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-The Project Gutenberg eBook of Venusmärchen, by Edna Fern
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
-most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
-of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you
-will have to check the laws of the country where you are located before
-using this eBook.
-
-Title: Venusmärchen
- Geschichten aus einer andern Welt
-
-Authors: Edna Fern
- Fernande Richter
-
-Release Date: December 26, 2021 [eBook #67015]
-
-Language: German
-
-Produced by: the Online Distributed Proofreading Team at
- https://www.pgdp.net (This file was produced from images
- generously made available by The Internet Archive)
-
-*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK VENUSMÄRCHEN ***
-
-
-
-
-
- Venusmärchen.
-
- Geschichten aus einer andern Welt.
-
-
- Von
-
- Edna Fern.
-
-
- [Illustration]
-
-
- Zürich 1899.
-
- Verlags-Magazin J. Schabelitz.
-
-
- Alle Rechte vorbehalten.
-
- Druck von J. Schabelitz in Zürich.
-
-
-
-
- Was ich als Kind einst von der alten Muhme
- In märchengrauer Dämmerstund' erlauscht,
- Was sonnenhell mir Wind und Wald gerauscht,
- Was mir geduftet hat die stille Blume,
-
- Das wuchs in mir zu einem Heiligtume. --
- Da kam das Leben, wichtig aufgebauscht,
- Und hätt' vernünftig thuend gern vertauscht
- Das Märchen mir -- zu ernstem Wissens-Ruhme.
-
- Doch lächelnd ging das Flüchtige vor mir her
- Und zeigte mir den Weg aus Tages Enge
- Und hob empor mich aus der Welt Gedränge --
-
- Der Märchen-Weisheit ewige Wiederkehr,
- Die lehrt' es mich. -- Nun nimmt es seinen Lauf
- Mild siegend weiter: Nehmt es bei euch auf! --
-
-
-
-
-Inhalt.
-
-
- Seite
-
- Venus und Madonna 1
-
- Der kleine Finger der Venus von Medici 5
-
- Der gefesselte Cupido 18
-
- Psyche 24
-
- Unser Frühling 37
-
- Frostiger Frühling 43
-
- Das Märchen, das gar nicht kommen wollte 50
-
- Klein Hildegard 58
-
- Das Märchen, das verloren gegangen war 70
-
- In der Gosse 81
-
- Sonniger Winter 91
-
- Ein Weihnachtsmärchen 99
-
- Schneeflocken 108
-
- Das Märchen von der weißen Stadt 120
-
- Weltausstellung im Walde 130
-
- Das Märchen von Einem, der auszog, ein Sonntagskind zu werden 141
-
- Rauch 151
-
-
-
-
-Venus und Madonna.
-
-
-Dunkel wölbt sich der Himmel über der Erde, und die Sterne grüßen
-einander und winken -- das ist das Flimmern -- fassen einander bei den
-Händen und tanzen einen feierlichen Reigen über die unermeßlichen
-Himmelsbahnen, und »Seht, wie klar die Milchstraße heute Abend ist!«
-sagen sie auf der Erde. --
-
-Da löst sich ein großer, glänzender Stern vom Firmament, der hat
-funkelnd im kalten Norden gestanden, zieht seine leuchtende Bahn über den
-dunkeln Nachthimmel hinweg und fällt zur Erde nieder. --
-
-Da löst sich ein anderer, ein flimmernder, unruhiger Stern vom Firmament,
-der hat blitzend im Süden gestanden, zieht seine schimmernde Bahn über
-den dunkeln Nachthimmel und fällt zur Erde nieder. --
-
-Und die beiden schönen Sterne fallen auf die große, weite Erde, in einen
-Wald voll mächtiger Bäume, süß duftender Blumen, singender Vögelein,
-spielender Tiere. -- Und siehe! da stehen die ersten Menschen, ein Mann
-und ein Weib, sie blicken einander an, reichen sich die Hände und küssen
-sich. Die beiden vom Himmel gefallenen, Mensch gewordenen Sterne -- sie
-sind der Glaube, der Glaube an das Schöne, und die Sehnsucht. --
-
-Und wieder und wieder flimmern, zittern, funkeln die Sterne am Himmel. Im
-Walde der Ewigkeit ruht das Weib in den Armen des Mannes; und sie gebiert
-ihm die Liebe -- das Kind der Sehnsucht und des Glaubens.
-
-Da aber das schöne Menschenpaar ganz allein im großen, weiten Walde
-wohnt, und nichts weiß von dem Gewimmel des Zwergengeschlechtes weit
-draußen in der Welt, so wissen sie auch nicht, wen sie wohl zu Gevatter
-bitten sollen, als sie ihr Kind, die holde Liebe, mit Himmelstau zu taufen
-gedenken. Schon beginnen die Maiglöckchen ein wunderlieblich Geläut,
-die Vöglein konzertieren und singen und flöten, und einherziehen
-gravitätisch die Tiere des Waldes.
-
-Das anmutige Reh äugt mit klugen Augen, das Häslein putzt sich, das
-Eichhörnchen tanzt, der Dachs lugt hervor aus seinem Versteck, die
-Eidechsen und Käfer huschen und jagen, die Schmetterlinge gaukeln um die
-Blätterwiege, in der die Liebe ruht -- --, aber niemand ist da, der
-das Kindlein tauft, und keine Gevatterin, die Liebe über die Taufe zu
-halten. --
-
-»Ich,« spricht der Fuchs und kommt geschlichen und streckt sein spitzes
-Näschen zur Wiege des Kindes empor, »ich versteh's, das Taufen, bin bei
-den Jesuiten in die Lehre gegangen, bin gut katholisch und sehr schlau.«
-
-»Krah, krah!« krächzt ein großer, schwarzer Kolkrabe, »hier, nehmt
-mich! Strengorthodox, schwarz, düster, wie meine Religion.«
-
-»Vielleicht alttestamentarisch?« fragt höflich ein Eidechslein,
-glitzernd von Gold, und dreht und windet sich immer wieder heran.
-
-»Oder gar freisinnig?« klappert der Storch, spießt nach dem Eidechslein,
-kröpft sich und schlägt sehr stolz und freisinnig mit den Flügeln.
-
-Vater Glaube und Mutter Sehnsucht schütteln die schönen Häupter und
-blicken ratlos um sich -- doch sieh! Licht, Sonnenschein überall um sie
-her, flutet über Blumen und Vöglein und Tiere hin, und
-
-»Ich,« spricht der Sonnenstrahl, »will die Liebe taufen. Ich dringe ihr
-ins Herz hinein, ich wohne in ihren Augen. In jedem Lächeln ihres Mundes
-zittere Sonnenschein, in jeder Bewegung ihrer Glieder herrsche Anmut,
-Freude, Wärme.« Und
-
-»Wir,« klingen sanfte und wunderbar eindringliche Stimmen, »wir wollen
-Paten sein.« Zwei Frauengestalten neigen sich zu jeder Seite der Wiege,
-in der die Liebe schlummert, so schön, so überirdisch schön, daß Glaube
-und Sehnsucht demütig niederknieen. Die wissen nicht, ist es ein und
-dieselbe, die zwei Gestalten angenommen hat, oder sind es zwei hehre
-Frauen, die da niedergestiegen sind aus den Wolken, die Liebe zu
-segnen. Wunderbar ähnlich sind sich die Schwestern, nur trägt die eine
-langwallende Gewänder, und sie hält ein lieblich Kindlein fest an
-ihr Herz gedrückt, und mild und rein ist das Lächeln ihres Mundes.
-Unverhüllt glänzen der andern herrliche Glieder, süß berauschend wirkt
-ihre Nähe, und heiße Glut entströmt den Augen.
-
-Die beugt sich nieder zur Blätterwiege und küßt das schlummernd Kindlein
-auf die unschuldigen Lippen, und spricht:
-
-»Deinen Körper gib hin, o Liebe, und all deine Sinne und jede Fiber
-deines Herzens!«
-
-Da legt die Erste segnend die Hand auf des Kindes Haupt:
-
-»Deine Seele gib,« hauchte sie, »und Mutterliebe sei dein Glück!« --
-
-Und siehe! Aus dem Kinde ist plötzlich ein Weib geworden, himmlisch
-schön, wie das Schwesterpaar -- es steht allein in all seiner Pracht auf
-der weiten, sonnigen Erde. So zieht die Liebe in die Welt hinaus, das Kind
-der Sehnsucht und des Glaubens, keusch wie Madonna, wonnig wie Venus -- und
-das Zwergengeschlecht wendet sich ab von ihr, denn es kennt sie nicht. --
-Weiche Lüfte aber wehen und tragen das Elternpaar, das der Welt die Liebe
-geboren hat, hinan zum Himmel. Dort, zwischen den Sternen, wohnen nun
-wieder die Sehnsucht nach dem Glück und der Glaube an das Schöne. --
-
-
-
-
-Der kleine Finger der Venus von Medici.
-
-
-Es war einmal ein Sonntagskind, das wanderte in der Welt umher und suchte
--- es wußte selber nicht was. Aber es blieb nicht auf dem schönen,
-trockenen, breiten Wege, den schon so viele andere vor ihm gewandelt waren,
-sondern mit der, den Kindern eigenen Passion für das Unbequeme, lief
-es quer über die Straße, kletterte mühsam über einen großen Stein,
-tappste in eine Pfütze, wie es ja deren so viele in der Welt gibt, und als
-es erschrocken seine schönen, reinen Füßchen zurückzog, geriet es in
-den Straßenkot; da eilte es entsetzt weiter, stolperte auf der anderen
-Seite über einen noch größeren Stein und rannte mit dem Magen gegen
-eines der eisernen Gitter, die überall in der Welt herumstehen. Nun
-hatte vorläufig seine Reise ein Ende. Verdutzt sah es ein Weilchen das
-häßliche Gitter an, dann um sich und nun über sich, und es erblickte
-eine große, dunkle Wolke, die ballte sich zusammen aus all dem Dampf, der
-aus den Häusern, den Fabrikschornsteinen, den Lokomotiven aufstieg,
-und zog wie ein Heer Gespenster über den lieben Abendhimmel. Der schien
-seltsam bunt drunter hervor -- glührot und rosenfarben und lichtgrau und
-blau und zartes Grün -- wie als ob er dem schwarzen Gespensterheer mit
-seinen Lichtelfen Trotz zu bieten gedächte. Aber die finstere Riesenwolke
-ballt sich immer drohender und trotziger zusammen, und da wird es dem
-Sonntagskinde ganz beklommen und bange ums Herz, und es stürzt davon,
-durch die Straßen, so schnell es seine Füße tragen können, und über
-ihm zieht die Wolke. Da aber verschwindet sie plötzlich, wie fortgeweht,
-und das Kind hält inne in seinem tollen Lauf, denn es steht vor einem
-goldenen Gitter, hinter dem hohe Bäume herüberwinken und ein süßer,
-feiner Duft emporzieht.
-
-»Ach,« denkt das Sonntagskind, »da drinnen muß es gut sein, ich möchte
-ausruhen, denn ich bin sehr müde -- ob ich wohl hineinschlüpfen dürfte?
--- Ich will auch ganz leise sein.«
-
-Kaum hat es das gedacht, so öffnet sich die goldene Thür, sanft, wie
-von Feenhand, und das Sonntagskind schleicht vorsichtig hinein, sich noch
-einmal bang nach der schwarzen Wolke umschauend. -- Richtig, ganz in weiter
-Ferne hängt sie und blickt drohend herüber.
-
-Nun ist das Sonntagskind drinnen in einem herrlichen Garten. Weg ist seine
-Müdigkeit; mit weitgeöffneten, glänzenden Augen wandelt es auf weichen
-Wegen unter hohen, ernsthaften Bäumen; mit zitternden Lippen saugt es
-süße, berauschende Düfte ein, es lauscht mit Herzklopfen den wonnevollen
-Tönen, von denen die Luft ringsum erfüllt ist. Wie tausend Nachtigallen
-Gesang klingt es, aber es sind nicht allein die kleinen Vöglein in
-den Zweigen, die so liebliche Melodieen erschallen lassen. Nein,
-jedes Blättlein, jede Blüte ist wie ein Echo und trägt die weichen,
-sehnsüchtigen Nachtigallentöne vieltausendfach weiter. Und all die Blumen
--- die Hyacinthen läuten mit ihren Glöckchen »Klingling! Ach, wie wonnig
-ist's hier!« und »Dingdang, dingdang!« antwortet die blaue Glockenblume,
-»ich läute zur Abendmette der Natur!« --
-
-Die hohen, schneeigen Lilien senden ihre schweren, süßen Düfte nach
-oben, der sentimentale Jasmin, die neckische Syringe; und die schwermütige
-Narcisse wendet ihr weißes Blumengesicht sehnsüchtig dem Monde zu. Denn
-Nacht ist's geworden: Millionen blitzender Sterne sehen mit funkelnden
-Augen vom Himmel hernieder, und der Mond gleitet mit ruhigem Schein über
-den Garten hinweg, so hell und klar, daß das Sonntagskind die vielen
-zierlichen Gestalten sehen kann, kleine Elfen und Kobolde, die sich im
-Gras zwischen den Blumen tummeln, und die Nixen und Wasserelfen -- auf den
-großen, grünen Blättern der Wasserrosen im See kauern sie und lassen
-sich schaukelnd hin und her treiben und greifen jauchzend nach dem
-glitzernden Sprühregen, den Tritonen im mächtigen Strahl gen Himmel
-senden und der, leuchtend wie Diamanten im Mondesglanz, zu ihnen
-niederfällt.
-
-In den lauschigen Ecken und Winkeln der Gebüsche stehen weiße Gestalten
--- sind's Menschen? Sie sind nackt, kaum mit einem leichten Flor bekleidet.
--- Sie sind schön, himmlisch schön, und das Sonntagskind tritt näher und
-faßt Mut, weil sie so gar lieb und gut blicken, und es berührt sie ganz
-vorsichtig und leise mit der Hand, streichelt die schönen, nackten Füße
-und -- fährt erschrocken zurück, denn eiseskalt sind sie und tot.
-
-Doch sieh -- bewegen sie sich nicht? Und horch -- hörst Du nicht leises
-Kichern, Flüstern, neckisches Lachen -- ach, und klagendes Schluchzen? --
-Die Hand des Sonntagskindes hat sie berührt -- sie leben, die schönen,
-marmornen Menschenbilder, das rote, warme Blut rollt durch ihre Adern,
-sie lächeln, es bebt ihr Fuß zum Weiterschreiten. Da neigen sie sich vor
-ihrer Königin -- die steht in ihrer Mitte, ein wonnevoll Weib, zierlich
-treten ihre schlanken Füße den Boden, die linke Hand deckt schamhaft den
-Schoß, die rechte den schneeigen Busen, zur Seite geneigt hält sie das
-liebliche Haupt, die holde Venus von Medici -- und nun fassen sie sich bei
-den Händen, die herrlichen Göttergestalten und die Elfen und Nixen mit
-ihrer weichen, eidechsenhaften Schmiegsamkeit und die komischen Kobolde mit
-ihren langen Bärten und listigen Aeuglein und drolligen Bewegungen; sie
-tanzen einen zierlichen, wunderlichen Reigen um das Sonntagskind im Kreise,
-und sie singen:
-
-»Bleib' bei uns -- o hier ist's gut sein! Hier ist Schönheit, hier ist
-Liebe -- zu süßer Freude wandelt die Lust sich, zu mildem Frieden Angst
-und Unruh' -- -- Ach, und der Schmerz, der wild durchtobt des Menschen
-Herz -- er löst sich auf in sanftes Klagen, die Sorge wird hier zu Grab'
-getragen, und aller Kummer lind gestillt. --
-
-»Hörst Du der Nachtigall Gesang? -- So singt die Sehnsucht in Deinem
-Herzen.
-
-»Hörst Du der Blumen Geläut? -- So läuten sie Deine bange Seele zur
-Ruh.«
-
-Und horch! Welch wunderlieblich Geklinge und Gesinge, wie Glockentöne in
-weiter Ferne! Näher kommt's -- immer näher -- husch! der lustige
-Kreis stiebt auseinander, blitzschnell, wie er gekommen, und vor dem
-Sonntagskinde steht eine hehre, schöne Frau, deren zarten Leib umgibt
-ein Kleid von Rosenblättern, auf dem wonnesamen Haupt strahlt eine
-Sternenkrone, die Flügel des Königsfalters trägt sie an den Schultern,
-und ihre Füße wandeln auf Blumen.
-
-Sie lächelt -- da zittert die Luft vor Freude -- Sie spricht -- da
-lauschen Mond und Sterne. -- »Haben sie Dich erschreckt da draußen in der
-Welt, Du Menschenkind?« sagt sie, »hat die große, schwere Wolke Dir das
-Herz beklemmt und Dir den Atem genommen? Und bist Du zu mir geflüchtet, in
-den Garten der Wonne, in mein Königreich, das Reich der Phantasie? -- Ich
-wußte es wohl, Ihr Menschenkinder könnt ohne mich nicht bestehen. Da geht
-ein lautes Gerede, ein wildes Geschrei durch die Welt: sie brauchen mich
-nicht, _nur_ Natur wollen sie, und nur im groben Alltagskleid, nicht
-im glänzenden Schmuck, im schimmernden Geschmeid, womit ich sie
-überschütte. -- Aber siehst Du, Du Sonntagskind, kommst doch geflüchtet
-zu Deiner Trösterin, ohne die Du die Natur nicht ertragen, ohne die Du
-nicht leben kannst. -- Und wenn Du wieder hinausziehst, dann sag' es ihnen
-draußen in der Welt, was Du geschaut in meinem Reich. -- Ach, gerade
-jetzt sollten sie es wissen, wo die dunkle Wolke schwer über den Völkern
-schwebt und sie darnieder drückt.
-
-»_Weißt_ Du, warum gerade jetzt? _Willst_ Du es wissen?«
-
-Sie blickt um sich und klatscht in die Hände. Und siehe -- ein
-wunderlicher Geselle kommt gehüpft, getollt, gesprungen: nackt ist er und
-zart von Gliedern, mit schelmischem Mund und ernsthaften Augen, einen Bogen
-trägt er in der Hand und einen Köcher mit Pfeilen an der Hüfte. --
-Sah ihn das Sonntagskind nicht dort im Syringengebüsch auf einer Säule
-stehen?
-
-Doch nun -- einen Purzelbaum schlägt er auf dem weichen Gras und ist zum
-eisgrauen Männlein geworden, das lustig mit den Aeuglein zwinkert und
-allerlei Kapriolen macht, und plötzlich schwebt er in der Luft, so
-fein und zart, als sei er aus Mondenschein gewebt, als sei er auf Blumen
-geboren, als sei er mit Tautropfen genährt. Und nun wieder trottelt er
-daher wie ein kleiner Brummbär und schlägt mit einer Keule um sich, daß
-die Nixchen und Elflein entsetzt zur Seite weichen.
-
-»O, laß die Possen, Du närrischer Kauz,« lächelt Frau Phantasie,
-»nimm Deine wahre Gestalt an, mein Gesell« -- da klingelt's wie von
-silbernen Glöckchen, die trägt das wunderliche Kerlchen an seiner
-Schellenkappe auf dem Haupte, und legt sein Gesicht in ernsthaft-drollige
-Falten, hängt seinen Bogen über den Rücken, als gebrauche er ihn nicht
-mehr, und schreitet umher mit gravitätischen Schritten.
-
-»Ist das Deine wahre Gestalt?« Frau Phantasie schüttelt das schöne
-Haupt ... »nun, sei es drum. Sieh',« sagt sie zum Sonntagskind gewandt,
-»den Mittler zwischen mir und den Menschen. Nenne ihn Amor, Puck, Geist,
-wie Du willst; kannst ihn auch Humor heißen, das hört er am liebsten.
-Geh' mit ihm -- die Welt soll er Dir zeigen, wie sie uns Göttern
-erscheint. An seiner Hand wird es Dich weniger schmerzen.«
-
-Sie gleitet dahin wie der Mondesstrahl, die hehre Königin, und ihr
-nach durch Busch und Zweig, über Blumen und Moos huscht das lose Volk,
-Leuchtkäfern gleich, die in Abendluft baden, und in der Ferne tönt
-neckisch Gelache. --
-
-»Komm',« sagt der närrische Geselle, und schüttelt seine Kappe, daß
-die Glöckchen klingen, »reich' mir Deine Hand, armes Sonntagskind. Hab
-Dich schon gesehen draußen in der Welt, wie Du über Steine gestolpert
-bist und in Pfützen getreten hast. Ja, es ist immer sicherer, auf den
-hübsch ausgetretenen Pfaden der Alltäglichkeit zu wandeln, als seinen
-eigenen Weg gehen zu wollen. Hast Dich zur rechten Zeit in meiner Mutter
-Phantasie Garten gerettet, sonst hättest Du Dir sicher noch einmal an
-irgend einem Weltgitter Kopf und Herz eingerannt, Du dummes Sonntagskind,
-Du. -- Also ich soll Dir zeigen, wie es in der Welt eigentlich aussieht.
-Wohl kann ich Dir's erklären, denn ich treibe mich viel draußen herum.
-Einige in der Welt schwärmen für mich, andere sagen, ich sei ein wahrer
-Teufel. Wenn ich mit der Schellenkappe klingele, verstehen mich die
-Wenigsten; da muß ich oft schon mit der Plumpkeule dreinschlagen, und dann
-schreien sie und sagen, ich hätte ihnen weh gethan. -- Komisches Volk,
-diese Menschen!«
-
-Jetzt sind sie am Ende des Gartens angelangt. Eine hohe Mauer scheidet ihn
-von der Außenwelt; an der ranken sich wilder Wein und Epheu, und blaue
-Clematis hängen hernieder und rote Trompetenblumen, so dicht, daß man von
-den rauhen Steinen nichts gewahr wird, wie nur die runden Glasfensterchen,
-die hie und da in die Quadern eingefügt sind.
-
-»Sieh,« sagt der närrische Sohn der Phantasie und reicht dem
-Sonntagskind eine große Trompetenblume als Fernrohr, »die ganze Welt
-zieht wie die Bilder eines Guckkastens an unsern Fensterchen vorüber.
-Mußt aber nicht durch dieses hier sehen, das ist die rosenfarbene Brille,
-durch das schauen nur die Faulen, die ihre Gedanken nicht anstrengen mögen
--- ~nota bene~, wenn sie welche haben -- und jenes Fenster dort ist gelb
-wie der Neid und dieses rot wie Blut, als ob die Welt in Feuer stünde.
-Nein, schau hierher -- Clematis und Weinranken haben ein schönes, kleines
-Guckloch gebildet, ein Vöglein, das früh morgens zur Sonne singt, hat
-sich drüber ein Nestlein gebaut -- _das_ Glas ist klar und wahr wie meiner
-Mutter Augen. Komm, Du Sonntagskind, laß mich über Deine Schulter lehnen
-und Dir sehen helfen.«
-
-»Nein, wie ist die Welt klein!« ruft das Sonntagskind verwundert.
-
-»Nicht wahr?« antwortet der Geselle, »und Du hast sie immer für so
-riesengroß und wichtig gehalten.«
-
-»Und die Menschen -- wie Zwerge! Sieh' nur das Gewimmel!« lacht das
-Sonntagskind.
-
-»Ja, das macht Spaß, die Welt übersehen zu können,« nickt der Geselle
-und die Glöckchen an seiner Schellenkappe klingeln dazu.
-
-Da draußen in der Welt krabbelt's, prustet's, keucht's und läuft und
-schiebt und stößt -- die Großen drängen die Kleinen zur Seite, die
-Starken schlagen die Schwachen tot, und die Armen wehklagen gen Himmel. --
-
-»Wie eilig sie es alle haben!« wundert sich das Sonntagskind.
-
-»O sieh' nur, sieh' -- den alten Mann, einen Kahlkopf hat er und unterm
-Kinn einen grauen Ziegenbart, und die Augenbrauen stehen wie Borsten in die
-Höhe und die Augen glitzern gierig darunter hervor. -- Sieh', wie er an
-dem Sack zerrt, wie Gold schimmert es durch die Löcher -- er kann ihn kaum
-regieren und Angst und Zornesthränen rinnen aus seinen Augen.«
-
-»Ja, und er trägt rot und weiß gestreifte Hosen und einen blauen Rock,«
-sagt Puck, »und er kaut Tabak, und er flucht englisch, wenn die andern
-seinem Geldsack zu nahe kommen.«
-
-»Ach, und jener dort -- mit großen Sprüngen, mit ellenlangen Schritten
-setzt er dem kleinen Irrlicht nach, das über Berg und Thal, durch Sumpf
-und Morast vor ihm herhüpft, und sieh' nur, wie seine Frau sich anstrengt,
-mitzukommen.«
-
-»Sieh, sie hebt ihre schönen, seidenen Kleider auf, daß sie nicht
-schmutzig werden, und patsch! springt sie mit beiden Füßen in die
-Wasserlache -- nachher läßt sie die Kleider wieder drüber hängen --
-dann sieht man ihre beschmutzten Füße nicht -- und guck! das Irrlicht
-sieht aus wie ein Ordensbändchen.«
-
-»O, aber hier, wie schrecklich -- sie bücken sich tief zur Erde, damit
-andere auf ihre Rücken treten können und weiter schreiten dort hinauf, wo
-es so glitzert und gleißt wie von Prunk und Geschmeide. -- Und dort läßt
-sich einer schlagen -- ach, geduldig und wehrt sich nicht!«
-
-»Liebes Kind,« sagt der Gesell, »die sind aus dem Land, wo die Bedienten
-gut geraten.«
-
-»Lieber Gesell -- o siehst Du den Mann dort in der Ferne -- mit bleichen
-Lippen, mit rollenden Augen? Siehst Du, wie er mordet und zittert und
-flucht und betet, wie er angstvoll sich windet --«
-
-»Liebes Kind -- der sitzt auf einem Thron, der wackelt hin und her, und er
-trägt den Wahnsinn als Krone und als Scepter eine blutrote Brandfackel --
-wenn er die von sich schleudert, dann bebt die Erde von Kanonendonner
-und Menschengestöhn -- und ›Väterchen‹ nennt sich der Mann, liebes
-Sonntagskind.«
-
-»Ach, mein Geselle, wo wollen die vielen Menschen hin, die dort mit den
-feinen, kostbaren Kleidern angethan, die ein mit Silber beschlagenes Buch
-und einen Geldbeutel in den Händen tragen, die, mit den frommen, ergebenen
-Gesichtern --«
-
-»In die Kirche, Du dummes Sonntagskind, auf daß der Prediger ihnen in
-tönenden, salbungsvollen Worten die Angst vom Herzen rede. Dann thun sie,
-als ob sie's glauben, was er sagt, und gehen neugestärkt nach Hause und --
-leben weiter.«
-
-»Und siehst Du jene Schar dort, mein Geselle, Ballettänzer scheinen sie
-zu sein. Hei! was sie für Sprünge machen! -- Schau, die wunderlichen
-Gesten, und wie elegant sie zu posieren verstehen -- dem Publikum eine
-rechte Augenweide. Aber doch -- ich glaube sie thun nur so, es ist ihnen
-nicht wohl ums Herz -- sie schauen bleich aus, trotz Schminke und Puder. --
-Sag, mir, was sind's für Leute?«
-
-»Liebes Kind -- Litteraten sind's, moderne aus dem neunzehnten
-Jahrhundert, und die barocken Sprünge und eleganten Posen machen sie aus
-Angst, um sich und das Publikum d'rüber hinwegzutäuschen.«
-
-»Und, mein Geselle, sieh' den Mann dort hinter dem Ofen, in Schlafrock
-und Pantoffeln, mit langer Pfeife und dem Bierseidel in der Hand. -- Recht
-unzufrieden scheint er mir zu sein, er rückt unruhig hin und her -- horch!
