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-The Project Gutenberg eBook of Der Volksbeglücker, by Rudolf Haas
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
-most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
-of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you
-will have to check the laws of the country where you are located before
-using this eBook.
-
-Title: Der Volksbeglücker
-
-Author: Rudolf Haas
-
-Release Date: March 13, 2022 [eBook #67619]
-
-Language: German
-
-Produced by: The Online Distributed Proofreading Team at
- https://www.pgdp.net
-
-*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER VOLKSBEGLÜCKER ***
-
-
- Rudolf Haas
-
- Der Volksbeglücker
-
-
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-
- Der Volksbeglücker
-
- Von
-
- Rudolf Haas
-
-
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-
- Drittes bis zehntes Tausend
-
- L. Staackmann, Verlag, Leipzig
- 1920
-
-
-
-
-Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten
-
-Copyright 1910 by Axel Juncker in Berlin-Charlottenburg
-
-
-
-
-Druck von C. Grumbach in Leipzig
-
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-
- Dem Prager Dichter
-
- Friedrich Adler,
-
- meinem langjährigen Freunde,
- dankbar zu eigen.
-
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-
-
-Erstes Buch
-
-
-1.
-
-Das niedrige Bergland, das Westböhmen von Bayern scheidet, ist eine
-liebe, warme Erikagegend, die im Sommer schamhaft errötet, wenn sie
-sich hüllenlos in ihrer unberührten jungfräulichen Schönheit dem
-glücklichen Entdecker nach langem Sträuben endlich preisgeben muß.
-
-Und er entdeckte und liebte diese frische, keusche Art, der hager
-aufgeschossene Junge, der jeden Nachmittag, wenn die Mittelschüler,
-vom Unterricht erlöst, den sechstausend Insassen von Neuberg die Ohren
-voll lärmten, durch die winkeligen Kleinstadtgassen in den lachenden
-Sommer hinauslief, immer denselben Weg, den Hügel hinauf und am Kamm
-fort auf schmalen Feldrainen, wo der wilde Quendel blühte und die
-blauen Glockenblumen, bis er endlich mitten darin war in der roten
-Erika. Stundenlang konnte er dann dort oben liegen, versunken in dem
-leuchtenden, bienendurchsummten Teppich, und in die helle, silbern
-flimmernde Luft blicken. Soweit er schaute, war nichts als der klare
-endlose Luftraum, und nur ganz nahe, dicht vor ihm, standen die
-verästelten Blütenbüschel rosenrot vor dem blauen Hintergrund.
-
-Die sonnenweite Unendlichkeit des Sommers war um ihn, und er fühlte
-sich wie losgelöst von allem, was mit ihm und neben ihm lebte. Und in
-seiner Seele erwachten die uralten Fragen nach dem Woher und Warum,
-sein achtzehnjähriges Jünglingsgemüt fragte nach dem Zweck dessen, was
-nie einen Zweck hatte, suchte Regel und Plan in dem, was planlos und
-regellos entstanden war, wollte einheitliche schöpferische Ordnung in
-dem Wirrwarr finden, der sich unbewußt gebildet hatte, wie er sich
-bilden mußte nach den starren, toten Gesetzen von Urbeginn. Und gegen
-den Kindersinn, der blindlings glaubt und mit ganzer Seele etwas
-glaubend fassen will, drang der reifende Verstand des Jünglings an, der
-Tatsachen und Beweise für den Glauben forderte. Es ist das ein schwerer
-Kampf, der meist in stillen Nächten und verschwiegener Einsamkeit
-durchgefochten, langsam heilende Wunden und dauernde Narben zurückläßt.
-Glücklich, wer in diesen Tagen einen verständnisvollen Vater zur Seite
-hat, der ihn unmerklich und dennoch sicher aus dem Wirrsal leitet.
-
-Fritz Hellwig hatte solches Glück nicht. Sein Vater, ein
-Volksschullehrer, war schon vor vielen Jahren gestorben, und unter
-der ziellosen Leitung einer überzärtlichen Mutter, die den einzigen
-Sohn beständig mit dem lauen Badewasser einer weichlichen Liebe
-umplätscherte, wuchs er zum verschlossenen Träumer heran. Während
-seine Altersgenossen Trapper und Indianer spielten, den Tomahawk
-schwangen und an ihren Lagerfeuern gestohlene Erdäpfel brieten, lag er
-im Heidekraut oder saß er in einer dämmrigen Zimmerecke und füllte die
-Stube mit Traumgestalten, mit Feen, Zwergen und blonden Königstöchtern.
-Deswegen litt er auch mehr als sonst einer darunter, als von der
-flimmernden Märchenpracht Stück für Stück der trügerische Flitter
-abfiel und der nüchternen, trostlos grauen Wirklichkeit Platz machen
-mußte. Und als er mit den zunehmenden Jahren nicht mehr im unklaren
-über seine Entstehung bleiben konnte und als er aus den unreif-rohen
-Zoten der Mitschüler den Sachverhalt zu ahnen begann, kam ihm das wie
-eine Entweihung seiner Mutter vor. Er schloß sich noch ängstlicher ab
-und haderte mit der Welt und grollte seiner Mutter, weil sie ihm Lügen
-vorgesagt, deren Verlust jetzt so weh tat. Aber mit niemandem sprach
-er darüber, hatte keinen Vertrauten und war zu stolz und zu scheu, um
-einen Menschen in seine Seele blicken zu lassen. Deswegen hielten ihn
-viele für eigensinnig oder hochmütig. Die weinerliche Lehrerswitwe
-aber, für die es seit dem frühen Tode ihres Mannes im Leben keine
-ungetrübte Freude mehr gab, konnte nur zanken oder seufzend den Kopf
-in die ausgearbeitete Küchenhand stützen, und ließ im übrigen ihren
-dickschädeligen Jungen unbedingt gewähren.
-
-Auch damals, als er ihr kurz eröffnete, daß er an den Sonntagen nicht
-mehr in den Gottesdienst gehen werde. Erst schlug sie zwar die Hände
-zusammen und wollte den Grund wissen und was Pater Romanus dazu sagen
-werde. Denn sie war sehr fromm und fand den sanftesten Trost in der
-frohen Aussicht auf eine Wiedervereinigung mit ihrem seligen Gatten,
-indes die leiblichen Reste des unaufhörlich Betrauerten schon längst
-in alle Winde verweht waren mit den kühlen weißen Blumenblättern
-des Rosenstämmleins, das aus seinem Grabe Nahrung sog zu einem
-gedeihlichen Wachstum und fröhlichen Blütentreiben. Daran dachte die
-einfache Frau jedoch nicht. Sie glaubte nur den Worten der Sachwalter
-Gottes auf Erden und hegte eine grenzenlose Verehrung eben für
-jenen Jesuitenpriester Romanus, dem die jungen Seelen der Neuberger
-Lateinschüler in Obsorge gegeben waren. Der war von knochiger Länge und
-bleicher, fast krankhafter Gesichtsfarbe, aber seine wandlungsfähige
-Stimme hatte einen tiefen Orgelklang, wie man ihn von solcher Stärke
-in dem kaum gewölbten Brustkasten niemals vermutet hätte, und da er
-überdies stets den richtigen Ton zu treffen wußte, ebenso sanft und
-süß wie grimmig, hart und leidenschaftlich sein konnte, war es kein
-Wunder, daß er als Kanzelredner starken Zulauf hatte. Auch war er zu
-christlichem Beistand jederzeit gern erbötig, selbst wenn er nicht
-darum angegangen wurde, war dann je nach Bedarf milde, salbungsvoll,
-gütig, entrüstet oder ein zorniger Eiferer und hielt für schmerzhafte
-Verletzungen und verwickelte Zustände der Seele erbauliche Worte
-und heilsame Bibelsprüche bereit wie ein Apotheker seine Salben und
-Pflaster, nur daß er seinen Kunden kein Geld, sondern lediglich
-die Beichte abverlangte. Doch nahm er diese ins Ohr geflüsterten
-Verfehlungen als vollgültiges Zahlungsmittel, und wenn es ihm gelungen
-war, einen besonders feisten Sündenbraten aufzugabeln, dann saß er mit
-niedergeschlagenen Augen und geneigtem Ohr ohne Regung im Beichtstuhl.
-Nur seine Hände bewegten sich, als zählte er Sünde zu Sünde wie ein
-Hausherr am Zinstag seine Taler.
-
-Wie so manche Mutter oder Kostfrau der hoffnungsvollen Gymnasiasten
-von Neuberg war auch Frau Hellwig eine eifrige Besucherin dieser
-Offizin, weshalb sie ihren großen Jungen, der mir nichts, dir nichts
-auf die Segnungen der Messe verzichten wollte, auch sofort an den
-Religionsprofessor erinnerte. Fritz hatte jedoch auf diese Erinnerung
-und auf alle ihre Fragen und Vorstellungen diesmal nur die trotzige
-Antwort, er gehe nicht. Denn er scheute sich, die gottesfürchtige Frau
-in ihren teuersten Empfindungen zu verletzen mit dem Bekenntnis, daß
-er den Glauben verloren habe. Für eine Mutter ihres Schlages konnte es
-ja kein größeres Unglück geben als ein gott- und glaubenloses Kind.
-Sie ahnte freilich den eigentlichen Beweggrund. Aber viel zu wehleidig,
-sich ihn einzugestehen, fand sie sich mit dem spiegelfechterischen
-Gedanken ab, daß ihr Trotzkopf von Sohn nur irgendwie gegen den
-Religionslehrer aufmucken wollte. So trieb sie’s wie der Vogel Strauß
-und war leidlich beruhigt dabei.
-
-Aus dem eigenmächtigen Fernbleiben von den religiösen Übungen
-erwuchsen Hellwig übrigens fürs erste keinerlei Verdrießlichkeiten.
-Denn Pater Romanus übte in den oberen Klassen keine Überwachung
-durch Namenaufruf, sondern fragte lediglich ein paarmal im Jahre
-seine Schüler, ob sie auch stets der Sonntagsmesse beiwohnten. Wer
-gefehlt habe, solle sich melden. Durch dieses Vorgehen wollte er
-dartun, daß keine Spur von Mißtrauen gegen die Wahrheitsliebe seiner
-Zöglinge in ihm sei. Doch hatte er eine eigene Überwachung auch gar
-nicht nötig, da seine zahlreichen Verehrerinnen eine solche aufs
-trefflichste besorgten, indem sie bald klagend bald Hilfe heischend
-ihren Beichtiger hinsichtlich des Verhaltens seiner Schüler fortwährend
-auf dem laufenden hielten. Das wußten die schlauen Jungen ganz gut und
-hüteten sich, ohne triftigen Entschuldigungsgrund eine vorgeschriebene
-Andachtsübung zu versäumen. Auf Hellwig, dessen Mutter mindestens
-einmal im Monat beichten ging, hatte Pater Romanus schon längst ein
-scharfes Auge, weil hier wieder einmal ein Schäflein vom rechten Weg
-abirren wollte. Aber er hielt die Zeit seines Einschreitens noch nicht
-für gekommen.
-
-Die übrigen Professoren, außer einem, hatten den stillen Jüngling gern,
-der stets aufmerksam und in sich gekehrt dasaß, keinen Sittenpunkt
-in ihren Katalogen aufwies und mit zähem Fleiß seinen Platz unter
-den mittelmäßigen Schülern behauptete. Sie schätzten seine gründliche
-Arbeit, und sogar dem Klassenersten Otto Pichler wurde er manchmal als
-Muster hingestellt.
-
-Der war das gerade Gegenteil von Hellwig, lachte sich, ein kecker
-Draufgänger, in alle Herzen hinein, stieg unverfroren den Backfischen
-nach und rauchte heimlich seine Pfeife. Er lernte leicht und mühelos,
-war ein ebenso guter Turner wie Rechner, Schlittschuhläufer wie
-Lateiner und hielt sich, über alle Tiefen wegtänzelnd, mit prächtigem
-Leichtsinn immer an der Oberfläche des Lebens. Seine Mitschüler
-räumten ihm wie selbstverständlich eine führende Stellung ein, für
-die kleineren Studenten war er ein bewunderter Halbgott und in dem
-unschuldigen Tagebuch mancher Fünfzehnjährigen prangte sein Name
-als der des endlich gefundenen Ideals. Seine frischroten Wangen
-und der anziehende Gegensatz, in dem die lustigen Blauaugen zu den
-dunkelbraunen Locken standen, konnten hier unmöglich ihre Wirkung
-verfehlen.
-
-Nur Fritz kümmerte sich nicht um ihn, wie er sich überhaupt um
-niemanden scherte. Aber gerade dieses verschlossene Wesen reizte den
-sieggewohnten Pichler, auf dessen Freundschaft viele stolz waren, und
-in mannigfacher Weise suchte er, sich ihm zu nähern.
-
-Da sah er eines Tages -- eine sehr langweilige Unterrichtsstunde war
-eben zu Ende --, wie Hellwig das Lesebuch, das er in seiner Freude
-über die Erlösung ungestüm zugeklappt hatte, hastig wieder öffnete
-und trübselig einen schmierigen Fleck auf den bedruckten Blättern
-betrachtete. Neugierig blickte Otto ebenfalls hin und erkannte deutlich
-die Überreste einer Fliege, die sich auf irgendeine Weise in das
-Buch verirrt und durch das Zuschlagen den Tod gefunden hatte. Fritz
-aber zog mit dem Bleistift einen Kreis um die schmutzige Stelle und
-schrieb darunter: ‚Zur Erinnerung! Hier habe ich ohne Absicht ein Leben
-vernichtet.‘
-
-Pichler war mit seinem Spott sonst gleich bei der Hand. Aber während er
-diesem Treiben zusah, kam ihm zugleich mit einer an Rührung streifenden
-Gemütsbewegung heftiger als je der Wunsch, Fritz zum Freund zu gewinnen.
-
-An diesem Nachmittage folgte er ihm daher heimlich und fand ihn in der
-Erikaeinsamkeit. Mit einer sonderbaren Frage weckte er den Träumer aus
-seiner Versunkenheit.
-
-„Hellwig, tut dir nicht auch die schöne Erika leid?“ fragte er.
-
-Der Angeredete schrak zusammen, sprang auf und blickte den als Spötter
-bekannten Pichler unsicher an.
-
-„Ist es denn nicht auch Unrecht, Pflanzen zu zerquetschen?“ fuhr dieser
-fort.
-
-Eine jähe Röte färbte Hellwigs Wangen. Ganz verlegen stand er da und
-fürchtete das Ausgelachtwerden. Als Pichler jedoch ernst blieb und ihm
-mit einem herzlichen Blick die Hand entgegenstreckte, schlug er zögernd
-ein.
-
-Auf solche Weise erreichte der braunlockige Schwerenöter seine
-Absicht und kam in ein engeres Verhältnis zu Fritz. Es hatte
-sogar den Anschein, als könnte sich dieses zu einer regelrechten
-Jugendfreundschaft entwickeln. So gut schienen die Auffassungen
-der beiden zusammenzustimmen. Im letzten Grunde hatte indes
-Otto selbständige Ansichten überhaupt nicht. Um sich zu solchen
-durchzuringen, war er viel zu bequem und viel zu seicht. Sein
-ungemein geschmeidiger Geist ermöglichte es ihm jedoch, sich überall
-zurechtzufinden und fremde Meinungen skrupellos zu den seinen zu
-machen, insofern dieselben für ihn neu oder überraschend und geeignet
-waren, ihren Verfechter in ein auffallendes Licht zu rücken.
-
-Für Hellwigs Entschluß, den Religionsübungen fern zu bleiben, war
-er sogleich Feuer und Flamme. Als dieser ihm zu bedenken gab, daß
-er selbstverständlich auch alle Folgen tragen und sich insbesondere
-bei der nächsten Umfrage des Paters Romanus freiwillig melden müßte,
-stutzte er zwar einen Augenblick, fand aber dann diesen Gedanken
-großartig und schwor, daß er durch dick und dünn mithalten werde.
-Aber Freunde müßten sie werden, denn Arm in Arm mit Hellwig fordere
-er sein Jahrhundert in die Schranken. Bei diesen Worten warf er sich
-leidenschaftlich an die Brust des Kameraden, und sie gelobten einander
-mit Handschlag, nie zu lügen.
-
-Seither unternahmen sie gemeinsame Spaziergänge oder kamen bei
-schlechtem Wetter in Hellwigs Zimmer zusammen. Dieses war zugleich
-die gute Stube der Lehrerswitwe, die darin ihre besten Möbelstücke
-aufgestellt hatte: einen Glaskasten, angefüllt mit goldbemalten
-Porzellantassen, Tellern, Zinnkrügen und einem Kruzifix unter gläserner
-Glocke, eine vielfächerige Kommode, einen eirunden Salontisch sowie
-sechs Polsterstühle, die unter ihren weißen Leinenschutzhüllen aussahen
-wie kopflose Damen in Frisiermänteln. In diesem Durcheinander, das
-jedoch von den reinlichen Fenstervorhängen, den geflickten Tischläufern
-und den gehäkelten Deckchen bis hinab zum Fußboden peinlich sauber
-gehalten war, konnten die beiden Jünglinge ungestört ihre Meinungen
-austauschen. Denn Frau Hellwig hielt sich gewöhnlich in der Küche
-auf, wo sie auch schlief, und erschien nur im Zimmer, um eine Kanne
-Kaffee nebst einem Scheiterhaufen von Butterbroten oder Kuchenstücken
-hereinzubringen. Dann blieb sie ein Weilchen, lächelte gutmütig zu
-Ottos Witzen und lobte ihn, daß er ihrem Traumhans von Jungen den
-Hang zum Alleinsein ausgetrieben habe. Dafür erwies sie sich auch
-dankbar, und seit sie erfahren hatte, daß Otto der Sohn eines mit acht
-Kindern gesegneten Dorfküsters und arm wie eine Maus in dessen Kirche
-sei, konnte sie’s nicht unterlassen, ihm beim Weggehen jedesmal etwas
-zuzustecken, Kuchen, Äpfel oder ein Stück vom Sonntagsbraten, obwohl
-sie’s wirklich nicht zum Hinauswerfen hatte. Sie mußte im Gegenteil
-trotz einem Kalkulator rechnen und einteilen, um ihrem Sohne nebst
-einer anständigen Lebensführung das Studieren zu ermöglichen. Aber sie
-war glücklich, wenn sie jemanden bemuttern konnte, und sagte Pichlern
-auch, er solle ihr nur seine schmutzige Wäsche bringen, sie werde sie
-ihm rein machen, bügeln und flicken, das gehe mit der ihres Jungen in
-einem hin.
-
-„Deine Alte ist wirklich ideal!“ versicherte Otto des öftern,
-während sie vor den dampfenden Tassen saßen und die Abtragung des
-Scheiterhaufens in Angriff nahmen. Dann kamen sie wieder ins Reden
-und ereiferten sich mit glühenden Köpfen und vollen Backen über
-Philosophie, Religion und Volkserziehung, während sie die Hände
-unablässig nach den gefüllten Tellern streckten, bis der letzte Bissen
-vertilgt war. --
-
-Da geschah es, daß Pater Romanus in der obersten Klasse wieder einmal
-die bereits seit längerer Zeit erwartete Frage stellte: Ob jemand in
-den letzten Monaten die Messe versäumt habe?
-
-Wie der Krampus aus der Schachtel schnellte Fritz von seinem Sitze
-auf, stand kerzengerade und schaute dem Professor freimütig ins Auge.
-Zögernd erhob sich auch Pichler. Aber er ließ schuldbewußt den Kopf
-hängen.
-
-„So, so, der Beste und der Fleißigste aus der Klasse!“ lächelte der
-Pater und forschte leutselig nach dem Grund.
-
-„Ich bin freiwillig weggeblieben!“ sagte Hellwig mit fester Stimme.
-Seine Augen glänzten wie Stahl, die Nasenflügel bebten.
-
-„Und wie oft, mein liebes Kind?“ fragte der Priester sehr sanft.
-
-„Seit zwei Monaten jeden Sonntag. Ich hab’ es nicht gezählt!“
-
-„Aber Hellwig, was soll das heißen? Wie können Sie das rechtfertigen?“
-
-„Ich habe keine Entschuldigung, Herr Professor. Ich bin nur so nicht
-hingegangen!“
-
-„Kind!“ Beschwörend streckte Romanus die Arme aus, als wollte er die
-Worte nicht an sich heran kommen lassen.
-
-Mäuschenstill war es in der Klasse. Die Oktavaner in den Bänken hielten
-den Atem an und starrten mit ängstlicher Bewunderung auf den stillen,
-sonst so wenig beachteten Kameraden und wunderten sich, wie der
-Duckmäuser gegen den gefürchteten Lehrer aufzutreten wagte.
-
-Pater Romanus hatte das auch nicht erwartet. Er wußte nicht recht, wie
-er sich dazu verhalten sollte. Um Zeit zur Überlegung zu gewinnen,
-richtete er seine Augen langsam auf Otto, betrachtete ernst und prüfend
-dessen gesenktes Haupt und fragte schärfer:
-
-„Und was ist mit Ihnen, Pichler?“
-
-„Ich ...,“ stammelte der und stockte gleich.
-
-„Wie oft haben _Sie_ gefehlt?“
-
-Otto warf einen scheuen Blick auf die gefurchte Stirn des Lehrers und
-sah schnell wieder zu Boden. Sein ganzer Mut hatte ihn verlassen.
-
-„Einmal ...,“ stotterte er zerknirscht.
-
-„Otto!“ raunte ihm Hellwig verwundert zu.
-
-Aber die eindringliche Stimme des Priesters forschte weiter: „Und
-warum, liebes Kind?“
-
-Und Otto antwortete tonlos: „Ich war unwohl.“
-
-„Herr Professor, das ist ...“ brauste Fritz auf und schwieg sofort
-wieder, als er die klägliche Figur des andern gewahrte.
-
-„Wollten Sie etwas sagen, Hellwig?“ wandte sich Pater Romanus nun
-wieder an ihn. Da schüttelte er stumm den Kopf. Wozu den Angeber machen?
-
-Und plötzlich kam ihm zu Bewußtsein, daß sich alle Blicke der Klasse
-in seiner Person wie in einem Brennpunkt vereinigten. Unerträglich,
-wie ein unkeusches Betasten des Körpers, war ihm das. Und mit
-einemmal konnte er es nicht über sich bringen, den Beweggrund seines
-Fernbleibens anzugeben. Er hatte das Gefühl, als würde er durch ein
-solches Geständnis seine Seele nackt zur Schau stellen.
-
-„Nun, Hellwig, haben Sie sich eines Bessern besonnen? Wollen Sie mir
-Ihr sonderbares Benehmen aufklären?“
-
-Die sanfte Stimme des Jesuiten rann wie ein süßes Honigbächlein durch
-die Stille.
-
-Fritz schwieg, sah ihn an und zuckte nicht mit der Wimper.
-
-„Kind, nehmen Sie doch Vernunft an! Woher nur auf einmal? ... Denken
-Sie doch auch an Ihre liebe Mutter!“
-
-Keine Antwort.
-
-„Wollen Sie also den Grund Ihres Benehmens wirklich nicht angeben?“
-
-„Nein!“
-
-Kurz, hart, messerscharf, daß Pater Romanus zurückprallte. Aber er
-faßte sich rasch.
-
-„Sie scheinen mir vom rechten Weg abgekommen zu sein,“ sagte er und
-strich mit der schmalen Hand über die Augen. „Besuchen Sie mich doch
-einmal in meiner Wohnung. Dort können Sie mir alles ungestört sagen.
-Das von heute bleibt unterdessen, als wenn es nicht vorgekommen wäre.“
-
-Mit einem leichten Kopfnicken gab er den beiden Schülern die Erlaubnis
-zum Niedersitzen und begann mit dem Unterricht.
-
-Kaum war dieser zu Ende, drängten sich die Mitschüler an Hellwig heran,
-sagten, daß er ganz recht gehabt habe, wenn’s auch vielleicht einen
-Karzer absetzen könne, und wollten wissen, ob er zu Pater Romanus
-hingehen werde. Er gab ihnen keine Auskunft, hastete, hochnasig wie
-immer, davon.
-
-In seinem Herzen schien etwas in Unordnung geraten zu sein, zuckte,
-stach und schmerzte.
-
-Pichler! Ach ja so, das! -- Wie fremd ihm auf einmal der Name vorkam.
-Als hätte er ihn viele Jahre nicht gehört.
-
-Plötzlich schritt Otto neben ihm her. Er hatte brennend rote Backen und
-war ganz kleinlaut.
-
-„Fritz, -- bist du bös?“ fragte er mit einem verlegenen Lächeln.
-
-Brüsk wandte sich jener ab: „Ach geh, du! Du bist feig!“
-
-„Nein, Fritz, da tust du mir unrecht!“
-
-„Wortbrüchiger!“
-
-„Fritz, ich mußte!“
-
-„Du mußtest? Das ist ja eben die Feigheit!“
-
-„Hör’ doch damit auf, Fritz! Schau’, wenn ich wirklich feig wär’,
-hätt’ ich dich jetzt gewiß nicht angesprochen, hätt’ mich viel eher
-seitwärts in die Büsche geschlagen. Und -- ist es Feigheit, wenn ich
-die Verachtung meines Freundes zu tragen gewillt bin -- meines Vaters
-wegen?“
-
-Er machte eine Pause. Hellwig, von der unerwarteten Wendung überrascht,
-fand keine Antwort.
-
-„Ja!“ fuhr Otto mutiger fort. „Wegen meines alten Vaters! Ich hab’ doch
-nicht wissen können, wie die Geschichte ausgehen wird. Und wenn ich
-auch nur Karzer oder eine schlechte Sittennote bekommen hätt’ ... was
-dann? Die Nachhilfestunden, die Freitische, die Schulgeldbefreiung --
-alles wär’ beim Teufel! Und dann hätt’ ich das Studieren eben einfach
-an den Nagel hängen können! Und mein Vater ist so stolz, daß wenigstens
-einer von uns achten studieren kann! Die Gründe mußt du mir gelten
-lassen, Fritz!“
-
-„Warum hast du mir dein Wort gegeben? Ich hab’s nicht verlangt!“
-
-„Ich war wie im Rausch damals! Du hast mich fortgerissen ... da hab’
-ich mir nicht alles so überlegt --“.
-
-„Gut, gut! Aber laß mich jetzt in Ruh’!“
-
-„Und du verzeihst mir, gelt?“
-
-Zweifelnd blickte Hellwig den Kameraden an.
-
-„Otto, -- du kannst mir ja nicht einmal in die Augen schaun!“
-
-Da hob der andere das gesenkte Antlitz. Zwei helle Tropfen rollten ihm
-über die Wangen, zeichneten silbrige Streifen darauf.
-
-„Das Mißtrauen verdien’ ich nicht, Fritz!“
-
-Die schmerzliche Spannung in den Zügen des jungen Kato ließ nach. Seine
-Miene hellte sich etwas auf.
-
-„Machen wir einen Strich darunter, Otto, wir sind beide Schwächlinge!“
-
-Eilig rannte er fort.
-
-Pichler ging nach Hause. Er schämte sich noch ein wenig und war
-doch froh, daß die Geschichte wieder in Ordnung war. Das war ja
-ausgezeichnet gegangen. Eine heiße Zuneigung zu Fritz stieg plötzlich
-in ihm auf und das Verlangen, ihm etwas Liebes zu tun. Er wußte nur
-nicht, was. Und wie öfters schon, faßte er wieder einmal den Entschluß,
-ein guter, ganz makelloser Mensch zu werden; sich zu Wissen, Ansehn,
-Bedeutung hinaufzuarbeiten. Im Geiste sah er sich schon Stufe um
-Stufe erklimmen, angestaunt, beneidet, von vielen umworben. Auf
-einen machtvollen Posten gestellt, erwarb er Millionen und verfügte
-unumschränkt darüber, beschenkte fürstlich seine Bekannten, half dem
-Freunde zu Glück und Ehren.
-
-Immer kühner schwang sich seine Phantasie empor. Als er vor dem
-ärmlichen Hause stand, wo ihm ein biederer Spengler Kost und Wohnung
-gewährte gegen die Verpflichtung, seine zwei dickköpfigen Buben durch
-das Untergymnasium zu lotsen, da wurde es ihm schwer, sich in der
-Wirklichkeit zurecht zu finden. Die gehobene Stimmung verließ ihn
-aber den ganzen Abend nicht mehr. Seine Ungeduld drängte ihn, mit der
-Erwerbung eines umfangreichen Wissens sogleich zu beginnen. Er kramte
-in seiner Bibliothek, die sich zumeist aus Bändchen der Reclamschen
-Sammlung zusammensetzte, nahm bald dies, bald das in Angriff und fand
-keine rechte Ruhe.
-
-Da fiel ihm Kants Kritik der reinen Vernunft in die Hände. Er
-hatte das Werk stets unverdaulich und langweilig gefunden, war
-trotz wiederholter Anläufe nicht über die ersten hundert Seiten
-hinausgekommen. Heute aber beschloß er, sich durch den ganzen
-umfangreichen Band durchzufressen. Die Beine unterm Tisch lang
-ausgestreckt, das Gesicht zwischen beiden Fäusten, saß er in der
-Bodenkammer, die bei besserem Geschäftsgang gewöhnlich einem zweiten
-Gesellen des Spenglers zugewiesen wurde, blies gewaltige Rauchwolken
-aus einer langen Pfeife und begann zu lesen.
-
-‚Wenn mich Fritz so sähe,‘ dachte er selbstzufrieden und legte sich ins
-Zeug, als beabsichtigte er durch eine solche Überwindung dem gekränkten
-Freunde ein Sühnopfer darzubringen.
-
-Aber je länger er saß, je schwächer wurde seine Aufmerksamkeit. Auf
-dem Fundamente einer Welt der ‚Dinge an sich‘ bauten seine Gedanken
-bald wieder prunkvolle Luftschlösser in den Himmel hinein, und die
-rosige Zukunftsphantasterei eines ehrgeizigen Jünglings schnitt dem
-kategorischen Imperativ der Vernunft eine spöttische Grimasse.
-
-Unterdessen verging Frau Hellwig vor Sorgen um ihren Jungen, der heute
-noch seltsamer als sonst war, kein Wort redete und das Abendessen
-unberührt ließ. Hätte sie in sein Inneres schauen können, die Sorgen
-wären freilich einem großen Mitleid mit dem armen Grübler gewichen.
-Schwerblütig, wie er war, legte er dem Vorfall eine übergroße Bedeutung
-bei. Er litt nicht so sehr unter dem Verrat Ottos, sondern weil er
-sich selbst untreu geworden war und kein Recht mehr hatte, Pichlern
-zu zürnen. Denn er war selber feig gewesen. Oder war es etwa nicht
-Feigheit, zu schweigen, nur weil ein paar Dutzend Augen auf ihn
-geschaut hatten. Wie sollte er der Wahrheit zum Sieg helfen, wenn er
-sich fürchtete, sie laut auszusprechen? Beispielgeber hatte er sein
-wollen -- und war vor sich selbst fahnenflüchtig geworden. Wessen er
-Otto geziehen, er selbst hatte es begangen -- und besaß nicht einmal
-eine Entschuldigung dafür.
-
-So peinigte er sich und konnte die ganze Nacht keinen Schlaf finden.
-Er faßte keine guten Vorsätze, denn er hatte alles Zutrauen zu sich
-verloren. Und es dünkte ihm wertlos, etwas, das er nie hätte tun
-dürfen, durch den Entschluß gutzumachen, es in Zukunft nicht wieder zu
-tun. In dieselbe Lage konnte er sich nicht zurückversetzen, die war
-unwiderruflich vorbei und der Makel nicht mehr wegzuwischen.
-
-An allen Gliedern wie zerschlagen, die trüben Augen dunkel
-unterrändert, erschien er den nächsten Tag in der Schule. Otto war
-ebenso überrascht wie dankbar, daß Fritz mit keinem Wort auf das
-Vorgefallene zurückkam und weiter mit ihm verkehrte, als hätte es nie
-ein Gestern gegeben. Von dem harten Ringen, das zwischen Abend und
-Morgen lautlos vor sich gegangen, hatte er freilich keine Ahnung,
-hätte es auch nicht begriffen. Für ihn war jetzt alles wieder im
-Gleis, zumal auch Pater Romanus nicht dergleichen tat und es schien,
-als beabsichtigte er die Geschichte im Sand verlaufen zu lassen. Eine
-vorläufige Folge sollte sie aber doch haben.
-
-
-2.
-
-Eines Tages, es war bereits spät im Oktober, kam die schöne
-achtunddreißigjährige Frau des reichen Kaufmannes Wart zu Hellwig und
-bat ihn, mit ihr zu gehen, ihr Sohn verlange nach ihm.
-
-Fritz war über dieses Ansinnen sehr verwundert, da er den jungen
-Wart, der die siebente Klasse des Gymnasiums besuchte, nur aus
-einem gemeinsamen französischen Lehrkurs ganz flüchtig kannte. Er
-sagte deshalb der unerwarteten Besucherin, die in ihrem schwarzen
-Seidenkleide fein und fremd zwischen den vermummten Lehnstühlen
-stand, hier müsse ein Irrtum vorliegen. Sie aber entgegnete,
-sie irre sich nicht, ihr Junge habe schon oft von Fritz Hellwig
-gesprochen, namentlich in der letzten Zeit, als die Geschichte mit dem
-Religionsprofessor vorgefallen sei.
-
-Fritz aber, der sich nur sehr schwer an Menschen anschloß und vor
-neuen Bekanntschaften förmlich Angst hatte, antwortete kurz, daß er
-den Heinrich Wart viel zu wenig kenne und keinen Anlaß habe, ihn zu
-besuchen. Wenn jener etwas von ihm wünsche, solle er’s in der Schule
-sagen.
-
-Auf eine so schroffe Abweisung war die Frau nicht gefaßt gewesen.
-Sie brach in Tränen aus und rief ganz aufgeregt, das sei unschön
-und lieblos gehandelt. Er könne sich denken, daß ihr ungewöhnliches
-Begehren auch einen ungewöhnlichen Grund haben müsse. Kurz und gut,
-ihr Sohn sei schwer krank, man wisse überhaupt nicht, ob er wieder
-aufkommen werde. Heute, nachdem er mehrere Tage im Fieber gelegen und
-nur fortwährend phantasiert habe, heute habe er auf einmal den Wunsch
-geäußert, mit Hellwig zu sprechen. Er solle nicht hart sein, vielleicht
-handle es sich um den Wunsch eines Sterbenden.
-
-Da nahm er wortlos den Hut vom Nagel und ging mit.
-
-In den Gassen war es schon dämmrig, ein steter feiner Regen fiel und
-schien das Leben in der Stadt langsam auszulöschen. Kein Fuhrwerk
-rasselte, es bellte kein Hund und nur ab und zu hastete jemand mit
-aufgespanntem Schirm eilfertig vorbei, den Rockkragen emporgestülpt
-und die Hosen unten aufgekrempelt, ohne das seltsame Paar zu beachten.
-Die Frau schritt unbekümmert um den Regen, der ihr ins Gesicht
-schlug und Perlen in ihr Blondhaar streute, rasch vorwärts. Ihr
-Kleid knisterte und rauschte über das nasse Pflaster, sie raffte
-es nicht, hätte auch keine Hand hiezu frei gehabt, denn mit der
-Rechten hielt sie das Taschentuch vor die Augen, während sie die
-behandschuhte Linke leicht auf Fritzens Arm legte, als fürchtete sie,
-er könne ihr noch im letzten Augenblick davonlaufen. Die Sorge war
-unnötig. Nun er sich einmal entschieden hatte, war zugleich auch jene
-ruhige Entschlossenheit über ihn gekommen, mit der er stets an die
-Verwirklichung seiner Vorsätze zu schreiten pflegte. Und wenn sich auch
-bisweilen mitten in der Ausführung seine noch nicht gefestigte Jugend
-aus der Bahn drängen ließ, früher oder später vollendete er doch immer,
-was er sich vorgenommen hatte.
-
-Die schlanke Frau an seiner Seite begann zu sprechen. Erst leise und
-zögernd, als schämte sie sich. Bald aber vergaß sie die Zurückhaltung,
-ging aus sich heraus und redete sich das Leid vom Herzen herunter, wie
-wenn sie sich einem langjährigen älteren Bekannten anvertraute und
-nicht dem blutjungen Schüler, der trotz seiner Größe im Schultermaß
-nur wenig höher als sie auf langen Beinen nebenher lief, den Blick
-geradeaus gerichtet und die Hand zur Faust geschlossen.
-
-Was sie sagte, war nichts anderes als die alte Klage der Mütter
-heranwachsender Söhne. Aber sie gab nicht dem Sohne schuld, daß er
-ihr Sorgen mache, sondern sich selbst und quälte sich mit harten
-Zweifeln, daß sie ihn vielleicht in seiner Entwicklung durch eine
-fehlerhafte Erziehung verpfuscht oder nicht die Fähigkeit gehabt habe,
-den sonderbaren Knaben zu verstehen und sicher über die Schwelle der
-Kindheit hinüberzuleiten.
-
-Seine Begabung, sagte sie, sei ungewöhnlich, reich und vielversprechend
-seine Anlagen. Aber ihr Mann halte von solchen Sachen nichts und
-sie, die Mutter, habe vieles, das ihr notwendig schien, unterlassen
-müssen, um das väterliche Ansehen nicht zu untergraben. Bei dieser
-zwiespältigen Führung sei der Junge ratlos geworden, sei noch immer
-unselbständig und unfrei und beuge sich zu sehr vor einem fremden
-Willen. Am meisten aber betrübe sie seine Art, mit den kleinen Leuten
-umzugehen, mit Dienstboten, Bettlern und Landstreichern. Überzart
-und vorsichtig wie mit rohen Eiern, verlegen und schüchtern wie ein
-Bittender, wo er befehlen sollte -- immer in der Sorge, ja niemandem
-weh zu tun. Denn er achte das Menschentum auch in seiner erbärmlichsten
-Fratze, aber -- und das sei ihr Kummer -- darüber vergesse er sein
-eigenes, lasse sich ausbeuten und habe schon mehr als einmal freiwillig
-die Strafe auf sich genommen, die ein säumiger Laufbursche oder ein
-naschhaftes Stubenmädchen verdienten.
-
-Die Sprecherin holte tief Atem und fuhr leidenschaftlich fort:
-„Mein armer Heinz hat den Mut zum Leiden und Schweigen, aber keinen
-Willen zur Tat! Drum reißt’s ihn so zu Ihnen! Weil Sie haben, was
-ihm mangelt! Er schwärmt für Sie, ist einfach in Sie vernarrt! Das
-hat er mir zwar nicht gesagt, aber ich weiß es doch! Ich kenn’ ihn
-ja durch und durch -- aber nur so, wie Schätze in einem Glaskasten.
-Ich hab’ keinen Schlüssel, kann nicht zu ihm, ohne eine Scheibe zu
-zerbrechen. Sie aber könnten es ... Wenn Heinz am Leben bleibt -- er
-wird -- er muß! -- dann ... nicht wahr, -- Sie werden sein Freund! Er
-braucht einen starken Menschen, an den er sich klammern, aufrichten,
-emporranken kann! Der ihn lehrt, auf den eigenen Füßen zu stehen und
-eine eigne Meinung nicht bloß zu haben, sondern auch durchzusetzen!
-Dann versprech’ ich mir viel von ihm! Nicht wahr, Sie werden ...?“
-
-In banger Erwartung streckte sie ihm die Hand hin. Doch er schlug nicht
-ein. Wohl war er mit wachsender Teilnahme ihrem Reden gefolgt, das
-ganz neue Gebiete vor ihm aufschloß. Hatte die hohe Auffassung einer
-gewissenhaften Mutter von ihren Pflichten gegenüber dem Kinde mit immer
-heißerer Ergriffenheit wahrgenommen und über Worte gestaunt, die er
-niemals einer Frau zugetraut hätte. Aber er war seines Vorsatzes, nie
-zu lügen, eingedenk und antwortete mit jener ungelenken Rauheit, die
-bei ihm stets herhalten mußte, wenn er weich zu werden drohte: „Wart
-ist mir fremd. Ich kann gar nichts versprechen.“
-
-Die Frau ließ mutlos den Kopf hängen. Fritz kam sich wie ein Verbrecher
-vor, als er den leidvollen Ausdruck ihres Gesichtes wahrnahm. Wie aus
-einer anderen, lichteren Welt erschien sie ihm, die Verkörperung alles
-Lieben, Zarten, Gütigen. Eine warme Welle flutete in ihm empor. Am
-liebsten hätte er ihre Hände gefaßt und um Verzeihung gebeten, daß er
-ihr weh tat. Aber er biß nur die Zähne zusammen und verdoppelte den
-Schritt, so daß sie ihm kaum nachkommen konnte.
-
-„Seien Sie wenigstens freundlich zu ihm!“ bat sie.
-
-Und er darauf: „Ich bin kein Lausbub!“
-
-Nun standen sie vor dem alten Bürgerhause auf dem Marktplatz, das mit
-Erkern und Simsen und Vorsprüngen, mit Luken, Giebeln und steilen
-Dachflächen düster und massig in die Luft hineinwuchs. Kisten und
-Fässer und Ballen und Tonnen türmten sich allenthalben im wölbigen
-Flur, lagen im breiten Stiegenhaus und verengten die kühlen Korridore,
-überhuscht von den spärlichen Reflexen schwelender Kerzen hinter
-verstaubten Gläsern.
-
-Polternd klangen die Schritte der beiden im Hinansteigen über die
-bequeme Holztreppe. Nun hielten sie vor der hohen dunklen Wohnungstür,
-ein Dienstmädchen öffnete, und sie traten ein. Flüsternd erkundigte
-sich die Frau nach dem Befinden ihres Kindes und erhielt befriedigende
-Auskunft. Da öffnete sie eine zweite Tür, winkte Fritz, daß er ihr
-folgte und schritt durch ein unbeleuchtetes Zimmer mit weitem Raum.
-Undeutlich hoben sich die Gegenstände aus dem schwachen Lichtschein,
-den die Straßenlaternen zu den Fenstern hinaufsandten, in florigen
-Teppichen versank der Fuß, und leis klirrten ein paar Gläser im
-altdeutschen Schrein. Hellwig tastete sich durch mit vorgestreckten
-Händen, stieß an einen Stuhl. Da drehte sich wieder eine Tür
-geräuschlos in den Angeln und ein grün gedämpftes Lampenlicht quoll
-durch den Spalt.
-
-Sie waren im Krankenzimmer. Mit der Schmalseite an die Wand gerückt,
-von den drei anderen Seiten frei zugänglich, schob sich ein breites
-Eichenbett bis in die Mitte des Gelasses. Darinnen war, fast so weiß
-wie die Kissen und Linnen, ein mageres Antlitz sichtbar, von einem
-dichten Kranz tiefschwarzer Haare eingefaßt und von zwei mächtigen
-dunklen Augen überleuchtet, die es ganz beherrschten und noch
-abgezehrter erscheinen ließen.
-
-Frau Wart war sofort bei ihrem Sohne.
-
-„Wie geht’s dir, mein Junge? Hast du auch brav geschlafen?“ fragte
-sie und war prächtig anzusehen in der wohltuenden und beruhigenden
-Heiterkeit, hinter der sie alle ihre angstvolle Sorge barg. Der Kranke
-gab keine Antwort, sondern schaute mit seinen glänzenden Fieberaugen an
-ihr vorbei auf Fritz, der stumm unter dem schweren Türvorhang stand.
-Sie bemerkte den Blick, nickte ihm zu und lächelte: „Ist’s dir recht?
-Du hast ihn ja haben wollen.“
-
-Da stieg ein sachtes Wellchen Blutes in das eingefallene Gesicht,
-leuchtete durch die Haut und warf einen zartroten Schein darüber.
-
-„Guten Abend, Hellwig,“ sagte er leise und ließ die Augen nicht von ihm.
-
-Nun kam Fritz näher, hielt am Fußende des Bettes und sagte: „Servus,
-Wart! Was treibst du denn für Geschichten? Krank sein -- das gibt’s
-doch nicht! Sieh lieber, daß du bald wieder ins Französisch kommst.“
-
-Die Mutter tat einen tiefen, freien Atemzug. Sie hatte heimlich vor
-diesem Zusammentreffen gebangt, hatte gefürchtet, daß Hellwigs kantige
-Art den Kranken verletzen und aufregen könnte. Nun sah sie den warmen
-Blick, hörte den herzlichen Klang der vor kurzem noch so trotzig rauhen
-Stimme und schämte sich im stillen ihrer argen Meinung.
-
-„Bleib nur liegen, du!“ flüsterte sie beglückt und drückte ihren
-Jungen, der sich aufrichten wollte, in die Kissen zurück. „Herr Hellwig
-setzt sich zu dir, da könnt ihr reden ... aber nicht zu lang, nicht
-wahr?“
-
-Bittend schaute sie den Besucher an und wies auf einen Stuhl neben dem
-Lager.
-
-„Ich könnt’ ebenso gut stehen!“ entgegnete Fritz wieder kalt abweisend.
-Als er jedoch die ängstlich-erwartungsvolle Miene des andern sah,
-verstummte er und setzte sich.
-
-Geräuschlos glitt die Frau aus dem Gemach. Im dunklen Nebenzimmer
-verließ sie die mühsam behauptete Fassung. Sie hatte Hellwig auf ihre
-eigene Verantwortung herbeigeholt, versprach sich davon eine raschere
-Wendung zum Gesunden. Wenn nur, ach, wenn nur endlich alle Gefahr
-vorüber wäre! Und die Sorge um das Leben des Kindes senkte sich wieder
-schwer und lautlos auf das blonde Haupt, die schlanken Schultern und
-drückte sie nieder. Wie unter eine wuchtende Last geduckt, stand sie
-ohne Regung und versuchte mit beiden Händen das übermächtig schlagende
-Herz zu halten. --
-
-„Was willst du von mir?“ fragte Hellwig den Kranken. Der schaute
-hilflos gegen die Zimmerdecke und dann suchend im Raum umher. Da fiel
-sein Blick auf einige Bücher, die in grünen Einbänden neben der Lampe
-und zwischen Arzneiflaschen auf dem Tisch lagen. Wie Erlösung überkam
-es ihn.
-
-„Mutter hat mir Darwin geschenkt!“ sagte er lebhaft. „Die große
-Ausgabe. Den mußt du lesen, ich leih’ dir ihn!“
-
-Eine Sekunde nur blickte Fritz in die Augen, die ihm groß und leuchtend
-entgegenstanden: dann hatte er begriffen. Hatte begriffen, daß hier
-vor ihm einer seines Wesens lag, gleich scheu und zurückhaltend und
-zu stolz, um sich aufzudrängen. Und er wußte mit einemmal, daß dieser
-schmächtige schwarzhaarige Mensch, den er im großen Troß der andern mit
-übersehen hatte, schon seit langem, heimlich und ohne sich zu verraten,
-sein Freund war. Und auch er fühlte sich jetzt, da er den Spuren der
-scharf geprägten Züge in dem geistreichen Antlitz nachforschte, mächtig
-zu ihm hingezogen. Aber er ehrte das Schamgefühl des andern. Deswegen
-antwortete er scheinbar ganz gleichgültig auf dessen Anerbieten.
-
-„Du würdest mir damit eine große Freude machen!“ sagte er und nahm
-eines der grünen Bücher vom Tisch. „Ist’s das hier?“
-
-„Ja. Nimm dir nur gleich ein paar Bände mit.“
-
-„Einer genügt vorläufig!“ entgegnete Hellwig kurz und erhob sich.
-
-„Du gehst schon?“
-
-„Ja!“
-
-„Du kommst aber wieder?“
-
-„Ich werd’ mir doch das Buch nicht behalten!“ knurrte Fritz.
-
-Der Kranke hob die Hand von der Bettdecke und reichte sie ihm wortlos.
-Fritz nahm sie in seine breite Rechte und hielt sie einen Augenblick
-fest.
-
-„Gute Nacht, Wart!“
-
-„Gute Nacht, Hellwig!“
-
-Im Nebenraum trat ihm Frau Wart entgegen: „Nun?“
-
-„Ich hab’ mir einen Band Darwin ausgeborgt!“ sagte er unwirsch, hastete
-an ihr vorbei, durchs Vorzimmer und über die Treppe hinab ins Freie.
-
-
-3.
-
-Der November war noch nicht zu Ende, da hatte Hellwig sämtliche
-Schriften Darwins bewältigt. Die Mutter wurde auf sein Treiben
-aufmerksam und drang nachts in sein Zimmer, wo er vor der Lampe über
-den Büchern saß. Da schalt sie wegen seines langen Wachens, bat ihn,
-seiner Gesundheit nicht zuviel zuzumuten und wich erst, bis sie ihn
-ganz sicher hinter dem Wandschirm in den Federn wußte.
-
-Um ihr Mißtrauen zu zerstreuen, ging er die nächsten Tage früher zu
-Bett. Dann aber verschaffte er sich ein Zigarrenkistchen, befestigte
-darin auf dem unteren schmalen Brett eine Kerze, an dem oberen aber, um
-dessen Anbrennen zu verhindern, einen ausgedienten Topfdeckel und hatte
-so eine Art Diebslaterne, nach drei Seiten für das Licht abgeblendet.
-Wenn nun seine gewöhnliche Schlafstunde heranrückte, stellte er dieses
-Gerät knapp hinter das Buch in der Weise, daß kein Lichtstrahl durch
-die klaffenden Fugen der Tür in die Küche dringen und der Mutter
-sein Wachbleiben verraten konnte. Dann löschte er die Lampe, hielt
-sich still und las beim flackernden Schein der Kerze mit geschnürtem
-Atem weiter, bis draußen auf der Gasse die ersten Bauernfuhrwerke
-über das holprige Pflaster rumpelten und der erwachte Lärm dem nahen
-Morgen vorauslief. Dann suchte er endlich sein Lager und tat hinter
-bleischweren Lidern einen traumlosen Schlaf, aus dem ihn jedoch meist
-schon nach zwei, drei Stunden die nichtsahnende Mutter weckte mit der
-Meldung, daß das Frühstück fertig und es Zeit zur Schule sei.
-
-Unterdessen hatte Warts Genesung rasche Fortschritte gemacht. Er durfte
-bereits kurze Spaziergänge unternehmen und tat dies mit Hellwig, dessen
-Seele ihm, nun das Eis einmal gebrochen, offensichtlich zuströmte.
-Ganz aber fanden sie sich erst an einem frostklaren Dezembertage, als
-sie nach einem schon längeren Marsch bei Milch und Butterbrot in einem
-Dorfwirtshaus saßen und von den alten Juden auf die Erlöser und auf den
-Gottesbegriff zu sprechen kamen.
-
-Sie waren die einzigen Gäste in der niedrigen Stube. Hinter dem
-Kachelofen hockte zusammengeduckt eine weißhaarige Frau und summte
-ihrem Enkelkind ein eintönig uralt Wiegenlied zum Schlaf. Die große
-Stehuhr pochte wie das Herz der Stille, und Heinz Wart sprach:
-„Darwin ist ein Erlöser und ist auch keiner. Viele alte Götzen hat er
-zerschlagen, der Verstand mag damit zufrieden sein, aber nicht das
-Herz. Und mit der Lösung der Frage nach _unserer_ Herkunft ist jene
-nach der Herkunft unseres Gottglaubens nicht aus der Welt geschafft.
-Für mich aber bedeutet Gott nichts anderes als das Ideal, nach dem sich
-jeweils die Menschen gesehnt haben. Den entrechteten Hindukasten von
-den Sudras bis zu den Tschandalas ist sicherlich die endliche selige
-Ruhe nach einem Leben der Knechtschaft als das Herrlichste erschienen
--- und Buddha hat ihnen das Nirwana gegeben. Bei den alten Deutschen
-hast du Freude am Kampf und Zechgelag und hast du kriegsgewaltige
-Schlachtengötter und reisige Jungfrauen, die die Helden nach Walhall
-zur Metbank bringen. Dem Schwärmer von Nazareth aber ist der Mensch
-selbst zum Ideal geworden. Darum ist sein Gott ein Menschengott,
-der alle unsere Tugenden und Fehler, Milde und Härte, Erbarmen und
-Grausamkeit, opferfreudigste Hingabe und starrste Ichsucht, zum
-höchsten Maß gesteigert, in sich vereinigt. Und weil dadurch Gott den
-Menschen so nahe gerückt wurde, haben sie sich ihm so bereitwillig
-zugewendet. Denn in ihm beten sie ihr Menschentum an, und sie lieben
-sich selber in ihrem Gott. Und die Reformationen sind nichts als
-Versuche gewesen, den lieben alten Menschengott umzumodeln, damit
-er zu den neuen Menschen mit ihren neuen Anschauungen wieder passe.
-Und wenn wir jetzt gegen den Druck verjährter Dogmen knirschen, so
-beweist das für mich nichts anderes, als daß unsere Zeit abermals reif
-geworden ist für eine neue Sehnsucht. Aber wir wissen noch nicht, wo
-sie wohnt und kennen den richtigen Weg nicht zu ihr, lassen uns leicht
-irreführen durch die Lockungen falscher Propheten. Nietzsche ist für
-mich ein solcher. Ich bewundere die rauhe Kühnheit und empöre mich
-über die wahnwitzige Überhebung, mit der er das Ich zum Gott machen
-will. Freilich, _die_ Ausgestaltung wäre logisch. Vom Weiteren zum
-Engeren, vom Kreis zum Punkt. Nach dem Menschen als Gattung der Mensch
-als einzelner. Jeder einzelne sich selbst Gesetzgeber und Richter und
-Rächer des eigenen Gesetzes. Jeder sich selbst Gott. Oder Schöpfer
-seines Gottes: des Übermenschen. Aber ...“
-
-Er atmete tief auf und schwieg. Von der untergehenden Sonne kam ein
-seltsam rötlicher Schein in die Stube, alle Gegenstände ertranken in
-einem ungewissen Zwielicht, und nur vor den winzigen Fenstern stand
-noch hell und durchsichtig die Luft wie ein unbewegtes, zartpurpurnes
-Meer.
-
-Mühselig erhob sich die gebeugte Greisin von der Ofenbank und wollte
-die Lampe anzünden. Aber Fritz winkte ab: „Lassen Sie nur, wir bleiben
-ganz gern im Dunkeln.“
-
-Dann war wieder Schweigen. Das Kind schlief in der Wiege. Eine graue
-Katze strich mit gehobenem Schweif und gekrümmtem Rücken unhörbar um
-ein Stuhlbein, immer rundum, rundum. Und das verhuzelte Weibchen beim
-Ofen ließ den Kopf tief und tiefer sinken und schlief allmählich ein.
-
-Mit hämmerndem Herzen saß Fritz und starrte aufgeregt nach dem
-unscheinbaren Menschen neben sich, dessen Antlitz weiß aus dem Dämmer
-herausleuchtete. Was er da gehört hatte, war mehr als zusammengelesene
-Weisheit, waren selbständige Ideen, die seine Seele mitschwingen
-machten. Und er kam sich klein vor, fühlte seine Unfertigkeit und wie
-wenig er wußte. Und plötzlich kam ihm die blonde Frau wieder in den
-Sinn, die an jenem Regenabend mit rauschenden Gewändern neben ihm
-gegangen. Das drohte die Weihe der Stunde zu stören. Er legte die Hand
-auf den Schenkel des Freundes.
-
-„Weiter, Heinz! Was ist’s mit dem Aber?“
-
-Wart zuckte auf und schaute ihn mit leeren Augen an, als hätte er alle
-seine Gedanken auf weite Wanderung geschickt und müßte erst warten,
-bis sie sich wieder zurückfanden. Dann sagte er, den Kopf in die
-Hand gestützt und den Blick immerfort auf die Tischplatte vor sich
-gerichtet, sagte ganz leise, wie aus einem Traum heraus:
-
-„Auf dem rechten Weg zur neuen Sehnsucht scheinen mir trotz allem doch
-die Jakobiner gewesen zu sein, und Maximilian Robespierre, der Tauben
-züchtete und Menschen mordete, hat es oft genug ausgesprochen: ‚Wir
-wollen die Wünsche der Natur erfüllen und die Bestimmung der Menschheit
-erreichen: den friedlichen Genuß der Freiheit und Gleichheit, ein
-Reich der ewigen Gerechtigkeit. Wo der Bürger der Obrigkeit und die
-Obrigkeit dem Volke dient und das Volk der Gerechtigkeit. Wo die Künste
-der Schmuck der Freiheit sind, der Handel die Quelle des öffentlichen
-Reichtums und nicht der ungeheuerlichen Wohlhabenheit einzelner
-Häuser. Schrecker der Unterdrücker wollen wir sein und Tröster der
-Unterdrückten und statt der Kleinlichkeit der Großen wollen wir die
-Menschengröße.‘ -- Das geht zwar schnurstracks gegen den Kampf ums
-Dasein des Individuums, aber trotzdem glaube ich, daß darin unser Heil
-für die Zukunft liegt. An Stelle des Menschengottes möchte ich das
-Menschentum setzen und gegen die Forderung: ‚Liebe deinen Nächsten
-wie dich selbst!‘ die Formel: ‚Hilf deinem Nächsten wie dir selbst!‘
-... Die Menschheit zur Freiheit führen, den Elenden und Gequälten
-ein freies, heiteres Dasein schaffen, ihnen ihr Recht auf Glück
-zurückerobern, das jeder schon hier auf Erden für sich fordern darf
-kraft seines Menschentums -- es ist ein Ziel, wohl wert, sein Leben
-dafür aufzuwenden ...“
-
-Er hatte sich in Begeisterung hineingesprochen, sprang auf und stand
-mit geröteten Wangen aufrecht da, ein heiliges Feuer in den Augen.
-Da war auch schon Fritz neben ihm, riß ihn an sich und sagte mit
-erstickter Stimme: „Heinz -- Freund -- Bruder ... unser Leben ... wir
-wenden’s dran ...“
-
-Nun ward es ihnen zu eng in der Stube. Sie brachen auf und schritten
-Schulter an Schulter unter einem klaren Sternenhimmel heimwärts. Und
-während sie so gingen, mußte Fritz abermals an Frau Wart denken und
-empfand einen dumpfen Groll, daß sie ihren Wunsch erfüllt und ihn als
-Freund ihres Sohnes sehen sollte. Und gleichzeitig stemmte er sich
-gegen dessen frühe Reife und den Einfluß, den sie auf ihn zu gewinnen
-drohte. Seine Stimme klang beinah feindlich, als er jetzt sagte: „Woher
-nimmst du eigentlich das alles?“
-
-Da seufzte der andere leise und erwiderte: „Mein Gott, man sitzt nicht
-umsonst mit einundzwanzig Jahren erst in der Septima!“
-
-„Du bist schon so alt?“ fragte Fritz erstaunt. Denn Wart sah mit
-seinem bartlosen blassen Gesicht und der schmächtigen Gestalt
-kaum siebzehnjährig aus. Nun nickte er: „Jawohl -- sogar bald
-zweiundzwanzig. Im Frühjahr muß ich schon das drittemal zur
-Stellung. Hoffentlich ist meine Brust noch immer für den Rock des
-Kaisers zu schmal. Sonst wär’s gefehlt, weil ich ja noch nicht das
-Einjährigenrecht hab’.“
-
-„Ja, aber ...?“
-
-„Wieso das kommt? Ganz einfach! Ich war kaum mit dem Untergymnasium
-fertig, da hat mich mein Alter ins Geschäft gesteckt. Aber ich hab’
-mich dort nicht zurechtfinden können. Nach drei Jahren hat er das
-auch selbst eingesehen und mich wieder ins Gymnasium zurückgeschickt.
-Das verdank’ ich der Mutter, ich weiß das, aber bis jetzt hab’ ich
-ihr keine Ehre gemacht. Die Quinta und die Sexta hab’ ich wiederholen
-müssen, für Mathematik hab’ ich nun einmal kein Verständnis, ich bring’
-das trockene Zeug nicht in den Schädel! Und dann die Bücher: Rousseau,
-Proudhon, Engels, Lasalle, Marx, Adam Smith -- du kennst ja meine
-Sammlung.“
-
-Er schwieg und Hellwig ebenfalls. Arm in Arm schritten sie auf der
-schneebedeckten Landstraße rüstig vorwärts, überließen sich ihren
-nachgenießenden Gedanken und gingen auf dem Marktplatz mit einem kurzen
-Händedruck stumm voneinander.
-
-
-4.
-
-Seit diesem Tage waren sie Freunde.
-
-Sie blieben aber nicht lang zu zweit, denn Pichler wollte sich nicht
-kaltstellen lassen. Hellwig mußte ihn mit Wart bekannt machen, und auch
-dieser wurde dem kecken Leichtfuß bald geneigt.
-
-Ihre Zusammenkünfte hielten sie jetzt bei Heinz ab, der nach der
-Genesung wieder sein Zimmer bezogen hatte.
-
-Das lag ganz oben, unterm Dach des altertümlich und weitläufig
-gebauten Hauses, worin das Bürgergeschlecht Wart seit Jahrhunderten
-einen schwunghaften Kaufhandel betrieb. Der jetzige Inhaber war ein
-derber, knorriger Fünfziger von praktischem Verstand und tüchtigem
-Arbeitssinn. Von der Pike auf im Geschäft, war er jeder geistigen
-Tätigkeit abhold, sofern sie nicht auf einen realen und reellen Gewinn
-unmittelbar hinzielte. Den ganzen Tag dröhnte seine Stimme durch die
-hallenden Korridore, war seine untersetzte Gestalt überall zu sehen.
-Bald half er mit schweißtriefender Stirn im Hof beim Aufladen der
-Warenballen, bald teilte er im Kanzleiraum Befehle aus, durchlief die
-weiten Speicher oder fertigte die Ladenkunden ab, in unermüdlicher
-Regsamkeit für die ordentliche und glatte Abwicklung des verzweigten
-Betriebs.
-
-Trotzdem fand er noch Zeit zur Verwaltung der verschiedenlichsten
-bürgerlichen Ehrenämter, war Stadtverordneter, Waisenvater und
-Ortsschulrat, Feuerwehrhauptmann und Schützenleutnant und stand bei
-allen Mitbürgern wegen seines gediegenen Charakters in Ansehen.
-Vornehmlich bei der Opposition, deren Leitung selbstverständlich in
-seiner Hand lag. Denn die Wart hatten alle von jeher ihren eigenen Kopf.
-
-Darüber waren vom Wart Nikl -- unter diesem Namen war er, der Nikolaus
-hieß, in der ganzen Gegend bekannt -- allerhand Geschichten im Schwang.
-
-Als die klerikale Vereinigung, die in Neuberg dank der werbenden
-Kraft des Paters Romanus gegründet worden war, ihren ersten
-Unterhaltungsabend veranstaltete, da war Nikolaus Wart an der Spitze
-von zwanzig handfesten Gesinnungsgenossen lärmend in den Saal
-gedrungen, wo eben eine Festvorstellung im Gange war und das Konterfei
-eines bekannten schwarzen Häuptlings mit Lorbeer und Lilien bekränzt
-hinter Glas und Rahmen an der Wand hing. Einen Tisch erkletternd, nahm
-der Nikl seelenruhig das Bildnis vom Nagel und lehnte es in eine Ecke.
-Aber als alle Gäste, darob entrüstet, auf ihn eindrangen, da hob er es
-wieder, schwang es mit beiden Fäusten, und breitspurig mit gespreizten
-Beinen auf dem Tisch aufgepflanzt, schrie er mit voller Lungenkraft:
-„Ruh’ geben! Zurück! Sonst hau’ ich auf eure Schafsköpf’ den größten
-drauf!“
-
-Dann schleuderte er das Bild zu Boden, daß die Scherben splitternd
-umherflogen, sprang hinterdrein und tat mit seinen Kumpanen so
-gründliche Arbeit, daß die Vereinigung katholischer Männer kläglich
-abziehen mußte. Worauf Wart Nikl schmunzelnd den rötlichen Vollbart
-strich und eine Sitzung der Freisinnigen eröffnete, die bis zum
-grauenden Morgen dauerte. --
-
-Und früher -- in Zeiten schwerer nationaler Bedrängnis -- als die Stadt
-Neuberg eine Kundgebung gegen die slawischen Vorstöße veranstaltete und
-als von einer kurzsichtigen Regierung zur Verhütung von Ausschreitungen
-ein slawisches Reiterregiment in die Stadt beordert wurde, das
-denn auch alsbald mit flachen Säbelhieben in die leidenschaftlich
-aufgewühlte Volksmenge einbrach, da hatte sich Wart Nikl den hitzigen
-Blauröcken entgegengestellt, hatte Rock, Weste, Hemd vorn auseinander
-gezerrt, und den Soldaten die nackte Brust darbietend, hatte er
-gebrüllt: „Da! da! Stecht her, wenn ihr dürft! Totschlagen könnt ihr
-uns, unterkriegen niemals nicht!“
-
-Daraufhin hatte man sich die Sache noch einmal überlegt und gegen
-die ehrenwörtliche Versicherung des Bürgermeisters, daß die Leute
-freiwillig und friedlich auseinandergehen würden, die Truppen abrücken
-lassen. Und als hernach die Verwundeten vorüber getragen wurden, da
-waren dem Wart Nikl die Tränen aus den Augen gesprungen und mit einem
-schmerzvollen Blick zum Standbild Kaiser Josefs II. hatte er gerufen:
-„Schau’ her, trauter Kaiser Seff, schau’ nur her, wie’s deinen
-Deutschen heutigentags geht!“ --
-
-Dieser Begebenheit verdankte er übrigens das beste Glück seines
-Lebens. Denn wie jedes Ausharren in einer gemeinsamen Not wildfremde
-Menschen urplötzlich vertraut macht, hatte sich neben den stiernackigen
-Kaufmann, der dem Übermut der slawischen Reiter mit seiner mächtigen
-Stimme Einhalt tat, ein schlankes Mädchen mit wehendem Blondhaar
-mutvoll aufgepflanzt und laut gerufen: „Recht so! Recht!“, wobei es den
-Soldaten herausfordernd die funkelnden Augen entgegenhielt.
-
-An diesen Blick mußte der Junggesell fortwährend denken und kam nach
-einigen Tagen rätselhafter Unrast endlich zu dem Entschluß: „Die wird’s
-oder keine!“
-
-Sie hieß Hedwig und war die Tochter des Stadtarztes Doktor Kreuzinger,
-der aus übergroßer Liebe zur Heimat die gewählte Hochschullaufbahn und
-damit auch die sichere Anwartschaft auf eine Universitätsprofessur
-aufgegeben hatte, um in seiner Vaterstadt ständig leben zu können. Er
-war ein ebenso ausgezeichneter praktischer Arzt wie scharfsichtiger
-Forscher, und seine Abhandlungen in den Fachblättern fanden wegen
-ihrer gehaltvollen Sachlichkeit Anklang und Beachtung. Wie denn
-auch bei den Kongressen, zu denen er sich regelmäßig einzufinden
-pflegte, manche ‚Berühmtheit‘ mit Worten schmeichelhaften Lobes des
-unscheinbaren Kollegen aus der Provinz Erwähnung tat, worüber der
-dann stets errötete und in eine hilflose Befangenheit hineingeriet,
-bis ein neuer Redner seine Aufmerksamkeit fesselte. Dann begannen die
-schlanken Finger in dem grauen Vollbart zu wühlen, die gescheiten Augen
-wurden wieder lebendig, und eine Falte auf der Stirn verriet die starke
-Gedankenarbeit, womit der bescheidene Landarzt dem Vortrag folgte.
-
-Auf die Werbung des Kaufmanns erwiderte er einfach: „Wenn sie will,
-ich rede ihr da nichts hinein.“ Und der urwüchsige Gesell verlor
-vielleicht zum erstenmal im Leben seine Sicherheit, wurde verlegen
-wie ein Schuljunge und mühte sich mit seiner ungelenken Zunge schöne
-Satzgebilde zu formen, als er dem schlank aufgewachsenen Mädchen
-gegenüberstand, das ihn stirnbreit überragte, trotzdem es erst siebzehn
-Jahre alt war. Aber sie sagte ja. Die aufrichtige Geradheit des Mannes,
-seine ehrliche Lebensführung, die wie ein offenes Buch im vollen Licht
-vor aller Augen dalag, hatten’s ihr angetan. Und sie hatte nie Ursache,
-ihre Wahl zu bedauern. Auch dann nicht, als Wart Nikl erkannte, daß sie
-in jener bewegten Stunde nicht Begeisterung an seine Seite getrieben
-hatte, sondern lediglich die heilige Entrüstung, die jeden Guten packt,
-wenn irgendwo Gewalt vor Recht gehen soll.
-
-Jeder ehrte die wackere Art des andern und forderte nichts Unmögliches
-von ihr. Weder Hedwig, daß Nikl ihr zuliebe plötzlich ein Schöngeist
-werde, noch er, daß seine schöne Frau Rosinen abwiege, kiloweise Mehl
-verkaufe oder die Buchführung lerne. Er überließ ihr auch die Erziehung
-der Kinder, da er wußte, daß sie ihm hierin überlegen war. Und seit
-sein Versuch, auf die Berufswahl des Sohnes kraft seiner väterlichen
-Gewalt bestimmend einzuwirken, kläglich gescheitert war, übersah er,
-der Bücherfeind, es sogar stillschweigend, wenn Frau Hedwig ihrem
-Jungen Geld zur Beschaffung von Zeitschriften oder Büchern einhändigte.
-
-Die erworbenen Schätze stapelte Heinz mit unverdrossenem Sammeleifer
-in seiner Dachstube auf, die dadurch ein recht gelehrtes und von den
-übrigen Räumen des Hauses grundverschiedenes Gepräge bekam. Allerhand
-Druckwerke stauten sich hier auf Schrank und Tisch und füllten längs
-der Wände hohe Regale, wogegen in den anderen Zimmern nur Preislisten,
-Warenproben und Geschäftsbriefe herumlagen. Denn Vater Wart las außer
-einer Tageszeitung und der deutschen ‚Grenzwacht für Neuberg und
-Umgebung‘ überhaupt nur, was mit der Führung seines Geschäftes und
-seiner bürgerlichen Ehrenämter unmittelbar zusammenhing.
-
-Um so heißhungriger fiel Hellwig über die Bücherei des Freundes her.
-Der Kaufmann war ihm deswegen nicht besonders grün und äußerte zu
-seiner Frau, der lange Blonde mit den Storchbeinen sei gerade so ein
-Mucker wie sein Herr Sohn. Dagegen nannte er Pichler bald einen netten
-und vernünftigen jungen Mann, weil dieser rasch die schwachen Seiten
-des einflußreichen Bürgers aufgespürt hatte, mit ihm über das Geschäft
-sprach, für Warenmuster Interesse zeigte und sich in den Marktpreisen
-auskannte, kurz zu haben schien, was Nikl an seinem Heinz so ungern
-vermißte: das Zeug zu einem guten Kaufmann.
-
-Frau Hedwig erwiderte auf diese Lobsprüche nichts. Ihr gefiel Pichler
-nicht. Doch sie war zufrieden, Heinz und Fritz beisammen zu wissen
-und störte ihren Verkehr nicht, trachtete im Gegenteil, daß Hellwig
-sie nicht zu Gesicht bekam, weil sie das Gefühl nicht los wurde, daß
-ihm ein Zusammentreffen mit ihr Unbehagen schaffe. Dem war in der Tat
-so. Sie hatte auf den jungen Menschen gleich bei der ersten Begegnung
-tiefen Eindruck gemacht, und so sehr er sich dagegen wehrte, er mußte
-die schöne Frau lieben. Mußte sie lieben, weil sie im Vollsinn des
-Wortes eine Mutter war -- und haßte sie auch vom selben Augenblick an.
-Mußte sie hassen in seiner jugendlichen Parteilichkeit, weil sie nicht
-seine Mutter war. Weil sie ihn zwang, Vergleiche zwischen ihr und
-der eigenen Mutter anzustellen und weil diese Vergleiche immer gegen
-letztere ausfielen. Sein kindliches Gemüt kämpfte dagegen an, wollte
-sich das reine Bild derjenigen nicht trüben lassen, die ihn in ihrem
-Schoße getragen. Aber der kalte Verstand trieb ihn stets aufs neue das
-Für und Wider abzuwägen -- und immer neigte sich das Zünglein zugunsten
-der blonden Frau.
-
-Das ging so weit, daß ihm sogar die Schamröte ins Gesicht stieg,
-als er eines Tages Heinz und Otto in seine Behausung führte und die
-Mutter nach einer kleinen Weile mit ihrer unvermeidlichen Kaffeekanne
-anrückte. Ein schwächliches, verblühtes Frauchen, sanft, gutherzig
-und rührselig, kam sie hereingetrippelt, bat um Entschuldigung, daß
-sie nichts Besseres vorzusetzen habe, und auf Pichlers Frage, ob die
-Hühner des Nachbarn ihr noch immer auf dem Bleichplatz im Gärtchen
-die Wäsche beschmutzten, erhob sie sofort ein großes Jammern über
-diese Rücksichtslosigkeit, mit reichlichem Wortschwall und Mitleid
-heischender Miene.
-
-Fritz saß da und schämte sich vor Heinz. ‚Dort Bücher und verstehendes
-Fernbleiben -- hier Kaffee und Geschwätz!‘ dachte er bitter. Denn er
-war noch nicht reif genug für die Erkenntnis, daß hier wie dort ein
-gleich schönes menschliches Empfinden nur seinen verschiedenen Ausdruck
-fand.
-
-„Hör’ doch schon auf mit dem Quatsch, Mutter!“ sagte er unwillig.
-
-Da verstummte sie erschrocken und stahl sich mit einem unterdrückten
-Seufzer aus der Stube.
-
-Kaum gesprochen, war ihm das Wort schon leid. Aber als jetzt Heinz
-seine ernsten Augen auf ihn richtete: „Du hast sie gekränkt!“, da fuhr
-er auf: „Ach was, wenn sie auch fort so herumgreint!“ Und dann heftig
-zu Otto: „Warum fragst du auch immer so? Meine Mutter ist mir zu gut
-für deine blöden Witze!“
-
-Der Angefahrene widersprach gekränkt und beteuerte seine guten
-Absichten. Aber Fritz ließ ihm nichts gelten. Schimpfend rannte er
-im Zimmer herum, und es waren nicht gerade Schmeichelworte, die er
-Pichlern an den Kopf warf. Je länger er so wetterte, desto mehr fühlte
-er, wie grundlos eigentlich seine Vorwürfe waren. Er hörte aber
-trotzdem nicht auf. Er mußte sich Luft machen, empfand eine wohltuende
-Befreiung dabei.
-
-Unterdessen war Heinz behutsam in die Küche geschlichen, wo Frau
-Hellwig, die Hände im Schoß gefaltet, beim Fenster saß und aus
-tränenvollen Augen bekümmert in den Hof blickte. Als sie ihn gewahrte,
-erhob sie sich schnell: „Sie wünschen wohl Trinkwasser? Gleich sollen
-Sie’s haben!“
-
-Bei diesen Worten hatte sie sich schon gebückt und machte sich mit der
-Wasserkanne zu schaffen, damit er ihr verweintes Gesicht nicht bemerken
-sollte.
-
-„Lassen Sie’s nur, Frau Hellwig!“ sagte Heinz darauf. „Ich hab’ keinen
-Durst. Es ist nur -- Fritz hat das nicht bös gemeint ...“
-
-Nun richtete sie sich lebhaft in die Höhe: „Hat er Sie geschickt?“
-
-„Das nicht, -- aber ... ich weiß das eben ...“
-
-„Nicht wahr, er ist ein garstiger Junge!“ seufzte sie. „Horchen Sie
-nur, wie er schreit! Was er nur wieder haben mag?“
-
-„Es reut ihn, daß er so schroff gewesen. Der arme Otto muß jetzt dafür
-büßen. Aber der verträgt’s!“ erwiderte Heinz leichthin.
-
-Zweifelnd blickte sie ihn an: „Zeit wär’s schon, Herr Heinz, wenn er
-einmal zu Vernunft kommen wollte. Immer ist er gleich obenhinaus. Wenn
-man doch nur sein Bestes will ...“ -- ihre Tränen begannen wieder zu
-fließen -- „und wenn man dann nichts als Undank davon hat, das tut weh.
-Nicht ein bissel hat er mich lieb!“
-
-„Er zeigt’s Ihnen bloß nicht!“ versuchte Wart den Freund zu
-verteidigen. Die Witwe aber klagte unbeirrt fort: „Das kommt alles
-nur daher, weil er in keine Kirche mehr geht. Wohin soll das führen?
-Noch keinem ist’s gut gegangen ohne den lieben Gott, das können Sie
-mir alten Frau schon glauben ... Es ist ein Kreuz, ein rechtes Kreuz
-mit dem Jungen! -- Aber da steh’ ich und red’ und vergess’ ganz, ich
--- hab’ ja noch ein paar Lederäpfel. Die müssen Sie kosten! Der Fritz
-fliegt nur so darauf!“
-
-Da sah Heinz, daß hier ein Trost nicht nötig war, und während Frau
-Hellwig geschäftig die runden Früchte auf einem Teller ordnete, ging er
-wieder ins Zimmer zurück.
-
-Fritz vermied es jedoch seit jenem Tage, die Freunde in seine Wohnung
-mitzunehmen.
-
-
-5.
-
-Weihnachten war vor der Tür, und damit war auch die Zeit gekommen,
-da Pater Romanus seine Schäflein zur ersten von drei schuljährlichen
-Beichten zu verhalten pflegte. Sämtliche verfügbaren Seelenhirten von
-Neuberg, insbesondere die frommen Mönche aus dem Franziskanerkloster,
-leisteten werktätige Beihilfe. Klassenweise wurden ihnen die Schüler
-zugewiesen, wobei jedoch Romanus besondere Wünsche seiner Studenten
-nach Möglichkeit berücksichtigte. Allen konnte er’s freilich nicht
-recht machen, weil nach einzelnen Beichtvätern wegen ihrer Milde
-eine allzu rege Nachfrage herrschte, die Milde nach der Kürze der
-Ermahnungen und der Bußgebete eingeschätzt.
-
-Hellwig aber trachtete diesmal bei dem allgemein gefürchteten Pater
-Guardian anzukommen, der nicht im Beichtstuhl, sondern in seiner Zelle
-die Verfehlungen der Gläubigen anzuhören und endlose geharnischte Reden
-gegen die armen Sünderlein loszulassen pflegte.
-
-Jede Rede verschlug es ihm jedoch, als Fritz, kaum auf dem Schemel
-niedergekniet, rauh hervorstieß: „Meine Beichte ist kurz, ich glaube an
-gar nichts!“
-
-Ein langes Schweigen folgte den Worten. Die kleine, vertrocknete
-Priestergestalt saß ganz unbeweglich, und der kahle Schädel leuchtete
-wie eine große Billardkugel unter Hellwigs niederschauenden Augen.
-
-„Ich glaube an gar nichts!“ sagte er endlich nochmals.
-
-Nun regte sich unbehaglich der Leib in der dunklen Kutte, zwei wässrige
-Augen mit roten Rändern schauten hilfeheischend zur Decke und eine
-zögernde Stimme fragte: „Ja ... lieber Bruder ... lieber Bruder ... wie
-sind Sie denn dazu gekommen?“
-
-„Durch Nachdenken und Vergleichen, auch durch Lesen,“ erwiderte Fritz
-und blickte dem Frater fest ins Gesicht. Der rutschte unruhig auf
-seinem Stuhl hin und her und suchte nach einer schicklichen Einleitung.
-
-„Lieber Bruder,“ fing er endlich an, und Hellwig wunderte sich über
-die freundliche Stimme, den warmen Blick des als unleidlich streng
-Verrufenen. „Lieber Bruder, Sie sind noch jung und daher leicht zur
-Übertreibung geneigt. Sie glauben an gar nichts, sagen Sie, aber Sie
-sagen das nur, weil Ihnen noch nicht klar geworden ist, daß wir alle,
-die wir Menschen sind, sehr wenig wissen und sehr viel glauben. Sie
-glauben jetzt vielleicht den Worten eines alten Priesters ebensowenig
-wie den Worten der Heiligen Schrift. Aber einen Schöpfer lassen Sie
-doch gelten, nicht wahr?“
-
-„Nur die Natur!“
-
-„Dann haben Sie lediglich einen anderen Namen für denselben Gegenstand
-und glauben nur an einen Teil unseres allumfassenden Gottes. Denn:
-meinst du, daß ich ein Gott nur in der Nähe bin und nicht auch ein Gott
-in der Ferne? Erfülle ich nicht Himmel und Erde, spricht der Herr. --
-Wollen Sie mir jetzt ein paar Fragen ehrlich beantworten?“
-
-Der Jüngling nickte stumm.
-
-„Sagen Sie mir also vor allem, wie Sie es mit den zehn Geboten halten,
-vom vierten angefangen. Bemühen Sie sich, die darin vorgeschriebenen
-Pflichten gegen die Eltern und Nächsten sowie gegen sich selbst zu
-erfüllen?“
-
-„Ich will nie etwas tun, das ich nicht vor mir selbst verantworten kann
-und bemühe mich, meine Kräfte für die Allgemeinheit auszubilden, so gut
-ich kann,“ entgegnete Fritz nach einigem Besinnen.
-
-„Schön, lieber Bruder, recht schön. Das ist ganz christlich gedacht
-und gehandelt. Und nun noch eins: Haben Sie sich leichtfertig oder aus
-Übermut zu einer solchen Beichte entschlossen? Haben Sie skrupellos und
-ohne Kampf den Glauben Ihrer Kindheit über Bord geworfen?“
-
-„Es ist mir nicht leicht geworden,“ gestand Hellwig, wenn auch mit
-Widerstreben.
-
-„Das genügt mir schon, lieber Bruder, denn: an ihren Früchten sollt
-ihr sie erkennen, spricht der Herr. Und deswegen ...“
-
-Der greise Priester schwieg und schien mit einem schweren Entschluß zu
-ringen. Dann aber sagte er, und es zeigte sich, daß in dem verwitterten
-Körper jene Liebe, die ihn einst seinem Berufe entgegengeführt hatte,
-noch lebendig, daß sie nicht zermürbt oder ertötet worden war, durch
-den beständigen Kampf wider den Zweck und die Bestimmung seines
-Menschentums. Jenen entnervenden Kampf, den er als Jüngling in der
-Begeisterung seiner Jahre freiwillig aufgenommen hatte und darin der
-gereifte Mann unter allen Qualen des Entsagens und Kasteiens gegen die
-Natur sündigen mußte, um nicht gegen seinen Gott zu sündigen.
-
-„Mein lieber Bruder,“ sagte er, „Ihre Sünde ist nicht so groß, wie Sie
-anzunehmen scheinen. Und der Schmerz, die Unruhe, die Sie empfinden,
-seit Sie an unserm barmherzigen Schöpfer zu zweifeln angefangen haben,
-ist auch eine Buße, die gewogen und wahrlich nicht zu leicht befunden
-werden wird. Darum glaube ich es vor Gott und vor meinem Gewissen
-rechtfertigen zu können, wenn ich Sie Ihrer Sünden ledig spreche.
-Leider habe ich nicht die Zeit, Ihnen die Gründe eingehend darzulegen,
-denn draußen warten andere Beichtkinder. Auch bin ich alt und müd und
-geistig nicht mehr regsam genug, um die großen Gärungen der neuen Zeit
-zu verfolgen und Ihnen im Sinne unseres Glaubens auszudeuten. Wenden
-Sie sich daher an Ihren Religionsprofessor und vertrauen Sie sich ihm
-getrost an. Es wird Ihr Schade nicht sein.“
-
-Segnend hob er die Hand, begann er die lateinische Formel zu
-sprechen. Er ließ sich hierbei auch von dem Gedanken leiten, daß
-durch ein Verweigern der Lossprechung, das bei den strengen
-Gymnasialvorschriften leichtlich zur Ausweisung führen konnte, der
-junge Zweifler nicht nur nicht gebessert, sondern erst recht zum
-Verharren in der eingeschlagenen Bahn bewogen worden wäre. Hellwig
-aber verstand diese Güte nicht. Rücksichtslos und hart gegen sich
-und andere, forderte er dieselbe Härte und Rücksichtslosigkeit im
-Verfechten der Grundsätze auch von den anderen für sich selbst wie ein
-gutes Recht. Deswegen wartete er das Ende der Lossprechung nicht ab,
-sondern erhob sich mit einer jähen Bewegung von den Knien und schritt
-trotzig aus der Zelle.
-
-Er ging zu Pater Romanus.
-
-Der bewohnte im ersten Stockwerk eines armseligen Hauses zwei enge
-Gelasse, die mit Kruzifixen, Heiligenbildern, Büchern und kaum dem
-notwendigsten und dürftigsten Hausrat versehen waren. In dem einen Raum
-befand sich neben einem Schrank, einem Betpult und einem Waschtisch
-überhaupt nur noch ein schmales, mit Roßhaarkissen und einer groben
-Kotze ausgestattetes Bettlein. Es ging jedoch die Rede im Ort, daß an
-diese zwei Räumlichkeiten noch ein drittes Zimmer stoße mit behaglichen
-Polstermöbeln und mit weichen Daunenpfühlen in einer breiten, fast
-doppelspännigen Bettstatt, darinnen eine wunderschöne Nichte des
-Paters die jungen Glieder strecken und nebenbei auch dem Oheim die
-Wirtschaft führen sollte. Doch konnte das ebensogut böswillige
-Verleumdung sein, denn wenn auch manche ein derartiges Frauenzimmer
-bisweilen an den Fenstern oder im abendlichen Dunkel auf Spaziergängen
-begriffen gesehen haben wollten, so war für alle Fälle und jedermann
-sichtbar eine ungemein häßliche Weibsperson vorhanden, die in einer
-winzigen Küche ein ungebärdiges Wesen entfaltete, wie ein Zerberus
-den Wohnungseingang bewachte und jeden Unbekannten rücksichtslos vor
-der hölzernen Lattentür im Vorflur warten ließ, bis sie ihn bei ihrem
-geistlichen Herrn angemeldet hatte.
-
-Auch Fritz erhielt auf seine Frage, ob er den Herrn Professor sprechen
-könnte, die mürrische Antwort: „Werd’ nachsehn!“ und konnte dann in
-aller Muße Zug für Zug die Buchstaben des messingnen Namensschildes an
-der Vorhaustür betrachten, ehe ihm diese geöffnet wurde.
-
-Pater Romanus empfing ihn beim Schreibtisch sitzend, und sein Kopf war
-vollständig unsichtbar zwischen den dickleibigen Schmökern, die sich
-rechts und links der Wangen zu Bergen türmten. Als die Tür aufging,
-stieg der schwarze Haarschopf langsam aus diesem Bücherverließ, die
-Augen spähten wie über eine Burgzinne nach dem Eintretenden, -- dann
-sprang die schwarze Gestalt rasch vom Sessel empor und kam mit einem
-freudigen „Ah!“ der Überraschung auf den Jüngling zu.
-
-Der aber ließ sich nicht beirren, sondern begann ohne Umschweife einen
-trockenen Bericht über den Vorfall in der Beichtkammer.
-
-Pater Romanus hatte sich an dem Tisch in der Mitte des Zimmers
-niedergelassen und hörte mit einem rätselvollen Gesichtsausdruck
-aufmerksam zu. Als Hellwig fertig war, sagte er mit mühsam
-behaupteter Ruhe: „Wenn das so ist, Kind Gottes, dann gehen Sie
-morgen selbstverständlich nicht zur heiligen Kommunion. Auch vom
-Kirchenbesuch enthebe ich Sie vorläufig unter der Bedingung, daß Sie
-dafür wöchentlich einmal zu mir kommen. Wollen Sie mir das versprechen?“
-
-„Ich glaube nicht, daß das einen Zweck hätte, Herr Professor,“
-entgegnete Fritz zögernd.
-
-Nun erhob sich der hagere Priester wieder, stand in der dunklen
-Soutane, die sich glatt und faltenlos über den flachen Brustkasten
-spannte, Stirn gegen Stirn dem hoch aufgeschossenen Schüler gegenüber,
-und seine Stimme hatte den schwingenden Predigerton, als er jetzt rief:
-„Geben Sie den Einflüsterungen des Bösen kein Gehör, der übermächtig
-in Ihrem Herzen aufsteht, weil die alleinseligmachende Kirche ihre
-Anstalten trifft, ihm ein vermeintlich schon sicheres Opfer zu
-entreißen. Er schlägt Sie mit Blindheit, daß Sie vor lauter Finsternis
-den Zweck nicht sehen können und das sonnenklare Ziel! Ihre Seele ist
-in Gefahr, Fritz Hellwig! Sehen Sie in mir das Sprachrohr unseres
-allgütigen Gottes, der Sie in letzter Stunde zur Umkehr mahnt!“
-
-Da reckte sich der Jüngling empor: „Ich habe es nicht nötig,
-umzukehren, Hochwürden. Ich will nicht zurück, sondern vorwärts!“
-
-„Ihre Verstocktheit ist groß, Kind, aber mit Gottes Hilfe ist mir die
-Bekehrung weit ärgerer Sünder schon gelungen, auch bei Ihnen wird sie
-kein vergebliches Bemühen sein. Ich kenne Sie durch und durch, Hellwig,
-und kenne auch die Ursache Ihres jetzigen Zustandes. Sie lesen zu
-viele weltliche Bücher. Machen Sie sich davon frei! Die weltlichen
-Bücher sind die Saatfelder des Teufels, in denen die Giftpflanze der
-Seelenfäulnis üppig in die Halme schießt! Sie machen den Gläubigen
-wankelmütig und bestärken den Ungläubigen in seinem gottlosen Wandel.
-Satan wollte die Menschheit von Gott abwendig machen, da erfand er die
-Lettern und gab ihr die weltlichen Bücher. Aller Schmutz fließt in
-ihnen zusammen wie in einer Kloake und jegliches Übel kommt von ihnen.
-Verbrennen sollte man sie und in Acht und Bann tun alle diejenigen,
-die sie erzeugen und verbreiten! Kind Gottes, warum lasen Sie solche
-Schriften, in denen die Verleumdung der Religion ihren eklen Geifer
-verspritzt? Warum lasen Sie weiter, statt sie ins Feuer zu werfen, als
-Sie die Verlockung zum Unglauben merkten?“
-
-„Solche Bücher kenne ich nicht, Hochwürden. Nur ernste
-wissenschaftliche Werke. Darwin zum Beispiel.“
-
-„Darwin!“ ächzte Romanus. „Darwin! -- Auch ich habe ihn gelesen, aber
-als reifer, glaubensfester Mann und nicht als haltloser Jüngling!
-Wissen Sie denn nicht, daß geschrieben steht: Hütet euch vor jenen,
-die im Schafspelze zu euch kommen, im Innern aber reißende Wölfe sind?
-O Kind Gottes, und Darwin ist der Oberste dieser Wölfe! Ein Irrlehrer
-ist er, ein schamloser Verführer und wahnwitziger Lügensprecher! Oder
-ist es nicht Wahnsinn, daß wir, die Ebenbilder Gottes, für die sein
-eingeborener Sohn am Kreuze blutete, entstanden sein sollen nicht
-durch eines allmächtigen Schöpfers Hand, sondern durch blinden Zufall
-aus einem Urschleim? Der Kot des Lebens Anfang und der Menschheit
-Vater! O mein Gott! Mein Gott! Daß sich überhaupt Leute finden, die so
-hirnverbrannt sind, das zu glauben!“ -- Der Eiferer schlug sich mit der
-flachen Hand vor die Stirn und Fritz entgegnete bescheiden:
-
-„Auch in der Bibel steht, daß Gott den Menschen aus Staub erschaffen
-hat.“
-
-„Aus Staub, jawohl! Aber nicht aus Dreck! Aus Staub, den seine
-göttliche Hand von aller Unreinheit geläutert und geadelt, sein
-göttlicher Atem gewandelt hat zum köstlichen Gefäß der unsterblichen
-Seele!“
-
-Da sagte Hellwig und ein warmes Leuchten kam aus seinen Augen: „Auch
-dieses habe ich in Darwins Lehre gefunden. Der Atem Gottes kam in den
-Staub -- da war das Leben. Das Leben selbst ist dieser Atem, des Lebens
-Regung in uns, das ist die Seele, unsterblich wie das einmal gewordene
-Leben selbst. Und Gott ist nichts anderes als die Natur, die aus sich
-selbst das Leben gebiert, dreifach und doch nur eins: der leblose Stoff
-als Träger der ewigen, ehernen, großen Gesetze; der Leben gewordne
-Stoff, der den unbelebten zur Selbsttätigkeit erlöst und endlich der
-Selbstbewußtsein gewordene Stoff, der Geist. So hab’ ich’s mir zurecht
-gelegt.“
-
-„Lästern Sie nicht, Verblendeter!“ Der Pater hob abweisend die Hand.
-Ruhiger fuhr er fort: „Ihre Seele, Kind, ist überwuchert von Unkraut
-und Dornen! Viel Schweiß wird es kosten, diesen Boden zu jäten und für
-die Aufnahme der heiligen Samenkörner zu bereiten, die da sind die
-Worte der Evangelien. Wir müssen ganz von vorn anfangen und das so bald
-als möglich. Morgen abend um sechs Uhr erwarte ich Sie. Jetzt aber
-lassen Sie mich allein. Sie haben mich tief betrübt, ich will im Gebete
-Trost und Zuflucht suchen. Und auch für Sie will ich beten, daß Ihnen
-Gott die schwere Sünde nicht zu hoch anrechnet, die Sie im Angesicht
-des Gekreuzigten begangen haben!“
-
-Er warf sich vor dem Hausaltar, der in einer Zimmerecke errichtet
-war, in die Knie, legte die Stirn auf das Holz der Betbank, hielt
-die gefalteten Hände über dem Haupt empor. Wie gelöst schienen seine
-Glieder, unter dem seidig glänzenden Priesterrock bebte der Leib in
-Fieberschauern.
-
-Eine tiefe Furche zwischen den Brauen, mit stürmischem Atem und
-zuckenden Nüstern schaute Fritz empört zu. Dann sagte er laut und hart:
-„Herr Professor, lügen Sie doch nicht Ihrem Herrgott ins Gesicht!“
-
-Jäh fuhr Romanus in die Höhe. In den Halsadern pochten ihm alle
-Pulse sichtbar. „Bube!“ schrie er. Aber sogleich wieder hatte er die
-aufgestörten Leidenschaften fest im Zügel. Stoßweise, mit gewaltsam
-gebändigter Erregung, sprach er: „Danken Sie’s Ihrer Mutter, daß nur
-der Priester und nicht Ihr Professor die frechen Worte gehört haben
-will. Sie haben die Achtung vor jeder Autorität verloren. Hellwig,
-Hellwig, das wird ein böses Ende nehmen! Ich wollte Ihnen ein Freund
-und Berater sein, doch Sie haben meine väterlich gebotene Hand
-zurückgestoßen. Gut! Ganz wie Sie wünschen! Ich werde trachten, auch
-das zu vergessen. Das ist mehr Nachsicht, als Sie verdienen. Damit ist
-meine Aufgabe vorläufig beendet. Wenn Sie aufrichtig bereuen, steht
-Ihnen meine Wohnung wieder offen. Bis dahin -- gehen Sie!“
-
-Sein ausgestreckter Finger zeigte nach der Tür. Fritz verneigte sich
-stumm und ging langsam. Aber über die ausgetretene Schneckenstiege
-rannte er schon in heftigen Sätzen.
-
-Draußen atmete er auf. Die leichte Winterluft streichelte ihm
-die Stirn, schien mit frischen, kühlen Händen alle Unreinheit
-fortzuwischen, die er aus dem Haus des Geistlichen an Leib und Kleidern
-mitzutragen glaubte.
-
-Trotzdem gelang es ihm nicht gleich, den Ekel zu überwinden, den das
-Gebaren des Jesuiten in ihm ausgelöst hatte und den er ganz körperlich,
-wie den Nachgeschmack einer verdorbenen Speise, zu empfinden vermeinte,
-so oft er sich das Bild wieder vergegenwärtigte: Die große Gebärde, mit
-der sich Romanus vor dem Altar in die Knie geworfen, das heuchlerische
-Spiel mit Gebet und christlicher Liebe, die schamlose Schaustellung
-von Gefühlen, die, wenn wirklich empfunden, unter allen Umständen der
-Einsamkeit gehören mußten. Und er empfand lebhafte Genugtuung, daß er
-mit seiner Meinung nicht hinterm Berge gehalten. Vor den Folgen war ihm
-nicht bang. Er wußte, daß er recht gehandelt und glaubte noch an den
-Sieg des Rechts, weil er an die Menschen glaubte und, selbst vornehm,
-auch anderen keine Niedrigkeit zutraute.
-
-Als er nach stundenlangem planlosen Herumwandern das Gleichgewicht
-endlich wieder erlangte, war der Abend bereits so weit vorgerückt, daß
-er Heinz nicht mehr aufsuchen wollte. Der wußte ebensowenig wie Otto
-um die ganze Angelegenheit. Denn Hellwig hatte diesmal niemandem seine
-Absicht mitgeteilt, weil er die Erinnerung an das Auskneifen Pichlers
-noch zu lebendig mit sich herumtrug und nicht abermals einen Freund
-in Versuchung bringen wollte. Das Verheimlichen war ihm schwer genug
-angekommen, wie einen Vertrauensbruch empfand er es. Der Aufschub,
-zu dem er sich jetzt abermals gezwungen sah, war ihm daher höchst
-unlieb, und er konnte kaum den nächsten Vormittag erwarten. Dieser war
-schulfrei zum Behufe eines würdigen Nachgenusses der Kommunion, die den
-Studenten bei der ersten Frühmesse gespendet wurde und von der sich
-Hellwig selbstverständlich fern hielt.
-
-
-6.
-
-Die Uhr am Rathaus hatte noch nicht neun geschlagen, als Fritz auch
-schon mit langen Beinen über die breiten Holztreppen zu Heinzens
-Behausung hinaufeilte.
-
-Die Morgensonne hielt vor den bemalten Bogenfenstern, ließ die satten
-Farben der Glasbilder aufleuchten und füllte das geräumige Stiegenhaus
-mit warmem Licht. Vom Hof her drang das Lärmen der Auflader, das
-Klirren der Wagenketten und das Gewieher der Pferde. Das alte Haus,
-das sonst, wenn die Sonne vorübergegangen war, düster, fast mürrisch
-dreinblickte, war heute gar nicht wieder zu erkennen. Jeder Winkel
-schien hell und munterer Tätigkeit voll zu sein, wie ein Tempel
-fröhlicher Arbeit stand es, tönte und glänzte im jungen Morgenlicht.
-
-Und jetzt mischte sich in den summenden Lärm der Ladestellen von oben
-her Türenschlag und Schuhgetrapp. Auf schnellen Füßen kam etwas die
-Stufen herabgepoltert, bog um die Ecke des Treppenabsatzes. Gewänder
-rauschten, ein heller Rocksaum flatterte um schwarzbestrumpfte Knöchel,
-ein dicker Blondzopf schwang den Takt dazu. Ranke, geschmeidige,
-biegsame Glieder, blaue Funkelaugen, gerötete Wangen -- das war ein
-Hasten, war ein Eilen, hatte nicht mehr Zeit, die wirbelnden Füße zu
-hemmen und -- stieß mit Hellwig Stirn gegen Stirn zusammen.
-
-Wehleidig-erschrocken ein „Au!“ aus weißer, weiblicher Kehle. Der
-Hut des Jünglings flog zu Boden. Lebenswarm knospende, drängende
-Jugendfülle fiel zugleich mit einem strauchelnden Mädchenleib für einen
-Augenblick in die Arme des Verlegenen, zehn kleine Finger klammerten
-sich Halt suchend an seinem Rockkragen fest. Dann sprang ein Lachen
-lustig in den Morgenglanz hinein: „Verzeihen Sie, bitte!“ und weiter
-ging’s in trappelnden Schuhen und wehenden Kleidern die Stiege hinunter
-durchs flimmernde Spiel der Sonnenlichter, während Fritz noch auf dem
-Treppenabsatz stand und mit der Hand die Beule an der Stirn befühlte.
-
-„Das war die Ev!“ sagte Heinz lachend, als ihm der Freund die Begegnung
-erzählte.
-
-„Was denn für Ev?“ knurrte Hellwig verdrossen. Er ärgerte sich über
-die Heiterkeit des andern und hatte das unbehagliche Gefühl, daß
-er irgendwie eine lächerliche Rolle gespielt haben könnte. Und als
-nun Heinz lustig rief: „Da hört sich doch alles auf! Jetzt weißt du
-Brummbär am Ende gar nicht, daß ich eine Schwester hab’?“, da wurde
-Fritz wieder einmal ungemütlich.
-
-„Woher sollt’ ich’s wissen? Gesagt hast du mir nichts, und
-herumschnüffeln tu’ ich nicht!“ polterte er los. „Überhaupt -- schöne
-Freundschaft das! Wenn sie mir nicht grad’ eine Beule gestoßen hätte,
-wüßt’ ich bis heute nicht, daß mein Freund eine Schwester hat!“
-
-Nun mußte er jedoch selber lachen, und so unterblieb diesmal der
-Auftritt.
-
-Heinz war in trefflicher Laune und scherzte weiter: „Dann hast du
-wenigstens gleich einen Vorgeschmack bekommen! Tröst’ dich, du wirst
-mit dem tollen Ding noch mehrfach zusammenrennen!“
-
-Da hob Fritz die Hände wie zur Abwehr: „Das fehlte grad’ noch!“
-
-„Wird dir nichts übrig bleiben!“ erwiderte Heinz. „Sie ist schon
-furchtbar neugierig auf dich. Gestern ist sie auf Weihnachtsferien
-gekommen -- weißt, sie ist heuer in Deutschland draußen in einem
-Töchterheim -- und die Mutter muß ihr was von dir geschrieben haben.
-Sie hat wenigstens gleich gestern gefragt, wann du herkommst.“
-
-„Dann komm’ ich überhaupt nicht mehr, bis sie wieder fort ist! Ich
-wüßt’ ja gar nicht, was man mit so einem Wesen reden soll!“ platzte
-Fritz heraus und Wart setzte die Neckerei fort: „Nur Mut, Fritze! Wenn
-man erst über den Anfang hinaus ist, findet sich alles von selber. Sie
-wird dich nicht gleich fressen!“
-
-„Aber ich kann doch um Himmels willen nicht von Buddha und Haeckel mit
-ihr sprechen!“ unterbrach ihn Hellwig verzweifelt. „Und was anderes
-interessiert mich nicht! Und was mich nicht interessiert, davon red’
-ich nicht! Und wovon ich gern reden möcht’, das kann doch wieder so ein
-Pensionsmädel nicht interessieren, so ein Gansl! Nein, da ...“
-
-‚Tu’ ich nicht mit‘ wollte er sagen. Aber der Satz blieb ihm in der
-Kehle stecken. Mitten in seine Worte hinein hatte eine klingende Stimme
-gerufen: „Dank’ schön für die gute Meinung, Herr Hellwig!“
-
-Und da stand sie, gegen die er soeben geeifert, leibhaftig unter der
-geöffneten Tür, durch die vom Gangfenster in der hinteren Giebelwand
-ein breiter schräger Streifen Sonnenlicht fiel. Wie goldene Fädchen
-glänzten die krausen Locken über den kleinen Ohrmuscheln, hinter den
-lachenden Lippen blitzten die Zähne, und die Sonnenstäubchen tanzten
-um die feinen Schultern, tanzten um die werdenden Hüften unterm roten
-Gürtelband, tanzten um den ganzen schlanken Leib im hellen Tuchkleid,
-der sich auf tanzbereiten Füßen wiegte und seiner jungen Schönheit
-sorglos freute.
-
-Fritz war nicht so sorglos. Linkisch stand er, mit rotem Gesicht,
-und wußte tatsächlich nicht, was er reden sollte. Heinz schaute von
-seinem Schreibtisch behaglich nach den beiden, schlang die Hände um das
-emporgezogene Knie und war gemütsroh genug, dem ruppigen Freunde den
-fatalen Zustand vom Herzen zu gönnen.
-
-„Jetzt wehr’ dich!“ rief er ihm fröhlich zu. „Gib acht, daß sie dir
-nicht die Augen auskratzt.“
-
-„Von mir aus ...“ brummte Hellwig achselzuckend, während er sich
-trotzig gegen die Wand lehnte, die er im beständigen Rückwärtsschreiten
-endlich erreicht hatte. Dabei duckte er den Kopf nach vorn, denn
-der aufstrebende Haarschopf fegte bereits die schiefe Decke des
-Dachzimmers. Und da er noch obendrein die Hände zu Fäusten geballt
-hielt, war er ganz bedrohlich anzusehen, gleich einem sprungbereiten
-Tiger oder lauernden Schnapphahn, wie Heinz belustigt meinte.
-
-Mittlerweile hatte sich die junge Schöne mitten in der Stube
-aufgepflanzt und tauschte mit dem Bruder einen verständnisinnigen Blick.
-
-„Also ein Gansl bin ich?“ sagte sie unter mehrfachem leichten
-Kopfnicken. „Wissen Sie, daß das eine Beleidigung ist?“
-
-Fritz gab keine Antwort. Er stand unbeweglich, wurde noch röter und
-aufgeregter, aber scheinbar ruhig, wie das seine Gewohnheit war, sah er
-dem unerwünschten Widerpart scharf und gerade in die Augen.
-
-‚Sie schaut der Mutter ähnlich,‘ dachte er und fühlte dabei, wie
-der Zorn in ihm zu kochen begann, weil sie’s wagte, ihn zur Rede zu
-stellen. Da sie ein bitterböses Gesicht aufgesetzt hatte und das
-verräterische Zucken der lachlustigen Mundwinkel, so gut es ging,
-unterdrückte, nahm er ihre strenge Frage für blutigen Ernst, glaubte
-in eine demütigende Lage hineingeraten zu sein und ärgerte sich über
-seinen Mangel an Schlagfertigkeit, der ihm keine schneidige Entgegnung
-finden ließ.
-
-„Eine ungerechtfertigte Beleidigung!“ bekräftigte Heinz.
-
-„Und für die müssen Sie Abbitte leisten!“ forderte der entsetzliche
-Backfisch resolut und hielt dem geraden, feindseligen Blick des
-Gequälten tapfer die blauen Augen entgegen.
-
-Hellwig schwieg. Von den hohen Büchergestellen funkelten in
-Goldschrift die erlauchten Namen der Geistesriesen, schienen des
-ratlosen Menschleins an der Wand zu spotten. Immer stärker brodelte
-es in ihm, und Wart, der ihn unausgesetzt beobachtete, hielt es für
-ratsam, einzulenken. Er blinzelte seiner Schwester zu, die aber gab
-nichts darauf, ließ sich von ihrem jungen Ungestüm fortreißen und
-rief befehlend, mit schräg abwärts gestrecktem Arm und Zeigefinger:
-„Abbitten! Nun?“
-
-Da fuhr auch schon Hellwigs Wort wie ein Keulenschlag nieder: „Gesagt
-ist gesagt und Gansl bleibt Gansl! Man hört’s am Schnattern!“
-
-Das klang grob, herausfordernd und wirklich verletzend. Nun war’s, als
-hätte eine ungeschlachte Hand mit einemmal alle kindliche Heiterkeit
-aus dem hübschen Gesicht fortgewischt. In die blanken Augen kam ein
-feuchter Schimmer. „Pfui, Sie sind roh!“ sagte Eva Wart, kehrte dem
-klotzigen Gesellen energisch den Rücken, und ehe noch der Bruder
-vermittelnd eingreifen konnte, hatte sie schon das Zimmer verlassen.
-
-Fritz sah ihr nach und wunderte sich, wie hoch so ein dicker Zopf
-fliegen und wie goldähnlich seine Spitze leuchten konnte. Ihm war
-keineswegs wohl ums Herz. Er verwünschte seine ungefügen Manieren, aber
-auch das naseweise Ding, das ihm mit solcher Anmaßung entgegengetreten
-war. Keinen Augenblick dachte er daran, daß er eigentlich ein
-Spaßverderber war. Denn er hatte kein Verständnis für tändelnde
-Scheingefechte, und seiner gärenden Jugend fehlte noch vollständig
-der Humor, zumal sie zu wenig sonnig gewesen und die gefühlsduselige
-Empfindlichkeit der fortwährend unglücklichen Mutter gerade aus den
-nichtigsten Ereignissen einen Grund zum Jammern herauszuholen pflegte.
-
-Vergebens suchte ihm Heinz die Sache von der harmlosen Seite
-darzustellen, mit beruhigenden Worten und vorsichtigem Tadel über
-seine Rauhbeinigkeit. Fritz wollte nichts hören, haderte mit ihm, daß
-er ihn in diese Lage gebracht, und lief endlich grollend davon.
-
-Inzwischen hatte Eva mit sprühenden Augen und lebhafter
-Entrüstung ihrer Mutter den Vorfall erzählt. Frau Hedwig nahm ihr
-temperamentvolles Kind in die Arme und klopfte ihm begütigend die
-erhitzte Wange.
-
-„Nimm’s nicht tragisch, Mädl!“ sagte sie. „Jungens sind einmal nicht
-anders.“
-
-„Ich lass’ mir das aber nicht gefallen!“ rief die Kleine stürmisch. „Er
-muß sich entschuldigen!“
-
-„Das muß er nicht!“ erwiderte die Mutter mit freundlichem Ernst. „Denn
-auch du bist nicht ganz schuldlos, Eva. Was hast du bei Heinz oben zu
-suchen gehabt?“
-
-„Ich war halt so neugierig,“ gestand die noch nicht Fünfzehnjährige
-verschämt.
-
-„Und warst keck und vorwitzig. Siehst du, da hast du eben gleich deine
-Strafe wegbekommen.“
-
-„Du nimmst ihn noch in Schutz ...“ murmelte das Mädchen vorwurfsvoll
-und konnte die locker sitzenden Tränen nicht länger zurückhalten.
-
-„Das tu’ ich nicht, Kind. Ich will nur sagen, daß ihr beide im Unrecht
-wart. Aber auch wenn er allein schuld hätte, dürftest du keine Abbitte
-von ihm verlangen. Es ist unedel, seinen Beleidiger zu demütigen. Da
-weiß ich eine vornehmere Rache.“
-
-„Was denn? Sag’s doch!“ drängte Eva ungeduldig, als Frau Wart eine
-Pause machte und ihr die wirren Haare aus der Stirn strich.
-
-Ihre Gesichter waren jetzt dicht nebeneinander. Die Frau saß in der
-Erkernische beim Nähtisch, das Mädchen lehnte neben ihr, den Arm hinter
-der Stuhllehne um die Mutter gelegt, und schaute sie erwartungsvoll
-an. Die Ähnlichkeit zwischen beiden war nicht zu verkennen. Dieselbe
-glatte, ein wenig niedrige, aber fein geformte Stirn, dieselben klaren
-blauen Augen neben einer geraden, an der Spitze leicht abgeflachten
-Nase, dieselben sacht geschwungenen Lippen über einem rundlichen Kinn.
-Aber während bei Eva die Züge noch weich, nur erst angedeutet oder
-noch verhüllt waren von dem Pfirsichflaum einer zarten Kindlichkeit,
-traten sie in Frau Hedwigs Antlitz bestimmter hervor, waren durch
-das Widerspiegeln eines sorgfältig geschulten Geistes in eine schöne
-Harmonie gebracht und von lauterster Menschenliebe überglänzt,
-vereinigten sie sich zu einem Gesamtausdruck jener Güte, von der da ein
-Sagen geht, daß sie alles verzeiht, weil sie alles begreift.
-
-Frau Wart ließ ihr neugieriges Kind erst ein bißchen zappeln, ehe sie
-mit ihrem Plan herausrückte, der dahin zielte, den widerborstigen
-Jungen mit einem Weihnachtsgeschenk zu überraschen. Darauf wollte die
-Kleine anfangs durchaus nicht eingehen. Als jedoch die Mutter anregte:
-„Weißt, wir kaufen ihm ein paar Bücher, stecken einen Zettel hinein
-und schreiben darauf: ‚Vom Gansl und seiner Mutter‘, dann wird er sich
-schämen und doch freuen,“ da war das quecksilberne Ding auch schon
-Feuer und Flamme und brachte sofort eine Menge von Werken in Vorschlag:
-
-„Schiller! Oder Geibel! Oder Scheffel! Nein? Also Baumbach! Freytag!
-Heyse!“ und so weiter alle Lieblinge der Pensionsliteratur. Da indessen
-die lächelnde Zuhörerin immer den Kopf schüttelte, hieß es gleich
-wieder unwillig: „So sag’ endlich auch du was!“ und der Schmollmund war
-fertig.
-
-Aber schließlich fing sie doch wieder an, und endlich kam die Mutter
-auf das ‚Liebesleben in der Natur‘ von Boelsche. Das sei heiter und
-leicht und bringe manches Anregende, ohne eigentlich wissenschaftlich
-zu sein. Aber Fritz brauche nicht immer nur die ganz gedankenschweren
-Sachen zu lesen. Damit war die Kleine auch zufrieden, obwohl sie das
-Buch nicht kannte.
-
-Und kaum waren sie im reinen, als sich die Zimmertür auftat.
-Geräuschvoll prustend und die frostroten Hände reibend, kam das
-Familienoberhaupt hereingestapft, schritt vorerst zum Ofen, wo es die
-Handflächen an den grünen Kacheln wärmte und machte dann beim Erker
-halt. Seine massige Gestalt mit den breiten Schultern füllte den
-schmalen Zugang beinah ganz.
-
-„Nun, ihr Glucken!“ dröhnte seine tiefe Stimme und in allen Falten,
-Fältchen und Pölsterchen des bartüberwucherten vollen Gesichts saßen
-und lachten die fidelen Geister einer kreuzbraven Vergnügtheit. „Nun,
-ihr Glucken, was für ein Ei wird denn da wieder ausgebrütet?“
-
-„Wer weit fragt, wird weit gewiesen, Nikl,“ kam die Gattin dem flinken
-Plauderzünglein der Tochter zuvor. Denn sie fürchtete, daß der
-bücherfeindliche Mann dem Kinde durch ein abfälliges Urteil die Freude
-verderben könnte.
-
-Der gemütliche Bürger dachte an die nahe Weihnachtszeit und gab sich
-mit dem deutungsvollen Bescheid zufrieden. „Freilich, freilich,“ lachte
-er behaglich, „erwarten ist besser als erlaufen. Denn: mit Geduld hat
-die Katz’ den Schwartenmagen überwunden. Ich bin schon stad!“ Und dann
-unvermittelt abspringend: „Aber eine Kälte hat’s heut’, Leutln, daß die
-Schindelnägel krachen! Ich hab’ ein paar hundert Flaschen Krondorfer
-unterwegs, da wird mir die Hälfte zersprungen herkommen! ’s ist halt
-alleweil ein G’frett! -- Hast nichts zum Essen, Mutter? Ich muß gleich
-wieder hinunter.“
-
-Trotzdem Herr Wart auf seine Frage nach dem Gabelfrühstück täglich
-dieselbe Antwort erhielt: „Es steht schon auf deinem Schreibtisch!“,
-wäre es ihm niemals eingefallen, vom Laden unmittelbar in sein
-Arbeitszimmer zu gehen. Denn diese kurze Pause, diese flüchtige,
-meist auf wenig belanglose Worte beschränkte Unterhaltung mit seiner
-Frau war ihm Ausruhn, Erholung und geistige Stärkung für die weitere
-Vormittagsarbeit.
-
-Heute aber wurde er noch nicht fortgelassen. Eva stellte sich in ihrer
-ganzen Größe vor ihm auf und sprach sehr ernsthaft: „Du, Vater, sag’,
-bin ich ein Gansl?“
-
-Wart Nikl schaute die sonderbare Fragerin erst verdutzt an, dann
-bewegte er kräftig nickend das Haupt und rief aus einem unbändigen
-Gelächter heraus: „Und was für eins, Mädl! Und was für eins! So ein
-ganz ausgewachsenes! Das wär’ ein Bratl zu Martini gewesen!“ Und er
-kniff sein Herzblatt in die glatt gerundete Wange.
-
-Die Kleine aber wandte mit einem unwilligen Ruck ihr Gesicht weg,
-fauchte wie ein Kätzchen, und auf der Suche nach einer schlagenden
-Widerlegung sagte sie zornig: „Ich -- ich werd’ im August schon
-fünfzehn und -- und die Fräuleins sagen alle, daß ich sehr gut lerne.
-Ja!“
-
-Nun mußte auch Frau Hedwig lachen, und zum Unglück hob noch obendrein
-das kleinste Glöcklein im Turm des Franziskanerklosters zu läuten an.
-
-„Hörst es?“ neckte da gleich der Vater, zum Fenster zeigend. „Hörst
-es, was die Glocke sagt? ‚Tu d’ Gäns’ ein! Tu d’ Gäns’ ein!‘ sagt sie.
-Komm, komm, ich muß dich in den Stall tun!“
-
-Da hielt sich Eva die Ohren zu und wollte an ihrem Erzeuger vorüber
-aus dem Zimmer. Der aber fing sie in den ausgebreiteten Arm, drückte
-sie an sich und brachte mit Hilfe des untergelegten Zeigefingers
-ihr gesenktes Kinn in die Wagrechte. Und da sah er, daß die großen
-Kinderaugen voll Tränen waren. Sofort hörte der gutmütige Mann mit dem
-Gelächter auf und sagte ganz unruhig: „Aber geh, Ev, wirst doch nicht
-heulen? Fesch sein, Mädl! Spaß verstehn! -- Wart’, ich werd’ dir jetzt
-auch erzählen, was die Glocken beim Begräbnis sagen. Alsdann: wenn so
-ein recht reicher Frommer zur ewigen Ruh’ gebracht wird, dann brummen
-die dicken großen Glocken immerzu: ‚Fünferbanknoten! Fünferbanknoten!‘
--- Aber wenn sie einen armen Hascher hinausschaffen, dann belfert nur
-so ein kleines grantiges Glöckerl hinterher: ‚Klingl, glenkl, armer
-Schlenkl!‘“
-
-Das trug der Nikl sehr wirkungsvoll vor. Die ‚Fünferbanknoten‘ sprach
-er dumpf und feierlich, legte die fleischige Hand auf den Magen und
-schaute scheinheilig zur Decke, wogegen bei dem raschen ‚Klingl,
-glenkl‘ seine Stimme in die krähendste Fistel überschnappte. Darüber
-mußte Eva lachen. Und als er sie noch auf die Schulter klopfte: „Laß
-gut sein, du bist schon recht!“, war sie wieder ganz versöhnt. Und
-weil sie wußte, daß er’s gern von ihr leiden mochte, zupfte sie ihn am
-rötlichen Bart. Nun schnappte er mit grimmigem Gesicht nach ihr, sie
-zog wie erschrocken die Hand zurück und lachte laut, die Mutter lachte
-mit und Wart Nikl ebenfalls, und die Fensterscheiben zitterten vor
-seines Basses Grundgewalt.
-
-
-7.
-
-Während es dem Mädchen mit Lachen und freundlicher Teilnahme leicht
-gemacht wurde, über den kleinen Vorfall wegzukommen, mußte Fritz wie
-immer allein damit fertig werden und fraß sich hiebei nur desto tiefer
-hinein in seinen Groll gegen die Frauen im allgemeinen und gegen die
-weiblichen Mitglieder des Hauses Wart im besonderen. Und seine Stimmung
-wurde keineswegs gebessert bei der Erinnerung, daß er wegen der dummen
-Geschichte nicht einmal dazu gekommen war, Heinz von der Beichte und
-dem Auftritt mit Pater Romanus Bericht zu erstatten.
-
-Als er dies beim nächsten Zusammentreffen in den Gängen des
-Schulgebäudes nachholte, meinte Wart, daß er einen Unsinn begangen
-habe. „Unsinn oder Sinn!“ sagte Fritz darauf, „ich mußte einfach. Wir
-werden ja sehn, ob man heutzutage wirklich ohne Lüge nicht durchkommen
-kann!“
-
-Da verkündete die Glocke hallend den Beginn des Nachmittagsunterrichts,
-die Studenten strömten in die Klassenzimmer, und die beiden Freunde
-mußten das Gespräch vorläufig abbrechen.
-
-In der Oktava verlas der Klassenvorstand unter lautloser Stille das
-Ergebnis der am Vortage stattgehabten Monatskonferenz, verteilte
-die Strafzettel mit den Tadelsworten, den Rügen und Ermahnungen und
-fügte seine eigenen Bemerkungen hinzu. Die wiesen zwar in einigen
-besonders schweren Fällen drohend auf schärfere Maßnahmen und auf das
-Schreckgespenst eines Durchfallens bei der Reifeprüfung hin, klangen
-im übrigen jedoch recht sanft und tröstlich. Denn dem alten Herrn mit
-dem weißen Backenbart und den schon leise zittrigen Händen waren seine
-Jungen ans Herz gewachsen.
-
-Name um Name wurde aufgerufen. Die Zettel wanderten in die Hände der
-Schüler, und wer einen bekam, sah trübselig drein, während mancher
-Schuldbewußte erleichtert aufatmete und sich freute, daß diesmal
-ein schon für unabwendbar gehaltenes Verhängnis doch noch gnädig
-vorübergegangen war. Schließlich blieb nur noch ein einziges Blatt
-übrig. Da stellte sich der Professor in Positur, machte ein bekümmertes
-Gesicht, so gut ihm das in Anbetracht seiner roten Wängelein und
-fröhlich zwinkernden Augen möglich war, und begann: „Leider, und ich
-bedaure das sehr, leider bin ich in die unangenehme Lage versetzt, auch
-einem meiner fleißigsten Schüler, von dem ich’s nicht erwartet hätte,
-mitteilen zu müssen, daß sein sittliches Verhalten nicht vollkommen
-einwandfrei ist. Fritz Hellwig ...!“
-
-Der Aufgerufene erhob sich und trat aus der Bank vor.
-
-„Fritz Hellwig, ich habe die betrübliche Pflicht, leider, Ihnen wegen
-Ihres sittlichen Betragens den Tadel der Konferenz aussprechen zu
-müssen, leider.“
-
-Fritz nahm das weiße Blatt aus den Händen des Lehrers, verbeugte sich
-und ging auf seinen Platz zurück. Er dachte an Pater Romanus, fand die
-Strafe sehr mild und wunderte sich nur, warum der Pater erst davon
-gesprochen hatte, daß er den ganzen Vorfall vergessen wolle.
-
-Mit diesem Gedanken beschäftigt, hörte er nur mit halbem Ohr hin,
-wie der Professor jetzt fortfuhr: „Nehmen wir uns also zusammen und
-folgen wir mit größerer Teilnahme dem Unterricht.“ Und erst als er
-etwas schärfer einsetzte: „Hellwig, ich spreche mit Ihnen!“, erhob
-dieser sich wieder und blickte ziemlich verständnislos. Nun kam der
-behäbige Mann vom Podium herab, stellte sich neben die Bank und sagte
-freundlich: „Wir sollen nicht so gleichgültig sein, namentlich im
-Griechischen. Herr Kollege Hermann hat sich beklagt, leider, daß wir
-seinem Vortrag gar nicht zuhören, sondern währenddessen leider immer
-zerstreut in allen Himmelsrichtungen herumschauen. Auch bei seinen
-Fragen melden wir uns niemals und bekunden mangelnde Teilnahme an
-besagtem Gegenstand, indem wir immer wie ein Haubenstock dasitzen,
-leider.“ Und mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: „Es hat nicht viel
-auf sich. Nur munterer sein, munterer!“ Dann trippelte er wieder zum
-Lehrpult zurück.
-
-Fritz stand da, als hätte der Blitz vor ihm eingeschlagen, war kalkweiß
-und rührte sich nicht. Erst als der Professor fragte, ob ihm etwas
-fehle, bewegte er verneinend den Kopf und setzte sich. Sein Herz
-klopfte unregelmäßig, trieb das Blut bald in heftigen Stößen, bald
-matt und mühsam durch die Adern. Mit leeren Augen stierte er vor
-sich hin, war jetzt wirklich teilnahmslos und dachte nur immer das
-eine: daß ihm ein Unrecht geschehen sei. Gerade das Griechische war
-schon wegen Plato und Demosthenes sein Lieblingsgegenstand trotz des
-widerwärtigen, schwindsüchtig aussehenden Lehrers, der infolge einer
-Kehlkopfkrankheit fortwährend hustete und heiser sprach, als stäke ihm
-ein Schleimpfropfen in der Luftröhre. Auch hatte er die Eigenschaft,
-daß er beim Reden niemandem ins Gesicht, sondern mit hastenden Augen
-stets an der betreffenden Person unstet vorbeisah. Deshalb konnte er
-von anderen ebenfalls keinen offenen Blick vertragen, wurde unruhig und
-nervös, wenn er einen solchen auf sich gerichtet fühlte. Daher mochte
-er Hellwig nicht leiden, fand aber, weil dieser im Griechischen dank
-einer umfangreichen Privatlektüre sehr viel wußte, keine Handhabe, ihm
-irgendwie seine Abneigung fühlen zu lassen. Da hatte ihn Pater Romanus,
-der tödlich Gekränkte, mit ein paar achtlos hingeworfenen Worten auf
-das dehnbare Gebiet des sittlichen Betragens gewiesen und der Erfolg
-zeigte, wie gut der Jesuit seine Werkzeuge zu wählen verstand.
-
-Davon ahnte Hellwig freilich nichts. Er hatte nur das Bewußtsein, daß
-der Tadel unverdient war. Denn wenn er auch nicht, wie die meisten
-anderen und namentlich Pichler, bei jeder Frage, auf die er Bescheid
-zu geben wußte, gleich mit der Hand in die Höhe fuhr, so konnte er
-sich doch mit ruhigem Gewissen sagen, daß er den Unterricht noch immer
-mit Aufmerksamkeit verfolgt hatte, stets bei der Sache gewesen und nur
-selten eine Antwort schuldig geblieben war.
-
-Das Unglück wollte es, daß als nächste Lehrstunde das Griechische an
-die Reihe kam und Professor Hermann, durch Aufstehen von den Sitzen
-begrüßt, ins Schulzimmer trat. Auch Fritz erhob sich gewohnheitsmäßig
-mit. Als er jedoch das eingetrocknete gelbe Gesicht erblickte, da
-wallte zugleich mit einer siedenden Wut das kindische Verlangen in ihm
-auf, dem eklen Patron einen Tort anzutun und seiner Mißachtung sogleich
-irgendwie Ausdruck zu geben. Er verschränkte die Arme vor der Brust,
-warf den Kopf in den Nacken und sah den Professor herausfordernd an. In
-dieser Stellung verharrte er noch, als seine Mitschüler bereits wieder
-auf den Bänken saßen.
-
-Da sprang der ausgelaugte, stangendürre Mensch mit einem gewaltigen
-Satz vom Podium herunter auf ihn zu: „Eh, eh, -- wie stehn S’ da? Wie
-stehn S’ da?“
-
-Fritz rührte sich nicht.
-
-Das Gesicht des Lehrers war fahlgrün geworden. Pfeifend kam der Atem
-aus der kranken Kehle.
-
-„Hinaus! Sie Frechling! Lausbub! Klassenbuch! Sittenrüge! Karzer!
-Hinaus! Hinaus!“ schrie, spuckte und hustete er und hieb mit der
-geballten Rechten immerfort auf die Bank unter allen Zeichen einer
-schweren Nervenüberreizung. Selbst als Hellwig das Zimmer verlassen
-hatte, konnte er sich nicht beruhigen. In seinem dicksohligen
-knarrenden Schuhwerk schritt er vor der Schultafel hin und her,
-fortwährend Worte wie „Frechheit!“, „Bube!“ zwischen den gelblichen
-Zähnen zerreibend, nahm dann das Klassenbuch aus der Pultlade und
-schrieb beinah eine Seite voll. Mit einem hämischen „So!“ klappte er
-endlich den grünen Deckel zu und begann ein wütendes Prüfen unter der
-verschüchterten Schülerschar, wobei er raunzend, räuspernd, hüstelnd
-eine ungenügende Note nach der andern in seinen Handkatalog eintrug.
-Und niemand fand heute vor dem Verärgerten Gnade.
-
-Fritz mußte inzwischen im Korridor das Ende der Stunde abwarten.
-Er lehnte sich in eine der tiefen Fensternischen und blickte durch
-die eisernen Gitterstäbe in den Hof, der von zweistöckigen Gebäuden
-eingeschlossen, unter der Aufsicht vieler schnurgerade ausgerichteter
-Fensteraugen trübselig im Schatten lag, als schämte er sich seiner
-Dürftigkeit. Wehmütig streckte ein verkrüppelter Roßkastanienbaum
-die beschneiten Äste nach dem Stücklein Himmel über den geflickten
-Ziegeldächern, eine hungrige Dohle saß in seiner Krone, ließ den
-starken Schnabel hängen und fror.
-
-Die Glieder schlaff, den Kopf gesenkt, drückte Hellwig die Achsel
-gegen das kalte Gemäuer. Aller Lebensmut war ihm zerbrochen, und in
-sein steinstarres Antlitz meißelte tiefe und immer tiefere Furchen ein
-ungeheurer Schmerz. Er hatte zum erstenmal im Leben die Ungerechtigkeit
-kennengelernt. Und da war ihm, als sei der feste Boden unter seinen
-Füßen weggezogen worden, als wankten alle Grundpfeiler der Ordnung,
-stürzten hin und lägen begraben unter dem hereinbrechenden Chaos.
-
-Es war ihm so klar gewesen bisher als die erste und einfachste
-sittliche Forderung: Das Recht des Nebenmenschen wahren wie sein
-eigenes, als geheiligtes, unantastbares Gut. Und jetzt? Da stand er,
-und ein Unrecht war ihm geschehen, und er hatte kein Mittel, gegen den
-Übeltäter aufzutreten, es sei denn die rohe Kraft der Muskeln. Und
-statt, daß er und alle andern mit ihm wie ein Mann sich erhoben, den
-Beflecker des Rechts zu züchtigen, blieben sie untätig, als dieser
-dem ersten Verbrechen das zweite hinzufügte. Und wenn auch einige
-die Unbill verurteilten, so schien sie ihnen doch zu geringfügig,
-um viel Aufhebens davon zu machen. Aber gab es denn hier überhaupt
-eine Geringfügigkeit? Jede Beleidigung Gottes, und wäre sie noch so
-klein, sollte schwerste Missetat sein und die gröbliche Verletzung
-eines ersten Sittengesetzes Bagatelle? Und jetzt empfand er auch
-Scham über sein unwürdiges Benehmen. Wie zu einem heiligen Krieg
-hätte er ausziehen, hätte glühend für das gelästerte Menschengut in
-die Schranken treten müssen, ohne der eigenen Kränkung zu gedenken.
-Statt dessen hatte er in einer großen Sache klein und jämmerlich, so
-recht wie ein geprügelter Knabe gehandelt. Das machte ihn verzagt und
-schwunglos, drückte nieder und beraubte ihn der Kraft zum entschiedenen
-Eintreten für seine Schuldlosigkeit. Und als die Stunde vorüber war und
-als er an Professor Hermann vorbei in das Schulzimmer ging, da senkte
-er, wiederum zum erstenmal im Leben, schuldbewußt den Kopf.
-
-
-8.
-
-Den nächsten Tag begannen bereits die Weihnachtsferien, die solcherart
-für Hellwig und für seine Mutter keineswegs freundlich eingeleitet
-wurden. Er hatte ihr gleich nach seiner Heimkunft den Tadelszettel auf
-den Küchentisch gelegt: „Da, unterschreib den Wisch!“ Sie las ihn
-bedächtig vom Anfang bis zum Ende und fing sofort ein Weinen an und
-ein Zanken, ohne den Sohn nach der Ursache der Maßregelung zu fragen.
-Denn daß er sie verdiente und schuldig war, dafür war ihr das mit
-dem Schulsiegel und der Unterschrift des Direktors versehene Blatt
-todsicherer Beweis.
-
-Fritz versuchte nicht einmal, sich zu verteidigen. Es wäre auch ein
-vergebliches Bemühen gewesen, ihren Glauben an die Behörden und an
-geschriebene Amtsurkunden erschüttern zu wollen.
-
-Als sie endlich mit dünnen unbehilflichen Volksschülerbuchstaben
-ihren Namen auf den Zettel gemalt hatte, packte er ihn mitsamt den
-Schulbüchern zusammen und ging in seine Stube. Dort fand er auf seinem
-Tisch ein Postpaket vor. Überrascht öffnete er es; drei schön gebundene
-Bücher fielen ihm in die Hände. Zwischen den Blättern des einen stak
-ein Briefumschlag. Darin war eine Karte. ‚Fröhliche Weihnachten‘ stand
-auf der einen Seite und auf der anderen ‚wünschen das Gansl und seine
-Mutter‘.
-
-Mit einem Fluch ließ Hellwig die Faust auf den Tisch fallen. Unter
-zusammengezogenen Brauen funkelte der Zorn. Als Fopperei erschien ihm
-die Sendung, als Zudringlichkeit und neue Beleidigung. Er hatte Frau
-Wart niemals Grund zu einer solchen Vertraulichkeit gegeben, hatte
-jeden Versuch schroff abgelehnt. Und nun kam sie ihm so. Denn, daß der
-Plan von ihr ausgegangen, darauf hätte er Stein und Bein geschworen.
-Schon schickte er sich an, die Bücher wieder einzupacken, schon schien
-es, als ob Frau Hedwigs gute Saat nutzlos ausgestreut wäre. Da glänzte
-ihm aus dem aufgeschlagenen Band der Name Darwin entgegen. Angeregt las
-er den Satz, stutzte, las weiter.
-
-Und als der Nachtwächter morgens im winterlichen Dunkel der Gassen den
-Ruf anstimmte:
-
- „Hausmagd, steh auf, heiz’ ein, kehr’ aus,
- Trag ’n Bedarf Wasser ins Haus!“,
-
-da war Fritz Hellwig richtig mit den leichten Plaudereien so ziemlich
-fertig geworden.
-
-Dadurch hatte er sich das Geschenk unfreiwillig angeeignet und die
-Rückgabe unmöglich gemacht. Es hatte ihm nicht sonderlich gefallen. Zu
-spielerisch, zu tändelnd und oberflächlich war es ihm. Und doch saß er
-und träumte mit leuchtenden Augen in das Dunkel hinaus. Träumte vom
-Frühling und Blütentreiben mit seltsam bewegtem Herzen, das wehmütig
-und sonnig war, erwartungsfreudig und voll von tausend unsichtbaren,
-heimlich pochenden Kräften wie ein Vogelnest zur Brutzeit. Erschauernd
-wurde er seiner werdenden Mannheit inne, mit einer leisen, scheuen
-Sehnsucht nach dem Weibe. Rein und ohne noch zum Verlangen sich zu
-verdichten, war diese Sehnsucht einer jungen Blüte gleich, die kaum
-entfaltet zum erstenmal dem Lichte entgegenblickt. Und der Atem der
-Liebe machte ihn sanft und gütig und erfüllte ihn mit einer innig
-warmen Verehrung für das Weib als einen heiligen Brunnen, in dessen
-klarer Tiefe Anfang und Ende aller Menschwerdung in sich beschlossen
-ruht. Und neidlos und ohne Vergleiche empfand er jetzt eine aufrichtige
-Dankbarkeit für die mütterliche Frau, die ihm einen Freund geschenkt
-und jetzt diese Weihnacht des Herzens bereitet hatte.
-
-So wurde eine Wandlung seiner Seele wohl angebahnt, aber im kalten
-Licht des Tages regte sich wieder der alte Trotz.
-
-Damit er nicht zu Heinz gehen mußte oder Gefahr lief, von ihm abgeholt
-zu werden, machte er sich gleich nach dem Frühstück auf den Weg, um
-Pichler in seinem Heimatsdorf aufzusuchen, das drei Stunden von Neuberg
-entfernt, schon an der bayrischen Grenze lag.
-
-Dort hatte der Küster und Kirchendiener Pichler ein gemauertes
-Hüttlein inne, das wie ein Schwalbennest an einer schlanktürmigen
-Kirche klebte und außer für zwei Wohngelasse nur noch für eine
-Vorratskammer und den Kuhstall Raum bot. Hellwig fand den Kameraden
-in der großen Stube, wo hinter dem überlebensgroßen Kachelofen zwei
-Turteltauben gurrten und links davon unter dem Geschirrschrank die
-Hühner in ihrer rot angestrichenen Steige hockten. Auf der Holzbank
-aber, die sich längs aller Wände um die Stube zog, saßen verteilt sechs
-junge Menschenkinder. Die älteren Buben banden Birkenreiser, die, am
-Barbaratag geschnitten und ins Wasser gesteckt, nunmehr grüne Triebe
-hatten, mit roten und blauen Bändern zu Ruten, mit denen sie am zweiten
-Feiertag die Dirnen peitschen wollten. Und um sich zu vergewissern, ob
-sie das Sprüchlein noch wüßten, sprachen sie manchmal halblaut vor sich
-hin: „Frische, frische Krone, ich peitsch’ dich nicht um Lohne, ich
-peitsch’ dich nur aus Höflichkeit, dir und mir zur Gesundheit!“
-
-Beim Ofen wirtschaftete mit nackten Armen eine siebente, wenig jüngere
-als Otto, in Töpfen und Schüsseln herum, und unter all der regsamen
-Jugend saß dieser selbst, der einzige Dunkelhaarige, schnitt mit der
-Schere Engel, Hirten und Lämmer aus einem Bilderbogen und steckte sie
-neben die heilige Familie und die drei Könige aus dem Morgenlande in
-den Moosboden der aus Pappendeckel gefertigten Krippe.
-
-Als Hellwig die strohgefütterte Tür öffnete, schwieg das Summen und
-Tönen, die geschäftigen Hände ruhten und vierzehn helle Augen starrten
-neugierig auf den Ankömmling, der mit Reif und Schnee zugleich eine
-frische Winterluft in die dumpfig warme Stube brachte. Anfangs waren
-sie schüchtern und sahen zu, wie der älteste Bruder in seiner lauten
-Weise den Freund begrüßte. Bald aber schoben sich die kleineren,
-die schmutzigen Mittelfinger im Mund oder Nasenloch, näher heran,
-glucksten und umschlichen im Kreis den Fremdling. Da hob Fritz eine
-kaum Vierjährige mit beiden Armen hoch über seinen Kopf, daß sie fast
-an den braunen Deckenbalken stieß. Und nun wollten auch die andern
-Fibelschützen nicht um diesen Genuß kommen, drängten und stießen sich,
-kicherten, und als Otto mit den geflochtenen Weihnachtsstriezeln und
-einer Flasche Kümmelschnaps aus der Vorratskammer zurückkehrte, lehnten
-sie bereits, links zwei Männlein, rechts zwei Weiblein, alle unter zehn
-Jahren, an den Knien des Gastes, der beim Eßtisch saß, und guckten
-scheu-zutraulich wie junge Hunde von der Seite nach seinem Gesicht
-hinauf. Die zwei älteren Burschen flochten leise pfeifend an ihren
-Ruten weiter, und die Siebzehnjährige beim Ofen, die nach dem Tode der
-Küsterin das Haus versehen mußte, hantierte mit ihren Kochgeräten und
-bemühte sich jetzt, möglichst wenig Lärm zu machen.
-
-Hellwig aber war Kind mit den Kindern, und Otto gewahrte mit wachsendem
-Staunen, wie viel harmlose Heiterkeit und genügsamer Frohsinn diesem
-spröden, widerspenstigen Charakter eingemischt war. Er lachte und trieb
-Tollheiten, sprach Schnellsagesätze vor -- „hinter Hansens Hundshütten
-hängen hundert Hundshäut’“ -- und erzählte den Auflauschenden von der
-versunkenen Stadt im Tillenberg, von der Sturmmutter Melusine und dem
-Hehmann im Franzensbader Moor.
-
-Dann kam der Küster nach Hause, ein schneiderdürres Männchen mit
-spitziger Nase, spitzigem Kinn und einem spitzigen grauen Ziegenbart
-darunter, und brachte in einem Netz zwei schöne Spiegelkarpfen, ein
-Geschenk aus dem Fischteich seines Pfarrherrn. Im Nu war er von der
-Schar seiner Sprößlinge umringt, und in dem Gewoge blonder Köpfe und
-greifend emporgestreckter Hände schwankte sein kümmerliches Gestaltchen
-wie der Mast eines steuerlosen Kutters in sonnenüberfunkelten Wellen.
-
-Endlich gelang es der ältesten, das Fischnetz zu fassen und mit
-hochgehaltenen Armen aus dem Bereich der neugierigen Finger zu bringen.
-Aber immer wieder bettelten die Kleinen: „Zeig’ doch einmal her!
-Ich möcht’ mir die Viecher ja nur anschaun!“, hingen sich an ihren
-Rock und suchten den Arm der Schwester im Sprung zu erhaschen und
-niederzuziehen. Scheltend wehrte sie dem Ansturm, machte sich mit
-einem kräftigen Ruck frei, und nun flog die ganze leuchtende Wolke
-von Gesundheit und Jugendkraft zur Anrichtbank beim Ofen, während
-das Küsterlein den Schnee von den Röhrenstiefeln stampfte und den
-Gast bewillkommte. Doch hielt es sich nicht lang dabei auf, sondern
-verlangte gleich nach dem Mittagessen.
-
-Bald saßen um eine einzige gewaltige Schüssel dampfender Milchsuppe
-mit Schwarzbroteinlage alle außer der ältesten Tochter, die sich
-Abbruch tat und den Magen bis zum Aufleuchten der ersten Sterne leer
-behalten wollte, um dann sicher das goldene Meerschweinchen über die
-Zimmerdecke laufen zu sehen. Das Fasten wurde ihr gar nicht leicht, und
-man merkte ihr an, daß sie gern mitgehalten hätte, als nun alle ihre
-Löffel in die dickliche Flüssigkeit versenkten, auch Fritz, der die
-Gastehre eines eigenen Tellers rundweg ausgeschlagen hatte. Die Kinder
-aßen noch ungeschickt, mit schmatzenden Lippen und hastigen Gebärden,
-indes die zwei halbwüchsigen Rutenbinder langsam, ernst und mit einer
-Gründlichkeit dem Nahrungsgeschäft oblagen, daß ihnen der Schweiß auf
-die Stirnen trat.
-
-Ganz gegen seine sonstige Gepflogenheit sprach Otto nicht viel.
-Verdrießlich zupfte er an seinem sprossenden Schnurrbärtlein und
-war unzufrieden mit Hellwigs Besuch, trotzdem er ihn dringend darum
-gebeten. Er hatte sich’s eben ganz anders vorgestellt, ein ungestörtes
-Beisammensein mit dem Freunde, wobei ihm Gelegenheit geboten war, seine
-Geistesblitze flammen zu lassen. Vor den Geschwistern aber oder gar
-vor dem Vater getraute er sich nicht mit hohen Themen anzufangen, da
-er selten von der Leber weg sprach, sondern mit Vorbedacht je nach der
-Zuhörerschaft Gegenstände auswählte, mit denen er zu blenden hoffte.
-Das war jedoch beim Küster so gut wie ausgeschlossen. Der ließ sich
-von niemandem ein X für ein U vormachen und hatte für die oft gewagten
-Behauptungen seines ältesten noch immer einen tüchtigen Trumpf bei der
-Hand gehabt. Alle Versuche aber, Fritz von den Angehörigen abzusondern
-und in die kleine Stube zu lotsen, scheiterten an dem rückhaltlosen
-Behagen, mit dem sich dieser den Kindern überließ, und an seiner
-hellen Freude über die ihm bisher unbekannte Traulichkeit eines
-quellwasserfrischen Familienlebens.
-
-So kam es, daß der Küster fast allein die Unterhaltung besorgte. Das
-bewegliche Greislein hatte sich trotz Armut und Kindersorgen den
-Humor nicht abhanden kommen lassen und trug sein Los mit heiterer
-Zufriedenheit.
-
-„Sie müssen halt fürlieb nehmen,“ sagte er zu Fritz. „Was Extra’s
-ist’s nicht. Wir machen eben unsere Schrittlein und essen unsere
-Schnittlein, so gut wir können. Langen Sie zu, wenn’s Ihnen schmeckt,
-oder hören Sie auf, wenn Sie genug haben. Immer tüchtig! Tüchtig!
-Wie man sich zum Essen hat, so hat man sich auch zur Arbeit. Schaun
-Sie unsern Christoph an,“ -- er deutete mit dem Kinn zu einem der
-Rutenbinder hinüber -- „wie schön faul der einführt. Der war auch in
-der Stadt im Gymnasium, er hat studiert bis zum Hals, in den Kopf ist
-nichts hineingegangen.“
-
-Der Christoph ließ ein unwilliges Grunzen hören, aß aber unentwegt
-gemächlich weiter.
-
-„Da schaut den an!“ fuhr der Vater fort. „Der ist gar ein Philosoph.
-Recht hast, Toffl, schweig und näh’ dich an und denk: Wenn man auf
-alle Hund’ werfen wollt’, die einen anbellen, müßt’ man viel Steine
-aufheben. Ob du ein Studierter bist oder nicht, ist egal. Unser
-Herrgott verläßt keinen Deutschen, wenn er nur ein wenig Böhmisch
-kann!“ Und er lachte über den Witz, daß er mit dem Essen innehalten
-mußte.
-
-Viel zu rasch nahte für Hellwig die Stunde des Heimwegs, wollte er
-die Mutter nicht mit dem Anzünden des Christbaums warten lassen.
-Er gab allen der Reihe nach die Hand und mußte versprechen, bald
-wiederzukommen. Otto begleitete ihn ein Stück und brachte jetzt das
-Gespräch natürlich zuerst auf die Vorkommnisse in der griechischen
-Stunde. Fritz war indes nicht in der Stimmung, darüber zu reden. Nur
-als Pichler sagte: „Du hast’s dem hustenden Schleicher gut gegeben, das
-war großartig!“, wehrte er kurz ab, mit gefurchter Stirn: „Laß mich in
-Ruh’!“ Aber er blieb ganz kalt dabei. Wie in eine weite Ferne gerückt
-kam ihm das Ereignis vor. Denn dazwischen war die Auferstehung der
-Liebe und der erkennende Blick in unschuldige Kinderaugen.
-
-Otto suchte nunmehr seine neuesten Schlager an den Mann zu bringen, die
-Ausbeute einer flüchtigen Beschäftigung mit Stirners Hauptwerk. Doch
-auch damit weckte er heute keinen Widerhall. Fritz hörte nur mit halbem
-Ohr hin, und Pichler sah seine geistreichsten Paradoxa wirkungslos
-verpuffen. Da verlor er die Lust zur Fortsetzung des Feuerwerks und
-kehrte um.
-
-Fritz aber bog jetzt von der Straße ab und schritt weglos in das
-stille, klare Winterland hinein. Weiß, weich und schimmernd breitete
-sich der Schnee, ein stolzer Fürstenmantel für die Berge, eine warme
-Schlafdecke für die müden Fluren, machte den Schritt lautlos, das Auge
-hell und freundlich den Tod, der auf kahlen Ästen mit vergessenen
-welken Blättern spielte und in verlassenen Vogelnestern kauerte. Und
-vor der weiten, toten Einsamkeit war der Himmel erschauernd hoch
-hinauf zurückgewichen. Vergeblich strebte die Sonne den kalten Leib
-der Erde in ihre Arme zu nehmen wie damals im Frühling. Kaum, daß sie
-den fühllosen noch streicheln und mit ein paar funkelnden Edelsteinen
-schmücken konnte.
-
-Fühllos und tot?
-
-Wie viele mochten jetzt, im gleichen Augenblick, gerade so wie der
-hagere Junge, mit wachen Sinnen und heißem Herzen über öde Flächen
-wandern und durch Frost und Eis und Winterstarrheit unbewußt dem
-Endzweck ihres kurzen Daseins entgegengetrieben werden, der da ist:
-Träger, Übertrager des Lebens zu sein. Liebe nennen sie’s und sind
-glücklich dabei. Glücklich wie irrfahrende Schiffer, die endlich
-Land gefunden. Land: das heißt fester Boden, Herd, Weib, Kind und
--- ein Fleckchen zum Grab. Was sonst noch drum und dran hängt:
-Religion, Gemeinwohl, Kunst, Kultur, ist gute Zier und erfreuendes
-Spiel, nicht mehr. Und über die Grube des bewunderten Künstlers und
-des geistesgewaltigen Denkers, des Länder einenden Staatsmannes wie
-des schwärmerischen Religionsstifters schreitet mit schweren Schuhen
-rücksichtslos und lachend in derber, rotbackiger Daseinslust mit seinem
-Schatz der junge Bauernbursch, ein Kaiser gegen die großen Toten, nur
-weil er lebt.
-
-Und der jetzt weiter und weiter in die Einsamkeit lief, Fritz Hellwig,
-der ernste Grübler und Sucher, hatte das gleiche Empfinden. Wohl konnte
-er sich nicht erklären, was das war und woher es kam. Aber es war da,
-hielt ihn fest und stieß ihn vorwärts wie Sprungfedern. Er sah den
-blauen Himmel und nickte ihm zu, er sah den saubern Schnee der Erde und
-warf sich längelang hinein, wälzte sich darin in toller, zweckloser
-Freude, sprang wieder auf und rannte mit wilden Jubelschreien weiter,
-dachte an nichts und wollte an nichts denken. Er fühlte nur, daß er
-lebte und daß das Leben schön war, schön und reich und verheißend --
-wie die Geschenke gütiger Frauen oder die Augen junger Mädchen. Weder
-an Frau Wart noch an Eva dachte er dabei, nur ganz umrißlos schwebte
-ihm die Erscheinung eines wunderherrlichen Weibes vor mit blonden
-Haaren, freiem Blick und beglückender Anmut im Wesen und Bewegen.
-
-Da drang ein sanftes Blöken an sein Ohr und wie er aus seinem Taumel
-erwachte, und wie er näher hinschaute, bemerkte er mitten im Walde,
-durch unregelmäßige Zwischenräume getrennt, mit Reisig zugedeckt und
-mit zartem Heu und Nadelholzknospen als Köder darüber, drei tiefe
-Gruben, die ein schlauer Wilderer den Jagdtieren gegraben hatte. Und
-noch eine vierte war da, bei der war das leichte Deckwerk eingebrochen.
-Mit weitem Schlunde gähnte sie dunkel aus dem weißen Schnee herauf und
-darinnen stand ein rötlichgraues Rehkalb, schrie und schlug mit den
-Vorderbeinen immer wieder nach dem Rand der Grube. Aber es erreichte
-ihn nicht, zitterte und fürchtete sich sehr.
-
-Fritz legte sich platt auf die Erde, griff das Viehlein behutsam mit
-flachen Händen beiderseits der Brust und hob das zappelnde heraus.
-Jetzt war es auf ebenem Grund und sollte davonlaufen. Aber es tat nur
-kurze Sprünge, humpelte unbehilflich und zog den einen Fuß hoch. Nun
-sah er, daß es dort einen offenen Schaden hatte vom Sturz in die Falle,
-vielleicht auch einen Sehnenriß oder Bruch. Da nahm er das ganz junge,
-magere Geschöpf vom Boden und trug’s auf seinen Armen zum Forsthaus
-an der Straße. Und wie er so dahinschritt unter den stillen runden
-Kiefernkronen, wußte er auch, was er damit tun wollte.
-
-Er sprach mit dem Förster, forderte und erhielt das Tierchen um
-ein billiges Geld. Denn es war nicht mehr waldtüchtig und für den
-Markt noch zu dürftig an Fleisch und Fell. Nach geschlossenem Handel
-strich der Weidmann eine Salbe auf die wunde Stelle und legte einen
-Leinenstreifen darüber, die Försterin aber tat noch ein übriges, nahm
-das rote Bändlein aus den Locken ihrer Siebenjährigen und knüpfte es
-dem Tier um den Hals.
-
-Mittlerweile war die Sonne untergegangen. Aber der Schnee leuchtete,
-und alle Gegenstände waren nahe gerückt und standen in einer ruhevollen
-Halbhelle wie Wächter vor einem schönen Geheimnis. Über den Saum des
-Horizonts kam ein großer Stern herauf, strahlte und winkte der Erde:
-‚Komm zu mir, ich bin deiner Rätsel Lösung‘. Doch die Erde, stolz,
-leuchtend in reiner Klarheit, winkte zurück: ‚Komm du und erkenn’ in
-meinem Spiegel deines Wesens Art‘.
-
-Mit seiner atmenden Last ging Fritz rasch vorwärts. Niemand begegnete
-ihm. Von den Dörfern, die rechts und links der Straße bis zu den Bergen
-hinüber allenthalben in den Fluren verstreut lagen, blinkte gelber
-Lichtschein aus jedem Fenster. Alle Menschen waren schon daheim und
-rüsteten sich für die Ankunft des Herrn.
-
-Fast ohne Biegung lief die Straße nunmehr, von hohen Pappeln begleitet,
-eine sachte Lehne hinauf, und da sie sich oben gleich wieder abwärts
-senkte, schien es dem Hinanschreitenden, als endigte sie gerade vor
-dem riesigen Himmelstor, dessen dunkelblauer Stahl, mit silbernen
-Sternennägeln beschlagen, den Raum von der Unendlichkeit schied.
-
-Breit, schwer, gewaltig ragte es senkrecht auf, für immerwährende
-Zeiten geschmiedet und geeignet, dem brüllenden Ansturm der Ewigkeiten
-von drüben wie dem Zuflattern der bang fragenden Seelen von hüben
-unverrückbar und gelassen standzuhalten. Und da schien es Hellwig, als
-sei das heiße, pochende Leben irgendwo weit zurückgeblieben, und vor
-der Majestät des Schweigens, das machtvoll aufgerichtet ihm entgegen
-stand, fühlte er zum erstenmal das Grauen vor der Einsamkeit, die ihn
-zu würgen begann, während sie ihm sonst Freundin und Trösterin gewesen.
-Mit schleppenden Schritten ging er weiter. Eine schnürende Beklemmung
-engte ihm die Brust, und ihm war, als hätte er allen Zusammenhang mit
-der Erde verloren.
-
-Endlich war er oben. Und der Himmel war mit einem Male hoch und fern,
-und vor ihm breitete sich das weite weiße Tal im Mondglanz wie in einem
-leise wallenden, ganz durchsichtigen See, und die Lichter von Neuberg
-grüßten freundlich. Ganz deutlich sah er den Kirchturm, die feurige
-Scheibe der Rathausuhr, das alte hochgiebelige Haus am Marktplatz.
-Ein Fenster schien dort besonders hell. Und im Rahmen zwischen den
-geöffneten Flügeln stand eine schlanke junge Gestalt in knappem Kleid
-mit rotem Gürtelband, winkte -- und winkte ihn ins Leben zurück.
-
-Trugbild der Mondnacht.
-
-Aber jetzt gab’s kein Halten mehr. In langen Sätzen sprang er den
-Abhang hinab. Das warme Geschöpf auf seinen Armen regte sich unruhig,
-hob den Kopf und schrie kläglich. Er kümmerte sich nicht darum,
-blickte nur nach dem leuchtenden Fenster hinüber und glaubte in alle
-Herrlichkeiten der Erde zu schauen. Dann erlosch das Schimmern, Gassen
-schoben sich dazwischen, er hastete hindurch und fand sich -- er wußte
-nicht, wie er hingeraten -- mit seinem Rehkalb plötzlich im dämmrigen
-Flur des Kaufmannshauses.
-
-Das laute Dröhnen seiner Stiefel auf der Treppe ernüchterte ihn.
-Er fuhr zusammen, blieb stehen, besann sich. Das Tierchen blökte
-immerfort. Seine rauhe Stimme füllte hallend die gewölbten Gänge.
-Erschrocken legte er ihm die Hand auf die Schnauze und wollte zurück.
-Das ging jedoch nicht mehr. Denn das Weib des Hausdieners stand, durch
-das Geschrei herausgelockt, bereits unten auf der Stiege.
-
-„Gehen Sie nur hinauf, Herr Hellwig,“ sagte sie, als sie ihn erkannte.
-„Die Herrschaften sind alle zu Haus.“ Da mußte er vorwärts.
-
-Das Rehlein spektakelte unaufhörlich. Als er bereits im ersten Stock
-war, fiel ihm ein, daß er ja sein lungentüchtiges Angebinde beim
-Auflader abgeben könnte. Das war wie eine Erlösung. Aber es mußte beim
-Vorsatz bleiben. Die Wohnungstür tat sich auf, neugierig steckte die
-kleine Eva Wart den blonden Kopf heraus. Nun durchfuhr es ihn wie den
-Soldaten der Befehl. Auf gestrafften Beinen stand er kerzengerade und
-hielt den Nacken steif. Unter den gefalteten Brauen blickten die Augen
-wieder feindselig auf das Mädchen, von dem er sich noch vor kurzem im
-Geiste die Pforten des Lebens hatte öffnen lassen.
-
-Das Rehkalb blökte noch immer.
-
-Eva war nicht weniger rot als Hellwig. Kleinlaut schob sie sich durch
-den Türspalt, hatte die Wimpern gesenkt und spielte mit dem Ende ihres
-dicken Zopfs, der sich über ihre Schultern nach vorn verirrt hatte.
-Keine Spur mehr von Übermut und Reschheit, wie sie sie vor ein paar
-Tagen im Dachzimmer gezeigt. Die Ermahnungen der Mutter machten sie
-schuldbewußt und befangen.
-
-Fritz raffte sich endlich auf, verbeugte sich und sagte: „Guten Abend.“
-
-„Guten Abend,“ kam ebenso kurz ein Gelispel zurück. Aber hinter den
-niedergeschlagenen Augendeckeln begannen die losen Geisterchen schon
-wieder zu rumoren. Und vom rechten glitt sogar eines zum Mundwinkel
-hinab, huschte über die geschürzten Lippen und war im Nu hinter der
-linken Augenklappe verschwunden. Dort lachte es fröhlich weiter. Und
-das Rehkalb sorgte, daß keine Stille eintrat.
-
-Nach einer Weile fing Fritz von neuem an: „Ich -- danke -- für die
-Bücher.“
-
-Da hob sie die Stirn. Und aus ihren Augen sprang ihm der ganze Schwarm
-der lustigen Kobolde entgegen, daß er ordentlich geblendet zurückfuhr.
-
-„Hat’s Ihnen Freude gemacht?“ forschte sie.
-
-Er überhörte die Frage, sprach schnell und unsicher weiter: „Da bring’
-ich Ihnen was ... wenn Sie’s halt mögen. Sonst schaff’ ich’s wieder
-fort.“
-
-Ihr Gesicht strahlte. „Mein?“ fragte sie zweifelnd, kam näher und
-strich mit den Fingerspitzen vorsichtig über das weiche Fell. „Wie lieb
-und hübsch.“
-
-Er schaute auf ihre goldfarbenen Locken, die sich dicht vor seinen
-Augen kräuselten und tat in fluchtartiger Eile einen Schritt zurück.
-
-„Passen Sie auf!“ warnte er dabei. „Es hat ein wehes Haxl!“ Doch als er
-ihre bestürzte Miene gewahrte, beruhigte er gleich: „Es hat nicht viel
-auf sich. In ein paar Tagen ist’s gut. Wollen Sie’s?“
-
-Sie bejahte wortlos mit wiederholten heftigen Kopfbewegungen.
-
-„Dann lass’ ich’s also hier!“ sagte er, froh über die Erledigung der
-schwierigen Angelegenheit und setzte das Tierlein behutsam auf den
-Fußboden. Zitternd stand es da und tat sehr scheu.
-
-„Geben Sie ihm bald zu saufen und zu fressen!“ riet er noch. Und Eva
-ganz ängstlich darauf: „Mein Gott, was denn? Ich hab’ ja nichts!“
-
-„Im Stall unten ist Heu genug für hundert solche Vieher!“ belehrte
-er sie und drängte das Reh in den Vorraum der Wohnung. Dann wandte
-er sich zum Gehen. Aber die Kleine hatte noch etwas auf dem Herzen.
-Unschlüssig stand sie, hielt die Klinke in der Hand und fühlte sich gar
-nicht behaglich, zumal das Rehkalb immer von hinten gegen ihre Beine
-stieß und hinauswollte. Doch sie nahm allen ihren Mut zusammen. „Herr
-Hellwig!“ rief sie schüchtern. Und als er sich umdrehte, murmelte sie
-mit fliegendem Atem: „Nicht wahr, Sie ärgern sich nicht mehr auf mich?“
-
-„Weshalb sollt’ ich denn?“ kam ein Knurren zurück.
-
-Bittend schaute sie ihn an. „Gehn Sie, Sie wissen’s ganz gut ... von
-neulich halt ...“
-
-„Nein, Fräulein ... Eva!“ Gewaltsam mußte er sich ihren Namen aus der
-Kehle zwingen. „Gute Nacht!“
-
-Und er beeilte sich, über die Treppe hinunterzukommen, während sie,
-wieder ganz fröhlich, hinterher rief: „Sie haben schon recht gehabt mit
-dem Gansl!“
-
-Dann fiel die Tür krachend ins Schloß und legte sich plump und klotzig
-vor ein helles Mädchenlachen.
-
-Unten streckte Fritz beide Arme mit kräftigen Stößen ein paarmal
-seitwärts und vorwärts, denn sie schmerzten ihn jetzt doch, weil er
-ja die, wenn auch leichte Bürde fast zwei Stunden ohne Unterbrechung
-geschleppt hatte. Dann schlenderte er langsam seiner Behausung zu in
-einer sonderbar weichen, träumerischen Stimmung. Aber er freute sich
-darüber und freute sich auf die Stunden, die kommen würden und begehrte
-die Zeit vorwärts zu schieben, als hätte er etwas recht Fröhliches
-in ganz naher Frist zu erwarten. Und einen nach allen Windrichtungen
-zerflatternden Drang fühlte er, zu irgendeiner besonderen Tat, die
-stark oder gut sein sollte und jedenfalls so, daß sie vor den blauen
-Augen bestehen könnte, deren strahlenden Schein er heimlich im Herzen
-wie in einer Schatzkammer trug.
-
-Aus einzelnen Fenstern schimmerten schon die Christbaumkerzen, als
-er mit heiterer Miene noch einmal in das entlegenste Gewinkel der
-Vorstadt hinausging, wo als vorgeschobener Posten ein Völkchen von
-Straßenkehrern, Bettlern und herabgekommenen Handwerksleuten mit
-vielen Kindern und wenig Brot in einer Reihe armseliger Hütten
-herbergte. Dort öffnete er auf gut Glück eine der Türen, die
-geradeswegs in die Stube führte, warf seine Börse hinein und lief
-rasch weg, indes hinter ihm das wüste Gekeif einer harten Weiberstimme
-unvermittelt in den schrillen Ruf grenzenloser Überraschung
-umschlug. In jener Börse aber hatte er schon seit Jahren von seinem
-Taschengeldchen Kreuzer zu Kreuzer gespart, um nach der Reifeprüfung
-eine Reise in die Alpen unternehmen zu können. Doch tat ihm das
-Aufgeben einer lang genährten Hoffnung heute gar nicht leid. Froh
-war er darüber, und da das Opfer uneingestandenermaßen der kleinen
-Eva Wart gegolten, fühlte er sich jetzt wie durch ein Band geheimen
-Einverständnisses mit ihr verbunden, obwohl sie gar nichts davon wußte.
-
-Seine Mutter aber hatte ihn noch nie so sanft, zugänglich und
-herzlich gesehen wie an diesem Abend, so daß auch für sie ein
-leidlich vergnügtes Weihnachtsfest abfiel. Sie bedachte ihren
-Jungen mit allerlei Dingen des täglichen Bedarfs, mit Hemden,
-Taschentüchern, Socken und Kragen, erging sich eine Stunde lang in der
-beschaulich-rührseligen Betrachtung einstiger, gemeinsam mit dem Gatten
-verlebter Weihnachtsabende und suchte dann ihre Schlafstelle.
-
-Fritz dagegen begab sich, als die Glocken zur Mette läuteten, noch
-einmal auf die Straße, wo von allen Seiten die Frommen heranzogen,
-um beim Gottesdienst der Geburt des Erlösers dankbar zu gedenken.
-Trotz der mondhellen Nacht trugen viele nach alter Gewohnheit ihre
-brennenden Laternen mit sich, und auch von den Hügellehnen herab zu
-den Dorfkirchen bewegten sich rötlichgelbe, schwankende Lichter, eines
-hinter dem andern, wie die Glieder großer Feuerwürmer.
-
-Unstet strich Hellwig durch die Gassen und spähte den Wallern ins
-Gesicht. Zwischen ernsten Greisen, würdigen Matronen und verschlafenen
-Hausfrauen schritten blutjunge Mädchen mit lebenslustigen Augen, die
-unter großen Umschlagtüchern, Kapuzen oder leichten Seidenschals
-verstohlen nach den Jünglingen blickten. Insgeheim hoffte Fritz auch
-Eva in der Menge zu sehen. Aber sie kam nicht. Und als er sich scheu
-wie ein Dieb in die Nähe des Marktplatzes wagte, da lag das Haus der
-Kaufmannsfamilie schwarz und finster ganz im Schatten, und hinter den
-Vorhängen waren alle Lichter verlöscht. Nun wurde er kühner, setzte
-sich auf den Rand des Brunnens, der von einer uralten steinernen
-Rolandfigur bewacht, in der Mitte des Platzes aufgestellt war, und
-während das Wasser hinter seinem Rücken klingend in das Becken fiel,
-starrte er zu den dunklen Fenstern empor, und in seiner verwunderten
-Seele begann das Keimen und Wachsen einer zaghaften Sehnsucht, eines
-innigen Glücksgefühles, gleich dem Drängen und Treiben in blattlosen
-Bäumen zur Vorfrühlingszeit. Noch wissen sie nicht, was da sich
-regt und ihre Rinde dehnt, -- ahnungsvoll stehen sie und warten und
-ängstigen sich wohl auch, bis in einer gesegneten Stunde aus allen
-Knospen grüne Blätter, weiße Blüten lachend der Sonne in die Arme
-springen. So träumte Fritz Hellwig unter einem hohen, frostklaren
-Sternenhimmel seiner ersten, keuschen, seligtörichten Jünglingsliebe
-entgegen. --
-
-Als er am nächsten Morgen erwachte, schämte er sich zwar ein wenig
-seines Treibens, aber die schwärmerische Empfindung war geblieben.
-Doch ging er während der ganzen Ferienwoche nicht ein einziges Mal zu
-Heinz, sondern trieb sich wie verloren ganz allein herum, lief alle
-seine Lieblingsplätze ab und freute sich über alles mögliche: auf den
-Sommer und die Erikablüte, das Baden im Fluß und das Schwämmesuchen in
-den Wäldern, auf das Ende der Gymnasialstudien und auf das Leben in der
-Hauptstadt, wo er im Herbst die Hochschule beziehen würde.
-
-
-9.
-
-Nach den Feiertagen wurde Fritz in die Kanzlei des Direktors gerufen,
-und der hielt ihm in scharfer Weise vor und sagte ihm auf den Kopf zu,
-er, Friedrich Hellwig, sei an dem und dem Tage, zu der und der Stunde
-in dem und dem Gasthaus beim Billardspielen gesehen worden. Das war
-eine schwere Anklage, denn der Wirtschaftsbesuch war den Studenten
-streng untersagt.
-
-„Das ist eine Lüge!“ rief Fritz ungestüm.
-
-Der Direktor aber entgegnete, er solle sich mit seinen Worten in acht
-nehmen. Ausflüchte werden da nichts helfen, denn er sei mit vollster
-Bestimmtheit erkannt worden. Übrigens müsse er sich auch schon deswegen
-an den Vorfall erinnern, weil er sich beim Erscheinen des Gewährsmannes
--- es sei einer der Herren Professoren gewesen -- unterm Billard
-versteckt habe. „Fügen Sie also,“ schloß der Schulmann, „zu dieser
-Feigheit nicht noch eine, sondern legen Sie ein mannhaftes Geständnis
-ab!“
-
-„Herr Direktor,“ antwortete Fritz mühsam, „ich bin kein Feigling.
-Hätt’ ich’s getan, so würde ich’s auch sagen. Aber es ist nicht wahr!
-Die Anzeige ist Wort für Wort erlogen! Stellen Sie mich dem Klatscher
-gegenüber! Er soll’s mir ins Gesicht sagen, wenn er sich traut!“
-
-Darauf erwiderte der Direktor mit seiner schrillen, metallenen Stimme,
-und bei jedem nachdrücklichen Wort zuckte der breite Vollbart, stachen
-die kalten Augen gegen den Verwegenen. „Vor allem,“ sagte er, „muß ich
-Ihre Ausdrucksweise auf das schärfste rügen. Die Strafe hierfür wird
-nicht ausbleiben, verlassen Sie sich darauf! Im übrigen werden wir mit
-Ihrem unverschämten Leugnen sofort fertig sein! -- Ich bitte, Herr
-Kollega!“
-
-Er öffnete die Tür zu seinem Sprechzimmer, und heraus trat hüstelnd und
-spuckend Professor Hermann.
-
-„Sie wissen, um was es sich handelt, Herr Kollega? Der Schüler hat ja
-laut genug gesprochen.“
-
-„Verehrtester Herr Direktor,“ entgegnete Hermann, „verehrtester Herr
-Direktor, ich kann nur wiederholen, was ich Ihnen bereits mitgeteilt
-habe. Der Oktavaner Hellwig hat mir gegenüber in der gröblichsten
-Weise die Achtung verletzt, jene Achtung, die er seinen Lehrern
-und Vorgesetzten schuldet. Dies hat mich veranlaßt, seinem Treiben
-außerhalb der Schule ein wenig nachzugehen. Denn wenn ein eifriger und
-fleißiger Schüler in den höheren Klassen plötzlich versagt und sein
-Benehmen auffällig ändert, ist in neunundneunzig von hundert Fällen das
-Wirtshaus schuld. Diese Ansicht des hochwürdigen Paters Romanus hat
-sich noch immer als richtig erwiesen. Nun besteht da in der Vorstadt
-ein kleines Gasthaus, wo dem Vernehmen nach fast täglich Studenten
-zusammenkommen sollen, weil es entlegen, billig und mit weiblicher
-Bedienung versehen ist. Mit weiblicher Bedienung! In dieser Kneipe
-habe ich den Schüler Hellwig gesehen, der sich bei meinem Eintritt
-hinter das Billard geduckt hat. Leider habe ich ihn nicht zur Rede
-stellen können, weil meine Augengläser in der Wärme angelaufen sind,
-und als ich sie geputzt hatte, war er offenbar durch einen rückwärtigen
-Ausgang verschwunden.“
-
-So redete der Professor, und wenn ihm jemand erwidert hätte, daß
-Spitzeltum und Angeberei von anständigen Leuten zu den verächtlichsten
-Charaktereigenschaften gerechnet werden, hätte er gewiß eifrig
-zugestimmt und nur ganz verwundert gefragt, was diese Bemerkung denn
-hier zu tun habe. Denn er fühlte sich in der schleimigen Niedrigkeit
-seines Wesens über jeden Tadel erhaben und hatte noch niemals
-gezweifelt, daß eine seiner Handlungen etwas anderes als vollkommen
-sein könnte.
-
-Fritz war einfach fassungslos.
-
-„Es muß ein Irrtum sein!“ Der leise Ton seiner Stimme machte keinen
-guten Eindruck.
-
-„Geben Sie das Leugnen auf!“ riet der Direktor. „Sie machen damit Ihre
-Sache nur schlimmer!“
-
-Nun wurde der ehrliche Junge wild. „Ich war aber nicht dort!“ rief er
-ungeduldig. „Kenne die Spelunke gar nicht! Herr Professor verwechseln
-mich vielleicht mit jemandem andern!“
-
-Freimütig und Bestätigung heischend, oder wie die beiden Pädagogen
-feststellten, frech und verstockt, blickte er von einem zum andern.
-Da fuhr Professor Hermann auf ihn los: „Sie kecker Bursch! Also ich
-bin ein Lügner? Was? Natürlich! Verwechselt hab’ ich Sie! Einen
-Doppelgänger haben Sie! -- Zu blöd! -- Verehrtester Herr Direktor, wie
-ich schon sagte, der Schüler ist ein Schandfleck für die Anstalt! Ein
-Schandfleck!“
-
-Gewaltsam suchte sich Fritz zu beherrschen. Aber es ging nicht. „Sie
-haben mir schon einmal unrecht getan!“ keuchte er in zuckendem Zorn.
-„Ohne jeden Anlaß, nur weil Sie mir aufsässig sind! Das ist gemein! Das
-ist schuftig!“
-
-Er spie dem Professor vor die Füße, blieb mit gespannten Muskeln noch
-eine Minute hoch aufgerichtet stehen und wartete. Da jedoch die zwei
-Schulmeister vor der ungeheuerlichen Tat stumm wie Steinbilder standen,
-schritt er traurig durch die Tür über die Stiege hinab ins Freie und
-ließ, je weiter er ging, das eben noch stolz getragene Haupt immer
-tiefer sinken.
-
-Infolge dieser Begebenheit sah Romanus früher noch, als er gedacht,
-seinen Plan verwirklicht, war die Entfernung Hellwigs, des räudigen
-Schafes, das eine beständige Gefahr für die anderen bedeutete, vom
-Gymnasium unvermeidlich geworden. Der Pater empfand eine starke
-Befriedigung darüber. Nur daß sein Name in der leidigen Affäre nicht
-ganz verschwiegen geblieben, trübte ihm die Freude. Denn er wollte ganz
-rein dastehen. Nicht der leiseste Schatten eines Verdachtes durfte
-auf ihn fallen, daß er auch nur mittelbar beigetragen hätte, wenn der
-einzige Sohn einer bedürftigen Witwe kurz vor der Reifeprüfung so hart
-gemaßregelt wurde.
-
-Und wie nun in einer eigens einberufenen Sitzung Hellwigs Ausschließung
-von allen Mittelschulen des Reiches beim Landesschulrat beantragt
-werden sollte und als alle Lehrer einig waren, daß für den unerhörten
-Frevel diese strengste Strafe eigentlich noch nicht streng genug sei,
-da erhob sich plötzlich der Religionsprofessor und trat aufs wärmste
-für den Sohn der Witwe ein. Er konnte das beruhigt tun. Am Neuberger
-Gymnasium wenigstens konnte dieser auf keinen Fall geduldet, konnte
-er nicht noch weiterhin von einem Lehrer unterrichtet werden, dem er
-Gemeinheit und Schufterei vorgeworfen.
-
-Professor Hermann aber war tatsächlich im guten Glauben gewesen. Wie
-jemand, der einen Bekannten zu treffen hofft, im Menschengewühl bald
-diesen, bald jenen Fremden für den Gesuchten hält, ihm nacheilt und
-erst in nächster Nähe den Irrtum erkennt, -- so hatte auch er sich
-vorgetäuscht, daß er Hellwig wirklich gefunden habe, weil er ihn finden
-wollte. Das wußte Romanus und schonungsvoll stach er dem Professor den
-Star, legte dar und stellte unter Beweis, daß der Beschuldigte an dem
-bewußten Tage tatsächlich nicht in jener Kneipe gewesen, kurz, trieb
-den verlegen hüstelnden Angeber so in die Enge, daß er schließlich
-notgedrungen die Möglichkeit eines Irrtums zugeben mußte, worauf ihn
-der Pater eines solchen in unwiderleglicher Weise überführte.
-
-Die Stimmung unter den Professoren schlug nun zwar zugunsten des
-Jünglings um, aber die gröblich beleidigte Autorität forderte Sühne.
-Der Antrag an die Oberbehörde wurde auf ‚lokale Ausschließung‘
-eingeschränkt.
-
-Noch im Jänner traf die Genehmigung ein, und Hellwig erhielt ein
-Abgangszeugnis, in welchem das sittliche Verhalten als ‚nicht
-entsprechend‘ bezeichnet und auf der Rückseite der Vermerk eingetragen
-war, daß gegen den Schüler wegen ‚Beschimpfung und Bedrohung
-eines Lehrers, fortgesetzt frechen Benehmens, Ungehorsams und
-Widersetzlichkeit‘ die lokale Ausschließung vom k. k. Staatsgymnasium
-in Neuberg verfügt worden sei.
-
-
-10.
-
-Wenn man sieben Jahre ununterbrochen in derselben Schule von denselben
-Lehrern unterrichtet wurde, ist es gewiß schwer, sich in den
-Unterrichtsplan einer anderen Anstalt hineinzufinden, mit der Art und
-den Eigenheiten anderer Professoren sich vertraut zu machen. Fritz
-tat mehr. Seine Mutter hatte im Laufe der Jahre unter vielfachen
-Entbehrungen ein paar Gulden zusammengebracht, um ihn für den Anfang
-der Hochschulzeit über Wasser halten zu können. Die wollte sie jetzt
-dranwenden, wollte ihn in der nächsten Gymnasialstadt weiterstudieren
-lassen. Aber er ließ sich dort nur als Privatschüler einschreiben,
-blieb in Neuberg und lernte ohne Lehrer drauflos. Es galt jetzt nicht
-nur den umfangreichen Stoff für die Reifeprüfung, sondern auch den
-des letzten Halbjahres ohne Leitung zu bewältigen. Da blieb alles
-andere links liegen: Darwin, Nietzsche, Marx, die Spaziergänge und
-Zusammenkünfte mit den Freunden.
-
-Erst fertig werden! Und er hockte über den Schulbüchern wie ein
-Geizhals bei seinen Schätzen.
-
-Da fiel, es war im April, seine Mutter in eine Krankheit. Erst
-Influenza. Dann Lungenentzündung. Und dann erklärte Doktor Kreuzinger
-in seiner behutsamen Art dem verzweifelten Jungen, er müsse sich auf
-das Schlimmste gefaßt machen.
-
-Das durfte nicht sein. Sie mußte leben. Noch viele Jahre leben.
-Durfte nicht von ihm gehen, bevor er nicht wenigstens ein Tausendstel
-abgetragen hatte von seiner drückend großen Schuld. Was war denn ihr
-Leben gewesen? Unter Darben und Kümmernissen ein stetes Plagen und
-Sorgen für ihn. Und die Zeit, wann er das ändern, die ganze Last des
-Lebens auf seine Schultern nehmen konnte, war noch so weit.
-
-„Herr Doktor, es _kann_ nicht sein!“
-
-Aber es war doch. Eines Nachmittags. Sie hatte die Sterbesakramente
-empfangen. Segnend war der Priester gegangen. Der alte Arzt mit
-dem weich fließenden Silberbart saß neben ihrem Bett. Sie lag mit
-geschlossenen Lidern bleich und teilnahmslos da. Glockenklänge kamen
-von draußen. Sie läuteten zu irgendeinem Begräbnis. Wie fast jeden
-Nachmittag. Da regte sich die Kranke, öffnete die Augen, rief ihren
-Sohn zu sich. Auf unhörbaren Sohlen zog sich der Arzt in eine Ecke
-zurück. Fritz trat an ihr Bett. Sie streckte die Hände aus, zog ihn zu
-sich nieder, nahe, ganz nahe. Und sah ihm aufmerksam wie prüfend ins
-Gesicht. Und die Sorge um das Seelenheil ihres Kindes stieg noch einmal
-in ihr auf.
-
-„Versprich mir,“ -- flüsterte sie -- „versprich mir, Fritzl, daß du
-immer an unsern Herrgott glauben wirst.“
-
-Er aber schwieg. In gedankenloser Dumpfheit schaute er in das Gesicht,
-das ihm so vertraut war, und wunderte sich, daß er noch niemals früher
-bemerkt hatte, wie kennzeichnend und bestimmt ausgeprägt eigentlich die
-Falte war, die sich von dem papierdünnen Nasenflügel um den Mundwinkel
-bis zum Kinn hinab fortsetzte.
-
-Und abermals, nur kaum wie ein leichter Hauch: „Versprich mir’s.“
-
-Die Worte wehten an ihm vorbei, erreichten ihn nicht.
-
-Er blickte auf die scharfe Linie um den Mund, sah, wie sie zuckte, bald
-länger, bald kürzer wurde, und mühte sich, ihr letztes Ende in der
-glanzlosen Haut des Kinns zu entdecken.
-
-Und noch einmal, fast unhörbar, wie das Schweben einer Flocke in
-unbewegter Luft:
-
-„Versprich ...“
-
-Wie tief die Furche wurde, wenn sich die Lippen bewegten. Und wie fremd
-das aussah ...
-
-Da hoben sich die schmalen wachsbleichen Hände. War’s zur Umarmung oder
-Abwehr? Er wußte es später nicht mehr, wußte nur, daß sie sogleich
-wieder schwer mit einem seltsam erschütternden, dumpfen Aufschlagen
-auf die Bettdecke gefallen waren.
-
-Und dann war alles vorbei. Nur die Augen starrten noch groß und weit
-geöffnet. Aber es war keine Angst mehr darin und kein Flehen. Nichts.
-Und die Furche war jetzt ganz starr, ganz tief, wie mit dem Messer in
-gelbes Holz geschnitten.
-
-Der Arzt war rasch hinzugetreten. Tiefernst, mit ruhigen, leisen
-Bewegungen tat er, was für ihn zu tun übrig blieb. Er forschte nach
-dem Leben und fand keine Spuren mehr, zog die Lider über die leeren
-Totenaugen und wandte sich dann zu Fritz. Der stand mit schlaff
-hängenden Armen und vorgeschobenem Kopf reglos. Da war etwas unter ihm
-fortgeglitten. Etwas, das noch ganz kurz vorher geatmet hatte -- und
-sich geregt hatte -- und Worte gesprochen hatte -- irgendwelche leise
-Worte, deren Nachhall noch im Zimmer zitterte -- so still war es ...
-
-Sacht legte ihm Doktor Kreuzinger den Arm um die Schulter. „Sie ist
-hinüber.“
-
-Verständnislos stierte ihn Hellwig an. Kein Muskel zuckte, hart lagen
-die Züge auf dem unbewegten Antlitz. Langsam wand er sich aus dem Arm
-des Greises, und ohne die Haltung zu ändern, steif, schwerfällig, schob
-er sich aus dem Gemach.
-
-Ein warmer Regen war niedergegangen und verrauscht. Ein harscher Wind
-schob dunkle Wolkenklumpen vor sich her. Hinter ihm wurde blauer
-Himmel. Rund und blank und frisch wie eine riesige, taubesprühte Knospe
-lag die Erde im Arm des Frühlings. Lag und lachte, schrie, jauchzte,
-jubelte dem starken Leben ein heiliges Ja entgegen. Und die Blumen
-lachten es mit und die Bäche rauschten es mit und vom Himmel die Höhen
-herunter brüllte es mit das täppische Hünenkind, der Lenzsturm, sprang
-wipfelauf, wipfelab und über die sprossenden Fluren hin, tanzend,
-keuchend, stöhnend in unbändiger Kraft.
-
-Und: „Ja -- leben -- ja!“ brüllte er dem schwachen Menschlein zu, dem
-hageren Jungen im dünnen Hausrock, mit zerwirrten Haaren, der sich,
-mühsam wie der aufgescheuchte Abendfalter im unerträglich grellen Licht
-des Tages, zurechtzufinden suchte und mit seiner ersten großen Trauer
-zur Erde hatte flüchten wollen. Aber die Erde gab heute dem Leben ein
-Fest. Und die seinen Schmerz hatte lindern sollen, peitschte ihn bis
-zur Verzweiflung empor durch die wilde, machtvolle Freude, mit der
-neues und immer neues Werden die starre Winterhaft zerbrach und alle
-Grenzen überflutete. Leben rang sich siegreich aus Leben, stürzte
-glühend in die werbende Umarmung des Lebens, und des Lebens warmer Atem
-quoll aus braunen Ackerschollen, dampfte aus feuchten Moosen, stieg aus
-jungen Saaten und geöffneten Blumenkelchen über Getier und grüne Wipfel
-himmelan wie schwerer berauschender Opferduft.
-
-Wozu?
-
-Die seinem Herzen am nächsten gewesen, hatte ihren Platz verlassen, und
-keine Lücke war geblieben. So -- wie nach dem Zerstäuben eines Tropfens
-die ungeheure Meerflut gleichmäßig weiterrollt. Niemand fragte nach der
-Gestorbenen, vermißte oder brauchte sie.
-
-Und rings jauchzte die kraftvolle Frühlingswelt. Aber er konnte ihr
-nicht nahekommen. Ein Fremdes, Hassenswertes drängte sich dazwischen,
-gegen das er vergebens ankämpfte. Das machte ihn trostlos und
-verzweifelt. Ganz leer war es in ihm. Und in den Kronen des Waldes sang
-der Lenzsturm das Lied des Lebens. --
-
-Stunden verrannen. In seiner leichten Jacke begann ihn zu frieren.
-Da wollte er umkehren, tat ein paar Schritte, blieb wieder stehen
-und besann sich. Wohin nur? Und da fiel ihm ein: Er mußte ja seine
-Mutter begraben. Nun wich die steinstarre Ruhe aus seinem Gesicht. Die
-Mundwinkel zuckten. Aber er konnte noch nicht weinen. --
-
-Als er nach Hause kam, war Frau Hedwig dort. Sie hatte alles schon
-besorgt. Die Leichenfrau war dagewesen, hatte die Tote gewaschen und in
-ihr Kleid getan. Mit einem weißen Linnen zugedeckt, lag sie jetzt in
-der Stube auf dem Leichenbrett, zu Häupten zwei brennende Wachskerzen
-und das schwarze Kruzifix aus dem Glasschrank, zu Füßen ein Gebetbuch
-und eine Schere. Ein Becken mit Weihwasser stand daneben und ein Wedel
-aus Kornähren lag darüber. Ganz dem Herkommen gemäß war sie aufgebahrt,
-und nichts war verabsäumt.
-
-Als Fritz Frau Hedwig in der Stube erblickte, wachte die alte
-Abneigung wieder auf. Nur zögernd überschritt er die Schwelle. Dann
-aber bemerkte er unwillkürlich die kleinen Zeichen ihrer wohltuenden
-Obsorge: das geöffnete Fenster, die abgestellte Uhr, das weiße Tuch
-vorm Spiegel. Und im Bewußtsein seiner Verlassenheit konnte er sich
-ihrer warmen Mütterlichkeit nicht mehr entwinden. Er griff nach den
-wortlos gereichten Händen, hielt sie fest und -- drückte sie rauh
-aufschluchzend gegen die Augen. Nun streichelte sie ihm die Wangen, die
-Stirn, das Haar. Und dann lag sein Kopf auf ihrer Schulter, während er
-sich umsonst mühte, der Tränen Meister zu werden, die ihm jäh und heiß
-über die Lider sprangen.
-
-Lautlos weinte er so, kaum eine Minute lang und doch lang genug, daß
-der versteinerte Schmerz in eine sanftere Trauer sich löste.
-
-„Mutter!“ rief er leise. „Mutter!“ So ruft nachts ein banges Kind nach
-ihrem Schutz.
-
-Und eine tiefe, weiche Frauenstimme sagte: „Still, Fritz, still! Lassen
-Sie sie friedlich heimgehn.“
-
-Er schüttelte heftig den Kopf, ohne die Stirn von ihrer Schulter zu
-heben, wo es sich so gut ruhte.
-
-„Hier war sie zu Haus ... und übermorgen ... tragen sie mir sie fort!“
-
-„Nein, Fritz, sie tragen sie heim. In den Frieden. In die Ruhe. In das
-sicherste Geborgensein. Eine Mutter zur Mutter.“
-
-„Sie war die meine ... mir hat sie gehört!“
-
-„Ja, Fritz, Ihnen -- aber auch der Erde. Schaun Sie, Fritz, nur der
-Leib, die Form wird sich nur ändern, aber ihr Zweck wird immer bleiben.
-Hier bei uns hat sie ihre Bestimmung erfüllt, drum muß sie zu anderen,
-muß für diese Keim und Nahrung, Wurzel und Mutterbrust sein. Alles muß
-allen nützen. Das ist das Schöne, Trostreiche auf Erden.“
-
-Da schaute er ihr lang wie suchend in die Augen und sagte nichts mehr.
-
-Ihre Aufforderung, bei Heinz zu übernachten, schlug er aus. Nun ging
-sie und ließ ihn mit der Verstorbenen allein.
-
-Es war bereits dunkel geworden. Die Wachslichter leuchteten matt und
-füllten das Zimmer mit unstet flackerndem Schein und zuckenden Schatten.
-
-Er trat zu der Toten und schlug das Laken zurück. Da lag sie still und
-weiß in ihrem einstigen Brautkleid, und der Körper, aus dem er selbst
-einst Wärme und Blut und Leben gesogen hatte, war kalt und steif und
-wertlos geworden. Er schauerte zusammen. Bis in die Knochen fror ihn.
-Und ihm war, als erstürbe auch sein Leib, würde bleischwer und seiner
-Seele fremd, die sich plötzlich nicht mehr darin zu Haus fühlte und
-erschrocken umherschaute, wie ein zur Nachtzeit angekommener Reisender
-im ungewohnten Gastzimmer.
-
-Langsam breitete er das Tuch wieder über den Leichnam und setzte sich
-an das offene Fenster, durch das die starke, kühle Frühjahrsluft
-strich. Der Sturm hatte sich gelegt. Es wurde Nacht. Lampe um Lampe
-erlosch in den Häusern, ganz finster wurde es unter einem sternlosen
-Himmel. Und zu Häupten der Toten zwischen den schwelenden Lichtern hing
-unbeweglich der Kruzifixus.
-
-Da fiel ihm die letzte Bitte der Mutter wieder ein. In raschem
-Aufwallen erhob er sich, nahm das Kreuz und legte es vor sich auf das
-Fensterbrett. Der Kerzenschein huschte über die Porzellanfigur, die
-weiß und schlank auf dem dunklen Holz lag, die Arme weit gebreitet und
-das Haupt mit der Dornenkrone zur Seite geneigt.
-
-Immerfort starrte er auf das Bildwerk.
-
-Und draußen lag die Erde wie ertrunken in der dickflüssigen Dunkelheit,
-und die Atemzüge der schlafenden Kreaturen kamen und gingen wie
-schwere, unhörbare, noch dunklere Wellen, und rundum flutete die
-uferlose Stille der Nacht.
-
-Und jäh durchzuckte es ihn: Wenn ... wenn doch ... wenn es doch dort
-drüben was gäbe? Wer weiß es denn? Wer kann behaupten oder leugnen --
-wenn sogar die eigene Seele dem Körper fremd werden kann?
-
-In dumpfer Qual stöhnte er auf. Seine Finger legten sich um das
-Kreuzholz, als wollten sie es zerbrechen, schüttelten es, ungeduldig,
-leidenschaftlich, drohend: „Gib Antwort, du!“
-
-Aber rings war Dunkel und Schweigen.
-
-
-11.
-
-Nach zwei Tagen war die Tote begraben, und die Notwendigkeit der
-Beendigung seiner Gymnasialstudien war für Hellwig eiserner als je.
-Über Zureden seines Freundes hatte er endlich eingewilligt, war zu ihm
-übergesiedelt und wohnte nun Wand an Wand neben Heinz in einer noch
-kleineren Dachkammer.
-
-Niemand störte ihn hier. Sogar das Essen wurde ihm hinaufgebracht. Und
-er wühlte sich ganz in diese Abgeschiedenheit hinein, ging kaum ins
-Freie und lernte nur, lernte, lernte.
-
-In den letzten Tagen des Mai unterzog er sich an dem Gymnasium der
-benachbarten Stadt der Prüfung über den Lehrstoff des zweiten Halbjahrs
-und bestand sie. Kurz darauf legte er die schriftliche und endlich auch
-die mündliche Reifeprüfung ab. Und da der Landesschulrat, der dieses
-Schulexamen leitete, nicht an allen Mittelschulen zu gleicher Zeit
-prüfen konnte, traf es sich, daß Hellwig um volle drei Wochen früher
-für reif erklärt wurde als seine Kollegen in Neuberg.
-
-Nun wollte er gleich nach Prag und sich auf eigene Faust durchschlagen.
-Aber sie ließen ihn nicht fort. Auch Vater Wart nicht, der zielbewußte
-Arbeit in jeder Form achtete und seine Meinung über den großen Blonden
-mit den Storchbeinen sehr zu dessen Gunsten geändert hatte.
-
-„Machen Sie keine Geschichten!“ sagte er ihm. „Jetzt heißt’s erst
-tüchtig faulenzen! Den Schädel ausrauchen lassen von der ewigen
-Lernerei!“
-
-„Ich darf Ihre Gastfreundschaft nicht mißbrauchen,“ erwiderte Fritz.
-„Ich darf mich nicht länger von Ihnen aushalten lassen!“
-
-Da polterte der Kaufmann los: „Jetzt das ist aber schon mehr als blöd!
-Aushalten lassen! So was sagt man überhaupt nicht!“ Dann überlegte er
-und fuhr fort: „Übrigens, wenn Sie sich’s justament verdienen wollen
--- der Bub’ von meiner Schwester ist bei mir in der Lehr’. Wenn Sie
-ihm bis zum Oktober ein bissel Stenographie und Französisch beibringen
-wollen, kann’s ihm nichts schaden und mich soll’s freuen! Gilt’s?“
-
-Er streckte ihm die biedere Tatze hin, und Fritz schlug ein.
-
-Hier bewog ihn nicht zum letzten der Gedanke an Doktor Kreuzinger. Dem
-greisen Gelehrten war jener Kampf zwischen kindlicher Zärtlichkeit und
-Wahrheitsliebe nicht entgangen und die geweckte Teilnahme hatte ihn
-veranlaßt, den Jüngling zu einem Besuche aufzufordern. Gern war Hellwig
-jetzt dieser Einladung gefolgt. Hatte ihm doch Heinz schon viel von
-der Bücherei und den Sammlungen des Großvaters berichtet. Seine hoch
-gespannten Erwartungen wurden auch nicht getäuscht, wurden von dem,
-was er dort vorfand und erlebte, noch übertroffen. Versteinerungen,
-Abdrücke und Knochen vorsintflutlicher Geschöpfe waren hier
-aufgespeichert, Mollusken, Krebse, Spongien und Leptokardier jeglicher
-Form und Gattung in Gläsern, Kasten und Wandschränken füllten zwei
-große Zimmer. Das Wertvollste aber war die klare Art, mit welcher der
-Doktor aus dem Äußerlichen den Kern herausschälte, die Zusammenhänge
-bloßlegte und die vielfachen faserfeinen Verästelungen auf ihre
-gemeinsame Wurzel zurückführte. Mit prunklosen Worten, scheinbar stets
-bei der Sache und doch über ihr, entwarf er dem begierig Lauschenden
-eine Übersicht über die Entwicklungsgeschichte der Erde und des
-Lebens und leitete ihn die Quellen der Erkenntnis hinauf, soweit
-Menschensinne dorthin vordringen können.
-
-Dem ersten Besuch folgten andere, und bald war Hellwig täglich um sechs
-Uhr früh in der stillen Gelehrtenwohnung. Meist kam er allein, denn
-Heinz hatte sich ganz auf die Sozialpolitik geworfen und war für nichts
-anderes mehr zu haben. Für Fritz aber waren diese Morgenstunden, da
-er an der Seite des verehrten Mannes zuhörend und lernend durch den
-sommergrünen Garten schritt, während der Sonnenschein silbern in den
-Baumkronen spielte, das Schönste, das ihm das Leben bisher gebracht
-hatte, gehörten überhaupt zu dem Kostbarsten, das es ihm je zu bieten
-vermochte.
-
-Und eines Tages lernte er dort den Doktor Albert Kolben kennen.
-
-Der war auch von den Pfahlbürgern Neubergs als ein verlorenes Schaf
-erklärt worden, und sie hatten ihm, oder eigentlich in seiner
-Abwesenheit, bei Bier, Kaffee und geselligen Zusammenkünften hatten sie
-sein Verkommen so lang vorausgesagt, bis er vor ein paar Monaten den
-Doktorgrad erwarb. Und Reserveoffizier war er ebenfalls. Da waren sie
-baff. Dann aber entrüsteten sie sich desto mehr und fanden, der Kolben
-Albert hätte das nur getan, um sie zu ärgern. Denn die genasführten
-Propheten empfanden das Ausbleiben ihrer Vorhersagungen als persönliche
-Beleidigung. Es war gewiß unverschämt vom Kolben Albert. Aber er ließ
-sich eben überhaupt nichts vorschreiben, sondern tat, was ihm beliebte
-und ließ bleiben, was ihm nicht paßte. Das konnte er um so leichter,
-als er nach seinen Eltern ein beträchtliches Vermögen nebst einem
-Landgut besaß und von niemandem abhängig war. Übrigens hatte er von
-je auf die Nachrede der Leute keinen Deut gegeben, hatte im Gegenteil
-alles getan, um sie herauszufordern. Als sechzehnjähriger Lateinschüler
-hielt er sich ein Reitpferd und zwei große Hunde, als Achtzehnjähriger
-soff er einmal sogar den Wart Nikl unter den Tisch, als Zwanzigjähriger
-schnürte er sein Bündel und zog nach Wien. Was er dort trieb, wußte
-man nicht. Es liefen jedoch die abenteuerlichsten Gerüchte um. Daß er
-in der Schriftleitung einer sozialdemokratischen oder anarchistischen
-Zeitung tätig sei, in Volksversammlungen Brandreden halte und
-fortwährend betrunken in den Schnapsschenken herumliege. Da wurde er
-als Sechsundzwanzigjähriger Doktor der Weltweisheit und tauchte wieder
-in Neuberg auf. Daß es sich lediglich um einen kurzen Erholungsurlaub
-handelte, wußten nur seine vertrautesten Freunde.
-
-Über eine so unklare Lebensführung mußten sich die wackeren Spießer
-entrüsten. Sie entrüsteten sich, weil sie aus ihm nicht klug werden
-konnten. Und sie wurden nicht klug aus ihm, weil er sich nicht in den
-Kochtopf gucken ließ, Zudringliche mit höflicher Überlegenheit abwehrte
-und lüsterner Neugierde begegnete, indem er mit trockener Sachlichkeit
-und größtem Ernst die ungeheuerlichsten Behauptungen aufstellte,
-verfocht und begründete. So bekannte er sich einmal gegenüber einem
-waschechten deutschen Volksgenossen, der sein politisches Gewissen
-erforschen wollte, zur demokratisch-alldeutsch-antisemitischen Anarchie
-und spickte den unvorsichtigen Frager derart mit großen Worten und
-fetten Phrasen, daß dieser ganz mürb wurde und schließlich -- etwas
-angeheitert war er auch schon -- das neue Programm als einzige Rettung
-des Bürgertums vor der roten Gefahr begeistert zu preisen anhob.
-Nachträglich wurde er von einsichtigeren Leuten aufgeklärt, daß er
-seiner leichtgläubigen Beschränktheit einen tüchtigen Bären habe
-aufbinden lassen, und der Chor der Entrüsteten war wieder um eine
-ausgiebige Stimme verstärkt.
-
-Kolben ertrug die üble Nachrede, wie man das Konzert der Frösche
-im Frühjahr erträgt und verriet mit keiner Miene, wie sehr ihn das
-zwecklose Lärmen belustigte. Sein rundliches, ganz glatt rasiertes
-Gesicht blieb immer gleichmäßig ernst, und nur die besten Freunde
-errieten aus einem fast unmerklichen Zwinkern im rechten Augenwinkel
-seine heimliche Fröhlichkeit.
-
-Als Hellwig mit ihm zusammentraf, saß er, phlegmatisch und scheinbar
-gelangweilt wie immer, auf der Gartenbank unter dem breit schattenden
-Buchenbaum und grub mit dem Spazierstock Strich neben Strich in
-den Kies, während Doktor Kreuzinger von den Erfolgen des letzten
-Ärztekongresses lebhaften Bericht erstattete, den er bei Fritzens
-Ankunft unterbrach, um die Vorstellung zu besorgen.
-
-Ohne seine nachlässige Haltung zu ändern, hob Kolben nur ein wenig die
-Stirn, faßte den Jüngling mit einem raschen Blick und zeichnete nach
-einem kurzen Kopfnicken schweigend weiter.
-
-Hellwig empfand das als Unhöflichkeit und Beleidigung. Hitziger, als
-eben nötig war, sagte er:
-
-„Herr Doktor, es wird besser sein, wenn ich wieder gehe. Der Herr
-scheint die Störung nicht zu wünschen!“
-
-Begütigend winkte der alte Gelehrte mit beiden Händen. Bevor er jedoch
-etwas sagen konnte, war Kolben schon gemächlich zur Seite gerückt und
-antwortete, fortwährend eifrig weiterstrichelnd: „Was Ihnen nicht
-einfällt! Setzen Sie sich nur her.“ Damit goß er aber Öl in die Flamme.
-
-„Eine solche Behandlung brauche ich mir nicht gefallen zu lassen!“
-brauste Fritz auf. „Sparen Sie sich das für Ihren Pferdeknecht!“
-
-Nun hob der andere den Kopf. Das glatte Kinn auf den Stockknauf gelegt,
-schaute er dem Zornigen mit einem erstaunten Blick in die Augen. „Was
-für ein Unterschied,“ fragte er unerschüttert ruhig, „was für ein
-Unterschied ist denn zwischen Ihnen und meinem Pferdeknecht?“
-
-Da sah ihn Hellwig noch ein paar Sekunden streitgewärtig an. Dann
-senkte er beschämt die Augen. Und jetzt stand Kolben auf, langsam,
-gemessen, mit der ihm eigenen steifen Würde, trat neben ihn und sagte,
-immer mit der gleichen kalten Nachlässigkeit: „Seien Sie nicht so
-empfindlich. Guter Ton, feine Manieren -- mit solchen Albernheiten
-werden wir uns doch _hier_ nicht abgeben. Kommen Sie. Und seien Sie
-versichert: Wer in den Frühstunden bei unserm verehrten Doktor Gast
-sein darf, den achte ich schon um dessentwillen. Allerdings, verbeugen
-werde ich mich trotzdem nicht vor Ihnen.“
-
-Bei diesen Worten glitt etwas wie ein Lächeln über seine Züge. Und da
-war nichts mehr von Phlegma oder Langeweile darin. Geistvoll, klar
-und klug, erhielt dieses gescheite Gesicht, das sonst hinter der
-angewöhnten Ruhe wie eingefroren lag, durch die reife Verständigkeit
-seines Lächelns etwas ungemein Gewinnendes und Anziehendes.
-
-Mit einem geschickt aufgegriffenen Thema verstand Doktor Kreuzinger
-auch die letzten Reste der Mißstimmung zu beseitigen und geriet über
-Kolbens Einwürfe gegen die Gasträatheorie bald in ein schönes Feuer,
-wurde beredt und ausführlich. In die faltigen Wangen hinter dem
-silbrigen Bartgewelle stieg eine sachte Röte, und es dauerte nicht
-lang, so sprach nur mehr er allein, indes die zwei jüngeren aufmerksam
-zuhörten und sich in der warmen Glut, die von dem prächtigen Greise
-ausströmte, seltsam einander näher gerückt fühlten.
-
-Aber nicht immer war diese klare Ruhe bei Hellwig. Noch war ein
-Großes, Lastendes da, mit dem er fertig werden mußte. Seit jener bei
-der toten Mutter durchwachten Nacht hatten ihn die Zweifel nicht mehr
-losgelassen. Und jetzt, da ihn die Prüfungssorgen nicht mehr ablenkten,
-standen sie wieder übermächtig auf. Und mit ihnen der Vorwurf, daß er
-seiner Mutter das Sterben schwer gemacht habe.
