitteile, um dir die Rechtfertigung -zu erleichtern, so erblicke darin einen Beweis, daß wir dich nur ungern -verlieren würden.“ - -Fritz war ganz farblos. Aber seine Augen funkelten wie Stahl in der -Sonne. - -„Bist du -- zu -- Ende?“ keuchte er und preßte die Faust gegen die -Brust, um dem übermächtigen Pochen des Herzens Einhalt zu tun. Anheim -bejahte mit einem stummen Neigen des kahlen Hauptes. Da warf er den -Kopf zurück und gewaltsam die Erregung zerdrückend, sprach er erst -stoßweise und unsicher, dann immer kälter und verächtlicher: - -„Der langen Rede kurzer Sinn ist: Ich -- bin von den Geldmännern der -bürgerlichen Parteien -- bestochen -- käuflich wie eine Marktware. -Daß ich -- euch nicht zu Gesicht stehe -- wundert mich nicht. Aber --- daß ihr so jämmerlich seid, daß ihr so erbärmlich niedrig denken -könnt -- macht das mit euch selber aus. Eins nur noch: Ich bin der -festen Überzeugung, daß nur der Zufall drei solche Prachtexemplare in -derselben Parteileitung zusammengeführt hat. Die Partei achte ich nach -wie vor -- aber betrachtet um euretwillen meinen Austritt mit dieser -Sekunde als vollzogen ...“ - -Anheim hatte sich wieder erhoben. - -„Wir werden Ihren Entschluß der Partei zur Kenntnis bringen,“ sagte er -förmlich. - -Und als Hellwig bereits die Klinke in der Hand hatte, rief ihm Mark -noch schadenfroh nach: „Der Streik beginnt natürlich Montag!“ - -Da wandte er sich und seine Augen lohten. - -„Der Streik beginnt _nicht_!“ - -Mark lachte höhnisch, und Leibinger tat jetzt wieder den Mund auf: -„Setz’ dich nur aufs hohe Roß, du dunkler Ehrenmann!“ rief er. „Wir -bringen dich schon herunter!“ Aber Hellwig hatte bereits die Tür hinter -sich zugemacht. - -Im Lesezimmer stand er wie betäubt. Kolben legte ihm die Hand auf den -Arm: „Nun, Fritz?“ - -„Laß nur, Albert ... laß!“ - -Den gläsernen Briefbeschwerer nahm er vom Tisch, hielt ihn gegen das -Licht, sah hindurch und legte ihn aufs Fensterbrett. Er ließ das -Gewebe der Stoffvorhänge durch seine Finger gleiten, als wollte er die -Festigkeit der Fäden prüfen. Er öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus -und schloß es dann gleich wieder. - -Immer heftiger arbeitete es in ihm. Und endlich sank er, der in seiner -Vertrauensseligkeit Getäuschte, in seiner kinderklaren Arglosigkeit -Betrogene, sank Fritz Hellwig schwer auf einen Stuhl und legte beide -Hände vors Gesicht. - -„Das arme Volk!“ stöhnte er zu tiefst aus der Brust heraus. „Das arme, -arme Volk!“ - - -10. - -Aber er blieb nicht untätig dem Schmerz hingegeben. Am selben -Nachmittag noch reiste er in den Kohlenbezirk. Pfannschmidt, -telegraphisch verständigt, erwartete ihn. Noch in der Nacht wurde -ein Flugblatt fertig. Den nächsten Abend sollte eine Versammlung, am -Sonntag aber ein Meeting unter freiem Himmel abgehalten werden. Der -anbrechende Morgen fand Hellwig mitten unter den Bergleuten. Er fuhr -von Schacht zu Schacht, verständigte die Knappschaften, verteilte die -Flugblätter. - -Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht von seiner -Anwesenheit. In hellen Haufen kamen sie abends in den Versammlungssaal. -Dort hatten sich auch Anheim und Leibinger eingefunden. - -Von stürmischem Jubel begrüßt, trat Hellwig hinter den Rednertisch. -Es dauerte Minuten, bevor er sich verständlich machen konnte. Dann -aber wurde es lautlos still. Seine geschulte Rednerstimme war bis in -den entferntesten Winkel des großen Raumes vernehmbar. Leibingers -Anhang versuchte wohl anfangs durch Räuspern und Scharren den Redner -zu stören. Aber Anheim winkte ab. Er hatte sich für das Zuwarten -entschieden. - -Was Hellwig sagte, klang auch gar nicht aufreizend. Nüchtern und -sachlich gab er seine Gründe gegen den Streik bekannt. Als sie merkten, -wohinaus er wollte, begannen viele zu murren und dazwischen zu rufen. -Denn sie hatten sich bereits mit dem Gedanken an den Ausstand vertraut -gemacht. - -Da flammte er auf. Jedes Wort schlug ein. Und es währte nicht zehn -Minuten, da waren sie wieder in seinem Bann. Aus den geröteten -Gesichtern, die in gespannter Aufmerksamkeit ihm zugewendet waren, aus -den glänzenden Augen, die jeden Satz von seinen Lippen vorwegzunehmen -verlangten, las er die Wirkung, spürte er heraus, daß er wieder Fühlung -mit ihnen hatte. Und als er sie jetzt zur Entscheidung aufforderte, da -stimmten unter tosendem Beifall fast alle gegen den Streik. - -Im ersten Anlauf hatte er den Kampf bereits so gut wie gewonnen. Nach -ihm hätte Leibinger zu Wort kommen sollen. Statt seiner stand Anheim -auf. Ein starres Festhalten am Streik konnte der Partei nur schaden. -Das sah der Obmann ein und gab seiner Meinung dahin Ausdruck, daß es -wohl am besten sei, die Entscheidung den Arbeitern zu überlassen. Er -konnte sich an den Fingern ausrechnen, wie die Entscheidung ausfallen -mußte. Doch war der Rückzug geschickt in Szene gesetzt, das Ansehen -der Partei brauchte nicht darunter zu leiden. Von Hellwigs Austritt -erwähnte der Obmann nichts. Er hoffte, da auch Fritz geschwiegen, -daß sich die leidige Geschichte vielleicht doch bis nach den Wahlen -vertuschen oder irgendwie werde beilegen lassen. - -Dem Meeting am Sonntag aber schenkte Hellwig ganz reinen Wein ein. -Schonungslos brachte er alles zur Sprache, was zum Bruch geführt hatte -und forderte Leibinger auf, sich zu rechtfertigen. Der jedoch wagte es -nicht. Denn unter den Versammelten waren viele, die seine Ausstreuungen -mit eigenen Ohren gehört hatten und jetzt durch laute Zurufe -bestätigten. Er überließ es Anheim, die verlorene Sache zu führen. -Aber die Leute wollten auch den nicht hören. Sie tobten und schrien, -schleuderten dem Obmann, der auf der Felsplatte stand, ihre Empörung -ins Gesicht. Wer seine Stimme für Leibinger erheben wollte, wurde -niedergebrüllt, mundtot gemacht, mit Püffen und Stößen herumgeschoben, -bis er still war oder sich entfernte. - -Es hätte nur eines Winkes von Hellwig bedurft und die Mehrzahl wäre -von der Partei abgefallen. Doch das wollte er nicht. Die Kräfte -durften nicht zersplittert werden, unter dem Gegensatz zwischen -einzelnen durfte die Gesamtheit nicht leiden. Deswegen beruhigte er -die Aufgeregten. Man dürfe, sagte er, das Kind nicht mit dem Bad -ausschütten, weil einer oder der andere sich unwürdig erwiesen habe, -nicht die Partei verdammen. Es sei ihm nicht leicht geworden, den -Kampf aufzunehmen. Aber rechtfertigen habe er sich gerade vor ihnen -wollen und müssen. Und er habe es für seine Pflicht gehalten, sie nach -Pichler vor Leibinger zu bewahren. Nicht gegen die Partei richte sich -sein Angriff, denn die Partei sei rein, habe schon Großes erreicht und -durch feste, lautere Eintracht werde sie alles erreichen. Schließlich -riet er ihnen, einen bewährten Mann aus ihrer Mitte in den Reichsrat -zu entsenden und schlug Karl Pfannschmidt vor. Sie aber verlangten -ungestüm, daß er selbst sich bewerbe. Er weigerte sich. Denn dadurch -wäre der Zwist erst recht entfacht worden. Solang die jetzige Leitung -blieb, konnte er nicht mit der Partei gehen. Und gegen sie wollte er -nicht gehen. Von der Uneinigkeit hätten nur die Gegner Nutzen gezogen. -Und er sagte ihnen, daß er noch einmal zu ihnen kommen werde, wenn sie -es forderten. Er wollte ihnen zu besonnener Überlegung Zeit lassen und -den Ernst ihrer Gesinnung prüfen. Sie jubelten ihm zu, umdrängten und -begleiteten ihn wie einen Triumphator in die Stadt. Dann reiste er ab. - -Und sie -- riefen ihn nicht zurück. - -Kaum war er fort, setzte heimlich, aber um so gehässiger die Wühlarbeit -gegen ihn ein. Seine Feinde waren durch den schnellen, mit gewaltigem -Ungestüm geführten Angriff überrumpelt worden. Doch da er den Sieg -nicht ausnützte, fanden sie Zeit, sich zu sammeln. Leibinger zeigte -sich nicht mehr. Aber seine Kreaturen waren unermüdlich am Werke. - -Fortwährend und überall wurde jetzt von Hellwig gesprochen. Aber es -war nur selten Gutes, was man sich von ihm zu erzählen hatte. Und -nach manchem Für und Wider, nach halben Andeutungen und vielsagendem -Schweigen kam man gewöhnlich überein, es sei eigentlich unerfindlich, -worin sein Verdienst bestehen sollte. Er habe einfach Glück gehabt. -Der große Erfolg von damals sei nicht auf seine Rechnung zu setzen; -dazu habe die Katastrophe, die zur rechten Zeit hereinbrach, das meiste -beigetragen. Die eigentlichen Kämpfer und Sieger seien jedoch die -Arbeiter gewesen. Die allein haben darunter gelitten, dafür gehungert, -die volle Schwere des Feldzuges am eigenen Leib verspürt. Hellwig -habe eigentlich nur zugesehen und geredet. Jetzt aber nehme er die -Lorbeeren ganz für sich in Anspruch, maße sich das Recht an, andere -zu hofmeistern, zu beleidigen, als Spielball zu gebrauchen, seine -Meinungen ihnen aufzuzwingen. Die Freiheit führe er zwar fortwährend -im Munde, aber gleichzeitig übe er unerhörteste Zwangsherrschaft gegen -alle, die ihm nicht unbedingte Gefolgschaft leisten, er habe ganz das -Zeug zum Diktator. Dem müsse vorgebeugt werden. Das Volk müsse selbst -über sich herrschen, dürfe nach niemandes, auch nicht nach Hellwigs -Pfeife tanzen. - -So wurde geredet, und die bewegliche Menge, seinem persönlichen -Einfluß entrückt, schenkte diesen Reden gern und willig Gehör. Und da -Leibinger vorderhand doch nicht gut selbst als Wahlwerber auftreten -konnte, war das Schlußergebnis, daß Pfannschmidt wieder als Bergmann -arbeitete, August Mark zum Abgeordneten gewählt wurde und der Streik, -der förmlich Hellwig zum Trotz doch noch versucht worden war, mit einem -Mißerfolg endete. - -Der Bruch mit der Parteileitung war Hellwig nicht so nah gegangen -als die Haltung der Bergarbeiter, kurz nachdem sie ihm zugejubelt -und ihn wie einen Halbgott gefeiert hatten. Doch fand er auch hier -Entschuldigungsgründe für ihren Wankelmut. Er war auf halbem Wege stehn -geblieben, hatte den begonnenen Kampf nicht bis zu Ende geführt. Eine -Hanswurstiade war das gewesen, die Leute hatte er verwirrt, ohne ihnen -einen Weg aus dem Irrsal zu zeigen, und es war kein Wunder, wenn sie, -von ihm im Stich gelassen, wieder jenen folgten, an deren Führerschaft -sie nun einmal schon gewöhnt waren. Nachträglich hatte sein Ausscheiden -aus der Partei zwar noch einigen Staub aufgewirbelt, wäre es fast zu -einer Spaltung im geeinigten Lager gekommen. Da er aber nichts von sich -hören ließ, sich ganz vergrub und verschollen blieb, legte sich die -Aufregung, es wurde stiller, und man vergaß ihn allmählich. - -Und er wühlte sich immer tiefer in seine Arbeiten hinein, studierte, -las und schrieb die Tage und die halben Nächte durch. Denn er war -jetzt ausschließlich auf die unsicheren Einkünfte angewiesen, die er -von den Zeitschriften für Beiträge gezahlt erhielt. Und da sparte er -und knauserte und versagte sich sogar die gewohnten Zigarren, immer in -Sorge, daß er einmal nicht genug verdienen und gezwungen sein könnte, -die Mitgift seiner Frau anzugreifen. - -Und Eva sollte Mutter werden. - - -11. - -Da ließ sich eines Tages Leo Reinholt bei ihm anmelden. Der besaß außer -einem großen Vermögen im Ostwinkel des Reiches eine Tuchfabrik mit -Spinnereien, Webereien, Färbereien und allem, was dazu gehörte. Die -Wohnungen, die er dort seinen Bediensteten aufgebaut, waren musterhaft, -und die Wohlfahrtseinrichtungen, die er sonst noch geschaffen, hatten -seinerzeit viel von sich reden gemacht. Der also ließ sich eines Tages -bei Hellwig anmelden. - -Fritz empfing ihn sehr zurückhaltend. „Was verschafft mir die Ehre?“ -fragte er steif und wies auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch. -„Wollen Sie Platz nehmen?“ - -Ungezwungen kam der Fabrikant der Einladung nach. Er war beinahe ebenso -groß, aber schmächtiger als Hellwig, hatte auffallend kleine Hände und -blickte aus hellen braunen Augen treuherzig in die Welt. Im dunklen -Haarschopf leuchtete das Weiß einer werdenden Glatze. - -„Haben Sie eine Viertelstunde Zeit für mich?“ fragte er, indem er sich -setzte. - -„Da müßte ich wohl zuvor wissen, um was es sich handelt.“ - -„Das läßt sich nicht so einfach sagen ... Sie sind gegenwärtig ohne -feste Stellung?“ - -„Über meine Privatverhältnisse glaube ich Ihnen keine Rechenschaft -schuldig zu sein.“ - -Der andere lächelte leicht: „Gewiß nicht!“ Und immer nur wie ganz -beiläufig und nebenbei fuhr er fort: „Ja, also, wie soll ich Ihnen das -auseinandersetzen? -- Ich habe mich eingehend mit Ihrem Buch befaßt, -sehr eingehend, ja. Und, also, die Vorschläge, die Sie machen, die -scheinen mir durchführbar und, was die Hauptsache ist, rentabel. Ja, -also -- kurz und gut, ich beabsichtige meine Fabrik danach einzurichten -und, ja -- wenn Sie wollen -- Sie könnten mir dabei helfen.“ - -Fritz sprang auf. Mit einem jähen, ungestümen Satz. - -„Ist das Ihr Ernst?“ - -„Wäre ich sonst hier?“ Der Fabrikant zündete sich eine Zigarre an. „Sie -erlauben doch? -- Darf ich vielleicht aufwarten?“ Er hielt Hellwig die -Ledertasche hin. Der beachtete es gar nicht. Mit langen Schritten lief -er durchs Zimmer. Dann machte er wieder vor dem Besucher halt, schaute -ihn zweifelnd an: „Ja -- aber -- wieso ...? Ich weiß nicht, was Sie -veranlassen könnte ... Scherzen Sie denn wirklich nicht?“ - -Reinholt blies den grauen Rauch in die Luft. „Warum wundert Sie das -eigentlich? Ich sage ja, ich halte die Geschichte für rentabel. -Für mich ist das ein Geschäft wie jedes andere, eine Spekulation -meinetwegen, die glücken oder fehlschlagen kann. Das weiß ich vorläufig -noch nicht. Glückt sie, ist’s gut. Wenn nicht, hab’ ich mich eben -verrechnet und muß die Folgen tragen.“ - -Er sagte das alles im trockensten Geschäftston. Und doch war im Grunde -seiner braven Augen etwas, das zu dieser kaufmännischen Sachlichkeit -nicht stimmte. Etwas Warmes, nur gedämpft wie hinter Schleiern -Leuchtendes, -- Güte, die nicht erkannt sein wollte. - -Fritz hatte seine Wanderung durch das Zimmer wieder aufgenommen. Die -Arme auf dem Rücken verschränkt, schritt er ruhlos auf und ab und -schaute zur Decke, als ob er von dort etwas herablesen wollte. Dann -wieder blieb er stehen, schüttelte den Kopf und bewegte die Lippen wie -im Selbstgespräch. Reinholt beobachtete ihn eine gute Weile. Endlich -rief er ihn an: „Herr Hellwig ...“ - -Da schrak er aus seiner Versunkenheit auf: „Ja?“ und schaute den -Fabrikanten fremd an. - -„Wir wollen die Sache nicht überstürzen, Herr Hellwig. Es hat ja Zeit. -Ich mute Ihnen keine sofortige Entscheidung zu. Nur einige Aufklärungen -möchte ich Ihnen noch geben, dann überlegen Sie sich’s und lassen mich, -sagen wir in vier Wochen, Ihren Entschluß wissen. So lang bleibe ich -Ihnen im Wort.“ - -Das klang wieder sehr nüchtern und vernünftig. Und diese kühle Art -ließ auch Fritz ruhiger werden; aufmerksam hörte er zu, wie jetzt der -Fabrikant in großen Umrissen seinen Plan entwickelte. - -Als er gegangen war, blieb Hellwig noch lang unbeweglich vor dem -Schreibtisch sitzen. Da hatte ihm einer die Möglichkeit gezeigt, wie -er sein Lebenswerk erfüllen konnte. Und es war ihm, als ob er in eine -ungeheure Helligkeit schaute, die ihn blendete und alle Gegenstände -überstrahlte, so daß nichts anderes zu sehen war als Licht und Licht. -So -- wie man die Möven nicht sieht, die Barken nicht und nicht die -Schiffe, wenn die Sonne auf den See scheint und seine Fläche zum -Spiegel macht. Und man weiß doch ganz sicher, daß dort klares Wasser -ist und freut sich und kann es nicht erwarten, bis man die Kleider vom -Leib ziehen und in dem kühlen Silber untertauchen kann. - -Da tat sich die Tür auf und Eva kam herein, sacht, schüchtern, mit dem -aufrechten Königinnengang des tragenden Weibes. Nun sprang er empor, -hob die Arme seitwärts und aufwärts, mit einer so ungestümen, frohen -und leidenschaftlichen Bewegung, als wollte er eine Welt umspannen. - -„Eva ...“ stammelte er. „Eva ...“ - -Eine Sekunde nur schaute sie ihn befremdet an und wunderte sich -über den Glanz in seinen Augen. Dann wußte sie, daß eine Wendung -eingetreten, daß ein großes Glück für ihn im Anzug sei. Mit -ausgestreckten Händen trat sie auf ihn zu: „Fritz ... Ist’s jetzt -wieder gut, Fritz?“ - -„Ja!“ - -Und nun erzählte er es ihr. Aber während er redete, verlor sich -mehr und mehr die beschwingte Zuversicht der ersten Freude. Er -begann von den Hindernissen zu sprechen, die zu beseitigen, von den -Schwierigkeiten, die zu überwinden waren. Die Skrupel kamen, aus Licht -wurde Schatten und keins der Bedenken, die ihm aufstiegen, verhehlte -er ihr. Nach Reinholts Schilderung lag die Industrie in jenem Lande -zwar sehr im argen, aber gerade in der Gegend, wo auch sein Unternehmen -stand, waren noch einige kleinere Spinnereien und Webfabriken, die -insgesamt kaum zweitausend Leute beschäftigten. Doch diese gehörten -fast ausnahmslos zu jener Partei, die gegen Hellwig als Abtrünnigen den -Bannfluch geschleudert hatte. - -Für den Anfang, zu diesem Schluß kam er endlich, für den Anfang werde -sich wohl eine Trennung nicht vermeiden lassen. Erst wenn der ärgste -Wirrwarr vorüber, die neue Ordnung einigermaßen befestigt sei und sich -eingelebt habe, werde ihm Eva folgen können. - -Sie hörte es und wurde blaß. „Und das Kind?“ fragte sie tonlos. - -Einen Augenblick zögerte er mit der Antwort. Er fühlte ein Würgen in -der Kehle. Aber sie sollte, sie durfte nicht merken, wie nah es ihm -ging. „Ich werde euch unterdessen nach Neuberg bringen,“ sagte er. Da -ließ sie traurig den Kopf sinken und sprach kein Wort mehr. - - -12. - -Hellwig nahm das Anerbieten Reinholts an. Der Entschluß war ihm nicht -leicht geworden. Erst als er ganz mit sich im reinen war, sagte er ja. -Aber nun er sich einmal entschieden hatte, glaubte er um so sicherer -an den Erfolg. Verläßliche Leute wurden angeworben, die eine Art -Kerntruppe für das neue Unternehmen abgeben sollten. Pfannschmidt war -darunter, der alte Kesselwärter Bogner, auch einer von den Brüdern Otto -Pichlers. Die reisten mit Reinholt gleich ab. Hellwig wollte noch die -Entbindung Evas abwarten. - -Und Evas schwere Stunde kam. Die Geburt währte lang, ein Arzt mußte -gerufen werden. Fritz war im Zimmer daneben. Die Tür war angelehnt, -aber hinein ging er nicht. Auf daß sie später einmal sich nicht -doch vielleicht irgendwie vor ihm schäme, weil seine Augen ihre -allerhilfloseste Menschlichkeit gesehen. Er hörte das kalte Klirren der -Instrumente, die gedämpften Anordnungen des Arztes, das leise Stöhnen -seines Weibes. Und er wußte nicht, wie es stand. Die Ungewißheit -marterte ihn, die Angst und das Bewußtsein seiner Ohnmacht. Daß -er so dastehen mußte und ein Liebes leiden lassen mußte und nicht -helfen konnte. Und mit einemmal überkam es ihn und zwang ihn, in -seinem Herzen zu wühlen, die verborgensten Falten zu durchwühlen, ob -nicht doch vielleicht irgendwo ein Fetzen vom verlorenen Gottglauben -zurückgeblieben, an den er sich klammern, den er umkrallen könnte -wie der jämmerlichste Betbruder den Rosenkranz. Aber er fand nichts. -Wie ein gefangenes Tier im Käfig rannte er ohne Pausen um den Tisch, -den Kopf nach vorn geduckt, die Augen starr, mit steif gestrafften -Armen und geballten Fäusten. Und empfand seine Ohnmacht und spürte -den Widersinn, daß Leben unter entsetzlichen Qualen vom Leben sich -losreißen muß, und hörte die Ketten klirren und die Peitsche sausen. - -Und dann war drinnen ein weherer Ton. Und dann -- der erste Schrei -seines Kindes. Da wurde er totenblaß -- und seine Arme hoben sich -langsam und breiteten sich aus und ein zitterndes Schluchzen kam ganz -von tief aus seiner Brust. Und er ging in die Küche, wo weinend die -Magd saß. „Marie ... es ... es schreit schon,“ sagte er fremd, mit -weicher, bebender Stimme -- und schritt wieder wie im Traum in das -Zimmer zurück und stand und horchte. - -Mittag war nahe. Um die halbentlaubten Bäume im herbstlichen Garten -floß der Sonnenschein, blau funkelte der Himmel durch die offenen -Fenster, und warme weiche Luft drang herein. Und im nahen Kirchturm -begannen alle Glocken auf einmal zu läuten. Und die Glocken läuteten -und läuteten, und das Kind schrie und schrie und überschrie das -Geläute, heller, freudiger, lebenswilliger -- er war noch nie vorher so -fromm gewesen wie in dieser Stunde. -- - -Noch ein anderer hatte mit Fritz gebangt und gelitten. Doktor Kolben, -der jetzt den Arzt hatte weggehen sehen und heraufkam, nur bis in -das Vorzimmer, und sich erkundigte. Und als er hörte, daß ein Junge -angekommen sei, da lachte er über das ganze Gesicht und lief wieder -fort. Und schon nach einer kleinen Weile kam er noch einmal und brachte -einen großen Strauß blühender Rosen für die junge Mutter. So viele -ihrer der Gärtner gehabt hatte, so viele hatte er hergeben müssen. - -Den nächsten Tag kam Frau Wart von Neuberg hergereist und im geruhigen -Lauf der Stunden fügte sich mählich alles in die neue, von dem -jungen Menschlein beherrschte Ordnung. Aber Fritz schwankte wieder -und zauderte und verschob seine Abreise Woche um Woche. Es war ihm, -als hätte er Eva zum andernmal gewonnen. Und während sie sich langsam -wieder aufrichtete, entfaltete sich neben ihr noch ein zweites, ein -neues Menschenleben, das ihr und ihm gehörte und doch wieder nicht -gehörte, das hilflos in ihre reifen Hände gegeben war, daß sie es -formten und sicher einfügten in das rollende Räderwerk der Gegenwart. -Und es würde forttreiben und ein Teilchen ihres Wesens mit hinüber -tragen in eine Zukunft, die nicht mehr die ihre war. Er konnte lang und -immer wieder vor dem weißen Schlafkörbchen seines Buben stehen und den -Rätseln des Lebens nachsinnen, indes der Säugling ruhig atmend schlief, -mit kaum beflaumtem Kopf und einem blassen Gesicht, das ohne Bewegung -war, leidenschaftslos und ohne Arg wie die glatte Meeresfläche -- und -doch birgt sie ungezählte wunderbare Möglichkeiten, schöne und wilde, -furchtbare und sanfte, unter ihrem harmlosen Frieden. - -Und die Trennung wurde ihm schwer. Schon erwog er den Gedanken, Weib -und Kind gleich mit sich zu nehmen. Er schrieb auch an Reinholt -deswegen. Doch der riet ihm ab. Die Lage sei so einfach nicht, die -Gegend außerdem öd, die Lebensmittel, und namentlich eine keimfreie -Milch, nur sehr schwierig zu beschaffen. Denn die nächste größere -Stadt sei viele Meilen weit entfernt und eine sanitätspolizeiliche -Überwachung gebe es so gut wie gar nicht. Es sei schon besser, wenn -sich Fritz die Sache vorerst ansehe und sich einlebe. - -Er las das Schreiben und spürte heraus, daß ihm nicht alles gesagt -wurde. Und der Zwiespalt in ihm wurde immer größer. Es drängte und -zog und trieb ihn nach dem Ort, wo seine Gedanken Tat werden sollten --- und hielt ihn doch mit tausend Fäden fest in seinem Heim. Kolben -merkte gut, wie es um ihn stand. Doch er redete da nichts hinein, riet -nicht ab und stimmte nicht zu. In Eva aber war die Mutterzärtlichkeit -aufgeweckt und die Liebe zum Kinde ließ sie alles andere als unwichtig -hintansetzen. Und wenn sie ihn vordem eher aufgemuntert und sich -gefreut hatte, weil sie ihn fröhlich sah, so bat sie ihn jetzt, daß er -bei ihr bleibe oder sich gedulde, wenigstens ein Jahr noch, bis das -Kleine stärker und widerstandsfähiger geworden und eine Übersiedelung -leichter zu bewerkstelligen wäre. Und fast hätte sie ihn umgestimmt, -und schon wollte er Reinholt bitten, ihn seines Versprechens zu -entbinden, obwohl der Fabrikant bereits alle Vorbereitungen traf, -Zubauten aufführte, Leute aufnahm, Ungeeignete fortschickte und nur -die Ankunft Hellwigs abwartete, um mit der Einrichtung des neuartigen -Betriebes ungesäumt zu beginnen. Eine Absage im letzten Augenblick -mußte ihm einen empfindlichen Schaden bringen, das wußte Fritz. Und -seine Nächte wurden schlaflos und unstet wieder seine Tage, er kämpfte -schwer und konnte und konnte sich nicht entscheiden. - -Und da war es wieder jene Frau, der er schon so vieles zu danken -hatte, die ihm mit behutsamen Händen die Hindernisse wegräumte und das -sichere Vertrauen wiedergab, Frau Hedwig, seine zweite Mutter, wie -er sie einst genannt hatte. Sie wollte verhüten, daß er sich gegen -Reinholt entscheide. Denn das hätte niemandem gefrommt. Ihm nicht, -weil ihn später ganz gewiß der Gedanke gepackt und gequält und nicht -mehr losgelassen hätte, daß er die Gelegenheit, sein vermeintliches -Lebenswerk zu vollenden, nutzlos habe vorübergehen lassen. Und den -Seinen nicht, weil sie sich später selbst den Vorwurf nicht erspart -hätten, daß sie ihn elend gemacht und schuld an seinem Leiden hätten. -Deswegen suchte sie mit behutsamem Takt, ohne daß er es merkte, seinen -Entschluß zugunsten Reinholts zu beeinflussen. Und sie tat es um so -beruhigter, da für Eva mit ihrem Buben bei den Großeltern in Neuberg -eine sonnige Zuflucht bereit stand. - -„Wann wirst du denn abreisen?“ fragte sie ihn einmal und sie fragte, -als ob alles glatt und seine Abreise eine selbstverständliche und von -allen erwartete Sache sei. - -„Das hat noch gute Wege!“ erwiderte er unwirsch. - -Sie tat erstaunt: „Gute Wege? Ich hab’ gedacht, sie brauchen dich schon -sehr notwendig.“ Er trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte und -gab keine Antwort. Da trat sie ganz nah zu ihm und sagte ganz leise, -mit großer Überwindung: „Fritz -- es ist vielleicht doch besser, weißt -du ... damit ... unser Heinz -- er hat Ähnliches gewollt, Fritz ...“ - -Mit einem Satz stand er auf den Füßen, hatte die Hand im Ausschnitt -der Weste verkrampft und atmete heftig. Aber kein Wort kam über seine -Lippen. Ihre Bewegung niederkämpfend, fuhr sie tapfer fort: „Du hast -ihm ja auch dein Buch zugeeignet -- und was da jetzt ins Leben treten -soll -- es wäre die Vollendung dazu ...“ - -Noch immer gab er keine Antwort. Und noch, als sie sich langsam wandte -und aus dem Zimmer ging, stand er wie ein steinernes Bild und hielt sie -nicht zurück. Aber ihre Worte wirkten nach. Ein ehrendes Totenmal hatte -er dem Freund errichten wollen, dem flammend in den Tod gegangenen -Freund ... Und da, nach Tagen und Nächten schweren Ringens fiel es mit -einemmal auf ihn: Wenn -- alles so bleibt und das Suchen nicht aufhört --- und dein Junge später einmal -- er ist ja eines Blutes mit dem -Toten und mit dir -- es könnte mit ihm gerade so werden später einmal. -Darum -- tu’s! pack’ zu! versuch’, ob du’s zwingen kannst! -- Wirb um -die heutigen Herren und erobere sie durch eine unwiderlegliche große -Tat! -- Damit dein Bub nachher ruhig weiter bauen kann -- und vorwärts -kommen kann zu den Quellen des Menschentums, ohne im vorgelagerten -Sumpf stecken zu bleiben -- und darin zu ersticken, wie Heinz -- und -beinahe du selbst ... - -Und er entschied sich für Reinholt. Und je länger er bisher gezaudert -hatte, je hastiger betrieb er jetzt die Reise. Eva sollte unterdessen -nach Neuberg, bis er sie in einiger Zeit werde zu sich holen können. -Aber sie wollte nicht nach Neuberg. Sie fürchtete sich vor den Leuten. -„Er hat sie sitzen lassen, na ja, das hat ein Blinder voraussehen -können!“ So würden sie reden und sich anstoßen und ihr nachschauen und -sich teilnehmend und mitleidig und hämisch nach dem Vater des Kindes -erkundigen. Und auch ihr Vater würde nicht anders denken. „Es hat so -kommen müssen, Mutter. Er und Heinz, die zwei haben ja nie ein Herz für -ihre Familie gehabt!“ Deutlich glaubte sie zu hören, wie er das sagte. -Und ganz im letzten Winkel ihres Herzens regte sich etwas wie eine -vage, dumpfe Ahnung, daß Fritz einst wiederkehren würde -- und nicht -als Sieger. Und daß er dann sein Heim so wieder finden müßte, wie er -es verlassen. Weit schob sie den Gedanken von sich, aber er ließ sich -nicht bannen und so sehr sie sich mühte, an Hellwigs Erfolg zu glauben, -ganz leise und ganz heimlich zweifelte sie doch daran. Deswegen war sie -taub für das Zureden der Mutter und hörte nicht auf Fritz. Sie wolle -vorläufig alles unverändert beim alten lassen, bis er einen Überblick -haben und ihr wenigstens annähernd werde sagen können, wie lang die -Trennung notwendig sei. Dann wolle sie sich’s erst zurechtlegen. Dabei -blieb es. Und als Fritz abgereist war und bald darauf auch Frau Hedwig -nach Neuberg zurück mußte, da hatte Eva in der großen Stadt keinen -Einzigen, an den sie sich wenden konnte, als den Doktor Albert Kolben. - - - - -Fünftes Buch - - -1. - -In einer weiten Ebene, zwischen Buchenbeständen und buschigem -Wiesenland, lag das große Unternehmen Leo Reinholts. Die Eisenbahn -führte vorüber, ein paar Dörfer waren in der Nähe, die sich mit -verstreut in großen Zwischenräumen stehenden Häusern stundenweit -hinzogen. Und dazwischen waren längs der Bahn noch ein paar kleinere -Fabriken, Gründungen findiger Konkurrenten, die aber nicht recht -emporkommen wollten und zum Gedeihen zu schwach, zum Eingehen zu -jung, in kümmerlicher Unzulänglichkeit sich fortfretteten. Die -Einheimischen aber, zumeist Ruthenen und schlaue Polen, haßten die -Schornsteine und die roten Ziegeldächer der Fabriken. Denn die hatten -ihnen die beschauliche Ruhe gestört, die mit schlechtestem Branntwein -zufriedene Bedürfnislosigkeit abgewöhnt und die Löhne verteuert durch -einen Schwarm fremdsprachiger Arbeiter, die noch obendrein wegen -ihrer Wissenschaft des Lesens und Schreibens und wegen ihrer größeren -Weltkenntnis auf das Bauernvolk herabschauten, sich besser dünkten -und die Herren spielen wollten. So waren die Klassenunterschiede -schärfer als sonstwo ausgeprägt und drängten die Arbeiter der einzelnen -Betriebe stärker als sonstwo zum Zusammenschluß. Ein ganz leidliches -Einvernehmen hatte bisher unter ihnen geherrscht, und fast ohne -Ausnahme waren sie Sozialdemokraten. Da kam nun plötzlich Reinholt und -forderte von seinen Leuten, daß sie es nicht mehr seien. Und wer sich -nicht darein schicken wollte, bekam seinen Abschied. Er hielt strenge -Musterung, mußte sie auch halten, denn für sein Experiment -- nichts -anderes war es -- brauchte er ganz zuverlässige Leute. - -So entstand eine Spaltung. Da kam Hellwig und richtete das neue -Unternehmen ein. Wie der Haushalt einer einzigen Familie wurde das. -Eine große Küche war da, mit Dampfheizung und papinischen Kesseln, -dort wurde für alle auf einmal gekocht. Reine und luftige Speisehallen -gab es, eine Bücherei mit weiten Leseräumen, einige Spielzimmer, auch -ein Theater und einen Tanzsaal. Ein Krankenhaus, eine Schule und ein -Altersheim wurden gebaut, im Park waren Tummelplätze für die Kinder -und Erholungsstätten für die Erwachsenen, Bäder und Turnsäle fehlten -nicht. Die Frauen sollten beim Kochen helfen, die Wäsche besorgen, im -Gemüse- und Obstgarten arbeiten oder die Kinder beaufsichtigen, wie sie -es lieber wollten, und wenn es ihnen gefiel, konnten sie jede Woche in -diesen Beschäftigungen wechseln. Die Lohnzahlung wurde abgeschafft. -Jeder war am Gewinn beteiligt. Nach einem einfachen Schlüssel unter -Berücksichtigung der Arbeitsleistung und der Kopfzahl einer Familie -wurden die Anteile ermittelt, die jeder zu dem gemeinschaftlichen -Haushalt beizutragen hatte. Der Überschuß wurde bar herausbezahlt oder -gutgeschrieben, wie es jeder lieber mochte. Für alle Bedürfnisse war -gesorgt. In der Schneiderei konnten sich alle die Kleider anfertigen -und flicken lassen, eine Schusterwerkstatt war da und ein gemeinsames -Bestellbureau für alle Dinge des täglichen Bedarfs. So waren sie ganz -unabhängig, waren ein Gemeinwesen für sich und brauchten keine fremde -Vermittlung. - -Fritz aber war für sie bald das treibende Rad des Ganzen. Zu ihm kamen -sie mit ihren Anliegen und Wünschen, und wenn sie untereinander Streit -hatten, fügten sie sich seinem Schiedsspruch. Und da er mit ganzem -Herzen bei der Sache war, gewann er auch ihre Herzen. Das wußte er -nicht, aber es war so. Manche bewunderten, die meisten liebten und nur -ganz wenige fürchteten ihn. Alle aber standen unter dem zwingenden -Bann seiner prachtvollen Aufrichtigkeit, fühlten heraus, daß er -bedingungslos auf ihrer Seite stand. Niemanden ließ er gleichgültig. -Zu seiner vollwertigen Persönlichkeit mußte jeder Stellung nehmen, und -die Mehrzahl gab sich vollständig in seine Leitung. Ihn nannten sie -‚Meister‘, wie er selbst es ihnen vorgeschlagen hatte, während Reinholt -nach wie vor der ‚Herr‘ blieb. Doch waren sie auch ihm zugetan und -rühmten ihm strenge, aber unparteiische Gerechtigkeit nach. - -Bevor das alles auch nur halbwegs ins Gleis kam, waren viele Monate -vergangen. Welche Unsumme von Plage und Mühsal und Sorge für Hellwig -damit verknüpft gewesen, wußte außer Eva vielleicht niemand so recht. -Anfangs kannte er freilich weder Müdigkeit noch Abspannung, war ihm -die Arbeit nur wie ein Fest. Aber Monat um Monat verrann, und die -Schwierigkeiten wollten nicht aufhören. Immer wieder fand sich etwas, -das geordnet, unschädlich gemacht, ausgetilgt werden mußte. Bald waren -es geheime Machenschaften, bald offene Widersetzlichkeit, Zwist und -Streit. Kaum ein Tag verging, an dem Hellwig nicht einen Schiedsspruch -zu fällen, als Friedensstifter zu walten hatte. Sooft er dachte, -jetzt und jetzt werde er Eva holen können, immer kam etwas verquer. -Anfangs waren es die Zustände im jungen Unternehmen selbst, die seine -Wachsamkeit forderten. Dann aber setzten die Feindseligkeiten der -Gegner ein. Der Verlust von nahezu tausend Genossen traf die Partei -hart. Und daß es gerade Fritz Hellwig war, der ihnen diesen Verlust -zugefügt, war nur ein Grund mehr zur erbittertsten Fehde. Da wurde -geschürt, gehetzt, auf jede Weise versucht, die Leute unzufrieden zu -machen und aufzureizen. Ohne Erfolg. Wer sich nicht fügen wollte, -konnte anderswo sein Brot suchen. Eisern hielt Fritz die Ordnung -aufrecht. So gütig und umgänglich er sonst war: wenn eine Satzung -übertreten wurde, kannte er keine Nachsicht. Das hatten sie bald heraus -und liebten auch diese Strenge. Er gab ihnen viel und hätte auch viel -fordern können. Um so begreiflicher fanden sie es, daß er das wenige, -das er wirklich forderte, auch durchsetzte. - -Da traten die Gegner aus ihrer Zurückhaltung, riefen offen zum -Kampf gegen den Augenauswischer, den Volksbetrüger, Verräter und -Zwietrachtsäer, der sich in Menschlichkeit wie ein Frosch blähe -und lediglich den eigenen Bauch mit dem blutigen Schweiß der Armen -fülle. So stand es in ihren Zeitungen, und das waren noch die besten -Vergleiche. Ein besonders Eifriger aber behauptete, daß Hellwig wie -eine Trichine im gesunden Fleisch der Partei sitze und es infiziere, -während er sich fett mäste. Leibinger leitete den Feldzug. In ihm -war die erlittene Kränkung noch lebendig und heiß wie am ersten Tag, -und sein Ehrgeiz knüpfte an einen Sieg über den mächtigen Feind -die schönsten Erwartungen. Unter Hochdruck arbeitete er. In allen -Zeitungen, in ungezählten Versammlungen predigte er den Kampf gegen den -einstigen Genossen und seinen Anhang. Renegaten und Schufte ohne jeden -Gemeinsinn wurden sie genannt, niedrige Bedientenseelen, die vor dem -Geldsack auf dem Bauch lägen und sich an Bettelsuppen gütlich täten, -armselige Heloten, die jedes Gefühl für Freiheit und Manneswürde -verloren hätten. - -Und die Arbeiter der benachbarten Betriebe, scheelsüchtig gemacht, -neideten Reinholts Leuten das bessere Los. Sie spuckten aus, wenn sie -einen trafen und riefen ihm wohl auch „Kommuner Hellwigianer!“ zu, -was ein Witz sein sollte und eine verächtliche Anspielung auf die -kommunistischen Einrichtungen. - -Die kommunen Hellwigianer aber ließen sich darob die Haare nicht grau -werden. Mancher Heißsporn verbat sich vielleicht die Beleidigungen und -kam mit blutigem Schädel heim, die meisten aber lachten oder zuckten -die Achseln, wenn sie beschimpft wurden, und das trieb die Gegner in -eine immer heftigere Erbitterung. Aber auch die Fabriksbesitzer nahmen -mit der Zeit gegen das aufblühende neuartige Unternehmen Stellung, -weil sie sich dem scharfen Wettbewerb nicht gewachsen fühlten. Denn da -alle Arbeiter am Gewinn beteiligt waren, bemühten sie sich zu eigenem -Vorteil, nur gute Ware herzustellen, so daß die Reinholtsche Marke -bald gesucht war und die Nachfrage stärker als das Angebot. Und da -auch das Bauernvolk in seiner alten Abneigung verharrte, stand Hellwig -mit den Seinen ganz vereinsamt und auf sich selbst angewiesen mitten -unter Widersachern, Neidern und Feinden. Da setzte er erst recht seinen -Neuberger Schädel auf: Durch müssen wir! Und wenn sich alle auf den -Kopf stellen! - -Der Glaube an sein Werk verzehnfachte seine Kräfte. Und seine warme -Begeisterung griff auf alle über. Gemeinsame Not schweißte sie ganz -fest zusammen. Die Zwistigkeiten im eigenen Lager hörten auf, immer -seltener wurde er als Schiedsrichter angerufen. Der Trotz und das -Gefühl, daß ihnen unrecht getan werde, spornte alle zu erhöhter -Leistung. Draußen schrien sie, hetzten und wühlten. Reinholts Fabrik -aber stand da, geschäftigen Lebens voll, die Räder surrten, die -Webstühle klapperten, die Schiffchen flogen fröhlich. Zu einträchtigem -Tun regten sich die emsigen Hände, und auf allen Gesichtern sonnte sich -das Behagen am Gedeihen des Unternehmens, das allen ans Herz wuchs, -weil es allen gehörte. - - -2. - -Und im Fabrikspark, auf den Spielplätzen, unter der Hut der alten -Bäume, drängte sich tagsüber das junge Volk der Kinder, saßen nach -getaner Arbeit zufriedene Menschen, schwatzten, sangen oder hörten dem -Meister Hellwig zu, der an schönen Abenden im Garten von einem Podium -herab über alle möglichen interessanten und wissenswerten Dinge zu -sprechen oder aus guten Büchern vorzulesen pflegte. Ganz zwanglos, wie -eine gelegentliche Zusammenkunft gleichgesinnter Freunde war das, und -viel guten Samen streute er in empfängliche Seelen. - -Anfänglich war die Zahl der Teilnehmer nur gering, weil viele, an das -neue Leben noch nicht gewöhnt, lieber in den Billardsälen oder beim -Kartenspiel ihre Erholung suchten. Mit der Zeit aber stellten sich -immer mehr ein, hörten zu und beteiligten sich mit Fragen und Einwänden -an den Debatten, fanden Gefallen daran und zogen dieses Turnier bald -jeder andern Unterhaltung vor. - -Einer, der niemals fehlte, war der alte Kesselwärter Bogner, der seinem -Meister Hellwig treu ergeben war und immer wieder versicherte, daß er -ein so schönes Leben auf seine alten Tage nicht einmal im Traum erhofft -hätte. Er überwachte seine Kessel und formte feine Blütenzweige, die -er schön bemalt in seiner Stube aufstapelte oder Personen, denen er -wohlwollte, als Angebinde verehrte. Für Hellwig aber tat er etwas ganz -Besonderes: Er modellierte und goß aus Bronze die Büste des Meisters. -Zwar geriet die Nase ein bißchen schief, und die Wangen hatten -Blatternarben, aber am Sockel stand in großen Buchstaben ‚Friedrich -Hellwig‘, und so wußte jeder, wen das Werk darstellte. Und die Mängel, -die waren nach den Versicherungen des Schöpfers nur durch den elenden -Gips und durch das schlechte Gußmetall verschuldet. Jetzt stand das -Bildwerk im Lesesaal, und bei der Aufstellung hatte es einen grünen -Reisigkranz getragen, mit einer roten Schleife, und Reinholt hatte eine -Rede gehalten, die war sehr erbaulich und dem Kesselwärter wurde ganz -rührselig. Aber er lachte doch und strahlte im faltigen Gesicht, denn -Adam Pichler, ein jüngerer Bruder Ottos, stand neben ihm und sagte ihm -ins Ohr, daß so eine Büste eigentlich in eine Ausstellung gehörte und -sicher einen Preis bekommen würde. - -Adam verkehrte überhaupt viel mit dem alten Bogner und ging auch -regelmäßig zu den Abendvorlesungen. Er tat das aus Neigung. Aber es war -nicht so sehr die Neigung zur Wissenschaft, als vielmehr die Neigung -zur Anna Bogner. Die Anna war ernster geworden, der Frohsinn, das -Lachen und aller Übermut ihrer Jugend klang in der Erinnerung an die -erste Enttäuschung nur mehr wie auf einer abgedämpften Geigenseite. - -Adam aber begehrte sie zum Weib. Da hatte sie ihm ganz aufrichtig -gesagt, wie es um sie stand und daß sie einst mit seinem Bruder Otto -ein Verhältnis gehabt. Der blonde Mensch mit den stillen Augen und den -groben Händen hatte schweigend zugehört und darnach ein paar Tage nicht -mit ihr geredet, bis er alles in sich verarbeitet hatte. Dann aber war -er zu ihr gegangen, die in heimlicher Pein verstohlen aus der Ferne -nach ihm sah. Denn sie hatte ihn lieb gewonnen. - -„Anna,“ hatte er gesagt, „es ist schon in Ordnung mit uns.“ - -Da war sie zusammengefahren, hatte ihm ungläubig ins Gesicht gestarrt -und nur gefragt: „Trotzdem?“ - -„Trotzdem, Anna, weil -- es muß doch ausgeglichen werden ...“ - -Er hatte den Arm um sie legen wollen. Doch sie war hastig einen Schritt -zurückgetreten. - -„Wenn’s nur deswegen sein soll ... bleibt’s schon besser so, wie’s ist, -Adam. Ich müßt’ mich ja schämen.“ - -„Nein, Anna, das mußt du schon nicht. Tät ich’s denn, wenn ich dich -- -nicht auch gern hätt’, Anna?“ - -Er war wieder ganz nahe bei ihr und streichelte mit den harten Fingern -unbeholfen ihren Ärmel. Und dann hatte er sie im Arm. Und sie sträubte -sich nicht mehr. - -Und seither sah man sie fast immer miteinander gehen, den alten -Kesselwärter, dem die paar Haare nur noch wie ein silbriges -Schimmerchen auf dem kahlen Schädel glänzten, ein wenig gebeugt und ein -wenig zittrig, zwischen den beiden jungen aufrechten Menschen, die fest -und ruhig einherschritten mit der stillen Zuversicht, die ein sicheres -Glück verleiht. - -Oft auch gesellte sich Pfannschmidt zu ihnen, der in dem neuen -Gemeinwesen eine Art Hausverwalter war und außerdem die Bücherei -betreute. Keine Spur von Gedrücktheit oder Trauer war mehr in ihm, wohl -sprach er wenig und lachte nicht oft, aber seine ernsten Augen schauten -warm und froh, und der Widerstreit zwischen Neigung und Beruf war -nicht mehr in ihrem Blick. Die Bücherei war seine Welt, dort war er -am sichersten anzutreffen. Entweder las er oder ordnete er die Bücher, -versah sie mit Schildern und Nummern, verteilte sie übersichtlich und -legte mehrere Verzeichnisse an. Abends aber kämmte er mit Salböl den -spröden Scheitel noch einmal glatt und ging, dem Meister zuzuhören. Er -war einer der aufmerksamsten Zuhörer, aber auch der eifrigste Frager, -und wenn er sich einmal in etwas hineinverbissen hatte, ließ er sich -nicht so leicht davon abbringen. Jedes Für und Wider erwog er, Beweise -und Gegenbeweise ließ er bedächtig aufmarschieren, und Fritz hatte -mit diesem zähen Gegner oft seine liebe Not. Regelrechte Debatten und -Diskussionen hatten sie miteinander und das war für sie wie ein Bad im -kühlen Fluß. - -So schien sich mit der Zeit eine gedeihliche Ordnung einstellen zu -wollen und Hellwig dachte abermals daran, Weib und Kind zu sich zu -holen. Aber als er an einem schönen stillen Sommerabend wieder einmal -auf dem Podium saß und gerade über Oliver Cromwell sprach, da wurden -von dem Fahrweg, der außerhalb des Parks den Zaun entlang führte, ein -paar Steine unter die Versammelten geworfen. Der eine streifte Hellwigs -Kopf, der zweite traf ihn an der Schulter, die übrigen verfehlten ihr -Ziel. Schnell war Pfannschmidt beim Gittertor, riß es auf, stürmte -hinaus. Andere folgten. Aber draußen war niemand zu sehen. Still -lagen die Wiesen und Felder da, die Ähren nickten und rauschten leis -auf schwanken Halmen, die Blätter der Büsche regten sich sacht im -Abendwind, und sacht breitete die Dämmerung ihre seidenfeinen Flöre -darüber aus. Mannshoch standen die Feldfrüchte, dicht belaubt wucherte -überall in den Wiesen das Staudenzeug, und was sich dort irgendwo -versteckt hielt, war gut geborgen und in der Dämmerung nicht leicht -aufzuspüren. - -Hellwig hatte eine Beule am Schläfenbein und eine Prellwunde am -Oberarm, leichte Verletzungen, die nichts zu bedeuten hatten. Aber eine -Warnung waren sie und ein Zeichen, wie tief die Hetzereien Wurzeln -gefaßt. - -Und wenn es hiefür noch eines Beweises bedurfte, so brachte ihn die -folgende Nacht. Da brannte ein Magazin nieder, und die Fabriksfeuerwehr -mußte harte Arbeit tun, um den Brand einzudämmen. Er war gelegt worden, -von wem, war offenes Geheimnis, aber Beweise fehlten. Die Folge -war, daß Reinholt die Nachtwache verschärfte und zwei Dampfspritzen -anschaffte. Und Fritz sah seine Vereinigung mit Eva abermals um Monate -hinausgerückt. - - -3. - -Danach aber hatte sich ganz plötzlich der Sturm gelegt. Die -Unbesonnenheit der Steinwerfer und Brandstifter hatte die Gegner zur -Vorsicht gemahnt. Was nützte es auch, die Außenstehenden aufzuwiegeln, -wenn die Hellwigianer geschlossen gingen und der Aufschwung der Fabrik -alle Hetzer Lügen strafte. - -Wochen vergingen, alles blieb ruhig. - -„Wir sind durch!“ sagte Fritz, der vertrauensselige, arglose Mensch, -und glaubte felsenfest daran, weil er an sein Werk glaubte und an die -Lauterkeit der Menschen. Und er freute sich des Erfolges und freute -sich auf die Seinen. Jetzt wollte er sie wirklich holen. Mehr denn -zwei Jahre -- waren es denn wirklich schon zwei Jahre? -- hatte er sie -nicht gesehen. Da war ihm die Zeit fortgeronnen, wie Sand zwischen -den Fingern durchgeglitten, Tag um Tag; Monat um Monat. Er hatte -nicht darauf geachtet und sie nicht gezählt. In all dem rastlosen -Bemühen, dem Tumult von Sorgen und Anstrengungen, dem raschen Wechsel -zwischen Erfolg und Mißlingen, zwischen heller Zuversicht und herber -Enttäuschung. - -Waren es denn wirklich schon zwei Jahre? Aber da lagen die Briefe Evas -vor ihm, alle, wie er sie erhalten, gelesen, beantwortet und dann in -das Schubfach getan hatte, wo sie, nicht mehr beachtet, verstaubten. -Regelmäßig alle vierzehn Tage schrieb sie ihm. Und jetzt lagen sie da, -kunterbunt durcheinander, gut fünfzig Briefe. Und in jedem erzählte sie -von dem Buben, alle Einzelheiten und Kleinigkeiten berichtete sie. Im -Drang und Schwall der Arbeit hatte er ihren Mitteilungen nicht weiter -nachgesonnen. Und sie machten doch die ganze Entwicklung des jungen -Menschleins aus, das dort fern von ihm und vaterlos heranwuchs. ‚Hansl -lacht mich schon an -- Hansl sitzt schon -- Hansl bekommt Zähne -- -Hansl hat sich ganz allein am Tischbein aufgemannelt -- Hansl hat das -erste Wort gesprochen -- Hansl läuft, Hansl redet schon. Er ist blond -wie du -- er hat deine Augen -- aber das Kinn hat er von mir.‘ - -Er erschrak fast und entsetzte sich, daß er so achtlos darüber zur -Tagesordnung hatte übergehen können. Fünfzig Briefe. Und in allen war -zwischen den eng geschriebenen Zeilen die unausgesprochene Bitte: ‚Komm -bald und bleib bei uns!‘ Und in keinem stand: ‚Hol’ uns zu dir!‘ Denn -die Mutter bangte um ihr Kind, und Fritz hatte ihr die Lage immer eher -in düsteren Farben geschildert, alle Ereignisse trocken verzeichnet und -nichts beschönigt. Und nur einmal schrieb sie: ‚Wenn ich doch bei dir -sein könnte!‘ Das war damals, als ihm die Steine den Leib verwundet -hatten. - -Einen Brief nach dem andern las er nun wieder durch. Um ihn war die -Ruhe der Nacht, einer warmen, glanzhellen Nacht. Das Fenster stand -offen, die hereinflutende Luft war gesättigt vom schweren Duft der -Erde, und unten im Fabrikshof machte der Wächter die Runde. Klingend -schlug die Eisenspitze seines Stocks auf die Steine, und wenn die -zwei starken Doggen, die ihn begleiteten, sich schüttelten, klirrten -die Glieder ihrer Kettenhalsbänder leise aneinander, Eisen gegen -Eisen und Stahl gegen Stein, und nichts anderes war zu hören als -dieser kriegerische Klang. Und es war wie der Pulsschlag des harten, -streitbaren Lebens, das da draußen in der weichen, weißen Glanznacht -tief aufatmend, doch nicht schlafend ruhte, Gewehr im Arm und immer -kampfbereit gleich einem einsamen Vorposten in Feindesland. - -Stunde um Stunde flutete vorüber. Und Fritz saß und las die Briefe. -Mit gesammelten Sinnen las er sie jetzt alle wieder, sah seinen -Buben heranwachsen und begleitete Schrittlein nach Schrittlein seine -Entwicklung. Und er fühlte eine tiefe Trauer, daß er sich so gar nicht -vorstellen konnte, wie der Junge jetzt aussah, lachte und sprach, -und der Wunsch, ihn und die Mutter bei sich zu haben, schwoll ihm -übermächtig empor. - -Aber es blieb auch diesmal nur beim Wunsch. - -Die Ruhe, die so unvermittelt eingefallen, war nicht die Ruhe des -Friedens oder der Erschöpfung. Leibinger hatte die Nutzlosigkeit der -bisherigen Kampfesart erkannt. Und da kam es ihm gerade recht, daß -Robert Karus, aus Rußland zurückgekehrt, wieder in der Hauptstadt -aufgetaucht war. An ihn wandte er sich um Rat und Hilfe und der sagte -zu, unter der Bedingung, daß ihm vollständig freie Hand gelassen werde. -Ungern fügte sich Leibinger, aber er fügte sich doch. - -Und Karus ging an die Arbeit. Ein paar erprobte Leute wählte er sich -und schickte sie zu Reinholt auf Arbeitssuche. Sie erhielten strengen -Befehl, als unbedingte Anhänger Hellwigs aufzutreten und vorsichtig -die Unzufriedenheit der Zufriedenen zu wecken. Das Wie blieb ihnen -überlassen. Und sie waren ihrer Aufgabe gewachsen. Rasch hatten sie -jene aufgespürt, die schwankten oder sich zurückgesetzt fühlten, -machten sich an sie heran und bearbeiteten sie. - -Aber auch Karus blieb nicht müßig, und Mark und Leibinger waren seine -Werkzeuge. Ein paar Schlagworte warf er den Arbeitern der benachbarten -Unternehmungen hin und wiegelte sie auf. Und geschulte Agitatoren waren -mitten unter ihnen und schürten und schürten ohne Unterlaß. Immer -lauter, immer ungestümer erhoben sie die Forderung nach höherem Lohn, -nach kürzerer Arbeitszeit, nach Gleichstellung mit den Hellwigianern. -Die Fabrikanten aber, selbst in ihrer Existenz bedroht, konnten und -wollten keine Zugeständnisse machen. Da begann der Streik. - -Unfriede im eigenen Haus, heller Aufstand ringsum: so war jetzt die -Lage und so war sie Karus recht. Hellwig aber, der Vertrauensselige, -der kindlich Arglose, wußte nicht, daß viele gegen ihn murrten. Und -als der Streik jetzt so unvermittelt losbrach und als alle Betriebe -feierten und nur die von ihm geleitete, nach seinen Ideen eingerichtete -Fabrik rüstig weiter ging, -- und seine Leute verrichteten gelassen -ihr Tagwerk und schienen sich um das Branden außerhalb ihrer Herdfeuer -gar nicht zu kümmern, -- da frohlockte er und abermals sagte er -siegessicher zu Reinholt: „Leo, wir sind durch!“ Und nur das eine -trübte ihm die Freude: daß er wieder Geduld haben und erst das Ende des -Ausstands abwarten sollte, ehe er die Seinen zu sich kommen ließ. Dann -aber wollte er es ganz bestimmt tun und freute sich darauf und glaubte, -daß ein Ausgleich bald erzielt und die Lohnbewegung bald zu Ende sein -werde. Er tat sogar ein übriges, er ging zu den einzelnen Fabriksherren -und setzte sich für jene ein, die seine erbittertsten Feinde waren. -Und er tat es nicht nur um ihretwillen, auch seinetwegen tat er es, -er wollte vielleicht doch einen oder den anderen für seine Ansichten -gewinnen. Aber überall begegnete er mit seinen Vermittlungsversuchen -einem starren „Nein!“ oder einem geschmeidigeren „Leider nicht -möglich!“ und einer gab geradezu ihm die Schuld an dem Streik und an -dem Niedergang der kleineren Betriebe. Doch auch die Arbeiter, als sie -es erfuhren, verbaten sich seine Einmischung. Da ließ er es bleiben. -Aber nicht eine Sekunde wankte ihm der Glaube an seine Schöpfung und -die Zuversicht, daß sein Weg der richtige wäre. - -Reinholt war nicht so vertrauensselig. Manches an den Leuten wollte -ihm nicht mehr gefallen. Daß sie häufig mitsammen flüsterten, im -Bibliothekssaal heftige Debatten führten, die sofort abgebrochen -wurden, wenn er oder Hellwig oder Pfannschmidt oder sonst ein Treuer -dazu kam. Und namentlich der Sanders, ein dunkelhaariger Gesell mit -Blatternarben im eischmalen Gesicht, gefiel ihm gar nicht. Er war erst -seit kurzer Zeit in der Fabrik und doch spielte er, vornehmlich unter -den jüngeren, eine große Rolle. Sie hörten auf ihn, suchten und riefen -ihn, und wenn er zu ihnen trat, wurden ihre Worte leiser, steckten -sie die Köpfe zusammen und bekamen aufgeregte Gesichter. Auch dem -Pfannschmidt war das bereits aufgefallen, und nur Hellwig wollte es -nicht gelten lassen. Wenn ihn Reinholt aufmerksam machte oder warnte, -schüttelte er mit ungläubigem Lächeln den Kopf, suchte und fand -Entschuldigungen. - -„Das Kameradschaftsgefühl ist in ihnen noch nicht erloschen, soll -es auch nicht sein! Und da wurmt sie’s eben, daß sie Streikbrecher -geschimpft werden. Aber das geht vorüber. Als der Streik angefangen -hat, was hat man da nicht alles befürchtet. Sogar Militär hat -hermüssen, weil unsere Nachbarn um ihre Maschinen Angst gekriegt haben. -Und schau’ her, jetzt dauert die Geschichte schon fast zwei Wochen -- -und alles bleibt ruhig. Glaub’ mir nur, Leo, jetzt sind wir schon überm -Berg. Die Arbeitsfreude bei uns, während ringsherum alles gärt und tobt -und siedet, beweist mir am schlagendsten die Ohnmacht der Gegner. Wir -haben unsere Leute zufrieden gemacht, _den_ Erfolg jagt uns keiner mehr -ab!“ - -„Nicht alle sind zufrieden, Fritz!“ beharrte Reinholt bei seinem -Bedenken. „Sie planen was gegen uns! So mach’ doch die Augen auf, -Fritz, ich werd’ ja ganz irr an dir! Du hast Mitleid mit denen da -draußen, vielleicht trübt dir das den Blick -- aber ich denke, sie -haben uns wahrhaftig genug Prügel unter die Beine geschmissen und -verdienen keine Rücksicht!“ - -„Nein, nein, Leo, sprich nur nicht anders als du denkst!“ entgegnete -Fritz traurig. „Die Leute sind nicht besser und nicht schlechter als -wir alle. Sie wollen auch nur -- wieder Menschen werden. Teilhaben -an den reizvollen Nebensachen und bunten Nichtigkeiten, die zwischen -Arbeit und Schlaf, zwischen Hunger und Liebe liegen und uns erst vom -Vieh unterscheiden. Und sind wir nicht mit schuld, daß sie es so -heftig heischen? Die unseren _haben_ das alles, es ist kein Wunder, -wenn die anderen gegen uns toben. Leo, es ist Zeit, höchste Zeit, -daß wir hier mit dem Aufbau fertig, daß uns die Kräfte frei werden, -einen oder den anderen Reichen noch für unsere Ansichten zu werben, zu -gewinnen. Vielleicht -- gehen wir doch den rechten Weg, können wir dem -kommenden Gründer der neuen Gesellschaft -- Vorläufer sein ...“ - - -4. - -Einer hatte diesem Gespräch zugehört. Robert Karus, der schon seit -Tagen in der Gegend weilte. In ihm war der Haß des Zerstörers gegen den -Bauenden. Und auch er wollte seinem Freunde Heinz Wart ein Totenmal -errichten. Sorgsam bereitete er den Grund, und seine Saat schoß schwer -und wuchernd in die Halme. - -Aber weder die Freunde Hellwigs noch dieser selbst wußten von seiner -Anwesenheit. Und niemand hatte ihnen noch verraten, daß Karus bereits -einige Male, das Gitter überkletternd, in den Fabrikpark eingedrungen -war, um hinter Buschwerk versteckt zu lauschen. Und seine Flugblättchen -gingen unter den Eingeweihten von Hand zu Hand, ängstlich behütet -vor den Augen Unberufener, und in geheimen Versammlungen wurden sie -besprochen und schürten die Erregung und peitschten die Lust zur -Empörung immer höher auf. Mehr als hundert hatten sich schon unbedingt -an Karus angeschlossen, viele gab es, die durch die abfälligen Kritiken -und klug berechneten Reden der gemieteten Hetzer aufgestachelt, schon -unentschieden schwankten und jeden Tag zu Überläufern werden konnten. -Und die Streikenden, durch die Unnachgiebigkeit ihrer Brotherren zum -äußersten bereit, standen wie _ein_ Mann gegen Hellwig und was Karus -und Mark und Leibinger ihnen vorsagten, das sprachen sie nach und -glaubten, daß einzig Hellwig an ihrer Lage schuld wäre. - -So war eine gewaltige Menge Zündstoff aufgehäuft. Der geringfügigste -Anstoß mußte die Explosion herbeiführen. Und Karus sorgte dafür, daß -dies bald geschah. - -Nun, da der Boden gehörig unterminiert, ein verläßlicher Kern von -Anhängern gebildet, die Erbitterung der Leute bedrohlich angewachsen -war, nun mußte Sanders, der gedungene Proselytenmacher, aus seiner -Reserve heraus. Bei jeder Gelegenheit redete er jetzt ganz offen vor -allen Leuten über die mangelhaften Einrichtungen des Unternehmens, -schimpfte darüber, mäkelte und nörgelte, und nichts fand mehr Gnade -vor seinen Augen. Zu wenig Abwechslung im Essen, zu kleine Portionen, -zu wenig Geld, aber viel zu viel Bevormundung, Kasernenzwang und -Drill: das war so der eiserne Bestand seiner Argumente. Dieses Tadeln -und Mäkeln führte bald zu Zank und Streitereien. Die treu zu Hellwig -hielten, wollten es nicht dulden, die andern gaben dem Nörgler recht, -Unfriede entstand, Zwist und Spaltung. - -Am heftigsten erboste sich über die Reden Sanders’ der alte Bogner. -Jedes gehässige Wort gegen den Meister brachte ihn in Harnisch, er -schalt und wetterte über die Anmaßung der jungen Leute und wäre am -liebsten mit den Fäusten dreingefahren. Aber er erntete mit seinem -ehrlichen Grimm nur Gelächter und Spott. - -Pfannschmidt wollte anfangs vermitteln und beschwichtigen. Bald jedoch -erkannte er den Ernst der Bewegung, erschrak, wie fest sie sich schon -eingenistet hatte, und schwere Befürchtungen kamen ihm. Da ging er -zu Hellwig und deckte ihm alles auf. Der aber legte, wie vordem den -Warnungen Reinholts, jetzt auch diesen Berichten keine Bedeutung bei. -Er _wollte_ einfach nicht sehen, wo jeder sehen, nicht hören, was jeder -vernehmen konnte. _Wollte_ blind und taub bleiben und allen ungünstigen -Zeichen zum Trotz die siegessichere Zuversicht sich aufrechterhalten. -Er zwang sich zur Sorglosigkeit, um die Zweifel, die sich schon leise -regten, zu übertäuben. Er drückte jeden Argwohn, der ihm jetzt doch -manchmal leise aufstieg, gewaltsam nieder, und gewaltsam zwang er sich, -an den Erfolg ganz fest zu glauben, weil er den Erfolg brauchte. Weil -er das Gelingen nicht nur heiß herbeisehnte, sondern notwendig haben -mußte, sagte er: „Es ist schon gelungen!“ und sagte es sich und den -anderen immer wieder vor, als könnte durch dieses fortwährende starre -Bejahen jede Möglichkeit des Mißlingens gebannt werden. Und es durfte -kein Mißlingen geben, sollte nicht, so meinte er, sein ganzes Leben mit -in Stücke brechen. - -Deswegen stellte er den besorgten Warnern seine lächelnde Sicherheit -entgegen, und was nur erst beinahe fertig und was noch fast nur kaum -mehr als ein Wunsch war, sollte als fertig und vollendet angesehen -werden. Doch weder Reinholt noch Pfannschmidt konnte er überzeugen. - -Sanders aber wurde immer dreister. Er begann nun auch über zu viel -Arbeit sich aufzuhalten, hatte an jedem neuen Auftrag etwas auszusetzen -und wenn er ihn überhaupt ausführte, tat er es nur widerwillig zögernd -mit sichtlicher Verdrossenheit. Und als er nach dem festgesetzten -Reihengang eine Woche lang die Kontrolle der Nachtwächter besorgen -sollte, weigerte er sich mit der Begründung, er sei als Weber -aufgenommen und nicht als Hausmeister. Da könne man schließlich auch -von ihm verlangen, daß er die Ställe ausmiste oder die Senkgrube -putze, das käme auf dasselbe heraus. Er weigerte sich also, schrieb -aber auch noch am gleichen Tag an Leibinger, er möge sich bereit -halten, die Sache werde bald entschieden werden. - -Und als am folgenden Morgen das Kontrollbuch keinen Vermerk aufzeigte -und als er deswegen verwarnt wurde, zuckte er bloß die Achseln und -lächelte dazu. Und als am zweiten Morgen aus der Verwarnung eine -Rüge wurde, unter Androhung der Entlassung, da lächelte er noch -geringschätziger und zuckte wieder die Achseln. Am dritten Morgen war -er entlassen. Er erhielt sein Sparkassenbuch und seine Abfertigung und -konnte gleich gehen. Obwohl Reinholt dagegen gesprochen, hatte es Fritz -so angeordnet. Eine Satzung war übertreten, die darauf gesetzte Strafe -war verwirkt worden, da gab es für Hellwig kein Überlegen und galt -keine Rücksicht. - -Sanders aber hatte nichts anderes gewollt. Seiner Anhänger gab es -viele, und die, das wußte er, würden ihn nicht so mir nichts, dir -nichts ziehen lassen. Und er traf keine Anstalten zum Fortgehen. -Das Geld nahm er zwar, aber seine Sachen packte er nicht. Nur sein -Sonntagsgewand zog er an und ein gestärktes Hemd und ging ins Wirtshaus. - -Dort saß bereits Karus mit Leibinger und Mark. Sie hatten einen großen -Krug Wein vor sich und tranken fleißig. Mit einem selbstbewußten -Schmunzeln setzte sich der blatternarbige Weber zu ihnen. - -„Wie steht’s?“ fragte Karus kurz. - -Sanders schenkte sich gemächlich ein Glas voll und tat einen -bedächtigen Zug. Da sein Bericht mit Spannung erwartet wurde, kam -er sich sehr wichtig vor und wollte dieses Gefühl seiner Bedeutung -möglichst lang auskosten. - -Leibinger rieb die Hände rund umeinander und machte sein -verbindlichstes Gesicht. - -„Es scheint alles glatt gegangen zu sein?“ fragte er ausholend. Sanders -nahm noch einen Schluck. Dann zog er sein Taschentuch und wischte sich -umständlich den Mund ab. - -„Verfluchtes Getu’!“ schimpfte Karus. „Laß die Faxen und red’ endlich!“ - -Da tat Sanders gekränkt und war beleidigt: - -„Befehlen lass’ ich mir nichts!“ - -„Aber wir bitten Sie doch!“ lenkte Leibinger ein und Mark nickte und -bestätigte eifrig: „Gewiß, gewiß, wir bitten Sie!“ - -Da war der blasse Weber wieder versöhnt und erzählte von seiner -Entlassung und fügte hinzu, daß er nicht fortgehen, sondern heute beim -Abendvortrag im Garten Einspruch zu erheben gedenke und vom Mittag bis -Feierabend werde er noch ein bißchen Stimmung machen. - -Leibinger meinte dazu: „Gut! Sehr gut!“ und Mark: „Schön! Sehr schön! -Ausgezeichnet!“ Karus aber sagte: „Da erzählst du uns nichts Neues! -Denke, daß ich dir das so eingetrichtert hab’. Daß sie dich davongejagt -haben, hast du brav gemacht. Mach’s weiter so, dann geht heut’ abend -der ganze Krempel in Fransen!“ - -Dröhnend lachte er, und seine Faust schmetterte hart auf den Tisch. -Dann trank er sein Glas leer, füllte es rasch und leerte es wieder -und noch einmal und abermals. Nun die Entscheidung so nahe war, wurde -er doch aufgeregt. Die anderen bemerkten das, schauten ihn an und -schwiegen. Ihm aber löste der Wein die Zunge. - -„Bekehren will er die Aussauger!“ rief er unvermittelt aus dem Wirbel -seiner Gedanken heraus. „Bekehren! So lang man die nicht totschlägt, -gibt’s keine Bekehrung!“ - -„Sprechen Sie von Hellwig?“ fragte Mark und riß die Augen weit auf. - -„Nein, vom Mond, Sie Kalb!“ entgegnete Karus grob. Leibinger lächelte -liebenswürdig. Da faßte auch Mark die Beleidigung als Witz auf. Er -lachte laut und gezwungen. Doch schien es ihm ersprießlicher, ein -anderes Thema anzuschlagen. - -„Herr Karus,“ sagte er, „die Partei kann es Ihnen nicht hoch genug -anrechnen, daß Sie sich so selbstlos ...“ - -Karus unterbrach ihn: „Dankt dem Himmel, daß ich euch früher nicht -so genau gekannt hab’. Ich hätt’s mir sonst, weiß der Teufel, noch -gründlich überlegt!“ - -Er hielt inne, fuhr mit den gespreiteten Fingern durch den borstigen -Haarschopf. - -„Eh was, jetzt bin ich einmal da!“ sagte er dann. Und mehr im lauten -Selbstgespräch: „Als junger Grasaff’ bin ich auch nicht anders gewesen -wie der Volksbeglücker. Heinz auch nicht. Gewiß nicht! Nein! ... Was -stiert ihr mich denn so blöd an? Ich bin nicht besoffen! Nur ... ich -hab’ auch einmal einen Freund gehabt! Ja -- der Robert Karus hat auch -einmal einen Freund gehabt ...“ - -„Sie haben doch viele Freunde!“ beeilte sich Leibinger zu versichern, -und Mark beteuerte das auch, rückte aber seinen Stuhl aus der Nähe des -Mannes, dessen flackernde Augen und dessen zerfahrenes Wesen ihm Angst -machten. - -„Redet mir das nicht vor!“ antwortete Karus geringschätzig. „Ihr -braucht mich, deswegen tut ihr mir schön! Aber Freunde? Bah! Furcht -habt ihr vor mir! Alle haben Furcht! -- -- Heinz nicht ... Und doch -- -hab’ ich ihn später ...“ Er sprang von der Bank und schüttelte die -Fäuste vor sich, als rüttle er an Ketten. „Sie hätten ihn sonst ... es -ist einfach nicht anders gegangen!“ - -Wie ein erstickter Aufschrei war das. Und wieder trank er und ging mit -mühsamen Schritten über den Lehmboden der Stube. - -„Also seither: Rache für Heinz! _Das_ ist der Grund! Nicht ihr! Nur -- -er! Die Gesellschaft von heute hat ihn umgebracht, drum _muß_ sie weg! -Sie oder ich! Eher wird da nicht Ruh’!“ - -Die anderen wurden aus den wirren Reden des verstörten Menschen, der -im Ringen mit einem schweren Entschluß aus allen Fugen gehoben schien, -nicht klug, schauten einander bedeutungsvoll an und unterbrachen ihn -mit keiner Silbe. - -„Nun kann’s ja losgehen!“ sagte Karus nach einer Weile wieder ganz -kalt. „Ich geh’ jetzt und horch’ ein bissel herum! Auf Wiedersehn heut’ -abend!“ - - -5. - -Es war Abend geworden. - -Langsam schritt Karus den Fußweg entlang zur Fabrik. - -Hoch über den weiten Wiesen zogen weiße Wolken wie Schaumflocken durch -den blauen Himmel und flimmerten im Widerschein der müd geneigten -Sonne. Eine Spottdrossel sang unsichtbar in einer Hecke. Ihr tiefes, -klingendes Lied erfüllte den ganzen Busch, und es war, als sänge -dieser selbst mit allen seinen Ästen und unbewegten Blättern durch -einen Zauber zum Tönen gebracht. Sonst war Schweigen. Unter goldenen -Schleiern lag die Erde still und glanzmüde, und das Leben hielt den -Atem an. Und nichts war mehr zu hören als das tiefe, quellende Lied, -das aus dem verzauberten Busch in die Märchen gewordene Welt verklang. - -Aber nicht überall war diese Landschaft so des Friedens voll. - -In der Fabrik Reinholts, in dem großen Garten, auf dem schattigen -Platz unter den hohen Kastanien, wo der Tisch für den Vorleser stand -und die Bänke für die Zuhörer, ballte sich und lärmte eine dunkle -Menschenmasse verworren durcheinander, und Fritz Hellwig war rings von -ihr umschlossen. Er hatte eben noch aus dem ‚Egmont‘ vorgelesen und -war warm geworden bei der Stelle: ‚Ich fühle mir Hoffnung, Mut und -Kraft. Noch hab’ ich meines Wachstums Gipfel nicht erreicht und steh’ -ich droben einst, so will ich fest, nicht ängstlich stehen.‘ Aber die -Worte: ‚Soll ich fallen, so mag ein Donnerschlag, ein Sturmwind, ja -selbst ein verfehlter Schritt mich abwärts in die Tiefe stürzen, da -lieg’ ich mit vielen Tausenden‘, die Worte konnte er schon nicht mehr -lesen. - -Da waren sie vom Lesesaal herübergekommen, erregt und schreiend, und -Sanders ging in der ersten Reihe, ein wenig unsicher und ein wenig -schwankend, mit zerwirrtem Haar und mit offener Weste. Er hatte sich -Begeisterung und Mut getrunken, und das machte ihm jetzt die Füße -schwer. Aber seine Zunge war gelenkig geblieben. Im Lesesaal hatte er -zu seinen Freunden geredet. Während die anderen ahnungslos ihre Arbeit -taten, hatte er seine Leute aufgepulvert. Und jetzt standen sie mit ihm -vor Hellwig, um die Auflassung der Strafe zu fordern und -- es ging -unter einem hin -- die Einstellung der Arbeit aus Solidarität mit den -hungernden Genossen. - -Mit leidenschaftlichen Worten forderten sie das, und ihre Gebärden -waren drohend und trotzig. Reinholt und Pfannschmidt hatten sich beim -Nahen des Haufens wie zum Schutz neben Hellwig gestellt, und auch die -anderen Getreuen drängten näher herzu. Fritz aber stand ruhig und -aufrecht da, und seine Augen blickten wie verwundert in das Getümmel. -Und je länger sie schauten, desto kälter glänzend wurden sie. Aber kein -Muskel zuckte an ihm, nur die Nasenflügel zitterten leicht, und je -fester sich die Lippen aufeinander legten, desto bestimmter wurde in -dem unbewegten Gesicht der Ausdruck einer harten Entschlossenheit. Sein -heller Blick richtete sich fest auf Sanders, und seine Stimme klang -herrisch und streng. - -„Was suchen Sie noch hier?“ fragte er. - -„Fritz!“ flüsterte ihm Reinholt beschwörend zu. „Tu’ jetzt nichts, was -sie noch mehr erbittern könnte! Nur jetzt nicht!“ - -„Ich muß!“ - -„Was ich hier suche?“ rief Sanders zu ihm hinauf. „Arbeit such’ ich! -Brot such’ ich! Gerechtigkeit such’ ich!“ - -„Gerechtigkeit haben Sie bereits gefunden. Brot und Arbeit suchen Sie -anderswo, die Kündigung bleibt aufrecht!“ - -„Sie ist willkürlich!“ - -„Sie bleibt aufrecht.“ - -Im selben Augenblick trat Karus hinter den Bäumen vor. - -„Servus, Volksbeglücker! Schön schaut’s hier aus!“ - -Hellwig blickte ihn an und erstaunte nicht einmal, ihn jetzt und hier -zu sehen. - -Was wollten nur die da unten von ihm? Und warum war Reinholt so -farblos? Und warum bebte Pfannschmidt so und hielt die Hände geballt? -Und warum war er selbst so seltsam ruhig, so leer, so, als ob er ganz -hohl wäre und sein Blut, seine Lebendigkeit, sein ganzer Inhalt -ausgeronnen? - -„Er darf nicht fort! Wir dulden’s nicht!“ riefen sie drohend zu ihm -herauf. - -„Fritz, mach’ die Kündigung rückgängig!“ beschwor ihn Reinholt. - -Da reckte er sich hoch auf: „Nein!“ - -Und ganz hart, wie wenn Eisen gegen Glasscherben klirrt, rief er hinab -in den Lärm: „Hier hab’ ich allein zu befehlen! Ob ihr’s duldet oder -nicht -- einerlei! Der Mann ist entlassen!“ - -Karus lachte höhnisch auf. - -„Er duldet nicht, daß ihr einen Willen habt!“ rief er. „Kuscht, Hunde, -kuscht! Er duldet nichts, als daß ihr kuscht!“ - -Nun brausten sie wilder empor: „Wir kuschen nicht! Wir lassen uns das -Maul nicht verbieten! Wir lassen Sanders nicht weg! Er darf nicht fort!“ - -Die Treuen Hellwigs riefen dagegen und scharten sich dichter um das -Podium und suchten die Schreier abzudrängen. Doch ihre Zahl war nur -klein. Denn viele hielten sich zurück und standen unentschlossen da und -wußten nicht, wem sie recht geben sollten. Der alte Bogner aber wollte -immer wieder auf Sanders los und rang mit seinem Schwiegersohn, der ihn -zurückhielt, und zitterte am ganzen Leibe und weinte vor Wut laut auf. - -„Mach’ die Kündigung rückgängig!“ flehte Reinholt abermals. Hellwig -schüttelte nur mit einem kurzen Ruck den Kopf. Jetzt mußte er fest -bleiben, durfte sich die Leitung nicht aus den Händen winden lassen, -sonst war alles verloren. - -„Niemand darf hier drohen!“ sprach er in den Lärm hinein, laut und -hell. „Niemand! Ich nicht und ihr nicht und niemand! Sanders ist -entlassen! Und bleibt es! Und bliebe es auch, wenn ihr anständig und -bescheiden euer Anliegen vorgebracht hättet! Er hat unsere Ordnung -verletzt. Gilt euch diese Ordnung nichts und nichts euer verpfändetes -Wort? Wenn ihr frei und unabhängig sein wollt, müßt ihr die Gesetze -achten, die ihr beschworen habt und dürft nicht jene schützen, die sie -böswillig brechen. Erst durch die Ungerechtigkeit werden wir unfrei!“ - -„Ich hab’ nicht Nachtwächter sein wollen, weil ich ein gelernter Weber -bin! Ist das ein Verbrechen?“ rief Sanders spöttisch. - -„Ich fordere Sie nochmals auf, die Ordnung zu achten und die Fabrik -sofort zu verlassen!“ - -„Und wenn ich’s nicht tu’?“ - -„Dann jagt ihn der Volksbeglücker hinaus!“ höhnte Karus. „Schöne -Volksbeglückung das! Wie ein ausgedienter Gaul wird er vor die Tür -gesetzt!“ - -Einer von den Arbeitern aber, die um Sanders waren, trat jetzt -verlegen vor und sagte: „Meister, ich ... wenn ich gewußt hätt’, was -die eigentlich wollen, hätt’ ich mich nicht so tief eingelassen. Sie -haben’s ja so abgemacht, untereinander, der Karus, der Leibinger und -der Sanders. Jetzt begreif’ ich erst, wo das hinaus soll.“ - -„Schuft!“ schrie Sanders und spie ihm ins Gesicht. Karus trat -gebieterisch dazwischen. - -Hellwig ächzte dumpf auf und taumelte. Wieder einmal sah er sich einem -Schurkenstück gegenüber, der Ekel kam und lähmte seine Tatkraft. Er -haßte die Falschheit. Und alles, was nur eine Spur von Gemeinheit in -sich hatte, machte ihn fassungslos und wehrlos, da konnte er nicht -zornig dreinfahren, fühlte er nur Enttäuschung und Schmerz und eine -tiefe Mutlosigkeit. - -„Ihr habt es gehört!“ sagte er und das Sprechen wurde ihm schwer. „Ist -es wirklich schon so weit, daß eine abgekartete Komödie uns auseinander -bringen kann?“ - -Als sie den Meister so ganz tief traurig und wie um alle Hoffnungen -betrogen sahen, regte sich das Gewissen in so manchem. - -„Nein, Meister! -- Wir halten zu Ihnen, Meister!“ - -Und der alte Bogner rang immer noch mit seinem Schwiegersohn und bat -und drohte und schluchzte immerzu: „Laß mich los, Adam! Ich muß dem -Kerl das Maul zustopfen!“ Doch der Adam ließ nicht los. - -Karus aber wurde kaum des Umschwungs gewahr, da holte er aus zum -entscheidenden Schlag. Und mit dem ganzen Elan seiner wilden, -ungezügelten Leidenschaft lief er den letzten Sturm. - -„Jawohl!“ schrie er, sprühendes Feuer in den Augen. „Jawohl! Es ist -eine abgekartete Komödie! Aber sie ist gut genug, denen da oben die -Larven herunterzureißen! Damit ihr endlich erfahrt, wie sie euch aus -lauter Liebe die letzte Unze Blut aussaugen!“ - -„Nieder mit den Blutsaugern!“ rief Mark im Hintertreffen. Und: „Nieder -mit den Blutsaugern!“ riefen ihm viele nach. Und immer lauter tönte und -schmetterte die Stimme des alten Revolutionärs: - -„Millionen raffen die zwei da oben zusammen! Jeder Tropfen Schweiß, den -ihr vergießt, wird für sie zum Goldstück! Dann werfen sie euch ein paar -Knochen hin: Da hast, Hund, friß dich satt!“ - -Und wie grollende Meeresbrandung tönte die Antwort zurück: - -„Wir _sind_ keine Hunde!“ - -„Nein, ihr seid keine Hunde! Es ist euer Recht, zu fordern, was sie -euch als Almosen vor die Füße schmeißen! _Ihr_ müßt die Herren sein, -denn _euere_ Muskeln stoßen die Welt vorwärts!“ rief Karus. - -Sein heißer Atem wehte über sie weg, schlug ihnen wie Glutwind ins -Gesicht, ergriff und riß sie mit wie der Sturm die Bäume. - -„Nieder mit den Unterdrückern! Nieder! Nieder!“ - -Das grollte und gellte auf, hob sich wie eine gewaltige Woge hoch -empor, wieder, wieder und immer wieder und wollte nicht schweigen. - -Schlag auf Schlag kam das alles und ließ niemandem Zeit zur Überlegung. -Hellwig stand mit totenblassem Gesicht und stützte sich schwer auf -Reinholt. Als ob ihn das gar nichts anginge, blickte er in das Toben -und fühlte nur einen harten Druck, der stärker und stärker sein Herz -zusammenpreßte. Reinholt aber wollte ein letztes Mittel versuchen. - -„Leute!“ rief er. „Kommt zur Besinnung, Leute! Fünf Kompagnien Soldaten -sind im Dorf!“ - -Karus griff das Wort auf: - -„Seht ihr’s! Seht ihr’s! Jetzt werfen sie schon die Larven ab! Jetzt -zeigen sie ihr wahres Gesicht! Zusammenschießen lassen sie euch, wenn -ihr euer Recht fordert!“ - -Und aus hundert Kehlen brauste es stürmisch zurück: „Wir lassen uns -nicht zusammenschießen!“ - -Mittlerweile hatte Leibinger auch die Streikenden vor dem Gittertor -gesammelt. Rauh aufjohlten die. Und dann: „Genossen, nicht nachgeben! -Wir helfen euch! Hoch die Internationale! Hoch die Freiheit!“ - -„Hoch die Freiheit! Hoch! Hoch die Freiheit!“ - -Und Karus’ Stimme klang wie Trompetenschall durch den Aufruhr: „In -Sklavenketten halten sie euch! Um euere besten Menschenrechte betrügen -sie euch!“ - -„Wir lassen uns nicht betrügen! Wir sind keine Sklaven!“ - -Mühsam raffte sich endlich Hellwig zusammen: „Laßt euch nicht -aufhetzen, Leute!“ - -„Er darf nicht reden! Herunter mit dem Tyrannen!“ donnerte es zurück. - -Da schrie er schluchzend auf: „Das sind meine Braven? Für _die_ hab’ -ich gearbeitet?“ und sprang mit einem Satz mitten unter sie. „Hier bin -ich! Nun? Was zaudert ihr? Macht den Tyrannen nieder! Ihr seid ja frei!“ - -Eine kurze Stille der Verblüffung. - -„Du Schuft!“ rief der alte Kesselwärter und drang mit geschwungener -Faust auf Karus ein. Der fing den Schlag auf und sagte kalt: „Ruhig, -Alter! Gleich ist’s vorüber!“ - -„Wessen klagt ihr mich an?“ fragte Hellwig. - -„Er darf nicht reden! Nieder mit dem Tyrannen!“ schrie Mark im -Hintertreffen. Aber nun Hellwig wieder mitten unter ihnen war, nun sie -die vertrauten Züge wieder dicht vor sich sahen, die Lippen, die so oft -gütige Worte zu ihnen gesprochen, die Augen, die so oft heiter und frei -und immer ohne Falsch auf sie gesehen, da trauten sie sich nicht recht -vor, und nur dumpfes Murren folgte dem gellenden Auftakt Marks. - -„Wessen klagt ihr mich an?“ - -„Wir lassen uns die Freiheit nicht rauben! Wir sind keine Sklaven!“ -grollten sie und schauten mit scheuen Blicken an seinen leuchtenden -Augen vorbei und schüttelten die Fäuste nur verstohlen. - -Fritz aber stand da, wie ein Träumender stand er da und schaute in eine -leere Ferne hinaus, einem zerfließenden Trugbild nach. Und während es -sich langsam auflöste und zerrann, stieg langsam und immer klarer und -schärfer eine neue Erkenntnis vor ihm auf. Sein Blick war starr und -visionär, mit fremder, müder Stimme fing er an zu sprechen und es war, -als holte er die Worte aus einem tiefen Brunnen herauf: - -„Ich euch die Freiheit rauben? Brüder, wie kann ich euch etwas rauben, -was niemals ein Menschengut gewesen ist? In schweren Ketten keuchen -wir, das Schicksal hat sie uns auferlegt und wir zerbrechen sie -nimmermehr. Aber das Tragen wollte ich euch leichter machen. Daß wir -Schulter an Schulter die Ketten schleppen und sie uns nicht zu tief ins -Fleisch schneiden. Ihr aber ... erhebt euch wider mich mit geballten -Fäusten, Unmögliches verlangend, nie Erreichbares heischend. Ihr könnt -ja nicht anders, seit heute, seit jetzt weiß ich es. Denn daß wir die -Ketten stets aufs neue fühlen müssen, sobald sie uns nur ein bißchen -leichter wurden, immer wieder schwer und drückend fühlen müssen, ist -Menschenlos -- ist ewiger Menschenfluch ...“ - -Die Stimme brach ihm. Unschlüssig standen die Leute. Karus aber, -enttäuscht und zornig über diese Resignation, riß sein Beil aus dem -Gürtel. - -„Gelatsch! Gelatsch! Und geht’s nicht anders, zerreißt die Ketten, -zerbrecht die Fesseln, zerschlagt den Kerker! Dann habt ihr die -Freiheit! Die Freiheit ist da!“ - -Und: „Freiheit! Freiheit! Zerschlagt den Kerker! Wir wollen keine -Ketten! Wir sind keine Knechte!“ schrien sie toll, jauchzend, außer -Rand und Ufer. - -„Führ’ uns, Karus!“ tönte ein Ruf. Und da schwoll es an zu -Donnergebrüll: „Führ’ uns, Karus! Karus, führ’ uns!“ - -Und die Streikenden draußen riefen: „Wir kommen! Wir helfen euch!“ und -warfen sich, Hunderte _eine_ geballte Masse, gegen das Tor, und das -Schloß sprang krachend entzwei, und tobend wälzte sich die Rotte in den -Garten. - -„Fritz Hellwig!“ frohlockte Leibinger. „Der Zahltag ist da!“ - -Karus vertrat ihm den Weg: „Diesem da wird kein Haar gekrümmt! -Vorwärts, Männer! Vorwärts! Zu den Maschinen! Feuer in die Speicher! -Den roten Hahn auf alle Dächer! Im Namen der Freiheit! Im Namen Heinz -Warts! Rache für Heinz Wart!“ - -„Rache! Rache!“ gab der entfesselte Haufe gedankenlos das Wort weiter. -Und Fritz lachte. Rasend lachte er auf und hieb sich mit der Faust die -Schläfen: „Im Namen Heinz Warts? Recht so! Recht! Sengt! Brennt! Raubt! --- Heinz! -- Heinz Wart! ... Heinz ...!“ Wie verzweifelt gebärdete er -sich. - -„Wenn die Soldaten kommen ...“ warnte Mark. - -„Dann reißen wir das Pflaster auf und bauen Barrikaden! Drauf, Männer, -drauf! Unser ist die Welt!“ - -Und das blinkende Beil in hocherhobener Faust stürmte Karus fort. Fast -alle folgten. - -„Heinz Wart!“ riefen die einen, „Freiheit!“ riefen die andern. Blind, -taub, sinnlos, jeder Überlegung beraubt stürzten sie ihrem neuen Führer -nach. - -Ganz wenige blieben zurück. Pfannschmidt, der sich den Empörern -entgegengeworfen, lehnte, aus einer klaffenden Stirnwunde blutend, an -einem Baum, und Bogner betreute ihn. Adam Pichler aber war schon früher -in das Lager der Soldaten gerannt. Und Reinholt hatte alles andere -seinen Gang gehen lassen in der Sorge um den Freund. - -Im Laufschritt kam das Militär angerückt. Der diensthabende Hauptmann, -die gelbe Feldbinde um den schlanken Leib, führte es mit gezogenem -Säbel. - -Da erwachte Fritz aus seiner Starrheit. - -„Nicht das!“ stammelte er und atmete wie ein gehetztes Tier. „Nicht -das!“ - -Unausgesetzt tönten krachende Axtschläge vom Fabrikhof, Gesplitter von -Holz und Glas und Eisen, Brüllen und Gejohl. - -Blutroter Feuerschein lohte auf. Die Magazine standen in Flammen. - -Und jetzt ein wildes Geheul. Die Aufrührer hatten das Militär erblickt. - -Hornsignale gellten durch den Tumult. Scharfe Kommandoworte. Prasseln -von fallenden Steinen. Das dumpfe Aufschlagen der Gewehrkolben gegen -hundert Schultern. - -„Nicht das! Nicht ...“ Hellwig tat ein paar Schritte, wollte hin -- und -kam nicht weit. Ein furchtbarer Aufschrei: „Aus! Alles -- aus!“ - -Reinholt sprang rasch herzu. Zu spät. Wie ein gefällter Stier brach der -Volksbeglücker ohnmächtig zusammen. - -Im selben Augenblick krachte die Salve. - - -6. - -Als Hellwig das Bewußtsein wieder erlangte, war bereits die Nacht -hereingebrochen. Er lag ausgestreckt auf einer der Bänke. Reinholt -kniete neben ihm und legte nasse Tücher auf seine Stirn. Ein Häuflein -verstörter und weinender Menschen stand im Kreis herum. Unstet -leuchtete von der Fabrik herüber noch der Feuerschein. Vor dem -zerbrochenen Gittertor aber hielten ein paar kastenartige Wagen, gelb -angestrichen, das rote Kreuz im weißen Felde. Soldaten kamen und -gingen mit brennenden Fackeln und mit Tragbahren, auf denen dunkle -Menschenleiber lagen und stöhnten und zuckten. Ein Regimentsarzt eilte -vorbei. Der Leinenkittel über der Uniform starrte von eingetrocknetem -Blute, und auf der Höhe seiner fetten roten Wangen standen große -Schweißtropfen. Er beugte sich über Hellwig und fragte, wie er sich -fühle, und untersuchte ihn. - -Der richtete sich jählings auf. „Wie viele sind verwundet? Wie viele -tot?“ fragte er hastig, und im Grunde seiner Augen stand das Grauen. -Der Arzt zog gleichmütig die Schultern hoch. „Weiß die Zahl noch -nicht!“ sagte er. „War ein heißer Tag, hat viel Arbeit gegeben. Das -waren, Gott sei Dank, die letzten.“ Mit einer Kopfbewegung deutete -er auf die Bahre, die eben in den Krankenwagen gehoben wurde. „Ruhe -brauchen Sie! Schlafen Sie sich ordentlich aus, Ihre Nerven haben’s -verdammt nötig! Sonst fehlt Ihnen nichts!“ Nachlässig salutierte er und -eilte zu den Fahrzeugen. Die Pferde zogen an, im Galopp ging es fort. - -Dann kam der Hauptmann und bat den Besitzer der Fabrik um eine -Unterredung. Und während Reinholt mit ihm sprach, trat Hellwig auf -den Fahrweg hinaus, ging wie ein Schlafwandelnder weiter und weiter, -zwischen rauschenden Feldern ging er und durch blühende Wiesen, und -als Reinholt laut seinen Namen durch die Stille rief, da schritt er -nur desto rascher vorwärts, mehrfach abbiegend, kreuz und quer, auf -schmalen Rasenbändern, weiter und weiter, und er wußte nicht, wohin er -ging und was ihn vorwärts stieß. - -Hoch oben in der Luft trieben noch immer schnell und lautlos die -silbrigen Wolken vor dem Mond, der halbrund am Himmel hing und es war, -als ständen die Wolken still und jagte die weiße Luna in hastiger -Flucht zwischen den ruhenden Silberflocken durch den glanzerfüllten -Raum. Von den brennenden Speichern und Dächern der Fabrik kam ein -roter Schein und wehte unruhig über die Fluren, und der Himmel war -dort purpurn glühend und die dunklen Büsche standen davor mit allen -ihren schlanken Zweigen und gerundeten Blättern scharf aus dem lohenden -Glanz herausgehoben, schwarze Schattenbilder auf goldig flammendem -Grund. Schön und seltsam und geheimnisvoll war die Landschaft mit -ihren sanften und grellen, ruhigen und beweglich huschenden Lichtern -und Farben und Schatten, und unermeßlich dehnte sie sich in einem -milden Leuchten blau verdämmernd, weit, weit, bis sie mit dem Rand der -hohen Himmelsglocke zusammenschmolz. Lautloses Ineinanderspielen der -Farben unten, lautloses Wolkenziehen hoch darüber, glanzgesättigte -Stille dazwischen: das war wie ein Prunksaal der Einsamkeit, die -hier demütigstolz die Königskrone aus den Händen der Unendlichkeit -entgegennahm. - -Trostbringende Königin Einsamkeit. - -Für den, der hier ihren Krönungssaal durchwanderte, weiter und immer -weiter wanderte, mit gesenkter Stirn und schlaffen Armen, für ihn hatte -sie keinen Trost, und er suchte ihn auch nicht. Er wollte nur ... Was -wollte er denn eigentlich noch? - -Da war ihm alles niedergebrochen. Ihm, dem Sieger, -- „Wir sind durch!“ -hatte er oft und oft den Freunden gesagt, -- war alles niedergebrochen. -So gründlich, daß kein Stein auf dem andern geblieben. Und die ihm -vertraut hatten, saßen jetzt zwischen ausgebrannten Mauern, viele -brave, arbeitsame Leute, -- und konnten betteln gehen. Sein Lebenswerk. --- Und Blut war vergossen worden. Durch seine Schuld war Blut vergossen -worden, rotes, warmes Menschenblut. Sein Lebenswerk. Und alles war ihm -niedergebrochen. Was wollte er also noch? - -Diese Gedanken, und immer nur dieselben Gedanken waren es, die ihn -begleiteten, während er so durch die endlose Ebene hinschritt, -stundenlang weiter und weiter schritt, bis ihn die Müdigkeit -überwältigte. Seine Beine begannen zu zittern, er taumelte und mußte -sich niedersetzen. - -Ganz schüchtern leuchtete das Frührot auf. In klaren Kugeln hing der -Tau an den Gewächsen, und faul versuchte ein Frosch seine knarrende -Stimme. Ein Vogel fing zu zirpen an, zaghaft und leis, als fürchtete -er sich noch vor der Dämmerung und der Stille -- dann lauter, kecker --- ein zweiter gab Antwort -- und als der junge Tag goldhell in das -freudig aufschauernde Land hineinsprang, da jubilierten im vollen Chor, -dem Zwang der Nacht entronnen und grüßten ihn viel hundert gefiederte -Sänger. - -Mit dem Gesicht nach abwärts hatte sich Fritz ins tauige Gras geworfen. -Vielgestaltig regte sich das Leben unter ihm. Winzige weiße Würmchen -krochen umher, schwerfällig schüttelten die Fliegen den Tau von den -surrenden Flügeln, ein hungriger Käfer lief hastig durch das Labyrinth -der grünen Stengelchen, eine Spinne kletterte über das feine Wurzelwerk -und über die kleinen Steinchen, mühselig, als stieg sie über hohe -Berge. Und unter der beweglichen Mannigfaltigkeit ruhte das braune -schwere Erdreich gelassen und still wie die Brüste einer Mutter unter -den ratlos tastenden Fingerlein des trinkenden Kindes. - -Aber diese Ruhe strömte nicht auf ihn über, und sein Herz ging nicht -in stillerem Gang. Schnell und schwer pochte es gegen den Boden im -harten Rhythmus der Verzweiflung. Und während er so in die Erde starrte -und den herben Duft ihrer Fruchtbarkeit trank, erwachten und zogen -vorüber wie Bilder einer Zauberlaterne alle die hingeschwundenen -achtunddreißig Jahre seines Lebens mit ihren Hoffnungen und Irrtümern, -ihren Kämpfen, Niederlagen und bittersten Enttäuschungen. Was immer -er bisher versucht hatte, alles war ihm mißlungen. Viele Wege war er -gegangen, mit beschwingtem Fuß, in ernster und froher Begeisterung -vermeinend, daß er dem Ziele näher komme. Aber jeder war ein Irrweg -gewesen, hatte zum Ausgangspunkt zurückgeführt. Und da hielt er nun, wo -er angefangen -- vor dem Nichts. Und alle Kraft war verzettelt, alle -Arbeit vergeudet, verpulvert, vertan. Und jedesmal hatte er geglüht -und geflammt, gleich heiß und hell geflammt für ein Leben ohne Götter -und ohne Lüge, für die Herrschaft des deutschen Volkes und für die -brüderliche Gleichheit aller Völker, für den Sieg der Sozialisten und -für ihre Niederlage durch seine Ideen. Und alles war Lüge gewesen und -Götzendienst. Sich selbst hatte er belogen und ein utopisches Ziel -war sein Gott und Götze und selig machender Glaube. Wie die Spinne -vor seinen Augen mühsam über die Grashalme, war er auf ebenem Boden -keuchend gekrochen und hatte vermeint, er stürmte steile Berge empor -zum Ziel. Nutzlos verschwendete Mühe -- Irrsal -- Verzweiflung -- -das war alles, was ihm geblieben. Und eine Ehe, die keine Ehe war, -ein Weib, für das der Gatte, ein Kind, für das der Vater wie ein -Gestorbener war. - -Aber leise, in den quälenden, schweren Rhythmus der Verzweiflung -hinein, nur kaum wie ein schwaches Vogelzwitschern im Gewittersturm -verhallend, schwebte fernher, ganz leise, eine Melodie des Trostes und -ein schüchterner Hoffnungsklang. Und eine scheue Sehnsucht stand auf -und pochte zag an und pochte lauter und mahnte: „Kehr’ heim!“ - -Und pochte lauter und mahnte inniger: „Kehr’ heim! Zu Eva und Hansl, -dorthin gehörst du -- sie warten auf dich. -- Nicht um deinetwillen -- -ihretwegen mußt du hin, daß sie aufrecht bleiben und sich weiter freuen --- wenn auch du -- zerbrochen bist ...“ - -Und ohne noch einmal in die Fabrik zurückzukehren, wie er ging und -stand, im Hausanzug und mit der Gartenmütze, reiste er von der nächsten -Bahnstation ab. - - -7. - -Otto Pichler las in seinem Stammcafé in den Zeitungen, daß das -Unternehmen des einstigen Freundes gescheitert war. Es bewegte ihn nur -wenig. _Sein_ Schifflein war geborgen. - -Schon längst hatte er Grete Deming geheiratet, schon längst war er -Prokurist und Stellvertreter des Direktors der chemischen Fabrik. Sein -Schwiegervater hatte sich vor einigen Jahren zur Ruhe gesetzt. Ein -verdienstvoller alter Herr, den man nicht hatte übergehen können, war -dermalen mit der Leitung betraut. Aber sein Rücktritt konnte nicht mehr -lang auf sich warten lassen, und dann war Otto der kommende Mann. Bei -den Beamten war er beliebt. ‚Das Glückskind‘ nannten sie ihn und hatten -recht damit. Nur wenige gab es, die so spielend mit dem Leben fertig -wurden und mühelos die reifen Früchte auflesen konnten, die ihnen ohne -vieles Dazutun wie von selbst in den Schoß fielen. - -Seine Ehe war wie tausend andere auch weder heiß noch kalt; eine -gleichmäßig laue Atmosphäre hüllte sie ein, ließ keine Stürme heran, -machte den Körper feist und war dem Wohlbefinden ungemein bekömmlich. - -Er ging seine Wege, Grete ging ihre Wege, mit der Treue nahmen sie es -beide nicht zu genau. - -Als der zukünftige Direktor den Bericht gelesen hatte, fragte er den -Kellner, ob die Herren seiner täglichen Tarockpartie schon anwesend -seien. Der Befrackte bejahte. Da zog Otto ein goldenes Etui aus der -Brusttasche, zündete sich eine Zigarette an, und während er den Rauch -erst einatmete und dann langsam in die Luft hinausschwimmen ließ, -dachte er: Ist es nicht Wahnsinn und Aberwitz, Gesundheit und Kraft und -Blut für wildfremde Menschen einzusetzen? Wir leben schließlich doch -nur das eine Leben, und warum sollten wir uns das nicht so angenehm wie -möglich machen und trachten, daß es uns sacht und unmerklich verrinne -in Fröhlichkeit und heiterem Behagen? - -Dann ging er ins Spielzimmer und mischte die Karten. - - - - -Sechstes Buch - - -1. - -Mitternacht war vorüber, als Hellwig bei Kolben Einlaß heischte. -Der Doktor war noch wach. Als Fritz draußen schellte, ging er ihm -ins Vorzimmer entgegen. „Komm nur herein,“ sagte er, „ich hab’ dich -erwartet.“ - -Und Fritz trat wortlos ein und hatte blasse Wangen und scheue Augen, -die ohne Unterlaß den persischen Teppich am Fußboden betrachteten. Aber -Kolben tat, als bemerkte er das nicht, sondern sprach zu ihm über seine -Rosenkulturen im Garten, die heuer besonders reichlich blühen würden, -über die vielen sonnigen Frühjahrstage, die immer wieder zu Wanderungen -ins Gebirge lockten, über die letzte Premiere im Burgtheater. Über das -alles und noch über viele andere Dinge sprach der Doktor unbefangen und -zwanglos, als wäre Hellwig nicht an die drei Jahre, sondern kaum ebenso -viele Tage fortgewesen. Und nur mitten zwischen diesen Dingen sagte -er einmal ganz von ungefähr: „Deine Frau wirst du wohl jetzt nicht -aufwecken wollen? Sie weiß auch noch nichts, es ist besser, du bleibst -die Nacht bei mir.“ - -Fritz atmete schwer auf und bewegte die Lippen, aber er sprach nichts -und schaute nur stumpf vor sich hin, elend und voll Schuldbewußtsein. -Doch als ihm der Doktor jetzt sein Schlafzimmer überlassen wollte, -- -er müsse sich ausruhen, man sehe ihm ja an, daß er total erschöpft sei, --- da lehnte er auch das stumm ab und blieb auf dem Diwan sitzen, mit -halb geschlossenen Augen und ganz teilnahmslos. Kolben aber dachte bei -sich, daß es besser wäre, den stolzen und harten Mann mit allen den -herben Verlusten und Enttäuschungen und Vorwürfen allein sich abfinden -und fertig werden zu lassen. Und er brachte Kissen und Decken, wünschte -ihm gute Nacht und zog sich zurück. Und Hellwig war ihm dafür dankbar. - -Er drehte die Glühlampe ab und blieb im Dunkeln sitzen und erinnerte -sich, daß er unter einem Dach mit Eva sei, daß ober ihm sein Junge -schlief, und das war Weh und Beruhigung, Qual und Trost zugleich. Doch -schließlich wurde die Übermüdung stärker als alles andere, und auf -die zerrüttelnden Aufregungen der letzten Tage reagierte der Körper -endlich mit einem tiefen traumlosen Schlaf, der bis in die späten -Vormittagstunden nicht von den bleischweren Lidern wich. - -Über alles mögliche hatte Kolben geredet. Aber was er für den Freund -getan und wie er Eva über die langen einsamen Tage und Monate und -Jahre hinweggeholfen, davon hatte er geschwiegen. Mit opferwilliger -Treue, ein verläßlicher Berater und Sorgenbanner, war er ihr zur -Seite gestanden, und während sie anfangs nicht darauf achtete, hatte -er ihr alle unangenehmen und schwierigen Geschäfte abgenommen. Auch -ihr Vermögen verwaltete er, und wenn Eva sich niemals ganz verlassen -fühlte und wenn ihr gar nicht recht zu Bewußtsein kam, was eigentlich -Fritz ihr angetan hatte, als er sie mit dem Kinde unbesinnlich in der -großen fremden Stadt mutterseelenallein gelassen, wenn sie davon nichts -merkte und sich leidlich zufrieden und geborgen glaubte, so war dies -ausschließlich das Verdienst des Doktors. - - * * - * - -Als Fritz endlich wach geworden, ging er mit Kolben in den ersten Stock -hinauf. Kaum ein Wort hatte er bisher geredet. Und als er im Vorzimmer -seiner eigenen Wohnung stand, spürte er den ungestümen Schlag seines -Herzens bis in der Kehle. Kolben aber ließ ihn draußen warten und ging -allein hinein, um Eva vorzubereiten. Ruhig und launig wie alle Tage -begrüßte er sie und tat, als wäre gar nichts Ungewöhnliches vorgefallen -oder im Anzug. Der vierjährige Hansl war mit dem Dienstmädchen -spazierengegangen. - -Wo war die Frohsinn blitzende Eva von früher? Ganz zu tiefst, in -den verstecktesten Winkel des Herzens, mußte sich die Fröhlichkeit -verkrochen haben. Keine Spur davon war mehr in den schwermütigen Augen, -dem ernsten Antlitz, das deutlich die Zeichen gelittener Schmerzen -eingefaltet trug. Nur in den blonden Haarspitzen leuchtete etwas, ein -flink Bewegliches, Übermütiges, und war schon wieder weg. Kaum wie ein -schnell vorbeihuschendes Erinnern an funkelnde Jugend und sonnige Tage -war das gewesen. - -Unten schritt ein Briefträger über die Straße. - -„Haben Sie keine Nachricht von Fritz?“ fragte da Eva unvermittelt. - -„Dasselbe wollte ich _Sie_ fragen ...“ - -Ein trauriges Lächeln ging um ihre Lippen. - -„Mich? Seit Wochen hat er nichts hören lassen. Ich weiß schon nicht -mehr, was ich mir denken soll!“ - -„Schreibfaul war Fritz von je.“ - -„Aber so lang hab’ ich noch nie warten müssen!“ - -„Er wird Sorgen haben. Der Streik dauert jetzt schon einen Monat ...“ - -„Wissen Sie denn wenigstens darüber etwas Neues? Denken Sie sich, heut’ -hab’ ich schon wieder keine Zeitung bekommen. Gestern doch auch nicht. -Was nur dem Austräger eingefallen ist?“ - -Kolben erhob sich. „Ich -- habe ihn das so geheißen, Frau Eva,“ sagte -er sehr ernst. - -Da stand sie auch schon dicht vor ihm und schaute angstvoll in sein -ruhiges Gesicht. „Kolben! Was hat’s gegeben?“ - -„Nichts, was Sie bedauern müßten, Frau Eva.“ - -Sie rieb die Knöchel ihrer Finger gegeneinander. „So sprechen Sie doch! -Rasch! Rasch!“ - -Zögernd gab er Antwort: „Die Führer des Streiks haben ihren Zweck -erreicht. Reinholts Arbeiter haben sich dem Ausstand angeschlossen ... -es hat Ausschreitungen gegeben ...“ - -Da schrie sie laut auf: „Fritz! Fritz! -- Doktor, was ist mit Fritz?“ - -„Ruhe, Frau Eva, Ruhe -- _ihm_ ist nichts geschehen. Jetzt endlich wird -er heimkommen.“ - -Sanft legte er den Arm um die Wankende. Aber sie stieß ihn ungestüm -zurück. „Jetzt, Kolben? Jetzt? Nein! Nein! Das erträgt er nicht! Doktor -... er verzweifelt ja! Wir müssen hin! Doktor ... wir kommen ja schon -zu spät ...“ - -Kolben hielt ihr die zitternden Hände fest. „Seien Sie vernünftig, Frau -Eva, ich hab’ Ihnen schon gesagt: Jetzt endlich wird er heimkommen. -Vielleicht ist er schon auf dem Weg ...“ - -Da schaute sie ihn mit einem wilden Blick an und rief: „Vielleicht! -Vielleicht auch nicht! Bringt Sie denn nichts aus Ihrem Gleichmut? Und -Sie wollen sein Freund sein? Schämen Sie sich! Wissen Sie denn ... ob -er -- überhaupt noch lebt?“ - -Und ganz ruhig, ganz bescheiden antwortete der Doktor darauf: „Gewiß, -Frau Eva ... Er ist ja schon heimgekommen.“ - -Er öffnete die Tür. Hellwig stand unter der Schwelle. Und während -Kolben mit zuckendem Gesicht, -- nun er allein war, brauchte er nichts -mehr zu verbergen, -- während Kolben über die Treppe hinabeilte, warf -sich Eva stürmisch an die Brust ihres Mannes. - -„Fritz!“ flüsterte sie in heißer Freude. „Fritz!“ - -„Eva!“ Das klang rauh und war wie ein Schrei. - -Sie schmiegte sich ganz dicht an ihn. „Nun bist du wiedergekommen! -Nun bist du endlich wiedergekommen!“ sagte sie und wiederholte es -immerfort, langte nach seinen Wangen und streichelte sie und schaute -ihn mit strahlenden Augen an und hatte alles Leid vergessen. „Blaß und -schmal bist du geworden! Wo sind deine roten Backen hin? Bist du müde? -Komm, setz’ dich, mach’ dir’s bequem, ruh’ dich aus ...“ - -Und er hielt sie fest an sich gepreßt und legte ihren Kopf an seine -Brust und schaute auf ihren blonden Scheitel und biß die Zähne -zusammen, um nicht aufzuschluchzen. Alles Unrecht, das er ihr angetan, -stand mit einem Male, nun er die Sanfte, Geduldige, Frohe wiedersah, -riesengroß vor ihm auf, und er fühlte sich elend und schlecht und aller -Liebe unwert. - -Aus dem Vorzimmer klang das Getrappel von Kinderfüßen und Geplapper. -Der kleine Hansl kam vom Spaziergang heim. Und dann ging die Tür auf, -sprang der Bub über die Schwelle, auf die Mutter zu. Da sah er den -großen fremden Mann, wurde kleinlaut und wagte sich nicht weiter. Eva -ergriff seine Hand. „Hansl!“ sagte sie mühsam heiter. „Hansl, komm zu -Vaterl!“ - -Halb scheu, halb zutraulich trippelte der Bub heran. - -„Vaterle ...?“ fragte er furchtsam. - -„So trau’ dich doch, Hansl! Na?“ Und um ihm die oft vorgesprochenen -Worte ins Gedächtnis zu rufen, begann sie: „Grüß’ -- Gott --“ Da -stellte sich das Kerlchen stramm vor den großen Vater hin und sagte -hell und herzhaft: „Grüß’ Gott, Vaterle, und hab’ mich lieb. Hab’ auch -Mutterl lieb und bleib’ bei uns!“ - -Wortlos, in tiefster Bewegung, hob Fritz seinen Sohn zu sich hinauf und -küßte ihn. - -„So!“ rief Eva. „Jetzt komm, Hansl, wir wollen Vaterl was zu essen -holen!“ - -Und rasch führte sie den Buben aus der Stube. Er durfte seinen Vater -nicht länger in solcher Erregung sehen. - - -2. - -Ein Tag nach dem andern ging vorüber und Hellwigs düstere Miene wollte -sich nicht aufhellen. Sein Inneres war wie ausgebrannt, wüst, nackt und -leer. Alle Quellen waren versiegt, alle Hoffnungen verdorrt. Was er für -sein Lebenswerk gehalten, lag in Trümmern. Da schämte er sich vor sich -selbst, vor seinem Weibe, vor den Menschen. - -Führer hatte er ihnen sein wollen, Pfadfinder, Heilbringer -- und -war nichts gewesen als was so viele andere auch: ein Irrlehrer und -dünkelhafter Maulheld, der da glaubte, den Menschen die Wahrheit -schenken zu können. Jeder andere durfte mit gleichem Recht das gleiche -behaupten. Die Wahrheit hatte ja doch keiner, konnte keiner haben, -weil es im ständigen Fluß der Entwicklung einfach keine Wahrheit gab. -Keine Wahrheit wenigstens, die zu allen Zeiten Wahrheit bleiben muß. -Wer am Ufer steht oder im Strome treibt, weiß vielleicht, daß die -Strombahn in diesem Augenblick von Westen nach Osten zieht. Aber ob -sie sich tausend Meter weiter unten nicht nach Süden wendet oder nach -Norden oder im Bogen zurück nach Westen, das weiß er erst, bis er’s -mit eigenen Augen sieht. Doch so wahr der Strom ein paar Meter weit -nach Osten fließt, so wahr fließt er auch ein paar Meter weiter unten -nach Süden. Wer aber wäre vermessen genug, zu behaupten: Tausend Meter -abwärts _muß_ dieser unbekannte Strom im unbekannten Lande so fließen -und nicht anders! -- In tausend Jahren _muß_ die Menschheit diesen und -diesen Weg gehen und keinen andern! - -Wer wäre so vermessen? - -Er, Fritz Hellwig, er hatte die Vermessenheit gehabt und schämte sich -jetzt, da er sie erkannte. Und noch etwas anderes erkannte er jetzt: -den Frevel, so nannte er es, der kein Freund der Beschönigung war, den -Frevel, den er an Eva und seinem Kinde begangen -- und an sich. Das -frohe Lachen und Plaudern des Buben war ihm wie beständiger Vorwurf. -Aus den guten Augen seiner Frau las er ihn und immer haltloser wurde er. - -Auch Kolben vermochte da nichts zu richten. „Dir hätt’ ich auch eine -Schuld abzuzahlen, Albert!“ hatte Fritz bitter gesagt und als der -Doktor dagegen lachend protestierte, hatte er tonlos weiter gesprochen: -„Ich muß nur nehmen und immer nehmen! Immer nur in euerer Nachsicht -leben! Das ist nicht gut, Albert, nein, das ist nicht gut ...