-er schilt und gebraucht böse Worte.«
-
-»Ja, liebes Kind -- das Bier schmeckt nicht, und die Kartoffeln sind
-mißraten, und die Pfeife qualmt und durch die Schlafrockärmel pfeift
-der Wind, und die Pantoffeln sind unbequem. Da hadert er mit seinem
-langmütigen Herrgott im Himmel droben, mit dem Brauersknecht, dem Nigger,
-dem Schuster und am meisten mit seiner lieben Frau -- und es ist doch nur
-die Angst, die ihn in seiner eigenen Haut sich nicht wohl fühlen läßt.
--- Ja, und ›Philister‹ nennt man den Mann, liebes Sonntagskind.«
-
-»Ach, und, mein Geselle, dort jene Hungernden, Darbenden, Elenden, jene
-Neidischen, Unzufriedenen, Hassenden, auf was warten sie finstern Auges,
-trotziger Stirn, rachsüchtigen Herzens? Und dort jene Ballgeschmückten,
-die im Reigen sich drehen! Was ziehen sie in ihren Masken und Flittern
-einher, als wollten sie die Freude zu Grabe tragen?«
-
-Da faßt der Geselle das Sonntagskind bei den Schultern und wendet es ein
-wenig zur Seite:
-
-»Schau dort hinüber, liebes Kind,« sagt er, »sieh' weithin über die
-Welt!«
-
-Da steht auf einem Berge, hoch über dem Gewirr, Gewimmel, Gehast, ein
-großes, starkes Weib, das schwingt mit grimmigem Lächeln, mit finsterem
-Angesicht eine Peitsche in ihren Händen, deren vielteilige, zackige
-Enden zischend über die ganze Welt hinsausen -- und hohnlachend sieht das
-Riesenweib, wie die Menschen angstvoll zusammenfahren und bei jedem Schlage
-noch verwirrter durcheinander rennen.
-
-»Die Wolke, die große Wolke!« ruft das Sonntagskind entsetzt, »siehst
-Du, wie sie über die Welt hinfährt? Hörst Du sie zischen und brausen?
-Das ist sie, die mich so erschreckt!«
-
-»Ja,« antwortet der neben ihm und richtet sich auf zu voller Höhe und
-seine Augen blitzen.
-
-»Das ist die Wolke -- das ist die große Angst, die schwer auf der Welt
-liegt, die Angst der Völker vor etwas Entsetzlichem, etwas Furchtbarem,
-das über sie kommen wird, wie der Blitz durch die Wolken fährt. -- Wird
-es sie vernichten? Wird es die Welt zerschmettern, zu nichts zertrümmern
--- oder wird aus dem Chaos ein Neues entstehen, ein Herrliches, wie der
-Vogel Phönix aus der Asche! Sie wissen's nicht und beben vor Furcht und
-wagen kaum, tief Atem zu holen.«
-
-»Gibt es denn gar kein Mittel, um die Welt von dieser wahnsinnigen Angst
-zu befreien, auf daß sie ihr kühn entgegenblicke und ihre ganzen Kräfte
-anstrenge, dem Schrecklichen mit Vernunft entgegen zu arbeiten?« fragt das
-Sonntagskind schüchtern.
-
-»Ach, liebes Sonntagskind,« lächelt der Geselle und schüttelt seine
-Glöckchen, »das Mittel ist schon da und die Menschen kennen's auch, nur
-haben sie es vergessen. -- -- All die große, schwere Angst der Völker
-würde sich in nichts verflüchtigen, wenn sie nur ein klein wenig mehr an
--- den kleinen Finger der Venus von Medici denken wollten.«
-
-»An den kleinen Finger der Venus von Medici?« fragt das Sonntagskind mit
-großen, verwunderten Augen.
-
-»Komm,« sagt der närrische Geselle, und schweigend wandern sie durch die
-Nacht tief in den Garten hinein. Da stehen sie vor einem dichten Gebüsch,
-von lauter seltsamen Sträuchern gebildet; Pinien wiegen ihre schlanken
-Wipfel und dunkler Lorbeer schmiegt seine Zweige ineinander. Aber des
-Mondes Strahl dringt doch hindurch -- oder ist es das schöne Weib dort,
-das den wundersamen Glanz ausstrahlt? Da steht sie in ihrer schimmernden,
-weißen Nacktheit inmitten all dem Grünen -- zierlich treten ihre
-schlanken Füße den Boden, die linke Hand deckt schamhaft den Schoß,
-die rechte den schneeigen Busen, und der wunderbare kleine Finger dieser
-rechten Hand spreizt sich ein wenig von den andern ab, zur Seite geneigt
-hält sie das schöne Haupt -- lauscht sie? --
-
-Betäubt von all ihrer Schönheit sinkt das Sonntagskind in die Knie. Der
-Geselle aber tritt bescheiden hin vor das wonnevolle Weib, schleudert seine
-Narrenkappe zur Seite und faltet bittend die Hände:
-
-»Hehre Göttin, süße Königin, Dein Knecht, dem Du stets Dich huldvoll
-geneigt hast, dem Du so manchesmal aus der Not geholfen, in die ihn sein
-Uebermut gestürzt hat -- Dein dankbarer Liebling naht sich Dir mit einer
-demütigen Bitte: Gib diesem Menschenkinde, das zu uns in seinem Kummer
-geflüchtet ist, einen Trost auf seinen Weg, den es der Welt verkünden
-kann. Laß es die Macht Deines vornehmen kleinen Fingers ahnen -- zeig'
-ihm, warum Du ihn so entzückend neckisch gespreizt hältst.«
-
-Da lächelt Venus: »Nun, wozu sollte er denn sonst wohl gut sein,«
-sagt sie schelmisch, erhebt die rechte Hand, läßt sanft den kleinen
-gespreizten Finger in die zierliche Ohrmuschel gleiten und schüttelt ihn
-ein wenig -- dann lauscht sie lächelnd freudig in die Ferne.
-
-»Ich höre wieder die bebenden Laute der Liebe und des Erbarmens --
-himmlisch wohllautend dringen sie in mein Ohr!«
-
-»Sieh', kleines Sonntagskind,« sagt der ernsthafte Geselle, »wie die
-Venus mit ihrem kleinen Finger die Spinnenweben der Lüge und Heuchelei
-und Hartherzigkeit aus ihrem Ohr hinaus schüttelt, so sollten es auch die
-Völker thun, dann würde die große, schwere Angst von ihnen weichen und
-die bebenden Laute der Liebe und des Erbarmens auch an ihr Ohr dringen.
-
-»Pah,« lacht er dann, nimmt seine Schellenkappe auf und wirft sie in die
-Luft, daß die silbernen Glöckchen klingeln, »armes Sonntagskind -- die
-Welt wird Dich steinigen, wirst Du ihnen das verkünden. Lache über sie,
-so wie ich, das ist das Einzige, was sie fürchtet.«
-
-Und mit immer länger werdenden Schritten, riesengroß anwachsend, ist er
-im Mondenlicht verschwunden.
-
-Dem Sonntagskinde aber hat die Venus gelächelt -- tiefer Friede deckt
-seine schweren Augenlider.
-
-Hell scheint die Sonne ihm ins Angesicht, es steht auf, schaut verwundert
-um sich -- dann erhebt es seine rechte Hand und schüttelt mit dem kleinen
-Finger ein wenig im Ohr -- es lauscht -- eine Lerche steigt jubelnd gen
-Himmel -- und in ganz weiter, weiter Ferne hängt ein dunkles Wölkchen am
-Horizont.
-
-
-
-
-Der gefesselte Cupido.
-
-
-Eines Tages saß Cupido -- ich meine nicht den patentierten,
-konzessionierten Heiratsvermittler und Rechenmeister des neunzehnten
-Jahrhunderts, sondern das liebe, mutwillige Bübchen, von dem Anacreon
-erzählt und Goethe in seiner »Brautnacht« --, der saß eines Tages im
-Olymp und langweilte sich. Er hatte zwar eben erst allerlei Schabernack
-verübt, hatte sogar dem Vater Zeus einen Brand-Pfeil ins Herz gesandt,
-so daß er nicht wußte, nach welcher hübschen Erdentochter er zuerst
-schmachten sollte, hatte versucht, die lange Artemis anzuschießen, aber
-vergebens, ebenso die Athene; und aus Rache dafür, daß sie ihm ihren
-kolossalen Minervaschild vorhielt, zupfte er ihre Eulen, die sie just
-fütterte, am Schwanz, so daß sie entrüstet »Huhu« sagten. Tante
-Juno hatte ihm sehr energisch auf die Finger geklopft, als er den Nymphen
-allerlei süße Dummheiten ins Ohr flüsterte und schließlich sogar den
-Dienerinnen der Vesta nachstellte; da war er zu seiner holdseligen Mutter
-Aphrodite geflüchtet, und sie breitete ihm sehnsüchtig die Arme entgegen,
-und schwirr, da flog der Pfeil und stak ihr im Herzen. Der böse, liebe
-Junge -- aber Aphrodite lächelte -- sie war's ja gewohnt! -- Nun saß
-Cupido auf einer Wolke und bammelte mit den Beinchen und guckte zur Erde
-hinab und langweilte sich. Da kam Hermes daher geflogen, der hatte irgend
-einer Schönen im Auftrage des Vaters Zeus eine Düte Ambrosia gebracht
-und dafür ein Stelldichein verabredet. Er mochte den Cupido gut leiden und
-hockte sich ein wenig zum Ausruhen neben ihn.
-
-»Du -- weißt Du, was sie da unten mit Dir gemacht haben?« fragte er ihn.
-
-»Nee -- was denn?«
-
-»Erst 'mal haben sie Dich riesig elegant angezogen, im schwarzen Frack
-und Cylinder, und sie sagen, Du hießest gar nicht Amor, sondern Puck; und
-außerdem wäre es unanständig, wenn man nackt ginge. Und dann haben sie
-Dir eine große Brille aufgesetzt, weil Du blind wärest, sagten sie und
-haben Dir Deinen Köcher mit Goldstücken statt mit Pfeilen gefüllt, das
-zöge besser, sagten sie, und haben Dir statt eines Bogens ein Tintenfaß
-in die Hand gegeben und Dir eine Feder hinters Ohr gesteckt, damit Du
-gleich die Ehekontrakte ausschreiben könntest, sagten sie, und wenn Du
-doch 'mal ganz splitterfadennackt, ganz natürlich, ohne alle Zuthaten zu
-ihnen kommen wolltest -- sie möchten Dich eigentlich ganz gern so, sagten
-sie -- dann müßtest Du aber durchs Hinterthürchen schlüpfen, damit dich
-ja auch keiner sähe, denn sonst genierten sie sich, sagten sie.«
-
-»Beim heiligen Kriegsungewitter!« fluchte Cupido -- »das ist ja eine
-ganz urweltliche Bande!«
-
-»Hör' nur weiter -- es kommt noch besser. Da hat sich einer -- so'n ganz
-vertrocknetes Kerlchen mit einer Brille auf der Nase, auf einen hohen
-Stuhl gesetzt, und hat mit dem Finger -- weißt Du, mit so einem langen
-knöcherigen -- auf den Tisch geklopft und hat gesagt: Es gäbe Dich
-gar nicht, Du wärest eine Mythe, und die Liebe, das wäre eine
-Nervenaufregung, die leicht in Irrsinn übergehen könnte, und deshalb
-hätten die weisen Männer Gesetze gemacht, nach denen die Gefühle
-geregelt würden.«
-
-Da sprang aber Cupido in die Höhe:
-
-»Heilige Mutter Aphrodite! Gesetze? Für mich? -- Na -- das möchte ich
-mal sehen. -- Liebster, bester Hermes, geh' -- sattle mir schnell den
-blanken Stern da, ich will hinunterreiten, das muß ich mir aus nächster
-Nähe betrachten!«
-
-Und da saß er schon auf seinem glänzenden Stern und fuhr hinab, und auf
-der Erde sagten sie: Da fällt eine Sternschnuppe.
-
-Es kam aber dem Cupido furchtbar kalt vor im neunzehnten Jahrhundert,
-obwohl es im August war, wo die meisten Sternschnuppen fallen, und bei
-Sonnenaufgang fror es ihn ganz erbärmlich, trotz des Umschlagetuches, das
-ihm das alte Hökerweib geschenkt hatte. Die saß schon am ganz frühen
-Morgen mit ihren Körben auf dem Markte, und wie sie den nackten, kleinen
-Gesellen daherkommen sah, da wurde es ihr so weich und sehnsüchtig ums
-Herz, sie meinte, es wäre Mitleid -- es war aber die Erinnerung: sie
-sah sich wieder jung und hübsch, sie war beim Tanz unter der Linde, der
-schönste Bursche schwang sie im Reigen -- heißa! -- hoch in die Luft,
-daß die Röcke flogen, und dann küßte er sie. Und da machte sie die
-Augen auf, und vor ihr stand wieder der drollige kleine Junge. Der nahm
-das Höckerweib frischweg beim Kopf und gab ihr einen Kuß für das
-Umschlagetüchelchen, das sie ihm gegen die Kälte geschenkt, und die Alte
-faltete die Hände und träumte von ihrer Jugend. -- -- Den Cupido fror es
-aber doch an den nackten Beinchen, und er dachte: »Ich will doch sehen, ob
-ich nicht irgendwo hineinschlüpfen kann und mich wärmen.«
-
-Doch da kam er schön an.
-
-»Was willst Du hier?« fuhren sie ihn im ersten Hause an -- »Du bist so
-unbequem -- mach', daß Du fortkommst!« Im zweiten öffneten ihm zwei alte
-Jungfern die Thür, liefen kreischend davon und schrieen:
-
-»Hülfe -- ein Sansculotte -- er hat nichts an!« Und der dicke Mops saß
-auf dem Sofa und bellte ihm nach. Im dritten Hause fragten sie höflich
-verwundert: »Was wollen Sie hier? Wir sind ja verheiratet.«
-
-Im vierten hielten sie ihm einen Ehekontrakt unter die Nase, und im
-fünften sprachen sie von Gesetzen und -- da wurde Cupido böse und sagte:
-
-»Wartet, ich will Euch! Ihr wollt mich hier verleugnen? Bei unserer lieben
-Frau von Milo -- Ihr sollt es büßen!« Er schwang sich in die Lüfte,
-spannte den Bogen, und -- huidi! -- da schwirrten die Pfeile! Er schoß
-blindlings drauf los, ganz einerlei, ob nach Grundsatz oder Gesetz -- aber
-sie trafen. Und nun gab es eine heillose Verwirrung unter den Menschen; sie
-hatten geglaubt, den Liebesgott hinwegspotten und -klügeln zu können,
-und da war er plötzlich mitten unter ihnen und sie duckten sich, bange,
-wehklagend und nach Hülfe wimmernd. -- Da ist ein Mägdlein gekommen. Wie
-Cupido das erblickte, verschwand der Zorn aus seinem Angesicht, lächelnd
-sah er es an -- und wählte seinen allerschönsten Pfeil, mit dem er
-schon einmal seine holde Mutter geritzt hatte. -- Es war aber ein trotzig
-Mägdelein. Keck schauten die Augen in die Welt hinein und sein roter Mund
-sagte:
-
- »Was frag' ich nach Liebe?
- Mir liegt's nicht im Sinn!
- Wohl hab' ich ein Herzel --
- Doch pocht es nicht drinn!
- Und daß Ihr's nur wißt, und daß Ihr's nur wißt:
- Es hat mich noch keiner, noch keiner geküßt!
-
- Zwar hab' ich ein Mündlein
- Und seht nur -- wie rot!
- Und ach -- wie kann's lachen --
- Das macht Euch viel Not!
- Doch daß Ihr's nur wißt, doch daß Ihr's nur wißt:
- Es hat mich noch keiner, noch keiner geküßt!«
-
-Horch! -- da schwirrt es und singt und klingt! Und sieh' -- da steckt der
-Pfeil in der schönen, weißen Mädchenbrust --
-
-Das trotzige Mägdelein hat mit der Hand ans Herze gegriffen, ist glührot
-geworden, ist scheu davon geschlichen. Aus der Ferne tönt es:
-
- »Nun frag' ich nach Liebe --
- Nun trag' ich's im Sinn!
- Nun fühl' ich mein Herze! --
- Es pocht so darin!«
-
-Und Cupido lauscht, biegt sich vor und lächelt, blinkt mit den
-Schelmenaugen, hebt deutend das weiße Fingerchen, und spitzbübisch singt
-er ihr nach:
-
- »Und daß Ihr's nur wißt, und daß Ihr's nur wißt:
- Just hat sie der Liebste, der Liebste geküßt!« --
-
- * * * * *
-
-Gerade da kam ein Mann des Weges gegangen, der war ein Sonntagskind, der
-konnte schauen, was andern verborgen war -- der hat den kleinen, herzigen
-Schlingel stehen sehen, wie er dem trotzigen Mägdelein nachgehöhnt hat.
-»So sollst du ewig sein!« sagte er.
-
-Cupido aber ist ihm entgegengehüpft, denn der Mann war ein Künstler, und
-die Künstler stehen auf gar vertrautem Fuße mit all dem lustigen,
-alten Göttergesindel -- er ist geduldig mit ihm gegangen und hat sich in
-marmorne Fesseln schlagen lassen. Und so steht er da in der ganzen Pracht
-seiner Schönheit, ein wenig nach vorn geneigt, das süße Schelmengesicht
-voll Sonnenschein, das Fingerchen erhoben und deutet auf euch, die er
-euch eben mitten ins Herz getroffen hat -- und lachend klingt's von seinen
-Schelmenlippen:
-
- »Und daß Ihr's nur wißt, und daß Ihr's nur wißt:
- Nun wird die Liebste vom Liebsten geküßt!«
-
-
-
-
-Psyche.
-
-
- »~Ich saz ûf eime steine,
- und dahte bein mit beine:
- dar ûf sazt ich den ellenbogen:
- ich hete in mîne hant gesmogen
- daz kinne und ein mîn wange~,«
-
-sagt Walter von der Vogelweide. So sitze ich im Gips-Museum und träume vor
-mich hin und lasse mir von Antinous verliebte Blicke zuwerfen.
-
-O, Du Abbild erster, toller, süßer Liebe!
-
-Erste Liebe -- wo man liebt, ich möchte sagen, um zu lieben, um sein eigen
-Herz einmal pochen zu hören, um voll Seligkeit zu verzweifeln, und weinend
-zu jubeln -- wo ein liebes Auge, eine schöne Gestalt, ein lustig-gutes
-Lachen, einem vollauf Grund genug zum Lieben scheint.
-
-Später freilich, dann, meine ich, wenn die wahre, einzige, ewige Liebe
-über einen kommt, wenn man mit vollem Verstande, mit ganzer Ueberlegung,
-mit festem Willen liebt, dann -- ja, dann verlangt man freilich mehr, wie
-Du, schöner Antinous, bieten kannst.
-
-Sieh', der letzte, warme Sonnenstrahl hängt aufleuchtend, zögernd an
-seinem holden Antlitze.
-
-Er lächelt. -- --
-
-Der Faun da hinter ihm guckt schelmisch um die Ecke: »Reizender Bengel!
-Nicht wahr?« grinst er vergnügt, und die zwölf Apostel am Sarge des
-heiligen Sebald schüttelten vorwurfsvoll ihre bärtigen Häupter. Warum,
-o meine hochverehrten Herren, begaben Sie sich auch in diese
-heidnisch-vergnügte Gesellschaft? Wird es Ihnen nicht ganz sonderbar zu
-Mute?
-
-Es geht ein wunderlich Flüstern durch den Saal und ein Beben durch die
-nackten, weißen Götter-Menschenleiber. Mir schwimmt es vor den Augen und
-mein Herz klopft. Soll ich fliehen? Schnell zur Türe!
-
-Ah, die ist geschlossen! Sie haben mich vergessen in meiner Ecke hinter den
-zwölf Aposteln, und ich bin allein im ganzen Haus -- allein, und doch
-in der allerbesten Gesellschaft. Mir ahnt, jetzt wird sich etwas begeben,
-etwas wunderlich Liebliches, himmlisch Schönes. Ein seltsames Leben
-und Weben zittert in der ganzen Luft, und ich verstecke mich still und
-neugierig und warte -- worauf? Ich weiß es selber nicht.
-
-Doch -- was ist das? Träume ich? Wache ich? Ein zitternder Laut, halb
-Seufzer, halb Jubel. -- Woher kommt er? Aus den Herzen der toten Gestalten?
--- Sieh' -- sie leben! Sie heben die Arme, sie bewegen sich -- das Blut
-rinnt durch die Adern, sie atmen, und doch sind's keine Menschen. Denn
-durchsichtig werden die Glieder von Gips, sie schimmern und glänzen,
-geisterhaft, geheimnisvoll -- das ist Ewigkeit, die von den weißen Stirnen
-leuchtet, und sieghaft strahlen die klaren Augen. -- Ach, und demütig
-beuge ich mein Knie.
-
-Lautlose Stille. -- Da ertönt mächtig, wie Donnerrollen, gewaltig, wie
-Schlachtenruf, eine Stimme, die schallt durch den ganzen Saal: »Ist es
-fort, das elende Gesindel, das sich Menschen nennt, und sich so unendlich
-viel dünkt, daß es sich herausnimmt, uns stundenlang anzustarren und
-unsere Götterleiber zu kritisieren? -- Sind wir allein? -- Gebt Antwort!«
-
-Apollo ist's, von Belvedere, er tritt hervor in Herrlichkeit und Majestät,
-und zu ihm gesellt sich Mars, der da mit aller Arroganz auftritt, deren nur
-ein Kürassier-Lieutenant fähig ist, sei es auch ein olympischer; und er
-gähnt herzhaft und schüttelt die prächtigen Glieder, und die Venus von
-Milo sieht ihn holdselig an. Er aber fährt sich mit der Hand durch die
-krausen Locken, die Erinnerung an selige Stunden überkommt ihn, und
-schmunzelnd nickt er ihr herablassend liebevoll zu:
-
-»Venuschen, kleiner Schatz, bist Du immer noch in meiner Nähe? Geh',
-frage doch einmal Deinen niedlichen Schlingel von Jungen, ob die Luft ganz
-rein ist, ob wir uns endlich ein bischen gehen lassen können, nachdem wir
-den ganzen Tag so ehrbar dagesessen haben! Der kleine neugierige Bengel
-hockt natürlich da, wo es am meisten zu gucken gibt.«
-
-Und wunderbar! Die hochmütige, vornehme Dame von Milo nimmt diese etwas
-familiäre Anrede gar nicht übel, ja, ein Lächeln spielt sogar um
-den stolzen Mund, der so oft verächtlich auf die Besucher des Museums
-herunterblicken kann.
-
-»Mamachen, Mamachen,« ruft eine piepsige Stimme, und der pauspackige,
-kleine Gesell, das Kind Amor, springt von seiner Marmorsäule herunter,
-stellt sich dicht vor mich hin und nickt mir zu.
-
-»Mamachen, hier sitzt noch eine in der Ecke; aber sie sagt nichts. Ein
-ganz kleines Mädchen ist es, und sie macht große, verwunderte Augen, und
-ihre Stirn leuchtet eben so weiß, wie Deine!«
-
-»Hinaus mit ihr! Hier werden keine Sterblichen geduldet! Wir wollen keine
-Lauscher,« sagt die lange Diana von Versailles mit ihrer scharfen Stimme,
-»hetzt die Hunde auf die Unberufene.«
-
-»Willst Du hier das große Wort führen?« lächelt unsere liebe Frau von
-Milo etwas höhnisch, »alte Jungfern sind freilich flink mit der Zunge,
-aber ich denke, wir, die wir unsere Aufgabe im Leben -- Lieben und
-Geliebtwerden -- erfüllt haben, wir gelten mehr hier im Reich der
-Freude!«
-
-Diana zuckt die schlanken Schultern und hüllt sich keusch in vornehmes
-Schweigen.
-
-»Geh', Amorchen,« schmeichelt die tanzende Bacchantin -- war sie nicht
-eben noch kopflos? Jetzt trägt sie ein lieblich-übermütiges Haupt auf
-dem zierlichen Hälschen. --
-
-»Frag' sie einmal: Hast Du Jemanden lieb? Recht von Herzen, recht freudig?
-Und wenn sie ›Ja‹ sagt, dann laßt sie nur immer hier. Denkt wohl, ich
-sei ein dummes, kleines Ding, aber Amorchen, Du weißt, ich verstehe mich
-auf solche Sachen!«
-
-Und sie dreht sich im Tanz und schüttelt die anmutigen Glieder, daß der
-musikalische Faun neben ihr schnell ein lustiges »Klingkling« hören
-läßt. -- Da erhebt sich eine Stimme, sanft, wie Windessäuseln, stark,
-wie Sturmeswehen und ernst, wie das Grab: Hermes spricht. Majestätisch
-ragt sein wunderbares Haupt über die andern hinweg, und seine armen
-zertrümmerten Glieder umgibt Würde und Hoheit.
-
-Götterbote! Glück und Freude, Schmerz und Tod trugst Du hin über alle
-Welt! Ich möchte niederknieen vor Dir und Deine ewige Schönheit anbeten
-und über Deine verstümmelten Glieder meine armseligen Thränen weinen!