-
-Oft sprach er darüber mit Heinz.
-
-„Ich mußte ja, gelt, du? Es ging doch nicht anders? Aber wenn, --
-Heinz, ich such’ und such’ -- aber wenn ich einmal draufkomm ... Nicht
-wahr, du, es ist nichts?“
-
-Und er trug zusammen, was er an Schriften über Religionssysteme und
-Weltanschauungen auftreiben konnte. An jedes Werk ging er mit Zittern
-und Zagen, daß er darin vielleicht auf einen Beweis für das Dasein
-Gottes stoßen könnte und auf die Bestätigung seines Unrechts gegen die
-Tote. Aber er fand nichts. Der Kult der Azteken, die ihrem Kriegsgott
-Huizilopochtli ‚Menschen opferten, um glückliche Kriege zu führen
-und Kriege führten, um solche Menschenopfer herzuschaffen‘, erschien
-ihm ebenso sinnlos oder berechtigt, wie das papierne Gohei in den
-Sintotempeln der Japaner, die Apisverehrung der Ägypter oder die
-Heiligkeit des Hundes bei den Iraniern. Und weder Avesta und Zend, noch
-Koran, Bibel, Luther und die ganze Reihe der Denker von Spinoza bis
-Spencer vermochten ihn der Wahrheit irgendwie näher zu bringen.
-
-
-12.
-
-Die Ferien vergingen im Flug. Hellwigs Abreise stand in wenigen
-Tagen bevor. Als eine Art Abschiedsfeier wurde ein Ausflug in die
-weitere Umgebung unternommen. Auch Pichler wurde eingeladen, der die
-Reifeprüfung mit Auszeichnung bestanden hatte.
-
-In tauiger Morgenfrühe schritt die Gesellschaft durch das noch
-erhaltene alte Stadttor ins Freie. Voran Wart Nikl mit seiner schönen
-Frau, hinter ihnen Eva zwischen Kolben und Pichler. Doktor Kreuzinger
-mit Heinz und Fritz machten den Beschluß.
-
-Durch die Herbstluft segelten die kleinen Spinnen in ihren leichten
-Silberschiffchen, der Rauch der Erdäpfelfeuer zog über die fahlen
-Fluren, und in den Stoppelfeldern folgten die Reihen der Jagdliebhaber
-ihren lohfarbenen Vorstehhunden.
-
-Manchmal blitzte ein Flintenlauf, rundete sich ein Rauchwölkchen,
-knallte ein Schuß. Ein Hase überschlug sich und schrie, ein Hund heulte
-auf, ein scharfes Befehlswort verklang. Und wieder war es still, und
-lautlos glitten die Silberschiffchen, schneller, immer schneller, als
-wollten sie den Menschen entrinnen und ihrer Tücke gegen die ehrlichen
-Kreaturen.
-
-An Evas Seite fühlte sich Pichler in seinem Fahrwasser. Hier war
-er der Schwerenöter, wollte Eindruck machen, zog alle Register
-seiner wortgewandten Liebenswürdigkeit. Er war witzig, geistreich
-und gefühlvoll, warf Artigkeiten und Schmeicheleien wie ein Gaukler
-schimmernde Glaskugeln in die Luft und schwafelte und salbaderte in
-einem fort.
-
-Eva ließ sich’s gefallen. Sie lachte über seine Mätzchen, schaute ihn
-belustigt an und fand, daß es sich mit ihm ganz gut plaudern ließ.
-Manchmal blieb sie auch stehen, wartete auf den Großvater und fragte
-ihn nach dem Namen eines verspäteten Schmetterlings oder eines klar in
-blauer Ferne aufsteigenden Berges, tauschte neckende Worte mit Heinz
-oder ermahnte Hellwig, der hellen Gotteswelt kein so sauertöpfisches
-Gesicht zu schneiden. Ganz heiß und eifrig war sie, hatte rote Backen
-und glänzende Augen und überließ die jungen Glieder dem milden
-Sonnenschein mit einem läßlichen Behagen, das wohlig war und ein wenig
-sinnlich, wie in einem laulichen Bade.
-
-„Wenn ich Sie ansehe, gnädiges Fräulein, muß ich an Gottfried Keller
-denken,“ sagte Pichler. Und das Mädchen darauf: „Jemine, wieso denn?“
-
-„Ja, ganz bestimmt. Sie erinnern mich an eine seiner Frauengestalten.
-Nämlich an die Figura Leu im ‚Landvogt von Greifensee‘. Die hat
-mir immer ausnehmend gefallen. Warten Sie, wie sagt das nur gleich
-Keller? Ja: sie war ein elementares Wesen. Ein elementares Wesen,
-dessen goldblondes Kraushaar sich nur mit äußerster Anstrengung den
-Modefrisuren anbequemen ließ und dem Perruquier des Hauses täglich den
-Krieg machte. Sie lebte fast nur vom Tanzen und Springen. So beiläufig
-heißt es. Und dasselbe gilt auch von Ihnen. Sie sind von demselben
-entzückenden Übermut. Und diese widerspenstigen Löckchen hier ...“
-
-Er faßte nach dem feinen Gekräusel an ihrer Schläfe. Durch eine hastige
-Wendung des ganzen Körpers wich sie der Berührung aus. „Sie sind ein
-Schmeichler!“ sagte sie halb verlegen, halb erfreut.
-
-Da machte Doktor Kolben, der bisher leise pfeifend ein paar Schritte
-seitwärts von ihr gegangen war, seine erste Bemerkung:
-
-„Herr Pichler hat etwas vergessen, mein kleines Fräulein,“ begann er.
-Sofort unterbrach sie ihn im hellen Zorn: „Ich bin nicht Ihr kleines
-Fräulein!“ Ihr Auge sprühte, der Fuß stampfte die Erde. Doch der
-unausstehliche Mensch fuhr gleichmütig fort: „Das meine nicht, aber
-doch das kleine. Vorderhand wenigstens. Wir können ja noch wachsen.
-Das müssen wir eben abwarten. Heute wollte ich nur erwähnen, daß jene
-Figura Leu, die Herr Pichler an den Haaren herbeigezogen hat, von ihrem
-Verehrer gemeinhin nur der Hanswurstel genannt wurde. Ob der Vergleich
-in dieser Hinsicht ebenfalls stimmt, soll dahingestellt bleiben.“
-
-Kolben sagte das, weil er über die junge Schöne ungehalten war, die so
-mir nichts, dir nichts auf Ottos Plattheiten hineinfiel. Sie würdigte
-ihn keiner Antwort, klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne und
-zerrte an ihren Fingern, bis die Gelenke knackten.
-
-Pichler versicherte unter vielen Entschuldigungen, seine Worte seien
-natürlich nicht so aufzufassen, nur die reizende Grazie habe er
-kennzeichnen wollen, den Glanz der Löckchen ...
-
-„Hören Sie schon auf mit dem dummen Zeug!“ unterbrach da Wart Nikls
-Tochter den Honigfluß seiner Rede. Nun schwieg er und tat beleidigt.
-
-Kolben hatte ihre letzten Worte nicht mehr vernommen. Angewidert von
-Pichlers Geschwätz, hatte er sich auf dem Absatz herumgedreht und zu
-Doktor Kreuzinger begeben.
-
-Dort machte Fritz noch immer sein sauertöpfisches Gesicht. Er blickte
-nach der frischen Mädchengestalt, an der alles Verheißung war und leise
-schwellendes Werden, sah ihre anmutigen Bewegungen, den Rhythmus der
-Glieder beim leichten Schreiten, hörte das klingende Lachen und empfand
-eine unbestimmte Sehnsucht, wie arme Schelme im Kellergeschoß nach den
-hohen, luftigen Räumen der Vermöglichen.
-
-Heinz stritt mit dem Großvater über den Zukunftsstaat.
-
-Die tiefe Baßstimme Wart Nikls dröhnte hallend weithin durch den
-ruhevollen Herbstmorgen. Bald rief er einem bekannten Jäger ein
-Weidmannsheil zu oder erwiderte lärmend den Gruß eines Vorübergehenden,
-bald hatte er ein Scherzwort für seine Tochter oder zeigte er seiner
-Frau die Grenzlinien der einzelnen Besitzungen und lobte oder schimpfte
-nicht gerade leise über deren Bewirtschaftung.
-
-Langsam schlenderte Hellwig hinter der Gesellschaft her. Da schob sich
-plötzlich ein fremder Arm unter seinen. „Kommen Sie!“ sagte Doktor
-Kolben. „Wir gehn Schwämme suchen.“
-
-Fritz sah ihn verwundert an. Eine so vertrauliche Annäherung war bei
-dem in sich verhaltenen Menschen etwas Ungewöhnliches.
-
-„Ich weiß hier herum ein paar famose Plätze!“ sprach dieser weiter und
-tat, als merkte er das Staunen des andern nicht. „Hier links in den
-Wald einige hundert Schritte aufwärts. Dort pflegen Herrenpilze zu
-wachsen.“
-
-Noch einmal schaute Hellwig nach dem Mädchen. Das lachte eben Pichlern
-zu, der sein Schmollen aufgegeben hatte. Da fühlte er ein leises Zucken
-im Herzen. Er preßte die Lippen fest aufeinander. Eine tiefe Falte
-stand ihm wieder einmal über dem scharf einspringenden Nasensattel
-senkrecht auf der steilen Stirn. Das hagere Gesicht bekam sein kühnes,
-wie versteintes Aussehen. Ohne Widerstand ließ er sich von Kolben in
-den Wald führen.
-
-Zwischen den geraden Kieferstämmen, die mit dürftigen Kronen wie
-erschöpfte Krieger in Reih und Glied standen, gingen sie auf dem
-rostroten Nadelboden, über gewundenes Wurzelwerk und dann wieder durch
-rauschendes Heidelbeergestrüpp eine gute Weile stumm vorwärts.
-
-„Hier ist einer!“ sagte der Doktor, bückte sich und durchschnitt mit
-dem Taschenmesser den Strunk eines Pilzes. Fritz sah gleichgültig
-zu. Kolben steckte den Fund in die Tasche. Von Moos und Farnkräutern
-umwuchert, lag ein niedriger Felsblock quer über dem Jagdsteig. Kolben
-setzte sich. Fritz stand daneben und schaute düster in das bewegliche
-Gitter aus Sonnenstrahlen und Wipfelschatten auf dem Boden.
-
-Der Doktor brach endlich das Schweigen. „Was ist eigentlich mit Ihnen
-los, Hellwig? Was drückt Sie?“
-
-Seine Stimme klang warm und herzlich. Aus seinem Antlitz war alle kalte
-Verschlossenheit weggewischt. Aber Fritz erwiderte schroff abweisend:
-„Was veranlaßt Sie zu dieser Frage?“
-
-„Lassen wir den Stolz beiseite!“ antwortete Kolben. „Aussprache tut
-immer gut. Sie gehn ja herum, als ob Sie jeden Halt verloren hätten.“
-
-„Herr Doktor!“
-
-„Ich heiße Kolben. Albert Kolben. Das ‚Herr‘ ist überflüssig. Ja,
-und ... vertrauen Sie mir!“ Ein freundlich aufmunternder Blick der
-gescheiten Augen begleitete die Bitte.
-
-Fritz erwiderte nichts.
-
-„Vertrauen Sie mir! Es ist nicht zudringliche Neugier oder
-Unverschämtheit von mir. Nur -- ich hab’ mal einen gekannt. Der ist
-genau so herumgelaufen. Und war schon nahe dran, den Sprung ins große
-Dunkel zu machen. Sein oder Nichtsein. Ob’s edler im Gemüt ... Hat
-ihn arg gehabt damals. Zweifel an der Welt, an Gott, an den Menschen,
-an allem, was man so heilig, ehrwürdig, groß, erhaben, sittlich oder
-moralisch nennt. Und kein Ausblick. Als wär’ ein Brett vor der Erde
-gewesen. Soweit hat er gehalten. Und kein Ausblick. Triebleben,
-Hinvegetieren, zwecklos, stumpfsinnig. Nicht wahr? -- Kultur? -- Auch
-die Ameise schafft sich angenehme Lebensbedingungen. -- Moral? -- Der
-Pöbel und Moral! Ein Tiger, der Gras frißt! Eher will ich aus Cäsar
-einen Lakaien machen als dem Pöbel die Gemeinheit abgewöhnen. Also, da
-hat er gehalten. Na ja denn, ich selber bin’s gewesen. Und da ist einer
-gekommen, der hat’s gewußt und sich ausgekannt. Hat eine feine Hand
-gehabt der -- Doktor Kreuzinger heißt er --, eine leichte. Und hat mir
-den Star gestochen. Und hat mich ins Leben hinein gestoßen. So recht
-mitten hinein ins Leben. Da steh! Laß die Woge kommen und halt stand!
-Und fürcht’ dich nicht. Und -- wirf dich hinein! Brauch’ deine Arme!
-Schwimm! Es geht schon, es trägt dich schon! -- -- Und wahrhaftig, es
-ist gegangen. Es hat mich wirklich getragen. Hätt’s niemals gedacht. --
-Also, darauf kommt’s an. Klarer Kopf. Helles Auge. Ruhige Hand. Nicht
-grübeln, Grashalme zählen, Grillen fangen. Arbeiten! Fest arbeiten!
-Mitten in den Wellen gegen die Wellen. Ein Ziel vor sich und drauflos!
-Ein Ziel, ja! Aber nicht oben bei den Wolken. Hier, wo du feststehst,
-auf der Erde unter den Menschen ... Da geh’ drauf und dran! Schulter
-an Schulter mit den andern. Oder, wenn sie das nicht wollen, lauf
-allein voraus! Sie folgen schon. Und wenn sie auch das nicht wollen --
-wenigstens hast du Ruhe!“
-
-Selten ließ der wortkarge, zugeknöpfte Mann jemanden so in sein Inneres
-schauen. Fritz fühlte das. Und nun konnte er nicht mehr an sich halten.
-Erst stockend, dann zusammenhängender, leidenschaftlicher redete er
-sich alles von der Seele herunter, was ihn in letzter Zeit überstürmt
-und aus der Bahn geworfen hatte.
-
-Kolben unterbrach ihn nicht. Seine dunklen Augen lagen wieder wie
-verschleiert hinter den goldgeränderten Brillengläsern. Die Spitze des
-Spazierstocks zeichnete Strich neben Strich in den glatten Waldboden.
-Endlich war Fritz mit seiner langen Beichte fertig.
-
-„So steh’ ich da!“ knirschte er zwischen den Zähnen. „Und weiß nicht
-ein und aus. Das Vergangene liegt mir wie ein Stein vor der Zukunft.
-Ich kann ihn nicht wegwälzen! Er rührt und rührt sich einfach nicht!
-Die ganze Kraft geht drauf! Ich verbrauch’ mich, werde hin! Von meiner
-toten Mutter kann mich keiner erlösen!“
-
-Er schwieg mit keuchenden Lungen. Aus den Wipfeln kam das leichte Wehen
-des Windes wie der Atem der Stille. Kolben erhob sich, trat ganz dicht
-zu ihm heran.
-
-„Mut, Fritz! Und Geduld! Du -- wir werden uns wohl von heut’ an du
-sagen müssen -- du wirst bald drüber weg sein. Jetzt aber -- fürs erste
--- schaun wir, daß wir zu den anderen ins Forsthaus kommen. Abends
-hältst du dich dann bei mir auf. Vielleicht hab’ ich was für dich.“
-
-In der Nacht, die diesem Tage folgte, schloß Fritz kein Auge. Er suchte
-nicht einmal den Schlaf, hatte kein Verlangen darnach. Rastlos wanderte
-er in seiner Kammer auf und ab, mit leuchtenden Augen, breitete die
-Arme oft weit aus und fühlte sich endlich ganz leicht und frei.
-Abgefallen war, was ihn bedrückt hatte, fortgetilgt die Unrast, das
-Suchen nach einem Überirdischen. Glatt und offen lag der Weg in die
-Zukunft vor ihm.
-
-Er hatte einsehen gelernt, daß er seine Kräfte an etwas zu verschwenden
-im Begriff gewesen, das keiner ergründen konnte. Daß der Gedanke an den
-Zustand nach dem Tode ein Feind des Lebens sei. Und daß die Grübler und
-Dogmatiker die Menschheit um keinen Zoll vorwärts gebracht hatten,
-sondern nur die Handelnden, die Blutzeugen, die Männer der Tat.
-
-‚Ich schreib’ getrost: Im Anfang war die Tat!‘ -- Jetzt fiel’s ihm
-wieder ein, und jetzt konnte er auf einmal nicht verstehen, wie ihn
-nicht schon damals, als er den Faust las, diese einfachste und klarste
-aller Weisheiten auf die richtige Spur gebracht hatte. Daß er erst noch
-viele Monate im Dunkeln getappt und sich gemartert hatte, bis ihn jetzt
-der viel verlästerte Kolben zum Ausgangspunkte zurückführte und die
-Bahn frei machte durch ein paar treffsichere Worte und mit Hilfe einer
-Übersetzung der Hymne ‚An einen unbekannten Gott‘ aus dem Rigveda. Da
-lag sie vor ihm im gelben Lampenlicht, Druckerschwärze auf vergilbtem
-Papier, und sprach mit tausendjähriger Zunge zu ihm, tröstete,
-beruhigte, richtete ihn auf durch die Erkenntnis, daß ein Rätsel, das
-seit unzählbaren Jahren die Menschen zu ergründen sich mühten und nicht
-ergründen konnten, kein Rätsel sei, sondern vererbter Wahn mit einem
-Inhalt ohne Wert für das Leben und für die Entwicklung, eine taube Nuß.
-
-Wieder und wieder las er das mächtige Gedicht in der meisterhaften
-Übertragung, jetzt im Zusammenhang, jetzt einzelne Strophen, und als er
-sie alle auswendig wußte, sprach er die letzten noch und abermals laut
-vor sich hin:
-
- „Wer weiß es denn, wer hat es je ergründet,
- Woher sie kam, woher die weite Schöpfung?
- Die Götter kamen später denn die Schöpfung --
- Wer weiß es wohl, von wannen sie gekommen?
- Nur er, aus dem sie kam, die weite Schöpfung,
- Sei’s, daß er selbst sie schuf, sei’s, daß er’s nicht tat --
- Er, der vom hohen Himmel her herabschaut,
- Er weiß es wahrlich! Oder -- weiß auch er’s nicht?“
-
-
-
-
-Zweites Buch
-
-
-1.
-
-Im Oktober kamen Hellwig und Pichler nach Prag und nahmen Quartier bei
-der Frau Wondra, die in zwei Zimmern fünf Hochschülern Wohnung und
-Verpflegung gegen ein sehr mäßiges Entgelt gewährte. Sie war die Witwe
-eines Unteroffiziers, der ein starker Pfeifenraucher gewesen war und
-ihr außer einer kleinen Pension nichts hinterlassen hatte als dreißig
-Pfeifen von der billigsten Sorte, mit langen und kurzen Rohren, mit
-Gips-, Holz- und bemalten Porzellanköpfen, alle wohleingeraucht und
-arg mitgenommen. Als sich für die duftende Sammlung kein Käufer finden
-wollte, tat es der sparsamen Hausfrau leid, sie unbenützt verstauben
-zu lassen, weshalb sie sich auf ihre alten Tage selbst das Rauchen
-angewöhnt und es hierin noch jedem ihrer jungen Mieter zuvorgetan
-hatte. Da sie kahl war, trug sie sommers und winters dieselbe große
-Haube aus braunem Taft, die den Schädel und die Ohren zudeckte und für
-das gelbe Gesicht einen kreisrunden Rahmen abgab. Was auf dem Kopf an
-Haaren zu wenig, wuchs dafür in gedoppelter Fülle als Schnauzbart unter
-der Nase, die zum Himmel strebte, als wollte sie sich in beleidigtem
-Stolz vor so unfraulicher Zierde zurückziehen, worüber sich hinwiederum
-zwei kleine graue Schlitzäuglein anscheinend sehr belustigten, weil
-sie fortwährend zwinkerten und blinzelten. Doch je ungeschlachter ihr
-Aussehen, je derber ihre Rede war, desto milder und lockerer gerieten
-ihr die Mehlspeisen, die Buchteln, Dalken, Nudeln und Kolatschen, mit
-denen sie für das leibliche Wohl ihrer Studenten sorgte. Aber auch
-das Seelenheil der jungen Leute war ihr nicht gleichgültig, und um die
-schwankende Jugend vor Abwegen zu bewahren, suchte sie ihre Kostkinder
-abends an das Haus zu fesseln, indem sie mit ihnen Schafkopf spielte
-oder ein Quodlibet um ein beschränktes Bierquantum.
-
-In dem größeren der beiden Zimmer wohnten bereits seit einigen
-Semestern der Astronom König, der Philosoph Fundulus und der Mediziner
-Karg, alle drei schon bemoostere Häupter, die sich bei der Wondra
-zufällig gefunden und trotz ihrer verschiedenen Neigungen Freundschaft
-geschlossen hatten.
-
-Diese Freundschaft pflegte regelmäßig auch auf die rascher wechselnden
-Mieter der anderen Stube ausgedehnt zu werden, und schon am Abend nach
-ihrem Einzug erhielten Fritz und Otto unter Führung der Wondra den
-Besuch der Zimmernachbarn. Die Quartiersfrau trug sechs Tabakpfeifen,
-der Mediziner den großen Bierkrug, der Philosoph den Tabaktopf und
-der Astronom die abgegriffenen Spielkarten. Würdevoll überreichte die
-Wondra den neuen Pfleglingen zwei Rauchwerkzeuge zur ausschließlichen
-Benützung für die Dauer des Mietverhältnisses und gegen die
-Verpflichtung, nach einer bestimmten Reihenfolge abwechselnd mit den
-übrigen für die Füllung des Tabakbehälters zu sorgen.
-
-Nach dieser feierlichen Handlung wurde ihnen eröffnet, daß man gesonnen
-sei, sie in die Hausgemeinschaft Wondra aufzunehmen und solche Ehre
-festlich zu begehen mit Hilfe eines Viertelhektoliters Bier, den die
-Aufgenommenen nach Brauch und Fug zum besten geben mußten.
-
-Mit großem Hallo wurde das Faß aus der Schenke geholt, worauf ein
-mächtiges Gelage anhob, in dessen Verlauf der Mediziner mit der
-bärtigen Witwe einen Hopser tanzte, daß die Dielen dröhnten und
-die Haube in greuliche Unordnung kam. Des Philosophen dagegen, der
-eine sehr verliebte und schwärmerische Wesenheit war und nicht viel
-vertragen konnte, hatte sich bald eine weinerliche Stimmung bemächtigt,
-in der er Pichlern von seiner Liebsten daheim erzählte und ihre Treue
-in Zweifel zog, um sich sogleich wieder wegen des schimpflichen
-Verdachtes die bittersten Vorwürfe zu machen.
-
-Fritz saß mit König, einem unentwegten stillen Zecher, beim Fenster und
-hielt durch einsilbige Bemerkungen ein notdürftiges Gespräch mühsam im
-Gange. Doch wurde das dem Sterngucker bald langweilig. Er stand auf
-und gesellte sich dem Philosophen zu, den er durch eine Bemerkung über
-die Minderwertigkeit des Weibes rasch in Harnisch brachte und in der
-anschließenden erregten Auseinandersetzung mit Brocken aus Schopenhauer
-kräftig bombardierte.
-
-Unvermutet fand sich Fritz allein in der Fensternische. Niemand fragte
-oder kümmerte sich um ihn, und es war ihm ganz recht so.
-
-Die Fenster des hoch gelegenen Zimmers gaben Ausblick in einen engen
-Hof und jenseit desselben über ein Gewirr von Dächern und Türmen und
-Giebeln, die in dem silberblauen Glanz der Mondnacht schimmernd ruhten.
-Und dunkel aus dem sanften Glanz herausgehoben, wuchtete darüber der
-Hradschin und trug den mächtigen Dom wie eine schwere, stolze Krone.
-Oben wanderten und neigten sich die Sterne, unten lag die Stadt von
-den beweglichen Wellen des Mondlichts umspielt, -- und inmitten stand
-der alte Königsitz, aller Nähe und Ferne entrückt, in immer gleicher,
-steinerner Ruhe stumm, dunkel und geheimnisvoll.
-
-Sonderbar ergriffen schaute Fritz auf dieses Märchen, das Glanz und
-Nacht und Stille um einsam thronende Größe woben. In der Stube lärmten
-und lachten die Zecher. Er achtete nicht darauf. Sehnsucht nach Arbeit
-überkam ihn, nach einer schöpferischen Tat, an der er seine Kräfte
-erproben, ermüden, ausgeben könnte. Und noch als die übersättigten
-Trinkkumpane schon längst in dumpfen Schlaf versunken waren, lag
-er wach und sehnte sich nach einer Aufgabe, riesenhaft gleich der
-gewaltigen Königsburg, die von Menschenhänden über eine ganze große
-Stadt gestellt, sie machtvoll und unnahbar beherrschte.
-
-Aber er fand nicht, was eigentlich diese Aufgabe sein sollte, und mit
-schmerzendem Schädel schlief er endlich ein.
-
-In der Klarheit des nächsten Morgens, der über einen tiefblauen
-Herbsthimmel eine silberweiße Sonne heraufleitete, erwachte er freier,
-als er sich niedergelegt hatte, kleidete sich rasch an und eilte auf
-die Gasse. Es trieb ihn zu den Stätten, die aus der Ferne solchen
-Eindruck auf ihn gemacht. Er wollte sie durchforschen, erobern, ganz in
-sich aufnehmen wollte er sie und zugleich sehen, ob auch im nüchternen
-Schein des Tages der drückende Zauber bestehen blieb.
-
-Mit niedrigen Türen und kleinen Fenstern unter zerbröckelten Gesimsen
-standen unten in der engen Gasse schmalbrüstige Häuser, mit verrußten
-Mauern und vorspringenden Dächern drängten sie sich aneinander, alt,
-müde, eins das andere stützend und alle vom leisen Abglanz toter
-Jahrhunderte traurig umwittert. Unverändert standen sie so, ließen
-die Jahre vorübergehn, und wenn aus einem der dicken Gemäuer eine
-neue Öffnung herausgebrochen, eins der vielen Trödlergewölbe, wo von
-altersher die armen Juden ihren Handel trieben, in ein dürftiges
-Lädchen mit einem Auslagfenster umgestaltet wurde, ging es die Gasse
-entlang wie raunende Verwunderung ob solch unerhörten Eindringens einer
-andern Zeit.
-
-Als Fritz hinabkam, hatte trotz der frühen Stunde das geschäftige Leben
-bereits begonnen. Mit schlau-vertraulichen Verneigungen grüßten ihn
-die jüdischen Händler, riefen ihm verständnisvoll lächelnd ein paar
-leise Worte zu, auf ihren angehäuften Plunder deutend, in der Hoffnung,
-daß er ihnen etwas abkaufen oder in Pfand geben werde. Langsam ging
-er in der Richtung, wo er den Hradschin vermutete, vorwärts. Seine
-Schritte hallten laut in der engen Häuserschlucht, darüber ein schmales
-Streifchen Himmel war und ein wenig vom erstarkten Sonnenschein, der
-die Giebel vergoldete, ohne daß seine Quelle dem Auge sichtbar wurde.
-Und Gasse folgte auf Gasse, kreuz und quer. Stille Winkel waren da,
-unregelmäßige Plätzchen und dunkle Sackgassen, in denen die Häuser
-geduckt und wie furchtsam verkrochen standen, als hörten sie noch den
-Lärm der Verfolgungen, schauderten vor dem warmen Blut, das in Zeiten
-unduldsamen Glaubenseifers auf ihren Dielen verdampfte, an ihre Wände
-spritzte, in roten Bächen über die finstern Treppen rann.
-
-In dem Durcheinander des gleichförmig engen und schmutzigen Winkelwerks
-hatte Fritz bald jede Orientierung verloren und mußte sich endlich
-entschließen, einen Vorübergehenden nach dem Weg zu fragen. Der aber
-maß den deutschen Studenten mit einem feindseligen Blick, brummte ein
-paar tschechische Worte und gab keine Auskunft. Einigermaßen betreten
-ging Hellwig weiter, und das beklemmende Gefühl, als sei er in ein
-verschollenes Jahrhundert zurückversetzt, wurde stärker. Da kam ein
-weißbärtiger Hebräer, der in seinem Gewölbe den Vorfall mit angesehen
-hatte, auf ihn zu, dienerte und erkundigte sich in einem sonderbar
-harten Deutsch nach seinen Wünschen. Fritz sah auf das freundliche
-Männlein, das mit hohem Hut, fuchsigen Schaftstiefeln und schmierigem
-Leibrock vor ihm in der Häuserschlucht stand und vermißte -- er wußte
-nicht, wie ihm das in den Sinn kam -- die steife blaue Halskrause, die
-die böhmischen Juden noch im siebzehnten Jahrhundert auf der Straße
-tragen mußten. Doch zwang er sich in einem energischen Aufraffen des
-spukhaften Traumzustandes Herr und der Gegenwart wieder gerecht zu
-werden, brachte sein Anliegen vor und erhielt umständlichen Bescheid.
-
-Er bedankte sich, durchschritt noch einige Gassen und gelangte endlich
-zur Karlsbrücke. Vor ihm rollte, um Inseln, Mühlen und Brückenpfeiler
-brodelnd, mit braun dunklem Wasser der breite Strom, drüben baute sich
-Giebel über Giebel mit Kuppeln und Türmen und Zinnen die Kleinseite
-auf, und darüber ruhte, durch einen herbstlich goldigen Gartenwall
-geschieden, breit und wuchtig der Hradschin, in der Klarheit des Tages
-gleich hoheitsvoll und unnahbar wie im trüglichen Dämmer der Mondnacht.
-Nur die Linien waren schärfer und bestimmter die gewaltige Majestät,
-die der Veitsdom krönte, der im Panzer seines Gerüstwerks stumm und
-dunkel vor dem blauen Himmel stand.
-
-Keinen Blick hatte Fritz für die altertümliche Schönheit des Platzes,
-auf dem er sich befand, für den Auslug durch zwei Torbogen zum
-langgestreckten Moldaukai hinab, für die Türme und steinernen Bildwerke
-der berühmten Brücke. Unverwandt schaute er zur Burg hinüber, deren
-lautlose Größe ihn quälte und erdrückte.
-
-Dann war er am andern Ufer, ging wie schlafwandelnd an alten Palästen
-vorüber, hinter deren geöffneten Torflügeln die Trauer sterbender
-Gärten wehmütig versunken lag; durch eine steil ansteigende Gasse
-schritt er, und auch hier webte die Erinnerung, war die Stille einer
-längst verwehten Zeit. Doch war hier ein anderer Stil in den Häusern,
-die Fassaden waren reicher und schmuckvoller, durch schön geschmiedete
-Gitter oder kunstvolle Tore vorteilhaft gehoben. Allerlei Schildereien
-zierten die Fronten, hier glänzte ein silberner Schlüssel im blauen
-Felde über der Haustür, dort ein Wagenrad oder Winkelmaß, da wieder
-sprang ein Hirschlein mit vergoldeten Hufen, blühte eine vielblättrige
-Blume, als Zeichen einer Innung oder Wappen eines längst verstorbenen
-Besitzers und seines stolzen Bürgertums.
-
-Noch die Schloßstiege hinan, dann war er oben, trat ohne sich umzusehen
-durch die kühlen Torbogen in die weiten stillen Burghöfe. Eine pochende
-Unrast stieß ihn vorwärts, beklommen spähte er überall umher, aber kalt
-und abweisend ragten die mächtigen Quadermauern, schauten gleichgültig
-über ihn weg und ließen sich nicht nahe kommen. Und als er vor dem
-Veitsdom stand, da wuchs auch dieser hart vor ihm trotz der leicht
-aufstrebenden Schlankheit der Rippen, der wunderlich verzerrten Fratzen
-der Wasserspeier ruhig und sicher in die Luft hinauf, wie ein Gebirge
-aus Stein und Stille.
-
-Verzweifelt lief Hellwig von einer Örtlichkeit zur andern, ein
-ohnmächtiger Zorn war in ihm, daß ihn ein Menschenwerk so klein
-machen durfte, er wehrte sich dagegen und spürte doch, wie er dieser
-unfaßbaren Größe mehr und mehr unterlag.
-
-Da fand er sich unversehens an einem seltsamen Orte. Bunte Häuschen
-waren da, so klein, daß er mit der Hand den Dachsims fassen konnte,
-eines neben dem andern, mit Türchen und Fensterchen, wie von Zwergen
-für Zwerge geschaffen. Er war in das Alchimistengäßchen geraten. Und
-wie er näher zusah und wie ihm einfiel, daß der zweite Kaiser Rudolf
-mit seinen Magiern, Goldmachern und Sterndeutern hier hausete, da --
-atmete er leicht auf.
-
-Hier war etwas menschlich Warmes, eine Schwäche, ein mildes Licht, das
-auf die riesenhaften Prachtbauten hinüber leuchtete und ihnen allen
-Schrecken nahm. Tief unten lag die Stadt, zu beiden Ufern des Stroms
-hingebettet, ihre hundert Türme und Kuppeln und Türmchen leuchteten,
-blitzten und funkelten in der Sonne -- und wer von hier hinabschaute
-mit dem Bewußtsein des Herrschers, dem konnte wohl zumute sein, als
-stände er berghoch über all den geduckten Siedelungen, über all den
-ameisenklein wimmelnden Menschen im flachen Lande und könnte sie
-zertreten mit stampfendem Fuß nach Lust und Laune. Darum schuf er
-sich und seinem schrankenlosen Machtgefühl den unnahbar stolzen,
-riesenhaften Bau auf steiler Höhe, fern von allem Menschentreiben und
-der Sonne näher. Doch siehe -- dicht daneben, versteckt und heimlich,
-stellte er die kleinen, schwachen Hütten auf und trug aus der stolzen
-Burg sein schwaches, kleines Menschentum dorthin, wenn es ihn zu quälen
-anfing. Bei abergläubischem Spuk und geraunten Zaubersprüchen suchte er
-daran zu vergessen, aus glühenden Gemengen in absonderlich geformten
-Retorten sollte der hilflosen Ohnmacht ein Mittel zur Allmacht
-erstehen, im gelassenen Lauf der Gestirne nach der Zukunft forschend,
-wollte der Blinde sehend und wissend werden.
-
-So standen diese Häuschen als rührende Zeugen menschlicher Ohnmacht,
-die vergebens über ihre Grenzen tastet, und so wirkten sie befreiend
-und versöhnend auf Hellwig. Plötzlich war ihm Burg und Dom vertraut
-geworden. Der Gewalt des ersten Eindrucks entronnen, bemerkte er
-jetzt überall heimliche Schönheiten und anheimelnde Winkel, vom
-Zauber der Romantik überhaucht. Ganz glücklich wurde er darüber.
-Und jedesmal, wenn später wieder ein scheinbar unbegreiflich großes
-Menschenwerk lähmend auf ihn wirken wollte, mußte er an die kleinen
-Alchimistenhäuschen denken und lächelte leise fröhlich dabei.
-
-
-2.
-
-Pichler hatte sich für die Juristerei entschieden, während Hellwig
-nicht so ohne weiters schlüssig werden konnte. Zwar segelte er
-vorläufig ebenfalls unter der Flagge der Rechtsgelehrsamkeit, besuchte
-indes auch zahlreiche philosophische und naturwissenschaftliche
-Vorlesungen und wollte sich erst nach dem ersten Semester endgültig
-entscheiden.
-
-Bald sah er ein, daß er sich mit dem römischen Recht nie werde
-befreunden können. Die nüchterne Sachlichkeit desselben lief seinem
-nachdenklichen Wesen schnurstracks zuwider. Er begann das Kolleg
-zu schwänzen, saß während der so gewonnenen Zeit lieber in der
-Universitätsbibliothek. Gedrängt durch die Fülle der Erinnerungen,
-die sich ernst und eindringlich allerorten in der Stadt aufzeigten,
-begann er hier ein eifriges Geschichtsstudium und bemühte sich außerdem
-einen Überblick zu gewinnen über die Entwicklung der Kulturen und über
-die Verfassungen der Völker. Auch an den Nachmittagen verweilte er
-gern in dem hohen, wölbigen Saal, wo es so flüsternd leise herging,
-die Diener mit schweren Bücherpäcken nur auf den Zehen hinter den
-Stuhlreihen umherschlichen und über vergilbte Schmöker gebeugt, junge
-und alte Leute emsig lasen oder Auszüge machten. Das Rascheln der
-starken Pergamentblätter, das Knistern des Papiers und das Gekritzel
-der Bleistifte gab eine gute, zu geistiger Sammlung ladende Melodie. Im
-Flug vergingen ihm die Stunden, und nach seiner Meinung gewöhnlich viel
-zu früh stand der Diener hinter ihm mit der höflich-leisen Einladung,
-Schluß zu machen, weil gleich gesperrt würde. Wohl entlieh er sich
-auch Bücher und trug sie in seine Wohnung. Aber dort war abends an ein
-ernstes Arbeiten nicht zu denken.
-
-Nebenan in der großen Stube fand sich täglich die geräuschvolle
-Quodlibetpartie zusammen. Pichler war jetzt einer der fleißigsten
-dabei, denn er hatte dem Spiel Geschmack abgewonnen und pflegte es
-mit dem gleichen geschäftsmäßigen Eifer, den er tagsüber auf sein
-Studium verwendete. Aber auch der einsame Bücherwurm im Nebenzimmer
-blieb nicht unbehelligt. Jede halbe Stunde steckte die Wondra den Kopf
-zur Tür herein und forderte ihn auf, mit ihnen lustig zu sein. Oder
-es erschien der Philosoph und erlaubte sich eine spezielle Blume. Und
-wenn Karg zu Hause war, kam er ebenfalls und wich nicht, bis Hellwig
-endlich aufstand und sich den fröhlichen Zechern zugesellte. Dann
-bemühte sich Karg so gewinnend als möglich zu sein. Denn die zwei
-strammen Neuberger gefielen und schienen ihm der Fuchsenehre würdig bei
-der Landsmannschaft Herminonia, der er selbst angehörte. Grün-weiß-rot
-waren die Farben, unentwegt und immerdar judenrein, arisch-deutsch
-die Mitglieder, gewaltig ihre Leistungen im Vertilgen des bräunlichen
-Gerstensaftes, und mit neidvoller Bewunderung erzählte man sich in
-den anderen Verbindungen von den ungezählten Halben, die auf den
-Herminonenkneipen die schwitzenden Kellner herbeischaffen mußten.
-
-Dieserhalb, nicht minder aber wegen ihrer geradlinigen Ehrlichkeit war
-das Ansehen der Herminonen unter der farbentragenden Studentenschaft
-groß. Sie wußten es sich aber auch zu erhalten durch die immer bereite
-Kühnheit, mit der sie auf dem Paukboden standen, wo sie dann die
-scharfen Klingen ebenso geschickt und flink handhabten, wie sie bei den
-Hochschülerkränzchen plump und ungelenk das Tanzbein schwangen, mit der
-gleichen Seelenruhe dort furchtbare Rückschneidquarten in die Gesichter
-der Gegner, hier nicht minder gefürchtete Tritte auf die Zehen der
-Tänzerinnen austeilend.
-
-Den unablässigen Werbungen des Mediziners glückte es endlich, seine
-beiden Stubennachbarn zur Teilnahme an der Eröffnungskneipe zu bewegen.
-Pichler tat es gern mit der frohen Aussicht auf eine vergnügliche
-Unterhaltung, während Hellwig mitging, um sich die Geschichte einmal
-anzusehen und aus eigener Anschauung eine Sache kennenzulernen, deren
-Lob ihm seit der Gymnasialzeit in die Ohren tönte.
-
-Wie alte Bekannte wurden sie aufgenommen, trafen hier auch einige,
-mit denen sie gemeinsam die Schulbank in Neuberg gedrückt hatten,
-schon in junger Fuchsenherrlichkeit mit Kappe und Band und im
-Vollgefühl ihrer neuen Würde. Einer war darunter, der hatte noch
-kaum vor Jahresfrist in der Geschichtsstunde behauptet, daß sein
-Vaterland eine absolutistische Verfassung habe. Jetzt aber redete er
-von der Notwendigkeit der Sonderstellung Galiziens, von der deutschen
-Staatssprache und von der Einsicht, die Bismarck mit der Gründung des
-Norddeutschen Bundes unter Ausschluß Österreichs an den Tag gelegt,
-redete noch von vielen anderen Dingen, als hätte er selbst sie gemacht
-und alle hohe Staatswissenschaft in der Westentasche. Und ein anderer
-war da, Karl Deimling, schon ein alter Knabe, der redete beinah
-überhaupt nichts, sondern trank nur immerzu, und wenn er sonst noch
-die Lippen voneinander tat, war es zum Singen eines rauhen Trinkliedes
-oder zu einer knappen Bemerkung, die mit harter Grobheit wie eine
-Panzergranate einschlug. Doch war er ein zuverlässiger Kamerad, treu
-wie ein Bulldogg, und kannte kein anderes Ideal, als die Farben der
-Herminonen untadelig blank zu halten vor Feind und Freund. Schon
-manchen Fuchs hatte er gedrillt. Ja fast alle, die jetzt als Burschen
-an der oberen Tafel saßen, waren einst mit sprossenden Bärten und den
-ungelenken Bewegungen junger großer Tiere unter seine Fuchtel gekommen.
-Prachtkerle waren darunter aufgestanden, sehnige Gestalten mit
-blutroten Narben in den energischen Gesichtern, mit Augen, die in einem
-selbstverständlichen Mut kühl und beinah schwermütig darein blickten,
-und mit einer geflissentlich zur Schau getragenen Kaltblütigkeit,
-die sie älter und reifer erscheinen ließ. Doch wenn sie ganz unter
-sich waren, dann warfen sie diese Würde wie einen lästigen Mantel ab,
-schäumten auf und brausten in zweckloser Lebensfreudigkeit, wurden
-übermütig wie Füllen, ausgelassen wie Kinder nach dem Gottesdienst.
-Hellwig aber begriff weder die Notwendigkeit jenes gemessenen Gehabens,
-noch hatte er Verständnis für die harmlose Freude an Unsinn, Kinderei
-und Ulk. Er konnte nicht mit dem Leben spielen, hatte sich auf jede
-Sache noch immer mit der ganzen Wucht seiner schweren Gründlichkeit
-geworfen und kannte die Freude des Schwimmers nicht, der im Ringen mit
-hoch gehenden Wogen seine überschüssige Muskelkraft um ihrer selbst
-willen vergeudet.
-
-Feierlich wurde die Kneipe eröffnet, weihevoller Sang ertönte zum
-Preise der Freiheit und des Deutschtums. Sehr anständig und förmlich
-ging es zu, bis unten an der Fuchsentafel ein lustiges Trinklied
-aufklang: „Sa, sa, geschmauset, laßt uns nicht rappelköpfisch sein!“
-
-Da war das Eis gebrochen. Ein scharfes Zechen hob an, Blumen wurden
-zugetrunken, Bierjungen gebrummt, Übermütige zum Einsteigen verdonnert.
-Karg als Fuchsmajor hielt scharfes Regiment. Er ließ seine Füchse
-strafweise trinken, daß sie anschwollen wie Schwämme im Wasser. Das
-kleinere der Trinkhörner begann zu kreisen. Staunend sah Hellwig, wie
-mit Ausnahme der allerjüngsten jeder das erzbeschlagene Gefäß in einem
-Zuge leerte, ohne Atem zu holen, ohne zu verschütten oder zu ‚bluten‘.
-Die Pfeifen qualmten, eine dicke Wolke Tabakdampf umschleierte die
-Gasflammen, drückend heiß wurde es. Der Schläger des Erstchargierten
-fiel immer öfter dröhnend auf die Tischplatte: „Silentium!“ --
-„Silentium!“ donnerte gleichzeitig Karg seinen Füchsen zu.
-
-Wieder stieg ein ernster ~Cantus~. Aber der klang nur so, wie in der
-Kirche das Meßlied: pflichtgemäß, korrekt, ohne Wärme.
-
-„~Cantus ex! Colloquium!~“
-
-„Heil dem ~Cantus~!“
-
-„Verflucht, sind die Füchse ledern!“ rief da der schweigsame Deimling.
-„Liefert endlich einen Ulk! Oder ich lass’ euch spinnen, daß ihr
-Schusterbuben kotzt!“
-
-Nun sammelte Karg seine Knappen, beriet sich flüsternd mit ihnen, und
-die ganze Fuchsentafel zog ins Nebenzimmer. Auch Pichler ging mit,
-der sich rasch hineingefunden hatte und, leicht beschwipst, alles im
-rosigsten Licht sah. Nach einer Weile kamen sie mit brennenden Kerzen
-zurück. Der Fuchsmajor rückte einen runden Tisch von der Wand, stellte
-einen Stuhl darauf und ließ sich dort oben nieder. Die Füchse aber
-umkreisten ihn und sangen:
-
- „Jessas, a Ringelg’spiel
- Is a Hetz und kost’ net viel.
- Alles draht sich um und um,
- Tschindarassa bumbumbum!“
-
-Immer schneller sangen sie und immer rascher bewegten sie sich in der
-Runde, erst auf dem Fußboden, dann von Stuhl zu Stuhl, endlich auf
-dem Tisch, so viel ihrer Platz hatten. Das Singen wurde Gebrüll, das
-Getrappel Staub aufwirbelndes Stampfen, der Boden schwankte, die Gläser
-klirrten, bis endlich mit einem Huronengeheul die Darsteller insgesamt
-in die Knie sanken, teils auf den Dielen, teils auf den Sesseln und auf
-dem Tisch, sich mit hoch gehaltenen Lichtern zu einer Art Schlußgruppe
-um den Fuchsmajor vereinigend, der die Arme an den Leib gedrückt, die
-Hände auf den Schenkeln wie ein ägyptischer König auf seinem Sitz
-hockte.
-
-Da sauste plötzlich ein faustgroßer Stein durch eine splitternde
-Fensterscheibe, klatschte gegen die Wand und fiel polternd nieder,
-indes der Mörtel langsam nachrieselte. Ungestüm sprangen die Füchse
-auf, aber schon rief Karg, vom Tisch herabspringend, sein donnerndes:
-„Silentium!“ Da mußten sie bleiben. Die Burschen bewahrten eisige
-Gelassenheit.
-
-„Der Esel von Kellner hat wieder einmal nicht zugemacht!“ sagte
-Deimling, stand auf und trat an das zerbrochene Fenster, um die Läden
-zu schließen. Gejohl schallte von der Gasse, ein zweiter Stein
-flog knapp an seinem Kopf vorbei. „Nur keine Aufregung!“ brummte
-das alte Semester, unerschüttert ruhig mit dem widerspenstigen
-Rolladen beschäftigt. Der Erstchargierte, ~stud. med.~ Braun, ein
-breitschultriger Hüne aus dem Egerland, hatte inzwischen das andere
-Fenster verwahrt. „Sehen Sie,“ wandte er sich zu den Gästen, „die edlen
-Söhne der Libuscha heißen uns auf ihre Art willkommen. Geschieht öfters
-so, man gewöhnt sich daran! -- Aufgepaßt, Füchse!“ fuhr er mit scharfer
-Kommandostimme fort. „Bei solchen Sachen ist die erste Pflicht: ruhig
-bleiben! Nicht mit der Wimper zucken! Sonst ist der Krawall fertig!
-Schreibt euch das hinter die Ohren! Und nun steigt: ‚Die Wacht am
-Rhein‘. ~Cantor, incipias!~“
-
-„Es braust ein Ruf wie Donnerhall!“ stimmte der Sangwart an, alle
-fielen ein, und diesmal wehte wirklich etwas vom Sturmatem der
-Begeisterung in den frischen Stimmen.
-
-Fritz aber war wärmer geworden. Das sichere Auftreten der jungen Leute,
-ihre kalte Geistesgegenwart und die musterhafte Zucht, mit der sie
-hinter sorgenlosem Leichtsinn und behaglicher Fröhlichkeit versteckt,
-einen zähen Kampf um ihre Muttersprache führten, das alles zwang ihm,
-der nicht ihre Ansichten teilte, Achtung ab, weil hier ein ehrliches
-Wollen zu spüren war. Er wurde gesprächiger, taute auf und weil sich,
-hierdurch angeregt, auch jene freier gaben, geschah es, daß er in ein
-ganz leidliches Verhältnis zu ihnen kam. Er blieb bis zum Schluß in der
-Kneipe und als beschlossen wurde, noch ein Kaffeehaus aufzusuchen, ging
-er ebenfalls mit.
-
-Je drei oder vier in einer Reihe, zogen sie geräuschvoll durch die
-spärlich erhellte Gasse zum Wenzelsplatz. Die Nacht war bereits
-ziemlich vorgerückt, in den Straßen bewegten sich nur vereinzelte
-Schwärmer. Unerwartet aber brach mit großem Getöse aus einem
-Nebengäßchen ein Trupp meist jüngerer Leute. Sie hatten schwarze
-Samtbaretts schief auf den mähnigen Köpfen, schwangen drohend dicke
-Stöcke und gebärdeten sich ohne ersichtlichen Grund sehr aufgeregt und
-wild. Es waren die Mützen der deutschen Studenten, die das tschechische
-Jungvolk derart in Zorn brachten. Denn in ihm war die Unduldsamkeit
-eines kleinen Stammes, der rings von einem großen umklammert,
-eifersüchtig seinen Besitzstand wahrt, in jedem Farbenbändlein des
-Feindes eine Gefahr für sich erblickend. Worte wie Provokation und
-Frechheit fielen, und schon auch zerbrach ein Spazierstock an dem
-harten Schädel Deimlings. Der schüttelte sich nur wie ein Auerochs,
-den ein Kieselsteinchen traf, nahm Hellwig, der ihm zunächst schritt,
-unterm Arm und ging weiter mit finsterer Miene, ohne ein Wort zu
-sprechen. Auch die andern Herminonen hatten sich zusammengeschlossen,
-marschierten Schulter an Schulter dicht gedrängt, mit unbewegten
-Gesichtern, und redeten nicht. Jeder Widerstand, das wußten sie, trieb
-Wasser auf die Mühlen der Gegner, und schon mehr denn einmal hatte die
-unbedeutende Verletzung eines Tschechen in einem solchen Raufhandel den
-Vorwand abgegeben zur Zerstörung deutschen Eigentums, zu Plünderung und
-Raub. Darum dämmten sie gewaltsam ihren Zorn zurück und zogen Schritt
-für Schritt gelassen weiter. Voran ging der riesenhafte Braun, mit
-Schultern und Ellbogen sich den Weg durch die Erregten bahnend, die
-mit heftigen Gebärden immer wieder herzu drängten und zurückwichen,
-unschlüssig, ob sie einen ernstlichen Angriff wagen sollten. Ihre
-lauten Stimmen erfüllten die Gasse, lockten die Gäste aus den Schenken
-vor die Türen, und mancher schloß sich dem Zuge an. Und jedesmal,
-wenn einer sich hinzugesellte, wurde ihm, der vordem ganz ruhig sein
-Schöpplein getrunken, das Gesicht fahl vor Aufregung und in den
-glitzernden Augen erwachte der Haß. Wie eine elektrische Wolke umhüllte
-er das lautlose Häuflein der Studenten, und endlich mußte die Entladung
-erfolgen.
-
-Als der Trupp an einem Neubau vorüberkam, raffte einer blind vor Wut
-einen Ziegelbrocken, warf und traf einen Herminonen an die Schläfe.
-Der ächzte, stolperte nach vorn und wäre hingefallen, wenn ihn nicht
-seine Bundesbrüder schnell gestützt hätten. Aus einer Fleischwunde
-floß ihm das Blut über Gesicht und Kleider. Hellwig aber, in dem es
-schon lang brodelte, war, ehe ihn Deimling zurückhalten konnte, mitten
-in den dichtesten Knäuel gesprungen, bekam den Werfer zu fassen und
-schmetterte ihn in aufflackerndem Jähzorn zu Boden. Im Nu war der
-Wildling zwischen den Tobenden eingekeilt, die mit Fäusten und Stöcken
-nach ihm hieben, Kragen und Binde von seinem Hals rissen und ihn durch
-ihre Überzahl arg bedrängten. Er wehrte sich, so gut oder schlecht es
-ging. Der Hut war ihm vom Haupt geschlagen worden, sein feines Haar
-flatterte im Luftzug und gab lichten Schein über der gefurchten Stirn,
-die weiß aus dem Halbdunkel leuchtete, während der übrige Teil des
-Gesichts darin versank. Von vorn gestoßen, gezerrt von rückwärts, von
-allen Seiten geknufft, geschoben und gequetscht, mußte er sich darauf
-beschränken, die Hiebe mit emporgehobenen Armen von seinem Kopfe
-abzuwehren, und es wäre ihm übel ergangen, wenn nicht Deimling und
-Braun zu Hilfe gekommen wären. Den Kopf zwischen die Schultern gezogen
-und die vorgehaltenen Fäuste wie Rammböcke brauchend, brachen sie sich,
-ostfränkische Bauernsöhne, unwiderstehlich Bahn und stellten sich
-kampfgewärtig um den Bedrängten.
-
-Nun aber eilten Wachleute herbei und trennten die Streitenden.
-Die Tschechen wurden in die Gasse zurückgedrängt, die Hochschüler
-unter polizeilichem Schutz zum Kaffeehaus geleitet und dem Portier
-überantwortet, der sofort die Tore hinter ihnen schließen mußte.
-
-
-3.
-
-Der junge Mensch, den Fritz aufs Pflaster geschleudert, hatte
-zwar nicht gefährliche, aber immerhin ernstlichere Verletzungen
-davongetragen. Wie Hühner auf gestreuten Weizen, stürzten sich
-Zeitungsleute auf den Vorfall und schon die tschechischen
-Mittagsblätter brachten spaltenlange Berichte. Scheinbar ruhig und
-sachlich gehalten, wirkten sie durch Unterdrückung oder einseitige
-Beleuchtung einer Tatsache besser als die schärfsten Brandartikel und
-verfehlten in ihrer geschickten Fassung die beabsichtigte Wirkung nicht.
-
-Leidenschaftlich erregte Volksmassen sammelten sich und zogen singend
-durch die Straßen. Auf dem Graben, der sonst nach stillschweigendem
-Übereinkommen den Deutschen zum Abendbummel überlassen blieb, zog in
-geschlossenen Reihen die slawische Jungmannschaft auf, Jünglinge und
-Mädchen mit rot-weiß-blauen Bändern und Schleifen streiften umher und
-umringten die deutschen Burschenschaftler mit wüstem Geschrei. Langsam
-anschwellend rollte es die Straße entlang, brandete an den Häusern
-empor, ebbte ab und schwoll zurückkehrend wieder an, murrte, tobte,
-donnerte ohne Aufhören hinab und hinauf, von einem Menschenschwarm dem
-andern zugeworfen, bald dumpf am Boden hinrollend, bald schrill in
-die schwere, nebelfeuchte Abendluft flatternd, die es sogleich wieder
-niederdrückte und am Boden festhielt.
-
-Mit gelben Höfen leuchteten die Straßenlampen nur verschwommen in der
-Dämmerung. Gleich schwarzen Käfern hasteten die Menschen durcheinander,
-und wo eine Studentenkappe sichtbar wurde, entstand ein heftigerer
-Wirbel in den wimmelnden Massen, stürzten alle ungestüm herzu,
-fluchend, gestikulierend und aufs heftigste erbittert.
-
-Hellwig ging mit Braun und Deimling im Zuge der Herminonen. Pichler
-war verschwunden. Als der tolle Lärm losbrach, hatte er sich sacht
-davongestohlen. So stumm und kleinlaut, wie er vordem auf dem Weg
-von der Kneipe zum Bummel keck und prahlerisch einem entschiedenen
-Widerstand das Wort gesprochen, war er über die Straße und durch die
-nächste Seitengasse heimgegangen.
-
-Das Gewühl wurde immer stärker und schon lieferte man sich da und dort
-kleine Scharmützel. Aber sie waren nur rasch und kurz, als sollten
-vorerst die Kräfte geprüft und ausgekundschaftet werden, wie weit der
-Gegner zu gehen entschlossen sei. Da fiel es plötzlich einem verwegenen
-Häuflein von sieben rotbemützten Teutonen ein, die Wacht am Rhein
-anzustimmen. Gewaltig sangen sie mit ihren schweren Bässen das deutsche
-Wehr- und Trutzlied in das einförmige Gejohl.
-
-„Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!“ Weiter kamen sie nicht.
-Wie losgelassene wilde Tiere stürzten sich die Tschechen auf die
-unbedachten Heißsporne. „~Mažte ji!~ Haut sie!“ brüllten die Jünglinge
-mit der slawischen Trikolore, und manches zarte Mädchen bearbeitete
-mit dem Regenschirmchen die Köpfe der Sänger, bis das luftige Dach in
-Fetzen am geknickten Stäbchen flatterte.
-
-Aber auch die andern Hochschüler mußten die Unbesonnenheit der sieben
-Kampfhähne entgelten. Eine Sturzwelle, warf sich die entfesselte Wut
-gegen die Deutschen und brachte sie nun wirklich in ernste Gefahr.
-Berittene Schutzleute sprengten in die Menge. Sie vermochten nichts
-gegen die wache Leidenschaft. Die arg bedrohten Deutschen flüchteten in
-die Fluren der Häuser. Aber mancher Hausbesorger weigerte ihnen auch
-diese Zuflucht und trieb sie wieder auf die Gasse, wo die ergrimmten
-Slawen neuerdings über sie herfielen. Die Geschäftsleute hatten ihre
-Läden schon früher geschlossen. Nun beeilten sich auch die Wirte und
-Kaffeesieder, ihre Spiegelscheiben zu verwahren, denn bereits waren
-viele eingedrückt und zertrümmert.
-
-Vor dem deutschen Vereinshaus war das Gedränge am ärgsten. Den
-meisten Studenten war es nach hartem Strauß gelungen, sich dorthin
-zurückzuziehen. Die Menge aber schickte sich allen Ernstes an, das
-Gebäude zu stürmen. Schon splitterte das Holz an den Fensterläden,
-wurden die Torflügel bedrohlich locker, als eine Schar Dragoner
-heransprengte, die im Verein mit einigen Abteilungen Fußvolk die
-Volksmassen ziemlich rasch in die Seitenstraßen abdrängten.
-
-Aber während am Graben das militärische Lagerleben sich entfaltete,
-während die angepflockten Pferde mit gesenkten Köpfen schlafend neben
-Sattelzeug und Pyramiden von Gewehren standen, während die Posten auf
-und nieder schritten, umsummt von den leisen Gesprächen der ruhenden
-Mannschaft, -- ein Säbel klirrte, ein Pferd schüttelte sich und
-wieherte leise, still und dunkel standen die Häuser, -- währenddessen
-rotteten sich in den Vororten die Vertriebenen wieder zusammen, und von
-den immer bereiten Scharen arbeitsscheuer Halunken unterstützt, nahmen
-sie Rache dafür, daß man sie in der Wahrung ihrer vermeintlichen
-Rechte mit Waffengewalt gehindert hatte.
-
-Deutsche Firmenschilder wurden von den Häusern gerissen, die Geschäfte
-aufgebrochen, die Vorräte auf die Gasse geschleppt, vernichtet,
-geraubt. Und die Steine flogen in die Säle deutscher Bildungsstätten
-und wissenschaftlicher Anstalten, flogen in die Spitäler bis zu den
-Betten der wehrlosen Kranken, verbreiteten Schrecken und Angst in den
-Räumen, die das tiefste Menschenelend umschlossen, vermehrten die
-Leiden der Schwerkranken und warfen halb Genesene in neues Siechtum.
-
-Die ganze Nacht dauerten die Überfälle. Sie waren so ausgezeichnet ins
-Werk gesetzt, daß der Pöbel, dem ein Heer von Spähern zur Verfügung
-stand, seine Arbeit regelmäßig gründlich abgetan und sich aus dem
-Staub gemacht hatte, wenn endlich die Hüter der öffentlichen Ordnung
-auftauchten. Auch der nächste Morgen brachte keine Ernüchterung.
-Posten lauerten bei verdächtigen Häusern, stürzten sich auf jeden, der
-heraustrat und mißhandelten ihn, wenn er als Deutscher erkannt wurde.
-Und wo noch ein unbewachtes deutsches Kauflädchen zu finden war, wurde
-es aufgesprengt und ausgeplündert. Die Behörden waren unentschlossen,
-zauderten und fürchteten sich vor den möglichen Folgen energischer
-Maßregeln.
-
-So verging auch dieser Tag und noch eine Nacht unter fortwährendem
-Tumult. Während der ganzen Zeit durften die Studenten das deutsche
-Vereinshaus nicht verlassen. Ein starker Militärkordon bewachte sie,
-aber heraus ließ man niemanden, der nicht einen unauffälligen Hut
-vorweisen konnte. Denn man wollte vermeiden, daß durch den Anblick der
-bunten Mützen die Menge von neuem gereizt und zu einem Angriff gegen
-die Truppen verleitet werde.
-
-In diesen Tagen höchster Bedrängnis wurde wieder einmal eine deutsche
-Eintracht geboren. Mit pomphaften Worten und tausend Vorbehalten
-erklärten sich die radikalen Fraktionen bereit, ihre gegen Judentum
-und Liberalismus geschliffenen Streitäxte bis zur Wiederkehr besserer
-Zeiten zu vergraben. Mit weitschweifigen Debatten und großen Reden ging
-ein kleines Geschlecht daran, das neugeborene Zufallskind eines großen
-Augenblicks auf die Taufe zu heben.
-
-Nun war da unter den Freisinnigen ein Hochschulprofessor, der in
-seiner stillen Gelehrtenstube ein fleißiges Arbeitsleben führte, in
-bescheidener Zurückgezogenheit seiner Wissenschaft lebte und von vielen
-übersehen oder wenig beachtet wurde, weil er jedem Hervortreten fast
-ängstlich auswich. Um so größeren Eindruck machte es, als er sich jetzt
-unter dem Zwang einer ehrlichen Entrüstung zur ganzen Höhe seiner
-hageren Gestalt erhob und die Erregung hinter einer trockenen Knappheit
-bergend, mit dürren Worten darlegte, was nach seiner Ansicht zur Abwehr
-weiterer Drangsal und zur Sühne der erlittenen Unbilden fürs erste zu
-geschehen habe. Über seine Anregung wurde an den Ministerpräsidenten
-ein Telegramm abgesendet, worin der kalte Stolz gekränkten Rechts
-sofortige Abhilfe forderte, wenn es nicht zur Selbsthilfe kommen
-sollte. Dann begab sich eine Abordnung zum Statthalter und verlangte
-Schutz und entschiedenes Eingreifen.
-
-Jetzt endlich wurde der Belagerungszustand über die aufgestörte Stadt
-verhängt und binnen kurzer Frist eine halbwegs erträgliche Ordnung
-hergestellt.
-
-Durch diese Ereignisse wurde Fritz gegen Wunsch und Absicht in den
-Wirbel der nationalen Bewegung mit hineingerissen. Seine zupackende
-Handgreiflichkeit gegen den Ziegelwerfer hatte ihn bekannt gemacht.
-Er wurde als Vertreter der Finkenschaft in die Abordnung gewählt,
-und da es den Kampf gegen eine Ungerechtigkeit galt, sagte er nicht
-nein. Die vollwertige Persönlichkeit jenes Universitätsprofessors
-aber nahm ihn rasch gefangen, war mit ihrer ehrlichen Begeisterung
-und Besonnenheit ganz darnach angetan, den unberatenen Jüngling in
-der Ansicht zu bestärken, daß hier um ein Menschengut gekämpft werde,
-das auch tüchtigen und reifen Männern kostbar sei. Darum legte er
-sich unbesinnlich mit voller Kraft ins Zeug und gab sein Bestes her,
-um den überkommenen Auftrag ehrenvoll zu bestehen und dem Volke,
-dem er angehörte, nützlich zu sein, soweit er das als halbfertiger
-und unerfahrener Schüler vermochte. Doch fand er trotz allem in
-dieser Tätigkeit keine volle Befriedigung, spürte vielmehr ein vages
-Unbehagen, ohne die Quelle zu kennen, aus der es floß.
-
-
-4.
-
-Während der zwei Sturmtage hatte auch Pichler die Wohnung nicht
-verlassen. Doch hielt er sich nicht in seiner eigenen Stube auf, in
-die leichtlich von der Gasse ein Stein hätte fliegen können, sondern
-vertrieb sich im Hofzimmer die Zeit, so gut es ging, indem er mit der
-Wondra Mühle spielte, meistens aber rauchend mit gekreuzten Beinen
-im Lehnstuhl des Astronomen saß und nicht zum Hradschin, sondern den
-Leuten des gegenüberliegenden Hauses in die Fenster schaute. Das
-behagte ihm je länger, je besser, da es zumeist dienstbare weibliche
-Wesen waren, die er zu Gesicht bekam und die in hofseitigen Küchen
-und Kammern tagsüber mit den Hausfrauen um die Wette geschäftig sich
-regten, in einsamer Frühe mit Hemd und Unterrock bekleidet sich die
-Haare ordneten und abends auch noch die Röcke auszogen, um sich rasch
-zu reinigen, bevor sie die Lämpchen verlöschten.
-
-Die Wondra störte ihn nicht in diesem beschaulichen Treiben. Wohl
-hockte sie rauchend, schwatzend und strickend im selben Zimmer, aber
-sie schaute meist auf den Wollschlauch, der unter den klappernden
-Nadeln zusehends wuchs und hatte durchaus nicht acht, wohin unterdessen
-ihr Mietsmann die Blicke wandern ließ.
-
-Von den Vorfällen der letzten Tage wußte sie die übertriebensten und
-blutrünstigsten Geschichten zu erzählen, mit einer Anschaulichkeit, als
-wäre sie überall mit dabeigewesen. Dazu lebte sie in der beständigen
-Angst, daß auch ihr die Stuben geplündert werden könnten, weil sie
-Deutsche beherbergte; deswegen begab sie sich sehr zeitig zu Bett,
-als ob, wenn _sie_ schlief, auch alle anderen das gleiche tun und sie
-in Ruhe lassen müßten. Vorher jedoch verwahrte sie ihre Wohnung auf
-das sorgsamste, und Pichler mußte ihr jeden Abend beistehen, wenn sie
-den Eingang mit dem Küchenkasten verrammelte und zur Sicherheit noch
-ein paar Sessel darauftürmte. Erst dann kroch sie beruhigt in die
-Federn, während Otto, nunmehr mit einem Fernrohr des Sternguckers,
-wieder im Lehnstuhl Platz nahm, zuvor aber die Lampe zurückschraubte,
-um zu verhüten, daß die ahnungslosen Mägde ihn erblickten und durch
-Herablassen der Rollvorhänge dem angenehmen Schauspiel ein Ende machten.
-
-Von Fenster zu Fenster ließ er sein Perspektiv wandern, und da bemerkte
-er in einem hellen Kämmerlein auch ein junges Frauenwesen, das dort
-an der Nähmaschine saß und unablässig weiße Leinwandflächen unter die
-Nadel schob. Ganz deutlich sah er das reine Profil und den nackten,
-schlanken Hals, der sich in einer anmutigen Linie hinter der Hausjacke
-verlor, alles vom Lichte der seitlich stehenden Lampe voll beleuchtet.
-Das gefiel ihm aus der Maßen wohl.
-
-Am nächsten Morgen erwachte er erst spät. Sein erster Blick galt
-wieder jenem Fenster; da stand die fleißige Näherin im geöffneten
-Rahmen fertig angezogen und beutelte aus einem Flanelltüchlein eine
-Wolke Staubes in die Luft hinaus. Wie ein freundliches Winken war
-das, und Otto winkte zurück, indem er lächelnd die Hand gegen das
-Fräulein bewegte. Darüber erschrak dieses ein wenig, betrachtete aber
-den hübschen Jungen mehr erstaunt als entrüstet. Nun wagte er es und
-warf eine Kußhand hinüber. Sie lachte ein ganz kurzes Lachen in hohen
-Kehltönen, nickte, drehte sich auf dem Absatz herum, und ihr Rocksaum
-wehte, während sie im Dunkel des Zimmers verschwand. Aber nach einer
-Weile kam sie wieder und blieb jetzt schon länger beim Fenster.
-
-Schimmernde Fädchen spannen sich, von einem Fenster zum andern zogen
-sie sich wie helle Seide oder leichte Sonnenstrahlen, auf denen die
-verliebten Jugendgeisterchen ein lustiges Seiltanzen begannen mit
-halsbrecherischen Sprüngen und Nicken und Neigen. Zag oder mutig,
-ängstlich oder keck trippelten, tollten sie hinüber, herüber, bis
-hinter der lichten Mädchengestalt eine rundliche Frau mit gestrenger
-Miene auftauchte, worauf die männliche Geisterschar kopfüber in den
-Hof purzelte, die weibliche aber in den tiefblauen Winterhimmel hinein
-lachend davonschwebte.
-
-Es war, wie Otto gleich vermutet hatte und von der Wondra bestätigt
-erhielt, die Mama gewesen. Die Wondra wußte auch, daß sie einen
-kleinen Postbeamten zum Mann und zwei Töchter besaß. Die ältere sollte
-in einigen Wochen Hochzeit machen und ließ sich, während sie mit
-Eltern und Bräutigam bei Freikonzerten und in Vergnügungslokalen ihre
-abendliche Unterhaltung suchte, von der jüngeren Schwester, der braven
-Helenka, die Aussteuer fertig nähen.
-
-Pichler wich den ganzen Tag nicht von seinem Lauscherposten und nahm
-sich kaum zum Essen Zeit. Indes zeigte sich die Helenka erst abends
-wieder in jenem Gemach, und mit verliebten Augen betrachtete er
-die runde Anmut ihrer Bewegungen, wie sie flink und leicht in dem
-Leinwandhaufen herumwirtschaftete. Er nahm die Lampe und stellte sie
-beim Fenster so auf, daß ihr Schein auf ihn fallen mußte. Dann warf er
-wieder eine Kußhand hinüber. Da ließ sie die Hände in den Schoß fallen,
-lehnte sich in dem Stuhl zurück und lachte ausgelassen. Er lachte auch,
-winkte und verneigte sich. Sie winkte wieder, war blutrot und lachte
-fort, bis sie plötzlich ihre Arbeit zusammenpackend, nun ihrerseits die
-Hand an die Lippen legte und mit den geküßten Fingerspitzen durch die
-Luft fuhr, worauf das Licht blitzschnell erlosch.
-
-Mit glänzenden Augen schaute Otto auf das dunkle Fenster, rieb sich
-die Hände, schnippte mit den Fingern und freute sich unbändig. Doch
-hinderte ihn das nicht, nachher andächtig dem Treiben der schläfrigen
-Mägde zuzusehen und hierauf selbst einen gesunden Schlaf zu tun, den
-vergnügliche Träume begleiteten.
-
-Durch ein lautes Krachen wurde er mitten in der Nacht unsanft
-geweckt. Gleich darauf kam die Wondra im Barchentunterrock mit einem
-Angstgezeter in sein Zimmer gestürzt. Denn sie vermutete nichts
-anderes, als daß ihre Landsleute bei ihr einbrechen und für den
-Volksverrat Rache nehmen wollten. Auch Otto mochte Ähnliches erwarten
-und machte ein bängliches Gesicht. Da erhob sich draußen mächtiger
-Gesang: „Raus da! Aus dem Haus da! Rrraus! Rrraus! Rrrraus!“
-
-Karg, König, Fundulus und Hellwig waren heimgekehrt und hatten sich,
-da die Tür nicht nachgeben wollte, mit vereinten Kräften dagegen
-gestemmt, so daß die Stühle polternd von dem Küchenkasten fielen und
-dieser selbst ins Wanken kam. Nun verwandelte sich das Angstgezeter
-der Witwe in einen Freudenlärm. Trotz der ungewöhnlichen Stunde wollte
-sie zur Feier der glücklichen Wiedervereinigung ein kleines Gelage
-veranstalten bei schwarzem Kaffee mit Rum und bei Flaschenbier, das sie
-in der kühlen Jahreszeit stets in genügender Menge vorrätig hielt. Die
-Studenten jedoch wollten erst wieder einmal ordentlich ausschlafen,
-bedankten sich und vertrösteten die unternehmende Kostfrau auf eine
-gelegenere Zeit. Ungern gab sie nach, wünschte zuvor wenigstens noch
-die Erlebnisse ihrer Mieter sogleich zu erfahren und ermüdete nicht
-im Fragen, bis Karg die wohlbeleibte Dame nicht gerade sanft in ihre
-Kammer zurückbeförderte und die zugeschlagene Tür den rauschenden
-Redeschwall vorläufig staute.
-
-Weniger als die Hauswirtin war Pichler über die Ankunft der
-Stubengenossen erfreut, weil dadurch das begonnene Schäferspiel
-unliebsam gestört wurde. Indes, die Sache war bereits eingefädelt und
-spann sich ohne Schwierigkeiten weiter. Am nächsten Vormittag erwartete
-er die Helenka bei ihrem Haustor und hatte die Genugtuung, daß sie
-ihn erkannte und im leichten Schreiten mehrmals zurückblickte, ob er
-ihr nachfolgte. Dies tat er denn auch in angemessener Entfernung. Nun
-er sie im Straßenkleid sah, erschien sie ganz anders und gefiel ihm
-fast noch besser. Sie war ziemlich groß, von reichen, vollen Formen,
-die durch ein straff gezogenes Mieder unter einem kurzen Jäckchen und
-einem knappen Rock ohne Falten aufs günstigste zur Geltung gebracht
-oder vielmehr diskret unterstrichen wurden. Eine weiße Matrosenmütze,
-von einem silbernen Pfeil gehalten, saß keck auf einer Fülle dunklen
-Gelocks, an den leise schaukelnden Hüften wiegte sich ein gewaltiger
-Henkelkorb im Takte mit. So schritt sie rasch und resch mit schnellen
-Schritten vor ihm her, stramm aufgerichtet und sehr selbstbewußt im
-Gefunkel ihrer jungen Schönheit.
-
-Als sie ihre Einkäufe besorgt hatte und mit gehäuftem Korbe heimging,
-fragte Pichler mutig, ob er sie begleiten dürfe. Sie bejahte verlegen.
-Aber als er sich vorgestellt hatte, begann sie sogleich ein lebhaftes
-Schwatzen über ihre Näherei, ihre Familie und die bevorstehende
-Hochzeit, über die winterliche Kälte und über viele andere Dinge in dem
-kleinbürgerlichen Bestreben, das Gespräch nicht ins Stocken geraten zu
-lassen. Fast ganz allein bestritt sie es, in einem etwas holprigen und
-mühsamen Deutsch. Aber Pichler fand auch die Fehler reizend, die ohne
-alle Ziererei neckisch wie Flocken von den schmalen Lippen fielen.
-
-Von nun an traf er sie täglich, einmal am Vormittag, einmal gegen
-Abend, je nachdem sie Zeit hatte. Die Stunde gab sie ihm bekannt, indem
-sie dicke Ziffern mit Tinte auf Papierblätter malte und gegen die
-Fensterscheiben hielt.
-
-Die Stadt hatte wieder ihr gewöhnliches Aussehen, die Erregung schien
-verbraust, friedlich bewegte sich jede der feindlichen Nationen auf
-ihrem Bummel, die Deutschen auf dem Graben, die Tschechen auf dem
-Roßmarkt und in der Ferdinandsstraße. Otto zeigte sich mit Helenka bald
-da, bald dort, und je nachdem, wo sie gingen, sprach er deutsch oder
-böhmisch mit ihr. Denn er hatte sie gebeten, ihm in der Erlernung
-der zweiten Landessprache behilflich zu sein, und so war dieser
-Liebeshandel nicht nur reizvoll, sondern auch praktisch.
-
-Sie war eine Vollblut-Tschechin und machte kein Hehl aus ihrer
-Gesinnung, was sie aber nicht hinderte, auch an hübschen deutschen
-Männern Gefallen zu finden. Doch war ihre Gunst nicht leicht zu
-erringen, denn sie war sich ihrer Schönheit voll bewußt und konnte
-wählerisch sein, weil sie von vielen umworben wurde. Am wenigsten
-verfingen Schmeicheleien bei ihr, da sie solche schon bis zum
-Überdruß zu hören bekommen. Das hatte Pichler bald weg und änderte
-im selben Augenblick von Grund aus seine Kriegskunst. Er wurde kurz
-angebunden, derb, sogar grob. Alles, worauf sie Wert legte oder
-sich was einbildete, setzte er herab, mäkelte daran und tadelte es,
-wählte aber seine Ausdrücke derart bedachtsam, daß er immer nur eine
-allgemeine Ansicht zu äußern schien. Erzählte sie, stolz auf ihre
-prächtige Büste, daß sie auf dem letzten Ball ein ausgeschnittenes
-Kleid nur mit Armspangen getragen und was für Aufsehen sie erregt habe,
-tat er höchst gleichgültig und bemerkte nur beiläufig, er habe einmal
-aus einem ähnlichen Anlaß mit einem Mädchen sich überworfen, das er
-gleicherweise, wie es ihn, sehr gut leiden mochte. Er habe damals mit
-der Schönen nicht ein einziges Mal getanzt, und als sie Aufklärung
-verlangte, habe er ihr nur kurz geraten, sie möge auf den Markt
-gehen und sich dort ausstellen; er werde sie begleiten und wie ein
-Pferdehändler die gediegene Wölbung der Brust anpreisen, die tadellosen
-Arme, Schenkel und so weiter. Er habe sich nicht anders helfen können
-damals, denn diese Schaustellung der Reize sei ihm widerlich gewesen,
-und gewohnt, mit seiner Meinung nicht hinterm Berg zu halten, habe er
-eben klipp und klar herausgesagt, was er sich dachte.
-
-Danach hatte die Helenka auf dem ganzen Heimweg kein Wort mehr geredet,
-aber er war dennoch mit seiner Erfindung und ihrer Wirkung sehr
-zufrieden. In der Tat blieb diese Art des Umgangs nicht ohne Eindruck
-bei einem Mädchen, das zwar schön und im Plaudern gewandt, sonst aber
-just kein Kirchenlicht war. Bald war ihnen der Bummel zu belebt, sie
-mieden ihn und suchten einsamere Gassen, wo es die Helenka schweigend
-litt, daß er ihren Arm packte und mit hastiger Zärtlichkeit an sich
-drückte. Und einmal, als sie von einem ernsten Bewerber erzählte, der
-auf der Bildfläche erschienen war, riß er sie heftig an sich. „Helenka,
-so lasse ich dich keinem andern!“ Mitten auf der Gasse küßte er sie und
-kümmerte sich nicht um ihr Sträuben und nicht um die Leute.
-
-Von nun an trugen sie das heimliche Sehnen ihrer klopfenden Herzen
-in noch größere Abgeschiedenheit. Eng aneinander gedrängt gingen sie
-längs des Moldauufers spazieren, über einen weiten ebenen Plan, wo das
-geflößte Brenn- und Bauholz aus dem Böhmerwald aufgestapelt war. Gute
-Verstecke gab es hier, die zu Raummetern geschlichteten Scheite waren
-wie Mauern und die glatten Stämme der toten Waldriesen wie Bänke. Ganz
-dunkel war es und nichts war hörbar, als das Glucksen und Plätschern,
-wenn eine stärkere Welle gegen das sandige Ufer schlug. In der Ferne
-blitzten die Lichter der Stadt und lagen in gelben Streifen über den
-schwarzen Fluten, ein schrilles Läuten der Straßenbahn kam herüber,
-eine Turmuhr schlug mit langsam verhallendem Klang -- dann war wieder
-nichts als das dumpfe Rauschen im Fluß. Als wären sie beide allein auf
-der Erde, so war das und so gab sich die Helenka dem Werbenden. Sie
-tat es ohne Lüsternheit oder Neugierde, als schenkte sie ihm nur, was
-ihm gebührte, weil es für ihn allein in dieser dunkeln Einsamkeit aus
-ihrem jungen Herzen emporgewachsen war.
-
-Dann aber starrte sie ihn, die Hände auf seinen Schultern, mit
-entsetzten Augen an und stieß ihn wild von sich.
-
-„Mein armer Vater!“
-
-Ganz klanglos sagte sie das und wiederholte es mehrmals und wimmerte
-leise.
-
-Otto stand ratlos und wußte nicht, wie er sie beruhigen sollte. Sie tat
-ihm nicht so sehr leid, er war mehr ungehalten, daß sie ihm jetzt diese
-Szene machte und die Freude verdarb. Plötzlich aber erhob sie sich mit
-einem entschlossenen Ruck und drückte sich unter der runden Mütze das
-Haar an den Schläfen zurecht. „Komm!“ sagte sie nur und schritt ohne
-Aufenthalt schnell gegen die Stadt. Sie weinte nicht mehr, aber sie
-sprach auch nicht. Stumm ging sie neben ihm her. Manchmal atmete sie
-in ihr Taschentuch und preßte es an die geröteten Lider, um die Spuren
-der Tränen auszutilgen. Aber durch die Stadt schritt sie wieder ganz
-aufrecht, mit frei erhobenem Kopf und wagerechtem Kinn. Otto wollte
-etwas sagen. Mit einer heftigen Handbewegung winkte sie ihm Schweigen.
-Sie wollte nicht gestört sein in dem Belauschen ihrer aufgeschreckten
-Seele und dem staunenden Hineinhorchen in den Aufruhr des Blutes. Beim
-Haustor neigte sie flüchtig den Kopf und schritt rasch und fest hinein,
-ohne ein Wort oder Lächeln zum Abschied.
-
-Er atmete auf. Seiner jubelnden Siegerfröhlichkeit war der stumme
-Heimweg zur Qual geworden. Alles in ihm drängte nach lauter, lärmender
-Freude. Und statt dieser Luft machen zu dürfen, hatte er mit einer
-Leichenbittermiene neben ihr hergehen und seufzen müssen, wo er
-jauchzen wollte. Er lief mehr als er ging in die Herminonenkneipe,
-trank dort, sang und schwärmte übermütig mit den Füchsen bis zum
-Morgengrauen.
-
-Am nächsten Vormittag stand die Helenka wieder beim Fenster und kündete
-mit ihren Tintenziffern die Stunde des Stelldicheins. Und von nun an
-war alles gut, und sie war lustig und fügsam und sehr verliebt.
-
-
-5.
-
-Das Wintersemester war vorüber. Fritz war wenig vorwärts gekommen.
-Durch den Verkehr mit den Studenten war er einem gelinden Trinken
-anheim gefallen und der Gewohnheit, abends lang im Wirtshaus zu sitzen.
-Anfangs hatte er sich Vorwürfe gemacht und zu bremsen versucht. Aber da
-kamen ihm die Bekannten auf die Bude gerückt, und notgedrungen mußte
-er als ihr Vertrauensmann mithalten. Später schwächte der reichlichere
-Genuß des Alkohols seine Widerstandskraft, das Trinken wurde ihm sogar
-Bedürfnis, um die Lustlosigkeit zu bannen, in der er jetzt wie in einer
-halbhellen Dämmerung lebte. Er ging spät zu Bett und stand mit wüstem
-Kopf spät auf, fühlte sich müde, leer, unzufrieden und konnte sich doch
-zu keiner ernsten Arbeit zusammenraffen, ließ vielmehr den Herrgott
-einen guten Mann und fünf gerade sein.
-
-Seine Barschaft schmolz bei diesem Leben rasch. Während Otto schon
-drei Mittelschülern Nachhilfeunterricht erteilte, war es ihm bisher
-nicht geglückt, Ähnliches aufzutreiben. Überall wurde er abgewiesen.
-Der Vermerk auf seinem Zeugnis, daß er vom Neuberger Gymnasium
-ausgeschlossen worden war, machte fürsorgliche Eltern stutzig; sie
-wagten nicht, ihm ihre Kinder anzuvertrauen. Und er war zu hölzern
-und zu stolz, um sein Licht auf den Scheffel zu stellen oder als
-Vertrauensmann seine Beziehungen zu den Parteigrößen auszunützen. Da
-las er in einer Zeitung, daß ein Rechtsanwalt einen Schreiber für
-die Nachmittage suchte. Er bewarb sich um den Posten und erhielt
-ihn. Das brachte ihn noch mehr aus der Bahn. Trüb und trostlos
-eintönig schlichen die Tage neben ihm her, zwischen stumpfsinnigem
-Wirtshaushocken am Abend und gleichgültiger Mattigkeit am Morgen war
-einer wie der andere ausgefüllt mit dem Schreiben von Mahnbriefen,
-Klagen, Pfändungsgesuchen, und alle waren sie verloren.
-
-Hätte er ein gemütliches Daheim oder wenigstens eine ruhige Kammer
-gehabt, er wäre vielleicht eher aus diesem grauen Netz herausgekommen,
-in dem er hing wie die Fliege im Spinngewebe und sich wehrlos den
-Lebensmut austrinken ließ. So aber fühlte er einen Ekel vor dem Treiben
-der Wondra. Er floh davor und floh vom Teufel zum Beelzebub -- in die
-Kneipen und Kaffeehäuser. Manchmal kam ihm in diesen jammervollen
-Monaten der Gedanke an Eva. Aber wenn dieser jemals treibende Kraft
-für ihn gehabt, so hatte er sie jetzt verloren. Wie wenn einer, der im
-zähen Moorgrund langsam versinkt, zu einem schönen Stern hinaufblickt
-und sich denkt: ‚Den siehst du auch bald nicht mehr!‘ -- so war es und
-machte ihn traurig und jeden Halt nahm es ihm.
-
-Bei den Studenten war er gut gelitten. Er galt als treu und verläßlich,
-und die trockene Sprödigkeit, die er im Umgang an den Tag legte, wurde
-von den jungen Leuten als Zeichen männlicher Reife und Wahrhaftigkeit
-genommen und hochgehalten. Aber je mehr man sich um ihn riß, je scheuer
-und zugeknöpfter wurde er. Er litt unter diesem Leben ohne Inhalt, das
-um so leerer wurde, je weiter die hellen Kampftage in die Vergangenheit
-zurücksanken. Rasch wie die Fehde entbrannt, war sie auch vergessen
-und die Gegenwart wieder angefüllt mit Kneipen, Nachtschwärmen und
-Raufereien unter den einzelnen Verbindungen. Und er zechte und
-schwärmte mit und wenn er noch in keinen Ehrenhandel verwickelt worden
-war, so hatte er das nur seiner Wortkargheit zu danken.
-
-Schal war das alles, belanglos und nichtswürdig. Aber loskommen konnte
-er doch nicht.
-
-In die Hörsäle kam er nicht mehr. Er schämte sich, mit schwerem Kopf
-und stumpfen Sinnen hinzugehen. Statt dessen saß er jetzt auch an den
-Vormittagen in der Kanzlei. Denn die ungeordnete Lebensweise kostete
-viel Geld, und schon gab er täglich mehr aus, als er, das Erworbene
-eingerechnet, verbrauchen durfte. Vom Bureau ging er ins Kaffeehaus, wo
-er die Tagesblätter und sämtliche ernstere Zeitschriften las, deren er
-habhaft werden konnte. Gewöhnlich blieb er dort bis spät abends, begab
-sich dann in eines der Studentenwirtshäuser. Er brachte es nicht über
-sich, bei der Wondra das Nachtmahl zu nehmen. Sie rechnete auch bei
-der Zubereitung nicht mehr mit ihm, aber den Kostpreis setzte sie ihm
-deswegen doch nicht herab.
-
-Dann kamen wieder Abende, an denen es ihm einfach unmöglich war, ein
-menschliches Gesicht zu sehen. An denen er die Kneipen mied und trotz
-Frühlingswind und Regenwetter im Freien sich herumtrieb. Den Radmantel
-um die Schultern, lief er pfadlos am Strand der Moldau herum. Das
-aufgeweichte Erdreich klebte in Klumpen an seinen Sohlen und machte
-sie schwer, unter seinen Tritten spritzte ihm das Schmutzwasser der
-Regenpfützen oft bis ins Gesicht, und nach jedem solchen Ausflug
-schalt die Wondra, daß seine Kleider nicht sauber zu kriegen seien.
-Aber immer wieder rannte er in diese tiefdunkle Einsamkeit, als könnte
-er sich dort vor seinem eigenen Ich verstecken. Aber er entkam sich
-nicht. Alle Vorwürfe und aller Ekel über sein unwürdiges Treiben gingen
-unablässig mit ihm durch die Finsternis, und er fühlte nur, daß er
-sich Stunde um Stunde an sich selbst versündige, indem er in schlaffem
-Müßiggang seine blanken Kräfte rosten ließ. Manchmal auch packte ihn
-ein sinnloser Zorn, der ihm Tränen in die Augen trieb. Er schlug mit
-geballten Fäusten seinen Leib, und je mehr es ihn schmerzte, mit
-desto wilderer Freude schlug er weiter, auf Arme, Wangen, Schläfen,
-und höhnte und beschimpfte sich mit häßlichen Worten, die in einem
-Schluchzen erstickten. Jedes Ziel war ihm entglitten, er ging mit
-verbundenen Augen um sein Leben herum wie der Gaul im leeren Göpel.
-
-Die nächtlichen Wanderungen führten ihn weit über die Holzplätze
-hinaus in eine Gegend, wo der neue Hafen erstehen sollte. Die Arbeiten
-hatten noch nicht begonnen, aber schon waren in der großen Kotwüste
-Baggermaschinen aufgestellt und neben angehäuften Baustoffen Holzhütten
-und Verschläge für die Karren und Werkzeuge errichtet worden. Nur
-selten kam in den Abendstunden ein Mensch hieher. Ihn aber trieb
-es immer wieder in diese Öde, die so gut zu seiner Stimmung paßte.
-Stundenlang konnte er dort hocken und vor sich hinbrüten, während
-der Regen kühl und traurig ohne Pausen auf ihn niederfiel. Und je
-unfreundlicher das Wetter war, je länger blieb er, als wollte er mit
-diesem freiwilligen Ausharren in einer Beschwerde nur irgendwie eine
-sühnende Tat setzen, wenn er schon nichts anderes zuwege brachte.
-
-Da vernahm er einst -- es war ein naßkalter Aprilabend -- ein Husten
-und Stöhnen wie von einem unruhigen Schläfer, schaute um sich und
-gewahrte einen spärlichen Lichtschein, der aus einer der hölzernen
-Hütten flimmerte. Leise ging er darauf zu. Und wie er vorsichtig durch
-die Fugen der Bretterwand spähte, sah er im Innern des matt erhellten
-Raumes zwei Gestalten auf dem bloßen Erdboden hingestreckt, während
-drei andere neben einem Feuer kauerten und einem geschlachteten Pudel
-das Fell abzogen. Das Feuer brannte in einem Viereck aus Ziegelsteinen,
-und auf diesem Herd stand ein verbogener Blechtopf, darin das Wasser
-schon zu dampfen anfing.
-
-Die fünf Kumpane mochten wohl schon öfters hier übernachtet haben und
-schienen sich in ihrem Schlupfwinkel ganz sicher zu fühlen, weil sie
-sich so sorglos gehen ließen. Gern hätte sich Fritz zu ihnen gesellt.
-Aber sein Erscheinen hätte sie höchstens beunruhigt oder mißtrauisch
-gemacht, und helfen konnte er ihnen doch nicht. So ließ er es bleiben.
-
-Das Hundefleisch war gar geworden. Nun wurden auch die Schläfer munter
-und setzten sich zum Feuer. Alle schwiegen, streckten die Hände nach
-den rauchenden Fleischstücken, rissen mit den Zähnen große Fetzen los,
-die sie mit der Hast des Hungers verschlangen. Dazu tranken sie von
-der gelblich-grauen Fettbrühe mit schmatzenden Lippen, und in ihren
-knochigen Gesichtern war ein Ausdruck der Zufriedenheit, als säßen
-sie bei dem alten Schlemmer Lukull zu Tisch. Satt gegessen, kramten
-sie aus den Taschen die gesammelten Zigarrenstummel, setzten sie in
-Brand und streckten sich längelang auf den nackten Erdboden aus, die
-verschränkten Hände als Kissen unterm Kopf. Einer hatte auch eine
-gefüllte Schnapsflasche mit, die im Kreis herumging und schnell
-leer war. Solang das Feuer brannte, unterhielten sie sich halblaut
-miteinander. Sie redeten deutsch, aber aus ihrer Aussprache hörte der
-Lauscher, daß nur zwei von ihnen wirklich Deutsche waren, der ‚Schwabe‘
-und der ‚Bayer‘, wie sie genannt wurden, während die drei anderen, der
-‚Tschasbauer‘, der ‚Wasserkopf‘ und der ‚Krowot‘ der slawischen Rasse
-angehörten.
-
-Sie erzählten von ihren vergeblichen Gängen um Arbeit und verwünschten
-das milde Wetter, weil es schneller den Schnee weggeräumt hatte als sie
-mit ihren Schaufeln. Dann wurden sie einsilbiger und schliefen endlich
-ein, indes der Regen ohne Pause rieselte und der Wind empfindlich kalt
-durch die Bretterwände pfiff.
-
-Fritz schlich sacht davon. Seine Kleider waren schwer von Nässe, in
-den Vertiefungen seines Filzhutes bildete das Wasser kleine Teiche.
-Aber heim ging er noch nicht. Eine dumpfe Trauer war in ihm, und mit
-doppelter Gewalt griff die Reue über so viele nutzlos verzettelte Tage
-an sein Herz. Denn es war ihm gewesen, als hätte im unsteten Flackern
-des dürftigen Feuerchens hinter Qualm und rauchiger Glut wie in weiter
-trüber Ferne das verlorene Ziel flüchtig herüber geleuchtet.
-
-... Den Elenden und Gequälten ein freies, heiteres Dasein schaffen,
-ihnen das Recht auf Glück zurückerobern -- ein Ziel, wohl wert, sein
-Leben dafür aufzuwenden ...
-
-Hatte wirklich einmal einer so zu ihm gesprochen, und er hatte sich
-ihm zugeschworen mit Handschlag und Gelöbnis? Und statt dessen
-schritt er satt und behäbig in den Reihen der Behäbigen und Satten,
-trank sein Bier in Ruhe und ereiferte sich höchstens im Streit der
-Glieder untereinander, indes der ganze Körper in schwerer Not rang.
-Die Menschheit war dieser Körper, und ihre Not war der Hunger. Und
-wo dieser war in seinem bittersten Ernst, da war auch kein Kampf
-von Volk zu Volk, von Bruder zu Bruder. Da saß der Bayer mit dem
-Polen, der Deutsche mit dem Slawen beim Feuer, und sie teilten sich
-einträchtiglich im Fleisch eines gestohlenen Hundes.
-
-Und während er in Regen und Sturm durch die Frühlingsnacht irrte,
-wurde ihm immer klarer und erkannte er immer deutlicher, daß die
-Unzufriedenheit, die Unlust und Leere der letzten Monate nicht
-seinem Müßiggang entsprang, nicht dem Wirtshaushocken und Zechen und
-Saufen. Das waren nur die Folgen, die Ursache aber war, daß er sich
-an eine Sache mit halbem Herzen und gegen seine innerste Überzeugung
-hingegeben. Das Unrecht, die Vergewaltigung, die der Schwächere
-erdulden mußte, hatten ihn geblendet, so daß er nicht sah, daß der
-ganze Kampf ein Unrecht war und ein Frevel an der Allgemeinheit.
-
-Als er endlich -- der Morgen brach an -- nach Haus kam, begegnete
-er dem Mediziner Karg, der ohne Gruß an ihm vorüber und die Treppe
-hinabeilte. Unter der Wohnungstür stieß er mit dem Astronomen zusammen.
-Auch der war bleich und ernst und grüßte kaum. Fritz war zu müde,
-als daß ihm das aufgefallen wäre. Er entledigte sich seiner Kleider,
-aus denen in trüben Bächlein das Regenwasser rann und fiel in einen
-bleischweren Schlaf.
-
-Nach kaum zwei Stunden wurde er von Pichler wach gerüttelt. Der hübsche
-Mensch hatte blasse, zitternde Lippen und war ganz verstört.
-
-„Fritz, steh’ auf! Karg hat den König erschossen!“
-
-Es war so. Betrunken hatten sie in einem Nachtkaffee Streit angefangen,
-der mit Faustschlägen und Ohrfeigen endete. Nüchtern geworden, hatten
-sie sich am nächsten Tag wieder versöhnt und das frühere Einvernehmen
-hergestellt. Aber Deimling war Zeuge des Auftritts gewesen und duldete
-eine so gemütliche Beilegung nicht. Ein Mitglied der Herminonia
-war tätlich beleidigt worden, und dafür gab es nach seinen starren
-Ehrbegriffen nur eine Sühne mit den Waffen, sollte kein Makel an den
-Farben der Landsmannschaft haften bleiben. Das sagte er dem Karg,
-und als der entgegnete, die Sache sei bereits durch gegenseitige
-Entschuldigung aus der Welt geschafft, erklärte Deimling finster, er
-hätte gedacht, der Fuchsmajor würde besser wissen, was die Ehre der
-grün-weiß-roten Farben gebieterisch fordere. Für seine Person könne er
-ja die Hiebe ungestraft auf sich sitzen lassen. Aber dann werde der
-Fall in der nächsten Kneipsitzung zur Sprache kommen, und da werde es
-sich ja zeigen, ob ein Geohrfeigter, der sich für eine solche Schmach
-nicht Genugtuung mit den Waffen verschaffe, ferner noch würdig sei, das
-grün-weiß-rote Band zu tragen.
-
-Nun war Karg mit Leib und Seele bei seiner Burschenherrlichkeit
-und war viel zu oft schon auf Mensur gestanden, als daß es ihm auf
-einen Ehrenhandel mehr oder weniger, selbst mit einem guten Freunde,
-sonderlich angekommen wäre. Wenn Deimling wollte, ging er eben los,
-da war weiter nichts dabei. Aber die Osterferien standen vor der
-Tür. Und König war ein guter Fechter. Und Karg wollte seiner Mutter
-nicht mit frischen Schmissen nach Haus kommen. Und der Handel mußte
-binnen zweimal vierundzwanzig Stunden -- so stand’s im Kodex --
-ausgetragen sein. Also einigte man sich auf Pistolen. Deimling war ganz
-Korrektheit und steife Würde. Er ordnete alles und verbot insbesondere
-dem Fuchsmajor, mit dem Gegner in derselben Stube zu wohnen, so daß
-ihm die Wondra für diese eine Nacht in ihrer eigenen Kammer das Lager
-zurechtmachte, während sie selbst in der Küche schlief.
-
-Dann war es so gekommen, daß König, der den ersten Schuß hatte, ein
-Loch in die Luft schoß, während Karg, vor Aufregung zitternd und
-unsicher, die Waffe nicht in der Gewalt hatte. Seine Kugel fuhr dem
-Astronomen ins linke Auge. Ein paar Atemzüge lang stand er noch
-aufrecht, mit unverändertem, nur wie verwundertem Gesicht. Und schon
-wollten alle des guten Ausgangs sich freuen, da wankte er, fiel hin
-und hatte den letzten Atemzug getan, ehe noch jemand die Verletzung
-wahrgenommen.
-
-Seinen Leichenwagen begleiteten die Herminonen in voller Wichs und
-Abordnungen von vielen anderen Verbindungen. Es war ein sehr schönes
-Begräbnis. Karg stellte sich den Gerichten. Er wurde zu drei Jahren
-Kerker verurteilt und da er Reserveoffizier war, vom Kaiser begnadigt.
-So verlief alles in schönster Regelmäßigkeit, und auf dem frischen
-Grabhügel wurden die Frühlingsgräser besonders üppig grün, als
-hätten sich aus dem zerstörten Jünglingskörper alle Hoffnungskeime
-lichthungrig in ihre zarten Spitzen geflüchtet.
-
-Die Wondra weinte sehr um den Verlust ihres besten, weil beständigen
-Mieters. Acht Tage rührte sie kein Kartenblatt an, und noch weitere
-vierzehn Tage traten ihr jedesmal, wenn sie sich zum Spieltisch setzte,
-die Tränen in die Augen, und sie weihte dem Toten einen stillen
-Gedächtnisschluck.
-
-
-6.
-
-Karg wurde seit diesem Zweikampf mit ausgesuchter Hochachtung
-behandelt, so daß ihm das zu Kopf stieg und er einer dünkelhaften
-Einbildung anheimfiel, die sich in kurzen, herrischen Gebärden und
-in einem blasierten Gesichtsausdruck offenbarte. Er wurde stolz und
-war beinahe froh, daß er einen ernstesten Fall gehabt und daß von ihm
-erzählt werden konnte, er habe schon einen im Duell erschossen.
-
-Derart hatten sich alle Beteiligten in ihrer Weise rasch wieder
-zurechtgefunden.
-
-Hellwig brauchte länger. Alles in ihm bäumte sich gegen die
-Leichtfertigkeit, mit der hier über ein Menschenleben zur Tagesordnung
-übergegangen wurde. Und als eines Tages nach Ostern Karg auf ihn
-zutrat: „Kommen Sie heut’ mit in die Kneipe?“, wandte er sich wortlos
-ab. Das war eine Beleidigung, und der Herminone, jetzt erst recht nicht
-gewillt, sich dergleichen gefallen zu lassen, verlangte Aufklärung.
-Fritz aber gab keine Antwort, stand mit dem Gesicht gegen das Fenster
-gekehrt und rührte sich nicht. Da schickte ihm Karg seine Zeugen. Es
-waren Deimling und der Erstchargierte Braun. Gemessen und förmlich
-überbrachten sie die Forderung.
-
-„Sie haben sich umsonst bemüht!“ sagte Hellwig. „Ich schlage mich
-nicht.“
-
-Nun hätten sie füglich gehen können. Aber Braun tat noch ein übriges,
-indem er den allseits Beliebten auf die Folgen einer solchen Weigerung
-aufmerksam machte. Fritz bat ihn jedoch sehr ruhig, er möge sich das
-sparen. Seinen Entschluß werde es nicht ändern.
-
-„Diese Methode ist sehr eigentümlich!“ nahm nun Deimling das Wort.
-„Erst der Ehre eines Menschen grundlos nahe treten und dann ...“
-
-„Mein bester Herr Deimling,“ fiel ihm da Hellwig in die Rede, „das
-Leben eines Menschen ist wertvoller als seine Ehre!“
-
-„Das ist jedenfalls ein bequemer -- und sicherer Standpunkt!“
-entgegnete der alte Herminone, setzte mit einer spöttischen
-Verbeugung hinzu: „Hüten Sie also Ihr wertvolles Leben!“ und wollte
-sich entfernen. Fritz vertrat ihm den Weg: „Sie haben mich falsch
-verstanden. Ich habe nicht von mir gesprochen, sondern von dem armen
-König.“
-
-„Er ist gefallen wie ein Soldat auf dem Felde der Ehre!“ antwortete
-Braun. Fritz erwiderte:
-
-„Ich weiß nicht, welche Ehre Sie meinen. Es gibt ihrer ja so viel
-als Stände und Rassen. Ich weiß nur, daß ein Menschenleben etwas
-Kostbares und Heiliges ist. Und wer eins davon vernichtet, bestiehlt
-die Menschheit um tausend Möglichkeiten, versündigt sich an ihr und
-besudelt jene einzige Ehre, die ich allein gelten lasse: die Ehre,
-Mensch zu sein.“
-
-„So behalten Sie diese Ehre!“ sagte Deimling spöttisch. „Womit ich die
-Ehre habe!“
-
-Braun aber machte noch einen Versuch.
-
-„Sie sind dann in der Gesellschaft unmöglich,“ gab er ihm zu bedenken.
-Und Fritz leidenschaftlich darauf:
-
-„Ich will auch nichts mehr gemein haben mit jenen! Sie reden von ihrer
-Liebe und brüsten sich mit ihrer Treue zum Volke. Aber das sind nichts
-als Worte! Worte! Wer wegen eines Schmarrens sein Leben in die Schanze
-schlägt, leichtsinnig und unbedenklich hinwirft, wer skrupellos ein
-Leben vernichten kann, und alle, die dies loben und in Ordnung finden,
-alle, die für die Macht ihres Volkes begeistert schwärmen, gleichzeitig
-aber dulden, daß auch nur das kleinste lebendige Teilchen dieses Volkes
-zwecklos zerstört wird -- alle die sind Phrasensager und Lügner und
-haben keine Ehrfurcht, weder vor ihrem Volke noch vor der Menschheit.
-Das ist es. Und darum schlage ich mich nicht und darum kann ich auch
-_Ihre_ Verachtung ertragen!“
-
-Während er redete, war er ganz ruhig geworden. In den letzten Worten
-hatte sogar eine leise Überlegenheit durchgeklungen. Jetzt setzte er
-sich und spielte mit dem Federkiel auf dem Tisch. Die beiden Studenten
-entfernten sich wortlos.
-
-Fritz atmete leicht und froh. Die Brücken waren abgebrochen und
-hinter ihm verbrannt. Mochte kommen, was da wollte -- er hatte wieder
-pflugreife Erde unter sich.
-
-Seine Energie und Spannkraft waren wieder da, drängten nun, je länger
-sie in müßiger Ruhe gelegen, je ungestümer vorwärts, forderten eine
-unzweideutige und ganze Tat.
-
-Jener flüchtige Blick in das Treiben der Obdachlosen hatte ihm die
-Richtung neu gewiesen. Und nach der Erschütterung über den gewaltsamen
-Tod des Astronomen war wie nach einem schweren Sommergewitter reine,
-klare Luft geworden. Nicht darauf konnte es ankommen, ob ein Volk
-stärker, mächtiger, fortgeschrittener, besser sei, als das andere,
-sondern daß alle ohne Unterschied leben konnten, wie es ihrer
-Menschenehre gebührte.
-
-In alle Fernen und Weiten schweifte seine junge Begeisterungsfähigkeit
-und entzündete sich an dieser Vorstellung zu einer hellen und starken,
-ganz warmen Glut. Und in der glückhaften Erregung, die sich seiner
-nach dem Weggehen der beiden Herminonen bemächtigte, begann er, zum
-erstenmal, seine Gedanken niederzuschreiben und schrieb in einem Zuge
-bis in die Nacht hinein an einer Abhandlung, in der er die uralte Lehre
-von der Menschenverbrüderung mit seinem Feuer neu vergoldete.
-
-Mit der frohen Raschheit, die ein glückliches Gelingen auslöst, packte
-er das Manuskript, kaum daß die Tinte trocken geworden, zusammen,
-siegelte und adressierte es an die ‚Freien Blätter‘, das führende Organ
-der Sozialisten in der Reichshauptstadt. -- --
-
-Die silbergraue Dämmerung vor den Fenstern wich bereits dem hellen
-Licht der nahen Sonne, als Pichler nach einer durchschwärmten Nacht
-heimkam. Fritz erzählte ihm ohne Umschweife den Vorfall mit den
-Herminonen. Auf dem Bettrand sitzend, hörte Otto nur mit halbem Ohr
-hin, während er sich der Stiefel und Kleider entledigte und unter
-langgezogenen Seufzern gähnend den Mund aufriß. Die Sache war ihm nicht
-mehr neu. Er hatte sie bereits bei der Kneipe und in den Kaffeehäusern
-genugsam zu hören bekommen. Erst als er in den Federn lag und die Decke
-bis zum Hals hinaufgezogen hatte, fragte er unter fortwährendem Gegähn:
-„Und was wirst du jetzt machen?“
-
-„Schlaf dich erst aus!“ erwiderte Hellwig. „Wir sprechen weiter, bis
-dein Schädel wieder klar ist.“
-
-„Ist er ohnehin!“ knurrte der andere, drehte sich gegen die Wand und
-schlief auch schon. -- --
-
-Fritz wusch sich die Augen hell und goß einen großen Krug Wasser über
-Kopf und Nacken. Als die Wondra bald darauf mit dem Frühstück erschien,
-teilte er ihr mit, daß er die Wohnung zu verlassen gedenke. Mit
-würdevollem Kopfnicken nahm sie die Kündigung zur Kenntnis, stellte
-den Kaffee auf den Tisch und entfernte sich, ohne ein Wort zu sprechen.
-Denn auch sie war bereits durch Karg über den Vorfall unterrichtet und
-wußte als langjährige Studentenmutter, wie man sich einem Auskneifer
-gegenüber zu benehmen hatte.
-
-Hellwig lächelte ein wenig, während er sich das feuchte Haar aus der
-Stirn kämmte und den Kragen anknöpfte. Dazwischen nahm er, wie es seine
-Gewohnheit war, stehend kleine Schlucke vom Frühstückskaffee, und da er
-wieder tief in seine Gedanken hineingeriet, behielt er schließlich den
-Topf in der Hand und schritt damit, von einer unklaren und ungeduldigen
-Erwartung getrieben, rastlos um den Tisch herum.
-
-Auch als er ins Freie trat, wo die alten Häuser wehmütig zu der stillen
-Pracht des Frühlingsmorgens hinaufschauten, wurde es nicht ruhiger in
-ihm, wollte das Gefühl nicht weichen, daß ihm etwas Fröhliches ganz
-nahe bevorstand. Pünktlich ging er in die Kanzlei und schrieb einen
-Mahnbrief nach dem andern. Dann erschien der Anwalt und beauftragte
-ihn, gegen einen nachlässigen Ratenzahler auf Grund des rechtskräftigen
-Urteils das Pfändungsgesuch bei Gericht einzureichen. Während Hellwig
-die Eingabe vorbereitete, kam der Schuldner und wollte die verfallene
-Rate erlegen. Er habe das Geld nicht früher zusammenbringen können.
-Der Advokat aber, dem es um seinen Verdienst zu tun war, erklärte, das
-helfe jetzt nichts mehr. Die Frist sei versäumt, die ganze gestundete
-Forderung nunmehr fällig und die Exekution bereits eingeleitet.
-
-Die Mitteilung traf den Schuldner, der ein anständiger kleiner
-Geschäftsmann zu sein schien, ersichtlich hart, da er durch eine
-Pfändung sehr zu Schaden und um jeden Kredit kommen mußte. Inständig
-flehte er um Aufschub. Der wurde ihm endlich unter der Bedingung
-zugestanden, daß er mit der Rate zugleich fünf Kronen für die Kosten
-des Pfändungsgesuches bezahle. Das war nicht viel, aber der arme Teufel
-kramte in allen Taschen und brachte endlich in Nickelmünzen vier Kronen
-und dreißig Heller zur Strecke, die der Anwalt gleichmütig einstrich,
-mit der Ermahnung, nunmehr pünktlich zu sein und auch die fehlenden
-siebzig Heller nicht zu vergessen. Einer großen Sorge ledig, versprach
-der Mann alles unter vielen Dankesworten. Da sagte Hellwig: „Das Gesuch
-ist noch nicht fertig, Herr Doktor!“
-
-„Wie? Ja so, ganz recht -- die Klage gegen die Seifenfabrik ...“ meinte
-der Advokat diplomatisch und winkte Schweigen.
-
-„Nein,“ antwortete Hellwig unbeirrt, „das Pfändungsgesuch habe ich noch
-nicht fertig!“
-
-Der Anwalt wurde verlegen.
-
-„Also adieu! adieu!“ rief er lärmend. „Und vergessen Sie nicht auf die
-nächste Rate! Pünktlich sein, nur pünktlich!“
-
-Damit schob er den Mann zur Tür hinaus. Dann drehte er sich zornrot
-zu seinem Schreiber: „Was fällt Ihnen ein, Herr Hellwig? Derartige
-Äußerungen sind ganz ungehörig!“
-
-„Mir fällt gar nichts ein!“ erwiderte Fritz trotzig. „Ich meine nur,
-was man nicht geleistet hat, dafür läßt man sich auch nicht bezahlen.“
-
-Mit großen, runden Augen blickte der Chef auf seinen sonst so stillen
-Gehilfen. Denn Hellwig hatte unter dem Druck der letzten Monate
-vollständig gleichgültig und ohne Nachdenken, wie eine Maschine,
-gearbeitet und stumm alles getan, was ihm aufgetragen worden war.
-
-„Ich verbitte mir jede Kritik!“ rief der Chef. „Das wäre noch schöner!
-Was glauben Sie denn eigentlich?“
-
-„Ich glaube, daß dieses Vorgehen und anständig zwei -- Worte sind.“
-
-Nun warf sich der Anwalt in die Brust: „Sie sind entlassen und können
-auf der Stelle gehn! Ich zahle Ihnen das Gehalt für die vollen vierzehn
-Tage, obwohl ich nicht dazu verpflichtet bin.“
-
-„Ich danke!“ entgegnete Fritz, „es könnte sonst wieder ein armer
-Schlucker dafür büßen müssen!“, stand auf und ging.
-
-Nun war er mit allem und gründlich fertig. Ein Jahr war vertrödelt,
-mit den Studien war er nicht viel weiter gekommen und für das Leben
-geleistet hatte er gar nichts. Die Bilanz quälte ihn jetzt doch, und
-trotzdem, oder gerade weil der Maienhimmel so wundervoll blau, die Luft
-so weich und kosend war, fiel ihn ein arger Jammer mit bösen Krallen an.
-
-Bedrückt ging er durch die belebten Geschäftsstraßen, schritt
-teilnahmslos über die breite neue Moldaubrücke und auf weißen
-Kieswegen neben blühendem Gesträuch in einen stillen Park hinein,
-der einem Fürsten eignend und dem Publikum zugänglich, an einer
-sachten Hügellehne hinter den Häusern emporstieg. Alte Bäume waren
-da, weite Rasenpläne und in runden Beeten standen farbige Blumen im
-Glanz ihrer kürzlich erblühten Schönheit, von Sonnenschein und lauer
-Luft umflossen. Auf den braunen Gartenbänken saßen junge Mädchen
-in hellen Kleidern und lasen in dieser begnadeten Frühe zärtliche
-Liebesgeschichten oder Verse aus zierlichen Goldschnittbänden. Und
-wo eine Sitzgelegenheit tiefer in die lauschigen Hecken hineingerückt
-war, hatte sich auch wohl ein oder das andere Pärchen niedergelassen,
-kecke Studenten zumeist und schmiegsame Backfische mit Musikmappen
-oder Malgeräten, die ihre bezüglichen Unterrichtsstunden schwänzend,
-kreuzvergnügt beim gütigen Lehrer Lenz in die Schule gingen. Leichte,
-kühle Blütenblätter fielen von den Bäumen, und die grüne Wipfelwelt,
-die reglos zwischen Himmel und Erde schwamm, erfüllte ohne Pausen laut
-tönender Finkenschlag. So stellte dieser sanft ansteigende große Garten
-eine ideale Frühlingslandschaft dar, aber die heitere Lebensfreude, die
-blankäugig überall sich regte, war nicht danach angetan, der tristen
-Gemütsverfassung Hellwigs den Garaus zu machen. Sauertöpfisch und
-verdrossen bewegte er sich auf den gewundenen Fußsteigen zum Gipfel
-und setzte sich oben auf eine einsame Steinbank, die abseits von den
-Hauptwegen im Halbrund eines Jasmingebüschs aufgestellt war.
-
-Beinah die ganze Stadt konnte von dort überblickt werden, wie sie da
-unten hingebreitet lag, in Leibesmitte von dem sonnenüberspiegelten
-Stromband wie mit wehrhaftem Stahl gegürtet, und vergoldete Kuppeln
-funkelten im Licht gleich den Zieraten auf dem Brustharnisch einer
-reisigen Brunhilde. Ernst und hart war dieses Stadtbild, von einer
-herben Schönheit, deren strenge Linien auch die Helligkeit des
-Frühlings nicht weicher und anmutiger machen konnte.
-
-Aber Fritz sah nicht darauf hin, schaute darüber hinweg in eine leere
-Ferne und grübelte in sich hinein.
-
-Der Auftritt mit dem Rechtsanwalt war ihm selbst überraschend gekommen.
-Doch war ihm das jetzt ganz recht und er wünschte es nicht ungeschehen.
-
-Im Buschwerk, um ihn, über ihm, war es ungemein lebendig. Lichtbächlein
-rannen von den Zweigen, und unsichtbare Vögel lockten und suchten
-einander. Verwirrend dufteten, kaum den geplatzten Knospen entquollen,
-die weißen Blüten, und das gesamte lose Lenzgesindel war geschäftig,
-mit Schmeicheln und Streicheln und Fächeln und Lächeln die Sinne leise
-zu umgarnen und irgendeine namenlose Sehnsucht wach zu bringen.
-
-Plötzlich mußte er an die kleine Eva Wart denken, und so oft er diese
-Erinnerung unwillig zurückstieß, so hartnäckig stellte sie sich immer
-wieder ein. Ohne daß er es wußte, wurden ihm die Lider feucht.
-
-Und nun sah er auch ihr ganzes Heim vor sich, das tätige Haus, den
-biederen Kaufmann, den Freund -- und neben der hochgesinnten Mutter
-stand das feine Jungfräulein und schaute ihn leidvoll aus ernsten Augen
-an. Wenn er jetzt diesen Menschen gegenüber treten sollte, konnte er es
-denn, ohne die Stirn zu senken? Die Schamröte stieg ihm in die Wangen.
-Und dann -- dann legte er mit einem dumpfen Ächzen beide Hände vors
-Gesicht, und zwischen den gespreiteten Fingern quollen große, warme
-Tränen.
-
-Minutenlang saß er so, zusammengekauert, die Ellbogen auf die Schenkel
-gestützt. Als er sich endlich erhob, mit einer Bewegung, als risse
-er eine Handfessel jäh entzwei, da blickten unter den gewölbten
-Stirnknochen die Augen hart und finster, und in dem hageren Antlitz war
-Zug um Zug ein Ausdruck von gesammelter Entschlossenheit.
-
-
-7.
-
-Als er heimkam, war Otto eben aufgestanden. Fritz teilte ihm nunmehr
-mit, daß er die Wohnung aufgekündigt habe. Da schüttelte ihm Pichler
-warm die Hand und sagte: „Das war gescheit von dir. Sonst hätt’ ich
-nämlich selbst ausziehen müssen. Denn bei aller Freundschaft wirst du
-zugeben müssen, daß wir nicht beisammenbleiben dürfen.“
-
-„Warum denn?“ fragte Hellwig erstaunt. Und Otto erwiderte: „Das ist
-doch ganz klar -- weil ich sonst gerade so unmöglich bin wie du. Man
-kann doch mit einem, der keine Satisfaktion gibt, nicht in derselben
-Stube wohnen, ohne daß ...“
-
-„Ach so!“ sagte Hellwig und fügte hinzu: „Du bist wenigstens
-aufrichtig, das ist doch etwas.“
-
-„Immer!“ versicherte Otto. Dann fuhr er fort, und sein gönnerhafter
-Ton bekundete, daß er sich neben dem Geächteten sehr brav und
-bieder vorkam. „Deswegen,“ -- fuhr er fort -- „deswegen aber keine
-Feindschaft! Wir bleiben die alten, das ist selbstverständlich. Wir
-treffen uns auch regelmäßig und zwar in einem sicheren Wirtshaus, das
-noch gesucht werden muß. Öffentlich, muß ich dich leider bitten, so zu
-tun, als ob wir jeden Verkehr abgebrochen hätten. Ich werde es gerade
-so halten, aber sonst -- unter vier Augen -- alles wie früher! Gilt’s?“
-
-Er streckte ihm die Hand hin. Fritz sah über sie hinweg. „Du bist
-sehr großmütig!“ meinte er mit kaltem Spott. „Aber ich hab’ solche
-Heimlichtuerei nicht gern. Ein ehrliches Entweder -- Oder ist mir schon
-lieber.“
-
-„Wie du willst -- ich bleibe trotzdem dein Freund.“
-
-„Ein Freund, der nicht den Mut hat -- -- ach, weißt du, reden wir nicht
-weiter davon, es ist so müßig.“
-
-Er setzte sich zum Schreibtisch, nahm irgendein Buch vor. Aus alter
-Gewohnheit suchte er dabei nach seiner Pfeife, die stets handgerecht
-am Tischbein lehnte. Sie war nicht mehr dort, war überhaupt aus dem
-Zimmer verschwunden. Die Wondra hatte sie wieder an sich genommen,
-weil so ein ehrwürdiges Erbstück von den Lippen eines Verfemten nicht
-entweiht werden durfte.
-
-Wieder lächelte er. Ein leises, bitteres Lächeln. So kleinlich war das
-alles, so überflüssig und bedeutungslos.
-
-Noch öfter hatte er im Verlauf dieser Tage Gelegenheit zu einem solchen
-Lächeln. Wie ein Aussätziger wurde er gemieden. Sogar der sanfte
-Fundulus drückte sich scheu an ihm vorbei, mit gesenkten Lidern und
-allen Zeichen mitleidender Verlegenheit. Niemand erschien am Abend, um
-ihm eine Blume zuzutrinken oder ihn zum Spiel aufzufordern. Auch kein
-Bier holte ihm die Wondra.
-
-Er hatte die Absicht gehabt, die Wohnung zu verlassen, sobald er ein
-anderes Zimmer gefunden. Jetzt aber entschloß er sich, die ganzen
-vierzehn Tage auszuharren. Niemand sollte ihm nachsagen, daß er vor
-Verachtung geflohen sei. Und gerade zum Trotz, nur um sich zu zeigen,
-ging er jetzt in alle Studentenwirtshäuser, saß allein an einem Tisch,
-und während ein geringschätziges Lächeln um seinen Mundwinkeln lag,
-dachte er an die Zukunft und wie er sich einrichten würde.
-
-Steif aufgereckt schritt er dann durch die Haufen seiner früheren
-Bekannten, schaute ihnen mit freien, hellen Augen ins Gesicht. Mancher
-wurde dadurch verwirrt, griff zum Gruß nach seiner Kappe. Aber er
-erhielt den Gruß nicht zurück.
-
-So vergingen acht Tage, ohne daß Hellwig mit einem Menschen sprach.
-Pichler hatte gleich nach jener Unterredung Tisch und Bett des armen
-König mit Beschlag belegt und vermied ängstlich ein Zusammentreffen.
-Doch hatte er ein Briefchen hinterlassen, worin er sein Benehmen mit
-den alten Gründen nochmals entschuldigte. Fritz riß es in Fetzen.
-
-Wenn er aber gedacht hatte, daß er durch seine völlige Absonderung Zeit
-und Lust zum Arbeiten zurückerzwingen werde, so war das ein Irrtum
-gewesen. Das Lesen der gelehrten Werke mit dem trostlos gleichförmigen
-lateinischen Druck machte ihm keine Freude, zum Studieren fand er nicht
-die Sammlung, den Vorträgen der Professoren hörte er nur mit halbem
-Ohr zu, und es war keiner unter ihnen, der ihn zu fesseln vermocht
-hätte. Zu beschaulich ging es ihm auf einmal in den Stätten der hohen
-Wissenschaft her. Alle seine Kräfte waren in brodelndem Aufruhr.
-Unrast war in ihm und drängende Sehnsucht, mitten im Leben, wo es am
-gewaltigsten brauste, mitzutun, im offenen Widerstreit Aug’ in Aug’ und
-Stirn gegen Stirn einem starken Gegner zu trotzen und im Kampfe für die
-Erhöhung der heute Erniedrigten die Waffen nur siegend oder sterbend
-aus der Hand zu legen.
-
-Alle Länder widerhallten vom Lärm dieses Kampfes und in den
-Industriestädten waren die wohlgerüsteten Heerlager. Auch Prag war
-mit beteiligt, aber der Streiter waren daselbst nur wenige. Die
-Unzufriedenheit der Massen entlud sich hier im unfruchtbaren, aber
-bequemeren Nationalitätenhader. Und wo das anders war, da waren
-Tschechen die Rufer im sozialen Kampf, und Hellwig verstand ihre
-Sprache nicht. Wohl traten in ihren Zusammenkünften bisweilen auch
-deutsche Redner auf, aber das geschah nur selten und brachte in die
-Beratungen stets etwas Fremdes und Feierliches. So fehlte die Brücke
-des lebendigen Wortes, und er vermochte keine Fühlung mit ihnen zu
-gewinnen, trotzdem er jetzt häufig ihre Versammlungen besuchte.
-
-Niedergedrückt kam er eines Abends von einer solchen heim. Seine Koffer
-waren schon gepackt, in zwei Tagen wollte er in die neue Wohnung
-übersiedeln. Da fand er auf seinem Tisch ein Geldaviso aus Wien und
-eine Verständigung des Inhalts, daß die Schriftleitung der Freien
-Blätter seine Abhandlung mit Vergnügen angenommen habe und um weitere
-Beiträge ersuche.
-
-Aber auch von Kolben war ein Brief eingelaufen. Der Doktor schrieb:
-„Lieber Fritz! Du scheinst Luft unter die Flügel bekommen zu haben. Es
-war aber auch höchste Zeit. Jetzt sieh nur zu, daß du nicht wieder den
-Kurs verlierst, überleg’ nicht lang und komm her nach Wien. Es gibt
-hier massenhaft für dich zu tun!“
-
-Da ließ Fritz sein Gepäck statt in die neue Wohnung auf den Bahnhof
-schaffen und fuhr in die Reichshauptstadt.
-
-
-
-
-Drittes Buch
-
-
-1.
-
-Doktor Kolben saß in seinem Arbeitszimmer. Das war ein mäßig großer
-Raum mit roten Tapeten und dunklen Nußholzmöbeln. Der Schreibtisch
-stand schwer und massig vor einem großen Fenster, und durch die
-Fensterscheiben sah man in einen gepflegten Garten mit Hecken,
-Büschen, grünen Wipfeln und blühenden Rosen. Darinnen ruhte das
-kleine helle Haus, das dem Doktor gehörte, wie ein weißer Vogel in
-einem grünen Nest. Still war es hier draußen am Rande der Großstadt,
-ihr Lärm verbrauste, ehe er bis zu dem anmutigen Tal gelangte,
-das waldbestandene Hügel umsäumten und schützten. Eine Eisenbahn
-vermittelte in regem Verkehr die Verbindung mit der Stadt, in kaum
-zwanzig Minuten war man drinnen, und so hatte man hier alle guten Dinge
-des Landlebens samt allen Bequemlichkeiten der Großstadt beisammen und
-konnte sich’s wohl sein lassen.
-
-Der Doktor schrieb fleißig und bedeckte Bogen um Bogen eines starken
-gelblichen Papiers mit regelmäßigen Buchstaben in gedrängten Zeilen.
-Da klopfte es, die Tür ging auf und Fritz stand so, wie er eben vom
-Bahnhof gekommen, in ihrem Rahmen.
-
-„Schnell kommst du!“ sagte Kolben. „Und das ist sehr vernünftig. Sieh
-dir unterdessen die Bilder an, ich bin gleich fertig.“
-
-Er deutete auf ein kleines, mit Mappen und Zeitschriften überladenes
-Tischchen in der Ecke. Dann ließ er die Feder wieder über die
-gelblichen Bogen wandern, und erst nach einer Viertelstunde legte er
-sie weg.
-
-„So! Jetzt laß dich einmal anschaun!“
-
-Er stand auf und Hellwig, der unterdessen die Zeitschriften
-durchstöbert hatte, ebenfalls. Der Doktor legte ihm beide Hände auf
-die Schultern und blickte ihm in die Augen. Fritz hielt eine kleine
-Weile diesem forschenden Blick stand, dann senkte er halb trotzig, halb
-verlegen die Lider.
-
-„Laß gut sein!“ sprach Kolben. „Es hat nichts auf sich. Besser ein
-Jahr, als sich selbst verloren. So was macht jeder durch, wenn er
-nicht gerade ein bleichsüchtiger Musterknabe ist oder eine große
-Null. Also hör’ zu: Der Kampf ums allgemeine Wahlrecht soll langsam
-vorbereitet werden. Ein paar große Streike werden sich nicht mehr lang
-hinausschieben lassen. Die Schriftleitung der Freien Blätter hat junge
-unverbrauchte Kräfte dringend nötig. Ich schätze, es könnte dir nicht
-schaden, wenn du da ein bissel mittust. Willst du?“
-
-„Geht denn das so einfach?“ fragte Hellwig und horchte hoch auf.
-
-„Wird sich machen lassen. Ich hab’ das Kunstreferat, bin auch sonst mit
-den Leuten bekannt. -- Es ist keine Protektion!“ beschwichtigte er, als
-Fritz eine heftig abweisende Bewegung machte. „Glaubst du, ich würde
-dich empfehlen, wenn ich dich nicht bis in die Nieren kennte? Noch
-einmal: Willst du?“
-
-„Ich hab’ keine Ahnung von der ganzen Sache, weiß nicht, ob ich
-überhaupt dazu tauge ...“
-
-„Du taugst schon. Und die Handwerksgriffe lernen sich leicht. Ein paar
-Wochen Einschulung, und das Werkel geht von selber. Zum dritten und
-letztenmal: Willst du? Ja oder nein?“
-
-Noch einige Minuten zögerte Fritz mit der Antwort. Kolben ließ ihm Zeit
-zum Überlegen, trat ans Fenster und sah einem Rotschwänzchen zu, das im
-Lindenwipfel flink sich regte.
-
-„Nun?“ fragte er endlich.
-
-„Ja!“ antwortete Fritz.
-
-Nach einigen Tagen saß er in der Redaktion der Freien Blätter, hatte
-Monatsgehalt und Zeilenhonorar vertragsmäßig zugesichert und kam rasch
-ins Fahrwasser.
-
-Um ihn tönte der Lärm, schrien die Parteien des Tages, forderten von
-der Gegenwart ungestüm ihre vermeintlichen Rechte. Und er stand mitten
-drin, mitten in dem heißen, tosenden Leben, das jeden Tag seine Gestalt
-änderte, Verbrauchtes abstieß und neue Schlagworte ausgab. Was heute
-oben war, hatte morgen seine Macht verloren, lang Niedergehaltenes
-stieg plötzlich empor, ein immerwährender Wechsel war da, ohne
-Stetigkeit und Ruhe, scheinbar ein Wirrwarr und doch eins durch das
-andere bedingt.
-
-Von besonderem Reiz für ihn war es da, den Zusammenhängen nachzuspüren,
-die das wertlos gewordene Gestern mit dem schillernden Heute
-verknüpften, die vielen durcheinander wirbelnden Strömungen und
-Gegenströmungen bis zu ihrer gemeinsamen Quelle zu verfolgen und aus
-dem beständigen Auf und Ab der fließenden Erscheinungen das Bleibende
-herauszufinden.
-
-Und er erschrak über die drückende Machtfülle, die gewaltig
-aufgespeicherte Vermögen den verdienstlosen Besitzern über ganze große
-Menschengruppen verliehen, sah diese vergeblich dagegen ankämpfen,
-matt und mutlos werden, und fühlte mehr, als er klar erkannte, daß
-eine Ordnung, in welcher derartiges möglich war, irgendwie krank sein
-müsse, ohne daß er hätte finden können, wo eigentlich die Krankheit saß
-und wie sie zu heilen wäre. Denn alle die Wohlfahrtseinrichtungen, die
-Krankenkassen, Unfallversicherungen, Altersversorgungen, schienen ihm
-bestenfalls Verlegenheitsmittel, durch die nur die Folgeerscheinung
-der Krankheit erträglicher gemacht, nicht aber die Krankheit selbst
-behoben werden konnte, so etwa, wie man einem schwer Verwundeten
-Morphium einspritzt, um die unerträglichen Schmerzen für Augenblicke zu
-übertäuben.
-
-Da war nun seiner grüblerischen Natur wieder ein reicher Stoff geboten.
-Aber er blieb in beständiger Fühlung mit dem Leben und arbeitete
-freudig drauflos, so daß es gewöhnlich sehr spät wurde, ehe er zum
-Nachtmahl und in seine Wohnung kam. Aber auch dann gönnte er sich noch
-nicht Ruhe, las vielmehr, schrieb und studierte, als wollte er in
-Wochen nachholen, was er während der leeren Monate in Prag versäumt
-hatte.
-
-So verging der Sommer im Flug, es wurde Herbst und eines Tages traf
-Heinz Wart in Wien ein. Er hatte die Reifeprüfung abgelegt, und
-zielsicherer als Hellwig schwankte er keinen Augenblick, sondern kam
-mit der festen Absicht, sich ganz dem Zeitungswesen zu überantworten
-und dort mitzuarbeiten, wo er am ehesten die Verwirklichung seiner
-Jugendideale erhoffte.
-
-Er war noch blasser und stiller geworden, die Augen brannten ihm groß
-und wie im Fieber unter der weißen Stirn. Von den dunklen Haaren bis in
-die Fingerspitzen schien die ganze überschlanke Gestalt mit verhaltener
-Leidenschaft durchtränkt, von Temperament förmlich gesättigt zu sein.
-Er war einer von jenen, die mit dem Herzen entscheiden, sich an der
-eigenen Glut verzehren und unbesinnlich zur Selbstopferung bereit sind,
-wenn sie glauben, der Idee, für die sie brennen, dadurch dienen zu
-können.
-
-Hellwig aber freute sich sehr, den besten Freund seiner Jugend wieder
-zu haben. Sie bezogen zwei einfenstrige Stuben im selben Haus, und
-da sie auch im gleichen Redaktionszimmer saßen, waren sie fast
-ununterbrochen beisammen. Nur abends, wenn Fritz zu Hause arbeitete
-oder an Versammlungen teilnahm, tat Heinz nicht mit. Das war nichts für
-ihn, das Studieren oder Debattieren bis in die späten Nachtstunden.
-Er wollte das Elend nicht bloß vom Hörensagen, sondern aus eigener
-Anschauung kennenlernen. Und er ging in die Massenquartiere und
-Schnapsbuden, kroch in alle Schlupfwinkel der Obdachlosen. Bisweilen
-blieb er dann tagelang verschwunden. Und wenn er wieder in der Wohnung
-auftauchte, hatte er statt der getragenen guten Kleider ein paar Fetzen
-an, geflickt und schmutzstarrend, und Fritz mußte ihm bis zum Ersten
-des nächsten Monats mit Geld aushelfen.
-
-Wo er sich herumtrieb, verriet er nicht. Aber er war dann noch stiller
-und bleicher als sonst, und seine Augen schienen gleichsam nach innen
-zu schauen, und in ihrem dunklen Grunde lag unbeweglich etwas seltsam
-Starres, vereister Schreck oder versteintes Grauen, wie bei Leuten, die
-hart am Tod vorübergegangen oder an einer furchtbaren Gefahr.
-
-Allen Fragen wich er aus. „Laß mich nur, Fritz, ich komm’ schon allein
-drüber weg. Dann wirst du’s erfahren.“
-
-Da drang Hellwig nicht weiter in ihn.
-
-
-2.
-
-Pichler hatte sein Verhältnis mit der Helenka gelöst. Nach einem
-heftigen Streit waren sie auseinander gegangen, und keins fragte
-mehr dem andern nach. Jetzt diente er sein Freiwilligenjahr ab, beim
-Fuhrwesen, wegen der schönen Uniform. Und die Uniform stand ihm
-ausgezeichnet. Das wußte er, und konnte es kaum erwarten, bis er einen
-dreitägigen Feiertagsurlaub bewilligt erhielt, den er in der Heimat
-zubrachte, um sich dort den Leuten in all seinem Glanz zu zeigen. Die
-Geschwister bestaunten den stolzen Krieger wie ein farbenprächtiges
-Fabelwesen, und auch der lustige Küster unterließ das Witzeln und hatte
-helle Freude an dem stattlichen Sohn. Den aber trieb es nach Neuberg.
-Er wollte die Eva Wart sehen und Eindruck machen.
-
-Das alte Haus war, wenn möglich, noch schwärzer und verwitterter
-geworden, aber die muntere Arbeit erfüllte es jetzt wie einst, und wie
-vor Jahrhunderten schon leuchteten die bunten Glasmalereien noch immer
-frisch und kräftig im Sonnenschein. Der Rehbock Hansl tummelte sich im
-Garten, und unter den Bäumen am Grasplatz stand seine Herrin, zierlich
-und fein, ein gefaltetes Tuch um den Leib, und befestigte Leinenwäsche
-mit hölzernen Klammern an den kreuz und quer zwischen die Bäume
-gespannten Schnüren. Sie trug eine blaue Hausjacke mit weiten Ärmeln,
-und so oft sie ein Wäschestück hob, fielen sie bis zu den Ellenbogen
-über die runden Arme zurück. Das freute die fröhlichen Sonnenlichter
-und liebkosend streichelten sie die glatte Haut, durch deren Weiß
-in einem ganz zarten und duftigen Schein, nur kaum wie die Farbe
-junger Apfelblüten, das Blut schimmerte. Eine warme Anmut war in den
-Bewegungen der fleißigen Arbeiterin, und wenn sie sich auf die Zehen
-stellte, mit zurückgebeugtem Oberkörper eine höher hinlaufende Leine zu
-sich niederzog, formten die kleinen Brüstlein zwei feine schattenhafte
-Hügel in den leichten Stoff des losen Kleides.
-
-Im knapp sitzenden Waffenrock mit funkelnden Knöpfen, glänzend
-gewichste Röhrenstiefel an den Füßen, kam Otto über den Hof, und
-die Scheide des schweren Säbels stieß mit lautem Klingen gegen das
-Pflaster. Verwundert schaute das Fräulein nach der geräuschvollen
-Erscheinung und vergaß vor Überraschung die blühweiß gewaschenen
-Unterhosen Wart Nikls aufzuhängen, die es gerade aus dem Korb genommen.
-Unschlüssig hielt es diese in der Hand und wartete der Dinge, die da
-kommen würden.
-
-Der fremde Krieger aber ging schnurstracks auf den Garten zu, blieb,
-die Hacken zusammenschlagend, vor dem Gitter stehen stehen und
-salutierte stramm:
-
-„Servus, Fräulein Eva!“
-
-Nun erkannte sie ihn an der Stimme. „Jemine, der Herr Pichler!“ rief
-sie und lief, das Gartentürl zu öffnen. Sie tat es mit einem kleinen
-Knicks und sagte unüberlegt dazu: „Tretet ein, hoher Krieger!“
-
-„Der sein Herz Euch ergab!“ ergänzte Otto schnell und verneigte sich
-tief, wobei er die weißbehandschuhte Rechte gegen seine Brust drückte.
-
-Das Fräulein errötete. „Bei Ihnen muß man mit dem Zitieren vorsichtig
-sein!“ lachte es. „Sie sind gut beschlagen!“ Dann wollte es ihm die
-Hand zum Willkomm reichen und bemerkte, daß es noch immer des Vaters
-Unterhose hielt. Unmutig weggeschleudert flog diese im Bogen neben den
-Korb. Pichler gewahrte den Zorn.
-
-„Lassen Sie sich nicht stören!“ sagte er und zog die Handschuhe aus.
-„Wenn es Ihnen recht ist, werde ich helfen.“
-
-„Ja?“ antwortete sie vergnügt. „Kommen Sie, das ist lustig!“
-
-Dann hängten sie mitsammen die Wäsche auf. Im Rasen blühten die
-Gänseblümchen und der gelbe Löwenzahn, die jungen Blätter der Obstbäume
-glänzten frisch, und mit geschmeidigen Gliedern sprang das Reh über
-die grünen Wiesenflächen. Eva regte sich flink, Otto reichte ihr die
-feuchten Leinenstücke und stellte sich ungeschickt, um einen Vorwand
-zu haben, seine Finger mit ihrer warmen Hand oder dem kühlen festen
-Fleisch der Arme in Berührung zu bringen. Sie achtete nicht darauf.
-Ganz Eifer war sie, und die blonden Stirnhaare bewegten sich in krauser
-Unordnung wie ein leichtes goldenes Gitterwerk vor der klaren Stirn.
-Dabei plauderten sie von allem möglichen, und nur von einem sprachen
-sie nicht, obwohl Eva mit still klopfendem Herzen darauf wartete: von
-Fritz Hellwig.
-
-Aber auch Pichler dachte an ihn und wiegte sich in der frohen
-Zuversicht, daß es ihm gelingen werde, den Gegner auszustechen. Denn
-er wußte, daß Hellwig sein Mitbewerber war. So ängstlich dieser auch
-das Geheimnis behütete, den Spüraugen Ottos war es nicht verborgen
-geblieben.
-
-Alle Register seiner bestrickenden Liebenswürdigkeit zog er, und
-das Bewußtsein, daß er fesch und vorteilhaft aussah, verlieh ihm
-große Sicherheit. Er übertraf sich selbst an Witz, Geist und
-drolligen Einfällen, so daß Eva fortwährend lachen mußte und in ihrer
-Vertrauensseligkeit, die ohne Arg war, dem lustigen Gesellschafter mit
-warmen Blicken entgegenkam. Und sie merkte auch die Absichtlichkeit
-nicht, als er ihr mit zögernden Händen die Haare aus der Stirn ordnete,
-mit ihrem Armband sich zu schaffen machte oder wie zufällig über ihr
-Kleid hinstrich. Wie mit einem guten Kameraden unterhielt sie sich und
-begegnete seinen Vertraulichkeiten auch wohl mit anderen, indem sie ihn
-auf die Finger schlug oder belustigt ihren schmalen Fuß zum Vergleich
-auf seinen großen Stiefel stellte.
-
-Otto aber deutete alles zu seinen Gunsten. Er brannte lichterloh und
-glaubte, daß die Kleine nicht weniger in ihn verliebt sei als er in
-sie. Seine übermütige Siegessicherheit ließ ihn immer mehr wagen.
-Als er aber mit einer halben Wendung seinen Arm einen Augenblick um
-ihre Hüfte legte, klatschte sie ihm ein nasses Tuch ins Gesicht. „Das
-fordert Strafe!“ rief er und wollte sie jetzt erst recht an sich
-ziehen. Das Mädchen aber stand plötzlich mit einer so erstaunten und
-kalt abweisenden Miene vor ihm, daß er betreten seine Absicht aufgab.
-Er sah ein, daß er fürs erste Mal zu weit gegangen. Um den ungünstigen
-Eindruck zu verwischen, war er jetzt doppelt aufmerksam und bescheiden.
-Eva hantierte indes gleich wieder fröhlich weiter und tat, als sei
-nichts vorgefallen. Erst dieser vornehme und sichere Anstand brachte
-ihn aus dem Text. Er wurde verlegen, verlor den Faden und einen
-Augenblick stockte das lebhaft geführte Gespräch.
-
-Der Rehbock kam, rieb den Kopf an seiner Herrin und schaute sie mit
-klugen Augen an. Da benützte sie endlich die Gelegenheit und sagte:
-„Wie doch die Zeit vergeht! Jetzt hab’ ich ihn schon das dritte Jahr!
-Was mag denn eigentlich der edle Spender machen?“ Ganz leichthin sagte
-sie das, aber ihr Herz schlug laut dabei.
-
-„Wer?“ fragte Otto und wollte nicht verstehen.
-
-„Sie wissen wohl gar nicht, von wem er ist?“ erwiderte sie. Es war ihr
-nicht möglich, den Namen über die Lippen zu bringen.
-
-„Ja so!“ antwortete Pichler gedehnt und gleichgültig. „Sie reden von
-Fritz Hellwig? Da kann ich nicht dienen. Seit der wegen jener gewissen
-Geschichte von Prag hat fortmüssen, hab’ ich nichts mehr von ihm
-gehört.“
-
-„Was für gewisse Geschichte?“ fragte sie und schaute ihn bang an. Da
-hoffte er sein Eisen zu schmieden, begann zu erzählen und stellte die
-Sache so dar, als ob Fritz aus Mangel an Mut den Zweikampf abgelehnt
-hätte.
-
-„Man darf das nicht!“ schloß er. „Erst beleidigen und dann auskneifen.
-Es ist mir schwergefallen, aber ich hab’ schließlich nicht anders
-handeln können.“
-
-„Wieso?“ Eine kleine Falte stand ihr zwischen den Brauen.
-
-„Mit einem Auskneifer verkehrt man nicht. Der ist gesellschaftlich tot.
-Ich hab’ dennoch versucht, mir den Freund zu erhalten, hab’ heimlich
-mit ihm zusammentreffen wollen, trotz der Gefahr, daß es herauskommt
-und mich ebenfalls unmöglich macht.“
-
-Er mußte innehalten. Eva hatte mit dem Fuß aufgestampft und ungestüm
-dazwischengerufen: „Fritz ist kein Auskneifer!“
-
-Mit einem nachsichtigen Lächeln blickte er sie groß an.
-
-„Sprechen wir nicht mehr davon. Mir geht die Geschichte nah, und helfen
-tut das Reden doch nichts mehr!“
-
-„Ihnen nicht, das seh’ ich jetzt schon selber!“ sprach sie ihm mit
-funkelnden Augen entgegen. Gekränkt versetzte er: „Warum sind Sie so
-bös? Sie tun ja gerade, als ob ich an allem schuld bin!“
-
-„Beileibe!“ entgegnete sie und in ihrer Stimme war Spott und Zorn.
-„Fein haben Sie sich benommen! Ein unschuldiger Engel sind Sie!“ Dann
-aber ging ihr doch das mühsam gezügelte Temperament durch. „Wollen Sie
-wissen,“ fuhr sie heftig fort, „wollen Sie wissen, wer der Feigling
-ist? Nehmen Sie einen Spiegel und schaun Sie sich an! Dann sehen Sie
-ihn!“
-
-„Fräulein Eva!“
-
-Das klang gereizt und grollend. Sie hörte nicht darauf. Rücksichtslos
-warf sie ihm ihre Empörung ins Gesicht.
-
-„Vielleicht nicht? Sie haben nicht den Mut gehabt, offen zu Ihrem
-Freund zu halten. Wie alle sich losgesagt haben, haben auch Sie ihn
-aufgegeben! Das ist feig! Das ist schlecht! Pfui!“
-
-Sie drehte sich auf dem Absatz herum, schritt tiefer in den Garten
-hinein mit heißen Wangen und wild schlagendem Herzen. Aber ihre
-blitzenden Augen waren jetzt voll Tränen.
-
-Pichler war sehr blaß geworden und zerknüllte seine Handschuhe. Das
-Reh, das ihm gerade in die Quere kam, erhielt einen unsanften Stoß.
-Doch kein Wort erwiderte er. Eine Weile stand er noch unschlüssig, dann
-kehrte er sich langsam ab und schritt durch das Gartentürl in den Hof
-zurück. Aber sein Säbel klang jetzt nicht mehr hell auf den Steinen. Er
-hielt ihn am Korb fest und bestrebte sich eines möglichst geräuschlosen
-Abgangs.
-
-Eva schrieb an diesem Tage noch einen langen Brief an Heinz. Aber
-obwohl sie dabei fortwährend an Fritz dachte und obwohl jedes Wort
-eigentlich für ihn bestimmt war, kam auf den vier eng beschriebenen
-Seiten schließlich nicht einmal sein Name vor. Und nur ganz zum Schluß,
-als Nachschrift, schrieb sie: „Deinen Stubennachbar lasse ich grüßen.“
-Sie schrieb es hastig und überstürzt und wagte dabei nicht auf das
-Papier zu schauen, so daß diese Zeile schief und mit unordentlichen
-Buchstaben dastand und von der sauberen Nettigkeit der übrigen
-erheblich abstach.
-
-
-3.
-
-Fritz blieb es erspart, dem Kaiser zu dienen. Eine Unregelmäßigkeit
-in der Krümmung der Hornhaut beeinträchtigte das Sehvermögen seines
-rechten Auges und machte ihn zum Waffendienst untauglich. Er war froh
-darüber, und als er auch die letzte Musterung glücklich hinter sich
-hatte, verleitete er seinen Freund Heinz zu einem kleinen Gütlichtun in
-einem Weinkeller. Von dort gingen sie noch in ein Nachtkaffeehaus. Ein
-Streichorchester spielte hier, und der große, schäbig elegante Raum war
-gesteckt voll. Studenten, ledige junge Beamte und alte Witwer waren in
-der Überzahl, saßen angeheitert, lustig oder schläfrig bei den runden
-Marmortischchen und musterten die geschminkten und geputzten Weiber,
-die von der Straße kamen und Liebe feilboten. Allenthalben saßen oder
-standen sie bei den Herren, von den großen Hüten nickten die gefärbten
-Federn, und falsche Edelsteine funkelten an billigen Spitzenblusen.
-
-Eine aber saß allein und abseits in einer Ecke, hatte ein schlecht
-sitzendes dunkles Kleid an, und ihr Gesicht war ohne Schminke. Mit
-ängstlichen Augen schaute sie in das lärmvolle Durcheinander, und wenn
-ein Mann sie ansprach, begann sie zu zittern, errötete und gab keine
-Antwort. Eine Anfängerin. Der Zahlkellner beobachtete sie mißtrauisch.
-Er sorgte sich um sein Geld für die Zeche. Aber auch Heinz Wart ließ
-sie kaum aus den Augen.
-
-Die Musik spielte den neuesten Gassenhauer, die Gäste sangen mit,
-stampften, klatschten und pfiffen.
-
-Leichthin sagte Heinz: „Ich werde mich an ihren Tisch setzen. Gehst du
-mit?“
-
-„Was dir nicht einfällt!“ erwiderte Fritz und schaute den Epikuräer
-entrüstet an. Der bemühte sich, ein unbefangenes Gesicht zu machen,
-wurde aber doch rot, als er jetzt meinte: „Dann wäre ich dir dankbar,
-wenn du mich allein ließest.“
-
-„Wie du willst. Zugetraut hätte ich’s dir nicht!“
-
-„Man täuscht sich eben. Gute Nacht.“
-
-Hellwig hatte schon den Hut auf und stürmte davon. Er war nicht prüde
-und kein Sittenrichter. Aber die käufliche Liebe ekelte ihn an.
-
-Die junge Frau zuckte erschreckt auf, als sich Heinz mit einem
-ungelenken: „Erlauben Sie?“ zu ihr setzte. Aber bald verlor sie alle
-Scheu. Weder Unverschämtheit noch freches Begehren war in seinem Blick,
-nur ernste Teilnahme, die Vertrauen heischte und Vertrauen wachrief.
-
-Sie hieß Marie und war aus dem Waldviertel. Nach einem verstorbenen
-Onkel hatte sie gemeinsam mit ihrer Schwester einen Milchhandel in der
-Stadt übernommen. Aber da sie beide nichts vom Geschäft verstanden,
-wollte es nicht gehen und wurde ihnen schließlich versteigert. Die
-ältere Schwester hatte mit einem Lohnkutscher ein Verhältnis, das ihr
-allwöchentlich Prügel und alljährlich ein Kind einbrachte. Die Marie
-aber ging einem Heiratsschwindler ins Netz, der sie um die letzten
-Kreuzer betrog und dann sitzen ließ. Weil sie zart und schwächlich
-aussah, glückte es ihr nicht gleich, als Dienstmagd unterzukommen, die
-Quartiersfrau wollte ihr ohne Zahlung nicht länger Unterstand geben,
-bei der Schwester war Not und Elend und kein Platz für noch einen
-müßigen Kostgänger. Deswegen saß die Marie jetzt hier und wollte das
-Letzte, das ihr noch geblieben, feilgeben, um wieder einmal ordentlich
-essen und die Miete zahlen zu können.
-
-Das alles erzählte sie dem Wart, und die Aussprache tat ihr wohl. Er
-unterbrach sie mit keinem Wort, hörte still zu und lebte ihr einfaches
-Schicksal mit, das ihn ans Herz griff, trotzdem er vorausgewußt hatte,
-daß ihr Bericht so oder ähnlich lauten würde.
-
-Dann redeten sie noch über viele Dinge. Die Marie fühlte sich geborgen,
-wurde lebhafter und wenn sie lächelte, glitt über ihr mageres
-Gesicht ein wehmütig freundliches Licht. Wie wenn im Vorfrühling der
-Sonnenschein über ein erstes blasses Schneeglöckchen hinhuscht, sah es
-aus, und in ihren goldbraunen Augen war ein sanfter Glanz von einer
-Munterkeit, die ungewiß, ob sie sich vorwagen sollte, ihre leuchtenden
-Flüglein hob und senkte.
-
-Es war sehr spät geworden. Heinz schlug vor, zu gehen. In ihr Schicksal
-ergeben, folgte sie ihm. Aber auf der Straße nahm sie doch seinen Arm
-und schmiegte ihre Wange daran, zum Dank, daß er sie rücksichtsvoll und
-wie ein anständiges Mädchen behandelte. Vor einem Logierhaus machte er
-halt. Bevor er klingelte, bot er ihr mit behutsamen Worten ein Darlehen
-an. Sie gab keine Antwort, wurde verwirrt und schluchzte kurz auf.
-Aber das Geldstück nahm sie doch, mit kaum verhehlter Gier, aus seinen
-Händen und barg es bebend in ihrem Täschchen. Dann wartete sie mit
-fliegendem Atem, daß er anläuten und das Zimmer bestellen würde. Doch
-er hielt ihr nur die Hand hin.
-
-„Gute Nacht!“ sagte er einfach.
-
-Freudig erschrocken schaute sie ihn an.
-
-„Sie gehn nicht mit?“ rief sie in der Ratlosigkeit ihrer Überraschung.
-Und das war wie ein Aufjubeln, und die hellen Tränen stürzten ihr über
-die Wangen.
-
-„Schlafen Sie sich aus. Wenn es Ihnen recht ist, hol’ ich Sie morgen
-früh ab. Dann sehen wir weiter.“
-
-Sie war ganz fassungslos und wußte nicht, wie sie ihm dankbar sein
-könnte. In überströmendem Empfinden neigte sie sich über seine Hand.
-Unwillig machte er sich frei, zog die Nachtglocke und wollte rasch
-davon. Sie ließ es nicht zu.
-
-„Sie ... du ...“ stammelte sie, legte ihre Arme um seinen Hals und
-küßte ihn.
-
-Die Sommernacht war lau und ausgesternt, rein und rund hing der Mond
-im dunklen Blau, lautlos war es und niemand in der Gasse zu sehen. Und
-nichts war zu hören als der Herzschlag der vielen schlafenden Menschen,
-der durch die Mauern der großen Zinshäuser drang und leis und warm
-durch die Stille pochte.
-
-„Bleib’ bei mir, du!“ flüsterte die Marie. „Geh’ nicht fort, laß mich
-nicht wieder allein. Ich bin so froh, daß ich dich gefunden hab’!“
-
-Der Schlüssel rasselte im Schloß. Schläfrig öffnete der Pförtner das
-Tor. Nur einen flüchtigen Blick warf er auf das Pärchen, dann sagte er
-mit einem verständnisinnigen Blinzeln zu Heinz: „Ein Zimmer mit zwei
-Betten ist nicht mehr frei. Wenn die Herrschaften fürlieb nehmen wollen
-mit Nummer einundvierzig?“
-
-Heinz stand wie betäubt.
-
-„Geh’ nicht fort!“ bat die Marie.
-
-Da nahm er wortlos den Zimmerschlüssel aus der Hand des Türstehers.
-Und noch ehe er im zweiten Stockwerk angelangt war, hatte er schon den
-schlanken, bebenden Frauenleib ganz dicht an sich gezogen.
-
-Körper an Körper und Wange an Wange stiegen sie die Treppe hinan, mit
-fieberndem Blut und hämmernden Herzen, und wie eine glühende Wolke
-umhüllte sie die ungestüme Sehnsucht ihrer jungen lebenshungrigen Sinne.
-
-So kam die große Leidenschaft der Liebe über Heinz Wart. Er bezog mit
-Marie eine aus Küche und Zimmer bestehende Wohnung im fünften Stock
-eines Miethauses. Dort war es hell und freundlich, und die schlichten
-Möbel glänzten im Morgensonnenschein mit den Zähnen, den Augen der
-Marie um die Wette. Heiter ging sie an ihr Tagewerk und beschloß es
-heiter, ganz geborgen fühlte sie sich, wußte sich geliebt und liebte
-wieder mit aller Zärtlichkeit ihres unverbrauchten kindlichen Herzens.
-Ein sachtes Rot kam in ihre schmalen Wangen, leicht und federnd schritt
-sie einher. Aber ihre Arme blieben mager, und der trockene Husten
-wollte nicht weichen.
-
-Beglückt und froh ließ sich Heinz von ihrer warmen Liebe wiegen. Seine
-Starrheit löste sich, er wurde weicher, menschlicher sozusagen. Im
-schnurgeraden Wandern nach dem Ziel hatte er eine heimliche Stätte
-gefunden, wo er traumverloren ruhen und endlich auch einmal der Melodie
-seines eigenen Lebens lauschen konnte.
-
-Fritz bat den Freund -- wortlos, nur mit einem festeren Händedruck --
-um Verzeihung wegen der schlechten Meinung, die er von ihm gehabt, und
-mit der Marie schloß er bald gute Kameradschaft. Viele schöne Abende
-verlebte er in ihrem Heim, aber auch jeden freien Tag verbrachte er mit
-ihnen.
-
-Dann fuhren sie alle drei in den Wiener Wald oder in die Voralpen
-hinaus, nach denen die Marie solche Sehnsucht hatte, daß sie sich immer
-wie zu einem Fest schmückte, wenn sie die laubwaldumwachsenen Höhen
-wiedersehen sollte, die weich hinfließenden Kämme und die weiten
-Täler. Denn sie liebte die freie Gotteswelt, den blauen Himmel, unter
-dem sie groß geworden, die blumigen Fluren, die ihr das Wiegenlied
-geflüstert, die saalweiten Buchenwälder, durch die mit goldenen Mänteln
-die Rehe sprangen wie verwunschene Märchenprinzen.
-
-Abseits von dem großen Heer der Ausflügler streiften sie, meist weglos,
-den ganzen Tag umher, an kühlen Bergquellen hielten sie Rast, von
-duftschweren Maiglöckchen umblüht oder umloht von der berauschenden
-Glut blutroter Alpenrosen. Und je einsamer es war, desto glücklicher
-waren sie, großen Kindern gleich, die hinter die Schule gelaufen.
-
-
-4.
-
-Diese Ausflüge waren für Hellwig immer wie ein Jungbrunnen, aus dem
-er sich Erquickung und neue Frische holte für sein aufreibendes
-Tagwerk. Dieses war, je mehr er sich eingearbeitet hatte, je mühevoller
-geworden. Die Partei hatte bald die Tüchtigkeit, die Werbekraft und
-den Einfluß erkannt, den der junge Schriftleiter mit seiner warmen
-Begeisterung und stillen Leidenschaftlichkeit auf breite Massen üben
-konnte. Die Scheu vor dem öffentlichen Hervortreten hatte er rasch
-überwunden, zauderte jetzt niemals mehr, in den Versammlungen als
-Redner aufzustehen, und wenn er etwas zu sagen hatte, sagte er es frei
-heraus und wunderte sich selbst manchmal, wie leicht und mühelos ihm
-die Worte von den Lippen kamen. Mit frohen Kräften tat er sich überall
-um, und je mehr man auf seine Schultern lud, desto wohler fühlte er
-sich. Und seine Kräfte wuchsen, je mehr er sie brauchte.
-
-Immer zu eng waren ihm die Grenzen abgesteckt, sein Ungestüm
-schrie nach einer ganz großen Aufgabe, an der er sich ungehemmt und
-uneingeschränkt erproben und wirklich abmessen konnte, was er zu
-leisten imstande sei. Und die Aufgabe wurde ihm.
-
-In dem ausgedehnten nordböhmischen Kohlenbecken waren die
-Lohnverhältnisse schon lang unhaltbar und der Streik nicht länger
-hinauszuschieben. Stürmisch verlangten ihn die Bergleute, und die
-Parteileitung mußte nachgeben. Es wurde notwendig, einen verläßlichen
-Mann in das unruhige Gebiet zu entsenden, der die Bewegung vorbereiten,
-in geordnete Bahnen lenken und überwachen sollte. Die Wahl fiel auf
-Fritz Hellwig. Eine große, verantwortungsvolle Sendung wurde ihm, der
-wenig über vierundzwanzig Jahre alt war, damit auferlegt. Aber vor die
-Entscheidung gestellt, schwankte er keinen Augenblick und sagte ja.
-
-An einem trüben Herbsttag betrat er den Ort seines zukünftigen Wirkens.
-Die große lärmvolle Provinzstadt machte keinen günstigen Eindruck.
-Ein trockener Geschäftsgeist, der das Zweckmäßige auch schön findet,
-sprach aus ihrer ganzen Anlage. Man sah es gleich: Diese Stadt hatte
-keine Vergangenheit. Ihre Insassen wohnten nur erst wie zur Miete,
-waren nicht auf diesem Boden erbgesessen und mit ihm verwachsen durch
-vieljährige Überlieferung. Deswegen legten sie keinen Wert auf ein
-behagliches Heim, hätten auch keine Zeit gefunden, es zu schmücken, in
-ihrer rastlosen Jagd nach dem Erwerb.
-
-Mit ihren vielen Fabriksschloten lag die Stadt, beständig von einer
-Wolke schwärzlichen Qualms überschattet, mit Geratter, Gerassel und
-Getöse angefüllt, in einer ungemein reizvollen Landschaft wie ein
-häßliches Mal auf einem schönen Körper. Zahlreiche Berge schlossen
-sie von zwei Seiten ein, ein stattlicher Strom hatte sich eine
-breite Rinne durch das Gebirge gegraben und trug Frachtschiffe auf
-seinem Rücken, beladen mit Obst und Korn und Kohlen, die rings in
-dem großen Becken gefördert wurden. Und an seinen Ufern führten die
-Schienenstränge, keuchten die Lokomotiven, knarrten die Dampfkrahne,
-schwere Warenballen aus den Eisenbahnwagen hebend und in den
-Schiffsrumpf senkend.
-
-Es war eine reiche Gegend, und die Leute verwendeten den unerschöpflich
-zuströmenden Reichtum mit klugem Bedacht. Sie legten ihn in der Erde
-an, vergruben ihr Pfund und wucherten doch damit, teuften Schacht
-um Schacht ab, stellten immer stärkere Fördermaschinen auf, und die
-schwarzen Diamanten brachten hundertfältigen Nutzen.
-
-Aber die Landschaft litt darunter, und schon jetzt sah man weite
-Flächen mit rauchenden Löschhalden eingesunken und verrollt, wo
-einst auch fruchtschwere Obstbäume standen und gelbes Korn der Ernte
-entgegenreifte. Und wenn der letzte Kohlenblock dem Bauch der Erde wird
-entrissen sein, dann wird eine Wüste ringsum zurückbleiben und ein
-großes Elend.
-
-Daran dachten sie jedoch vorläufig nicht. Sie waren stolz auf ihre
-Bergwerke, stolz auf ihre Fabriken, stolz auf ihren Reichtum und
-hielten sich für ungemein geschäftstüchtig, weil sie sich alles
-dienstbar zu machen und aus allem Vorteil zu ziehen wußten.
-
-Am stolzesten aber war die Stadt auf ihre chemische Fabrik. Die bildete
-ein eigenes Viertel, und wohl fünfzig Schlote ragten hoch in die Luft,
-gewaltige Säulen für den Thron der Königin Industrie. In dicken Wolken
-hing der schwarze Rauch darüber als Baldachin und unten sausten und
-grollten die Räder, knatterten die Treibriemen, ächzten die Winden,
-schrillten die Dampfpfeifen: die große Sinfonie zu Ehren der Königin.
-
-Weit über fünftausend Arbeiter beschäftigte diese Fabrik, und weit
-über fünfzehntausend Bergleute fanden in den Kohlengruben ihr Brot.
-Die sollte Fritz Hellwig nun führen, organisieren und vorbereiten zum
-Kampfe gegen die mächtigen Handelsherren.
-
-Er hatte sich außerhalb der Stadt in einem kleinen Hause am Ufer
-des Stromes bei einem Faßbinder eingemietet. Hier war es still und
-friedsam, die Hafenbahn führte nicht bis her und der Lärm drang nur
-kaum noch wie ein leises Murmeln von fern. Um die Fenster schlang ein
-edler Weinstock seine Ranken, bewaldete Berge stiegen am jenseitigen
-Ufer mit anmutigen Gipfeln empor, und durch das grüne Tal glitt leise
-rauschend mit eiligen Wellen der schöne Fluß. Früh morgens ging die
-Sonne an den Fenstern vorbei, lag wie gleißendes Silber auf der breiten
-Wasserfläche, Lastschiffe und Zillen wanderten bei günstigem Wind mit
-aufgesteckten Segeln vorüber, Schleppdampfer bewegten sich an rollender
-Kette stromaufwärts.
-
-Bisweilen auch tönte unten auf dem gepflasterten Vorplatz lustiger
-Schlegelklang. Aber der Bindermeister war rücksichtsvoll und fragte
-jedesmal, wenn er die Reifen antreiben wollte, seinen Mieter, ob ihm
-das Gehämmer nicht lästig sei. Er war außerordentlich mager, groß,
-etwas vornüber gebeugt durch die Last seiner siebzig Jahre, und um
-das ganze Gesicht starrte ihm ein wahrer Urwald von grauen Haaren,
-so daß nur die kleinen Vogelaugen sichtbar waren und eine Hakennase
-von abenteuerlicher Form. Wie ein Meergreis schaute er aus, grün, mit
-grünlich verschossenen Kleidern und grünlich-schwarzer Hautfarbe.
-Denn er wusch sich nur Sonntags. Dagegen hielt er viel auf leichtes
-Schankbier und Schnupftabak, wovon er unglaubliche Mengen verbrauchte.
-Seine Frau war ihm darin ähnlich. Auch sie verschmähte weder eine Prise
-noch einen guten Trunk. Doch ging sie immer sauber gewaschen, und Fritz
-hatte keinen Anlaß zu einer Klage. Seine Stube war kühl und hell, die
-Aussicht prachtvoll, der Kaffee vortrefflich.
-
-Wenn er zu Hause war, sah er am liebsten zum Fenster hinaus auf das
-bunte Treiben im Strom, schaute den Scharen der Möven zu, die wie
-Silberstreifen über die glitzernde Wasserfläche schossen und ließ sich
-nachts von dem eintönigen Geplätscher der wandernden Wellen in Schlaf
-singen.
-
-Aber er hatte nicht viel Zeit zu beschaulicher Muße. Die Agitatoren,
-die vor ihm dagewesen waren, hatten schlecht gewirtschaftet. Sie hatten
-verhetzt, statt aufzuklären; sie hatten aufgereizt, wo sie hätten
-belehren sollen. Sie hatten den Leuten die glückliche Unwissenheit
-genommen und nichts dafür gegeben.
-
-„Werdet Sozialdemokraten, und es wird euch gut gehen.“
-
-Und sie wurden Sozialdemokraten. Aber es ging ihnen nicht gut. Es ging
-ihnen schlechter. Denn zur gleichen Lebenslage war die Unzufriedenheit
-gekommen.
-
-So war es Hellwig nicht leicht gemacht, Vertrauen zu erwerben. Aber
-es gelang ihm doch. Er war fortwährend unter ihnen, bereiste das
-ausgedehnte Gebiet, warb um sie und ließ nicht locker. Und langsam
-begann ihr Mißtrauen zu schwinden. Sie ließen ihn näher an sich heran,
-öffneten ihm ihre Stuben, ihre Herzen. Sie spürten heraus, daß er es
-ehrlich mit ihnen meinte und fingen an ihn zu lieben.
-
-Bald kannten ihn alle Arbeiter. Es war auch nicht schwer, ihn unter
-Hunderten herauszufinden. Schulterbreit, von einem kraftvollen Ebenmaß
-der Glieder, überragte er die meisten um Haupteslänge. Wenn sie seinen
-runden Schlapphut, den grauen Radmantel auftauchen sahen, kamen sie
-näher, vertrauten ihm ihre Nöte. Und bald auch kamen sie zu ihm in die
-Redaktion des Wochenblattes, dessen Leitung er mit übernommen hatte.
-In den Frühstunden oder am Abend nach der Arbeit kamen sie, mit ihren
-rußigen Gesichtern und schwieligen Fäusten, holten sich Rat in ihren
-kleinen Kümmernissen und großen Mühsalen.
-
-Es gab prächtige Menschen unter ihnen. Da war Anton Stanzig, der
-Glasbläser, der in seinen freien Stunden in den Bergen herumlief,
-um sich eine neue Lunge zu holen, weil er sich die alte beim heißen
-Schmelzofen schon zur Hälfte herausgeblasen hatte. Er spuckte Blut und
-sammelte Schmetterlinge, las darüber dicke Bücher und wußte alle Arten
-mit ihren lateinischen Namen zu benennen. Oder da war Ferdinand Opitz,
-der nach beendeter Häuerschicht die dunkle Kohlengrube verließ, um sich
-mit Spektralanalysen zu beschäftigen und dessen ständige Klage war, daß
-er so selten dazu käme, das Sonnenspektrum zu beobachten. Oder da war
-Franz Bogner, der alte Kesselwärter, der in den Mußestunden mit seinen
-knotigen Fingern zarte Blumengewinde und Figuren modellierte. Und was
-sollte man von Karl Pfannschmidt halten, dem fünfunddreißigjährigen
-Bergmann, der zur Rastzeit im Schacht mit dem Speck zugleich auch
-ein Buch aus dem Brotsack zog und auf einem Haufen Kohle bäuchlings
-hingestreckt, beim trüben Schein der Grubenlampe Rousseaus ~contrat
-social~ im Urtext zu lesen anfing.
-
-Er hatte eine zweiklassige Dorfschule besucht und mußte mit zwölf
-Jahren ins Bergwerk. Schon längst war seine Gesichtsfarbe fahlgrün und
-seine Luftröhre voll von Kohlenteilchen, die er obertags fortwährend
-aushustete. Die heiße Schachtluft hatte den Körper angegriffen, aber
-der Sehnsucht konnte sie nichts anhaben. Die war geblieben, und mit ihr
-ein unstillbarer Hunger nach Wissen. Seine Stuben waren vollgepfropft
-mit allen Lehrbüchern der Mittelschulen. Denn er hatte einst den
-Ehrgeiz gehabt, es bis zum Doktor der Weltweisheit zu bringen. Da hatte
-er heiraten müssen, kurz nach der Hochzeit war das erste Kind gekommen,
-und die Sorge um das tägliche Brot zwang ihn, im Schachte auszuharren.
-
-Hellwig war bald der wahren Natur des bescheidenen Bergmanns auf die
-Spur gekommen, bot ihm seine Bücherei zur Benützung an, lud ihn zu sich
-ein. Und Pfannschmidt zog eines Abends nach langem Zögern seine guten
-Kleider an und ging hin. Frisch rasiert war er, trug blank gewichste
-Stiefeletten und an den ausgearbeiteten Händen braunlederne Handschuhe.
-Linkisch stand er unter der Tür und zog und zerrte an dem Knoten seiner
-Halsbinde, die himmelblau auf einer brettsteifen Hemdbrust glänzte. Die
-Hemdbrust hatte sich unter der Weste verschoben und wölbte sich nun wie
-ein mächtiger Frauenbusen.
-
-„Stör’ ich?“ fragte er schüchtern.
-
-„Beileibe!“ erwiderte Fritz. „Schön, daß Sie kommen.“
-
-Er nahm dem Besucher den Hut aus der Hand, legte ihn aufs Bett, öffnete
-den Kasten und nahm eine Flasche Wein heraus.
-
-„Machen wir’s uns gemütlich.“
-
-Der Bergmann saß steif nur kaum auf dem Rand des angebotenen Stuhls
-und hatte die Hände vor sich auf die geschlossenen Knie gelegt. Seine
-Blicke wanderten in der Stube herum, blieben an den Büchergestellen
-haften.
-
-Fritz schraubte die Lampe höher. „Ich denke, wir lesen etwas!“ schlug
-er vor. Denn auch ihm fehlte die Gabe, durch leichtes Geplauder Brücken
-zu schlagen, über die ihre einander noch fremden Seelen sich hätten
-näher kommen können. Er holte ein paar Bände, setzte sich seinem Gast
-gegenüber, der ihn stumm und erwartungsvoll ansah.
-
-„Vielleicht das hier!“ meinte Hellwig nach einigem Herumblättern. Und
-nun las er mit verhaltener Leidenschaft Friedrich Adlers Gedicht ‚Nach
-dem Strike‘.
-
- „... Im tiefen Schacht, von Luft, vom Lichte,
- Von jedem frohen Blick entfernt,
- Gefahr, wohin der Fuß sich richte --
- Wir haben tragen es gelernt.
- Wir wissen uns dem Los zu neigen.
- Wir gehen fürs Leben in den Tod.
- Wir schweigen schon und werden schweigen,
- Allein wir hungern, schafft uns Brot!“
-
-Und weiter:
-
- „... Und laßt es nicht zum höchsten steigen,
- Bedenket, Eisen bricht die Not --
- Wir schweigen schon und werden schweigen,
- Allein wir hungern, schafft uns Brot!“
-
-Pfannschmidt war aufgestanden. Gleich nach den ersten Versen war er
-aufgestanden, ganz außer sich, mit geballten Händen und weit geöffneten
-Augen.
-
-„Herr! ... Herr ...!“
-
-„Ein schönes Gedicht, nicht wahr?“ sagte Fritz leichthin, um die
-eigene Ergriffenheit zu verbergen.
-
-„Schön? -- Packen tut’s einem, daß man gleich mit Fäusten dreinschlagen
-möcht’! Sakra! Wir schweigen schon und werden schweigen, allein wir
-hungern! ... Das sind Worte, gerade solche Worte, wie sie unsereins
-auch spricht ... aber was da alles drinliegt! Und was alles dazwischen
-liegt, bis einer zu dem Ton kommt ... Herr, ich hab’ auch mein Lebtag
-gehungert und geschwiegen und gewartet: es muß doch anders werden. Und
-ein Tag nach dem andern ist vorbeigegangen, ein Jahr hinterm andern, --
-bis mir meine Frau das erste graue Haar aus dem Bart zieht. Und da hab’
-ich’s auf einmal gewußt: Du steckst drin und kannst nicht heraus ...!
--- Ich hab’ angefangen, auf die Tage aufzupassen, wie sie so langsam
-vorüberschleichen. Und da ist mir geworden: Ich lieg’ sechs Schuh tief
-in einem offenen Grabe ... und jeder Tag ist wie eine Schaufel Erde,
-die sie auf mich werfen. Bei den Beinen fängt’s an, dann kommt’s auf
-die Brust, die Arme ... immer schwerer ... immer mehr Erde ... Und
-endlich fällt sie auch aufs Gesicht. Dann ist das Licht fort, jeder
-Strahl, jeder Schimmer -- alles. Und das ist das Ende ... Lebendig muß
-man sich begraben lassen und kann sich nicht wehren. Verfluchte Armut!“
-
-„Pfannschmidt!“ rief Fritz erschüttert. „Um Himmelswillen, nicht so
-mutlos! Denken Sie nicht ans Untergehn, sonst _sind_ Sie ja schon
-unten! Verfluchte Armut, jawohl! Aber -- Hand aufs Herz, ihr, die ihr
-da arm seid -- seid ihr ganz ohne Schuld? -- Ihr habt geschwiegen und
-schweigt! Laßt alles auf euch niedergehn -- und schweigt! Zum Teufel!
-So wehrt euch doch! Ihr habt Fäuste -- braucht sie! Habt Rechte --
-fordert sie! Und weigert man sie euch -- erzwingt sie!“
-
-Da lächelte der Arbeiter traurig und sagte: „Herr, Sie wissen eben
-nicht, was jahrelang schuften und hungern heißt. Das macht einen schon
-kaputt. Wenn man so Stücker zwanzig Jahre in der Tretmühle drin ist,
-dann hört sich endlich alles andere auf. Man lebt nur noch so hin ...“
-
-Fritz vermochte nicht zu antworten. Was er auch geredet hätte, es wären
-doch nur Worte gewesen, leere Worte, die an diesen heißen Schmerz nicht
-herankonnten, -- wie Wassertropfen in der Luft verdampfen, lang ehe sie
-das Erz im Hochofen erreichen können.
-
-So war Schweigen, während vor den Fenstern der dunkle Strom vorüberzog,
-schnell, lautlos gleitend, Welle um Welle ohne Anfang und Ende.
-
-
-5.
-
-Tage aufreibender Tätigkeit folgten. Es galt die Forderungen
-zusammenzustellen und den Grubenbesitzern bekanntzugeben. Hoch waren
-die Forderungen nicht, denn die Leute waren wirklich hundejämmerlich
-daran. Sechs, im besten Fall zwölf Gulden in der Woche verdienten die
-Männer, die Weiber brachten es höchstens auf sieben, und zu alledem
-waren die Lebensmittel schandhaft teuer. Es gedieh zwar alles in
-Hülle und Fülle in der fruchtbaren Gegend und die Bauernhöfe hatten
-große Viehbestände. Aber die klugen Geschäftsleute wußten auch aus
-diesem Segen Gewinn zu ziehen, trieben mit Obst, Korn, Milch einen
-schwunghaften Handel nach dem Ausland und den nahen Kurorten. Nur die
-Ausschußware beließen sie dem heimischen Markt, forderten aber die
-gleichen Preise wie für die gute. Und die Löhne waren seit Jahrzehnten
-unverändert.
-
-Das glatte Zuströmen des Reichtums hatte die Unternehmer übermütig
-gemacht. Sie vertrauten ihrem mühelosen Glück und glaubten, daß ihnen
-alles gelingen müßte und nichts geschehen könnte.
-
-Rundweg lehnten sie die Forderungen ihrer Arbeiter ab. Alle ohne
-Ausnahme, in Bausch und Bogen, brüsk, ohne Beschönigung. „Wir
-bewilligen gar nichts! Wem’s nicht recht ist, der kann gehen!“
-
-Da berief Hellwig die Bergleute zu einer Versammlung unter freiem
-Himmel, am frühen Morgen, draußen vor der Stadt auf einem Hügel mit
-weiter Fernsicht über das große Becken. Und sie, über die schroffe
-Abweisung erbittert, legten trotzig die Arbeit nieder und strömten von
-allen Seiten auf die frührotbeglänzte Höhe. Wohl achttausend kamen sie,
-Männer mit struppigen Bärten, Weiber, die Kinder unterm Herzen trugen,
-muskelbepackte Jünglinge und Mädchen mit wachsgelben Wangen. In ihren
-besten Kleidern, wie zu einem Gottesdienst, kamen sie.
-
-Blutrot stieg im Osten die Sonne empor. Unter ihr lag die herbstreife
-Erde und hob die quellenden Brüste dem Licht entgegen. Rein war der
-Himmel, rein die Luft, rein die Stadt vom Fabriksqualm. Rauchlos ragten
-die Schlote, mahnende, warnende Finger, aus dem Häusergewirr.
-
-Hellwig schwang sich auf eine Felsplatte, die in der weiten Fläche des
-Gipfels wie eine natürliche Rednerbühne aufgebaut war und blickte über
-die Versammelten. Eine schwankende dunkle Masse, brandete es da unten,
-Kopf bei Kopf, und die Gesichter leuchteten seltsam weiß und fremd
-daraus hervor. Und das Regen der Leiber, das Summen der gedämpften
-Stimmen vereinigte sich zu einem dumpfen Brausen, wie der Schwall
-mächtiger Wogen, die ohne Rand und Ufer im offenen Meer hinrollen.
-
-Einen Augenblick stand er wie erschrocken vor dem ungeheuern Andrang
-des Lebens, das ihm entgegenatmete. Und es dünkte ihn Vermessenheit,
-als ein Einzelner, Jugendlicher, gleichsam darüberzustehen und ihm die
-Bahn zu weisen. Und er sah Hoffnung in ihren glänzenden Augen, hörte
-das Brausen leiser und leiser werden -- und lautlose Stille wurde unter
-der blauen Himmelsdecke, wie in einem endlos gedehnten leeren Saal.
-
-Alle schwiegen und hielten ihm die Gesichter zugewendet und erwarteten
-etwas von ihm und waren begierig auf seine Botschaft. Da durchsengte es
-ihn mit einer wilden, ganz heißen Glut. Noch einen freien, leuchtenden
-Blick warf er über die Menschenmassen, dann sprach er mit weithin
-tönender, schwingender Stimme.
-
-Er sagte:
-
-„Da unten liegt die schöne reiche Erde, die unser aller Mutter ist. Da
-unten schläft auf Garbenbündeln die Fruchtbarkeit, biegen sich die Äste
-fruchtschwer und segenbeladen.
-
-Unsere Mutter ist so schön und so reich. Aber ihr, die ihr Kinder
-dieser Mutter seid ... schaut dort hinab, wo die Essen ragen und die
-Aschenhaufen rauchen! ... ihr, die ihr dort unten in den finsteren
-Schächten, fern dem Licht, in der heißen, staubigen Luft, in den engen,
-stickigen Gängen schweißtriefend die Karren schiebt und halbnackt die
-Hauen schwingt beim bleichen Flackern der Grubenlampen -- eure Lungen
-keuchen, eure Lippen sind zerrissen und wund, eure Augen haben rote
-Ränder -- ihr armen Kinder dieser reichen Erde wißt nichts von der
-Schönheit eurer Mutter!
-
-Wenn noch die Nacht auf den Bergen träumt, müßt ihr Abschied nehmen
-von Weib und Kind, jeden Tag Abschied fürs Leben, denn dort unten
-lauert die Gefahr, kauert der Tod -- und eure Lieben wissen nicht, ob
-sie euch lebend wiedersehen.
-
- ‚Wer weiß, wie nahe mir mein Ende?
- Ein Grubenlicht, ein Lebenslicht,
- Ein Tropfen löscht es gar behende --
- Ein Grubenlicht -- ein Totenlicht!‘
-
-sagt euer alter Bergmannsspruch. Und Tag für Tag müßt ihr hinab in die
-heiße, dunkle Tiefe. Und erst wenn der Tag zum Sterben kommt, wenn die
-Nacht wieder auf den Bergen träumt, dann kommt ihr -- vielleicht! --
-hervor aus der dunklen, heißen Tiefe und eure Augen sehen die Sonne
-nicht mehr. Tag für Tag. Und keinen Tag seht ihr den Quell alles
-Lebens, die Sonne.
-
-Was habt ihr getan, um so gestraft zu werden?
-
-Wolltet ihr Umsturz und Revolte? Den Untergang des Reiches? Den Tod des
-Herrschers?
-
-O, nichts von alledem, meine Brüder! Ihr seid nur -- arm!
-
-Das ist es ja, was unsere Gesellschaftsordnung so furchtbar macht und
-so ungeheuerlich! Daß die Armut zum Fluch, daß die Armut zur Strafe
-wurde, zu einer harten, grausamen, entsetzlichen Strafe.
-
-Und wenn ihr -- nicht ein Ende, beileibe! -- wenn ihr eine Milderung
-wollt, wenn euere Forderungen noch so maßvoll sind, wenn ihr nichts
-verlangt als nur ein wenig mehr Luft und Licht und ein wenig Würze zum
-trockenen Brot -- auch dieses Wenige geben sie euch nicht!
-
-Wenn ihr euch auch plagt und rackert und Arbeiten auf euch nehmt, die
-oft einem Schwein zu schmutzig wären, geduldig und ohne Murren auf
-euch nehmt -- denn eure Kinder wollen essen -- es hilft euch alles
-nichts, plagt, rackert, schindet euch, so viel ihr wollt, ihr müßt --
-ganz arm bleiben.
-
-Nichts gibt man euch dazu, nicht einmal ein wenig mehr Luft und Licht
-und ein bißchen Würze zum trockenen Brot!
-
-Ballt sich euch die Faust? Will euch der wilde Zornschrei die Brust
-zerreißen?
-
-Gemach, ihr meine Brüder!
-
-Nicht in Haß und Zorn dürft ihr handeln! Wägen müßt ihr, müßt alles
-überlegen, und ruhig und besonnen, aber um so fester und sicherer,
-strenger und unbeugsamer pocht dann auf euer Recht!
-
-Und das erste Recht der Erdenkinder ist ein Anrecht auf die Früchte der
-Mutter. Wie euern Kindern die Brüste eurer Frauen, so gehören euch die
-Früchte der Erdenmutter. Und euer bestes Recht ist, daß ihr satt zu
-essen habt für euch und eure Kinder.
-
-Aber nicht mit der kurzen Gewalt der Fäuste dürft ihr euch dieses Recht
-holen. Denn ...
-
-Ich sehe viele unter euch, die Väter und Mütter sind. So frage ich
-euch: Wollt ihr, daß euern Kindern dasselbe Los falle, das euch
-beschieden ist? Wollt ihr, daß ihnen wie euch das Geleite geben durch
-das ganze lange Leben der Hunger und die Not? Wollt ihr, daß eure
-Kinder einst, wie ihr, vor einer Wiege stehn und emporschreien zum
-harten kalten Tod: ‚Komm doch! Komm und nimm den Wurm zu dir, eh’ er
-bei uns verhungert!‘
-
-Wollt ihr das? O, nein doch, nein!
-
-Nun denn, so unterdrückt den Zorn, laßt den Drang nach Aufruhr und
-Empörung nicht mächtig werden -- um eurer Kinder willen. Denn wenn ihr
-jetzt hingeht, die Maschinen zerstört und vernichtet und plündert,
-werdet ihr in Ketten gelegt und in Kerker geworfen. Und eure Kinder
-stehen schutzlos da, preisgegeben dem hohnlachenden Daseinskampf -- und
-verderben.
-
-Ihr seid Söhne der Erde: so seid ihr Söhne der Arbeit.
-
-Ihr seid Söhne der Arbeit: so seid ihr stark und starr.
-
-Und so rufe ich euch zum Kampf! Zum zähen, lautlosen Kampf der
-härtesten Unnachgiebigkeit! Rührt keinen Finger zur Arbeit, bevor nicht
-eure Forderungen erfüllt sind: Neun Stunden Arbeitszeit und vierzig
-Prozent Lohnerhöhung.
-
-Mehr könnt ihr vorerst nicht fordern. Mit einem Schlag fällt auch der
-stärkste Mann keinen hundertjährigen Baum, aber durch viele Axtschläge
-bringt ihn selbst ein Kind zu Fall.
-
-Söhne der Erde, Söhne der Arbeit, seid stark und starr und achtet die
-Gesetze um eurer Kinder willen!“
-
-Als er geendet hatte, zerriß ein lautes Jubelschreien die atemlose
-Stille. Ein entfesselter Strom, drängten sie gegen ihn, streckten die
-Arme aus, schwenkten Hüte und Tücher. Die Vordersten erkletterten den
-Felsen, haschten nach seinen Händen, drückten und schüttelten sie, und
-einige wollten ihn auf den Schultern forttragen. Er aber wehrte ihnen
-und schritt ergriffen durch die entflammte Menge, mit feuchten Augen
-und hämmerndem Herzen.
-
-Da stellte sich ihm ein Mann in den Weg, den er vorher noch niemals
-gesehen hatte. Und doch mußte die kurze, gedrungene Gestalt mit
-dem mächtigen Schädel, dem verwilderten Bart und den brennenden,
-tiefhöhligen Augen sofort auffallen. Er war schlecht gekleidet, trug
-einen abgeschabten Flausrock, Zwilchhosen, die an den Knien mit großen
-Flicken ausgebessert waren, trangeschmierte hohe Stiefel, und das
-blaue Leinenhemd ließ trotz der kühlen Herbstluft die haarige Brust
-frei.
-
-Etwas erstaunt schaute ihn Fritz an, und der Fremdling sagte mit
-unverhohlenem Spott: „Sie wundern sich über mein Aussehen, guter
-Freund? Das bin ich gewohnt. Übrigens heiße ich Karus, komme von Odessa
-und wollte mir mal anschaun, wie ihr da draußen in Freiheitskämpfen
-macht. Ich habe Ihre Rede gehört, es war eine schöne Rede, eine
-gehaltvolle Rede, gewiß, aber eben doch nur eine Rede. Und das, nehmen
-Sie mir’s nicht übel, junger Freund, aber das alles hat verflucht wenig
-Wert. Ihr redet und redet, glaubt, weiß der Himmel was ihr für die
-‚Freiheit‘ und für die ‚Menschheit‘ tut. Doch seien wir ehrlich, im
-Grund genommen denkt ihr verteufelt wenig an die ‚Freiheit‘ und an die
-‚Menschheit‘. Ihr denkt schließlich auch nur an eure Magen, wollt, daß
-ihr genug für den Wanst habt -- -- daß aber draußen irgendwo zur selben
-Zeit soundsoviele Hunderttausende im Straßengraben verrecken, daran
-denkt ihr nicht, ihr -- altruistischen Egoisten!“
-
-Er hatte mit halblauter Stimme gesprochen und keine Falte seines
-verwitterten Gesichtes verzogen. Nur die Augen blitzten lebendig in
-ihren tiefen Höhlen, und durch seine Worte zitterte es wie verhaltene
-Glut.
-
-„Stören Sie mir die Stunde nicht!“ antwortete Hellwig unwillig. „Was
-geht es Sie an, wie wir für unser Recht eintreten? Ihnen zu Trost sei’s
-gesagt: wir werden es auch bekommen! Weil wir uns rühren! Warum rühren
-sich die soundsoviel hunderttausend anderen nicht auch? Oder, wie Sie
-sagen, warum verrecken Sie lieber im Straßengraben, statt sich ihr
-Recht zu holen?“
-
-Da schüttelte sich die vierschrötige Gestalt des Unbekannten in
-lautlosem Gelächter. Er schaute Fritz lang an, mit einem sonderbaren,
-tief bohrenden Blick, dann sagte er langsam, jedes Wort betonend:
-
-„Weil sie frei sein wollen!“, drehte sich auf dem Absatz herum und
-ging weg. Rücksichtslos brach er sich mit den groben Fäusten und dem
-Stiernacken Bahn durch das Gedränge, war im Nu darin untergetaucht.
-
-Das ganze Auftreten des Mannes, sein hartes Wesen und dann die
-rätselhaften Schlußworte, das alles hatte einen starken Eindruck auf
-Hellwig gemacht. Und noch in seinem Zimmer grübelte er, suchte einen
-Sinn in dem mystischen Satz:
-
-... Sie verrecken lieber im Straßengraben, weil sie frei sein wollen ...
-
-Aber er fand keine Deutung.
-
-
-6.
-
-Im Kohlenbecken ruhte die Arbeit.
-
-Von allen Seiten liefen Spenden ein. Sogar Wart Nikl leistete einen
-Beitrag. Kolben schickte tausend Gulden und schrieb dazu: „Noch einmal
-die gleiche Summe steht dir in vier Wochen zur Verfügung, wenn du sie
-brauchst. Es geschieht aus Freundschaft für dich, denn ich triefe nicht
-von Menschenliebe. Nenn meinen Namen nicht. Ich verzichte auf den
-blökenden Dank der Herde, verdiene ihn auch nicht. Halt dich tapfer!“
-
-Das Geld wurde nicht verteilt, sondern zur Anschaffung von
-Lebensmitteln in großen Mengen verwendet. Mehrere Küchen mit riesigen
-Herden wurden aufgestellt, in denen das Essen für Hunderte auf einmal
-bereitet werden konnte. So waren sie in der Lage, länger auszuhalten.
-
-Sparsamkeit war aber auch notwendig, denn Woche um Woche verging, in
-geschlossenen Schlachtreihen standen sich Arbeiter und Unternehmer
-gegenüber, niemand dachte ans Nachgeben. Alle Schächte lagen wie
-ausgestorben. Fünfzehntausend Bergleute feierten. Aber die Ruhe wurde
-nirgends gestört.
-
-Im Dezember fiel starker Frost ein. Die Lagerbestände der Gruben waren
-vollständig geräumt. Der Kohlenmangel wurde immer empfindlicher, drohte
-zu einer Katastrophe für Industrie und Bevölkerung zu werden.
-
-Und dann war die Kohlennot wirklich da. Die Preise für Brennmaterial
-wurden unerschwinglich. In den Gassen der Städte wurden die
-Kohlenfuhrwerke immer seltener. Und auch die wenigen mußten von
-Polizisten begleitet werden. Denn allenthalben strichen Leute mit
-Körben und Säcken durch die Straßen, klaubten die Kohlenbröcklein --
-wenn sie welche fanden -- gleich goldenen Münzen auf, und wiederholt
-schon waren die Pferde ausgespannt, die Fuhren geplündert worden. Und
-die Eisenbahnzüge, die den kostbaren Brennstoff aus dem Rheinland
-und von England heranführten, rollten von der Grenze an unter
-Gendarmeriebedeckung. Trotzdem aber warteten längs der Schienenstränge
-Leute mit Stangen, Rechen und Harken, sprangen in die Bremshütten und
-warfen von den fahrenden Zügen die Kohle ihren Genossen zentnerweise
-hinab.
-
-Noch bedrohlicher wurde die Lage, als eine große Maschinenfabrik
-nicht mehr alle Kessel heizen konnte, den Betrieb einschränkte und
-achthundert Gießer entließ. Andere Unternehmer folgten diesem Beispiel,
-und die Erregung wuchs ungeheuer unter den brotlos gewordenen Massen.
-Fast schien es, als stände das Land am Vorabend einer Revolution.
-
-Beschwerden, Bittschriften, Drohbriefe liefen bei den Ministerien
-ein. Unternehmer, Kaufleute, Handwerker, die gesamte Bevölkerung
-forderte stürmisch von der Regierung Hilfe. Hohe Beamte gingen in das
-Streikgebiet ab, um zu vermitteln, zu schlichten und ein Ende der Not
-herbeizuführen.
-
-Das Nachgeben fiel den stolzen Gewerken in ihrem Hochmut nicht leicht.
-Aber unter dem Druck der öffentlichen Meinung blieb ihnen keine andere
-Wahl. Widerwillig ließen sie sich zu Zugeständnissen herbei. Nicht alle
-Forderungen wollten sie bewilligen, doch was sie anboten, war immer
-noch so viel, daß es, gleich gewährt, genügt hätte, den Ausstand zu
-vermeiden.
-
-So erging denn vom Regierungsvertreter an die Vertrauensmänner der
-Streikenden die Einladung zu einer gemeinsamen Besprechung. An Fritz
-Hellwig war sie gerichtet als den Leiter und Führer der Bewegung.
-
-Er war eine stadtbekannte Persönlichkeit geworden. Man staunte über die
-straffe Organisation, die er förmlich aus dem Boden gestampft hatte,
-ließ ihm die geschickte Leitung gelten, lobte seinen lauteren Charakter
-und seine vornehme Kampfesweise.
-
-Und manche, die früher den Provinzredakteur über die Achsel angesehen,
-suchten jetzt seine Bekanntschaft. Aber er blieb zugeknöpft und
-verschlossen und ließ sie sich nicht nahe kommen.
-
-Ungleich gemütlicher verkehrte er mit seinen Quartiersleuten. Der
-Faßbinder war auf seine alten Tage auch Sozialdemokrat geworden.
-Wenigstens behauptete er es. Die waschechte Gesinnung übte indes weder
-auf seinen waschechten Hautüberzug, noch auf sein sonstiges Gehaben
-einen bemerkenswerten Einfluß. Nach wie vor schnupfte er, trank
-Schankbier und wusch sich nicht. Aber statt des nationalen Banners
-schwang er jetzt die rote Fahne. Freilich nur seinen Reden nach. Dafür
-aber gewaltig, mit dem Brustton der Überzeugung.
-
-Er war stolz auf seinen Mieter und sonnte sich in dem Abglanz, der von
-dessen Beliebtheit auf sein Haus fiel. Jeden Besucher hielt er auf und
-fing ein Gespräch mit ihm an.
-
-„Guten Tag, Genosse!“
-
-„»Guten Tag!“«
-
-„Was Neues?“
-
-„»Bin keine Zeitung!“«
-
-„Nun, nun, nur nicht so schnell! Lassen Sie doch unsern Herrn Genossen
-Hellwig ein bissel ausschnaufen!“
-
-„»Geht nicht, Herr Meister! Die Sache ist dringend.“«
-
-„Schon wieder dringend? Ja, wir Roten! Wir marschieren nicht, wir
-laufen Sturm!“
-
-„»Könnt da schlecht mit, was? Wenn die Beine schon wacklig werden!“«
-
-„Wacklig? Oho! Oho! Da schaun S’ her! La--uf--schritt!“
-
-Und er lief ein Stück die festgefrorene sonnige Uferstraße entlang,
-warf die langen Beine wie ein Droschkengaul, stand still und schaute
-sich schnaufend und Beifall gewärtig um. Der Besucher hatte indes
-die Gelegenheit benützt und war ins Haus geschlüpft. Da nahm der
-Bindermeister eine Prise, spuckte in die Hände und schlug wütend auf
-seine Fässer.
-
-Und wenn Hellwig aus dem Haus trat, frühzeitig, kaum, daß die Sonne
-hinter den weißen Bergen herauf wollte, machte sich der Binder, wenn
-ihn nicht noch der Kater im Bett festhielt, jedesmal an ihn heran.
-
-„Schon auf, Herr Genosse?“ fragte er zutunlich. „Sind Sie denn
-nicht noch schläfrig? Arg spät war’s wieder. Ich hab’ schon einmal
-ausgeschlafen gehabt, wie Sie die Fenster aufgemacht haben. Passen
-Sie nur auf, daß Sie nicht verkühlen! Ich lieg’ immer bei zugemachten
-Fenstern und doch friert mich in der Nacht wie einen Italiener. Und
-jetzt gar Sie! Alle Fenster reißen Sie sperrangelweit auf. Das kann
-doch nicht bekömmlich sein!“
-
-„Ich bin das so gewohnt, Herr Meister. Und dann, es liegt sich so
-schön, wenn’s dunkel ist und man hört draußen das Wasser am Eis
-vorübergehn. Es wiegt einen ordentlich!“
-
-„Jawohl, schön haben wir’s schon dahier! Und eine Luft! Eine starke
-Luft! Die hält gesund und macht Appetit ... Teufelszeug noch einmal!
-Hat Ihnen meine Alte den Kaffee gebracht? Man muß jetzt schon fort
-hinter ihr her sein, wissen Sie, weil sie so arg viel vergeßlich wird.
-Sie trinkt zu viel. Das tut den Frauenzimmern nicht gut.“
-
-Nun mußte Fritz hellauf lachen, weil hier einmal der Blinde über den
-Einäugigen König sein wollte.
-
-„Nein, Herr Meister,“ sagte er, „auf den Kaffee hab’ ich noch nie
-zu warten brauchen. Und was das andere betrifft,“ -- er klopfte dem
-Meergreis auf die knochige Schulter -- „da sollten Sie sich doch erst
-selber bei der Nase nehmen. Groß genug ist sie ja!“
-
-„Haha! -- Haha!“ fing da der Alte ein stoßweises Gelächter an, und sein
-Bartwald kam in stürmische Bewegung. „Meine Nase -- haha! -- das ist
-ein gar wichtiges Glied der bürgerlichen Gesellschaft. Sie zahlt ihre
-Tabaksteuer und erspart meiner Alten die Nachtlampe! Also darf sie sich
-auch groß machen!“
-
-Dabei rieb er sich die Hände und trat stampfend von einem Fuß auf den
-andern. Denn es war kalt, und vom Fluß herüber pfiff ein eisiger Wind.
-Die Sonne war kaum überm Horizont herauf und stand als tiefrote Scheibe
-hinter einem rauchigen Frostnebel, der zwischen Himmel und Erde düster
-brodelte. Fritz drückte den Schlapphut fest aufs Haar und ging in der
-grauen Dämmerung eilig die Uferstraße entlang nach der Stadt, indes der
-Bindermeister in seiner Werkstatt beim glühenden Ofen schnitzelte und
-manchmal glucksend in sich hinein lachte. Denn er empfand den Scherz
-des sonst so ernsten Mieters als beglückende Auszeichnung.
-
-Vor der Redaktionsstube warteten bereits die Vertrauensmänner,
-Pfannschmidt und fünf andere Bergleute, auf ihren Führer. Die Hände in
-den Taschen der Winterröcke vergraben, dicke Wolltücher um den Hals und
-den Rockkragen darüber, standen sie einsilbig beisammen. Als Hellwig
-zu ihnen trat, rückten sie die Pelzmützen, reichten ihm die Hand und
-harrten schweigend, bis er die Kanzlei aufgesperrt hatte. Dort war es
-noch ungemütlich, es roch nach staubigem Papier und Druckerschwärze,
-im eisernen Ofen brannte kein Feuer, und die Schreibtische, Pulte und
-Schreine standen langweilig in einem unfreundlichen Halbdunkel. Der
-Diener hatte sich verspätet, kam nun ganz abgehetzt keuchend gelaufen,
-heizte ein und wollte abstauben. Fritz schickte ihn fort. Die Zeit
-drängte, um elf Uhr sollte die Besprechung stattfinden und da gab es
-noch manches zu beraten.
-
-„Also was?“ fing, als der Bursche gegangen, einer der Männer an. „Also
-was? Wird heut’ endlich Schluß werden?“
-
-„Kaum!“ versetzte Fritz achselzuckend. „So mürb sind sie noch nicht.“
-
-„Mürb! Mürb!“ knurrte der andere unwirsch. „So nehmen wir doch an, was
-sie uns bieten! Ich hab’s satt! Gebratene Tauben kriegen wir nicht,
-drum halten wir den Spatzen fest! Ist besser wie gar nichts!“
-
-„Seid ihr auch der Ansicht?“ fragte Hellwig finster die übrigen. Die
-starrten stumm vor sich auf den Tisch. Nur Pfannschmidt sagte: „Der
-Martin raunzt immer so herum. Wenn’s nach seinen Reden gegangen wär’,
-hätten wir gar nicht anfangen dürfen!“
-
-„Ich sag’, was ich sag’!“ beharrte der andere. „Wenn’s noch ein paar
-Wochen so fortgeht, und wir verdienen nichts, haben wir so viel
-verloren, daß wir dann beim höhern Lohn gut zwei Jahre fretten müssen,
-bis wir den Verlust herein und die Schulden bezahlt haben. Ist’s nicht
-wahr?“
-
-Von seinen Gefährten nickte einer zustimmend. Die drei anderen schienen
-unentschlossen. Pfannschmidt wollte etwas erwidern. Da brach auch schon
-Fritz los:
-
-„Was der Martin sagt, ist zwar eine arge Übertreibung, aber nehmen
-wir an, es ist so. Gut. Und was weiter? Wenn’s wirklich so ist, wie
-er sagt? Und wenn’s noch ärger wäre, wenn ihr vier und sechs und
-zehn Jahre braucht, um den Lohnausfall hereinzubringen. Was weiter?
-Dürft ihr euch deswegen mit Halbheiten begnügen? Mit einem Erfolg,
-der keiner ist, nicht Fisch, nicht Fleisch? Da hätten wir gar nicht
-anfangen dürfen! Jetzt gibt’s einfach kein Biegen mehr! Jetzt muß es
-brechen -- und wenn wir alle dabei zugrunde gehn! Jawohl! Schaut nicht
-so entsetzt drein! Ihr könnt einfach nicht nachgeben! Könnt nicht,
-versteht ihr? Denn die einmal aufgestellten und nicht befriedigten
-Forderungen, die würden fort und fort in euch weiternagen, und ihr
-hättet keine Ruhe, bis ihr sie früher oder später doch durchsetzt. Und
-der Kampf, den ihr dann um den Rest führen müßtet, wäre größer und
-schwerer als der heutige ums Ganze! Das ist es! Und sind die Opfer, die
-ihr jetzt bringt, wirklich zu groß? Wenn dann euch und mindestens noch
-euern Kindern, von den Enkeln will ich nicht reden, wenn auch dann ein
-ruhiges Fortarbeiten bei halbwegs hinreichendem Verdienst sicher ist?
-Seid mir drum nicht so verzagte Angstmeier! Kleinmütige Kreuzerbettler!
-Vertraut und seid starr! Unser Sieg ist nur noch eine Frage von Tagen.