“ Und -er war wieder in das tatenlose Hindämmern gefallen, jedem Zuspruch -unzugänglich und taub für jeden Trost. - -Seit seiner Rückkunft hatte er die Wohnung nicht verlassen. In sich -vergraben und ganz in seine Verzweiflung eingewühlt lebte er, zeigte -für nichts Interesse, rührte die Zeitungen nicht an. Briefe von -Reinholt liefen ein. Sie blieben ungelesen. Wenn die Flurglocke klang, -schrak er zusammen. Er fürchtete sich vor den Menschen, weil er sich -vor ihnen schuldig glaubte. - -„Doktor, was sollen wir nur machen?“ fragte Eva oft ganz mutlos. - -„Gehn lassen!“ antwortete dieser. „Es wird auch wieder anders werden.“ - -Und sie ließen ihn gewähren. Mit keinem Wort rührte Eva an der -Vergangenheit, tat, als wäre er nie fort gewesen. Sie drängte sich -ihm nicht auf, aber stets war sie in seiner Nähe, hielt jede Störung -fern, barg ihren Kummer hinter hellen Mienen und lächelnder Heiterkeit, -hüllte ihn ganz in ihre Liebe ein und umhegte ihn mit jener stillen -Hausmütterlichkeit, deren Walten unmerklich ist und die doch alles -durchleuchtet und durchwärmt. - -Und wenn sie sich gar keinen Rat mehr wußte, schickte sie Hansl zu -ihm. Den konnte er dann stundenlang auf seinen Knien haben, wie ein -Kind konnte er mit ihm plaudern und alle Märchen, die er noch wußte, -erzählte er ihm. Aber sobald der Junge fort war, sank er wieder -zusammen wie ein Feuer, das allen Brennstoff aufgezehrt hat. - -Unangemeldet kam eines Tages Kaufmann Wart hergereist, um nach dem -Rechten zu schauen und nebenbei auch seinem Schwiegersohn gründlich den -Kopf zu waschen. Aber als er ihn so elend sah, unterließ er es. „Das -Flamändern wird dir jetzt wohl vergangen sein!“ knurrte er nur. - -Einige Tage später nahm er ihn beiseite: „Fritz, was wirst du jetzt -eigentlich anfangen?“ - -„Ich -- weiß es nicht ...“ - -„Aber ich wüßt’ was!“ lächelte verschmitzt der rundliche Mann, der -jetzt wieder frisch und blühend aussah und unter seinem weißen Barthaar -feiste rote Wängelein hatte. „Ich wüßt’ was! Komm zu uns nach Neuberg!“ - -„Das geht nicht!“ - -„Muß gehn, Fritz. Schau, es ist ein wahrer Jammer. Alles klerikal, -alles schwarz, bis über die Ohren schwarz! Das wär’ was für dich. -Misch’ auf! Jag’ sie davon! Schließlich, es ist ja doch deine -Vaterstadt. Wär’ ein Verdienst, Fritz, -- und besser, als so ins Weite, -Nebulose hinein. Dort hast du wenigstens festen Boden und weißt, daß -du darauf gehörst und für wen du’s machst. Dein Bub, -- hm -- ich -denk’ halt, jeder Baum braucht seine Erde. Und so eine Großstadt, das -ist doch keine richtige Heimat. Irgendwo aber soll jeder Mensch seine -Wurzeln haben. Pflanz’ halt den Hansl dort ein, wo er hingehört, nicht? -Und dann -- uns zwei Alten tät’s auch wohl. Die Mutter, -- sie hat zu -viel durchmachen müssen, -- die Mutter kann nicht mehr recht fort. Es -zwickt und reißt sie überall. Gefahr ist keine, aber beschwerlich ist -so was, drum ist sie auch nicht mitgekommen. Die Mutter, siehst, und -ich -- jetzt sind wir schon ganz allein. Und dann hätten wir wenigstens -wieder jemanden. Und schreiben -- du wirst ja doch nichts andres tun -als Bücher schreiben und für die Zeitungen -- schreiben kannst bei uns -draußen auch. Was meinst?“ - -Fritz antwortete nicht gleich. Kolben kam herein. - -„Stör’ ich?“ fragte er. - -„Nur herein, Herr Doktor! Ich sag’ grad’ nur, der Fritz soll mit nach -Neuberg!“ - -Kolbens Augen hinter der goldenen Brille leuchteten auf. Das konnte -eine Lösung sein. Aber diplomatisch meinte er nur: „Hm, Neuberg? Was -dort?“ - -Fritz sagte nicht ja, nicht nein. Doch die Worte klangen in ihm nach. -Und die beruhigende Aussicht in eine Zuflucht ließ ihn gefaßter werden, -wenn er sich das auch nicht eingestehen wollte, und richtete ihn auf -und war wie das Bändchen Bast, das ein ins Krumme wachsendes Bäumchen -am stützenden Pfahl festhält. - - -3. - -Und die Tage glitten weiter, sacht und gleichmäßig, wie weiße Schwäne -auf einer unergründlich tiefen und dunklen Flut. Glatt war die -Oberfläche und verriet nicht, was darunter brausend durcheinander -brodelte, alle Leidenschaften deckte sie zu, alle Angst und Qual und -Aufregung, und darüber segelten die weißen Schwäne, einer hinter -dem anderen, ruhig und lautlos. Kaum merklich war die Bahn, die sie -zogen, aber sie war doch da und in den sanft bewegten Wellen spiegelte -sich mit kleinen Lichterchen die verbannte Freude, versuchten die -Silberfischchen der Hoffnung zaghaft ihren Tanz. Und zwischen das -stürmische Einst und das Jetzt schob sich mit mildem Glanz, die -scharfen Konturen abtönend und verschleiernd, wie eine durchsichtige -Wolke der Friede. - -Ohne Geräusch und ohne viele Worte, mit einer gleichmäßig stillen -Freundlichkeit und innigen Hingabe, versah Eva den Haushalt und -pflegte den kleinen Hansl und den großen Fritz und jede Bequemlichkeit -bereitete sie ihm. Und täglich kam sie mit den Zeitungen und fing von -Dingen zu reden an, die ihr ganz fern lagen. Von Doktor Kolben oder -aus den gelehrten Büchern holte sie sich Aufklärung, in die schwer -gangbaren Gebiete der Finanzwissenschaft und der hohen Politik drang -sie mutig ein, schlug sich tapfer mit den schwierigsten Lehren und mit -den verwickeltsten Ereignissen herum, um nur mit ihrem Manne über etwas -sprechen zu können, was vielleicht seine Teilnahme wecken und ihn aus -der schweren Dumpfheit reißen könnte. Oder sie legte ihm Zeitschriften -und Bücher auf den Tisch: hier sei ein bemerkenswerter Aufsatz, den -müsse er lesen. Und dieses neue Werk vom Wesen des Geldes werde ihn -möglicherweise auch ansprechen. Doch wenn sie ihm von Reinholt Briefe -brachte, dann sagte sie nichts dazu und schaute ihn nur freundlich -bittend an: Er solle doch einmal einen aufmachen und lesen. -- Aber -mit keinem Wort rührte sie an der Vergangenheit, erwähnte auch nichts -davon, daß viele Blätter für ihn eintraten und das Vorgehen seiner -Feinde in der schärfsten Weise verurteilten. Das hatte Zeit, das konnte -ihm später als Genugtuung dienen. Jetzt sollte er nur erst aus der -schlaffen Teilnahmslosigkeit heraus. Aber es wollte und wollte nicht -anders mit ihm werden. Meist saß er vor seinem Schreibtisch, hatte -die weißen Papierbogen vor sich liegen und die Feder daneben, aber er -rührte sie nicht an und nicht eine Zeile schrieb er, sondern grübelte -nur und brütete vor sich hin, viele, viele Stunden lang. Aber die -Melodie der Häuslichkeit tönte immerzu leis um ihn und ruhiger und -ruhig schlug allmählich sein Herz. - -Und da geschah es eines Tages -- ein Gewitter war verrauscht und durch -zerrissenes Gewölk drang die sinkende Sonne mit schrägen Strahlen, -die von den Fensterscheiben gegenüber in gelber Lohe zurückflammten. -Dämmrig wurde es und düster, und Eva zündete die Lampe an. Das Gas -brodelte leise im messingnen Auslauf, und vor den Fenstern draußen im -Garten schlief sanft und sacht die Erde ein und eine Amsel sang vom -eisernen Windpfeil eines Landhauses herab der müden das Schlummerlied. -Da geschah es. In dieser seltsam leuchtenden und heimlich klingenden -Stille außen und innen, in diesem feierabendlichen Frieden, der alle -Dinge weich und warm in seine Arme nahm, geschah es. - -Halb vom Vorhang zugedeckt, saß Fritz beim Fenster. Er hatte, nach -langer Zeit wieder einmal, in seinem Werk geblättert, das er einst in -einem Rausch der Schaffensfreude niedergeschrieben, hatte auch einzelne -Stellen gelesen, wieder und wieder gelesen, aber keinen Widerhall in -seiner Seele gehört. Worte waren das, leere, taube Worte, die an ihm -abglitten und hohl tönten, wie Gefäße ohne Inhalt. Und alle Glut war in -sich zusammengesunken, und unter der Asche glomm kein Funke mehr. - -Er klappte das Buch zu und lächelte bitter, als er den gepreßten -Lederrücken sah. Für Jahrhunderte schien dieser Einband berechnet -und was er umschloß, war schon widerlegt, war schon verbrannt und -ausgekühlt und wertlos. - -Lang saß er dann und schaute in den Garten hinaus. Noch tobte das -Gewitter und die Wolken hingen ganz niedrig und die Bäume bogen sich -und zitterten im Sturm und wenn ein Blitz grell aufflammte, der Donner -nachkrachte, duckten sie sich noch tiefer und bebten sie noch stärker. -Und die weißen Landhäuschen fürchteten sich mit ihnen und kauerten wie -verirrte junge Tiere in dem zitternden Grün. Und in dicken Strängen -fiel der Regen nieder. Und dann wurde es stiller und lichter und freier -und der letzte Donner war noch nicht vergrollt, da war auch schon -wieder Amselsingen und war leuchtender abendlicher Friede. - -Dann flammte die Lampe auf, und Eva kam und legte ihm die Abendblätter -aufs Fensterbrett. Und wie jedesmal schob er sie beiseite, ohne einen -Blick hineinzutun. Denn er wollte nicht erinnert werden, wollte nicht -wissen, was draußen in der Welt vorging, das sollte tot für ihn sein, -wie er für die Welt tot sein wollte. - -Lebhaft und ungestüm sprang jetzt sein Bub, des stillen Spielens mit -den Bauklötzchen in der Ecke müd, zu ihm her, legte die Arme um seinen -Leib und den Kopf auf seine Knie: „Vaterle, erzähl’ was!“ - -Da schrak er aus seinem Grübeln und schaute das Kind mit ausdruckslosen -Augen an. - -„Was erzählen!“ bettelte der Bub. - -Nun bezwang er sich mühsam, hob den Knaben auf seinen Schoß, fing nach -einer geraumen Weile zu reden an: „Also -- es war einmal ein Mann, der -war verwunschen, immerzu irre zu gehen. Wenn er wohin gewollt hat, in -die Kirche oder auf den Jahrmarkt in die Stadt, hat er niemals den -rechten Weg finden können. Er selber freilich, er hat schon geglaubt, -daß er richtig geht. Immer der Nase nach geradeaus, dann links um die -Ecke und noch einmal rechts um die Ecke, dann muß die Kirche ja da -sein. So hat er geglaubt. Aber die Kirche ist nicht da gewesen, sondern -die Ziegelscheuer oder die Herberge oder sonst ein Haus, nur nicht die -Kirche. Und er hätte doch darauf geschworen, daß er recht gegangen ist. -Und wenn er zum Jahrmarkt nach Aberg gewollt hat, ist er sicher zum -Viehmarkt nach Beheim gekommen, was doch in einer ganz anderen Richtung -liegt. Weil er aber nicht leer nach Haus hat kommen wollen, hat er -sich halt dort eine Kuh gekauft oder einen Ziegenbock und den hat er -dann sicherlich dem Meister Schneider oder Fleischhauer in den Stall -getrieben, die doch am andern Ende vom Dorf gewohnt haben. Und kurz und -gut, er hat halt nie dorthin kommen können, wohin er gewollt oder wo er -zu tun gehabt hat. Immer hat er sich verirrt oder ist immerzu im Kreis -herumgegangen, immerzu rundherum im Kreis.“ - -Er schwieg und holte tief Atem. - -„Der dumme Mann!“ rief der kleine Hansl. - -„Jawohl, der dumme, dumme Mann!“ - -„Fix, Hansl, dein Abendbrot ist da!“ rief die Mutter dazwischen. Der -Bub wollte nicht fort: „Erzähl’ mehr, Vaterl!“ bat er. Aber Frau Eva -machte keine Umstände. Sie packte den Zappelnden unter den Armen und -hob ihn in seinen Sessel. „Avanti! Jetzt wird gegessen, daß du mir -rechtzeitig in die Federn kommst!“ Sie band ihm ein Mundtuch vor, gab -ihm den Löffel in die Hand. Nun aß er gehorsam seine Eierspeise und -schmatzte mit den Lippen und ließ sich von der Mutter die Semmelbrocken -in den Mund stecken. - -Durch das Gegitter des Spitzenvorhangs schaute Fritz zu. Da waren -sie beisammen, die beiden lieben Menschen, die schöne reife Frau und -der helläugige Knabe, im goldenen Kreis der Lampe. Und beide hatten -vergnügte Gesichter und waren guter Dinge und nicht ein leisester -Schatten trübte jetzt ihre heiteren Mienen. Im engsten Raum, vom -goldenen Lichtkreis eingeschlossen, Mutter und Kind, Erfüllung und -Verheißung, lachend und blühend wie die Erde im Juni. Und er -- hatte -sich selbst aus dem goldenen Kreis verbannt, -- um all das Licht hatte -er sich betrogen, mußte schuldbeladen abseits stehen. - -Der dumme, dumme Mann! - -Hart vor seinen Füßen hörte mit einer scharfen Linie das warme -Lichtrund auf und um ihn war Dunkel und Einsamkeit und Kälte. - -Du dummer, dummer Mann! - -So tritt doch heraus aus dem Dunkel. Wag’ den Schritt -- ins Licht, in -die Wärme, in die Liebe -- zurück in den leuchtenden Kreis des Lebens. -Diesmal kannst du nicht in die Irre gehen. Zu nah ist das Ziel. Ein -Schritt nur -- ein Öffnen der Arme -- und du hast es und hältst es fest --- und nimmer, nimmermehr kann es dir dann entfliehen. - -Aber es war ihm, als könnte er niemals über diese scharfe, klare -Grenzlinie hinüber. - -„Weiter erzählen!“ rief Hansl und schlug mit seinem Löffel gegen den -blechernen Teller. „Weiter erzählen, Vaterle!“ - -Doch Eva hielt ihm die Hand fest und sagte: „Was gibt’s da noch viel -zu erzählen? Der Mann ist immer falsch gegangen, weil er ja doch -verzaubert war. Und einmal, da ist er schon weit fortgewesen und hat -sich gar nicht nach Haus finden können. Aber da ist ihm eingefallen, -daß seine Frau mit dem Essen auf ihn wartet und daß sein Bub auf -ihn wartet und eine Geschichte erzählt haben will. Und wie ihm das -einfällt, da hat er sich umgedreht, und keinen einzigen falschen -Schritt hat er mehr gemacht und ist nur immerzu geradeaus gelaufen und -gelaufen, bis er richtig zu Haus war. Und so schnell ist er gelaufen, -daß das Essen wirklich noch warm war und daß er auch noch eine -Geschichte hat erzählen können. Und seit der Zeit ...“ - -Mehr konnte sie nicht sagen. Denn Fritz war aus seiner dunklen Nische -in das helle Licht getreten, mit weit gebreiteten Armen -- und seine -Augen waren groß und leuchteten in ihren Tiefen, und die lieben zwei -lehnten ihre Köpfe an seine atmende Brust, und so stand er in stummer -Ergriffenheit und hatte sein Ziel erreicht und hatte sein Glück -gefunden im goldenen Kreis des Lebens. - - -4. - -In der Nacht, die diesem Erlebnis folgte, da lag er wach bis zum -Morgen. Und während Eva neben ihm still atmete, fühlte er, wie Ring -um Ring von seinem Herzen sprang, Stück um Stück der Eiswall brach, -hinter dem es eingefroren nur müd gepocht hatte. Die Nacht flutete -dunkel und gleichmütig vorüber. Ihm aber leuchteten die Augen groß -und eines ernsten Glückes voll. Erlösung. Auferstehung. Weitab vom -tosenden Jubel, vom wütenden Haß des Tages, im engsten Raum, zwischen -seinen vier Pfählen, mit einer beglückenden Selbstverständlichkeit war -diese Stunde gekommen und hatte ihn zum Hafen getragen, mühelos, wie -eine Welle die Muschel auf den Strand spült. Und er konnte alle Segel -einziehen und Anker werfen. - -Und langsam und allmählich lernte Fritz Hellwig wieder lachen und -wieder frei aufschauen. Und wenn er den Glauben an sich selbst verloren -hatte, so fand er ihn allmählich und langsam wieder in dem Glauben -an das Leben und in der Liebe der Seinen und zu den Seinen. Und alle -Zärtlichkeit Evas und aller Jubel des Buben strömte in seine Seele, -die ihre Tore weit offen hielt und machte ihn dankbar und fromm und -glücklich wie ein unartiges Kind über unverdiente Weihnachtsgaben. -Und jetzt bemerkte er auch die behutsame Zartheit, mit der Eva -seine Stimmungen belauschte und wie sie sich mühte, ihn abzulenken, -aufzuheitern und aus seiner Teilnahmslosigkeit zu wecken. Wie sie -immer und immer wieder leis an sein Herz pochte und Einlaß heischte -und die Geduld niemals verlor, wenn sie vergeblich warb, wenn er sie -rauh zurückstieß und keinen Teil mehr haben wollte an aller Freude und -Liebe. Und er zieh sich der Selbstsucht, weil er sich nur dem eigenen -Schmerz überantwortet hatte und zu allem angerichteten Unheil, zu allen -seinen Irrfahrten, die so viele bitter getäuscht und arm gemacht, noch -und abermals ein Unrecht gehäuft und jener weh getan hatte, die ihm -zunächst stand und ihn am liebsten hatte. - -Schwere Schuld war zu sühnen und manches konnte überhaupt nicht -ausgetilgt werden. Aber irgendwie gutmachen und aufwiegen ließ es sich, -nur mußte er die Zeit nützen und seine Kräfte, statt sie in nutzloser -Selbstbemitleidung zu vergeuden, frei machen für die Sühne. - -Und langsam wurden sie frei. - -Hatte er früher alles an sich vorbeigehen und gleichgültig zu Boden -fallen lassen, so konnte er jetzt nicht genug tun und nicht genug -finden, was Eva freuen und fröhlich machen sollte. Auf alle ihre -Anregungen ging er ein, sprach mit ihr über die Tagesereignisse, und -wenn sie auf ein besonders verwickeltes Thema gerieten und wenn Eva -sich immer tiefer hinein verfitzte und hilflos hing wie ein Fisch im -Netz, dann lachte er wohl und sagte, sie solle sich doch keine solche -Mühe und seine Schuld nicht noch größer machen. - -Sie erwiderte nicht auf solche Reden, blickte ihn nur strahlend aus -innigen Augen an und auf ihrem Gesicht lag ein ganz heller Schein der -Freude. - -Bald hatte er nachgeholt, was er in den letzten Wochen versäumt, hatte -er die Zusammenhänge wiedergewonnen und die Zeitungen blieben nicht -mehr ungelesen neben dem Schreibtisch liegen. Und er las die maßlosen -Ausfälle in den Blättern der Gegner, las die Verteidigungen und die -Lobsprüche der Anständigen und ihm wurde dabei, als ob das alles -irgendwo weit in der Ferne sich abgewickelt und er gar keinen Teil -daran habe. Auch die Briefe Reinholts las er jetzt. Und da erfuhr er -denn das Schicksal der Empörer. - -Karus, Leibinger, Sanders und fünf andere waren tot, Mark im Gefängnis, -die übrigen in alle Winde verstreut. Der Streik war zu Ende. - -Fritz las das und wurde wieder sehr traurig. Aber es war nicht mehr -die dumpfe Verzweiflung, der tatenlose Trübsinn von früher. Eine tiefe -sanfte Wehmut war es, die ihn ganz läuterte und immer fester und -unlösbarer mit seinen Lieben verknotete. - -Den ganzen Tag war er jetzt mit dem Buben im Garten, lehrte ihn die -Vögel nach dem Ruf, die Pflanzen und die Steine unterscheiden und wurde -nicht müd, die zahllosen Fragen des aufgeweckten Kindes zu beantworten. -Aber noch keinen Schritt hatte er seit seiner Rückkehr vor das Haus -getan. Er schämte sich noch. - -Und auch jetzt, als ihn Eva zu einem Spaziergang aufforderte, wollte er -nichts davon wissen. Sie aber ließ nicht mehr locker, bat und drang in -ihn und endlich gab er nach. - -Zwischen den gartenumhegten Villen gingen sie, in stillen Gassen, die -wie breite Alleen waren, von Bäumen flankiert und mit gelbem Kies -bestreut. Und nur wenig Menschen waren zu sehen. Eva hängte sich fest -an seinen Arm, war heiter, froh und herzlich und lachte und freute -sich. Da vergaß er alles andere und fühlte nur ihre sonnige Nähe, -blickte in ihre klaren Augen, die unter langen Wimpern hell und blank -in die blanke und helle Welt hineinlachten und er wurde sicherer, -ging aufrechter dahin und wenn ein Spaziergänger sie schärfer ansah, -stehenblieb und ihnen nachschaute, empfand er nicht Unbehagen oder -Befangenheit, sondern war stolz und freute sich über seine blühend -junge schöne Frau. - -Eine sachte Lehne hinauf gingen sie, bis die Häuser den Weinpflanzungen -Platz machten und weiter oben eine freie Schau ins Land hinein sich -auftat. - -Unten lag die große, turm- und giebelreiche Stadt, ein dunkler Wall -von schönen laubwaldumwachsenen Bergen mit weißen Schlössern und -bewimpelten Warten und Aussichtstürmen schloß den Horizont ein und hoch -und still weitete sich der Herbsthimmel darüber. Im Westen ging die -Sonne schlafen, von Gipfel zu Gipfel den Gebirgskamm entlang lief ein -zackiges Feuerband, und rings um das Himmelsrund, je weiter von der -goldenen Lohe im Westen, je tiefer und satter, wogten und wehten und -schwebten zarte, durchsichtige Schleier, purpurn und blau und violett, -sanken von den Höhen ins Tal, breiteten sich aus und hüllten gleitend, -wogend, weich und duftig die Türme, die Giebel und Dächer alle ein. - -Eine lange Weile standen Fritz und Eva Schulter an Schulter und -schauten stumm zu, wie die Sonne in Licht und farbenfroher Schönheit -ertrank. Der runde Rücken des Hügels war fast baumlos. Lediglich vor -einem zierlichen Kapellchen waren ein paar junge Linden im Halbkreis -eingepflanzt und daneben war ein Friedhof mit blumigen Gräbern, -schlichten schwarzen und weißen Steinen, Kreuzen und dürftigen dunklen -Zypreßchen. - -Sie öffneten die Lattentür, traten ein und gingen zwischen den -Gräberreihen hin. Einsam war es hier und still und gar nicht traurig. -Die Höhenluft spielte mit den welken Kränzen, wehte um die grünen -Gräser, um die nickenden Blütenköpfchen und um die prunklosen Male auf -den reinlichen Totenstätten. Und wo ein Kindergrab war, dort kniete -ein gipserner Engel in einem sauber angestrichenen Gitterchen und -betete. Und die blauen Berge winkten und grüßten noch von fern und die -Lichter der Stadt leuchteten durch die duftigen Abendschleier gedämpft -herauf, einzeln oder, wo ein Straßenzug ging, in feurigen Ketten. -Traulich war das alles und anheimelnd, und Eva sagte versonnen: - -„Hier möcht’ ich auch einmal liegen, du. Es ist so lieb hier.“ - -„Sprich nicht vom Sterben!“ bat Fritz. - -„Warum?“ fragte sie und schaute ihn aus lebensfrohen Augen an. „Leben -wir denn länger, wenn wir davon schweigen? Oder sind wir glücklicher? -Ich glaube doch nicht, Fritz. Mir wenigstens, mir ist immer, als müßt’ -ich mich schnell noch doppelt freuen über die Gegenwart, wenn ich -denke, daß alles einmal vorübergeht. Und viel tiefer und stärker freue -ich mich dann über das bißchen Glück, das wir haben. Und das haben wir, -gelt, du?“ - -Sie schmiegte sich ganz dicht an ihn, legte die Wange auf seinen Arm. - -„O -- du!“ antwortete er und seine Stimme war rauh und brüchig. „Ob -wir das haben! Unsere Stuben sind ja berstvoll davon -- und alles -durch dich! Alles, was darin schön und warm und hell ist, hast du -hineingetragen und bereitet mit deinen Händen. Und was darin häßlich -und kalt und dunkel ist -- durch meine Schuld ist es dazugekommen. Drum -sprich nicht vom Sterben! Ich mag nicht dran denken, du! Ich mag nicht -denken, wie wenig Zeit mir noch bleibt, um -- dir’s zu danken und dir’s -zu lohnen -- und abzuzahlen -- und zu vergelten, so gut ich’s kann. -- -Ev, du Liebe, Gute, Gütige!“ - -Ein Schluchzen erstickte seine Worte. Noch nie hatte er so -leidenschaftlich zu ihr gesprochen, ihr so ganz unverhüllt und -rückhaltlos sein Innerstes offenbart. Ein seltenes, schweres -Glücksempfinden flutete wie eine heiße Welle über die Frau und ließ sie -zu tiefst erschauern. - -Sie schwiegen. Lange, lange. Die Grabmale ragten ruhig in die halbhelle -Dämmerung, schwarze Schatten stiegen über die Hügel. Ein Stern flammte -auf und noch einer und wieder einer und lautlos schwebte die Nacht zu -Tal. Und der Himmel wölbte sich hoch über ihren Häuptern und baute sich -seltsam durchsichtig in einem ganz satten, ganz dunklen Blau über alle -die funkelnden Sterne hinaus höher und höher in die weite, leuchtende -Unendlichkeit empor. - - -5. - -Jetzt ließ sich auch Doktor Kolben wieder öfter blicken, der sich in -der letzten Zeit ganz zurückgezogen hatte, um das Heilung bringende -Walten Evas nicht zu stören. Die Septembertage waren mild und klar und -sonnig, in den Nächten stand der Vollmond am Himmel, so daß es auf der -Erde gar nicht mehr finster wurde und Licht mit Licht, Goldglanz mit -Silberschimmer lautlos wechselte. Da nahmen Hellwig und Kolben ihre -Mondscheinpartien wieder auf. Vor Jahren, damals, als Fritz noch als -blutjunger Mitarbeiter bei den Freien Blättern saß, hatten sie solche -Wanderungen öfter unternommen, und regelmäßig war auch Heinz mit dabei -gewesen. - -Diesmal fuhren sie in die Eisenerzer Alpen. Spät nachts kamen sie in -Kallwang an und machten sich ungesäumt auf den Marsch. In Nagelschuhen -und Lodenflaus, die Rucksäcke auf den Rücken, schritten sie wacker aus. -Erst war es noch dunkel und nur die Sterne leuchteten über ihrem Weg. -Aber dann ging rund und voll der Mond auf und schüttete sein Silber -auf die Erde. Die tief eingefalteten Täler füllte er und den endlosen -Luftraum, und vor dem hellen Himmel standen dunkel und riesengroß und -silberüberrieselt die gewaltigen Mauern des Hochgebirges. Jeder Gipfel -war scharf umrissen, und doch waren alle Linien weich und seltsam -fließend. Jeder Kamm war rein geprägt und war doch schattenhaft und -unbestimmt verschwimmend. Jeder Gebirgsstock ragte klar und fest mit -dem Boden verwachsen aus dem silbernen Tal in den silbernen Himmel, -und doch schien das alles, in diesem Licht, das so ruhig leuchtete -und dennoch immerwährend flimmerte und flutete und mit winzigen -Wellchen ineinanderspielte, schien das alles, die wurzelfesten Berge, -die mächtigen Kuppen und starr aufragenden Zinken, flaumenleicht und -schwebend, nur kaum wie mit ganz feinem Pinsel auf den zart silbernen -Himmel hingestrichen. Und das war das Seltsamste: daß die Wucht und -kolossale Größe des Gebirges nah und greifbar dastand und doch nicht -fühlbar und nicht drückend wurde. - -Schweigend schritten sie dahin. Über ebene Wiesenflächen schritten -sie, und die Gräser rauschten unter ihrem Tritt und schimmerten -und flimmerten, eins im bläulichen Schatten des anderen. Und durch -mächtige Tannenwälder schritten sie, die still und undurchdringlich -finster waren gleich lichtlosen Kirchenhallen, und nur hoch oben, -über dem schwarzen Gitter der Nadelkronen, lag der Mondglanz wie ein -durchbrochenes Spitzengewebe. - -Schweigend schritten sie vorwärts. Etwas tief Beruhigendes war in -dieser Wanderung durch Glanz und Stille, etwas, was alle Leidenschaften -einwiegte, alle Wünsche schweigen, alle Erdenmühe vergessen ließ, -und auf lautlosen Schwingen hob sich die frei und leicht gewordene -Seele und gleitend flog sie, flog schwebend in den unendlichen Frieden -hinein, der alle Berge und Täler, alle Höhen und Tiefen durchtränkte. - -Schweigend schritten sie aufwärts. Und als sie den Wald hinter sich -hatten, ins Krummholz kamen und auf weiche Alpenmatten, da hatte der -sanfte Mondglanz schon dem härteren Licht des Morgens weichen müssen. -Und als sie den Kamm erstiegen, da brodelten tief unten schon und -brandeten die grauen Morgennebel, alle Täler füllend, wie ungebärdige -Ströme gegen die ruhige Kraft der Berge an. Und dann sprang die Sonne -rein und rund, ein junger Held in goldig flammender Rüstung, auf den -Burgwall und schleuderte die Feuerspeere ungestüm fernhin gegen die -weißen Hünen im Gesäuse, die gelassen ihre ungeheueren Schilde entgegen -hielten, gegen die funkelnden Panzer das Dachsteins, des Glockners, -der trotzig unbewegten Riesen -- und es war wie der heiße Ansturm des -vergänglichen Lebens, das seine überschäumende Kraft auszutoben begehrt -an dem unverrückbaren, sicheren, ewigen Sein. - -Noch immer schwiegen die beiden Wanderer, schritten den felsigen Kamm -entlang zum Gipfel. Neuschnee lag hier oben, weich und unberührt, eine -duftige Decke, mit den tiefroten Sternen der Nelken, mit gelben und -blauen Alpenblumen leuchtend durchweht. Und zwischen dem Felsgetrümmer -blühte das Edelweiß. - -Nun waren sie auf dem Gipfel, breiteten die Mäntel aus und hielten -Rast. Die Rucksäcke wurden ausgepackt, der sturmsichere Weingeistkocher -angezündet, der Tee bereitet. Ein harscher Höhenwind strich über -den Kamm, machte die Wangen rot, und die Lungen atmeten tief auf -in dieser reinen Frische. Ganz still war es. Die Morgennebel waren -verflogen, der Übermut der jungen Sonne war verbraust. Klar und ruhig -schien sie von einem blauen Himmel herab auf die gewaltige Bergwelt -mit ihren schroffen Zacken und jähen Abstürzen, ihren breiten Gipfeln -und schmalen Tälern, und tief unten zwischen dunklem Tannengrün -und hellen Wiesen duckten sich winzige Häuschen und Kirchlein und -Menschensiedelungen, duckten sich und ruhten an der Brust der Berge -sicher und gut wie Vögel im Nest. - -Noch immer schwiegen die zwei oben auf der freien Höhe und ließen -die Gedanken ausklingen, die während des Aufstiegs, während der -mannigfaltigen Übergänge von der dunkelsten Nacht bis zum strahlenden -Tag in ihnen wach geworden. Es war wohl bei beiden dasselbe gewesen. An -die Not des Lebens hatten sie gedacht und an die herben Enttäuschungen, -die keinem von ihnen erspart geblieben. Durch Leid und Verzweiflung -waren sie beide gegangen, der eine, als er der geliebten Frau entsagen -mußte um des Freundes willen, der andere, als ihm ein Ideal um das -andere, ein schöner Traum nach dem anderen zerstob und entschwand. Und -doch war jetzt Ruhe in ihnen, eine sanfte, innige Ruhe wie Mondlicht -über Trümmern. - -Kolben brach endlich das Schweigen. - -„Hier ist Friede!“ sagte er und schaute immerzu in das lachende Tal zu -seinen Füßen. - -Fritz lachte. Traurig und bitter lachte er. - -„Ja -- hier oben -- ein paar tausend Meter weit von allen Menschen -- -da ist Friede! Und Ruhe -- und Sicherheit. -- Aber schon dort unten, -in den elenden Hütten -- so friedlich schauen sie aus, so idyllisch -und poetisch -- schon dort unten ... weißt du, wie viele Kinder dort -schon mißhandelt, -- wie viele Tiere nutzlos gequält wurden und täglich -werden? Wie viel Elend und Schande und Leid diese Strohdächer zudecken, -diese -- Menschenstätten? _Hier_ ist Friede! Aber wo Menschen sind, da -ist Blut und Schmach und Kampf und Unzufriedenheit.“ - -Und nun brach auf einmal alles aus ihm vor, was wochenlang auf seiner -Seele gewuchtet hatte. - -„Aber woher nur? Woher diese ewige Unzufriedenheit? Die Frage läßt mich -nicht los! Und ich finde keine Antwort! Das Tier ist zufrieden, die -Herde folgt noch heute willig dem Leitstier, die Wölfe rennen im Rudel -wie vor tausend Jahren. Nur wir Menschen ändern immer wieder unsere -Ordnung. Damit die Republik an die Stelle der Monarchie treten kann, -müssen Tausende verbluten. Und kaum haben die Überlebenden gelernt -‚Hoch die Republik!‘ zu schreien, müssen abermals Tausende sterben, die -nicht so schnell wie die anderen ihre Kehlen umstimmen können auf den -neuen Ruf: ‚Es lebe der Kaiser!‘ -- Und wieder zurück, wieder vorwärts, -ein steter Wechsel, eine Sehnsucht, so brennend heiß, daß sie manchmal -mit Blut gelöscht werden muß! Warum nur? Warum?“ - -Kolben brach eine purpurne Nelke aus dem weißen Schnee und betrachtete -sie aufmerksam: die Blütenblätter, die wie frierend zusammengerollt -waren und das Stengelchen, an dem ein ganz dünnes Eisfähnchen -glitzerte. Denn in der Sonne war der Schnee geschmolzen, aber der kalte -Höhenwind hatte das Wasser sogleich wieder gefrieren lassen. Von allen -Seiten betrachtete das der Doktor ganz genau und sagte dabei: - -„Warum, Fritz? Weil wir -- das Denken gelernt haben. Das Leben -- das -hat die Natur in den ungeheueren Kreislauf hineingeworfen, gedankenlos -und zwecklos hat sie es geschaffen. Wie es sich weiter entwickelt, -darnach fragt sie nicht. Aber das Leben _hat_ sich weiter entwickelt -und wir -- haben uns im Daseinskampf als stärkste Waffe das Denken -geschmiedet. Die Natur denkt nicht, wir, ihre Kinder, denken, forschen -nach Ursache, Plan und Ziel, werfen unsere bangen Fragen an die Tore -der Ewigkeit. Und nichts tönt zurück, nichts kann zurücktönen -- als -Schweigen. Unseres Daseins uns bewußt, sind wir vom Unbewußten wie -von Mauern eingeschlossen und können nicht heraus. Seit wir zu denken -angefangen haben, sind wir über unsere Mutter hinausgewachsen. Wie -können wir da jemals zufrieden sein?“ - -Hellwig stöhnte dumpf auf. „Dieses Sich-bescheiden, diese Resignation --- ich kann mich nicht damit abfinden ...“ - -„Du wirst schon müssen, Fritz. Vielleicht -- schau’, nimm’s einmal -so: Die Entwicklung steht nicht still. Darum wird die Menge immer -Rohstoff bleiben und niemals reif werden. Im Bilde: Sie ist ein -ungeheuerer Klumpen Ton. Und die einzelnen wenigen, die Erlöser, -Dichter, Denker, die in der Entwicklung Vorausgelaufenen, die ‚mit den -neuen Wahrheiten‘, die Herrenmenschen, was weiß ich, die alle kneten an -dem ungeheueren Klumpen herum. Der eine da, der andere dort, aber ihn -ganz bewältigen und zu _einem_ Bildwerk zusammenfassen, das ist keiner -imstand. Weil der Ton zu weich ist. Und eh’ er erstarrt, ist schon ein -neuer Bildner da und ändert die Nase, die Ohren, die Beine. Manchmal -patzt er auch, das tut nichts, ein anderer macht’s schon wieder besser. - -Rohstoff ist die Menge, Fritz, und bleibt Rohstoff. Bildungsfähig ist -sie und wird doch niemals Bildung haben. Entwicklungsfähig ist sie -und wird doch niemals entwickelt sein. Oder: sie braucht immer ihren -Beglücker und wird doch nie beglückt sein. Oder zufrieden, was dasselbe -ist. Drum laß das gehn!“ -- Und jetzt wurde Kolben sehr herzlich. -- -„Sieh lieber zu, daß dein Junge nicht in der breiigen Masse versinkt. -Wenn du’s zuwege bringst, daß er ein Bildner wird, ein vollwertiger -ganzer Kerl, ein Kneter, kein Gekneteter -- kurz und gut, wenn du der -Menschheit einen einzigen tüchtigen Mann heranziehst, dann hast du für -sie mehr getan, als wenn du zehntausend -- halb glücklich machst. Denn -zehntausend Halbheiten sind noch immer kein Ganzes!“ - -So sprach Doktor Kolben, der stille, versonnene Mensch, während er -unablässig die purpurne Blüte mit dem glitzernden Eisfähnchen zwischen -den Fingern drehte. Der täppische Bergwind riß ihm die Worte von den -Lippen, aber sie erreichten doch ihr Ziel, ein geneigtes Menschenohr, -ein empfängliches Menschenherz, wo sie Wurzel fassen und zum Blühen -kommen durften. - -Und die Sonne lag funkelnd auf dem blendend weißen Schnee und die Täler -waren grün und leuchteten grüßend herauf und die Bergriesen standen -sicher und trotzig im Kreis und bewachten den Frieden, der mit weit -gedehnten Schwingen über allen Dingen schwebte. - - -6. - -Als sie heimkehrten, Edelweiß auf den Hüten, die Kleider schwer vom -Duft der Alpenmatten, da waren Reinholt und Pfannschmidt und der alte -Bogner mit seinem Schwiegersohn zu Hellwig gekommen. - -„Endlich!“ rief Reinholt und ging auf ihn zu und umarmte ihn. „Endlich -seh’ ich dich wieder! Wie konntest du ohne Abschied davonlaufen und -nichts mehr von dir hören lassen?“ - -„Leo!“ sagte Fritz dumpf. „Nein -- du mußt mir noch Zeit lassen, Leo!“ - -„Was hast du? Ich versteh’ dich nicht?“ - -Da schrie er gequält auf: „Habt Geduld mit mir! Ich _kann_ euch noch -nicht Rede stehen!“ - -„Fritz, -- laß doch Vergangenes vergangen sein!“ - -„Ich -- hab’ euch ärmer gemacht, als ihr gewesen seid, bevor ihr mich -gekannt habt! Ich hab’ euch viel versprochen und nichts hab’ ich -gehalten! Und kann euch nicht einmal Ersatz bieten -- ich bin ja selber -bettelarm dabei geworden!“ - -„Also _das_ quält dich?“ entgegnete Reinholt. „Na weißt du, so -überflüssig ist nicht bald was! Wen hast du ärmer gemacht? Die zu uns -gehalten, denen geht’s heut’ noch gut -- die anderen liegen, wie sie -sich selbst gebettet haben. Die Spekulation ist mißglückt, ein paar -Gulden sind beim Teufel -- das ist alles und das ist schon längst -verschmerzt. Geh, Fritz, brau’ dir nur um Himmelswillen nicht so -närrisches Zeug zusammen!“ - -„So zürnst du mir denn nicht?“ - -Reinholt lachte so laut und herzhaft, daß Hellwig, ob er wollte oder -nicht, von der Grundlosigkeit seiner selbstquälerischen Vorwürfe -überzeugt sein mußte. - -„Meister! Mein guter Meister!“ rief jetzt der alte Kesselwärter und kam -schüchtern näher. - -Nun flog doch wieder etwas wie ein Lächeln über Hellwigs Gesicht: „Was -macht mein lieber Bogner?“ - -Die harte Greisenhand strich zärtlich über seinen Rock. - -„Jetzt geht’s schon wieder, Meister. Weil ich Sie nur gesund -wiederseh’. Im Anfang freilich ...“ -- und nun ballte er die Faust -- -„Die verdammten Kerle! Gott hab’ sie selig, aber wenn sie nicht schon -der Teufel geholt hätte, ich selber müßt’ ihnen was antun ...“ - -„Ihr seid ja ein ganz blutgieriger Kumpan!“ meinte Kolben lächelnd. -Und der Alte darauf: „Ja, Herr, Sie sind eben nicht dabei gewesen. Wie -das so gekommen ist, so auf einmal mitten in den tiefen Frieden hinein -wie ein Hagelwetter, -- man kann kaum ein Vaterunser beten, ist schon -alles hin ... Der alte Schädel kann’s wirklich nicht aufnehmen ...“ Und -wieder in flackerndem Zorn, mit geballter Faust: „Der Hund, der Karus!“ - -„Wie ist’s mit ihm gewesen?“ wandte sich da Fritz rasch an Pfannschmidt. - -„Ich hab’s nicht gesehen,“ erwiderte dieser, „weil mir der Hieb zu -schaffen gemacht hat. Aber wie sie erzählen, -- er muß rein den Tod -gesucht haben.“ - -„Ja, Meister!“ fiel ihm nun Adam Pichler ins Wort. „So was glaubt -niemand, der’s nicht mit angeschaut hat. Wie die Schießerei losgehen -soll, steht da nicht der Mensch oben auf dem Steinhaufen mit der Hacke -in der Hand? Und wie sie sich schußfertig machen, springt er, Meister, -er springt, so wahr ich leb’, mitten unter die Soldaten. Stücker drei, -vier schlägt er, daß sie wie Bullen umfallen, dann haben sie ihn fest. -Er aber reißt einem das Bajonett heraus -- ‚Lebendig nicht!‘ schreit er -und ‚Mordbuben!‘ und so was wie ‚Heinz!‘ und hat sich auch schon ins -Herz gestochen.“ - -„Er wollte nicht mehr leben ohne Heinz ...“ murmelte Fritz verstört. - -Ganz still war es nach diesen Worten. Die Abendsonne fiel schräg -durchs Fenster und wob um alle einen warmen goldenen Schein. Wie eine -Botschaft des Friedens war das, und alle Herzen pochten ruhiger. - -„Fritz, wir kommen eigentlich mit einer Bitte ...“ sagte Reinholt nach -einer Weile. - -„Was könntet ihr von mir noch wollen!“ - -„Hör’ zu!“ antwortete der Fabrikant und mühte sich wieder einmal -möglichst leichthin und geschäftsmäßig zu sprechen: „Hör’ zu: Die -Spekulation ist also nicht geglückt, und ich bin es müde, hier -was Neues anzufangen. Wir wandern aus. In die deutschen Kolonien, -irgendwohin, wo’s noch unbebautes, ganz jungfräuliches Land gibt. Dort -nehmen wir den Pflug in die Hand und werden Bauern. Nicht um Gewinn, -wieder nur für uns wollen wir arbeiten. Komm mit!“ - -Und auch die andern baten: „Meister, kommen Sie mit!“ - -Kolben war rasch zu Eva getreten. Fritz bemerkte es. „Hab’ keine Angst, -Albert!“ sagte er. „Ich geh’ nach Neuberg!“ Und zu Reinholt gewendet: -„Nein, Leo, ich bleib’ im Land. Wenn unsere Ideen in der Entwicklung -begründet sind, so setzen sie sich durch -- auch ohne uns. Wenn nicht, -so rollt die Zeit darüber weg, und wenn wir uns noch so dagegenstemmen. -Das ist mir so klar geworden seither, daß ich das Frühere nicht mehr -verstehe. Und dann, Leo -- ich hab’ einen Buben. -- Und was ich meiner -Frau angetan hab’, das muß doch auch gutgemacht werden.“ - -Da trat Doktor Kolben schnell auf Reinholt zu: „Ich halte mit, wenn’s -Ihnen recht ist!“ - -„Albert!“ rief Fritz erschrocken. Und Eva haschte die Hand des -Freundes: „Doktor, Sie dürfen nicht von uns!“ - -Der treue Mensch schüttelte langsam den Kopf. Jetzt, da Eva ganz -sicher geborgen war und ihm für sie nichts mehr zu sorgen blieb, wollte -das alte Leiden wieder aufwachen, und bei Hellwigs letzten Worten hatte -er erschrocken etwas sich regen gefühlt, das fast wie Neid war, Neid -gegen den Freund und sein Glück. - -Aber gelassen wie immer sagte er: „Was ist denn da weiter dabei? Nach -Neuberg ging’ ich so nicht mit, und ob dann hundert oder tausend Meilen -zwischen uns sind, das kommt schon auf eins heraus. Drum laßt mich nur -getrost fort. Aus der Welt geh’ ich ja nicht und dann -- vielleicht -können mich diese da jetzt -- besser brauchen.“ - - - _Ende._ - - - - -Im gleichen Verlage erschienen die folgenden Werke von - -Rudolf Haas: - - -Michel Blank und seine Liesel. - -Roman. 25. Tausend. - -Einbandzeichnung von Oswald Weise. - - -Matthias Triebl. - -Die Geschichte eines verbummelten Studenten. - -36. Tausend. - - -Triebl der Wanderer. - -Roman. 30. Tausend. - - -Verirrte Liebe. - -Erzählungen. 14. Tausend. - -Einbandzeichnung von Friedrich Felger. - - -Der Schelm von Neuberg. - -Lustspiel in 4 Akten. - - -Die wilden Goldschweine. - -Roman. 1.-15. Tausend. - -Einbandzeichnung von Max Both. - -(Erscheint im Herbst 1920.) - -Dieser Roman bildet die Vorgeschichte zu „Michel Blank und seine -Liesel“. - -„_Vornehm_ im besten Sinne ist der Erzähler Rudolf Haas, der _tief_ in -die _lichte Menschenseele_ blicken läßt und der Gedichte ausrauschen -läßt von _hinreißendem Schwung_, aber _stolz_ ausweicht, wo eine grelle -Effektszene anzubringen wäre, oder breite Sentimentalität .. _Ein -Lobpreiser des Lebens!_“ - - (Friedrich Adler i. d. „Bohémia“, Prag.) - -*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER VOLKSBEGLÜCKER *** - -Updated editions will replace the previous one--the old editions will -be renamed. - -Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright -law means that no one owns a United States copyright in these works, -so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the -United States without permission and without paying copyright -royalties. 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Hart was the originator of the Project -Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be -freely shared with anyone. For forty years, he produced and -distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of -volunteer support. - -Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed -editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in -the U.S. unless a copyright notice is included. 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You may copy it, give it away or re-use it under the terms -of the Project Gutenberg License included with this eBook or online -at <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>. 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Staackmann, Verlag, Leipzig<br /> -1920<br /> -</p> - -<p class="center spaced">Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten</p> - -<p class="center">Copyright 1910 by Axel Juncker in Berlin-Charlottenburg</p> - -<p class="center spaced">Druck von C. Grumbach in Leipzig</p> - -<p class="title spaced"> -Dem Prager Dichter<br /> -<br /> -<span class="gesperrt">Friedrich Adler</span>,<br /> -<br /> -<span class="small">meinem langjährigen Freunde,<br /> -dankbar zu eigen.</span><br /> -</p> - -<div class="chapter"> -<h2><a name="Erstes_Buch" id="Erstes_Buch">Erstes Buch</a></h2> -</div> - -<h3>1.</h3> - -<p class="drop-cap">Das niedrige Bergland, das Westböhmen von Bayern -scheidet, ist eine liebe, warme Erikagegend, die im -Sommer schamhaft errötet, wenn sie sich hüllenlos in -ihrer unberührten jungfräulichen Schönheit dem glücklichen -Entdecker nach langem Sträuben endlich preisgeben muß.</p> - -<p>Und er entdeckte und liebte diese frische, keusche Art, -der hager aufgeschossene Junge, der jeden Nachmittag, -wenn die Mittelschüler, vom Unterricht erlöst, den sechstausend -Insassen von Neuberg die Ohren voll lärmten, -durch die winkeligen Kleinstadtgassen in den lachenden -Sommer hinauslief, immer denselben Weg, den Hügel -hinauf und am Kamm fort auf schmalen Feldrainen, -wo der wilde Quendel blühte und die blauen Glockenblumen, -bis er endlich mitten darin war in der roten -Erika. Stundenlang konnte er dann dort oben liegen, -versunken in dem leuchtenden, bienendurchsummten Teppich, -und in die helle, silbern flimmernde Luft blicken. -Soweit er schaute, war nichts als der klare endlose Luftraum, -und nur ganz nahe, dicht vor ihm, standen die -verästelten Blütenbüschel rosenrot vor dem blauen Hintergrund.</p> - -<p>Die sonnenweite Unendlichkeit des Sommers war um -ihn, und er fühlte sich wie losgelöst von allem, was -mit ihm und neben ihm lebte. Und in seiner Seele erwachten -die uralten Fragen nach dem Woher und Warum, -sein achtzehnjähriges Jünglingsgemüt fragte nach dem -Zweck dessen, was nie einen Zweck hatte, suchte Regel -und Plan in dem, was planlos und regellos entstanden -war, wollte einheitliche schöpferische Ordnung in dem -Wirrwarr finden, der sich unbewußt gebildet hatte, wie -er sich bilden mußte nach den starren, toten Gesetzen -von Urbeginn. Und gegen den Kindersinn, der blindlings -glaubt und mit ganzer Seele etwas glaubend fassen will, -drang der reifende Verstand des Jünglings an, der Tatsachen -und Beweise für den Glauben forderte. Es ist -das ein schwerer Kampf, der meist in stillen Nächten und -verschwiegener Einsamkeit durchgefochten, langsam heilende -Wunden und dauernde Narben zurückläßt. Glücklich, wer -in diesen Tagen einen verständnisvollen Vater zur Seite -hat, der ihn unmerklich und dennoch sicher aus dem Wirrsal -leitet.</p> - -<p>Fritz Hellwig hatte solches Glück nicht. Sein Vater, -ein Volksschullehrer, war schon vor vielen Jahren gestorben, -und unter der ziellosen Leitung einer überzärtlichen -Mutter, die den einzigen Sohn beständig mit dem -lauen Badewasser einer weichlichen Liebe umplätscherte, -wuchs er zum verschlossenen Träumer heran. Während -seine Altersgenossen Trapper und Indianer spielten, den -Tomahawk schwangen und an ihren Lagerfeuern gestohlene -Erdäpfel brieten, lag er im Heidekraut oder saß er in -einer dämmrigen Zimmerecke und füllte die Stube mit -Traumgestalten, mit Feen, Zwergen und blonden Königstöchtern. -Deswegen litt er auch mehr als sonst einer -darunter, als von der flimmernden Märchenpracht Stück -für Stück der trügerische Flitter abfiel und der nüchternen, -trostlos grauen Wirklichkeit Platz machen mußte. Und -als er mit den zunehmenden Jahren nicht mehr im unklaren -über seine Entstehung bleiben konnte und als er -aus den unreif-rohen Zoten der Mitschüler den Sachverhalt -zu ahnen begann, kam ihm das wie eine Entweihung -seiner Mutter vor. Er schloß sich noch ängstlicher ab und -haderte mit der Welt und grollte seiner Mutter, weil -sie ihm Lügen vorgesagt, deren Verlust jetzt so weh tat. -Aber mit niemandem sprach er darüber, hatte keinen Vertrauten -und war zu stolz und zu scheu, um einen Menschen -in seine Seele blicken zu lassen. Deswegen hielten ihn -viele für eigensinnig oder hochmütig. Die weinerliche -Lehrerswitwe aber, für die es seit dem frühen Tode ihres -Mannes im Leben keine ungetrübte Freude mehr gab, -konnte nur zanken oder seufzend den Kopf in die ausgearbeitete -Küchenhand stützen, und ließ im übrigen ihren -dickschädeligen Jungen unbedingt gewähren.</p> - -<p>Auch damals, als er ihr kurz eröffnete, daß er an den -Sonntagen nicht mehr in den Gottesdienst gehen werde. -Erst schlug sie zwar die Hände zusammen und wollte -den Grund wissen und was Pater Romanus dazu sagen -werde. Denn sie war sehr fromm und fand den sanftesten -Trost in der frohen Aussicht auf eine Wiedervereinigung -mit ihrem seligen Gatten, indes die leiblichen Reste des -unaufhörlich Betrauerten schon längst in alle Winde verweht -waren mit den kühlen weißen Blumenblättern des -Rosenstämmleins, das aus seinem Grabe Nahrung sog -zu einem gedeihlichen Wachstum und fröhlichen Blütentreiben. -Daran dachte die einfache Frau jedoch nicht. Sie -glaubte nur den Worten der Sachwalter Gottes auf Erden -und hegte eine grenzenlose Verehrung eben für jenen -Jesuitenpriester Romanus, dem die jungen Seelen der -Neuberger Lateinschüler in Obsorge gegeben waren. Der -war von knochiger Länge und bleicher, fast krankhafter -Gesichtsfarbe, aber seine wandlungsfähige Stimme hatte -einen tiefen Orgelklang, wie man ihn von solcher Stärke -in dem kaum gewölbten Brustkasten niemals vermutet -hätte, und da er überdies stets den richtigen Ton zu -treffen wußte, ebenso sanft und süß wie grimmig, hart -und leidenschaftlich sein konnte, war es kein Wunder, daß -er als Kanzelredner starken Zulauf hatte. Auch war er -zu christlichem Beistand jederzeit gern erbötig, selbst wenn -er nicht darum angegangen wurde, war dann je nach Bedarf -milde, salbungsvoll, gütig, entrüstet oder ein zorniger -Eiferer und hielt für schmerzhafte Verletzungen und verwickelte -Zustände der Seele erbauliche Worte und heilsame -Bibelsprüche bereit wie ein Apotheker seine Salben -und Pflaster, nur daß er seinen Kunden kein Geld, sondern -lediglich die Beichte abverlangte. Doch nahm er diese -ins Ohr geflüsterten Verfehlungen als vollgültiges Zahlungsmittel, -und wenn es ihm gelungen war, einen besonders -feisten Sündenbraten aufzugabeln, dann saß er -mit niedergeschlagenen Augen und geneigtem Ohr ohne -Regung im Beichtstuhl. Nur seine Hände bewegten sich, -als zählte er Sünde zu Sünde wie ein Hausherr am Zinstag -seine Taler.</p> - -<p>Wie so manche Mutter oder Kostfrau der hoffnungsvollen -Gymnasiasten von Neuberg war auch Frau Hellwig -eine eifrige Besucherin dieser Offizin, weshalb sie -ihren großen Jungen, der mir nichts, dir nichts auf die -Segnungen der Messe verzichten wollte, auch sofort an -den Religionsprofessor erinnerte. Fritz hatte jedoch auf -diese Erinnerung und auf alle ihre Fragen und Vorstellungen -diesmal nur die trotzige Antwort, er gehe nicht. -Denn er scheute sich, die gottesfürchtige Frau in ihren -teuersten Empfindungen zu verletzen mit dem Bekenntnis, -daß er den Glauben verloren habe. Für eine Mutter ihres -Schlages konnte es ja kein größeres Unglück geben als -ein gott- und glaubenloses Kind. Sie ahnte freilich den -eigentlichen Beweggrund. Aber viel zu wehleidig, sich ihn -einzugestehen, fand sie sich mit dem spiegelfechterischen -Gedanken ab, daß ihr Trotzkopf von Sohn nur irgendwie -gegen den Religionslehrer aufmucken wollte. So trieb -sie’s wie der Vogel Strauß und war leidlich beruhigt -dabei.</p> - -<p>Aus dem eigenmächtigen Fernbleiben von den religiösen -Übungen erwuchsen Hellwig übrigens fürs erste keinerlei -Verdrießlichkeiten. Denn Pater Romanus übte in den -oberen Klassen keine Überwachung durch Namenaufruf, -sondern fragte lediglich ein paarmal im Jahre seine -Schüler, ob sie auch stets der Sonntagsmesse beiwohnten. -Wer gefehlt habe, solle sich melden. Durch dieses Vorgehen -wollte er dartun, daß keine Spur von Mißtrauen -gegen die Wahrheitsliebe seiner Zöglinge in ihm sei. Doch -hatte er eine eigene Überwachung auch gar nicht nötig, -da seine zahlreichen Verehrerinnen eine solche aufs trefflichste -besorgten, indem sie bald klagend bald Hilfe heischend -ihren Beichtiger hinsichtlich des Verhaltens seiner -Schüler fortwährend auf dem laufenden hielten. Das -wußten die schlauen Jungen ganz gut und hüteten sich, -ohne triftigen Entschuldigungsgrund eine vorgeschriebene -Andachtsübung zu versäumen. Auf Hellwig, dessen Mutter -mindestens einmal im Monat beichten ging, hatte -Pater Romanus schon längst ein scharfes Auge, weil hier -wieder einmal ein Schäflein vom rechten Weg abirren -wollte. Aber er hielt die Zeit seines Einschreitens noch -nicht für gekommen.</p> - -<p>Die übrigen Professoren, außer einem, hatten den -stillen Jüngling gern, der stets aufmerksam und in sich -gekehrt dasaß, keinen Sittenpunkt in ihren Katalogen aufwies -und mit zähem Fleiß seinen Platz unter den mittelmäßigen -Schülern behauptete. Sie schätzten seine gründliche -Arbeit, und sogar dem Klassenersten Otto Pichler -wurde er manchmal als Muster hingestellt.</p> - -<p>Der war das gerade Gegenteil von Hellwig, lachte sich, -ein kecker Draufgänger, in alle Herzen hinein, stieg unverfroren -den Backfischen nach und rauchte heimlich seine -Pfeife. Er lernte leicht und mühelos, war ein ebenso -guter Turner wie Rechner, Schlittschuhläufer wie Lateiner -und hielt sich, über alle Tiefen wegtänzelnd, mit prächtigem -Leichtsinn immer an der Oberfläche des Lebens. -Seine Mitschüler räumten ihm wie selbstverständlich eine -führende Stellung ein, für die kleineren Studenten war -er ein bewunderter Halbgott und in dem unschuldigen -Tagebuch mancher Fünfzehnjährigen prangte sein Name -als der des endlich gefundenen Ideals. Seine frischroten -Wangen und der anziehende Gegensatz, in dem die lustigen -Blauaugen zu den dunkelbraunen Locken standen, konnten -hier unmöglich ihre Wirkung verfehlen.</p> - -<p>Nur Fritz kümmerte sich nicht um ihn, wie er sich überhaupt -um niemanden scherte. Aber gerade dieses verschlossene -Wesen reizte den sieggewohnten Pichler, auf -dessen Freundschaft viele stolz waren, und in mannigfacher -Weise suchte er, sich ihm zu nähern.</p> - -<p>Da sah er eines Tages — eine sehr langweilige Unterrichtsstunde -war eben zu Ende —, wie Hellwig das Lesebuch, -das er in seiner Freude über die Erlösung ungestüm -zugeklappt hatte, hastig wieder öffnete und trübselig einen -schmierigen Fleck auf den bedruckten Blättern betrachtete. -Neugierig blickte Otto ebenfalls hin und erkannte deutlich -die Überreste einer Fliege, die sich auf irgendeine Weise -in das Buch verirrt und durch das Zuschlagen den Tod -gefunden hatte. Fritz aber zog mit dem Bleistift einen -Kreis um die schmutzige Stelle und schrieb darunter: ‚Zur -Erinnerung! Hier habe ich ohne Absicht ein Leben vernichtet.‘</p> - -<p>Pichler war mit seinem Spott sonst gleich bei der Hand. -Aber während er diesem Treiben zusah, kam ihm zugleich -mit einer an Rührung streifenden Gemütsbewegung heftiger -als je der Wunsch, Fritz zum Freund zu gewinnen.</p> - -<p>An diesem Nachmittage folgte er ihm daher heimlich -und fand ihn in der Erikaeinsamkeit. Mit einer sonderbaren -Frage weckte er den Träumer aus seiner Versunkenheit.</p> - -<p>„Hellwig, tut dir nicht auch die schöne Erika leid?“ -fragte er.</p> - -<p>Der Angeredete schrak zusammen, sprang auf und blickte -den als Spötter bekannten Pichler unsicher an.</p> - -<p>„Ist es denn nicht auch Unrecht, Pflanzen zu zerquetschen?“ -fuhr dieser fort.</p> - -<p>Eine jähe Röte färbte Hellwigs Wangen. Ganz verlegen -stand er da und fürchtete das Ausgelachtwerden. -Als Pichler jedoch ernst blieb und ihm mit einem herzlichen -Blick die Hand entgegenstreckte, schlug er zögernd ein.</p> - -<p>Auf solche Weise erreichte der braunlockige Schwerenöter -seine Absicht und kam in ein engeres Verhältnis zu -Fritz. Es hatte sogar den Anschein, als könnte sich dieses -zu einer regelrechten Jugendfreundschaft entwickeln. So -gut schienen die Auffassungen der beiden zusammenzustimmen. -Im letzten Grunde hatte indes Otto selbständige -Ansichten überhaupt nicht. Um sich zu solchen durchzuringen, -war er viel zu bequem und viel zu seicht. Sein -ungemein geschmeidiger Geist ermöglichte es ihm jedoch, -sich überall zurechtzufinden und fremde Meinungen skrupellos -zu den seinen zu machen, insofern dieselben für ihn -neu oder überraschend und geeignet waren, ihren Verfechter -in ein auffallendes Licht zu rücken.</p> - -<p>Für Hellwigs Entschluß, den Religionsübungen fern -zu bleiben, war er sogleich Feuer und Flamme. Als dieser -ihm zu bedenken gab, daß er selbstverständlich auch alle -Folgen tragen und sich insbesondere bei der nächsten Umfrage -des Paters Romanus freiwillig melden müßte, stutzte -er zwar einen Augenblick, fand aber dann diesen Gedanken -großartig und schwor, daß er durch dick und dünn mithalten -werde. Aber Freunde müßten sie werden, denn -Arm in Arm mit Hellwig fordere er sein Jahrhundert in -die Schranken. Bei diesen Worten warf er sich leidenschaftlich -an die Brust des Kameraden, und sie gelobten -einander mit Handschlag, nie zu lügen.</p> - -<p>Seither unternahmen sie gemeinsame Spaziergänge oder -kamen bei schlechtem Wetter in Hellwigs Zimmer zusammen. -Dieses war zugleich die gute Stube der Lehrerswitwe, -die darin ihre besten Möbelstücke aufgestellt hatte: -einen Glaskasten, angefüllt mit goldbemalten Porzellantassen, -Tellern, Zinnkrügen und einem Kruzifix unter gläserner -Glocke, eine vielfächerige Kommode, einen eirunden -Salontisch sowie sechs Polsterstühle, die unter ihren -weißen Leinenschutzhüllen aussahen wie kopflose Damen -in Frisiermänteln. In diesem Durcheinander, das jedoch -von den reinlichen Fenstervorhängen, den geflickten Tischläufern -und den gehäkelten Deckchen bis hinab zum Fußboden -peinlich sauber gehalten war, konnten die beiden -Jünglinge ungestört ihre Meinungen austauschen. Denn -Frau Hellwig hielt sich gewöhnlich in der Küche auf, wo -sie auch schlief, und erschien nur im Zimmer, um eine -Kanne Kaffee nebst einem Scheiterhaufen von Butterbroten -oder Kuchenstücken hereinzubringen. Dann blieb -sie ein Weilchen, lächelte gutmütig zu Ottos Witzen und -lobte ihn, daß er ihrem Traumhans von Jungen den -Hang zum Alleinsein ausgetrieben habe. Dafür erwies -sie sich auch dankbar, und seit sie erfahren hatte, daß Otto -der Sohn eines mit acht Kindern gesegneten Dorfküsters -und arm wie eine Maus in dessen Kirche sei, konnte sie’s -nicht unterlassen, ihm beim Weggehen jedesmal etwas -zuzustecken, Kuchen, Äpfel oder ein Stück vom Sonntagsbraten, -obwohl sie’s wirklich nicht zum Hinauswerfen hatte. -Sie mußte im Gegenteil trotz einem Kalkulator rechnen -und einteilen, um ihrem Sohne nebst einer anständigen -Lebensführung das Studieren zu ermöglichen. Aber sie -war glücklich, wenn sie jemanden bemuttern konnte, und -sagte Pichlern auch, er solle ihr nur seine schmutzige Wäsche -bringen, sie werde sie ihm rein machen, bügeln und flicken, -das gehe mit der ihres Jungen in einem hin.</p> - -<p>„Deine Alte ist wirklich ideal!“ versicherte Otto des -öftern, während sie vor den dampfenden Tassen saßen -und die Abtragung des Scheiterhaufens in Angriff nahmen. -Dann kamen sie wieder ins Reden und ereiferten sich -mit glühenden Köpfen und vollen Backen über Philosophie, -Religion und Volkserziehung, während sie die Hände unablässig -nach den gefüllten Tellern streckten, bis der letzte -Bissen vertilgt war. —</p> - -<p>Da geschah es, daß Pater Romanus in der obersten -Klasse wieder einmal die bereits seit längerer Zeit erwartete -Frage stellte: Ob jemand in den letzten Monaten -die Messe versäumt habe?</p> - -<p>Wie der Krampus aus der Schachtel schnellte Fritz von -seinem Sitze auf, stand kerzengerade und schaute dem -Professor freimütig ins Auge. Zögernd erhob sich auch -Pichler. Aber er ließ schuldbewußt den Kopf hängen.</p> - -<p>„So, so, der Beste und der Fleißigste aus der Klasse!“ -lächelte der Pater und forschte leutselig nach dem Grund.</p> - -<p>„Ich bin freiwillig weggeblieben!“ sagte Hellwig mit -fester Stimme. Seine Augen glänzten wie Stahl, die -Nasenflügel bebten.</p> - -<p>„Und wie oft, mein liebes Kind?“ fragte der Priester -sehr sanft.</p> - -<p>„Seit zwei Monaten jeden Sonntag. Ich hab’ es nicht -gezählt!“</p> - -<p>„Aber Hellwig, was soll das heißen? Wie können Sie -das rechtfertigen?“</p> - -<p>„Ich habe keine Entschuldigung, Herr Professor. Ich -bin nur so nicht hingegangen!“</p> - -<p>„Kind!“ Beschwörend streckte Romanus die Arme aus, -als wollte er die Worte nicht an sich heran kommen lassen.</p> - -<p>Mäuschenstill war es in der Klasse. Die Oktavaner -in den Bänken hielten den Atem an und starrten mit ängstlicher -Bewunderung auf den stillen, sonst so wenig beachteten -Kameraden und wunderten sich, wie der Duckmäuser -gegen den gefürchteten Lehrer aufzutreten wagte.</p> - -<p>Pater Romanus hatte das auch nicht erwartet. Er wußte -nicht recht, wie er sich dazu verhalten sollte. Um Zeit -zur Überlegung zu gewinnen, richtete er seine Augen langsam -auf Otto, betrachtete ernst und prüfend dessen gesenktes -Haupt und fragte schärfer:</p> - -<p>„Und was ist mit Ihnen, Pichler?“</p> - -<p>„Ich ...,“ stammelte der und stockte gleich.</p> - -<p>„Wie oft haben <em class="gesperrt">Sie</em> gefehlt?“</p> - -<p>Otto warf einen scheuen Blick auf die gefurchte Stirn -des Lehrers und sah schnell wieder zu Boden. Sein ganzer -Mut hatte ihn verlassen.</p> - -<p>„Einmal ...,“ stotterte er zerknirscht.</p> - -<p>„Otto!“ raunte ihm Hellwig verwundert zu.</p> - -<p>Aber die eindringliche Stimme des Priesters forschte -weiter: „Und warum, liebes Kind?“</p> - -<p>Und Otto antwortete tonlos: „Ich war unwohl.“</p> - -<p>„Herr Professor, das ist ...“ brauste Fritz auf und -schwieg sofort wieder, als er die klägliche Figur des andern -gewahrte.</p> - -<p>„Wollten Sie etwas sagen, Hellwig?“ wandte sich Pater -Romanus nun wieder an ihn. Da schüttelte er stumm -den Kopf. Wozu den Angeber machen?</p> - -<p>Und plötzlich kam ihm zu Bewußtsein, daß sich alle Blicke -der Klasse in seiner Person wie in einem Brennpunkt -vereinigten. Unerträglich, wie ein unkeusches Betasten des -Körpers, war ihm das. Und mit einemmal konnte er es -nicht über sich bringen, den Beweggrund seines Fernbleibens -anzugeben. Er hatte das Gefühl, als würde er -durch ein solches Geständnis seine Seele nackt zur Schau -stellen.</p> - -<p>„Nun, Hellwig, haben Sie sich eines Bessern besonnen? -Wollen Sie mir Ihr sonderbares Benehmen aufklären?“</p> - -<p>Die sanfte Stimme des Jesuiten rann wie ein süßes -Honigbächlein durch die Stille.</p> - -<p>Fritz schwieg, sah ihn an und zuckte nicht mit der -Wimper.</p> - -<p>„Kind, nehmen Sie doch Vernunft an! Woher nur -auf einmal? ... Denken Sie doch auch an Ihre liebe -Mutter!“</p> - -<p>Keine Antwort.</p> - -<p>„Wollen Sie also den Grund Ihres Benehmens wirklich -nicht angeben?“</p> - -<p>„Nein!“</p> - -<p>Kurz, hart, messerscharf, daß Pater Romanus zurückprallte. -Aber er faßte sich rasch.</p> - -<p>„Sie scheinen mir vom rechten Weg abgekommen zu -sein,“ sagte er und strich mit der schmalen Hand über die -Augen. „Besuchen Sie mich doch einmal in meiner Wohnung. -Dort können Sie mir alles ungestört sagen. Das -von heute bleibt unterdessen, als wenn es nicht vorgekommen -wäre.“</p> - -<p>Mit einem leichten Kopfnicken gab er den beiden Schülern -die Erlaubnis zum Niedersitzen und begann mit dem -Unterricht.</p> - -<p>Kaum war dieser zu Ende, drängten sich die Mitschüler -an Hellwig heran, sagten, daß er ganz recht gehabt habe, -wenn’s auch vielleicht einen Karzer absetzen könne, und -wollten wissen, ob er zu Pater Romanus hingehen werde. -Er gab ihnen keine Auskunft, hastete, hochnasig wie immer, -davon.</p> - -<p>In seinem Herzen schien etwas in Unordnung geraten -zu sein, zuckte, stach und schmerzte.</p> - -<p>Pichler! Ach ja so, das! — Wie fremd ihm auf einmal -der Name vorkam. Als hätte er ihn viele Jahre nicht -gehört.</p> - -<p>Plötzlich schritt Otto neben ihm her. Er hatte brennend -rote Backen und war ganz kleinlaut.</p> - -<p>„Fritz, — bist du bös?“ fragte er mit einem verlegenen -Lächeln.</p> - -<p>Brüsk wandte sich jener ab: „Ach geh, du! Du bist feig!“</p> - -<p>„Nein, Fritz, da tust du mir unrecht!“</p> - -<p>„Wortbrüchiger!“</p> - -<p>„Fritz, ich mußte!“</p> - -<p>„Du mußtest? Das ist ja eben die Feigheit!“</p> - -<p>„Hör’ doch damit auf, Fritz! Schau’, wenn ich wirklich -feig wär’, hätt’ ich dich jetzt gewiß nicht angesprochen, -hätt’ mich viel eher seitwärts in die Büsche geschlagen. -Und — ist es Feigheit, wenn ich die Verachtung meines -Freundes zu tragen gewillt bin — meines Vaters wegen?“</p> - -<p>Er machte eine Pause. Hellwig, von der unerwarteten -Wendung überrascht, fand keine Antwort.</p> - -<p>„Ja!“ fuhr Otto mutiger fort. „Wegen meines alten -Vaters! Ich hab’ doch nicht wissen können, wie die Geschichte -ausgehen wird. Und wenn ich auch nur Karzer -oder eine schlechte Sittennote bekommen hätt’ ... was -dann? Die Nachhilfestunden, die Freitische, die Schulgeldbefreiung -— alles wär’ beim Teufel! Und dann hätt’ -ich das Studieren eben einfach an den Nagel hängen -können! Und mein Vater ist so stolz, daß wenigstens -einer von uns achten studieren kann! Die Gründe mußt -du mir gelten lassen, Fritz!“</p> - -<p>„Warum hast du mir dein Wort gegeben? Ich hab’s -nicht verlangt!“</p> - -<p>„Ich war wie im Rausch damals! Du hast mich fortgerissen -... da hab’ ich mir nicht alles so überlegt —“.</p> - -<p>„Gut, gut! Aber laß mich jetzt in Ruh’!“</p> - -<p>„Und du verzeihst mir, gelt?“</p> - -<p>Zweifelnd blickte Hellwig den Kameraden an.</p> - -<p>„Otto, — du kannst mir ja nicht einmal in die Augen -schaun!“</p> - -<p>Da hob der andere das gesenkte Antlitz. Zwei helle -Tropfen rollten ihm über die Wangen, zeichneten silbrige -Streifen darauf.</p> - -<p>„Das Mißtrauen verdien’ ich nicht, Fritz!“</p> - -<p>Die schmerzliche Spannung in den Zügen des jungen -Kato ließ nach. Seine Miene hellte sich etwas auf.</p> - -<p>„Machen wir einen Strich darunter, Otto, wir sind -beide Schwächlinge!“</p> - -<p>Eilig rannte er fort.</p> - -<p>Pichler ging nach Hause. Er schämte sich noch ein -wenig und war doch froh, daß die Geschichte wieder in -Ordnung war. Das war ja ausgezeichnet gegangen. Eine -heiße Zuneigung zu Fritz stieg plötzlich in ihm auf und das -Verlangen, ihm etwas Liebes zu tun. Er wußte nur nicht, -was. Und wie öfters schon, faßte er wieder einmal den -Entschluß, ein guter, ganz makelloser Mensch zu werden; -sich zu Wissen, Ansehn, Bedeutung hinaufzuarbeiten. Im -Geiste sah er sich schon Stufe um Stufe erklimmen, angestaunt, -beneidet, von vielen umworben. Auf einen machtvollen -Posten gestellt, erwarb er Millionen und verfügte -unumschränkt darüber, beschenkte fürstlich seine Bekannten, -half dem Freunde zu Glück und Ehren.</p> - -<p>Immer kühner schwang sich seine Phantasie empor. Als -er vor dem ärmlichen Hause stand, wo ihm ein biederer -Spengler Kost und Wohnung gewährte gegen die Verpflichtung, -seine zwei dickköpfigen Buben durch das Untergymnasium -zu lotsen, da wurde es ihm schwer, sich in der -Wirklichkeit zurecht zu finden. Die gehobene Stimmung -verließ ihn aber den ganzen Abend nicht mehr. Seine -Ungeduld drängte ihn, mit der Erwerbung eines umfangreichen -Wissens sogleich zu beginnen. Er kramte in seiner -Bibliothek, die sich zumeist aus Bändchen der Reclamschen -Sammlung zusammensetzte, nahm bald dies, bald das in -Angriff und fand keine rechte Ruhe.</p> - -<p>Da fiel ihm Kants Kritik der reinen Vernunft in die -Hände. Er hatte das Werk stets unverdaulich und langweilig -gefunden, war trotz wiederholter Anläufe nicht über -die ersten hundert Seiten hinausgekommen. Heute aber -beschloß er, sich durch den ganzen umfangreichen Band -durchzufressen. Die Beine unterm Tisch lang ausgestreckt, -das Gesicht zwischen beiden Fäusten, saß er in der Bodenkammer, -die bei besserem Geschäftsgang gewöhnlich einem -zweiten Gesellen des Spenglers zugewiesen wurde, blies -gewaltige Rauchwolken aus einer langen Pfeife und begann -zu lesen.</p> - -<p>‚Wenn mich Fritz so sähe,‘ dachte er selbstzufrieden und -legte sich ins Zeug, als beabsichtigte er durch eine solche -Überwindung dem gekränkten Freunde ein Sühnopfer darzubringen.</p> - -<p>Aber je länger er saß, je schwächer wurde seine Aufmerksamkeit. -Auf dem Fundamente einer Welt der ‚Dinge -an sich‘ bauten seine Gedanken bald wieder prunkvolle -Luftschlösser in den Himmel hinein, und die rosige Zukunftsphantasterei -eines ehrgeizigen Jünglings schnitt dem -kategorischen Imperativ der Vernunft eine spöttische Grimasse.</p> - -<p>Unterdessen verging Frau Hellwig vor Sorgen um ihren -Jungen, der heute noch seltsamer als sonst war, kein -Wort redete und das Abendessen unberührt ließ. Hätte -sie in sein Inneres schauen können, die Sorgen wären -freilich einem großen Mitleid mit dem armen Grübler -gewichen. Schwerblütig, wie er war, legte er dem Vorfall -eine übergroße Bedeutung bei. Er litt nicht so sehr -unter dem Verrat Ottos, sondern weil er sich selbst untreu -geworden war und kein Recht mehr hatte, Pichlern -zu zürnen. Denn er war selber feig gewesen. Oder war -es etwa nicht Feigheit, zu schweigen, nur weil ein paar -Dutzend Augen auf ihn geschaut hatten. Wie sollte er der -Wahrheit zum Sieg helfen, wenn er sich fürchtete, sie -laut auszusprechen? Beispielgeber hatte er sein wollen — -und war vor sich selbst fahnenflüchtig geworden. Wessen -er Otto geziehen, er selbst hatte es begangen — und besaß -nicht einmal eine Entschuldigung dafür.</p> - -<p>So peinigte er sich und konnte die ganze Nacht keinen -Schlaf finden. Er faßte keine guten Vorsätze, denn er hatte -alles Zutrauen zu sich verloren. Und es dünkte ihm wertlos, -etwas, das er nie hätte tun dürfen, durch den Entschluß -gutzumachen, es in Zukunft nicht wieder zu tun. In dieselbe -Lage konnte er sich nicht zurückversetzen, die war -unwiderruflich vorbei und der Makel nicht mehr wegzuwischen.</p> - -<p>An allen Gliedern wie zerschlagen, die trüben Augen -dunkel unterrändert, erschien er den nächsten Tag in der -Schule. Otto war ebenso überrascht wie dankbar, daß -Fritz mit keinem Wort auf das Vorgefallene zurückkam -und weiter mit ihm verkehrte, als hätte es nie ein Gestern -gegeben. Von dem harten Ringen, das zwischen Abend -und Morgen lautlos vor sich gegangen, hatte er freilich -keine Ahnung, hätte es auch nicht begriffen. Für ihn -war jetzt alles wieder im Gleis, zumal auch Pater Romanus -nicht dergleichen tat und es schien, als beabsichtigte -er die Geschichte im Sand verlaufen zu lassen. Eine vorläufige -Folge sollte sie aber doch haben.</p> - -<div class="section"> -<h3>2.</h3> -</div> - -<p>Eines Tages, es war bereits spät im Oktober, kam -die schöne achtunddreißigjährige Frau des reichen Kaufmannes -Wart zu Hellwig und bat ihn, mit ihr zu gehen, -ihr Sohn verlange nach ihm.</p> - -<p>Fritz war über dieses Ansinnen sehr verwundert, da -er den jungen Wart, der die siebente Klasse des Gymnasiums -besuchte, nur aus einem gemeinsamen französischen -Lehrkurs ganz flüchtig kannte. Er sagte deshalb der unerwarteten -Besucherin, die in ihrem schwarzen Seidenkleide -fein und fremd zwischen den vermummten Lehnstühlen -stand, hier müsse ein Irrtum vorliegen. Sie aber entgegnete, -sie irre sich nicht, ihr Junge habe schon oft von -Fritz Hellwig gesprochen, namentlich in der letzten Zeit, -als die Geschichte mit dem Religionsprofessor vorgefallen -sei.</p> - -<p>Fritz aber, der sich nur sehr schwer an Menschen anschloß -und vor neuen Bekanntschaften förmlich Angst hatte, antwortete -kurz, daß er den Heinrich Wart viel zu wenig -kenne und keinen Anlaß habe, ihn zu besuchen. Wenn -jener etwas von ihm wünsche, solle er’s in der Schule sagen.</p> - -<p>Auf eine so schroffe Abweisung war die Frau nicht -gefaßt gewesen. Sie brach in Tränen aus und rief ganz -aufgeregt, das sei unschön und lieblos gehandelt. Er könne -sich denken, daß ihr ungewöhnliches Begehren auch einen -ungewöhnlichen Grund haben müsse. Kurz und gut, ihr -Sohn sei schwer krank, man wisse überhaupt nicht, ob er -wieder aufkommen werde. Heute, nachdem er mehrere -Tage im Fieber gelegen und nur fortwährend phantasiert -habe, heute habe er auf einmal den Wunsch geäußert, -mit Hellwig zu sprechen. Er solle nicht hart sein, vielleicht -handle es sich um den Wunsch eines Sterbenden.</p> - -<p>Da nahm er wortlos den Hut vom Nagel und ging mit.</p> - -<p>In den Gassen war es schon dämmrig, ein steter feiner -Regen fiel und schien das Leben in der Stadt langsam -auszulöschen. Kein Fuhrwerk rasselte, es bellte kein Hund -und nur ab und zu hastete jemand mit aufgespanntem -Schirm eilfertig vorbei, den Rockkragen emporgestülpt und -die Hosen unten aufgekrempelt, ohne das seltsame Paar -zu beachten. Die Frau schritt unbekümmert um den Regen, -der ihr ins Gesicht schlug und Perlen in ihr Blondhaar -streute, rasch vorwärts. Ihr Kleid knisterte und rauschte -über das nasse Pflaster, sie raffte es nicht, hätte auch -keine Hand hiezu frei gehabt, denn mit der Rechten hielt -sie das Taschentuch vor die Augen, während sie die behandschuhte -Linke leicht auf Fritzens Arm legte, als fürchtete -sie, er könne ihr noch im letzten Augenblick davonlaufen. -Die Sorge war unnötig. Nun er sich einmal -entschieden hatte, war zugleich auch jene ruhige Entschlossenheit -über ihn gekommen, mit der er stets an die -Verwirklichung seiner Vorsätze zu schreiten pflegte. Und -wenn sich auch bisweilen mitten in der Ausführung seine -noch nicht gefestigte Jugend aus der Bahn drängen ließ, -früher oder später vollendete er doch immer, was er sich -vorgenommen hatte.</p> - -<p>Die schlanke Frau an seiner Seite begann zu sprechen. -Erst leise und zögernd, als schämte sie sich. Bald aber vergaß -sie die Zurückhaltung, ging aus sich heraus und redete -sich das Leid vom Herzen herunter, wie wenn sie sich -einem langjährigen älteren Bekannten anvertraute und nicht -dem blutjungen Schüler, der trotz seiner Größe im Schultermaß -nur wenig höher als sie auf langen Beinen nebenher -lief, den Blick geradeaus gerichtet und die Hand zur -Faust geschlossen.</p> - -<p>Was sie sagte, war nichts anderes als die alte Klage -der Mütter heranwachsender Söhne. Aber sie gab nicht -dem Sohne schuld, daß er ihr Sorgen mache, sondern sich -selbst und quälte sich mit harten Zweifeln, daß sie ihn -vielleicht in seiner Entwicklung durch eine fehlerhafte Erziehung -verpfuscht oder nicht die Fähigkeit gehabt habe, -den sonderbaren Knaben zu verstehen und sicher über die -Schwelle der Kindheit hinüberzuleiten.</p> - -<p>Seine Begabung, sagte sie, sei ungewöhnlich, reich und -vielversprechend seine Anlagen. Aber ihr Mann halte von -solchen Sachen nichts und sie, die Mutter, habe vieles, -das ihr notwendig schien, unterlassen müssen, um das -väterliche Ansehen nicht zu untergraben. Bei dieser zwiespältigen -Führung sei der Junge ratlos geworden, sei -noch immer unselbständig und unfrei und beuge sich zu -sehr vor einem fremden Willen. Am meisten aber betrübe -sie seine Art, mit den kleinen Leuten umzugehen, -mit Dienstboten, Bettlern und Landstreichern. Überzart -und vorsichtig wie mit rohen Eiern, verlegen und schüchtern -wie ein Bittender, wo er befehlen sollte — immer -in der Sorge, ja niemandem weh zu tun. Denn er achte -das Menschentum auch in seiner erbärmlichsten Fratze, -aber — und das sei ihr Kummer — darüber vergesse er -sein eigenes, lasse sich ausbeuten und habe schon mehr als -einmal freiwillig die Strafe auf sich genommen, die ein -säumiger Laufbursche oder ein naschhaftes Stubenmädchen -verdienten.</p> - -<p>Die Sprecherin holte tief Atem und fuhr leidenschaftlich -fort: „Mein armer Heinz hat den Mut zum Leiden und -Schweigen, aber keinen Willen zur Tat! Drum reißt’s -ihn so zu Ihnen! Weil Sie haben, was ihm mangelt! -Er schwärmt für Sie, ist einfach in Sie vernarrt! Das -hat er mir zwar nicht gesagt, aber ich weiß es doch! Ich -kenn’ ihn ja durch und durch — aber nur so, wie Schätze -in einem Glaskasten. Ich hab’ keinen Schlüssel, kann -nicht zu ihm, ohne eine Scheibe zu zerbrechen. Sie aber -könnten es ... Wenn Heinz am Leben bleibt — er wird -— er muß! — dann ... nicht wahr, — Sie werden sein -Freund! Er braucht einen starken Menschen, an den er -sich klammern, aufrichten, emporranken kann! Der ihn -lehrt, auf den eigenen Füßen zu stehen und eine eigne -Meinung nicht bloß zu haben, sondern auch durchzusetzen! -Dann versprech’ ich mir viel von ihm! Nicht wahr, Sie -werden ...?“</p> - -<p>In banger Erwartung streckte sie ihm die Hand hin. -Doch er schlug nicht ein. Wohl war er mit wachsender -Teilnahme ihrem Reden gefolgt, das ganz neue Gebiete -vor ihm aufschloß. Hatte die hohe Auffassung einer gewissenhaften -Mutter von ihren Pflichten gegenüber dem -Kinde mit immer heißerer Ergriffenheit wahrgenommen -und über Worte gestaunt, die er niemals einer Frau zugetraut -hätte. Aber er war seines Vorsatzes, nie zu lügen, -eingedenk und antwortete mit jener ungelenken Rauheit, -die bei ihm stets herhalten mußte, wenn er weich zu werden -drohte: „Wart ist mir fremd. Ich kann gar nichts versprechen.“</p> - -<p>Die Frau ließ mutlos den Kopf hängen. Fritz kam sich -wie ein Verbrecher vor, als er den leidvollen Ausdruck -ihres Gesichtes wahrnahm. Wie aus einer anderen, lichteren -Welt erschien sie ihm, die Verkörperung alles Lieben, -Zarten, Gütigen. Eine warme Welle flutete in ihm empor. -Am liebsten hätte er ihre Hände gefaßt und um Verzeihung -gebeten, daß er ihr weh tat. Aber er biß nur die -Zähne zusammen und verdoppelte den Schritt, so daß sie -ihm kaum nachkommen konnte.</p> - -<p>„Seien Sie wenigstens freundlich zu ihm!“ bat sie.</p> - -<p>Und er darauf: „Ich bin kein Lausbub!“</p> - -<p>Nun standen sie vor dem alten Bürgerhause auf dem -Marktplatz, das mit Erkern und Simsen und Vorsprüngen, -mit Luken, Giebeln und steilen Dachflächen düster und -massig in die Luft hineinwuchs. Kisten und Fässer und -Ballen und Tonnen türmten sich allenthalben im wölbigen -Flur, lagen im breiten Stiegenhaus und verengten die -kühlen Korridore, überhuscht von den spärlichen Reflexen -schwelender Kerzen hinter verstaubten Gläsern.</p> - -<p>Polternd klangen die Schritte der beiden im Hinansteigen -über die bequeme Holztreppe. Nun hielten sie vor -der hohen dunklen Wohnungstür, ein Dienstmädchen öffnete, -und sie traten ein. Flüsternd erkundigte sich die -Frau nach dem Befinden ihres Kindes und erhielt befriedigende -Auskunft. Da öffnete sie eine zweite Tür, -winkte Fritz, daß er ihr folgte und schritt durch ein unbeleuchtetes -Zimmer mit weitem Raum. Undeutlich hoben -sich die Gegenstände aus dem schwachen Lichtschein, den -die Straßenlaternen zu den Fenstern hinaufsandten, in -florigen Teppichen versank der Fuß, und leis klirrten ein -paar Gläser im altdeutschen Schrein. Hellwig tastete sich -durch mit vorgestreckten Händen, stieß an einen Stuhl. -Da drehte sich wieder eine Tür geräuschlos in den Angeln -und ein grün gedämpftes Lampenlicht quoll durch den Spalt.</p> - -<p>Sie waren im Krankenzimmer. Mit der Schmalseite -an die Wand gerückt, von den drei anderen Seiten frei -zugänglich, schob sich ein breites Eichenbett bis in die -Mitte des Gelasses. Darinnen war, fast so weiß wie die -Kissen und Linnen, ein mageres Antlitz sichtbar, von einem -dichten Kranz tiefschwarzer Haare eingefaßt und von zwei -mächtigen dunklen Augen überleuchtet, die es ganz beherrschten -und noch abgezehrter erscheinen ließen.</p> - -<p>Frau Wart war sofort bei ihrem Sohne.</p> - -<p>„Wie geht’s dir, mein Junge? Hast du auch brav -geschlafen?“ fragte sie und war prächtig anzusehen in der -wohltuenden und beruhigenden Heiterkeit, hinter der sie -alle ihre angstvolle Sorge barg. Der Kranke gab keine -Antwort, sondern schaute mit seinen glänzenden Fieberaugen -an ihr vorbei auf Fritz, der stumm unter dem -schweren Türvorhang stand. Sie bemerkte den Blick, nickte -ihm zu und lächelte: „Ist’s dir recht? Du hast ihn ja haben -wollen.“</p> - -<p>Da stieg ein sachtes Wellchen Blutes in das eingefallene -Gesicht, leuchtete durch die Haut und warf einen zartroten -Schein darüber.</p> - -<p>„Guten Abend, Hellwig,“ sagte er leise und ließ die -Augen nicht von ihm.</p> - -<p>Nun kam Fritz näher, hielt am Fußende des Bettes -und sagte: „Servus, Wart! Was treibst du denn für -Geschichten? Krank sein — das gibt’s doch nicht! Sieh -lieber, daß du bald wieder ins Französisch kommst.“</p> - -<p>Die Mutter tat einen tiefen, freien Atemzug. Sie hatte -heimlich vor diesem Zusammentreffen gebangt, hatte gefürchtet, -daß Hellwigs kantige Art den Kranken verletzen -und aufregen könnte. Nun sah sie den warmen Blick, -hörte den herzlichen Klang der vor kurzem noch so trotzig -rauhen Stimme und schämte sich im stillen ihrer argen -Meinung.</p> - -<p>„Bleib nur liegen, du!“ flüsterte sie beglückt und drückte -ihren Jungen, der sich aufrichten wollte, in die Kissen -zurück. „Herr Hellwig setzt sich zu dir, da könnt ihr -reden ... aber nicht zu lang, nicht wahr?“</p> - -<p>Bittend schaute sie den Besucher an und wies auf einen -Stuhl neben dem Lager.</p> - -<p>„Ich könnt’ ebenso gut stehen!“ entgegnete Fritz wieder -kalt abweisend. Als er jedoch die ängstlich-erwartungsvolle -Miene des andern sah, verstummte er und setzte sich.</p> - -<p>Geräuschlos glitt die Frau aus dem Gemach. Im dunklen -Nebenzimmer verließ sie die mühsam behauptete Fassung. -Sie hatte Hellwig auf ihre eigene Verantwortung -herbeigeholt, versprach sich davon eine raschere Wendung -zum Gesunden. Wenn nur, ach, wenn nur endlich alle -Gefahr vorüber wäre! Und die Sorge um das Leben des -Kindes senkte sich wieder schwer und lautlos auf das blonde -Haupt, die schlanken Schultern und drückte sie nieder. -Wie unter eine wuchtende Last geduckt, stand sie ohne -Regung und versuchte mit beiden Händen das übermächtig -schlagende Herz zu halten. —</p> - -<p>„Was willst du von mir?“ fragte Hellwig den Kranken. -Der schaute hilflos gegen die Zimmerdecke und dann -suchend im Raum umher. Da fiel sein Blick auf einige -Bücher, die in grünen Einbänden neben der Lampe und -zwischen Arzneiflaschen auf dem Tisch lagen. Wie Erlösung -überkam es ihn.</p> - -<p>„Mutter hat mir Darwin geschenkt!“ sagte er lebhaft. -„Die große Ausgabe. Den mußt du lesen, ich leih’ dir ihn!“</p> - -<p>Eine Sekunde nur blickte Fritz in die Augen, die ihm -groß und leuchtend entgegenstanden: dann hatte er begriffen. -Hatte begriffen, daß hier vor ihm einer seines -Wesens lag, gleich scheu und zurückhaltend und zu stolz, -um sich aufzudrängen. Und er wußte mit einemmal, -daß dieser schmächtige schwarzhaarige Mensch, den er im -großen Troß der andern mit übersehen hatte, schon seit -langem, heimlich und ohne sich zu verraten, sein Freund -war. Und auch er fühlte sich jetzt, da er den Spuren der -scharf geprägten Züge in dem geistreichen Antlitz nachforschte, -mächtig zu ihm hingezogen. Aber er ehrte das -Schamgefühl des andern. Deswegen antwortete er scheinbar -ganz gleichgültig auf dessen Anerbieten.</p> - -<p>„Du würdest mir damit eine große Freude machen!“ -sagte er und nahm eines der grünen Bücher vom Tisch. -„Ist’s das hier?“</p> - -<p>„Ja. Nimm dir nur gleich ein paar Bände mit.“</p> - -<p>„Einer genügt vorläufig!“ entgegnete Hellwig kurz und -erhob sich.</p> - -<p>„Du gehst schon?“</p> - -<p>„Ja!“</p> - -<p>„Du kommst aber wieder?“</p> - -<p>„Ich werd’ mir doch das Buch nicht behalten!“ knurrte -Fritz.</p> - -<p>Der Kranke hob die Hand von der Bettdecke und reichte -sie ihm wortlos. Fritz nahm sie in seine breite Rechte und -hielt sie einen Augenblick fest.</p> - -<p>„Gute Nacht, Wart!“</p> - -<p>„Gute Nacht, Hellwig!“</p> - -<p>Im Nebenraum trat ihm Frau Wart entgegen: „Nun?“</p> - -<p>„Ich hab’ mir einen Band Darwin ausgeborgt!“ sagte -er unwirsch, hastete an ihr vorbei, durchs Vorzimmer und -über die Treppe hinab ins Freie.</p> - -<div class="section"> -<h3>3.</h3> -</div> - -<p>Der November war noch nicht zu Ende, da hatte Hellwig -sämtliche Schriften Darwins bewältigt. Die Mutter -wurde auf sein Treiben aufmerksam und drang nachts -in sein Zimmer, wo er vor der Lampe über den Büchern -saß. Da schalt sie wegen seines langen Wachens, bat ihn, -seiner Gesundheit nicht zuviel zuzumuten und wich erst, -bis sie ihn ganz sicher hinter dem Wandschirm in den -Federn wußte.</p> - -<p>Um ihr Mißtrauen zu zerstreuen, ging er die nächsten -Tage früher zu Bett. Dann aber verschaffte er sich -ein Zigarrenkistchen, befestigte darin auf dem unteren -schmalen Brett eine Kerze, an dem oberen aber, um dessen -Anbrennen zu verhindern, einen ausgedienten Topfdeckel -und hatte so eine Art Diebslaterne, nach drei Seiten -für das Licht abgeblendet. Wenn nun seine gewöhnliche -Schlafstunde heranrückte, stellte er dieses Gerät knapp -hinter das Buch in der Weise, daß kein Lichtstrahl durch -die klaffenden Fugen der Tür in die Küche dringen und -der Mutter sein Wachbleiben verraten konnte. Dann löschte -er die Lampe, hielt sich still und las beim flackernden Schein -der Kerze mit geschnürtem Atem weiter, bis draußen auf -der Gasse die ersten Bauernfuhrwerke über das holprige -Pflaster rumpelten und der erwachte Lärm dem nahen -Morgen vorauslief. Dann suchte er endlich sein Lager und -tat hinter bleischweren Lidern einen traumlosen Schlaf, aus -dem ihn jedoch meist schon nach zwei, drei Stunden die -nichtsahnende Mutter weckte mit der Meldung, daß das -Frühstück fertig und es Zeit zur Schule sei.</p> - -<p>Unterdessen hatte Warts Genesung rasche Fortschritte -gemacht. Er durfte bereits kurze Spaziergänge unternehmen -und tat dies mit Hellwig, dessen Seele ihm, nun -das Eis einmal gebrochen, offensichtlich zuströmte. Ganz -aber fanden sie sich erst an einem frostklaren Dezembertage, -als sie nach einem schon längeren Marsch bei Milch -und Butterbrot in einem Dorfwirtshaus saßen und von -den alten Juden auf die Erlöser und auf den Gottesbegriff -zu sprechen kamen.</p> - -<p>Sie waren die einzigen Gäste in der niedrigen Stube. -Hinter dem Kachelofen hockte zusammengeduckt eine weißhaarige -Frau und summte ihrem Enkelkind ein eintönig -uralt Wiegenlied zum Schlaf. Die große Stehuhr pochte -wie das Herz der Stille, und Heinz Wart sprach: „Darwin -ist ein Erlöser und ist auch keiner. Viele alte Götzen -hat er zerschlagen, der Verstand mag damit zufrieden sein, -aber nicht das Herz. Und mit der Lösung der Frage -nach <em class="gesperrt">unserer</em> Herkunft ist jene nach der Herkunft unseres -Gottglaubens nicht aus der Welt geschafft. Für mich aber -bedeutet Gott nichts anderes als das Ideal, nach dem sich -jeweils die Menschen gesehnt haben. Den entrechteten -Hindukasten von den Sudras bis zu den Tschandalas ist -sicherlich die endliche selige Ruhe nach einem Leben der -Knechtschaft als das Herrlichste erschienen — und Buddha -hat ihnen das Nirwana gegeben. Bei den alten Deutschen -hast du Freude am Kampf und Zechgelag und hast du -kriegsgewaltige Schlachtengötter und reisige Jungfrauen, -die die Helden nach Walhall zur Metbank bringen. Dem -Schwärmer von Nazareth aber ist der Mensch selbst zum -Ideal geworden. Darum ist sein Gott ein Menschengott, -der alle unsere Tugenden und Fehler, Milde und Härte, -Erbarmen und Grausamkeit, opferfreudigste Hingabe und -starrste Ichsucht, zum höchsten Maß gesteigert, in sich -vereinigt. Und weil dadurch Gott den Menschen so nahe -gerückt wurde, haben sie sich ihm so bereitwillig zugewendet. -Denn in ihm beten sie ihr Menschentum an, und sie -lieben sich selber in ihrem Gott. Und die Reformationen -sind nichts als Versuche gewesen, den lieben alten Menschengott -umzumodeln, damit er zu den neuen Menschen mit -ihren neuen Anschauungen wieder passe. Und wenn wir -jetzt gegen den Druck verjährter Dogmen knirschen, so -beweist das für mich nichts anderes, als daß unsere Zeit -abermals reif geworden ist für eine neue Sehnsucht. Aber -wir wissen noch nicht, wo sie wohnt und kennen den richtigen -Weg nicht zu ihr, lassen uns leicht irreführen durch -die Lockungen falscher Propheten. Nietzsche ist für mich ein -solcher. Ich bewundere die rauhe Kühnheit und empöre -mich über die wahnwitzige Überhebung, mit der er das Ich -zum Gott machen will. Freilich, <em class="gesperrt">die</em> Ausgestaltung wäre -logisch. Vom Weiteren zum Engeren, vom Kreis zum -Punkt. Nach dem Menschen als Gattung der Mensch als -einzelner. Jeder einzelne sich selbst Gesetzgeber und Richter -und Rächer des eigenen Gesetzes. Jeder sich selbst -Gott. Oder Schöpfer seines Gottes: des Übermenschen. -Aber ...“</p> - -<p>Er atmete tief auf und schwieg. Von der untergehenden -Sonne kam ein seltsam rötlicher Schein in die Stube, -alle Gegenstände ertranken in einem ungewissen Zwielicht, -und nur vor den winzigen Fenstern stand noch hell und -durchsichtig die Luft wie ein unbewegtes, zartpurpurnes -Meer.</p> - -<p>Mühselig erhob sich die gebeugte Greisin von der Ofenbank -und wollte die Lampe anzünden. Aber Fritz winkte -ab: „Lassen Sie nur, wir bleiben ganz gern im Dunkeln.“</p> - -<p>Dann war wieder Schweigen. Das Kind schlief in der -Wiege. Eine graue Katze strich mit gehobenem Schweif -und gekrümmtem Rücken unhörbar um ein Stuhlbein, -immer rundum, rundum. Und das verhuzelte Weibchen -beim Ofen ließ den Kopf tief und tiefer sinken und schlief -allmählich ein.</p> - -<p>Mit hämmerndem Herzen saß Fritz und starrte aufgeregt -nach dem unscheinbaren Menschen neben sich, dessen -Antlitz weiß aus dem Dämmer herausleuchtete. Was er -da gehört hatte, war mehr als zusammengelesene Weisheit, -waren selbständige Ideen, die seine Seele mitschwingen -machten. Und er kam sich klein vor, fühlte seine Unfertigkeit -und wie wenig er wußte. Und plötzlich kam ihm die -blonde Frau wieder in den Sinn, die an jenem Regenabend -mit rauschenden Gewändern neben ihm gegangen. Das -drohte die Weihe der Stunde zu stören. Er legte die Hand -auf den Schenkel des Freundes.</p> - -<p>„Weiter, Heinz! Was ist’s mit dem Aber?“</p> - -<p>Wart zuckte auf und schaute ihn mit leeren Augen an, -als hätte er alle seine Gedanken auf weite Wanderung -geschickt und müßte erst warten, bis sie sich wieder zurückfanden. -Dann sagte er, den Kopf in die Hand gestützt -und den Blick immerfort auf die Tischplatte vor sich gerichtet, -sagte ganz leise, wie aus einem Traum heraus:</p> - -<p>„Auf dem rechten Weg zur neuen Sehnsucht scheinen -mir trotz allem doch die Jakobiner gewesen zu sein, und -Maximilian Robespierre, der Tauben züchtete und Menschen -mordete, hat es oft genug ausgesprochen: ‚Wir wollen -die Wünsche der Natur erfüllen und die Bestimmung der -Menschheit erreichen: den friedlichen Genuß der Freiheit -und Gleichheit, ein Reich der ewigen Gerechtigkeit. Wo -der Bürger der Obrigkeit und die Obrigkeit dem Volke -dient und das Volk der Gerechtigkeit. Wo die Künste der -Schmuck der Freiheit sind, der Handel die Quelle des -öffentlichen Reichtums und nicht der ungeheuerlichen Wohlhabenheit -einzelner Häuser. Schrecker der Unterdrücker -wollen wir sein und Tröster der Unterdrückten und statt -der Kleinlichkeit der Großen wollen wir die Menschengröße.‘ -— Das geht zwar schnurstracks gegen den Kampf -ums Dasein des Individuums, aber trotzdem glaube ich, -daß darin unser Heil für die Zukunft liegt. An Stelle -des Menschengottes möchte ich das Menschentum setzen und -gegen die Forderung: ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!‘ -die Formel: ‚Hilf deinem Nächsten wie dir selbst!‘ ... -Die Menschheit zur Freiheit führen, den Elenden und Gequälten -ein freies, heiteres Dasein schaffen, ihnen ihr -Recht auf Glück zurückerobern, das jeder schon hier auf -Erden für sich fordern darf kraft seines Menschentums -— es ist ein Ziel, wohl wert, sein Leben dafür aufzuwenden -...“</p> - -<p>Er hatte sich in Begeisterung hineingesprochen, sprang -auf und stand mit geröteten Wangen aufrecht da, ein -heiliges Feuer in den Augen. Da war auch schon Fritz -neben ihm, riß ihn an sich und sagte mit erstickter Stimme: -„Heinz — Freund — Bruder ... unser Leben ... wir -wenden’s dran ...“</p> - -<p>Nun ward es ihnen zu eng in der Stube. Sie brachen -auf und schritten Schulter an Schulter unter einem klaren -Sternenhimmel heimwärts. Und während sie so gingen, -mußte Fritz abermals an Frau Wart denken und empfand -einen dumpfen Groll, daß sie ihren Wunsch erfüllt und -ihn als Freund ihres Sohnes sehen sollte. Und gleichzeitig -stemmte er sich gegen dessen frühe Reife und den -Einfluß, den sie auf ihn zu gewinnen drohte. Seine -Stimme klang beinah feindlich, als er jetzt sagte: „Woher -nimmst du eigentlich das alles?“</p> - -<p>Da seufzte der andere leise und erwiderte: „Mein Gott, -man sitzt nicht umsonst mit einundzwanzig Jahren erst in -der Septima!“</p> - -<p>„Du bist schon so alt?“ fragte Fritz erstaunt. Denn -Wart sah mit seinem bartlosen blassen Gesicht und der -schmächtigen Gestalt kaum siebzehnjährig aus. Nun nickte -er: „Jawohl — sogar bald zweiundzwanzig. Im Frühjahr -muß ich schon das drittemal zur Stellung. Hoffentlich -ist meine Brust noch immer für den Rock des Kaisers zu -schmal. Sonst wär’s gefehlt, weil ich ja noch nicht das -Einjährigenrecht hab’.“</p> - -<p>„Ja, aber ...?“</p> - -<p>„Wieso das kommt? Ganz einfach! Ich war kaum -mit dem Untergymnasium fertig, da hat mich mein Alter -ins Geschäft gesteckt. Aber ich hab’ mich dort nicht zurechtfinden -können. Nach drei Jahren hat er das auch selbst -eingesehen und mich wieder ins Gymnasium zurückgeschickt. -Das verdank’ ich der Mutter, ich weiß das, aber bis jetzt -hab’ ich ihr keine Ehre gemacht. Die Quinta und die -Sexta hab’ ich wiederholen müssen, für Mathematik hab’ -ich nun einmal kein Verständnis, ich bring’ das trockene -Zeug nicht in den Schädel! Und dann die Bücher: Rousseau, -Proudhon, Engels, Lasalle, Marx, Adam Smith — -du kennst ja meine Sammlung.“</p> - -<p>Er schwieg und Hellwig ebenfalls. Arm in Arm schritten -sie auf der schneebedeckten Landstraße rüstig vorwärts, -überließen sich ihren nachgenießenden Gedanken und gingen -auf dem Marktplatz mit einem kurzen Händedruck stumm -voneinander.</p> - -<div class="section"> -<h3>4.</h3> -</div> - -<p>Seit diesem Tage waren sie Freunde.</p> - -<p>Sie blieben aber nicht lang zu zweit, denn Pichler wollte -sich nicht kaltstellen lassen. Hellwig mußte ihn mit Wart -bekannt machen, und auch dieser wurde dem kecken Leichtfuß -bald geneigt.</p> - -<p>Ihre Zusammenkünfte hielten sie jetzt bei Heinz ab, der -nach der Genesung wieder sein Zimmer bezogen hatte.</p> - -<p>Das lag ganz oben, unterm Dach des altertümlich und -weitläufig gebauten Hauses, worin das Bürgergeschlecht -Wart seit Jahrhunderten einen schwunghaften Kaufhandel -betrieb. Der jetzige Inhaber war ein derber, knorriger -Fünfziger von praktischem Verstand und tüchtigem Arbeitssinn. -Von der Pike auf im Geschäft, war er jeder geistigen -Tätigkeit abhold, sofern sie nicht auf einen realen und -reellen Gewinn unmittelbar hinzielte. Den ganzen Tag -dröhnte seine Stimme durch die hallenden Korridore, war -seine untersetzte Gestalt überall zu sehen. Bald half er -mit schweißtriefender Stirn im Hof beim Aufladen der -Warenballen, bald teilte er im Kanzleiraum Befehle aus, -durchlief die weiten Speicher oder fertigte die Ladenkunden -ab, in unermüdlicher Regsamkeit für die ordentliche und -glatte Abwicklung des verzweigten Betriebs.</p> - -<p>Trotzdem fand er noch Zeit zur Verwaltung der verschiedenlichsten -bürgerlichen Ehrenämter, war Stadtverordneter, -Waisenvater und Ortsschulrat, Feuerwehrhauptmann -und Schützenleutnant und stand bei allen Mitbürgern wegen -seines gediegenen Charakters in Ansehen. Vornehmlich bei -der Opposition, deren Leitung selbstverständlich in seiner -Hand lag. Denn die Wart hatten alle von jeher ihren -eigenen Kopf.</p> - -<p>Darüber waren vom Wart Nikl — unter diesem Namen -war er, der Nikolaus hieß, in der ganzen Gegend bekannt -— allerhand Geschichten im Schwang.</p> - -<p>Als die klerikale Vereinigung, die in Neuberg dank der -werbenden Kraft des Paters Romanus gegründet worden -war, ihren ersten Unterhaltungsabend veranstaltete, da war -Nikolaus Wart an der Spitze von zwanzig handfesten Gesinnungsgenossen -lärmend in den Saal gedrungen, wo -eben eine Festvorstellung im Gange war und das Konterfei -eines bekannten schwarzen Häuptlings mit Lorbeer und -Lilien bekränzt hinter Glas und Rahmen an der Wand -hing. Einen Tisch erkletternd, nahm der Nikl seelenruhig -das Bildnis vom Nagel und lehnte es in eine Ecke. Aber -als alle Gäste, darob entrüstet, auf ihn eindrangen, da -hob er es wieder, schwang es mit beiden Fäusten, und breitspurig -mit gespreizten Beinen auf dem Tisch aufgepflanzt, -schrie er mit voller Lungenkraft: „Ruh’ geben! Zurück! -Sonst hau’ ich auf eure Schafsköpf’ den größten drauf!“</p> - -<p>Dann schleuderte er das Bild zu Boden, daß die Scherben -splitternd umherflogen, sprang hinterdrein und tat mit -seinen Kumpanen so gründliche Arbeit, daß die Vereinigung -katholischer Männer kläglich abziehen mußte. Worauf Wart -Nikl schmunzelnd den rötlichen Vollbart strich und eine -Sitzung der Freisinnigen eröffnete, die bis zum grauenden -Morgen dauerte. —</p> - -<p>Und früher — in Zeiten schwerer nationaler Bedrängnis -— als die Stadt Neuberg eine Kundgebung gegen -die slawischen Vorstöße veranstaltete und als von einer -kurzsichtigen Regierung zur Verhütung von Ausschreitungen -ein slawisches Reiterregiment in die Stadt beordert wurde, -das denn auch alsbald mit flachen Säbelhieben in die -leidenschaftlich aufgewühlte Volksmenge einbrach, da hatte -sich Wart Nikl den hitzigen Blauröcken entgegengestellt, -hatte Rock, Weste, Hemd vorn auseinander gezerrt, und -den Soldaten die nackte Brust darbietend, hatte er gebrüllt: -„Da! da! Stecht her, wenn ihr dürft! Totschlagen -könnt ihr uns, unterkriegen niemals nicht!“</p> - -<p>Daraufhin hatte man sich die Sache noch einmal überlegt -und gegen die ehrenwörtliche Versicherung des Bürgermeisters, -daß die Leute freiwillig und friedlich auseinandergehen -würden, die Truppen abrücken lassen. Und als -hernach die Verwundeten vorüber getragen wurden, da -waren dem Wart Nikl die Tränen aus den Augen gesprungen -und mit einem schmerzvollen Blick zum Standbild -Kaiser Josefs II. hatte er gerufen: „Schau’ her, -trauter Kaiser Seff, schau’ nur her, wie’s deinen Deutschen -heutigentags geht!“ —</p> - -<p>Dieser Begebenheit verdankte er übrigens das beste Glück -seines Lebens. Denn wie jedes Ausharren in einer gemeinsamen -Not wildfremde Menschen urplötzlich vertraut macht, -hatte sich neben den stiernackigen Kaufmann, der dem -Übermut der slawischen Reiter mit seiner mächtigen Stimme -Einhalt tat, ein schlankes Mädchen mit wehendem Blondhaar -mutvoll aufgepflanzt und laut gerufen: „Recht so! -Recht!“, wobei es den Soldaten herausfordernd die funkelnden -Augen entgegenhielt.</p> - -<p>An diesen Blick mußte der Junggesell fortwährend denken -und kam nach einigen Tagen rätselhafter Unrast endlich -zu dem Entschluß: „Die wird’s oder keine!“</p> - -<p>Sie hieß Hedwig und war die Tochter des Stadtarztes -Doktor Kreuzinger, der aus übergroßer Liebe zur Heimat die -gewählte Hochschullaufbahn und damit auch die sichere Anwartschaft -auf eine Universitätsprofessur aufgegeben hatte, -um in seiner Vaterstadt ständig leben zu können. Er war -ein ebenso ausgezeichneter praktischer Arzt wie scharfsichtiger -Forscher, und seine Abhandlungen in den Fachblättern -fanden wegen ihrer gehaltvollen Sachlichkeit Anklang und -Beachtung. Wie denn auch bei den Kongressen, zu denen -er sich regelmäßig einzufinden pflegte, manche ‚Berühmtheit‘ -mit Worten schmeichelhaften Lobes des unscheinbaren -Kollegen aus der Provinz Erwähnung tat, worüber der -dann stets errötete und in eine hilflose Befangenheit hineingeriet, -bis ein neuer Redner seine Aufmerksamkeit fesselte. -Dann begannen die schlanken Finger in dem grauen Vollbart -zu wühlen, die gescheiten Augen wurden wieder lebendig, -und eine Falte auf der Stirn verriet die starke Gedankenarbeit, -womit der bescheidene Landarzt dem Vortrag folgte.</p> - -<p>Auf die Werbung des Kaufmanns erwiderte er einfach: -„Wenn sie will, ich rede ihr da nichts hinein.“ Und der -urwüchsige Gesell verlor vielleicht zum erstenmal im Leben -seine Sicherheit, wurde verlegen wie ein Schuljunge und -mühte sich mit seiner ungelenken Zunge schöne Satzgebilde -zu formen, als er dem schlank aufgewachsenen Mädchen -gegenüberstand, das ihn stirnbreit überragte, trotzdem es -erst siebzehn Jahre alt war. Aber sie sagte ja. Die aufrichtige -Geradheit des Mannes, seine ehrliche Lebensführung, -die wie ein offenes Buch im vollen Licht vor aller -Augen dalag, hatten’s ihr angetan. Und sie hatte nie Ursache, -ihre Wahl zu bedauern. Auch dann nicht, als Wart -Nikl erkannte, daß sie in jener bewegten Stunde nicht Begeisterung -an seine Seite getrieben hatte, sondern lediglich -die heilige Entrüstung, die jeden Guten packt, wenn irgendwo -Gewalt vor Recht gehen soll.</p> - -<p>Jeder ehrte die wackere Art des andern und forderte -nichts Unmögliches von ihr. Weder Hedwig, daß Nikl -ihr zuliebe plötzlich ein Schöngeist werde, noch er, daß -seine schöne Frau Rosinen abwiege, kiloweise Mehl verkaufe -oder die Buchführung lerne. Er überließ ihr auch -die Erziehung der Kinder, da er wußte, daß sie ihm hierin -überlegen war. Und seit sein Versuch, auf die Berufswahl -des Sohnes kraft seiner väterlichen Gewalt bestimmend -einzuwirken, kläglich gescheitert war, übersah er, der Bücherfeind, -es sogar stillschweigend, wenn Frau Hedwig ihrem -Jungen Geld zur Beschaffung von Zeitschriften oder Büchern -einhändigte.</p> - -<p>Die erworbenen Schätze stapelte Heinz mit unverdrossenem -Sammeleifer in seiner Dachstube auf, die dadurch -ein recht gelehrtes und von den übrigen Räumen des -Hauses grundverschiedenes Gepräge bekam. Allerhand -Druckwerke stauten sich hier auf Schrank und Tisch und -füllten längs der Wände hohe Regale, wogegen in den -anderen Zimmern nur Preislisten, Warenproben und Geschäftsbriefe -herumlagen. Denn Vater Wart las außer -einer Tageszeitung und der deutschen ‚Grenzwacht für Neuberg -und Umgebung‘ überhaupt nur, was mit der Führung -seines Geschäftes und seiner bürgerlichen Ehrenämter unmittelbar -zusammenhing.</p> - -<p>Um so heißhungriger fiel Hellwig über die Bücherei -des Freundes her. Der Kaufmann war ihm deswegen -nicht besonders grün und äußerte zu seiner Frau, der lange -Blonde mit den Storchbeinen sei gerade so ein Mucker wie -sein Herr Sohn. Dagegen nannte er Pichler bald einen -netten und vernünftigen jungen Mann, weil dieser rasch -die schwachen Seiten des einflußreichen Bürgers aufgespürt -hatte, mit ihm über das Geschäft sprach, für Warenmuster -Interesse zeigte und sich in den Marktpreisen auskannte, -kurz zu haben schien, was Nikl an seinem Heinz so ungern -vermißte: das Zeug zu einem guten Kaufmann.</p> - -<p>Frau Hedwig erwiderte auf diese Lobsprüche nichts. Ihr -gefiel Pichler nicht. Doch sie war zufrieden, Heinz und -Fritz beisammen zu wissen und störte ihren Verkehr nicht, -trachtete im Gegenteil, daß Hellwig sie nicht zu Gesicht -bekam, weil sie das Gefühl nicht los wurde, daß ihm -ein Zusammentreffen mit ihr Unbehagen schaffe. Dem war -in der Tat so. Sie hatte auf den jungen Menschen gleich -bei der ersten Begegnung tiefen Eindruck gemacht, und so -sehr er sich dagegen wehrte, er mußte die schöne Frau -lieben. Mußte sie lieben, weil sie im Vollsinn des Wortes -eine Mutter war — und haßte sie auch vom selben Augenblick -an. Mußte sie hassen in seiner jugendlichen Parteilichkeit, -weil sie nicht seine Mutter war. Weil sie ihn -zwang, Vergleiche zwischen ihr und der eigenen Mutter -anzustellen und weil diese Vergleiche immer gegen letztere -ausfielen. Sein kindliches Gemüt kämpfte dagegen an, -wollte sich das reine Bild derjenigen nicht trüben lassen, -die ihn in ihrem Schoße getragen. Aber der kalte Verstand -trieb ihn stets aufs neue das Für und Wider abzuwägen -— und immer neigte sich das Zünglein zugunsten -der blonden Frau.