-
-»Laßt sie gewähren, Ihr Götter,« sprichst Du, und Deine Augen sehen
-mich an, milde, verheißend -- »denn ich kenne sie. An ihrer Wiege stand
-ich und brachte ihr das Geschenk des himmlischen Vaters, beugte mich über
-sie, hauchte es in ihre Stirn, legte die Hand ihr auf's Herz, und da zog es
-ein -- und küßte ihren Mund, und da lernte sie lächeln und -- lieben.«
-Leise nickt er, und ich möchte weinen. --
-
-Horch! Das seltsame Geräusch! Rollend, rasselnd, im Takt sich wiederholend
--- dazwischen ein melodisches Pfeifen, ein kunstvoller Schnörkel am
-Ausgang des tiefen, rollenden Tones, behaglich einschläfernd klingt's in
-seinem rhythmischen Taktfall, seiner ruhigen Gleichmäßigkeit.
-
-Alle stehen und lauschen -- --
-
-Da balanciert der alte, bärtige Silen das Bacchuskindlein geschickt auf
-dem einen Arm und deutet mit dem andern lächelnd über die Schulter auf
-den Faun hinter ihm, welcher, trunken von Wein und Freude, seine kolossalen
-Glieder im tiefen Schlafe dehnt. -- Die kleine Bacchantin bricht in ein
-schallendes Gelächter aus: »Der Faun schnarcht! Denkt Euch, er schnarcht!
-Zuviel des feurigen Griechenweines hast Du getrunken, Du liederlicher,
-großer Gesell Du!« schilt sie und kitzelt ihm neckisch die Fußsohlen.
-Der Faun murmelt unverständliche Worte und bewegt die mächtigen Glieder
-und versucht den Arm zu erheben. Aber schwer sinkt die Hand auf den
-Felsen zurück, auf dem er ruht, und bald tönt wieder sein musikalisches
-Schnarchen mit dem lustigen Endschnörkel durch den Saal. --
-
-»Heraus aus den Schluchten, aus Klüften und Thälern, kommt hervor
-aus den Quellen, huscht flink aus den Bäumen, ihr Nymphen, Dryaden, ihr
-schelmischen Mädchen, ihr lustiges Volk! Tanzt, lacht und singt, und
-hüpfet und springt! Weckt den faulen Schläfer dort und bittet Bacchos,
-den süßen Wein Euch zu reichen!«
-
-Eine klangvolle, frische Stimme schallt von der Thür her. Diana ist es,
-aber nicht die lange Versaillerin: eine liebliche, mädchenhafte Diana,
-mit kurzem Röckchen, noch nicht ganz fertig mit der Toilette -- und sie
-klatscht in die schlanken Hände, und unsere liebe Frau von Milo lächelt
-ihr holdselig zu.
-
-Nun wird es lebendig um mich her; allüberall aus den Winkeln und Ecken,
-die Treppen hinauf, hinunter kommt's gehuscht, geflogen, gekichert. Nackte,
-liebliche Mädchengestalten, üppige Weiber, bockshörnige Faune, tapfere
-Krieger, die vor Troja gefochten, ernstblickende Römer -- alles wirbelt
-lustig durcheinander und sie umtanzen den schlafenden Faun, sie kitzeln
-ihm die Seiten und zausen ihm die Haare, sie halten ihm den würzigen
-Griechenwein unter die Nase und lachen ihm ein lustig Lachen in die Ohren,
-bis er die sehnigen Glieder reckt und streckt -- da steht er mitten unter
-ihnen und dreht sich im wilden Reigen. Wie der Jubel sie alle begeistert,
-wie die tolle Lust sie hinzieht in ihr Freudenreich! Sieh' den alten
-Sokrates -- mühsam kriecht er aus der Verzierung des römischen Sarkophags
-heraus, umgeben von den lieblichen Musen; Terpsichore tanzt Ballett, und
-da stehen Seneca und Demosthenes und Pindar und Cäsar und viele alte
-Kahlköpfe und sehen zu. Mit mächtigem Satz springt der borghesische
-Fechter in die Tanzenden hinein, eine weichhäutige Nymphe hoch in die
-Lüfte schwingend, die Ringkämpfer lassen ihren Zorn und stimmen in das
-fröhliche Gelächter ein; die beiden schlanken Discus-Werfer schleudern
-ihre Metallscheibe geschickt über die Köpfe der neun Musen hinweg,
-daß die alten Herren entsetzt von ihnen zurückweichen, und mein
-schwermütiger, holder Antinous küßt die schwellenden Lippen der
-liebetrunkenen, kleinen Bacchantin.
-
-Majestätisch ernst sehen die drei Parzen vom Parthenon in das Getümmel
-und Helios lächelt siegreich von seinem Sonnenwagen hernieder. Frau Venus
-steht als Sonnenkönigin mitten unter den Jubelnden in aller Pracht und
-lächelt ihrem Volke voll Huld.
-
-Und die Dichterin Sappho öffnet ihren liederreichen, holdseligen Mund und
-flüstert schmachtend:
-
- »Die Du thronst auf Blumen, o Schaumgeborene,
- Tochter Zeus, listsinnende, höre mich rufen!«
-
-Und da, ach, siehe da -- die kokett verhüllte Göttin der Schamhaftigkeit
-sinkt sehnsuchtsvoll in die geöffneten Arme eines kräftigen,
-schöngestalteten Fauns. -- Dacht' ich's doch! --
-
-Ja, sogar die Tiere stimmen ein in die allgemeine Fröhlichkeit: die
-Schlangen des Laokoon lassen ab von ihren Opfern -- des Vaters Stirn
-blickt heiter nun, und die sanften Knaben fürchten sich nicht mehr --
-und unterhalten sich mit der Eidechse des schönen Appollo, des
-Eidechsentöters, dessen Körper etwas von der Geschmeidigkeit der Lacerte
-an sich hat -- und der Panter des Bacchos (der Riesenkater) lauscht
-grimmig-herablassend dem Gespräch.
-
-Doch, was ist das? Fürwahr, eine seltsame Prozession: langsam ziehen sie
-einher, im ehrbaren Reigen sich schwingend, gravitätisch-lüstern
-die Blicke um sich werfend, und jeder am Arme ein sittsam Dämchen mit
-unendlich vielen Kleidern -- zimperlich geschürzt mit geübter Rechten.
-
-Wahrhaftig, die zwölf Apostel sind's an der St. Sebalds-Kirche und irgend
-welche heilige Damen, die hoch oben im Christenhimmel thronen, haben sie
-sich zum Heidentanz engagiert.
-
-So ist's recht! Hebt die Füße, streckt die Arme, hierhin, dorthin, auf
-und ab!
-
-Tanzt lustig den Reigen und dreht Euch im Kreise. --
-
-Mitten im zierlichen Tanz stehen die heiligen Weiblein bewundernd vor dem
-schönen, nackten Leib des Antinous, dem offenbarenden Mund des
-heiligen Johannes entströmen Worte der Begeisterung über die Wunder
-der Weibesschönheit, der heilige Paulus seufzt: »Hieße ich
-doch noch Saulus!«, und der heilige Petrus rasselt mit den
-Himmelsschlüssel-Castagnetten dazu. Und sie schwingen sich im Kreise, daß
-die heiligen Gewänder fliegen, die heiligen Bärte wehen und der heilige
-Schweiß von den heiligen Stirnen rieselt. --
-
-Bim, bim -- bim, bim! Horch! Ein Glöcklein! Das Vesperglöcklein der
-St. Sebalds-Kirche.
-
-Schlaff sinkt der heiligen Schar der Arm, es stockt der Fuß -- starren
-Auges schauen sie zur Thür. Da steht eine hagere Mönchsgestalt in brauner
-Kutte und winkt mit langem, dürrem Finger und bim, bim, -- bim, bim,
-tönt's Glöcklein wieder. Stark wie Riesenarme ist die Macht der
-Gewohnheit! Dahin stürzen sie, die lieben Heiligen alle, in atemloser Hast
-sich überstürzend, überkugelnd. --
-
-»Zur Vesper, zur Vesper!«
-
-Und der heilige Paulus-Saulus wendet sein bärtig Antlitz:
-
-»Ueber ein Weilchen werdet Ihr uns nicht mehr sehen, und über ein
-Weilchen werdet Ihr uns wiedersehen, wenn -- wir die Vesper gesungen!«
-
-Ein lustig schallendes »Evoe!« antwortet ihm und -- bim, bim -- bim, bim
-tönt's Glöcklein von der St. Sebalds-Kirche. -- --
-
-Banges Stöhnen, sanftes Klagen, todesmüde Laute dringen an mein Ohr:
-
-»Tod, was eilest Du? Nimmer begehr' ich Dein!« dringt's über die
-bleichen Lippen des sterbenden Sklaven Michel Angelos, und bang sinken
-seine schönen Glieder ineinander.
-
-»Wohl brannte die heiße Sonne Italiens erbarmungslos auf mich nieder,
-wohl sengte sie mir mein Hirn, meine Seele; wohl fühlte ich die scharfe
-Peitsche auf meinen nackten Schultern, wohl schnitten mir rauhe Flüche
-ins Herz -- aber ich lebte doch, und mit mir die Hoffnung! Bei den
-mitleidsvollen Strahlen der Sonne dachte ich an kühle Eichenhaine, beim
-Brausen des Sirocco an das Rauschen meines Nordlandmeeres, unter Blüten
-und Früchten und ewig blauem Himmel an Eis und Schnee, an Sturm und Regen.
-Und wenn die Peitsche des Vogts klatschend auf mich fiel, da -- in meinen
-Gedanken -- kühlte lieb Mütterleins Hand ihr Brennen und meines süßen
-Liebs Mund küßte mein Herz gesund. --
-
-»Tod, zögere noch! Laß mir die Hoffnung, laß mir das Leben! Tod, warum
-kommst Du!« --
-
-»Stirb doch! Dann bist Du frei!« antwortet ihm eine rauhe Stimme, und
-es rasselt wie von Ketten, dumpfes Stöhnen entringt sich der Brust seines
-gefesselten Kameraden neben ihm. --
-
-»Freiheit, Freiheit! Gib mir Freiheit! Sie haben mich an diesen Felsen
-geschmiedet, meine Hände, meine Füße, meinen Leib -- und ohnmächtig
-schüttle ich meine Ketten. Und weißt Du, warum sie mich fesselten?
-Warum sie mich des höchsten Gutes, der Freiheit, beraubten? Weil sie mich
-fürchteten, weil die Angst, die wahnwitzige Todesangst sie dazu trieb.
-Weil sie wußten, ich würde den Brand des Aufruhrs in die Welt hinaus
-schleudern, würde nicht eher rasten und ruhen, bis ich die alte Erde
-vernichtet, zertrümmert, daß eine neue aus ihr entsteht -- gut, rein,
-stolz, wie _sie_ sie _nicht_ schaffen können. --
-
-»Und darum nehmen sie mir meine Freiheit und werfen mich in Ketten,
-schmieden mich an und hohnlachen in mein Gesicht. --
-
-»Du allmächtiges Wesen, das Du da oben über den Wolken thronen sollst,
-wenn Du mich verstehen kannst, so höre meinen Ruf:
-
-»Gib mir Freiheit -- oder laß mich sterben! -- -- Keine Antwort --
-ohnmächtig oder grausam bist Du -- denn sieh', stark bin ich noch, und
-mein Herz schlägt, mein Kopf denkt noch, rastlos, unermüdlich, und --
-hörst Du's? -- meine Ketten klirren höhnisch, immer weiter, immerzu! -- O
-Tod, warum kommst Du nicht!«
-
--- -- -- -- Lustig Rufen übertönt seine grollende Stimme,
-Beifallklatschen, Jauchzen, und dazwischen der Ruf: »Bacchos, Bacchos!«
-Und hierher wälzt sich der fröhliche Strom jubelnder Götter und Menschen
-und »Dich wollen wir, Bacchos, Gott der Freude, wo weilst Du so lange!«
-Sie knieen vor der schönen Jünglingsgestalt mit der berauschend
-lieblichen Traube neben ihm, und sie nehmen ihn in ihre starken Arme,
-und Nymphen und Göttinnen umschmeicheln, umkosen ihn. Da lassen sie ihn
-nieder, auf die Kniee des egyptischen Götzenbildes -- denn das ist leblos
-und von Stein geblieben -- und neigen sich huldigend vor ihm. Doch er
-erhebt den Arm und deutet mit der Götterhand auf die Marmorgebilde
-neuester Zeit, in der Mitte des Saales:
-
-»Was wollen die unter uns?« fragte er mit zorniger Stimme, »schafft
-sie fort -- sie stören mich!« Athene steht neben ihm, die blauäugige,
-siegende Göttin; sie hört ihn, sie winkt ihrem Liebling, dem starken,
-schnellfüßigen Achill, und der --
-
-»Naus da, 'naus da aus dem Haus da! Fort mit dir, Gesindel!«
-
-Und jubelnd sehen alle, wie Zenobia in voller Kleiderpracht, eine falsche
-Oenone, ein paar weichliche Marmorkinder, eine vollbusige, schamlose
-Schönheit, zertrümmert die Steintreppe hinunterfliegen. -- Dann aber
-neigt sich Achilles voll Anstand vor der Statue des Lincoln mit dem Sklaven
-und spricht mit Höflichkeit:
-
-»Mein Herr, gern mögen Sie unter Heroen weilen, aber Sie werden
-begreifen, daß Sie dann auch in voller Heroen-Uniform zu erscheinen haben,
-und die möchte Ihnen vielleicht nicht gut stehen. Entschieden aber können
-wir in unserm Reich der Schönheit das Untier von Häßlichkeit da zu ihren
-Füßen unmöglich dulden.« Und Lincoln verbeugt sich verständnisvoll und
-verläßt den Saal.
-
-Da wankt eine müde Gestalt die Treppe herauf -- einst der Stolz der
-Götter, immer die Freude der Menschen -- und läßt sich schwer auf die
-Stufen nieder; die starken Schultern beugen sich, der Leib zieht sich
-schmerzlich zusammen, ein mächtiges Haupt sitzt plötzlich auf dem starren
-Nacken des Herkules-Torso und senkt sich matt, todesmatt; und klagend,
-grollend erfüllt eine Stimme den Saal: »Müde bin ich -- endlich! Müde,
-der Welt zu dienen, müde, Undank zu ernten, müde, zu lieben, müde, zu
-leben -- --
-
-Einst lag die Welt schön und gut vor mir, einst hatte ich Lebensmut,
-Lebenslust, einst habe ich gekämpft, gestritten, gerungen -- und nun? Nun
-bin ich müde und möchte schlafen!« -- --
-
-Die starken, trotzigen Glieder sinken zusammen, und das starke Haupt
-stützt sich schwer auf den kraftvollen Arm.
-
-Es nahen sich zwei schlanke, schöne Jünglingsgestalten, eng aneinander
-geschmiegt, die Arme verschlungen, und ein mildes Licht strahlt von ihnen
-aus. Da legt der eine ernst und leise die Hand auf die müde Stirn des
-Herkules --
-
-»Schlaf',« sagte er sanft.
-
-Da senkt der andere still die brennende Fackel zur Erde, daß sie
-erlischt --
-
-»Ewig,« lächelt er.
-
-Und voller Ehrfurcht beugt das lustige Göttervolk das Knie und huldigt dem
-Toten. --
-
-Liebliches Klingen, Singen, Getöne -- ein wunderbar Leuchten, hell, sanft
-und mild --
-
-Da schwebt etwas die Treppe hernieder, zartduftig, schimmernd in weißer
-Pracht -- himmlisch lieblich, lebensvoll schön -- Ach, ich sinke in die
-Kniee und blicke zagend zu der göttlichen Gestalt der Medicäerin empor,
-denn _sie_ ist es -- Sie kommt zu mir, sie tritt vor mich hin, und ein
-wundersames Schauern durchbebt mir Kopf und Herz. Sie neigt ihr holdseliges
-Antlitz zu mir, und sie küßt mich auf den Mund, es rinnt wie Feuer durch
-meine Glieder. Neben ihr steht ein schöner Jüngling, dem strahlen viele
-kostbare Gedanken von der weißen Stirn. Er sieht mich an, ernst und voll
-kindlicher Weisheit, und spannt seinen Bogen und zielt gut -- denn der
-Pfeil dringt mir mitten ins Herz hinein. Und dann -- bin ich es noch? Lebe
-ich? Mir ist's so groß ums Herz -- Sieh', meine Hände! Durchsichtig klar
-sind sie, und mein Körper schimmert, wie die der Marmorgestalten -- Ach,
-meine Glieder zittern -- --
-
-Da faßt Aphrodite mich an der Hand und führt mich den Uebrigen entgegen
--- Und Hermes lächelt zu mir: »Psyche, bist Du erstanden?«
-
-Jubelnd begrüßen mich alle, alle -- und sie heben mich empor zu Nike, der
-Göttin des Sieges, und ich schmiege mich an ihren schönen Körper, der
-kein Haupt mehr auf ihren Schultern trägt.
-
-Du schwebst zwischen Himmel und Erde, o hehre Göttin! Thörichte Menschen
-schlugen Dir Dein stolzes Haupt ab, engherzige, fromme, nicht denkende
-Menschen. Sie sagten: Du dürftest Dein Haupt nicht erheben, mit Deiner
-freudigen Stimme die Menschen nicht begeistern, auf daß sie stumpfsinnig
-würden, wie jene selber. Ach, Du Göttin, Deine ganze Gestalt, Deine
-verstümmelten Arme, Deine stolzen Füße, die leisesten Falten Deines
-Gewandes -- Alles spricht Sieg! Sieg über die Finsternis, die Kleinheit,
-über freche Gewalt, und fromme Erbärmlichkeit.
-
-Und sieh', in Deinen Armen hältst Du Psyche, die Seele, die Ewigkeit
--- und weit hinaus ragt Ihr, über alles herrscht Ihr, über Götter und
-Menschen!« -- --
-
-Da, Licht! Es fällt durch die Fenster -- es wird Tag -- --
-
-Tiefe Stille -- -- Und ich fahre mit eisiger Hand über meine heiße Stirn
--- -- und da stehe ich -- ein armes, sterbliches Kind des nüchternen,
-kühlen, praktischen neunzehnten Jahrhunderts.
-
-
-
-
-Unser Frühling.
-
-
-»Ich bin da -- siehst Du mich?« sagte die Ranunkel zur Sonne, »sieh',
-ich glänze -- bin ebenso golden wie Du!«
-
-Und sie richtete sich in die Höhe, spreizte ihre eigelben
-Blütenblättchen auseinander und sah unglaublich frech in die Welt hinein.
-
-Der Sonnenstrahl aber glitt über sie hinweg, über die Anemonen hin.
-
-»Ihr seid schöner als die gelbe Blume,« flüsterte er ihnen zu, und sie
-erröteten wie junge, bleichsüchtige Mädchen und wurden sehr stolz.
-
-»Was wollt Ihr hier?« riefen sie den Veilchen entgegen, die frisch und
-munter im grünen Röckchen und blauer Blouse anmarschiert kamen.
-
-»Ihr habt hier nichts zu suchen -- das ist unser Boden.« Aber das
-kümmerte das Veilchen gar wenig. Ueberall, wo es Wurzeln fassen konnte,
-zwischen Ranunkeln und Anemonen und Kuhblumen, zwischen Moos und Gras,
-unter Blättern und Reisig, sogar zwischen den vornehmen, sonderbaren
-Frühlingsblumen, die erst vorsichtig einen Blätterregenschirm aufspannen,
-damit ihre kleinen weißen Blüten, die sie unten am Stengel tragen, nicht
-naß werden -- überall öffnete das Veilchen seine Blauaugen und lächelte
-sanft dem Frühling entgegen.
-
-»Seid Ihr ein exklusives Volk,« sagte der. Er saß mit gekreuzten Beinen
-auf einem allmächtig großen Schneckenhaus und hatte eine Blütenkrone auf
-dem Haupt und eine Weidengerte mit lustigen Kätzchen daran in der Hand;
-er spielte mit einem überjährigen Schneeballen, der irgendwo in einem
-Waldwinkel, von der Sonne vergessen, liegen geblieben war, und der schmolz
-jetzt und träufelte der Schnecke, die aus ihrem Fenster guckte und
-schrecklich große Augen machte, gerade auf die Nase, daß sie entrüstet
-ihre Fühlhörner einzog und das Fenster zumachte. Die Schmetterlinge, die
-den Frühlingsknaben umgaukelten und wie Blumen aussahen, die von ihren
-Stengeln geflogen und auf die Wanderschaft gegangen waren -- gerade wie
-unsere sehnsüchtigen Gedanken mitunter -- machten vor Vergnügen die
-lustigsten Capriolen in der Luft und schlugen übermütig-hastig mit den
-kleinen, bunten Sammetflügeln. »Ihr seid ein exklusives Volk hier im
-Walde,« sagte der Frühling, »jede Sippe hockt auf ihrem Fleckchen Erde
-für sich und macht scheele Gesichter, kommt ihm ein anderes zu nahe. Und
-erst die Bäume -- hier die Eichen, dort die Tannen, drüben die Birken
--- die Weiden sind in die Wiese geflüchtet, damit sie's Reich für sich
-allein haben, und die Obstbäume wollen erst recht nichts von den andern
-wissen. Freilich -- seid auch auf verschiedenem Erdreich groß geworden.
--- 'S wär' auch langweilig in der Welt, wär' alles über einen Kamm
-geschoren! Und doch -- _Eine_ strahlende Sonne scheint über Euch alle, und
-_ein_ gütiger Regen erquickt Euch!« -- Und der Frühling erhob sich
-vom Schneckenhaus und schlenderte davon. Gern hätte er die Hände in die
-Hosentaschen gesteckt, aber das ging nicht, denn -- er war ganz nackt und
-bloß wie die Natur selber, und der Sonnenstrahl strich gleitend vor ihm
-her und leuchtete ihm. Pfeifend und singend mit heller Stimme zog der
-Frühling durch den Wald; unter seinen Tritten sprossen die Blumen und
-sein Lachen -- das war der Frühlingswind, der warme Südwind, der belebend
-über die Erde fuhr. Die Vöglein kamen und antworteten mit sehnsüchtigen
-Lauten. -- Ueber den Wald hin schallt der starke Weckruf der Blauvögel.
-Sieh' -- da blitzt es feuerrot auf -- das ist ein lieblicher Sänger! Und
-horch! Hier die rostbraune Drossel -- Hörst Du, was sie sagt? »Tüterlü!
-Der Frühling kommt! Siehst Du ihn -- Du, Du, Du, Du!« -- Und: »Komm' zu
-mir, komm' zu mir! Zerr -- zeck, zeck, zeck, zeck!« bläst der Zaunkönig
-sein Kehlchen auf -- wupp! schlüpft er durch die Hecke, und dahin geht's,
-im Lauf, geschwind wie ein Mäuschen. -- Siehst Du den Specht? Weiße
-Hosen, schwarzes Röcklein und auf dem Kopf ein tiefrot Käpplein über dem
-schlauen, spitzen Näschen -- ist doch gar ein putzig Weschen! Sieh',
-wie klug die schwarzen Augen funkeln, sieh' -- wie er mit dem Frühling
-Verstecken spielt! Bald an dieser, bald an jener Seite des Stammes
-schimmert sein rotes Köpfchen und wirft ihm der Frühling eine Hand voll
-Blätter ins Gesicht, die sich schnell an die Zweige anklammern -- hei! Da
-sitzt er schon ganz hoch oben im Baum und lugt schelmisch um die Ecke:
-
- »Pick, -- pick, -- pick, -- pick -- hier find' ich mein Mücklein!
- Pick, -- pick, -- pick, -- pick -- hier schlag' ich mein Brücklein,
- Von Baum zu Baum über Busch und Strauch --
- Ei, Frühling -- geschwinde! Nun folge Du auch.«
-
-»Hahaha,« lacht die Spottdrossel wie toll und gleich darauf klingen
-langgezogene, friedliche Sehnsuchtslaute aus ihrer Nachtigallenkehle,
-daß alle Vögel inne halten und dem Frühling die Thränen aus den Augen
-rinnen.
-
-Wo hört' ich jüngst solch ein Spottdrossellied? -- Weich und schwül
--- hohnlachend -- -- war's nicht in meinem Herzen? Ist's nicht das
-Menschenherz selber -- in all seinem Leid, all seiner Sehnsucht, all seinem
-Haß? --
-
-»Sputet Euch,« sagt der Frühling zu den Eichen und schlägt sie
-schmeichelnd mit seiner Weidengerte, »Ihr knorrigen Gesellen! Seid zwar
-auch _so_ schön mit Euren kuriosen Knorpeln und verdrehten Aesten --
-gerade so knorpelig und verzwickt, wie ein Menschenhirn -- aber wenn Ihr
-die zackigen Blätter von Euch spreizt, habe ich Euch noch lieber!«
-
-Und da sproßten die roten Keime und Blättchen, und nun hatten sie ein
-noch wunderlicheres Ansehen, gerade wie ein Schalksnarr, dem die Liebe aus
-den Augen guckt. --
-
-»Ich,« sagt die Ulme, »ich bin vorgeschritten in der Kultur -- seht,
-mein krauses, grünes Gewand ist schon fix und fertig.« --
-
-Und der Frühling geht weiter:
-
-»Sieh', sieh', wie schön steht das maigrüne Kleidchen zu Deiner weißen
-Haut, kleine Birke, -- bist fast die Schönste von allen! Alte Tanne«
--- er streicht über der Tanne stattliche Haare -- »mußt immer dasselbe
-dunkle Kleid tragen jahraus, jahrein -- bist wohl gar neidisch?«
-
-Aber die Tanne ist unartig, sie streckt dem Frühling und seiner Birke eine
-lange, hellgrüne Zunge aus den dunkeln Nadeln heraus und antwortet noch
-nicht einmal vor Trotz.