-Er kann einfach nicht ausbleiben! Nur, ihr müßt auch dran glauben!“
-
-Nun hatte er sie wieder fest. Der alte Nörgler wiegte zwar noch
-unschlüssig den Kopf. Aber auch er sprach nicht mehr dagegen.
-
-Ziemlich zur selben Zeit saßen im großen Sitzungssaale des Palastes,
-den sich die Grubenbesitzer erbaut hatten, ungefähr fünfzehn Herren
-um einen grünen Tisch. Hagere Gestalten zumeist, mit schmalen Händen
-und nervösen Bewegungen, in Gehrock oder Jackett, tadellos nach
-der letzten Mode gekleidet. Nur einer war dabei, der wollte in die
-elegante Versammlung gar nicht recht hineinpassen, Max Koppenstein,
-ein fettes Herrchen mit einer goldenen Kette über dem Spitzbauch.
-Er hatte eine ganz enge, niedrige Stirn, und daran hing, breit
-ausgebaucht, mit roten Backen und mächtigem Doppelkinn, das feiste
-Schlemmergesicht wie ein runder Luftballon. Aus zwinkernden Äuglein
-hinter weißlichen Wimpern schaute er sehr harmlos in die Welt und war
-doch der Gefährlichste unter diesen kalten Geldmenschen, unübertroffen
-in der sanften, zärtlichen Grausamkeit, mit der er seine Angestellten
-auspumpte und seinen Schuldnern die letzte Habe pfändete. Und wenn er
-sich manchmal im Bureau in Gegenwart eines Geschäftsfreundes ein Glas
-ältesten Kognaks einschenkte, dann sagte er wohl zungenschnalzend:
-„Das ist ein Schnäpschen! Wie das duftet! Hm?“ und hielt dem Zuschauer
-lobgewärtig das leere Becherchen unter die Nase. Aber einschenken tat
-er ihm nichts. Doch schadete das seinem Ansehn keineswegs, denn er war
-steinreich, besaß die meisten und die ergiebigsten Flöze und hatte
-deswegen auch in der heutigen Versammlung den Ehrenplatz inne, zur
-Rechten des uniformierten Vertreters der Regierung.
-
-Steif und förmlich, mit herablassenden Mienen und gemachtem Gleichmut,
-rückten sich die Herren auf den schweren Lederstühlen zurecht, als
-Hellwig mit seinem Häuflein in den Saal trat. Der Beamte wies ihnen
-die Plätze an und hielt eine Rede, die dem Geist der Versöhnung, dem
-friedlichen Zusammenwirken in Eintracht und Brüderlichkeit einen
-Preishymnus sang. Man solle, sagte er, bedenken, daß noch kein Friede
-ohne beiderseitiges Entgegenkommen geschlossen worden sei. Man solle
-dem großherzigen Beispiel der Unternehmer folgen und der Allgemeinheit
-zuliebe Opfer bringen, die nur scheinbar Opfer seien, denn sie werden
-sich reichlich bezahlt machen durch das Blühen und Gedeihen des Staates
-und der Volkswirtschaft, aus welcher Quelle dann hinwiederum allen
-Bürgern Vorteil fließe.
-
-Und kühl und ruhig, mit ganz leichtem Spott, erwiderte Hellwig darauf:
-
-„Die fünfzehntausend Menschen, die zu vertreten wir die Ehre haben,
-wollen nicht Großherzigkeit oder Gnade, sondern ihr Recht. Von schönen
-Worten werden sie nicht satt und ebensowenig von dem großmütigen
-Angebot. Das Sattwerden aber ist zum Blühen und Gedeihen zumindesten
-des einzelnen eine so notwendige Sache, daß sie jedes Opferbringen
-ausschließt. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Und wer
-zu essen hat, braucht nicht zu arbeiten, nicht wahr, meine Herren?
-Jedenfalls haben Sie zu essen. Nun, und die hinter mir stehn, wollen
-das auch. Sie wollen beileibe nicht so gut, sie wollen nur genug essen.
-Das ist ein so klares, einfaches und selbstverständliches Verlangen,
-und ist doch so ernst und fromm, daß sich nichts davon herunterhandeln
-läßt. Der Versuch zu schachern und zu feilschen ist Ihrer ebenso
-unwürdig, wie es für uns unwürdig wäre, darauf einzugehen. Wir können
-kein Jota nachlassen. Sie haben lang genug getrotzt, -- geben Sie es
-auf! Es war ein Irrtum, -- gestehen Sie ihn ein! Denn früher oder
-später müssen Sie doch nachgeben! Tun Sie es heute -- und schon morgen
-wird in allen Gruben wieder gearbeitet!“
-
-Auf ein so stolzes, selbstbewußtes Auftreten waren die Herren nicht
-gefaßt, hatten vielmehr erwartet, daß ihr Angebot ohne Besinnen
-werde angenommen werden. Wie Könige waren sie sich vorgekommen, die
-unverdiente Gnaden austeilen. Jetzt schwiegen sie mit gefalteten
-Stirnen und undurchdringlichen Mienen. Nur Max Koppenstein zog die
-Schultern hoch, breitete die Arme aus und sagte: „Ich denke, meine
-Herrn, darauf kann es nur _eine_ Antwort geben.“ Und zu dem Beamten
-gewendet, fuhr er fort: „Nun haben Sie sich, verehrtester Herr
-Ministerialrat, wohl selbst überzeugt, wo die Schuld liegt. Es tut
-uns ja aufrichtig leid, aber“ -- wieder zog er die Schultern hoch und
-wieder breitete er die Arme aus -- „schließlich kann doch kein Mensch
-verlangen, daß wir uns verbluten sollen.“
-
-So schien der Einigungsversuch gescheitert und der Gegensatz zwischen
-den beiden Parteien verschärft. Aber es war doch anders. Denn die
-Regierung bot nach wie vor alles auf, um die Unternehmer zur Annahme
-der sämtlichen, in keiner Weise übertriebenen Forderungen zu bewegen.
-Es gelang ihr auch, einen nach dem andern nachgiebig zu stimmen. Aber
-jeder machte seine Einwilligung von der Bedingung abhängig, daß Max
-Koppenstein, dem ein reichliches Achtel der gesamten Kohlengruben
-gehörte, sich ebenfalls anschließe. Der indes war wie ein Aal und ließ
-sich nicht greifen. Er war sehr höflich, ungemein konziliant, von einer
-bestrickenden Liebenswürdigkeit. Aber nein sagte er trotzdem. Unter
-tausend Entschuldigungen, überzuckert und verblümt, aber dennoch: nein.
-
-Nach einigen Tagen wurde ihm vorsichtig und vertraulich die Möglichkeit
-einer Ordensauszeichnung angedeutet. Da legte er zehn Prozent zu. Und
-es hätte wohl nicht mehr viel gebraucht, um ihn ganz zu gewinnen. Denn
-es gab noch höhere Orden und es gab Adelsbriefe.
-
-Da kam ein unerwartetes Ereignis den Arbeitern und der Regierung zu
-Hilfe.
-
-
-7.
-
-Die gewaltige Braunkohlenablagerung umfaßte ein Gebiet, das gut
-fünfzehn Kilometer breit und fast viermal so lang war. Von Urgebirgen
-eingeschlossen und nur manchmal durch schmale Bänder eruptiven Gesteins
-unterbrochen, lagen hier die Flöze neben- und übereinander, bald knapp
-unter der Erdoberfläche, bald Hunderte von Metern tief.
-
-Offene Tagbaue gab es, in deren schwarze Vierecke die Sonne schien und
-die bloßgelegte Kohle bald da, bald dort an den senkrechten Wänden in
-Brand setzte, so daß beständig Rauchsäulen emporwirbelten. Und nicht
-weit davon bohrten sich unterirdische Schachtanlagen dreihundert Meter
-ins Erdinnere. Und überall qualmte die Lösche, zu Bergen getürmt, auf
-den Halden, füllte ein brenzlicher, staubgesättigter Dunst die Luft,
-hing der Rauch wie ein feiner Nebel über den verwüsteten Landstrichen,
-die nach dem Abbau eines Schachtes zurückgeblieben waren, über den
-noch üppigen Weizenfeldern daneben und über den -- wie lange noch? --
-lachenden Fluren.
-
-Und mitten in dem Becken lag, zwischen Porphyrhügel eingebettet, weit
-berühmt durch ihre heilkräftigen Quellen, eine Badestadt. Rund um sie
-rauchten die Schächte, wurde der Boden von den Bergleuten durchwühlt,
-die Stollen und Querschächte trieben gleich Gängen riesiger Feldmäuse.
-Und dicht daneben bahnten sich durch die Spalten des zerklüfteten
-Porphyrs die warmen Quellen den Weg zur Stadt.
-
-Die Schächte aber waren seit vielen Wochen unbeaufsichtigt. Und niemand
-wußte, daß in den Gruben Koppensteins seit einigen Tagen, meist zur
-Nachtzeit, aus der Ferne angeworbene, schlecht geschulte Kreaturen
-wieder arbeiteten. Der schlaue Fuchs traf seine Vorbereitungen, um nach
-Beendigung des Streiks -- das Ende hing ja nur mehr von ihm ab, und
-er konnte es herbeiführen, wann es ihm paßte, -- um nach Beendigung
-des Streiks die Lieferungen unverzüglich mit aller Kraft aufnehmen zu
-können. Die Kohlen blieben vorläufig noch unten in den Schächten --
-denn die Förderschalen mußten still stehn. Aber schon waren alle Hunde
-voll beladen. Wo nur ein freies Plätzchen in den Stollen war, türmten
-sich die Kohlenstücke und konnten nach der Aufnahme des regelmäßigen
-Betriebes sofort hinaufgeschafft, sortiert und in die Eisenbahnwagen
-verladen werden. Auf solche Weise hoffte Koppenstein der Konkurrenz
-einen Vorsprung von einigen Tagen abzugewinnen.
-
-Da geschah es, daß bei diesem Abbau ohne planmäßige Leitung eine
-Schwimmsandschicht angefahren wurde. Ungeheure Sandmassen gerieten in
-Bewegung, durchbrachen, einmal in Fluß, die trennenden Schachtwände
-und stürzten gleich riesigen Lawinen in die Gruben. Und die Erdrinde,
-unter der sie seit Jahrhunderten ruhig gelegen, wurde mitgerissen von
-der furchtbaren Gewalt des wandernden Sandes, kam ins Rutschen, Gleiten
-und brach nieder.
-
-Es war eine laue, regendrohende Febernacht, als die Bewohner der
-Badestadt durch ein ohrenbetäubendes Gedröhn und Geprassel aus dem
-Schlaf geschreckt wurden. Der Boden schwankte, Mauern barsten,
-Häuser wankten, sanken krachend in sich zusammen. Eine ganze breite
-Straßenzeile, die mit schönen Gebäuden gerade über dem Schwimmsandlager
-errichtet war, hatte sich gesenkt, zwanzig Häuser waren eingestürzt,
-viele standen windschief mit gespaltenen Grundpfeilern, geknickten
-Eisenträgern, verschobenen Dachstühlen und zitterten wie große Tiere.
-
-Tote und Verwundete lagen unter Ziegelschutt, Sparrenwerk und
-zertrümmertem Hausrat. Aus den Betten gescheuchte Menschen rannten
-halb nackt durch die dunklen Gassen, fragten, stießen sich, weinten,
-schrien, heulten und rangen die Hände, ratlos, planlos irrend, von
-einer entsetzlichen Angst geschüttelt. Und dazwischen tönte das
-Stöhnen und Brüllen der Verschütteten, das Prasseln der Balken, das
-Aufschlagen fallender Dächer. Und jedesmal, wenn eine Wand sich neigte,
-ein Schuttregen niederging, hetzte die Furcht aufs neue in wirbelndem
-Knäuel die aufgestörten Menschen durcheinander. Gellend schrien sie
-auf, duckten sich, hielten sich die Ohren zu, prallten aneinander und
-waren wie von Sinnen. Der Türmer läutete Sturm mit allen Glocken. Auf
-den Bahnhöfen pfiffen die Lokomotiven in winselnden, langgezogenen,
-Hilfe heischenden Klagelauten. Und die Finsternis stand unbeweglich und
-schlang alle Tonwellen mit dunkel gähnendem nimmersatten Rachen.
-
-Endlich kam Hilfe. Ärzte, Rettungsmannschaften, Feuerwehren. Besonnene
-Männer nahmen die Leitung in die Hand. Aus den Nachbarstädten trafen
-in mehreren Eisenbahnzügen Verstärkungen ein. Die nervenzersetzende
-Angst wich, der panische Schrecken machte einer verzweifelten
-Entschlossenheit Platz. Hunderte und Hunderte regten sich im Schein der
-flackernden Windlichter, handhabten Schaufel und Spaten, trugen die
-Verwundeten zum Verbandsplatz, schleppten Möbel aus bedrohten Gebäuden.
-
-Vor den Schächten aber hatten sich die Bergleute gesammelt. Freiwillig
-waren sie gekommen, im Arbeitskittel, mit Lederschurz und Grubenlampe.
-Ohne Besinnen, als ein ganz Selbstverständliches, boten sie ihre Hilfe,
-ihr Leben an, machten sich zur Einfahrt fertig. Die eingerosteten
-Ketten der Förderschalen ächzten schrill, langsam begannen sich die
-Räder zu drehen, schnurrten die Seile.
-
-„Glückauf!“
-
-„»Glückauf!“«
-
-Und unter der Führung einiger Ingenieure ging es in die feindliche
-Tiefe, der Gefahr zu Leibe, um nachzuforschen, einzudämmen, abzulenken,
-Tote zu bergen, und die Schächte vor dem Ersaufen zu bewahren.
-
-Aber noch ein anderes war geschehen.
-
-Durch die ungeheure Erschütterung im Innern der Erde war auch eine der
-dünnen Wände gesprengt worden, die die weit vorgetriebenen Stollen von
-den Quellspalten trennten. Die Thermalwasser waren in die Grubenbaue
-eingedrungen, breiteten sich darin aus, und im gleichen Maße, wie sie
-in den Schächten stiegen, fielen sie in ihrem früheren Staubecken,
-bis sie nach dem Gesetz kommunizierender Gefäße hier wie dort mit
-gleich hohem Spiegel standen, in ersoffenen Schächten einerseits und
-anderseits so tief unter den Badehäusern, daß die Leitungsröhren nicht
-mehr bis zum Wasserspiegel reichten. Die heilkräftigen Quellen, der
-Ruhm und Stolz der Stadt, drohten zu versiegen.
-
-Jetzt freilich wurde eine strenge Untersuchung eingeleitet. Sie
-enthüllte Ungeheuerliches. Unter dem Eindruck desselben nahmen die
-Gewerken alle Forderungen ihrer Arbeiter in Bausch und Bogen an, um
-wenigstens _einen_ Feind vom Hals zu haben und nicht zwischen zwei
-Feuer zu geraten. Sie hofften auch, daß die Regierung, dadurch zur
-Milde gestimmt, Gnade für Recht üben und ein Vertuschen der Verbrechen
-ermöglichen würde. Auch an Hellwig traten sie heran, baten ihn
-und boten als Anzeigengelder große Bestechungssummen, wenn er die
-Angelegenheit in seiner Zeitung totschweige. Er wies ihren Vertretern
-die Tür. Und brachte Artikel nach Artikel, sachlich, trocken, auf Grund
-amtlicher Feststellungen.
-
-Die Bergwerksinspektoren hatten bisher die Aufsicht nur lax oder gar
-nicht ausgeübt. So war es möglich geworden, daß sich die Unternehmer
-seit Jahrzehnten über alle Sicherheitsvorschriften wegsetzen konnten.
-Am ärgsten schaute es in den Koppensteinschen Gruben aus. Die lagen
-in der Nähe der Heilquellen und zu beiden Seiten der Eisenbahn. Dort
-durfte die Kohle nicht abgegraben werden, sollten Stützen, Wände und
-Pfeiler stehen bleiben zum Schutz der Quellen und der Bahn. So stand es
-in der Vorschrift. Aber in Wirklichkeit war die Kohle doch abgegraben,
-und die Pfeiler, Wände und Stützen waren kaum halb so dick, wie es das
-Gesetz verlangte. Und unter dem Bahnkörper liefen Stollen weg und
-Gänge. Und darüber, auf der dünnen Rinde, keuchten Tag und Nacht ohne
-Pause die schweren Lastzüge, donnerten die Eilzüge mit den Kurgästen.
-
-Als durch Hellwigs Zeitung diese Dinge bekannt wurden, ging der übliche
-Entrüstungssturm durch die Presse. Noch nie hatte ein Provinzblatt
-solchen Aufruhr erregt. Auch die Blätter des Auslandes rauschten
-mit. Sie brachten Abbildungen und ergingen sich in schauerlichen
-Schilderungen der Unfälle, die möglich gewesen wären. Erzählten von
-kranken Menschen, die voll Hoffnung den Bädern entgegeneilten und nicht
-wußten, daß der Weg dahin über bereitete Gräber führte. Auch der Reiter
-über den Bodensee wurde vielfach zitiert. Und man war darüber einig,
-daß die Inspektoren ihre Pflicht in unverantwortlicher Weise verabsäumt
-hatten.
-
-Nun wurden Beamte in Massen versetzt, gemaßregelt, entlassen.
-Koppenstein aber war zugrunde gerichtet. Auf seine Kosten sollten
-die Hohlräume unter den Schienen ausgefüllt, die schwachen
-Pfeiler und Schutzwände durch Mauerwerk gesichert, sollte, um die
-Heilquellen in ihre früheren Wege zurückzudrängen, die Verbindung
-zwischen den Quellspalten und Gruben durch Dämme und Betonfüllungen
-gestopft werden. Und die Bahn forderte Ersatz für die unter ihrem
-Grundeigentum gewonnenen Kohlen, und die Stadtgemeinde, die Besitzer
-der eingestürzten Häuser, die Hinterbliebenen der Getöteten und die
-Verletzten stellten ebenfalls Ersatzansprüche. Und überdies drohte ein
-Strafprozeß wegen fahrlässiger Gefährdung von Menschen, Beschädigung
-fremden Eigentums, wegen Diebstahls und einer Menge anderer Verbrechen.
-Das ertrug Koppenstein nicht. Aus dem Gefängnis hätte er sich
-vielleicht nicht viel gemacht, aber daß die rastlos angehäuften
-Reichtümer mit einem Schlag in alle Winde zerstieben sollten, das warf
-ihn nieder. In der Marmorwanne seines Badezimmers öffnete er sich die
-Pulsadern und verblutete.
-
-Seine Verwandten richteten ihm ein Begräbnis erster Klasse mit
-jeglichem Pomp. Viele folgten dem sechsspännigen Leichenwagen. In den
-Augen seiner Standesgenossen war er entsühnt.
-
-Glimpflicher kamen die andern Grubenbesitzer weg. Aber fast keiner war
-ganz frei von Raubbau und Unterlassungssünden. Da wurden die stolzen
-Herren gar klein. Auf einmal konnten sie geschmeidig den Rücken beugen,
-sich entschuldigen, um Gnade betteln. Die Arbeiterfrage war vollständig
-in den Hintergrund gedrängt. Willig zahlte man die höheren Löhne,
-suchte alles zu vermeiden, was die Öffentlichkeit noch mehr aufbringen
-konnte. Aber es dauerte noch geraume Zeit, bis die Anordnungen der
-Behörden durchgeführt waren und der Skandal halbwegs in Vergessenheit
-kam.
-
-Jetzt endlich konnte Hellwig aufatmen. Die Kämpfe gegen die
-Lotterwirtschaft hatten mit ihren schlaflosen Nächten und furchtbaren
-Aufregungen seinen widerstandsfähigen Körper doch stark mitgenommen.
-Es war sein Verdienst, daß der Augiasstall gründlich gesäubert wurde.
-Er war der Herold gewesen, der Rufer im Streit, hatte die anderen
-wachgerüttelt und rücksichtslos alles aufgedeckt, was sonst vielleicht
-nur entstellt oder gar nicht in die Öffentlichkeit gedrungen wäre. Als
-hierauf das große Rauschen der Blätter anhob, schwieg er. Zu stolz, um
-zu jubeln oder den Besiegten zu höhnen, schwieg er und überließ anderen
-die Ausnützung des erfochtenen Sieges.
-
-Jetzt war er wieder viel zu Hause, saß beim Fenster und blickte über
-den Strom hinüber zu den waldigen Bergen, wo schon die Blütenkätzchen
-aus den Zweigen brachen und die ersten Spitzen des jungen Grüns. Eine
-leise Schwermut war in ihm, eine gärende Sehnsucht, die nicht Wunsch
-werden wollte. Wieder war ihm, als müßte er etwas suchen, und wußte
-doch nicht was. Fühlte er den Drang zum Schaffen, das Verlangen nach
-irgendeiner befreienden Tat, fand aber weder Umriß noch Plan.
-
-Es war bald recht still um ihn geworden. Selten besuchte ihn jemand.
-Sie waren ihm dankbar, sprachen mit anerkennenden Worten von seiner
-energischen Führung. Aber da sie ihn nicht mehr brauchten, hatten
-sie keinen Anlaß, zu ihm zu gehen. Nur Pfannschmidt kam regelmäßig.
-Der arbeitete nicht mehr im Schacht. Hellwig hatte sich an die
-Parteileitung wegen Beigabe einer Hilfskraft gewendet und den
-Bergmann in Vorschlag gebracht. Das war genehmigt worden, und so saß
-Pfannschmidt nunmehr in der Schriftleitung, besorgte die laufenden
-Geschäfte und fühlte sich endlich auf einem richtigen Platz.
-
-
-8.
-
-Es war bereits Frühling geworden, als Fritz eines Tages die Nachricht
-erhielt, daß Doktor Kreuzinger gestorben sei. Da fuhr er mit dem
-nächsten Zuge nach Neuberg. Seit sechs Jahren war er nicht mehr dort
-gewesen. Und was lag alles dazwischen. Erst als ein Vorkämpfer des
-Deutschtums von den Studenten gepriesen, dann als Verräter und Feigling
-in Acht und Bann getan, von allen Leuten als Verkommener und Verlorener
-abgeurteilt, kehrte er jetzt wie ein Sieger zurück. Der Streik hatte
-seinen Namen überall bekannt gemacht. Auch die klerikalsten Neuberger
-waren stolz, daß ein Kind ihrer Stadt so was hatte leisten können. Und
-kaum daß er vom Bahnhof ins Städtchen kam, sprach ihn jeder, der ihn
-noch erkannte, mit grüßenden Worten an, wollte ihm die Hand drücken,
-fragte, ob er sich noch seiner erinnern könne. Sein Name war aber
-auch monatelang täglich in allen Wirtshäusern genannt worden. Sogar
-Professor Hermann hatte voll Genugtuung erklärt, daß Fritz Hellwig sein
-Schüler und wie begabt er gewesen sei. Und nur Pater Romanus hatte dann
-immer säuerlich-süß den Mund verzogen und ein paar Worte fallen lassen
-vom Hochmut, der vor dem Fall kommt. --
-
-Doktor Kreuzinger hatte einen wunderschönen Tod gehabt. An einem warmen
-Frühlingsmorgen war er auf seiner Gartenbank eingeschlafen, das neueste
-Werk eines berühmten Forschers mit dessen eigenhändiger Widmung auf den
-Knien. Die Vögel sangen über ihm im Buchenbaum, die Sonne streichelte
-sein weißbärtiges Antlitz. Und als sie ihn so fanden, glaubten sie,
-er lächle aus einem schönen Traum heraus. Nun lag er zwischen seinen
-Sammlungen aufgebahrt und sollte nach Gotha zur Feuerbestattung
-gebracht werden. Heinz und Kolben, Fritz und Wart Nikl trugen die
-Bahre zum Bahnhof. Priester war keiner zugegen. Und nur wenige Freunde
-folgten dem Sarge des als gottlos Bekannten. Denn die Stadt war ganz
-in den Klauen des Klerikalismus und es gehörte Mut dazu, sich diesem
-unduldsamen Riesen entgegenzustellen.
-
-Und über den Toten weg ging das starke Leben unbekümmert weiter.
-
-Eva, der kleine Backfisch von einst, war groß und reif und frauenhaft
-geworden. Die Trauer um den Großvater lag über ihrem Frohsinn wie der
-weiche Flaum auf der Schale einer schönen Frucht. Aber die schlanken
-Glieder regten sich wie unter unerwünschten Fesselbändern, und hinter
-den ernsten Mienen drängte verhalten die Daseinsfreude zum Durchbruch.
-So stand sie im Garten vor Fritz, am Tag nach dem Begräbnis, und
-mühte sich ruhig zu erscheinen, während ihm ihre ganze Jugend
-entgegenzitterte. Gleichgültige Dinge redete sie, und hätte ihm doch am
-liebsten zugerufen: „Steh nicht so hölzern da! Nimm mich in deine Arme!
-Dort gehör’ ich hin, ich bin ja dein ...“
-
-„Haben Sie wirklich nicht an mich gedacht? Die ganze Zeit her nicht?
-Nicht einen einzigen Gruß hatte mir Heinz zu melden!“
-
-Er blickte ihr in die schimmernden Augen.
-
-„Aber von Ihnen hat er mir einmal einen Gruß ausgerichtet,“ sagte er
-langsam. Sie wurde rot. Er fuhr fort: „Ich dank’ Ihnen heute dafür. Und
-wenn ich es nicht durch Heinz hab’ besorgen lassen ...“ Er stockte und
-wollte hinzufügen: „Sie sind mir zu gut dafür.“ Aber das brachte er
-nicht über die Lippen, sondern meinte nur: „Was hätten Sie auch davon
-gehabt?“
-
-„Mich hätt’s gefreut!“ antwortete sie leise.
-
-„Kann man sich über leere Worte freuen?“
-
-„Ah -- wenn es nur leere Worte gewesen wären -- dann gewiß nicht!“ Das
-klang zornig. Und als er zögernd fragte: „Wofür hätten Sie’s denn sonst
-gehalten?“, zuckte sie die Achsel: „Wenn Sie das nicht selbst wissen
-... übrigens, ich hab’ auch ohne das gelebt!“
-
-Mit einer schnellen Wendung kehrte sie sich von ihm weg.
-
-Fritz konnte sich die plötzliche Ungnade nicht erklären. Und weit
-entfernt, den wahren Grund auch nur zu ahnen, ritt er sich mit seiner
-bärentatzigen Ehrlichkeit noch tiefer hinein: „Ich hab’ nichts
-Schlimmes dabei gedacht, Fräulein Eva. Ich hab’ nur gemeint, so durch
-einen Vermittler ... Wenn ich’s aber weiß ...“
-
-Da unterbrach sie ihn bös: „Sie bilden sich doch nicht am Ende ein, daß
-ich um Ihren Gruß stehe? Den können Sie schon behalten. Mir liegt gar
-nichts daran!“, gab sich einen Ruck, warf den Kopf in den Nacken und
-rauschte stolz davon.
-
-Fritz sah ihr nach, wie sie über den Hof ins Haus schritt und fühlte
-den zornigen Wunsch, ihr nachzustürzen, sie an den Armen zu packen
-und zu schütteln: „So versteh mich doch!“ Da drehte sich das Tor in
-quietschenden Angeln, fiel hinter dem blonden Fräulein ins Schloß.
-Und mit einem Male war der weite Hof mit den regsamen Arbeitern, den
-zahlreichen Fuhrwerken und den stampfenden Pferden öd und leer. Wie von
-fernher kommend rauschte der Lärm der Auflader an seinem Ohr vorüber.
-Und während Minute um Minute verrann, fühlte er erst noch dumpf, dann
-bewußter, deutlicher und erkannte endlich mit ganz scharfer Klarheit,
-wie es um sein Herz eigentlich stand.
-
-Im selben Augenblick legte ihm der Kaufmann die Hand auf die Schulter.
-
-„Nanu?“ sagte er. „Sie stehen ja da wie der steinerne Roland beim
-Röhrkasten!“
-
-Fritz fuhr zusammen, schaute den gemütlichen Mann mit fremden Augen an.
-
-„Wissen Sie,“ sprach dieser weiter, „wissen Sie, das gefällt mir gar
-nicht von Ihnen! Himmel, Schimmel, wenn man jung ist, soll man wie ein
-Eichkatzl sein und die Welt zusammenreißen vor lauter Lebendigkeit!
-Nicht so leutscheu und winkelheimlich! Wenn Sie sich jetzt sehn
-könnten! Das Gesicht! Die Milch gerinnt, wenn Sie hineinschaun! Was ist
-denn eigentlich mit Ihnen los?“
-
-Und als Fritz auch darauf keine Antwort gab, schüttelte er bedenklich
-den Kopf: „Sonderbar, die Leute von heute! Der meinige ist gerade so!
-Wenn man Sie ansieht, meint jeder, Sie könnten nicht bis drei zählen.
-Und wenn’s nicht wahr wär’, möcht’ ich niemals glauben, daß so ein
-Mannl die Raubritter da oben zusammenhaut und die Kohlen so teuer
-macht, daß man sie bald nicht mehr wird bezahlen können!“
-
-„Es hat so kommen müssen,“ antwortete Hellwig gedankenlos, „mein
-Verdienst ist’s nicht.“
-
-„Kruzitürken und Chineser, bescheiden sind Sie auch? Das hat noch
-gefehlt! Sagen Sie mir nur, was hat man denn von der Bescheidenheit?
-Höchstens, daß man tüchtig übers Ohr gehauen wird. Auftreten muß man
-heutzutage: ‚So bin ich und wenn ich euch nicht pass’, steigt mir alle
-auf den Buckel!‘ -- Das gibt einem erst Gewicht! -- Mein Schwiegervater
-war auch so einer. Nur ja nicht merken lassen, daß er mehr versteht wie
-die andern. Und er hätt’ sie doch alle in die Tasche stecken können.
-Aber der dümmste Kerl hat sich vor ihm in der Sonne den Bauch wärmen
-dürfen, und er ist zufrieden im Schatten sitzen geblieben. So ein Wesen
-begreif’ ich einfach nicht.“ --
-
-„Er hat ...,“ entgegnete Fritz versonnen, „er hat -- die fremde Wärme
-nicht gebraucht. Er hat von uns überhaupt nichts gebraucht, hat alles
-in sich selber gehabt. -- Wie Bettler sind wir vor ihm gestanden.
-Haben uns beschenken lassen und -- konnten nicht einmal dafür danken.
-Weil er auch für unsern Dank zu reich gewesen ist. Wir -- verlieren
-uns hundertmal -- an die Erde -- an die Menschen -- verzetteln und
-verpulvern uns -- damit wir nur nicht an uns zu denken brauchen und
-an unsere Armut. Glück suchen nennt man das. Er -- ist mit sich allein
-geblieben -- ist groß genug gewesen zum Alleinsein -- und hat das
-Glück _gehabt_. Von den Ranken, die sein Herz getrieben hat, ist keine
-verdorrt. Sie sind um die Welt gewachsen, ja -- ganz rund herum sind
-sie gewachsen und doch alle wieder in seinem Herzen zusammengekommen.
-So war er.“
-
-Während er sprach, schaute er unablässig auf einen blauen Ölkäfer, der
-seinen dicken Leib träg über den Kiesweg ins Gras schleppte. Jetzt
-schwang sich ein Spatz vom blühenden Apfelbaum, nahm das Kerbtier in
-seinen Schnabel und flatterte durch den Sonnenschein davon. Ein paar
-weiße Blütenblätter fielen lautlos wie Flocken vom schwingenden Ast auf
-den grünen Rasen.
-
-Wart Nikl räusperte sich und nahm Hellwigs Hand zwischen seine beiden.
-
-„Ich versteh’ nicht, was Sie da gesagt haben. Aber fühlen kann ich’s
-schon, wie Sie’s meinen. Ein Alter, über den die Jungen so reden, der
-muß wohl viel wert gewesen sein.“ Und als ob er den düster Starrenden
-trösten wollte, fügte er hinzu: „Er hat Sie sehr gern gehabt.“
-
-Fritz lächelte bitter. Über den Hof herüber rief die krähende Stimme
-eines Lehrbuben nach dem Kaufmann.
-
-„Kopf hoch, Fritz!“ sagte er noch. Und mit verlegener Herzlichkeit:
-„Wissen Sie, ganz so ohne sind Sie auch nicht. Ich hab’ ordentlich
-einen Respekt vor Ihnen, Kreuzdonnerwetter! Den krieg’ ich vor solchen
-Grünschnäbeln nicht so bald!“
-
-Und fort war er.
-
-Hellwig atmete auf. Fluchtartig, damit ihn nicht abermals jemand
-aufhalte, hastete er durch die rückwärtige Gartentür auf die Gasse
-und lief seinen alten Weg über die Brücke, die Hügellehne hinan zu
-den stillen Lichtungen, wo im Sommer die Erika glühte. Jetzt standen
-späte Himmelschlüssel in den Fluren und in heimlichen Waldwinkeln unter
-Strauchwerk versteckt blühten die Maiglöckchen auf.
-
-Er suchte die Einsamkeit. Aber er fand sie nicht. Überall regte sich’s,
-trieb Blätter, surrte um Blumen, flatterte, zwitscherte, lockte und
-holte sich die Genossin. Da warf er sich mit dem Gesicht nach abwärts
-auf den Boden und deckte die Hände vor die Augen. Er schämte sich
-seiner Liebe. Weil sie ihn von einem andern Wesen abhängig machte, ihm
-die Selbständigkeit raubte, als ein Fremdes von seinem Herzen Besitz
-ergriff, seine Ziele verdunkelte und Zwiespalt in sein Wollen brachte,
-ohne daß er sich davon befreien konnte. Er bäumte sich dagegen, wollte
-das Gefühl ersticken und den Zwang abschütteln. Aber immer wieder
-drängte sich das Bild des schlanken Mädchens unter seine wirbelnden
-Gedanken, zwang ihn, an schimmernde Augen zu denken, an trotzig
-geschürzte Lippen und blondes Haar, das über einem feinen Gesicht wie
-ein Goldhelm leuchtete.
-
-Und endlich erlahmte ihm die Kraft zum Widerstand. Auf dem Rücken
-liegend, schaute er traumverloren in das durchsonnte grüne Netz
-der Äste, ließ sich von seiner Sehnsucht leise wiegen. Ein Kuckuck
-schrie aus der Ferne immerzu. Und jetzt sang auch von irgendwo eine
-schmetternde Männerstimme in den fröhlichen Wald hinein:
-
- „Es fallen drei Sterne vom Himmel,
- Die geben hellen Schein.
- Wer wird uns früh aufwecken
- Beim braunen Mädelein?
-
- Ei, wer uns früh aufwecken wird?
- Das tun die Waldvögelein.
- Die wecken uns all die Morgen
- Beim braunen Mädelein!“
-
-Ein übermütiges Jauchzen klang dem Liede nach.
-
-Da riß sich Fritz ungestüm aus der weichen Stimmung. Was war ihm denn
-so Großes widerfahren, daß er müßig sein und schlaff werden durfte?
-Hatte sich eine Ranke, die _sein_ Herz getrieben, um ein blondes Mädel
-geschlungen und war nach diesem Umweg wieder zu ihm zurückgewachsen?
-Fast höhnisch lächelte er. Nun, und wenn? Sollten deswegen die anderen
-verdorren? Er bewegte die Unterarme mit den geballten Fäusten vor sich,
-wie wenn er einen Stab zerbrechen wollte. Und den trotzigen Blick
-geradeaus gerichtet, als sähe er an den Stämmen vorbei nach einem nahen
-Ziel, schritt er durch den Wald. Niemand sollte ihn mehr abdrängen!
-Niemand!
-
-Andern Tags reiste er ab. Beim Abschied vermied er, Eva die Hand zu
-reichen.
-
-
-9.
-
-Otto Pichler hatte das letzte Rigorosum abgelegt. Glühend vor Freude
-eilte er nach Haus, umarmte die Wondra, und dann, in seiner Stube,
-begann er unverweilt seine neue Unterschrift einzuüben. ~Dr.~ Otto
-Pichler. In markigen Buchstaben, mit einem schwungvollen Schnörkel.
-Aber das genügte ihm nicht. Er kniete auf den Fußboden nieder und wohl
-fünfzigmal schrieb er mit Kreide auf die braunen Bretter: ~Dr.~ Otto
-Pichler. Und immer markiger wurden die Buchstaben, immer besser gelang
-der Schnörkel.
-
-Seine Beziehungen zu Hellwig hatte er schon längst wieder lose
-angeknüpft. Der Umstand, daß Heinz Wart, Kolben und Fritz bei den
-Freien Blättern wirkten, hatte auch ihn zu einer Schwenkung ins
-sozialistische Lager veranlaßt. Denn es schien ihm nicht unmöglich,
-daß er, von den einstigen Freunden unterstützt, auf dem guten
-Sprungbrett der Journalistik sich später in eine angesehene Stellung
-hinüberschnellen könnte, in ein Reichsratsmandat oder ähnliches. Klug
-und mit kühlem Bedacht arbeitete er auf dieses Ziel los. Er verstand
-gewandt, geistreich und witzig zu schreiben, sein Stil war wie seine
-Rede, flott, frisch und lebendig, und was seiner Überzeugung an Tiefe
-fehlte, ersetzte er durch schöne Worte und verblüffende Wendungen.
-Mit Warts Hilfe gelang es ihm, seine Aufsätze bei den Freien Blättern
-unterzubringen, und bald hatte er als Feuilletonist einen kleinen
-Ruf. Seine Schreibweise gefiel, das Publikum las die schaumleichten
-Sächelchen gern, die sich noch obendrein wissenschaftlich gaben und
-viele interessante Dinge ‚populär‘ darstellten. Aber auch mit den
-Herminonen kam er deswegen nicht über Kreuz. Er wußte alle heiklen
-Klippen geschickt zu umsegeln, so daß er nach wie vor ungestört in der
-Gesellschaft der Studenten verkehren konnte.
-
-Hellwig aber hegte gegen ihn keinen Groll mehr. Er war reif genug
-geworden, um das Verhalten des einstigen Freundes damals bei der
-Satisfaktionsverweigerung als jugendliche Torheit zu belächeln. Nach
-wie vor glaubte er an die ehrliche Tüchtigkeit, hielt er viel von den
-Fähigkeiten des Schulkameraden, und von der fröhlichen Leichtigkeit,
-mit der Otto das Zutrauen der Leute und ihre Sympathien eroberte, ließ
-auch er sich immer wieder gefangen nehmen.
-
-Als ihn daher, nach dem Ende des Streiks und der Aufregungen, die Ruhe
-und Tatenlosigkeit zu quälen anfing, während in Wien große Dinge sich
-vorbereiteten, der Kampf um das allgemeine Wahlrecht mit aller Wucht
-aufgenommen werden sollte und auch sonst dort, im Aneinanderprallen
-des kühnsten Fortschritts und der verbissensten Reaktion, die Kräfte
-immer frisch und stahlblank blieben, -- als ihn das nun in der tiefen,
-schlaffen Stille der Provinz zu quälen und zu locken anfing, da schrieb
-er an Pichler, ob er sein Nachfolger werden wolle. Wenn ja, möge er
-sich bei der Parteileitung darum bewerben, er, Hellwig, gedenke wieder
-zu den Freien Blättern zurückzugehen.
-
-Und Pichler, der neugebackene Doktor, überlegte sich das nicht zweimal.
-Hier bot sich ihm ein Anfang, ein festes Einkommen, eine selbständige
-Stellung und die Möglichkeit, von dort aufzusteigen, alles schöner,
-als er zu hoffen gewagt. Deswegen säumte er nicht lang, fuhr nach
-Wien, stellte sich vor, setzte alle Hebel in Bewegung. Und von Wart
-und Hellwig warm empfohlen, von Doktor Kolben nicht im Stich gelassen,
-glückte es ihm auch, den Posten zu erhalten.
-
-Die Begegnung der einstigen Freunde war nicht gerade herzlich, aber
-auch nicht farblos. Eine Entfremdung war vorhanden, aber dafür auch
-jene ruhige Kameradschaft, wie sie zwischen Männern ist, die an
-demselben Werk mitarbeiten. Eine Woche verwendete Fritz daran, den
-Nachfolger einzuführen und sattelfest zu machen. Dann packte er seine
-Sachen und nahm Abschied von allen. Nicht leichten Herzens ging er
-fort. Und ungern ließen ihn die Arbeiter ziehen. Einzeln und in
-Abordnungen waren sie gekommen, hatten ihn umstimmen, zum Bleiben
-bewegen wollen. Und gar der alte Faßbinder hatte sich schon lang nicht
-hineinfinden können. Immer wieder war er auf die Schönheit der Gegend
-zu sprechen gekommen, auf die starke Luft, die Ruhe, auf alle Vorzüge
-der Gegend und seines idyllisch gelegenen Hauses. Und erst als das
-alles ohne Erfolg geblieben war, hatte er sich leidvoll in seine Kammer
-hinter einen Wall von Bierflaschen zurückgezogen und hatte dort mit
-Tränen in den Augen ohne Aufhören getrunken und getrunken, bis ihm der
-Kopf schwer auf die bier- und tränenfeuchte Tischplatte gefallen und
-das jammervolle Schluchzen in ein gewaltiges Schnarchen übergegangen
-war. Das war eine würdige Abschiedsfeier gewesen, denn betrinken tat
-sich der hoch geeichte Meergreis nur in ganz seltenen Ausnahmefällen.
-Und von jener Stunde an trug er das Unvermeidliche mit männlicher
-Fassung.
-
-Pichler fand sich rasch zurecht. Viel brauchte es ja nicht dazu. Alle
-Wege waren ihm geebnet worden, alle Räder griffen pünktlich ineinander,
-Pfannschmidt arbeitete wie ein Zughund, und Otto hatte eigentlich
-nichts zu tun, als sich in das bereitete Nest zu setzen und zuzusehen.
-Sein schmiegsames Wesen, seine lächelnde Liebenswürdigkeit machten
-es ihm leicht, mit den Arbeitern schnell in ein gutes Verhältnis zu
-kommen. Und sie fanden bald, daß der Neue, der ihnen so freundlich
-um den Bart ging und der sie niemals durch eine kantige Schroffheit
-verletzte, daß der Neue nicht so übel wäre. Auch gefiel ihnen, daß er
-stets tadellos gekleidet ging, zu repräsentieren verstand und nicht in
-der Vorstadt wohnte, sondern nahe der Schriftleitung in einem schönen
-Zinshaus zwei Zimmer innehatte. So streute er diesen einfachen Leuten
-Sand in die Augen und blendete sie durch einen glanzvollen Schein.
-Er machte sich aber auch mit der ‚guten Gesellschaft‘ der Stadt
-bekannt und hielt es für nur selbstverständlich, Richard Deming, den
-einflußreichen Direktor der chemischen Fabrik, höflich zu grüßen, seit
-er ihm einmal in einer Versammlung vorgestellt worden war. Die Anna
-Bogner aber, die achtzehnjährige Tochter des Kesselwärters, erkor er
-sich -- ohne Frauen konnte er nicht mehr sein -- die Anna erkor er sich
-zu seiner heimlichen Geliebten.
-
-Er sah das braunhaarige Mädchen, das in der Zeitungsdruckerei
-beschäftigt war, fast täglich und es gefiel ihm. Klein, rund und
-frisch, trug es sich immer nett und sauber, schaute aus klaren Augen
-vergnügt ins Leben und ließ beim Lachen alle Zähne blitzen. Es lachte
-gern und viel, war stets gutes Mutes, freute sich bei der Maschine auf
-den Feierabend, wenn es regnete, auf den Sonnenschein und wenn die
-Sonne schien, über den lustigen Glanz in der Welt und im jungen Herzen.
-
-So war die Anna, bis sich ihr Schicksal erfüllte. Ganz gewöhnlich fing
-es an. Blicke herüber und hinüber, erst vorsichtig sondierend, bald
-aber kühner werbend und eindringlicher. Dann griff Otto nach dem Hut
-und grüßte. Da erschrak sie, sah darein, als faßte sie es nicht, war
-erstaunt, verlegen, geschmeichelt, hastete purpurrot weiter. Aber sie
-schaute doch noch einmal über die Schulter zurück, ob sie sich denn
-wirklich nicht getäuscht habe, und da stand der fesche Doktor mit dem
-dunklen Schnurrbart noch an der Ecke und winkte mit der beringten Hand.
-
-Andern Tags klopfte ihr das Herz bis zum Hals hinauf, als sie ihn
-kommen sah. Beklommen trippelte sie vorwärts in Harren und Bangen,
-fürchtete schon, er sei gleichgültig vorüber gegangen. Aber da zog
-er gerade wieder höflich den Hut. Nun neigte sie, wie sie sich fest
-vorgenommen, mutig den kraushaarigen Kopf zum Dank, steif genug,
-verschämt und beglückt.
-
-Dann dauerte es keine Woche mehr, bis er ihr ein Briefchen zusteckte
-und um ein Stelldichein für den Sonntag bat. Jenseit des Stromes wollte
-er sie treffen, draußen im Freien, wo schon die Wälder anfingen und
-nicht so leicht ein Bekannter hinkam.
-
-Und das junge Ding zog sein bestes Kleid an, schmückte sich wie zum
-Fest und wartete eine halbe Stunde vor der angegebenen Zeit bereits am
-Waldrand.
-
-Drei rote Rosen zwischen den Fingern, kam Otto gegangen und schon
-von weitem schwenkte er grüßend den weißen Panamahut. Mit einer
-Verbeugung überreichte er ihr die Blumen. Schüchtern griff sie darnach,
-steckte sie mit hastenden Fingern vor die atmende Brust, kam nicht
-gleich damit zurecht, schämte sich und stand mit gesenkten Wimpern
-in einer argen Verwirrung. Aber er half ihr rasch darüber weg, sagte
-ihr ein paar Artigkeiten im leichtesten Plauderton und benahm sich
-ungezwungen, als treffe er sie nicht das erstemal, sondern kenne sie
-schon lang und gut. Da verlor sie die Scheu, taute auf und fing nun
-ebenfalls zu erzählen an, von ihrer Arbeit, von den Tongebilden ihres
-Vaters, den Liebhabern ihrer Freundinnen. Gönnerhaft hörte er zu, fand
-das Schwatzen abgeschmackt, aber das Mädel hübsch und schritt, das
-Stöckchen schwingend, in fröhlicher Zuversicht an ihrer Seite.
-
-Der Wald war still und erwartungsvoll, durch die grünen Büsche
-schimmerte es wie goldene Gewänder, blitzte wie sonnige Augen, mit
-blauen Kelchen standen die schlanken Glockenblumen, und die Anna
-pflückte sie zum Strauß. Weiße Waldorchideen ordnete sie mit hinein und
-die nickenden Blütenturbane des Türkenbunds, durch dessen Berührung
-Juno einst den Mars empfing. Geschmeidig bog sie den Körper, sprang
-wie ein Hirschlein zwischen den Bäumen und funkelte ordentlich vor
-Lebenslust. Immer besser gefiel sie dem jungen Manne. Unternehmend
-strich er den weichen Schnurrbart empor, faßte die Warme mit der
-Rechten von rückwärts um den Leib, bog mit der Linken ihr glühendes
-Gesicht zu sich herüber und küßte sie auf den Mund.
-
-„Nein, so was ... aber Herr Doktor!“ wehrte sie ihm schämig und
-versuchte loszukommen. Es war ihr jedoch nicht ernstlich darum zu tun,
-sie sträubte sich zwar ein wenig, weil sie es für schicklich hielt,
-schmiegte sich dabei aber nur fester in seinen Arm. Da küßte er sie
-nochmals und gab sie dann frei. „Du gefällst mir, Annl!“ sagte er und
-strich mit der Hand über ihre Wange.
-
-„Spotten Sie nur nicht!“ antwortete sie und warf ihm von unten herauf
-einen schnellen verliebten Blick zu.
-
-„Spotten? Nein, du bist wirklich hübsch! Aber das Sie-sagen mußt du dir
-abgewöhnen.“
-
-Nun kicherte sie: „Was der Herr Doktor für Einfälle hat! Wir kennen uns
-ja kaum!“
-
-„Wer bin ich?“
-
-„Der Herr Doktor!“
-
-„Wer?“
-
-„... Sie!“
-
-„Du sollst du sagen! Trau’ dich nur, Mädl! Na?“
-
-Sie schüttelte den gesenkten Kopf, daß alle Spitzen ihrer krausen Haare
-zitterten. Da legte er den Arm um ihren miederlosen Leib. „Komm!“ sagte
-er. „Schäm’ dich nicht, wir sind ja allein.“
-
-Sie lehnte sich leicht an ihn.
-
-„Du!“ sagte sie erschauernd und ließ sich widerstandslos fortführen,
-tiefer und tiefer in den erwartungsvollen Wald.
-
-
-10.
-
-Hellwig war wieder im alten Fahrwasser, arbeitete viel, sprach in
-Versammlungen und ruhte sich bei Heinz von der Hetzjagd aus.
-
-So oft er zu ihm kam, müd und abgerackert, oft erst spät abends, fand
-er den Tisch für sich mitgedeckt, Marie, die zarte, blasse Frau, kam
-ihm mit sonnigen Augen entgegen, und die Lampe leuchtete hell über
-weißem Tischzeug, sauberen Dielen und blankem Hausrat. Eng war das
-Gemach, war Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmer, alles in einem, aber die
-freundlichen Geister des Behagens lugten aus allen Winkeln, schaukelten
-sich in den Falten der baumwollenen Fenstervorhänge, tollten, ein loser
-Schwarm, durch die offene Tür in die Küche, wo sie der Marie in den
-Rostbraten bliesen, daß das Fett prasselnd aus der Pfanne spritzte.
-Aber nicht immer gab es Rostbraten in der Pfanne. Manchmal, und
-namentlich wenn der Monatsletzte nicht mehr fern war, lief Heinz zum
-Greisler hinunter um Käse, Brot und Wurst, und auch ein paar Flaschen
-Bier brachte er mit herauf. Aber wenn dann die Marie fragte: „Wo hast
-du die Butter?“ oder „Wo ist denn der Emmentaler?“, da hatte er das
-gewöhnlich unten auf dem Ladenpult liegen lassen und mußte die vielen
-Stufen noch einmal hinab und hinauf.
-
-Und wenn sie dann alle drei unter dem weißen Schirm der Hängelampe um
-den Tisch saßen, war es Hellwig, als sei alle Leidenschaftlichkeit der
-Fehde verbraust und aller Streit da draußen eingeschlafen, tief ruhig
-wurde er, und leise schlug ihm das stürmische Herz, ganz leise, auf daß
-es die heimliche Innigkeit dieser Stätte nicht störe, die voll Liebe
-und Frieden war. Und kein Schatten wäre in dieser reinen Helligkeit
-gewesen, wenn Marie nicht manchmal gekränkelt und immer anhaltender
-gehustet hätte.
-
-Und bisweilen kam jetzt über Heinz wieder der alte Hang zum
-Herumstreifen in den Elendquartieren. Dann litt es ihn nicht in dem
-Frieden seines Heims, und mochte die Marie auch noch so freundlich
-bitten, er ließ sich nicht zurückhalten. Wie an Seilen zog es ihn fort.
-Da mußte auch Fritz aufbrechen, und manchmal begleitete er dann den
-Freund.
-
-Und da trafen sie einmal mit Robert Karus zusammen. In einem Bierbeisel
-trafen sie ihn, wo er Lumpensammlern, Kanalstrottern und zittrigen
-Bettelleuten die Idee des Anarchismus erläuterte und für die Propaganda
-der Tat mit ungefügen Worten eintrat.
-
-Hellwig erkannte ihn gleich wieder. Aber auch Karus hatte kein
-schlechteres Gedächtnis. Mit einem lauten „Hei!“ ließ er die Faust
-auf den Tisch fallen und rief: „Da schaut her, der Bergprediger! Wie
-geht’s, Herr Bergprediger, wie steht’s? Ist die friedliche Rebellion
-vorüber? Fressen die Hündlein wieder hübsch brav aus der Hand?“
-
-Aber ehe Fritz noch antworten konnte, hatten sich die andern Gäste
-bereits um Heinz geschart. „Das ist ja der Herr Wart!“ -- „Guten Abend,
-Herr Wart!“ -- „Wir dachten schon, Sie hätten uns ganz vergessen,
-Herr Wart!“ hieß es. Sie schüttelten ihm die Hände, waren von dem
-Wiedersehen sichtlich erfreut.
-
-„Also das ist der Ausbund, der so haarsträubend edle Werke tut!“ sagte
-Karus und musterte den schmächtigen Mann mit einem raschen Blick von
-oben bis unten. „Hand her, Heinz Wart!“ rief er dann. Er hielt ihm die
-haarige Tatze hin. Wart legte seine kühle, schmale Rechte hinein.
-„Endlich treffe ich Sie!“ sagte Karus mit gedämpfter Stimme. „Ist
-höchste Zeit gewesen, sonst wär’ ich Ihnen nächster Tage auf die Bude
-gerückt. Wir zwei gehören nämlich zusammen wie Faust und Arm!“
-
-Heinz war es gewöhnt, auf seinen Streifzügen mit den absonderlichsten
-Kostgängern des lieben Herrgotts in Berührung zu kommen. Deswegen
-wunderte er sich nicht weiter über das Gehaben des struppigen Kumpans,
-setzte sich schweigend zu ihm an den Tisch und Hellwig ebenfalls.
-Diesem war die Begegnung sehr erwünscht, denn er hoffte jetzt den
-seltsamen Menschen näher kennenzulernen, der mit ein paar hingeworfenen
-Worten seine Gedanken wochenlang zu beschäftigen vermocht hatte. Er
-konnte sich nicht klar werden über das Gefühl, das er für oder gegen
-ihn hegte, spürte etwas seinem eigenen Wesen Verwandtes in ihm und doch
-auch wieder etwas, was ihn schroff abstieß und zum Widerspruch reizte.
-
-Dem Karus mochte es ebenso gehen. Die Art, wie er den ‚Bergprediger‘
-behandelte, war halb kameradschaftlich, halb gehässig, und immer lief
-daneben überlegener Spott mit. Jetzt saßen sie also beisammen in der
-schweren, verdorbenen Luft, tranken schales Bier und die verluderten
-und zermürbten Gesellen an den anderen Tischen rückten möglichst nahe
-zu, spitzten die Ohren, und jedesmal, wenn Heinz eine Bemerkung machte,
-lächelten und nickten sie einander zu, stießen sich an und taten, als
-wäre ihnen ein Heil verkündet worden, wenn sie auch kaum die Hälfte
-aller Worte vernehmen konnten. Karus aber rüstete sich zu einem Strauß
-mit Hellwig.
-
-„Also was?“ sagte er. „Sind Sie in der Provinz glücklich fertig? Wo
-predigen Sie denn jetzt? Und worüber, wenn’s zu fragen erlaubt ist?“
-
-Fritz wurde nicht zornig und wurde nicht grob. Ganz gelassen blieb
-er und antwortete so naiv und unbefangen, als es ihm möglich war:
-„Gegenwärtig geht’s um das allgemeine Wahlrecht.“
-
-„Schöne Sache!“ entgegnete Karus, mit dem mächtigen Schädel nickend,
-tiefernst. „Schöne Sache! Würdig der edelsten Begeisterung! Nun denken
-Sie sich aber mal eine große Menagerie. Da sitzen die Tiere alle in
-engen Käfigen. Der Löwe, der Tiger, die Gemse, der Falk, der Adler,
-alle sitzen sie in ganz engen Käfigen. Und den Menageriebesitzer
-wandelt eines Tages ein Mitleid an oder eine gnädige Laune, er stellt
-einen etwas größeren Zwinger auf und erteilt den Bestien die Erlaubnis,
-je eine aus ihrer Mitte, welche sie halt wollen, in den größeren
-Käfig zu entsenden. Und dann springen die abgesandten Löwen, Tiger,
-Gemsen, Falken, Adler dort drin herum, stoßen mit den Köpfen an das
-gesetzmäßige Gitter, verletzen sich die Pranken, zerbrechen sich die
-Flügel, beißen sich die Zähne aus. Und die anderen Vieher sehen das und
-schreien, quieken, krächzen, brüllen: ‚Hoch unsere Freiheit! Hoch unser
-allgemeines Wahlrecht!‘ Aber die Eisenstäbe zerbrechen, den Wärter in
-Fetzen reißen? Das fällt keinem ein! Dazu sind sie zu faul und zu träg!
-Sie fauchen wohl gegen ihn, aber kommt er ihnen mit der spitzigen Gabel
-an den Leib, dann ducken sie sich und heulen! Denn schließlich gibt er
-ihnen doch zu fressen.“
-
-„Sie sind ein sonderbarer Schwärmer, Karus,“ erwiderte Fritz. „Ich
-meinerseits glaube aber trotz Ihrer schönen Vergleiche, daß das
-allgemeine Wahlrecht ein guter Sturmbock ist, mit dem wir die Gitter
-schon brechen wollen. Nur haben müssen wir’s erst!“
-
-Karus lächelte mitleidig.
-
-„So sagen Sie mir doch einmal, was wir nach Ihrer Ansicht eigentlich
-tun sollen, um frei zu werden?“ rief Hellwig ungeduldiger.
-
-Da ging ein heftiger Ruck durch die gedrungene Gestalt des wilden
-Gesellen, aus seinen Augen brach ein unbändiges Feuer. Aber seine
-Stimme klang beinah gemütlich, als er jetzt sagte: „Dreinschlagen!“
-
-„Wozu?“ meinte Hellwig achselzuckend. „Wir erreichen auf friedlichem
-Weg mindestens genau so viel.“
-
-Da klopfte ihm Karus auf den Rücken und sprach: „Lieber junger Freund,
-wie stellen Sie sich denn das vor: Auf friedlichem Weg? Die wilden
-Tiere im Käfig wollen heraus, nicht wahr? Und wenn nun so eine graziöse
-Löwendame oder ein feuriger Tigerjüngling kommt und den Wärter bittet,
-er solle doch so freundlich sein und das unangenehme Gitter entfernen,
-so wird der Wärter natürlich nichts Eiligeres zu tun haben, als
-diesem gewiß berechtigten Wunsche zu willfahren. Alle Bestien wird er
-herauslassen, damit sie dann über ihn herfallen und ihn vor lauter
-Dankbarkeit auffressen. Nicht wahr, so würde es kommen? Und das ist
-das, was Sie meinen mit dem ‚Auf friedlichem Weg‘?“
-
-„Nicht so ganz, Herr Karus. Sie sagten ja vorhin selbst, daß der Käfig,
-wie Sie sich auszudrücken beliebten, immer weiter wird. Nun, und einmal
-wird er eben so groß sein, daß wir das Gitter nicht mehr sehn und
-spüren. Das ist doch gewiß auf friedlichem Weg zu erreichen.“
-
-Karus lachte hell auf.
-
-„Und das soll die Freiheit sein? So stellen Sie sich die Freiheit vor?
-Wirklich so? Ich bedanke mich für so eine Freiheit! Ich will fliegen --
-und stoß’ mir den Schädel an der Decke ein. Ich will ein bissel weiter
-spazieren gehn, krach, renn’ ich -- ob früher, oder später, einmal
-doch -- ans Gitter und kann nicht weiter. Muß ich da nicht die Stäbe
-zerbrechen, wenn ich hinaus will? Und wenn ich allein zu schwach bin --
-zum Teufel, hundert Fäuste knicken das Zeug schon entzwei! Aber feig
-sind die Kerle! Feig und faul! Ihr eigenes Fleisch haben sie zu lieb,
-und ihre einzige Sorge ist der Magen! Nein, nein, Bergprediger, damit
-ist’s nichts! Wenn der Zwinger auch noch so groß ist, es bleibt eben
-immer ein Zwinger. Und die Freiheit verträgt kein Gitter!“
-
-Heinz saß da, die Linke vor den Augen und die Stirn in die Spanne
-zwischen Daumen und Zeigefinger gestützt, hielt ein abgebranntes
-Zündholz in der andern Hand und versah die runden Umrisse der
-Bierlachen mit strahlenförmigen Ausläufern. Mit Fleiß und Sorgfalt
-tat er das und bemühte sich, alle gleich lang und schön regelmäßig zu
-machen. Aber als Karus schwieg, begann er unvermittelt zu sprechen.
-
-„Nein,“ sagte er, „kein Gitter und kein Eisen. Weil wir ja keine wilden
-Tiere sind, sondern Menschen. -- Es sollte keine Fesseln unter uns
-geben, keine Käfige und keine Kerker. Und es sollte auch niemand unter
-uns Macht haben, andere darin festzuhalten. Weder ein einzelner noch
-ein Volk oder ein Staat. Niemand. Weil -- wer nicht für mich ist, der
-ist wider mich ... das ist auch eine falsche Formel. Jeder für sich
--- und keiner wider den andern: so müßte es sein. Und bis das so sein
-wird, dann sind wir alle edel genug, die Freiheit zu ertragen. Weißt
-du, Fritz ...“
-
-So redete er, und da er seine Haltung nicht änderte, war es, als ob er
-in die Tischplatte hinein spräche. Aber das Zündholz war in seiner
-Hand zerknickt, und seine Wangen waren ganz tiefrot geworden.
-
-„Gehn wir!“ sagte er nach einer langen Pause und atmete schwer auf.
-
-Sie traten ins Freie. Karus faßte ihn unterm Arm. „Faust und Arm!“
-sagte er noch einmal. „Oder Muskel und Nerv! Komm, Heinz Wart!“
-
-Fritz ging schweigend nebenher und sah in den Himmel hinauf, der ganz
-hell ausgesternt war. Und wieder fühlte er, wie schon öfter: wenn der
-stille Heinz seine leidenschaftliche Stunde hatte, dann sagte er Dinge,
-die seltsam überzeugend klangen. Und er sagte sie in so sonderbar
-eindringlichem Ton, daß keine Entgegnung sich regen konnte. Und doch
-mußte es eine Entgegnung geben, das spürte er ganz deutlich und wußte
-nur nicht, wo die Lücke war, wo er den Fuß einsetzen mußte, um über die
-glatte Mauer hinüberzukommen.
-
-Karus fing an, aus seinem Leben zu erzählen.
-
-Er war Hilfslehrer gewesen, aber seine vertrotzte Natur konnte sich
-in kein Joch beugen. Statt die Buben zu pflichtbewußten Staatsbürgern
-zu erziehen, redete er zu ihnen von der sozialen Bewegung und vom
-Anarchismus, füllte ihre jungen Seelen mit dem wilden Freiheitsdrang,
-der in ihm selbst brauste. Keine Verwarnung fruchtete. Schließlich
-wurde er auf unbestimmte Zeit beurlaubt. Da wußte er, woher der Wind
-blies und kam um seine Entlassung ein. Und dann durchwanderte der
-Doktor der Weltweisheit Robert Karus fast die ganze Erde, machte
-den Aufstand der Insel Kreta mit, war auf den Philippinen einer der
-Insurgentenführer, wurde in Rußland wegen nihilistischer Umtriebe nach
-Sibirien geschickt, floh von dort durch Persien über den Ganges nach
-Indien und war jetzt endlich wieder in seine Heimat zurückgekehrt, als
-Fünfzigjähriger dieselbe Glut und Freiheitssehnsucht im Herzen, die ihn
-als Jüngling in die Welt hinausgetrieben hatte. Vorläufig wollte er
-ausruhen, wie er es nannte, und verdiente sich sein karges Brot, indem
-er armen Handelsbeflissenen, die in Anbetracht der geringen Vergütung
-gern sein verwahrlostes Äußere mit in den Kauf nahmen, Unterricht in
-Französisch, Englisch, Spanisch, Russisch erteilte.
-
-Heinz Wart schloß sich seit diesem Tage ganz an den alten Revolutionär
-an, war fortwährend mit ihm beisammen und wurde noch blasser und
-stiller als vorher. Und noch größer und rätselvoller als vorher standen
-ihm die heißen dunklen Augen im schmalen Gesicht.
-
-
-11.
-
-Pichlern ging es ungemein wohl. Sein Schifflein schwamm auf glatter
-Flut, kein böser Windstoß rührte gefährliche Wogen auf, nirgends zeigte
-sich eine Wetterwolke. Die Arbeit lief wie am Schnürchen, die Leute
-hatten ihn gern, er war überall beliebt. Und wenn ihm etwas seine Laune
-trübte, so war’s jetzt sein Verhältnis zur Anna Bogner.
-
-Sie hatte ihm alles gegeben, was so ein schlichtes armes Ding einem
-Mann wie Pichler überhaupt zu schenken vermochte, stand nun ratlos,
-fremd, wie verloren in der Welt und hatte niemanden, an den sie
-sich klammern konnte, als eben ihn. Gerade das aber wurde ihm bald
-lästig, der Reiz der Neuheit war vorbei, der Schmetterlingsstaub von
-den Flügeln gestreift, die einfache reine Seele des guten Kindes
-konnte ihn nicht fesseln. Es kam die Überlegung, die Furcht vor einer
-möglichen Entdeckung, der Überdruß. Seltener bat er sie um eine
-Zusammenkunft, entschuldigte sich mit dringenden Geschäften. Und sie
-ließ sich alles gefallen, sah ihr Glück -- es hatte kaum sechs Wochen
-gewährt -- verblassen und war geduldig und gläubig und treu wie ein
-Hund. Aber ihre Munterkeit war weg, kaum lachte sie noch oder freute
-sie sich über den Sonnenschein.
-
-Und endlich blieb Otto ganz fort. Acht, vierzehn Tage wartete sie, aber
-er gab kein Lebenszeichen, war für sie wie vom Erdboden verschwunden.
-
-Er birschte in anderen Gefilden. Dort war Grete Deming, die Tochter
-des kaiserlichen Rates Richard Deming, der bei der großen chemischen
-Fabrik den Direktorposten innehatte. Das war ein scharfsichtiger und
-besonnener Selfmademan, dem das kühle Blut auch in den schwierigsten
-Lagen nicht in raschere Wallung kam. Er war von festgefügtem
-Knochenbau, ziemlich groß, stark, doch nicht fett, hatte breite Hände
-und trug den grauen Backenbart zu beiden Seiten des ausrasierten Kinnes
-kurz geschoren. Nie war das Unternehmen besser geleitet, der Gewinn
-größer gewesen, als seit Deming an der Spitze stand. Geschäftsmann
-durch und durch, von modernem Geist erfüllt, kühn und wagemutig, wußte
-er günstige Marktlagen rasch zu packen, tatkräftig auszunützen und
-hatte noch immer gegen die Vorsichtigen und Ängstlichen recht behalten.
-Er war seit Jahren Witwer und hatte eine Tochter, das Fräulein Grete
-Deming, eine dunkeläugige Schöne, die gertenschlank auf dem Kutschbock
-saß und mit festen kleinen Händen ihren Traber lenkte. Umschwärmt und
-begehrt, ging sie gleichgültig an dem Schwarm ihrer Bewunderer vorbei,
-nicht warm, nicht kalt, ein wenig hochmütig, ein wenig herablassend
-und sehr selbstbewußt. Sie war schön, war jung, das einzige Kind
-ihres reichen Vaters und deshalb nahm man ihr nichts übel, fand
-auch ihre Unarten reizend, und viele Mädchen der Stadt gingen mit
-leicht vorgebeugtem Oberkörper und leise schaukelnden Hüften, trugen
-Reitgerten und rauchten Zigaretten, ganz wie Grete Deming. Es gab eine
-Grete-Deming-Frisur, ein Barett, einen fußfreien Rock, eine Tüllkrause
-~à la~ Grete Deming. Aber keiner einzigen saß die runde Nerzmütze mit
-dem Reiherstoß so fesch auf welligem Haar, fiel der glatte Rock auf
-einen so tadellos fein geknöchelten Fuß, hob sich pfirsichfrisch und
-rassig aus den weißen Tüllwogen ein so pikantes Gesicht -- wie eben dem
-Fräulein Grete.
-
-Pichler sah sie vorüberfahren, blickte ihr nach und stand wie gebannt.
-Ein eigenes Gefühl drängte sich in sein Herz, weh und schmerzhaft,
-als sei ihm ein Glück bestimmt gewesen, und er habe es leichtsinnig
-selbst verscherzt. Unwürdig kam er sich vor und doch wieder wertvoll
-genug, nach den höchsten Kränzen zu langen. Verheißende Möglichkeiten
-blitzten in der Ferne, Ahnungen von Genüssen, um die er sich gebracht,
-Sehnsucht nach einer geistreichen und glanzvollen Gesellschaft, von
-der er sich freiwillig ausgeschlossen hatte. Fast reute ihn, daß er so
-offen eine politische Gesinnung zur Schau gestellt hatte, statt in ein
-Staatsämtchen zu schlüpfen oder einen anderen standesgemäßen Beruf zu
-ergreifen. Und stärker und bestimmter kam ihm der Vorsatz, daß seine
-jetzige Beschäftigung nur einen Übergang darstellen durfte, da weder
-seiner Stellung als gebildeter Mensch, noch seinen Fähigkeiten der
-ständige Verkehr mit den untersten Volksschichten angemessen sei. Und
-so begann er denn seine Läuterung dort, wo ihm der Verkehr mit den
-untersten Volksschichten dermalen am unangenehmsten geworden, bei Anna
-Bogner. Er war sich selber für ein solches Verhältnis zu gut geworden.
-
-Die Anna wartete geduldig noch eine Woche lang, dann aber faßte sie
-sich ein Herz und ging zu ihm. Sie wollte Gewißheit haben, das Harren
-und Bangen quälte gar zu sehr.
-
-Zaghaft klopfte sie an, trat zaghaft ein. Da war gerade Karl
-Pfannschmidt anwesend und beriet die Zusammenstellung der nächsten
-Zeitungsnummer mit dem verantwortlichen Schriftleiter.
-
-Verlegen sprang Pichler auf.
-
-„Was bringen Sie mir denn Schönes, Fräulein?“ fragte er und bemühte
-sich, seiner unsicheren Stimme einen geschäftsmäßigen Tonfall zu geben.
-
-„Ich bring’ nichts,“ antwortete sie leise, „ich will mir was holen.“
-
-„Ach ja richtig, das hatte ich ganz vergessen!“ erwiderte Otto und
-schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Jetzt fällt’s mir
-wieder ein! Bitte, wollen Sie hier eintreten!“ Er führte sie ins
-Nebenzimmer. „Sie entschuldigen schon einen Augenblick!“ sagte er noch
-zu Pfannschmidt.
-
-Drinnen herrschte er das arme Ding mit scharfer Flüsterstimme an: „Was
-soll das heißen, Anna? Was fällt dir ein, hieher zu kommen! Denk’ doch
-an deinen Ruf!“
-
-„Ich will mir was holen!“ murmelte das Mädchen.
-
-Nun versuchte er es in einer anderen Tonart. „Ich konnte wirklich
-nicht abkommen, Annl!“ sagte er mit biederer Herzlichkeit. „War mit
-Geschäften überhäuft. Das geht manchmal nicht anders. Aber sobald ich
-wieder Luft hab’ ...“
-
-Sie schüttelte langsam den Kopf.
-
-„Ich bin nicht deswegen da ...“
-
-„Nicht deswegen?“
-
-„Ich will mir nur was holen,“ sagte sie eintönig.
-
-„Ja, aber was denn nur? So sag’s doch endlich!“
-
-„Meine Ehre ...“
-
-Ganz gleichgültig sprach sie das vor sich hin, mit rauher, brüchiger
-Stimme und schaute mit toten Augen an ihm vorbei ins Leere.
-
-Er wußte nichts zu erwidern, hob bedauernd die Hände und ließ sie auf
-die Schenkel fallen.
-
-„Aber Annl -- du hast mich doch lieb gehabt ...“
-
-„Ja, ich hab’ dich lieb gehabt.“
-
-„Und -- und ... es konnte doch nicht immer so fortgehn. Das hättest du
-im voraus bedenken sollen.“
-
-„Ja -- das hätte ich im voraus bedenken sollen ...“
-
-Wie ein Automat sprach sie ihm die Worte nach.
-
-„Annl, sei doch nicht so, ich bitte dich! Wir -- können deswegen ja gut
-bleiben. Nur -- das wirst du einsehn, ich ... Herrgott, wenn nur der
-Kerl nicht draußen wär’! Der paßt auf jedes Wort! -- Wir treffen uns
-morgen, Annl! Um sechs Uhr! Da reden wir dann weiter. Wirst du kommen?“
-
-„Ich werde schon nicht kommen. Was gibt’s auch noch zu reden? Das ist
-nun einmal so, da nützt nichts mehr.“
-
-„Annl!“
-
-Noch immer schaute sie an ihm vorbei, mit derselben steinernen Ruhe.
-
-„Nenn’ mich nicht mehr so. Ich nenn’ dich auch nicht mehr so. Ich denk’
-mir nur -- so, wie du jetzt bist, das sollte doch anders sein. Es ist
-nicht recht so. Nur, es wird wohl auch wieder besser werden -- oder --
-die Welt hätt’ sonst kein Gewissen ...“
-
-Mit schleppenden Schritten ging sie zur Tür, öffnete und schob sich
-müde durch das vordere Zimmer an Pfannschmidt vorüber zum Ausgang. Dort
-schlug Pichler noch einmal den Geschäftston an. „Also die Sache ist in
-Ordnung, nicht wahr?“
-
-„In Ordnung,“ sagte sie tonlos und bewegte die trockenen Lippen kaum.
-Nun trat sie über die Schwelle, den Kopf steif oben, und in dem starren
-Gesicht regten sich nicht einmal die Lider, um die weit offenen Augen
-zu kühlen.
-
-Als sie fort war, sagte Pichler mit gemachter Leichtigkeit: „Es war
-mir so peinlich ... sie hat mir nämlich eine Novelette angeboten
-für unser Blatt und sich jetzt Bescheid geholt. Ich mußte ablehnen.
-Schriftlich wär’ das einfacher gegangen. Zu dumm! Jedes Frauenzimmer
-will heutzutag’ schon schreiben!“
-
-Pfannschmidt blätterte in den Manuskripten, die er vor sich
-ausgebreitet hatte. Dann sagte er: „Also mit dem Leitartikel sind Herr
-Doktor einverstanden? Was bringen wir denn unterm Strich?“
-
-Otto biß sich auf die Lippe. Er fühlte, daß ihm hier die Ausrede nicht
-geglaubt worden war. Aber er faßte sich schnell.
-
-„Unterm Strich? Haben wir nicht irgendeine verliebte Geschichte lagern?
-So was zieht immer!“
-
-
-12.
-
-Fritz, Heinz und Karus schlenderten mitsammen durch die Großstadt. Es
-war ein schöner Vorfrühlingstag. Die Sonne glänzte am blauen Himmel,
-hing durchsichtige Silberschleier vor die Fronten der Mietkasernen,
-machte die Fiakerrosse fröhlich, und sogar den geplagten Pinzgauer
-Hengsten vor den schweren Fuhrwerken verlieh sie ein gemütliches
-Aussehen. Zwischen lautlos gleitenden Elektromobilen, Automobilen,
-Karossen und Straßenbahnwagen bewegten sich rasselnde Streifwagen,
-Handkarren, Radfahrer. Eisen klirrte, Pferde wieherten, Kutscher
-schrien „Ooooohb!“, das klingelte, ratterte, stampfte, dröhnte, surrte,
-tutete ohrenbetäubend durcheinander. Und auf den Gehsteigen wimmelten
-die Menschen, Hut neben Hut und Ellbogen bei Ellbogen, vereinigten
-sie sich rechts und links der Straßenzeile zu je einem ununterbrochen
-flutenden schwärzlichen Strom, der langsam wogte, still stand und
-wieder vorwärtsdrängte. Es sah aus, als würde hier das Blut der Stadt
-durch die Stöße eines unsichtbaren Herzens im Kreislauf erhalten. Nur
-vor den Kirchen schien es zu stocken. Die Kirchentüren waren offen,
-fremd leuchteten die gelben Kerzenflammen aus den dämmrigen Schiffen
-in die lärmende Nüchternheit des Tages. Viele der Vorübergehenden
-zogen die Hüte, bekreuzigten sich oder beugten wohl auch die Knie. Mit
-einem Pack Federbetten kam ein molliges Frauchen vorbei. Während des
-langen Faschings war im Haushalt das Geld knapp geworden. Aber heute
-abends war ein Bürgerball. Und die Kirchenpforten waren der Schönen
-nicht umsonst aufgetan. Rasch trat sie ein, legte ihr Bündel auf die
-Steinfließen, kniete darauf und sprach andächtig ein Vaterunser. Dann
-setzte sie gestärkt ihren Weg zum Versatzamt fort.
-
-Mit schlurfenden Schritten schob sich ein Bettler die Häuser entlang.
-In der Hand hielt er einen irdenen Topf mit schmutziggrauem Reisbrei,
-wie man ihn den Jagdhunden zum Fressen gibt. Den mochte ihm eine
-gutherzige Köchin geschenkt haben, und der Alte schaute mit verzückten
-Augen und wässerndem Mund auf seinen Schatz. Da war Karus blitzschnell,
-mit einem Satz, bei ihm und schlug den Scherben aus der zittrigen Hand:
-„Betteln, Schlappschwanz? Da! Jetzt friß!“
-
-Der Mann winselte und bückte sich jammernd nach den Scherben. Fritz
-packte Karus am Arm: „Was heißt das?“ Und der gleichmütig darauf: „Sie
-sehen’s ja!“
-
-Leute sammelten sich. Fritz zog die Börse. „Geben Sie ihm nichts!“
-knurrte Karus. Hellwig schob ihn beiseite, drückte eine Münze in die
-verlangend aufgehobene Hand, schritt schnell davon.
-
-„Wie konnten Sie das tun?“ sagte er. „Das war grausam!“
-
-„Ach was, grausam!“ rief Karus zornig. „Verdient so einer was Besseres?
-He? -- Verflucht, daß doch die Kerle mit Bettelsuppen und Küchenabfall
-zufrieden sind! Daß sie nicht fordern, was ihnen vorenthalten wird! Daß
-sie nicht wenigstens rauben und stehlen! Aber da stehen sie blödsinnig
-neben brechenden Tischen, verrecken vor Hunger und wagen nicht
-dreinzuhauen. Mit einem rechtschaffenen Knüttel oder meinethalben mit
-Pulver und Bomben! Pfui Schande und Feigheit!“
-
-Heinz aber sah unterdessen nach einem hageren Menschen, der vor
-ihnen hertaumelte, manchmal stehn blieb, sich an die Stirn griff,
-umherschaute, weitertorkelte und endlich hinfiel. Im Nu war eine
-johlende Menge um ihn. Heinz aber sagte ganz aufgeregt zu den Freunden:
-„Schaut euch die Augen an! So blickt kein Betrunkener!“, lief hin und
-beugte sich über den Gefallenen. Die Umstehenden lachten und spotteten:
-„Seht den Lumpen! Schon am hellen Vormittag hat er einen Rausch!“
-
-„Nein!“ sagte Heinz laut und hart. „Der hat keinen Rausch, der hat
-Hunger! Und da lacht ihr und spottet noch!“
-
-Und er faßte den Liegenden: „Komm, mein lieber Bruder!“ und half ihm
-auf die Füße. Sie nahmen ihn in die Mitte, stützten ihn sorgsam und
-führten ihn aus dem Gedränge. Vor einem gut bürgerlichen Gasthaus
-machte Wart halt.
-
-„Heinz, das ist ein Unsinn!“ sagte Hellwig und suchte ihn
-zurückzuhalten. Doch der wehrte sanft ab: „Laß mich nur, Fritz, ich bin
-dem Menschentum Genugtuung schuldig in diesem hier!“ Und er öffnete die
-Tür.
-
-An den runden Tischen saß ein zahlreiches Publikum beim Frühschoppen.
-Alle Augen richteten sich auf die Ankömmlinge. Es war aber auch ein
-ungewöhnlicher Aufzug. Heinz im englischen Überzieher, den rassigen
-Kopf mit den langen schwarzen Haaren hoch aufgereckt, Karus, wie immer,
-mit zerknittertem Hemd und tranigen Stiefeln, zwischen beiden der
-dürre Mensch, von oben bis unten mit Straßenkot besudelt, endlich der
-breitschultrige Hellwig mit Radmantel und Schlapphut. Der Oberkellner
-kam gelaufen und fragte, ob sich die Herrschaften nicht geirrt hätten.
-Die Schenkstube sei rückwärts im Hof. Da sagte Heinz: „Nein, wir haben
-uns nicht geirrt, aber Sie scheinen sich in uns zu irren. Dieser
-schmutzige Mensch hier ist mein Bruder. Die Speisekarte, bitte!“
-
-„Bitte sehr, bitte gleich!“ antwortete der Befrackte und wußte nicht
-recht, wie er sich verhalten sollte. Wart und Hellwig kannte er. Aber
-die zwei andern schienen doch nicht so ganz in das feine Lokal zu
-passen. Da jedoch die andern Gäste nicht beleidigt taten, glaubte er es
-wagen zu können und winkte dem Speisenträger. Heinz bestellte Fasan mit
-Trüffeln und Moselwein. Das imponierte. Die Gäste aber hielten ihn und
-Fritz für zwei reiche Müßiggänger, Hetzbrüder oder Hausherrnsöhnchen,
-die nach einer durchzechten Nacht einen Ulk ausführten. Deshalb
-lächelten sie gönnerhaft oder blinzelten nachsichtig und wohlwollend zu
-ihnen hinüber.
-
-„Seht sie euch an!“ sagte Karus halblaut. „Seht doch, wie sie dasitzen,
-die Herren Hofräte und Hausbesitzer und Großkaufleute! Und wie sie
-nicht zu begreifen vermögen, daß jemandem so eine Tat Bedürfnis sein
-kann. Oh, wie gut sie unsern Heinz zu verstehen glauben. Wie gut
-sie wissen, daß er, auch nicht anders als sie in ihrer Jugend, aus
-Langweile und Übermut mit der Armut seinen Spaß treibt! Wie sie das
-verstehen, entschuldigen, verzeihen! Wüßten sie, daß es ihm ernst damit
-ist, sie ließen uns alle vier hinauswerfen!“
-
-Unterdessen brachte man auf einer silbernen Platte den Fasan, goldbraun
-gebraten und würzig duftend. Und der hungrige Mensch griff gierig
-nach einem Schenkel, aß und sprach, nachdem er alles gegessen: „Mich
-hungert, gebt mir Wurst!“ Den Wein aber schob er weit von sich: „Ich
-trink’ nur Bier!“
-
-Die Gäste sahen das, lächelten und dachten sich: „So ein Esel!“
-
-Heinz aber stand auf: „Komm, mein lieber Bruder!“
-
-Und sie gingen in die Schenkstube. Dort aß der ausgehungerte Mensch
-fünf Knackwürste, trank einen Liter Bier dazu, wurde fröhlich und
-bedankte sich. Die umhersitzenden Kutscher aber, die Dienstmänner und
-Laufburschen zeigten auf ihn und meinten: „Seht den Glückspilz an, er
-hat heut’ Ostern, Pfingsten und Weihnachten!“
-
-Heinz drängte jetzt zum Aufbruch. Sie überließen den Gesättigten seinem
-Schicksal und machten sich auf den Heimweg. Keiner sprach. Karus ging
-Arm in Arm mit Wart. Fritz schlenderte nebenher und dachte allerlei.
-Wohinaus wollten die zwei? Er sah noch immer nicht klar, erkannte nur,
-daß sie in ganz anderen Gleisen gingen als er selbst und daß er ihnen
-dorthin nicht zu folgen vermochte.
-
-Jetzt waren sie bei Karus’ Wohnung angelangt. Oben warfen sie ihre
-Überkleider auf das Bett, setzten sich, rauchten und schwiegen eine
-geraume Weile. Endlich sagte Fritz aus seinem Sinnen heraus: „Heinz, du
-gehst in die Irre! Man füttert solche Leute nicht mit Fasanen!“
-
-„Wissen wir auch!“ sagte Karus.
-
-„So? Und trotzdem ...“
-
-„Jawohl, trotzdem und gerade deswegen! Unzufrieden muß man sie machen!
-Ihnen die guten Dinge vorrücken, die es auf der Welt gibt und von denen
-sie keine Ahnung haben. Dann werden sie lüstern. Und das stachelt sie
-auf wie die Bremse den Stier!“
-
-„Nun und?“
-
-„Nun und dann sind sie eben reif für unsere Gilde.“
-
-„Euere Gilde? Gehören dazu jene, die lieber im Straßengraben verrecken,
-weil sie frei sein wollen?“
-
-„Und ob die dazu gehören! Unsere braven Jungen, die lieber verhungern,
-eh’ sie sich was schenken lassen. Lieber stehlen, eh’ sie betteln. Weil
-...“ -- ein spöttisches Lächeln verkroch sich in Karus’ verwildertem
-Bart -- „weil ihr bestes Recht ist, daß sie satt zu essen haben. Und
-weil sie sich zu keinem Ausgleich hergeben. Ihr Recht wollen sie,
-Bergprediger! Und gibt man’s ihnen nicht, so nehmen sie sich’s --
-wenn’s not tut mit Gewalt!“
-
-Hellwig achtete nicht auf den Spott und sagte kalt: „Mit dem Argument
-der Fäuste wird nichts zu holen sein! Klärt lieber die Menschen auf!
-Und fangt nicht unten damit an, sondern oben, bei denen, die jetzt die
-Macht haben!“
-
-Da stieß Karus einen Laut aus, halb Lachen, halb Grunzen.
-„Bergprediger!“ rief er. „Bergprediger, das ist ein weiter Weg! So
-weit, daß die Erde nicht mehr warm ist, bis er zu Ende gegangen ist.
-Nein, da lob’ ich mir schon die Kürze des Eisens. Die soziale Frage --
-lösen? Hm, sie ist wie der gordische Knoten. Man löst ihn nicht, mit
-dem Schwert muß man ihn zerhauen!“
-
-Während er so sprach, ging er zum Schrank, nahm ein kurzes Handbeil
-heraus und warf es auf den Tisch: „Da liegt der beste Helfer! Schau’n
-Sie sich das Ding gut an. Es hat Tyrannenblut geleckt! Deshalb blinkt
-und lacht’s auch so fröhlich. Hei, das war ein Fest! Freilich ihr --
-ihr habt Fischblut in den Adern und könnt euch nicht vorstellen, was
-das heißt: ein Aufstand in Havanna. Damals war’s, daß der Gouverneur
--- der Hund ließ unter die Rebellen schießen! -- mit dieser Hacke ein
-Verhältnis einging. So ein richtiges treues Verhältnis, das nur der Tod
-trennen kann. Hat er auch getan, schnell und sicher! -- Und seither
-nehm’ ich das Hämmerchen überall mit hin. Vielleicht könnt’ ich’s noch
-einmal brauchen. Gelt, du?“
-
-Liebkosend strich er über die blanke Schneide.
-
-Hellwig hatte sich erhoben, tiefen Ernst im Antlitz.
-
-„Dessen rühmen Sie sich noch? Vielleicht wollen Sie gar prahlen mit dem
-nutzlosen Blutvergießen? Das ist abscheulich roh!“
-
-Nun kam Leben in Heinz. „Nutzlos, Fritz? Nutzlos? O ganz und gar nicht!
-Sie sind ja reif für das große Sterben! Weil sie den Keim der Fäulnis
-in sich tragen! Wir brauchen heile, gesunde Menschen, kampffrohe,
-sieghafte! Und weil wir sie brauchen, müssen wir ihnen den Boden
-bereiten und Platz schaffen durch den Untergang der Kranken!
-
-Wenn wir allen nur erst den Glauben eingeimpft hätten, den Glauben
-an die selbsttätige Befreiung, an die Befreiung durch die Tat! Aber
-solang sie sich nur immer gütlich tun an der Sonne der Erkenntnis, so
-lang werden sie nicht an den lachenden Sturm glauben lernen, der die
-Sonne überwindet. Die milde weiße Sonne ist gut für kleine Mädchen
-und für Greise, wir aber wollen das Brausen des Sturms, den Kampf der
-Wogen, das Entstehen neuer Länder und Meere aus dem Zusammenbruch der
-alten. Ewiges Sonnenlicht trocknet das Gebein und dörrt das Blut in
-den Adern, das Mark in den Knochen. Ewiges Müßiggehen mit Lobgesängen
-des Friedens auf den Lippen und mit dem beginnenden Verfall im Herzen
-macht ungeeignet zum Kämpfen. Wir aber sollen immer bereit sein zum
-großen Kampf und die Kraft nicht zersplittern in kleinen Plänkeleien,
-nutzlosen Scharmützeln um Tugend, Moral und um die toten und sterbenden
-Götter!
-
-Viel zu lang haben wir Sonne gehabt, so sind wir faul und lässig
-geworden. Fechten nur noch mit den spitzigen Dolchen der Worte und
-den dünnen Stoßdegen des Geistes. Aber unsere Arme können das breite
-Schlachtschwert nicht mehr heben. Und durch den steten Frieden sind wir
-geworden wie ein stehendes Wasser ohne Zufluß und ohne Abfluß. Auf dem
-unbewegten Spiegel blühn die weißen Wasserrosen, aber im schlammigen
-Grund schlafen die Keime der Fäulnis. Und so die Keime aufwuchern,
-werden wir sein wie ein großer Sumpf, ein Herd aller Krankheiten und
-bösen Dünste.
-
-Darum wollen wir, die wir dies erkennen, wie gute Ärzte an der
-Menschheit handeln: zum Heile der Gesunden wollen wir die Morschen und
-Siechen, die Bresthaften und Verderbten ausrotten!“
-
-„Und was dann?“ rief Hellwig außer sich. „Heinz, was dann? Wenn der
-Aufruhr durch die Länder jagt, über Verwundete und Tote weg, wenn der
-alte Gesellschaftsbau zerschmettert liegt -- was dann? Wie willst du es
-besser machen? Was willst du an die Stelle des Zertrümmerten setzen?
-Etwas Großes und Herrliches müßte es sein -- und könnte die Opfer doch
-nicht aufwiegen!“
-
-Und kalt und ruhig erwiderte Heinz: „Du fragst verfrüht, und darauf
-kann ich dir nur antworten: Ich weiß es nicht!“
-
-„O du! du! So weit bist du schon? -- Du weißt es nicht? Und willst
-doch das Oberste zu unterst kehren, Thron und Reiche stürzen, willst,
-daß das Chaos hereinbricht -- und dann -- dann stehst du da, ratlos,
-tatlos, tappst umher, versuchst, experimentierst -- bis du endlich dem
-betörten Volk gestehen mußt: Ich kann euch nichts Besseres geben! Frei
-hab’ ich euch gemacht, nun helft euch, wie ihr könnt! Schöne Freiheit
-das! Mit dem Blute Hunderttausender erkauft -- und weiß dann nichts mit
-sich anzufangen! Arzt sein nennst du das? Ich nenne es morden!“
-
-Mit einem Fluch sprang Karus da auf. In jähem Zorn wollte er auf
-den Beleidiger los. Aber Heinz trat dazwischen und sagte mit
-tiefklingender, bewegter Stimme, die Fritz in allen Fibern erschauern
-machte:
-
-„Einen Golddom wollen wir der Freiheit aufführen, denn Nietzsche hat
-recht: das Herz der Menschheit ist von Gold! Aber viel Schlacke hat
-die Zeit daran abgesetzt. Die müssen wir erst lösen. Im Feuer der
-Empörung, in der Glut des Aufruhrs wollen wir die Menschheit läutern,
-alle Unreinheit muß verschwinden, nichts als das blanke Edelmetall
-darf übrigbleiben. -- Und bist du einmal so weit, dann greif hinein
-mit beiden Händen, knete, forme, bilde, baue -- mach’ es dann, wie du
-willst: immer wird ein lauteres Goldwerk sein, was unter deinen Händen
-ersteht! Darum ist es besser, alles, was krank ist, falle mit einem
-Mal, als daß es sich fortschleppe von den Kindern zu den Kindeskindern
-und zur ewigen Pein und Pestbeule werde für die Gesunden!“
-
-Fritz stand da und hielt die geballten Fäuste vor, als wollte er diese
-furchtbare Auffassung von sich stoßen.
-
-„Heinz!“ sagte er mühsam, unter starken Atemzügen. „Heinz, du willst
-die Krankheit deiner Brüder heilen -- und bist selbst einer von den
-Kränksten. Widersprich mir nur nicht, es ist so! Das ist ja doch auch
-ein Zeichen der Krankheit, daß sie sich selbst nicht erkennt: so glaubt
-der Schwindsüchtige bis zum letzten Hauch an seine Gesundheit. Wer denn
-gibt dir ein Recht über die andern? Du kannst das Leben nicht schaffen
--- so darfst du es auch nicht vernichten ...“
-
-Karus unterbrach ihn mit gemachter Roheit: „Predigen Sie nicht,
-Bergprediger, uns stimmen Sie nicht um! Und Sie werden selbst auch
-anders reden, wenn Sie nur erst einmal Blut gesehen haben. An nichts
-gewöhnt man sich schneller als ans Aderlassen. An das aktive, mein’ ich
-nämlich! Versuchen Sie’s nur einmal!“
-
-Da stürzte Hellwig auf Wart zu, der reglos beim Fenster saß, die Hände
-vor dem Gesicht. „Heinz!“ rief er in heißer Wallung, und packte ihn an
-den Schultern und rüttelte ihn. „Heinz, ich bitte dich -- um unserer
-Freundschaft willen bitte ich dich, mach’ dich von dem da frei!“
-
-Heinz rührte sich nicht. Eine ganze Weile stand Fritz noch bei ihm und
-wartete. Dann wandte er sich traurig, schritt langsam aus der Stube,
-mit feuchten Augen.
-
-„Der Friedensengel verläßt uns! Jetzt _muß_ Krieg werden!“ rief ihm
-Karus lachend nach.
-
-
-13.
-
-Im lachenden Sommer starb die Marie. Ein heftiger Blutsturz, ein kurzes
-Krankenlager, ein allmähliches Auslöschen -- langsam, unerbittlich und
-unabwendbar. Ganz klar war es ihr, daß sie sterben mußte. Lächelnd
-sprach sie davon und tröstete lächelnd den Geliebten. Aber dann, als
-die Stunde kam, da klammerte sie sich an ihn und krallte die Nägel in
-seinen Rock, und in ihren Augen war Angst und Grauen und Verzweiflung.
-
-„So hilf mir doch, du!“
-
-Aber er konnte ihr nicht helfen, er konnte sie nur halten und hielt sie
-doch nicht fest, fühlte, während er ihren zitternden Körper mit beiden
-Armen enger und enger umschloß, wie sie ihm entglitt und wie ihr Leben
-wegfloß gleich einer Welle unter greifenden Kinderhänden. Und sein
-Herz mochte noch so wild an ihre Brust pochen, das ihre fand den Takt
-nicht mehr, und endlich stand es ganz still. Und stand gerade in dem
-Augenblick still, als der Wille und Drang zum Leben in ihm am stärksten
-wurde. Als er die Tote ganz dicht an sich preßte in dem ungestümen
-Wunsch, daß seine ungebrochene Lebenskraft in den erkaltenden Leib
-hinüberströme und für sie beide Arbeit tue. Aber Marie war tot.
-
-Nach zwei Tagen begrub er sie. Und als der Leichenwagen zum Friedhof
-kam, -- im schnellen Trab, denn der Weg war weit, -- da erwarteten
-ihn dort die Ausgestoßenen, die Enterbten, die Parias, viele, viele
-hunderte zerlumpte und verkommene Gestalten. Und als der Sarg im
-offenen Grabe stand, da schritten sie, die Ausgestoßenen, die
-Enterbten, die Parias, einer hinter dem andern an der kühlen Grube
-vorbei. Und jeder hatte eine Handvoll roter Alpenrosen mitgebracht
-und warf sie in die kühle Grube. Der Sarg verschwand unter den
-glühend freudigen Blüten, die Grube füllte sich -- und als der letzte
-vorübergezogen, da lag die tote Marie unter einem leuchtenden Hügel
-von roten flammenden Alpenrosen, die letzte Gabe der Berge, die die
-Tote so sehr geliebt. Das war der Dank der Obdachlosen, der Bettler,
-Lumpensammler und Kanalstrotter für das bißchen Liebe, die ihnen Heinz
-Wart gezeigt. Und er wußte nicht, daß Karus ihnen die Idee eingegeben
-hatte. --
-
-Wenige Tage nach dem Begräbnis erhielt Fritz von dem Freund einen Brief:
-
-‚Ich gehe nach Rußland. Forsche nicht nach mir. Es muß so sein.‘
-
-Nichts weiter stand auf dem Blatt. Aber Hellwig war für Wochen aus
-allen Gleisen.
-
-Von Osten herüber glühten blutrot die Brände des Aufruhrs. Eine
-Verfassung forderte das Volk, Freiheit und Glück -- oder das Grab.
-Die Antwort war Pulver und Blei, waren Pferdehufe, Gewehrkolben und
-Nagaiken.
-
-Und Heinz eilte mit Karus dorthin, Heinz, der unpraktische Schwärmer,
-der stille Büchermensch, der weder schlaue Seitenwege gebrauchen
-konnte noch geschickte Rückendeckung, und Fritz wußte, er ging in den
-Tod. Nicht suchen wollte er den Tod. Denn mit der Marie war ihm ja
-nicht alles gestorben. Die Liebe zu den Entrechteten und Zertretenen
-war ihm geblieben und war jetzt nur desto heißer geworden. Nicht ans
-Sterben dachte er. Mithelfen wollte er, mithelfen und mitstreiten,
-allen Gefahren trotzend, in frommer Begeisterung dort mithelfen und
-mitstreiten, wo ihm sein Ziel am hellsten und am nächsten leuchtete.
-
-Und Hellwig machte sich Vorwürfe, daß er den Freund nicht besser
-behütet hatte. Wieder wollte eine böse Krisis über ihn kommen. Aber die
-Ereignisse, die jetzt, lang vorbereitet, Schlag auf Schlag einander
-folgten, rissen ihn mit in ihren wirbelnden Strudel und ließen ihm
-vorerst keine Zeit zur Grübelei.
-
-Als jenseit der Nordostgrenzen des Reiches die Rebellion in vollem
-Wüten war, da hielten die Sozialisten die Gelegenheit für günstig und
-holten im Kampf für das allgemeine Wahlrecht zu wuchtigen Schlägen aus.
-
-Und da geschah es auch, daß die Teilnehmer einer Versammlung, in
-der August Mark, ein stimmgewaltiger Agitator, die Masseninstinkte
-aufgewühlt hatte, vor das Palais des Ministerpräsidenten ziehen und
-demonstrieren wollten. Sicherheitswache zu Fuß und zu Pferd versperrte
-ihnen den Weg. Hellwig, von dem Vorhaben der Menge telephonisch
-benachrichtigt, eilte aus der nahen Schriftleitung rasch herbei. Es war
-höchste Zeit. Schon waren die Säbel aus der Scheide geflogen, fielen
-die flachen Klingen auf Köpfe, Schultern und Arme. Schreiend wichen die
-vorderen Reihen, die rückwärtigen, weniger gefährdeten, drängten nach
-vorn, ein dampfender Knäuel, stießen sie sich, johlten und brüllten.
-Und schon auch hoben sich geballte Fäuste, schlugen Stöcke, prasselten
-Steine gegen die Polizei. Da drehten sich die Klingen, aus den flachen
-Hieben wurden scharfe, Schmerzensschreie gellten, Blutende wankten
-gegen die Häuser, fielen aufs Pflaster hin.
-
-„Einhalten!“ rief Hellwig mit voller Lungenkraft und schob sich durch
-das Getümmel. „Einhalten!“
-
-Er packte den Arm eines berittenen Schutzmanns. Das Pferd wurde unruhig
-und bäumte sich. Doch er hielt fest. „Nicht morden!“ preßte er zwischen
-den Zähnen hervor. Seine Linke griff nach dem Bein des Reiters, im
-Handumdrehen lag dieser zappelnd auf dem Boden.
-
-Da fielen aber auch schon drei -- sechs -- zehn Wachleute über Hellwig
-her, griffen nach seinen Armen, zerrten ihn am Rock, stießen ihn von
-allen Seiten. Und einer packte ihn im Genick und schrie: „Im Namen des
-Gesetzes! Sie sind verhaftet!“
-
-Als das die Leute hörten und als sie sahen, wie hart einem ihrer besten
-Führer mitgespielt wurde, flammte die durch den kurzen Raufhandel
-angefachte Leidenschaft turmhoch empor. Ein Wald von starren, im Sturm
-zitternden Ruten, hoben sich Hunderte von Stöcken über die dunkle Masse
-der Hüte und Schultern, ein kurzer wilder Aufschrei krachte gegen die
-nachtdunkle Himmelskuppel. Dann war der Kordon durchbrochen, Brust an
-Brust, Faust gegen Faust rangen sie mit den Hütern der Ordnung um ihr
-vermeintliches Recht.
-
-Los und ledig stand Hellwig mitten im heißesten Gewühl. Und schämte
-sich. Schämte sich, daß er sich hatte hinreißen lassen, daß er, der
-gekommen war, die Menge zu beruhigen, ohne Überlegung selbst als der
-tollste Stürmer losgebrochen war. Und eine Weile stand er ganz untätig,
-mit schlaff hängenden Armen. Aber als ihm ein Verwegener frohlockend
-entgegenrief: „Drauf! Drauf! Heut’ zwingen wir sie!“, da richtete er
-sich straff auf.
-
-„Halt!“ schrie er, und seine Stimme war wie klingender Stahl. „Halt!“
-
-Und als sie stutzten und einander zur Ruhe verwiesen in der Erwartung
-einer Rede, da schob sich die Wache, durch Hilfstruppen verstärkt,
-rasch in das Gewimmel. Die aufgeregte Menge wollte es nicht leiden --
-drängte abermals vor -- doch Hellwig rief mit beschwörend erhobenen
-Händen: „Leute, ich bitt’ euch, bleibt besonnen! Zeigt, daß ihr ernste
-Männer, daß ihr reif für das Wahlrecht seid! Geht ruhig nach Haus!“
-
-Noch zögerten sie. Da stimmte er das Lied der Arbeit an. Und mit
-einemmal wichen sie zurück und ihre Gesichter wurden ernst und
-feierlich -- und einer nach dem andern stimmte ein, bis es aus tausend
-Kehlen dröhnend klang: „Die Arbeit hoch!“ Und alle ihre erhitzte
-Leidenschaft strömte aus in dem Lied -- und willig folgten sie, immer
-singend, den Anordnungen der Wachleute, die langsam, Schritt für
-Schritt vorrückend, die Straße absperrten. --
-
-Ein paar Tage darauf wurde Hellwig vor den Untersuchungsrichter
-geladen. Er war der Aufreizung und öffentlichen Gewalttätigkeit
-angeklagt. Das Urteil lautete auf zehn Monate Kerker.
-
-
-14.
-
-In St. Petersburg. Langsam fährt die Prunkkalesche des
-Ministerpräsidenten durch die Straßen. Kosaken begleiten sie, bis an
-die Zähne bewaffnet. In einer düsteren Seitengasse harren zwei Männer.
-Der eine ist blaß und schlank, seidiges Schwarzhaar fällt ihm bis auf
-die Schultern. Dem andern steht das blaue Hemd vor der Brust offen.
-
-Langsam rollt die Kutsche heran.
-
-Da hebt der im blauen Hemd den Arm. Ein länglicher Körper schwirrt
-durch die Luft, schlägt auf dem Pflaster hart auf. Ein dumpfes Gekrach.
-Rauchwolken. Schmerzensschreie. Tumult. Die Pferde bäumen sich, rasen
-die leer gewordene Straße hinab. Sie ziehen keinen Wagen mehr. Die
-Trümmer des Wagens sind in alle Winde verstreut.
-
-Ein Bombenattentat. Der Ministerpräsident ist tot. Viele seiner
-Gehilfen liegen im Blut. Von den Tätern fehlt jede Spur.
-
- * *
- *
-
-In Moskau. Der Chef der Polizei lustwandelt in seinem großen Garten.
-Es ist ein schöner Tag. Die Bäume sind grün, die Vögel singen. Der
-Polizeichef lächelt. Die Stadt ist ruhig, der Aufstand vorüber. Ein
-paar Dutzend sind aufgeknüpft, ein paar Salven haben das Volk zur guten
-Gesinnung zurückgebracht. Die Gefängnisse sind überfüllt. Aber die
-Stadt ist ruhig. Der Polizeichef hat alle Ursache, zufrieden zu sein.
-
-Ein schlanker Mann in der Uniform eines Polizeileutnants kommt rasch
-den Kiesweg herauf. Er ist blaß und hat langes schwarzes Haar. In
-strammer Haltung steht er vor dem Gewaltigen, die Hand am Mützenschirm.
-
-„Was gibt’s?“ fragt dieser.
-
-„Das hier!“
-
-Schnell fährt die Rechte zwischen die Knöpfe des Waffenrocks. Ein Schuß
-verhallt im Park. Ein paar Vögel flattern erschreckt auf. Die andern
-singen weiter.
-
-Der blasse Mensch verläßt ruhig den Garten. Niemand hält ihn auf. Er
-kommt vom Rapport.
-
- * *
- *
-
-In Odessa. Auf dem Dachboden eines Hauses kauert ein Mann in gespannter
-Erwartung. Er ist von untersetzter Gestalt, hat einen verwilderten
-Bart und tranige Stiefel. In der Rechten hält er ein doppelläufiges
-Gewehr. Starr äugt er durch die Dachluke hinab in den Gefängnishof
-jenseit der Straße, der von niedrigeren alten Gebäuden umschlossen ist.
-Der Gefängnishof ist nicht leer. Ein Galgen ragt dort in die stille
-Morgenluft. Der Henker macht die Schlinge zurecht. Es schlägt sechs
-Uhr. Trommelwirbel grollt auf. Die Tür in den Hof öffnet sich. Der
-Verurteilte wird herausgeführt. Er ist schlank und blaß, das Haar ist
-abgeschoren, der Hals entblößt.
-
-Einen Augenblick arbeitet es heftig im Gesicht des Wartenden. Ein
-kurzes Schluchzen erschüttert ihn. Aber er beißt die Zähne in die
-Unterlippe, hebt die Flinte. Sein Arm zittert. Nur einige Sekunden.
-Dann ist er ganz ruhig.
-
-Die erste Kugel bewahrt den Freund vor einem schimpflichen Tod. Die
-zweite gilt dem Leiter der Hinrichtung. Auch sie geht nicht fehl.
-
-Unten entsteht eine Panik. „Man hat geschossen! Die Juden haben
-geschossen!“ schreit einer. Und das ist das Signal zum Gemetzel.
-
-Wie losgelassene Bestien stürmen die Kosaken in die Häuser, erschlagen
-die Männer, hauen die Kinder in Stücke, vergewaltigen die jungen
-Judenweiber. Ein Pogrom.
-
-Der Mann auf dem Dachboden hat sich durch die Luke gezwängt, flieht
-über mehrere Dächer, entkommt unbehelligt.
-
-Vor der Stadt, in einem Dickicht, sitzt er, hat das Gesicht in die
-Hände vergraben, weint, stöhnt und winselt. Es ist Nacht geworden. Da
-erhebt er sich und trottet mit tief hängendem Kopf durch die weiten,
-öden Steppenflächen gegen Norden. Unter dem Lodenrock klirrt manchmal
-ganz leise ein Beil gegen die Gürtelschnalle.
-
-
-15.
-
-Im Gefängnis erfuhr Fritz den Tod seines Freundes Heinz Wart. Die
-näheren Umstände blieben ihm unbekannt. Die wußten nur jene, die dabei
-gewesen. Und die verrieten nichts.
-
-Trotzdem er das tragische Geschick des Freundes vorausgesehen, brachte
-es ihn jetzt, da es sich erfüllt hatte, doch um allen Lebensmut.
-
-Zwischen den grauen Wänden der Kerkerzelle saß er reglos auf der
-Pritsche, die Ellbogen auf die Schenkel gelegt, und starrte in den
-schmutzigen Bretterboden. Schaben krochen ihm über die Füße, eine
-Maus steckte den spitzigen Kopf aus ihrem Loch und piepte. Er achtete
-nicht darauf, rührte sich nicht und hob auch nicht die Stirn, wenn
-der Aufseher den Schieber vom vergitterten Guckloch zurückschob und
-den schweigsamen Häftling mit kritischen Blicken beobachtete. Und in
-den Nächten lag er schlaflos, stierte mit brennenden Augen in die
-Finsternis, fühlte, wie die Einsamkeit ihn würgte. So trieb er es
-wochenlang, ließ die Tage vorübergehen und zählte sie nicht, wußte
-nicht die Stunden, die da neben ihm wegtropften, wußte nicht, ob die
-Sonne schien, ob Regen fiel oder Schnee über der Erde lag und die
-Zeit war wie eine große grenzenlose Wüste. Kolben kam und wollte
-mit ihm sprechen. Er weigerte die Unterredung, antwortete auch dem
-Kerkermeister nicht, aß kaum das Notwendigste, dachte an nichts und
-empfand weder Schmerz noch Sehnsucht -- nur Leere, entsetzliche Leere.
-So lebte er hin, und es war eigentlich nicht Leben, war nur ein
-triebhaftes Hinvegetieren in einer halben Betäubung.
-
-Allmählich aber, im Wandern der Monate, unter dem Einwirken der Stille,
-der klingenden Ruhe um ihn her, löste sich doch endlich die starre
-Spannung. Die Stumpfheit wich. Unablässig bohrend, heftig und heftiger
-setzte das quälende Gedenken wieder ein, daß der Freund gestorben und
-daß dieses Sterben zwecklos gewesen sei.
-
-Wie konnte das möglich werden? Wo lag die Ursache dieser stets
-wiederkehrenden Erscheinung, daß Tausende und Tausende immer aufs
-neue ihr Leben in die Schanze schlagen mußten im unstillbaren Drang,
-den Millionen zu helfen, die von wenigen Machthabern kaltblütig und
-grausam niedergehalten wurden? Drüben in Rußland bluteten die Massen,
-wurden von Soldatenhorden niedergeritten, gefoltert, zusammengehauen,
-reihenweise erschossen. Hüben jubelten sie dem errungenen Wahlrecht
-zu, priesen sich glücklich, jauchzten im Siegestaumel. Hier wie dort
-hing die Erfüllung ihres Wunsches an einem Federzug des Herrschers.
-Und der eine verweigerte ebenso kalt und starr, was der andere gütig
-gewährte. Wo war das Recht? Nach welcher Formel konnte die Willkür des
-einen gerechtfertigt und die Gnade des andern auf eine gesetzmäßige
-Grundlage gebracht werden? Durfte es überhaupt Willkür und Gnade geben?
-Wo war Sinn und Logik in diesem Widerstreit? Und wer trug die Schuld,
-daß Männer wie Karus nicht nur möglich waren, sondern im Recht? Zum
-mindesten so weit im Recht, daß sie so gut wie er und andere als
-Bekämpfer einer Krankheit auftreten und _ihre_ Mittel als die einzig
-sicheren rühmen konnten? Wo lag überhaupt der Herd dieser Krankheit?
-Woher das Elend, die Armut, die ewige Unzufriedenheit? Und mußte denn
-das immer und ewig so bleiben?
-
-Die Lehren Proudhons kamen ihm in den Sinn, die Versuche Robert Owens,
-und trotz ihres Mißlingens glaubte er hier eine Spur zu finden.
-
-Wenn man den Kommunismus mit der bestehenden Ordnung verknüpfen könnte
-... Etwa so, daß je ein Unternehmen allen dabei Beschäftigten gemeinsam
-gehörte, die Gewinnanteile aber verschieden wären je nach dem Maß der
-Arbeitsleistung ...
-
-Immer tiefer wühlte er sich in diese Gedanken hinein. Und je mehr er
-grübelte, desto möglicher und erreichbarer schien ihm eine solche
-Lösung. Heller wurde die Fernsicht, näher rückte das Ziel. Und endlich
-stand es vor ihm, zum Greifen nah, in scharfer Klarheit. So mußte es
-gehen. Und da überkam es ihn mit schöner Zuversicht: Sprich es aus,
-sag’ es getrost aller Welt! Sie müssen dich hören.
-
-Ein wunderbares Kraftgefühl durchströmte ihn. Lebendig pochten alle
-Pulse, alle Gedanken drängten sich und schossen zusammen wie Kristalle
-in einer übersättigten Lösung. Und während Woche um Woche verrann,
-Monat an Monat sich reihte, arbeitete in der kahlen Kerkerzelle rastlos
-sein Geist, trug Block zu Block und Stein zu Stein. Lückenlos fügte
-sich alles, wurde groß und wuchs empor zu einem gewaltigen Bau, der ein
-Totenmal werden sollte für den Freund und eine Vorhalle zum künftigen
-Tempel der neuen Werte.
-
-
-
-
-Viertes Buch
-
-
-1.
-
-Während Hellwig im Gefängnis saß, war das allgemeine Wahlrecht Gesetz
-geworden. Otto Pichler erntete wiederum, wo Fritz die Aussaat besorgt
-hatte. Er wurde im Wahlbezirk der Bergleute zum Abgeordneten gewählt.
-Mühelos wie alles war ihm auch das geglückt. Trotzdem er bisher
-weder in einer ernsten Lage sich bewährt, noch auf besondere Erfolge
-hinzuweisen hatte, vertrauten sie ihm, da sie sich daran gewöhnt
-hatten, dem Nachfolger als Verdienst anzurechnen, was der Vorgänger
-erkämpfte: den ruhigen Verlauf der Zeit in Zufriedenheit und Ordnung
-bei reichlicherem Erwerb und kürzerer Arbeitsdauer.
-
-So kam Otto in die Hauptstadt, hielt eine Jungfernrede voll
-geistreicher Wendungen und glänzender Nichtigkeiten, sprach dann noch
-ein paarmal bei wichtigen Anlässen und befragte die Minister, so oft
-es seine Wähler verlangten. Damit glaubte er fürs erste genug getan
-zu haben und machte sich nun daran, das Leben auch einmal mit einem
-Geldbeutel zu genießen, den die Bezüge angenehm schwellten.
-
-Bei den Kabaretten und Wintergärten fing er an, gewann hier Fühlung
-mit Kunstbeflissenen, die dekadent und kraftlos ihre Ohnmacht hinter
-Stimmungen zu verbergen und ihre Unfruchtbarkeit durch Anregungen
-zu heilen suchten. Diese Leute benutzte er, um sich Zutritt zu den
-Firnistagen der Ausstellungen zu verschaffen, schloß hier neue
-Bekanntschaften, knüpfte die mannigfaltigsten Beziehungen an und war
-bald in die Gesellschaft eingeführt. Zwar hütete er sich noch, mit
-Großkapitalisten und Geldmännern öffentlich zu verkehren. Aber als er
-Deming im Theater traf, verbeugte er sich doch vor ihm und hatte die
-Genugtuung, daß der kaiserliche Rat, der mit seiner Tochter den Winter
-in der Hauptstadt zubrachte, ihn wie einen Bekannten begrüßte und sich
-leutselig nach seiner dermaligen Tätigkeit erkundigte.
-
-Ein paar Tage später erhielt er die Einladung zum Empfangsabend des
-Direktors. Er schwankte lang, ob er hingehen sollte. Endlich tat er es
-doch. Gretes junge Schönheit lockte zu stark.
-
-Der gewichtige Mann kam ihm freundlich entgegen, klopfte ihn
-wohlwollend auf die Achsel und sagte, daß es ihn sehr freue, den Doktor
-Pichler, dessen glänzend und geistvoll geschriebene Abhandlungen er
-stets mit Vergnügen lese, bei sich begrüßen zu können. Der Doktor gelte
-zwar für einen Freigeist und Feind der bürgerlichen Gesellschaft, aber
-das tue gar nichts. Denn in seinem Hause komme es nur auf den Menschen
-an, nicht auf die Gesinnung.
-
-Otto verneigte sich geschmeichelt und wurde den Gästen vorgestellt:
-Exzellenzen, Baronen, reichen Kaufherren. Er, Doktor Otto Pichler, kam
-sich ordentlich klein vor neben so viel Geld und Titel und Würden.
-
-Und Grete, die in ihrem weißen Seidenkleid wie ein schöner Sommertag
-leuchtete, war voller Huld und Gnade. Er durfte sie zu Tisch führen,
-eine Auszeichnung, um die ihn viele beneideten und die sogar er, Doktor
-Otto Pichler, Feuilletonist, Schriftleiter und Abgeordneter, sogar er
-sich nicht recht erklären konnte. Woher auch hätte er wissen sollen,
-daß es im Kampfe gegen die Demokraten der geheime Feldzugsplan Demings
-war, ihnen die besten und fähigsten Führer zu ködern und abspenstig zu
-machen?
-
-Grete verstand zu plaudern. Sie hatte alles gelesen, alles gesehen,
-was gerade Mode war, sprach mit der größten Sicherheit darüber,
-und ihr Tischnachbar war der letzte, der ihr die oberflächliche
-Dreistigkeit übelnahm, mit der sie über die verwickeltsten Probleme,
-die schwierigsten Fragen und über die besten Männer der Zeit ihr
-Urteil abgab. Er tat’s ja auch nicht anders. An jenem Abend aber kam
-er gar nicht dazu, das volle Feuerwerk seines beweglichen Geistes
-sprühen zu lassen. Die vornehm gedämpfte Üppigkeit der Umgebung, das
-ausgesucht feine Essen, die erlesenen Weine und echten Importzigarren,
-das Schimmern entblößter Schultern und milchweißer Nacken im hellsten
-Lichterglanz: das alles war ihm ungewohnt, in ein schönes Zauberland
-glaubte er hineinzuschauen, nur wie aus weiter Ferne drang das
-Schwirren der Unterhaltung an sein Ohr. Und es wurde ihm, als glitten
-unsichtbare weiche weiße Frauenhände über die zartesten Saiten seiner
-Seele und ließen sie erklingen in sinnverwirrender, unsäglich süßer
-Musik.
-
-Und als er spät nachts seiner Wohnung zuschritt, da war etwas wie
-Neid in ihm. Neid gegen jene, die der Sorgen um des Lebens Notdurft
-überhoben, nach Lust und Laune ihrer Neigungen leben und die Erde zum
-Paradies sich wandeln konnten.
-
-Seither verkehrte er oft bei Deming. Aber er erzählte seinen
-Parteigenossen nichts davon.
-
-
-2.
-
-Es war in den letzten Tagen des Mai, als Hellwig aus der Strafanstalt
-in die Hauptstadt zurückkehrte. Dort hielt er sich jedoch nur gerade
-so lang auf, als er benötigte, um den Rucksack zu packen und sich einen
-einjährigen Urlaub zu erwirken. Innerhalb dieser Zeit hoffte er mit
-seinem Werke fertig zu werden. Über Plan, Aufbau und Einteilung war
-er sich klar, brauchte nun für die Ausführung ganz freie Bahn. Seine
-Ersparnisse ermöglichten ihm die Unterbrechung.
-
-Als er dann noch die Wohnung gekündigt und seine Habseligkeiten
-nach Neuberg vorausgesendet hatte, machte er sich ungesäumt auf die
-Wanderung. Er wollte den Weg in die Heimat zu Fuß zurücklegen. Denn
-wie ein Rausch hatte es ihn angepackt, als er nach der langen Haft
-wieder Felder erblickte, grüne Fluren, Wälder, Berge, die runde hohe
-Himmelsglocke über der blumigen Erde.
-
-Auf einsamen Steigen und Fußwegen ging er, ging über die Kämme und
-durch die engen Gebirgstäler Oberösterreichs zum Böhmerwald hinüber und
-durch die düsteren, waldreichen Gebirgsmassen nordwärts, ließ sich die
-Sonne ins Gesicht scheinen, den Wind um die Ohren blasen, vom Regen die
-Stirn kühlen und ging nur immerzu, atmete, schaute und drängte sich
-an die Brust der Erde wie ein hungriges Kind. Selten nur machte er in
-einem Wirtshaus Rast, übernachtete oft im Freien. Bei schlechtem Wetter
-bat er in Dörfern oder Einschichten um Unterkunft, mit den Bauern
-teilte er Roggenbrot und Milch.
-
-Zehn Tage wanderte er so durch den werdenden Sommer. Seine Wangen
-wurden rot, sein Gesicht vom Wetter gebräunt. Der Stickluft des Kerkers
-entronnen, dehnten sich die Lungen, badete sich der Körper in dem
-herben Ozon, wurde leicht und frisch und aller Mühsal ledig, wie ein
-junger Krieger, der sich zu frohem Kampfe rüstet.
-
-Und am elften Tag, da schritt er mit dem erwachenden Morgen seiner
-Vaterstadt zu. Die Sonnenpfeile hatten Wunden geöffnet im Leib der
-Nacht, und sie verblutete langsam. Langsam stieg die Sonne herauf,
-und über den Hügeln war ein Leuchten wie rotes Gold. Der Morgenwind
-hatte schon ausgeschlafen, weckte die Waldsänger und läutete mit allen
-Blütenglocken. Tautropfen hingen an den Blättern, die Lerchen flogen
-jubelnd der Sonne entgegen, und eine große Frische war überall. Und die
-Sonne stieg höher und höher.
-
-Mit einem wilden Schrei breitete er beide Arme aus, weit, weit --
-
-Vor ihm, tief unten im Tal, lag seine Vaterstadt. Der schlanke
-Kirchturm mit dem eisernen Kreuz, die roten Ziegeldächer, in grüne
-Gärten eingebettet, von runden Obstbäumen bewacht, umdrängt von gelben
-Ährenfeldern, die dem Herbst entgegenreiften an der treuen Mutterbrust.
-Zwischen Weiden und Erlen schlang der Fluß sein stahlglänzendes Band
-durch die Wiesen und unter Mühlenrädern fort. Und die Mühlenräder
-drehten sich und rollten, und von ihren Schaufeln fiel ein funkelnder
-Regen von Edelsteinen.
-
-Unter dem breit schattenden Blätterdach der hohen Linde, die, ein
-Wahrzeichen seit Jahrhunderten, auf dem Hügel stand, ruhte der
-Heimgekehrte und blickte in das leuchtende Tal hinab, wo tausend
-Erinnerungen mit frohen Augen ihm entgegen schauten, mit weißen
-Kinderhänden winkten, die Arme verlangend nach ihm streckten. Und seine
-Jugend kam leise zu ihm her, legte das blonde Haupt in seinen Schoß und
-lächelte ihm zu. Und ruhiger schlug ihm das aufgeregte Herz, sachter
-wurde die Freude. Eine sanfte Wehmut klang hinein, unbestimmt, fernher,
-wie ein weicher Mollakkord. Und ein wunschlos träumendes Gefühl des
-Geborgenseins umfaßte ganz warm seine Seele, und sie ruhte darin und
-bebte wie ein aus dem Nest gefallener Vogel zwischen zwei helfenden
-Menschenhänden.
-
-Lang saß er so mit gelösten Gliedern und schaute und konnte sich
-nicht satt sehen an der ruhevollen Schönheit seiner Heimat. Über dem
-blühenden Wipfel hing der Himmel hell und unbewegt wie ein seidenes
-Fahnentuch und leise summten die Bienen ihr süßes Lied.
-
-Und nach den starken Fußmärschen der letzten Tage, dem kurzen Schlaf
-auf unbequemen Lagern, den Aufregungen der Stunde forderte der Körper
-sein Recht. Wohliges Ermatten wiegte ihn ein, die Lider wurden ihm
-schwer. Er streckte sich lang aus im leicht bewegten Gras, sah durch
-das helle Wipfelgrün in den blauen Himmel hinein und ließ sich
-willenlos hinübertragen in das uferlose Meer der Träume.
-
-Ihm träumte:
-
-Er ging mit Heinz durch einen großen Wald. Der war ausgetrocknet
-vom Sonnenbrand, und die Zittergräser auf seinem Grunde waren fahl
-und dürr. Aber die Vögel sangen in seinen Kronen, und unter den
-Zittergräsern blühten die Blumen. Eine große Schönheit war in diesem
-Walde, die sonnenheiße Schönheit des reifen Sommers.
-
-Und Heinz sprach: „Wie groß muß erst deine Schönheit sein, du warmer
-Wald, wenn alle Flammen, die in deinen Stämmen und Gräsern schlummern,
-mit eins erwachen und emporschlagen in lohender Glut. Wohlan, du warmer
-Wald! Ich will deine Flammen wecken! Ich will dein Herold sein, dein
-Befreier und Erlöser!“
-
-Und sie trugen Äste zusammen und dürre Reiser.
-
-Die zündeten sie an.
-
-Bläulich fahl leuchteten Flämmchen auf mit leisem Knistern,
-verschwanden wieder, tauchten abermals auf, größer, lauter knatternd.
-
-Und weiter und weiter liefen die Flammen.
-
-Und jetzt, wie ein goldrotes Eichhörnchen, sprang ein Flämmlein hinan
-am honigfarbenen Kiefernstamm.
-
-Und da, und dort -- lauter goldrote Eichhörnchen.
-
-Die wuchsen und wuchsen, wurden zu gelben, fauchenden Katzen, samtroten
-grollenden Leoparden -- und jetzt waren es riesige, goldhelle Löwen.
-
-Und die riesigen Löwen begannen ein Ringen und Balgen, zerfleischten,
-verschlangen einander in rasender Wut. Und die Sieger wurden größer und
-größer.
-
-Und ein Sausen kam von fern, dumpf und hohl, wie nahender Sturm.
-
-Und ein Sturm brach herein und peitschte die Flammen mit heulender
-Wucht. Vor, hinter, neben ihnen lohten sie, stiegen sie, schlugen mit
-gierigen Pranken zum Himmel, verrankten und verwoben sich zu glühenden
-Wänden, wehten wie leuchtende Flaggentücher, vereinigten sich, himmelan
-steigend, hoch, hoch oben zu einer einzigen Kuppel von blendendem
-Glanz. Und eine kochende Hitze war überall.
-
-Sie aber, die beiden schwachen Menschenkinder, standen in diesem weiten
-Feuerdom, standen darin und fürchteten sich. Fürchteten sich vor der
-entfesselten Schönheit des Waldes, die sie selbst geweckt hatten.
-Wollten fliehen und fanden keinen Ausweg.
-
-Enger drängten die Flammenwände herzu, tiefer sank die gewaltige Kuppel.
-
-Und jetzt schlug’s zusammen mit Heulen und Sausen.
-
-Ein Prasseln, Krachen, Brüllen und Funkenstieben.
-
-Und eine Stimme scholl durch das Getöse wie hohnlachender Donner:
-
-„Lernt eure Leidenschaften zügeln und euer Wollen! Euer Wollen war groß
--- seht zu, ob ihr auch tragen könnt, was ihr gewollt habt!“
-
-Und die Flammen brachen nieder und begruben sie unter ihrem heißen
-goldenen Mantel. -- -- --
-
-Fritz erwachte verstört und erschreckt.
-
-Die Sonne stand im Mittag, vor ihm lagen die roten Giebeldächer, und
-leise summten im blühenden Lindenwipfel die Bienen immerzu ihr süßes
-Lied.
-
-Aber aus der Landschaft war aller Glanz genommen. Die Freude war tot,
-die Erinnerungen winkten und die Jugend lächelte nicht mehr.
-
-Traurig und schwer wurde ihm ums Herz. Und doch war eigentlich nicht
-der Traum daran schuld, sondern der wieder aufgeweckte Gedanke, daß er
-nun bald der Mutter des toten Freundes werde gegenübertreten müssen.
-Er dachte an jenen Abend, da sie mit rauschenden Gewändern im Regen
-neben ihm hergegangen war und dem kranken Kinde einen starken Freund zu
-werben geglaubt hatte. Alles hatte sie von dieser Freundschaft erhofft
--- und war nun um alles gekommen.
-
-Und das Haus dort unten stand unverändert da und deckte mit seinen
-steinernen Mauern gleichmütig das Leid wie einst die Fröhlichkeit zu.
-
-Noch kein Gang war ihm so schwer geworden. Aber er mußte gegangen
-werden. Langsam stand er auf, schritt langsam über die Lehne ins Tal.
-
-Jetzt stand er vor dem alten Haus, trat ein und wunderte sich, daß der
-Flur so geräumig und still, der Hof so öde war. Kein Pferdegewieher,
-kein Aufladerlärm. Nur ein paar Kisten lagen einsam, wie vergessen da.
-
-Mit geschnürtem Atem stieg er die Treppe empor, fand die Tür zum
-Vorzimmer offen, ging hinein. Er nahm den Rucksack vom Rücken, hing
-Hut und Wanderstecken an den Kleiderständer, klopfte an die Tür der
-Wohnstube.
-
-„Herein!“ sagte eine weiche Stimme. Eva stand vor ihm, schlank und
-blaß, in schwarzen Gewändern.
-
-„Fritz!“ sprach sie leise, kam auf ihn zu und legte ihm die Arme um den
-Hals. „Wie gut, daß du kommst!“
-
-Wie etwas Selbstverständliches tat sie das, -- so, als setzte sie nur
-ein begonnenes Träumen fort.
-
-Unsicher schaute er auf den blonden Scheitel und wagte kaum zu atmen.
-
-„Ist das wahr?“ fragte er endlich schwer.
-
-Da schrak sie auf, ward sich ihres Tuns erst bewußt. Heftig nahm sie
-die Arme von seinem Nacken.
-
-Doch er hielt sie fest.
-
-„Nein, Eva, du gehörst schon hierher!“ sagte er mit tiefem Ernst. Und
-das war wie ein Gelöbnis.
-
-Sie wehrte ihm nicht.
-
-„Ich hab’ dich ja schon lange so lieb!“ stammelte sie wie zur
-Entschuldigung und schmiegte sich erschauernd fest an ihn.
-
-Da nahm er ihren Kopf zwischen seine beiden Hände, schaute ihr in die
-feuchten Augen.
-
-„Dank! Dank! Nun wird sich’s leichter tragen.“
-
-Dann war lange Schweigen.
-
-Endlich richtete er sich mit einem Ruck straff auf. Sein Blick
-verdüsterte sich.
-
-„Komm zur Mutter!“ sagte er.
-
-Sie blickte ihn ängstlich an und fürchtete sich beinah vor seiner
-finsteren Stirn.
-
-„Komm!“ Sie führte ihn die Treppe hinauf zum Dachzimmer.
-
-„Willst du mich nicht anmelden?“
-
-„Wozu? Mutter weiß, daß du kommen wirst, erwartet dich schon seit
-Tagen.“
-
-Da legte er die Hand auf die Klinke und stieß die Tür auf.
-
-Frau Hedwig saß beim Schreibtisch ihres toten Sohnes, mit dem Sichten
-von Briefen und Papieren beschäftigt. Auf ihren Haaren lag ein Schimmer
-wie von grauer Asche, und in das gütige Antlitz war ein müder Zug
-gekommen.
-
-Eva schob sich an Fritz vorüber rasch ins Zimmer.
-
-„Er ist da!“ sagte sie und schaute die Mutter mit bittenden Augen an.
-Die hatte sich schon erhoben, ging auf ihn zu: „Willkommen.“
-
-Sie hielt ihm die Hand hin. Er aber nahm sie nicht.
-
-„Ich komm’ allein!“ murmelte er mit aufeinanderliegenden Zähnen.
-
-Da legte sie ihm mit einem warmen Blick die verschmähte Rechte auf den
-Arm: „Machen Sie es sich und uns doch nicht gar so schwer!“
-
-„Nicht so gut sein ...“ Das klang rauh, wie ersticktes Schluchzen.
-
-„Fritz!“ sprach nun die Frau herzlich und war ganz nahe bei ihm. „Das
-dürfen Sie nicht glauben, Fritz. Nein, das nicht ... Unser Heinz, der
--- hat wohl so sterben müssen. Hat sich für seinen Glauben geopfert
-und über den Tod mehr gefreut als je im Leben. Drum -- es wird wohl
-das beste Gedenken für ihn sein, wenn wir ihn so verstehen und auf
-niemanden einen Stein werfen. Auch auf uns selbst nicht, Fritz! Keiner
-hat schuld an seinem Tod -- nicht einmal er selbst. Er hat nur --
-das allerbeste Glück kennenlernen wollen -- und gern ein Leben dafür
-weggeworfen, das sich anders nicht mehr hat erfüllen können ...“
-
-Ihre Stimme zitterte, aber um den Mund lag etwas wie der Abglanz eines
-mutigen Lächelns. Und wieder hatte sie den rechten Weg zum Herzen des
-schwerblütigen Menschen gefunden.
-
-„Es wird schon so sein, Frau Wart,“ sprach er klanglos vor sich hin
-und stand noch wie geistesabwesend da. Dann aber, im Überquellen
-einer starken Empfindung, haschte er nach ihren Händen. „Meine zweite
-Mutter!“ sagte er ganz leise, ganz innig.
-
-Sie verstand ihn gleich.
-
-„Ja, Fritz, Ihre zweite Mutter. Und Sie -- mein anderer Heinz. So
-wird’s wohl recht sein.“
-
-Und sie zog sein Gesicht zu sich nieder und küßte ihn auf die Wange.
-Dann wandte sie sich an ihre Tochter: „Nun, Ev? Was sagst du zu deinem
-neuen Bruder? Bist du’s zufrieden?“
-
-Die aber schüttelte den Kopf.
-
-„Nicht?“ fragte die Mutter. „Und doch glänzen dir die Augen so stark?“
-
-Verwirrt kehrte sich die Schlanke ab, drehte angelegentlich den
-Fensterriegel hin und her. Sie merkte nicht, daß Fritz hinter sie trat.
-Erst da er den Arm um sie legte, zuckte sie zusammen, ließ ihn jedoch
-stumm gewähren.
-
-Als sie sich umwandten, sahen sie, daß sie allein waren. Frau Wart
-hatte leise das Zimmer verlassen.
-
-„Wo ist die Mutter?“ fragte Eva fast erschrocken.
-
-Fritz sagte nichts darauf. Seine Augen leuchteten und in seinem
-Gesicht war etwas von der frommen Andacht gläubiger Beter.
-
-Als ein Bettler hatte er das Haus betreten und war überreich geworden.
-Und die Erinnerung an den Freund hatte allen Schrecken verloren.
-
-In heißer Ergriffenheit zog er seine schöne Braut an sich und küßte sie
-zum erstenmal auf den Mund.
-
-
-3.
-
-Fritz mußte lang suchen, bis er in Neuberg eine Wohnung auftrieb.
-Niemand wollte ihm ein Zimmer vermieten. Seit er im Kerker gesessen,
-war er wieder ein räudiger Wolf geworden. Professor Hermann stellte
-nicht mehr voll Genugtuung fest, daß Fritz Hellwig sein Schüler
-gewesen sei. Er behauptete jetzt im Gegenteil, daß solch ein Ende mit
-Schrecken ja vorauszusehen war, denn dieser Hellwig habe schon als
-Junge keine Achtung vor der Autorität gehabt. „Und keinen Glauben!“
-fügte Pater Romanus hinzu und nickte schwermütig mit dem Kopf. Und das
-war der zweite Grund, weshalb sie ihn mieden. Weil er kein Klerikaler
-war. Denn die Klerikalen waren in Neuberg zahlreich geworden wie
-die Grundeln im Teich. Zwar nannten sie sich christlich-sozial oder
-katholisch-national, aber das war nur ein anderer Name für dieselbe
-Sache. Das war so gekommen, weil die freisinnige Bürgerschaft in
-viele kleine Gruppen, von denen jede die deutscheste sein wollte,
-zersplittert war und im Streite um des Kaisers Bart begriffen, dem
-straff organisierten schwarzen Gegner eine wichtige Stellung um die
-andere fast kampflos überließ. Noch gab es ja einige wackere Männer,
-denen alles, was nur von weitem nach Papismus und Pfaffentum roch, in
-der Seele zuwider war, aber die mußten bei der allgemeinen Zwietracht
-für sich stehen und waren, wenn auch nicht auf den Hund, so doch auf
-den Galgenhumor gekommen, derart, daß sie den verhaßten Schwarzen
-jeden Schabernack antaten und mit Schnurrpfeifereien, Schelmenstücken
-und Schalksnarrenstreichen kämpften, wenn es schon nicht anders ging.
-Zu diesen Männern gehörte auch der Flickschuster Peter Kofend. Der
-hatte schon viel auf dem Gewissen. Bereits dreimal war er bei der
-Firmung gewesen und hatte jedesmal, noch nicht trocken vom Salböl,
-das Firmgeschenk versoffen. Und bei der letzten Firmung, da hatte
-er gar zuvor noch die Böller vernagelt, so daß der hochwürdige Herr
-Weihbischof ohne Freudenschüsse in Neuberg seinen Einzug hatte halten
-müssen. Und was das Lächerlichste war, er hatte einmal im Wirtshaus mit
-dem frommen, gebrechlichen alten Sattlermeister Adam Jahn gewettet:
-er, der Kofendschuster, werde trotz seiner zappeligen Munterkeit
-früher ins Gras beißen als der Jahnsattler mit seinem Asthma. Und als
-Einsatz stellte er das Leichenbier: Wer den andern überlebte, sollte
-nach dem Begräbnis den üblichen Trunk für die Trauergäste zahlen. Und
-der fromme, gebrechliche alte Jahnsattler, der vom vielen Beten eine
-Hornhaut auf den Knien hatte, kam durch diesen Vorschlag in eine arge
-Not. Denn er war nicht nur fromm, er war auch sparsam. Und er dachte
-sich: Ich bin zehn Jahre älter als der Peter, ich bin kränklich,
-ich bin fromm, der liebe Herrgott wird mir verzeihen, wenn ich das
-Leichenbier sparen und der Kirche mehr vermachen kann. Vielleicht hilft
-er mir sogar, der liebe Herrgott, daß ich dem Peter zum Trotz gewinne.
-Und er nahm die Wette an und sie wetteten um das Leichenbier, jeder,
-daß er früher sterben werde als der andere. Und während der Jahnsattler
-seither noch gebrechlicher wurde, eine noch dickere Hornhaut auf den
-Knien bekam und sichtlich einging, war der Peter verrucht genug, die
-Geschichte in der ganzen Stadt zu erzählen. Und die ganze Stadt, mit
-wenigen Ausnahmen, bedauerte den frommen, gebrechlichen alten Adam und
-entrüstete sich über den gottlosen Peter. Und die ganze Stadt, mit noch
-weniger Ausnahmen, entrüstete sich auch über Hellwig, daß er bei dem
-gottlosen Peter wohnen wollte. Und die ganze Stadt, mit den wenigsten
-Ausnahmen, entrüstete sich noch mehr über den Kofendpeter, daß er
-einem abgestraften Sozialistenführer Unterstand gab. Der Kaufmann Wart
-gehörte zu den Ausnahmen. Darüber wunderte sich niemand. Von dem Vater
-eines Hingerichteten konnte man nichts anderes erwarten.
-
-Der Kaufmann war nicht mehr der behaglich polternde, vergnügte Mensch
-von ehedem. Etwas Scheues und Gedrücktes war in sein Wesen gekommen,
-machte sich auch äußerlich geltend durch einen schleppenden Gang mit
-vorgebeugten Schultern und gesenkter Stirn. Schwere Jahre waren über
-ihn weggerollt, das merkte man. Gleich nach dem Begräbnis Doktor
-Kreuzingers hatte es angefangen. Da hatte die Wühlerei eingesetzt:
-Pflicht jedes Christen sei es, den Kaufladen eines Menschen zu meiden,
-der nicht einmal für seine Toten den Priester begehrte. Und viele
-Kunden waren ausgeblieben. Dann kam, durch Vermittelung des Konsulats
-in Odessa, die Nachricht, daß Heinz Wart am Galgen geendet. Des
-Zwischenfalls bei der Hinrichtung wurde keine Erwähnung getan. Das
-blieb kein Geheimnis, sprach sich rasch in der ganzen Gegend herum,
-brachte die Familie in Acht und Bann. Wer in Neuberg und Umgegend
-nur halbwegs etwas auf sich hielt, mied jegliche Berührung mit den
-Angehörigen eines Gehängten. Der Kaufhandel ging immer schwächer.
-Ungeduldig stampften die müßigen Rosse in den Ställen, bis sie verkauft
-wurden. Die Auflader mußten bis auf einen entlassen werden. Im Kontor
-ruhten alle Federn. Das alte Geschäft stand vor dem Verfall.
-
-Der emsige, an fortwährende Arbeit gewöhnte Wart empfand den Müßiggang
-fast wie körperlichen Schmerz. Er alterte sichtlich dabei. Es waren
-nicht Geldsorgen, die ihn drückten. Auch ohne den Kaufhandel waren
-seine Einkünfte weit größer als die Ausgaben für den Haushalt. Und doch
-schützte er immer den schlechten Geschäftsgang vor, wenn Frau Hedwig,
-um ihn zur Aussprache zu bringen, vorsichtig nach dem Grund seines
-veränderten Gehabens forschte. Er wußte, daß sie ihm die Ausrede nicht
-glaubte. Aber er vermochte nicht von seinem Sohn zu sprechen. Seit er
-die furchtbare Botschaft erhalten, war dessen Name nicht über seine
-Lippen gekommen. Damals hatte er auch seine sämtlichen Ehrenämter
-niedergelegt und sich von allen Bekannten zurückgezogen.
-
-Auf Hellwigs Werbung hatte er nur die bittere Antwort: „Recht so!
-Nehmt mir nur auch das letzte noch weg!“ und ging schwerfällig in sein
-Schreibzimmer, wo er sich einschloß.
-
-Später kam er mit keinem Wort darauf zurück, sagte auch nichts, als er
-die Vorbereitungen zur Aussteuer gewahrte. Und nur einmal, als sich
-Heinzens Todestag zum zweitenmal jährte, meinte er, bevor er sich
-schlafen legte, traurig zu seiner Frau: „Schön sind wir dran, Mutter,
-auf unsere alten Tage. Der eine ...“ -- er verschluckte das häßliche
-Wort -- „die andere -- heiratet einen, der auch schon eingesperrt war.
-Wer weiß, was noch kommt. Er ist ja von der gleichen Sorte!“
-
-Und als Frau Hedwig mit gefalteten Händen vor ihn hintrat: „Sei doch
-nicht so verzweifelt, Nikl!“, wehrte er ab: „Laß gut sein, Mutter, red’
-nichts. Es wird nicht anders durchs Reden!“ Dann zog er sich die Decke
-über das Gesicht hinauf und tat, als ob er schliefe. Aber die Gattin,
-die auch schlaflos lag, hörte sein unterdrücktes Stöhnen, das in Pausen
-immer wiederkehrte, bis zum grauenden Morgen.
-
-
-4.
-
-Hellwig arbeitete an seinem Buche und die ganze Fron des Schaffenden
-lernte er kennen. Spürte am eigenen Leib, wie schwer so ein Werk auf
-seinem Schöpfer lastet, wie es ihn nie zu Atem kommen läßt, vorwärts
-peitscht und auch in den Stunden notwendigster Rast gefangen hält und
-quält und nicht frei gibt, bis es irgendeinem Ende zugeführt ist.
-Selbst die kargen Augenblicke, die er sich für seine Braut abrang,
-kamen ihm wie ein Raub vor, und er konnte ihrer nie ganz froh werden.
-Immer war ihm, als versäumte er etwas, das notwendig getan werden
-mußte, das auf ihn wartete, nach ihm schrie und ihn mit tausend Ketten
-zog. Zerstreut und fahrig war er und früher, als er gewollt, brach er
-dann gewöhnlich auf. Manchmal bäumte er sich gegen diese Fron, wollte
-sie abschütteln und trug sie doch auch wieder gern.
-
-Es war ein merkwürdiger Brautstand. Doch Eva war damit zufrieden. Sie
-verlangte keine Zärtlichkeiten. Was ihm recht war, war auch ihr recht,
-und nur ihn ganz verstehen wollte sie lernen und sein Leben ganz von
-tief auf mitleben wollte sie.
-
-So störte sie ihn nicht. Aber mit dem Werk ging es doch nicht richtig
-vorwärts. Das müde Wesen des Kaufmanns wirkte auf Fritz wie ein
-beständiger Vorwurf. Er fühlte, daß das nicht so bleiben durfte. Gerade
-hier mußte volle Klarheit herrschen. Doch die wollte nicht kommen. Der
-Kaufmann ging jedem Alleinsein mit seinem zukünftigen Schwiegersohne
-hartnäckig aus dem Weg. Aber endlich mußte er ihm doch Rede stehen.
-
-Draußen vor der Stadt in den Feldern war es. Hellwig hatte während
-einer langen Wanderung den weiteren Aufbau seines Buches überdacht und
-ging arbeitslustiger, als er es seit Tagen gewesen, heim. Da sah er vor
-sich die untersetzte Gestalt Wart Nikls auftauchen, der einsam seinen
-Abendspaziergang abtat. Fritz schritt rascher aus, holte ihn ein und
-erhielt auf seinen kurzen Gruß noch kürzeren Dank. Da sagte er ohne
-weitere Einleitung: „Warum weichen Sie mir aus, Herr Wart?“
-
-„Lassen Sie das!“ antwortete der Kaufmann schroff.
-
-„Nein, so kann es nicht bleiben, Herr Wart, einmal muß es gesagt
-werden: Geben Sie mir mit schuld, daß Heinz gestorben ist?“
-
-„Lassen Sie das!“ Das klang zornig und klang drohend. Aber Fritz gab
-nicht nach.
-
-„Seien Sie offen!“ bat er. „Was nützt das Versteckspielen? Nur daß alle
-darunter leiden.“
-
-Ganz ruhig war es rundum. Manchmal nur raschelte es in den Zweigen der
-Bäume, fiel ein überreifer Apfel zu Boden. Dann war es wieder still,
-und lautlos webte die Dämmerung am dunklen Mantel der Nacht.
-
-Der Kaufmann atmete ein paarmal tief auf. Dann sagte er: „Im Anfang,
-Fritz, im Anfang, da ist’s schon so gewesen. Man sucht halt immer nach
-einem Verführer, wenn einem ein Liebes Schande macht. Später aber, nach
-dem Ärgsten ... da hab’ ich mir gedacht, man kann eine Kugel nicht
-aufhalten, wenn sie aus dem Rohr ist. Es wird wohl auch so gewesen
-sein. Wie blind ist er hineingerannt ... Ich tät Ihnen mein Mädel nicht
-geben, wenn ich anderer Meinung wäre. Ich hab’ nur die eine ... Das
-wird wohl genügen?“ fügte er noch hinzu, in einem Ton, der deutlich
-erkennen ließ, daß er die Fortsetzung des Gesprächs nicht wünschte.
-
-Fritz schüttelte den Kopf. „Nein, Herr Wart, es genügt noch nicht, so
-sehr ich Ihnen dafür dankbar bin. Aber Schande? Schande hat Ihnen Heinz
-nie gemacht!“
-
-„Der Galgen ist wohl eine Ehre?“ rief da der unglückliche Vater und
-barg sein Leid hinter einem höhnischen Auflachen.
-
-Hellwig schaute ihm fest ins Auge. „Mitunter ganz gewiß!“ sagte
-er. „Auch Savonarola haben sie aufgehängt, den Erlöser haben sie
-gekreuzigt, den Huß verbrannt ...“
-
-„Die haben auch nicht gemordet,“ unterbrach ihn Wart tonlos und
-schauderte zusammen.
-
-„Heißt es Mord, einen Menschen wegräumen, von dem man weiß, daß er in
-der nächsten Stunde tausend Unschuldige umbringen wird? Das ist kein
-Töten, das ist Selbsthilfe der Menschheit.“
-
-„So nennen Sie’s! Andere nennen’s Mord.“
-
-„Heute vielleicht noch. Unsere Enkel werden wieder anders sprechen.
-Von Kindsbeinen wird uns gelehrt: Du sollst nicht töten! Und niemand
-lehrt uns auch jenes zweite, Größere: Du sollst nicht töten lassen!
--- Aber die Zeit wird kommen, und die Menschen reif werden auch für
-dieses Gebot. Dann wird wieder einmal Tugend werden, was heute noch
-Verbrechen ist. Und Heinz und die vielen, die wie er gestorben sind,
-werden Märtyrer und Blutzeugen heißen. Und darum glaub’ ich auch jetzt
-nicht mehr, daß sein Sterben nutzlos gewesen ist. Sein Gedanke lebt
-weiter, und seine Rächer sind nicht fern. Vielleicht werden es schon
-jene sein, die Brot von dem Korn gegessen haben, das aus seinem Grab
-gewachsen ist. Und die werden vollenden, was er angestrebt hat: Ein
-heiles gesundes Volk wird aufstehn, das vor niemandem den Nacken beugt,
-das sich selbst bestimmt durch seinen eigenen Geist, herrscherlos und
-herrenlos, ein Volk von lauter Königen und Herrschern! Dafür hat er
-gelebt -- das goldene Herz der Menschheit hat er finden wollen -- und
-dafür ist er in den Tod gegangen. Das ist kein schimpfliches Sterben.“
-
-Der Kaufmann erwiderte nicht. Die Abendglocken läuteten. Wie ein
-schlafsuchendes Kind schmiegte sich die Erde in den Arm der Nacht.
-
-Als Wart vor seinem Hause stand, reichte er Hellwig die Hand. „Fritz!“
-sagte er weich. „Wir wollen’s beschlafen, Fritz!“
-
-
-5.
-
-Peter Kofend gewann seine Wette. Trotzdem er um zehn Jahre jünger und
-der Jahnsattler so gebrechlich war. Eines Tages kam er mit trüben
-Augen und hochroten Wangen von einem Geschäftsgang nach Haus. „Aus
-is! Gar is! Ich leg’ mich hin und steh’ nimmer auf!“ sagte er zu
-seiner Frau. Und während die Erschrockene in die Küche lief, um einen
-Tausendguldenkrauttee zu kochen, der ihr immer gut tat, legte sich
-der Peter ins Bett und -- stand wirklich nicht mehr auf. Er klagte
-nicht, redete nichts, fühlte sich nur müd. Der Arzt sprach von einer
-allgemeinen Schwäche, von Schonung und Ruhe und ähnlichen Dingen,
-die er immer sagte, wenn er aus einem Fall nicht klug wurde. Die
-Frau Kofend aber wußte am zweiten Tag ebenfalls, daß ihr Mann recht
-behalten werde. Da hatte ihre schwarze Henne zu krähen versucht. Und
-trotzdem der Unheilsansagerin sofort der Kragen umgedreht wurde -- eine
-Henne, eine schwarze Henne, die krähte -- das bedeutete einen sicheren
-Todesfall.
-
-Vier Tage später erhielt der Jahnsattler wirklich die schwarz
-umränderte Todesanzeige und vergoß darüber Tränen eines aufrichtigen
-Kummers. Er weinte aber nicht über den Gestorbenen, er weinte um das
-schöne Geld fürs Leichenbier. Er bezahlte es auch. Aber dann ging er
-zu Fritz Hellwig und fragte ihn, wie er es anfangen müsse, um ein
-Sozialist zu werden. Denn er fühlte sich gekränkt und verletzt, weil
-ihm alle seine Frömmigkeit nichts genützt hatte im Wettkampf mit dem
-ruchlosen Peter. Deswegen wollte auch er jetzt vom Beten nichts mehr
-wissen. Fritz aber konnte seinen Nöten weder mit Rat noch Beistand
-dienen. Doch der Alte wich nicht. Starrköpfig beharrte er bei seinem
-Verlangen, und Hellwig, der den höllischen Humor der Sache erfaßte,
-schlug ihm endlich vor, wenn er schon unbedingt nicht anders wolle,
-so möge er ihm, dem abgestraften Sozialistenführer, dem allbekannt
-Glaubenlosen, ein Zimmer in seinem Hause vermieten. Denn er brauchte
-wieder eins, da die Frau Kofend in ihr Heimatsdorf übersiedelte. Das
-gefiel dem Jahnsattler alsogleich, weil er damit vor aller Welt seine
-neue Gesinnung beweisen und, wie er meinte, den Sachwaltern Gottes
-auf Erden, ja seinem lieben Herrgott selbst einen Tort antun würde.
-Und die ganze Stadt bedauerte abermals den armen, gebrechlichen alten
-Jahnsattler, weil er in der Hilflosigkeit des Alters dem Versucher ins
-Garn gegangen war. Und die ganze Stadt entrüstete sich abermals über
-Hellwig, weil er die kindische Torheit des Greises so mißbrauchte.
-Weitere Folgen hatte die Geschichte aber nicht. Der Jahnsattler sorgte,
-nachdem der erste Schmerz über das verspielte Geld vorüber war, nach
-wie vor dafür, daß die Hornhaut auf seinen Knien nicht verschwand, und
-Hellwig kam in der Wohnung des frommen Mannes mit seiner Arbeit rüstig
-vorwärts. Er hatte jetzt endlich ganz freie Bahn vor sich.
-
-Wart Nikl war fast vom Abend zum Morgen wieder ins Gleis gekommen,
-hatte seine Tatkraft und gute Laune wiedergefunden. Nicht so sehr durch
-Hellwigs Argumente, sondern weil die Aussprache überhaupt beschleunigt
-hatte, was früher oder später doch hätte eintreten müssen. Was lang
-verstaut gewesen, hatte Luft bekommen, strömte in gedoppelter Fülle
-vor, war so überreich, daß er nicht wußte, wo er zuerst mit der Arbeit
-anfangen sollte. Den Neubergern zum Trotz wollte er sein Geschäft nicht
-nur auf die frühere, sondern auf eine noch ansehnlichere Höhe bringen.
-Wozu brauchte er den Kleinverschleiß? Kurz entschlossen ging er her und
-legte den Schwerpunkt des Unternehmens in den Großhandel mit Farbwaren
-und Lacken. Er nahm Vertreter und einen Reisenden auf, reiste auch
-selbst, und rascher, als er gehofft, war die Sache im Gang.
-
-So arbeiteten der künftige Schwiegervater und Schwiegersohn, jeder auf
-einem anderen Gebiete, aber beide mit dem Einsatz ihrer ganzen Kraft.
-Und das Jahr war noch nicht vorüber, da hatte Fritz sein Buch vollendet.
-
-Als er den Schlußpunkt machte, war sein Inneres wie ein ausgeschöpfter
-Brunnen. Restlos hatte er alles hergegeben, was er hergeben konnte.
-Fast leid war ihm, daß er das Drängen und Gären in sich nicht mehr
-spürte. Und mit leisem Bedauern, als nehme er von einem lieben Freunde
-Abschied, packte er das Manuskript zusammen, um es einem Verleger
-zuzusenden.
-
-In den folgenden Tagen machte sich eine tiefe Abspannung, die bis zur
-schweren körperlichen Müdigkeit anstieg, bei ihm geltend. Doch gab er
-diesem Zustand nicht lässig nach, sondern versuchte durch reichlichere
-Bewegung in freier Luft ihm entgegenzuwirken. Er unternahm starke
-Märsche in die Umgebung, und einmal gelangte er auch in den Geburtsort
-Pichlers.
-
-Der Küster war seit Jahren tot, die Kinder in den Dörfern im Dienst
-oder verheiratet. Nur Christoph, der ältere von den einstmaligen
-Rutenbindern, befand sich noch im Ort, war hier Gemeindediener,
-Polizist, Nachtwächter, Bettelvogt, Flurhüter, Fleischbeschauer und
-Barbier in einer Person. Er hatte sich einen struppigen Schnauzbart,
-eine rote Nase und die für seine vielen Ämter unentbehrliche Würde
-zugelegt, welch letztere ihn auch dann nicht verließ, wenn seine
-Ordnungsversuche bei einer Wirtshausrauferei mit seinem eigenen
-Hinauswurf endeten. Er erzählte Hellwig, daß Otto für die Geschwister
-so gut wie verschollen sei und sich auch nach dem Tod des Vaters
-nicht um sie gekümmert habe. Doch sei es, trotzdem dann für die noch
-unversorgten jüngeren Kinder schwere Zeiten gekommen, auch ohne ihn
-gegangen. Sie hätten eben fest zusammengehalten und den ältesten Bruder
-nicht dazu gebraucht. Jetzt seien sie so ziemlich aus dem Wasser, viel
-zum Beißen habe zwar keiner, aber sie seien zufrieden, wie’s der Vater
-ebenfalls gewesen, und hätten sich schon an den Gedanken gewöhnt, daß
-sie für den vornehmen Herrn Bruder nicht mehr auf der Welt seien und er
-nicht für sie.
-
-Hier unterbrach er plötzlich den Redefluß und eilte mit langen
-Schritten schimpfend einigen Dorfbuben nach, die mit verdächtig dicken
-Taschen aus dem Hühnerhof des Pfarrers schlichen.
-
-Fritz machte sich auf den Heimweg. Was er eben von Otto gehört, kam ihm
-so selbstverständlich vor! Das Leichte und Spielerische im Wesen des
-Freundes war ihm, je älter und reifer er wurde, desto weniger verborgen
-geblieben. Aber trotz der Enttäuschungen, die ihm der einstige Freund
-bereitet hatte, hielt er ihn nicht für schlecht und fand es nur
-verwunderlich, wie der leichtlebige und sorglose Mensch so lang an
-seiner Seite hatte aushalten können.
-
-Langsam schritt er weiter. Die ersten Sterne blitzten auf. Und da fiel
-ihm ein, daß er fast denselben Weg ging, den er einmal vor Jahren in
-Winterschnee und Kälte gegangen, um ein Geschenk für seine Braut in
-einer Fanggrube zu finden. Und er sann seinem Leben nach und staunte,
-wie doch alles so zufällig an ihn herangekommen war und ihn mitgerissen
-hatte, fast ohne sein Dazutun. Und während er alles überdachte --
-einsam war es um ihn, ein paar Fledermäuse fuhren hastig durch die
-unbewegte Luft, irgendwo schrie jämmerlich ein Vogel unter den Zähnen
-eines Raubtiers -- da stieg wie eine Vision ein Bild vor ihm auf, von
-dem er zeit seines Lebens nicht mehr ganz loskommen konnte. Es war
-ihm, als sei alles, was Leben in sich hat, vor ungezählte Millionen
-überlasteter Karren gespannt und müsse sie, gleich den Pferden vor
-schweren Fuhren, mit bebenden Flanken und keuchenden Lungen über eine
-steile Bergstraße hinaufziehen, die schnurgerade ansteigt, höher und
-höher, in die weite Unendlichkeit hinein, wie ein Band ohne Ende. Und
-über allen den zitternden, mühselig hinkriechenden Geschöpfen thront
-riesengroß aufragend, gelassen vor sich blickend, mit unbewegten Zügen
-ein gewaltiges Weib und hält in der Rechten eine schwere Peitsche. Und
-jedesmal, wenn irgendwo ein Karren stecken bleiben will, knallt diese
-Peitsche, saust ihre geflochtene Schnur hoch über gekrümmte Nacken hin,
-und die geplagten Geschöpfe zucken zusammen, ducken sich furchtsam und
-ziehen weiter, ziehen mit zum Platzen gestrafften Muskeln, fliegendem
-Atem, verlöschender Kraft, ziehen -- ziehen. -- Und wenn eins leblos
-hinsinkt, schreiten die andern, rollen die Karren gleichgültig über
-den Leichnam fort. Und immerzu rollen die Karren, Millionen hinter
-Millionen, die unabsehbare, schnurgerade Straße hinauf, und unablässig
-knallt über ihnen die Peitsche.
-
-
-6.
-
-Fast ein Jahr war es her, seit Pichler im Abgeordnetenhause seine
-letzte Rede gehalten hatte. Da forderten seine Wähler Rechenschaft und
-Rechtfertigung von ihm, und so kam er endlich wieder einmal in seinen
-Wahlkreis.
-
-Gemurr empfing ihn, als er den Saal betrat, und finster sahen die
-Versammelten auf ihn. Er aber stieg auf die Rednerbühne, wie gewöhnlich
-mit einem liebenswürdigen Lächeln um die Lippen. Doch da reckten sich
-ihm Fäuste entgegen, und ein gewaltiger Lärm erhob sich.
-
-„Nicht reden! Demingkreatur! Mandat niederlegen! Ausbeuterknecht!“
-rief und schrie und johlte es durcheinander. Er verfärbte sich und
-fühlte etwas wie Furcht. Aber noch immer lächelte er, und dieses
-Lächeln schien in seinem schönen Gesicht förmlich eingefroren zu sein.
-Als jedoch der Spektakel gar nicht aufhören wollte, wurde er wütend.
-Was? Diese Kerle, die tief unter ihm standen, wagten zu drohen? Statt
-dankbar zu sein, daß er sich überhaupt mit ihnen abgab? Heiser schrie
-er in den Saal hinab: „Wollt ihr endlich schweigen? Ich will reden!
-Hört ihr? Ich will!“
-
-Die Antwort war Lachen und Getöse. Man trommelte auf Tische, pfiff,
-stampfte mit Füßen, schüttelte Fäuste und Biergläser. Da packte ihn
-ein jäher Zorn. Er griff nach der Glocke, die ihm zur Hand stand und
-schleuderte sie in die Menge. Sie traf niemanden. Aber jetzt stürmten
-sie und drängten auf das Podium, faßten ihren Abgeordneten bei den
-Schultern, schrien ungestüm auf ihn ein, rüttelten und zerrten, schoben
-und stießen und beförderten ihn ins Freie. Dort umringten sie ihn,
-und gewalttätiger Haß sprach aus ihren Gebärden, ihren Mienen und
-Worten. Die Einberufer mahnten zur Besonnenheit. Pfannschmidt nahm den
-übel Zugerichteten beim Arm und führte ihn aus dem Gedränge. Murrend
-und ungern wichen die Leute. Das Gesicht des Bergmannes war hart
-und finster. Man sah, daß er den einstigen Schriftleiter nicht aus
-Freundschaft beschützte. Pichler machte jetzt keine vorteilhafte Figur.
-Der Jähzorn war verraucht. Nun kam die Angst. Er schlotterte an allen
-Gliedern, die Knie knickten ihm ein, er stolperte nur so vorwärts und
-wäre gefallen, wenn ihn Pfannschmidt nicht gestützt hätte. Kragen und
-Halsbinde waren ihm herabgefetzt, der feine Anzug hatte Löcher.
-
-Vor dem Gasthof ließ ihn Pfannschmidt stehen, wandte sich kurz ab und
-ging ohne Gruß. In fluchtartiger Eile reiste Otto nach Wien zurück.
-
-Trotzig legte er sein Mandat nieder. Wenn er jedoch gehofft hatte, daß
-es ihm bei seinen ausgebreiteten Beziehungen gelingen werde, sofort
-eine andere Stellung zu bekommen, sah er sich arg enttäuscht. Alle
-Bekannten hatten nur ein bedauerndes Achselzucken: es sei dermalen
-nichts frei. Er war eben kompromittiert. Deming hätte vielleicht Rat
-gewußt. Aber an ihn wollte er sich nicht wenden. Er schämte sich vor
-Grete.
-
-Um sich über Wasser zu halten, mußte er Stück für Stück seiner
-Habseligkeiten zum Trödler oder ins Leihhaus tragen. Dann borgte er
-sich Geld. Aber es dauerte nicht lang, waren ihm alle Quellen versiegt.
-Hungrig irrte er in der Großstadt herum. Seine Stiefel waren zerrissen,
-der Rock, den er am Leib trug, wurde schäbig, und er hatte keinen
-besseren mehr. In seiner Not schrieb er an Hellwig. Der wies ihn kalt
-ab. Es sei Pichlern, schrieb er zurück, von je zu gut gegangen und
-zu leicht gemacht worden. Er habe den Lebenskampf noch nie in seiner
-ganzen Rauheit empfunden. Jetzt aber könne er zeigen, was in ihm
-stecke. Durch eigene Kraft müsse er sich herausarbeiten. Unter dem
-Hammer der Not werde er Stahl werden, wenn er wirklich Eisen sei.
-
-Drei Tage hielt Pichler dem Hunger stand. Dann war er am Ende seiner
-Widerstandskraft. Vor der Wohnung Demings wartete er und wußte es so
-einzurichten, daß er richtig von dem kaiserlichen Rat bemerkt wurde.
-Und der Millionär erkannte ihn sofort und trat auf ihn zu und sprach
-leutselig mit ihm. Er fragte, ob es dem Doktor denn gar so schlecht
-gehe und warum er sich nicht an ihn gewendet habe. Und zum Schluß
-drückte er dem Überraschten eine größere Banknote in die Hand, als
-Darlehen, wie er sagte, und verabschiedete sich huldreich.
-
-Pichler stand da und schaute ihm nach und wußte nicht, ob er wachte
-oder träumte. Aber der blaue Schein zwischen seinen Fingern war
-greifbare Wirklichkeit. Da ging er und kaufte sich neue Wäsche und neue
-Schuhe, kleidete sich vom Kopf bis zu den Füßen neu. Und als er dann
-ein Bad genommen und Haar und Bart hatte zustutzen lassen, überkam
-ihn ein ungestümes Verlangen nach Wohlleben und Genießen. In einem
-Tingeltangel ließ er sich vorsetzen, was gut und teuer war, und am
-nächsten Vormittag erwachte er mit wüstem Kopf in der Wohnung einer
-Dirne.
-
-Zwei Tage später, als das Geld alle war, folgte er der Aufforderung
-des kaiserlichen Rates, ging zu ihm und setzte ihm rundweg seine Lage
-auseinander. Deming hörte ihn wohlwollend an, mit schlecht verhehlter
-Freude. Und nach einer Einleitung, in welcher er beiläufig sagte,
-daß man begabten Menschen helfen müsse, daß es ihm selbst auch nicht
-immer gut gegangen und er auch einmal in ganz ähnlichen Verhältnissen
-stellenlos herumgelaufen sei, machte er dem Doktor den Vorschlag, als
-Beamter in die Fabrik einzutreten. Aber eines verlange er unbedingt:
-Pichler müsse sich von seinen Parteigenossen vollständig lossagen und
-die Politik links liegen lassen.
-
-Das versprach Otto gern.
-
-
-7.
-
-In aller Stille hatten Fritz und Eva Hochzeit gehalten. Wieder
-entrüsteten sich die Gutgesinnten Neubergs, weil kein Priester dabei
-war, aber ihre Ungnade schadete den Betroffenen nichts. Wart Nikl blieb
-fröhlich und aufrecht, obwohl es jetzt recht einsam um ihn wurde und
-nur Frau Hedwig, still und tapfer den Trennungsschmerz verbergend,
-in den weiten Wohngemächern waltete, die kurz vorher noch Eva mit
-hellem Lachen erfüllt hatte. Jetzt war sie in der Hauptstadt, wo ihr
-Mann als Anerkennung und als Entschädigung für das Kerkerjahr die
-verantwortliche Leitung der Freien Blätter erhalten hatte, und nichts
-war von ihr zurückgeblieben, als ein paar eingerahmte Bilder an den
-Wänden und ein paar vergessene Bänder und Maschen in den Schrankfächern.
-
-Kolben hatte den jungen Eheleuten den ersten Stock seines
-Familienhauses vermietet. Alle Zimmer ließ er neu tapezieren, die
-Parketten ausbessern, die Küche malen, und ins Badezimmer kam ein
-Gasofen. So war alles neu und schön und hell, ein funkelblankes Nest
-der Häuslichkeit und des jungen Eheglücks.
-
-Und sie waren glücklich. Ein wackerer Kamerad, ging Eva vom ersten
-Tage an neben ihrem Manne, heiter, blühend, mit sonnigen Augen
-und verstehendem Herzen. Nicht eine Sekunde empfand er, daß mit
-ihr etwas Fremdes und bisher Ungewohntes in sein Leben gekommen.
-Selbstverständlich wie ihre Verlobung, war auch ihr Zusammenleben,
-schlicht, einfach und natürlich, ein Ehefrühling, wie er zur Zeit der
-Schneeschmelze und der ersten Weidenkätzchen ernst und keusch und
-mit frommer Weihe die Erde überkommt, wenn jeder Baum mit tausend
-Knospen betet und die unschuldigen Saaten sich im hellsten Sonnenglanz
-dem Mutterschoß der Scholle entringen. Nie war ein falscher Ton,
-ein gemachtes Empfinden zwischen ihnen. Sie gaben sich und nahmen
-einander, wie sie waren, ehrlich und herzlich schritten sie Seite an
-Seite, wußten, was sie aneinander hatten und brauchten es sich nicht
-erst zu sagen. Ein warmer Blick, ein Kuß war alles, was ihre vornehm
-zurückhaltenden Naturen an Zärtlichkeit zu verschwenden hatten. Und es
-genügte ihnen. Eva war fröhlichen, kindlichen Sinns und hatte nichts
-von dem tief bohrenden, grüblerischen Wesen ihres Mannes. Aber sie
-fühlte mit dem Herzen, wo ihr Geist nicht fassen konnte und hatte jene
-Einfalt des Gemütes, die das Echte herausspürt und das Erkünstelte
-zurückstößt, ohne für die Zuneigung hier und den Widerwillen dort einen
-Grund angeben zu können. So ergänzte sie ihren Gatten aufs beste und
-nahm in gleicher Weise von seinem Ernst wie er von ihrem Frohsinn an.
-
-Nach den ersten Wochen besuchte Kolben das junge Paar fast täglich.
-Als Backfisch hatte Eva den unerschütterlich gelassenen Menschen
-nicht ausstehen können. Jetzt wurde er ihr bald sympathisch. Er war
-ihr überall behilflich, wußte vorteilhafte Einkaufsquellen anzugeben,
-wurde ihr Berater in allen den kleinen Sorgen des Haushalts, für die
-Fritz durchaus kein Verständnis aufbringen konnte. Ihm war es als
-Junggesellen ganz gleichgültig gewesen, ob ein Anzug hundert oder
-zweihundert Kronen kostete, wenn er nur halbwegs paßte. Und wenn er
-faltig wurde, gab er ihn einem Schneider zum Aufbügeln, und mochte
-dessen Forderung noch so unverschämt sein, er bezahlte sie und war
-deshalb ein geschätzter Kunde. Das wurde jetzt anders. Denn Eva war
-sparsam und verstand zu rechnen. Sie wollte niemanden übervorteilen,
-aber auch selbst nicht übervorteilt werden, ließ jedem genau das
-zukommen, was ihm gebührte, keinen Heller mehr noch weniger, und
-buchte Einnahmen und Ausgaben. Und wenn dann der Schuster für ein paar
-Stiefelsohlen drei Kronen fünfzig verlangte, sagte sie und zeigte es
-ihm schwarz auf weiß: „Vor vier Monaten hat das nur drei Kronen zehn
-gemacht, wenn Sie teurer werden wollen, kann ich bei Ihnen nicht mehr
-arbeiten lassen!“, worauf der Handwerker zwar von unerschwinglichen
-Lederpreisen und Teuerung zu reden anfing, gewöhnlich aber doch seine
-Forderung auf das frühere Maß einschränkte. So hatte sie ihre liebe Not
-und freute sich, daß Kolben da war, mit dem sie darüber reden und sich
-beraten konnte.
-
-Fritz aber steckte wieder bis überm Hals in der Arbeit. Während
-der zweijährigen Unterbrechung war ihm manches fremd geworden, die
-Zusammenhänge mußten wieder gefunden, das Versäumte mußte nachgeholt
-werden. Dazu kam das Lesen der Bürstenabzüge seines zweibändigen
-Werkes, das demnächst erscheinen sollte. Und als es erschien, aus
-der Zeit heraus entstanden, sachlich und frei von einseitiger
-Parteilichkeit, als es von der Kritik mit lautem Beifall begrüßt wurde
-und fast alle Blätter ohne Unterschied günstige Besprechungen brachten,
-einige wohl auch im Überschwang den Anbruch einer neuen Epoche der
-Volkswirtschaftslehre verkündeten, als das alles eintrat, da kam
-Hellwig erst recht nicht zur Ruhe.
-
-Sein Buch wurde rasch von der Mode den ‚allgemeinen
-Bildungsnotwendigkeiten‘ beigezählt. Wer in Zeitfragen mitreden
-wollte, mußte es gelesen haben. Man sprach überall davon, lud den
-Verfasser zu Teeabenden und Gesellschaften, die verschiedenen Vereine,
-Zirkel und Klube zur Verbreitung wirtschaftlicher Kenntnisse, Kultur,
-Wissenschaft oder Bildung forderten ihn zu Vorträgen auf, Zeitungen und
-Zeitschriften baten ihn um Beiträge.
-
-Anfangs war ihm das lästig, später gewöhnte er sich daran. Von den
-Einladungen machte er keinen Gebrauch, Vorträge hielt er selten,
-Abhandlungen schrieb er nach wie vor über Dinge, die ihm ans Herz
-griffen, und niemals auf Bestellung.
-
-Als sie merkten, daß er nicht mit ihnen heulen wollte, wurden sie
-kühler, setzten sein Buch von der Liste der Bildungsnotwendigkeiten
-wieder ab und ließen ihn in Ruhe.
-
-In der Partei aber machte sich allmählich eine Strömung gegen ihn
-immer bemerkbarer. Erregt und in Bewegung gehalten wurde sie von
-dem ehrgeizigen Leibinger, der auf den Posten des verantwortlichen
-Schriftleiters gehofft hatte und sich nun von einem jüngeren verdrängt
-sah. Er war Mitglied der Parteileitung und hatte sich unentbehrlich
-zu machen verstanden durch eine Art widerlicher Zuvorkommenheit und
-händereibender Salbung, mit der er sich zu den unangenehmsten Aufgaben
-drängte. Niemand mochte den schmalbrüstigen Menschen so recht leiden,
-der mit eingeknickten Knien immer leise ging, aber man duldete und
-ertrug sein unsympathisches Wesen, weil er brauchbar war, erfinderisch
-und gleich gut geübt im jähen Überrumpeln, wie im langsamen Erdrosseln
-der Gegner.
-
-Jetzt benützte er den Anlaß, fand heraus und sagte es heimlich allen,
-daß viele Ansichten und Grundsätze in dem gepriesenen Werke Hellwigs
-eigentlich dem Parteiprogramm zuwider liefen, ja manchmal geradezu der
-heutigen Gesellschaftsordnung ein Loblied sangen. Und er hatte mit
-diesen Behauptungen um so eher Erfolg, als der Parteiobmann Anheim
-und alle, die mit ihm der Leitung angehörten, überzeugte Anhänger der
-Marxschen Lehre und geschworene Feinde aller Revisionisten waren.
-
-Offen wagte man sich vorerst freilich nicht an den verdienstvollen
-Mann heran. Aber zu fühlen bekam er es doch, daß man mit seinem Wirken
-nicht mehr ganz einverstanden war. Man schob ihn beiseite, wo es nur
-halbwegs anging, faßte Beschlüsse, ohne ihn um seine Ansicht zu fragen,
-und verschwieg ihm manches, was der verantwortliche Schriftleiter
-als erster hätte wissen müssen. Anfangs achtete er nicht darauf.
-Aber als es sich öfter wiederholte, als er sogar in seinem eigenen
-Blatt bloßgestellt wurde, fiel es ihm auf. Er wurde stutzig, führte
-Beschwerde, forschte nach dem Grund. Man gab ausweichende Antworten,
-entschuldigte sich wohl auch mit einem Versehen. Aber beim nächsten
-Anlaß machte man es ihm wieder so. Kolben wollte ihm die Augen öffnen.
-Fritz hörte nicht auf ihn. Er schrieb das geänderte Verhalten der
-Genossen einer flüchtigen Verstimmung zu und ließ sich die schöne
-Zuversicht nicht rauben, daß alles bald wieder seinen rechten Gang
-gehen werde.
-
-
-8.
-
-Da wurde der Reichsrat aufgelöst, weil er der Regierung nicht zu Willen
-war. Neuwahlen wurden angeordnet. Die nordböhmischen Bergarbeiter
-wandten sich an Hellwig, daß er in ihrem Wahlkreis kandidiere.
-Pflichtgemäß fragte er die Parteileitung um ihre Meinung. Die sagte
-weder ja noch nein, vertröstete ihn auf später.
-
-Und nun begann der aufreibende Wahlkampf mit seiner rastlosen Agitation
-und den ungezählten Versammlungen in allen Bezirken. Und während
-Hellwig von Versammlung zu Versammlung fuhr, an einem Tage oft in drei,
-vier Sälen sprach, dabei die Freien Blätter leitete und, ein immer
-wacher Kämpfer, die Machenschaften der Gegner aufdeckte, durchquerte
-und vereitelte, waren in seiner eigenen Partei Leute an der Arbeit,
-die seine Stellung zu untergraben und seinen Einfluß zu brechen sich
-redlich bemühten. Er war ihnen zu bekannt, zu berühmt, zu volkstümlich
-geworden. Sie fürchteten, daß er ihnen über den Kopf wachsen, daß er
-sie verdrängen und die Führerschaft ganz an sich reißen könnte. Er
-dachte nicht daran. Ihm ging es um die Sache, die er für gut hielt
-und mit dem Einsatz aller Kräfte fördern wollte. Sie aber erwogen
-alle Möglichkeiten, bangten für ihre Ämtlein und fürchteten und
-beneideten und haßten ihn heimlich sehr. Die Massen jubelten ihm zu,
-ihre erkorenen Führer aber saßen in geheimen Konventikeln beisammen
-und rieten hin und meinten her, wie sie dem beliebten Mann Schlingen
-legen und ihn unauffällig zu Fall bringen könnten. Und wenige gab es
-unter diesen Ratern und Meinern, die frei und unparteiisch urteilten.
-Er hatte aber auch fast jeden schon einmal vor den Kopf gestoßen, weil
-er nie mit seiner Meinung hinterm Berg hielt, sondern sie immer klipp
-und klar und rücksichtslos heraussagte. Das trugen sie ihm nach und
-schmollten und grollten und nannten ihn grob, unduldsam, hochfahrend.
-Und sahen doch ruhig zu, wie er den Hauptteil der Wahlarbeit für sie
-tat. Mochte er sich plagen und abrackern, das kam der Partei zugute und
-im richtigen Augenblick wollten sie schon auf dem Posten sein.
-
-Aber auch Kolben wachte und war sehr beschäftigt. Bedachtsam, ohne
-Übereilung, wie ein schlauer Kundschafter, sondierte er und horchte
-herum, und als er genug erfahren hatte, machte er sich auf und fuhr
-in das nordböhmische Kohlengebiet. Denn von dort kamen beunruhigende
-Nachrichten. Gerüchte von einem neuerlichen Streik waren in den
-letzten Jahren mehrmals laut geworden. Jetzt aber erhielten sie sich
-hartnäckig, nahmen bestimmtere Formen an und wollten nicht wieder
-verstummen.
-
-Das Ziel seiner Reise verriet der Doktor nicht, er brauchte auch von
-niemandem Abschied oder Urlaub zu nehmen. Er war ganz unabhängig und
-hatte sich in der Leitung der Kunstnachrichten, die er den Freien
-Blättern ohne Entgelt besorgte, vollständige Freiheit ausbedungen. Nur
-Eva mußte es wissen, weil sie gewohnt war, ihn täglich zu sehen, mit
-ihm Einkäufe besorgte oder spazierenging. Er war ihr einziger Bekannter
-in der großen Stadt, und wenn sie ihn nicht gehabt hätte, wäre sie
-den größten Teil des Tages ganz einsam gewesen. Denn ihren Mann bekam
-sie jetzt fast gar nicht zu Gesicht, er kam spät nachts heim, müde
-und abgehetzt, aber mit der ersten Sonne war er schon wieder auf den
-Beinen, sah hastig die Morgenblätter durch und konnte das Frühstück
-kaum erwarten. Und wenn sie es brachte, aß er hastig und verabschiedete
-sich zerstreut und fahrig, lief manchmal auch, die bevorstehenden
-Arbeiten überdenkend, überhaupt ohne Gruß davon.
-
-Sie fand sich auch damit ab, hoffte geduldig auf die Wiederkehr
-ruhigerer Zeiten und blieb heiter und zufrieden. Wenn sie mit den
-häuslichen Arbeiten fertig war, -- viel zu tun gab es nicht, weil
-Fritz, um keine Zeit zu verlieren, jetzt auch das Mittagessen in
-der Stadt nahm --, spielte oder sang sie sich ein Lied, ging in den
-Garten, pflegte ihre fünf Rosenstämmlein, nähte oder lag lesend
-oder träumend in der Hängematte unter den dunklen Kastanienwipfeln
-und freute sich auf das Erscheinen Kolbens und auf das Ende ihrer
-Einsamkeit. Sogar übermütig konnte sie dann werden. Der Übermut lag
-ihr nun einmal im Blut und ließ sich auch von ihrer jungen Frauenwürde
-nicht unterkriegen. Um den Doktor zu necken, versteckte sie sich vor
-ihm ganz tief in die Fliederhecken oder in die dichten Jasminbüsche,
-daß auch nicht ein Zipfelchen ihres Kleides, kein Schimmerchen ihres
-Blondhaars sichtbar war. Zusammengekauert hockte sie in ihren grünen
-Schlupfwinkeln und rief „Herr Doktor!“ und wenn er sie nicht gleich
-fand, war sie froh wie ein Schulkind und lachte ausgelassen.
-
-Als er ihr seine Abreise melden wollte, lag sie in der Hängematte. Sie
-erblickte ihn von weitem, wie er langsam, in seiner gemessenen Art, den
-gelben Kiesweg heranschritt, machte die Augen fest zu und stellte sich
-schlafend. Aber manchmal blinzelte sie doch blitzrasch zwischen kaum
-geöffneten Lidern nach ihm hin und sah, wie er näher kam und zauderte
-und stillstand, unschlüssig, ob er sie wecken sollte. Sie hielt sich
-ruhig, veränderte keine Miene und atmete gleichmäßig fort. Da wagte er
-es, tat vorsichtig einen Schritt vorwärts und noch einen. Jetzt fühlte
-sie, daß er ganz nahe sein mußte, hörte das Knistern seiner Kleider --
-und wie sie, zu fröhlichem Lachen bereit, die Lider voll aufschlug, da
-war sein ernstes Gesicht dicht über dem ihren -- sie bemerkte ein paar
-winzige Puderstäubchen im bläulichen Anflug der eben erst rasierten
-Wangen -- und von seinen Augen waren alle Schleier gefallen. Ein warmer
-Glanz war in ihnen und das innige Leuchten einer großen Liebe. Nur eine
-Sekunde war das so. Dann erlosch alles wieder, der Doktor stand in
-lässiger Haltung, wie immer, vor ihr und gleichmütig wie immer fragte
-er, ob er störe.
-
-Sie aber war ganz aufgeregt, sprang aus dem Netzgeflecht und in
-der ersten Ratlosigkeit einer ihr neuen Erkenntnis sagte sie mit
-überquellendem Empfinden: „Sie armer Doktor!“
-
-„Warum?“ antwortete er ihr in seinem gemütlichsten,
-freundschaftlichsten Ton. Doch sie dachte nur an das Geschaute,
-hatte erkannt, daß er ihretwegen litt, vielleicht seit Jahren leiden
-mußte, und um ihm nur irgend etwas Liebes zu tun, legte sie mit einem
-hindrängenden Schritt beide Hände auf seine Schulter. „Armer Doktor!“
-sagte sie nochmals. Da wußte er, daß sie alles gesehen hatte, wurde
-ein klein wenig blässer und richtete sich straff auf. „Ich brauche Ihr
-Mitleid nicht, gnädige Frau!“ sagte er schroff.
-
-Nun war sie ihrer Unüberlegtheit erst inne, errötete noch mehr, und die
-Tränen sprangen ihr hell von den Wimpern. „O Gott!“ rief sie bestürzt.
-„Hab’ ich Sie gekränkt? Das wollte ich nicht! Ich schätze Sie ja so!
-Ich kenne keinen Menschen nach Fritz, den ich lieber hätte! Sie dürfen
-mir nicht bös sein! Sie sind mir nicht böse, nicht wahr, nein?“
-
-Kolben war schon wieder der Alte. „Sie sind ein rechtes Kind, Frau
-Eva!“ erwiderte er mit seinem spöttischen Lächeln. „Wie kann man nur
-am hellichten Tag so närrisch träumen! Lassen Sie’s gut sein, mir
-geht’s so kannibalisch wohl, daß ich jedem ein derart ausgezeichnetes
-Wohlbefinden wünschen kann. Ich bin Herr meiner Zeit, kann mir’s
-einrichten, wie ich will und Vergnügungsreisen machen, wann ich will.
-Was ich beispielsweise noch heute zu tun gedenke.“
-
-„Sie wollen fort?“
-
-„Jawohl, in drei Stunden geht mein Zug. Um Ihnen das mitzuteilen,
-bin ich eigentlich herunter gekommen. Mindestens vier Tage werde ich
-fortbleiben. Es ist mir erschrecklich leid, daß ich den Stoff zu
-Ihrem Herbstkleid nicht mit aussuchen kann. Denn wie ich die edle
-Weiblichkeit kenne, duldet so was keinen Aufschub.“
-
-„Doktor!“ rief Eva zornig. „Sie sind heute abscheulich!“
-
-Er verneigte sich leicht. „Das freut mich, Frau Eva, das freut mich
-sehr! Weil ich nunmehr ganz beruhigt abreisen kann, mit dem erhebenden
-Bewußtsein, daß meine verehrte Gönnerin froh sein wird, von meiner
-abscheulichen Gegenwart wenigstens auf kurze Zeit verschont zu bleiben.“
-
-So sprach er und sprach noch manches in derselben Tonart, so daß Eva
-schließlich an sich selbst ganz irr wurde und nicht mehr wußte, ob sie
-in der schaukelnden Hängematte unter den dunklen Kastanienwipfeln nicht
-doch vielleicht geträumt und einen Traum für Wirklichkeit genommen
-hatte.
-
-
-9.
-
-Als Kolben sich zu seiner Reise entschlossen hatte, war Leibinger aus
-den Kohlendistrikten gerade wieder in die Hauptstadt zurückgekehrt.
-Tags darauf erschien eine Abordnung der Bergleute bei der
-Parteileitung. Sie erklärte, daß man zur sofortigen Arbeitseinstellung
-fest entschlossen sei und fragte an, ob man mit Unterstützungen aus
-der Streikkasse werde rechnen können. Fritz sprach sich entschieden
-gegen alles aus. Anheim, Leibinger und die übrigen aber brauchten
-Ausflüchte, wollten in Hellwigs Gegenwart nicht Farbe bekennen, und
-schließlich gab Leibinger den Leuten einen Wink, sie möchten später
-noch einmal vorsprechen. Und sie verstanden das und entfernten sich.
-Als sie fort waren, sprach Hellwig noch eine halbe Stunde lang sehr
-eindringlich über alle Hindernisse, die dem Streik gerade jetzt, knapp
-vor den Wahlen, im Wege standen. Man hörte ihn schweigend an, nickte
-manchmal oder schüttelte die Köpfe, wie er so seine Gründe an allen
-zehn Fingern herzählte, aber kein Wort fiel dafür oder dawider. Man
-müsse sich das noch reiflich überlegen, war schließlich alles, was
-Anheim mit Räuspern und Hüsteln vorbrachte. Dann mußte Hellwig in eine
-Wählerversammlung der Gegner und hinterher noch in zwei der eigenen
-Partei, und jetzt erst, als sie sich vor ihm sicher wußten, tauten
-Leibinger und Mark auf, wurden lebhaft und hatten mit den wieder
-erschienenen Bergleuten eine lange Besprechung.
-
-Den übernächsten Tag kam Kolben am frühen Morgen zu Fritz, der noch
-in Hemdärmeln mit Kamm und Bürste hantierte. Der Doktor war die ganze
-Nacht gefahren und sah verstaubt und abgespannt aus.
-
-„Was bringst du so zeitig, Albert?“ fragte Fritz ein wenig erstaunt.
-
-„Nur meine Neugier!“ antwortete Kolben und ging ohne Umschweife auf
-sein Ziel los. „Ich hab’ nämlich gehört, daß der Streik beschlossene
-Sache sein soll.“
-
-„Da hast du dich gründlich verhört!“ lachte Hellwig. „Im Gegenteil, es
-ist so gut wie sicher, daß jetzt nicht gestreikt wird.“
-
-„So, so ... Weißt du, ich komm’ gerade von den Schächten ... Es ist
-eine Abordnung dagewesen, das weißt du ja ... nun, und die ist gestern
-heimgekommen mit der Meldung, daß es am Montag, also in vier Tagen,
-losgehen kann ...“
-
-Dröhnend schmetterte Hellwigs Faust auf den Tisch. „Das ist nicht
-möglich!“ schrie er.
-
-Kolben zuckte die Achseln. „Ist aber trotzdem so. Ich sag’ dir,
-gejubelt haben sie über die Nachricht. Mich haben sie ausgelacht. Zwei
-Agitatoren sind gleich mitgekommen. Leibinger will morgen hin ...“
-
-„Das ist nicht möglich!“ sagte Fritz nochmals und war ganz blaß.
-
-„Wenn du mir nicht glaubst, -- im Verbandsheim wirst du’s ja erfahren.“
-
-„Ja -- ich werde es erfahren ...“ murmelte Fritz mit aufeinander
-liegenden Zähnen. Dann reckte er sich hoch. „Ich geh’ gleich hin!
-Kommst du mit?“
-
-Sie gingen. Im Beratungszimmer fanden sie Leibinger, Mark und den
-Obmann Anheim. Das war ein hagerer Greis mit einem mächtigen kahlen
-Schädeldach und buschigen Brauen über zwei herrischen Augen. Mit fester
-Hand hielt er die Zügel, war unbestechlich, ehrlich und treu, aber
-kannte auch kein Nachgeben. Was er sagte, stand wie ein Block, an dem
-nicht gerüttelt werden durfte, und alle fügten sich ihm. Auch Mark, der
-seichte Schwätzer, der gewaltig war im Schimpfen und im Aufpulvern der
-Massen. Wie ein Kutscher sah er aus mit seinen ganz kleinen Augen, der
-engen Stirn und dem pechschwarzen Haar, das reichlichste Pomade nicht
-geschmeidig machen konnte.
-
-„Also, da seid ihr ja beisammen!“ begann Hellwig mit fliegendem Atem
-und sprang ohne Umschweife mitten in die Sache hinein. „Ihr habt hinter
-meinem Rücken den Streik beschlossen? Das gibt’s nicht! Das dulde ich
-einfach nicht!“
-
-„Oho!“ sagte Anheim.
-
-„Jetzt ist’s zu spät!“ ließ sich Mark vernehmen. Und Leibinger lachte
-spöttisch: „Ich denke, du hast hier weder was zu dulden, noch zu
-befehlen!“
-
-Kolben rückte sich ein wenig auf seinem Stuhl zurecht. „So kommen wir
-nicht vom Fleck!“ meinte er. „Fangen wir schön von vorn an. Warum soll
-denn eigentlich gestreikt werden?“
-
-„Sehr richtig, das möchte ich auch wissen!“ platzte Mark heraus.
-Leibinger aber fiel ihm sofort ins Wort: „Der Grund ist doch schon
-längst bekannt. Die vereinbarte Arbeitszeit soll vom Zeitpunkt des
-Einsteigens in die Förderschale bis zum Zeitpunkt des Aussteigens
-gerechnet werden. Nicht, wie die Kohlenbarone rechnen, von der Ankunft
-bei der Arbeitsstelle im Schacht bis zum Niederlegen des Werkzeugs
-dortselbst. Denn um zur Arbeitsstelle zu gelangen, müssen die Leute oft
-stundenlang im Stollen gehn, so daß sie elf und noch mehr Stunden unter
-der Erde sind, statt der vereinbarten neun.“
-
-„Ja, aber da haben die Leute doch ganz recht, wenn sie sich das nicht
-gefallen lassen!“ bekräftigte jetzt Mark und tat sehr entrüstet.
-
-Hellwig sagte darauf: „Die Forderung ist berechtigt, gewiß! Das habe
-ich schon hundertmal gesagt! Aber ebenso oft hab’ ich euch vorgehalten,
-daß es jetzt einfach unmöglich ist, sie mit Gewalt durchzusetzen.
-Die Leute haben sich kaum vom letzten Ausstand erholt. Sommer ist
-auch. Die Lieferungen sind nicht dringend, die Grubenbesitzer können
-zuwarten, haben Zeit, haben die öffentliche Meinung für sich, da die
-Ursache des Streiks zu geringfügig, zu mutwillig erscheint. Und wir
-haben jetzt auch die Mittel nicht, sie wirksam zu unterstützen. Auf den
-Schiffswerften streiken achttausend. Wo sollen wir’s denn hernehmen?
-Fragt Kolben! -- Wie viel hast du in der Streikkasse!“
-
-„Warte!“ erwiderte dieser und rechnete leise vor sich hin.
-„Zwanzigtausendsechshundertzwei Kronen vierzehn-- zuletzt sind siebzehn
-Kronen acht dazu gekommen: --Zwanzigtausendsechshundertneunzehn Kronen
-zweiundzwanzig Heller!“
-
-„Da habt ihr’s! Das reicht kaum vier Tage!“
-
-Leibinger unterbrach ihn schnell: „Es ist weitaus genug, wenn man die
-Spenden hinzurechnet. Und gar so lang kann’s nicht dauern!“
-
-„Leibinger, nimm doch Vernunft an!“ rief Hellwig.
-
-„Das möcht’ ich _dir_ raten! Wir _müssen_ Erfolg haben!“
-
-„Auch ich wäre für den Versuch!“ bemerkte Anheim. „Im Notfall kann die
-Arbeit jeden Tag wieder aufgenommen werden.“
-
-„Und soundsoviel Lohntage sind beim Teufel!“ sagte Fritz grimmig. Da
-glaubte Mark ein kräftiges Beweismittel gefunden zu haben.
-
-„Die Wahlen stehen vor der Tür!“ rief er laut. „Hat der Streik Erfolg,
-sind wir unüberwindlich!“
-
-Kolben griff das unüberlegte Geständnis sogleich auf. „Ich danke Ihnen
-für das erlösende Wort, Herr Mark! Ja, Fritz! Die Wahlen stehen vor der
-Tür, und Leibinger will Abgeordneter werden.“
-
-„Wer sagt das?“
-
-„Ich, Herr Leibinger! Glauben Sie, ich weiß nicht, daß Fritz Hellwig
-Ihrem Ehrgeiz im Wege ist? Daß Sie gern an seiner Stelle Schriftleiter
-sein möchten? Und ihm das Abgeordnetenmandat neiden, obwohl er’s noch
-nicht hat?“
-
-„Nicht weiter, Albert!“ unterbrach ihn Hellwig unwillig. „Das gehört
-nicht her!“
-
-Und Leibinger, kühn gemacht, schrie: „Verleumdung!“
-
-Kolben aber sprach unbeirrt fort, mit seinem leicht ironischen Lächeln,
-mit seiner großen Ruhe und sehr sarkastisch:
-
-„O gewiß gehört das her! Es war kein Zufall, daß ich ins Kohlengebiet
-gereist bin, gleich nachdem Herr Leibinger von dort zurück war. Ganz
-und gar kein Zufall war das. Und da hab’ ich so manches gehört, mein
-lieber Fritz. Das, was ich eben von ihm behauptet habe, hat Herr
-Leibinger den Leuten nämlich über dich gesagt, wenn auch vielleicht
-nicht mit so feinen Worten. Du, Fritz, seist der Streber, der
-Mandatsjäger, der unverläßliche Mitläufer, der alles zu seinem Vorteil
-nützt und so weiter. Und als Beweis soll dienen: Du werdest gegen den
-Streik sein, denn du spielst mit den Grubenbesitzern unter einer Decke.
-Jemand hat mir sogar anvertraut, im Rausch natürlich, du seist von
-ihnen bestochen.“
-
-Fritz stand da, hatte die Fäuste geballt und starrte mit weiten Augen
-den Sprecher an.
-
-„Ist -- das -- wahr?“
-
-„Ich hörte es so!“
-
-„Ich verwahre mich gegen eine solche Infamie!“ rief Leibinger. Der
-Doktor beachtete ihn nicht.
-
-„Wenn ich nach dem Ursprung dieser Gerüchte fragte,“ fuhr er trocken
-fort, „hat’s immer geheißen, die Gegenpartei behauptet es. Aber einer,
-der mir sehr zugetan ist und für dessen Verläßlichkeit ich jede
-Bürgschaft übernehme, hat es im Interesse der Partei bitter beklagt,
-daß -- Herr Leibinger solche Sachen in Umlauf setze.“
-
-„Nennen Sie den Namen!“ rief Leibinger. Und Mark unterstützte ihn
-mächtig: „Namen nennen! Namen nennen!“
-
-„Sparen Sie sich den Atem, meine Herrn!“ erwiderte Kolben und spielte
-mit seiner Uhrkette. „Den Namen geb’ ich Ihnen nicht preis!“
-
-„Aha!“ frohlockte Leibinger. „Dergleichen kennt man! Alles ist
-erstunken und erlogen!“
-
-Kolben lehnte sich faul zurück: „Ich pflege zwar sonst nicht zu lügen,
-aber wenn Herr Leibinger es sagt ...“
-
-Fritz aber trat mit schweren Schritten hart vor diesen hin, der
-aufgesprungen war und sich vergebens mühte, den unschuldig Gekränkten
-zu spielen. Mit seinem hellen Blick schaute ihm Hellwig ins Gesicht
-und sprach leise, mit erzwungener Ruhe: „Also -- deswegen! Damit du --
-deine eigenen Ziele -- erreichst, sollen Zehntausende -- sollen sie
-tage- -- vielleicht wochen- und monatelang -- hungern. Höre, Leibinger,
-ich bin“ -- er tat einen tiefen Atemzug und seine Stimme war spröd wie
-splitterndes Glas -- „ich bin nicht gewohnt, -- mit Lumpen dieselbe
-Luft zu atmen!“
-
-Leibinger lachte schrill auf und schrie: „Ich bin hier genau so
-viel wie du! Übrigens -- mit Beleidigungen wirst du dich nicht
-rechtfertigen! Eher bestärkst du unsere Gegner in dem Verdacht, daß
-doch was Wahres an der Geschichte ist!“
-
-Anheim hielt sich für verpflichtet, einzuschreiten.
-
-„Hellwig, das geht zu weit!“ mahnte er. Und Mark sekundierte: „Wir sind
-keine Lausbuben!“
-
-Der Obmann fuhr fort: „Auf eine Anschuldigung, die sehr
-unwahrscheinlich klingt, -- ich sage nichts gegen Herrn Doktor Kolben,
-er kann falsch berichtet worden sein, -- auf eine vage Anschuldigung
-hin willst du den Stab über einen verdienten Genossen brechen?
-~Audiatur et altera pars!~ Sei gerecht!“
-
-Und Mark sekundierte: „Wo sind die Beweise?“
-
-Da schäumte Fritz auf.
-
-„Der das gesagt hat,“ rief er leidenschaftlich, „der wiegt mir hundert
-Zeugen auf!“
-
-Nun erhob sich der Obmann, räusperte sich und sprach, als redete
-er in einer Volksversammlung. „Ich muß,“ sprach er, „mich im Namen
-der gesamten Partei, die zu führen ich die Ehre habe, auf das
-nachdrücklichste gegen ein solches Vorgehen verwahren. Wer bist du
-denn, Hellwig, daß du glaubst, mit uns wie mit Schuljungen umspringen
-zu können? Jedenfalls steht hier, wie ich schon betont habe, Behauptung
-gegen Behauptung und erst die einzuleitende strenge Untersuchung wird
-ergeben, auf wessen Seite das Recht ist!“
-
-„Beweise! Wo sind die Beweise!“ rief Mark.
-
-„Herr Mark!“ sagte Kolben. „Wir sind nicht taub. Wozu beweisen, was
-schon längst nicht nur mir allein bekannt ist. Ihr wißt es ja alle
-recht gut und freut euch darüber, daß Leibinger für euch die Arbeit
-tut. Ihr wollt den Hellwig los sein. Er ist euch zu groß geworden, drum
-soll er ganz klein werden! So oder so!“
-
-Fritz stand ganz dicht vor den drei Männern.
-
-„Leute!“ bat er mit gefalteten Händen. „Seid aufrichtig! Wenn ihr schon
-etwas gegen mich habt, so hetzt nicht heimlich in so gemeiner Weise
-gegen mich, daß die, denen ihr Führer und Berater sein sollt, das Bad
-aussaufen müssen, sondern habt den Mut, mir’s offen und ehrlich ins
-Gesicht hinein zu sagen!“
-
-Da sprach Anheim mit erhobener Stimme: „Hellwig, es ist durch nichts
-bewiesen, daß sich Leibinger in irgendeiner Weise unkorrekt benommen
-hat. Daran müssen wir festhalten. Daß du nunmehr auch uns in Bausch
-und Bogen verdächtigst, zeigt, wie falsch dein Standpunkt in dieser
-Angelegenheit ist. Deine Mitarbeiterschaft war uns stets wertvoll ...“
-
-„Das heißt, sie ist es gewesen!“ erläuterte Mark.
-
-„Aber,“ fuhr Anheim fort, „aber in letzter Zeit sind Dinge vorgefallen,
-die geeignet sind, dich und deine Stellung zu unserer Sache in einem
-schiefen Licht erscheinen zu lassen. Namentlich als dein Buch
-herausgekommen ist, das du auf den Markt geworfen hast, ohne uns zu
-fragen --“
-
-Da sagte Kolben mit unverhohlenem Spott: „Ich denke, die Herren sind
-entschiedene Gegner der Zensur!“
-
-Steif wehrte der Obmann den Ausfall ab: „Hier liegt der Fall doch
-anders! Ein Parteimitglied schreibt gegen die eigene Partei! So was ist
-noch nicht dagewesen! Ja, Hellwig, dein Werk kommt vielen von uns vor
-wie die Schriften der Jesuiten. Man kann das, was du sagst, so oder so
-deuten.“
-
-„Wasch’ mir den Pelz und mach’ mich nicht naß!“ nickte Mark eifrig.
-
-Jetzt tat der Doktor, was selten bei ihm vorkam, er lachte hell auf:
-„Klarer als Hellwig hat doch nicht so bald einer seine Ansichten
-niedergeschrieben!“
-
-„Das dachten wir im Anfang auch. Als jedoch fast alle Gegner das
-Buch eines ihrer gefürchtetsten Widersacher zu loben anfingen -- von
-_dem_ Lob fällt ein ganz eigentümlicher Widerschein auf die etwas
-krausen Wege des Verfassers. Das wäre der erste Punkt. Zweitens hast
-du, Hellwig, oft und oft scharfe Artikel erprobter Anhänger entweder
-gar nicht oder nur in sehr verwässerter Form in das Parteiblatt
-aufgenommen. Und sonderbarerweise waren das immer Artikel, die gewissen
-geld- oder einflußreichen Leuten auf die Finger klopfen sollten.“
-
-Fritz war einfach sprachlos. Er hatte die schöne Gepflogenheit, jeden
-Aufsatz, der die mangelnde Sachlichkeit durch Schmähungen zu verdecken
-suchte, dem Verfasser zurückzuschicken. Das war alles.
-
-Anheim setzte seine Anklage fort:
-
-„Drittens endlich widerrätst du auch den Streik, von dessen
-Notwendigkeit wir alle überzeugt sind. Kurz und gut: Ich halte es
-entschieden für einen Fehler, der scharfe Mißbilligung verdient, wenn
-sich Leibinger des von Herrn Doktor Kolben behaupteten, aber durch
-nichts bewiesenen Vorgehens gegen dich schuldig gemacht hat. Indes,
-nach dem Vorgesagten, hätte er -- nach meiner Ansicht und nach der
-Ansicht vieler Parteimitglieder -- gegen den Freund Otto Pichlers zwar
-in der Form, kaum aber in der Sache unrecht gehabt. Bedingungslos
-vertrauen können wir dir nicht mehr. Wir haben das übrigens in
-einer vertraulichen Sitzung schon früher festgestellt, und ich bin
-beauftragt, alle diese Dinge beim nächsten Reichsparteitag zur Sprache
-zu bringen. Wenn ich sie dir vorher mitteile, um dir die Rechtfertigung
-zu erleichtern, so erblicke darin einen Beweis, daß wir dich nur ungern
-verlieren würden.“
-
-Fritz war ganz farblos. Aber seine Augen funkelten wie Stahl in der
-Sonne.