</p> - -<p>Das ging so weit, daß ihm sogar die Schamröte ins -Gesicht stieg, als er eines Tages Heinz und Otto in seine -Behausung führte und die Mutter nach einer kleinen Weile -mit ihrer unvermeidlichen Kaffeekanne anrückte. Ein -schwächliches, verblühtes Frauchen, sanft, gutherzig und -rührselig, kam sie hereingetrippelt, bat um Entschuldigung, -daß sie nichts Besseres vorzusetzen habe, und auf Pichlers -Frage, ob die Hühner des Nachbarn ihr noch immer auf -dem Bleichplatz im Gärtchen die Wäsche beschmutzten, erhob -sie sofort ein großes Jammern über diese Rücksichtslosigkeit, -mit reichlichem Wortschwall und Mitleid heischender -Miene.</p> - -<p>Fritz saß da und schämte sich vor Heinz. ‚Dort Bücher -und verstehendes Fernbleiben — hier Kaffee und Geschwätz!‘ -dachte er bitter. Denn er war noch nicht reif -genug für die Erkenntnis, daß hier wie dort ein gleich -schönes menschliches Empfinden nur seinen verschiedenen -Ausdruck fand.</p> - -<p>„Hör’ doch schon auf mit dem Quatsch, Mutter!“ sagte -er unwillig.</p> - -<p>Da verstummte sie erschrocken und stahl sich mit einem -unterdrückten Seufzer aus der Stube.</p> - -<p>Kaum gesprochen, war ihm das Wort schon leid. Aber -als jetzt Heinz seine ernsten Augen auf ihn richtete: „Du -hast sie gekränkt!“, da fuhr er auf: „Ach was, wenn sie -auch fort so herumgreint!“ Und dann heftig zu Otto: -„Warum fragst du auch immer so? Meine Mutter ist -mir zu gut für deine blöden Witze!“</p> - -<p>Der Angefahrene widersprach gekränkt und beteuerte seine -guten Absichten. Aber Fritz ließ ihm nichts gelten. Schimpfend -rannte er im Zimmer herum, und es waren nicht -gerade Schmeichelworte, die er Pichlern an den Kopf -warf. Je länger er so wetterte, desto mehr fühlte er, wie -grundlos eigentlich seine Vorwürfe waren. Er hörte aber -trotzdem nicht auf. Er mußte sich Luft machen, empfand -eine wohltuende Befreiung dabei.</p> - -<p>Unterdessen war Heinz behutsam in die Küche geschlichen, -wo Frau Hellwig, die Hände im Schoß gefaltet, -beim Fenster saß und aus tränenvollen Augen bekümmert -in den Hof blickte. Als sie ihn gewahrte, erhob sie sich -schnell: „Sie wünschen wohl Trinkwasser? Gleich sollen -Sie’s haben!“</p> - -<p>Bei diesen Worten hatte sie sich schon gebückt und -machte sich mit der Wasserkanne zu schaffen, damit er ihr -verweintes Gesicht nicht bemerken sollte.</p> - -<p>„Lassen Sie’s nur, Frau Hellwig!“ sagte Heinz darauf. -„Ich hab’ keinen Durst. Es ist nur — Fritz hat das nicht -bös gemeint ...“</p> - -<p>Nun richtete sie sich lebhaft in die Höhe: „Hat er Sie -geschickt?“</p> - -<p>„Das nicht, — aber ... ich weiß das eben ...“</p> - -<p>„Nicht wahr, er ist ein garstiger Junge!“ seufzte sie. -„Horchen Sie nur, wie er schreit! Was er nur wieder -haben mag?“</p> - -<p>„Es reut ihn, daß er so schroff gewesen. Der arme -Otto muß jetzt dafür büßen. Aber der verträgt’s!“ erwiderte -Heinz leichthin.</p> - -<p>Zweifelnd blickte sie ihn an: „Zeit wär’s schon, Herr -Heinz, wenn er einmal zu Vernunft kommen wollte. -Immer ist er gleich obenhinaus. Wenn man doch nur -sein Bestes will ...“ — ihre Tränen begannen wieder zu -fließen — „und wenn man dann nichts als Undank davon -hat, das tut weh. Nicht ein bissel hat er mich lieb!“</p> - -<p>„Er zeigt’s Ihnen bloß nicht!“ versuchte Wart den -Freund zu verteidigen. Die Witwe aber klagte unbeirrt -fort: „Das kommt alles nur daher, weil er in keine Kirche -mehr geht. Wohin soll das führen? Noch keinem ist’s -gut gegangen ohne den lieben Gott, das können Sie mir -alten Frau schon glauben ... Es ist ein Kreuz, ein rechtes -Kreuz mit dem Jungen! — Aber da steh’ ich und red’ -und vergess’ ganz, ich — hab’ ja noch ein paar Lederäpfel. -Die müssen Sie kosten! Der Fritz fliegt nur so -darauf!“</p> - -<p>Da sah Heinz, daß hier ein Trost nicht nötig war, und -während Frau Hellwig geschäftig die runden Früchte auf -einem Teller ordnete, ging er wieder ins Zimmer zurück.</p> - -<p>Fritz vermied es jedoch seit jenem Tage, die Freunde -in seine Wohnung mitzunehmen.</p> - -<div class="section"> -<h3>5.</h3> -</div> - -<p>Weihnachten war vor der Tür, und damit war auch -die Zeit gekommen, da Pater Romanus seine Schäflein -zur ersten von drei schuljährlichen Beichten zu verhalten -pflegte. Sämtliche verfügbaren Seelenhirten von Neuberg, -insbesondere die frommen Mönche aus dem Franziskanerkloster, -leisteten werktätige Beihilfe. Klassenweise wurden -ihnen die Schüler zugewiesen, wobei jedoch Romanus besondere -Wünsche seiner Studenten nach Möglichkeit berücksichtigte. -Allen konnte er’s freilich nicht recht machen, -weil nach einzelnen Beichtvätern wegen ihrer Milde eine -allzu rege Nachfrage herrschte, die Milde nach der Kürze -der Ermahnungen und der Bußgebete eingeschätzt.</p> - -<p>Hellwig aber trachtete diesmal bei dem allgemein gefürchteten -Pater Guardian anzukommen, der nicht im -Beichtstuhl, sondern in seiner Zelle die Verfehlungen der -Gläubigen anzuhören und endlose geharnischte Reden gegen -die armen Sünderlein loszulassen pflegte.</p> - -<p>Jede Rede verschlug es ihm jedoch, als Fritz, kaum auf -dem Schemel niedergekniet, rauh hervorstieß: „Meine -Beichte ist kurz, ich glaube an gar nichts!“</p> - -<p>Ein langes Schweigen folgte den Worten. Die kleine, -vertrocknete Priestergestalt saß ganz unbeweglich, und der -kahle Schädel leuchtete wie eine große Billardkugel unter -Hellwigs niederschauenden Augen.</p> - -<p>„Ich glaube an gar nichts!“ sagte er endlich nochmals.</p> - -<p>Nun regte sich unbehaglich der Leib in der dunklen -Kutte, zwei wässrige Augen mit roten Rändern schauten -hilfeheischend zur Decke und eine zögernde Stimme fragte: -„Ja ... lieber Bruder ... lieber Bruder ... wie sind -Sie denn dazu gekommen?“</p> - -<p>„Durch Nachdenken und Vergleichen, auch durch Lesen,“ -erwiderte Fritz und blickte dem Frater fest ins Gesicht. -Der rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und -suchte nach einer schicklichen Einleitung.</p> - -<p>„Lieber Bruder,“ fing er endlich an, und Hellwig wunderte -sich über die freundliche Stimme, den warmen Blick -des als unleidlich streng Verrufenen. „Lieber Bruder, -Sie sind noch jung und daher leicht zur Übertreibung geneigt. -Sie glauben an gar nichts, sagen Sie, aber Sie -sagen das nur, weil Ihnen noch nicht klar geworden ist, -daß wir alle, die wir Menschen sind, sehr wenig wissen -und sehr viel glauben. Sie glauben jetzt vielleicht den -Worten eines alten Priesters ebensowenig wie den Worten -der Heiligen Schrift. Aber einen Schöpfer lassen Sie doch -gelten, nicht wahr?“</p> - -<p>„Nur die Natur!“</p> - -<p>„Dann haben Sie lediglich einen anderen Namen für -denselben Gegenstand und glauben nur an einen Teil unseres -allumfassenden Gottes. Denn: meinst du, daß ich ein -Gott nur in der Nähe bin und nicht auch ein Gott in der -Ferne? Erfülle ich nicht Himmel und Erde, spricht der -Herr. — Wollen Sie mir jetzt ein paar Fragen ehrlich -beantworten?“</p> - -<p>Der Jüngling nickte stumm.</p> - -<p>„Sagen Sie mir also vor allem, wie Sie es mit den -zehn Geboten halten, vom vierten angefangen. Bemühen -Sie sich, die darin vorgeschriebenen Pflichten gegen die -Eltern und Nächsten sowie gegen sich selbst zu erfüllen?“</p> - -<p>„Ich will nie etwas tun, das ich nicht vor mir selbst -verantworten kann und bemühe mich, meine Kräfte für -die Allgemeinheit auszubilden, so gut ich kann,“ entgegnete -Fritz nach einigem Besinnen.</p> - -<p>„Schön, lieber Bruder, recht schön. Das ist ganz christlich -gedacht und gehandelt. Und nun noch eins: Haben -Sie sich leichtfertig oder aus Übermut zu einer solchen -Beichte entschlossen? Haben Sie skrupellos und ohne Kampf -den Glauben Ihrer Kindheit über Bord geworfen?“</p> - -<p>„Es ist mir nicht leicht geworden,“ gestand Hellwig, -wenn auch mit Widerstreben.</p> - -<p>„Das genügt mir schon, lieber Bruder, denn: an ihren -Früchten sollt ihr sie erkennen, spricht der Herr. Und -deswegen ...“</p> - -<p>Der greise Priester schwieg und schien mit einem schweren -Entschluß zu ringen. Dann aber sagte er, und es zeigte -sich, daß in dem verwitterten Körper jene Liebe, die ihn -einst seinem Berufe entgegengeführt hatte, noch lebendig, -daß sie nicht zermürbt oder ertötet worden war, durch -den beständigen Kampf wider den Zweck und die Bestimmung -seines Menschentums. Jenen entnervenden Kampf, -den er als Jüngling in der Begeisterung seiner Jahre -freiwillig aufgenommen hatte und darin der gereifte Mann -unter allen Qualen des Entsagens und Kasteiens gegen -die Natur sündigen mußte, um nicht gegen seinen Gott -zu sündigen.</p> - -<p>„Mein lieber Bruder,“ sagte er, „Ihre Sünde ist nicht -so groß, wie Sie anzunehmen scheinen. Und der Schmerz, -die Unruhe, die Sie empfinden, seit Sie an unserm barmherzigen -Schöpfer zu zweifeln angefangen haben, ist auch -eine Buße, die gewogen und wahrlich nicht zu leicht befunden -werden wird. Darum glaube ich es vor Gott und -vor meinem Gewissen rechtfertigen zu können, wenn ich -Sie Ihrer Sünden ledig spreche. Leider habe ich nicht -die Zeit, Ihnen die Gründe eingehend darzulegen, denn -draußen warten andere Beichtkinder. Auch bin ich alt und -müd und geistig nicht mehr regsam genug, um die großen -Gärungen der neuen Zeit zu verfolgen und Ihnen im -Sinne unseres Glaubens auszudeuten. Wenden Sie sich -daher an Ihren Religionsprofessor und vertrauen Sie sich -ihm getrost an. Es wird Ihr Schade nicht sein.“</p> - -<p>Segnend hob er die Hand, begann er die lateinische -Formel zu sprechen. Er ließ sich hierbei auch von dem -Gedanken leiten, daß durch ein Verweigern der Lossprechung, -das bei den strengen Gymnasialvorschriften -leichtlich zur Ausweisung führen konnte, der junge Zweifler -nicht nur nicht gebessert, sondern erst recht zum Verharren -in der eingeschlagenen Bahn bewogen worden wäre. Hellwig -aber verstand diese Güte nicht. Rücksichtslos und -hart gegen sich und andere, forderte er dieselbe Härte und -Rücksichtslosigkeit im Verfechten der Grundsätze auch von -den anderen für sich selbst wie ein gutes Recht. Deswegen -wartete er das Ende der Lossprechung nicht ab, sondern -erhob sich mit einer jähen Bewegung von den Knien und -schritt trotzig aus der Zelle.</p> - -<p>Er ging zu Pater Romanus.</p> - -<p>Der bewohnte im ersten Stockwerk eines armseligen -Hauses zwei enge Gelasse, die mit Kruzifixen, Heiligenbildern, -Büchern und kaum dem notwendigsten und dürftigsten -Hausrat versehen waren. In dem einen Raum -befand sich neben einem Schrank, einem Betpult und -einem Waschtisch überhaupt nur noch ein schmales, mit -Roßhaarkissen und einer groben Kotze ausgestattetes Bettlein. -Es ging jedoch die Rede im Ort, daß an diese zwei -Räumlichkeiten noch ein drittes Zimmer stoße mit behaglichen -Polstermöbeln und mit weichen Daunenpfühlen in -einer breiten, fast doppelspännigen Bettstatt, darinnen eine -wunderschöne Nichte des Paters die jungen Glieder strecken -und nebenbei auch dem Oheim die Wirtschaft führen sollte. -Doch konnte das ebensogut böswillige Verleumdung sein, -denn wenn auch manche ein derartiges Frauenzimmer bisweilen -an den Fenstern oder im abendlichen Dunkel auf -Spaziergängen begriffen gesehen haben wollten, so war -für alle Fälle und jedermann sichtbar eine ungemein häßliche -Weibsperson vorhanden, die in einer winzigen Küche -ein ungebärdiges Wesen entfaltete, wie ein Zerberus den -Wohnungseingang bewachte und jeden Unbekannten rücksichtslos -vor der hölzernen Lattentür im Vorflur warten -ließ, bis sie ihn bei ihrem geistlichen Herrn angemeldet -hatte.</p> - -<p>Auch Fritz erhielt auf seine Frage, ob er den Herrn -Professor sprechen könnte, die mürrische Antwort: „Werd’ -nachsehn!“ und konnte dann in aller Muße Zug für Zug -die Buchstaben des messingnen Namensschildes an der -Vorhaustür betrachten, ehe ihm diese geöffnet wurde.</p> - -<p>Pater Romanus empfing ihn beim Schreibtisch sitzend, -und sein Kopf war vollständig unsichtbar zwischen den dickleibigen -Schmökern, die sich rechts und links der Wangen -zu Bergen türmten. Als die Tür aufging, stieg der schwarze -Haarschopf langsam aus diesem Bücherverließ, die Augen -spähten wie über eine Burgzinne nach dem Eintretenden, -— dann sprang die schwarze Gestalt rasch vom Sessel -empor und kam mit einem freudigen „Ah!“ der Überraschung -auf den Jüngling zu.</p> - -<p>Der aber ließ sich nicht beirren, sondern begann ohne -Umschweife einen trockenen Bericht über den Vorfall in -der Beichtkammer.</p> - -<p>Pater Romanus hatte sich an dem Tisch in der Mitte -des Zimmers niedergelassen und hörte mit einem rätselvollen -Gesichtsausdruck aufmerksam zu. Als Hellwig fertig -war, sagte er mit mühsam behaupteter Ruhe: „Wenn -das so ist, Kind Gottes, dann gehen Sie morgen selbstverständlich -nicht zur heiligen Kommunion. Auch vom -Kirchenbesuch enthebe ich Sie vorläufig unter der Bedingung, -daß Sie dafür wöchentlich einmal zu mir kommen. -Wollen Sie mir das versprechen?“</p> - -<p>„Ich glaube nicht, daß das einen Zweck hätte, Herr -Professor,“ entgegnete Fritz zögernd.</p> - -<p>Nun erhob sich der hagere Priester wieder, stand in -der dunklen Soutane, die sich glatt und faltenlos über -den flachen Brustkasten spannte, Stirn gegen Stirn dem -hoch aufgeschossenen Schüler gegenüber, und seine Stimme -hatte den schwingenden Predigerton, als er jetzt rief: -„Geben Sie den Einflüsterungen des Bösen kein Gehör, -der übermächtig in Ihrem Herzen aufsteht, weil die alleinseligmachende -Kirche ihre Anstalten trifft, ihm ein vermeintlich -schon sicheres Opfer zu entreißen. Er schlägt -Sie mit Blindheit, daß Sie vor lauter Finsternis den -Zweck nicht sehen können und das sonnenklare Ziel! Ihre -Seele ist in Gefahr, Fritz Hellwig! Sehen Sie in mir -das Sprachrohr unseres allgütigen Gottes, der Sie in -letzter Stunde zur Umkehr mahnt!“</p> - -<p>Da reckte sich der Jüngling empor: „Ich habe es nicht -nötig, umzukehren, Hochwürden. Ich will nicht zurück, -sondern vorwärts!“</p> - -<p>„Ihre Verstocktheit ist groß, Kind, aber mit Gottes -Hilfe ist mir die Bekehrung weit ärgerer Sünder schon -gelungen, auch bei Ihnen wird sie kein vergebliches Bemühen -sein. Ich kenne Sie durch und durch, Hellwig, und -kenne auch die Ursache Ihres jetzigen Zustandes. Sie lesen -zu viele weltliche Bücher. Machen Sie sich davon frei! -Die weltlichen Bücher sind die Saatfelder des Teufels, -in denen die Giftpflanze der Seelenfäulnis üppig in die -Halme schießt! Sie machen den Gläubigen wankelmütig -und bestärken den Ungläubigen in seinem gottlosen Wandel. -Satan wollte die Menschheit von Gott abwendig -machen, da erfand er die Lettern und gab ihr die weltlichen -Bücher. Aller Schmutz fließt in ihnen zusammen -wie in einer Kloake und jegliches Übel kommt von ihnen. -Verbrennen sollte man sie und in Acht und Bann tun -alle diejenigen, die sie erzeugen und verbreiten! Kind -Gottes, warum lasen Sie solche Schriften, in denen die -Verleumdung der Religion ihren eklen Geifer verspritzt? -Warum lasen Sie weiter, statt sie ins Feuer zu werfen, -als Sie die Verlockung zum Unglauben merkten?“</p> - -<p>„Solche Bücher kenne ich nicht, Hochwürden. Nur ernste -wissenschaftliche Werke. Darwin zum Beispiel.“</p> - -<p>„Darwin!“ ächzte Romanus. „Darwin! — Auch ich -habe ihn gelesen, aber als reifer, glaubensfester Mann -und nicht als haltloser Jüngling! Wissen Sie denn nicht, -daß geschrieben steht: Hütet euch vor jenen, die im Schafspelze -zu euch kommen, im Innern aber reißende Wölfe -sind? O Kind Gottes, und Darwin ist der Oberste dieser -Wölfe! Ein Irrlehrer ist er, ein schamloser Verführer -und wahnwitziger Lügensprecher! Oder ist es nicht Wahnsinn, -daß wir, die Ebenbilder Gottes, für die sein eingeborener -Sohn am Kreuze blutete, entstanden sein sollen -nicht durch eines allmächtigen Schöpfers Hand, sondern -durch blinden Zufall aus einem Urschleim? Der Kot des -Lebens Anfang und der Menschheit Vater! O mein Gott! -Mein Gott! Daß sich überhaupt Leute finden, die so hirnverbrannt -sind, das zu glauben!“ — Der Eiferer schlug -sich mit der flachen Hand vor die Stirn und Fritz entgegnete -bescheiden:</p> - -<p>„Auch in der Bibel steht, daß Gott den Menschen aus -Staub erschaffen hat.“</p> - -<p>„Aus Staub, jawohl! Aber nicht aus Dreck! Aus Staub, -den seine göttliche Hand von aller Unreinheit geläutert -und geadelt, sein göttlicher Atem gewandelt hat zum köstlichen -Gefäß der unsterblichen Seele!“</p> - -<p>Da sagte Hellwig und ein warmes Leuchten kam aus -seinen Augen: „Auch dieses habe ich in Darwins Lehre -gefunden. Der Atem Gottes kam in den Staub — da -war das Leben. Das Leben selbst ist dieser Atem, des -Lebens Regung in uns, das ist die Seele, unsterblich wie -das einmal gewordene Leben selbst. Und Gott ist nichts -anderes als die Natur, die aus sich selbst das Leben gebiert, -dreifach und doch nur eins: der leblose Stoff als Träger -der ewigen, ehernen, großen Gesetze; der Leben gewordne -Stoff, der den unbelebten zur Selbsttätigkeit erlöst und -endlich der Selbstbewußtsein gewordene Stoff, der Geist. -So hab’ ich’s mir zurecht gelegt.“</p> - -<p>„Lästern Sie nicht, Verblendeter!“ Der Pater hob abweisend -die Hand. Ruhiger fuhr er fort: „Ihre Seele, -Kind, ist überwuchert von Unkraut und Dornen! Viel -Schweiß wird es kosten, diesen Boden zu jäten und für die -Aufnahme der heiligen Samenkörner zu bereiten, die da -sind die Worte der Evangelien. Wir müssen ganz von vorn -anfangen und das so bald als möglich. Morgen abend um -sechs Uhr erwarte ich Sie. Jetzt aber lassen Sie mich allein. -Sie haben mich tief betrübt, ich will im Gebete Trost und -Zuflucht suchen. Und auch für Sie will ich beten, daß -Ihnen Gott die schwere Sünde nicht zu hoch anrechnet, -die Sie im Angesicht des Gekreuzigten begangen haben!“</p> - -<p>Er warf sich vor dem Hausaltar, der in einer Zimmerecke -errichtet war, in die Knie, legte die Stirn auf das -Holz der Betbank, hielt die gefalteten Hände über dem -Haupt empor. Wie gelöst schienen seine Glieder, unter dem -seidig glänzenden Priesterrock bebte der Leib in Fieberschauern.</p> - -<p>Eine tiefe Furche zwischen den Brauen, mit stürmischem -Atem und zuckenden Nüstern schaute Fritz empört zu. Dann -sagte er laut und hart: „Herr Professor, lügen Sie doch -nicht Ihrem Herrgott ins Gesicht!“</p> - -<p>Jäh fuhr Romanus in die Höhe. In den Halsadern -pochten ihm alle Pulse sichtbar. „Bube!“ schrie er. Aber -sogleich wieder hatte er die aufgestörten Leidenschaften fest -im Zügel. Stoßweise, mit gewaltsam gebändigter Erregung, -sprach er: „Danken Sie’s Ihrer Mutter, daß nur der -Priester und nicht Ihr Professor die frechen Worte gehört -haben will. Sie haben die Achtung vor jeder Autorität verloren. -Hellwig, Hellwig, das wird ein böses Ende nehmen! -Ich wollte Ihnen ein Freund und Berater sein, doch Sie -haben meine väterlich gebotene Hand zurückgestoßen. Gut! -Ganz wie Sie wünschen! Ich werde trachten, auch das zu -vergessen. Das ist mehr Nachsicht, als Sie verdienen. Damit -ist meine Aufgabe vorläufig beendet. Wenn Sie aufrichtig -bereuen, steht Ihnen meine Wohnung wieder offen. -Bis dahin — gehen Sie!“</p> - -<p>Sein ausgestreckter Finger zeigte nach der Tür. Fritz -verneigte sich stumm und ging langsam. Aber über die -ausgetretene Schneckenstiege rannte er schon in heftigen -Sätzen.</p> - -<p>Draußen atmete er auf. Die leichte Winterluft streichelte -ihm die Stirn, schien mit frischen, kühlen Händen alle Unreinheit -fortzuwischen, die er aus dem Haus des Geistlichen -an Leib und Kleidern mitzutragen glaubte.</p> - -<p>Trotzdem gelang es ihm nicht gleich, den Ekel zu überwinden, -den das Gebaren des Jesuiten in ihm ausgelöst -hatte und den er ganz körperlich, wie den Nachgeschmack -einer verdorbenen Speise, zu empfinden vermeinte, so oft -er sich das Bild wieder vergegenwärtigte: Die große Gebärde, -mit der sich Romanus vor dem Altar in die Knie -geworfen, das heuchlerische Spiel mit Gebet und christlicher -Liebe, die schamlose Schaustellung von Gefühlen, die, -wenn wirklich empfunden, unter allen Umständen der Einsamkeit -gehören mußten. Und er empfand lebhafte Genugtuung, -daß er mit seiner Meinung nicht hinterm Berge -gehalten. Vor den Folgen war ihm nicht bang. Er wußte, -daß er recht gehandelt und glaubte noch an den Sieg des -Rechts, weil er an die Menschen glaubte und, selbst vornehm, -auch anderen keine Niedrigkeit zutraute.</p> - -<p>Als er nach stundenlangem planlosen Herumwandern -das Gleichgewicht endlich wieder erlangte, war der Abend -bereits so weit vorgerückt, daß er Heinz nicht mehr aufsuchen -wollte. Der wußte ebensowenig wie Otto um die -ganze Angelegenheit. Denn Hellwig hatte diesmal niemandem -seine Absicht mitgeteilt, weil er die Erinnerung -an das Auskneifen Pichlers noch zu lebendig mit sich herumtrug -und nicht abermals einen Freund in Versuchung -bringen wollte. Das Verheimlichen war ihm schwer genug -angekommen, wie einen Vertrauensbruch empfand er es. -Der Aufschub, zu dem er sich jetzt abermals gezwungen -sah, war ihm daher höchst unlieb, und er konnte kaum -den nächsten Vormittag erwarten. Dieser war schulfrei zum -Behufe eines würdigen Nachgenusses der Kommunion, die -den Studenten bei der ersten Frühmesse gespendet wurde -und von der sich Hellwig selbstverständlich fern hielt.</p> - -<div class="section"> -<h3>6.</h3> -</div> - -<p>Die Uhr am Rathaus hatte noch nicht neun geschlagen, -als Fritz auch schon mit langen Beinen über die breiten -Holztreppen zu Heinzens Behausung hinaufeilte.</p> - -<p>Die Morgensonne hielt vor den bemalten Bogenfenstern, -ließ die satten Farben der Glasbilder aufleuchten und füllte -das geräumige Stiegenhaus mit warmem Licht. Vom -Hof her drang das Lärmen der Auflader, das Klirren -der Wagenketten und das Gewieher der Pferde. Das -alte Haus, das sonst, wenn die Sonne vorübergegangen -war, düster, fast mürrisch dreinblickte, war heute gar nicht -wieder zu erkennen. Jeder Winkel schien hell und munterer -Tätigkeit voll zu sein, wie ein Tempel fröhlicher -Arbeit stand es, tönte und glänzte im jungen Morgenlicht.</p> - -<p>Und jetzt mischte sich in den summenden Lärm der Ladestellen -von oben her Türenschlag und Schuhgetrapp. Auf -schnellen Füßen kam etwas die Stufen herabgepoltert, bog -um die Ecke des Treppenabsatzes. Gewänder rauschten, ein -heller Rocksaum flatterte um schwarzbestrumpfte Knöchel, -ein dicker Blondzopf schwang den Takt dazu. Ranke, geschmeidige, -biegsame Glieder, blaue Funkelaugen, gerötete -Wangen — das war ein Hasten, war ein Eilen, hatte -nicht mehr Zeit, die wirbelnden Füße zu hemmen und — -stieß mit Hellwig Stirn gegen Stirn zusammen.</p> - -<p>Wehleidig-erschrocken ein „Au!“ aus weißer, weiblicher -Kehle. Der Hut des Jünglings flog zu Boden. Lebenswarm -knospende, drängende Jugendfülle fiel zugleich mit -einem strauchelnden Mädchenleib für einen Augenblick in -die Arme des Verlegenen, zehn kleine Finger klammerten -sich Halt suchend an seinem Rockkragen fest. Dann sprang -ein Lachen lustig in den Morgenglanz hinein: „Verzeihen -Sie, bitte!“ und weiter ging’s in trappelnden Schuhen -und wehenden Kleidern die Stiege hinunter durchs flimmernde -Spiel der Sonnenlichter, während Fritz noch auf -dem Treppenabsatz stand und mit der Hand die Beule an -der Stirn befühlte.</p> - -<p>„Das war die Ev!“ sagte Heinz lachend, als ihm der -Freund die Begegnung erzählte.</p> - -<p>„Was denn für Ev?“ knurrte Hellwig verdrossen. Er -ärgerte sich über die Heiterkeit des andern und hatte das -unbehagliche Gefühl, daß er irgendwie eine lächerliche Rolle -gespielt haben könnte. Und als nun Heinz lustig rief: -„Da hört sich doch alles auf! Jetzt weißt du Brummbär -am Ende gar nicht, daß ich eine Schwester hab’?“, da -wurde Fritz wieder einmal ungemütlich.</p> - -<p>„Woher sollt’ ich’s wissen? Gesagt hast du mir nichts, -und herumschnüffeln tu’ ich nicht!“ polterte er los. „Überhaupt -— schöne Freundschaft das! Wenn sie mir nicht -grad’ eine Beule gestoßen hätte, wüßt’ ich bis heute nicht, -daß mein Freund eine Schwester hat!“</p> - -<p>Nun mußte er jedoch selber lachen, und so unterblieb -diesmal der Auftritt.</p> - -<p>Heinz war in trefflicher Laune und scherzte weiter: -„Dann hast du wenigstens gleich einen Vorgeschmack bekommen! -Tröst’ dich, du wirst mit dem tollen Ding noch -mehrfach zusammenrennen!“</p> - -<p>Da hob Fritz die Hände wie zur Abwehr: „Das fehlte -grad’ noch!“</p> - -<p>„Wird dir nichts übrig bleiben!“ erwiderte Heinz. „Sie -ist schon furchtbar neugierig auf dich. Gestern ist sie auf -Weihnachtsferien gekommen — weißt, sie ist heuer in -Deutschland draußen in einem Töchterheim — und die -Mutter muß ihr was von dir geschrieben haben. Sie hat -wenigstens gleich gestern gefragt, wann du herkommst.“</p> - -<p>„Dann komm’ ich überhaupt nicht mehr, bis sie wieder -fort ist! Ich wüßt’ ja gar nicht, was man mit so einem -Wesen reden soll!“ platzte Fritz heraus und Wart setzte -die Neckerei fort: „Nur Mut, Fritze! Wenn man erst -über den Anfang hinaus ist, findet sich alles von selber. -Sie wird dich nicht gleich fressen!“</p> - -<p>„Aber ich kann doch um Himmels willen nicht von -Buddha und Haeckel mit ihr sprechen!“ unterbrach ihn -Hellwig verzweifelt. „Und was anderes interessiert mich -nicht! Und was mich nicht interessiert, davon red’ ich -nicht! Und wovon ich gern reden möcht’, das kann doch -wieder so ein Pensionsmädel nicht interessieren, so ein -Gansl! Nein, da ...“</p> - -<p>‚Tu’ ich nicht mit‘ wollte er sagen. Aber der Satz blieb -ihm in der Kehle stecken. Mitten in seine Worte hinein -hatte eine klingende Stimme gerufen: „Dank’ schön für -die gute Meinung, Herr Hellwig!“</p> - -<p>Und da stand sie, gegen die er soeben geeifert, leibhaftig -unter der geöffneten Tür, durch die vom Gangfenster -in der hinteren Giebelwand ein breiter schräger -Streifen Sonnenlicht fiel. Wie goldene Fädchen glänzten -die krausen Locken über den kleinen Ohrmuscheln, hinter -den lachenden Lippen blitzten die Zähne, und die Sonnenstäubchen -tanzten um die feinen Schultern, tanzten um -die werdenden Hüften unterm roten Gürtelband, tanzten -um den ganzen schlanken Leib im hellen Tuchkleid, der -sich auf tanzbereiten Füßen wiegte und seiner jungen Schönheit -sorglos freute.</p> - -<p>Fritz war nicht so sorglos. Linkisch stand er, mit rotem -Gesicht, und wußte tatsächlich nicht, was er reden sollte. -Heinz schaute von seinem Schreibtisch behaglich nach den -beiden, schlang die Hände um das emporgezogene Knie -und war gemütsroh genug, dem ruppigen Freunde den -fatalen Zustand vom Herzen zu gönnen.</p> - -<p>„Jetzt wehr’ dich!“ rief er ihm fröhlich zu. „Gib acht, -daß sie dir nicht die Augen auskratzt.“</p> - -<p>„Von mir aus ...“ brummte Hellwig achselzuckend, -während er sich trotzig gegen die Wand lehnte, die er im -beständigen Rückwärtsschreiten endlich erreicht hatte. Dabei -duckte er den Kopf nach vorn, denn der aufstrebende Haarschopf -fegte bereits die schiefe Decke des Dachzimmers. -Und da er noch obendrein die Hände zu Fäusten geballt -hielt, war er ganz bedrohlich anzusehen, gleich einem sprungbereiten -Tiger oder lauernden Schnapphahn, wie Heinz belustigt -meinte.</p> - -<p>Mittlerweile hatte sich die junge Schöne mitten in der -Stube aufgepflanzt und tauschte mit dem Bruder einen -verständnisinnigen Blick.</p> - -<p>„Also ein Gansl bin ich?“ sagte sie unter mehrfachem -leichten Kopfnicken. „Wissen Sie, daß das eine Beleidigung -ist?“</p> - -<p>Fritz gab keine Antwort. Er stand unbeweglich, wurde -noch röter und aufgeregter, aber scheinbar ruhig, wie das -seine Gewohnheit war, sah er dem unerwünschten Widerpart -scharf und gerade in die Augen.</p> - -<p>‚Sie schaut der Mutter ähnlich,‘ dachte er und fühlte -dabei, wie der Zorn in ihm zu kochen begann, weil sie’s -wagte, ihn zur Rede zu stellen. Da sie ein bitterböses -Gesicht aufgesetzt hatte und das verräterische Zucken der -lachlustigen Mundwinkel, so gut es ging, unterdrückte, -nahm er ihre strenge Frage für blutigen Ernst, glaubte -in eine demütigende Lage hineingeraten zu sein und ärgerte -sich über seinen Mangel an Schlagfertigkeit, der ihm keine -schneidige Entgegnung finden ließ.</p> - -<p>„Eine ungerechtfertigte Beleidigung!“ bekräftigte Heinz.</p> - -<p>„Und für die müssen Sie Abbitte leisten!“ forderte -der entsetzliche Backfisch resolut und hielt dem geraden, -feindseligen Blick des Gequälten tapfer die blauen Augen -entgegen.</p> - -<p>Hellwig schwieg. Von den hohen Büchergestellen funkelten -in Goldschrift die erlauchten Namen der Geistesriesen, -schienen des ratlosen Menschleins an der Wand zu -spotten. Immer stärker brodelte es in ihm, und Wart, -der ihn unausgesetzt beobachtete, hielt es für ratsam, einzulenken. -Er blinzelte seiner Schwester zu, die aber gab -nichts darauf, ließ sich von ihrem jungen Ungestüm fortreißen -und rief befehlend, mit schräg abwärts gestrecktem -Arm und Zeigefinger: „Abbitten! Nun?“</p> - -<p>Da fuhr auch schon Hellwigs Wort wie ein Keulenschlag -nieder: „Gesagt ist gesagt und Gansl bleibt Gansl! -Man hört’s am Schnattern!“</p> - -<p>Das klang grob, herausfordernd und wirklich verletzend. -Nun war’s, als hätte eine ungeschlachte Hand mit einemmal -alle kindliche Heiterkeit aus dem hübschen Gesicht -fortgewischt. In die blanken Augen kam ein feuchter Schimmer. -„Pfui, Sie sind roh!“ sagte Eva Wart, kehrte dem -klotzigen Gesellen energisch den Rücken, und ehe noch der -Bruder vermittelnd eingreifen konnte, hatte sie schon das -Zimmer verlassen.</p> - -<p>Fritz sah ihr nach und wunderte sich, wie hoch so ein -dicker Zopf fliegen und wie goldähnlich seine Spitze leuchten -konnte. Ihm war keineswegs wohl ums Herz. Er -verwünschte seine ungefügen Manieren, aber auch das naseweise -Ding, das ihm mit solcher Anmaßung entgegengetreten -war. Keinen Augenblick dachte er daran, daß er eigentlich -ein Spaßverderber war. Denn er hatte kein Verständnis -für tändelnde Scheingefechte, und seiner gärenden Jugend -fehlte noch vollständig der Humor, zumal sie zu wenig -sonnig gewesen und die gefühlsduselige Empfindlichkeit der -fortwährend unglücklichen Mutter gerade aus den nichtigsten -Ereignissen einen Grund zum Jammern herauszuholen -pflegte.</p> - -<p>Vergebens suchte ihm Heinz die Sache von der harmlosen -Seite darzustellen, mit beruhigenden Worten und -vorsichtigem Tadel über seine Rauhbeinigkeit. Fritz wollte -nichts hören, haderte mit ihm, daß er ihn in diese Lage -gebracht, und lief endlich grollend davon.</p> - -<p>Inzwischen hatte Eva mit sprühenden Augen und lebhafter -Entrüstung ihrer Mutter den Vorfall erzählt. Frau -Hedwig nahm ihr temperamentvolles Kind in die Arme -und klopfte ihm begütigend die erhitzte Wange.</p> - -<p>„Nimm’s nicht tragisch, Mädl!“ sagte sie. „Jungens -sind einmal nicht anders.“</p> - -<p>„Ich lass’ mir das aber nicht gefallen!“ rief die Kleine -stürmisch. „Er muß sich entschuldigen!“</p> - -<p>„Das muß er nicht!“ erwiderte die Mutter mit freundlichem -Ernst. „Denn auch du bist nicht ganz schuldlos, -Eva. Was hast du bei Heinz oben zu suchen gehabt?“</p> - -<p>„Ich war halt so neugierig,“ gestand die noch nicht -Fünfzehnjährige verschämt.</p> - -<p>„Und warst keck und vorwitzig. Siehst du, da hast du -eben gleich deine Strafe wegbekommen.“</p> - -<p>„Du nimmst ihn noch in Schutz ...“ murmelte das -Mädchen vorwurfsvoll und konnte die locker sitzenden Tränen -nicht länger zurückhalten.</p> - -<p>„Das tu’ ich nicht, Kind. Ich will nur sagen, daß ihr -beide im Unrecht wart. Aber auch wenn er allein schuld -hätte, dürftest du keine Abbitte von ihm verlangen. Es -ist unedel, seinen Beleidiger zu demütigen. Da weiß ich -eine vornehmere Rache.“</p> - -<p>„Was denn? Sag’s doch!“ drängte Eva ungeduldig, -als Frau Wart eine Pause machte und ihr die wirren -Haare aus der Stirn strich.</p> - -<p>Ihre Gesichter waren jetzt dicht nebeneinander. Die Frau -saß in der Erkernische beim Nähtisch, das Mädchen -lehnte neben ihr, den Arm hinter der Stuhllehne um die -Mutter gelegt, und schaute sie erwartungsvoll an. Die -Ähnlichkeit zwischen beiden war nicht zu verkennen. Dieselbe -glatte, ein wenig niedrige, aber fein geformte Stirn, -dieselben klaren blauen Augen neben einer geraden, an -der Spitze leicht abgeflachten Nase, dieselben sacht geschwungenen -Lippen über einem rundlichen Kinn. Aber -während bei Eva die Züge noch weich, nur erst angedeutet -oder noch verhüllt waren von dem Pfirsichflaum einer -zarten Kindlichkeit, traten sie in Frau Hedwigs Antlitz -bestimmter hervor, waren durch das Widerspiegeln eines -sorgfältig geschulten Geistes in eine schöne Harmonie gebracht -und von lauterster Menschenliebe überglänzt, vereinigten -sie sich zu einem Gesamtausdruck jener Güte, -von der da ein Sagen geht, daß sie alles verzeiht, weil -sie alles begreift.</p> - -<p>Frau Wart ließ ihr neugieriges Kind erst ein bißchen -zappeln, ehe sie mit ihrem Plan herausrückte, der dahin -zielte, den widerborstigen Jungen mit einem Weihnachtsgeschenk -zu überraschen. Darauf wollte die Kleine anfangs -durchaus nicht eingehen. Als jedoch die Mutter anregte: -„Weißt, wir kaufen ihm ein paar Bücher, stecken einen -Zettel hinein und schreiben darauf: ‚Vom Gansl und seiner -Mutter‘, dann wird er sich schämen und doch freuen,“ da -war das quecksilberne Ding auch schon Feuer und Flamme -und brachte sofort eine Menge von Werken in Vorschlag:</p> - -<p>„Schiller! Oder Geibel! Oder Scheffel! Nein? Also -Baumbach! Freytag! Heyse!“ und so weiter alle Lieblinge -der Pensionsliteratur. Da indessen die lächelnde Zuhörerin -immer den Kopf schüttelte, hieß es gleich wieder -unwillig: „So sag’ endlich auch du was!“ und der Schmollmund -war fertig.</p> - -<p>Aber schließlich fing sie doch wieder an, und endlich -kam die Mutter auf das ‚Liebesleben in der Natur‘ von -Boelsche. Das sei heiter und leicht und bringe manches -Anregende, ohne eigentlich wissenschaftlich zu sein. Aber -Fritz brauche nicht immer nur die ganz gedankenschweren -Sachen zu lesen. Damit war die Kleine auch zufrieden, -obwohl sie das Buch nicht kannte.</p> - -<p>Und kaum waren sie im reinen, als sich die Zimmertür -auftat. Geräuschvoll prustend und die frostroten Hände -reibend, kam das Familienoberhaupt hereingestapft, schritt -vorerst zum Ofen, wo es die Handflächen an den grünen -Kacheln wärmte und machte dann beim Erker halt. Seine -massige Gestalt mit den breiten Schultern füllte den -schmalen Zugang beinah ganz.</p> - -<p>„Nun, ihr Glucken!“ dröhnte seine tiefe Stimme und -in allen Falten, Fältchen und Pölsterchen des bartüberwucherten -vollen Gesichts saßen und lachten die fidelen -Geister einer kreuzbraven Vergnügtheit. „Nun, ihr Glucken, -was für ein Ei wird denn da wieder ausgebrütet?“</p> - -<p>„Wer weit fragt, wird weit gewiesen, Nikl,“ kam die -Gattin dem flinken Plauderzünglein der Tochter zuvor. -Denn sie fürchtete, daß der bücherfeindliche Mann dem -Kinde durch ein abfälliges Urteil die Freude verderben -könnte.</p> - -<p>Der gemütliche Bürger dachte an die nahe Weihnachtszeit -und gab sich mit dem deutungsvollen Bescheid zufrieden. -„Freilich, freilich,“ lachte er behaglich, „erwarten ist besser -als erlaufen. Denn: mit Geduld hat die Katz’ den Schwartenmagen -überwunden. Ich bin schon stad!“ Und dann -unvermittelt abspringend: „Aber eine Kälte hat’s heut’, -Leutln, daß die Schindelnägel krachen! Ich hab’ ein paar -hundert Flaschen Krondorfer unterwegs, da wird mir die -Hälfte zersprungen herkommen! ’s ist halt alleweil ein -G’frett! — Hast nichts zum Essen, Mutter? Ich muß -gleich wieder hinunter.“</p> - -<p>Trotzdem Herr Wart auf seine Frage nach dem Gabelfrühstück -täglich dieselbe Antwort erhielt: „Es steht schon -auf deinem Schreibtisch!“, wäre es ihm niemals eingefallen, -vom Laden unmittelbar in sein Arbeitszimmer zu gehen. -Denn diese kurze Pause, diese flüchtige, meist auf wenig -belanglose Worte beschränkte Unterhaltung mit seiner Frau -war ihm Ausruhn, Erholung und geistige Stärkung für -die weitere Vormittagsarbeit.</p> - -<p>Heute aber wurde er noch nicht fortgelassen. Eva stellte -sich in ihrer ganzen Größe vor ihm auf und sprach sehr -ernsthaft: „Du, Vater, sag’, bin ich ein Gansl?“</p> - -<p>Wart Nikl schaute die sonderbare Fragerin erst verdutzt -an, dann bewegte er kräftig nickend das Haupt und rief -aus einem unbändigen Gelächter heraus: „Und was für -eins, Mädl! Und was für eins! So ein ganz ausgewachsenes! -Das wär’ ein Bratl zu Martini gewesen!“ Und er -kniff sein Herzblatt in die glatt gerundete Wange.</p> - -<p>Die Kleine aber wandte mit einem unwilligen Ruck ihr -Gesicht weg, fauchte wie ein Kätzchen, und auf der Suche -nach einer schlagenden Widerlegung sagte sie zornig: „Ich -— ich werd’ im August schon fünfzehn und — und die -Fräuleins sagen alle, daß ich sehr gut lerne. Ja!“</p> - -<p>Nun mußte auch Frau Hedwig lachen, und zum Unglück -hob noch obendrein das kleinste Glöcklein im Turm -des Franziskanerklosters zu läuten an.</p> - -<p>„Hörst es?“ neckte da gleich der Vater, zum Fenster -zeigend. „Hörst es, was die Glocke sagt? ‚Tu d’ Gäns’ -ein! Tu d’ Gäns’ ein!‘ sagt sie. Komm, komm, ich -muß dich in den Stall tun!“</p> - -<p>Da hielt sich Eva die Ohren zu und wollte an ihrem Erzeuger -vorüber aus dem Zimmer. Der aber fing sie in -den ausgebreiteten Arm, drückte sie an sich und brachte -mit Hilfe des untergelegten Zeigefingers ihr gesenktes Kinn -in die Wagrechte. Und da sah er, daß die großen Kinderaugen -voll Tränen waren. Sofort hörte der gutmütige -Mann mit dem Gelächter auf und sagte ganz unruhig: -„Aber geh, Ev, wirst doch nicht heulen? Fesch sein, Mädl! -Spaß verstehn! — Wart’, ich werd’ dir jetzt auch erzählen, -was die Glocken beim Begräbnis sagen. Alsdann: -wenn so ein recht reicher Frommer zur ewigen Ruh’ gebracht -wird, dann brummen die dicken großen Glocken -immerzu: ‚Fünferbanknoten! Fünferbanknoten!‘ — Aber -wenn sie einen armen Hascher hinausschaffen, dann belfert -nur so ein kleines grantiges Glöckerl hinterher: ‚Klingl, -glenkl, armer Schlenkl!‘“</p> - -<p>Das trug der Nikl sehr wirkungsvoll vor. Die ‚Fünferbanknoten‘ -sprach er dumpf und feierlich, legte die fleischige -Hand auf den Magen und schaute scheinheilig zur Decke, -wogegen bei dem raschen ‚Klingl, glenkl‘ seine Stimme -in die krähendste Fistel überschnappte. Darüber mußte Eva -lachen. Und als er sie noch auf die Schulter klopfte: -„Laß gut sein, du bist schon recht!“, war sie wieder ganz -versöhnt. Und weil sie wußte, daß er’s gern von ihr leiden -mochte, zupfte sie ihn am rötlichen Bart. Nun schnappte -er mit grimmigem Gesicht nach ihr, sie zog wie erschrocken -die Hand zurück und lachte laut, die Mutter lachte mit -und Wart Nikl ebenfalls, und die Fensterscheiben zitterten -vor seines Basses Grundgewalt.</p> - -<div class="section"> -<h3>7.</h3> -</div> - -<p>Während es dem Mädchen mit Lachen und freundlicher -Teilnahme leicht gemacht wurde, über den kleinen Vorfall -wegzukommen, mußte Fritz wie immer allein damit fertig -werden und fraß sich hiebei nur desto tiefer hinein in -seinen Groll gegen die Frauen im allgemeinen und gegen -die weiblichen Mitglieder des Hauses Wart im besonderen. -Und seine Stimmung wurde keineswegs gebessert bei der -Erinnerung, daß er wegen der dummen Geschichte nicht -einmal dazu gekommen war, Heinz von der Beichte und -dem Auftritt mit Pater Romanus Bericht zu erstatten.</p> - -<p>Als er dies beim nächsten Zusammentreffen in den -Gängen des Schulgebäudes nachholte, meinte Wart, daß -er einen Unsinn begangen habe. „Unsinn oder Sinn!“ -sagte Fritz darauf, „ich mußte einfach. Wir werden ja -sehn, ob man heutzutage wirklich ohne Lüge nicht durchkommen -kann!“</p> - -<p>Da verkündete die Glocke hallend den Beginn des Nachmittagsunterrichts, -die Studenten strömten in die Klassenzimmer, -und die beiden Freunde mußten das Gespräch -vorläufig abbrechen.</p> - -<p>In der Oktava verlas der Klassenvorstand unter lautloser -Stille das Ergebnis der am Vortage stattgehabten -Monatskonferenz, verteilte die Strafzettel mit den Tadelsworten, -den Rügen und Ermahnungen und fügte seine -eigenen Bemerkungen hinzu. Die wiesen zwar in einigen -besonders schweren Fällen drohend auf schärfere Maßnahmen -und auf das Schreckgespenst eines Durchfallens -bei der Reifeprüfung hin, klangen im übrigen jedoch recht -sanft und tröstlich. Denn dem alten Herrn mit dem weißen -Backenbart und den schon leise zittrigen Händen waren -seine Jungen ans Herz gewachsen.</p> - -<p>Name um Name wurde aufgerufen. Die Zettel wanderten -in die Hände der Schüler, und wer einen bekam, -sah trübselig drein, während mancher Schuldbewußte erleichtert -aufatmete und sich freute, daß diesmal ein schon -für unabwendbar gehaltenes Verhängnis doch noch gnädig -vorübergegangen war. Schließlich blieb nur noch ein einziges -Blatt übrig. Da stellte sich der Professor in Positur, -machte ein bekümmertes Gesicht, so gut ihm das in Anbetracht -seiner roten Wängelein und fröhlich zwinkernden -Augen möglich war, und begann: „Leider, und ich bedaure -das sehr, leider bin ich in die unangenehme Lage versetzt, -auch einem meiner fleißigsten Schüler, von dem ich’s nicht -erwartet hätte, mitteilen zu müssen, daß sein sittliches Verhalten -nicht vollkommen einwandfrei ist. Fritz Hellwig ...!“</p> - -<p>Der Aufgerufene erhob sich und trat aus der Bank vor.</p> - -<p>„Fritz Hellwig, ich habe die betrübliche Pflicht, leider, -Ihnen wegen Ihres sittlichen Betragens den Tadel der -Konferenz aussprechen zu müssen, leider.“</p> - -<p>Fritz nahm das weiße Blatt aus den Händen des Lehrers, -verbeugte sich und ging auf seinen Platz zurück. Er -dachte an Pater Romanus, fand die Strafe sehr mild und -wunderte sich nur, warum der Pater erst davon gesprochen -hatte, daß er den ganzen Vorfall vergessen wolle.</p> - -<p>Mit diesem Gedanken beschäftigt, hörte er nur mit halbem -Ohr hin, wie der Professor jetzt fortfuhr: „Nehmen -wir uns also zusammen und folgen wir mit größerer Teilnahme -dem Unterricht.“ Und erst als er etwas schärfer -einsetzte: „Hellwig, ich spreche mit Ihnen!“, erhob dieser -sich wieder und blickte ziemlich verständnislos. Nun kam -der behäbige Mann vom Podium herab, stellte sich neben -die Bank und sagte freundlich: „Wir sollen nicht so gleichgültig -sein, namentlich im Griechischen. Herr Kollege Hermann -hat sich beklagt, leider, daß wir seinem Vortrag -gar nicht zuhören, sondern währenddessen leider immer -zerstreut in allen Himmelsrichtungen herumschauen. Auch -bei seinen Fragen melden wir uns niemals und bekunden -mangelnde Teilnahme an besagtem Gegenstand, indem wir -immer wie ein Haubenstock dasitzen, leider.“ Und mit gedämpfter -Stimme fügte er hinzu: „Es hat nicht viel auf -sich. Nur munterer sein, munterer!“ Dann trippelte er -wieder zum Lehrpult zurück.</p> - -<p>Fritz stand da, als hätte der Blitz vor ihm eingeschlagen, -war kalkweiß und rührte sich nicht. Erst als der Professor -fragte, ob ihm etwas fehle, bewegte er verneinend den -Kopf und setzte sich. Sein Herz klopfte unregelmäßig, trieb -das Blut bald in heftigen Stößen, bald matt und mühsam -durch die Adern. Mit leeren Augen stierte er vor sich hin, -war jetzt wirklich teilnahmslos und dachte nur immer das -eine: daß ihm ein Unrecht geschehen sei. Gerade das -Griechische war schon wegen Plato und Demosthenes sein -Lieblingsgegenstand trotz des widerwärtigen, schwindsüchtig -aussehenden Lehrers, der infolge einer Kehlkopfkrankheit -fortwährend hustete und heiser sprach, als stäke ihm ein -Schleimpfropfen in der Luftröhre. Auch hatte er die Eigenschaft, -daß er beim Reden niemandem ins Gesicht, sondern -mit hastenden Augen stets an der betreffenden Person unstet -vorbeisah. Deshalb konnte er von anderen ebenfalls -keinen offenen Blick vertragen, wurde unruhig und nervös, -wenn er einen solchen auf sich gerichtet fühlte. Daher -mochte er Hellwig nicht leiden, fand aber, weil dieser -im Griechischen dank einer umfangreichen Privatlektüre -sehr viel wußte, keine Handhabe, ihm irgendwie seine -Abneigung fühlen zu lassen. Da hatte ihn Pater Romanus, -der tödlich Gekränkte, mit ein paar achtlos hingeworfenen -Worten auf das dehnbare Gebiet des sittlichen Betragens -gewiesen und der Erfolg zeigte, wie gut der Jesuit seine -Werkzeuge zu wählen verstand.</p> - -<p>Davon ahnte Hellwig freilich nichts. Er hatte nur das -Bewußtsein, daß der Tadel unverdient war. Denn wenn -er auch nicht, wie die meisten anderen und namentlich -Pichler, bei jeder Frage, auf die er Bescheid zu geben -wußte, gleich mit der Hand in die Höhe fuhr, so konnte -er sich doch mit ruhigem Gewissen sagen, daß er den -Unterricht noch immer mit Aufmerksamkeit verfolgt hatte, -stets bei der Sache gewesen und nur selten eine Antwort -schuldig geblieben war.</p> - -<p>Das Unglück wollte es, daß als nächste Lehrstunde das -Griechische an die Reihe kam und Professor Hermann, -durch Aufstehen von den Sitzen begrüßt, ins Schulzimmer -trat. Auch Fritz erhob sich gewohnheitsmäßig mit. Als -er jedoch das eingetrocknete gelbe Gesicht erblickte, da -wallte zugleich mit einer siedenden Wut das kindische Verlangen -in ihm auf, dem eklen Patron einen Tort anzutun -und seiner Mißachtung sogleich irgendwie Ausdruck zu -geben. Er verschränkte die Arme vor der Brust, warf den -Kopf in den Nacken und sah den Professor herausfordernd -an. In dieser Stellung verharrte er noch, als seine Mitschüler -bereits wieder auf den Bänken saßen.</p> - -<p>Da sprang der ausgelaugte, stangendürre Mensch mit -einem gewaltigen Satz vom Podium herunter auf ihn -zu: „Eh, eh, — wie stehn S’ da? Wie stehn S’ da?“</p> - -<p>Fritz rührte sich nicht.</p> - -<p>Das Gesicht des Lehrers war fahlgrün geworden. Pfeifend -kam der Atem aus der kranken Kehle.</p> - -<p>„Hinaus! Sie Frechling! Lausbub! Klassenbuch! Sittenrüge! -Karzer! Hinaus! Hinaus!“ schrie, spuckte und -hustete er und hieb mit der geballten Rechten immerfort -auf die Bank unter allen Zeichen einer schweren Nervenüberreizung. -Selbst als Hellwig das Zimmer verlassen -hatte, konnte er sich nicht beruhigen. In seinem dicksohligen -knarrenden Schuhwerk schritt er vor der Schultafel -hin und her, fortwährend Worte wie „Frechheit!“, -„Bube!“ zwischen den gelblichen Zähnen zerreibend, nahm -dann das Klassenbuch aus der Pultlade und schrieb beinah -eine Seite voll. Mit einem hämischen „So!“ klappte er -endlich den grünen Deckel zu und begann ein wütendes -Prüfen unter der verschüchterten Schülerschar, wobei er -raunzend, räuspernd, hüstelnd eine ungenügende Note nach -der andern in seinen Handkatalog eintrug. Und niemand -fand heute vor dem Verärgerten Gnade.</p> - -<p>Fritz mußte inzwischen im Korridor das Ende der Stunde -abwarten. Er lehnte sich in eine der tiefen Fensternischen -und blickte durch die eisernen Gitterstäbe in den Hof, der -von zweistöckigen Gebäuden eingeschlossen, unter der Aufsicht -vieler schnurgerade ausgerichteter Fensteraugen trübselig -im Schatten lag, als schämte er sich seiner Dürftigkeit. -Wehmütig streckte ein verkrüppelter Roßkastanienbaum -die beschneiten Äste nach dem Stücklein Himmel -über den geflickten Ziegeldächern, eine hungrige Dohle saß -in seiner Krone, ließ den starken Schnabel hängen und fror.</p> - -<p>Die Glieder schlaff, den Kopf gesenkt, drückte Hellwig -die Achsel gegen das kalte Gemäuer. Aller Lebensmut -war ihm zerbrochen, und in sein steinstarres Antlitz meißelte -tiefe und immer tiefere Furchen ein ungeheurer Schmerz. -Er hatte zum erstenmal im Leben die Ungerechtigkeit kennengelernt. -Und da war ihm, als sei der feste Boden unter -seinen Füßen weggezogen worden, als wankten alle Grundpfeiler -der Ordnung, stürzten hin und lägen begraben -unter dem hereinbrechenden Chaos.</p> - -<p>Es war ihm so klar gewesen bisher als die erste und -einfachste sittliche Forderung: Das Recht des Nebenmenschen -wahren wie sein eigenes, als geheiligtes, unantastbares -Gut. Und jetzt? Da stand er, und ein Unrecht war -ihm geschehen, und er hatte kein Mittel, gegen den Übeltäter -aufzutreten, es sei denn die rohe Kraft der Muskeln. -Und statt, daß er und alle andern mit ihm wie ein Mann -sich erhoben, den Beflecker des Rechts zu züchtigen, blieben -sie untätig, als dieser dem ersten Verbrechen das zweite -hinzufügte. Und wenn auch einige die Unbill verurteilten, -so schien sie ihnen doch zu geringfügig, um viel Aufhebens -davon zu machen. Aber gab es denn hier überhaupt eine -Geringfügigkeit? Jede Beleidigung Gottes, und wäre sie -noch so klein, sollte schwerste Missetat sein und die gröbliche -Verletzung eines ersten Sittengesetzes Bagatelle? Und -jetzt empfand er auch Scham über sein unwürdiges Benehmen. -Wie zu einem heiligen Krieg hätte er ausziehen, -hätte glühend für das gelästerte Menschengut in die Schranken -treten müssen, ohne der eigenen Kränkung zu gedenken. -Statt dessen hatte er in einer großen Sache klein und -jämmerlich, so recht wie ein geprügelter Knabe gehandelt. -Das machte ihn verzagt und schwunglos, drückte nieder -und beraubte ihn der Kraft zum entschiedenen Eintreten -für seine Schuldlosigkeit. Und als die Stunde vorüber -war und als er an Professor Hermann vorbei in das Schulzimmer -ging, da senkte er, wiederum zum erstenmal im -Leben, schuldbewußt den Kopf.</p> - -<div class="section"> -<h3>8.</h3> -</div> - -<p>Den nächsten Tag begannen bereits die Weihnachtsferien, -die solcherart für Hellwig und für seine Mutter -keineswegs freundlich eingeleitet wurden. Er hatte ihr -gleich nach seiner Heimkunft den Tadelszettel auf den -Küchentisch gelegt: „Da, unterschreib den Wisch!“ Sie -las ihn bedächtig vom Anfang bis zum Ende und fing -sofort ein Weinen an und ein Zanken, ohne den Sohn -nach der Ursache der Maßregelung zu fragen. Denn daß -er sie verdiente und schuldig war, dafür war ihr das mit -dem Schulsiegel und der Unterschrift des Direktors versehene -Blatt todsicherer Beweis.</p> - -<p>Fritz versuchte nicht einmal, sich zu verteidigen. Es -wäre auch ein vergebliches Bemühen gewesen, ihren Glauben -an die Behörden und an geschriebene Amtsurkunden -erschüttern zu wollen.</p> - -<p>Als sie endlich mit dünnen unbehilflichen Volksschülerbuchstaben -ihren Namen auf den Zettel gemalt hatte, packte -er ihn mitsamt den Schulbüchern zusammen und ging -in seine Stube. Dort fand er auf seinem Tisch ein Postpaket -vor. Überrascht öffnete er es; drei schön gebundene -Bücher fielen ihm in die Hände. Zwischen den Blättern -des einen stak ein Briefumschlag. Darin war eine Karte. -‚Fröhliche Weihnachten‘ stand auf der einen Seite und -auf der anderen ‚wünschen das Gansl und seine Mutter‘.</p> - -<p>Mit einem Fluch ließ Hellwig die Faust auf den Tisch -fallen. Unter zusammengezogenen Brauen funkelte der -Zorn. Als Fopperei erschien ihm die Sendung, als Zudringlichkeit -und neue Beleidigung. Er hatte Frau Wart -niemals Grund zu einer solchen Vertraulichkeit gegeben, -hatte jeden Versuch schroff abgelehnt. Und nun kam sie -ihm so. Denn, daß der Plan von ihr ausgegangen, darauf -hätte er Stein und Bein geschworen. Schon schickte er -sich an, die Bücher wieder einzupacken, schon schien es, -als ob Frau Hedwigs gute Saat nutzlos ausgestreut wäre. -Da glänzte ihm aus dem aufgeschlagenen Band der Name -Darwin entgegen. Angeregt las er den Satz, stutzte, las -weiter.</p> - -<p>Und als der Nachtwächter morgens im winterlichen -Dunkel der Gassen den Ruf anstimmte:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Hausmagd, steh auf, heiz’ ein, kehr’ aus,</div> - <div class="verse indent0">Trag ’n Bedarf Wasser ins Haus!“,</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>da war Fritz Hellwig richtig mit den leichten Plaudereien -so ziemlich fertig geworden.</p> - -<p>Dadurch hatte er sich das Geschenk unfreiwillig angeeignet -und die Rückgabe unmöglich gemacht. Es hatte -ihm nicht sonderlich gefallen. Zu spielerisch, zu tändelnd -und oberflächlich war es ihm. Und doch saß er und -träumte mit leuchtenden Augen in das Dunkel hinaus. -Träumte vom Frühling und Blütentreiben mit seltsam -bewegtem Herzen, das wehmütig und sonnig war, erwartungsfreudig -und voll von tausend unsichtbaren, heimlich -pochenden Kräften wie ein Vogelnest zur Brutzeit. -Erschauernd wurde er seiner werdenden Mannheit inne, mit -einer leisen, scheuen Sehnsucht nach dem Weibe. Rein -und ohne noch zum Verlangen sich zu verdichten, war diese -Sehnsucht einer jungen Blüte gleich, die kaum entfaltet -zum erstenmal dem Lichte entgegenblickt. Und der Atem -der Liebe machte ihn sanft und gütig und erfüllte ihn -mit einer innig warmen Verehrung für das Weib als -einen heiligen Brunnen, in dessen klarer Tiefe Anfang -und Ende aller Menschwerdung in sich beschlossen ruht. -Und neidlos und ohne Vergleiche empfand er jetzt eine -aufrichtige Dankbarkeit für die mütterliche Frau, die ihm -einen Freund geschenkt und jetzt diese Weihnacht des Herzens -bereitet hatte.</p> - -<p>So wurde eine Wandlung seiner Seele wohl angebahnt, -aber im kalten Licht des Tages regte sich wieder der alte -Trotz.</p> - -<p>Damit er nicht zu Heinz gehen mußte oder Gefahr -lief, von ihm abgeholt zu werden, machte er sich gleich -nach dem Frühstück auf den Weg, um Pichler in seinem -Heimatsdorf aufzusuchen, das drei Stunden von Neuberg -entfernt, schon an der bayrischen Grenze lag.</p> - -<p>Dort hatte der Küster und Kirchendiener Pichler ein -gemauertes Hüttlein inne, das wie ein Schwalbennest an -einer schlanktürmigen Kirche klebte und außer für zwei -Wohngelasse nur noch für eine Vorratskammer und den -Kuhstall Raum bot. Hellwig fand den Kameraden in der -großen Stube, wo hinter dem überlebensgroßen Kachelofen -zwei Turteltauben gurrten und links davon unter -dem Geschirrschrank die Hühner in ihrer rot angestrichenen -Steige hockten. Auf der Holzbank aber, die sich längs -aller Wände um die Stube zog, saßen verteilt sechs junge -Menschenkinder. Die älteren Buben banden Birkenreiser, -die, am Barbaratag geschnitten und ins Wasser gesteckt, -nunmehr grüne Triebe hatten, mit roten und blauen Bändern -zu Ruten, mit denen sie am zweiten Feiertag die -Dirnen peitschen wollten. Und um sich zu vergewissern, -ob sie das Sprüchlein noch wüßten, sprachen sie manchmal -halblaut vor sich hin: „Frische, frische Krone, ich -peitsch’ dich nicht um Lohne, ich peitsch’ dich nur aus -Höflichkeit, dir und mir zur Gesundheit!“</p> - -<p>Beim Ofen wirtschaftete mit nackten Armen eine siebente, -wenig jüngere als Otto, in Töpfen und Schüsseln -herum, und unter all der regsamen Jugend saß dieser -selbst, der einzige Dunkelhaarige, schnitt mit der Schere -Engel, Hirten und Lämmer aus einem Bilderbogen und -steckte sie neben die heilige Familie und die drei Könige -aus dem Morgenlande in den Moosboden der aus Pappendeckel -gefertigten Krippe.</p> - -<p>Als Hellwig die strohgefütterte Tür öffnete, schwieg -das Summen und Tönen, die geschäftigen Hände ruhten -und vierzehn helle Augen starrten neugierig auf den Ankömmling, -der mit Reif und Schnee zugleich eine frische -Winterluft in die dumpfig warme Stube brachte. Anfangs -waren sie schüchtern und sahen zu, wie der älteste Bruder -in seiner lauten Weise den Freund begrüßte. Bald aber -schoben sich die kleineren, die schmutzigen Mittelfinger im -Mund oder Nasenloch, näher heran, glucksten und umschlichen -im Kreis den Fremdling. Da hob Fritz eine kaum -Vierjährige mit beiden Armen hoch über seinen Kopf, daß -sie fast an den braunen Deckenbalken stieß. Und nun -wollten auch die andern Fibelschützen nicht um diesen Genuß -kommen, drängten und stießen sich, kicherten, und -als Otto mit den geflochtenen Weihnachtsstriezeln und -einer Flasche Kümmelschnaps aus der Vorratskammer zurückkehrte, -lehnten sie bereits, links zwei Männlein, rechts -zwei Weiblein, alle unter zehn Jahren, an den Knien des -Gastes, der beim Eßtisch saß, und guckten scheu-zutraulich -wie junge Hunde von der Seite nach seinem Gesicht hinauf. -Die zwei älteren Burschen flochten leise pfeifend an ihren -Ruten weiter, und die Siebzehnjährige beim Ofen, die -nach dem Tode der Küsterin das Haus versehen mußte, -hantierte mit ihren Kochgeräten und bemühte sich jetzt, -möglichst wenig Lärm zu machen.</p> - -<p>Hellwig aber war Kind mit den Kindern, und Otto gewahrte -mit wachsendem Staunen, wie viel harmlose Heiterkeit -und genügsamer Frohsinn diesem spröden, widerspenstigen -Charakter eingemischt war. Er lachte und trieb Tollheiten, -sprach Schnellsagesätze vor — „hinter Hansens -Hundshütten hängen hundert Hundshäut’“ — und erzählte -den Auflauschenden von der versunkenen Stadt im -Tillenberg, von der Sturmmutter Melusine und dem Hehmann -im Franzensbader Moor.</p> - -<p>Dann kam der Küster nach Hause, ein schneiderdürres -Männchen mit spitziger Nase, spitzigem Kinn und einem -spitzigen grauen Ziegenbart darunter, und brachte in einem -Netz zwei schöne Spiegelkarpfen, ein Geschenk aus dem -Fischteich seines Pfarrherrn. Im Nu war er von der -Schar seiner Sprößlinge umringt, und in dem Gewoge -blonder Köpfe und greifend emporgestreckter Hände -schwankte sein kümmerliches Gestaltchen wie der Mast -eines steuerlosen Kutters in sonnenüberfunkelten Wellen.</p> - -<p>Endlich gelang es der ältesten, das Fischnetz zu fassen -und mit hochgehaltenen Armen aus dem Bereich der neugierigen -Finger zu bringen. Aber immer wieder bettelten -die Kleinen: „Zeig’ doch einmal her! Ich möcht’ mir -die Viecher ja nur anschaun!“, hingen sich an ihren Rock -und suchten den Arm der Schwester im Sprung zu erhaschen -und niederzuziehen. Scheltend wehrte sie dem Ansturm, -machte sich mit einem kräftigen Ruck frei, und -nun flog die ganze leuchtende Wolke von Gesundheit und -Jugendkraft zur Anrichtbank beim Ofen, während das -Küsterlein den Schnee von den Röhrenstiefeln stampfte -und den Gast bewillkommte. Doch hielt es sich nicht lang -dabei auf, sondern verlangte gleich nach dem Mittagessen.</p> - -<p>Bald saßen um eine einzige gewaltige Schüssel dampfender -Milchsuppe mit Schwarzbroteinlage alle außer der -ältesten Tochter, die sich Abbruch tat und den Magen bis -zum Aufleuchten der ersten Sterne leer behalten wollte, -um dann sicher das goldene Meerschweinchen über die -Zimmerdecke laufen zu sehen. Das Fasten wurde ihr gar -nicht leicht, und man merkte ihr an, daß sie gern mitgehalten -hätte, als nun alle ihre Löffel in die dickliche -Flüssigkeit versenkten, auch Fritz, der die Gastehre eines -eigenen Tellers rundweg ausgeschlagen hatte. Die Kinder -aßen noch ungeschickt, mit schmatzenden Lippen und hastigen -Gebärden, indes die zwei halbwüchsigen Rutenbinder langsam, -ernst und mit einer Gründlichkeit dem Nahrungsgeschäft -oblagen, daß ihnen der Schweiß auf die Stirnen trat.</p> - -<p>Ganz gegen seine sonstige Gepflogenheit sprach Otto -nicht viel. Verdrießlich zupfte er an seinem sprossenden -Schnurrbärtlein und war unzufrieden mit Hellwigs Besuch, -trotzdem er ihn dringend darum gebeten. Er hatte -sich’s eben ganz anders vorgestellt, ein ungestörtes Beisammensein -mit dem Freunde, wobei ihm Gelegenheit geboten -war, seine Geistesblitze flammen zu lassen. Vor -den Geschwistern aber oder gar vor dem Vater getraute -er sich nicht mit hohen Themen anzufangen, da er selten -von der Leber weg sprach, sondern mit Vorbedacht je nach -der Zuhörerschaft Gegenstände auswählte, mit denen er -zu blenden hoffte. Das war jedoch beim Küster so gut -wie ausgeschlossen. Der ließ sich von niemandem ein X -für ein U vormachen und hatte für die oft gewagten Behauptungen -seines ältesten noch immer einen tüchtigen -Trumpf bei der Hand gehabt. Alle Versuche aber, Fritz -von den Angehörigen abzusondern und in die kleine Stube -zu lotsen, scheiterten an dem rückhaltlosen Behagen, mit -dem sich dieser den Kindern überließ, und an seiner hellen -Freude über die ihm bisher unbekannte Traulichkeit eines -quellwasserfrischen Familienlebens.</p> - -<p>So kam es, daß der Küster fast allein die Unterhaltung -besorgte. Das bewegliche Greislein hatte sich trotz Armut -und Kindersorgen den Humor nicht abhanden kommen -lassen und trug sein Los mit heiterer Zufriedenheit.</p> - -<p>„Sie müssen halt fürlieb nehmen,“ sagte er zu Fritz. -„Was Extra’s ist’s nicht. Wir machen eben unsere Schrittlein -und essen unsere Schnittlein, so gut wir können. -Langen Sie zu, wenn’s Ihnen schmeckt, oder hören Sie -auf, wenn Sie genug haben. Immer tüchtig! Tüchtig! -Wie man sich zum Essen hat, so hat man sich auch zur -Arbeit. Schaun Sie unsern Christoph an,“ — er deutete -mit dem Kinn zu einem der Rutenbinder hinüber — „wie -schön faul der einführt. Der war auch in der Stadt im -Gymnasium, er hat studiert bis zum Hals, in den Kopf -ist nichts hineingegangen.“</p> - -<p>Der Christoph ließ ein unwilliges Grunzen hören, aß -aber unentwegt gemächlich weiter.</p> - -<p>„Da schaut den an!“ fuhr der Vater fort. „Der ist -gar ein Philosoph. Recht hast, Toffl, schweig und näh’ -dich an und denk: Wenn man auf alle Hund’ werfen -wollt’, die einen anbellen, müßt’ man viel Steine aufheben. -Ob du ein Studierter bist oder nicht, ist egal. -Unser Herrgott verläßt keinen Deutschen, wenn er nur -ein wenig Böhmisch kann!“ Und er lachte über den Witz, -daß er mit dem Essen innehalten mußte.</p> - -<p>Viel zu rasch nahte für Hellwig die Stunde des Heimwegs, -wollte er die Mutter nicht mit dem Anzünden des -Christbaums warten lassen. Er gab allen der Reihe nach -die Hand und mußte versprechen, bald wiederzukommen. -Otto begleitete ihn ein Stück und brachte jetzt das Gespräch -natürlich zuerst auf die Vorkommnisse in der griechischen -Stunde. Fritz war indes nicht in der Stimmung, darüber -zu reden. Nur als Pichler sagte: „Du hast’s dem hustenden -Schleicher gut gegeben, das war großartig!“, wehrte er -kurz ab, mit gefurchter Stirn: „Laß mich in Ruh’!“ -Aber er blieb ganz kalt dabei. Wie in eine weite Ferne -gerückt kam ihm das Ereignis vor. Denn dazwischen war -die Auferstehung der Liebe und der erkennende Blick in -unschuldige Kinderaugen.</p> - -<p>Otto suchte nunmehr seine neuesten Schlager an den -Mann zu bringen, die Ausbeute einer flüchtigen Beschäftigung -mit Stirners Hauptwerk. Doch auch damit weckte -er heute keinen Widerhall. Fritz hörte nur mit halbem -Ohr hin, und Pichler sah seine geistreichsten Paradoxa -wirkungslos verpuffen. Da verlor er die Lust zur Fortsetzung -des Feuerwerks und kehrte um.</p> - -<p>Fritz aber bog jetzt von der Straße ab und schritt weglos -in das stille, klare Winterland hinein. Weiß, weich -und schimmernd breitete sich der Schnee, ein stolzer Fürstenmantel -für die Berge, eine warme Schlafdecke für die -müden Fluren, machte den Schritt lautlos, das Auge hell -und freundlich den Tod, der auf kahlen Ästen mit vergessenen -welken Blättern spielte und in verlassenen Vogelnestern -kauerte. Und vor der weiten, toten Einsamkeit -war der Himmel erschauernd hoch hinauf zurückgewichen. -Vergeblich strebte die Sonne den kalten Leib der Erde in -ihre Arme zu nehmen wie damals im Frühling. Kaum, -daß sie den fühllosen noch streicheln und mit ein paar -funkelnden Edelsteinen schmücken konnte.</p> - -<p>Fühllos und tot?</p> - -<p>Wie viele mochten jetzt, im gleichen Augenblick, gerade -so wie der hagere Junge, mit wachen Sinnen und heißem -Herzen über öde Flächen wandern und durch Frost und -Eis und Winterstarrheit unbewußt dem Endzweck ihres -kurzen Daseins entgegengetrieben werden, der da ist: Träger, -Übertrager des Lebens zu sein. Liebe nennen sie’s -und sind glücklich dabei. Glücklich wie irrfahrende Schiffer, -die endlich Land gefunden. Land: das heißt fester -Boden, Herd, Weib, Kind und — ein Fleckchen zum Grab. -Was sonst noch drum und dran hängt: Religion, Gemeinwohl, -Kunst, Kultur, ist gute Zier und erfreuendes Spiel, -nicht mehr. Und über die Grube des bewunderten Künstlers -und des geistesgewaltigen Denkers, des Länder einenden -Staatsmannes wie des schwärmerischen Religionsstifters -schreitet mit schweren Schuhen rücksichtslos und lachend -in derber, rotbackiger Daseinslust mit seinem Schatz der -junge Bauernbursch, ein Kaiser gegen die großen Toten, -nur weil er lebt.</p> - -<p>Und der jetzt weiter und weiter in die Einsamkeit lief, -Fritz Hellwig, der ernste Grübler und Sucher, hatte das -gleiche Empfinden. Wohl konnte er sich nicht erklären, was -das war und woher es kam. Aber es war da, hielt ihn -fest und stieß ihn vorwärts wie Sprungfedern. Er sah -den blauen Himmel und nickte ihm zu, er sah den saubern -Schnee der Erde und warf sich längelang hinein, wälzte -sich darin in toller, zweckloser Freude, sprang wieder auf -und rannte mit wilden Jubelschreien weiter, dachte an nichts -und wollte an nichts denken. Er fühlte nur, daß er lebte -und daß das Leben schön war, schön und reich und verheißend -— wie die Geschenke gütiger Frauen oder die -Augen junger Mädchen. Weder an Frau Wart noch an -Eva dachte er dabei, nur ganz umrißlos schwebte ihm die -Erscheinung eines wunderherrlichen Weibes vor mit blonden -Haaren, freiem Blick und beglückender Anmut im -Wesen und Bewegen.</p> - -<p>Da drang ein sanftes Blöken an sein Ohr und wie er -aus seinem Taumel erwachte, und wie er näher hinschaute, -bemerkte er mitten im Walde, durch unregelmäßige Zwischenräume -getrennt, mit Reisig zugedeckt und mit zartem -Heu und Nadelholzknospen als Köder darüber, drei tiefe -Gruben, die ein schlauer Wilderer den Jagdtieren gegraben -hatte. Und noch eine vierte war da, bei der war -das leichte Deckwerk eingebrochen. Mit weitem Schlunde -gähnte sie dunkel aus dem weißen Schnee herauf und -darinnen stand ein rötlichgraues Rehkalb, schrie und schlug -mit den Vorderbeinen immer wieder nach dem Rand der -Grube. Aber es erreichte ihn nicht, zitterte und fürchtete -sich sehr.</p> - -<p>Fritz legte sich platt auf die Erde, griff das Viehlein -behutsam mit flachen Händen beiderseits der Brust und -hob das zappelnde heraus. Jetzt war es auf ebenem Grund -und sollte davonlaufen. Aber es tat nur kurze Sprünge, -humpelte unbehilflich und zog den einen Fuß hoch. Nun -sah er, daß es dort einen offenen Schaden hatte vom -Sturz in die Falle, vielleicht auch einen Sehnenriß oder -Bruch. Da nahm er das ganz junge, magere Geschöpf -vom Boden und trug’s auf seinen Armen zum Forsthaus -an der Straße. Und wie er so dahinschritt unter den stillen -runden Kiefernkronen, wußte er auch, was er damit tun -wollte.</p> - -<p>Er sprach mit dem Förster, forderte und erhielt das -Tierchen um ein billiges Geld. Denn es war nicht mehr -waldtüchtig und für den Markt noch zu dürftig an Fleisch -und Fell. Nach geschlossenem Handel strich der Weidmann -eine Salbe auf die wunde Stelle und legte einen Leinenstreifen -darüber, die Försterin aber tat noch ein übriges, -nahm das rote Bändlein aus den Locken ihrer Siebenjährigen -und knüpfte es dem Tier um den Hals.</p> - -<p>Mittlerweile war die Sonne untergegangen. Aber der -Schnee leuchtete, und alle Gegenstände waren nahe gerückt -und standen in einer ruhevollen Halbhelle wie Wächter -vor einem schönen Geheimnis. Über den Saum des -Horizonts kam ein großer Stern herauf, strahlte und -winkte der Erde: ‚Komm zu mir, ich bin deiner Rätsel -Lösung‘. Doch die Erde, stolz, leuchtend in reiner Klarheit, -winkte zurück: ‚Komm du und erkenn’ in meinem -Spiegel deines Wesens Art‘.</p> - -<p>Mit seiner atmenden Last ging Fritz rasch vorwärts. -Niemand begegnete ihm. Von den Dörfern, die rechts -und links der Straße bis zu den Bergen hinüber allenthalben -in den Fluren verstreut lagen, blinkte gelber Lichtschein -aus jedem Fenster. Alle Menschen waren schon -daheim und rüsteten sich für die Ankunft des Herrn.</p> - -<p>Fast ohne Biegung lief die Straße nunmehr, von hohen -Pappeln begleitet, eine sachte Lehne hinauf, und da sie -sich oben gleich wieder abwärts senkte, schien es dem Hinanschreitenden, -als endigte sie gerade vor dem riesigen Himmelstor, -dessen dunkelblauer Stahl, mit silbernen Sternennägeln -beschlagen, den Raum von der Unendlichkeit schied.</p> - -<p>Breit, schwer, gewaltig ragte es senkrecht auf, für immerwährende -Zeiten geschmiedet und geeignet, dem brüllenden -Ansturm der Ewigkeiten von drüben wie dem Zuflattern -der bang fragenden Seelen von hüben unverrückbar und -gelassen standzuhalten. Und da schien es Hellwig, als sei -das heiße, pochende Leben irgendwo weit zurückgeblieben, -und vor der Majestät des Schweigens, das machtvoll aufgerichtet -ihm entgegen stand, fühlte er zum erstenmal -das Grauen vor der Einsamkeit, die ihn zu würgen begann, -während sie ihm sonst Freundin und Trösterin gewesen. -Mit schleppenden Schritten ging er weiter. Eine schnürende -Beklemmung engte ihm die Brust, und ihm war, als -hätte er allen Zusammenhang mit der Erde verloren.</p> - -<p>Endlich war er oben. Und der Himmel war mit einem -Male hoch und fern, und vor ihm breitete sich das weite -weiße Tal im Mondglanz wie in einem leise wallenden, -ganz durchsichtigen See, und die Lichter von Neuberg -grüßten freundlich. Ganz deutlich sah er den Kirchturm, -die feurige Scheibe der Rathausuhr, das alte hochgiebelige -Haus am Marktplatz. Ein Fenster schien dort besonders -hell. Und im Rahmen zwischen den geöffneten Flügeln -stand eine schlanke junge Gestalt in knappem Kleid mit -rotem Gürtelband, winkte — und winkte ihn ins Leben -zurück.</p> - -<p>Trugbild der Mondnacht.</p> - -<p>Aber jetzt gab’s kein Halten mehr. In langen Sätzen -sprang er den Abhang hinab. Das warme Geschöpf auf -seinen Armen regte sich unruhig, hob den Kopf und schrie -kläglich. Er kümmerte sich nicht darum, blickte nur nach -dem leuchtenden Fenster hinüber und glaubte in alle Herrlichkeiten -der Erde zu schauen. Dann erlosch das Schimmern, -Gassen schoben sich dazwischen, er hastete hindurch -und fand sich — er wußte nicht, wie er hingeraten — -mit seinem Rehkalb plötzlich im dämmrigen Flur des Kaufmannshauses.</p> - -<p>Das laute Dröhnen seiner Stiefel auf der Treppe ernüchterte -ihn. Er fuhr zusammen, blieb stehen, besann -sich. Das Tierchen blökte immerfort. Seine rauhe Stimme -füllte hallend die gewölbten Gänge. Erschrocken legte er -ihm die Hand auf die Schnauze und wollte zurück. Das -ging jedoch nicht mehr. Denn das Weib des Hausdieners -stand, durch das Geschrei herausgelockt, bereits unten auf -der Stiege.</p> - -<p>„Gehen Sie nur hinauf, Herr Hellwig,“ sagte sie, als -sie ihn erkannte. „Die Herrschaften sind alle zu Haus.“ -Da mußte er vorwärts.</p> - -<p>Das Rehlein spektakelte unaufhörlich. Als er bereits -im ersten Stock war, fiel ihm ein, daß er ja sein lungentüchtiges -Angebinde beim Auflader abgeben könnte. Das -war wie eine Erlösung. Aber es mußte beim Vorsatz -bleiben. Die Wohnungstür tat sich auf, neugierig steckte -die kleine Eva Wart den blonden Kopf heraus. Nun durchfuhr -es ihn wie den Soldaten der Befehl. Auf gestrafften -Beinen stand er kerzengerade und hielt den Nacken steif. -Unter den gefalteten Brauen blickten die Augen wieder -feindselig auf das Mädchen, von dem er sich noch vor -kurzem im Geiste die Pforten des Lebens hatte öffnen -lassen.</p> - -<p>Das Rehkalb blökte noch immer.</p> - -<p>Eva war nicht weniger rot als Hellwig. Kleinlaut schob -sie sich durch den Türspalt, hatte die Wimpern gesenkt -und spielte mit dem Ende ihres dicken Zopfs, der sich über -ihre Schultern nach vorn verirrt hatte. Keine Spur mehr -von Übermut und Reschheit, wie sie sie vor ein paar Tagen -im Dachzimmer gezeigt. Die Ermahnungen der Mutter -machten sie schuldbewußt und befangen.</p> - -<p>Fritz raffte sich endlich auf, verbeugte sich und sagte: -„Guten Abend.“</p> - -<p>„Guten Abend,“ kam ebenso kurz ein Gelispel zurück. -Aber hinter den niedergeschlagenen Augendeckeln begannen -die losen Geisterchen schon wieder zu rumoren. Und vom -rechten glitt sogar eines zum Mundwinkel hinab, huschte -über die geschürzten Lippen und war im Nu hinter der -linken Augenklappe verschwunden. Dort lachte es fröhlich -weiter. Und das Rehkalb sorgte, daß keine Stille eintrat.</p> - -<p>Nach einer Weile fing Fritz von neuem an: „Ich — -danke — für die Bücher.“</p> - -<p>Da hob sie die Stirn. Und aus ihren Augen sprang -ihm der ganze Schwarm der lustigen Kobolde entgegen, -daß er ordentlich geblendet zurückfuhr.</p> - -<p>„Hat’s Ihnen Freude gemacht?“ forschte sie.</p> - -<p>Er überhörte die Frage, sprach schnell und unsicher -weiter: „Da bring’ ich Ihnen was ... wenn Sie’s halt -mögen. Sonst schaff’ ich’s wieder fort.“</p> - -<p>Ihr Gesicht strahlte. „Mein?“ fragte sie zweifelnd, -kam näher und strich mit den Fingerspitzen vorsichtig über -das weiche Fell. „Wie lieb und hübsch.“</p> - -<p>Er schaute auf ihre goldfarbenen Locken, die sich dicht -vor seinen Augen kräuselten und tat in fluchtartiger Eile -einen Schritt zurück.</p> - -<p>„Passen Sie auf!“ warnte er dabei. „Es hat ein wehes -Haxl!“ Doch als er ihre bestürzte Miene gewahrte, beruhigte -er gleich: „Es hat nicht viel auf sich. In ein -paar Tagen ist’s gut. Wollen Sie’s?“</p> - -<p>Sie bejahte wortlos mit wiederholten heftigen Kopfbewegungen.</p> - -<p>„Dann lass’ ich’s also hier!“ sagte er, froh über die -Erledigung der schwierigen Angelegenheit und setzte das -Tierlein behutsam auf den Fußboden. Zitternd stand es -da und tat sehr scheu.</p> - -<p>„Geben Sie ihm bald zu saufen und zu fressen!“ riet -er noch. Und Eva ganz ängstlich darauf: „Mein Gott, -was denn? Ich hab’ ja nichts!“</p> - -<p>„Im Stall unten ist Heu genug für hundert solche -Vieher!“ belehrte er sie und drängte das Reh in den Vorraum -der Wohnung. Dann wandte er sich zum Gehen. -Aber die Kleine hatte noch etwas auf dem Herzen. Unschlüssig -stand sie, hielt die Klinke in der Hand und fühlte -sich gar nicht behaglich, zumal das Rehkalb immer von -hinten gegen ihre Beine stieß und hinauswollte. Doch -sie nahm allen ihren Mut zusammen. „Herr Hellwig!“ -rief sie schüchtern. Und als er sich umdrehte, murmelte -sie mit fliegendem Atem: „Nicht wahr, Sie ärgern sich -nicht mehr auf mich?“</p> - -<p>„Weshalb sollt’ ich denn?“ kam ein Knurren zurück.</p> - -<p>Bittend schaute sie ihn an. „Gehn Sie, Sie wissen’s -ganz gut ... von neulich halt ...“</p> - -<p>„Nein, Fräulein ... Eva!“ Gewaltsam mußte er sich -ihren Namen aus der Kehle zwingen. „Gute Nacht!“</p> - -<p>Und er beeilte sich, über die Treppe hinunterzukommen, -während sie, wieder ganz fröhlich, hinterher rief: „Sie -haben schon recht gehabt mit dem Gansl!“</p> - -<p>Dann fiel die Tür krachend ins Schloß und legte sich -plump und klotzig vor ein helles Mädchenlachen.</p> - -<p>Unten streckte Fritz beide Arme mit kräftigen Stößen -ein paarmal seitwärts und vorwärts, denn sie schmerzten -ihn jetzt doch, weil er ja die, wenn auch leichte Bürde fast -zwei Stunden ohne Unterbrechung geschleppt hatte. Dann -schlenderte er langsam seiner Behausung zu in einer sonderbar -weichen, träumerischen Stimmung. Aber er freute -sich darüber und freute sich auf die Stunden, die kommen -würden und begehrte die Zeit vorwärts zu schieben, als -hätte er etwas recht Fröhliches in ganz naher Frist zu -erwarten. Und einen nach allen Windrichtungen zerflatternden -Drang fühlte er, zu irgendeiner besonderen Tat, -die stark oder gut sein sollte und jedenfalls so, daß sie -vor den blauen Augen bestehen könnte, deren strahlenden -Schein er heimlich im Herzen wie in einer Schatzkammer -trug.</p> - -<p>Aus einzelnen Fenstern schimmerten schon die Christbaumkerzen, -als er mit heiterer Miene noch einmal in das -entlegenste Gewinkel der Vorstadt hinausging, wo als -vorgeschobener Posten ein Völkchen von Straßenkehrern, -Bettlern und herabgekommenen Handwerksleuten mit vielen -Kindern und wenig Brot in einer Reihe armseliger Hütten -herbergte. Dort öffnete er auf gut Glück eine der Türen, -die geradeswegs in die Stube führte, warf seine Börse -hinein und lief rasch weg, indes hinter ihm das wüste -Gekeif einer harten Weiberstimme unvermittelt in den -schrillen Ruf grenzenloser Überraschung umschlug. In jener -Börse aber hatte er schon seit Jahren von seinem Taschengeldchen -Kreuzer zu Kreuzer gespart, um nach der Reifeprüfung -eine Reise in die Alpen unternehmen zu können. -Doch tat ihm das Aufgeben einer lang genährten Hoffnung -heute gar nicht leid. Froh war er darüber, und da -das Opfer uneingestandenermaßen der kleinen Eva Wart -gegolten, fühlte er sich jetzt wie durch ein Band geheimen -Einverständnisses mit ihr verbunden, obwohl sie gar nichts -davon wußte.</p> - -<p>Seine Mutter aber hatte ihn noch nie so sanft, zugänglich -und herzlich gesehen wie an diesem Abend, so daß auch -für sie ein leidlich vergnügtes Weihnachtsfest abfiel. Sie -bedachte ihren Jungen mit allerlei Dingen des täglichen -Bedarfs, mit Hemden, Taschentüchern, Socken und Kragen, -erging sich eine Stunde lang in der beschaulich-rührseligen -Betrachtung einstiger, gemeinsam mit dem Gatten -verlebter Weihnachtsabende und suchte dann ihre Schlafstelle.</p> - -<p>Fritz dagegen begab sich, als die Glocken zur Mette -läuteten, noch einmal auf die Straße, wo von allen Seiten -die Frommen heranzogen, um beim Gottesdienst der Geburt -des Erlösers dankbar zu gedenken. Trotz der mondhellen -Nacht trugen viele nach alter Gewohnheit ihre brennenden -Laternen mit sich, und auch von den Hügellehnen -herab zu den Dorfkirchen bewegten sich rötlichgelbe, schwankende -Lichter, eines hinter dem andern, wie die Glieder -großer Feuerwürmer.</p> - -<p>Unstet strich Hellwig durch die Gassen und spähte den -Wallern ins Gesicht. Zwischen ernsten Greisen, würdigen -Matronen und verschlafenen Hausfrauen schritten blutjunge -Mädchen mit lebenslustigen Augen, die unter großen -Umschlagtüchern, Kapuzen oder leichten Seidenschals verstohlen -nach den Jünglingen blickten. Insgeheim hoffte -Fritz auch Eva in der Menge zu sehen. Aber sie kam nicht. -Und als er sich scheu wie ein Dieb in die Nähe des Marktplatzes -wagte, da lag das Haus der Kaufmannsfamilie -schwarz und finster ganz im Schatten, und hinter den -Vorhängen waren alle Lichter verlöscht. Nun wurde er -kühner, setzte sich auf den Rand des Brunnens, der von -einer uralten steinernen Rolandfigur bewacht, in der Mitte -des Platzes aufgestellt war, und während das Wasser -hinter seinem Rücken klingend in das Becken fiel, starrte -er zu den dunklen Fenstern empor, und in seiner verwunderten -Seele begann das Keimen und Wachsen einer -zaghaften Sehnsucht, eines innigen Glücksgefühles, gleich -dem Drängen und Treiben in blattlosen Bäumen zur Vorfrühlingszeit. -Noch wissen sie nicht, was da sich regt und -ihre Rinde dehnt, — ahnungsvoll stehen sie und warten -und ängstigen sich wohl auch, bis in einer gesegneten -Stunde aus allen Knospen grüne Blätter, weiße Blüten -lachend der Sonne in die Arme springen. So träumte -Fritz Hellwig unter einem hohen, frostklaren Sternenhimmel -seiner ersten, keuschen, seligtörichten Jünglingsliebe -entgegen. —</p> - -<p>Als er am nächsten Morgen erwachte, schämte er sich -zwar ein wenig seines Treibens, aber die schwärmerische -Empfindung war geblieben. Doch ging er während der -ganzen Ferienwoche nicht ein einziges Mal zu Heinz, sondern -trieb sich wie verloren ganz allein herum, lief alle -seine Lieblingsplätze ab und freute sich über alles mögliche: -auf den Sommer und die Erikablüte, das Baden im -Fluß und das Schwämmesuchen in den Wäldern, auf -das Ende der Gymnasialstudien und auf das Leben in -der Hauptstadt, wo er im Herbst die Hochschule beziehen -würde.</p> - -<div class="section"> -<h3>9.</h3> -</div> - -<p>Nach den Feiertagen wurde Fritz in die Kanzlei des -Direktors gerufen, und der hielt ihm in scharfer Weise -vor und sagte ihm auf den Kopf zu, er, Friedrich Hellwig, -sei an dem und dem Tage, zu der und der Stunde -in dem und dem Gasthaus beim Billardspielen gesehen -worden. Das war eine schwere Anklage, denn der Wirtschaftsbesuch -war den Studenten streng untersagt.</p> - -<p>„Das ist eine Lüge!“ rief Fritz ungestüm.</p> - -<p>Der Direktor aber entgegnete, er solle sich mit seinen -Worten in acht nehmen. Ausflüchte werden da nichts helfen, -denn er sei mit vollster Bestimmtheit erkannt worden. -Übrigens müsse er sich auch schon deswegen an den Vorfall -erinnern, weil er sich beim Erscheinen des Gewährsmannes -— es sei einer der Herren Professoren gewesen -— unterm Billard versteckt habe. „Fügen Sie also,“ -schloß der Schulmann, „zu dieser Feigheit nicht noch eine, -sondern legen Sie ein mannhaftes Geständnis ab!“</p> - -<p>„Herr Direktor,“ antwortete Fritz mühsam, „ich bin -kein Feigling. Hätt’ ich’s getan, so würde ich’s auch sagen. -Aber es ist nicht wahr! Die Anzeige ist Wort für Wort -erlogen! Stellen Sie mich dem Klatscher gegenüber! Er -soll’s mir ins Gesicht sagen, wenn er sich traut!“</p> - -<p>Darauf erwiderte der Direktor mit seiner schrillen, metallenen -Stimme, und bei jedem nachdrücklichen Wort -zuckte der breite Vollbart, stachen die kalten Augen gegen -den Verwegenen. „Vor allem,“ sagte er, „muß ich Ihre -Ausdrucksweise auf das schärfste rügen. Die Strafe hierfür -wird nicht ausbleiben, verlassen Sie sich darauf! Im -übrigen werden wir mit Ihrem unverschämten Leugnen -sofort fertig sein! — Ich bitte, Herr Kollega!“</p> - -<p>Er öffnete die Tür zu seinem Sprechzimmer, und heraus -trat hüstelnd und spuckend Professor Hermann.</p> - -<p>„Sie wissen, um was es sich handelt, Herr Kollega? -Der Schüler hat ja laut genug gesprochen.“</p> - -<p>„Verehrtester Herr Direktor,“ entgegnete Hermann, -„verehrtester Herr Direktor, ich kann nur wiederholen, -was ich Ihnen bereits mitgeteilt habe. Der Oktavaner -Hellwig hat mir gegenüber in der gröblichsten Weise die -Achtung verletzt, jene Achtung, die er seinen Lehrern und -Vorgesetzten schuldet. Dies hat mich veranlaßt, seinem -Treiben außerhalb der Schule ein wenig nachzugehen. -Denn wenn ein eifriger und fleißiger Schüler in den -höheren Klassen plötzlich versagt und sein Benehmen auffällig -ändert, ist in neunundneunzig von hundert Fällen -das Wirtshaus schuld. Diese Ansicht des hochwürdigen -Paters Romanus hat sich noch immer als richtig erwiesen. -Nun besteht da in der Vorstadt ein kleines Gasthaus, wo -dem Vernehmen nach fast täglich Studenten zusammenkommen -sollen, weil es entlegen, billig und mit weiblicher -Bedienung versehen ist. Mit weiblicher Bedienung! In -dieser Kneipe habe ich den Schüler Hellwig gesehen, der -sich bei meinem Eintritt hinter das Billard geduckt hat. -Leider habe ich ihn nicht zur Rede stellen können, weil -meine Augengläser in der Wärme angelaufen sind, und -als ich sie geputzt hatte, war er offenbar durch einen rückwärtigen -Ausgang verschwunden.“</p> - -<p>So redete der Professor, und wenn ihm jemand erwidert -hätte, daß Spitzeltum und Angeberei von anständigen -Leuten zu den verächtlichsten Charaktereigenschaften -gerechnet werden, hätte er gewiß eifrig zugestimmt und -nur ganz verwundert gefragt, was diese Bemerkung denn -hier zu tun habe. Denn er fühlte sich in der schleimigen -Niedrigkeit seines Wesens über jeden Tadel erhaben und -hatte noch niemals gezweifelt, daß eine seiner Handlungen -etwas anderes als vollkommen sein könnte.</p> - -<p>Fritz war einfach fassungslos.</p> - -<p>„Es muß ein Irrtum sein!“ Der leise Ton seiner -Stimme machte keinen guten Eindruck.</p> - -<p>„Geben Sie das Leugnen auf!“ riet der Direktor. „Sie -machen damit Ihre Sache nur schlimmer!“</p> - -<p>Nun wurde der ehrliche Junge wild. „Ich war aber -nicht dort!“ rief er ungeduldig. „Kenne die Spelunke -gar nicht! Herr Professor verwechseln mich vielleicht mit -jemandem andern!“</p> - -<p>Freimütig und Bestätigung heischend, oder wie die beiden -Pädagogen feststellten, frech und verstockt, blickte er -von einem zum andern. Da fuhr Professor Hermann auf -ihn los: „Sie kecker Bursch! Also ich bin ein Lügner? -Was? Natürlich! Verwechselt hab’ ich Sie! Einen Doppelgänger -haben Sie! — Zu blöd! — Verehrtester Herr Direktor, -wie ich schon sagte, der Schüler ist ein Schandfleck -für die Anstalt! Ein Schandfleck!“</p> - -<p>Gewaltsam suchte sich Fritz zu beherrschen. Aber es -ging nicht. „Sie haben mir schon einmal unrecht getan!“ -keuchte er in zuckendem Zorn. „Ohne jeden Anlaß, nur -weil Sie mir aufsässig sind! Das ist gemein! Das ist -schuftig!“</p> - -<p>Er spie dem Professor vor die Füße, blieb mit gespannten -Muskeln noch eine Minute hoch aufgerichtet stehen -und wartete. Da jedoch die zwei Schulmeister vor der -ungeheuerlichen Tat stumm wie Steinbilder standen, schritt -er traurig durch die Tür über die Stiege hinab ins Freie -und ließ, je weiter er ging, das eben noch stolz getragene -Haupt immer tiefer sinken.</p> - -<p>Infolge dieser Begebenheit sah Romanus früher noch, -als er gedacht, seinen Plan verwirklicht, war die Entfernung -Hellwigs, des räudigen Schafes, das eine beständige -Gefahr für die anderen bedeutete, vom Gymnasium -unvermeidlich geworden. Der Pater empfand eine starke -Befriedigung darüber. Nur daß sein Name in der leidigen -Affäre nicht ganz verschwiegen geblieben, trübte ihm die -Freude. Denn er wollte ganz rein dastehen. Nicht der -leiseste Schatten eines Verdachtes durfte auf ihn fallen, -daß er auch nur mittelbar beigetragen hätte, wenn der -einzige Sohn einer bedürftigen Witwe kurz vor der Reifeprüfung -so hart gemaßregelt wurde.</p> - -<p>Und wie nun in einer eigens einberufenen Sitzung Hellwigs -Ausschließung von allen Mittelschulen des Reiches -beim Landesschulrat beantragt werden sollte und als alle -Lehrer einig waren, daß für den unerhörten Frevel diese -strengste Strafe eigentlich noch nicht streng genug sei, da -erhob sich plötzlich der Religionsprofessor und trat aufs -wärmste für den Sohn der Witwe ein. Er konnte das -beruhigt tun. Am Neuberger Gymnasium wenigstens -konnte dieser auf keinen Fall geduldet, konnte er nicht noch -weiterhin von einem Lehrer unterrichtet werden, dem er -Gemeinheit und Schufterei vorgeworfen.</p> - -<p>Professor Hermann aber war tatsächlich im guten Glauben -gewesen. Wie jemand, der einen Bekannten zu treffen -hofft, im Menschengewühl bald diesen, bald jenen Fremden -für den Gesuchten hält, ihm nacheilt und erst in -nächster Nähe den Irrtum erkennt, — so hatte auch er -sich vorgetäuscht, daß er Hellwig wirklich gefunden habe, -weil er ihn finden wollte. Das wußte Romanus und -schonungsvoll stach er dem Professor den Star, legte dar -und stellte unter Beweis, daß der Beschuldigte an dem -bewußten Tage tatsächlich nicht in jener Kneipe gewesen, -kurz, trieb den verlegen hüstelnden Angeber so in die -Enge, daß er schließlich notgedrungen die Möglichkeit eines -Irrtums zugeben mußte, worauf ihn der Pater eines -solchen in unwiderleglicher Weise überführte.</p> - -<p>Die Stimmung unter den Professoren schlug nun zwar -zugunsten des Jünglings um, aber die gröblich beleidigte -Autorität forderte Sühne. Der Antrag an die Oberbehörde -wurde auf ‚lokale Ausschließung‘ eingeschränkt.</p> - -<p>Noch im Jänner traf die Genehmigung ein, und Hellwig -erhielt ein Abgangszeugnis, in welchem das sittliche Verhalten -als ‚nicht entsprechend‘ bezeichnet und auf der Rückseite -der Vermerk eingetragen war, daß gegen den Schüler -wegen ‚Beschimpfung und Bedrohung eines Lehrers, fortgesetzt -frechen Benehmens, Ungehorsams und Widersetzlichkeit‘ -die lokale Ausschließung vom k. k. Staatsgymnasium -in Neuberg verfügt worden sei.</p> - -<div class="section"> -<h3>10.</h3> -</div> - -<p>Wenn man sieben Jahre ununterbrochen in derselben -Schule von denselben Lehrern unterrichtet wurde, ist es -gewiß schwer, sich in den Unterrichtsplan einer anderen -Anstalt hineinzufinden, mit der Art und den Eigenheiten -anderer Professoren sich vertraut zu machen. Fritz tat -mehr. Seine Mutter hatte im Laufe der Jahre unter vielfachen -Entbehrungen ein paar Gulden zusammengebracht, -um ihn für den Anfang der Hochschulzeit über Wasser -halten zu können. Die wollte sie jetzt dranwenden, wollte -ihn in der nächsten Gymnasialstadt weiterstudieren lassen. -Aber er ließ sich dort nur als Privatschüler einschreiben, -blieb in Neuberg und lernte ohne Lehrer drauflos. Es -galt jetzt nicht nur den umfangreichen Stoff für die Reifeprüfung, -sondern auch den des letzten Halbjahres ohne -Leitung zu bewältigen. Da blieb alles andere links liegen: -Darwin, Nietzsche, Marx, die Spaziergänge und Zusammenkünfte -mit den Freunden.</p> - -<p>Erst fertig werden! Und er hockte über den Schulbüchern -wie ein Geizhals bei seinen Schätzen.</p> - -<p>Da fiel, es war im April, seine Mutter in eine Krankheit. -Erst Influenza. Dann Lungenentzündung. Und dann -erklärte Doktor Kreuzinger in seiner behutsamen Art dem -verzweifelten Jungen, er müsse sich auf das Schlimmste -gefaßt machen.</p> - -<p>Das durfte nicht sein. Sie mußte leben. Noch viele -Jahre leben. Durfte nicht von ihm gehen, bevor er nicht -wenigstens ein Tausendstel abgetragen hatte von seiner -drückend großen Schuld. Was war denn ihr Leben gewesen? -Unter Darben und Kümmernissen ein stetes Plagen -und Sorgen für ihn. Und die Zeit, wann er das -ändern, die ganze Last des Lebens auf seine Schultern -nehmen konnte, war noch so weit.</p> - -<p>„Herr Doktor, es <em class="gesperrt">kann</em> nicht sein!“</p> - -<p>Aber es war doch. Eines Nachmittags. Sie hatte die -Sterbesakramente empfangen. Segnend war der Priester -gegangen. Der alte Arzt mit dem weich fließenden Silberbart -saß neben ihrem Bett. Sie lag mit geschlossenen -Lidern bleich und teilnahmslos da. Glockenklänge kamen -von draußen. Sie läuteten zu irgendeinem Begräbnis. -Wie fast jeden Nachmittag. Da regte sich die Kranke, -öffnete die Augen, rief ihren Sohn zu sich. Auf unhörbaren -Sohlen zog sich der Arzt in eine Ecke zurück. Fritz -trat an ihr Bett. Sie streckte die Hände aus, zog ihn zu -sich nieder, nahe, ganz nahe. Und sah ihm aufmerksam -wie prüfend ins Gesicht. Und die Sorge um das Seelenheil -ihres Kindes stieg noch einmal in ihr auf.</p> - -<p>„Versprich mir,“ — flüsterte sie — „versprich mir, -Fritzl, daß du immer an unsern Herrgott glauben wirst.“</p> - -<p>Er aber schwieg. In gedankenloser Dumpfheit schaute -er in das Gesicht, das ihm so vertraut war, und wunderte -sich, daß er noch niemals früher bemerkt hatte, wie kennzeichnend -und bestimmt ausgeprägt eigentlich die Falte -war, die sich von dem papierdünnen Nasenflügel um den -Mundwinkel bis zum Kinn hinab fortsetzte.</p> - -<p>Und abermals, nur kaum wie ein leichter Hauch: „Versprich -mir’s.“</p> - -<p>Die Worte wehten an ihm vorbei, erreichten ihn nicht.</p> - -<p>Er blickte auf die scharfe Linie um den Mund, sah, -wie sie zuckte, bald länger, bald kürzer wurde, und mühte -sich, ihr letztes Ende in der glanzlosen Haut des Kinns zu -entdecken.</p> - -<p>Und noch einmal, fast unhörbar, wie das Schweben -einer Flocke in unbewegter Luft:</p> - -<p>„Versprich ...“</p> - -<p>Wie tief die Furche wurde, wenn sich die Lippen bewegten. -Und wie fremd das aussah ...</p> - -<p>Da hoben sich die schmalen wachsbleichen Hände. War’s -zur Umarmung oder Abwehr? Er wußte es später nicht -mehr, wußte nur, daß sie sogleich wieder schwer mit -einem seltsam erschütternden, dumpfen Aufschlagen auf -die Bettdecke gefallen waren.</p> - -<p>Und dann war alles vorbei. Nur die Augen starrten -noch groß und weit geöffnet. Aber es war keine Angst -mehr darin und kein Flehen. Nichts. Und die Furche -war jetzt ganz starr, ganz tief, wie mit dem Messer in -gelbes Holz geschnitten.</p> - -<p>Der Arzt war rasch hinzugetreten. Tiefernst, mit ruhigen, -leisen Bewegungen tat er, was für ihn zu tun übrig blieb. -Er forschte nach dem Leben und fand keine Spuren mehr, -zog die Lider über die leeren Totenaugen und wandte sich -dann zu Fritz. Der stand mit schlaff hängenden Armen -und vorgeschobenem Kopf reglos. Da war etwas unter -ihm fortgeglitten. Etwas, das noch ganz kurz vorher geatmet -hatte — und sich geregt hatte — und Worte gesprochen -hatte — irgendwelche leise Worte, deren Nachhall -noch im Zimmer zitterte — so still war es ...</p> - -<p>Sacht legte ihm Doktor Kreuzinger den Arm um die -Schulter. „Sie ist hinüber.“</p> - -<p>Verständnislos stierte ihn Hellwig an. Kein Muskel -zuckte, hart lagen die Züge auf dem unbewegten Antlitz. -Langsam wand er sich aus dem Arm des Greises, und -ohne die Haltung zu ändern, steif, schwerfällig, schob er -sich aus dem Gemach.</p> - -<p>Ein warmer Regen war niedergegangen und verrauscht. -Ein harscher Wind schob dunkle Wolkenklumpen vor sich -her. Hinter ihm wurde blauer Himmel. Rund und blank -und frisch wie eine riesige, taubesprühte Knospe lag die -Erde im Arm des Frühlings. Lag und lachte, schrie, -jauchzte, jubelte dem starken Leben ein heiliges Ja entgegen. -Und die Blumen lachten es mit und die Bäche -rauschten es mit und vom Himmel die Höhen herunter -brüllte es mit das täppische Hünenkind, der Lenzsturm, -sprang wipfelauf, wipfelab und über die sprossenden Fluren -hin, tanzend, keuchend, stöhnend in unbändiger Kraft.</p> - -<p>Und: „Ja — leben — ja!“ brüllte er dem schwachen -Menschlein zu, dem hageren Jungen im dünnen Hausrock, -mit zerwirrten Haaren, der sich, mühsam wie der aufgescheuchte -Abendfalter im unerträglich grellen Licht des -Tages, zurechtzufinden suchte und mit seiner ersten großen -Trauer zur Erde hatte flüchten wollen. Aber die Erde -gab heute dem Leben ein Fest. Und die seinen Schmerz -hatte lindern sollen, peitschte ihn bis zur Verzweiflung -empor durch die wilde, machtvolle Freude, mit der neues -und immer neues Werden die starre Winterhaft zerbrach -und alle Grenzen überflutete. Leben rang sich siegreich -aus Leben, stürzte glühend in die werbende Umarmung -des Lebens, und des Lebens warmer Atem quoll aus -braunen Ackerschollen, dampfte aus feuchten Moosen, stieg -aus jungen Saaten und geöffneten Blumenkelchen über -Getier und grüne Wipfel himmelan wie schwerer berauschender -Opferduft.</p> - -<p>Wozu?</p> - -<p>Die seinem Herzen am nächsten gewesen, hatte ihren -Platz verlassen, und keine Lücke war geblieben. So — wie -nach dem Zerstäuben eines Tropfens die ungeheure Meerflut -gleichmäßig weiterrollt. Niemand fragte nach der Gestorbenen, -vermißte oder brauchte sie.</p> - -<p>Und rings jauchzte die kraftvolle Frühlingswelt. Aber -er konnte ihr nicht nahekommen. Ein Fremdes, Hassenswertes -drängte sich dazwischen, gegen das er vergebens -ankämpfte. Das machte ihn trostlos und verzweifelt. Ganz -leer war es in ihm. Und in den Kronen des Waldes sang -der Lenzsturm das Lied des Lebens. —</p> - -<p>Stunden verrannen. In seiner leichten Jacke begann ihn -zu frieren. Da wollte er umkehren, tat ein paar Schritte, -blieb wieder stehen und besann sich. Wohin nur? Und da -fiel ihm ein: Er mußte ja seine Mutter begraben. Nun -wich die steinstarre Ruhe aus seinem Gesicht. Die Mundwinkel -zuckten. Aber er konnte noch nicht weinen. —</p> - -<p>Als er nach Hause kam, war Frau Hedwig dort. Sie -hatte alles schon besorgt. Die Leichenfrau war dagewesen, -hatte die Tote gewaschen und in ihr Kleid getan. Mit -einem weißen Linnen zugedeckt, lag sie jetzt in der Stube -auf dem Leichenbrett, zu Häupten zwei brennende Wachskerzen -und das schwarze Kruzifix aus dem Glasschrank, -zu Füßen ein Gebetbuch und eine Schere. Ein Becken -mit Weihwasser stand daneben und ein Wedel aus Kornähren -lag darüber. Ganz dem Herkommen gemäß war -sie aufgebahrt, und nichts war verabsäumt.</p> - -<p>Als Fritz Frau Hedwig in der Stube erblickte, wachte -die alte Abneigung wieder auf. Nur zögernd überschritt -er die Schwelle. Dann aber bemerkte er unwillkürlich -die kleinen Zeichen ihrer wohltuenden Obsorge: das geöffnete -Fenster, die abgestellte Uhr, das weiße Tuch vorm -Spiegel. Und im Bewußtsein seiner Verlassenheit konnte -er sich ihrer warmen Mütterlichkeit nicht mehr entwinden. -Er griff nach den wortlos gereichten Händen, hielt sie fest -und — drückte sie rauh aufschluchzend gegen die Augen. -Nun streichelte sie ihm die Wangen, die Stirn, das Haar. -Und dann lag sein Kopf auf ihrer Schulter, während er -sich umsonst mühte, der Tränen Meister zu werden, die -ihm jäh und heiß über die Lider sprangen.</p> - -<p>Lautlos weinte er so, kaum eine Minute lang und doch -lang genug, daß der versteinerte Schmerz in eine sanftere -Trauer sich löste.</p> - -<p>„Mutter!“ rief er leise. „Mutter!“ So ruft nachts -ein banges Kind nach ihrem Schutz.</p> - -<p>Und eine tiefe, weiche Frauenstimme sagte: „Still, -Fritz, still! Lassen Sie sie friedlich heimgehn.“</p> - -<p>Er schüttelte heftig den Kopf, ohne die Stirn von ihrer -Schulter zu heben, wo es sich so gut ruhte.</p> - -<p>„Hier war sie zu Haus ... und übermorgen ... tragen -sie mir sie fort!“</p> - -<p>„Nein, Fritz, sie tragen sie heim. In den Frieden. In -die Ruhe. In das sicherste Geborgensein. Eine Mutter -zur Mutter.“</p> - -<p>„Sie war die meine ... mir hat sie gehört!“</p> - -<p>„Ja, Fritz, Ihnen — aber auch der Erde. Schaun Sie, -Fritz, nur der Leib, die Form wird sich nur ändern, aber -ihr Zweck wird immer bleiben. Hier bei uns hat sie ihre -Bestimmung erfüllt, drum muß sie zu anderen, muß für -diese Keim und Nahrung, Wurzel und Mutterbrust sein. -Alles muß allen nützen. Das ist das Schöne, Trostreiche -auf Erden.“</p> - -<p>Da schaute er ihr lang wie suchend in die Augen und -sagte nichts mehr.</p> - -<p>Ihre Aufforderung, bei Heinz zu übernachten, schlug er -aus. Nun ging sie und ließ ihn mit der Verstorbenen allein.</p> - -<p>Es war bereits dunkel geworden. Die Wachslichter leuchteten -matt und füllten das Zimmer mit unstet flackerndem -Schein und zuckenden Schatten.</p> - -<p>Er trat zu der Toten und schlug das Laken zurück. Da -lag sie still und weiß in ihrem einstigen Brautkleid, und -der Körper, aus dem er selbst einst Wärme und Blut und -Leben gesogen hatte, war kalt und steif und wertlos geworden. -Er schauerte zusammen. Bis in die Knochen fror -ihn. Und ihm war, als erstürbe auch sein Leib, würde -bleischwer und seiner Seele fremd, die sich plötzlich nicht -mehr darin zu Haus fühlte und erschrocken umherschaute, -wie ein zur Nachtzeit angekommener Reisender im ungewohnten -Gastzimmer.</p> - -<p>Langsam breitete er das Tuch wieder über den Leichnam -und setzte sich an das offene Fenster, durch das die -starke, kühle Frühjahrsluft strich. Der Sturm hatte sich -gelegt. Es wurde Nacht. Lampe um Lampe erlosch in -den Häusern, ganz finster wurde es unter einem sternlosen -Himmel. Und zu Häupten der Toten zwischen den -schwelenden Lichtern hing unbeweglich der Kruzifixus.</p> - -<p>Da fiel ihm die letzte Bitte der Mutter wieder ein. -In raschem Aufwallen erhob er sich, nahm das Kreuz -und legte es vor sich auf das Fensterbrett. Der Kerzenschein -huschte über die Porzellanfigur, die weiß und schlank -auf dem dunklen Holz lag, die Arme weit gebreitet und -das Haupt mit der Dornenkrone zur Seite geneigt.</p> - -<p>Immerfort starrte er auf das Bildwerk.</p> - -<p>Und draußen lag die Erde wie ertrunken in der dickflüssigen -Dunkelheit, und die Atemzüge der schlafenden -Kreaturen kamen und gingen wie schwere, unhörbare, noch -dunklere Wellen, und rundum flutete die uferlose Stille -der Nacht.</p> - -<p>Und jäh durchzuckte es ihn: Wenn ... wenn doch ... -wenn es doch dort drüben was gäbe? Wer weiß es denn? -Wer kann behaupten oder leugnen — wenn sogar die -eigene Seele dem Körper fremd werden kann?</p> - -<p>In dumpfer Qual stöhnte er auf. Seine Finger legten -sich um das Kreuzholz, als wollten sie es zerbrechen, schüttelten -es, ungeduldig, leidenschaftlich, drohend: „Gib Antwort, -du!“</p> - -<p>Aber rings war Dunkel und Schweigen.</p> - -<div class="section"> -<h3>11.</h3> -</div> - -<p>Nach zwei Tagen war die Tote begraben, und die Notwendigkeit -der Beendigung seiner Gymnasialstudien war -für Hellwig eiserner als je. Über Zureden seines Freundes -hatte er endlich eingewilligt, war zu ihm übergesiedelt -und wohnte nun Wand an Wand neben Heinz in einer -noch kleineren Dachkammer.</p> - -<p>Niemand störte ihn hier. Sogar das Essen wurde ihm -hinaufgebracht. Und er wühlte sich ganz in diese Abgeschiedenheit -hinein, ging kaum ins Freie und lernte nur, -lernte, lernte.</p> - -<p>In den letzten Tagen des Mai unterzog er sich an dem -Gymnasium der benachbarten Stadt der Prüfung über -den Lehrstoff des zweiten Halbjahrs und bestand sie. Kurz -darauf legte er die schriftliche und endlich auch die mündliche -Reifeprüfung ab. Und da der Landesschulrat, der -dieses Schulexamen leitete, nicht an allen Mittelschulen -zu gleicher Zeit prüfen konnte, traf es sich, daß Hellwig -um volle drei Wochen früher für reif erklärt wurde als -seine Kollegen in Neuberg.