-
-»Böses, altes Ding Du,« schilt der Frühling, und um sie zu ärgern,
-gibt er den Lärchen lauter kleine hellgrüne Federbüsche, kleinen Pinseln
-gleich, die tragen sie stolz, wie ein angehender Maler seine Farbenpinsel
-in der Brusttasche. -- Horch! Was regt sich hinter dem Tannendickicht? Ein
-hübsches, verstecktes Plätzchen -- Taubengegirr, Vogelgesang -- ist's
-Windessäuseln, rauschen die Zweige, geheimnis-ahnungsvoll! Leise schleicht
-sich der Frühling heran, er verbirgt sich hinter einem Baumstamm -- er
-lauscht -- er sieht -- --
-
-Menschenkinder sind's, zwei junge, lachende, kosende Menschenkinder, den
-ewigen Frühling, die Liebe, im Herzen, in den Augen. -- Sie ruht im
-Gras, den Kopf gegen eine Tanne gelehnt, er zu ihren Füßen, den
-braunen Lockenkopf in ihrem Schoß -- leises Lachen, halblautes Singen,
-abgebrochene, unverständliche Laute -- halbgeflüsterte, halbgeküßte
-Liebesworte. -- Glückliche, selige Menschenkinder -- was wißt Ihr
-vom brennenden Sommer, vom welkenden Herbst, vom eisigen Winter? --
-Der Frühling streichelt Euch Stirn und Wangen. -- Blondes Mädchen, Du
-streichst Dir die Löckchen aus der Stirn und schiltst über den Wind --
-oder den Geliebten, der Dir die Haare zerzaust hat -- und der Sonnenstrahl
-küßt Euch und dringt Euch bis ins junge Herz hinein! --
-
-Auf leisen, flüchtigen Sohlen eilt der Frühling von dannen:
-
-»Jetzt muß ich aber auch die Obstbäume anlächeln,« sagt er im raschen
-Lauf, »daß sie treiben und blühen und Früchte tragen.« Aber die
-waren voreilig gewesen, wie gewöhnlich, hatten nicht auf das Lächeln
-des Frühlings gewartet, hatten sogar vergessen, sich erst die Blätter
-anzuziehen. -- Da stehen sie in ihren schlohweißen Hemdchen und lächeln
-verschämt, ach, und Apfelbäume und Pfirsiche werden ganz rot, als sie den
-Frühling kommen sehen, und nur die Birne ruft triumphierend: »Ein paar
-grüne Blättchen habe ich schon -- aber Du, Frühling, bist ja ganz
-nackt!« Hei, wie sie sich alle schütteln vor Lachen, daß ihr
-weicher, duftender Blütenschnee über die grüne Erde hinweht. -- Ganz
-überschüttet wird der Frühling; in seinen Locken hängt die duftige
-Ueberfülle, um Stirn und Wangen schmeicheln die süßen Boten -- da wird
-es ihm ganz weh ums Herz vor Wonne und Jubel, sehnsüchtig breitet er seine
-Arme der Geliebten entgegen, der leuchtenden Sonne -- und da wird er zum
-Manne -- er vermählt sich mit der Sonnenglut -- und siehe, es war Sommer!
-
-
-
-
-Frostiger Frühling.
-
-
-Um unsere Blüten sind wir betrogen! -- Im März, als der warme
-Sonnenstrahl die erwachende Erde überglänzte, da lag ein rötender Hauch
-über den Obstbäumen, licht wie ein rosenfarbenes Wölkchen am Frühhimmel
--- heute haben die Birnbäume und die knorrigen Apfelbäume ein festes
-grünes Mieder angezogen, aus dem sie stramm und vernünftig herausschauen,
-und das Mädchenerröten haben sie längst vergessen.
-
-Um unsere Blüten sind wir betrogen! -- Hat der Frost sie getötet,
-der lauernd über die Erde schlich? Hat unsere schönen Hoffnungen der
-Sturmwind verweht? Ist der Regen gekommen auf seinen grauen Rossen, den
-Wolken, und hat sie mit seinem gleichförmigen Gedrissel -- patsch!
-patsch! Tropfen auf Tropfen, wie die tägliche Langeweile, -- verwaschen,
-verknittert, zerblättert? --
-
-Nackt stehen die Magnolienbäume im botanischen Garten. Sie, die sonst im
-Mai zum Frühlingsreigen in prächtigen Balltoiletten der verwunschenen
-Prinzen harrten; sie, die sonst von der Ueberfülle ihrer Schönheit den
-neckischen Winden preisgaben, daß die Blütenblätter und ihr Duft die
-Luft erfüllte. Heute stehen sie kahl und düster und traurig da, kein
-lächelnder Prinz wird um die südliche Schöne werben und der Frühling
-hat die Prächtige, Ueppige, Duftende vergessen. -- Da gleitet ein
-Sonnenstrahl über die schwarzen, vom Frost geknickten Spitzen der
-Magnolien. Es ist, als lächle er. In seinem Flimmer tanzt ein gelber
-kleiner Schmetterling, er taucht sich in die vergessene weiße Blüte eines
-jungen Birnbaums, der schon winzige Früchte am andern Zweige trägt. Und
-da lispeln sie alle heimliche Worte -- horch!
-
- Zur Blüte sprach der Schmetterling: »Was nützt mir's, daß ich
- strahle?
- Wenn meinen Schmelz ein Fingerdruck wegwischt mit einemmale?«
- Da lachte der Sonnenschein.
-
- Es sprach die Blüte zum jungen Blatt: »Was nützt mir's, daß ich
- blühe?
- Wenn ich nach einer Regennacht verblätt're in der Frühe?«
- Da lachte der Sonnenschein.
-
- Es sprach die Frucht zum grünen Baum: »Was nützt mir all mein Süßen?
- In meinem Herzen nagt ein Wurm: tot fall' ich Dir zu Füßen.«
- Da lachte der Sonnenschein.
-
- Ich rief wohl in die weite Welt: »Was nützt mir all das Klingen?
- Die rauhe Hand, die Nacht, der Wurm -- Ein Sterbelied muß ich singen!«
- Da lachte der Sonnenschein.
-
-Ich folge dem lachenden Sonnenstrahl. Er huscht über die Stiefmütterchen
-am Wege, die ihm ihre großen bunten Augen zuwenden, über rote
-dickköpfige Tulpen, die sich blähen vor lauter Vornehmheit; er klopft an
-die Fenster des Treibhauses: ich bin da, ich bin da! -- Aber was kümmert
-das nervöse Volk da drinnen in ihrem überheizten Haus der warme
-Sonnenschein? -- Halt! du lockender Strahl! laß mich erst einmal
-hineinschauen in die Blumen-Menagerie. Sehnsüchtig sehen die armen
-Eingesperrten durch die Glasfenster, und schauern zusammen, wenn die kühle
-Frühlingsluft durch die offene Thür sie trifft. Sie fühlen sich wohl in
-der heißen, feuchten Luft künstlicher Bildung; einmal ihres heimatlichen
-Bodens beraubt, gedeihen sie prächtig in der erstickenden Atmosphäre der
-Ueberfeinerung -- oh, und diese höchste Kultur zeitigt bizarre Charaktere:
-da die Kaktus mit ihren Stacheln über und über, an denen ein rauhes
-Gewebe klebt wie graues Haar; dem bekannten Meergreis gleich, der »in
-die Wüste ging und ein Wüstling ward«, frühzeitig gealtert wie unsere
-nervös überfütterten Dandys ~fin de siècle~. Protzige Agaven mit
-dicken, fleischigen, ausstreckenden Zeigefingern. Cochenille-Kaktus,
-unansehnliche, häßliche Dinger, nur dazu gut, daß andere sich von ihnen
-nähren -- die kleine, rote Blattlaus, die aus diesem Häßlichen das
-Schöne bildet: das leuchtende Cochenille-Rot. Hier die Palmen, groß,
-still, erhaben, die Löwen der Blumen-Menagerie. -- Die vielarmigen
-Dracänen, die üppig wuchernden Schlinggewächse, die seltsamen stillen
-Blumen mit Blättern und Blüten wie aus Wachs geformt, -- gleitet nicht
-Scheherezade durch diese schwüle Luft und erzählt Märchen aus Tausend
-und einer Nacht unter lispelnden Palmen und großen duftlosen Blumen? --
-Aber dort unter dem First des Glasdaches, dem Licht zustrebend -- dort
-liegt es wie glänzend weißer Schnee, besäet mit funkelndem roten
-Blutstropfen. »Weiß wie Schnee, rot wie Blut!« Schneewittchen aus
-unserem lieben deutschen Märchen nickt hervor aus diesem lieblichen
-Blumenmeer und lächelt uns an. Eine Schlingpflanze ist es mit
-schwarzgrünen Blättern; sie rankt sich hoch und immer höher dem Himmel
-entgegen, der blau durch die Fenster ihres Gefängnisses schimmert und
-tausend weiße, stille Blumenherzen wenden sich ihrem Gott, dem Lichte,
-zu, und rot und glühend entströmt ihnen ihr Gebet. -- Da öffnet sich die
-Thür, der Sonnenstrahl huscht hinein und küßt die roten Blumenlippen,
-und winkt mir: Komm, komm! Ich zeig' Dir viel Schönes, wenn auch die
-Blüten Dir genommen sind. --
-
-Draußen im botanischen Garten glänzen die feingeharkten Kieswege.
-Zwischen wohlgepflegten Blumenbeeten wandeln wohlgepflegte Städterinnen.
-Die ordentlichen Blumen auf den ordentlichen Beeten blühen noch nicht; die
-ordentlichen Städterinnen haben schon geblüht. Deshalb strömen sie einen
-künstlichen, starken Parfüm aus, der schlecht harmoniert mit der süßen,
-berauschenden Frühlingsluft.
-
-»Vorüber, ihr Schafe, vorüber!« singt Goethes Schäfer, als ihm
-»gar so weh« wird -- und wir huschen dem Sonnenstrahl nach, aus dem
-ordentlichen Garten hinaus, hinter die hohe Mauer, wo die Wildnis anfängt.
-Hier ist auch eine Menagerie, die der Bäume. Aber die Wildlinge aus Nord
-und Süd haben in dem fremden Boden Wurzel gefaßt, ihn sich angeeignet,
-und so gedeihen sie und wachsen und wachsen, als habe die neue Heimat ihnen
-die alte ersetzt. -- Was es nicht alles zu sehen gibt unter den fremden
-Bäumen: dort, wohin die Tannen nicht mehr gelangen können mit ihren
-langen Armen, kriecht kleines, grünes Moos dicht an das Nadelbett heran,
-das die Tanne, wie Frau Holle den Schnee, um sich ausgeschüttet; es
-blüht, das Moos, mit lauter gelbgrünen Zäckchen, und zwischen den feinen
-krausen Spitzen kriechen winzige Insekten, denen der Mooswald wohl so
-gewaltig dünkt, wie uns jene blühende Kiefer. O wie blüht die Kiefer!
-Ueberall, überall auf den starken Aesten, in den Stacheln verborgen, da
-blüht es wie rotes Gold; sieben kleine Goldkätzchen in einem Nest -- und
-rührst Du daran mit vorwitzigem Finger, dann rieselt ein feiner, gelber
-Blütenstaub in Deine geöffnete Hand. Weich wie ein zartes Kinderbäckchen
-berührt dich's, und ein würziger Duft erzählt dir von unendlichen
-Kieferwäldern, in denen der Wind singt.
-
-»Bilde Dir nur nichts ein,« sagt die Nachbarin der Kiefer, die deutsche
-Edeltanne, und sie reckt sich kerzengrade, so daß sie noch einen Finger
-breit über jene hinweg schaut -- »Du mit Deinem Blühen! Sieh' mich
-an: meine Orden, huldvollst verliehen von Sr. rauschenden Majestät dem
-Frühling.« -- Und sie klappt ihre Zweige zusammen, daß ein feines
-Nadelgeriesel zur Erde fällt. Ueber und über ist sie besäet mit
-hellgrünen Knöpfchen, frischen Nadelspitzen, die vergnügt aus dem Dunkel
-ihrer Wintertracht hervorblitzen.
-
-Zwischen den Bäumen, aus Gras und Moos erheben sich dunkle Blumenbeete.
-Seltsame Blumen stehen darauf: aus dunklen Blättern hängt an
-einem dünnen Stiel eine kleine, gelbe Tasche; -- ich bin immer die
-vierundzwanzigste mit fünfundzwanzig Fehlern in der Botanik gewesen, und
-nun möchte ich wissen, ob diese niedliche, kleine, gelbe Tasche nicht eine
-Art von Venus-Fliegenfalle ist? Kriecht ein dummes Mückchen am Rand der
-schönen Blüte hin und bleibt daran kleben: sacht schließt die schöne
-Blüte ihre Tasche, und Mückchen ist gefangen und muß elend zu Grunde
-gehen. Denn so eine Venus-Fliegenfalle gibt ihre Beute nicht wieder los;
-ob's Mückchen auch zappelt -- es wird festgehalten bis an sein unseliges
-Ende. --
-
-Wenn nach einem deutschen Städtchen aus der nächsten Garnison die
-Militärkapelle kommt und ein Biergartenkonzert abhält, dann sitzen die
-unnützen Buben hinter der grünen Hecke des Gartens und gucken hindurch
-und haben die prächtige Musik mit allem Tschingdara-Bumbum und die Herren-
-und Damen-Honoratioren, die weißröckigen Mädchen, und all den Kaffee
-und das Bier -- nämlich indem sie sehen, wie es getrunken wird -- ganz
-umsonst. Sie nennen das: ein Heckenbillet nehmen. Ich habe auch ein
-Heckenbillet genommen: ich sitze hinter der großen Mauer, an der sich
-rotblühendes Gaisblatt rankt, und kein Mensch im gebildeten Garten weiß,
-daß ich da bin, und ich höre das süße Vogelkonzert, ich sehe die
-ernsthaften, andächtigen Bäume und das kindlich lustige Gras, in dem die
-blauäugigen Veilchen grüßen, ich trinke die wonnige Frühlingsluft --
-alles umsonst. --
-
-Vor mir an der Mauer hinauf, einer Weinranke entlang, läuft ein winzig
-klein Vögelein, geschwind wie ein Mäuschen. Pick -- pick! hier wetzt es
-sein Schnäbelein; husch -- husch! dort jagt es dem Käferchen nach -- und
-es sieht mich an mit den klugen Augen, als rief' es: Guck, mach' mir das
-nach! Da ist es oben, reckt die kleinen Flügel und mit einem jubelnden
-Gekicher ist es davon. -- Horch! über mir: da lacht und küßt und tollt
-ein braunes Drosselpaar. Kokett wiegt sich das Weibchen auf dem schwanken
-Ast; der Liebste lugt um den Stamm und zwitschert zärtlich: Kind, sühst
-meck nich? -- sühst Du meck nich? -- Hier bün eck! hier bün eck! lacht
-das Weibchen, und fort sind sie, in das Dickicht hinein.
-
-Da kommt wieder mein Sonnenstrahl und lockt mich aus meiner Ruhe und
-gleitet vor mir her -- und ist verschwunden. Wo bin ich? Was wölbt sich
-über mir -- weit, groß, allmächtig. Ich schaue hinaus, und schaue: immer
-höher, immer gewaltiger weitet sich der grüne Dom von Blättern. Die
-Zweige der beiden norwegischen Baumriesen neigen sich gegen einander, sie
-werden zu gothischen Spitzbögen, anstrebend in die Unendlichkeit.
-Sanftes Dämmerlicht liegt in meiner Kirche. Durch das grüne, schimmernde
-Blätterdach schaut der Himmel wie blaue, freundliche Sterne. Ein
-lieblicher Weihrauch umweht mich. Es ist der Duft der kleinen weißen
-Blüten des wilden Apfelbaumes, der meine Kirche mit wonniger Süße
-erfüllt. Ich stehe und schaue. Ich breite die Arme aus nach der grünen
-Unendlichkeit da droben, und es ist still, still, um mich, in mir. --
-
-Als ich hinaustrete aus den dämmernden Bögen meines Domes, liegt die Welt
-hell zu meinen Füßen. Ihr Duft umhüllt mich. Ihr Licht gleitet warm in
-mein Herz. Es ist Frühling.
-
- In den Lüften singt es und klingt es -- und --
-
- * * * * *
-
- Ich flüstere in die weite Welt: »Wohl süß ist es zu singen,
- Wenn Vogelschlag und Frühlingsduft weich dir ins Herze klingen« --
- Da lachte der Sonnenschein.
-
-
-
-
-Das Märchen, das gar nicht kommen wollte.
-
-
-Es war einmal ein Märchen, das hatte sich eingepuppt wie eine
-Schmetterlingsraupe und sich versteckt in dem Astloch einer alten Eiche im
-Walde; nur zuweilen öffnete es die Augen ein wenig und blinzelte um sich,
-und wenn es sah, daß die Welt immer noch grau und kahl und ungemütlich
-war, dann machte es die Augen zu und schlief wieder ein. -- Während dessen
-liefen die Menschen in dieser kalten Welt herum und jammerten nach dem
-Märchen, das gar nicht kommen wollte. Das heißt, eigentlich waren es nur
-ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen, die überall nach dem Märchen
-fragten. Sie hatten dicht bei einander auf dem Fußschemel gesessen und
-zugehört, was die alte Märchenmuhme erzählte. Die großen Leute hatten
-keine Zeit dazu, die hatten so viel zu sorgen und zu wirtschaften und zu
-studieren, daß sie sich um ein Märchen nicht weiter bekümmern konnten;
-außerdem sagten sie, so ein Märchen, das sei nur für Kinder und solche,
-die es immer bleiben; dabei käme gar nichts heraus, und man sollte nur
-einmal die gelehrten Leute fragen, die den täglichen Bildungsbedarf fürs
-Volk liefern -- das viele Zeitungspapier -- die werden Euch schon sagen,
-was man von dem Märchen zu halten hat.
-
-Da sagte der kleine Junge zu dem kleinen Mädchen:
-
-»Komm', wir wollen hingehen und sie fragen!«
-
-Als sie bis an eine große düstere Thür gekommen waren, -- da wären sie
-am liebsten wieder umgekehrt; aber der kleine Junge war sehr mutig, und so
-gingen sie hinein. Da saß der Gelehrte und las aus einem gewaltig großen
-Stück Papier. --
-
-»Sieh' 'mal, der hat vier Augen,« sagte das kleine Mädchen -- und dann
-guckte er mit ein paar allmächtigen schwarzen Augen über die gläsernen
-hinweg, die ihm unten auf der großen Nase saßen, und das kleine Mädchen
-steckte schnell den Finger in den Mund und der kleine Junge ballte die
-Faust, während der Gelehrte brummte (Gelehrte brummen meistens):
-
-»Sie haben zu viel Phantasie, meine Lieben, das hindert Sie durchaus
-am logischen Denken und schwächt den Verstand. Doch, es wird sich schon
-geben, darüber seien Sie nur unbesorgt.«
-
-Da gingen die Kinder nach dem andern Gelehrten, der war sehr freundlich,
-tätschelte ihre blonden Köpfe und sagte: sie sollten nur wieder hingehen
--- das sei Alles in schönster Ordnung. -- Dann nahm er des ersten Zeitung
-und schnitt da ein Stück heraus, aber so, daß der Anfang fehlte und man
-nicht wußte, um was es sich eigentlich handelte, und druckte es in seine
-eigene Litteratursammlung hinein, und dann stand da zu lesen: Dieses
-ist für die Kinder durchaus schädlich. Es verleitet sie zum Lügen
-und könnte Veranlassung geben, daß sie sogar Phantasie bekämen. -- In
-unserem heutigen realistischen Zeitalter ist es nicht angebracht, und
-der Konflikt zwischen Konservativismus und Modernität wird immer wieder
-aufgefrischt. --
-
-Aber davon verstanden der kleine Junge und das kleine Mädchen gar nichts;
-ganz traurig gingen sie wieder fort und suchten immer noch nach dem
-Märchen, das gar nicht kommen wollte. Sie hauchten ein Guckloch in die
-Eisblumen am Fenster, ob es vielleicht außen davor säße; wie der Schnee
-mit geheimnisvollem Sausen vom Dache rutschte, öffneten sie das Fenster
-und dachten, nun käme es ganz weiß hereingeflogen, und wie die Sonne
-anfing zu scheinen, liefen sie hinter den Sonnenstrahlen her, um sie zu
-haschen, denn sie meinten, das sei es nun; und dann schlichen sie auf den
-Zehenspitzen ans Fenster, wo die großen, weißen Hyacinthen standen
-und dufteten, und guckten zu, ob es vielleicht in einer der stillen
-Blütenglocken zur Ruhe gegangen sei.
-
-Aber das Märchen wollte und wollte nicht kommen. Und unterdessen war es in
-der Welt immer noch kalt und grau und trostlos. Die Menschen hasteten und
-jagten und trieben einander und machten lauter dummes Zeug. Es war eine
-häßliche Welt und häßliche Menschen darin, die sich viel Leides thaten,
-und die beiden Kinder dachten oft, ob denn das Märchen noch immer nicht
-kommen wollte und Ordnung schaffen und die Welt wieder gut und schön
-machen.
-
-Da kam eines Tages der Südwind daher gefahren. Er stieg von den Bergen
-hernieder, daß die Lawinen donnernd vor ihm niederkrachten; er jagte das
-Eis auf den Flüssen vor sich her, daß es sich bog und knackte und schrie;
-er pfiff durch die Tannenwälder, daß die Nadeln den alten Fichten um die
-Ohren sausten, und knickte die dürren Aeste der Wälder, daß Platz wurde
-für die jungen, neuen Triebe. Die Wolken trieb er vor sich her -- runde,
-regenschwere Wolken, in wilder Jagd; sie drängten und schoben sich und
-sprangen einander auf den Rücken, wie die Buben, wenn sie Haschen spielen.
-Dann stob er in die Stadt mit wildem Jauchzen und Getöse; er blies in die
-Kamine hinein, wie in ein Sprachrohr, und trieb Schabernack mit des Petrus
-goldnem Hahn auf der Kirchturmspitze; er deckte die Dächer ab und guckte
-den Leuten in die Häuser und blies sie an, daß es den dummen Menschen
-angst und bange wurde. Ja, er fuhr sogar dem König um die Nase, als der
-just vor seinem Königreiche stand und, die Hände in den Hosentaschen,
-darüber nachdachte, wie sein Volk ihn wohl wieder einmal beglücken
-könne; und er warf ihm sein Reichsaushängeschild gerade vor der Nase
-herunter, so daß der König sich entrüstet umdrehte und in sein Reich
-hineinging und die Thür zuwarf, daß es krachte.
-
-Aber der Wind lachte nur: »Puh! wenn ich nur wollte, dann brauste ich Dich
-mit samt Deinem Königreich von der Erde hinweg, wie einen Strohhalm --
-aber ich will nicht! -- Bist mir viel zu klein, du Königlein!« --
-
-Und dann warf er ein paar ehrsamen Bürgern, die des Weges kamen, die
-blanken Cylinder von den gedankenschweren Häuptern, als wolle er sehen,
-was in den Köpfen stecke; und wehte ein paar schlanken Jungfräulein die
-langen Kleider eng um die schönen Glieder und freute sich darüber,
-der wilde Geselle, wie die kleinen Frauenfüße so tapfer gegen ihn
-ankämpften.
-
-Mit lustigem Gekicher fuhr er zu den Wolken auf und spielte Fangball mit
-ihnen; die Wolken fangen an zu weinen und dann fällt ein weicher, warmer,
-feiner Frühlingsregen auf die Erde nieder, eine zarte, graue Nebeldecke
-breitet sich über die Welt aus, und unter dieser dampfenden feuchtwarmen
-Decke da geht der Sturmwind zur Ruhe.
-
-Dort im Wald, in dem Astloch der großen Eiche regt sich etwas, das ist
-das Märchen; das ist aufgewacht von des Südwinds wildem Gesang und merkt,
-daß es nun Zeit ist, aufzustehen. Es gähnt noch einmal recht herzhaft und
-reckt und plustert sich wie ein Vögelein im Nest; dann schiebt es erst
-das eine rosige Füßchen heraus und dann das andere, dann gähnt es noch
-einmal, und nun breitet es seine sammetenen Schmetterlingsflügel aus und
-fliegt zur Erde nieder. Da leuchtet mit einemmal eine große, glänzende
-Sonne durch den Nebel, und nun kann man erst sehen, was für ein
-niedliches Märchen es ist. Es ist sehr klein und fein, hat schöne,
-weiße Gliederchen und große, dunkelblaue Stiefmütterchenaugen und die
-schönsten goldnen Haare von der Welt, die glänzen in der Sonne wie das
-rote Gold, das die Schlangenkönigin bewacht; auf dem Köpfchen trägt es
-eine blaue Glockenblume, die macht ein sanftes Geläute, wo das Märchen
-geht und steht.
-
-Es mußte wohl von dem Getön und Geklinge sein, daß plötzlich alles
-lebendig wurde im Wald, daß die Vögelein ein artig Konzertieren begannen
-und die Blumen -- die Krokus und Anemonen und Schneeglöckchen und wie sie
-alle heißen -- aus der Erde sprangen, wie kleine, weißhäutige Kobolde,
-und ein duftiger Reigen begann in Wald und Flur. Ei! wie es die Bäume da
-eilig hatten, ihr neues grünes Kleid anzulegen, und wie die alten Tannen
-die spitzen, gelbgrünen Finger ausstreckten, als wollten sie sich auch
-so ein grasgrünes Flörchen erhaschen. Am Waldteich der alte Erlenstumpf
-sagte zu seinen grünen Jungen, die ihn dicht umstanden:
-
-»Reckt Euch in die Höhe, Jungens, damit das Märchen nicht sieht, wie alt
-und vertrocknet ich bin.«
-
-Aber im Teich erhob sich plötzlich ein lautes Gequake und Gejohle. Das
-waren die Frösche, die hielten einen Froschvolks-Thing ab und wollten
-sich eine neue Verfassung gründen; sie sprachen sehr ernsthaft über
-Kaulquappenerziehung, Schulvorlagen und Militärbudgets, und daß der
-Storch und der Reiher von jetzt an unter froschlicher Oberhoheit stehen
-sollten; und ein noch ganz grünes Fröschlein aus dem vornehmen Geschlecht
-derer von Ochsenfrosch wollte immer alles besser wissen und durchaus einen
-ganz uralten Kurs als das Neueste einführen im Froschteich.
-
-Es war wirklich sehr interessant, und es war gar nicht recht, daß der
-Weidenbaum am Ufer plötzlich anfing zu jauchzen und zu lachen und zu
-spotten, und sich geberdete, als hätte er zu viel Blütenwein getrunken.