-
-„Bist du -- zu -- Ende?“ keuchte er und preßte die Faust gegen die
-Brust, um dem übermächtigen Pochen des Herzens Einhalt zu tun. Anheim
-bejahte mit einem stummen Neigen des kahlen Hauptes. Da warf er den
-Kopf zurück und gewaltsam die Erregung zerdrückend, sprach er erst
-stoßweise und unsicher, dann immer kälter und verächtlicher:
-
-„Der langen Rede kurzer Sinn ist: Ich -- bin von den Geldmännern der
-bürgerlichen Parteien -- bestochen -- käuflich wie eine Marktware.
-Daß ich -- euch nicht zu Gesicht stehe -- wundert mich nicht. Aber
--- daß ihr so jämmerlich seid, daß ihr so erbärmlich niedrig denken
-könnt -- macht das mit euch selber aus. Eins nur noch: Ich bin der
-festen Überzeugung, daß nur der Zufall drei solche Prachtexemplare in
-derselben Parteileitung zusammengeführt hat. Die Partei achte ich nach
-wie vor -- aber betrachtet um euretwillen meinen Austritt mit dieser
-Sekunde als vollzogen ...“
-
-Anheim hatte sich wieder erhoben.
-
-„Wir werden Ihren Entschluß der Partei zur Kenntnis bringen,“ sagte er
-förmlich.
-
-Und als Hellwig bereits die Klinke in der Hand hatte, rief ihm Mark
-noch schadenfroh nach: „Der Streik beginnt natürlich Montag!“
-
-Da wandte er sich und seine Augen lohten.
-
-„Der Streik beginnt _nicht_!“
-
-Mark lachte höhnisch, und Leibinger tat jetzt wieder den Mund auf:
-„Setz’ dich nur aufs hohe Roß, du dunkler Ehrenmann!“ rief er. „Wir
-bringen dich schon herunter!“ Aber Hellwig hatte bereits die Tür hinter
-sich zugemacht.
-
-Im Lesezimmer stand er wie betäubt. Kolben legte ihm die Hand auf den
-Arm: „Nun, Fritz?“
-
-„Laß nur, Albert ... laß!“
-
-Den gläsernen Briefbeschwerer nahm er vom Tisch, hielt ihn gegen das
-Licht, sah hindurch und legte ihn aufs Fensterbrett. Er ließ das
-Gewebe der Stoffvorhänge durch seine Finger gleiten, als wollte er die
-Festigkeit der Fäden prüfen. Er öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus
-und schloß es dann gleich wieder.
-
-Immer heftiger arbeitete es in ihm. Und endlich sank er, der in seiner
-Vertrauensseligkeit Getäuschte, in seiner kinderklaren Arglosigkeit
-Betrogene, sank Fritz Hellwig schwer auf einen Stuhl und legte beide
-Hände vors Gesicht.
-
-„Das arme Volk!“ stöhnte er zu tiefst aus der Brust heraus. „Das arme,
-arme Volk!“
-
-
-10.
-
-Aber er blieb nicht untätig dem Schmerz hingegeben. Am selben
-Nachmittag noch reiste er in den Kohlenbezirk. Pfannschmidt,
-telegraphisch verständigt, erwartete ihn. Noch in der Nacht wurde
-ein Flugblatt fertig. Den nächsten Abend sollte eine Versammlung, am
-Sonntag aber ein Meeting unter freiem Himmel abgehalten werden. Der
-anbrechende Morgen fand Hellwig mitten unter den Bergleuten. Er fuhr
-von Schacht zu Schacht, verständigte die Knappschaften, verteilte die
-Flugblätter.
-
-Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht von seiner
-Anwesenheit. In hellen Haufen kamen sie abends in den Versammlungssaal.
-Dort hatten sich auch Anheim und Leibinger eingefunden.
-
-Von stürmischem Jubel begrüßt, trat Hellwig hinter den Rednertisch.
-Es dauerte Minuten, bevor er sich verständlich machen konnte. Dann
-aber wurde es lautlos still. Seine geschulte Rednerstimme war bis in
-den entferntesten Winkel des großen Raumes vernehmbar. Leibingers
-Anhang versuchte wohl anfangs durch Räuspern und Scharren den Redner
-zu stören. Aber Anheim winkte ab. Er hatte sich für das Zuwarten
-entschieden.
-
-Was Hellwig sagte, klang auch gar nicht aufreizend. Nüchtern und
-sachlich gab er seine Gründe gegen den Streik bekannt. Als sie merkten,
-wohinaus er wollte, begannen viele zu murren und dazwischen zu rufen.
-Denn sie hatten sich bereits mit dem Gedanken an den Ausstand vertraut
-gemacht.
-
-Da flammte er auf. Jedes Wort schlug ein. Und es währte nicht zehn
-Minuten, da waren sie wieder in seinem Bann. Aus den geröteten
-Gesichtern, die in gespannter Aufmerksamkeit ihm zugewendet waren, aus
-den glänzenden Augen, die jeden Satz von seinen Lippen vorwegzunehmen
-verlangten, las er die Wirkung, spürte er heraus, daß er wieder Fühlung
-mit ihnen hatte. Und als er sie jetzt zur Entscheidung aufforderte, da
-stimmten unter tosendem Beifall fast alle gegen den Streik.
-
-Im ersten Anlauf hatte er den Kampf bereits so gut wie gewonnen. Nach
-ihm hätte Leibinger zu Wort kommen sollen. Statt seiner stand Anheim
-auf. Ein starres Festhalten am Streik konnte der Partei nur schaden.
-Das sah der Obmann ein und gab seiner Meinung dahin Ausdruck, daß es
-wohl am besten sei, die Entscheidung den Arbeitern zu überlassen. Er
-konnte sich an den Fingern ausrechnen, wie die Entscheidung ausfallen
-mußte. Doch war der Rückzug geschickt in Szene gesetzt, das Ansehen
-der Partei brauchte nicht darunter zu leiden. Von Hellwigs Austritt
-erwähnte der Obmann nichts. Er hoffte, da auch Fritz geschwiegen,
-daß sich die leidige Geschichte vielleicht doch bis nach den Wahlen
-vertuschen oder irgendwie werde beilegen lassen.
-
-Dem Meeting am Sonntag aber schenkte Hellwig ganz reinen Wein ein.
-Schonungslos brachte er alles zur Sprache, was zum Bruch geführt hatte
-und forderte Leibinger auf, sich zu rechtfertigen. Der jedoch wagte es
-nicht. Denn unter den Versammelten waren viele, die seine Ausstreuungen
-mit eigenen Ohren gehört hatten und jetzt durch laute Zurufe
-bestätigten. Er überließ es Anheim, die verlorene Sache zu führen.
-Aber die Leute wollten auch den nicht hören. Sie tobten und schrien,
-schleuderten dem Obmann, der auf der Felsplatte stand, ihre Empörung
-ins Gesicht. Wer seine Stimme für Leibinger erheben wollte, wurde
-niedergebrüllt, mundtot gemacht, mit Püffen und Stößen herumgeschoben,
-bis er still war oder sich entfernte.
-
-Es hätte nur eines Winkes von Hellwig bedurft und die Mehrzahl wäre
-von der Partei abgefallen. Doch das wollte er nicht. Die Kräfte
-durften nicht zersplittert werden, unter dem Gegensatz zwischen
-einzelnen durfte die Gesamtheit nicht leiden. Deswegen beruhigte er
-die Aufgeregten. Man dürfe, sagte er, das Kind nicht mit dem Bad
-ausschütten, weil einer oder der andere sich unwürdig erwiesen habe,
-nicht die Partei verdammen. Es sei ihm nicht leicht geworden, den
-Kampf aufzunehmen. Aber rechtfertigen habe er sich gerade vor ihnen
-wollen und müssen. Und er habe es für seine Pflicht gehalten, sie nach
-Pichler vor Leibinger zu bewahren. Nicht gegen die Partei richte sich
-sein Angriff, denn die Partei sei rein, habe schon Großes erreicht und
-durch feste, lautere Eintracht werde sie alles erreichen. Schließlich
-riet er ihnen, einen bewährten Mann aus ihrer Mitte in den Reichsrat
-zu entsenden und schlug Karl Pfannschmidt vor. Sie aber verlangten
-ungestüm, daß er selbst sich bewerbe. Er weigerte sich. Denn dadurch
-wäre der Zwist erst recht entfacht worden. Solang die jetzige Leitung
-blieb, konnte er nicht mit der Partei gehen. Und gegen sie wollte er
-nicht gehen. Von der Uneinigkeit hätten nur die Gegner Nutzen gezogen.
-Und er sagte ihnen, daß er noch einmal zu ihnen kommen werde, wenn sie
-es forderten. Er wollte ihnen zu besonnener Überlegung Zeit lassen und
-den Ernst ihrer Gesinnung prüfen. Sie jubelten ihm zu, umdrängten und
-begleiteten ihn wie einen Triumphator in die Stadt. Dann reiste er ab.
-
-Und sie -- riefen ihn nicht zurück.
-
-Kaum war er fort, setzte heimlich, aber um so gehässiger die Wühlarbeit
-gegen ihn ein. Seine Feinde waren durch den schnellen, mit gewaltigem
-Ungestüm geführten Angriff überrumpelt worden. Doch da er den Sieg
-nicht ausnützte, fanden sie Zeit, sich zu sammeln. Leibinger zeigte
-sich nicht mehr. Aber seine Kreaturen waren unermüdlich am Werke.
-
-Fortwährend und überall wurde jetzt von Hellwig gesprochen. Aber es
-war nur selten Gutes, was man sich von ihm zu erzählen hatte. Und
-nach manchem Für und Wider, nach halben Andeutungen und vielsagendem
-Schweigen kam man gewöhnlich überein, es sei eigentlich unerfindlich,
-worin sein Verdienst bestehen sollte. Er habe einfach Glück gehabt.
-Der große Erfolg von damals sei nicht auf seine Rechnung zu setzen;
-dazu habe die Katastrophe, die zur rechten Zeit hereinbrach, das meiste
-beigetragen. Die eigentlichen Kämpfer und Sieger seien jedoch die
-Arbeiter gewesen. Die allein haben darunter gelitten, dafür gehungert,
-die volle Schwere des Feldzuges am eigenen Leib verspürt. Hellwig
-habe eigentlich nur zugesehen und geredet. Jetzt aber nehme er die
-Lorbeeren ganz für sich in Anspruch, maße sich das Recht an, andere
-zu hofmeistern, zu beleidigen, als Spielball zu gebrauchen, seine
-Meinungen ihnen aufzuzwingen. Die Freiheit führe er zwar fortwährend
-im Munde, aber gleichzeitig übe er unerhörteste Zwangsherrschaft gegen
-alle, die ihm nicht unbedingte Gefolgschaft leisten, er habe ganz das
-Zeug zum Diktator. Dem müsse vorgebeugt werden. Das Volk müsse selbst
-über sich herrschen, dürfe nach niemandes, auch nicht nach Hellwigs
-Pfeife tanzen.
-
-So wurde geredet, und die bewegliche Menge, seinem persönlichen
-Einfluß entrückt, schenkte diesen Reden gern und willig Gehör. Und da
-Leibinger vorderhand doch nicht gut selbst als Wahlwerber auftreten
-konnte, war das Schlußergebnis, daß Pfannschmidt wieder als Bergmann
-arbeitete, August Mark zum Abgeordneten gewählt wurde und der Streik,
-der förmlich Hellwig zum Trotz doch noch versucht worden war, mit einem
-Mißerfolg endete.
-
-Der Bruch mit der Parteileitung war Hellwig nicht so nah gegangen
-als die Haltung der Bergarbeiter, kurz nachdem sie ihm zugejubelt
-und ihn wie einen Halbgott gefeiert hatten. Doch fand er auch hier
-Entschuldigungsgründe für ihren Wankelmut. Er war auf halbem Wege stehn
-geblieben, hatte den begonnenen Kampf nicht bis zu Ende geführt. Eine
-Hanswurstiade war das gewesen, die Leute hatte er verwirrt, ohne ihnen
-einen Weg aus dem Irrsal zu zeigen, und es war kein Wunder, wenn sie,
-von ihm im Stich gelassen, wieder jenen folgten, an deren Führerschaft
-sie nun einmal schon gewöhnt waren. Nachträglich hatte sein Ausscheiden
-aus der Partei zwar noch einigen Staub aufgewirbelt, wäre es fast zu
-einer Spaltung im geeinigten Lager gekommen. Da er aber nichts von sich
-hören ließ, sich ganz vergrub und verschollen blieb, legte sich die
-Aufregung, es wurde stiller, und man vergaß ihn allmählich.
-
-Und er wühlte sich immer tiefer in seine Arbeiten hinein, studierte,
-las und schrieb die Tage und die halben Nächte durch. Denn er war
-jetzt ausschließlich auf die unsicheren Einkünfte angewiesen, die er
-von den Zeitschriften für Beiträge gezahlt erhielt. Und da sparte er
-und knauserte und versagte sich sogar die gewohnten Zigarren, immer in
-Sorge, daß er einmal nicht genug verdienen und gezwungen sein könnte,
-die Mitgift seiner Frau anzugreifen.
-
-Und Eva sollte Mutter werden.
-
-
-11.
-
-Da ließ sich eines Tages Leo Reinholt bei ihm anmelden. Der besaß außer
-einem großen Vermögen im Ostwinkel des Reiches eine Tuchfabrik mit
-Spinnereien, Webereien, Färbereien und allem, was dazu gehörte. Die
-Wohnungen, die er dort seinen Bediensteten aufgebaut, waren musterhaft,
-und die Wohlfahrtseinrichtungen, die er sonst noch geschaffen, hatten
-seinerzeit viel von sich reden gemacht. Der also ließ sich eines Tages
-bei Hellwig anmelden.
-
-Fritz empfing ihn sehr zurückhaltend. „Was verschafft mir die Ehre?“
-fragte er steif und wies auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch.
-„Wollen Sie Platz nehmen?“
-
-Ungezwungen kam der Fabrikant der Einladung nach. Er war beinahe ebenso
-groß, aber schmächtiger als Hellwig, hatte auffallend kleine Hände und
-blickte aus hellen braunen Augen treuherzig in die Welt. Im dunklen
-Haarschopf leuchtete das Weiß einer werdenden Glatze.
-
-„Haben Sie eine Viertelstunde Zeit für mich?“ fragte er, indem er sich
-setzte.
-
-„Da müßte ich wohl zuvor wissen, um was es sich handelt.“
-
-„Das läßt sich nicht so einfach sagen ... Sie sind gegenwärtig ohne
-feste Stellung?“
-
-„Über meine Privatverhältnisse glaube ich Ihnen keine Rechenschaft
-schuldig zu sein.“
-
-Der andere lächelte leicht: „Gewiß nicht!“ Und immer nur wie ganz
-beiläufig und nebenbei fuhr er fort: „Ja, also, wie soll ich Ihnen das
-auseinandersetzen? -- Ich habe mich eingehend mit Ihrem Buch befaßt,
-sehr eingehend, ja. Und, also, die Vorschläge, die Sie machen, die
-scheinen mir durchführbar und, was die Hauptsache ist, rentabel. Ja,
-also -- kurz und gut, ich beabsichtige meine Fabrik danach einzurichten
-und, ja -- wenn Sie wollen -- Sie könnten mir dabei helfen.“
-
-Fritz sprang auf. Mit einem jähen, ungestümen Satz.
-
-„Ist das Ihr Ernst?“
-
-„Wäre ich sonst hier?“ Der Fabrikant zündete sich eine Zigarre an. „Sie
-erlauben doch? -- Darf ich vielleicht aufwarten?“ Er hielt Hellwig die
-Ledertasche hin. Der beachtete es gar nicht. Mit langen Schritten lief
-er durchs Zimmer. Dann machte er wieder vor dem Besucher halt, schaute
-ihn zweifelnd an: „Ja -- aber -- wieso ...? Ich weiß nicht, was Sie
-veranlassen könnte ... Scherzen Sie denn wirklich nicht?“
-
-Reinholt blies den grauen Rauch in die Luft. „Warum wundert Sie das
-eigentlich? Ich sage ja, ich halte die Geschichte für rentabel.
-Für mich ist das ein Geschäft wie jedes andere, eine Spekulation
-meinetwegen, die glücken oder fehlschlagen kann. Das weiß ich vorläufig
-noch nicht. Glückt sie, ist’s gut. Wenn nicht, hab’ ich mich eben
-verrechnet und muß die Folgen tragen.“
-
-Er sagte das alles im trockensten Geschäftston. Und doch war im Grunde
-seiner braven Augen etwas, das zu dieser kaufmännischen Sachlichkeit
-nicht stimmte. Etwas Warmes, nur gedämpft wie hinter Schleiern
-Leuchtendes, -- Güte, die nicht erkannt sein wollte.
-
-Fritz hatte seine Wanderung durch das Zimmer wieder aufgenommen. Die
-Arme auf dem Rücken verschränkt, schritt er ruhlos auf und ab und
-schaute zur Decke, als ob er von dort etwas herablesen wollte. Dann
-wieder blieb er stehen, schüttelte den Kopf und bewegte die Lippen wie
-im Selbstgespräch. Reinholt beobachtete ihn eine gute Weile. Endlich
-rief er ihn an: „Herr Hellwig ...“
-
-Da schrak er aus seiner Versunkenheit auf: „Ja?“ und schaute den
-Fabrikanten fremd an.
-
-„Wir wollen die Sache nicht überstürzen, Herr Hellwig. Es hat ja Zeit.
-Ich mute Ihnen keine sofortige Entscheidung zu. Nur einige Aufklärungen
-möchte ich Ihnen noch geben, dann überlegen Sie sich’s und lassen mich,
-sagen wir in vier Wochen, Ihren Entschluß wissen. So lang bleibe ich
-Ihnen im Wort.“
-
-Das klang wieder sehr nüchtern und vernünftig. Und diese kühle Art
-ließ auch Fritz ruhiger werden; aufmerksam hörte er zu, wie jetzt der
-Fabrikant in großen Umrissen seinen Plan entwickelte.
-
-Als er gegangen war, blieb Hellwig noch lang unbeweglich vor dem
-Schreibtisch sitzen. Da hatte ihm einer die Möglichkeit gezeigt, wie
-er sein Lebenswerk erfüllen konnte. Und es war ihm, als ob er in eine
-ungeheure Helligkeit schaute, die ihn blendete und alle Gegenstände
-überstrahlte, so daß nichts anderes zu sehen war als Licht und Licht.
-So -- wie man die Möven nicht sieht, die Barken nicht und nicht die
-Schiffe, wenn die Sonne auf den See scheint und seine Fläche zum
-Spiegel macht. Und man weiß doch ganz sicher, daß dort klares Wasser
-ist und freut sich und kann es nicht erwarten, bis man die Kleider vom
-Leib ziehen und in dem kühlen Silber untertauchen kann.
-
-Da tat sich die Tür auf und Eva kam herein, sacht, schüchtern, mit dem
-aufrechten Königinnengang des tragenden Weibes. Nun sprang er empor,
-hob die Arme seitwärts und aufwärts, mit einer so ungestümen, frohen
-und leidenschaftlichen Bewegung, als wollte er eine Welt umspannen.
-
-„Eva ...“ stammelte er. „Eva ...“
-
-Eine Sekunde nur schaute sie ihn befremdet an und wunderte sich
-über den Glanz in seinen Augen. Dann wußte sie, daß eine Wendung
-eingetreten, daß ein großes Glück für ihn im Anzug sei. Mit
-ausgestreckten Händen trat sie auf ihn zu: „Fritz ... Ist’s jetzt
-wieder gut, Fritz?“
-
-„Ja!“
-
-Und nun erzählte er es ihr. Aber während er redete, verlor sich
-mehr und mehr die beschwingte Zuversicht der ersten Freude. Er
-begann von den Hindernissen zu sprechen, die zu beseitigen, von den
-Schwierigkeiten, die zu überwinden waren. Die Skrupel kamen, aus Licht
-wurde Schatten und keins der Bedenken, die ihm aufstiegen, verhehlte
-er ihr. Nach Reinholts Schilderung lag die Industrie in jenem Lande
-zwar sehr im argen, aber gerade in der Gegend, wo auch sein Unternehmen
-stand, waren noch einige kleinere Spinnereien und Webfabriken, die
-insgesamt kaum zweitausend Leute beschäftigten. Doch diese gehörten
-fast ausnahmslos zu jener Partei, die gegen Hellwig als Abtrünnigen den
-Bannfluch geschleudert hatte.
-
-Für den Anfang, zu diesem Schluß kam er endlich, für den Anfang werde
-sich wohl eine Trennung nicht vermeiden lassen. Erst wenn der ärgste
-Wirrwarr vorüber, die neue Ordnung einigermaßen befestigt sei und sich
-eingelebt habe, werde ihm Eva folgen können.
-
-Sie hörte es und wurde blaß. „Und das Kind?“ fragte sie tonlos.
-
-Einen Augenblick zögerte er mit der Antwort. Er fühlte ein Würgen in
-der Kehle. Aber sie sollte, sie durfte nicht merken, wie nah es ihm
-ging. „Ich werde euch unterdessen nach Neuberg bringen,“ sagte er. Da
-ließ sie traurig den Kopf sinken und sprach kein Wort mehr.
-
-
-12.
-
-Hellwig nahm das Anerbieten Reinholts an. Der Entschluß war ihm nicht
-leicht geworden. Erst als er ganz mit sich im reinen war, sagte er ja.
-Aber nun er sich einmal entschieden hatte, glaubte er um so sicherer
-an den Erfolg. Verläßliche Leute wurden angeworben, die eine Art
-Kerntruppe für das neue Unternehmen abgeben sollten. Pfannschmidt war
-darunter, der alte Kesselwärter Bogner, auch einer von den Brüdern Otto
-Pichlers. Die reisten mit Reinholt gleich ab. Hellwig wollte noch die
-Entbindung Evas abwarten.
-
-Und Evas schwere Stunde kam. Die Geburt währte lang, ein Arzt mußte
-gerufen werden. Fritz war im Zimmer daneben. Die Tür war angelehnt,
-aber hinein ging er nicht. Auf daß sie später einmal sich nicht
-doch vielleicht irgendwie vor ihm schäme, weil seine Augen ihre
-allerhilfloseste Menschlichkeit gesehen. Er hörte das kalte Klirren der
-Instrumente, die gedämpften Anordnungen des Arztes, das leise Stöhnen
-seines Weibes. Und er wußte nicht, wie es stand. Die Ungewißheit
-marterte ihn, die Angst und das Bewußtsein seiner Ohnmacht. Daß
-er so dastehen mußte und ein Liebes leiden lassen mußte und nicht
-helfen konnte. Und mit einemmal überkam es ihn und zwang ihn, in
-seinem Herzen zu wühlen, die verborgensten Falten zu durchwühlen, ob
-nicht doch vielleicht irgendwo ein Fetzen vom verlorenen Gottglauben
-zurückgeblieben, an den er sich klammern, den er umkrallen könnte
-wie der jämmerlichste Betbruder den Rosenkranz. Aber er fand nichts.
-Wie ein gefangenes Tier im Käfig rannte er ohne Pausen um den Tisch,
-den Kopf nach vorn geduckt, die Augen starr, mit steif gestrafften
-Armen und geballten Fäusten. Und empfand seine Ohnmacht und spürte
-den Widersinn, daß Leben unter entsetzlichen Qualen vom Leben sich
-losreißen muß, und hörte die Ketten klirren und die Peitsche sausen.
-
-Und dann war drinnen ein weherer Ton. Und dann -- der erste Schrei
-seines Kindes. Da wurde er totenblaß -- und seine Arme hoben sich
-langsam und breiteten sich aus und ein zitterndes Schluchzen kam ganz
-von tief aus seiner Brust. Und er ging in die Küche, wo weinend die
-Magd saß. „Marie ... es ... es schreit schon,“ sagte er fremd, mit
-weicher, bebender Stimme -- und schritt wieder wie im Traum in das
-Zimmer zurück und stand und horchte.
-
-Mittag war nahe. Um die halbentlaubten Bäume im herbstlichen Garten
-floß der Sonnenschein, blau funkelte der Himmel durch die offenen
-Fenster, und warme weiche Luft drang herein. Und im nahen Kirchturm
-begannen alle Glocken auf einmal zu läuten. Und die Glocken läuteten
-und läuteten, und das Kind schrie und schrie und überschrie das
-Geläute, heller, freudiger, lebenswilliger -- er war noch nie vorher so
-fromm gewesen wie in dieser Stunde. --
-
-Noch ein anderer hatte mit Fritz gebangt und gelitten. Doktor Kolben,
-der jetzt den Arzt hatte weggehen sehen und heraufkam, nur bis in
-das Vorzimmer, und sich erkundigte. Und als er hörte, daß ein Junge
-angekommen sei, da lachte er über das ganze Gesicht und lief wieder
-fort. Und schon nach einer kleinen Weile kam er noch einmal und brachte
-einen großen Strauß blühender Rosen für die junge Mutter. So viele
-ihrer der Gärtner gehabt hatte, so viele hatte er hergeben müssen.
-
-Den nächsten Tag kam Frau Wart von Neuberg hergereist und im geruhigen
-Lauf der Stunden fügte sich mählich alles in die neue, von dem
-jungen Menschlein beherrschte Ordnung. Aber Fritz schwankte wieder
-und zauderte und verschob seine Abreise Woche um Woche. Es war ihm,
-als hätte er Eva zum andernmal gewonnen. Und während sie sich langsam
-wieder aufrichtete, entfaltete sich neben ihr noch ein zweites, ein
-neues Menschenleben, das ihr und ihm gehörte und doch wieder nicht
-gehörte, das hilflos in ihre reifen Hände gegeben war, daß sie es
-formten und sicher einfügten in das rollende Räderwerk der Gegenwart.
-Und es würde forttreiben und ein Teilchen ihres Wesens mit hinüber
-tragen in eine Zukunft, die nicht mehr die ihre war. Er konnte lang und
-immer wieder vor dem weißen Schlafkörbchen seines Buben stehen und den
-Rätseln des Lebens nachsinnen, indes der Säugling ruhig atmend schlief,
-mit kaum beflaumtem Kopf und einem blassen Gesicht, das ohne Bewegung
-war, leidenschaftslos und ohne Arg wie die glatte Meeresfläche -- und
-doch birgt sie ungezählte wunderbare Möglichkeiten, schöne und wilde,
-furchtbare und sanfte, unter ihrem harmlosen Frieden.
-
-Und die Trennung wurde ihm schwer. Schon erwog er den Gedanken, Weib
-und Kind gleich mit sich zu nehmen. Er schrieb auch an Reinholt
-deswegen. Doch der riet ihm ab. Die Lage sei so einfach nicht, die
-Gegend außerdem öd, die Lebensmittel, und namentlich eine keimfreie
-Milch, nur sehr schwierig zu beschaffen. Denn die nächste größere
-Stadt sei viele Meilen weit entfernt und eine sanitätspolizeiliche
-Überwachung gebe es so gut wie gar nicht. Es sei schon besser, wenn
-sich Fritz die Sache vorerst ansehe und sich einlebe.
-
-Er las das Schreiben und spürte heraus, daß ihm nicht alles gesagt
-wurde. Und der Zwiespalt in ihm wurde immer größer. Es drängte und
-zog und trieb ihn nach dem Ort, wo seine Gedanken Tat werden sollten
--- und hielt ihn doch mit tausend Fäden fest in seinem Heim. Kolben
-merkte gut, wie es um ihn stand. Doch er redete da nichts hinein, riet
-nicht ab und stimmte nicht zu. In Eva aber war die Mutterzärtlichkeit
-aufgeweckt und die Liebe zum Kinde ließ sie alles andere als unwichtig
-hintansetzen. Und wenn sie ihn vordem eher aufgemuntert und sich
-gefreut hatte, weil sie ihn fröhlich sah, so bat sie ihn jetzt, daß er
-bei ihr bleibe oder sich gedulde, wenigstens ein Jahr noch, bis das
-Kleine stärker und widerstandsfähiger geworden und eine Übersiedelung
-leichter zu bewerkstelligen wäre. Und fast hätte sie ihn umgestimmt,
-und schon wollte er Reinholt bitten, ihn seines Versprechens zu
-entbinden, obwohl der Fabrikant bereits alle Vorbereitungen traf,
-Zubauten aufführte, Leute aufnahm, Ungeeignete fortschickte und nur
-die Ankunft Hellwigs abwartete, um mit der Einrichtung des neuartigen
-Betriebes ungesäumt zu beginnen. Eine Absage im letzten Augenblick
-mußte ihm einen empfindlichen Schaden bringen, das wußte Fritz. Und
-seine Nächte wurden schlaflos und unstet wieder seine Tage, er kämpfte
-schwer und konnte und konnte sich nicht entscheiden.
-
-Und da war es wieder jene Frau, der er schon so vieles zu danken
-hatte, die ihm mit behutsamen Händen die Hindernisse wegräumte und das
-sichere Vertrauen wiedergab, Frau Hedwig, seine zweite Mutter, wie
-er sie einst genannt hatte. Sie wollte verhüten, daß er sich gegen
-Reinholt entscheide. Denn das hätte niemandem gefrommt. Ihm nicht,
-weil ihn später ganz gewiß der Gedanke gepackt und gequält und nicht
-mehr losgelassen hätte, daß er die Gelegenheit, sein vermeintliches
-Lebenswerk zu vollenden, nutzlos habe vorübergehen lassen. Und den
-Seinen nicht, weil sie sich später selbst den Vorwurf nicht erspart
-hätten, daß sie ihn elend gemacht und schuld an seinem Leiden hätten.
-Deswegen suchte sie mit behutsamem Takt, ohne daß er es merkte, seinen
-Entschluß zugunsten Reinholts zu beeinflussen. Und sie tat es um so
-beruhigter, da für Eva mit ihrem Buben bei den Großeltern in Neuberg
-eine sonnige Zuflucht bereit stand.
-
-„Wann wirst du denn abreisen?“ fragte sie ihn einmal und sie fragte,
-als ob alles glatt und seine Abreise eine selbstverständliche und von
-allen erwartete Sache sei.
-
-„Das hat noch gute Wege!“ erwiderte er unwirsch.
-
-Sie tat erstaunt: „Gute Wege? Ich hab’ gedacht, sie brauchen dich schon
-sehr notwendig.“ Er trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte und
-gab keine Antwort. Da trat sie ganz nah zu ihm und sagte ganz leise,
-mit großer Überwindung: „Fritz -- es ist vielleicht doch besser, weißt
-du ... damit ... unser Heinz -- er hat Ähnliches gewollt, Fritz ...“
-
-Mit einem Satz stand er auf den Füßen, hatte die Hand im Ausschnitt
-der Weste verkrampft und atmete heftig. Aber kein Wort kam über seine
-Lippen. Ihre Bewegung niederkämpfend, fuhr sie tapfer fort: „Du hast
-ihm ja auch dein Buch zugeeignet -- und was da jetzt ins Leben treten
-soll -- es wäre die Vollendung dazu ...“
-
-Noch immer gab er keine Antwort. Und noch, als sie sich langsam wandte
-und aus dem Zimmer ging, stand er wie ein steinernes Bild und hielt sie
-nicht zurück. Aber ihre Worte wirkten nach. Ein ehrendes Totenmal hatte
-er dem Freund errichten wollen, dem flammend in den Tod gegangenen
-Freund ... Und da, nach Tagen und Nächten schweren Ringens fiel es mit
-einemmal auf ihn: Wenn -- alles so bleibt und das Suchen nicht aufhört
--- und dein Junge später einmal -- er ist ja eines Blutes mit dem
-Toten und mit dir -- es könnte mit ihm gerade so werden später einmal.
-Darum -- tu’s! pack’ zu! versuch’, ob du’s zwingen kannst! -- Wirb um
-die heutigen Herren und erobere sie durch eine unwiderlegliche große
-Tat! -- Damit dein Bub nachher ruhig weiter bauen kann -- und vorwärts
-kommen kann zu den Quellen des Menschentums, ohne im vorgelagerten
-Sumpf stecken zu bleiben -- und darin zu ersticken, wie Heinz -- und
-beinahe du selbst ...
-
-Und er entschied sich für Reinholt. Und je länger er bisher gezaudert
-hatte, je hastiger betrieb er jetzt die Reise. Eva sollte unterdessen
-nach Neuberg, bis er sie in einiger Zeit werde zu sich holen können.
-Aber sie wollte nicht nach Neuberg. Sie fürchtete sich vor den Leuten.
-„Er hat sie sitzen lassen, na ja, das hat ein Blinder voraussehen
-können!“ So würden sie reden und sich anstoßen und ihr nachschauen und
-sich teilnehmend und mitleidig und hämisch nach dem Vater des Kindes
-erkundigen. Und auch ihr Vater würde nicht anders denken. „Es hat so
-kommen müssen, Mutter. Er und Heinz, die zwei haben ja nie ein Herz für
-ihre Familie gehabt!“ Deutlich glaubte sie zu hören, wie er das sagte.
-Und ganz im letzten Winkel ihres Herzens regte sich etwas wie eine
-vage, dumpfe Ahnung, daß Fritz einst wiederkehren würde -- und nicht
-als Sieger. Und daß er dann sein Heim so wieder finden müßte, wie er
-es verlassen. Weit schob sie den Gedanken von sich, aber er ließ sich
-nicht bannen und so sehr sie sich mühte, an Hellwigs Erfolg zu glauben,
-ganz leise und ganz heimlich zweifelte sie doch daran. Deswegen war sie
-taub für das Zureden der Mutter und hörte nicht auf Fritz. Sie wolle
-vorläufig alles unverändert beim alten lassen, bis er einen Überblick
-haben und ihr wenigstens annähernd werde sagen können, wie lang die
-Trennung notwendig sei. Dann wolle sie sich’s erst zurechtlegen. Dabei
-blieb es. Und als Fritz abgereist war und bald darauf auch Frau Hedwig
-nach Neuberg zurück mußte, da hatte Eva in der großen Stadt keinen
-Einzigen, an den sie sich wenden konnte, als den Doktor Albert Kolben.
-
-
-
-
-Fünftes Buch
-
-
-1.
-
-In einer weiten Ebene, zwischen Buchenbeständen und buschigem
-Wiesenland, lag das große Unternehmen Leo Reinholts. Die Eisenbahn
-führte vorüber, ein paar Dörfer waren in der Nähe, die sich mit
-verstreut in großen Zwischenräumen stehenden Häusern stundenweit
-hinzogen. Und dazwischen waren längs der Bahn noch ein paar kleinere
-Fabriken, Gründungen findiger Konkurrenten, die aber nicht recht
-emporkommen wollten und zum Gedeihen zu schwach, zum Eingehen zu
-jung, in kümmerlicher Unzulänglichkeit sich fortfretteten. Die
-Einheimischen aber, zumeist Ruthenen und schlaue Polen, haßten die
-Schornsteine und die roten Ziegeldächer der Fabriken. Denn die hatten
-ihnen die beschauliche Ruhe gestört, die mit schlechtestem Branntwein
-zufriedene Bedürfnislosigkeit abgewöhnt und die Löhne verteuert durch
-einen Schwarm fremdsprachiger Arbeiter, die noch obendrein wegen
-ihrer Wissenschaft des Lesens und Schreibens und wegen ihrer größeren
-Weltkenntnis auf das Bauernvolk herabschauten, sich besser dünkten
-und die Herren spielen wollten. So waren die Klassenunterschiede
-schärfer als sonstwo ausgeprägt und drängten die Arbeiter der einzelnen
-Betriebe stärker als sonstwo zum Zusammenschluß. Ein ganz leidliches
-Einvernehmen hatte bisher unter ihnen geherrscht, und fast ohne
-Ausnahme waren sie Sozialdemokraten. Da kam nun plötzlich Reinholt und
-forderte von seinen Leuten, daß sie es nicht mehr seien. Und wer sich
-nicht darein schicken wollte, bekam seinen Abschied. Er hielt strenge
-Musterung, mußte sie auch halten, denn für sein Experiment -- nichts
-anderes war es -- brauchte er ganz zuverlässige Leute.
-
-So entstand eine Spaltung. Da kam Hellwig und richtete das neue
-Unternehmen ein. Wie der Haushalt einer einzigen Familie wurde das.
-Eine große Küche war da, mit Dampfheizung und papinischen Kesseln,
-dort wurde für alle auf einmal gekocht. Reine und luftige Speisehallen
-gab es, eine Bücherei mit weiten Leseräumen, einige Spielzimmer, auch
-ein Theater und einen Tanzsaal. Ein Krankenhaus, eine Schule und ein
-Altersheim wurden gebaut, im Park waren Tummelplätze für die Kinder
-und Erholungsstätten für die Erwachsenen, Bäder und Turnsäle fehlten
-nicht. Die Frauen sollten beim Kochen helfen, die Wäsche besorgen, im
-Gemüse- und Obstgarten arbeiten oder die Kinder beaufsichtigen, wie sie
-es lieber wollten, und wenn es ihnen gefiel, konnten sie jede Woche in
-diesen Beschäftigungen wechseln. Die Lohnzahlung wurde abgeschafft.
-Jeder war am Gewinn beteiligt. Nach einem einfachen Schlüssel unter
-Berücksichtigung der Arbeitsleistung und der Kopfzahl einer Familie
-wurden die Anteile ermittelt, die jeder zu dem gemeinschaftlichen
-Haushalt beizutragen hatte. Der Überschuß wurde bar herausbezahlt oder
-gutgeschrieben, wie es jeder lieber mochte. Für alle Bedürfnisse war
-gesorgt. In der Schneiderei konnten sich alle die Kleider anfertigen
-und flicken lassen, eine Schusterwerkstatt war da und ein gemeinsames
-Bestellbureau für alle Dinge des täglichen Bedarfs. So waren sie ganz
-unabhängig, waren ein Gemeinwesen für sich und brauchten keine fremde
-Vermittlung.
-
-Fritz aber war für sie bald das treibende Rad des Ganzen. Zu ihm kamen
-sie mit ihren Anliegen und Wünschen, und wenn sie untereinander Streit
-hatten, fügten sie sich seinem Schiedsspruch. Und da er mit ganzem
-Herzen bei der Sache war, gewann er auch ihre Herzen. Das wußte er
-nicht, aber es war so. Manche bewunderten, die meisten liebten und nur
-ganz wenige fürchteten ihn. Alle aber standen unter dem zwingenden
-Bann seiner prachtvollen Aufrichtigkeit, fühlten heraus, daß er
-bedingungslos auf ihrer Seite stand. Niemanden ließ er gleichgültig.
-Zu seiner vollwertigen Persönlichkeit mußte jeder Stellung nehmen, und
-die Mehrzahl gab sich vollständig in seine Leitung. Ihn nannten sie
-‚Meister‘, wie er selbst es ihnen vorgeschlagen hatte, während Reinholt
-nach wie vor der ‚Herr‘ blieb. Doch waren sie auch ihm zugetan und
-rühmten ihm strenge, aber unparteiische Gerechtigkeit nach.
-
-Bevor das alles auch nur halbwegs ins Gleis kam, waren viele Monate
-vergangen. Welche Unsumme von Plage und Mühsal und Sorge für Hellwig
-damit verknüpft gewesen, wußte außer Eva vielleicht niemand so recht.
-Anfangs kannte er freilich weder Müdigkeit noch Abspannung, war ihm
-die Arbeit nur wie ein Fest. Aber Monat um Monat verrann, und die
-Schwierigkeiten wollten nicht aufhören. Immer wieder fand sich etwas,
-das geordnet, unschädlich gemacht, ausgetilgt werden mußte. Bald waren
-es geheime Machenschaften, bald offene Widersetzlichkeit, Zwist und
-Streit. Kaum ein Tag verging, an dem Hellwig nicht einen Schiedsspruch
-zu fällen, als Friedensstifter zu walten hatte. Sooft er dachte,
-jetzt und jetzt werde er Eva holen können, immer kam etwas verquer.
-Anfangs waren es die Zustände im jungen Unternehmen selbst, die seine
-Wachsamkeit forderten. Dann aber setzten die Feindseligkeiten der
-Gegner ein. Der Verlust von nahezu tausend Genossen traf die Partei
-hart. Und daß es gerade Fritz Hellwig war, der ihnen diesen Verlust
-zugefügt, war nur ein Grund mehr zur erbittertsten Fehde. Da wurde
-geschürt, gehetzt, auf jede Weise versucht, die Leute unzufrieden zu
-machen und aufzureizen. Ohne Erfolg. Wer sich nicht fügen wollte,
-konnte anderswo sein Brot suchen. Eisern hielt Fritz die Ordnung
-aufrecht. So gütig und umgänglich er sonst war: wenn eine Satzung
-übertreten wurde, kannte er keine Nachsicht. Das hatten sie bald heraus
-und liebten auch diese Strenge. Er gab ihnen viel und hätte auch viel
-fordern können. Um so begreiflicher fanden sie es, daß er das wenige,
-das er wirklich forderte, auch durchsetzte.
-
-Da traten die Gegner aus ihrer Zurückhaltung, riefen offen zum
-Kampf gegen den Augenauswischer, den Volksbetrüger, Verräter und
-Zwietrachtsäer, der sich in Menschlichkeit wie ein Frosch blähe
-und lediglich den eigenen Bauch mit dem blutigen Schweiß der Armen
-fülle. So stand es in ihren Zeitungen, und das waren noch die besten
-Vergleiche. Ein besonders Eifriger aber behauptete, daß Hellwig wie
-eine Trichine im gesunden Fleisch der Partei sitze und es infiziere,
-während er sich fett mäste. Leibinger leitete den Feldzug. In ihm
-war die erlittene Kränkung noch lebendig und heiß wie am ersten Tag,
-und sein Ehrgeiz knüpfte an einen Sieg über den mächtigen Feind
-die schönsten Erwartungen. Unter Hochdruck arbeitete er. In allen
-Zeitungen, in ungezählten Versammlungen predigte er den Kampf gegen den
-einstigen Genossen und seinen Anhang. Renegaten und Schufte ohne jeden
-Gemeinsinn wurden sie genannt, niedrige Bedientenseelen, die vor dem
-Geldsack auf dem Bauch lägen und sich an Bettelsuppen gütlich täten,
-armselige Heloten, die jedes Gefühl für Freiheit und Manneswürde
-verloren hätten.
-
-Und die Arbeiter der benachbarten Betriebe, scheelsüchtig gemacht,
-neideten Reinholts Leuten das bessere Los. Sie spuckten aus, wenn sie
-einen trafen und riefen ihm wohl auch „Kommuner Hellwigianer!“ zu,
-was ein Witz sein sollte und eine verächtliche Anspielung auf die
-kommunistischen Einrichtungen.
-
-Die kommunen Hellwigianer aber ließen sich darob die Haare nicht grau
-werden. Mancher Heißsporn verbat sich vielleicht die Beleidigungen und
-kam mit blutigem Schädel heim, die meisten aber lachten oder zuckten
-die Achseln, wenn sie beschimpft wurden, und das trieb die Gegner in
-eine immer heftigere Erbitterung. Aber auch die Fabriksbesitzer nahmen
-mit der Zeit gegen das aufblühende neuartige Unternehmen Stellung,
-weil sie sich dem scharfen Wettbewerb nicht gewachsen fühlten. Denn da
-alle Arbeiter am Gewinn beteiligt waren, bemühten sie sich zu eigenem
-Vorteil, nur gute Ware herzustellen, so daß die Reinholtsche Marke
-bald gesucht war und die Nachfrage stärker als das Angebot. Und da
-auch das Bauernvolk in seiner alten Abneigung verharrte, stand Hellwig
-mit den Seinen ganz vereinsamt und auf sich selbst angewiesen mitten
-unter Widersachern, Neidern und Feinden. Da setzte er erst recht seinen
-Neuberger Schädel auf: Durch müssen wir! Und wenn sich alle auf den
-Kopf stellen!
-
-Der Glaube an sein Werk verzehnfachte seine Kräfte. Und seine warme
-Begeisterung griff auf alle über. Gemeinsame Not schweißte sie ganz
-fest zusammen. Die Zwistigkeiten im eigenen Lager hörten auf, immer
-seltener wurde er als Schiedsrichter angerufen. Der Trotz und das
-Gefühl, daß ihnen unrecht getan werde, spornte alle zu erhöhter
-Leistung. Draußen schrien sie, hetzten und wühlten. Reinholts Fabrik
-aber stand da, geschäftigen Lebens voll, die Räder surrten, die
-Webstühle klapperten, die Schiffchen flogen fröhlich. Zu einträchtigem
-Tun regten sich die emsigen Hände, und auf allen Gesichtern sonnte sich
-das Behagen am Gedeihen des Unternehmens, das allen ans Herz wuchs,
-weil es allen gehörte.
-
-
-2.
-
-Und im Fabrikspark, auf den Spielplätzen, unter der Hut der alten
-Bäume, drängte sich tagsüber das junge Volk der Kinder, saßen nach
-getaner Arbeit zufriedene Menschen, schwatzten, sangen oder hörten dem
-Meister Hellwig zu, der an schönen Abenden im Garten von einem Podium
-herab über alle möglichen interessanten und wissenswerten Dinge zu
-sprechen oder aus guten Büchern vorzulesen pflegte. Ganz zwanglos, wie
-eine gelegentliche Zusammenkunft gleichgesinnter Freunde war das, und
-viel guten Samen streute er in empfängliche Seelen.
-
-Anfänglich war die Zahl der Teilnehmer nur gering, weil viele, an das
-neue Leben noch nicht gewöhnt, lieber in den Billardsälen oder beim
-Kartenspiel ihre Erholung suchten. Mit der Zeit aber stellten sich
-immer mehr ein, hörten zu und beteiligten sich mit Fragen und Einwänden
-an den Debatten, fanden Gefallen daran und zogen dieses Turnier bald
-jeder andern Unterhaltung vor.
-
-Einer, der niemals fehlte, war der alte Kesselwärter Bogner, der seinem
-Meister Hellwig treu ergeben war und immer wieder versicherte, daß er
-ein so schönes Leben auf seine alten Tage nicht einmal im Traum erhofft
-hätte. Er überwachte seine Kessel und formte feine Blütenzweige, die
-er schön bemalt in seiner Stube aufstapelte oder Personen, denen er
-wohlwollte, als Angebinde verehrte. Für Hellwig aber tat er etwas ganz
-Besonderes: Er modellierte und goß aus Bronze die Büste des Meisters.
-Zwar geriet die Nase ein bißchen schief, und die Wangen hatten
-Blatternarben, aber am Sockel stand in großen Buchstaben ‚Friedrich
-Hellwig‘, und so wußte jeder, wen das Werk darstellte. Und die Mängel,
-die waren nach den Versicherungen des Schöpfers nur durch den elenden
-Gips und durch das schlechte Gußmetall verschuldet. Jetzt stand das
-Bildwerk im Lesesaal, und bei der Aufstellung hatte es einen grünen
-Reisigkranz getragen, mit einer roten Schleife, und Reinholt hatte eine
-Rede gehalten, die war sehr erbaulich und dem Kesselwärter wurde ganz
-rührselig. Aber er lachte doch und strahlte im faltigen Gesicht, denn
-Adam Pichler, ein jüngerer Bruder Ottos, stand neben ihm und sagte ihm
-ins Ohr, daß so eine Büste eigentlich in eine Ausstellung gehörte und
-sicher einen Preis bekommen würde.
-
-Adam verkehrte überhaupt viel mit dem alten Bogner und ging auch
-regelmäßig zu den Abendvorlesungen. Er tat das aus Neigung. Aber es war
-nicht so sehr die Neigung zur Wissenschaft, als vielmehr die Neigung
-zur Anna Bogner. Die Anna war ernster geworden, der Frohsinn, das
-Lachen und aller Übermut ihrer Jugend klang in der Erinnerung an die
-erste Enttäuschung nur mehr wie auf einer abgedämpften Geigenseite.
-
-Adam aber begehrte sie zum Weib. Da hatte sie ihm ganz aufrichtig
-gesagt, wie es um sie stand und daß sie einst mit seinem Bruder Otto
-ein Verhältnis gehabt. Der blonde Mensch mit den stillen Augen und den
-groben Händen hatte schweigend zugehört und darnach ein paar Tage nicht
-mit ihr geredet, bis er alles in sich verarbeitet hatte. Dann aber war
-er zu ihr gegangen, die in heimlicher Pein verstohlen aus der Ferne
-nach ihm sah. Denn sie hatte ihn lieb gewonnen.
-
-„Anna,“ hatte er gesagt, „es ist schon in Ordnung mit uns.“
-
-Da war sie zusammengefahren, hatte ihm ungläubig ins Gesicht gestarrt
-und nur gefragt: „Trotzdem?“
-
-„Trotzdem, Anna, weil -- es muß doch ausgeglichen werden ...“
-
-Er hatte den Arm um sie legen wollen. Doch sie war hastig einen Schritt
-zurückgetreten.
-
-„Wenn’s nur deswegen sein soll ... bleibt’s schon besser so, wie’s ist,
-Adam. Ich müßt’ mich ja schämen.“
-
-„Nein, Anna, das mußt du schon nicht. Tät ich’s denn, wenn ich dich --
-nicht auch gern hätt’, Anna?“
-
-Er war wieder ganz nahe bei ihr und streichelte mit den harten Fingern
-unbeholfen ihren Ärmel. Und dann hatte er sie im Arm. Und sie sträubte
-sich nicht mehr.
-
-Und seither sah man sie fast immer miteinander gehen, den alten
-Kesselwärter, dem die paar Haare nur noch wie ein silbriges
-Schimmerchen auf dem kahlen Schädel glänzten, ein wenig gebeugt und ein
-wenig zittrig, zwischen den beiden jungen aufrechten Menschen, die fest
-und ruhig einherschritten mit der stillen Zuversicht, die ein sicheres
-Glück verleiht.
-
-Oft auch gesellte sich Pfannschmidt zu ihnen, der in dem neuen
-Gemeinwesen eine Art Hausverwalter war und außerdem die Bücherei
-betreute. Keine Spur von Gedrücktheit oder Trauer war mehr in ihm, wohl
-sprach er wenig und lachte nicht oft, aber seine ernsten Augen schauten
-warm und froh, und der Widerstreit zwischen Neigung und Beruf war
-nicht mehr in ihrem Blick. Die Bücherei war seine Welt, dort war er
-am sichersten anzutreffen. Entweder las er oder ordnete er die Bücher,
-versah sie mit Schildern und Nummern, verteilte sie übersichtlich und
-legte mehrere Verzeichnisse an. Abends aber kämmte er mit Salböl den
-spröden Scheitel noch einmal glatt und ging, dem Meister zuzuhören. Er
-war einer der aufmerksamsten Zuhörer, aber auch der eifrigste Frager,
-und wenn er sich einmal in etwas hineinverbissen hatte, ließ er sich
-nicht so leicht davon abbringen. Jedes Für und Wider erwog er, Beweise
-und Gegenbeweise ließ er bedächtig aufmarschieren, und Fritz hatte
-mit diesem zähen Gegner oft seine liebe Not. Regelrechte Debatten und
-Diskussionen hatten sie miteinander und das war für sie wie ein Bad im
-kühlen Fluß.
-
-So schien sich mit der Zeit eine gedeihliche Ordnung einstellen zu
-wollen und Hellwig dachte abermals daran, Weib und Kind zu sich zu
-holen. Aber als er an einem schönen stillen Sommerabend wieder einmal
-auf dem Podium saß und gerade über Oliver Cromwell sprach, da wurden
-von dem Fahrweg, der außerhalb des Parks den Zaun entlang führte, ein
-paar Steine unter die Versammelten geworfen. Der eine streifte Hellwigs
-Kopf, der zweite traf ihn an der Schulter, die übrigen verfehlten ihr
-Ziel. Schnell war Pfannschmidt beim Gittertor, riß es auf, stürmte
-hinaus. Andere folgten. Aber draußen war niemand zu sehen. Still
-lagen die Wiesen und Felder da, die Ähren nickten und rauschten leis
-auf schwanken Halmen, die Blätter der Büsche regten sich sacht im
-Abendwind, und sacht breitete die Dämmerung ihre seidenfeinen Flöre
-darüber aus. Mannshoch standen die Feldfrüchte, dicht belaubt wucherte
-überall in den Wiesen das Staudenzeug, und was sich dort irgendwo
-versteckt hielt, war gut geborgen und in der Dämmerung nicht leicht
-aufzuspüren.
-
-Hellwig hatte eine Beule am Schläfenbein und eine Prellwunde am
-Oberarm, leichte Verletzungen, die nichts zu bedeuten hatten. Aber eine
-Warnung waren sie und ein Zeichen, wie tief die Hetzereien Wurzeln
-gefaßt.
-
-Und wenn es hiefür noch eines Beweises bedurfte, so brachte ihn die
-folgende Nacht. Da brannte ein Magazin nieder, und die Fabriksfeuerwehr
-mußte harte Arbeit tun, um den Brand einzudämmen. Er war gelegt worden,
-von wem, war offenes Geheimnis, aber Beweise fehlten. Die Folge
-war, daß Reinholt die Nachtwache verschärfte und zwei Dampfspritzen
-anschaffte. Und Fritz sah seine Vereinigung mit Eva abermals um Monate
-hinausgerückt.
-
-
-3.
-
-Danach aber hatte sich ganz plötzlich der Sturm gelegt. Die
-Unbesonnenheit der Steinwerfer und Brandstifter hatte die Gegner zur
-Vorsicht gemahnt. Was nützte es auch, die Außenstehenden aufzuwiegeln,
-wenn die Hellwigianer geschlossen gingen und der Aufschwung der Fabrik
-alle Hetzer Lügen strafte.
-
-Wochen vergingen, alles blieb ruhig.
-
-„Wir sind durch!“ sagte Fritz, der vertrauensselige, arglose Mensch,
-und glaubte felsenfest daran, weil er an sein Werk glaubte und an die
-Lauterkeit der Menschen. Und er freute sich des Erfolges und freute
-sich auf die Seinen. Jetzt wollte er sie wirklich holen. Mehr denn
-zwei Jahre -- waren es denn wirklich schon zwei Jahre? -- hatte er sie
-nicht gesehen. Da war ihm die Zeit fortgeronnen, wie Sand zwischen
-den Fingern durchgeglitten, Tag um Tag; Monat um Monat. Er hatte
-nicht darauf geachtet und sie nicht gezählt. In all dem rastlosen
-Bemühen, dem Tumult von Sorgen und Anstrengungen, dem raschen Wechsel
-zwischen Erfolg und Mißlingen, zwischen heller Zuversicht und herber
-Enttäuschung.
-
-Waren es denn wirklich schon zwei Jahre? Aber da lagen die Briefe Evas
-vor ihm, alle, wie er sie erhalten, gelesen, beantwortet und dann in
-das Schubfach getan hatte, wo sie, nicht mehr beachtet, verstaubten.
-Regelmäßig alle vierzehn Tage schrieb sie ihm. Und jetzt lagen sie da,
-kunterbunt durcheinander, gut fünfzig Briefe. Und in jedem erzählte sie
-von dem Buben, alle Einzelheiten und Kleinigkeiten berichtete sie. Im
-Drang und Schwall der Arbeit hatte er ihren Mitteilungen nicht weiter
-nachgesonnen. Und sie machten doch die ganze Entwicklung des jungen
-Menschleins aus, das dort fern von ihm und vaterlos heranwuchs. ‚Hansl
-lacht mich schon an -- Hansl sitzt schon -- Hansl bekommt Zähne --
-Hansl hat sich ganz allein am Tischbein aufgemannelt -- Hansl hat das
-erste Wort gesprochen -- Hansl läuft, Hansl redet schon. Er ist blond
-wie du -- er hat deine Augen -- aber das Kinn hat er von mir.‘
-
-Er erschrak fast und entsetzte sich, daß er so achtlos darüber zur
-Tagesordnung hatte übergehen können. Fünfzig Briefe. Und in allen war
-zwischen den eng geschriebenen Zeilen die unausgesprochene Bitte: ‚Komm
-bald und bleib bei uns!‘ Und in keinem stand: ‚Hol’ uns zu dir!‘ Denn
-die Mutter bangte um ihr Kind, und Fritz hatte ihr die Lage immer eher
-in düsteren Farben geschildert, alle Ereignisse trocken verzeichnet und
-nichts beschönigt. Und nur einmal schrieb sie: ‚Wenn ich doch bei dir
-sein könnte!‘ Das war damals, als ihm die Steine den Leib verwundet
-hatten.
-
-Einen Brief nach dem andern las er nun wieder durch. Um ihn war die
-Ruhe der Nacht, einer warmen, glanzhellen Nacht. Das Fenster stand
-offen, die hereinflutende Luft war gesättigt vom schweren Duft der
-Erde, und unten im Fabrikshof machte der Wächter die Runde. Klingend
-schlug die Eisenspitze seines Stocks auf die Steine, und wenn die
-zwei starken Doggen, die ihn begleiteten, sich schüttelten, klirrten
-die Glieder ihrer Kettenhalsbänder leise aneinander, Eisen gegen
-Eisen und Stahl gegen Stein, und nichts anderes war zu hören als
-dieser kriegerische Klang. Und es war wie der Pulsschlag des harten,
-streitbaren Lebens, das da draußen in der weichen, weißen Glanznacht
-tief aufatmend, doch nicht schlafend ruhte, Gewehr im Arm und immer
-kampfbereit gleich einem einsamen Vorposten in Feindesland.
-
-Stunde um Stunde flutete vorüber. Und Fritz saß und las die Briefe.
-Mit gesammelten Sinnen las er sie jetzt alle wieder, sah seinen
-Buben heranwachsen und begleitete Schrittlein nach Schrittlein seine
-Entwicklung. Und er fühlte eine tiefe Trauer, daß er sich so gar nicht
-vorstellen konnte, wie der Junge jetzt aussah, lachte und sprach,
-und der Wunsch, ihn und die Mutter bei sich zu haben, schwoll ihm
-übermächtig empor.
-
-Aber es blieb auch diesmal nur beim Wunsch.
-
-Die Ruhe, die so unvermittelt eingefallen, war nicht die Ruhe des
-Friedens oder der Erschöpfung. Leibinger hatte die Nutzlosigkeit der
-bisherigen Kampfesart erkannt. Und da kam es ihm gerade recht, daß
-Robert Karus, aus Rußland zurückgekehrt, wieder in der Hauptstadt
-aufgetaucht war. An ihn wandte er sich um Rat und Hilfe und der sagte
-zu, unter der Bedingung, daß ihm vollständig freie Hand gelassen werde.
-Ungern fügte sich Leibinger, aber er fügte sich doch.
-
-Und Karus ging an die Arbeit. Ein paar erprobte Leute wählte er sich
-und schickte sie zu Reinholt auf Arbeitssuche. Sie erhielten strengen
-Befehl, als unbedingte Anhänger Hellwigs aufzutreten und vorsichtig
-die Unzufriedenheit der Zufriedenen zu wecken. Das Wie blieb ihnen
-überlassen. Und sie waren ihrer Aufgabe gewachsen. Rasch hatten sie
-jene aufgespürt, die schwankten oder sich zurückgesetzt fühlten,
-machten sich an sie heran und bearbeiteten sie.
-
-Aber auch Karus blieb nicht müßig, und Mark und Leibinger waren seine
-Werkzeuge. Ein paar Schlagworte warf er den Arbeitern der benachbarten
-Unternehmungen hin und wiegelte sie auf. Und geschulte Agitatoren waren
-mitten unter ihnen und schürten und schürten ohne Unterlaß. Immer
-lauter, immer ungestümer erhoben sie die Forderung nach höherem Lohn,
-nach kürzerer Arbeitszeit, nach Gleichstellung mit den Hellwigianern.
-Die Fabrikanten aber, selbst in ihrer Existenz bedroht, konnten und
-wollten keine Zugeständnisse machen. Da begann der Streik.
-
-Unfriede im eigenen Haus, heller Aufstand ringsum: so war jetzt die
-Lage und so war sie Karus recht. Hellwig aber, der Vertrauensselige,
-der kindlich Arglose, wußte nicht, daß viele gegen ihn murrten. Und
-als der Streik jetzt so unvermittelt losbrach und als alle Betriebe
-feierten und nur die von ihm geleitete, nach seinen Ideen eingerichtete
-Fabrik rüstig weiter ging, -- und seine Leute verrichteten gelassen
-ihr Tagwerk und schienen sich um das Branden außerhalb ihrer Herdfeuer
-gar nicht zu kümmern, -- da frohlockte er und abermals sagte er
-siegessicher zu Reinholt: „Leo, wir sind durch!“ Und nur das eine
-trübte ihm die Freude: daß er wieder Geduld haben und erst das Ende des
-Ausstands abwarten sollte, ehe er die Seinen zu sich kommen ließ. Dann
-aber wollte er es ganz bestimmt tun und freute sich darauf und glaubte,
-daß ein Ausgleich bald erzielt und die Lohnbewegung bald zu Ende sein
-werde. Er tat sogar ein übriges, er ging zu den einzelnen Fabriksherren
-und setzte sich für jene ein, die seine erbittertsten Feinde waren.
-Und er tat es nicht nur um ihretwillen, auch seinetwegen tat er es,
-er wollte vielleicht doch einen oder den anderen für seine Ansichten
-gewinnen. Aber überall begegnete er mit seinen Vermittlungsversuchen
-einem starren „Nein!“ oder einem geschmeidigeren „Leider nicht
-möglich!“ und einer gab geradezu ihm die Schuld an dem Streik und an
-dem Niedergang der kleineren Betriebe. Doch auch die Arbeiter, als sie
-es erfuhren, verbaten sich seine Einmischung. Da ließ er es bleiben.
-Aber nicht eine Sekunde wankte ihm der Glaube an seine Schöpfung und
-die Zuversicht, daß sein Weg der richtige wäre.
-
-Reinholt war nicht so vertrauensselig. Manches an den Leuten wollte
-ihm nicht mehr gefallen. Daß sie häufig mitsammen flüsterten, im
-Bibliothekssaal heftige Debatten führten, die sofort abgebrochen
-wurden, wenn er oder Hellwig oder Pfannschmidt oder sonst ein Treuer
-dazu kam. Und namentlich der Sanders, ein dunkelhaariger Gesell mit
-Blatternarben im eischmalen Gesicht, gefiel ihm gar nicht. Er war erst
-seit kurzer Zeit in der Fabrik und doch spielte er, vornehmlich unter
-den jüngeren, eine große Rolle. Sie hörten auf ihn, suchten und riefen
-ihn, und wenn er zu ihnen trat, wurden ihre Worte leiser, steckten
-sie die Köpfe zusammen und bekamen aufgeregte Gesichter. Auch dem
-Pfannschmidt war das bereits aufgefallen, und nur Hellwig wollte es
-nicht gelten lassen. Wenn ihn Reinholt aufmerksam machte oder warnte,
-schüttelte er mit ungläubigem Lächeln den Kopf, suchte und fand
-Entschuldigungen.
-
-„Das Kameradschaftsgefühl ist in ihnen noch nicht erloschen, soll
-es auch nicht sein! Und da wurmt sie’s eben, daß sie Streikbrecher
-geschimpft werden. Aber das geht vorüber. Als der Streik angefangen
-hat, was hat man da nicht alles befürchtet. Sogar Militär hat
-hermüssen, weil unsere Nachbarn um ihre Maschinen Angst gekriegt haben.
-Und schau’ her, jetzt dauert die Geschichte schon fast zwei Wochen --
-und alles bleibt ruhig. Glaub’ mir nur, Leo, jetzt sind wir schon überm
-Berg. Die Arbeitsfreude bei uns, während ringsherum alles gärt und tobt
-und siedet, beweist mir am schlagendsten die Ohnmacht der Gegner. Wir
-haben unsere Leute zufrieden gemacht, _den_ Erfolg jagt uns keiner mehr
-ab!“
-
-„Nicht alle sind zufrieden, Fritz!“ beharrte Reinholt bei seinem
-Bedenken. „Sie planen was gegen uns! So mach’ doch die Augen auf,
-Fritz, ich werd’ ja ganz irr an dir! Du hast Mitleid mit denen da
-draußen, vielleicht trübt dir das den Blick -- aber ich denke, sie
-haben uns wahrhaftig genug Prügel unter die Beine geschmissen und
-verdienen keine Rücksicht!“
-
-„Nein, nein, Leo, sprich nur nicht anders als du denkst!“ entgegnete
-Fritz traurig. „Die Leute sind nicht besser und nicht schlechter als
-wir alle. Sie wollen auch nur -- wieder Menschen werden. Teilhaben
-an den reizvollen Nebensachen und bunten Nichtigkeiten, die zwischen
-Arbeit und Schlaf, zwischen Hunger und Liebe liegen und uns erst vom
-Vieh unterscheiden. Und sind wir nicht mit schuld, daß sie es so
-heftig heischen? Die unseren _haben_ das alles, es ist kein Wunder,
-wenn die anderen gegen uns toben. Leo, es ist Zeit, höchste Zeit,
-daß wir hier mit dem Aufbau fertig, daß uns die Kräfte frei werden,
-einen oder den anderen Reichen noch für unsere Ansichten zu werben, zu
-gewinnen. Vielleicht -- gehen wir doch den rechten Weg, können wir dem
-kommenden Gründer der neuen Gesellschaft -- Vorläufer sein ...“
-
-
-4.
-
-Einer hatte diesem Gespräch zugehört. Robert Karus, der schon seit
-Tagen in der Gegend weilte. In ihm war der Haß des Zerstörers gegen den
-Bauenden. Und auch er wollte seinem Freunde Heinz Wart ein Totenmal
-errichten. Sorgsam bereitete er den Grund, und seine Saat schoß schwer
-und wuchernd in die Halme.
-
-Aber weder die Freunde Hellwigs noch dieser selbst wußten von seiner
-Anwesenheit. Und niemand hatte ihnen noch verraten, daß Karus bereits
-einige Male, das Gitter überkletternd, in den Fabrikpark eingedrungen
-war, um hinter Buschwerk versteckt zu lauschen. Und seine Flugblättchen
-gingen unter den Eingeweihten von Hand zu Hand, ängstlich behütet
-vor den Augen Unberufener, und in geheimen Versammlungen wurden sie
-besprochen und schürten die Erregung und peitschten die Lust zur
-Empörung immer höher auf. Mehr als hundert hatten sich schon unbedingt
-an Karus angeschlossen, viele gab es, die durch die abfälligen Kritiken
-und klug berechneten Reden der gemieteten Hetzer aufgestachelt, schon
-unentschieden schwankten und jeden Tag zu Überläufern werden konnten.
-Und die Streikenden, durch die Unnachgiebigkeit ihrer Brotherren zum
-äußersten bereit, standen wie _ein_ Mann gegen Hellwig und was Karus
-und Mark und Leibinger ihnen vorsagten, das sprachen sie nach und
-glaubten, daß einzig Hellwig an ihrer Lage schuld wäre.
-
-So war eine gewaltige Menge Zündstoff aufgehäuft. Der geringfügigste
-Anstoß mußte die Explosion herbeiführen. Und Karus sorgte dafür, daß
-dies bald geschah.
-
-Nun, da der Boden gehörig unterminiert, ein verläßlicher Kern von
-Anhängern gebildet, die Erbitterung der Leute bedrohlich angewachsen
-war, nun mußte Sanders, der gedungene Proselytenmacher, aus seiner
-Reserve heraus. Bei jeder Gelegenheit redete er jetzt ganz offen vor
-allen Leuten über die mangelhaften Einrichtungen des Unternehmens,
-schimpfte darüber, mäkelte und nörgelte, und nichts fand mehr Gnade
-vor seinen Augen. Zu wenig Abwechslung im Essen, zu kleine Portionen,
-zu wenig Geld, aber viel zu viel Bevormundung, Kasernenzwang und
-Drill: das war so der eiserne Bestand seiner Argumente. Dieses Tadeln
-und Mäkeln führte bald zu Zank und Streitereien. Die treu zu Hellwig
-hielten, wollten es nicht dulden, die andern gaben dem Nörgler recht,
-Unfriede entstand, Zwist und Spaltung.
-
-Am heftigsten erboste sich über die Reden Sanders’ der alte Bogner.
-Jedes gehässige Wort gegen den Meister brachte ihn in Harnisch, er
-schalt und wetterte über die Anmaßung der jungen Leute und wäre am
-liebsten mit den Fäusten dreingefahren. Aber er erntete mit seinem
-ehrlichen Grimm nur Gelächter und Spott.
-
-Pfannschmidt wollte anfangs vermitteln und beschwichtigen. Bald jedoch
-erkannte er den Ernst der Bewegung, erschrak, wie fest sie sich schon
-eingenistet hatte, und schwere Befürchtungen kamen ihm. Da ging er
-zu Hellwig und deckte ihm alles auf. Der aber legte, wie vordem den
-Warnungen Reinholts, jetzt auch diesen Berichten keine Bedeutung bei.
-Er _wollte_ einfach nicht sehen, wo jeder sehen, nicht hören, was jeder
-vernehmen konnte. _Wollte_ blind und taub bleiben und allen ungünstigen
-Zeichen zum Trotz die siegessichere Zuversicht sich aufrechterhalten.
-Er zwang sich zur Sorglosigkeit, um die Zweifel, die sich schon leise
-regten, zu übertäuben. Er drückte jeden Argwohn, der ihm jetzt doch
-manchmal leise aufstieg, gewaltsam nieder, und gewaltsam zwang er sich,
-an den Erfolg ganz fest zu glauben, weil er den Erfolg brauchte. Weil
-er das Gelingen nicht nur heiß herbeisehnte, sondern notwendig haben
-mußte, sagte er: „Es ist schon gelungen!“ und sagte es sich und den
-anderen immer wieder vor, als könnte durch dieses fortwährende starre
-Bejahen jede Möglichkeit des Mißlingens gebannt werden. Und es durfte
-kein Mißlingen geben, sollte nicht, so meinte er, sein ganzes Leben mit
-in Stücke brechen.
-
-Deswegen stellte er den besorgten Warnern seine lächelnde Sicherheit
-entgegen, und was nur erst beinahe fertig und was noch fast nur kaum
-mehr als ein Wunsch war, sollte als fertig und vollendet angesehen
-werden. Doch weder Reinholt noch Pfannschmidt konnte er überzeugen.
-
-Sanders aber wurde immer dreister. Er begann nun auch über zu viel
-Arbeit sich aufzuhalten, hatte an jedem neuen Auftrag etwas auszusetzen
-und wenn er ihn überhaupt ausführte, tat er es nur widerwillig zögernd
-mit sichtlicher Verdrossenheit. Und als er nach dem festgesetzten
-Reihengang eine Woche lang die Kontrolle der Nachtwächter besorgen
-sollte, weigerte er sich mit der Begründung, er sei als Weber
-aufgenommen und nicht als Hausmeister. Da könne man schließlich auch
-von ihm verlangen, daß er die Ställe ausmiste oder die Senkgrube
-putze, das käme auf dasselbe heraus. Er weigerte sich also, schrieb
-aber auch noch am gleichen Tag an Leibinger, er möge sich bereit
-halten, die Sache werde bald entschieden werden.
-
-Und als am folgenden Morgen das Kontrollbuch keinen Vermerk aufzeigte
-und als er deswegen verwarnt wurde, zuckte er bloß die Achseln und
-lächelte dazu. Und als am zweiten Morgen aus der Verwarnung eine
-Rüge wurde, unter Androhung der Entlassung, da lächelte er noch
-geringschätziger und zuckte wieder die Achseln. Am dritten Morgen war
-er entlassen. Er erhielt sein Sparkassenbuch und seine Abfertigung und
-konnte gleich gehen. Obwohl Reinholt dagegen gesprochen, hatte es Fritz
-so angeordnet. Eine Satzung war übertreten, die darauf gesetzte Strafe
-war verwirkt worden, da gab es für Hellwig kein Überlegen und galt
-keine Rücksicht.
-
-Sanders aber hatte nichts anderes gewollt. Seiner Anhänger gab es
-viele, und die, das wußte er, würden ihn nicht so mir nichts, dir
-nichts ziehen lassen. Und er traf keine Anstalten zum Fortgehen.
-Das Geld nahm er zwar, aber seine Sachen packte er nicht. Nur sein
-Sonntagsgewand zog er an und ein gestärktes Hemd und ging ins Wirtshaus.
-
-Dort saß bereits Karus mit Leibinger und Mark. Sie hatten einen großen
-Krug Wein vor sich und tranken fleißig. Mit einem selbstbewußten
-Schmunzeln setzte sich der blatternarbige Weber zu ihnen.
-
-„Wie steht’s?“ fragte Karus kurz.
-
-Sanders schenkte sich gemächlich ein Glas voll und tat einen
-bedächtigen Zug. Da sein Bericht mit Spannung erwartet wurde, kam
-er sich sehr wichtig vor und wollte dieses Gefühl seiner Bedeutung
-möglichst lang auskosten.
-
-Leibinger rieb die Hände rund umeinander und machte sein
-verbindlichstes Gesicht.
-
-„Es scheint alles glatt gegangen zu sein?“ fragte er ausholend. Sanders
-nahm noch einen Schluck. Dann zog er sein Taschentuch und wischte sich
-umständlich den Mund ab.
-
-„Verfluchtes Getu’!“ schimpfte Karus. „Laß die Faxen und red’ endlich!“
-
-Da tat Sanders gekränkt und war beleidigt:
-
-„Befehlen lass’ ich mir nichts!“
-
-„Aber wir bitten Sie doch!“ lenkte Leibinger ein und Mark nickte und
-bestätigte eifrig: „Gewiß, gewiß, wir bitten Sie!“
-
-Da war der blasse Weber wieder versöhnt und erzählte von seiner
-Entlassung und fügte hinzu, daß er nicht fortgehen, sondern heute beim
-Abendvortrag im Garten Einspruch zu erheben gedenke und vom Mittag bis
-Feierabend werde er noch ein bißchen Stimmung machen.
-
-Leibinger meinte dazu: „Gut! Sehr gut!“ und Mark: „Schön! Sehr schön!
-Ausgezeichnet!“ Karus aber sagte: „Da erzählst du uns nichts Neues!
-Denke, daß ich dir das so eingetrichtert hab’. Daß sie dich davongejagt
-haben, hast du brav gemacht. Mach’s weiter so, dann geht heut’ abend
-der ganze Krempel in Fransen!“
-
-Dröhnend lachte er, und seine Faust schmetterte hart auf den Tisch.
-Dann trank er sein Glas leer, füllte es rasch und leerte es wieder
-und noch einmal und abermals. Nun die Entscheidung so nahe war, wurde
-er doch aufgeregt. Die anderen bemerkten das, schauten ihn an und
-schwiegen. Ihm aber löste der Wein die Zunge.
-
-„Bekehren will er die Aussauger!“ rief er unvermittelt aus dem Wirbel
-seiner Gedanken heraus. „Bekehren! So lang man die nicht totschlägt,
-gibt’s keine Bekehrung!“
-
-„Sprechen Sie von Hellwig?“ fragte Mark und riß die Augen weit auf.
-
-„Nein, vom Mond, Sie Kalb!“ entgegnete Karus grob. Leibinger lächelte
-liebenswürdig. Da faßte auch Mark die Beleidigung als Witz auf. Er
-lachte laut und gezwungen. Doch schien es ihm ersprießlicher, ein
-anderes Thema anzuschlagen.
-
-„Herr Karus,“ sagte er, „die Partei kann es Ihnen nicht hoch genug
-anrechnen, daß Sie sich so selbstlos ...“
-
-Karus unterbrach ihn: „Dankt dem Himmel, daß ich euch früher nicht
-so genau gekannt hab’. Ich hätt’s mir sonst, weiß der Teufel, noch
-gründlich überlegt!“
-
-Er hielt inne, fuhr mit den gespreiteten Fingern durch den borstigen
-Haarschopf.
-
-„Eh was, jetzt bin ich einmal da!“ sagte er dann. Und mehr im lauten
-Selbstgespräch: „Als junger Grasaff’ bin ich auch nicht anders gewesen
-wie der Volksbeglücker. Heinz auch nicht. Gewiß nicht! Nein! ... Was
-stiert ihr mich denn so blöd an? Ich bin nicht besoffen! Nur ... ich
-hab’ auch einmal einen Freund gehabt! Ja -- der Robert Karus hat auch
-einmal einen Freund gehabt ...“
-
-„Sie haben doch viele Freunde!“ beeilte sich Leibinger zu versichern,
-und Mark beteuerte das auch, rückte aber seinen Stuhl aus der Nähe des
-Mannes, dessen flackernde Augen und dessen zerfahrenes Wesen ihm Angst
-machten.
-
-„Redet mir das nicht vor!“ antwortete Karus geringschätzig. „Ihr
-braucht mich, deswegen tut ihr mir schön! Aber Freunde? Bah! Furcht
-habt ihr vor mir! Alle haben Furcht! -- -- Heinz nicht ... Und doch --
-hab’ ich ihn später ...“ Er sprang von der Bank und schüttelte die
-Fäuste vor sich, als rüttle er an Ketten. „Sie hätten ihn sonst ... es
-ist einfach nicht anders gegangen!“
-
-Wie ein erstickter Aufschrei war das. Und wieder trank er und ging mit
-mühsamen Schritten über den Lehmboden der Stube.
-
-„Also seither: Rache für Heinz! _Das_ ist der Grund! Nicht ihr! Nur --
-er! Die Gesellschaft von heute hat ihn umgebracht, drum _muß_ sie weg!
-Sie oder ich! Eher wird da nicht Ruh’!“
-
-Die anderen wurden aus den wirren Reden des verstörten Menschen, der
-im Ringen mit einem schweren Entschluß aus allen Fugen gehoben schien,
-nicht klug, schauten einander bedeutungsvoll an und unterbrachen ihn
-mit keiner Silbe.
-
-„Nun kann’s ja losgehen!“ sagte Karus nach einer Weile wieder ganz
-kalt. „Ich geh’ jetzt und horch’ ein bissel herum! Auf Wiedersehn heut’
-abend!“
-
-
-5.
-
-Es war Abend geworden.
-
-Langsam schritt Karus den Fußweg entlang zur Fabrik.
-
-Hoch über den weiten Wiesen zogen weiße Wolken wie Schaumflocken durch
-den blauen Himmel und flimmerten im Widerschein der müd geneigten
-Sonne. Eine Spottdrossel sang unsichtbar in einer Hecke. Ihr tiefes,
-klingendes Lied erfüllte den ganzen Busch, und es war, als sänge
-dieser selbst mit allen seinen Ästen und unbewegten Blättern durch
-einen Zauber zum Tönen gebracht. Sonst war Schweigen. Unter goldenen
-Schleiern lag die Erde still und glanzmüde, und das Leben hielt den
-Atem an. Und nichts war mehr zu hören als das tiefe, quellende Lied,
-das aus dem verzauberten Busch in die Märchen gewordene Welt verklang.
-
-Aber nicht überall war diese Landschaft so des Friedens voll.
-
-In der Fabrik Reinholts, in dem großen Garten, auf dem schattigen
-Platz unter den hohen Kastanien, wo der Tisch für den Vorleser stand
-und die Bänke für die Zuhörer, ballte sich und lärmte eine dunkle
-Menschenmasse verworren durcheinander, und Fritz Hellwig war rings von
-ihr umschlossen. Er hatte eben noch aus dem ‚Egmont‘ vorgelesen und
-war warm geworden bei der Stelle: ‚Ich fühle mir Hoffnung, Mut und
-Kraft. Noch hab’ ich meines Wachstums Gipfel nicht erreicht und steh’
-ich droben einst, so will ich fest, nicht ängstlich stehen.‘ Aber die
-Worte: ‚Soll ich fallen, so mag ein Donnerschlag, ein Sturmwind, ja
-selbst ein verfehlter Schritt mich abwärts in die Tiefe stürzen, da
-lieg’ ich mit vielen Tausenden‘, die Worte konnte er schon nicht mehr
-lesen.
-
-Da waren sie vom Lesesaal herübergekommen, erregt und schreiend, und
-Sanders ging in der ersten Reihe, ein wenig unsicher und ein wenig
-schwankend, mit zerwirrtem Haar und mit offener Weste. Er hatte sich
-Begeisterung und Mut getrunken, und das machte ihm jetzt die Füße
-schwer. Aber seine Zunge war gelenkig geblieben. Im Lesesaal hatte er
-zu seinen Freunden geredet. Während die anderen ahnungslos ihre Arbeit
-taten, hatte er seine Leute aufgepulvert. Und jetzt standen sie mit ihm
-vor Hellwig, um die Auflassung der Strafe zu fordern und -- es ging
-unter einem hin -- die Einstellung der Arbeit aus Solidarität mit den
-hungernden Genossen.
-
-Mit leidenschaftlichen Worten forderten sie das, und ihre Gebärden
-waren drohend und trotzig. Reinholt und Pfannschmidt hatten sich beim
-Nahen des Haufens wie zum Schutz neben Hellwig gestellt, und auch die
-anderen Getreuen drängten näher herzu. Fritz aber stand ruhig und
-aufrecht da, und seine Augen blickten wie verwundert in das Getümmel.
-Und je länger sie schauten, desto kälter glänzend wurden sie. Aber kein
-Muskel zuckte an ihm, nur die Nasenflügel zitterten leicht, und je
-fester sich die Lippen aufeinander legten, desto bestimmter wurde in
-dem unbewegten Gesicht der Ausdruck einer harten Entschlossenheit. Sein
-heller Blick richtete sich fest auf Sanders, und seine Stimme klang
-herrisch und streng.
-
-„Was suchen Sie noch hier?“ fragte er.
-
-„Fritz!“ flüsterte ihm Reinholt beschwörend zu. „Tu’ jetzt nichts, was
-sie noch mehr erbittern könnte! Nur jetzt nicht!“
-
-„Ich muß!“
-
-„Was ich hier suche?“ rief Sanders zu ihm hinauf. „Arbeit such’ ich!
-Brot such’ ich! Gerechtigkeit such’ ich!“
-
-„Gerechtigkeit haben Sie bereits gefunden. Brot und Arbeit suchen Sie
-anderswo, die Kündigung bleibt aufrecht!“
-
-„Sie ist willkürlich!“
-
-„Sie bleibt aufrecht.“
-
-Im selben Augenblick trat Karus hinter den Bäumen vor.
-
-„Servus, Volksbeglücker! Schön schaut’s hier aus!“
-
-Hellwig blickte ihn an und erstaunte nicht einmal, ihn jetzt und hier
-zu sehen.
-
-Was wollten nur die da unten von ihm? Und warum war Reinholt so
-farblos? Und warum bebte Pfannschmidt so und hielt die Hände geballt?
-Und warum war er selbst so seltsam ruhig, so leer, so, als ob er ganz
-hohl wäre und sein Blut, seine Lebendigkeit, sein ganzer Inhalt
-ausgeronnen?
-
-„Er darf nicht fort! Wir dulden’s nicht!“ riefen sie drohend zu ihm
-herauf.
-
-„Fritz, mach’ die Kündigung rückgängig!“ beschwor ihn Reinholt.
-
-Da reckte er sich hoch auf: „Nein!“
-
-Und ganz hart, wie wenn Eisen gegen Glasscherben klirrt, rief er hinab
-in den Lärm: „Hier hab’ ich allein zu befehlen! Ob ihr’s duldet oder
-nicht -- einerlei! Der Mann ist entlassen!“
-
-Karus lachte höhnisch auf.
-
-„Er duldet nicht, daß ihr einen Willen habt!“ rief er. „Kuscht, Hunde,
-kuscht! Er duldet nichts, als daß ihr kuscht!“
-
-Nun brausten sie wilder empor: „Wir kuschen nicht! Wir lassen uns das
-Maul nicht verbieten! Wir lassen Sanders nicht weg! Er darf nicht fort!“
-
-Die Treuen Hellwigs riefen dagegen und scharten sich dichter um das
-Podium und suchten die Schreier abzudrängen. Doch ihre Zahl war nur
-klein. Denn viele hielten sich zurück und standen unentschlossen da und
-wußten nicht, wem sie recht geben sollten. Der alte Bogner aber wollte
-immer wieder auf Sanders los und rang mit seinem Schwiegersohn, der ihn
-zurückhielt, und zitterte am ganzen Leibe und weinte vor Wut laut auf.
-
-„Mach’ die Kündigung rückgängig!“ flehte Reinholt abermals. Hellwig
-schüttelte nur mit einem kurzen Ruck den Kopf. Jetzt mußte er fest
-bleiben, durfte sich die Leitung nicht aus den Händen winden lassen,
-sonst war alles verloren.
-
-„Niemand darf hier drohen!“ sprach er in den Lärm hinein, laut und
-hell. „Niemand! Ich nicht und ihr nicht und niemand! Sanders ist
-entlassen! Und bleibt es! Und bliebe es auch, wenn ihr anständig und
-bescheiden euer Anliegen vorgebracht hättet! Er hat unsere Ordnung
-verletzt. Gilt euch diese Ordnung nichts und nichts euer verpfändetes
-Wort? Wenn ihr frei und unabhängig sein wollt, müßt ihr die Gesetze
-achten, die ihr beschworen habt und dürft nicht jene schützen, die sie
-böswillig brechen. Erst durch die Ungerechtigkeit werden wir unfrei!“
-
-„Ich hab’ nicht Nachtwächter sein wollen, weil ich ein gelernter Weber
-bin! Ist das ein Verbrechen?“ rief Sanders spöttisch.
-
-„Ich fordere Sie nochmals auf, die Ordnung zu achten und die Fabrik
-sofort zu verlassen!“
-
-„Und wenn ich’s nicht tu’?“
-
-„Dann jagt ihn der Volksbeglücker hinaus!“ höhnte Karus. „Schöne
-Volksbeglückung das! Wie ein ausgedienter Gaul wird er vor die Tür
-gesetzt!“
-
-Einer von den Arbeitern aber, die um Sanders waren, trat jetzt
-verlegen vor und sagte: „Meister, ich ... wenn ich gewußt hätt’, was
-die eigentlich wollen, hätt’ ich mich nicht so tief eingelassen. Sie
-haben’s ja so abgemacht, untereinander, der Karus, der Leibinger und
-der Sanders. Jetzt begreif’ ich erst, wo das hinaus soll.“
-
-„Schuft!“ schrie Sanders und spie ihm ins Gesicht. Karus trat
-gebieterisch dazwischen.
-
-Hellwig ächzte dumpf auf und taumelte. Wieder einmal sah er sich einem
-Schurkenstück gegenüber, der Ekel kam und lähmte seine Tatkraft. Er
-haßte die Falschheit. Und alles, was nur eine Spur von Gemeinheit in
-sich hatte, machte ihn fassungslos und wehrlos, da konnte er nicht
-zornig dreinfahren, fühlte er nur Enttäuschung und Schmerz und eine
-tiefe Mutlosigkeit.
-
-„Ihr habt es gehört!“ sagte er und das Sprechen wurde ihm schwer. „Ist
-es wirklich schon so weit, daß eine abgekartete Komödie uns auseinander
-bringen kann?“
-
-Als sie den Meister so ganz tief traurig und wie um alle Hoffnungen
-betrogen sahen, regte sich das Gewissen in so manchem.
-
-„Nein, Meister! -- Wir halten zu Ihnen, Meister!“
-
-Und der alte Bogner rang immer noch mit seinem Schwiegersohn und bat
-und drohte und schluchzte immerzu: „Laß mich los, Adam! Ich muß dem
-Kerl das Maul zustopfen!“ Doch der Adam ließ nicht los.
-
-Karus aber wurde kaum des Umschwungs gewahr, da holte er aus zum
-entscheidenden Schlag. Und mit dem ganzen Elan seiner wilden,
-ungezügelten Leidenschaft lief er den letzten Sturm.
-
-„Jawohl!“ schrie er, sprühendes Feuer in den Augen. „Jawohl! Es ist
-eine abgekartete Komödie! Aber sie ist gut genug, denen da oben die
-Larven herunterzureißen! Damit ihr endlich erfahrt, wie sie euch aus
-lauter Liebe die letzte Unze Blut aussaugen!“
-
-„Nieder mit den Blutsaugern!“ rief Mark im Hintertreffen. Und: „Nieder
-mit den Blutsaugern!“ riefen ihm viele nach. Und immer lauter tönte und
-schmetterte die Stimme des alten Revolutionärs:
-
-„Millionen raffen die zwei da oben zusammen! Jeder Tropfen Schweiß, den
-ihr vergießt, wird für sie zum Goldstück! Dann werfen sie euch ein paar
-Knochen hin: Da hast, Hund, friß dich satt!“
-
-Und wie grollende Meeresbrandung tönte die Antwort zurück:
-
-„Wir _sind_ keine Hunde!“
-
-„Nein, ihr seid keine Hunde! Es ist euer Recht, zu fordern, was sie
-euch als Almosen vor die Füße schmeißen! _Ihr_ müßt die Herren sein,
-denn _euere_ Muskeln stoßen die Welt vorwärts!“ rief Karus.
-
-Sein heißer Atem wehte über sie weg, schlug ihnen wie Glutwind ins
-Gesicht, ergriff und riß sie mit wie der Sturm die Bäume.
-
-„Nieder mit den Unterdrückern! Nieder! Nieder!“
-
-Das grollte und gellte auf, hob sich wie eine gewaltige Woge hoch
-empor, wieder, wieder und immer wieder und wollte nicht schweigen.
-
-Schlag auf Schlag kam das alles und ließ niemandem Zeit zur Überlegung.
-Hellwig stand mit totenblassem Gesicht und stützte sich schwer auf
-Reinholt. Als ob ihn das gar nichts anginge, blickte er in das Toben
-und fühlte nur einen harten Druck, der stärker und stärker sein Herz
-zusammenpreßte. Reinholt aber wollte ein letztes Mittel versuchen.
-
-„Leute!“ rief er. „Kommt zur Besinnung, Leute! Fünf Kompagnien Soldaten
-sind im Dorf!“
-
-Karus griff das Wort auf:
-
-„Seht ihr’s! Seht ihr’s! Jetzt werfen sie schon die Larven ab! Jetzt
-zeigen sie ihr wahres Gesicht! Zusammenschießen lassen sie euch, wenn
-ihr euer Recht fordert!“
-
-Und aus hundert Kehlen brauste es stürmisch zurück: „Wir lassen uns
-nicht zusammenschießen!“
-
-Mittlerweile hatte Leibinger auch die Streikenden vor dem Gittertor
-gesammelt. Rauh aufjohlten die. Und dann: „Genossen, nicht nachgeben!
-Wir helfen euch! Hoch die Internationale! Hoch die Freiheit!“
-
-„Hoch die Freiheit! Hoch! Hoch die Freiheit!“
-
-Und Karus’ Stimme klang wie Trompetenschall durch den Aufruhr: „In
-Sklavenketten halten sie euch! Um euere besten Menschenrechte betrügen
-sie euch!“
-
-„Wir lassen uns nicht betrügen! Wir sind keine Sklaven!“
-
-Mühsam raffte sich endlich Hellwig zusammen: „Laßt euch nicht
-aufhetzen, Leute!“
-
-„Er darf nicht reden! Herunter mit dem Tyrannen!“ donnerte es zurück.
-
-Da schrie er schluchzend auf: „Das sind meine Braven? Für _die_ hab’
-ich gearbeitet?“ und sprang mit einem Satz mitten unter sie. „Hier bin
-ich! Nun? Was zaudert ihr? Macht den Tyrannen nieder! Ihr seid ja frei!“
-
-Eine kurze Stille der Verblüffung.
-
-„Du Schuft!“ rief der alte Kesselwärter und drang mit geschwungener
-Faust auf Karus ein. Der fing den Schlag auf und sagte kalt: „Ruhig,
-Alter! Gleich ist’s vorüber!“
-
-„Wessen klagt ihr mich an?“ fragte Hellwig.
-
-„Er darf nicht reden! Nieder mit dem Tyrannen!“ schrie Mark im
-Hintertreffen. Aber nun Hellwig wieder mitten unter ihnen war, nun sie
-die vertrauten Züge wieder dicht vor sich sahen, die Lippen, die so oft
-gütige Worte zu ihnen gesprochen, die Augen, die so oft heiter und frei
-und immer ohne Falsch auf sie gesehen, da trauten sie sich nicht recht
-vor, und nur dumpfes Murren folgte dem gellenden Auftakt Marks.
-
-„Wessen klagt ihr mich an?“
-
-„Wir lassen uns die Freiheit nicht rauben! Wir sind keine Sklaven!“
-grollten sie und schauten mit scheuen Blicken an seinen leuchtenden
-Augen vorbei und schüttelten die Fäuste nur verstohlen.
-
-Fritz aber stand da, wie ein Träumender stand er da und schaute in eine
-leere Ferne hinaus, einem zerfließenden Trugbild nach. Und während es
-sich langsam auflöste und zerrann, stieg langsam und immer klarer und
-schärfer eine neue Erkenntnis vor ihm auf. Sein Blick war starr und
-visionär, mit fremder, müder Stimme fing er an zu sprechen und es war,
-als holte er die Worte aus einem tiefen Brunnen herauf:
-
-„Ich euch die Freiheit rauben? Brüder, wie kann ich euch etwas rauben,
-was niemals ein Menschengut gewesen ist? In schweren Ketten keuchen
-wir, das Schicksal hat sie uns auferlegt und wir zerbrechen sie
-nimmermehr. Aber das Tragen wollte ich euch leichter machen. Daß wir
-Schulter an Schulter die Ketten schleppen und sie uns nicht zu tief ins
-Fleisch schneiden. Ihr aber ... erhebt euch wider mich mit geballten
-Fäusten, Unmögliches verlangend, nie Erreichbares heischend. Ihr könnt
-ja nicht anders, seit heute, seit jetzt weiß ich es. Denn daß wir die
-Ketten stets aufs neue fühlen müssen, sobald sie uns nur ein bißchen
-leichter wurden, immer wieder schwer und drückend fühlen müssen, ist
-Menschenlos -- ist ewiger Menschenfluch ...“
-
-Die Stimme brach ihm. Unschlüssig standen die Leute. Karus aber,
-enttäuscht und zornig über diese Resignation, riß sein Beil aus dem
-Gürtel.
-
-„Gelatsch! Gelatsch! Und geht’s nicht anders, zerreißt die Ketten,
-zerbrecht die Fesseln, zerschlagt den Kerker! Dann habt ihr die
-Freiheit! Die Freiheit ist da!“
-
-Und: „Freiheit! Freiheit! Zerschlagt den Kerker! Wir wollen keine
-Ketten! Wir sind keine Knechte!“ schrien sie toll, jauchzend, außer
-Rand und Ufer.
-
-„Führ’ uns, Karus!“ tönte ein Ruf. Und da schwoll es an zu
-Donnergebrüll: „Führ’ uns, Karus! Karus, führ’ uns!“
-
-Und die Streikenden draußen riefen: „Wir kommen! Wir helfen euch!“ und
-warfen sich, Hunderte _eine_ geballte Masse, gegen das Tor, und das
-Schloß sprang krachend entzwei, und tobend wälzte sich die Rotte in den
-Garten.
-
-„Fritz Hellwig!“ frohlockte Leibinger. „Der Zahltag ist da!“
-
-Karus vertrat ihm den Weg: „Diesem da wird kein Haar gekrümmt!
-Vorwärts, Männer! Vorwärts! Zu den Maschinen! Feuer in die Speicher!
-Den roten Hahn auf alle Dächer! Im Namen der Freiheit! Im Namen Heinz
-Warts! Rache für Heinz Wart!“
-
-„Rache! Rache!“ gab der entfesselte Haufe gedankenlos das Wort weiter.
-Und Fritz lachte. Rasend lachte er auf und hieb sich mit der Faust die
-Schläfen: „Im Namen Heinz Warts? Recht so! Recht! Sengt! Brennt! Raubt!
--- Heinz! -- Heinz Wart! ... Heinz ...!“ Wie verzweifelt gebärdete er
-sich.
-
-„Wenn die Soldaten kommen ...“ warnte Mark.
-
-„Dann reißen wir das Pflaster auf und bauen Barrikaden! Drauf, Männer,
-drauf! Unser ist die Welt!“
-
-Und das blinkende Beil in hocherhobener Faust stürmte Karus fort. Fast
-alle folgten.
-
-„Heinz Wart!“ riefen die einen, „Freiheit!“ riefen die andern. Blind,
-taub, sinnlos, jeder Überlegung beraubt stürzten sie ihrem neuen Führer
-nach.
-
-Ganz wenige blieben zurück. Pfannschmidt, der sich den Empörern
-entgegengeworfen, lehnte, aus einer klaffenden Stirnwunde blutend, an
-einem Baum, und Bogner betreute ihn. Adam Pichler aber war schon früher
-in das Lager der Soldaten gerannt. Und Reinholt hatte alles andere
-seinen Gang gehen lassen in der Sorge um den Freund.
-
-Im Laufschritt kam das Militär angerückt. Der diensthabende Hauptmann,
-die gelbe Feldbinde um den schlanken Leib, führte es mit gezogenem
-Säbel.
-
-Da erwachte Fritz aus seiner Starrheit.
-
-„Nicht das!“ stammelte er und atmete wie ein gehetztes Tier. „Nicht
-das!“
-
-Unausgesetzt tönten krachende Axtschläge vom Fabrikhof, Gesplitter von
-Holz und Glas und Eisen, Brüllen und Gejohl.
-
-Blutroter Feuerschein lohte auf. Die Magazine standen in Flammen.
-
-Und jetzt ein wildes Geheul. Die Aufrührer hatten das Militär erblickt.
-
-Hornsignale gellten durch den Tumult. Scharfe Kommandoworte. Prasseln
-von fallenden Steinen. Das dumpfe Aufschlagen der Gewehrkolben gegen
-hundert Schultern.
-
-„Nicht das! Nicht ...“ Hellwig tat ein paar Schritte, wollte hin -- und
-kam nicht weit. Ein furchtbarer Aufschrei: „Aus! Alles -- aus!“
-
-Reinholt sprang rasch herzu. Zu spät. Wie ein gefällter Stier brach der
-Volksbeglücker ohnmächtig zusammen.
-
-Im selben Augenblick krachte die Salve.
-
-
-6.
-
-Als Hellwig das Bewußtsein wieder erlangte, war bereits die Nacht
-hereingebrochen. Er lag ausgestreckt auf einer der Bänke. Reinholt
-kniete neben ihm und legte nasse Tücher auf seine Stirn. Ein Häuflein
-verstörter und weinender Menschen stand im Kreis herum. Unstet
-leuchtete von der Fabrik herüber noch der Feuerschein. Vor dem
-zerbrochenen Gittertor aber hielten ein paar kastenartige Wagen, gelb
-angestrichen, das rote Kreuz im weißen Felde. Soldaten kamen und
-gingen mit brennenden Fackeln und mit Tragbahren, auf denen dunkle
-Menschenleiber lagen und stöhnten und zuckten. Ein Regimentsarzt eilte
-vorbei. Der Leinenkittel über der Uniform starrte von eingetrocknetem
-Blute, und auf der Höhe seiner fetten roten Wangen standen große
-Schweißtropfen. Er beugte sich über Hellwig und fragte, wie er sich
-fühle, und untersuchte ihn.
-
-Der richtete sich jählings auf. „Wie viele sind verwundet? Wie viele
-tot?“ fragte er hastig, und im Grunde seiner Augen stand das Grauen.
-Der Arzt zog gleichmütig die Schultern hoch. „Weiß die Zahl noch
-nicht!“ sagte er. „War ein heißer Tag, hat viel Arbeit gegeben. Das
-waren, Gott sei Dank, die letzten.“ Mit einer Kopfbewegung deutete
-er auf die Bahre, die eben in den Krankenwagen gehoben wurde. „Ruhe
-brauchen Sie! Schlafen Sie sich ordentlich aus, Ihre Nerven haben’s
-verdammt nötig! Sonst fehlt Ihnen nichts!“ Nachlässig salutierte er und
-eilte zu den Fahrzeugen. Die Pferde zogen an, im Galopp ging es fort.
-
-Dann kam der Hauptmann und bat den Besitzer der Fabrik um eine
-Unterredung. Und während Reinholt mit ihm sprach, trat Hellwig auf
-den Fahrweg hinaus, ging wie ein Schlafwandelnder weiter und weiter,
-zwischen rauschenden Feldern ging er und durch blühende Wiesen, und
-als Reinholt laut seinen Namen durch die Stille rief, da schritt er
-nur desto rascher vorwärts, mehrfach abbiegend, kreuz und quer, auf
-schmalen Rasenbändern, weiter und weiter, und er wußte nicht, wohin er
-ging und was ihn vorwärts stieß.
-
-Hoch oben in der Luft trieben noch immer schnell und lautlos die
-silbrigen Wolken vor dem Mond, der halbrund am Himmel hing und es war,
-als ständen die Wolken still und jagte die weiße Luna in hastiger
-Flucht zwischen den ruhenden Silberflocken durch den glanzerfüllten
-Raum. Von den brennenden Speichern und Dächern der Fabrik kam ein
-roter Schein und wehte unruhig über die Fluren, und der Himmel war
-dort purpurn glühend und die dunklen Büsche standen davor mit allen
-ihren schlanken Zweigen und gerundeten Blättern scharf aus dem lohenden
-Glanz herausgehoben, schwarze Schattenbilder auf goldig flammendem
-Grund. Schön und seltsam und geheimnisvoll war die Landschaft mit
-ihren sanften und grellen, ruhigen und beweglich huschenden Lichtern
-und Farben und Schatten, und unermeßlich dehnte sie sich in einem
-milden Leuchten blau verdämmernd, weit, weit, bis sie mit dem Rand der
-hohen Himmelsglocke zusammenschmolz. Lautloses Ineinanderspielen der
-Farben unten, lautloses Wolkenziehen hoch darüber, glanzgesättigte
-Stille dazwischen: das war wie ein Prunksaal der Einsamkeit, die
-hier demütigstolz die Königskrone aus den Händen der Unendlichkeit
-entgegennahm.
-
-Trostbringende Königin Einsamkeit.
-
-Für den, der hier ihren Krönungssaal durchwanderte, weiter und immer
-weiter wanderte, mit gesenkter Stirn und schlaffen Armen, für ihn hatte
-sie keinen Trost, und er suchte ihn auch nicht. Er wollte nur ... Was
-wollte er denn eigentlich noch?
-
-Da war ihm alles niedergebrochen. Ihm, dem Sieger, -- „Wir sind durch!“
-hatte er oft und oft den Freunden gesagt, -- war alles niedergebrochen.
-So gründlich, daß kein Stein auf dem andern geblieben. Und die ihm
-vertraut hatten, saßen jetzt zwischen ausgebrannten Mauern, viele
-brave, arbeitsame Leute, -- und konnten betteln gehen. Sein Lebenswerk.
--- Und Blut war vergossen worden. Durch seine Schuld war Blut vergossen
-worden, rotes, warmes Menschenblut. Sein Lebenswerk. Und alles war ihm
-niedergebrochen. Was wollte er also noch?
-
-Diese Gedanken, und immer nur dieselben Gedanken waren es, die ihn
-begleiteten, während er so durch die endlose Ebene hinschritt,
-stundenlang weiter und weiter schritt, bis ihn die Müdigkeit
-überwältigte. Seine Beine begannen zu zittern, er taumelte und mußte
-sich niedersetzen.
-
-Ganz schüchtern leuchtete das Frührot auf. In klaren Kugeln hing der
-Tau an den Gewächsen, und faul versuchte ein Frosch seine knarrende
-Stimme. Ein Vogel fing zu zirpen an, zaghaft und leis, als fürchtete
-er sich noch vor der Dämmerung und der Stille -- dann lauter, kecker
--- ein zweiter gab Antwort -- und als der junge Tag goldhell in das
-freudig aufschauernde Land hineinsprang, da jubilierten im vollen Chor,
-dem Zwang der Nacht entronnen und grüßten ihn viel hundert gefiederte
-Sänger.
-
-Mit dem Gesicht nach abwärts hatte sich Fritz ins tauige Gras geworfen.
-Vielgestaltig regte sich das Leben unter ihm. Winzige weiße Würmchen
-krochen umher, schwerfällig schüttelten die Fliegen den Tau von den
-surrenden Flügeln, ein hungriger Käfer lief hastig durch das Labyrinth
-der grünen Stengelchen, eine Spinne kletterte über das feine Wurzelwerk
-und über die kleinen Steinchen, mühselig, als stieg sie über hohe
-Berge. Und unter der beweglichen Mannigfaltigkeit ruhte das braune
-schwere Erdreich gelassen und still wie die Brüste einer Mutter unter
-den ratlos tastenden Fingerlein des trinkenden Kindes.
-
-Aber diese Ruhe strömte nicht auf ihn über, und sein Herz ging nicht
-in stillerem Gang. Schnell und schwer pochte es gegen den Boden im
-harten Rhythmus der Verzweiflung. Und während er so in die Erde starrte
-und den herben Duft ihrer Fruchtbarkeit trank, erwachten und zogen
-vorüber wie Bilder einer Zauberlaterne alle die hingeschwundenen
-achtunddreißig Jahre seines Lebens mit ihren Hoffnungen und Irrtümern,
-ihren Kämpfen, Niederlagen und bittersten Enttäuschungen. Was immer
-er bisher versucht hatte, alles war ihm mißlungen. Viele Wege war er
-gegangen, mit beschwingtem Fuß, in ernster und froher Begeisterung
-vermeinend, daß er dem Ziele näher komme. Aber jeder war ein Irrweg
-gewesen, hatte zum Ausgangspunkt zurückgeführt. Und da hielt er nun, wo
-er angefangen -- vor dem Nichts. Und alle Kraft war verzettelt, alle
-Arbeit vergeudet, verpulvert, vertan. Und jedesmal hatte er geglüht
-und geflammt, gleich heiß und hell geflammt für ein Leben ohne Götter
-und ohne Lüge, für die Herrschaft des deutschen Volkes und für die
-brüderliche Gleichheit aller Völker, für den Sieg der Sozialisten und
-für ihre Niederlage durch seine Ideen. Und alles war Lüge gewesen und
-Götzendienst. Sich selbst hatte er belogen und ein utopisches Ziel
-war sein Gott und Götze und selig machender Glaube. Wie die Spinne
-vor seinen Augen mühsam über die Grashalme, war er auf ebenem Boden
-keuchend gekrochen und hatte vermeint, er stürmte steile Berge empor
-zum Ziel. Nutzlos verschwendete Mühe -- Irrsal -- Verzweiflung --
-das war alles, was ihm geblieben. Und eine Ehe, die keine Ehe war,
-ein Weib, für das der Gatte, ein Kind, für das der Vater wie ein
-Gestorbener war.
-
-Aber leise, in den quälenden, schweren Rhythmus der Verzweiflung
-hinein, nur kaum wie ein schwaches Vogelzwitschern im Gewittersturm
-verhallend, schwebte fernher, ganz leise, eine Melodie des Trostes und
-ein schüchterner Hoffnungsklang. Und eine scheue Sehnsucht stand auf
-und pochte zag an und pochte lauter und mahnte: „Kehr’ heim!“
-
-Und pochte lauter und mahnte inniger: „Kehr’ heim! Zu Eva und Hansl,
-dorthin gehörst du -- sie warten auf dich. -- Nicht um deinetwillen --
-ihretwegen mußt du hin, daß sie aufrecht bleiben und sich weiter freuen
--- wenn auch du -- zerbrochen bist ...“
-
-Und ohne noch einmal in die Fabrik zurückzukehren, wie er ging und
-stand, im Hausanzug und mit der Gartenmütze, reiste er von der nächsten
-Bahnstation ab.
-
-
-7.
-
-Otto Pichler las in seinem Stammcafé in den Zeitungen, daß das
-Unternehmen des einstigen Freundes gescheitert war. Es bewegte ihn nur
-wenig. _Sein_ Schifflein war geborgen.
-
-Schon längst hatte er Grete Deming geheiratet, schon längst war er
-Prokurist und Stellvertreter des Direktors der chemischen Fabrik. Sein
-Schwiegervater hatte sich vor einigen Jahren zur Ruhe gesetzt. Ein
-verdienstvoller alter Herr, den man nicht hatte übergehen können, war
-dermalen mit der Leitung betraut. Aber sein Rücktritt konnte nicht mehr
-lang auf sich warten lassen, und dann war Otto der kommende Mann. Bei
-den Beamten war er beliebt. ‚Das Glückskind‘ nannten sie ihn und hatten
-recht damit. Nur wenige gab es, die so spielend mit dem Leben fertig
-wurden und mühelos die reifen Früchte auflesen konnten, die ihnen ohne
-vieles Dazutun wie von selbst in den Schoß fielen.
-
-Seine Ehe war wie tausend andere auch weder heiß noch kalt; eine
-gleichmäßig laue Atmosphäre hüllte sie ein, ließ keine Stürme heran,
-machte den Körper feist und war dem Wohlbefinden ungemein bekömmlich.
-
-Er ging seine Wege, Grete ging ihre Wege, mit der Treue nahmen sie es
-beide nicht zu genau.
-
-Als der zukünftige Direktor den Bericht gelesen hatte, fragte er den
-Kellner, ob die Herren seiner täglichen Tarockpartie schon anwesend
-seien. Der Befrackte bejahte. Da zog Otto ein goldenes Etui aus der
-Brusttasche, zündete sich eine Zigarette an, und während er den Rauch
-erst einatmete und dann langsam in die Luft hinausschwimmen ließ,
-dachte er: Ist es nicht Wahnsinn und Aberwitz, Gesundheit und Kraft und
-Blut für wildfremde Menschen einzusetzen? Wir leben schließlich doch
-nur das eine Leben, und warum sollten wir uns das nicht so angenehm wie
-möglich machen und trachten, daß es uns sacht und unmerklich verrinne
-in Fröhlichkeit und heiterem Behagen?
-
-Dann ging er ins Spielzimmer und mischte die Karten.
-
-
-
-
-Sechstes Buch
-
-
-1.
-
-Mitternacht war vorüber, als Hellwig bei Kolben Einlaß heischte.
-Der Doktor war noch wach. Als Fritz draußen schellte, ging er ihm
-ins Vorzimmer entgegen. „Komm nur herein,“ sagte er, „ich hab’ dich
-erwartet.“
-
-Und Fritz trat wortlos ein und hatte blasse Wangen und scheue Augen,
-die ohne Unterlaß den persischen Teppich am Fußboden betrachteten. Aber
-Kolben tat, als bemerkte er das nicht, sondern sprach zu ihm über seine
-Rosenkulturen im Garten, die heuer besonders reichlich blühen würden,
-über die vielen sonnigen Frühjahrstage, die immer wieder zu Wanderungen
-ins Gebirge lockten, über die letzte Premiere im Burgtheater. Über das
-alles und noch über viele andere Dinge sprach der Doktor unbefangen und
-zwanglos, als wäre Hellwig nicht an die drei Jahre, sondern kaum ebenso
-viele Tage fortgewesen. Und nur mitten zwischen diesen Dingen sagte
-er einmal ganz von ungefähr: „Deine Frau wirst du wohl jetzt nicht
-aufwecken wollen? Sie weiß auch noch nichts, es ist besser, du bleibst
-die Nacht bei mir.“
-
-Fritz atmete schwer auf und bewegte die Lippen, aber er sprach nichts
-und schaute nur stumpf vor sich hin, elend und voll Schuldbewußtsein.
-Doch als ihm der Doktor jetzt sein Schlafzimmer überlassen wollte, --
-er müsse sich ausruhen, man sehe ihm ja an, daß er total erschöpft sei,
--- da lehnte er auch das stumm ab und blieb auf dem Diwan sitzen, mit
-halb geschlossenen Augen und ganz teilnahmslos. Kolben aber dachte bei
-sich, daß es besser wäre, den stolzen und harten Mann mit allen den
-herben Verlusten und Enttäuschungen und Vorwürfen allein sich abfinden
-und fertig werden zu lassen. Und er brachte Kissen und Decken, wünschte
-ihm gute Nacht und zog sich zurück. Und Hellwig war ihm dafür dankbar.
-
-Er drehte die Glühlampe ab und blieb im Dunkeln sitzen und erinnerte
-sich, daß er unter einem Dach mit Eva sei, daß ober ihm sein Junge
-schlief, und das war Weh und Beruhigung, Qual und Trost zugleich. Doch
-schließlich wurde die Übermüdung stärker als alles andere, und auf
-die zerrüttelnden Aufregungen der letzten Tage reagierte der Körper
-endlich mit einem tiefen traumlosen Schlaf, der bis in die späten
-Vormittagstunden nicht von den bleischweren Lidern wich.
-
-Über alles mögliche hatte Kolben geredet. Aber was er für den Freund
-getan und wie er Eva über die langen einsamen Tage und Monate und
-Jahre hinweggeholfen, davon hatte er geschwiegen. Mit opferwilliger
-Treue, ein verläßlicher Berater und Sorgenbanner, war er ihr zur
-Seite gestanden, und während sie anfangs nicht darauf achtete, hatte
-er ihr alle unangenehmen und schwierigen Geschäfte abgenommen. Auch
-ihr Vermögen verwaltete er, und wenn Eva sich niemals ganz verlassen
-fühlte und wenn ihr gar nicht recht zu Bewußtsein kam, was eigentlich
-Fritz ihr angetan hatte, als er sie mit dem Kinde unbesinnlich in der
-großen fremden Stadt mutterseelenallein gelassen, wenn sie davon nichts
-merkte und sich leidlich zufrieden und geborgen glaubte, so war dies
-ausschließlich das Verdienst des Doktors.
-
- * *
- *
-
-Als Fritz endlich wach geworden, ging er mit Kolben in den ersten Stock
-hinauf. Kaum ein Wort hatte er bisher geredet. Und als er im Vorzimmer
-seiner eigenen Wohnung stand, spürte er den ungestümen Schlag seines
-Herzens bis in der Kehle. Kolben aber ließ ihn draußen warten und ging
-allein hinein, um Eva vorzubereiten. Ruhig und launig wie alle Tage
-begrüßte er sie und tat, als wäre gar nichts Ungewöhnliches vorgefallen
-oder im Anzug. Der vierjährige Hansl war mit dem Dienstmädchen
-spazierengegangen.
-
-Wo war die Frohsinn blitzende Eva von früher? Ganz zu tiefst, in
-den verstecktesten Winkel des Herzens, mußte sich die Fröhlichkeit
-verkrochen haben. Keine Spur davon war mehr in den schwermütigen Augen,
-dem ernsten Antlitz, das deutlich die Zeichen gelittener Schmerzen
-eingefaltet trug. Nur in den blonden Haarspitzen leuchtete etwas, ein
-flink Bewegliches, Übermütiges, und war schon wieder weg. Kaum wie ein
-schnell vorbeihuschendes Erinnern an funkelnde Jugend und sonnige Tage
-war das gewesen.
-
-Unten schritt ein Briefträger über die Straße.
-
-„Haben Sie keine Nachricht von Fritz?“ fragte da Eva unvermittelt.
-
-„Dasselbe wollte ich _Sie_ fragen ...“
-
-Ein trauriges Lächeln ging um ihre Lippen.
-
-„Mich? Seit Wochen hat er nichts hören lassen. Ich weiß schon nicht
-mehr, was ich mir denken soll!“
-
-„Schreibfaul war Fritz von je.“
-
-„Aber so lang hab’ ich noch nie warten müssen!“
-
-„Er wird Sorgen haben. Der Streik dauert jetzt schon einen Monat ...“
-
-„Wissen Sie denn wenigstens darüber etwas Neues? Denken Sie sich, heut’
-hab’ ich schon wieder keine Zeitung bekommen. Gestern doch auch nicht.
-Was nur dem Austräger eingefallen ist?“
-
-Kolben erhob sich. „Ich -- habe ihn das so geheißen, Frau Eva,“ sagte
-er sehr ernst.
-
-Da stand sie auch schon dicht vor ihm und schaute angstvoll in sein
-ruhiges Gesicht. „Kolben! Was hat’s gegeben?“
-
-„Nichts, was Sie bedauern müßten, Frau Eva.“
-
-Sie rieb die Knöchel ihrer Finger gegeneinander. „So sprechen Sie doch!
-Rasch! Rasch!“
-
-Zögernd gab er Antwort: „Die Führer des Streiks haben ihren Zweck
-erreicht. Reinholts Arbeiter haben sich dem Ausstand angeschlossen ...
-es hat Ausschreitungen gegeben ...“
-
-Da schrie sie laut auf: „Fritz! Fritz! -- Doktor, was ist mit Fritz?“
-
-„Ruhe, Frau Eva, Ruhe -- _ihm_ ist nichts geschehen. Jetzt endlich wird
-er heimkommen.“
-
-Sanft legte er den Arm um die Wankende. Aber sie stieß ihn ungestüm
-zurück. „Jetzt, Kolben? Jetzt? Nein! Nein! Das erträgt er nicht! Doktor
-... er verzweifelt ja! Wir müssen hin! Doktor ... wir kommen ja schon
-zu spät ...“
-
-Kolben hielt ihr die zitternden Hände fest. „Seien Sie vernünftig, Frau
-Eva, ich hab’ Ihnen schon gesagt: Jetzt endlich wird er heimkommen.
-Vielleicht ist er schon auf dem Weg ...“
-
-Da schaute sie ihn mit einem wilden Blick an und rief: „Vielleicht!
-Vielleicht auch nicht! Bringt Sie denn nichts aus Ihrem Gleichmut? Und
-Sie wollen sein Freund sein? Schämen Sie sich! Wissen Sie denn ... ob
-er -- überhaupt noch lebt?“
-
-Und ganz ruhig, ganz bescheiden antwortete der Doktor darauf: „Gewiß,
-Frau Eva ... Er ist ja schon heimgekommen.“
-
-Er öffnete die Tür. Hellwig stand unter der Schwelle. Und während
-Kolben mit zuckendem Gesicht, -- nun er allein war, brauchte er nichts
-mehr zu verbergen, -- während Kolben über die Treppe hinabeilte, warf
-sich Eva stürmisch an die Brust ihres Mannes.
-
-„Fritz!“ flüsterte sie in heißer Freude. „Fritz!“
-
-„Eva!“ Das klang rauh und war wie ein Schrei.
-
-Sie schmiegte sich ganz dicht an ihn. „Nun bist du wiedergekommen!
-Nun bist du endlich wiedergekommen!“ sagte sie und wiederholte es
-immerfort, langte nach seinen Wangen und streichelte sie und schaute
-ihn mit strahlenden Augen an und hatte alles Leid vergessen. „Blaß und
-schmal bist du geworden! Wo sind deine roten Backen hin? Bist du müde?
-Komm, setz’ dich, mach’ dir’s bequem, ruh’ dich aus ...“
-
-Und er hielt sie fest an sich gepreßt und legte ihren Kopf an seine
-Brust und schaute auf ihren blonden Scheitel und biß die Zähne
-zusammen, um nicht aufzuschluchzen. Alles Unrecht, das er ihr angetan,
-stand mit einem Male, nun er die Sanfte, Geduldige, Frohe wiedersah,
-riesengroß vor ihm auf, und er fühlte sich elend und schlecht und aller
-Liebe unwert.
-
-Aus dem Vorzimmer klang das Getrappel von Kinderfüßen und Geplapper.
-Der kleine Hansl kam vom Spaziergang heim. Und dann ging die Tür auf,
-sprang der Bub über die Schwelle, auf die Mutter zu. Da sah er den
-großen fremden Mann, wurde kleinlaut und wagte sich nicht weiter. Eva
-ergriff seine Hand. „Hansl!“ sagte sie mühsam heiter. „Hansl, komm zu
-Vaterl!“
-
-Halb scheu, halb zutraulich trippelte der Bub heran.
-
-„Vaterle ...?“ fragte er furchtsam.
-
-„So trau’ dich doch, Hansl! Na?“ Und um ihm die oft vorgesprochenen
-Worte ins Gedächtnis zu rufen, begann sie: „Grüß’ -- Gott --“ Da
-stellte sich das Kerlchen stramm vor den großen Vater hin und sagte
-hell und herzhaft: „Grüß’ Gott, Vaterle, und hab’ mich lieb. Hab’ auch
-Mutterl lieb und bleib’ bei uns!“
-
-Wortlos, in tiefster Bewegung, hob Fritz seinen Sohn zu sich hinauf und
-küßte ihn.
-
-„So!“ rief Eva. „Jetzt komm, Hansl, wir wollen Vaterl was zu essen
-holen!“
-
-Und rasch führte sie den Buben aus der Stube. Er durfte seinen Vater
-nicht länger in solcher Erregung sehen.
-
-
-2.
-
-Ein Tag nach dem andern ging vorüber und Hellwigs düstere Miene wollte
-sich nicht aufhellen. Sein Inneres war wie ausgebrannt, wüst, nackt und
-leer. Alle Quellen waren versiegt, alle Hoffnungen verdorrt. Was er für
-sein Lebenswerk gehalten, lag in Trümmern. Da schämte er sich vor sich
-selbst, vor seinem Weibe, vor den Menschen.
-
-Führer hatte er ihnen sein wollen, Pfadfinder, Heilbringer -- und
-war nichts gewesen als was so viele andere auch: ein Irrlehrer und
-dünkelhafter Maulheld, der da glaubte, den Menschen die Wahrheit
-schenken zu können. Jeder andere durfte mit gleichem Recht das gleiche
-behaupten. Die Wahrheit hatte ja doch keiner, konnte keiner haben,
-weil es im ständigen Fluß der Entwicklung einfach keine Wahrheit gab.
-Keine Wahrheit wenigstens, die zu allen Zeiten Wahrheit bleiben muß.
-Wer am Ufer steht oder im Strome treibt, weiß vielleicht, daß die
-Strombahn in diesem Augenblick von Westen nach Osten zieht. Aber ob
-sie sich tausend Meter weiter unten nicht nach Süden wendet oder nach
-Norden oder im Bogen zurück nach Westen, das weiß er erst, bis er’s
-mit eigenen Augen sieht. Doch so wahr der Strom ein paar Meter weit
-nach Osten fließt, so wahr fließt er auch ein paar Meter weiter unten
-nach Süden. Wer aber wäre vermessen genug, zu behaupten: Tausend Meter
-abwärts _muß_ dieser unbekannte Strom im unbekannten Lande so fließen
-und nicht anders! -- In tausend Jahren _muß_ die Menschheit diesen und
-diesen Weg gehen und keinen andern!
-
-Wer wäre so vermessen?
-
-Er, Fritz Hellwig, er hatte die Vermessenheit gehabt und schämte sich
-jetzt, da er sie erkannte. Und noch etwas anderes erkannte er jetzt:
-den Frevel, so nannte er es, der kein Freund der Beschönigung war, den
-Frevel, den er an Eva und seinem Kinde begangen -- und an sich. Das
-frohe Lachen und Plaudern des Buben war ihm wie beständiger Vorwurf.
-Aus den guten Augen seiner Frau las er ihn und immer haltloser wurde er.
-
-Auch Kolben vermochte da nichts zu richten. „Dir hätt’ ich auch eine
-Schuld abzuzahlen, Albert!“ hatte Fritz bitter gesagt und als der
-Doktor dagegen lachend protestierte, hatte er tonlos weiter gesprochen:
-„Ich muß nur nehmen und immer nehmen! Immer nur in euerer Nachsicht
-leben! Das ist nicht gut, Albert, nein, das ist nicht gut ...“ Und
-er war wieder in das tatenlose Hindämmern gefallen, jedem Zuspruch
-unzugänglich und taub für jeden Trost.
-
-Seit seiner Rückkunft hatte er die Wohnung nicht verlassen. In sich
-vergraben und ganz in seine Verzweiflung eingewühlt lebte er, zeigte
-für nichts Interesse, rührte die Zeitungen nicht an. Briefe von
-Reinholt liefen ein. Sie blieben ungelesen. Wenn die Flurglocke klang,
-schrak er zusammen. Er fürchtete sich vor den Menschen, weil er sich
-vor ihnen schuldig glaubte.
-
-„Doktor, was sollen wir nur machen?“ fragte Eva oft ganz mutlos.
-
-„Gehn lassen!“ antwortete dieser. „Es wird auch wieder anders werden.“
-
-Und sie ließen ihn gewähren. Mit keinem Wort rührte Eva an der
-Vergangenheit, tat, als wäre er nie fort gewesen. Sie drängte sich
-ihm nicht auf, aber stets war sie in seiner Nähe, hielt jede Störung
-fern, barg ihren Kummer hinter hellen Mienen und lächelnder Heiterkeit,
-hüllte ihn ganz in ihre Liebe ein und umhegte ihn mit jener stillen
-Hausmütterlichkeit, deren Walten unmerklich ist und die doch alles
-durchleuchtet und durchwärmt.
-
-Und wenn sie sich gar keinen Rat mehr wußte, schickte sie Hansl zu
-ihm. Den konnte er dann stundenlang auf seinen Knien haben, wie ein
-Kind konnte er mit ihm plaudern und alle Märchen, die er noch wußte,
-erzählte er ihm. Aber sobald der Junge fort war, sank er wieder
-zusammen wie ein Feuer, das allen Brennstoff aufgezehrt hat.
-
-Unangemeldet kam eines Tages Kaufmann Wart hergereist, um nach dem
-Rechten zu schauen und nebenbei auch seinem Schwiegersohn gründlich den
-Kopf zu waschen. Aber als er ihn so elend sah, unterließ er es. „Das
-Flamändern wird dir jetzt wohl vergangen sein!“ knurrte er nur.
-
-Einige Tage später nahm er ihn beiseite: „Fritz, was wirst du jetzt
-eigentlich anfangen?“
-
-„Ich -- weiß es nicht ...“
-
-„Aber ich wüßt’ was!“ lächelte verschmitzt der rundliche Mann, der
-jetzt wieder frisch und blühend aussah und unter seinem weißen Barthaar
-feiste rote Wängelein hatte. „Ich wüßt’ was! Komm zu uns nach Neuberg!“
-
-„Das geht nicht!“
-
-„Muß gehn, Fritz. Schau, es ist ein wahrer Jammer. Alles klerikal,
-alles schwarz, bis über die Ohren schwarz! Das wär’ was für dich.
-Misch’ auf! Jag’ sie davon! Schließlich, es ist ja doch deine
-Vaterstadt. Wär’ ein Verdienst, Fritz, -- und besser, als so ins Weite,
-Nebulose hinein. Dort hast du wenigstens festen Boden und weißt, daß
-du darauf gehörst und für wen du’s machst. Dein Bub, -- hm -- ich
-denk’ halt, jeder Baum braucht seine Erde. Und so eine Großstadt, das
-ist doch keine richtige Heimat. Irgendwo aber soll jeder Mensch seine
-Wurzeln haben. Pflanz’ halt den Hansl dort ein, wo er hingehört, nicht?
-Und dann -- uns zwei Alten tät’s auch wohl. Die Mutter, -- sie hat zu
-viel durchmachen müssen, -- die Mutter kann nicht mehr recht fort. Es
-zwickt und reißt sie überall. Gefahr ist keine, aber beschwerlich ist
-so was, drum ist sie auch nicht mitgekommen. Die Mutter, siehst, und
-ich -- jetzt sind wir schon ganz allein. Und dann hätten wir wenigstens
-wieder jemanden. Und schreiben -- du wirst ja doch nichts andres tun
-als Bücher schreiben und für die Zeitungen -- schreiben kannst bei uns
-draußen auch. Was meinst?“
-
-Fritz antwortete nicht gleich. Kolben kam herein.
-
-„Stör’ ich?“ fragte er.
-
-„Nur herein, Herr Doktor! Ich sag’ grad’ nur, der Fritz soll mit nach
-Neuberg!“
-
-Kolbens Augen hinter der goldenen Brille leuchteten auf. Das konnte
-eine Lösung sein. Aber diplomatisch meinte er nur: „Hm, Neuberg? Was
-dort?“
-
-Fritz sagte nicht ja, nicht nein. Doch die Worte klangen in ihm nach.
-Und die beruhigende Aussicht in eine Zuflucht ließ ihn gefaßter werden,
-wenn er sich das auch nicht eingestehen wollte, und richtete ihn auf
-und war wie das Bändchen Bast, das ein ins Krumme wachsendes Bäumchen
-am stützenden Pfahl festhält.
-
-
-3.
-
-Und die Tage glitten weiter, sacht und gleichmäßig, wie weiße Schwäne
-auf einer unergründlich tiefen und dunklen Flut. Glatt war die
-Oberfläche und verriet nicht, was darunter brausend durcheinander
-brodelte, alle Leidenschaften deckte sie zu, alle Angst und Qual und
-Aufregung, und darüber segelten die weißen Schwäne, einer hinter
-dem anderen, ruhig und lautlos. Kaum merklich war die Bahn, die sie
-zogen, aber sie war doch da und in den sanft bewegten Wellen spiegelte
-sich mit kleinen Lichterchen die verbannte Freude, versuchten die
-Silberfischchen der Hoffnung zaghaft ihren Tanz. Und zwischen das
-stürmische Einst und das Jetzt schob sich mit mildem Glanz, die
-scharfen Konturen abtönend und verschleiernd, wie eine durchsichtige
-Wolke der Friede.
-
-Ohne Geräusch und ohne viele Worte, mit einer gleichmäßig stillen
-Freundlichkeit und innigen Hingabe, versah Eva den Haushalt und
-pflegte den kleinen Hansl und den großen Fritz und jede Bequemlichkeit
-bereitete sie ihm. Und täglich kam sie mit den Zeitungen und fing von
-Dingen zu reden an, die ihr ganz fern lagen. Von Doktor Kolben oder
-aus den gelehrten Büchern holte sie sich Aufklärung, in die schwer
-gangbaren Gebiete der Finanzwissenschaft und der hohen Politik drang
-sie mutig ein, schlug sich tapfer mit den schwierigsten Lehren und mit
-den verwickeltsten Ereignissen herum, um nur mit ihrem Manne über etwas
-sprechen zu können, was vielleicht seine Teilnahme wecken und ihn aus
-der schweren Dumpfheit reißen könnte. Oder sie legte ihm Zeitschriften
-und Bücher auf den Tisch: hier sei ein bemerkenswerter Aufsatz, den
-müsse er lesen. Und dieses neue Werk vom Wesen des Geldes werde ihn
-möglicherweise auch ansprechen. Doch wenn sie ihm von Reinholt Briefe
-brachte, dann sagte sie nichts dazu und schaute ihn nur freundlich
-bittend an: Er solle doch einmal einen aufmachen und lesen. -- Aber
-mit keinem Wort rührte sie an der Vergangenheit, erwähnte auch nichts
-davon, daß viele Blätter für ihn eintraten und das Vorgehen seiner
-Feinde in der schärfsten Weise verurteilten. Das hatte Zeit, das konnte
-ihm später als Genugtuung dienen. Jetzt sollte er nur erst aus der
-schlaffen Teilnahmslosigkeit heraus. Aber es wollte und wollte nicht
-anders mit ihm werden. Meist saß er vor seinem Schreibtisch, hatte
-die weißen Papierbogen vor sich liegen und die Feder daneben, aber er
-rührte sie nicht an und nicht eine Zeile schrieb er, sondern grübelte
-nur und brütete vor sich hin, viele, viele Stunden lang. Aber die
-Melodie der Häuslichkeit tönte immerzu leis um ihn und ruhiger und
-ruhig schlug allmählich sein Herz.
-
-Und da geschah es eines Tages -- ein Gewitter war verrauscht und durch
-zerrissenes Gewölk drang die sinkende Sonne mit schrägen Strahlen,
-die von den Fensterscheiben gegenüber in gelber Lohe zurückflammten.
-Dämmrig wurde es und düster, und Eva zündete die Lampe an. Das Gas
-brodelte leise im messingnen Auslauf, und vor den Fenstern draußen im
-Garten schlief sanft und sacht die Erde ein und eine Amsel sang vom
-eisernen Windpfeil eines Landhauses herab der müden das Schlummerlied.
-Da geschah es. In dieser seltsam leuchtenden und heimlich klingenden
-Stille außen und innen, in diesem feierabendlichen Frieden, der alle
-Dinge weich und warm in seine Arme nahm, geschah es.
-
-Halb vom Vorhang zugedeckt, saß Fritz beim Fenster. Er hatte, nach
-langer Zeit wieder einmal, in seinem Werk geblättert, das er einst in
-einem Rausch der Schaffensfreude niedergeschrieben, hatte auch einzelne
-Stellen gelesen, wieder und wieder gelesen, aber keinen Widerhall in
-seiner Seele gehört. Worte waren das, leere, taube Worte, die an ihm
-abglitten und hohl tönten, wie Gefäße ohne Inhalt. Und alle Glut war in
-sich zusammengesunken, und unter der Asche glomm kein Funke mehr.
-
-Er klappte das Buch zu und lächelte bitter, als er den gepreßten
-Lederrücken sah. Für Jahrhunderte schien dieser Einband berechnet
-und was er umschloß, war schon widerlegt, war schon verbrannt und
-ausgekühlt und wertlos.
-
-Lang saß er dann und schaute in den Garten hinaus. Noch tobte das
-Gewitter und die Wolken hingen ganz niedrig und die Bäume bogen sich
-und zitterten im Sturm und wenn ein Blitz grell aufflammte, der Donner
-nachkrachte, duckten sie sich noch tiefer und bebten sie noch stärker.
-Und die weißen Landhäuschen fürchteten sich mit ihnen und kauerten wie
-verirrte junge Tiere in dem zitternden Grün. Und in dicken Strängen
-fiel der Regen nieder. Und dann wurde es stiller und lichter und freier
-und der letzte Donner war noch nicht vergrollt, da war auch schon
-wieder Amselsingen und war leuchtender abendlicher Friede.
-
-Dann flammte die Lampe auf, und Eva kam und legte ihm die Abendblätter
-aufs Fensterbrett. Und wie jedesmal schob er sie beiseite, ohne einen
-Blick hineinzutun. Denn er wollte nicht erinnert werden, wollte nicht
-wissen, was draußen in der Welt vorging, das sollte tot für ihn sein,
-wie er für die Welt tot sein wollte.
-
-Lebhaft und ungestüm sprang jetzt sein Bub, des stillen Spielens mit
-den Bauklötzchen in der Ecke müd, zu ihm her, legte die Arme um seinen
-Leib und den Kopf auf seine Knie: „Vaterle, erzähl’ was!“
-
-Da schrak er aus seinem Grübeln und schaute das Kind mit ausdruckslosen
-Augen an.
-
-„Was erzählen!“ bettelte der Bub.
-
-Nun bezwang er sich mühsam, hob den Knaben auf seinen Schoß, fing nach
-einer geraumen Weile zu reden an: „Also -- es war einmal ein Mann, der
-war verwunschen, immerzu irre zu gehen. Wenn er wohin gewollt hat, in
-die Kirche oder auf den Jahrmarkt in die Stadt, hat er niemals den
-rechten Weg finden können. Er selber freilich, er hat schon geglaubt,
-daß er richtig geht. Immer der Nase nach geradeaus, dann links um die
-Ecke und noch einmal rechts um die Ecke, dann muß die Kirche ja da
-sein. So hat er geglaubt. Aber die Kirche ist nicht da gewesen, sondern
-die Ziegelscheuer oder die Herberge oder sonst ein Haus, nur nicht die
-Kirche. Und er hätte doch darauf geschworen, daß er recht gegangen ist.
-Und wenn er zum Jahrmarkt nach Aberg gewollt hat, ist er sicher zum
-Viehmarkt nach Beheim gekommen, was doch in einer ganz anderen Richtung
-liegt. Weil er aber nicht leer nach Haus hat kommen wollen, hat er
-sich halt dort eine Kuh gekauft oder einen Ziegenbock und den hat er
-dann sicherlich dem Meister Schneider oder Fleischhauer in den Stall
-getrieben, die doch am andern Ende vom Dorf gewohnt haben. Und kurz und
-gut, er hat halt nie dorthin kommen können, wohin er gewollt oder wo er
-zu tun gehabt hat. Immer hat er sich verirrt oder ist immerzu im Kreis
-herumgegangen, immerzu rundherum im Kreis.“
-
-Er schwieg und holte tief Atem.
-
-„Der dumme Mann!“ rief der kleine Hansl.
-
-„Jawohl, der dumme, dumme Mann!“
-
-„Fix, Hansl, dein Abendbrot ist da!“ rief die Mutter dazwischen. Der
-Bub wollte nicht fort: „Erzähl’ mehr, Vaterl!“ bat er. Aber Frau Eva
-machte keine Umstände. Sie packte den Zappelnden unter den Armen und
-hob ihn in seinen Sessel. „Avanti! Jetzt wird gegessen, daß du mir
-rechtzeitig in die Federn kommst!“ Sie band ihm ein Mundtuch vor, gab
-ihm den Löffel in die Hand. Nun aß er gehorsam seine Eierspeise und
-schmatzte mit den Lippen und ließ sich von der Mutter die Semmelbrocken
-in den Mund stecken.
-
-Durch das Gegitter des Spitzenvorhangs schaute Fritz zu. Da waren
-sie beisammen, die beiden lieben Menschen, die schöne reife Frau und
-der helläugige Knabe, im goldenen Kreis der Lampe. Und beide hatten
-vergnügte Gesichter und waren guter Dinge und nicht ein leisester
-Schatten trübte jetzt ihre heiteren Mienen. Im engsten Raum, vom
-goldenen Lichtkreis eingeschlossen, Mutter und Kind, Erfüllung und
-Verheißung, lachend und blühend wie die Erde im Juni. Und er -- hatte
-sich selbst aus dem goldenen Kreis verbannt, -- um all das Licht hatte
-er sich betrogen, mußte schuldbeladen abseits stehen.
-
-Der dumme, dumme Mann!
-
-Hart vor seinen Füßen hörte mit einer scharfen Linie das warme
-Lichtrund auf und um ihn war Dunkel und Einsamkeit und Kälte.
-
-Du dummer, dummer Mann!
-
-So tritt doch heraus aus dem Dunkel. Wag’ den Schritt -- ins Licht, in
-die Wärme, in die Liebe -- zurück in den leuchtenden Kreis des Lebens.
-Diesmal kannst du nicht in die Irre gehen. Zu nah ist das Ziel. Ein
-Schritt nur -- ein Öffnen der Arme -- und du hast es und hältst es fest
--- und nimmer, nimmermehr kann es dir dann entfliehen.
-
-Aber es war ihm, als könnte er niemals über diese scharfe, klare
-Grenzlinie hinüber.
-
-„Weiter erzählen!“ rief Hansl und schlug mit seinem Löffel gegen den
-blechernen Teller. „Weiter erzählen, Vaterle!“
-
-Doch Eva hielt ihm die Hand fest und sagte: „Was gibt’s da noch viel
-zu erzählen? Der Mann ist immer falsch gegangen, weil er ja doch
-verzaubert war. Und einmal, da ist er schon weit fortgewesen und hat
-sich gar nicht nach Haus finden können. Aber da ist ihm eingefallen,
-daß seine Frau mit dem Essen auf ihn wartet und daß sein Bub auf
-ihn wartet und eine Geschichte erzählt haben will. Und wie ihm das
-einfällt, da hat er sich umgedreht, und keinen einzigen falschen
-Schritt hat er mehr gemacht und ist nur immerzu geradeaus gelaufen und
-gelaufen, bis er richtig zu Haus war. Und so schnell ist er gelaufen,
-daß das Essen wirklich noch warm war und daß er auch noch eine
-Geschichte hat erzählen können. Und seit der Zeit ...“
-
-Mehr konnte sie nicht sagen. Denn Fritz war aus seiner dunklen Nische
-in das helle Licht getreten, mit weit gebreiteten Armen -- und seine
-Augen waren groß und leuchteten in ihren Tiefen, und die lieben zwei
-lehnten ihre Köpfe an seine atmende Brust, und so stand er in stummer
-Ergriffenheit und hatte sein Ziel erreicht und hatte sein Glück
-gefunden im goldenen Kreis des Lebens.
-
-
-4.
-
-In der Nacht, die diesem Erlebnis folgte, da lag er wach bis zum
-Morgen. Und während Eva neben ihm still atmete, fühlte er, wie Ring
-um Ring von seinem Herzen sprang, Stück um Stück der Eiswall brach,
-hinter dem es eingefroren nur müd gepocht hatte. Die Nacht flutete
-dunkel und gleichmütig vorüber. Ihm aber leuchteten die Augen groß
-und eines ernsten Glückes voll. Erlösung. Auferstehung. Weitab vom
-tosenden Jubel, vom wütenden Haß des Tages, im engsten Raum, zwischen
-seinen vier Pfählen, mit einer beglückenden Selbstverständlichkeit war
-diese Stunde gekommen und hatte ihn zum Hafen getragen, mühelos, wie
-eine Welle die Muschel auf den Strand spült. Und er konnte alle Segel
-einziehen und Anker werfen.
-
-Und langsam und allmählich lernte Fritz Hellwig wieder lachen und
-wieder frei aufschauen. Und wenn er den Glauben an sich selbst verloren
-hatte, so fand er ihn allmählich und langsam wieder in dem Glauben
-an das Leben und in der Liebe der Seinen und zu den Seinen. Und alle
-Zärtlichkeit Evas und aller Jubel des Buben strömte in seine Seele,
-die ihre Tore weit offen hielt und machte ihn dankbar und fromm und
-glücklich wie ein unartiges Kind über unverdiente Weihnachtsgaben.
-Und jetzt bemerkte er auch die behutsame Zartheit, mit der Eva
-seine Stimmungen belauschte und wie sie sich mühte, ihn abzulenken,
-aufzuheitern und aus seiner Teilnahmslosigkeit zu wecken. Wie sie
-immer und immer wieder leis an sein Herz pochte und Einlaß heischte
-und die Geduld niemals verlor, wenn sie vergeblich warb, wenn er sie
-rauh zurückstieß und keinen Teil mehr haben wollte an aller Freude und
-Liebe. Und er zieh sich der Selbstsucht, weil er sich nur dem eigenen
-Schmerz überantwortet hatte und zu allem angerichteten Unheil, zu allen
-seinen Irrfahrten, die so viele bitter getäuscht und arm gemacht, noch
-und abermals ein Unrecht gehäuft und jener weh getan hatte, die ihm
-zunächst stand und ihn am liebsten hatte.
-
-Schwere Schuld war zu sühnen und manches konnte überhaupt nicht
-ausgetilgt werden. Aber irgendwie gutmachen und aufwiegen ließ es sich,
-nur mußte er die Zeit nützen und seine Kräfte, statt sie in nutzloser
-Selbstbemitleidung zu vergeuden, frei machen für die Sühne.
-
-Und langsam wurden sie frei.
-
-Hatte er früher alles an sich vorbeigehen und gleichgültig zu Boden
-fallen lassen, so konnte er jetzt nicht genug tun und nicht genug
-finden, was Eva freuen und fröhlich machen sollte. Auf alle ihre
-Anregungen ging er ein, sprach mit ihr über die Tagesereignisse, und
-wenn sie auf ein besonders verwickeltes Thema gerieten und wenn Eva
-sich immer tiefer hinein verfitzte und hilflos hing wie ein Fisch im
-Netz, dann lachte er wohl und sagte, sie solle sich doch keine solche
-Mühe und seine Schuld nicht noch größer machen.
-
-Sie erwiderte nicht auf solche Reden, blickte ihn nur strahlend aus
-innigen Augen an und auf ihrem Gesicht lag ein ganz heller Schein der
-Freude.
-
-Bald hatte er nachgeholt, was er in den letzten Wochen versäumt, hatte
-er die Zusammenhänge wiedergewonnen und die Zeitungen blieben nicht
-mehr ungelesen neben dem Schreibtisch liegen. Und er las die maßlosen
-Ausfälle in den Blättern der Gegner, las die Verteidigungen und die
-Lobsprüche der Anständigen und ihm wurde dabei, als ob das alles
-irgendwo weit in der Ferne sich abgewickelt und er gar keinen Teil
-daran habe. Auch die Briefe Reinholts las er jetzt. Und da erfuhr er
-denn das Schicksal der Empörer.
-
-Karus, Leibinger, Sanders und fünf andere waren tot, Mark im Gefängnis,
-die übrigen in alle Winde verstreut. Der Streik war zu Ende.
-
-Fritz las das und wurde wieder sehr traurig. Aber es war nicht mehr
-die dumpfe Verzweiflung, der tatenlose Trübsinn von früher. Eine tiefe
-sanfte Wehmut war es, die ihn ganz läuterte und immer fester und
-unlösbarer mit seinen Lieben verknotete.
-
-Den ganzen Tag war er jetzt mit dem Buben im Garten, lehrte ihn die
-Vögel nach dem Ruf, die Pflanzen und die Steine unterscheiden und wurde
-nicht müd, die zahllosen Fragen des aufgeweckten Kindes zu beantworten.
-Aber noch keinen Schritt hatte er seit seiner Rückkehr vor das Haus
-getan. Er schämte sich noch.
-
-Und auch jetzt, als ihn Eva zu einem Spaziergang aufforderte, wollte er
-nichts davon wissen. Sie aber ließ nicht mehr locker, bat und drang in
-ihn und endlich gab er nach.
-
-Zwischen den gartenumhegten Villen gingen sie, in stillen Gassen, die
-wie breite Alleen waren, von Bäumen flankiert und mit gelbem Kies
-bestreut. Und nur wenig Menschen waren zu sehen. Eva hängte sich fest
-an seinen Arm, war heiter, froh und herzlich und lachte und freute
-sich. Da vergaß er alles andere und fühlte nur ihre sonnige Nähe,
-blickte in ihre klaren Augen, die unter langen Wimpern hell und blank
-in die blanke und helle Welt hineinlachten und er wurde sicherer,
-ging aufrechter dahin und wenn ein Spaziergänger sie schärfer ansah,
-stehenblieb und ihnen nachschaute, empfand er nicht Unbehagen oder
-Befangenheit, sondern war stolz und freute sich über seine blühend
-junge schöne Frau.
-
-Eine sachte Lehne hinauf gingen sie, bis die Häuser den Weinpflanzungen
-Platz machten und weiter oben eine freie Schau ins Land hinein sich
-auftat.
-
-Unten lag die große, turm- und giebelreiche Stadt, ein dunkler Wall
-von schönen laubwaldumwachsenen Bergen mit weißen Schlössern und
-bewimpelten Warten und Aussichtstürmen schloß den Horizont ein und hoch
-und still weitete sich der Herbsthimmel darüber. Im Westen ging die
-Sonne schlafen, von Gipfel zu Gipfel den Gebirgskamm entlang lief ein
-zackiges Feuerband, und rings um das Himmelsrund, je weiter von der
-goldenen Lohe im Westen, je tiefer und satter, wogten und wehten und
-schwebten zarte, durchsichtige Schleier, purpurn und blau und violett,
-sanken von den Höhen ins Tal, breiteten sich aus und hüllten gleitend,
-wogend, weich und duftig die Türme, die Giebel und Dächer alle ein.
-
-Eine lange Weile standen Fritz und Eva Schulter an Schulter und
-schauten stumm zu, wie die Sonne in Licht und farbenfroher Schönheit
-ertrank. Der runde Rücken des Hügels war fast baumlos. Lediglich vor
-einem zierlichen Kapellchen waren ein paar junge Linden im Halbkreis
-eingepflanzt und daneben war ein Friedhof mit blumigen Gräbern,
-schlichten schwarzen und weißen Steinen, Kreuzen und dürftigen dunklen
-Zypreßchen.
-
-Sie öffneten die Lattentür, traten ein und gingen zwischen den
-Gräberreihen hin. Einsam war es hier und still und gar nicht traurig.
-Die Höhenluft spielte mit den welken Kränzen, wehte um die grünen
-Gräser, um die nickenden Blütenköpfchen und um die prunklosen Male auf
-den reinlichen Totenstätten. Und wo ein Kindergrab war, dort kniete
-ein gipserner Engel in einem sauber angestrichenen Gitterchen und
-betete. Und die blauen Berge winkten und grüßten noch von fern und die
-Lichter der Stadt leuchteten durch die duftigen Abendschleier gedämpft
-herauf, einzeln oder, wo ein Straßenzug ging, in feurigen Ketten.
-Traulich war das alles und anheimelnd, und Eva sagte versonnen:
-
-„Hier möcht’ ich auch einmal liegen, du. Es ist so lieb hier.“
-
-„Sprich nicht vom Sterben!“ bat Fritz.
-
-„Warum?“ fragte sie und schaute ihn aus lebensfrohen Augen an. „Leben
-wir denn länger, wenn wir davon schweigen? Oder sind wir glücklicher?
-Ich glaube doch nicht, Fritz. Mir wenigstens, mir ist immer, als müßt’
-ich mich schnell noch doppelt freuen über die Gegenwart, wenn ich
-denke, daß alles einmal vorübergeht. Und viel tiefer und stärker freue
-ich mich dann über das bißchen Glück, das wir haben. Und das haben wir,
-gelt, du?“
-
-Sie schmiegte sich ganz dicht an ihn, legte die Wange auf seinen Arm.
-
-„O -- du!“ antwortete er und seine Stimme war rauh und brüchig. „Ob
-wir das haben! Unsere Stuben sind ja berstvoll davon -- und alles
-durch dich! Alles, was darin schön und warm und hell ist, hast du
-hineingetragen und bereitet mit deinen Händen. Und was darin häßlich
-und kalt und dunkel ist -- durch meine Schuld ist es dazugekommen. Drum
-sprich nicht vom Sterben! Ich mag nicht dran denken, du! Ich mag nicht
-denken, wie wenig Zeit mir noch bleibt, um -- dir’s zu danken und dir’s
-zu lohnen -- und abzuzahlen -- und zu vergelten, so gut ich’s kann. --
-Ev, du Liebe, Gute, Gütige!“
-
-Ein Schluchzen erstickte seine Worte. Noch nie hatte er so
-leidenschaftlich zu ihr gesprochen, ihr so ganz unverhüllt und
-rückhaltlos sein Innerstes offenbart. Ein seltenes, schweres
-Glücksempfinden flutete wie eine heiße Welle über die Frau und ließ sie
-zu tiefst erschauern.
-
-Sie schwiegen. Lange, lange. Die Grabmale ragten ruhig in die halbhelle
-Dämmerung, schwarze Schatten stiegen über die Hügel. Ein Stern flammte
-auf und noch einer und wieder einer und lautlos schwebte die Nacht zu
-Tal. Und der Himmel wölbte sich hoch über ihren Häuptern und baute sich
-seltsam durchsichtig in einem ganz satten, ganz dunklen Blau über alle
-die funkelnden Sterne hinaus höher und höher in die weite, leuchtende
-Unendlichkeit empor.
-
-
-5.
-
-Jetzt ließ sich auch Doktor Kolben wieder öfter blicken, der sich in
-der letzten Zeit ganz zurückgezogen hatte, um das Heilung bringende
-Walten Evas nicht zu stören. Die Septembertage waren mild und klar und
-sonnig, in den Nächten stand der Vollmond am Himmel, so daß es auf der
-Erde gar nicht mehr finster wurde und Licht mit Licht, Goldglanz mit
-Silberschimmer lautlos wechselte. Da nahmen Hellwig und Kolben ihre
-Mondscheinpartien wieder auf. Vor Jahren, damals, als Fritz noch als
-blutjunger Mitarbeiter bei den Freien Blättern saß, hatten sie solche
-Wanderungen öfter unternommen, und regelmäßig war auch Heinz mit dabei
-gewesen.
-
-Diesmal fuhren sie in die Eisenerzer Alpen. Spät nachts kamen sie in
-Kallwang an und machten sich ungesäumt auf den Marsch. In Nagelschuhen
-und Lodenflaus, die Rucksäcke auf den Rücken, schritten sie wacker aus.
-Erst war es noch dunkel und nur die Sterne leuchteten über ihrem Weg.
-Aber dann ging rund und voll der Mond auf und schüttete sein Silber
-auf die Erde. Die tief eingefalteten Täler füllte er und den endlosen
-Luftraum, und vor dem hellen Himmel standen dunkel und riesengroß und
-silberüberrieselt die gewaltigen Mauern des Hochgebirges. Jeder Gipfel
-war scharf umrissen, und doch waren alle Linien weich und seltsam
-fließend. Jeder Kamm war rein geprägt und war doch schattenhaft und
-unbestimmt verschwimmend. Jeder Gebirgsstock ragte klar und fest mit
-dem Boden verwachsen aus dem silbernen Tal in den silbernen Himmel,
-und doch schien das alles, in diesem Licht, das so ruhig leuchtete
-und dennoch immerwährend flimmerte und flutete und mit winzigen
-Wellchen ineinanderspielte, schien das alles, die wurzelfesten Berge,
-die mächtigen Kuppen und starr aufragenden Zinken, flaumenleicht und
-schwebend, nur kaum wie mit ganz feinem Pinsel auf den zart silbernen
-Himmel hingestrichen. Und das war das Seltsamste: daß die Wucht und
-kolossale Größe des Gebirges nah und greifbar dastand und doch nicht
-fühlbar und nicht drückend wurde.
-
-Schweigend schritten sie dahin. Über ebene Wiesenflächen schritten
-sie, und die Gräser rauschten unter ihrem Tritt und schimmerten
-und flimmerten, eins im bläulichen Schatten des anderen. Und durch
-mächtige Tannenwälder schritten sie, die still und undurchdringlich
-finster waren gleich lichtlosen Kirchenhallen, und nur hoch oben,
-über dem schwarzen Gitter der Nadelkronen, lag der Mondglanz wie ein
-durchbrochenes Spitzengewebe.
-
-Schweigend schritten sie vorwärts. Etwas tief Beruhigendes war in
-dieser Wanderung durch Glanz und Stille, etwas, was alle Leidenschaften
-einwiegte, alle Wünsche schweigen, alle Erdenmühe vergessen ließ,
-und auf lautlosen Schwingen hob sich die frei und leicht gewordene
-Seele und gleitend flog sie, flog schwebend in den unendlichen Frieden
-hinein, der alle Berge und Täler, alle Höhen und Tiefen durchtränkte.
-
-Schweigend schritten sie aufwärts. Und als sie den Wald hinter sich
-hatten, ins Krummholz kamen und auf weiche Alpenmatten, da hatte der
-sanfte Mondglanz schon dem härteren Licht des Morgens weichen müssen.
-Und als sie den Kamm erstiegen, da brodelten tief unten schon und
-brandeten die grauen Morgennebel, alle Täler füllend, wie ungebärdige
-Ströme gegen die ruhige Kraft der Berge an. Und dann sprang die Sonne
-rein und rund, ein junger Held in goldig flammender Rüstung, auf den
-Burgwall und schleuderte die Feuerspeere ungestüm fernhin gegen die
-weißen Hünen im Gesäuse, die gelassen ihre ungeheueren Schilde entgegen
-hielten, gegen die funkelnden Panzer das Dachsteins, des Glockners,
-der trotzig unbewegten Riesen -- und es war wie der heiße Ansturm des
-vergänglichen Lebens, das seine überschäumende Kraft auszutoben begehrt
-an dem unverrückbaren, sicheren, ewigen Sein.
-
-Noch immer schwiegen die beiden Wanderer, schritten den felsigen Kamm
-entlang zum Gipfel. Neuschnee lag hier oben, weich und unberührt, eine
-duftige Decke, mit den tiefroten Sternen der Nelken, mit gelben und
-blauen Alpenblumen leuchtend durchweht. Und zwischen dem Felsgetrümmer
-blühte das Edelweiß.
-
-Nun waren sie auf dem Gipfel, breiteten die Mäntel aus und hielten
-Rast. Die Rucksäcke wurden ausgepackt, der sturmsichere Weingeistkocher
-angezündet, der Tee bereitet. Ein harscher Höhenwind strich über
-den Kamm, machte die Wangen rot, und die Lungen atmeten tief auf
-in dieser reinen Frische. Ganz still war es. Die Morgennebel waren
-verflogen, der Übermut der jungen Sonne war verbraust. Klar und ruhig
-schien sie von einem blauen Himmel herab auf die gewaltige Bergwelt
-mit ihren schroffen Zacken und jähen Abstürzen, ihren breiten Gipfeln
-und schmalen Tälern, und tief unten zwischen dunklem Tannengrün
-und hellen Wiesen duckten sich winzige Häuschen und Kirchlein und
-Menschensiedelungen, duckten sich und ruhten an der Brust der Berge
-sicher und gut wie Vögel im Nest.
-
-Noch immer schwiegen die zwei oben auf der freien Höhe und ließen
-die Gedanken ausklingen, die während des Aufstiegs, während der
-mannigfaltigen Übergänge von der dunkelsten Nacht bis zum strahlenden
-Tag in ihnen wach geworden. Es war wohl bei beiden dasselbe gewesen. An
-die Not des Lebens hatten sie gedacht und an die herben Enttäuschungen,
-die keinem von ihnen erspart geblieben. Durch Leid und Verzweiflung
-waren sie beide gegangen, der eine, als er der geliebten Frau entsagen
-mußte um des Freundes willen, der andere, als ihm ein Ideal um das
-andere, ein schöner Traum nach dem anderen zerstob und entschwand. Und
-doch war jetzt Ruhe in ihnen, eine sanfte, innige Ruhe wie Mondlicht
-über Trümmern.
-
-Kolben brach endlich das Schweigen.
-
-„Hier ist Friede!“ sagte er und schaute immerzu in das lachende Tal zu
-seinen Füßen.
-
-Fritz lachte. Traurig und bitter lachte er.
-
-„Ja -- hier oben -- ein paar tausend Meter weit von allen Menschen --
-da ist Friede! Und Ruhe -- und Sicherheit. -- Aber schon dort unten,
-in den elenden Hütten -- so friedlich schauen sie aus, so idyllisch
-und poetisch -- schon dort unten ... weißt du, wie viele Kinder dort
-schon mißhandelt, -- wie viele Tiere nutzlos gequält wurden und täglich
-werden? Wie viel Elend und Schande und Leid diese Strohdächer zudecken,
-diese -- Menschenstätten? _Hier_ ist Friede! Aber wo Menschen sind, da
-ist Blut und Schmach und Kampf und Unzufriedenheit.“
-
-Und nun brach auf einmal alles aus ihm vor, was wochenlang auf seiner
-Seele gewuchtet hatte.
-
-„Aber woher nur? Woher diese ewige Unzufriedenheit? Die Frage läßt mich
-nicht los! Und ich finde keine Antwort! Das Tier ist zufrieden, die
-Herde folgt noch heute willig dem Leitstier, die Wölfe rennen im Rudel
-wie vor tausend Jahren. Nur wir Menschen ändern immer wieder unsere
-Ordnung. Damit die Republik an die Stelle der Monarchie treten kann,
-müssen Tausende verbluten. Und kaum haben die Überlebenden gelernt
-‚Hoch die Republik!‘ zu schreien, müssen abermals Tausende sterben, die
-nicht so schnell wie die anderen ihre Kehlen umstimmen können auf den
-neuen Ruf: ‚Es lebe der Kaiser!‘ -- Und wieder zurück, wieder vorwärts,
-ein steter Wechsel, eine Sehnsucht, so brennend heiß, daß sie manchmal
-mit Blut gelöscht werden muß! Warum nur? Warum?“
-
-Kolben brach eine purpurne Nelke aus dem weißen Schnee und betrachtete
-sie aufmerksam: die Blütenblätter, die wie frierend zusammengerollt
-waren und das Stengelchen, an dem ein ganz dünnes Eisfähnchen
-glitzerte. Denn in der Sonne war der Schnee geschmolzen, aber der kalte
-Höhenwind hatte das Wasser sogleich wieder gefrieren lassen. Von allen
-Seiten betrachtete das der Doktor ganz genau und sagte dabei:
-
-„Warum, Fritz? Weil wir -- das Denken gelernt haben. Das Leben -- das
-hat die Natur in den ungeheueren Kreislauf hineingeworfen, gedankenlos
-und zwecklos hat sie es geschaffen. Wie es sich weiter entwickelt,
-darnach fragt sie nicht. Aber das Leben _hat_ sich weiter entwickelt
-und wir -- haben uns im Daseinskampf als stärkste Waffe das Denken
-geschmiedet. Die Natur denkt nicht, wir, ihre Kinder, denken, forschen
-nach Ursache, Plan und Ziel, werfen unsere bangen Fragen an die Tore
-der Ewigkeit. Und nichts tönt zurück, nichts kann zurücktönen -- als
-Schweigen. Unseres Daseins uns bewußt, sind wir vom Unbewußten wie
-von Mauern eingeschlossen und können nicht heraus. Seit wir zu denken
-angefangen haben, sind wir über unsere Mutter hinausgewachsen. Wie
-können wir da jemals zufrieden sein?“
-
-Hellwig stöhnte dumpf auf. „Dieses Sich-bescheiden, diese Resignation
--- ich kann mich nicht damit abfinden ...“
-
-„Du wirst schon müssen, Fritz. Vielleicht -- schau’, nimm’s einmal
-so: Die Entwicklung steht nicht still. Darum wird die Menge immer
-Rohstoff bleiben und niemals reif werden. Im Bilde: Sie ist ein
-ungeheuerer Klumpen Ton. Und die einzelnen wenigen, die Erlöser,
-Dichter, Denker, die in der Entwicklung Vorausgelaufenen, die ‚mit den
-neuen Wahrheiten‘, die Herrenmenschen, was weiß ich, die alle kneten an
-dem ungeheueren Klumpen herum. Der eine da, der andere dort, aber ihn
-ganz bewältigen und zu _einem_ Bildwerk zusammenfassen, das ist keiner
-imstand. Weil der Ton zu weich ist. Und eh’ er erstarrt, ist schon ein
-neuer Bildner da und ändert die Nase, die Ohren, die Beine. Manchmal
-patzt er auch, das tut nichts, ein anderer macht’s schon wieder besser.
-
-Rohstoff ist die Menge, Fritz, und bleibt Rohstoff. Bildungsfähig ist
-sie und wird doch niemals Bildung haben. Entwicklungsfähig ist sie
-und wird doch niemals entwickelt sein. Oder: sie braucht immer ihren
-Beglücker und wird doch nie beglückt sein. Oder zufrieden, was dasselbe
-ist. Drum laß das gehn!“ -- Und jetzt wurde Kolben sehr herzlich. --
-„Sieh lieber zu, daß dein Junge nicht in der breiigen Masse versinkt.
-Wenn du’s zuwege bringst, daß er ein Bildner wird, ein vollwertiger
-ganzer Kerl, ein Kneter, kein Gekneteter -- kurz und gut, wenn du der
-Menschheit einen einzigen tüchtigen Mann heranziehst, dann hast du für
-sie mehr getan, als wenn du zehntausend -- halb glücklich machst. Denn
-zehntausend Halbheiten sind noch immer kein Ganzes!“
-
-So sprach Doktor Kolben, der stille, versonnene Mensch, während er
-unablässig die purpurne Blüte mit dem glitzernden Eisfähnchen zwischen
-den Fingern drehte. Der täppische Bergwind riß ihm die Worte von den
-Lippen, aber sie erreichten doch ihr Ziel, ein geneigtes Menschenohr,
-ein empfängliches Menschenherz, wo sie Wurzel fassen und zum Blühen
-kommen durften.
-
-Und die Sonne lag funkelnd auf dem blendend weißen Schnee und die Täler
-waren grün und leuchteten grüßend herauf und die Bergriesen standen
-sicher und trotzig im Kreis und bewachten den Frieden, der mit weit
-gedehnten Schwingen über allen Dingen schwebte.
-
-
-6.
-
-Als sie heimkehrten, Edelweiß auf den Hüten, die Kleider schwer vom
-Duft der Alpenmatten, da waren Reinholt und Pfannschmidt und der alte
-Bogner mit seinem Schwiegersohn zu Hellwig gekommen.
-
-„Endlich!“ rief Reinholt und ging auf ihn zu und umarmte ihn. „Endlich
-seh’ ich dich wieder! Wie konntest du ohne Abschied davonlaufen und
-nichts mehr von dir hören lassen?“
-
-„Leo!“ sagte Fritz dumpf. „Nein -- du mußt mir noch Zeit lassen, Leo!“
-
-„Was hast du? Ich versteh’ dich nicht?“
-
-Da schrie er gequält auf: „Habt Geduld mit mir! Ich _kann_ euch noch
-nicht Rede stehen!“
-
-„Fritz, -- laß doch Vergangenes vergangen sein!“
-
-„Ich -- hab’ euch ärmer gemacht, als ihr gewesen seid, bevor ihr mich
-gekannt habt! Ich hab’ euch viel versprochen und nichts hab’ ich
-gehalten! Und kann euch nicht einmal Ersatz bieten -- ich bin ja selber
-bettelarm dabei geworden!“
-
-„Also _das_ quält dich?“ entgegnete Reinholt. „Na weißt du, so
-überflüssig ist nicht bald was! Wen hast du ärmer gemacht? Die zu uns
-gehalten, denen geht’s heut’ noch gut -- die anderen liegen, wie sie
-sich selbst gebettet haben. Die Spekulation ist mißglückt, ein paar
-Gulden sind beim Teufel -- das ist alles und das ist schon längst
-verschmerzt. Geh, Fritz, brau’ dir nur um Himmelswillen nicht so
-närrisches Zeug zusammen!“
-
-„So zürnst du mir denn nicht?“
-
-Reinholt lachte so laut und herzhaft, daß Hellwig, ob er wollte oder
-nicht, von der Grundlosigkeit seiner selbstquälerischen Vorwürfe
-überzeugt sein mußte.
-
-„Meister! Mein guter Meister!“ rief jetzt der alte Kesselwärter und kam
-schüchtern näher.
-
-Nun flog doch wieder etwas wie ein Lächeln über Hellwigs Gesicht: „Was
-macht mein lieber Bogner?“
-
-Die harte Greisenhand strich zärtlich über seinen Rock.
-
-„Jetzt geht’s schon wieder, Meister. Weil ich Sie nur gesund
-wiederseh’. Im Anfang freilich ...“ -- und nun ballte er die Faust --
-„Die verdammten Kerle! Gott hab’ sie selig, aber wenn sie nicht schon
-der Teufel geholt hätte, ich selber müßt’ ihnen was antun ...“
-
-„Ihr seid ja ein ganz blutgieriger Kumpan!“ meinte Kolben lächelnd.
-Und der Alte darauf: „Ja, Herr, Sie sind eben nicht dabei gewesen. Wie
-das so gekommen ist, so auf einmal mitten in den tiefen Frieden hinein
-wie ein Hagelwetter, -- man kann kaum ein Vaterunser beten, ist schon
-alles hin ... Der alte Schädel kann’s wirklich nicht aufnehmen ...“ Und
-wieder in flackerndem Zorn, mit geballter Faust: „Der Hund, der Karus!“
-
-„Wie ist’s mit ihm gewesen?“ wandte sich da Fritz rasch an Pfannschmidt.
-
-„Ich hab’s nicht gesehen,“ erwiderte dieser, „weil mir der Hieb zu
-schaffen gemacht hat. Aber wie sie erzählen, -- er muß rein den Tod
-gesucht haben.“
-
-„Ja, Meister!“ fiel ihm nun Adam Pichler ins Wort. „So was glaubt
-niemand, der’s nicht mit angeschaut hat. Wie die Schießerei losgehen
-soll, steht da nicht der Mensch oben auf dem Steinhaufen mit der Hacke
-in der Hand? Und wie sie sich schußfertig machen, springt er, Meister,
-er springt, so wahr ich leb’, mitten unter die Soldaten. Stücker drei,
-vier schlägt er, daß sie wie Bullen umfallen, dann haben sie ihn fest.
-Er aber reißt einem das Bajonett heraus -- ‚Lebendig nicht!‘ schreit er
-und ‚Mordbuben!‘ und so was wie ‚Heinz!‘ und hat sich auch schon ins
-Herz gestochen.“
-
-„Er wollte nicht mehr leben ohne Heinz ...“ murmelte Fritz verstört.
-
-Ganz still war es nach diesen Worten. Die Abendsonne fiel schräg
-durchs Fenster und wob um alle einen warmen goldenen Schein. Wie eine
-Botschaft des Friedens war das, und alle Herzen pochten ruhiger.
-
-„Fritz, wir kommen eigentlich mit einer Bitte ...“ sagte Reinholt nach
-einer Weile.
-
-„Was könntet ihr von mir noch wollen!“
-
-„Hör’ zu!“ antwortete der Fabrikant und mühte sich wieder einmal
-möglichst leichthin und geschäftsmäßig zu sprechen: „Hör’ zu: Die
-Spekulation ist also nicht geglückt, und ich bin es müde, hier
-was Neues anzufangen. Wir wandern aus. In die deutschen Kolonien,
-irgendwohin, wo’s noch unbebautes, ganz jungfräuliches Land gibt. Dort
-nehmen wir den Pflug in die Hand und werden Bauern. Nicht um Gewinn,
-wieder nur für uns wollen wir arbeiten. Komm mit!“
-
-Und auch die andern baten: „Meister, kommen Sie mit!“
-
-Kolben war rasch zu Eva getreten. Fritz bemerkte es. „Hab’ keine Angst,
-Albert!“ sagte er. „Ich geh’ nach Neuberg!“ Und zu Reinholt gewendet:
-„Nein, Leo, ich bleib’ im Land. Wenn unsere Ideen in der Entwicklung
-begründet sind, so setzen sie sich durch -- auch ohne uns. Wenn nicht,
-so rollt die Zeit darüber weg, und wenn wir uns noch so dagegenstemmen.
-Das ist mir so klar geworden seither, daß ich das Frühere nicht mehr
-verstehe. Und dann, Leo -- ich hab’ einen Buben. -- Und was ich meiner
-Frau angetan hab’, das muß doch auch gutgemacht werden.“
-
-Da trat Doktor Kolben schnell auf Reinholt zu: „Ich halte mit, wenn’s
-Ihnen recht ist!“
-
-„Albert!“ rief Fritz erschrocken. Und Eva haschte die Hand des
-Freundes: „Doktor, Sie dürfen nicht von uns!“
-
-Der treue Mensch schüttelte langsam den Kopf. Jetzt, da Eva ganz
-sicher geborgen war und ihm für sie nichts mehr zu sorgen blieb, wollte
-das alte Leiden wieder aufwachen, und bei Hellwigs letzten Worten hatte
-er erschrocken etwas sich regen gefühlt, das fast wie Neid war, Neid
-gegen den Freund und sein Glück.
-
-Aber gelassen wie immer sagte er: „Was ist denn da weiter dabei? Nach
-Neuberg ging’ ich so nicht mit, und ob dann hundert oder tausend Meilen
-zwischen uns sind, das kommt schon auf eins heraus. Drum laßt mich nur
-getrost fort. Aus der Welt geh’ ich ja nicht und dann -- vielleicht
-können mich diese da jetzt -- besser brauchen.“
-
-
- _Ende._
-
-
-
-
-Im gleichen Verlage erschienen die folgenden Werke von
-
-Rudolf Haas:
-
-
-Michel Blank und seine Liesel.
-
-Roman. 25. Tausend.
-
-Einbandzeichnung von Oswald Weise.
-
-
-Matthias Triebl.
-
-Die Geschichte eines verbummelten Studenten.
-
-36. Tausend.
-
-
-Triebl der Wanderer.
-
-Roman. 30. Tausend.
-
-
-Verirrte Liebe.
-
-Erzählungen. 14. Tausend.
-
-Einbandzeichnung von Friedrich Felger.
-
-
-Der Schelm von Neuberg.
-
-Lustspiel in 4 Akten.
-
-
-Die wilden Goldschweine.
-
-Roman. 1.-15. Tausend.
-
-Einbandzeichnung von Max Both.
-
-(Erscheint im Herbst 1920.)
-
-Dieser Roman bildet die Vorgeschichte zu „Michel Blank und seine
-Liesel“.
-
-„_Vornehm_ im besten Sinne ist der Erzähler Rudolf Haas, der _tief_ in
-die _lichte Menschenseele_ blicken läßt und der Gedichte ausrauschen
-läßt von _hinreißendem Schwung_, aber _stolz_ ausweicht, wo eine grelle
-Effektszene anzubringen wäre, oder breite Sentimentalität .. _Ein
-Lobpreiser des Lebens!_“
-
- (Friedrich Adler i. d. „Bohémia“, Prag.)
-
-*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER VOLKSBEGLÜCKER ***
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-<div lang='en' xml:lang='en'>
-<p style='text-align:center; font-size:1.2em; font-weight:bold'>The Project Gutenberg eBook of <span lang='de' xml:lang='de'>Der Volksbeglücker</span>, by Rudolf Haas</p>
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
-most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
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-</div>
-</div>
-
-<p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:1em; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Title: <span lang='de' xml:lang='de'>Der Volksbeglücker</span></p>
-<p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Author: Rudolf Haas</p>
-<p style='display:block; text-indent:0; margin:1em 0'>Release Date: March 13, 2022 [eBook #67619]</p>
-<p style='display:block; text-indent:0; margin:1em 0'>Language: German</p>
- <p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em; text-align:left'>Produced by: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net</p>
-<div style='margin-top:2em; margin-bottom:4em'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK <span lang='de' xml:lang='de'>DER VOLKSBEGLÜCKER</span> ***</div>
-
-<p class="title">Rudolf Haas</p>
-
-<p class="title">Der Volksbeglücker</p>
-
-<div class="chapter">
-<h1>
-Der Volksbeglücker</h1>
-</div>
-<p class="title">
-Von<br />
-<br />
-Rudolf Haas<br />
-</p>
-<div class="figcenter illowp59 spaced" id="signet" style="max-width: 6.25em;">
- <img class="w100" src="images/signet.png" alt="Verlagssignet" />
-</div>
-
-<p class="center">
-Drittes bis zehntes Tausend<br />
-</p>
-<hr class="full" />
-<p class="center big">
-L. Staackmann, Verlag, Leipzig<br />
-1920<br />
-</p>
-
-<p class="center spaced">Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten</p>
-
-<p class="center">Copyright 1910 by Axel Juncker in Berlin-Charlottenburg</p>
-
-<p class="center spaced">Druck von C. Grumbach in Leipzig</p>
-
-<p class="title spaced">
-Dem Prager Dichter<br />
-<br />
-<span class="gesperrt">Friedrich Adler</span>,<br />
-<br />
-<span class="small">meinem langjährigen Freunde,<br />
-dankbar zu eigen.</span><br />
-</p>
-
-<div class="chapter">
-<h2><a name="Erstes_Buch" id="Erstes_Buch">Erstes Buch</a></h2>
-</div>
-
-<h3>1.</h3>
-
-<p class="drop-cap">Das niedrige Bergland, das Westböhmen von Bayern
-scheidet, ist eine liebe, warme Erikagegend, die im
-Sommer schamhaft errötet, wenn sie sich hüllenlos in
-ihrer unberührten jungfräulichen Schönheit dem glücklichen
-Entdecker nach langem Sträuben endlich preisgeben muß.</p>
-
-<p>Und er entdeckte und liebte diese frische, keusche Art,
-der hager aufgeschossene Junge, der jeden Nachmittag,
-wenn die Mittelschüler, vom Unterricht erlöst, den sechstausend
-Insassen von Neuberg die Ohren voll lärmten,
-durch die winkeligen Kleinstadtgassen in den lachenden
-Sommer hinauslief, immer denselben Weg, den Hügel
-hinauf und am Kamm fort auf schmalen Feldrainen,
-wo der wilde Quendel blühte und die blauen Glockenblumen,
-bis er endlich mitten darin war in der roten
-Erika. Stundenlang konnte er dann dort oben liegen,
-versunken in dem leuchtenden, bienendurchsummten Teppich,
-und in die helle, silbern flimmernde Luft blicken.
-Soweit er schaute, war nichts als der klare endlose Luftraum,
-und nur ganz nahe, dicht vor ihm, standen die
-verästelten Blütenbüschel rosenrot vor dem blauen Hintergrund.</p>
-
-<p>Die sonnenweite Unendlichkeit des Sommers war um
-ihn, und er fühlte sich wie losgelöst von allem, was
-mit ihm und neben ihm lebte. Und in seiner Seele erwachten
-die uralten Fragen nach dem Woher und Warum,
-sein achtzehnjähriges Jünglingsgemüt fragte nach dem
-Zweck dessen, was nie einen Zweck hatte, suchte Regel
-und Plan in dem, was planlos und regellos entstanden
-war, wollte einheitliche schöpferische Ordnung in dem
-Wirrwarr finden, der sich unbewußt gebildet hatte, wie
-er sich bilden mußte nach den starren, toten Gesetzen
-von Urbeginn. Und gegen den Kindersinn, der blindlings
-glaubt und mit ganzer Seele etwas glaubend fassen will,
-drang der reifende Verstand des Jünglings an, der Tatsachen
-und Beweise für den Glauben forderte. Es ist
-das ein schwerer Kampf, der meist in stillen Nächten und
-verschwiegener Einsamkeit durchgefochten, langsam heilende
-Wunden und dauernde Narben zurückläßt. Glücklich, wer
-in diesen Tagen einen verständnisvollen Vater zur Seite
-hat, der ihn unmerklich und dennoch sicher aus dem Wirrsal
-leitet.</p>
-
-<p>Fritz Hellwig hatte solches Glück nicht. Sein Vater,
-ein Volksschullehrer, war schon vor vielen Jahren gestorben,
-und unter der ziellosen Leitung einer überzärtlichen
-Mutter, die den einzigen Sohn beständig mit dem
-lauen Badewasser einer weichlichen Liebe umplätscherte,
-wuchs er zum verschlossenen Träumer heran. Während
-seine Altersgenossen Trapper und Indianer spielten, den
-Tomahawk schwangen und an ihren Lagerfeuern gestohlene
-Erdäpfel brieten, lag er im Heidekraut oder saß er in
-einer dämmrigen Zimmerecke und füllte die Stube mit
-Traumgestalten, mit Feen, Zwergen und blonden Königstöchtern.
-Deswegen litt er auch mehr als sonst einer
-darunter, als von der flimmernden Märchenpracht Stück
-für Stück der trügerische Flitter abfiel und der nüchternen,
-trostlos grauen Wirklichkeit Platz machen mußte. Und
-als er mit den zunehmenden Jahren nicht mehr im unklaren
-über seine Entstehung bleiben konnte und als er
-aus den unreif-rohen Zoten der Mitschüler den Sachverhalt
-zu ahnen begann, kam ihm das wie eine Entweihung
-seiner Mutter vor. Er schloß sich noch ängstlicher ab und
-haderte mit der Welt und grollte seiner Mutter, weil
-sie ihm Lügen vorgesagt, deren Verlust jetzt so weh tat.
-Aber mit niemandem sprach er darüber, hatte keinen Vertrauten
-und war zu stolz und zu scheu, um einen Menschen
-in seine Seele blicken zu lassen. Deswegen hielten ihn
-viele für eigensinnig oder hochmütig. Die weinerliche
-Lehrerswitwe aber, für die es seit dem frühen Tode ihres
-Mannes im Leben keine ungetrübte Freude mehr gab,
-konnte nur zanken oder seufzend den Kopf in die ausgearbeitete
-Küchenhand stützen, und ließ im übrigen ihren
-dickschädeligen Jungen unbedingt gewähren.</p>
-
-<p>Auch damals, als er ihr kurz eröffnete, daß er an den
-Sonntagen nicht mehr in den Gottesdienst gehen werde.
-Erst schlug sie zwar die Hände zusammen und wollte
-den Grund wissen und was Pater Romanus dazu sagen
-werde. Denn sie war sehr fromm und fand den sanftesten
-Trost in der frohen Aussicht auf eine Wiedervereinigung
-mit ihrem seligen Gatten, indes die leiblichen Reste des
-unaufhörlich Betrauerten schon längst in alle Winde verweht
-waren mit den kühlen weißen Blumenblättern des
-Rosenstämmleins, das aus seinem Grabe Nahrung sog
-zu einem gedeihlichen Wachstum und fröhlichen Blütentreiben.
-Daran dachte die einfache Frau jedoch nicht. Sie
-glaubte nur den Worten der Sachwalter Gottes auf Erden
-und hegte eine grenzenlose Verehrung eben für jenen
-Jesuitenpriester Romanus, dem die jungen Seelen der
-Neuberger Lateinschüler in Obsorge gegeben waren. Der
-war von knochiger Länge und bleicher, fast krankhafter
-Gesichtsfarbe, aber seine wandlungsfähige Stimme hatte
-einen tiefen Orgelklang, wie man ihn von solcher Stärke
-in dem kaum gewölbten Brustkasten niemals vermutet
-hätte, und da er überdies stets den richtigen Ton zu
-treffen wußte, ebenso sanft und süß wie grimmig, hart
-und leidenschaftlich sein konnte, war es kein Wunder, daß
-er als Kanzelredner starken Zulauf hatte. Auch war er
-zu christlichem Beistand jederzeit gern erbötig, selbst wenn
-er nicht darum angegangen wurde, war dann je nach Bedarf
-milde, salbungsvoll, gütig, entrüstet oder ein zorniger
-Eiferer und hielt für schmerzhafte Verletzungen und verwickelte
-Zustände der Seele erbauliche Worte und heilsame
-Bibelsprüche bereit wie ein Apotheker seine Salben
-und Pflaster, nur daß er seinen Kunden kein Geld, sondern
-lediglich die Beichte abverlangte. Doch nahm er diese
-ins Ohr geflüsterten Verfehlungen als vollgültiges Zahlungsmittel,
-und wenn es ihm gelungen war, einen besonders
-feisten Sündenbraten aufzugabeln, dann saß er
-mit niedergeschlagenen Augen und geneigtem Ohr ohne
-Regung im Beichtstuhl. Nur seine Hände bewegten sich,
-als zählte er Sünde zu Sünde wie ein Hausherr am Zinstag
-seine Taler.</p>
-
-<p>Wie so manche Mutter oder Kostfrau der hoffnungsvollen
-Gymnasiasten von Neuberg war auch Frau Hellwig
-eine eifrige Besucherin dieser Offizin, weshalb sie
-ihren großen Jungen, der mir nichts, dir nichts auf die
-Segnungen der Messe verzichten wollte, auch sofort an
-den Religionsprofessor erinnerte. Fritz hatte jedoch auf
-diese Erinnerung und auf alle ihre Fragen und Vorstellungen
-diesmal nur die trotzige Antwort, er gehe nicht.
-Denn er scheute sich, die gottesfürchtige Frau in ihren
-teuersten Empfindungen zu verletzen mit dem Bekenntnis,
-daß er den Glauben verloren habe. Für eine Mutter ihres
-Schlages konnte es ja kein größeres Unglück geben als
-ein gott- und glaubenloses Kind. Sie ahnte freilich den
-eigentlichen Beweggrund. Aber viel zu wehleidig, sich ihn
-einzugestehen, fand sie sich mit dem spiegelfechterischen
-Gedanken ab, daß ihr Trotzkopf von Sohn nur irgendwie
-gegen den Religionslehrer aufmucken wollte. So trieb
-sie&#8217;s wie der Vogel Strauß und war leidlich beruhigt
-dabei.</p>
-
-<p>Aus dem eigenmächtigen Fernbleiben von den religiösen
-Übungen erwuchsen Hellwig übrigens fürs erste keinerlei
-Verdrießlichkeiten. Denn Pater Romanus übte in den
-oberen Klassen keine Überwachung durch Namenaufruf,
-sondern fragte lediglich ein paarmal im Jahre seine
-Schüler, ob sie auch stets der Sonntagsmesse beiwohnten.
-Wer gefehlt habe, solle sich melden. Durch dieses Vorgehen
-wollte er dartun, daß keine Spur von Mißtrauen
-gegen die Wahrheitsliebe seiner Zöglinge in ihm sei. Doch
-hatte er eine eigene Überwachung auch gar nicht nötig,
-da seine zahlreichen Verehrerinnen eine solche aufs trefflichste
-besorgten, indem sie bald klagend bald Hilfe heischend
-ihren Beichtiger hinsichtlich des Verhaltens seiner
-Schüler fortwährend auf dem laufenden hielten. Das
-wußten die schlauen Jungen ganz gut und hüteten sich,
-ohne triftigen Entschuldigungsgrund eine vorgeschriebene
-Andachtsübung zu versäumen. Auf Hellwig, dessen Mutter
-mindestens einmal im Monat beichten ging, hatte
-Pater Romanus schon längst ein scharfes Auge, weil hier
-wieder einmal ein Schäflein vom rechten Weg abirren
-wollte. Aber er hielt die Zeit seines Einschreitens noch
-nicht für gekommen.</p>
-
-<p>Die übrigen Professoren, außer einem, hatten den
-stillen Jüngling gern, der stets aufmerksam und in sich
-gekehrt dasaß, keinen Sittenpunkt in ihren Katalogen aufwies
-und mit zähem Fleiß seinen Platz unter den mittelmäßigen
-Schülern behauptete. Sie schätzten seine gründliche
-Arbeit, und sogar dem Klassenersten Otto Pichler
-wurde er manchmal als Muster hingestellt.</p>
-
-<p>Der war das gerade Gegenteil von Hellwig, lachte sich,
-ein kecker Draufgänger, in alle Herzen hinein, stieg unverfroren
-den Backfischen nach und rauchte heimlich seine
-Pfeife. Er lernte leicht und mühelos, war ein ebenso
-guter Turner wie Rechner, Schlittschuhläufer wie Lateiner
-und hielt sich, über alle Tiefen wegtänzelnd, mit prächtigem
-Leichtsinn immer an der Oberfläche des Lebens.
-Seine Mitschüler räumten ihm wie selbstverständlich eine
-führende Stellung ein, für die kleineren Studenten war
-er ein bewunderter Halbgott und in dem unschuldigen
-Tagebuch mancher Fünfzehnjährigen prangte sein Name
-als der des endlich gefundenen Ideals. Seine frischroten
-Wangen und der anziehende Gegensatz, in dem die lustigen
-Blauaugen zu den dunkelbraunen Locken standen, konnten
-hier unmöglich ihre Wirkung verfehlen.</p>
-
-<p>Nur Fritz kümmerte sich nicht um ihn, wie er sich überhaupt
-um niemanden scherte. Aber gerade dieses verschlossene
-Wesen reizte den sieggewohnten Pichler, auf
-dessen Freundschaft viele stolz waren, und in mannigfacher
-Weise suchte er, sich ihm zu nähern.</p>
-
-<p>Da sah er eines Tages &mdash; eine sehr langweilige Unterrichtsstunde
-war eben zu Ende &mdash;, wie Hellwig das Lesebuch,
-das er in seiner Freude über die Erlösung ungestüm
-zugeklappt hatte, hastig wieder öffnete und trübselig einen
-schmierigen Fleck auf den bedruckten Blättern betrachtete.
-Neugierig blickte Otto ebenfalls hin und erkannte deutlich
-die Überreste einer Fliege, die sich auf irgendeine Weise
-in das Buch verirrt und durch das Zuschlagen den Tod
-gefunden hatte. Fritz aber zog mit dem Bleistift einen
-Kreis um die schmutzige Stelle und schrieb darunter: &#8218;Zur
-Erinnerung! Hier habe ich ohne Absicht ein Leben vernichtet.&#8216;</p>
-
-<p>Pichler war mit seinem Spott sonst gleich bei der Hand.
-Aber während er diesem Treiben zusah, kam ihm zugleich
-mit einer an Rührung streifenden Gemütsbewegung heftiger
-als je der Wunsch, Fritz zum Freund zu gewinnen.</p>
-
-<p>An diesem Nachmittage folgte er ihm daher heimlich
-und fand ihn in der Erikaeinsamkeit. Mit einer sonderbaren
-Frage weckte er den Träumer aus seiner Versunkenheit.</p>
-
-<p>&#8222;Hellwig, tut dir nicht auch die schöne Erika leid?&#8220;
-fragte er.</p>
-
-<p>Der Angeredete schrak zusammen, sprang auf und blickte
-den als Spötter bekannten Pichler unsicher an.</p>
-
-<p>&#8222;Ist es denn nicht auch Unrecht, Pflanzen zu zerquetschen?&#8220;
-fuhr dieser fort.</p>
-
-<p>Eine jähe Röte färbte Hellwigs Wangen. Ganz verlegen
-stand er da und fürchtete das Ausgelachtwerden.
-Als Pichler jedoch ernst blieb und ihm mit einem herzlichen
-Blick die Hand entgegenstreckte, schlug er zögernd ein.</p>
-
-<p>Auf solche Weise erreichte der braunlockige Schwerenöter
-seine Absicht und kam in ein engeres Verhältnis zu
-Fritz. Es hatte sogar den Anschein, als könnte sich dieses
-zu einer regelrechten Jugendfreundschaft entwickeln. So
-gut schienen die Auffassungen der beiden zusammenzustimmen.
-Im letzten Grunde hatte indes Otto selbständige
-Ansichten überhaupt nicht. Um sich zu solchen durchzuringen,
-war er viel zu bequem und viel zu seicht. Sein
-ungemein geschmeidiger Geist ermöglichte es ihm jedoch,
-sich überall zurechtzufinden und fremde Meinungen skrupellos
-zu den seinen zu machen, insofern dieselben für ihn
-neu oder überraschend und geeignet waren, ihren Verfechter
-in ein auffallendes Licht zu rücken.</p>
-
-<p>Für Hellwigs Entschluß, den Religionsübungen fern
-zu bleiben, war er sogleich Feuer und Flamme. Als dieser
-ihm zu bedenken gab, daß er selbstverständlich auch alle
-Folgen tragen und sich insbesondere bei der nächsten Umfrage
-des Paters Romanus freiwillig melden müßte, stutzte
-er zwar einen Augenblick, fand aber dann diesen Gedanken
-großartig und schwor, daß er durch dick und dünn mithalten
-werde. Aber Freunde müßten sie werden, denn
-Arm in Arm mit Hellwig fordere er sein Jahrhundert in
-die Schranken. Bei diesen Worten warf er sich leidenschaftlich
-an die Brust des Kameraden, und sie gelobten
-einander mit Handschlag, nie zu lügen.</p>
-
-<p>Seither unternahmen sie gemeinsame Spaziergänge oder
-kamen bei schlechtem Wetter in Hellwigs Zimmer zusammen.
-Dieses war zugleich die gute Stube der Lehrerswitwe,
-die darin ihre besten Möbelstücke aufgestellt hatte:
-einen Glaskasten, angefüllt mit goldbemalten Porzellantassen,
-Tellern, Zinnkrügen und einem Kruzifix unter gläserner
-Glocke, eine vielfächerige Kommode, einen eirunden
-Salontisch sowie sechs Polsterstühle, die unter ihren
-weißen Leinenschutzhüllen aussahen wie kopflose Damen
-in Frisiermänteln. In diesem Durcheinander, das jedoch
-von den reinlichen Fenstervorhängen, den geflickten Tischläufern
-und den gehäkelten Deckchen bis hinab zum Fußboden
-peinlich sauber gehalten war, konnten die beiden
-Jünglinge ungestört ihre Meinungen austauschen. Denn
-Frau Hellwig hielt sich gewöhnlich in der Küche auf, wo
-sie auch schlief, und erschien nur im Zimmer, um eine
-Kanne Kaffee nebst einem Scheiterhaufen von Butterbroten
-oder Kuchenstücken hereinzubringen. Dann blieb
-sie ein Weilchen, lächelte gutmütig zu Ottos Witzen und
-lobte ihn, daß er ihrem Traumhans von Jungen den
-Hang zum Alleinsein ausgetrieben habe. Dafür erwies
-sie sich auch dankbar, und seit sie erfahren hatte, daß Otto
-der Sohn eines mit acht Kindern gesegneten Dorfküsters
-und arm wie eine Maus in dessen Kirche sei, konnte sie&#8217;s
-nicht unterlassen, ihm beim Weggehen jedesmal etwas
-zuzustecken, Kuchen, Äpfel oder ein Stück vom Sonntagsbraten,
-obwohl sie&#8217;s wirklich nicht zum Hinauswerfen hatte.
-Sie mußte im Gegenteil trotz einem Kalkulator rechnen
-und einteilen, um ihrem Sohne nebst einer anständigen
-Lebensführung das Studieren zu ermöglichen. Aber sie
-war glücklich, wenn sie jemanden bemuttern konnte, und
-sagte Pichlern auch, er solle ihr nur seine schmutzige Wäsche
-bringen, sie werde sie ihm rein machen, bügeln und flicken,
-das gehe mit der ihres Jungen in einem hin.</p>
-
-<p>&#8222;Deine Alte ist wirklich ideal!&#8220; versicherte Otto des
-öftern, während sie vor den dampfenden Tassen saßen
-und die Abtragung des Scheiterhaufens in Angriff nahmen.
-Dann kamen sie wieder ins Reden und ereiferten sich
-mit glühenden Köpfen und vollen Backen über Philosophie,
-Religion und Volkserziehung, während sie die Hände unablässig
-nach den gefüllten Tellern streckten, bis der letzte
-Bissen vertilgt war. &mdash;</p>
-
-<p>Da geschah es, daß Pater Romanus in der obersten
-Klasse wieder einmal die bereits seit längerer Zeit erwartete
-Frage stellte: Ob jemand in den letzten Monaten
-die Messe versäumt habe?</p>
-
-<p>Wie der Krampus aus der Schachtel schnellte Fritz von
-seinem Sitze auf, stand kerzengerade und schaute dem
-Professor freimütig ins Auge. Zögernd erhob sich auch
-Pichler. Aber er ließ schuldbewußt den Kopf hängen.</p>
-
-<p>&#8222;So, so, der Beste und der Fleißigste aus der Klasse!&#8220;
-lächelte der Pater und forschte leutselig nach dem Grund.</p>
-
-<p>&#8222;Ich bin freiwillig weggeblieben!&#8220; sagte Hellwig mit
-fester Stimme. Seine Augen glänzten wie Stahl, die
-Nasenflügel bebten.</p>
-
-<p>&#8222;Und wie oft, mein liebes Kind?&#8220; fragte der Priester
-sehr sanft.</p>
-
-<p>&#8222;Seit zwei Monaten jeden Sonntag. Ich hab&#8217; es nicht
-gezählt!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Aber Hellwig, was soll das heißen? Wie können Sie
-das rechtfertigen?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich habe keine Entschuldigung, Herr Professor. Ich
-bin nur so nicht hingegangen!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Kind!&#8220; Beschwörend streckte Romanus die Arme aus,
-als wollte er die Worte nicht an sich heran kommen lassen.</p>
-
-<p>Mäuschenstill war es in der Klasse. Die Oktavaner
-in den Bänken hielten den Atem an und starrten mit ängstlicher
-Bewunderung auf den stillen, sonst so wenig beachteten
-Kameraden und wunderten sich, wie der Duckmäuser
-gegen den gefürchteten Lehrer aufzutreten wagte.</p>
-
-<p>Pater Romanus hatte das auch nicht erwartet. Er wußte
-nicht recht, wie er sich dazu verhalten sollte. Um Zeit
-zur Überlegung zu gewinnen, richtete er seine Augen langsam
-auf Otto, betrachtete ernst und prüfend dessen gesenktes
-Haupt und fragte schärfer:</p>
-
-<p>&#8222;Und was ist mit Ihnen, Pichler?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich ...,&#8220; stammelte der und stockte gleich.</p>
-
-<p>&#8222;Wie oft haben <em class="gesperrt">Sie</em> gefehlt?&#8220;</p>
-
-<p>Otto warf einen scheuen Blick auf die gefurchte Stirn
-des Lehrers und sah schnell wieder zu Boden. Sein ganzer
-Mut hatte ihn verlassen.</p>
-
-<p>&#8222;Einmal ...,&#8220; stotterte er zerknirscht.</p>
-
-<p>&#8222;Otto!&#8220; raunte ihm Hellwig verwundert zu.</p>
-
-<p>Aber die eindringliche Stimme des Priesters forschte
-weiter: &#8222;Und warum, liebes Kind?&#8220;</p>
-
-<p>Und Otto antwortete tonlos: &#8222;Ich war unwohl.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Herr Professor, das ist ...&#8220; brauste Fritz auf und
-schwieg sofort wieder, als er die klägliche Figur des andern
-gewahrte.</p>
-
-<p>&#8222;Wollten Sie etwas sagen, Hellwig?&#8220; wandte sich Pater
-Romanus nun wieder an ihn. Da schüttelte er stumm
-den Kopf. Wozu den Angeber machen?</p>
-
-<p>Und plötzlich kam ihm zu Bewußtsein, daß sich alle Blicke
-der Klasse in seiner Person wie in einem Brennpunkt
-vereinigten. Unerträglich, wie ein unkeusches Betasten des
-Körpers, war ihm das. Und mit einemmal konnte er es
-nicht über sich bringen, den Beweggrund seines Fernbleibens
-anzugeben. Er hatte das Gefühl, als würde er
-durch ein solches Geständnis seine Seele nackt zur Schau
-stellen.</p>
-
-<p>&#8222;Nun, Hellwig, haben Sie sich eines Bessern besonnen?
-Wollen Sie mir Ihr sonderbares Benehmen aufklären?&#8220;</p>
-
-<p>Die sanfte Stimme des Jesuiten rann wie ein süßes
-Honigbächlein durch die Stille.</p>
-
-<p>Fritz schwieg, sah ihn an und zuckte nicht mit der
-Wimper.</p>
-
-<p>&#8222;Kind, nehmen Sie doch Vernunft an! Woher nur
-auf einmal? ... Denken Sie doch auch an Ihre liebe
-Mutter!&#8220;</p>
-
-<p>Keine Antwort.</p>
-
-<p>&#8222;Wollen Sie also den Grund Ihres Benehmens wirklich
-nicht angeben?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Nein!&#8220;</p>
-
-<p>Kurz, hart, messerscharf, daß Pater Romanus zurückprallte.
-Aber er faßte sich rasch.</p>
-
-<p>&#8222;Sie scheinen mir vom rechten Weg abgekommen zu
-sein,&#8220; sagte er und strich mit der schmalen Hand über die
-Augen. &#8222;Besuchen Sie mich doch einmal in meiner Wohnung.
-Dort können Sie mir alles ungestört sagen. Das
-von heute bleibt unterdessen, als wenn es nicht vorgekommen
-wäre.&#8220;</p>
-
-<p>Mit einem leichten Kopfnicken gab er den beiden Schülern
-die Erlaubnis zum Niedersitzen und begann mit dem
-Unterricht.</p>
-
-<p>Kaum war dieser zu Ende, drängten sich die Mitschüler
-an Hellwig heran, sagten, daß er ganz recht gehabt habe,
-wenn&#8217;s auch vielleicht einen Karzer absetzen könne, und
-wollten wissen, ob er zu Pater Romanus hingehen werde.
-Er gab ihnen keine Auskunft, hastete, hochnasig wie immer,
-davon.</p>
-
-<p>In seinem Herzen schien etwas in Unordnung geraten
-zu sein, zuckte, stach und schmerzte.</p>
-
-<p>Pichler! Ach ja so, das! &mdash; Wie fremd ihm auf einmal
-der Name vorkam. Als hätte er ihn viele Jahre nicht
-gehört.</p>
-
-<p>Plötzlich schritt Otto neben ihm her. Er hatte brennend
-rote Backen und war ganz kleinlaut.</p>
-
-<p>&#8222;Fritz, &mdash; bist du bös?&#8220; fragte er mit einem verlegenen
-Lächeln.</p>
-
-<p>Brüsk wandte sich jener ab: &#8222;Ach geh, du! Du bist feig!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Nein, Fritz, da tust du mir unrecht!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Wortbrüchiger!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Fritz, ich mußte!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Du mußtest? Das ist ja eben die Feigheit!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Hör&#8217; doch damit auf, Fritz! Schau&#8217;, wenn ich wirklich
-feig wär&#8217;, hätt&#8217; ich dich jetzt gewiß nicht angesprochen,
-hätt&#8217; mich viel eher seitwärts in die Büsche geschlagen.
-Und &mdash; ist es Feigheit, wenn ich die Verachtung meines
-Freundes zu tragen gewillt bin &mdash; meines Vaters wegen?&#8220;</p>
-
-<p>Er machte eine Pause. Hellwig, von der unerwarteten
-Wendung überrascht, fand keine Antwort.</p>
-
-<p>&#8222;Ja!&#8220; fuhr Otto mutiger fort. &#8222;Wegen meines alten
-Vaters! Ich hab&#8217; doch nicht wissen können, wie die Geschichte
-ausgehen wird. Und wenn ich auch nur Karzer
-oder eine schlechte Sittennote bekommen hätt&#8217; ... was
-dann? Die Nachhilfestunden, die Freitische, die Schulgeldbefreiung
-&mdash; alles wär&#8217; beim Teufel! Und dann hätt&#8217;
-ich das Studieren eben einfach an den Nagel hängen
-können! Und mein Vater ist so stolz, daß wenigstens
-einer von uns achten studieren kann! Die Gründe mußt
-du mir gelten lassen, Fritz!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Warum hast du mir dein Wort gegeben? Ich hab&#8217;s
-nicht verlangt!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich war wie im Rausch damals! Du hast mich fortgerissen
-... da hab&#8217; ich mir nicht alles so überlegt &mdash;&#8220;.</p>
-
-<p>&#8222;Gut, gut! Aber laß mich jetzt in Ruh&#8217;!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Und du verzeihst mir, gelt?&#8220;</p>
-
-<p>Zweifelnd blickte Hellwig den Kameraden an.</p>
-
-<p>&#8222;Otto, &mdash; du kannst mir ja nicht einmal in die Augen
-schaun!&#8220;</p>
-
-<p>Da hob der andere das gesenkte Antlitz. Zwei helle
-Tropfen rollten ihm über die Wangen, zeichneten silbrige
-Streifen darauf.</p>
-
-<p>&#8222;Das Mißtrauen verdien&#8217; ich nicht, Fritz!&#8220;</p>
-
-<p>Die schmerzliche Spannung in den Zügen des jungen
-Kato ließ nach. Seine Miene hellte sich etwas auf.</p>
-
-<p>&#8222;Machen wir einen Strich darunter, Otto, wir sind
-beide Schwächlinge!&#8220;</p>
-
-<p>Eilig rannte er fort.</p>
-
-<p>Pichler ging nach Hause. Er schämte sich noch ein
-wenig und war doch froh, daß die Geschichte wieder in
-Ordnung war. Das war ja ausgezeichnet gegangen. Eine
-heiße Zuneigung zu Fritz stieg plötzlich in ihm auf und das
-Verlangen, ihm etwas Liebes zu tun. Er wußte nur nicht,
-was. Und wie öfters schon, faßte er wieder einmal den
-Entschluß, ein guter, ganz makelloser Mensch zu werden;
-sich zu Wissen, Ansehn, Bedeutung hinaufzuarbeiten. Im
-Geiste sah er sich schon Stufe um Stufe erklimmen, angestaunt,
-beneidet, von vielen umworben. Auf einen machtvollen
-Posten gestellt, erwarb er Millionen und verfügte
-unumschränkt darüber, beschenkte fürstlich seine Bekannten,
-half dem Freunde zu Glück und Ehren.</p>
-
-<p>Immer kühner schwang sich seine Phantasie empor. Als
-er vor dem ärmlichen Hause stand, wo ihm ein biederer
-Spengler Kost und Wohnung gewährte gegen die Verpflichtung,
-seine zwei dickköpfigen Buben durch das Untergymnasium
-zu lotsen, da wurde es ihm schwer, sich in der
-Wirklichkeit zurecht zu finden. Die gehobene Stimmung
-verließ ihn aber den ganzen Abend nicht mehr. Seine
-Ungeduld drängte ihn, mit der Erwerbung eines umfangreichen
-Wissens sogleich zu beginnen. Er kramte in seiner
-Bibliothek, die sich zumeist aus Bändchen der Reclamschen
-Sammlung zusammensetzte, nahm bald dies, bald das in
-Angriff und fand keine rechte Ruhe.</p>
-
-<p>Da fiel ihm Kants Kritik der reinen Vernunft in die
-Hände. Er hatte das Werk stets unverdaulich und langweilig
-gefunden, war trotz wiederholter Anläufe nicht über
-die ersten hundert Seiten hinausgekommen. Heute aber
-beschloß er, sich durch den ganzen umfangreichen Band
-durchzufressen. Die Beine unterm Tisch lang ausgestreckt,
-das Gesicht zwischen beiden Fäusten, saß er in der Bodenkammer,
-die bei besserem Geschäftsgang gewöhnlich einem
-zweiten Gesellen des Spenglers zugewiesen wurde, blies
-gewaltige Rauchwolken aus einer langen Pfeife und begann
-zu lesen.</p>
-
-<p>&#8218;Wenn mich Fritz so sähe,&#8216; dachte er selbstzufrieden und
-legte sich ins Zeug, als beabsichtigte er durch eine solche
-Überwindung dem gekränkten Freunde ein Sühnopfer darzubringen.</p>
-
-<p>Aber je länger er saß, je schwächer wurde seine Aufmerksamkeit.