</p> - -<p>Nun wollte er gleich nach Prag und sich auf eigene -Faust durchschlagen. Aber sie ließen ihn nicht fort. Auch -Vater Wart nicht, der zielbewußte Arbeit in jeder Form -achtete und seine Meinung über den großen Blonden mit -den Storchbeinen sehr zu dessen Gunsten geändert hatte.</p> - -<p>„Machen Sie keine Geschichten!“ sagte er ihm. „Jetzt -heißt’s erst tüchtig faulenzen! Den Schädel ausrauchen -lassen von der ewigen Lernerei!“</p> - -<p>„Ich darf Ihre Gastfreundschaft nicht mißbrauchen,“ -erwiderte Fritz. „Ich darf mich nicht länger von Ihnen -aushalten lassen!“</p> - -<p>Da polterte der Kaufmann los: „Jetzt das ist aber -schon mehr als blöd! Aushalten lassen! So was sagt man -überhaupt nicht!“ Dann überlegte er und fuhr fort: -„Übrigens, wenn Sie sich’s justament verdienen wollen -— der Bub’ von meiner Schwester ist bei mir in der Lehr’. -Wenn Sie ihm bis zum Oktober ein bissel Stenographie -und Französisch beibringen wollen, kann’s ihm nichts schaden -und mich soll’s freuen! Gilt’s?“</p> - -<p>Er streckte ihm die biedere Tatze hin, und Fritz schlug ein.</p> - -<p>Hier bewog ihn nicht zum letzten der Gedanke an Doktor -Kreuzinger. Dem greisen Gelehrten war jener Kampf -zwischen kindlicher Zärtlichkeit und Wahrheitsliebe nicht entgangen -und die geweckte Teilnahme hatte ihn veranlaßt, -den Jüngling zu einem Besuche aufzufordern. Gern war -Hellwig jetzt dieser Einladung gefolgt. Hatte ihm doch -Heinz schon viel von der Bücherei und den Sammlungen -des Großvaters berichtet. Seine hoch gespannten Erwartungen -wurden auch nicht getäuscht, wurden von dem, was -er dort vorfand und erlebte, noch übertroffen. Versteinerungen, -Abdrücke und Knochen vorsintflutlicher Geschöpfe -waren hier aufgespeichert, Mollusken, Krebse, Spongien -und Leptokardier jeglicher Form und Gattung in Gläsern, -Kasten und Wandschränken füllten zwei große Zimmer. -Das Wertvollste aber war die klare Art, mit welcher der -Doktor aus dem Äußerlichen den Kern herausschälte, die -Zusammenhänge bloßlegte und die vielfachen faserfeinen -Verästelungen auf ihre gemeinsame Wurzel zurückführte. -Mit prunklosen Worten, scheinbar stets bei der Sache und -doch über ihr, entwarf er dem begierig Lauschenden eine -Übersicht über die Entwicklungsgeschichte der Erde und -des Lebens und leitete ihn die Quellen der Erkenntnis -hinauf, soweit Menschensinne dorthin vordringen können.</p> - -<p>Dem ersten Besuch folgten andere, und bald war Hellwig -täglich um sechs Uhr früh in der stillen Gelehrtenwohnung. -Meist kam er allein, denn Heinz hatte sich -ganz auf die Sozialpolitik geworfen und war für nichts -anderes mehr zu haben. Für Fritz aber waren diese Morgenstunden, -da er an der Seite des verehrten Mannes -zuhörend und lernend durch den sommergrünen Garten -schritt, während der Sonnenschein silbern in den Baumkronen -spielte, das Schönste, das ihm das Leben bisher -gebracht hatte, gehörten überhaupt zu dem Kostbarsten, -das es ihm je zu bieten vermochte.</p> - -<p>Und eines Tages lernte er dort den Doktor Albert Kolben -kennen.</p> - -<p>Der war auch von den Pfahlbürgern Neubergs als ein -verlorenes Schaf erklärt worden, und sie hatten ihm, oder -eigentlich in seiner Abwesenheit, bei Bier, Kaffee und geselligen -Zusammenkünften hatten sie sein Verkommen so -lang vorausgesagt, bis er vor ein paar Monaten den Doktorgrad -erwarb. Und Reserveoffizier war er ebenfalls. -Da waren sie baff. Dann aber entrüsteten sie sich desto -mehr und fanden, der Kolben Albert hätte das nur getan, -um sie zu ärgern. Denn die genasführten Propheten empfanden -das Ausbleiben ihrer Vorhersagungen als persönliche -Beleidigung. Es war gewiß unverschämt vom Kolben -Albert. Aber er ließ sich eben überhaupt nichts vorschreiben, -sondern tat, was ihm beliebte und ließ bleiben, was -ihm nicht paßte. Das konnte er um so leichter, als er -nach seinen Eltern ein beträchtliches Vermögen nebst einem -Landgut besaß und von niemandem abhängig war. Übrigens -hatte er von je auf die Nachrede der Leute keinen Deut -gegeben, hatte im Gegenteil alles getan, um sie herauszufordern. -Als sechzehnjähriger Lateinschüler hielt er sich -ein Reitpferd und zwei große Hunde, als Achtzehnjähriger -soff er einmal sogar den Wart Nikl unter den Tisch, als -Zwanzigjähriger schnürte er sein Bündel und zog nach Wien. -Was er dort trieb, wußte man nicht. Es liefen jedoch die -abenteuerlichsten Gerüchte um. Daß er in der Schriftleitung -einer sozialdemokratischen oder anarchistischen Zeitung -tätig sei, in Volksversammlungen Brandreden halte -und fortwährend betrunken in den Schnapsschenken herumliege. -Da wurde er als Sechsundzwanzigjähriger Doktor -der Weltweisheit und tauchte wieder in Neuberg auf. Daß -es sich lediglich um einen kurzen Erholungsurlaub handelte, -wußten nur seine vertrautesten Freunde.</p> - -<p>Über eine so unklare Lebensführung mußten sich die -wackeren Spießer entrüsten. Sie entrüsteten sich, weil sie -aus ihm nicht klug werden konnten. Und sie wurden nicht -klug aus ihm, weil er sich nicht in den Kochtopf gucken -ließ, Zudringliche mit höflicher Überlegenheit abwehrte und -lüsterner Neugierde begegnete, indem er mit trockener Sachlichkeit -und größtem Ernst die ungeheuerlichsten Behauptungen -aufstellte, verfocht und begründete. So bekannte -er sich einmal gegenüber einem waschechten deutschen Volksgenossen, -der sein politisches Gewissen erforschen wollte, -zur demokratisch-alldeutsch-antisemitischen Anarchie und -spickte den unvorsichtigen Frager derart mit großen Worten -und fetten Phrasen, daß dieser ganz mürb wurde und -schließlich — etwas angeheitert war er auch schon — das -neue Programm als einzige Rettung des Bürgertums vor -der roten Gefahr begeistert zu preisen anhob. Nachträglich -wurde er von einsichtigeren Leuten aufgeklärt, daß er seiner -leichtgläubigen Beschränktheit einen tüchtigen Bären habe -aufbinden lassen, und der Chor der Entrüsteten war wieder -um eine ausgiebige Stimme verstärkt.</p> - -<p>Kolben ertrug die üble Nachrede, wie man das Konzert -der Frösche im Frühjahr erträgt und verriet mit keiner -Miene, wie sehr ihn das zwecklose Lärmen belustigte. Sein -rundliches, ganz glatt rasiertes Gesicht blieb immer gleichmäßig -ernst, und nur die besten Freunde errieten aus -einem fast unmerklichen Zwinkern im rechten Augenwinkel -seine heimliche Fröhlichkeit.</p> - -<p>Als Hellwig mit ihm zusammentraf, saß er, phlegmatisch -und scheinbar gelangweilt wie immer, auf der Gartenbank -unter dem breit schattenden Buchenbaum und grub -mit dem Spazierstock Strich neben Strich in den Kies, -während Doktor Kreuzinger von den Erfolgen des letzten -Ärztekongresses lebhaften Bericht erstattete, den er bei -Fritzens Ankunft unterbrach, um die Vorstellung zu besorgen.</p> - -<p>Ohne seine nachlässige Haltung zu ändern, hob Kolben -nur ein wenig die Stirn, faßte den Jüngling mit einem -raschen Blick und zeichnete nach einem kurzen Kopfnicken -schweigend weiter.</p> - -<p>Hellwig empfand das als Unhöflichkeit und Beleidigung. -Hitziger, als eben nötig war, sagte er:</p> - -<p>„Herr Doktor, es wird besser sein, wenn ich wieder -gehe. Der Herr scheint die Störung nicht zu wünschen!“</p> - -<p>Begütigend winkte der alte Gelehrte mit beiden Händen. -Bevor er jedoch etwas sagen konnte, war Kolben -schon gemächlich zur Seite gerückt und antwortete, fortwährend -eifrig weiterstrichelnd: „Was Ihnen nicht einfällt! -Setzen Sie sich nur her.“ Damit goß er aber Öl -in die Flamme.</p> - -<p>„Eine solche Behandlung brauche ich mir nicht gefallen -zu lassen!“ brauste Fritz auf. „Sparen Sie sich das für -Ihren Pferdeknecht!“</p> - -<p>Nun hob der andere den Kopf. Das glatte Kinn auf -den Stockknauf gelegt, schaute er dem Zornigen mit einem -erstaunten Blick in die Augen. „Was für ein Unterschied,“ -fragte er unerschüttert ruhig, „was für ein Unterschied -ist denn zwischen Ihnen und meinem Pferdeknecht?“</p> - -<p>Da sah ihn Hellwig noch ein paar Sekunden streitgewärtig -an. Dann senkte er beschämt die Augen. Und -jetzt stand Kolben auf, langsam, gemessen, mit der ihm -eigenen steifen Würde, trat neben ihn und sagte, immer -mit der gleichen kalten Nachlässigkeit: „Seien Sie nicht -so empfindlich. Guter Ton, feine Manieren — mit solchen -Albernheiten werden wir uns doch <em class="gesperrt">hier</em> nicht abgeben. -Kommen Sie. Und seien Sie versichert: Wer in den Frühstunden -bei unserm verehrten Doktor Gast sein darf, den -achte ich schon um dessentwillen. Allerdings, verbeugen -werde ich mich trotzdem nicht vor Ihnen.“</p> - -<p>Bei diesen Worten glitt etwas wie ein Lächeln über -seine Züge. Und da war nichts mehr von Phlegma oder -Langeweile darin. Geistvoll, klar und klug, erhielt dieses -gescheite Gesicht, das sonst hinter der angewöhnten Ruhe -wie eingefroren lag, durch die reife Verständigkeit seines -Lächelns etwas ungemein Gewinnendes und Anziehendes.</p> - -<p>Mit einem geschickt aufgegriffenen Thema verstand Doktor -Kreuzinger auch die letzten Reste der Mißstimmung -zu beseitigen und geriet über Kolbens Einwürfe gegen die -Gasträatheorie bald in ein schönes Feuer, wurde beredt -und ausführlich. In die faltigen Wangen hinter dem -silbrigen Bartgewelle stieg eine sachte Röte, und es dauerte -nicht lang, so sprach nur mehr er allein, indes die zwei -jüngeren aufmerksam zuhörten und sich in der warmen -Glut, die von dem prächtigen Greise ausströmte, seltsam -einander näher gerückt fühlten.</p> - -<p>Aber nicht immer war diese klare Ruhe bei Hellwig. -Noch war ein Großes, Lastendes da, mit dem er fertig -werden mußte. Seit jener bei der toten Mutter durchwachten -Nacht hatten ihn die Zweifel nicht mehr losgelassen. -Und jetzt, da ihn die Prüfungssorgen nicht mehr -ablenkten, standen sie wieder übermächtig auf. Und mit -ihnen der Vorwurf, daß er seiner Mutter das Sterben -schwer gemacht habe.</p> - -<p>Oft sprach er darüber mit Heinz.</p> - -<p>„Ich mußte ja, gelt, du? Es ging doch nicht anders? -Aber wenn, — Heinz, ich such’ und such’ — aber wenn ich -einmal draufkomm ... Nicht wahr, du, es ist nichts?“</p> - -<p>Und er trug zusammen, was er an Schriften über Religionssysteme -und Weltanschauungen auftreiben konnte. -An jedes Werk ging er mit Zittern und Zagen, daß er -darin vielleicht auf einen Beweis für das Dasein Gottes -stoßen könnte und auf die Bestätigung seines Unrechts -gegen die Tote. Aber er fand nichts. Der Kult der Azteken, -die ihrem Kriegsgott Huizilopochtli ‚Menschen opferten, um -glückliche Kriege zu führen und Kriege führten, um solche -Menschenopfer herzuschaffen‘, erschien ihm ebenso sinnlos -oder berechtigt, wie das papierne Gohei in den Sintotempeln -der Japaner, die Apisverehrung der Ägypter oder -die Heiligkeit des Hundes bei den Iraniern. Und weder -Avesta und Zend, noch Koran, Bibel, Luther und die ganze -Reihe der Denker von Spinoza bis Spencer vermochten -ihn der Wahrheit irgendwie näher zu bringen.</p> - -<div class="section"> -<h3>12.</h3> -</div> - -<p>Die Ferien vergingen im Flug. Hellwigs Abreise stand -in wenigen Tagen bevor. Als eine Art Abschiedsfeier -wurde ein Ausflug in die weitere Umgebung unternommen. -Auch Pichler wurde eingeladen, der die Reifeprüfung mit -Auszeichnung bestanden hatte.</p> - -<p>In tauiger Morgenfrühe schritt die Gesellschaft durch -das noch erhaltene alte Stadttor ins Freie. Voran Wart -Nikl mit seiner schönen Frau, hinter ihnen Eva zwischen -Kolben und Pichler. Doktor Kreuzinger mit Heinz und -Fritz machten den Beschluß.</p> - -<p>Durch die Herbstluft segelten die kleinen Spinnen in -ihren leichten Silberschiffchen, der Rauch der Erdäpfelfeuer -zog über die fahlen Fluren, und in den Stoppelfeldern -folgten die Reihen der Jagdliebhaber ihren lohfarbenen -Vorstehhunden.</p> - -<p>Manchmal blitzte ein Flintenlauf, rundete sich ein Rauchwölkchen, -knallte ein Schuß. Ein Hase überschlug sich -und schrie, ein Hund heulte auf, ein scharfes Befehlswort -verklang. Und wieder war es still, und lautlos glitten -die Silberschiffchen, schneller, immer schneller, als wollten -sie den Menschen entrinnen und ihrer Tücke gegen die -ehrlichen Kreaturen.</p> - -<p>An Evas Seite fühlte sich Pichler in seinem Fahrwasser. -Hier war er der Schwerenöter, wollte Eindruck machen, -zog alle Register seiner wortgewandten Liebenswürdigkeit. -Er war witzig, geistreich und gefühlvoll, warf Artigkeiten -und Schmeicheleien wie ein Gaukler schimmernde Glaskugeln -in die Luft und schwafelte und salbaderte in -einem fort.</p> - -<p>Eva ließ sich’s gefallen. Sie lachte über seine Mätzchen, -schaute ihn belustigt an und fand, daß es sich mit ihm ganz -gut plaudern ließ. Manchmal blieb sie auch stehen, wartete -auf den Großvater und fragte ihn nach dem Namen eines -verspäteten Schmetterlings oder eines klar in blauer Ferne -aufsteigenden Berges, tauschte neckende Worte mit Heinz -oder ermahnte Hellwig, der hellen Gotteswelt kein so -sauertöpfisches Gesicht zu schneiden. Ganz heiß und eifrig -war sie, hatte rote Backen und glänzende Augen und überließ -die jungen Glieder dem milden Sonnenschein mit -einem läßlichen Behagen, das wohlig war und ein wenig -sinnlich, wie in einem laulichen Bade.</p> - -<p>„Wenn ich Sie ansehe, gnädiges Fräulein, muß ich -an Gottfried Keller denken,“ sagte Pichler. Und das Mädchen -darauf: „Jemine, wieso denn?“</p> - -<p>„Ja, ganz bestimmt. Sie erinnern mich an eine seiner -Frauengestalten. Nämlich an die Figura Leu im ‚Landvogt -von Greifensee‘. Die hat mir immer ausnehmend gefallen. -Warten Sie, wie sagt das nur gleich Keller? Ja: sie war -ein elementares Wesen. Ein elementares Wesen, dessen -goldblondes Kraushaar sich nur mit äußerster Anstrengung -den Modefrisuren anbequemen ließ und dem Perruquier -des Hauses täglich den Krieg machte. Sie lebte fast nur -vom Tanzen und Springen. So beiläufig heißt es. Und -dasselbe gilt auch von Ihnen. Sie sind von demselben -entzückenden Übermut. Und diese widerspenstigen Löckchen -hier ...“</p> - -<p>Er faßte nach dem feinen Gekräusel an ihrer Schläfe. -Durch eine hastige Wendung des ganzen Körpers wich sie -der Berührung aus. „Sie sind ein Schmeichler!“ sagte -sie halb verlegen, halb erfreut.</p> - -<p>Da machte Doktor Kolben, der bisher leise pfeifend ein -paar Schritte seitwärts von ihr gegangen war, seine erste -Bemerkung:</p> - -<p>„Herr Pichler hat etwas vergessen, mein kleines Fräulein,“ -begann er. Sofort unterbrach sie ihn im hellen Zorn: -„Ich bin nicht Ihr kleines Fräulein!“ Ihr Auge sprühte, -der Fuß stampfte die Erde. Doch der unausstehliche Mensch -fuhr gleichmütig fort: „Das meine nicht, aber doch das -kleine. Vorderhand wenigstens. Wir können ja noch -wachsen. Das müssen wir eben abwarten. Heute wollte -ich nur erwähnen, daß jene Figura Leu, die Herr Pichler -an den Haaren herbeigezogen hat, von ihrem Verehrer -gemeinhin nur der Hanswurstel genannt wurde. Ob der -Vergleich in dieser Hinsicht ebenfalls stimmt, soll dahingestellt -bleiben.“</p> - -<p>Kolben sagte das, weil er über die junge Schöne ungehalten -war, die so mir nichts, dir nichts auf Ottos -Plattheiten hineinfiel. Sie würdigte ihn keiner Antwort, -klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne und zerrte an -ihren Fingern, bis die Gelenke knackten.</p> - -<p>Pichler versicherte unter vielen Entschuldigungen, seine -Worte seien natürlich nicht so aufzufassen, nur die reizende -Grazie habe er kennzeichnen wollen, den Glanz der Löckchen -...</p> - -<p>„Hören Sie schon auf mit dem dummen Zeug!“ unterbrach -da Wart Nikls Tochter den Honigfluß seiner Rede. -Nun schwieg er und tat beleidigt.</p> - -<p>Kolben hatte ihre letzten Worte nicht mehr vernommen. -Angewidert von Pichlers Geschwätz, hatte er sich auf dem -Absatz herumgedreht und zu Doktor Kreuzinger begeben.</p> - -<p>Dort machte Fritz noch immer sein sauertöpfisches Gesicht. -Er blickte nach der frischen Mädchengestalt, an der -alles Verheißung war und leise schwellendes Werden, sah -ihre anmutigen Bewegungen, den Rhythmus der Glieder -beim leichten Schreiten, hörte das klingende Lachen und -empfand eine unbestimmte Sehnsucht, wie arme Schelme -im Kellergeschoß nach den hohen, luftigen Räumen der -Vermöglichen.</p> - -<p>Heinz stritt mit dem Großvater über den Zukunftsstaat.</p> - -<p>Die tiefe Baßstimme Wart Nikls dröhnte hallend weithin -durch den ruhevollen Herbstmorgen. Bald rief er -einem bekannten Jäger ein Weidmannsheil zu oder erwiderte -lärmend den Gruß eines Vorübergehenden, bald -hatte er ein Scherzwort für seine Tochter oder zeigte er -seiner Frau die Grenzlinien der einzelnen Besitzungen und -lobte oder schimpfte nicht gerade leise über deren Bewirtschaftung.</p> - -<p>Langsam schlenderte Hellwig hinter der Gesellschaft her. -Da schob sich plötzlich ein fremder Arm unter seinen. -„Kommen Sie!“ sagte Doktor Kolben. „Wir gehn -Schwämme suchen.“</p> - -<p>Fritz sah ihn verwundert an. Eine so vertrauliche Annäherung -war bei dem in sich verhaltenen Menschen etwas -Ungewöhnliches.</p> - -<p>„Ich weiß hier herum ein paar famose Plätze!“ sprach -dieser weiter und tat, als merkte er das Staunen des -andern nicht. „Hier links in den Wald einige hundert -Schritte aufwärts. Dort pflegen Herrenpilze zu wachsen.“</p> - -<p>Noch einmal schaute Hellwig nach dem Mädchen. Das -lachte eben Pichlern zu, der sein Schmollen aufgegeben -hatte. Da fühlte er ein leises Zucken im Herzen. Er preßte -die Lippen fest aufeinander. Eine tiefe Falte stand ihm -wieder einmal über dem scharf einspringenden Nasensattel -senkrecht auf der steilen Stirn. Das hagere Gesicht bekam -sein kühnes, wie versteintes Aussehen. Ohne Widerstand -ließ er sich von Kolben in den Wald führen.</p> - -<p>Zwischen den geraden Kieferstämmen, die mit dürftigen -Kronen wie erschöpfte Krieger in Reih und Glied standen, -gingen sie auf dem rostroten Nadelboden, über gewundenes -Wurzelwerk und dann wieder durch rauschendes Heidelbeergestrüpp -eine gute Weile stumm vorwärts.</p> - -<p>„Hier ist einer!“ sagte der Doktor, bückte sich und durchschnitt -mit dem Taschenmesser den Strunk eines Pilzes. -Fritz sah gleichgültig zu. Kolben steckte den Fund in die -Tasche. Von Moos und Farnkräutern umwuchert, lag ein -niedriger Felsblock quer über dem Jagdsteig. Kolben setzte -sich. Fritz stand daneben und schaute düster in das bewegliche -Gitter aus Sonnenstrahlen und Wipfelschatten -auf dem Boden.</p> - -<p>Der Doktor brach endlich das Schweigen. „Was ist -eigentlich mit Ihnen los, Hellwig? Was drückt Sie?“</p> - -<p>Seine Stimme klang warm und herzlich. Aus seinem -Antlitz war alle kalte Verschlossenheit weggewischt. Aber -Fritz erwiderte schroff abweisend: „Was veranlaßt Sie -zu dieser Frage?“</p> - -<p>„Lassen wir den Stolz beiseite!“ antwortete Kolben. -„Aussprache tut immer gut. Sie gehn ja herum, als ob -Sie jeden Halt verloren hätten.“</p> - -<p>„Herr Doktor!“</p> - -<p>„Ich heiße Kolben. Albert Kolben. Das ‚Herr‘ ist -überflüssig. Ja, und ... vertrauen Sie mir!“ Ein freundlich -aufmunternder Blick der gescheiten Augen begleitete die -Bitte.</p> - -<p>Fritz erwiderte nichts.</p> - -<p>„Vertrauen Sie mir! Es ist nicht zudringliche Neugier -oder Unverschämtheit von mir. Nur — ich hab’ mal einen -gekannt. Der ist genau so herumgelaufen. Und war schon -nahe dran, den Sprung ins große Dunkel zu machen. -Sein oder Nichtsein. Ob’s edler im Gemüt ... Hat ihn -arg gehabt damals. Zweifel an der Welt, an Gott, an -den Menschen, an allem, was man so heilig, ehrwürdig, -groß, erhaben, sittlich oder moralisch nennt. Und kein -Ausblick. Als wär’ ein Brett vor der Erde gewesen. Soweit -hat er gehalten. Und kein Ausblick. Triebleben, Hinvegetieren, -zwecklos, stumpfsinnig. Nicht wahr? — Kultur? -— Auch die Ameise schafft sich angenehme Lebensbedingungen. -— Moral? — Der Pöbel und Moral! Ein -Tiger, der Gras frißt! Eher will ich aus Cäsar einen Lakaien -machen als dem Pöbel die Gemeinheit abgewöhnen. -Also, da hat er gehalten. Na ja denn, ich selber bin’s gewesen. -Und da ist einer gekommen, der hat’s gewußt -und sich ausgekannt. Hat eine feine Hand gehabt der — -Doktor Kreuzinger heißt er —, eine leichte. Und hat mir -den Star gestochen. Und hat mich ins Leben hinein gestoßen. -So recht mitten hinein ins Leben. Da steh! Laß -die Woge kommen und halt stand! Und fürcht’ dich nicht. -Und — wirf dich hinein! Brauch’ deine Arme! Schwimm! -Es geht schon, es trägt dich schon! — — Und wahrhaftig, -es ist gegangen. Es hat mich wirklich getragen. Hätt’s -niemals gedacht. — Also, darauf kommt’s an. Klarer -Kopf. Helles Auge. Ruhige Hand. Nicht grübeln, Grashalme -zählen, Grillen fangen. Arbeiten! Fest arbeiten! -Mitten in den Wellen gegen die Wellen. Ein Ziel vor sich -und drauflos! Ein Ziel, ja! Aber nicht oben bei den Wolken. -Hier, wo du feststehst, auf der Erde unter den Menschen -... Da geh’ drauf und dran! Schulter an Schulter -mit den andern. Oder, wenn sie das nicht wollen, lauf -allein voraus! Sie folgen schon. Und wenn sie auch das -nicht wollen — wenigstens hast du Ruhe!“</p> - -<p>Selten ließ der wortkarge, zugeknöpfte Mann jemanden -so in sein Inneres schauen. Fritz fühlte das. Und nun -konnte er nicht mehr an sich halten. Erst stockend, dann -zusammenhängender, leidenschaftlicher redete er sich alles -von der Seele herunter, was ihn in letzter Zeit überstürmt -und aus der Bahn geworfen hatte.</p> - -<p>Kolben unterbrach ihn nicht. Seine dunklen Augen lagen -wieder wie verschleiert hinter den goldgeränderten Brillengläsern. -Die Spitze des Spazierstocks zeichnete Strich neben -Strich in den glatten Waldboden. Endlich war Fritz mit -seiner langen Beichte fertig.</p> - -<p>„So steh’ ich da!“ knirschte er zwischen den Zähnen. -„Und weiß nicht ein und aus. Das Vergangene liegt -mir wie ein Stein vor der Zukunft. Ich kann ihn nicht -wegwälzen! Er rührt und rührt sich einfach nicht! Die -ganze Kraft geht drauf! Ich verbrauch’ mich, werde hin! -Von meiner toten Mutter kann mich keiner erlösen!“</p> - -<p>Er schwieg mit keuchenden Lungen. Aus den Wipfeln -kam das leichte Wehen des Windes wie der Atem der Stille. -Kolben erhob sich, trat ganz dicht zu ihm heran.</p> - -<p>„Mut, Fritz! Und Geduld! Du — wir werden uns -wohl von heut’ an du sagen müssen — du wirst bald drüber -weg sein. Jetzt aber — fürs erste — schaun wir, daß wir -zu den anderen ins Forsthaus kommen. Abends hältst du -dich dann bei mir auf. Vielleicht hab’ ich was für dich.“</p> - -<p>In der Nacht, die diesem Tage folgte, schloß Fritz kein -Auge. Er suchte nicht einmal den Schlaf, hatte kein Verlangen -darnach. Rastlos wanderte er in seiner Kammer -auf und ab, mit leuchtenden Augen, breitete die Arme -oft weit aus und fühlte sich endlich ganz leicht und frei. -Abgefallen war, was ihn bedrückt hatte, fortgetilgt die -Unrast, das Suchen nach einem Überirdischen. Glatt und -offen lag der Weg in die Zukunft vor ihm.</p> - -<p>Er hatte einsehen gelernt, daß er seine Kräfte an etwas -zu verschwenden im Begriff gewesen, das keiner ergründen -konnte. Daß der Gedanke an den Zustand nach dem Tode -ein Feind des Lebens sei. Und daß die Grübler und Dogmatiker -die Menschheit um keinen Zoll vorwärts gebracht -hatten, sondern nur die Handelnden, die Blutzeugen, die -Männer der Tat.</p> - -<p>‚Ich schreib’ getrost: Im Anfang war die Tat!‘ — Jetzt -fiel’s ihm wieder ein, und jetzt konnte er auf einmal nicht -verstehen, wie ihn nicht schon damals, als er den Faust -las, diese einfachste und klarste aller Weisheiten auf die -richtige Spur gebracht hatte. Daß er erst noch viele Monate -im Dunkeln getappt und sich gemartert hatte, bis ihn -jetzt der viel verlästerte Kolben zum Ausgangspunkte zurückführte -und die Bahn frei machte durch ein paar treffsichere -Worte und mit Hilfe einer Übersetzung der Hymne -‚An einen unbekannten Gott‘ aus dem Rigveda. Da lag -sie vor ihm im gelben Lampenlicht, Druckerschwärze auf -vergilbtem Papier, und sprach mit tausendjähriger Zunge -zu ihm, tröstete, beruhigte, richtete ihn auf durch die Erkenntnis, -daß ein Rätsel, das seit unzählbaren Jahren die -Menschen zu ergründen sich mühten und nicht ergründen -konnten, kein Rätsel sei, sondern vererbter Wahn mit einem -Inhalt ohne Wert für das Leben und für die Entwicklung, -eine taube Nuß.</p> - -<p>Wieder und wieder las er das mächtige Gedicht in der -meisterhaften Übertragung, jetzt im Zusammenhang, jetzt -einzelne Strophen, und als er sie alle auswendig wußte, -sprach er die letzten noch und abermals laut vor sich hin:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Wer weiß es denn, wer hat es je ergründet,</div> - <div class="verse indent0">Woher sie kam, woher die weite Schöpfung?</div> - <div class="verse indent0">Die Götter kamen später denn die Schöpfung —</div> - <div class="verse indent0">Wer weiß es wohl, von wannen sie gekommen?</div> - <div class="verse indent0">Nur er, aus dem sie kam, die weite Schöpfung,</div> - <div class="verse indent0">Sei’s, daß er selbst sie schuf, sei’s, daß er’s nicht tat —</div> - <div class="verse indent0">Er, der vom hohen Himmel her herabschaut,</div> - <div class="verse indent0">Er weiß es wahrlich! Oder — weiß auch er’s nicht?“</div> - </div> -</div> -</div> - -<hr class="chap" /> - -<div class="chapter"> -<h2 class="nobreak" id="Zweites_Buch">Zweites Buch</h2> -</div> - -<h3>1.</h3> - -<p class="drop-cap">Im Oktober kamen Hellwig und Pichler nach Prag und -nahmen Quartier bei der Frau Wondra, die in zwei -Zimmern fünf Hochschülern Wohnung und Verpflegung -gegen ein sehr mäßiges Entgelt gewährte. Sie war die -Witwe eines Unteroffiziers, der ein starker Pfeifenraucher -gewesen war und ihr außer einer kleinen Pension nichts -hinterlassen hatte als dreißig Pfeifen von der billigsten -Sorte, mit langen und kurzen Rohren, mit Gips-, Holz- -und bemalten Porzellanköpfen, alle wohleingeraucht und -arg mitgenommen. Als sich für die duftende Sammlung -kein Käufer finden wollte, tat es der sparsamen Hausfrau -leid, sie unbenützt verstauben zu lassen, weshalb sie -sich auf ihre alten Tage selbst das Rauchen angewöhnt -und es hierin noch jedem ihrer jungen Mieter zuvorgetan -hatte. Da sie kahl war, trug sie sommers und winters -dieselbe große Haube aus braunem Taft, die den Schädel -und die Ohren zudeckte und für das gelbe Gesicht einen -kreisrunden Rahmen abgab. Was auf dem Kopf an Haaren -zu wenig, wuchs dafür in gedoppelter Fülle als Schnauzbart -unter der Nase, die zum Himmel strebte, als wollte -sie sich in beleidigtem Stolz vor so unfraulicher Zierde -zurückziehen, worüber sich hinwiederum zwei kleine graue -Schlitzäuglein anscheinend sehr belustigten, weil sie fortwährend -zwinkerten und blinzelten. Doch je ungeschlachter -ihr Aussehen, je derber ihre Rede war, desto milder und -lockerer gerieten ihr die Mehlspeisen, die Buchteln, Dalken, -Nudeln und Kolatschen, mit denen sie für das leibliche -Wohl ihrer Studenten sorgte. Aber auch das Seelenheil -der jungen Leute war ihr nicht gleichgültig, und um -die schwankende Jugend vor Abwegen zu bewahren, suchte -sie ihre Kostkinder abends an das Haus zu fesseln, indem -sie mit ihnen Schafkopf spielte oder ein Quodlibet um -ein beschränktes Bierquantum.</p> - -<p>In dem größeren der beiden Zimmer wohnten bereits -seit einigen Semestern der Astronom König, der Philosoph -Fundulus und der Mediziner Karg, alle drei schon bemoostere -Häupter, die sich bei der Wondra zufällig gefunden -und trotz ihrer verschiedenen Neigungen Freundschaft -geschlossen hatten.</p> - -<p>Diese Freundschaft pflegte regelmäßig auch auf die -rascher wechselnden Mieter der anderen Stube ausgedehnt -zu werden, und schon am Abend nach ihrem Einzug erhielten -Fritz und Otto unter Führung der Wondra den Besuch -der Zimmernachbarn. Die Quartiersfrau trug sechs -Tabakpfeifen, der Mediziner den großen Bierkrug, der -Philosoph den Tabaktopf und der Astronom die abgegriffenen -Spielkarten. Würdevoll überreichte die Wondra den -neuen Pfleglingen zwei Rauchwerkzeuge zur ausschließlichen -Benützung für die Dauer des Mietverhältnisses und -gegen die Verpflichtung, nach einer bestimmten Reihenfolge -abwechselnd mit den übrigen für die Füllung des -Tabakbehälters zu sorgen.</p> - -<p>Nach dieser feierlichen Handlung wurde ihnen eröffnet, -daß man gesonnen sei, sie in die Hausgemeinschaft Wondra -aufzunehmen und solche Ehre festlich zu begehen mit Hilfe -eines Viertelhektoliters Bier, den die Aufgenommenen nach -Brauch und Fug zum besten geben mußten.</p> - -<p>Mit großem Hallo wurde das Faß aus der Schenke -geholt, worauf ein mächtiges Gelage anhob, in dessen -Verlauf der Mediziner mit der bärtigen Witwe einen Hopser -tanzte, daß die Dielen dröhnten und die Haube in -greuliche Unordnung kam. Des Philosophen dagegen, der -eine sehr verliebte und schwärmerische Wesenheit war und -nicht viel vertragen konnte, hatte sich bald eine weinerliche -Stimmung bemächtigt, in der er Pichlern von seiner Liebsten -daheim erzählte und ihre Treue in Zweifel zog, um -sich sogleich wieder wegen des schimpflichen Verdachtes -die bittersten Vorwürfe zu machen.</p> - -<p>Fritz saß mit König, einem unentwegten stillen Zecher, -beim Fenster und hielt durch einsilbige Bemerkungen ein -notdürftiges Gespräch mühsam im Gange. Doch wurde -das dem Sterngucker bald langweilig. Er stand auf und -gesellte sich dem Philosophen zu, den er durch eine Bemerkung -über die Minderwertigkeit des Weibes rasch in -Harnisch brachte und in der anschließenden erregten Auseinandersetzung -mit Brocken aus Schopenhauer kräftig bombardierte.</p> - -<p>Unvermutet fand sich Fritz allein in der Fensternische. -Niemand fragte oder kümmerte sich um ihn, und es war -ihm ganz recht so.</p> - -<p>Die Fenster des hoch gelegenen Zimmers gaben Ausblick -in einen engen Hof und jenseit desselben über ein -Gewirr von Dächern und Türmen und Giebeln, die in -dem silberblauen Glanz der Mondnacht schimmernd ruhten. -Und dunkel aus dem sanften Glanz herausgehoben, wuchtete -darüber der Hradschin und trug den mächtigen Dom -wie eine schwere, stolze Krone. Oben wanderten und neigten -sich die Sterne, unten lag die Stadt von den beweglichen -Wellen des Mondlichts umspielt, — und inmitten stand -der alte Königsitz, aller Nähe und Ferne entrückt, in immer -gleicher, steinerner Ruhe stumm, dunkel und geheimnisvoll.</p> - -<p>Sonderbar ergriffen schaute Fritz auf dieses Märchen, -das Glanz und Nacht und Stille um einsam thronende -Größe woben. In der Stube lärmten und lachten die -Zecher. Er achtete nicht darauf. Sehnsucht nach Arbeit -überkam ihn, nach einer schöpferischen Tat, an der er seine -Kräfte erproben, ermüden, ausgeben könnte. Und noch -als die übersättigten Trinkkumpane schon längst in dumpfen -Schlaf versunken waren, lag er wach und sehnte sich -nach einer Aufgabe, riesenhaft gleich der gewaltigen Königsburg, -die von Menschenhänden über eine ganze große -Stadt gestellt, sie machtvoll und unnahbar beherrschte.</p> - -<p>Aber er fand nicht, was eigentlich diese Aufgabe sein -sollte, und mit schmerzendem Schädel schlief er endlich ein.</p> - -<p>In der Klarheit des nächsten Morgens, der über einen -tiefblauen Herbsthimmel eine silberweiße Sonne heraufleitete, -erwachte er freier, als er sich niedergelegt hatte, -kleidete sich rasch an und eilte auf die Gasse. Es trieb ihn -zu den Stätten, die aus der Ferne solchen Eindruck auf -ihn gemacht. Er wollte sie durchforschen, erobern, ganz -in sich aufnehmen wollte er sie und zugleich sehen, ob -auch im nüchternen Schein des Tages der drückende Zauber -bestehen blieb.</p> - -<p>Mit niedrigen Türen und kleinen Fenstern unter zerbröckelten -Gesimsen standen unten in der engen Gasse -schmalbrüstige Häuser, mit verrußten Mauern und vorspringenden -Dächern drängten sie sich aneinander, alt, -müde, eins das andere stützend und alle vom leisen Abglanz -toter Jahrhunderte traurig umwittert. Unverändert standen -sie so, ließen die Jahre vorübergehn, und wenn aus einem -der dicken Gemäuer eine neue Öffnung herausgebrochen, -eins der vielen Trödlergewölbe, wo von altersher die armen -Juden ihren Handel trieben, in ein dürftiges Lädchen mit -einem Auslagfenster umgestaltet wurde, ging es die Gasse -entlang wie raunende Verwunderung ob solch unerhörten -Eindringens einer andern Zeit.</p> - -<p>Als Fritz hinabkam, hatte trotz der frühen Stunde das -geschäftige Leben bereits begonnen. Mit schlau-vertraulichen -Verneigungen grüßten ihn die jüdischen Händler, riefen -ihm verständnisvoll lächelnd ein paar leise Worte zu, auf -ihren angehäuften Plunder deutend, in der Hoffnung, -daß er ihnen etwas abkaufen oder in Pfand geben werde. -Langsam ging er in der Richtung, wo er den Hradschin -vermutete, vorwärts. Seine Schritte hallten laut in der -engen Häuserschlucht, darüber ein schmales Streifchen Himmel -war und ein wenig vom erstarkten Sonnenschein, der die -Giebel vergoldete, ohne daß seine Quelle dem Auge sichtbar -wurde. Und Gasse folgte auf Gasse, kreuz und quer. -Stille Winkel waren da, unregelmäßige Plätzchen und -dunkle Sackgassen, in denen die Häuser geduckt und wie -furchtsam verkrochen standen, als hörten sie noch den -Lärm der Verfolgungen, schauderten vor dem warmen Blut, -das in Zeiten unduldsamen Glaubenseifers auf ihren Dielen -verdampfte, an ihre Wände spritzte, in roten Bächen -über die finstern Treppen rann.</p> - -<p>In dem Durcheinander des gleichförmig engen und -schmutzigen Winkelwerks hatte Fritz bald jede Orientierung -verloren und mußte sich endlich entschließen, einen Vorübergehenden -nach dem Weg zu fragen. Der aber maß -den deutschen Studenten mit einem feindseligen Blick, -brummte ein paar tschechische Worte und gab keine Auskunft. -Einigermaßen betreten ging Hellwig weiter, und -das beklemmende Gefühl, als sei er in ein verschollenes -Jahrhundert zurückversetzt, wurde stärker. Da kam ein -weißbärtiger Hebräer, der in seinem Gewölbe den Vorfall -mit angesehen hatte, auf ihn zu, dienerte und erkundigte -sich in einem sonderbar harten Deutsch nach seinen -Wünschen. Fritz sah auf das freundliche Männlein, das -mit hohem Hut, fuchsigen Schaftstiefeln und schmierigem -Leibrock vor ihm in der Häuserschlucht stand und vermißte -— er wußte nicht, wie ihm das in den Sinn kam -— die steife blaue Halskrause, die die böhmischen Juden -noch im siebzehnten Jahrhundert auf der Straße tragen -mußten. Doch zwang er sich in einem energischen Aufraffen -des spukhaften Traumzustandes Herr und der -Gegenwart wieder gerecht zu werden, brachte sein Anliegen -vor und erhielt umständlichen Bescheid.</p> - -<p>Er bedankte sich, durchschritt noch einige Gassen und -gelangte endlich zur Karlsbrücke. Vor ihm rollte, um -Inseln, Mühlen und Brückenpfeiler brodelnd, mit braun -dunklem Wasser der breite Strom, drüben baute sich Giebel -über Giebel mit Kuppeln und Türmen und Zinnen -die Kleinseite auf, und darüber ruhte, durch einen herbstlich -goldigen Gartenwall geschieden, breit und wuchtig der -Hradschin, in der Klarheit des Tages gleich hoheitsvoll -und unnahbar wie im trüglichen Dämmer der Mondnacht. -Nur die Linien waren schärfer und bestimmter die gewaltige -Majestät, die der Veitsdom krönte, der im Panzer -seines Gerüstwerks stumm und dunkel vor dem blauen -Himmel stand.</p> - -<p>Keinen Blick hatte Fritz für die altertümliche Schönheit -des Platzes, auf dem er sich befand, für den Auslug -durch zwei Torbogen zum langgestreckten Moldaukai hinab, -für die Türme und steinernen Bildwerke der berühmten -Brücke. Unverwandt schaute er zur Burg hinüber, deren -lautlose Größe ihn quälte und erdrückte.</p> - -<p>Dann war er am andern Ufer, ging wie schlafwandelnd -an alten Palästen vorüber, hinter deren geöffneten Torflügeln -die Trauer sterbender Gärten wehmütig versunken -lag; durch eine steil ansteigende Gasse schritt er, und auch -hier webte die Erinnerung, war die Stille einer längst -verwehten Zeit. Doch war hier ein anderer Stil in den -Häusern, die Fassaden waren reicher und schmuckvoller, -durch schön geschmiedete Gitter oder kunstvolle Tore vorteilhaft -gehoben. Allerlei Schildereien zierten die Fronten, -hier glänzte ein silberner Schlüssel im blauen Felde über -der Haustür, dort ein Wagenrad oder Winkelmaß, da -wieder sprang ein Hirschlein mit vergoldeten Hufen, blühte -eine vielblättrige Blume, als Zeichen einer Innung oder -Wappen eines längst verstorbenen Besitzers und seines -stolzen Bürgertums.</p> - -<p>Noch die Schloßstiege hinan, dann war er oben, trat -ohne sich umzusehen durch die kühlen Torbogen in die -weiten stillen Burghöfe. Eine pochende Unrast stieß ihn -vorwärts, beklommen spähte er überall umher, aber kalt -und abweisend ragten die mächtigen Quadermauern, schauten -gleichgültig über ihn weg und ließen sich nicht nahe -kommen. Und als er vor dem Veitsdom stand, da wuchs -auch dieser hart vor ihm trotz der leicht aufstrebenden -Schlankheit der Rippen, der wunderlich verzerrten Fratzen -der Wasserspeier ruhig und sicher in die Luft hinauf, wie -ein Gebirge aus Stein und Stille.</p> - -<p>Verzweifelt lief Hellwig von einer Örtlichkeit zur andern, -ein ohnmächtiger Zorn war in ihm, daß ihn ein Menschenwerk -so klein machen durfte, er wehrte sich dagegen und -spürte doch, wie er dieser unfaßbaren Größe mehr und -mehr unterlag.</p> - -<p>Da fand er sich unversehens an einem seltsamen Orte. -Bunte Häuschen waren da, so klein, daß er mit der Hand -den Dachsims fassen konnte, eines neben dem andern, -mit Türchen und Fensterchen, wie von Zwergen für -Zwerge geschaffen. Er war in das Alchimistengäßchen geraten. -Und wie er näher zusah und wie ihm einfiel, daß -der zweite Kaiser Rudolf mit seinen Magiern, Goldmachern -und Sterndeutern hier hausete, da — atmete er -leicht auf.</p> - -<p>Hier war etwas menschlich Warmes, eine Schwäche, -ein mildes Licht, das auf die riesenhaften Prachtbauten -hinüber leuchtete und ihnen allen Schrecken nahm. Tief -unten lag die Stadt, zu beiden Ufern des Stroms hingebettet, -ihre hundert Türme und Kuppeln und Türmchen -leuchteten, blitzten und funkelten in der Sonne — und -wer von hier hinabschaute mit dem Bewußtsein des Herrschers, -dem konnte wohl zumute sein, als stände er berghoch -über all den geduckten Siedelungen, über all den -ameisenklein wimmelnden Menschen im flachen Lande und -könnte sie zertreten mit stampfendem Fuß nach Lust und -Laune. Darum schuf er sich und seinem schrankenlosen -Machtgefühl den unnahbar stolzen, riesenhaften Bau auf -steiler Höhe, fern von allem Menschentreiben und der -Sonne näher. Doch siehe — dicht daneben, versteckt und -heimlich, stellte er die kleinen, schwachen Hütten auf und -trug aus der stolzen Burg sein schwaches, kleines Menschentum -dorthin, wenn es ihn zu quälen anfing. Bei abergläubischem -Spuk und geraunten Zaubersprüchen suchte -er daran zu vergessen, aus glühenden Gemengen in absonderlich -geformten Retorten sollte der hilflosen Ohnmacht -ein Mittel zur Allmacht erstehen, im gelassenen -Lauf der Gestirne nach der Zukunft forschend, wollte der -Blinde sehend und wissend werden.</p> - -<p>So standen diese Häuschen als rührende Zeugen menschlicher -Ohnmacht, die vergebens über ihre Grenzen tastet, -und so wirkten sie befreiend und versöhnend auf Hellwig. -Plötzlich war ihm Burg und Dom vertraut geworden. -Der Gewalt des ersten Eindrucks entronnen, bemerkte er -jetzt überall heimliche Schönheiten und anheimelnde Winkel, -vom Zauber der Romantik überhaucht. Ganz glücklich -wurde er darüber. Und jedesmal, wenn später wieder ein -scheinbar unbegreiflich großes Menschenwerk lähmend auf -ihn wirken wollte, mußte er an die kleinen Alchimistenhäuschen -denken und lächelte leise fröhlich dabei.</p> - -<div class="section"> -<h3>2.</h3> -</div> - -<p>Pichler hatte sich für die Juristerei entschieden, während -Hellwig nicht so ohne weiters schlüssig werden konnte. -Zwar segelte er vorläufig ebenfalls unter der Flagge der -Rechtsgelehrsamkeit, besuchte indes auch zahlreiche philosophische -und naturwissenschaftliche Vorlesungen und -wollte sich erst nach dem ersten Semester endgültig entscheiden.</p> - -<p>Bald sah er ein, daß er sich mit dem römischen Recht -nie werde befreunden können. Die nüchterne Sachlichkeit -desselben lief seinem nachdenklichen Wesen schnurstracks -zuwider. Er begann das Kolleg zu schwänzen, saß während -der so gewonnenen Zeit lieber in der Universitätsbibliothek. -Gedrängt durch die Fülle der Erinnerungen, die sich ernst -und eindringlich allerorten in der Stadt aufzeigten, begann -er hier ein eifriges Geschichtsstudium und bemühte -sich außerdem einen Überblick zu gewinnen über die Entwicklung -der Kulturen und über die Verfassungen der Völker. -Auch an den Nachmittagen verweilte er gern in dem -hohen, wölbigen Saal, wo es so flüsternd leise herging, -die Diener mit schweren Bücherpäcken nur auf den Zehen -hinter den Stuhlreihen umherschlichen und über vergilbte -Schmöker gebeugt, junge und alte Leute emsig lasen oder -Auszüge machten. Das Rascheln der starken Pergamentblätter, -das Knistern des Papiers und das Gekritzel der -Bleistifte gab eine gute, zu geistiger Sammlung ladende -Melodie. Im Flug vergingen ihm die Stunden, und nach -seiner Meinung gewöhnlich viel zu früh stand der Diener -hinter ihm mit der höflich-leisen Einladung, Schluß zu -machen, weil gleich gesperrt würde. Wohl entlieh er sich -auch Bücher und trug sie in seine Wohnung. Aber dort -war abends an ein ernstes Arbeiten nicht zu denken.</p> - -<p>Nebenan in der großen Stube fand sich täglich die -geräuschvolle Quodlibetpartie zusammen. Pichler war jetzt -einer der fleißigsten dabei, denn er hatte dem Spiel Geschmack -abgewonnen und pflegte es mit dem gleichen geschäftsmäßigen -Eifer, den er tagsüber auf sein Studium -verwendete. Aber auch der einsame Bücherwurm im Nebenzimmer -blieb nicht unbehelligt. Jede halbe Stunde steckte -die Wondra den Kopf zur Tür herein und forderte ihn auf, -mit ihnen lustig zu sein. Oder es erschien der Philosoph -und erlaubte sich eine spezielle Blume. Und wenn Karg -zu Hause war, kam er ebenfalls und wich nicht, bis Hellwig -endlich aufstand und sich den fröhlichen Zechern zugesellte. -Dann bemühte sich Karg so gewinnend als möglich -zu sein. Denn die zwei strammen Neuberger gefielen -und schienen ihm der Fuchsenehre würdig bei der Landsmannschaft -Herminonia, der er selbst angehörte. Grün-weiß-rot -waren die Farben, unentwegt und immerdar -judenrein, arisch-deutsch die Mitglieder, gewaltig ihre Leistungen -im Vertilgen des bräunlichen Gerstensaftes, und -mit neidvoller Bewunderung erzählte man sich in den -anderen Verbindungen von den ungezählten Halben, die -auf den Herminonenkneipen die schwitzenden Kellner herbeischaffen -mußten.</p> - -<p>Dieserhalb, nicht minder aber wegen ihrer geradlinigen -Ehrlichkeit war das Ansehen der Herminonen unter der -farbentragenden Studentenschaft groß. Sie wußten es sich -aber auch zu erhalten durch die immer bereite Kühnheit, -mit der sie auf dem Paukboden standen, wo sie dann -die scharfen Klingen ebenso geschickt und flink handhabten, -wie sie bei den Hochschülerkränzchen plump und ungelenk -das Tanzbein schwangen, mit der gleichen Seelenruhe dort -furchtbare Rückschneidquarten in die Gesichter der Gegner, -hier nicht minder gefürchtete Tritte auf die Zehen der -Tänzerinnen austeilend.</p> - -<p>Den unablässigen Werbungen des Mediziners glückte -es endlich, seine beiden Stubennachbarn zur Teilnahme -an der Eröffnungskneipe zu bewegen. Pichler tat es gern -mit der frohen Aussicht auf eine vergnügliche Unterhaltung, -während Hellwig mitging, um sich die Geschichte -einmal anzusehen und aus eigener Anschauung eine Sache -kennenzulernen, deren Lob ihm seit der Gymnasialzeit in -die Ohren tönte.</p> - -<p>Wie alte Bekannte wurden sie aufgenommen, trafen -hier auch einige, mit denen sie gemeinsam die Schulbank -in Neuberg gedrückt hatten, schon in junger Fuchsenherrlichkeit -mit Kappe und Band und im Vollgefühl ihrer -neuen Würde. Einer war darunter, der hatte noch kaum -vor Jahresfrist in der Geschichtsstunde behauptet, daß sein -Vaterland eine absolutistische Verfassung habe. Jetzt aber -redete er von der Notwendigkeit der Sonderstellung Galiziens, -von der deutschen Staatssprache und von der Einsicht, -die Bismarck mit der Gründung des Norddeutschen -Bundes unter Ausschluß Österreichs an den Tag gelegt, -redete noch von vielen anderen Dingen, als hätte er selbst -sie gemacht und alle hohe Staatswissenschaft in der Westentasche. -Und ein anderer war da, Karl Deimling, schon ein -alter Knabe, der redete beinah überhaupt nichts, sondern -trank nur immerzu, und wenn er sonst noch die Lippen -voneinander tat, war es zum Singen eines rauhen Trinkliedes -oder zu einer knappen Bemerkung, die mit harter -Grobheit wie eine Panzergranate einschlug. Doch war er -ein zuverlässiger Kamerad, treu wie ein Bulldogg, und -kannte kein anderes Ideal, als die Farben der Herminonen -untadelig blank zu halten vor Feind und Freund. Schon -manchen Fuchs hatte er gedrillt. Ja fast alle, die jetzt -als Burschen an der oberen Tafel saßen, waren einst mit -sprossenden Bärten und den ungelenken Bewegungen junger -großer Tiere unter seine Fuchtel gekommen. Prachtkerle -waren darunter aufgestanden, sehnige Gestalten mit blutroten -Narben in den energischen Gesichtern, mit Augen, -die in einem selbstverständlichen Mut kühl und beinah -schwermütig darein blickten, und mit einer geflissentlich -zur Schau getragenen Kaltblütigkeit, die sie älter und -reifer erscheinen ließ. Doch wenn sie ganz unter sich waren, -dann warfen sie diese Würde wie einen lästigen Mantel ab, -schäumten auf und brausten in zweckloser Lebensfreudigkeit, -wurden übermütig wie Füllen, ausgelassen wie Kinder -nach dem Gottesdienst. Hellwig aber begriff weder -die Notwendigkeit jenes gemessenen Gehabens, noch hatte -er Verständnis für die harmlose Freude an Unsinn, Kinderei -und Ulk. Er konnte nicht mit dem Leben spielen, -hatte sich auf jede Sache noch immer mit der ganzen -Wucht seiner schweren Gründlichkeit geworfen und kannte -die Freude des Schwimmers nicht, der im Ringen mit -hoch gehenden Wogen seine überschüssige Muskelkraft um -ihrer selbst willen vergeudet.</p> - -<p>Feierlich wurde die Kneipe eröffnet, weihevoller Sang -ertönte zum Preise der Freiheit und des Deutschtums. -Sehr anständig und förmlich ging es zu, bis unten an der -Fuchsentafel ein lustiges Trinklied aufklang: „Sa, sa, geschmauset, -laßt uns nicht rappelköpfisch sein!“</p> - -<p>Da war das Eis gebrochen. Ein scharfes Zechen hob -an, Blumen wurden zugetrunken, Bierjungen gebrummt, -Übermütige zum Einsteigen verdonnert. Karg als Fuchsmajor -hielt scharfes Regiment. Er ließ seine Füchse strafweise -trinken, daß sie anschwollen wie Schwämme im -Wasser. Das kleinere der Trinkhörner begann zu kreisen. -Staunend sah Hellwig, wie mit Ausnahme der allerjüngsten -jeder das erzbeschlagene Gefäß in einem Zuge -leerte, ohne Atem zu holen, ohne zu verschütten oder zu -‚bluten‘. Die Pfeifen qualmten, eine dicke Wolke Tabakdampf -umschleierte die Gasflammen, drückend heiß wurde -es. Der Schläger des Erstchargierten fiel immer öfter -dröhnend auf die Tischplatte: „Silentium!“ — „Silentium!“ -donnerte gleichzeitig Karg seinen Füchsen zu.</p> - -<p>Wieder stieg ein ernster <span class="antiqua">Cantus</span>. Aber der klang nur so, -wie in der Kirche das Meßlied: pflichtgemäß, korrekt, -ohne Wärme.</p> - -<p>„<span class="antiqua">Cantus ex! Colloquium!</span>“</p> - -<p>„Heil dem <span class="antiqua">Cantus</span>!“</p> - -<p>„Verflucht, sind die Füchse ledern!“ rief da der schweigsame -Deimling. „Liefert endlich einen Ulk! Oder ich lass’ -euch spinnen, daß ihr Schusterbuben kotzt!“</p> - -<p>Nun sammelte Karg seine Knappen, beriet sich flüsternd -mit ihnen, und die ganze Fuchsentafel zog ins Nebenzimmer. -Auch Pichler ging mit, der sich rasch hineingefunden -hatte und, leicht beschwipst, alles im rosigsten -Licht sah. Nach einer Weile kamen sie mit brennenden -Kerzen zurück. Der Fuchsmajor rückte einen runden Tisch -von der Wand, stellte einen Stuhl darauf und ließ sich -dort oben nieder. Die Füchse aber umkreisten ihn und -sangen:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Jessas, a Ringelg’spiel</div> - <div class="verse indent0">Is a Hetz und kost’ net viel.</div> - <div class="verse indent0">Alles draht sich um und um,</div> - <div class="verse indent0">Tschindarassa bumbumbum!“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Immer schneller sangen sie und immer rascher bewegten -sie sich in der Runde, erst auf dem Fußboden, dann von -Stuhl zu Stuhl, endlich auf dem Tisch, so viel ihrer Platz -hatten. Das Singen wurde Gebrüll, das Getrappel Staub -aufwirbelndes Stampfen, der Boden schwankte, die Gläser -klirrten, bis endlich mit einem Huronengeheul die -Darsteller insgesamt in die Knie sanken, teils auf den -Dielen, teils auf den Sesseln und auf dem Tisch, sich mit -hoch gehaltenen Lichtern zu einer Art Schlußgruppe um -den Fuchsmajor vereinigend, der die Arme an den Leib -gedrückt, die Hände auf den Schenkeln wie ein ägyptischer -König auf seinem Sitz hockte.</p> - -<p>Da sauste plötzlich ein faustgroßer Stein durch eine -splitternde Fensterscheibe, klatschte gegen die Wand und -fiel polternd nieder, indes der Mörtel langsam nachrieselte. -Ungestüm sprangen die Füchse auf, aber schon rief Karg, -vom Tisch herabspringend, sein donnerndes: „Silentium!“ -Da mußten sie bleiben. Die Burschen bewahrten eisige -Gelassenheit.</p> - -<p>„Der Esel von Kellner hat wieder einmal nicht zugemacht!“ -sagte Deimling, stand auf und trat an das zerbrochene -Fenster, um die Läden zu schließen. Gejohl schallte -von der Gasse, ein zweiter Stein flog knapp an seinem -Kopf vorbei. „Nur keine Aufregung!“ brummte das alte -Semester, unerschüttert ruhig mit dem widerspenstigen -Rolladen beschäftigt. Der Erstchargierte, <span class="antiqua">stud. med.</span> -Braun, ein breitschultriger Hüne aus dem Egerland, hatte -inzwischen das andere Fenster verwahrt. „Sehen Sie,“ -wandte er sich zu den Gästen, „die edlen Söhne der Libuscha -heißen uns auf ihre Art willkommen. Geschieht -öfters so, man gewöhnt sich daran! — Aufgepaßt, Füchse!“ -fuhr er mit scharfer Kommandostimme fort. „Bei solchen -Sachen ist die erste Pflicht: ruhig bleiben! Nicht mit der -Wimper zucken! Sonst ist der Krawall fertig! Schreibt -euch das hinter die Ohren! Und nun steigt: ‚Die Wacht -am Rhein‘. <span class="antiqua">Cantor, incipias!</span>“</p> - -<p>„Es braust ein Ruf wie Donnerhall!“ stimmte der Sangwart -an, alle fielen ein, und diesmal wehte wirklich etwas -vom Sturmatem der Begeisterung in den frischen Stimmen.</p> - -<p>Fritz aber war wärmer geworden. Das sichere Auftreten -der jungen Leute, ihre kalte Geistesgegenwart und die -musterhafte Zucht, mit der sie hinter sorgenlosem Leichtsinn -und behaglicher Fröhlichkeit versteckt, einen zähen -Kampf um ihre Muttersprache führten, das alles zwang -ihm, der nicht ihre Ansichten teilte, Achtung ab, weil -hier ein ehrliches Wollen zu spüren war. Er wurde gesprächiger, -taute auf und weil sich, hierdurch angeregt, -auch jene freier gaben, geschah es, daß er in ein ganz leidliches -Verhältnis zu ihnen kam. Er blieb bis zum Schluß -in der Kneipe und als beschlossen wurde, noch ein Kaffeehaus -aufzusuchen, ging er ebenfalls mit.</p> - -<p>Je drei oder vier in einer Reihe, zogen sie geräuschvoll -durch die spärlich erhellte Gasse zum Wenzelsplatz. Die -Nacht war bereits ziemlich vorgerückt, in den Straßen bewegten -sich nur vereinzelte Schwärmer. Unerwartet aber -brach mit großem Getöse aus einem Nebengäßchen ein -Trupp meist jüngerer Leute. Sie hatten schwarze Samtbaretts -schief auf den mähnigen Köpfen, schwangen drohend -dicke Stöcke und gebärdeten sich ohne ersichtlichen Grund -sehr aufgeregt und wild. Es waren die Mützen der deutschen -Studenten, die das tschechische Jungvolk derart in Zorn -brachten. Denn in ihm war die Unduldsamkeit eines kleinen -Stammes, der rings von einem großen umklammert, -eifersüchtig seinen Besitzstand wahrt, in jedem Farbenbändlein -des Feindes eine Gefahr für sich erblickend. Worte -wie Provokation und Frechheit fielen, und schon auch zerbrach -ein Spazierstock an dem harten Schädel Deimlings. -Der schüttelte sich nur wie ein Auerochs, den ein Kieselsteinchen -traf, nahm Hellwig, der ihm zunächst schritt, -unterm Arm und ging weiter mit finsterer Miene, ohne -ein Wort zu sprechen. Auch die andern Herminonen hatten -sich zusammengeschlossen, marschierten Schulter an Schulter -dicht gedrängt, mit unbewegten Gesichtern, und redeten -nicht. Jeder Widerstand, das wußten sie, trieb Wasser -auf die Mühlen der Gegner, und schon mehr denn einmal -hatte die unbedeutende Verletzung eines Tschechen in einem -solchen Raufhandel den Vorwand abgegeben zur Zerstörung -deutschen Eigentums, zu Plünderung und Raub. Darum -dämmten sie gewaltsam ihren Zorn zurück und zogen Schritt -für Schritt gelassen weiter. Voran ging der riesenhafte -Braun, mit Schultern und Ellbogen sich den Weg durch -die Erregten bahnend, die mit heftigen Gebärden immer -wieder herzu drängten und zurückwichen, unschlüssig, ob -sie einen ernstlichen Angriff wagen sollten. Ihre lauten -Stimmen erfüllten die Gasse, lockten die Gäste aus den -Schenken vor die Türen, und mancher schloß sich dem -Zuge an. Und jedesmal, wenn einer sich hinzugesellte, -wurde ihm, der vordem ganz ruhig sein Schöpplein getrunken, -das Gesicht fahl vor Aufregung und in den -glitzernden Augen erwachte der Haß. Wie eine elektrische -Wolke umhüllte er das lautlose Häuflein der Studenten, -und endlich mußte die Entladung erfolgen.</p> - -<p>Als der Trupp an einem Neubau vorüberkam, raffte -einer blind vor Wut einen Ziegelbrocken, warf und traf -einen Herminonen an die Schläfe. Der ächzte, stolperte -nach vorn und wäre hingefallen, wenn ihn nicht seine -Bundesbrüder schnell gestützt hätten. Aus einer Fleischwunde -floß ihm das Blut über Gesicht und Kleider. Hellwig -aber, in dem es schon lang brodelte, war, ehe ihn -Deimling zurückhalten konnte, mitten in den dichtesten -Knäuel gesprungen, bekam den Werfer zu fassen und -schmetterte ihn in aufflackerndem Jähzorn zu Boden. Im -Nu war der Wildling zwischen den Tobenden eingekeilt, -die mit Fäusten und Stöcken nach ihm hieben, Kragen -und Binde von seinem Hals rissen und ihn durch ihre -Überzahl arg bedrängten. Er wehrte sich, so gut oder -schlecht es ging. Der Hut war ihm vom Haupt geschlagen -worden, sein feines Haar flatterte im Luftzug und gab -lichten Schein über der gefurchten Stirn, die weiß aus -dem Halbdunkel leuchtete, während der übrige Teil des -Gesichts darin versank. Von vorn gestoßen, gezerrt von -rückwärts, von allen Seiten geknufft, geschoben und gequetscht, -mußte er sich darauf beschränken, die Hiebe mit -emporgehobenen Armen von seinem Kopfe abzuwehren, -und es wäre ihm übel ergangen, wenn nicht Deimling -und Braun zu Hilfe gekommen wären. Den Kopf zwischen -die Schultern gezogen und die vorgehaltenen Fäuste -wie Rammböcke brauchend, brachen sie sich, ostfränkische -Bauernsöhne, unwiderstehlich Bahn und stellten sich kampfgewärtig -um den Bedrängten.</p> - -<p>Nun aber eilten Wachleute herbei und trennten die Streitenden. -Die Tschechen wurden in die Gasse zurückgedrängt, -die Hochschüler unter polizeilichem Schutz zum Kaffeehaus -geleitet und dem Portier überantwortet, der sofort -die Tore hinter ihnen schließen mußte.</p> - -<div class="section"> -<h3>3.</h3> -</div> - -<p>Der junge Mensch, den Fritz aufs Pflaster geschleudert, -hatte zwar nicht gefährliche, aber immerhin ernstlichere -Verletzungen davongetragen. Wie Hühner auf gestreuten -Weizen, stürzten sich Zeitungsleute auf den Vorfall und -schon die tschechischen Mittagsblätter brachten spaltenlange -Berichte. Scheinbar ruhig und sachlich gehalten, wirkten -sie durch Unterdrückung oder einseitige Beleuchtung einer -Tatsache besser als die schärfsten Brandartikel und verfehlten -in ihrer geschickten Fassung die beabsichtigte Wirkung -nicht.</p> - -<p>Leidenschaftlich erregte Volksmassen sammelten sich und -zogen singend durch die Straßen. Auf dem Graben, der -sonst nach stillschweigendem Übereinkommen den Deutschen -zum Abendbummel überlassen blieb, zog in geschlossenen -Reihen die slawische Jungmannschaft auf, Jünglinge und -Mädchen mit rot-weiß-blauen Bändern und Schleifen streiften -umher und umringten die deutschen Burschenschaftler -mit wüstem Geschrei. Langsam anschwellend rollte es die -Straße entlang, brandete an den Häusern empor, ebbte -ab und schwoll zurückkehrend wieder an, murrte, tobte, -donnerte ohne Aufhören hinab und hinauf, von einem -Menschenschwarm dem andern zugeworfen, bald dumpf -am Boden hinrollend, bald schrill in die schwere, nebelfeuchte -Abendluft flatternd, die es sogleich wieder niederdrückte -und am Boden festhielt.</p> - -<p>Mit gelben Höfen leuchteten die Straßenlampen nur -verschwommen in der Dämmerung. Gleich schwarzen Käfern -hasteten die Menschen durcheinander, und wo eine -Studentenkappe sichtbar wurde, entstand ein heftigerer Wirbel -in den wimmelnden Massen, stürzten alle ungestüm -herzu, fluchend, gestikulierend und aufs heftigste erbittert.</p> - -<p>Hellwig ging mit Braun und Deimling im Zuge der -Herminonen. Pichler war verschwunden. Als der tolle Lärm -losbrach, hatte er sich sacht davongestohlen. So stumm -und kleinlaut, wie er vordem auf dem Weg von der Kneipe -zum Bummel keck und prahlerisch einem entschiedenen -Widerstand das Wort gesprochen, war er über die Straße -und durch die nächste Seitengasse heimgegangen.</p> - -<p>Das Gewühl wurde immer stärker und schon lieferte -man sich da und dort kleine Scharmützel. Aber sie waren -nur rasch und kurz, als sollten vorerst die Kräfte geprüft -und ausgekundschaftet werden, wie weit der Gegner zu -gehen entschlossen sei. Da fiel es plötzlich einem verwegenen -Häuflein von sieben rotbemützten Teutonen ein, die Wacht -am Rhein anzustimmen. Gewaltig sangen sie mit ihren -schweren Bässen das deutsche Wehr- und Trutzlied in das -einförmige Gejohl.</p> - -<p>„Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!“ Weiter -kamen sie nicht. Wie losgelassene wilde Tiere stürzten -sich die Tschechen auf die unbedachten Heißsporne. „<span class="antiqua">Mažte -ji!</span> Haut sie!“ brüllten die Jünglinge mit der slawischen -Trikolore, und manches zarte Mädchen bearbeitete mit -dem Regenschirmchen die Köpfe der Sänger, bis das luftige -Dach in Fetzen am geknickten Stäbchen flatterte.</p> - -<p>Aber auch die andern Hochschüler mußten die Unbesonnenheit -der sieben Kampfhähne entgelten. Eine Sturzwelle, -warf sich die entfesselte Wut gegen die Deutschen -und brachte sie nun wirklich in ernste Gefahr. Berittene -Schutzleute sprengten in die Menge. Sie vermochten nichts -gegen die wache Leidenschaft. Die arg bedrohten Deutschen -flüchteten in die Fluren der Häuser. Aber mancher Hausbesorger -weigerte ihnen auch diese Zuflucht und trieb sie -wieder auf die Gasse, wo die ergrimmten Slawen neuerdings -über sie herfielen. Die Geschäftsleute hatten ihre -Läden schon früher geschlossen. Nun beeilten sich auch die -Wirte und Kaffeesieder, ihre Spiegelscheiben zu verwahren, -denn bereits waren viele eingedrückt und zertrümmert.</p> - -<p>Vor dem deutschen Vereinshaus war das Gedränge am -ärgsten. Den meisten Studenten war es nach hartem -Strauß gelungen, sich dorthin zurückzuziehen. Die Menge -aber schickte sich allen Ernstes an, das Gebäude zu stürmen. -Schon splitterte das Holz an den Fensterläden, wurden -die Torflügel bedrohlich locker, als eine Schar Dragoner -heransprengte, die im Verein mit einigen Abteilungen Fußvolk -die Volksmassen ziemlich rasch in die Seitenstraßen -abdrängten.</p> - -<p>Aber während am Graben das militärische Lagerleben -sich entfaltete, während die angepflockten Pferde mit gesenkten -Köpfen schlafend neben Sattelzeug und Pyramiden -von Gewehren standen, während die Posten auf und nieder -schritten, umsummt von den leisen Gesprächen der ruhenden -Mannschaft, — ein Säbel klirrte, ein Pferd schüttelte -sich und wieherte leise, still und dunkel standen die Häuser, -— währenddessen rotteten sich in den Vororten die Vertriebenen -wieder zusammen, und von den immer bereiten -Scharen arbeitsscheuer Halunken unterstützt, nahmen sie -Rache dafür, daß man sie in der Wahrung ihrer vermeintlichen -Rechte mit Waffengewalt gehindert hatte.</p> - -<p>Deutsche Firmenschilder wurden von den Häusern gerissen, -die Geschäfte aufgebrochen, die Vorräte auf die -Gasse geschleppt, vernichtet, geraubt. Und die Steine flogen -in die Säle deutscher Bildungsstätten und wissenschaftlicher -Anstalten, flogen in die Spitäler bis zu den Betten -der wehrlosen Kranken, verbreiteten Schrecken und Angst -in den Räumen, die das tiefste Menschenelend umschlossen, -vermehrten die Leiden der Schwerkranken und warfen halb -Genesene in neues Siechtum.</p> - -<p>Die ganze Nacht dauerten die Überfälle. Sie waren so -ausgezeichnet ins Werk gesetzt, daß der Pöbel, dem ein -Heer von Spähern zur Verfügung stand, seine Arbeit regelmäßig -gründlich abgetan und sich aus dem Staub gemacht -hatte, wenn endlich die Hüter der öffentlichen Ordnung -auftauchten. Auch der nächste Morgen brachte keine Ernüchterung. -Posten lauerten bei verdächtigen Häusern, -stürzten sich auf jeden, der heraustrat und mißhandelten -ihn, wenn er als Deutscher erkannt wurde. Und wo noch -ein unbewachtes deutsches Kauflädchen zu finden war, wurde -es aufgesprengt und ausgeplündert. Die Behörden waren -unentschlossen, zauderten und fürchteten sich vor den möglichen -Folgen energischer Maßregeln.</p> - -<p>So verging auch dieser Tag und noch eine Nacht unter -fortwährendem Tumult. Während der ganzen Zeit durften -die Studenten das deutsche Vereinshaus nicht verlassen. -Ein starker Militärkordon bewachte sie, aber heraus ließ -man niemanden, der nicht einen unauffälligen Hut vorweisen -konnte. Denn man wollte vermeiden, daß durch -den Anblick der bunten Mützen die Menge von neuem gereizt -und zu einem Angriff gegen die Truppen verleitet werde.</p> - -<p>In diesen Tagen höchster Bedrängnis wurde wieder -einmal eine deutsche Eintracht geboren. Mit pomphaften -Worten und tausend Vorbehalten erklärten sich die radikalen -Fraktionen bereit, ihre gegen Judentum und Liberalismus -geschliffenen Streitäxte bis zur Wiederkehr besserer -Zeiten zu vergraben. Mit weitschweifigen Debatten und -großen Reden ging ein kleines Geschlecht daran, das neugeborene -Zufallskind eines großen Augenblicks auf die -Taufe zu heben.</p> - -<p>Nun war da unter den Freisinnigen ein Hochschulprofessor, -der in seiner stillen Gelehrtenstube ein fleißiges -Arbeitsleben führte, in bescheidener Zurückgezogenheit seiner -Wissenschaft lebte und von vielen übersehen oder wenig beachtet -wurde, weil er jedem Hervortreten fast ängstlich -auswich. Um so größeren Eindruck machte es, als er -sich jetzt unter dem Zwang einer ehrlichen Entrüstung zur -ganzen Höhe seiner hageren Gestalt erhob und die Erregung -hinter einer trockenen Knappheit bergend, mit dürren -Worten darlegte, was nach seiner Ansicht zur Abwehr -weiterer Drangsal und zur Sühne der erlittenen Unbilden -fürs erste zu geschehen habe. Über seine Anregung wurde an -den Ministerpräsidenten ein Telegramm abgesendet, worin -der kalte Stolz gekränkten Rechts sofortige Abhilfe forderte, -wenn es nicht zur Selbsthilfe kommen sollte. Dann begab -sich eine Abordnung zum Statthalter und verlangte Schutz -und entschiedenes Eingreifen.</p> - -<p>Jetzt endlich wurde der Belagerungszustand über die -aufgestörte Stadt verhängt und binnen kurzer Frist eine -halbwegs erträgliche Ordnung hergestellt.</p> - -<p>Durch diese Ereignisse wurde Fritz gegen Wunsch und -Absicht in den Wirbel der nationalen Bewegung mit hineingerissen. -Seine zupackende Handgreiflichkeit gegen den -Ziegelwerfer hatte ihn bekannt gemacht. Er wurde als -Vertreter der Finkenschaft in die Abordnung gewählt, und -da es den Kampf gegen eine Ungerechtigkeit galt, sagte -er nicht nein. Die vollwertige Persönlichkeit jenes Universitätsprofessors -aber nahm ihn rasch gefangen, war -mit ihrer ehrlichen Begeisterung und Besonnenheit ganz -darnach angetan, den unberatenen Jüngling in der Ansicht -zu bestärken, daß hier um ein Menschengut gekämpft -werde, das auch tüchtigen und reifen Männern kostbar -sei. Darum legte er sich unbesinnlich mit voller Kraft -ins Zeug und gab sein Bestes her, um den überkommenen -Auftrag ehrenvoll zu bestehen und dem Volke, dem er angehörte, -nützlich zu sein, soweit er das als halbfertiger -und unerfahrener Schüler vermochte. Doch fand er trotz -allem in dieser Tätigkeit keine volle Befriedigung, spürte -vielmehr ein vages Unbehagen, ohne die Quelle zu kennen, -aus der es floß.</p> - -<div class="section"> -<h3>4.</h3> -</div> - -<p>Während der zwei Sturmtage hatte auch Pichler die -Wohnung nicht verlassen. Doch hielt er sich nicht in seiner -eigenen Stube auf, in die leichtlich von der Gasse ein -Stein hätte fliegen können, sondern vertrieb sich im Hofzimmer -die Zeit, so gut es ging, indem er mit der Wondra -Mühle spielte, meistens aber rauchend mit gekreuzten -Beinen im Lehnstuhl des Astronomen saß und nicht zum -Hradschin, sondern den Leuten des gegenüberliegenden Hauses -in die Fenster schaute. Das behagte ihm je länger, je -besser, da es zumeist dienstbare weibliche Wesen waren, -die er zu Gesicht bekam und die in hofseitigen Küchen und -Kammern tagsüber mit den Hausfrauen um die Wette -geschäftig sich regten, in einsamer Frühe mit Hemd und -Unterrock bekleidet sich die Haare ordneten und abends auch -noch die Röcke auszogen, um sich rasch zu reinigen, bevor -sie die Lämpchen verlöschten.</p> - -<p>Die Wondra störte ihn nicht in diesem beschaulichen -Treiben. Wohl hockte sie rauchend, schwatzend und strickend -im selben Zimmer, aber sie schaute meist auf den Wollschlauch, -der unter den klappernden Nadeln zusehends wuchs -und hatte durchaus nicht acht, wohin unterdessen ihr Mietsmann -die Blicke wandern ließ.</p> - -<p>Von den Vorfällen der letzten Tage wußte sie die übertriebensten -und blutrünstigsten Geschichten zu erzählen, mit -einer Anschaulichkeit, als wäre sie überall mit dabeigewesen. -Dazu lebte sie in der beständigen Angst, daß auch ihr -die Stuben geplündert werden könnten, weil sie Deutsche -beherbergte; deswegen begab sie sich sehr zeitig zu Bett, -als ob, wenn <em class="gesperrt">sie</em> schlief, auch alle anderen das gleiche -tun und sie in Ruhe lassen müßten. Vorher jedoch verwahrte -sie ihre Wohnung auf das sorgsamste, und Pichler -mußte ihr jeden Abend beistehen, wenn sie den Eingang -mit dem Küchenkasten verrammelte und zur Sicherheit -noch ein paar Sessel darauftürmte. Erst dann kroch sie -beruhigt in die Federn, während Otto, nunmehr mit einem -Fernrohr des Sternguckers, wieder im Lehnstuhl Platz -nahm, zuvor aber die Lampe zurückschraubte, um zu verhüten, -daß die ahnungslosen Mägde ihn erblickten und -durch Herablassen der Rollvorhänge dem angenehmen -Schauspiel ein Ende machten.</p> - -<p>Von Fenster zu Fenster ließ er sein Perspektiv wandern, -und da bemerkte er in einem hellen Kämmerlein auch -ein junges Frauenwesen, das dort an der Nähmaschine -saß und unablässig weiße Leinwandflächen unter die Nadel -schob. Ganz deutlich sah er das reine Profil und den -nackten, schlanken Hals, der sich in einer anmutigen Linie -hinter der Hausjacke verlor, alles vom Lichte der seitlich -stehenden Lampe voll beleuchtet. Das gefiel ihm aus der -Maßen wohl.</p> - -<p>Am nächsten Morgen erwachte er erst spät. Sein erster -Blick galt wieder jenem Fenster; da stand die fleißige -Näherin im geöffneten Rahmen fertig angezogen und beutelte -aus einem Flanelltüchlein eine Wolke Staubes in -die Luft hinaus. Wie ein freundliches Winken war das, -und Otto winkte zurück, indem er lächelnd die Hand gegen -das Fräulein bewegte. Darüber erschrak dieses ein wenig, -betrachtete aber den hübschen Jungen mehr erstaunt als -entrüstet. Nun wagte er es und warf eine Kußhand hinüber. -Sie lachte ein ganz kurzes Lachen in hohen Kehltönen, -nickte, drehte sich auf dem Absatz herum, und -ihr Rocksaum wehte, während sie im Dunkel des Zimmers -verschwand. Aber nach einer Weile kam sie wieder -und blieb jetzt schon länger beim Fenster.</p> - -<p>Schimmernde Fädchen spannen sich, von einem Fenster -zum andern zogen sie sich wie helle Seide oder leichte -Sonnenstrahlen, auf denen die verliebten Jugendgeisterchen -ein lustiges Seiltanzen begannen mit halsbrecherischen -Sprüngen und Nicken und Neigen. Zag oder mutig, ängstlich -oder keck trippelten, tollten sie hinüber, herüber, bis -hinter der lichten Mädchengestalt eine rundliche Frau mit -gestrenger Miene auftauchte, worauf die männliche Geisterschar -kopfüber in den Hof purzelte, die weibliche aber in -den tiefblauen Winterhimmel hinein lachend davonschwebte.</p> - -<p>Es war, wie Otto gleich vermutet hatte und von der -Wondra bestätigt erhielt, die Mama gewesen. Die Wondra -wußte auch, daß sie einen kleinen Postbeamten zum Mann -und zwei Töchter besaß. Die ältere sollte in einigen Wochen -Hochzeit machen und ließ sich, während sie mit Eltern -und Bräutigam bei Freikonzerten und in Vergnügungslokalen -ihre abendliche Unterhaltung suchte, von der jüngeren -Schwester, der braven Helenka, die Aussteuer fertig -nähen.</p> - -<p>Pichler wich den ganzen Tag nicht von seinem Lauscherposten -und nahm sich kaum zum Essen Zeit. Indes zeigte -sich die Helenka erst abends wieder in jenem Gemach, -und mit verliebten Augen betrachtete er die runde Anmut -ihrer Bewegungen, wie sie flink und leicht in dem Leinwandhaufen -herumwirtschaftete. Er nahm die Lampe und -stellte sie beim Fenster so auf, daß ihr Schein auf ihn -fallen mußte. Dann warf er wieder eine Kußhand hinüber. -Da ließ sie die Hände in den Schoß fallen, lehnte sich in -dem Stuhl zurück und lachte ausgelassen. Er lachte auch, -winkte und verneigte sich. Sie winkte wieder, war blutrot -und lachte fort, bis sie plötzlich ihre Arbeit zusammenpackend, -nun ihrerseits die Hand an die Lippen legte und -mit den geküßten Fingerspitzen durch die Luft fuhr, worauf -das Licht blitzschnell erlosch.</p> - -<p>Mit glänzenden Augen schaute Otto auf das dunkle -Fenster, rieb sich die Hände, schnippte mit den Fingern -und freute sich unbändig. Doch hinderte ihn das nicht, -nachher andächtig dem Treiben der schläfrigen Mägde zuzusehen -und hierauf selbst einen gesunden Schlaf zu tun, -den vergnügliche Träume begleiteten.</p> - -<p>Durch ein lautes Krachen wurde er mitten in der Nacht -unsanft geweckt. Gleich darauf kam die Wondra im -Barchentunterrock mit einem Angstgezeter in sein Zimmer -gestürzt. Denn sie vermutete nichts anderes, als daß ihre -Landsleute bei ihr einbrechen und für den Volksverrat -Rache nehmen wollten. Auch Otto mochte Ähnliches erwarten -und machte ein bängliches Gesicht. Da erhob sich -draußen mächtiger Gesang: „Raus da! Aus dem Haus -da! Rrraus! Rrraus! Rrrraus!“</p> - -<p>Karg, König, Fundulus und Hellwig waren heimgekehrt -und hatten sich, da die Tür nicht nachgeben wollte, -mit vereinten Kräften dagegen gestemmt, so daß die Stühle -polternd von dem Küchenkasten fielen und dieser selbst -ins Wanken kam. Nun verwandelte sich das Angstgezeter -der Witwe in einen Freudenlärm. Trotz der ungewöhnlichen -Stunde wollte sie zur Feier der glücklichen Wiedervereinigung -ein kleines Gelage veranstalten bei schwarzem -Kaffee mit Rum und bei Flaschenbier, das sie in der kühlen -Jahreszeit stets in genügender Menge vorrätig hielt. Die -Studenten jedoch wollten erst wieder einmal ordentlich -ausschlafen, bedankten sich und vertrösteten die unternehmende -Kostfrau auf eine gelegenere Zeit. Ungern gab -sie nach, wünschte zuvor wenigstens noch die Erlebnisse -ihrer Mieter sogleich zu erfahren und ermüdete nicht im -Fragen, bis Karg die wohlbeleibte Dame nicht gerade -sanft in ihre Kammer zurückbeförderte und die zugeschlagene -Tür den rauschenden Redeschwall vorläufig staute.</p> - -<p>Weniger als die Hauswirtin war Pichler über die Ankunft -der Stubengenossen erfreut, weil dadurch das begonnene -Schäferspiel unliebsam gestört wurde. Indes, die -Sache war bereits eingefädelt und spann sich ohne Schwierigkeiten -weiter. Am nächsten Vormittag erwartete er die -Helenka bei ihrem Haustor und hatte die Genugtuung, -daß sie ihn erkannte und im leichten Schreiten mehrmals -zurückblickte, ob er ihr nachfolgte. Dies tat er denn auch -in angemessener Entfernung. Nun er sie im Straßenkleid -sah, erschien sie ganz anders und gefiel ihm fast noch -besser. Sie war ziemlich groß, von reichen, vollen Formen, -die durch ein straff gezogenes Mieder unter einem -kurzen Jäckchen und einem knappen Rock ohne Falten aufs -günstigste zur Geltung gebracht oder vielmehr diskret unterstrichen -wurden. Eine weiße Matrosenmütze, von einem -silbernen Pfeil gehalten, saß keck auf einer Fülle dunklen -Gelocks, an den leise schaukelnden Hüften wiegte sich ein -gewaltiger Henkelkorb im Takte mit. So schritt sie rasch -und resch mit schnellen Schritten vor ihm her, stramm -aufgerichtet und sehr selbstbewußt im Gefunkel ihrer jungen -Schönheit.</p> - -<p>Als sie ihre Einkäufe besorgt hatte und mit gehäuftem -Korbe heimging, fragte Pichler mutig, ob er sie begleiten -dürfe. Sie bejahte verlegen. Aber als er sich vorgestellt -hatte, begann sie sogleich ein lebhaftes Schwatzen über -ihre Näherei, ihre Familie und die bevorstehende Hochzeit, -über die winterliche Kälte und über viele andere Dinge -in dem kleinbürgerlichen Bestreben, das Gespräch nicht -ins Stocken geraten zu lassen. Fast ganz allein bestritt sie -es, in einem etwas holprigen und mühsamen Deutsch. -Aber Pichler fand auch die Fehler reizend, die ohne alle -Ziererei neckisch wie Flocken von den schmalen Lippen fielen.</p> - -<p>Von nun an traf er sie täglich, einmal am Vormittag, -einmal gegen Abend, je nachdem sie Zeit hatte. Die Stunde -gab sie ihm bekannt, indem sie dicke Ziffern mit Tinte auf -Papierblätter malte und gegen die Fensterscheiben hielt.</p> - -<p>Die Stadt hatte wieder ihr gewöhnliches Aussehen, die -Erregung schien verbraust, friedlich bewegte sich jede der -feindlichen Nationen auf ihrem Bummel, die Deutschen -auf dem Graben, die Tschechen auf dem Roßmarkt und in -der Ferdinandsstraße. Otto zeigte sich mit Helenka bald -da, bald dort, und je nachdem, wo sie gingen, sprach er -deutsch oder böhmisch mit ihr. Denn er hatte sie gebeten, -ihm in der Erlernung der zweiten Landessprache -behilflich zu sein, und so war dieser Liebeshandel nicht -nur reizvoll, sondern auch praktisch.</p> - -<p>Sie war eine Vollblut-Tschechin und machte kein Hehl -aus ihrer Gesinnung, was sie aber nicht hinderte, auch -an hübschen deutschen Männern Gefallen zu finden. Doch -war ihre Gunst nicht leicht zu erringen, denn sie war sich -ihrer Schönheit voll bewußt und konnte wählerisch sein, -weil sie von vielen umworben wurde. Am wenigsten verfingen -Schmeicheleien bei ihr, da sie solche schon bis zum -Überdruß zu hören bekommen. Das hatte Pichler bald -weg und änderte im selben Augenblick von Grund aus -seine Kriegskunst. Er wurde kurz angebunden, derb, sogar -grob. Alles, worauf sie Wert legte oder sich was -einbildete, setzte er herab, mäkelte daran und tadelte es, -wählte aber seine Ausdrücke derart bedachtsam, daß er -immer nur eine allgemeine Ansicht zu äußern schien. Erzählte -sie, stolz auf ihre prächtige Büste, daß sie auf -dem letzten Ball ein ausgeschnittenes Kleid nur mit Armspangen -getragen und was für Aufsehen sie erregt habe, -tat er höchst gleichgültig und bemerkte nur beiläufig, er -habe einmal aus einem ähnlichen Anlaß mit einem Mädchen -sich überworfen, das er gleicherweise, wie es ihn, -sehr gut leiden mochte. Er habe damals mit der Schönen -nicht ein einziges Mal getanzt, und als sie Aufklärung -verlangte, habe er ihr nur kurz geraten, sie möge auf -den Markt gehen und sich dort ausstellen; er werde sie -begleiten und wie ein Pferdehändler die gediegene Wölbung -der Brust anpreisen, die tadellosen Arme, Schenkel -und so weiter. Er habe sich nicht anders helfen können -damals, denn diese Schaustellung der Reize sei ihm widerlich -gewesen, und gewohnt, mit seiner Meinung nicht hinterm -Berg zu halten, habe er eben klipp und klar herausgesagt, -was er sich dachte.</p> - -<p>Danach hatte die Helenka auf dem ganzen Heimweg -kein Wort mehr geredet, aber er war dennoch mit seiner -Erfindung und ihrer Wirkung sehr zufrieden. In der Tat -blieb diese Art des Umgangs nicht ohne Eindruck bei einem -Mädchen, das zwar schön und im Plaudern gewandt, sonst -aber just kein Kirchenlicht war. Bald war ihnen der Bummel -zu belebt, sie mieden ihn und suchten einsamere Gassen, -wo es die Helenka schweigend litt, daß er ihren Arm -packte und mit hastiger Zärtlichkeit an sich drückte. Und -einmal, als sie von einem ernsten Bewerber erzählte, der -auf der Bildfläche erschienen war, riß er sie heftig an -sich. „Helenka, so lasse ich dich keinem andern!“ Mitten -auf der Gasse küßte er sie und kümmerte sich nicht um -ihr Sträuben und nicht um die Leute.</p> - -<p>Von nun an trugen sie das heimliche Sehnen ihrer -klopfenden Herzen in noch größere Abgeschiedenheit. Eng -aneinander gedrängt gingen sie längs des Moldauufers -spazieren, über einen weiten ebenen Plan, wo das geflößte -Brenn- und Bauholz aus dem Böhmerwald aufgestapelt -war. Gute Verstecke gab es hier, die zu Raummetern -geschlichteten Scheite waren wie Mauern und die -glatten Stämme der toten Waldriesen wie Bänke. Ganz -dunkel war es und nichts war hörbar, als das Glucksen -und Plätschern, wenn eine stärkere Welle gegen das sandige -Ufer schlug. In der Ferne blitzten die Lichter der Stadt -und lagen in gelben Streifen über den schwarzen Fluten, -ein schrilles Läuten der Straßenbahn kam herüber, eine -Turmuhr schlug mit langsam verhallendem Klang — dann -war wieder nichts als das dumpfe Rauschen im Fluß. -Als wären sie beide allein auf der Erde, so war das und -so gab sich die Helenka dem Werbenden. Sie tat es ohne -Lüsternheit oder Neugierde, als schenkte sie ihm nur, was -ihm gebührte, weil es für ihn allein in dieser dunkeln Einsamkeit -aus ihrem jungen Herzen emporgewachsen war.</p> - -<p>Dann aber starrte sie ihn, die Hände auf seinen Schultern, -mit entsetzten Augen an und stieß ihn wild von sich.</p> - -<p>„Mein armer Vater!“</p> - -<p>Ganz klanglos sagte sie das und wiederholte es mehrmals -und wimmerte leise.</p> - -<p>Otto stand ratlos und wußte nicht, wie er sie beruhigen -sollte. Sie tat ihm nicht so sehr leid, er war mehr ungehalten, -daß sie ihm jetzt diese Szene machte und die Freude -verdarb. Plötzlich aber erhob sie sich mit einem entschlossenen -Ruck und drückte sich unter der runden Mütze das Haar -an den Schläfen zurecht. „Komm!“ sagte sie nur und -schritt ohne Aufenthalt schnell gegen die Stadt. Sie -weinte nicht mehr, aber sie sprach auch nicht. Stumm -ging sie neben ihm her. Manchmal atmete sie in ihr -Taschentuch und preßte es an die geröteten Lider, um die -Spuren der Tränen auszutilgen. Aber durch die Stadt -schritt sie wieder ganz aufrecht, mit frei erhobenem Kopf -und wagerechtem Kinn. Otto wollte etwas sagen. Mit -einer heftigen Handbewegung winkte sie ihm Schweigen. -Sie wollte nicht gestört sein in dem Belauschen ihrer aufgeschreckten -Seele und dem staunenden Hineinhorchen in -den Aufruhr des Blutes. Beim Haustor neigte sie flüchtig -den Kopf und schritt rasch und fest hinein, ohne ein -Wort oder Lächeln zum Abschied.</p> - -<p>Er atmete auf. Seiner jubelnden Siegerfröhlichkeit war -der stumme Heimweg zur Qual geworden. Alles in ihm -drängte nach lauter, lärmender Freude. Und statt dieser -Luft machen zu dürfen, hatte er mit einer Leichenbittermiene -neben ihr hergehen und seufzen müssen, wo er -jauchzen wollte. Er lief mehr als er ging in die Herminonenkneipe, -trank dort, sang und schwärmte übermütig -mit den Füchsen bis zum Morgengrauen.</p> - -<p>Am nächsten Vormittag stand die Helenka wieder beim -Fenster und kündete mit ihren Tintenziffern die Stunde -des Stelldicheins. Und von nun an war alles gut, und -sie war lustig und fügsam und sehr verliebt.</p> - -<div class="section"> -<h3>5.</h3> -</div> - -<p>Das Wintersemester war vorüber. Fritz war wenig vorwärts -gekommen. Durch den Verkehr mit den Studenten -war er einem gelinden Trinken anheim gefallen -und der Gewohnheit, abends lang im Wirtshaus zu sitzen. -Anfangs hatte er sich Vorwürfe gemacht und zu bremsen -versucht. Aber da kamen ihm die Bekannten auf die -Bude gerückt, und notgedrungen mußte er als ihr Vertrauensmann -mithalten. Später schwächte der reichlichere -Genuß des Alkohols seine Widerstandskraft, das Trinken -wurde ihm sogar Bedürfnis, um die Lustlosigkeit zu bannen, -in der er jetzt wie in einer halbhellen Dämmerung -lebte. Er ging spät zu Bett und stand mit wüstem Kopf -spät auf, fühlte sich müde, leer, unzufrieden und konnte sich -doch zu keiner ernsten Arbeit zusammenraffen, ließ vielmehr -den Herrgott einen guten Mann und fünf gerade sein.</p> - -<p>Seine Barschaft schmolz bei diesem Leben rasch. Während -Otto schon drei Mittelschülern Nachhilfeunterricht erteilte, -war es ihm bisher nicht geglückt, Ähnliches aufzutreiben. -Überall wurde er abgewiesen. Der Vermerk auf -seinem Zeugnis, daß er vom Neuberger Gymnasium ausgeschlossen -worden war, machte fürsorgliche Eltern stutzig; sie -wagten nicht, ihm ihre Kinder anzuvertrauen. Und er -war zu hölzern und zu stolz, um sein Licht auf den Scheffel -zu stellen oder als Vertrauensmann seine Beziehungen zu -den Parteigrößen auszunützen. Da las er in einer Zeitung, -daß ein Rechtsanwalt einen Schreiber für die Nachmittage -suchte. Er bewarb sich um den Posten und erhielt -ihn. Das brachte ihn noch mehr aus der Bahn. Trüb -und trostlos eintönig schlichen die Tage neben ihm her, -zwischen stumpfsinnigem Wirtshaushocken am Abend und -gleichgültiger Mattigkeit am Morgen war einer wie der -andere ausgefüllt mit dem Schreiben von Mahnbriefen, -Klagen, Pfändungsgesuchen, und alle waren sie verloren.</p> - -<p>Hätte er ein gemütliches Daheim oder wenigstens eine -ruhige Kammer gehabt, er wäre vielleicht eher aus diesem -grauen Netz herausgekommen, in dem er hing wie die -Fliege im Spinngewebe und sich wehrlos den Lebensmut -austrinken ließ. So aber fühlte er einen Ekel vor dem -Treiben der Wondra. Er floh davor und floh vom Teufel -zum Beelzebub — in die Kneipen und Kaffeehäuser. -Manchmal kam ihm in diesen jammervollen Monaten der -Gedanke an Eva. Aber wenn dieser jemals treibende Kraft -für ihn gehabt, so hatte er sie jetzt verloren. Wie wenn -einer, der im zähen Moorgrund langsam versinkt, zu einem -schönen Stern hinaufblickt und sich denkt: ‚Den siehst du -auch bald nicht mehr!‘ — so war es und machte ihn -traurig und jeden Halt nahm es ihm.</p> - -<p>Bei den Studenten war er gut gelitten. Er galt als -treu und verläßlich, und die trockene Sprödigkeit, die er -im Umgang an den Tag legte, wurde von den jungen -Leuten als Zeichen männlicher Reife und Wahrhaftigkeit -genommen und hochgehalten. Aber je mehr man sich um -ihn riß, je scheuer und zugeknöpfter wurde er. Er litt -unter diesem Leben ohne Inhalt, das um so leerer wurde, -je weiter die hellen Kampftage in die Vergangenheit zurücksanken. -Rasch wie die Fehde entbrannt, war sie auch -vergessen und die Gegenwart wieder angefüllt mit Kneipen, -Nachtschwärmen und Raufereien unter den einzelnen -Verbindungen. Und er zechte und schwärmte mit und -wenn er noch in keinen Ehrenhandel verwickelt worden -war, so hatte er das nur seiner Wortkargheit zu danken.</p> - -<p>Schal war das alles, belanglos und nichtswürdig. Aber -loskommen konnte er doch nicht.</p> - -<p>In die Hörsäle kam er nicht mehr. Er schämte sich, -mit schwerem Kopf und stumpfen Sinnen hinzugehen. -Statt dessen saß er jetzt auch an den Vormittagen in -der Kanzlei. Denn die ungeordnete Lebensweise kostete -viel Geld, und schon gab er täglich mehr aus, als er, das -Erworbene eingerechnet, verbrauchen durfte. Vom Bureau -ging er ins Kaffeehaus, wo er die Tagesblätter und sämtliche -ernstere Zeitschriften las, deren er habhaft werden -konnte. Gewöhnlich blieb er dort bis spät abends, begab -sich dann in eines der Studentenwirtshäuser. Er brachte -es nicht über sich, bei der Wondra das Nachtmahl zu -nehmen. Sie rechnete auch bei der Zubereitung nicht mehr -mit ihm, aber den Kostpreis setzte sie ihm deswegen doch -nicht herab.</p> - -<p>Dann kamen wieder Abende, an denen es ihm einfach -unmöglich war, ein menschliches Gesicht zu sehen. An -denen er die Kneipen mied und trotz Frühlingswind und -Regenwetter im Freien sich herumtrieb. Den Radmantel -um die Schultern, lief er pfadlos am Strand der Moldau -herum. Das aufgeweichte Erdreich klebte in Klumpen an -seinen Sohlen und machte sie schwer, unter seinen Tritten -spritzte ihm das Schmutzwasser der Regenpfützen oft bis -ins Gesicht, und nach jedem solchen Ausflug schalt die -Wondra, daß seine Kleider nicht sauber zu kriegen seien. -Aber immer wieder rannte er in diese tiefdunkle Einsamkeit, -als könnte er sich dort vor seinem eigenen Ich verstecken. -Aber er entkam sich nicht. Alle Vorwürfe und -aller Ekel über sein unwürdiges Treiben gingen unablässig -mit ihm durch die Finsternis, und er fühlte nur, -daß er sich Stunde um Stunde an sich selbst versündige, -indem er in schlaffem Müßiggang seine blanken Kräfte -rosten ließ. Manchmal auch packte ihn ein sinnloser Zorn, -der ihm Tränen in die Augen trieb. Er schlug mit geballten -Fäusten seinen Leib, und je mehr es ihn schmerzte, -mit desto wilderer Freude schlug er weiter, auf Arme, -Wangen, Schläfen, und höhnte und beschimpfte sich mit -häßlichen Worten, die in einem Schluchzen erstickten. Jedes -Ziel war ihm entglitten, er ging mit verbundenen Augen -um sein Leben herum wie der Gaul im leeren Göpel.</p> - -<p>Die nächtlichen Wanderungen führten ihn weit über -die Holzplätze hinaus in eine Gegend, wo der neue Hafen -erstehen sollte. Die Arbeiten hatten noch nicht begonnen, -aber schon waren in der großen Kotwüste Baggermaschinen -aufgestellt und neben angehäuften Baustoffen Holzhütten -und Verschläge für die Karren und Werkzeuge errichtet -worden. Nur selten kam in den Abendstunden ein Mensch -hieher. Ihn aber trieb es immer wieder in diese Öde, die -so gut zu seiner Stimmung paßte. Stundenlang konnte -er dort hocken und vor sich hinbrüten, während der Regen -kühl und traurig ohne Pausen auf ihn niederfiel. Und -je unfreundlicher das Wetter war, je länger blieb er, -als wollte er mit diesem freiwilligen Ausharren in einer -Beschwerde nur irgendwie eine sühnende Tat setzen, wenn -er schon nichts anderes zuwege brachte.</p> - -<p>Da vernahm er einst — es war ein naßkalter Aprilabend -— ein Husten und Stöhnen wie von einem unruhigen -Schläfer, schaute um sich und gewahrte einen spärlichen -Lichtschein, der aus einer der hölzernen Hütten flimmerte. -Leise ging er darauf zu. Und wie er vorsichtig durch die -Fugen der Bretterwand spähte, sah er im Innern des -matt erhellten Raumes zwei Gestalten auf dem bloßen -Erdboden hingestreckt, während drei andere neben einem -Feuer kauerten und einem geschlachteten Pudel das Fell -abzogen. Das Feuer brannte in einem Viereck aus Ziegelsteinen, -und auf diesem Herd stand ein verbogener Blechtopf, -darin das Wasser schon zu dampfen anfing.</p> - -<p>Die fünf Kumpane mochten wohl schon öfters hier übernachtet -haben und schienen sich in ihrem Schlupfwinkel -ganz sicher zu fühlen, weil sie sich so sorglos gehen ließen. -Gern hätte sich Fritz zu ihnen gesellt. Aber sein Erscheinen -hätte sie höchstens beunruhigt oder mißtrauisch -gemacht, und helfen konnte er ihnen doch nicht. So ließ -er es bleiben.</p> - -<p>Das Hundefleisch war gar geworden. Nun wurden auch -die Schläfer munter und setzten sich zum Feuer. Alle -schwiegen, streckten die Hände nach den rauchenden Fleischstücken, -rissen mit den Zähnen große Fetzen los, die sie -mit der Hast des Hungers verschlangen. Dazu tranken -sie von der gelblich-grauen Fettbrühe mit schmatzenden -Lippen, und in ihren knochigen Gesichtern war ein Ausdruck -der Zufriedenheit, als säßen sie bei dem alten Schlemmer -Lukull zu Tisch. Satt gegessen, kramten sie aus -den Taschen die gesammelten Zigarrenstummel, setzten sie -in Brand und streckten sich längelang auf den nackten -Erdboden aus, die verschränkten Hände als Kissen unterm -Kopf. Einer hatte auch eine gefüllte Schnapsflasche mit, -die im Kreis herumging und schnell leer war. Solang -das Feuer brannte, unterhielten sie sich halblaut miteinander. -Sie redeten deutsch, aber aus ihrer Aussprache -hörte der Lauscher, daß nur zwei von ihnen wirklich -Deutsche waren, der ‚Schwabe‘ und der ‚Bayer‘, wie sie -genannt wurden, während die drei anderen, der ‚Tschasbauer‘, -der ‚Wasserkopf‘ und der ‚Krowot‘ der slawischen -Rasse angehörten.</p> - -<p>Sie erzählten von ihren vergeblichen Gängen um Arbeit -und verwünschten das milde Wetter, weil es schneller -den Schnee weggeräumt hatte als sie mit ihren Schaufeln. -Dann wurden sie einsilbiger und schliefen endlich ein, -indes der Regen ohne Pause rieselte und der Wind empfindlich -kalt durch die Bretterwände pfiff.</p> - -<p>Fritz schlich sacht davon. Seine Kleider waren schwer -von Nässe, in den Vertiefungen seines Filzhutes bildete -das Wasser kleine Teiche. Aber heim ging er noch nicht. -Eine dumpfe Trauer war in ihm, und mit doppelter Gewalt -griff die Reue über so viele nutzlos verzettelte Tage -an sein Herz. Denn es war ihm gewesen, als hätte im -unsteten Flackern des dürftigen Feuerchens hinter Qualm -und rauchiger Glut wie in weiter trüber Ferne das verlorene -Ziel flüchtig herüber geleuchtet.</p> - -<p>... Den Elenden und Gequälten ein freies, heiteres -Dasein schaffen, ihnen das Recht auf Glück zurückerobern -— ein Ziel, wohl wert, sein Leben dafür aufzuwenden ...</p> - -<p>Hatte wirklich einmal einer so zu ihm gesprochen, und -er hatte sich ihm zugeschworen mit Handschlag und Gelöbnis? -Und statt dessen schritt er satt und behäbig in den -Reihen der Behäbigen und Satten, trank sein Bier in -Ruhe und ereiferte sich höchstens im Streit der Glieder -untereinander, indes der ganze Körper in schwerer Not -rang. Die Menschheit war dieser Körper, und ihre Not -war der Hunger. Und wo dieser war in seinem bittersten -Ernst, da war auch kein Kampf von Volk zu Volk, von -Bruder zu Bruder. Da saß der Bayer mit dem Polen, -der Deutsche mit dem Slawen beim Feuer, und sie -teilten sich einträchtiglich im Fleisch eines gestohlenen -Hundes.</p> - -<p>Und während er in Regen und Sturm durch die Frühlingsnacht -irrte, wurde ihm immer klarer und erkannte -er immer deutlicher, daß die Unzufriedenheit, die Unlust -und Leere der letzten Monate nicht seinem Müßiggang -entsprang, nicht dem Wirtshaushocken und Zechen und -Saufen. Das waren nur die Folgen, die Ursache aber -war, daß er sich an eine Sache mit halbem Herzen und -gegen seine innerste Überzeugung hingegeben. Das Unrecht, -die Vergewaltigung, die der Schwächere erdulden -mußte, hatten ihn geblendet, so daß er nicht sah, daß -der ganze Kampf ein Unrecht war und ein Frevel an -der Allgemeinheit.</p> - -<p>Als er endlich — der Morgen brach an — nach Haus -kam, begegnete er dem Mediziner Karg, der ohne Gruß -an ihm vorüber und die Treppe hinabeilte. Unter der -Wohnungstür stieß er mit dem Astronomen zusammen. -Auch der war bleich und ernst und grüßte kaum. Fritz -war zu müde, als daß ihm das aufgefallen wäre. Er -entledigte sich seiner Kleider, aus denen in trüben Bächlein -das Regenwasser rann und fiel in einen bleischweren -Schlaf.</p> - -<p>Nach kaum zwei Stunden wurde er von Pichler wach -gerüttelt. Der hübsche Mensch hatte blasse, zitternde Lippen -und war ganz verstört.</p> - -<p>„Fritz, steh’ auf! Karg hat den König erschossen!“</p> - -<p>Es war so. Betrunken hatten sie in einem Nachtkaffee -Streit angefangen, der mit Faustschlägen und Ohrfeigen -endete. Nüchtern geworden, hatten sie sich am nächsten -Tag wieder versöhnt und das frühere Einvernehmen hergestellt. -Aber Deimling war Zeuge des Auftritts gewesen -und duldete eine so gemütliche Beilegung nicht. Ein Mitglied -der Herminonia war tätlich beleidigt worden, und -dafür gab es nach seinen starren Ehrbegriffen nur eine -Sühne mit den Waffen, sollte kein Makel an den Farben -der Landsmannschaft haften bleiben. Das sagte er dem -Karg, und als der entgegnete, die Sache sei bereits durch -gegenseitige Entschuldigung aus der Welt geschafft, erklärte -Deimling finster, er hätte gedacht, der Fuchsmajor -würde besser wissen, was die Ehre der grün-weiß-roten -Farben gebieterisch fordere. Für seine Person könne er -ja die Hiebe ungestraft auf sich sitzen lassen. Aber dann -werde der Fall in der nächsten Kneipsitzung zur Sprache -kommen, und da werde es sich ja zeigen, ob ein Geohrfeigter, -der sich für eine solche Schmach nicht Genugtuung -mit den Waffen verschaffe, ferner noch würdig -sei, das grün-weiß-rote Band zu tragen.</p> - -<p>Nun war Karg mit Leib und Seele bei seiner Burschenherrlichkeit -und war viel zu oft schon auf Mensur gestanden, -als daß es ihm auf einen Ehrenhandel mehr oder -weniger, selbst mit einem guten Freunde, sonderlich angekommen -wäre. Wenn Deimling wollte, ging er eben los, -da war weiter nichts dabei. Aber die Osterferien standen -vor der Tür. Und König war ein guter Fechter. Und -Karg wollte seiner Mutter nicht mit frischen Schmissen -nach Haus kommen. Und der Handel mußte binnen zweimal -vierundzwanzig Stunden — so stand’s im Kodex — -ausgetragen sein. Also einigte man sich auf Pistolen. -Deimling war ganz Korrektheit und steife Würde. Er -ordnete alles und verbot insbesondere dem Fuchsmajor, -mit dem Gegner in derselben Stube zu wohnen, so daß -ihm die Wondra für diese eine Nacht in ihrer eigenen -Kammer das Lager zurechtmachte, während sie selbst in -der Küche schlief.</p> - -<p>Dann war es so gekommen, daß König, der den ersten -Schuß hatte, ein Loch in die Luft schoß, während Karg, -vor Aufregung zitternd und unsicher, die Waffe nicht in -der Gewalt hatte. Seine Kugel fuhr dem Astronomen -ins linke Auge. Ein paar Atemzüge lang stand er noch aufrecht, -mit unverändertem, nur wie verwundertem Gesicht. -Und schon wollten alle des guten Ausgangs sich freuen, -da wankte er, fiel hin und hatte den letzten Atemzug getan, -ehe noch jemand die Verletzung wahrgenommen.</p> - -<p>Seinen Leichenwagen begleiteten die Herminonen in -voller Wichs und Abordnungen von vielen anderen Verbindungen. -Es war ein sehr schönes Begräbnis. Karg -stellte sich den Gerichten. Er wurde zu drei Jahren Kerker -verurteilt und da er Reserveoffizier war, vom Kaiser -begnadigt. So verlief alles in schönster Regelmäßigkeit, -und auf dem frischen Grabhügel wurden die Frühlingsgräser -besonders üppig grün, als hätten sich aus dem -zerstörten Jünglingskörper alle Hoffnungskeime lichthungrig -in ihre zarten Spitzen geflüchtet.</p> - -<p>Die Wondra weinte sehr um den Verlust ihres besten, -weil beständigen Mieters. Acht Tage rührte sie kein Kartenblatt -an, und noch weitere vierzehn Tage traten ihr -jedesmal, wenn sie sich zum Spieltisch setzte, die Tränen -in die Augen, und sie weihte dem Toten einen stillen Gedächtnisschluck.</p> - -<div class="section"> -<h3>6.</h3> -</div> - -<p>Karg wurde seit diesem Zweikampf mit ausgesuchter -Hochachtung behandelt, so daß ihm das zu Kopf stieg -und er einer dünkelhaften Einbildung anheimfiel, die sich -in kurzen, herrischen Gebärden und in einem blasierten -Gesichtsausdruck offenbarte. Er wurde stolz und war beinahe -froh, daß er einen ernstesten Fall gehabt und daß -von ihm erzählt werden konnte, er habe schon einen im -Duell erschossen.</p> - -<p>Derart hatten sich alle Beteiligten in ihrer Weise rasch -wieder zurechtgefunden.</p> - -<p>Hellwig brauchte länger. Alles in ihm bäumte sich -gegen die Leichtfertigkeit, mit der hier über ein Menschenleben -zur Tagesordnung übergegangen wurde. Und als -eines Tages nach Ostern Karg auf ihn zutrat: „Kommen -Sie heut’ mit in die Kneipe?“, wandte er sich wortlos ab. -Das war eine Beleidigung, und der Herminone, jetzt erst -recht nicht gewillt, sich dergleichen gefallen zu lassen, verlangte -Aufklärung. Fritz aber gab keine Antwort, stand -mit dem Gesicht gegen das Fenster gekehrt und rührte -sich nicht. Da schickte ihm Karg seine Zeugen. Es waren -Deimling und der Erstchargierte Braun. Gemessen und -förmlich überbrachten sie die Forderung.</p> - -<p>„Sie haben sich umsonst bemüht!“ sagte Hellwig. „Ich -schlage mich nicht.“</p> - -<p>Nun hätten sie füglich gehen können. Aber Braun tat -noch ein übriges, indem er den allseits Beliebten auf die -Folgen einer solchen Weigerung aufmerksam machte. Fritz -bat ihn jedoch sehr ruhig, er möge sich das sparen. Seinen -Entschluß werde es nicht ändern.</p> - -<p>„Diese Methode ist sehr eigentümlich!“ nahm nun -Deimling das Wort. „Erst der Ehre eines Menschen grundlos -nahe treten und dann ...“</p> - -<p>„Mein bester Herr Deimling,“ fiel ihm da Hellwig -in die Rede, „das Leben eines Menschen ist wertvoller -als seine Ehre!“</p> - -<p>„Das ist jedenfalls ein bequemer — und sicherer Standpunkt!“ -entgegnete der alte Herminone, setzte mit einer -spöttischen Verbeugung hinzu: „Hüten Sie also Ihr wertvolles -Leben!“ und wollte sich entfernen. Fritz vertrat -ihm den Weg: „Sie haben mich falsch verstanden. Ich -habe nicht von mir gesprochen, sondern von dem armen -König.“</p> - -<p>„Er ist gefallen wie ein Soldat auf dem Felde der -Ehre!“ antwortete Braun. Fritz erwiderte:</p> - -<p>„Ich weiß nicht, welche Ehre Sie meinen. Es gibt -ihrer ja so viel als Stände und Rassen. Ich weiß nur, -daß ein Menschenleben etwas Kostbares und Heiliges ist. -Und wer eins davon vernichtet, bestiehlt die Menschheit -um tausend Möglichkeiten, versündigt sich an ihr und -besudelt jene einzige Ehre, die ich allein gelten lasse: die -Ehre, Mensch zu sein.“</p> - -<p>„So behalten Sie diese Ehre!“ sagte Deimling spöttisch. -„Womit ich die Ehre habe!“</p> - -<p>Braun aber machte noch einen Versuch.</p> - -<p>„Sie sind dann in der Gesellschaft unmöglich,“ gab -er ihm zu bedenken. Und Fritz leidenschaftlich darauf:</p> - -<p>„Ich will auch nichts mehr gemein haben mit jenen! -Sie reden von ihrer Liebe und brüsten sich mit ihrer -Treue zum Volke. Aber das sind nichts als Worte! Worte! -Wer wegen eines Schmarrens sein Leben in die Schanze -schlägt, leichtsinnig und unbedenklich hinwirft, wer skrupellos -ein Leben vernichten kann, und alle, die dies loben -und in Ordnung finden, alle, die für die Macht ihres -Volkes begeistert schwärmen, gleichzeitig aber dulden, daß -auch nur das kleinste lebendige Teilchen dieses Volkes -zwecklos zerstört wird — alle die sind Phrasensager und -Lügner und haben keine Ehrfurcht, weder vor ihrem Volke -noch vor der Menschheit. Das ist es. Und darum schlage -ich mich nicht und darum kann ich auch <em class="gesperrt">Ihre</em> Verachtung -ertragen!“</p> - -<p>Während er redete, war er ganz ruhig geworden. In -den letzten Worten hatte sogar eine leise Überlegenheit -durchgeklungen. Jetzt setzte er sich und spielte mit dem -Federkiel auf dem Tisch. Die beiden Studenten entfernten -sich wortlos.</p> - -<p>Fritz atmete leicht und froh. Die Brücken waren abgebrochen -und hinter ihm verbrannt. Mochte kommen, -was da wollte — er hatte wieder pflugreife Erde unter sich.</p> - -<p>Seine Energie und Spannkraft waren wieder da, drängten -nun, je länger sie in müßiger Ruhe gelegen, je ungestümer -vorwärts, forderten eine unzweideutige und ganze -Tat.</p> - -<p>Jener flüchtige Blick in das Treiben der Obdachlosen -hatte ihm die Richtung neu gewiesen. Und nach der Erschütterung -über den gewaltsamen Tod des Astronomen -war wie nach einem schweren Sommergewitter reine, klare -Luft geworden. Nicht darauf konnte es ankommen, ob -ein Volk stärker, mächtiger, fortgeschrittener, besser sei, -als das andere, sondern daß alle ohne Unterschied leben -konnten, wie es ihrer Menschenehre gebührte.</p> - -<p>In alle Fernen und Weiten schweifte seine junge Begeisterungsfähigkeit -und entzündete sich an dieser Vorstellung -zu einer hellen und starken, ganz warmen Glut. -Und in der glückhaften Erregung, die sich seiner nach -dem Weggehen der beiden Herminonen bemächtigte, begann -er, zum erstenmal, seine Gedanken niederzuschreiben -und schrieb in einem Zuge bis in die Nacht hinein an -einer Abhandlung, in der er die uralte Lehre von der -Menschenverbrüderung mit seinem Feuer neu vergoldete.</p> - -<p>Mit der frohen Raschheit, die ein glückliches Gelingen -auslöst, packte er das Manuskript, kaum daß die Tinte -trocken geworden, zusammen, siegelte und adressierte es -an die ‚Freien Blätter‘, das führende Organ der Sozialisten -in der Reichshauptstadt. — —</p> - -<p>Die silbergraue Dämmerung vor den Fenstern wich -bereits dem hellen Licht der nahen Sonne, als Pichler -nach einer durchschwärmten Nacht heimkam. Fritz erzählte -ihm ohne Umschweife den Vorfall mit den Herminonen. -Auf dem Bettrand sitzend, hörte Otto nur mit halbem -Ohr hin, während er sich der Stiefel und Kleider entledigte -und unter langgezogenen Seufzern gähnend den -Mund aufriß. Die Sache war ihm nicht mehr neu. Er -hatte sie bereits bei der Kneipe und in den Kaffeehäusern -genugsam zu hören bekommen. Erst als er in den Federn -lag und die Decke bis zum Hals hinaufgezogen hatte, -fragte er unter fortwährendem Gegähn: „Und was wirst -du jetzt machen?