-Die gebildeten Frösche kamen ganz ärgerlich ans Ufer und glotzten ihn an,
-und der tolle Geselle, dem die buschigen, hellgrünen Weidenkätzchen von
-seiner Narrenkappe herunterbaumelten, schnitt höhnisch eine Fratze und
-spreizte seine vielen grauen Finger von sich und hielt eine lange Rede, von
-der die Frösche kein Wort verstanden; denn er sprach von Blütenwein und
-Trunkenheit und Auferstehung und Frühlingsduft und Märchenaugen -- und
-schloß mit:
-
-»Kinder und Narren sprechen die Wahrheit, und wahrlich, ich sage Euch,
-so Ihr nicht werdet wie sie, so könnet Ihr nimmer in den Frühling
-eingehen!«
-
-Hei! Da begann ein Geschelte und Gequake, ein Koaxkoax und Brekekekex,
-daß die Vöglein in der Luft im Fliegen innehielten und verwundert zum
-Waldteich herniederschauten. Und der Weidenbusch verbeugte sich lächelnd
-nach allen Seiten und schüttelte seine Kätzchen lustig durcheinander und
-sagte:
-
-»Verehrte Anwesende, ich glaube verstanden zu haben, daß Sie
-mir vollständig beistimmen; und da oben kommt Se. Excellenz, der
-Generalfeldmarschall Graf Storch, angeflogen, der wird Ihnen --«
-
-Quack! sagten die Frösche und tauchten unter, und lange herrschte
-Totenstille im Teich, bis sie merkten, daß der tolle Weidenbusch sie
-genasführt hatte; dann begann zögernd erst die eine Stimme und dann eine
-zweite, und der grasgrüne Froschjüngling sagte: Kroax! und seine Base,
-die gelehrte und tiefsinnige Schriftstellerin von Unke, antwortete:
-P--unkt--um! -- und bald war der hochweise Disput mit These und Antithese
-wieder im schönsten Gange.
-
-Das Märchen aber nickte lächelnd zum Weidenbusch hinüber und warf
-Kußhändchen nach allen Seiten, dann flog es schnurstracks durch den
-grünenden, blühenden, duftenden Wald, über Felder und Gärten, in die
-Stadt, in das Haus, in die Stube hinein, wo der kleine Junge und das kleine
-Mädchen auf dem Fußschemel saßen und aufmerksam zuhörten, wie die
-Märchenmuhme ihnen die Geschichte von den Löwen- und den Bärenkindern
-erzählte, und als sie gerade sagte: »Die Bärenkinder aber waren so
-schrecklich unartig« -- da rief der kleine Junge:
-
-»Sieh', -- sieh' doch, da ist das Märchen!«
-
-Und das kleine Mädchen klatschte in die Hände und jubelte: »Das
-Märchen! das Märchen!«
-
-Und wirklich, da stand das Märchen auf der Thürschwelle, seine Augen
-leuchteten, seine Haare glänzten wie die Sonne, und dann nickte und winkte
-es ihnen; die Kinder faßten sich bei den Händen, sprangen zur Thür
-hinaus, hinter ihm her und riefen und sangen immerfort:
-
-»Das Märchen! Da ist das Märchen, das gar nicht kommen wollte!«
-
-Es waren aber viele Kinder auf der Straße, die sahen das Märchen zwar
-nicht, aber sie riefen doch: Das Märchen, das Märchen! und tanzten hinter
-dem kleinen Jungen und dem kleinen Mädchen her, und so ging der Zug durch
-die Stadt zum Thore hinaus, als wenn der Rattenfänger von Hameln ihnen
-aufspielte. Die großen Leute, denen sie begegneten, blieben stehen und
-lachten und sagten:
-
-»Ach, das ist ja ein Schmetterling, der heißt --« und dann nannten sie
-einen langen, lateinischen Namen. Und andere sprachen:
-
-»Das ist ja ein Sonnenstrahl, und nun ist es Frühling geworden.
-Der Frühling ist eine natürliche, höchst angenehme, alljährlich
-wiederkehrende Naturerscheinung. Es ist gar nichts Märchenhaftes daran.«
-
-Aber nun waren es der kleine Junge und das kleine Mädchen, welche lachten
--- sie wußten es ja viel besser. Sie liefen in den Wald hinein -- da
-tanzten die Blumen mit den Elfen und Kobolden, und die Kinder waren
-mitten unter ihnen. Das Märchen schenkte ihnen den Frühlingswein aus
-Blütenkelchen, und sie lagen auf weichem Moos und guckten in den blauen
-Himmel hinein, von dem die weißen Wölkchen winkten und grüßten und
-weiter segelten.
-
-Das Märchen aber wuchs und wurde größer und wurde eine liebliche
-Jungfrau und ein blühendes Weib; und dann wurde es ein liebes, eisgraues
-Mütterlein, und dann -- ja, dann spann es sich wieder ein, wie eine
-Schmetterlingsraupe und kam lange, lange nicht mehr; nur zur Zeit der
-Wintersonnenwende, als die weißen Grüße vom Himmel an der alten Eiche im
-Walde vorüberwehten, da öffnete es die blauen Märchenaugen ein wenig
-und blinzelte um sich, und dann schlief es wieder ein und wartete auf den
-singenden, sausenden, brausenden Frühlingswind.
-
-Und der kleine Junge und das kleine Mädchen wuchsen auch und wurden
-größer und schöner und wurden Mann und Weib; dann spannen sie sich
-auch ein, in sich und ihre Welt; und dann erzählten sie ihren Kindern und
-Kindeskindern das Märchen vom Märchen, das gar nicht kommen wollte, und
-endlich, endlich doch gekommen war. -- --
-
-
-
-
-Klein Hildegard.
-
-
- Klein Hildegard wollte zur Schule gehn,
- Da blieb am Walde sie sinnend stehn;
- Der sah sie mit winkenden Augen an,
- Die Vöglein lockten aus dem Tann:
- »Klein Hildegard, komm, so schön ist's hier,
- Wir rauschen Dir Märchen, wir singen Dir
- Von Elfenkönigs goldenem Thor
- Viel Süßes, Geheimnisvolles ins Ohr;
- Wir singen Dir von des Nixen Spiel --
- Tief unten im Wasser, da weint er so viel.
- Wir streuen Dir duftende Blumen umher,
- Der Wind regt die Zweige, brausend wie's Meer.«
- -- Doch Hildegard richtet sich ernsthaft auf
- Und schickt sich wieder an zum Lauf:
- »Zur Schule, zur Schule!« die Mutter spricht,
- »Im Walde spielen, das darfst Du nicht!«
- Da fällt, plumps! von dem Tannenast
- Ein Zapfen auf das Näschen fast:
- »Au! böse Tanne!« schilt das Kind,
- »Bist unartig, wie Kinder sind!
- Willst mir wohl gar was sagen, gelt? --
- Ei nun, so rede, wenn's gefällt!«
- Lieb schmiegt klein Hilde sich heran
- Zum rauhen Stamm der alten Tann.
- Vergessen ist Schule, der Mutter Gebot --
- Ja, Sonntagskinder machen viel Not. --
- Vom Tannenbaum fall'n -- tip, tip, tap,
- Die würz'gen Nadeln sacht herab.
- Und, wie sie rieseln, wie sie fallen,
- Hört Hilde Stimmchen draus erschallen,
- Die lullen's Kindchen kosend ein
- In seltsamliche Träumerein;
- »Zur Schule geh', mein liebes Kind,
- Doch da nicht, wo die andern sind.
- Geh' Du zur Schule in dem Wald;
- Was Du da lernst, vergißst Du nicht bald.
- Denn hier im Wald, da lernst Du verstehn,
- Was Bäume rauschen und Blüten verwehn;
- Warum am ewigen Himmelszelt
- Die Wolken ziehen über die Welt;
- Was Blumen duften, Vöglein singen,
- Was Bächlein murmeln, Stürme klingen -- --
- Was unsere ganze schöne Welt,
- Die kunterbunte, zusammenhält -- -- --
- Horch nur auf jedes Gezirpe fein,
- So wirst Du bald klug wie Waldvöglein sein.«
- So spricht im Walde die alte Tann',
- Und Hilde hält den Atem an,
- Daß ihr die Wörtlein nicht entrinnen.
- Dann wandert lustig sie von hinnen.
-
- Es grüßen Blumen von allen Seiten,
- Und Hilde nickt, als weitergleiten
- Im weichen, kühlen Gras und Moos
- Die kleinen Füße, nackt und bloß.
- »Pflück' mich,« spricht die Königskerze,
- »Sieh', wie ich gen Himmel schwanke,
- Schlanker Stab aus Sammetblättern,
- Bin ganz Sehnsucht, ganz Gedanke, --
- Vor Idealen, hoch und hehr,
- Seh' ich den eignen Stamm nicht mehr!«
- Da lacht das kecke Heidekraut:
- »Ich wurzle in der Erde traut;
- Und wie ich dufte, wie ich blühe,
- Und wie ich stark und kräftig bin,
- Und wie ich feurig rot erglühe --
- All das gab mir die Erde hin!« --
- Horch! Welch ein feines Stimmchen schallt
- Vom nahen Eichstamm durch den Wald?
- Die wilde Weinblüt' ist's, die spricht
- Ganz spöttisch: »O, Ihr dummen Wicht'!
- Vom Himmel träufelt uns der Regen,
- Vom Himmel wärmt die liebe Sonn',
- Und Mutter Erde will uns hegen,
- Wenn Frost und Eise starren schon.
- Ich lieb', was mir der Himmel gab,
- Die Erd', in der ich Wurzeln hab'.«
- So flüstert's, lacht es auf und an;
- Klein Hilde pflückt so viel sie kann.
- Schau! Dieses bunte Blumenmeer! --
- Fast wird's dem Aermchen gar zu schwer.
- Im schilfigen Gras glüht rot es auf.
- Pechnelken stehen da zu Hauf,
- Und schütteln ihre Federköpfe,
- Und spreizen sich, die eitlen Tröpfe.
- »Ei, liebes Kind, mußt mich ansehn,«
- Die Eine spricht, »bin wunderschön!
- Brichst mich in meinem Purpur-Prangen,
- So bleibst an meinem Stengel fein
- Unwiderstehlich daran hangen
- Mit Deinen Kinderhändchen rein;
- Wer mich nur einmal hat berührt,
- Stets neue Lust nach mir verspürt.«
- Doch -- »Bim -- bam!« klingelt da die Blaue,
- Die Glockenblum', »Nur der nicht traue!
- Denn Lüg' ist Alles, was sie spricht --
- Kennst Du das alte Sprüchwort nicht?
- Wer Pech anfaßt, besudelt sich!
- Und das ist richtig, sicherlich!
- Hör', rote Nelke, das ist schlimm!
- Das Glöcklein läutet stets: Bim -- bim!
- Und öffnest Du den Lügenmund,
- So klingelt es ganz kunterbunt:
- »Bimbam, bimbam, bimbam, bimbum!
- Du Federnelke, bist Du dumm!«
- Und lachend steht Klein Hildegard
- Und droht dem blauen Glöcklein: »Wart',
- Du lieber Schelm, jetzt pflück' ich Dich,
- Dann läutest Du »Bimbim!« für mich,
- Und läutest artig mich nach Haus;
- Doch jetzt ruh' ich mich erst 'mal aus.«
- Es winkt der gelbe Ginsterbusch,
- Und wie das graue Häslein -- husch! --
- Schlüpft unser Kind geschwind hinein
- Ins goldne Blütenbettelein,
- Und dehnet wohlig sich zur Ruh',
- Und schließt die müden Aeuglein zu.
- Die Blumen hält im Arm sie fest,
- Denn wenn man die gewähren läßt,
- So fangen sie zu leben an
- Und wandern fort durch Wald und Tann.
- Es ist just um die Mittagsstunde.
- Wo Waldesgeister ziehn die Runde.
- Kennst nicht das Waldesweben Du?
- Wenn rings im Wald ist tiefe Ruh',
- Und doch ein seltsamliches Weben
- Ein raunend, flüsternd Zauberleben?
- Die Bäume stehen still und stumm,
- Kein Blättlein reget sich ringsum.
- Im Schatten schläft das Vöglein lieb,
- Reckt sich einmal, sagt leise: »Piep!«
- Und plustert seine Federlein
- Und schläft dann sänftlich wieder ein.
- Doch die Frau Sonne, die ist wach
- Und luget durch das Blätterdach.
- Es tanzt auf ihrem Flimmerstrahl
- Der blanken Sonnengeister Zahl.
- Im hohen Grase zirpt die Grille --
- Nun zirpt es Antwort -- dann wird's stille.
- Der Falter taumelt über Blüten,
- Das sind die Schäflein, die muß er hüten;
- Doch in dem heißen Sonnenschein
- Da schläfert's ihn mitunter ein;
- Und ist er wieder aufgewacht,
- Dann hat sie sich davon gemacht,
- Die Blüten-Herde, und fliegt wie er,
- Im hellen Sonnenglanz umher.
- Dann hebet an ein Singen, Klingen,
- Von Märchen, wunderlichen Dingen;
- Das Bächlein gluckst sein schelmisch Lied,
- Und Moos und Steinchen singen mit.
- Vergißmeinnicht am Rande träumt:
- »Hat's Wiederkommen er versäumt?
- Ich rief so oft: Vergißmeinnicht!
- In weiter Ferne -- hört er's nicht?«
- Der Ginster winket zu ihr her:
- »Klein Blümchen, was verlangst Du mehr?
- Kannst, kleine Blaue, Du's verstehn?
- Die Lieb' soll nie von Liebe gehn --
- Sonst geht die Treue hinterdrein.
- Ich sing' ein Lied Dir -- lausche fein:
-
- Ueber die Heide weht der Wind,
- Da sitzt das blasse Königskind,
- Singt: Leide, leide, leide --
-
- Bei Sonnenlicht und Sternenschein
- Da suche ich den Buhlen mein --
- Wo weilt er auch am Wege?
-
- Ach, wollt', er wäre noch bei mir,
- Ich wollt' ihn küssen und herzen schier
- Auf stiller, stiller Heide.
-
- Ach, wollt', ich läg' in seinem Arm,
- Ich wollt' vergessen allen Harm,
- Wollt' lachen nur und kosen.
-
- Ueber die Heide weht der Wind,
- Da sitzt das blasse Königskind,
- Singt: Leide, leide, leide.
-
- Und wartet noch gar manches Jahr --
- Und kämmet ihr langes, goldnes Haar,
- Das wehet in dem Winde.
-
- Und als der Bub dann kommen ist,
- Der sie so oftmals hat geküßt,
- Da sucht er auf der Heide.
-
- War da ein feiner Ginsterstrauch,
- Des gelbe Blumen strahlten auch
- Wie lauter lichtes Golde.
-
- Da hat er so viel weinen 'müßt,
- Und hat die Ginsterblumen 'küßt -- --
- Dann ist er fortgezogen.«
-
- Und als verklungen ist die Weise,
- Da reget sich Klein Hilde leise:
- In ihrem Arm die Blümelein,
- Die fangen an zu reden fein.
- Das Löwenzähnchen schilt: »O Ginster,
- Wie sind doch Deine Träume finster!«
- »~Noblesse oblige!~« ruft Rittersporn,
- »Auch in der Lieb' -- bei meinem Zorn!«
- Und trotzig mit gar mut'gem Sinn
- Grüßt er zur Wickenblüte hin;
- Verschämt senkt die das Köpfchen tief,
- Ein lieblich Rot sie überlief. --
- Da lacht es plötzlich neben ihr:
- »Ich halt' die Liebe weg von mir!
- Ich wehre mich vor jedermann --
- Und fühlt, wie ich doch brennen kann!«
- Da jubeln alle auf und sagen:
- »Hört -- Brennessel will auch was wagen!
- Geh', Unkraut, pfeife uns ein Lied,
- Im Chorus singen wir dann mit.«
- Und neckisch stimmt die Grüne dann
- Das Nessellied, und hebet an:
-
- »Ich wollt' einmal spazieren gehn,
- Am Rain, wo bunte Blumen stehn.«
-
- Und jauchzend fällt der Chorus ein:
- »Nessel, Nesselbusch am Rain!«
-
- »Da schaut ein weißes Blümlein 'raus,
- Und ach -- so schämig sah es aus.«
-
- Und jauchzend fällt der Chorus ein:
- »Nessel sieht so schämig drein!«
-
- »Und als ich bückte mich danach, --
- Gar plötzlich mir's den Finger stach.«
-
- Und jauchzend fällt der Chorus ein:
- »Nessel, Nessel, wehr' Dich fein!«
-
- »Ei, böse Blume, halt' doch still
- Wie die andern, wenn ich Dich brechen will!«
-
- Und jauchzend fällt der Chorus ein:
- »Nessel, -- hörst -- sollst stille sein!«
-
- Da lacht die grüne Blum' und spricht:
- »Ja Brennesselblüten, die pflückt man nicht!«
-
- Und jauchzend fällt der Chorus ein:
- »Brennt die Nessel -- laß sie sein!«
-
- Nun reichen alle sich die Hände,
- Und singen's Tanzlied: »Wende, wende
- Dich her zu mir, und auf und ab.
- Zieh' die Kreise, zart und leise,
- Sing' die alte Wunderweise,
- Wie die Blumenfee sie gab.
- In den Blüten schläft das Kind --
- Küsse, küsse es geschwind,
- Daß es eins der unsern werde;
- Daß es blumenduftig schwebe,
- Daß es waldesselig lebe
- Auf der hellen, grünen Erde.«
- Da ist klein Hilde aufgewacht,
- Und hat die Aeuglein aufgemacht:
- Und all die Sonnenpracht umher!
- Und all das Duften, süß und schwer!
- Und sieh' -- die Blumen neigen sich,
- Umkreisen sie gar seltsamlich --
- Sie trägt ein rosenfarben Kleid,
- Das strahlet hell von Taugeschmeid'.
- Und Rosen trägt sie in dem Haar,
- Und Rosen in den Händen gar.
- Die Blumen knieen vor ihr hin:
- Heil unsrer Rosenkönigin!
- Und eh' sie weiß, wie ihr geschah,
- So ruhet sie auf Rosen da;
- Und allgewärtig ihren Winken
- Die Blumen stehn zur Rechten und Linken,
- Und Hilde grüßt nach allen Seiten
- Huldvoll, wie sie vorüberschreiten.
- Aus Blumen trinkt sie den Blütenwein
- Und nascht den goldnen Honigseim.
- Die Sonne wirkt ihr die goldne Kron'
- Und die glänzenden Flitter für den Königsthron.
- Die Schmetterlinge tanzen vor ihr,
- Die Grillen spielen auf dafür.
- So ruhet sie an Baches Rand
- Als Königin übers ganze Land.
-
- Da -- horch! was rauscht es ihr zu Füßen?
- Und welch ein Nicken, Winken, Grüßen
- Von Blum' und Moos am Ufer dort?
- Das Wasser schwillet fort und fort --
- Und aus den grauen Nebelwogen,
- Da kommt es zu ihr hergezogen
- So wunderselig. Aus dem Fluß
- Erhebet sich mit süßem Gruß
- Der Nix in silbernem Gewand
- Und hält die Harfe in der Hand
- Die gibt gar traurig hellen Ton --
- Ob's Glück mit Thränen gemischt sei schon.
- Er breitet die Arme aus nach ihr:
- »O Rosenkönigin, komm' zu mir!
- Ich will in meinem Arm Dich hegen,
- Ich will Dich schaukeln auf der Flut;
- Die zarten Glieder sollst Du legen
- Auf Wasserrosen, -- da ruht sich's gut.
- Mit meinen Fischlein sollst Du spielen,
- Ein neckisch Haschen, her und hin --
- Die kleinen, weißen Füßchen kühlen
- In klaren Silberwellen drin.
- Es ist so einsam in der Tiefe,
- Im Wasserhaus so kalt für mich --.
- Und kämst Du wohl, wenn ich Dich riefe?
- O Königin, ich hole Dich!«
-
- Da wird Klein Hilde das Herz so weh --
- Es ruft in ihr: O geh', o geh'!
- Wie wird es ihr so seltsam kalt?
- Was zieht es sie mit solcher Gewalt?
- Wie schwillt das Wasser immer mehr --
- Da kommt der Nix gar zu ihr her,
- Und faßt sie mit feuchten Armen an --
- Klein Hilde sich kaum noch regen kann.
- Vor Angst, vor Glück? -- Sie weiß es nicht,
- Es küßt der Nix ihr blasses Gesicht;
- Er wieget sie in seinem Arm,
- Es wird ihm -- ach -- so wohlig warm;
- Er will sich rauben das junge Blut
- In tiefe, rauschende Silberflut.
- Klein Hilde schaudert -- an seine Brust
- Zieht er sie eng mit sehnender Lust --
- Schon netzt das Wasser ihr Gewand,
- Er zieht sie hin mit zwingender Hand --
- Nun sinkt Klein Hilde sacht hinab
- In des Nixen stilles Wassergrab. --
- Und horch! wie's um sie rauscht und singt!
- Wie's brausend durch die Lüfte klingt!
- Klein Hilde, wache auf geschwind,
- Sonst weht der wilde Brausewind
- Dich wirklich in das Bächlein dort --
- Zum Schlafen einen bösen Ort
- Hast Du Dir eben ausersehn.
- Und dann mußt Du nach Hause gehn:
- Die Schule ist schon lange aus,
- Und alle Kinder schon zu Haus.
- Da hat Klein Hilde sich erhoben
- Und schaut verwundert hin nach oben,
- Wo Wolken ziehen kreuz und quer,
- Gar über die liebe Sonne her.
- Wie war doch alles das geschehn?
- Hat sie den Nixen nicht gesehn?
- Ist nicht am Saum ihr Röckchen naß?
- Das ist doch nicht vom feuchten Gras?
- Wo ist ihr Rosenkleidchen hin?
- War sie denn nicht die Königin?
- Die Bäume neigen sich um sie her,
- Das kommt vom Wind, der wehet sehr,
- Der pfeifet ängstlich durch den Tann;
- Klein Hilde hält den Atem an --
- Es wird ihr plötzlich so beklommen
- Da hat sie hurtig aufgenommen
- Die Blumen alle nebendran,
- Und springt davon so schnell sie kann.
- Jetzt ist sie auf der kleinen Brücke,
- Da rauscht es unter ihr voll Tücke:
- »Da, Wassermann,« ruft sie geschwind,
- »Da, nimm das bunte Blumenkind!«
- Und wirft ein schönes Blümelein
- In Wassermannes Haus hinein.
- Mit weißer Hand greift der es an,
- Und strudelnd sinkt's zur Tiefe dann.
-
- Und als Klein Hilde kam nach Haus
- Und hat gesagt, was sie gesehn,
- Und hat erzählt, was ihr geschehn --
- Da lachen sie Klein Hilde aus.
- Und scheltend streng die Mutter spricht:
- »Im Walde spielen sollst Du nicht!«
- Und Hilde setzt ins Eckchen sich
- Und weinet, weinet bitterlich.
-
- Klein Hilde, werde wieder froh;
- Uns Großen geht es ebenso:
- Wenn wir im Walde etwas sehen,
- Was all die andern nicht verstehen,
- So lachen sie uns auch nur aus
- In diesem weisen Weltenhaus.
- Und Mutter Ordnung ernsthaft spricht:
- »Der Phantasie bedarf man nicht!
- Die Poesie -- die braucht man nicht!
- Mehr sehn, wie andre, soll man nicht! --«
-
-
-
-
-Das Märchen, das verloren gegangen war.
-
-
-Das war, als ich einmal spazieren ging und tiefsinnige Gedanken hatte --
-worüber? -- Sie waren zu tief, um das ergründen zu können. Vielleicht
-war's, ob die Welt da um mich her mit ihren langen Straßen und engen
-Häusern eine wirkliche Welt sei oder ob ich sie mir bloß einbilde, und
-ob die Menschen, die mir begegnen, wirklich so blödgesichtig dreinschauen,
-oder ob ich bloß Schwingungen in meinem Gehirn und Augen habe, die mir
-das alles so erscheinen lassen -- ja, vielleicht war's das, worüber ich
-nachdachte. Und neben mir her trippelte ein feines Etwas mit großen Augen,
-und das kicherte und plapperte mit einem leisen murmelnden Stimmchen wie
-ein kleiner Bach; und weil mich das in meinem tiefsinnigen Denken störte,
-sagte ich:
-
-»Ei, so sei doch ruhig und stör' mich nicht!«
-
-Da schwieg das feine Etwas erschrocken still. Aber als das liebliche
-Gemurmel nicht mehr neben mir einherging, konnte ich erst recht nicht
-denken, und als ich mich ungeduldig umwandte, da hatte ich das Märchen
-verloren. Nun war mir's ganz ungemütlich zu Mut. Ich ging gleich wieder
-zurück, blickte rechts und links, hinter jeden Baum, und unter die
-trockenen Blätter, die darunter lagen, aber nirgends leuchteten die
-Zauberaugen meines Märchens.
-
-Da fragte ich die Uhr, die vor mir hoch oben in einem langen, spitzen
-Kirchturm saß:
-
-»Du wohnst so hoch und hast einen weiten Ausblick -- hast du mein Märchen
-nicht gesehen?«
-
-Aber die Uhr sagte nur: Tick-tack-tick-tack! Und als sie schnarrend zu
-einer Antwort einsetzte, da sagte sie mit rasselnder Stimme eine ganze
-Menge Zahlen her -- als ob Zahlen etwas mit einem Märchen zu thun hätten!
-Nun fragte ich die Leute auf der Straße:
-
-»Ihr seid so klein, und guckt immer auf die Erde -- habt Ihr mein Märchen
-nicht gesehen?«
-
-Aber die antworteten: »Eine solche Person kennen wir nicht. Und wenn sie
-Dir gehört und weggelaufen ist, so zeige es doch bei der Polizei an«
--- -- als ob eine blauröckige Polizei mit einem Knüppel ein Märchen
-einfangen könnte!
-
-Nun fragte ich die Bäume im Park, an dem ich vorüberging. Aber die
-standen ganz still und regten sich nicht und ließen nur zwei, drei gelbe
-Blätter vor mir niedersinken. Da merkte ich, daß es Stadtbäume waren und
-zu gebildet zum Antworten auf eine Märchenfrage, und weil ich nun durchaus
-mein Märchen, das ich so leichtsinnig verloren hatte, wieder haben mußte,
-so ging ich auf Reisen, ihm nach.
-
-Ich kam an ein großes Wasser, das lag friedlich da, wie eine
-grünsammetene Wiese, auf der kleine Grabhügel sich wölben, über und
-über bedeckt von weißen Maßliebchen. Mir war es, als ob mein Märchen
-sein goldenes Haupt lächelnd aus diesen Grabhügeln strecke, und als ob
-es kichere: »Nicht in Gräbern findest Du mich -- ich bin das Leben!« --
-Aber da kam ein zarter, grauer Nebel und deckte die grüne Sammetwiese und
-die Maßliebchenhügel zu, und nur ganz in der Ferne sah ich es aufblitzen
-wie weiße Mövenflügel.