-Auf dem Fundamente einer Welt der &#8218;Dinge
-an sich&#8216; bauten seine Gedanken bald wieder prunkvolle
-Luftschlösser in den Himmel hinein, und die rosige Zukunftsphantasterei
-eines ehrgeizigen Jünglings schnitt dem
-kategorischen Imperativ der Vernunft eine spöttische Grimasse.</p>
-
-<p>Unterdessen verging Frau Hellwig vor Sorgen um ihren
-Jungen, der heute noch seltsamer als sonst war, kein
-Wort redete und das Abendessen unberührt ließ. Hätte
-sie in sein Inneres schauen können, die Sorgen wären
-freilich einem großen Mitleid mit dem armen Grübler
-gewichen. Schwerblütig, wie er war, legte er dem Vorfall
-eine übergroße Bedeutung bei. Er litt nicht so sehr
-unter dem Verrat Ottos, sondern weil er sich selbst untreu
-geworden war und kein Recht mehr hatte, Pichlern
-zu zürnen. Denn er war selber feig gewesen. Oder war
-es etwa nicht Feigheit, zu schweigen, nur weil ein paar
-Dutzend Augen auf ihn geschaut hatten. Wie sollte er der
-Wahrheit zum Sieg helfen, wenn er sich fürchtete, sie
-laut auszusprechen? Beispielgeber hatte er sein wollen &mdash;
-und war vor sich selbst fahnenflüchtig geworden. Wessen
-er Otto geziehen, er selbst hatte es begangen &mdash; und besaß
-nicht einmal eine Entschuldigung dafür.</p>
-
-<p>So peinigte er sich und konnte die ganze Nacht keinen
-Schlaf finden. Er faßte keine guten Vorsätze, denn er hatte
-alles Zutrauen zu sich verloren. Und es dünkte ihm wertlos,
-etwas, das er nie hätte tun dürfen, durch den Entschluß
-gutzumachen, es in Zukunft nicht wieder zu tun. In dieselbe
-Lage konnte er sich nicht zurückversetzen, die war
-unwiderruflich vorbei und der Makel nicht mehr wegzuwischen.</p>
-
-<p>An allen Gliedern wie zerschlagen, die trüben Augen
-dunkel unterrändert, erschien er den nächsten Tag in der
-Schule. Otto war ebenso überrascht wie dankbar, daß
-Fritz mit keinem Wort auf das Vorgefallene zurückkam
-und weiter mit ihm verkehrte, als hätte es nie ein Gestern
-gegeben. Von dem harten Ringen, das zwischen Abend
-und Morgen lautlos vor sich gegangen, hatte er freilich
-keine Ahnung, hätte es auch nicht begriffen. Für ihn
-war jetzt alles wieder im Gleis, zumal auch Pater Romanus
-nicht dergleichen tat und es schien, als beabsichtigte
-er die Geschichte im Sand verlaufen zu lassen. Eine vorläufige
-Folge sollte sie aber doch haben.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>2.</h3>
-</div>
-
-<p>Eines Tages, es war bereits spät im Oktober, kam
-die schöne achtunddreißigjährige Frau des reichen Kaufmannes
-Wart zu Hellwig und bat ihn, mit ihr zu gehen,
-ihr Sohn verlange nach ihm.</p>
-
-<p>Fritz war über dieses Ansinnen sehr verwundert, da
-er den jungen Wart, der die siebente Klasse des Gymnasiums
-besuchte, nur aus einem gemeinsamen französischen
-Lehrkurs ganz flüchtig kannte. Er sagte deshalb der unerwarteten
-Besucherin, die in ihrem schwarzen Seidenkleide
-fein und fremd zwischen den vermummten Lehnstühlen
-stand, hier müsse ein Irrtum vorliegen. Sie aber entgegnete,
-sie irre sich nicht, ihr Junge habe schon oft von
-Fritz Hellwig gesprochen, namentlich in der letzten Zeit,
-als die Geschichte mit dem Religionsprofessor vorgefallen
-sei.</p>
-
-<p>Fritz aber, der sich nur sehr schwer an Menschen anschloß
-und vor neuen Bekanntschaften förmlich Angst hatte, antwortete
-kurz, daß er den Heinrich Wart viel zu wenig
-kenne und keinen Anlaß habe, ihn zu besuchen. Wenn
-jener etwas von ihm wünsche, solle er&#8217;s in der Schule sagen.</p>
-
-<p>Auf eine so schroffe Abweisung war die Frau nicht
-gefaßt gewesen. Sie brach in Tränen aus und rief ganz
-aufgeregt, das sei unschön und lieblos gehandelt. Er könne
-sich denken, daß ihr ungewöhnliches Begehren auch einen
-ungewöhnlichen Grund haben müsse. Kurz und gut, ihr
-Sohn sei schwer krank, man wisse überhaupt nicht, ob er
-wieder aufkommen werde. Heute, nachdem er mehrere
-Tage im Fieber gelegen und nur fortwährend phantasiert
-habe, heute habe er auf einmal den Wunsch geäußert,
-mit Hellwig zu sprechen. Er solle nicht hart sein, vielleicht
-handle es sich um den Wunsch eines Sterbenden.</p>
-
-<p>Da nahm er wortlos den Hut vom Nagel und ging mit.</p>
-
-<p>In den Gassen war es schon dämmrig, ein steter feiner
-Regen fiel und schien das Leben in der Stadt langsam
-auszulöschen. Kein Fuhrwerk rasselte, es bellte kein Hund
-und nur ab und zu hastete jemand mit aufgespanntem
-Schirm eilfertig vorbei, den Rockkragen emporgestülpt und
-die Hosen unten aufgekrempelt, ohne das seltsame Paar
-zu beachten. Die Frau schritt unbekümmert um den Regen,
-der ihr ins Gesicht schlug und Perlen in ihr Blondhaar
-streute, rasch vorwärts. Ihr Kleid knisterte und rauschte
-über das nasse Pflaster, sie raffte es nicht, hätte auch
-keine Hand hiezu frei gehabt, denn mit der Rechten hielt
-sie das Taschentuch vor die Augen, während sie die behandschuhte
-Linke leicht auf Fritzens Arm legte, als fürchtete
-sie, er könne ihr noch im letzten Augenblick davonlaufen.
-Die Sorge war unnötig. Nun er sich einmal
-entschieden hatte, war zugleich auch jene ruhige Entschlossenheit
-über ihn gekommen, mit der er stets an die
-Verwirklichung seiner Vorsätze zu schreiten pflegte. Und
-wenn sich auch bisweilen mitten in der Ausführung seine
-noch nicht gefestigte Jugend aus der Bahn drängen ließ,
-früher oder später vollendete er doch immer, was er sich
-vorgenommen hatte.</p>
-
-<p>Die schlanke Frau an seiner Seite begann zu sprechen.
-Erst leise und zögernd, als schämte sie sich. Bald aber vergaß
-sie die Zurückhaltung, ging aus sich heraus und redete
-sich das Leid vom Herzen herunter, wie wenn sie sich
-einem langjährigen älteren Bekannten anvertraute und nicht
-dem blutjungen Schüler, der trotz seiner Größe im Schultermaß
-nur wenig höher als sie auf langen Beinen nebenher
-lief, den Blick geradeaus gerichtet und die Hand zur
-Faust geschlossen.</p>
-
-<p>Was sie sagte, war nichts anderes als die alte Klage
-der Mütter heranwachsender Söhne. Aber sie gab nicht
-dem Sohne schuld, daß er ihr Sorgen mache, sondern sich
-selbst und quälte sich mit harten Zweifeln, daß sie ihn
-vielleicht in seiner Entwicklung durch eine fehlerhafte Erziehung
-verpfuscht oder nicht die Fähigkeit gehabt habe,
-den sonderbaren Knaben zu verstehen und sicher über die
-Schwelle der Kindheit hinüberzuleiten.</p>
-
-<p>Seine Begabung, sagte sie, sei ungewöhnlich, reich und
-vielversprechend seine Anlagen. Aber ihr Mann halte von
-solchen Sachen nichts und sie, die Mutter, habe vieles,
-das ihr notwendig schien, unterlassen müssen, um das
-väterliche Ansehen nicht zu untergraben. Bei dieser zwiespältigen
-Führung sei der Junge ratlos geworden, sei
-noch immer unselbständig und unfrei und beuge sich zu
-sehr vor einem fremden Willen. Am meisten aber betrübe
-sie seine Art, mit den kleinen Leuten umzugehen,
-mit Dienstboten, Bettlern und Landstreichern. Überzart
-und vorsichtig wie mit rohen Eiern, verlegen und schüchtern
-wie ein Bittender, wo er befehlen sollte &mdash; immer
-in der Sorge, ja niemandem weh zu tun. Denn er achte
-das Menschentum auch in seiner erbärmlichsten Fratze,
-aber &mdash; und das sei ihr Kummer &mdash; darüber vergesse er
-sein eigenes, lasse sich ausbeuten und habe schon mehr als
-einmal freiwillig die Strafe auf sich genommen, die ein
-säumiger Laufbursche oder ein naschhaftes Stubenmädchen
-verdienten.</p>
-
-<p>Die Sprecherin holte tief Atem und fuhr leidenschaftlich
-fort: &#8222;Mein armer Heinz hat den Mut zum Leiden und
-Schweigen, aber keinen Willen zur Tat! Drum reißt&#8217;s
-ihn so zu Ihnen! Weil Sie haben, was ihm mangelt!
-Er schwärmt für Sie, ist einfach in Sie vernarrt! Das
-hat er mir zwar nicht gesagt, aber ich weiß es doch! Ich
-kenn&#8217; ihn ja durch und durch &mdash; aber nur so, wie Schätze
-in einem Glaskasten. Ich hab&#8217; keinen Schlüssel, kann
-nicht zu ihm, ohne eine Scheibe zu zerbrechen. Sie aber
-könnten es ... Wenn Heinz am Leben bleibt &mdash; er wird
-&mdash; er muß! &mdash; dann ... nicht wahr, &mdash; Sie werden sein
-Freund! Er braucht einen starken Menschen, an den er
-sich klammern, aufrichten, emporranken kann! Der ihn
-lehrt, auf den eigenen Füßen zu stehen und eine eigne
-Meinung nicht bloß zu haben, sondern auch durchzusetzen!
-Dann versprech&#8217; ich mir viel von ihm! Nicht wahr, Sie
-werden ...?&#8220;</p>
-
-<p>In banger Erwartung streckte sie ihm die Hand hin.
-Doch er schlug nicht ein. Wohl war er mit wachsender
-Teilnahme ihrem Reden gefolgt, das ganz neue Gebiete
-vor ihm aufschloß. Hatte die hohe Auffassung einer gewissenhaften
-Mutter von ihren Pflichten gegenüber dem
-Kinde mit immer heißerer Ergriffenheit wahrgenommen
-und über Worte gestaunt, die er niemals einer Frau zugetraut
-hätte. Aber er war seines Vorsatzes, nie zu lügen,
-eingedenk und antwortete mit jener ungelenken Rauheit,
-die bei ihm stets herhalten mußte, wenn er weich zu werden
-drohte: &#8222;Wart ist mir fremd. Ich kann gar nichts versprechen.&#8220;</p>
-
-<p>Die Frau ließ mutlos den Kopf hängen. Fritz kam sich
-wie ein Verbrecher vor, als er den leidvollen Ausdruck
-ihres Gesichtes wahrnahm. Wie aus einer anderen, lichteren
-Welt erschien sie ihm, die Verkörperung alles Lieben,
-Zarten, Gütigen. Eine warme Welle flutete in ihm empor.
-Am liebsten hätte er ihre Hände gefaßt und um Verzeihung
-gebeten, daß er ihr weh tat. Aber er biß nur die
-Zähne zusammen und verdoppelte den Schritt, so daß sie
-ihm kaum nachkommen konnte.</p>
-
-<p>&#8222;Seien Sie wenigstens freundlich zu ihm!&#8220; bat sie.</p>
-
-<p>Und er darauf: &#8222;Ich bin kein Lausbub!&#8220;</p>
-
-<p>Nun standen sie vor dem alten Bürgerhause auf dem
-Marktplatz, das mit Erkern und Simsen und Vorsprüngen,
-mit Luken, Giebeln und steilen Dachflächen düster und
-massig in die Luft hineinwuchs. Kisten und Fässer und
-Ballen und Tonnen türmten sich allenthalben im wölbigen
-Flur, lagen im breiten Stiegenhaus und verengten die
-kühlen Korridore, überhuscht von den spärlichen Reflexen
-schwelender Kerzen hinter verstaubten Gläsern.</p>
-
-<p>Polternd klangen die Schritte der beiden im Hinansteigen
-über die bequeme Holztreppe. Nun hielten sie vor
-der hohen dunklen Wohnungstür, ein Dienstmädchen öffnete,
-und sie traten ein. Flüsternd erkundigte sich die
-Frau nach dem Befinden ihres Kindes und erhielt befriedigende
-Auskunft. Da öffnete sie eine zweite Tür,
-winkte Fritz, daß er ihr folgte und schritt durch ein unbeleuchtetes
-Zimmer mit weitem Raum. Undeutlich hoben
-sich die Gegenstände aus dem schwachen Lichtschein, den
-die Straßenlaternen zu den Fenstern hinaufsandten, in
-florigen Teppichen versank der Fuß, und leis klirrten ein
-paar Gläser im altdeutschen Schrein. Hellwig tastete sich
-durch mit vorgestreckten Händen, stieß an einen Stuhl.
-Da drehte sich wieder eine Tür geräuschlos in den Angeln
-und ein grün gedämpftes Lampenlicht quoll durch den Spalt.</p>
-
-<p>Sie waren im Krankenzimmer. Mit der Schmalseite
-an die Wand gerückt, von den drei anderen Seiten frei
-zugänglich, schob sich ein breites Eichenbett bis in die
-Mitte des Gelasses. Darinnen war, fast so weiß wie die
-Kissen und Linnen, ein mageres Antlitz sichtbar, von einem
-dichten Kranz tiefschwarzer Haare eingefaßt und von zwei
-mächtigen dunklen Augen überleuchtet, die es ganz beherrschten
-und noch abgezehrter erscheinen ließen.</p>
-
-<p>Frau Wart war sofort bei ihrem Sohne.</p>
-
-<p>&#8222;Wie geht&#8217;s dir, mein Junge? Hast du auch brav
-geschlafen?&#8220; fragte sie und war prächtig anzusehen in der
-wohltuenden und beruhigenden Heiterkeit, hinter der sie
-alle ihre angstvolle Sorge barg. Der Kranke gab keine
-Antwort, sondern schaute mit seinen glänzenden Fieberaugen
-an ihr vorbei auf Fritz, der stumm unter dem
-schweren Türvorhang stand. Sie bemerkte den Blick, nickte
-ihm zu und lächelte: &#8222;Ist&#8217;s dir recht? Du hast ihn ja haben
-wollen.&#8220;</p>
-
-<p>Da stieg ein sachtes Wellchen Blutes in das eingefallene
-Gesicht, leuchtete durch die Haut und warf einen zartroten
-Schein darüber.</p>
-
-<p>&#8222;Guten Abend, Hellwig,&#8220; sagte er leise und ließ die
-Augen nicht von ihm.</p>
-
-<p>Nun kam Fritz näher, hielt am Fußende des Bettes
-und sagte: &#8222;Servus, Wart! Was treibst du denn für
-Geschichten? Krank sein &mdash; das gibt&#8217;s doch nicht! Sieh
-lieber, daß du bald wieder ins Französisch kommst.&#8220;</p>
-
-<p>Die Mutter tat einen tiefen, freien Atemzug. Sie hatte
-heimlich vor diesem Zusammentreffen gebangt, hatte gefürchtet,
-daß Hellwigs kantige Art den Kranken verletzen
-und aufregen könnte. Nun sah sie den warmen Blick,
-hörte den herzlichen Klang der vor kurzem noch so trotzig
-rauhen Stimme und schämte sich im stillen ihrer argen
-Meinung.</p>
-
-<p>&#8222;Bleib nur liegen, du!&#8220; flüsterte sie beglückt und drückte
-ihren Jungen, der sich aufrichten wollte, in die Kissen
-zurück. &#8222;Herr Hellwig setzt sich zu dir, da könnt ihr
-reden ... aber nicht zu lang, nicht wahr?&#8220;</p>
-
-<p>Bittend schaute sie den Besucher an und wies auf einen
-Stuhl neben dem Lager.</p>
-
-<p>&#8222;Ich könnt&#8217; ebenso gut stehen!&#8220; entgegnete Fritz wieder
-kalt abweisend. Als er jedoch die ängstlich-erwartungsvolle
-Miene des andern sah, verstummte er und setzte sich.</p>
-
-<p>Geräuschlos glitt die Frau aus dem Gemach. Im dunklen
-Nebenzimmer verließ sie die mühsam behauptete Fassung.
-Sie hatte Hellwig auf ihre eigene Verantwortung
-herbeigeholt, versprach sich davon eine raschere Wendung
-zum Gesunden. Wenn nur, ach, wenn nur endlich alle
-Gefahr vorüber wäre! Und die Sorge um das Leben des
-Kindes senkte sich wieder schwer und lautlos auf das blonde
-Haupt, die schlanken Schultern und drückte sie nieder.
-Wie unter eine wuchtende Last geduckt, stand sie ohne
-Regung und versuchte mit beiden Händen das übermächtig
-schlagende Herz zu halten. &mdash;</p>
-
-<p>&#8222;Was willst du von mir?&#8220; fragte Hellwig den Kranken.
-Der schaute hilflos gegen die Zimmerdecke und dann
-suchend im Raum umher. Da fiel sein Blick auf einige
-Bücher, die in grünen Einbänden neben der Lampe und
-zwischen Arzneiflaschen auf dem Tisch lagen. Wie Erlösung
-überkam es ihn.</p>
-
-<p>&#8222;Mutter hat mir Darwin geschenkt!&#8220; sagte er lebhaft.
-&#8222;Die große Ausgabe. Den mußt du lesen, ich leih&#8217; dir ihn!&#8220;</p>
-
-<p>Eine Sekunde nur blickte Fritz in die Augen, die ihm
-groß und leuchtend entgegenstanden: dann hatte er begriffen.
-Hatte begriffen, daß hier vor ihm einer seines
-Wesens lag, gleich scheu und zurückhaltend und zu stolz,
-um sich aufzudrängen. Und er wußte mit einemmal,
-daß dieser schmächtige schwarzhaarige Mensch, den er im
-großen Troß der andern mit übersehen hatte, schon seit
-langem, heimlich und ohne sich zu verraten, sein Freund
-war. Und auch er fühlte sich jetzt, da er den Spuren der
-scharf geprägten Züge in dem geistreichen Antlitz nachforschte,
-mächtig zu ihm hingezogen. Aber er ehrte das
-Schamgefühl des andern. Deswegen antwortete er scheinbar
-ganz gleichgültig auf dessen Anerbieten.</p>
-
-<p>&#8222;Du würdest mir damit eine große Freude machen!&#8220;
-sagte er und nahm eines der grünen Bücher vom Tisch.
-&#8222;Ist&#8217;s das hier?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ja. Nimm dir nur gleich ein paar Bände mit.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Einer genügt vorläufig!&#8220; entgegnete Hellwig kurz und
-erhob sich.</p>
-
-<p>&#8222;Du gehst schon?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ja!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Du kommst aber wieder?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich werd&#8217; mir doch das Buch nicht behalten!&#8220; knurrte
-Fritz.</p>
-
-<p>Der Kranke hob die Hand von der Bettdecke und reichte
-sie ihm wortlos. Fritz nahm sie in seine breite Rechte und
-hielt sie einen Augenblick fest.</p>
-
-<p>&#8222;Gute Nacht, Wart!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Gute Nacht, Hellwig!&#8220;</p>
-
-<p>Im Nebenraum trat ihm Frau Wart entgegen: &#8222;Nun?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich hab&#8217; mir einen Band Darwin ausgeborgt!&#8220; sagte
-er unwirsch, hastete an ihr vorbei, durchs Vorzimmer und
-über die Treppe hinab ins Freie.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>3.</h3>
-</div>
-
-<p>Der November war noch nicht zu Ende, da hatte Hellwig
-sämtliche Schriften Darwins bewältigt. Die Mutter
-wurde auf sein Treiben aufmerksam und drang nachts
-in sein Zimmer, wo er vor der Lampe über den Büchern
-saß. Da schalt sie wegen seines langen Wachens, bat ihn,
-seiner Gesundheit nicht zuviel zuzumuten und wich erst,
-bis sie ihn ganz sicher hinter dem Wandschirm in den
-Federn wußte.</p>
-
-<p>Um ihr Mißtrauen zu zerstreuen, ging er die nächsten
-Tage früher zu Bett. Dann aber verschaffte er sich
-ein Zigarrenkistchen, befestigte darin auf dem unteren
-schmalen Brett eine Kerze, an dem oberen aber, um dessen
-Anbrennen zu verhindern, einen ausgedienten Topfdeckel
-und hatte so eine Art Diebslaterne, nach drei Seiten
-für das Licht abgeblendet. Wenn nun seine gewöhnliche
-Schlafstunde heranrückte, stellte er dieses Gerät knapp
-hinter das Buch in der Weise, daß kein Lichtstrahl durch
-die klaffenden Fugen der Tür in die Küche dringen und
-der Mutter sein Wachbleiben verraten konnte. Dann löschte
-er die Lampe, hielt sich still und las beim flackernden Schein
-der Kerze mit geschnürtem Atem weiter, bis draußen auf
-der Gasse die ersten Bauernfuhrwerke über das holprige
-Pflaster rumpelten und der erwachte Lärm dem nahen
-Morgen vorauslief. Dann suchte er endlich sein Lager und
-tat hinter bleischweren Lidern einen traumlosen Schlaf, aus
-dem ihn jedoch meist schon nach zwei, drei Stunden die
-nichtsahnende Mutter weckte mit der Meldung, daß das
-Frühstück fertig und es Zeit zur Schule sei.</p>
-
-<p>Unterdessen hatte Warts Genesung rasche Fortschritte
-gemacht. Er durfte bereits kurze Spaziergänge unternehmen
-und tat dies mit Hellwig, dessen Seele ihm, nun
-das Eis einmal gebrochen, offensichtlich zuströmte. Ganz
-aber fanden sie sich erst an einem frostklaren Dezembertage,
-als sie nach einem schon längeren Marsch bei Milch
-und Butterbrot in einem Dorfwirtshaus saßen und von
-den alten Juden auf die Erlöser und auf den Gottesbegriff
-zu sprechen kamen.</p>
-
-<p>Sie waren die einzigen Gäste in der niedrigen Stube.
-Hinter dem Kachelofen hockte zusammengeduckt eine weißhaarige
-Frau und summte ihrem Enkelkind ein eintönig
-uralt Wiegenlied zum Schlaf. Die große Stehuhr pochte
-wie das Herz der Stille, und Heinz Wart sprach: &#8222;Darwin
-ist ein Erlöser und ist auch keiner. Viele alte Götzen
-hat er zerschlagen, der Verstand mag damit zufrieden sein,
-aber nicht das Herz. Und mit der Lösung der Frage
-nach <em class="gesperrt">unserer</em> Herkunft ist jene nach der Herkunft unseres
-Gottglaubens nicht aus der Welt geschafft. Für mich aber
-bedeutet Gott nichts anderes als das Ideal, nach dem sich
-jeweils die Menschen gesehnt haben. Den entrechteten
-Hindukasten von den Sudras bis zu den Tschandalas ist
-sicherlich die endliche selige Ruhe nach einem Leben der
-Knechtschaft als das Herrlichste erschienen &mdash; und Buddha
-hat ihnen das Nirwana gegeben. Bei den alten Deutschen
-hast du Freude am Kampf und Zechgelag und hast du
-kriegsgewaltige Schlachtengötter und reisige Jungfrauen,
-die die Helden nach Walhall zur Metbank bringen. Dem
-Schwärmer von Nazareth aber ist der Mensch selbst zum
-Ideal geworden. Darum ist sein Gott ein Menschengott,
-der alle unsere Tugenden und Fehler, Milde und Härte,
-Erbarmen und Grausamkeit, opferfreudigste Hingabe und
-starrste Ichsucht, zum höchsten Maß gesteigert, in sich
-vereinigt. Und weil dadurch Gott den Menschen so nahe
-gerückt wurde, haben sie sich ihm so bereitwillig zugewendet.
-Denn in ihm beten sie ihr Menschentum an, und sie
-lieben sich selber in ihrem Gott. Und die Reformationen
-sind nichts als Versuche gewesen, den lieben alten Menschengott
-umzumodeln, damit er zu den neuen Menschen mit
-ihren neuen Anschauungen wieder passe. Und wenn wir
-jetzt gegen den Druck verjährter Dogmen knirschen, so
-beweist das für mich nichts anderes, als daß unsere Zeit
-abermals reif geworden ist für eine neue Sehnsucht. Aber
-wir wissen noch nicht, wo sie wohnt und kennen den richtigen
-Weg nicht zu ihr, lassen uns leicht irreführen durch
-die Lockungen falscher Propheten. Nietzsche ist für mich ein
-solcher. Ich bewundere die rauhe Kühnheit und empöre
-mich über die wahnwitzige Überhebung, mit der er das Ich
-zum Gott machen will. Freilich, <em class="gesperrt">die</em> Ausgestaltung wäre
-logisch. Vom Weiteren zum Engeren, vom Kreis zum
-Punkt. Nach dem Menschen als Gattung der Mensch als
-einzelner. Jeder einzelne sich selbst Gesetzgeber und Richter
-und Rächer des eigenen Gesetzes. Jeder sich selbst
-Gott. Oder Schöpfer seines Gottes: des Übermenschen.
-Aber ...&#8220;</p>
-
-<p>Er atmete tief auf und schwieg. Von der untergehenden
-Sonne kam ein seltsam rötlicher Schein in die Stube,
-alle Gegenstände ertranken in einem ungewissen Zwielicht,
-und nur vor den winzigen Fenstern stand noch hell und
-durchsichtig die Luft wie ein unbewegtes, zartpurpurnes
-Meer.</p>
-
-<p>Mühselig erhob sich die gebeugte Greisin von der Ofenbank
-und wollte die Lampe anzünden. Aber Fritz winkte
-ab: &#8222;Lassen Sie nur, wir bleiben ganz gern im Dunkeln.&#8220;</p>
-
-<p>Dann war wieder Schweigen. Das Kind schlief in der
-Wiege. Eine graue Katze strich mit gehobenem Schweif
-und gekrümmtem Rücken unhörbar um ein Stuhlbein,
-immer rundum, rundum. Und das verhuzelte Weibchen
-beim Ofen ließ den Kopf tief und tiefer sinken und schlief
-allmählich ein.</p>
-
-<p>Mit hämmerndem Herzen saß Fritz und starrte aufgeregt
-nach dem unscheinbaren Menschen neben sich, dessen
-Antlitz weiß aus dem Dämmer herausleuchtete. Was er
-da gehört hatte, war mehr als zusammengelesene Weisheit,
-waren selbständige Ideen, die seine Seele mitschwingen
-machten. Und er kam sich klein vor, fühlte seine Unfertigkeit
-und wie wenig er wußte. Und plötzlich kam ihm die
-blonde Frau wieder in den Sinn, die an jenem Regenabend
-mit rauschenden Gewändern neben ihm gegangen. Das
-drohte die Weihe der Stunde zu stören. Er legte die Hand
-auf den Schenkel des Freundes.</p>
-
-<p>&#8222;Weiter, Heinz! Was ist&#8217;s mit dem Aber?&#8220;</p>
-
-<p>Wart zuckte auf und schaute ihn mit leeren Augen an,
-als hätte er alle seine Gedanken auf weite Wanderung
-geschickt und müßte erst warten, bis sie sich wieder zurückfanden.
-Dann sagte er, den Kopf in die Hand gestützt
-und den Blick immerfort auf die Tischplatte vor sich gerichtet,
-sagte ganz leise, wie aus einem Traum heraus:</p>
-
-<p>&#8222;Auf dem rechten Weg zur neuen Sehnsucht scheinen
-mir trotz allem doch die Jakobiner gewesen zu sein, und
-Maximilian Robespierre, der Tauben züchtete und Menschen
-mordete, hat es oft genug ausgesprochen: &#8218;Wir wollen
-die Wünsche der Natur erfüllen und die Bestimmung der
-Menschheit erreichen: den friedlichen Genuß der Freiheit
-und Gleichheit, ein Reich der ewigen Gerechtigkeit. Wo
-der Bürger der Obrigkeit und die Obrigkeit dem Volke
-dient und das Volk der Gerechtigkeit. Wo die Künste der
-Schmuck der Freiheit sind, der Handel die Quelle des
-öffentlichen Reichtums und nicht der ungeheuerlichen Wohlhabenheit
-einzelner Häuser. Schrecker der Unterdrücker
-wollen wir sein und Tröster der Unterdrückten und statt
-der Kleinlichkeit der Großen wollen wir die Menschengröße.&#8216;
-&mdash; Das geht zwar schnurstracks gegen den Kampf
-ums Dasein des Individuums, aber trotzdem glaube ich,
-daß darin unser Heil für die Zukunft liegt. An Stelle
-des Menschengottes möchte ich das Menschentum setzen und
-gegen die Forderung: &#8218;Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!&#8216;
-die Formel: &#8218;Hilf deinem Nächsten wie dir selbst!&#8216; ...
-Die Menschheit zur Freiheit führen, den Elenden und Gequälten
-ein freies, heiteres Dasein schaffen, ihnen ihr
-Recht auf Glück zurückerobern, das jeder schon hier auf
-Erden für sich fordern darf kraft seines Menschentums
-&mdash; es ist ein Ziel, wohl wert, sein Leben dafür aufzuwenden
-...&#8220;</p>
-
-<p>Er hatte sich in Begeisterung hineingesprochen, sprang
-auf und stand mit geröteten Wangen aufrecht da, ein
-heiliges Feuer in den Augen. Da war auch schon Fritz
-neben ihm, riß ihn an sich und sagte mit erstickter Stimme:
-&#8222;Heinz &mdash; Freund &mdash; Bruder ... unser Leben ... wir
-wenden&#8217;s dran ...&#8220;</p>
-
-<p>Nun ward es ihnen zu eng in der Stube. Sie brachen
-auf und schritten Schulter an Schulter unter einem klaren
-Sternenhimmel heimwärts. Und während sie so gingen,
-mußte Fritz abermals an Frau Wart denken und empfand
-einen dumpfen Groll, daß sie ihren Wunsch erfüllt und
-ihn als Freund ihres Sohnes sehen sollte. Und gleichzeitig
-stemmte er sich gegen dessen frühe Reife und den
-Einfluß, den sie auf ihn zu gewinnen drohte. Seine
-Stimme klang beinah feindlich, als er jetzt sagte: &#8222;Woher
-nimmst du eigentlich das alles?&#8220;</p>
-
-<p>Da seufzte der andere leise und erwiderte: &#8222;Mein Gott,
-man sitzt nicht umsonst mit einundzwanzig Jahren erst in
-der Septima!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Du bist schon so alt?&#8220; fragte Fritz erstaunt. Denn
-Wart sah mit seinem bartlosen blassen Gesicht und der
-schmächtigen Gestalt kaum siebzehnjährig aus. Nun nickte
-er: &#8222;Jawohl &mdash; sogar bald zweiundzwanzig. Im Frühjahr
-muß ich schon das drittemal zur Stellung. Hoffentlich
-ist meine Brust noch immer für den Rock des Kaisers zu
-schmal. Sonst wär&#8217;s gefehlt, weil ich ja noch nicht das
-Einjährigenrecht hab&#8217;.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ja, aber ...?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Wieso das kommt? Ganz einfach! Ich war kaum
-mit dem Untergymnasium fertig, da hat mich mein Alter
-ins Geschäft gesteckt. Aber ich hab&#8217; mich dort nicht zurechtfinden
-können. Nach drei Jahren hat er das auch selbst
-eingesehen und mich wieder ins Gymnasium zurückgeschickt.
-Das verdank&#8217; ich der Mutter, ich weiß das, aber bis jetzt
-hab&#8217; ich ihr keine Ehre gemacht. Die Quinta und die
-Sexta hab&#8217; ich wiederholen müssen, für Mathematik hab&#8217;
-ich nun einmal kein Verständnis, ich bring&#8217; das trockene
-Zeug nicht in den Schädel! Und dann die Bücher: Rousseau,
-Proudhon, Engels, Lasalle, Marx, Adam Smith &mdash;
-du kennst ja meine Sammlung.&#8220;</p>
-
-<p>Er schwieg und Hellwig ebenfalls. Arm in Arm schritten
-sie auf der schneebedeckten Landstraße rüstig vorwärts,
-überließen sich ihren nachgenießenden Gedanken und gingen
-auf dem Marktplatz mit einem kurzen Händedruck stumm
-voneinander.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>4.</h3>
-</div>
-
-<p>Seit diesem Tage waren sie Freunde.</p>
-
-<p>Sie blieben aber nicht lang zu zweit, denn Pichler wollte
-sich nicht kaltstellen lassen. Hellwig mußte ihn mit Wart
-bekannt machen, und auch dieser wurde dem kecken Leichtfuß
-bald geneigt.</p>
-
-<p>Ihre Zusammenkünfte hielten sie jetzt bei Heinz ab, der
-nach der Genesung wieder sein Zimmer bezogen hatte.</p>
-
-<p>Das lag ganz oben, unterm Dach des altertümlich und
-weitläufig gebauten Hauses, worin das Bürgergeschlecht
-Wart seit Jahrhunderten einen schwunghaften Kaufhandel
-betrieb. Der jetzige Inhaber war ein derber, knorriger
-Fünfziger von praktischem Verstand und tüchtigem Arbeitssinn.
-Von der Pike auf im Geschäft, war er jeder geistigen
-Tätigkeit abhold, sofern sie nicht auf einen realen und
-reellen Gewinn unmittelbar hinzielte. Den ganzen Tag
-dröhnte seine Stimme durch die hallenden Korridore, war
-seine untersetzte Gestalt überall zu sehen. Bald half er
-mit schweißtriefender Stirn im Hof beim Aufladen der
-Warenballen, bald teilte er im Kanzleiraum Befehle aus,
-durchlief die weiten Speicher oder fertigte die Ladenkunden
-ab, in unermüdlicher Regsamkeit für die ordentliche und
-glatte Abwicklung des verzweigten Betriebs.</p>
-
-<p>Trotzdem fand er noch Zeit zur Verwaltung der verschiedenlichsten
-bürgerlichen Ehrenämter, war Stadtverordneter,
-Waisenvater und Ortsschulrat, Feuerwehrhauptmann
-und Schützenleutnant und stand bei allen Mitbürgern wegen
-seines gediegenen Charakters in Ansehen. Vornehmlich bei
-der Opposition, deren Leitung selbstverständlich in seiner
-Hand lag. Denn die Wart hatten alle von jeher ihren
-eigenen Kopf.</p>
-
-<p>Darüber waren vom Wart Nikl &mdash; unter diesem Namen
-war er, der Nikolaus hieß, in der ganzen Gegend bekannt
-&mdash; allerhand Geschichten im Schwang.</p>
-
-<p>Als die klerikale Vereinigung, die in Neuberg dank der
-werbenden Kraft des Paters Romanus gegründet worden
-war, ihren ersten Unterhaltungsabend veranstaltete, da war
-Nikolaus Wart an der Spitze von zwanzig handfesten Gesinnungsgenossen
-lärmend in den Saal gedrungen, wo
-eben eine Festvorstellung im Gange war und das Konterfei
-eines bekannten schwarzen Häuptlings mit Lorbeer und
-Lilien bekränzt hinter Glas und Rahmen an der Wand
-hing. Einen Tisch erkletternd, nahm der Nikl seelenruhig
-das Bildnis vom Nagel und lehnte es in eine Ecke. Aber
-als alle Gäste, darob entrüstet, auf ihn eindrangen, da
-hob er es wieder, schwang es mit beiden Fäusten, und breitspurig
-mit gespreizten Beinen auf dem Tisch aufgepflanzt,
-schrie er mit voller Lungenkraft: &#8222;Ruh&#8217; geben! Zurück!
-Sonst hau&#8217; ich auf eure Schafsköpf&#8217; den größten drauf!&#8220;</p>
-
-<p>Dann schleuderte er das Bild zu Boden, daß die Scherben
-splitternd umherflogen, sprang hinterdrein und tat mit
-seinen Kumpanen so gründliche Arbeit, daß die Vereinigung
-katholischer Männer kläglich abziehen mußte. Worauf Wart
-Nikl schmunzelnd den rötlichen Vollbart strich und eine
-Sitzung der Freisinnigen eröffnete, die bis zum grauenden
-Morgen dauerte. &mdash;</p>
-
-<p>Und früher &mdash; in Zeiten schwerer nationaler Bedrängnis
-&mdash; als die Stadt Neuberg eine Kundgebung gegen
-die slawischen Vorstöße veranstaltete und als von einer
-kurzsichtigen Regierung zur Verhütung von Ausschreitungen
-ein slawisches Reiterregiment in die Stadt beordert wurde,
-das denn auch alsbald mit flachen Säbelhieben in die
-leidenschaftlich aufgewühlte Volksmenge einbrach, da hatte
-sich Wart Nikl den hitzigen Blauröcken entgegengestellt,
-hatte Rock, Weste, Hemd vorn auseinander gezerrt, und
-den Soldaten die nackte Brust darbietend, hatte er gebrüllt:
-&#8222;Da! da! Stecht her, wenn ihr dürft! Totschlagen
-könnt ihr uns, unterkriegen niemals nicht!&#8220;</p>
-
-<p>Daraufhin hatte man sich die Sache noch einmal überlegt
-und gegen die ehrenwörtliche Versicherung des Bürgermeisters,
-daß die Leute freiwillig und friedlich auseinandergehen
-würden, die Truppen abrücken lassen. Und als
-hernach die Verwundeten vorüber getragen wurden, da
-waren dem Wart Nikl die Tränen aus den Augen gesprungen
-und mit einem schmerzvollen Blick zum Standbild
-Kaiser Josefs II. hatte er gerufen: &#8222;Schau&#8217; her,
-trauter Kaiser Seff, schau&#8217; nur her, wie&#8217;s deinen Deutschen
-heutigentags geht!&#8220; &mdash;</p>
-
-<p>Dieser Begebenheit verdankte er übrigens das beste Glück
-seines Lebens. Denn wie jedes Ausharren in einer gemeinsamen
-Not wildfremde Menschen urplötzlich vertraut macht,
-hatte sich neben den stiernackigen Kaufmann, der dem
-Übermut der slawischen Reiter mit seiner mächtigen Stimme
-Einhalt tat, ein schlankes Mädchen mit wehendem Blondhaar
-mutvoll aufgepflanzt und laut gerufen: &#8222;Recht so!
-Recht!&#8220;, wobei es den Soldaten herausfordernd die funkelnden
-Augen entgegenhielt.</p>
-
-<p>An diesen Blick mußte der Junggesell fortwährend denken
-und kam nach einigen Tagen rätselhafter Unrast endlich
-zu dem Entschluß: &#8222;Die wird&#8217;s oder keine!&#8220;</p>
-
-<p>Sie hieß Hedwig und war die Tochter des Stadtarztes
-Doktor Kreuzinger, der aus übergroßer Liebe zur Heimat die
-gewählte Hochschullaufbahn und damit auch die sichere Anwartschaft
-auf eine Universitätsprofessur aufgegeben hatte,
-um in seiner Vaterstadt ständig leben zu können. Er war
-ein ebenso ausgezeichneter praktischer Arzt wie scharfsichtiger
-Forscher, und seine Abhandlungen in den Fachblättern
-fanden wegen ihrer gehaltvollen Sachlichkeit Anklang und
-Beachtung. Wie denn auch bei den Kongressen, zu denen
-er sich regelmäßig einzufinden pflegte, manche &#8218;Berühmtheit&#8216;
-mit Worten schmeichelhaften Lobes des unscheinbaren
-Kollegen aus der Provinz Erwähnung tat, worüber der
-dann stets errötete und in eine hilflose Befangenheit hineingeriet,
-bis ein neuer Redner seine Aufmerksamkeit fesselte.
-Dann begannen die schlanken Finger in dem grauen Vollbart
-zu wühlen, die gescheiten Augen wurden wieder lebendig,
-und eine Falte auf der Stirn verriet die starke Gedankenarbeit,
-womit der bescheidene Landarzt dem Vortrag folgte.</p>
-
-<p>Auf die Werbung des Kaufmanns erwiderte er einfach:
-&#8222;Wenn sie will, ich rede ihr da nichts hinein.&#8220; Und der
-urwüchsige Gesell verlor vielleicht zum erstenmal im Leben
-seine Sicherheit, wurde verlegen wie ein Schuljunge und
-mühte sich mit seiner ungelenken Zunge schöne Satzgebilde
-zu formen, als er dem schlank aufgewachsenen Mädchen
-gegenüberstand, das ihn stirnbreit überragte, trotzdem es
-erst siebzehn Jahre alt war. Aber sie sagte ja. Die aufrichtige
-Geradheit des Mannes, seine ehrliche Lebensführung,
-die wie ein offenes Buch im vollen Licht vor aller
-Augen dalag, hatten&#8217;s ihr angetan. Und sie hatte nie Ursache,
-ihre Wahl zu bedauern. Auch dann nicht, als Wart
-Nikl erkannte, daß sie in jener bewegten Stunde nicht Begeisterung
-an seine Seite getrieben hatte, sondern lediglich
-die heilige Entrüstung, die jeden Guten packt, wenn irgendwo
-Gewalt vor Recht gehen soll.</p>
-
-<p>Jeder ehrte die wackere Art des andern und forderte
-nichts Unmögliches von ihr. Weder Hedwig, daß Nikl
-ihr zuliebe plötzlich ein Schöngeist werde, noch er, daß
-seine schöne Frau Rosinen abwiege, kiloweise Mehl verkaufe
-oder die Buchführung lerne. Er überließ ihr auch
-die Erziehung der Kinder, da er wußte, daß sie ihm hierin
-überlegen war. Und seit sein Versuch, auf die Berufswahl
-des Sohnes kraft seiner väterlichen Gewalt bestimmend
-einzuwirken, kläglich gescheitert war, übersah er, der Bücherfeind,
-es sogar stillschweigend, wenn Frau Hedwig ihrem
-Jungen Geld zur Beschaffung von Zeitschriften oder Büchern
-einhändigte.</p>
-
-<p>Die erworbenen Schätze stapelte Heinz mit unverdrossenem
-Sammeleifer in seiner Dachstube auf, die dadurch
-ein recht gelehrtes und von den übrigen Räumen des
-Hauses grundverschiedenes Gepräge bekam. Allerhand
-Druckwerke stauten sich hier auf Schrank und Tisch und
-füllten längs der Wände hohe Regale, wogegen in den
-anderen Zimmern nur Preislisten, Warenproben und Geschäftsbriefe
-herumlagen. Denn Vater Wart las außer
-einer Tageszeitung und der deutschen &#8218;Grenzwacht für Neuberg
-und Umgebung&#8216; überhaupt nur, was mit der Führung
-seines Geschäftes und seiner bürgerlichen Ehrenämter unmittelbar
-zusammenhing.</p>
-
-<p>Um so heißhungriger fiel Hellwig über die Bücherei
-des Freundes her. Der Kaufmann war ihm deswegen
-nicht besonders grün und äußerte zu seiner Frau, der lange
-Blonde mit den Storchbeinen sei gerade so ein Mucker wie
-sein Herr Sohn. Dagegen nannte er Pichler bald einen
-netten und vernünftigen jungen Mann, weil dieser rasch
-die schwachen Seiten des einflußreichen Bürgers aufgespürt
-hatte, mit ihm über das Geschäft sprach, für Warenmuster
-Interesse zeigte und sich in den Marktpreisen auskannte,
-kurz zu haben schien, was Nikl an seinem Heinz so ungern
-vermißte: das Zeug zu einem guten Kaufmann.</p>
-
-<p>Frau Hedwig erwiderte auf diese Lobsprüche nichts. Ihr
-gefiel Pichler nicht. Doch sie war zufrieden, Heinz und
-Fritz beisammen zu wissen und störte ihren Verkehr nicht,
-trachtete im Gegenteil, daß Hellwig sie nicht zu Gesicht
-bekam, weil sie das Gefühl nicht los wurde, daß ihm
-ein Zusammentreffen mit ihr Unbehagen schaffe. Dem war
-in der Tat so. Sie hatte auf den jungen Menschen gleich
-bei der ersten Begegnung tiefen Eindruck gemacht, und so
-sehr er sich dagegen wehrte, er mußte die schöne Frau
-lieben. Mußte sie lieben, weil sie im Vollsinn des Wortes
-eine Mutter war &mdash; und haßte sie auch vom selben Augenblick
-an. Mußte sie hassen in seiner jugendlichen Parteilichkeit,
-weil sie nicht seine Mutter war. Weil sie ihn
-zwang, Vergleiche zwischen ihr und der eigenen Mutter
-anzustellen und weil diese Vergleiche immer gegen letztere
-ausfielen. Sein kindliches Gemüt kämpfte dagegen an,
-wollte sich das reine Bild derjenigen nicht trüben lassen,
-die ihn in ihrem Schoße getragen. Aber der kalte Verstand
-trieb ihn stets aufs neue das Für und Wider abzuwägen
-&mdash; und immer neigte sich das Zünglein zugunsten
-der blonden Frau.</p>
-
-<p>Das ging so weit, daß ihm sogar die Schamröte ins
-Gesicht stieg, als er eines Tages Heinz und Otto in seine
-Behausung führte und die Mutter nach einer kleinen Weile
-mit ihrer unvermeidlichen Kaffeekanne anrückte. Ein
-schwächliches, verblühtes Frauchen, sanft, gutherzig und
-rührselig, kam sie hereingetrippelt, bat um Entschuldigung,
-daß sie nichts Besseres vorzusetzen habe, und auf Pichlers
-Frage, ob die Hühner des Nachbarn ihr noch immer auf
-dem Bleichplatz im Gärtchen die Wäsche beschmutzten, erhob
-sie sofort ein großes Jammern über diese Rücksichtslosigkeit,
-mit reichlichem Wortschwall und Mitleid heischender
-Miene.</p>
-
-<p>Fritz saß da und schämte sich vor Heinz. &#8218;Dort Bücher
-und verstehendes Fernbleiben &mdash; hier Kaffee und Geschwätz!&#8216;
-dachte er bitter. Denn er war noch nicht reif
-genug für die Erkenntnis, daß hier wie dort ein gleich
-schönes menschliches Empfinden nur seinen verschiedenen
-Ausdruck fand.</p>
-
-<p>&#8222;Hör&#8217; doch schon auf mit dem Quatsch, Mutter!&#8220; sagte
-er unwillig.</p>
-
-<p>Da verstummte sie erschrocken und stahl sich mit einem
-unterdrückten Seufzer aus der Stube.</p>
-
-<p>Kaum gesprochen, war ihm das Wort schon leid. Aber
-als jetzt Heinz seine ernsten Augen auf ihn richtete: &#8222;Du
-hast sie gekränkt!&#8220;, da fuhr er auf: &#8222;Ach was, wenn sie
-auch fort so herumgreint!&#8220; Und dann heftig zu Otto:
-&#8222;Warum fragst du auch immer so? Meine Mutter ist
-mir zu gut für deine blöden Witze!&#8220;</p>
-
-<p>Der Angefahrene widersprach gekränkt und beteuerte seine
-guten Absichten. Aber Fritz ließ ihm nichts gelten. Schimpfend
-rannte er im Zimmer herum, und es waren nicht
-gerade Schmeichelworte, die er Pichlern an den Kopf
-warf. Je länger er so wetterte, desto mehr fühlte er, wie
-grundlos eigentlich seine Vorwürfe waren. Er hörte aber
-trotzdem nicht auf. Er mußte sich Luft machen, empfand
-eine wohltuende Befreiung dabei.</p>
-
-<p>Unterdessen war Heinz behutsam in die Küche geschlichen,
-wo Frau Hellwig, die Hände im Schoß gefaltet,
-beim Fenster saß und aus tränenvollen Augen bekümmert
-in den Hof blickte. Als sie ihn gewahrte, erhob sie sich
-schnell: &#8222;Sie wünschen wohl Trinkwasser? Gleich sollen
-Sie&#8217;s haben!&#8220;</p>
-
-<p>Bei diesen Worten hatte sie sich schon gebückt und
-machte sich mit der Wasserkanne zu schaffen, damit er ihr
-verweintes Gesicht nicht bemerken sollte.</p>
-
-<p>&#8222;Lassen Sie&#8217;s nur, Frau Hellwig!&#8220; sagte Heinz darauf.
-&#8222;Ich hab&#8217; keinen Durst. Es ist nur &mdash; Fritz hat das nicht
-bös gemeint ...&#8220;</p>
-
-<p>Nun richtete sie sich lebhaft in die Höhe: &#8222;Hat er Sie
-geschickt?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Das nicht, &mdash; aber ... ich weiß das eben ...&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Nicht wahr, er ist ein garstiger Junge!&#8220; seufzte sie.
-&#8222;Horchen Sie nur, wie er schreit! Was er nur wieder
-haben mag?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Es reut ihn, daß er so schroff gewesen. Der arme
-Otto muß jetzt dafür büßen. Aber der verträgt&#8217;s!&#8220; erwiderte
-Heinz leichthin.</p>
-
-<p>Zweifelnd blickte sie ihn an: &#8222;Zeit wär&#8217;s schon, Herr
-Heinz, wenn er einmal zu Vernunft kommen wollte.
-Immer ist er gleich obenhinaus. Wenn man doch nur
-sein Bestes will ...&#8220; &mdash; ihre Tränen begannen wieder zu
-fließen &mdash; &#8222;und wenn man dann nichts als Undank davon
-hat, das tut weh. Nicht ein bissel hat er mich lieb!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Er zeigt&#8217;s Ihnen bloß nicht!&#8220; versuchte Wart den
-Freund zu verteidigen. Die Witwe aber klagte unbeirrt
-fort: &#8222;Das kommt alles nur daher, weil er in keine Kirche
-mehr geht. Wohin soll das führen? Noch keinem ist&#8217;s
-gut gegangen ohne den lieben Gott, das können Sie mir
-alten Frau schon glauben ... Es ist ein Kreuz, ein rechtes
-Kreuz mit dem Jungen! &mdash; Aber da steh&#8217; ich und red&#8217;
-und vergess&#8217; ganz, ich &mdash; hab&#8217; ja noch ein paar Lederäpfel.
-Die müssen Sie kosten! Der Fritz fliegt nur so
-darauf!&#8220;</p>
-
-<p>Da sah Heinz, daß hier ein Trost nicht nötig war, und
-während Frau Hellwig geschäftig die runden Früchte auf
-einem Teller ordnete, ging er wieder ins Zimmer zurück.</p>
-
-<p>Fritz vermied es jedoch seit jenem Tage, die Freunde
-in seine Wohnung mitzunehmen.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>5.</h3>
-</div>
-
-<p>Weihnachten war vor der Tür, und damit war auch
-die Zeit gekommen, da Pater Romanus seine Schäflein
-zur ersten von drei schuljährlichen Beichten zu verhalten
-pflegte. Sämtliche verfügbaren Seelenhirten von Neuberg,
-insbesondere die frommen Mönche aus dem Franziskanerkloster,
-leisteten werktätige Beihilfe. Klassenweise wurden
-ihnen die Schüler zugewiesen, wobei jedoch Romanus besondere
-Wünsche seiner Studenten nach Möglichkeit berücksichtigte.
-Allen konnte er&#8217;s freilich nicht recht machen,
-weil nach einzelnen Beichtvätern wegen ihrer Milde eine
-allzu rege Nachfrage herrschte, die Milde nach der Kürze
-der Ermahnungen und der Bußgebete eingeschätzt.</p>
-
-<p>Hellwig aber trachtete diesmal bei dem allgemein gefürchteten
-Pater Guardian anzukommen, der nicht im
-Beichtstuhl, sondern in seiner Zelle die Verfehlungen der
-Gläubigen anzuhören und endlose geharnischte Reden gegen
-die armen Sünderlein loszulassen pflegte.</p>
-
-<p>Jede Rede verschlug es ihm jedoch, als Fritz, kaum auf
-dem Schemel niedergekniet, rauh hervorstieß: &#8222;Meine
-Beichte ist kurz, ich glaube an gar nichts!&#8220;</p>
-
-<p>Ein langes Schweigen folgte den Worten. Die kleine,
-vertrocknete Priestergestalt saß ganz unbeweglich, und der
-kahle Schädel leuchtete wie eine große Billardkugel unter
-Hellwigs niederschauenden Augen.</p>
-
-<p>&#8222;Ich glaube an gar nichts!&#8220; sagte er endlich nochmals.</p>
-
-<p>Nun regte sich unbehaglich der Leib in der dunklen
-Kutte, zwei wässrige Augen mit roten Rändern schauten
-hilfeheischend zur Decke und eine zögernde Stimme fragte:
-&#8222;Ja ... lieber Bruder ... lieber Bruder ... wie sind
-Sie denn dazu gekommen?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Durch Nachdenken und Vergleichen, auch durch Lesen,&#8220;
-erwiderte Fritz und blickte dem Frater fest ins Gesicht.
-Der rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und
-suchte nach einer schicklichen Einleitung.</p>
-
-<p>&#8222;Lieber Bruder,&#8220; fing er endlich an, und Hellwig wunderte
-sich über die freundliche Stimme, den warmen Blick
-des als unleidlich streng Verrufenen. &#8222;Lieber Bruder,
-Sie sind noch jung und daher leicht zur Übertreibung geneigt.
-Sie glauben an gar nichts, sagen Sie, aber Sie
-sagen das nur, weil Ihnen noch nicht klar geworden ist,
-daß wir alle, die wir Menschen sind, sehr wenig wissen
-und sehr viel glauben. Sie glauben jetzt vielleicht den
-Worten eines alten Priesters ebensowenig wie den Worten
-der Heiligen Schrift. Aber einen Schöpfer lassen Sie doch
-gelten, nicht wahr?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Nur die Natur!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Dann haben Sie lediglich einen anderen Namen für
-denselben Gegenstand und glauben nur an einen Teil unseres
-allumfassenden Gottes. Denn: meinst du, daß ich ein
-Gott nur in der Nähe bin und nicht auch ein Gott in der
-Ferne? Erfülle ich nicht Himmel und Erde, spricht der
-Herr. &mdash; Wollen Sie mir jetzt ein paar Fragen ehrlich
-beantworten?&#8220;</p>
-
-<p>Der Jüngling nickte stumm.</p>
-
-<p>&#8222;Sagen Sie mir also vor allem, wie Sie es mit den
-zehn Geboten halten, vom vierten angefangen. Bemühen
-Sie sich, die darin vorgeschriebenen Pflichten gegen die
-Eltern und Nächsten sowie gegen sich selbst zu erfüllen?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich will nie etwas tun, das ich nicht vor mir selbst
-verantworten kann und bemühe mich, meine Kräfte für
-die Allgemeinheit auszubilden, so gut ich kann,&#8220; entgegnete
-Fritz nach einigem Besinnen.</p>
-
-<p>&#8222;Schön, lieber Bruder, recht schön. Das ist ganz christlich
-gedacht und gehandelt. Und nun noch eins: Haben
-Sie sich leichtfertig oder aus Übermut zu einer solchen
-Beichte entschlossen? Haben Sie skrupellos und ohne Kampf
-den Glauben Ihrer Kindheit über Bord geworfen?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Es ist mir nicht leicht geworden,&#8220; gestand Hellwig,
-wenn auch mit Widerstreben.</p>
-
-<p>&#8222;Das genügt mir schon, lieber Bruder, denn: an ihren
-Früchten sollt ihr sie erkennen, spricht der Herr. Und
-deswegen ...&#8220;</p>
-
-<p>Der greise Priester schwieg und schien mit einem schweren
-Entschluß zu ringen. Dann aber sagte er, und es zeigte
-sich, daß in dem verwitterten Körper jene Liebe, die ihn
-einst seinem Berufe entgegengeführt hatte, noch lebendig,
-daß sie nicht zermürbt oder ertötet worden war, durch
-den beständigen Kampf wider den Zweck und die Bestimmung
-seines Menschentums. Jenen entnervenden Kampf,
-den er als Jüngling in der Begeisterung seiner Jahre
-freiwillig aufgenommen hatte und darin der gereifte Mann
-unter allen Qualen des Entsagens und Kasteiens gegen
-die Natur sündigen mußte, um nicht gegen seinen Gott
-zu sündigen.</p>
-
-<p>&#8222;Mein lieber Bruder,&#8220; sagte er, &#8222;Ihre Sünde ist nicht
-so groß, wie Sie anzunehmen scheinen. Und der Schmerz,
-die Unruhe, die Sie empfinden, seit Sie an unserm barmherzigen
-Schöpfer zu zweifeln angefangen haben, ist auch
-eine Buße, die gewogen und wahrlich nicht zu leicht befunden
-werden wird. Darum glaube ich es vor Gott und
-vor meinem Gewissen rechtfertigen zu können, wenn ich
-Sie Ihrer Sünden ledig spreche. Leider habe ich nicht
-die Zeit, Ihnen die Gründe eingehend darzulegen, denn
-draußen warten andere Beichtkinder. Auch bin ich alt und
-müd und geistig nicht mehr regsam genug, um die großen
-Gärungen der neuen Zeit zu verfolgen und Ihnen im
-Sinne unseres Glaubens auszudeuten. Wenden Sie sich
-daher an Ihren Religionsprofessor und vertrauen Sie sich
-ihm getrost an. Es wird Ihr Schade nicht sein.&#8220;</p>
-
-<p>Segnend hob er die Hand, begann er die lateinische
-Formel zu sprechen. Er ließ sich hierbei auch von dem
-Gedanken leiten, daß durch ein Verweigern der Lossprechung,
-das bei den strengen Gymnasialvorschriften
-leichtlich zur Ausweisung führen konnte, der junge Zweifler
-nicht nur nicht gebessert, sondern erst recht zum Verharren
-in der eingeschlagenen Bahn bewogen worden wäre. Hellwig
-aber verstand diese Güte nicht. Rücksichtslos und
-hart gegen sich und andere, forderte er dieselbe Härte und
-Rücksichtslosigkeit im Verfechten der Grundsätze auch von
-den anderen für sich selbst wie ein gutes Recht. Deswegen
-wartete er das Ende der Lossprechung nicht ab, sondern
-erhob sich mit einer jähen Bewegung von den Knien und
-schritt trotzig aus der Zelle.</p>
-
-<p>Er ging zu Pater Romanus.</p>
-
-<p>Der bewohnte im ersten Stockwerk eines armseligen
-Hauses zwei enge Gelasse, die mit Kruzifixen, Heiligenbildern,
-Büchern und kaum dem notwendigsten und dürftigsten
-Hausrat versehen waren. In dem einen Raum
-befand sich neben einem Schrank, einem Betpult und
-einem Waschtisch überhaupt nur noch ein schmales, mit
-Roßhaarkissen und einer groben Kotze ausgestattetes Bettlein.
-Es ging jedoch die Rede im Ort, daß an diese zwei
-Räumlichkeiten noch ein drittes Zimmer stoße mit behaglichen
-Polstermöbeln und mit weichen Daunenpfühlen in
-einer breiten, fast doppelspännigen Bettstatt, darinnen eine
-wunderschöne Nichte des Paters die jungen Glieder strecken
-und nebenbei auch dem Oheim die Wirtschaft führen sollte.
-Doch konnte das ebensogut böswillige Verleumdung sein,
-denn wenn auch manche ein derartiges Frauenzimmer bisweilen
-an den Fenstern oder im abendlichen Dunkel auf
-Spaziergängen begriffen gesehen haben wollten, so war
-für alle Fälle und jedermann sichtbar eine ungemein häßliche
-Weibsperson vorhanden, die in einer winzigen Küche
-ein ungebärdiges Wesen entfaltete, wie ein Zerberus den
-Wohnungseingang bewachte und jeden Unbekannten rücksichtslos
-vor der hölzernen Lattentür im Vorflur warten
-ließ, bis sie ihn bei ihrem geistlichen Herrn angemeldet
-hatte.</p>
-
-<p>Auch Fritz erhielt auf seine Frage, ob er den Herrn
-Professor sprechen könnte, die mürrische Antwort: &#8222;Werd&#8217;
-nachsehn!&#8220; und konnte dann in aller Muße Zug für Zug
-die Buchstaben des messingnen Namensschildes an der
-Vorhaustür betrachten, ehe ihm diese geöffnet wurde.</p>
-
-<p>Pater Romanus empfing ihn beim Schreibtisch sitzend,
-und sein Kopf war vollständig unsichtbar zwischen den dickleibigen
-Schmökern, die sich rechts und links der Wangen
-zu Bergen türmten. Als die Tür aufging, stieg der schwarze
-Haarschopf langsam aus diesem Bücherverließ, die Augen
-spähten wie über eine Burgzinne nach dem Eintretenden,
-&mdash; dann sprang die schwarze Gestalt rasch vom Sessel
-empor und kam mit einem freudigen &#8222;Ah!&#8220; der Überraschung
-auf den Jüngling zu.</p>
-
-<p>Der aber ließ sich nicht beirren, sondern begann ohne
-Umschweife einen trockenen Bericht über den Vorfall in
-der Beichtkammer.</p>
-
-<p>Pater Romanus hatte sich an dem Tisch in der Mitte
-des Zimmers niedergelassen und hörte mit einem rätselvollen
-Gesichtsausdruck aufmerksam zu. Als Hellwig fertig
-war, sagte er mit mühsam behaupteter Ruhe: &#8222;Wenn
-das so ist, Kind Gottes, dann gehen Sie morgen selbstverständlich
-nicht zur heiligen Kommunion. Auch vom
-Kirchenbesuch enthebe ich Sie vorläufig unter der Bedingung,
-daß Sie dafür wöchentlich einmal zu mir kommen.
-Wollen Sie mir das versprechen?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich glaube nicht, daß das einen Zweck hätte, Herr
-Professor,&#8220; entgegnete Fritz zögernd.</p>
-
-<p>Nun erhob sich der hagere Priester wieder, stand in
-der dunklen Soutane, die sich glatt und faltenlos über
-den flachen Brustkasten spannte, Stirn gegen Stirn dem
-hoch aufgeschossenen Schüler gegenüber, und seine Stimme
-hatte den schwingenden Predigerton, als er jetzt rief:
-&#8222;Geben Sie den Einflüsterungen des Bösen kein Gehör,
-der übermächtig in Ihrem Herzen aufsteht, weil die alleinseligmachende
-Kirche ihre Anstalten trifft, ihm ein vermeintlich
-schon sicheres Opfer zu entreißen. Er schlägt
-Sie mit Blindheit, daß Sie vor lauter Finsternis den
-Zweck nicht sehen können und das sonnenklare Ziel! Ihre
-Seele ist in Gefahr, Fritz Hellwig! Sehen Sie in mir
-das Sprachrohr unseres allgütigen Gottes, der Sie in
-letzter Stunde zur Umkehr mahnt!&#8220;</p>
-
-<p>Da reckte sich der Jüngling empor: &#8222;Ich habe es nicht
-nötig, umzukehren, Hochwürden. Ich will nicht zurück,
-sondern vorwärts!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ihre Verstocktheit ist groß, Kind, aber mit Gottes
-Hilfe ist mir die Bekehrung weit ärgerer Sünder schon
-gelungen, auch bei Ihnen wird sie kein vergebliches Bemühen
-sein. Ich kenne Sie durch und durch, Hellwig, und
-kenne auch die Ursache Ihres jetzigen Zustandes. Sie lesen
-zu viele weltliche Bücher. Machen Sie sich davon frei!
-Die weltlichen Bücher sind die Saatfelder des Teufels,
-in denen die Giftpflanze der Seelenfäulnis üppig in die
-Halme schießt! Sie machen den Gläubigen wankelmütig
-und bestärken den Ungläubigen in seinem gottlosen Wandel.
-Satan wollte die Menschheit von Gott abwendig
-machen, da erfand er die Lettern und gab ihr die weltlichen
-Bücher. Aller Schmutz fließt in ihnen zusammen
-wie in einer Kloake und jegliches Übel kommt von ihnen.
-Verbrennen sollte man sie und in Acht und Bann tun
-alle diejenigen, die sie erzeugen und verbreiten! Kind
-Gottes, warum lasen Sie solche Schriften, in denen die
-Verleumdung der Religion ihren eklen Geifer verspritzt?
-Warum lasen Sie weiter, statt sie ins Feuer zu werfen,
-als Sie die Verlockung zum Unglauben merkten?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Solche Bücher kenne ich nicht, Hochwürden. Nur ernste
-wissenschaftliche Werke. Darwin zum Beispiel.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Darwin!&#8220; ächzte Romanus. &#8222;Darwin! &mdash; Auch ich
-habe ihn gelesen, aber als reifer, glaubensfester Mann
-und nicht als haltloser Jüngling! Wissen Sie denn nicht,
-daß geschrieben steht: Hütet euch vor jenen, die im Schafspelze
-zu euch kommen, im Innern aber reißende Wölfe
-sind? O Kind Gottes, und Darwin ist der Oberste dieser
-Wölfe! Ein Irrlehrer ist er, ein schamloser Verführer
-und wahnwitziger Lügensprecher! Oder ist es nicht Wahnsinn,
-daß wir, die Ebenbilder Gottes, für die sein eingeborener
-Sohn am Kreuze blutete, entstanden sein sollen
-nicht durch eines allmächtigen Schöpfers Hand, sondern
-durch blinden Zufall aus einem Urschleim? Der Kot des
-Lebens Anfang und der Menschheit Vater! O mein Gott!
-Mein Gott! Daß sich überhaupt Leute finden, die so hirnverbrannt
-sind, das zu glauben!&#8220; &mdash; Der Eiferer schlug
-sich mit der flachen Hand vor die Stirn und Fritz entgegnete
-bescheiden:</p>
-
-<p>&#8222;Auch in der Bibel steht, daß Gott den Menschen aus
-Staub erschaffen hat.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Aus Staub, jawohl! Aber nicht aus Dreck! Aus Staub,
-den seine göttliche Hand von aller Unreinheit geläutert
-und geadelt, sein göttlicher Atem gewandelt hat zum köstlichen
-Gefäß der unsterblichen Seele!&#8220;</p>
-
-<p>Da sagte Hellwig und ein warmes Leuchten kam aus
-seinen Augen: &#8222;Auch dieses habe ich in Darwins Lehre
-gefunden. Der Atem Gottes kam in den Staub &mdash; da
-war das Leben. Das Leben selbst ist dieser Atem, des
-Lebens Regung in uns, das ist die Seele, unsterblich wie
-das einmal gewordene Leben selbst. Und Gott ist nichts
-anderes als die Natur, die aus sich selbst das Leben gebiert,
-dreifach und doch nur eins: der leblose Stoff als Träger
-der ewigen, ehernen, großen Gesetze; der Leben gewordne
-Stoff, der den unbelebten zur Selbsttätigkeit erlöst und
-endlich der Selbstbewußtsein gewordene Stoff, der Geist.
-So hab&#8217; ich&#8217;s mir zurecht gelegt.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Lästern Sie nicht, Verblendeter!&#8220; Der Pater hob abweisend
-die Hand. Ruhiger fuhr er fort: &#8222;Ihre Seele,
-Kind, ist überwuchert von Unkraut und Dornen! Viel
-Schweiß wird es kosten, diesen Boden zu jäten und für die
-Aufnahme der heiligen Samenkörner zu bereiten, die da
-sind die Worte der Evangelien. Wir müssen ganz von vorn
-anfangen und das so bald als möglich. Morgen abend um
-sechs Uhr erwarte ich Sie. Jetzt aber lassen Sie mich allein.
-Sie haben mich tief betrübt, ich will im Gebete Trost und
-Zuflucht suchen. Und auch für Sie will ich beten, daß
-Ihnen Gott die schwere Sünde nicht zu hoch anrechnet,
-die Sie im Angesicht des Gekreuzigten begangen haben!&#8220;</p>
-
-<p>Er warf sich vor dem Hausaltar, der in einer Zimmerecke
-errichtet war, in die Knie, legte die Stirn auf das
-Holz der Betbank, hielt die gefalteten Hände über dem
-Haupt empor. Wie gelöst schienen seine Glieder, unter dem
-seidig glänzenden Priesterrock bebte der Leib in Fieberschauern.</p>
-
-<p>Eine tiefe Furche zwischen den Brauen, mit stürmischem
-Atem und zuckenden Nüstern schaute Fritz empört zu. Dann
-sagte er laut und hart: &#8222;Herr Professor, lügen Sie doch
-nicht Ihrem Herrgott ins Gesicht!&#8220;</p>
-
-<p>Jäh fuhr Romanus in die Höhe. In den Halsadern
-pochten ihm alle Pulse sichtbar. &#8222;Bube!&#8220; schrie er. Aber
-sogleich wieder hatte er die aufgestörten Leidenschaften fest
-im Zügel. Stoßweise, mit gewaltsam gebändigter Erregung,
-sprach er: &#8222;Danken Sie&#8217;s Ihrer Mutter, daß nur der
-Priester und nicht Ihr Professor die frechen Worte gehört
-haben will. Sie haben die Achtung vor jeder Autorität verloren.
-Hellwig, Hellwig, das wird ein böses Ende nehmen!
-Ich wollte Ihnen ein Freund und Berater sein, doch Sie
-haben meine väterlich gebotene Hand zurückgestoßen. Gut!
-Ganz wie Sie wünschen! Ich werde trachten, auch das zu
-vergessen. Das ist mehr Nachsicht, als Sie verdienen. Damit
-ist meine Aufgabe vorläufig beendet. Wenn Sie aufrichtig
-bereuen, steht Ihnen meine Wohnung wieder offen.
-Bis dahin &mdash; gehen Sie!&#8220;</p>
-
-<p>Sein ausgestreckter Finger zeigte nach der Tür. Fritz
-verneigte sich stumm und ging langsam. Aber über die
-ausgetretene Schneckenstiege rannte er schon in heftigen
-Sätzen.</p>
-
-<p>Draußen atmete er auf. Die leichte Winterluft streichelte
-ihm die Stirn, schien mit frischen, kühlen Händen alle Unreinheit
-fortzuwischen, die er aus dem Haus des Geistlichen
-an Leib und Kleidern mitzutragen glaubte.</p>
-
-<p>Trotzdem gelang es ihm nicht gleich, den Ekel zu überwinden,
-den das Gebaren des Jesuiten in ihm ausgelöst
-hatte und den er ganz körperlich, wie den Nachgeschmack
-einer verdorbenen Speise, zu empfinden vermeinte, so oft
-er sich das Bild wieder vergegenwärtigte: Die große Gebärde,
-mit der sich Romanus vor dem Altar in die Knie
-geworfen, das heuchlerische Spiel mit Gebet und christlicher
-Liebe, die schamlose Schaustellung von Gefühlen, die,
-wenn wirklich empfunden, unter allen Umständen der Einsamkeit
-gehören mußten. Und er empfand lebhafte Genugtuung,
-daß er mit seiner Meinung nicht hinterm Berge
-gehalten. Vor den Folgen war ihm nicht bang. Er wußte,
-daß er recht gehandelt und glaubte noch an den Sieg des
-Rechts, weil er an die Menschen glaubte und, selbst vornehm,
-auch anderen keine Niedrigkeit zutraute.</p>
-
-<p>Als er nach stundenlangem planlosen Herumwandern
-das Gleichgewicht endlich wieder erlangte, war der Abend
-bereits so weit vorgerückt, daß er Heinz nicht mehr aufsuchen
-wollte. Der wußte ebensowenig wie Otto um die
-ganze Angelegenheit. Denn Hellwig hatte diesmal niemandem
-seine Absicht mitgeteilt, weil er die Erinnerung
-an das Auskneifen Pichlers noch zu lebendig mit sich herumtrug
-und nicht abermals einen Freund in Versuchung
-bringen wollte. Das Verheimlichen war ihm schwer genug
-angekommen, wie einen Vertrauensbruch empfand er es.
-Der Aufschub, zu dem er sich jetzt abermals gezwungen
-sah, war ihm daher höchst unlieb, und er konnte kaum
-den nächsten Vormittag erwarten. Dieser war schulfrei zum
-Behufe eines würdigen Nachgenusses der Kommunion, die
-den Studenten bei der ersten Frühmesse gespendet wurde
-und von der sich Hellwig selbstverständlich fern hielt.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>6.</h3>
-</div>
-
-<p>Die Uhr am Rathaus hatte noch nicht neun geschlagen,
-als Fritz auch schon mit langen Beinen über die breiten
-Holztreppen zu Heinzens Behausung hinaufeilte.</p>
-
-<p>Die Morgensonne hielt vor den bemalten Bogenfenstern,
-ließ die satten Farben der Glasbilder aufleuchten und füllte
-das geräumige Stiegenhaus mit warmem Licht. Vom
-Hof her drang das Lärmen der Auflader, das Klirren
-der Wagenketten und das Gewieher der Pferde. Das
-alte Haus, das sonst, wenn die Sonne vorübergegangen
-war, düster, fast mürrisch dreinblickte, war heute gar nicht
-wieder zu erkennen. Jeder Winkel schien hell und munterer
-Tätigkeit voll zu sein, wie ein Tempel fröhlicher
-Arbeit stand es, tönte und glänzte im jungen Morgenlicht.</p>
-
-<p>Und jetzt mischte sich in den summenden Lärm der Ladestellen
-von oben her Türenschlag und Schuhgetrapp. Auf
-schnellen Füßen kam etwas die Stufen herabgepoltert, bog
-um die Ecke des Treppenabsatzes. Gewänder rauschten, ein
-heller Rocksaum flatterte um schwarzbestrumpfte Knöchel,
-ein dicker Blondzopf schwang den Takt dazu. Ranke, geschmeidige,
-biegsame Glieder, blaue Funkelaugen, gerötete
-Wangen &mdash; das war ein Hasten, war ein Eilen, hatte
-nicht mehr Zeit, die wirbelnden Füße zu hemmen und &mdash;
-stieß mit Hellwig Stirn gegen Stirn zusammen.</p>
-
-<p>Wehleidig-erschrocken ein &#8222;Au!&#8220; aus weißer, weiblicher
-Kehle. Der Hut des Jünglings flog zu Boden. Lebenswarm
-knospende, drängende Jugendfülle fiel zugleich mit
-einem strauchelnden Mädchenleib für einen Augenblick in
-die Arme des Verlegenen, zehn kleine Finger klammerten
-sich Halt suchend an seinem Rockkragen fest. Dann sprang
-ein Lachen lustig in den Morgenglanz hinein: &#8222;Verzeihen
-Sie, bitte!&#8220; und weiter ging&#8217;s in trappelnden Schuhen
-und wehenden Kleidern die Stiege hinunter durchs flimmernde
-Spiel der Sonnenlichter, während Fritz noch auf
-dem Treppenabsatz stand und mit der Hand die Beule an
-der Stirn befühlte.</p>
-
-<p>&#8222;Das war die Ev!&#8220; sagte Heinz lachend, als ihm der
-Freund die Begegnung erzählte.</p>
-
-<p>&#8222;Was denn für Ev?&#8220; knurrte Hellwig verdrossen. Er
-ärgerte sich über die Heiterkeit des andern und hatte das
-unbehagliche Gefühl, daß er irgendwie eine lächerliche Rolle
-gespielt haben könnte. Und als nun Heinz lustig rief:
-&#8222;Da hört sich doch alles auf! Jetzt weißt du Brummbär
-am Ende gar nicht, daß ich eine Schwester hab&#8217;?&#8220;, da
-wurde Fritz wieder einmal ungemütlich.</p>
-
-<p>&#8222;Woher sollt&#8217; ich&#8217;s wissen? Gesagt hast du mir nichts,
-und herumschnüffeln tu&#8217; ich nicht!&#8220; polterte er los. &#8222;Überhaupt
-&mdash; schöne Freundschaft das! Wenn sie mir nicht
-grad&#8217; eine Beule gestoßen hätte, wüßt&#8217; ich bis heute nicht,
-daß mein Freund eine Schwester hat!&#8220;</p>
-
-<p>Nun mußte er jedoch selber lachen, und so unterblieb
-diesmal der Auftritt.</p>
-
-<p>Heinz war in trefflicher Laune und scherzte weiter:
-&#8222;Dann hast du wenigstens gleich einen Vorgeschmack bekommen!
-Tröst&#8217; dich, du wirst mit dem tollen Ding noch
-mehrfach zusammenrennen!&#8220;</p>
-
-<p>Da hob Fritz die Hände wie zur Abwehr: &#8222;Das fehlte
-grad&#8217; noch!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Wird dir nichts übrig bleiben!&#8220; erwiderte Heinz. &#8222;Sie
-ist schon furchtbar neugierig auf dich. Gestern ist sie auf
-Weihnachtsferien gekommen &mdash; weißt, sie ist heuer in
-Deutschland draußen in einem Töchterheim &mdash; und die
-Mutter muß ihr was von dir geschrieben haben. Sie hat
-wenigstens gleich gestern gefragt, wann du herkommst.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Dann komm&#8217; ich überhaupt nicht mehr, bis sie wieder
-fort ist! Ich wüßt&#8217; ja gar nicht, was man mit so einem
-Wesen reden soll!&#8220; platzte Fritz heraus und Wart setzte
-die Neckerei fort: &#8222;Nur Mut, Fritze! Wenn man erst
-über den Anfang hinaus ist, findet sich alles von selber.
-Sie wird dich nicht gleich fressen!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Aber ich kann doch um Himmels willen nicht von
-Buddha und Haeckel mit ihr sprechen!&#8220; unterbrach ihn
-Hellwig verzweifelt. &#8222;Und was anderes interessiert mich
-nicht! Und was mich nicht interessiert, davon red&#8217; ich
-nicht! Und wovon ich gern reden möcht&#8217;, das kann doch
-wieder so ein Pensionsmädel nicht interessieren, so ein
-Gansl! Nein, da ...&#8220;</p>
-
-<p>&#8218;Tu&#8217; ich nicht mit&#8216; wollte er sagen. Aber der Satz blieb
-ihm in der Kehle stecken. Mitten in seine Worte hinein
-hatte eine klingende Stimme gerufen: &#8222;Dank&#8217; schön für
-die gute Meinung, Herr Hellwig!&#8220;</p>
-
-<p>Und da stand sie, gegen die er soeben geeifert, leibhaftig
-unter der geöffneten Tür, durch die vom Gangfenster
-in der hinteren Giebelwand ein breiter schräger
-Streifen Sonnenlicht fiel. Wie goldene Fädchen glänzten
-die krausen Locken über den kleinen Ohrmuscheln, hinter
-den lachenden Lippen blitzten die Zähne, und die Sonnenstäubchen
-tanzten um die feinen Schultern, tanzten um
-die werdenden Hüften unterm roten Gürtelband, tanzten
-um den ganzen schlanken Leib im hellen Tuchkleid, der
-sich auf tanzbereiten Füßen wiegte und seiner jungen Schönheit
-sorglos freute.</p>
-
-<p>Fritz war nicht so sorglos. Linkisch stand er, mit rotem
-Gesicht, und wußte tatsächlich nicht, was er reden sollte.
-Heinz schaute von seinem Schreibtisch behaglich nach den
-beiden, schlang die Hände um das emporgezogene Knie
-und war gemütsroh genug, dem ruppigen Freunde den
-fatalen Zustand vom Herzen zu gönnen.</p>
-
-<p>&#8222;Jetzt wehr&#8217; dich!&#8220; rief er ihm fröhlich zu. &#8222;Gib acht,
-daß sie dir nicht die Augen auskratzt.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Von mir aus ...&#8220; brummte Hellwig achselzuckend,
-während er sich trotzig gegen die Wand lehnte, die er im
-beständigen Rückwärtsschreiten endlich erreicht hatte. Dabei
-duckte er den Kopf nach vorn, denn der aufstrebende Haarschopf
-fegte bereits die schiefe Decke des Dachzimmers.
-Und da er noch obendrein die Hände zu Fäusten geballt
-hielt, war er ganz bedrohlich anzusehen, gleich einem sprungbereiten
-Tiger oder lauernden Schnapphahn, wie Heinz belustigt
-meinte.</p>
-
-<p>Mittlerweile hatte sich die junge Schöne mitten in der
-Stube aufgepflanzt und tauschte mit dem Bruder einen
-verständnisinnigen Blick.</p>
-
-<p>&#8222;Also ein Gansl bin ich?&#8220; sagte sie unter mehrfachem
-leichten Kopfnicken. &#8222;Wissen Sie, daß das eine Beleidigung
-ist?&#8220;</p>
-
-<p>Fritz gab keine Antwort. Er stand unbeweglich, wurde
-noch röter und aufgeregter, aber scheinbar ruhig, wie das
-seine Gewohnheit war, sah er dem unerwünschten Widerpart
-scharf und gerade in die Augen.</p>
-
-<p>&#8218;Sie schaut der Mutter ähnlich,&#8216; dachte er und fühlte
-dabei, wie der Zorn in ihm zu kochen begann, weil sie&#8217;s
-wagte, ihn zur Rede zu stellen. Da sie ein bitterböses
-Gesicht aufgesetzt hatte und das verräterische Zucken der
-lachlustigen Mundwinkel, so gut es ging, unterdrückte,
-nahm er ihre strenge Frage für blutigen Ernst, glaubte
-in eine demütigende Lage hineingeraten zu sein und ärgerte
-sich über seinen Mangel an Schlagfertigkeit, der ihm keine
-schneidige Entgegnung finden ließ.</p>
-
-<p>&#8222;Eine ungerechtfertigte Beleidigung!&#8220; bekräftigte Heinz.</p>
-
-<p>&#8222;Und für die müssen Sie Abbitte leisten!&#8220; forderte
-der entsetzliche Backfisch resolut und hielt dem geraden,
-feindseligen Blick des Gequälten tapfer die blauen Augen
-entgegen.</p>
-
-<p>Hellwig schwieg. Von den hohen Büchergestellen funkelten
-in Goldschrift die erlauchten Namen der Geistesriesen,
-schienen des ratlosen Menschleins an der Wand zu
-spotten. Immer stärker brodelte es in ihm, und Wart,
-der ihn unausgesetzt beobachtete, hielt es für ratsam, einzulenken.
-Er blinzelte seiner Schwester zu, die aber gab
-nichts darauf, ließ sich von ihrem jungen Ungestüm fortreißen
-und rief befehlend, mit schräg abwärts gestrecktem
-Arm und Zeigefinger: &#8222;Abbitten! Nun?&#8220;</p>
-
-<p>Da fuhr auch schon Hellwigs Wort wie ein Keulenschlag
-nieder: &#8222;Gesagt ist gesagt und Gansl bleibt Gansl!
-Man hört&#8217;s am Schnattern!&#8220;</p>
-
-<p>Das klang grob, herausfordernd und wirklich verletzend.
-Nun war&#8217;s, als hätte eine ungeschlachte Hand mit einemmal
-alle kindliche Heiterkeit aus dem hübschen Gesicht
-fortgewischt. In die blanken Augen kam ein feuchter Schimmer.
-&#8222;Pfui, Sie sind roh!&#8220; sagte Eva Wart, kehrte dem
-klotzigen Gesellen energisch den Rücken, und ehe noch der
-Bruder vermittelnd eingreifen konnte, hatte sie schon das
-Zimmer verlassen.</p>
-
-<p>Fritz sah ihr nach und wunderte sich, wie hoch so ein
-dicker Zopf fliegen und wie goldähnlich seine Spitze leuchten
-konnte. Ihm war keineswegs wohl ums Herz. Er
-verwünschte seine ungefügen Manieren, aber auch das naseweise
-Ding, das ihm mit solcher Anmaßung entgegengetreten
-war. Keinen Augenblick dachte er daran, daß er eigentlich
-ein Spaßverderber war. Denn er hatte kein Verständnis
-für tändelnde Scheingefechte, und seiner gärenden Jugend
-fehlte noch vollständig der Humor, zumal sie zu wenig
-sonnig gewesen und die gefühlsduselige Empfindlichkeit der
-fortwährend unglücklichen Mutter gerade aus den nichtigsten
-Ereignissen einen Grund zum Jammern herauszuholen
-pflegte.</p>
-
-<p>Vergebens suchte ihm Heinz die Sache von der harmlosen
-Seite darzustellen, mit beruhigenden Worten und
-vorsichtigem Tadel über seine Rauhbeinigkeit. Fritz wollte
-nichts hören, haderte mit ihm, daß er ihn in diese Lage
-gebracht, und lief endlich grollend davon.</p>
-
-<p>Inzwischen hatte Eva mit sprühenden Augen und lebhafter
-Entrüstung ihrer Mutter den Vorfall erzählt. Frau
-Hedwig nahm ihr temperamentvolles Kind in die Arme
-und klopfte ihm begütigend die erhitzte Wange.</p>
-
-<p>&#8222;Nimm&#8217;s nicht tragisch, Mädl!&#8220; sagte sie. &#8222;Jungens
-sind einmal nicht anders.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich lass&#8217; mir das aber nicht gefallen!&#8220; rief die Kleine
-stürmisch. &#8222;Er muß sich entschuldigen!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Das muß er nicht!&#8220; erwiderte die Mutter mit freundlichem
-Ernst. &#8222;Denn auch du bist nicht ganz schuldlos,
-Eva. Was hast du bei Heinz oben zu suchen gehabt?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich war halt so neugierig,&#8220; gestand die noch nicht
-Fünfzehnjährige verschämt.</p>
-
-<p>&#8222;Und warst keck und vorwitzig. Siehst du, da hast du
-eben gleich deine Strafe wegbekommen.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Du nimmst ihn noch in Schutz ...&#8220; murmelte das
-Mädchen vorwurfsvoll und konnte die locker sitzenden Tränen
-nicht länger zurückhalten.</p>
-
-<p>&#8222;Das tu&#8217; ich nicht, Kind. Ich will nur sagen, daß ihr
-beide im Unrecht wart. Aber auch wenn er allein schuld
-hätte, dürftest du keine Abbitte von ihm verlangen. Es
-ist unedel, seinen Beleidiger zu demütigen. Da weiß ich
-eine vornehmere Rache.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Was denn? Sag&#8217;s doch!&#8220; drängte Eva ungeduldig,
-als Frau Wart eine Pause machte und ihr die wirren
-Haare aus der Stirn strich.</p>
-
-<p>Ihre Gesichter waren jetzt dicht nebeneinander. Die Frau
-saß in der Erkernische beim Nähtisch, das Mädchen
-lehnte neben ihr, den Arm hinter der Stuhllehne um die
-Mutter gelegt, und schaute sie erwartungsvoll an. Die
-Ähnlichkeit zwischen beiden war nicht zu verkennen. Dieselbe
-glatte, ein wenig niedrige, aber fein geformte Stirn,
-dieselben klaren blauen Augen neben einer geraden, an
-der Spitze leicht abgeflachten Nase, dieselben sacht geschwungenen
-Lippen über einem rundlichen Kinn. Aber
-während bei Eva die Züge noch weich, nur erst angedeutet
-oder noch verhüllt waren von dem Pfirsichflaum einer
-zarten Kindlichkeit, traten sie in Frau Hedwigs Antlitz
-bestimmter hervor, waren durch das Widerspiegeln eines
-sorgfältig geschulten Geistes in eine schöne Harmonie gebracht
-und von lauterster Menschenliebe überglänzt, vereinigten
-sie sich zu einem Gesamtausdruck jener Güte,
-von der da ein Sagen geht, daß sie alles verzeiht, weil
-sie alles begreift.</p>
-
-<p>Frau Wart ließ ihr neugieriges Kind erst ein bißchen
-zappeln, ehe sie mit ihrem Plan herausrückte, der dahin
-zielte, den widerborstigen Jungen mit einem Weihnachtsgeschenk
-zu überraschen. Darauf wollte die Kleine anfangs
-durchaus nicht eingehen. Als jedoch die Mutter anregte:
-&#8222;Weißt, wir kaufen ihm ein paar Bücher, stecken einen
-Zettel hinein und schreiben darauf: &#8218;Vom Gansl und seiner
-Mutter&#8216;, dann wird er sich schämen und doch freuen,&#8220; da
-war das quecksilberne Ding auch schon Feuer und Flamme
-und brachte sofort eine Menge von Werken in Vorschlag:</p>
-
-<p>&#8222;Schiller! Oder Geibel! Oder Scheffel! Nein? Also
-Baumbach! Freytag! Heyse!&#8220; und so weiter alle Lieblinge
-der Pensionsliteratur. Da indessen die lächelnde Zuhörerin
-immer den Kopf schüttelte, hieß es gleich wieder
-unwillig: &#8222;So sag&#8217; endlich auch du was!&#8220; und der Schmollmund
-war fertig.</p>
-
-<p>Aber schließlich fing sie doch wieder an, und endlich
-kam die Mutter auf das &#8218;Liebesleben in der Natur&#8216; von
-Boelsche. Das sei heiter und leicht und bringe manches
-Anregende, ohne eigentlich wissenschaftlich zu sein. Aber
-Fritz brauche nicht immer nur die ganz gedankenschweren
-Sachen zu lesen. Damit war die Kleine auch zufrieden,
-obwohl sie das Buch nicht kannte.</p>
-
-<p>Und kaum waren sie im reinen, als sich die Zimmertür
-auftat. Geräuschvoll prustend und die frostroten Hände
-reibend, kam das Familienoberhaupt hereingestapft, schritt
-vorerst zum Ofen, wo es die Handflächen an den grünen
-Kacheln wärmte und machte dann beim Erker halt. Seine
-massige Gestalt mit den breiten Schultern füllte den
-schmalen Zugang beinah ganz.</p>
-
-<p>&#8222;Nun, ihr Glucken!&#8220; dröhnte seine tiefe Stimme und
-in allen Falten, Fältchen und Pölsterchen des bartüberwucherten
-vollen Gesichts saßen und lachten die fidelen
-Geister einer kreuzbraven Vergnügtheit. &#8222;Nun, ihr Glucken,
-was für ein Ei wird denn da wieder ausgebrütet?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Wer weit fragt, wird weit gewiesen, Nikl,&#8220; kam die
-Gattin dem flinken Plauderzünglein der Tochter zuvor.
-Denn sie fürchtete, daß der bücherfeindliche Mann dem
-Kinde durch ein abfälliges Urteil die Freude verderben
-könnte.</p>
-
-<p>Der gemütliche Bürger dachte an die nahe Weihnachtszeit
-und gab sich mit dem deutungsvollen Bescheid zufrieden.
-&#8222;Freilich, freilich,&#8220; lachte er behaglich, &#8222;erwarten ist besser
-als erlaufen. Denn: mit Geduld hat die Katz&#8217; den Schwartenmagen
-überwunden. Ich bin schon stad!&#8220; Und dann
-unvermittelt abspringend: &#8222;Aber eine Kälte hat&#8217;s heut&#8217;,
-Leutln, daß die Schindelnägel krachen! Ich hab&#8217; ein paar
-hundert Flaschen Krondorfer unterwegs, da wird mir die
-Hälfte zersprungen herkommen! &#8217;s ist halt alleweil ein
-G&#8217;frett! &mdash; Hast nichts zum Essen, Mutter? Ich muß
-gleich wieder hinunter.&#8220;</p>
-
-<p>Trotzdem Herr Wart auf seine Frage nach dem Gabelfrühstück
-täglich dieselbe Antwort erhielt: &#8222;Es steht schon
-auf deinem Schreibtisch!&#8220;, wäre es ihm niemals eingefallen,
-vom Laden unmittelbar in sein Arbeitszimmer zu gehen.
-Denn diese kurze Pause, diese flüchtige, meist auf wenig
-belanglose Worte beschränkte Unterhaltung mit seiner Frau
-war ihm Ausruhn, Erholung und geistige Stärkung für
-die weitere Vormittagsarbeit.</p>
-
-<p>Heute aber wurde er noch nicht fortgelassen. Eva stellte
-sich in ihrer ganzen Größe vor ihm auf und sprach sehr
-ernsthaft: &#8222;Du, Vater, sag&#8217;, bin ich ein Gansl?&#8220;</p>
-
-<p>Wart Nikl schaute die sonderbare Fragerin erst verdutzt
-an, dann bewegte er kräftig nickend das Haupt und rief
-aus einem unbändigen Gelächter heraus: &#8222;Und was für
-eins, Mädl! Und was für eins! So ein ganz ausgewachsenes!
-Das wär&#8217; ein Bratl zu Martini gewesen!&#8220; Und er
-kniff sein Herzblatt in die glatt gerundete Wange.</p>
-
-<p>Die Kleine aber wandte mit einem unwilligen Ruck ihr
-Gesicht weg, fauchte wie ein Kätzchen, und auf der Suche
-nach einer schlagenden Widerlegung sagte sie zornig: &#8222;Ich
-&mdash; ich werd&#8217; im August schon fünfzehn und &mdash; und die
-Fräuleins sagen alle, daß ich sehr gut lerne. Ja!&#8220;</p>
-
-<p>Nun mußte auch Frau Hedwig lachen, und zum Unglück
-hob noch obendrein das kleinste Glöcklein im Turm
-des Franziskanerklosters zu läuten an.</p>
-
-<p>&#8222;Hörst es?&#8220; neckte da gleich der Vater, zum Fenster
-zeigend. &#8222;Hörst es, was die Glocke sagt? &#8218;Tu d&#8217; Gäns&#8217;
-ein! Tu d&#8217; Gäns&#8217; ein!&#8216; sagt sie. Komm, komm, ich
-muß dich in den Stall tun!&#8220;</p>
-
-<p>Da hielt sich Eva die Ohren zu und wollte an ihrem Erzeuger
-vorüber aus dem Zimmer. Der aber fing sie in
-den ausgebreiteten Arm, drückte sie an sich und brachte
-mit Hilfe des untergelegten Zeigefingers ihr gesenktes Kinn
-in die Wagrechte. Und da sah er, daß die großen Kinderaugen
-voll Tränen waren. Sofort hörte der gutmütige
-Mann mit dem Gelächter auf und sagte ganz unruhig:
-&#8222;Aber geh, Ev, wirst doch nicht heulen? Fesch sein, Mädl!
-Spaß verstehn! &mdash; Wart&#8217;, ich werd&#8217; dir jetzt auch erzählen,
-was die Glocken beim Begräbnis sagen. Alsdann:
-wenn so ein recht reicher Frommer zur ewigen Ruh&#8217; gebracht
-wird, dann brummen die dicken großen Glocken
-immerzu: &#8218;Fünferbanknoten! Fünferbanknoten!&#8216; &mdash; Aber
-wenn sie einen armen Hascher hinausschaffen, dann belfert
-nur so ein kleines grantiges Glöckerl hinterher: &#8218;Klingl,
-glenkl, armer Schlenkl!&#8216;&#8220;</p>
-
-<p>Das trug der Nikl sehr wirkungsvoll vor. Die &#8218;Fünferbanknoten&#8216;
-sprach er dumpf und feierlich, legte die fleischige
-Hand auf den Magen und schaute scheinheilig zur Decke,
-wogegen bei dem raschen &#8218;Klingl, glenkl&#8216; seine Stimme
-in die krähendste Fistel überschnappte. Darüber mußte Eva
-lachen. Und als er sie noch auf die Schulter klopfte:
-&#8222;Laß gut sein, du bist schon recht!&#8220;, war sie wieder ganz
-versöhnt. Und weil sie wußte, daß er&#8217;s gern von ihr leiden
-mochte, zupfte sie ihn am rötlichen Bart. Nun schnappte
-er mit grimmigem Gesicht nach ihr, sie zog wie erschrocken
-die Hand zurück und lachte laut, die Mutter lachte mit
-und Wart Nikl ebenfalls, und die Fensterscheiben zitterten
-vor seines Basses Grundgewalt.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>7.</h3>
-</div>
-
-<p>Während es dem Mädchen mit Lachen und freundlicher
-Teilnahme leicht gemacht wurde, über den kleinen Vorfall
-wegzukommen, mußte Fritz wie immer allein damit fertig
-werden und fraß sich hiebei nur desto tiefer hinein in
-seinen Groll gegen die Frauen im allgemeinen und gegen
-die weiblichen Mitglieder des Hauses Wart im besonderen.
-Und seine Stimmung wurde keineswegs gebessert bei der
-Erinnerung, daß er wegen der dummen Geschichte nicht
-einmal dazu gekommen war, Heinz von der Beichte und
-dem Auftritt mit Pater Romanus Bericht zu erstatten.</p>
-
-<p>Als er dies beim nächsten Zusammentreffen in den
-Gängen des Schulgebäudes nachholte, meinte Wart, daß
-er einen Unsinn begangen habe. &#8222;Unsinn oder Sinn!&#8220;
-sagte Fritz darauf, &#8222;ich mußte einfach. Wir werden ja
-sehn, ob man heutzutage wirklich ohne Lüge nicht durchkommen
-kann!&#8220;</p>
-
-<p>Da verkündete die Glocke hallend den Beginn des Nachmittagsunterrichts,
-die Studenten strömten in die Klassenzimmer,
-und die beiden Freunde mußten das Gespräch
-vorläufig abbrechen.</p>
-
-<p>In der Oktava verlas der Klassenvorstand unter lautloser
-Stille das Ergebnis der am Vortage stattgehabten
-Monatskonferenz, verteilte die Strafzettel mit den Tadelsworten,
-den Rügen und Ermahnungen und fügte seine
-eigenen Bemerkungen hinzu. Die wiesen zwar in einigen
-besonders schweren Fällen drohend auf schärfere Maßnahmen
-und auf das Schreckgespenst eines Durchfallens
-bei der Reifeprüfung hin, klangen im übrigen jedoch recht
-sanft und tröstlich. Denn dem alten Herrn mit dem weißen
-Backenbart und den schon leise zittrigen Händen waren
-seine Jungen ans Herz gewachsen.</p>
-
-<p>Name um Name wurde aufgerufen. Die Zettel wanderten
-in die Hände der Schüler, und wer einen bekam,
-sah trübselig drein, während mancher Schuldbewußte erleichtert
-aufatmete und sich freute, daß diesmal ein schon
-für unabwendbar gehaltenes Verhängnis doch noch gnädig
-vorübergegangen war. Schließlich blieb nur noch ein einziges
-Blatt übrig. Da stellte sich der Professor in Positur,
-machte ein bekümmertes Gesicht, so gut ihm das in Anbetracht
-seiner roten Wängelein und fröhlich zwinkernden
-Augen möglich war, und begann: &#8222;Leider, und ich bedaure
-das sehr, leider bin ich in die unangenehme Lage versetzt,
-auch einem meiner fleißigsten Schüler, von dem ich&#8217;s nicht
-erwartet hätte, mitteilen zu müssen, daß sein sittliches Verhalten
-nicht vollkommen einwandfrei ist. Fritz Hellwig ...!&#8220;</p>
-
-<p>Der Aufgerufene erhob sich und trat aus der Bank vor.</p>
-
-<p>&#8222;Fritz Hellwig, ich habe die betrübliche Pflicht, leider,
-Ihnen wegen Ihres sittlichen Betragens den Tadel der
-Konferenz aussprechen zu müssen, leider.&#8220;</p>
-
-<p>Fritz nahm das weiße Blatt aus den Händen des Lehrers,
-verbeugte sich und ging auf seinen Platz zurück. Er
-dachte an Pater Romanus, fand die Strafe sehr mild und
-wunderte sich nur, warum der Pater erst davon gesprochen
-hatte, daß er den ganzen Vorfall vergessen wolle.</p>
-
-<p>Mit diesem Gedanken beschäftigt, hörte er nur mit halbem
-Ohr hin, wie der Professor jetzt fortfuhr: &#8222;Nehmen
-wir uns also zusammen und folgen wir mit größerer Teilnahme
-dem Unterricht.&#8220; Und erst als er etwas schärfer
-einsetzte: &#8222;Hellwig, ich spreche mit Ihnen!&#8220;, erhob dieser
-sich wieder und blickte ziemlich verständnislos. Nun kam
-der behäbige Mann vom Podium herab, stellte sich neben
-die Bank und sagte freundlich: &#8222;Wir sollen nicht so gleichgültig
-sein, namentlich im Griechischen. Herr Kollege Hermann
-hat sich beklagt, leider, daß wir seinem Vortrag
-gar nicht zuhören, sondern währenddessen leider immer
-zerstreut in allen Himmelsrichtungen herumschauen. Auch
-bei seinen Fragen melden wir uns niemals und bekunden
-mangelnde Teilnahme an besagtem Gegenstand, indem wir
-immer wie ein Haubenstock dasitzen, leider.&#8220; Und mit gedämpfter
-Stimme fügte er hinzu: &#8222;Es hat nicht viel auf
-sich. Nur munterer sein, munterer!&#8220; Dann trippelte er
-wieder zum Lehrpult zurück.</p>
-
-<p>Fritz stand da, als hätte der Blitz vor ihm eingeschlagen,
-war kalkweiß und rührte sich nicht. Erst als der Professor
-fragte, ob ihm etwas fehle, bewegte er verneinend den
-Kopf und setzte sich. Sein Herz klopfte unregelmäßig, trieb
-das Blut bald in heftigen Stößen, bald matt und mühsam
-durch die Adern. Mit leeren Augen stierte er vor sich hin,
-war jetzt wirklich teilnahmslos und dachte nur immer das
-eine: daß ihm ein Unrecht geschehen sei. Gerade das
-Griechische war schon wegen Plato und Demosthenes sein
-Lieblingsgegenstand trotz des widerwärtigen, schwindsüchtig
-aussehenden Lehrers, der infolge einer Kehlkopfkrankheit
-fortwährend hustete und heiser sprach, als stäke ihm ein
-Schleimpfropfen in der Luftröhre. Auch hatte er die Eigenschaft,
-daß er beim Reden niemandem ins Gesicht, sondern
-mit hastenden Augen stets an der betreffenden Person unstet
-vorbeisah. Deshalb konnte er von anderen ebenfalls
-keinen offenen Blick vertragen, wurde unruhig und nervös,
-wenn er einen solchen auf sich gerichtet fühlte. Daher
-mochte er Hellwig nicht leiden, fand aber, weil dieser
-im Griechischen dank einer umfangreichen Privatlektüre
-sehr viel wußte, keine Handhabe, ihm irgendwie seine
-Abneigung fühlen zu lassen. Da hatte ihn Pater Romanus,
-der tödlich Gekränkte, mit ein paar achtlos hingeworfenen
-Worten auf das dehnbare Gebiet des sittlichen Betragens
-gewiesen und der Erfolg zeigte, wie gut der Jesuit seine
-Werkzeuge zu wählen verstand.</p>
-
-<p>Davon ahnte Hellwig freilich nichts. Er hatte nur das
-Bewußtsein, daß der Tadel unverdient war. Denn wenn
-er auch nicht, wie die meisten anderen und namentlich
-Pichler, bei jeder Frage, auf die er Bescheid zu geben
-wußte, gleich mit der Hand in die Höhe fuhr, so konnte
-er sich doch mit ruhigem Gewissen sagen, daß er den
-Unterricht noch immer mit Aufmerksamkeit verfolgt hatte,
-stets bei der Sache gewesen und nur selten eine Antwort
-schuldig geblieben war.</p>
-
-<p>Das Unglück wollte es, daß als nächste Lehrstunde das
-Griechische an die Reihe kam und Professor Hermann,
-durch Aufstehen von den Sitzen begrüßt, ins Schulzimmer
-trat. Auch Fritz erhob sich gewohnheitsmäßig mit. Als
-er jedoch das eingetrocknete gelbe Gesicht erblickte, da
-wallte zugleich mit einer siedenden Wut das kindische Verlangen
-in ihm auf, dem eklen Patron einen Tort anzutun
-und seiner Mißachtung sogleich irgendwie Ausdruck zu
-geben. Er verschränkte die Arme vor der Brust, warf den
-Kopf in den Nacken und sah den Professor herausfordernd
-an. In dieser Stellung verharrte er noch, als seine Mitschüler
-bereits wieder auf den Bänken saßen.</p>
-
-<p>Da sprang der ausgelaugte, stangendürre Mensch mit
-einem gewaltigen Satz vom Podium herunter auf ihn
-zu: &#8222;Eh, eh, &mdash; wie stehn S&#8217; da? Wie stehn S&#8217; da?&#8220;</p>
-
-<p>Fritz rührte sich nicht.</p>
-
-<p>Das Gesicht des Lehrers war fahlgrün geworden. Pfeifend
-kam der Atem aus der kranken Kehle.</p>
-
-<p>&#8222;Hinaus! Sie Frechling! Lausbub! Klassenbuch! Sittenrüge!
-Karzer! Hinaus! Hinaus!&#8220; schrie, spuckte und
-hustete er und hieb mit der geballten Rechten immerfort
-auf die Bank unter allen Zeichen einer schweren Nervenüberreizung.
-Selbst als Hellwig das Zimmer verlassen
-hatte, konnte er sich nicht beruhigen. In seinem dicksohligen
-knarrenden Schuhwerk schritt er vor der Schultafel
-hin und her, fortwährend Worte wie &#8222;Frechheit!&#8220;,
-&#8222;Bube!&#8220; zwischen den gelblichen Zähnen zerreibend, nahm
-dann das Klassenbuch aus der Pultlade und schrieb beinah
-eine Seite voll. Mit einem hämischen &#8222;So!&#8220; klappte er
-endlich den grünen Deckel zu und begann ein wütendes
-Prüfen unter der verschüchterten Schülerschar, wobei er
-raunzend, räuspernd, hüstelnd eine ungenügende Note nach
-der andern in seinen Handkatalog eintrug. Und niemand
-fand heute vor dem Verärgerten Gnade.</p>
-
-<p>Fritz mußte inzwischen im Korridor das Ende der Stunde
-abwarten. Er lehnte sich in eine der tiefen Fensternischen
-und blickte durch die eisernen Gitterstäbe in den Hof, der
-von zweistöckigen Gebäuden eingeschlossen, unter der Aufsicht
-vieler schnurgerade ausgerichteter Fensteraugen trübselig
-im Schatten lag, als schämte er sich seiner Dürftigkeit.
-Wehmütig streckte ein verkrüppelter Roßkastanienbaum
-die beschneiten Äste nach dem Stücklein Himmel
-über den geflickten Ziegeldächern, eine hungrige Dohle saß
-in seiner Krone, ließ den starken Schnabel hängen und fror.</p>
-
-<p>Die Glieder schlaff, den Kopf gesenkt, drückte Hellwig
-die Achsel gegen das kalte Gemäuer. Aller Lebensmut
-war ihm zerbrochen, und in sein steinstarres Antlitz meißelte
-tiefe und immer tiefere Furchen ein ungeheurer Schmerz.
-Er hatte zum erstenmal im Leben die Ungerechtigkeit kennengelernt.
-Und da war ihm, als sei der feste Boden unter
-seinen Füßen weggezogen worden, als wankten alle Grundpfeiler
-der Ordnung, stürzten hin und lägen begraben
-unter dem hereinbrechenden Chaos.</p>
-
-<p>Es war ihm so klar gewesen bisher als die erste und
-einfachste sittliche Forderung: Das Recht des Nebenmenschen
-wahren wie sein eigenes, als geheiligtes, unantastbares
-Gut. Und jetzt? Da stand er, und ein Unrecht war
-ihm geschehen, und er hatte kein Mittel, gegen den Übeltäter
-aufzutreten, es sei denn die rohe Kraft der Muskeln.
-Und statt, daß er und alle andern mit ihm wie ein Mann
-sich erhoben, den Beflecker des Rechts zu züchtigen, blieben
-sie untätig, als dieser dem ersten Verbrechen das zweite
-hinzufügte. Und wenn auch einige die Unbill verurteilten,
-so schien sie ihnen doch zu geringfügig, um viel Aufhebens
-davon zu machen. Aber gab es denn hier überhaupt eine
-Geringfügigkeit? Jede Beleidigung Gottes, und wäre sie
-noch so klein, sollte schwerste Missetat sein und die gröbliche
-Verletzung eines ersten Sittengesetzes Bagatelle? Und
-jetzt empfand er auch Scham über sein unwürdiges Benehmen.
-Wie zu einem heiligen Krieg hätte er ausziehen,
-hätte glühend für das gelästerte Menschengut in die Schranken
-treten müssen, ohne der eigenen Kränkung zu gedenken.
-Statt dessen hatte er in einer großen Sache klein und
-jämmerlich, so recht wie ein geprügelter Knabe gehandelt.
-Das machte ihn verzagt und schwunglos, drückte nieder
-und beraubte ihn der Kraft zum entschiedenen Eintreten
-für seine Schuldlosigkeit. Und als die Stunde vorüber
-war und als er an Professor Hermann vorbei in das Schulzimmer
-ging, da senkte er, wiederum zum erstenmal im
-Leben, schuldbewußt den Kopf.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>8.</h3>
-</div>
-
-<p>Den nächsten Tag begannen bereits die Weihnachtsferien,
-die solcherart für Hellwig und für seine Mutter
-keineswegs freundlich eingeleitet wurden. Er hatte ihr
-gleich nach seiner Heimkunft den Tadelszettel auf den
-Küchentisch gelegt: &#8222;Da, unterschreib den Wisch!&#8220; Sie
-las ihn bedächtig vom Anfang bis zum Ende und fing
-sofort ein Weinen an und ein Zanken, ohne den Sohn
-nach der Ursache der Maßregelung zu fragen. Denn daß
-er sie verdiente und schuldig war, dafür war ihr das mit
-dem Schulsiegel und der Unterschrift des Direktors versehene
-Blatt todsicherer Beweis.</p>
-
-<p>Fritz versuchte nicht einmal, sich zu verteidigen. Es
-wäre auch ein vergebliches Bemühen gewesen, ihren Glauben
-an die Behörden und an geschriebene Amtsurkunden
-erschüttern zu wollen.</p>
-
-<p>Als sie endlich mit dünnen unbehilflichen Volksschülerbuchstaben
-ihren Namen auf den Zettel gemalt hatte, packte
-er ihn mitsamt den Schulbüchern zusammen und ging
-in seine Stube. Dort fand er auf seinem Tisch ein Postpaket
-vor. Überrascht öffnete er es; drei schön gebundene
-Bücher fielen ihm in die Hände. Zwischen den Blättern
-des einen stak ein Briefumschlag. Darin war eine Karte.
-&#8218;Fröhliche Weihnachten&#8216; stand auf der einen Seite und
-auf der anderen &#8218;wünschen das Gansl und seine Mutter&#8216;.</p>
-
-<p>Mit einem Fluch ließ Hellwig die Faust auf den Tisch
-fallen. Unter zusammengezogenen Brauen funkelte der
-Zorn. Als Fopperei erschien ihm die Sendung, als Zudringlichkeit
-und neue Beleidigung. Er hatte Frau Wart
-niemals Grund zu einer solchen Vertraulichkeit gegeben,
-hatte jeden Versuch schroff abgelehnt. Und nun kam sie
-ihm so. Denn, daß der Plan von ihr ausgegangen, darauf
-hätte er Stein und Bein geschworen. Schon schickte er
-sich an, die Bücher wieder einzupacken, schon schien es,
-als ob Frau Hedwigs gute Saat nutzlos ausgestreut wäre.
-Da glänzte ihm aus dem aufgeschlagenen Band der Name
-Darwin entgegen. Angeregt las er den Satz, stutzte, las
-weiter.</p>
-
-<p>Und als der Nachtwächter morgens im winterlichen
-Dunkel der Gassen den Ruf anstimmte:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">&#8222;Hausmagd, steh auf, heiz&#8217; ein, kehr&#8217; aus,</div>
- <div class="verse indent0">Trag &#8217;n Bedarf Wasser ins Haus!&#8220;,</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>da war Fritz Hellwig richtig mit den leichten Plaudereien
-so ziemlich fertig geworden.</p>
-
-<p>Dadurch hatte er sich das Geschenk unfreiwillig angeeignet
-und die Rückgabe unmöglich gemacht. Es hatte
-ihm nicht sonderlich gefallen. Zu spielerisch, zu tändelnd
-und oberflächlich war es ihm. Und doch saß er und
-träumte mit leuchtenden Augen in das Dunkel hinaus.
-Träumte vom Frühling und Blütentreiben mit seltsam
-bewegtem Herzen, das wehmütig und sonnig war, erwartungsfreudig
-und voll von tausend unsichtbaren, heimlich
-pochenden Kräften wie ein Vogelnest zur Brutzeit.
-Erschauernd wurde er seiner werdenden Mannheit inne, mit
-einer leisen, scheuen Sehnsucht nach dem Weibe. Rein
-und ohne noch zum Verlangen sich zu verdichten, war diese
-Sehnsucht einer jungen Blüte gleich, die kaum entfaltet
-zum erstenmal dem Lichte entgegenblickt. Und der Atem
-der Liebe machte ihn sanft und gütig und erfüllte ihn
-mit einer innig warmen Verehrung für das Weib als
-einen heiligen Brunnen, in dessen klarer Tiefe Anfang
-und Ende aller Menschwerdung in sich beschlossen ruht.
-Und neidlos und ohne Vergleiche empfand er jetzt eine
-aufrichtige Dankbarkeit für die mütterliche Frau, die ihm
-einen Freund geschenkt und jetzt diese Weihnacht des Herzens
-bereitet hatte.</p>
-
-<p>So wurde eine Wandlung seiner Seele wohl angebahnt,
-aber im kalten Licht des Tages regte sich wieder der alte
-Trotz.</p>
-
-<p>Damit er nicht zu Heinz gehen mußte oder Gefahr
-lief, von ihm abgeholt zu werden, machte er sich gleich
-nach dem Frühstück auf den Weg, um Pichler in seinem
-Heimatsdorf aufzusuchen, das drei Stunden von Neuberg
-entfernt, schon an der bayrischen Grenze lag.</p>
-
-<p>Dort hatte der Küster und Kirchendiener Pichler ein
-gemauertes Hüttlein inne, das wie ein Schwalbennest an
-einer schlanktürmigen Kirche klebte und außer für zwei
-Wohngelasse nur noch für eine Vorratskammer und den
-Kuhstall Raum bot. Hellwig fand den Kameraden in der
-großen Stube, wo hinter dem überlebensgroßen Kachelofen
-zwei Turteltauben gurrten und links davon unter
-dem Geschirrschrank die Hühner in ihrer rot angestrichenen
-Steige hockten. Auf der Holzbank aber, die sich längs
-aller Wände um die Stube zog, saßen verteilt sechs junge
-Menschenkinder. Die älteren Buben banden Birkenreiser,
-die, am Barbaratag geschnitten und ins Wasser gesteckt,
-nunmehr grüne Triebe hatten, mit roten und blauen Bändern
-zu Ruten, mit denen sie am zweiten Feiertag die
-Dirnen peitschen wollten. Und um sich zu vergewissern,
-ob sie das Sprüchlein noch wüßten, sprachen sie manchmal
-halblaut vor sich hin: &#8222;Frische, frische Krone, ich
-peitsch&#8217; dich nicht um Lohne, ich peitsch&#8217; dich nur aus
-Höflichkeit, dir und mir zur Gesundheit!&#8220;</p>
-
-<p>Beim Ofen wirtschaftete mit nackten Armen eine siebente,
-wenig jüngere als Otto, in Töpfen und Schüsseln
-herum, und unter all der regsamen Jugend saß dieser
-selbst, der einzige Dunkelhaarige, schnitt mit der Schere
-Engel, Hirten und Lämmer aus einem Bilderbogen und
-steckte sie neben die heilige Familie und die drei Könige
-aus dem Morgenlande in den Moosboden der aus Pappendeckel
-gefertigten Krippe.</p>
-
-<p>Als Hellwig die strohgefütterte Tür öffnete, schwieg
-das Summen und Tönen, die geschäftigen Hände ruhten
-und vierzehn helle Augen starrten neugierig auf den Ankömmling,
-der mit Reif und Schnee zugleich eine frische
-Winterluft in die dumpfig warme Stube brachte. Anfangs
-waren sie schüchtern und sahen zu, wie der älteste Bruder
-in seiner lauten Weise den Freund begrüßte. Bald aber
-schoben sich die kleineren, die schmutzigen Mittelfinger im
-Mund oder Nasenloch, näher heran, glucksten und umschlichen
-im Kreis den Fremdling. Da hob Fritz eine kaum
-Vierjährige mit beiden Armen hoch über seinen Kopf, daß
-sie fast an den braunen Deckenbalken stieß. Und nun
-wollten auch die andern Fibelschützen nicht um diesen Genuß
-kommen, drängten und stießen sich, kicherten, und
-als Otto mit den geflochtenen Weihnachtsstriezeln und
-einer Flasche Kümmelschnaps aus der Vorratskammer zurückkehrte,
-lehnten sie bereits, links zwei Männlein, rechts
-zwei Weiblein, alle unter zehn Jahren, an den Knien des
-Gastes, der beim Eßtisch saß, und guckten scheu-zutraulich
-wie junge Hunde von der Seite nach seinem Gesicht hinauf.
-Die zwei älteren Burschen flochten leise pfeifend an ihren
-Ruten weiter, und die Siebzehnjährige beim Ofen, die
-nach dem Tode der Küsterin das Haus versehen mußte,
-hantierte mit ihren Kochgeräten und bemühte sich jetzt,
-möglichst wenig Lärm zu machen.</p>
-
-<p>Hellwig aber war Kind mit den Kindern, und Otto gewahrte
-mit wachsendem Staunen, wie viel harmlose Heiterkeit
-und genügsamer Frohsinn diesem spröden, widerspenstigen
-Charakter eingemischt war. Er lachte und trieb Tollheiten,
-sprach Schnellsagesätze vor &mdash; &#8222;hinter Hansens
-Hundshütten hängen hundert Hundshäut&#8217;&#8220; &mdash; und erzählte
-den Auflauschenden von der versunkenen Stadt im
-Tillenberg, von der Sturmmutter Melusine und dem Hehmann
-im Franzensbader Moor.</p>
-
-<p>Dann kam der Küster nach Hause, ein schneiderdürres
-Männchen mit spitziger Nase, spitzigem Kinn und einem
-spitzigen grauen Ziegenbart darunter, und brachte in einem
-Netz zwei schöne Spiegelkarpfen, ein Geschenk aus dem
-Fischteich seines Pfarrherrn. Im Nu war er von der
-Schar seiner Sprößlinge umringt, und in dem Gewoge
-blonder Köpfe und greifend emporgestreckter Hände
-schwankte sein kümmerliches Gestaltchen wie der Mast
-eines steuerlosen Kutters in sonnenüberfunkelten Wellen.</p>
-
-<p>Endlich gelang es der ältesten, das Fischnetz zu fassen
-und mit hochgehaltenen Armen aus dem Bereich der neugierigen
-Finger zu bringen. Aber immer wieder bettelten
-die Kleinen: &#8222;Zeig&#8217; doch einmal her! Ich möcht&#8217; mir
-die Viecher ja nur anschaun!&#8220;, hingen sich an ihren Rock
-und suchten den Arm der Schwester im Sprung zu erhaschen
-und niederzuziehen. Scheltend wehrte sie dem Ansturm,
-machte sich mit einem kräftigen Ruck frei, und
-nun flog die ganze leuchtende Wolke von Gesundheit und
-Jugendkraft zur Anrichtbank beim Ofen, während das
-Küsterlein den Schnee von den Röhrenstiefeln stampfte
-und den Gast bewillkommte. Doch hielt es sich nicht lang
-dabei auf, sondern verlangte gleich nach dem Mittagessen.</p>
-
-<p>Bald saßen um eine einzige gewaltige Schüssel dampfender
-Milchsuppe mit Schwarzbroteinlage alle außer der
-ältesten Tochter, die sich Abbruch tat und den Magen bis
-zum Aufleuchten der ersten Sterne leer behalten wollte,
-um dann sicher das goldene Meerschweinchen über die
-Zimmerdecke laufen zu sehen. Das Fasten wurde ihr gar
-nicht leicht, und man merkte ihr an, daß sie gern mitgehalten
-hätte, als nun alle ihre Löffel in die dickliche
-Flüssigkeit versenkten, auch Fritz, der die Gastehre eines
-eigenen Tellers rundweg ausgeschlagen hatte. Die Kinder
-aßen noch ungeschickt, mit schmatzenden Lippen und hastigen
-Gebärden, indes die zwei halbwüchsigen Rutenbinder langsam,
-ernst und mit einer Gründlichkeit dem Nahrungsgeschäft
-oblagen, daß ihnen der Schweiß auf die Stirnen trat.</p>
-
-<p>Ganz gegen seine sonstige Gepflogenheit sprach Otto
-nicht viel. Verdrießlich zupfte er an seinem sprossenden
-Schnurrbärtlein und war unzufrieden mit Hellwigs Besuch,
-trotzdem er ihn dringend darum gebeten. Er hatte
-sich&#8217;s eben ganz anders vorgestellt, ein ungestörtes Beisammensein
-mit dem Freunde, wobei ihm Gelegenheit geboten
-war, seine Geistesblitze flammen zu lassen. Vor
-den Geschwistern aber oder gar vor dem Vater getraute
-er sich nicht mit hohen Themen anzufangen, da er selten
-von der Leber weg sprach, sondern mit Vorbedacht je nach
-der Zuhörerschaft Gegenstände auswählte, mit denen er
-zu blenden hoffte. Das war jedoch beim Küster so gut
-wie ausgeschlossen. Der ließ sich von niemandem ein X
-für ein U vormachen und hatte für die oft gewagten Behauptungen
-seines ältesten noch immer einen tüchtigen
-Trumpf bei der Hand gehabt. Alle Versuche aber, Fritz
-von den Angehörigen abzusondern und in die kleine Stube
-zu lotsen, scheiterten an dem rückhaltlosen Behagen, mit
-dem sich dieser den Kindern überließ, und an seiner hellen
-Freude über die ihm bisher unbekannte Traulichkeit eines
-quellwasserfrischen Familienlebens.</p>
-
-<p>So kam es, daß der Küster fast allein die Unterhaltung
-besorgte. Das bewegliche Greislein hatte sich trotz Armut
-und Kindersorgen den Humor nicht abhanden kommen
-lassen und trug sein Los mit heiterer Zufriedenheit.</p>
-
-<p>&#8222;Sie müssen halt fürlieb nehmen,&#8220; sagte er zu Fritz.
-&#8222;Was Extra&#8217;s ist&#8217;s nicht. Wir machen eben unsere Schrittlein
-und essen unsere Schnittlein, so gut wir können.
-Langen Sie zu, wenn&#8217;s Ihnen schmeckt, oder hören Sie
-auf, wenn Sie genug haben. Immer tüchtig! Tüchtig!
-Wie man sich zum Essen hat, so hat man sich auch zur
-Arbeit. Schaun Sie unsern Christoph an,&#8220; &mdash; er deutete
-mit dem Kinn zu einem der Rutenbinder hinüber &mdash; &#8222;wie
-schön faul der einführt. Der war auch in der Stadt im
-Gymnasium, er hat studiert bis zum Hals, in den Kopf
-ist nichts hineingegangen.&#8220;</p>
-
-<p>Der Christoph ließ ein unwilliges Grunzen hören, aß
-aber unentwegt gemächlich weiter.</p>
-
-<p>&#8222;Da schaut den an!&#8220; fuhr der Vater fort. &#8222;Der ist
-gar ein Philosoph. Recht hast, Toffl, schweig und näh&#8217;
-dich an und denk: Wenn man auf alle Hund&#8217; werfen
-wollt&#8217;, die einen anbellen, müßt&#8217; man viel Steine aufheben.
-Ob du ein Studierter bist oder nicht, ist egal.
-Unser Herrgott verläßt keinen Deutschen, wenn er nur
-ein wenig Böhmisch kann!&#8220; Und er lachte über den Witz,
-daß er mit dem Essen innehalten mußte.</p>
-
-<p>Viel zu rasch nahte für Hellwig die Stunde des Heimwegs,
-wollte er die Mutter nicht mit dem Anzünden des
-Christbaums warten lassen. Er gab allen der Reihe nach
-die Hand und mußte versprechen, bald wiederzukommen.
-Otto begleitete ihn ein Stück und brachte jetzt das Gespräch
-natürlich zuerst auf die Vorkommnisse in der griechischen
-Stunde. Fritz war indes nicht in der Stimmung, darüber
-zu reden. Nur als Pichler sagte: &#8222;Du hast&#8217;s dem hustenden
-Schleicher gut gegeben, das war großartig!&#8220;, wehrte er
-kurz ab, mit gefurchter Stirn: &#8222;Laß mich in Ruh&#8217;!&#8220;
-Aber er blieb ganz kalt dabei. Wie in eine weite Ferne
-gerückt kam ihm das Ereignis vor. Denn dazwischen war
-die Auferstehung der Liebe und der erkennende Blick in
-unschuldige Kinderaugen.</p>
-
-<p>Otto suchte nunmehr seine neuesten Schlager an den
-Mann zu bringen, die Ausbeute einer flüchtigen Beschäftigung
-mit Stirners Hauptwerk. Doch auch damit weckte
-er heute keinen Widerhall. Fritz hörte nur mit halbem
-Ohr hin, und Pichler sah seine geistreichsten Paradoxa
-wirkungslos verpuffen. Da verlor er die Lust zur Fortsetzung
-des Feuerwerks und kehrte um.</p>
-
-<p>Fritz aber bog jetzt von der Straße ab und schritt weglos
-in das stille, klare Winterland hinein. Weiß, weich
-und schimmernd breitete sich der Schnee, ein stolzer Fürstenmantel
-für die Berge, eine warme Schlafdecke für die
-müden Fluren, machte den Schritt lautlos, das Auge hell
-und freundlich den Tod, der auf kahlen Ästen mit vergessenen
-welken Blättern spielte und in verlassenen Vogelnestern
-kauerte. Und vor der weiten, toten Einsamkeit
-war der Himmel erschauernd hoch hinauf zurückgewichen.
-Vergeblich strebte die Sonne den kalten Leib der Erde in
-ihre Arme zu nehmen wie damals im Frühling. Kaum,
-daß sie den fühllosen noch streicheln und mit ein paar
-funkelnden Edelsteinen schmücken konnte.</p>
-
-<p>Fühllos und tot?</p>
-
-<p>Wie viele mochten jetzt, im gleichen Augenblick, gerade
-so wie der hagere Junge, mit wachen Sinnen und heißem
-Herzen über öde Flächen wandern und durch Frost und
-Eis und Winterstarrheit unbewußt dem Endzweck ihres
-kurzen Daseins entgegengetrieben werden, der da ist: Träger,
-Übertrager des Lebens zu sein. Liebe nennen sie&#8217;s
-und sind glücklich dabei. Glücklich wie irrfahrende Schiffer,
-die endlich Land gefunden. Land: das heißt fester
-Boden, Herd, Weib, Kind und &mdash; ein Fleckchen zum Grab.
-Was sonst noch drum und dran hängt: Religion, Gemeinwohl,
-Kunst, Kultur, ist gute Zier und erfreuendes Spiel,
-nicht mehr. Und über die Grube des bewunderten Künstlers
-und des geistesgewaltigen Denkers, des Länder einenden
-Staatsmannes wie des schwärmerischen Religionsstifters
-schreitet mit schweren Schuhen rücksichtslos und lachend
-in derber, rotbackiger Daseinslust mit seinem Schatz der
-junge Bauernbursch, ein Kaiser gegen die großen Toten,
-nur weil er lebt.</p>
-
-<p>Und der jetzt weiter und weiter in die Einsamkeit lief,
-Fritz Hellwig, der ernste Grübler und Sucher, hatte das
-gleiche Empfinden. Wohl konnte er sich nicht erklären, was
-das war und woher es kam. Aber es war da, hielt ihn
-fest und stieß ihn vorwärts wie Sprungfedern. Er sah
-den blauen Himmel und nickte ihm zu, er sah den saubern
-Schnee der Erde und warf sich längelang hinein, wälzte
-sich darin in toller, zweckloser Freude, sprang wieder auf
-und rannte mit wilden Jubelschreien weiter, dachte an nichts
-und wollte an nichts denken. Er fühlte nur, daß er lebte
-und daß das Leben schön war, schön und reich und verheißend
-&mdash; wie die Geschenke gütiger Frauen oder die
-Augen junger Mädchen. Weder an Frau Wart noch an
-Eva dachte er dabei, nur ganz umrißlos schwebte ihm die
-Erscheinung eines wunderherrlichen Weibes vor mit blonden
-Haaren, freiem Blick und beglückender Anmut im
-Wesen und Bewegen.</p>
-
-<p>Da drang ein sanftes Blöken an sein Ohr und wie er
-aus seinem Taumel erwachte, und wie er näher hinschaute,
-bemerkte er mitten im Walde, durch unregelmäßige Zwischenräume
-getrennt, mit Reisig zugedeckt und mit zartem
-Heu und Nadelholzknospen als Köder darüber, drei tiefe
-Gruben, die ein schlauer Wilderer den Jagdtieren gegraben
-hatte. Und noch eine vierte war da, bei der war
-das leichte Deckwerk eingebrochen. Mit weitem Schlunde
-gähnte sie dunkel aus dem weißen Schnee herauf und
-darinnen stand ein rötlichgraues Rehkalb, schrie und schlug
-mit den Vorderbeinen immer wieder nach dem Rand der
-Grube. Aber es erreichte ihn nicht, zitterte und fürchtete
-sich sehr.</p>
-
-<p>Fritz legte sich platt auf die Erde, griff das Viehlein
-behutsam mit flachen Händen beiderseits der Brust und
-hob das zappelnde heraus. Jetzt war es auf ebenem Grund
-und sollte davonlaufen. Aber es tat nur kurze Sprünge,
-humpelte unbehilflich und zog den einen Fuß hoch. Nun
-sah er, daß es dort einen offenen Schaden hatte vom
-Sturz in die Falle, vielleicht auch einen Sehnenriß oder
-Bruch. Da nahm er das ganz junge, magere Geschöpf
-vom Boden und trug&#8217;s auf seinen Armen zum Forsthaus
-an der Straße. Und wie er so dahinschritt unter den stillen
-runden Kiefernkronen, wußte er auch, was er damit tun
-wollte.</p>
-
-<p>Er sprach mit dem Förster, forderte und erhielt das
-Tierchen um ein billiges Geld. Denn es war nicht mehr
-waldtüchtig und für den Markt noch zu dürftig an Fleisch
-und Fell. Nach geschlossenem Handel strich der Weidmann
-eine Salbe auf die wunde Stelle und legte einen Leinenstreifen
-darüber, die Försterin aber tat noch ein übriges,
-nahm das rote Bändlein aus den Locken ihrer Siebenjährigen
-und knüpfte es dem Tier um den Hals.</p>
-
-<p>Mittlerweile war die Sonne untergegangen. Aber der
-Schnee leuchtete, und alle Gegenstände waren nahe gerückt
-und standen in einer ruhevollen Halbhelle wie Wächter
-vor einem schönen Geheimnis. Über den Saum des
-Horizonts kam ein großer Stern herauf, strahlte und
-winkte der Erde: &#8218;Komm zu mir, ich bin deiner Rätsel
-Lösung&#8216;. Doch die Erde, stolz, leuchtend in reiner Klarheit,
-winkte zurück: &#8218;Komm du und erkenn&#8217; in meinem
-Spiegel deines Wesens Art&#8216;.</p>
-
-<p>Mit seiner atmenden Last ging Fritz rasch vorwärts.
-Niemand begegnete ihm. Von den Dörfern, die rechts
-und links der Straße bis zu den Bergen hinüber allenthalben
-in den Fluren verstreut lagen, blinkte gelber Lichtschein
-aus jedem Fenster. Alle Menschen waren schon
-daheim und rüsteten sich für die Ankunft des Herrn.</p>
-
-<p>Fast ohne Biegung lief die Straße nunmehr, von hohen
-Pappeln begleitet, eine sachte Lehne hinauf, und da sie
-sich oben gleich wieder abwärts senkte, schien es dem Hinanschreitenden,
-als endigte sie gerade vor dem riesigen Himmelstor,
-dessen dunkelblauer Stahl, mit silbernen Sternennägeln
-beschlagen, den Raum von der Unendlichkeit schied.</p>
-
-<p>Breit, schwer, gewaltig ragte es senkrecht auf, für immerwährende
-Zeiten geschmiedet und geeignet, dem brüllenden
-Ansturm der Ewigkeiten von drüben wie dem Zuflattern
-der bang fragenden Seelen von hüben unverrückbar und
-gelassen standzuhalten. Und da schien es Hellwig, als sei
-das heiße, pochende Leben irgendwo weit zurückgeblieben,
-und vor der Majestät des Schweigens, das machtvoll aufgerichtet
-ihm entgegen stand, fühlte er zum erstenmal
-das Grauen vor der Einsamkeit, die ihn zu würgen begann,
-während sie ihm sonst Freundin und Trösterin gewesen.
-Mit schleppenden Schritten ging er weiter. Eine schnürende
-Beklemmung engte ihm die Brust, und ihm war, als
-hätte er allen Zusammenhang mit der Erde verloren.</p>
-
-<p>Endlich war er oben. Und der Himmel war mit einem
-Male hoch und fern, und vor ihm breitete sich das weite
-weiße Tal im Mondglanz wie in einem leise wallenden,
-ganz durchsichtigen See, und die Lichter von Neuberg
-grüßten freundlich. Ganz deutlich sah er den Kirchturm,
-die feurige Scheibe der Rathausuhr, das alte hochgiebelige
-Haus am Marktplatz. Ein Fenster schien dort besonders
-hell. Und im Rahmen zwischen den geöffneten Flügeln
-stand eine schlanke junge Gestalt in knappem Kleid mit
-rotem Gürtelband, winkte &mdash; und winkte ihn ins Leben
-zurück.</p>
-
-<p>Trugbild der Mondnacht.</p>
-
-<p>Aber jetzt gab&#8217;s kein Halten mehr. In langen Sätzen
-sprang er den Abhang hinab. Das warme Geschöpf auf
-seinen Armen regte sich unruhig, hob den Kopf und schrie
-kläglich. Er kümmerte sich nicht darum, blickte nur nach
-dem leuchtenden Fenster hinüber und glaubte in alle Herrlichkeiten
-der Erde zu schauen. Dann erlosch das Schimmern,
-Gassen schoben sich dazwischen, er hastete hindurch
-und fand sich &mdash; er wußte nicht, wie er hingeraten &mdash;
-mit seinem Rehkalb plötzlich im dämmrigen Flur des Kaufmannshauses.</p>
-
-<p>Das laute Dröhnen seiner Stiefel auf der Treppe ernüchterte
-ihn. Er fuhr zusammen, blieb stehen, besann
-sich. Das Tierchen blökte immerfort. Seine rauhe Stimme
-füllte hallend die gewölbten Gänge. Erschrocken legte er
-ihm die Hand auf die Schnauze und wollte zurück. Das
-ging jedoch nicht mehr. Denn das Weib des Hausdieners
-stand, durch das Geschrei herausgelockt, bereits unten auf
-der Stiege.</p>
-
-<p>&#8222;Gehen Sie nur hinauf, Herr Hellwig,&#8220; sagte sie, als
-sie ihn erkannte. &#8222;Die Herrschaften sind alle zu Haus.&#8220;
-Da mußte er vorwärts.</p>
-
-<p>Das Rehlein spektakelte unaufhörlich. Als er bereits
-im ersten Stock war, fiel ihm ein, daß er ja sein lungentüchtiges
-Angebinde beim Auflader abgeben könnte. Das
-war wie eine Erlösung. Aber es mußte beim Vorsatz
-bleiben. Die Wohnungstür tat sich auf, neugierig steckte
-die kleine Eva Wart den blonden Kopf heraus. Nun durchfuhr
-es ihn wie den Soldaten der Befehl. Auf gestrafften
-Beinen stand er kerzengerade und hielt den Nacken steif.
-Unter den gefalteten Brauen blickten die Augen wieder
-feindselig auf das Mädchen, von dem er sich noch vor
-kurzem im Geiste die Pforten des Lebens hatte öffnen
-lassen.</p>
-
-<p>Das Rehkalb blökte noch immer.</p>
-
-<p>Eva war nicht weniger rot als Hellwig. Kleinlaut schob
-sie sich durch den Türspalt, hatte die Wimpern gesenkt
-und spielte mit dem Ende ihres dicken Zopfs, der sich über
-ihre Schultern nach vorn verirrt hatte. Keine Spur mehr
-von Übermut und Reschheit, wie sie sie vor ein paar Tagen
-im Dachzimmer gezeigt. Die Ermahnungen der Mutter
-machten sie schuldbewußt und befangen.</p>
-
-<p>Fritz raffte sich endlich auf, verbeugte sich und sagte:
-&#8222;Guten Abend.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Guten Abend,&#8220; kam ebenso kurz ein Gelispel zurück.
-Aber hinter den niedergeschlagenen Augendeckeln begannen
-die losen Geisterchen schon wieder zu rumoren. Und vom
-rechten glitt sogar eines zum Mundwinkel hinab, huschte
-über die geschürzten Lippen und war im Nu hinter der
-linken Augenklappe verschwunden. Dort lachte es fröhlich
-weiter. Und das Rehkalb sorgte, daß keine Stille eintrat.</p>
-
-<p>Nach einer Weile fing Fritz von neuem an: &#8222;Ich &mdash;
-danke &mdash; für die Bücher.&#8220;</p>
-
-<p>Da hob sie die Stirn. Und aus ihren Augen sprang
-ihm der ganze Schwarm der lustigen Kobolde entgegen,
-daß er ordentlich geblendet zurückfuhr.</p>
-
-<p>&#8222;Hat&#8217;s Ihnen Freude gemacht?&#8220; forschte sie.</p>
-
-<p>Er überhörte die Frage, sprach schnell und unsicher
-weiter: &#8222;Da bring&#8217; ich Ihnen was ... wenn Sie&#8217;s halt
-mögen. Sonst schaff&#8217; ich&#8217;s wieder fort.&#8220;</p>
-
-<p>Ihr Gesicht strahlte. &#8222;Mein?&#8220; fragte sie zweifelnd,
-kam näher und strich mit den Fingerspitzen vorsichtig über
-das weiche Fell. &#8222;Wie lieb und hübsch.&#8220;</p>
-
-<p>Er schaute auf ihre goldfarbenen Locken, die sich dicht
-vor seinen Augen kräuselten und tat in fluchtartiger Eile
-einen Schritt zurück.</p>
-
-<p>&#8222;Passen Sie auf!&#8220; warnte er dabei. &#8222;Es hat ein wehes
-Haxl!&#8220; Doch als er ihre bestürzte Miene gewahrte, beruhigte
-er gleich: &#8222;Es hat nicht viel auf sich. In ein
-paar Tagen ist&#8217;s gut. Wollen Sie&#8217;s?&#8220;</p>
-
-<p>Sie bejahte wortlos mit wiederholten heftigen Kopfbewegungen.</p>
-
-<p>&#8222;Dann lass&#8217; ich&#8217;s also hier!&#8220; sagte er, froh über die
-Erledigung der schwierigen Angelegenheit und setzte das
-Tierlein behutsam auf den Fußboden. Zitternd stand es
-da und tat sehr scheu.</p>
-
-<p>&#8222;Geben Sie ihm bald zu saufen und zu fressen!&#8220; riet
-er noch. Und Eva ganz ängstlich darauf: &#8222;Mein Gott,
-was denn? Ich hab&#8217; ja nichts!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Im Stall unten ist Heu genug für hundert solche
-Vieher!&#8220; belehrte er sie und drängte das Reh in den Vorraum
-der Wohnung. Dann wandte er sich zum Gehen.
-Aber die Kleine hatte noch etwas auf dem Herzen. Unschlüssig
-stand sie, hielt die Klinke in der Hand und fühlte
-sich gar nicht behaglich, zumal das Rehkalb immer von
-hinten gegen ihre Beine stieß und hinauswollte. Doch
-sie nahm allen ihren Mut zusammen. &#8222;Herr Hellwig!&#8220;
-rief sie schüchtern. Und als er sich umdrehte, murmelte
-sie mit fliegendem Atem: &#8222;Nicht wahr, Sie ärgern sich
-nicht mehr auf mich?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Weshalb sollt&#8217; ich denn?&#8220; kam ein Knurren zurück.</p>
-
-<p>Bittend schaute sie ihn an. &#8222;Gehn Sie, Sie wissen&#8217;s
-ganz gut ... von neulich halt ...&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Nein, Fräulein ... Eva!&#8220; Gewaltsam mußte er sich
-ihren Namen aus der Kehle zwingen. &#8222;Gute Nacht!&#8220;</p>
-
-<p>Und er beeilte sich, über die Treppe hinunterzukommen,
-während sie, wieder ganz fröhlich, hinterher rief: &#8222;Sie
-haben schon recht gehabt mit dem Gansl!&#8220;</p>
-
-<p>Dann fiel die Tür krachend ins Schloß und legte sich
-plump und klotzig vor ein helles Mädchenlachen.</p>
-
-<p>Unten streckte Fritz beide Arme mit kräftigen Stößen
-ein paarmal seitwärts und vorwärts, denn sie schmerzten
-ihn jetzt doch, weil er ja die, wenn auch leichte Bürde fast
-zwei Stunden ohne Unterbrechung geschleppt hatte. Dann
-schlenderte er langsam seiner Behausung zu in einer sonderbar
-weichen, träumerischen Stimmung. Aber er freute
-sich darüber und freute sich auf die Stunden, die kommen
-würden und begehrte die Zeit vorwärts zu schieben, als
-hätte er etwas recht Fröhliches in ganz naher Frist zu
-erwarten. Und einen nach allen Windrichtungen zerflatternden
-Drang fühlte er, zu irgendeiner besonderen Tat,
-die stark oder gut sein sollte und jedenfalls so, daß sie
-vor den blauen Augen bestehen könnte, deren strahlenden
-Schein er heimlich im Herzen wie in einer Schatzkammer
-trug.</p>
-
-<p>Aus einzelnen Fenstern schimmerten schon die Christbaumkerzen,
-als er mit heiterer Miene noch einmal in das
-entlegenste Gewinkel der Vorstadt hinausging, wo als
-vorgeschobener Posten ein Völkchen von Straßenkehrern,
-Bettlern und herabgekommenen Handwerksleuten mit vielen
-Kindern und wenig Brot in einer Reihe armseliger Hütten
-herbergte. Dort öffnete er auf gut Glück eine der Türen,
-die geradeswegs in die Stube führte, warf seine Börse
-hinein und lief rasch weg, indes hinter ihm das wüste
-Gekeif einer harten Weiberstimme unvermittelt in den
-schrillen Ruf grenzenloser Überraschung umschlug. In jener
-Börse aber hatte er schon seit Jahren von seinem Taschengeldchen
-Kreuzer zu Kreuzer gespart, um nach der Reifeprüfung
-eine Reise in die Alpen unternehmen zu können.
-Doch tat ihm das Aufgeben einer lang genährten Hoffnung
-heute gar nicht leid. Froh war er darüber, und da
-das Opfer uneingestandenermaßen der kleinen Eva Wart
-gegolten, fühlte er sich jetzt wie durch ein Band geheimen
-Einverständnisses mit ihr verbunden, obwohl sie gar nichts
-davon wußte.</p>
-
-<p>Seine Mutter aber hatte ihn noch nie so sanft, zugänglich
-und herzlich gesehen wie an diesem Abend, so daß auch
-für sie ein leidlich vergnügtes Weihnachtsfest abfiel. Sie
-bedachte ihren Jungen mit allerlei Dingen des täglichen
-Bedarfs, mit Hemden, Taschentüchern, Socken und Kragen,
-erging sich eine Stunde lang in der beschaulich-rührseligen
-Betrachtung einstiger, gemeinsam mit dem Gatten
-verlebter Weihnachtsabende und suchte dann ihre Schlafstelle.</p>
-
-<p>Fritz dagegen begab sich, als die Glocken zur Mette
-läuteten, noch einmal auf die Straße, wo von allen Seiten
-die Frommen heranzogen, um beim Gottesdienst der Geburt
-des Erlösers dankbar zu gedenken. Trotz der mondhellen
-Nacht trugen viele nach alter Gewohnheit ihre brennenden
-Laternen mit sich, und auch von den Hügellehnen
-herab zu den Dorfkirchen bewegten sich rötlichgelbe, schwankende
-Lichter, eines hinter dem andern, wie die Glieder
-großer Feuerwürmer.</p>
-
-<p>Unstet strich Hellwig durch die Gassen und spähte den
-Wallern ins Gesicht. Zwischen ernsten Greisen, würdigen
-Matronen und verschlafenen Hausfrauen schritten blutjunge
-Mädchen mit lebenslustigen Augen, die unter großen
-Umschlagtüchern, Kapuzen oder leichten Seidenschals verstohlen
-nach den Jünglingen blickten. Insgeheim hoffte
-Fritz auch Eva in der Menge zu sehen. Aber sie kam nicht.
-Und als er sich scheu wie ein Dieb in die Nähe des Marktplatzes
-wagte, da lag das Haus der Kaufmannsfamilie
-schwarz und finster ganz im Schatten, und hinter den
-Vorhängen waren alle Lichter verlöscht. Nun wurde er
-kühner, setzte sich auf den Rand des Brunnens, der von
-einer uralten steinernen Rolandfigur bewacht, in der Mitte
-des Platzes aufgestellt war, und während das Wasser
-hinter seinem Rücken klingend in das Becken fiel, starrte
-er zu den dunklen Fenstern empor, und in seiner verwunderten
-Seele begann das Keimen und Wachsen einer
-zaghaften Sehnsucht, eines innigen Glücksgefühles, gleich
-dem Drängen und Treiben in blattlosen Bäumen zur Vorfrühlingszeit.
-Noch wissen sie nicht, was da sich regt und
-ihre Rinde dehnt, &mdash; ahnungsvoll stehen sie und warten
-und ängstigen sich wohl auch, bis in einer gesegneten
-Stunde aus allen Knospen grüne Blätter, weiße Blüten
-lachend der Sonne in die Arme springen. So träumte
-Fritz Hellwig unter einem hohen, frostklaren Sternenhimmel
-seiner ersten, keuschen, seligtörichten Jünglingsliebe
-entgegen. &mdash;</p>
-
-<p>Als er am nächsten Morgen erwachte, schämte er sich
-zwar ein wenig seines Treibens, aber die schwärmerische
-Empfindung war geblieben. Doch ging er während der
-ganzen Ferienwoche nicht ein einziges Mal zu Heinz, sondern
-trieb sich wie verloren ganz allein herum, lief alle
-seine Lieblingsplätze ab und freute sich über alles mögliche:
-auf den Sommer und die Erikablüte, das Baden im
-Fluß und das Schwämmesuchen in den Wäldern, auf
-das Ende der Gymnasialstudien und auf das Leben in
-der Hauptstadt, wo er im Herbst die Hochschule beziehen
-würde.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>9.</h3>
-</div>
-
-<p>Nach den Feiertagen wurde Fritz in die Kanzlei des
-Direktors gerufen, und der hielt ihm in scharfer Weise
-vor und sagte ihm auf den Kopf zu, er, Friedrich Hellwig,
-sei an dem und dem Tage, zu der und der Stunde
-in dem und dem Gasthaus beim Billardspielen gesehen
-worden. Das war eine schwere Anklage, denn der Wirtschaftsbesuch
-war den Studenten streng untersagt.</p>
-
-<p>&#8222;Das ist eine Lüge!&#8220; rief Fritz ungestüm.</p>
-
-<p>Der Direktor aber entgegnete, er solle sich mit seinen
-Worten in acht nehmen. Ausflüchte werden da nichts helfen,
-denn er sei mit vollster Bestimmtheit erkannt worden.
-Übrigens müsse er sich auch schon deswegen an den Vorfall
-erinnern, weil er sich beim Erscheinen des Gewährsmannes
-&mdash; es sei einer der Herren Professoren gewesen
-&mdash; unterm Billard versteckt habe. &#8222;Fügen Sie also,&#8220;
-schloß der Schulmann, &#8222;zu dieser Feigheit nicht noch eine,
-sondern legen Sie ein mannhaftes Geständnis ab!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Herr Direktor,&#8220; antwortete Fritz mühsam, &#8222;ich bin
-kein Feigling. Hätt&#8217; ich&#8217;s getan, so würde ich&#8217;s auch sagen.
-Aber es ist nicht wahr! Die Anzeige ist Wort für Wort
-erlogen! Stellen Sie mich dem Klatscher gegenüber! Er
-soll&#8217;s mir ins Gesicht sagen, wenn er sich traut!&#8220;</p>
-
-<p>Darauf erwiderte der Direktor mit seiner schrillen, metallenen
-Stimme, und bei jedem nachdrücklichen Wort
-zuckte der breite Vollbart, stachen die kalten Augen gegen
-den Verwegenen. &#8222;Vor allem,&#8220; sagte er, &#8222;muß ich Ihre
-Ausdrucksweise auf das schärfste rügen. Die Strafe hierfür
-wird nicht ausbleiben, verlassen Sie sich darauf! Im
-übrigen werden wir mit Ihrem unverschämten Leugnen
-sofort fertig sein! &mdash; Ich bitte, Herr Kollega!&#8220;</p>
-
-<p>Er öffnete die Tür zu seinem Sprechzimmer, und heraus
-trat hüstelnd und spuckend Professor Hermann.</p>
-
-<p>&#8222;Sie wissen, um was es sich handelt, Herr Kollega?
-Der Schüler hat ja laut genug gesprochen.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Verehrtester Herr Direktor,&#8220; entgegnete Hermann,
-&#8222;verehrtester Herr Direktor, ich kann nur wiederholen,
-was ich Ihnen bereits mitgeteilt habe. Der Oktavaner
-Hellwig hat mir gegenüber in der gröblichsten Weise die
-Achtung verletzt, jene Achtung, die er seinen Lehrern und
-Vorgesetzten schuldet. Dies hat mich veranlaßt, seinem
-Treiben außerhalb der Schule ein wenig nachzugehen.
-Denn wenn ein eifriger und fleißiger Schüler in den
-höheren Klassen plötzlich versagt und sein Benehmen auffällig
-ändert, ist in neunundneunzig von hundert Fällen
-das Wirtshaus schuld. Diese Ansicht des hochwürdigen
-Paters Romanus hat sich noch immer als richtig erwiesen.
-Nun besteht da in der Vorstadt ein kleines Gasthaus, wo
-dem Vernehmen nach fast täglich Studenten zusammenkommen
-sollen, weil es entlegen, billig und mit weiblicher
-Bedienung versehen ist. Mit weiblicher Bedienung! In
-dieser Kneipe habe ich den Schüler Hellwig gesehen, der
-sich bei meinem Eintritt hinter das Billard geduckt hat.
-Leider habe ich ihn nicht zur Rede stellen können, weil
-meine Augengläser in der Wärme angelaufen sind, und
-als ich sie geputzt hatte, war er offenbar durch einen rückwärtigen
-Ausgang verschwunden.&#8220;</p>
-
-<p>So redete der Professor, und wenn ihm jemand erwidert
-hätte, daß Spitzeltum und Angeberei von anständigen
-Leuten zu den verächtlichsten Charaktereigenschaften
-gerechnet werden, hätte er gewiß eifrig zugestimmt und
-nur ganz verwundert gefragt, was diese Bemerkung denn
-hier zu tun habe. Denn er fühlte sich in der schleimigen
-Niedrigkeit seines Wesens über jeden Tadel erhaben und
-hatte noch niemals gezweifelt, daß eine seiner Handlungen
-etwas anderes als vollkommen sein könnte.</p>
-
-<p>Fritz war einfach fassungslos.</p>
-
-<p>&#8222;Es muß ein Irrtum sein!&#8220; Der leise Ton seiner
-Stimme machte keinen guten Eindruck.</p>
-
-<p>&#8222;Geben Sie das Leugnen auf!&#8220; riet der Direktor. &#8222;Sie
-machen damit Ihre Sache nur schlimmer!&#8220;</p>
-
-<p>Nun wurde der ehrliche Junge wild. &#8222;Ich war aber
-nicht dort!&#8220; rief er ungeduldig. &#8222;Kenne die Spelunke
-gar nicht! Herr Professor verwechseln mich vielleicht mit
-jemandem andern!&#8220;</p>
-
-<p>Freimütig und Bestätigung heischend, oder wie die beiden
-Pädagogen feststellten, frech und verstockt, blickte er
-von einem zum andern. Da fuhr Professor Hermann auf
-ihn los: &#8222;Sie kecker Bursch! Also ich bin ein Lügner?
-Was? Natürlich! Verwechselt hab&#8217; ich Sie! Einen Doppelgänger
-haben Sie! &mdash; Zu blöd! &mdash; Verehrtester Herr Direktor,
-wie ich schon sagte, der Schüler ist ein Schandfleck
-für die Anstalt! Ein Schandfleck!&#8220;</p>
-
-<p>Gewaltsam suchte sich Fritz zu beherrschen. Aber es
-ging nicht. &#8222;Sie haben mir schon einmal unrecht getan!&#8220;
-keuchte er in zuckendem Zorn. &#8222;Ohne jeden Anlaß, nur
-weil Sie mir aufsässig sind! Das ist gemein! Das ist
-schuftig!&#8220;</p>
-
-<p>Er spie dem Professor vor die Füße, blieb mit gespannten
-Muskeln noch eine Minute hoch aufgerichtet stehen
-und wartete. Da jedoch die zwei Schulmeister vor der
-ungeheuerlichen Tat stumm wie Steinbilder standen, schritt
-er traurig durch die Tür über die Stiege hinab ins Freie
-und ließ, je weiter er ging, das eben noch stolz getragene
-Haupt immer tiefer sinken.</p>
-
-<p>Infolge dieser Begebenheit sah Romanus früher noch,
-als er gedacht, seinen Plan verwirklicht, war die Entfernung
-Hellwigs, des räudigen Schafes, das eine beständige
-Gefahr für die anderen bedeutete, vom Gymnasium
-unvermeidlich geworden. Der Pater empfand eine starke
-Befriedigung darüber. Nur daß sein Name in der leidigen
-Affäre nicht ganz verschwiegen geblieben, trübte ihm die
-Freude. Denn er wollte ganz rein dastehen. Nicht der
-leiseste Schatten eines Verdachtes durfte auf ihn fallen,
-daß er auch nur mittelbar beigetragen hätte, wenn der
-einzige Sohn einer bedürftigen Witwe kurz vor der Reifeprüfung
-so hart gemaßregelt wurde.</p>
-
-<p>Und wie nun in einer eigens einberufenen Sitzung Hellwigs
-Ausschließung von allen Mittelschulen des Reiches
-beim Landesschulrat beantragt werden sollte und als alle
-Lehrer einig waren, daß für den unerhörten Frevel diese
-strengste Strafe eigentlich noch nicht streng genug sei, da
-erhob sich plötzlich der Religionsprofessor und trat aufs
-wärmste für den Sohn der Witwe ein. Er konnte das
-beruhigt tun. Am Neuberger Gymnasium wenigstens
-konnte dieser auf keinen Fall geduldet, konnte er nicht noch
-weiterhin von einem Lehrer unterrichtet werden, dem er
-Gemeinheit und Schufterei vorgeworfen.</p>
-
-<p>Professor Hermann aber war tatsächlich im guten Glauben
-gewesen. Wie jemand, der einen Bekannten zu treffen
-hofft, im Menschengewühl bald diesen, bald jenen Fremden
-für den Gesuchten hält, ihm nacheilt und erst in
-nächster Nähe den Irrtum erkennt, &mdash; so hatte auch er
-sich vorgetäuscht, daß er Hellwig wirklich gefunden habe,
-weil er ihn finden wollte. Das wußte Romanus und
-schonungsvoll stach er dem Professor den Star, legte dar
-und stellte unter Beweis, daß der Beschuldigte an dem
-bewußten Tage tatsächlich nicht in jener Kneipe gewesen,
-kurz, trieb den verlegen hüstelnden Angeber so in die
-Enge, daß er schließlich notgedrungen die Möglichkeit eines
-Irrtums zugeben mußte, worauf ihn der Pater eines
-solchen in unwiderleglicher Weise überführte.</p>
-
-<p>Die Stimmung unter den Professoren schlug nun zwar
-zugunsten des Jünglings um, aber die gröblich beleidigte
-Autorität forderte Sühne. Der Antrag an die Oberbehörde
-wurde auf &#8218;lokale Ausschließung&#8216; eingeschränkt.</p>
-
-<p>Noch im Jänner traf die Genehmigung ein, und Hellwig
-erhielt ein Abgangszeugnis, in welchem das sittliche Verhalten
-als &#8218;nicht entsprechend&#8216; bezeichnet und auf der Rückseite
-der Vermerk eingetragen war, daß gegen den Schüler
-wegen &#8218;Beschimpfung und Bedrohung eines Lehrers, fortgesetzt
-frechen Benehmens, Ungehorsams und Widersetzlichkeit&#8216;
-die lokale Ausschließung vom k. k. Staatsgymnasium
-in Neuberg verfügt worden sei.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>10.</h3>
-</div>
-
-<p>Wenn man sieben Jahre ununterbrochen in derselben
-Schule von denselben Lehrern unterrichtet wurde, ist es
-gewiß schwer, sich in den Unterrichtsplan einer anderen
-Anstalt hineinzufinden, mit der Art und den Eigenheiten
-anderer Professoren sich vertraut zu machen. Fritz tat
-mehr. Seine Mutter hatte im Laufe der Jahre unter vielfachen
-Entbehrungen ein paar Gulden zusammengebracht,
-um ihn für den Anfang der Hochschulzeit über Wasser
-halten zu können. Die wollte sie jetzt dranwenden, wollte
-ihn in der nächsten Gymnasialstadt weiterstudieren lassen.
-Aber er ließ sich dort nur als Privatschüler einschreiben,
-blieb in Neuberg und lernte ohne Lehrer drauflos. Es
-galt jetzt nicht nur den umfangreichen Stoff für die Reifeprüfung,
-sondern auch den des letzten Halbjahres ohne
-Leitung zu bewältigen. Da blieb alles andere links liegen:
-Darwin, Nietzsche, Marx, die Spaziergänge und Zusammenkünfte
-mit den Freunden.</p>
-
-<p>Erst fertig werden! Und er hockte über den Schulbüchern
-wie ein Geizhals bei seinen Schätzen.</p>
-
-<p>Da fiel, es war im April, seine Mutter in eine Krankheit.
-Erst Influenza. Dann Lungenentzündung. Und dann
-erklärte Doktor Kreuzinger in seiner behutsamen Art dem
-verzweifelten Jungen, er müsse sich auf das Schlimmste
-gefaßt machen.</p>
-
-<p>Das durfte nicht sein. Sie mußte leben. Noch viele
-Jahre leben. Durfte nicht von ihm gehen, bevor er nicht
-wenigstens ein Tausendstel abgetragen hatte von seiner
-drückend großen Schuld. Was war denn ihr Leben gewesen?
-Unter Darben und Kümmernissen ein stetes Plagen
-und Sorgen für ihn. Und die Zeit, wann er das
-ändern, die ganze Last des Lebens auf seine Schultern
-nehmen konnte, war noch so weit.</p>
-
-<p>&#8222;Herr Doktor, es <em class="gesperrt">kann</em> nicht sein!&#8220;</p>
-
-<p>Aber es war doch. Eines Nachmittags. Sie hatte die
-Sterbesakramente empfangen. Segnend war der Priester
-gegangen. Der alte Arzt mit dem weich fließenden Silberbart
-saß neben ihrem Bett. Sie lag mit geschlossenen
-Lidern bleich und teilnahmslos da. Glockenklänge kamen
-von draußen. Sie läuteten zu irgendeinem Begräbnis.
-Wie fast jeden Nachmittag. Da regte sich die Kranke,
-öffnete die Augen, rief ihren Sohn zu sich. Auf unhörbaren
-Sohlen zog sich der Arzt in eine Ecke zurück. Fritz
-trat an ihr Bett. Sie streckte die Hände aus, zog ihn zu
-sich nieder, nahe, ganz nahe. Und sah ihm aufmerksam
-wie prüfend ins Gesicht. Und die Sorge um das Seelenheil
-ihres Kindes stieg noch einmal in ihr auf.</p>
-
-<p>&#8222;Versprich mir,&#8220; &mdash; flüsterte sie &mdash; &#8222;versprich mir,
-Fritzl, daß du immer an unsern Herrgott glauben wirst.&#8220;</p>
-
-<p>Er aber schwieg. In gedankenloser Dumpfheit schaute
-er in das Gesicht, das ihm so vertraut war, und wunderte
-sich, daß er noch niemals früher bemerkt hatte, wie kennzeichnend
-und bestimmt ausgeprägt eigentlich die Falte
-war, die sich von dem papierdünnen Nasenflügel um den
-Mundwinkel bis zum Kinn hinab fortsetzte.</p>
-
-<p>Und abermals, nur kaum wie ein leichter Hauch: &#8222;Versprich
-mir&#8217;s.&#8220;</p>
-
-<p>Die Worte wehten an ihm vorbei, erreichten ihn nicht.</p>
-
-<p>Er blickte auf die scharfe Linie um den Mund, sah,
-wie sie zuckte, bald länger, bald kürzer wurde, und mühte
-sich, ihr letztes Ende in der glanzlosen Haut des Kinns zu
-entdecken.</p>
-
-<p>Und noch einmal, fast unhörbar, wie das Schweben
-einer Flocke in unbewegter Luft:</p>
-
-<p>&#8222;Versprich ...&#8220;</p>
-
-<p>Wie tief die Furche wurde, wenn sich die Lippen bewegten.
-Und wie fremd das aussah ...</p>
-
-<p>Da hoben sich die schmalen wachsbleichen Hände. War&#8217;s
-zur Umarmung oder Abwehr? Er wußte es später nicht
-mehr, wußte nur, daß sie sogleich wieder schwer mit
-einem seltsam erschütternden, dumpfen Aufschlagen auf
-die Bettdecke gefallen waren.</p>
-
-<p>Und dann war alles vorbei. Nur die Augen starrten
-noch groß und weit geöffnet. Aber es war keine Angst
-mehr darin und kein Flehen. Nichts. Und die Furche
-war jetzt ganz starr, ganz tief, wie mit dem Messer in
-gelbes Holz geschnitten.</p>
-
-<p>Der Arzt war rasch hinzugetreten. Tiefernst, mit ruhigen,
-leisen Bewegungen tat er, was für ihn zu tun übrig blieb.
-Er forschte nach dem Leben und fand keine Spuren mehr,
-zog die Lider über die leeren Totenaugen und wandte sich
-dann zu Fritz. Der stand mit schlaff hängenden Armen
-und vorgeschobenem Kopf reglos. Da war etwas unter
-ihm fortgeglitten. Etwas, das noch ganz kurz vorher geatmet
-hatte &mdash; und sich geregt hatte &mdash; und Worte gesprochen
-hatte &mdash; irgendwelche leise Worte, deren Nachhall
-noch im Zimmer zitterte &mdash; so still war es ...</p>
-
-<p>Sacht legte ihm Doktor Kreuzinger den Arm um die
-Schulter. &#8222;Sie ist hinüber.&#8220;</p>
-
-<p>Verständnislos stierte ihn Hellwig an. Kein Muskel
-zuckte, hart lagen die Züge auf dem unbewegten Antlitz.
-Langsam wand er sich aus dem Arm des Greises, und
-ohne die Haltung zu ändern, steif, schwerfällig, schob er
-sich aus dem Gemach.</p>
-
-<p>Ein warmer Regen war niedergegangen und verrauscht.
-Ein harscher Wind schob dunkle Wolkenklumpen vor sich
-her. Hinter ihm wurde blauer Himmel. Rund und blank
-und frisch wie eine riesige, taubesprühte Knospe lag die
-Erde im Arm des Frühlings. Lag und lachte, schrie,
-jauchzte, jubelte dem starken Leben ein heiliges Ja entgegen.
-Und die Blumen lachten es mit und die Bäche
-rauschten es mit und vom Himmel die Höhen herunter
-brüllte es mit das täppische Hünenkind, der Lenzsturm,
-sprang wipfelauf, wipfelab und über die sprossenden Fluren
-hin, tanzend, keuchend, stöhnend in unbändiger Kraft.</p>
-
-<p>Und: &#8222;Ja &mdash; leben &mdash; ja!&#8220; brüllte er dem schwachen
-Menschlein zu, dem hageren Jungen im dünnen Hausrock,
-mit zerwirrten Haaren, der sich, mühsam wie der aufgescheuchte
-Abendfalter im unerträglich grellen Licht des
-Tages, zurechtzufinden suchte und mit seiner ersten großen
-Trauer zur Erde hatte flüchten wollen. Aber die Erde
-gab heute dem Leben ein Fest. Und die seinen Schmerz
-hatte lindern sollen, peitschte ihn bis zur Verzweiflung
-empor durch die wilde, machtvolle Freude, mit der neues
-und immer neues Werden die starre Winterhaft zerbrach
-und alle Grenzen überflutete. Leben rang sich siegreich
-aus Leben, stürzte glühend in die werbende Umarmung
-des Lebens, und des Lebens warmer Atem quoll aus
-braunen Ackerschollen, dampfte aus feuchten Moosen, stieg
-aus jungen Saaten und geöffneten Blumenkelchen über
-Getier und grüne Wipfel himmelan wie schwerer berauschender
-Opferduft.</p>
-
-<p>Wozu?</p>
-
-<p>Die seinem Herzen am nächsten gewesen, hatte ihren
-Platz verlassen, und keine Lücke war geblieben. So &mdash; wie
-nach dem Zerstäuben eines Tropfens die ungeheure Meerflut
-gleichmäßig weiterrollt. Niemand fragte nach der Gestorbenen,
-vermißte oder brauchte sie.</p>
-
-<p>Und rings jauchzte die kraftvolle Frühlingswelt. Aber
-er konnte ihr nicht nahekommen. Ein Fremdes, Hassenswertes
-drängte sich dazwischen, gegen das er vergebens
-ankämpfte. Das machte ihn trostlos und verzweifelt. Ganz
-leer war es in ihm. Und in den Kronen des Waldes sang
-der Lenzsturm das Lied des Lebens. &mdash;</p>
-
-<p>Stunden verrannen. In seiner leichten Jacke begann ihn
-zu frieren. Da wollte er umkehren, tat ein paar Schritte,
-blieb wieder stehen und besann sich. Wohin nur? Und da
-fiel ihm ein: Er mußte ja seine Mutter begraben. Nun
-wich die steinstarre Ruhe aus seinem Gesicht. Die Mundwinkel
-zuckten. Aber er konnte noch nicht weinen. &mdash;</p>
-
-<p>Als er nach Hause kam, war Frau Hedwig dort. Sie
-hatte alles schon besorgt. Die Leichenfrau war dagewesen,
-hatte die Tote gewaschen und in ihr Kleid getan. Mit
-einem weißen Linnen zugedeckt, lag sie jetzt in der Stube
-auf dem Leichenbrett, zu Häupten zwei brennende Wachskerzen
-und das schwarze Kruzifix aus dem Glasschrank,
-zu Füßen ein Gebetbuch und eine Schere. Ein Becken
-mit Weihwasser stand daneben und ein Wedel aus Kornähren
-lag darüber. Ganz dem Herkommen gemäß war
-sie aufgebahrt, und nichts war verabsäumt.</p>
-
-<p>Als Fritz Frau Hedwig in der Stube erblickte, wachte
-die alte Abneigung wieder auf. Nur zögernd überschritt
-er die Schwelle. Dann aber bemerkte er unwillkürlich
-die kleinen Zeichen ihrer wohltuenden Obsorge: das geöffnete
-Fenster, die abgestellte Uhr, das weiße Tuch vorm
-Spiegel. Und im Bewußtsein seiner Verlassenheit konnte
-er sich ihrer warmen Mütterlichkeit nicht mehr entwinden.
-Er griff nach den wortlos gereichten Händen, hielt sie fest
-und &mdash; drückte sie rauh aufschluchzend gegen die Augen.
-Nun streichelte sie ihm die Wangen, die Stirn, das Haar.
-Und dann lag sein Kopf auf ihrer Schulter, während er
-sich umsonst mühte, der Tränen Meister zu werden, die
-ihm jäh und heiß über die Lider sprangen.</p>
-
-<p>Lautlos weinte er so, kaum eine Minute lang und doch
-lang genug, daß der versteinerte Schmerz in eine sanftere
-Trauer sich löste.</p>
-
-<p>&#8222;Mutter!&#8220; rief er leise. &#8222;Mutter!&#8220; So ruft nachts
-ein banges Kind nach ihrem Schutz.</p>
-
-<p>Und eine tiefe, weiche Frauenstimme sagte: &#8222;Still,
-Fritz, still! Lassen Sie sie friedlich heimgehn.&#8220;</p>
-
-<p>Er schüttelte heftig den Kopf, ohne die Stirn von ihrer
-Schulter zu heben, wo es sich so gut ruhte.</p>
-
-<p>&#8222;Hier war sie zu Haus ... und übermorgen ... tragen
-sie mir sie fort!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Nein, Fritz, sie tragen sie heim. In den Frieden. In
-die Ruhe. In das sicherste Geborgensein. Eine Mutter
-zur Mutter.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Sie war die meine ... mir hat sie gehört!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ja, Fritz, Ihnen &mdash; aber auch der Erde. Schaun Sie,
-Fritz, nur der Leib, die Form wird sich nur ändern, aber
-ihr Zweck wird immer bleiben. Hier bei uns hat sie ihre
-Bestimmung erfüllt, drum muß sie zu anderen, muß für
-diese Keim und Nahrung, Wurzel und Mutterbrust sein.
-Alles muß allen nützen. Das ist das Schöne, Trostreiche
-auf Erden.&#8220;</p>
-
-<p>Da schaute er ihr lang wie suchend in die Augen und
-sagte nichts mehr.</p>
-
-<p>Ihre Aufforderung, bei Heinz zu übernachten, schlug er
-aus. Nun ging sie und ließ ihn mit der Verstorbenen allein.</p>
-
-<p>Es war bereits dunkel geworden. Die Wachslichter leuchteten
-matt und füllten das Zimmer mit unstet flackerndem
-Schein und zuckenden Schatten.</p>
-
-<p>Er trat zu der Toten und schlug das Laken zurück. Da
-lag sie still und weiß in ihrem einstigen Brautkleid, und
-der Körper, aus dem er selbst einst Wärme und Blut und
-Leben gesogen hatte, war kalt und steif und wertlos geworden.
-Er schauerte zusammen. Bis in die Knochen fror
-ihn. Und ihm war, als erstürbe auch sein Leib, würde
-bleischwer und seiner Seele fremd, die sich plötzlich nicht
-mehr darin zu Haus fühlte und erschrocken umherschaute,
-wie ein zur Nachtzeit angekommener Reisender im ungewohnten
-Gastzimmer.</p>
-
-<p>Langsam breitete er das Tuch wieder über den Leichnam
-und setzte sich an das offene Fenster, durch das die
-starke, kühle Frühjahrsluft strich. Der Sturm hatte sich
-gelegt. Es wurde Nacht. Lampe um Lampe erlosch in
-den Häusern, ganz finster wurde es unter einem sternlosen
-Himmel. Und zu Häupten der Toten zwischen den
-schwelenden Lichtern hing unbeweglich der Kruzifixus.</p>
-
-<p>Da fiel ihm die letzte Bitte der Mutter wieder ein.
-In raschem Aufwallen erhob er sich, nahm das Kreuz
-und legte es vor sich auf das Fensterbrett. Der Kerzenschein
-huschte über die Porzellanfigur, die weiß und schlank
-auf dem dunklen Holz lag, die Arme weit gebreitet und
-das Haupt mit der Dornenkrone zur Seite geneigt.</p>
-
-<p>Immerfort starrte er auf das Bildwerk.</p>
-
-<p>Und draußen lag die Erde wie ertrunken in der dickflüssigen
-Dunkelheit, und die Atemzüge der schlafenden
-Kreaturen kamen und gingen wie schwere, unhörbare, noch
-dunklere Wellen, und rundum flutete die uferlose Stille
-der Nacht.</p>
-
-<p>Und jäh durchzuckte es ihn: Wenn ... wenn doch ...
-wenn es doch dort drüben was gäbe? Wer weiß es denn?
-Wer kann behaupten oder leugnen &mdash; wenn sogar die
-eigene Seele dem Körper fremd werden kann?</p>
-
-<p>In dumpfer Qual stöhnte er auf. Seine Finger legten
-sich um das Kreuzholz, als wollten sie es zerbrechen, schüttelten
-es, ungeduldig, leidenschaftlich, drohend: &#8222;Gib Antwort,
-du!&#8220;</p>
-
-<p>Aber rings war Dunkel und Schweigen.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>11.</h3>
-</div>
-
-<p>Nach zwei Tagen war die Tote begraben, und die Notwendigkeit
-der Beendigung seiner Gymnasialstudien war
-für Hellwig eiserner als je. Über Zureden seines Freundes
-hatte er endlich eingewilligt, war zu ihm übergesiedelt
-und wohnte nun Wand an Wand neben Heinz in einer
-noch kleineren Dachkammer.</p>
-
-<p>Niemand störte ihn hier. Sogar das Essen wurde ihm
-hinaufgebracht. Und er wühlte sich ganz in diese Abgeschiedenheit
-hinein, ging kaum ins Freie und lernte nur,
-lernte, lernte.</p>
-
-<p>In den letzten Tagen des Mai unterzog er sich an dem
-Gymnasium der benachbarten Stadt der Prüfung über
-den Lehrstoff des zweiten Halbjahrs und bestand sie. Kurz
-darauf legte er die schriftliche und endlich auch die mündliche
-Reifeprüfung ab. Und da der Landesschulrat, der
-dieses Schulexamen leitete, nicht an allen Mittelschulen
-zu gleicher Zeit prüfen konnte, traf es sich, daß Hellwig
-um volle drei Wochen früher für reif erklärt wurde als
-seine Kollegen in Neuberg.</p>
-
-<p>Nun wollte er gleich nach Prag und sich auf eigene
-Faust durchschlagen. Aber sie ließen ihn nicht fort. Auch
-Vater Wart nicht, der zielbewußte Arbeit in jeder Form
-achtete und seine Meinung über den großen Blonden mit
-den Storchbeinen sehr zu dessen Gunsten geändert hatte.</p>
-
-<p>&#8222;Machen Sie keine Geschichten!&#8220; sagte er ihm. &#8222;Jetzt
-heißt&#8217;s erst tüchtig faulenzen! Den Schädel ausrauchen
-lassen von der ewigen Lernerei!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich darf Ihre Gastfreundschaft nicht mißbrauchen,&#8220;
-erwiderte Fritz. &#8222;Ich darf mich nicht länger von Ihnen
-aushalten lassen!&#8220;</p>
-
-<p>Da polterte der Kaufmann los: &#8222;Jetzt das ist aber
-schon mehr als blöd! Aushalten lassen! So was sagt man
-überhaupt nicht!&#8220; Dann überlegte er und fuhr fort:
-&#8222;Übrigens, wenn Sie sich&#8217;s justament verdienen wollen
-&mdash; der Bub&#8217; von meiner Schwester ist bei mir in der Lehr&#8217;.
-Wenn Sie ihm bis zum Oktober ein bissel Stenographie
-und Französisch beibringen wollen, kann&#8217;s ihm nichts schaden
-und mich soll&#8217;s freuen! Gilt&#8217;s?&#8220;</p>
-
-<p>Er streckte ihm die biedere Tatze hin, und Fritz schlug ein.</p>
-
-<p>Hier bewog ihn nicht zum letzten der Gedanke an Doktor
-Kreuzinger. Dem greisen Gelehrten war jener Kampf
-zwischen kindlicher Zärtlichkeit und Wahrheitsliebe nicht entgangen
-und die geweckte Teilnahme hatte ihn veranlaßt,
-den Jüngling zu einem Besuche aufzufordern. Gern war
-Hellwig jetzt dieser Einladung gefolgt. Hatte ihm doch
-Heinz schon viel von der Bücherei und den Sammlungen
-des Großvaters berichtet. Seine hoch gespannten Erwartungen
-wurden auch nicht getäuscht, wurden von dem, was
-er dort vorfand und erlebte, noch übertroffen. Versteinerungen,
-Abdrücke und Knochen vorsintflutlicher Geschöpfe
-waren hier aufgespeichert, Mollusken, Krebse, Spongien
-und Leptokardier jeglicher Form und Gattung in Gläsern,
-Kasten und Wandschränken füllten zwei große Zimmer.
-Das Wertvollste aber war die klare Art, mit welcher der
-Doktor aus dem Äußerlichen den Kern herausschälte, die
-Zusammenhänge bloßlegte und die vielfachen faserfeinen
-Verästelungen auf ihre gemeinsame Wurzel zurückführte.
-Mit prunklosen Worten, scheinbar stets bei der Sache und
-doch über ihr, entwarf er dem begierig Lauschenden eine
-Übersicht über die Entwicklungsgeschichte der Erde und
-des Lebens und leitete ihn die Quellen der Erkenntnis
-hinauf, soweit Menschensinne dorthin vordringen können.</p>
-
-<p>Dem ersten Besuch folgten andere, und bald war Hellwig
-täglich um sechs Uhr früh in der stillen Gelehrtenwohnung.
-Meist kam er allein, denn Heinz hatte sich
-ganz auf die Sozialpolitik geworfen und war für nichts
-anderes mehr zu haben. Für Fritz aber waren diese Morgenstunden,
-da er an der Seite des verehrten Mannes
-zuhörend und lernend durch den sommergrünen Garten
-schritt, während der Sonnenschein silbern in den Baumkronen
-spielte, das Schönste, das ihm das Leben bisher
-gebracht hatte, gehörten überhaupt zu dem Kostbarsten,
-das es ihm je zu bieten vermochte.</p>
-
-<p>Und eines Tages lernte er dort den Doktor Albert Kolben
-kennen.</p>
-
-<p>Der war auch von den Pfahlbürgern Neubergs als ein
-verlorenes Schaf erklärt worden, und sie hatten ihm, oder
-eigentlich in seiner Abwesenheit, bei Bier, Kaffee und geselligen
-Zusammenkünften hatten sie sein Verkommen so
-lang vorausgesagt, bis er vor ein paar Monaten den Doktorgrad
-erwarb. Und Reserveoffizier war er ebenfalls.
-Da waren sie baff. Dann aber entrüsteten sie sich desto
-mehr und fanden, der Kolben Albert hätte das nur getan,
-um sie zu ärgern. Denn die genasführten Propheten empfanden
-das Ausbleiben ihrer Vorhersagungen als persönliche
-Beleidigung. Es war gewiß unverschämt vom Kolben
-Albert. Aber er ließ sich eben überhaupt nichts vorschreiben,
-sondern tat, was ihm beliebte und ließ bleiben, was
-ihm nicht paßte. Das konnte er um so leichter, als er
-nach seinen Eltern ein beträchtliches Vermögen nebst einem
-Landgut besaß und von niemandem abhängig war. Übrigens
-hatte er von je auf die Nachrede der Leute keinen Deut
-gegeben, hatte im Gegenteil alles getan, um sie herauszufordern.
-Als sechzehnjähriger Lateinschüler hielt er sich
-ein Reitpferd und zwei große Hunde, als Achtzehnjähriger
-soff er einmal sogar den Wart Nikl unter den Tisch, als
-Zwanzigjähriger schnürte er sein Bündel und zog nach Wien.
-Was er dort trieb, wußte man nicht. Es liefen jedoch die
-abenteuerlichsten Gerüchte um. Daß er in der Schriftleitung
-einer sozialdemokratischen oder anarchistischen Zeitung
-tätig sei, in Volksversammlungen Brandreden halte
-und fortwährend betrunken in den Schnapsschenken herumliege.
-Da wurde er als Sechsundzwanzigjähriger Doktor
-der Weltweisheit und tauchte wieder in Neuberg auf. Daß
-es sich lediglich um einen kurzen Erholungsurlaub handelte,
-wußten nur seine vertrautesten Freunde.</p>
-
-<p>Über eine so unklare Lebensführung mußten sich die
-wackeren Spießer entrüsten. Sie entrüsteten sich, weil sie
-aus ihm nicht klug werden konnten. Und sie wurden nicht
-klug aus ihm, weil er sich nicht in den Kochtopf gucken
-ließ, Zudringliche mit höflicher Überlegenheit abwehrte und
-lüsterner Neugierde begegnete, indem er mit trockener Sachlichkeit
-und größtem Ernst die ungeheuerlichsten Behauptungen
-aufstellte, verfocht und begründete. So bekannte
-er sich einmal gegenüber einem waschechten deutschen Volksgenossen,
-der sein politisches Gewissen erforschen wollte,
-zur demokratisch-alldeutsch-antisemitischen Anarchie und
-spickte den unvorsichtigen Frager derart mit großen Worten
-und fetten Phrasen, daß dieser ganz mürb wurde und
-schließlich &mdash; etwas angeheitert war er auch schon &mdash; das
-neue Programm als einzige Rettung des Bürgertums vor
-der roten Gefahr begeistert zu preisen anhob. Nachträglich
-wurde er von einsichtigeren Leuten aufgeklärt, daß er seiner
-leichtgläubigen Beschränktheit einen tüchtigen Bären habe
-aufbinden lassen, und der Chor der Entrüsteten war wieder
-um eine ausgiebige Stimme verstärkt.</p>
-
-<p>Kolben ertrug die üble Nachrede, wie man das Konzert
-der Frösche im Frühjahr erträgt und verriet mit keiner
-Miene, wie sehr ihn das zwecklose Lärmen belustigte. Sein
-rundliches, ganz glatt rasiertes Gesicht blieb immer gleichmäßig
-ernst, und nur die besten Freunde errieten aus
-einem fast unmerklichen Zwinkern im rechten Augenwinkel
-seine heimliche Fröhlichkeit.</p>
-
-<p>Als Hellwig mit ihm zusammentraf, saß er, phlegmatisch
-und scheinbar gelangweilt wie immer, auf der Gartenbank
-unter dem breit schattenden Buchenbaum und grub
-mit dem Spazierstock Strich neben Strich in den Kies,
-während Doktor Kreuzinger von den Erfolgen des letzten
-Ärztekongresses lebhaften Bericht erstattete, den er bei
-Fritzens Ankunft unterbrach, um die Vorstellung zu besorgen.</p>
-
-<p>Ohne seine nachlässige Haltung zu ändern, hob Kolben
-nur ein wenig die Stirn, faßte den Jüngling mit einem
-raschen Blick und zeichnete nach einem kurzen Kopfnicken
-schweigend weiter.</p>
-
-<p>Hellwig empfand das als Unhöflichkeit und Beleidigung.
-Hitziger, als eben nötig war, sagte er:</p>
-
-<p>&#8222;Herr Doktor, es wird besser sein, wenn ich wieder
-gehe. Der Herr scheint die Störung nicht zu wünschen!&#8220;</p>
-
-<p>Begütigend winkte der alte Gelehrte mit beiden Händen.
-Bevor er jedoch etwas sagen konnte, war Kolben
-schon gemächlich zur Seite gerückt und antwortete, fortwährend
-eifrig weiterstrichelnd: &#8222;Was Ihnen nicht einfällt!
-Setzen Sie sich nur her.&#8220; Damit goß er aber Öl
-in die Flamme.</p>
-
-<p>&#8222;Eine solche Behandlung brauche ich mir nicht gefallen
-zu lassen!&#8220; brauste Fritz auf. &#8222;Sparen Sie sich das für
-Ihren Pferdeknecht!&#8220;</p>
-
-<p>Nun hob der andere den Kopf. Das glatte Kinn auf
-den Stockknauf gelegt, schaute er dem Zornigen mit einem
-erstaunten Blick in die Augen. &#8222;Was für ein Unterschied,&#8220;
-fragte er unerschüttert ruhig, &#8222;was für ein Unterschied
-ist denn zwischen Ihnen und meinem Pferdeknecht?&#8220;</p>
-
-<p>Da sah ihn Hellwig noch ein paar Sekunden streitgewärtig
-an. Dann senkte er beschämt die Augen. Und
-jetzt stand Kolben auf, langsam, gemessen, mit der ihm
-eigenen steifen Würde, trat neben ihn und sagte, immer
-mit der gleichen kalten Nachlässigkeit: &#8222;Seien Sie nicht
-so empfindlich. Guter Ton, feine Manieren &mdash; mit solchen
-Albernheiten werden wir uns doch <em class="gesperrt">hier</em> nicht abgeben.
-Kommen Sie. Und seien Sie versichert: Wer in den Frühstunden
-bei unserm verehrten Doktor Gast sein darf, den
-achte ich schon um dessentwillen. Allerdings, verbeugen
-werde ich mich trotzdem nicht vor Ihnen.&#8220;</p>
-
-<p>Bei diesen Worten glitt etwas wie ein Lächeln über
-seine Züge. Und da war nichts mehr von Phlegma oder
-Langeweile darin. Geistvoll, klar und klug, erhielt dieses
-gescheite Gesicht, das sonst hinter der angewöhnten Ruhe
-wie eingefroren lag, durch die reife Verständigkeit seines
-Lächelns etwas ungemein Gewinnendes und Anziehendes.</p>
-
-<p>Mit einem geschickt aufgegriffenen Thema verstand Doktor
-Kreuzinger auch die letzten Reste der Mißstimmung
-zu beseitigen und geriet über Kolbens Einwürfe gegen die
-Gasträatheorie bald in ein schönes Feuer, wurde beredt
-und ausführlich. In die faltigen Wangen hinter dem
-silbrigen Bartgewelle stieg eine sachte Röte, und es dauerte
-nicht lang, so sprach nur mehr er allein, indes die zwei
-jüngeren aufmerksam zuhörten und sich in der warmen
-Glut, die von dem prächtigen Greise ausströmte, seltsam
-einander näher gerückt fühlten.</p>
-
-<p>Aber nicht immer war diese klare Ruhe bei Hellwig.
-Noch war ein Großes, Lastendes da, mit dem er fertig
-werden mußte. Seit jener bei der toten Mutter durchwachten
-Nacht hatten ihn die Zweifel nicht mehr losgelassen.
-Und jetzt, da ihn die Prüfungssorgen nicht mehr
-ablenkten, standen sie wieder übermächtig auf. Und mit
-ihnen der Vorwurf, daß er seiner Mutter das Sterben
-schwer gemacht habe.</p>
-
-<p>Oft sprach er darüber mit Heinz.</p>
-
-<p>&#8222;Ich mußte ja, gelt, du? Es ging doch nicht anders?
-Aber wenn, &mdash; Heinz, ich such&#8217; und such&#8217; &mdash; aber wenn ich
-einmal draufkomm ... Nicht wahr, du, es ist nichts?&#8220;</p>
-
-<p>Und er trug zusammen, was er an Schriften über Religionssysteme
-und Weltanschauungen auftreiben konnte.
-An jedes Werk ging er mit Zittern und Zagen, daß er
-darin vielleicht auf einen Beweis für das Dasein Gottes
-stoßen könnte und auf die Bestätigung seines Unrechts
-gegen die Tote. Aber er fand nichts. Der Kult der Azteken,
-die ihrem Kriegsgott Huizilopochtli &#8218;Menschen opferten, um
-glückliche Kriege zu führen und Kriege führten, um solche
-Menschenopfer herzuschaffen&#8216;, erschien ihm ebenso sinnlos
-oder berechtigt, wie das papierne Gohei in den Sintotempeln
-der Japaner, die Apisverehrung der Ägypter oder
-die Heiligkeit des Hundes bei den Iraniern. Und weder
-Avesta und Zend, noch Koran, Bibel, Luther und die ganze
-Reihe der Denker von Spinoza bis Spencer vermochten
-ihn der Wahrheit irgendwie näher zu bringen.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>12.</h3>
-</div>
-
-<p>Die Ferien vergingen im Flug. Hellwigs Abreise stand
-in wenigen Tagen bevor. Als eine Art Abschiedsfeier
-wurde ein Ausflug in die weitere Umgebung unternommen.
-Auch Pichler wurde eingeladen, der die Reifeprüfung mit
-Auszeichnung bestanden hatte.</p>
-
-<p>In tauiger Morgenfrühe schritt die Gesellschaft durch
-das noch erhaltene alte Stadttor ins Freie. Voran Wart
-Nikl mit seiner schönen Frau, hinter ihnen Eva zwischen
-Kolben und Pichler. Doktor Kreuzinger mit Heinz und
-Fritz machten den Beschluß.</p>
-
-<p>Durch die Herbstluft segelten die kleinen Spinnen in
-ihren leichten Silberschiffchen, der Rauch der Erdäpfelfeuer
-zog über die fahlen Fluren, und in den Stoppelfeldern
-folgten die Reihen der Jagdliebhaber ihren lohfarbenen
-Vorstehhunden.</p>
-
-<p>Manchmal blitzte ein Flintenlauf, rundete sich ein Rauchwölkchen,
-knallte ein Schuß. Ein Hase überschlug sich
-und schrie, ein Hund heulte auf, ein scharfes Befehlswort
-verklang. Und wieder war es still, und lautlos glitten
-die Silberschiffchen, schneller, immer schneller, als wollten
-sie den Menschen entrinnen und ihrer Tücke gegen die
-ehrlichen Kreaturen.</p>
-
-<p>An Evas Seite fühlte sich Pichler in seinem Fahrwasser.
-Hier war er der Schwerenöter, wollte Eindruck machen,
-zog alle Register seiner wortgewandten Liebenswürdigkeit.
-Er war witzig, geistreich und gefühlvoll, warf Artigkeiten
-und Schmeicheleien wie ein Gaukler schimmernde Glaskugeln
-in die Luft und schwafelte und salbaderte in
-einem fort.</p>
-
-<p>Eva ließ sich&#8217;s gefallen. Sie lachte über seine Mätzchen,
-schaute ihn belustigt an und fand, daß es sich mit ihm ganz
-gut plaudern ließ. Manchmal blieb sie auch stehen, wartete
-auf den Großvater und fragte ihn nach dem Namen eines
-verspäteten Schmetterlings oder eines klar in blauer Ferne
-aufsteigenden Berges, tauschte neckende Worte mit Heinz
-oder ermahnte Hellwig, der hellen Gotteswelt kein so
-sauertöpfisches Gesicht zu schneiden. Ganz heiß und eifrig
-war sie, hatte rote Backen und glänzende Augen und überließ
-die jungen Glieder dem milden Sonnenschein mit
-einem läßlichen Behagen, das wohlig war und ein wenig
-sinnlich, wie in einem laulichen Bade.</p>
-
-<p>&#8222;Wenn ich Sie ansehe, gnädiges Fräulein, muß ich
-an Gottfried Keller denken,&#8220; sagte Pichler. Und das Mädchen
-darauf: &#8222;Jemine, wieso denn?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ja, ganz bestimmt. Sie erinnern mich an eine seiner
-Frauengestalten. Nämlich an die Figura Leu im &#8218;Landvogt
-von Greifensee&#8216;. Die hat mir immer ausnehmend gefallen.
-Warten Sie, wie sagt das nur gleich Keller? Ja: sie war
-ein elementares Wesen. Ein elementares Wesen, dessen
-goldblondes Kraushaar sich nur mit äußerster Anstrengung
-den Modefrisuren anbequemen ließ und dem Perruquier
-des Hauses täglich den Krieg machte. Sie lebte fast nur
-vom Tanzen und Springen. So beiläufig heißt es. Und
-dasselbe gilt auch von Ihnen. Sie sind von demselben
-entzückenden Übermut. Und diese widerspenstigen Löckchen
-hier ...&#8220;</p>
-
-<p>Er faßte nach dem feinen Gekräusel an ihrer Schläfe.
-Durch eine hastige Wendung des ganzen Körpers wich sie
-der Berührung aus. &#8222;Sie sind ein Schmeichler!&#8220; sagte
-sie halb verlegen, halb erfreut.</p>
-
-<p>Da machte Doktor Kolben, der bisher leise pfeifend ein
-paar Schritte seitwärts von ihr gegangen war, seine erste
-Bemerkung:</p>
-
-<p>&#8222;Herr Pichler hat etwas vergessen, mein kleines Fräulein,&#8220;
-begann er. Sofort unterbrach sie ihn im hellen Zorn:
-&#8222;Ich bin nicht Ihr kleines Fräulein!&#8220; Ihr Auge sprühte,
-der Fuß stampfte die Erde. Doch der unausstehliche Mensch
-fuhr gleichmütig fort: &#8222;Das meine nicht, aber doch das
-kleine. Vorderhand wenigstens. Wir können ja noch
-wachsen. Das müssen wir eben abwarten. Heute wollte
-ich nur erwähnen, daß jene Figura Leu, die Herr Pichler
-an den Haaren herbeigezogen hat, von ihrem Verehrer
-gemeinhin nur der Hanswurstel genannt wurde. Ob der
-Vergleich in dieser Hinsicht ebenfalls stimmt, soll dahingestellt
-bleiben.&#8220;</p>
-
-<p>Kolben sagte das, weil er über die junge Schöne ungehalten
-war, die so mir nichts, dir nichts auf Ottos
-Plattheiten hineinfiel. Sie würdigte ihn keiner Antwort,
-klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne und zerrte an
-ihren Fingern, bis die Gelenke knackten.</p>
-
-<p>Pichler versicherte unter vielen Entschuldigungen, seine
-Worte seien natürlich nicht so aufzufassen, nur die reizende
-Grazie habe er kennzeichnen wollen, den Glanz der Löckchen
-...</p>
-
-<p>&#8222;Hören Sie schon auf mit dem dummen Zeug!&#8220; unterbrach
-da Wart Nikls Tochter den Honigfluß seiner Rede.
-Nun schwieg er und tat beleidigt.</p>
-
-<p>Kolben hatte ihre letzten Worte nicht mehr vernommen.
-Angewidert von Pichlers Geschwätz, hatte er sich auf dem
-Absatz herumgedreht und zu Doktor Kreuzinger begeben.</p>
-
-<p>Dort machte Fritz noch immer sein sauertöpfisches Gesicht.
-Er blickte nach der frischen Mädchengestalt, an der
-alles Verheißung war und leise schwellendes Werden, sah
-ihre anmutigen Bewegungen, den Rhythmus der Glieder
-beim leichten Schreiten, hörte das klingende Lachen und
-empfand eine unbestimmte Sehnsucht, wie arme Schelme
-im Kellergeschoß nach den hohen, luftigen Räumen der
-Vermöglichen.</p>
-
-<p>Heinz stritt mit dem Großvater über den Zukunftsstaat.</p>
-
-<p>Die tiefe Baßstimme Wart Nikls dröhnte hallend weithin
-durch den ruhevollen Herbstmorgen. Bald rief er
-einem bekannten Jäger ein Weidmannsheil zu oder erwiderte
-lärmend den Gruß eines Vorübergehenden, bald
-hatte er ein Scherzwort für seine Tochter oder zeigte er
-seiner Frau die Grenzlinien der einzelnen Besitzungen und
-lobte oder schimpfte nicht gerade leise über deren Bewirtschaftung.</p>
-
-<p>Langsam schlenderte Hellwig hinter der Gesellschaft her.
-Da schob sich plötzlich ein fremder Arm unter seinen.
-&#8222;Kommen Sie!&#8220; sagte Doktor Kolben. &#8222;Wir gehn
-Schwämme suchen.&#8220;</p>
-
-<p>Fritz sah ihn verwundert an. Eine so vertrauliche Annäherung
-war bei dem in sich verhaltenen Menschen etwas
-Ungewöhnliches.</p>
-
-<p>&#8222;Ich weiß hier herum ein paar famose Plätze!&#8220; sprach
-dieser weiter und tat, als merkte er das Staunen des
-andern nicht. &#8222;Hier links in den Wald einige hundert
-Schritte aufwärts. Dort pflegen Herrenpilze zu wachsen.&#8220;</p>
-
-<p>Noch einmal schaute Hellwig nach dem Mädchen. Das
-lachte eben Pichlern zu, der sein Schmollen aufgegeben
-hatte. Da fühlte er ein leises Zucken im Herzen. Er preßte
-die Lippen fest aufeinander. Eine tiefe Falte stand ihm
-wieder einmal über dem scharf einspringenden Nasensattel
-senkrecht auf der steilen Stirn. Das hagere Gesicht bekam
-sein kühnes, wie versteintes Aussehen. Ohne Widerstand
-ließ er sich von Kolben in den Wald führen.</p>
-
-<p>Zwischen den geraden Kieferstämmen, die mit dürftigen
-Kronen wie erschöpfte Krieger in Reih und Glied standen,
-gingen sie auf dem rostroten Nadelboden, über gewundenes
-Wurzelwerk und dann wieder durch rauschendes Heidelbeergestrüpp
-eine gute Weile stumm vorwärts.</p>
-
-<p>&#8222;Hier ist einer!&#8220; sagte der Doktor, bückte sich und durchschnitt
-mit dem Taschenmesser den Strunk eines Pilzes.
-Fritz sah gleichgültig zu. Kolben steckte den Fund in die
-Tasche. Von Moos und Farnkräutern umwuchert, lag ein
-niedriger Felsblock quer über dem Jagdsteig. Kolben setzte
-sich. Fritz stand daneben und schaute düster in das bewegliche
-Gitter aus Sonnenstrahlen und Wipfelschatten
-auf dem Boden.</p>
-
-<p>Der Doktor brach endlich das Schweigen. &#8222;Was ist
-eigentlich mit Ihnen los, Hellwig? Was drückt Sie?&#8220;</p>
-
-<p>Seine Stimme klang warm und herzlich. Aus seinem
-Antlitz war alle kalte Verschlossenheit weggewischt. Aber
-Fritz erwiderte schroff abweisend: &#8222;Was veranlaßt Sie
-zu dieser Frage?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Lassen wir den Stolz beiseite!&#8220; antwortete Kolben.
-&#8222;Aussprache tut immer gut. Sie gehn ja herum, als ob
-Sie jeden Halt verloren hätten.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Herr Doktor!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich heiße Kolben. Albert Kolben. Das &#8218;Herr&#8216; ist
-überflüssig. Ja, und ... vertrauen Sie mir!&#8220; Ein freundlich
-aufmunternder Blick der gescheiten Augen begleitete die
-Bitte.</p>
-
-<p>Fritz erwiderte nichts.</p>
-
-<p>&#8222;Vertrauen Sie mir! Es ist nicht zudringliche Neugier
-oder Unverschämtheit von mir. Nur &mdash; ich hab&#8217; mal einen
-gekannt. Der ist genau so herumgelaufen. Und war schon
-nahe dran, den Sprung ins große Dunkel zu machen.
-Sein oder Nichtsein. Ob&#8217;s edler im Gemüt ... Hat ihn
-arg gehabt damals. Zweifel an der Welt, an Gott, an
-den Menschen, an allem, was man so heilig, ehrwürdig,
-groß, erhaben, sittlich oder moralisch nennt. Und kein
-Ausblick. Als wär&#8217; ein Brett vor der Erde gewesen. Soweit
-hat er gehalten. Und kein Ausblick. Triebleben, Hinvegetieren,
-zwecklos, stumpfsinnig. Nicht wahr? &mdash; Kultur?
-&mdash; Auch die Ameise schafft sich angenehme Lebensbedingungen.
-&mdash; Moral? &mdash; Der Pöbel und Moral! Ein
-Tiger, der Gras frißt! Eher will ich aus Cäsar einen Lakaien
-machen als dem Pöbel die Gemeinheit abgewöhnen.
-Also, da hat er gehalten. Na ja denn, ich selber bin&#8217;s gewesen.
-Und da ist einer gekommen, der hat&#8217;s gewußt
-und sich ausgekannt. Hat eine feine Hand gehabt der &mdash;
-Doktor Kreuzinger heißt er &mdash;, eine leichte. Und hat mir
-den Star gestochen. Und hat mich ins Leben hinein gestoßen.
-So recht mitten hinein ins Leben. Da steh! Laß
-die Woge kommen und halt stand! Und fürcht&#8217; dich nicht.
-Und &mdash; wirf dich hinein! Brauch&#8217; deine Arme! Schwimm!
-Es geht schon, es trägt dich schon! &mdash; &mdash; Und wahrhaftig,
-es ist gegangen. Es hat mich wirklich getragen. Hätt&#8217;s
-niemals gedacht. &mdash; Also, darauf kommt&#8217;s an. Klarer
-Kopf. Helles Auge. Ruhige Hand. Nicht grübeln, Grashalme
-zählen, Grillen fangen. Arbeiten! Fest arbeiten!
-Mitten in den Wellen gegen die Wellen. Ein Ziel vor sich
-und drauflos! Ein Ziel, ja! Aber nicht oben bei den Wolken.
-Hier, wo du feststehst, auf der Erde unter den Menschen
-... Da geh&#8217; drauf und dran! Schulter an Schulter
-mit den andern. Oder, wenn sie das nicht wollen, lauf
-allein voraus! Sie folgen schon. Und wenn sie auch das
-nicht wollen &mdash; wenigstens hast du Ruhe!&#8220;</p>
-
-<p>Selten ließ der wortkarge, zugeknöpfte Mann jemanden
-so in sein Inneres schauen. Fritz fühlte das. Und nun
-konnte er nicht mehr an sich halten. Erst stockend, dann
-zusammenhängender, leidenschaftlicher redete er sich alles
-von der Seele herunter, was ihn in letzter Zeit überstürmt
-und aus der Bahn geworfen hatte.</p>
-
-<p>Kolben unterbrach ihn nicht. Seine dunklen Augen lagen
-wieder wie verschleiert hinter den goldgeränderten Brillengläsern.
-Die Spitze des Spazierstocks zeichnete Strich neben
-Strich in den glatten Waldboden. Endlich war Fritz mit
-seiner langen Beichte fertig.</p>
-
-<p>&#8222;So steh&#8217; ich da!&#8220; knirschte er zwischen den Zähnen.
-&#8222;Und weiß nicht ein und aus. Das Vergangene liegt
-mir wie ein Stein vor der Zukunft. Ich kann ihn nicht
-wegwälzen! Er rührt und rührt sich einfach nicht! Die
-ganze Kraft geht drauf! Ich verbrauch&#8217; mich, werde hin!