“</p> - -<p>„Schlaf dich erst aus!“ erwiderte Hellwig. „Wir -sprechen weiter, bis dein Schädel wieder klar ist.“</p> - -<p>„Ist er ohnehin!“ knurrte der andere, drehte sich gegen -die Wand und schlief auch schon. — —</p> - -<p>Fritz wusch sich die Augen hell und goß einen großen -Krug Wasser über Kopf und Nacken. Als die Wondra -bald darauf mit dem Frühstück erschien, teilte er ihr mit, -daß er die Wohnung zu verlassen gedenke. Mit würdevollem -Kopfnicken nahm sie die Kündigung zur Kenntnis, -stellte den Kaffee auf den Tisch und entfernte sich, ohne -ein Wort zu sprechen. Denn auch sie war bereits durch -Karg über den Vorfall unterrichtet und wußte als langjährige -Studentenmutter, wie man sich einem Auskneifer -gegenüber zu benehmen hatte.</p> - -<p>Hellwig lächelte ein wenig, während er sich das feuchte -Haar aus der Stirn kämmte und den Kragen anknöpfte. -Dazwischen nahm er, wie es seine Gewohnheit war, stehend -kleine Schlucke vom Frühstückskaffee, und da er wieder -tief in seine Gedanken hineingeriet, behielt er schließlich -den Topf in der Hand und schritt damit, von einer unklaren -und ungeduldigen Erwartung getrieben, rastlos um den -Tisch herum.</p> - -<p>Auch als er ins Freie trat, wo die alten Häuser wehmütig -zu der stillen Pracht des Frühlingsmorgens hinaufschauten, -wurde es nicht ruhiger in ihm, wollte das Gefühl -nicht weichen, daß ihm etwas Fröhliches ganz nahe bevorstand. -Pünktlich ging er in die Kanzlei und schrieb einen -Mahnbrief nach dem andern. Dann erschien der Anwalt -und beauftragte ihn, gegen einen nachlässigen Ratenzahler -auf Grund des rechtskräftigen Urteils das Pfändungsgesuch -bei Gericht einzureichen. Während Hellwig die Eingabe -vorbereitete, kam der Schuldner und wollte die verfallene -Rate erlegen. Er habe das Geld nicht früher zusammenbringen -können. Der Advokat aber, dem es um -seinen Verdienst zu tun war, erklärte, das helfe jetzt -nichts mehr. Die Frist sei versäumt, die ganze gestundete -Forderung nunmehr fällig und die Exekution bereits -eingeleitet.</p> - -<p>Die Mitteilung traf den Schuldner, der ein anständiger -kleiner Geschäftsmann zu sein schien, ersichtlich hart, da -er durch eine Pfändung sehr zu Schaden und um jeden -Kredit kommen mußte. Inständig flehte er um Aufschub. -Der wurde ihm endlich unter der Bedingung zugestanden, -daß er mit der Rate zugleich fünf Kronen für die Kosten -des Pfändungsgesuches bezahle. Das war nicht viel, aber -der arme Teufel kramte in allen Taschen und brachte -endlich in Nickelmünzen vier Kronen und dreißig Heller -zur Strecke, die der Anwalt gleichmütig einstrich, mit -der Ermahnung, nunmehr pünktlich zu sein und auch die -fehlenden siebzig Heller nicht zu vergessen. Einer großen -Sorge ledig, versprach der Mann alles unter vielen Dankesworten. -Da sagte Hellwig: „Das Gesuch ist noch nicht -fertig, Herr Doktor!“</p> - -<p>„Wie? Ja so, ganz recht — die Klage gegen die Seifenfabrik -...“ meinte der Advokat diplomatisch und winkte -Schweigen.</p> - -<p>„Nein,“ antwortete Hellwig unbeirrt, „das Pfändungsgesuch -habe ich noch nicht fertig!“</p> - -<p>Der Anwalt wurde verlegen.</p> - -<p>„Also adieu! adieu!“ rief er lärmend. „Und vergessen -Sie nicht auf die nächste Rate! Pünktlich sein, nur -pünktlich!“</p> - -<p>Damit schob er den Mann zur Tür hinaus. Dann drehte -er sich zornrot zu seinem Schreiber: „Was fällt Ihnen -ein, Herr Hellwig? Derartige Äußerungen sind ganz ungehörig!“</p> - -<p>„Mir fällt gar nichts ein!“ erwiderte Fritz trotzig. „Ich -meine nur, was man nicht geleistet hat, dafür läßt man -sich auch nicht bezahlen.“</p> - -<p>Mit großen, runden Augen blickte der Chef auf seinen -sonst so stillen Gehilfen. Denn Hellwig hatte unter dem -Druck der letzten Monate vollständig gleichgültig und ohne -Nachdenken, wie eine Maschine, gearbeitet und stumm -alles getan, was ihm aufgetragen worden war.</p> - -<p>„Ich verbitte mir jede Kritik!“ rief der Chef. „Das -wäre noch schöner! Was glauben Sie denn eigentlich?“</p> - -<p>„Ich glaube, daß dieses Vorgehen und anständig zwei -— Worte sind.“</p> - -<p>Nun warf sich der Anwalt in die Brust: „Sie sind entlassen -und können auf der Stelle gehn! Ich zahle Ihnen -das Gehalt für die vollen vierzehn Tage, obwohl ich nicht -dazu verpflichtet bin.“</p> - -<p>„Ich danke!“ entgegnete Fritz, „es könnte sonst wieder -ein armer Schlucker dafür büßen müssen!“, stand auf -und ging.</p> - -<p>Nun war er mit allem und gründlich fertig. Ein Jahr -war vertrödelt, mit den Studien war er nicht viel weiter -gekommen und für das Leben geleistet hatte er gar nichts. -Die Bilanz quälte ihn jetzt doch, und trotzdem, oder gerade -weil der Maienhimmel so wundervoll blau, die Luft so -weich und kosend war, fiel ihn ein arger Jammer mit -bösen Krallen an.</p> - -<p>Bedrückt ging er durch die belebten Geschäftsstraßen, -schritt teilnahmslos über die breite neue Moldaubrücke -und auf weißen Kieswegen neben blühendem Gesträuch -in einen stillen Park hinein, der einem Fürsten eignend -und dem Publikum zugänglich, an einer sachten Hügellehne -hinter den Häusern emporstieg. Alte Bäume waren -da, weite Rasenpläne und in runden Beeten standen farbige -Blumen im Glanz ihrer kürzlich erblühten Schönheit, -von Sonnenschein und lauer Luft umflossen. Auf den -braunen Gartenbänken saßen junge Mädchen in hellen -Kleidern und lasen in dieser begnadeten Frühe zärtliche -Liebesgeschichten oder Verse aus zierlichen Goldschnittbänden. -Und wo eine Sitzgelegenheit tiefer in die lauschigen -Hecken hineingerückt war, hatte sich auch wohl ein oder -das andere Pärchen niedergelassen, kecke Studenten zumeist -und schmiegsame Backfische mit Musikmappen oder -Malgeräten, die ihre bezüglichen Unterrichtsstunden schwänzend, -kreuzvergnügt beim gütigen Lehrer Lenz in die Schule -gingen. Leichte, kühle Blütenblätter fielen von den Bäumen, -und die grüne Wipfelwelt, die reglos zwischen Himmel -und Erde schwamm, erfüllte ohne Pausen laut tönender -Finkenschlag. So stellte dieser sanft ansteigende große -Garten eine ideale Frühlingslandschaft dar, aber die heitere -Lebensfreude, die blankäugig überall sich regte, war -nicht danach angetan, der tristen Gemütsverfassung Hellwigs -den Garaus zu machen. Sauertöpfisch und verdrossen -bewegte er sich auf den gewundenen Fußsteigen -zum Gipfel und setzte sich oben auf eine einsame Steinbank, -die abseits von den Hauptwegen im Halbrund eines -Jasmingebüschs aufgestellt war.</p> - -<p>Beinah die ganze Stadt konnte von dort überblickt -werden, wie sie da unten hingebreitet lag, in Leibesmitte -von dem sonnenüberspiegelten Stromband wie mit wehrhaftem -Stahl gegürtet, und vergoldete Kuppeln funkelten -im Licht gleich den Zieraten auf dem Brustharnisch einer -reisigen Brunhilde. Ernst und hart war dieses Stadtbild, -von einer herben Schönheit, deren strenge Linien auch -die Helligkeit des Frühlings nicht weicher und anmutiger -machen konnte.</p> - -<p>Aber Fritz sah nicht darauf hin, schaute darüber hinweg -in eine leere Ferne und grübelte in sich hinein.</p> - -<p>Der Auftritt mit dem Rechtsanwalt war ihm selbst -überraschend gekommen. Doch war ihm das jetzt ganz -recht und er wünschte es nicht ungeschehen.</p> - -<p>Im Buschwerk, um ihn, über ihm, war es ungemein -lebendig. Lichtbächlein rannen von den Zweigen, und unsichtbare -Vögel lockten und suchten einander. Verwirrend -dufteten, kaum den geplatzten Knospen entquollen, die -weißen Blüten, und das gesamte lose Lenzgesindel war -geschäftig, mit Schmeicheln und Streicheln und Fächeln -und Lächeln die Sinne leise zu umgarnen und irgendeine -namenlose Sehnsucht wach zu bringen.</p> - -<p>Plötzlich mußte er an die kleine Eva Wart denken, und -so oft er diese Erinnerung unwillig zurückstieß, so hartnäckig -stellte sie sich immer wieder ein. Ohne daß er es -wußte, wurden ihm die Lider feucht.</p> - -<p>Und nun sah er auch ihr ganzes Heim vor sich, das -tätige Haus, den biederen Kaufmann, den Freund — -und neben der hochgesinnten Mutter stand das feine Jungfräulein -und schaute ihn leidvoll aus ernsten Augen an. -Wenn er jetzt diesen Menschen gegenüber treten sollte, -konnte er es denn, ohne die Stirn zu senken? Die Schamröte -stieg ihm in die Wangen. Und dann — dann legte -er mit einem dumpfen Ächzen beide Hände vors Gesicht, -und zwischen den gespreiteten Fingern quollen große, warme -Tränen.</p> - -<p>Minutenlang saß er so, zusammengekauert, die Ellbogen -auf die Schenkel gestützt. Als er sich endlich erhob, mit -einer Bewegung, als risse er eine Handfessel jäh entzwei, -da blickten unter den gewölbten Stirnknochen die Augen -hart und finster, und in dem hageren Antlitz war Zug -um Zug ein Ausdruck von gesammelter Entschlossenheit.</p> - -<div class="section"> -<h3>7.</h3> -</div> - -<p>Als er heimkam, war Otto eben aufgestanden. Fritz -teilte ihm nunmehr mit, daß er die Wohnung aufgekündigt -habe. Da schüttelte ihm Pichler warm die Hand und -sagte: „Das war gescheit von dir. Sonst hätt’ ich nämlich -selbst ausziehen müssen. Denn bei aller Freundschaft wirst -du zugeben müssen, daß wir nicht beisammenbleiben -dürfen.“</p> - -<p>„Warum denn?“ fragte Hellwig erstaunt. Und Otto -erwiderte: „Das ist doch ganz klar — weil ich sonst gerade -so unmöglich bin wie du. Man kann doch mit einem, der -keine Satisfaktion gibt, nicht in derselben Stube wohnen, -ohne daß ...“</p> - -<p>„Ach so!“ sagte Hellwig und fügte hinzu: „Du bist -wenigstens aufrichtig, das ist doch etwas.“</p> - -<p>„Immer!“ versicherte Otto. Dann fuhr er fort, und -sein gönnerhafter Ton bekundete, daß er sich neben dem -Geächteten sehr brav und bieder vorkam. „Deswegen,“ -— fuhr er fort — „deswegen aber keine Feindschaft! Wir -bleiben die alten, das ist selbstverständlich. Wir treffen -uns auch regelmäßig und zwar in einem sicheren Wirtshaus, -das noch gesucht werden muß. Öffentlich, muß ich -dich leider bitten, so zu tun, als ob wir jeden Verkehr abgebrochen -hätten. Ich werde es gerade so halten, aber -sonst — unter vier Augen — alles wie früher! Gilt’s?“</p> - -<p>Er streckte ihm die Hand hin. Fritz sah über sie hinweg. -„Du bist sehr großmütig!“ meinte er mit kaltem Spott. -„Aber ich hab’ solche Heimlichtuerei nicht gern. Ein ehrliches -Entweder — Oder ist mir schon lieber.“</p> - -<p>„Wie du willst — ich bleibe trotzdem dein Freund.“</p> - -<p>„Ein Freund, der nicht den Mut hat — — ach, weißt -du, reden wir nicht weiter davon, es ist so müßig.“</p> - -<p>Er setzte sich zum Schreibtisch, nahm irgendein Buch -vor. Aus alter Gewohnheit suchte er dabei nach seiner -Pfeife, die stets handgerecht am Tischbein lehnte. Sie -war nicht mehr dort, war überhaupt aus dem Zimmer -verschwunden. Die Wondra hatte sie wieder an sich genommen, -weil so ein ehrwürdiges Erbstück von den Lippen -eines Verfemten nicht entweiht werden durfte.</p> - -<p>Wieder lächelte er. Ein leises, bitteres Lächeln. So -kleinlich war das alles, so überflüssig und bedeutungslos.</p> - -<p>Noch öfter hatte er im Verlauf dieser Tage Gelegenheit -zu einem solchen Lächeln. Wie ein Aussätziger wurde er -gemieden. Sogar der sanfte Fundulus drückte sich scheu -an ihm vorbei, mit gesenkten Lidern und allen Zeichen -mitleidender Verlegenheit. Niemand erschien am Abend, -um ihm eine Blume zuzutrinken oder ihn zum Spiel aufzufordern. -Auch kein Bier holte ihm die Wondra.</p> - -<p>Er hatte die Absicht gehabt, die Wohnung zu verlassen, -sobald er ein anderes Zimmer gefunden. Jetzt aber -entschloß er sich, die ganzen vierzehn Tage auszuharren. -Niemand sollte ihm nachsagen, daß er vor Verachtung -geflohen sei. Und gerade zum Trotz, nur um sich zu -zeigen, ging er jetzt in alle Studentenwirtshäuser, saß -allein an einem Tisch, und während ein geringschätziges -Lächeln um seinen Mundwinkeln lag, dachte er an die -Zukunft und wie er sich einrichten würde.</p> - -<p>Steif aufgereckt schritt er dann durch die Haufen seiner -früheren Bekannten, schaute ihnen mit freien, hellen Augen -ins Gesicht. Mancher wurde dadurch verwirrt, griff zum -Gruß nach seiner Kappe. Aber er erhielt den Gruß nicht -zurück.</p> - -<p>So vergingen acht Tage, ohne daß Hellwig mit einem -Menschen sprach. Pichler hatte gleich nach jener Unterredung -Tisch und Bett des armen König mit Beschlag belegt -und vermied ängstlich ein Zusammentreffen. Doch -hatte er ein Briefchen hinterlassen, worin er sein Benehmen -mit den alten Gründen nochmals entschuldigte. -Fritz riß es in Fetzen.</p> - -<p>Wenn er aber gedacht hatte, daß er durch seine völlige -Absonderung Zeit und Lust zum Arbeiten zurückerzwingen -werde, so war das ein Irrtum gewesen. Das Lesen der -gelehrten Werke mit dem trostlos gleichförmigen lateinischen -Druck machte ihm keine Freude, zum Studieren -fand er nicht die Sammlung, den Vorträgen der Professoren -hörte er nur mit halbem Ohr zu, und es war -keiner unter ihnen, der ihn zu fesseln vermocht hätte. -Zu beschaulich ging es ihm auf einmal in den Stätten -der hohen Wissenschaft her. Alle seine Kräfte waren in -brodelndem Aufruhr. Unrast war in ihm und drängende -Sehnsucht, mitten im Leben, wo es am gewaltigsten brauste, -mitzutun, im offenen Widerstreit Aug’ in Aug’ und Stirn -gegen Stirn einem starken Gegner zu trotzen und im -Kampfe für die Erhöhung der heute Erniedrigten die Waffen -nur siegend oder sterbend aus der Hand zu legen.</p> - -<p>Alle Länder widerhallten vom Lärm dieses Kampfes -und in den Industriestädten waren die wohlgerüsteten Heerlager. -Auch Prag war mit beteiligt, aber der Streiter -waren daselbst nur wenige. Die Unzufriedenheit der Massen -entlud sich hier im unfruchtbaren, aber bequemeren -Nationalitätenhader. Und wo das anders war, da waren -Tschechen die Rufer im sozialen Kampf, und Hellwig verstand -ihre Sprache nicht. Wohl traten in ihren Zusammenkünften -bisweilen auch deutsche Redner auf, aber das -geschah nur selten und brachte in die Beratungen stets -etwas Fremdes und Feierliches. So fehlte die Brücke des -lebendigen Wortes, und er vermochte keine Fühlung mit -ihnen zu gewinnen, trotzdem er jetzt häufig ihre Versammlungen -besuchte.</p> - -<p>Niedergedrückt kam er eines Abends von einer solchen -heim. Seine Koffer waren schon gepackt, in zwei Tagen -wollte er in die neue Wohnung übersiedeln. Da fand er -auf seinem Tisch ein Geldaviso aus Wien und eine Verständigung -des Inhalts, daß die Schriftleitung der Freien -Blätter seine Abhandlung mit Vergnügen angenommen habe -und um weitere Beiträge ersuche.</p> - -<p>Aber auch von Kolben war ein Brief eingelaufen. Der -Doktor schrieb: „Lieber Fritz! Du scheinst Luft unter die -Flügel bekommen zu haben. Es war aber auch höchste -Zeit. Jetzt sieh nur zu, daß du nicht wieder den Kurs -verlierst, überleg’ nicht lang und komm her nach Wien. -Es gibt hier massenhaft für dich zu tun!“</p> - -<p>Da ließ Fritz sein Gepäck statt in die neue Wohnung -auf den Bahnhof schaffen und fuhr in die Reichshauptstadt.</p> - -<hr class="chap" /> -<div class="chapter"> -<h2><a name="Drittes_Buch" id="Drittes_Buch">Drittes Buch</a></h2> -</div> - -<h3>1.</h3> - -<p class="drop-cap">Doktor Kolben saß in seinem Arbeitszimmer. Das -war ein mäßig großer Raum mit roten Tapeten -und dunklen Nußholzmöbeln. Der Schreibtisch stand schwer -und massig vor einem großen Fenster, und durch die -Fensterscheiben sah man in einen gepflegten Garten mit -Hecken, Büschen, grünen Wipfeln und blühenden Rosen. -Darinnen ruhte das kleine helle Haus, das dem Doktor -gehörte, wie ein weißer Vogel in einem grünen Nest. Still -war es hier draußen am Rande der Großstadt, ihr Lärm -verbrauste, ehe er bis zu dem anmutigen Tal gelangte, -das waldbestandene Hügel umsäumten und schützten. Eine -Eisenbahn vermittelte in regem Verkehr die Verbindung -mit der Stadt, in kaum zwanzig Minuten war man drinnen, -und so hatte man hier alle guten Dinge des Landlebens -samt allen Bequemlichkeiten der Großstadt beisammen -und konnte sich’s wohl sein lassen.</p> - -<p>Der Doktor schrieb fleißig und bedeckte Bogen um Bogen -eines starken gelblichen Papiers mit regelmäßigen Buchstaben -in gedrängten Zeilen. Da klopfte es, die Tür ging -auf und Fritz stand so, wie er eben vom Bahnhof gekommen, -in ihrem Rahmen.</p> - -<p>„Schnell kommst du!“ sagte Kolben. „Und das ist -sehr vernünftig. Sieh dir unterdessen die Bilder an, ich -bin gleich fertig.“</p> - -<p>Er deutete auf ein kleines, mit Mappen und Zeitschriften -überladenes Tischchen in der Ecke. Dann ließ er die -Feder wieder über die gelblichen Bogen wandern, und -erst nach einer Viertelstunde legte er sie weg.</p> - -<p>„So! Jetzt laß dich einmal anschaun!“</p> - -<p>Er stand auf und Hellwig, der unterdessen die Zeitschriften -durchstöbert hatte, ebenfalls. Der Doktor legte -ihm beide Hände auf die Schultern und blickte ihm in -die Augen. Fritz hielt eine kleine Weile diesem forschenden -Blick stand, dann senkte er halb trotzig, halb verlegen -die Lider.</p> - -<p>„Laß gut sein!“ sprach Kolben. „Es hat nichts auf -sich. Besser ein Jahr, als sich selbst verloren. So was -macht jeder durch, wenn er nicht gerade ein bleichsüchtiger -Musterknabe ist oder eine große Null. Also hör’ zu: Der -Kampf ums allgemeine Wahlrecht soll langsam vorbereitet -werden. Ein paar große Streike werden sich nicht -mehr lang hinausschieben lassen. Die Schriftleitung der -Freien Blätter hat junge unverbrauchte Kräfte dringend -nötig. Ich schätze, es könnte dir nicht schaden, wenn du -da ein bissel mittust. Willst du?“</p> - -<p>„Geht denn das so einfach?“ fragte Hellwig und horchte -hoch auf.</p> - -<p>„Wird sich machen lassen. Ich hab’ das Kunstreferat, -bin auch sonst mit den Leuten bekannt. — Es ist keine -Protektion!“ beschwichtigte er, als Fritz eine heftig abweisende -Bewegung machte. „Glaubst du, ich würde dich -empfehlen, wenn ich dich nicht bis in die Nieren kennte? -Noch einmal: Willst du?“</p> - -<p>„Ich hab’ keine Ahnung von der ganzen Sache, weiß -nicht, ob ich überhaupt dazu tauge ...“</p> - -<p>„Du taugst schon. Und die Handwerksgriffe lernen -sich leicht. Ein paar Wochen Einschulung, und das Werkel -geht von selber. Zum dritten und letztenmal: Willst du? -Ja oder nein?“</p> - -<p>Noch einige Minuten zögerte Fritz mit der Antwort. -Kolben ließ ihm Zeit zum Überlegen, trat ans Fenster -und sah einem Rotschwänzchen zu, das im Lindenwipfel -flink sich regte.</p> - -<p>„Nun?“ fragte er endlich.</p> - -<p>„Ja!“ antwortete Fritz.</p> - -<p>Nach einigen Tagen saß er in der Redaktion der Freien -Blätter, hatte Monatsgehalt und Zeilenhonorar vertragsmäßig -zugesichert und kam rasch ins Fahrwasser.</p> - -<p>Um ihn tönte der Lärm, schrien die Parteien des Tages, -forderten von der Gegenwart ungestüm ihre vermeintlichen -Rechte. Und er stand mitten drin, mitten in dem -heißen, tosenden Leben, das jeden Tag seine Gestalt änderte, -Verbrauchtes abstieß und neue Schlagworte ausgab. Was -heute oben war, hatte morgen seine Macht verloren, lang -Niedergehaltenes stieg plötzlich empor, ein immerwährender -Wechsel war da, ohne Stetigkeit und Ruhe, scheinbar ein -Wirrwarr und doch eins durch das andere bedingt.</p> - -<p>Von besonderem Reiz für ihn war es da, den Zusammenhängen -nachzuspüren, die das wertlos gewordene Gestern -mit dem schillernden Heute verknüpften, die vielen durcheinander -wirbelnden Strömungen und Gegenströmungen -bis zu ihrer gemeinsamen Quelle zu verfolgen und aus -dem beständigen Auf und Ab der fließenden Erscheinungen -das Bleibende herauszufinden.</p> - -<p>Und er erschrak über die drückende Machtfülle, die gewaltig -aufgespeicherte Vermögen den verdienstlosen Besitzern -über ganze große Menschengruppen verliehen, sah -diese vergeblich dagegen ankämpfen, matt und mutlos werden, -und fühlte mehr, als er klar erkannte, daß eine Ordnung, -in welcher derartiges möglich war, irgendwie krank -sein müsse, ohne daß er hätte finden können, wo eigentlich -die Krankheit saß und wie sie zu heilen wäre. Denn alle -die Wohlfahrtseinrichtungen, die Krankenkassen, Unfallversicherungen, -Altersversorgungen, schienen ihm bestenfalls -Verlegenheitsmittel, durch die nur die Folgeerscheinung -der Krankheit erträglicher gemacht, nicht aber die -Krankheit selbst behoben werden konnte, so etwa, wie -man einem schwer Verwundeten Morphium einspritzt, um -die unerträglichen Schmerzen für Augenblicke zu übertäuben.</p> - -<p>Da war nun seiner grüblerischen Natur wieder ein reicher -Stoff geboten. Aber er blieb in beständiger Fühlung mit -dem Leben und arbeitete freudig drauflos, so daß es gewöhnlich -sehr spät wurde, ehe er zum Nachtmahl und in -seine Wohnung kam. Aber auch dann gönnte er sich noch -nicht Ruhe, las vielmehr, schrieb und studierte, als wollte -er in Wochen nachholen, was er während der leeren Monate -in Prag versäumt hatte.</p> - -<p>So verging der Sommer im Flug, es wurde Herbst -und eines Tages traf Heinz Wart in Wien ein. Er hatte -die Reifeprüfung abgelegt, und zielsicherer als Hellwig -schwankte er keinen Augenblick, sondern kam mit der festen -Absicht, sich ganz dem Zeitungswesen zu überantworten -und dort mitzuarbeiten, wo er am ehesten die Verwirklichung -seiner Jugendideale erhoffte.</p> - -<p>Er war noch blasser und stiller geworden, die Augen -brannten ihm groß und wie im Fieber unter der weißen -Stirn. Von den dunklen Haaren bis in die Fingerspitzen -schien die ganze überschlanke Gestalt mit verhaltener Leidenschaft -durchtränkt, von Temperament förmlich gesättigt -zu sein. Er war einer von jenen, die mit dem Herzen -entscheiden, sich an der eigenen Glut verzehren und unbesinnlich -zur Selbstopferung bereit sind, wenn sie glauben, -der Idee, für die sie brennen, dadurch dienen zu -können.</p> - -<p>Hellwig aber freute sich sehr, den besten Freund seiner -Jugend wieder zu haben. Sie bezogen zwei einfenstrige -Stuben im selben Haus, und da sie auch im gleichen -Redaktionszimmer saßen, waren sie fast ununterbrochen -beisammen. Nur abends, wenn Fritz zu Hause arbeitete -oder an Versammlungen teilnahm, tat Heinz nicht mit. -Das war nichts für ihn, das Studieren oder Debattieren -bis in die späten Nachtstunden. Er wollte das Elend nicht -bloß vom Hörensagen, sondern aus eigener Anschauung -kennenlernen. Und er ging in die Massenquartiere und -Schnapsbuden, kroch in alle Schlupfwinkel der Obdachlosen. -Bisweilen blieb er dann tagelang verschwunden. -Und wenn er wieder in der Wohnung auftauchte, hatte -er statt der getragenen guten Kleider ein paar Fetzen -an, geflickt und schmutzstarrend, und Fritz mußte ihm -bis zum Ersten des nächsten Monats mit Geld aushelfen.</p> - -<p>Wo er sich herumtrieb, verriet er nicht. Aber er war -dann noch stiller und bleicher als sonst, und seine Augen -schienen gleichsam nach innen zu schauen, und in ihrem -dunklen Grunde lag unbeweglich etwas seltsam Starres, -vereister Schreck oder versteintes Grauen, wie bei Leuten, -die hart am Tod vorübergegangen oder an einer furchtbaren -Gefahr.</p> - -<p>Allen Fragen wich er aus. „Laß mich nur, Fritz, ich -komm’ schon allein drüber weg. Dann wirst du’s erfahren.“</p> - -<p>Da drang Hellwig nicht weiter in ihn.</p> - -<div class="section"> -<h3>2.</h3> -</div> - -<p>Pichler hatte sein Verhältnis mit der Helenka gelöst. -Nach einem heftigen Streit waren sie auseinander gegangen, -und keins fragte mehr dem andern nach. Jetzt -diente er sein Freiwilligenjahr ab, beim Fuhrwesen, wegen -der schönen Uniform. Und die Uniform stand ihm ausgezeichnet. -Das wußte er, und konnte es kaum erwarten, -bis er einen dreitägigen Feiertagsurlaub bewilligt erhielt, -den er in der Heimat zubrachte, um sich dort den Leuten -in all seinem Glanz zu zeigen. Die Geschwister bestaunten -den stolzen Krieger wie ein farbenprächtiges Fabelwesen, -und auch der lustige Küster unterließ das Witzeln und -hatte helle Freude an dem stattlichen Sohn. Den aber -trieb es nach Neuberg. Er wollte die Eva Wart sehen -und Eindruck machen.</p> - -<p>Das alte Haus war, wenn möglich, noch schwärzer und -verwitterter geworden, aber die muntere Arbeit erfüllte -es jetzt wie einst, und wie vor Jahrhunderten schon leuchteten -die bunten Glasmalereien noch immer frisch und -kräftig im Sonnenschein. Der Rehbock Hansl tummelte -sich im Garten, und unter den Bäumen am Grasplatz -stand seine Herrin, zierlich und fein, ein gefaltetes Tuch -um den Leib, und befestigte Leinenwäsche mit hölzernen -Klammern an den kreuz und quer zwischen die Bäume gespannten -Schnüren. Sie trug eine blaue Hausjacke mit -weiten Ärmeln, und so oft sie ein Wäschestück hob, fielen -sie bis zu den Ellenbogen über die runden Arme zurück. -Das freute die fröhlichen Sonnenlichter und liebkosend -streichelten sie die glatte Haut, durch deren Weiß in einem -ganz zarten und duftigen Schein, nur kaum wie die Farbe -junger Apfelblüten, das Blut schimmerte. Eine warme Anmut -war in den Bewegungen der fleißigen Arbeiterin, -und wenn sie sich auf die Zehen stellte, mit zurückgebeugtem -Oberkörper eine höher hinlaufende Leine zu sich niederzog, -formten die kleinen Brüstlein zwei feine schattenhafte -Hügel in den leichten Stoff des losen Kleides.</p> - -<p>Im knapp sitzenden Waffenrock mit funkelnden Knöpfen, -glänzend gewichste Röhrenstiefel an den Füßen, kam Otto -über den Hof, und die Scheide des schweren Säbels stieß -mit lautem Klingen gegen das Pflaster. Verwundert schaute -das Fräulein nach der geräuschvollen Erscheinung und vergaß -vor Überraschung die blühweiß gewaschenen Unterhosen -Wart Nikls aufzuhängen, die es gerade aus dem Korb -genommen. Unschlüssig hielt es diese in der Hand und -wartete der Dinge, die da kommen würden.</p> - -<p>Der fremde Krieger aber ging schnurstracks auf den -Garten zu, blieb, die Hacken zusammenschlagend, vor dem -Gitter stehen stehen und salutierte stramm:</p> - -<p>„Servus, Fräulein Eva!“</p> - -<p>Nun erkannte sie ihn an der Stimme. „Jemine, der -Herr Pichler!“ rief sie und lief, das Gartentürl zu öffnen. -Sie tat es mit einem kleinen Knicks und sagte unüberlegt -dazu: „Tretet ein, hoher Krieger!“</p> - -<p>„Der sein Herz Euch ergab!“ ergänzte Otto schnell -und verneigte sich tief, wobei er die weißbehandschuhte -Rechte gegen seine Brust drückte.</p> - -<p>Das Fräulein errötete. „Bei Ihnen muß man mit dem -Zitieren vorsichtig sein!“ lachte es. „Sie sind gut beschlagen!“ -Dann wollte es ihm die Hand zum Willkomm -reichen und bemerkte, daß es noch immer des Vaters -Unterhose hielt. Unmutig weggeschleudert flog diese im -Bogen neben den Korb. Pichler gewahrte den Zorn.</p> - -<p>„Lassen Sie sich nicht stören!“ sagte er und zog die -Handschuhe aus. „Wenn es Ihnen recht ist, werde ich -helfen.“</p> - -<p>„Ja?“ antwortete sie vergnügt. „Kommen Sie, das -ist lustig!“</p> - -<p>Dann hängten sie mitsammen die Wäsche auf. Im -Rasen blühten die Gänseblümchen und der gelbe Löwenzahn, -die jungen Blätter der Obstbäume glänzten frisch, -und mit geschmeidigen Gliedern sprang das Reh über die -grünen Wiesenflächen. Eva regte sich flink, Otto reichte -ihr die feuchten Leinenstücke und stellte sich ungeschickt, -um einen Vorwand zu haben, seine Finger mit ihrer warmen -Hand oder dem kühlen festen Fleisch der Arme in -Berührung zu bringen. Sie achtete nicht darauf. Ganz -Eifer war sie, und die blonden Stirnhaare bewegten sich -in krauser Unordnung wie ein leichtes goldenes Gitterwerk -vor der klaren Stirn. Dabei plauderten sie von allem -möglichen, und nur von einem sprachen sie nicht, obwohl -Eva mit still klopfendem Herzen darauf wartete: von -Fritz Hellwig.</p> - -<p>Aber auch Pichler dachte an ihn und wiegte sich in der -frohen Zuversicht, daß es ihm gelingen werde, den Gegner -auszustechen. Denn er wußte, daß Hellwig sein Mitbewerber -war. So ängstlich dieser auch das Geheimnis -behütete, den Spüraugen Ottos war es nicht verborgen -geblieben.</p> - -<p>Alle Register seiner bestrickenden Liebenswürdigkeit zog -er, und das Bewußtsein, daß er fesch und vorteilhaft -aussah, verlieh ihm große Sicherheit. Er übertraf sich -selbst an Witz, Geist und drolligen Einfällen, so daß -Eva fortwährend lachen mußte und in ihrer Vertrauensseligkeit, -die ohne Arg war, dem lustigen Gesellschafter -mit warmen Blicken entgegenkam. Und sie merkte auch -die Absichtlichkeit nicht, als er ihr mit zögernden Händen -die Haare aus der Stirn ordnete, mit ihrem Armband -sich zu schaffen machte oder wie zufällig über ihr Kleid -hinstrich. Wie mit einem guten Kameraden unterhielt sie -sich und begegnete seinen Vertraulichkeiten auch wohl mit -anderen, indem sie ihn auf die Finger schlug oder belustigt -ihren schmalen Fuß zum Vergleich auf seinen großen -Stiefel stellte.</p> - -<p>Otto aber deutete alles zu seinen Gunsten. Er brannte -lichterloh und glaubte, daß die Kleine nicht weniger in -ihn verliebt sei als er in sie. Seine übermütige Siegessicherheit -ließ ihn immer mehr wagen. Als er aber mit -einer halben Wendung seinen Arm einen Augenblick um -ihre Hüfte legte, klatschte sie ihm ein nasses Tuch ins Gesicht. -„Das fordert Strafe!“ rief er und wollte sie jetzt -erst recht an sich ziehen. Das Mädchen aber stand plötzlich -mit einer so erstaunten und kalt abweisenden Miene -vor ihm, daß er betreten seine Absicht aufgab. Er sah ein, -daß er fürs erste Mal zu weit gegangen. Um den ungünstigen -Eindruck zu verwischen, war er jetzt doppelt aufmerksam -und bescheiden. Eva hantierte indes gleich wieder -fröhlich weiter und tat, als sei nichts vorgefallen. Erst -dieser vornehme und sichere Anstand brachte ihn aus dem -Text. Er wurde verlegen, verlor den Faden und einen -Augenblick stockte das lebhaft geführte Gespräch.</p> - -<p>Der Rehbock kam, rieb den Kopf an seiner Herrin und -schaute sie mit klugen Augen an. Da benützte sie endlich -die Gelegenheit und sagte: „Wie doch die Zeit vergeht! -Jetzt hab’ ich ihn schon das dritte Jahr! Was mag denn -eigentlich der edle Spender machen?“ Ganz leichthin sagte -sie das, aber ihr Herz schlug laut dabei.</p> - -<p>„Wer?“ fragte Otto und wollte nicht verstehen.</p> - -<p>„Sie wissen wohl gar nicht, von wem er ist?“ erwiderte -sie. Es war ihr nicht möglich, den Namen über die -Lippen zu bringen.</p> - -<p>„Ja so!“ antwortete Pichler gedehnt und gleichgültig. -„Sie reden von Fritz Hellwig? Da kann ich nicht dienen. -Seit der wegen jener gewissen Geschichte von Prag hat -fortmüssen, hab’ ich nichts mehr von ihm gehört.“</p> - -<p>„Was für gewisse Geschichte?“ fragte sie und schaute -ihn bang an. Da hoffte er sein Eisen zu schmieden, begann -zu erzählen und stellte die Sache so dar, als ob -Fritz aus Mangel an Mut den Zweikampf abgelehnt hätte.</p> - -<p>„Man darf das nicht!“ schloß er. „Erst beleidigen und -dann auskneifen. Es ist mir schwergefallen, aber ich hab’ -schließlich nicht anders handeln können.“</p> - -<p>„Wieso?“ Eine kleine Falte stand ihr zwischen den -Brauen.</p> - -<p>„Mit einem Auskneifer verkehrt man nicht. Der ist -gesellschaftlich tot. Ich hab’ dennoch versucht, mir den -Freund zu erhalten, hab’ heimlich mit ihm zusammentreffen -wollen, trotz der Gefahr, daß es herauskommt -und mich ebenfalls unmöglich macht.“</p> - -<p>Er mußte innehalten. Eva hatte mit dem Fuß aufgestampft -und ungestüm dazwischengerufen: „Fritz ist kein -Auskneifer!“</p> - -<p>Mit einem nachsichtigen Lächeln blickte er sie groß an.</p> - -<p>„Sprechen wir nicht mehr davon. Mir geht die Geschichte -nah, und helfen tut das Reden doch nichts mehr!“</p> - -<p>„Ihnen nicht, das seh’ ich jetzt schon selber!“ sprach sie -ihm mit funkelnden Augen entgegen. Gekränkt versetzte -er: „Warum sind Sie so bös? Sie tun ja gerade, als -ob ich an allem schuld bin!“</p> - -<p>„Beileibe!“ entgegnete sie und in ihrer Stimme war -Spott und Zorn. „Fein haben Sie sich benommen! Ein -unschuldiger Engel sind Sie!“ Dann aber ging ihr doch -das mühsam gezügelte Temperament durch. „Wollen Sie -wissen,“ fuhr sie heftig fort, „wollen Sie wissen, wer -der Feigling ist? Nehmen Sie einen Spiegel und schaun -Sie sich an! Dann sehen Sie ihn!“</p> - -<p>„Fräulein Eva!“</p> - -<p>Das klang gereizt und grollend. Sie hörte nicht darauf. -Rücksichtslos warf sie ihm ihre Empörung ins Gesicht.</p> - -<p>„Vielleicht nicht? Sie haben nicht den Mut gehabt, -offen zu Ihrem Freund zu halten. Wie alle sich losgesagt -haben, haben auch Sie ihn aufgegeben! Das ist feig! -Das ist schlecht! Pfui!“</p> - -<p>Sie drehte sich auf dem Absatz herum, schritt tiefer -in den Garten hinein mit heißen Wangen und wild schlagendem -Herzen. Aber ihre blitzenden Augen waren jetzt -voll Tränen.</p> - -<p>Pichler war sehr blaß geworden und zerknüllte seine -Handschuhe. Das Reh, das ihm gerade in die Quere kam, -erhielt einen unsanften Stoß. Doch kein Wort erwiderte -er. Eine Weile stand er noch unschlüssig, dann kehrte er -sich langsam ab und schritt durch das Gartentürl in den -Hof zurück. Aber sein Säbel klang jetzt nicht mehr hell -auf den Steinen. Er hielt ihn am Korb fest und bestrebte -sich eines möglichst geräuschlosen Abgangs.</p> - -<p>Eva schrieb an diesem Tage noch einen langen Brief -an Heinz. Aber obwohl sie dabei fortwährend an Fritz -dachte und obwohl jedes Wort eigentlich für ihn bestimmt -war, kam auf den vier eng beschriebenen Seiten schließlich -nicht einmal sein Name vor. Und nur ganz zum Schluß, -als Nachschrift, schrieb sie: „Deinen Stubennachbar lasse -ich grüßen.“ Sie schrieb es hastig und überstürzt und wagte -dabei nicht auf das Papier zu schauen, so daß diese Zeile -schief und mit unordentlichen Buchstaben dastand und von -der sauberen Nettigkeit der übrigen erheblich abstach.</p> - -<div class="section"> -<h3>3.</h3> -</div> - -<p>Fritz blieb es erspart, dem Kaiser zu dienen. Eine Unregelmäßigkeit -in der Krümmung der Hornhaut beeinträchtigte -das Sehvermögen seines rechten Auges und machte -ihn zum Waffendienst untauglich. Er war froh darüber, -und als er auch die letzte Musterung glücklich hinter sich -hatte, verleitete er seinen Freund Heinz zu einem kleinen -Gütlichtun in einem Weinkeller. Von dort gingen sie noch -in ein Nachtkaffeehaus. Ein Streichorchester spielte hier, -und der große, schäbig elegante Raum war gesteckt voll. -Studenten, ledige junge Beamte und alte Witwer waren -in der Überzahl, saßen angeheitert, lustig oder schläfrig -bei den runden Marmortischchen und musterten die geschminkten -und geputzten Weiber, die von der Straße -kamen und Liebe feilboten. Allenthalben saßen oder standen -sie bei den Herren, von den großen Hüten nickten -die gefärbten Federn, und falsche Edelsteine funkelten an -billigen Spitzenblusen.</p> - -<p>Eine aber saß allein und abseits in einer Ecke, hatte -ein schlecht sitzendes dunkles Kleid an, und ihr Gesicht -war ohne Schminke. Mit ängstlichen Augen schaute sie -in das lärmvolle Durcheinander, und wenn ein Mann -sie ansprach, begann sie zu zittern, errötete und gab keine -Antwort. Eine Anfängerin. Der Zahlkellner beobachtete -sie mißtrauisch. Er sorgte sich um sein Geld für die Zeche. -Aber auch Heinz Wart ließ sie kaum aus den Augen.</p> - -<p>Die Musik spielte den neuesten Gassenhauer, die Gäste -sangen mit, stampften, klatschten und pfiffen.</p> - -<p>Leichthin sagte Heinz: „Ich werde mich an ihren Tisch -setzen. Gehst du mit?“</p> - -<p>„Was dir nicht einfällt!“ erwiderte Fritz und schaute -den Epikuräer entrüstet an. Der bemühte sich, ein unbefangenes -Gesicht zu machen, wurde aber doch rot, als -er jetzt meinte: „Dann wäre ich dir dankbar, wenn du mich -allein ließest.“</p> - -<p>„Wie du willst. Zugetraut hätte ich’s dir nicht!“</p> - -<p>„Man täuscht sich eben. Gute Nacht.“</p> - -<p>Hellwig hatte schon den Hut auf und stürmte davon. -Er war nicht prüde und kein Sittenrichter. Aber die käufliche -Liebe ekelte ihn an.</p> - -<p>Die junge Frau zuckte erschreckt auf, als sich Heinz -mit einem ungelenken: „Erlauben Sie?“ zu ihr setzte. -Aber bald verlor sie alle Scheu. Weder Unverschämtheit -noch freches Begehren war in seinem Blick, nur ernste Teilnahme, -die Vertrauen heischte und Vertrauen wachrief.</p> - -<p>Sie hieß Marie und war aus dem Waldviertel. Nach -einem verstorbenen Onkel hatte sie gemeinsam mit ihrer -Schwester einen Milchhandel in der Stadt übernommen. -Aber da sie beide nichts vom Geschäft verstanden, wollte -es nicht gehen und wurde ihnen schließlich versteigert. Die -ältere Schwester hatte mit einem Lohnkutscher ein Verhältnis, -das ihr allwöchentlich Prügel und alljährlich ein -Kind einbrachte. Die Marie aber ging einem Heiratsschwindler -ins Netz, der sie um die letzten Kreuzer betrog -und dann sitzen ließ. Weil sie zart und schwächlich aussah, -glückte es ihr nicht gleich, als Dienstmagd unterzukommen, -die Quartiersfrau wollte ihr ohne Zahlung nicht länger -Unterstand geben, bei der Schwester war Not und Elend -und kein Platz für noch einen müßigen Kostgänger. Deswegen -saß die Marie jetzt hier und wollte das Letzte, das -ihr noch geblieben, feilgeben, um wieder einmal ordentlich -essen und die Miete zahlen zu können.</p> - -<p>Das alles erzählte sie dem Wart, und die Aussprache -tat ihr wohl. Er unterbrach sie mit keinem Wort, hörte -still zu und lebte ihr einfaches Schicksal mit, das ihn ans -Herz griff, trotzdem er vorausgewußt hatte, daß ihr Bericht -so oder ähnlich lauten würde.</p> - -<p>Dann redeten sie noch über viele Dinge. Die Marie -fühlte sich geborgen, wurde lebhafter und wenn sie lächelte, -glitt über ihr mageres Gesicht ein wehmütig freundliches -Licht. Wie wenn im Vorfrühling der Sonnenschein über -ein erstes blasses Schneeglöckchen hinhuscht, sah es aus, -und in ihren goldbraunen Augen war ein sanfter Glanz -von einer Munterkeit, die ungewiß, ob sie sich vorwagen -sollte, ihre leuchtenden Flüglein hob und senkte.</p> - -<p>Es war sehr spät geworden. Heinz schlug vor, zu gehen. -In ihr Schicksal ergeben, folgte sie ihm. Aber auf der -Straße nahm sie doch seinen Arm und schmiegte ihre -Wange daran, zum Dank, daß er sie rücksichtsvoll und -wie ein anständiges Mädchen behandelte. Vor einem Logierhaus -machte er halt. Bevor er klingelte, bot er ihr mit -behutsamen Worten ein Darlehen an. Sie gab keine Antwort, -wurde verwirrt und schluchzte kurz auf. Aber das -Geldstück nahm sie doch, mit kaum verhehlter Gier, aus -seinen Händen und barg es bebend in ihrem Täschchen. -Dann wartete sie mit fliegendem Atem, daß er anläuten -und das Zimmer bestellen würde. Doch er hielt ihr nur -die Hand hin.</p> - -<p>„Gute Nacht!“ sagte er einfach.</p> - -<p>Freudig erschrocken schaute sie ihn an.</p> - -<p>„Sie gehn nicht mit?“ rief sie in der Ratlosigkeit ihrer -Überraschung. Und das war wie ein Aufjubeln, und die -hellen Tränen stürzten ihr über die Wangen.</p> - -<p>„Schlafen Sie sich aus. Wenn es Ihnen recht ist, -hol’ ich Sie morgen früh ab. Dann sehen wir weiter.“</p> - -<p>Sie war ganz fassungslos und wußte nicht, wie sie ihm -dankbar sein könnte. In überströmendem Empfinden -neigte sie sich über seine Hand. Unwillig machte er sich -frei, zog die Nachtglocke und wollte rasch davon. Sie ließ -es nicht zu.</p> - -<p>„Sie ... du ...“ stammelte sie, legte ihre Arme um -seinen Hals und küßte ihn.</p> - -<p>Die Sommernacht war lau und ausgesternt, rein und -rund hing der Mond im dunklen Blau, lautlos war es -und niemand in der Gasse zu sehen. Und nichts war zu -hören als der Herzschlag der vielen schlafenden Menschen, -der durch die Mauern der großen Zinshäuser drang und -leis und warm durch die Stille pochte.</p> - -<p>„Bleib’ bei mir, du!“ flüsterte die Marie. „Geh’ nicht -fort, laß mich nicht wieder allein. Ich bin so froh, daß -ich dich gefunden hab’!“</p> - -<p>Der Schlüssel rasselte im Schloß. Schläfrig öffnete -der Pförtner das Tor. Nur einen flüchtigen Blick warf -er auf das Pärchen, dann sagte er mit einem verständnisinnigen -Blinzeln zu Heinz: „Ein Zimmer mit zwei Betten -ist nicht mehr frei. Wenn die Herrschaften fürlieb nehmen -wollen mit Nummer einundvierzig?“</p> - -<p>Heinz stand wie betäubt.</p> - -<p>„Geh’ nicht fort!“ bat die Marie.</p> - -<p>Da nahm er wortlos den Zimmerschlüssel aus der Hand -des Türstehers. Und noch ehe er im zweiten Stockwerk -angelangt war, hatte er schon den schlanken, bebenden -Frauenleib ganz dicht an sich gezogen.</p> - -<p>Körper an Körper und Wange an Wange stiegen sie -die Treppe hinan, mit fieberndem Blut und hämmernden -Herzen, und wie eine glühende Wolke umhüllte sie die -ungestüme Sehnsucht ihrer jungen lebenshungrigen Sinne.</p> - -<p>So kam die große Leidenschaft der Liebe über Heinz -Wart. Er bezog mit Marie eine aus Küche und Zimmer -bestehende Wohnung im fünften Stock eines Miethauses. -Dort war es hell und freundlich, und die schlichten Möbel -glänzten im Morgensonnenschein mit den Zähnen, den -Augen der Marie um die Wette. Heiter ging sie an ihr -Tagewerk und beschloß es heiter, ganz geborgen fühlte sie -sich, wußte sich geliebt und liebte wieder mit aller Zärtlichkeit -ihres unverbrauchten kindlichen Herzens. Ein sachtes -Rot kam in ihre schmalen Wangen, leicht und federnd -schritt sie einher. Aber ihre Arme blieben mager, und der -trockene Husten wollte nicht weichen.</p> - -<p>Beglückt und froh ließ sich Heinz von ihrer warmen -Liebe wiegen. Seine Starrheit löste sich, er wurde weicher, -menschlicher sozusagen. Im schnurgeraden Wandern nach -dem Ziel hatte er eine heimliche Stätte gefunden, wo -er traumverloren ruhen und endlich auch einmal der Melodie -seines eigenen Lebens lauschen konnte.</p> - -<p>Fritz bat den Freund — wortlos, nur mit einem festeren -Händedruck — um Verzeihung wegen der schlechten Meinung, -die er von ihm gehabt, und mit der Marie schloß -er bald gute Kameradschaft. Viele schöne Abende verlebte -er in ihrem Heim, aber auch jeden freien Tag verbrachte -er mit ihnen.</p> - -<p>Dann fuhren sie alle drei in den Wiener Wald oder in -die Voralpen hinaus, nach denen die Marie solche Sehnsucht -hatte, daß sie sich immer wie zu einem Fest schmückte, -wenn sie die laubwaldumwachsenen Höhen wiedersehen -sollte, die weich hinfließenden Kämme und die weiten Täler. -Denn sie liebte die freie Gotteswelt, den blauen Himmel, -unter dem sie groß geworden, die blumigen Fluren, die -ihr das Wiegenlied geflüstert, die saalweiten Buchenwälder, -durch die mit goldenen Mänteln die Rehe sprangen -wie verwunschene Märchenprinzen.</p> - -<p>Abseits von dem großen Heer der Ausflügler streiften -sie, meist weglos, den ganzen Tag umher, an kühlen -Bergquellen hielten sie Rast, von duftschweren Maiglöckchen -umblüht oder umloht von der berauschenden Glut -blutroter Alpenrosen. Und je einsamer es war, desto glücklicher -waren sie, großen Kindern gleich, die hinter die -Schule gelaufen.</p> - -<div class="section"> -<h3>4.</h3> -</div> - -<p>Diese Ausflüge waren für Hellwig immer wie ein Jungbrunnen, -aus dem er sich Erquickung und neue Frische -holte für sein aufreibendes Tagwerk. Dieses war, je mehr -er sich eingearbeitet hatte, je mühevoller geworden. Die -Partei hatte bald die Tüchtigkeit, die Werbekraft und den -Einfluß erkannt, den der junge Schriftleiter mit seiner -warmen Begeisterung und stillen Leidenschaftlichkeit auf -breite Massen üben konnte. Die Scheu vor dem öffentlichen -Hervortreten hatte er rasch überwunden, zauderte -jetzt niemals mehr, in den Versammlungen als Redner -aufzustehen, und wenn er etwas zu sagen hatte, sagte er -es frei heraus und wunderte sich selbst manchmal, wie -leicht und mühelos ihm die Worte von den Lippen kamen. -Mit frohen Kräften tat er sich überall um, und je mehr -man auf seine Schultern lud, desto wohler fühlte er sich. -Und seine Kräfte wuchsen, je mehr er sie brauchte.</p> - -<p>Immer zu eng waren ihm die Grenzen abgesteckt, sein -Ungestüm schrie nach einer ganz großen Aufgabe, an der -er sich ungehemmt und uneingeschränkt erproben und wirklich -abmessen konnte, was er zu leisten imstande sei. Und -die Aufgabe wurde ihm.</p> - -<p>In dem ausgedehnten nordböhmischen Kohlenbecken -waren die Lohnverhältnisse schon lang unhaltbar und der -Streik nicht länger hinauszuschieben. Stürmisch verlangten -ihn die Bergleute, und die Parteileitung mußte nachgeben. -Es wurde notwendig, einen verläßlichen Mann in das -unruhige Gebiet zu entsenden, der die Bewegung vorbereiten, -in geordnete Bahnen lenken und überwachen -sollte. Die Wahl fiel auf Fritz Hellwig. Eine große, verantwortungsvolle -Sendung wurde ihm, der wenig über -vierundzwanzig Jahre alt war, damit auferlegt. Aber vor -die Entscheidung gestellt, schwankte er keinen Augenblick -und sagte ja.</p> - -<p>An einem trüben Herbsttag betrat er den Ort seines -zukünftigen Wirkens. Die große lärmvolle Provinzstadt -machte keinen günstigen Eindruck. Ein trockener Geschäftsgeist, -der das Zweckmäßige auch schön findet, sprach aus -ihrer ganzen Anlage. Man sah es gleich: Diese Stadt -hatte keine Vergangenheit. Ihre Insassen wohnten nur -erst wie zur Miete, waren nicht auf diesem Boden erbgesessen -und mit ihm verwachsen durch vieljährige Überlieferung. -Deswegen legten sie keinen Wert auf ein behagliches -Heim, hätten auch keine Zeit gefunden, es zu -schmücken, in ihrer rastlosen Jagd nach dem Erwerb.</p> - -<p>Mit ihren vielen Fabriksschloten lag die Stadt, beständig -von einer Wolke schwärzlichen Qualms überschattet, -mit Geratter, Gerassel und Getöse angefüllt, in einer -ungemein reizvollen Landschaft wie ein häßliches Mal auf -einem schönen Körper. Zahlreiche Berge schlossen sie von -zwei Seiten ein, ein stattlicher Strom hatte sich eine breite -Rinne durch das Gebirge gegraben und trug Frachtschiffe -auf seinem Rücken, beladen mit Obst und Korn und -Kohlen, die rings in dem großen Becken gefördert wurden. -Und an seinen Ufern führten die Schienenstränge, keuchten -die Lokomotiven, knarrten die Dampfkrahne, schwere -Warenballen aus den Eisenbahnwagen hebend und in den -Schiffsrumpf senkend.</p> - -<p>Es war eine reiche Gegend, und die Leute verwendeten -den unerschöpflich zuströmenden Reichtum mit klugem Bedacht. -Sie legten ihn in der Erde an, vergruben ihr Pfund -und wucherten doch damit, teuften Schacht um Schacht -ab, stellten immer stärkere Fördermaschinen auf, und die -schwarzen Diamanten brachten hundertfältigen Nutzen.</p> - -<p>Aber die Landschaft litt darunter, und schon jetzt sah -man weite Flächen mit rauchenden Löschhalden eingesunken -und verrollt, wo einst auch fruchtschwere Obstbäume standen -und gelbes Korn der Ernte entgegenreifte. Und wenn -der letzte Kohlenblock dem Bauch der Erde wird entrissen -sein, dann wird eine Wüste ringsum zurückbleiben und -ein großes Elend.</p> - -<p>Daran dachten sie jedoch vorläufig nicht. Sie waren -stolz auf ihre Bergwerke, stolz auf ihre Fabriken, stolz -auf ihren Reichtum und hielten sich für ungemein geschäftstüchtig, -weil sie sich alles dienstbar zu machen und -aus allem Vorteil zu ziehen wußten.</p> - -<p>Am stolzesten aber war die Stadt auf ihre chemische -Fabrik. Die bildete ein eigenes Viertel, und wohl fünfzig -Schlote ragten hoch in die Luft, gewaltige Säulen für den -Thron der Königin Industrie. In dicken Wolken hing -der schwarze Rauch darüber als Baldachin und unten sausten -und grollten die Räder, knatterten die Treibriemen, ächzten -die Winden, schrillten die Dampfpfeifen: die große Sinfonie -zu Ehren der Königin.</p> - -<p>Weit über fünftausend Arbeiter beschäftigte diese Fabrik, -und weit über fünfzehntausend Bergleute fanden in den -Kohlengruben ihr Brot. Die sollte Fritz Hellwig nun -führen, organisieren und vorbereiten zum Kampfe gegen -die mächtigen Handelsherren.</p> - -<p>Er hatte sich außerhalb der Stadt in einem kleinen -Hause am Ufer des Stromes bei einem Faßbinder eingemietet. -Hier war es still und friedsam, die Hafenbahn -führte nicht bis her und der Lärm drang nur kaum noch -wie ein leises Murmeln von fern. Um die Fenster schlang -ein edler Weinstock seine Ranken, bewaldete Berge stiegen -am jenseitigen Ufer mit anmutigen Gipfeln empor, und -durch das grüne Tal glitt leise rauschend mit eiligen Wellen -der schöne Fluß. Früh morgens ging die Sonne an den -Fenstern vorbei, lag wie gleißendes Silber auf der breiten -Wasserfläche, Lastschiffe und Zillen wanderten bei günstigem -Wind mit aufgesteckten Segeln vorüber, Schleppdampfer -bewegten sich an rollender Kette stromaufwärts.</p> - -<p>Bisweilen auch tönte unten auf dem gepflasterten Vorplatz -lustiger Schlegelklang. Aber der Bindermeister war -rücksichtsvoll und fragte jedesmal, wenn er die Reifen antreiben -wollte, seinen Mieter, ob ihm das Gehämmer nicht -lästig sei. Er war außerordentlich mager, groß, etwas -vornüber gebeugt durch die Last seiner siebzig Jahre, und -um das ganze Gesicht starrte ihm ein wahrer Urwald von -grauen Haaren, so daß nur die kleinen Vogelaugen sichtbar -waren und eine Hakennase von abenteuerlicher Form. Wie -ein Meergreis schaute er aus, grün, mit grünlich verschossenen -Kleidern und grünlich-schwarzer Hautfarbe. Denn -er wusch sich nur Sonntags. Dagegen hielt er viel auf -leichtes Schankbier und Schnupftabak, wovon er unglaubliche -Mengen verbrauchte. Seine Frau war ihm darin -ähnlich. Auch sie verschmähte weder eine Prise noch einen -guten Trunk. Doch ging sie immer sauber gewaschen, -und Fritz hatte keinen Anlaß zu einer Klage. Seine Stube -war kühl und hell, die Aussicht prachtvoll, der Kaffee -vortrefflich.</p> - -<p>Wenn er zu Hause war, sah er am liebsten zum Fenster -hinaus auf das bunte Treiben im Strom, schaute den -Scharen der Möven zu, die wie Silberstreifen über die -glitzernde Wasserfläche schossen und ließ sich nachts von -dem eintönigen Geplätscher der wandernden Wellen in -Schlaf singen.</p> - -<p>Aber er hatte nicht viel Zeit zu beschaulicher Muße. Die -Agitatoren, die vor ihm dagewesen waren, hatten schlecht -gewirtschaftet. Sie hatten verhetzt, statt aufzuklären; sie -hatten aufgereizt, wo sie hätten belehren sollen. Sie hatten -den Leuten die glückliche Unwissenheit genommen und nichts -dafür gegeben.</p> - -<p>„Werdet Sozialdemokraten, und es wird euch gut -gehen.“</p> - -<p>Und sie wurden Sozialdemokraten. Aber es ging ihnen -nicht gut. Es ging ihnen schlechter. Denn zur gleichen -Lebenslage war die Unzufriedenheit gekommen.</p> - -<p>So war es Hellwig nicht leicht gemacht, Vertrauen zu -erwerben. Aber es gelang ihm doch. Er war fortwährend -unter ihnen, bereiste das ausgedehnte Gebiet, warb um -sie und ließ nicht locker. Und langsam begann ihr Mißtrauen -zu schwinden. Sie ließen ihn näher an sich heran, -öffneten ihm ihre Stuben, ihre Herzen. Sie spürten heraus, -daß er es ehrlich mit ihnen meinte und fingen an ihn -zu lieben.</p> - -<p>Bald kannten ihn alle Arbeiter. Es war auch nicht -schwer, ihn unter Hunderten herauszufinden. Schulterbreit, -von einem kraftvollen Ebenmaß der Glieder, überragte -er die meisten um Haupteslänge. Wenn sie seinen -runden Schlapphut, den grauen Radmantel auftauchen -sahen, kamen sie näher, vertrauten ihm ihre Nöte. Und -bald auch kamen sie zu ihm in die Redaktion des Wochenblattes, -dessen Leitung er mit übernommen hatte. In den -Frühstunden oder am Abend nach der Arbeit kamen sie, mit -ihren rußigen Gesichtern und schwieligen Fäusten, holten -sich Rat in ihren kleinen Kümmernissen und großen Mühsalen.</p> - -<p>Es gab prächtige Menschen unter ihnen. Da war Anton -Stanzig, der Glasbläser, der in seinen freien Stunden -in den Bergen herumlief, um sich eine neue Lunge zu holen, -weil er sich die alte beim heißen Schmelzofen schon zur -Hälfte herausgeblasen hatte. Er spuckte Blut und sammelte -Schmetterlinge, las darüber dicke Bücher und wußte alle -Arten mit ihren lateinischen Namen zu benennen. Oder -da war Ferdinand Opitz, der nach beendeter Häuerschicht die -dunkle Kohlengrube verließ, um sich mit Spektralanalysen -zu beschäftigen und dessen ständige Klage war, daß er so -selten dazu käme, das Sonnenspektrum zu beobachten. -Oder da war Franz Bogner, der alte Kesselwärter, der -in den Mußestunden mit seinen knotigen Fingern zarte -Blumengewinde und Figuren modellierte. Und was sollte -man von Karl Pfannschmidt halten, dem fünfunddreißigjährigen -Bergmann, der zur Rastzeit im Schacht mit dem -Speck zugleich auch ein Buch aus dem Brotsack zog und -auf einem Haufen Kohle bäuchlings hingestreckt, beim -trüben Schein der Grubenlampe Rousseaus <span class="antiqua">contrat social</span> -im Urtext zu lesen anfing.</p> - -<p>Er hatte eine zweiklassige Dorfschule besucht und mußte -mit zwölf Jahren ins Bergwerk. Schon längst war seine -Gesichtsfarbe fahlgrün und seine Luftröhre voll von Kohlenteilchen, -die er obertags fortwährend aushustete. Die heiße -Schachtluft hatte den Körper angegriffen, aber der Sehnsucht -konnte sie nichts anhaben. Die war geblieben, und -mit ihr ein unstillbarer Hunger nach Wissen. Seine Stuben -waren vollgepfropft mit allen Lehrbüchern der Mittelschulen. -Denn er hatte einst den Ehrgeiz gehabt, es bis -zum Doktor der Weltweisheit zu bringen. Da hatte er -heiraten müssen, kurz nach der Hochzeit war das erste -Kind gekommen, und die Sorge um das tägliche Brot -zwang ihn, im Schachte auszuharren.</p> - -<p>Hellwig war bald der wahren Natur des bescheidenen -Bergmanns auf die Spur gekommen, bot ihm seine -Bücherei zur Benützung an, lud ihn zu sich ein. Und Pfannschmidt -zog eines Abends nach langem Zögern seine guten -Kleider an und ging hin. Frisch rasiert war er, trug -blank gewichste Stiefeletten und an den ausgearbeiteten -Händen braunlederne Handschuhe. Linkisch stand er unter -der Tür und zog und zerrte an dem Knoten seiner Halsbinde, -die himmelblau auf einer brettsteifen Hemdbrust -glänzte. Die Hemdbrust hatte sich unter der Weste verschoben -und wölbte sich nun wie ein mächtiger Frauenbusen.</p> - -<p>„Stör’ ich?“ fragte er schüchtern.</p> - -<p>„Beileibe!“ erwiderte Fritz. „Schön, daß Sie kommen.“</p> - -<p>Er nahm dem Besucher den Hut aus der Hand, legte -ihn aufs Bett, öffnete den Kasten und nahm eine Flasche -Wein heraus.</p> - -<p>„Machen wir’s uns gemütlich.“</p> - -<p>Der Bergmann saß steif nur kaum auf dem Rand des -angebotenen Stuhls und hatte die Hände vor sich auf -die geschlossenen Knie gelegt. Seine Blicke wanderten in -der Stube herum, blieben an den Büchergestellen haften.</p> - -<p>Fritz schraubte die Lampe höher. „Ich denke, wir lesen -etwas!“ schlug er vor. Denn auch ihm fehlte die Gabe, -durch leichtes Geplauder Brücken zu schlagen, über die -ihre einander noch fremden Seelen sich hätten näher kommen -können. Er holte ein paar Bände, setzte sich seinem -Gast gegenüber, der ihn stumm und erwartungsvoll ansah.</p> - -<p>„Vielleicht das hier!“ meinte Hellwig nach einigem -Herumblättern. Und nun las er mit verhaltener Leidenschaft -Friedrich Adlers Gedicht ‚Nach dem Strike‘.</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„... Im tiefen Schacht, von Luft, vom Lichte,</div> - <div class="verse indent0">Von jedem frohen Blick entfernt,</div> - <div class="verse indent0">Gefahr, wohin der Fuß sich richte —</div> - <div class="verse indent0">Wir haben tragen es gelernt.</div> - <div class="verse indent0">Wir wissen uns dem Los zu neigen.</div> - <div class="verse indent0">Wir gehen fürs Leben in den Tod.</div> - <div class="verse indent0">Wir schweigen schon und werden schweigen,</div> - <div class="verse indent0">Allein wir hungern, schafft uns Brot!“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Und weiter:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„... Und laßt es nicht zum höchsten steigen,</div> - <div class="verse indent0">Bedenket, Eisen bricht die Not —</div> - <div class="verse indent0">Wir schweigen schon und werden schweigen,</div> - <div class="verse indent0">Allein wir hungern, schafft uns Brot!“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Pfannschmidt war aufgestanden. Gleich nach den ersten -Versen war er aufgestanden, ganz außer sich, mit geballten -Händen und weit geöffneten Augen.</p> - -<p>„Herr! ... Herr ...!“</p> - -<p>„Ein schönes Gedicht, nicht wahr?“ sagte Fritz leichthin, -um die eigene Ergriffenheit zu verbergen.</p> - -<p>„Schön? — Packen tut’s einem, daß man gleich mit -Fäusten dreinschlagen möcht’! Sakra! Wir schweigen schon -und werden schweigen, allein wir hungern! ... Das sind -Worte, gerade solche Worte, wie sie unsereins auch spricht -... aber was da alles drinliegt! Und was alles dazwischen -liegt, bis einer zu dem Ton kommt ... Herr, ich hab’ -auch mein Lebtag gehungert und geschwiegen und gewartet: -es muß doch anders werden. Und ein Tag nach dem -andern ist vorbeigegangen, ein Jahr hinterm andern, — -bis mir meine Frau das erste graue Haar aus dem Bart -zieht. Und da hab’ ich’s auf einmal gewußt: Du steckst -drin und kannst nicht heraus ...! — Ich hab’ angefangen, -auf die Tage aufzupassen, wie sie so langsam -vorüberschleichen. Und da ist mir geworden: Ich lieg’ sechs -Schuh tief in einem offenen Grabe ... und jeder Tag -ist wie eine Schaufel Erde, die sie auf mich werfen. Bei -den Beinen fängt’s an, dann kommt’s auf die Brust, die -Arme ... immer schwerer ... immer mehr Erde ... -Und endlich fällt sie auch aufs Gesicht. Dann ist das -Licht fort, jeder Strahl, jeder Schimmer — alles. Und -das ist das Ende ... Lebendig muß man sich begraben -lassen und kann sich nicht wehren. Verfluchte Armut!“</p> - -<p>„Pfannschmidt!“ rief Fritz erschüttert. „Um Himmelswillen, -nicht so mutlos! Denken Sie nicht ans Untergehn, -sonst <em class="gesperrt">sind</em> Sie ja schon unten! Verfluchte Armut, jawohl! -Aber — Hand aufs Herz, ihr, die ihr da arm seid — seid -ihr ganz ohne Schuld? — Ihr habt geschwiegen und -schweigt! Laßt alles auf euch niedergehn — und schweigt! -Zum Teufel! So wehrt euch doch! Ihr habt Fäuste — -braucht sie! Habt Rechte — fordert sie! Und weigert -man sie euch — erzwingt sie!“</p> - -<p>Da lächelte der Arbeiter traurig und sagte: „Herr, -Sie wissen eben nicht, was jahrelang schuften und hungern -heißt. Das macht einen schon kaputt. Wenn man so -Stücker zwanzig Jahre in der Tretmühle drin ist, dann -hört sich endlich alles andere auf. Man lebt nur noch -so hin ...“</p> - -<p>Fritz vermochte nicht zu antworten. Was er auch geredet -hätte, es wären doch nur Worte gewesen, leere Worte, -die an diesen heißen Schmerz nicht herankonnten, — wie -Wassertropfen in der Luft verdampfen, lang ehe sie das -Erz im Hochofen erreichen können.</p> - -<p>So war Schweigen, während vor den Fenstern der -dunkle Strom vorüberzog, schnell, lautlos gleitend, Welle -um Welle ohne Anfang und Ende.</p> - -<div class="section"> -<h3>5.</h3> -</div> - -<p>Tage aufreibender Tätigkeit folgten. Es galt die Forderungen -zusammenzustellen und den Grubenbesitzern bekanntzugeben. -Hoch waren die Forderungen nicht, denn -die Leute waren wirklich hundejämmerlich daran. Sechs, -im besten Fall zwölf Gulden in der Woche verdienten die -Männer, die Weiber brachten es höchstens auf sieben, -und zu alledem waren die Lebensmittel schandhaft teuer. -Es gedieh zwar alles in Hülle und Fülle in der fruchtbaren -Gegend und die Bauernhöfe hatten große Viehbestände. -Aber die klugen Geschäftsleute wußten auch aus diesem -Segen Gewinn zu ziehen, trieben mit Obst, Korn, Milch -einen schwunghaften Handel nach dem Ausland und den -nahen Kurorten. Nur die Ausschußware beließen sie dem -heimischen Markt, forderten aber die gleichen Preise wie -für die gute. Und die Löhne waren seit Jahrzehnten unverändert.</p> - -<p>Das glatte Zuströmen des Reichtums hatte die Unternehmer -übermütig gemacht. Sie vertrauten ihrem mühelosen -Glück und glaubten, daß ihnen alles gelingen müßte -und nichts geschehen könnte.</p> - -<p>Rundweg lehnten sie die Forderungen ihrer Arbeiter ab. -Alle ohne Ausnahme, in Bausch und Bogen, brüsk, ohne -Beschönigung. „Wir bewilligen gar nichts! Wem’s nicht -recht ist, der kann gehen!“</p> - -<p>Da berief Hellwig die Bergleute zu einer Versammlung -unter freiem Himmel, am frühen Morgen, draußen vor -der Stadt auf einem Hügel mit weiter Fernsicht über -das große Becken. Und sie, über die schroffe Abweisung -erbittert, legten trotzig die Arbeit nieder und strömten -von allen Seiten auf die frührotbeglänzte Höhe. Wohl -achttausend kamen sie, Männer mit struppigen Bärten, -Weiber, die Kinder unterm Herzen trugen, muskelbepackte -Jünglinge und Mädchen mit wachsgelben Wangen. -In ihren besten Kleidern, wie zu einem Gottesdienst, -kamen sie.</p> - -<p>Blutrot stieg im Osten die Sonne empor. Unter ihr -lag die herbstreife Erde und hob die quellenden Brüste -dem Licht entgegen. Rein war der Himmel, rein die Luft, -rein die Stadt vom Fabriksqualm. Rauchlos ragten die -Schlote, mahnende, warnende Finger, aus dem Häusergewirr.</p> - -<p>Hellwig schwang sich auf eine Felsplatte, die in der -weiten Fläche des Gipfels wie eine natürliche Rednerbühne -aufgebaut war und blickte über die Versammelten. Eine -schwankende dunkle Masse, brandete es da unten, Kopf -bei Kopf, und die Gesichter leuchteten seltsam weiß und -fremd daraus hervor. Und das Regen der Leiber, das -Summen der gedämpften Stimmen vereinigte sich zu einem -dumpfen Brausen, wie der Schwall mächtiger Wogen, -die ohne Rand und Ufer im offenen Meer hinrollen.</p> - -<p>Einen Augenblick stand er wie erschrocken vor dem ungeheuern -Andrang des Lebens, das ihm entgegenatmete. -Und es dünkte ihn Vermessenheit, als ein Einzelner, Jugendlicher, -gleichsam darüberzustehen und ihm die Bahn zu -weisen. Und er sah Hoffnung in ihren glänzenden Augen, -hörte das Brausen leiser und leiser werden — und lautlose -Stille wurde unter der blauen Himmelsdecke, wie in einem -endlos gedehnten leeren Saal.</p> - -<p>Alle schwiegen und hielten ihm die Gesichter zugewendet -und erwarteten etwas von ihm und waren begierig auf -seine Botschaft. Da durchsengte es ihn mit einer wilden, -ganz heißen Glut. Noch einen freien, leuchtenden Blick -warf er über die Menschenmassen, dann sprach er mit -weithin tönender, schwingender Stimme.</p> - -<p>Er sagte:</p> - -<p>„Da unten liegt die schöne reiche Erde, die unser aller -Mutter ist. Da unten schläft auf Garbenbündeln die Fruchtbarkeit, -biegen sich die Äste fruchtschwer und segenbeladen.</p> - -<p>Unsere Mutter ist so schön und so reich. Aber ihr, die -ihr Kinder dieser Mutter seid ... schaut dort hinab, wo -die Essen ragen und die Aschenhaufen rauchen! ... ihr, -die ihr dort unten in den finsteren Schächten, fern dem -Licht, in der heißen, staubigen Luft, in den engen, stickigen -Gängen schweißtriefend die Karren schiebt und halbnackt -die Hauen schwingt beim bleichen Flackern der Grubenlampen -— eure Lungen keuchen, eure Lippen sind zerrissen -und wund, eure Augen haben rote Ränder — ihr -armen Kinder dieser reichen Erde wißt nichts von der -Schönheit eurer Mutter!</p> - -<p>Wenn noch die Nacht auf den Bergen träumt, müßt -ihr Abschied nehmen von Weib und Kind, jeden Tag Abschied -fürs Leben, denn dort unten lauert die Gefahr, -kauert der Tod — und eure Lieben wissen nicht, ob sie -euch lebend wiedersehen.</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">‚Wer weiß, wie nahe mir mein Ende?</div> - <div class="verse indent0">Ein Grubenlicht, ein Lebenslicht,</div> - <div class="verse indent0">Ein Tropfen löscht es gar behende —</div> - <div class="verse indent0">Ein Grubenlicht — ein Totenlicht!‘</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>sagt euer alter Bergmannsspruch. Und Tag für Tag müßt -ihr hinab in die heiße, dunkle Tiefe. Und erst wenn der -Tag zum Sterben kommt, wenn die Nacht wieder auf -den Bergen träumt, dann kommt ihr — vielleicht! — -hervor aus der dunklen, heißen Tiefe und eure Augen -sehen die Sonne nicht mehr. Tag für Tag. Und keinen -Tag seht ihr den Quell alles Lebens, die Sonne.</p> - -<p>Was habt ihr getan, um so gestraft zu werden?</p> - -<p>Wolltet ihr Umsturz und Revolte? Den Untergang des -Reiches? Den Tod des Herrschers?</p> - -<p>O, nichts von alledem, meine Brüder! Ihr seid nur -— arm!</p> - -<p>Das ist es ja, was unsere Gesellschaftsordnung so furchtbar -macht und so ungeheuerlich! Daß die Armut zum -Fluch, daß die Armut zur Strafe wurde, zu einer harten, -grausamen, entsetzlichen Strafe.</p> - -<p>Und wenn ihr — nicht ein Ende, beileibe! — wenn -ihr eine Milderung wollt, wenn euere Forderungen noch -so maßvoll sind, wenn ihr nichts verlangt als nur ein -wenig mehr Luft und Licht und ein wenig Würze zum -trockenen Brot — auch dieses Wenige geben sie euch nicht!</p> - -<p>Wenn ihr euch auch plagt und rackert und Arbeiten -auf euch nehmt, die oft einem Schwein zu schmutzig wären, -geduldig und ohne Murren auf euch nehmt — denn eure -Kinder wollen essen — es hilft euch alles nichts, plagt, -rackert, schindet euch, so viel ihr wollt, ihr müßt — ganz -arm bleiben.</p> - -<p>Nichts gibt man euch dazu, nicht einmal ein wenig mehr -Luft und Licht und ein bißchen Würze zum trockenen Brot!</p> - -<p>Ballt sich euch die Faust? Will euch der wilde Zornschrei -die Brust zerreißen?</p> - -<p>Gemach, ihr meine Brüder!</p> - -<p>Nicht in Haß und Zorn dürft ihr handeln! Wägen -müßt ihr, müßt alles überlegen, und ruhig und besonnen, -aber um so fester und sicherer, strenger und unbeugsamer -pocht dann auf euer Recht!</p> - -<p>Und das erste Recht der Erdenkinder ist ein Anrecht -auf die Früchte der Mutter. Wie euern Kindern die Brüste -eurer Frauen, so gehören euch die Früchte der Erdenmutter. -Und euer bestes Recht ist, daß ihr satt zu essen -habt für euch und eure Kinder.</p> - -<p>Aber nicht mit der kurzen Gewalt der Fäuste dürft -ihr euch dieses Recht holen. Denn ...</p> - -<p>Ich sehe viele unter euch, die Väter und Mütter sind. -So frage ich euch: Wollt ihr, daß euern Kindern dasselbe -Los falle, das euch beschieden ist? Wollt ihr, daß ihnen -wie euch das Geleite geben durch das ganze lange Leben -der Hunger und die Not? Wollt ihr, daß eure Kinder einst, -wie ihr, vor einer Wiege stehn und emporschreien zum -harten kalten Tod: ‚Komm doch! Komm und nimm den -Wurm zu dir, eh’ er bei uns verhungert!‘</p> - -<p>Wollt ihr das? O, nein doch, nein!</p> - -<p>Nun denn, so unterdrückt den Zorn, laßt den Drang -nach Aufruhr und Empörung nicht mächtig werden — -um eurer Kinder willen. Denn wenn ihr jetzt hingeht, -die Maschinen zerstört und vernichtet und plündert, werdet -ihr in Ketten gelegt und in Kerker geworfen. Und eure -Kinder stehen schutzlos da, preisgegeben dem hohnlachenden -Daseinskampf — und verderben.</p> - -<p>Ihr seid Söhne der Erde: so seid ihr Söhne der Arbeit.</p> - -<p>Ihr seid Söhne der Arbeit: so seid ihr stark und starr.</p> - -<p>Und so rufe ich euch zum Kampf! Zum zähen, lautlosen -Kampf der härtesten Unnachgiebigkeit! Rührt keinen -Finger zur Arbeit, bevor nicht eure Forderungen erfüllt -sind: Neun Stunden Arbeitszeit und vierzig Prozent Lohnerhöhung.</p> - -<p>Mehr könnt ihr vorerst nicht fordern. Mit einem Schlag -fällt auch der stärkste Mann keinen hundertjährigen Baum, -aber durch viele Axtschläge bringt ihn selbst ein Kind zu -Fall.</p> - -<p>Söhne der Erde, Söhne der Arbeit, seid stark und starr -und achtet die Gesetze um eurer Kinder willen!“</p> - -<p>Als er geendet hatte, zerriß ein lautes Jubelschreien -die atemlose Stille. Ein entfesselter Strom, drängten sie -gegen ihn, streckten die Arme aus, schwenkten Hüte und -Tücher. Die Vordersten erkletterten den Felsen, haschten -nach seinen Händen, drückten und schüttelten sie, und einige -wollten ihn auf den Schultern forttragen. Er aber wehrte -ihnen und schritt ergriffen durch die entflammte Menge, -mit feuchten Augen und hämmerndem Herzen.</p> - -<p>Da stellte sich ihm ein Mann in den Weg, den er vorher -noch niemals gesehen hatte. Und doch mußte die kurze, -gedrungene Gestalt mit dem mächtigen Schädel, dem verwilderten -Bart und den brennenden, tiefhöhligen Augen -sofort auffallen. Er war schlecht gekleidet, trug einen -abgeschabten Flausrock, Zwilchhosen, die an den Knien -mit großen Flicken ausgebessert waren, trangeschmierte -hohe Stiefel, und das blaue Leinenhemd ließ trotz der kühlen -Herbstluft die haarige Brust frei.</p> - -<p>Etwas erstaunt schaute ihn Fritz an, und der Fremdling -sagte mit unverhohlenem Spott: „Sie wundern sich über -mein Aussehen, guter Freund? Das bin ich gewohnt. -Übrigens heiße ich Karus, komme von Odessa und wollte -mir mal anschaun, wie ihr da draußen in Freiheitskämpfen -macht. Ich habe Ihre Rede gehört, es war eine schöne -Rede, eine gehaltvolle Rede, gewiß, aber eben doch nur eine -Rede. Und das, nehmen Sie mir’s nicht übel, junger -Freund, aber das alles hat verflucht wenig Wert. Ihr -redet und redet, glaubt, weiß der Himmel was ihr für die -‚Freiheit‘ und für die ‚Menschheit‘ tut. Doch seien wir -ehrlich, im Grund genommen denkt ihr verteufelt wenig -an die ‚Freiheit‘ und an die ‚Menschheit‘. Ihr denkt schließlich -auch nur an eure Magen, wollt, daß ihr genug für -den Wanst habt — — daß aber draußen irgendwo zur -selben Zeit soundsoviele Hunderttausende im Straßengraben -verrecken, daran denkt ihr nicht, ihr — altruistischen -Egoisten!“</p> - -<p>Er hatte mit halblauter Stimme gesprochen und keine -Falte seines verwitterten Gesichtes verzogen. Nur die Augen -blitzten lebendig in ihren tiefen Höhlen, und durch seine -Worte zitterte es wie verhaltene Glut.</p> - -<p>„Stören Sie mir die Stunde nicht!“ antwortete Hellwig -unwillig. „Was geht es Sie an, wie wir für unser -Recht eintreten? Ihnen zu Trost sei’s gesagt: wir werden -es auch bekommen! Weil wir uns rühren! Warum rühren -sich die soundsoviel hunderttausend anderen nicht auch? -Oder, wie Sie sagen, warum verrecken Sie lieber im -Straßengraben, statt sich ihr Recht zu holen?“</p> - -<p>Da schüttelte sich die vierschrötige Gestalt des Unbekannten -in lautlosem Gelächter. Er schaute Fritz lang an, -mit einem sonderbaren, tief bohrenden Blick, dann sagte -er langsam, jedes Wort betonend:</p> - -<p>„Weil sie frei sein wollen!“, drehte sich auf dem Absatz -herum und ging weg. Rücksichtslos brach er sich mit den -groben Fäusten und dem Stiernacken Bahn durch das -Gedränge, war im Nu darin untergetaucht.</p> - -<p>Das ganze Auftreten des Mannes, sein hartes Wesen -und dann die rätselhaften Schlußworte, das alles hatte -einen starken Eindruck auf Hellwig gemacht. Und noch -in seinem Zimmer grübelte er, suchte einen Sinn in dem -mystischen Satz:</p> - -<p>... Sie verrecken lieber im Straßengraben, weil sie -frei sein wollen ...</p> - -<p>Aber er fand keine Deutung.</p> - -<div class="section"> -<h3>6.</h3> -</div> - -<p>Im Kohlenbecken ruhte die Arbeit.</p> - -<p>Von allen Seiten liefen Spenden ein. Sogar Wart -Nikl leistete einen Beitrag. Kolben schickte tausend Gulden -und schrieb dazu: „Noch einmal die gleiche Summe steht -dir in vier Wochen zur Verfügung, wenn du sie brauchst. -Es geschieht aus Freundschaft für dich, denn ich triefe -nicht von Menschenliebe. Nenn meinen Namen nicht. Ich -verzichte auf den blökenden Dank der Herde, verdiene ihn -auch nicht. Halt dich tapfer!“</p> - -<p>Das Geld wurde nicht verteilt, sondern zur Anschaffung -von Lebensmitteln in großen Mengen verwendet. Mehrere -Küchen mit riesigen Herden wurden aufgestellt, in denen -das Essen für Hunderte auf einmal bereitet werden konnte. -So waren sie in der Lage, länger auszuhalten.</p> - -<p>Sparsamkeit war aber auch notwendig, denn Woche -um Woche verging, in geschlossenen Schlachtreihen standen -sich Arbeiter und Unternehmer gegenüber, niemand dachte -ans Nachgeben. Alle Schächte lagen wie ausgestorben. -Fünfzehntausend Bergleute feierten. Aber die Ruhe wurde -nirgends gestört.</p> - -<p>Im Dezember fiel starker Frost ein. Die Lagerbestände -der Gruben waren vollständig geräumt. Der Kohlenmangel -wurde immer empfindlicher, drohte zu einer Katastrophe -für Industrie und Bevölkerung zu werden.</p> - -<p>Und dann war die Kohlennot wirklich da. Die Preise -für Brennmaterial wurden unerschwinglich. In den Gassen -der Städte wurden die Kohlenfuhrwerke immer seltener. -Und auch die wenigen mußten von Polizisten begleitet -werden. Denn allenthalben strichen Leute mit Körben und -Säcken durch die Straßen, klaubten die Kohlenbröcklein -— wenn sie welche fanden — gleich goldenen Münzen -auf, und wiederholt schon waren die Pferde ausgespannt, -die Fuhren geplündert worden. Und die Eisenbahnzüge, -die den kostbaren Brennstoff aus dem Rheinland und von -England heranführten, rollten von der Grenze an unter -Gendarmeriebedeckung. Trotzdem aber warteten längs der -Schienenstränge Leute mit Stangen, Rechen und Harken, -sprangen in die Bremshütten und warfen von den fahrenden -Zügen die Kohle ihren Genossen zentnerweise hinab.</p> - -<p>Noch bedrohlicher wurde die Lage, als eine große Maschinenfabrik -nicht mehr alle Kessel heizen konnte, den -Betrieb einschränkte und achthundert Gießer entließ. Andere -Unternehmer folgten diesem Beispiel, und die Erregung -wuchs ungeheuer unter den brotlos gewordenen Massen. -Fast schien es, als stände das Land am Vorabend einer -Revolution.</p> - -<p>Beschwerden, Bittschriften, Drohbriefe liefen bei den Ministerien -ein. Unternehmer, Kaufleute, Handwerker, die -gesamte Bevölkerung forderte stürmisch von der Regierung -Hilfe. Hohe Beamte gingen in das Streikgebiet ab, um -zu vermitteln, zu schlichten und ein Ende der Not herbeizuführen.</p> - -<p>Das Nachgeben fiel den stolzen Gewerken in ihrem -Hochmut nicht leicht. Aber unter dem Druck der öffentlichen -Meinung blieb ihnen keine andere Wahl. Widerwillig -ließen sie sich zu Zugeständnissen herbei. Nicht alle Forderungen -wollten sie bewilligen, doch was sie anboten, -war immer noch so viel, daß es, gleich gewährt, genügt -hätte, den Ausstand zu vermeiden.</p> - -<p>So erging denn vom Regierungsvertreter an die Vertrauensmänner -der Streikenden die Einladung zu einer -gemeinsamen Besprechung. An Fritz Hellwig war sie gerichtet -als den Leiter und Führer der Bewegung.</p> - -<p>Er war eine stadtbekannte Persönlichkeit geworden. Man -staunte über die straffe Organisation, die er förmlich aus -dem Boden gestampft hatte, ließ ihm die geschickte Leitung -gelten, lobte seinen lauteren Charakter und seine vornehme -Kampfesweise.</p> - -<p>Und manche, die früher den Provinzredakteur über die -Achsel angesehen, suchten jetzt seine Bekanntschaft. Aber -er blieb zugeknöpft und verschlossen und ließ sie sich nicht -nahe kommen.</p> - -<p>Ungleich gemütlicher verkehrte er mit seinen Quartiersleuten. -Der Faßbinder war auf seine alten Tage auch -Sozialdemokrat geworden. Wenigstens behauptete er es. -Die waschechte Gesinnung übte indes weder auf seinen -waschechten Hautüberzug, noch auf sein sonstiges Gehaben -einen bemerkenswerten Einfluß. Nach wie vor schnupfte -er, trank Schankbier und wusch sich nicht. Aber statt des -nationalen Banners schwang er jetzt die rote Fahne. Freilich -nur seinen Reden nach. Dafür aber gewaltig, mit -dem Brustton der Überzeugung.</p> - -<p>Er war stolz auf seinen Mieter und sonnte sich in dem -Abglanz, der von dessen Beliebtheit auf sein Haus fiel. -Jeden Besucher hielt er auf und fing ein Gespräch mit -ihm an.</p> - -<p>„Guten Tag, Genosse!“</p> - -<p>„„Guten Tag!““</p> - -<p>„Was Neues?“</p> - -<p>„„Bin keine Zeitung!““</p> - -<p>„Nun, nun, nur nicht so schnell! Lassen Sie doch unsern -Herrn Genossen Hellwig ein bissel ausschnaufen!“</p> - -<p>„„Geht nicht, Herr Meister! Die Sache ist dringend.““</p> - -<p>„Schon wieder dringend? Ja, wir Roten! Wir marschieren -nicht, wir laufen Sturm!“</p> - -<p>„„Könnt da schlecht mit, was? Wenn die Beine schon -wacklig werden!““</p> - -<p>„Wacklig? Oho! Oho! Da schaun S’ her! La—uf—schritt!“</p> - -<p>Und er lief ein Stück die festgefrorene sonnige Uferstraße -entlang, warf die langen Beine wie ein Droschkengaul, -stand still und schaute sich schnaufend und Beifall -gewärtig um. Der Besucher hatte indes die Gelegenheit -benützt und war ins Haus geschlüpft. Da nahm der Bindermeister -eine Prise, spuckte in die Hände und schlug wütend -auf seine Fässer.</p> - -<p>Und wenn Hellwig aus dem Haus trat, frühzeitig, -kaum, daß die Sonne hinter den weißen Bergen herauf -wollte, machte sich der Binder, wenn ihn nicht noch der -Kater im Bett festhielt, jedesmal an ihn heran.</p> - -<p>„Schon auf, Herr Genosse?“ fragte er zutunlich. „Sind -Sie denn nicht noch schläfrig? Arg spät war’s wieder. -Ich hab’ schon einmal ausgeschlafen gehabt, wie Sie die -Fenster aufgemacht haben. Passen Sie nur auf, daß Sie -nicht verkühlen! Ich lieg’ immer bei zugemachten Fenstern -und doch friert mich in der Nacht wie einen Italiener. -Und jetzt gar Sie! Alle Fenster reißen Sie sperrangelweit -auf. Das kann doch nicht bekömmlich sein!“</p> - -<p>„Ich bin das so gewohnt, Herr Meister. Und dann, -es liegt sich so schön, wenn’s dunkel ist und man hört -draußen das Wasser am Eis vorübergehn. Es wiegt einen -ordentlich!“</p> - -<p>„Jawohl, schön haben wir’s schon dahier! Und eine Luft! -Eine starke Luft! Die hält gesund und macht Appetit ... -Teufelszeug noch einmal! Hat Ihnen meine Alte den -Kaffee gebracht? Man muß jetzt schon fort hinter ihr -her sein, wissen Sie, weil sie so arg viel vergeßlich wird. -Sie trinkt zu viel. Das tut den Frauenzimmern nicht gut.“</p> - -<p>Nun mußte Fritz hellauf lachen, weil hier einmal der -Blinde über den Einäugigen König sein wollte.</p> - -<p>„Nein, Herr Meister,“ sagte er, „auf den Kaffee hab’ -ich noch nie zu warten brauchen. Und was das andere -betrifft,“ — er klopfte dem Meergreis auf die knochige -Schulter — „da sollten Sie sich doch erst selber bei der -Nase nehmen. Groß genug ist sie ja!“</p> - -<p>„Haha! — Haha!“ fing da der Alte ein stoßweises -Gelächter an, und sein Bartwald kam in stürmische Bewegung. -„Meine Nase — haha! — das ist ein gar wichtiges -Glied der bürgerlichen Gesellschaft. Sie zahlt ihre -Tabaksteuer und erspart meiner Alten die Nachtlampe! Also -darf sie sich auch groß machen!“</p> - -<p>Dabei rieb er sich die Hände und trat stampfend von -einem Fuß auf den andern. Denn es war kalt, und vom -Fluß herüber pfiff ein eisiger Wind. Die Sonne war -kaum überm Horizont herauf und stand als tiefrote Scheibe -hinter einem rauchigen Frostnebel, der zwischen Himmel -und Erde düster brodelte. Fritz drückte den Schlapphut -fest aufs Haar und ging in der grauen Dämmerung eilig -die Uferstraße entlang nach der Stadt, indes der Bindermeister -in seiner Werkstatt beim glühenden Ofen schnitzelte -und manchmal glucksend in sich hinein lachte. Denn er -empfand den Scherz des sonst so ernsten Mieters als beglückende -Auszeichnung.</p> - -<p>Vor der Redaktionsstube warteten bereits die Vertrauensmänner, -Pfannschmidt und fünf andere Bergleute, auf -ihren Führer. Die Hände in den Taschen der Winterröcke -vergraben, dicke Wolltücher um den Hals und den Rockkragen -darüber, standen sie einsilbig beisammen. Als Hellwig -zu ihnen trat, rückten sie die Pelzmützen, reichten ihm -die Hand und harrten schweigend, bis er die Kanzlei aufgesperrt -hatte. Dort war es noch ungemütlich, es roch -nach staubigem Papier und Druckerschwärze, im eisernen -Ofen brannte kein Feuer, und die Schreibtische, Pulte und -Schreine standen langweilig in einem unfreundlichen Halbdunkel. -Der Diener hatte sich verspätet, kam nun ganz -abgehetzt keuchend gelaufen, heizte ein und wollte abstauben. -Fritz schickte ihn fort. Die Zeit drängte, um elf Uhr sollte -die Besprechung stattfinden und da gab es noch manches -zu beraten.</p> - -<p>„Also was?“ fing, als der Bursche gegangen, einer -der Männer an. „Also was? Wird heut’ endlich Schluß -werden?“</p> - -<p>„Kaum!“ versetzte Fritz achselzuckend. „So mürb sind -sie noch nicht.“</p> - -<p>„Mürb! Mürb!“ knurrte der andere unwirsch. „So -nehmen wir doch an, was sie uns bieten! Ich hab’s satt! -Gebratene Tauben kriegen wir nicht, drum halten wir -den Spatzen fest! Ist besser wie gar nichts!“</p> - -<p>„Seid ihr auch der Ansicht?“ fragte Hellwig finster -die übrigen. Die starrten stumm vor sich auf den Tisch. -Nur Pfannschmidt sagte: „Der Martin raunzt immer so -herum. Wenn’s nach seinen Reden gegangen wär’, hätten -wir gar nicht anfangen dürfen!“</p> - -<p>„Ich sag’, was ich sag’!“ beharrte der andere. „Wenn’s -noch ein paar Wochen so fortgeht, und wir verdienen nichts, -haben wir so viel verloren, daß wir dann beim höhern -Lohn gut zwei Jahre fretten müssen, bis wir den Verlust -herein und die Schulden bezahlt haben. Ist’s nicht wahr?“</p> - -<p>Von seinen Gefährten nickte einer zustimmend. Die -drei anderen schienen unentschlossen. Pfannschmidt wollte -etwas erwidern. Da brach auch schon Fritz los:</p> - -<p>„Was der Martin sagt, ist zwar eine arge Übertreibung, -aber nehmen wir an, es ist so. Gut. Und was weiter? -Wenn’s wirklich so ist, wie er sagt? Und wenn’s noch ärger -wäre, wenn ihr vier und sechs und zehn Jahre braucht, -um den Lohnausfall hereinzubringen. Was weiter? Dürft -ihr euch deswegen mit Halbheiten begnügen? Mit einem -Erfolg, der keiner ist, nicht Fisch, nicht Fleisch? Da hätten -wir gar nicht anfangen dürfen! Jetzt gibt’s einfach kein -Biegen mehr! Jetzt muß es brechen — und wenn wir -alle dabei zugrunde gehn! Jawohl! Schaut nicht so entsetzt -drein! Ihr könnt einfach nicht nachgeben! Könnt -nicht, versteht ihr? Denn die einmal aufgestellten und -nicht befriedigten Forderungen, die würden fort und fort -in euch weiternagen, und ihr hättet keine Ruhe, bis ihr -sie früher oder später doch durchsetzt. Und der Kampf, -den ihr dann um den Rest führen müßtet, wäre größer -und schwerer als der heutige ums Ganze! Das ist es! -Und sind die Opfer, die ihr jetzt bringt, wirklich zu groß? -Wenn dann euch und mindestens noch euern Kindern, von -den Enkeln will ich nicht reden, wenn auch dann ein ruhiges -Fortarbeiten bei halbwegs hinreichendem Verdienst sicher -ist? Seid mir drum nicht so verzagte Angstmeier! Kleinmütige -Kreuzerbettler! Vertraut und seid starr! Unser -Sieg ist nur noch eine Frage von Tagen. Er kann einfach -nicht ausbleiben! Nur, ihr müßt auch dran glauben!“</p> - -<p>Nun hatte er sie wieder fest. Der alte Nörgler wiegte -zwar noch unschlüssig den Kopf. Aber auch er sprach -nicht mehr dagegen.</p> - -<p>Ziemlich zur selben Zeit saßen im großen Sitzungssaale -des Palastes, den sich die Grubenbesitzer erbaut hatten, -ungefähr fünfzehn Herren um einen grünen Tisch. Hagere -Gestalten zumeist, mit schmalen Händen und nervösen -Bewegungen, in Gehrock oder Jackett, tadellos nach der -letzten Mode gekleidet. Nur einer war dabei, der wollte -in die elegante Versammlung gar nicht recht hineinpassen, -Max Koppenstein, ein fettes Herrchen mit einer goldenen -Kette über dem Spitzbauch. Er hatte eine ganz enge, -niedrige Stirn, und daran hing, breit ausgebaucht, mit -roten Backen und mächtigem Doppelkinn, das feiste Schlemmergesicht -wie ein runder Luftballon. Aus zwinkernden -Äuglein hinter weißlichen Wimpern schaute er sehr harmlos -in die Welt und war doch der Gefährlichste unter -diesen kalten Geldmenschen, unübertroffen in der sanften, -zärtlichen Grausamkeit, mit der er seine Angestellten auspumpte -und seinen Schuldnern die letzte Habe pfändete. -Und wenn er sich manchmal im Bureau in Gegenwart -eines Geschäftsfreundes ein Glas ältesten Kognaks einschenkte, -dann sagte er wohl zungenschnalzend: „Das ist -ein Schnäpschen! Wie das duftet! Hm?“ und hielt dem -Zuschauer lobgewärtig das leere Becherchen unter die Nase. -Aber einschenken tat er ihm nichts. Doch schadete das -seinem Ansehn keineswegs, denn er war steinreich, besaß -die meisten und die ergiebigsten Flöze und hatte deswegen -auch in der heutigen Versammlung den Ehrenplatz inne, -zur Rechten des uniformierten Vertreters der Regierung.</p> - -<p>Steif und förmlich, mit herablassenden Mienen und -gemachtem Gleichmut, rückten sich die Herren auf den -schweren Lederstühlen zurecht, als Hellwig mit seinem Häuflein -in den Saal trat. Der Beamte wies ihnen die Plätze -an und hielt eine Rede, die dem Geist der Versöhnung, -dem friedlichen Zusammenwirken in Eintracht und Brüderlichkeit -einen Preishymnus sang. Man solle, sagte er, -bedenken, daß noch kein Friede ohne beiderseitiges Entgegenkommen -geschlossen worden sei. Man solle dem großherzigen -Beispiel der Unternehmer folgen und der Allgemeinheit -zuliebe Opfer bringen, die nur scheinbar Opfer -seien, denn sie werden sich reichlich bezahlt machen durch -das Blühen und Gedeihen des Staates und der Volkswirtschaft, -aus welcher Quelle dann hinwiederum allen -Bürgern Vorteil fließe.</p> - -<p>Und kühl und ruhig, mit ganz leichtem Spott, erwiderte -Hellwig darauf:</p> - -<p>„Die fünfzehntausend Menschen, die zu vertreten wir -die Ehre haben, wollen nicht Großherzigkeit oder Gnade, -sondern ihr Recht. Von schönen Worten werden sie nicht -satt und ebensowenig von dem großmütigen Angebot. Das -Sattwerden aber ist zum Blühen und Gedeihen zumindesten -des einzelnen eine so notwendige Sache, daß sie jedes -Opferbringen ausschließt. Wer nicht arbeitet, soll auch -nicht essen. Und wer zu essen hat, braucht nicht zu arbeiten, -nicht wahr, meine Herren? Jedenfalls haben Sie -zu essen. Nun, und die hinter mir stehn, wollen das auch. -Sie wollen beileibe nicht so gut, sie wollen nur genug -essen. Das ist ein so klares, einfaches und selbstverständliches -Verlangen, und ist doch so ernst und fromm, daß -sich nichts davon herunterhandeln läßt. Der Versuch zu -schachern und zu feilschen ist Ihrer ebenso unwürdig, wie -es für uns unwürdig wäre, darauf einzugehen. Wir können -kein Jota nachlassen. Sie haben lang genug getrotzt, -— geben Sie es auf! Es war ein Irrtum, — gestehen -Sie ihn ein! Denn früher oder später müssen Sie doch -nachgeben! Tun Sie es heute — und schon morgen wird -in allen Gruben wieder gearbeitet!“</p> - -<p>Auf ein so stolzes, selbstbewußtes Auftreten waren die -Herren nicht gefaßt, hatten vielmehr erwartet, daß ihr -Angebot ohne Besinnen werde angenommen werden. Wie -Könige waren sie sich vorgekommen, die unverdiente Gnaden -austeilen. Jetzt schwiegen sie mit gefalteten Stirnen -und undurchdringlichen Mienen. Nur Max Koppenstein -zog die Schultern hoch, breitete die Arme aus und sagte: -„Ich denke, meine Herrn, darauf kann es nur <em class="gesperrt">eine</em> Antwort -geben.“ Und zu dem Beamten gewendet, fuhr er fort: -„Nun haben Sie sich, verehrtester Herr Ministerialrat, -wohl selbst überzeugt, wo die Schuld liegt. Es tut uns -ja aufrichtig leid, aber“ — wieder zog er die Schultern -hoch und wieder breitete er die Arme aus — „schließlich -kann doch kein Mensch verlangen, daß wir uns verbluten -sollen.“</p> - -<p>So schien der Einigungsversuch gescheitert und der Gegensatz -zwischen den beiden Parteien verschärft. Aber es war -doch anders. Denn die Regierung bot nach wie vor alles -auf, um die Unternehmer zur Annahme der sämtlichen, in -keiner Weise übertriebenen Forderungen zu bewegen. Es -gelang ihr auch, einen nach dem andern nachgiebig zu -stimmen. Aber jeder machte seine Einwilligung von der -Bedingung abhängig, daß Max Koppenstein, dem ein reichliches -Achtel der gesamten Kohlengruben gehörte, sich ebenfalls -anschließe. Der indes war wie ein Aal und ließ -sich nicht greifen. Er war sehr höflich, ungemein konziliant, -von einer bestrickenden Liebenswürdigkeit. Aber nein -sagte er trotzdem. Unter tausend Entschuldigungen, überzuckert -und verblümt, aber dennoch: nein.</p> - -<p>Nach einigen Tagen wurde ihm vorsichtig und vertraulich -die Möglichkeit einer Ordensauszeichnung angedeutet. -Da legte er zehn Prozent zu. Und es hätte wohl nicht mehr -viel gebraucht, um ihn ganz zu gewinnen. Denn es gab -noch höhere Orden und es gab Adelsbriefe.</p> - -<p>Da kam ein unerwartetes Ereignis den Arbeitern und -der Regierung zu Hilfe.</p> - -<div class="section"> -<h3>7.</h3> -</div> - -<p>Die gewaltige Braunkohlenablagerung umfaßte ein Gebiet, -das gut fünfzehn Kilometer breit und fast viermal -so lang war. Von Urgebirgen eingeschlossen und nur manchmal -durch schmale Bänder eruptiven Gesteins unterbrochen, -lagen hier die Flöze neben- und übereinander, bald knapp -unter der Erdoberfläche, bald Hunderte von Metern tief.</p> - -<p>Offene Tagbaue gab es, in deren schwarze Vierecke die -Sonne schien und die bloßgelegte Kohle bald da, bald dort -an den senkrechten Wänden in Brand setzte, so daß beständig -Rauchsäulen emporwirbelten. Und nicht weit davon -bohrten sich unterirdische Schachtanlagen dreihundert Meter -ins Erdinnere. Und überall qualmte die Lösche, zu Bergen -getürmt, auf den Halden, füllte ein brenzlicher, staubgesättigter -Dunst die Luft, hing der Rauch wie ein feiner -Nebel über den verwüsteten Landstrichen, die nach dem -Abbau eines Schachtes zurückgeblieben waren, über den -noch üppigen Weizenfeldern daneben und über den — wie -lange noch? — lachenden Fluren.</p> - -<p>Und mitten in dem Becken lag, zwischen Porphyrhügel -eingebettet, weit berühmt durch ihre heilkräftigen Quellen, -eine Badestadt. Rund um sie rauchten die Schächte, wurde -der Boden von den Bergleuten durchwühlt, die Stollen -und Querschächte trieben gleich Gängen riesiger Feldmäuse. -Und dicht daneben bahnten sich durch die Spalten des -zerklüfteten Porphyrs die warmen Quellen den Weg zur -Stadt.</p> - -<p>Die Schächte aber waren seit vielen Wochen unbeaufsichtigt. -Und niemand wußte, daß in den Gruben Koppensteins -seit einigen Tagen, meist zur Nachtzeit, aus der -Ferne angeworbene, schlecht geschulte Kreaturen wieder arbeiteten. -Der schlaue Fuchs traf seine Vorbereitungen, um -nach Beendigung des Streiks — das Ende hing ja nur -mehr von ihm ab, und er konnte es herbeiführen, wann -es ihm paßte, — um nach Beendigung des Streiks die -Lieferungen unverzüglich mit aller Kraft aufnehmen zu -können. Die Kohlen blieben vorläufig noch unten in den -Schächten — denn die Förderschalen mußten still stehn. -Aber schon waren alle Hunde voll beladen. Wo nur ein -freies Plätzchen in den Stollen war, türmten sich die -Kohlenstücke und konnten nach der Aufnahme des regelmäßigen -Betriebes sofort hinaufgeschafft, sortiert und in -die Eisenbahnwagen verladen werden. Auf solche Weise -hoffte Koppenstein der Konkurrenz einen Vorsprung von -einigen Tagen abzugewinnen.</p> - -<p>Da geschah es, daß bei diesem Abbau ohne planmäßige -Leitung eine Schwimmsandschicht angefahren wurde. Ungeheure -Sandmassen gerieten in Bewegung, durchbrachen, -einmal in Fluß, die trennenden Schachtwände und stürzten -gleich riesigen Lawinen in die Gruben. Und die Erdrinde, -unter der sie seit Jahrhunderten ruhig gelegen, wurde -mitgerissen von der furchtbaren Gewalt des wandernden -Sandes, kam ins Rutschen, Gleiten und brach nieder.</p> - -<p>Es war eine laue, regendrohende Febernacht, als die -Bewohner der Badestadt durch ein ohrenbetäubendes Gedröhn -und Geprassel aus dem Schlaf geschreckt wurden. -Der Boden schwankte, Mauern barsten, Häuser wankten, -sanken krachend in sich zusammen. Eine ganze breite -Straßenzeile, die mit schönen Gebäuden gerade über dem -Schwimmsandlager errichtet war, hatte sich gesenkt, zwanzig -Häuser waren eingestürzt, viele standen windschief mit -gespaltenen Grundpfeilern, geknickten Eisenträgern, verschobenen -Dachstühlen und zitterten wie große Tiere.</p> - -<p>Tote und Verwundete lagen unter Ziegelschutt, Sparrenwerk -und zertrümmertem Hausrat. Aus den Betten gescheuchte -Menschen rannten halb nackt durch die dunklen -Gassen, fragten, stießen sich, weinten, schrien, heulten und -rangen die Hände, ratlos, planlos irrend, von einer entsetzlichen -Angst geschüttelt. Und dazwischen tönte das Stöhnen -und Brüllen der Verschütteten, das Prasseln der Balken, -das Aufschlagen fallender Dächer. Und jedesmal, -wenn eine Wand sich neigte, ein Schuttregen niederging, -hetzte die Furcht aufs neue in wirbelndem Knäuel die aufgestörten -Menschen durcheinander. Gellend schrien sie auf, -duckten sich, hielten sich die Ohren zu, prallten aneinander -und waren wie von Sinnen. Der Türmer läutete Sturm -mit allen Glocken. Auf den Bahnhöfen pfiffen die Lokomotiven -in winselnden, langgezogenen, Hilfe heischenden -Klagelauten. Und die Finsternis stand unbeweglich und -schlang alle Tonwellen mit dunkel gähnendem nimmersatten -Rachen.</p> - -<p>Endlich kam Hilfe. Ärzte, Rettungsmannschaften, Feuerwehren. -Besonnene Männer nahmen die Leitung in die -Hand. Aus den Nachbarstädten trafen in mehreren Eisenbahnzügen -Verstärkungen ein. Die nervenzersetzende Angst -wich, der panische Schrecken machte einer verzweifelten -Entschlossenheit Platz. Hunderte und Hunderte regten sich -im Schein der flackernden Windlichter, handhabten Schaufel -und Spaten, trugen die Verwundeten zum Verbandsplatz, -schleppten Möbel aus bedrohten Gebäuden.</p> - -<p>Vor den Schächten aber hatten sich die Bergleute gesammelt. -Freiwillig waren sie gekommen, im Arbeitskittel, -mit Lederschurz und Grubenlampe. Ohne Besinnen, -als ein ganz Selbstverständliches, boten sie ihre Hilfe, -ihr Leben an, machten sich zur Einfahrt fertig. Die eingerosteten -Ketten der Förderschalen ächzten schrill, langsam -begannen sich die Räder zu drehen, schnurrten die Seile.</p> - -<p>„Glückauf!“</p> - -<p>„„Glückauf!““</p> - -<p>Und unter der Führung einiger Ingenieure ging es in -die feindliche Tiefe, der Gefahr zu Leibe, um nachzuforschen, -einzudämmen, abzulenken, Tote zu bergen, und die Schächte -vor dem Ersaufen zu bewahren.</p> - -<p>Aber noch ein anderes war geschehen.</p> - -<p>Durch die ungeheure Erschütterung im Innern der Erde -war auch eine der dünnen Wände gesprengt worden, die -die weit vorgetriebenen Stollen von den Quellspalten trennten. -Die Thermalwasser waren in die Grubenbaue eingedrungen, -breiteten sich darin aus, und im gleichen Maße, -wie sie in den Schächten stiegen, fielen sie in ihrem früheren -Staubecken, bis sie nach dem Gesetz kommunizierender -Gefäße hier wie dort mit gleich hohem Spiegel standen, -in ersoffenen Schächten einerseits und anderseits so tief -unter den Badehäusern, daß die Leitungsröhren nicht mehr -bis zum Wasserspiegel reichten. Die heilkräftigen Quellen, -der Ruhm und Stolz der Stadt, drohten zu versiegen.</p> - -<p>Jetzt freilich wurde eine strenge Untersuchung eingeleitet. -Sie enthüllte Ungeheuerliches. Unter dem Eindruck desselben -nahmen die Gewerken alle Forderungen ihrer Arbeiter -in Bausch und Bogen an, um wenigstens <em class="gesperrt">einen</em> -Feind vom Hals zu haben und nicht zwischen zwei Feuer -zu geraten. Sie hofften auch, daß die Regierung, dadurch -zur Milde gestimmt, Gnade für Recht üben und -ein Vertuschen der Verbrechen ermöglichen würde. Auch -an Hellwig traten sie heran, baten ihn und boten als Anzeigengelder -große Bestechungssummen, wenn er die Angelegenheit -in seiner Zeitung totschweige. Er wies ihren -Vertretern die Tür. Und brachte Artikel nach Artikel, -sachlich, trocken, auf Grund amtlicher Feststellungen.</p> - -<p>Die Bergwerksinspektoren hatten bisher die Aufsicht nur -lax oder gar nicht ausgeübt. So war es möglich geworden, -daß sich die Unternehmer seit Jahrzehnten über alle Sicherheitsvorschriften -wegsetzen konnten. Am ärgsten schaute -es in den Koppensteinschen Gruben aus. Die lagen in -der Nähe der Heilquellen und zu beiden Seiten der Eisenbahn. -Dort durfte die Kohle nicht abgegraben werden, -sollten Stützen, Wände und Pfeiler stehen bleiben zum -Schutz der Quellen und der Bahn. So stand es in der -Vorschrift. Aber in Wirklichkeit war die Kohle doch abgegraben, -und die Pfeiler, Wände und Stützen waren -kaum halb so dick, wie es das Gesetz verlangte. Und unter -dem Bahnkörper liefen Stollen weg und Gänge. Und -darüber, auf der dünnen Rinde, keuchten Tag und Nacht -ohne Pause die schweren Lastzüge, donnerten die Eilzüge -mit den Kurgästen.</p> - -<p>Als durch Hellwigs Zeitung diese Dinge bekannt wurden, -ging der übliche Entrüstungssturm durch die Presse. -Noch nie hatte ein Provinzblatt solchen Aufruhr erregt. -Auch die Blätter des Auslandes rauschten mit. Sie brachten -Abbildungen und ergingen sich in schauerlichen Schilderungen -der Unfälle, die möglich gewesen wären. Erzählten -von kranken Menschen, die voll Hoffnung den -Bädern entgegeneilten und nicht wußten, daß der Weg -dahin über bereitete Gräber führte. Auch der Reiter über -den Bodensee wurde vielfach zitiert. Und man war darüber -einig, daß die Inspektoren ihre Pflicht in unverantwortlicher -Weise verabsäumt hatten.</p> - -<p>Nun wurden Beamte in Massen versetzt, gemaßregelt, -entlassen. Koppenstein aber war zugrunde gerichtet. Auf -seine Kosten sollten die Hohlräume unter den Schienen -ausgefüllt, die schwachen Pfeiler und Schutzwände durch -Mauerwerk gesichert, sollte, um die Heilquellen in ihre -früheren Wege zurückzudrängen, die Verbindung zwischen -den Quellspalten und Gruben durch Dämme und Betonfüllungen -gestopft werden. Und die Bahn forderte Ersatz -für die unter ihrem Grundeigentum gewonnenen Kohlen, -und die Stadtgemeinde, die Besitzer der eingestürzten Häuser, -die Hinterbliebenen der Getöteten und die Verletzten -stellten ebenfalls Ersatzansprüche. Und überdies drohte ein -Strafprozeß wegen fahrlässiger Gefährdung von Menschen, -Beschädigung fremden Eigentums, wegen Diebstahls und -einer Menge anderer Verbrechen. Das ertrug Koppenstein -nicht. Aus dem Gefängnis hätte er sich vielleicht nicht -viel gemacht, aber daß die rastlos angehäuften Reichtümer -mit einem Schlag in alle Winde zerstieben sollten, das -warf ihn nieder. In der Marmorwanne seines Badezimmers -öffnete er sich die Pulsadern und verblutete.</p> - -<p>Seine Verwandten richteten ihm ein Begräbnis erster -Klasse mit jeglichem Pomp. Viele folgten dem sechsspännigen -Leichenwagen. In den Augen seiner Standesgenossen -war er entsühnt.</p> - -<p>Glimpflicher kamen die andern Grubenbesitzer weg. Aber -fast keiner war ganz frei von Raubbau und Unterlassungssünden. -Da wurden die stolzen Herren gar klein. Auf -einmal konnten sie geschmeidig den Rücken beugen, sich -entschuldigen, um Gnade betteln. Die Arbeiterfrage war -vollständig in den Hintergrund gedrängt. Willig zahlte -man die höheren Löhne, suchte alles zu vermeiden, was -die Öffentlichkeit noch mehr aufbringen konnte. Aber es -dauerte noch geraume Zeit, bis die Anordnungen der Behörden -durchgeführt waren und der Skandal halbwegs in -Vergessenheit kam.</p> - -<p>Jetzt endlich konnte Hellwig aufatmen. Die Kämpfe -gegen die Lotterwirtschaft hatten mit ihren schlaflosen Nächten -und furchtbaren Aufregungen seinen widerstandsfähigen -Körper doch stark mitgenommen. Es war sein Verdienst, -daß der Augiasstall gründlich gesäubert wurde. Er war -der Herold gewesen, der Rufer im Streit, hatte die anderen -wachgerüttelt und rücksichtslos alles aufgedeckt, was sonst -vielleicht nur entstellt oder gar nicht in die Öffentlichkeit -gedrungen wäre. Als hierauf das große Rauschen der -Blätter anhob, schwieg er. Zu stolz, um zu jubeln oder -den Besiegten zu höhnen, schwieg er und überließ anderen -die Ausnützung des erfochtenen Sieges.</p> - -<p>Jetzt war er wieder viel zu Hause, saß beim Fenster -und blickte über den Strom hinüber zu den waldigen -Bergen, wo schon die Blütenkätzchen aus den Zweigen -brachen und die ersten Spitzen des jungen Grüns. Eine -leise Schwermut war in ihm, eine gärende Sehnsucht, -die nicht Wunsch werden wollte. Wieder war ihm, als -müßte er etwas suchen, und wußte doch nicht was. Fühlte -er den Drang zum Schaffen, das Verlangen nach irgendeiner -befreienden Tat, fand aber weder Umriß noch Plan.</p> - -<p>Es war bald recht still um ihn geworden. Selten besuchte -ihn jemand. Sie waren ihm dankbar, sprachen -mit anerkennenden Worten von seiner energischen Führung. -Aber da sie ihn nicht mehr brauchten, hatten sie keinen -Anlaß, zu ihm zu gehen. Nur Pfannschmidt kam regelmäßig. -Der arbeitete nicht mehr im Schacht. Hellwig -hatte sich an die Parteileitung wegen Beigabe einer Hilfskraft -gewendet und den Bergmann in Vorschlag gebracht. -Das war genehmigt worden, und so saß Pfannschmidt -nunmehr in der Schriftleitung, besorgte die laufenden Geschäfte -und fühlte sich endlich auf einem richtigen Platz.</p> - -<div class="section"> -<h3>8.