-
-Ich kam an eine Insel, darüber flutete ein warmes Abendrot, und ein
-Rauschen, ein bedeutsames Raunen zog durch die Wipfel der hohen, stillen
-Bäume, als spräche mein Märchen zu mir aus tausend Zungen. Bunte Blumen
-standen auf der Insel, die sie die »Schöne« nannten, und sahen mit
-stillen Augen zu den Sternen auf, die ganz zart und licht am Abendhimmel
-aufleuchteten, wie die ersten Liebesgedanken in einer weichen
-Mädchenseele. Leise glucksten kleine lustige Wellchen gegen das Ufer, als
-lachten sie über die Wassernixen, die mit ihren weißen Entenfüßchen das
-Ufer heranklimmen wollten und immer wieder ins laue Wasser plumpsten. Wie
-nah', wie nah' war mir mein Märchen! Ich fühlte es mich umwehn -- aber
-als ich danach haschte, sah es mich mit tiefen Augen spottend an, und ich
-griff in die Luft.
-
-Danach sah ich mein Märchen wieder in einem Krankenzimmer; da saß es tief
-verborgen in dem großen weißen Kelch einer Lilie. Aus deren sammetigen,
-weißen Blütenblättern lagen rote Tropfen, als habe das Märchen blutige
-Thränen geweint, und es sah mit himmlisch klaren Augen in die Weite. Wie
-ein Hauch flog es durch das Gemach: »Hier kannst Du mich nicht halten,
-da würde ich vergehen vor Traurigkeit« -- -- und husch! wie ein
-Flügelschlag -- da war's aus dem Fenster, und die Menschen um mich sahen
-sich fragend an: Was war das?
-
-Eines Morgens, ganz, ganz früh, als die Nacht auf ihrem Lager flehend die
-Arme hob, den leuchtenden, ihr entfliehenden Tag zu halten, da erwachte ich
-und sah etwas Weißes, Flüchtiges von meiner Seite davonschweben. Und es
-umgab mich ein leises Klingen, und Worte tönten -- war's in mir? war's um
-mich? -- Horch:
-
- Die Nacht, als ich geschlafen hab',
- Da lag das Glück bei mir;
- Im Morgenschimmer sah ich nur
- Entfliehn die weiße Zier.
-
- Es lächelt, nickt und winkt mir zu:
- »Du hast es nicht gewußt,
- Daß schlummernd ich mein Köpfchen hab'
- Gelegt auf Deine Brust;
-
- Wärst Du erwacht, hätt'st mich gefaßt,
- So wär's um mich geschehn --
- Nur leis, nur heimlich darf das Glück
- An Deiner Seite gehn.«
-
-Nun hatten es viele gute Menschen gehört, daß ich mein Märchen nicht
-wieder finden könnte, und weil sie ein verloren gegangenes Märchen für
-etwas sehr Trauriges hielten -- ganz anders als die in der Philisterstadt,
-die gar nicht recht wußten, was ein Märchen war -- da wollten sie
-mir alle suchen helfen. Aber sie thaten es mit so viel Bewußtsein und
-Ueberlegung, daß das Märchen sich immer tiefer versteckte; und selbst
-der rauschige Weinduft, der ausgesandt wurde, nach ihm zu forschen, kehrte
-statt mit meinem lieblich plappernden Märchenkinde mit einem wolligen,
-miauenden Kätzchen zurück, das gar scharfe Krallen zeigte.
-
-Da ging ich in die Einsamkeit. Ich kam an wildes, weites Wasser, das
-rauscht und brodelt und donnert, als wolle es eine Welt vernichten -- oder
-emporheben. Und eine Brücke führt über die weiße Gischt, die ging ich
-hinüber. Da war ich auf einer Insel mit hohen, wiegenden Bäumen;
-die hielten Felsblöcke mit ihren Wurzeln umklammert wie mit riesigen
-Greifenklauen. Und da war noch eine Insel, und noch eine, und noch eine.
-Zwischen ihnen drängte sich überall das weiße Wasser hindurch; es war
-so klar, daß man die kleinen Mooswälder auf dem Gestein unter ihm
-sehen konnte, und die Höhlen, dunkelblau und tiefgolden, in denen die
-Wasserkobolde wohnen. Wie ich nun an der äußersten Spitze der letzten
-kleinen Insel angekommen bin und hinsehe über das weite, schäumende
-Wasser, da sitzt dicht vor mir, nahe am brausenden Wasserabsturz,
-mein Märchen auf einem Felsblock. Es hat seine nackten Beinchen hoch
-heraufgezogen, damit sie nicht naß werden, und umschlingt die Kniee mit
-den weißen Armen; das Haar rollt silberglänzend um die kleine Gestalt,
-wie der sonnendurchleuchtete Kamm einer Woge, und die meergrünen
-Zauberaugen sehen zwingend zu mir hinüber. So sitzen wir beide und
-lächeln uns an, so froh, daß wir uns wieder haben, und dann erzählt das
-Märchen:
-
-Weit droben im großen See tief auf dem Grund, da steht das Schloß des
-alten Wasserkönigs. Von grünem, strahlendem Krystall ist es erbaut, und
-die Wände sind so klar, daß der Wasserkönig mit seinen seegrünen Augen
-hindurchschauen kann und alles sieht, was in seinem Reiche vorgeht. Wenn
-die Fische rebellieren wollen, dann weiß er es schon, noch ehe sie den
-revolutionären Gedanken gefaßt haben, und der Kopf wird ihnen abgebissen,
-ehe sie wissen, wo er ihnen eigentlich sitzt. Ja, der König führt ein
-strenges Regiment, sogar unter den weiblichen Unterthanen, und manch
-hübschem Nixlein bebt das goldschillernde Schwänzchen, wenn der König
-musternd die Reihen durchschreitet; denn manch Nixlein hat ein böses
-Gewissen, und -- ach, die königlichen Zwillingssöhne sind gar so
-herzliebe Gesellen.
-
-Da berief der König eines Tages seinen Hofstaat um sich. Er saß auf
-einem Thron von goldglänzendem Kiesel, auf dem weißen Haupte trug er die
-Seekrone von Smaragden, und in den langen silbernen Bartwellen funkelten
-die Schaumperlen. Ringsum harrte das Gesinde in ehrfürchtigem Schweigen,
-kaum, daß die beweglichen Schwänzchen hin und her zuckten. Vor ihm
-aber standen die Zwillinge und warteten des königlichen Vaters Befehle.
-Schöne, schlanke Burschen sind's, mit festen Gliedern und kühnen Augen.
-Die des einen mit der gedankenvollen Stirn hingen an den Lippen des Vaters;
-die des andern, Rastlosen, Trotzigen, flogen lächelnd und kosend über die
-Schar der Nixlein, durch deren Reihen eine plötzliche schillernde Bewegung
-ging. Der Wasserkönig aber sprach:
-
-»Prinzen, Ihr habt gelernt, wie man im Wasser lebt, herrscht und richtet.
-Es ist Zeit, daß Ihr Euch die Wasserfläche draußen anseht. Bahnt Euch
-eine Straße, zerschmettert, was Euch im Wege ist, und erobert Euch Euer
-Reich. Ziehet hin in Frieden und beherrschet künftig Eure Unterthanen mit
-Zucht und Strenge.«
-
-Unwillkürlich ruckten die Fische mit ihren Köpfen bei dieser Rede, ob sie
-auch noch festsäßen, und die Nixen und Wassermänner zupften sich an den
-Flossen, ob sie die auch noch hätten. -- Die schönen Zwillingsbrüder
-aber schwammen Hand in Hand in die Welt hinaus. Zuerst waren sie
-sehr übermütig, schlugen Purzelbäume, daß die Wellen in die
-Höhe klatschten, und neckten die Fische, die pfeilschnell an ihnen
-vorüberflohen. Dann wurden sie stiller und träumerisch, wiegten sich Hand
-in Hand an der spiegelglatten Oberfläche des Wassers und sprachen von den
-Heldenthaten, die sie verrichten wollten. Der mit der hohen Stirn und den
-schwärmerischen Augen lispelte von der hohen, der herrlichen Welt, die
-er sich erträume und die er besitzen müsse, koste es, was es wolle. Der
-Trotzige aber lachte dazu: »Leben will ich -- und lieben und genießen!«
-rief er und schüttelte übermütig eine ganze Welle voll Flußsand über
-des Bruders schönem Haupte aus, daß der prustete und sich schüttelte wie
-ein nasses Menschenkind. -- Nun kamen sie an einen hohen, grünen Wald, der
-lag mitten in ihrem Weg und machte auch keine Miene, ihnen auszuweichen.
-
-»Zerschmettert, was im Wege steht!« wiederholte der mit der hohen Stirn.
-»Komm, laß uns die Bäume niederreißen, und die Felsen zerbröckeln.«
-
-»Pah,« lachte der Wilde, »wozu die Arbeit, die eine Ewigkeit dauert? --
-Weiter, weiter will ich, ins Leben hinein! -- Hör', laß uns den Bäumen
-aus dem Wege gehen, Du dort herum, und ich hier, und dann wollen wir sehen,
-wer zuerst ankommt, zuerst sein Ziel erreicht -- Du oder ich!«
-
-Das reizte den Zwillingsbruder; wußte er doch, daß er natürlich der
-Erste sein würde. Ein flüchtiges Lebewohl nur, und er brauste dahin,
-ungestüm, hier ein Stück Fels wegreißend, dort einen Baumstamm mit sich
-zerrend. Er sah nicht die Welt um ihn; er sah nur in die Ferne, wo seine
-Welt liegen mußte, die er erträumt, die er besitzen, beherrschen wollte.
-Nur immer weiter, weiter, dahin, wo der zarte Dunst aufsteigt, wo ein
-erster Sonnenstrahl glitzert wie auf Türmen -- die seines neuen Reiches
--- und in wilden Sprüngen, brausend und jauchzend, setzt er der Traumwelt
-nach, bis er schwankt und schwankt und ihm schwindelt, und er den Boden
-unter den Füßen verliert, und er in den Abgrund stürzt, in den Abgrund
-von erträumter Leidenschaft. Es war ein jäher Sturz. In ihm zerschellen
-alle seine Träume, alle seine erhabenen Gedanken. Voll Grausen blickt er
-hinauf zu der schwindelnden Höhe, auf der er einst geweilt hatte: so groß
-und erhaben hatte er sich das Leben gedacht, nichts hatte er haben wollen,
-keine Freude, keine Liebe, nur Größe und immer mehr Größe. Nun trieb
-er dahin in einem breiten, gemächlichen Strombett, immer mehr wiegend,
-erschlaffend, duselnd -- und nur wie weißer, kreisender Schaum trieb die
-Erinnerung auf seinen langsam sich wälzenden Fluten. Einmal schaute er
-sich um nach seinem Bruder: eine brausende, dampfende Gischt in der Ferne
-verhüllte alles hinter ihm.
-
-Der trotzige, lächelnde, genußsüchtige Zwillingsbruder aber war gar
-gemütlich seines Weges gezogen, hatte die Bäume auf der schwimmenden
-Insel neckisch an den Zweigen gezupft, wie die unnützen Buben die
-schmollenden Schulmädchen an den Zöpfen, hatte seine neugierigen,
-geschwätzigen Fluten durch jeden kleinen Felsengang geschickt, bis er
-mitten durch die Insel hindurchlugen konnte, und da sah er etwas sehr
-Liebliches. Nicht eine Insel war es nämlich, sondern neben der großen,
-die das Königreich einer vornehmen alten Waldnymphe war, wie die
-Wasserboten berichteten, lagen noch drei kleinere, und jede von ihnen hatte
-ein Töchterlein der Waldkönigin zur Herrin, und sie lebten da in eitel
-Freude und Lustbarkeit. Keinen Gebieter wollten sie über sich erkennen und
-frei wie die Luft leben, so lange die Welt steht. Da kam jetzt der schöne
-Flußheld geschwommen, ganz nahe an die Insel der ersten Schwester heran,
-siehe, da steht ein wunderschön Jungfräulein, mit Guirlanden von Blumen
-umwunden und ein fröhlich Liedchen summend. Und horch! wie die Antwort zu
-ihr aufsteigt aus den weißen Wassern, die plötzlich aus dem Dunkel der
-Felsen hervorbrechen und sie erschrecken, daß sie schreiend davonläuft.
-Er aber schwimmt ihr nach, rund um die Insel, siehe -- da sitzt auf einem
-Felsblock der zweiten kleinen Insel ein noch viel schöneres Jungfräulein,
-die schüttelt ihr lockiges Haar, als sie die weißen, starken Arme des
-Flußhelden sieht, die er nach ihr ausstreckt. Und sie lacht höhnisch und
-nimmt spitzes Gestein und wirft es nach ihm, daß ihn die scharfen Kanten
-ritzen. Da wird er zornig und will aufwallen -- doch ach, drüben auf
-der letzten, kleinsten Insel, da sitzt am Ufer, mit den Füßen die neuen
-Wellen patschend, das dritte Prinzeßchen; und sie hat langes, güldenes
-Haar, und die meerblauen Augen sehen neugierig zu ihm hinüber, und die
-schönen Glieder wiegen sich mit den Wellen. Da schwimmt er ganz nahe zu
-ihr, legt seine große Männerhand um ihr weißes, weiches Füßchen,
-und sie lächelt nur -- da zieht er sie hinab in seine schaukelnde, weite
-Wasserwiege. Wie eine Wehklage braust es durch die Waldwipfel; aber sein
-Jubelruf übertönt die Klage, und weit enteilt er, seine Beute bergend vor
-Fels und Abgründen. Regungslos liegt die Schlanke, Weiße in seinen Armen.
-Sie kann ja nicht sprechen im Wasser, nur die meerblauen Augen sehen
-ihn an, und tief drin liegt eine stille Klage: Warum hast du mich in ein
-fremdes Element gezogen? Warum dich zum Herrn gemacht über ein freies
-Geschöpf?
-
-Nun wußte er eine Grotte, darin sollte die stille, weiße Geliebte wohnen.
-Tiefgrün war es darin von lauter Smaragden, und das Edelgestein leuchtete
-und funkelte wie von tausend Lampen. Der trotzige Held aber webt und webt,
-und webt mit seinen Wasserfäden den schönsten Brautschleier von kostbaren
-Spitzen, und er hängt das duftige zarte Gewebe, so hoch, so fein, rund im
-Halbkreis vor das smaragdene Wasserschloß, daß niemand seine Heimlichkeit
-störe, keiner seine weiße Braut, zu deren Füßen er ruht, ihm rauben
-könne. Sie aber spielt in seinen langen Haaren, küßt seinen roten Mund,
-legt ihr Köpfchen an seine breite Brust -- aber immer wieder fragt sie: Wo
-ist die Sonne? die goldene Sonne?
-
-Und eines Tages, als er fern ist, da wird die Sehnsucht nach dem Licht so
-mächtig in ihr, daß sie der Wasserkobolde und neckischen Nixen vergißt,
-die draußen ihr Wesen treiben und die Spitzenschleier immer wieder
-erneuern und verdichten. Ganz nahe tritt sie heran an die zauberischen
-Vorhänge -- wie hell, wie licht es da ist; sie rückt ein wenig daran, sie
-lüpft ein zartes Eckchen. -- Siehe, da über den wogenden Wasserdünsten
-steht die Sonne, ihre Sonne in strahlender Pracht -- und die Arme
-sehnsüchtig ihr entgegenbreitend, sinkt das Waldkind, eingehüllt in
-die Brautschleier, zur tosenden, unbarmherzigen Tiefe nieder. Wie ein
-leuchtender Strahl fliegt es an dem Trotzigen vorbei, der seine starken
-Glieder im wildesten Flutengetos kühlt, und da vor ihm, da im Strudel
-treibt der weiße, weiche Leib seiner stillen Waldlilie. -- Es überkommt
-ihn ein großer Zorn. Brüllend vor Schmerz und Wut, daß es wie Donner
-grollt, wirft er die Wasser gen Himmel, damit ihr Schaum, ihr wilder Gischt
-die Sonne, die verhaßte, verdecke. So steht er im Strudel und rast und
-trotzt gen Himmel. Er sendet seine Fluten auf zu der Insel, wo seine
-Waldlilie wuchs; sie zerren und wühlen an dem Gestein, ein Stück nach
-dem andern sinkt in die Tiefe und ein höhnender Schrei gellt von Welle
-zu Welle, wenn ein Baum mit hinabgerissen wird und hülflos in den Fluten
-treibt. Oben in den Wipfeln der Bäume aber rauscht eine wehmütige Klage
-um die Waldlilie, die an der Sonnensehnsucht verging.
-
-Doch die wundersamen Spitzenschleier, die das Brautgemach bargen, wallen
-immer noch nieder vor dem smaragdenen Schloß und verhüllen in zarter
-Weiße seine erbarmungslose Leere. Die goldene Sonne aber taucht ihre
-Strahlen tief in das Wassergebrodel, läßt sie niedergleiten an den
-Schleiern, als suche sie die, die aus Sehnsucht nach dem Lichte gestorben
-ist; und die Strahlen bauen von Tag zu Tag eine wunderleuchtende Brücke
-hinauf, hinauf zur Sonne.
-
-Da endete das Märchen und es breitete seine Arme aus nach den fallenden
-Wassern. Ein leises, wehmütiges Klingen zog herüber von den Inseln der
-drei Schwestern.
-
-Das Märchen erhob sich, flog mit breiten, weißen Mövenflügeln hin über
-die Fluten, die wild aufschäumten und es haschen wollten. Aber sie netzten
-nur seine Füße. Und mit leisem Gekicher kreiste es über meinem Haupte --
-mein verlorenes und wiedergefundenes Märchen -- an den fallenden Wassern
-des Niagara.
-
-
-
-
-In der Gosse.
-
-
-»Hei! Der hat's eilig!« sagten die trockenen Blätter, als der Wind
-sie packte und die glatte Straße hinunterwirbelte, daß sie den Atem
-anhielten.
-
-»Nein, ich will nicht!« raschelte das eine ganz große Blatt, das, trotz
-seiner verkrümpelten Gestalt, noch einen grünlichen Schimmer auf sich
-hatte und sogar noch einen ordentlichen Stiel besaß. Und es hob sich
-erst von der einen Seite, und dann von der andern -- wie ein ungeschickter
-Bauernbursche, der zum Tanze antritt; aber es half ihm nichts: der Wind
-blies die Backen auf, und heidi! da sauste es davon, so viel es auch
-versuchte, an allen Steinchen und Schmutzhaufen hängen zu bleiben. Wütend
-sprang es schließlich noch toller wie die andern und legte sich oben
-auf die kleinen Blätter, um sie festzuhalten. -- Da plötzlich -- an
-der Straßenecke stieß der Westwind laut jubelnd den Nordwind an -- so
-spielten sie immer, die beiden wilden Gesellen, und wollten sich dann
-schier totlachen, wenn sie alles Lebendige mit in ihren tollen Reigen
-hineinzerrten. -- Und nun wirbelten sie zusammen die trockenen Blätter
-in die Höhe, daß sie den Bäumen entgegenflogen, die sehnsüchtig die
-leeren, nackten Arme nach ihnen ausstreckten. Aber da lagen sie schon
-wieder auf der Erde, küselten verwirrt umeinander und schleiften,
-schlürften, raschelten über die glatten Steine hinab in die Gosse.
-
-Da lagen sie nun und dachten nach. Und dachten, wie sie -- es war schon
-lange, lange her -- die braunen Köpfchen einst vorsichtig aus der
-Baumrinde hervorgestreckt hatten, und in die Welt hinein geguckt, wie sie
-dann groß und grün und schön geworden waren, wie die Spatzen in
-ihnen gehuscht, wie der Mond zwischen ihnen hindurchgelugt, und wie
-die Menschenkinder in ihrem Schatten sich geküßt hatten. Dann war der
-Herbstwind gekommen und hatte sie selber geküßt, und sie waren gestorben
-an seinen eisigen Küssen -- hatten sich erst so herrlich geschmückt für
-ihn, die armen Dinger, rot und gelb und violett und braun, und dann fielen
-sie ohnmächtig aus seiner wilden Umarmung zur Erde nieder, wurden hin und
-her gejagt von den Winden, und nun? Nun liegen sie in der Gosse und denken
-nach.
-
-Hei! Wie der Wind bläst! Die Kleider der schönen Frauen, welche die
-Straße entlang gehen, schlägt er zur Seite, daß die schlanken Füße
-sichtbar werden. Und die Blätter in der Gosse flüstern einander zu:
-»Jetzt werden sie auch anfangen zu tanzen und rascheln und schleifen die
-glatte Straße hinab in die Gosse!«
-
-Aber nein, die kleinen Füße schreiten fest und sicher weiter, der Wind
-kann ihnen nichts anhaben -- aber der andere, der im Herzen weht, durch das
-Leben stürmt, ob der die schlanken Frauenfüße wohl nicht vom glatten Weg
-hinabwirbelt -- in die Gosse?
-
-Davon freilich wußten die trockenen Blätter nichts: sie lagen in der
-Gosse und dachten nach; und der Wind strich jauchzend über sie hin. Es
-wäre ihm ein Leichtes gewesen, die ganze Gesellschaft aus dem Rinnstein
-hinauszuwirbeln, über alle Welt zu jagen. Doch er that es nicht; lauernd
-hing er über ihnen und sang sein Lied:
-
-»Jetzt schirre ich meine Wolkenrosse und stürme dahin und brause
-über die Stadt und über das Land in den Wald. Eure Schwestern will
-ich besuchen, die glührot an den Bäumen hängen. Und ich hause in den
-Zweigen, und ich brause über die Wipfel, und ich schüttle die bunte
-Pracht. -- Seht Ihr den bunten Blätterregen?
-
-Und seht Ihr die Trauerweiden, wie sie den Waldteich bewachen, düster,
-schwermut-geheimnisvoll? Ich peitsche ihre niederhängenden Haare, daß sie
-wie graue Schlangen zischeln und züngeln. Ich wühle die schwarzen Fluten
-des Waldteichs auf, daß die Wellen schäumen und sich kräuseln und mit
-nassen, starken Armen die Wasserrosen hinabziehen in das dunkle, dunkle
-Grab. --
-
-Nur die Königin -- sieh', da ruht sie auf schwarzgrünen Blättern, und
-sehnsüchtig leuchtet ihr weißes Blumengesicht mir entgegen. Ich fliege zu
-ihr, und ich reiße sie an mich in wilder Lust, kosend schaukle ich sie hin
-und her, ich sauge wollüstig den Duft aus ihrem weißen Kelche, ich küsse
-sie mit zärtlich stürmischen Küssen -- sie stirbt an diesen Küssen --
-und ich trage ihre Blumenblätter hin über den schwarzen Waldesteich,
-hin über die Welt -- -- Ist es süß, zu sterben an den Küssen des
-Gewaltigen? -- --
-
-Heiho! -- Ihr Wolkenrosse -- graue, schwarze! senkt Euch tiefer, daß
-ich Euch besteige, daß ich Euch zügle hin über die Erde -- der ich
-Vernichtung bringe -- --«
-
-Raschelnd flogen die trockenen Blätter ihm nach, aber nur eine Spanne
-hoch, dann fielen sie wieder herunter in den Rinnstein. Und da lagen sie
-wieder mit ihren Gedanken.
-
-Es hatte sich eine sehr gemischte Gesellschaft in der Gosse
-zusammengefunden. Da waren Blätter von allen Größen und jedes sah ganz
-anders aus. Sie gehörten zwar alle entweder zu der großen Familie »Derer
-von Baum« oder zu der »Von dem Busche« -- aber eine rechte Einigkeit
-konnte nicht erzielt werden, da sich die vom Baum viel vornehmer dünkten,
-als die von dem Busche, und daher wurde so viel von Stammbäumen,
-Wappenschildern und dem Gothaer geredet, den die Firma Frühling, Sommer
-u. Co. herausgab, daß die übrige Gesellschaft im Rinnstein, die nicht
-von so hoher Abkunft war, in tiefster Ergebenheit erstarb. Darin waren sie
-sich jedoch alle einig, daß sie nur durch unverschuldetes Unglück, durch
-widrige Winde und plötzliche Regengüsse so heruntergekommen waren, daß
-sie sich nun in der Gosse befanden.
-
-Da stak mitten unter dem Blätterhaufen ein langer, schlanker Strohhalm,
-hineingeflogen wie ein Pfeil -- die Blätter hatten ihn immer für etwas
-ganz Unbedeutendes gehalten -- der that jetzt den Mund auf und begann zu
-erzählen: »Ich bin sehr vornehm,« sagte er, »ich bin ein Prinz. Ich
-bin Oberst gewesen in Ihrer Majestät der Frau Königin Erde Weizenfeld,
-Allerfeinste-Mehlsorte No. I. Ich trug eine gelbe Uniform und einen
-prächtigen Raupenhelm auf dem Kopfe. -- Ihr hättet es sehen sollen, unser
-Regiment! Wie wir in Reih' und Glied standen -- fest wie eine Mauer! Wie
-wir exercierten -- hierhin, dorthin, auf und nieder, wenn unser Kommandant,
-Generalissimus Wind, seine brausende Stimme erschallen ließ. Hei! das
-war eine Freude, uns anzuschauen! -- Und dann kam der Krieg, das war ein
-schneidiger Krieg! Erbarmungslos mähte der Feind, jenes uncivilisierte
-raubgierige Gesindel, das sie Menschen nennen, uns nieder, und wir fielen
-ebenso schön in Reih' und Glied, wie wir gestanden hatten. -- Aber tot
-waren wir nicht -- bewahre! (denn sonst könnte ich es Euch ja
-nicht erzählen). Wir gerieten nur in Gefangenschaft, und in bittere
-Gefangenschaft. Sie banden uns zusammen, wie die Indianer, und schleppten
-uns fort und steckten uns in die Folter, bis sie all den Reichtum, den wir
-in unserm Raupenhelm trugen, herausgequetscht hatten, und dann, ja dann
-sollten wir erniedrigt werden, den Pferden Dienste zu leisten, den Pferden
-unserer Feinde. Die wollten auf uns herumtrampeln, die wollten uns als
-Lager benutzen, die wollten -- mit einem Wort -- Mist sollten wir werden!
--- Ich, Prinz von Halm-Halm -- auf Aehre -- Oberst in Ihrer Majestät der
-Königin Erde Regiment Weizenfeld-Allerfeinste-Mehlsorte No. I.
-
-Da, als wir gefesselt, geknebelt, aufeinandergepackt, in dem
-Transport-Wagen lagen -- da habe ich zum erstenmal in meinem Leben die
-Subordination vergessen -- ich, dem die Subordination alles war, und bin
-ausgerissen.
-
-Und die Folge davon? -- Ich liege in der Gosse -- --
-
-Ja, Subordination muß sein!« sagte der Strohhalm, grub sich mit seiner
-leeren Kornähre, seiner Raupe, in den Gossenschlamm und philosophierte
-über die Gefahren der Unbotmäßigkeit. -- »Siehst Du, Prinz Halm-Halm:
-Schmieg' Dich dem Schicksal an, so kriegst Du einen warmen Pferdestall --
-lehn' Dich dagegen auf und Du fällst in die Gosse -- auf Aehre! -- Burrrr
--- brumm!« schnarrte es neben ihm. Ein richtiger, bunter Brummkreisel war
-es, der auf irgend eine Weise in die Gosse geraten, unter die Blätter, und
-von den Kindern vergessen worden war.