-Von meiner toten Mutter kann mich keiner erlösen!&#8220;</p>
-
-<p>Er schwieg mit keuchenden Lungen. Aus den Wipfeln
-kam das leichte Wehen des Windes wie der Atem der Stille.
-Kolben erhob sich, trat ganz dicht zu ihm heran.</p>
-
-<p>&#8222;Mut, Fritz! Und Geduld! Du &mdash; wir werden uns
-wohl von heut&#8217; an du sagen müssen &mdash; du wirst bald drüber
-weg sein. Jetzt aber &mdash; fürs erste &mdash; schaun wir, daß wir
-zu den anderen ins Forsthaus kommen. Abends hältst du
-dich dann bei mir auf. Vielleicht hab&#8217; ich was für dich.&#8220;</p>
-
-<p>In der Nacht, die diesem Tage folgte, schloß Fritz kein
-Auge. Er suchte nicht einmal den Schlaf, hatte kein Verlangen
-darnach. Rastlos wanderte er in seiner Kammer
-auf und ab, mit leuchtenden Augen, breitete die Arme
-oft weit aus und fühlte sich endlich ganz leicht und frei.
-Abgefallen war, was ihn bedrückt hatte, fortgetilgt die
-Unrast, das Suchen nach einem Überirdischen. Glatt und
-offen lag der Weg in die Zukunft vor ihm.</p>
-
-<p>Er hatte einsehen gelernt, daß er seine Kräfte an etwas
-zu verschwenden im Begriff gewesen, das keiner ergründen
-konnte. Daß der Gedanke an den Zustand nach dem Tode
-ein Feind des Lebens sei. Und daß die Grübler und Dogmatiker
-die Menschheit um keinen Zoll vorwärts gebracht
-hatten, sondern nur die Handelnden, die Blutzeugen, die
-Männer der Tat.</p>
-
-<p>&#8218;Ich schreib&#8217; getrost: Im Anfang war die Tat!&#8216; &mdash; Jetzt
-fiel&#8217;s ihm wieder ein, und jetzt konnte er auf einmal nicht
-verstehen, wie ihn nicht schon damals, als er den Faust
-las, diese einfachste und klarste aller Weisheiten auf die
-richtige Spur gebracht hatte. Daß er erst noch viele Monate
-im Dunkeln getappt und sich gemartert hatte, bis ihn
-jetzt der viel verlästerte Kolben zum Ausgangspunkte zurückführte
-und die Bahn frei machte durch ein paar treffsichere
-Worte und mit Hilfe einer Übersetzung der Hymne
-&#8218;An einen unbekannten Gott&#8216; aus dem Rigveda. Da lag
-sie vor ihm im gelben Lampenlicht, Druckerschwärze auf
-vergilbtem Papier, und sprach mit tausendjähriger Zunge
-zu ihm, tröstete, beruhigte, richtete ihn auf durch die Erkenntnis,
-daß ein Rätsel, das seit unzählbaren Jahren die
-Menschen zu ergründen sich mühten und nicht ergründen
-konnten, kein Rätsel sei, sondern vererbter Wahn mit einem
-Inhalt ohne Wert für das Leben und für die Entwicklung,
-eine taube Nuß.</p>
-
-<p>Wieder und wieder las er das mächtige Gedicht in der
-meisterhaften Übertragung, jetzt im Zusammenhang, jetzt
-einzelne Strophen, und als er sie alle auswendig wußte,
-sprach er die letzten noch und abermals laut vor sich hin:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">&#8222;Wer weiß es denn, wer hat es je ergründet,</div>
- <div class="verse indent0">Woher sie kam, woher die weite Schöpfung?</div>
- <div class="verse indent0">Die Götter kamen später denn die Schöpfung &mdash;</div>
- <div class="verse indent0">Wer weiß es wohl, von wannen sie gekommen?</div>
- <div class="verse indent0">Nur er, aus dem sie kam, die weite Schöpfung,</div>
- <div class="verse indent0">Sei&#8217;s, daß er selbst sie schuf, sei&#8217;s, daß er&#8217;s nicht tat &mdash;</div>
- <div class="verse indent0">Er, der vom hohen Himmel her herabschaut,</div>
- <div class="verse indent0">Er weiß es wahrlich! Oder &mdash; weiß auch er&#8217;s nicht?&#8220;</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-<h2 class="nobreak" id="Zweites_Buch">Zweites Buch</h2>
-</div>
-
-<h3>1.</h3>
-
-<p class="drop-cap">Im Oktober kamen Hellwig und Pichler nach Prag und
-nahmen Quartier bei der Frau Wondra, die in zwei
-Zimmern fünf Hochschülern Wohnung und Verpflegung
-gegen ein sehr mäßiges Entgelt gewährte. Sie war die
-Witwe eines Unteroffiziers, der ein starker Pfeifenraucher
-gewesen war und ihr außer einer kleinen Pension nichts
-hinterlassen hatte als dreißig Pfeifen von der billigsten
-Sorte, mit langen und kurzen Rohren, mit Gips-, Holz-
-und bemalten Porzellanköpfen, alle wohleingeraucht und
-arg mitgenommen. Als sich für die duftende Sammlung
-kein Käufer finden wollte, tat es der sparsamen Hausfrau
-leid, sie unbenützt verstauben zu lassen, weshalb sie
-sich auf ihre alten Tage selbst das Rauchen angewöhnt
-und es hierin noch jedem ihrer jungen Mieter zuvorgetan
-hatte. Da sie kahl war, trug sie sommers und winters
-dieselbe große Haube aus braunem Taft, die den Schädel
-und die Ohren zudeckte und für das gelbe Gesicht einen
-kreisrunden Rahmen abgab. Was auf dem Kopf an Haaren
-zu wenig, wuchs dafür in gedoppelter Fülle als Schnauzbart
-unter der Nase, die zum Himmel strebte, als wollte
-sie sich in beleidigtem Stolz vor so unfraulicher Zierde
-zurückziehen, worüber sich hinwiederum zwei kleine graue
-Schlitzäuglein anscheinend sehr belustigten, weil sie fortwährend
-zwinkerten und blinzelten. Doch je ungeschlachter
-ihr Aussehen, je derber ihre Rede war, desto milder und
-lockerer gerieten ihr die Mehlspeisen, die Buchteln, Dalken,
-Nudeln und Kolatschen, mit denen sie für das leibliche
-Wohl ihrer Studenten sorgte. Aber auch das Seelenheil
-der jungen Leute war ihr nicht gleichgültig, und um
-die schwankende Jugend vor Abwegen zu bewahren, suchte
-sie ihre Kostkinder abends an das Haus zu fesseln, indem
-sie mit ihnen Schafkopf spielte oder ein Quodlibet um
-ein beschränktes Bierquantum.</p>
-
-<p>In dem größeren der beiden Zimmer wohnten bereits
-seit einigen Semestern der Astronom König, der Philosoph
-Fundulus und der Mediziner Karg, alle drei schon bemoostere
-Häupter, die sich bei der Wondra zufällig gefunden
-und trotz ihrer verschiedenen Neigungen Freundschaft
-geschlossen hatten.</p>
-
-<p>Diese Freundschaft pflegte regelmäßig auch auf die
-rascher wechselnden Mieter der anderen Stube ausgedehnt
-zu werden, und schon am Abend nach ihrem Einzug erhielten
-Fritz und Otto unter Führung der Wondra den Besuch
-der Zimmernachbarn. Die Quartiersfrau trug sechs
-Tabakpfeifen, der Mediziner den großen Bierkrug, der
-Philosoph den Tabaktopf und der Astronom die abgegriffenen
-Spielkarten. Würdevoll überreichte die Wondra den
-neuen Pfleglingen zwei Rauchwerkzeuge zur ausschließlichen
-Benützung für die Dauer des Mietverhältnisses und
-gegen die Verpflichtung, nach einer bestimmten Reihenfolge
-abwechselnd mit den übrigen für die Füllung des
-Tabakbehälters zu sorgen.</p>
-
-<p>Nach dieser feierlichen Handlung wurde ihnen eröffnet,
-daß man gesonnen sei, sie in die Hausgemeinschaft Wondra
-aufzunehmen und solche Ehre festlich zu begehen mit Hilfe
-eines Viertelhektoliters Bier, den die Aufgenommenen nach
-Brauch und Fug zum besten geben mußten.</p>
-
-<p>Mit großem Hallo wurde das Faß aus der Schenke
-geholt, worauf ein mächtiges Gelage anhob, in dessen
-Verlauf der Mediziner mit der bärtigen Witwe einen Hopser
-tanzte, daß die Dielen dröhnten und die Haube in
-greuliche Unordnung kam. Des Philosophen dagegen, der
-eine sehr verliebte und schwärmerische Wesenheit war und
-nicht viel vertragen konnte, hatte sich bald eine weinerliche
-Stimmung bemächtigt, in der er Pichlern von seiner Liebsten
-daheim erzählte und ihre Treue in Zweifel zog, um
-sich sogleich wieder wegen des schimpflichen Verdachtes
-die bittersten Vorwürfe zu machen.</p>
-
-<p>Fritz saß mit König, einem unentwegten stillen Zecher,
-beim Fenster und hielt durch einsilbige Bemerkungen ein
-notdürftiges Gespräch mühsam im Gange. Doch wurde
-das dem Sterngucker bald langweilig. Er stand auf und
-gesellte sich dem Philosophen zu, den er durch eine Bemerkung
-über die Minderwertigkeit des Weibes rasch in
-Harnisch brachte und in der anschließenden erregten Auseinandersetzung
-mit Brocken aus Schopenhauer kräftig bombardierte.</p>
-
-<p>Unvermutet fand sich Fritz allein in der Fensternische.
-Niemand fragte oder kümmerte sich um ihn, und es war
-ihm ganz recht so.</p>
-
-<p>Die Fenster des hoch gelegenen Zimmers gaben Ausblick
-in einen engen Hof und jenseit desselben über ein
-Gewirr von Dächern und Türmen und Giebeln, die in
-dem silberblauen Glanz der Mondnacht schimmernd ruhten.
-Und dunkel aus dem sanften Glanz herausgehoben, wuchtete
-darüber der Hradschin und trug den mächtigen Dom
-wie eine schwere, stolze Krone. Oben wanderten und neigten
-sich die Sterne, unten lag die Stadt von den beweglichen
-Wellen des Mondlichts umspielt, &mdash; und inmitten stand
-der alte Königsitz, aller Nähe und Ferne entrückt, in immer
-gleicher, steinerner Ruhe stumm, dunkel und geheimnisvoll.</p>
-
-<p>Sonderbar ergriffen schaute Fritz auf dieses Märchen,
-das Glanz und Nacht und Stille um einsam thronende
-Größe woben. In der Stube lärmten und lachten die
-Zecher. Er achtete nicht darauf. Sehnsucht nach Arbeit
-überkam ihn, nach einer schöpferischen Tat, an der er seine
-Kräfte erproben, ermüden, ausgeben könnte. Und noch
-als die übersättigten Trinkkumpane schon längst in dumpfen
-Schlaf versunken waren, lag er wach und sehnte sich
-nach einer Aufgabe, riesenhaft gleich der gewaltigen Königsburg,
-die von Menschenhänden über eine ganze große
-Stadt gestellt, sie machtvoll und unnahbar beherrschte.</p>
-
-<p>Aber er fand nicht, was eigentlich diese Aufgabe sein
-sollte, und mit schmerzendem Schädel schlief er endlich ein.</p>
-
-<p>In der Klarheit des nächsten Morgens, der über einen
-tiefblauen Herbsthimmel eine silberweiße Sonne heraufleitete,
-erwachte er freier, als er sich niedergelegt hatte,
-kleidete sich rasch an und eilte auf die Gasse. Es trieb ihn
-zu den Stätten, die aus der Ferne solchen Eindruck auf
-ihn gemacht. Er wollte sie durchforschen, erobern, ganz
-in sich aufnehmen wollte er sie und zugleich sehen, ob
-auch im nüchternen Schein des Tages der drückende Zauber
-bestehen blieb.</p>
-
-<p>Mit niedrigen Türen und kleinen Fenstern unter zerbröckelten
-Gesimsen standen unten in der engen Gasse
-schmalbrüstige Häuser, mit verrußten Mauern und vorspringenden
-Dächern drängten sie sich aneinander, alt,
-müde, eins das andere stützend und alle vom leisen Abglanz
-toter Jahrhunderte traurig umwittert. Unverändert standen
-sie so, ließen die Jahre vorübergehn, und wenn aus einem
-der dicken Gemäuer eine neue Öffnung herausgebrochen,
-eins der vielen Trödlergewölbe, wo von altersher die armen
-Juden ihren Handel trieben, in ein dürftiges Lädchen mit
-einem Auslagfenster umgestaltet wurde, ging es die Gasse
-entlang wie raunende Verwunderung ob solch unerhörten
-Eindringens einer andern Zeit.</p>
-
-<p>Als Fritz hinabkam, hatte trotz der frühen Stunde das
-geschäftige Leben bereits begonnen. Mit schlau-vertraulichen
-Verneigungen grüßten ihn die jüdischen Händler, riefen
-ihm verständnisvoll lächelnd ein paar leise Worte zu, auf
-ihren angehäuften Plunder deutend, in der Hoffnung,
-daß er ihnen etwas abkaufen oder in Pfand geben werde.
-Langsam ging er in der Richtung, wo er den Hradschin
-vermutete, vorwärts. Seine Schritte hallten laut in der
-engen Häuserschlucht, darüber ein schmales Streifchen Himmel
-war und ein wenig vom erstarkten Sonnenschein, der die
-Giebel vergoldete, ohne daß seine Quelle dem Auge sichtbar
-wurde. Und Gasse folgte auf Gasse, kreuz und quer.
-Stille Winkel waren da, unregelmäßige Plätzchen und
-dunkle Sackgassen, in denen die Häuser geduckt und wie
-furchtsam verkrochen standen, als hörten sie noch den
-Lärm der Verfolgungen, schauderten vor dem warmen Blut,
-das in Zeiten unduldsamen Glaubenseifers auf ihren Dielen
-verdampfte, an ihre Wände spritzte, in roten Bächen
-über die finstern Treppen rann.</p>
-
-<p>In dem Durcheinander des gleichförmig engen und
-schmutzigen Winkelwerks hatte Fritz bald jede Orientierung
-verloren und mußte sich endlich entschließen, einen Vorübergehenden
-nach dem Weg zu fragen. Der aber maß
-den deutschen Studenten mit einem feindseligen Blick,
-brummte ein paar tschechische Worte und gab keine Auskunft.
-Einigermaßen betreten ging Hellwig weiter, und
-das beklemmende Gefühl, als sei er in ein verschollenes
-Jahrhundert zurückversetzt, wurde stärker. Da kam ein
-weißbärtiger Hebräer, der in seinem Gewölbe den Vorfall
-mit angesehen hatte, auf ihn zu, dienerte und erkundigte
-sich in einem sonderbar harten Deutsch nach seinen
-Wünschen. Fritz sah auf das freundliche Männlein, das
-mit hohem Hut, fuchsigen Schaftstiefeln und schmierigem
-Leibrock vor ihm in der Häuserschlucht stand und vermißte
-&mdash; er wußte nicht, wie ihm das in den Sinn kam
-&mdash; die steife blaue Halskrause, die die böhmischen Juden
-noch im siebzehnten Jahrhundert auf der Straße tragen
-mußten. Doch zwang er sich in einem energischen Aufraffen
-des spukhaften Traumzustandes Herr und der
-Gegenwart wieder gerecht zu werden, brachte sein Anliegen
-vor und erhielt umständlichen Bescheid.</p>
-
-<p>Er bedankte sich, durchschritt noch einige Gassen und
-gelangte endlich zur Karlsbrücke. Vor ihm rollte, um
-Inseln, Mühlen und Brückenpfeiler brodelnd, mit braun
-dunklem Wasser der breite Strom, drüben baute sich Giebel
-über Giebel mit Kuppeln und Türmen und Zinnen
-die Kleinseite auf, und darüber ruhte, durch einen herbstlich
-goldigen Gartenwall geschieden, breit und wuchtig der
-Hradschin, in der Klarheit des Tages gleich hoheitsvoll
-und unnahbar wie im trüglichen Dämmer der Mondnacht.
-Nur die Linien waren schärfer und bestimmter die gewaltige
-Majestät, die der Veitsdom krönte, der im Panzer
-seines Gerüstwerks stumm und dunkel vor dem blauen
-Himmel stand.</p>
-
-<p>Keinen Blick hatte Fritz für die altertümliche Schönheit
-des Platzes, auf dem er sich befand, für den Auslug
-durch zwei Torbogen zum langgestreckten Moldaukai hinab,
-für die Türme und steinernen Bildwerke der berühmten
-Brücke. Unverwandt schaute er zur Burg hinüber, deren
-lautlose Größe ihn quälte und erdrückte.</p>
-
-<p>Dann war er am andern Ufer, ging wie schlafwandelnd
-an alten Palästen vorüber, hinter deren geöffneten Torflügeln
-die Trauer sterbender Gärten wehmütig versunken
-lag; durch eine steil ansteigende Gasse schritt er, und auch
-hier webte die Erinnerung, war die Stille einer längst
-verwehten Zeit. Doch war hier ein anderer Stil in den
-Häusern, die Fassaden waren reicher und schmuckvoller,
-durch schön geschmiedete Gitter oder kunstvolle Tore vorteilhaft
-gehoben. Allerlei Schildereien zierten die Fronten,
-hier glänzte ein silberner Schlüssel im blauen Felde über
-der Haustür, dort ein Wagenrad oder Winkelmaß, da
-wieder sprang ein Hirschlein mit vergoldeten Hufen, blühte
-eine vielblättrige Blume, als Zeichen einer Innung oder
-Wappen eines längst verstorbenen Besitzers und seines
-stolzen Bürgertums.</p>
-
-<p>Noch die Schloßstiege hinan, dann war er oben, trat
-ohne sich umzusehen durch die kühlen Torbogen in die
-weiten stillen Burghöfe. Eine pochende Unrast stieß ihn
-vorwärts, beklommen spähte er überall umher, aber kalt
-und abweisend ragten die mächtigen Quadermauern, schauten
-gleichgültig über ihn weg und ließen sich nicht nahe
-kommen. Und als er vor dem Veitsdom stand, da wuchs
-auch dieser hart vor ihm trotz der leicht aufstrebenden
-Schlankheit der Rippen, der wunderlich verzerrten Fratzen
-der Wasserspeier ruhig und sicher in die Luft hinauf, wie
-ein Gebirge aus Stein und Stille.</p>
-
-<p>Verzweifelt lief Hellwig von einer Örtlichkeit zur andern,
-ein ohnmächtiger Zorn war in ihm, daß ihn ein Menschenwerk
-so klein machen durfte, er wehrte sich dagegen und
-spürte doch, wie er dieser unfaßbaren Größe mehr und
-mehr unterlag.</p>
-
-<p>Da fand er sich unversehens an einem seltsamen Orte.
-Bunte Häuschen waren da, so klein, daß er mit der Hand
-den Dachsims fassen konnte, eines neben dem andern,
-mit Türchen und Fensterchen, wie von Zwergen für
-Zwerge geschaffen. Er war in das Alchimistengäßchen geraten.
-Und wie er näher zusah und wie ihm einfiel, daß
-der zweite Kaiser Rudolf mit seinen Magiern, Goldmachern
-und Sterndeutern hier hausete, da &mdash; atmete er
-leicht auf.</p>
-
-<p>Hier war etwas menschlich Warmes, eine Schwäche,
-ein mildes Licht, das auf die riesenhaften Prachtbauten
-hinüber leuchtete und ihnen allen Schrecken nahm. Tief
-unten lag die Stadt, zu beiden Ufern des Stroms hingebettet,
-ihre hundert Türme und Kuppeln und Türmchen
-leuchteten, blitzten und funkelten in der Sonne &mdash; und
-wer von hier hinabschaute mit dem Bewußtsein des Herrschers,
-dem konnte wohl zumute sein, als stände er berghoch
-über all den geduckten Siedelungen, über all den
-ameisenklein wimmelnden Menschen im flachen Lande und
-könnte sie zertreten mit stampfendem Fuß nach Lust und
-Laune. Darum schuf er sich und seinem schrankenlosen
-Machtgefühl den unnahbar stolzen, riesenhaften Bau auf
-steiler Höhe, fern von allem Menschentreiben und der
-Sonne näher. Doch siehe &mdash; dicht daneben, versteckt und
-heimlich, stellte er die kleinen, schwachen Hütten auf und
-trug aus der stolzen Burg sein schwaches, kleines Menschentum
-dorthin, wenn es ihn zu quälen anfing. Bei abergläubischem
-Spuk und geraunten Zaubersprüchen suchte
-er daran zu vergessen, aus glühenden Gemengen in absonderlich
-geformten Retorten sollte der hilflosen Ohnmacht
-ein Mittel zur Allmacht erstehen, im gelassenen
-Lauf der Gestirne nach der Zukunft forschend, wollte der
-Blinde sehend und wissend werden.</p>
-
-<p>So standen diese Häuschen als rührende Zeugen menschlicher
-Ohnmacht, die vergebens über ihre Grenzen tastet,
-und so wirkten sie befreiend und versöhnend auf Hellwig.
-Plötzlich war ihm Burg und Dom vertraut geworden.
-Der Gewalt des ersten Eindrucks entronnen, bemerkte er
-jetzt überall heimliche Schönheiten und anheimelnde Winkel,
-vom Zauber der Romantik überhaucht. Ganz glücklich
-wurde er darüber. Und jedesmal, wenn später wieder ein
-scheinbar unbegreiflich großes Menschenwerk lähmend auf
-ihn wirken wollte, mußte er an die kleinen Alchimistenhäuschen
-denken und lächelte leise fröhlich dabei.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>2.</h3>
-</div>
-
-<p>Pichler hatte sich für die Juristerei entschieden, während
-Hellwig nicht so ohne weiters schlüssig werden konnte.
-Zwar segelte er vorläufig ebenfalls unter der Flagge der
-Rechtsgelehrsamkeit, besuchte indes auch zahlreiche philosophische
-und naturwissenschaftliche Vorlesungen und
-wollte sich erst nach dem ersten Semester endgültig entscheiden.</p>
-
-<p>Bald sah er ein, daß er sich mit dem römischen Recht
-nie werde befreunden können. Die nüchterne Sachlichkeit
-desselben lief seinem nachdenklichen Wesen schnurstracks
-zuwider. Er begann das Kolleg zu schwänzen, saß während
-der so gewonnenen Zeit lieber in der Universitätsbibliothek.
-Gedrängt durch die Fülle der Erinnerungen, die sich ernst
-und eindringlich allerorten in der Stadt aufzeigten, begann
-er hier ein eifriges Geschichtsstudium und bemühte
-sich außerdem einen Überblick zu gewinnen über die Entwicklung
-der Kulturen und über die Verfassungen der Völker.
-Auch an den Nachmittagen verweilte er gern in dem
-hohen, wölbigen Saal, wo es so flüsternd leise herging,
-die Diener mit schweren Bücherpäcken nur auf den Zehen
-hinter den Stuhlreihen umherschlichen und über vergilbte
-Schmöker gebeugt, junge und alte Leute emsig lasen oder
-Auszüge machten. Das Rascheln der starken Pergamentblätter,
-das Knistern des Papiers und das Gekritzel der
-Bleistifte gab eine gute, zu geistiger Sammlung ladende
-Melodie. Im Flug vergingen ihm die Stunden, und nach
-seiner Meinung gewöhnlich viel zu früh stand der Diener
-hinter ihm mit der höflich-leisen Einladung, Schluß zu
-machen, weil gleich gesperrt würde. Wohl entlieh er sich
-auch Bücher und trug sie in seine Wohnung. Aber dort
-war abends an ein ernstes Arbeiten nicht zu denken.</p>
-
-<p>Nebenan in der großen Stube fand sich täglich die
-geräuschvolle Quodlibetpartie zusammen. Pichler war jetzt
-einer der fleißigsten dabei, denn er hatte dem Spiel Geschmack
-abgewonnen und pflegte es mit dem gleichen geschäftsmäßigen
-Eifer, den er tagsüber auf sein Studium
-verwendete. Aber auch der einsame Bücherwurm im Nebenzimmer
-blieb nicht unbehelligt. Jede halbe Stunde steckte
-die Wondra den Kopf zur Tür herein und forderte ihn auf,
-mit ihnen lustig zu sein. Oder es erschien der Philosoph
-und erlaubte sich eine spezielle Blume. Und wenn Karg
-zu Hause war, kam er ebenfalls und wich nicht, bis Hellwig
-endlich aufstand und sich den fröhlichen Zechern zugesellte.
-Dann bemühte sich Karg so gewinnend als möglich
-zu sein. Denn die zwei strammen Neuberger gefielen
-und schienen ihm der Fuchsenehre würdig bei der Landsmannschaft
-Herminonia, der er selbst angehörte. Grün-weiß-rot
-waren die Farben, unentwegt und immerdar
-judenrein, arisch-deutsch die Mitglieder, gewaltig ihre Leistungen
-im Vertilgen des bräunlichen Gerstensaftes, und
-mit neidvoller Bewunderung erzählte man sich in den
-anderen Verbindungen von den ungezählten Halben, die
-auf den Herminonenkneipen die schwitzenden Kellner herbeischaffen
-mußten.</p>
-
-<p>Dieserhalb, nicht minder aber wegen ihrer geradlinigen
-Ehrlichkeit war das Ansehen der Herminonen unter der
-farbentragenden Studentenschaft groß. Sie wußten es sich
-aber auch zu erhalten durch die immer bereite Kühnheit,
-mit der sie auf dem Paukboden standen, wo sie dann
-die scharfen Klingen ebenso geschickt und flink handhabten,
-wie sie bei den Hochschülerkränzchen plump und ungelenk
-das Tanzbein schwangen, mit der gleichen Seelenruhe dort
-furchtbare Rückschneidquarten in die Gesichter der Gegner,
-hier nicht minder gefürchtete Tritte auf die Zehen der
-Tänzerinnen austeilend.</p>
-
-<p>Den unablässigen Werbungen des Mediziners glückte
-es endlich, seine beiden Stubennachbarn zur Teilnahme
-an der Eröffnungskneipe zu bewegen. Pichler tat es gern
-mit der frohen Aussicht auf eine vergnügliche Unterhaltung,
-während Hellwig mitging, um sich die Geschichte
-einmal anzusehen und aus eigener Anschauung eine Sache
-kennenzulernen, deren Lob ihm seit der Gymnasialzeit in
-die Ohren tönte.</p>
-
-<p>Wie alte Bekannte wurden sie aufgenommen, trafen
-hier auch einige, mit denen sie gemeinsam die Schulbank
-in Neuberg gedrückt hatten, schon in junger Fuchsenherrlichkeit
-mit Kappe und Band und im Vollgefühl ihrer
-neuen Würde. Einer war darunter, der hatte noch kaum
-vor Jahresfrist in der Geschichtsstunde behauptet, daß sein
-Vaterland eine absolutistische Verfassung habe. Jetzt aber
-redete er von der Notwendigkeit der Sonderstellung Galiziens,
-von der deutschen Staatssprache und von der Einsicht,
-die Bismarck mit der Gründung des Norddeutschen
-Bundes unter Ausschluß Österreichs an den Tag gelegt,
-redete noch von vielen anderen Dingen, als hätte er selbst
-sie gemacht und alle hohe Staatswissenschaft in der Westentasche.
-Und ein anderer war da, Karl Deimling, schon ein
-alter Knabe, der redete beinah überhaupt nichts, sondern
-trank nur immerzu, und wenn er sonst noch die Lippen
-voneinander tat, war es zum Singen eines rauhen Trinkliedes
-oder zu einer knappen Bemerkung, die mit harter
-Grobheit wie eine Panzergranate einschlug. Doch war er
-ein zuverlässiger Kamerad, treu wie ein Bulldogg, und
-kannte kein anderes Ideal, als die Farben der Herminonen
-untadelig blank zu halten vor Feind und Freund. Schon
-manchen Fuchs hatte er gedrillt. Ja fast alle, die jetzt
-als Burschen an der oberen Tafel saßen, waren einst mit
-sprossenden Bärten und den ungelenken Bewegungen junger
-großer Tiere unter seine Fuchtel gekommen. Prachtkerle
-waren darunter aufgestanden, sehnige Gestalten mit blutroten
-Narben in den energischen Gesichtern, mit Augen,
-die in einem selbstverständlichen Mut kühl und beinah
-schwermütig darein blickten, und mit einer geflissentlich
-zur Schau getragenen Kaltblütigkeit, die sie älter und
-reifer erscheinen ließ. Doch wenn sie ganz unter sich waren,
-dann warfen sie diese Würde wie einen lästigen Mantel ab,
-schäumten auf und brausten in zweckloser Lebensfreudigkeit,
-wurden übermütig wie Füllen, ausgelassen wie Kinder
-nach dem Gottesdienst. Hellwig aber begriff weder
-die Notwendigkeit jenes gemessenen Gehabens, noch hatte
-er Verständnis für die harmlose Freude an Unsinn, Kinderei
-und Ulk. Er konnte nicht mit dem Leben spielen,
-hatte sich auf jede Sache noch immer mit der ganzen
-Wucht seiner schweren Gründlichkeit geworfen und kannte
-die Freude des Schwimmers nicht, der im Ringen mit
-hoch gehenden Wogen seine überschüssige Muskelkraft um
-ihrer selbst willen vergeudet.</p>
-
-<p>Feierlich wurde die Kneipe eröffnet, weihevoller Sang
-ertönte zum Preise der Freiheit und des Deutschtums.
-Sehr anständig und förmlich ging es zu, bis unten an der
-Fuchsentafel ein lustiges Trinklied aufklang: &#8222;Sa, sa, geschmauset,
-laßt uns nicht rappelköpfisch sein!&#8220;</p>
-
-<p>Da war das Eis gebrochen. Ein scharfes Zechen hob
-an, Blumen wurden zugetrunken, Bierjungen gebrummt,
-Übermütige zum Einsteigen verdonnert. Karg als Fuchsmajor
-hielt scharfes Regiment. Er ließ seine Füchse strafweise
-trinken, daß sie anschwollen wie Schwämme im
-Wasser. Das kleinere der Trinkhörner begann zu kreisen.
-Staunend sah Hellwig, wie mit Ausnahme der allerjüngsten
-jeder das erzbeschlagene Gefäß in einem Zuge
-leerte, ohne Atem zu holen, ohne zu verschütten oder zu
-&#8218;bluten&#8216;. Die Pfeifen qualmten, eine dicke Wolke Tabakdampf
-umschleierte die Gasflammen, drückend heiß wurde
-es. Der Schläger des Erstchargierten fiel immer öfter
-dröhnend auf die Tischplatte: &#8222;Silentium!&#8220; &mdash; &#8222;Silentium!&#8220;
-donnerte gleichzeitig Karg seinen Füchsen zu.</p>
-
-<p>Wieder stieg ein ernster <span class="antiqua">Cantus</span>. Aber der klang nur so,
-wie in der Kirche das Meßlied: pflichtgemäß, korrekt,
-ohne Wärme.</p>
-
-<p>&#8222;<span class="antiqua">Cantus ex! Colloquium!</span>&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Heil dem <span class="antiqua">Cantus</span>!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Verflucht, sind die Füchse ledern!&#8220; rief da der schweigsame
-Deimling. &#8222;Liefert endlich einen Ulk! Oder ich lass&#8217;
-euch spinnen, daß ihr Schusterbuben kotzt!&#8220;</p>
-
-<p>Nun sammelte Karg seine Knappen, beriet sich flüsternd
-mit ihnen, und die ganze Fuchsentafel zog ins Nebenzimmer.
-Auch Pichler ging mit, der sich rasch hineingefunden
-hatte und, leicht beschwipst, alles im rosigsten
-Licht sah. Nach einer Weile kamen sie mit brennenden
-Kerzen zurück. Der Fuchsmajor rückte einen runden Tisch
-von der Wand, stellte einen Stuhl darauf und ließ sich
-dort oben nieder. Die Füchse aber umkreisten ihn und
-sangen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">&#8222;Jessas, a Ringelg&#8217;spiel</div>
- <div class="verse indent0">Is a Hetz und kost&#8217; net viel.</div>
- <div class="verse indent0">Alles draht sich um und um,</div>
- <div class="verse indent0">Tschindarassa bumbumbum!&#8220;</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Immer schneller sangen sie und immer rascher bewegten
-sie sich in der Runde, erst auf dem Fußboden, dann von
-Stuhl zu Stuhl, endlich auf dem Tisch, so viel ihrer Platz
-hatten. Das Singen wurde Gebrüll, das Getrappel Staub
-aufwirbelndes Stampfen, der Boden schwankte, die Gläser
-klirrten, bis endlich mit einem Huronengeheul die
-Darsteller insgesamt in die Knie sanken, teils auf den
-Dielen, teils auf den Sesseln und auf dem Tisch, sich mit
-hoch gehaltenen Lichtern zu einer Art Schlußgruppe um
-den Fuchsmajor vereinigend, der die Arme an den Leib
-gedrückt, die Hände auf den Schenkeln wie ein ägyptischer
-König auf seinem Sitz hockte.</p>
-
-<p>Da sauste plötzlich ein faustgroßer Stein durch eine
-splitternde Fensterscheibe, klatschte gegen die Wand und
-fiel polternd nieder, indes der Mörtel langsam nachrieselte.
-Ungestüm sprangen die Füchse auf, aber schon rief Karg,
-vom Tisch herabspringend, sein donnerndes: &#8222;Silentium!&#8220;
-Da mußten sie bleiben. Die Burschen bewahrten eisige
-Gelassenheit.</p>
-
-<p>&#8222;Der Esel von Kellner hat wieder einmal nicht zugemacht!&#8220;
-sagte Deimling, stand auf und trat an das zerbrochene
-Fenster, um die Läden zu schließen. Gejohl schallte
-von der Gasse, ein zweiter Stein flog knapp an seinem
-Kopf vorbei. &#8222;Nur keine Aufregung!&#8220; brummte das alte
-Semester, unerschüttert ruhig mit dem widerspenstigen
-Rolladen beschäftigt. Der Erstchargierte, <span class="antiqua">stud. med.</span>
-Braun, ein breitschultriger Hüne aus dem Egerland, hatte
-inzwischen das andere Fenster verwahrt. &#8222;Sehen Sie,&#8220;
-wandte er sich zu den Gästen, &#8222;die edlen Söhne der Libuscha
-heißen uns auf ihre Art willkommen. Geschieht
-öfters so, man gewöhnt sich daran! &mdash; Aufgepaßt, Füchse!&#8220;
-fuhr er mit scharfer Kommandostimme fort. &#8222;Bei solchen
-Sachen ist die erste Pflicht: ruhig bleiben! Nicht mit der
-Wimper zucken! Sonst ist der Krawall fertig! Schreibt
-euch das hinter die Ohren! Und nun steigt: &#8218;Die Wacht
-am Rhein&#8216;. <span class="antiqua">Cantor, incipias!</span>&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Es braust ein Ruf wie Donnerhall!&#8220; stimmte der Sangwart
-an, alle fielen ein, und diesmal wehte wirklich etwas
-vom Sturmatem der Begeisterung in den frischen Stimmen.</p>
-
-<p>Fritz aber war wärmer geworden. Das sichere Auftreten
-der jungen Leute, ihre kalte Geistesgegenwart und die
-musterhafte Zucht, mit der sie hinter sorgenlosem Leichtsinn
-und behaglicher Fröhlichkeit versteckt, einen zähen
-Kampf um ihre Muttersprache führten, das alles zwang
-ihm, der nicht ihre Ansichten teilte, Achtung ab, weil
-hier ein ehrliches Wollen zu spüren war. Er wurde gesprächiger,
-taute auf und weil sich, hierdurch angeregt,
-auch jene freier gaben, geschah es, daß er in ein ganz leidliches
-Verhältnis zu ihnen kam. Er blieb bis zum Schluß
-in der Kneipe und als beschlossen wurde, noch ein Kaffeehaus
-aufzusuchen, ging er ebenfalls mit.</p>
-
-<p>Je drei oder vier in einer Reihe, zogen sie geräuschvoll
-durch die spärlich erhellte Gasse zum Wenzelsplatz. Die
-Nacht war bereits ziemlich vorgerückt, in den Straßen bewegten
-sich nur vereinzelte Schwärmer. Unerwartet aber
-brach mit großem Getöse aus einem Nebengäßchen ein
-Trupp meist jüngerer Leute. Sie hatten schwarze Samtbaretts
-schief auf den mähnigen Köpfen, schwangen drohend
-dicke Stöcke und gebärdeten sich ohne ersichtlichen Grund
-sehr aufgeregt und wild. Es waren die Mützen der deutschen
-Studenten, die das tschechische Jungvolk derart in Zorn
-brachten. Denn in ihm war die Unduldsamkeit eines kleinen
-Stammes, der rings von einem großen umklammert,
-eifersüchtig seinen Besitzstand wahrt, in jedem Farbenbändlein
-des Feindes eine Gefahr für sich erblickend. Worte
-wie Provokation und Frechheit fielen, und schon auch zerbrach
-ein Spazierstock an dem harten Schädel Deimlings.
-Der schüttelte sich nur wie ein Auerochs, den ein Kieselsteinchen
-traf, nahm Hellwig, der ihm zunächst schritt,
-unterm Arm und ging weiter mit finsterer Miene, ohne
-ein Wort zu sprechen. Auch die andern Herminonen hatten
-sich zusammengeschlossen, marschierten Schulter an Schulter
-dicht gedrängt, mit unbewegten Gesichtern, und redeten
-nicht. Jeder Widerstand, das wußten sie, trieb Wasser
-auf die Mühlen der Gegner, und schon mehr denn einmal
-hatte die unbedeutende Verletzung eines Tschechen in einem
-solchen Raufhandel den Vorwand abgegeben zur Zerstörung
-deutschen Eigentums, zu Plünderung und Raub. Darum
-dämmten sie gewaltsam ihren Zorn zurück und zogen Schritt
-für Schritt gelassen weiter. Voran ging der riesenhafte
-Braun, mit Schultern und Ellbogen sich den Weg durch
-die Erregten bahnend, die mit heftigen Gebärden immer
-wieder herzu drängten und zurückwichen, unschlüssig, ob
-sie einen ernstlichen Angriff wagen sollten. Ihre lauten
-Stimmen erfüllten die Gasse, lockten die Gäste aus den
-Schenken vor die Türen, und mancher schloß sich dem
-Zuge an. Und jedesmal, wenn einer sich hinzugesellte,
-wurde ihm, der vordem ganz ruhig sein Schöpplein getrunken,
-das Gesicht fahl vor Aufregung und in den
-glitzernden Augen erwachte der Haß. Wie eine elektrische
-Wolke umhüllte er das lautlose Häuflein der Studenten,
-und endlich mußte die Entladung erfolgen.</p>
-
-<p>Als der Trupp an einem Neubau vorüberkam, raffte
-einer blind vor Wut einen Ziegelbrocken, warf und traf
-einen Herminonen an die Schläfe. Der ächzte, stolperte
-nach vorn und wäre hingefallen, wenn ihn nicht seine
-Bundesbrüder schnell gestützt hätten. Aus einer Fleischwunde
-floß ihm das Blut über Gesicht und Kleider. Hellwig
-aber, in dem es schon lang brodelte, war, ehe ihn
-Deimling zurückhalten konnte, mitten in den dichtesten
-Knäuel gesprungen, bekam den Werfer zu fassen und
-schmetterte ihn in aufflackerndem Jähzorn zu Boden. Im
-Nu war der Wildling zwischen den Tobenden eingekeilt,
-die mit Fäusten und Stöcken nach ihm hieben, Kragen
-und Binde von seinem Hals rissen und ihn durch ihre
-Überzahl arg bedrängten. Er wehrte sich, so gut oder
-schlecht es ging. Der Hut war ihm vom Haupt geschlagen
-worden, sein feines Haar flatterte im Luftzug und gab
-lichten Schein über der gefurchten Stirn, die weiß aus
-dem Halbdunkel leuchtete, während der übrige Teil des
-Gesichts darin versank. Von vorn gestoßen, gezerrt von
-rückwärts, von allen Seiten geknufft, geschoben und gequetscht,
-mußte er sich darauf beschränken, die Hiebe mit
-emporgehobenen Armen von seinem Kopfe abzuwehren,
-und es wäre ihm übel ergangen, wenn nicht Deimling
-und Braun zu Hilfe gekommen wären. Den Kopf zwischen
-die Schultern gezogen und die vorgehaltenen Fäuste
-wie Rammböcke brauchend, brachen sie sich, ostfränkische
-Bauernsöhne, unwiderstehlich Bahn und stellten sich kampfgewärtig
-um den Bedrängten.</p>
-
-<p>Nun aber eilten Wachleute herbei und trennten die Streitenden.
-Die Tschechen wurden in die Gasse zurückgedrängt,
-die Hochschüler unter polizeilichem Schutz zum Kaffeehaus
-geleitet und dem Portier überantwortet, der sofort
-die Tore hinter ihnen schließen mußte.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>3.</h3>
-</div>
-
-<p>Der junge Mensch, den Fritz aufs Pflaster geschleudert,
-hatte zwar nicht gefährliche, aber immerhin ernstlichere
-Verletzungen davongetragen. Wie Hühner auf gestreuten
-Weizen, stürzten sich Zeitungsleute auf den Vorfall und
-schon die tschechischen Mittagsblätter brachten spaltenlange
-Berichte. Scheinbar ruhig und sachlich gehalten, wirkten
-sie durch Unterdrückung oder einseitige Beleuchtung einer
-Tatsache besser als die schärfsten Brandartikel und verfehlten
-in ihrer geschickten Fassung die beabsichtigte Wirkung
-nicht.</p>
-
-<p>Leidenschaftlich erregte Volksmassen sammelten sich und
-zogen singend durch die Straßen. Auf dem Graben, der
-sonst nach stillschweigendem Übereinkommen den Deutschen
-zum Abendbummel überlassen blieb, zog in geschlossenen
-Reihen die slawische Jungmannschaft auf, Jünglinge und
-Mädchen mit rot-weiß-blauen Bändern und Schleifen streiften
-umher und umringten die deutschen Burschenschaftler
-mit wüstem Geschrei. Langsam anschwellend rollte es die
-Straße entlang, brandete an den Häusern empor, ebbte
-ab und schwoll zurückkehrend wieder an, murrte, tobte,
-donnerte ohne Aufhören hinab und hinauf, von einem
-Menschenschwarm dem andern zugeworfen, bald dumpf
-am Boden hinrollend, bald schrill in die schwere, nebelfeuchte
-Abendluft flatternd, die es sogleich wieder niederdrückte
-und am Boden festhielt.</p>
-
-<p>Mit gelben Höfen leuchteten die Straßenlampen nur
-verschwommen in der Dämmerung. Gleich schwarzen Käfern
-hasteten die Menschen durcheinander, und wo eine
-Studentenkappe sichtbar wurde, entstand ein heftigerer Wirbel
-in den wimmelnden Massen, stürzten alle ungestüm
-herzu, fluchend, gestikulierend und aufs heftigste erbittert.</p>
-
-<p>Hellwig ging mit Braun und Deimling im Zuge der
-Herminonen. Pichler war verschwunden. Als der tolle Lärm
-losbrach, hatte er sich sacht davongestohlen. So stumm
-und kleinlaut, wie er vordem auf dem Weg von der Kneipe
-zum Bummel keck und prahlerisch einem entschiedenen
-Widerstand das Wort gesprochen, war er über die Straße
-und durch die nächste Seitengasse heimgegangen.</p>
-
-<p>Das Gewühl wurde immer stärker und schon lieferte
-man sich da und dort kleine Scharmützel. Aber sie waren
-nur rasch und kurz, als sollten vorerst die Kräfte geprüft
-und ausgekundschaftet werden, wie weit der Gegner zu
-gehen entschlossen sei. Da fiel es plötzlich einem verwegenen
-Häuflein von sieben rotbemützten Teutonen ein, die Wacht
-am Rhein anzustimmen. Gewaltig sangen sie mit ihren
-schweren Bässen das deutsche Wehr- und Trutzlied in das
-einförmige Gejohl.</p>
-
-<p>&#8222;Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!&#8220; Weiter
-kamen sie nicht. Wie losgelassene wilde Tiere stürzten
-sich die Tschechen auf die unbedachten Heißsporne. &#8222;<span class="antiqua">Ma&#382;te
-ji!</span> Haut sie!&#8220; brüllten die Jünglinge mit der slawischen
-Trikolore, und manches zarte Mädchen bearbeitete mit
-dem Regenschirmchen die Köpfe der Sänger, bis das luftige
-Dach in Fetzen am geknickten Stäbchen flatterte.</p>
-
-<p>Aber auch die andern Hochschüler mußten die Unbesonnenheit
-der sieben Kampfhähne entgelten. Eine Sturzwelle,
-warf sich die entfesselte Wut gegen die Deutschen
-und brachte sie nun wirklich in ernste Gefahr. Berittene
-Schutzleute sprengten in die Menge. Sie vermochten nichts
-gegen die wache Leidenschaft. Die arg bedrohten Deutschen
-flüchteten in die Fluren der Häuser. Aber mancher Hausbesorger
-weigerte ihnen auch diese Zuflucht und trieb sie
-wieder auf die Gasse, wo die ergrimmten Slawen neuerdings
-über sie herfielen. Die Geschäftsleute hatten ihre
-Läden schon früher geschlossen. Nun beeilten sich auch die
-Wirte und Kaffeesieder, ihre Spiegelscheiben zu verwahren,
-denn bereits waren viele eingedrückt und zertrümmert.</p>
-
-<p>Vor dem deutschen Vereinshaus war das Gedränge am
-ärgsten. Den meisten Studenten war es nach hartem
-Strauß gelungen, sich dorthin zurückzuziehen. Die Menge
-aber schickte sich allen Ernstes an, das Gebäude zu stürmen.
-Schon splitterte das Holz an den Fensterläden, wurden
-die Torflügel bedrohlich locker, als eine Schar Dragoner
-heransprengte, die im Verein mit einigen Abteilungen Fußvolk
-die Volksmassen ziemlich rasch in die Seitenstraßen
-abdrängten.</p>
-
-<p>Aber während am Graben das militärische Lagerleben
-sich entfaltete, während die angepflockten Pferde mit gesenkten
-Köpfen schlafend neben Sattelzeug und Pyramiden
-von Gewehren standen, während die Posten auf und nieder
-schritten, umsummt von den leisen Gesprächen der ruhenden
-Mannschaft, &mdash; ein Säbel klirrte, ein Pferd schüttelte
-sich und wieherte leise, still und dunkel standen die Häuser,
-&mdash; währenddessen rotteten sich in den Vororten die Vertriebenen
-wieder zusammen, und von den immer bereiten
-Scharen arbeitsscheuer Halunken unterstützt, nahmen sie
-Rache dafür, daß man sie in der Wahrung ihrer vermeintlichen
-Rechte mit Waffengewalt gehindert hatte.</p>
-
-<p>Deutsche Firmenschilder wurden von den Häusern gerissen,
-die Geschäfte aufgebrochen, die Vorräte auf die
-Gasse geschleppt, vernichtet, geraubt. Und die Steine flogen
-in die Säle deutscher Bildungsstätten und wissenschaftlicher
-Anstalten, flogen in die Spitäler bis zu den Betten
-der wehrlosen Kranken, verbreiteten Schrecken und Angst
-in den Räumen, die das tiefste Menschenelend umschlossen,
-vermehrten die Leiden der Schwerkranken und warfen halb
-Genesene in neues Siechtum.</p>
-
-<p>Die ganze Nacht dauerten die Überfälle. Sie waren so
-ausgezeichnet ins Werk gesetzt, daß der Pöbel, dem ein
-Heer von Spähern zur Verfügung stand, seine Arbeit regelmäßig
-gründlich abgetan und sich aus dem Staub gemacht
-hatte, wenn endlich die Hüter der öffentlichen Ordnung
-auftauchten. Auch der nächste Morgen brachte keine Ernüchterung.
-Posten lauerten bei verdächtigen Häusern,
-stürzten sich auf jeden, der heraustrat und mißhandelten
-ihn, wenn er als Deutscher erkannt wurde. Und wo noch
-ein unbewachtes deutsches Kauflädchen zu finden war, wurde
-es aufgesprengt und ausgeplündert. Die Behörden waren
-unentschlossen, zauderten und fürchteten sich vor den möglichen
-Folgen energischer Maßregeln.</p>
-
-<p>So verging auch dieser Tag und noch eine Nacht unter
-fortwährendem Tumult. Während der ganzen Zeit durften
-die Studenten das deutsche Vereinshaus nicht verlassen.
-Ein starker Militärkordon bewachte sie, aber heraus ließ
-man niemanden, der nicht einen unauffälligen Hut vorweisen
-konnte. Denn man wollte vermeiden, daß durch
-den Anblick der bunten Mützen die Menge von neuem gereizt
-und zu einem Angriff gegen die Truppen verleitet werde.</p>
-
-<p>In diesen Tagen höchster Bedrängnis wurde wieder
-einmal eine deutsche Eintracht geboren. Mit pomphaften
-Worten und tausend Vorbehalten erklärten sich die radikalen
-Fraktionen bereit, ihre gegen Judentum und Liberalismus
-geschliffenen Streitäxte bis zur Wiederkehr besserer
-Zeiten zu vergraben. Mit weitschweifigen Debatten und
-großen Reden ging ein kleines Geschlecht daran, das neugeborene
-Zufallskind eines großen Augenblicks auf die
-Taufe zu heben.</p>
-
-<p>Nun war da unter den Freisinnigen ein Hochschulprofessor,
-der in seiner stillen Gelehrtenstube ein fleißiges
-Arbeitsleben führte, in bescheidener Zurückgezogenheit seiner
-Wissenschaft lebte und von vielen übersehen oder wenig beachtet
-wurde, weil er jedem Hervortreten fast ängstlich
-auswich. Um so größeren Eindruck machte es, als er
-sich jetzt unter dem Zwang einer ehrlichen Entrüstung zur
-ganzen Höhe seiner hageren Gestalt erhob und die Erregung
-hinter einer trockenen Knappheit bergend, mit dürren
-Worten darlegte, was nach seiner Ansicht zur Abwehr
-weiterer Drangsal und zur Sühne der erlittenen Unbilden
-fürs erste zu geschehen habe. Über seine Anregung wurde an
-den Ministerpräsidenten ein Telegramm abgesendet, worin
-der kalte Stolz gekränkten Rechts sofortige Abhilfe forderte,
-wenn es nicht zur Selbsthilfe kommen sollte. Dann begab
-sich eine Abordnung zum Statthalter und verlangte Schutz
-und entschiedenes Eingreifen.</p>
-
-<p>Jetzt endlich wurde der Belagerungszustand über die
-aufgestörte Stadt verhängt und binnen kurzer Frist eine
-halbwegs erträgliche Ordnung hergestellt.</p>
-
-<p>Durch diese Ereignisse wurde Fritz gegen Wunsch und
-Absicht in den Wirbel der nationalen Bewegung mit hineingerissen.
-Seine zupackende Handgreiflichkeit gegen den
-Ziegelwerfer hatte ihn bekannt gemacht. Er wurde als
-Vertreter der Finkenschaft in die Abordnung gewählt, und
-da es den Kampf gegen eine Ungerechtigkeit galt, sagte
-er nicht nein. Die vollwertige Persönlichkeit jenes Universitätsprofessors
-aber nahm ihn rasch gefangen, war
-mit ihrer ehrlichen Begeisterung und Besonnenheit ganz
-darnach angetan, den unberatenen Jüngling in der Ansicht
-zu bestärken, daß hier um ein Menschengut gekämpft
-werde, das auch tüchtigen und reifen Männern kostbar
-sei. Darum legte er sich unbesinnlich mit voller Kraft
-ins Zeug und gab sein Bestes her, um den überkommenen
-Auftrag ehrenvoll zu bestehen und dem Volke, dem er angehörte,
-nützlich zu sein, soweit er das als halbfertiger
-und unerfahrener Schüler vermochte. Doch fand er trotz
-allem in dieser Tätigkeit keine volle Befriedigung, spürte
-vielmehr ein vages Unbehagen, ohne die Quelle zu kennen,
-aus der es floß.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>4.</h3>
-</div>
-
-<p>Während der zwei Sturmtage hatte auch Pichler die
-Wohnung nicht verlassen. Doch hielt er sich nicht in seiner
-eigenen Stube auf, in die leichtlich von der Gasse ein
-Stein hätte fliegen können, sondern vertrieb sich im Hofzimmer
-die Zeit, so gut es ging, indem er mit der Wondra
-Mühle spielte, meistens aber rauchend mit gekreuzten
-Beinen im Lehnstuhl des Astronomen saß und nicht zum
-Hradschin, sondern den Leuten des gegenüberliegenden Hauses
-in die Fenster schaute. Das behagte ihm je länger, je
-besser, da es zumeist dienstbare weibliche Wesen waren,
-die er zu Gesicht bekam und die in hofseitigen Küchen und
-Kammern tagsüber mit den Hausfrauen um die Wette
-geschäftig sich regten, in einsamer Frühe mit Hemd und
-Unterrock bekleidet sich die Haare ordneten und abends auch
-noch die Röcke auszogen, um sich rasch zu reinigen, bevor
-sie die Lämpchen verlöschten.</p>
-
-<p>Die Wondra störte ihn nicht in diesem beschaulichen
-Treiben. Wohl hockte sie rauchend, schwatzend und strickend
-im selben Zimmer, aber sie schaute meist auf den Wollschlauch,
-der unter den klappernden Nadeln zusehends wuchs
-und hatte durchaus nicht acht, wohin unterdessen ihr Mietsmann
-die Blicke wandern ließ.</p>
-
-<p>Von den Vorfällen der letzten Tage wußte sie die übertriebensten
-und blutrünstigsten Geschichten zu erzählen, mit
-einer Anschaulichkeit, als wäre sie überall mit dabeigewesen.
-Dazu lebte sie in der beständigen Angst, daß auch ihr
-die Stuben geplündert werden könnten, weil sie Deutsche
-beherbergte; deswegen begab sie sich sehr zeitig zu Bett,
-als ob, wenn <em class="gesperrt">sie</em> schlief, auch alle anderen das gleiche
-tun und sie in Ruhe lassen müßten. Vorher jedoch verwahrte
-sie ihre Wohnung auf das sorgsamste, und Pichler
-mußte ihr jeden Abend beistehen, wenn sie den Eingang
-mit dem Küchenkasten verrammelte und zur Sicherheit
-noch ein paar Sessel darauftürmte. Erst dann kroch sie
-beruhigt in die Federn, während Otto, nunmehr mit einem
-Fernrohr des Sternguckers, wieder im Lehnstuhl Platz
-nahm, zuvor aber die Lampe zurückschraubte, um zu verhüten,
-daß die ahnungslosen Mägde ihn erblickten und
-durch Herablassen der Rollvorhänge dem angenehmen
-Schauspiel ein Ende machten.</p>
-
-<p>Von Fenster zu Fenster ließ er sein Perspektiv wandern,
-und da bemerkte er in einem hellen Kämmerlein auch
-ein junges Frauenwesen, das dort an der Nähmaschine
-saß und unablässig weiße Leinwandflächen unter die Nadel
-schob. Ganz deutlich sah er das reine Profil und den
-nackten, schlanken Hals, der sich in einer anmutigen Linie
-hinter der Hausjacke verlor, alles vom Lichte der seitlich
-stehenden Lampe voll beleuchtet. Das gefiel ihm aus der
-Maßen wohl.</p>
-
-<p>Am nächsten Morgen erwachte er erst spät. Sein erster
-Blick galt wieder jenem Fenster; da stand die fleißige
-Näherin im geöffneten Rahmen fertig angezogen und beutelte
-aus einem Flanelltüchlein eine Wolke Staubes in
-die Luft hinaus. Wie ein freundliches Winken war das,
-und Otto winkte zurück, indem er lächelnd die Hand gegen
-das Fräulein bewegte. Darüber erschrak dieses ein wenig,
-betrachtete aber den hübschen Jungen mehr erstaunt als
-entrüstet. Nun wagte er es und warf eine Kußhand hinüber.
-Sie lachte ein ganz kurzes Lachen in hohen Kehltönen,
-nickte, drehte sich auf dem Absatz herum, und
-ihr Rocksaum wehte, während sie im Dunkel des Zimmers
-verschwand. Aber nach einer Weile kam sie wieder
-und blieb jetzt schon länger beim Fenster.</p>
-
-<p>Schimmernde Fädchen spannen sich, von einem Fenster
-zum andern zogen sie sich wie helle Seide oder leichte
-Sonnenstrahlen, auf denen die verliebten Jugendgeisterchen
-ein lustiges Seiltanzen begannen mit halsbrecherischen
-Sprüngen und Nicken und Neigen. Zag oder mutig, ängstlich
-oder keck trippelten, tollten sie hinüber, herüber, bis
-hinter der lichten Mädchengestalt eine rundliche Frau mit
-gestrenger Miene auftauchte, worauf die männliche Geisterschar
-kopfüber in den Hof purzelte, die weibliche aber in
-den tiefblauen Winterhimmel hinein lachend davonschwebte.</p>
-
-<p>Es war, wie Otto gleich vermutet hatte und von der
-Wondra bestätigt erhielt, die Mama gewesen. Die Wondra
-wußte auch, daß sie einen kleinen Postbeamten zum Mann
-und zwei Töchter besaß. Die ältere sollte in einigen Wochen
-Hochzeit machen und ließ sich, während sie mit Eltern
-und Bräutigam bei Freikonzerten und in Vergnügungslokalen
-ihre abendliche Unterhaltung suchte, von der jüngeren
-Schwester, der braven Helenka, die Aussteuer fertig
-nähen.</p>
-
-<p>Pichler wich den ganzen Tag nicht von seinem Lauscherposten
-und nahm sich kaum zum Essen Zeit. Indes zeigte
-sich die Helenka erst abends wieder in jenem Gemach,
-und mit verliebten Augen betrachtete er die runde Anmut
-ihrer Bewegungen, wie sie flink und leicht in dem Leinwandhaufen
-herumwirtschaftete. Er nahm die Lampe und
-stellte sie beim Fenster so auf, daß ihr Schein auf ihn
-fallen mußte. Dann warf er wieder eine Kußhand hinüber.
-Da ließ sie die Hände in den Schoß fallen, lehnte sich in
-dem Stuhl zurück und lachte ausgelassen. Er lachte auch,
-winkte und verneigte sich. Sie winkte wieder, war blutrot
-und lachte fort, bis sie plötzlich ihre Arbeit zusammenpackend,
-nun ihrerseits die Hand an die Lippen legte und
-mit den geküßten Fingerspitzen durch die Luft fuhr, worauf
-das Licht blitzschnell erlosch.</p>
-
-<p>Mit glänzenden Augen schaute Otto auf das dunkle
-Fenster, rieb sich die Hände, schnippte mit den Fingern
-und freute sich unbändig. Doch hinderte ihn das nicht,
-nachher andächtig dem Treiben der schläfrigen Mägde zuzusehen
-und hierauf selbst einen gesunden Schlaf zu tun,
-den vergnügliche Träume begleiteten.</p>
-
-<p>Durch ein lautes Krachen wurde er mitten in der Nacht
-unsanft geweckt. Gleich darauf kam die Wondra im
-Barchentunterrock mit einem Angstgezeter in sein Zimmer
-gestürzt. Denn sie vermutete nichts anderes, als daß ihre
-Landsleute bei ihr einbrechen und für den Volksverrat
-Rache nehmen wollten. Auch Otto mochte Ähnliches erwarten
-und machte ein bängliches Gesicht. Da erhob sich
-draußen mächtiger Gesang: &#8222;Raus da! Aus dem Haus
-da! Rrraus! Rrraus! Rrrraus!&#8220;</p>
-
-<p>Karg, König, Fundulus und Hellwig waren heimgekehrt
-und hatten sich, da die Tür nicht nachgeben wollte,
-mit vereinten Kräften dagegen gestemmt, so daß die Stühle
-polternd von dem Küchenkasten fielen und dieser selbst
-ins Wanken kam. Nun verwandelte sich das Angstgezeter
-der Witwe in einen Freudenlärm. Trotz der ungewöhnlichen
-Stunde wollte sie zur Feier der glücklichen Wiedervereinigung
-ein kleines Gelage veranstalten bei schwarzem
-Kaffee mit Rum und bei Flaschenbier, das sie in der kühlen
-Jahreszeit stets in genügender Menge vorrätig hielt. Die
-Studenten jedoch wollten erst wieder einmal ordentlich
-ausschlafen, bedankten sich und vertrösteten die unternehmende
-Kostfrau auf eine gelegenere Zeit. Ungern gab
-sie nach, wünschte zuvor wenigstens noch die Erlebnisse
-ihrer Mieter sogleich zu erfahren und ermüdete nicht im
-Fragen, bis Karg die wohlbeleibte Dame nicht gerade
-sanft in ihre Kammer zurückbeförderte und die zugeschlagene
-Tür den rauschenden Redeschwall vorläufig staute.</p>
-
-<p>Weniger als die Hauswirtin war Pichler über die Ankunft
-der Stubengenossen erfreut, weil dadurch das begonnene
-Schäferspiel unliebsam gestört wurde. Indes, die
-Sache war bereits eingefädelt und spann sich ohne Schwierigkeiten
-weiter. Am nächsten Vormittag erwartete er die
-Helenka bei ihrem Haustor und hatte die Genugtuung,
-daß sie ihn erkannte und im leichten Schreiten mehrmals
-zurückblickte, ob er ihr nachfolgte. Dies tat er denn auch
-in angemessener Entfernung. Nun er sie im Straßenkleid
-sah, erschien sie ganz anders und gefiel ihm fast noch
-besser. Sie war ziemlich groß, von reichen, vollen Formen,
-die durch ein straff gezogenes Mieder unter einem
-kurzen Jäckchen und einem knappen Rock ohne Falten aufs
-günstigste zur Geltung gebracht oder vielmehr diskret unterstrichen
-wurden. Eine weiße Matrosenmütze, von einem
-silbernen Pfeil gehalten, saß keck auf einer Fülle dunklen
-Gelocks, an den leise schaukelnden Hüften wiegte sich ein
-gewaltiger Henkelkorb im Takte mit. So schritt sie rasch
-und resch mit schnellen Schritten vor ihm her, stramm
-aufgerichtet und sehr selbstbewußt im Gefunkel ihrer jungen
-Schönheit.</p>
-
-<p>Als sie ihre Einkäufe besorgt hatte und mit gehäuftem
-Korbe heimging, fragte Pichler mutig, ob er sie begleiten
-dürfe. Sie bejahte verlegen. Aber als er sich vorgestellt
-hatte, begann sie sogleich ein lebhaftes Schwatzen über
-ihre Näherei, ihre Familie und die bevorstehende Hochzeit,
-über die winterliche Kälte und über viele andere Dinge
-in dem kleinbürgerlichen Bestreben, das Gespräch nicht
-ins Stocken geraten zu lassen. Fast ganz allein bestritt sie
-es, in einem etwas holprigen und mühsamen Deutsch.
-Aber Pichler fand auch die Fehler reizend, die ohne alle
-Ziererei neckisch wie Flocken von den schmalen Lippen fielen.</p>
-
-<p>Von nun an traf er sie täglich, einmal am Vormittag,
-einmal gegen Abend, je nachdem sie Zeit hatte. Die Stunde
-gab sie ihm bekannt, indem sie dicke Ziffern mit Tinte auf
-Papierblätter malte und gegen die Fensterscheiben hielt.</p>
-
-<p>Die Stadt hatte wieder ihr gewöhnliches Aussehen, die
-Erregung schien verbraust, friedlich bewegte sich jede der
-feindlichen Nationen auf ihrem Bummel, die Deutschen
-auf dem Graben, die Tschechen auf dem Roßmarkt und in
-der Ferdinandsstraße. Otto zeigte sich mit Helenka bald
-da, bald dort, und je nachdem, wo sie gingen, sprach er
-deutsch oder böhmisch mit ihr. Denn er hatte sie gebeten,
-ihm in der Erlernung der zweiten Landessprache
-behilflich zu sein, und so war dieser Liebeshandel nicht
-nur reizvoll, sondern auch praktisch.</p>
-
-<p>Sie war eine Vollblut-Tschechin und machte kein Hehl
-aus ihrer Gesinnung, was sie aber nicht hinderte, auch
-an hübschen deutschen Männern Gefallen zu finden. Doch
-war ihre Gunst nicht leicht zu erringen, denn sie war sich
-ihrer Schönheit voll bewußt und konnte wählerisch sein,
-weil sie von vielen umworben wurde. Am wenigsten verfingen
-Schmeicheleien bei ihr, da sie solche schon bis zum
-Überdruß zu hören bekommen. Das hatte Pichler bald
-weg und änderte im selben Augenblick von Grund aus
-seine Kriegskunst. Er wurde kurz angebunden, derb, sogar
-grob. Alles, worauf sie Wert legte oder sich was
-einbildete, setzte er herab, mäkelte daran und tadelte es,
-wählte aber seine Ausdrücke derart bedachtsam, daß er
-immer nur eine allgemeine Ansicht zu äußern schien. Erzählte
-sie, stolz auf ihre prächtige Büste, daß sie auf
-dem letzten Ball ein ausgeschnittenes Kleid nur mit Armspangen
-getragen und was für Aufsehen sie erregt habe,
-tat er höchst gleichgültig und bemerkte nur beiläufig, er
-habe einmal aus einem ähnlichen Anlaß mit einem Mädchen
-sich überworfen, das er gleicherweise, wie es ihn,
-sehr gut leiden mochte. Er habe damals mit der Schönen
-nicht ein einziges Mal getanzt, und als sie Aufklärung
-verlangte, habe er ihr nur kurz geraten, sie möge auf
-den Markt gehen und sich dort ausstellen; er werde sie
-begleiten und wie ein Pferdehändler die gediegene Wölbung
-der Brust anpreisen, die tadellosen Arme, Schenkel
-und so weiter. Er habe sich nicht anders helfen können
-damals, denn diese Schaustellung der Reize sei ihm widerlich
-gewesen, und gewohnt, mit seiner Meinung nicht hinterm
-Berg zu halten, habe er eben klipp und klar herausgesagt,
-was er sich dachte.</p>
-
-<p>Danach hatte die Helenka auf dem ganzen Heimweg
-kein Wort mehr geredet, aber er war dennoch mit seiner
-Erfindung und ihrer Wirkung sehr zufrieden. In der Tat
-blieb diese Art des Umgangs nicht ohne Eindruck bei einem
-Mädchen, das zwar schön und im Plaudern gewandt, sonst
-aber just kein Kirchenlicht war. Bald war ihnen der Bummel
-zu belebt, sie mieden ihn und suchten einsamere Gassen,
-wo es die Helenka schweigend litt, daß er ihren Arm
-packte und mit hastiger Zärtlichkeit an sich drückte. Und
-einmal, als sie von einem ernsten Bewerber erzählte, der
-auf der Bildfläche erschienen war, riß er sie heftig an
-sich. &#8222;Helenka, so lasse ich dich keinem andern!&#8220; Mitten
-auf der Gasse küßte er sie und kümmerte sich nicht um
-ihr Sträuben und nicht um die Leute.</p>
-
-<p>Von nun an trugen sie das heimliche Sehnen ihrer
-klopfenden Herzen in noch größere Abgeschiedenheit. Eng
-aneinander gedrängt gingen sie längs des Moldauufers
-spazieren, über einen weiten ebenen Plan, wo das geflößte
-Brenn- und Bauholz aus dem Böhmerwald aufgestapelt
-war. Gute Verstecke gab es hier, die zu Raummetern
-geschlichteten Scheite waren wie Mauern und die
-glatten Stämme der toten Waldriesen wie Bänke. Ganz
-dunkel war es und nichts war hörbar, als das Glucksen
-und Plätschern, wenn eine stärkere Welle gegen das sandige
-Ufer schlug. In der Ferne blitzten die Lichter der Stadt
-und lagen in gelben Streifen über den schwarzen Fluten,
-ein schrilles Läuten der Straßenbahn kam herüber, eine
-Turmuhr schlug mit langsam verhallendem Klang &mdash; dann
-war wieder nichts als das dumpfe Rauschen im Fluß.
-Als wären sie beide allein auf der Erde, so war das und
-so gab sich die Helenka dem Werbenden. Sie tat es ohne
-Lüsternheit oder Neugierde, als schenkte sie ihm nur, was
-ihm gebührte, weil es für ihn allein in dieser dunkeln Einsamkeit
-aus ihrem jungen Herzen emporgewachsen war.</p>
-
-<p>Dann aber starrte sie ihn, die Hände auf seinen Schultern,
-mit entsetzten Augen an und stieß ihn wild von sich.</p>
-
-<p>&#8222;Mein armer Vater!&#8220;</p>
-
-<p>Ganz klanglos sagte sie das und wiederholte es mehrmals
-und wimmerte leise.</p>
-
-<p>Otto stand ratlos und wußte nicht, wie er sie beruhigen
-sollte. Sie tat ihm nicht so sehr leid, er war mehr ungehalten,
-daß sie ihm jetzt diese Szene machte und die Freude
-verdarb. Plötzlich aber erhob sie sich mit einem entschlossenen
-Ruck und drückte sich unter der runden Mütze das Haar
-an den Schläfen zurecht. &#8222;Komm!&#8220; sagte sie nur und
-schritt ohne Aufenthalt schnell gegen die Stadt. Sie
-weinte nicht mehr, aber sie sprach auch nicht. Stumm
-ging sie neben ihm her. Manchmal atmete sie in ihr
-Taschentuch und preßte es an die geröteten Lider, um die
-Spuren der Tränen auszutilgen. Aber durch die Stadt
-schritt sie wieder ganz aufrecht, mit frei erhobenem Kopf
-und wagerechtem Kinn. Otto wollte etwas sagen. Mit
-einer heftigen Handbewegung winkte sie ihm Schweigen.
-Sie wollte nicht gestört sein in dem Belauschen ihrer aufgeschreckten
-Seele und dem staunenden Hineinhorchen in
-den Aufruhr des Blutes. Beim Haustor neigte sie flüchtig
-den Kopf und schritt rasch und fest hinein, ohne ein
-Wort oder Lächeln zum Abschied.</p>
-
-<p>Er atmete auf. Seiner jubelnden Siegerfröhlichkeit war
-der stumme Heimweg zur Qual geworden. Alles in ihm
-drängte nach lauter, lärmender Freude. Und statt dieser
-Luft machen zu dürfen, hatte er mit einer Leichenbittermiene
-neben ihr hergehen und seufzen müssen, wo er
-jauchzen wollte. Er lief mehr als er ging in die Herminonenkneipe,
-trank dort, sang und schwärmte übermütig
-mit den Füchsen bis zum Morgengrauen.</p>
-
-<p>Am nächsten Vormittag stand die Helenka wieder beim
-Fenster und kündete mit ihren Tintenziffern die Stunde
-des Stelldicheins. Und von nun an war alles gut, und
-sie war lustig und fügsam und sehr verliebt.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>5.</h3>
-</div>
-
-<p>Das Wintersemester war vorüber. Fritz war wenig vorwärts
-gekommen. Durch den Verkehr mit den Studenten
-war er einem gelinden Trinken anheim gefallen
-und der Gewohnheit, abends lang im Wirtshaus zu sitzen.
-Anfangs hatte er sich Vorwürfe gemacht und zu bremsen
-versucht. Aber da kamen ihm die Bekannten auf die
-Bude gerückt, und notgedrungen mußte er als ihr Vertrauensmann
-mithalten. Später schwächte der reichlichere
-Genuß des Alkohols seine Widerstandskraft, das Trinken
-wurde ihm sogar Bedürfnis, um die Lustlosigkeit zu bannen,
-in der er jetzt wie in einer halbhellen Dämmerung
-lebte. Er ging spät zu Bett und stand mit wüstem Kopf
-spät auf, fühlte sich müde, leer, unzufrieden und konnte sich
-doch zu keiner ernsten Arbeit zusammenraffen, ließ vielmehr
-den Herrgott einen guten Mann und fünf gerade sein.</p>
-
-<p>Seine Barschaft schmolz bei diesem Leben rasch. Während
-Otto schon drei Mittelschülern Nachhilfeunterricht erteilte,
-war es ihm bisher nicht geglückt, Ähnliches aufzutreiben.
-Überall wurde er abgewiesen. Der Vermerk auf
-seinem Zeugnis, daß er vom Neuberger Gymnasium ausgeschlossen
-worden war, machte fürsorgliche Eltern stutzig; sie
-wagten nicht, ihm ihre Kinder anzuvertrauen. Und er
-war zu hölzern und zu stolz, um sein Licht auf den Scheffel
-zu stellen oder als Vertrauensmann seine Beziehungen zu
-den Parteigrößen auszunützen. Da las er in einer Zeitung,
-daß ein Rechtsanwalt einen Schreiber für die Nachmittage
-suchte. Er bewarb sich um den Posten und erhielt
-ihn. Das brachte ihn noch mehr aus der Bahn. Trüb
-und trostlos eintönig schlichen die Tage neben ihm her,
-zwischen stumpfsinnigem Wirtshaushocken am Abend und
-gleichgültiger Mattigkeit am Morgen war einer wie der
-andere ausgefüllt mit dem Schreiben von Mahnbriefen,
-Klagen, Pfändungsgesuchen, und alle waren sie verloren.</p>
-
-<p>Hätte er ein gemütliches Daheim oder wenigstens eine
-ruhige Kammer gehabt, er wäre vielleicht eher aus diesem
-grauen Netz herausgekommen, in dem er hing wie die
-Fliege im Spinngewebe und sich wehrlos den Lebensmut
-austrinken ließ. So aber fühlte er einen Ekel vor dem
-Treiben der Wondra. Er floh davor und floh vom Teufel
-zum Beelzebub &mdash; in die Kneipen und Kaffeehäuser.
-Manchmal kam ihm in diesen jammervollen Monaten der
-Gedanke an Eva. Aber wenn dieser jemals treibende Kraft
-für ihn gehabt, so hatte er sie jetzt verloren. Wie wenn
-einer, der im zähen Moorgrund langsam versinkt, zu einem
-schönen Stern hinaufblickt und sich denkt: &#8218;Den siehst du
-auch bald nicht mehr!&#8216; &mdash; so war es und machte ihn
-traurig und jeden Halt nahm es ihm.</p>
-
-<p>Bei den Studenten war er gut gelitten. Er galt als
-treu und verläßlich, und die trockene Sprödigkeit, die er
-im Umgang an den Tag legte, wurde von den jungen
-Leuten als Zeichen männlicher Reife und Wahrhaftigkeit
-genommen und hochgehalten. Aber je mehr man sich um
-ihn riß, je scheuer und zugeknöpfter wurde er. Er litt
-unter diesem Leben ohne Inhalt, das um so leerer wurde,
-je weiter die hellen Kampftage in die Vergangenheit zurücksanken.
-Rasch wie die Fehde entbrannt, war sie auch
-vergessen und die Gegenwart wieder angefüllt mit Kneipen,
-Nachtschwärmen und Raufereien unter den einzelnen
-Verbindungen. Und er zechte und schwärmte mit und
-wenn er noch in keinen Ehrenhandel verwickelt worden
-war, so hatte er das nur seiner Wortkargheit zu danken.</p>
-
-<p>Schal war das alles, belanglos und nichtswürdig. Aber
-loskommen konnte er doch nicht.</p>
-
-<p>In die Hörsäle kam er nicht mehr. Er schämte sich,
-mit schwerem Kopf und stumpfen Sinnen hinzugehen.
-Statt dessen saß er jetzt auch an den Vormittagen in
-der Kanzlei. Denn die ungeordnete Lebensweise kostete
-viel Geld, und schon gab er täglich mehr aus, als er, das
-Erworbene eingerechnet, verbrauchen durfte. Vom Bureau
-ging er ins Kaffeehaus, wo er die Tagesblätter und sämtliche
-ernstere Zeitschriften las, deren er habhaft werden
-konnte. Gewöhnlich blieb er dort bis spät abends, begab
-sich dann in eines der Studentenwirtshäuser. Er brachte
-es nicht über sich, bei der Wondra das Nachtmahl zu
-nehmen. Sie rechnete auch bei der Zubereitung nicht mehr
-mit ihm, aber den Kostpreis setzte sie ihm deswegen doch
-nicht herab.</p>
-
-<p>Dann kamen wieder Abende, an denen es ihm einfach
-unmöglich war, ein menschliches Gesicht zu sehen. An
-denen er die Kneipen mied und trotz Frühlingswind und
-Regenwetter im Freien sich herumtrieb. Den Radmantel
-um die Schultern, lief er pfadlos am Strand der Moldau
-herum. Das aufgeweichte Erdreich klebte in Klumpen an
-seinen Sohlen und machte sie schwer, unter seinen Tritten
-spritzte ihm das Schmutzwasser der Regenpfützen oft bis
-ins Gesicht, und nach jedem solchen Ausflug schalt die
-Wondra, daß seine Kleider nicht sauber zu kriegen seien.
-Aber immer wieder rannte er in diese tiefdunkle Einsamkeit,
-als könnte er sich dort vor seinem eigenen Ich verstecken.
-Aber er entkam sich nicht. Alle Vorwürfe und
-aller Ekel über sein unwürdiges Treiben gingen unablässig
-mit ihm durch die Finsternis, und er fühlte nur,
-daß er sich Stunde um Stunde an sich selbst versündige,
-indem er in schlaffem Müßiggang seine blanken Kräfte
-rosten ließ. Manchmal auch packte ihn ein sinnloser Zorn,
-der ihm Tränen in die Augen trieb. Er schlug mit geballten
-Fäusten seinen Leib, und je mehr es ihn schmerzte,
-mit desto wilderer Freude schlug er weiter, auf Arme,
-Wangen, Schläfen, und höhnte und beschimpfte sich mit
-häßlichen Worten, die in einem Schluchzen erstickten. Jedes
-Ziel war ihm entglitten, er ging mit verbundenen Augen
-um sein Leben herum wie der Gaul im leeren Göpel.</p>
-
-<p>Die nächtlichen Wanderungen führten ihn weit über
-die Holzplätze hinaus in eine Gegend, wo der neue Hafen
-erstehen sollte. Die Arbeiten hatten noch nicht begonnen,
-aber schon waren in der großen Kotwüste Baggermaschinen
-aufgestellt und neben angehäuften Baustoffen Holzhütten
-und Verschläge für die Karren und Werkzeuge errichtet
-worden. Nur selten kam in den Abendstunden ein Mensch
-hieher. Ihn aber trieb es immer wieder in diese Öde, die
-so gut zu seiner Stimmung paßte. Stundenlang konnte
-er dort hocken und vor sich hinbrüten, während der Regen
-kühl und traurig ohne Pausen auf ihn niederfiel. Und
-je unfreundlicher das Wetter war, je länger blieb er,
-als wollte er mit diesem freiwilligen Ausharren in einer
-Beschwerde nur irgendwie eine sühnende Tat setzen, wenn
-er schon nichts anderes zuwege brachte.</p>
-
-<p>Da vernahm er einst &mdash; es war ein naßkalter Aprilabend
-&mdash; ein Husten und Stöhnen wie von einem unruhigen
-Schläfer, schaute um sich und gewahrte einen spärlichen
-Lichtschein, der aus einer der hölzernen Hütten flimmerte.
-Leise ging er darauf zu. Und wie er vorsichtig durch die
-Fugen der Bretterwand spähte, sah er im Innern des
-matt erhellten Raumes zwei Gestalten auf dem bloßen
-Erdboden hingestreckt, während drei andere neben einem
-Feuer kauerten und einem geschlachteten Pudel das Fell
-abzogen. Das Feuer brannte in einem Viereck aus Ziegelsteinen,
-und auf diesem Herd stand ein verbogener Blechtopf,
-darin das Wasser schon zu dampfen anfing.</p>
-
-<p>Die fünf Kumpane mochten wohl schon öfters hier übernachtet
-haben und schienen sich in ihrem Schlupfwinkel
-ganz sicher zu fühlen, weil sie sich so sorglos gehen ließen.
-Gern hätte sich Fritz zu ihnen gesellt. Aber sein Erscheinen
-hätte sie höchstens beunruhigt oder mißtrauisch
-gemacht, und helfen konnte er ihnen doch nicht. So ließ
-er es bleiben.</p>
-
-<p>Das Hundefleisch war gar geworden. Nun wurden auch
-die Schläfer munter und setzten sich zum Feuer. Alle
-schwiegen, streckten die Hände nach den rauchenden Fleischstücken,
-rissen mit den Zähnen große Fetzen los, die sie
-mit der Hast des Hungers verschlangen. Dazu tranken
-sie von der gelblich-grauen Fettbrühe mit schmatzenden
-Lippen, und in ihren knochigen Gesichtern war ein Ausdruck
-der Zufriedenheit, als säßen sie bei dem alten Schlemmer
-Lukull zu Tisch. Satt gegessen, kramten sie aus
-den Taschen die gesammelten Zigarrenstummel, setzten sie
-in Brand und streckten sich längelang auf den nackten
-Erdboden aus, die verschränkten Hände als Kissen unterm
-Kopf. Einer hatte auch eine gefüllte Schnapsflasche mit,
-die im Kreis herumging und schnell leer war. Solang
-das Feuer brannte, unterhielten sie sich halblaut miteinander.
-Sie redeten deutsch, aber aus ihrer Aussprache
-hörte der Lauscher, daß nur zwei von ihnen wirklich
-Deutsche waren, der &#8218;Schwabe&#8216; und der &#8218;Bayer&#8216;, wie sie
-genannt wurden, während die drei anderen, der &#8218;Tschasbauer&#8216;,
-der &#8218;Wasserkopf&#8216; und der &#8218;Krowot&#8216; der slawischen
-Rasse angehörten.</p>
-
-<p>Sie erzählten von ihren vergeblichen Gängen um Arbeit
-und verwünschten das milde Wetter, weil es schneller
-den Schnee weggeräumt hatte als sie mit ihren Schaufeln.
-Dann wurden sie einsilbiger und schliefen endlich ein,
-indes der Regen ohne Pause rieselte und der Wind empfindlich
-kalt durch die Bretterwände pfiff.</p>
-
-<p>Fritz schlich sacht davon. Seine Kleider waren schwer
-von Nässe, in den Vertiefungen seines Filzhutes bildete
-das Wasser kleine Teiche. Aber heim ging er noch nicht.
-Eine dumpfe Trauer war in ihm, und mit doppelter Gewalt
-griff die Reue über so viele nutzlos verzettelte Tage
-an sein Herz. Denn es war ihm gewesen, als hätte im
-unsteten Flackern des dürftigen Feuerchens hinter Qualm
-und rauchiger Glut wie in weiter trüber Ferne das verlorene
-Ziel flüchtig herüber geleuchtet.</p>
-
-<p>... Den Elenden und Gequälten ein freies, heiteres
-Dasein schaffen, ihnen das Recht auf Glück zurückerobern
-&mdash; ein Ziel, wohl wert, sein Leben dafür aufzuwenden ...</p>
-
-<p>Hatte wirklich einmal einer so zu ihm gesprochen, und
-er hatte sich ihm zugeschworen mit Handschlag und Gelöbnis?
-Und statt dessen schritt er satt und behäbig in den
-Reihen der Behäbigen und Satten, trank sein Bier in
-Ruhe und ereiferte sich höchstens im Streit der Glieder
-untereinander, indes der ganze Körper in schwerer Not
-rang. Die Menschheit war dieser Körper, und ihre Not
-war der Hunger. Und wo dieser war in seinem bittersten
-Ernst, da war auch kein Kampf von Volk zu Volk, von
-Bruder zu Bruder. Da saß der Bayer mit dem Polen,
-der Deutsche mit dem Slawen beim Feuer, und sie
-teilten sich einträchtiglich im Fleisch eines gestohlenen
-Hundes.</p>
-
-<p>Und während er in Regen und Sturm durch die Frühlingsnacht
-irrte, wurde ihm immer klarer und erkannte
-er immer deutlicher, daß die Unzufriedenheit, die Unlust
-und Leere der letzten Monate nicht seinem Müßiggang
-entsprang, nicht dem Wirtshaushocken und Zechen und
-Saufen. Das waren nur die Folgen, die Ursache aber
-war, daß er sich an eine Sache mit halbem Herzen und
-gegen seine innerste Überzeugung hingegeben. Das Unrecht,
-die Vergewaltigung, die der Schwächere erdulden
-mußte, hatten ihn geblendet, so daß er nicht sah, daß
-der ganze Kampf ein Unrecht war und ein Frevel an
-der Allgemeinheit.</p>
-
-<p>Als er endlich &mdash; der Morgen brach an &mdash; nach Haus
-kam, begegnete er dem Mediziner Karg, der ohne Gruß
-an ihm vorüber und die Treppe hinabeilte. Unter der
-Wohnungstür stieß er mit dem Astronomen zusammen.
-Auch der war bleich und ernst und grüßte kaum. Fritz
-war zu müde, als daß ihm das aufgefallen wäre. Er
-entledigte sich seiner Kleider, aus denen in trüben Bächlein
-das Regenwasser rann und fiel in einen bleischweren
-Schlaf.</p>
-
-<p>Nach kaum zwei Stunden wurde er von Pichler wach
-gerüttelt. Der hübsche Mensch hatte blasse, zitternde Lippen
-und war ganz verstört.</p>
-
-<p>&#8222;Fritz, steh&#8217; auf! Karg hat den König erschossen!&#8220;</p>
-
-<p>Es war so. Betrunken hatten sie in einem Nachtkaffee
-Streit angefangen, der mit Faustschlägen und Ohrfeigen
-endete. Nüchtern geworden, hatten sie sich am nächsten
-Tag wieder versöhnt und das frühere Einvernehmen hergestellt.
-Aber Deimling war Zeuge des Auftritts gewesen
-und duldete eine so gemütliche Beilegung nicht. Ein Mitglied
-der Herminonia war tätlich beleidigt worden, und
-dafür gab es nach seinen starren Ehrbegriffen nur eine
-Sühne mit den Waffen, sollte kein Makel an den Farben
-der Landsmannschaft haften bleiben. Das sagte er dem
-Karg, und als der entgegnete, die Sache sei bereits durch
-gegenseitige Entschuldigung aus der Welt geschafft, erklärte
-Deimling finster, er hätte gedacht, der Fuchsmajor
-würde besser wissen, was die Ehre der grün-weiß-roten
-Farben gebieterisch fordere. Für seine Person könne er
-ja die Hiebe ungestraft auf sich sitzen lassen. Aber dann
-werde der Fall in der nächsten Kneipsitzung zur Sprache
-kommen, und da werde es sich ja zeigen, ob ein Geohrfeigter,
-der sich für eine solche Schmach nicht Genugtuung
-mit den Waffen verschaffe, ferner noch würdig
-sei, das grün-weiß-rote Band zu tragen.</p>
-
-<p>Nun war Karg mit Leib und Seele bei seiner Burschenherrlichkeit
-und war viel zu oft schon auf Mensur gestanden,
-als daß es ihm auf einen Ehrenhandel mehr oder
-weniger, selbst mit einem guten Freunde, sonderlich angekommen
-wäre. Wenn Deimling wollte, ging er eben los,
-da war weiter nichts dabei. Aber die Osterferien standen
-vor der Tür. Und König war ein guter Fechter. Und
-Karg wollte seiner Mutter nicht mit frischen Schmissen
-nach Haus kommen. Und der Handel mußte binnen zweimal
-vierundzwanzig Stunden &mdash; so stand&#8217;s im Kodex &mdash;
-ausgetragen sein. Also einigte man sich auf Pistolen.
-Deimling war ganz Korrektheit und steife Würde. Er
-ordnete alles und verbot insbesondere dem Fuchsmajor,
-mit dem Gegner in derselben Stube zu wohnen, so daß
-ihm die Wondra für diese eine Nacht in ihrer eigenen
-Kammer das Lager zurechtmachte, während sie selbst in
-der Küche schlief.</p>
-
-<p>Dann war es so gekommen, daß König, der den ersten
-Schuß hatte, ein Loch in die Luft schoß, während Karg,
-vor Aufregung zitternd und unsicher, die Waffe nicht in
-der Gewalt hatte. Seine Kugel fuhr dem Astronomen
-ins linke Auge. Ein paar Atemzüge lang stand er noch aufrecht,
-mit unverändertem, nur wie verwundertem Gesicht.
-Und schon wollten alle des guten Ausgangs sich freuen,
-da wankte er, fiel hin und hatte den letzten Atemzug getan,
-ehe noch jemand die Verletzung wahrgenommen.</p>
-
-<p>Seinen Leichenwagen begleiteten die Herminonen in
-voller Wichs und Abordnungen von vielen anderen Verbindungen.
-Es war ein sehr schönes Begräbnis. Karg
-stellte sich den Gerichten. Er wurde zu drei Jahren Kerker
-verurteilt und da er Reserveoffizier war, vom Kaiser
-begnadigt. So verlief alles in schönster Regelmäßigkeit,
-und auf dem frischen Grabhügel wurden die Frühlingsgräser
-besonders üppig grün, als hätten sich aus dem
-zerstörten Jünglingskörper alle Hoffnungskeime lichthungrig
-in ihre zarten Spitzen geflüchtet.</p>
-
-<p>Die Wondra weinte sehr um den Verlust ihres besten,
-weil beständigen Mieters. Acht Tage rührte sie kein Kartenblatt
-an, und noch weitere vierzehn Tage traten ihr
-jedesmal, wenn sie sich zum Spieltisch setzte, die Tränen
-in die Augen, und sie weihte dem Toten einen stillen Gedächtnisschluck.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>6.</h3>
-</div>
-
-<p>Karg wurde seit diesem Zweikampf mit ausgesuchter
-Hochachtung behandelt, so daß ihm das zu Kopf stieg
-und er einer dünkelhaften Einbildung anheimfiel, die sich
-in kurzen, herrischen Gebärden und in einem blasierten
-Gesichtsausdruck offenbarte. Er wurde stolz und war beinahe
-froh, daß er einen ernstesten Fall gehabt und daß
-von ihm erzählt werden konnte, er habe schon einen im
-Duell erschossen.</p>
-
-<p>Derart hatten sich alle Beteiligten in ihrer Weise rasch
-wieder zurechtgefunden.</p>
-
-<p>Hellwig brauchte länger. Alles in ihm bäumte sich
-gegen die Leichtfertigkeit, mit der hier über ein Menschenleben
-zur Tagesordnung übergegangen wurde. Und als
-eines Tages nach Ostern Karg auf ihn zutrat: &#8222;Kommen
-Sie heut&#8217; mit in die Kneipe?&#8220;, wandte er sich wortlos ab.
-Das war eine Beleidigung, und der Herminone, jetzt erst
-recht nicht gewillt, sich dergleichen gefallen zu lassen, verlangte
-Aufklärung. Fritz aber gab keine Antwort, stand
-mit dem Gesicht gegen das Fenster gekehrt und rührte
-sich nicht. Da schickte ihm Karg seine Zeugen. Es waren
-Deimling und der Erstchargierte Braun. Gemessen und
-förmlich überbrachten sie die Forderung.</p>
-
-<p>&#8222;Sie haben sich umsonst bemüht!&#8220; sagte Hellwig. &#8222;Ich
-schlage mich nicht.&#8220;</p>
-
-<p>Nun hätten sie füglich gehen können. Aber Braun tat
-noch ein übriges, indem er den allseits Beliebten auf die
-Folgen einer solchen Weigerung aufmerksam machte. Fritz
-bat ihn jedoch sehr ruhig, er möge sich das sparen. Seinen
-Entschluß werde es nicht ändern.</p>
-
-<p>&#8222;Diese Methode ist sehr eigentümlich!&#8220; nahm nun
-Deimling das Wort. &#8222;Erst der Ehre eines Menschen grundlos
-nahe treten und dann ...&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Mein bester Herr Deimling,&#8220; fiel ihm da Hellwig
-in die Rede, &#8222;das Leben eines Menschen ist wertvoller
-als seine Ehre!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Das ist jedenfalls ein bequemer &mdash; und sicherer Standpunkt!&#8220;
-entgegnete der alte Herminone, setzte mit einer
-spöttischen Verbeugung hinzu: &#8222;Hüten Sie also Ihr wertvolles
-Leben!&#8220; und wollte sich entfernen. Fritz vertrat
-ihm den Weg: &#8222;Sie haben mich falsch verstanden. Ich
-habe nicht von mir gesprochen, sondern von dem armen
-König.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Er ist gefallen wie ein Soldat auf dem Felde der
-Ehre!&#8220; antwortete Braun. Fritz erwiderte:</p>
-
-<p>&#8222;Ich weiß nicht, welche Ehre Sie meinen. Es gibt
-ihrer ja so viel als Stände und Rassen. Ich weiß nur,
-daß ein Menschenleben etwas Kostbares und Heiliges ist.
-Und wer eins davon vernichtet, bestiehlt die Menschheit
-um tausend Möglichkeiten, versündigt sich an ihr und
-besudelt jene einzige Ehre, die ich allein gelten lasse: die
-Ehre, Mensch zu sein.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;So behalten Sie diese Ehre!&#8220; sagte Deimling spöttisch.
-&#8222;Womit ich die Ehre habe!&#8220;</p>
-
-<p>Braun aber machte noch einen Versuch.</p>
-
-<p>&#8222;Sie sind dann in der Gesellschaft unmöglich,&#8220; gab
-er ihm zu bedenken. Und Fritz leidenschaftlich darauf:</p>
-
-<p>&#8222;Ich will auch nichts mehr gemein haben mit jenen!
-Sie reden von ihrer Liebe und brüsten sich mit ihrer
-Treue zum Volke. Aber das sind nichts als Worte! Worte!
-Wer wegen eines Schmarrens sein Leben in die Schanze
-schlägt, leichtsinnig und unbedenklich hinwirft, wer skrupellos
-ein Leben vernichten kann, und alle, die dies loben
-und in Ordnung finden, alle, die für die Macht ihres
-Volkes begeistert schwärmen, gleichzeitig aber dulden, daß
-auch nur das kleinste lebendige Teilchen dieses Volkes
-zwecklos zerstört wird &mdash; alle die sind Phrasensager und
-Lügner und haben keine Ehrfurcht, weder vor ihrem Volke
-noch vor der Menschheit. Das ist es. Und darum schlage
-ich mich nicht und darum kann ich auch <em class="gesperrt">Ihre</em> Verachtung
-ertragen!&#8220;</p>
-
-<p>Während er redete, war er ganz ruhig geworden. In
-den letzten Worten hatte sogar eine leise Überlegenheit
-durchgeklungen. Jetzt setzte er sich und spielte mit dem
-Federkiel auf dem Tisch. Die beiden Studenten entfernten
-sich wortlos.</p>
-
-<p>Fritz atmete leicht und froh. Die Brücken waren abgebrochen
-und hinter ihm verbrannt. Mochte kommen,
-was da wollte &mdash; er hatte wieder pflugreife Erde unter sich.</p>
-
-<p>Seine Energie und Spannkraft waren wieder da, drängten
-nun, je länger sie in müßiger Ruhe gelegen, je ungestümer
-vorwärts, forderten eine unzweideutige und ganze
-Tat.</p>
-
-<p>Jener flüchtige Blick in das Treiben der Obdachlosen
-hatte ihm die Richtung neu gewiesen. Und nach der Erschütterung
-über den gewaltsamen Tod des Astronomen
-war wie nach einem schweren Sommergewitter reine, klare
-Luft geworden. Nicht darauf konnte es ankommen, ob
-ein Volk stärker, mächtiger, fortgeschrittener, besser sei,
-als das andere, sondern daß alle ohne Unterschied leben
-konnten, wie es ihrer Menschenehre gebührte.</p>
-
-<p>In alle Fernen und Weiten schweifte seine junge Begeisterungsfähigkeit
-und entzündete sich an dieser Vorstellung
-zu einer hellen und starken, ganz warmen Glut.
-Und in der glückhaften Erregung, die sich seiner nach
-dem Weggehen der beiden Herminonen bemächtigte, begann
-er, zum erstenmal, seine Gedanken niederzuschreiben
-und schrieb in einem Zuge bis in die Nacht hinein an
-einer Abhandlung, in der er die uralte Lehre von der
-Menschenverbrüderung mit seinem Feuer neu vergoldete.</p>
-
-<p>Mit der frohen Raschheit, die ein glückliches Gelingen
-auslöst, packte er das Manuskript, kaum daß die Tinte
-trocken geworden, zusammen, siegelte und adressierte es
-an die &#8218;Freien Blätter&#8216;, das führende Organ der Sozialisten
-in der Reichshauptstadt. &mdash; &mdash;</p>
-
-<p>Die silbergraue Dämmerung vor den Fenstern wich
-bereits dem hellen Licht der nahen Sonne, als Pichler
-nach einer durchschwärmten Nacht heimkam. Fritz erzählte
-ihm ohne Umschweife den Vorfall mit den Herminonen.
-Auf dem Bettrand sitzend, hörte Otto nur mit halbem
-Ohr hin, während er sich der Stiefel und Kleider entledigte
-und unter langgezogenen Seufzern gähnend den
-Mund aufriß. Die Sache war ihm nicht mehr neu. Er
-hatte sie bereits bei der Kneipe und in den Kaffeehäusern
-genugsam zu hören bekommen. Erst als er in den Federn
-lag und die Decke bis zum Hals hinaufgezogen hatte,
-fragte er unter fortwährendem Gegähn: &#8222;Und was wirst
-du jetzt machen?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Schlaf dich erst aus!&#8220; erwiderte Hellwig. &#8222;Wir
-sprechen weiter, bis dein Schädel wieder klar ist.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ist er ohnehin!&#8220; knurrte der andere, drehte sich gegen
-die Wand und schlief auch schon. &mdash; &mdash;</p>
-
-<p>Fritz wusch sich die Augen hell und goß einen großen
-Krug Wasser über Kopf und Nacken. Als die Wondra
-bald darauf mit dem Frühstück erschien, teilte er ihr mit,
-daß er die Wohnung zu verlassen gedenke. Mit würdevollem
-Kopfnicken nahm sie die Kündigung zur Kenntnis,
-stellte den Kaffee auf den Tisch und entfernte sich, ohne
-ein Wort zu sprechen. Denn auch sie war bereits durch
-Karg über den Vorfall unterrichtet und wußte als langjährige
-Studentenmutter, wie man sich einem Auskneifer
-gegenüber zu benehmen hatte.</p>
-
-<p>Hellwig lächelte ein wenig, während er sich das feuchte
-Haar aus der Stirn kämmte und den Kragen anknöpfte.
-Dazwischen nahm er, wie es seine Gewohnheit war, stehend
-kleine Schlucke vom Frühstückskaffee, und da er wieder
-tief in seine Gedanken hineingeriet, behielt er schließlich
-den Topf in der Hand und schritt damit, von einer unklaren
-und ungeduldigen Erwartung getrieben, rastlos um den
-Tisch herum.</p>
-
-<p>Auch als er ins Freie trat, wo die alten Häuser wehmütig
-zu der stillen Pracht des Frühlingsmorgens hinaufschauten,
-wurde es nicht ruhiger in ihm, wollte das Gefühl
-nicht weichen, daß ihm etwas Fröhliches ganz nahe bevorstand.
-Pünktlich ging er in die Kanzlei und schrieb einen
-Mahnbrief nach dem andern. Dann erschien der Anwalt
-und beauftragte ihn, gegen einen nachlässigen Ratenzahler
-auf Grund des rechtskräftigen Urteils das Pfändungsgesuch
-bei Gericht einzureichen. Während Hellwig die Eingabe
-vorbereitete, kam der Schuldner und wollte die verfallene
-Rate erlegen. Er habe das Geld nicht früher zusammenbringen
-können. Der Advokat aber, dem es um
-seinen Verdienst zu tun war, erklärte, das helfe jetzt
-nichts mehr. Die Frist sei versäumt, die ganze gestundete
-Forderung nunmehr fällig und die Exekution bereits
-eingeleitet.</p>
-
-<p>Die Mitteilung traf den Schuldner, der ein anständiger
-kleiner Geschäftsmann zu sein schien, ersichtlich hart, da
-er durch eine Pfändung sehr zu Schaden und um jeden
-Kredit kommen mußte. Inständig flehte er um Aufschub.
-Der wurde ihm endlich unter der Bedingung zugestanden,
-daß er mit der Rate zugleich fünf Kronen für die Kosten
-des Pfändungsgesuches bezahle. Das war nicht viel, aber
-der arme Teufel kramte in allen Taschen und brachte
-endlich in Nickelmünzen vier Kronen und dreißig Heller
-zur Strecke, die der Anwalt gleichmütig einstrich, mit
-der Ermahnung, nunmehr pünktlich zu sein und auch die
-fehlenden siebzig Heller nicht zu vergessen. Einer großen
-Sorge ledig, versprach der Mann alles unter vielen Dankesworten.
-Da sagte Hellwig: &#8222;Das Gesuch ist noch nicht
-fertig, Herr Doktor!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Wie? Ja so, ganz recht &mdash; die Klage gegen die Seifenfabrik
-...&#8220; meinte der Advokat diplomatisch und winkte
-Schweigen.</p>
-
-<p>&#8222;Nein,&#8220; antwortete Hellwig unbeirrt, &#8222;das Pfändungsgesuch
-habe ich noch nicht fertig!&#8220;</p>
-
-<p>Der Anwalt wurde verlegen.</p>
-
-<p>&#8222;Also adieu! adieu!&#8220; rief er lärmend. &#8222;Und vergessen
-Sie nicht auf die nächste Rate! Pünktlich sein, nur
-pünktlich!&#8220;</p>
-
-<p>Damit schob er den Mann zur Tür hinaus. Dann drehte
-er sich zornrot zu seinem Schreiber: &#8222;Was fällt Ihnen
-ein, Herr Hellwig? Derartige Äußerungen sind ganz ungehörig!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Mir fällt gar nichts ein!&#8220; erwiderte Fritz trotzig. &#8222;Ich
-meine nur, was man nicht geleistet hat, dafür läßt man
-sich auch nicht bezahlen.&#8220;</p>
-
-<p>Mit großen, runden Augen blickte der Chef auf seinen
-sonst so stillen Gehilfen. Denn Hellwig hatte unter dem
-Druck der letzten Monate vollständig gleichgültig und ohne
-Nachdenken, wie eine Maschine, gearbeitet und stumm
-alles getan, was ihm aufgetragen worden war.</p>
-
-<p>&#8222;Ich verbitte mir jede Kritik!&#8220; rief der Chef. &#8222;Das
-wäre noch schöner! Was glauben Sie denn eigentlich?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich glaube, daß dieses Vorgehen und anständig zwei
-&mdash; Worte sind.&#8220;</p>
-
-<p>Nun warf sich der Anwalt in die Brust: &#8222;Sie sind entlassen
-und können auf der Stelle gehn! Ich zahle Ihnen
-das Gehalt für die vollen vierzehn Tage, obwohl ich nicht
-dazu verpflichtet bin.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich danke!&#8220; entgegnete Fritz, &#8222;es könnte sonst wieder
-ein armer Schlucker dafür büßen müssen!&#8220;, stand auf
-und ging.</p>
-
-<p>Nun war er mit allem und gründlich fertig. Ein Jahr
-war vertrödelt, mit den Studien war er nicht viel weiter
-gekommen und für das Leben geleistet hatte er gar nichts.
-Die Bilanz quälte ihn jetzt doch, und trotzdem, oder gerade
-weil der Maienhimmel so wundervoll blau, die Luft so
-weich und kosend war, fiel ihn ein arger Jammer mit
-bösen Krallen an.</p>
-
-<p>Bedrückt ging er durch die belebten Geschäftsstraßen,
-schritt teilnahmslos über die breite neue Moldaubrücke
-und auf weißen Kieswegen neben blühendem Gesträuch
-in einen stillen Park hinein, der einem Fürsten eignend
-und dem Publikum zugänglich, an einer sachten Hügellehne
-hinter den Häusern emporstieg. Alte Bäume waren
-da, weite Rasenpläne und in runden Beeten standen farbige
-Blumen im Glanz ihrer kürzlich erblühten Schönheit,
-von Sonnenschein und lauer Luft umflossen. Auf den
-braunen Gartenbänken saßen junge Mädchen in hellen
-Kleidern und lasen in dieser begnadeten Frühe zärtliche
-Liebesgeschichten oder Verse aus zierlichen Goldschnittbänden.
-Und wo eine Sitzgelegenheit tiefer in die lauschigen
-Hecken hineingerückt war, hatte sich auch wohl ein oder
-das andere Pärchen niedergelassen, kecke Studenten zumeist
-und schmiegsame Backfische mit Musikmappen oder
-Malgeräten, die ihre bezüglichen Unterrichtsstunden schwänzend,
-kreuzvergnügt beim gütigen Lehrer Lenz in die Schule
-gingen. Leichte, kühle Blütenblätter fielen von den Bäumen,
-und die grüne Wipfelwelt, die reglos zwischen Himmel
-und Erde schwamm, erfüllte ohne Pausen laut tönender
-Finkenschlag. So stellte dieser sanft ansteigende große
-Garten eine ideale Frühlingslandschaft dar, aber die heitere
-Lebensfreude, die blankäugig überall sich regte, war
-nicht danach angetan, der tristen Gemütsverfassung Hellwigs
-den Garaus zu machen. Sauertöpfisch und verdrossen
-bewegte er sich auf den gewundenen Fußsteigen
-zum Gipfel und setzte sich oben auf eine einsame Steinbank,
-die abseits von den Hauptwegen im Halbrund eines
-Jasmingebüschs aufgestellt war.</p>
-
-<p>Beinah die ganze Stadt konnte von dort überblickt
-werden, wie sie da unten hingebreitet lag, in Leibesmitte
-von dem sonnenüberspiegelten Stromband wie mit wehrhaftem
-Stahl gegürtet, und vergoldete Kuppeln funkelten
-im Licht gleich den Zieraten auf dem Brustharnisch einer
-reisigen Brunhilde. Ernst und hart war dieses Stadtbild,
-von einer herben Schönheit, deren strenge Linien auch
-die Helligkeit des Frühlings nicht weicher und anmutiger
-machen konnte.</p>
-
-<p>Aber Fritz sah nicht darauf hin, schaute darüber hinweg
-in eine leere Ferne und grübelte in sich hinein.</p>
-
-<p>Der Auftritt mit dem Rechtsanwalt war ihm selbst
-überraschend gekommen. Doch war ihm das jetzt ganz
-recht und er wünschte es nicht ungeschehen.</p>
-
-<p>Im Buschwerk, um ihn, über ihm, war es ungemein
-lebendig. Lichtbächlein rannen von den Zweigen, und unsichtbare
-Vögel lockten und suchten einander. Verwirrend
-dufteten, kaum den geplatzten Knospen entquollen, die
-weißen Blüten, und das gesamte lose Lenzgesindel war
-geschäftig, mit Schmeicheln und Streicheln und Fächeln
-und Lächeln die Sinne leise zu umgarnen und irgendeine
-namenlose Sehnsucht wach zu bringen.</p>
-
-<p>Plötzlich mußte er an die kleine Eva Wart denken, und
-so oft er diese Erinnerung unwillig zurückstieß, so hartnäckig
-stellte sie sich immer wieder ein. Ohne daß er es
-wußte, wurden ihm die Lider feucht.</p>
-
-<p>Und nun sah er auch ihr ganzes Heim vor sich, das
-tätige Haus, den biederen Kaufmann, den Freund &mdash;
-und neben der hochgesinnten Mutter stand das feine Jungfräulein
-und schaute ihn leidvoll aus ernsten Augen an.
-Wenn er jetzt diesen Menschen gegenüber treten sollte,
-konnte er es denn, ohne die Stirn zu senken? Die Schamröte
-stieg ihm in die Wangen. Und dann &mdash; dann legte
-er mit einem dumpfen Ächzen beide Hände vors Gesicht,
-und zwischen den gespreiteten Fingern quollen große, warme
-Tränen.</p>
-
-<p>Minutenlang saß er so, zusammengekauert, die Ellbogen
-auf die Schenkel gestützt. Als er sich endlich erhob, mit
-einer Bewegung, als risse er eine Handfessel jäh entzwei,
-da blickten unter den gewölbten Stirnknochen die Augen
-hart und finster, und in dem hageren Antlitz war Zug
-um Zug ein Ausdruck von gesammelter Entschlossenheit.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>7.</h3>
-</div>
-
-<p>Als er heimkam, war Otto eben aufgestanden. Fritz
-teilte ihm nunmehr mit, daß er die Wohnung aufgekündigt
-habe. Da schüttelte ihm Pichler warm die Hand und
-sagte: &#8222;Das war gescheit von dir. Sonst hätt&#8217; ich nämlich
-selbst ausziehen müssen. Denn bei aller Freundschaft wirst
-du zugeben müssen, daß wir nicht beisammenbleiben
-dürfen.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Warum denn?&#8220; fragte Hellwig erstaunt. Und Otto
-erwiderte: &#8222;Das ist doch ganz klar &mdash; weil ich sonst gerade
-so unmöglich bin wie du. Man kann doch mit einem, der
-keine Satisfaktion gibt, nicht in derselben Stube wohnen,
-ohne daß ...&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ach so!&#8220; sagte Hellwig und fügte hinzu: &#8222;Du bist
-wenigstens aufrichtig, das ist doch etwas.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Immer!&#8220; versicherte Otto. Dann fuhr er fort, und
-sein gönnerhafter Ton bekundete, daß er sich neben dem
-Geächteten sehr brav und bieder vorkam. &#8222;Deswegen,&#8220;
-&mdash; fuhr er fort &mdash; &#8222;deswegen aber keine Feindschaft! Wir
-bleiben die alten, das ist selbstverständlich. Wir treffen
-uns auch regelmäßig und zwar in einem sicheren Wirtshaus,
-das noch gesucht werden muß. Öffentlich, muß ich
-dich leider bitten, so zu tun, als ob wir jeden Verkehr abgebrochen
-hätten. Ich werde es gerade so halten, aber
-sonst &mdash; unter vier Augen &mdash; alles wie früher! Gilt&#8217;s?&#8220;</p>
-
-<p>Er streckte ihm die Hand hin. Fritz sah über sie hinweg.
-&#8222;Du bist sehr großmütig!&#8220; meinte er mit kaltem Spott.
-&#8222;Aber ich hab&#8217; solche Heimlichtuerei nicht gern. Ein ehrliches
-Entweder &mdash; Oder ist mir schon lieber.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Wie du willst &mdash; ich bleibe trotzdem dein Freund.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ein Freund, der nicht den Mut hat &mdash; &mdash; ach, weißt
-du, reden wir nicht weiter davon, es ist so müßig.&#8220;</p>
-
-<p>Er setzte sich zum Schreibtisch, nahm irgendein Buch
-vor. Aus alter Gewohnheit suchte er dabei nach seiner
-Pfeife, die stets handgerecht am Tischbein lehnte. Sie
-war nicht mehr dort, war überhaupt aus dem Zimmer
-verschwunden. Die Wondra hatte sie wieder an sich genommen,
-weil so ein ehrwürdiges Erbstück von den Lippen
-eines Verfemten nicht entweiht werden durfte.</p>
-
-<p>Wieder lächelte er. Ein leises, bitteres Lächeln. So
-kleinlich war das alles, so überflüssig und bedeutungslos.</p>
-
-<p>Noch öfter hatte er im Verlauf dieser Tage Gelegenheit
-zu einem solchen Lächeln. Wie ein Aussätziger wurde er
-gemieden. Sogar der sanfte Fundulus drückte sich scheu
-an ihm vorbei, mit gesenkten Lidern und allen Zeichen
-mitleidender Verlegenheit. Niemand erschien am Abend,
-um ihm eine Blume zuzutrinken oder ihn zum Spiel aufzufordern.
-Auch kein Bier holte ihm die Wondra.</p>
-
-<p>Er hatte die Absicht gehabt, die Wohnung zu verlassen,
-sobald er ein anderes Zimmer gefunden. Jetzt aber
-entschloß er sich, die ganzen vierzehn Tage auszuharren.
-Niemand sollte ihm nachsagen, daß er vor Verachtung
-geflohen sei. Und gerade zum Trotz, nur um sich zu
-zeigen, ging er jetzt in alle Studentenwirtshäuser, saß
-allein an einem Tisch, und während ein geringschätziges
-Lächeln um seinen Mundwinkeln lag, dachte er an die
-Zukunft und wie er sich einrichten würde.</p>
-
-<p>Steif aufgereckt schritt er dann durch die Haufen seiner
-früheren Bekannten, schaute ihnen mit freien, hellen Augen
-ins Gesicht. Mancher wurde dadurch verwirrt, griff zum
-Gruß nach seiner Kappe. Aber er erhielt den Gruß nicht
-zurück.</p>
-
-<p>So vergingen acht Tage, ohne daß Hellwig mit einem
-Menschen sprach. Pichler hatte gleich nach jener Unterredung
-Tisch und Bett des armen König mit Beschlag belegt
-und vermied ängstlich ein Zusammentreffen. Doch
-hatte er ein Briefchen hinterlassen, worin er sein Benehmen
-mit den alten Gründen nochmals entschuldigte.
-Fritz riß es in Fetzen.</p>
-
-<p>Wenn er aber gedacht hatte, daß er durch seine völlige
-Absonderung Zeit und Lust zum Arbeiten zurückerzwingen
-werde, so war das ein Irrtum gewesen. Das Lesen der
-gelehrten Werke mit dem trostlos gleichförmigen lateinischen
-Druck machte ihm keine Freude, zum Studieren
-fand er nicht die Sammlung, den Vorträgen der Professoren
-hörte er nur mit halbem Ohr zu, und es war
-keiner unter ihnen, der ihn zu fesseln vermocht hätte.
-Zu beschaulich ging es ihm auf einmal in den Stätten
-der hohen Wissenschaft her. Alle seine Kräfte waren in
-brodelndem Aufruhr. Unrast war in ihm und drängende
-Sehnsucht, mitten im Leben, wo es am gewaltigsten brauste,
-mitzutun, im offenen Widerstreit Aug&#8217; in Aug&#8217; und Stirn
-gegen Stirn einem starken Gegner zu trotzen und im
-Kampfe für die Erhöhung der heute Erniedrigten die Waffen
-nur siegend oder sterbend aus der Hand zu legen.</p>
-
-<p>Alle Länder widerhallten vom Lärm dieses Kampfes
-und in den Industriestädten waren die wohlgerüsteten Heerlager.
-Auch Prag war mit beteiligt, aber der Streiter
-waren daselbst nur wenige. Die Unzufriedenheit der Massen
-entlud sich hier im unfruchtbaren, aber bequemeren
-Nationalitätenhader. Und wo das anders war, da waren
-Tschechen die Rufer im sozialen Kampf, und Hellwig verstand
-ihre Sprache nicht. Wohl traten in ihren Zusammenkünften
-bisweilen auch deutsche Redner auf, aber das
-geschah nur selten und brachte in die Beratungen stets
-etwas Fremdes und Feierliches. So fehlte die Brücke des
-lebendigen Wortes, und er vermochte keine Fühlung mit
-ihnen zu gewinnen, trotzdem er jetzt häufig ihre Versammlungen
-besuchte.</p>
-
-<p>Niedergedrückt kam er eines Abends von einer solchen
-heim. Seine Koffer waren schon gepackt, in zwei Tagen
-wollte er in die neue Wohnung übersiedeln. Da fand er
-auf seinem Tisch ein Geldaviso aus Wien und eine Verständigung
-des Inhalts, daß die Schriftleitung der Freien
-Blätter seine Abhandlung mit Vergnügen angenommen habe
-und um weitere Beiträge ersuche.</p>
-
-<p>Aber auch von Kolben war ein Brief eingelaufen. Der
-Doktor schrieb: &#8222;Lieber Fritz! Du scheinst Luft unter die
-Flügel bekommen zu haben. Es war aber auch höchste
-Zeit. Jetzt sieh nur zu, daß du nicht wieder den Kurs
-verlierst, überleg&#8217; nicht lang und komm her nach Wien.
-Es gibt hier massenhaft für dich zu tun!&#8220;</p>
-
-<p>Da ließ Fritz sein Gepäck statt in die neue Wohnung
-auf den Bahnhof schaffen und fuhr in die Reichshauptstadt.</p>
-
-<hr class="chap" />
-<div class="chapter">
-<h2><a name="Drittes_Buch" id="Drittes_Buch">Drittes Buch</a></h2>
-</div>
-
-<h3>1.</h3>
-
-<p class="drop-cap">Doktor Kolben saß in seinem Arbeitszimmer. Das
-war ein mäßig großer Raum mit roten Tapeten
-und dunklen Nußholzmöbeln. Der Schreibtisch stand schwer
-und massig vor einem großen Fenster, und durch die
-Fensterscheiben sah man in einen gepflegten Garten mit
-Hecken, Büschen, grünen Wipfeln und blühenden Rosen.
-Darinnen ruhte das kleine helle Haus, das dem Doktor
-gehörte, wie ein weißer Vogel in einem grünen Nest. Still
-war es hier draußen am Rande der Großstadt, ihr Lärm
-verbrauste, ehe er bis zu dem anmutigen Tal gelangte,
-das waldbestandene Hügel umsäumten und schützten. Eine
-Eisenbahn vermittelte in regem Verkehr die Verbindung
-mit der Stadt, in kaum zwanzig Minuten war man drinnen,
-und so hatte man hier alle guten Dinge des Landlebens
-samt allen Bequemlichkeiten der Großstadt beisammen
-und konnte sich&#8217;s wohl sein lassen.</p>
-
-<p>Der Doktor schrieb fleißig und bedeckte Bogen um Bogen
-eines starken gelblichen Papiers mit regelmäßigen Buchstaben
-in gedrängten Zeilen. Da klopfte es, die Tür ging
-auf und Fritz stand so, wie er eben vom Bahnhof gekommen,
-in ihrem Rahmen.</p>
-
-<p>&#8222;Schnell kommst du!&#8220; sagte Kolben. &#8222;Und das ist
-sehr vernünftig. Sieh dir unterdessen die Bilder an, ich
-bin gleich fertig.&#8220;</p>
-
-<p>Er deutete auf ein kleines, mit Mappen und Zeitschriften
-überladenes Tischchen in der Ecke. Dann ließ er die
-Feder wieder über die gelblichen Bogen wandern, und
-erst nach einer Viertelstunde legte er sie weg.</p>
-
-<p>&#8222;So! Jetzt laß dich einmal anschaun!&#8220;</p>
-
-<p>Er stand auf und Hellwig, der unterdessen die Zeitschriften
-durchstöbert hatte, ebenfalls. Der Doktor legte
-ihm beide Hände auf die Schultern und blickte ihm in
-die Augen. Fritz hielt eine kleine Weile diesem forschenden
-Blick stand, dann senkte er halb trotzig, halb verlegen
-die Lider.</p>
-
-<p>&#8222;Laß gut sein!&#8220; sprach Kolben. &#8222;Es hat nichts auf
-sich. Besser ein Jahr, als sich selbst verloren. So was
-macht jeder durch, wenn er nicht gerade ein bleichsüchtiger
-Musterknabe ist oder eine große Null. Also hör&#8217; zu: Der
-Kampf ums allgemeine Wahlrecht soll langsam vorbereitet
-werden. Ein paar große Streike werden sich nicht
-mehr lang hinausschieben lassen. Die Schriftleitung der
-Freien Blätter hat junge unverbrauchte Kräfte dringend
-nötig. Ich schätze, es könnte dir nicht schaden, wenn du
-da ein bissel mittust. Willst du?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Geht denn das so einfach?&#8220; fragte Hellwig und horchte
-hoch auf.</p>
-
-<p>&#8222;Wird sich machen lassen. Ich hab&#8217; das Kunstreferat,
-bin auch sonst mit den Leuten bekannt. &mdash; Es ist keine
-Protektion!&#8220; beschwichtigte er, als Fritz eine heftig abweisende
-Bewegung machte. &#8222;Glaubst du, ich würde dich
-empfehlen, wenn ich dich nicht bis in die Nieren kennte?
-Noch einmal: Willst du?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich hab&#8217; keine Ahnung von der ganzen Sache, weiß
-nicht, ob ich überhaupt dazu tauge ...&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Du taugst schon. Und die Handwerksgriffe lernen
-sich leicht. Ein paar Wochen Einschulung, und das Werkel
-geht von selber. Zum dritten und letztenmal: Willst du?
-Ja oder nein?&#8220;</p>
-
-<p>Noch einige Minuten zögerte Fritz mit der Antwort.
-Kolben ließ ihm Zeit zum Überlegen, trat ans Fenster
-und sah einem Rotschwänzchen zu, das im Lindenwipfel
-flink sich regte.</p>
-
-<p>&#8222;Nun?&#8220; fragte er endlich.</p>
-
-<p>&#8222;Ja!&#8220; antwortete Fritz.</p>
-
-<p>Nach einigen Tagen saß er in der Redaktion der Freien
-Blätter, hatte Monatsgehalt und Zeilenhonorar vertragsmäßig
-zugesichert und kam rasch ins Fahrwasser.</p>
-
-<p>Um ihn tönte der Lärm, schrien die Parteien des Tages,
-forderten von der Gegenwart ungestüm ihre vermeintlichen
-Rechte. Und er stand mitten drin, mitten in dem
-heißen, tosenden Leben, das jeden Tag seine Gestalt änderte,
-Verbrauchtes abstieß und neue Schlagworte ausgab. Was
-heute oben war, hatte morgen seine Macht verloren, lang
-Niedergehaltenes stieg plötzlich empor, ein immerwährender
-Wechsel war da, ohne Stetigkeit und Ruhe, scheinbar ein
-Wirrwarr und doch eins durch das andere bedingt.</p>
-
-<p>Von besonderem Reiz für ihn war es da, den Zusammenhängen
-nachzuspüren, die das wertlos gewordene Gestern
-mit dem schillernden Heute verknüpften, die vielen durcheinander
-wirbelnden Strömungen und Gegenströmungen
-bis zu ihrer gemeinsamen Quelle zu verfolgen und aus
-dem beständigen Auf und Ab der fließenden Erscheinungen
-das Bleibende herauszufinden.</p>
-
-<p>Und er erschrak über die drückende Machtfülle, die gewaltig
-aufgespeicherte Vermögen den verdienstlosen Besitzern
-über ganze große Menschengruppen verliehen, sah
-diese vergeblich dagegen ankämpfen, matt und mutlos werden,
-und fühlte mehr, als er klar erkannte, daß eine Ordnung,
-in welcher derartiges möglich war, irgendwie krank
-sein müsse, ohne daß er hätte finden können, wo eigentlich
-die Krankheit saß und wie sie zu heilen wäre. Denn alle
-die Wohlfahrtseinrichtungen, die Krankenkassen, Unfallversicherungen,
-Altersversorgungen, schienen ihm bestenfalls
-Verlegenheitsmittel, durch die nur die Folgeerscheinung
-der Krankheit erträglicher gemacht, nicht aber die
-Krankheit selbst behoben werden konnte, so etwa, wie
-man einem schwer Verwundeten Morphium einspritzt, um
-die unerträglichen Schmerzen für Augenblicke zu übertäuben.</p>
-
-<p>Da war nun seiner grüblerischen Natur wieder ein reicher
-Stoff geboten. Aber er blieb in beständiger Fühlung mit
-dem Leben und arbeitete freudig drauflos, so daß es gewöhnlich
-sehr spät wurde, ehe er zum Nachtmahl und in
-seine Wohnung kam. Aber auch dann gönnte er sich noch
-nicht Ruhe, las vielmehr, schrieb und studierte, als wollte
-er in Wochen nachholen, was er während der leeren Monate
-in Prag versäumt hatte.</p>
-
-<p>So verging der Sommer im Flug, es wurde Herbst
-und eines Tages traf Heinz Wart in Wien ein. Er hatte
-die Reifeprüfung abgelegt, und zielsicherer als Hellwig
-schwankte er keinen Augenblick, sondern kam mit der festen
-Absicht, sich ganz dem Zeitungswesen zu überantworten
-und dort mitzuarbeiten, wo er am ehesten die Verwirklichung
-seiner Jugendideale erhoffte.</p>
-
-<p>Er war noch blasser und stiller geworden, die Augen
-brannten ihm groß und wie im Fieber unter der weißen
-Stirn. Von den dunklen Haaren bis in die Fingerspitzen
-schien die ganze überschlanke Gestalt mit verhaltener Leidenschaft
-durchtränkt, von Temperament förmlich gesättigt
-zu sein. Er war einer von jenen, die mit dem Herzen
-entscheiden, sich an der eigenen Glut verzehren und unbesinnlich
-zur Selbstopferung bereit sind, wenn sie glauben,
-der Idee, für die sie brennen, dadurch dienen zu
-können.</p>
-
-<p>Hellwig aber freute sich sehr, den besten Freund seiner
-Jugend wieder zu haben. Sie bezogen zwei einfenstrige
-Stuben im selben Haus, und da sie auch im gleichen
-Redaktionszimmer saßen, waren sie fast ununterbrochen
-beisammen. Nur abends, wenn Fritz zu Hause arbeitete
-oder an Versammlungen teilnahm, tat Heinz nicht mit.
-Das war nichts für ihn, das Studieren oder Debattieren
-bis in die späten Nachtstunden. Er wollte das Elend nicht
-bloß vom Hörensagen, sondern aus eigener Anschauung
-kennenlernen. Und er ging in die Massenquartiere und
-Schnapsbuden, kroch in alle Schlupfwinkel der Obdachlosen.
-Bisweilen blieb er dann tagelang verschwunden.
-Und wenn er wieder in der Wohnung auftauchte, hatte
-er statt der getragenen guten Kleider ein paar Fetzen
-an, geflickt und schmutzstarrend, und Fritz mußte ihm
-bis zum Ersten des nächsten Monats mit Geld aushelfen.</p>
-
-<p>Wo er sich herumtrieb, verriet er nicht. Aber er war
-dann noch stiller und bleicher als sonst, und seine Augen
-schienen gleichsam nach innen zu schauen, und in ihrem
-dunklen Grunde lag unbeweglich etwas seltsam Starres,
-vereister Schreck oder versteintes Grauen, wie bei Leuten,
-die hart am Tod vorübergegangen oder an einer furchtbaren
-Gefahr.</p>
-
-<p>Allen Fragen wich er aus. &#8222;Laß mich nur, Fritz, ich
-komm&#8217; schon allein drüber weg. Dann wirst du&#8217;s erfahren.&#8220;</p>
-
-<p>Da drang Hellwig nicht weiter in ihn.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>2.</h3>
-</div>
-
-<p>Pichler hatte sein Verhältnis mit der Helenka gelöst.
-Nach einem heftigen Streit waren sie auseinander gegangen,
-und keins fragte mehr dem andern nach. Jetzt
-diente er sein Freiwilligenjahr ab, beim Fuhrwesen, wegen
-der schönen Uniform. Und die Uniform stand ihm ausgezeichnet.
-Das wußte er, und konnte es kaum erwarten,
-bis er einen dreitägigen Feiertagsurlaub bewilligt erhielt,
-den er in der Heimat zubrachte, um sich dort den Leuten
-in all seinem Glanz zu zeigen. Die Geschwister bestaunten
-den stolzen Krieger wie ein farbenprächtiges Fabelwesen,
-und auch der lustige Küster unterließ das Witzeln und
-hatte helle Freude an dem stattlichen Sohn. Den aber
-trieb es nach Neuberg. Er wollte die Eva Wart sehen
-und Eindruck machen.</p>
-
-<p>Das alte Haus war, wenn möglich, noch schwärzer und
-verwitterter geworden, aber die muntere Arbeit erfüllte
-es jetzt wie einst, und wie vor Jahrhunderten schon leuchteten
-die bunten Glasmalereien noch immer frisch und
-kräftig im Sonnenschein. Der Rehbock Hansl tummelte
-sich im Garten, und unter den Bäumen am Grasplatz
-stand seine Herrin, zierlich und fein, ein gefaltetes Tuch
-um den Leib, und befestigte Leinenwäsche mit hölzernen
-Klammern an den kreuz und quer zwischen die Bäume gespannten
-Schnüren. Sie trug eine blaue Hausjacke mit
-weiten Ärmeln, und so oft sie ein Wäschestück hob, fielen
-sie bis zu den Ellenbogen über die runden Arme zurück.
-Das freute die fröhlichen Sonnenlichter und liebkosend
-streichelten sie die glatte Haut, durch deren Weiß in einem
-ganz zarten und duftigen Schein, nur kaum wie die Farbe
-junger Apfelblüten, das Blut schimmerte. Eine warme Anmut
-war in den Bewegungen der fleißigen Arbeiterin,
-und wenn sie sich auf die Zehen stellte, mit zurückgebeugtem
-Oberkörper eine höher hinlaufende Leine zu sich niederzog,
-formten die kleinen Brüstlein zwei feine schattenhafte
-Hügel in den leichten Stoff des losen Kleides.</p>
-
-<p>Im knapp sitzenden Waffenrock mit funkelnden Knöpfen,
-glänzend gewichste Röhrenstiefel an den Füßen, kam Otto
-über den Hof, und die Scheide des schweren Säbels stieß
-mit lautem Klingen gegen das Pflaster. Verwundert schaute
-das Fräulein nach der geräuschvollen Erscheinung und vergaß
-vor Überraschung die blühweiß gewaschenen Unterhosen
-Wart Nikls aufzuhängen, die es gerade aus dem Korb
-genommen. Unschlüssig hielt es diese in der Hand und
-wartete der Dinge, die da kommen würden.</p>
-
-<p>Der fremde Krieger aber ging schnurstracks auf den
-Garten zu, blieb, die Hacken zusammenschlagend, vor dem
-Gitter stehen stehen und salutierte stramm:</p>
-
-<p>&#8222;Servus, Fräulein Eva!&#8220;</p>
-
-<p>Nun erkannte sie ihn an der Stimme. &#8222;Jemine, der
-Herr Pichler!&#8220; rief sie und lief, das Gartentürl zu öffnen.
-Sie tat es mit einem kleinen Knicks und sagte unüberlegt
-dazu: &#8222;Tretet ein, hoher Krieger!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Der sein Herz Euch ergab!&#8220; ergänzte Otto schnell
-und verneigte sich tief, wobei er die weißbehandschuhte
-Rechte gegen seine Brust drückte.</p>
-
-<p>Das Fräulein errötete. &#8222;Bei Ihnen muß man mit dem
-Zitieren vorsichtig sein!&#8220; lachte es. &#8222;Sie sind gut beschlagen!&#8220;
-Dann wollte es ihm die Hand zum Willkomm
-reichen und bemerkte, daß es noch immer des Vaters
-Unterhose hielt. Unmutig weggeschleudert flog diese im
-Bogen neben den Korb. Pichler gewahrte den Zorn.</p>
-
-<p>&#8222;Lassen Sie sich nicht stören!&#8220; sagte er und zog die
-Handschuhe aus. &#8222;Wenn es Ihnen recht ist, werde ich
-helfen.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ja?&#8220; antwortete sie vergnügt. &#8222;Kommen Sie, das
-ist lustig!&#8220;</p>
-
-<p>Dann hängten sie mitsammen die Wäsche auf. Im
-Rasen blühten die Gänseblümchen und der gelbe Löwenzahn,
-die jungen Blätter der Obstbäume glänzten frisch,
-und mit geschmeidigen Gliedern sprang das Reh über die
-grünen Wiesenflächen. Eva regte sich flink, Otto reichte
-ihr die feuchten Leinenstücke und stellte sich ungeschickt,
-um einen Vorwand zu haben, seine Finger mit ihrer warmen
-Hand oder dem kühlen festen Fleisch der Arme in
-Berührung zu bringen. Sie achtete nicht darauf. Ganz
-Eifer war sie, und die blonden Stirnhaare bewegten sich
-in krauser Unordnung wie ein leichtes goldenes Gitterwerk
-vor der klaren Stirn. Dabei plauderten sie von allem
-möglichen, und nur von einem sprachen sie nicht, obwohl
-Eva mit still klopfendem Herzen darauf wartete: von
-Fritz Hellwig.</p>
-
-<p>Aber auch Pichler dachte an ihn und wiegte sich in der
-frohen Zuversicht, daß es ihm gelingen werde, den Gegner
-auszustechen. Denn er wußte, daß Hellwig sein Mitbewerber
-war. So ängstlich dieser auch das Geheimnis
-behütete, den Spüraugen Ottos war es nicht verborgen
-geblieben.</p>
-
-<p>Alle Register seiner bestrickenden Liebenswürdigkeit zog
-er, und das Bewußtsein, daß er fesch und vorteilhaft
-aussah, verlieh ihm große Sicherheit. Er übertraf sich
-selbst an Witz, Geist und drolligen Einfällen, so daß
-Eva fortwährend lachen mußte und in ihrer Vertrauensseligkeit,
-die ohne Arg war, dem lustigen Gesellschafter
-mit warmen Blicken entgegenkam. Und sie merkte auch
-die Absichtlichkeit nicht, als er ihr mit zögernden Händen
-die Haare aus der Stirn ordnete, mit ihrem Armband
-sich zu schaffen machte oder wie zufällig über ihr Kleid
-hinstrich. Wie mit einem guten Kameraden unterhielt sie
-sich und begegnete seinen Vertraulichkeiten auch wohl mit
-anderen, indem sie ihn auf die Finger schlug oder belustigt
-ihren schmalen Fuß zum Vergleich auf seinen großen
-Stiefel stellte.</p>
-
-<p>Otto aber deutete alles zu seinen Gunsten. Er brannte
-lichterloh und glaubte, daß die Kleine nicht weniger in
-ihn verliebt sei als er in sie. Seine übermütige Siegessicherheit
-ließ ihn immer mehr wagen. Als er aber mit
-einer halben Wendung seinen Arm einen Augenblick um
-ihre Hüfte legte, klatschte sie ihm ein nasses Tuch ins Gesicht.
-&#8222;Das fordert Strafe!&#8220; rief er und wollte sie jetzt
-erst recht an sich ziehen. Das Mädchen aber stand plötzlich
-mit einer so erstaunten und kalt abweisenden Miene
-vor ihm, daß er betreten seine Absicht aufgab. Er sah ein,
-daß er fürs erste Mal zu weit gegangen. Um den ungünstigen
-Eindruck zu verwischen, war er jetzt doppelt aufmerksam
-und bescheiden. Eva hantierte indes gleich wieder
-fröhlich weiter und tat, als sei nichts vorgefallen. Erst
-dieser vornehme und sichere Anstand brachte ihn aus dem
-Text. Er wurde verlegen, verlor den Faden und einen
-Augenblick stockte das lebhaft geführte Gespräch.</p>
-
-<p>Der Rehbock kam, rieb den Kopf an seiner Herrin und
-schaute sie mit klugen Augen an. Da benützte sie endlich
-die Gelegenheit und sagte: &#8222;Wie doch die Zeit vergeht!
-Jetzt hab&#8217; ich ihn schon das dritte Jahr! Was mag denn
-eigentlich der edle Spender machen?&#8220; Ganz leichthin sagte
-sie das, aber ihr Herz schlug laut dabei.</p>
-
-<p>&#8222;Wer?&#8220; fragte Otto und wollte nicht verstehen.</p>
-
-<p>&#8222;Sie wissen wohl gar nicht, von wem er ist?&#8220; erwiderte
-sie. Es war ihr nicht möglich, den Namen über die
-Lippen zu bringen.</p>
-
-<p>&#8222;Ja so!&#8220; antwortete Pichler gedehnt und gleichgültig.
-&#8222;Sie reden von Fritz Hellwig? Da kann ich nicht dienen.
-Seit der wegen jener gewissen Geschichte von Prag hat
-fortmüssen, hab&#8217; ich nichts mehr von ihm gehört.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Was für gewisse Geschichte?&#8220; fragte sie und schaute
-ihn bang an. Da hoffte er sein Eisen zu schmieden, begann
-zu erzählen und stellte die Sache so dar, als ob
-Fritz aus Mangel an Mut den Zweikampf abgelehnt hätte.</p>
-
-<p>&#8222;Man darf das nicht!&#8220; schloß er. &#8222;Erst beleidigen und
-dann auskneifen. Es ist mir schwergefallen, aber ich hab&#8217;
-schließlich nicht anders handeln können.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Wieso?&#8220; Eine kleine Falte stand ihr zwischen den
-Brauen.</p>
-
-<p>&#8222;Mit einem Auskneifer verkehrt man nicht. Der ist
-gesellschaftlich tot. Ich hab&#8217; dennoch versucht, mir den
-Freund zu erhalten, hab&#8217; heimlich mit ihm zusammentreffen
-wollen, trotz der Gefahr, daß es herauskommt
-und mich ebenfalls unmöglich macht.&#8220;</p>
-
-<p>Er mußte innehalten. Eva hatte mit dem Fuß aufgestampft
-und ungestüm dazwischengerufen: &#8222;Fritz ist kein
-Auskneifer!&#8220;</p>
-
-<p>Mit einem nachsichtigen Lächeln blickte er sie groß an.</p>
-
-<p>&#8222;Sprechen wir nicht mehr davon. Mir geht die Geschichte
-nah, und helfen tut das Reden doch nichts mehr!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ihnen nicht, das seh&#8217; ich jetzt schon selber!&#8220; sprach sie
-ihm mit funkelnden Augen entgegen. Gekränkt versetzte
-er: &#8222;Warum sind Sie so bös? Sie tun ja gerade, als
-ob ich an allem schuld bin!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Beileibe!&#8220; entgegnete sie und in ihrer Stimme war
-Spott und Zorn. &#8222;Fein haben Sie sich benommen! Ein
-unschuldiger Engel sind Sie!&#8220; Dann aber ging ihr doch
-das mühsam gezügelte Temperament durch. &#8222;Wollen Sie
-wissen,&#8220; fuhr sie heftig fort, &#8222;wollen Sie wissen, wer
-der Feigling ist? Nehmen Sie einen Spiegel und schaun
-Sie sich an! Dann sehen Sie ihn!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Fräulein Eva!&#8220;</p>
-
-<p>Das klang gereizt und grollend. Sie hörte nicht darauf.
-Rücksichtslos warf sie ihm ihre Empörung ins Gesicht.</p>
-
-<p>&#8222;Vielleicht nicht? Sie haben nicht den Mut gehabt,
-offen zu Ihrem Freund zu halten. Wie alle sich losgesagt
-haben, haben auch Sie ihn aufgegeben! Das ist feig!
-Das ist schlecht! Pfui!&#8220;</p>
-
-<p>Sie drehte sich auf dem Absatz herum, schritt tiefer
-in den Garten hinein mit heißen Wangen und wild schlagendem
-Herzen. Aber ihre blitzenden Augen waren jetzt
-voll Tränen.</p>
-
-<p>Pichler war sehr blaß geworden und zerknüllte seine
-Handschuhe. Das Reh, das ihm gerade in die Quere kam,
-erhielt einen unsanften Stoß. Doch kein Wort erwiderte
-er. Eine Weile stand er noch unschlüssig, dann kehrte er
-sich langsam ab und schritt durch das Gartentürl in den
-Hof zurück. Aber sein Säbel klang jetzt nicht mehr hell
-auf den Steinen. Er hielt ihn am Korb fest und bestrebte
-sich eines möglichst geräuschlosen Abgangs.</p>
-
-<p>Eva schrieb an diesem Tage noch einen langen Brief
-an Heinz. Aber obwohl sie dabei fortwährend an Fritz
-dachte und obwohl jedes Wort eigentlich für ihn bestimmt
-war, kam auf den vier eng beschriebenen Seiten schließlich
-nicht einmal sein Name vor. Und nur ganz zum Schluß,
-als Nachschrift, schrieb sie: &#8222;Deinen Stubennachbar lasse
-ich grüßen.&#8220; Sie schrieb es hastig und überstürzt und wagte
-dabei nicht auf das Papier zu schauen, so daß diese Zeile
-schief und mit unordentlichen Buchstaben dastand und von
-der sauberen Nettigkeit der übrigen erheblich abstach.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>3.</h3>
-</div>
-
-<p>Fritz blieb es erspart, dem Kaiser zu dienen. Eine Unregelmäßigkeit
-in der Krümmung der Hornhaut beeinträchtigte
-das Sehvermögen seines rechten Auges und machte
-ihn zum Waffendienst untauglich. Er war froh darüber,
-und als er auch die letzte Musterung glücklich hinter sich
-hatte, verleitete er seinen Freund Heinz zu einem kleinen
-Gütlichtun in einem Weinkeller. Von dort gingen sie noch
-in ein Nachtkaffeehaus. Ein Streichorchester spielte hier,
-und der große, schäbig elegante Raum war gesteckt voll.
-Studenten, ledige junge Beamte und alte Witwer waren
-in der Überzahl, saßen angeheitert, lustig oder schläfrig
-bei den runden Marmortischchen und musterten die geschminkten
-und geputzten Weiber, die von der Straße
-kamen und Liebe feilboten. Allenthalben saßen oder standen
-sie bei den Herren, von den großen Hüten nickten
-die gefärbten Federn, und falsche Edelsteine funkelten an
-billigen Spitzenblusen.</p>
-
-<p>Eine aber saß allein und abseits in einer Ecke, hatte
-ein schlecht sitzendes dunkles Kleid an, und ihr Gesicht
-war ohne Schminke. Mit ängstlichen Augen schaute sie
-in das lärmvolle Durcheinander, und wenn ein Mann
-sie ansprach, begann sie zu zittern, errötete und gab keine
-Antwort. Eine Anfängerin. Der Zahlkellner beobachtete
-sie mißtrauisch. Er sorgte sich um sein Geld für die Zeche.
-Aber auch Heinz Wart ließ sie kaum aus den Augen.</p>
-
-<p>Die Musik spielte den neuesten Gassenhauer, die Gäste
-sangen mit, stampften, klatschten und pfiffen.</p>
-
-<p>Leichthin sagte Heinz: &#8222;Ich werde mich an ihren Tisch
-setzen. Gehst du mit?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Was dir nicht einfällt!&#8220; erwiderte Fritz und schaute
-den Epikuräer entrüstet an. Der bemühte sich, ein unbefangenes
-Gesicht zu machen, wurde aber doch rot, als
-er jetzt meinte: &#8222;Dann wäre ich dir dankbar, wenn du mich
-allein ließest.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Wie du willst. Zugetraut hätte ich&#8217;s dir nicht!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Man täuscht sich eben. Gute Nacht.&#8220;</p>
-
-<p>Hellwig hatte schon den Hut auf und stürmte davon.
-Er war nicht prüde und kein Sittenrichter. Aber die käufliche
-Liebe ekelte ihn an.</p>
-
-<p>Die junge Frau zuckte erschreckt auf, als sich Heinz
-mit einem ungelenken: &#8222;Erlauben Sie?&#8220; zu ihr setzte.
-Aber bald verlor sie alle Scheu. Weder Unverschämtheit
-noch freches Begehren war in seinem Blick, nur ernste Teilnahme,
-die Vertrauen heischte und Vertrauen wachrief.</p>
-
-<p>Sie hieß Marie und war aus dem Waldviertel. Nach
-einem verstorbenen Onkel hatte sie gemeinsam mit ihrer
-Schwester einen Milchhandel in der Stadt übernommen.
-Aber da sie beide nichts vom Geschäft verstanden, wollte
-es nicht gehen und wurde ihnen schließlich versteigert. Die
-ältere Schwester hatte mit einem Lohnkutscher ein Verhältnis,
-das ihr allwöchentlich Prügel und alljährlich ein
-Kind einbrachte. Die Marie aber ging einem Heiratsschwindler
-ins Netz, der sie um die letzten Kreuzer betrog
-und dann sitzen ließ. Weil sie zart und schwächlich aussah,
-glückte es ihr nicht gleich, als Dienstmagd unterzukommen,
-die Quartiersfrau wollte ihr ohne Zahlung nicht länger
-Unterstand geben, bei der Schwester war Not und Elend
-und kein Platz für noch einen müßigen Kostgänger. Deswegen
-saß die Marie jetzt hier und wollte das Letzte, das
-ihr noch geblieben, feilgeben, um wieder einmal ordentlich
-essen und die Miete zahlen zu können.</p>
-
-<p>Das alles erzählte sie dem Wart, und die Aussprache
-tat ihr wohl. Er unterbrach sie mit keinem Wort, hörte
-still zu und lebte ihr einfaches Schicksal mit, das ihn ans
-Herz griff, trotzdem er vorausgewußt hatte, daß ihr Bericht
-so oder ähnlich lauten würde.</p>
-
-<p>Dann redeten sie noch über viele Dinge. Die Marie
-fühlte sich geborgen, wurde lebhafter und wenn sie lächelte,
-glitt über ihr mageres Gesicht ein wehmütig freundliches
-Licht. Wie wenn im Vorfrühling der Sonnenschein über
-ein erstes blasses Schneeglöckchen hinhuscht, sah es aus,
-und in ihren goldbraunen Augen war ein sanfter Glanz
-von einer Munterkeit, die ungewiß, ob sie sich vorwagen
-sollte, ihre leuchtenden Flüglein hob und senkte.</p>
-
-<p>Es war sehr spät geworden. Heinz schlug vor, zu gehen.
-In ihr Schicksal ergeben, folgte sie ihm. Aber auf der
-Straße nahm sie doch seinen Arm und schmiegte ihre
-Wange daran, zum Dank, daß er sie rücksichtsvoll und
-wie ein anständiges Mädchen behandelte. Vor einem Logierhaus
-machte er halt. Bevor er klingelte, bot er ihr mit
-behutsamen Worten ein Darlehen an. Sie gab keine Antwort,
-wurde verwirrt und schluchzte kurz auf. Aber das
-Geldstück nahm sie doch, mit kaum verhehlter Gier, aus
-seinen Händen und barg es bebend in ihrem Täschchen.
-Dann wartete sie mit fliegendem Atem, daß er anläuten
-und das Zimmer bestellen würde. Doch er hielt ihr nur
-die Hand hin.</p>
-
-<p>&#8222;Gute Nacht!&#8220; sagte er einfach.</p>
-
-<p>Freudig erschrocken schaute sie ihn an.</p>
-
-<p>&#8222;Sie gehn nicht mit?&#8220; rief sie in der Ratlosigkeit ihrer
-Überraschung. Und das war wie ein Aufjubeln, und die
-hellen Tränen stürzten ihr über die Wangen.</p>
-
-<p>&#8222;Schlafen Sie sich aus. Wenn es Ihnen recht ist,
-hol&#8217; ich Sie morgen früh ab. Dann sehen wir weiter.&#8220;</p>
-
-<p>Sie war ganz fassungslos und wußte nicht, wie sie ihm
-dankbar sein könnte. In überströmendem Empfinden
-neigte sie sich über seine Hand. Unwillig machte er sich
-frei, zog die Nachtglocke und wollte rasch davon. Sie ließ
-es nicht zu.</p>
-
-<p>&#8222;Sie ... du ...&#8220; stammelte sie, legte ihre Arme um
-seinen Hals und küßte ihn.</p>
-
-<p>Die Sommernacht war lau und ausgesternt, rein und
-rund hing der Mond im dunklen Blau, lautlos war es
-und niemand in der Gasse zu sehen. Und nichts war zu
-hören als der Herzschlag der vielen schlafenden Menschen,
-der durch die Mauern der großen Zinshäuser drang und
-leis und warm durch die Stille pochte.</p>
-
-<p>&#8222;Bleib&#8217; bei mir, du!&#8220; flüsterte die Marie. &#8222;Geh&#8217; nicht
-fort, laß mich nicht wieder allein. Ich bin so froh, daß
-ich dich gefunden hab&#8217;!&#8220;</p>
-
-<p>Der Schlüssel rasselte im Schloß. Schläfrig öffnete
-der Pförtner das Tor. Nur einen flüchtigen Blick warf
-er auf das Pärchen, dann sagte er mit einem verständnisinnigen
-Blinzeln zu Heinz: &#8222;Ein Zimmer mit zwei Betten
-ist nicht mehr frei. Wenn die Herrschaften fürlieb nehmen
-wollen mit Nummer einundvierzig?&#8220;</p>
-
-<p>Heinz stand wie betäubt.</p>
-
-<p>&#8222;Geh&#8217; nicht fort!&#8220; bat die Marie.</p>
-
-<p>Da nahm er wortlos den Zimmerschlüssel aus der Hand
-des Türstehers. Und noch ehe er im zweiten Stockwerk
-angelangt war, hatte er schon den schlanken, bebenden
-Frauenleib ganz dicht an sich gezogen.</p>
-
-<p>Körper an Körper und Wange an Wange stiegen sie
-die Treppe hinan, mit fieberndem Blut und hämmernden
-Herzen, und wie eine glühende Wolke umhüllte sie die
-ungestüme Sehnsucht ihrer jungen lebenshungrigen Sinne.</p>
-
-<p>So kam die große Leidenschaft der Liebe über Heinz
-Wart. Er bezog mit Marie eine aus Küche und Zimmer
-bestehende Wohnung im fünften Stock eines Miethauses.
-Dort war es hell und freundlich, und die schlichten Möbel
-glänzten im Morgensonnenschein mit den Zähnen, den
-Augen der Marie um die Wette. Heiter ging sie an ihr
-Tagewerk und beschloß es heiter, ganz geborgen fühlte sie
-sich, wußte sich geliebt und liebte wieder mit aller Zärtlichkeit
-ihres unverbrauchten kindlichen Herzens. Ein sachtes
-Rot kam in ihre schmalen Wangen, leicht und federnd
-schritt sie einher. Aber ihre Arme blieben mager, und der
-trockene Husten wollte nicht weichen.</p>
-
-<p>Beglückt und froh ließ sich Heinz von ihrer warmen
-Liebe wiegen. Seine Starrheit löste sich, er wurde weicher,
-menschlicher sozusagen. Im schnurgeraden Wandern nach
-dem Ziel hatte er eine heimliche Stätte gefunden, wo
-er traumverloren ruhen und endlich auch einmal der Melodie
-seines eigenen Lebens lauschen konnte.</p>
-
-<p>Fritz bat den Freund &mdash; wortlos, nur mit einem festeren
-Händedruck &mdash; um Verzeihung wegen der schlechten Meinung,
-die er von ihm gehabt, und mit der Marie schloß
-er bald gute Kameradschaft. Viele schöne Abende verlebte
-er in ihrem Heim, aber auch jeden freien Tag verbrachte
-er mit ihnen.</p>
-
-<p>Dann fuhren sie alle drei in den Wiener Wald oder in
-die Voralpen hinaus, nach denen die Marie solche Sehnsucht
-hatte, daß sie sich immer wie zu einem Fest schmückte,
-wenn sie die laubwaldumwachsenen Höhen wiedersehen
-sollte, die weich hinfließenden Kämme und die weiten Täler.
-Denn sie liebte die freie Gotteswelt, den blauen Himmel,
-unter dem sie groß geworden, die blumigen Fluren, die
-ihr das Wiegenlied geflüstert, die saalweiten Buchenwälder,
-durch die mit goldenen Mänteln die Rehe sprangen
-wie verwunschene Märchenprinzen.</p>
-
-<p>Abseits von dem großen Heer der Ausflügler streiften
-sie, meist weglos, den ganzen Tag umher, an kühlen
-Bergquellen hielten sie Rast, von duftschweren Maiglöckchen
-umblüht oder umloht von der berauschenden Glut
-blutroter Alpenrosen. Und je einsamer es war, desto glücklicher
-waren sie, großen Kindern gleich, die hinter die
-Schule gelaufen.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>4.</h3>
-</div>
-
-<p>Diese Ausflüge waren für Hellwig immer wie ein Jungbrunnen,
-aus dem er sich Erquickung und neue Frische
-holte für sein aufreibendes Tagwerk. Dieses war, je mehr
-er sich eingearbeitet hatte, je mühevoller geworden. Die
-Partei hatte bald die Tüchtigkeit, die Werbekraft und den
-Einfluß erkannt, den der junge Schriftleiter mit seiner
-warmen Begeisterung und stillen Leidenschaftlichkeit auf
-breite Massen üben konnte. Die Scheu vor dem öffentlichen
-Hervortreten hatte er rasch überwunden, zauderte
-jetzt niemals mehr, in den Versammlungen als Redner
-aufzustehen, und wenn er etwas zu sagen hatte, sagte er
-es frei heraus und wunderte sich selbst manchmal, wie
-leicht und mühelos ihm die Worte von den Lippen kamen.
-Mit frohen Kräften tat er sich überall um, und je mehr
-man auf seine Schultern lud, desto wohler fühlte er sich.
-Und seine Kräfte wuchsen, je mehr er sie brauchte.</p>
-
-<p>Immer zu eng waren ihm die Grenzen abgesteckt, sein
-Ungestüm schrie nach einer ganz großen Aufgabe, an der
-er sich ungehemmt und uneingeschränkt erproben und wirklich
-abmessen konnte, was er zu leisten imstande sei. Und
-die Aufgabe wurde ihm.</p>
-
-<p>In dem ausgedehnten nordböhmischen Kohlenbecken
-waren die Lohnverhältnisse schon lang unhaltbar und der
-Streik nicht länger hinauszuschieben. Stürmisch verlangten
-ihn die Bergleute, und die Parteileitung mußte nachgeben.
-Es wurde notwendig, einen verläßlichen Mann in das
-unruhige Gebiet zu entsenden, der die Bewegung vorbereiten,
-in geordnete Bahnen lenken und überwachen
-sollte. Die Wahl fiel auf Fritz Hellwig. Eine große, verantwortungsvolle
-Sendung wurde ihm, der wenig über
-vierundzwanzig Jahre alt war, damit auferlegt. Aber vor
-die Entscheidung gestellt, schwankte er keinen Augenblick
-und sagte ja.</p>
-
-<p>An einem trüben Herbsttag betrat er den Ort seines
-zukünftigen Wirkens. Die große lärmvolle Provinzstadt
-machte keinen günstigen Eindruck. Ein trockener Geschäftsgeist,
-der das Zweckmäßige auch schön findet, sprach aus
-ihrer ganzen Anlage. Man sah es gleich: Diese Stadt
-hatte keine Vergangenheit. Ihre Insassen wohnten nur
-erst wie zur Miete, waren nicht auf diesem Boden erbgesessen
-und mit ihm verwachsen durch vieljährige Überlieferung.
-Deswegen legten sie keinen Wert auf ein behagliches
-Heim, hätten auch keine Zeit gefunden, es zu
-schmücken, in ihrer rastlosen Jagd nach dem Erwerb.</p>
-
-<p>Mit ihren vielen Fabriksschloten lag die Stadt, beständig
-von einer Wolke schwärzlichen Qualms überschattet,
-mit Geratter, Gerassel und Getöse angefüllt, in einer
-ungemein reizvollen Landschaft wie ein häßliches Mal auf
-einem schönen Körper. Zahlreiche Berge schlossen sie von
-zwei Seiten ein, ein stattlicher Strom hatte sich eine breite
-Rinne durch das Gebirge gegraben und trug Frachtschiffe
-auf seinem Rücken, beladen mit Obst und Korn und
-Kohlen, die rings in dem großen Becken gefördert wurden.
-Und an seinen Ufern führten die Schienenstränge, keuchten
-die Lokomotiven, knarrten die Dampfkrahne, schwere
-Warenballen aus den Eisenbahnwagen hebend und in den
-Schiffsrumpf senkend.</p>
-
-<p>Es war eine reiche Gegend, und die Leute verwendeten
-den unerschöpflich zuströmenden Reichtum mit klugem Bedacht.
-Sie legten ihn in der Erde an, vergruben ihr Pfund
-und wucherten doch damit, teuften Schacht um Schacht
-ab, stellten immer stärkere Fördermaschinen auf, und die
-schwarzen Diamanten brachten hundertfältigen Nutzen.</p>
-
-<p>Aber die Landschaft litt darunter, und schon jetzt sah
-man weite Flächen mit rauchenden Löschhalden eingesunken
-und verrollt, wo einst auch fruchtschwere Obstbäume standen
-und gelbes Korn der Ernte entgegenreifte. Und wenn
-der letzte Kohlenblock dem Bauch der Erde wird entrissen
-sein, dann wird eine Wüste ringsum zurückbleiben und
-ein großes Elend.</p>
-
-<p>Daran dachten sie jedoch vorläufig nicht. Sie waren
-stolz auf ihre Bergwerke, stolz auf ihre Fabriken, stolz
-auf ihren Reichtum und hielten sich für ungemein geschäftstüchtig,
-weil sie sich alles dienstbar zu machen und
-aus allem Vorteil zu ziehen wußten.</p>
-
-<p>Am stolzesten aber war die Stadt auf ihre chemische
-Fabrik. Die bildete ein eigenes Viertel, und wohl fünfzig
-Schlote ragten hoch in die Luft, gewaltige Säulen für den
-Thron der Königin Industrie. In dicken Wolken hing
-der schwarze Rauch darüber als Baldachin und unten sausten
-und grollten die Räder, knatterten die Treibriemen, ächzten
-die Winden, schrillten die Dampfpfeifen: die große Sinfonie
-zu Ehren der Königin.</p>
-
-<p>Weit über fünftausend Arbeiter beschäftigte diese Fabrik,
-und weit über fünfzehntausend Bergleute fanden in den
-Kohlengruben ihr Brot. Die sollte Fritz Hellwig nun
-führen, organisieren und vorbereiten zum Kampfe gegen
-die mächtigen Handelsherren.</p>
-
-<p>Er hatte sich außerhalb der Stadt in einem kleinen
-Hause am Ufer des Stromes bei einem Faßbinder eingemietet.
-Hier war es still und friedsam, die Hafenbahn
-führte nicht bis her und der Lärm drang nur kaum noch
-wie ein leises Murmeln von fern. Um die Fenster schlang
-ein edler Weinstock seine Ranken, bewaldete Berge stiegen
-am jenseitigen Ufer mit anmutigen Gipfeln empor, und
-durch das grüne Tal glitt leise rauschend mit eiligen Wellen
-der schöne Fluß. Früh morgens ging die Sonne an den
-Fenstern vorbei, lag wie gleißendes Silber auf der breiten
-Wasserfläche, Lastschiffe und Zillen wanderten bei günstigem
-Wind mit aufgesteckten Segeln vorüber, Schleppdampfer
-bewegten sich an rollender Kette stromaufwärts.</p>
-
-<p>Bisweilen auch tönte unten auf dem gepflasterten Vorplatz
-lustiger Schlegelklang. Aber der Bindermeister war
-rücksichtsvoll und fragte jedesmal, wenn er die Reifen antreiben
-wollte, seinen Mieter, ob ihm das Gehämmer nicht
-lästig sei. Er war außerordentlich mager, groß, etwas
-vornüber gebeugt durch die Last seiner siebzig Jahre, und
-um das ganze Gesicht starrte ihm ein wahrer Urwald von
-grauen Haaren, so daß nur die kleinen Vogelaugen sichtbar
-waren und eine Hakennase von abenteuerlicher Form. Wie
-ein Meergreis schaute er aus, grün, mit grünlich verschossenen
-Kleidern und grünlich-schwarzer Hautfarbe. Denn
-er wusch sich nur Sonntags. Dagegen hielt er viel auf
-leichtes Schankbier und Schnupftabak, wovon er unglaubliche
-Mengen verbrauchte. Seine Frau war ihm darin
-ähnlich. Auch sie verschmähte weder eine Prise noch einen
-guten Trunk. Doch ging sie immer sauber gewaschen,
-und Fritz hatte keinen Anlaß zu einer Klage. Seine Stube
-war kühl und hell, die Aussicht prachtvoll, der Kaffee
-vortrefflich.</p>
-
-<p>Wenn er zu Hause war, sah er am liebsten zum Fenster
-hinaus auf das bunte Treiben im Strom, schaute den
-Scharen der Möven zu, die wie Silberstreifen über die
-glitzernde Wasserfläche schossen und ließ sich nachts von
-dem eintönigen Geplätscher der wandernden Wellen in
-Schlaf singen.</p>
-
-<p>Aber er hatte nicht viel Zeit zu beschaulicher Muße. Die
-Agitatoren, die vor ihm dagewesen waren, hatten schlecht
-gewirtschaftet. Sie hatten verhetzt, statt aufzuklären; sie
-hatten aufgereizt, wo sie hätten belehren sollen. Sie hatten
-den Leuten die glückliche Unwissenheit genommen und nichts
-dafür gegeben.</p>
-
-<p>&#8222;Werdet Sozialdemokraten, und es wird euch gut
-gehen.&#8220;</p>
-
-<p>Und sie wurden Sozialdemokraten. Aber es ging ihnen
-nicht gut. Es ging ihnen schlechter. Denn zur gleichen
-Lebenslage war die Unzufriedenheit gekommen.</p>
-
-<p>So war es Hellwig nicht leicht gemacht, Vertrauen zu
-erwerben. Aber es gelang ihm doch. Er war fortwährend
-unter ihnen, bereiste das ausgedehnte Gebiet, warb um
-sie und ließ nicht locker. Und langsam begann ihr Mißtrauen
-zu schwinden. Sie ließen ihn näher an sich heran,
-öffneten ihm ihre Stuben, ihre Herzen. Sie spürten heraus,
-daß er es ehrlich mit ihnen meinte und fingen an ihn
-zu lieben.</p>
-
-<p>Bald kannten ihn alle Arbeiter. Es war auch nicht
-schwer, ihn unter Hunderten herauszufinden. Schulterbreit,
-von einem kraftvollen Ebenmaß der Glieder, überragte
-er die meisten um Haupteslänge. Wenn sie seinen
-runden Schlapphut, den grauen Radmantel auftauchen
-sahen, kamen sie näher, vertrauten ihm ihre Nöte. Und
-bald auch kamen sie zu ihm in die Redaktion des Wochenblattes,
-dessen Leitung er mit übernommen hatte. In den
-Frühstunden oder am Abend nach der Arbeit kamen sie, mit
-ihren rußigen Gesichtern und schwieligen Fäusten, holten
-sich Rat in ihren kleinen Kümmernissen und großen Mühsalen.</p>
-
-<p>Es gab prächtige Menschen unter ihnen. Da war Anton
-Stanzig, der Glasbläser, der in seinen freien Stunden
-in den Bergen herumlief, um sich eine neue Lunge zu holen,
-weil er sich die alte beim heißen Schmelzofen schon zur
-Hälfte herausgeblasen hatte. Er spuckte Blut und sammelte
-Schmetterlinge, las darüber dicke Bücher und wußte alle
-Arten mit ihren lateinischen Namen zu benennen. Oder
-da war Ferdinand Opitz, der nach beendeter Häuerschicht die
-dunkle Kohlengrube verließ, um sich mit Spektralanalysen
-zu beschäftigen und dessen ständige Klage war, daß er so
-selten dazu käme, das Sonnenspektrum zu beobachten.
-Oder da war Franz Bogner, der alte Kesselwärter, der
-in den Mußestunden mit seinen knotigen Fingern zarte
-Blumengewinde und Figuren modellierte. Und was sollte
-man von Karl Pfannschmidt halten, dem fünfunddreißigjährigen
-Bergmann, der zur Rastzeit im Schacht mit dem
-Speck zugleich auch ein Buch aus dem Brotsack zog und
-auf einem Haufen Kohle bäuchlings hingestreckt, beim
-trüben Schein der Grubenlampe Rousseaus <span class="antiqua">contrat social</span>
-im Urtext zu lesen anfing.</p>
-
-<p>Er hatte eine zweiklassige Dorfschule besucht und mußte
-mit zwölf Jahren ins Bergwerk. Schon längst war seine
-Gesichtsfarbe fahlgrün und seine Luftröhre voll von Kohlenteilchen,
-die er obertags fortwährend aushustete. Die heiße
-Schachtluft hatte den Körper angegriffen, aber der Sehnsucht
-konnte sie nichts anhaben. Die war geblieben, und
-mit ihr ein unstillbarer Hunger nach Wissen. Seine Stuben
-waren vollgepfropft mit allen Lehrbüchern der Mittelschulen.
-Denn er hatte einst den Ehrgeiz gehabt, es bis
-zum Doktor der Weltweisheit zu bringen. Da hatte er
-heiraten müssen, kurz nach der Hochzeit war das erste
-Kind gekommen, und die Sorge um das tägliche Brot
-zwang ihn, im Schachte auszuharren.</p>
-
-<p>Hellwig war bald der wahren Natur des bescheidenen
-Bergmanns auf die Spur gekommen, bot ihm seine
-Bücherei zur Benützung an, lud ihn zu sich ein. Und Pfannschmidt
-zog eines Abends nach langem Zögern seine guten
-Kleider an und ging hin. Frisch rasiert war er, trug
-blank gewichste Stiefeletten und an den ausgearbeiteten
-Händen braunlederne Handschuhe. Linkisch stand er unter
-der Tür und zog und zerrte an dem Knoten seiner Halsbinde,
-die himmelblau auf einer brettsteifen Hemdbrust
-glänzte. Die Hemdbrust hatte sich unter der Weste verschoben
-und wölbte sich nun wie ein mächtiger Frauenbusen.</p>
-
-<p>&#8222;Stör&#8217; ich?&#8220; fragte er schüchtern.</p>
-
-<p>&#8222;Beileibe!&#8220; erwiderte Fritz. &#8222;Schön, daß Sie kommen.&#8220;</p>
-
-<p>Er nahm dem Besucher den Hut aus der Hand, legte
-ihn aufs Bett, öffnete den Kasten und nahm eine Flasche
-Wein heraus.</p>
-
-<p>&#8222;Machen wir&#8217;s uns gemütlich.&#8220;</p>
-
-<p>Der Bergmann saß steif nur kaum auf dem Rand des
-angebotenen Stuhls und hatte die Hände vor sich auf
-die geschlossenen Knie gelegt. Seine Blicke wanderten in
-der Stube herum, blieben an den Büchergestellen haften.</p>
-
-<p>Fritz schraubte die Lampe höher. &#8222;Ich denke, wir lesen
-etwas!&#8220; schlug er vor. Denn auch ihm fehlte die Gabe,
-durch leichtes Geplauder Brücken zu schlagen, über die
-ihre einander noch fremden Seelen sich hätten näher kommen
-können. Er holte ein paar Bände, setzte sich seinem
-Gast gegenüber, der ihn stumm und erwartungsvoll ansah.</p>
-
-<p>&#8222;Vielleicht das hier!&#8220; meinte Hellwig nach einigem
-Herumblättern. Und nun las er mit verhaltener Leidenschaft
-Friedrich Adlers Gedicht &#8218;Nach dem Strike&#8216;.</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">&#8222;... Im tiefen Schacht, von Luft, vom Lichte,</div>
- <div class="verse indent0">Von jedem frohen Blick entfernt,</div>
- <div class="verse indent0">Gefahr, wohin der Fuß sich richte &mdash;</div>
- <div class="verse indent0">Wir haben tragen es gelernt.</div>
- <div class="verse indent0">Wir wissen uns dem Los zu neigen.</div>
- <div class="verse indent0">Wir gehen fürs Leben in den Tod.</div>
- <div class="verse indent0">Wir schweigen schon und werden schweigen,</div>
- <div class="verse indent0">Allein wir hungern, schafft uns Brot!&#8220;</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Und weiter:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">&#8222;... Und laßt es nicht zum höchsten steigen,</div>
- <div class="verse indent0">Bedenket, Eisen bricht die Not &mdash;</div>
- <div class="verse indent0">Wir schweigen schon und werden schweigen,</div>
- <div class="verse indent0">Allein wir hungern, schafft uns Brot!&#8220;</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Pfannschmidt war aufgestanden. Gleich nach den ersten
-Versen war er aufgestanden, ganz außer sich, mit geballten
-Händen und weit geöffneten Augen.</p>
-
-<p>&#8222;Herr! ... Herr ...!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ein schönes Gedicht, nicht wahr?&#8220; sagte Fritz leichthin,
-um die eigene Ergriffenheit zu verbergen.</p>
-
-<p>&#8222;Schön? &mdash; Packen tut&#8217;s einem, daß man gleich mit
-Fäusten dreinschlagen möcht&#8217;! Sakra! Wir schweigen schon
-und werden schweigen, allein wir hungern! ... Das sind
-Worte, gerade solche Worte, wie sie unsereins auch spricht
-... aber was da alles drinliegt! Und was alles dazwischen
-liegt, bis einer zu dem Ton kommt ... Herr, ich hab&#8217;
-auch mein Lebtag gehungert und geschwiegen und gewartet:
-es muß doch anders werden. Und ein Tag nach dem
-andern ist vorbeigegangen, ein Jahr hinterm andern, &mdash;
-bis mir meine Frau das erste graue Haar aus dem Bart
-zieht. Und da hab&#8217; ich&#8217;s auf einmal gewußt: Du steckst
-drin und kannst nicht heraus ...! &mdash; Ich hab&#8217; angefangen,
-auf die Tage aufzupassen, wie sie so langsam
-vorüberschleichen. Und da ist mir geworden: Ich lieg&#8217; sechs
-Schuh tief in einem offenen Grabe ... und jeder Tag
-ist wie eine Schaufel Erde, die sie auf mich werfen. Bei
-den Beinen fängt&#8217;s an, dann kommt&#8217;s auf die Brust, die
-Arme ... immer schwerer ... immer mehr Erde ...
-Und endlich fällt sie auch aufs Gesicht. Dann ist das
-Licht fort, jeder Strahl, jeder Schimmer &mdash; alles. Und
-das ist das Ende ... Lebendig muß man sich begraben
-lassen und kann sich nicht wehren. Verfluchte Armut!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Pfannschmidt!&#8220; rief Fritz erschüttert. &#8222;Um Himmelswillen,
-nicht so mutlos! Denken Sie nicht ans Untergehn,
-sonst <em class="gesperrt">sind</em> Sie ja schon unten! Verfluchte Armut, jawohl!
-Aber &mdash; Hand aufs Herz, ihr, die ihr da arm seid &mdash; seid
-ihr ganz ohne Schuld? &mdash; Ihr habt geschwiegen und
-schweigt! Laßt alles auf euch niedergehn &mdash; und schweigt!
-Zum Teufel! So wehrt euch doch! Ihr habt Fäuste &mdash;
-braucht sie! Habt Rechte &mdash; fordert sie! Und weigert
-man sie euch &mdash; erzwingt sie!&#8220;</p>
-
-<p>Da lächelte der Arbeiter traurig und sagte: &#8222;Herr,
-Sie wissen eben nicht, was jahrelang schuften und hungern
-heißt. Das macht einen schon kaputt. Wenn man so
-Stücker zwanzig Jahre in der Tretmühle drin ist, dann
-hört sich endlich alles andere auf. Man lebt nur noch
-so hin ...&#8220;</p>
-
-<p>Fritz vermochte nicht zu antworten. Was er auch geredet
-hätte, es wären doch nur Worte gewesen, leere Worte,
-die an diesen heißen Schmerz nicht herankonnten, &mdash; wie
-Wassertropfen in der Luft verdampfen, lang ehe sie das
-Erz im Hochofen erreichen können.</p>
-
-<p>So war Schweigen, während vor den Fenstern der
-dunkle Strom vorüberzog, schnell, lautlos gleitend, Welle
-um Welle ohne Anfang und Ende.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>5.</h3>
-</div>
-
-<p>Tage aufreibender Tätigkeit folgten. Es galt die Forderungen
-zusammenzustellen und den Grubenbesitzern bekanntzugeben.
-Hoch waren die Forderungen nicht, denn
-die Leute waren wirklich hundejämmerlich daran. Sechs,
-im besten Fall zwölf Gulden in der Woche verdienten die
-Männer, die Weiber brachten es höchstens auf sieben,
-und zu alledem waren die Lebensmittel schandhaft teuer.
-Es gedieh zwar alles in Hülle und Fülle in der fruchtbaren
-Gegend und die Bauernhöfe hatten große Viehbestände.
-Aber die klugen Geschäftsleute wußten auch aus diesem
-Segen Gewinn zu ziehen, trieben mit Obst, Korn, Milch
-einen schwunghaften Handel nach dem Ausland und den
-nahen Kurorten. Nur die Ausschußware beließen sie dem
-heimischen Markt, forderten aber die gleichen Preise wie
-für die gute. Und die Löhne waren seit Jahrzehnten unverändert.</p>
-
-<p>Das glatte Zuströmen des Reichtums hatte die Unternehmer
-übermütig gemacht. Sie vertrauten ihrem mühelosen
-Glück und glaubten, daß ihnen alles gelingen müßte
-und nichts geschehen könnte.</p>
-
-<p>Rundweg lehnten sie die Forderungen ihrer Arbeiter ab.
-Alle ohne Ausnahme, in Bausch und Bogen, brüsk, ohne
-Beschönigung. &#8222;Wir bewilligen gar nichts! Wem&#8217;s nicht
-recht ist, der kann gehen!&#8220;</p>
-
-<p>Da berief Hellwig die Bergleute zu einer Versammlung
-unter freiem Himmel, am frühen Morgen, draußen vor
-der Stadt auf einem Hügel mit weiter Fernsicht über
-das große Becken. Und sie, über die schroffe Abweisung
-erbittert, legten trotzig die Arbeit nieder und strömten
-von allen Seiten auf die frührotbeglänzte Höhe. Wohl
-achttausend kamen sie, Männer mit struppigen Bärten,
-Weiber, die Kinder unterm Herzen trugen, muskelbepackte
-Jünglinge und Mädchen mit wachsgelben Wangen.
-In ihren besten Kleidern, wie zu einem Gottesdienst,
-kamen sie.</p>
-
-<p>Blutrot stieg im Osten die Sonne empor. Unter ihr
-lag die herbstreife Erde und hob die quellenden Brüste
-dem Licht entgegen. Rein war der Himmel, rein die Luft,
-rein die Stadt vom Fabriksqualm. Rauchlos ragten die
-Schlote, mahnende, warnende Finger, aus dem Häusergewirr.</p>
-
-<p>Hellwig schwang sich auf eine Felsplatte, die in der
-weiten Fläche des Gipfels wie eine natürliche Rednerbühne
-aufgebaut war und blickte über die Versammelten. Eine
-schwankende dunkle Masse, brandete es da unten, Kopf
-bei Kopf, und die Gesichter leuchteten seltsam weiß und
-fremd daraus hervor. Und das Regen der Leiber, das
-Summen der gedämpften Stimmen vereinigte sich zu einem
-dumpfen Brausen, wie der Schwall mächtiger Wogen,
-die ohne Rand und Ufer im offenen Meer hinrollen.</p>
-
-<p>Einen Augenblick stand er wie erschrocken vor dem ungeheuern
-Andrang des Lebens, das ihm entgegenatmete.
-Und es dünkte ihn Vermessenheit, als ein Einzelner, Jugendlicher,
-gleichsam darüberzustehen und ihm die Bahn zu
-weisen. Und er sah Hoffnung in ihren glänzenden Augen,
-hörte das Brausen leiser und leiser werden &mdash; und lautlose
-Stille wurde unter der blauen Himmelsdecke, wie in einem
-endlos gedehnten leeren Saal.</p>
-
-<p>Alle schwiegen und hielten ihm die Gesichter zugewendet
-und erwarteten etwas von ihm und waren begierig auf
-seine Botschaft. Da durchsengte es ihn mit einer wilden,
-ganz heißen Glut. Noch einen freien, leuchtenden Blick
-warf er über die Menschenmassen, dann sprach er mit
-weithin tönender, schwingender Stimme.</p>
-
-<p>Er sagte:</p>
-
-<p>&#8222;Da unten liegt die schöne reiche Erde, die unser aller
-Mutter ist. Da unten schläft auf Garbenbündeln die Fruchtbarkeit,
-biegen sich die Äste fruchtschwer und segenbeladen.</p>
-
-<p>Unsere Mutter ist so schön und so reich. Aber ihr, die
-ihr Kinder dieser Mutter seid ... schaut dort hinab, wo
-die Essen ragen und die Aschenhaufen rauchen! ... ihr,
-die ihr dort unten in den finsteren Schächten, fern dem
-Licht, in der heißen, staubigen Luft, in den engen, stickigen
-Gängen schweißtriefend die Karren schiebt und halbnackt
-die Hauen schwingt beim bleichen Flackern der Grubenlampen
-&mdash; eure Lungen keuchen, eure Lippen sind zerrissen
-und wund, eure Augen haben rote Ränder &mdash; ihr
-armen Kinder dieser reichen Erde wißt nichts von der
-Schönheit eurer Mutter!</p>
-
-<p>Wenn noch die Nacht auf den Bergen träumt, müßt
-ihr Abschied nehmen von Weib und Kind, jeden Tag Abschied
-fürs Leben, denn dort unten lauert die Gefahr,
-kauert der Tod &mdash; und eure Lieben wissen nicht, ob sie
-euch lebend wiedersehen.</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">&#8218;Wer weiß, wie nahe mir mein Ende?</div>
- <div class="verse indent0">Ein Grubenlicht, ein Lebenslicht,</div>
- <div class="verse indent0">Ein Tropfen löscht es gar behende &mdash;</div>
- <div class="verse indent0">Ein Grubenlicht &mdash; ein Totenlicht!&#8216;</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>sagt euer alter Bergmannsspruch. Und Tag für Tag müßt
-ihr hinab in die heiße, dunkle Tiefe. Und erst wenn der
-Tag zum Sterben kommt, wenn die Nacht wieder auf
-den Bergen träumt, dann kommt ihr &mdash; vielleicht! &mdash;
-hervor aus der dunklen, heißen Tiefe und eure Augen
-sehen die Sonne nicht mehr. Tag für Tag. Und keinen
-Tag seht ihr den Quell alles Lebens, die Sonne.</p>
-
-<p>Was habt ihr getan, um so gestraft zu werden?</p>
-
-<p>Wolltet ihr Umsturz und Revolte? Den Untergang des
-Reiches? Den Tod des Herrschers?</p>
-
-<p>O, nichts von alledem, meine Brüder! Ihr seid nur
-&mdash; arm!</p>
-
-<p>Das ist es ja, was unsere Gesellschaftsordnung so furchtbar
-macht und so ungeheuerlich! Daß die Armut zum
-Fluch, daß die Armut zur Strafe wurde, zu einer harten,
-grausamen, entsetzlichen Strafe.</p>
-
-<p>Und wenn ihr &mdash; nicht ein Ende, beileibe! &mdash; wenn
-ihr eine Milderung wollt, wenn euere Forderungen noch
-so maßvoll sind, wenn ihr nichts verlangt als nur ein
-wenig mehr Luft und Licht und ein wenig Würze zum
-trockenen Brot &mdash; auch dieses Wenige geben sie euch nicht!</p>
-
-<p>Wenn ihr euch auch plagt und rackert und Arbeiten
-auf euch nehmt, die oft einem Schwein zu schmutzig wären,
-geduldig und ohne Murren auf euch nehmt &mdash; denn eure
-Kinder wollen essen &mdash; es hilft euch alles nichts, plagt,
-rackert, schindet euch, so viel ihr wollt, ihr müßt &mdash; ganz
-arm bleiben.</p>
-
-<p>Nichts gibt man euch dazu, nicht einmal ein wenig mehr
-Luft und Licht und ein bißchen Würze zum trockenen Brot!</p>
-
-<p>Ballt sich euch die Faust? Will euch der wilde Zornschrei
-die Brust zerreißen?</p>
-
-<p>Gemach, ihr meine Brüder!</p>
-
-<p>Nicht in Haß und Zorn dürft ihr handeln! Wägen
-müßt ihr, müßt alles überlegen, und ruhig und besonnen,
-aber um so fester und sicherer, strenger und unbeugsamer
-pocht dann auf euer Recht!</p>
-
-<p>Und das erste Recht der Erdenkinder ist ein Anrecht
-auf die Früchte der Mutter. Wie euern Kindern die Brüste
-eurer Frauen, so gehören euch die Früchte der Erdenmutter.
-Und euer bestes Recht ist, daß ihr satt zu essen
-habt für euch und eure Kinder.</p>
-
-<p>Aber nicht mit der kurzen Gewalt der Fäuste dürft
-ihr euch dieses Recht holen. Denn ...</p>
-
-<p>Ich sehe viele unter euch, die Väter und Mütter sind.
-So frage ich euch: Wollt ihr, daß euern Kindern dasselbe
-Los falle, das euch beschieden ist? Wollt ihr, daß ihnen
-wie euch das Geleite geben durch das ganze lange Leben
-der Hunger und die Not? Wollt ihr, daß eure Kinder einst,
-wie ihr, vor einer Wiege stehn und emporschreien zum
-harten kalten Tod: &#8218;Komm doch! Komm und nimm den
-Wurm zu dir, eh&#8217; er bei uns verhungert!&#8216;</p>
-
-<p>Wollt ihr das? O, nein doch, nein!</p>
-
-<p>Nun denn, so unterdrückt den Zorn, laßt den Drang
-nach Aufruhr und Empörung nicht mächtig werden &mdash;
-um eurer Kinder willen. Denn wenn ihr jetzt hingeht,
-die Maschinen zerstört und vernichtet und plündert, werdet
-ihr in Ketten gelegt und in Kerker geworfen. Und eure
-Kinder stehen schutzlos da, preisgegeben dem hohnlachenden
-Daseinskampf &mdash; und verderben.</p>
-
-<p>Ihr seid Söhne der Erde: so seid ihr Söhne der Arbeit.</p>
-
-<p>Ihr seid Söhne der Arbeit: so seid ihr stark und starr.</p>
-
-<p>Und so rufe ich euch zum Kampf! Zum zähen, lautlosen
-Kampf der härtesten Unnachgiebigkeit! Rührt keinen
-Finger zur Arbeit, bevor nicht eure Forderungen erfüllt
-sind: Neun Stunden Arbeitszeit und vierzig Prozent Lohnerhöhung.</p>
-
-<p>Mehr könnt ihr vorerst nicht fordern. Mit einem Schlag
-fällt auch der stärkste Mann keinen hundertjährigen Baum,
-aber durch viele Axtschläge bringt ihn selbst ein Kind zu
-Fall.</p>
-
-<p>Söhne der Erde, Söhne der Arbeit, seid stark und starr
-und achtet die Gesetze um eurer Kinder willen!&#8220;</p>
-
-<p>Als er geendet hatte, zerriß ein lautes Jubelschreien
-die atemlose Stille. Ein entfesselter Strom, drängten sie
-gegen ihn, streckten die Arme aus, schwenkten Hüte und
-Tücher. Die Vordersten erkletterten den Felsen, haschten
-nach seinen Händen, drückten und schüttelten sie, und einige
-wollten ihn auf den Schultern forttragen. Er aber wehrte
-ihnen und schritt ergriffen durch die entflammte Menge,
-mit feuchten Augen und hämmerndem Herzen.</p>
-
-<p>Da stellte sich ihm ein Mann in den Weg, den er vorher
-noch niemals gesehen hatte. Und doch mußte die kurze,
-gedrungene Gestalt mit dem mächtigen Schädel, dem verwilderten
-Bart und den brennenden, tiefhöhligen Augen
-sofort auffallen. Er war schlecht gekleidet, trug einen
-abgeschabten Flausrock, Zwilchhosen, die an den Knien
-mit großen Flicken ausgebessert waren, trangeschmierte
-hohe Stiefel, und das blaue Leinenhemd ließ trotz der kühlen
-Herbstluft die haarige Brust frei.</p>
-
-<p>Etwas erstaunt schaute ihn Fritz an, und der Fremdling
-sagte mit unverhohlenem Spott: &#8222;Sie wundern sich über
-mein Aussehen, guter Freund? Das bin ich gewohnt.
-Übrigens heiße ich Karus, komme von Odessa und wollte
-mir mal anschaun, wie ihr da draußen in Freiheitskämpfen
-macht. Ich habe Ihre Rede gehört, es war eine schöne
-Rede, eine gehaltvolle Rede, gewiß, aber eben doch nur eine
-Rede. Und das, nehmen Sie mir&#8217;s nicht übel, junger
-Freund, aber das alles hat verflucht wenig Wert. Ihr
-redet und redet, glaubt, weiß der Himmel was ihr für die
-&#8218;Freiheit&#8216; und für die &#8218;Menschheit&#8216; tut. Doch seien wir
-ehrlich, im Grund genommen denkt ihr verteufelt wenig
-an die &#8218;Freiheit&#8216; und an die &#8218;Menschheit&#8216;. Ihr denkt schließlich
-auch nur an eure Magen, wollt, daß ihr genug für
-den Wanst habt &mdash; &mdash; daß aber draußen irgendwo zur
-selben Zeit soundsoviele Hunderttausende im Straßengraben
-verrecken, daran denkt ihr nicht, ihr &mdash; altruistischen
-Egoisten!&#8220;</p>
-
-<p>Er hatte mit halblauter Stimme gesprochen und keine
-Falte seines verwitterten Gesichtes verzogen. Nur die Augen
-blitzten lebendig in ihren tiefen Höhlen, und durch seine
-Worte zitterte es wie verhaltene Glut.</p>
-
-<p>&#8222;Stören Sie mir die Stunde nicht!&#8220; antwortete Hellwig
-unwillig. &#8222;Was geht es Sie an, wie wir für unser
-Recht eintreten? Ihnen zu Trost sei&#8217;s gesagt: wir werden
-es auch bekommen! Weil wir uns rühren! Warum rühren
-sich die soundsoviel hunderttausend anderen nicht auch?
-Oder, wie Sie sagen, warum verrecken Sie lieber im
-Straßengraben, statt sich ihr Recht zu holen?&#8220;</p>
-
-<p>Da schüttelte sich die vierschrötige Gestalt des Unbekannten
-in lautlosem Gelächter. Er schaute Fritz lang an,
-mit einem sonderbaren, tief bohrenden Blick, dann sagte
-er langsam, jedes Wort betonend:</p>
-
-<p>&#8222;Weil sie frei sein wollen!&#8220;, drehte sich auf dem Absatz
-herum und ging weg. Rücksichtslos brach er sich mit den
-groben Fäusten und dem Stiernacken Bahn durch das
-Gedränge, war im Nu darin untergetaucht.</p>
-
-<p>Das ganze Auftreten des Mannes, sein hartes Wesen
-und dann die rätselhaften Schlußworte, das alles hatte
-einen starken Eindruck auf Hellwig gemacht. Und noch
-in seinem Zimmer grübelte er, suchte einen Sinn in dem
-mystischen Satz:</p>
-
-<p>... Sie verrecken lieber im Straßengraben, weil sie
-frei sein wollen ...</p>
-
-<p>Aber er fand keine Deutung.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>6.</h3>
-</div>
-
-<p>Im Kohlenbecken ruhte die Arbeit.</p>
-
-<p>Von allen Seiten liefen Spenden ein. Sogar Wart
-Nikl leistete einen Beitrag. Kolben schickte tausend Gulden
-und schrieb dazu: &#8222;Noch einmal die gleiche Summe steht
-dir in vier Wochen zur Verfügung, wenn du sie brauchst.
-Es geschieht aus Freundschaft für dich, denn ich triefe
-nicht von Menschenliebe. Nenn meinen Namen nicht. Ich
-verzichte auf den blökenden Dank der Herde, verdiene ihn
-auch nicht. Halt dich tapfer!&#8220;</p>
-
-<p>Das Geld wurde nicht verteilt, sondern zur Anschaffung
-von Lebensmitteln in großen Mengen verwendet. Mehrere
-Küchen mit riesigen Herden wurden aufgestellt, in denen
-das Essen für Hunderte auf einmal bereitet werden konnte.
-So waren sie in der Lage, länger auszuhalten.</p>
-
-<p>Sparsamkeit war aber auch notwendig, denn Woche
-um Woche verging, in geschlossenen Schlachtreihen standen
-sich Arbeiter und Unternehmer gegenüber, niemand dachte
-ans Nachgeben. Alle Schächte lagen wie ausgestorben.
-Fünfzehntausend Bergleute feierten. Aber die Ruhe wurde
-nirgends gestört.</p>
-
-<p>Im Dezember fiel starker Frost ein. Die Lagerbestände
-der Gruben waren vollständig geräumt. Der Kohlenmangel
-wurde immer empfindlicher, drohte zu einer Katastrophe
-für Industrie und Bevölkerung zu werden.</p>
-
-<p>Und dann war die Kohlennot wirklich da. Die Preise
-für Brennmaterial wurden unerschwinglich. In den Gassen
-der Städte wurden die Kohlenfuhrwerke immer seltener.
-Und auch die wenigen mußten von Polizisten begleitet
-werden. Denn allenthalben strichen Leute mit Körben und
-Säcken durch die Straßen, klaubten die Kohlenbröcklein
-&mdash; wenn sie welche fanden &mdash; gleich goldenen Münzen
-auf, und wiederholt schon waren die Pferde ausgespannt,
-die Fuhren geplündert worden. Und die Eisenbahnzüge,
-die den kostbaren Brennstoff aus dem Rheinland und von
-England heranführten, rollten von der Grenze an unter
-Gendarmeriebedeckung. Trotzdem aber warteten längs der
-Schienenstränge Leute mit Stangen, Rechen und Harken,
-sprangen in die Bremshütten und warfen von den fahrenden
-Zügen die Kohle ihren Genossen zentnerweise hinab.</p>
-
-<p>Noch bedrohlicher wurde die Lage, als eine große Maschinenfabrik
-nicht mehr alle Kessel heizen konnte, den
-Betrieb einschränkte und achthundert Gießer entließ. Andere
-Unternehmer folgten diesem Beispiel, und die Erregung
-wuchs ungeheuer unter den brotlos gewordenen Massen.
-Fast schien es, als stände das Land am Vorabend einer
-Revolution.</p>
-
-<p>Beschwerden, Bittschriften, Drohbriefe liefen bei den Ministerien
-ein. Unternehmer, Kaufleute, Handwerker, die
-gesamte Bevölkerung forderte stürmisch von der Regierung
-Hilfe. Hohe Beamte gingen in das Streikgebiet ab, um
-zu vermitteln, zu schlichten und ein Ende der Not herbeizuführen.</p>
-
-<p>Das Nachgeben fiel den stolzen Gewerken in ihrem
-Hochmut nicht leicht. Aber unter dem Druck der öffentlichen
-Meinung blieb ihnen keine andere Wahl. Widerwillig
-ließen sie sich zu Zugeständnissen herbei. Nicht alle Forderungen
-wollten sie bewilligen, doch was sie anboten,
-war immer noch so viel, daß es, gleich gewährt, genügt
-hätte, den Ausstand zu vermeiden.</p>
-
-<p>So erging denn vom Regierungsvertreter an die Vertrauensmänner
-der Streikenden die Einladung zu einer
-gemeinsamen Besprechung. An Fritz Hellwig war sie gerichtet
-als den Leiter und Führer der Bewegung.</p>
-
-<p>Er war eine stadtbekannte Persönlichkeit geworden. Man
-staunte über die straffe Organisation, die er förmlich aus
-dem Boden gestampft hatte, ließ ihm die geschickte Leitung
-gelten, lobte seinen lauteren Charakter und seine vornehme
-Kampfesweise.</p>
-
-<p>Und manche, die früher den Provinzredakteur über die
-Achsel angesehen, suchten jetzt seine Bekanntschaft. Aber
-er blieb zugeknöpft und verschlossen und ließ sie sich nicht
-nahe kommen.</p>
-
-<p>Ungleich gemütlicher verkehrte er mit seinen Quartiersleuten.
-Der Faßbinder war auf seine alten Tage auch
-Sozialdemokrat geworden. Wenigstens behauptete er es.
-Die waschechte Gesinnung übte indes weder auf seinen
-waschechten Hautüberzug, noch auf sein sonstiges Gehaben
-einen bemerkenswerten Einfluß. Nach wie vor schnupfte
-er, trank Schankbier und wusch sich nicht. Aber statt des
-nationalen Banners schwang er jetzt die rote Fahne. Freilich
-nur seinen Reden nach. Dafür aber gewaltig, mit
-dem Brustton der Überzeugung.</p>
-
-<p>Er war stolz auf seinen Mieter und sonnte sich in dem
-Abglanz, der von dessen Beliebtheit auf sein Haus fiel.
-Jeden Besucher hielt er auf und fing ein Gespräch mit
-ihm an.</p>
-
-<p>&#8222;Guten Tag, Genosse!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;&#8222;Guten Tag!&#8220;&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Was Neues?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;&#8222;Bin keine Zeitung!&#8220;&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Nun, nun, nur nicht so schnell! Lassen Sie doch unsern
-Herrn Genossen Hellwig ein bissel ausschnaufen!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;&#8222;Geht nicht, Herr Meister! Die Sache ist dringend.&#8220;&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Schon wieder dringend? Ja, wir Roten! Wir marschieren
-nicht, wir laufen Sturm!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;&#8222;Könnt da schlecht mit, was? Wenn die Beine schon
-wacklig werden!&#8220;&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Wacklig? Oho! Oho! Da schaun S&#8217; her! La&mdash;uf&mdash;schritt!&#8220;</p>
-
-<p>Und er lief ein Stück die festgefrorene sonnige Uferstraße
-entlang, warf die langen Beine wie ein Droschkengaul,
-stand still und schaute sich schnaufend und Beifall
-gewärtig um. Der Besucher hatte indes die Gelegenheit
-benützt und war ins Haus geschlüpft. Da nahm der Bindermeister
-eine Prise, spuckte in die Hände und schlug wütend
-auf seine Fässer.</p>
-
-<p>Und wenn Hellwig aus dem Haus trat, frühzeitig,
-kaum, daß die Sonne hinter den weißen Bergen herauf
-wollte, machte sich der Binder, wenn ihn nicht noch der
-Kater im Bett festhielt, jedesmal an ihn heran.</p>
-
-<p>&#8222;Schon auf, Herr Genosse?&#8220; fragte er zutunlich. &#8222;Sind
-Sie denn nicht noch schläfrig? Arg spät war&#8217;s wieder.
-Ich hab&#8217; schon einmal ausgeschlafen gehabt, wie Sie die
-Fenster aufgemacht haben. Passen Sie nur auf, daß Sie
-nicht verkühlen! Ich lieg&#8217; immer bei zugemachten Fenstern
-und doch friert mich in der Nacht wie einen Italiener.
-Und jetzt gar Sie! Alle Fenster reißen Sie sperrangelweit
-auf. Das kann doch nicht bekömmlich sein!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich bin das so gewohnt, Herr Meister. Und dann,
-es liegt sich so schön, wenn&#8217;s dunkel ist und man hört
-draußen das Wasser am Eis vorübergehn. Es wiegt einen
-ordentlich!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Jawohl, schön haben wir&#8217;s schon dahier! Und eine Luft!
-Eine starke Luft! Die hält gesund und macht Appetit ...
-Teufelszeug noch einmal! Hat Ihnen meine Alte den
-Kaffee gebracht? Man muß jetzt schon fort hinter ihr
-her sein, wissen Sie, weil sie so arg viel vergeßlich wird.
-Sie trinkt zu viel. Das tut den Frauenzimmern nicht gut.&#8220;</p>
-
-<p>Nun mußte Fritz hellauf lachen, weil hier einmal der
-Blinde über den Einäugigen König sein wollte.</p>
-
-<p>&#8222;Nein, Herr Meister,&#8220; sagte er, &#8222;auf den Kaffee hab&#8217;
-ich noch nie zu warten brauchen. Und was das andere
-betrifft,&#8220; &mdash; er klopfte dem Meergreis auf die knochige
-Schulter &mdash; &#8222;da sollten Sie sich doch erst selber bei der
-Nase nehmen. Groß genug ist sie ja!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Haha! &mdash; Haha!&#8220; fing da der Alte ein stoßweises
-Gelächter an, und sein Bartwald kam in stürmische Bewegung.
-&#8222;Meine Nase &mdash; haha! &mdash; das ist ein gar wichtiges
-Glied der bürgerlichen Gesellschaft. Sie zahlt ihre
-Tabaksteuer und erspart meiner Alten die Nachtlampe! Also
-darf sie sich auch groß machen!&#8220;</p>
-
-<p>Dabei rieb er sich die Hände und trat stampfend von
-einem Fuß auf den andern. Denn es war kalt, und vom
-Fluß herüber pfiff ein eisiger Wind. Die Sonne war
-kaum überm Horizont herauf und stand als tiefrote Scheibe
-hinter einem rauchigen Frostnebel, der zwischen Himmel
-und Erde düster brodelte. Fritz drückte den Schlapphut
-fest aufs Haar und ging in der grauen Dämmerung eilig
-die Uferstraße entlang nach der Stadt, indes der Bindermeister
-in seiner Werkstatt beim glühenden Ofen schnitzelte
-und manchmal glucksend in sich hinein lachte. Denn er
-empfand den Scherz des sonst so ernsten Mieters als beglückende
-Auszeichnung.</p>
-
-<p>Vor der Redaktionsstube warteten bereits die Vertrauensmänner,
-Pfannschmidt und fünf andere Bergleute, auf
-ihren Führer. Die Hände in den Taschen der Winterröcke
-vergraben, dicke Wolltücher um den Hals und den Rockkragen
-darüber, standen sie einsilbig beisammen. Als Hellwig
-zu ihnen trat, rückten sie die Pelzmützen, reichten ihm
-die Hand und harrten schweigend, bis er die Kanzlei aufgesperrt
-hatte. Dort war es noch ungemütlich, es roch
-nach staubigem Papier und Druckerschwärze, im eisernen
-Ofen brannte kein Feuer, und die Schreibtische, Pulte und
-Schreine standen langweilig in einem unfreundlichen Halbdunkel.
-Der Diener hatte sich verspätet, kam nun ganz
-abgehetzt keuchend gelaufen, heizte ein und wollte abstauben.
-Fritz schickte ihn fort. Die Zeit drängte, um elf Uhr sollte
-die Besprechung stattfinden und da gab es noch manches
-zu beraten.</p>
-
-<p>&#8222;Also was?&#8220; fing, als der Bursche gegangen, einer
-der Männer an. &#8222;Also was? Wird heut&#8217; endlich Schluß
-werden?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Kaum!&#8220; versetzte Fritz achselzuckend. &#8222;So mürb sind
-sie noch nicht.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Mürb! Mürb!&#8220; knurrte der andere unwirsch. &#8222;So
-nehmen wir doch an, was sie uns bieten! Ich hab&#8217;s satt!
-Gebratene Tauben kriegen wir nicht, drum halten wir
-den Spatzen fest! Ist besser wie gar nichts!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Seid ihr auch der Ansicht?&#8220; fragte Hellwig finster
-die übrigen. Die starrten stumm vor sich auf den Tisch.
-Nur Pfannschmidt sagte: &#8222;Der Martin raunzt immer so
-herum. Wenn&#8217;s nach seinen Reden gegangen wär&#8217;, hätten
-wir gar nicht anfangen dürfen!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich sag&#8217;, was ich sag&#8217;!&#8220; beharrte der andere. &#8222;Wenn&#8217;s
-noch ein paar Wochen so fortgeht, und wir verdienen nichts,
-haben wir so viel verloren, daß wir dann beim höhern
-Lohn gut zwei Jahre fretten müssen, bis wir den Verlust
-herein und die Schulden bezahlt haben. Ist&#8217;s nicht wahr?&#8220;</p>
-
-<p>Von seinen Gefährten nickte einer zustimmend. Die
-drei anderen schienen unentschlossen. Pfannschmidt wollte
-etwas erwidern. Da brach auch schon Fritz los:</p>
-
-<p>&#8222;Was der Martin sagt, ist zwar eine arge Übertreibung,
-aber nehmen wir an, es ist so. Gut. Und was weiter?
-Wenn&#8217;s wirklich so ist, wie er sagt? Und wenn&#8217;s noch ärger
-wäre, wenn ihr vier und sechs und zehn Jahre braucht,
-um den Lohnausfall hereinzubringen. Was weiter? Dürft
-ihr euch deswegen mit Halbheiten begnügen? Mit einem
-Erfolg, der keiner ist, nicht Fisch, nicht Fleisch? Da hätten
-wir gar nicht anfangen dürfen! Jetzt gibt&#8217;s einfach kein
-Biegen mehr! Jetzt muß es brechen &mdash; und wenn wir
-alle dabei zugrunde gehn! Jawohl! Schaut nicht so entsetzt
-drein! Ihr könnt einfach nicht nachgeben! Könnt
-nicht, versteht ihr? Denn die einmal aufgestellten und
-nicht befriedigten Forderungen, die würden fort und fort
-in euch weiternagen, und ihr hättet keine Ruhe, bis ihr
-sie früher oder später doch durchsetzt. Und der Kampf,
-den ihr dann um den Rest führen müßtet, wäre größer
-und schwerer als der heutige ums Ganze! Das ist es!
-Und sind die Opfer, die ihr jetzt bringt, wirklich zu groß?
-Wenn dann euch und mindestens noch euern Kindern, von
-den Enkeln will ich nicht reden, wenn auch dann ein ruhiges
-Fortarbeiten bei halbwegs hinreichendem Verdienst sicher
-ist? Seid mir drum nicht so verzagte Angstmeier! Kleinmütige
-Kreuzerbettler! Vertraut und seid starr! Unser
-Sieg ist nur noch eine Frage von Tagen. Er kann einfach
-nicht ausbleiben! Nur, ihr müßt auch dran glauben!&#8220;</p>
-
-<p>Nun hatte er sie wieder fest. Der alte Nörgler wiegte
-zwar noch unschlüssig den Kopf. Aber auch er sprach
-nicht mehr dagegen.</p>
-
-<p>Ziemlich zur selben Zeit saßen im großen Sitzungssaale
-des Palastes, den sich die Grubenbesitzer erbaut hatten,
-ungefähr fünfzehn Herren um einen grünen Tisch. Hagere
-Gestalten zumeist, mit schmalen Händen und nervösen
-Bewegungen, in Gehrock oder Jackett, tadellos nach der
-letzten Mode gekleidet. Nur einer war dabei, der wollte
-in die elegante Versammlung gar nicht recht hineinpassen,
-Max Koppenstein, ein fettes Herrchen mit einer goldenen
-Kette über dem Spitzbauch. Er hatte eine ganz enge,
-niedrige Stirn, und daran hing, breit ausgebaucht, mit
-roten Backen und mächtigem Doppelkinn, das feiste Schlemmergesicht
-wie ein runder Luftballon. Aus zwinkernden
-Äuglein hinter weißlichen Wimpern schaute er sehr harmlos
-in die Welt und war doch der Gefährlichste unter
-diesen kalten Geldmenschen, unübertroffen in der sanften,
-zärtlichen Grausamkeit, mit der er seine Angestellten auspumpte
-und seinen Schuldnern die letzte Habe pfändete.
-Und wenn er sich manchmal im Bureau in Gegenwart
-eines Geschäftsfreundes ein Glas ältesten Kognaks einschenkte,
-dann sagte er wohl zungenschnalzend: &#8222;Das ist
-ein Schnäpschen! Wie das duftet! Hm?&#8220; und hielt dem
-Zuschauer lobgewärtig das leere Becherchen unter die Nase.