</h3> -</div> - -<p>Es war bereits Frühling geworden, als Fritz eines Tages -die Nachricht erhielt, daß Doktor Kreuzinger gestorben -sei. Da fuhr er mit dem nächsten Zuge nach Neuberg. -Seit sechs Jahren war er nicht mehr dort gewesen. Und -was lag alles dazwischen. Erst als ein Vorkämpfer des -Deutschtums von den Studenten gepriesen, dann als Verräter -und Feigling in Acht und Bann getan, von allen -Leuten als Verkommener und Verlorener abgeurteilt, kehrte -er jetzt wie ein Sieger zurück. Der Streik hatte seinen -Namen überall bekannt gemacht. Auch die klerikalsten -Neuberger waren stolz, daß ein Kind ihrer Stadt so was -hatte leisten können. Und kaum daß er vom Bahnhof -ins Städtchen kam, sprach ihn jeder, der ihn noch erkannte, -mit grüßenden Worten an, wollte ihm die Hand -drücken, fragte, ob er sich noch seiner erinnern könne. Sein -Name war aber auch monatelang täglich in allen Wirtshäusern -genannt worden. Sogar Professor Hermann hatte -voll Genugtuung erklärt, daß Fritz Hellwig sein Schüler -und wie begabt er gewesen sei. Und nur Pater Romanus -hatte dann immer säuerlich-süß den Mund verzogen und -ein paar Worte fallen lassen vom Hochmut, der vor -dem Fall kommt. —</p> - -<p>Doktor Kreuzinger hatte einen wunderschönen Tod gehabt. -An einem warmen Frühlingsmorgen war er auf -seiner Gartenbank eingeschlafen, das neueste Werk eines -berühmten Forschers mit dessen eigenhändiger Widmung -auf den Knien. Die Vögel sangen über ihm im Buchenbaum, -die Sonne streichelte sein weißbärtiges Antlitz. Und -als sie ihn so fanden, glaubten sie, er lächle aus einem -schönen Traum heraus. Nun lag er zwischen seinen Sammlungen -aufgebahrt und sollte nach Gotha zur Feuerbestattung -gebracht werden. Heinz und Kolben, Fritz und Wart -Nikl trugen die Bahre zum Bahnhof. Priester war keiner -zugegen. Und nur wenige Freunde folgten dem Sarge des -als gottlos Bekannten. Denn die Stadt war ganz in -den Klauen des Klerikalismus und es gehörte Mut dazu, -sich diesem unduldsamen Riesen entgegenzustellen.</p> - -<p>Und über den Toten weg ging das starke Leben unbekümmert -weiter.</p> - -<p>Eva, der kleine Backfisch von einst, war groß und reif -und frauenhaft geworden. Die Trauer um den Großvater -lag über ihrem Frohsinn wie der weiche Flaum auf -der Schale einer schönen Frucht. Aber die schlanken Glieder -regten sich wie unter unerwünschten Fesselbändern, und -hinter den ernsten Mienen drängte verhalten die Daseinsfreude -zum Durchbruch. So stand sie im Garten vor Fritz, -am Tag nach dem Begräbnis, und mühte sich ruhig zu -erscheinen, während ihm ihre ganze Jugend entgegenzitterte. -Gleichgültige Dinge redete sie, und hätte ihm -doch am liebsten zugerufen: „Steh nicht so hölzern da! -Nimm mich in deine Arme! Dort gehör’ ich hin, ich bin -ja dein ...“</p> - -<p>„Haben Sie wirklich nicht an mich gedacht? Die ganze -Zeit her nicht? Nicht einen einzigen Gruß hatte mir Heinz -zu melden!“</p> - -<p>Er blickte ihr in die schimmernden Augen.</p> - -<p>„Aber von Ihnen hat er mir einmal einen Gruß ausgerichtet,“ -sagte er langsam. Sie wurde rot. Er fuhr -fort: „Ich dank’ Ihnen heute dafür. Und wenn ich es -nicht durch Heinz hab’ besorgen lassen ...“ Er stockte -und wollte hinzufügen: „Sie sind mir zu gut dafür.“ -Aber das brachte er nicht über die Lippen, sondern meinte -nur: „Was hätten Sie auch davon gehabt?“</p> - -<p>„Mich hätt’s gefreut!“ antwortete sie leise.</p> - -<p>„Kann man sich über leere Worte freuen?“</p> - -<p>„Ah — wenn es nur leere Worte gewesen wären — -dann gewiß nicht!“ Das klang zornig. Und als er zögernd -fragte: „Wofür hätten Sie’s denn sonst gehalten?“, zuckte -sie die Achsel: „Wenn Sie das nicht selbst wissen ... -übrigens, ich hab’ auch ohne das gelebt!“</p> - -<p>Mit einer schnellen Wendung kehrte sie sich von ihm weg.</p> - -<p>Fritz konnte sich die plötzliche Ungnade nicht erklären. -Und weit entfernt, den wahren Grund auch nur zu ahnen, -ritt er sich mit seiner bärentatzigen Ehrlichkeit noch tiefer -hinein: „Ich hab’ nichts Schlimmes dabei gedacht, Fräulein -Eva. Ich hab’ nur gemeint, so durch einen Vermittler -... Wenn ich’s aber weiß ...“</p> - -<p>Da unterbrach sie ihn bös: „Sie bilden sich doch nicht -am Ende ein, daß ich um Ihren Gruß stehe? Den können -Sie schon behalten. Mir liegt gar nichts daran!“, gab -sich einen Ruck, warf den Kopf in den Nacken und rauschte -stolz davon.</p> - -<p>Fritz sah ihr nach, wie sie über den Hof ins Haus schritt -und fühlte den zornigen Wunsch, ihr nachzustürzen, sie -an den Armen zu packen und zu schütteln: „So versteh -mich doch!“ Da drehte sich das Tor in quietschenden -Angeln, fiel hinter dem blonden Fräulein ins Schloß. -Und mit einem Male war der weite Hof mit den regsamen -Arbeitern, den zahlreichen Fuhrwerken und den -stampfenden Pferden öd und leer. Wie von fernher kommend -rauschte der Lärm der Auflader an seinem Ohr vorüber. -Und während Minute um Minute verrann, fühlte -er erst noch dumpf, dann bewußter, deutlicher und erkannte -endlich mit ganz scharfer Klarheit, wie es um sein -Herz eigentlich stand.</p> - -<p>Im selben Augenblick legte ihm der Kaufmann die -Hand auf die Schulter.</p> - -<p>„Nanu?“ sagte er. „Sie stehen ja da wie der steinerne -Roland beim Röhrkasten!“</p> - -<p>Fritz fuhr zusammen, schaute den gemütlichen Mann -mit fremden Augen an.</p> - -<p>„Wissen Sie,“ sprach dieser weiter, „wissen Sie, das -gefällt mir gar nicht von Ihnen! Himmel, Schimmel, -wenn man jung ist, soll man wie ein Eichkatzl sein und -die Welt zusammenreißen vor lauter Lebendigkeit! Nicht -so leutscheu und winkelheimlich! Wenn Sie sich jetzt sehn -könnten! Das Gesicht! Die Milch gerinnt, wenn Sie -hineinschaun! Was ist denn eigentlich mit Ihnen los?“</p> - -<p>Und als Fritz auch darauf keine Antwort gab, schüttelte -er bedenklich den Kopf: „Sonderbar, die Leute von heute! -Der meinige ist gerade so! Wenn man Sie ansieht, meint -jeder, Sie könnten nicht bis drei zählen. Und wenn’s -nicht wahr wär’, möcht’ ich niemals glauben, daß so ein -Mannl die Raubritter da oben zusammenhaut und die -Kohlen so teuer macht, daß man sie bald nicht mehr -wird bezahlen können!“</p> - -<p>„Es hat so kommen müssen,“ antwortete Hellwig gedankenlos, -„mein Verdienst ist’s nicht.“</p> - -<p>„Kruzitürken und Chineser, bescheiden sind Sie auch? -Das hat noch gefehlt! Sagen Sie mir nur, was hat man -denn von der Bescheidenheit? Höchstens, daß man tüchtig -übers Ohr gehauen wird. Auftreten muß man heutzutage: -‚So bin ich und wenn ich euch nicht pass’, steigt mir alle -auf den Buckel!‘ — Das gibt einem erst Gewicht! — -Mein Schwiegervater war auch so einer. Nur ja nicht -merken lassen, daß er mehr versteht wie die andern. Und -er hätt’ sie doch alle in die Tasche stecken können. Aber -der dümmste Kerl hat sich vor ihm in der Sonne den Bauch -wärmen dürfen, und er ist zufrieden im Schatten sitzen -geblieben. So ein Wesen begreif’ ich einfach nicht.“ —</p> - -<p>„Er hat ...,“ entgegnete Fritz versonnen, „er hat — -die fremde Wärme nicht gebraucht. Er hat von uns überhaupt -nichts gebraucht, hat alles in sich selber gehabt. — -Wie Bettler sind wir vor ihm gestanden. Haben uns beschenken -lassen und — konnten nicht einmal dafür danken. -Weil er auch für unsern Dank zu reich gewesen ist. Wir — -verlieren uns hundertmal — an die Erde — an die Menschen -— verzetteln und verpulvern uns — damit wir nur nicht -an uns zu denken brauchen und an unsere Armut. Glück -suchen nennt man das. Er — ist mit sich allein geblieben -— ist groß genug gewesen zum Alleinsein — und hat -das Glück <em class="gesperrt">gehabt</em>. Von den Ranken, die sein Herz getrieben -hat, ist keine verdorrt. Sie sind um die Welt gewachsen, -ja — ganz rund herum sind sie gewachsen und -doch alle wieder in seinem Herzen zusammengekommen. -So war er.“</p> - -<p>Während er sprach, schaute er unablässig auf einen -blauen Ölkäfer, der seinen dicken Leib träg über den Kiesweg -ins Gras schleppte. Jetzt schwang sich ein Spatz vom -blühenden Apfelbaum, nahm das Kerbtier in seinen Schnabel -und flatterte durch den Sonnenschein davon. Ein paar -weiße Blütenblätter fielen lautlos wie Flocken vom schwingenden -Ast auf den grünen Rasen.</p> - -<p>Wart Nikl räusperte sich und nahm Hellwigs Hand -zwischen seine beiden.</p> - -<p>„Ich versteh’ nicht, was Sie da gesagt haben. Aber -fühlen kann ich’s schon, wie Sie’s meinen. Ein Alter, über -den die Jungen so reden, der muß wohl viel wert gewesen -sein.“ Und als ob er den düster Starrenden trösten wollte, -fügte er hinzu: „Er hat Sie sehr gern gehabt.“</p> - -<p>Fritz lächelte bitter. Über den Hof herüber rief die -krähende Stimme eines Lehrbuben nach dem Kaufmann.</p> - -<p>„Kopf hoch, Fritz!“ sagte er noch. Und mit verlegener -Herzlichkeit: „Wissen Sie, ganz so ohne sind Sie auch -nicht. Ich hab’ ordentlich einen Respekt vor Ihnen, Kreuzdonnerwetter! -Den krieg’ ich vor solchen Grünschnäbeln -nicht so bald!“</p> - -<p>Und fort war er.</p> - -<p>Hellwig atmete auf. Fluchtartig, damit ihn nicht abermals -jemand aufhalte, hastete er durch die rückwärtige -Gartentür auf die Gasse und lief seinen alten Weg über -die Brücke, die Hügellehne hinan zu den stillen Lichtungen, -wo im Sommer die Erika glühte. Jetzt standen späte -Himmelschlüssel in den Fluren und in heimlichen Waldwinkeln -unter Strauchwerk versteckt blühten die Maiglöckchen -auf.</p> - -<p>Er suchte die Einsamkeit. Aber er fand sie nicht. Überall -regte sich’s, trieb Blätter, surrte um Blumen, flatterte, -zwitscherte, lockte und holte sich die Genossin. Da warf -er sich mit dem Gesicht nach abwärts auf den Boden und -deckte die Hände vor die Augen. Er schämte sich seiner -Liebe. Weil sie ihn von einem andern Wesen abhängig -machte, ihm die Selbständigkeit raubte, als ein Fremdes -von seinem Herzen Besitz ergriff, seine Ziele verdunkelte -und Zwiespalt in sein Wollen brachte, ohne daß er sich -davon befreien konnte. Er bäumte sich dagegen, wollte -das Gefühl ersticken und den Zwang abschütteln. Aber -immer wieder drängte sich das Bild des schlanken Mädchens -unter seine wirbelnden Gedanken, zwang ihn, an -schimmernde Augen zu denken, an trotzig geschürzte Lippen -und blondes Haar, das über einem feinen Gesicht wie ein -Goldhelm leuchtete.</p> - -<p>Und endlich erlahmte ihm die Kraft zum Widerstand. -Auf dem Rücken liegend, schaute er traumverloren in das -durchsonnte grüne Netz der Äste, ließ sich von seiner Sehnsucht -leise wiegen. Ein Kuckuck schrie aus der Ferne immerzu. -Und jetzt sang auch von irgendwo eine schmetternde -Männerstimme in den fröhlichen Wald hinein:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Es fallen drei Sterne vom Himmel,</div> - <div class="verse indent0">Die geben hellen Schein.</div> - <div class="verse indent0">Wer wird uns früh aufwecken</div> - <div class="verse indent0">Beim braunen Mädelein?</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">Ei, wer uns früh aufwecken wird?</div> - <div class="verse indent0">Das tun die Waldvögelein.</div> - <div class="verse indent0">Die wecken uns all die Morgen</div> - <div class="verse indent0">Beim braunen Mädelein!“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Ein übermütiges Jauchzen klang dem Liede nach.</p> - -<p>Da riß sich Fritz ungestüm aus der weichen Stimmung. -Was war ihm denn so Großes widerfahren, daß er müßig -sein und schlaff werden durfte? Hatte sich eine Ranke, die -<em class="gesperrt">sein</em> Herz getrieben, um ein blondes Mädel geschlungen -und war nach diesem Umweg wieder zu ihm zurückgewachsen? -Fast höhnisch lächelte er. Nun, und wenn? -Sollten deswegen die anderen verdorren? Er bewegte die -Unterarme mit den geballten Fäusten vor sich, wie wenn -er einen Stab zerbrechen wollte. Und den trotzigen Blick -geradeaus gerichtet, als sähe er an den Stämmen vorbei -nach einem nahen Ziel, schritt er durch den Wald. Niemand -sollte ihn mehr abdrängen! Niemand!</p> - -<p>Andern Tags reiste er ab. Beim Abschied vermied er, -Eva die Hand zu reichen.</p> - -<div class="section"> -<h3>9.</h3> -</div> - -<p>Otto Pichler hatte das letzte Rigorosum abgelegt. Glühend -vor Freude eilte er nach Haus, umarmte die Wondra, und -dann, in seiner Stube, begann er unverweilt seine neue -Unterschrift einzuüben. <span class="antiqua">Dr.</span> Otto Pichler. In markigen -Buchstaben, mit einem schwungvollen Schnörkel. Aber das -genügte ihm nicht. Er kniete auf den Fußboden nieder -und wohl fünfzigmal schrieb er mit Kreide auf die braunen -Bretter: <span class="antiqua">Dr.</span> Otto Pichler. Und immer markiger wurden -die Buchstaben, immer besser gelang der Schnörkel.</p> - -<p>Seine Beziehungen zu Hellwig hatte er schon längst -wieder lose angeknüpft. Der Umstand, daß Heinz Wart, -Kolben und Fritz bei den Freien Blättern wirkten, hatte -auch ihn zu einer Schwenkung ins sozialistische Lager veranlaßt. -Denn es schien ihm nicht unmöglich, daß er, von -den einstigen Freunden unterstützt, auf dem guten Sprungbrett -der Journalistik sich später in eine angesehene Stellung -hinüberschnellen könnte, in ein Reichsratsmandat oder -ähnliches. Klug und mit kühlem Bedacht arbeitete er auf -dieses Ziel los. Er verstand gewandt, geistreich und witzig -zu schreiben, sein Stil war wie seine Rede, flott, frisch -und lebendig, und was seiner Überzeugung an Tiefe fehlte, -ersetzte er durch schöne Worte und verblüffende Wendungen. -Mit Warts Hilfe gelang es ihm, seine Aufsätze bei den -Freien Blättern unterzubringen, und bald hatte er als -Feuilletonist einen kleinen Ruf. Seine Schreibweise gefiel, -das Publikum las die schaumleichten Sächelchen gern, -die sich noch obendrein wissenschaftlich gaben und viele -interessante Dinge ‚populär‘ darstellten. Aber auch mit -den Herminonen kam er deswegen nicht über Kreuz. Er -wußte alle heiklen Klippen geschickt zu umsegeln, so daß -er nach wie vor ungestört in der Gesellschaft der Studenten -verkehren konnte.</p> - -<p>Hellwig aber hegte gegen ihn keinen Groll mehr. Er -war reif genug geworden, um das Verhalten des einstigen -Freundes damals bei der Satisfaktionsverweigerung als -jugendliche Torheit zu belächeln. Nach wie vor glaubte -er an die ehrliche Tüchtigkeit, hielt er viel von den Fähigkeiten -des Schulkameraden, und von der fröhlichen Leichtigkeit, -mit der Otto das Zutrauen der Leute und ihre -Sympathien eroberte, ließ auch er sich immer wieder gefangen -nehmen.</p> - -<p>Als ihn daher, nach dem Ende des Streiks und der -Aufregungen, die Ruhe und Tatenlosigkeit zu quälen anfing, -während in Wien große Dinge sich vorbereiteten, -der Kampf um das allgemeine Wahlrecht mit aller Wucht -aufgenommen werden sollte und auch sonst dort, im Aneinanderprallen -des kühnsten Fortschritts und der verbissensten -Reaktion, die Kräfte immer frisch und stahlblank -blieben, — als ihn das nun in der tiefen, schlaffen Stille -der Provinz zu quälen und zu locken anfing, da schrieb -er an Pichler, ob er sein Nachfolger werden wolle. Wenn -ja, möge er sich bei der Parteileitung darum bewerben, er, -Hellwig, gedenke wieder zu den Freien Blättern zurückzugehen.</p> - -<p>Und Pichler, der neugebackene Doktor, überlegte sich -das nicht zweimal. Hier bot sich ihm ein Anfang, ein -festes Einkommen, eine selbständige Stellung und die Möglichkeit, -von dort aufzusteigen, alles schöner, als er zu -hoffen gewagt. Deswegen säumte er nicht lang, fuhr nach -Wien, stellte sich vor, setzte alle Hebel in Bewegung. Und -von Wart und Hellwig warm empfohlen, von Doktor Kolben -nicht im Stich gelassen, glückte es ihm auch, den -Posten zu erhalten.</p> - -<p>Die Begegnung der einstigen Freunde war nicht gerade -herzlich, aber auch nicht farblos. Eine Entfremdung war -vorhanden, aber dafür auch jene ruhige Kameradschaft, wie -sie zwischen Männern ist, die an demselben Werk mitarbeiten. -Eine Woche verwendete Fritz daran, den Nachfolger einzuführen -und sattelfest zu machen. Dann packte er seine -Sachen und nahm Abschied von allen. Nicht leichten Herzens -ging er fort. Und ungern ließen ihn die Arbeiter -ziehen. Einzeln und in Abordnungen waren sie gekommen, -hatten ihn umstimmen, zum Bleiben bewegen wollen. Und -gar der alte Faßbinder hatte sich schon lang nicht hineinfinden -können. Immer wieder war er auf die Schönheit -der Gegend zu sprechen gekommen, auf die starke Luft, -die Ruhe, auf alle Vorzüge der Gegend und seines idyllisch -gelegenen Hauses. Und erst als das alles ohne Erfolg -geblieben war, hatte er sich leidvoll in seine Kammer hinter -einen Wall von Bierflaschen zurückgezogen und hatte dort -mit Tränen in den Augen ohne Aufhören getrunken und -getrunken, bis ihm der Kopf schwer auf die bier- und -tränenfeuchte Tischplatte gefallen und das jammervolle -Schluchzen in ein gewaltiges Schnarchen übergegangen war. -Das war eine würdige Abschiedsfeier gewesen, denn betrinken -tat sich der hoch geeichte Meergreis nur in ganz -seltenen Ausnahmefällen. Und von jener Stunde an trug -er das Unvermeidliche mit männlicher Fassung.</p> - -<p>Pichler fand sich rasch zurecht. Viel brauchte es ja nicht -dazu. Alle Wege waren ihm geebnet worden, alle Räder -griffen pünktlich ineinander, Pfannschmidt arbeitete wie -ein Zughund, und Otto hatte eigentlich nichts zu tun, als -sich in das bereitete Nest zu setzen und zuzusehen. Sein -schmiegsames Wesen, seine lächelnde Liebenswürdigkeit machten -es ihm leicht, mit den Arbeitern schnell in ein gutes -Verhältnis zu kommen. Und sie fanden bald, daß der -Neue, der ihnen so freundlich um den Bart ging und der -sie niemals durch eine kantige Schroffheit verletzte, daß -der Neue nicht so übel wäre. Auch gefiel ihnen, daß er -stets tadellos gekleidet ging, zu repräsentieren verstand -und nicht in der Vorstadt wohnte, sondern nahe der Schriftleitung -in einem schönen Zinshaus zwei Zimmer innehatte. -So streute er diesen einfachen Leuten Sand in die Augen -und blendete sie durch einen glanzvollen Schein. Er machte -sich aber auch mit der ‚guten Gesellschaft‘ der Stadt bekannt -und hielt es für nur selbstverständlich, Richard Deming, -den einflußreichen Direktor der chemischen Fabrik, -höflich zu grüßen, seit er ihm einmal in einer Versammlung -vorgestellt worden war. Die Anna Bogner aber, -die achtzehnjährige Tochter des Kesselwärters, erkor er -sich — ohne Frauen konnte er nicht mehr sein — die -Anna erkor er sich zu seiner heimlichen Geliebten.</p> - -<p>Er sah das braunhaarige Mädchen, das in der Zeitungsdruckerei -beschäftigt war, fast täglich und es gefiel ihm. -Klein, rund und frisch, trug es sich immer nett und sauber, -schaute aus klaren Augen vergnügt ins Leben und ließ -beim Lachen alle Zähne blitzen. Es lachte gern und viel, -war stets gutes Mutes, freute sich bei der Maschine auf -den Feierabend, wenn es regnete, auf den Sonnenschein -und wenn die Sonne schien, über den lustigen Glanz in -der Welt und im jungen Herzen.</p> - -<p>So war die Anna, bis sich ihr Schicksal erfüllte. Ganz -gewöhnlich fing es an. Blicke herüber und hinüber, erst -vorsichtig sondierend, bald aber kühner werbend und eindringlicher. -Dann griff Otto nach dem Hut und grüßte. -Da erschrak sie, sah darein, als faßte sie es nicht, war erstaunt, -verlegen, geschmeichelt, hastete purpurrot weiter. -Aber sie schaute doch noch einmal über die Schulter zurück, -ob sie sich denn wirklich nicht getäuscht habe, und da stand -der fesche Doktor mit dem dunklen Schnurrbart noch an -der Ecke und winkte mit der beringten Hand.</p> - -<p>Andern Tags klopfte ihr das Herz bis zum Hals hinauf, -als sie ihn kommen sah. Beklommen trippelte sie vorwärts -in Harren und Bangen, fürchtete schon, er sei gleichgültig -vorüber gegangen. Aber da zog er gerade wieder höflich -den Hut. Nun neigte sie, wie sie sich fest vorgenommen, -mutig den kraushaarigen Kopf zum Dank, steif genug, -verschämt und beglückt.</p> - -<p>Dann dauerte es keine Woche mehr, bis er ihr ein Briefchen -zusteckte und um ein Stelldichein für den Sonntag -bat. Jenseit des Stromes wollte er sie treffen, draußen -im Freien, wo schon die Wälder anfingen und nicht so -leicht ein Bekannter hinkam.</p> - -<p>Und das junge Ding zog sein bestes Kleid an, schmückte -sich wie zum Fest und wartete eine halbe Stunde vor der -angegebenen Zeit bereits am Waldrand.</p> - -<p>Drei rote Rosen zwischen den Fingern, kam Otto gegangen -und schon von weitem schwenkte er grüßend den -weißen Panamahut. Mit einer Verbeugung überreichte er -ihr die Blumen. Schüchtern griff sie darnach, steckte sie -mit hastenden Fingern vor die atmende Brust, kam nicht -gleich damit zurecht, schämte sich und stand mit gesenkten -Wimpern in einer argen Verwirrung. Aber er half ihr -rasch darüber weg, sagte ihr ein paar Artigkeiten im leichtesten -Plauderton und benahm sich ungezwungen, als treffe -er sie nicht das erstemal, sondern kenne sie schon lang -und gut. Da verlor sie die Scheu, taute auf und fing -nun ebenfalls zu erzählen an, von ihrer Arbeit, von den -Tongebilden ihres Vaters, den Liebhabern ihrer Freundinnen. -Gönnerhaft hörte er zu, fand das Schwatzen abgeschmackt, -aber das Mädel hübsch und schritt, das Stöckchen -schwingend, in fröhlicher Zuversicht an ihrer Seite.</p> - -<p>Der Wald war still und erwartungsvoll, durch die grünen -Büsche schimmerte es wie goldene Gewänder, blitzte wie -sonnige Augen, mit blauen Kelchen standen die schlanken -Glockenblumen, und die Anna pflückte sie zum Strauß. -Weiße Waldorchideen ordnete sie mit hinein und die nickenden -Blütenturbane des Türkenbunds, durch dessen Berührung -Juno einst den Mars empfing. Geschmeidig bog -sie den Körper, sprang wie ein Hirschlein zwischen den -Bäumen und funkelte ordentlich vor Lebenslust. Immer -besser gefiel sie dem jungen Manne. Unternehmend strich -er den weichen Schnurrbart empor, faßte die Warme mit -der Rechten von rückwärts um den Leib, bog mit der -Linken ihr glühendes Gesicht zu sich herüber und küßte -sie auf den Mund.</p> - -<p>„Nein, so was ... aber Herr Doktor!“ wehrte sie -ihm schämig und versuchte loszukommen. Es war ihr -jedoch nicht ernstlich darum zu tun, sie sträubte sich zwar -ein wenig, weil sie es für schicklich hielt, schmiegte sich -dabei aber nur fester in seinen Arm. Da küßte er sie -nochmals und gab sie dann frei. „Du gefällst mir, Annl!“ -sagte er und strich mit der Hand über ihre Wange.</p> - -<p>„Spotten Sie nur nicht!“ antwortete sie und warf ihm -von unten herauf einen schnellen verliebten Blick zu.</p> - -<p>„Spotten? Nein, du bist wirklich hübsch! Aber das -Sie-sagen mußt du dir abgewöhnen.“</p> - -<p>Nun kicherte sie: „Was der Herr Doktor für Einfälle -hat! Wir kennen uns ja kaum!“</p> - -<p>„Wer bin ich?“</p> - -<p>„Der Herr Doktor!“</p> - -<p>„Wer?“</p> - -<p>„... Sie!“</p> - -<p>„Du sollst du sagen! Trau’ dich nur, Mädl! Na?“</p> - -<p>Sie schüttelte den gesenkten Kopf, daß alle Spitzen -ihrer krausen Haare zitterten. Da legte er den Arm um -ihren miederlosen Leib. „Komm!“ sagte er. „Schäm’ -dich nicht, wir sind ja allein.“</p> - -<p>Sie lehnte sich leicht an ihn.</p> - -<p>„Du!“ sagte sie erschauernd und ließ sich widerstandslos -fortführen, tiefer und tiefer in den erwartungsvollen -Wald.</p> - -<div class="section"> -<h3>10.</h3> -</div> - -<p>Hellwig war wieder im alten Fahrwasser, arbeitete viel, -sprach in Versammlungen und ruhte sich bei Heinz von -der Hetzjagd aus.</p> - -<p>So oft er zu ihm kam, müd und abgerackert, oft erst -spät abends, fand er den Tisch für sich mitgedeckt, Marie, -die zarte, blasse Frau, kam ihm mit sonnigen Augen entgegen, -und die Lampe leuchtete hell über weißem Tischzeug, -sauberen Dielen und blankem Hausrat. Eng war -das Gemach, war Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmer, -alles in einem, aber die freundlichen Geister des Behagens -lugten aus allen Winkeln, schaukelten sich in den Falten -der baumwollenen Fenstervorhänge, tollten, ein loser -Schwarm, durch die offene Tür in die Küche, wo sie der -Marie in den Rostbraten bliesen, daß das Fett prasselnd -aus der Pfanne spritzte. Aber nicht immer gab es Rostbraten -in der Pfanne. Manchmal, und namentlich wenn -der Monatsletzte nicht mehr fern war, lief Heinz zum -Greisler hinunter um Käse, Brot und Wurst, und auch -ein paar Flaschen Bier brachte er mit herauf. Aber wenn -dann die Marie fragte: „Wo hast du die Butter?“ oder -„Wo ist denn der Emmentaler?“, da hatte er das gewöhnlich -unten auf dem Ladenpult liegen lassen und mußte -die vielen Stufen noch einmal hinab und hinauf.</p> - -<p>Und wenn sie dann alle drei unter dem weißen Schirm -der Hängelampe um den Tisch saßen, war es Hellwig, -als sei alle Leidenschaftlichkeit der Fehde verbraust und -aller Streit da draußen eingeschlafen, tief ruhig wurde -er, und leise schlug ihm das stürmische Herz, ganz leise, -auf daß es die heimliche Innigkeit dieser Stätte nicht -störe, die voll Liebe und Frieden war. Und kein Schatten -wäre in dieser reinen Helligkeit gewesen, wenn Marie -nicht manchmal gekränkelt und immer anhaltender gehustet -hätte.</p> - -<p>Und bisweilen kam jetzt über Heinz wieder der alte -Hang zum Herumstreifen in den Elendquartieren. Dann -litt es ihn nicht in dem Frieden seines Heims, und mochte -die Marie auch noch so freundlich bitten, er ließ sich nicht -zurückhalten. Wie an Seilen zog es ihn fort. Da mußte -auch Fritz aufbrechen, und manchmal begleitete er dann -den Freund.</p> - -<p>Und da trafen sie einmal mit Robert Karus zusammen. -In einem Bierbeisel trafen sie ihn, wo er Lumpensammlern, -Kanalstrottern und zittrigen Bettelleuten die Idee -des Anarchismus erläuterte und für die Propaganda der -Tat mit ungefügen Worten eintrat.</p> - -<p>Hellwig erkannte ihn gleich wieder. Aber auch Karus -hatte kein schlechteres Gedächtnis. Mit einem lauten „Hei!“ -ließ er die Faust auf den Tisch fallen und rief: „Da schaut -her, der Bergprediger! Wie geht’s, Herr Bergprediger, -wie steht’s? Ist die friedliche Rebellion vorüber? Fressen -die Hündlein wieder hübsch brav aus der Hand?“</p> - -<p>Aber ehe Fritz noch antworten konnte, hatten sich die -andern Gäste bereits um Heinz geschart. „Das ist ja der -Herr Wart!“ — „Guten Abend, Herr Wart!“ — „Wir -dachten schon, Sie hätten uns ganz vergessen, Herr Wart!“ -hieß es. Sie schüttelten ihm die Hände, waren von dem -Wiedersehen sichtlich erfreut.</p> - -<p>„Also das ist der Ausbund, der so haarsträubend edle -Werke tut!“ sagte Karus und musterte den schmächtigen -Mann mit einem raschen Blick von oben bis unten. „Hand -her, Heinz Wart!“ rief er dann. Er hielt ihm die haarige -Tatze hin. Wart legte seine kühle, schmale Rechte hinein. -„Endlich treffe ich Sie!“ sagte Karus mit gedämpfter -Stimme. „Ist höchste Zeit gewesen, sonst wär’ ich Ihnen -nächster Tage auf die Bude gerückt. Wir zwei gehören -nämlich zusammen wie Faust und Arm!“</p> - -<p>Heinz war es gewöhnt, auf seinen Streifzügen mit -den absonderlichsten Kostgängern des lieben Herrgotts in -Berührung zu kommen. Deswegen wunderte er sich nicht -weiter über das Gehaben des struppigen Kumpans, setzte -sich schweigend zu ihm an den Tisch und Hellwig ebenfalls. -Diesem war die Begegnung sehr erwünscht, denn er hoffte -jetzt den seltsamen Menschen näher kennenzulernen, der -mit ein paar hingeworfenen Worten seine Gedanken wochenlang -zu beschäftigen vermocht hatte. Er konnte sich nicht -klar werden über das Gefühl, das er für oder gegen ihn -hegte, spürte etwas seinem eigenen Wesen Verwandtes in -ihm und doch auch wieder etwas, was ihn schroff abstieß -und zum Widerspruch reizte.</p> - -<p>Dem Karus mochte es ebenso gehen. Die Art, wie er -den ‚Bergprediger‘ behandelte, war halb kameradschaftlich, -halb gehässig, und immer lief daneben überlegener Spott -mit. Jetzt saßen sie also beisammen in der schweren, verdorbenen -Luft, tranken schales Bier und die verluderten -und zermürbten Gesellen an den anderen Tischen rückten -möglichst nahe zu, spitzten die Ohren, und jedesmal, wenn -Heinz eine Bemerkung machte, lächelten und nickten sie -einander zu, stießen sich an und taten, als wäre ihnen ein -Heil verkündet worden, wenn sie auch kaum die Hälfte -aller Worte vernehmen konnten. Karus aber rüstete sich -zu einem Strauß mit Hellwig.</p> - -<p>„Also was?“ sagte er. „Sind Sie in der Provinz -glücklich fertig? Wo predigen Sie denn jetzt? Und worüber, -wenn’s zu fragen erlaubt ist?“</p> - -<p>Fritz wurde nicht zornig und wurde nicht grob. Ganz -gelassen blieb er und antwortete so naiv und unbefangen, -als es ihm möglich war: „Gegenwärtig geht’s um das -allgemeine Wahlrecht.“</p> - -<p>„Schöne Sache!“ entgegnete Karus, mit dem mächtigen -Schädel nickend, tiefernst. „Schöne Sache! Würdig der -edelsten Begeisterung! Nun denken Sie sich aber mal -eine große Menagerie. Da sitzen die Tiere alle in engen -Käfigen. Der Löwe, der Tiger, die Gemse, der Falk, der -Adler, alle sitzen sie in ganz engen Käfigen. Und den -Menageriebesitzer wandelt eines Tages ein Mitleid an oder -eine gnädige Laune, er stellt einen etwas größeren Zwinger -auf und erteilt den Bestien die Erlaubnis, je eine aus -ihrer Mitte, welche sie halt wollen, in den größeren Käfig -zu entsenden. Und dann springen die abgesandten Löwen, -Tiger, Gemsen, Falken, Adler dort drin herum, stoßen mit -den Köpfen an das gesetzmäßige Gitter, verletzen sich die -Pranken, zerbrechen sich die Flügel, beißen sich die Zähne -aus. Und die anderen Vieher sehen das und schreien, quieken, -krächzen, brüllen: ‚Hoch unsere Freiheit! Hoch unser -allgemeines Wahlrecht!‘ Aber die Eisenstäbe zerbrechen, -den Wärter in Fetzen reißen? Das fällt keinem ein! Dazu -sind sie zu faul und zu träg! Sie fauchen wohl gegen -ihn, aber kommt er ihnen mit der spitzigen Gabel an den -Leib, dann ducken sie sich und heulen! Denn schließlich -gibt er ihnen doch zu fressen.“</p> - -<p>„Sie sind ein sonderbarer Schwärmer, Karus,“ erwiderte -Fritz. „Ich meinerseits glaube aber trotz Ihrer -schönen Vergleiche, daß das allgemeine Wahlrecht ein guter -Sturmbock ist, mit dem wir die Gitter schon brechen wollen. -Nur haben müssen wir’s erst!“</p> - -<p>Karus lächelte mitleidig.</p> - -<p>„So sagen Sie mir doch einmal, was wir nach Ihrer -Ansicht eigentlich tun sollen, um frei zu werden?“ rief -Hellwig ungeduldiger.</p> - -<p>Da ging ein heftiger Ruck durch die gedrungene Gestalt -des wilden Gesellen, aus seinen Augen brach ein unbändiges -Feuer. Aber seine Stimme klang beinah gemütlich, -als er jetzt sagte: „Dreinschlagen!“</p> - -<p>„Wozu?“ meinte Hellwig achselzuckend. „Wir erreichen -auf friedlichem Weg mindestens genau so viel.“</p> - -<p>Da klopfte ihm Karus auf den Rücken und sprach: -„Lieber junger Freund, wie stellen Sie sich denn das vor: -Auf friedlichem Weg? Die wilden Tiere im Käfig wollen -heraus, nicht wahr? Und wenn nun so eine graziöse Löwendame -oder ein feuriger Tigerjüngling kommt und den -Wärter bittet, er solle doch so freundlich sein und das -unangenehme Gitter entfernen, so wird der Wärter natürlich -nichts Eiligeres zu tun haben, als diesem gewiß berechtigten -Wunsche zu willfahren. Alle Bestien wird er -herauslassen, damit sie dann über ihn herfallen und ihn -vor lauter Dankbarkeit auffressen. Nicht wahr, so würde -es kommen? Und das ist das, was Sie meinen mit dem -‚Auf friedlichem Weg‘?“</p> - -<p>„Nicht so ganz, Herr Karus. Sie sagten ja vorhin -selbst, daß der Käfig, wie Sie sich auszudrücken beliebten, -immer weiter wird. Nun, und einmal wird er eben so -groß sein, daß wir das Gitter nicht mehr sehn und spüren. -Das ist doch gewiß auf friedlichem Weg zu erreichen.“</p> - -<p>Karus lachte hell auf.</p> - -<p>„Und das soll die Freiheit sein? So stellen Sie sich -die Freiheit vor? Wirklich so? Ich bedanke mich für so -eine Freiheit! Ich will fliegen — und stoß’ mir den -Schädel an der Decke ein. Ich will ein bissel weiter spazieren -gehn, krach, renn’ ich — ob früher, oder später, -einmal doch — ans Gitter und kann nicht weiter. Muß -ich da nicht die Stäbe zerbrechen, wenn ich hinaus will? -Und wenn ich allein zu schwach bin — zum Teufel, hundert -Fäuste knicken das Zeug schon entzwei! Aber feig sind -die Kerle! Feig und faul! Ihr eigenes Fleisch haben sie -zu lieb, und ihre einzige Sorge ist der Magen! Nein, nein, -Bergprediger, damit ist’s nichts! Wenn der Zwinger auch -noch so groß ist, es bleibt eben immer ein Zwinger. Und -die Freiheit verträgt kein Gitter!“</p> - -<p>Heinz saß da, die Linke vor den Augen und die Stirn -in die Spanne zwischen Daumen und Zeigefinger gestützt, -hielt ein abgebranntes Zündholz in der andern Hand und -versah die runden Umrisse der Bierlachen mit strahlenförmigen -Ausläufern. Mit Fleiß und Sorgfalt tat er das -und bemühte sich, alle gleich lang und schön regelmäßig -zu machen. Aber als Karus schwieg, begann er unvermittelt -zu sprechen.</p> - -<p>„Nein,“ sagte er, „kein Gitter und kein Eisen. Weil -wir ja keine wilden Tiere sind, sondern Menschen. — Es -sollte keine Fesseln unter uns geben, keine Käfige und -keine Kerker. Und es sollte auch niemand unter uns Macht -haben, andere darin festzuhalten. Weder ein einzelner noch -ein Volk oder ein Staat. Niemand. Weil — wer nicht -für mich ist, der ist wider mich ... das ist auch eine -falsche Formel. Jeder für sich — und keiner wider den -andern: so müßte es sein. Und bis das so sein wird, -dann sind wir alle edel genug, die Freiheit zu ertragen. -Weißt du, Fritz ...“</p> - -<p>So redete er, und da er seine Haltung nicht änderte, -war es, als ob er in die Tischplatte hinein spräche. Aber -das Zündholz war in seiner Hand zerknickt, und seine -Wangen waren ganz tiefrot geworden.</p> - -<p>„Gehn wir!“ sagte er nach einer langen Pause und -atmete schwer auf.</p> - -<p>Sie traten ins Freie. Karus faßte ihn unterm Arm. -„Faust und Arm!“ sagte er noch einmal. „Oder Muskel -und Nerv! Komm, Heinz Wart!“</p> - -<p>Fritz ging schweigend nebenher und sah in den Himmel -hinauf, der ganz hell ausgesternt war. Und wieder fühlte -er, wie schon öfter: wenn der stille Heinz seine leidenschaftliche -Stunde hatte, dann sagte er Dinge, die seltsam überzeugend -klangen. Und er sagte sie in so sonderbar eindringlichem -Ton, daß keine Entgegnung sich regen konnte. -Und doch mußte es eine Entgegnung geben, das spürte -er ganz deutlich und wußte nur nicht, wo die Lücke war, -wo er den Fuß einsetzen mußte, um über die glatte Mauer -hinüberzukommen.</p> - -<p>Karus fing an, aus seinem Leben zu erzählen.</p> - -<p>Er war Hilfslehrer gewesen, aber seine vertrotzte Natur -konnte sich in kein Joch beugen. Statt die Buben zu -pflichtbewußten Staatsbürgern zu erziehen, redete er zu -ihnen von der sozialen Bewegung und vom Anarchismus, -füllte ihre jungen Seelen mit dem wilden Freiheitsdrang, -der in ihm selbst brauste. Keine Verwarnung fruchtete. -Schließlich wurde er auf unbestimmte Zeit beurlaubt. Da -wußte er, woher der Wind blies und kam um seine Entlassung -ein. Und dann durchwanderte der Doktor der -Weltweisheit Robert Karus fast die ganze Erde, machte -den Aufstand der Insel Kreta mit, war auf den Philippinen -einer der Insurgentenführer, wurde in Rußland -wegen nihilistischer Umtriebe nach Sibirien geschickt, floh -von dort durch Persien über den Ganges nach Indien -und war jetzt endlich wieder in seine Heimat zurückgekehrt, -als Fünfzigjähriger dieselbe Glut und Freiheitssehnsucht -im Herzen, die ihn als Jüngling in die Welt hinausgetrieben -hatte. Vorläufig wollte er ausruhen, wie er es -nannte, und verdiente sich sein karges Brot, indem er -armen Handelsbeflissenen, die in Anbetracht der geringen -Vergütung gern sein verwahrlostes Äußere mit in den -Kauf nahmen, Unterricht in Französisch, Englisch, Spanisch, -Russisch erteilte.</p> - -<p>Heinz Wart schloß sich seit diesem Tage ganz an den -alten Revolutionär an, war fortwährend mit ihm beisammen -und wurde noch blasser und stiller als vorher. Und -noch größer und rätselvoller als vorher standen ihm die -heißen dunklen Augen im schmalen Gesicht.</p> - -<div class="section"> -<h3>11.</h3> -</div> - -<p>Pichlern ging es ungemein wohl. Sein Schifflein -schwamm auf glatter Flut, kein böser Windstoß rührte gefährliche -Wogen auf, nirgends zeigte sich eine Wetterwolke. -Die Arbeit lief wie am Schnürchen, die Leute -hatten ihn gern, er war überall beliebt. Und wenn ihm -etwas seine Laune trübte, so war’s jetzt sein Verhältnis -zur Anna Bogner.</p> - -<p>Sie hatte ihm alles gegeben, was so ein schlichtes armes -Ding einem Mann wie Pichler überhaupt zu schenken vermochte, -stand nun ratlos, fremd, wie verloren in der Welt -und hatte niemanden, an den sie sich klammern konnte, -als eben ihn. Gerade das aber wurde ihm bald lästig, der -Reiz der Neuheit war vorbei, der Schmetterlingsstaub von -den Flügeln gestreift, die einfache reine Seele des guten -Kindes konnte ihn nicht fesseln. Es kam die Überlegung, -die Furcht vor einer möglichen Entdeckung, der Überdruß. -Seltener bat er sie um eine Zusammenkunft, entschuldigte -sich mit dringenden Geschäften. Und sie ließ sich alles gefallen, -sah ihr Glück — es hatte kaum sechs Wochen gewährt -— verblassen und war geduldig und gläubig und -treu wie ein Hund. Aber ihre Munterkeit war weg, kaum -lachte sie noch oder freute sie sich über den Sonnenschein.</p> - -<p>Und endlich blieb Otto ganz fort. Acht, vierzehn Tage -wartete sie, aber er gab kein Lebenszeichen, war für sie -wie vom Erdboden verschwunden.</p> - -<p>Er birschte in anderen Gefilden. Dort war Grete Deming, -die Tochter des kaiserlichen Rates Richard Deming, der -bei der großen chemischen Fabrik den Direktorposten innehatte. -Das war ein scharfsichtiger und besonnener Selfmademan, -dem das kühle Blut auch in den schwierigsten -Lagen nicht in raschere Wallung kam. Er war von festgefügtem -Knochenbau, ziemlich groß, stark, doch nicht fett, -hatte breite Hände und trug den grauen Backenbart zu -beiden Seiten des ausrasierten Kinnes kurz geschoren. Nie -war das Unternehmen besser geleitet, der Gewinn größer -gewesen, als seit Deming an der Spitze stand. Geschäftsmann -durch und durch, von modernem Geist erfüllt, kühn -und wagemutig, wußte er günstige Marktlagen rasch zu -packen, tatkräftig auszunützen und hatte noch immer gegen -die Vorsichtigen und Ängstlichen recht behalten. Er war -seit Jahren Witwer und hatte eine Tochter, das Fräulein -Grete Deming, eine dunkeläugige Schöne, die gertenschlank -auf dem Kutschbock saß und mit festen kleinen Händen ihren -Traber lenkte. Umschwärmt und begehrt, ging sie gleichgültig -an dem Schwarm ihrer Bewunderer vorbei, nicht -warm, nicht kalt, ein wenig hochmütig, ein wenig herablassend -und sehr selbstbewußt. Sie war schön, war jung, -das einzige Kind ihres reichen Vaters und deshalb nahm -man ihr nichts übel, fand auch ihre Unarten reizend, und -viele Mädchen der Stadt gingen mit leicht vorgebeugtem -Oberkörper und leise schaukelnden Hüften, trugen Reitgerten -und rauchten Zigaretten, ganz wie Grete Deming. -Es gab eine Grete-Deming-Frisur, ein Barett, einen fußfreien -Rock, eine Tüllkrause <span class="antiqua">à la</span> Grete Deming. Aber -keiner einzigen saß die runde Nerzmütze mit dem Reiherstoß -so fesch auf welligem Haar, fiel der glatte Rock auf -einen so tadellos fein geknöchelten Fuß, hob sich pfirsichfrisch -und rassig aus den weißen Tüllwogen ein so pikantes -Gesicht — wie eben dem Fräulein Grete.</p> - -<p>Pichler sah sie vorüberfahren, blickte ihr nach und stand -wie gebannt. Ein eigenes Gefühl drängte sich in sein Herz, -weh und schmerzhaft, als sei ihm ein Glück bestimmt gewesen, -und er habe es leichtsinnig selbst verscherzt. Unwürdig -kam er sich vor und doch wieder wertvoll genug, -nach den höchsten Kränzen zu langen. Verheißende Möglichkeiten -blitzten in der Ferne, Ahnungen von Genüssen, -um die er sich gebracht, Sehnsucht nach einer geistreichen -und glanzvollen Gesellschaft, von der er sich freiwillig -ausgeschlossen hatte. Fast reute ihn, daß er so offen eine -politische Gesinnung zur Schau gestellt hatte, statt in ein -Staatsämtchen zu schlüpfen oder einen anderen standesgemäßen -Beruf zu ergreifen. Und stärker und bestimmter -kam ihm der Vorsatz, daß seine jetzige Beschäftigung nur -einen Übergang darstellen durfte, da weder seiner Stellung -als gebildeter Mensch, noch seinen Fähigkeiten der ständige -Verkehr mit den untersten Volksschichten angemessen sei. -Und so begann er denn seine Läuterung dort, wo ihm der -Verkehr mit den untersten Volksschichten dermalen am -unangenehmsten geworden, bei Anna Bogner. Er war sich -selber für ein solches Verhältnis zu gut geworden.</p> - -<p>Die Anna wartete geduldig noch eine Woche lang, dann -aber faßte sie sich ein Herz und ging zu ihm. Sie wollte -Gewißheit haben, das Harren und Bangen quälte gar -zu sehr.</p> - -<p>Zaghaft klopfte sie an, trat zaghaft ein. Da war gerade -Karl Pfannschmidt anwesend und beriet die Zusammenstellung -der nächsten Zeitungsnummer mit dem verantwortlichen -Schriftleiter.</p> - -<p>Verlegen sprang Pichler auf.</p> - -<p>„Was bringen Sie mir denn Schönes, Fräulein?“ -fragte er und bemühte sich, seiner unsicheren Stimme einen -geschäftsmäßigen Tonfall zu geben.</p> - -<p>„Ich bring’ nichts,“ antwortete sie leise, „ich will mir -was holen.“</p> - -<p>„Ach ja richtig, das hatte ich ganz vergessen!“ erwiderte -Otto und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. -„Jetzt fällt’s mir wieder ein! Bitte, wollen Sie hier eintreten!“ -Er führte sie ins Nebenzimmer. „Sie entschuldigen -schon einen Augenblick!“ sagte er noch zu Pfannschmidt.</p> - -<p>Drinnen herrschte er das arme Ding mit scharfer Flüsterstimme -an: „Was soll das heißen, Anna? Was fällt dir -ein, hieher zu kommen! Denk’ doch an deinen Ruf!“</p> - -<p>„Ich will mir was holen!“ murmelte das Mädchen.</p> - -<p>Nun versuchte er es in einer anderen Tonart. „Ich -konnte wirklich nicht abkommen, Annl!“ sagte er mit -biederer Herzlichkeit. „War mit Geschäften überhäuft. Das -geht manchmal nicht anders. Aber sobald ich wieder Luft -hab’ ...“</p> - -<p>Sie schüttelte langsam den Kopf.</p> - -<p>„Ich bin nicht deswegen da ...“</p> - -<p>„Nicht deswegen?“</p> - -<p>„Ich will mir nur was holen,“ sagte sie eintönig.</p> - -<p>„Ja, aber was denn nur? So sag’s doch endlich!“</p> - -<p>„Meine Ehre ...“</p> - -<p>Ganz gleichgültig sprach sie das vor sich hin, mit rauher, -brüchiger Stimme und schaute mit toten Augen an ihm -vorbei ins Leere.</p> - -<p>Er wußte nichts zu erwidern, hob bedauernd die Hände -und ließ sie auf die Schenkel fallen.</p> - -<p>„Aber Annl — du hast mich doch lieb gehabt ...“</p> - -<p>„Ja, ich hab’ dich lieb gehabt.“</p> - -<p>„Und — und ... es konnte doch nicht immer so fortgehn. -Das hättest du im voraus bedenken sollen.“</p> - -<p>„Ja — das hätte ich im voraus bedenken sollen ...“</p> - -<p>Wie ein Automat sprach sie ihm die Worte nach.</p> - -<p>„Annl, sei doch nicht so, ich bitte dich! Wir — können -deswegen ja gut bleiben. Nur — das wirst du einsehn, -ich ... Herrgott, wenn nur der Kerl nicht draußen wär’! -Der paßt auf jedes Wort! — Wir treffen uns morgen, -Annl! Um sechs Uhr! Da reden wir dann weiter. Wirst -du kommen?“</p> - -<p>„Ich werde schon nicht kommen. Was gibt’s auch noch -zu reden? Das ist nun einmal so, da nützt nichts mehr.“</p> - -<p>„Annl!“</p> - -<p>Noch immer schaute sie an ihm vorbei, mit derselben -steinernen Ruhe.</p> - -<p>„Nenn’ mich nicht mehr so. Ich nenn’ dich auch nicht -mehr so. Ich denk’ mir nur — so, wie du jetzt bist, das -sollte doch anders sein. Es ist nicht recht so. Nur, es -wird wohl auch wieder besser werden — oder — die Welt -hätt’ sonst kein Gewissen ...“</p> - -<p>Mit schleppenden Schritten ging sie zur Tür, öffnete -und schob sich müde durch das vordere Zimmer an Pfannschmidt -vorüber zum Ausgang. Dort schlug Pichler noch -einmal den Geschäftston an. „Also die Sache ist in Ordnung, -nicht wahr?“</p> - -<p>„In Ordnung,“ sagte sie tonlos und bewegte die trockenen -Lippen kaum. Nun trat sie über die Schwelle, den -Kopf steif oben, und in dem starren Gesicht regten sich -nicht einmal die Lider, um die weit offenen Augen zu -kühlen.</p> - -<p>Als sie fort war, sagte Pichler mit gemachter Leichtigkeit: -„Es war mir so peinlich ... sie hat mir nämlich -eine Novelette angeboten für unser Blatt und sich jetzt Bescheid -geholt. Ich mußte ablehnen. Schriftlich wär’ das -einfacher gegangen. Zu dumm! Jedes Frauenzimmer will -heutzutag’ schon schreiben!“</p> - -<p>Pfannschmidt blätterte in den Manuskripten, die er vor -sich ausgebreitet hatte. Dann sagte er: „Also mit dem -Leitartikel sind Herr Doktor einverstanden? Was bringen -wir denn unterm Strich?“</p> - -<p>Otto biß sich auf die Lippe. Er fühlte, daß ihm hier -die Ausrede nicht geglaubt worden war. Aber er faßte -sich schnell.</p> - -<p>„Unterm Strich? Haben wir nicht irgendeine verliebte -Geschichte lagern? So was zieht immer!“</p> - -<div class="section"> -<h3>12.</h3> -</div> - -<p>Fritz, Heinz und Karus schlenderten mitsammen durch -die Großstadt. Es war ein schöner Vorfrühlingstag. Die -Sonne glänzte am blauen Himmel, hing durchsichtige Silberschleier -vor die Fronten der Mietkasernen, machte die -Fiakerrosse fröhlich, und sogar den geplagten Pinzgauer -Hengsten vor den schweren Fuhrwerken verlieh sie ein -gemütliches Aussehen. Zwischen lautlos gleitenden Elektromobilen, -Automobilen, Karossen und Straßenbahnwagen -bewegten sich rasselnde Streifwagen, Handkarren, Radfahrer. -Eisen klirrte, Pferde wieherten, Kutscher schrien -„Ooooohb!“, das klingelte, ratterte, stampfte, dröhnte, -surrte, tutete ohrenbetäubend durcheinander. Und auf den -Gehsteigen wimmelten die Menschen, Hut neben Hut und -Ellbogen bei Ellbogen, vereinigten sie sich rechts und links -der Straßenzeile zu je einem ununterbrochen flutenden -schwärzlichen Strom, der langsam wogte, still stand und -wieder vorwärtsdrängte. Es sah aus, als würde hier das -Blut der Stadt durch die Stöße eines unsichtbaren Herzens -im Kreislauf erhalten. Nur vor den Kirchen schien -es zu stocken. Die Kirchentüren waren offen, fremd leuchteten -die gelben Kerzenflammen aus den dämmrigen Schiffen -in die lärmende Nüchternheit des Tages. Viele der -Vorübergehenden zogen die Hüte, bekreuzigten sich oder -beugten wohl auch die Knie. Mit einem Pack Federbetten -kam ein molliges Frauchen vorbei. Während des langen -Faschings war im Haushalt das Geld knapp geworden. -Aber heute abends war ein Bürgerball. Und die Kirchenpforten -waren der Schönen nicht umsonst aufgetan. Rasch -trat sie ein, legte ihr Bündel auf die Steinfließen, kniete -darauf und sprach andächtig ein Vaterunser. Dann setzte -sie gestärkt ihren Weg zum Versatzamt fort.</p> - -<p>Mit schlurfenden Schritten schob sich ein Bettler die -Häuser entlang. In der Hand hielt er einen irdenen Topf -mit schmutziggrauem Reisbrei, wie man ihn den Jagdhunden -zum Fressen gibt. Den mochte ihm eine gutherzige -Köchin geschenkt haben, und der Alte schaute mit -verzückten Augen und wässerndem Mund auf seinen Schatz. -Da war Karus blitzschnell, mit einem Satz, bei ihm und -schlug den Scherben aus der zittrigen Hand: „Betteln, -Schlappschwanz? Da! Jetzt friß!“</p> - -<p>Der Mann winselte und bückte sich jammernd nach -den Scherben. Fritz packte Karus am Arm: „Was heißt -das?“ Und der gleichmütig darauf: „Sie sehen’s ja!“</p> - -<p>Leute sammelten sich. Fritz zog die Börse. „Geben -Sie ihm nichts!“ knurrte Karus. Hellwig schob ihn beiseite, -drückte eine Münze in die verlangend aufgehobene -Hand, schritt schnell davon.</p> - -<p>„Wie konnten Sie das tun?“ sagte er. „Das war -grausam!“</p> - -<p>„Ach was, grausam!“ rief Karus zornig. „Verdient -so einer was Besseres? He? — Verflucht, daß doch die -Kerle mit Bettelsuppen und Küchenabfall zufrieden sind! -Daß sie nicht fordern, was ihnen vorenthalten wird! Daß -sie nicht wenigstens rauben und stehlen! Aber da stehen -sie blödsinnig neben brechenden Tischen, verrecken vor -Hunger und wagen nicht dreinzuhauen. Mit einem rechtschaffenen -Knüttel oder meinethalben mit Pulver und -Bomben! Pfui Schande und Feigheit!“</p> - -<p>Heinz aber sah unterdessen nach einem hageren Menschen, -der vor ihnen hertaumelte, manchmal stehn blieb, -sich an die Stirn griff, umherschaute, weitertorkelte und -endlich hinfiel. Im Nu war eine johlende Menge um ihn. -Heinz aber sagte ganz aufgeregt zu den Freunden: „Schaut -euch die Augen an! So blickt kein Betrunkener!“, lief -hin und beugte sich über den Gefallenen. Die Umstehenden -lachten und spotteten: „Seht den Lumpen! Schon -am hellen Vormittag hat er einen Rausch!“</p> - -<p>„Nein!“ sagte Heinz laut und hart. „Der hat keinen -Rausch, der hat Hunger! Und da lacht ihr und spottet -noch!“</p> - -<p>Und er faßte den Liegenden: „Komm, mein lieber Bruder!“ -und half ihm auf die Füße. Sie nahmen ihn in -die Mitte, stützten ihn sorgsam und führten ihn aus dem -Gedränge. Vor einem gut bürgerlichen Gasthaus machte -Wart halt.</p> - -<p>„Heinz, das ist ein Unsinn!“ sagte Hellwig und suchte ihn -zurückzuhalten. Doch der wehrte sanft ab: „Laß mich nur, -Fritz, ich bin dem Menschentum Genugtuung schuldig in -diesem hier!“ Und er öffnete die Tür.</p> - -<p>An den runden Tischen saß ein zahlreiches Publikum -beim Frühschoppen. Alle Augen richteten sich auf die Ankömmlinge. -Es war aber auch ein ungewöhnlicher Aufzug. -Heinz im englischen Überzieher, den rassigen Kopf -mit den langen schwarzen Haaren hoch aufgereckt, Karus, -wie immer, mit zerknittertem Hemd und tranigen Stiefeln, -zwischen beiden der dürre Mensch, von oben bis unten -mit Straßenkot besudelt, endlich der breitschultrige Hellwig -mit Radmantel und Schlapphut. Der Oberkellner kam -gelaufen und fragte, ob sich die Herrschaften nicht geirrt -hätten. Die Schenkstube sei rückwärts im Hof. Da sagte -Heinz: „Nein, wir haben uns nicht geirrt, aber Sie scheinen -sich in uns zu irren. Dieser schmutzige Mensch hier -ist mein Bruder. Die Speisekarte, bitte!“</p> - -<p>„Bitte sehr, bitte gleich!“ antwortete der Befrackte und -wußte nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Wart und -Hellwig kannte er. Aber die zwei andern schienen doch -nicht so ganz in das feine Lokal zu passen. Da jedoch die -andern Gäste nicht beleidigt taten, glaubte er es wagen -zu können und winkte dem Speisenträger. Heinz bestellte -Fasan mit Trüffeln und Moselwein. Das imponierte. Die -Gäste aber hielten ihn und Fritz für zwei reiche Müßiggänger, -Hetzbrüder oder Hausherrnsöhnchen, die nach einer -durchzechten Nacht einen Ulk ausführten. Deshalb lächelten -sie gönnerhaft oder blinzelten nachsichtig und wohlwollend -zu ihnen hinüber.</p> - -<p>„Seht sie euch an!“ sagte Karus halblaut. „Seht doch, -wie sie dasitzen, die Herren Hofräte und Hausbesitzer und -Großkaufleute! Und wie sie nicht zu begreifen vermögen, -daß jemandem so eine Tat Bedürfnis sein kann. Oh, -wie gut sie unsern Heinz zu verstehen glauben. Wie gut -sie wissen, daß er, auch nicht anders als sie in ihrer -Jugend, aus Langweile und Übermut mit der Armut seinen -Spaß treibt! Wie sie das verstehen, entschuldigen, verzeihen! -Wüßten sie, daß es ihm ernst damit ist, sie -ließen uns alle vier hinauswerfen!“</p> - -<p>Unterdessen brachte man auf einer silbernen Platte den -Fasan, goldbraun gebraten und würzig duftend. Und der -hungrige Mensch griff gierig nach einem Schenkel, aß -und sprach, nachdem er alles gegessen: „Mich hungert, -gebt mir Wurst!“ Den Wein aber schob er weit von sich: -„Ich trink’ nur Bier!“</p> - -<p>Die Gäste sahen das, lächelten und dachten sich: „So -ein Esel!“</p> - -<p>Heinz aber stand auf: „Komm, mein lieber Bruder!“</p> - -<p>Und sie gingen in die Schenkstube. Dort aß der ausgehungerte -Mensch fünf Knackwürste, trank einen Liter -Bier dazu, wurde fröhlich und bedankte sich. Die umhersitzenden -Kutscher aber, die Dienstmänner und Laufburschen -zeigten auf ihn und meinten: „Seht den Glückspilz an, -er hat heut’ Ostern, Pfingsten und Weihnachten!“</p> - -<p>Heinz drängte jetzt zum Aufbruch. Sie überließen den -Gesättigten seinem Schicksal und machten sich auf den -Heimweg. Keiner sprach. Karus ging Arm in Arm mit -Wart. Fritz schlenderte nebenher und dachte allerlei. Wohinaus -wollten die zwei? Er sah noch immer nicht klar, -erkannte nur, daß sie in ganz anderen Gleisen gingen als -er selbst und daß er ihnen dorthin nicht zu folgen vermochte.</p> - -<p>Jetzt waren sie bei Karus’ Wohnung angelangt. Oben -warfen sie ihre Überkleider auf das Bett, setzten sich, rauchten -und schwiegen eine geraume Weile. Endlich sagte -Fritz aus seinem Sinnen heraus: „Heinz, du gehst in -die Irre! Man füttert solche Leute nicht mit Fasanen!“</p> - -<p>„Wissen wir auch!“ sagte Karus.</p> - -<p>„So? Und trotzdem ...“</p> - -<p>„Jawohl, trotzdem und gerade deswegen! Unzufrieden -muß man sie machen! Ihnen die guten Dinge vorrücken, -die es auf der Welt gibt und von denen sie keine Ahnung -haben. Dann werden sie lüstern. Und das stachelt sie auf -wie die Bremse den Stier!“</p> - -<p>„Nun und?“</p> - -<p>„Nun und dann sind sie eben reif für unsere Gilde.“</p> - -<p>„Euere Gilde? Gehören dazu jene, die lieber im Straßengraben -verrecken, weil sie frei sein wollen?“</p> - -<p>„Und ob die dazu gehören! Unsere braven Jungen, die -lieber verhungern, eh’ sie sich was schenken lassen. Lieber -stehlen, eh’ sie betteln. Weil ...“ — ein spöttisches -Lächeln verkroch sich in Karus’ verwildertem Bart — „weil -ihr bestes Recht ist, daß sie satt zu essen haben. Und weil -sie sich zu keinem Ausgleich hergeben. Ihr Recht wollen -sie, Bergprediger! Und gibt man’s ihnen nicht, so nehmen -sie sich’s — wenn’s not tut mit Gewalt!“</p> - -<p>Hellwig achtete nicht auf den Spott und sagte kalt: -„Mit dem Argument der Fäuste wird nichts zu holen -sein! Klärt lieber die Menschen auf! Und fangt nicht -unten damit an, sondern oben, bei denen, die jetzt die -Macht haben!“</p> - -<p>Da stieß Karus einen Laut aus, halb Lachen, halb Grunzen. -„Bergprediger!“ rief er. „Bergprediger, das ist ein -weiter Weg! So weit, daß die Erde nicht mehr warm ist, -bis er zu Ende gegangen ist. Nein, da lob’ ich mir schon -die Kürze des Eisens. Die soziale Frage — lösen? Hm, -sie ist wie der gordische Knoten. Man löst ihn nicht, -mit dem Schwert muß man ihn zerhauen!“</p> - -<p>Während er so sprach, ging er zum Schrank, nahm -ein kurzes Handbeil heraus und warf es auf den Tisch: -„Da liegt der beste Helfer! Schau’n Sie sich das Ding -gut an. Es hat Tyrannenblut geleckt! Deshalb blinkt und -lacht’s auch so fröhlich. Hei, das war ein Fest! Freilich -ihr — ihr habt Fischblut in den Adern und könnt euch -nicht vorstellen, was das heißt: ein Aufstand in Havanna. -Damals war’s, daß der Gouverneur — der Hund ließ -unter die Rebellen schießen! — mit dieser Hacke ein Verhältnis -einging. So ein richtiges treues Verhältnis, das -nur der Tod trennen kann. Hat er auch getan, schnell und -sicher! — Und seither nehm’ ich das Hämmerchen überall -mit hin. Vielleicht könnt’ ich’s noch einmal brauchen. -Gelt, du?“</p> - -<p>Liebkosend strich er über die blanke Schneide.</p> - -<p>Hellwig hatte sich erhoben, tiefen Ernst im Antlitz.</p> - -<p>„Dessen rühmen Sie sich noch? Vielleicht wollen Sie -gar prahlen mit dem nutzlosen Blutvergießen? Das ist -abscheulich roh!“</p> - -<p>Nun kam Leben in Heinz. „Nutzlos, Fritz? Nutzlos? -O ganz und gar nicht! Sie sind ja reif für das große -Sterben! Weil sie den Keim der Fäulnis in sich tragen! -Wir brauchen heile, gesunde Menschen, kampffrohe, sieghafte! -Und weil wir sie brauchen, müssen wir ihnen den -Boden bereiten und Platz schaffen durch den Untergang der -Kranken!</p> - -<p>Wenn wir allen nur erst den Glauben eingeimpft hätten, -den Glauben an die selbsttätige Befreiung, an die Befreiung -durch die Tat! Aber solang sie sich nur immer -gütlich tun an der Sonne der Erkenntnis, so lang werden -sie nicht an den lachenden Sturm glauben lernen, der -die Sonne überwindet. Die milde weiße Sonne ist gut -für kleine Mädchen und für Greise, wir aber wollen das -Brausen des Sturms, den Kampf der Wogen, das Entstehen -neuer Länder und Meere aus dem Zusammenbruch -der alten. Ewiges Sonnenlicht trocknet das Gebein und -dörrt das Blut in den Adern, das Mark in den Knochen. -Ewiges Müßiggehen mit Lobgesängen des Friedens auf -den Lippen und mit dem beginnenden Verfall im Herzen -macht ungeeignet zum Kämpfen. Wir aber sollen immer -bereit sein zum großen Kampf und die Kraft nicht zersplittern -in kleinen Plänkeleien, nutzlosen Scharmützeln um -Tugend, Moral und um die toten und sterbenden Götter!</p> - -<p>Viel zu lang haben wir Sonne gehabt, so sind wir faul -und lässig geworden. Fechten nur noch mit den spitzigen -Dolchen der Worte und den dünnen Stoßdegen des Geistes. -Aber unsere Arme können das breite Schlachtschwert nicht -mehr heben. Und durch den steten Frieden sind wir geworden -wie ein stehendes Wasser ohne Zufluß und ohne -Abfluß. Auf dem unbewegten Spiegel blühn die weißen -Wasserrosen, aber im schlammigen Grund schlafen die -Keime der Fäulnis. Und so die Keime aufwuchern, werden -wir sein wie ein großer Sumpf, ein Herd aller Krankheiten -und bösen Dünste.</p> - -<p>Darum wollen wir, die wir dies erkennen, wie gute -Ärzte an der Menschheit handeln: zum Heile der Gesunden -wollen wir die Morschen und Siechen, die Bresthaften und -Verderbten ausrotten!“</p> - -<p>„Und was dann?“ rief Hellwig außer sich. „Heinz, -was dann? Wenn der Aufruhr durch die Länder jagt, über -Verwundete und Tote weg, wenn der alte Gesellschaftsbau -zerschmettert liegt — was dann? Wie willst du es besser -machen? Was willst du an die Stelle des Zertrümmerten -setzen? Etwas Großes und Herrliches müßte es sein — -und könnte die Opfer doch nicht aufwiegen!“</p> - -<p>Und kalt und ruhig erwiderte Heinz: „Du fragst verfrüht, -und darauf kann ich dir nur antworten: Ich weiß -es nicht!“</p> - -<p>„O du! du! So weit bist du schon? — Du weißt es -nicht? Und willst doch das Oberste zu unterst kehren, -Thron und Reiche stürzen, willst, daß das Chaos hereinbricht -— und dann — dann stehst du da, ratlos, tatlos, -tappst umher, versuchst, experimentierst — bis du endlich -dem betörten Volk gestehen mußt: Ich kann euch nichts -Besseres geben! Frei hab’ ich euch gemacht, nun helft -euch, wie ihr könnt! Schöne Freiheit das! Mit dem Blute -Hunderttausender erkauft — und weiß dann nichts mit -sich anzufangen! Arzt sein nennst du das? Ich nenne es -morden!“</p> - -<p>Mit einem Fluch sprang Karus da auf. In jähem Zorn -wollte er auf den Beleidiger los. Aber Heinz trat dazwischen -und sagte mit tiefklingender, bewegter Stimme, -die Fritz in allen Fibern erschauern machte:</p> - -<p>„Einen Golddom wollen wir der Freiheit aufführen, -denn Nietzsche hat recht: das Herz der Menschheit ist von -Gold! Aber viel Schlacke hat die Zeit daran abgesetzt. Die -müssen wir erst lösen. Im Feuer der Empörung, in der -Glut des Aufruhrs wollen wir die Menschheit läutern, -alle Unreinheit muß verschwinden, nichts als das blanke -Edelmetall darf übrigbleiben. — Und bist du einmal so -weit, dann greif hinein mit beiden Händen, knete, forme, -bilde, baue — mach’ es dann, wie du willst: immer wird -ein lauteres Goldwerk sein, was unter deinen Händen ersteht! -Darum ist es besser, alles, was krank ist, falle mit -einem Mal, als daß es sich fortschleppe von den Kindern -zu den Kindeskindern und zur ewigen Pein und Pestbeule -werde für die Gesunden!“</p> - -<p>Fritz stand da und hielt die geballten Fäuste vor, als -wollte er diese furchtbare Auffassung von sich stoßen.</p> - -<p>„Heinz!“ sagte er mühsam, unter starken Atemzügen. -„Heinz, du willst die Krankheit deiner Brüder heilen — -und bist selbst einer von den Kränksten. Widersprich mir -nur nicht, es ist so! Das ist ja doch auch ein Zeichen der -Krankheit, daß sie sich selbst nicht erkennt: so glaubt der -Schwindsüchtige bis zum letzten Hauch an seine Gesundheit. -Wer denn gibt dir ein Recht über die andern? Du -kannst das Leben nicht schaffen — so darfst du es auch -nicht vernichten ...“</p> - -<p>Karus unterbrach ihn mit gemachter Roheit: „Predigen -Sie nicht, Bergprediger, uns stimmen Sie nicht um! Und -Sie werden selbst auch anders reden, wenn Sie nur erst -einmal Blut gesehen haben. An nichts gewöhnt man sich -schneller als ans Aderlassen. An das aktive, mein’ ich -nämlich! Versuchen Sie’s nur einmal!“</p> - -<p>Da stürzte Hellwig auf Wart zu, der reglos beim Fenster -saß, die Hände vor dem Gesicht. „Heinz!“ rief er in -heißer Wallung, und packte ihn an den Schultern und rüttelte -ihn. „Heinz, ich bitte dich — um unserer Freundschaft -willen bitte ich dich, mach’ dich von dem da frei!“</p> - -<p>Heinz rührte sich nicht. Eine ganze Weile stand Fritz -noch bei ihm und wartete. Dann wandte er sich traurig, -schritt langsam aus der Stube, mit feuchten Augen.</p> - -<p>„Der Friedensengel verläßt uns! Jetzt <em class="gesperrt">muß</em> Krieg werden!“ -rief ihm Karus lachend nach.</p> - -<div class="section"> -<h3>13.</h3> -</div> - -<p>Im lachenden Sommer starb die Marie. Ein heftiger -Blutsturz, ein kurzes Krankenlager, ein allmähliches Auslöschen -— langsam, unerbittlich und unabwendbar. Ganz -klar war es ihr, daß sie sterben mußte. Lächelnd sprach -sie davon und tröstete lächelnd den Geliebten. Aber dann, -als die Stunde kam, da klammerte sie sich an ihn und -krallte die Nägel in seinen Rock, und in ihren Augen war -Angst und Grauen und Verzweiflung.</p> - -<p>„So hilf mir doch, du!“</p> - -<p>Aber er konnte ihr nicht helfen, er konnte sie nur halten -und hielt sie doch nicht fest, fühlte, während er ihren zitternden -Körper mit beiden Armen enger und enger umschloß, -wie sie ihm entglitt und wie ihr Leben wegfloß -gleich einer Welle unter greifenden Kinderhänden. Und -sein Herz mochte noch so wild an ihre Brust pochen, das ihre -fand den Takt nicht mehr, und endlich stand es ganz still. -Und stand gerade in dem Augenblick still, als der Wille -und Drang zum Leben in ihm am stärksten wurde. Als -er die Tote ganz dicht an sich preßte in dem ungestümen -Wunsch, daß seine ungebrochene Lebenskraft in den erkaltenden -Leib hinüberströme und für sie beide Arbeit tue. -Aber Marie war tot.</p> - -<p>Nach zwei Tagen begrub er sie. Und als der Leichenwagen -zum Friedhof kam, — im schnellen Trab, denn -der Weg war weit, — da erwarteten ihn dort die Ausgestoßenen, -die Enterbten, die Parias, viele, viele hunderte -zerlumpte und verkommene Gestalten. Und als der Sarg -im offenen Grabe stand, da schritten sie, die Ausgestoßenen, -die Enterbten, die Parias, einer hinter dem andern -an der kühlen Grube vorbei. Und jeder hatte eine Handvoll -roter Alpenrosen mitgebracht und warf sie in die -kühle Grube. Der Sarg verschwand unter den glühend -freudigen Blüten, die Grube füllte sich — und als der -letzte vorübergezogen, da lag die tote Marie unter einem -leuchtenden Hügel von roten flammenden Alpenrosen, die -letzte Gabe der Berge, die die Tote so sehr geliebt. Das -war der Dank der Obdachlosen, der Bettler, Lumpensammler -und Kanalstrotter für das bißchen Liebe, die ihnen -Heinz Wart gezeigt. Und er wußte nicht, daß Karus ihnen -die Idee eingegeben hatte. —</p> - -<p>Wenige Tage nach dem Begräbnis erhielt Fritz von -dem Freund einen Brief:</p> - -<p>‚Ich gehe nach Rußland. Forsche nicht nach mir. Es -muß so sein.‘</p> - -<p>Nichts weiter stand auf dem Blatt. Aber Hellwig war -für Wochen aus allen Gleisen.</p> - -<p>Von Osten herüber glühten blutrot die Brände des Aufruhrs. -Eine Verfassung forderte das Volk, Freiheit und -Glück — oder das Grab. Die Antwort war Pulver und -Blei, waren Pferdehufe, Gewehrkolben und Nagaiken.</p> - -<p>Und Heinz eilte mit Karus dorthin, Heinz, der unpraktische -Schwärmer, der stille Büchermensch, der weder -schlaue Seitenwege gebrauchen konnte noch geschickte Rückendeckung, -und Fritz wußte, er ging in den Tod. Nicht -suchen wollte er den Tod. Denn mit der Marie war ihm -ja nicht alles gestorben. Die Liebe zu den Entrechteten -und Zertretenen war ihm geblieben und war jetzt nur -desto heißer geworden. Nicht ans Sterben dachte er. Mithelfen -wollte er, mithelfen und mitstreiten, allen Gefahren -trotzend, in frommer Begeisterung dort mithelfen -und mitstreiten, wo ihm sein Ziel am hellsten und am -nächsten leuchtete.</p> - -<p>Und Hellwig machte sich Vorwürfe, daß er den Freund -nicht besser behütet hatte. Wieder wollte eine böse Krisis -über ihn kommen. Aber die Ereignisse, die jetzt, lang -vorbereitet, Schlag auf Schlag einander folgten, rissen -ihn mit in ihren wirbelnden Strudel und ließen ihm vorerst -keine Zeit zur Grübelei.</p> - -<p>Als jenseit der Nordostgrenzen des Reiches die Rebellion -in vollem Wüten war, da hielten die Sozialisten die Gelegenheit -für günstig und holten im Kampf für das allgemeine -Wahlrecht zu wuchtigen Schlägen aus.</p> - -<p>Und da geschah es auch, daß die Teilnehmer einer Versammlung, -in der August Mark, ein stimmgewaltiger Agitator, -die Masseninstinkte aufgewühlt hatte, vor das Palais -des Ministerpräsidenten ziehen und demonstrieren wollten. -Sicherheitswache zu Fuß und zu Pferd versperrte ihnen -den Weg. Hellwig, von dem Vorhaben der Menge telephonisch -benachrichtigt, eilte aus der nahen Schriftleitung -rasch herbei. Es war höchste Zeit. Schon waren die Säbel -aus der Scheide geflogen, fielen die flachen Klingen auf -Köpfe, Schultern und Arme. Schreiend wichen die vorderen -Reihen, die rückwärtigen, weniger gefährdeten, drängten -nach vorn, ein dampfender Knäuel, stießen sie sich, -johlten und brüllten. Und schon auch hoben sich geballte -Fäuste, schlugen Stöcke, prasselten Steine gegen die Polizei. -Da drehten sich die Klingen, aus den flachen Hieben -wurden scharfe, Schmerzensschreie gellten, Blutende wankten -gegen die Häuser, fielen aufs Pflaster hin.</p> - -<p>„Einhalten!“ rief Hellwig mit voller Lungenkraft und -schob sich durch das Getümmel. „Einhalten!“</p> - -<p>Er packte den Arm eines berittenen Schutzmanns. Das -Pferd wurde unruhig und bäumte sich. Doch er hielt fest. -„Nicht morden!“ preßte er zwischen den Zähnen hervor. -Seine Linke griff nach dem Bein des Reiters, im Handumdrehen -lag dieser zappelnd auf dem Boden.</p> - -<p>Da fielen aber auch schon drei — sechs — zehn Wachleute -über Hellwig her, griffen nach seinen Armen, zerrten -ihn am Rock, stießen ihn von allen Seiten. Und einer -packte ihn im Genick und schrie: „Im Namen des Gesetzes! -Sie sind verhaftet!“</p> - -<p>Als das die Leute hörten und als sie sahen, wie hart -einem ihrer besten Führer mitgespielt wurde, flammte die -durch den kurzen Raufhandel angefachte Leidenschaft turmhoch -empor. Ein Wald von starren, im Sturm zitternden -Ruten, hoben sich Hunderte von Stöcken über die dunkle -Masse der Hüte und Schultern, ein kurzer wilder Aufschrei -krachte gegen die nachtdunkle Himmelskuppel. Dann war -der Kordon durchbrochen, Brust an Brust, Faust gegen -Faust rangen sie mit den Hütern der Ordnung um ihr -vermeintliches Recht.</p> - -<p>Los und ledig stand Hellwig mitten im heißesten Gewühl. -Und schämte sich. Schämte sich, daß er sich hatte -hinreißen lassen, daß er, der gekommen war, die Menge -zu beruhigen, ohne Überlegung selbst als der tollste Stürmer -losgebrochen war. Und eine Weile stand er ganz untätig, -mit schlaff hängenden Armen. Aber als ihm ein -Verwegener frohlockend entgegenrief: „Drauf! Drauf! -Heut’ zwingen wir sie!“, da richtete er sich straff auf.</p> - -<p>„Halt!“ schrie er, und seine Stimme war wie klingender -Stahl. „Halt!“</p> - -<p>Und als sie stutzten und einander zur Ruhe verwiesen -in der Erwartung einer Rede, da schob sich die Wache, -durch Hilfstruppen verstärkt, rasch in das Gewimmel. Die -aufgeregte Menge wollte es nicht leiden — drängte abermals -vor — doch Hellwig rief mit beschwörend erhobenen -Händen: „Leute, ich bitt’ euch, bleibt besonnen! Zeigt, -daß ihr ernste Männer, daß ihr reif für das Wahlrecht -seid! Geht ruhig nach Haus!“</p> - -<p>Noch zögerten sie. Da stimmte er das Lied der Arbeit -an. Und mit einemmal wichen sie zurück und ihre Gesichter -wurden ernst und feierlich — und einer nach dem -andern stimmte ein, bis es aus tausend Kehlen dröhnend -klang: „Die Arbeit hoch!“ Und alle ihre erhitzte Leidenschaft -strömte aus in dem Lied — und willig folgten sie, -immer singend, den Anordnungen der Wachleute, die langsam, -Schritt für Schritt vorrückend, die Straße absperrten. -—</p> - -<p>Ein paar Tage darauf wurde Hellwig vor den Untersuchungsrichter -geladen. Er war der Aufreizung und -öffentlichen Gewalttätigkeit angeklagt. Das Urteil lautete -auf zehn Monate Kerker.</p> - -<div class="section"> -<h3>14.</h3> -</div> - -<p>In St. Petersburg. Langsam fährt die Prunkkalesche -des Ministerpräsidenten durch die Straßen. Kosaken begleiten -sie, bis an die Zähne bewaffnet. In einer düsteren -Seitengasse harren zwei Männer. Der eine ist blaß und -schlank, seidiges Schwarzhaar fällt ihm bis auf die Schultern. -Dem andern steht das blaue Hemd vor der Brust -offen.</p> - -<p>Langsam rollt die Kutsche heran.</p> - -<p>Da hebt der im blauen Hemd den Arm. Ein länglicher -Körper schwirrt durch die Luft, schlägt auf dem Pflaster -hart auf. Ein dumpfes Gekrach. Rauchwolken. Schmerzensschreie. -Tumult. Die Pferde bäumen sich, rasen die -leer gewordene Straße hinab. Sie ziehen keinen Wagen -mehr. Die Trümmer des Wagens sind in alle Winde -verstreut.</p> - -<p>Ein Bombenattentat. Der Ministerpräsident ist tot. -Viele seiner Gehilfen liegen im Blut. Von den Tätern -fehlt jede Spur.</p> - -<p class="center" style="margin-top:1.5em;margin-bottom:1.5em;line-height:0.5em"> -<span style="margin-right:6em;">*</span>* -<br /> -* -</p> - -<p>In Moskau. Der Chef der Polizei lustwandelt in seinem -großen Garten. Es ist ein schöner Tag. Die Bäume sind -grün, die Vögel singen. Der Polizeichef lächelt. Die Stadt -ist ruhig, der Aufstand vorüber. Ein paar Dutzend sind -aufgeknüpft, ein paar Salven haben das Volk zur guten -Gesinnung zurückgebracht. Die Gefängnisse sind überfüllt. -Aber die Stadt ist ruhig. Der Polizeichef hat alle Ursache, -zufrieden zu sein.</p> - -<p>Ein schlanker Mann in der Uniform eines Polizeileutnants -kommt rasch den Kiesweg herauf. Er ist blaß und -hat langes schwarzes Haar. In strammer Haltung steht -er vor dem Gewaltigen, die Hand am Mützenschirm.</p> - -<p>„Was gibt’s?“ fragt dieser.</p> - -<p>„Das hier!“</p> - -<p>Schnell fährt die Rechte zwischen die Knöpfe des Waffenrocks. -Ein Schuß verhallt im Park. Ein paar Vögel -flattern erschreckt auf. Die andern singen weiter.</p> - -<p>Der blasse Mensch verläßt ruhig den Garten. Niemand -hält ihn auf. Er kommt vom Rapport.</p> - -<p class="center" style="margin-top:1.5em;margin-bottom:1.5em;line-height:0.5em"> -<span style="margin-right:6em;">*</span>* -<br /> -* -</p> - -<p>In Odessa. Auf dem Dachboden eines Hauses kauert -ein Mann in gespannter Erwartung. Er ist von untersetzter -Gestalt, hat einen verwilderten Bart und tranige -Stiefel. In der Rechten hält er ein doppelläufiges Gewehr. -Starr äugt er durch die Dachluke hinab in den -Gefängnishof jenseit der Straße, der von niedrigeren alten -Gebäuden umschlossen ist. Der Gefängnishof ist nicht leer. -Ein Galgen ragt dort in die stille Morgenluft. Der Henker -macht die Schlinge zurecht. Es schlägt sechs Uhr. Trommelwirbel -grollt auf. Die Tür in den Hof öffnet sich. -Der Verurteilte wird herausgeführt. Er ist schlank und -blaß, das Haar ist abgeschoren, der Hals entblößt.</p> - -<p>Einen Augenblick arbeitet es heftig im Gesicht des Wartenden. -Ein kurzes Schluchzen erschüttert ihn. Aber er -beißt die Zähne in die Unterlippe, hebt die Flinte. Sein -Arm zittert. Nur einige Sekunden. Dann ist er ganz -ruhig.</p> - -<p>Die erste Kugel bewahrt den Freund vor einem schimpflichen -Tod. Die zweite gilt dem Leiter der Hinrichtung. -Auch sie geht nicht fehl.</p> - -<p>Unten entsteht eine Panik. „Man hat geschossen! Die -Juden haben geschossen!“ schreit einer. Und das ist das -Signal zum Gemetzel.</p> - -<p>Wie losgelassene Bestien stürmen die Kosaken in die -Häuser, erschlagen die Männer, hauen die Kinder in Stücke, -vergewaltigen die jungen Judenweiber. Ein Pogrom.</p> - -<p>Der Mann auf dem Dachboden hat sich durch die Luke -gezwängt, flieht über mehrere Dächer, entkommt unbehelligt.</p> - -<p>Vor der Stadt, in einem Dickicht, sitzt er, hat das Gesicht -in die Hände vergraben, weint, stöhnt und winselt. -Es ist Nacht geworden. Da erhebt er sich und trottet mit -tief hängendem Kopf durch die weiten, öden Steppenflächen -gegen Norden. Unter dem Lodenrock klirrt manchmal -ganz leise ein Beil gegen die Gürtelschnalle.</p> - -<div class="section"> -<h3>15.</h3> -</div> - -<p>Im Gefängnis erfuhr Fritz den Tod seines Freundes -Heinz Wart. Die näheren Umstände blieben ihm unbekannt. -Die wußten nur jene, die dabei gewesen. Und die -verrieten nichts.</p> - -<p>Trotzdem er das tragische Geschick des Freundes vorausgesehen, -brachte es ihn jetzt, da es sich erfüllt hatte, doch -um allen Lebensmut.</p> - -<p>Zwischen den grauen Wänden der Kerkerzelle saß er -reglos auf der Pritsche, die Ellbogen auf die Schenkel -gelegt, und starrte in den schmutzigen Bretterboden. Schaben -krochen ihm über die Füße, eine Maus steckte den -spitzigen Kopf aus ihrem Loch und piepte. Er achtete nicht -darauf, rührte sich nicht und hob auch nicht die Stirn, -wenn der Aufseher den Schieber vom vergitterten Guckloch -zurückschob und den schweigsamen Häftling mit kritischen -Blicken beobachtete. Und in den Nächten lag er -schlaflos, stierte mit brennenden Augen in die Finsternis, -fühlte, wie die Einsamkeit ihn würgte. So trieb er es -wochenlang, ließ die Tage vorübergehen und zählte sie -nicht, wußte nicht die Stunden, die da neben ihm wegtropften, -wußte nicht, ob die Sonne schien, ob Regen fiel -oder Schnee über der Erde lag und die Zeit war wie -eine große grenzenlose Wüste. Kolben kam und wollte -mit ihm sprechen. Er weigerte die Unterredung, antwortete -auch dem Kerkermeister nicht, aß kaum das Notwendigste, -dachte an nichts und empfand weder Schmerz noch Sehnsucht -— nur Leere, entsetzliche Leere. So lebte er hin, -und es war eigentlich nicht Leben, war nur ein triebhaftes -Hinvegetieren in einer halben Betäubung.</p> - -<p>Allmählich aber, im Wandern der Monate, unter dem -Einwirken der Stille, der klingenden Ruhe um ihn her, -löste sich doch endlich die starre Spannung. Die Stumpfheit -wich. Unablässig bohrend, heftig und heftiger setzte -das quälende Gedenken wieder ein, daß der Freund gestorben -und daß dieses Sterben zwecklos gewesen sei.</p> - -<p>Wie konnte das möglich werden? Wo lag die Ursache -dieser stets wiederkehrenden Erscheinung, daß Tausende -und Tausende immer aufs neue ihr Leben in die Schanze -schlagen mußten im unstillbaren Drang, den Millionen -zu helfen, die von wenigen Machthabern kaltblütig und -grausam niedergehalten wurden? Drüben in Rußland -bluteten die Massen, wurden von Soldatenhorden niedergeritten, -gefoltert, zusammengehauen, reihenweise erschossen. -Hüben jubelten sie dem errungenen Wahlrecht zu, priesen -sich glücklich, jauchzten im Siegestaumel. Hier wie dort -hing die Erfüllung ihres Wunsches an einem Federzug des -Herrschers. Und der eine verweigerte ebenso kalt und starr, -was der andere gütig gewährte. Wo war das Recht? -Nach welcher Formel konnte die Willkür des einen gerechtfertigt -und die Gnade des andern auf eine gesetzmäßige -Grundlage gebracht werden? Durfte es überhaupt -Willkür und Gnade geben? Wo war Sinn und Logik in -diesem Widerstreit? Und wer trug die Schuld, daß Männer -wie Karus nicht nur möglich waren, sondern im -Recht? Zum mindesten so weit im Recht, daß sie so gut -wie er und andere als Bekämpfer einer Krankheit auftreten -und <em class="gesperrt">ihre</em> Mittel als die einzig sicheren rühmen -konnten? Wo lag überhaupt der Herd dieser Krankheit? -Woher das Elend, die Armut, die ewige Unzufriedenheit? -Und mußte denn das immer und ewig so bleiben?</p> - -<p>Die Lehren Proudhons kamen ihm in den Sinn, die -Versuche Robert Owens, und trotz ihres Mißlingens glaubte -er hier eine Spur zu finden.</p> - -<p>Wenn man den Kommunismus mit der bestehenden -Ordnung verknüpfen könnte ... Etwa so, daß je ein -Unternehmen allen dabei Beschäftigten gemeinsam gehörte, -die Gewinnanteile aber verschieden wären je nach dem -Maß der Arbeitsleistung ...</p> - -<p>Immer tiefer wühlte er sich in diese Gedanken hinein. -Und je mehr er grübelte, desto möglicher und erreichbarer -schien ihm eine solche Lösung. Heller wurde die Fernsicht, -näher rückte das Ziel. Und endlich stand es vor ihm, zum -Greifen nah, in scharfer Klarheit. So mußte es gehen. -Und da überkam es ihn mit schöner Zuversicht: Sprich -es aus, sag’ es getrost aller Welt! Sie müssen dich hören.</p> - -<p>Ein wunderbares Kraftgefühl durchströmte ihn. Lebendig -pochten alle Pulse, alle Gedanken drängten sich und schossen -zusammen wie Kristalle in einer übersättigten Lösung. -Und während Woche um Woche verrann, Monat an Monat -sich reihte, arbeitete in der kahlen Kerkerzelle rastlos -sein Geist, trug Block zu Block und Stein zu Stein. Lückenlos -fügte sich alles, wurde groß und wuchs empor zu -einem gewaltigen Bau, der ein Totenmal werden sollte -für den Freund und eine Vorhalle zum künftigen Tempel -der neuen Werte.</p> - -<hr class="chap" /> -<div class="chapter"> -<h2><a name="Viertes_Buch" id="Viertes_Buch">Viertes Buch</a></h2> -</div> - -<h3>1.</h3> - -<p class="drop-cap">Während Hellwig im Gefängnis saß, war das allgemeine -Wahlrecht Gesetz geworden. Otto Pichler erntete -wiederum, wo Fritz die Aussaat besorgt hatte. Er -wurde im Wahlbezirk der Bergleute zum Abgeordneten gewählt. -Mühelos wie alles war ihm auch das geglückt. -Trotzdem er bisher weder in einer ernsten Lage sich bewährt, -noch auf besondere Erfolge hinzuweisen hatte, vertrauten -sie ihm, da sie sich daran gewöhnt hatten, dem -Nachfolger als Verdienst anzurechnen, was der Vorgänger -erkämpfte: den ruhigen Verlauf der Zeit in Zufriedenheit -und Ordnung bei reichlicherem Erwerb und kürzerer -Arbeitsdauer.</p> - -<p>So kam Otto in die Hauptstadt, hielt eine Jungfernrede -voll geistreicher Wendungen und glänzender Nichtigkeiten, -sprach dann noch ein paarmal bei wichtigen Anlässen -und befragte die Minister, so oft es seine Wähler -verlangten. Damit glaubte er fürs erste genug getan zu -haben und machte sich nun daran, das Leben auch einmal -mit einem Geldbeutel zu genießen, den die Bezüge angenehm -schwellten.</p> - -<p>Bei den Kabaretten und Wintergärten fing er an, gewann -hier Fühlung mit Kunstbeflissenen, die dekadent -und kraftlos ihre Ohnmacht hinter Stimmungen zu verbergen -und ihre Unfruchtbarkeit durch Anregungen zu heilen -suchten. Diese Leute benutzte er, um sich Zutritt zu den -Firnistagen der Ausstellungen zu verschaffen, schloß hier -neue Bekanntschaften, knüpfte die mannigfaltigsten Beziehungen -an und war bald in die Gesellschaft eingeführt. -Zwar hütete er sich noch, mit Großkapitalisten und Geldmännern -öffentlich zu verkehren. Aber als er Deming im -Theater traf, verbeugte er sich doch vor ihm und hatte -die Genugtuung, daß der kaiserliche Rat, der mit seiner -Tochter den Winter in der Hauptstadt zubrachte, ihn wie -einen Bekannten begrüßte und sich leutselig nach seiner dermaligen -Tätigkeit erkundigte.</p> - -<p>Ein paar Tage später erhielt er die Einladung zum -Empfangsabend des Direktors. Er schwankte lang, ob er -hingehen sollte. Endlich tat er es doch. Gretes junge Schönheit -lockte zu stark.</p> - -<p>Der gewichtige Mann kam ihm freundlich entgegen, -klopfte ihn wohlwollend auf die Achsel und sagte, daß es -ihn sehr freue, den Doktor Pichler, dessen glänzend und -geistvoll geschriebene Abhandlungen er stets mit Vergnügen -lese, bei sich begrüßen zu können. Der Doktor gelte zwar -für einen Freigeist und Feind der bürgerlichen Gesellschaft, -aber das tue gar nichts. Denn in seinem Hause komme -es nur auf den Menschen an, nicht auf die Gesinnung.</p> - -<p>Otto verneigte sich geschmeichelt und wurde den Gästen -vorgestellt: Exzellenzen, Baronen, reichen Kaufherren. Er, -Doktor Otto Pichler, kam sich ordentlich klein vor neben -so viel Geld und Titel und Würden.</p> - -<p>Und Grete, die in ihrem weißen Seidenkleid wie ein -schöner Sommertag leuchtete, war voller Huld und Gnade. -Er durfte sie zu Tisch führen, eine Auszeichnung, um -die ihn viele beneideten und die sogar er, Doktor Otto -Pichler, Feuilletonist, Schriftleiter und Abgeordneter, sogar -er sich nicht recht erklären konnte. Woher auch hätte -er wissen sollen, daß es im Kampfe gegen die Demokraten -der geheime Feldzugsplan Demings war, ihnen die -besten und fähigsten Führer zu ködern und abspenstig zu -machen?</p> - -<p>Grete verstand zu plaudern. Sie hatte alles gelesen, -alles gesehen, was gerade Mode war, sprach mit der -größten Sicherheit darüber, und ihr Tischnachbar war der -letzte, der ihr die oberflächliche Dreistigkeit übelnahm, mit -der sie über die verwickeltsten Probleme, die schwierigsten -Fragen und über die besten Männer der Zeit ihr Urteil -abgab. Er tat’s ja auch nicht anders. An jenem Abend -aber kam er gar nicht dazu, das volle Feuerwerk seines -beweglichen Geistes sprühen zu lassen. Die vornehm gedämpfte -Üppigkeit der Umgebung, das ausgesucht feine -Essen, die erlesenen Weine und echten Importzigarren, -das Schimmern entblößter Schultern und milchweißer -Nacken im hellsten Lichterglanz: das alles war ihm ungewohnt, -in ein schönes Zauberland glaubte er hineinzuschauen, -nur wie aus weiter Ferne drang das Schwirren -der Unterhaltung an sein Ohr. Und es wurde ihm, als -glitten unsichtbare weiche weiße Frauenhände über die zartesten -Saiten seiner Seele und ließen sie erklingen in sinnverwirrender, -unsäglich süßer Musik.</p> - -<p>Und als er spät nachts seiner Wohnung zuschritt, da -war etwas wie Neid in ihm. Neid gegen jene, die der -Sorgen um des Lebens Notdurft überhoben, nach Lust -und Laune ihrer Neigungen leben und die Erde zum Paradies -sich wandeln konnten.</p> - -<p>Seither verkehrte er oft bei Deming. Aber er erzählte -seinen Parteigenossen nichts davon.</p> - -<div class="section"> -<h3>2.</h3> -</div> - -<p>Es war in den letzten Tagen des Mai, als Hellwig -aus der Strafanstalt in die Hauptstadt zurückkehrte. Dort -hielt er sich jedoch nur gerade so lang auf, als er benötigte, -um den Rucksack zu packen und sich einen einjährigen -Urlaub zu erwirken. Innerhalb dieser Zeit hoffte -er mit seinem Werke fertig zu werden. Über Plan, Aufbau -und Einteilung war er sich klar, brauchte nun für die -Ausführung ganz freie Bahn. Seine Ersparnisse ermöglichten -ihm die Unterbrechung.</p> - -<p>Als er dann noch die Wohnung gekündigt und seine -Habseligkeiten nach Neuberg vorausgesendet hatte, machte -er sich ungesäumt auf die Wanderung. Er wollte den Weg -in die Heimat zu Fuß zurücklegen. Denn wie ein Rausch -hatte es ihn angepackt, als er nach der langen Haft wieder -Felder erblickte, grüne Fluren, Wälder, Berge, die runde -hohe Himmelsglocke über der blumigen Erde.</p> - -<p>Auf einsamen Steigen und Fußwegen ging er, ging -über die Kämme und durch die engen Gebirgstäler Oberösterreichs -zum Böhmerwald hinüber und durch die düsteren, -waldreichen Gebirgsmassen nordwärts, ließ sich die -Sonne ins Gesicht scheinen, den Wind um die Ohren blasen, -vom Regen die Stirn kühlen und ging nur immerzu, -atmete, schaute und drängte sich an die Brust der Erde -wie ein hungriges Kind. Selten nur machte er in einem -Wirtshaus Rast, übernachtete oft im Freien. Bei schlechtem -Wetter bat er in Dörfern oder Einschichten um Unterkunft, -mit den Bauern teilte er Roggenbrot und Milch.</p> - -<p>Zehn Tage wanderte er so durch den werdenden Sommer. -Seine Wangen wurden rot, sein Gesicht vom Wetter -gebräunt. Der Stickluft des Kerkers entronnen, dehnten -sich die Lungen, badete sich der Körper in dem herben -Ozon, wurde leicht und frisch und aller Mühsal ledig, -wie ein junger Krieger, der sich zu frohem Kampfe rüstet.</p> - -<p>Und am elften Tag, da schritt er mit dem erwachenden -Morgen seiner Vaterstadt zu. Die Sonnenpfeile hatten -Wunden geöffnet im Leib der Nacht, und sie verblutete -langsam. Langsam stieg die Sonne herauf, und über den -Hügeln war ein Leuchten wie rotes Gold. Der Morgenwind -hatte schon ausgeschlafen, weckte die Waldsänger und -läutete mit allen Blütenglocken. Tautropfen hingen an -den Blättern, die Lerchen flogen jubelnd der Sonne entgegen, -und eine große Frische war überall. Und die Sonne -stieg höher und höher.</p> - -<p>Mit einem wilden Schrei breitete er beide Arme aus, -weit, weit —</p> - -<p>Vor ihm, tief unten im Tal, lag seine Vaterstadt. Der -schlanke Kirchturm mit dem eisernen Kreuz, die roten -Ziegeldächer, in grüne Gärten eingebettet, von runden Obstbäumen -bewacht, umdrängt von gelben Ährenfeldern, die -dem Herbst entgegenreiften an der treuen Mutterbrust. -Zwischen Weiden und Erlen schlang der Fluß sein stahlglänzendes -Band durch die Wiesen und unter Mühlenrädern -fort. Und die Mühlenräder drehten sich und rollten, -und von ihren Schaufeln fiel ein funkelnder Regen von -Edelsteinen.</p> - -<p>Unter dem breit schattenden Blätterdach der hohen Linde, -die, ein Wahrzeichen seit Jahrhunderten, auf dem Hügel -stand, ruhte der Heimgekehrte und blickte in das leuchtende -Tal hinab, wo tausend Erinnerungen mit frohen Augen -ihm entgegen schauten, mit weißen Kinderhänden winkten, -die Arme verlangend nach ihm streckten. Und seine Jugend -kam leise zu ihm her, legte das blonde Haupt in seinen -Schoß und lächelte ihm zu. Und ruhiger schlug ihm das aufgeregte -Herz, sachter wurde die Freude. Eine sanfte Wehmut -klang hinein, unbestimmt, fernher, wie ein weicher -Mollakkord. Und ein wunschlos träumendes Gefühl des -Geborgenseins umfaßte ganz warm seine Seele, und sie -ruhte darin und bebte wie ein aus dem Nest gefallener -Vogel zwischen zwei helfenden Menschenhänden.</p> - -<p>Lang saß er so mit gelösten Gliedern und schaute und -konnte sich nicht satt sehen an der ruhevollen Schönheit -seiner Heimat. Über dem blühenden Wipfel hing der Himmel -hell und unbewegt wie ein seidenes Fahnentuch und -leise summten die Bienen ihr süßes Lied.</p> - -<p>Und nach den starken Fußmärschen der letzten Tage, -dem kurzen Schlaf auf unbequemen Lagern, den Aufregungen -der Stunde forderte der Körper sein Recht. -Wohliges Ermatten wiegte ihn ein, die Lider wurden ihm -schwer. Er streckte sich lang aus im leicht bewegten Gras, -sah durch das helle Wipfelgrün in den blauen Himmel -hinein und ließ sich willenlos hinübertragen in das uferlose -Meer der Träume.</p> - -<p>Ihm träumte:</p> - -<p>Er ging mit Heinz durch einen großen Wald. Der war -ausgetrocknet vom Sonnenbrand, und die Zittergräser auf -seinem Grunde waren fahl und dürr. Aber die Vögel -sangen in seinen Kronen, und unter den Zittergräsern -blühten die Blumen. Eine große Schönheit war in diesem -Walde, die sonnenheiße Schönheit des reifen Sommers.</p> - -<p>Und Heinz sprach: „Wie groß muß erst deine Schönheit -sein, du warmer Wald, wenn alle Flammen, die in -deinen Stämmen und Gräsern schlummern, mit eins erwachen -und emporschlagen in lohender Glut. Wohlan, du -warmer Wald! Ich will deine Flammen wecken! Ich will -dein Herold sein, dein Befreier und Erlöser!“</p> - -<p>Und sie trugen Äste zusammen und dürre Reiser.</p> - -<p>Die zündeten sie an.</p> - -<p>Bläulich fahl leuchteten Flämmchen auf mit leisem Knistern, -verschwanden wieder, tauchten abermals auf, größer, -lauter knatternd.</p> - -<p>Und weiter und weiter liefen die Flammen.</p> - -<p>Und jetzt, wie ein goldrotes Eichhörnchen, sprang ein -Flämmlein hinan am honigfarbenen Kiefernstamm.</p> - -<p>Und da, und dort — lauter goldrote Eichhörnchen.</p> - -<p>Die wuchsen und wuchsen, wurden zu gelben, fauchenden -Katzen, samtroten grollenden Leoparden — und jetzt -waren es riesige, goldhelle Löwen.</p> - -<p>Und die riesigen Löwen begannen ein Ringen und Balgen, -zerfleischten, verschlangen einander in rasender Wut. -Und die Sieger wurden größer und größer.</p> - -<p>Und ein Sausen kam von fern, dumpf und hohl, wie -nahender Sturm.</p> - -<p>Und ein Sturm brach herein und peitschte die Flammen -mit heulender Wucht. Vor, hinter, neben ihnen lohten -sie, stiegen sie, schlugen mit gierigen Pranken zum -Himmel, verrankten und verwoben sich zu glühenden Wänden, -wehten wie leuchtende Flaggentücher, vereinigten sich, -himmelan steigend, hoch, hoch oben zu einer einzigen Kuppel -von blendendem Glanz. Und eine kochende Hitze war -überall.</p> - -<p>Sie aber, die beiden schwachen Menschenkinder, standen -in diesem weiten Feuerdom, standen darin und fürchteten -sich. Fürchteten sich vor der entfesselten Schönheit des -Waldes, die sie selbst geweckt hatten. Wollten fliehen und -fanden keinen Ausweg.</p> - -<p>Enger drängten die Flammenwände herzu, tiefer sank -die gewaltige Kuppel.</p> - -<p>Und jetzt schlug’s zusammen mit Heulen und Sausen.</p> - -<p>Ein Prasseln, Krachen, Brüllen und Funkenstieben.</p> - -<p>Und eine Stimme scholl durch das Getöse wie hohnlachender -Donner:</p> - -<p>„Lernt eure Leidenschaften zügeln und euer Wollen! -Euer Wollen war groß — seht zu, ob ihr auch tragen -könnt, was ihr gewollt habt!“</p> - -<p>Und die Flammen brachen nieder und begruben sie unter -ihrem heißen goldenen Mantel. — — —</p> - -<p>Fritz erwachte verstört und erschreckt.</p> - -<p>Die Sonne stand im Mittag, vor ihm lagen die roten -Giebeldächer, und leise summten im blühenden Lindenwipfel -die Bienen immerzu ihr süßes Lied.</p> - -<p>Aber aus der Landschaft war aller Glanz genommen. -Die Freude war tot, die Erinnerungen winkten und die -Jugend lächelte nicht mehr.</p> - -<p>Traurig und schwer wurde ihm ums Herz. Und doch -war eigentlich nicht der Traum daran schuld, sondern der -wieder aufgeweckte Gedanke, daß er nun bald der Mutter -des toten Freundes werde gegenübertreten müssen. Er -dachte an jenen Abend, da sie mit rauschenden Gewändern -im Regen neben ihm hergegangen war und dem kranken -Kinde einen starken Freund zu werben geglaubt hatte. -Alles hatte sie von dieser Freundschaft erhofft — und war -nun um alles gekommen.</p> - -<p>Und das Haus dort unten stand unverändert da und -deckte mit seinen steinernen Mauern gleichmütig das Leid -wie einst die Fröhlichkeit zu.</p> - -<p>Noch kein Gang war ihm so schwer geworden. Aber -er mußte gegangen werden. Langsam stand er auf, schritt -langsam über die Lehne ins Tal.</p> - -<p>Jetzt stand er vor dem alten Haus, trat ein und wunderte -sich, daß der Flur so geräumig und still, der Hof -so öde war. Kein Pferdegewieher, kein Aufladerlärm. Nur -ein paar Kisten lagen einsam, wie vergessen da.</p> - -<p>Mit geschnürtem Atem stieg er die Treppe empor, fand -die Tür zum Vorzimmer offen, ging hinein. Er nahm -den Rucksack vom Rücken, hing Hut und Wanderstecken -an den Kleiderständer, klopfte an die Tür der Wohnstube.</p> - -<p>„Herein!“ sagte eine weiche Stimme. Eva stand vor -ihm, schlank und blaß, in schwarzen Gewändern.</p> - -<p>„Fritz!“ sprach sie leise, kam auf ihn zu und legte -ihm die Arme um den Hals. „Wie gut, daß du kommst!“</p> - -<p>Wie etwas Selbstverständliches tat sie das, — so, als -setzte sie nur ein begonnenes Träumen fort.</p> - -<p>Unsicher schaute er auf den blonden Scheitel und wagte -kaum zu atmen.</p> - -<p>„Ist das wahr?“ fragte er endlich schwer.</p> - -<p>Da schrak sie auf, ward sich ihres Tuns erst bewußt. -Heftig nahm sie die Arme von seinem Nacken.</p> - -<p>Doch er hielt sie fest.</p> - -<p>„Nein, Eva, du gehörst schon hierher!“ sagte er mit -tiefem Ernst. Und das war wie ein Gelöbnis.</p> - -<p>Sie wehrte ihm nicht.</p> - -<p>„Ich hab’ dich ja schon lange so lieb!“ stammelte sie -wie zur Entschuldigung und schmiegte sich erschauernd fest -an ihn.</p> - -<p>Da nahm er ihren Kopf zwischen seine beiden Hände, -schaute ihr in die feuchten Augen.</p> - -<p>„Dank! Dank! Nun wird sich’s leichter tragen.“</p> - -<p>Dann war lange Schweigen.</p> - -<p>Endlich richtete er sich mit einem Ruck straff auf. Sein -Blick verdüsterte sich.</p> - -<p>„Komm zur Mutter!“ sagte er.</p> - -<p>Sie blickte ihn ängstlich an und fürchtete sich beinah -vor seiner finsteren Stirn.</p> - -<p>„Komm!“ Sie führte ihn die Treppe hinauf zum Dachzimmer.</p> - -<p>„Willst du mich nicht anmelden?“</p> - -<p>„Wozu? Mutter weiß, daß du kommen wirst, erwartet -dich schon seit Tagen.“</p> - -<p>Da legte er die Hand auf die Klinke und stieß die -Tür auf.</p> - -<p>Frau Hedwig saß beim Schreibtisch ihres toten Sohnes, -mit dem Sichten von Briefen und Papieren beschäftigt. -Auf ihren Haaren lag ein Schimmer wie von grauer Asche, -und in das gütige Antlitz war ein müder Zug gekommen.</p> - -<p>Eva schob sich an Fritz vorüber rasch ins Zimmer.</p> - -<p>„Er ist da!“ sagte sie und schaute die Mutter mit bittenden -Augen an. Die hatte sich schon erhoben, ging auf -ihn zu: „Willkommen.“</p> - -<p>Sie hielt ihm die Hand hin. Er aber nahm sie nicht.</p> - -<p>„Ich komm’ allein!“ murmelte er mit aufeinanderliegenden -Zähnen.</p> - -<p>Da legte sie ihm mit einem warmen Blick die verschmähte -Rechte auf den Arm: „Machen Sie es sich und uns doch -nicht gar so schwer!“</p> - -<p>„Nicht so gut sein ...“ Das klang rauh, wie ersticktes -Schluchzen.</p> - -<p>„Fritz!“ sprach nun die Frau herzlich und war ganz -nahe bei ihm. „Das dürfen Sie nicht glauben, Fritz. -Nein, das nicht ... Unser Heinz, der — hat wohl so -sterben müssen. Hat sich für seinen Glauben geopfert -und über den Tod mehr gefreut als je im Leben. Drum -— es wird wohl das beste Gedenken für ihn sein, wenn -wir ihn so verstehen und auf niemanden einen Stein werfen. -Auch auf uns selbst nicht, Fritz! Keiner hat schuld -an seinem Tod — nicht einmal er selbst. Er hat nur — -das allerbeste Glück kennenlernen wollen — und gern -ein Leben dafür weggeworfen, das sich anders nicht mehr -hat erfüllen können ...“</p> - -<p>Ihre Stimme zitterte, aber um den Mund lag etwas -wie der Abglanz eines mutigen Lächelns. Und wieder hatte -sie den rechten Weg zum Herzen des schwerblütigen Menschen -gefunden.</p> - -<p>„Es wird schon so sein, Frau Wart,“ sprach er klanglos -vor sich hin und stand noch wie geistesabwesend da. -Dann aber, im Überquellen einer starken Empfindung, -haschte er nach ihren Händen. „Meine zweite Mutter!“ -sagte er ganz leise, ganz innig.</p> - -<p>Sie verstand ihn gleich.</p> - -<p>„Ja, Fritz, Ihre zweite Mutter. Und Sie — mein -anderer Heinz. So wird’s wohl recht sein.“</p> - -<p>Und sie zog sein Gesicht zu sich nieder und küßte ihn -auf die Wange. Dann wandte sie sich an ihre Tochter: -„Nun, Ev? Was sagst du zu deinem neuen Bruder? -Bist du’s zufrieden?“</p> - -<p>Die aber schüttelte den Kopf.</p> - -<p>„Nicht?“ fragte die Mutter. „Und doch glänzen dir -die Augen so stark?“</p> - -<p>Verwirrt kehrte sich die Schlanke ab, drehte angelegentlich -den Fensterriegel hin und her. Sie merkte nicht, daß -Fritz hinter sie trat. Erst da er den Arm um sie legte, -zuckte sie zusammen, ließ ihn jedoch stumm gewähren.</p> - -<p>Als sie sich umwandten, sahen sie, daß sie allein waren. -Frau Wart hatte leise das Zimmer verlassen.</p> - -<p>„Wo ist die Mutter?“ fragte Eva fast erschrocken.</p> - -<p>Fritz sagte nichts darauf. Seine Augen leuchteten und -in seinem Gesicht war etwas von der frommen Andacht -gläubiger Beter.</p> - -<p>Als ein Bettler hatte er das Haus betreten und war -überreich geworden. Und die Erinnerung an den Freund -hatte allen Schrecken verloren.</p> - -<p>In heißer Ergriffenheit zog er seine schöne Braut an -sich und küßte sie zum erstenmal auf den Mund.</p> - -<div class="section"> -<h3>3.</h3> -</div> - -<p>Fritz mußte lang suchen, bis er in Neuberg eine Wohnung -auftrieb. Niemand wollte ihm ein Zimmer vermieten. -Seit er im Kerker gesessen, war er wieder ein -räudiger Wolf geworden. Professor Hermann stellte nicht -mehr voll Genugtuung fest, daß Fritz Hellwig sein Schüler -gewesen sei. Er behauptete jetzt im Gegenteil, daß -solch ein Ende mit Schrecken ja vorauszusehen war, denn -dieser Hellwig habe schon als Junge keine Achtung vor -der Autorität gehabt. „Und keinen Glauben!“ fügte Pater -Romanus hinzu und nickte schwermütig mit dem Kopf. -Und das war der zweite Grund, weshalb sie ihn mieden. -Weil er kein Klerikaler war. Denn die Klerikalen waren -in Neuberg zahlreich geworden wie die Grundeln im Teich. -Zwar nannten sie sich christlich-sozial oder katholisch-national, -aber das war nur ein anderer Name für dieselbe -Sache. Das war so gekommen, weil die freisinnige Bürgerschaft -in viele kleine Gruppen, von denen jede die -deutscheste sein wollte, zersplittert war und im Streite -um des Kaisers Bart begriffen, dem straff organisierten -schwarzen Gegner eine wichtige Stellung um die andere -fast kampflos überließ. Noch gab es ja einige wackere -Männer, denen alles, was nur von weitem nach Papismus -und Pfaffentum roch, in der Seele zuwider war, aber -die mußten bei der allgemeinen Zwietracht für sich stehen -und waren, wenn auch nicht auf den Hund, so doch auf -den Galgenhumor gekommen, derart, daß sie den verhaßten -Schwarzen jeden Schabernack antaten und mit -Schnurrpfeifereien, Schelmenstücken und Schalksnarrenstreichen -kämpften, wenn es schon nicht anders ging. Zu -diesen Männern gehörte auch der Flickschuster Peter Kofend. -Der hatte schon viel auf dem Gewissen. Bereits dreimal -war er bei der Firmung gewesen und hatte jedesmal, noch -nicht trocken vom Salböl, das Firmgeschenk versoffen. Und -bei der letzten Firmung, da hatte er gar zuvor noch die -Böller vernagelt, so daß der hochwürdige Herr Weihbischof -ohne Freudenschüsse in Neuberg seinen Einzug hatte -halten müssen. Und was das Lächerlichste war, er hatte -einmal im Wirtshaus mit dem frommen, gebrechlichen -alten Sattlermeister Adam Jahn gewettet: er, der Kofendschuster, -werde trotz seiner zappeligen Munterkeit früher -ins Gras beißen als der Jahnsattler mit seinem Asthma. -Und als Einsatz stellte er das Leichenbier: Wer den andern -überlebte, sollte nach dem Begräbnis den üblichen Trunk -für die Trauergäste zahlen. Und der fromme, gebrechliche -alte Jahnsattler, der vom vielen Beten eine Hornhaut auf -den Knien hatte, kam durch diesen Vorschlag in eine arge -Not. Denn er war nicht nur fromm, er war auch sparsam. -Und er dachte sich: Ich bin zehn Jahre älter als -der Peter, ich bin kränklich, ich bin fromm, der liebe Herrgott -wird mir verzeihen, wenn ich das Leichenbier sparen -und der Kirche mehr vermachen kann. Vielleicht hilft er -mir sogar, der liebe Herrgott, daß ich dem Peter zum -Trotz gewinne. Und er nahm die Wette an und sie wetteten -um das Leichenbier, jeder, daß er früher sterben werde -als der andere. Und während der Jahnsattler seither noch -gebrechlicher wurde, eine noch dickere Hornhaut auf den -Knien bekam und sichtlich einging, war der Peter verrucht -genug, die Geschichte in der ganzen Stadt zu erzählen. -Und die ganze Stadt, mit wenigen Ausnahmen, -bedauerte den frommen, gebrechlichen alten Adam und -entrüstete sich über den gottlosen Peter. Und die ganze -Stadt, mit noch weniger Ausnahmen, entrüstete sich auch -über Hellwig, daß er bei dem gottlosen Peter wohnen wollte. -Und die ganze Stadt, mit den wenigsten Ausnahmen, entrüstete -sich noch mehr über den Kofendpeter, daß er einem -abgestraften Sozialistenführer Unterstand gab. Der Kaufmann -Wart gehörte zu den Ausnahmen. Darüber wunderte -sich niemand. Von dem Vater eines Hingerichteten konnte -man nichts anderes erwarten.</p> - -<p>Der Kaufmann war nicht mehr der behaglich polternde, -vergnügte Mensch von ehedem. Etwas Scheues und Gedrücktes -war in sein Wesen gekommen, machte sich auch -äußerlich geltend durch einen schleppenden Gang mit vorgebeugten -Schultern und gesenkter Stirn. Schwere Jahre -waren über ihn weggerollt, das merkte man. Gleich nach -dem Begräbnis Doktor Kreuzingers hatte es angefangen. -Da hatte die Wühlerei eingesetzt: Pflicht jedes Christen -sei es, den Kaufladen eines Menschen zu meiden, der nicht -einmal für seine Toten den Priester begehrte. Und viele -Kunden waren ausgeblieben. Dann kam, durch Vermittelung -des Konsulats in Odessa, die Nachricht, daß Heinz -Wart am Galgen geendet. Des Zwischenfalls bei der Hinrichtung -wurde keine Erwähnung getan. Das blieb kein -Geheimnis, sprach sich rasch in der ganzen Gegend herum, -brachte die Familie in Acht und Bann. Wer in Neuberg -und Umgegend nur halbwegs etwas auf sich hielt, mied -jegliche Berührung mit den Angehörigen eines Gehängten. -Der Kaufhandel ging immer schwächer. Ungeduldig stampften -die müßigen Rosse in den Ställen, bis sie verkauft -wurden. Die Auflader mußten bis auf einen entlassen -werden. Im Kontor ruhten alle Federn. Das alte Geschäft -stand vor dem Verfall.</p> - -<p>Der emsige, an fortwährende Arbeit gewöhnte Wart -empfand den Müßiggang fast wie körperlichen Schmerz. -Er alterte sichtlich dabei. Es waren nicht Geldsorgen, -die ihn drückten. Auch ohne den Kaufhandel waren seine -Einkünfte weit größer als die Ausgaben für den Haushalt. -Und doch schützte er immer den schlechten Geschäftsgang -vor, wenn Frau Hedwig, um ihn zur Aussprache -zu bringen, vorsichtig nach dem Grund seines veränderten -Gehabens forschte. Er wußte, daß sie ihm die Ausrede -nicht glaubte. Aber er vermochte nicht von seinem Sohn -zu sprechen. Seit er die furchtbare Botschaft erhalten, -war dessen Name nicht über seine Lippen gekommen. Damals -hatte er auch seine sämtlichen Ehrenämter niedergelegt -und sich von allen Bekannten zurückgezogen.</p> - -<p>Auf Hellwigs Werbung hatte er nur die bittere Antwort: -„Recht so! Nehmt mir nur auch das letzte noch -weg!“ und ging schwerfällig in sein Schreibzimmer, wo -er sich einschloß.</p> - -<p>Später kam er mit keinem Wort darauf zurück, sagte -auch nichts, als er die Vorbereitungen zur Aussteuer gewahrte. -Und nur einmal, als sich Heinzens Todestag zum -zweitenmal jährte, meinte er, bevor er sich schlafen legte, -traurig zu seiner Frau: „Schön sind wir dran, Mutter, -auf unsere alten Tage. Der eine ...