-
-»Subordination. -- Ich brumme was auf die Subordination! Wer wie ich
-zeitlebens von allen unnützen Buben auf den Straßen herumgepeitscht
-worden ist -- zuweilen waren ein halbes Dutzend hinter mir, und dann mußte
-ich tanzen und brummen, bis mir der Atem ausging -- der ist froh, wenn er
-auskratzen kann und sein Leben gemütlich in der Gosse beschließen darf.
-
-Wie habe ich mich gesträubt und gewehrt, all' mein Leben lang! Ich habe
-den Bindfaden, der an mir saß, so fest um mich herumgewickelt, daß er
-beinahe mit keiner Macht der Erde wieder loszumachen war; ich habe mich mit
-meinem einzigen spitzen Bein in die Ritzen der Steine geklemmt, daß sie
-mich beinahe nicht wieder herauskriegen konnten; ich bin allen Jungen und
-Mädchen zwischen die Füße gefahren, daß sie stolperten, und habe dabei
-gebrummt, daß mir selber angst und bange wurde. Aber es half mir nichts.
-Ich mußte tanzen und schnurren und Kapriolen machen mit der bittersten
-Empörung in meinem Brummkreiselherzen. Sie hatten die Peitsche und
-folglich auch die Macht und ich mußte tanzen, bis ich eines schönen Tages
-in der Gosse lag -- -- -- Brrrrr -- brumm!« sagte der Kreisel, als der
-Wind über ihn hinfuhr und ihn zwang, sich um sich selbst zu drehen.
-
-»Ja, mein lieber Herr Kreisel,« sprach da salbungsvoll ein weißes,
-bedrucktes Stück Papier, das die Schulkinder aus einem ihrer Bücher
-verloren hatten. Die Blätter wollten es nicht für voll anerkennen -- es
-war zwar auch ein Blatt und auch trocken, aber es gehörte zu einer ganz
-andern Familie -- sie waren gar nicht verwandt. Es hielt sich deshalb ein
-wenig abseits und sprach in gebildetem Tone:
-
-»Sehen Sie, mein lieber Herr Kreisel,« sagte es, »das ist von alters her
-so gewesen -- ich muß das wissen, denn ich bin aus einem Geschichtsbuche
--- die Starken hatten die Macht und, wie Sie so sehr richtig bemerkten,
-folglich auch die Peitsche, mit der sie sehr energisch umzugehen wußten,
-und die Schwachen -- nun, die wurden gepeitscht. Da hilft kein Auflehnen
-gegen den Willen von oben und gegen die Peitsche der Straßenjungen; die
-Kreisel wie alle Armen und Schwachen müssen tanzen -- so ist es immer
-gewesen, so ist es heute noch, und so wird es bleiben. Wir haben uns einmal
-daran gewöhnt, und wir Gebildeten sehen auch ein, daß es nicht anders
-sein kann und daß es so am besten ist.«
-
-Da fuhr aber der Kreisel auf:
-
-»Daran gewöhnt? Fällt uns gar nicht ein! Denken gar nicht daran! Und
-wenn wir uns einmal alle zusammenrotteten -- die Bäume und die Büsche und
-die Strohhalme, und alles, was so herumliegt, und wir Kreisel und -- und so
-weiter -- und wir machten 'mal so eine kleine, lustige Revolu-- --«
-
-Hui! Da faßte ihn der Wind und schüttelte ihn, und da duckte er sich und
-sagte: »Brumm!« --
-
-»Ach,« jammerte da ein feines, zärtliches Stimmchen, »was ist das alles
-gegen den Kummer, den ich erlebt habe?«
-
-Das war ein Stückchen Papier, lachsfarben, gepreßt, mit Tinte beschrieben
--- man sah, es war etwas Feines. Der Wind hatte es eben erst in wilder Jagd
-die Straße hinuntergepustet, und atemlos war es mit einem Purzelbaum in
-der Gosse gelandet.
-
-»Ich war rein und hellblank, und ich duftete stärker wie die Veilchen
-in der Vase, die vor dem Fenster stand; und ich lag auf einem zierlichen
-Schreibtisch und ein reizender, goldener Federhalter kritzelte über
-mich hin. -- Ach, dieser Federhalter! Etwas Glänzenderes, Schlankeres,
-Zierlicheres habe ich nie gesehen. Und alle die süßen, zärtlichen
-Worte, die er mir ins Ohr flüsterte -- war es ein Wunder, daß ich
-seinen Schwüren glaubte, daß ich ihn liebte mit all der Glut, deren mein
-papierenes Herz fähig war? -- Ach, wie war das Leben schön!
-
-Aber da kritzelte er mir eines Tages mit einem großen dicken Tintenstrich
-etwas ganz Unheimliches, Unverständliches zu, so daß ich erschrak, und
-dann ergriffen mich plötzlich kleine, weiße Fingerchen, und ich knickte
-vor Angst in der Mitte durch, und sie sperrten mich in einen dunklen
-Behälter, der wurde fest zugemacht, und eine glockenhelle Stimme trillerte
-dazu:
-
- Such' ich mir 'nen andern Schatz --
- juhu -- andern Schatz --
-
-und dann reiste ich fort, weit fort, und mein schlanker, goldener Geliebter
-blieb zurück, und ich habe ihn nie wieder gesehen. Ach, ich war wie in
-einer Betäubung und kam erst wieder zur Besinnung, als mein Gefängnis
-sich öffnete und ich herausgeholt wurde -- und da -- da geschah etwas
-Schreckliches: ich hörte eine wuterstickte Stimme, die mich fürchterlich
-ausschalt, und große, rauhe Finger nahmen mich und rissen mich mitten
-durch, nicht nur einmal, nein, in lauter kleine Fetzen, und wir flatterten
-zur Erde nieder und der Wind kam und nahm uns mit sich fort. -- Ach, und
-wenn nun mein Federhalter mich sucht, dann erkennt er in diesem kleinen,
-schmutzigen Flecken seine schöne lachsfarbene Geliebte nicht wieder.
--- -- -- Ach, was sind alle Leiden und Kümmernisse der Welt gegen die
-Schmerzen unglücklicher Liebe!«
-
-Als das traurige Papierchen geendet hatte, entstand eine tiefe Stille in
-dem Rinnstein. Sie waren alle gerührt und kämpften mit den Thränen --
-
-»Denn eigenes Unglück und eigener Kummer machen das Herz empfänglich
-für die Leiden anderer!« sagte das Blatt aus dem Geschichtsbuche für die
-Jugend gebildeter Stände. Nur das große Blatt mit dem Stiel, eines
-der vornehmsten aus dem Hause derer vom Baume, murmelte etwas von
-»plebejischer Gefühlsduselei!« und der Brummkreisel sagte: »Bitte,
-meine Herrschaften, werden Sie nicht sentimental -- das ist veraltet --
-und von Liebe halten wir heutzutage nicht viel, die Wissenschaft hat
-diesen geheimnisvollen Vorgang in unserem Innern mit grausamer Deutlichkeit
-aufgeklärt -- brrrr--brumm!« Da aber gab es einen großen Disput, wie
-in einer politischen Sitzung, und wie sie noch im besten Zanken waren,
-öffnete sich in dem nächsten Hause eine Thür und ein junges Mädchen
-trat heraus mit einem Besen in der Hand, denn es war Sonnabend, und die
-Straße sollte gekehrt werden. Mit kleinen lustigen Schritten trippelte sie
-daher und die braunen Augen sahen zuversichtlich in die Welt hinein. Sie
-begann mit kräftigen Bewegungen den Rinnstein auszukehren und summte
-halblaut dazu:
-
- Wenn ich wüßt', wenn ich wüßt',
- Wo mein Schatzerl ist --
- Ist wohl in die weite Welt --
- juhu -- weite Welt --
- Ist wohl fortgezogen!
-
- Wenn ich wüßt', wenn ich wüßt',
- Wo mein Schatzerl ist --
- Wär' ich in die weite Welt --
- juhu -- weite Welt --
- Wär' ihm nachgezogen!
-
- Da er mir nun nichts gesagt,
- Warte ich wohl über Nacht --
- Such' mir dann ein andern Bub --
- juhu -- andern Bub' --
- Muß mich nit verlassen!« -- --
-
-Und nun purzelte alles durcheinander: die Blätter und der Strohhalm und
-das Papier und der Kreisel. Das Mädchen kehrte sie zusammen auf einen
-großen Haufen, und jubelnd kamen die Kinder herbei und zündeten das
-trockene Laub an -- --
-
-»Burrr!« sagte der Kreisel, »mein revolutionäres Feuer schmilzt mich
-auf!«
-
-Und knisternd flog die lachsfarbene Schönheit in die Höhe; denn der Wind
-blies in den Scheiterhaufen, daß die Funken stoben, er trug sie mit sich
-fort, wie die weißen Blätter der Wasserrosenkönigin, und streute sie
-aus auf seinem Wege, daß ein Feuerregen niederfiel. Die braunen Augen des
-Mädchens sahen ihnen nach, und sie sang:
-
- »Ist wohl in die weite Welt -- juhu --
- juhu -- weite Welt --
- Ist wohl fortgezogen!«
-
-
-
-
-Sonniger Winter.
-
-
-Sie sagten, es sei Winter. Da ging ich hinaus, ihn zu begrüßen. Denn hier
-drinnen in der engen Stadt hat er ein gar häßliches Aussehen, rauchig
-und schmutzig, und er blickt dich an mit den Augen des Hungers. -- Draußen
-aber lag der lachende Sonnenschein. War das der Winter? Er hat ja kein
-weißes Kleid an. Die Bäume recken ihre nackten Zweige kraus und zackig
-in den blauen Himmel hinein, und ihre Rinde schimmert rötlich, oder weiß,
-oder stahlgrau in der schwimmenden, flockigen Luft. Ah, die Luft!
-Das weitet die Brust -- wie du mit einem tiefen Atemzug alle den Wald
-einhauchst, daß er die Stadt, die rauchige, schmutzige, in dir verzehrt!
--- Mein Fuß wühlt im langen, zottigen Gras. Wenn du nicht hinsiehst
-im Park, wo die glatten Wege sind, wo die feinen Karossen fahren, wo die
-Menschen auf ebenen Pfaden wandeln, dann meinst du im Wald zu sein -- still
-ringsum, nur hohe Bäume, nur das Lispeln, das seltsame, traurige Lispeln
-in den nackten Zweigen, die ohne Blätter nicht rauschen und raunen
-können, wie sie im Sommer, im Herbst es thaten. Nur die Prärie vor dir,
-durch die sich das geschäftige Bächlein im Sonnenschein dahinschlängelt.
-Ein zaubrisch Bächlein -- wie es lockt und winkt, eilig über die blanken,
-feuchten Steine kollert, und immer raunt und murmelt und erzählt -- was es
-nur immer sagt? Ich klettere den Abhang hinunter, tiefgrün schimmert das
-Wasser von den bemoosten Steinen herauf. Einzelne ragen draus hervor, sie
-sehen mich lockend an -- soll ich hinüber klettern auf den Springsteinen,
-zum andern Ufer des Bächleins, dorthin, wo stille, grüne Tannen stehen,
-wo es ganz einsam ist? -- Da -- mitten drin -- du böser Nix, was hast du
-an dem Stein zu rütteln? Das hält ja so ein tappig Menschenkind nicht
-aus! Natürlich, da patsche ich mit den Füßen im Wasser -- und nun
-schnell gesprungen, in den Sonnenschein, in das hohe Gras hinein, daß ich
-wieder trocken werde. Böser Bach mit deinem Nixen. -- Aber was ist das?
-War es Zauberwasser, das mich berührt hat? -- Der Wald ist lebendig
-geworden, die Bäume fangen an zu reden, ich verstehe, was die Vöglein
-zwitschern, die kleinen, grauen, die Waldvagabonden, die einzigen, die
-geblieben sind. Piep! sagen sie, uns ist's einerlei, ob die Blumen blühen
-und die Bäume Blätter haben. Dann bauen wir unser Nest in den kahlen
-Zweigen, und zwitschern von den zukünftigen Blüten, und die Nahrung --
-nun, die stehlen wir uns irgendwo -- nur Freiheit, Freiheit wollen wir
-haben! -- Au! sagt das Gras unter meinen Füßen, warum trittst du mich?
--- Ich bin nicht tot. Da, sieh' einmal her -- Und wie ich dann die langen,
-zerzausten Haare vorsichtig zur Seite schiebe, da lugt frischer, grüner
-Klee schelmisch hervor. Der grüne, grüne Klee -- Weißt du noch, grüner
-Klee, wie es war zur Sommerszeit?
-
- Es war zur goldnen Sommerszeit,
- Die Welt war groß und war so weit --
- Und grüner, grüner Klee.
-
- Der blühte still im Waldesthal
- Wie Tropfen Blutes allzumal
- Die Blüten stehn im Klee.
-
- Und Falter spielen drüber hin.
- Und wir? Wir lagern uns tiefdrin,
- Im grünen, grünen Klee.
-
- Dein Aug' ist wie der Falter blau,
- Dein Mund rot wie die Blüt' im Tau,
- Die Blüte rot im Klee.
-
- Dein Haar ist wie das Sonnenlicht,
- Das gleitet durch die Zweige dicht
- Wohl über grünen Klee.
-
- Dein lieber Hals, der luget leis,
- Wie die Maßlieben wunderweiß,
- Aus grünem, grünem Klee.
-
- Da hab' ich mich geneigt zur Stund'
- Und hab geküßt den roten Mund
- Im grünen, grünen Klee.
-
- Und nur ein Vöglein sah's mit an,
- Das lockte süß aus dunklem Tann
- Ganz nah beim grünen Klee.
-
- Da war es, wo im Waldesthal
- Ich fand zum allererstenmal
- Der Blätter vier am Klee.
-
- Merkt ihr, was das bedeuten soll?
- Mein Lieb und ich -- wir wissen's wohl --
- Ja -- und der grüne Klee. --
-
-Hat mir das Bächlein das Lied gegluckst? Haben's die kleinen Waldtramps
-gezwitschert? Hat es der Klee gelispelt -- oder hauchten es die
-Sonnenstrahlen in die Welt hinein? Rings um mich singt es und klingt es.
-Und plötzlich trottet eine kleine Schar neben mir, putzige Gesellen mit
-feinen Gliederchen und lustigem Wesen. Sie laufen neben mir wie eine Schar
-Hündchen, sie klettern die platten Baumstämme hinauf und wiegen sich
-in dem weiten Geäst hurtig wie die Eichkätzchen, und sie tragen kleine
-Narrenkappen auf den Krausköpfchen, damit klingeln sie: Gedanken!
-Gedanken! Wir sind deine Gedanken. --
-
-Aber, ihr flinken Gesellchen -- Gedanken? Ich meinte Gedanken, die hätten
-schwere Köpfe, und Brillen auf der Nase, und gingen mit gewichtigen
-Schritten in den Büchern auf und ab spazieren. Was wollt ihr im Wald mit
-mir?
-
-»Wir wollen hören, was er rauscht, was die Bäume sagen, und der Wind
-weht. Wir wollen sehen, wo der Winter ist? -- Da, siehst du.« -- Mitten
-auf der Wiese war das lange Gras fein säuberlich zur Seite gewachsen und
-hatte einem grünen Moosteppich Platz gemacht, der sich glatt und fein
-ausbreitete: »Sieh',« flüsterte mir ein Gedanke ins Ohr, »siehst du
-die Elfen tanzen, und die Gnomen mit den weißen, zottigen Bärten und
-den spitzen, haarigen Oehrlein? Wie die weißen Leiber der Winterelfen
-schimmern, wie ihre flockigen Schleier wehen und wie die Lüfte aufspielen
-zum Tanz. -- Horch! Wie Schneeknirschen klingt's, und wie die Eiszapfen,
-wenn sie klirrend von den Bäumen brechen. Und siehst du, da mitten im
-Gewirr den sonnigen Winter stehn? Seine Augen glänzen und er lacht, daß
-die weißen Zähne aus dem feurigen Barte blitzen.« -- In den starken
-Armen hält er die Winde; wie sie zappeln und die Backen aufblasen vor Wut,
-daß sie nicht loskommen können -- da schlägt er den Nordwind und den
-Westwind mit den Köpfen zusammen, die bösen Gesellen, und stößt sie
-mitten unter das Elfengesindel, das sie jauchzend mit Tannenkränzen
-umwindet und fesselt; oben auf des sonnigen Winters Schultern aber steht
-der Südwind und stößt jubelnd ins Horn, daß es von den Bergen ringsum
-widerklingt. Und jauchzend fallen die Gedanken um mich herum in das tolle
-Treiben -- so daß ich mich ordentlich schäme für sie -- was sollen nur
-die Menschen davon denken? »Ihr solltet auch nicht denken, ihr Menschen,«
-lachten meine wilden Gesellchen -- »denn wenn ihr denkt, dann denkt ihr
-immer was Dummes. Es wäre überhaupt viel besser, ihr dächtet gar nicht,
-und überließet es uns, euch plötzlich mit etwas Gescheitem durch den
-Kopf zu fahren -- wie ein Blitz.«
-
-»Da sieh' hin, die zwei Bäumchen, die da angewackelt kommen,« sagte ein
-spöttischer kleiner Gedanke und überschlug sich wie ein Kobold im Gras
-vor Vergnügen. »Du denkst, es wären Fichten, aber schau sie einmal an:
-sie kommen in kurzem Lauf, ein wenig vornüber, dahergetrottet, ihre Nadeln
-stehen zierlich nach beiden Seiten, wie lauter gewichste Schnurrbärtchen,
-die Kronen sind ihnen ins Gesicht gerutscht, so daß es aussieht, als wenn
-sie die großen Hüte bis tief auf die Nase sitzen hätten, und da die
-Zweige just ein bischen über dem Erdboden beginnen, scheint es, als
-hätten sie sich die schloddrigen Hosen sorgfältig aufgekrempelt. --
-
-»Ei! wie die Herrchen laufen,« höhnt der lustige Gedanke und zupfte an
-ihren Nadeln, worauf sie sich wütend umdrehen und mit den jungen Birken,
-die sie als Spazierstöcke mit sich schleppen, nach ihm schlagen -- »sie
-thun, als wollten sie dem sonnigen Winter eine Referenz machen, und dabei
-schielen sie doch nur nach den weißhäutigen Elfendirnen.«
-
-Nun kommen sie von allen Seiten gewandert: die breitästigen Eichen, die
-schlanken Birken im weißen Hemdchen, knorrige Burschen vom Geschlecht der
-Baumriesen; und eine nackte Trauerweide tänzelt so lustig daher, daß die
-langen, fast bis auf die Füße hängenden Haarsträhne im Winde flattern.
--- Ei, sieh', wen haben wir hier? -- Eine Prozession ehrbarer Herren in
-dunkelgrünen Röcken, die bis zur Erde reichen; und aus den stachligen
-Kapuzen schauen lustige Mönchsgesichter, und die Aeuglein blinzeln über
-die feisten Wangen hinweg nach den schlanken, grünen Nönnchen, die ihre
-Kiefernkleidchen gar züchtig geschürzt haben und sittsam kokett neben
-der Tannenprozession einhertrippeln. Voran schreitet ein baumlanger
-Tannenriese, stark wie Rabelais' Mönch Johann. »Halt da!« kommandiert
-er, »hübsch paarweise antreten!« und er bombardiert die letzten in der
-Reihe mit Tannenzapfen, damit sie ihn besser verständen -- »und wem's
-nicht recht ist, hier im Wald, dem schlage ich die Knochen im Leibe
-entzwei!«
-
-Da faßt ein Mönch je ein Nönnchen bei der Hand, und, die grünen Röcke
-ein wenig lüpfend, tänzeln sie im Menuettschritt über die Wiese hin zum
-lachenden, sonnigen Winter und beginnen artig zu psalmodieren, daß es in
-den Wald hineinschallt:
-
- »Brave Mönche sind wir Tannen,
- Brummeln unser Mönchsgebet --
- Und wenn es zum Schlucken geht,
- Laufen nimmer wir von dannen --
- Eia, Hallelujah!
-
- »Nönnchen sind wir, Nönnchen heiter,
- Leben gottgefällig weiter,
- Putzen unser grünes Kleid --
- 's Himmelreich ist auch nicht weit --
- Eia, Hallelujah!
-
- »Und so leben wir gar traulich,
- Brüder, Schwestern, Hand in Hand --
- -- Unsre Kutten sind verwandt --
- Unser Trachten ist beschaulich --
- Eia, Halleluja!«
-
-»Ei, so hört auf zu plärren,« dröhnt Bruder Johanns mächtige Stimme
-dazwischen --
-
- »Kurze Worte dringen zum Himmel eh'r,
- Lange Züge machen die Kanne leer --
- Eia, Halleluja!«
-
-Und mit tollem Jubel drehn sie sich mit im Elfenreigen, daß die grünen
-Kutten im Winde wehn.
-
-»Hast du nun den Winter gefunden?« flüstert mir ein Gedanke ins Ohr,
-»sieh', wie die Sonne über ihm steht, lichtspendend, milde lächelnd,
-als ob all das Weh in der Welt nur ein Wassertröpfchen wäre, das sie
-lächelnd aufsaugt.«
-
-»Sagtest du: Weh, kleiner Gedanke?« haucht es neben mir, »weißt du, was
-das ist?«
-
-Ich wandte mich; da steht unter den hohen Bäumen des sonnigen Winters der
-allerhöchste und breitet seine mächtigen Zweige aus, als wolle er die
-Welt an seine Brust ziehn. »Sieh',« sagt er und senkt das starke Haupt,
-»meine Krone haben sie mir geraubt, der Sturm, als er hinzog mit seinen
-weißen Jägern über mein Reich -- meine Aeste haben sie zerschlagen und
-die Augen mir geblendet. Weißt du, was es heißt, leben, und die Sonne
-nicht mehr sehn, nie mehr!«
-
-Es geht ein Aechzen durch den zersplitterten Stamm, die Zweige bewegen sich
-schwankend hin und her -- es ist, als wolle sich der Riese zur Erde neigen.
-Aber noch ist er stark, noch steht er aufrecht, bis der Sturm wieder einmal
-gegen ihn zu Felde zieht -- und nur wie ein »Weh -- das thut weh!« --
-zittert es durch die Luft.
-
-Mich fröstelte es, die Sonne sank tiefer, ich ging dem Heimweg zu.
-Einzelne Gedanken blieben im Wald beim Tanz auf dem Elfenteppich, bei dem
-sonnigen Winter, andere sprangen mir flüsternd, raunend, kichernd
-zur Seite; bis zum Hügel hinauf, am Rand des Waldes, da waren sie
-verschwunden. Einige waren den eleganten Karossen nachgelaufen und
-guckten spöttisch grinsend in die Wagenfenster, andere hatten sich den
-Heimatlosen, vagabondierenden Menschenkindern angeschlossen, die unter
-den Büschen des sonnigen Winters ihr Nachtlager suchten. Nur Einer,
-ein ernsthafter, blasser, kleiner Geselle stand neben mir, als ich mich
-umwandte am Berg und mein Auge die Sonne suchte -- wie seltsam! Die Sonne,
-die goldene, große, strahlende, hing herrlich am Himmel -- aber der Wald,
-die Welt? Was eben noch leuchtete, schimmerte, in wunderbarsten Farben, das
-lag tot und kalt und schwarz zu ihren Füßen.
-
-»Siehst du,« sagte der ernsthafte Gedanke neben mir, »so wollt ihr die
-Wahrheit suchen mit eurem Verstand und eurer Tüftelei, so seht ihr in die
-Sonne mit der Brille der kalten Berechnung auf der Nase -- ja die Sonne
-steht dort am Firmament, strahlend, so himmlisch leuchtend, daß euer
-blödes Auge sie nicht ertragen kann, und die Welt, über die ihr die
-Wahrheit ergründen wollt, liegt schwarz und tot da. Aber schau dich um,
-schau mit der Sonne, schau dahin, wo nur die Strahlen der Sonne hindringen,
-wohin die Wahrheit ihr goldenes Licht wirft -- siehst du nun, wie herrlich
-die Welt daliegt, in Farbe, in Glut gehüllt, verklärt? Fühle nur die
-weiche, flimmernde, golddurchglühte Luft, die dich mit linden Armen
-umfängt -- schaue die jauchzende, die lebende, lichte Welt! --
-
-Und weißt du nun, was Poesie ist?« flüsterte der ernsthafte, kleine
-Gedanke mir ins Ohr.
-
-
-
-
-Ein Weihnachtsmärchen.
-
-
-Weit, weit hinter den Wolkenbergen, da, wo der Sonne Heimat ist, die zu
-verlassen ihr so schwer fällt, daß sie Tauthränen weinen muß, da, wo
-gut sein, fromm sein ist, und die Religion die Liebe, da, wo es keinen
-Neid, keine Polizei und keine Geldnöten gibt, da ist das Reich der
-Träume, das Wunderland, wo die schöne Frau Phantasie als Königin
-herrscht. Da sitzt sie auf ihrem goldenen Sonnenthron, umgeben von all' dem
-lustigen und luftigen Volk, den Elfen, Nixen und Kobolden, die durch das
-Christentum und das Geld aus der Welt vertrieben wurden, und hält Hof, und
-die Blümelein sind ihre Vasallen und die Bäume ihre Schildwachen, und
-die Vögelein jubilieren und konzertieren, und die Mücken und Grillen und
-Heimchen tanzen Ballett; und der Wind, der säuselnde, sanfte, der starke,
-stürmische, immer gewaltige Sänger, ist zum Hofpoeten ernannt. Aber die
-mitleidige Königin, so gut sie es auch in ihrem wonnigen Traumland hat --
-sie ist nimmer zufrieden damit. --
-
-Sie gedenkt ihres Sorgenkindes, der Welt, die ihr schon manch' bitteres Weh
-bereitet hat, sie hüllt sich in ihren blauen Himmelsmantel, mit goldenen
-Sternlein besäet, und fliegt mit geheimnisvoll leisem Flügelschlag
-über die Erde, und wenn sie sieht, daß ihr Sorgenkind immer noch so
-verdrießlich und wetterwendisch und eigensinnig-dumm und boshaft und
-lieblos ist, dann fließen Thränen der Wehmut und des Zornes und des
-Mitleids aus ihren schönen Augen, vermischt mit Hoffnungsbalsam und
-Sehnsuchtslauten nach ihrem Traumland, und diese kostbaren Thränen fallen
-zur Erde hinunter in die Herzen ahnungsvoller Menschen, die von Liebe
-entbrennen zur herrlichen Göttin Phantasie; sie singen dann, was ihr Herz
-bewegt, und die Welt nennt sie Dichter.