-Aber einschenken tat er ihm nichts. Doch schadete das
-seinem Ansehn keineswegs, denn er war steinreich, besaß
-die meisten und die ergiebigsten Flöze und hatte deswegen
-auch in der heutigen Versammlung den Ehrenplatz inne,
-zur Rechten des uniformierten Vertreters der Regierung.</p>
-
-<p>Steif und förmlich, mit herablassenden Mienen und
-gemachtem Gleichmut, rückten sich die Herren auf den
-schweren Lederstühlen zurecht, als Hellwig mit seinem Häuflein
-in den Saal trat. Der Beamte wies ihnen die Plätze
-an und hielt eine Rede, die dem Geist der Versöhnung,
-dem friedlichen Zusammenwirken in Eintracht und Brüderlichkeit
-einen Preishymnus sang. Man solle, sagte er,
-bedenken, daß noch kein Friede ohne beiderseitiges Entgegenkommen
-geschlossen worden sei. Man solle dem großherzigen
-Beispiel der Unternehmer folgen und der Allgemeinheit
-zuliebe Opfer bringen, die nur scheinbar Opfer
-seien, denn sie werden sich reichlich bezahlt machen durch
-das Blühen und Gedeihen des Staates und der Volkswirtschaft,
-aus welcher Quelle dann hinwiederum allen
-Bürgern Vorteil fließe.</p>
-
-<p>Und kühl und ruhig, mit ganz leichtem Spott, erwiderte
-Hellwig darauf:</p>
-
-<p>&#8222;Die fünfzehntausend Menschen, die zu vertreten wir
-die Ehre haben, wollen nicht Großherzigkeit oder Gnade,
-sondern ihr Recht. Von schönen Worten werden sie nicht
-satt und ebensowenig von dem großmütigen Angebot. Das
-Sattwerden aber ist zum Blühen und Gedeihen zumindesten
-des einzelnen eine so notwendige Sache, daß sie jedes
-Opferbringen ausschließt. Wer nicht arbeitet, soll auch
-nicht essen. Und wer zu essen hat, braucht nicht zu arbeiten,
-nicht wahr, meine Herren? Jedenfalls haben Sie
-zu essen. Nun, und die hinter mir stehn, wollen das auch.
-Sie wollen beileibe nicht so gut, sie wollen nur genug
-essen. Das ist ein so klares, einfaches und selbstverständliches
-Verlangen, und ist doch so ernst und fromm, daß
-sich nichts davon herunterhandeln läßt. Der Versuch zu
-schachern und zu feilschen ist Ihrer ebenso unwürdig, wie
-es für uns unwürdig wäre, darauf einzugehen. Wir können
-kein Jota nachlassen. Sie haben lang genug getrotzt,
-&mdash; geben Sie es auf! Es war ein Irrtum, &mdash; gestehen
-Sie ihn ein! Denn früher oder später müssen Sie doch
-nachgeben! Tun Sie es heute &mdash; und schon morgen wird
-in allen Gruben wieder gearbeitet!&#8220;</p>
-
-<p>Auf ein so stolzes, selbstbewußtes Auftreten waren die
-Herren nicht gefaßt, hatten vielmehr erwartet, daß ihr
-Angebot ohne Besinnen werde angenommen werden. Wie
-Könige waren sie sich vorgekommen, die unverdiente Gnaden
-austeilen. Jetzt schwiegen sie mit gefalteten Stirnen
-und undurchdringlichen Mienen. Nur Max Koppenstein
-zog die Schultern hoch, breitete die Arme aus und sagte:
-&#8222;Ich denke, meine Herrn, darauf kann es nur <em class="gesperrt">eine</em> Antwort
-geben.&#8220; Und zu dem Beamten gewendet, fuhr er fort:
-&#8222;Nun haben Sie sich, verehrtester Herr Ministerialrat,
-wohl selbst überzeugt, wo die Schuld liegt. Es tut uns
-ja aufrichtig leid, aber&#8220; &mdash; wieder zog er die Schultern
-hoch und wieder breitete er die Arme aus &mdash; &#8222;schließlich
-kann doch kein Mensch verlangen, daß wir uns verbluten
-sollen.&#8220;</p>
-
-<p>So schien der Einigungsversuch gescheitert und der Gegensatz
-zwischen den beiden Parteien verschärft. Aber es war
-doch anders. Denn die Regierung bot nach wie vor alles
-auf, um die Unternehmer zur Annahme der sämtlichen, in
-keiner Weise übertriebenen Forderungen zu bewegen. Es
-gelang ihr auch, einen nach dem andern nachgiebig zu
-stimmen. Aber jeder machte seine Einwilligung von der
-Bedingung abhängig, daß Max Koppenstein, dem ein reichliches
-Achtel der gesamten Kohlengruben gehörte, sich ebenfalls
-anschließe. Der indes war wie ein Aal und ließ
-sich nicht greifen. Er war sehr höflich, ungemein konziliant,
-von einer bestrickenden Liebenswürdigkeit. Aber nein
-sagte er trotzdem. Unter tausend Entschuldigungen, überzuckert
-und verblümt, aber dennoch: nein.</p>
-
-<p>Nach einigen Tagen wurde ihm vorsichtig und vertraulich
-die Möglichkeit einer Ordensauszeichnung angedeutet.
-Da legte er zehn Prozent zu. Und es hätte wohl nicht mehr
-viel gebraucht, um ihn ganz zu gewinnen. Denn es gab
-noch höhere Orden und es gab Adelsbriefe.</p>
-
-<p>Da kam ein unerwartetes Ereignis den Arbeitern und
-der Regierung zu Hilfe.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>7.</h3>
-</div>
-
-<p>Die gewaltige Braunkohlenablagerung umfaßte ein Gebiet,
-das gut fünfzehn Kilometer breit und fast viermal
-so lang war. Von Urgebirgen eingeschlossen und nur manchmal
-durch schmale Bänder eruptiven Gesteins unterbrochen,
-lagen hier die Flöze neben- und übereinander, bald knapp
-unter der Erdoberfläche, bald Hunderte von Metern tief.</p>
-
-<p>Offene Tagbaue gab es, in deren schwarze Vierecke die
-Sonne schien und die bloßgelegte Kohle bald da, bald dort
-an den senkrechten Wänden in Brand setzte, so daß beständig
-Rauchsäulen emporwirbelten. Und nicht weit davon
-bohrten sich unterirdische Schachtanlagen dreihundert Meter
-ins Erdinnere. Und überall qualmte die Lösche, zu Bergen
-getürmt, auf den Halden, füllte ein brenzlicher, staubgesättigter
-Dunst die Luft, hing der Rauch wie ein feiner
-Nebel über den verwüsteten Landstrichen, die nach dem
-Abbau eines Schachtes zurückgeblieben waren, über den
-noch üppigen Weizenfeldern daneben und über den &mdash; wie
-lange noch? &mdash; lachenden Fluren.</p>
-
-<p>Und mitten in dem Becken lag, zwischen Porphyrhügel
-eingebettet, weit berühmt durch ihre heilkräftigen Quellen,
-eine Badestadt. Rund um sie rauchten die Schächte, wurde
-der Boden von den Bergleuten durchwühlt, die Stollen
-und Querschächte trieben gleich Gängen riesiger Feldmäuse.
-Und dicht daneben bahnten sich durch die Spalten des
-zerklüfteten Porphyrs die warmen Quellen den Weg zur
-Stadt.</p>
-
-<p>Die Schächte aber waren seit vielen Wochen unbeaufsichtigt.
-Und niemand wußte, daß in den Gruben Koppensteins
-seit einigen Tagen, meist zur Nachtzeit, aus der
-Ferne angeworbene, schlecht geschulte Kreaturen wieder arbeiteten.
-Der schlaue Fuchs traf seine Vorbereitungen, um
-nach Beendigung des Streiks &mdash; das Ende hing ja nur
-mehr von ihm ab, und er konnte es herbeiführen, wann
-es ihm paßte, &mdash; um nach Beendigung des Streiks die
-Lieferungen unverzüglich mit aller Kraft aufnehmen zu
-können. Die Kohlen blieben vorläufig noch unten in den
-Schächten &mdash; denn die Förderschalen mußten still stehn.
-Aber schon waren alle Hunde voll beladen. Wo nur ein
-freies Plätzchen in den Stollen war, türmten sich die
-Kohlenstücke und konnten nach der Aufnahme des regelmäßigen
-Betriebes sofort hinaufgeschafft, sortiert und in
-die Eisenbahnwagen verladen werden. Auf solche Weise
-hoffte Koppenstein der Konkurrenz einen Vorsprung von
-einigen Tagen abzugewinnen.</p>
-
-<p>Da geschah es, daß bei diesem Abbau ohne planmäßige
-Leitung eine Schwimmsandschicht angefahren wurde. Ungeheure
-Sandmassen gerieten in Bewegung, durchbrachen,
-einmal in Fluß, die trennenden Schachtwände und stürzten
-gleich riesigen Lawinen in die Gruben. Und die Erdrinde,
-unter der sie seit Jahrhunderten ruhig gelegen, wurde
-mitgerissen von der furchtbaren Gewalt des wandernden
-Sandes, kam ins Rutschen, Gleiten und brach nieder.</p>
-
-<p>Es war eine laue, regendrohende Febernacht, als die
-Bewohner der Badestadt durch ein ohrenbetäubendes Gedröhn
-und Geprassel aus dem Schlaf geschreckt wurden.
-Der Boden schwankte, Mauern barsten, Häuser wankten,
-sanken krachend in sich zusammen. Eine ganze breite
-Straßenzeile, die mit schönen Gebäuden gerade über dem
-Schwimmsandlager errichtet war, hatte sich gesenkt, zwanzig
-Häuser waren eingestürzt, viele standen windschief mit
-gespaltenen Grundpfeilern, geknickten Eisenträgern, verschobenen
-Dachstühlen und zitterten wie große Tiere.</p>
-
-<p>Tote und Verwundete lagen unter Ziegelschutt, Sparrenwerk
-und zertrümmertem Hausrat. Aus den Betten gescheuchte
-Menschen rannten halb nackt durch die dunklen
-Gassen, fragten, stießen sich, weinten, schrien, heulten und
-rangen die Hände, ratlos, planlos irrend, von einer entsetzlichen
-Angst geschüttelt. Und dazwischen tönte das Stöhnen
-und Brüllen der Verschütteten, das Prasseln der Balken,
-das Aufschlagen fallender Dächer. Und jedesmal,
-wenn eine Wand sich neigte, ein Schuttregen niederging,
-hetzte die Furcht aufs neue in wirbelndem Knäuel die aufgestörten
-Menschen durcheinander. Gellend schrien sie auf,
-duckten sich, hielten sich die Ohren zu, prallten aneinander
-und waren wie von Sinnen. Der Türmer läutete Sturm
-mit allen Glocken. Auf den Bahnhöfen pfiffen die Lokomotiven
-in winselnden, langgezogenen, Hilfe heischenden
-Klagelauten. Und die Finsternis stand unbeweglich und
-schlang alle Tonwellen mit dunkel gähnendem nimmersatten
-Rachen.</p>
-
-<p>Endlich kam Hilfe. Ärzte, Rettungsmannschaften, Feuerwehren.
-Besonnene Männer nahmen die Leitung in die
-Hand. Aus den Nachbarstädten trafen in mehreren Eisenbahnzügen
-Verstärkungen ein. Die nervenzersetzende Angst
-wich, der panische Schrecken machte einer verzweifelten
-Entschlossenheit Platz. Hunderte und Hunderte regten sich
-im Schein der flackernden Windlichter, handhabten Schaufel
-und Spaten, trugen die Verwundeten zum Verbandsplatz,
-schleppten Möbel aus bedrohten Gebäuden.</p>
-
-<p>Vor den Schächten aber hatten sich die Bergleute gesammelt.
-Freiwillig waren sie gekommen, im Arbeitskittel,
-mit Lederschurz und Grubenlampe. Ohne Besinnen,
-als ein ganz Selbstverständliches, boten sie ihre Hilfe,
-ihr Leben an, machten sich zur Einfahrt fertig. Die eingerosteten
-Ketten der Förderschalen ächzten schrill, langsam
-begannen sich die Räder zu drehen, schnurrten die Seile.</p>
-
-<p>&#8222;Glückauf!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;&#8222;Glückauf!&#8220;&#8220;</p>
-
-<p>Und unter der Führung einiger Ingenieure ging es in
-die feindliche Tiefe, der Gefahr zu Leibe, um nachzuforschen,
-einzudämmen, abzulenken, Tote zu bergen, und die Schächte
-vor dem Ersaufen zu bewahren.</p>
-
-<p>Aber noch ein anderes war geschehen.</p>
-
-<p>Durch die ungeheure Erschütterung im Innern der Erde
-war auch eine der dünnen Wände gesprengt worden, die
-die weit vorgetriebenen Stollen von den Quellspalten trennten.
-Die Thermalwasser waren in die Grubenbaue eingedrungen,
-breiteten sich darin aus, und im gleichen Maße,
-wie sie in den Schächten stiegen, fielen sie in ihrem früheren
-Staubecken, bis sie nach dem Gesetz kommunizierender
-Gefäße hier wie dort mit gleich hohem Spiegel standen,
-in ersoffenen Schächten einerseits und anderseits so tief
-unter den Badehäusern, daß die Leitungsröhren nicht mehr
-bis zum Wasserspiegel reichten. Die heilkräftigen Quellen,
-der Ruhm und Stolz der Stadt, drohten zu versiegen.</p>
-
-<p>Jetzt freilich wurde eine strenge Untersuchung eingeleitet.
-Sie enthüllte Ungeheuerliches. Unter dem Eindruck desselben
-nahmen die Gewerken alle Forderungen ihrer Arbeiter
-in Bausch und Bogen an, um wenigstens <em class="gesperrt">einen</em>
-Feind vom Hals zu haben und nicht zwischen zwei Feuer
-zu geraten. Sie hofften auch, daß die Regierung, dadurch
-zur Milde gestimmt, Gnade für Recht üben und
-ein Vertuschen der Verbrechen ermöglichen würde. Auch
-an Hellwig traten sie heran, baten ihn und boten als Anzeigengelder
-große Bestechungssummen, wenn er die Angelegenheit
-in seiner Zeitung totschweige. Er wies ihren
-Vertretern die Tür. Und brachte Artikel nach Artikel,
-sachlich, trocken, auf Grund amtlicher Feststellungen.</p>
-
-<p>Die Bergwerksinspektoren hatten bisher die Aufsicht nur
-lax oder gar nicht ausgeübt. So war es möglich geworden,
-daß sich die Unternehmer seit Jahrzehnten über alle Sicherheitsvorschriften
-wegsetzen konnten. Am ärgsten schaute
-es in den Koppensteinschen Gruben aus. Die lagen in
-der Nähe der Heilquellen und zu beiden Seiten der Eisenbahn.
-Dort durfte die Kohle nicht abgegraben werden,
-sollten Stützen, Wände und Pfeiler stehen bleiben zum
-Schutz der Quellen und der Bahn. So stand es in der
-Vorschrift. Aber in Wirklichkeit war die Kohle doch abgegraben,
-und die Pfeiler, Wände und Stützen waren
-kaum halb so dick, wie es das Gesetz verlangte. Und unter
-dem Bahnkörper liefen Stollen weg und Gänge. Und
-darüber, auf der dünnen Rinde, keuchten Tag und Nacht
-ohne Pause die schweren Lastzüge, donnerten die Eilzüge
-mit den Kurgästen.</p>
-
-<p>Als durch Hellwigs Zeitung diese Dinge bekannt wurden,
-ging der übliche Entrüstungssturm durch die Presse.
-Noch nie hatte ein Provinzblatt solchen Aufruhr erregt.
-Auch die Blätter des Auslandes rauschten mit. Sie brachten
-Abbildungen und ergingen sich in schauerlichen Schilderungen
-der Unfälle, die möglich gewesen wären. Erzählten
-von kranken Menschen, die voll Hoffnung den
-Bädern entgegeneilten und nicht wußten, daß der Weg
-dahin über bereitete Gräber führte. Auch der Reiter über
-den Bodensee wurde vielfach zitiert. Und man war darüber
-einig, daß die Inspektoren ihre Pflicht in unverantwortlicher
-Weise verabsäumt hatten.</p>
-
-<p>Nun wurden Beamte in Massen versetzt, gemaßregelt,
-entlassen. Koppenstein aber war zugrunde gerichtet. Auf
-seine Kosten sollten die Hohlräume unter den Schienen
-ausgefüllt, die schwachen Pfeiler und Schutzwände durch
-Mauerwerk gesichert, sollte, um die Heilquellen in ihre
-früheren Wege zurückzudrängen, die Verbindung zwischen
-den Quellspalten und Gruben durch Dämme und Betonfüllungen
-gestopft werden. Und die Bahn forderte Ersatz
-für die unter ihrem Grundeigentum gewonnenen Kohlen,
-und die Stadtgemeinde, die Besitzer der eingestürzten Häuser,
-die Hinterbliebenen der Getöteten und die Verletzten
-stellten ebenfalls Ersatzansprüche. Und überdies drohte ein
-Strafprozeß wegen fahrlässiger Gefährdung von Menschen,
-Beschädigung fremden Eigentums, wegen Diebstahls und
-einer Menge anderer Verbrechen. Das ertrug Koppenstein
-nicht. Aus dem Gefängnis hätte er sich vielleicht nicht
-viel gemacht, aber daß die rastlos angehäuften Reichtümer
-mit einem Schlag in alle Winde zerstieben sollten, das
-warf ihn nieder. In der Marmorwanne seines Badezimmers
-öffnete er sich die Pulsadern und verblutete.</p>
-
-<p>Seine Verwandten richteten ihm ein Begräbnis erster
-Klasse mit jeglichem Pomp. Viele folgten dem sechsspännigen
-Leichenwagen. In den Augen seiner Standesgenossen
-war er entsühnt.</p>
-
-<p>Glimpflicher kamen die andern Grubenbesitzer weg. Aber
-fast keiner war ganz frei von Raubbau und Unterlassungssünden.
-Da wurden die stolzen Herren gar klein. Auf
-einmal konnten sie geschmeidig den Rücken beugen, sich
-entschuldigen, um Gnade betteln. Die Arbeiterfrage war
-vollständig in den Hintergrund gedrängt. Willig zahlte
-man die höheren Löhne, suchte alles zu vermeiden, was
-die Öffentlichkeit noch mehr aufbringen konnte. Aber es
-dauerte noch geraume Zeit, bis die Anordnungen der Behörden
-durchgeführt waren und der Skandal halbwegs in
-Vergessenheit kam.</p>
-
-<p>Jetzt endlich konnte Hellwig aufatmen. Die Kämpfe
-gegen die Lotterwirtschaft hatten mit ihren schlaflosen Nächten
-und furchtbaren Aufregungen seinen widerstandsfähigen
-Körper doch stark mitgenommen. Es war sein Verdienst,
-daß der Augiasstall gründlich gesäubert wurde. Er war
-der Herold gewesen, der Rufer im Streit, hatte die anderen
-wachgerüttelt und rücksichtslos alles aufgedeckt, was sonst
-vielleicht nur entstellt oder gar nicht in die Öffentlichkeit
-gedrungen wäre. Als hierauf das große Rauschen der
-Blätter anhob, schwieg er. Zu stolz, um zu jubeln oder
-den Besiegten zu höhnen, schwieg er und überließ anderen
-die Ausnützung des erfochtenen Sieges.</p>
-
-<p>Jetzt war er wieder viel zu Hause, saß beim Fenster
-und blickte über den Strom hinüber zu den waldigen
-Bergen, wo schon die Blütenkätzchen aus den Zweigen
-brachen und die ersten Spitzen des jungen Grüns. Eine
-leise Schwermut war in ihm, eine gärende Sehnsucht,
-die nicht Wunsch werden wollte. Wieder war ihm, als
-müßte er etwas suchen, und wußte doch nicht was. Fühlte
-er den Drang zum Schaffen, das Verlangen nach irgendeiner
-befreienden Tat, fand aber weder Umriß noch Plan.</p>
-
-<p>Es war bald recht still um ihn geworden. Selten besuchte
-ihn jemand. Sie waren ihm dankbar, sprachen
-mit anerkennenden Worten von seiner energischen Führung.
-Aber da sie ihn nicht mehr brauchten, hatten sie keinen
-Anlaß, zu ihm zu gehen. Nur Pfannschmidt kam regelmäßig.
-Der arbeitete nicht mehr im Schacht. Hellwig
-hatte sich an die Parteileitung wegen Beigabe einer Hilfskraft
-gewendet und den Bergmann in Vorschlag gebracht.
-Das war genehmigt worden, und so saß Pfannschmidt
-nunmehr in der Schriftleitung, besorgte die laufenden Geschäfte
-und fühlte sich endlich auf einem richtigen Platz.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>8.</h3>
-</div>
-
-<p>Es war bereits Frühling geworden, als Fritz eines Tages
-die Nachricht erhielt, daß Doktor Kreuzinger gestorben
-sei. Da fuhr er mit dem nächsten Zuge nach Neuberg.
-Seit sechs Jahren war er nicht mehr dort gewesen. Und
-was lag alles dazwischen. Erst als ein Vorkämpfer des
-Deutschtums von den Studenten gepriesen, dann als Verräter
-und Feigling in Acht und Bann getan, von allen
-Leuten als Verkommener und Verlorener abgeurteilt, kehrte
-er jetzt wie ein Sieger zurück. Der Streik hatte seinen
-Namen überall bekannt gemacht. Auch die klerikalsten
-Neuberger waren stolz, daß ein Kind ihrer Stadt so was
-hatte leisten können. Und kaum daß er vom Bahnhof
-ins Städtchen kam, sprach ihn jeder, der ihn noch erkannte,
-mit grüßenden Worten an, wollte ihm die Hand
-drücken, fragte, ob er sich noch seiner erinnern könne. Sein
-Name war aber auch monatelang täglich in allen Wirtshäusern
-genannt worden. Sogar Professor Hermann hatte
-voll Genugtuung erklärt, daß Fritz Hellwig sein Schüler
-und wie begabt er gewesen sei. Und nur Pater Romanus
-hatte dann immer säuerlich-süß den Mund verzogen und
-ein paar Worte fallen lassen vom Hochmut, der vor
-dem Fall kommt. &mdash;</p>
-
-<p>Doktor Kreuzinger hatte einen wunderschönen Tod gehabt.
-An einem warmen Frühlingsmorgen war er auf
-seiner Gartenbank eingeschlafen, das neueste Werk eines
-berühmten Forschers mit dessen eigenhändiger Widmung
-auf den Knien. Die Vögel sangen über ihm im Buchenbaum,
-die Sonne streichelte sein weißbärtiges Antlitz. Und
-als sie ihn so fanden, glaubten sie, er lächle aus einem
-schönen Traum heraus. Nun lag er zwischen seinen Sammlungen
-aufgebahrt und sollte nach Gotha zur Feuerbestattung
-gebracht werden. Heinz und Kolben, Fritz und Wart
-Nikl trugen die Bahre zum Bahnhof. Priester war keiner
-zugegen. Und nur wenige Freunde folgten dem Sarge des
-als gottlos Bekannten. Denn die Stadt war ganz in
-den Klauen des Klerikalismus und es gehörte Mut dazu,
-sich diesem unduldsamen Riesen entgegenzustellen.</p>
-
-<p>Und über den Toten weg ging das starke Leben unbekümmert
-weiter.</p>
-
-<p>Eva, der kleine Backfisch von einst, war groß und reif
-und frauenhaft geworden. Die Trauer um den Großvater
-lag über ihrem Frohsinn wie der weiche Flaum auf
-der Schale einer schönen Frucht. Aber die schlanken Glieder
-regten sich wie unter unerwünschten Fesselbändern, und
-hinter den ernsten Mienen drängte verhalten die Daseinsfreude
-zum Durchbruch. So stand sie im Garten vor Fritz,
-am Tag nach dem Begräbnis, und mühte sich ruhig zu
-erscheinen, während ihm ihre ganze Jugend entgegenzitterte.
-Gleichgültige Dinge redete sie, und hätte ihm
-doch am liebsten zugerufen: &#8222;Steh nicht so hölzern da!
-Nimm mich in deine Arme! Dort gehör&#8217; ich hin, ich bin
-ja dein ...&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Haben Sie wirklich nicht an mich gedacht? Die ganze
-Zeit her nicht? Nicht einen einzigen Gruß hatte mir Heinz
-zu melden!&#8220;</p>
-
-<p>Er blickte ihr in die schimmernden Augen.</p>
-
-<p>&#8222;Aber von Ihnen hat er mir einmal einen Gruß ausgerichtet,&#8220;
-sagte er langsam. Sie wurde rot. Er fuhr
-fort: &#8222;Ich dank&#8217; Ihnen heute dafür. Und wenn ich es
-nicht durch Heinz hab&#8217; besorgen lassen ...&#8220; Er stockte
-und wollte hinzufügen: &#8222;Sie sind mir zu gut dafür.&#8220;
-Aber das brachte er nicht über die Lippen, sondern meinte
-nur: &#8222;Was hätten Sie auch davon gehabt?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Mich hätt&#8217;s gefreut!&#8220; antwortete sie leise.</p>
-
-<p>&#8222;Kann man sich über leere Worte freuen?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ah &mdash; wenn es nur leere Worte gewesen wären &mdash;
-dann gewiß nicht!&#8220; Das klang zornig. Und als er zögernd
-fragte: &#8222;Wofür hätten Sie&#8217;s denn sonst gehalten?&#8220;, zuckte
-sie die Achsel: &#8222;Wenn Sie das nicht selbst wissen ...
-übrigens, ich hab&#8217; auch ohne das gelebt!&#8220;</p>
-
-<p>Mit einer schnellen Wendung kehrte sie sich von ihm weg.</p>
-
-<p>Fritz konnte sich die plötzliche Ungnade nicht erklären.
-Und weit entfernt, den wahren Grund auch nur zu ahnen,
-ritt er sich mit seiner bärentatzigen Ehrlichkeit noch tiefer
-hinein: &#8222;Ich hab&#8217; nichts Schlimmes dabei gedacht, Fräulein
-Eva. Ich hab&#8217; nur gemeint, so durch einen Vermittler
-... Wenn ich&#8217;s aber weiß ...&#8220;</p>
-
-<p>Da unterbrach sie ihn bös: &#8222;Sie bilden sich doch nicht
-am Ende ein, daß ich um Ihren Gruß stehe? Den können
-Sie schon behalten. Mir liegt gar nichts daran!&#8220;, gab
-sich einen Ruck, warf den Kopf in den Nacken und rauschte
-stolz davon.</p>
-
-<p>Fritz sah ihr nach, wie sie über den Hof ins Haus schritt
-und fühlte den zornigen Wunsch, ihr nachzustürzen, sie
-an den Armen zu packen und zu schütteln: &#8222;So versteh
-mich doch!&#8220; Da drehte sich das Tor in quietschenden
-Angeln, fiel hinter dem blonden Fräulein ins Schloß.
-Und mit einem Male war der weite Hof mit den regsamen
-Arbeitern, den zahlreichen Fuhrwerken und den
-stampfenden Pferden öd und leer. Wie von fernher kommend
-rauschte der Lärm der Auflader an seinem Ohr vorüber.
-Und während Minute um Minute verrann, fühlte
-er erst noch dumpf, dann bewußter, deutlicher und erkannte
-endlich mit ganz scharfer Klarheit, wie es um sein
-Herz eigentlich stand.</p>
-
-<p>Im selben Augenblick legte ihm der Kaufmann die
-Hand auf die Schulter.</p>
-
-<p>&#8222;Nanu?&#8220; sagte er. &#8222;Sie stehen ja da wie der steinerne
-Roland beim Röhrkasten!&#8220;</p>
-
-<p>Fritz fuhr zusammen, schaute den gemütlichen Mann
-mit fremden Augen an.</p>
-
-<p>&#8222;Wissen Sie,&#8220; sprach dieser weiter, &#8222;wissen Sie, das
-gefällt mir gar nicht von Ihnen! Himmel, Schimmel,
-wenn man jung ist, soll man wie ein Eichkatzl sein und
-die Welt zusammenreißen vor lauter Lebendigkeit! Nicht
-so leutscheu und winkelheimlich! Wenn Sie sich jetzt sehn
-könnten! Das Gesicht! Die Milch gerinnt, wenn Sie
-hineinschaun! Was ist denn eigentlich mit Ihnen los?&#8220;</p>
-
-<p>Und als Fritz auch darauf keine Antwort gab, schüttelte
-er bedenklich den Kopf: &#8222;Sonderbar, die Leute von heute!
-Der meinige ist gerade so! Wenn man Sie ansieht, meint
-jeder, Sie könnten nicht bis drei zählen. Und wenn&#8217;s
-nicht wahr wär&#8217;, möcht&#8217; ich niemals glauben, daß so ein
-Mannl die Raubritter da oben zusammenhaut und die
-Kohlen so teuer macht, daß man sie bald nicht mehr
-wird bezahlen können!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Es hat so kommen müssen,&#8220; antwortete Hellwig gedankenlos,
-&#8222;mein Verdienst ist&#8217;s nicht.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Kruzitürken und Chineser, bescheiden sind Sie auch?
-Das hat noch gefehlt! Sagen Sie mir nur, was hat man
-denn von der Bescheidenheit? Höchstens, daß man tüchtig
-übers Ohr gehauen wird. Auftreten muß man heutzutage:
-&#8218;So bin ich und wenn ich euch nicht pass&#8217;, steigt mir alle
-auf den Buckel!&#8216; &mdash; Das gibt einem erst Gewicht! &mdash;
-Mein Schwiegervater war auch so einer. Nur ja nicht
-merken lassen, daß er mehr versteht wie die andern. Und
-er hätt&#8217; sie doch alle in die Tasche stecken können. Aber
-der dümmste Kerl hat sich vor ihm in der Sonne den Bauch
-wärmen dürfen, und er ist zufrieden im Schatten sitzen
-geblieben. So ein Wesen begreif&#8217; ich einfach nicht.&#8220; &mdash;</p>
-
-<p>&#8222;Er hat ...,&#8220; entgegnete Fritz versonnen, &#8222;er hat &mdash;
-die fremde Wärme nicht gebraucht. Er hat von uns überhaupt
-nichts gebraucht, hat alles in sich selber gehabt. &mdash;
-Wie Bettler sind wir vor ihm gestanden. Haben uns beschenken
-lassen und &mdash; konnten nicht einmal dafür danken.
-Weil er auch für unsern Dank zu reich gewesen ist. Wir &mdash;
-verlieren uns hundertmal &mdash; an die Erde &mdash; an die Menschen
-&mdash; verzetteln und verpulvern uns &mdash; damit wir nur nicht
-an uns zu denken brauchen und an unsere Armut. Glück
-suchen nennt man das. Er &mdash; ist mit sich allein geblieben
-&mdash; ist groß genug gewesen zum Alleinsein &mdash; und hat
-das Glück <em class="gesperrt">gehabt</em>. Von den Ranken, die sein Herz getrieben
-hat, ist keine verdorrt. Sie sind um die Welt gewachsen,
-ja &mdash; ganz rund herum sind sie gewachsen und
-doch alle wieder in seinem Herzen zusammengekommen.
-So war er.&#8220;</p>
-
-<p>Während er sprach, schaute er unablässig auf einen
-blauen Ölkäfer, der seinen dicken Leib träg über den Kiesweg
-ins Gras schleppte. Jetzt schwang sich ein Spatz vom
-blühenden Apfelbaum, nahm das Kerbtier in seinen Schnabel
-und flatterte durch den Sonnenschein davon. Ein paar
-weiße Blütenblätter fielen lautlos wie Flocken vom schwingenden
-Ast auf den grünen Rasen.</p>
-
-<p>Wart Nikl räusperte sich und nahm Hellwigs Hand
-zwischen seine beiden.</p>
-
-<p>&#8222;Ich versteh&#8217; nicht, was Sie da gesagt haben. Aber
-fühlen kann ich&#8217;s schon, wie Sie&#8217;s meinen. Ein Alter, über
-den die Jungen so reden, der muß wohl viel wert gewesen
-sein.&#8220; Und als ob er den düster Starrenden trösten wollte,
-fügte er hinzu: &#8222;Er hat Sie sehr gern gehabt.&#8220;</p>
-
-<p>Fritz lächelte bitter. Über den Hof herüber rief die
-krähende Stimme eines Lehrbuben nach dem Kaufmann.</p>
-
-<p>&#8222;Kopf hoch, Fritz!&#8220; sagte er noch. Und mit verlegener
-Herzlichkeit: &#8222;Wissen Sie, ganz so ohne sind Sie auch
-nicht. Ich hab&#8217; ordentlich einen Respekt vor Ihnen, Kreuzdonnerwetter!
-Den krieg&#8217; ich vor solchen Grünschnäbeln
-nicht so bald!&#8220;</p>
-
-<p>Und fort war er.</p>
-
-<p>Hellwig atmete auf. Fluchtartig, damit ihn nicht abermals
-jemand aufhalte, hastete er durch die rückwärtige
-Gartentür auf die Gasse und lief seinen alten Weg über
-die Brücke, die Hügellehne hinan zu den stillen Lichtungen,
-wo im Sommer die Erika glühte. Jetzt standen späte
-Himmelschlüssel in den Fluren und in heimlichen Waldwinkeln
-unter Strauchwerk versteckt blühten die Maiglöckchen
-auf.</p>
-
-<p>Er suchte die Einsamkeit. Aber er fand sie nicht. Überall
-regte sich&#8217;s, trieb Blätter, surrte um Blumen, flatterte,
-zwitscherte, lockte und holte sich die Genossin. Da warf
-er sich mit dem Gesicht nach abwärts auf den Boden und
-deckte die Hände vor die Augen. Er schämte sich seiner
-Liebe. Weil sie ihn von einem andern Wesen abhängig
-machte, ihm die Selbständigkeit raubte, als ein Fremdes
-von seinem Herzen Besitz ergriff, seine Ziele verdunkelte
-und Zwiespalt in sein Wollen brachte, ohne daß er sich
-davon befreien konnte. Er bäumte sich dagegen, wollte
-das Gefühl ersticken und den Zwang abschütteln. Aber
-immer wieder drängte sich das Bild des schlanken Mädchens
-unter seine wirbelnden Gedanken, zwang ihn, an
-schimmernde Augen zu denken, an trotzig geschürzte Lippen
-und blondes Haar, das über einem feinen Gesicht wie ein
-Goldhelm leuchtete.</p>
-
-<p>Und endlich erlahmte ihm die Kraft zum Widerstand.
-Auf dem Rücken liegend, schaute er traumverloren in das
-durchsonnte grüne Netz der Äste, ließ sich von seiner Sehnsucht
-leise wiegen. Ein Kuckuck schrie aus der Ferne immerzu.
-Und jetzt sang auch von irgendwo eine schmetternde
-Männerstimme in den fröhlichen Wald hinein:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">&#8222;Es fallen drei Sterne vom Himmel,</div>
- <div class="verse indent0">Die geben hellen Schein.</div>
- <div class="verse indent0">Wer wird uns früh aufwecken</div>
- <div class="verse indent0">Beim braunen Mädelein?</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">Ei, wer uns früh aufwecken wird?</div>
- <div class="verse indent0">Das tun die Waldvögelein.</div>
- <div class="verse indent0">Die wecken uns all die Morgen</div>
- <div class="verse indent0">Beim braunen Mädelein!&#8220;</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Ein übermütiges Jauchzen klang dem Liede nach.</p>
-
-<p>Da riß sich Fritz ungestüm aus der weichen Stimmung.
-Was war ihm denn so Großes widerfahren, daß er müßig
-sein und schlaff werden durfte? Hatte sich eine Ranke, die
-<em class="gesperrt">sein</em> Herz getrieben, um ein blondes Mädel geschlungen
-und war nach diesem Umweg wieder zu ihm zurückgewachsen?
-Fast höhnisch lächelte er. Nun, und wenn?
-Sollten deswegen die anderen verdorren? Er bewegte die
-Unterarme mit den geballten Fäusten vor sich, wie wenn
-er einen Stab zerbrechen wollte. Und den trotzigen Blick
-geradeaus gerichtet, als sähe er an den Stämmen vorbei
-nach einem nahen Ziel, schritt er durch den Wald. Niemand
-sollte ihn mehr abdrängen! Niemand!</p>
-
-<p>Andern Tags reiste er ab. Beim Abschied vermied er,
-Eva die Hand zu reichen.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>9.</h3>
-</div>
-
-<p>Otto Pichler hatte das letzte Rigorosum abgelegt. Glühend
-vor Freude eilte er nach Haus, umarmte die Wondra, und
-dann, in seiner Stube, begann er unverweilt seine neue
-Unterschrift einzuüben. <span class="antiqua">Dr.</span> Otto Pichler. In markigen
-Buchstaben, mit einem schwungvollen Schnörkel. Aber das
-genügte ihm nicht. Er kniete auf den Fußboden nieder
-und wohl fünfzigmal schrieb er mit Kreide auf die braunen
-Bretter: <span class="antiqua">Dr.</span> Otto Pichler. Und immer markiger wurden
-die Buchstaben, immer besser gelang der Schnörkel.</p>
-
-<p>Seine Beziehungen zu Hellwig hatte er schon längst
-wieder lose angeknüpft. Der Umstand, daß Heinz Wart,
-Kolben und Fritz bei den Freien Blättern wirkten, hatte
-auch ihn zu einer Schwenkung ins sozialistische Lager veranlaßt.
-Denn es schien ihm nicht unmöglich, daß er, von
-den einstigen Freunden unterstützt, auf dem guten Sprungbrett
-der Journalistik sich später in eine angesehene Stellung
-hinüberschnellen könnte, in ein Reichsratsmandat oder
-ähnliches. Klug und mit kühlem Bedacht arbeitete er auf
-dieses Ziel los. Er verstand gewandt, geistreich und witzig
-zu schreiben, sein Stil war wie seine Rede, flott, frisch
-und lebendig, und was seiner Überzeugung an Tiefe fehlte,
-ersetzte er durch schöne Worte und verblüffende Wendungen.
-Mit Warts Hilfe gelang es ihm, seine Aufsätze bei den
-Freien Blättern unterzubringen, und bald hatte er als
-Feuilletonist einen kleinen Ruf. Seine Schreibweise gefiel,
-das Publikum las die schaumleichten Sächelchen gern,
-die sich noch obendrein wissenschaftlich gaben und viele
-interessante Dinge &#8218;populär&#8216; darstellten. Aber auch mit
-den Herminonen kam er deswegen nicht über Kreuz. Er
-wußte alle heiklen Klippen geschickt zu umsegeln, so daß
-er nach wie vor ungestört in der Gesellschaft der Studenten
-verkehren konnte.</p>
-
-<p>Hellwig aber hegte gegen ihn keinen Groll mehr. Er
-war reif genug geworden, um das Verhalten des einstigen
-Freundes damals bei der Satisfaktionsverweigerung als
-jugendliche Torheit zu belächeln. Nach wie vor glaubte
-er an die ehrliche Tüchtigkeit, hielt er viel von den Fähigkeiten
-des Schulkameraden, und von der fröhlichen Leichtigkeit,
-mit der Otto das Zutrauen der Leute und ihre
-Sympathien eroberte, ließ auch er sich immer wieder gefangen
-nehmen.</p>
-
-<p>Als ihn daher, nach dem Ende des Streiks und der
-Aufregungen, die Ruhe und Tatenlosigkeit zu quälen anfing,
-während in Wien große Dinge sich vorbereiteten,
-der Kampf um das allgemeine Wahlrecht mit aller Wucht
-aufgenommen werden sollte und auch sonst dort, im Aneinanderprallen
-des kühnsten Fortschritts und der verbissensten
-Reaktion, die Kräfte immer frisch und stahlblank
-blieben, &mdash; als ihn das nun in der tiefen, schlaffen Stille
-der Provinz zu quälen und zu locken anfing, da schrieb
-er an Pichler, ob er sein Nachfolger werden wolle. Wenn
-ja, möge er sich bei der Parteileitung darum bewerben, er,
-Hellwig, gedenke wieder zu den Freien Blättern zurückzugehen.</p>
-
-<p>Und Pichler, der neugebackene Doktor, überlegte sich
-das nicht zweimal. Hier bot sich ihm ein Anfang, ein
-festes Einkommen, eine selbständige Stellung und die Möglichkeit,
-von dort aufzusteigen, alles schöner, als er zu
-hoffen gewagt. Deswegen säumte er nicht lang, fuhr nach
-Wien, stellte sich vor, setzte alle Hebel in Bewegung. Und
-von Wart und Hellwig warm empfohlen, von Doktor Kolben
-nicht im Stich gelassen, glückte es ihm auch, den
-Posten zu erhalten.</p>
-
-<p>Die Begegnung der einstigen Freunde war nicht gerade
-herzlich, aber auch nicht farblos. Eine Entfremdung war
-vorhanden, aber dafür auch jene ruhige Kameradschaft, wie
-sie zwischen Männern ist, die an demselben Werk mitarbeiten.
-Eine Woche verwendete Fritz daran, den Nachfolger einzuführen
-und sattelfest zu machen. Dann packte er seine
-Sachen und nahm Abschied von allen. Nicht leichten Herzens
-ging er fort. Und ungern ließen ihn die Arbeiter
-ziehen. Einzeln und in Abordnungen waren sie gekommen,
-hatten ihn umstimmen, zum Bleiben bewegen wollen. Und
-gar der alte Faßbinder hatte sich schon lang nicht hineinfinden
-können. Immer wieder war er auf die Schönheit
-der Gegend zu sprechen gekommen, auf die starke Luft,
-die Ruhe, auf alle Vorzüge der Gegend und seines idyllisch
-gelegenen Hauses. Und erst als das alles ohne Erfolg
-geblieben war, hatte er sich leidvoll in seine Kammer hinter
-einen Wall von Bierflaschen zurückgezogen und hatte dort
-mit Tränen in den Augen ohne Aufhören getrunken und
-getrunken, bis ihm der Kopf schwer auf die bier- und
-tränenfeuchte Tischplatte gefallen und das jammervolle
-Schluchzen in ein gewaltiges Schnarchen übergegangen war.
-Das war eine würdige Abschiedsfeier gewesen, denn betrinken
-tat sich der hoch geeichte Meergreis nur in ganz
-seltenen Ausnahmefällen. Und von jener Stunde an trug
-er das Unvermeidliche mit männlicher Fassung.</p>
-
-<p>Pichler fand sich rasch zurecht. Viel brauchte es ja nicht
-dazu. Alle Wege waren ihm geebnet worden, alle Räder
-griffen pünktlich ineinander, Pfannschmidt arbeitete wie
-ein Zughund, und Otto hatte eigentlich nichts zu tun, als
-sich in das bereitete Nest zu setzen und zuzusehen. Sein
-schmiegsames Wesen, seine lächelnde Liebenswürdigkeit machten
-es ihm leicht, mit den Arbeitern schnell in ein gutes
-Verhältnis zu kommen. Und sie fanden bald, daß der
-Neue, der ihnen so freundlich um den Bart ging und der
-sie niemals durch eine kantige Schroffheit verletzte, daß
-der Neue nicht so übel wäre. Auch gefiel ihnen, daß er
-stets tadellos gekleidet ging, zu repräsentieren verstand
-und nicht in der Vorstadt wohnte, sondern nahe der Schriftleitung
-in einem schönen Zinshaus zwei Zimmer innehatte.
-So streute er diesen einfachen Leuten Sand in die Augen
-und blendete sie durch einen glanzvollen Schein. Er machte
-sich aber auch mit der &#8218;guten Gesellschaft&#8216; der Stadt bekannt
-und hielt es für nur selbstverständlich, Richard Deming,
-den einflußreichen Direktor der chemischen Fabrik,
-höflich zu grüßen, seit er ihm einmal in einer Versammlung
-vorgestellt worden war. Die Anna Bogner aber,
-die achtzehnjährige Tochter des Kesselwärters, erkor er
-sich &mdash; ohne Frauen konnte er nicht mehr sein &mdash; die
-Anna erkor er sich zu seiner heimlichen Geliebten.</p>
-
-<p>Er sah das braunhaarige Mädchen, das in der Zeitungsdruckerei
-beschäftigt war, fast täglich und es gefiel ihm.
-Klein, rund und frisch, trug es sich immer nett und sauber,
-schaute aus klaren Augen vergnügt ins Leben und ließ
-beim Lachen alle Zähne blitzen. Es lachte gern und viel,
-war stets gutes Mutes, freute sich bei der Maschine auf
-den Feierabend, wenn es regnete, auf den Sonnenschein
-und wenn die Sonne schien, über den lustigen Glanz in
-der Welt und im jungen Herzen.</p>
-
-<p>So war die Anna, bis sich ihr Schicksal erfüllte. Ganz
-gewöhnlich fing es an. Blicke herüber und hinüber, erst
-vorsichtig sondierend, bald aber kühner werbend und eindringlicher.
-Dann griff Otto nach dem Hut und grüßte.
-Da erschrak sie, sah darein, als faßte sie es nicht, war erstaunt,
-verlegen, geschmeichelt, hastete purpurrot weiter.
-Aber sie schaute doch noch einmal über die Schulter zurück,
-ob sie sich denn wirklich nicht getäuscht habe, und da stand
-der fesche Doktor mit dem dunklen Schnurrbart noch an
-der Ecke und winkte mit der beringten Hand.</p>
-
-<p>Andern Tags klopfte ihr das Herz bis zum Hals hinauf,
-als sie ihn kommen sah. Beklommen trippelte sie vorwärts
-in Harren und Bangen, fürchtete schon, er sei gleichgültig
-vorüber gegangen. Aber da zog er gerade wieder höflich
-den Hut. Nun neigte sie, wie sie sich fest vorgenommen,
-mutig den kraushaarigen Kopf zum Dank, steif genug,
-verschämt und beglückt.</p>
-
-<p>Dann dauerte es keine Woche mehr, bis er ihr ein Briefchen
-zusteckte und um ein Stelldichein für den Sonntag
-bat. Jenseit des Stromes wollte er sie treffen, draußen
-im Freien, wo schon die Wälder anfingen und nicht so
-leicht ein Bekannter hinkam.</p>
-
-<p>Und das junge Ding zog sein bestes Kleid an, schmückte
-sich wie zum Fest und wartete eine halbe Stunde vor der
-angegebenen Zeit bereits am Waldrand.</p>
-
-<p>Drei rote Rosen zwischen den Fingern, kam Otto gegangen
-und schon von weitem schwenkte er grüßend den
-weißen Panamahut. Mit einer Verbeugung überreichte er
-ihr die Blumen. Schüchtern griff sie darnach, steckte sie
-mit hastenden Fingern vor die atmende Brust, kam nicht
-gleich damit zurecht, schämte sich und stand mit gesenkten
-Wimpern in einer argen Verwirrung. Aber er half ihr
-rasch darüber weg, sagte ihr ein paar Artigkeiten im leichtesten
-Plauderton und benahm sich ungezwungen, als treffe
-er sie nicht das erstemal, sondern kenne sie schon lang
-und gut. Da verlor sie die Scheu, taute auf und fing
-nun ebenfalls zu erzählen an, von ihrer Arbeit, von den
-Tongebilden ihres Vaters, den Liebhabern ihrer Freundinnen.
-Gönnerhaft hörte er zu, fand das Schwatzen abgeschmackt,
-aber das Mädel hübsch und schritt, das Stöckchen
-schwingend, in fröhlicher Zuversicht an ihrer Seite.</p>
-
-<p>Der Wald war still und erwartungsvoll, durch die grünen
-Büsche schimmerte es wie goldene Gewänder, blitzte wie
-sonnige Augen, mit blauen Kelchen standen die schlanken
-Glockenblumen, und die Anna pflückte sie zum Strauß.
-Weiße Waldorchideen ordnete sie mit hinein und die nickenden
-Blütenturbane des Türkenbunds, durch dessen Berührung
-Juno einst den Mars empfing. Geschmeidig bog
-sie den Körper, sprang wie ein Hirschlein zwischen den
-Bäumen und funkelte ordentlich vor Lebenslust. Immer
-besser gefiel sie dem jungen Manne. Unternehmend strich
-er den weichen Schnurrbart empor, faßte die Warme mit
-der Rechten von rückwärts um den Leib, bog mit der
-Linken ihr glühendes Gesicht zu sich herüber und küßte
-sie auf den Mund.</p>
-
-<p>&#8222;Nein, so was ... aber Herr Doktor!&#8220; wehrte sie
-ihm schämig und versuchte loszukommen. Es war ihr
-jedoch nicht ernstlich darum zu tun, sie sträubte sich zwar
-ein wenig, weil sie es für schicklich hielt, schmiegte sich
-dabei aber nur fester in seinen Arm. Da küßte er sie
-nochmals und gab sie dann frei. &#8222;Du gefällst mir, Annl!&#8220;
-sagte er und strich mit der Hand über ihre Wange.</p>
-
-<p>&#8222;Spotten Sie nur nicht!&#8220; antwortete sie und warf ihm
-von unten herauf einen schnellen verliebten Blick zu.</p>
-
-<p>&#8222;Spotten? Nein, du bist wirklich hübsch! Aber das
-Sie-sagen mußt du dir abgewöhnen.&#8220;</p>
-
-<p>Nun kicherte sie: &#8222;Was der Herr Doktor für Einfälle
-hat! Wir kennen uns ja kaum!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Wer bin ich?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Der Herr Doktor!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Wer?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;... Sie!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Du sollst du sagen! Trau&#8217; dich nur, Mädl! Na?&#8220;</p>
-
-<p>Sie schüttelte den gesenkten Kopf, daß alle Spitzen
-ihrer krausen Haare zitterten. Da legte er den Arm um
-ihren miederlosen Leib. &#8222;Komm!&#8220; sagte er. &#8222;Schäm&#8217;
-dich nicht, wir sind ja allein.&#8220;</p>
-
-<p>Sie lehnte sich leicht an ihn.</p>
-
-<p>&#8222;Du!&#8220; sagte sie erschauernd und ließ sich widerstandslos
-fortführen, tiefer und tiefer in den erwartungsvollen
-Wald.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>10.</h3>
-</div>
-
-<p>Hellwig war wieder im alten Fahrwasser, arbeitete viel,
-sprach in Versammlungen und ruhte sich bei Heinz von
-der Hetzjagd aus.</p>
-
-<p>So oft er zu ihm kam, müd und abgerackert, oft erst
-spät abends, fand er den Tisch für sich mitgedeckt, Marie,
-die zarte, blasse Frau, kam ihm mit sonnigen Augen entgegen,
-und die Lampe leuchtete hell über weißem Tischzeug,
-sauberen Dielen und blankem Hausrat. Eng war
-das Gemach, war Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmer,
-alles in einem, aber die freundlichen Geister des Behagens
-lugten aus allen Winkeln, schaukelten sich in den Falten
-der baumwollenen Fenstervorhänge, tollten, ein loser
-Schwarm, durch die offene Tür in die Küche, wo sie der
-Marie in den Rostbraten bliesen, daß das Fett prasselnd
-aus der Pfanne spritzte. Aber nicht immer gab es Rostbraten
-in der Pfanne. Manchmal, und namentlich wenn
-der Monatsletzte nicht mehr fern war, lief Heinz zum
-Greisler hinunter um Käse, Brot und Wurst, und auch
-ein paar Flaschen Bier brachte er mit herauf. Aber wenn
-dann die Marie fragte: &#8222;Wo hast du die Butter?&#8220; oder
-&#8222;Wo ist denn der Emmentaler?&#8220;, da hatte er das gewöhnlich
-unten auf dem Ladenpult liegen lassen und mußte
-die vielen Stufen noch einmal hinab und hinauf.</p>
-
-<p>Und wenn sie dann alle drei unter dem weißen Schirm
-der Hängelampe um den Tisch saßen, war es Hellwig,
-als sei alle Leidenschaftlichkeit der Fehde verbraust und
-aller Streit da draußen eingeschlafen, tief ruhig wurde
-er, und leise schlug ihm das stürmische Herz, ganz leise,
-auf daß es die heimliche Innigkeit dieser Stätte nicht
-störe, die voll Liebe und Frieden war. Und kein Schatten
-wäre in dieser reinen Helligkeit gewesen, wenn Marie
-nicht manchmal gekränkelt und immer anhaltender gehustet
-hätte.</p>
-
-<p>Und bisweilen kam jetzt über Heinz wieder der alte
-Hang zum Herumstreifen in den Elendquartieren. Dann
-litt es ihn nicht in dem Frieden seines Heims, und mochte
-die Marie auch noch so freundlich bitten, er ließ sich nicht
-zurückhalten. Wie an Seilen zog es ihn fort. Da mußte
-auch Fritz aufbrechen, und manchmal begleitete er dann
-den Freund.</p>
-
-<p>Und da trafen sie einmal mit Robert Karus zusammen.
-In einem Bierbeisel trafen sie ihn, wo er Lumpensammlern,
-Kanalstrottern und zittrigen Bettelleuten die Idee
-des Anarchismus erläuterte und für die Propaganda der
-Tat mit ungefügen Worten eintrat.</p>
-
-<p>Hellwig erkannte ihn gleich wieder. Aber auch Karus
-hatte kein schlechteres Gedächtnis. Mit einem lauten &#8222;Hei!&#8220;
-ließ er die Faust auf den Tisch fallen und rief: &#8222;Da schaut
-her, der Bergprediger! Wie geht&#8217;s, Herr Bergprediger,
-wie steht&#8217;s? Ist die friedliche Rebellion vorüber? Fressen
-die Hündlein wieder hübsch brav aus der Hand?&#8220;</p>
-
-<p>Aber ehe Fritz noch antworten konnte, hatten sich die
-andern Gäste bereits um Heinz geschart. &#8222;Das ist ja der
-Herr Wart!&#8220; &mdash; &#8222;Guten Abend, Herr Wart!&#8220; &mdash; &#8222;Wir
-dachten schon, Sie hätten uns ganz vergessen, Herr Wart!&#8220;
-hieß es. Sie schüttelten ihm die Hände, waren von dem
-Wiedersehen sichtlich erfreut.</p>
-
-<p>&#8222;Also das ist der Ausbund, der so haarsträubend edle
-Werke tut!&#8220; sagte Karus und musterte den schmächtigen
-Mann mit einem raschen Blick von oben bis unten. &#8222;Hand
-her, Heinz Wart!&#8220; rief er dann. Er hielt ihm die haarige
-Tatze hin. Wart legte seine kühle, schmale Rechte hinein.
-&#8222;Endlich treffe ich Sie!&#8220; sagte Karus mit gedämpfter
-Stimme. &#8222;Ist höchste Zeit gewesen, sonst wär&#8217; ich Ihnen
-nächster Tage auf die Bude gerückt. Wir zwei gehören
-nämlich zusammen wie Faust und Arm!&#8220;</p>
-
-<p>Heinz war es gewöhnt, auf seinen Streifzügen mit
-den absonderlichsten Kostgängern des lieben Herrgotts in
-Berührung zu kommen. Deswegen wunderte er sich nicht
-weiter über das Gehaben des struppigen Kumpans, setzte
-sich schweigend zu ihm an den Tisch und Hellwig ebenfalls.
-Diesem war die Begegnung sehr erwünscht, denn er hoffte
-jetzt den seltsamen Menschen näher kennenzulernen, der
-mit ein paar hingeworfenen Worten seine Gedanken wochenlang
-zu beschäftigen vermocht hatte. Er konnte sich nicht
-klar werden über das Gefühl, das er für oder gegen ihn
-hegte, spürte etwas seinem eigenen Wesen Verwandtes in
-ihm und doch auch wieder etwas, was ihn schroff abstieß
-und zum Widerspruch reizte.</p>
-
-<p>Dem Karus mochte es ebenso gehen. Die Art, wie er
-den &#8218;Bergprediger&#8216; behandelte, war halb kameradschaftlich,
-halb gehässig, und immer lief daneben überlegener Spott
-mit. Jetzt saßen sie also beisammen in der schweren, verdorbenen
-Luft, tranken schales Bier und die verluderten
-und zermürbten Gesellen an den anderen Tischen rückten
-möglichst nahe zu, spitzten die Ohren, und jedesmal, wenn
-Heinz eine Bemerkung machte, lächelten und nickten sie
-einander zu, stießen sich an und taten, als wäre ihnen ein
-Heil verkündet worden, wenn sie auch kaum die Hälfte
-aller Worte vernehmen konnten. Karus aber rüstete sich
-zu einem Strauß mit Hellwig.</p>
-
-<p>&#8222;Also was?&#8220; sagte er. &#8222;Sind Sie in der Provinz
-glücklich fertig? Wo predigen Sie denn jetzt? Und worüber,
-wenn&#8217;s zu fragen erlaubt ist?&#8220;</p>
-
-<p>Fritz wurde nicht zornig und wurde nicht grob. Ganz
-gelassen blieb er und antwortete so naiv und unbefangen,
-als es ihm möglich war: &#8222;Gegenwärtig geht&#8217;s um das
-allgemeine Wahlrecht.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Schöne Sache!&#8220; entgegnete Karus, mit dem mächtigen
-Schädel nickend, tiefernst. &#8222;Schöne Sache! Würdig der
-edelsten Begeisterung! Nun denken Sie sich aber mal
-eine große Menagerie. Da sitzen die Tiere alle in engen
-Käfigen. Der Löwe, der Tiger, die Gemse, der Falk, der
-Adler, alle sitzen sie in ganz engen Käfigen. Und den
-Menageriebesitzer wandelt eines Tages ein Mitleid an oder
-eine gnädige Laune, er stellt einen etwas größeren Zwinger
-auf und erteilt den Bestien die Erlaubnis, je eine aus
-ihrer Mitte, welche sie halt wollen, in den größeren Käfig
-zu entsenden. Und dann springen die abgesandten Löwen,
-Tiger, Gemsen, Falken, Adler dort drin herum, stoßen mit
-den Köpfen an das gesetzmäßige Gitter, verletzen sich die
-Pranken, zerbrechen sich die Flügel, beißen sich die Zähne
-aus. Und die anderen Vieher sehen das und schreien, quieken,
-krächzen, brüllen: &#8218;Hoch unsere Freiheit! Hoch unser
-allgemeines Wahlrecht!&#8216; Aber die Eisenstäbe zerbrechen,
-den Wärter in Fetzen reißen? Das fällt keinem ein! Dazu
-sind sie zu faul und zu träg! Sie fauchen wohl gegen
-ihn, aber kommt er ihnen mit der spitzigen Gabel an den
-Leib, dann ducken sie sich und heulen! Denn schließlich
-gibt er ihnen doch zu fressen.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Sie sind ein sonderbarer Schwärmer, Karus,&#8220; erwiderte
-Fritz. &#8222;Ich meinerseits glaube aber trotz Ihrer
-schönen Vergleiche, daß das allgemeine Wahlrecht ein guter
-Sturmbock ist, mit dem wir die Gitter schon brechen wollen.
-Nur haben müssen wir&#8217;s erst!&#8220;</p>
-
-<p>Karus lächelte mitleidig.</p>
-
-<p>&#8222;So sagen Sie mir doch einmal, was wir nach Ihrer
-Ansicht eigentlich tun sollen, um frei zu werden?&#8220; rief
-Hellwig ungeduldiger.</p>
-
-<p>Da ging ein heftiger Ruck durch die gedrungene Gestalt
-des wilden Gesellen, aus seinen Augen brach ein unbändiges
-Feuer. Aber seine Stimme klang beinah gemütlich,
-als er jetzt sagte: &#8222;Dreinschlagen!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Wozu?&#8220; meinte Hellwig achselzuckend. &#8222;Wir erreichen
-auf friedlichem Weg mindestens genau so viel.&#8220;</p>
-
-<p>Da klopfte ihm Karus auf den Rücken und sprach:
-&#8222;Lieber junger Freund, wie stellen Sie sich denn das vor:
-Auf friedlichem Weg? Die wilden Tiere im Käfig wollen
-heraus, nicht wahr? Und wenn nun so eine graziöse Löwendame
-oder ein feuriger Tigerjüngling kommt und den
-Wärter bittet, er solle doch so freundlich sein und das
-unangenehme Gitter entfernen, so wird der Wärter natürlich
-nichts Eiligeres zu tun haben, als diesem gewiß berechtigten
-Wunsche zu willfahren. Alle Bestien wird er
-herauslassen, damit sie dann über ihn herfallen und ihn
-vor lauter Dankbarkeit auffressen. Nicht wahr, so würde
-es kommen? Und das ist das, was Sie meinen mit dem
-&#8218;Auf friedlichem Weg&#8216;?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Nicht so ganz, Herr Karus. Sie sagten ja vorhin
-selbst, daß der Käfig, wie Sie sich auszudrücken beliebten,
-immer weiter wird. Nun, und einmal wird er eben so
-groß sein, daß wir das Gitter nicht mehr sehn und spüren.
-Das ist doch gewiß auf friedlichem Weg zu erreichen.&#8220;</p>
-
-<p>Karus lachte hell auf.</p>
-
-<p>&#8222;Und das soll die Freiheit sein? So stellen Sie sich
-die Freiheit vor? Wirklich so? Ich bedanke mich für so
-eine Freiheit! Ich will fliegen &mdash; und stoß&#8217; mir den
-Schädel an der Decke ein. Ich will ein bissel weiter spazieren
-gehn, krach, renn&#8217; ich &mdash; ob früher, oder später,
-einmal doch &mdash; ans Gitter und kann nicht weiter. Muß
-ich da nicht die Stäbe zerbrechen, wenn ich hinaus will?
-Und wenn ich allein zu schwach bin &mdash; zum Teufel, hundert
-Fäuste knicken das Zeug schon entzwei! Aber feig sind
-die Kerle! Feig und faul! Ihr eigenes Fleisch haben sie
-zu lieb, und ihre einzige Sorge ist der Magen! Nein, nein,
-Bergprediger, damit ist&#8217;s nichts! Wenn der Zwinger auch
-noch so groß ist, es bleibt eben immer ein Zwinger. Und
-die Freiheit verträgt kein Gitter!&#8220;</p>
-
-<p>Heinz saß da, die Linke vor den Augen und die Stirn
-in die Spanne zwischen Daumen und Zeigefinger gestützt,
-hielt ein abgebranntes Zündholz in der andern Hand und
-versah die runden Umrisse der Bierlachen mit strahlenförmigen
-Ausläufern. Mit Fleiß und Sorgfalt tat er das
-und bemühte sich, alle gleich lang und schön regelmäßig
-zu machen. Aber als Karus schwieg, begann er unvermittelt
-zu sprechen.</p>
-
-<p>&#8222;Nein,&#8220; sagte er, &#8222;kein Gitter und kein Eisen. Weil
-wir ja keine wilden Tiere sind, sondern Menschen. &mdash; Es
-sollte keine Fesseln unter uns geben, keine Käfige und
-keine Kerker. Und es sollte auch niemand unter uns Macht
-haben, andere darin festzuhalten. Weder ein einzelner noch
-ein Volk oder ein Staat. Niemand. Weil &mdash; wer nicht
-für mich ist, der ist wider mich ... das ist auch eine
-falsche Formel. Jeder für sich &mdash; und keiner wider den
-andern: so müßte es sein. Und bis das so sein wird,
-dann sind wir alle edel genug, die Freiheit zu ertragen.
-Weißt du, Fritz ...&#8220;</p>
-
-<p>So redete er, und da er seine Haltung nicht änderte,
-war es, als ob er in die Tischplatte hinein spräche. Aber
-das Zündholz war in seiner Hand zerknickt, und seine
-Wangen waren ganz tiefrot geworden.</p>
-
-<p>&#8222;Gehn wir!&#8220; sagte er nach einer langen Pause und
-atmete schwer auf.</p>
-
-<p>Sie traten ins Freie. Karus faßte ihn unterm Arm.
-&#8222;Faust und Arm!&#8220; sagte er noch einmal. &#8222;Oder Muskel
-und Nerv! Komm, Heinz Wart!&#8220;</p>
-
-<p>Fritz ging schweigend nebenher und sah in den Himmel
-hinauf, der ganz hell ausgesternt war. Und wieder fühlte
-er, wie schon öfter: wenn der stille Heinz seine leidenschaftliche
-Stunde hatte, dann sagte er Dinge, die seltsam überzeugend
-klangen. Und er sagte sie in so sonderbar eindringlichem
-Ton, daß keine Entgegnung sich regen konnte.
-Und doch mußte es eine Entgegnung geben, das spürte
-er ganz deutlich und wußte nur nicht, wo die Lücke war,
-wo er den Fuß einsetzen mußte, um über die glatte Mauer
-hinüberzukommen.</p>
-
-<p>Karus fing an, aus seinem Leben zu erzählen.</p>
-
-<p>Er war Hilfslehrer gewesen, aber seine vertrotzte Natur
-konnte sich in kein Joch beugen. Statt die Buben zu
-pflichtbewußten Staatsbürgern zu erziehen, redete er zu
-ihnen von der sozialen Bewegung und vom Anarchismus,
-füllte ihre jungen Seelen mit dem wilden Freiheitsdrang,
-der in ihm selbst brauste. Keine Verwarnung fruchtete.
-Schließlich wurde er auf unbestimmte Zeit beurlaubt. Da
-wußte er, woher der Wind blies und kam um seine Entlassung
-ein. Und dann durchwanderte der Doktor der
-Weltweisheit Robert Karus fast die ganze Erde, machte
-den Aufstand der Insel Kreta mit, war auf den Philippinen
-einer der Insurgentenführer, wurde in Rußland
-wegen nihilistischer Umtriebe nach Sibirien geschickt, floh
-von dort durch Persien über den Ganges nach Indien
-und war jetzt endlich wieder in seine Heimat zurückgekehrt,
-als Fünfzigjähriger dieselbe Glut und Freiheitssehnsucht
-im Herzen, die ihn als Jüngling in die Welt hinausgetrieben
-hatte. Vorläufig wollte er ausruhen, wie er es
-nannte, und verdiente sich sein karges Brot, indem er
-armen Handelsbeflissenen, die in Anbetracht der geringen
-Vergütung gern sein verwahrlostes Äußere mit in den
-Kauf nahmen, Unterricht in Französisch, Englisch, Spanisch,
-Russisch erteilte.</p>
-
-<p>Heinz Wart schloß sich seit diesem Tage ganz an den
-alten Revolutionär an, war fortwährend mit ihm beisammen
-und wurde noch blasser und stiller als vorher. Und
-noch größer und rätselvoller als vorher standen ihm die
-heißen dunklen Augen im schmalen Gesicht.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>11.</h3>
-</div>
-
-<p>Pichlern ging es ungemein wohl. Sein Schifflein
-schwamm auf glatter Flut, kein böser Windstoß rührte gefährliche
-Wogen auf, nirgends zeigte sich eine Wetterwolke.
-Die Arbeit lief wie am Schnürchen, die Leute
-hatten ihn gern, er war überall beliebt. Und wenn ihm
-etwas seine Laune trübte, so war&#8217;s jetzt sein Verhältnis
-zur Anna Bogner.</p>
-
-<p>Sie hatte ihm alles gegeben, was so ein schlichtes armes
-Ding einem Mann wie Pichler überhaupt zu schenken vermochte,
-stand nun ratlos, fremd, wie verloren in der Welt
-und hatte niemanden, an den sie sich klammern konnte,
-als eben ihn. Gerade das aber wurde ihm bald lästig, der
-Reiz der Neuheit war vorbei, der Schmetterlingsstaub von
-den Flügeln gestreift, die einfache reine Seele des guten
-Kindes konnte ihn nicht fesseln. Es kam die Überlegung,
-die Furcht vor einer möglichen Entdeckung, der Überdruß.
-Seltener bat er sie um eine Zusammenkunft, entschuldigte
-sich mit dringenden Geschäften. Und sie ließ sich alles gefallen,
-sah ihr Glück &mdash; es hatte kaum sechs Wochen gewährt
-&mdash; verblassen und war geduldig und gläubig und
-treu wie ein Hund. Aber ihre Munterkeit war weg, kaum
-lachte sie noch oder freute sie sich über den Sonnenschein.</p>
-
-<p>Und endlich blieb Otto ganz fort. Acht, vierzehn Tage
-wartete sie, aber er gab kein Lebenszeichen, war für sie
-wie vom Erdboden verschwunden.</p>
-
-<p>Er birschte in anderen Gefilden. Dort war Grete Deming,
-die Tochter des kaiserlichen Rates Richard Deming, der
-bei der großen chemischen Fabrik den Direktorposten innehatte.
-Das war ein scharfsichtiger und besonnener Selfmademan,
-dem das kühle Blut auch in den schwierigsten
-Lagen nicht in raschere Wallung kam. Er war von festgefügtem
-Knochenbau, ziemlich groß, stark, doch nicht fett,
-hatte breite Hände und trug den grauen Backenbart zu
-beiden Seiten des ausrasierten Kinnes kurz geschoren. Nie
-war das Unternehmen besser geleitet, der Gewinn größer
-gewesen, als seit Deming an der Spitze stand. Geschäftsmann
-durch und durch, von modernem Geist erfüllt, kühn
-und wagemutig, wußte er günstige Marktlagen rasch zu
-packen, tatkräftig auszunützen und hatte noch immer gegen
-die Vorsichtigen und Ängstlichen recht behalten. Er war
-seit Jahren Witwer und hatte eine Tochter, das Fräulein
-Grete Deming, eine dunkeläugige Schöne, die gertenschlank
-auf dem Kutschbock saß und mit festen kleinen Händen ihren
-Traber lenkte. Umschwärmt und begehrt, ging sie gleichgültig
-an dem Schwarm ihrer Bewunderer vorbei, nicht
-warm, nicht kalt, ein wenig hochmütig, ein wenig herablassend
-und sehr selbstbewußt. Sie war schön, war jung,
-das einzige Kind ihres reichen Vaters und deshalb nahm
-man ihr nichts übel, fand auch ihre Unarten reizend, und
-viele Mädchen der Stadt gingen mit leicht vorgebeugtem
-Oberkörper und leise schaukelnden Hüften, trugen Reitgerten
-und rauchten Zigaretten, ganz wie Grete Deming.
-Es gab eine Grete-Deming-Frisur, ein Barett, einen fußfreien
-Rock, eine Tüllkrause <span class="antiqua">à la</span> Grete Deming. Aber
-keiner einzigen saß die runde Nerzmütze mit dem Reiherstoß
-so fesch auf welligem Haar, fiel der glatte Rock auf
-einen so tadellos fein geknöchelten Fuß, hob sich pfirsichfrisch
-und rassig aus den weißen Tüllwogen ein so pikantes
-Gesicht &mdash; wie eben dem Fräulein Grete.</p>
-
-<p>Pichler sah sie vorüberfahren, blickte ihr nach und stand
-wie gebannt. Ein eigenes Gefühl drängte sich in sein Herz,
-weh und schmerzhaft, als sei ihm ein Glück bestimmt gewesen,
-und er habe es leichtsinnig selbst verscherzt. Unwürdig
-kam er sich vor und doch wieder wertvoll genug,
-nach den höchsten Kränzen zu langen. Verheißende Möglichkeiten
-blitzten in der Ferne, Ahnungen von Genüssen,
-um die er sich gebracht, Sehnsucht nach einer geistreichen
-und glanzvollen Gesellschaft, von der er sich freiwillig
-ausgeschlossen hatte. Fast reute ihn, daß er so offen eine
-politische Gesinnung zur Schau gestellt hatte, statt in ein
-Staatsämtchen zu schlüpfen oder einen anderen standesgemäßen
-Beruf zu ergreifen. Und stärker und bestimmter
-kam ihm der Vorsatz, daß seine jetzige Beschäftigung nur
-einen Übergang darstellen durfte, da weder seiner Stellung
-als gebildeter Mensch, noch seinen Fähigkeiten der ständige
-Verkehr mit den untersten Volksschichten angemessen sei.
-Und so begann er denn seine Läuterung dort, wo ihm der
-Verkehr mit den untersten Volksschichten dermalen am
-unangenehmsten geworden, bei Anna Bogner. Er war sich
-selber für ein solches Verhältnis zu gut geworden.</p>
-
-<p>Die Anna wartete geduldig noch eine Woche lang, dann
-aber faßte sie sich ein Herz und ging zu ihm. Sie wollte
-Gewißheit haben, das Harren und Bangen quälte gar
-zu sehr.</p>
-
-<p>Zaghaft klopfte sie an, trat zaghaft ein. Da war gerade
-Karl Pfannschmidt anwesend und beriet die Zusammenstellung
-der nächsten Zeitungsnummer mit dem verantwortlichen
-Schriftleiter.</p>
-
-<p>Verlegen sprang Pichler auf.</p>
-
-<p>&#8222;Was bringen Sie mir denn Schönes, Fräulein?&#8220;
-fragte er und bemühte sich, seiner unsicheren Stimme einen
-geschäftsmäßigen Tonfall zu geben.</p>
-
-<p>&#8222;Ich bring&#8217; nichts,&#8220; antwortete sie leise, &#8222;ich will mir
-was holen.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ach ja richtig, das hatte ich ganz vergessen!&#8220; erwiderte
-Otto und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn.
-&#8222;Jetzt fällt&#8217;s mir wieder ein! Bitte, wollen Sie hier eintreten!&#8220;
-Er führte sie ins Nebenzimmer. &#8222;Sie entschuldigen
-schon einen Augenblick!&#8220; sagte er noch zu Pfannschmidt.</p>
-
-<p>Drinnen herrschte er das arme Ding mit scharfer Flüsterstimme
-an: &#8222;Was soll das heißen, Anna? Was fällt dir
-ein, hieher zu kommen! Denk&#8217; doch an deinen Ruf!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich will mir was holen!&#8220; murmelte das Mädchen.</p>
-
-<p>Nun versuchte er es in einer anderen Tonart. &#8222;Ich
-konnte wirklich nicht abkommen, Annl!&#8220; sagte er mit
-biederer Herzlichkeit. &#8222;War mit Geschäften überhäuft. Das
-geht manchmal nicht anders. Aber sobald ich wieder Luft
-hab&#8217; ...&#8220;</p>
-
-<p>Sie schüttelte langsam den Kopf.</p>
-
-<p>&#8222;Ich bin nicht deswegen da ...&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Nicht deswegen?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich will mir nur was holen,&#8220; sagte sie eintönig.</p>
-
-<p>&#8222;Ja, aber was denn nur? So sag&#8217;s doch endlich!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Meine Ehre ...&#8220;</p>
-
-<p>Ganz gleichgültig sprach sie das vor sich hin, mit rauher,
-brüchiger Stimme und schaute mit toten Augen an ihm
-vorbei ins Leere.</p>
-
-<p>Er wußte nichts zu erwidern, hob bedauernd die Hände
-und ließ sie auf die Schenkel fallen.</p>
-
-<p>&#8222;Aber Annl &mdash; du hast mich doch lieb gehabt ...&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ja, ich hab&#8217; dich lieb gehabt.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Und &mdash; und ... es konnte doch nicht immer so fortgehn.
-Das hättest du im voraus bedenken sollen.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ja &mdash; das hätte ich im voraus bedenken sollen ...&#8220;</p>
-
-<p>Wie ein Automat sprach sie ihm die Worte nach.</p>
-
-<p>&#8222;Annl, sei doch nicht so, ich bitte dich! Wir &mdash; können
-deswegen ja gut bleiben. Nur &mdash; das wirst du einsehn,
-ich ... Herrgott, wenn nur der Kerl nicht draußen wär&#8217;!
-Der paßt auf jedes Wort! &mdash; Wir treffen uns morgen,
-Annl! Um sechs Uhr! Da reden wir dann weiter. Wirst
-du kommen?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich werde schon nicht kommen. Was gibt&#8217;s auch noch
-zu reden? Das ist nun einmal so, da nützt nichts mehr.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Annl!&#8220;</p>
-
-<p>Noch immer schaute sie an ihm vorbei, mit derselben
-steinernen Ruhe.</p>
-
-<p>&#8222;Nenn&#8217; mich nicht mehr so. Ich nenn&#8217; dich auch nicht
-mehr so. Ich denk&#8217; mir nur &mdash; so, wie du jetzt bist, das
-sollte doch anders sein. Es ist nicht recht so. Nur, es
-wird wohl auch wieder besser werden &mdash; oder &mdash; die Welt
-hätt&#8217; sonst kein Gewissen ...&#8220;</p>
-
-<p>Mit schleppenden Schritten ging sie zur Tür, öffnete
-und schob sich müde durch das vordere Zimmer an Pfannschmidt
-vorüber zum Ausgang. Dort schlug Pichler noch
-einmal den Geschäftston an. &#8222;Also die Sache ist in Ordnung,
-nicht wahr?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;In Ordnung,&#8220; sagte sie tonlos und bewegte die trockenen
-Lippen kaum. Nun trat sie über die Schwelle, den
-Kopf steif oben, und in dem starren Gesicht regten sich
-nicht einmal die Lider, um die weit offenen Augen zu
-kühlen.</p>
-
-<p>Als sie fort war, sagte Pichler mit gemachter Leichtigkeit:
-&#8222;Es war mir so peinlich ... sie hat mir nämlich
-eine Novelette angeboten für unser Blatt und sich jetzt Bescheid
-geholt. Ich mußte ablehnen. Schriftlich wär&#8217; das
-einfacher gegangen. Zu dumm! Jedes Frauenzimmer will
-heutzutag&#8217; schon schreiben!&#8220;</p>
-
-<p>Pfannschmidt blätterte in den Manuskripten, die er vor
-sich ausgebreitet hatte. Dann sagte er: &#8222;Also mit dem
-Leitartikel sind Herr Doktor einverstanden? Was bringen
-wir denn unterm Strich?&#8220;</p>
-
-<p>Otto biß sich auf die Lippe. Er fühlte, daß ihm hier
-die Ausrede nicht geglaubt worden war. Aber er faßte
-sich schnell.</p>
-
-<p>&#8222;Unterm Strich? Haben wir nicht irgendeine verliebte
-Geschichte lagern? So was zieht immer!&#8220;</p>
-
-<div class="section">
-<h3>12.</h3>
-</div>
-
-<p>Fritz, Heinz und Karus schlenderten mitsammen durch
-die Großstadt. Es war ein schöner Vorfrühlingstag. Die
-Sonne glänzte am blauen Himmel, hing durchsichtige Silberschleier
-vor die Fronten der Mietkasernen, machte die
-Fiakerrosse fröhlich, und sogar den geplagten Pinzgauer
-Hengsten vor den schweren Fuhrwerken verlieh sie ein
-gemütliches Aussehen. Zwischen lautlos gleitenden Elektromobilen,
-Automobilen, Karossen und Straßenbahnwagen
-bewegten sich rasselnde Streifwagen, Handkarren, Radfahrer.
-Eisen klirrte, Pferde wieherten, Kutscher schrien
-&#8222;Ooooohb!&#8220;, das klingelte, ratterte, stampfte, dröhnte,
-surrte, tutete ohrenbetäubend durcheinander. Und auf den
-Gehsteigen wimmelten die Menschen, Hut neben Hut und
-Ellbogen bei Ellbogen, vereinigten sie sich rechts und links
-der Straßenzeile zu je einem ununterbrochen flutenden
-schwärzlichen Strom, der langsam wogte, still stand und
-wieder vorwärtsdrängte. Es sah aus, als würde hier das
-Blut der Stadt durch die Stöße eines unsichtbaren Herzens
-im Kreislauf erhalten. Nur vor den Kirchen schien
-es zu stocken. Die Kirchentüren waren offen, fremd leuchteten
-die gelben Kerzenflammen aus den dämmrigen Schiffen
-in die lärmende Nüchternheit des Tages. Viele der
-Vorübergehenden zogen die Hüte, bekreuzigten sich oder
-beugten wohl auch die Knie. Mit einem Pack Federbetten
-kam ein molliges Frauchen vorbei. Während des langen
-Faschings war im Haushalt das Geld knapp geworden.
-Aber heute abends war ein Bürgerball. Und die Kirchenpforten
-waren der Schönen nicht umsonst aufgetan. Rasch
-trat sie ein, legte ihr Bündel auf die Steinfließen, kniete
-darauf und sprach andächtig ein Vaterunser. Dann setzte
-sie gestärkt ihren Weg zum Versatzamt fort.</p>
-
-<p>Mit schlurfenden Schritten schob sich ein Bettler die
-Häuser entlang. In der Hand hielt er einen irdenen Topf
-mit schmutziggrauem Reisbrei, wie man ihn den Jagdhunden
-zum Fressen gibt. Den mochte ihm eine gutherzige
-Köchin geschenkt haben, und der Alte schaute mit
-verzückten Augen und wässerndem Mund auf seinen Schatz.
-Da war Karus blitzschnell, mit einem Satz, bei ihm und
-schlug den Scherben aus der zittrigen Hand: &#8222;Betteln,
-Schlappschwanz? Da! Jetzt friß!&#8220;</p>
-
-<p>Der Mann winselte und bückte sich jammernd nach
-den Scherben. Fritz packte Karus am Arm: &#8222;Was heißt
-das?&#8220; Und der gleichmütig darauf: &#8222;Sie sehen&#8217;s ja!&#8220;</p>
-
-<p>Leute sammelten sich. Fritz zog die Börse. &#8222;Geben
-Sie ihm nichts!&#8220; knurrte Karus. Hellwig schob ihn beiseite,
-drückte eine Münze in die verlangend aufgehobene
-Hand, schritt schnell davon.</p>
-
-<p>&#8222;Wie konnten Sie das tun?&#8220; sagte er. &#8222;Das war
-grausam!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ach was, grausam!&#8220; rief Karus zornig. &#8222;Verdient
-so einer was Besseres? He? &mdash; Verflucht, daß doch die
-Kerle mit Bettelsuppen und Küchenabfall zufrieden sind!
-Daß sie nicht fordern, was ihnen vorenthalten wird! Daß
-sie nicht wenigstens rauben und stehlen! Aber da stehen
-sie blödsinnig neben brechenden Tischen, verrecken vor
-Hunger und wagen nicht dreinzuhauen. Mit einem rechtschaffenen
-Knüttel oder meinethalben mit Pulver und
-Bomben! Pfui Schande und Feigheit!&#8220;</p>
-
-<p>Heinz aber sah unterdessen nach einem hageren Menschen,
-der vor ihnen hertaumelte, manchmal stehn blieb,
-sich an die Stirn griff, umherschaute, weitertorkelte und
-endlich hinfiel. Im Nu war eine johlende Menge um ihn.
-Heinz aber sagte ganz aufgeregt zu den Freunden: &#8222;Schaut
-euch die Augen an! So blickt kein Betrunkener!&#8220;, lief
-hin und beugte sich über den Gefallenen. Die Umstehenden
-lachten und spotteten: &#8222;Seht den Lumpen! Schon
-am hellen Vormittag hat er einen Rausch!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Nein!&#8220; sagte Heinz laut und hart. &#8222;Der hat keinen
-Rausch, der hat Hunger! Und da lacht ihr und spottet
-noch!&#8220;</p>
-
-<p>Und er faßte den Liegenden: &#8222;Komm, mein lieber Bruder!&#8220;
-und half ihm auf die Füße. Sie nahmen ihn in
-die Mitte, stützten ihn sorgsam und führten ihn aus dem
-Gedränge. Vor einem gut bürgerlichen Gasthaus machte
-Wart halt.</p>
-
-<p>&#8222;Heinz, das ist ein Unsinn!&#8220; sagte Hellwig und suchte ihn
-zurückzuhalten. Doch der wehrte sanft ab: &#8222;Laß mich nur,
-Fritz, ich bin dem Menschentum Genugtuung schuldig in
-diesem hier!&#8220; Und er öffnete die Tür.</p>
-
-<p>An den runden Tischen saß ein zahlreiches Publikum
-beim Frühschoppen. Alle Augen richteten sich auf die Ankömmlinge.
-Es war aber auch ein ungewöhnlicher Aufzug.
-Heinz im englischen Überzieher, den rassigen Kopf
-mit den langen schwarzen Haaren hoch aufgereckt, Karus,
-wie immer, mit zerknittertem Hemd und tranigen Stiefeln,
-zwischen beiden der dürre Mensch, von oben bis unten
-mit Straßenkot besudelt, endlich der breitschultrige Hellwig
-mit Radmantel und Schlapphut. Der Oberkellner kam
-gelaufen und fragte, ob sich die Herrschaften nicht geirrt
-hätten. Die Schenkstube sei rückwärts im Hof. Da sagte
-Heinz: &#8222;Nein, wir haben uns nicht geirrt, aber Sie scheinen
-sich in uns zu irren. Dieser schmutzige Mensch hier
-ist mein Bruder. Die Speisekarte, bitte!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Bitte sehr, bitte gleich!&#8220; antwortete der Befrackte und
-wußte nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Wart und
-Hellwig kannte er. Aber die zwei andern schienen doch
-nicht so ganz in das feine Lokal zu passen. Da jedoch die
-andern Gäste nicht beleidigt taten, glaubte er es wagen
-zu können und winkte dem Speisenträger. Heinz bestellte
-Fasan mit Trüffeln und Moselwein. Das imponierte. Die
-Gäste aber hielten ihn und Fritz für zwei reiche Müßiggänger,
-Hetzbrüder oder Hausherrnsöhnchen, die nach einer
-durchzechten Nacht einen Ulk ausführten. Deshalb lächelten
-sie gönnerhaft oder blinzelten nachsichtig und wohlwollend
-zu ihnen hinüber.</p>
-
-<p>&#8222;Seht sie euch an!&#8220; sagte Karus halblaut. &#8222;Seht doch,
-wie sie dasitzen, die Herren Hofräte und Hausbesitzer und
-Großkaufleute! Und wie sie nicht zu begreifen vermögen,
-daß jemandem so eine Tat Bedürfnis sein kann. Oh,
-wie gut sie unsern Heinz zu verstehen glauben. Wie gut
-sie wissen, daß er, auch nicht anders als sie in ihrer
-Jugend, aus Langweile und Übermut mit der Armut seinen
-Spaß treibt! Wie sie das verstehen, entschuldigen, verzeihen!
-Wüßten sie, daß es ihm ernst damit ist, sie
-ließen uns alle vier hinauswerfen!&#8220;</p>
-
-<p>Unterdessen brachte man auf einer silbernen Platte den
-Fasan, goldbraun gebraten und würzig duftend. Und der
-hungrige Mensch griff gierig nach einem Schenkel, aß
-und sprach, nachdem er alles gegessen: &#8222;Mich hungert,
-gebt mir Wurst!&#8220; Den Wein aber schob er weit von sich:
-&#8222;Ich trink&#8217; nur Bier!&#8220;</p>
-
-<p>Die Gäste sahen das, lächelten und dachten sich: &#8222;So
-ein Esel!&#8220;</p>
-
-<p>Heinz aber stand auf: &#8222;Komm, mein lieber Bruder!&#8220;</p>
-
-<p>Und sie gingen in die Schenkstube. Dort aß der ausgehungerte
-Mensch fünf Knackwürste, trank einen Liter
-Bier dazu, wurde fröhlich und bedankte sich. Die umhersitzenden
-Kutscher aber, die Dienstmänner und Laufburschen
-zeigten auf ihn und meinten: &#8222;Seht den Glückspilz an,
-er hat heut&#8217; Ostern, Pfingsten und Weihnachten!&#8220;</p>
-
-<p>Heinz drängte jetzt zum Aufbruch. Sie überließen den
-Gesättigten seinem Schicksal und machten sich auf den
-Heimweg. Keiner sprach. Karus ging Arm in Arm mit
-Wart. Fritz schlenderte nebenher und dachte allerlei. Wohinaus
-wollten die zwei? Er sah noch immer nicht klar,
-erkannte nur, daß sie in ganz anderen Gleisen gingen als
-er selbst und daß er ihnen dorthin nicht zu folgen vermochte.</p>
-
-<p>Jetzt waren sie bei Karus&#8217; Wohnung angelangt. Oben
-warfen sie ihre Überkleider auf das Bett, setzten sich, rauchten
-und schwiegen eine geraume Weile. Endlich sagte
-Fritz aus seinem Sinnen heraus: &#8222;Heinz, du gehst in
-die Irre! Man füttert solche Leute nicht mit Fasanen!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Wissen wir auch!&#8220; sagte Karus.</p>
-
-<p>&#8222;So? Und trotzdem ...&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Jawohl, trotzdem und gerade deswegen! Unzufrieden
-muß man sie machen! Ihnen die guten Dinge vorrücken,
-die es auf der Welt gibt und von denen sie keine Ahnung
-haben. Dann werden sie lüstern. Und das stachelt sie auf
-wie die Bremse den Stier!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Nun und?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Nun und dann sind sie eben reif für unsere Gilde.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Euere Gilde? Gehören dazu jene, die lieber im Straßengraben
-verrecken, weil sie frei sein wollen?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Und ob die dazu gehören! Unsere braven Jungen, die
-lieber verhungern, eh&#8217; sie sich was schenken lassen. Lieber
-stehlen, eh&#8217; sie betteln. Weil ...&#8220; &mdash; ein spöttisches
-Lächeln verkroch sich in Karus&#8217; verwildertem Bart &mdash; &#8222;weil
-ihr bestes Recht ist, daß sie satt zu essen haben. Und weil
-sie sich zu keinem Ausgleich hergeben. Ihr Recht wollen
-sie, Bergprediger! Und gibt man&#8217;s ihnen nicht, so nehmen
-sie sich&#8217;s &mdash; wenn&#8217;s not tut mit Gewalt!&#8220;</p>
-
-<p>Hellwig achtete nicht auf den Spott und sagte kalt:
-&#8222;Mit dem Argument der Fäuste wird nichts zu holen
-sein! Klärt lieber die Menschen auf! Und fangt nicht
-unten damit an, sondern oben, bei denen, die jetzt die
-Macht haben!&#8220;</p>
-
-<p>Da stieß Karus einen Laut aus, halb Lachen, halb Grunzen.
-&#8222;Bergprediger!&#8220; rief er. &#8222;Bergprediger, das ist ein
-weiter Weg! So weit, daß die Erde nicht mehr warm ist,
-bis er zu Ende gegangen ist. Nein, da lob&#8217; ich mir schon
-die Kürze des Eisens. Die soziale Frage &mdash; lösen? Hm,
-sie ist wie der gordische Knoten. Man löst ihn nicht,
-mit dem Schwert muß man ihn zerhauen!&#8220;</p>
-
-<p>Während er so sprach, ging er zum Schrank, nahm
-ein kurzes Handbeil heraus und warf es auf den Tisch:
-&#8222;Da liegt der beste Helfer! Schau&#8217;n Sie sich das Ding
-gut an. Es hat Tyrannenblut geleckt! Deshalb blinkt und
-lacht&#8217;s auch so fröhlich. Hei, das war ein Fest! Freilich
-ihr &mdash; ihr habt Fischblut in den Adern und könnt euch
-nicht vorstellen, was das heißt: ein Aufstand in Havanna.
-Damals war&#8217;s, daß der Gouverneur &mdash; der Hund ließ
-unter die Rebellen schießen! &mdash; mit dieser Hacke ein Verhältnis
-einging. So ein richtiges treues Verhältnis, das
-nur der Tod trennen kann. Hat er auch getan, schnell und
-sicher! &mdash; Und seither nehm&#8217; ich das Hämmerchen überall
-mit hin. Vielleicht könnt&#8217; ich&#8217;s noch einmal brauchen.
-Gelt, du?&#8220;</p>
-
-<p>Liebkosend strich er über die blanke Schneide.</p>
-
-<p>Hellwig hatte sich erhoben, tiefen Ernst im Antlitz.</p>
-
-<p>&#8222;Dessen rühmen Sie sich noch? Vielleicht wollen Sie
-gar prahlen mit dem nutzlosen Blutvergießen? Das ist
-abscheulich roh!&#8220;</p>
-
-<p>Nun kam Leben in Heinz. &#8222;Nutzlos, Fritz? Nutzlos?
-O ganz und gar nicht! Sie sind ja reif für das große
-Sterben! Weil sie den Keim der Fäulnis in sich tragen!
-Wir brauchen heile, gesunde Menschen, kampffrohe, sieghafte!
-Und weil wir sie brauchen, müssen wir ihnen den
-Boden bereiten und Platz schaffen durch den Untergang der
-Kranken!</p>
-
-<p>Wenn wir allen nur erst den Glauben eingeimpft hätten,
-den Glauben an die selbsttätige Befreiung, an die Befreiung
-durch die Tat! Aber solang sie sich nur immer
-gütlich tun an der Sonne der Erkenntnis, so lang werden
-sie nicht an den lachenden Sturm glauben lernen, der
-die Sonne überwindet. Die milde weiße Sonne ist gut
-für kleine Mädchen und für Greise, wir aber wollen das
-Brausen des Sturms, den Kampf der Wogen, das Entstehen
-neuer Länder und Meere aus dem Zusammenbruch
-der alten. Ewiges Sonnenlicht trocknet das Gebein und
-dörrt das Blut in den Adern, das Mark in den Knochen.
-Ewiges Müßiggehen mit Lobgesängen des Friedens auf
-den Lippen und mit dem beginnenden Verfall im Herzen
-macht ungeeignet zum Kämpfen. Wir aber sollen immer
-bereit sein zum großen Kampf und die Kraft nicht zersplittern
-in kleinen Plänkeleien, nutzlosen Scharmützeln um
-Tugend, Moral und um die toten und sterbenden Götter!</p>
-
-<p>Viel zu lang haben wir Sonne gehabt, so sind wir faul
-und lässig geworden. Fechten nur noch mit den spitzigen
-Dolchen der Worte und den dünnen Stoßdegen des Geistes.
-Aber unsere Arme können das breite Schlachtschwert nicht
-mehr heben. Und durch den steten Frieden sind wir geworden
-wie ein stehendes Wasser ohne Zufluß und ohne
-Abfluß. Auf dem unbewegten Spiegel blühn die weißen
-Wasserrosen, aber im schlammigen Grund schlafen die
-Keime der Fäulnis. Und so die Keime aufwuchern, werden
-wir sein wie ein großer Sumpf, ein Herd aller Krankheiten
-und bösen Dünste.</p>
-
-<p>Darum wollen wir, die wir dies erkennen, wie gute
-Ärzte an der Menschheit handeln: zum Heile der Gesunden
-wollen wir die Morschen und Siechen, die Bresthaften und
-Verderbten ausrotten!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Und was dann?&#8220; rief Hellwig außer sich. &#8222;Heinz,
-was dann? Wenn der Aufruhr durch die Länder jagt, über
-Verwundete und Tote weg, wenn der alte Gesellschaftsbau
-zerschmettert liegt &mdash; was dann? Wie willst du es besser
-machen? Was willst du an die Stelle des Zertrümmerten
-setzen? Etwas Großes und Herrliches müßte es sein &mdash;
-und könnte die Opfer doch nicht aufwiegen!&#8220;</p>
-
-<p>Und kalt und ruhig erwiderte Heinz: &#8222;Du fragst verfrüht,
-und darauf kann ich dir nur antworten: Ich weiß
-es nicht!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;O du! du! So weit bist du schon? &mdash; Du weißt es
-nicht? Und willst doch das Oberste zu unterst kehren,
-Thron und Reiche stürzen, willst, daß das Chaos hereinbricht
-&mdash; und dann &mdash; dann stehst du da, ratlos, tatlos,
-tappst umher, versuchst, experimentierst &mdash; bis du endlich
-dem betörten Volk gestehen mußt: Ich kann euch nichts
-Besseres geben! Frei hab&#8217; ich euch gemacht, nun helft
-euch, wie ihr könnt! Schöne Freiheit das! Mit dem Blute
-Hunderttausender erkauft &mdash; und weiß dann nichts mit
-sich anzufangen! Arzt sein nennst du das? Ich nenne es
-morden!&#8220;</p>
-
-<p>Mit einem Fluch sprang Karus da auf. In jähem Zorn
-wollte er auf den Beleidiger los. Aber Heinz trat dazwischen
-und sagte mit tiefklingender, bewegter Stimme,
-die Fritz in allen Fibern erschauern machte:</p>
-
-<p>&#8222;Einen Golddom wollen wir der Freiheit aufführen,
-denn Nietzsche hat recht: das Herz der Menschheit ist von
-Gold! Aber viel Schlacke hat die Zeit daran abgesetzt. Die
-müssen wir erst lösen. Im Feuer der Empörung, in der
-Glut des Aufruhrs wollen wir die Menschheit läutern,
-alle Unreinheit muß verschwinden, nichts als das blanke
-Edelmetall darf übrigbleiben. &mdash; Und bist du einmal so
-weit, dann greif hinein mit beiden Händen, knete, forme,
-bilde, baue &mdash; mach&#8217; es dann, wie du willst: immer wird
-ein lauteres Goldwerk sein, was unter deinen Händen ersteht!
-Darum ist es besser, alles, was krank ist, falle mit
-einem Mal, als daß es sich fortschleppe von den Kindern
-zu den Kindeskindern und zur ewigen Pein und Pestbeule
-werde für die Gesunden!&#8220;</p>
-
-<p>Fritz stand da und hielt die geballten Fäuste vor, als
-wollte er diese furchtbare Auffassung von sich stoßen.</p>
-
-<p>&#8222;Heinz!&#8220; sagte er mühsam, unter starken Atemzügen.
-&#8222;Heinz, du willst die Krankheit deiner Brüder heilen &mdash;
-und bist selbst einer von den Kränksten. Widersprich mir
-nur nicht, es ist so! Das ist ja doch auch ein Zeichen der
-Krankheit, daß sie sich selbst nicht erkennt: so glaubt der
-Schwindsüchtige bis zum letzten Hauch an seine Gesundheit.
-Wer denn gibt dir ein Recht über die andern? Du
-kannst das Leben nicht schaffen &mdash; so darfst du es auch
-nicht vernichten ...&#8220;</p>
-
-<p>Karus unterbrach ihn mit gemachter Roheit: &#8222;Predigen
-Sie nicht, Bergprediger, uns stimmen Sie nicht um! Und
-Sie werden selbst auch anders reden, wenn Sie nur erst
-einmal Blut gesehen haben. An nichts gewöhnt man sich
-schneller als ans Aderlassen. An das aktive, mein&#8217; ich
-nämlich! Versuchen Sie&#8217;s nur einmal!&#8220;</p>
-
-<p>Da stürzte Hellwig auf Wart zu, der reglos beim Fenster
-saß, die Hände vor dem Gesicht. &#8222;Heinz!&#8220; rief er in
-heißer Wallung, und packte ihn an den Schultern und rüttelte
-ihn. &#8222;Heinz, ich bitte dich &mdash; um unserer Freundschaft
-willen bitte ich dich, mach&#8217; dich von dem da frei!&#8220;</p>
-
-<p>Heinz rührte sich nicht. Eine ganze Weile stand Fritz
-noch bei ihm und wartete. Dann wandte er sich traurig,
-schritt langsam aus der Stube, mit feuchten Augen.</p>
-
-<p>&#8222;Der Friedensengel verläßt uns! Jetzt <em class="gesperrt">muß</em> Krieg werden!&#8220;
-rief ihm Karus lachend nach.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>13.</h3>
-</div>
-
-<p>Im lachenden Sommer starb die Marie. Ein heftiger
-Blutsturz, ein kurzes Krankenlager, ein allmähliches Auslöschen
-&mdash; langsam, unerbittlich und unabwendbar. Ganz
-klar war es ihr, daß sie sterben mußte. Lächelnd sprach
-sie davon und tröstete lächelnd den Geliebten. Aber dann,
-als die Stunde kam, da klammerte sie sich an ihn und
-krallte die Nägel in seinen Rock, und in ihren Augen war
-Angst und Grauen und Verzweiflung.</p>
-
-<p>&#8222;So hilf mir doch, du!&#8220;</p>
-
-<p>Aber er konnte ihr nicht helfen, er konnte sie nur halten
-und hielt sie doch nicht fest, fühlte, während er ihren zitternden
-Körper mit beiden Armen enger und enger umschloß,
-wie sie ihm entglitt und wie ihr Leben wegfloß
-gleich einer Welle unter greifenden Kinderhänden. Und
-sein Herz mochte noch so wild an ihre Brust pochen, das ihre
-fand den Takt nicht mehr, und endlich stand es ganz still.
-Und stand gerade in dem Augenblick still, als der Wille
-und Drang zum Leben in ihm am stärksten wurde. Als
-er die Tote ganz dicht an sich preßte in dem ungestümen
-Wunsch, daß seine ungebrochene Lebenskraft in den erkaltenden
-Leib hinüberströme und für sie beide Arbeit tue.
-Aber Marie war tot.</p>
-
-<p>Nach zwei Tagen begrub er sie. Und als der Leichenwagen
-zum Friedhof kam, &mdash; im schnellen Trab, denn
-der Weg war weit, &mdash; da erwarteten ihn dort die Ausgestoßenen,
-die Enterbten, die Parias, viele, viele hunderte
-zerlumpte und verkommene Gestalten. Und als der Sarg
-im offenen Grabe stand, da schritten sie, die Ausgestoßenen,
-die Enterbten, die Parias, einer hinter dem andern
-an der kühlen Grube vorbei. Und jeder hatte eine Handvoll
-roter Alpenrosen mitgebracht und warf sie in die
-kühle Grube. Der Sarg verschwand unter den glühend
-freudigen Blüten, die Grube füllte sich &mdash; und als der
-letzte vorübergezogen, da lag die tote Marie unter einem
-leuchtenden Hügel von roten flammenden Alpenrosen, die
-letzte Gabe der Berge, die die Tote so sehr geliebt. Das
-war der Dank der Obdachlosen, der Bettler, Lumpensammler
-und Kanalstrotter für das bißchen Liebe, die ihnen
-Heinz Wart gezeigt. Und er wußte nicht, daß Karus ihnen
-die Idee eingegeben hatte. &mdash;</p>
-
-<p>Wenige Tage nach dem Begräbnis erhielt Fritz von
-dem Freund einen Brief:</p>
-
-<p>&#8218;Ich gehe nach Rußland. Forsche nicht nach mir. Es
-muß so sein.&#8216;</p>
-
-<p>Nichts weiter stand auf dem Blatt. Aber Hellwig war
-für Wochen aus allen Gleisen.</p>
-
-<p>Von Osten herüber glühten blutrot die Brände des Aufruhrs.
-Eine Verfassung forderte das Volk, Freiheit und
-Glück &mdash; oder das Grab. Die Antwort war Pulver und
-Blei, waren Pferdehufe, Gewehrkolben und Nagaiken.</p>
-
-<p>Und Heinz eilte mit Karus dorthin, Heinz, der unpraktische
-Schwärmer, der stille Büchermensch, der weder
-schlaue Seitenwege gebrauchen konnte noch geschickte Rückendeckung,
-und Fritz wußte, er ging in den Tod. Nicht
-suchen wollte er den Tod. Denn mit der Marie war ihm
-ja nicht alles gestorben. Die Liebe zu den Entrechteten
-und Zertretenen war ihm geblieben und war jetzt nur
-desto heißer geworden. Nicht ans Sterben dachte er. Mithelfen
-wollte er, mithelfen und mitstreiten, allen Gefahren
-trotzend, in frommer Begeisterung dort mithelfen
-und mitstreiten, wo ihm sein Ziel am hellsten und am
-nächsten leuchtete.</p>
-
-<p>Und Hellwig machte sich Vorwürfe, daß er den Freund
-nicht besser behütet hatte. Wieder wollte eine böse Krisis
-über ihn kommen. Aber die Ereignisse, die jetzt, lang
-vorbereitet, Schlag auf Schlag einander folgten, rissen
-ihn mit in ihren wirbelnden Strudel und ließen ihm vorerst
-keine Zeit zur Grübelei.</p>
-
-<p>Als jenseit der Nordostgrenzen des Reiches die Rebellion
-in vollem Wüten war, da hielten die Sozialisten die Gelegenheit
-für günstig und holten im Kampf für das allgemeine
-Wahlrecht zu wuchtigen Schlägen aus.</p>
-
-<p>Und da geschah es auch, daß die Teilnehmer einer Versammlung,
-in der August Mark, ein stimmgewaltiger Agitator,
-die Masseninstinkte aufgewühlt hatte, vor das Palais
-des Ministerpräsidenten ziehen und demonstrieren wollten.
-Sicherheitswache zu Fuß und zu Pferd versperrte ihnen
-den Weg. Hellwig, von dem Vorhaben der Menge telephonisch
-benachrichtigt, eilte aus der nahen Schriftleitung
-rasch herbei. Es war höchste Zeit. Schon waren die Säbel
-aus der Scheide geflogen, fielen die flachen Klingen auf
-Köpfe, Schultern und Arme. Schreiend wichen die vorderen
-Reihen, die rückwärtigen, weniger gefährdeten, drängten
-nach vorn, ein dampfender Knäuel, stießen sie sich,
-johlten und brüllten. Und schon auch hoben sich geballte
-Fäuste, schlugen Stöcke, prasselten Steine gegen die Polizei.
-Da drehten sich die Klingen, aus den flachen Hieben
-wurden scharfe, Schmerzensschreie gellten, Blutende wankten
-gegen die Häuser, fielen aufs Pflaster hin.</p>
-
-<p>&#8222;Einhalten!&#8220; rief Hellwig mit voller Lungenkraft und
-schob sich durch das Getümmel. &#8222;Einhalten!&#8220;</p>
-
-<p>Er packte den Arm eines berittenen Schutzmanns. Das
-Pferd wurde unruhig und bäumte sich. Doch er hielt fest.
-&#8222;Nicht morden!&#8220; preßte er zwischen den Zähnen hervor.
-Seine Linke griff nach dem Bein des Reiters, im Handumdrehen
-lag dieser zappelnd auf dem Boden.</p>
-
-<p>Da fielen aber auch schon drei &mdash; sechs &mdash; zehn Wachleute
-über Hellwig her, griffen nach seinen Armen, zerrten
-ihn am Rock, stießen ihn von allen Seiten. Und einer
-packte ihn im Genick und schrie: &#8222;Im Namen des Gesetzes!
-Sie sind verhaftet!&#8220;</p>
-
-<p>Als das die Leute hörten und als sie sahen, wie hart
-einem ihrer besten Führer mitgespielt wurde, flammte die
-durch den kurzen Raufhandel angefachte Leidenschaft turmhoch
-empor. Ein Wald von starren, im Sturm zitternden
-Ruten, hoben sich Hunderte von Stöcken über die dunkle
-Masse der Hüte und Schultern, ein kurzer wilder Aufschrei
-krachte gegen die nachtdunkle Himmelskuppel. Dann war
-der Kordon durchbrochen, Brust an Brust, Faust gegen
-Faust rangen sie mit den Hütern der Ordnung um ihr
-vermeintliches Recht.</p>
-
-<p>Los und ledig stand Hellwig mitten im heißesten Gewühl.
-Und schämte sich. Schämte sich, daß er sich hatte
-hinreißen lassen, daß er, der gekommen war, die Menge
-zu beruhigen, ohne Überlegung selbst als der tollste Stürmer
-losgebrochen war. Und eine Weile stand er ganz untätig,
-mit schlaff hängenden Armen. Aber als ihm ein
-Verwegener frohlockend entgegenrief: &#8222;Drauf! Drauf!
-Heut&#8217; zwingen wir sie!&#8220;, da richtete er sich straff auf.</p>
-
-<p>&#8222;Halt!&#8220; schrie er, und seine Stimme war wie klingender
-Stahl. &#8222;Halt!&#8220;</p>
-
-<p>Und als sie stutzten und einander zur Ruhe verwiesen
-in der Erwartung einer Rede, da schob sich die Wache,
-durch Hilfstruppen verstärkt, rasch in das Gewimmel. Die
-aufgeregte Menge wollte es nicht leiden &mdash; drängte abermals
-vor &mdash; doch Hellwig rief mit beschwörend erhobenen
-Händen: &#8222;Leute, ich bitt&#8217; euch, bleibt besonnen! Zeigt,
-daß ihr ernste Männer, daß ihr reif für das Wahlrecht
-seid! Geht ruhig nach Haus!&#8220;</p>
-
-<p>Noch zögerten sie. Da stimmte er das Lied der Arbeit
-an. Und mit einemmal wichen sie zurück und ihre Gesichter
-wurden ernst und feierlich &mdash; und einer nach dem
-andern stimmte ein, bis es aus tausend Kehlen dröhnend
-klang: &#8222;Die Arbeit hoch!&#8220; Und alle ihre erhitzte Leidenschaft
-strömte aus in dem Lied &mdash; und willig folgten sie,
-immer singend, den Anordnungen der Wachleute, die langsam,
-Schritt für Schritt vorrückend, die Straße absperrten.
-&mdash;</p>
-
-<p>Ein paar Tage darauf wurde Hellwig vor den Untersuchungsrichter
-geladen. Er war der Aufreizung und
-öffentlichen Gewalttätigkeit angeklagt. Das Urteil lautete
-auf zehn Monate Kerker.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>14.</h3>
-</div>
-
-<p>In St. Petersburg. Langsam fährt die Prunkkalesche
-des Ministerpräsidenten durch die Straßen. Kosaken begleiten
-sie, bis an die Zähne bewaffnet. In einer düsteren
-Seitengasse harren zwei Männer. Der eine ist blaß und
-schlank, seidiges Schwarzhaar fällt ihm bis auf die Schultern.
-Dem andern steht das blaue Hemd vor der Brust
-offen.</p>
-
-<p>Langsam rollt die Kutsche heran.</p>
-
-<p>Da hebt der im blauen Hemd den Arm. Ein länglicher
-Körper schwirrt durch die Luft, schlägt auf dem Pflaster
-hart auf. Ein dumpfes Gekrach. Rauchwolken. Schmerzensschreie.
-Tumult. Die Pferde bäumen sich, rasen die
-leer gewordene Straße hinab. Sie ziehen keinen Wagen
-mehr. Die Trümmer des Wagens sind in alle Winde
-verstreut.</p>
-
-<p>Ein Bombenattentat. Der Ministerpräsident ist tot.
-Viele seiner Gehilfen liegen im Blut. Von den Tätern
-fehlt jede Spur.</p>
-
-<p class="center" style="margin-top:1.5em;margin-bottom:1.5em;line-height:0.5em">
-<span style="margin-right:6em;">*</span>*
-<br />
-*
-</p>
-
-<p>In Moskau. Der Chef der Polizei lustwandelt in seinem
-großen Garten. Es ist ein schöner Tag. Die Bäume sind
-grün, die Vögel singen. Der Polizeichef lächelt. Die Stadt
-ist ruhig, der Aufstand vorüber. Ein paar Dutzend sind
-aufgeknüpft, ein paar Salven haben das Volk zur guten
-Gesinnung zurückgebracht. Die Gefängnisse sind überfüllt.
-Aber die Stadt ist ruhig. Der Polizeichef hat alle Ursache,
-zufrieden zu sein.</p>
-
-<p>Ein schlanker Mann in der Uniform eines Polizeileutnants
-kommt rasch den Kiesweg herauf. Er ist blaß und
-hat langes schwarzes Haar. In strammer Haltung steht
-er vor dem Gewaltigen, die Hand am Mützenschirm.</p>
-
-<p>&#8222;Was gibt&#8217;s?&#8220; fragt dieser.</p>
-
-<p>&#8222;Das hier!&#8220;</p>
-
-<p>Schnell fährt die Rechte zwischen die Knöpfe des Waffenrocks.
-Ein Schuß verhallt im Park. Ein paar Vögel
-flattern erschreckt auf. Die andern singen weiter.</p>
-
-<p>Der blasse Mensch verläßt ruhig den Garten. Niemand
-hält ihn auf. Er kommt vom Rapport.</p>
-
-<p class="center" style="margin-top:1.5em;margin-bottom:1.5em;line-height:0.5em">
-<span style="margin-right:6em;">*</span>*
-<br />
-*
-</p>
-
-<p>In Odessa. Auf dem Dachboden eines Hauses kauert
-ein Mann in gespannter Erwartung. Er ist von untersetzter
-Gestalt, hat einen verwilderten Bart und tranige
-Stiefel. In der Rechten hält er ein doppelläufiges Gewehr.
-Starr äugt er durch die Dachluke hinab in den
-Gefängnishof jenseit der Straße, der von niedrigeren alten
-Gebäuden umschlossen ist. Der Gefängnishof ist nicht leer.
-Ein Galgen ragt dort in die stille Morgenluft. Der Henker
-macht die Schlinge zurecht. Es schlägt sechs Uhr. Trommelwirbel
-grollt auf. Die Tür in den Hof öffnet sich.
-Der Verurteilte wird herausgeführt. Er ist schlank und
-blaß, das Haar ist abgeschoren, der Hals entblößt.</p>
-
-<p>Einen Augenblick arbeitet es heftig im Gesicht des Wartenden.
-Ein kurzes Schluchzen erschüttert ihn. Aber er
-beißt die Zähne in die Unterlippe, hebt die Flinte. Sein
-Arm zittert. Nur einige Sekunden. Dann ist er ganz
-ruhig.</p>
-
-<p>Die erste Kugel bewahrt den Freund vor einem schimpflichen
-Tod. Die zweite gilt dem Leiter der Hinrichtung.
-Auch sie geht nicht fehl.</p>
-
-<p>Unten entsteht eine Panik. &#8222;Man hat geschossen! Die
-Juden haben geschossen!&#8220; schreit einer. Und das ist das
-Signal zum Gemetzel.</p>
-
-<p>Wie losgelassene Bestien stürmen die Kosaken in die
-Häuser, erschlagen die Männer, hauen die Kinder in Stücke,
-vergewaltigen die jungen Judenweiber. Ein Pogrom.</p>
-
-<p>Der Mann auf dem Dachboden hat sich durch die Luke
-gezwängt, flieht über mehrere Dächer, entkommt unbehelligt.</p>
-
-<p>Vor der Stadt, in einem Dickicht, sitzt er, hat das Gesicht
-in die Hände vergraben, weint, stöhnt und winselt.
-Es ist Nacht geworden. Da erhebt er sich und trottet mit
-tief hängendem Kopf durch die weiten, öden Steppenflächen
-gegen Norden. Unter dem Lodenrock klirrt manchmal
-ganz leise ein Beil gegen die Gürtelschnalle.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>15.</h3>
-</div>
-
-<p>Im Gefängnis erfuhr Fritz den Tod seines Freundes
-Heinz Wart. Die näheren Umstände blieben ihm unbekannt.
-Die wußten nur jene, die dabei gewesen. Und die
-verrieten nichts.</p>
-
-<p>Trotzdem er das tragische Geschick des Freundes vorausgesehen,
-brachte es ihn jetzt, da es sich erfüllt hatte, doch
-um allen Lebensmut.</p>
-
-<p>Zwischen den grauen Wänden der Kerkerzelle saß er
-reglos auf der Pritsche, die Ellbogen auf die Schenkel
-gelegt, und starrte in den schmutzigen Bretterboden. Schaben
-krochen ihm über die Füße, eine Maus steckte den
-spitzigen Kopf aus ihrem Loch und piepte. Er achtete nicht
-darauf, rührte sich nicht und hob auch nicht die Stirn,
-wenn der Aufseher den Schieber vom vergitterten Guckloch
-zurückschob und den schweigsamen Häftling mit kritischen
-Blicken beobachtete. Und in den Nächten lag er
-schlaflos, stierte mit brennenden Augen in die Finsternis,
-fühlte, wie die Einsamkeit ihn würgte. So trieb er es
-wochenlang, ließ die Tage vorübergehen und zählte sie
-nicht, wußte nicht die Stunden, die da neben ihm wegtropften,
-wußte nicht, ob die Sonne schien, ob Regen fiel
-oder Schnee über der Erde lag und die Zeit war wie
-eine große grenzenlose Wüste. Kolben kam und wollte
-mit ihm sprechen. Er weigerte die Unterredung, antwortete
-auch dem Kerkermeister nicht, aß kaum das Notwendigste,
-dachte an nichts und empfand weder Schmerz noch Sehnsucht
-&mdash; nur Leere, entsetzliche Leere. So lebte er hin,
-und es war eigentlich nicht Leben, war nur ein triebhaftes
-Hinvegetieren in einer halben Betäubung.</p>
-
-<p>Allmählich aber, im Wandern der Monate, unter dem
-Einwirken der Stille, der klingenden Ruhe um ihn her,
-löste sich doch endlich die starre Spannung. Die Stumpfheit
-wich. Unablässig bohrend, heftig und heftiger setzte
-das quälende Gedenken wieder ein, daß der Freund gestorben
-und daß dieses Sterben zwecklos gewesen sei.</p>
-
-<p>Wie konnte das möglich werden? Wo lag die Ursache
-dieser stets wiederkehrenden Erscheinung, daß Tausende
-und Tausende immer aufs neue ihr Leben in die Schanze
-schlagen mußten im unstillbaren Drang, den Millionen
-zu helfen, die von wenigen Machthabern kaltblütig und
-grausam niedergehalten wurden? Drüben in Rußland
-bluteten die Massen, wurden von Soldatenhorden niedergeritten,
-gefoltert, zusammengehauen, reihenweise erschossen.
-Hüben jubelten sie dem errungenen Wahlrecht zu, priesen
-sich glücklich, jauchzten im Siegestaumel. Hier wie dort
-hing die Erfüllung ihres Wunsches an einem Federzug des
-Herrschers. Und der eine verweigerte ebenso kalt und starr,
-was der andere gütig gewährte. Wo war das Recht?
-Nach welcher Formel konnte die Willkür des einen gerechtfertigt
-und die Gnade des andern auf eine gesetzmäßige
-Grundlage gebracht werden? Durfte es überhaupt
-Willkür und Gnade geben? Wo war Sinn und Logik in
-diesem Widerstreit? Und wer trug die Schuld, daß Männer
-wie Karus nicht nur möglich waren, sondern im
-Recht? Zum mindesten so weit im Recht, daß sie so gut
-wie er und andere als Bekämpfer einer Krankheit auftreten
-und <em class="gesperrt">ihre</em> Mittel als die einzig sicheren rühmen
-konnten? Wo lag überhaupt der Herd dieser Krankheit?
-Woher das Elend, die Armut, die ewige Unzufriedenheit?
-Und mußte denn das immer und ewig so bleiben?</p>
-
-<p>Die Lehren Proudhons kamen ihm in den Sinn, die
-Versuche Robert Owens, und trotz ihres Mißlingens glaubte
-er hier eine Spur zu finden.</p>
-
-<p>Wenn man den Kommunismus mit der bestehenden
-Ordnung verknüpfen könnte ... Etwa so, daß je ein
-Unternehmen allen dabei Beschäftigten gemeinsam gehörte,
-die Gewinnanteile aber verschieden wären je nach dem
-Maß der Arbeitsleistung ...</p>
-
-<p>Immer tiefer wühlte er sich in diese Gedanken hinein.
-Und je mehr er grübelte, desto möglicher und erreichbarer
-schien ihm eine solche Lösung. Heller wurde die Fernsicht,
-näher rückte das Ziel. Und endlich stand es vor ihm, zum
-Greifen nah, in scharfer Klarheit. So mußte es gehen.
-Und da überkam es ihn mit schöner Zuversicht: Sprich
-es aus, sag&#8217; es getrost aller Welt! Sie müssen dich hören.</p>
-
-<p>Ein wunderbares Kraftgefühl durchströmte ihn. Lebendig
-pochten alle Pulse, alle Gedanken drängten sich und schossen
-zusammen wie Kristalle in einer übersättigten Lösung.
-Und während Woche um Woche verrann, Monat an Monat
-sich reihte, arbeitete in der kahlen Kerkerzelle rastlos
-sein Geist, trug Block zu Block und Stein zu Stein. Lückenlos
-fügte sich alles, wurde groß und wuchs empor zu
-einem gewaltigen Bau, der ein Totenmal werden sollte
-für den Freund und eine Vorhalle zum künftigen Tempel
-der neuen Werte.</p>
-
-<hr class="chap" />
-<div class="chapter">
-<h2><a name="Viertes_Buch" id="Viertes_Buch">Viertes Buch</a></h2>
-</div>
-
-<h3>1.</h3>
-
-<p class="drop-cap">Während Hellwig im Gefängnis saß, war das allgemeine
-Wahlrecht Gesetz geworden. Otto Pichler erntete
-wiederum, wo Fritz die Aussaat besorgt hatte. Er
-wurde im Wahlbezirk der Bergleute zum Abgeordneten gewählt.
-Mühelos wie alles war ihm auch das geglückt.
-Trotzdem er bisher weder in einer ernsten Lage sich bewährt,
-noch auf besondere Erfolge hinzuweisen hatte, vertrauten
-sie ihm, da sie sich daran gewöhnt hatten, dem
-Nachfolger als Verdienst anzurechnen, was der Vorgänger
-erkämpfte: den ruhigen Verlauf der Zeit in Zufriedenheit
-und Ordnung bei reichlicherem Erwerb und kürzerer
-Arbeitsdauer.</p>
-
-<p>So kam Otto in die Hauptstadt, hielt eine Jungfernrede
-voll geistreicher Wendungen und glänzender Nichtigkeiten,
-sprach dann noch ein paarmal bei wichtigen Anlässen
-und befragte die Minister, so oft es seine Wähler
-verlangten. Damit glaubte er fürs erste genug getan zu
-haben und machte sich nun daran, das Leben auch einmal
-mit einem Geldbeutel zu genießen, den die Bezüge angenehm
-schwellten.</p>
-
-<p>Bei den Kabaretten und Wintergärten fing er an, gewann
-hier Fühlung mit Kunstbeflissenen, die dekadent
-und kraftlos ihre Ohnmacht hinter Stimmungen zu verbergen
-und ihre Unfruchtbarkeit durch Anregungen zu heilen
-suchten. Diese Leute benutzte er, um sich Zutritt zu den
-Firnistagen der Ausstellungen zu verschaffen, schloß hier
-neue Bekanntschaften, knüpfte die mannigfaltigsten Beziehungen
-an und war bald in die Gesellschaft eingeführt.
-Zwar hütete er sich noch, mit Großkapitalisten und Geldmännern
-öffentlich zu verkehren. Aber als er Deming im
-Theater traf, verbeugte er sich doch vor ihm und hatte
-die Genugtuung, daß der kaiserliche Rat, der mit seiner
-Tochter den Winter in der Hauptstadt zubrachte, ihn wie
-einen Bekannten begrüßte und sich leutselig nach seiner dermaligen
-Tätigkeit erkundigte.</p>
-
-<p>Ein paar Tage später erhielt er die Einladung zum
-Empfangsabend des Direktors. Er schwankte lang, ob er
-hingehen sollte. Endlich tat er es doch. Gretes junge Schönheit
-lockte zu stark.</p>
-
-<p>Der gewichtige Mann kam ihm freundlich entgegen,
-klopfte ihn wohlwollend auf die Achsel und sagte, daß es
-ihn sehr freue, den Doktor Pichler, dessen glänzend und
-geistvoll geschriebene Abhandlungen er stets mit Vergnügen
-lese, bei sich begrüßen zu können. Der Doktor gelte zwar
-für einen Freigeist und Feind der bürgerlichen Gesellschaft,
-aber das tue gar nichts. Denn in seinem Hause komme
-es nur auf den Menschen an, nicht auf die Gesinnung.</p>
-
-<p>Otto verneigte sich geschmeichelt und wurde den Gästen
-vorgestellt: Exzellenzen, Baronen, reichen Kaufherren. Er,
-Doktor Otto Pichler, kam sich ordentlich klein vor neben
-so viel Geld und Titel und Würden.</p>
-
-<p>Und Grete, die in ihrem weißen Seidenkleid wie ein
-schöner Sommertag leuchtete, war voller Huld und Gnade.
-Er durfte sie zu Tisch führen, eine Auszeichnung, um
-die ihn viele beneideten und die sogar er, Doktor Otto
-Pichler, Feuilletonist, Schriftleiter und Abgeordneter, sogar
-er sich nicht recht erklären konnte. Woher auch hätte
-er wissen sollen, daß es im Kampfe gegen die Demokraten
-der geheime Feldzugsplan Demings war, ihnen die
-besten und fähigsten Führer zu ködern und abspenstig zu
-machen?</p>
-
-<p>Grete verstand zu plaudern. Sie hatte alles gelesen,
-alles gesehen, was gerade Mode war, sprach mit der
-größten Sicherheit darüber, und ihr Tischnachbar war der
-letzte, der ihr die oberflächliche Dreistigkeit übelnahm, mit
-der sie über die verwickeltsten Probleme, die schwierigsten
-Fragen und über die besten Männer der Zeit ihr Urteil
-abgab. Er tat&#8217;s ja auch nicht anders. An jenem Abend
-aber kam er gar nicht dazu, das volle Feuerwerk seines
-beweglichen Geistes sprühen zu lassen. Die vornehm gedämpfte
-Üppigkeit der Umgebung, das ausgesucht feine
-Essen, die erlesenen Weine und echten Importzigarren,
-das Schimmern entblößter Schultern und milchweißer
-Nacken im hellsten Lichterglanz: das alles war ihm ungewohnt,
-in ein schönes Zauberland glaubte er hineinzuschauen,
-nur wie aus weiter Ferne drang das Schwirren
-der Unterhaltung an sein Ohr. Und es wurde ihm, als
-glitten unsichtbare weiche weiße Frauenhände über die zartesten
-Saiten seiner Seele und ließen sie erklingen in sinnverwirrender,
-unsäglich süßer Musik.</p>
-
-<p>Und als er spät nachts seiner Wohnung zuschritt, da
-war etwas wie Neid in ihm. Neid gegen jene, die der
-Sorgen um des Lebens Notdurft überhoben, nach Lust
-und Laune ihrer Neigungen leben und die Erde zum Paradies
-sich wandeln konnten.</p>
-
-<p>Seither verkehrte er oft bei Deming. Aber er erzählte
-seinen Parteigenossen nichts davon.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>2.</h3>
-</div>
-
-<p>Es war in den letzten Tagen des Mai, als Hellwig
-aus der Strafanstalt in die Hauptstadt zurückkehrte. Dort
-hielt er sich jedoch nur gerade so lang auf, als er benötigte,
-um den Rucksack zu packen und sich einen einjährigen
-Urlaub zu erwirken. Innerhalb dieser Zeit hoffte
-er mit seinem Werke fertig zu werden. Über Plan, Aufbau
-und Einteilung war er sich klar, brauchte nun für die
-Ausführung ganz freie Bahn. Seine Ersparnisse ermöglichten
-ihm die Unterbrechung.</p>
-
-<p>Als er dann noch die Wohnung gekündigt und seine
-Habseligkeiten nach Neuberg vorausgesendet hatte, machte
-er sich ungesäumt auf die Wanderung. Er wollte den Weg
-in die Heimat zu Fuß zurücklegen. Denn wie ein Rausch
-hatte es ihn angepackt, als er nach der langen Haft wieder
-Felder erblickte, grüne Fluren, Wälder, Berge, die runde
-hohe Himmelsglocke über der blumigen Erde.</p>
-
-<p>Auf einsamen Steigen und Fußwegen ging er, ging
-über die Kämme und durch die engen Gebirgstäler Oberösterreichs
-zum Böhmerwald hinüber und durch die düsteren,
-waldreichen Gebirgsmassen nordwärts, ließ sich die
-Sonne ins Gesicht scheinen, den Wind um die Ohren blasen,
-vom Regen die Stirn kühlen und ging nur immerzu,
-atmete, schaute und drängte sich an die Brust der Erde
-wie ein hungriges Kind. Selten nur machte er in einem
-Wirtshaus Rast, übernachtete oft im Freien. Bei schlechtem
-Wetter bat er in Dörfern oder Einschichten um Unterkunft,
-mit den Bauern teilte er Roggenbrot und Milch.</p>
-
-<p>Zehn Tage wanderte er so durch den werdenden Sommer.
-Seine Wangen wurden rot, sein Gesicht vom Wetter
-gebräunt. Der Stickluft des Kerkers entronnen, dehnten
-sich die Lungen, badete sich der Körper in dem herben
-Ozon, wurde leicht und frisch und aller Mühsal ledig,
-wie ein junger Krieger, der sich zu frohem Kampfe rüstet.</p>
-
-<p>Und am elften Tag, da schritt er mit dem erwachenden
-Morgen seiner Vaterstadt zu. Die Sonnenpfeile hatten
-Wunden geöffnet im Leib der Nacht, und sie verblutete
-langsam. Langsam stieg die Sonne herauf, und über den
-Hügeln war ein Leuchten wie rotes Gold. Der Morgenwind
-hatte schon ausgeschlafen, weckte die Waldsänger und
-läutete mit allen Blütenglocken. Tautropfen hingen an
-den Blättern, die Lerchen flogen jubelnd der Sonne entgegen,
-und eine große Frische war überall. Und die Sonne
-stieg höher und höher.</p>
-
-<p>Mit einem wilden Schrei breitete er beide Arme aus,
-weit, weit &mdash;</p>
-
-<p>Vor ihm, tief unten im Tal, lag seine Vaterstadt. Der
-schlanke Kirchturm mit dem eisernen Kreuz, die roten
-Ziegeldächer, in grüne Gärten eingebettet, von runden Obstbäumen
-bewacht, umdrängt von gelben Ährenfeldern, die
-dem Herbst entgegenreiften an der treuen Mutterbrust.
-Zwischen Weiden und Erlen schlang der Fluß sein stahlglänzendes
-Band durch die Wiesen und unter Mühlenrädern
-fort. Und die Mühlenräder drehten sich und rollten,
-und von ihren Schaufeln fiel ein funkelnder Regen von
-Edelsteinen.</p>
-
-<p>Unter dem breit schattenden Blätterdach der hohen Linde,
-die, ein Wahrzeichen seit Jahrhunderten, auf dem Hügel
-stand, ruhte der Heimgekehrte und blickte in das leuchtende
-Tal hinab, wo tausend Erinnerungen mit frohen Augen
-ihm entgegen schauten, mit weißen Kinderhänden winkten,
-die Arme verlangend nach ihm streckten. Und seine Jugend
-kam leise zu ihm her, legte das blonde Haupt in seinen
-Schoß und lächelte ihm zu. Und ruhiger schlug ihm das aufgeregte
-Herz, sachter wurde die Freude. Eine sanfte Wehmut
-klang hinein, unbestimmt, fernher, wie ein weicher
-Mollakkord. Und ein wunschlos träumendes Gefühl des
-Geborgenseins umfaßte ganz warm seine Seele, und sie
-ruhte darin und bebte wie ein aus dem Nest gefallener
-Vogel zwischen zwei helfenden Menschenhänden.</p>
-
-<p>Lang saß er so mit gelösten Gliedern und schaute und
-konnte sich nicht satt sehen an der ruhevollen Schönheit
-seiner Heimat. Über dem blühenden Wipfel hing der Himmel
-hell und unbewegt wie ein seidenes Fahnentuch und
-leise summten die Bienen ihr süßes Lied.</p>
-
-<p>Und nach den starken Fußmärschen der letzten Tage,
-dem kurzen Schlaf auf unbequemen Lagern, den Aufregungen
-der Stunde forderte der Körper sein Recht.
-Wohliges Ermatten wiegte ihn ein, die Lider wurden ihm
-schwer. Er streckte sich lang aus im leicht bewegten Gras,
-sah durch das helle Wipfelgrün in den blauen Himmel
-hinein und ließ sich willenlos hinübertragen in das uferlose
-Meer der Träume.</p>
-
-<p>Ihm träumte:</p>
-
-<p>Er ging mit Heinz durch einen großen Wald. Der war
-ausgetrocknet vom Sonnenbrand, und die Zittergräser auf
-seinem Grunde waren fahl und dürr. Aber die Vögel
-sangen in seinen Kronen, und unter den Zittergräsern
-blühten die Blumen. Eine große Schönheit war in diesem
-Walde, die sonnenheiße Schönheit des reifen Sommers.</p>
-
-<p>Und Heinz sprach: &#8222;Wie groß muß erst deine Schönheit
-sein, du warmer Wald, wenn alle Flammen, die in
-deinen Stämmen und Gräsern schlummern, mit eins erwachen
-und emporschlagen in lohender Glut. Wohlan, du
-warmer Wald! Ich will deine Flammen wecken! Ich will
-dein Herold sein, dein Befreier und Erlöser!&#8220;</p>
-
-<p>Und sie trugen Äste zusammen und dürre Reiser.</p>
-
-<p>Die zündeten sie an.</p>
-
-<p>Bläulich fahl leuchteten Flämmchen auf mit leisem Knistern,
-verschwanden wieder, tauchten abermals auf, größer,
-lauter knatternd.</p>
-
-<p>Und weiter und weiter liefen die Flammen.</p>
-
-<p>Und jetzt, wie ein goldrotes Eichhörnchen, sprang ein
-Flämmlein hinan am honigfarbenen Kiefernstamm.</p>
-
-<p>Und da, und dort &mdash; lauter goldrote Eichhörnchen.</p>
-
-<p>Die wuchsen und wuchsen, wurden zu gelben, fauchenden
-Katzen, samtroten grollenden Leoparden &mdash; und jetzt
-waren es riesige, goldhelle Löwen.</p>
-
-<p>Und die riesigen Löwen begannen ein Ringen und Balgen,
-zerfleischten, verschlangen einander in rasender Wut.
-Und die Sieger wurden größer und größer.</p>
-
-<p>Und ein Sausen kam von fern, dumpf und hohl, wie
-nahender Sturm.</p>
-
-<p>Und ein Sturm brach herein und peitschte die Flammen
-mit heulender Wucht. Vor, hinter, neben ihnen lohten
-sie, stiegen sie, schlugen mit gierigen Pranken zum
-Himmel, verrankten und verwoben sich zu glühenden Wänden,
-wehten wie leuchtende Flaggentücher, vereinigten sich,
-himmelan steigend, hoch, hoch oben zu einer einzigen Kuppel
-von blendendem Glanz. Und eine kochende Hitze war
-überall.</p>
-
-<p>Sie aber, die beiden schwachen Menschenkinder, standen
-in diesem weiten Feuerdom, standen darin und fürchteten
-sich. Fürchteten sich vor der entfesselten Schönheit des
-Waldes, die sie selbst geweckt hatten. Wollten fliehen und
-fanden keinen Ausweg.</p>
-
-<p>Enger drängten die Flammenwände herzu, tiefer sank
-die gewaltige Kuppel.</p>
-
-<p>Und jetzt schlug&#8217;s zusammen mit Heulen und Sausen.</p>
-
-<p>Ein Prasseln, Krachen, Brüllen und Funkenstieben.</p>
-
-<p>Und eine Stimme scholl durch das Getöse wie hohnlachender
-Donner:</p>
-
-<p>&#8222;Lernt eure Leidenschaften zügeln und euer Wollen!
-Euer Wollen war groß &mdash; seht zu, ob ihr auch tragen
-könnt, was ihr gewollt habt!&#8220;</p>
-
-<p>Und die Flammen brachen nieder und begruben sie unter
-ihrem heißen goldenen Mantel. &mdash; &mdash; &mdash;</p>
-
-<p>Fritz erwachte verstört und erschreckt.</p>
-
-<p>Die Sonne stand im Mittag, vor ihm lagen die roten
-Giebeldächer, und leise summten im blühenden Lindenwipfel
-die Bienen immerzu ihr süßes Lied.</p>
-
-<p>Aber aus der Landschaft war aller Glanz genommen.
-Die Freude war tot, die Erinnerungen winkten und die
-Jugend lächelte nicht mehr.</p>
-
-<p>Traurig und schwer wurde ihm ums Herz. Und doch
-war eigentlich nicht der Traum daran schuld, sondern der
-wieder aufgeweckte Gedanke, daß er nun bald der Mutter
-des toten Freundes werde gegenübertreten müssen. Er
-dachte an jenen Abend, da sie mit rauschenden Gewändern
-im Regen neben ihm hergegangen war und dem kranken
-Kinde einen starken Freund zu werben geglaubt hatte.
-Alles hatte sie von dieser Freundschaft erhofft &mdash; und war
-nun um alles gekommen.</p>
-
-<p>Und das Haus dort unten stand unverändert da und
-deckte mit seinen steinernen Mauern gleichmütig das Leid
-wie einst die Fröhlichkeit zu.</p>
-
-<p>Noch kein Gang war ihm so schwer geworden. Aber
-er mußte gegangen werden. Langsam stand er auf, schritt
-langsam über die Lehne ins Tal.</p>
-
-<p>Jetzt stand er vor dem alten Haus, trat ein und wunderte
-sich, daß der Flur so geräumig und still, der Hof
-so öde war. Kein Pferdegewieher, kein Aufladerlärm. Nur
-ein paar Kisten lagen einsam, wie vergessen da.</p>
-
-<p>Mit geschnürtem Atem stieg er die Treppe empor, fand
-die Tür zum Vorzimmer offen, ging hinein. Er nahm
-den Rucksack vom Rücken, hing Hut und Wanderstecken
-an den Kleiderständer, klopfte an die Tür der Wohnstube.</p>
-
-<p>&#8222;Herein!&#8220; sagte eine weiche Stimme. Eva stand vor
-ihm, schlank und blaß, in schwarzen Gewändern.</p>
-
-<p>&#8222;Fritz!&#8220; sprach sie leise, kam auf ihn zu und legte
-ihm die Arme um den Hals. &#8222;Wie gut, daß du kommst!&#8220;</p>
-
-<p>Wie etwas Selbstverständliches tat sie das, &mdash; so, als
-setzte sie nur ein begonnenes Träumen fort.</p>
-
-<p>Unsicher schaute er auf den blonden Scheitel und wagte
-kaum zu atmen.</p>
-
-<p>&#8222;Ist das wahr?&#8220; fragte er endlich schwer.</p>
-
-<p>Da schrak sie auf, ward sich ihres Tuns erst bewußt.
-Heftig nahm sie die Arme von seinem Nacken.</p>
-
-<p>Doch er hielt sie fest.</p>
-
-<p>&#8222;Nein, Eva, du gehörst schon hierher!&#8220; sagte er mit
-tiefem Ernst. Und das war wie ein Gelöbnis.</p>
-
-<p>Sie wehrte ihm nicht.</p>
-
-<p>&#8222;Ich hab&#8217; dich ja schon lange so lieb!&#8220; stammelte sie
-wie zur Entschuldigung und schmiegte sich erschauernd fest
-an ihn.</p>
-
-<p>Da nahm er ihren Kopf zwischen seine beiden Hände,
-schaute ihr in die feuchten Augen.</p>
-
-<p>&#8222;Dank! Dank! Nun wird sich&#8217;s leichter tragen.&#8220;</p>
-
-<p>Dann war lange Schweigen.</p>
-
-<p>Endlich richtete er sich mit einem Ruck straff auf. Sein
-Blick verdüsterte sich.</p>
-
-<p>&#8222;Komm zur Mutter!&#8220; sagte er.</p>
-
-<p>Sie blickte ihn ängstlich an und fürchtete sich beinah
-vor seiner finsteren Stirn.</p>
-
-<p>&#8222;Komm!&#8220; Sie führte ihn die Treppe hinauf zum Dachzimmer.</p>
-
-<p>&#8222;Willst du mich nicht anmelden?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Wozu? Mutter weiß, daß du kommen wirst, erwartet
-dich schon seit Tagen.&#8220;</p>
-
-<p>Da legte er die Hand auf die Klinke und stieß die
-Tür auf.</p>
-
-<p>Frau Hedwig saß beim Schreibtisch ihres toten Sohnes,
-mit dem Sichten von Briefen und Papieren beschäftigt.
-Auf ihren Haaren lag ein Schimmer wie von grauer Asche,
-und in das gütige Antlitz war ein müder Zug gekommen.</p>
-
-<p>Eva schob sich an Fritz vorüber rasch ins Zimmer.</p>
-
-<p>&#8222;Er ist da!&#8220; sagte sie und schaute die Mutter mit bittenden
-Augen an. Die hatte sich schon erhoben, ging auf
-ihn zu: &#8222;Willkommen.&#8220;</p>
-
-<p>Sie hielt ihm die Hand hin. Er aber nahm sie nicht.</p>
-
-<p>&#8222;Ich komm&#8217; allein!&#8220; murmelte er mit aufeinanderliegenden
-Zähnen.</p>
-
-<p>Da legte sie ihm mit einem warmen Blick die verschmähte
-Rechte auf den Arm: &#8222;Machen Sie es sich und uns doch
-nicht gar so schwer!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Nicht so gut sein ...&#8220; Das klang rauh, wie ersticktes
-Schluchzen.</p>
-
-<p>&#8222;Fritz!&#8220; sprach nun die Frau herzlich und war ganz
-nahe bei ihm. &#8222;Das dürfen Sie nicht glauben, Fritz.
-Nein, das nicht ... Unser Heinz, der &mdash; hat wohl so
-sterben müssen. Hat sich für seinen Glauben geopfert
-und über den Tod mehr gefreut als je im Leben. Drum
-&mdash; es wird wohl das beste Gedenken für ihn sein, wenn
-wir ihn so verstehen und auf niemanden einen Stein werfen.
-Auch auf uns selbst nicht, Fritz! Keiner hat schuld
-an seinem Tod &mdash; nicht einmal er selbst. Er hat nur &mdash;
-das allerbeste Glück kennenlernen wollen &mdash; und gern
-ein Leben dafür weggeworfen, das sich anders nicht mehr
-hat erfüllen können ...&#8220;</p>
-
-<p>Ihre Stimme zitterte, aber um den Mund lag etwas
-wie der Abglanz eines mutigen Lächelns. Und wieder hatte
-sie den rechten Weg zum Herzen des schwerblütigen Menschen
-gefunden.</p>
-
-<p>&#8222;Es wird schon so sein, Frau Wart,&#8220; sprach er klanglos
-vor sich hin und stand noch wie geistesabwesend da.
-Dann aber, im Überquellen einer starken Empfindung,
-haschte er nach ihren Händen. &#8222;Meine zweite Mutter!&#8220;
-sagte er ganz leise, ganz innig.</p>
-
-<p>Sie verstand ihn gleich.</p>
-
-<p>&#8222;Ja, Fritz, Ihre zweite Mutter. Und Sie &mdash; mein
-anderer Heinz. So wird&#8217;s wohl recht sein.&#8220;</p>
-
-<p>Und sie zog sein Gesicht zu sich nieder und küßte ihn
-auf die Wange. Dann wandte sie sich an ihre Tochter:
-&#8222;Nun, Ev? Was sagst du zu deinem neuen Bruder?
-Bist du&#8217;s zufrieden?&#8220;</p>
-
-<p>Die aber schüttelte den Kopf.</p>
-
-<p>&#8222;Nicht?&#8220; fragte die Mutter. &#8222;Und doch glänzen dir
-die Augen so stark?&#8220;</p>
-
-<p>Verwirrt kehrte sich die Schlanke ab, drehte angelegentlich
-den Fensterriegel hin und her. Sie merkte nicht, daß
-Fritz hinter sie trat. Erst da er den Arm um sie legte,
-zuckte sie zusammen, ließ ihn jedoch stumm gewähren.</p>
-
-<p>Als sie sich umwandten, sahen sie, daß sie allein waren.
-Frau Wart hatte leise das Zimmer verlassen.</p>
-
-<p>&#8222;Wo ist die Mutter?&#8220; fragte Eva fast erschrocken.</p>
-
-<p>Fritz sagte nichts darauf. Seine Augen leuchteten und
-in seinem Gesicht war etwas von der frommen Andacht
-gläubiger Beter.</p>
-
-<p>Als ein Bettler hatte er das Haus betreten und war
-überreich geworden. Und die Erinnerung an den Freund
-hatte allen Schrecken verloren.</p>
-
-<p>In heißer Ergriffenheit zog er seine schöne Braut an
-sich und küßte sie zum erstenmal auf den Mund.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>3.</h3>
-</div>
-
-<p>Fritz mußte lang suchen, bis er in Neuberg eine Wohnung
-auftrieb. Niemand wollte ihm ein Zimmer vermieten.
-Seit er im Kerker gesessen, war er wieder ein
-räudiger Wolf geworden. Professor Hermann stellte nicht
-mehr voll Genugtuung fest, daß Fritz Hellwig sein Schüler
-gewesen sei. Er behauptete jetzt im Gegenteil, daß
-solch ein Ende mit Schrecken ja vorauszusehen war, denn
-dieser Hellwig habe schon als Junge keine Achtung vor
-der Autorität gehabt. &#8222;Und keinen Glauben!&#8220; fügte Pater
-Romanus hinzu und nickte schwermütig mit dem Kopf.
-Und das war der zweite Grund, weshalb sie ihn mieden.
-Weil er kein Klerikaler war. Denn die Klerikalen waren
-in Neuberg zahlreich geworden wie die Grundeln im Teich.
-Zwar nannten sie sich christlich-sozial oder katholisch-national,
-aber das war nur ein anderer Name für dieselbe
-Sache. Das war so gekommen, weil die freisinnige Bürgerschaft
-in viele kleine Gruppen, von denen jede die
-deutscheste sein wollte, zersplittert war und im Streite
-um des Kaisers Bart begriffen, dem straff organisierten
-schwarzen Gegner eine wichtige Stellung um die andere
-fast kampflos überließ. Noch gab es ja einige wackere
-Männer, denen alles, was nur von weitem nach Papismus
-und Pfaffentum roch, in der Seele zuwider war, aber
-die mußten bei der allgemeinen Zwietracht für sich stehen
-und waren, wenn auch nicht auf den Hund, so doch auf
-den Galgenhumor gekommen, derart, daß sie den verhaßten
-Schwarzen jeden Schabernack antaten und mit
-Schnurrpfeifereien, Schelmenstücken und Schalksnarrenstreichen
-kämpften, wenn es schon nicht anders ging. Zu
-diesen Männern gehörte auch der Flickschuster Peter Kofend.
-Der hatte schon viel auf dem Gewissen. Bereits dreimal
-war er bei der Firmung gewesen und hatte jedesmal, noch
-nicht trocken vom Salböl, das Firmgeschenk versoffen. Und
-bei der letzten Firmung, da hatte er gar zuvor noch die
-Böller vernagelt, so daß der hochwürdige Herr Weihbischof
-ohne Freudenschüsse in Neuberg seinen Einzug hatte
-halten müssen. Und was das Lächerlichste war, er hatte
-einmal im Wirtshaus mit dem frommen, gebrechlichen
-alten Sattlermeister Adam Jahn gewettet: er, der Kofendschuster,
-werde trotz seiner zappeligen Munterkeit früher
-ins Gras beißen als der Jahnsattler mit seinem Asthma.
-Und als Einsatz stellte er das Leichenbier: Wer den andern
-überlebte, sollte nach dem Begräbnis den üblichen Trunk
-für die Trauergäste zahlen. Und der fromme, gebrechliche
-alte Jahnsattler, der vom vielen Beten eine Hornhaut auf
-den Knien hatte, kam durch diesen Vorschlag in eine arge
-Not. Denn er war nicht nur fromm, er war auch sparsam.
-Und er dachte sich: Ich bin zehn Jahre älter als
-der Peter, ich bin kränklich, ich bin fromm, der liebe Herrgott
-wird mir verzeihen, wenn ich das Leichenbier sparen
-und der Kirche mehr vermachen kann. Vielleicht hilft er
-mir sogar, der liebe Herrgott, daß ich dem Peter zum
-Trotz gewinne. Und er nahm die Wette an und sie wetteten
-um das Leichenbier, jeder, daß er früher sterben werde
-als der andere. Und während der Jahnsattler seither noch
-gebrechlicher wurde, eine noch dickere Hornhaut auf den
-Knien bekam und sichtlich einging, war der Peter verrucht
-genug, die Geschichte in der ganzen Stadt zu erzählen.
-Und die ganze Stadt, mit wenigen Ausnahmen,
-bedauerte den frommen, gebrechlichen alten Adam und
-entrüstete sich über den gottlosen Peter. Und die ganze
-Stadt, mit noch weniger Ausnahmen, entrüstete sich auch
-über Hellwig, daß er bei dem gottlosen Peter wohnen wollte.
-Und die ganze Stadt, mit den wenigsten Ausnahmen, entrüstete
-sich noch mehr über den Kofendpeter, daß er einem
-abgestraften Sozialistenführer Unterstand gab. Der Kaufmann
-Wart gehörte zu den Ausnahmen. Darüber wunderte
-sich niemand. Von dem Vater eines Hingerichteten konnte
-man nichts anderes erwarten.</p>
-
-<p>Der Kaufmann war nicht mehr der behaglich polternde,
-vergnügte Mensch von ehedem. Etwas Scheues und Gedrücktes
-war in sein Wesen gekommen, machte sich auch
-äußerlich geltend durch einen schleppenden Gang mit vorgebeugten
-Schultern und gesenkter Stirn. Schwere Jahre
-waren über ihn weggerollt, das merkte man. Gleich nach
-dem Begräbnis Doktor Kreuzingers hatte es angefangen.
-Da hatte die Wühlerei eingesetzt: Pflicht jedes Christen
-sei es, den Kaufladen eines Menschen zu meiden, der nicht
-einmal für seine Toten den Priester begehrte. Und viele
-Kunden waren ausgeblieben. Dann kam, durch Vermittelung
-des Konsulats in Odessa, die Nachricht, daß Heinz
-Wart am Galgen geendet. Des Zwischenfalls bei der Hinrichtung
-wurde keine Erwähnung getan. Das blieb kein
-Geheimnis, sprach sich rasch in der ganzen Gegend herum,
-brachte die Familie in Acht und Bann. Wer in Neuberg
-und Umgegend nur halbwegs etwas auf sich hielt, mied
-jegliche Berührung mit den Angehörigen eines Gehängten.
-Der Kaufhandel ging immer schwächer. Ungeduldig stampften
-die müßigen Rosse in den Ställen, bis sie verkauft
-wurden. Die Auflader mußten bis auf einen entlassen
-werden. Im Kontor ruhten alle Federn. Das alte Geschäft
-stand vor dem Verfall.</p>
-
-<p>Der emsige, an fortwährende Arbeit gewöhnte Wart
-empfand den Müßiggang fast wie körperlichen Schmerz.
-Er alterte sichtlich dabei. Es waren nicht Geldsorgen,
-die ihn drückten. Auch ohne den Kaufhandel waren seine
-Einkünfte weit größer als die Ausgaben für den Haushalt.
-Und doch schützte er immer den schlechten Geschäftsgang
-vor, wenn Frau Hedwig, um ihn zur Aussprache
-zu bringen, vorsichtig nach dem Grund seines veränderten
-Gehabens forschte. Er wußte, daß sie ihm die Ausrede
-nicht glaubte. Aber er vermochte nicht von seinem Sohn
-zu sprechen. Seit er die furchtbare Botschaft erhalten,
-war dessen Name nicht über seine Lippen gekommen. Damals
-hatte er auch seine sämtlichen Ehrenämter niedergelegt
-und sich von allen Bekannten zurückgezogen.</p>
-
-<p>Auf Hellwigs Werbung hatte er nur die bittere Antwort:
-&#8222;Recht so! Nehmt mir nur auch das letzte noch
-weg!&#8220; und ging schwerfällig in sein Schreibzimmer, wo
-er sich einschloß.</p>
-
-<p>Später kam er mit keinem Wort darauf zurück, sagte
-auch nichts, als er die Vorbereitungen zur Aussteuer gewahrte.
-Und nur einmal, als sich Heinzens Todestag zum
-zweitenmal jährte, meinte er, bevor er sich schlafen legte,
-traurig zu seiner Frau: &#8222;Schön sind wir dran, Mutter,
-auf unsere alten Tage. Der eine ...&#8220; &mdash; er verschluckte
-das häßliche Wort &mdash; &#8222;die andere &mdash; heiratet einen, der
-auch schon eingesperrt war. Wer weiß, was noch kommt.
-Er ist ja von der gleichen Sorte!&#8220;</p>
-
-<p>Und als Frau Hedwig mit gefalteten Händen vor ihn
-hintrat: &#8222;Sei doch nicht so verzweifelt, Nikl!&#8220;, wehrte
-er ab: &#8222;Laß gut sein, Mutter, red&#8217; nichts. Es wird nicht
-anders durchs Reden!&#8220; Dann zog er sich die Decke über
-das Gesicht hinauf und tat, als ob er schliefe. Aber die
-Gattin, die auch schlaflos lag, hörte sein unterdrücktes
-Stöhnen, das in Pausen immer wiederkehrte, bis zum
-grauenden Morgen.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>4.</h3>
-</div>
-
-<p>Hellwig arbeitete an seinem Buche und die ganze Fron
-des Schaffenden lernte er kennen. Spürte am eigenen
-Leib, wie schwer so ein Werk auf seinem Schöpfer lastet,
-wie es ihn nie zu Atem kommen läßt, vorwärts peitscht
-und auch in den Stunden notwendigster Rast gefangen
-hält und quält und nicht frei gibt, bis es irgendeinem
-Ende zugeführt ist. Selbst die kargen Augenblicke, die
-er sich für seine Braut abrang, kamen ihm wie ein Raub
-vor, und er konnte ihrer nie ganz froh werden. Immer
-war ihm, als versäumte er etwas, das notwendig getan
-werden mußte, das auf ihn wartete, nach ihm schrie und
-ihn mit tausend Ketten zog. Zerstreut und fahrig war er
-und früher, als er gewollt, brach er dann gewöhnlich auf.
-Manchmal bäumte er sich gegen diese Fron, wollte sie
-abschütteln und trug sie doch auch wieder gern.</p>
-
-<p>Es war ein merkwürdiger Brautstand. Doch Eva war
-damit zufrieden. Sie verlangte keine Zärtlichkeiten. Was
-ihm recht war, war auch ihr recht, und nur ihn ganz
-verstehen wollte sie lernen und sein Leben ganz von tief
-auf mitleben wollte sie.</p>
-
-<p>So störte sie ihn nicht. Aber mit dem Werk ging es
-doch nicht richtig vorwärts. Das müde Wesen des Kaufmanns
-wirkte auf Fritz wie ein beständiger Vorwurf. Er
-fühlte, daß das nicht so bleiben durfte. Gerade hier mußte
-volle Klarheit herrschen. Doch die wollte nicht kommen.
-Der Kaufmann ging jedem Alleinsein mit seinem zukünftigen
-Schwiegersohne hartnäckig aus dem Weg. Aber
-endlich mußte er ihm doch Rede stehen.</p>
-
-<p>Draußen vor der Stadt in den Feldern war es. Hellwig
-hatte während einer langen Wanderung den weiteren Aufbau
-seines Buches überdacht und ging arbeitslustiger, als
-er es seit Tagen gewesen, heim. Da sah er vor sich die
-untersetzte Gestalt Wart Nikls auftauchen, der einsam seinen
-Abendspaziergang abtat. Fritz schritt rascher aus, holte ihn
-ein und erhielt auf seinen kurzen Gruß noch kürzeren Dank.
-Da sagte er ohne weitere Einleitung: &#8222;Warum weichen
-Sie mir aus, Herr Wart?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Lassen Sie das!&#8220; antwortete der Kaufmann schroff.</p>
-
-<p>&#8222;Nein, so kann es nicht bleiben, Herr Wart, einmal
-muß es gesagt werden: Geben Sie mir mit schuld, daß
-Heinz gestorben ist?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Lassen Sie das!&#8220; Das klang zornig und klang drohend.
-Aber Fritz gab nicht nach.</p>
-
-<p>&#8222;Seien Sie offen!&#8220; bat er. &#8222;Was nützt das Versteckspielen?
-Nur daß alle darunter leiden.&#8220;</p>
-
-<p>Ganz ruhig war es rundum. Manchmal nur raschelte
-es in den Zweigen der Bäume, fiel ein überreifer Apfel
-zu Boden. Dann war es wieder still, und lautlos webte
-die Dämmerung am dunklen Mantel der Nacht.</p>
-
-<p>Der Kaufmann atmete ein paarmal tief auf. Dann
-sagte er: &#8222;Im Anfang, Fritz, im Anfang, da ist&#8217;s schon
-so gewesen. Man sucht halt immer nach einem Verführer,
-wenn einem ein Liebes Schande macht. Später
-aber, nach dem Ärgsten ... da hab&#8217; ich mir gedacht,
-man kann eine Kugel nicht aufhalten, wenn sie aus dem
-Rohr ist. Es wird wohl auch so gewesen sein. Wie blind
-ist er hineingerannt ... Ich tät Ihnen mein Mädel nicht
-geben, wenn ich anderer Meinung wäre. Ich hab&#8217; nur
-die eine ... Das wird wohl genügen?&#8220; fügte er noch
-hinzu, in einem Ton, der deutlich erkennen ließ, daß
-er die Fortsetzung des Gesprächs nicht wünschte.</p>
-
-<p>Fritz schüttelte den Kopf. &#8222;Nein, Herr Wart, es genügt
-noch nicht, so sehr ich Ihnen dafür dankbar bin. Aber
-Schande? Schande hat Ihnen Heinz nie gemacht!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Der Galgen ist wohl eine Ehre?&#8220; rief da der unglückliche
-Vater und barg sein Leid hinter einem höhnischen
-Auflachen.</p>
-
-<p>Hellwig schaute ihm fest ins Auge. &#8222;Mitunter ganz
-gewiß!&#8220; sagte er. &#8222;Auch Savonarola haben sie aufgehängt,
-den Erlöser haben sie gekreuzigt, den Huß verbrannt
-...&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Die haben auch nicht gemordet,&#8220; unterbrach ihn Wart
-tonlos und schauderte zusammen.</p>
-
-<p>&#8222;Heißt es Mord, einen Menschen wegräumen, von dem
-man weiß, daß er in der nächsten Stunde tausend Unschuldige
-umbringen wird? Das ist kein Töten, das ist
-Selbsthilfe der Menschheit.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;So nennen Sie&#8217;s! Andere nennen&#8217;s Mord.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Heute vielleicht noch. Unsere Enkel werden wieder
-anders sprechen. Von Kindsbeinen wird uns gelehrt: Du
-sollst nicht töten! Und niemand lehrt uns auch jenes
-zweite, Größere: Du sollst nicht töten lassen! &mdash; Aber
-die Zeit wird kommen, und die Menschen reif werden auch
-für dieses Gebot. Dann wird wieder einmal Tugend werden,
-was heute noch Verbrechen ist. Und Heinz und die
-vielen, die wie er gestorben sind, werden Märtyrer und
-Blutzeugen heißen. Und darum glaub&#8217; ich auch jetzt nicht
-mehr, daß sein Sterben nutzlos gewesen ist. Sein Gedanke
-lebt weiter, und seine Rächer sind nicht fern. Vielleicht
-werden es schon jene sein, die Brot von dem Korn
-gegessen haben, das aus seinem Grab gewachsen ist. Und
-die werden vollenden, was er angestrebt hat: Ein heiles
-gesundes Volk wird aufstehn, das vor niemandem den
-Nacken beugt, das sich selbst bestimmt durch seinen eigenen
-Geist, herrscherlos und herrenlos, ein Volk von lauter
-Königen und Herrschern! Dafür hat er gelebt &mdash; das
-goldene Herz der Menschheit hat er finden wollen &mdash; und
-dafür ist er in den Tod gegangen. Das ist kein schimpfliches
-Sterben.&#8220;</p>
-
-<p>Der Kaufmann erwiderte nicht. Die Abendglocken läuteten.
-Wie ein schlafsuchendes Kind schmiegte sich die Erde
-in den Arm der Nacht.</p>
-
-<p>Als Wart vor seinem Hause stand, reichte er Hellwig
-die Hand. &#8222;Fritz!&#8220; sagte er weich. &#8222;Wir wollen&#8217;s beschlafen,
-Fritz!&#8220;</p>
-
-<div class="section">
-<h3>5.</h3>
-</div>
-
-<p>Peter Kofend gewann seine Wette. Trotzdem er um
-zehn Jahre jünger und der Jahnsattler so gebrechlich war.
-Eines Tages kam er mit trüben Augen und hochroten
-Wangen von einem Geschäftsgang nach Haus. &#8222;Aus is!
-Gar is! Ich leg&#8217; mich hin und steh&#8217; nimmer auf!&#8220; sagte
-er zu seiner Frau. Und während die Erschrockene in die
-Küche lief, um einen Tausendguldenkrauttee zu kochen,
-der ihr immer gut tat, legte sich der Peter ins Bett und
-&mdash; stand wirklich nicht mehr auf. Er klagte nicht, redete
-nichts, fühlte sich nur müd. Der Arzt sprach von einer
-allgemeinen Schwäche, von Schonung und Ruhe und ähnlichen
-Dingen, die er immer sagte, wenn er aus einem
-Fall nicht klug wurde. Die Frau Kofend aber wußte
-am zweiten Tag ebenfalls, daß ihr Mann recht behalten
-werde. Da hatte ihre schwarze Henne zu krähen versucht.
-Und trotzdem der Unheilsansagerin sofort der Kragen umgedreht
-wurde &mdash; eine Henne, eine schwarze Henne, die
-krähte &mdash; das bedeutete einen sicheren Todesfall.</p>
-
-<p>Vier Tage später erhielt der Jahnsattler wirklich die
-schwarz umränderte Todesanzeige und vergoß darüber
-Tränen eines aufrichtigen Kummers. Er weinte aber nicht
-über den Gestorbenen, er weinte um das schöne Geld fürs
-Leichenbier. Er bezahlte es auch. Aber dann ging er zu
-Fritz Hellwig und fragte ihn, wie er es anfangen müsse,
-um ein Sozialist zu werden. Denn er fühlte sich gekränkt
-und verletzt, weil ihm alle seine Frömmigkeit nichts genützt
-hatte im Wettkampf mit dem ruchlosen Peter. Deswegen
-wollte auch er jetzt vom Beten nichts mehr wissen.
-Fritz aber konnte seinen Nöten weder mit Rat noch Beistand
-dienen. Doch der Alte wich nicht. Starrköpfig beharrte
-er bei seinem Verlangen, und Hellwig, der den
-höllischen Humor der Sache erfaßte, schlug ihm endlich
-vor, wenn er schon unbedingt nicht anders wolle, so möge
-er ihm, dem abgestraften Sozialistenführer, dem allbekannt
-Glaubenlosen, ein Zimmer in seinem Hause vermieten.
-Denn er brauchte wieder eins, da die Frau Kofend
-in ihr Heimatsdorf übersiedelte. Das gefiel dem Jahnsattler
-alsogleich, weil er damit vor aller Welt seine neue
-Gesinnung beweisen und, wie er meinte, den Sachwaltern
-Gottes auf Erden, ja seinem lieben Herrgott selbst einen
-Tort antun würde. Und die ganze Stadt bedauerte abermals
-den armen, gebrechlichen alten Jahnsattler, weil er
-in der Hilflosigkeit des Alters dem Versucher ins Garn
-gegangen war. Und die ganze Stadt entrüstete sich abermals
-über Hellwig, weil er die kindische Torheit des Greises
-so mißbrauchte. Weitere Folgen hatte die Geschichte aber
-nicht. Der Jahnsattler sorgte, nachdem der erste Schmerz
-über das verspielte Geld vorüber war, nach wie vor dafür,
-daß die Hornhaut auf seinen Knien nicht verschwand, und
-Hellwig kam in der Wohnung des frommen Mannes
-mit seiner Arbeit rüstig vorwärts. Er hatte jetzt endlich
-ganz freie Bahn vor sich.</p>
-
-<p>Wart Nikl war fast vom Abend zum Morgen wieder
-ins Gleis gekommen, hatte seine Tatkraft und gute Laune
-wiedergefunden. Nicht so sehr durch Hellwigs Argumente,
-sondern weil die Aussprache überhaupt beschleunigt hatte,
-was früher oder später doch hätte eintreten müssen. Was
-lang verstaut gewesen, hatte Luft bekommen, strömte in
-gedoppelter Fülle vor, war so überreich, daß er nicht
-wußte, wo er zuerst mit der Arbeit anfangen sollte. Den
-Neubergern zum Trotz wollte er sein Geschäft nicht nur
-auf die frühere, sondern auf eine noch ansehnlichere Höhe
-bringen. Wozu brauchte er den Kleinverschleiß? Kurz entschlossen
-ging er her und legte den Schwerpunkt des Unternehmens
-in den Großhandel mit Farbwaren und Lacken.
-Er nahm Vertreter und einen Reisenden auf, reiste auch
-selbst, und rascher, als er gehofft, war die Sache im Gang.</p>
-
-<p>So arbeiteten der künftige Schwiegervater und Schwiegersohn,
-jeder auf einem anderen Gebiete, aber beide mit
-dem Einsatz ihrer ganzen Kraft. Und das Jahr war noch
-nicht vorüber, da hatte Fritz sein Buch vollendet.</p>
-
-<p>Als er den Schlußpunkt machte, war sein Inneres
-wie ein ausgeschöpfter Brunnen. Restlos hatte er alles
-hergegeben, was er hergeben konnte. Fast leid war ihm,
-daß er das Drängen und Gären in sich nicht mehr spürte.
-Und mit leisem Bedauern, als nehme er von einem lieben
-Freunde Abschied, packte er das Manuskript zusammen,
-um es einem Verleger zuzusenden.</p>
-
-<p>In den folgenden Tagen machte sich eine tiefe Abspannung,
-die bis zur schweren körperlichen Müdigkeit anstieg,
-bei ihm geltend. Doch gab er diesem Zustand nicht
-lässig nach, sondern versuchte durch reichlichere Bewegung
-in freier Luft ihm entgegenzuwirken. Er unternahm starke
-Märsche in die Umgebung, und einmal gelangte er auch
-in den Geburtsort Pichlers.</p>
-
-<p>Der Küster war seit Jahren tot, die Kinder in den Dörfern
-im Dienst oder verheiratet. Nur Christoph, der ältere
-von den einstmaligen Rutenbindern, befand sich noch im
-Ort, war hier Gemeindediener, Polizist, Nachtwächter,
-Bettelvogt, Flurhüter, Fleischbeschauer und Barbier in
-einer Person. Er hatte sich einen struppigen Schnauzbart,
-eine rote Nase und die für seine vielen Ämter unentbehrliche
-Würde zugelegt, welch letztere ihn auch dann nicht
-verließ, wenn seine Ordnungsversuche bei einer Wirtshausrauferei
-mit seinem eigenen Hinauswurf endeten. Er
-erzählte Hellwig, daß Otto für die Geschwister so gut wie
-verschollen sei und sich auch nach dem Tod des Vaters
-nicht um sie gekümmert habe. Doch sei es, trotzdem dann
-für die noch unversorgten jüngeren Kinder schwere Zeiten
-gekommen, auch ohne ihn gegangen. Sie hätten eben fest
-zusammengehalten und den ältesten Bruder nicht dazu
-gebraucht. Jetzt seien sie so ziemlich aus dem Wasser,
-viel zum Beißen habe zwar keiner, aber sie seien zufrieden,
-wie&#8217;s der Vater ebenfalls gewesen, und hätten sich schon
-an den Gedanken gewöhnt, daß sie für den vornehmen
-Herrn Bruder nicht mehr auf der Welt seien und er nicht
-für sie.</p>
-
-<p>Hier unterbrach er plötzlich den Redefluß und eilte mit
-langen Schritten schimpfend einigen Dorfbuben nach, die
-mit verdächtig dicken Taschen aus dem Hühnerhof des
-Pfarrers schlichen.</p>
-
-<p>Fritz machte sich auf den Heimweg. Was er eben von
-Otto gehört, kam ihm so selbstverständlich vor! Das
-Leichte und Spielerische im Wesen des Freundes war ihm,
-je älter und reifer er wurde, desto weniger verborgen
-geblieben. Aber trotz der Enttäuschungen, die ihm der
-einstige Freund bereitet hatte, hielt er ihn nicht für schlecht
-und fand es nur verwunderlich, wie der leichtlebige und
-sorglose Mensch so lang an seiner Seite hatte aushalten
-können.</p>
-
-<p>Langsam schritt er weiter. Die ersten Sterne blitzten
-auf. Und da fiel ihm ein, daß er fast denselben Weg
-ging, den er einmal vor Jahren in Winterschnee und Kälte
-gegangen, um ein Geschenk für seine Braut in einer Fanggrube
-zu finden. Und er sann seinem Leben nach und
-staunte, wie doch alles so zufällig an ihn herangekommen
-war und ihn mitgerissen hatte, fast ohne sein Dazutun. Und
-während er alles überdachte &mdash; einsam war es um ihn,
-ein paar Fledermäuse fuhren hastig durch die unbewegte
-Luft, irgendwo schrie jämmerlich ein Vogel unter den Zähnen
-eines Raubtiers &mdash; da stieg wie eine Vision ein Bild
-vor ihm auf, von dem er zeit seines Lebens nicht mehr
-ganz loskommen konnte. Es war ihm, als sei alles, was
-Leben in sich hat, vor ungezählte Millionen überlasteter
-Karren gespannt und müsse sie, gleich den Pferden vor
-schweren Fuhren, mit bebenden Flanken und keuchenden
-Lungen über eine steile Bergstraße hinaufziehen, die schnurgerade
-ansteigt, höher und höher, in die weite Unendlichkeit
-hinein, wie ein Band ohne Ende. Und über allen
-den zitternden, mühselig hinkriechenden Geschöpfen thront
-riesengroß aufragend, gelassen vor sich blickend, mit unbewegten
-Zügen ein gewaltiges Weib und hält in der
-Rechten eine schwere Peitsche. Und jedesmal, wenn irgendwo ein
-Karren stecken bleiben will, knallt diese Peitsche,
-saust ihre geflochtene Schnur hoch über gekrümmte Nacken
-hin, und die geplagten Geschöpfe zucken zusammen, ducken
-sich furchtsam und ziehen weiter, ziehen mit zum Platzen
-gestrafften Muskeln, fliegendem Atem, verlöschender Kraft,
-ziehen &mdash; ziehen. &mdash; Und wenn eins leblos hinsinkt, schreiten
-die andern, rollen die Karren gleichgültig über den
-Leichnam fort. Und immerzu rollen die Karren, Millionen
-hinter Millionen, die unabsehbare, schnurgerade Straße
-hinauf, und unablässig knallt über ihnen die Peitsche.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>6.</h3>
-</div>
-
-<p>Fast ein Jahr war es her, seit Pichler im Abgeordnetenhause
-seine letzte Rede gehalten hatte. Da forderten seine
-Wähler Rechenschaft und Rechtfertigung von ihm, und
-so kam er endlich wieder einmal in seinen Wahlkreis.</p>
-
-<p>Gemurr empfing ihn, als er den Saal betrat, und
-finster sahen die Versammelten auf ihn. Er aber stieg
-auf die Rednerbühne, wie gewöhnlich mit einem liebenswürdigen
-Lächeln um die Lippen. Doch da reckten sich
-ihm Fäuste entgegen, und ein gewaltiger Lärm erhob sich.</p>
-
-<p>&#8222;Nicht reden! Demingkreatur! Mandat niederlegen!
-Ausbeuterknecht!&#8220; rief und schrie und johlte es durcheinander.
-Er verfärbte sich und fühlte etwas wie Furcht.
-Aber noch immer lächelte er, und dieses Lächeln schien in
-seinem schönen Gesicht förmlich eingefroren zu sein. Als
-jedoch der Spektakel gar nicht aufhören wollte, wurde er
-wütend. Was? Diese Kerle, die tief unter ihm standen,
-wagten zu drohen? Statt dankbar zu sein, daß er sich
-überhaupt mit ihnen abgab? Heiser schrie er in den Saal
-hinab: &#8222;Wollt ihr endlich schweigen? Ich will reden!
-Hört ihr? Ich will!&#8220;</p>
-
-<p>Die Antwort war Lachen und Getöse. Man trommelte
-auf Tische, pfiff, stampfte mit Füßen, schüttelte Fäuste
-und Biergläser. Da packte ihn ein jäher Zorn. Er griff
-nach der Glocke, die ihm zur Hand stand und schleuderte
-sie in die Menge. Sie traf niemanden. Aber jetzt stürmten
-sie und drängten auf das Podium, faßten ihren Abgeordneten
-bei den Schultern, schrien ungestüm auf ihn
-ein, rüttelten und zerrten, schoben und stießen und beförderten
-ihn ins Freie. Dort umringten sie ihn, und
-gewalttätiger Haß sprach aus ihren Gebärden, ihren Mienen
-und Worten. Die Einberufer mahnten zur Besonnenheit.
-Pfannschmidt nahm den übel Zugerichteten beim Arm und
-führte ihn aus dem Gedränge. Murrend und ungern
-wichen die Leute. Das Gesicht des Bergmannes war hart
-und finster. Man sah, daß er den einstigen Schriftleiter
-nicht aus Freundschaft beschützte. Pichler machte jetzt keine
-vorteilhafte Figur. Der Jähzorn war verraucht. Nun kam
-die Angst. Er schlotterte an allen Gliedern, die Knie knickten
-ihm ein, er stolperte nur so vorwärts und wäre gefallen,
-wenn ihn Pfannschmidt nicht gestützt hätte. Kragen
-und Halsbinde waren ihm herabgefetzt, der feine Anzug
-hatte Löcher.</p>
-
-<p>Vor dem Gasthof ließ ihn Pfannschmidt stehen, wandte
-sich kurz ab und ging ohne Gruß. In fluchtartiger Eile
-reiste Otto nach Wien zurück.</p>
-
-<p>Trotzig legte er sein Mandat nieder. Wenn er jedoch
-gehofft hatte, daß es ihm bei seinen ausgebreiteten Beziehungen
-gelingen werde, sofort eine andere Stellung zu
-bekommen, sah er sich arg enttäuscht. Alle Bekannten
-hatten nur ein bedauerndes Achselzucken: es sei dermalen
-nichts frei. Er war eben kompromittiert. Deming hätte
-vielleicht Rat gewußt. Aber an ihn wollte er sich nicht
-wenden. Er schämte sich vor Grete.</p>
-
-<p>Um sich über Wasser zu halten, mußte er Stück für
-Stück seiner Habseligkeiten zum Trödler oder ins Leihhaus
-tragen. Dann borgte er sich Geld. Aber es dauerte
-nicht lang, waren ihm alle Quellen versiegt. Hungrig irrte
-er in der Großstadt herum. Seine Stiefel waren zerrissen,
-der Rock, den er am Leib trug, wurde schäbig, und er
-hatte keinen besseren mehr. In seiner Not schrieb er an
-Hellwig. Der wies ihn kalt ab. Es sei Pichlern, schrieb
-er zurück, von je zu gut gegangen und zu leicht gemacht
-worden. Er habe den Lebenskampf noch nie in seiner
-ganzen Rauheit empfunden. Jetzt aber könne er zeigen,
-was in ihm stecke. Durch eigene Kraft müsse er sich
-herausarbeiten. Unter dem Hammer der Not werde er
-Stahl werden, wenn er wirklich Eisen sei.</p>
-
-<p>Drei Tage hielt Pichler dem Hunger stand. Dann war
-er am Ende seiner Widerstandskraft. Vor der Wohnung
-Demings wartete er und wußte es so einzurichten, daß
-er richtig von dem kaiserlichen Rat bemerkt wurde. Und
-der Millionär erkannte ihn sofort und trat auf ihn zu
-und sprach leutselig mit ihm. Er fragte, ob es dem Doktor
-denn gar so schlecht gehe und warum er sich nicht an ihn
-gewendet habe. Und zum Schluß drückte er dem Überraschten
-eine größere Banknote in die Hand, als Darlehen,
-wie er sagte, und verabschiedete sich huldreich.</p>
-
-<p>Pichler stand da und schaute ihm nach und wußte nicht,
-ob er wachte oder träumte. Aber der blaue Schein zwischen
-seinen Fingern war greifbare Wirklichkeit. Da ging er
-und kaufte sich neue Wäsche und neue Schuhe, kleidete
-sich vom Kopf bis zu den Füßen neu. Und als er dann
-ein Bad genommen und Haar und Bart hatte zustutzen
-lassen, überkam ihn ein ungestümes Verlangen nach Wohlleben
-und Genießen. In einem Tingeltangel ließ er sich
-vorsetzen, was gut und teuer war, und am nächsten Vormittag
-erwachte er mit wüstem Kopf in der Wohnung
-einer Dirne.</p>
-
-<p>Zwei Tage später, als das Geld alle war, folgte er der
-Aufforderung des kaiserlichen Rates, ging zu ihm und
-setzte ihm rundweg seine Lage auseinander. Deming hörte
-ihn wohlwollend an, mit schlecht verhehlter Freude. Und
-nach einer Einleitung, in welcher er beiläufig sagte, daß
-man begabten Menschen helfen müsse, daß es ihm selbst
-auch nicht immer gut gegangen und er auch einmal in
-ganz ähnlichen Verhältnissen stellenlos herumgelaufen sei,
-machte er dem Doktor den Vorschlag, als Beamter in die
-Fabrik einzutreten. Aber eines verlange er unbedingt: Pichler
-müsse sich von seinen Parteigenossen vollständig lossagen
-und die Politik links liegen lassen.</p>
-
-<p>Das versprach Otto gern.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>7.</h3>
-</div>
-
-<p>In aller Stille hatten Fritz und Eva Hochzeit gehalten.
-Wieder entrüsteten sich die Gutgesinnten Neubergs, weil
-kein Priester dabei war, aber ihre Ungnade schadete den
-Betroffenen nichts. Wart Nikl blieb fröhlich und aufrecht,
-obwohl es jetzt recht einsam um ihn wurde und
-nur Frau Hedwig, still und tapfer den Trennungsschmerz
-verbergend, in den weiten Wohngemächern waltete, die
-kurz vorher noch Eva mit hellem Lachen erfüllt hatte. Jetzt
-war sie in der Hauptstadt, wo ihr Mann als Anerkennung
-und als Entschädigung für das Kerkerjahr die verantwortliche
-Leitung der Freien Blätter erhalten hatte, und nichts
-war von ihr zurückgeblieben, als ein paar eingerahmte
-Bilder an den Wänden und ein paar vergessene Bänder
-und Maschen in den Schrankfächern.</p>
-
-<p>Kolben hatte den jungen Eheleuten den ersten Stock
-seines Familienhauses vermietet. Alle Zimmer ließ er neu
-tapezieren, die Parketten ausbessern, die Küche malen, und
-ins Badezimmer kam ein Gasofen. So war alles neu
-und schön und hell, ein funkelblankes Nest der Häuslichkeit
-und des jungen Eheglücks.</p>
-
-<p>Und sie waren glücklich. Ein wackerer Kamerad, ging
-Eva vom ersten Tage an neben ihrem Manne, heiter,
-blühend, mit sonnigen Augen und verstehendem Herzen.
-Nicht eine Sekunde empfand er, daß mit ihr etwas Fremdes
-und bisher Ungewohntes in sein Leben gekommen.
-Selbstverständlich wie ihre Verlobung, war auch ihr Zusammenleben,
-schlicht, einfach und natürlich, ein Ehefrühling,
-wie er zur Zeit der Schneeschmelze und der ersten
-Weidenkätzchen ernst und keusch und mit frommer Weihe
-die Erde überkommt, wenn jeder Baum mit tausend Knospen
-betet und die unschuldigen Saaten sich im hellsten
-Sonnenglanz dem Mutterschoß der Scholle entringen. Nie
-war ein falscher Ton, ein gemachtes Empfinden zwischen
-ihnen. Sie gaben sich und nahmen einander, wie sie waren,
-ehrlich und herzlich schritten sie Seite an Seite, wußten,
-was sie aneinander hatten und brauchten es sich nicht erst
-zu sagen. Ein warmer Blick, ein Kuß war alles, was
-ihre vornehm zurückhaltenden Naturen an Zärtlichkeit zu
-verschwenden hatten. Und es genügte ihnen. Eva war
-fröhlichen, kindlichen Sinns und hatte nichts von dem
-tief bohrenden, grüblerischen Wesen ihres Mannes. Aber
-sie fühlte mit dem Herzen, wo ihr Geist nicht fassen
-konnte und hatte jene Einfalt des Gemütes, die das Echte
-herausspürt und das Erkünstelte zurückstößt, ohne für die
-Zuneigung hier und den Widerwillen dort einen Grund
-angeben zu können. So ergänzte sie ihren Gatten aufs beste
-und nahm in gleicher Weise von seinem Ernst wie er von
-ihrem Frohsinn an.</p>
-
-<p>Nach den ersten Wochen besuchte Kolben das junge
-Paar fast täglich. Als Backfisch hatte Eva den unerschütterlich
-gelassenen Menschen nicht ausstehen können. Jetzt
-wurde er ihr bald sympathisch. Er war ihr überall behilflich,
-wußte vorteilhafte Einkaufsquellen anzugeben,
-wurde ihr Berater in allen den kleinen Sorgen des Haushalts,
-für die Fritz durchaus kein Verständnis aufbringen
-konnte. Ihm war es als Junggesellen ganz gleichgültig
-gewesen, ob ein Anzug hundert oder zweihundert Kronen
-kostete, wenn er nur halbwegs paßte. Und wenn er faltig
-wurde, gab er ihn einem Schneider zum Aufbügeln, und
-mochte dessen Forderung noch so unverschämt sein, er bezahlte
-sie und war deshalb ein geschätzter Kunde. Das
-wurde jetzt anders. Denn Eva war sparsam und verstand
-zu rechnen. Sie wollte niemanden übervorteilen, aber auch
-selbst nicht übervorteilt werden, ließ jedem genau das zukommen,
-was ihm gebührte, keinen Heller mehr noch
-weniger, und buchte Einnahmen und Ausgaben. Und wenn
-dann der Schuster für ein paar Stiefelsohlen drei Kronen
-fünfzig verlangte, sagte sie und zeigte es ihm schwarz auf
-weiß: &#8222;Vor vier Monaten hat das nur drei Kronen zehn
-gemacht, wenn Sie teurer werden wollen, kann ich bei
-Ihnen nicht mehr arbeiten lassen!&#8220;, worauf der Handwerker
-zwar von unerschwinglichen Lederpreisen und Teuerung
-zu reden anfing, gewöhnlich aber doch seine Forderung
-auf das frühere Maß einschränkte. So hatte sie ihre
-liebe Not und freute sich, daß Kolben da war, mit dem
-sie darüber reden und sich beraten konnte.</p>
-
-<p>Fritz aber steckte wieder bis überm Hals in der Arbeit.
-Während der zweijährigen Unterbrechung war ihm manches
-fremd geworden, die Zusammenhänge mußten wieder gefunden,
-das Versäumte mußte nachgeholt werden. Dazu
-kam das Lesen der Bürstenabzüge seines zweibändigen Werkes,
-das demnächst erscheinen sollte. Und als es erschien,
-aus der Zeit heraus entstanden, sachlich und frei von einseitiger
-Parteilichkeit, als es von der Kritik mit lautem
-Beifall begrüßt wurde und fast alle Blätter ohne Unterschied
-günstige Besprechungen brachten, einige wohl auch
-im Überschwang den Anbruch einer neuen Epoche der Volkswirtschaftslehre
-verkündeten, als das alles eintrat, da kam
-Hellwig erst recht nicht zur Ruhe.</p>
-
-<p>Sein Buch wurde rasch von der Mode den &#8218;allgemeinen
-Bildungsnotwendigkeiten&#8216; beigezählt. Wer in Zeitfragen
-mitreden wollte, mußte es gelesen haben. Man sprach überall
-davon, lud den Verfasser zu Teeabenden und Gesellschaften,
-die verschiedenen Vereine, Zirkel und Klube zur
-Verbreitung wirtschaftlicher Kenntnisse, Kultur, Wissenschaft
-oder Bildung forderten ihn zu Vorträgen auf, Zeitungen
-und Zeitschriften baten ihn um Beiträge.</p>
-
-<p>Anfangs war ihm das lästig, später gewöhnte er sich
-daran. Von den Einladungen machte er keinen Gebrauch,
-Vorträge hielt er selten, Abhandlungen schrieb er nach wie
-vor über Dinge, die ihm ans Herz griffen, und niemals
-auf Bestellung.</p>
-
-<p>Als sie merkten, daß er nicht mit ihnen heulen wollte,
-wurden sie kühler, setzten sein Buch von der Liste der
-Bildungsnotwendigkeiten wieder ab und ließen ihn in Ruhe.</p>
-
-<p>In der Partei aber machte sich allmählich eine Strömung
-gegen ihn immer bemerkbarer. Erregt und in Bewegung
-gehalten wurde sie von dem ehrgeizigen Leibinger,
-der auf den Posten des verantwortlichen Schriftleiters gehofft
-hatte und sich nun von einem jüngeren verdrängt
-sah. Er war Mitglied der Parteileitung und hatte sich
-unentbehrlich zu machen verstanden durch eine Art widerlicher
-Zuvorkommenheit und händereibender Salbung, mit
-der er sich zu den unangenehmsten Aufgaben drängte.
-Niemand mochte den schmalbrüstigen Menschen so recht
-leiden, der mit eingeknickten Knien immer leise ging, aber
-man duldete und ertrug sein unsympathisches Wesen, weil
-er brauchbar war, erfinderisch und gleich gut geübt im
-jähen Überrumpeln, wie im langsamen Erdrosseln der
-Gegner.</p>
-
-<p>Jetzt benützte er den Anlaß, fand heraus und sagte es
-heimlich allen, daß viele Ansichten und Grundsätze in dem
-gepriesenen Werke Hellwigs eigentlich dem Parteiprogramm
-zuwider liefen, ja manchmal geradezu der heutigen
-Gesellschaftsordnung ein Loblied sangen. Und er hatte
-mit diesen Behauptungen um so eher Erfolg, als der Parteiobmann
-Anheim und alle, die mit ihm der Leitung angehörten,
-überzeugte Anhänger der Marxschen Lehre und
-geschworene Feinde aller Revisionisten waren.</p>
-
-<p>Offen wagte man sich vorerst freilich nicht an den
-verdienstvollen Mann heran. Aber zu fühlen bekam er
-es doch, daß man mit seinem Wirken nicht mehr ganz
-einverstanden war. Man schob ihn beiseite, wo es nur
-halbwegs anging, faßte Beschlüsse, ohne ihn um seine
-Ansicht zu fragen, und verschwieg ihm manches, was der
-verantwortliche Schriftleiter als erster hätte wissen müssen.
-Anfangs achtete er nicht darauf. Aber als es sich öfter
-wiederholte, als er sogar in seinem eigenen Blatt bloßgestellt
-wurde, fiel es ihm auf. Er wurde stutzig, führte
-Beschwerde, forschte nach dem Grund. Man gab ausweichende
-Antworten, entschuldigte sich wohl auch mit einem
-Versehen. Aber beim nächsten Anlaß machte man es ihm
-wieder so. Kolben wollte ihm die Augen öffnen. Fritz
-hörte nicht auf ihn. Er schrieb das geänderte Verhalten
-der Genossen einer flüchtigen Verstimmung zu und ließ
-sich die schöne Zuversicht nicht rauben, daß alles bald
-wieder seinen rechten Gang gehen werde.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>8.</h3>
-</div>
-
-<p>Da wurde der Reichsrat aufgelöst, weil er der Regierung
-nicht zu Willen war. Neuwahlen wurden angeordnet.
-Die nordböhmischen Bergarbeiter wandten sich an
-Hellwig, daß er in ihrem Wahlkreis kandidiere. Pflichtgemäß
-fragte er die Parteileitung um ihre Meinung. Die
-sagte weder ja noch nein, vertröstete ihn auf später.</p>
-
-<p>Und nun begann der aufreibende Wahlkampf mit seiner
-rastlosen Agitation und den ungezählten Versammlungen
-in allen Bezirken. Und während Hellwig von Versammlung
-zu Versammlung fuhr, an einem Tage oft in drei,
-vier Sälen sprach, dabei die Freien Blätter leitete und,
-ein immer wacher Kämpfer, die Machenschaften der Gegner
-aufdeckte, durchquerte und vereitelte, waren in seiner eigenen
-Partei Leute an der Arbeit, die seine Stellung zu
-untergraben und seinen Einfluß zu brechen sich redlich
-bemühten. Er war ihnen zu bekannt, zu berühmt, zu
-volkstümlich geworden. Sie fürchteten, daß er ihnen über
-den Kopf wachsen, daß er sie verdrängen und die Führerschaft
-ganz an sich reißen könnte. Er dachte nicht daran.
-Ihm ging es um die Sache, die er für gut hielt und
-mit dem Einsatz aller Kräfte fördern wollte. Sie aber
-erwogen alle Möglichkeiten, bangten für ihre Ämtlein und
-fürchteten und beneideten und haßten ihn heimlich sehr.
-Die Massen jubelten ihm zu, ihre erkorenen Führer aber
-saßen in geheimen Konventikeln beisammen und rieten
-hin und meinten her, wie sie dem beliebten Mann Schlingen
-legen und ihn unauffällig zu Fall bringen könnten. Und
-wenige gab es unter diesen Ratern und Meinern, die
-frei und unparteiisch urteilten. Er hatte aber auch fast
-jeden schon einmal vor den Kopf gestoßen, weil er nie
-mit seiner Meinung hinterm Berg hielt, sondern sie immer
-klipp und klar und rücksichtslos heraussagte. Das trugen
-sie ihm nach und schmollten und grollten und nannten
-ihn grob, unduldsam, hochfahrend. Und sahen doch ruhig
-zu, wie er den Hauptteil der Wahlarbeit für sie tat. Mochte
-er sich plagen und abrackern, das kam der Partei zugute
-und im richtigen Augenblick wollten sie schon auf dem
-Posten sein.</p>
-
-<p>Aber auch Kolben wachte und war sehr beschäftigt. Bedachtsam,
-ohne Übereilung, wie ein schlauer Kundschafter,
-sondierte er und horchte herum, und als er genug erfahren
-hatte, machte er sich auf und fuhr in das nordböhmische
-Kohlengebiet. Denn von dort kamen beunruhigende
-Nachrichten. Gerüchte von einem neuerlichen
-Streik waren in den letzten Jahren mehrmals laut geworden.
-Jetzt aber erhielten sie sich hartnäckig, nahmen
-bestimmtere Formen an und wollten nicht wieder verstummen.</p>
-
-<p>Das Ziel seiner Reise verriet der Doktor nicht, er brauchte
-auch von niemandem Abschied oder Urlaub zu nehmen.
-Er war ganz unabhängig und hatte sich in der Leitung
-der Kunstnachrichten, die er den Freien Blättern ohne Entgelt
-besorgte, vollständige Freiheit ausbedungen. Nur Eva
-mußte es wissen, weil sie gewohnt war, ihn täglich zu
-sehen, mit ihm Einkäufe besorgte oder spazierenging. Er
-war ihr einziger Bekannter in der großen Stadt, und
-wenn sie ihn nicht gehabt hätte, wäre sie den größten Teil
-des Tages ganz einsam gewesen. Denn ihren Mann bekam
-sie jetzt fast gar nicht zu Gesicht, er kam spät nachts
-heim, müde und abgehetzt, aber mit der ersten Sonne
-war er schon wieder auf den Beinen, sah hastig die Morgenblätter
-durch und konnte das Frühstück kaum erwarten.
-Und wenn sie es brachte, aß er hastig und verabschiedete
-sich zerstreut und fahrig, lief manchmal auch, die bevorstehenden
-Arbeiten überdenkend, überhaupt ohne Gruß
-davon.</p>
-
-<p>Sie fand sich auch damit ab, hoffte geduldig auf die
-Wiederkehr ruhigerer Zeiten und blieb heiter und zufrieden.
-Wenn sie mit den häuslichen Arbeiten fertig war, &mdash;
-viel zu tun gab es nicht, weil Fritz, um keine Zeit zu
-verlieren, jetzt auch das Mittagessen in der Stadt nahm &mdash;,
-spielte oder sang sie sich ein Lied, ging in den Garten,
-pflegte ihre fünf Rosenstämmlein, nähte oder lag lesend
-oder träumend in der Hängematte unter den dunklen Kastanienwipfeln
-und freute sich auf das Erscheinen Kolbens
-und auf das Ende ihrer Einsamkeit. Sogar übermütig
-konnte sie dann werden. Der Übermut lag ihr nun einmal
-im Blut und ließ sich auch von ihrer jungen Frauenwürde
-nicht unterkriegen. Um den Doktor zu necken, versteckte
-sie sich vor ihm ganz tief in die Fliederhecken oder in die
-dichten Jasminbüsche, daß auch nicht ein Zipfelchen ihres
-Kleides, kein Schimmerchen ihres Blondhaars sichtbar war.
-Zusammengekauert hockte sie in ihren grünen Schlupfwinkeln
-und rief &#8222;Herr Doktor!&#8220; und wenn er sie nicht
-gleich fand, war sie froh wie ein Schulkind und lachte
-ausgelassen.</p>
-
-<p>Als er ihr seine Abreise melden wollte, lag sie in der
-Hängematte. Sie erblickte ihn von weitem, wie er langsam,
-in seiner gemessenen Art, den gelben Kiesweg heranschritt,
-machte die Augen fest zu und stellte sich schlafend.
-Aber manchmal blinzelte sie doch blitzrasch zwischen kaum
-geöffneten Lidern nach ihm hin und sah, wie er näher
-kam und zauderte und stillstand, unschlüssig, ob er sie
-wecken sollte. Sie hielt sich ruhig, veränderte keine Miene
-und atmete gleichmäßig fort. Da wagte er es, tat vorsichtig
-einen Schritt vorwärts und noch einen. Jetzt fühlte
-sie, daß er ganz nahe sein mußte, hörte das Knistern
-seiner Kleider &mdash; und wie sie, zu fröhlichem Lachen bereit,
-die Lider voll aufschlug, da war sein ernstes Gesicht dicht
-über dem ihren &mdash; sie bemerkte ein paar winzige Puderstäubchen
-im bläulichen Anflug der eben erst rasierten
-Wangen &mdash; und von seinen Augen waren alle Schleier
-gefallen. Ein warmer Glanz war in ihnen und das innige
-Leuchten einer großen Liebe. Nur eine Sekunde war das
-so. Dann erlosch alles wieder, der Doktor stand in lässiger
-Haltung, wie immer, vor ihr und gleichmütig wie
-immer fragte er, ob er störe.</p>
-
-<p>Sie aber war ganz aufgeregt, sprang aus dem Netzgeflecht
-und in der ersten Ratlosigkeit einer ihr neuen
-Erkenntnis sagte sie mit überquellendem Empfinden: &#8222;Sie
-armer Doktor!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Warum?&#8220; antwortete er ihr in seinem gemütlichsten,
-freundschaftlichsten Ton. Doch sie dachte nur an das Geschaute,
-hatte erkannt, daß er ihretwegen litt, vielleicht
-seit Jahren leiden mußte, und um ihm nur irgend etwas
-Liebes zu tun, legte sie mit einem hindrängenden Schritt
-beide Hände auf seine Schulter. &#8222;Armer Doktor!&#8220; sagte
-sie nochmals. Da wußte er, daß sie alles gesehen hatte,
-wurde ein klein wenig blässer und richtete sich straff auf.
-&#8222;Ich brauche Ihr Mitleid nicht, gnädige Frau!&#8220; sagte
-er schroff.</p>
-
-<p>Nun war sie ihrer Unüberlegtheit erst inne, errötete
-noch mehr, und die Tränen sprangen ihr hell von den
-Wimpern. &#8222;O Gott!&#8220; rief sie bestürzt. &#8222;Hab&#8217; ich Sie
-gekränkt? Das wollte ich nicht! Ich schätze Sie ja so!
-Ich kenne keinen Menschen nach Fritz, den ich lieber hätte!
-Sie dürfen mir nicht bös sein! Sie sind mir nicht böse,
-nicht wahr, nein?&#8220;</p>
-
-<p>Kolben war schon wieder der Alte. &#8222;Sie sind ein rechtes
-Kind, Frau Eva!&#8220; erwiderte er mit seinem spöttischen
-Lächeln. &#8222;Wie kann man nur am hellichten Tag so närrisch
-träumen! Lassen Sie&#8217;s gut sein, mir geht&#8217;s so kannibalisch
-wohl, daß ich jedem ein derart ausgezeichnetes
-Wohlbefinden wünschen kann. Ich bin Herr meiner Zeit,
-kann mir&#8217;s einrichten, wie ich will und Vergnügungsreisen
-machen, wann ich will. Was ich beispielsweise noch
-heute zu tun gedenke.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Sie wollen fort?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Jawohl, in drei Stunden geht mein Zug. Um Ihnen
-das mitzuteilen, bin ich eigentlich herunter gekommen. Mindestens
-vier Tage werde ich fortbleiben. Es ist mir erschrecklich
-leid, daß ich den Stoff zu Ihrem Herbstkleid
-nicht mit aussuchen kann. Denn wie ich die edle Weiblichkeit
-kenne, duldet so was keinen Aufschub.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Doktor!&#8220; rief Eva zornig. &#8222;Sie sind heute abscheulich!&#8220;</p>
-
-<p>Er verneigte sich leicht. &#8222;Das freut mich, Frau Eva,
-das freut mich sehr! Weil ich nunmehr ganz beruhigt
-abreisen kann, mit dem erhebenden Bewußtsein, daß meine
-verehrte Gönnerin froh sein wird, von meiner abscheulichen
-Gegenwart wenigstens auf kurze Zeit verschont zu bleiben.&#8220;</p>
-
-<p>So sprach er und sprach noch manches in derselben
-Tonart, so daß Eva schließlich an sich selbst ganz irr wurde
-und nicht mehr wußte, ob sie in der schaukelnden Hängematte
-unter den dunklen Kastanienwipfeln nicht doch vielleicht
-geträumt und einen Traum für Wirklichkeit genommen
-hatte.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>9.</h3>
-</div>
-
-<p>Als Kolben sich zu seiner Reise entschlossen hatte, war
-Leibinger aus den Kohlendistrikten gerade wieder in die
-Hauptstadt zurückgekehrt. Tags darauf erschien eine Abordnung
-der Bergleute bei der Parteileitung. Sie erklärte,
-daß man zur sofortigen Arbeitseinstellung fest entschlossen
-sei und fragte an, ob man mit Unterstützungen aus der
-Streikkasse werde rechnen können. Fritz sprach sich entschieden
-gegen alles aus. Anheim, Leibinger und die übrigen
-aber brauchten Ausflüchte, wollten in Hellwigs Gegenwart
-nicht Farbe bekennen, und schließlich gab Leibinger
-den Leuten einen Wink, sie möchten später noch einmal
-vorsprechen. Und sie verstanden das und entfernten sich.
-Als sie fort waren, sprach Hellwig noch eine halbe Stunde
-lang sehr eindringlich über alle Hindernisse, die dem Streik
-gerade jetzt, knapp vor den Wahlen, im Wege standen.
-Man hörte ihn schweigend an, nickte manchmal oder schüttelte
-die Köpfe, wie er so seine Gründe an allen zehn
-Fingern herzählte, aber kein Wort fiel dafür oder dawider.
-Man müsse sich das noch reiflich überlegen, war schließlich
-alles, was Anheim mit Räuspern und Hüsteln vorbrachte.
-Dann mußte Hellwig in eine Wählerversammlung
-der Gegner und hinterher noch in zwei der eigenen
-Partei, und jetzt erst, als sie sich vor ihm sicher wußten,
-tauten Leibinger und Mark auf, wurden lebhaft und hatten
-mit den wieder erschienenen Bergleuten eine lange Besprechung.</p>
-
-<p>Den übernächsten Tag kam Kolben am frühen Morgen
-zu Fritz, der noch in Hemdärmeln mit Kamm und Bürste
-hantierte. Der Doktor war die ganze Nacht gefahren und
-sah verstaubt und abgespannt aus.</p>
-
-<p>&#8222;Was bringst du so zeitig, Albert?&#8220; fragte Fritz ein
-wenig erstaunt.</p>
-
-<p>&#8222;Nur meine Neugier!&#8220; antwortete Kolben und ging
-ohne Umschweife auf sein Ziel los. &#8222;Ich hab&#8217; nämlich
-gehört, daß der Streik beschlossene Sache sein soll.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Da hast du dich gründlich verhört!&#8220; lachte Hellwig.
-&#8222;Im Gegenteil, es ist so gut wie sicher, daß jetzt nicht
-gestreikt wird.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;So, so ... Weißt du, ich komm&#8217; gerade von den
-Schächten ... Es ist eine Abordnung dagewesen, das
-weißt du ja ... nun, und die ist gestern heimgekommen
-mit der Meldung, daß es am Montag, also in vier Tagen,
-losgehen kann ...&#8220;</p>
-
-<p>Dröhnend schmetterte Hellwigs Faust auf den Tisch.
-&#8222;Das ist nicht möglich!&#8220; schrie er.</p>
-
-<p>Kolben zuckte die Achseln. &#8222;Ist aber trotzdem so. Ich
-sag&#8217; dir, gejubelt haben sie über die Nachricht. Mich haben
-sie ausgelacht. Zwei Agitatoren sind gleich mitgekommen.
-Leibinger will morgen hin ...&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Das ist nicht möglich!&#8220; sagte Fritz nochmals und
-war ganz blaß.</p>
-
-<p>&#8222;Wenn du mir nicht glaubst, &mdash; im Verbandsheim
-wirst du&#8217;s ja erfahren.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ja &mdash; ich werde es erfahren ...&#8220; murmelte Fritz
-mit aufeinander liegenden Zähnen. Dann reckte er sich
-hoch. &#8222;Ich geh&#8217; gleich hin! Kommst du mit?&#8220;</p>
-
-<p>Sie gingen. Im Beratungszimmer fanden sie Leibinger,
-Mark und den Obmann Anheim. Das war ein hagerer
-Greis mit einem mächtigen kahlen Schädeldach und buschigen
-Brauen über zwei herrischen Augen. Mit fester
-Hand hielt er die Zügel, war unbestechlich, ehrlich und
-treu, aber kannte auch kein Nachgeben. Was er sagte,
-stand wie ein Block, an dem nicht gerüttelt werden durfte,
-und alle fügten sich ihm. Auch Mark, der seichte Schwätzer,
-der gewaltig war im Schimpfen und im Aufpulvern der
-Massen. Wie ein Kutscher sah er aus mit seinen ganz
-kleinen Augen, der engen Stirn und dem pechschwarzen
-Haar, das reichlichste Pomade nicht geschmeidig machen
-konnte.</p>
-
-<p>&#8222;Also, da seid ihr ja beisammen!&#8220; begann Hellwig
-mit fliegendem Atem und sprang ohne Umschweife mitten
-in die Sache hinein. &#8222;Ihr habt hinter meinem Rücken
-den Streik beschlossen? Das gibt&#8217;s nicht! Das dulde ich
-einfach nicht!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Oho!&#8220; sagte Anheim.</p>
-
-<p>&#8222;Jetzt ist&#8217;s zu spät!&#8220; ließ sich Mark vernehmen. Und
-Leibinger lachte spöttisch: &#8222;Ich denke, du hast hier weder
-was zu dulden, noch zu befehlen!&#8220;</p>
-
-<p>Kolben rückte sich ein wenig auf seinem Stuhl zurecht.
-&#8222;So kommen wir nicht vom Fleck!&#8220; meinte er. &#8222;Fangen
-wir schön von vorn an. Warum soll denn eigentlich gestreikt
-werden?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Sehr richtig, das möchte ich auch wissen!&#8220; platzte
-Mark heraus. Leibinger aber fiel ihm sofort ins Wort:
-&#8222;Der Grund ist doch schon längst bekannt. Die vereinbarte
-Arbeitszeit soll vom Zeitpunkt des Einsteigens in
-die Förderschale bis zum Zeitpunkt des Aussteigens gerechnet
-werden. Nicht, wie die Kohlenbarone rechnen, von
-der Ankunft bei der Arbeitsstelle im Schacht bis zum
-Niederlegen des Werkzeugs dortselbst. Denn um zur
-Arbeitsstelle zu gelangen, müssen die Leute oft stundenlang
-im Stollen gehn, so daß sie elf und noch mehr Stunden
-unter der Erde sind, statt der vereinbarten neun.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ja, aber da haben die Leute doch ganz recht, wenn sie
-sich das nicht gefallen lassen!&#8220; bekräftigte jetzt Mark und
-tat sehr entrüstet.</p>
-
-<p>Hellwig sagte darauf: &#8222;Die Forderung ist berechtigt,
-gewiß! Das habe ich schon hundertmal gesagt! Aber ebenso
-oft hab&#8217; ich euch vorgehalten, daß es jetzt einfach unmöglich
-ist, sie mit Gewalt durchzusetzen. Die Leute haben
-sich kaum vom letzten Ausstand erholt. Sommer ist auch.