“ — er verschluckte -das häßliche Wort — „die andere — heiratet einen, der -auch schon eingesperrt war. Wer weiß, was noch kommt. -Er ist ja von der gleichen Sorte!“</p> - -<p>Und als Frau Hedwig mit gefalteten Händen vor ihn -hintrat: „Sei doch nicht so verzweifelt, Nikl!“, wehrte -er ab: „Laß gut sein, Mutter, red’ nichts. Es wird nicht -anders durchs Reden!“ Dann zog er sich die Decke über -das Gesicht hinauf und tat, als ob er schliefe. Aber die -Gattin, die auch schlaflos lag, hörte sein unterdrücktes -Stöhnen, das in Pausen immer wiederkehrte, bis zum -grauenden Morgen.</p> - -<div class="section"> -<h3>4.</h3> -</div> - -<p>Hellwig arbeitete an seinem Buche und die ganze Fron -des Schaffenden lernte er kennen. Spürte am eigenen -Leib, wie schwer so ein Werk auf seinem Schöpfer lastet, -wie es ihn nie zu Atem kommen läßt, vorwärts peitscht -und auch in den Stunden notwendigster Rast gefangen -hält und quält und nicht frei gibt, bis es irgendeinem -Ende zugeführt ist. Selbst die kargen Augenblicke, die -er sich für seine Braut abrang, kamen ihm wie ein Raub -vor, und er konnte ihrer nie ganz froh werden. Immer -war ihm, als versäumte er etwas, das notwendig getan -werden mußte, das auf ihn wartete, nach ihm schrie und -ihn mit tausend Ketten zog. Zerstreut und fahrig war er -und früher, als er gewollt, brach er dann gewöhnlich auf. -Manchmal bäumte er sich gegen diese Fron, wollte sie -abschütteln und trug sie doch auch wieder gern.</p> - -<p>Es war ein merkwürdiger Brautstand. Doch Eva war -damit zufrieden. Sie verlangte keine Zärtlichkeiten. Was -ihm recht war, war auch ihr recht, und nur ihn ganz -verstehen wollte sie lernen und sein Leben ganz von tief -auf mitleben wollte sie.</p> - -<p>So störte sie ihn nicht. Aber mit dem Werk ging es -doch nicht richtig vorwärts. Das müde Wesen des Kaufmanns -wirkte auf Fritz wie ein beständiger Vorwurf. Er -fühlte, daß das nicht so bleiben durfte. Gerade hier mußte -volle Klarheit herrschen. Doch die wollte nicht kommen. -Der Kaufmann ging jedem Alleinsein mit seinem zukünftigen -Schwiegersohne hartnäckig aus dem Weg. Aber -endlich mußte er ihm doch Rede stehen.</p> - -<p>Draußen vor der Stadt in den Feldern war es. Hellwig -hatte während einer langen Wanderung den weiteren Aufbau -seines Buches überdacht und ging arbeitslustiger, als -er es seit Tagen gewesen, heim. Da sah er vor sich die -untersetzte Gestalt Wart Nikls auftauchen, der einsam seinen -Abendspaziergang abtat. Fritz schritt rascher aus, holte ihn -ein und erhielt auf seinen kurzen Gruß noch kürzeren Dank. -Da sagte er ohne weitere Einleitung: „Warum weichen -Sie mir aus, Herr Wart?“</p> - -<p>„Lassen Sie das!“ antwortete der Kaufmann schroff.</p> - -<p>„Nein, so kann es nicht bleiben, Herr Wart, einmal -muß es gesagt werden: Geben Sie mir mit schuld, daß -Heinz gestorben ist?“</p> - -<p>„Lassen Sie das!“ Das klang zornig und klang drohend. -Aber Fritz gab nicht nach.</p> - -<p>„Seien Sie offen!“ bat er. „Was nützt das Versteckspielen? -Nur daß alle darunter leiden.“</p> - -<p>Ganz ruhig war es rundum. Manchmal nur raschelte -es in den Zweigen der Bäume, fiel ein überreifer Apfel -zu Boden. Dann war es wieder still, und lautlos webte -die Dämmerung am dunklen Mantel der Nacht.</p> - -<p>Der Kaufmann atmete ein paarmal tief auf. Dann -sagte er: „Im Anfang, Fritz, im Anfang, da ist’s schon -so gewesen. Man sucht halt immer nach einem Verführer, -wenn einem ein Liebes Schande macht. Später -aber, nach dem Ärgsten ... da hab’ ich mir gedacht, -man kann eine Kugel nicht aufhalten, wenn sie aus dem -Rohr ist. Es wird wohl auch so gewesen sein. Wie blind -ist er hineingerannt ... Ich tät Ihnen mein Mädel nicht -geben, wenn ich anderer Meinung wäre. Ich hab’ nur -die eine ... Das wird wohl genügen?“ fügte er noch -hinzu, in einem Ton, der deutlich erkennen ließ, daß -er die Fortsetzung des Gesprächs nicht wünschte.</p> - -<p>Fritz schüttelte den Kopf. „Nein, Herr Wart, es genügt -noch nicht, so sehr ich Ihnen dafür dankbar bin. Aber -Schande? Schande hat Ihnen Heinz nie gemacht!“</p> - -<p>„Der Galgen ist wohl eine Ehre?“ rief da der unglückliche -Vater und barg sein Leid hinter einem höhnischen -Auflachen.</p> - -<p>Hellwig schaute ihm fest ins Auge. „Mitunter ganz -gewiß!“ sagte er. „Auch Savonarola haben sie aufgehängt, -den Erlöser haben sie gekreuzigt, den Huß verbrannt -...“</p> - -<p>„Die haben auch nicht gemordet,“ unterbrach ihn Wart -tonlos und schauderte zusammen.</p> - -<p>„Heißt es Mord, einen Menschen wegräumen, von dem -man weiß, daß er in der nächsten Stunde tausend Unschuldige -umbringen wird? Das ist kein Töten, das ist -Selbsthilfe der Menschheit.“</p> - -<p>„So nennen Sie’s! Andere nennen’s Mord.“</p> - -<p>„Heute vielleicht noch. Unsere Enkel werden wieder -anders sprechen. Von Kindsbeinen wird uns gelehrt: Du -sollst nicht töten! Und niemand lehrt uns auch jenes -zweite, Größere: Du sollst nicht töten lassen! — Aber -die Zeit wird kommen, und die Menschen reif werden auch -für dieses Gebot. Dann wird wieder einmal Tugend werden, -was heute noch Verbrechen ist. Und Heinz und die -vielen, die wie er gestorben sind, werden Märtyrer und -Blutzeugen heißen. Und darum glaub’ ich auch jetzt nicht -mehr, daß sein Sterben nutzlos gewesen ist. Sein Gedanke -lebt weiter, und seine Rächer sind nicht fern. Vielleicht -werden es schon jene sein, die Brot von dem Korn -gegessen haben, das aus seinem Grab gewachsen ist. Und -die werden vollenden, was er angestrebt hat: Ein heiles -gesundes Volk wird aufstehn, das vor niemandem den -Nacken beugt, das sich selbst bestimmt durch seinen eigenen -Geist, herrscherlos und herrenlos, ein Volk von lauter -Königen und Herrschern! Dafür hat er gelebt — das -goldene Herz der Menschheit hat er finden wollen — und -dafür ist er in den Tod gegangen. Das ist kein schimpfliches -Sterben.“</p> - -<p>Der Kaufmann erwiderte nicht. Die Abendglocken läuteten. -Wie ein schlafsuchendes Kind schmiegte sich die Erde -in den Arm der Nacht.</p> - -<p>Als Wart vor seinem Hause stand, reichte er Hellwig -die Hand. „Fritz!“ sagte er weich. „Wir wollen’s beschlafen, -Fritz!“</p> - -<div class="section"> -<h3>5.</h3> -</div> - -<p>Peter Kofend gewann seine Wette. Trotzdem er um -zehn Jahre jünger und der Jahnsattler so gebrechlich war. -Eines Tages kam er mit trüben Augen und hochroten -Wangen von einem Geschäftsgang nach Haus. „Aus is! -Gar is! Ich leg’ mich hin und steh’ nimmer auf!“ sagte -er zu seiner Frau. Und während die Erschrockene in die -Küche lief, um einen Tausendguldenkrauttee zu kochen, -der ihr immer gut tat, legte sich der Peter ins Bett und -— stand wirklich nicht mehr auf. Er klagte nicht, redete -nichts, fühlte sich nur müd. Der Arzt sprach von einer -allgemeinen Schwäche, von Schonung und Ruhe und ähnlichen -Dingen, die er immer sagte, wenn er aus einem -Fall nicht klug wurde. Die Frau Kofend aber wußte -am zweiten Tag ebenfalls, daß ihr Mann recht behalten -werde. Da hatte ihre schwarze Henne zu krähen versucht. -Und trotzdem der Unheilsansagerin sofort der Kragen umgedreht -wurde — eine Henne, eine schwarze Henne, die -krähte — das bedeutete einen sicheren Todesfall.</p> - -<p>Vier Tage später erhielt der Jahnsattler wirklich die -schwarz umränderte Todesanzeige und vergoß darüber -Tränen eines aufrichtigen Kummers. Er weinte aber nicht -über den Gestorbenen, er weinte um das schöne Geld fürs -Leichenbier. Er bezahlte es auch. Aber dann ging er zu -Fritz Hellwig und fragte ihn, wie er es anfangen müsse, -um ein Sozialist zu werden. Denn er fühlte sich gekränkt -und verletzt, weil ihm alle seine Frömmigkeit nichts genützt -hatte im Wettkampf mit dem ruchlosen Peter. Deswegen -wollte auch er jetzt vom Beten nichts mehr wissen. -Fritz aber konnte seinen Nöten weder mit Rat noch Beistand -dienen. Doch der Alte wich nicht. Starrköpfig beharrte -er bei seinem Verlangen, und Hellwig, der den -höllischen Humor der Sache erfaßte, schlug ihm endlich -vor, wenn er schon unbedingt nicht anders wolle, so möge -er ihm, dem abgestraften Sozialistenführer, dem allbekannt -Glaubenlosen, ein Zimmer in seinem Hause vermieten. -Denn er brauchte wieder eins, da die Frau Kofend -in ihr Heimatsdorf übersiedelte. Das gefiel dem Jahnsattler -alsogleich, weil er damit vor aller Welt seine neue -Gesinnung beweisen und, wie er meinte, den Sachwaltern -Gottes auf Erden, ja seinem lieben Herrgott selbst einen -Tort antun würde. Und die ganze Stadt bedauerte abermals -den armen, gebrechlichen alten Jahnsattler, weil er -in der Hilflosigkeit des Alters dem Versucher ins Garn -gegangen war. Und die ganze Stadt entrüstete sich abermals -über Hellwig, weil er die kindische Torheit des Greises -so mißbrauchte. Weitere Folgen hatte die Geschichte aber -nicht. Der Jahnsattler sorgte, nachdem der erste Schmerz -über das verspielte Geld vorüber war, nach wie vor dafür, -daß die Hornhaut auf seinen Knien nicht verschwand, und -Hellwig kam in der Wohnung des frommen Mannes -mit seiner Arbeit rüstig vorwärts. Er hatte jetzt endlich -ganz freie Bahn vor sich.</p> - -<p>Wart Nikl war fast vom Abend zum Morgen wieder -ins Gleis gekommen, hatte seine Tatkraft und gute Laune -wiedergefunden. Nicht so sehr durch Hellwigs Argumente, -sondern weil die Aussprache überhaupt beschleunigt hatte, -was früher oder später doch hätte eintreten müssen. Was -lang verstaut gewesen, hatte Luft bekommen, strömte in -gedoppelter Fülle vor, war so überreich, daß er nicht -wußte, wo er zuerst mit der Arbeit anfangen sollte. Den -Neubergern zum Trotz wollte er sein Geschäft nicht nur -auf die frühere, sondern auf eine noch ansehnlichere Höhe -bringen. Wozu brauchte er den Kleinverschleiß? Kurz entschlossen -ging er her und legte den Schwerpunkt des Unternehmens -in den Großhandel mit Farbwaren und Lacken. -Er nahm Vertreter und einen Reisenden auf, reiste auch -selbst, und rascher, als er gehofft, war die Sache im Gang.</p> - -<p>So arbeiteten der künftige Schwiegervater und Schwiegersohn, -jeder auf einem anderen Gebiete, aber beide mit -dem Einsatz ihrer ganzen Kraft. Und das Jahr war noch -nicht vorüber, da hatte Fritz sein Buch vollendet.</p> - -<p>Als er den Schlußpunkt machte, war sein Inneres -wie ein ausgeschöpfter Brunnen. Restlos hatte er alles -hergegeben, was er hergeben konnte. Fast leid war ihm, -daß er das Drängen und Gären in sich nicht mehr spürte. -Und mit leisem Bedauern, als nehme er von einem lieben -Freunde Abschied, packte er das Manuskript zusammen, -um es einem Verleger zuzusenden.</p> - -<p>In den folgenden Tagen machte sich eine tiefe Abspannung, -die bis zur schweren körperlichen Müdigkeit anstieg, -bei ihm geltend. Doch gab er diesem Zustand nicht -lässig nach, sondern versuchte durch reichlichere Bewegung -in freier Luft ihm entgegenzuwirken. Er unternahm starke -Märsche in die Umgebung, und einmal gelangte er auch -in den Geburtsort Pichlers.</p> - -<p>Der Küster war seit Jahren tot, die Kinder in den Dörfern -im Dienst oder verheiratet. Nur Christoph, der ältere -von den einstmaligen Rutenbindern, befand sich noch im -Ort, war hier Gemeindediener, Polizist, Nachtwächter, -Bettelvogt, Flurhüter, Fleischbeschauer und Barbier in -einer Person. Er hatte sich einen struppigen Schnauzbart, -eine rote Nase und die für seine vielen Ämter unentbehrliche -Würde zugelegt, welch letztere ihn auch dann nicht -verließ, wenn seine Ordnungsversuche bei einer Wirtshausrauferei -mit seinem eigenen Hinauswurf endeten. Er -erzählte Hellwig, daß Otto für die Geschwister so gut wie -verschollen sei und sich auch nach dem Tod des Vaters -nicht um sie gekümmert habe. Doch sei es, trotzdem dann -für die noch unversorgten jüngeren Kinder schwere Zeiten -gekommen, auch ohne ihn gegangen. Sie hätten eben fest -zusammengehalten und den ältesten Bruder nicht dazu -gebraucht. Jetzt seien sie so ziemlich aus dem Wasser, -viel zum Beißen habe zwar keiner, aber sie seien zufrieden, -wie’s der Vater ebenfalls gewesen, und hätten sich schon -an den Gedanken gewöhnt, daß sie für den vornehmen -Herrn Bruder nicht mehr auf der Welt seien und er nicht -für sie.</p> - -<p>Hier unterbrach er plötzlich den Redefluß und eilte mit -langen Schritten schimpfend einigen Dorfbuben nach, die -mit verdächtig dicken Taschen aus dem Hühnerhof des -Pfarrers schlichen.</p> - -<p>Fritz machte sich auf den Heimweg. Was er eben von -Otto gehört, kam ihm so selbstverständlich vor! Das -Leichte und Spielerische im Wesen des Freundes war ihm, -je älter und reifer er wurde, desto weniger verborgen -geblieben. Aber trotz der Enttäuschungen, die ihm der -einstige Freund bereitet hatte, hielt er ihn nicht für schlecht -und fand es nur verwunderlich, wie der leichtlebige und -sorglose Mensch so lang an seiner Seite hatte aushalten -können.</p> - -<p>Langsam schritt er weiter. Die ersten Sterne blitzten -auf. Und da fiel ihm ein, daß er fast denselben Weg -ging, den er einmal vor Jahren in Winterschnee und Kälte -gegangen, um ein Geschenk für seine Braut in einer Fanggrube -zu finden. Und er sann seinem Leben nach und -staunte, wie doch alles so zufällig an ihn herangekommen -war und ihn mitgerissen hatte, fast ohne sein Dazutun. Und -während er alles überdachte — einsam war es um ihn, -ein paar Fledermäuse fuhren hastig durch die unbewegte -Luft, irgendwo schrie jämmerlich ein Vogel unter den Zähnen -eines Raubtiers — da stieg wie eine Vision ein Bild -vor ihm auf, von dem er zeit seines Lebens nicht mehr -ganz loskommen konnte. Es war ihm, als sei alles, was -Leben in sich hat, vor ungezählte Millionen überlasteter -Karren gespannt und müsse sie, gleich den Pferden vor -schweren Fuhren, mit bebenden Flanken und keuchenden -Lungen über eine steile Bergstraße hinaufziehen, die schnurgerade -ansteigt, höher und höher, in die weite Unendlichkeit -hinein, wie ein Band ohne Ende. Und über allen -den zitternden, mühselig hinkriechenden Geschöpfen thront -riesengroß aufragend, gelassen vor sich blickend, mit unbewegten -Zügen ein gewaltiges Weib und hält in der -Rechten eine schwere Peitsche. Und jedesmal, wenn irgendwo ein -Karren stecken bleiben will, knallt diese Peitsche, -saust ihre geflochtene Schnur hoch über gekrümmte Nacken -hin, und die geplagten Geschöpfe zucken zusammen, ducken -sich furchtsam und ziehen weiter, ziehen mit zum Platzen -gestrafften Muskeln, fliegendem Atem, verlöschender Kraft, -ziehen — ziehen. — Und wenn eins leblos hinsinkt, schreiten -die andern, rollen die Karren gleichgültig über den -Leichnam fort. Und immerzu rollen die Karren, Millionen -hinter Millionen, die unabsehbare, schnurgerade Straße -hinauf, und unablässig knallt über ihnen die Peitsche.</p> - -<div class="section"> -<h3>6.</h3> -</div> - -<p>Fast ein Jahr war es her, seit Pichler im Abgeordnetenhause -seine letzte Rede gehalten hatte. Da forderten seine -Wähler Rechenschaft und Rechtfertigung von ihm, und -so kam er endlich wieder einmal in seinen Wahlkreis.</p> - -<p>Gemurr empfing ihn, als er den Saal betrat, und -finster sahen die Versammelten auf ihn. Er aber stieg -auf die Rednerbühne, wie gewöhnlich mit einem liebenswürdigen -Lächeln um die Lippen. Doch da reckten sich -ihm Fäuste entgegen, und ein gewaltiger Lärm erhob sich.</p> - -<p>„Nicht reden! Demingkreatur! Mandat niederlegen! -Ausbeuterknecht!“ rief und schrie und johlte es durcheinander. -Er verfärbte sich und fühlte etwas wie Furcht. -Aber noch immer lächelte er, und dieses Lächeln schien in -seinem schönen Gesicht förmlich eingefroren zu sein. Als -jedoch der Spektakel gar nicht aufhören wollte, wurde er -wütend. Was? Diese Kerle, die tief unter ihm standen, -wagten zu drohen? Statt dankbar zu sein, daß er sich -überhaupt mit ihnen abgab? Heiser schrie er in den Saal -hinab: „Wollt ihr endlich schweigen? Ich will reden! -Hört ihr? Ich will!“</p> - -<p>Die Antwort war Lachen und Getöse. Man trommelte -auf Tische, pfiff, stampfte mit Füßen, schüttelte Fäuste -und Biergläser. Da packte ihn ein jäher Zorn. Er griff -nach der Glocke, die ihm zur Hand stand und schleuderte -sie in die Menge. Sie traf niemanden. Aber jetzt stürmten -sie und drängten auf das Podium, faßten ihren Abgeordneten -bei den Schultern, schrien ungestüm auf ihn -ein, rüttelten und zerrten, schoben und stießen und beförderten -ihn ins Freie. Dort umringten sie ihn, und -gewalttätiger Haß sprach aus ihren Gebärden, ihren Mienen -und Worten. Die Einberufer mahnten zur Besonnenheit. -Pfannschmidt nahm den übel Zugerichteten beim Arm und -führte ihn aus dem Gedränge. Murrend und ungern -wichen die Leute. Das Gesicht des Bergmannes war hart -und finster. Man sah, daß er den einstigen Schriftleiter -nicht aus Freundschaft beschützte. Pichler machte jetzt keine -vorteilhafte Figur. Der Jähzorn war verraucht. Nun kam -die Angst. Er schlotterte an allen Gliedern, die Knie knickten -ihm ein, er stolperte nur so vorwärts und wäre gefallen, -wenn ihn Pfannschmidt nicht gestützt hätte. Kragen -und Halsbinde waren ihm herabgefetzt, der feine Anzug -hatte Löcher.</p> - -<p>Vor dem Gasthof ließ ihn Pfannschmidt stehen, wandte -sich kurz ab und ging ohne Gruß. In fluchtartiger Eile -reiste Otto nach Wien zurück.</p> - -<p>Trotzig legte er sein Mandat nieder. Wenn er jedoch -gehofft hatte, daß es ihm bei seinen ausgebreiteten Beziehungen -gelingen werde, sofort eine andere Stellung zu -bekommen, sah er sich arg enttäuscht. Alle Bekannten -hatten nur ein bedauerndes Achselzucken: es sei dermalen -nichts frei. Er war eben kompromittiert. Deming hätte -vielleicht Rat gewußt. Aber an ihn wollte er sich nicht -wenden. Er schämte sich vor Grete.</p> - -<p>Um sich über Wasser zu halten, mußte er Stück für -Stück seiner Habseligkeiten zum Trödler oder ins Leihhaus -tragen. Dann borgte er sich Geld. Aber es dauerte -nicht lang, waren ihm alle Quellen versiegt. Hungrig irrte -er in der Großstadt herum. Seine Stiefel waren zerrissen, -der Rock, den er am Leib trug, wurde schäbig, und er -hatte keinen besseren mehr. In seiner Not schrieb er an -Hellwig. Der wies ihn kalt ab. Es sei Pichlern, schrieb -er zurück, von je zu gut gegangen und zu leicht gemacht -worden. Er habe den Lebenskampf noch nie in seiner -ganzen Rauheit empfunden. Jetzt aber könne er zeigen, -was in ihm stecke. Durch eigene Kraft müsse er sich -herausarbeiten. Unter dem Hammer der Not werde er -Stahl werden, wenn er wirklich Eisen sei.</p> - -<p>Drei Tage hielt Pichler dem Hunger stand. Dann war -er am Ende seiner Widerstandskraft. Vor der Wohnung -Demings wartete er und wußte es so einzurichten, daß -er richtig von dem kaiserlichen Rat bemerkt wurde. Und -der Millionär erkannte ihn sofort und trat auf ihn zu -und sprach leutselig mit ihm. Er fragte, ob es dem Doktor -denn gar so schlecht gehe und warum er sich nicht an ihn -gewendet habe. Und zum Schluß drückte er dem Überraschten -eine größere Banknote in die Hand, als Darlehen, -wie er sagte, und verabschiedete sich huldreich.</p> - -<p>Pichler stand da und schaute ihm nach und wußte nicht, -ob er wachte oder träumte. Aber der blaue Schein zwischen -seinen Fingern war greifbare Wirklichkeit. Da ging er -und kaufte sich neue Wäsche und neue Schuhe, kleidete -sich vom Kopf bis zu den Füßen neu. Und als er dann -ein Bad genommen und Haar und Bart hatte zustutzen -lassen, überkam ihn ein ungestümes Verlangen nach Wohlleben -und Genießen. In einem Tingeltangel ließ er sich -vorsetzen, was gut und teuer war, und am nächsten Vormittag -erwachte er mit wüstem Kopf in der Wohnung -einer Dirne.</p> - -<p>Zwei Tage später, als das Geld alle war, folgte er der -Aufforderung des kaiserlichen Rates, ging zu ihm und -setzte ihm rundweg seine Lage auseinander. Deming hörte -ihn wohlwollend an, mit schlecht verhehlter Freude. Und -nach einer Einleitung, in welcher er beiläufig sagte, daß -man begabten Menschen helfen müsse, daß es ihm selbst -auch nicht immer gut gegangen und er auch einmal in -ganz ähnlichen Verhältnissen stellenlos herumgelaufen sei, -machte er dem Doktor den Vorschlag, als Beamter in die -Fabrik einzutreten. Aber eines verlange er unbedingt: Pichler -müsse sich von seinen Parteigenossen vollständig lossagen -und die Politik links liegen lassen.</p> - -<p>Das versprach Otto gern.</p> - -<div class="section"> -<h3>7.</h3> -</div> - -<p>In aller Stille hatten Fritz und Eva Hochzeit gehalten. -Wieder entrüsteten sich die Gutgesinnten Neubergs, weil -kein Priester dabei war, aber ihre Ungnade schadete den -Betroffenen nichts. Wart Nikl blieb fröhlich und aufrecht, -obwohl es jetzt recht einsam um ihn wurde und -nur Frau Hedwig, still und tapfer den Trennungsschmerz -verbergend, in den weiten Wohngemächern waltete, die -kurz vorher noch Eva mit hellem Lachen erfüllt hatte. Jetzt -war sie in der Hauptstadt, wo ihr Mann als Anerkennung -und als Entschädigung für das Kerkerjahr die verantwortliche -Leitung der Freien Blätter erhalten hatte, und nichts -war von ihr zurückgeblieben, als ein paar eingerahmte -Bilder an den Wänden und ein paar vergessene Bänder -und Maschen in den Schrankfächern.</p> - -<p>Kolben hatte den jungen Eheleuten den ersten Stock -seines Familienhauses vermietet. Alle Zimmer ließ er neu -tapezieren, die Parketten ausbessern, die Küche malen, und -ins Badezimmer kam ein Gasofen. So war alles neu -und schön und hell, ein funkelblankes Nest der Häuslichkeit -und des jungen Eheglücks.</p> - -<p>Und sie waren glücklich. Ein wackerer Kamerad, ging -Eva vom ersten Tage an neben ihrem Manne, heiter, -blühend, mit sonnigen Augen und verstehendem Herzen. -Nicht eine Sekunde empfand er, daß mit ihr etwas Fremdes -und bisher Ungewohntes in sein Leben gekommen. -Selbstverständlich wie ihre Verlobung, war auch ihr Zusammenleben, -schlicht, einfach und natürlich, ein Ehefrühling, -wie er zur Zeit der Schneeschmelze und der ersten -Weidenkätzchen ernst und keusch und mit frommer Weihe -die Erde überkommt, wenn jeder Baum mit tausend Knospen -betet und die unschuldigen Saaten sich im hellsten -Sonnenglanz dem Mutterschoß der Scholle entringen. Nie -war ein falscher Ton, ein gemachtes Empfinden zwischen -ihnen. Sie gaben sich und nahmen einander, wie sie waren, -ehrlich und herzlich schritten sie Seite an Seite, wußten, -was sie aneinander hatten und brauchten es sich nicht erst -zu sagen. Ein warmer Blick, ein Kuß war alles, was -ihre vornehm zurückhaltenden Naturen an Zärtlichkeit zu -verschwenden hatten. Und es genügte ihnen. Eva war -fröhlichen, kindlichen Sinns und hatte nichts von dem -tief bohrenden, grüblerischen Wesen ihres Mannes. Aber -sie fühlte mit dem Herzen, wo ihr Geist nicht fassen -konnte und hatte jene Einfalt des Gemütes, die das Echte -herausspürt und das Erkünstelte zurückstößt, ohne für die -Zuneigung hier und den Widerwillen dort einen Grund -angeben zu können. So ergänzte sie ihren Gatten aufs beste -und nahm in gleicher Weise von seinem Ernst wie er von -ihrem Frohsinn an.</p> - -<p>Nach den ersten Wochen besuchte Kolben das junge -Paar fast täglich. Als Backfisch hatte Eva den unerschütterlich -gelassenen Menschen nicht ausstehen können. Jetzt -wurde er ihr bald sympathisch. Er war ihr überall behilflich, -wußte vorteilhafte Einkaufsquellen anzugeben, -wurde ihr Berater in allen den kleinen Sorgen des Haushalts, -für die Fritz durchaus kein Verständnis aufbringen -konnte. Ihm war es als Junggesellen ganz gleichgültig -gewesen, ob ein Anzug hundert oder zweihundert Kronen -kostete, wenn er nur halbwegs paßte. Und wenn er faltig -wurde, gab er ihn einem Schneider zum Aufbügeln, und -mochte dessen Forderung noch so unverschämt sein, er bezahlte -sie und war deshalb ein geschätzter Kunde. Das -wurde jetzt anders. Denn Eva war sparsam und verstand -zu rechnen. Sie wollte niemanden übervorteilen, aber auch -selbst nicht übervorteilt werden, ließ jedem genau das zukommen, -was ihm gebührte, keinen Heller mehr noch -weniger, und buchte Einnahmen und Ausgaben. Und wenn -dann der Schuster für ein paar Stiefelsohlen drei Kronen -fünfzig verlangte, sagte sie und zeigte es ihm schwarz auf -weiß: „Vor vier Monaten hat das nur drei Kronen zehn -gemacht, wenn Sie teurer werden wollen, kann ich bei -Ihnen nicht mehr arbeiten lassen!“, worauf der Handwerker -zwar von unerschwinglichen Lederpreisen und Teuerung -zu reden anfing, gewöhnlich aber doch seine Forderung -auf das frühere Maß einschränkte. So hatte sie ihre -liebe Not und freute sich, daß Kolben da war, mit dem -sie darüber reden und sich beraten konnte.</p> - -<p>Fritz aber steckte wieder bis überm Hals in der Arbeit. -Während der zweijährigen Unterbrechung war ihm manches -fremd geworden, die Zusammenhänge mußten wieder gefunden, -das Versäumte mußte nachgeholt werden. Dazu -kam das Lesen der Bürstenabzüge seines zweibändigen Werkes, -das demnächst erscheinen sollte. Und als es erschien, -aus der Zeit heraus entstanden, sachlich und frei von einseitiger -Parteilichkeit, als es von der Kritik mit lautem -Beifall begrüßt wurde und fast alle Blätter ohne Unterschied -günstige Besprechungen brachten, einige wohl auch -im Überschwang den Anbruch einer neuen Epoche der Volkswirtschaftslehre -verkündeten, als das alles eintrat, da kam -Hellwig erst recht nicht zur Ruhe.</p> - -<p>Sein Buch wurde rasch von der Mode den ‚allgemeinen -Bildungsnotwendigkeiten‘ beigezählt. Wer in Zeitfragen -mitreden wollte, mußte es gelesen haben. Man sprach überall -davon, lud den Verfasser zu Teeabenden und Gesellschaften, -die verschiedenen Vereine, Zirkel und Klube zur -Verbreitung wirtschaftlicher Kenntnisse, Kultur, Wissenschaft -oder Bildung forderten ihn zu Vorträgen auf, Zeitungen -und Zeitschriften baten ihn um Beiträge.</p> - -<p>Anfangs war ihm das lästig, später gewöhnte er sich -daran. Von den Einladungen machte er keinen Gebrauch, -Vorträge hielt er selten, Abhandlungen schrieb er nach wie -vor über Dinge, die ihm ans Herz griffen, und niemals -auf Bestellung.</p> - -<p>Als sie merkten, daß er nicht mit ihnen heulen wollte, -wurden sie kühler, setzten sein Buch von der Liste der -Bildungsnotwendigkeiten wieder ab und ließen ihn in Ruhe.</p> - -<p>In der Partei aber machte sich allmählich eine Strömung -gegen ihn immer bemerkbarer. Erregt und in Bewegung -gehalten wurde sie von dem ehrgeizigen Leibinger, -der auf den Posten des verantwortlichen Schriftleiters gehofft -hatte und sich nun von einem jüngeren verdrängt -sah. Er war Mitglied der Parteileitung und hatte sich -unentbehrlich zu machen verstanden durch eine Art widerlicher -Zuvorkommenheit und händereibender Salbung, mit -der er sich zu den unangenehmsten Aufgaben drängte. -Niemand mochte den schmalbrüstigen Menschen so recht -leiden, der mit eingeknickten Knien immer leise ging, aber -man duldete und ertrug sein unsympathisches Wesen, weil -er brauchbar war, erfinderisch und gleich gut geübt im -jähen Überrumpeln, wie im langsamen Erdrosseln der -Gegner.</p> - -<p>Jetzt benützte er den Anlaß, fand heraus und sagte es -heimlich allen, daß viele Ansichten und Grundsätze in dem -gepriesenen Werke Hellwigs eigentlich dem Parteiprogramm -zuwider liefen, ja manchmal geradezu der heutigen -Gesellschaftsordnung ein Loblied sangen. Und er hatte -mit diesen Behauptungen um so eher Erfolg, als der Parteiobmann -Anheim und alle, die mit ihm der Leitung angehörten, -überzeugte Anhänger der Marxschen Lehre und -geschworene Feinde aller Revisionisten waren.</p> - -<p>Offen wagte man sich vorerst freilich nicht an den -verdienstvollen Mann heran. Aber zu fühlen bekam er -es doch, daß man mit seinem Wirken nicht mehr ganz -einverstanden war. Man schob ihn beiseite, wo es nur -halbwegs anging, faßte Beschlüsse, ohne ihn um seine -Ansicht zu fragen, und verschwieg ihm manches, was der -verantwortliche Schriftleiter als erster hätte wissen müssen. -Anfangs achtete er nicht darauf. Aber als es sich öfter -wiederholte, als er sogar in seinem eigenen Blatt bloßgestellt -wurde, fiel es ihm auf. Er wurde stutzig, führte -Beschwerde, forschte nach dem Grund. Man gab ausweichende -Antworten, entschuldigte sich wohl auch mit einem -Versehen. Aber beim nächsten Anlaß machte man es ihm -wieder so. Kolben wollte ihm die Augen öffnen. Fritz -hörte nicht auf ihn. Er schrieb das geänderte Verhalten -der Genossen einer flüchtigen Verstimmung zu und ließ -sich die schöne Zuversicht nicht rauben, daß alles bald -wieder seinen rechten Gang gehen werde.</p> - -<div class="section"> -<h3>8.</h3> -</div> - -<p>Da wurde der Reichsrat aufgelöst, weil er der Regierung -nicht zu Willen war. Neuwahlen wurden angeordnet. -Die nordböhmischen Bergarbeiter wandten sich an -Hellwig, daß er in ihrem Wahlkreis kandidiere. Pflichtgemäß -fragte er die Parteileitung um ihre Meinung. Die -sagte weder ja noch nein, vertröstete ihn auf später.</p> - -<p>Und nun begann der aufreibende Wahlkampf mit seiner -rastlosen Agitation und den ungezählten Versammlungen -in allen Bezirken. Und während Hellwig von Versammlung -zu Versammlung fuhr, an einem Tage oft in drei, -vier Sälen sprach, dabei die Freien Blätter leitete und, -ein immer wacher Kämpfer, die Machenschaften der Gegner -aufdeckte, durchquerte und vereitelte, waren in seiner eigenen -Partei Leute an der Arbeit, die seine Stellung zu -untergraben und seinen Einfluß zu brechen sich redlich -bemühten. Er war ihnen zu bekannt, zu berühmt, zu -volkstümlich geworden. Sie fürchteten, daß er ihnen über -den Kopf wachsen, daß er sie verdrängen und die Führerschaft -ganz an sich reißen könnte. Er dachte nicht daran. -Ihm ging es um die Sache, die er für gut hielt und -mit dem Einsatz aller Kräfte fördern wollte. Sie aber -erwogen alle Möglichkeiten, bangten für ihre Ämtlein und -fürchteten und beneideten und haßten ihn heimlich sehr. -Die Massen jubelten ihm zu, ihre erkorenen Führer aber -saßen in geheimen Konventikeln beisammen und rieten -hin und meinten her, wie sie dem beliebten Mann Schlingen -legen und ihn unauffällig zu Fall bringen könnten. Und -wenige gab es unter diesen Ratern und Meinern, die -frei und unparteiisch urteilten. Er hatte aber auch fast -jeden schon einmal vor den Kopf gestoßen, weil er nie -mit seiner Meinung hinterm Berg hielt, sondern sie immer -klipp und klar und rücksichtslos heraussagte. Das trugen -sie ihm nach und schmollten und grollten und nannten -ihn grob, unduldsam, hochfahrend. Und sahen doch ruhig -zu, wie er den Hauptteil der Wahlarbeit für sie tat. Mochte -er sich plagen und abrackern, das kam der Partei zugute -und im richtigen Augenblick wollten sie schon auf dem -Posten sein.</p> - -<p>Aber auch Kolben wachte und war sehr beschäftigt. Bedachtsam, -ohne Übereilung, wie ein schlauer Kundschafter, -sondierte er und horchte herum, und als er genug erfahren -hatte, machte er sich auf und fuhr in das nordböhmische -Kohlengebiet. Denn von dort kamen beunruhigende -Nachrichten. Gerüchte von einem neuerlichen -Streik waren in den letzten Jahren mehrmals laut geworden. -Jetzt aber erhielten sie sich hartnäckig, nahmen -bestimmtere Formen an und wollten nicht wieder verstummen.</p> - -<p>Das Ziel seiner Reise verriet der Doktor nicht, er brauchte -auch von niemandem Abschied oder Urlaub zu nehmen. -Er war ganz unabhängig und hatte sich in der Leitung -der Kunstnachrichten, die er den Freien Blättern ohne Entgelt -besorgte, vollständige Freiheit ausbedungen. Nur Eva -mußte es wissen, weil sie gewohnt war, ihn täglich zu -sehen, mit ihm Einkäufe besorgte oder spazierenging. Er -war ihr einziger Bekannter in der großen Stadt, und -wenn sie ihn nicht gehabt hätte, wäre sie den größten Teil -des Tages ganz einsam gewesen. Denn ihren Mann bekam -sie jetzt fast gar nicht zu Gesicht, er kam spät nachts -heim, müde und abgehetzt, aber mit der ersten Sonne -war er schon wieder auf den Beinen, sah hastig die Morgenblätter -durch und konnte das Frühstück kaum erwarten. -Und wenn sie es brachte, aß er hastig und verabschiedete -sich zerstreut und fahrig, lief manchmal auch, die bevorstehenden -Arbeiten überdenkend, überhaupt ohne Gruß -davon.</p> - -<p>Sie fand sich auch damit ab, hoffte geduldig auf die -Wiederkehr ruhigerer Zeiten und blieb heiter und zufrieden. -Wenn sie mit den häuslichen Arbeiten fertig war, — -viel zu tun gab es nicht, weil Fritz, um keine Zeit zu -verlieren, jetzt auch das Mittagessen in der Stadt nahm —, -spielte oder sang sie sich ein Lied, ging in den Garten, -pflegte ihre fünf Rosenstämmlein, nähte oder lag lesend -oder träumend in der Hängematte unter den dunklen Kastanienwipfeln -und freute sich auf das Erscheinen Kolbens -und auf das Ende ihrer Einsamkeit. Sogar übermütig -konnte sie dann werden. Der Übermut lag ihr nun einmal -im Blut und ließ sich auch von ihrer jungen Frauenwürde -nicht unterkriegen. Um den Doktor zu necken, versteckte -sie sich vor ihm ganz tief in die Fliederhecken oder in die -dichten Jasminbüsche, daß auch nicht ein Zipfelchen ihres -Kleides, kein Schimmerchen ihres Blondhaars sichtbar war. -Zusammengekauert hockte sie in ihren grünen Schlupfwinkeln -und rief „Herr Doktor!“ und wenn er sie nicht -gleich fand, war sie froh wie ein Schulkind und lachte -ausgelassen.</p> - -<p>Als er ihr seine Abreise melden wollte, lag sie in der -Hängematte. Sie erblickte ihn von weitem, wie er langsam, -in seiner gemessenen Art, den gelben Kiesweg heranschritt, -machte die Augen fest zu und stellte sich schlafend. -Aber manchmal blinzelte sie doch blitzrasch zwischen kaum -geöffneten Lidern nach ihm hin und sah, wie er näher -kam und zauderte und stillstand, unschlüssig, ob er sie -wecken sollte. Sie hielt sich ruhig, veränderte keine Miene -und atmete gleichmäßig fort. Da wagte er es, tat vorsichtig -einen Schritt vorwärts und noch einen. Jetzt fühlte -sie, daß er ganz nahe sein mußte, hörte das Knistern -seiner Kleider — und wie sie, zu fröhlichem Lachen bereit, -die Lider voll aufschlug, da war sein ernstes Gesicht dicht -über dem ihren — sie bemerkte ein paar winzige Puderstäubchen -im bläulichen Anflug der eben erst rasierten -Wangen — und von seinen Augen waren alle Schleier -gefallen. Ein warmer Glanz war in ihnen und das innige -Leuchten einer großen Liebe. Nur eine Sekunde war das -so. Dann erlosch alles wieder, der Doktor stand in lässiger -Haltung, wie immer, vor ihr und gleichmütig wie -immer fragte er, ob er störe.</p> - -<p>Sie aber war ganz aufgeregt, sprang aus dem Netzgeflecht -und in der ersten Ratlosigkeit einer ihr neuen -Erkenntnis sagte sie mit überquellendem Empfinden: „Sie -armer Doktor!“</p> - -<p>„Warum?“ antwortete er ihr in seinem gemütlichsten, -freundschaftlichsten Ton. Doch sie dachte nur an das Geschaute, -hatte erkannt, daß er ihretwegen litt, vielleicht -seit Jahren leiden mußte, und um ihm nur irgend etwas -Liebes zu tun, legte sie mit einem hindrängenden Schritt -beide Hände auf seine Schulter. „Armer Doktor!“ sagte -sie nochmals. Da wußte er, daß sie alles gesehen hatte, -wurde ein klein wenig blässer und richtete sich straff auf. -„Ich brauche Ihr Mitleid nicht, gnädige Frau!“ sagte -er schroff.</p> - -<p>Nun war sie ihrer Unüberlegtheit erst inne, errötete -noch mehr, und die Tränen sprangen ihr hell von den -Wimpern. „O Gott!“ rief sie bestürzt. „Hab’ ich Sie -gekränkt? Das wollte ich nicht! Ich schätze Sie ja so! -Ich kenne keinen Menschen nach Fritz, den ich lieber hätte! -Sie dürfen mir nicht bös sein! Sie sind mir nicht böse, -nicht wahr, nein?“</p> - -<p>Kolben war schon wieder der Alte. „Sie sind ein rechtes -Kind, Frau Eva!“ erwiderte er mit seinem spöttischen -Lächeln. „Wie kann man nur am hellichten Tag so närrisch -träumen! Lassen Sie’s gut sein, mir geht’s so kannibalisch -wohl, daß ich jedem ein derart ausgezeichnetes -Wohlbefinden wünschen kann. Ich bin Herr meiner Zeit, -kann mir’s einrichten, wie ich will und Vergnügungsreisen -machen, wann ich will. Was ich beispielsweise noch -heute zu tun gedenke.“</p> - -<p>„Sie wollen fort?“</p> - -<p>„Jawohl, in drei Stunden geht mein Zug. Um Ihnen -das mitzuteilen, bin ich eigentlich herunter gekommen. Mindestens -vier Tage werde ich fortbleiben. Es ist mir erschrecklich -leid, daß ich den Stoff zu Ihrem Herbstkleid -nicht mit aussuchen kann. Denn wie ich die edle Weiblichkeit -kenne, duldet so was keinen Aufschub.“</p> - -<p>„Doktor!“ rief Eva zornig. „Sie sind heute abscheulich!“</p> - -<p>Er verneigte sich leicht. „Das freut mich, Frau Eva, -das freut mich sehr! Weil ich nunmehr ganz beruhigt -abreisen kann, mit dem erhebenden Bewußtsein, daß meine -verehrte Gönnerin froh sein wird, von meiner abscheulichen -Gegenwart wenigstens auf kurze Zeit verschont zu bleiben.“</p> - -<p>So sprach er und sprach noch manches in derselben -Tonart, so daß Eva schließlich an sich selbst ganz irr wurde -und nicht mehr wußte, ob sie in der schaukelnden Hängematte -unter den dunklen Kastanienwipfeln nicht doch vielleicht -geträumt und einen Traum für Wirklichkeit genommen -hatte.</p> - -<div class="section"> -<h3>9.</h3> -</div> - -<p>Als Kolben sich zu seiner Reise entschlossen hatte, war -Leibinger aus den Kohlendistrikten gerade wieder in die -Hauptstadt zurückgekehrt. Tags darauf erschien eine Abordnung -der Bergleute bei der Parteileitung. Sie erklärte, -daß man zur sofortigen Arbeitseinstellung fest entschlossen -sei und fragte an, ob man mit Unterstützungen aus der -Streikkasse werde rechnen können. Fritz sprach sich entschieden -gegen alles aus. Anheim, Leibinger und die übrigen -aber brauchten Ausflüchte, wollten in Hellwigs Gegenwart -nicht Farbe bekennen, und schließlich gab Leibinger -den Leuten einen Wink, sie möchten später noch einmal -vorsprechen. Und sie verstanden das und entfernten sich. -Als sie fort waren, sprach Hellwig noch eine halbe Stunde -lang sehr eindringlich über alle Hindernisse, die dem Streik -gerade jetzt, knapp vor den Wahlen, im Wege standen. -Man hörte ihn schweigend an, nickte manchmal oder schüttelte -die Köpfe, wie er so seine Gründe an allen zehn -Fingern herzählte, aber kein Wort fiel dafür oder dawider. -Man müsse sich das noch reiflich überlegen, war schließlich -alles, was Anheim mit Räuspern und Hüsteln vorbrachte. -Dann mußte Hellwig in eine Wählerversammlung -der Gegner und hinterher noch in zwei der eigenen -Partei, und jetzt erst, als sie sich vor ihm sicher wußten, -tauten Leibinger und Mark auf, wurden lebhaft und hatten -mit den wieder erschienenen Bergleuten eine lange Besprechung.</p> - -<p>Den übernächsten Tag kam Kolben am frühen Morgen -zu Fritz, der noch in Hemdärmeln mit Kamm und Bürste -hantierte. Der Doktor war die ganze Nacht gefahren und -sah verstaubt und abgespannt aus.</p> - -<p>„Was bringst du so zeitig, Albert?“ fragte Fritz ein -wenig erstaunt.</p> - -<p>„Nur meine Neugier!“ antwortete Kolben und ging -ohne Umschweife auf sein Ziel los. „Ich hab’ nämlich -gehört, daß der Streik beschlossene Sache sein soll.“</p> - -<p>„Da hast du dich gründlich verhört!“ lachte Hellwig. -„Im Gegenteil, es ist so gut wie sicher, daß jetzt nicht -gestreikt wird.“</p> - -<p>„So, so ... Weißt du, ich komm’ gerade von den -Schächten ... Es ist eine Abordnung dagewesen, das -weißt du ja ... nun, und die ist gestern heimgekommen -mit der Meldung, daß es am Montag, also in vier Tagen, -losgehen kann ...“</p> - -<p>Dröhnend schmetterte Hellwigs Faust auf den Tisch. -„Das ist nicht möglich!“ schrie er.</p> - -<p>Kolben zuckte die Achseln. „Ist aber trotzdem so. Ich -sag’ dir, gejubelt haben sie über die Nachricht. Mich haben -sie ausgelacht. Zwei Agitatoren sind gleich mitgekommen. -Leibinger will morgen hin ...“</p> - -<p>„Das ist nicht möglich!“ sagte Fritz nochmals und -war ganz blaß.</p> - -<p>„Wenn du mir nicht glaubst, — im Verbandsheim -wirst du’s ja erfahren.“</p> - -<p>„Ja — ich werde es erfahren ...“ murmelte Fritz -mit aufeinander liegenden Zähnen. Dann reckte er sich -hoch. „Ich geh’ gleich hin! Kommst du mit?“</p> - -<p>Sie gingen. Im Beratungszimmer fanden sie Leibinger, -Mark und den Obmann Anheim. Das war ein hagerer -Greis mit einem mächtigen kahlen Schädeldach und buschigen -Brauen über zwei herrischen Augen. Mit fester -Hand hielt er die Zügel, war unbestechlich, ehrlich und -treu, aber kannte auch kein Nachgeben. Was er sagte, -stand wie ein Block, an dem nicht gerüttelt werden durfte, -und alle fügten sich ihm. Auch Mark, der seichte Schwätzer, -der gewaltig war im Schimpfen und im Aufpulvern der -Massen. Wie ein Kutscher sah er aus mit seinen ganz -kleinen Augen, der engen Stirn und dem pechschwarzen -Haar, das reichlichste Pomade nicht geschmeidig machen -konnte.</p> - -<p>„Also, da seid ihr ja beisammen!“ begann Hellwig -mit fliegendem Atem und sprang ohne Umschweife mitten -in die Sache hinein. „Ihr habt hinter meinem Rücken -den Streik beschlossen? Das gibt’s nicht! Das dulde ich -einfach nicht!“</p> - -<p>„Oho!“ sagte Anheim.</p> - -<p>„Jetzt ist’s zu spät!“ ließ sich Mark vernehmen. Und -Leibinger lachte spöttisch: „Ich denke, du hast hier weder -was zu dulden, noch zu befehlen!“</p> - -<p>Kolben rückte sich ein wenig auf seinem Stuhl zurecht. -„So kommen wir nicht vom Fleck!“ meinte er. „Fangen -wir schön von vorn an. Warum soll denn eigentlich gestreikt -werden?“</p> - -<p>„Sehr richtig, das möchte ich auch wissen!“ platzte -Mark heraus. Leibinger aber fiel ihm sofort ins Wort: -„Der Grund ist doch schon längst bekannt. Die vereinbarte -Arbeitszeit soll vom Zeitpunkt des Einsteigens in -die Förderschale bis zum Zeitpunkt des Aussteigens gerechnet -werden. Nicht, wie die Kohlenbarone rechnen, von -der Ankunft bei der Arbeitsstelle im Schacht bis zum -Niederlegen des Werkzeugs dortselbst. Denn um zur -Arbeitsstelle zu gelangen, müssen die Leute oft stundenlang -im Stollen gehn, so daß sie elf und noch mehr Stunden -unter der Erde sind, statt der vereinbarten neun.“</p> - -<p>„Ja, aber da haben die Leute doch ganz recht, wenn sie -sich das nicht gefallen lassen!“ bekräftigte jetzt Mark und -tat sehr entrüstet.</p> - -<p>Hellwig sagte darauf: „Die Forderung ist berechtigt, -gewiß! Das habe ich schon hundertmal gesagt! Aber ebenso -oft hab’ ich euch vorgehalten, daß es jetzt einfach unmöglich -ist, sie mit Gewalt durchzusetzen. Die Leute haben -sich kaum vom letzten Ausstand erholt. Sommer ist auch. -Die Lieferungen sind nicht dringend, die Grubenbesitzer -können zuwarten, haben Zeit, haben die öffentliche Meinung -für sich, da die Ursache des Streiks zu geringfügig, -zu mutwillig erscheint. Und wir haben jetzt auch -die Mittel nicht, sie wirksam zu unterstützen. Auf den -Schiffswerften streiken achttausend. Wo sollen wir’s denn -hernehmen? Fragt Kolben! — Wie viel hast du in der -Streikkasse!“</p> - -<p>„Warte!“ erwiderte dieser und rechnete leise vor sich -hin. „Zwanzigtausendsechshundertzwei Kronen vierzehn — -zuletzt sind siebzehn Kronen acht dazu gekommen: — -Zwanzigtausendsechshundertneunzehn Kronen zweiundzwanzig -Heller!“</p> - -<p>„Da habt ihr’s! Das reicht kaum vier Tage!“</p> - -<p>Leibinger unterbrach ihn schnell: „Es ist weitaus genug, -wenn man die Spenden hinzurechnet. Und gar so lang -kann’s nicht dauern!“</p> - -<p>„Leibinger, nimm doch Vernunft an!“ rief Hellwig.</p> - -<p>„Das möcht’ ich <em class="gesperrt">dir</em> raten! Wir <em class="gesperrt">müssen</em> Erfolg haben!“</p> - -<p>„Auch ich wäre für den Versuch!“ bemerkte Anheim. -„Im Notfall kann die Arbeit jeden Tag wieder aufgenommen -werden.“</p> - -<p>„Und soundsoviel Lohntage sind beim Teufel!“ sagte -Fritz grimmig. Da glaubte Mark ein kräftiges Beweismittel -gefunden zu haben.</p> - -<p>„Die Wahlen stehen vor der Tür!“ rief er laut. „Hat -der Streik Erfolg, sind wir unüberwindlich!“</p> - -<p>Kolben griff das unüberlegte Geständnis sogleich auf. -„Ich danke Ihnen für das erlösende Wort, Herr Mark! -Ja, Fritz! Die Wahlen stehen vor der Tür, und Leibinger -will Abgeordneter werden.“</p> - -<p>„Wer sagt das?“</p> - -<p>„Ich, Herr Leibinger! Glauben Sie, ich weiß nicht, -daß Fritz Hellwig Ihrem Ehrgeiz im Wege ist? Daß -Sie gern an seiner Stelle Schriftleiter sein möchten? Und -ihm das Abgeordnetenmandat neiden, obwohl er’s noch -nicht hat?“</p> - -<p>„Nicht weiter, Albert!“ unterbrach ihn Hellwig unwillig. -„Das gehört nicht her!“</p> - -<p>Und Leibinger, kühn gemacht, schrie: „Verleumdung!“</p> - -<p>Kolben aber sprach unbeirrt fort, mit seinem leicht ironischen -Lächeln, mit seiner großen Ruhe und sehr sarkastisch:</p> - -<p>„O gewiß gehört das her! Es war kein Zufall, daß -ich ins Kohlengebiet gereist bin, gleich nachdem Herr Leibinger -von dort zurück war. Ganz und gar kein Zufall -war das. Und da hab’ ich so manches gehört, mein lieber -Fritz. Das, was ich eben von ihm behauptet habe, hat -Herr Leibinger den Leuten nämlich über dich gesagt, wenn -auch vielleicht nicht mit so feinen Worten. Du, Fritz, -seist der Streber, der Mandatsjäger, der unverläßliche -Mitläufer, der alles zu seinem Vorteil nützt und so weiter. -Und als Beweis soll dienen: Du werdest gegen den Streik -sein, denn du spielst mit den Grubenbesitzern unter einer -Decke. Jemand hat mir sogar anvertraut, im Rausch -natürlich, du seist von ihnen bestochen.“</p> - -<p>Fritz stand da, hatte die Fäuste geballt und starrte mit -weiten Augen den Sprecher an.</p> - -<p>„Ist — das — wahr?“</p> - -<p>„Ich hörte es so!“</p> - -<p>„Ich verwahre mich gegen eine solche Infamie!“ rief -Leibinger. Der Doktor beachtete ihn nicht.</p> - -<p>„Wenn ich nach dem Ursprung dieser Gerüchte fragte,“ -fuhr er trocken fort, „hat’s immer geheißen, die Gegenpartei -behauptet es. Aber einer, der mir sehr zugetan -ist und für dessen Verläßlichkeit ich jede Bürgschaft übernehme, -hat es im Interesse der Partei bitter beklagt, daß -— Herr Leibinger solche Sachen in Umlauf setze.“</p> - -<p>„Nennen Sie den Namen!“ rief Leibinger. Und Mark -unterstützte ihn mächtig: „Namen nennen! Namen nennen!“</p> - -<p>„Sparen Sie sich den Atem, meine Herrn!“ erwiderte -Kolben und spielte mit seiner Uhrkette. „Den Namen -geb’ ich Ihnen nicht preis!“</p> - -<p>„Aha!“ frohlockte Leibinger. „Dergleichen kennt man! -Alles ist erstunken und erlogen!“</p> - -<p>Kolben lehnte sich faul zurück: „Ich pflege zwar sonst -nicht zu lügen, aber wenn Herr Leibinger es sagt ...“</p> - -<p>Fritz aber trat mit schweren Schritten hart vor diesen -hin, der aufgesprungen war und sich vergebens mühte, -den unschuldig Gekränkten zu spielen. Mit seinem hellen -Blick schaute ihm Hellwig ins Gesicht und sprach leise, -mit erzwungener Ruhe: „Also — deswegen! Damit du -— deine eigenen Ziele — erreichst, sollen Zehntausende -— sollen sie tage- — vielleicht wochen- und monatelang -— hungern. Höre, Leibinger, ich bin“ — er tat einen tiefen -Atemzug und seine Stimme war spröd wie splitterndes -Glas — „ich bin nicht gewohnt, — mit Lumpen dieselbe -Luft zu atmen!“</p> - -<p>Leibinger lachte schrill auf und schrie: „Ich bin hier -genau so viel wie du! Übrigens — mit Beleidigungen -wirst du dich nicht rechtfertigen! Eher bestärkst du unsere -Gegner in dem Verdacht, daß doch was Wahres an der -Geschichte ist!“</p> - -<p>Anheim hielt sich für verpflichtet, einzuschreiten.</p> - -<p>„Hellwig, das geht zu weit!“ mahnte er. Und Mark -sekundierte: „Wir sind keine Lausbuben!“</p> - -<p>Der Obmann fuhr fort: „Auf eine Anschuldigung, die -sehr unwahrscheinlich klingt, — ich sage nichts gegen Herrn -Doktor Kolben, er kann falsch berichtet worden sein, — -auf eine vage Anschuldigung hin willst du den Stab über -einen verdienten Genossen brechen? <span class="antiqua">Audiatur et altera -pars!</span> Sei gerecht!“</p> - -<p>Und Mark sekundierte: „Wo sind die Beweise?“</p> - -<p>Da schäumte Fritz auf.</p> - -<p>„Der das gesagt hat,“ rief er leidenschaftlich, „der -wiegt mir hundert Zeugen auf!“</p> - -<p>Nun erhob sich der Obmann, räusperte sich und sprach, -als redete er in einer Volksversammlung. „Ich muß,“ -sprach er, „mich im Namen der gesamten Partei, die zu -führen ich die Ehre habe, auf das nachdrücklichste gegen -ein solches Vorgehen verwahren. Wer bist du denn, Hellwig, -daß du glaubst, mit uns wie mit Schuljungen umspringen -zu können? Jedenfalls steht hier, wie ich schon -betont habe, Behauptung gegen Behauptung und erst die -einzuleitende strenge Untersuchung wird ergeben, auf wessen -Seite das Recht ist!“</p> - -<p>„Beweise! Wo sind die Beweise!“ rief Mark.</p> - -<p>„Herr Mark!“ sagte Kolben. „Wir sind nicht taub. -Wozu beweisen, was schon längst nicht nur mir allein -bekannt ist. Ihr wißt es ja alle recht gut und freut euch -darüber, daß Leibinger für euch die Arbeit tut. Ihr wollt -den Hellwig los sein. Er ist euch zu groß geworden, drum -soll er ganz klein werden! So oder so!“</p> - -<p>Fritz stand ganz dicht vor den drei Männern.</p> - -<p>„Leute!“ bat er mit gefalteten Händen. „Seid aufrichtig! -Wenn ihr schon etwas gegen mich habt, so hetzt -nicht heimlich in so gemeiner Weise gegen mich, daß die, -denen ihr Führer und Berater sein sollt, das Bad aussaufen -müssen, sondern habt den Mut, mir’s offen und -ehrlich ins Gesicht hinein zu sagen!“</p> - -<p>Da sprach Anheim mit erhobener Stimme: „Hellwig, -es ist durch nichts bewiesen, daß sich Leibinger in irgendeiner -Weise unkorrekt benommen hat. Daran müssen wir -festhalten. Daß du nunmehr auch uns in Bausch und -Bogen verdächtigst, zeigt, wie falsch dein Standpunkt in -dieser Angelegenheit ist. Deine Mitarbeiterschaft war uns -stets wertvoll ...“</p> - -<p>„Das heißt, sie ist es gewesen!“ erläuterte Mark.</p> - -<p>„Aber,“ fuhr Anheim fort, „aber in letzter Zeit sind -Dinge vorgefallen, die geeignet sind, dich und deine Stellung -zu unserer Sache in einem schiefen Licht erscheinen -zu lassen. Namentlich als dein Buch herausgekommen -ist, das du auf den Markt geworfen hast, ohne uns zu -fragen —“</p> - -<p>Da sagte Kolben mit unverhohlenem Spott: „Ich denke, -die Herren sind entschiedene Gegner der Zensur!“</p> - -<p>Steif wehrte der Obmann den Ausfall ab: „Hier liegt -der Fall doch anders! Ein Parteimitglied schreibt gegen -die eigene Partei! So was ist noch nicht dagewesen! -Ja, Hellwig, dein Werk kommt vielen von uns vor wie -die Schriften der Jesuiten. Man kann das, was du sagst, -so oder so deuten.“</p> - -<p>„Wasch’ mir den Pelz und mach’ mich nicht naß!“ -nickte Mark eifrig.</p> - -<p>Jetzt tat der Doktor, was selten bei ihm vorkam, er -lachte hell auf: „Klarer als Hellwig hat doch nicht so bald -einer seine Ansichten niedergeschrieben!“</p> - -<p>„Das dachten wir im Anfang auch. Als jedoch fast -alle Gegner das Buch eines ihrer gefürchtetsten Widersacher -zu loben anfingen — von <em class="gesperrt">dem</em> Lob fällt ein ganz -eigentümlicher Widerschein auf die etwas krausen Wege -des Verfassers. Das wäre der erste Punkt. Zweitens hast -du, Hellwig, oft und oft scharfe Artikel erprobter Anhänger -entweder gar nicht oder nur in sehr verwässerter Form -in das Parteiblatt aufgenommen. Und sonderbarerweise -waren das immer Artikel, die gewissen geld- oder einflußreichen -Leuten auf die Finger klopfen sollten.“</p> - -<p>Fritz war einfach sprachlos. Er hatte die schöne Gepflogenheit, -jeden Aufsatz, der die mangelnde Sachlichkeit -durch Schmähungen zu verdecken suchte, dem Verfasser -zurückzuschicken. Das war alles.</p> - -<p>Anheim setzte seine Anklage fort:</p> - -<p>„Drittens endlich widerrätst du auch den Streik, von -dessen Notwendigkeit wir alle überzeugt sind. Kurz und -gut: Ich halte es entschieden für einen Fehler, der scharfe -Mißbilligung verdient, wenn sich Leibinger des von Herrn -Doktor Kolben behaupteten, aber durch nichts bewiesenen -Vorgehens gegen dich schuldig gemacht hat. Indes, nach -dem Vorgesagten, hätte er — nach meiner Ansicht und -nach der Ansicht vieler Parteimitglieder — gegen den -Freund Otto Pichlers zwar in der Form, kaum aber in -der Sache unrecht gehabt. Bedingungslos vertrauen können -wir dir nicht mehr. Wir haben das übrigens in einer -vertraulichen Sitzung schon früher festgestellt, und ich bin -beauftragt, alle diese Dinge beim nächsten Reichsparteitag -zur Sprache zu bringen. Wenn ich sie dir vorher mitteile, -um dir die Rechtfertigung zu erleichtern, so erblicke darin -einen Beweis, daß wir dich nur ungern verlieren würden.“</p> - -<p>Fritz war ganz farblos. Aber seine Augen funkelten wie -Stahl in der Sonne.</p> - -<p>„Bist du — zu — Ende?“ keuchte er und preßte die -Faust gegen die Brust, um dem übermächtigen Pochen des -Herzens Einhalt zu tun. Anheim bejahte mit einem stummen -Neigen des kahlen Hauptes. Da warf er den Kopf -zurück und gewaltsam die Erregung zerdrückend, sprach er -erst stoßweise und unsicher, dann immer kälter und verächtlicher:</p> - -<p>„Der langen Rede kurzer Sinn ist: Ich — bin von -den Geldmännern der bürgerlichen Parteien — bestochen -— käuflich wie eine Marktware. Daß ich — euch nicht zu -Gesicht stehe — wundert mich nicht. Aber — daß ihr -so jämmerlich seid, daß ihr so erbärmlich niedrig denken -könnt — macht das mit euch selber aus. Eins nur noch: -Ich bin der festen Überzeugung, daß nur der Zufall drei -solche Prachtexemplare in derselben Parteileitung zusammengeführt -hat. Die Partei achte ich nach wie vor — aber -betrachtet um euretwillen meinen Austritt mit dieser Sekunde -als vollzogen ...“</p> - -<p>Anheim hatte sich wieder erhoben.</p> - -<p>„Wir werden Ihren Entschluß der Partei zur Kenntnis -bringen,“ sagte er förmlich.</p> - -<p>Und als Hellwig bereits die Klinke in der Hand hatte, -rief ihm Mark noch schadenfroh nach: „Der Streik beginnt -natürlich Montag!“</p> - -<p>Da wandte er sich und seine Augen lohten.</p> - -<p>„Der Streik beginnt <em class="gesperrt">nicht</em>!“</p> - -<p>Mark lachte höhnisch, und Leibinger tat jetzt wieder den -Mund auf: „Setz’ dich nur aufs hohe Roß, du dunkler -Ehrenmann!“ rief er. „Wir bringen dich schon herunter!“ -Aber Hellwig hatte bereits die Tür hinter sich zugemacht.</p> - -<p>Im Lesezimmer stand er wie betäubt. Kolben legte ihm -die Hand auf den Arm: „Nun, Fritz?“</p> - -<p>„Laß nur, Albert ... laß!“</p> - -<p>Den gläsernen Briefbeschwerer nahm er vom Tisch, hielt -ihn gegen das Licht, sah hindurch und legte ihn aufs Fensterbrett. -Er ließ das Gewebe der Stoffvorhänge durch seine -Finger gleiten, als wollte er die Festigkeit der Fäden prüfen. -Er öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus und schloß -es dann gleich wieder.</p> - -<p>Immer heftiger arbeitete es in ihm. Und endlich sank -er, der in seiner Vertrauensseligkeit Getäuschte, in seiner -kinderklaren Arglosigkeit Betrogene, sank Fritz Hellwig -schwer auf einen Stuhl und legte beide Hände vors Gesicht.</p> - -<p>„Das arme Volk!“ stöhnte er zu tiefst aus der Brust -heraus. „Das arme, arme Volk!“</p> - -<div class="section"> -<h3>10.</h3> -</div> - -<p>Aber er blieb nicht untätig dem Schmerz hingegeben. -Am selben Nachmittag noch reiste er in den Kohlenbezirk. -Pfannschmidt, telegraphisch verständigt, erwartete ihn. Noch -in der Nacht wurde ein Flugblatt fertig. Den nächsten -Abend sollte eine Versammlung, am Sonntag aber ein -Meeting unter freiem Himmel abgehalten werden. Der -anbrechende Morgen fand Hellwig mitten unter den Bergleuten. -Er fuhr von Schacht zu Schacht, verständigte die -Knappschaften, verteilte die Flugblätter.</p> - -<p>Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht von -seiner Anwesenheit. In hellen Haufen kamen sie abends -in den Versammlungssaal. Dort hatten sich auch Anheim -und Leibinger eingefunden.</p> - -<p>Von stürmischem Jubel begrüßt, trat Hellwig hinter -den Rednertisch. Es dauerte Minuten, bevor er sich verständlich -machen konnte. Dann aber wurde es lautlos -still. Seine geschulte Rednerstimme war bis in den entferntesten -Winkel des großen Raumes vernehmbar. Leibingers -Anhang versuchte wohl anfangs durch Räuspern -und Scharren den Redner zu stören. Aber Anheim winkte -ab. Er hatte sich für das Zuwarten entschieden.</p> - -<p>Was Hellwig sagte, klang auch gar nicht aufreizend. -Nüchtern und sachlich gab er seine Gründe gegen den Streik -bekannt. Als sie merkten, wohinaus er wollte, begannen -viele zu murren und dazwischen zu rufen. Denn sie hatten -sich bereits mit dem Gedanken an den Ausstand vertraut -gemacht.</p> - -<p>Da flammte er auf. Jedes Wort schlug ein. Und es -währte nicht zehn Minuten, da waren sie wieder in seinem -Bann. Aus den geröteten Gesichtern, die in gespannter -Aufmerksamkeit ihm zugewendet waren, aus den glänzenden -Augen, die jeden Satz von seinen Lippen vorwegzunehmen -verlangten, las er die Wirkung, spürte er heraus, -daß er wieder Fühlung mit ihnen hatte. Und als er sie -jetzt zur Entscheidung aufforderte, da stimmten unter tosendem -Beifall fast alle gegen den Streik.</p> - -<p>Im ersten Anlauf hatte er den Kampf bereits so gut -wie gewonnen. Nach ihm hätte Leibinger zu Wort kommen -sollen. Statt seiner stand Anheim auf. Ein starres Festhalten -am Streik konnte der Partei nur schaden. Das sah -der Obmann ein und gab seiner Meinung dahin Ausdruck, -daß es wohl am besten sei, die Entscheidung den Arbeitern -zu überlassen. Er konnte sich an den Fingern ausrechnen, -wie die Entscheidung ausfallen mußte. Doch war der Rückzug -geschickt in Szene gesetzt, das Ansehen der Partei -brauchte nicht darunter zu leiden. Von Hellwigs Austritt -erwähnte der Obmann nichts. Er hoffte, da auch Fritz -geschwiegen, daß sich die leidige Geschichte vielleicht doch -bis nach den Wahlen vertuschen oder irgendwie werde beilegen -lassen.</p> - -<p>Dem Meeting am Sonntag aber schenkte Hellwig ganz -reinen Wein ein. Schonungslos brachte er alles zur Sprache, -was zum Bruch geführt hatte und forderte Leibinger auf, -sich zu rechtfertigen. Der jedoch wagte es nicht. Denn -unter den Versammelten waren viele, die seine Ausstreuungen -mit eigenen Ohren gehört hatten und jetzt durch -laute Zurufe bestätigten. Er überließ es Anheim, die verlorene -Sache zu führen. Aber die Leute wollten auch den -nicht hören. Sie tobten und schrien, schleuderten dem Obmann, -der auf der Felsplatte stand, ihre Empörung ins -Gesicht. Wer seine Stimme für Leibinger erheben wollte, -wurde niedergebrüllt, mundtot gemacht, mit Püffen und -Stößen herumgeschoben, bis er still war oder sich entfernte.</p> - -<p>Es hätte nur eines Winkes von Hellwig bedurft und -die Mehrzahl wäre von der Partei abgefallen. Doch das -wollte er nicht. Die Kräfte durften nicht zersplittert werden, -unter dem Gegensatz zwischen einzelnen durfte die -Gesamtheit nicht leiden. Deswegen beruhigte er die Aufgeregten. -Man dürfe, sagte er, das Kind nicht mit dem -Bad ausschütten, weil einer oder der andere sich unwürdig -erwiesen habe, nicht die Partei verdammen. Es sei ihm -nicht leicht geworden, den Kampf aufzunehmen. Aber rechtfertigen -habe er sich gerade vor ihnen wollen und müssen. -Und er habe es für seine Pflicht gehalten, sie nach Pichler -vor Leibinger zu bewahren. Nicht gegen die Partei richte -sich sein Angriff, denn die Partei sei rein, habe schon -Großes erreicht und durch feste, lautere Eintracht werde -sie alles erreichen. Schließlich riet er ihnen, einen bewährten -Mann aus ihrer Mitte in den Reichsrat zu entsenden -und schlug Karl Pfannschmidt vor. Sie aber verlangten -ungestüm, daß er selbst sich bewerbe. Er weigerte -sich. Denn dadurch wäre der Zwist erst recht entfacht -worden. Solang die jetzige Leitung blieb, konnte er nicht -mit der Partei gehen. Und gegen sie wollte er nicht gehen. -Von der Uneinigkeit hätten nur die Gegner Nutzen gezogen. -Und er sagte ihnen, daß er noch einmal zu ihnen -kommen werde, wenn sie es forderten. Er wollte ihnen -zu besonnener Überlegung Zeit lassen und den Ernst ihrer -Gesinnung prüfen. Sie jubelten ihm zu, umdrängten und -begleiteten ihn wie einen Triumphator in die Stadt. Dann -reiste er ab.</p> - -<p>Und sie — riefen ihn nicht zurück.</p> - -<p>Kaum war er fort, setzte heimlich, aber um so gehässiger -die Wühlarbeit gegen ihn ein. Seine Feinde waren durch -den schnellen, mit gewaltigem Ungestüm geführten Angriff -überrumpelt worden. Doch da er den Sieg nicht ausnützte, -fanden sie Zeit, sich zu sammeln. Leibinger zeigte sich -nicht mehr. Aber seine Kreaturen waren unermüdlich am -Werke.</p> - -<p>Fortwährend und überall wurde jetzt von Hellwig gesprochen. -Aber es war nur selten Gutes, was man sich -von ihm zu erzählen hatte. Und nach manchem Für und -Wider, nach halben Andeutungen und vielsagendem Schweigen -kam man gewöhnlich überein, es sei eigentlich unerfindlich, -worin sein Verdienst bestehen sollte. Er habe -einfach Glück gehabt. Der große Erfolg von damals sei -nicht auf seine Rechnung zu setzen; dazu habe die Katastrophe, -die zur rechten Zeit hereinbrach, das meiste beigetragen. -Die eigentlichen Kämpfer und Sieger seien jedoch -die Arbeiter gewesen. Die allein haben darunter gelitten, -dafür gehungert, die volle Schwere des Feldzuges am eigenen -Leib verspürt. Hellwig habe eigentlich nur zugesehen -und geredet. Jetzt aber nehme er die Lorbeeren ganz für -sich in Anspruch, maße sich das Recht an, andere zu hofmeistern, -zu beleidigen, als Spielball zu gebrauchen, seine -Meinungen ihnen aufzuzwingen. Die Freiheit führe er -zwar fortwährend im Munde, aber gleichzeitig übe er unerhörteste -Zwangsherrschaft gegen alle, die ihm nicht unbedingte -Gefolgschaft leisten, er habe ganz das Zeug zum -Diktator. Dem müsse vorgebeugt werden. Das Volk müsse -selbst über sich herrschen, dürfe nach niemandes, auch -nicht nach Hellwigs Pfeife tanzen.</p> - -<p>So wurde geredet, und die bewegliche Menge, seinem -persönlichen Einfluß entrückt, schenkte diesen Reden gern -und willig Gehör. Und da Leibinger vorderhand doch nicht -gut selbst als Wahlwerber auftreten konnte, war das Schlußergebnis, -daß Pfannschmidt wieder als Bergmann arbeitete, -August Mark zum Abgeordneten gewählt wurde und der -Streik, der förmlich Hellwig zum Trotz doch noch versucht -worden war, mit einem Mißerfolg endete.</p> - -<p>Der Bruch mit der Parteileitung war Hellwig nicht -so nah gegangen als die Haltung der Bergarbeiter, kurz -nachdem sie ihm zugejubelt und ihn wie einen Halbgott -gefeiert hatten. Doch fand er auch hier Entschuldigungsgründe -für ihren Wankelmut. Er war auf halbem Wege -stehn geblieben, hatte den begonnenen Kampf nicht bis -zu Ende geführt. Eine Hanswurstiade war das gewesen, -die Leute hatte er verwirrt, ohne ihnen einen Weg aus -dem Irrsal zu zeigen, und es war kein Wunder, wenn sie, -von ihm im Stich gelassen, wieder jenen folgten, an deren -Führerschaft sie nun einmal schon gewöhnt waren. Nachträglich -hatte sein Ausscheiden aus der Partei zwar noch -einigen Staub aufgewirbelt, wäre es fast zu einer Spaltung -im geeinigten Lager gekommen. Da er aber nichts von sich -hören ließ, sich ganz vergrub und verschollen blieb, legte -sich die Aufregung, es wurde stiller, und man vergaß ihn -allmählich.</p> - -<p>Und er wühlte sich immer tiefer in seine Arbeiten hinein, -studierte, las und schrieb die Tage und die halben Nächte -durch. Denn er war jetzt ausschließlich auf die unsicheren -Einkünfte angewiesen, die er von den Zeitschriften für -Beiträge gezahlt erhielt. Und da sparte er und knauserte -und versagte sich sogar die gewohnten Zigarren, immer in -Sorge, daß er einmal nicht genug verdienen und gezwungen -sein könnte, die Mitgift seiner Frau anzugreifen.</p> - -<p>Und Eva sollte Mutter werden.</p> - -<div class="section"> -<h3>11.</h3> -</div> - -<p>Da ließ sich eines Tages Leo Reinholt bei ihm anmelden. -Der besaß außer einem großen Vermögen im -Ostwinkel des Reiches eine Tuchfabrik mit Spinnereien, -Webereien, Färbereien und allem, was dazu gehörte. Die -Wohnungen, die er dort seinen Bediensteten aufgebaut, -waren musterhaft, und die Wohlfahrtseinrichtungen, die -er sonst noch geschaffen, hatten seinerzeit viel von sich -reden gemacht. Der also ließ sich eines Tages bei Hellwig -anmelden.</p> - -<p>Fritz empfing ihn sehr zurückhaltend. „Was verschafft -mir die Ehre?“ fragte er steif und wies auf einen Stuhl -neben dem Schreibtisch. „Wollen Sie Platz nehmen?“</p> - -<p>Ungezwungen kam der Fabrikant der Einladung nach. -Er war beinahe ebenso groß, aber schmächtiger als Hellwig, -hatte auffallend kleine Hände und blickte aus hellen braunen -Augen treuherzig in die Welt. Im dunklen Haarschopf -leuchtete das Weiß einer werdenden Glatze.</p> - -<p>„Haben Sie eine Viertelstunde Zeit für mich?“ fragte -er, indem er sich setzte.</p> - -<p>„Da müßte ich wohl zuvor wissen, um was es sich -handelt.“</p> - -<p>„Das läßt sich nicht so einfach sagen ... Sie sind -gegenwärtig ohne feste Stellung?“</p> - -<p>„Über meine Privatverhältnisse glaube ich Ihnen keine -Rechenschaft schuldig zu sein.“</p> - -<p>Der andere lächelte leicht: „Gewiß nicht!“ Und immer -nur wie ganz beiläufig und nebenbei fuhr er fort: „Ja, -also, wie soll ich Ihnen das auseinandersetzen? — Ich -habe mich eingehend mit Ihrem Buch befaßt, sehr eingehend, -ja. Und, also, die Vorschläge, die Sie machen, die -scheinen mir durchführbar und, was die Hauptsache ist, -rentabel. Ja, also — kurz und gut, ich beabsichtige meine -Fabrik danach einzurichten und, ja — wenn Sie wollen — -Sie könnten mir dabei helfen.“</p> - -<p>Fritz sprang auf. Mit einem jähen, ungestümen Satz.</p> - -<p>„Ist das Ihr Ernst?“</p> - -<p>„Wäre ich sonst hier?“ Der Fabrikant zündete sich eine -Zigarre an. „Sie erlauben doch? — Darf ich vielleicht -aufwarten?“ Er hielt Hellwig die Ledertasche hin. Der -beachtete es gar nicht. Mit langen Schritten lief er durchs -Zimmer. Dann machte er wieder vor dem Besucher halt, -schaute ihn zweifelnd an: „Ja — aber — wieso ...? Ich -weiß nicht, was Sie veranlassen könnte ... Scherzen Sie -denn wirklich nicht?“</p> - -<p>Reinholt blies den grauen Rauch in die Luft. „Warum -wundert Sie das eigentlich? Ich sage ja, ich halte die -Geschichte für rentabel. Für mich ist das ein Geschäft wie -jedes andere, eine Spekulation meinetwegen, die glücken -oder fehlschlagen kann. Das weiß ich vorläufig noch nicht. -Glückt sie, ist’s gut. Wenn nicht, hab’ ich mich eben verrechnet -und muß die Folgen tragen.“</p> - -<p>Er sagte das alles im trockensten Geschäftston. Und -doch war im Grunde seiner braven Augen etwas, das zu -dieser kaufmännischen Sachlichkeit nicht stimmte. Etwas -Warmes, nur gedämpft wie hinter Schleiern Leuchtendes, -— Güte, die nicht erkannt sein wollte.</p> - -<p>Fritz hatte seine Wanderung durch das Zimmer wieder -aufgenommen. Die Arme auf dem Rücken verschränkt, -schritt er ruhlos auf und ab und schaute zur Decke, als -ob er von dort etwas herablesen wollte. Dann wieder -blieb er stehen, schüttelte den Kopf und bewegte die Lippen -wie im Selbstgespräch. Reinholt beobachtete ihn eine gute -Weile. Endlich rief er ihn an: „Herr Hellwig ...“</p> - -<p>Da schrak er aus seiner Versunkenheit auf: „Ja?“ -und schaute den Fabrikanten fremd an.</p> - -<p>„Wir wollen die Sache nicht überstürzen, Herr Hellwig. -Es hat ja Zeit. Ich mute Ihnen keine sofortige Entscheidung -zu. Nur einige Aufklärungen möchte ich Ihnen -noch geben, dann überlegen Sie sich’s und lassen mich, -sagen wir in vier Wochen, Ihren Entschluß wissen. So -lang bleibe ich Ihnen im Wort.“</p> - -<p>Das klang wieder sehr nüchtern und vernünftig. Und -diese kühle Art ließ auch Fritz ruhiger werden; aufmerksam -hörte er zu, wie jetzt der Fabrikant in großen Umrissen -seinen Plan entwickelte.</p> - -<p>Als er gegangen war, blieb Hellwig noch lang unbeweglich -vor dem Schreibtisch sitzen. Da hatte ihm einer die -Möglichkeit gezeigt, wie er sein Lebenswerk erfüllen konnte. -Und es war ihm, als ob er in eine ungeheure Helligkeit -schaute, die ihn blendete und alle Gegenstände überstrahlte, -so daß nichts anderes zu sehen war als Licht und Licht. -So — wie man die Möven nicht sieht, die Barken nicht -und nicht die Schiffe, wenn die Sonne auf den See scheint -und seine Fläche zum Spiegel macht. Und man weiß doch -ganz sicher, daß dort klares Wasser ist und freut sich und -kann es nicht erwarten, bis man die Kleider vom Leib -ziehen und in dem kühlen Silber untertauchen kann.</p> - -<p>Da tat sich die Tür auf und Eva kam herein, sacht, -schüchtern, mit dem aufrechten Königinnengang des tragenden -Weibes. Nun sprang er empor, hob die Arme seitwärts -und aufwärts, mit einer so ungestümen, frohen -und leidenschaftlichen Bewegung, als wollte er eine Welt -umspannen.</p> - -<p>„Eva ...“ stammelte er. „Eva ...“</p> - -<p>Eine Sekunde nur schaute sie ihn befremdet an und -wunderte sich über den Glanz in seinen Augen. Dann -wußte sie, daß eine Wendung eingetreten, daß ein großes -Glück für ihn im Anzug sei. Mit ausgestreckten Händen trat -sie auf ihn zu: „Fritz ... Ist’s jetzt wieder gut, Fritz?“</p> - -<p>„Ja!“</p> - -<p>Und nun erzählte er es ihr. Aber während er redete, -verlor sich mehr und mehr die beschwingte Zuversicht der -ersten Freude. Er begann von den Hindernissen zu sprechen, -die zu beseitigen, von den Schwierigkeiten, die zu überwinden -waren. Die Skrupel kamen, aus Licht wurde -Schatten und keins der Bedenken, die ihm aufstiegen, -verhehlte er ihr. Nach Reinholts Schilderung lag die Industrie -in jenem Lande zwar sehr im argen, aber gerade -in der Gegend, wo auch sein Unternehmen stand, waren -noch einige kleinere Spinnereien und Webfabriken, die -insgesamt kaum zweitausend Leute beschäftigten. Doch -diese gehörten fast ausnahmslos zu jener Partei, die gegen -Hellwig als Abtrünnigen den Bannfluch geschleudert hatte.</p> - -<p>Für den Anfang, zu diesem Schluß kam er endlich, für -den Anfang werde sich wohl eine Trennung nicht vermeiden -lassen. Erst wenn der ärgste Wirrwarr vorüber, die neue -Ordnung einigermaßen befestigt sei und sich eingelebt habe, -werde ihm Eva folgen können.</p> - -<p>Sie hörte es und wurde blaß. „Und das Kind?“ fragte -sie tonlos.</p> - -<p>Einen Augenblick zögerte er mit der Antwort. Er fühlte -ein Würgen in der Kehle. Aber sie sollte, sie durfte nicht -merken, wie nah es ihm ging. „Ich werde euch unterdessen -nach Neuberg bringen,“ sagte er. Da ließ sie traurig -den Kopf sinken und sprach kein Wort mehr.</p> - -<div class="section"> -<h3>12.</h3> -</div> - -<p>Hellwig nahm das Anerbieten Reinholts an. Der Entschluß -war ihm nicht leicht geworden. Erst als er ganz -mit sich im reinen war, sagte er ja. Aber nun er sich -einmal entschieden hatte, glaubte er um so sicherer an -den Erfolg. Verläßliche Leute wurden angeworben, die -eine Art Kerntruppe für das neue Unternehmen abgeben -sollten. Pfannschmidt war darunter, der alte Kesselwärter -Bogner, auch einer von den Brüdern Otto Pichlers. Die -reisten mit Reinholt gleich ab. Hellwig wollte noch die -Entbindung Evas abwarten.</p> - -<p>Und Evas schwere Stunde kam. Die Geburt währte -lang, ein Arzt mußte gerufen werden. Fritz war im Zimmer -daneben. Die Tür war angelehnt, aber hinein ging -er nicht. Auf daß sie später einmal sich nicht doch vielleicht -irgendwie vor ihm schäme, weil seine Augen ihre allerhilfloseste -Menschlichkeit gesehen. Er hörte das kalte Klirren -der Instrumente, die gedämpften Anordnungen des -Arztes, das leise Stöhnen seines Weibes. Und er wußte -nicht, wie es stand. Die Ungewißheit marterte ihn, die -Angst und das Bewußtsein seiner Ohnmacht. Daß er so -dastehen mußte und ein Liebes leiden lassen mußte und -nicht helfen konnte. Und mit einemmal überkam es ihn -und zwang ihn, in seinem Herzen zu wühlen, die verborgensten -Falten zu durchwühlen, ob nicht doch vielleicht -irgendwo ein Fetzen vom verlorenen Gottglauben zurückgeblieben, -an den er sich klammern, den er umkrallen -könnte wie der jämmerlichste Betbruder den Rosenkranz. -Aber er fand nichts. Wie ein gefangenes Tier im Käfig -rannte er ohne Pausen um den Tisch, den Kopf nach vorn -geduckt, die Augen starr, mit steif gestrafften Armen und -geballten Fäusten. Und empfand seine Ohnmacht und -spürte den Widersinn, daß Leben unter entsetzlichen Qualen -vom Leben sich losreißen muß, und hörte die Ketten klirren -und die Peitsche sausen.</p> - -<p>Und dann war drinnen ein weherer Ton. Und dann — -der erste Schrei seines Kindes. Da wurde er totenblaß — -und seine Arme hoben sich langsam und breiteten sich aus -und ein zitterndes Schluchzen kam ganz von tief aus seiner -Brust. Und er ging in die Küche, wo weinend die Magd -saß. „Marie ... es ... es schreit schon,“ sagte er fremd, -mit weicher, bebender Stimme — und schritt wieder wie -im Traum in das Zimmer zurück und stand und horchte.</p> - -<p>Mittag war nahe. Um die halbentlaubten Bäume im -herbstlichen Garten floß der Sonnenschein, blau funkelte -der Himmel durch die offenen Fenster, und warme weiche -Luft drang herein. Und im nahen Kirchturm begannen -alle Glocken auf einmal zu läuten. Und die Glocken läuteten -und läuteten, und das Kind schrie und schrie und -überschrie das Geläute, heller, freudiger, lebenswilliger — -er war noch nie vorher so fromm gewesen wie in dieser -Stunde. —</p> - -<p>Noch ein anderer hatte mit Fritz gebangt und gelitten. -Doktor Kolben, der jetzt den Arzt hatte weggehen sehen -und heraufkam, nur bis in das Vorzimmer, und sich erkundigte. -Und als er hörte, daß ein Junge angekommen -sei, da lachte er über das ganze Gesicht und lief wieder -fort. Und schon nach einer kleinen Weile kam er noch -einmal und brachte einen großen Strauß blühender Rosen -für die junge Mutter. So viele ihrer der Gärtner gehabt -hatte, so viele hatte er hergeben müssen.</p> - -<p>Den nächsten Tag kam Frau Wart von Neuberg hergereist -und im geruhigen Lauf der Stunden fügte sich -mählich alles in die neue, von dem jungen Menschlein beherrschte -Ordnung. Aber Fritz schwankte wieder und zauderte -und verschob seine Abreise Woche um Woche. Es -war ihm, als hätte er Eva zum andernmal gewonnen. -Und während sie sich langsam wieder aufrichtete, entfaltete -sich neben ihr noch ein zweites, ein neues Menschenleben, -das ihr und ihm gehörte und doch wieder nicht gehörte, -das hilflos in ihre reifen Hände gegeben war, daß -sie es formten und sicher einfügten in das rollende Räderwerk -der Gegenwart. Und es würde forttreiben und ein -Teilchen ihres Wesens mit hinüber tragen in eine Zukunft, -die nicht mehr die ihre war. Er konnte lang und immer -wieder vor dem weißen Schlafkörbchen seines Buben stehen -und den Rätseln des Lebens nachsinnen, indes der Säugling -ruhig atmend schlief, mit kaum beflaumtem Kopf und -einem blassen Gesicht, das ohne Bewegung war, leidenschaftslos -und ohne Arg wie die glatte Meeresfläche — -und doch birgt sie ungezählte wunderbare Möglichkeiten, -schöne und wilde, furchtbare und sanfte, unter ihrem harmlosen -Frieden.</p> - -<p>Und die Trennung wurde ihm schwer. Schon erwog -er den Gedanken, Weib und Kind gleich mit sich zu -nehmen. Er schrieb auch an Reinholt deswegen. Doch -der riet ihm ab. Die Lage sei so einfach nicht, die Gegend -außerdem öd, die Lebensmittel, und namentlich eine keimfreie -Milch, nur sehr schwierig zu beschaffen. Denn die -nächste größere Stadt sei viele Meilen weit entfernt und -eine sanitätspolizeiliche Überwachung gebe es so gut wie -gar nicht. Es sei schon besser, wenn sich Fritz die Sache -vorerst ansehe und sich einlebe.</p> - -<p>Er las das Schreiben und spürte heraus, daß ihm -nicht alles gesagt wurde. Und der Zwiespalt in ihm wurde -immer größer. Es drängte und zog und trieb ihn nach -dem Ort, wo seine Gedanken Tat werden sollten — und -hielt ihn doch mit tausend Fäden fest in seinem Heim. -Kolben merkte gut, wie es um ihn stand. Doch er redete -da nichts hinein, riet nicht ab und stimmte nicht zu. In -Eva aber war die Mutterzärtlichkeit aufgeweckt und die -Liebe zum Kinde ließ sie alles andere als unwichtig hintansetzen. -Und wenn sie ihn vordem eher aufgemuntert -und sich gefreut hatte, weil sie ihn fröhlich sah, so bat -sie ihn jetzt, daß er bei ihr bleibe oder sich gedulde, wenigstens -ein Jahr noch, bis das Kleine stärker und widerstandsfähiger -geworden und eine Übersiedelung leichter zu -bewerkstelligen wäre. Und fast hätte sie ihn umgestimmt, -und schon wollte er Reinholt bitten, ihn seines Versprechens -zu entbinden, obwohl der Fabrikant bereits alle Vorbereitungen -traf, Zubauten aufführte, Leute aufnahm, Ungeeignete -fortschickte und nur die Ankunft Hellwigs abwartete, -um mit der Einrichtung des neuartigen Betriebes -ungesäumt zu beginnen. Eine Absage im letzten Augenblick -mußte ihm einen empfindlichen Schaden bringen, -das wußte Fritz. Und seine Nächte wurden schlaflos und -unstet wieder seine Tage, er kämpfte schwer und konnte -und konnte sich nicht entscheiden.</p> - -<p>Und da war es wieder jene Frau, der er schon so vieles -zu danken hatte, die ihm mit behutsamen Händen die -Hindernisse wegräumte und das sichere Vertrauen wiedergab, -Frau Hedwig, seine zweite Mutter, wie er sie einst -genannt hatte. Sie wollte verhüten, daß er sich gegen -Reinholt entscheide. Denn das hätte niemandem gefrommt. -Ihm nicht, weil ihn später ganz gewiß der Gedanke gepackt -und gequält und nicht mehr losgelassen hätte, daß -er die Gelegenheit, sein vermeintliches Lebenswerk zu vollenden, -nutzlos habe vorübergehen lassen. Und den Seinen -nicht, weil sie sich später selbst den Vorwurf nicht erspart -hätten, daß sie ihn elend gemacht und schuld an seinem -Leiden hätten. Deswegen suchte sie mit behutsamem Takt, -ohne daß er es merkte, seinen Entschluß zugunsten Reinholts -zu beeinflussen. Und sie tat es um so beruhigter, da für -Eva mit ihrem Buben bei den Großeltern in Neuberg -eine sonnige Zuflucht bereit stand.</p> - -<p>„Wann wirst du denn abreisen?“ fragte sie ihn einmal -und sie fragte, als ob alles glatt und seine Abreise eine -selbstverständliche und von allen erwartete Sache sei.</p> - -<p>„Das hat noch gute Wege!“ erwiderte er unwirsch.</p> - -<p>Sie tat erstaunt: „Gute Wege? Ich hab’ gedacht, sie -brauchen dich schon sehr notwendig.“ Er trommelte mit -den Fingern auf der Tischplatte und gab keine Antwort. -Da trat sie ganz nah zu ihm und sagte ganz leise, mit -großer Überwindung: „Fritz — es ist vielleicht doch besser, -weißt du ... damit ... unser Heinz — er hat Ähnliches -gewollt, Fritz ...“</p> - -<p>Mit einem Satz stand er auf den Füßen, hatte die Hand -im Ausschnitt der Weste verkrampft und atmete heftig. -Aber kein Wort kam über seine Lippen. Ihre Bewegung -niederkämpfend, fuhr sie tapfer fort: „Du hast ihm ja -auch dein Buch zugeeignet — und was da jetzt ins Leben -treten soll — es wäre die Vollendung dazu ...“</p> - -<p>Noch immer gab er keine Antwort. Und noch, als sie -sich langsam wandte und aus dem Zimmer ging, stand er -wie ein steinernes Bild und hielt sie nicht zurück. Aber -ihre Worte wirkten nach. Ein ehrendes Totenmal hatte -er dem Freund errichten wollen, dem flammend in den -Tod gegangenen Freund ... Und da, nach Tagen und -Nächten schweren Ringens fiel es mit einemmal auf ihn: -Wenn — alles so bleibt und das Suchen nicht aufhört — -und dein Junge später einmal — er ist ja eines Blutes -mit dem Toten und mit dir — es könnte mit ihm gerade -so werden später einmal. Darum — tu’s! pack’ zu! versuch’, -ob du’s zwingen kannst! — Wirb um die heutigen -Herren und erobere sie durch eine unwiderlegliche große -Tat! — Damit dein Bub nachher ruhig weiter bauen -kann — und vorwärts kommen kann zu den Quellen des -Menschentums, ohne im vorgelagerten Sumpf stecken zu -bleiben — und darin zu ersticken, wie Heinz — und beinahe -du selbst ...</p> - -<p>Und er entschied sich für Reinholt. Und je länger er -bisher gezaudert hatte, je hastiger betrieb er jetzt die Reise. -Eva sollte unterdessen nach Neuberg, bis er sie in einiger -Zeit werde zu sich holen können. Aber sie wollte nicht -nach Neuberg. Sie fürchtete sich vor den Leuten. „Er -hat sie sitzen lassen, na ja, das hat ein Blinder voraussehen -können!“ So würden sie reden und sich anstoßen -und ihr nachschauen und sich teilnehmend und mitleidig -und hämisch nach dem Vater des Kindes erkundigen. Und -auch ihr Vater würde nicht anders denken. „Es hat so -kommen müssen, Mutter. Er und Heinz, die zwei haben -ja nie ein Herz für ihre Familie gehabt!“ Deutlich glaubte -sie zu hören, wie er das sagte. Und ganz im letzten Winkel -ihres Herzens regte sich etwas wie eine vage, dumpfe -Ahnung, daß Fritz einst wiederkehren würde — und nicht -als Sieger. Und daß er dann sein Heim so wieder finden -müßte, wie er es verlassen. Weit schob sie den Gedanken -von sich, aber er ließ sich nicht bannen und so sehr sie -sich mühte, an Hellwigs Erfolg zu glauben, ganz leise -und ganz heimlich zweifelte sie doch daran. Deswegen -war sie taub für das Zureden der Mutter und hörte nicht -auf Fritz. Sie wolle vorläufig alles unverändert beim -alten lassen, bis er einen Überblick haben und ihr wenigstens -annähernd werde sagen können, wie lang die Trennung -notwendig sei. Dann wolle sie sich’s erst zurechtlegen. -Dabei blieb es. Und als Fritz abgereist war und bald -darauf auch Frau Hedwig nach Neuberg zurück mußte, -da hatte Eva in der großen Stadt keinen Einzigen, an -den sie sich wenden konnte, als den Doktor Albert Kolben.</p> - -<hr class="chap" /> -<div class="chapter"> -<h2><a name="Fuenftes_Buch" id="Fuenftes_Buch">Fünftes Buch</a></h2> -</div> - -<h3>1.</h3> - -<p class="drop-cap">In einer weiten Ebene, zwischen Buchenbeständen und -buschigem Wiesenland, lag das große Unternehmen -Leo Reinholts. Die Eisenbahn führte vorüber, ein paar -Dörfer waren in der Nähe, die sich mit verstreut in großen -Zwischenräumen stehenden Häusern stundenweit hinzogen. -Und dazwischen waren längs der Bahn noch ein paar -kleinere Fabriken, Gründungen findiger Konkurrenten, die -aber nicht recht emporkommen wollten und zum Gedeihen -zu schwach, zum Eingehen zu jung, in kümmerlicher Unzulänglichkeit -sich fortfretteten. Die Einheimischen aber, zumeist -Ruthenen und schlaue Polen, haßten die Schornsteine -und die roten Ziegeldächer der Fabriken. Denn die -hatten ihnen die beschauliche Ruhe gestört, die mit schlechtestem -Branntwein zufriedene Bedürfnislosigkeit abgewöhnt -und die Löhne verteuert durch einen Schwarm fremdsprachiger -Arbeiter, die noch obendrein wegen ihrer Wissenschaft -des Lesens und Schreibens und wegen ihrer größeren -Weltkenntnis auf das Bauernvolk herabschauten, sich besser -dünkten und die Herren spielen wollten. So waren die -Klassenunterschiede schärfer als sonstwo ausgeprägt und -drängten die Arbeiter der einzelnen Betriebe stärker als -sonstwo zum Zusammenschluß. Ein ganz leidliches Einvernehmen -hatte bisher unter ihnen geherrscht, und fast -ohne Ausnahme waren sie Sozialdemokraten. Da kam -nun plötzlich Reinholt und forderte von seinen Leuten, -daß sie es nicht mehr seien. Und wer sich nicht darein -schicken wollte, bekam seinen Abschied. Er hielt strenge -Musterung, mußte sie auch halten, denn für sein Experiment -— nichts anderes war es — brauchte er ganz -zuverlässige Leute.</p> - -<p>So entstand eine Spaltung. Da kam Hellwig und richtete -das neue Unternehmen ein. Wie der Haushalt einer -einzigen Familie wurde das. Eine große Küche war da, -mit Dampfheizung und papinischen Kesseln, dort wurde -für alle auf einmal gekocht. Reine und luftige Speisehallen -gab es, eine Bücherei mit weiten Leseräumen, einige -Spielzimmer, auch ein Theater und einen Tanzsaal. Ein -Krankenhaus, eine Schule und ein Altersheim wurden -gebaut, im Park waren Tummelplätze für die Kinder und -Erholungsstätten für die Erwachsenen, Bäder und Turnsäle -fehlten nicht. Die Frauen sollten beim Kochen helfen, -die Wäsche besorgen, im Gemüse- und Obstgarten arbeiten -oder die Kinder beaufsichtigen, wie sie es lieber wollten, -und wenn es ihnen gefiel, konnten sie jede Woche in -diesen Beschäftigungen wechseln. Die Lohnzahlung wurde -abgeschafft. Jeder war am Gewinn beteiligt. Nach einem -einfachen Schlüssel unter Berücksichtigung der Arbeitsleistung -und der Kopfzahl einer Familie wurden die Anteile -ermittelt, die jeder zu dem gemeinschaftlichen Haushalt -beizutragen hatte. Der Überschuß wurde bar herausbezahlt -oder gutgeschrieben, wie es jeder lieber mochte. Für -alle Bedürfnisse war gesorgt. In der Schneiderei konnten -sich alle die Kleider anfertigen und flicken lassen, eine -Schusterwerkstatt war da und ein gemeinsames Bestellbureau -für alle Dinge des täglichen Bedarfs. So waren -sie ganz unabhängig, waren ein Gemeinwesen für sich -und brauchten keine fremde Vermittlung.</p> - -<p>Fritz aber war für sie bald das treibende Rad des Ganzen. -Zu ihm kamen sie mit ihren Anliegen und Wünschen, und -wenn sie untereinander Streit hatten, fügten sie sich seinem -Schiedsspruch. Und da er mit ganzem Herzen bei der -Sache war, gewann er auch ihre Herzen. Das wußte er -nicht, aber es war so. Manche bewunderten, die meisten -liebten und nur ganz wenige fürchteten ihn. Alle aber -standen unter dem zwingenden Bann seiner prachtvollen -Aufrichtigkeit, fühlten heraus, daß er bedingungslos auf -ihrer Seite stand. Niemanden ließ er gleichgültig. Zu -seiner vollwertigen Persönlichkeit mußte jeder Stellung -nehmen, und die Mehrzahl gab sich vollständig in seine -Leitung. Ihn nannten sie ‚Meister‘, wie er selbst es ihnen -vorgeschlagen hatte, während Reinholt nach wie vor der -‚Herr‘ blieb. Doch waren sie auch ihm zugetan und rühmten -ihm strenge, aber unparteiische Gerechtigkeit nach.</p> - -<p>Bevor das alles auch nur halbwegs ins Gleis kam, -waren viele Monate vergangen. Welche Unsumme von -Plage und Mühsal und Sorge für Hellwig damit verknüpft -gewesen, wußte außer Eva vielleicht niemand so -recht. Anfangs kannte er freilich weder Müdigkeit noch -Abspannung, war ihm die Arbeit nur wie ein Fest. Aber -Monat um Monat verrann, und die Schwierigkeiten wollten -nicht aufhören. Immer wieder fand sich etwas, das -geordnet, unschädlich gemacht, ausgetilgt werden mußte. -Bald waren es geheime Machenschaften, bald offene Widersetzlichkeit, -Zwist und Streit. Kaum ein Tag verging, -an dem Hellwig nicht einen Schiedsspruch zu fällen, als -Friedensstifter zu walten hatte. Sooft er dachte, jetzt -und jetzt werde er Eva holen können, immer kam etwas -verquer. Anfangs waren es die Zustände im jungen Unternehmen -selbst, die seine Wachsamkeit forderten. Dann -aber setzten die Feindseligkeiten der Gegner ein. Der Verlust -von nahezu tausend Genossen traf die Partei hart. -Und daß es gerade Fritz Hellwig war, der ihnen diesen -Verlust zugefügt, war nur ein Grund mehr zur erbittertsten -Fehde. Da wurde geschürt, gehetzt, auf jede Weise versucht, -die Leute unzufrieden zu machen und aufzureizen. Ohne -Erfolg. Wer sich nicht fügen wollte, konnte anderswo -sein Brot suchen. Eisern hielt Fritz die Ordnung aufrecht. -So gütig und umgänglich er sonst war: wenn eine Satzung -übertreten wurde, kannte er keine Nachsicht. Das hatten -sie bald heraus und liebten auch diese Strenge. Er gab -ihnen viel und hätte auch viel fordern können. Um so -begreiflicher fanden sie es, daß er das wenige, das er -wirklich forderte, auch durchsetzte.</p> - -<p>Da traten die Gegner aus ihrer Zurückhaltung, riefen -offen zum Kampf gegen den Augenauswischer, den Volksbetrüger, -Verräter und Zwietrachtsäer, der sich in Menschlichkeit -wie ein Frosch blähe und lediglich den eigenen -Bauch mit dem blutigen Schweiß der Armen fülle. So -stand es in ihren Zeitungen, und das waren noch die besten -Vergleiche. Ein besonders Eifriger aber behauptete, daß -Hellwig wie eine Trichine im gesunden Fleisch der Partei -sitze und es infiziere, während er sich fett mäste. Leibinger -leitete den Feldzug. In ihm war die erlittene Kränkung -noch lebendig und heiß wie am ersten Tag, und sein Ehrgeiz -knüpfte an einen Sieg über den mächtigen Feind die -schönsten Erwartungen. Unter Hochdruck arbeitete er. In -allen Zeitungen, in ungezählten Versammlungen predigte -er den Kampf gegen den einstigen Genossen und seinen -Anhang. Renegaten und Schufte ohne jeden Gemeinsinn -wurden sie genannt, niedrige Bedientenseelen, die vor dem -Geldsack auf dem Bauch lägen und sich an Bettelsuppen -gütlich täten, armselige Heloten, die jedes Gefühl für -Freiheit und Manneswürde verloren hätten.</p> - -<p>Und die Arbeiter der benachbarten Betriebe, scheelsüchtig -gemacht, neideten Reinholts Leuten das bessere Los. Sie -spuckten aus, wenn sie einen trafen und riefen ihm wohl -auch „Kommuner Hellwigianer!“ zu, was ein Witz sein -sollte und eine verächtliche Anspielung auf die kommunistischen -Einrichtungen.</p> - -<p>Die kommunen Hellwigianer aber ließen sich darob die -Haare nicht grau werden. Mancher Heißsporn verbat sich -vielleicht die Beleidigungen und kam mit blutigem Schädel -heim, die meisten aber lachten oder zuckten die Achseln, -wenn sie beschimpft wurden, und das trieb die Gegner -in eine immer heftigere Erbitterung. Aber auch die Fabriksbesitzer -nahmen mit der Zeit gegen das aufblühende neuartige -Unternehmen Stellung, weil sie sich dem scharfen -Wettbewerb nicht gewachsen fühlten. Denn da alle Arbeiter -am Gewinn beteiligt waren, bemühten sie sich zu eigenem -Vorteil, nur gute Ware herzustellen, so daß die Reinholtsche -Marke bald gesucht war und die Nachfrage stärker -als das Angebot. Und da auch das Bauernvolk in seiner -alten Abneigung verharrte, stand Hellwig mit den Seinen -ganz vereinsamt und auf sich selbst angewiesen mitten -unter Widersachern, Neidern und Feinden. Da setzte er -erst recht seinen Neuberger Schädel auf: Durch müssen -wir! Und wenn sich alle auf den Kopf stellen!</p> - -<p>Der Glaube an sein Werk verzehnfachte seine Kräfte. -Und seine warme Begeisterung griff auf alle über. Gemeinsame -Not schweißte sie ganz fest zusammen. Die -Zwistigkeiten im eigenen Lager hörten auf, immer seltener -wurde er als Schiedsrichter angerufen. Der Trotz und das -Gefühl, daß ihnen unrecht getan werde, spornte alle zu -erhöhter Leistung. Draußen schrien sie, hetzten und wühlten. -Reinholts Fabrik aber stand da, geschäftigen Lebens -voll, die Räder surrten, die Webstühle klapperten, die -Schiffchen flogen fröhlich. Zu einträchtigem Tun regten -sich die emsigen Hände, und auf allen Gesichtern sonnte -sich das Behagen am Gedeihen des Unternehmens, das -allen ans Herz wuchs, weil es allen gehörte.</p> - -<div class="section"> -<h3>2.</h3> -</div> - -<p>Und im Fabrikspark, auf den Spielplätzen, unter der -Hut der alten Bäume, drängte sich tagsüber das junge -Volk der Kinder, saßen nach getaner Arbeit zufriedene -Menschen, schwatzten, sangen oder hörten dem Meister Hellwig -zu, der an schönen Abenden im Garten von einem -Podium herab über alle möglichen interessanten und wissenswerten -Dinge zu sprechen oder aus guten Büchern -vorzulesen pflegte. Ganz zwanglos, wie eine gelegentliche -Zusammenkunft gleichgesinnter Freunde war das, und viel -guten Samen streute er in empfängliche Seelen.</p> - -<p>Anfänglich war die Zahl der Teilnehmer nur gering, -weil viele, an das neue Leben noch nicht gewöhnt, lieber -in den Billardsälen oder beim Kartenspiel ihre Erholung -suchten. Mit der Zeit aber stellten sich immer mehr ein, -hörten zu und beteiligten sich mit Fragen und Einwänden -an den Debatten, fanden Gefallen daran und zogen dieses -Turnier bald jeder andern Unterhaltung vor.</p> - -<p>Einer, der niemals fehlte, war der alte Kesselwärter -Bogner, der seinem Meister Hellwig treu ergeben war -und immer wieder versicherte, daß er ein so schönes Leben -auf seine alten Tage nicht einmal im Traum erhofft -hätte. Er überwachte seine Kessel und formte feine Blütenzweige, -die er schön bemalt in seiner Stube aufstapelte -oder Personen, denen er wohlwollte, als Angebinde verehrte. -Für Hellwig aber tat er etwas ganz Besonderes: -Er modellierte und goß aus Bronze die Büste des Meisters. -Zwar geriet die Nase ein bißchen schief, und die Wangen -hatten Blatternarben, aber am Sockel stand in großen -Buchstaben ‚Friedrich Hellwig‘, und so wußte jeder, wen -das Werk darstellte. Und die Mängel, die waren nach den -Versicherungen des Schöpfers nur durch den elenden Gips -und durch das schlechte Gußmetall verschuldet. Jetzt stand -das Bildwerk im Lesesaal, und bei der Aufstellung hatte -es einen grünen Reisigkranz getragen, mit einer roten -Schleife, und Reinholt hatte eine Rede gehalten, die war -sehr erbaulich und dem Kesselwärter wurde ganz rührselig. -Aber er lachte doch und strahlte im faltigen Gesicht, denn -Adam Pichler, ein jüngerer Bruder Ottos, stand neben -ihm und sagte ihm ins Ohr, daß so eine Büste eigentlich -in eine Ausstellung gehörte und sicher einen Preis bekommen -würde.</p> - -<p>Adam verkehrte überhaupt viel mit dem alten Bogner -und ging auch regelmäßig zu den Abendvorlesungen. Er -tat das aus Neigung. Aber es war nicht so sehr die Neigung -zur Wissenschaft, als vielmehr die Neigung zur Anna -Bogner. Die Anna war ernster geworden, der Frohsinn, -das Lachen und aller Übermut ihrer Jugend klang in -der Erinnerung an die erste Enttäuschung nur mehr wie -auf einer abgedämpften Geigenseite.</p> - -<p>Adam aber begehrte sie zum Weib. Da hatte sie ihm -ganz aufrichtig gesagt, wie es um sie stand und daß sie -einst mit seinem Bruder Otto ein Verhältnis gehabt. Der -blonde Mensch mit den stillen Augen und den groben Händen -hatte schweigend zugehört und darnach ein paar Tage -nicht mit ihr geredet, bis er alles in sich verarbeitet hatte. -Dann aber war er zu ihr gegangen, die in heimlicher Pein -verstohlen aus der Ferne nach ihm sah. Denn sie hatte -ihn lieb gewonnen.</p> - -<p>„Anna,“ hatte er gesagt, „es ist schon in Ordnung -mit uns.“</p> - -<p>Da war sie zusammengefahren, hatte ihm ungläubig -ins Gesicht gestarrt und nur gefragt: „Trotzdem?“</p> - -<p>„Trotzdem, Anna, weil — es muß doch ausgeglichen -werden ...“</p> - -<p>Er hatte den Arm um sie legen wollen. Doch sie war -hastig einen Schritt zurückgetreten.</p> - -<p>„Wenn’s nur deswegen sein soll ... bleibt’s schon -besser so, wie’s ist, Adam. Ich müßt’ mich ja schämen.“</p> - -<p>„Nein, Anna, das mußt du schon nicht. Tät ich’s denn, -wenn ich dich — nicht auch gern hätt’, Anna?“</p> - -<p>Er war wieder ganz nahe bei ihr und streichelte mit -den harten Fingern unbeholfen ihren Ärmel. Und dann -hatte er sie im Arm. Und sie sträubte sich nicht mehr.</p> - -<p>Und seither sah man sie fast immer miteinander gehen, -den alten Kesselwärter, dem die paar Haare nur noch -wie ein silbriges Schimmerchen auf dem kahlen Schädel -glänzten, ein wenig gebeugt und ein wenig zittrig, zwischen -den beiden jungen aufrechten Menschen, die fest und ruhig -einherschritten mit der stillen Zuversicht, die ein sicheres -Glück verleiht.</p> - -<p>Oft auch gesellte sich Pfannschmidt zu ihnen, der in -dem neuen Gemeinwesen eine Art Hausverwalter war und -außerdem die Bücherei betreute. Keine Spur von Gedrücktheit -oder Trauer war mehr in ihm, wohl sprach er -wenig und lachte nicht oft, aber seine ernsten Augen schauten -warm und froh, und der Widerstreit zwischen Neigung -und Beruf war nicht mehr in ihrem Blick. Die Bücherei -war seine Welt, dort war er am sichersten anzutreffen. -Entweder las er oder ordnete er die Bücher, versah sie -mit Schildern und Nummern, verteilte sie übersichtlich -und legte mehrere Verzeichnisse an. Abends aber kämmte -er mit Salböl den spröden Scheitel noch einmal glatt und -ging, dem Meister zuzuhören. Er war einer der aufmerksamsten -Zuhörer, aber auch der eifrigste Frager, und -wenn er sich einmal in etwas hineinverbissen hatte, ließ -er sich nicht so leicht davon abbringen. Jedes Für und -Wider erwog er, Beweise und Gegenbeweise ließ er bedächtig -aufmarschieren, und Fritz hatte mit diesem zähen -Gegner oft seine liebe Not. Regelrechte Debatten und -Diskussionen hatten sie miteinander und das war für sie -wie ein Bad im kühlen Fluß.</p> - -<p>So schien sich mit der Zeit eine gedeihliche Ordnung -einstellen zu wollen und Hellwig dachte abermals daran, -Weib und Kind zu sich zu holen. Aber als er an einem -schönen stillen Sommerabend wieder einmal auf dem Podium -saß und gerade über Oliver Cromwell sprach, da -wurden von dem Fahrweg, der außerhalb des Parks den -Zaun entlang führte, ein paar Steine unter die Versammelten -geworfen. Der eine streifte Hellwigs Kopf, der -zweite traf ihn an der Schulter, die übrigen verfehlten -ihr Ziel. Schnell war Pfannschmidt beim Gittertor, riß -es auf, stürmte hinaus. Andere folgten. Aber draußen -war niemand zu sehen. Still lagen die Wiesen und Felder -da, die Ähren nickten und rauschten leis auf schwanken -Halmen, die Blätter der Büsche regten sich sacht im -Abendwind, und sacht breitete die Dämmerung ihre seidenfeinen -Flöre darüber aus. Mannshoch standen die Feldfrüchte, -dicht belaubt wucherte überall in den Wiesen das -Staudenzeug, und was sich dort irgendwo versteckt hielt, -war gut geborgen und in der Dämmerung nicht leicht -aufzuspüren.</p> - -<p>Hellwig hatte eine Beule am Schläfenbein und eine -Prellwunde am Oberarm, leichte Verletzungen, die nichts -zu bedeuten hatten. Aber eine Warnung waren sie und -ein Zeichen, wie tief die Hetzereien Wurzeln gefaßt.</p> - -<p>Und wenn es hiefür noch eines Beweises bedurfte, so -brachte ihn die folgende Nacht. Da brannte ein Magazin -nieder, und die Fabriksfeuerwehr mußte harte Arbeit tun, -um den Brand einzudämmen. Er war gelegt worden, -von wem, war offenes Geheimnis, aber Beweise fehlten. -Die Folge war, daß Reinholt die Nachtwache verschärfte -und zwei Dampfspritzen anschaffte. Und Fritz sah seine -Vereinigung mit Eva abermals um Monate hinausgerückt.</p> - -<div class="section"> -<h3>3.</h3> -</div> - -<p>Danach aber hatte sich ganz plötzlich der Sturm gelegt. -Die Unbesonnenheit der Steinwerfer und Brandstifter hatte -die Gegner zur Vorsicht gemahnt. Was nützte es auch, -die Außenstehenden aufzuwiegeln, wenn die Hellwigianer -geschlossen gingen und der Aufschwung der Fabrik alle -Hetzer Lügen strafte.</p> - -<p>Wochen vergingen, alles blieb ruhig.</p> - -<p>„Wir sind durch!“ sagte Fritz, der vertrauensselige, -arglose Mensch, und glaubte felsenfest daran, weil er an -sein Werk glaubte und an die Lauterkeit der Menschen. -Und er freute sich des Erfolges und freute sich auf die -Seinen. Jetzt wollte er sie wirklich holen. Mehr denn -zwei Jahre — waren es denn wirklich schon zwei Jahre? -— hatte er sie nicht gesehen. Da war ihm die Zeit fortgeronnen, -wie Sand zwischen den Fingern durchgeglitten, -Tag um Tag; Monat um Monat. Er hatte nicht darauf -geachtet und sie nicht gezählt. In all dem rastlosen Bemühen, -dem Tumult von Sorgen und Anstrengungen, -dem raschen Wechsel zwischen Erfolg und Mißlingen, zwischen -heller Zuversicht und herber Enttäuschung.</p> - -<p>Waren es denn wirklich schon zwei Jahre? Aber da -lagen die Briefe Evas vor ihm, alle, wie er sie erhalten, -gelesen, beantwortet und dann in das Schubfach getan -hatte, wo sie, nicht mehr beachtet, verstaubten. Regelmäßig -alle vierzehn Tage schrieb sie ihm. Und jetzt lagen -sie da, kunterbunt durcheinander, gut fünfzig Briefe. Und -in jedem erzählte sie von dem Buben, alle Einzelheiten -und Kleinigkeiten berichtete sie. Im Drang und Schwall -der Arbeit hatte er ihren Mitteilungen nicht weiter nachgesonnen. -Und sie machten doch die ganze Entwicklung -des jungen Menschleins aus, das dort fern von ihm und -vaterlos heranwuchs. ‚Hansl lacht mich schon an — Hansl -sitzt schon — Hansl bekommt Zähne — Hansl hat sich -ganz allein am Tischbein aufgemannelt — Hansl hat -das erste Wort gesprochen — Hansl läuft, Hansl redet -schon. Er ist blond wie du — er hat deine Augen — aber -das Kinn hat er von mir.‘</p> - -<p>Er erschrak fast und entsetzte sich, daß er so achtlos -darüber zur Tagesordnung hatte übergehen können. Fünfzig -Briefe. Und in allen war zwischen den eng geschriebenen -Zeilen die unausgesprochene Bitte: ‚Komm bald und bleib -bei uns!‘ Und in keinem stand: ‚Hol’ uns zu dir!‘ Denn -die Mutter bangte um ihr Kind, und Fritz hatte ihr die -Lage immer eher in düsteren Farben geschildert, alle Ereignisse -trocken verzeichnet und nichts beschönigt. Und nur -einmal schrieb sie: ‚Wenn ich doch bei dir sein könnte!‘ -Das war damals, als ihm die Steine den Leib verwundet -hatten.</p> - -<p>Einen Brief nach dem andern las er nun wieder durch. -Um ihn war die Ruhe der Nacht, einer warmen, glanzhellen -Nacht. Das Fenster stand offen, die hereinflutende -Luft war gesättigt vom schweren Duft der Erde, und unten -im Fabrikshof machte der Wächter die Runde. Klingend -schlug die Eisenspitze seines Stocks auf die Steine, und wenn -die zwei starken Doggen, die ihn begleiteten, sich schüttelten, -klirrten die Glieder ihrer Kettenhalsbänder leise aneinander, -Eisen gegen Eisen und Stahl gegen Stein, und nichts -anderes war zu hören als dieser kriegerische Klang. Und -es war wie der Pulsschlag des harten, streitbaren Lebens, -das da draußen in der weichen, weißen Glanznacht tief -aufatmend, doch nicht schlafend ruhte, Gewehr im Arm -und immer kampfbereit gleich einem einsamen Vorposten -in Feindesland.