-Die Lieferungen sind nicht dringend, die Grubenbesitzer
-können zuwarten, haben Zeit, haben die öffentliche Meinung
-für sich, da die Ursache des Streiks zu geringfügig,
-zu mutwillig erscheint. Und wir haben jetzt auch
-die Mittel nicht, sie wirksam zu unterstützen. Auf den
-Schiffswerften streiken achttausend. Wo sollen wir&#8217;s denn
-hernehmen? Fragt Kolben! &mdash; Wie viel hast du in der
-Streikkasse!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Warte!&#8220; erwiderte dieser und rechnete leise vor sich
-hin. &#8222;Zwanzigtausendsechshundertzwei Kronen vierzehn &mdash;
-zuletzt sind siebzehn Kronen acht dazu gekommen: &mdash;
-Zwanzigtausendsechshundertneunzehn Kronen zweiundzwanzig
-Heller!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Da habt ihr&#8217;s! Das reicht kaum vier Tage!&#8220;</p>
-
-<p>Leibinger unterbrach ihn schnell: &#8222;Es ist weitaus genug,
-wenn man die Spenden hinzurechnet. Und gar so lang
-kann&#8217;s nicht dauern!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Leibinger, nimm doch Vernunft an!&#8220; rief Hellwig.</p>
-
-<p>&#8222;Das möcht&#8217; ich <em class="gesperrt">dir</em> raten! Wir <em class="gesperrt">müssen</em> Erfolg haben!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Auch ich wäre für den Versuch!&#8220; bemerkte Anheim.
-&#8222;Im Notfall kann die Arbeit jeden Tag wieder aufgenommen
-werden.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Und soundsoviel Lohntage sind beim Teufel!&#8220; sagte
-Fritz grimmig. Da glaubte Mark ein kräftiges Beweismittel
-gefunden zu haben.</p>
-
-<p>&#8222;Die Wahlen stehen vor der Tür!&#8220; rief er laut. &#8222;Hat
-der Streik Erfolg, sind wir unüberwindlich!&#8220;</p>
-
-<p>Kolben griff das unüberlegte Geständnis sogleich auf.
-&#8222;Ich danke Ihnen für das erlösende Wort, Herr Mark!
-Ja, Fritz! Die Wahlen stehen vor der Tür, und Leibinger
-will Abgeordneter werden.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Wer sagt das?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich, Herr Leibinger! Glauben Sie, ich weiß nicht,
-daß Fritz Hellwig Ihrem Ehrgeiz im Wege ist? Daß
-Sie gern an seiner Stelle Schriftleiter sein möchten? Und
-ihm das Abgeordnetenmandat neiden, obwohl er&#8217;s noch
-nicht hat?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Nicht weiter, Albert!&#8220; unterbrach ihn Hellwig unwillig.
-&#8222;Das gehört nicht her!&#8220;</p>
-
-<p>Und Leibinger, kühn gemacht, schrie: &#8222;Verleumdung!&#8220;</p>
-
-<p>Kolben aber sprach unbeirrt fort, mit seinem leicht ironischen
-Lächeln, mit seiner großen Ruhe und sehr sarkastisch:</p>
-
-<p>&#8222;O gewiß gehört das her! Es war kein Zufall, daß
-ich ins Kohlengebiet gereist bin, gleich nachdem Herr Leibinger
-von dort zurück war. Ganz und gar kein Zufall
-war das. Und da hab&#8217; ich so manches gehört, mein lieber
-Fritz. Das, was ich eben von ihm behauptet habe, hat
-Herr Leibinger den Leuten nämlich über dich gesagt, wenn
-auch vielleicht nicht mit so feinen Worten. Du, Fritz,
-seist der Streber, der Mandatsjäger, der unverläßliche
-Mitläufer, der alles zu seinem Vorteil nützt und so weiter.
-Und als Beweis soll dienen: Du werdest gegen den Streik
-sein, denn du spielst mit den Grubenbesitzern unter einer
-Decke. Jemand hat mir sogar anvertraut, im Rausch
-natürlich, du seist von ihnen bestochen.&#8220;</p>
-
-<p>Fritz stand da, hatte die Fäuste geballt und starrte mit
-weiten Augen den Sprecher an.</p>
-
-<p>&#8222;Ist &mdash; das &mdash; wahr?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich hörte es so!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich verwahre mich gegen eine solche Infamie!&#8220; rief
-Leibinger. Der Doktor beachtete ihn nicht.</p>
-
-<p>&#8222;Wenn ich nach dem Ursprung dieser Gerüchte fragte,&#8220;
-fuhr er trocken fort, &#8222;hat&#8217;s immer geheißen, die Gegenpartei
-behauptet es. Aber einer, der mir sehr zugetan
-ist und für dessen Verläßlichkeit ich jede Bürgschaft übernehme,
-hat es im Interesse der Partei bitter beklagt, daß
-&mdash; Herr Leibinger solche Sachen in Umlauf setze.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Nennen Sie den Namen!&#8220; rief Leibinger. Und Mark
-unterstützte ihn mächtig: &#8222;Namen nennen! Namen nennen!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Sparen Sie sich den Atem, meine Herrn!&#8220; erwiderte
-Kolben und spielte mit seiner Uhrkette. &#8222;Den Namen
-geb&#8217; ich Ihnen nicht preis!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Aha!&#8220; frohlockte Leibinger. &#8222;Dergleichen kennt man!
-Alles ist erstunken und erlogen!&#8220;</p>
-
-<p>Kolben lehnte sich faul zurück: &#8222;Ich pflege zwar sonst
-nicht zu lügen, aber wenn Herr Leibinger es sagt ...&#8220;</p>
-
-<p>Fritz aber trat mit schweren Schritten hart vor diesen
-hin, der aufgesprungen war und sich vergebens mühte,
-den unschuldig Gekränkten zu spielen. Mit seinem hellen
-Blick schaute ihm Hellwig ins Gesicht und sprach leise,
-mit erzwungener Ruhe: &#8222;Also &mdash; deswegen! Damit du
-&mdash; deine eigenen Ziele &mdash; erreichst, sollen Zehntausende
-&mdash; sollen sie tage- &mdash; vielleicht wochen- und monatelang
-&mdash; hungern. Höre, Leibinger, ich bin&#8220; &mdash; er tat einen tiefen
-Atemzug und seine Stimme war spröd wie splitterndes
-Glas &mdash; &#8222;ich bin nicht gewohnt, &mdash; mit Lumpen dieselbe
-Luft zu atmen!&#8220;</p>
-
-<p>Leibinger lachte schrill auf und schrie: &#8222;Ich bin hier
-genau so viel wie du! Übrigens &mdash; mit Beleidigungen
-wirst du dich nicht rechtfertigen! Eher bestärkst du unsere
-Gegner in dem Verdacht, daß doch was Wahres an der
-Geschichte ist!&#8220;</p>
-
-<p>Anheim hielt sich für verpflichtet, einzuschreiten.</p>
-
-<p>&#8222;Hellwig, das geht zu weit!&#8220; mahnte er. Und Mark
-sekundierte: &#8222;Wir sind keine Lausbuben!&#8220;</p>
-
-<p>Der Obmann fuhr fort: &#8222;Auf eine Anschuldigung, die
-sehr unwahrscheinlich klingt, &mdash; ich sage nichts gegen Herrn
-Doktor Kolben, er kann falsch berichtet worden sein, &mdash;
-auf eine vage Anschuldigung hin willst du den Stab über
-einen verdienten Genossen brechen? <span class="antiqua">Audiatur et altera
-pars!</span> Sei gerecht!&#8220;</p>
-
-<p>Und Mark sekundierte: &#8222;Wo sind die Beweise?&#8220;</p>
-
-<p>Da schäumte Fritz auf.</p>
-
-<p>&#8222;Der das gesagt hat,&#8220; rief er leidenschaftlich, &#8222;der
-wiegt mir hundert Zeugen auf!&#8220;</p>
-
-<p>Nun erhob sich der Obmann, räusperte sich und sprach,
-als redete er in einer Volksversammlung. &#8222;Ich muß,&#8220;
-sprach er, &#8222;mich im Namen der gesamten Partei, die zu
-führen ich die Ehre habe, auf das nachdrücklichste gegen
-ein solches Vorgehen verwahren. Wer bist du denn, Hellwig,
-daß du glaubst, mit uns wie mit Schuljungen umspringen
-zu können? Jedenfalls steht hier, wie ich schon
-betont habe, Behauptung gegen Behauptung und erst die
-einzuleitende strenge Untersuchung wird ergeben, auf wessen
-Seite das Recht ist!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Beweise! Wo sind die Beweise!&#8220; rief Mark.</p>
-
-<p>&#8222;Herr Mark!&#8220; sagte Kolben. &#8222;Wir sind nicht taub.
-Wozu beweisen, was schon längst nicht nur mir allein
-bekannt ist. Ihr wißt es ja alle recht gut und freut euch
-darüber, daß Leibinger für euch die Arbeit tut. Ihr wollt
-den Hellwig los sein. Er ist euch zu groß geworden, drum
-soll er ganz klein werden! So oder so!&#8220;</p>
-
-<p>Fritz stand ganz dicht vor den drei Männern.</p>
-
-<p>&#8222;Leute!&#8220; bat er mit gefalteten Händen. &#8222;Seid aufrichtig!
-Wenn ihr schon etwas gegen mich habt, so hetzt
-nicht heimlich in so gemeiner Weise gegen mich, daß die,
-denen ihr Führer und Berater sein sollt, das Bad aussaufen
-müssen, sondern habt den Mut, mir&#8217;s offen und
-ehrlich ins Gesicht hinein zu sagen!&#8220;</p>
-
-<p>Da sprach Anheim mit erhobener Stimme: &#8222;Hellwig,
-es ist durch nichts bewiesen, daß sich Leibinger in irgendeiner
-Weise unkorrekt benommen hat. Daran müssen wir
-festhalten. Daß du nunmehr auch uns in Bausch und
-Bogen verdächtigst, zeigt, wie falsch dein Standpunkt in
-dieser Angelegenheit ist. Deine Mitarbeiterschaft war uns
-stets wertvoll ...&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Das heißt, sie ist es gewesen!&#8220; erläuterte Mark.</p>
-
-<p>&#8222;Aber,&#8220; fuhr Anheim fort, &#8222;aber in letzter Zeit sind
-Dinge vorgefallen, die geeignet sind, dich und deine Stellung
-zu unserer Sache in einem schiefen Licht erscheinen
-zu lassen. Namentlich als dein Buch herausgekommen
-ist, das du auf den Markt geworfen hast, ohne uns zu
-fragen &mdash;&#8220;</p>
-
-<p>Da sagte Kolben mit unverhohlenem Spott: &#8222;Ich denke,
-die Herren sind entschiedene Gegner der Zensur!&#8220;</p>
-
-<p>Steif wehrte der Obmann den Ausfall ab: &#8222;Hier liegt
-der Fall doch anders! Ein Parteimitglied schreibt gegen
-die eigene Partei! So was ist noch nicht dagewesen!
-Ja, Hellwig, dein Werk kommt vielen von uns vor wie
-die Schriften der Jesuiten. Man kann das, was du sagst,
-so oder so deuten.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Wasch&#8217; mir den Pelz und mach&#8217; mich nicht naß!&#8220;
-nickte Mark eifrig.</p>
-
-<p>Jetzt tat der Doktor, was selten bei ihm vorkam, er
-lachte hell auf: &#8222;Klarer als Hellwig hat doch nicht so bald
-einer seine Ansichten niedergeschrieben!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Das dachten wir im Anfang auch. Als jedoch fast
-alle Gegner das Buch eines ihrer gefürchtetsten Widersacher
-zu loben anfingen &mdash; von <em class="gesperrt">dem</em> Lob fällt ein ganz
-eigentümlicher Widerschein auf die etwas krausen Wege
-des Verfassers. Das wäre der erste Punkt. Zweitens hast
-du, Hellwig, oft und oft scharfe Artikel erprobter Anhänger
-entweder gar nicht oder nur in sehr verwässerter Form
-in das Parteiblatt aufgenommen. Und sonderbarerweise
-waren das immer Artikel, die gewissen geld- oder einflußreichen
-Leuten auf die Finger klopfen sollten.&#8220;</p>
-
-<p>Fritz war einfach sprachlos. Er hatte die schöne Gepflogenheit,
-jeden Aufsatz, der die mangelnde Sachlichkeit
-durch Schmähungen zu verdecken suchte, dem Verfasser
-zurückzuschicken. Das war alles.</p>
-
-<p>Anheim setzte seine Anklage fort:</p>
-
-<p>&#8222;Drittens endlich widerrätst du auch den Streik, von
-dessen Notwendigkeit wir alle überzeugt sind. Kurz und
-gut: Ich halte es entschieden für einen Fehler, der scharfe
-Mißbilligung verdient, wenn sich Leibinger des von Herrn
-Doktor Kolben behaupteten, aber durch nichts bewiesenen
-Vorgehens gegen dich schuldig gemacht hat. Indes, nach
-dem Vorgesagten, hätte er &mdash; nach meiner Ansicht und
-nach der Ansicht vieler Parteimitglieder &mdash; gegen den
-Freund Otto Pichlers zwar in der Form, kaum aber in
-der Sache unrecht gehabt. Bedingungslos vertrauen können
-wir dir nicht mehr. Wir haben das übrigens in einer
-vertraulichen Sitzung schon früher festgestellt, und ich bin
-beauftragt, alle diese Dinge beim nächsten Reichsparteitag
-zur Sprache zu bringen. Wenn ich sie dir vorher mitteile,
-um dir die Rechtfertigung zu erleichtern, so erblicke darin
-einen Beweis, daß wir dich nur ungern verlieren würden.&#8220;</p>
-
-<p>Fritz war ganz farblos. Aber seine Augen funkelten wie
-Stahl in der Sonne.</p>
-
-<p>&#8222;Bist du &mdash; zu &mdash; Ende?&#8220; keuchte er und preßte die
-Faust gegen die Brust, um dem übermächtigen Pochen des
-Herzens Einhalt zu tun. Anheim bejahte mit einem stummen
-Neigen des kahlen Hauptes. Da warf er den Kopf
-zurück und gewaltsam die Erregung zerdrückend, sprach er
-erst stoßweise und unsicher, dann immer kälter und verächtlicher:</p>
-
-<p>&#8222;Der langen Rede kurzer Sinn ist: Ich &mdash; bin von
-den Geldmännern der bürgerlichen Parteien &mdash; bestochen
-&mdash; käuflich wie eine Marktware. Daß ich &mdash; euch nicht zu
-Gesicht stehe &mdash; wundert mich nicht. Aber &mdash; daß ihr
-so jämmerlich seid, daß ihr so erbärmlich niedrig denken
-könnt &mdash; macht das mit euch selber aus. Eins nur noch:
-Ich bin der festen Überzeugung, daß nur der Zufall drei
-solche Prachtexemplare in derselben Parteileitung zusammengeführt
-hat. Die Partei achte ich nach wie vor &mdash; aber
-betrachtet um euretwillen meinen Austritt mit dieser Sekunde
-als vollzogen ...&#8220;</p>
-
-<p>Anheim hatte sich wieder erhoben.</p>
-
-<p>&#8222;Wir werden Ihren Entschluß der Partei zur Kenntnis
-bringen,&#8220; sagte er förmlich.</p>
-
-<p>Und als Hellwig bereits die Klinke in der Hand hatte,
-rief ihm Mark noch schadenfroh nach: &#8222;Der Streik beginnt
-natürlich Montag!&#8220;</p>
-
-<p>Da wandte er sich und seine Augen lohten.</p>
-
-<p>&#8222;Der Streik beginnt <em class="gesperrt">nicht</em>!&#8220;</p>
-
-<p>Mark lachte höhnisch, und Leibinger tat jetzt wieder den
-Mund auf: &#8222;Setz&#8217; dich nur aufs hohe Roß, du dunkler
-Ehrenmann!&#8220; rief er. &#8222;Wir bringen dich schon herunter!&#8220;
-Aber Hellwig hatte bereits die Tür hinter sich zugemacht.</p>
-
-<p>Im Lesezimmer stand er wie betäubt. Kolben legte ihm
-die Hand auf den Arm: &#8222;Nun, Fritz?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Laß nur, Albert ... laß!&#8220;</p>
-
-<p>Den gläsernen Briefbeschwerer nahm er vom Tisch, hielt
-ihn gegen das Licht, sah hindurch und legte ihn aufs Fensterbrett.
-Er ließ das Gewebe der Stoffvorhänge durch seine
-Finger gleiten, als wollte er die Festigkeit der Fäden prüfen.
-Er öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus und schloß
-es dann gleich wieder.</p>
-
-<p>Immer heftiger arbeitete es in ihm. Und endlich sank
-er, der in seiner Vertrauensseligkeit Getäuschte, in seiner
-kinderklaren Arglosigkeit Betrogene, sank Fritz Hellwig
-schwer auf einen Stuhl und legte beide Hände vors Gesicht.</p>
-
-<p>&#8222;Das arme Volk!&#8220; stöhnte er zu tiefst aus der Brust
-heraus. &#8222;Das arme, arme Volk!&#8220;</p>
-
-<div class="section">
-<h3>10.</h3>
-</div>
-
-<p>Aber er blieb nicht untätig dem Schmerz hingegeben.
-Am selben Nachmittag noch reiste er in den Kohlenbezirk.
-Pfannschmidt, telegraphisch verständigt, erwartete ihn. Noch
-in der Nacht wurde ein Flugblatt fertig. Den nächsten
-Abend sollte eine Versammlung, am Sonntag aber ein
-Meeting unter freiem Himmel abgehalten werden. Der
-anbrechende Morgen fand Hellwig mitten unter den Bergleuten.
-Er fuhr von Schacht zu Schacht, verständigte die
-Knappschaften, verteilte die Flugblätter.</p>
-
-<p>Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht von
-seiner Anwesenheit. In hellen Haufen kamen sie abends
-in den Versammlungssaal. Dort hatten sich auch Anheim
-und Leibinger eingefunden.</p>
-
-<p>Von stürmischem Jubel begrüßt, trat Hellwig hinter
-den Rednertisch. Es dauerte Minuten, bevor er sich verständlich
-machen konnte. Dann aber wurde es lautlos
-still. Seine geschulte Rednerstimme war bis in den entferntesten
-Winkel des großen Raumes vernehmbar. Leibingers
-Anhang versuchte wohl anfangs durch Räuspern
-und Scharren den Redner zu stören. Aber Anheim winkte
-ab. Er hatte sich für das Zuwarten entschieden.</p>
-
-<p>Was Hellwig sagte, klang auch gar nicht aufreizend.
-Nüchtern und sachlich gab er seine Gründe gegen den Streik
-bekannt. Als sie merkten, wohinaus er wollte, begannen
-viele zu murren und dazwischen zu rufen. Denn sie hatten
-sich bereits mit dem Gedanken an den Ausstand vertraut
-gemacht.</p>
-
-<p>Da flammte er auf. Jedes Wort schlug ein. Und es
-währte nicht zehn Minuten, da waren sie wieder in seinem
-Bann. Aus den geröteten Gesichtern, die in gespannter
-Aufmerksamkeit ihm zugewendet waren, aus den glänzenden
-Augen, die jeden Satz von seinen Lippen vorwegzunehmen
-verlangten, las er die Wirkung, spürte er heraus,
-daß er wieder Fühlung mit ihnen hatte. Und als er sie
-jetzt zur Entscheidung aufforderte, da stimmten unter tosendem
-Beifall fast alle gegen den Streik.</p>
-
-<p>Im ersten Anlauf hatte er den Kampf bereits so gut
-wie gewonnen. Nach ihm hätte Leibinger zu Wort kommen
-sollen. Statt seiner stand Anheim auf. Ein starres Festhalten
-am Streik konnte der Partei nur schaden. Das sah
-der Obmann ein und gab seiner Meinung dahin Ausdruck,
-daß es wohl am besten sei, die Entscheidung den Arbeitern
-zu überlassen. Er konnte sich an den Fingern ausrechnen,
-wie die Entscheidung ausfallen mußte. Doch war der Rückzug
-geschickt in Szene gesetzt, das Ansehen der Partei
-brauchte nicht darunter zu leiden. Von Hellwigs Austritt
-erwähnte der Obmann nichts. Er hoffte, da auch Fritz
-geschwiegen, daß sich die leidige Geschichte vielleicht doch
-bis nach den Wahlen vertuschen oder irgendwie werde beilegen
-lassen.</p>
-
-<p>Dem Meeting am Sonntag aber schenkte Hellwig ganz
-reinen Wein ein. Schonungslos brachte er alles zur Sprache,
-was zum Bruch geführt hatte und forderte Leibinger auf,
-sich zu rechtfertigen. Der jedoch wagte es nicht. Denn
-unter den Versammelten waren viele, die seine Ausstreuungen
-mit eigenen Ohren gehört hatten und jetzt durch
-laute Zurufe bestätigten. Er überließ es Anheim, die verlorene
-Sache zu führen. Aber die Leute wollten auch den
-nicht hören. Sie tobten und schrien, schleuderten dem Obmann,
-der auf der Felsplatte stand, ihre Empörung ins
-Gesicht. Wer seine Stimme für Leibinger erheben wollte,
-wurde niedergebrüllt, mundtot gemacht, mit Püffen und
-Stößen herumgeschoben, bis er still war oder sich entfernte.</p>
-
-<p>Es hätte nur eines Winkes von Hellwig bedurft und
-die Mehrzahl wäre von der Partei abgefallen. Doch das
-wollte er nicht. Die Kräfte durften nicht zersplittert werden,
-unter dem Gegensatz zwischen einzelnen durfte die
-Gesamtheit nicht leiden. Deswegen beruhigte er die Aufgeregten.
-Man dürfe, sagte er, das Kind nicht mit dem
-Bad ausschütten, weil einer oder der andere sich unwürdig
-erwiesen habe, nicht die Partei verdammen. Es sei ihm
-nicht leicht geworden, den Kampf aufzunehmen. Aber rechtfertigen
-habe er sich gerade vor ihnen wollen und müssen.
-Und er habe es für seine Pflicht gehalten, sie nach Pichler
-vor Leibinger zu bewahren. Nicht gegen die Partei richte
-sich sein Angriff, denn die Partei sei rein, habe schon
-Großes erreicht und durch feste, lautere Eintracht werde
-sie alles erreichen. Schließlich riet er ihnen, einen bewährten
-Mann aus ihrer Mitte in den Reichsrat zu entsenden
-und schlug Karl Pfannschmidt vor. Sie aber verlangten
-ungestüm, daß er selbst sich bewerbe. Er weigerte
-sich. Denn dadurch wäre der Zwist erst recht entfacht
-worden. Solang die jetzige Leitung blieb, konnte er nicht
-mit der Partei gehen. Und gegen sie wollte er nicht gehen.
-Von der Uneinigkeit hätten nur die Gegner Nutzen gezogen.
-Und er sagte ihnen, daß er noch einmal zu ihnen
-kommen werde, wenn sie es forderten. Er wollte ihnen
-zu besonnener Überlegung Zeit lassen und den Ernst ihrer
-Gesinnung prüfen. Sie jubelten ihm zu, umdrängten und
-begleiteten ihn wie einen Triumphator in die Stadt. Dann
-reiste er ab.</p>
-
-<p>Und sie &mdash; riefen ihn nicht zurück.</p>
-
-<p>Kaum war er fort, setzte heimlich, aber um so gehässiger
-die Wühlarbeit gegen ihn ein. Seine Feinde waren durch
-den schnellen, mit gewaltigem Ungestüm geführten Angriff
-überrumpelt worden. Doch da er den Sieg nicht ausnützte,
-fanden sie Zeit, sich zu sammeln. Leibinger zeigte sich
-nicht mehr. Aber seine Kreaturen waren unermüdlich am
-Werke.</p>
-
-<p>Fortwährend und überall wurde jetzt von Hellwig gesprochen.
-Aber es war nur selten Gutes, was man sich
-von ihm zu erzählen hatte. Und nach manchem Für und
-Wider, nach halben Andeutungen und vielsagendem Schweigen
-kam man gewöhnlich überein, es sei eigentlich unerfindlich,
-worin sein Verdienst bestehen sollte. Er habe
-einfach Glück gehabt. Der große Erfolg von damals sei
-nicht auf seine Rechnung zu setzen; dazu habe die Katastrophe,
-die zur rechten Zeit hereinbrach, das meiste beigetragen.
-Die eigentlichen Kämpfer und Sieger seien jedoch
-die Arbeiter gewesen. Die allein haben darunter gelitten,
-dafür gehungert, die volle Schwere des Feldzuges am eigenen
-Leib verspürt. Hellwig habe eigentlich nur zugesehen
-und geredet. Jetzt aber nehme er die Lorbeeren ganz für
-sich in Anspruch, maße sich das Recht an, andere zu hofmeistern,
-zu beleidigen, als Spielball zu gebrauchen, seine
-Meinungen ihnen aufzuzwingen. Die Freiheit führe er
-zwar fortwährend im Munde, aber gleichzeitig übe er unerhörteste
-Zwangsherrschaft gegen alle, die ihm nicht unbedingte
-Gefolgschaft leisten, er habe ganz das Zeug zum
-Diktator. Dem müsse vorgebeugt werden. Das Volk müsse
-selbst über sich herrschen, dürfe nach niemandes, auch
-nicht nach Hellwigs Pfeife tanzen.</p>
-
-<p>So wurde geredet, und die bewegliche Menge, seinem
-persönlichen Einfluß entrückt, schenkte diesen Reden gern
-und willig Gehör. Und da Leibinger vorderhand doch nicht
-gut selbst als Wahlwerber auftreten konnte, war das Schlußergebnis,
-daß Pfannschmidt wieder als Bergmann arbeitete,
-August Mark zum Abgeordneten gewählt wurde und der
-Streik, der förmlich Hellwig zum Trotz doch noch versucht
-worden war, mit einem Mißerfolg endete.</p>
-
-<p>Der Bruch mit der Parteileitung war Hellwig nicht
-so nah gegangen als die Haltung der Bergarbeiter, kurz
-nachdem sie ihm zugejubelt und ihn wie einen Halbgott
-gefeiert hatten. Doch fand er auch hier Entschuldigungsgründe
-für ihren Wankelmut. Er war auf halbem Wege
-stehn geblieben, hatte den begonnenen Kampf nicht bis
-zu Ende geführt. Eine Hanswurstiade war das gewesen,
-die Leute hatte er verwirrt, ohne ihnen einen Weg aus
-dem Irrsal zu zeigen, und es war kein Wunder, wenn sie,
-von ihm im Stich gelassen, wieder jenen folgten, an deren
-Führerschaft sie nun einmal schon gewöhnt waren. Nachträglich
-hatte sein Ausscheiden aus der Partei zwar noch
-einigen Staub aufgewirbelt, wäre es fast zu einer Spaltung
-im geeinigten Lager gekommen. Da er aber nichts von sich
-hören ließ, sich ganz vergrub und verschollen blieb, legte
-sich die Aufregung, es wurde stiller, und man vergaß ihn
-allmählich.</p>
-
-<p>Und er wühlte sich immer tiefer in seine Arbeiten hinein,
-studierte, las und schrieb die Tage und die halben Nächte
-durch. Denn er war jetzt ausschließlich auf die unsicheren
-Einkünfte angewiesen, die er von den Zeitschriften für
-Beiträge gezahlt erhielt. Und da sparte er und knauserte
-und versagte sich sogar die gewohnten Zigarren, immer in
-Sorge, daß er einmal nicht genug verdienen und gezwungen
-sein könnte, die Mitgift seiner Frau anzugreifen.</p>
-
-<p>Und Eva sollte Mutter werden.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>11.</h3>
-</div>
-
-<p>Da ließ sich eines Tages Leo Reinholt bei ihm anmelden.
-Der besaß außer einem großen Vermögen im
-Ostwinkel des Reiches eine Tuchfabrik mit Spinnereien,
-Webereien, Färbereien und allem, was dazu gehörte. Die
-Wohnungen, die er dort seinen Bediensteten aufgebaut,
-waren musterhaft, und die Wohlfahrtseinrichtungen, die
-er sonst noch geschaffen, hatten seinerzeit viel von sich
-reden gemacht. Der also ließ sich eines Tages bei Hellwig
-anmelden.</p>
-
-<p>Fritz empfing ihn sehr zurückhaltend. &#8222;Was verschafft
-mir die Ehre?&#8220; fragte er steif und wies auf einen Stuhl
-neben dem Schreibtisch. &#8222;Wollen Sie Platz nehmen?&#8220;</p>
-
-<p>Ungezwungen kam der Fabrikant der Einladung nach.
-Er war beinahe ebenso groß, aber schmächtiger als Hellwig,
-hatte auffallend kleine Hände und blickte aus hellen braunen
-Augen treuherzig in die Welt. Im dunklen Haarschopf
-leuchtete das Weiß einer werdenden Glatze.</p>
-
-<p>&#8222;Haben Sie eine Viertelstunde Zeit für mich?&#8220; fragte
-er, indem er sich setzte.</p>
-
-<p>&#8222;Da müßte ich wohl zuvor wissen, um was es sich
-handelt.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Das läßt sich nicht so einfach sagen ... Sie sind
-gegenwärtig ohne feste Stellung?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Über meine Privatverhältnisse glaube ich Ihnen keine
-Rechenschaft schuldig zu sein.&#8220;</p>
-
-<p>Der andere lächelte leicht: &#8222;Gewiß nicht!&#8220; Und immer
-nur wie ganz beiläufig und nebenbei fuhr er fort: &#8222;Ja,
-also, wie soll ich Ihnen das auseinandersetzen? &mdash; Ich
-habe mich eingehend mit Ihrem Buch befaßt, sehr eingehend,
-ja. Und, also, die Vorschläge, die Sie machen, die
-scheinen mir durchführbar und, was die Hauptsache ist,
-rentabel. Ja, also &mdash; kurz und gut, ich beabsichtige meine
-Fabrik danach einzurichten und, ja &mdash; wenn Sie wollen &mdash;
-Sie könnten mir dabei helfen.&#8220;</p>
-
-<p>Fritz sprang auf. Mit einem jähen, ungestümen Satz.</p>
-
-<p>&#8222;Ist das Ihr Ernst?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Wäre ich sonst hier?&#8220; Der Fabrikant zündete sich eine
-Zigarre an. &#8222;Sie erlauben doch? &mdash; Darf ich vielleicht
-aufwarten?&#8220; Er hielt Hellwig die Ledertasche hin. Der
-beachtete es gar nicht. Mit langen Schritten lief er durchs
-Zimmer. Dann machte er wieder vor dem Besucher halt,
-schaute ihn zweifelnd an: &#8222;Ja &mdash; aber &mdash; wieso ...? Ich
-weiß nicht, was Sie veranlassen könnte ... Scherzen Sie
-denn wirklich nicht?&#8220;</p>
-
-<p>Reinholt blies den grauen Rauch in die Luft. &#8222;Warum
-wundert Sie das eigentlich? Ich sage ja, ich halte die
-Geschichte für rentabel. Für mich ist das ein Geschäft wie
-jedes andere, eine Spekulation meinetwegen, die glücken
-oder fehlschlagen kann. Das weiß ich vorläufig noch nicht.
-Glückt sie, ist&#8217;s gut. Wenn nicht, hab&#8217; ich mich eben verrechnet
-und muß die Folgen tragen.&#8220;</p>
-
-<p>Er sagte das alles im trockensten Geschäftston. Und
-doch war im Grunde seiner braven Augen etwas, das zu
-dieser kaufmännischen Sachlichkeit nicht stimmte. Etwas
-Warmes, nur gedämpft wie hinter Schleiern Leuchtendes,
-&mdash; Güte, die nicht erkannt sein wollte.</p>
-
-<p>Fritz hatte seine Wanderung durch das Zimmer wieder
-aufgenommen. Die Arme auf dem Rücken verschränkt,
-schritt er ruhlos auf und ab und schaute zur Decke, als
-ob er von dort etwas herablesen wollte. Dann wieder
-blieb er stehen, schüttelte den Kopf und bewegte die Lippen
-wie im Selbstgespräch. Reinholt beobachtete ihn eine gute
-Weile. Endlich rief er ihn an: &#8222;Herr Hellwig ...&#8220;</p>
-
-<p>Da schrak er aus seiner Versunkenheit auf: &#8222;Ja?&#8220;
-und schaute den Fabrikanten fremd an.</p>
-
-<p>&#8222;Wir wollen die Sache nicht überstürzen, Herr Hellwig.
-Es hat ja Zeit. Ich mute Ihnen keine sofortige Entscheidung
-zu. Nur einige Aufklärungen möchte ich Ihnen
-noch geben, dann überlegen Sie sich&#8217;s und lassen mich,
-sagen wir in vier Wochen, Ihren Entschluß wissen. So
-lang bleibe ich Ihnen im Wort.&#8220;</p>
-
-<p>Das klang wieder sehr nüchtern und vernünftig. Und
-diese kühle Art ließ auch Fritz ruhiger werden; aufmerksam
-hörte er zu, wie jetzt der Fabrikant in großen Umrissen
-seinen Plan entwickelte.</p>
-
-<p>Als er gegangen war, blieb Hellwig noch lang unbeweglich
-vor dem Schreibtisch sitzen. Da hatte ihm einer die
-Möglichkeit gezeigt, wie er sein Lebenswerk erfüllen konnte.
-Und es war ihm, als ob er in eine ungeheure Helligkeit
-schaute, die ihn blendete und alle Gegenstände überstrahlte,
-so daß nichts anderes zu sehen war als Licht und Licht.
-So &mdash; wie man die Möven nicht sieht, die Barken nicht
-und nicht die Schiffe, wenn die Sonne auf den See scheint
-und seine Fläche zum Spiegel macht. Und man weiß doch
-ganz sicher, daß dort klares Wasser ist und freut sich und
-kann es nicht erwarten, bis man die Kleider vom Leib
-ziehen und in dem kühlen Silber untertauchen kann.</p>
-
-<p>Da tat sich die Tür auf und Eva kam herein, sacht,
-schüchtern, mit dem aufrechten Königinnengang des tragenden
-Weibes. Nun sprang er empor, hob die Arme seitwärts
-und aufwärts, mit einer so ungestümen, frohen
-und leidenschaftlichen Bewegung, als wollte er eine Welt
-umspannen.</p>
-
-<p>&#8222;Eva ...&#8220; stammelte er. &#8222;Eva ...&#8220;</p>
-
-<p>Eine Sekunde nur schaute sie ihn befremdet an und
-wunderte sich über den Glanz in seinen Augen. Dann
-wußte sie, daß eine Wendung eingetreten, daß ein großes
-Glück für ihn im Anzug sei. Mit ausgestreckten Händen trat
-sie auf ihn zu: &#8222;Fritz ... Ist&#8217;s jetzt wieder gut, Fritz?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ja!&#8220;</p>
-
-<p>Und nun erzählte er es ihr. Aber während er redete,
-verlor sich mehr und mehr die beschwingte Zuversicht der
-ersten Freude. Er begann von den Hindernissen zu sprechen,
-die zu beseitigen, von den Schwierigkeiten, die zu überwinden
-waren. Die Skrupel kamen, aus Licht wurde
-Schatten und keins der Bedenken, die ihm aufstiegen,
-verhehlte er ihr. Nach Reinholts Schilderung lag die Industrie
-in jenem Lande zwar sehr im argen, aber gerade
-in der Gegend, wo auch sein Unternehmen stand, waren
-noch einige kleinere Spinnereien und Webfabriken, die
-insgesamt kaum zweitausend Leute beschäftigten. Doch
-diese gehörten fast ausnahmslos zu jener Partei, die gegen
-Hellwig als Abtrünnigen den Bannfluch geschleudert hatte.</p>
-
-<p>Für den Anfang, zu diesem Schluß kam er endlich, für
-den Anfang werde sich wohl eine Trennung nicht vermeiden
-lassen. Erst wenn der ärgste Wirrwarr vorüber, die neue
-Ordnung einigermaßen befestigt sei und sich eingelebt habe,
-werde ihm Eva folgen können.</p>
-
-<p>Sie hörte es und wurde blaß. &#8222;Und das Kind?&#8220; fragte
-sie tonlos.</p>
-
-<p>Einen Augenblick zögerte er mit der Antwort. Er fühlte
-ein Würgen in der Kehle. Aber sie sollte, sie durfte nicht
-merken, wie nah es ihm ging. &#8222;Ich werde euch unterdessen
-nach Neuberg bringen,&#8220; sagte er. Da ließ sie traurig
-den Kopf sinken und sprach kein Wort mehr.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>12.</h3>
-</div>
-
-<p>Hellwig nahm das Anerbieten Reinholts an. Der Entschluß
-war ihm nicht leicht geworden. Erst als er ganz
-mit sich im reinen war, sagte er ja. Aber nun er sich
-einmal entschieden hatte, glaubte er um so sicherer an
-den Erfolg. Verläßliche Leute wurden angeworben, die
-eine Art Kerntruppe für das neue Unternehmen abgeben
-sollten. Pfannschmidt war darunter, der alte Kesselwärter
-Bogner, auch einer von den Brüdern Otto Pichlers. Die
-reisten mit Reinholt gleich ab. Hellwig wollte noch die
-Entbindung Evas abwarten.</p>
-
-<p>Und Evas schwere Stunde kam. Die Geburt währte
-lang, ein Arzt mußte gerufen werden. Fritz war im Zimmer
-daneben. Die Tür war angelehnt, aber hinein ging
-er nicht. Auf daß sie später einmal sich nicht doch vielleicht
-irgendwie vor ihm schäme, weil seine Augen ihre allerhilfloseste
-Menschlichkeit gesehen. Er hörte das kalte Klirren
-der Instrumente, die gedämpften Anordnungen des
-Arztes, das leise Stöhnen seines Weibes. Und er wußte
-nicht, wie es stand. Die Ungewißheit marterte ihn, die
-Angst und das Bewußtsein seiner Ohnmacht. Daß er so
-dastehen mußte und ein Liebes leiden lassen mußte und
-nicht helfen konnte. Und mit einemmal überkam es ihn
-und zwang ihn, in seinem Herzen zu wühlen, die verborgensten
-Falten zu durchwühlen, ob nicht doch vielleicht
-irgendwo ein Fetzen vom verlorenen Gottglauben zurückgeblieben,
-an den er sich klammern, den er umkrallen
-könnte wie der jämmerlichste Betbruder den Rosenkranz.
-Aber er fand nichts. Wie ein gefangenes Tier im Käfig
-rannte er ohne Pausen um den Tisch, den Kopf nach vorn
-geduckt, die Augen starr, mit steif gestrafften Armen und
-geballten Fäusten. Und empfand seine Ohnmacht und
-spürte den Widersinn, daß Leben unter entsetzlichen Qualen
-vom Leben sich losreißen muß, und hörte die Ketten klirren
-und die Peitsche sausen.</p>
-
-<p>Und dann war drinnen ein weherer Ton. Und dann &mdash;
-der erste Schrei seines Kindes. Da wurde er totenblaß &mdash;
-und seine Arme hoben sich langsam und breiteten sich aus
-und ein zitterndes Schluchzen kam ganz von tief aus seiner
-Brust. Und er ging in die Küche, wo weinend die Magd
-saß. &#8222;Marie ... es ... es schreit schon,&#8220; sagte er fremd,
-mit weicher, bebender Stimme &mdash; und schritt wieder wie
-im Traum in das Zimmer zurück und stand und horchte.</p>
-
-<p>Mittag war nahe. Um die halbentlaubten Bäume im
-herbstlichen Garten floß der Sonnenschein, blau funkelte
-der Himmel durch die offenen Fenster, und warme weiche
-Luft drang herein. Und im nahen Kirchturm begannen
-alle Glocken auf einmal zu läuten. Und die Glocken läuteten
-und läuteten, und das Kind schrie und schrie und
-überschrie das Geläute, heller, freudiger, lebenswilliger &mdash;
-er war noch nie vorher so fromm gewesen wie in dieser
-Stunde. &mdash;</p>
-
-<p>Noch ein anderer hatte mit Fritz gebangt und gelitten.
-Doktor Kolben, der jetzt den Arzt hatte weggehen sehen
-und heraufkam, nur bis in das Vorzimmer, und sich erkundigte.
-Und als er hörte, daß ein Junge angekommen
-sei, da lachte er über das ganze Gesicht und lief wieder
-fort. Und schon nach einer kleinen Weile kam er noch
-einmal und brachte einen großen Strauß blühender Rosen
-für die junge Mutter. So viele ihrer der Gärtner gehabt
-hatte, so viele hatte er hergeben müssen.</p>
-
-<p>Den nächsten Tag kam Frau Wart von Neuberg hergereist
-und im geruhigen Lauf der Stunden fügte sich
-mählich alles in die neue, von dem jungen Menschlein beherrschte
-Ordnung. Aber Fritz schwankte wieder und zauderte
-und verschob seine Abreise Woche um Woche. Es
-war ihm, als hätte er Eva zum andernmal gewonnen.
-Und während sie sich langsam wieder aufrichtete, entfaltete
-sich neben ihr noch ein zweites, ein neues Menschenleben,
-das ihr und ihm gehörte und doch wieder nicht gehörte,
-das hilflos in ihre reifen Hände gegeben war, daß
-sie es formten und sicher einfügten in das rollende Räderwerk
-der Gegenwart. Und es würde forttreiben und ein
-Teilchen ihres Wesens mit hinüber tragen in eine Zukunft,
-die nicht mehr die ihre war. Er konnte lang und immer
-wieder vor dem weißen Schlafkörbchen seines Buben stehen
-und den Rätseln des Lebens nachsinnen, indes der Säugling
-ruhig atmend schlief, mit kaum beflaumtem Kopf und
-einem blassen Gesicht, das ohne Bewegung war, leidenschaftslos
-und ohne Arg wie die glatte Meeresfläche &mdash;
-und doch birgt sie ungezählte wunderbare Möglichkeiten,
-schöne und wilde, furchtbare und sanfte, unter ihrem harmlosen
-Frieden.</p>
-
-<p>Und die Trennung wurde ihm schwer. Schon erwog
-er den Gedanken, Weib und Kind gleich mit sich zu
-nehmen. Er schrieb auch an Reinholt deswegen. Doch
-der riet ihm ab. Die Lage sei so einfach nicht, die Gegend
-außerdem öd, die Lebensmittel, und namentlich eine keimfreie
-Milch, nur sehr schwierig zu beschaffen. Denn die
-nächste größere Stadt sei viele Meilen weit entfernt und
-eine sanitätspolizeiliche Überwachung gebe es so gut wie
-gar nicht. Es sei schon besser, wenn sich Fritz die Sache
-vorerst ansehe und sich einlebe.</p>
-
-<p>Er las das Schreiben und spürte heraus, daß ihm
-nicht alles gesagt wurde. Und der Zwiespalt in ihm wurde
-immer größer. Es drängte und zog und trieb ihn nach
-dem Ort, wo seine Gedanken Tat werden sollten &mdash; und
-hielt ihn doch mit tausend Fäden fest in seinem Heim.
-Kolben merkte gut, wie es um ihn stand. Doch er redete
-da nichts hinein, riet nicht ab und stimmte nicht zu. In
-Eva aber war die Mutterzärtlichkeit aufgeweckt und die
-Liebe zum Kinde ließ sie alles andere als unwichtig hintansetzen.
-Und wenn sie ihn vordem eher aufgemuntert
-und sich gefreut hatte, weil sie ihn fröhlich sah, so bat
-sie ihn jetzt, daß er bei ihr bleibe oder sich gedulde, wenigstens
-ein Jahr noch, bis das Kleine stärker und widerstandsfähiger
-geworden und eine Übersiedelung leichter zu
-bewerkstelligen wäre. Und fast hätte sie ihn umgestimmt,
-und schon wollte er Reinholt bitten, ihn seines Versprechens
-zu entbinden, obwohl der Fabrikant bereits alle Vorbereitungen
-traf, Zubauten aufführte, Leute aufnahm, Ungeeignete
-fortschickte und nur die Ankunft Hellwigs abwartete,
-um mit der Einrichtung des neuartigen Betriebes
-ungesäumt zu beginnen. Eine Absage im letzten Augenblick
-mußte ihm einen empfindlichen Schaden bringen,
-das wußte Fritz. Und seine Nächte wurden schlaflos und
-unstet wieder seine Tage, er kämpfte schwer und konnte
-und konnte sich nicht entscheiden.</p>
-
-<p>Und da war es wieder jene Frau, der er schon so vieles
-zu danken hatte, die ihm mit behutsamen Händen die
-Hindernisse wegräumte und das sichere Vertrauen wiedergab,
-Frau Hedwig, seine zweite Mutter, wie er sie einst
-genannt hatte. Sie wollte verhüten, daß er sich gegen
-Reinholt entscheide. Denn das hätte niemandem gefrommt.
-Ihm nicht, weil ihn später ganz gewiß der Gedanke gepackt
-und gequält und nicht mehr losgelassen hätte, daß
-er die Gelegenheit, sein vermeintliches Lebenswerk zu vollenden,
-nutzlos habe vorübergehen lassen. Und den Seinen
-nicht, weil sie sich später selbst den Vorwurf nicht erspart
-hätten, daß sie ihn elend gemacht und schuld an seinem
-Leiden hätten. Deswegen suchte sie mit behutsamem Takt,
-ohne daß er es merkte, seinen Entschluß zugunsten Reinholts
-zu beeinflussen. Und sie tat es um so beruhigter, da für
-Eva mit ihrem Buben bei den Großeltern in Neuberg
-eine sonnige Zuflucht bereit stand.</p>
-
-<p>&#8222;Wann wirst du denn abreisen?&#8220; fragte sie ihn einmal
-und sie fragte, als ob alles glatt und seine Abreise eine
-selbstverständliche und von allen erwartete Sache sei.</p>
-
-<p>&#8222;Das hat noch gute Wege!&#8220; erwiderte er unwirsch.</p>
-
-<p>Sie tat erstaunt: &#8222;Gute Wege? Ich hab&#8217; gedacht, sie
-brauchen dich schon sehr notwendig.&#8220; Er trommelte mit
-den Fingern auf der Tischplatte und gab keine Antwort.
-Da trat sie ganz nah zu ihm und sagte ganz leise, mit
-großer Überwindung: &#8222;Fritz &mdash; es ist vielleicht doch besser,
-weißt du ... damit ... unser Heinz &mdash; er hat Ähnliches
-gewollt, Fritz ...&#8220;</p>
-
-<p>Mit einem Satz stand er auf den Füßen, hatte die Hand
-im Ausschnitt der Weste verkrampft und atmete heftig.
-Aber kein Wort kam über seine Lippen. Ihre Bewegung
-niederkämpfend, fuhr sie tapfer fort: &#8222;Du hast ihm ja
-auch dein Buch zugeeignet &mdash; und was da jetzt ins Leben
-treten soll &mdash; es wäre die Vollendung dazu ...&#8220;</p>
-
-<p>Noch immer gab er keine Antwort. Und noch, als sie
-sich langsam wandte und aus dem Zimmer ging, stand er
-wie ein steinernes Bild und hielt sie nicht zurück. Aber
-ihre Worte wirkten nach. Ein ehrendes Totenmal hatte
-er dem Freund errichten wollen, dem flammend in den
-Tod gegangenen Freund ... Und da, nach Tagen und
-Nächten schweren Ringens fiel es mit einemmal auf ihn:
-Wenn &mdash; alles so bleibt und das Suchen nicht aufhört &mdash;
-und dein Junge später einmal &mdash; er ist ja eines Blutes
-mit dem Toten und mit dir &mdash; es könnte mit ihm gerade
-so werden später einmal. Darum &mdash; tu&#8217;s! pack&#8217; zu! versuch&#8217;,
-ob du&#8217;s zwingen kannst! &mdash; Wirb um die heutigen
-Herren und erobere sie durch eine unwiderlegliche große
-Tat! &mdash; Damit dein Bub nachher ruhig weiter bauen
-kann &mdash; und vorwärts kommen kann zu den Quellen des
-Menschentums, ohne im vorgelagerten Sumpf stecken zu
-bleiben &mdash; und darin zu ersticken, wie Heinz &mdash; und beinahe
-du selbst ...</p>
-
-<p>Und er entschied sich für Reinholt. Und je länger er
-bisher gezaudert hatte, je hastiger betrieb er jetzt die Reise.
-Eva sollte unterdessen nach Neuberg, bis er sie in einiger
-Zeit werde zu sich holen können. Aber sie wollte nicht
-nach Neuberg. Sie fürchtete sich vor den Leuten. &#8222;Er
-hat sie sitzen lassen, na ja, das hat ein Blinder voraussehen
-können!&#8220; So würden sie reden und sich anstoßen
-und ihr nachschauen und sich teilnehmend und mitleidig
-und hämisch nach dem Vater des Kindes erkundigen. Und
-auch ihr Vater würde nicht anders denken. &#8222;Es hat so
-kommen müssen, Mutter. Er und Heinz, die zwei haben
-ja nie ein Herz für ihre Familie gehabt!&#8220; Deutlich glaubte
-sie zu hören, wie er das sagte. Und ganz im letzten Winkel
-ihres Herzens regte sich etwas wie eine vage, dumpfe
-Ahnung, daß Fritz einst wiederkehren würde &mdash; und nicht
-als Sieger. Und daß er dann sein Heim so wieder finden
-müßte, wie er es verlassen. Weit schob sie den Gedanken
-von sich, aber er ließ sich nicht bannen und so sehr sie
-sich mühte, an Hellwigs Erfolg zu glauben, ganz leise
-und ganz heimlich zweifelte sie doch daran. Deswegen
-war sie taub für das Zureden der Mutter und hörte nicht
-auf Fritz. Sie wolle vorläufig alles unverändert beim
-alten lassen, bis er einen Überblick haben und ihr wenigstens
-annähernd werde sagen können, wie lang die Trennung
-notwendig sei. Dann wolle sie sich&#8217;s erst zurechtlegen.
-Dabei blieb es. Und als Fritz abgereist war und bald
-darauf auch Frau Hedwig nach Neuberg zurück mußte,
-da hatte Eva in der großen Stadt keinen Einzigen, an
-den sie sich wenden konnte, als den Doktor Albert Kolben.</p>
-
-<hr class="chap" />
-<div class="chapter">
-<h2><a name="Fuenftes_Buch" id="Fuenftes_Buch">Fünftes Buch</a></h2>
-</div>
-
-<h3>1.</h3>
-
-<p class="drop-cap">In einer weiten Ebene, zwischen Buchenbeständen und
-buschigem Wiesenland, lag das große Unternehmen
-Leo Reinholts. Die Eisenbahn führte vorüber, ein paar
-Dörfer waren in der Nähe, die sich mit verstreut in großen
-Zwischenräumen stehenden Häusern stundenweit hinzogen.
-Und dazwischen waren längs der Bahn noch ein paar
-kleinere Fabriken, Gründungen findiger Konkurrenten, die
-aber nicht recht emporkommen wollten und zum Gedeihen
-zu schwach, zum Eingehen zu jung, in kümmerlicher Unzulänglichkeit
-sich fortfretteten. Die Einheimischen aber, zumeist
-Ruthenen und schlaue Polen, haßten die Schornsteine
-und die roten Ziegeldächer der Fabriken. Denn die
-hatten ihnen die beschauliche Ruhe gestört, die mit schlechtestem
-Branntwein zufriedene Bedürfnislosigkeit abgewöhnt
-und die Löhne verteuert durch einen Schwarm fremdsprachiger
-Arbeiter, die noch obendrein wegen ihrer Wissenschaft
-des Lesens und Schreibens und wegen ihrer größeren
-Weltkenntnis auf das Bauernvolk herabschauten, sich besser
-dünkten und die Herren spielen wollten. So waren die
-Klassenunterschiede schärfer als sonstwo ausgeprägt und
-drängten die Arbeiter der einzelnen Betriebe stärker als
-sonstwo zum Zusammenschluß. Ein ganz leidliches Einvernehmen
-hatte bisher unter ihnen geherrscht, und fast
-ohne Ausnahme waren sie Sozialdemokraten. Da kam
-nun plötzlich Reinholt und forderte von seinen Leuten,
-daß sie es nicht mehr seien. Und wer sich nicht darein
-schicken wollte, bekam seinen Abschied. Er hielt strenge
-Musterung, mußte sie auch halten, denn für sein Experiment
-&mdash; nichts anderes war es &mdash; brauchte er ganz
-zuverlässige Leute.</p>
-
-<p>So entstand eine Spaltung. Da kam Hellwig und richtete
-das neue Unternehmen ein. Wie der Haushalt einer
-einzigen Familie wurde das. Eine große Küche war da,
-mit Dampfheizung und papinischen Kesseln, dort wurde
-für alle auf einmal gekocht. Reine und luftige Speisehallen
-gab es, eine Bücherei mit weiten Leseräumen, einige
-Spielzimmer, auch ein Theater und einen Tanzsaal. Ein
-Krankenhaus, eine Schule und ein Altersheim wurden
-gebaut, im Park waren Tummelplätze für die Kinder und
-Erholungsstätten für die Erwachsenen, Bäder und Turnsäle
-fehlten nicht. Die Frauen sollten beim Kochen helfen,
-die Wäsche besorgen, im Gemüse- und Obstgarten arbeiten
-oder die Kinder beaufsichtigen, wie sie es lieber wollten,
-und wenn es ihnen gefiel, konnten sie jede Woche in
-diesen Beschäftigungen wechseln. Die Lohnzahlung wurde
-abgeschafft. Jeder war am Gewinn beteiligt. Nach einem
-einfachen Schlüssel unter Berücksichtigung der Arbeitsleistung
-und der Kopfzahl einer Familie wurden die Anteile
-ermittelt, die jeder zu dem gemeinschaftlichen Haushalt
-beizutragen hatte. Der Überschuß wurde bar herausbezahlt
-oder gutgeschrieben, wie es jeder lieber mochte. Für
-alle Bedürfnisse war gesorgt. In der Schneiderei konnten
-sich alle die Kleider anfertigen und flicken lassen, eine
-Schusterwerkstatt war da und ein gemeinsames Bestellbureau
-für alle Dinge des täglichen Bedarfs. So waren
-sie ganz unabhängig, waren ein Gemeinwesen für sich
-und brauchten keine fremde Vermittlung.</p>
-
-<p>Fritz aber war für sie bald das treibende Rad des Ganzen.
-Zu ihm kamen sie mit ihren Anliegen und Wünschen, und
-wenn sie untereinander Streit hatten, fügten sie sich seinem
-Schiedsspruch. Und da er mit ganzem Herzen bei der
-Sache war, gewann er auch ihre Herzen. Das wußte er
-nicht, aber es war so. Manche bewunderten, die meisten
-liebten und nur ganz wenige fürchteten ihn. Alle aber
-standen unter dem zwingenden Bann seiner prachtvollen
-Aufrichtigkeit, fühlten heraus, daß er bedingungslos auf
-ihrer Seite stand. Niemanden ließ er gleichgültig. Zu
-seiner vollwertigen Persönlichkeit mußte jeder Stellung
-nehmen, und die Mehrzahl gab sich vollständig in seine
-Leitung. Ihn nannten sie &#8218;Meister&#8216;, wie er selbst es ihnen
-vorgeschlagen hatte, während Reinholt nach wie vor der
-&#8218;Herr&#8216; blieb. Doch waren sie auch ihm zugetan und rühmten
-ihm strenge, aber unparteiische Gerechtigkeit nach.</p>
-
-<p>Bevor das alles auch nur halbwegs ins Gleis kam,
-waren viele Monate vergangen. Welche Unsumme von
-Plage und Mühsal und Sorge für Hellwig damit verknüpft
-gewesen, wußte außer Eva vielleicht niemand so
-recht. Anfangs kannte er freilich weder Müdigkeit noch
-Abspannung, war ihm die Arbeit nur wie ein Fest. Aber
-Monat um Monat verrann, und die Schwierigkeiten wollten
-nicht aufhören. Immer wieder fand sich etwas, das
-geordnet, unschädlich gemacht, ausgetilgt werden mußte.
-Bald waren es geheime Machenschaften, bald offene Widersetzlichkeit,
-Zwist und Streit. Kaum ein Tag verging,
-an dem Hellwig nicht einen Schiedsspruch zu fällen, als
-Friedensstifter zu walten hatte. Sooft er dachte, jetzt
-und jetzt werde er Eva holen können, immer kam etwas
-verquer. Anfangs waren es die Zustände im jungen Unternehmen
-selbst, die seine Wachsamkeit forderten. Dann
-aber setzten die Feindseligkeiten der Gegner ein. Der Verlust
-von nahezu tausend Genossen traf die Partei hart.
-Und daß es gerade Fritz Hellwig war, der ihnen diesen
-Verlust zugefügt, war nur ein Grund mehr zur erbittertsten
-Fehde. Da wurde geschürt, gehetzt, auf jede Weise versucht,
-die Leute unzufrieden zu machen und aufzureizen. Ohne
-Erfolg. Wer sich nicht fügen wollte, konnte anderswo
-sein Brot suchen. Eisern hielt Fritz die Ordnung aufrecht.
-So gütig und umgänglich er sonst war: wenn eine Satzung
-übertreten wurde, kannte er keine Nachsicht. Das hatten
-sie bald heraus und liebten auch diese Strenge. Er gab
-ihnen viel und hätte auch viel fordern können. Um so
-begreiflicher fanden sie es, daß er das wenige, das er
-wirklich forderte, auch durchsetzte.</p>
-
-<p>Da traten die Gegner aus ihrer Zurückhaltung, riefen
-offen zum Kampf gegen den Augenauswischer, den Volksbetrüger,
-Verräter und Zwietrachtsäer, der sich in Menschlichkeit
-wie ein Frosch blähe und lediglich den eigenen
-Bauch mit dem blutigen Schweiß der Armen fülle. So
-stand es in ihren Zeitungen, und das waren noch die besten
-Vergleiche. Ein besonders Eifriger aber behauptete, daß
-Hellwig wie eine Trichine im gesunden Fleisch der Partei
-sitze und es infiziere, während er sich fett mäste. Leibinger
-leitete den Feldzug. In ihm war die erlittene Kränkung
-noch lebendig und heiß wie am ersten Tag, und sein Ehrgeiz
-knüpfte an einen Sieg über den mächtigen Feind die
-schönsten Erwartungen. Unter Hochdruck arbeitete er. In
-allen Zeitungen, in ungezählten Versammlungen predigte
-er den Kampf gegen den einstigen Genossen und seinen
-Anhang. Renegaten und Schufte ohne jeden Gemeinsinn
-wurden sie genannt, niedrige Bedientenseelen, die vor dem
-Geldsack auf dem Bauch lägen und sich an Bettelsuppen
-gütlich täten, armselige Heloten, die jedes Gefühl für
-Freiheit und Manneswürde verloren hätten.</p>
-
-<p>Und die Arbeiter der benachbarten Betriebe, scheelsüchtig
-gemacht, neideten Reinholts Leuten das bessere Los. Sie
-spuckten aus, wenn sie einen trafen und riefen ihm wohl
-auch &#8222;Kommuner Hellwigianer!&#8220; zu, was ein Witz sein
-sollte und eine verächtliche Anspielung auf die kommunistischen
-Einrichtungen.</p>
-
-<p>Die kommunen Hellwigianer aber ließen sich darob die
-Haare nicht grau werden. Mancher Heißsporn verbat sich
-vielleicht die Beleidigungen und kam mit blutigem Schädel
-heim, die meisten aber lachten oder zuckten die Achseln,
-wenn sie beschimpft wurden, und das trieb die Gegner
-in eine immer heftigere Erbitterung. Aber auch die Fabriksbesitzer
-nahmen mit der Zeit gegen das aufblühende neuartige
-Unternehmen Stellung, weil sie sich dem scharfen
-Wettbewerb nicht gewachsen fühlten. Denn da alle Arbeiter
-am Gewinn beteiligt waren, bemühten sie sich zu eigenem
-Vorteil, nur gute Ware herzustellen, so daß die Reinholtsche
-Marke bald gesucht war und die Nachfrage stärker
-als das Angebot. Und da auch das Bauernvolk in seiner
-alten Abneigung verharrte, stand Hellwig mit den Seinen
-ganz vereinsamt und auf sich selbst angewiesen mitten
-unter Widersachern, Neidern und Feinden. Da setzte er
-erst recht seinen Neuberger Schädel auf: Durch müssen
-wir! Und wenn sich alle auf den Kopf stellen!</p>
-
-<p>Der Glaube an sein Werk verzehnfachte seine Kräfte.
-Und seine warme Begeisterung griff auf alle über. Gemeinsame
-Not schweißte sie ganz fest zusammen. Die
-Zwistigkeiten im eigenen Lager hörten auf, immer seltener
-wurde er als Schiedsrichter angerufen. Der Trotz und das
-Gefühl, daß ihnen unrecht getan werde, spornte alle zu
-erhöhter Leistung. Draußen schrien sie, hetzten und wühlten.
-Reinholts Fabrik aber stand da, geschäftigen Lebens
-voll, die Räder surrten, die Webstühle klapperten, die
-Schiffchen flogen fröhlich. Zu einträchtigem Tun regten
-sich die emsigen Hände, und auf allen Gesichtern sonnte
-sich das Behagen am Gedeihen des Unternehmens, das
-allen ans Herz wuchs, weil es allen gehörte.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>2.</h3>
-</div>
-
-<p>Und im Fabrikspark, auf den Spielplätzen, unter der
-Hut der alten Bäume, drängte sich tagsüber das junge
-Volk der Kinder, saßen nach getaner Arbeit zufriedene
-Menschen, schwatzten, sangen oder hörten dem Meister Hellwig
-zu, der an schönen Abenden im Garten von einem
-Podium herab über alle möglichen interessanten und wissenswerten
-Dinge zu sprechen oder aus guten Büchern
-vorzulesen pflegte. Ganz zwanglos, wie eine gelegentliche
-Zusammenkunft gleichgesinnter Freunde war das, und viel
-guten Samen streute er in empfängliche Seelen.</p>
-
-<p>Anfänglich war die Zahl der Teilnehmer nur gering,
-weil viele, an das neue Leben noch nicht gewöhnt, lieber
-in den Billardsälen oder beim Kartenspiel ihre Erholung
-suchten. Mit der Zeit aber stellten sich immer mehr ein,
-hörten zu und beteiligten sich mit Fragen und Einwänden
-an den Debatten, fanden Gefallen daran und zogen dieses
-Turnier bald jeder andern Unterhaltung vor.</p>
-
-<p>Einer, der niemals fehlte, war der alte Kesselwärter
-Bogner, der seinem Meister Hellwig treu ergeben war
-und immer wieder versicherte, daß er ein so schönes Leben
-auf seine alten Tage nicht einmal im Traum erhofft
-hätte. Er überwachte seine Kessel und formte feine Blütenzweige,
-die er schön bemalt in seiner Stube aufstapelte
-oder Personen, denen er wohlwollte, als Angebinde verehrte.
-Für Hellwig aber tat er etwas ganz Besonderes:
-Er modellierte und goß aus Bronze die Büste des Meisters.
-Zwar geriet die Nase ein bißchen schief, und die Wangen
-hatten Blatternarben, aber am Sockel stand in großen
-Buchstaben &#8218;Friedrich Hellwig&#8216;, und so wußte jeder, wen
-das Werk darstellte. Und die Mängel, die waren nach den
-Versicherungen des Schöpfers nur durch den elenden Gips
-und durch das schlechte Gußmetall verschuldet. Jetzt stand
-das Bildwerk im Lesesaal, und bei der Aufstellung hatte
-es einen grünen Reisigkranz getragen, mit einer roten
-Schleife, und Reinholt hatte eine Rede gehalten, die war
-sehr erbaulich und dem Kesselwärter wurde ganz rührselig.
-Aber er lachte doch und strahlte im faltigen Gesicht, denn
-Adam Pichler, ein jüngerer Bruder Ottos, stand neben
-ihm und sagte ihm ins Ohr, daß so eine Büste eigentlich
-in eine Ausstellung gehörte und sicher einen Preis bekommen
-würde.</p>
-
-<p>Adam verkehrte überhaupt viel mit dem alten Bogner
-und ging auch regelmäßig zu den Abendvorlesungen. Er
-tat das aus Neigung. Aber es war nicht so sehr die Neigung
-zur Wissenschaft, als vielmehr die Neigung zur Anna
-Bogner. Die Anna war ernster geworden, der Frohsinn,
-das Lachen und aller Übermut ihrer Jugend klang in
-der Erinnerung an die erste Enttäuschung nur mehr wie
-auf einer abgedämpften Geigenseite.</p>
-
-<p>Adam aber begehrte sie zum Weib. Da hatte sie ihm
-ganz aufrichtig gesagt, wie es um sie stand und daß sie
-einst mit seinem Bruder Otto ein Verhältnis gehabt. Der
-blonde Mensch mit den stillen Augen und den groben Händen
-hatte schweigend zugehört und darnach ein paar Tage
-nicht mit ihr geredet, bis er alles in sich verarbeitet hatte.
-Dann aber war er zu ihr gegangen, die in heimlicher Pein
-verstohlen aus der Ferne nach ihm sah. Denn sie hatte
-ihn lieb gewonnen.</p>
-
-<p>&#8222;Anna,&#8220; hatte er gesagt, &#8222;es ist schon in Ordnung
-mit uns.&#8220;</p>
-
-<p>Da war sie zusammengefahren, hatte ihm ungläubig
-ins Gesicht gestarrt und nur gefragt: &#8222;Trotzdem?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Trotzdem, Anna, weil &mdash; es muß doch ausgeglichen
-werden ...&#8220;</p>
-
-<p>Er hatte den Arm um sie legen wollen. Doch sie war
-hastig einen Schritt zurückgetreten.</p>
-
-<p>&#8222;Wenn&#8217;s nur deswegen sein soll ... bleibt&#8217;s schon
-besser so, wie&#8217;s ist, Adam. Ich müßt&#8217; mich ja schämen.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Nein, Anna, das mußt du schon nicht. Tät ich&#8217;s denn,
-wenn ich dich &mdash; nicht auch gern hätt&#8217;, Anna?&#8220;</p>
-
-<p>Er war wieder ganz nahe bei ihr und streichelte mit
-den harten Fingern unbeholfen ihren Ärmel. Und dann
-hatte er sie im Arm. Und sie sträubte sich nicht mehr.</p>
-
-<p>Und seither sah man sie fast immer miteinander gehen,
-den alten Kesselwärter, dem die paar Haare nur noch
-wie ein silbriges Schimmerchen auf dem kahlen Schädel
-glänzten, ein wenig gebeugt und ein wenig zittrig, zwischen
-den beiden jungen aufrechten Menschen, die fest und ruhig
-einherschritten mit der stillen Zuversicht, die ein sicheres
-Glück verleiht.</p>
-
-<p>Oft auch gesellte sich Pfannschmidt zu ihnen, der in
-dem neuen Gemeinwesen eine Art Hausverwalter war und
-außerdem die Bücherei betreute. Keine Spur von Gedrücktheit
-oder Trauer war mehr in ihm, wohl sprach er
-wenig und lachte nicht oft, aber seine ernsten Augen schauten
-warm und froh, und der Widerstreit zwischen Neigung
-und Beruf war nicht mehr in ihrem Blick. Die Bücherei
-war seine Welt, dort war er am sichersten anzutreffen.
-Entweder las er oder ordnete er die Bücher, versah sie
-mit Schildern und Nummern, verteilte sie übersichtlich
-und legte mehrere Verzeichnisse an. Abends aber kämmte
-er mit Salböl den spröden Scheitel noch einmal glatt und
-ging, dem Meister zuzuhören. Er war einer der aufmerksamsten
-Zuhörer, aber auch der eifrigste Frager, und
-wenn er sich einmal in etwas hineinverbissen hatte, ließ
-er sich nicht so leicht davon abbringen. Jedes Für und
-Wider erwog er, Beweise und Gegenbeweise ließ er bedächtig
-aufmarschieren, und Fritz hatte mit diesem zähen
-Gegner oft seine liebe Not. Regelrechte Debatten und
-Diskussionen hatten sie miteinander und das war für sie
-wie ein Bad im kühlen Fluß.</p>
-
-<p>So schien sich mit der Zeit eine gedeihliche Ordnung
-einstellen zu wollen und Hellwig dachte abermals daran,
-Weib und Kind zu sich zu holen. Aber als er an einem
-schönen stillen Sommerabend wieder einmal auf dem Podium
-saß und gerade über Oliver Cromwell sprach, da
-wurden von dem Fahrweg, der außerhalb des Parks den
-Zaun entlang führte, ein paar Steine unter die Versammelten
-geworfen. Der eine streifte Hellwigs Kopf, der
-zweite traf ihn an der Schulter, die übrigen verfehlten
-ihr Ziel. Schnell war Pfannschmidt beim Gittertor, riß
-es auf, stürmte hinaus. Andere folgten. Aber draußen
-war niemand zu sehen. Still lagen die Wiesen und Felder
-da, die Ähren nickten und rauschten leis auf schwanken
-Halmen, die Blätter der Büsche regten sich sacht im
-Abendwind, und sacht breitete die Dämmerung ihre seidenfeinen
-Flöre darüber aus. Mannshoch standen die Feldfrüchte,
-dicht belaubt wucherte überall in den Wiesen das
-Staudenzeug, und was sich dort irgendwo versteckt hielt,
-war gut geborgen und in der Dämmerung nicht leicht
-aufzuspüren.</p>
-
-<p>Hellwig hatte eine Beule am Schläfenbein und eine
-Prellwunde am Oberarm, leichte Verletzungen, die nichts
-zu bedeuten hatten. Aber eine Warnung waren sie und
-ein Zeichen, wie tief die Hetzereien Wurzeln gefaßt.</p>
-
-<p>Und wenn es hiefür noch eines Beweises bedurfte, so
-brachte ihn die folgende Nacht. Da brannte ein Magazin
-nieder, und die Fabriksfeuerwehr mußte harte Arbeit tun,
-um den Brand einzudämmen. Er war gelegt worden,
-von wem, war offenes Geheimnis, aber Beweise fehlten.
-Die Folge war, daß Reinholt die Nachtwache verschärfte
-und zwei Dampfspritzen anschaffte. Und Fritz sah seine
-Vereinigung mit Eva abermals um Monate hinausgerückt.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>3.</h3>
-</div>
-
-<p>Danach aber hatte sich ganz plötzlich der Sturm gelegt.
-Die Unbesonnenheit der Steinwerfer und Brandstifter hatte
-die Gegner zur Vorsicht gemahnt. Was nützte es auch,
-die Außenstehenden aufzuwiegeln, wenn die Hellwigianer
-geschlossen gingen und der Aufschwung der Fabrik alle
-Hetzer Lügen strafte.</p>
-
-<p>Wochen vergingen, alles blieb ruhig.</p>
-
-<p>&#8222;Wir sind durch!&#8220; sagte Fritz, der vertrauensselige,
-arglose Mensch, und glaubte felsenfest daran, weil er an
-sein Werk glaubte und an die Lauterkeit der Menschen.
-Und er freute sich des Erfolges und freute sich auf die
-Seinen. Jetzt wollte er sie wirklich holen. Mehr denn
-zwei Jahre &mdash; waren es denn wirklich schon zwei Jahre?
-&mdash; hatte er sie nicht gesehen. Da war ihm die Zeit fortgeronnen,
-wie Sand zwischen den Fingern durchgeglitten,
-Tag um Tag; Monat um Monat. Er hatte nicht darauf
-geachtet und sie nicht gezählt. In all dem rastlosen Bemühen,
-dem Tumult von Sorgen und Anstrengungen,
-dem raschen Wechsel zwischen Erfolg und Mißlingen, zwischen
-heller Zuversicht und herber Enttäuschung.</p>
-
-<p>Waren es denn wirklich schon zwei Jahre? Aber da
-lagen die Briefe Evas vor ihm, alle, wie er sie erhalten,
-gelesen, beantwortet und dann in das Schubfach getan
-hatte, wo sie, nicht mehr beachtet, verstaubten. Regelmäßig
-alle vierzehn Tage schrieb sie ihm. Und jetzt lagen
-sie da, kunterbunt durcheinander, gut fünfzig Briefe. Und
-in jedem erzählte sie von dem Buben, alle Einzelheiten
-und Kleinigkeiten berichtete sie. Im Drang und Schwall
-der Arbeit hatte er ihren Mitteilungen nicht weiter nachgesonnen.
-Und sie machten doch die ganze Entwicklung
-des jungen Menschleins aus, das dort fern von ihm und
-vaterlos heranwuchs. &#8218;Hansl lacht mich schon an &mdash; Hansl
-sitzt schon &mdash; Hansl bekommt Zähne &mdash; Hansl hat sich
-ganz allein am Tischbein aufgemannelt &mdash; Hansl hat
-das erste Wort gesprochen &mdash; Hansl läuft, Hansl redet
-schon. Er ist blond wie du &mdash; er hat deine Augen &mdash; aber
-das Kinn hat er von mir.&#8216;</p>
-
-<p>Er erschrak fast und entsetzte sich, daß er so achtlos
-darüber zur Tagesordnung hatte übergehen können. Fünfzig
-Briefe. Und in allen war zwischen den eng geschriebenen
-Zeilen die unausgesprochene Bitte: &#8218;Komm bald und bleib
-bei uns!&#8216; Und in keinem stand: &#8218;Hol&#8217; uns zu dir!&#8216; Denn
-die Mutter bangte um ihr Kind, und Fritz hatte ihr die
-Lage immer eher in düsteren Farben geschildert, alle Ereignisse
-trocken verzeichnet und nichts beschönigt. Und nur
-einmal schrieb sie: &#8218;Wenn ich doch bei dir sein könnte!&#8216;
-Das war damals, als ihm die Steine den Leib verwundet
-hatten.</p>
-
-<p>Einen Brief nach dem andern las er nun wieder durch.
-Um ihn war die Ruhe der Nacht, einer warmen, glanzhellen
-Nacht. Das Fenster stand offen, die hereinflutende
-Luft war gesättigt vom schweren Duft der Erde, und unten
-im Fabrikshof machte der Wächter die Runde. Klingend
-schlug die Eisenspitze seines Stocks auf die Steine, und wenn
-die zwei starken Doggen, die ihn begleiteten, sich schüttelten,
-klirrten die Glieder ihrer Kettenhalsbänder leise aneinander,
-Eisen gegen Eisen und Stahl gegen Stein, und nichts
-anderes war zu hören als dieser kriegerische Klang. Und
-es war wie der Pulsschlag des harten, streitbaren Lebens,
-das da draußen in der weichen, weißen Glanznacht tief
-aufatmend, doch nicht schlafend ruhte, Gewehr im Arm
-und immer kampfbereit gleich einem einsamen Vorposten
-in Feindesland.</p>
-
-<p>Stunde um Stunde flutete vorüber. Und Fritz saß und
-las die Briefe. Mit gesammelten Sinnen las er sie jetzt
-alle wieder, sah seinen Buben heranwachsen und begleitete
-Schrittlein nach Schrittlein seine Entwicklung. Und er
-fühlte eine tiefe Trauer, daß er sich so gar nicht vorstellen
-konnte, wie der Junge jetzt aussah, lachte und sprach,
-und der Wunsch, ihn und die Mutter bei sich zu haben,
-schwoll ihm übermächtig empor.</p>
-
-<p>Aber es blieb auch diesmal nur beim Wunsch.</p>
-
-<p>Die Ruhe, die so unvermittelt eingefallen, war nicht
-die Ruhe des Friedens oder der Erschöpfung. Leibinger
-hatte die Nutzlosigkeit der bisherigen Kampfesart erkannt.
-Und da kam es ihm gerade recht, daß Robert Karus, aus
-Rußland zurückgekehrt, wieder in der Hauptstadt aufgetaucht
-war. An ihn wandte er sich um Rat und Hilfe und
-der sagte zu, unter der Bedingung, daß ihm vollständig
-freie Hand gelassen werde. Ungern fügte sich Leibinger,
-aber er fügte sich doch.</p>
-
-<p>Und Karus ging an die Arbeit. Ein paar erprobte Leute
-wählte er sich und schickte sie zu Reinholt auf Arbeitssuche.
-Sie erhielten strengen Befehl, als unbedingte Anhänger
-Hellwigs aufzutreten und vorsichtig die Unzufriedenheit
-der Zufriedenen zu wecken. Das Wie blieb ihnen überlassen.
-Und sie waren ihrer Aufgabe gewachsen. Rasch
-hatten sie jene aufgespürt, die schwankten oder sich zurückgesetzt
-fühlten, machten sich an sie heran und bearbeiteten
-sie.</p>
-
-<p>Aber auch Karus blieb nicht müßig, und Mark und
-Leibinger waren seine Werkzeuge. Ein paar Schlagworte
-warf er den Arbeitern der benachbarten Unternehmungen
-hin und wiegelte sie auf. Und geschulte Agitatoren waren
-mitten unter ihnen und schürten und schürten ohne Unterlaß.
-Immer lauter, immer ungestümer erhoben sie die
-Forderung nach höherem Lohn, nach kürzerer Arbeitszeit,
-nach Gleichstellung mit den Hellwigianern. Die Fabrikanten
-aber, selbst in ihrer Existenz bedroht, konnten und
-wollten keine Zugeständnisse machen. Da begann der Streik.</p>
-
-<p>Unfriede im eigenen Haus, heller Aufstand ringsum:
-so war jetzt die Lage und so war sie Karus recht. Hellwig
-aber, der Vertrauensselige, der kindlich Arglose, wußte
-nicht, daß viele gegen ihn murrten. Und als der Streik
-jetzt so unvermittelt losbrach und als alle Betriebe feierten
-und nur die von ihm geleitete, nach seinen Ideen eingerichtete
-Fabrik rüstig weiter ging, &mdash; und seine Leute
-verrichteten gelassen ihr Tagwerk und schienen sich um das
-Branden außerhalb ihrer Herdfeuer gar nicht zu kümmern,
-&mdash; da frohlockte er und abermals sagte er siegessicher zu
-Reinholt: &#8222;Leo, wir sind durch!&#8220; Und nur das eine trübte
-ihm die Freude: daß er wieder Geduld haben und erst das
-Ende des Ausstands abwarten sollte, ehe er die Seinen zu
-sich kommen ließ. Dann aber wollte er es ganz bestimmt
-tun und freute sich darauf und glaubte, daß ein Ausgleich
-bald erzielt und die Lohnbewegung bald zu Ende sein
-werde. Er tat sogar ein übriges, er ging zu den einzelnen
-Fabriksherren und setzte sich für jene ein, die seine erbittertsten
-Feinde waren. Und er tat es nicht nur um ihretwillen,
-auch seinetwegen tat er es, er wollte vielleicht doch
-einen oder den anderen für seine Ansichten gewinnen.
-Aber überall begegnete er mit seinen Vermittlungsversuchen
-einem starren &#8222;Nein!&#8220; oder einem geschmeidigeren
-&#8222;Leider nicht möglich!&#8220; und einer gab geradezu ihm die
-Schuld an dem Streik und an dem Niedergang der kleineren
-Betriebe. Doch auch die Arbeiter, als sie es erfuhren,
-verbaten sich seine Einmischung. Da ließ er es bleiben.
-Aber nicht eine Sekunde wankte ihm der Glaube an seine
-Schöpfung und die Zuversicht, daß sein Weg der richtige
-wäre.</p>
-
-<p>Reinholt war nicht so vertrauensselig. Manches an den
-Leuten wollte ihm nicht mehr gefallen. Daß sie häufig
-mitsammen flüsterten, im Bibliothekssaal heftige Debatten
-führten, die sofort abgebrochen wurden, wenn er oder
-Hellwig oder Pfannschmidt oder sonst ein Treuer dazu
-kam. Und namentlich der Sanders, ein dunkelhaariger
-Gesell mit Blatternarben im eischmalen Gesicht, gefiel
-ihm gar nicht. Er war erst seit kurzer Zeit in der Fabrik
-und doch spielte er, vornehmlich unter den jüngeren, eine
-große Rolle. Sie hörten auf ihn, suchten und riefen ihn,
-und wenn er zu ihnen trat, wurden ihre Worte leiser,
-steckten sie die Köpfe zusammen und bekamen aufgeregte
-Gesichter. Auch dem Pfannschmidt war das bereits aufgefallen,
-und nur Hellwig wollte es nicht gelten lassen.
-Wenn ihn Reinholt aufmerksam machte oder warnte, schüttelte
-er mit ungläubigem Lächeln den Kopf, suchte und
-fand Entschuldigungen.</p>
-
-<p>&#8222;Das Kameradschaftsgefühl ist in ihnen noch nicht erloschen,
-soll es auch nicht sein! Und da wurmt sie&#8217;s eben,
-daß sie Streikbrecher geschimpft werden. Aber das geht
-vorüber. Als der Streik angefangen hat, was hat man
-da nicht alles befürchtet. Sogar Militär hat hermüssen,
-weil unsere Nachbarn um ihre Maschinen Angst gekriegt
-haben. Und schau&#8217; her, jetzt dauert die Geschichte schon
-fast zwei Wochen &mdash; und alles bleibt ruhig. Glaub&#8217; mir
-nur, Leo, jetzt sind wir schon überm Berg. Die Arbeitsfreude
-bei uns, während ringsherum alles gärt und tobt
-und siedet, beweist mir am schlagendsten die Ohnmacht
-der Gegner. Wir haben unsere Leute zufrieden gemacht,
-<em class="gesperrt">den</em> Erfolg jagt uns keiner mehr ab!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Nicht alle sind zufrieden, Fritz!&#8220; beharrte Reinholt
-bei seinem Bedenken. &#8222;Sie planen was gegen uns! So
-mach&#8217; doch die Augen auf, Fritz, ich werd&#8217; ja ganz irr
-an dir! Du hast Mitleid mit denen da draußen, vielleicht
-trübt dir das den Blick &mdash; aber ich denke, sie haben uns
-wahrhaftig genug Prügel unter die Beine geschmissen und
-verdienen keine Rücksicht!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Nein, nein, Leo, sprich nur nicht anders als du denkst!&#8220;
-entgegnete Fritz traurig. &#8222;Die Leute sind nicht besser und
-nicht schlechter als wir alle. Sie wollen auch nur &mdash;
-wieder Menschen werden. Teilhaben an den reizvollen
-Nebensachen und bunten Nichtigkeiten, die zwischen Arbeit
-und Schlaf, zwischen Hunger und Liebe liegen und uns
-erst vom Vieh unterscheiden. Und sind wir nicht mit
-schuld, daß sie es so heftig heischen? Die unseren <em class="gesperrt">haben</em>
-das alles, es ist kein Wunder, wenn die anderen gegen
-uns toben. Leo, es ist Zeit, höchste Zeit, daß wir hier mit
-dem Aufbau fertig, daß uns die Kräfte frei werden, einen
-oder den anderen Reichen noch für unsere Ansichten zu
-werben, zu gewinnen. Vielleicht &mdash; gehen wir doch den
-rechten Weg, können wir dem kommenden Gründer der
-neuen Gesellschaft &mdash; Vorläufer sein ...&#8220;</p>
-
-<div class="section">
-<h3>4.</h3>
-</div>
-
-<p>Einer hatte diesem Gespräch zugehört. Robert Karus,
-der schon seit Tagen in der Gegend weilte. In ihm war
-der Haß des Zerstörers gegen den Bauenden. Und auch
-er wollte seinem Freunde Heinz Wart ein Totenmal errichten.
-Sorgsam bereitete er den Grund, und seine Saat
-schoß schwer und wuchernd in die Halme.</p>
-
-<p>Aber weder die Freunde Hellwigs noch dieser selbst
-wußten von seiner Anwesenheit. Und niemand hatte ihnen
-noch verraten, daß Karus bereits einige Male, das Gitter
-überkletternd, in den Fabrikpark eingedrungen war, um
-hinter Buschwerk versteckt zu lauschen. Und seine Flugblättchen
-gingen unter den Eingeweihten von Hand zu Hand,
-ängstlich behütet vor den Augen Unberufener, und in geheimen
-Versammlungen wurden sie besprochen und schürten
-die Erregung und peitschten die Lust zur Empörung
-immer höher auf. Mehr als hundert hatten sich schon unbedingt
-an Karus angeschlossen, viele gab es, die durch die
-abfälligen Kritiken und klug berechneten Reden der gemieteten
-Hetzer aufgestachelt, schon unentschieden schwankten
-und jeden Tag zu Überläufern werden konnten. Und
-die Streikenden, durch die Unnachgiebigkeit ihrer Brotherren
-zum äußersten bereit, standen wie <em class="gesperrt">ein</em> Mann gegen
-Hellwig und was Karus und Mark und Leibinger ihnen
-vorsagten, das sprachen sie nach und glaubten, daß einzig
-Hellwig an ihrer Lage schuld wäre.</p>
-
-<p>So war eine gewaltige Menge Zündstoff aufgehäuft.
-Der geringfügigste Anstoß mußte die Explosion herbeiführen.
-Und Karus sorgte dafür, daß dies bald geschah.</p>
-
-<p>Nun, da der Boden gehörig unterminiert, ein verläßlicher
-Kern von Anhängern gebildet, die Erbitterung der
-Leute bedrohlich angewachsen war, nun mußte Sanders,
-der gedungene Proselytenmacher, aus seiner Reserve heraus.
-Bei jeder Gelegenheit redete er jetzt ganz offen vor allen
-Leuten über die mangelhaften Einrichtungen des Unternehmens,
-schimpfte darüber, mäkelte und nörgelte, und
-nichts fand mehr Gnade vor seinen Augen. Zu wenig
-Abwechslung im Essen, zu kleine Portionen, zu wenig Geld,
-aber viel zu viel Bevormundung, Kasernenzwang und Drill:
-das war so der eiserne Bestand seiner Argumente. Dieses
-Tadeln und Mäkeln führte bald zu Zank und Streitereien.
-Die treu zu Hellwig hielten, wollten es nicht dulden, die
-andern gaben dem Nörgler recht, Unfriede entstand, Zwist
-und Spaltung.</p>
-
-<p>Am heftigsten erboste sich über die Reden Sanders&#8217;
-der alte Bogner. Jedes gehässige Wort gegen den Meister
-brachte ihn in Harnisch, er schalt und wetterte über die
-Anmaßung der jungen Leute und wäre am liebsten mit
-den Fäusten dreingefahren. Aber er erntete mit seinem
-ehrlichen Grimm nur Gelächter und Spott.</p>
-
-<p>Pfannschmidt wollte anfangs vermitteln und beschwichtigen.
-Bald jedoch erkannte er den Ernst der Bewegung,
-erschrak, wie fest sie sich schon eingenistet hatte, und
-schwere Befürchtungen kamen ihm. Da ging er zu Hellwig
-und deckte ihm alles auf. Der aber legte, wie vordem
-den Warnungen Reinholts, jetzt auch diesen Berichten keine
-Bedeutung bei. Er <em class="gesperrt">wollte</em> einfach nicht sehen, wo jeder
-sehen, nicht hören, was jeder vernehmen konnte. <em class="gesperrt">Wollte</em>
-blind und taub bleiben und allen ungünstigen Zeichen
-zum Trotz die siegessichere Zuversicht sich aufrechterhalten.
-Er zwang sich zur Sorglosigkeit, um die Zweifel,
-die sich schon leise regten, zu übertäuben. Er drückte jeden
-Argwohn, der ihm jetzt doch manchmal leise aufstieg, gewaltsam
-nieder, und gewaltsam zwang er sich, an den
-Erfolg ganz fest zu glauben, weil er den Erfolg brauchte.
-Weil er das Gelingen nicht nur heiß herbeisehnte, sondern
-notwendig haben mußte, sagte er: &#8222;Es ist schon gelungen!&#8220;
-und sagte es sich und den anderen immer wieder vor, als
-könnte durch dieses fortwährende starre Bejahen jede Möglichkeit
-des Mißlingens gebannt werden. Und es durfte
-kein Mißlingen geben, sollte nicht, so meinte er, sein
-ganzes Leben mit in Stücke brechen.</p>
-
-<p>Deswegen stellte er den besorgten Warnern seine lächelnde
-Sicherheit entgegen, und was nur erst beinahe fertig und
-was noch fast nur kaum mehr als ein Wunsch war, sollte
-als fertig und vollendet angesehen werden. Doch weder
-Reinholt noch Pfannschmidt konnte er überzeugen.</p>
-
-<p>Sanders aber wurde immer dreister. Er begann nun
-auch über zu viel Arbeit sich aufzuhalten, hatte an jedem
-neuen Auftrag etwas auszusetzen und wenn er ihn überhaupt
-ausführte, tat er es nur widerwillig zögernd mit
-sichtlicher Verdrossenheit. Und als er nach dem festgesetzten
-Reihengang eine Woche lang die Kontrolle der Nachtwächter
-besorgen sollte, weigerte er sich mit der Begründung,
-er sei als Weber aufgenommen und nicht als Hausmeister.
-Da könne man schließlich auch von ihm verlangen,
-daß er die Ställe ausmiste oder die Senkgrube putze,
-das käme auf dasselbe heraus. Er weigerte sich also,
-schrieb aber auch noch am gleichen Tag an Leibinger, er
-möge sich bereit halten, die Sache werde bald entschieden
-werden.</p>
-
-<p>Und als am folgenden Morgen das Kontrollbuch keinen
-Vermerk aufzeigte und als er deswegen verwarnt wurde,
-zuckte er bloß die Achseln und lächelte dazu. Und als
-am zweiten Morgen aus der Verwarnung eine Rüge wurde,
-unter Androhung der Entlassung, da lächelte er noch geringschätziger
-und zuckte wieder die Achseln. Am dritten
-Morgen war er entlassen. Er erhielt sein Sparkassenbuch
-und seine Abfertigung und konnte gleich gehen. Obwohl
-Reinholt dagegen gesprochen, hatte es Fritz so angeordnet.
-Eine Satzung war übertreten, die darauf gesetzte Strafe
-war verwirkt worden, da gab es für Hellwig kein Überlegen
-und galt keine Rücksicht.</p>
-
-<p>Sanders aber hatte nichts anderes gewollt. Seiner Anhänger
-gab es viele, und die, das wußte er, würden ihn
-nicht so mir nichts, dir nichts ziehen lassen. Und er traf
-keine Anstalten zum Fortgehen. Das Geld nahm er zwar,
-aber seine Sachen packte er nicht. Nur sein Sonntagsgewand
-zog er an und ein gestärktes Hemd und ging
-ins Wirtshaus.</p>
-
-<p>Dort saß bereits Karus mit Leibinger und Mark. Sie
-hatten einen großen Krug Wein vor sich und tranken
-fleißig. Mit einem selbstbewußten Schmunzeln setzte sich
-der blatternarbige Weber zu ihnen.</p>
-
-<p>&#8222;Wie steht&#8217;s?&#8220; fragte Karus kurz.</p>
-
-<p>Sanders schenkte sich gemächlich ein Glas voll und tat
-einen bedächtigen Zug. Da sein Bericht mit Spannung
-erwartet wurde, kam er sich sehr wichtig vor und wollte
-dieses Gefühl seiner Bedeutung möglichst lang auskosten.</p>
-
-<p>Leibinger rieb die Hände rund umeinander und machte
-sein verbindlichstes Gesicht.</p>
-
-<p>&#8222;Es scheint alles glatt gegangen zu sein?&#8220; fragte er
-ausholend. Sanders nahm noch einen Schluck. Dann zog
-er sein Taschentuch und wischte sich umständlich den
-Mund ab.</p>
-
-<p>&#8222;Verfluchtes Getu&#8217;!&#8220; schimpfte Karus. &#8222;Laß die Faxen
-und red&#8217; endlich!&#8220;</p>
-
-<p>Da tat Sanders gekränkt und war beleidigt:</p>
-
-<p>&#8222;Befehlen lass&#8217; ich mir nichts!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Aber wir bitten Sie doch!&#8220; lenkte Leibinger ein und
-Mark nickte und bestätigte eifrig: &#8222;Gewiß, gewiß, wir
-bitten Sie!&#8220;</p>
-
-<p>Da war der blasse Weber wieder versöhnt und erzählte
-von seiner Entlassung und fügte hinzu, daß er nicht fortgehen,
-sondern heute beim Abendvortrag im Garten Einspruch
-zu erheben gedenke und vom Mittag bis Feierabend
-werde er noch ein bißchen Stimmung machen.</p>
-
-<p>Leibinger meinte dazu: &#8222;Gut! Sehr gut!&#8220; und Mark:
-&#8222;Schön! Sehr schön! Ausgezeichnet!&#8220; Karus aber sagte:
-&#8222;Da erzählst du uns nichts Neues! Denke, daß ich dir
-das so eingetrichtert hab&#8217;. Daß sie dich davongejagt haben,
-hast du brav gemacht. Mach&#8217;s weiter so, dann geht heut&#8217;
-abend der ganze Krempel in Fransen!&#8220;</p>
-
-<p>Dröhnend lachte er, und seine Faust schmetterte hart
-auf den Tisch. Dann trank er sein Glas leer, füllte es rasch
-und leerte es wieder und noch einmal und abermals.
-Nun die Entscheidung so nahe war, wurde er doch aufgeregt.
-Die anderen bemerkten das, schauten ihn an und
-schwiegen. Ihm aber löste der Wein die Zunge.</p>
-
-<p>&#8222;Bekehren will er die Aussauger!&#8220; rief er unvermittelt
-aus dem Wirbel seiner Gedanken heraus. &#8222;Bekehren! So
-lang man die nicht totschlägt, gibt&#8217;s keine Bekehrung!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Sprechen Sie von Hellwig?&#8220; fragte Mark und riß
-die Augen weit auf.</p>
-
-<p>&#8222;Nein, vom Mond, Sie Kalb!&#8220; entgegnete Karus grob.
-Leibinger lächelte liebenswürdig. Da faßte auch Mark die
-Beleidigung als Witz auf. Er lachte laut und gezwungen.
-Doch schien es ihm ersprießlicher, ein anderes Thema anzuschlagen.</p>
-
-<p>&#8222;Herr Karus,&#8220; sagte er, &#8222;die Partei kann es Ihnen
-nicht hoch genug anrechnen, daß Sie sich so selbstlos ...&#8220;</p>
-
-<p>Karus unterbrach ihn: &#8222;Dankt dem Himmel, daß ich
-euch früher nicht so genau gekannt hab&#8217;. Ich hätt&#8217;s mir
-sonst, weiß der Teufel, noch gründlich überlegt!&#8220;</p>
-
-<p>Er hielt inne, fuhr mit den gespreiteten Fingern durch
-den borstigen Haarschopf.</p>
-
-<p>&#8222;Eh was, jetzt bin ich einmal da!&#8220; sagte er dann. Und
-mehr im lauten Selbstgespräch: &#8222;Als junger Grasaff&#8217;
-bin ich auch nicht anders gewesen wie der Volksbeglücker.
-Heinz auch nicht. Gewiß nicht! Nein! ... Was stiert
-ihr mich denn so blöd an? Ich bin nicht besoffen! Nur
-... ich hab&#8217; auch einmal einen Freund gehabt! Ja &mdash; der
-Robert Karus hat auch einmal einen Freund gehabt ...&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Sie haben doch viele Freunde!&#8220; beeilte sich Leibinger
-zu versichern, und Mark beteuerte das auch, rückte aber
-seinen Stuhl aus der Nähe des Mannes, dessen flackernde
-Augen und dessen zerfahrenes Wesen ihm Angst machten.</p>
-
-<p>&#8222;Redet mir das nicht vor!&#8220; antwortete Karus geringschätzig.
-&#8222;Ihr braucht mich, deswegen tut ihr mir schön!
-Aber Freunde? Bah! Furcht habt ihr vor mir! Alle haben
-Furcht! &mdash; &mdash; Heinz nicht ... Und doch &mdash; hab&#8217; ich ihn
-später ...&#8220; Er sprang von der Bank und schüttelte die
-Fäuste vor sich, als rüttle er an Ketten. &#8222;Sie hätten ihn
-sonst ... es ist einfach nicht anders gegangen!&#8220;</p>
-
-<p>Wie ein erstickter Aufschrei war das. Und wieder trank
-er und ging mit mühsamen Schritten über den Lehmboden
-der Stube.</p>
-
-<p>&#8222;Also seither: Rache für Heinz! <em class="gesperrt">Das</em> ist der Grund!
-Nicht ihr! Nur &mdash; er! Die Gesellschaft von heute hat
-ihn umgebracht, drum <em class="gesperrt">muß</em> sie weg! Sie oder ich! Eher
-wird da nicht Ruh&#8217;!&#8220;</p>
-
-<p>Die anderen wurden aus den wirren Reden des verstörten
-Menschen, der im Ringen mit einem schweren Entschluß
-aus allen Fugen gehoben schien, nicht klug, schauten
-einander bedeutungsvoll an und unterbrachen ihn mit
-keiner Silbe.</p>
-
-<p>&#8222;Nun kann&#8217;s ja losgehen!&#8220; sagte Karus nach einer
-Weile wieder ganz kalt. &#8222;Ich geh&#8217; jetzt und horch&#8217; ein
-bissel herum! Auf Wiedersehn heut&#8217; abend!&#8220;</p>
-
-<div class="section">
-<h3>5.</h3>
-</div>
-
-<p>Es war Abend geworden.</p>
-
-<p>Langsam schritt Karus den Fußweg entlang zur Fabrik.</p>
-
-<p>Hoch über den weiten Wiesen zogen weiße Wolken wie
-Schaumflocken durch den blauen Himmel und flimmerten
-im Widerschein der müd geneigten Sonne. Eine Spottdrossel
-sang unsichtbar in einer Hecke. Ihr tiefes, klingendes
-Lied erfüllte den ganzen Busch, und es war, als sänge
-dieser selbst mit allen seinen Ästen und unbewegten Blättern
-durch einen Zauber zum Tönen gebracht. Sonst war
-Schweigen. Unter goldenen Schleiern lag die Erde still
-und glanzmüde, und das Leben hielt den Atem an. Und
-nichts war mehr zu hören als das tiefe, quellende Lied,
-das aus dem verzauberten Busch in die Märchen gewordene
-Welt verklang.</p>
-
-<p>Aber nicht überall war diese Landschaft so des Friedens
-voll.</p>
-
-<p>In der Fabrik Reinholts, in dem großen Garten, auf
-dem schattigen Platz unter den hohen Kastanien, wo der
-Tisch für den Vorleser stand und die Bänke für die Zuhörer,
-ballte sich und lärmte eine dunkle Menschenmasse
-verworren durcheinander, und Fritz Hellwig war rings
-von ihr umschlossen. Er hatte eben noch aus dem &#8218;Egmont&#8216;
-vorgelesen und war warm geworden bei der Stelle: &#8218;Ich
-fühle mir Hoffnung, Mut und Kraft. Noch hab&#8217; ich
-meines Wachstums Gipfel nicht erreicht und steh&#8217; ich
-droben einst, so will ich fest, nicht ängstlich stehen.&#8216; Aber
-die Worte: &#8218;Soll ich fallen, so mag ein Donnerschlag,
-ein Sturmwind, ja selbst ein verfehlter Schritt mich abwärts
-in die Tiefe stürzen, da lieg&#8217; ich mit vielen Tausenden&#8216;,
-die Worte konnte er schon nicht mehr lesen.</p>
-
-<p>Da waren sie vom Lesesaal herübergekommen, erregt
-und schreiend, und Sanders ging in der ersten Reihe,
-ein wenig unsicher und ein wenig schwankend, mit zerwirrtem
-Haar und mit offener Weste. Er hatte sich Begeisterung
-und Mut getrunken, und das machte ihm jetzt
-die Füße schwer. Aber seine Zunge war gelenkig geblieben.
-Im Lesesaal hatte er zu seinen Freunden geredet. Während
-die anderen ahnungslos ihre Arbeit taten, hatte er seine
-Leute aufgepulvert. Und jetzt standen sie mit ihm vor
-Hellwig, um die Auflassung der Strafe zu fordern und
-&mdash; es ging unter einem hin &mdash; die Einstellung der Arbeit
-aus Solidarität mit den hungernden Genossen.</p>
-
-<p>Mit leidenschaftlichen Worten forderten sie das, und
-ihre Gebärden waren drohend und trotzig. Reinholt und
-Pfannschmidt hatten sich beim Nahen des Haufens wie
-zum Schutz neben Hellwig gestellt, und auch die anderen
-Getreuen drängten näher herzu. Fritz aber stand ruhig
-und aufrecht da, und seine Augen blickten wie verwundert
-in das Getümmel. Und je länger sie schauten, desto kälter
-glänzend wurden sie. Aber kein Muskel zuckte an ihm,
-nur die Nasenflügel zitterten leicht, und je fester sich die
-Lippen aufeinander legten, desto bestimmter wurde in dem
-unbewegten Gesicht der Ausdruck einer harten Entschlossenheit.
-Sein heller Blick richtete sich fest auf Sanders,
-und seine Stimme klang herrisch und streng.</p>
-
-<p>&#8222;Was suchen Sie noch hier?&#8220; fragte er.</p>
-
-<p>&#8222;Fritz!&#8220; flüsterte ihm Reinholt beschwörend zu. &#8222;Tu&#8217;
-jetzt nichts, was sie noch mehr erbittern könnte! Nur
-jetzt nicht!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich muß!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Was ich hier suche?&#8220; rief Sanders zu ihm hinauf.
-&#8222;Arbeit such&#8217; ich! Brot such&#8217; ich! Gerechtigkeit such&#8217; ich!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Gerechtigkeit haben Sie bereits gefunden. Brot und
-Arbeit suchen Sie anderswo, die Kündigung bleibt aufrecht!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Sie ist willkürlich!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Sie bleibt aufrecht.&#8220;</p>
-
-<p>Im selben Augenblick trat Karus hinter den Bäumen vor.</p>
-
-<p>&#8222;Servus, Volksbeglücker! Schön schaut&#8217;s hier aus!&#8220;</p>
-
-<p>Hellwig blickte ihn an und erstaunte nicht einmal, ihn
-jetzt und hier zu sehen.</p>
-
-<p>Was wollten nur die da unten von ihm? Und warum
-war Reinholt so farblos? Und warum bebte Pfannschmidt
-so und hielt die Hände geballt? Und warum war er selbst
-so seltsam ruhig, so leer, so, als ob er ganz hohl wäre und
-sein Blut, seine Lebendigkeit, sein ganzer Inhalt ausgeronnen?</p>
-
-<p>&#8222;Er darf nicht fort! Wir dulden&#8217;s nicht!&#8220; riefen sie
-drohend zu ihm herauf.</p>
-
-<p>&#8222;Fritz, mach&#8217; die Kündigung rückgängig!&#8220; beschwor ihn
-Reinholt.</p>
-
-<p>Da reckte er sich hoch auf: &#8222;Nein!&#8220;</p>
-
-<p>Und ganz hart, wie wenn Eisen gegen Glasscherben
-klirrt, rief er hinab in den Lärm: &#8222;Hier hab&#8217; ich allein zu
-befehlen! Ob ihr&#8217;s duldet oder nicht &mdash; einerlei! Der Mann
-ist entlassen!&#8220;</p>
-
-<p>Karus lachte höhnisch auf.</p>
-
-<p>&#8222;Er duldet nicht, daß ihr einen Willen habt!&#8220; rief er.
-&#8222;Kuscht, Hunde, kuscht! Er duldet nichts, als daß ihr
-kuscht!&#8220;</p>
-
-<p>Nun brausten sie wilder empor: &#8222;Wir kuschen nicht!
-Wir lassen uns das Maul nicht verbieten! Wir lassen
-Sanders nicht weg! Er darf nicht fort!&#8220;</p>
-
-<p>Die Treuen Hellwigs riefen dagegen und scharten sich
-dichter um das Podium und suchten die Schreier abzudrängen.
-Doch ihre Zahl war nur klein. Denn viele hielten
-sich zurück und standen unentschlossen da und wußten nicht,
-wem sie recht geben sollten. Der alte Bogner aber wollte
-immer wieder auf Sanders los und rang mit seinem
-Schwiegersohn, der ihn zurückhielt, und zitterte am ganzen
-Leibe und weinte vor Wut laut auf.</p>
-
-<p>&#8222;Mach&#8217; die Kündigung rückgängig!&#8220; flehte Reinholt
-abermals. Hellwig schüttelte nur mit einem kurzen Ruck
-den Kopf. Jetzt mußte er fest bleiben, durfte sich die
-Leitung nicht aus den Händen winden lassen, sonst war
-alles verloren.</p>
-
-<p>&#8222;Niemand darf hier drohen!&#8220; sprach er in den Lärm
-hinein, laut und hell. &#8222;Niemand! Ich nicht und ihr nicht
-und niemand! Sanders ist entlassen! Und bleibt es! Und
-bliebe es auch, wenn ihr anständig und bescheiden euer
-Anliegen vorgebracht hättet! Er hat unsere Ordnung verletzt.
-Gilt euch diese Ordnung nichts und nichts euer verpfändetes
-Wort? Wenn ihr frei und unabhängig sein
-wollt, müßt ihr die Gesetze achten, die ihr beschworen
-habt und dürft nicht jene schützen, die sie böswillig brechen.
-Erst durch die Ungerechtigkeit werden wir unfrei!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich hab&#8217; nicht Nachtwächter sein wollen, weil ich ein
-gelernter Weber bin! Ist das ein Verbrechen?&#8220; rief Sanders
-spöttisch.</p>
-
-<p>&#8222;Ich fordere Sie nochmals auf, die Ordnung zu achten
-und die Fabrik sofort zu verlassen!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Und wenn ich&#8217;s nicht tu&#8217;?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Dann jagt ihn der Volksbeglücker hinaus!&#8220; höhnte
-Karus. &#8222;Schöne Volksbeglückung das! Wie ein ausgedienter
-Gaul wird er vor die Tür gesetzt!&#8220;</p>
-
-<p>Einer von den Arbeitern aber, die um Sanders waren,
-trat jetzt verlegen vor und sagte: &#8222;Meister, ich ... wenn
-ich gewußt hätt&#8217;, was die eigentlich wollen, hätt&#8217; ich mich
-nicht so tief eingelassen. Sie haben&#8217;s ja so abgemacht,
-untereinander, der Karus, der Leibinger und der Sanders.
-Jetzt begreif&#8217; ich erst, wo das hinaus soll.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Schuft!&#8220; schrie Sanders und spie ihm ins Gesicht.
-Karus trat gebieterisch dazwischen.</p>
-
-<p>Hellwig ächzte dumpf auf und taumelte. Wieder einmal
-sah er sich einem Schurkenstück gegenüber, der Ekel
-kam und lähmte seine Tatkraft. Er haßte die Falschheit.
-Und alles, was nur eine Spur von Gemeinheit in sich
-hatte, machte ihn fassungslos und wehrlos, da konnte er
-nicht zornig dreinfahren, fühlte er nur Enttäuschung und
-Schmerz und eine tiefe Mutlosigkeit.</p>
-
-<p>&#8222;Ihr habt es gehört!&#8220; sagte er und das Sprechen
-wurde ihm schwer. &#8222;Ist es wirklich schon so weit, daß
-eine abgekartete Komödie uns auseinander bringen kann?&#8220;</p>
-
-<p>Als sie den Meister so ganz tief traurig und wie um
-alle Hoffnungen betrogen sahen, regte sich das Gewissen
-in so manchem.</p>
-
-<p>&#8222;Nein, Meister! &mdash; Wir halten zu Ihnen, Meister!&#8220;</p>
-
-<p>Und der alte Bogner rang immer noch mit seinem
-Schwiegersohn und bat und drohte und schluchzte immerzu:
-&#8222;Laß mich los, Adam! Ich muß dem Kerl das Maul
-zustopfen!&#8220; Doch der Adam ließ nicht los.</p>
-
-<p>Karus aber wurde kaum des Umschwungs gewahr, da
-holte er aus zum entscheidenden Schlag. Und mit dem
-ganzen Elan seiner wilden, ungezügelten Leidenschaft lief
-er den letzten Sturm.</p>
-
-<p>&#8222;Jawohl!&#8220; schrie er, sprühendes Feuer in den Augen.
-&#8222;Jawohl! Es ist eine abgekartete Komödie! Aber sie ist
-gut genug, denen da oben die Larven herunterzureißen!
-Damit ihr endlich erfahrt, wie sie euch aus lauter Liebe
-die letzte Unze Blut aussaugen!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Nieder mit den Blutsaugern!&#8220; rief Mark im Hintertreffen.
-Und: &#8222;Nieder mit den Blutsaugern!&#8220; riefen ihm
-viele nach. Und immer lauter tönte und schmetterte die
-Stimme des alten Revolutionärs:</p>
-
-<p>&#8222;Millionen raffen die zwei da oben zusammen! Jeder
-Tropfen Schweiß, den ihr vergießt, wird für sie zum
-Goldstück! Dann werfen sie euch ein paar Knochen hin:
-Da hast, Hund, friß dich satt!&#8220;</p>
-
-<p>Und wie grollende Meeresbrandung tönte die Antwort
-zurück:</p>
-
-<p>&#8222;Wir <em class="gesperrt">sind</em> keine Hunde!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Nein, ihr seid keine Hunde! Es ist euer Recht, zu
-fordern, was sie euch als Almosen vor die Füße schmeißen!
-<em class="gesperrt">Ihr</em> müßt die Herren sein, denn <em class="gesperrt">euere</em> Muskeln stoßen
-die Welt vorwärts!&#8220; rief Karus.</p>
-
-<p>Sein heißer Atem wehte über sie weg, schlug ihnen wie
-Glutwind ins Gesicht, ergriff und riß sie mit wie der
-Sturm die Bäume.</p>
-
-<p>&#8222;Nieder mit den Unterdrückern! Nieder! Nieder!&#8220;</p>
-
-<p>Das grollte und gellte auf, hob sich wie eine gewaltige
-Woge hoch empor, wieder, wieder und immer wieder und
-wollte nicht schweigen.</p>
-
-<p>Schlag auf Schlag kam das alles und ließ niemandem
-Zeit zur Überlegung. Hellwig stand mit totenblassem Gesicht
-und stützte sich schwer auf Reinholt. Als ob ihn
-das gar nichts anginge, blickte er in das Toben und fühlte
-nur einen harten Druck, der stärker und stärker sein Herz
-zusammenpreßte. Reinholt aber wollte ein letztes Mittel
-versuchen.</p>
-
-<p>&#8222;Leute!&#8220; rief er. &#8222;Kommt zur Besinnung, Leute! Fünf
-Kompagnien Soldaten sind im Dorf!&#8220;</p>
-
-<p>Karus griff das Wort auf:</p>
-
-<p>&#8222;Seht ihr&#8217;s! Seht ihr&#8217;s! Jetzt werfen sie schon die
-Larven ab! Jetzt zeigen sie ihr wahres Gesicht! Zusammenschießen
-lassen sie euch, wenn ihr euer Recht fordert!&#8220;</p>
-
-<p>Und aus hundert Kehlen brauste es stürmisch zurück:
-&#8222;Wir lassen uns nicht zusammenschießen!&#8220;</p>
-
-<p>Mittlerweile hatte Leibinger auch die Streikenden vor
-dem Gittertor gesammelt. Rauh aufjohlten die. Und dann:
-&#8222;Genossen, nicht nachgeben! Wir helfen euch! Hoch die
-Internationale! Hoch die Freiheit!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Hoch die Freiheit! Hoch! Hoch die Freiheit!&#8220;</p>
-
-<p>Und Karus&#8217; Stimme klang wie Trompetenschall durch
-den Aufruhr: &#8222;In Sklavenketten halten sie euch! Um
-euere besten Menschenrechte betrügen sie euch!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Wir lassen uns nicht betrügen! Wir sind keine Sklaven!&#8220;</p>
-
-<p>Mühsam raffte sich endlich Hellwig zusammen: &#8222;Laßt
-euch nicht aufhetzen, Leute!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Er darf nicht reden! Herunter mit dem Tyrannen!&#8220;
-donnerte es zurück.</p>
-
-<p>Da schrie er schluchzend auf: &#8222;Das sind meine Braven?
-Für <em class="gesperrt">die</em> hab&#8217; ich gearbeitet?&#8220; und sprang mit einem Satz
-mitten unter sie. &#8222;Hier bin ich! Nun? Was zaudert ihr?
-Macht den Tyrannen nieder! Ihr seid ja frei!&#8220;</p>
-
-<p>Eine kurze Stille der Verblüffung.</p>
-
-<p>&#8222;Du Schuft!&#8220; rief der alte Kesselwärter und drang
-mit geschwungener Faust auf Karus ein. Der fing den
-Schlag auf und sagte kalt: &#8222;Ruhig, Alter! Gleich ist&#8217;s
-vorüber!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Wessen klagt ihr mich an?&#8220; fragte Hellwig.</p>
-
-<p>&#8222;Er darf nicht reden! Nieder mit dem Tyrannen!&#8220;
-schrie Mark im Hintertreffen. Aber nun Hellwig wieder
-mitten unter ihnen war, nun sie die vertrauten Züge wieder
-dicht vor sich sahen, die Lippen, die so oft gütige Worte
-zu ihnen gesprochen, die Augen, die so oft heiter und frei
-und immer ohne Falsch auf sie gesehen, da trauten sie sich
-nicht recht vor, und nur dumpfes Murren folgte dem
-gellenden Auftakt Marks.</p>
-
-<p>&#8222;Wessen klagt ihr mich an?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Wir lassen uns die Freiheit nicht rauben! Wir sind
-keine Sklaven!&#8220; grollten sie und schauten mit scheuen Blicken
-an seinen leuchtenden Augen vorbei und schüttelten die
-Fäuste nur verstohlen.</p>
-
-<p>Fritz aber stand da, wie ein Träumender stand er da
-und schaute in eine leere Ferne hinaus, einem zerfließenden
-Trugbild nach. Und während es sich langsam auflöste
-und zerrann, stieg langsam und immer klarer und schärfer
-eine neue Erkenntnis vor ihm auf. Sein Blick war starr
-und visionär, mit fremder, müder Stimme fing er an
-zu sprechen und es war, als holte er die Worte aus einem
-tiefen Brunnen herauf:</p>
-
-<p>&#8222;Ich euch die Freiheit rauben? Brüder, wie kann
-ich euch etwas rauben, was niemals ein Menschengut gewesen
-ist? In schweren Ketten keuchen wir, das Schicksal
-hat sie uns auferlegt und wir zerbrechen sie nimmermehr.
-Aber das Tragen wollte ich euch leichter machen.
-Daß wir Schulter an Schulter die Ketten schleppen und
-sie uns nicht zu tief ins Fleisch schneiden. Ihr aber ... erhebt
-euch wider mich mit geballten Fäusten, Unmögliches
-verlangend, nie Erreichbares heischend. Ihr könnt ja nicht
-anders, seit heute, seit jetzt weiß ich es. Denn daß wir
-die Ketten stets aufs neue fühlen müssen, sobald sie uns
-nur ein bißchen leichter wurden, immer wieder schwer und
-drückend fühlen müssen, ist Menschenlos &mdash; ist ewiger
-Menschenfluch ...&#8220;</p>
-
-<p>Die Stimme brach ihm. Unschlüssig standen die Leute.
-Karus aber, enttäuscht und zornig über diese Resignation,
-riß sein Beil aus dem Gürtel.</p>
-
-<p>&#8222;Gelatsch! Gelatsch! Und geht&#8217;s nicht anders, zerreißt
-die Ketten, zerbrecht die Fesseln, zerschlagt den Kerker!
-Dann habt ihr die Freiheit! Die Freiheit ist da!&#8220;</p>
-
-<p>Und: &#8222;Freiheit! Freiheit! Zerschlagt den Kerker! Wir
-wollen keine Ketten! Wir sind keine Knechte!&#8220; schrien sie
-toll, jauchzend, außer Rand und Ufer.</p>
-
-<p>&#8222;Führ&#8217; uns, Karus!&#8220; tönte ein Ruf. Und da schwoll
-es an zu Donnergebrüll: &#8222;Führ&#8217; uns, Karus! Karus,
-führ&#8217; uns!&#8220;</p>
-
-<p>Und die Streikenden draußen riefen: &#8222;Wir kommen!
-Wir helfen euch!&#8220; und warfen sich, Hunderte <em class="gesperrt">eine</em> geballte
-Masse, gegen das Tor, und das Schloß sprang
-krachend entzwei, und tobend wälzte sich die Rotte in den
-Garten.</p>
-
-<p>&#8222;Fritz Hellwig!&#8220; frohlockte Leibinger. &#8222;Der Zahltag
-ist da!&#8220;</p>
-
-<p>Karus vertrat ihm den Weg: &#8222;Diesem da wird kein
-Haar gekrümmt! Vorwärts, Männer! Vorwärts! Zu den
-Maschinen! Feuer in die Speicher! Den roten Hahn auf
-alle Dächer! Im Namen der Freiheit! Im Namen Heinz
-Warts! Rache für Heinz Wart!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Rache! Rache!&#8220; gab der entfesselte Haufe gedankenlos
-das Wort weiter. Und Fritz lachte. Rasend lachte er
-auf und hieb sich mit der Faust die Schläfen: &#8222;Im Namen
-Heinz Warts? Recht so! Recht! Sengt! Brennt! Raubt!
-&mdash; Heinz! &mdash; Heinz Wart! ... Heinz ...!&#8220; Wie verzweifelt
-gebärdete er sich.</p>
-
-<p>&#8222;Wenn die Soldaten kommen ...&#8220; warnte Mark.</p>
-
-<p>&#8222;Dann reißen wir das Pflaster auf und bauen Barrikaden!
-Drauf, Männer, drauf! Unser ist die Welt!&#8220;</p>
-
-<p>Und das blinkende Beil in hocherhobener Faust stürmte
-Karus fort. Fast alle folgten.</p>
-
-<p>&#8222;Heinz Wart!&#8220; riefen die einen, &#8222;Freiheit!&#8220; riefen die
-andern. Blind, taub, sinnlos, jeder Überlegung beraubt
-stürzten sie ihrem neuen Führer nach.</p>
-
-<p>Ganz wenige blieben zurück. Pfannschmidt, der sich den
-Empörern entgegengeworfen, lehnte, aus einer klaffenden
-Stirnwunde blutend, an einem Baum, und Bogner betreute
-ihn. Adam Pichler aber war schon früher in das
-Lager der Soldaten gerannt. Und Reinholt hatte alles
-andere seinen Gang gehen lassen in der Sorge um den
-Freund.</p>
-
-<p>Im Laufschritt kam das Militär angerückt. Der diensthabende
-Hauptmann, die gelbe Feldbinde um den schlanken
-Leib, führte es mit gezogenem Säbel.</p>
-
-<p>Da erwachte Fritz aus seiner Starrheit.</p>
-
-<p>&#8222;Nicht das!&#8220; stammelte er und atmete wie ein gehetztes
-Tier. &#8222;Nicht das!&#8220;</p>
-
-<p>Unausgesetzt tönten krachende Axtschläge vom Fabrikhof,
-Gesplitter von Holz und Glas und Eisen, Brüllen
-und Gejohl.</p>
-
-<p>Blutroter Feuerschein lohte auf. Die Magazine standen
-in Flammen.</p>
-
-<p>Und jetzt ein wildes Geheul. Die Aufrührer hatten das
-Militär erblickt.</p>
-
-<p>Hornsignale gellten durch den Tumult. Scharfe Kommandoworte.
-Prasseln von fallenden Steinen. Das dumpfe
-Aufschlagen der Gewehrkolben gegen hundert Schultern.</p>
-
-<p>&#8222;Nicht das! Nicht ...&#8220; Hellwig tat ein paar Schritte,
-wollte hin &mdash; und kam nicht weit. Ein furchtbarer Aufschrei:
-&#8222;Aus! Alles &mdash; aus!&#8220;</p>
-
-<p>Reinholt sprang rasch herzu. Zu spät. Wie ein gefällter
-Stier brach der Volksbeglücker ohnmächtig zusammen.</p>
-
-<p>Im selben Augenblick krachte die Salve.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>6.</h3>
-</div>
-
-<p>Als Hellwig das Bewußtsein wieder erlangte, war bereits
-die Nacht hereingebrochen. Er lag ausgestreckt auf
-einer der Bänke. Reinholt kniete neben ihm und legte
-nasse Tücher auf seine Stirn. Ein Häuflein verstörter
-und weinender Menschen stand im Kreis herum. Unstet
-leuchtete von der Fabrik herüber noch der Feuerschein. Vor
-dem zerbrochenen Gittertor aber hielten ein paar kastenartige
-Wagen, gelb angestrichen, das rote Kreuz im weißen Felde.
-Soldaten kamen und gingen mit brennenden Fackeln und
-mit Tragbahren, auf denen dunkle Menschenleiber lagen
-und stöhnten und zuckten. Ein Regimentsarzt eilte vorbei.
-Der Leinenkittel über der Uniform starrte von eingetrocknetem
-Blute, und auf der Höhe seiner fetten roten Wangen
-standen große Schweißtropfen. Er beugte sich über Hellwig
-und fragte, wie er sich fühle, und untersuchte ihn.</p>
-
-<p>Der richtete sich jählings auf. &#8222;Wie viele sind verwundet?
-Wie viele tot?&#8220; fragte er hastig, und im Grunde
-seiner Augen stand das Grauen. Der Arzt zog gleichmütig
-die Schultern hoch. &#8222;Weiß die Zahl noch nicht!&#8220; sagte er.
-&#8222;War ein heißer Tag, hat viel Arbeit gegeben. Das waren,
-Gott sei Dank, die letzten.&#8220; Mit einer Kopfbewegung
-deutete er auf die Bahre, die eben in den Krankenwagen
-gehoben wurde. &#8222;Ruhe brauchen Sie! Schlafen Sie sich
-ordentlich aus, Ihre Nerven haben&#8217;s verdammt nötig!
-Sonst fehlt Ihnen nichts!&#8220; Nachlässig salutierte er und
-eilte zu den Fahrzeugen. Die Pferde zogen an, im Galopp
-ging es fort.</p>
-
-<p>Dann kam der Hauptmann und bat den Besitzer der
-Fabrik um eine Unterredung. Und während Reinholt mit
-ihm sprach, trat Hellwig auf den Fahrweg hinaus, ging
-wie ein Schlafwandelnder weiter und weiter, zwischen rauschenden
-Feldern ging er und durch blühende Wiesen, und
-als Reinholt laut seinen Namen durch die Stille rief, da
-schritt er nur desto rascher vorwärts, mehrfach abbiegend,
-kreuz und quer, auf schmalen Rasenbändern, weiter und
-weiter, und er wußte nicht, wohin er ging und was ihn
-vorwärts stieß.</p>
-
-<p>Hoch oben in der Luft trieben noch immer schnell und
-lautlos die silbrigen Wolken vor dem Mond, der halbrund
-am Himmel hing und es war, als ständen die Wolken
-still und jagte die weiße Luna in hastiger Flucht zwischen
-den ruhenden Silberflocken durch den glanzerfüllten Raum.
-Von den brennenden Speichern und Dächern der Fabrik
-kam ein roter Schein und wehte unruhig über die Fluren,
-und der Himmel war dort purpurn glühend und die dunklen
-Büsche standen davor mit allen ihren schlanken Zweigen
-und gerundeten Blättern scharf aus dem lohenden Glanz
-herausgehoben, schwarze Schattenbilder auf goldig flammendem
-Grund. Schön und seltsam und geheimnisvoll
-war die Landschaft mit ihren sanften und grellen, ruhigen
-und beweglich huschenden Lichtern und Farben und Schatten,
-und unermeßlich dehnte sie sich in einem milden Leuchten
-blau verdämmernd, weit, weit, bis sie mit dem Rand
-der hohen Himmelsglocke zusammenschmolz. Lautloses Ineinanderspielen
-der Farben unten, lautloses Wolkenziehen
-hoch darüber, glanzgesättigte Stille dazwischen: das war
-wie ein Prunksaal der Einsamkeit, die hier demütigstolz die
-Königskrone aus den Händen der Unendlichkeit entgegennahm.</p>
-
-<p>Trostbringende Königin Einsamkeit.</p>
-
-<p>Für den, der hier ihren Krönungssaal durchwanderte,
-weiter und immer weiter wanderte, mit gesenkter Stirn
-und schlaffen Armen, für ihn hatte sie keinen Trost, und
-er suchte ihn auch nicht. Er wollte nur ... Was wollte
-er denn eigentlich noch?</p>
-
-<p>Da war ihm alles niedergebrochen. Ihm, dem Sieger,
-&mdash; &#8222;Wir sind durch!&#8220; hatte er oft und oft den Freunden
-gesagt, &mdash; war alles niedergebrochen. So gründlich, daß
-kein Stein auf dem andern geblieben. Und die ihm vertraut
-hatten, saßen jetzt zwischen ausgebrannten Mauern,
-viele brave, arbeitsame Leute, &mdash; und konnten betteln gehen.
-Sein Lebenswerk. &mdash; Und Blut war vergossen worden.
-Durch seine Schuld war Blut vergossen worden, rotes,
-warmes Menschenblut. Sein Lebenswerk. Und alles war
-ihm niedergebrochen. Was wollte er also noch?</p>
-
-<p>Diese Gedanken, und immer nur dieselben Gedanken
-waren es, die ihn begleiteten, während er so durch die endlose
-Ebene hinschritt, stundenlang weiter und weiter schritt,
-bis ihn die Müdigkeit überwältigte. Seine Beine begannen
-zu zittern, er taumelte und mußte sich niedersetzen.</p>
-
-<p>Ganz schüchtern leuchtete das Frührot auf. In klaren
-Kugeln hing der Tau an den Gewächsen, und faul versuchte
-ein Frosch seine knarrende Stimme. Ein Vogel fing
-zu zirpen an, zaghaft und leis, als fürchtete er sich noch
-vor der Dämmerung und der Stille &mdash; dann lauter, kecker
-&mdash; ein zweiter gab Antwort &mdash; und als der junge Tag
-goldhell in das freudig aufschauernde Land hineinsprang,
-da jubilierten im vollen Chor, dem Zwang der Nacht entronnen
-und grüßten ihn viel hundert gefiederte Sänger.</p>
-
-<p>Mit dem Gesicht nach abwärts hatte sich Fritz ins tauige
-Gras geworfen. Vielgestaltig regte sich das Leben unter
-ihm. Winzige weiße Würmchen krochen umher, schwerfällig
-schüttelten die Fliegen den Tau von den surrenden
-Flügeln, ein hungriger Käfer lief hastig durch das Labyrinth
-der grünen Stengelchen, eine Spinne kletterte über
-das feine Wurzelwerk und über die kleinen Steinchen,
-mühselig, als stieg sie über hohe Berge. Und unter der
-beweglichen Mannigfaltigkeit ruhte das braune schwere Erdreich
-gelassen und still wie die Brüste einer Mutter unter
-den ratlos tastenden Fingerlein des trinkenden Kindes.</p>
-
-<p>Aber diese Ruhe strömte nicht auf ihn über, und sein
-Herz ging nicht in stillerem Gang. Schnell und schwer
-pochte es gegen den Boden im harten Rhythmus der Verzweiflung.
-Und während er so in die Erde starrte und den
-herben Duft ihrer Fruchtbarkeit trank, erwachten und zogen
-vorüber wie Bilder einer Zauberlaterne alle die hingeschwundenen
-achtunddreißig Jahre seines Lebens mit ihren Hoffnungen
-und Irrtümern, ihren Kämpfen, Niederlagen und
-bittersten Enttäuschungen. Was immer er bisher versucht
-hatte, alles war ihm mißlungen. Viele Wege war er gegangen,
-mit beschwingtem Fuß, in ernster und froher
-Begeisterung vermeinend, daß er dem Ziele näher komme.
-Aber jeder war ein Irrweg gewesen, hatte zum Ausgangspunkt
-zurückgeführt. Und da hielt er nun, wo er angefangen
-&mdash; vor dem Nichts. Und alle Kraft war verzettelt,
-alle Arbeit vergeudet, verpulvert, vertan. Und jedesmal
-hatte er geglüht und geflammt, gleich heiß und hell geflammt
-für ein Leben ohne Götter und ohne Lüge, für die
-Herrschaft des deutschen Volkes und für die brüderliche
-Gleichheit aller Völker, für den Sieg der Sozialisten und
-für ihre Niederlage durch seine Ideen. Und alles war Lüge
-gewesen und Götzendienst. Sich selbst hatte er belogen
-und ein utopisches Ziel war sein Gott und Götze und selig
-machender Glaube. Wie die Spinne vor seinen Augen
-mühsam über die Grashalme, war er auf ebenem Boden
-keuchend gekrochen und hatte vermeint, er stürmte steile
-Berge empor zum Ziel. Nutzlos verschwendete Mühe &mdash;
-Irrsal &mdash; Verzweiflung &mdash; das war alles, was ihm geblieben.
-Und eine Ehe, die keine Ehe war, ein Weib, für
-das der Gatte, ein Kind, für das der Vater wie ein Gestorbener
-war.</p>
-
-<p>Aber leise, in den quälenden, schweren Rhythmus der
-Verzweiflung hinein, nur kaum wie ein schwaches Vogelzwitschern
-im Gewittersturm verhallend, schwebte fernher,
-ganz leise, eine Melodie des Trostes und ein schüchterner
-Hoffnungsklang. Und eine scheue Sehnsucht stand auf
-und pochte zag an und pochte lauter und mahnte: &#8222;Kehr&#8217;
-heim!&#8220;</p>
-
-<p>Und pochte lauter und mahnte inniger: &#8222;Kehr&#8217; heim!
-Zu Eva und Hansl, dorthin gehörst du &mdash; sie warten auf
-dich. &mdash; Nicht um deinetwillen &mdash; ihretwegen mußt du
-hin, daß sie aufrecht bleiben und sich weiter freuen &mdash; wenn
-auch du &mdash; zerbrochen bist ...&#8220;</p>
-
-<p>Und ohne noch einmal in die Fabrik zurückzukehren,
-wie er ging und stand, im Hausanzug und mit der Gartenmütze,
-reiste er von der nächsten Bahnstation ab.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>7.</h3>
-</div>
-
-<p>Otto Pichler las in seinem Stammcafé in den Zeitungen,
-daß das Unternehmen des einstigen Freundes gescheitert
-war. Es bewegte ihn nur wenig. <em class="gesperrt">Sein</em> Schifflein war
-geborgen.</p>
-
-<p>Schon längst hatte er Grete Deming geheiratet, schon
-längst war er Prokurist und Stellvertreter des Direktors
-der chemischen Fabrik. Sein Schwiegervater hatte sich vor
-einigen Jahren zur Ruhe gesetzt. Ein verdienstvoller alter
-Herr, den man nicht hatte übergehen können, war dermalen
-mit der Leitung betraut. Aber sein Rücktritt konnte
-nicht mehr lang auf sich warten lassen, und dann war
-Otto der kommende Mann. Bei den Beamten war er beliebt.
-&#8218;Das Glückskind&#8216; nannten sie ihn und hatten recht
-damit. Nur wenige gab es, die so spielend mit dem Leben
-fertig wurden und mühelos die reifen Früchte auflesen
-konnten, die ihnen ohne vieles Dazutun wie von selbst
-in den Schoß fielen.</p>
-
-<p>Seine Ehe war wie tausend andere auch weder heiß
-noch kalt; eine gleichmäßig laue Atmosphäre hüllte sie
-ein, ließ keine Stürme heran, machte den Körper feist
-und war dem Wohlbefinden ungemein bekömmlich.</p>
-
-<p>Er ging seine Wege, Grete ging ihre Wege, mit der
-Treue nahmen sie es beide nicht zu genau.</p>
-
-<p>Als der zukünftige Direktor den Bericht gelesen hatte,
-fragte er den Kellner, ob die Herren seiner täglichen Tarockpartie
-schon anwesend seien. Der Befrackte bejahte.
-Da zog Otto ein goldenes Etui aus der Brusttasche, zündete
-sich eine Zigarette an, und während er den Rauch
-erst einatmete und dann langsam in die Luft hinausschwimmen
-ließ, dachte er: Ist es nicht Wahnsinn und Aberwitz,
-Gesundheit und Kraft und Blut für wildfremde Menschen
-einzusetzen? Wir leben schließlich doch nur das eine Leben,
-und warum sollten wir uns das nicht so angenehm wie
-möglich machen und trachten, daß es uns sacht und unmerklich
-verrinne in Fröhlichkeit und heiterem Behagen?</p>
-
-<p>Dann ging er ins Spielzimmer und mischte die Karten.</p>
-
-<hr class="chap" />
-<div class="chapter">
-<h2><a name="Sechstes_Buch" id="Sechstes_Buch">Sechstes Buch</a></h2>
-</div>
-
-<h3>1.</h3>
-
-<p class="drop-cap">Mitternacht war vorüber, als Hellwig bei Kolben Einlaß
-heischte. Der Doktor war noch wach. Als Fritz
-draußen schellte, ging er ihm ins Vorzimmer entgegen.
-&#8222;Komm nur herein,&#8220; sagte er, &#8222;ich hab&#8217; dich erwartet.&#8220;</p>
-
-<p>Und Fritz trat wortlos ein und hatte blasse Wangen
-und scheue Augen, die ohne Unterlaß den persischen Teppich
-am Fußboden betrachteten. Aber Kolben tat, als bemerkte
-er das nicht, sondern sprach zu ihm über seine Rosenkulturen
-im Garten, die heuer besonders reichlich blühen
-würden, über die vielen sonnigen Frühjahrstage, die immer
-wieder zu Wanderungen ins Gebirge lockten, über die
-letzte Premiere im Burgtheater. Über das alles und noch
-über viele andere Dinge sprach der Doktor unbefangen
-und zwanglos, als wäre Hellwig nicht an die drei Jahre,
-sondern kaum ebenso viele Tage fortgewesen. Und nur
-mitten zwischen diesen Dingen sagte er einmal ganz von
-ungefähr: &#8222;Deine Frau wirst du wohl jetzt nicht aufwecken
-wollen? Sie weiß auch noch nichts, es ist besser,
-du bleibst die Nacht bei mir.&#8220;</p>
-
-<p>Fritz atmete schwer auf und bewegte die Lippen, aber
-er sprach nichts und schaute nur stumpf vor sich hin, elend
-und voll Schuldbewußtsein. Doch als ihm der Doktor
-jetzt sein Schlafzimmer überlassen wollte, &mdash; er müsse
-sich ausruhen, man sehe ihm ja an, daß er total erschöpft
-sei, &mdash; da lehnte er auch das stumm ab und blieb auf
-dem Diwan sitzen, mit halb geschlossenen Augen und ganz
-teilnahmslos. Kolben aber dachte bei sich, daß es besser
-wäre, den stolzen und harten Mann mit allen den herben
-Verlusten und Enttäuschungen und Vorwürfen allein sich
-abfinden und fertig werden zu lassen. Und er brachte
-Kissen und Decken, wünschte ihm gute Nacht und zog
-sich zurück. Und Hellwig war ihm dafür dankbar.</p>
-
-<p>Er drehte die Glühlampe ab und blieb im Dunkeln
-sitzen und erinnerte sich, daß er unter einem Dach mit
-Eva sei, daß ober ihm sein Junge schlief, und das war
-Weh und Beruhigung, Qual und Trost zugleich. Doch
-schließlich wurde die Übermüdung stärker als alles andere,
-und auf die zerrüttelnden Aufregungen der letzten Tage
-reagierte der Körper endlich mit einem tiefen traumlosen
-Schlaf, der bis in die späten Vormittagstunden nicht von
-den bleischweren Lidern wich.</p>
-
-<p>Über alles mögliche hatte Kolben geredet. Aber was
-er für den Freund getan und wie er Eva über die langen
-einsamen Tage und Monate und Jahre hinweggeholfen,
-davon hatte er geschwiegen. Mit opferwilliger Treue, ein
-verläßlicher Berater und Sorgenbanner, war er ihr zur
-Seite gestanden, und während sie anfangs nicht darauf
-achtete, hatte er ihr alle unangenehmen und schwierigen
-Geschäfte abgenommen. Auch ihr Vermögen verwaltete
-er, und wenn Eva sich niemals ganz verlassen fühlte und
-wenn ihr gar nicht recht zu Bewußtsein kam, was eigentlich
-Fritz ihr angetan hatte, als er sie mit dem Kinde unbesinnlich
-in der großen fremden Stadt mutterseelenallein
-gelassen, wenn sie davon nichts merkte und sich leidlich
-zufrieden und geborgen glaubte, so war dies ausschließlich
-das Verdienst des Doktors.</p>
-
-<p class="center" style="margin-top:1.5em;margin-bottom:1.5em;line-height:0.5em">
-<span style="margin-right:6em;">*</span>*
-<br />
-*
-</p>
-
-<p>Als Fritz endlich wach geworden, ging er mit Kolben
-in den ersten Stock hinauf. Kaum ein Wort hatte er bisher
-geredet. Und als er im Vorzimmer seiner eigenen
-Wohnung stand, spürte er den ungestümen Schlag seines
-Herzens bis in der Kehle. Kolben aber ließ ihn draußen
-warten und ging allein hinein, um Eva vorzubereiten.
-Ruhig und launig wie alle Tage begrüßte er sie und tat,
-als wäre gar nichts Ungewöhnliches vorgefallen oder im
-Anzug. Der vierjährige Hansl war mit dem Dienstmädchen
-spazierengegangen.</p>
-
-<p>Wo war die Frohsinn blitzende Eva von früher? Ganz
-zu tiefst, in den verstecktesten Winkel des Herzens, mußte
-sich die Fröhlichkeit verkrochen haben. Keine Spur davon
-war mehr in den schwermütigen Augen, dem ernsten Antlitz,
-das deutlich die Zeichen gelittener Schmerzen eingefaltet
-trug. Nur in den blonden Haarspitzen leuchtete
-etwas, ein flink Bewegliches, Übermütiges, und war schon
-wieder weg. Kaum wie ein schnell vorbeihuschendes Erinnern
-an funkelnde Jugend und sonnige Tage war das gewesen.</p>
-
-<p>Unten schritt ein Briefträger über die Straße.</p>
-
-<p>&#8222;Haben Sie keine Nachricht von Fritz?&#8220; fragte da Eva
-unvermittelt.</p>
-
-<p>&#8222;Dasselbe wollte ich <em class="gesperrt">Sie</em> fragen ...&#8220;</p>
-
-<p>Ein trauriges Lächeln ging um ihre Lippen.</p>
-
-<p>&#8222;Mich? Seit Wochen hat er nichts hören lassen. Ich
-weiß schon nicht mehr, was ich mir denken soll!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Schreibfaul war Fritz von je.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Aber so lang hab&#8217; ich noch nie warten müssen!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Er wird Sorgen haben. Der Streik dauert jetzt schon
-einen Monat ...&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Wissen Sie denn wenigstens darüber etwas Neues?
-Denken Sie sich, heut&#8217; hab&#8217; ich schon wieder keine Zeitung
-bekommen. Gestern doch auch nicht. Was nur dem Austräger
-eingefallen ist?&#8220;</p>
-
-<p>Kolben erhob sich. &#8222;Ich &mdash; habe ihn das so geheißen,
-Frau Eva,&#8220; sagte er sehr ernst.</p>
-
-<p>Da stand sie auch schon dicht vor ihm und schaute angstvoll
-in sein ruhiges Gesicht. &#8222;Kolben! Was hat&#8217;s gegeben?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Nichts, was Sie bedauern müßten, Frau Eva.&#8220;</p>
-
-<p>Sie rieb die Knöchel ihrer Finger gegeneinander. &#8222;So
-sprechen Sie doch! Rasch! Rasch!&#8220;</p>
-
-<p>Zögernd gab er Antwort: &#8222;Die Führer des Streiks
-haben ihren Zweck erreicht. Reinholts Arbeiter haben sich
-dem Ausstand angeschlossen ... es hat Ausschreitungen
-gegeben ...&#8220;</p>
-
-<p>Da schrie sie laut auf: &#8222;Fritz! Fritz! &mdash; Doktor, was
-ist mit Fritz?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ruhe, Frau Eva, Ruhe &mdash; <em class="gesperrt">ihm</em> ist nichts geschehen.
-Jetzt endlich wird er heimkommen.&#8220;</p>
-
-<p>Sanft legte er den Arm um die Wankende. Aber sie
-stieß ihn ungestüm zurück. &#8222;Jetzt, Kolben? Jetzt? Nein!
-Nein! Das erträgt er nicht! Doktor ... er verzweifelt
-ja! Wir müssen hin! Doktor ... wir kommen ja schon
-zu spät ...&#8220;</p>
-
-<p>Kolben hielt ihr die zitternden Hände fest. &#8222;Seien Sie
-vernünftig, Frau Eva, ich hab&#8217; Ihnen schon gesagt: Jetzt
-endlich wird er heimkommen. Vielleicht ist er schon auf
-dem Weg ...&#8220;</p>
-
-<p>Da schaute sie ihn mit einem wilden Blick an und rief:
-&#8222;Vielleicht! Vielleicht auch nicht! Bringt Sie denn nichts
-aus Ihrem Gleichmut? Und Sie wollen sein Freund sein?
-Schämen Sie sich! Wissen Sie denn ... ob er &mdash; überhaupt
-noch lebt?&#8220;</p>
-
-<p>Und ganz ruhig, ganz bescheiden antwortete der Doktor
-darauf: &#8222;Gewiß, Frau Eva ... Er ist ja schon heimgekommen.&#8220;</p>
-
-<p>Er öffnete die Tür. Hellwig stand unter der Schwelle.
-Und während Kolben mit zuckendem Gesicht, &mdash; nun er
-allein war, brauchte er nichts mehr zu verbergen, &mdash; während
-Kolben über die Treppe hinabeilte, warf sich Eva stürmisch
-an die Brust ihres Mannes.</p>
-
-<p>&#8222;Fritz!&#8220; flüsterte sie in heißer Freude. &#8222;Fritz!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Eva!&#8220; Das klang rauh und war wie ein Schrei.</p>
-
-<p>Sie schmiegte sich ganz dicht an ihn. &#8222;Nun bist du
-wiedergekommen! Nun bist du endlich wiedergekommen!&#8220;
-sagte sie und wiederholte es immerfort, langte nach seinen
-Wangen und streichelte sie und schaute ihn mit strahlenden
-Augen an und hatte alles Leid vergessen. &#8222;Blaß und
-schmal bist du geworden! Wo sind deine roten Backen
-hin? Bist du müde? Komm, setz&#8217; dich, mach&#8217; dir&#8217;s bequem,
-ruh&#8217; dich aus ...&#8220;</p>
-
-<p>Und er hielt sie fest an sich gepreßt und legte ihren
-Kopf an seine Brust und schaute auf ihren blonden Scheitel
-und biß die Zähne zusammen, um nicht aufzuschluchzen.
-Alles Unrecht, das er ihr angetan, stand mit einem Male,
-nun er die Sanfte, Geduldige, Frohe wiedersah, riesengroß
-vor ihm auf, und er fühlte sich elend und schlecht
-und aller Liebe unwert.</p>
-
-<p>Aus dem Vorzimmer klang das Getrappel von Kinderfüßen
-und Geplapper. Der kleine Hansl kam vom Spaziergang
-heim. Und dann ging die Tür auf, sprang der
-Bub über die Schwelle, auf die Mutter zu. Da sah er
-den großen fremden Mann, wurde kleinlaut und wagte
-sich nicht weiter. Eva ergriff seine Hand. &#8222;Hansl!&#8220; sagte
-sie mühsam heiter. &#8222;Hansl, komm zu Vaterl!&#8220;</p>
-
-<p>Halb scheu, halb zutraulich trippelte der Bub heran.</p>
-
-<p>&#8222;Vaterle ...?&#8220; fragte er furchtsam.</p>
-
-<p>&#8222;So trau&#8217; dich doch, Hansl! Na?&#8220; Und um ihm die
-oft vorgesprochenen Worte ins Gedächtnis zu rufen, begann
-sie: &#8222;Grüß&#8217; &mdash; Gott &mdash;&#8220; Da stellte sich das Kerlchen
-stramm vor den großen Vater hin und sagte hell und herzhaft:
-&#8222;Grüß&#8217; Gott, Vaterle, und hab&#8217; mich lieb. Hab&#8217;
-auch Mutterl lieb und bleib&#8217; bei uns!&#8220;</p>
-
-<p>Wortlos, in tiefster Bewegung, hob Fritz seinen Sohn
-zu sich hinauf und küßte ihn.</p>
-
-<p>&#8222;So!&#8220; rief Eva. &#8222;Jetzt komm, Hansl, wir wollen
-Vaterl was zu essen holen!&#8220;</p>
-
-<p>Und rasch führte sie den Buben aus der Stube. Er
-durfte seinen Vater nicht länger in solcher Erregung sehen.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>2.</h3>
-</div>
-
-<p>Ein Tag nach dem andern ging vorüber und Hellwigs
-düstere Miene wollte sich nicht aufhellen. Sein Inneres
-war wie ausgebrannt, wüst, nackt und leer. Alle Quellen
-waren versiegt, alle Hoffnungen verdorrt. Was er für
-sein Lebenswerk gehalten, lag in Trümmern. Da schämte
-er sich vor sich selbst, vor seinem Weibe, vor den Menschen.</p>
-
-<p>Führer hatte er ihnen sein wollen, Pfadfinder, Heilbringer
-&mdash; und war nichts gewesen als was so viele andere
-auch: ein Irrlehrer und dünkelhafter Maulheld, der da
-glaubte, den Menschen die Wahrheit schenken zu können.
-Jeder andere durfte mit gleichem Recht das gleiche behaupten.
-Die Wahrheit hatte ja doch keiner, konnte keiner
-haben, weil es im ständigen Fluß der Entwicklung einfach
-keine Wahrheit gab. Keine Wahrheit wenigstens, die zu
-allen Zeiten Wahrheit bleiben muß. Wer am Ufer steht
-oder im Strome treibt, weiß vielleicht, daß die Strombahn
-in diesem Augenblick von Westen nach Osten zieht. Aber
-ob sie sich tausend Meter weiter unten nicht nach Süden
-wendet oder nach Norden oder im Bogen zurück nach
-Westen, das weiß er erst, bis er&#8217;s mit eigenen Augen sieht.
-Doch so wahr der Strom ein paar Meter weit nach Osten
-fließt, so wahr fließt er auch ein paar Meter weiter unten
-nach Süden. Wer aber wäre vermessen genug, zu behaupten:
-Tausend Meter abwärts <em class="gesperrt">muß</em> dieser unbekannte Strom
-im unbekannten Lande so fließen und nicht anders! &mdash; In
-tausend Jahren <em class="gesperrt">muß</em> die Menschheit diesen und diesen Weg
-gehen und keinen andern!</p>
-
-<p>Wer wäre so vermessen?</p>
-
-<p>Er, Fritz Hellwig, er hatte die Vermessenheit gehabt
-und schämte sich jetzt, da er sie erkannte. Und noch etwas
-anderes erkannte er jetzt: den Frevel, so nannte er es,
-der kein Freund der Beschönigung war, den Frevel, den
-er an Eva und seinem Kinde begangen &mdash; und an sich.
-Das frohe Lachen und Plaudern des Buben war ihm wie
-beständiger Vorwurf. Aus den guten Augen seiner Frau
-las er ihn und immer haltloser wurde er.</p>
-
-<p>Auch Kolben vermochte da nichts zu richten. &#8222;Dir hätt&#8217;
-ich auch eine Schuld abzuzahlen, Albert!&#8220; hatte Fritz bitter
-gesagt und als der Doktor dagegen lachend protestierte,
-hatte er tonlos weiter gesprochen: &#8222;Ich muß nur nehmen
-und immer nehmen! Immer nur in euerer Nachsicht leben!
-Das ist nicht gut, Albert, nein, das ist nicht gut ...&#8220;
-Und er war wieder in das tatenlose Hindämmern gefallen,
-jedem Zuspruch unzugänglich und taub für jeden Trost.</p>
-
-<p>Seit seiner Rückkunft hatte er die Wohnung nicht verlassen.
-In sich vergraben und ganz in seine Verzweiflung
-eingewühlt lebte er, zeigte für nichts Interesse, rührte die
-Zeitungen nicht an. Briefe von Reinholt liefen ein. Sie
-blieben ungelesen. Wenn die Flurglocke klang, schrak er
-zusammen. Er fürchtete sich vor den Menschen, weil er
-sich vor ihnen schuldig glaubte.</p>
-
-<p>&#8222;Doktor, was sollen wir nur machen?&#8220; fragte Eva
-oft ganz mutlos.</p>
-
-<p>&#8222;Gehn lassen!&#8220; antwortete dieser. &#8222;Es wird auch wieder
-anders werden.&#8220;</p>
-
-<p>Und sie ließen ihn gewähren. Mit keinem Wort rührte
-Eva an der Vergangenheit, tat, als wäre er nie fort gewesen.
-Sie drängte sich ihm nicht auf, aber stets war sie
-in seiner Nähe, hielt jede Störung fern, barg ihren Kummer
-hinter hellen Mienen und lächelnder Heiterkeit, hüllte
-ihn ganz in ihre Liebe ein und umhegte ihn mit jener stillen
-Hausmütterlichkeit, deren Walten unmerklich ist und die
-doch alles durchleuchtet und durchwärmt.</p>
-
-<p>Und wenn sie sich gar keinen Rat mehr wußte, schickte
-sie Hansl zu ihm. Den konnte er dann stundenlang auf
-seinen Knien haben, wie ein Kind konnte er mit ihm plaudern
-und alle Märchen, die er noch wußte, erzählte er ihm.
-Aber sobald der Junge fort war, sank er wieder zusammen
-wie ein Feuer, das allen Brennstoff aufgezehrt hat.</p>
-
-<p>Unangemeldet kam eines Tages Kaufmann Wart hergereist,
-um nach dem Rechten zu schauen und nebenbei
-auch seinem Schwiegersohn gründlich den Kopf zu waschen.
-Aber als er ihn so elend sah, unterließ er es. &#8222;Das Flamändern
-wird dir jetzt wohl vergangen sein!&#8220; knurrte
-er nur.</p>
-
-<p>Einige Tage später nahm er ihn beiseite: &#8222;Fritz, was
-wirst du jetzt eigentlich anfangen?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich &mdash; weiß es nicht ...&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Aber ich wüßt&#8217; was!&#8220; lächelte verschmitzt der rundliche
-Mann, der jetzt wieder frisch und blühend aussah und unter
-seinem weißen Barthaar feiste rote Wängelein hatte. &#8222;Ich
-wüßt&#8217; was! Komm zu uns nach Neuberg!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Das geht nicht!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Muß gehn, Fritz. Schau, es ist ein wahrer Jammer.
-Alles klerikal, alles schwarz, bis über die Ohren schwarz!
-Das wär&#8217; was für dich. Misch&#8217; auf! Jag&#8217; sie davon!
-Schließlich, es ist ja doch deine Vaterstadt. Wär&#8217; ein Verdienst,
-Fritz, &mdash; und besser, als so ins Weite, Nebulose
-hinein. Dort hast du wenigstens festen Boden und weißt,
-daß du darauf gehörst und für wen du&#8217;s machst. Dein
-Bub, &mdash; hm &mdash; ich denk&#8217; halt, jeder Baum braucht seine
-Erde. Und so eine Großstadt, das ist doch keine richtige
-Heimat. Irgendwo aber soll jeder Mensch seine Wurzeln
-haben. Pflanz&#8217; halt den Hansl dort ein, wo er hingehört,
-nicht? Und dann &mdash; uns zwei Alten tät&#8217;s auch wohl. Die
-Mutter, &mdash; sie hat zu viel durchmachen müssen, &mdash; die
-Mutter kann nicht mehr recht fort. Es zwickt und reißt
-sie überall. Gefahr ist keine, aber beschwerlich ist so was,
-drum ist sie auch nicht mitgekommen. Die Mutter, siehst,
-und ich &mdash; jetzt sind wir schon ganz allein. Und dann
-hätten wir wenigstens wieder jemanden. Und schreiben
-&mdash; du wirst ja doch nichts andres tun als Bücher schreiben
-und für die Zeitungen &mdash; schreiben kannst bei uns draußen
-auch. Was meinst?&#8220;</p>
-
-<p>Fritz antwortete nicht gleich. Kolben kam herein.</p>
-
-<p>&#8222;Stör&#8217; ich?&#8220; fragte er.</p>
-
-<p>&#8222;Nur herein, Herr Doktor! Ich sag&#8217; grad&#8217; nur, der
-Fritz soll mit nach Neuberg!&#8220;</p>
-
-<p>Kolbens Augen hinter der goldenen Brille leuchteten
-auf. Das konnte eine Lösung sein. Aber diplomatisch meinte
-er nur: &#8222;Hm, Neuberg? Was dort?&#8220;</p>
-
-<p>Fritz sagte nicht ja, nicht nein. Doch die Worte klangen
-in ihm nach. Und die beruhigende Aussicht in eine Zuflucht
-ließ ihn gefaßter werden, wenn er sich das auch
-nicht eingestehen wollte, und richtete ihn auf und war wie
-das Bändchen Bast, das ein ins Krumme wachsendes
-Bäumchen am stützenden Pfahl festhält.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>3.</h3>
-</div>
-
-<p>Und die Tage glitten weiter, sacht und gleichmäßig,
-wie weiße Schwäne auf einer unergründlich tiefen und
-dunklen Flut. Glatt war die Oberfläche und verriet nicht,
-was darunter brausend durcheinander brodelte, alle Leidenschaften
-deckte sie zu, alle Angst und Qual und Aufregung,
-und darüber segelten die weißen Schwäne, einer hinter
-dem anderen, ruhig und lautlos. Kaum merklich war die
-Bahn, die sie zogen, aber sie war doch da und in den
-sanft bewegten Wellen spiegelte sich mit kleinen Lichterchen
-die verbannte Freude, versuchten die Silberfischchen der
-Hoffnung zaghaft ihren Tanz. Und zwischen das stürmische
-Einst und das Jetzt schob sich mit mildem Glanz, die
-scharfen Konturen abtönend und verschleiernd, wie eine
-durchsichtige Wolke der Friede.</p>
-
-<p>Ohne Geräusch und ohne viele Worte, mit einer gleichmäßig
-stillen Freundlichkeit und innigen Hingabe, versah
-Eva den Haushalt und pflegte den kleinen Hansl und den
-großen Fritz und jede Bequemlichkeit bereitete sie ihm.
-Und täglich kam sie mit den Zeitungen und fing von
-Dingen zu reden an, die ihr ganz fern lagen. Von Doktor
-Kolben oder aus den gelehrten Büchern holte sie sich Aufklärung,
-in die schwer gangbaren Gebiete der Finanzwissenschaft
-und der hohen Politik drang sie mutig ein, schlug
-sich tapfer mit den schwierigsten Lehren und mit den verwickeltsten
-Ereignissen herum, um nur mit ihrem Manne
-über etwas sprechen zu können, was vielleicht seine Teilnahme
-wecken und ihn aus der schweren Dumpfheit reißen
-könnte. Oder sie legte ihm Zeitschriften und Bücher auf
-den Tisch: hier sei ein bemerkenswerter Aufsatz, den müsse
-er lesen. Und dieses neue Werk vom Wesen des Geldes
-werde ihn möglicherweise auch ansprechen. Doch wenn
-sie ihm von Reinholt Briefe brachte, dann sagte sie nichts
-dazu und schaute ihn nur freundlich bittend an: Er solle
-doch einmal einen aufmachen und lesen. &mdash; Aber mit
-keinem Wort rührte sie an der Vergangenheit, erwähnte
-auch nichts davon, daß viele Blätter für ihn eintraten
-und das Vorgehen seiner Feinde in der schärfsten Weise
-verurteilten. Das hatte Zeit, das konnte ihm später als
-Genugtuung dienen. Jetzt sollte er nur erst aus der schlaffen
-Teilnahmslosigkeit heraus. Aber es wollte und wollte nicht
-anders mit ihm werden. Meist saß er vor seinem Schreibtisch,
-hatte die weißen Papierbogen vor sich liegen und die
-Feder daneben, aber er rührte sie nicht an und nicht eine
-Zeile schrieb er, sondern grübelte nur und brütete vor sich
-hin, viele, viele Stunden lang. Aber die Melodie der
-Häuslichkeit tönte immerzu leis um ihn und ruhiger und
-ruhig schlug allmählich sein Herz.</p>
-
-<p>Und da geschah es eines Tages &mdash; ein Gewitter war
-verrauscht und durch zerrissenes Gewölk drang die sinkende
-Sonne mit schrägen Strahlen, die von den Fensterscheiben
-gegenüber in gelber Lohe zurückflammten. Dämmrig wurde
-es und düster, und Eva zündete die Lampe an. Das Gas
-brodelte leise im messingnen Auslauf, und vor den Fenstern
-draußen im Garten schlief sanft und sacht die Erde ein
-und eine Amsel sang vom eisernen Windpfeil eines Landhauses
-herab der müden das Schlummerlied. Da geschah
-es. In dieser seltsam leuchtenden und heimlich
-klingenden Stille außen und innen, in diesem feierabendlichen
-Frieden, der alle Dinge weich und warm in seine
-Arme nahm, geschah es.</p>
-
-<p>Halb vom Vorhang zugedeckt, saß Fritz beim Fenster.
-Er hatte, nach langer Zeit wieder einmal, in seinem Werk
-geblättert, das er einst in einem Rausch der Schaffensfreude
-niedergeschrieben, hatte auch einzelne Stellen gelesen,
-wieder und wieder gelesen, aber keinen Widerhall
-in seiner Seele gehört. Worte waren das, leere, taube
-Worte, die an ihm abglitten und hohl tönten, wie Gefäße
-ohne Inhalt. Und alle Glut war in sich zusammengesunken,
-und unter der Asche glomm kein Funke mehr.</p>
-
-<p>Er klappte das Buch zu und lächelte bitter, als er
-den gepreßten Lederrücken sah. Für Jahrhunderte schien
-dieser Einband berechnet und was er umschloß, war schon
-widerlegt, war schon verbrannt und ausgekühlt und wertlos.</p>
-
-<p>Lang saß er dann und schaute in den Garten hinaus.
-Noch tobte das Gewitter und die Wolken hingen ganz
-niedrig und die Bäume bogen sich und zitterten im Sturm
-und wenn ein Blitz grell aufflammte, der Donner nachkrachte,
-duckten sie sich noch tiefer und bebten sie noch
-stärker. Und die weißen Landhäuschen fürchteten sich mit
-ihnen und kauerten wie verirrte junge Tiere in dem zitternden
-Grün. Und in dicken Strängen fiel der Regen nieder.
-Und dann wurde es stiller und lichter und freier und der
-letzte Donner war noch nicht vergrollt, da war auch schon
-wieder Amselsingen und war leuchtender abendlicher Friede.</p>
-
-<p>Dann flammte die Lampe auf, und Eva kam und legte
-ihm die Abendblätter aufs Fensterbrett. Und wie jedesmal
-schob er sie beiseite, ohne einen Blick hineinzutun. Denn
-er wollte nicht erinnert werden, wollte nicht wissen, was
-draußen in der Welt vorging, das sollte tot für ihn sein,
-wie er für die Welt tot sein wollte.</p>
-
-<p>Lebhaft und ungestüm sprang jetzt sein Bub, des stillen
-Spielens mit den Bauklötzchen in der Ecke müd, zu ihm
-her, legte die Arme um seinen Leib und den Kopf auf
-seine Knie: &#8222;Vaterle, erzähl&#8217; was!&#8220;</p>
-
-<p>Da schrak er aus seinem Grübeln und schaute das Kind
-mit ausdruckslosen Augen an.</p>
-
-<p>&#8222;Was erzählen!&#8220; bettelte der Bub.</p>
-
-<p>Nun bezwang er sich mühsam, hob den Knaben auf
-seinen Schoß, fing nach einer geraumen Weile zu reden
-an: &#8222;Also &mdash; es war einmal ein Mann, der war verwunschen,
-immerzu irre zu gehen. Wenn er wohin gewollt
-hat, in die Kirche oder auf den Jahrmarkt in die Stadt,
-hat er niemals den rechten Weg finden können. Er selber
-freilich, er hat schon geglaubt, daß er richtig geht. Immer
-der Nase nach geradeaus, dann links um die Ecke und
-noch einmal rechts um die Ecke, dann muß die Kirche
-ja da sein. So hat er geglaubt. Aber die Kirche ist nicht
-da gewesen, sondern die Ziegelscheuer oder die Herberge
-oder sonst ein Haus, nur nicht die Kirche. Und er hätte
-doch darauf geschworen, daß er recht gegangen ist. Und
-wenn er zum Jahrmarkt nach Aberg gewollt hat, ist er
-sicher zum Viehmarkt nach Beheim gekommen, was doch
-in einer ganz anderen Richtung liegt. Weil er aber nicht
-leer nach Haus hat kommen wollen, hat er sich halt dort
-eine Kuh gekauft oder einen Ziegenbock und den hat er
-dann sicherlich dem Meister Schneider oder Fleischhauer
-in den Stall getrieben, die doch am andern Ende vom
-Dorf gewohnt haben. Und kurz und gut, er hat halt nie
-dorthin kommen können, wohin er gewollt oder wo er
-zu tun gehabt hat. Immer hat er sich verirrt oder ist
-immerzu im Kreis herumgegangen, immerzu rundherum
-im Kreis.&#8220;</p>
-
-<p>Er schwieg und holte tief Atem.</p>
-
-<p>&#8222;Der dumme Mann!&#8220; rief der kleine Hansl.</p>
-
-<p>&#8222;Jawohl, der dumme, dumme Mann!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Fix, Hansl, dein Abendbrot ist da!&#8220; rief die Mutter
-dazwischen. Der Bub wollte nicht fort: &#8222;Erzähl&#8217; mehr,
-Vaterl!&#8220; bat er. Aber Frau Eva machte keine Umstände.
-Sie packte den Zappelnden unter den Armen und hob
-ihn in seinen Sessel. &#8222;Avanti! Jetzt wird gegessen, daß
-du mir rechtzeitig in die Federn kommst!&#8220; Sie band ihm
-ein Mundtuch vor, gab ihm den Löffel in die Hand. Nun
-aß er gehorsam seine Eierspeise und schmatzte mit den
-Lippen und ließ sich von der Mutter die Semmelbrocken
-in den Mund stecken.</p>
-
-<p>Durch das Gegitter des Spitzenvorhangs schaute Fritz
-zu. Da waren sie beisammen, die beiden lieben Menschen,
-die schöne reife Frau und der helläugige Knabe, im goldenen
-Kreis der Lampe. Und beide hatten vergnügte Gesichter
-und waren guter Dinge und nicht ein leisester Schatten
-trübte jetzt ihre heiteren Mienen. Im engsten Raum,
-vom goldenen Lichtkreis eingeschlossen, Mutter und Kind,
-Erfüllung und Verheißung, lachend und blühend wie die
-Erde im Juni. Und er &mdash; hatte sich selbst aus dem goldenen
-Kreis verbannt, &mdash; um all das Licht hatte er sich
-betrogen, mußte schuldbeladen abseits stehen.</p>
-
-<p>Der dumme, dumme Mann!</p>
-
-<p>Hart vor seinen Füßen hörte mit einer scharfen Linie
-das warme Lichtrund auf und um ihn war Dunkel und
-Einsamkeit und Kälte.</p>
-
-<p>Du dummer, dummer Mann!</p>
-
-<p>So tritt doch heraus aus dem Dunkel. Wag&#8217; den Schritt
-&mdash; ins Licht, in die Wärme, in die Liebe &mdash; zurück in den
-leuchtenden Kreis des Lebens. Diesmal kannst du nicht
-in die Irre gehen. Zu nah ist das Ziel. Ein Schritt nur
-&mdash; ein Öffnen der Arme &mdash; und du hast es und hältst es
-fest &mdash; und nimmer, nimmermehr kann es dir dann entfliehen.</p>
-
-<p>Aber es war ihm, als könnte er niemals über diese
-scharfe, klare Grenzlinie hinüber.</p>
-
-<p>&#8222;Weiter erzählen!&#8220; rief Hansl und schlug mit seinem
-Löffel gegen den blechernen Teller. &#8222;Weiter erzählen,
-Vaterle!&#8220;</p>
-
-<p>Doch Eva hielt ihm die Hand fest und sagte: &#8222;Was
-gibt&#8217;s da noch viel zu erzählen? Der Mann ist immer
-falsch gegangen, weil er ja doch verzaubert war. Und einmal,
-da ist er schon weit fortgewesen und hat sich gar
-nicht nach Haus finden können. Aber da ist ihm eingefallen,
-daß seine Frau mit dem Essen auf ihn wartet
-und daß sein Bub auf ihn wartet und eine Geschichte erzählt
-haben will. Und wie ihm das einfällt, da hat er
-sich umgedreht, und keinen einzigen falschen Schritt hat
-er mehr gemacht und ist nur immerzu geradeaus gelaufen
-und gelaufen, bis er richtig zu Haus war. Und so schnell
-ist er gelaufen, daß das Essen wirklich noch warm war
-und daß er auch noch eine Geschichte hat erzählen können.
-Und seit der Zeit ...&#8220;</p>
-
-<p>Mehr konnte sie nicht sagen. Denn Fritz war aus
-seiner dunklen Nische in das helle Licht getreten, mit weit
-gebreiteten Armen &mdash; und seine Augen waren groß und
-leuchteten in ihren Tiefen, und die lieben zwei lehnten ihre
-Köpfe an seine atmende Brust, und so stand er in stummer
-Ergriffenheit und hatte sein Ziel erreicht und hatte sein
-Glück gefunden im goldenen Kreis des Lebens.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>4.</h3>
-</div>
-
-<p>In der Nacht, die diesem Erlebnis folgte, da lag er
-wach bis zum Morgen. Und während Eva neben ihm
-still atmete, fühlte er, wie Ring um Ring von seinem
-Herzen sprang, Stück um Stück der Eiswall brach, hinter
-dem es eingefroren nur müd gepocht hatte. Die Nacht flutete
-dunkel und gleichmütig vorüber. Ihm aber leuchteten die
-Augen groß und eines ernsten Glückes voll. Erlösung.
-Auferstehung. Weitab vom tosenden Jubel, vom wütenden
-Haß des Tages, im engsten Raum, zwischen seinen vier
-Pfählen, mit einer beglückenden Selbstverständlichkeit war
-diese Stunde gekommen und hatte ihn zum Hafen getragen,
-mühelos, wie eine Welle die Muschel auf den
-Strand spült. Und er konnte alle Segel einziehen und
-Anker werfen.</p>
-
-<p>Und langsam und allmählich lernte Fritz Hellwig wieder
-lachen und wieder frei aufschauen. Und wenn er den
-Glauben an sich selbst verloren hatte, so fand er ihn allmählich
-und langsam wieder in dem Glauben an das
-Leben und in der Liebe der Seinen und zu den Seinen.
-Und alle Zärtlichkeit Evas und aller Jubel des Buben
-strömte in seine Seele, die ihre Tore weit offen hielt und
-machte ihn dankbar und fromm und glücklich wie ein unartiges
-Kind über unverdiente Weihnachtsgaben. Und jetzt
-bemerkte er auch die behutsame Zartheit, mit der Eva
-seine Stimmungen belauschte und wie sie sich mühte, ihn
-abzulenken, aufzuheitern und aus seiner Teilnahmslosigkeit
-zu wecken. Wie sie immer und immer wieder leis an
-sein Herz pochte und Einlaß heischte und die Geduld niemals
-verlor, wenn sie vergeblich warb, wenn er sie rauh
-zurückstieß und keinen Teil mehr haben wollte an aller
-Freude und Liebe. Und er zieh sich der Selbstsucht, weil
-er sich nur dem eigenen Schmerz überantwortet hatte und
-zu allem angerichteten Unheil, zu allen seinen Irrfahrten,
-die so viele bitter getäuscht und arm gemacht, noch und
-abermals ein Unrecht gehäuft und jener weh getan hatte,
-die ihm zunächst stand und ihn am liebsten hatte.</p>
-
-<p>Schwere Schuld war zu sühnen und manches konnte
-überhaupt nicht ausgetilgt werden. Aber irgendwie gutmachen
-und aufwiegen ließ es sich, nur mußte er die Zeit
-nützen und seine Kräfte, statt sie in nutzloser Selbstbemitleidung
-zu vergeuden, frei machen für die Sühne.</p>
-
-<p>Und langsam wurden sie frei.</p>
-
-<p>Hatte er früher alles an sich vorbeigehen und gleichgültig
-zu Boden fallen lassen, so konnte er jetzt nicht
-genug tun und nicht genug finden, was Eva freuen und
-fröhlich machen sollte. Auf alle ihre Anregungen ging
-er ein, sprach mit ihr über die Tagesereignisse, und wenn
-sie auf ein besonders verwickeltes Thema gerieten und
-wenn Eva sich immer tiefer hinein verfitzte und hilflos
-hing wie ein Fisch im Netz, dann lachte er wohl und
-sagte, sie solle sich doch keine solche Mühe und seine
-Schuld nicht noch größer machen.</p>
-
-<p>Sie erwiderte nicht auf solche Reden, blickte ihn nur
-strahlend aus innigen Augen an und auf ihrem Gesicht
-lag ein ganz heller Schein der Freude.</p>
-
-<p>Bald hatte er nachgeholt, was er in den letzten Wochen
-versäumt, hatte er die Zusammenhänge wiedergewonnen
-und die Zeitungen blieben nicht mehr ungelesen neben dem
-Schreibtisch liegen. Und er las die maßlosen Ausfälle in
-den Blättern der Gegner, las die Verteidigungen und die
-Lobsprüche der Anständigen und ihm wurde dabei, als
-ob das alles irgendwo weit in der Ferne sich abgewickelt
-und er gar keinen Teil daran habe. Auch die Briefe Reinholts
-las er jetzt. Und da erfuhr er denn das Schicksal
-der Empörer.</p>
-
-<p>Karus, Leibinger, Sanders und fünf andere waren tot,
-Mark im Gefängnis, die übrigen in alle Winde verstreut.
-Der Streik war zu Ende.</p>
-
-<p>Fritz las das und wurde wieder sehr traurig. Aber es
-war nicht mehr die dumpfe Verzweiflung, der tatenlose
-Trübsinn von früher. Eine tiefe sanfte Wehmut war es,
-die ihn ganz läuterte und immer fester und unlösbarer
-mit seinen Lieben verknotete.</p>
-
-<p>Den ganzen Tag war er jetzt mit dem Buben im Garten,
-lehrte ihn die Vögel nach dem Ruf, die Pflanzen
-und die Steine unterscheiden und wurde nicht müd, die
-zahllosen Fragen des aufgeweckten Kindes zu beantworten.
-Aber noch keinen Schritt hatte er seit seiner Rückkehr vor
-das Haus getan. Er schämte sich noch.</p>
-
-<p>Und auch jetzt, als ihn Eva zu einem Spaziergang aufforderte,
-wollte er nichts davon wissen. Sie aber ließ
-nicht mehr locker, bat und drang in ihn und endlich gab
-er nach.</p>
-
-<p>Zwischen den gartenumhegten Villen gingen sie, in stillen
-Gassen, die wie breite Alleen waren, von Bäumen flankiert
-und mit gelbem Kies bestreut. Und nur wenig Menschen
-waren zu sehen. Eva hängte sich fest an seinen Arm,
-war heiter, froh und herzlich und lachte und freute sich.
-Da vergaß er alles andere und fühlte nur ihre sonnige
-Nähe, blickte in ihre klaren Augen, die unter langen Wimpern
-hell und blank in die blanke und helle Welt hineinlachten
-und er wurde sicherer, ging aufrechter dahin und
-wenn ein Spaziergänger sie schärfer ansah, stehenblieb
-und ihnen nachschaute, empfand er nicht Unbehagen oder
-Befangenheit, sondern war stolz und freute sich über seine
-blühend junge schöne Frau.</p>
-
-<p>Eine sachte Lehne hinauf gingen sie, bis die Häuser
-den Weinpflanzungen Platz machten und weiter oben eine
-freie Schau ins Land hinein sich auftat.</p>
-
-<p>Unten lag die große, turm- und giebelreiche Stadt,
-ein dunkler Wall von schönen laubwaldumwachsenen Bergen
-mit weißen Schlössern und bewimpelten Warten und
-Aussichtstürmen schloß den Horizont ein und hoch und
-still weitete sich der Herbsthimmel darüber. Im Westen
-ging die Sonne schlafen, von Gipfel zu Gipfel den Gebirgskamm
-entlang lief ein zackiges Feuerband, und rings
-um das Himmelsrund, je weiter von der goldenen Lohe
-im Westen, je tiefer und satter, wogten und wehten und
-schwebten zarte, durchsichtige Schleier, purpurn und blau
-und violett, sanken von den Höhen ins Tal, breiteten sich
-aus und hüllten gleitend, wogend, weich und duftig die
-Türme, die Giebel und Dächer alle ein.</p>
-
-<p>Eine lange Weile standen Fritz und Eva Schulter an
-Schulter und schauten stumm zu, wie die Sonne in Licht
-und farbenfroher Schönheit ertrank. Der runde Rücken
-des Hügels war fast baumlos. Lediglich vor einem zierlichen
-Kapellchen waren ein paar junge Linden im Halbkreis
-eingepflanzt und daneben war ein Friedhof mit blumigen
-Gräbern, schlichten schwarzen und weißen Steinen,
-Kreuzen und dürftigen dunklen Zypreßchen.</p>
-
-<p>Sie öffneten die Lattentür, traten ein und gingen zwischen
-den Gräberreihen hin. Einsam war es hier und
-still und gar nicht traurig. Die Höhenluft spielte mit
-den welken Kränzen, wehte um die grünen Gräser, um
-die nickenden Blütenköpfchen und um die prunklosen Male
-auf den reinlichen Totenstätten. Und wo ein Kindergrab
-war, dort kniete ein gipserner Engel in einem sauber angestrichenen
-Gitterchen und betete. Und die blauen Berge
-winkten und grüßten noch von fern und die Lichter der
-Stadt leuchteten durch die duftigen Abendschleier gedämpft
-herauf, einzeln oder, wo ein Straßenzug ging, in feurigen
-Ketten. Traulich war das alles und anheimelnd, und
-Eva sagte versonnen:</p>
-
-<p>&#8222;Hier möcht&#8217; ich auch einmal liegen, du. Es ist so
-lieb hier.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Sprich nicht vom Sterben!&#8220; bat Fritz.</p>
-
-<p>&#8222;Warum?&#8220; fragte sie und schaute ihn aus lebensfrohen
-Augen an. &#8222;Leben wir denn länger, wenn wir davon
-schweigen? Oder sind wir glücklicher? Ich glaube doch
-nicht, Fritz. Mir wenigstens, mir ist immer, als müßt&#8217;
-ich mich schnell noch doppelt freuen über die Gegenwart,
-wenn ich denke, daß alles einmal vorübergeht. Und viel
-tiefer und stärker freue ich mich dann über das bißchen
-Glück, das wir haben. Und das haben wir, gelt, du?&#8220;</p>
-
-<p>Sie schmiegte sich ganz dicht an ihn, legte die Wange
-auf seinen Arm.</p>
-
-<p>&#8222;O &mdash; du!&#8220; antwortete er und seine Stimme war
-rauh und brüchig. &#8222;Ob wir das haben! Unsere Stuben
-sind ja berstvoll davon &mdash; und alles durch dich! Alles,
-was darin schön und warm und hell ist, hast du hineingetragen
-und bereitet mit deinen Händen. Und was darin
-häßlich und kalt und dunkel ist &mdash; durch meine Schuld
-ist es dazugekommen. Drum sprich nicht vom Sterben!
-Ich mag nicht dran denken, du! Ich mag nicht denken,
-wie wenig Zeit mir noch bleibt, um &mdash; dir&#8217;s zu danken
-und dir&#8217;s zu lohnen &mdash; und abzuzahlen &mdash; und zu vergelten,
-so gut ich&#8217;s kann. &mdash; Ev, du Liebe, Gute, Gütige!&#8220;</p>
-
-<p>Ein Schluchzen erstickte seine Worte. Noch nie hatte er
-so leidenschaftlich zu ihr gesprochen, ihr so ganz unverhüllt
-und rückhaltlos sein Innerstes offenbart. Ein seltenes,
-schweres Glücksempfinden flutete wie eine heiße
-Welle über die Frau und ließ sie zu tiefst erschauern.</p>
-
-<p>Sie schwiegen. Lange, lange. Die Grabmale ragten
-ruhig in die halbhelle Dämmerung, schwarze Schatten stiegen
-über die Hügel. Ein Stern flammte auf und noch
-einer und wieder einer und lautlos schwebte die Nacht zu
-Tal. Und der Himmel wölbte sich hoch über ihren Häuptern
-und baute sich seltsam durchsichtig in einem ganz
-satten, ganz dunklen Blau über alle die funkelnden Sterne
-hinaus höher und höher in die weite, leuchtende Unendlichkeit
-empor.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>5.</h3>
-</div>
-
-<p>Jetzt ließ sich auch Doktor Kolben wieder öfter blicken,
-der sich in der letzten Zeit ganz zurückgezogen hatte, um
-das Heilung bringende Walten Evas nicht zu stören. Die
-Septembertage waren mild und klar und sonnig, in den
-Nächten stand der Vollmond am Himmel, so daß es auf
-der Erde gar nicht mehr finster wurde und Licht mit
-Licht, Goldglanz mit Silberschimmer lautlos wechselte.
-Da nahmen Hellwig und Kolben ihre Mondscheinpartien
-wieder auf. Vor Jahren, damals, als Fritz noch als blutjunger
-Mitarbeiter bei den Freien Blättern saß, hatten
-sie solche Wanderungen öfter unternommen, und regelmäßig
-war auch Heinz mit dabei gewesen.</p>
-
-<p>Diesmal fuhren sie in die Eisenerzer Alpen. Spät nachts
-kamen sie in Kallwang an und machten sich ungesäumt
-auf den Marsch. In Nagelschuhen und Lodenflaus, die
-Rucksäcke auf den Rücken, schritten sie wacker aus. Erst war
-es noch dunkel und nur die Sterne leuchteten über ihrem
-Weg. Aber dann ging rund und voll der Mond auf und
-schüttete sein Silber auf die Erde. Die tief eingefalteten
-Täler füllte er und den endlosen Luftraum, und vor dem
-hellen Himmel standen dunkel und riesengroß und silberüberrieselt
-die gewaltigen Mauern des Hochgebirges. Jeder
-Gipfel war scharf umrissen, und doch waren alle Linien
-weich und seltsam fließend. Jeder Kamm war rein geprägt
-und war doch schattenhaft und unbestimmt verschwimmend.
-Jeder Gebirgsstock ragte klar und fest mit
-dem Boden verwachsen aus dem silbernen Tal in den silbernen
-Himmel, und doch schien das alles, in diesem
-Licht, das so ruhig leuchtete und dennoch immerwährend
-flimmerte und flutete und mit winzigen Wellchen ineinanderspielte,
-schien das alles, die wurzelfesten Berge, die
-mächtigen Kuppen und starr aufragenden Zinken, flaumenleicht
-und schwebend, nur kaum wie mit ganz feinem
-Pinsel auf den zart silbernen Himmel hingestrichen. Und
-das war das Seltsamste: daß die Wucht und kolossale
-Größe des Gebirges nah und greifbar dastand und doch
-nicht fühlbar und nicht drückend wurde.</p>
-
-<p>Schweigend schritten sie dahin. Über ebene Wiesenflächen
-schritten sie, und die Gräser rauschten unter ihrem
-Tritt und schimmerten und flimmerten, eins im bläulichen
-Schatten des anderen. Und durch mächtige Tannenwälder
-schritten sie, die still und undurchdringlich finster waren
-gleich lichtlosen Kirchenhallen, und nur hoch oben, über
-dem schwarzen Gitter der Nadelkronen, lag der Mondglanz
-wie ein durchbrochenes Spitzengewebe.</p>
-
-<p>Schweigend schritten sie vorwärts. Etwas tief Beruhigendes
-war in dieser Wanderung durch Glanz und Stille,
-etwas, was alle Leidenschaften einwiegte, alle Wünsche
-schweigen, alle Erdenmühe vergessen ließ, und auf lautlosen
-Schwingen hob sich die frei und leicht gewordene
-Seele und gleitend flog sie, flog schwebend in den unendlichen
-Frieden hinein, der alle Berge und Täler, alle
-Höhen und Tiefen durchtränkte.</p>
-
-<p>Schweigend schritten sie aufwärts. Und als sie den
-Wald hinter sich hatten, ins Krummholz kamen und auf
-weiche Alpenmatten, da hatte der sanfte Mondglanz schon
-dem härteren Licht des Morgens weichen müssen. Und
-als sie den Kamm erstiegen, da brodelten tief unten schon
-und brandeten die grauen Morgennebel, alle Täler füllend,
-wie ungebärdige Ströme gegen die ruhige Kraft der Berge
-an. Und dann sprang die Sonne rein und rund, ein junger
-Held in goldig flammender Rüstung, auf den Burgwall
-und schleuderte die Feuerspeere ungestüm fernhin gegen
-die weißen Hünen im Gesäuse, die gelassen ihre ungeheueren
-Schilde entgegen hielten, gegen die funkelnden
-Panzer das Dachsteins, des Glockners, der trotzig unbewegten
-Riesen &mdash; und es war wie der heiße Ansturm des
-vergänglichen Lebens, das seine überschäumende Kraft auszutoben
-begehrt an dem unverrückbaren, sicheren, ewigen
-Sein.</p>
-
-<p>Noch immer schwiegen die beiden Wanderer, schritten
-den felsigen Kamm entlang zum Gipfel. Neuschnee lag
-hier oben, weich und unberührt, eine duftige Decke, mit
-den tiefroten Sternen der Nelken, mit gelben und blauen
-Alpenblumen leuchtend durchweht. Und zwischen dem Felsgetrümmer
-blühte das Edelweiß.</p>
-
-<p>Nun waren sie auf dem Gipfel, breiteten die Mäntel
-aus und hielten Rast. Die Rucksäcke wurden ausgepackt,
-der sturmsichere Weingeistkocher angezündet, der Tee bereitet.
-Ein harscher Höhenwind strich über den Kamm,
-machte die Wangen rot, und die Lungen atmeten tief auf
-in dieser reinen Frische. Ganz still war es. Die Morgennebel
-waren verflogen, der Übermut der jungen Sonne
-war verbraust. Klar und ruhig schien sie von einem blauen
-Himmel herab auf die gewaltige Bergwelt mit ihren schroffen
-Zacken und jähen Abstürzen, ihren breiten Gipfeln und
-schmalen Tälern, und tief unten zwischen dunklem Tannengrün
-und hellen Wiesen duckten sich winzige Häuschen
-und Kirchlein und Menschensiedelungen, duckten sich und
-ruhten an der Brust der Berge sicher und gut wie Vögel
-im Nest.</p>
-
-<p>Noch immer schwiegen die zwei oben auf der freien
-Höhe und ließen die Gedanken ausklingen, die während
-des Aufstiegs, während der mannigfaltigen Übergänge von
-der dunkelsten Nacht bis zum strahlenden Tag in ihnen
-wach geworden. Es war wohl bei beiden dasselbe gewesen.
-An die Not des Lebens hatten sie gedacht und an die
-herben Enttäuschungen, die keinem von ihnen erspart geblieben.
-Durch Leid und Verzweiflung waren sie beide
-gegangen, der eine, als er der geliebten Frau entsagen
-mußte um des Freundes willen, der andere, als ihm ein
-Ideal um das andere, ein schöner Traum nach dem anderen
-zerstob und entschwand. Und doch war jetzt Ruhe in
-ihnen, eine sanfte, innige Ruhe wie Mondlicht über
-Trümmern.</p>
-
-<p>Kolben brach endlich das Schweigen.</p>
-
-<p>&#8222;Hier ist Friede!&#8220; sagte er und schaute immerzu in
-das lachende Tal zu seinen Füßen.</p>
-
-<p>Fritz lachte. Traurig und bitter lachte er.</p>
-
-<p>&#8222;Ja &mdash; hier oben &mdash; ein paar tausend Meter weit
-von allen Menschen &mdash; da ist Friede! Und Ruhe &mdash; und
-Sicherheit. &mdash; Aber schon dort unten, in den elenden
-Hütten &mdash; so friedlich schauen sie aus, so idyllisch und
-poetisch &mdash; schon dort unten ... weißt du, wie viele
-Kinder dort schon mißhandelt, &mdash; wie viele Tiere nutzlos
-gequält wurden und täglich werden? Wie viel Elend und
-Schande und Leid diese Strohdächer zudecken, diese &mdash;
-Menschenstätten? <em class="gesperrt">Hier</em> ist Friede! Aber wo Menschen sind,
-da ist Blut und Schmach und Kampf und Unzufriedenheit.&#8220;</p>
-
-<p>Und nun brach auf einmal alles aus ihm vor, was
-wochenlang auf seiner Seele gewuchtet hatte.</p>
-
-<p>&#8222;Aber woher nur? Woher diese ewige Unzufriedenheit?
-Die Frage läßt mich nicht los! Und ich finde keine Antwort!
-Das Tier ist zufrieden, die Herde folgt noch heute
-willig dem Leitstier, die Wölfe rennen im Rudel wie vor
-tausend Jahren. Nur wir Menschen ändern immer wieder
-unsere Ordnung. Damit die Republik an die Stelle der
-Monarchie treten kann, müssen Tausende verbluten. Und
-kaum haben die Überlebenden gelernt &#8218;Hoch die Republik!&#8216;
-zu schreien, müssen abermals Tausende sterben, die nicht
-so schnell wie die anderen ihre Kehlen umstimmen können
-auf den neuen Ruf: &#8218;Es lebe der Kaiser!&#8216; &mdash; Und wieder
-zurück, wieder vorwärts, ein steter Wechsel, eine Sehnsucht,
-so brennend heiß, daß sie manchmal mit Blut gelöscht
-werden muß! Warum nur? Warum?&#8220;</p>
-
-<p>Kolben brach eine purpurne Nelke aus dem weißen
-Schnee und betrachtete sie aufmerksam: die Blütenblätter,
-die wie frierend zusammengerollt waren und das Stengelchen,
-an dem ein ganz dünnes Eisfähnchen glitzerte. Denn
-in der Sonne war der Schnee geschmolzen, aber der kalte
-Höhenwind hatte das Wasser sogleich wieder gefrieren
-lassen. Von allen Seiten betrachtete das der Doktor ganz
-genau und sagte dabei:</p>
-
-<p>&#8222;Warum, Fritz? Weil wir &mdash; das Denken gelernt
-haben. Das Leben &mdash; das hat die Natur in den ungeheueren
-Kreislauf hineingeworfen, gedankenlos und zwecklos
-hat sie es geschaffen. Wie es sich weiter entwickelt,
-darnach fragt sie nicht. Aber das Leben <em class="gesperrt">hat</em> sich weiter
-entwickelt und wir &mdash; haben uns im Daseinskampf als
-stärkste Waffe das Denken geschmiedet. Die Natur denkt
-nicht, wir, ihre Kinder, denken, forschen nach Ursache, Plan
-und Ziel, werfen unsere bangen Fragen an die Tore der
-Ewigkeit. Und nichts tönt zurück, nichts kann zurücktönen
-&mdash; als Schweigen. Unseres Daseins uns bewußt, sind
-wir vom Unbewußten wie von Mauern eingeschlossen und
-können nicht heraus. Seit wir zu denken angefangen haben,
-sind wir über unsere Mutter hinausgewachsen. Wie können
-wir da jemals zufrieden sein?&#8220;</p>
-
-<p>Hellwig stöhnte dumpf auf. &#8222;Dieses Sich-bescheiden,
-diese Resignation &mdash; ich kann mich nicht damit abfinden ...&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Du wirst schon müssen, Fritz. Vielleicht &mdash; schau&#8217;,
-nimm&#8217;s einmal so: Die Entwicklung steht nicht still. Darum
-wird die Menge immer Rohstoff bleiben und niemals
-reif werden. Im Bilde: Sie ist ein ungeheuerer Klumpen
-Ton. Und die einzelnen wenigen, die Erlöser, Dichter,
-Denker, die in der Entwicklung Vorausgelaufenen, die
-&#8218;mit den neuen Wahrheiten&#8216;, die Herrenmenschen, was weiß
-ich, die alle kneten an dem ungeheueren Klumpen herum.
-Der eine da, der andere dort, aber ihn ganz bewältigen
-und zu <em class="gesperrt">einem</em> Bildwerk zusammenfassen, das ist keiner
-imstand. Weil der Ton zu weich ist. Und eh&#8217; er erstarrt,
-ist schon ein neuer Bildner da und ändert die Nase, die
-Ohren, die Beine. Manchmal patzt er auch, das tut nichts,
-ein anderer macht&#8217;s schon wieder besser.</p>
-
-<p>Rohstoff ist die Menge, Fritz, und bleibt Rohstoff.
-Bildungsfähig ist sie und wird doch niemals Bildung
-haben. Entwicklungsfähig ist sie und wird doch niemals
-entwickelt sein. Oder: sie braucht immer ihren Beglücker
-und wird doch nie beglückt sein. Oder zufrieden, was dasselbe
-ist. Drum laß das gehn!&#8220; &mdash; Und jetzt wurde Kolben
-sehr herzlich. &mdash; &#8222;Sieh lieber zu, daß dein Junge nicht
-in der breiigen Masse versinkt. Wenn du&#8217;s zuwege bringst,
-daß er ein Bildner wird, ein vollwertiger ganzer Kerl, ein
-Kneter, kein Gekneteter &mdash; kurz und gut, wenn du der
-Menschheit einen einzigen tüchtigen Mann heranziehst, dann
-hast du für sie mehr getan, als wenn du zehntausend &mdash;
-halb glücklich machst. Denn zehntausend Halbheiten sind
-noch immer kein Ganzes!&#8220;</p>
-
-<p>So sprach Doktor Kolben, der stille, versonnene Mensch,
-während er unablässig die purpurne Blüte mit dem glitzernden
-Eisfähnchen zwischen den Fingern drehte. Der täppische
-Bergwind riß ihm die Worte von den Lippen, aber
-sie erreichten doch ihr Ziel, ein geneigtes Menschenohr, ein
-empfängliches Menschenherz, wo sie Wurzel fassen und zum
-Blühen kommen durften.</p>
-
-<p>Und die Sonne lag funkelnd auf dem blendend weißen
-Schnee und die Täler waren grün und leuchteten grüßend
-herauf und die Bergriesen standen sicher und trotzig im
-Kreis und bewachten den Frieden, der mit weit gedehnten
-Schwingen über allen Dingen schwebte.</p>
-
-<div class="section">
-<h3>6.</h3>
-</div>
-
-<p>Als sie heimkehrten, Edelweiß auf den Hüten, die Kleider
-schwer vom Duft der Alpenmatten, da waren Reinholt
-und Pfannschmidt und der alte Bogner mit seinem Schwiegersohn
-zu Hellwig gekommen.</p>
-
-<p>&#8222;Endlich!&#8220; rief Reinholt und ging auf ihn zu und umarmte
-ihn. &#8222;Endlich seh&#8217; ich dich wieder! Wie konntest
-du ohne Abschied davonlaufen und nichts mehr von dir
-hören lassen?&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Leo!&#8220; sagte Fritz dumpf. &#8222;Nein &mdash; du mußt mir
-noch Zeit lassen, Leo!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Was hast du? Ich versteh&#8217; dich nicht?&#8220;</p>
-
-<p>Da schrie er gequält auf: &#8222;Habt Geduld mit mir! Ich
-<em class="gesperrt">kann</em> euch noch nicht Rede stehen!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Fritz, &mdash; laß doch Vergangenes vergangen sein!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ich &mdash; hab&#8217; euch ärmer gemacht, als ihr gewesen seid,
-bevor ihr mich gekannt habt! Ich hab&#8217; euch viel versprochen
-und nichts hab&#8217; ich gehalten! Und kann euch
-nicht einmal Ersatz bieten &mdash; ich bin ja selber bettelarm
-dabei geworden!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Also <em class="gesperrt">das</em> quält dich?&#8220; entgegnete Reinholt. &#8222;Na weißt
-du, so überflüssig ist nicht bald was! Wen hast du ärmer
-gemacht? Die zu uns gehalten, denen geht&#8217;s heut&#8217; noch
-gut &mdash; die anderen liegen, wie sie sich selbst gebettet haben.
-Die Spekulation ist mißglückt, ein paar Gulden sind beim
-Teufel &mdash; das ist alles und das ist schon längst verschmerzt.
-Geh, Fritz, brau&#8217; dir nur um Himmelswillen nicht so närrisches
-Zeug zusammen!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;So zürnst du mir denn nicht?&#8220;</p>
-
-<p>Reinholt lachte so laut und herzhaft, daß Hellwig, ob
-er wollte oder nicht, von der Grundlosigkeit seiner selbstquälerischen
-Vorwürfe überzeugt sein mußte.</p>
-
-<p>&#8222;Meister! Mein guter Meister!&#8220; rief jetzt der alte Kesselwärter
-und kam schüchtern näher.</p>
-
-<p>Nun flog doch wieder etwas wie ein Lächeln über Hellwigs
-Gesicht: &#8222;Was macht mein lieber Bogner?&#8220;</p>
-
-<p>Die harte Greisenhand strich zärtlich über seinen Rock.</p>
-
-<p>&#8222;Jetzt geht&#8217;s schon wieder, Meister. Weil ich Sie nur
-gesund wiederseh&#8217;. Im Anfang freilich ...&#8220; &mdash; und nun
-ballte er die Faust &mdash; &#8222;Die verdammten Kerle! Gott hab&#8217;
-sie selig, aber wenn sie nicht schon der Teufel geholt hätte,
-ich selber müßt&#8217; ihnen was antun ...&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ihr seid ja ein ganz blutgieriger Kumpan!&#8220; meinte
-Kolben lächelnd. Und der Alte darauf: &#8222;Ja, Herr, Sie
-sind eben nicht dabei gewesen. Wie das so gekommen ist,
-so auf einmal mitten in den tiefen Frieden hinein wie ein
-Hagelwetter, &mdash; man kann kaum ein Vaterunser beten,
-ist schon alles hin ... Der alte Schädel kann&#8217;s wirklich
-nicht aufnehmen ...&#8220; Und wieder in flackerndem Zorn,
-mit geballter Faust: &#8222;Der Hund, der Karus!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Wie ist&#8217;s mit ihm gewesen?&#8220; wandte sich da Fritz
-rasch an Pfannschmidt.</p>
-
-<p>&#8222;Ich hab&#8217;s nicht gesehen,&#8220; erwiderte dieser, &#8222;weil mir
-der Hieb zu schaffen gemacht hat. Aber wie sie erzählen,
-&mdash; er muß rein den Tod gesucht haben.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Ja, Meister!&#8220; fiel ihm nun Adam Pichler ins Wort.
-&#8222;So was glaubt niemand, der&#8217;s nicht mit angeschaut hat.
-Wie die Schießerei losgehen soll, steht da nicht der Mensch
-oben auf dem Steinhaufen mit der Hacke in der Hand?
-Und wie sie sich schußfertig machen, springt er, Meister, er
-springt, so wahr ich leb&#8217;, mitten unter die Soldaten. Stücker
-drei, vier schlägt er, daß sie wie Bullen umfallen, dann
-haben sie ihn fest. Er aber reißt einem das Bajonett
-heraus &mdash; &#8218;Lebendig nicht!&#8216; schreit er und &#8218;Mordbuben!&#8216; und
-so was wie &#8218;Heinz!&#8216; und hat sich auch schon ins Herz gestochen.&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Er wollte nicht mehr leben ohne Heinz ...&#8220; murmelte
-Fritz verstört.</p>
-
-<p>Ganz still war es nach diesen Worten. Die Abendsonne
-fiel schräg durchs Fenster und wob um alle einen warmen
-goldenen Schein. Wie eine Botschaft des Friedens war
-das, und alle Herzen pochten ruhiger.</p>
-
-<p>&#8222;Fritz, wir kommen eigentlich mit einer Bitte ...&#8220;
-sagte Reinholt nach einer Weile.</p>
-
-<p>&#8222;Was könntet ihr von mir noch wollen!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Hör&#8217; zu!&#8220; antwortete der Fabrikant und mühte sich
-wieder einmal möglichst leichthin und geschäftsmäßig zu
-sprechen: &#8222;Hör&#8217; zu: Die Spekulation ist also nicht geglückt,
-und ich bin es müde, hier was Neues anzufangen.
-Wir wandern aus. In die deutschen Kolonien, irgendwohin,
-wo&#8217;s noch unbebautes, ganz jungfräuliches Land gibt. Dort
-nehmen wir den Pflug in die Hand und werden Bauern.
-Nicht um Gewinn, wieder nur für uns wollen wir arbeiten.
-Komm mit!&#8220;</p>
-
-<p>Und auch die andern baten: &#8222;Meister, kommen Sie
-mit!&#8220;</p>
-
-<p>Kolben war rasch zu Eva getreten. Fritz bemerkte es.
-&#8222;Hab&#8217; keine Angst, Albert!&#8220; sagte er. &#8222;Ich geh&#8217; nach
-Neuberg!&#8220; Und zu Reinholt gewendet: &#8222;Nein, Leo, ich
-bleib&#8217; im Land. Wenn unsere Ideen in der Entwicklung
-begründet sind, so setzen sie sich durch &mdash; auch ohne uns.
-Wenn nicht, so rollt die Zeit darüber weg, und wenn wir
-uns noch so dagegenstemmen. Das ist mir so klar geworden
-seither, daß ich das Frühere nicht mehr verstehe.
-Und dann, Leo &mdash; ich hab&#8217; einen Buben. &mdash; Und was ich
-meiner Frau angetan hab&#8217;, das muß doch auch gutgemacht
-werden.&#8220;</p>
-
-<p>Da trat Doktor Kolben schnell auf Reinholt zu: &#8222;Ich
-halte mit, wenn&#8217;s Ihnen recht ist!&#8220;</p>
-
-<p>&#8222;Albert!&#8220; rief Fritz erschrocken. Und Eva haschte die
-Hand des Freundes: &#8222;Doktor, Sie dürfen nicht von uns!&#8220;</p>
-
-<p>Der treue Mensch schüttelte langsam den Kopf. Jetzt,
-da Eva ganz sicher geborgen war und ihm für sie nichts
-mehr zu sorgen blieb, wollte das alte Leiden wieder aufwachen,
-und bei Hellwigs letzten Worten hatte er erschrocken
-etwas sich regen gefühlt, das fast wie Neid war, Neid
-gegen den Freund und sein Glück.</p>
-
-<p>Aber gelassen wie immer sagte er: &#8222;Was ist denn da
-weiter dabei? Nach Neuberg ging&#8217; ich so nicht mit, und
-ob dann hundert oder tausend Meilen zwischen uns sind,
-das kommt schon auf eins heraus. Drum laßt mich nur
-getrost fort. Aus der Welt geh&#8217; ich ja nicht und dann &mdash;
-vielleicht können mich diese da jetzt &mdash; besser brauchen.&#8220;</p>
-
-<p class="center spaced"><em class="gesperrt">Ende.</em></p>
-
-<p class="spaced center break">Im gleichen Verlage erschienen die folgenden Werke von</p>
-
-<p class="center big"><i>Rudolf Haas</i>:</p>
-
-<p class="book-title">Michel Blank und seine Liesel.</p>
-
-<p class="center">Roman. 25. Tausend.</p>
-
-<p class="center gesperrt">Einbandzeichnung von Oswald Weise.</p>
-
-<p class="book-title">Matthias Triebl.</p>
-
-<p class="center">Die Geschichte eines verbummelten Studenten.</p>
-
-<p class="center">36. Tausend.</p>
-
-<p class="book-title">Triebl der Wanderer.</p>
-
-<p class="center">Roman. 30. Tausend.</p>
-
-<p class="book-title">Verirrte Liebe.</p>
-
-<p class="center">Erzählungen. 14. Tausend.</p>
-
-<p class="center gesperrt">Einbandzeichnung von Friedrich Felger.</p>
-
-<p class="book-title">Der Schelm von Neuberg.</p>
-
-<p class="center">Lustspiel in 4 Akten.</p>
-
-<p class="book-title">Die wilden Goldschweine.</p>
-
-<p class="center">Roman. 1.-15. Tausend.</p>
-
-<p class="center gesperrt">Einbandzeichnung von Max Both.</p>
-
-<p class="center">(Erscheint im Herbst 1920.)</p>
-
-<p class="center">Dieser Roman bildet die Vorgeschichte zu &#8222;Michel Blank und
-seine Liesel&#8220;.</p>
-
-<p class="center">&#8222;<em class="gesperrt">Vornehm</em> im besten Sinne ist der Erzähler Rudolf Haas, der
-<em class="gesperrt">tief</em> in die <em class="gesperrt">lichte Menschenseele</em> blicken läßt und der Gedichte
-ausrauschen läßt von <em class="gesperrt">hinreißendem Schwung</em>, aber <em class="gesperrt">stolz</em> ausweicht,
-wo eine grelle Effektszene anzubringen wäre, oder breite
-Sentimentalität .. <em class="gesperrt">Ein Lobpreiser des Lebens!</em>&#8220;</p>
-
-<p class="center">
-(Friedrich Adler i. d. &#8222;Bohémia&#8220;, Prag.)<br />
-</p>
-
-<div lang='en' xml:lang='en'>
-<div style='display:block; margin-top:4em'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK <span lang='de' xml:lang='de'>DER VOLKSBEGLÜCKER</span> ***</div>
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-Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg&#8482;
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Project Gutenberg&#8482; is synonymous with the free distribution of
-electronic works in formats readable by the widest variety of
-computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
-exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
-from people in all walks of life.
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-
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-Volunteers and financial support to provide volunteers with the
-assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg&#8482;&#8217;s
-goals and ensuring that the Project Gutenberg&#8482; collection will
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-Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
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-generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
-Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
-501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
-state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
-Revenue Service. The Foundation&#8217;s EIN or federal tax identification
-number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
-U.S. federal laws and your state&#8217;s laws.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-The Foundation&#8217;s business office is located at 809 North 1500 West,
-Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
-to date contact information can be found at the Foundation&#8217;s website
-and official page at www.gutenberg.org/contact
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Project Gutenberg&#8482; depends upon and cannot survive without widespread
-public support and donations to carry out its mission of
-increasing the number of public domain and licensed works that can be
-freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
-array of equipment including outdated equipment. Many small donations
-($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
-status with the IRS.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-The Foundation is committed to complying with the laws regulating
-charities and charitable donations in all 50 states of the United
-States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
-considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
-with these requirements. We do not solicit donations in locations
-where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
-DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
-visit <a href="https://www.gutenberg.org/donate/">www.gutenberg.org/donate</a>.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-While we cannot and do not solicit contributions from states where we
-have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
-against accepting unsolicited donations from donors in such states who
-approach us with offers to donate.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-International donations are gratefully accepted, but we cannot make
-any statements concerning tax treatment of donations received from
-outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
-methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
-ways including checks, online payments and credit card donations. To
-donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 5. General Information About Project Gutenberg&#8482; electronic works
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
-Gutenberg&#8482; concept of a library of electronic works that could be
-freely shared with anyone. For forty years, he produced and
-distributed Project Gutenberg&#8482; eBooks with only a loose network of
-volunteer support.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Project Gutenberg&#8482; eBooks are often created from several printed
-editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
-the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
-necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
-edition.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Most people start at our website which has the main PG search
-facility: <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-This website includes information about Project Gutenberg&#8482;,
-including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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-</div>
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