</p> - -<p>Stunde um Stunde flutete vorüber. Und Fritz saß und -las die Briefe. Mit gesammelten Sinnen las er sie jetzt -alle wieder, sah seinen Buben heranwachsen und begleitete -Schrittlein nach Schrittlein seine Entwicklung. Und er -fühlte eine tiefe Trauer, daß er sich so gar nicht vorstellen -konnte, wie der Junge jetzt aussah, lachte und sprach, -und der Wunsch, ihn und die Mutter bei sich zu haben, -schwoll ihm übermächtig empor.</p> - -<p>Aber es blieb auch diesmal nur beim Wunsch.</p> - -<p>Die Ruhe, die so unvermittelt eingefallen, war nicht -die Ruhe des Friedens oder der Erschöpfung. Leibinger -hatte die Nutzlosigkeit der bisherigen Kampfesart erkannt. -Und da kam es ihm gerade recht, daß Robert Karus, aus -Rußland zurückgekehrt, wieder in der Hauptstadt aufgetaucht -war. An ihn wandte er sich um Rat und Hilfe und -der sagte zu, unter der Bedingung, daß ihm vollständig -freie Hand gelassen werde. Ungern fügte sich Leibinger, -aber er fügte sich doch.</p> - -<p>Und Karus ging an die Arbeit. Ein paar erprobte Leute -wählte er sich und schickte sie zu Reinholt auf Arbeitssuche. -Sie erhielten strengen Befehl, als unbedingte Anhänger -Hellwigs aufzutreten und vorsichtig die Unzufriedenheit -der Zufriedenen zu wecken. Das Wie blieb ihnen überlassen. -Und sie waren ihrer Aufgabe gewachsen. Rasch -hatten sie jene aufgespürt, die schwankten oder sich zurückgesetzt -fühlten, machten sich an sie heran und bearbeiteten -sie.</p> - -<p>Aber auch Karus blieb nicht müßig, und Mark und -Leibinger waren seine Werkzeuge. Ein paar Schlagworte -warf er den Arbeitern der benachbarten Unternehmungen -hin und wiegelte sie auf. Und geschulte Agitatoren waren -mitten unter ihnen und schürten und schürten ohne Unterlaß. -Immer lauter, immer ungestümer erhoben sie die -Forderung nach höherem Lohn, nach kürzerer Arbeitszeit, -nach Gleichstellung mit den Hellwigianern. Die Fabrikanten -aber, selbst in ihrer Existenz bedroht, konnten und -wollten keine Zugeständnisse machen. Da begann der Streik.</p> - -<p>Unfriede im eigenen Haus, heller Aufstand ringsum: -so war jetzt die Lage und so war sie Karus recht. Hellwig -aber, der Vertrauensselige, der kindlich Arglose, wußte -nicht, daß viele gegen ihn murrten. Und als der Streik -jetzt so unvermittelt losbrach und als alle Betriebe feierten -und nur die von ihm geleitete, nach seinen Ideen eingerichtete -Fabrik rüstig weiter ging, — und seine Leute -verrichteten gelassen ihr Tagwerk und schienen sich um das -Branden außerhalb ihrer Herdfeuer gar nicht zu kümmern, -— da frohlockte er und abermals sagte er siegessicher zu -Reinholt: „Leo, wir sind durch!“ Und nur das eine trübte -ihm die Freude: daß er wieder Geduld haben und erst das -Ende des Ausstands abwarten sollte, ehe er die Seinen zu -sich kommen ließ. Dann aber wollte er es ganz bestimmt -tun und freute sich darauf und glaubte, daß ein Ausgleich -bald erzielt und die Lohnbewegung bald zu Ende sein -werde. Er tat sogar ein übriges, er ging zu den einzelnen -Fabriksherren und setzte sich für jene ein, die seine erbittertsten -Feinde waren. Und er tat es nicht nur um ihretwillen, -auch seinetwegen tat er es, er wollte vielleicht doch -einen oder den anderen für seine Ansichten gewinnen. -Aber überall begegnete er mit seinen Vermittlungsversuchen -einem starren „Nein!“ oder einem geschmeidigeren -„Leider nicht möglich!“ und einer gab geradezu ihm die -Schuld an dem Streik und an dem Niedergang der kleineren -Betriebe. Doch auch die Arbeiter, als sie es erfuhren, -verbaten sich seine Einmischung. Da ließ er es bleiben. -Aber nicht eine Sekunde wankte ihm der Glaube an seine -Schöpfung und die Zuversicht, daß sein Weg der richtige -wäre.</p> - -<p>Reinholt war nicht so vertrauensselig. Manches an den -Leuten wollte ihm nicht mehr gefallen. Daß sie häufig -mitsammen flüsterten, im Bibliothekssaal heftige Debatten -führten, die sofort abgebrochen wurden, wenn er oder -Hellwig oder Pfannschmidt oder sonst ein Treuer dazu -kam. Und namentlich der Sanders, ein dunkelhaariger -Gesell mit Blatternarben im eischmalen Gesicht, gefiel -ihm gar nicht. Er war erst seit kurzer Zeit in der Fabrik -und doch spielte er, vornehmlich unter den jüngeren, eine -große Rolle. Sie hörten auf ihn, suchten und riefen ihn, -und wenn er zu ihnen trat, wurden ihre Worte leiser, -steckten sie die Köpfe zusammen und bekamen aufgeregte -Gesichter. Auch dem Pfannschmidt war das bereits aufgefallen, -und nur Hellwig wollte es nicht gelten lassen. -Wenn ihn Reinholt aufmerksam machte oder warnte, schüttelte -er mit ungläubigem Lächeln den Kopf, suchte und -fand Entschuldigungen.</p> - -<p>„Das Kameradschaftsgefühl ist in ihnen noch nicht erloschen, -soll es auch nicht sein! Und da wurmt sie’s eben, -daß sie Streikbrecher geschimpft werden. Aber das geht -vorüber. Als der Streik angefangen hat, was hat man -da nicht alles befürchtet. Sogar Militär hat hermüssen, -weil unsere Nachbarn um ihre Maschinen Angst gekriegt -haben. Und schau’ her, jetzt dauert die Geschichte schon -fast zwei Wochen — und alles bleibt ruhig. Glaub’ mir -nur, Leo, jetzt sind wir schon überm Berg. Die Arbeitsfreude -bei uns, während ringsherum alles gärt und tobt -und siedet, beweist mir am schlagendsten die Ohnmacht -der Gegner. Wir haben unsere Leute zufrieden gemacht, -<em class="gesperrt">den</em> Erfolg jagt uns keiner mehr ab!“</p> - -<p>„Nicht alle sind zufrieden, Fritz!“ beharrte Reinholt -bei seinem Bedenken. „Sie planen was gegen uns! So -mach’ doch die Augen auf, Fritz, ich werd’ ja ganz irr -an dir! Du hast Mitleid mit denen da draußen, vielleicht -trübt dir das den Blick — aber ich denke, sie haben uns -wahrhaftig genug Prügel unter die Beine geschmissen und -verdienen keine Rücksicht!“</p> - -<p>„Nein, nein, Leo, sprich nur nicht anders als du denkst!“ -entgegnete Fritz traurig. „Die Leute sind nicht besser und -nicht schlechter als wir alle. Sie wollen auch nur — -wieder Menschen werden. Teilhaben an den reizvollen -Nebensachen und bunten Nichtigkeiten, die zwischen Arbeit -und Schlaf, zwischen Hunger und Liebe liegen und uns -erst vom Vieh unterscheiden. Und sind wir nicht mit -schuld, daß sie es so heftig heischen? Die unseren <em class="gesperrt">haben</em> -das alles, es ist kein Wunder, wenn die anderen gegen -uns toben. Leo, es ist Zeit, höchste Zeit, daß wir hier mit -dem Aufbau fertig, daß uns die Kräfte frei werden, einen -oder den anderen Reichen noch für unsere Ansichten zu -werben, zu gewinnen. Vielleicht — gehen wir doch den -rechten Weg, können wir dem kommenden Gründer der -neuen Gesellschaft — Vorläufer sein ...“</p> - -<div class="section"> -<h3>4.</h3> -</div> - -<p>Einer hatte diesem Gespräch zugehört. Robert Karus, -der schon seit Tagen in der Gegend weilte. In ihm war -der Haß des Zerstörers gegen den Bauenden. Und auch -er wollte seinem Freunde Heinz Wart ein Totenmal errichten. -Sorgsam bereitete er den Grund, und seine Saat -schoß schwer und wuchernd in die Halme.</p> - -<p>Aber weder die Freunde Hellwigs noch dieser selbst -wußten von seiner Anwesenheit. Und niemand hatte ihnen -noch verraten, daß Karus bereits einige Male, das Gitter -überkletternd, in den Fabrikpark eingedrungen war, um -hinter Buschwerk versteckt zu lauschen. Und seine Flugblättchen -gingen unter den Eingeweihten von Hand zu Hand, -ängstlich behütet vor den Augen Unberufener, und in geheimen -Versammlungen wurden sie besprochen und schürten -die Erregung und peitschten die Lust zur Empörung -immer höher auf. Mehr als hundert hatten sich schon unbedingt -an Karus angeschlossen, viele gab es, die durch die -abfälligen Kritiken und klug berechneten Reden der gemieteten -Hetzer aufgestachelt, schon unentschieden schwankten -und jeden Tag zu Überläufern werden konnten. Und -die Streikenden, durch die Unnachgiebigkeit ihrer Brotherren -zum äußersten bereit, standen wie <em class="gesperrt">ein</em> Mann gegen -Hellwig und was Karus und Mark und Leibinger ihnen -vorsagten, das sprachen sie nach und glaubten, daß einzig -Hellwig an ihrer Lage schuld wäre.</p> - -<p>So war eine gewaltige Menge Zündstoff aufgehäuft. -Der geringfügigste Anstoß mußte die Explosion herbeiführen. -Und Karus sorgte dafür, daß dies bald geschah.</p> - -<p>Nun, da der Boden gehörig unterminiert, ein verläßlicher -Kern von Anhängern gebildet, die Erbitterung der -Leute bedrohlich angewachsen war, nun mußte Sanders, -der gedungene Proselytenmacher, aus seiner Reserve heraus. -Bei jeder Gelegenheit redete er jetzt ganz offen vor allen -Leuten über die mangelhaften Einrichtungen des Unternehmens, -schimpfte darüber, mäkelte und nörgelte, und -nichts fand mehr Gnade vor seinen Augen. Zu wenig -Abwechslung im Essen, zu kleine Portionen, zu wenig Geld, -aber viel zu viel Bevormundung, Kasernenzwang und Drill: -das war so der eiserne Bestand seiner Argumente. Dieses -Tadeln und Mäkeln führte bald zu Zank und Streitereien. -Die treu zu Hellwig hielten, wollten es nicht dulden, die -andern gaben dem Nörgler recht, Unfriede entstand, Zwist -und Spaltung.</p> - -<p>Am heftigsten erboste sich über die Reden Sanders’ -der alte Bogner. Jedes gehässige Wort gegen den Meister -brachte ihn in Harnisch, er schalt und wetterte über die -Anmaßung der jungen Leute und wäre am liebsten mit -den Fäusten dreingefahren. Aber er erntete mit seinem -ehrlichen Grimm nur Gelächter und Spott.</p> - -<p>Pfannschmidt wollte anfangs vermitteln und beschwichtigen. -Bald jedoch erkannte er den Ernst der Bewegung, -erschrak, wie fest sie sich schon eingenistet hatte, und -schwere Befürchtungen kamen ihm. Da ging er zu Hellwig -und deckte ihm alles auf. Der aber legte, wie vordem -den Warnungen Reinholts, jetzt auch diesen Berichten keine -Bedeutung bei. Er <em class="gesperrt">wollte</em> einfach nicht sehen, wo jeder -sehen, nicht hören, was jeder vernehmen konnte. <em class="gesperrt">Wollte</em> -blind und taub bleiben und allen ungünstigen Zeichen -zum Trotz die siegessichere Zuversicht sich aufrechterhalten. -Er zwang sich zur Sorglosigkeit, um die Zweifel, -die sich schon leise regten, zu übertäuben. Er drückte jeden -Argwohn, der ihm jetzt doch manchmal leise aufstieg, gewaltsam -nieder, und gewaltsam zwang er sich, an den -Erfolg ganz fest zu glauben, weil er den Erfolg brauchte. -Weil er das Gelingen nicht nur heiß herbeisehnte, sondern -notwendig haben mußte, sagte er: „Es ist schon gelungen!“ -und sagte es sich und den anderen immer wieder vor, als -könnte durch dieses fortwährende starre Bejahen jede Möglichkeit -des Mißlingens gebannt werden. Und es durfte -kein Mißlingen geben, sollte nicht, so meinte er, sein -ganzes Leben mit in Stücke brechen.</p> - -<p>Deswegen stellte er den besorgten Warnern seine lächelnde -Sicherheit entgegen, und was nur erst beinahe fertig und -was noch fast nur kaum mehr als ein Wunsch war, sollte -als fertig und vollendet angesehen werden. Doch weder -Reinholt noch Pfannschmidt konnte er überzeugen.</p> - -<p>Sanders aber wurde immer dreister. Er begann nun -auch über zu viel Arbeit sich aufzuhalten, hatte an jedem -neuen Auftrag etwas auszusetzen und wenn er ihn überhaupt -ausführte, tat er es nur widerwillig zögernd mit -sichtlicher Verdrossenheit. Und als er nach dem festgesetzten -Reihengang eine Woche lang die Kontrolle der Nachtwächter -besorgen sollte, weigerte er sich mit der Begründung, -er sei als Weber aufgenommen und nicht als Hausmeister. -Da könne man schließlich auch von ihm verlangen, -daß er die Ställe ausmiste oder die Senkgrube putze, -das käme auf dasselbe heraus. Er weigerte sich also, -schrieb aber auch noch am gleichen Tag an Leibinger, er -möge sich bereit halten, die Sache werde bald entschieden -werden.</p> - -<p>Und als am folgenden Morgen das Kontrollbuch keinen -Vermerk aufzeigte und als er deswegen verwarnt wurde, -zuckte er bloß die Achseln und lächelte dazu. Und als -am zweiten Morgen aus der Verwarnung eine Rüge wurde, -unter Androhung der Entlassung, da lächelte er noch geringschätziger -und zuckte wieder die Achseln. Am dritten -Morgen war er entlassen. Er erhielt sein Sparkassenbuch -und seine Abfertigung und konnte gleich gehen. Obwohl -Reinholt dagegen gesprochen, hatte es Fritz so angeordnet. -Eine Satzung war übertreten, die darauf gesetzte Strafe -war verwirkt worden, da gab es für Hellwig kein Überlegen -und galt keine Rücksicht.</p> - -<p>Sanders aber hatte nichts anderes gewollt. Seiner Anhänger -gab es viele, und die, das wußte er, würden ihn -nicht so mir nichts, dir nichts ziehen lassen. Und er traf -keine Anstalten zum Fortgehen. Das Geld nahm er zwar, -aber seine Sachen packte er nicht. Nur sein Sonntagsgewand -zog er an und ein gestärktes Hemd und ging -ins Wirtshaus.</p> - -<p>Dort saß bereits Karus mit Leibinger und Mark. Sie -hatten einen großen Krug Wein vor sich und tranken -fleißig. Mit einem selbstbewußten Schmunzeln setzte sich -der blatternarbige Weber zu ihnen.</p> - -<p>„Wie steht’s?“ fragte Karus kurz.</p> - -<p>Sanders schenkte sich gemächlich ein Glas voll und tat -einen bedächtigen Zug. Da sein Bericht mit Spannung -erwartet wurde, kam er sich sehr wichtig vor und wollte -dieses Gefühl seiner Bedeutung möglichst lang auskosten.</p> - -<p>Leibinger rieb die Hände rund umeinander und machte -sein verbindlichstes Gesicht.</p> - -<p>„Es scheint alles glatt gegangen zu sein?“ fragte er -ausholend. Sanders nahm noch einen Schluck. Dann zog -er sein Taschentuch und wischte sich umständlich den -Mund ab.</p> - -<p>„Verfluchtes Getu’!“ schimpfte Karus. „Laß die Faxen -und red’ endlich!“</p> - -<p>Da tat Sanders gekränkt und war beleidigt:</p> - -<p>„Befehlen lass’ ich mir nichts!“</p> - -<p>„Aber wir bitten Sie doch!“ lenkte Leibinger ein und -Mark nickte und bestätigte eifrig: „Gewiß, gewiß, wir -bitten Sie!“</p> - -<p>Da war der blasse Weber wieder versöhnt und erzählte -von seiner Entlassung und fügte hinzu, daß er nicht fortgehen, -sondern heute beim Abendvortrag im Garten Einspruch -zu erheben gedenke und vom Mittag bis Feierabend -werde er noch ein bißchen Stimmung machen.</p> - -<p>Leibinger meinte dazu: „Gut! Sehr gut!“ und Mark: -„Schön! Sehr schön! Ausgezeichnet!“ Karus aber sagte: -„Da erzählst du uns nichts Neues! Denke, daß ich dir -das so eingetrichtert hab’. Daß sie dich davongejagt haben, -hast du brav gemacht. Mach’s weiter so, dann geht heut’ -abend der ganze Krempel in Fransen!“</p> - -<p>Dröhnend lachte er, und seine Faust schmetterte hart -auf den Tisch. Dann trank er sein Glas leer, füllte es rasch -und leerte es wieder und noch einmal und abermals. -Nun die Entscheidung so nahe war, wurde er doch aufgeregt. -Die anderen bemerkten das, schauten ihn an und -schwiegen. Ihm aber löste der Wein die Zunge.</p> - -<p>„Bekehren will er die Aussauger!“ rief er unvermittelt -aus dem Wirbel seiner Gedanken heraus. „Bekehren! So -lang man die nicht totschlägt, gibt’s keine Bekehrung!“</p> - -<p>„Sprechen Sie von Hellwig?“ fragte Mark und riß -die Augen weit auf.</p> - -<p>„Nein, vom Mond, Sie Kalb!“ entgegnete Karus grob. -Leibinger lächelte liebenswürdig. Da faßte auch Mark die -Beleidigung als Witz auf. Er lachte laut und gezwungen. -Doch schien es ihm ersprießlicher, ein anderes Thema anzuschlagen.</p> - -<p>„Herr Karus,“ sagte er, „die Partei kann es Ihnen -nicht hoch genug anrechnen, daß Sie sich so selbstlos ...“</p> - -<p>Karus unterbrach ihn: „Dankt dem Himmel, daß ich -euch früher nicht so genau gekannt hab’. Ich hätt’s mir -sonst, weiß der Teufel, noch gründlich überlegt!“</p> - -<p>Er hielt inne, fuhr mit den gespreiteten Fingern durch -den borstigen Haarschopf.</p> - -<p>„Eh was, jetzt bin ich einmal da!“ sagte er dann. Und -mehr im lauten Selbstgespräch: „Als junger Grasaff’ -bin ich auch nicht anders gewesen wie der Volksbeglücker. -Heinz auch nicht. Gewiß nicht! Nein! ... Was stiert -ihr mich denn so blöd an? Ich bin nicht besoffen! Nur -... ich hab’ auch einmal einen Freund gehabt! Ja — der -Robert Karus hat auch einmal einen Freund gehabt ...“</p> - -<p>„Sie haben doch viele Freunde!“ beeilte sich Leibinger -zu versichern, und Mark beteuerte das auch, rückte aber -seinen Stuhl aus der Nähe des Mannes, dessen flackernde -Augen und dessen zerfahrenes Wesen ihm Angst machten.</p> - -<p>„Redet mir das nicht vor!“ antwortete Karus geringschätzig. -„Ihr braucht mich, deswegen tut ihr mir schön! -Aber Freunde? Bah! Furcht habt ihr vor mir! Alle haben -Furcht! — — Heinz nicht ... Und doch — hab’ ich ihn -später ...“ Er sprang von der Bank und schüttelte die -Fäuste vor sich, als rüttle er an Ketten. „Sie hätten ihn -sonst ... es ist einfach nicht anders gegangen!“</p> - -<p>Wie ein erstickter Aufschrei war das. Und wieder trank -er und ging mit mühsamen Schritten über den Lehmboden -der Stube.</p> - -<p>„Also seither: Rache für Heinz! <em class="gesperrt">Das</em> ist der Grund! -Nicht ihr! Nur — er! Die Gesellschaft von heute hat -ihn umgebracht, drum <em class="gesperrt">muß</em> sie weg! Sie oder ich! Eher -wird da nicht Ruh’!“</p> - -<p>Die anderen wurden aus den wirren Reden des verstörten -Menschen, der im Ringen mit einem schweren Entschluß -aus allen Fugen gehoben schien, nicht klug, schauten -einander bedeutungsvoll an und unterbrachen ihn mit -keiner Silbe.</p> - -<p>„Nun kann’s ja losgehen!“ sagte Karus nach einer -Weile wieder ganz kalt. „Ich geh’ jetzt und horch’ ein -bissel herum! Auf Wiedersehn heut’ abend!“</p> - -<div class="section"> -<h3>5.</h3> -</div> - -<p>Es war Abend geworden.</p> - -<p>Langsam schritt Karus den Fußweg entlang zur Fabrik.</p> - -<p>Hoch über den weiten Wiesen zogen weiße Wolken wie -Schaumflocken durch den blauen Himmel und flimmerten -im Widerschein der müd geneigten Sonne. Eine Spottdrossel -sang unsichtbar in einer Hecke. Ihr tiefes, klingendes -Lied erfüllte den ganzen Busch, und es war, als sänge -dieser selbst mit allen seinen Ästen und unbewegten Blättern -durch einen Zauber zum Tönen gebracht. Sonst war -Schweigen. Unter goldenen Schleiern lag die Erde still -und glanzmüde, und das Leben hielt den Atem an. Und -nichts war mehr zu hören als das tiefe, quellende Lied, -das aus dem verzauberten Busch in die Märchen gewordene -Welt verklang.</p> - -<p>Aber nicht überall war diese Landschaft so des Friedens -voll.</p> - -<p>In der Fabrik Reinholts, in dem großen Garten, auf -dem schattigen Platz unter den hohen Kastanien, wo der -Tisch für den Vorleser stand und die Bänke für die Zuhörer, -ballte sich und lärmte eine dunkle Menschenmasse -verworren durcheinander, und Fritz Hellwig war rings -von ihr umschlossen. Er hatte eben noch aus dem ‚Egmont‘ -vorgelesen und war warm geworden bei der Stelle: ‚Ich -fühle mir Hoffnung, Mut und Kraft. Noch hab’ ich -meines Wachstums Gipfel nicht erreicht und steh’ ich -droben einst, so will ich fest, nicht ängstlich stehen.‘ Aber -die Worte: ‚Soll ich fallen, so mag ein Donnerschlag, -ein Sturmwind, ja selbst ein verfehlter Schritt mich abwärts -in die Tiefe stürzen, da lieg’ ich mit vielen Tausenden‘, -die Worte konnte er schon nicht mehr lesen.</p> - -<p>Da waren sie vom Lesesaal herübergekommen, erregt -und schreiend, und Sanders ging in der ersten Reihe, -ein wenig unsicher und ein wenig schwankend, mit zerwirrtem -Haar und mit offener Weste. Er hatte sich Begeisterung -und Mut getrunken, und das machte ihm jetzt -die Füße schwer. Aber seine Zunge war gelenkig geblieben. -Im Lesesaal hatte er zu seinen Freunden geredet. Während -die anderen ahnungslos ihre Arbeit taten, hatte er seine -Leute aufgepulvert. Und jetzt standen sie mit ihm vor -Hellwig, um die Auflassung der Strafe zu fordern und -— es ging unter einem hin — die Einstellung der Arbeit -aus Solidarität mit den hungernden Genossen.</p> - -<p>Mit leidenschaftlichen Worten forderten sie das, und -ihre Gebärden waren drohend und trotzig. Reinholt und -Pfannschmidt hatten sich beim Nahen des Haufens wie -zum Schutz neben Hellwig gestellt, und auch die anderen -Getreuen drängten näher herzu. Fritz aber stand ruhig -und aufrecht da, und seine Augen blickten wie verwundert -in das Getümmel. Und je länger sie schauten, desto kälter -glänzend wurden sie. Aber kein Muskel zuckte an ihm, -nur die Nasenflügel zitterten leicht, und je fester sich die -Lippen aufeinander legten, desto bestimmter wurde in dem -unbewegten Gesicht der Ausdruck einer harten Entschlossenheit. -Sein heller Blick richtete sich fest auf Sanders, -und seine Stimme klang herrisch und streng.</p> - -<p>„Was suchen Sie noch hier?“ fragte er.</p> - -<p>„Fritz!“ flüsterte ihm Reinholt beschwörend zu. „Tu’ -jetzt nichts, was sie noch mehr erbittern könnte! Nur -jetzt nicht!“</p> - -<p>„Ich muß!“</p> - -<p>„Was ich hier suche?“ rief Sanders zu ihm hinauf. -„Arbeit such’ ich! Brot such’ ich! Gerechtigkeit such’ ich!“</p> - -<p>„Gerechtigkeit haben Sie bereits gefunden. Brot und -Arbeit suchen Sie anderswo, die Kündigung bleibt aufrecht!“</p> - -<p>„Sie ist willkürlich!“</p> - -<p>„Sie bleibt aufrecht.“</p> - -<p>Im selben Augenblick trat Karus hinter den Bäumen vor.</p> - -<p>„Servus, Volksbeglücker! Schön schaut’s hier aus!“</p> - -<p>Hellwig blickte ihn an und erstaunte nicht einmal, ihn -jetzt und hier zu sehen.</p> - -<p>Was wollten nur die da unten von ihm? Und warum -war Reinholt so farblos? Und warum bebte Pfannschmidt -so und hielt die Hände geballt? Und warum war er selbst -so seltsam ruhig, so leer, so, als ob er ganz hohl wäre und -sein Blut, seine Lebendigkeit, sein ganzer Inhalt ausgeronnen?</p> - -<p>„Er darf nicht fort! Wir dulden’s nicht!“ riefen sie -drohend zu ihm herauf.</p> - -<p>„Fritz, mach’ die Kündigung rückgängig!“ beschwor ihn -Reinholt.</p> - -<p>Da reckte er sich hoch auf: „Nein!“</p> - -<p>Und ganz hart, wie wenn Eisen gegen Glasscherben -klirrt, rief er hinab in den Lärm: „Hier hab’ ich allein zu -befehlen! Ob ihr’s duldet oder nicht — einerlei! Der Mann -ist entlassen!“</p> - -<p>Karus lachte höhnisch auf.</p> - -<p>„Er duldet nicht, daß ihr einen Willen habt!“ rief er. -„Kuscht, Hunde, kuscht! Er duldet nichts, als daß ihr -kuscht!“</p> - -<p>Nun brausten sie wilder empor: „Wir kuschen nicht! -Wir lassen uns das Maul nicht verbieten! Wir lassen -Sanders nicht weg! Er darf nicht fort!“</p> - -<p>Die Treuen Hellwigs riefen dagegen und scharten sich -dichter um das Podium und suchten die Schreier abzudrängen. -Doch ihre Zahl war nur klein. Denn viele hielten -sich zurück und standen unentschlossen da und wußten nicht, -wem sie recht geben sollten. Der alte Bogner aber wollte -immer wieder auf Sanders los und rang mit seinem -Schwiegersohn, der ihn zurückhielt, und zitterte am ganzen -Leibe und weinte vor Wut laut auf.</p> - -<p>„Mach’ die Kündigung rückgängig!“ flehte Reinholt -abermals. Hellwig schüttelte nur mit einem kurzen Ruck -den Kopf. Jetzt mußte er fest bleiben, durfte sich die -Leitung nicht aus den Händen winden lassen, sonst war -alles verloren.</p> - -<p>„Niemand darf hier drohen!“ sprach er in den Lärm -hinein, laut und hell. „Niemand! Ich nicht und ihr nicht -und niemand! Sanders ist entlassen! Und bleibt es! Und -bliebe es auch, wenn ihr anständig und bescheiden euer -Anliegen vorgebracht hättet! Er hat unsere Ordnung verletzt. -Gilt euch diese Ordnung nichts und nichts euer verpfändetes -Wort? Wenn ihr frei und unabhängig sein -wollt, müßt ihr die Gesetze achten, die ihr beschworen -habt und dürft nicht jene schützen, die sie böswillig brechen. -Erst durch die Ungerechtigkeit werden wir unfrei!“</p> - -<p>„Ich hab’ nicht Nachtwächter sein wollen, weil ich ein -gelernter Weber bin! Ist das ein Verbrechen?“ rief Sanders -spöttisch.</p> - -<p>„Ich fordere Sie nochmals auf, die Ordnung zu achten -und die Fabrik sofort zu verlassen!“</p> - -<p>„Und wenn ich’s nicht tu’?“</p> - -<p>„Dann jagt ihn der Volksbeglücker hinaus!“ höhnte -Karus. „Schöne Volksbeglückung das! Wie ein ausgedienter -Gaul wird er vor die Tür gesetzt!“</p> - -<p>Einer von den Arbeitern aber, die um Sanders waren, -trat jetzt verlegen vor und sagte: „Meister, ich ... wenn -ich gewußt hätt’, was die eigentlich wollen, hätt’ ich mich -nicht so tief eingelassen. Sie haben’s ja so abgemacht, -untereinander, der Karus, der Leibinger und der Sanders. -Jetzt begreif’ ich erst, wo das hinaus soll.“</p> - -<p>„Schuft!“ schrie Sanders und spie ihm ins Gesicht. -Karus trat gebieterisch dazwischen.</p> - -<p>Hellwig ächzte dumpf auf und taumelte. Wieder einmal -sah er sich einem Schurkenstück gegenüber, der Ekel -kam und lähmte seine Tatkraft. Er haßte die Falschheit. -Und alles, was nur eine Spur von Gemeinheit in sich -hatte, machte ihn fassungslos und wehrlos, da konnte er -nicht zornig dreinfahren, fühlte er nur Enttäuschung und -Schmerz und eine tiefe Mutlosigkeit.</p> - -<p>„Ihr habt es gehört!“ sagte er und das Sprechen -wurde ihm schwer. „Ist es wirklich schon so weit, daß -eine abgekartete Komödie uns auseinander bringen kann?“</p> - -<p>Als sie den Meister so ganz tief traurig und wie um -alle Hoffnungen betrogen sahen, regte sich das Gewissen -in so manchem.</p> - -<p>„Nein, Meister! — Wir halten zu Ihnen, Meister!“</p> - -<p>Und der alte Bogner rang immer noch mit seinem -Schwiegersohn und bat und drohte und schluchzte immerzu: -„Laß mich los, Adam! Ich muß dem Kerl das Maul -zustopfen!“ Doch der Adam ließ nicht los.</p> - -<p>Karus aber wurde kaum des Umschwungs gewahr, da -holte er aus zum entscheidenden Schlag. Und mit dem -ganzen Elan seiner wilden, ungezügelten Leidenschaft lief -er den letzten Sturm.</p> - -<p>„Jawohl!“ schrie er, sprühendes Feuer in den Augen. -„Jawohl! Es ist eine abgekartete Komödie! Aber sie ist -gut genug, denen da oben die Larven herunterzureißen! -Damit ihr endlich erfahrt, wie sie euch aus lauter Liebe -die letzte Unze Blut aussaugen!“</p> - -<p>„Nieder mit den Blutsaugern!“ rief Mark im Hintertreffen. -Und: „Nieder mit den Blutsaugern!“ riefen ihm -viele nach. Und immer lauter tönte und schmetterte die -Stimme des alten Revolutionärs:</p> - -<p>„Millionen raffen die zwei da oben zusammen! Jeder -Tropfen Schweiß, den ihr vergießt, wird für sie zum -Goldstück! Dann werfen sie euch ein paar Knochen hin: -Da hast, Hund, friß dich satt!“</p> - -<p>Und wie grollende Meeresbrandung tönte die Antwort -zurück:</p> - -<p>„Wir <em class="gesperrt">sind</em> keine Hunde!“</p> - -<p>„Nein, ihr seid keine Hunde! Es ist euer Recht, zu -fordern, was sie euch als Almosen vor die Füße schmeißen! -<em class="gesperrt">Ihr</em> müßt die Herren sein, denn <em class="gesperrt">euere</em> Muskeln stoßen -die Welt vorwärts!“ rief Karus.</p> - -<p>Sein heißer Atem wehte über sie weg, schlug ihnen wie -Glutwind ins Gesicht, ergriff und riß sie mit wie der -Sturm die Bäume.</p> - -<p>„Nieder mit den Unterdrückern! Nieder! Nieder!“</p> - -<p>Das grollte und gellte auf, hob sich wie eine gewaltige -Woge hoch empor, wieder, wieder und immer wieder und -wollte nicht schweigen.</p> - -<p>Schlag auf Schlag kam das alles und ließ niemandem -Zeit zur Überlegung. Hellwig stand mit totenblassem Gesicht -und stützte sich schwer auf Reinholt. Als ob ihn -das gar nichts anginge, blickte er in das Toben und fühlte -nur einen harten Druck, der stärker und stärker sein Herz -zusammenpreßte. Reinholt aber wollte ein letztes Mittel -versuchen.</p> - -<p>„Leute!“ rief er. „Kommt zur Besinnung, Leute! Fünf -Kompagnien Soldaten sind im Dorf!“</p> - -<p>Karus griff das Wort auf:</p> - -<p>„Seht ihr’s! Seht ihr’s! Jetzt werfen sie schon die -Larven ab! Jetzt zeigen sie ihr wahres Gesicht! Zusammenschießen -lassen sie euch, wenn ihr euer Recht fordert!“</p> - -<p>Und aus hundert Kehlen brauste es stürmisch zurück: -„Wir lassen uns nicht zusammenschießen!“</p> - -<p>Mittlerweile hatte Leibinger auch die Streikenden vor -dem Gittertor gesammelt. Rauh aufjohlten die. Und dann: -„Genossen, nicht nachgeben! Wir helfen euch! Hoch die -Internationale! Hoch die Freiheit!“</p> - -<p>„Hoch die Freiheit! Hoch! Hoch die Freiheit!“</p> - -<p>Und Karus’ Stimme klang wie Trompetenschall durch -den Aufruhr: „In Sklavenketten halten sie euch! Um -euere besten Menschenrechte betrügen sie euch!“</p> - -<p>„Wir lassen uns nicht betrügen! Wir sind keine Sklaven!“</p> - -<p>Mühsam raffte sich endlich Hellwig zusammen: „Laßt -euch nicht aufhetzen, Leute!“</p> - -<p>„Er darf nicht reden! Herunter mit dem Tyrannen!“ -donnerte es zurück.</p> - -<p>Da schrie er schluchzend auf: „Das sind meine Braven? -Für <em class="gesperrt">die</em> hab’ ich gearbeitet?“ und sprang mit einem Satz -mitten unter sie. „Hier bin ich! Nun? Was zaudert ihr? -Macht den Tyrannen nieder! Ihr seid ja frei!“</p> - -<p>Eine kurze Stille der Verblüffung.</p> - -<p>„Du Schuft!“ rief der alte Kesselwärter und drang -mit geschwungener Faust auf Karus ein. Der fing den -Schlag auf und sagte kalt: „Ruhig, Alter! Gleich ist’s -vorüber!“</p> - -<p>„Wessen klagt ihr mich an?“ fragte Hellwig.</p> - -<p>„Er darf nicht reden! Nieder mit dem Tyrannen!“ -schrie Mark im Hintertreffen. Aber nun Hellwig wieder -mitten unter ihnen war, nun sie die vertrauten Züge wieder -dicht vor sich sahen, die Lippen, die so oft gütige Worte -zu ihnen gesprochen, die Augen, die so oft heiter und frei -und immer ohne Falsch auf sie gesehen, da trauten sie sich -nicht recht vor, und nur dumpfes Murren folgte dem -gellenden Auftakt Marks.</p> - -<p>„Wessen klagt ihr mich an?“</p> - -<p>„Wir lassen uns die Freiheit nicht rauben! Wir sind -keine Sklaven!“ grollten sie und schauten mit scheuen Blicken -an seinen leuchtenden Augen vorbei und schüttelten die -Fäuste nur verstohlen.</p> - -<p>Fritz aber stand da, wie ein Träumender stand er da -und schaute in eine leere Ferne hinaus, einem zerfließenden -Trugbild nach. Und während es sich langsam auflöste -und zerrann, stieg langsam und immer klarer und schärfer -eine neue Erkenntnis vor ihm auf. Sein Blick war starr -und visionär, mit fremder, müder Stimme fing er an -zu sprechen und es war, als holte er die Worte aus einem -tiefen Brunnen herauf:</p> - -<p>„Ich euch die Freiheit rauben? Brüder, wie kann -ich euch etwas rauben, was niemals ein Menschengut gewesen -ist? In schweren Ketten keuchen wir, das Schicksal -hat sie uns auferlegt und wir zerbrechen sie nimmermehr. -Aber das Tragen wollte ich euch leichter machen. -Daß wir Schulter an Schulter die Ketten schleppen und -sie uns nicht zu tief ins Fleisch schneiden. Ihr aber ... erhebt -euch wider mich mit geballten Fäusten, Unmögliches -verlangend, nie Erreichbares heischend. Ihr könnt ja nicht -anders, seit heute, seit jetzt weiß ich es. Denn daß wir -die Ketten stets aufs neue fühlen müssen, sobald sie uns -nur ein bißchen leichter wurden, immer wieder schwer und -drückend fühlen müssen, ist Menschenlos — ist ewiger -Menschenfluch ...“</p> - -<p>Die Stimme brach ihm. Unschlüssig standen die Leute. -Karus aber, enttäuscht und zornig über diese Resignation, -riß sein Beil aus dem Gürtel.</p> - -<p>„Gelatsch! Gelatsch! Und geht’s nicht anders, zerreißt -die Ketten, zerbrecht die Fesseln, zerschlagt den Kerker! -Dann habt ihr die Freiheit! Die Freiheit ist da!“</p> - -<p>Und: „Freiheit! Freiheit! Zerschlagt den Kerker! Wir -wollen keine Ketten! Wir sind keine Knechte!“ schrien sie -toll, jauchzend, außer Rand und Ufer.</p> - -<p>„Führ’ uns, Karus!“ tönte ein Ruf. Und da schwoll -es an zu Donnergebrüll: „Führ’ uns, Karus! Karus, -führ’ uns!“</p> - -<p>Und die Streikenden draußen riefen: „Wir kommen! -Wir helfen euch!“ und warfen sich, Hunderte <em class="gesperrt">eine</em> geballte -Masse, gegen das Tor, und das Schloß sprang -krachend entzwei, und tobend wälzte sich die Rotte in den -Garten.</p> - -<p>„Fritz Hellwig!“ frohlockte Leibinger. „Der Zahltag -ist da!“</p> - -<p>Karus vertrat ihm den Weg: „Diesem da wird kein -Haar gekrümmt! Vorwärts, Männer! Vorwärts! Zu den -Maschinen! Feuer in die Speicher! Den roten Hahn auf -alle Dächer! Im Namen der Freiheit! Im Namen Heinz -Warts! Rache für Heinz Wart!“</p> - -<p>„Rache! Rache!“ gab der entfesselte Haufe gedankenlos -das Wort weiter. Und Fritz lachte. Rasend lachte er -auf und hieb sich mit der Faust die Schläfen: „Im Namen -Heinz Warts? Recht so! Recht! Sengt! Brennt! Raubt! -— Heinz! — Heinz Wart! ... Heinz ...!“ Wie verzweifelt -gebärdete er sich.</p> - -<p>„Wenn die Soldaten kommen ...“ warnte Mark.</p> - -<p>„Dann reißen wir das Pflaster auf und bauen Barrikaden! -Drauf, Männer, drauf! Unser ist die Welt!“</p> - -<p>Und das blinkende Beil in hocherhobener Faust stürmte -Karus fort. Fast alle folgten.</p> - -<p>„Heinz Wart!“ riefen die einen, „Freiheit!“ riefen die -andern. Blind, taub, sinnlos, jeder Überlegung beraubt -stürzten sie ihrem neuen Führer nach.</p> - -<p>Ganz wenige blieben zurück. Pfannschmidt, der sich den -Empörern entgegengeworfen, lehnte, aus einer klaffenden -Stirnwunde blutend, an einem Baum, und Bogner betreute -ihn. Adam Pichler aber war schon früher in das -Lager der Soldaten gerannt. Und Reinholt hatte alles -andere seinen Gang gehen lassen in der Sorge um den -Freund.</p> - -<p>Im Laufschritt kam das Militär angerückt. Der diensthabende -Hauptmann, die gelbe Feldbinde um den schlanken -Leib, führte es mit gezogenem Säbel.</p> - -<p>Da erwachte Fritz aus seiner Starrheit.</p> - -<p>„Nicht das!“ stammelte er und atmete wie ein gehetztes -Tier. „Nicht das!“</p> - -<p>Unausgesetzt tönten krachende Axtschläge vom Fabrikhof, -Gesplitter von Holz und Glas und Eisen, Brüllen -und Gejohl.</p> - -<p>Blutroter Feuerschein lohte auf. Die Magazine standen -in Flammen.</p> - -<p>Und jetzt ein wildes Geheul. Die Aufrührer hatten das -Militär erblickt.</p> - -<p>Hornsignale gellten durch den Tumult. Scharfe Kommandoworte. -Prasseln von fallenden Steinen. Das dumpfe -Aufschlagen der Gewehrkolben gegen hundert Schultern.</p> - -<p>„Nicht das! Nicht ...“ Hellwig tat ein paar Schritte, -wollte hin — und kam nicht weit. Ein furchtbarer Aufschrei: -„Aus! Alles — aus!“</p> - -<p>Reinholt sprang rasch herzu. Zu spät. Wie ein gefällter -Stier brach der Volksbeglücker ohnmächtig zusammen.</p> - -<p>Im selben Augenblick krachte die Salve.</p> - -<div class="section"> -<h3>6.</h3> -</div> - -<p>Als Hellwig das Bewußtsein wieder erlangte, war bereits -die Nacht hereingebrochen. Er lag ausgestreckt auf -einer der Bänke. Reinholt kniete neben ihm und legte -nasse Tücher auf seine Stirn. Ein Häuflein verstörter -und weinender Menschen stand im Kreis herum. Unstet -leuchtete von der Fabrik herüber noch der Feuerschein. Vor -dem zerbrochenen Gittertor aber hielten ein paar kastenartige -Wagen, gelb angestrichen, das rote Kreuz im weißen Felde. -Soldaten kamen und gingen mit brennenden Fackeln und -mit Tragbahren, auf denen dunkle Menschenleiber lagen -und stöhnten und zuckten. Ein Regimentsarzt eilte vorbei. -Der Leinenkittel über der Uniform starrte von eingetrocknetem -Blute, und auf der Höhe seiner fetten roten Wangen -standen große Schweißtropfen. Er beugte sich über Hellwig -und fragte, wie er sich fühle, und untersuchte ihn.</p> - -<p>Der richtete sich jählings auf. „Wie viele sind verwundet? -Wie viele tot?“ fragte er hastig, und im Grunde -seiner Augen stand das Grauen. Der Arzt zog gleichmütig -die Schultern hoch. „Weiß die Zahl noch nicht!“ sagte er. -„War ein heißer Tag, hat viel Arbeit gegeben. Das waren, -Gott sei Dank, die letzten.“ Mit einer Kopfbewegung -deutete er auf die Bahre, die eben in den Krankenwagen -gehoben wurde. „Ruhe brauchen Sie! Schlafen Sie sich -ordentlich aus, Ihre Nerven haben’s verdammt nötig! -Sonst fehlt Ihnen nichts!“ Nachlässig salutierte er und -eilte zu den Fahrzeugen. Die Pferde zogen an, im Galopp -ging es fort.</p> - -<p>Dann kam der Hauptmann und bat den Besitzer der -Fabrik um eine Unterredung. Und während Reinholt mit -ihm sprach, trat Hellwig auf den Fahrweg hinaus, ging -wie ein Schlafwandelnder weiter und weiter, zwischen rauschenden -Feldern ging er und durch blühende Wiesen, und -als Reinholt laut seinen Namen durch die Stille rief, da -schritt er nur desto rascher vorwärts, mehrfach abbiegend, -kreuz und quer, auf schmalen Rasenbändern, weiter und -weiter, und er wußte nicht, wohin er ging und was ihn -vorwärts stieß.</p> - -<p>Hoch oben in der Luft trieben noch immer schnell und -lautlos die silbrigen Wolken vor dem Mond, der halbrund -am Himmel hing und es war, als ständen die Wolken -still und jagte die weiße Luna in hastiger Flucht zwischen -den ruhenden Silberflocken durch den glanzerfüllten Raum. -Von den brennenden Speichern und Dächern der Fabrik -kam ein roter Schein und wehte unruhig über die Fluren, -und der Himmel war dort purpurn glühend und die dunklen -Büsche standen davor mit allen ihren schlanken Zweigen -und gerundeten Blättern scharf aus dem lohenden Glanz -herausgehoben, schwarze Schattenbilder auf goldig flammendem -Grund. Schön und seltsam und geheimnisvoll -war die Landschaft mit ihren sanften und grellen, ruhigen -und beweglich huschenden Lichtern und Farben und Schatten, -und unermeßlich dehnte sie sich in einem milden Leuchten -blau verdämmernd, weit, weit, bis sie mit dem Rand -der hohen Himmelsglocke zusammenschmolz. Lautloses Ineinanderspielen -der Farben unten, lautloses Wolkenziehen -hoch darüber, glanzgesättigte Stille dazwischen: das war -wie ein Prunksaal der Einsamkeit, die hier demütigstolz die -Königskrone aus den Händen der Unendlichkeit entgegennahm.</p> - -<p>Trostbringende Königin Einsamkeit.</p> - -<p>Für den, der hier ihren Krönungssaal durchwanderte, -weiter und immer weiter wanderte, mit gesenkter Stirn -und schlaffen Armen, für ihn hatte sie keinen Trost, und -er suchte ihn auch nicht. Er wollte nur ... Was wollte -er denn eigentlich noch?</p> - -<p>Da war ihm alles niedergebrochen. Ihm, dem Sieger, -— „Wir sind durch!“ hatte er oft und oft den Freunden -gesagt, — war alles niedergebrochen. So gründlich, daß -kein Stein auf dem andern geblieben. Und die ihm vertraut -hatten, saßen jetzt zwischen ausgebrannten Mauern, -viele brave, arbeitsame Leute, — und konnten betteln gehen. -Sein Lebenswerk. — Und Blut war vergossen worden. -Durch seine Schuld war Blut vergossen worden, rotes, -warmes Menschenblut. Sein Lebenswerk. Und alles war -ihm niedergebrochen. Was wollte er also noch?</p> - -<p>Diese Gedanken, und immer nur dieselben Gedanken -waren es, die ihn begleiteten, während er so durch die endlose -Ebene hinschritt, stundenlang weiter und weiter schritt, -bis ihn die Müdigkeit überwältigte. Seine Beine begannen -zu zittern, er taumelte und mußte sich niedersetzen.</p> - -<p>Ganz schüchtern leuchtete das Frührot auf. In klaren -Kugeln hing der Tau an den Gewächsen, und faul versuchte -ein Frosch seine knarrende Stimme. Ein Vogel fing -zu zirpen an, zaghaft und leis, als fürchtete er sich noch -vor der Dämmerung und der Stille — dann lauter, kecker -— ein zweiter gab Antwort — und als der junge Tag -goldhell in das freudig aufschauernde Land hineinsprang, -da jubilierten im vollen Chor, dem Zwang der Nacht entronnen -und grüßten ihn viel hundert gefiederte Sänger.</p> - -<p>Mit dem Gesicht nach abwärts hatte sich Fritz ins tauige -Gras geworfen. Vielgestaltig regte sich das Leben unter -ihm. Winzige weiße Würmchen krochen umher, schwerfällig -schüttelten die Fliegen den Tau von den surrenden -Flügeln, ein hungriger Käfer lief hastig durch das Labyrinth -der grünen Stengelchen, eine Spinne kletterte über -das feine Wurzelwerk und über die kleinen Steinchen, -mühselig, als stieg sie über hohe Berge. Und unter der -beweglichen Mannigfaltigkeit ruhte das braune schwere Erdreich -gelassen und still wie die Brüste einer Mutter unter -den ratlos tastenden Fingerlein des trinkenden Kindes.</p> - -<p>Aber diese Ruhe strömte nicht auf ihn über, und sein -Herz ging nicht in stillerem Gang. Schnell und schwer -pochte es gegen den Boden im harten Rhythmus der Verzweiflung. -Und während er so in die Erde starrte und den -herben Duft ihrer Fruchtbarkeit trank, erwachten und zogen -vorüber wie Bilder einer Zauberlaterne alle die hingeschwundenen -achtunddreißig Jahre seines Lebens mit ihren Hoffnungen -und Irrtümern, ihren Kämpfen, Niederlagen und -bittersten Enttäuschungen. Was immer er bisher versucht -hatte, alles war ihm mißlungen. Viele Wege war er gegangen, -mit beschwingtem Fuß, in ernster und froher -Begeisterung vermeinend, daß er dem Ziele näher komme. -Aber jeder war ein Irrweg gewesen, hatte zum Ausgangspunkt -zurückgeführt. Und da hielt er nun, wo er angefangen -— vor dem Nichts. Und alle Kraft war verzettelt, -alle Arbeit vergeudet, verpulvert, vertan. Und jedesmal -hatte er geglüht und geflammt, gleich heiß und hell geflammt -für ein Leben ohne Götter und ohne Lüge, für die -Herrschaft des deutschen Volkes und für die brüderliche -Gleichheit aller Völker, für den Sieg der Sozialisten und -für ihre Niederlage durch seine Ideen. Und alles war Lüge -gewesen und Götzendienst. Sich selbst hatte er belogen -und ein utopisches Ziel war sein Gott und Götze und selig -machender Glaube. Wie die Spinne vor seinen Augen -mühsam über die Grashalme, war er auf ebenem Boden -keuchend gekrochen und hatte vermeint, er stürmte steile -Berge empor zum Ziel. Nutzlos verschwendete Mühe — -Irrsal — Verzweiflung — das war alles, was ihm geblieben. -Und eine Ehe, die keine Ehe war, ein Weib, für -das der Gatte, ein Kind, für das der Vater wie ein Gestorbener -war.</p> - -<p>Aber leise, in den quälenden, schweren Rhythmus der -Verzweiflung hinein, nur kaum wie ein schwaches Vogelzwitschern -im Gewittersturm verhallend, schwebte fernher, -ganz leise, eine Melodie des Trostes und ein schüchterner -Hoffnungsklang. Und eine scheue Sehnsucht stand auf -und pochte zag an und pochte lauter und mahnte: „Kehr’ -heim!“</p> - -<p>Und pochte lauter und mahnte inniger: „Kehr’ heim! -Zu Eva und Hansl, dorthin gehörst du — sie warten auf -dich. — Nicht um deinetwillen — ihretwegen mußt du -hin, daß sie aufrecht bleiben und sich weiter freuen — wenn -auch du — zerbrochen bist ...“</p> - -<p>Und ohne noch einmal in die Fabrik zurückzukehren, -wie er ging und stand, im Hausanzug und mit der Gartenmütze, -reiste er von der nächsten Bahnstation ab.</p> - -<div class="section"> -<h3>7.</h3> -</div> - -<p>Otto Pichler las in seinem Stammcafé in den Zeitungen, -daß das Unternehmen des einstigen Freundes gescheitert -war. Es bewegte ihn nur wenig. <em class="gesperrt">Sein</em> Schifflein war -geborgen.</p> - -<p>Schon längst hatte er Grete Deming geheiratet, schon -längst war er Prokurist und Stellvertreter des Direktors -der chemischen Fabrik. Sein Schwiegervater hatte sich vor -einigen Jahren zur Ruhe gesetzt. Ein verdienstvoller alter -Herr, den man nicht hatte übergehen können, war dermalen -mit der Leitung betraut. Aber sein Rücktritt konnte -nicht mehr lang auf sich warten lassen, und dann war -Otto der kommende Mann. Bei den Beamten war er beliebt. -‚Das Glückskind‘ nannten sie ihn und hatten recht -damit. Nur wenige gab es, die so spielend mit dem Leben -fertig wurden und mühelos die reifen Früchte auflesen -konnten, die ihnen ohne vieles Dazutun wie von selbst -in den Schoß fielen.</p> - -<p>Seine Ehe war wie tausend andere auch weder heiß -noch kalt; eine gleichmäßig laue Atmosphäre hüllte sie -ein, ließ keine Stürme heran, machte den Körper feist -und war dem Wohlbefinden ungemein bekömmlich.</p> - -<p>Er ging seine Wege, Grete ging ihre Wege, mit der -Treue nahmen sie es beide nicht zu genau.</p> - -<p>Als der zukünftige Direktor den Bericht gelesen hatte, -fragte er den Kellner, ob die Herren seiner täglichen Tarockpartie -schon anwesend seien. Der Befrackte bejahte. -Da zog Otto ein goldenes Etui aus der Brusttasche, zündete -sich eine Zigarette an, und während er den Rauch -erst einatmete und dann langsam in die Luft hinausschwimmen -ließ, dachte er: Ist es nicht Wahnsinn und Aberwitz, -Gesundheit und Kraft und Blut für wildfremde Menschen -einzusetzen? Wir leben schließlich doch nur das eine Leben, -und warum sollten wir uns das nicht so angenehm wie -möglich machen und trachten, daß es uns sacht und unmerklich -verrinne in Fröhlichkeit und heiterem Behagen?</p> - -<p>Dann ging er ins Spielzimmer und mischte die Karten.</p> - -<hr class="chap" /> -<div class="chapter"> -<h2><a name="Sechstes_Buch" id="Sechstes_Buch">Sechstes Buch</a></h2> -</div> - -<h3>1.</h3> - -<p class="drop-cap">Mitternacht war vorüber, als Hellwig bei Kolben Einlaß -heischte. Der Doktor war noch wach. Als Fritz -draußen schellte, ging er ihm ins Vorzimmer entgegen. -„Komm nur herein,“ sagte er, „ich hab’ dich erwartet.“</p> - -<p>Und Fritz trat wortlos ein und hatte blasse Wangen -und scheue Augen, die ohne Unterlaß den persischen Teppich -am Fußboden betrachteten. Aber Kolben tat, als bemerkte -er das nicht, sondern sprach zu ihm über seine Rosenkulturen -im Garten, die heuer besonders reichlich blühen -würden, über die vielen sonnigen Frühjahrstage, die immer -wieder zu Wanderungen ins Gebirge lockten, über die -letzte Premiere im Burgtheater. Über das alles und noch -über viele andere Dinge sprach der Doktor unbefangen -und zwanglos, als wäre Hellwig nicht an die drei Jahre, -sondern kaum ebenso viele Tage fortgewesen. Und nur -mitten zwischen diesen Dingen sagte er einmal ganz von -ungefähr: „Deine Frau wirst du wohl jetzt nicht aufwecken -wollen? Sie weiß auch noch nichts, es ist besser, -du bleibst die Nacht bei mir.“</p> - -<p>Fritz atmete schwer auf und bewegte die Lippen, aber -er sprach nichts und schaute nur stumpf vor sich hin, elend -und voll Schuldbewußtsein. Doch als ihm der Doktor -jetzt sein Schlafzimmer überlassen wollte, — er müsse -sich ausruhen, man sehe ihm ja an, daß er total erschöpft -sei, — da lehnte er auch das stumm ab und blieb auf -dem Diwan sitzen, mit halb geschlossenen Augen und ganz -teilnahmslos. Kolben aber dachte bei sich, daß es besser -wäre, den stolzen und harten Mann mit allen den herben -Verlusten und Enttäuschungen und Vorwürfen allein sich -abfinden und fertig werden zu lassen. Und er brachte -Kissen und Decken, wünschte ihm gute Nacht und zog -sich zurück. Und Hellwig war ihm dafür dankbar.</p> - -<p>Er drehte die Glühlampe ab und blieb im Dunkeln -sitzen und erinnerte sich, daß er unter einem Dach mit -Eva sei, daß ober ihm sein Junge schlief, und das war -Weh und Beruhigung, Qual und Trost zugleich. Doch -schließlich wurde die Übermüdung stärker als alles andere, -und auf die zerrüttelnden Aufregungen der letzten Tage -reagierte der Körper endlich mit einem tiefen traumlosen -Schlaf, der bis in die späten Vormittagstunden nicht von -den bleischweren Lidern wich.</p> - -<p>Über alles mögliche hatte Kolben geredet. Aber was -er für den Freund getan und wie er Eva über die langen -einsamen Tage und Monate und Jahre hinweggeholfen, -davon hatte er geschwiegen. Mit opferwilliger Treue, ein -verläßlicher Berater und Sorgenbanner, war er ihr zur -Seite gestanden, und während sie anfangs nicht darauf -achtete, hatte er ihr alle unangenehmen und schwierigen -Geschäfte abgenommen. Auch ihr Vermögen verwaltete -er, und wenn Eva sich niemals ganz verlassen fühlte und -wenn ihr gar nicht recht zu Bewußtsein kam, was eigentlich -Fritz ihr angetan hatte, als er sie mit dem Kinde unbesinnlich -in der großen fremden Stadt mutterseelenallein -gelassen, wenn sie davon nichts merkte und sich leidlich -zufrieden und geborgen glaubte, so war dies ausschließlich -das Verdienst des Doktors.</p> - -<p class="center" style="margin-top:1.5em;margin-bottom:1.5em;line-height:0.5em"> -<span style="margin-right:6em;">*</span>* -<br /> -* -</p> - -<p>Als Fritz endlich wach geworden, ging er mit Kolben -in den ersten Stock hinauf. Kaum ein Wort hatte er bisher -geredet. Und als er im Vorzimmer seiner eigenen -Wohnung stand, spürte er den ungestümen Schlag seines -Herzens bis in der Kehle. Kolben aber ließ ihn draußen -warten und ging allein hinein, um Eva vorzubereiten. -Ruhig und launig wie alle Tage begrüßte er sie und tat, -als wäre gar nichts Ungewöhnliches vorgefallen oder im -Anzug. Der vierjährige Hansl war mit dem Dienstmädchen -spazierengegangen.</p> - -<p>Wo war die Frohsinn blitzende Eva von früher? Ganz -zu tiefst, in den verstecktesten Winkel des Herzens, mußte -sich die Fröhlichkeit verkrochen haben. Keine Spur davon -war mehr in den schwermütigen Augen, dem ernsten Antlitz, -das deutlich die Zeichen gelittener Schmerzen eingefaltet -trug. Nur in den blonden Haarspitzen leuchtete -etwas, ein flink Bewegliches, Übermütiges, und war schon -wieder weg. Kaum wie ein schnell vorbeihuschendes Erinnern -an funkelnde Jugend und sonnige Tage war das gewesen.</p> - -<p>Unten schritt ein Briefträger über die Straße.</p> - -<p>„Haben Sie keine Nachricht von Fritz?“ fragte da Eva -unvermittelt.</p> - -<p>„Dasselbe wollte ich <em class="gesperrt">Sie</em> fragen ...“</p> - -<p>Ein trauriges Lächeln ging um ihre Lippen.</p> - -<p>„Mich? Seit Wochen hat er nichts hören lassen. Ich -weiß schon nicht mehr, was ich mir denken soll!“</p> - -<p>„Schreibfaul war Fritz von je.“</p> - -<p>„Aber so lang hab’ ich noch nie warten müssen!“</p> - -<p>„Er wird Sorgen haben. Der Streik dauert jetzt schon -einen Monat ...“</p> - -<p>„Wissen Sie denn wenigstens darüber etwas Neues? -Denken Sie sich, heut’ hab’ ich schon wieder keine Zeitung -bekommen. Gestern doch auch nicht. Was nur dem Austräger -eingefallen ist?“</p> - -<p>Kolben erhob sich. „Ich — habe ihn das so geheißen, -Frau Eva,“ sagte er sehr ernst.</p> - -<p>Da stand sie auch schon dicht vor ihm und schaute angstvoll -in sein ruhiges Gesicht. „Kolben! Was hat’s gegeben?“</p> - -<p>„Nichts, was Sie bedauern müßten, Frau Eva.“</p> - -<p>Sie rieb die Knöchel ihrer Finger gegeneinander. „So -sprechen Sie doch! Rasch! Rasch!“</p> - -<p>Zögernd gab er Antwort: „Die Führer des Streiks -haben ihren Zweck erreicht. Reinholts Arbeiter haben sich -dem Ausstand angeschlossen ... es hat Ausschreitungen -gegeben ...“</p> - -<p>Da schrie sie laut auf: „Fritz! Fritz! — Doktor, was -ist mit Fritz?“</p> - -<p>„Ruhe, Frau Eva, Ruhe — <em class="gesperrt">ihm</em> ist nichts geschehen. -Jetzt endlich wird er heimkommen.“</p> - -<p>Sanft legte er den Arm um die Wankende. Aber sie -stieß ihn ungestüm zurück. „Jetzt, Kolben? Jetzt? Nein! -Nein! Das erträgt er nicht! Doktor ... er verzweifelt -ja! Wir müssen hin! Doktor ... wir kommen ja schon -zu spät ...“</p> - -<p>Kolben hielt ihr die zitternden Hände fest. „Seien Sie -vernünftig, Frau Eva, ich hab’ Ihnen schon gesagt: Jetzt -endlich wird er heimkommen. Vielleicht ist er schon auf -dem Weg ...“</p> - -<p>Da schaute sie ihn mit einem wilden Blick an und rief: -„Vielleicht! Vielleicht auch nicht! Bringt Sie denn nichts -aus Ihrem Gleichmut? Und Sie wollen sein Freund sein? -Schämen Sie sich! Wissen Sie denn ... ob er — überhaupt -noch lebt?“</p> - -<p>Und ganz ruhig, ganz bescheiden antwortete der Doktor -darauf: „Gewiß, Frau Eva ... Er ist ja schon heimgekommen.“</p> - -<p>Er öffnete die Tür. Hellwig stand unter der Schwelle. -Und während Kolben mit zuckendem Gesicht, — nun er -allein war, brauchte er nichts mehr zu verbergen, — während -Kolben über die Treppe hinabeilte, warf sich Eva stürmisch -an die Brust ihres Mannes.</p> - -<p>„Fritz!“ flüsterte sie in heißer Freude. „Fritz!“</p> - -<p>„Eva!“ Das klang rauh und war wie ein Schrei.</p> - -<p>Sie schmiegte sich ganz dicht an ihn. „Nun bist du -wiedergekommen! Nun bist du endlich wiedergekommen!“ -sagte sie und wiederholte es immerfort, langte nach seinen -Wangen und streichelte sie und schaute ihn mit strahlenden -Augen an und hatte alles Leid vergessen. „Blaß und -schmal bist du geworden! Wo sind deine roten Backen -hin? Bist du müde? Komm, setz’ dich, mach’ dir’s bequem, -ruh’ dich aus ...“</p> - -<p>Und er hielt sie fest an sich gepreßt und legte ihren -Kopf an seine Brust und schaute auf ihren blonden Scheitel -und biß die Zähne zusammen, um nicht aufzuschluchzen. -Alles Unrecht, das er ihr angetan, stand mit einem Male, -nun er die Sanfte, Geduldige, Frohe wiedersah, riesengroß -vor ihm auf, und er fühlte sich elend und schlecht -und aller Liebe unwert.</p> - -<p>Aus dem Vorzimmer klang das Getrappel von Kinderfüßen -und Geplapper. Der kleine Hansl kam vom Spaziergang -heim. Und dann ging die Tür auf, sprang der -Bub über die Schwelle, auf die Mutter zu. Da sah er -den großen fremden Mann, wurde kleinlaut und wagte -sich nicht weiter. Eva ergriff seine Hand. „Hansl!“ sagte -sie mühsam heiter. „Hansl, komm zu Vaterl!“</p> - -<p>Halb scheu, halb zutraulich trippelte der Bub heran.</p> - -<p>„Vaterle ...?“ fragte er furchtsam.</p> - -<p>„So trau’ dich doch, Hansl! Na?“ Und um ihm die -oft vorgesprochenen Worte ins Gedächtnis zu rufen, begann -sie: „Grüß’ — Gott —“ Da stellte sich das Kerlchen -stramm vor den großen Vater hin und sagte hell und herzhaft: -„Grüß’ Gott, Vaterle, und hab’ mich lieb. Hab’ -auch Mutterl lieb und bleib’ bei uns!“</p> - -<p>Wortlos, in tiefster Bewegung, hob Fritz seinen Sohn -zu sich hinauf und küßte ihn.</p> - -<p>„So!“ rief Eva. „Jetzt komm, Hansl, wir wollen -Vaterl was zu essen holen!“</p> - -<p>Und rasch führte sie den Buben aus der Stube. Er -durfte seinen Vater nicht länger in solcher Erregung sehen.</p> - -<div class="section"> -<h3>2.</h3> -</div> - -<p>Ein Tag nach dem andern ging vorüber und Hellwigs -düstere Miene wollte sich nicht aufhellen. Sein Inneres -war wie ausgebrannt, wüst, nackt und leer. Alle Quellen -waren versiegt, alle Hoffnungen verdorrt. Was er für -sein Lebenswerk gehalten, lag in Trümmern. Da schämte -er sich vor sich selbst, vor seinem Weibe, vor den Menschen.</p> - -<p>Führer hatte er ihnen sein wollen, Pfadfinder, Heilbringer -— und war nichts gewesen als was so viele andere -auch: ein Irrlehrer und dünkelhafter Maulheld, der da -glaubte, den Menschen die Wahrheit schenken zu können. -Jeder andere durfte mit gleichem Recht das gleiche behaupten. -Die Wahrheit hatte ja doch keiner, konnte keiner -haben, weil es im ständigen Fluß der Entwicklung einfach -keine Wahrheit gab. Keine Wahrheit wenigstens, die zu -allen Zeiten Wahrheit bleiben muß. Wer am Ufer steht -oder im Strome treibt, weiß vielleicht, daß die Strombahn -in diesem Augenblick von Westen nach Osten zieht. Aber -ob sie sich tausend Meter weiter unten nicht nach Süden -wendet oder nach Norden oder im Bogen zurück nach -Westen, das weiß er erst, bis er’s mit eigenen Augen sieht. -Doch so wahr der Strom ein paar Meter weit nach Osten -fließt, so wahr fließt er auch ein paar Meter weiter unten -nach Süden. Wer aber wäre vermessen genug, zu behaupten: -Tausend Meter abwärts <em class="gesperrt">muß</em> dieser unbekannte Strom -im unbekannten Lande so fließen und nicht anders! — In -tausend Jahren <em class="gesperrt">muß</em> die Menschheit diesen und diesen Weg -gehen und keinen andern!</p> - -<p>Wer wäre so vermessen?</p> - -<p>Er, Fritz Hellwig, er hatte die Vermessenheit gehabt -und schämte sich jetzt, da er sie erkannte. Und noch etwas -anderes erkannte er jetzt: den Frevel, so nannte er es, -der kein Freund der Beschönigung war, den Frevel, den -er an Eva und seinem Kinde begangen — und an sich. -Das frohe Lachen und Plaudern des Buben war ihm wie -beständiger Vorwurf. Aus den guten Augen seiner Frau -las er ihn und immer haltloser wurde er.</p> - -<p>Auch Kolben vermochte da nichts zu richten. „Dir hätt’ -ich auch eine Schuld abzuzahlen, Albert!“ hatte Fritz bitter -gesagt und als der Doktor dagegen lachend protestierte, -hatte er tonlos weiter gesprochen: „Ich muß nur nehmen -und immer nehmen! Immer nur in euerer Nachsicht leben! -Das ist nicht gut, Albert, nein, das ist nicht gut ...“ -Und er war wieder in das tatenlose Hindämmern gefallen, -jedem Zuspruch unzugänglich und taub für jeden Trost.</p> - -<p>Seit seiner Rückkunft hatte er die Wohnung nicht verlassen. -In sich vergraben und ganz in seine Verzweiflung -eingewühlt lebte er, zeigte für nichts Interesse, rührte die -Zeitungen nicht an. Briefe von Reinholt liefen ein. Sie -blieben ungelesen. Wenn die Flurglocke klang, schrak er -zusammen. Er fürchtete sich vor den Menschen, weil er -sich vor ihnen schuldig glaubte.</p> - -<p>„Doktor, was sollen wir nur machen?“ fragte Eva -oft ganz mutlos.</p> - -<p>„Gehn lassen!“ antwortete dieser. „Es wird auch wieder -anders werden.“</p> - -<p>Und sie ließen ihn gewähren. Mit keinem Wort rührte -Eva an der Vergangenheit, tat, als wäre er nie fort gewesen. -Sie drängte sich ihm nicht auf, aber stets war sie -in seiner Nähe, hielt jede Störung fern, barg ihren Kummer -hinter hellen Mienen und lächelnder Heiterkeit, hüllte -ihn ganz in ihre Liebe ein und umhegte ihn mit jener stillen -Hausmütterlichkeit, deren Walten unmerklich ist und die -doch alles durchleuchtet und durchwärmt.</p> - -<p>Und wenn sie sich gar keinen Rat mehr wußte, schickte -sie Hansl zu ihm. Den konnte er dann stundenlang auf -seinen Knien haben, wie ein Kind konnte er mit ihm plaudern -und alle Märchen, die er noch wußte, erzählte er ihm. -Aber sobald der Junge fort war, sank er wieder zusammen -wie ein Feuer, das allen Brennstoff aufgezehrt hat.</p> - -<p>Unangemeldet kam eines Tages Kaufmann Wart hergereist, -um nach dem Rechten zu schauen und nebenbei -auch seinem Schwiegersohn gründlich den Kopf zu waschen. -Aber als er ihn so elend sah, unterließ er es. „Das Flamändern -wird dir jetzt wohl vergangen sein!“ knurrte -er nur.</p> - -<p>Einige Tage später nahm er ihn beiseite: „Fritz, was -wirst du jetzt eigentlich anfangen?“</p> - -<p>„Ich — weiß es nicht ...“</p> - -<p>„Aber ich wüßt’ was!“ lächelte verschmitzt der rundliche -Mann, der jetzt wieder frisch und blühend aussah und unter -seinem weißen Barthaar feiste rote Wängelein hatte. „Ich -wüßt’ was! Komm zu uns nach Neuberg!“</p> - -<p>„Das geht nicht!“</p> - -<p>„Muß gehn, Fritz. Schau, es ist ein wahrer Jammer. -Alles klerikal, alles schwarz, bis über die Ohren schwarz! -Das wär’ was für dich. Misch’ auf! Jag’ sie davon! -Schließlich, es ist ja doch deine Vaterstadt. Wär’ ein Verdienst, -Fritz, — und besser, als so ins Weite, Nebulose -hinein. Dort hast du wenigstens festen Boden und weißt, -daß du darauf gehörst und für wen du’s machst. Dein -Bub, — hm — ich denk’ halt, jeder Baum braucht seine -Erde. Und so eine Großstadt, das ist doch keine richtige -Heimat. Irgendwo aber soll jeder Mensch seine Wurzeln -haben. Pflanz’ halt den Hansl dort ein, wo er hingehört, -nicht? Und dann — uns zwei Alten tät’s auch wohl. Die -Mutter, — sie hat zu viel durchmachen müssen, — die -Mutter kann nicht mehr recht fort. Es zwickt und reißt -sie überall. Gefahr ist keine, aber beschwerlich ist so was, -drum ist sie auch nicht mitgekommen. Die Mutter, siehst, -und ich — jetzt sind wir schon ganz allein. Und dann -hätten wir wenigstens wieder jemanden. Und schreiben -— du wirst ja doch nichts andres tun als Bücher schreiben -und für die Zeitungen — schreiben kannst bei uns draußen -auch. Was meinst?“</p> - -<p>Fritz antwortete nicht gleich. Kolben kam herein.</p> - -<p>„Stör’ ich?“ fragte er.</p> - -<p>„Nur herein, Herr Doktor! Ich sag’ grad’ nur, der -Fritz soll mit nach Neuberg!“</p> - -<p>Kolbens Augen hinter der goldenen Brille leuchteten -auf. Das konnte eine Lösung sein. Aber diplomatisch meinte -er nur: „Hm, Neuberg? Was dort?“</p> - -<p>Fritz sagte nicht ja, nicht nein. Doch die Worte klangen -in ihm nach. Und die beruhigende Aussicht in eine Zuflucht -ließ ihn gefaßter werden, wenn er sich das auch -nicht eingestehen wollte, und richtete ihn auf und war wie -das Bändchen Bast, das ein ins Krumme wachsendes -Bäumchen am stützenden Pfahl festhält.</p> - -<div class="section"> -<h3>3.</h3> -</div> - -<p>Und die Tage glitten weiter, sacht und gleichmäßig, -wie weiße Schwäne auf einer unergründlich tiefen und -dunklen Flut. Glatt war die Oberfläche und verriet nicht, -was darunter brausend durcheinander brodelte, alle Leidenschaften -deckte sie zu, alle Angst und Qual und Aufregung, -und darüber segelten die weißen Schwäne, einer hinter -dem anderen, ruhig und lautlos. Kaum merklich war die -Bahn, die sie zogen, aber sie war doch da und in den -sanft bewegten Wellen spiegelte sich mit kleinen Lichterchen -die verbannte Freude, versuchten die Silberfischchen der -Hoffnung zaghaft ihren Tanz. Und zwischen das stürmische -Einst und das Jetzt schob sich mit mildem Glanz, die -scharfen Konturen abtönend und verschleiernd, wie eine -durchsichtige Wolke der Friede.</p> - -<p>Ohne Geräusch und ohne viele Worte, mit einer gleichmäßig -stillen Freundlichkeit und innigen Hingabe, versah -Eva den Haushalt und pflegte den kleinen Hansl und den -großen Fritz und jede Bequemlichkeit bereitete sie ihm. -Und täglich kam sie mit den Zeitungen und fing von -Dingen zu reden an, die ihr ganz fern lagen. Von Doktor -Kolben oder aus den gelehrten Büchern holte sie sich Aufklärung, -in die schwer gangbaren Gebiete der Finanzwissenschaft -und der hohen Politik drang sie mutig ein, schlug -sich tapfer mit den schwierigsten Lehren und mit den verwickeltsten -Ereignissen herum, um nur mit ihrem Manne -über etwas sprechen zu können, was vielleicht seine Teilnahme -wecken und ihn aus der schweren Dumpfheit reißen -könnte. Oder sie legte ihm Zeitschriften und Bücher auf -den Tisch: hier sei ein bemerkenswerter Aufsatz, den müsse -er lesen. Und dieses neue Werk vom Wesen des Geldes -werde ihn möglicherweise auch ansprechen. Doch wenn -sie ihm von Reinholt Briefe brachte, dann sagte sie nichts -dazu und schaute ihn nur freundlich bittend an: Er solle -doch einmal einen aufmachen und lesen. — Aber mit -keinem Wort rührte sie an der Vergangenheit, erwähnte -auch nichts davon, daß viele Blätter für ihn eintraten -und das Vorgehen seiner Feinde in der schärfsten Weise -verurteilten. Das hatte Zeit, das konnte ihm später als -Genugtuung dienen. Jetzt sollte er nur erst aus der schlaffen -Teilnahmslosigkeit heraus. Aber es wollte und wollte nicht -anders mit ihm werden. Meist saß er vor seinem Schreibtisch, -hatte die weißen Papierbogen vor sich liegen und die -Feder daneben, aber er rührte sie nicht an und nicht eine -Zeile schrieb er, sondern grübelte nur und brütete vor sich -hin, viele, viele Stunden lang. Aber die Melodie der -Häuslichkeit tönte immerzu leis um ihn und ruhiger und -ruhig schlug allmählich sein Herz.</p> - -<p>Und da geschah es eines Tages — ein Gewitter war -verrauscht und durch zerrissenes Gewölk drang die sinkende -Sonne mit schrägen Strahlen, die von den Fensterscheiben -gegenüber in gelber Lohe zurückflammten. Dämmrig wurde -es und düster, und Eva zündete die Lampe an. Das Gas -brodelte leise im messingnen Auslauf, und vor den Fenstern -draußen im Garten schlief sanft und sacht die Erde ein -und eine Amsel sang vom eisernen Windpfeil eines Landhauses -herab der müden das Schlummerlied. Da geschah -es. In dieser seltsam leuchtenden und heimlich -klingenden Stille außen und innen, in diesem feierabendlichen -Frieden, der alle Dinge weich und warm in seine -Arme nahm, geschah es.</p> - -<p>Halb vom Vorhang zugedeckt, saß Fritz beim Fenster. -Er hatte, nach langer Zeit wieder einmal, in seinem Werk -geblättert, das er einst in einem Rausch der Schaffensfreude -niedergeschrieben, hatte auch einzelne Stellen gelesen, -wieder und wieder gelesen, aber keinen Widerhall -in seiner Seele gehört. Worte waren das, leere, taube -Worte, die an ihm abglitten und hohl tönten, wie Gefäße -ohne Inhalt. Und alle Glut war in sich zusammengesunken, -und unter der Asche glomm kein Funke mehr.</p> - -<p>Er klappte das Buch zu und lächelte bitter, als er -den gepreßten Lederrücken sah. Für Jahrhunderte schien -dieser Einband berechnet und was er umschloß, war schon -widerlegt, war schon verbrannt und ausgekühlt und wertlos.</p> - -<p>Lang saß er dann und schaute in den Garten hinaus. -Noch tobte das Gewitter und die Wolken hingen ganz -niedrig und die Bäume bogen sich und zitterten im Sturm -und wenn ein Blitz grell aufflammte, der Donner nachkrachte, -duckten sie sich noch tiefer und bebten sie noch -stärker. Und die weißen Landhäuschen fürchteten sich mit -ihnen und kauerten wie verirrte junge Tiere in dem zitternden -Grün. Und in dicken Strängen fiel der Regen nieder. -Und dann wurde es stiller und lichter und freier und der -letzte Donner war noch nicht vergrollt, da war auch schon -wieder Amselsingen und war leuchtender abendlicher Friede.</p> - -<p>Dann flammte die Lampe auf, und Eva kam und legte -ihm die Abendblätter aufs Fensterbrett. Und wie jedesmal -schob er sie beiseite, ohne einen Blick hineinzutun. Denn -er wollte nicht erinnert werden, wollte nicht wissen, was -draußen in der Welt vorging, das sollte tot für ihn sein, -wie er für die Welt tot sein wollte.</p> - -<p>Lebhaft und ungestüm sprang jetzt sein Bub, des stillen -Spielens mit den Bauklötzchen in der Ecke müd, zu ihm -her, legte die Arme um seinen Leib und den Kopf auf -seine Knie: „Vaterle, erzähl’ was!“</p> - -<p>Da schrak er aus seinem Grübeln und schaute das Kind -mit ausdruckslosen Augen an.</p> - -<p>„Was erzählen!“ bettelte der Bub.</p> - -<p>Nun bezwang er sich mühsam, hob den Knaben auf -seinen Schoß, fing nach einer geraumen Weile zu reden -an: „Also — es war einmal ein Mann, der war verwunschen, -immerzu irre zu gehen. Wenn er wohin gewollt -hat, in die Kirche oder auf den Jahrmarkt in die Stadt, -hat er niemals den rechten Weg finden können. Er selber -freilich, er hat schon geglaubt, daß er richtig geht. Immer -der Nase nach geradeaus, dann links um die Ecke und -noch einmal rechts um die Ecke, dann muß die Kirche -ja da sein. So hat er geglaubt. Aber die Kirche ist nicht -da gewesen, sondern die Ziegelscheuer oder die Herberge -oder sonst ein Haus, nur nicht die Kirche. Und er hätte -doch darauf geschworen, daß er recht gegangen ist. Und -wenn er zum Jahrmarkt nach Aberg gewollt hat, ist er -sicher zum Viehmarkt nach Beheim gekommen, was doch -in einer ganz anderen Richtung liegt. Weil er aber nicht -leer nach Haus hat kommen wollen, hat er sich halt dort -eine Kuh gekauft oder einen Ziegenbock und den hat er -dann sicherlich dem Meister Schneider oder Fleischhauer -in den Stall getrieben, die doch am andern Ende vom -Dorf gewohnt haben. Und kurz und gut, er hat halt nie -dorthin kommen können, wohin er gewollt oder wo er -zu tun gehabt hat. Immer hat er sich verirrt oder ist -immerzu im Kreis herumgegangen, immerzu rundherum -im Kreis.“</p> - -<p>Er schwieg und holte tief Atem.</p> - -<p>„Der dumme Mann!“ rief der kleine Hansl.</p> - -<p>„Jawohl, der dumme, dumme Mann!“</p> - -<p>„Fix, Hansl, dein Abendbrot ist da!“ rief die Mutter -dazwischen. Der Bub wollte nicht fort: „Erzähl’ mehr, -Vaterl!“ bat er. Aber Frau Eva machte keine Umstände. -Sie packte den Zappelnden unter den Armen und hob -ihn in seinen Sessel. „Avanti! Jetzt wird gegessen, daß -du mir rechtzeitig in die Federn kommst!“ Sie band ihm -ein Mundtuch vor, gab ihm den Löffel in die Hand. Nun -aß er gehorsam seine Eierspeise und schmatzte mit den -Lippen und ließ sich von der Mutter die Semmelbrocken -in den Mund stecken.</p> - -<p>Durch das Gegitter des Spitzenvorhangs schaute Fritz -zu. Da waren sie beisammen, die beiden lieben Menschen, -die schöne reife Frau und der helläugige Knabe, im goldenen -Kreis der Lampe. Und beide hatten vergnügte Gesichter -und waren guter Dinge und nicht ein leisester Schatten -trübte jetzt ihre heiteren Mienen. Im engsten Raum, -vom goldenen Lichtkreis eingeschlossen, Mutter und Kind, -Erfüllung und Verheißung, lachend und blühend wie die -Erde im Juni. Und er — hatte sich selbst aus dem goldenen -Kreis verbannt, — um all das Licht hatte er sich -betrogen, mußte schuldbeladen abseits stehen.</p> - -<p>Der dumme, dumme Mann!</p> - -<p>Hart vor seinen Füßen hörte mit einer scharfen Linie -das warme Lichtrund auf und um ihn war Dunkel und -Einsamkeit und Kälte.</p> - -<p>Du dummer, dummer Mann!</p> - -<p>So tritt doch heraus aus dem Dunkel. Wag’ den Schritt -— ins Licht, in die Wärme, in die Liebe — zurück in den -leuchtenden Kreis des Lebens. Diesmal kannst du nicht -in die Irre gehen. Zu nah ist das Ziel. Ein Schritt nur -— ein Öffnen der Arme — und du hast es und hältst es -fest — und nimmer, nimmermehr kann es dir dann entfliehen.</p> - -<p>Aber es war ihm, als könnte er niemals über diese -scharfe, klare Grenzlinie hinüber.</p> - -<p>„Weiter erzählen!“ rief Hansl und schlug mit seinem -Löffel gegen den blechernen Teller. „Weiter erzählen, -Vaterle!“</p> - -<p>Doch Eva hielt ihm die Hand fest und sagte: „Was -gibt’s da noch viel zu erzählen? Der Mann ist immer -falsch gegangen, weil er ja doch verzaubert war. Und einmal, -da ist er schon weit fortgewesen und hat sich gar -nicht nach Haus finden können. Aber da ist ihm eingefallen, -daß seine Frau mit dem Essen auf ihn wartet -und daß sein Bub auf ihn wartet und eine Geschichte erzählt -haben will. Und wie ihm das einfällt, da hat er -sich umgedreht, und keinen einzigen falschen Schritt hat -er mehr gemacht und ist nur immerzu geradeaus gelaufen -und gelaufen, bis er richtig zu Haus war. Und so schnell -ist er gelaufen, daß das Essen wirklich noch warm war -und daß er auch noch eine Geschichte hat erzählen können. -Und seit der Zeit ...“</p> - -<p>Mehr konnte sie nicht sagen. Denn Fritz war aus -seiner dunklen Nische in das helle Licht getreten, mit weit -gebreiteten Armen — und seine Augen waren groß und -leuchteten in ihren Tiefen, und die lieben zwei lehnten ihre -Köpfe an seine atmende Brust, und so stand er in stummer -Ergriffenheit und hatte sein Ziel erreicht und hatte sein -Glück gefunden im goldenen Kreis des Lebens.</p> - -<div class="section"> -<h3>4.</h3> -</div> - -<p>In der Nacht, die diesem Erlebnis folgte, da lag er -wach bis zum Morgen. Und während Eva neben ihm -still atmete, fühlte er, wie Ring um Ring von seinem -Herzen sprang, Stück um Stück der Eiswall brach, hinter -dem es eingefroren nur müd gepocht hatte. Die Nacht flutete -dunkel und gleichmütig vorüber. Ihm aber leuchteten die -Augen groß und eines ernsten Glückes voll. Erlösung. -Auferstehung. Weitab vom tosenden Jubel, vom wütenden -Haß des Tages, im engsten Raum, zwischen seinen vier -Pfählen, mit einer beglückenden Selbstverständlichkeit war -diese Stunde gekommen und hatte ihn zum Hafen getragen, -mühelos, wie eine Welle die Muschel auf den -Strand spült. Und er konnte alle Segel einziehen und -Anker werfen.</p> - -<p>Und langsam und allmählich lernte Fritz Hellwig wieder -lachen und wieder frei aufschauen. Und wenn er den -Glauben an sich selbst verloren hatte, so fand er ihn allmählich -und langsam wieder in dem Glauben an das -Leben und in der Liebe der Seinen und zu den Seinen. -Und alle Zärtlichkeit Evas und aller Jubel des Buben -strömte in seine Seele, die ihre Tore weit offen hielt und -machte ihn dankbar und fromm und glücklich wie ein unartiges -Kind über unverdiente Weihnachtsgaben. Und jetzt -bemerkte er auch die behutsame Zartheit, mit der Eva -seine Stimmungen belauschte und wie sie sich mühte, ihn -abzulenken, aufzuheitern und aus seiner Teilnahmslosigkeit -zu wecken. Wie sie immer und immer wieder leis an -sein Herz pochte und Einlaß heischte und die Geduld niemals -verlor, wenn sie vergeblich warb, wenn er sie rauh -zurückstieß und keinen Teil mehr haben wollte an aller -Freude und Liebe. Und er zieh sich der Selbstsucht, weil -er sich nur dem eigenen Schmerz überantwortet hatte und -zu allem angerichteten Unheil, zu allen seinen Irrfahrten, -die so viele bitter getäuscht und arm gemacht, noch und -abermals ein Unrecht gehäuft und jener weh getan hatte, -die ihm zunächst stand und ihn am liebsten hatte.</p> - -<p>Schwere Schuld war zu sühnen und manches konnte -überhaupt nicht ausgetilgt werden. Aber irgendwie gutmachen -und aufwiegen ließ es sich, nur mußte er die Zeit -nützen und seine Kräfte, statt sie in nutzloser Selbstbemitleidung -zu vergeuden, frei machen für die Sühne.</p> - -<p>Und langsam wurden sie frei.</p> - -<p>Hatte er früher alles an sich vorbeigehen und gleichgültig -zu Boden fallen lassen, so konnte er jetzt nicht -genug tun und nicht genug finden, was Eva freuen und -fröhlich machen sollte. Auf alle ihre Anregungen ging -er ein, sprach mit ihr über die Tagesereignisse, und wenn -sie auf ein besonders verwickeltes Thema gerieten und -wenn Eva sich immer tiefer hinein verfitzte und hilflos -hing wie ein Fisch im Netz, dann lachte er wohl und -sagte, sie solle sich doch keine solche Mühe und seine -Schuld nicht noch größer machen.</p> - -<p>Sie erwiderte nicht auf solche Reden, blickte ihn nur -strahlend aus innigen Augen an und auf ihrem Gesicht -lag ein ganz heller Schein der Freude.</p> - -<p>Bald hatte er nachgeholt, was er in den letzten Wochen -versäumt, hatte er die Zusammenhänge wiedergewonnen -und die Zeitungen blieben nicht mehr ungelesen neben dem -Schreibtisch liegen. Und er las die maßlosen Ausfälle in -den Blättern der Gegner, las die Verteidigungen und die -Lobsprüche der Anständigen und ihm wurde dabei, als -ob das alles irgendwo weit in der Ferne sich abgewickelt -und er gar keinen Teil daran habe. Auch die Briefe Reinholts -las er jetzt. Und da erfuhr er denn das Schicksal -der Empörer.</p> - -<p>Karus, Leibinger, Sanders und fünf andere waren tot, -Mark im Gefängnis, die übrigen in alle Winde verstreut. -Der Streik war zu Ende.</p> - -<p>Fritz las das und wurde wieder sehr traurig. Aber es -war nicht mehr die dumpfe Verzweiflung, der tatenlose -Trübsinn von früher. Eine tiefe sanfte Wehmut war es, -die ihn ganz läuterte und immer fester und unlösbarer -mit seinen Lieben verknotete.</p> - -<p>Den ganzen Tag war er jetzt mit dem Buben im Garten, -lehrte ihn die Vögel nach dem Ruf, die Pflanzen -und die Steine unterscheiden und wurde nicht müd, die -zahllosen Fragen des aufgeweckten Kindes zu beantworten. -Aber noch keinen Schritt hatte er seit seiner Rückkehr vor -das Haus getan. Er schämte sich noch.</p> - -<p>Und auch jetzt, als ihn Eva zu einem Spaziergang aufforderte, -wollte er nichts davon wissen. Sie aber ließ -nicht mehr locker, bat und drang in ihn und endlich gab -er nach.</p> - -<p>Zwischen den gartenumhegten Villen gingen sie, in stillen -Gassen, die wie breite Alleen waren, von Bäumen flankiert -und mit gelbem Kies bestreut. Und nur wenig Menschen -waren zu sehen. Eva hängte sich fest an seinen Arm, -war heiter, froh und herzlich und lachte und freute sich. -Da vergaß er alles andere und fühlte nur ihre sonnige -Nähe, blickte in ihre klaren Augen, die unter langen Wimpern -hell und blank in die blanke und helle Welt hineinlachten -und er wurde sicherer, ging aufrechter dahin und -wenn ein Spaziergänger sie schärfer ansah, stehenblieb -und ihnen nachschaute, empfand er nicht Unbehagen oder -Befangenheit, sondern war stolz und freute sich über seine -blühend junge schöne Frau.</p> - -<p>Eine sachte Lehne hinauf gingen sie, bis die Häuser -den Weinpflanzungen Platz machten und weiter oben eine -freie Schau ins Land hinein sich auftat.</p> - -<p>Unten lag die große, turm- und giebelreiche Stadt, -ein dunkler Wall von schönen laubwaldumwachsenen Bergen -mit weißen Schlössern und bewimpelten Warten und -Aussichtstürmen schloß den Horizont ein und hoch und -still weitete sich der Herbsthimmel darüber. Im Westen -ging die Sonne schlafen, von Gipfel zu Gipfel den Gebirgskamm -entlang lief ein zackiges Feuerband, und rings -um das Himmelsrund, je weiter von der goldenen Lohe -im Westen, je tiefer und satter, wogten und wehten und -schwebten zarte, durchsichtige Schleier, purpurn und blau -und violett, sanken von den Höhen ins Tal, breiteten sich -aus und hüllten gleitend, wogend, weich und duftig die -Türme, die Giebel und Dächer alle ein.</p> - -<p>Eine lange Weile standen Fritz und Eva Schulter an -Schulter und schauten stumm zu, wie die Sonne in Licht -und farbenfroher Schönheit ertrank. Der runde Rücken -des Hügels war fast baumlos. Lediglich vor einem zierlichen -Kapellchen waren ein paar junge Linden im Halbkreis -eingepflanzt und daneben war ein Friedhof mit blumigen -Gräbern, schlichten schwarzen und weißen Steinen, -Kreuzen und dürftigen dunklen Zypreßchen.</p> - -<p>Sie öffneten die Lattentür, traten ein und gingen zwischen -den Gräberreihen hin. Einsam war es hier und -still und gar nicht traurig. Die Höhenluft spielte mit -den welken Kränzen, wehte um die grünen Gräser, um -die nickenden Blütenköpfchen und um die prunklosen Male -auf den reinlichen Totenstätten. Und wo ein Kindergrab -war, dort kniete ein gipserner Engel in einem sauber angestrichenen -Gitterchen und betete. Und die blauen Berge -winkten und grüßten noch von fern und die Lichter der -Stadt leuchteten durch die duftigen Abendschleier gedämpft -herauf, einzeln oder, wo ein Straßenzug ging, in feurigen -Ketten. Traulich war das alles und anheimelnd, und -Eva sagte versonnen:</p> - -<p>„Hier möcht’ ich auch einmal liegen, du. Es ist so -lieb hier.“</p> - -<p>„Sprich nicht vom Sterben!“ bat Fritz.</p> - -<p>„Warum?“ fragte sie und schaute ihn aus lebensfrohen -Augen an. „Leben wir denn länger, wenn wir davon -schweigen? Oder sind wir glücklicher? Ich glaube doch -nicht, Fritz. Mir wenigstens, mir ist immer, als müßt’ -ich mich schnell noch doppelt freuen über die Gegenwart, -wenn ich denke, daß alles einmal vorübergeht. Und viel -tiefer und stärker freue ich mich dann über das bißchen -Glück, das wir haben. Und das haben wir, gelt, du?“</p> - -<p>Sie schmiegte sich ganz dicht an ihn, legte die Wange -auf seinen Arm.</p> - -<p>„O — du!“ antwortete er und seine Stimme war -rauh und brüchig. „Ob wir das haben! Unsere Stuben -sind ja berstvoll davon — und alles durch dich! Alles, -was darin schön und warm und hell ist, hast du hineingetragen -und bereitet mit deinen Händen. Und was darin -häßlich und kalt und dunkel ist — durch meine Schuld -ist es dazugekommen. Drum sprich nicht vom Sterben! -Ich mag nicht dran denken, du! Ich mag nicht denken, -wie wenig Zeit mir noch bleibt, um — dir’s zu danken -und dir’s zu lohnen — und abzuzahlen — und zu vergelten, -so gut ich’s kann. — Ev, du Liebe, Gute, Gütige!“</p> - -<p>Ein Schluchzen erstickte seine Worte. Noch nie hatte er -so leidenschaftlich zu ihr gesprochen, ihr so ganz unverhüllt -und rückhaltlos sein Innerstes offenbart. Ein seltenes, -schweres Glücksempfinden flutete wie eine heiße -Welle über die Frau und ließ sie zu tiefst erschauern.</p> - -<p>Sie schwiegen. Lange, lange. Die Grabmale ragten -ruhig in die halbhelle Dämmerung, schwarze Schatten stiegen -über die Hügel. Ein Stern flammte auf und noch -einer und wieder einer und lautlos schwebte die Nacht zu -Tal. Und der Himmel wölbte sich hoch über ihren Häuptern -und baute sich seltsam durchsichtig in einem ganz -satten, ganz dunklen Blau über alle die funkelnden Sterne -hinaus höher und höher in die weite, leuchtende Unendlichkeit -empor.</p> - -<div class="section"> -<h3>5.</h3> -</div> - -<p>Jetzt ließ sich auch Doktor Kolben wieder öfter blicken, -der sich in der letzten Zeit ganz zurückgezogen hatte, um -das Heilung bringende Walten Evas nicht zu stören. Die -Septembertage waren mild und klar und sonnig, in den -Nächten stand der Vollmond am Himmel, so daß es auf -der Erde gar nicht mehr finster wurde und Licht mit -Licht, Goldglanz mit Silberschimmer lautlos wechselte. -Da nahmen Hellwig und Kolben ihre Mondscheinpartien -wieder auf. Vor Jahren, damals, als Fritz noch als blutjunger -Mitarbeiter bei den Freien Blättern saß, hatten -sie solche Wanderungen öfter unternommen, und regelmäßig -war auch Heinz mit dabei gewesen.</p> - -<p>Diesmal fuhren sie in die Eisenerzer Alpen. Spät nachts -kamen sie in Kallwang an und machten sich ungesäumt -auf den Marsch. In Nagelschuhen und Lodenflaus, die -Rucksäcke auf den Rücken, schritten sie wacker aus. Erst war -es noch dunkel und nur die Sterne leuchteten über ihrem -Weg. Aber dann ging rund und voll der Mond auf und -schüttete sein Silber auf die Erde. Die tief eingefalteten -Täler füllte er und den endlosen Luftraum, und vor dem -hellen Himmel standen dunkel und riesengroß und silberüberrieselt -die gewaltigen Mauern des Hochgebirges. Jeder -Gipfel war scharf umrissen, und doch waren alle Linien -weich und seltsam fließend. Jeder Kamm war rein geprägt -und war doch schattenhaft und unbestimmt verschwimmend. -Jeder Gebirgsstock ragte klar und fest mit -dem Boden verwachsen aus dem silbernen Tal in den silbernen -Himmel, und doch schien das alles, in diesem -Licht, das so ruhig leuchtete und dennoch immerwährend -flimmerte und flutete und mit winzigen Wellchen ineinanderspielte, -schien das alles, die wurzelfesten Berge, die -mächtigen Kuppen und starr aufragenden Zinken, flaumenleicht -und schwebend, nur kaum wie mit ganz feinem -Pinsel auf den zart silbernen Himmel hingestrichen. Und -das war das Seltsamste: daß die Wucht und kolossale -Größe des Gebirges nah und greifbar dastand und doch -nicht fühlbar und nicht drückend wurde.</p> - -<p>Schweigend schritten sie dahin. Über ebene Wiesenflächen -schritten sie, und die Gräser rauschten unter ihrem -Tritt und schimmerten und flimmerten, eins im bläulichen -Schatten des anderen. Und durch mächtige Tannenwälder -schritten sie, die still und undurchdringlich finster waren -gleich lichtlosen Kirchenhallen, und nur hoch oben, über -dem schwarzen Gitter der Nadelkronen, lag der Mondglanz -wie ein durchbrochenes Spitzengewebe.</p> - -<p>Schweigend schritten sie vorwärts. Etwas tief Beruhigendes -war in dieser Wanderung durch Glanz und Stille, -etwas, was alle Leidenschaften einwiegte, alle Wünsche -schweigen, alle Erdenmühe vergessen ließ, und auf lautlosen -Schwingen hob sich die frei und leicht gewordene -Seele und gleitend flog sie, flog schwebend in den unendlichen -Frieden hinein, der alle Berge und Täler, alle -Höhen und Tiefen durchtränkte.</p> - -<p>Schweigend schritten sie aufwärts. Und als sie den -Wald hinter sich hatten, ins Krummholz kamen und auf -weiche Alpenmatten, da hatte der sanfte Mondglanz schon -dem härteren Licht des Morgens weichen müssen. Und -als sie den Kamm erstiegen, da brodelten tief unten schon -und brandeten die grauen Morgennebel, alle Täler füllend, -wie ungebärdige Ströme gegen die ruhige Kraft der Berge -an. Und dann sprang die Sonne rein und rund, ein junger -Held in goldig flammender Rüstung, auf den Burgwall -und schleuderte die Feuerspeere ungestüm fernhin gegen -die weißen Hünen im Gesäuse, die gelassen ihre ungeheueren -Schilde entgegen hielten, gegen die funkelnden -Panzer das Dachsteins, des Glockners, der trotzig unbewegten -Riesen — und es war wie der heiße Ansturm des -vergänglichen Lebens, das seine überschäumende Kraft auszutoben -begehrt an dem unverrückbaren, sicheren, ewigen -Sein.</p> - -<p>Noch immer schwiegen die beiden Wanderer, schritten -den felsigen Kamm entlang zum Gipfel. Neuschnee lag -hier oben, weich und unberührt, eine duftige Decke, mit -den tiefroten Sternen der Nelken, mit gelben und blauen -Alpenblumen leuchtend durchweht. Und zwischen dem Felsgetrümmer -blühte das Edelweiß.</p> - -<p>Nun waren sie auf dem Gipfel, breiteten die Mäntel -aus und hielten Rast. Die Rucksäcke wurden ausgepackt, -der sturmsichere Weingeistkocher angezündet, der Tee bereitet. -Ein harscher Höhenwind strich über den Kamm, -machte die Wangen rot, und die Lungen atmeten tief auf -in dieser reinen Frische. Ganz still war es. Die Morgennebel -waren verflogen, der Übermut der jungen Sonne -war verbraust. Klar und ruhig schien sie von einem blauen -Himmel herab auf die gewaltige Bergwelt mit ihren schroffen -Zacken und jähen Abstürzen, ihren breiten Gipfeln und -schmalen Tälern, und tief unten zwischen dunklem Tannengrün -und hellen Wiesen duckten sich winzige Häuschen -und Kirchlein und Menschensiedelungen, duckten sich und -ruhten an der Brust der Berge sicher und gut wie Vögel -im Nest.</p> - -<p>Noch immer schwiegen die zwei oben auf der freien -Höhe und ließen die Gedanken ausklingen, die während -des Aufstiegs, während der mannigfaltigen Übergänge von -der dunkelsten Nacht bis zum strahlenden Tag in ihnen -wach geworden. Es war wohl bei beiden dasselbe gewesen. -An die Not des Lebens hatten sie gedacht und an die -herben Enttäuschungen, die keinem von ihnen erspart geblieben. -Durch Leid und Verzweiflung waren sie beide -gegangen, der eine, als er der geliebten Frau entsagen -mußte um des Freundes willen, der andere, als ihm ein -Ideal um das andere, ein schöner Traum nach dem anderen -zerstob und entschwand. Und doch war jetzt Ruhe in -ihnen, eine sanfte, innige Ruhe wie Mondlicht über -Trümmern.</p> - -<p>Kolben brach endlich das Schweigen.</p> - -<p>„Hier ist Friede!“ sagte er und schaute immerzu in -das lachende Tal zu seinen Füßen.</p> - -<p>Fritz lachte. Traurig und bitter lachte er.</p> - -<p>„Ja — hier oben — ein paar tausend Meter weit -von allen Menschen — da ist Friede! Und Ruhe — und -Sicherheit. — Aber schon dort unten, in den elenden -Hütten — so friedlich schauen sie aus, so idyllisch und -poetisch — schon dort unten ... weißt du, wie viele -Kinder dort schon mißhandelt, — wie viele Tiere nutzlos -gequält wurden und täglich werden? Wie viel Elend und -Schande und Leid diese Strohdächer zudecken, diese — -Menschenstätten? <em class="gesperrt">Hier</em> ist Friede! Aber wo Menschen sind, -da ist Blut und Schmach und Kampf und Unzufriedenheit.“</p> - -<p>Und nun brach auf einmal alles aus ihm vor, was -wochenlang auf seiner Seele gewuchtet hatte.</p> - -<p>„Aber woher nur? Woher diese ewige Unzufriedenheit? -Die Frage läßt mich nicht los! Und ich finde keine Antwort! -Das Tier ist zufrieden, die Herde folgt noch heute -willig dem Leitstier, die Wölfe rennen im Rudel wie vor -tausend Jahren. Nur wir Menschen ändern immer wieder -unsere Ordnung. Damit die Republik an die Stelle der -Monarchie treten kann, müssen Tausende verbluten. Und -kaum haben die Überlebenden gelernt ‚Hoch die Republik!‘ -zu schreien, müssen abermals Tausende sterben, die nicht -so schnell wie die anderen ihre Kehlen umstimmen können -auf den neuen Ruf: ‚Es lebe der Kaiser!‘ — Und wieder -zurück, wieder vorwärts, ein steter Wechsel, eine Sehnsucht, -so brennend heiß, daß sie manchmal mit Blut gelöscht -werden muß! Warum nur? Warum?“</p> - -<p>Kolben brach eine purpurne Nelke aus dem weißen -Schnee und betrachtete sie aufmerksam: die Blütenblätter, -die wie frierend zusammengerollt waren und das Stengelchen, -an dem ein ganz dünnes Eisfähnchen glitzerte. Denn -in der Sonne war der Schnee geschmolzen, aber der kalte -Höhenwind hatte das Wasser sogleich wieder gefrieren -lassen. Von allen Seiten betrachtete das der Doktor ganz -genau und sagte dabei:</p> - -<p>„Warum, Fritz? Weil wir — das Denken gelernt -haben. Das Leben — das hat die Natur in den ungeheueren -Kreislauf hineingeworfen, gedankenlos und zwecklos -hat sie es geschaffen. Wie es sich weiter entwickelt, -darnach fragt sie nicht. Aber das Leben <em class="gesperrt">hat</em> sich weiter -entwickelt und wir — haben uns im Daseinskampf als -stärkste Waffe das Denken geschmiedet. Die Natur denkt -nicht, wir, ihre Kinder, denken, forschen nach Ursache, Plan -und Ziel, werfen unsere bangen Fragen an die Tore der -Ewigkeit. Und nichts tönt zurück, nichts kann zurücktönen -— als Schweigen. Unseres Daseins uns bewußt, sind -wir vom Unbewußten wie von Mauern eingeschlossen und -können nicht heraus. Seit wir zu denken angefangen haben, -sind wir über unsere Mutter hinausgewachsen. Wie können -wir da jemals zufrieden sein?“</p> - -<p>Hellwig stöhnte dumpf auf. „Dieses Sich-bescheiden, -diese Resignation — ich kann mich nicht damit abfinden ...“</p> - -<p>„Du wirst schon müssen, Fritz. Vielleicht — schau’, -nimm’s einmal so: Die Entwicklung steht nicht still. Darum -wird die Menge immer Rohstoff bleiben und niemals -reif werden. Im Bilde: Sie ist ein ungeheuerer Klumpen -Ton. Und die einzelnen wenigen, die Erlöser, Dichter, -Denker, die in der Entwicklung Vorausgelaufenen, die -‚mit den neuen Wahrheiten‘, die Herrenmenschen, was weiß -ich, die alle kneten an dem ungeheueren Klumpen herum. -Der eine da, der andere dort, aber ihn ganz bewältigen -und zu <em class="gesperrt">einem</em> Bildwerk zusammenfassen, das ist keiner -imstand. Weil der Ton zu weich ist. Und eh’ er erstarrt, -ist schon ein neuer Bildner da und ändert die Nase, die -Ohren, die Beine. Manchmal patzt er auch, das tut nichts, -ein anderer macht’s schon wieder besser.</p> - -<p>Rohstoff ist die Menge, Fritz, und bleibt Rohstoff. -Bildungsfähig ist sie und wird doch niemals Bildung -haben. Entwicklungsfähig ist sie und wird doch niemals -entwickelt sein. Oder: sie braucht immer ihren Beglücker -und wird doch nie beglückt sein. Oder zufrieden, was dasselbe -ist. Drum laß das gehn!“ — Und jetzt wurde Kolben -sehr herzlich. — „Sieh lieber zu, daß dein Junge nicht -in der breiigen Masse versinkt. Wenn du’s zuwege bringst, -daß er ein Bildner wird, ein vollwertiger ganzer Kerl, ein -Kneter, kein Gekneteter — kurz und gut, wenn du der -Menschheit einen einzigen tüchtigen Mann heranziehst, dann -hast du für sie mehr getan, als wenn du zehntausend — -halb glücklich machst. Denn zehntausend Halbheiten sind -noch immer kein Ganzes!“</p> - -<p>So sprach Doktor Kolben, der stille, versonnene Mensch, -während er unablässig die purpurne Blüte mit dem glitzernden -Eisfähnchen zwischen den Fingern drehte. Der täppische -Bergwind riß ihm die Worte von den Lippen, aber -sie erreichten doch ihr Ziel, ein geneigtes Menschenohr, ein -empfängliches Menschenherz, wo sie Wurzel fassen und zum -Blühen kommen durften.</p> - -<p>Und die Sonne lag funkelnd auf dem blendend weißen -Schnee und die Täler waren grün und leuchteten grüßend -herauf und die Bergriesen standen sicher und trotzig im -Kreis und bewachten den Frieden, der mit weit gedehnten -Schwingen über allen Dingen schwebte.</p> - -<div class="section"> -<h3>6.</h3> -</div> - -<p>Als sie heimkehrten, Edelweiß auf den Hüten, die Kleider -schwer vom Duft der Alpenmatten, da waren Reinholt -und Pfannschmidt und der alte Bogner mit seinem Schwiegersohn -zu Hellwig gekommen.</p> - -<p>„Endlich!“ rief Reinholt und ging auf ihn zu und umarmte -ihn. „Endlich seh’ ich dich wieder! Wie konntest -du ohne Abschied davonlaufen und nichts mehr von dir -hören lassen?“</p> - -<p>„Leo!“ sagte Fritz dumpf. „Nein — du mußt mir -noch Zeit lassen, Leo!“</p> - -<p>„Was hast du? Ich versteh’ dich nicht?“</p> - -<p>Da schrie er gequält auf: „Habt Geduld mit mir! Ich -<em class="gesperrt">kann</em> euch noch nicht Rede stehen!“</p> - -<p>„Fritz, — laß doch Vergangenes vergangen sein!“</p> - -<p>„Ich — hab’ euch ärmer gemacht, als ihr gewesen seid, -bevor ihr mich gekannt habt! Ich hab’ euch viel versprochen -und nichts hab’ ich gehalten! Und kann euch -nicht einmal Ersatz bieten — ich bin ja selber bettelarm -dabei geworden!“</p> - -<p>„Also <em class="gesperrt">das</em> quält dich?“ entgegnete Reinholt. „Na weißt -du, so überflüssig ist nicht bald was! Wen hast du ärmer -gemacht? Die zu uns gehalten, denen geht’s heut’ noch -gut — die anderen liegen, wie sie sich selbst gebettet haben. -Die Spekulation ist mißglückt, ein paar Gulden sind beim -Teufel — das ist alles und das ist schon längst verschmerzt. -Geh, Fritz, brau’ dir nur um Himmelswillen nicht so närrisches -Zeug zusammen!“</p> - -<p>„So zürnst du mir denn nicht?“</p> - -<p>Reinholt lachte so laut und herzhaft, daß Hellwig, ob -er wollte oder nicht, von der Grundlosigkeit seiner selbstquälerischen -Vorwürfe überzeugt sein mußte.</p> - -<p>„Meister! Mein guter Meister!“ rief jetzt der alte Kesselwärter -und kam schüchtern näher.</p> - -<p>Nun flog doch wieder etwas wie ein Lächeln über Hellwigs -Gesicht: „Was macht mein lieber Bogner?“</p> - -<p>Die harte Greisenhand strich zärtlich über seinen Rock.</p> - -<p>„Jetzt geht’s schon wieder, Meister. Weil ich Sie nur -gesund wiederseh’. Im Anfang freilich ...“ — und nun -ballte er die Faust — „Die verdammten Kerle! Gott hab’ -sie selig, aber wenn sie nicht schon der Teufel geholt hätte, -ich selber müßt’ ihnen was antun ...“</p> - -<p>„Ihr seid ja ein ganz blutgieriger Kumpan!“ meinte -Kolben lächelnd. Und der Alte darauf: „Ja, Herr, Sie -sind eben nicht dabei gewesen. Wie das so gekommen ist, -so auf einmal mitten in den tiefen Frieden hinein wie ein -Hagelwetter, — man kann kaum ein Vaterunser beten, -ist schon alles hin ... Der alte Schädel kann’s wirklich -nicht aufnehmen ...“ Und wieder in flackerndem Zorn, -mit geballter Faust: „Der Hund, der Karus!“</p> - -<p>„Wie ist’s mit ihm gewesen?“ wandte sich da Fritz -rasch an Pfannschmidt.</p> - -<p>„Ich hab’s nicht gesehen,“ erwiderte dieser, „weil mir -der Hieb zu schaffen gemacht hat. Aber wie sie erzählen, -— er muß rein den Tod gesucht haben.“</p> - -<p>„Ja, Meister!“ fiel ihm nun Adam Pichler ins Wort. -„So was glaubt niemand, der’s nicht mit angeschaut hat. -Wie die Schießerei losgehen soll, steht da nicht der Mensch -oben auf dem Steinhaufen mit der Hacke in der Hand? -Und wie sie sich schußfertig machen, springt er, Meister, er -springt, so wahr ich leb’, mitten unter die Soldaten. Stücker -drei, vier schlägt er, daß sie wie Bullen umfallen, dann -haben sie ihn fest. Er aber reißt einem das Bajonett -heraus — ‚Lebendig nicht!‘ schreit er und ‚Mordbuben!‘ und -so was wie ‚Heinz!‘ und hat sich auch schon ins Herz gestochen.“</p> - -<p>„Er wollte nicht mehr leben ohne Heinz ...“ murmelte -Fritz verstört.</p> - -<p>Ganz still war es nach diesen Worten. Die Abendsonne -fiel schräg durchs Fenster und wob um alle einen warmen -goldenen Schein. Wie eine Botschaft des Friedens war -das, und alle Herzen pochten ruhiger.</p> - -<p>„Fritz, wir kommen eigentlich mit einer Bitte ...“ -sagte Reinholt nach einer Weile.</p> - -<p>„Was könntet ihr von mir noch wollen!“</p> - -<p>„Hör’ zu!“ antwortete der Fabrikant und mühte sich -wieder einmal möglichst leichthin und geschäftsmäßig zu -sprechen: „Hör’ zu: Die Spekulation ist also nicht geglückt, -und ich bin es müde, hier was Neues anzufangen. -Wir wandern aus. In die deutschen Kolonien, irgendwohin, -wo’s noch unbebautes, ganz jungfräuliches Land gibt. Dort -nehmen wir den Pflug in die Hand und werden Bauern. -Nicht um Gewinn, wieder nur für uns wollen wir arbeiten. -Komm mit!“</p> - -<p>Und auch die andern baten: „Meister, kommen Sie -mit!“</p> - -<p>Kolben war rasch zu Eva getreten. Fritz bemerkte es. -„Hab’ keine Angst, Albert!“ sagte er. „Ich geh’ nach -Neuberg!“ Und zu Reinholt gewendet: „Nein, Leo, ich -bleib’ im Land. Wenn unsere Ideen in der Entwicklung -begründet sind, so setzen sie sich durch — auch ohne uns. -Wenn nicht, so rollt die Zeit darüber weg, und wenn wir -uns noch so dagegenstemmen. Das ist mir so klar geworden -seither, daß ich das Frühere nicht mehr verstehe. -Und dann, Leo — ich hab’ einen Buben. — Und was ich -meiner Frau angetan hab’, das muß doch auch gutgemacht -werden.“</p> - -<p>Da trat Doktor Kolben schnell auf Reinholt zu: „Ich -halte mit, wenn’s Ihnen recht ist!“</p> - -<p>„Albert!“ rief Fritz erschrocken. Und Eva haschte die -Hand des Freundes: „Doktor, Sie dürfen nicht von uns!“</p> - -<p>Der treue Mensch schüttelte langsam den Kopf. Jetzt, -da Eva ganz sicher geborgen war und ihm für sie nichts -mehr zu sorgen blieb, wollte das alte Leiden wieder aufwachen, -und bei Hellwigs letzten Worten hatte er erschrocken -etwas sich regen gefühlt, das fast wie Neid war, Neid -gegen den Freund und sein Glück.</p> - -<p>Aber gelassen wie immer sagte er: „Was ist denn da -weiter dabei? Nach Neuberg ging’ ich so nicht mit, und -ob dann hundert oder tausend Meilen zwischen uns sind, -das kommt schon auf eins heraus. Drum laßt mich nur -getrost fort. Aus der Welt geh’ ich ja nicht und dann — -vielleicht können mich diese da jetzt — besser brauchen.“</p> - -<p class="center spaced"><em class="gesperrt">Ende.</em></p> - -<p class="spaced center break">Im gleichen Verlage erschienen die folgenden Werke von</p> - -<p class="center big"><i>Rudolf Haas</i>:</p> - -<p class="book-title">Michel Blank und seine Liesel.</p> - -<p class="center">Roman. 25. Tausend.</p> - -<p class="center gesperrt">Einbandzeichnung von Oswald Weise.</p> - -<p class="book-title">Matthias Triebl.</p> - -<p class="center">Die Geschichte eines verbummelten Studenten.</p> - -<p class="center">36. Tausend.</p> - -<p class="book-title">Triebl der Wanderer.</p> - -<p class="center">Roman. 30. Tausend.</p> - -<p class="book-title">Verirrte Liebe.</p> - -<p class="center">Erzählungen. 14. Tausend.</p> - -<p class="center gesperrt">Einbandzeichnung von Friedrich Felger.</p> - -<p class="book-title">Der Schelm von Neuberg.</p> - -<p class="center">Lustspiel in 4 Akten.</p> - -<p class="book-title">Die wilden Goldschweine.</p> - -<p class="center">Roman. 1.-15. Tausend.</p> - -<p class="center gesperrt">Einbandzeichnung von Max Both.</p> - -<p class="center">(Erscheint im Herbst 1920.)</p> - -<p class="center">Dieser Roman bildet die Vorgeschichte zu „Michel Blank und -seine Liesel“.</p> - -<p class="center">„<em class="gesperrt">Vornehm</em> im besten Sinne ist der Erzähler Rudolf Haas, der -<em class="gesperrt">tief</em> in die <em class="gesperrt">lichte Menschenseele</em> blicken läßt und der Gedichte -ausrauschen läßt von <em class="gesperrt">hinreißendem Schwung</em>, aber <em class="gesperrt">stolz</em> ausweicht, -wo eine grelle Effektszene anzubringen wäre, oder breite -Sentimentalität .. <em class="gesperrt">Ein Lobpreiser des Lebens!</em>“</p> - -<p class="center"> -(Friedrich Adler i. d. „Bohémia“, Prag.)<br /> -</p> - -<div lang='en' xml:lang='en'> -<div style='display:block; margin-top:4em'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK <span lang='de' xml:lang='de'>DER VOLKSBEGLÜCKER</span> ***</div> -<div style='text-align:left'> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Updated editions will replace the previous one—the old editions will -be renamed. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright -law means that no one owns a United States copyright in these works, -so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United -States without permission and without paying copyright -royalties. 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Redistribution is subject to the trademark -license, especially commercial redistribution. -</div> - -<div style='margin:0.83em 0; font-size:1.1em; text-align:center'>START: FULL LICENSE<br /> -<span style='font-size:smaller'>THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE<br /> -PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK</span> -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -To protect the Project Gutenberg™ mission of promoting the free -distribution of electronic works, by using or distributing this work -(or any other work associated in any way with the phrase “Project -Gutenberg”), you agree to comply with all the terms of the Full -Project Gutenberg™ License available with this file or online at -www.gutenberg.org/license. -</div> - -<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'> -Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg™ electronic works -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -1.A. 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Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread -public support and donations to carry out its mission of -increasing the number of public domain and licensed works that can be -freely distributed in machine-readable form accessible by the widest -array of equipment including outdated equipment. Many small donations -($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt -status with the IRS. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -The Foundation is committed to complying with the laws regulating -charities and charitable donations in all 50 states of the United -States. Compliance requirements are not uniform and it takes a -considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up -with these requirements. We do not solicit donations in locations -where we have not received written confirmation of compliance. To SEND -DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state -visit <a href="https://www.gutenberg.org/donate/">www.gutenberg.org/donate</a>. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -While we cannot and do not solicit contributions from states where we -have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition -against accepting unsolicited donations from donors in such states who -approach us with offers to donate. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -International donations are gratefully accepted, but we cannot make -any statements concerning tax treatment of donations received from -outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Please check the Project Gutenberg web pages for current donation -methods and addresses. 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