-
-Aber Frau Phantasie verhüllt sich mit ihrem blauen Himmelsmantel, so
-daß nur die kleinen nackten Füßchen wie zartrosa Wölkchen darunter
-hervorgucken, der Wind nimmt sie auf seine Flügel und trägt sie in ihr
-Königreich, und dann geht die Sonne auf.
-
-Lange schon ist es her, daß die Königin ihre letzte Reise unternommen
-hat; sie hat über den Wolken gethront im Traumland; aber Wehegeschrei und
-Kanonendonner sind bis zu ihr hinaufgedrungen und Zornesrufe nach Freiheit
-und Fluchworte gegen Lüge und Heuchelei, und dann wurde es ruhig, ganz
-ruhig unter ihr -- da erhob sie sich von ihrem Thron, legte die weiße
-Hand gegen das rosige Ohr, lauschte in die Ferne, und sie sprach zu ihrem
-versammelten Volke:
-
-»Horch, so friedlich ist's da drunten! Sollte wohl jetzt die Zeit gekommen
-sein, wo ich meine Lieblinge hinaussenden kann, auf daß sie der Welt
-Erlösung bringen? Meine Kinder, meine weißen, süßen, unschuldigen
-Kinder: Wahrheit und Liebe, die ich mit dem Sonnengott, dem ewigen Licht,
-gezeugt; sie schlummern unter Blumen nun seit vielen tausend Jahren und
-immer wollte ich sie wecken und immer noch war es zu früh; immer begann es
-wieder zu lärmen auf der Welt, wenn ich gerade mich niederbeugen wollte,
-um sie wachzuküssen -- die beiden Zwillingsrosen. Nun aber ist's Zeit.
-
-Geschwinde, Ihr lustiges Volk, geschwinde, Ihr meine Treuen -- kommt,
-kommt, laßt sie uns wecken!«
-
-Und da huscht es, und haucht es und weht und faucht es über sie hin, um
-sie her, und da singt es und saust es und klingt es und braust es, und die
-Blümlein duften süß und die Zweige neigen sich flüsternd und leise.
--- Da stehen zwei holde Kinder mitten unter ihnen, ein Knabe und ein
-Mägdelein -- sein Antlitz ist ernst und klar und trotzig und sonnig, in
-ihrem rosigen Gesichtchen lacht der Frühling, und doch thront auf der
-Stirn eine leise Schwermut und in den Augen wohnt die Sehnsucht. Und die
-Königin zieht ihre holden Lieblinge an ihr Herz und weint Glücksthränen
-auf ihre jungen Häupter, und all ihr Volk steht erwartungsvoll schweigend
-um sie her. Da spricht sie:
-
-»Ihr meine jungen Helden, mein ernster Knabe, mein lachend Mägdelein --
-steigt nieder zur Erde, zieht hin über die Welt und verkündet ihr das
-neue Evangelium, bringt ihr die Liebe, lehrt sie die Wahrheit. Ach, sie
-ist arm, arm an Glück und Liebe -- lehrt sie, daß nur durch Liebe die
-Seligkeit zu erringen ist, von der sie so viel gehört und die sie nicht
-verstanden hat.
-
-Laßt Euch nicht abschrecken durch rauhe Worte, durch herzlose That --
-predigt immer wieder, ruft in die Welt, in ihre Herzen hinein, jubelt ihr
-entgegen das Evangelium von der Liebe, ohne die nichts ist, hier nicht, wie
-auf Erden.
-
-O meine Kinder, vor allem trennt Euch nicht, faltet Eure Händchen
-zusammen, verlaßt Euch nicht, denn die Wahrheit ist nicht ohne die Liebe,
-und die Liebe tot ohne die Wahrheit. --
-
-Allein seid Ihr nichts, vereint alles!«
-
-Da gab man ihnen Oelzweige in die Hände, Mutter Phantasie nahm die Kinder
-in ihren Himmelsmantel und trug sie zur Erde nieder, und die Elfchen und
-Nixchen und Kobolde huschten um sie her, die Vöglein zogen mit ihnen und
-sangen und alles war voll Freude.
-
-Aber der alte, weltweise, vernünftige Uhu saß in dem Eichbaum, unter
-welchem Wahrheit und Liebe, von duftenden Blumen zugedeckt, viele tausend
-Jahre geschlummert hatten, klappte seine großen Augen auf und zu und
-seufzte, daß es in den Klüften und Schluchten wiederhallte:
-
-»Zu früh, viel zu früh, ach, es ist zu früh!«
-
-Hand in Hand irrte nun das Zwillingspaar durch die Lande, über Berg und
-Thal, über Fluß und Steg, an all den vielen Städten und Burgen vorüber,
-mit ihren vielen tausend Bewohnern, aber keiner wollte so recht etwas
-von ihnen wissen. Da waren wohl viele, die sagten: »Ach, wie schön seid
-Ihr!« Das waren lauter junge Leute, die Kopf und Herz noch voll herrlicher
-Gedanken und beseligender Empfindungen trugen, aber sie hielten sich doch
-in scheuer Entfernung, denn sie kannten die Kinder nicht. Da waren Andere,
-die tätschelten sie gönnerhaft auf die lockigen Häupter und sagten:
-»Ja, recht schön, aber unpraktisch!« Das waren alte, weißhaarige
-Männer und Frauen. Da waren noch Andere, die wollten mit lustigen,
-bunten, lügnerischen Lappen die schöne, reine Nacktheit der beiden Kinder
-bedecken, aber da eilten diese angstvoll von dannen und hinter ihnen her
-gellte höhnisches Gelächter.
-
-So kamen sie eines Tages durch einen schönen großen Wald, darin
-zwitscherte es gar lieblich von Vogelgesang und duftete es süß von
-Blumenduft, die Bäume neigten ihre Zweige vor ihnen, und der Vater, der
-Sonnengott, liebkoste sie mit seinen warmen Armen.
-
-Die Tiere des Waldes kamen, die scheuen Rehe, die flinken Füchse, die
-leichtfüßigen Eichhörnchen, sie sahen sie mit klugen Augen an, und
-plötzlich klang's von fern und nah, in allen Zweigen, in allen Lüften:
-
-»Bleibt hier, o bleibt hier! Bei uns ist's gut sein, aber draußen ist's
-Winter; die kalte, böse Welt, sie thut Euch weh und treibt Euch fort, und
-dann müßt Ihr leiden!«
-
-Aber ein kleines, grünes Tannenbäumchen neigte sich zu ihnen hin und
-sprach: »Jetzt bin ich allein; eine schöne Tanne stand bis gestern noch
-neben mir; die haben die Menschen geholt, denn Weihnacht ist draußen,
-sagen sie, das Fest der Liebe, und da ist die Tanne gern mit ihnen
-gegangen, denn dann wird sie geschmückt, geputzt und geliebt. Nun stehe
-ich allein und möchte wissen, wohin sie gegangen ist.«
-
-Da blickten die Kinder zu ihrem Sonnenvater hinauf -- der nickte lächelnd,
-und sie zogen weiter.
-
-Draußen, jenseits des Waldes, war Schnee und Eis und die Bäume senkten
-matt ihre dürren Aeste unter der Last, die ihnen aufgebürdet war; kein
-grünes Hälmchen sah unter der Schneedecke hervor und die kleinen Spatzen
-piepsten traurig auf der Hecke am Wege. Das liebe Zwillingspaar aber war
-ganz warm und der Schnee that ihren nackten Füßchen nicht weh, denn
-des Vaters Sonnenstrahlen hüpften um sie her und schützten sie vor der
-Kälte.
-
-Nun kamen sie an ein großes, hohes Schloß, das blitzte, funkelte
-und strahlte von lauter Gold und von Edelgestein, und wie sie die hohe
-Marmortreppe hinaufstiegen, da kamen sie in einen großen Saal, darin stand
-ein wunderschöner Tannenbaum mit vielen, vielen Lichtern, und um ihn
-her sprangen und lachten und scherzten fröhliche Kinder und freundliche
-Menschen -- ach, da ging ihnen das Herz auf und sie traten dicht vor den
-stattlichen Mann hin, der eine schöne Frau am Arme führte, und öffneten
-ihre lieblichen Lippen:
-
-»Wahrheit und Liebe heißen wir,« sagten sie, »das neue Evangelium
-wollen wir verkündigen, daß es weit hinschalle über alle Welt!«
-
-Da schüttelte der stattliche Mann den Kopf und die schöne Frau wich
-ängstlich zurück und rief ihre Kinder zu sich, daß sie nicht den kleinen
-Fremdlingen zu nahe kämen.
-
-»Ein neues Evangelium! Damit seid Ihr nicht am rechten Platz. Nur keine
-Neuerungen! Festhalten am Alten, Hergebrachten, das ist eines Edelmannes
-würdig. Und Wahrheit und Liebe? Gewiß! aber streng nach den Regeln der
-Etikette müssen sie sein.«
-
-»Komm, Schwesterchen,« sagte der Knabe Wahrheit zur Liebe, »hier ist
-nicht gut sein.«
-
-Und sie gingen weiter. -- Da kamen sie in eine große Stadt. Da waren so
-viele Häuser und so viele Menschen, daß sie gar nicht wußten, wohin sie
-gehen und an wen sie sich wenden sollten.
-
-So schritten sie kühn in ein vornehmes Haus hinein, darin war es gar warm
-und behaglich, und sie stiegen die teppichbedeckten Stufen hinan und kamen
-in ein schönes Gemach, das war reich und bunt ausgestattet, und in der
-Mitte auf einem Tisch stand ein großer Weihnachtsbaum, der leuchtete
-von vielen, vielen Lichtern, lauter geputzte Leute standen um ihn und
-bewunderten die kostbaren Sachen, die darunter lagen. Das Zwillingspaar
-hielt sich fest an den Händen, und sie traten zu dem Herrn des Hauses,
-der neben einer schönen Dame im Sofa saß, und öffneten ihre lieblichen
-Lippen:
-
-»Wahrheit und Liebe heißen wir,« sagten sie, »das neue Evangelium
-wollen wir verkünden, auf daß es Lüge und Unglück aus der Welt von
-hinnen treibe.«
-
-Da wollte sich der Herr des reichen Hauses schier von Sinnen lachen:
-»Wahrheit,« sagte er, »mein Junge, damit kann man nicht handeln« und
-»Liebe,« lachte die schöne Dame neben ihm, »~quelle idée!~ Die ist gar
-so unbequem und aufreibend --!«
-
-»Komm, Schwesterchen,« sagte der Knabe und sah trotzig um sich, »hier
-ist nicht gut sein.«
-
-Die Kleine schmiegte sich dicht an seine warme Seite und sie zogen weiter.
-
-Nun kamen sie in ein ganz kleines, unscheinbares Häuschen, da brannte auch
-ein Tannenbäumchen, aber nur ein ganz winziges, mit zwei kleinen Lichtchen
-und ein paar Aepfeln und Nüssen daran.
-
-Neben dem Baum saß eine junge blasse Frau mit zwei Kinderchen im Arm
-und am Fenster ein finsterer Mann, der brütete vor sich hin und sah das
-Weihnachtsbäumchen kaum.
-
-Und das Zwillingspaar trat ein und lächelte dem anderen Pärchen zu:
-
-»Weihnachten ist heute, das Fest der Liebe. Vom Traumhimmel sind wir
-gesandt, die neue Religion zu verkündigen, das Evangelium der Liebe und
-Wahrheit.«
-
-Aber die angeredeten Kinderchen wandten sich verschüchtert zur Seite, und
-der blassen Frau liefen die Thränen über die schmalen Wangen.
-
-»Liebe,« schluchzte sie, »Liebe ist nur vom Uebel, denn sie hängt
-schwer an Einem, und von Liebe kann man nicht leben.«
-
-»Und Wahrheit?« fragte der Mann mit bitterem Lachen, »wenn man die
-Wahrheit sagt, wird man mit Hunden gehetzt. Geht weiter, Euer Evangelium
-ist nicht für Arme.«
-
-Da zogen sie traurig von dannen und irrten in den Straßen umher und wagten
-nicht mehr in die Häuser einzutreten. Sie kamen an ein großes, großes
-Haus, das hatte einen Turm, der ragte bis in den Himmel hinein und aus den
-geöffneten Fenstern drang freundlicher Lichtschein von vielen Lichtern,
-Orgelklang und Gesang von vielen frommen Stimmen; sie schlüpften hinein
-und standen in einer Kirche voll frommer Menschen und vor dem Altare stand
-eine Krippe, darin lag ein kleines Kindlein, nackt, wie sie selber, mit
-einem goldenen Krönchen auf dem Haupte.
-
-Und sie liefen hin und freuten sich und wandten sich zum Volk und
-verkündeten mit lauter Stimme das neue Evangelium; denn sie dachten, hier
-wäre es gut und fromm und hier würden die Menschen auf sie hören.
-
-Kaum aber hatten die von einer neuen Religion vernommen, da erhob sich ein
-böses Geschrei und wütendes Toben, und an der Spitze der Mann, der an der
-Krippe des Jesukindes schöne Worte gesprochen hatte, und:
-
-»Neuerer, Ketzer! steinigt sie, treibt sie hinaus!« -- riefen sie.
-
-Ach, die armen Sonnenkinder, sie wußten nicht, wie ihnen geschah, als sie
-plötzlich draußen vor der Kirchenthür sich befanden, die krachend hinter
-ihnen zufiel.
-
-»Ach wären wir im Traumland,« seufzten sie, »unter Blumen und
-Vögelein, unter der Königin blauem Sternenmantel -- uns friert, ach so
-sehr.«
-
-Da, fern von der Stadt, begegneten ihnen zwei hohe, schlanke Gestalten, ein
-Mann und ein Weib -- die hielten sich eng umschlungen und von ihren Stirnen
-ging ein Leuchten aus, daß es die Kinder wundersam durchschauerte. Sie
-faßten Mut und gingen jenen entgegen und fragten:
-
-»Was thut Ihr hier draußen?«
-
-»Wir feiern Weihnachten,« sagten jene beiden lächelnd.
-
-»Ohne Baum und Menschen?«
-
-»Für uns allein; in unserem Herzen, denn die Menschen haben uns von sich
-gestoßen!«
-
-»Was thatet Ihr?«
-
-»Wir sprachen die Wahrheit und in unserem Herzem thronte die Liebe,«
-sagten jene beiden und ihre Augen leuchteten. »Das aber kann die Welt
-nicht dulden, es ist gegen ihr Gesetz, und darum haben sie uns von sich
-gestoßen.«
-
-Da sangen und jubelten die Kinder ihr neues Evangelium in alle Winde hinaus
-und der Mann zog sein Weib in seine Arme und sie lauschten der Lehre
-von der Wahrheit und der Liebe, die die Kinder der ewigen Sonne und der
-Phantasie ihnen predigten.
-
-Da aber kam der Wind und trug die Sonnenkinder über die Wolken ins Land
-der Träume.
-
-Und wie sie der schönen Mutter ihre Leiden, ihren Kummer und ihre
-Seligkeit vertrauten, da weinte sie goldene Thränen und sie fielen in die
-Herzen jener seligen Menschenkinder, die die Welt von sich gestoßen hatte.
-
-Die Elfen und Gnomen und die Vöglein alle, das lustige, leichtlebige Volk,
-tanzten und jubilierten, und nur der große Uhu saß im Eichbaum, unter
-dem die Sonnenkinder wieder schliefen, unter Blumen zugedeckt, und knurrte
-prophetisch:
-
-»Zu früh, viel zu früh, die Welt ist noch nicht reif für das Evangelium
-der Liebe und Wahrheit!«
-
-
-
-
-Schneeflocken.
-
-
-Die Schneeflocken haben Ball heute Abend. Hei! Wie sie sich schwingen in
-tollem Reigen da oben auf den Bergen, wie sie durcheinander wirbeln und auf
-und niederspringen, daß einem ganz schwindelig wird beim Hereinschauen.
-Und der Wind spielt ihnen auf dazu; er saust durch die Tannenwipfel und
-schüttelt die Kronen der alten Waldriesen, daß sie die Zweige pfeifend
-gegen einander schlagen; er braust durch die Schluchten und gellt durch die
-Felsenklüfte, daß es fast wie Hohngelächter klingt, er singt ihnen ein
-Nordlandslied, wild wie sein Brausen und Toben. Er singt ihnen von den
-eisigen Gletschern da oben im Norden, und von der Eisjungfrau, die da haust
-mit Augen, klar und doch unergründlich, wie der Bergsee; er singt, wie sie
-mit schrillem Lachen die weißen Arme ausbreitet und an den Schneewänden
-ihres Eispalastes rüttelt -- dann stürzen die Lawinen krachend zu Thal
-und begraben das Menschenvolk da unten. Von den lustigen Gesellen, den
-Eisbären, erzählt er, seinen Freunden, wie sie im täppischen Tanz
-umeinander sich drehen, fast wie riesengroße, weiße Schneeflocken,
-daß es gar komisch anzusehen ist; und von den Schiffen, die zwischen den
-Eisblöcken stecken, und den Menschen darauf, deren heißes Menschenherz
-langsam zu starrem Eise wird; von den flimmernden, glitzernden,
-funkelnden, kalten Sternen da oben am Himmel, die todesruhig lächelnd
-herniederschauen; von dem Nordlicht, das aufflammt mit trotziger Glut und
-der Eisjungfrau auf ihrem Gletscher einen rosigen Schleier überwirft,
-aus dem sie herauslächelt, fast wie ein Menschenbild -- so lockt sie
-die Menschen an, die kühnen Jäger, und sie steigen hinauf zu ihr, immer
-höher und höher, und sie winkt ihnen und lächelt süß, verheißend --
-und dann stürzt sie die thörichten Gesellen hinab, in die eisige Tiefe.
--- Hoiho! jauchzt der Wind, wild ist mein Nordlandslied! Wild, wie der
-Eiskönigin Lachen, wie der Lawinendonner! Und hoch empor wirbelt er die
-armen Flöckchen, bis sie sich ermattet an den Tannenzweigen festklammern.
-
-Da ist's gut ruhen; sie schmiegen sich eng an die Nadeln hin -- die
-flüstern und kosen mit ihnen, die wiegen sie hin und her und erzählen
-ihnen Waldmärlein: von dem naseweisen Tannenbäumchen, das gar nicht
-zufrieden gewesen damit, daß es im schönen grünen Wald gewohnt und die
-Füßlein im weichen Moos gebettet hat; gelangweilt hat es sich auf seinem
-heimatlichen Stückchen Erde und hat hinausgewollt in die weite, weite Welt
-und gejammert und geschluchzt: O Wind, nimm mich mit! O Quell, rausch' mich
-zu Thal!
-
-Da hat mit einemmal die Waldfee vor ihm gestanden im grünen Gewand und
-lockigen Haar, hat es mit den Blumenaugen angeschaut, mit den zarten
-Händen berührt und gesagt: »Geh', mein Bäumchen, reise zu Thal. --
-Sie werden Dir weh tun, Dich von Ort zu Ort schleppen, und doch bringst Du
-ihnen von den Bergen herunter die Sehnsucht mit -- den Tannenduft, damit
-sollst Du ihnen die Seele erfüllen, daß sie gut werden und sich freuen
-wie die Kinder.«
-
-Dann hat sie das Bäumchen geküßt und ist im Wald verschwunden. --
-
-Danach sind eines Tages zwei Männer gekommen und haben sich das
-Tannenbäumchen von allen Seiten angeguckt und zufrieden mit den Köpfen
-genickt. Dann haben sie ihre Pelzkappen zurückgeschoben und sich die
-Hände gerieben und die blanken Aexte genommen und haben die Füßchen der
-Tanne geschlagen, daß es durch den Wald gedröhnt hat, haben sie zur
-Erde geworfen, ihr einen Strick um den Leib gebunden und sie hinter
-sich hergeschleift über Stock und Stein, durch Schnee und Eis. Und das
-Tannenbäumchen hat leise vor sich hingeweint, und die großen Bäume auch;
-aber die Männer haben das nicht gehört, die meinten: Horch -- wie der
-Wind pfeift!
-
-So ist die kleine Tanne zum Weihnachtsbäumchen geworden, wie die Waldfee
-sagt -- denn da unten im Thal feiern sie Weihnacht -- --
-
-»Was ist das?« fragten zwei neugierige kleine Schneeflocken, die sich
-angefaßt hatten und mit ihren zarten, weißen Gliederchen auf den Zweigen
-der alten Tanne auf und nieder wippten.
-
-»Ja, was ist das!« sagte die alte Tanne, »Wintersonnenwende nennen
-wir's, und die Waldfee sagt: Jetzt wacht die Sonne auf und nun beginnt tief
-unten in der Erde das Keimen und Wachsen, bis es schließlich herauf dringt
-zu uns und die ganze Welt erfüllt. Aber da unten im Thal nennen sie's
-Weihnacht und sagen, die Liebe wäre ihnen geboren -- und dann schmücken
-sie das Tannenbäumchen mit vielen, vielen Lichtern und zünden sie an,
-daß man meint, der ganze Baum stände in Flammen, und läuten mit ihren
-Glocken dazu -- da -- hört Ihr's?«
-
-»Bim bam bum!« singen die kleinen Schneeflocken, »da möchten wir hin!«
-und sie bitten den Wind: »Wind, fahr' uns hinab!« -- Der breitet seine
-großen, weißen Schwingen aus, die beiden Flöckchen klammern sich mit
-ihren vielen Fingerchen daran fest und nesteln sich in ihren Zottelpelzen
-tief in die Fittige ein, und heidi! da ging's zu Thale.
-
-»Grüßt mir das Tannenbäumchen!« rief die alte Tanne ihnen nach -- und
-sie brummte in den Schneemantel hinein, der sich allgemach um ihre starken
-Glieder gelegt hatte: »Komisches Volk, diese Menschen! Mußte ihnen die
-Liebe erst geboren werden? Ist sie denn nicht so alt, wie die Welt steht?«
-
-Und dann schüttelte sie ihre Nadeln, daß die Schneeflocken, die schon
-darauf eingeschlafen waren, erschrocken in die Höhe fuhren.
-
-Die beiden neugierigen Schnee-Engelchen aber flogen zu Thal, und der Wind
-war bös und pfiff ihnen in die kleinen Ohren, daß es gellte: Puh -- da
-unten ist's schlecht. Was wollt Ihr bei den Menschen? Entweder sie ballen
-Euch zusammen und werfen sich mit Euch gegenseitig an die Köpfe, oder sie
-kehren Euch auf einen Haufen, daß ihr ganz schmutzig werdet und die Sonne
-Euch aufschmilzt -- umkommen thut Ihr jedenfalls!
-
-Doch da waren sie schon im Thal angelangt, vor einem großen, schönen
-Hause; das lag still und dunkel und allein. Nur aus einem Fenster
-schimmerte ein roter Schein, dahin flog der Wind, und sieh'! von dem
-Fenster her grüßte und winkte es den Flöckchen entgegen -- das waren
-ihre Basen, die Eisblumen, die an den Glasscheiben in die Höhe wuchsen
-und allerlei wunderliche Gestalten angenommen hatten, und die Flöckchen
-setzten sich zu ihnen und guckten in's Haus hinein. Da drinnen ist's
-prächtig: ein hohes, weites Gemach, und aus einem großen, weißen
-Marmorkamin flutet der rote Feuerschein drüber hin, über den Tannenbaum,
-der schön geschmückt und glänzend dasteht, über die vielen bunten
-Spielsachen und all die kleinen Figürchen, die da unter'm Tannenbaum ihr
-Wesen treiben.
-
-Die Eisblumen erzählten, wie schön es gewesen sei, als das
-Tannenbäumchen ganz in Flammen gestanden und die Kinder um es
-herumgesprungen wären und gelacht und getollt und gejubelt hätten. Dann
-haben sie die Lichter gelöscht und ein Duft ist durch das Zimmer
-gezogen, so würzig, so zart, so wunderstark, noch riecht's in allen Ecken
-darnach --
-
-Die Schneeflöckchen vergingen fast vor Sehnsucht nach all dem Schönen.
-Mitleidig verrieten ihnen die Eisblumen, daß ganz, ganz unten am Fenster
-eine schmale Ritze offen wäre, da könnten sie noch besser hineingucken,
-und vorsichtig kletterten die Flöckchen an den glatten Scheiben hinunter
-und nun stehen sie vor der Fensterritze -- -- --
-
-»Also, so sieht Weihnacht aus!« flüstern sie einander zu, »komm', wir
-wollen uns an die Händchen fassen und hineingehen und den Weihnachtsduft
-einatmen.«
-
-»Thut das nicht,« antworteten die Eisblumen, »Ihr seid Kinder der Luft,
-Ihr gehört nicht zu denen dadrinnen -- Ihr werdet hinsterben vor Sehnsucht
-zu ihnen.«
-
-Aber die Flöckchen hörten nicht auf die Erfahrenen; sie zogen sich
-ihre kleinen Schneemützchen über die Ohren, damit sie auch hübsch kalt
-blieben und schlüpften durch die Fensterritze. -- Da schlug's Zwölf.
-Das kleine Männchen in der bunten Uhr, die auf dem Kaminsims stand,
-kam zwölfmal herausspaziert und beim letzten Mal nahm es seinen kleinen
-Dreimaster ab und verbeugte sich und sagte: »Meine Herrschaften, die
-Geisterstunde hat geschlagen!« --
-
-Dann verschwand es wieder in seinem Glashäuschen, und klirrend schlug die
-Thür hinter ihm zu.
-
-Nun begann ein wunderliches Wispern und Tustern in allen Ecken und Winkeln
--- alles im Zimmer wurde lebendig und es war plötzlich ein Stimmengewirr
-wie beim Turmbau zu Babel. Alle die vielen Deckchen und Schleifen, die an
-den Stühlen und Lehnen herumhingen, fingen an, eine der andern Vorwürfe
-zu machen, daß sie sich immer den Menschen auf den Rücken setzten oder
-auf der Erde herumtrieben, und wurden so heftig dabei, daß sie sich
-schließlich gegenseitig mit sich selber bombardierten. -- Das Sofakissen
-wurde elegisch und machte der Schlummerrolle eine Liebeserklärung. --
-»Sie haben eine so schöne Gestalt!« sagte es, -- »von oben bis unten
-egal!« Und die Feuerzange beim Ofen wollte die Schaufel umarmen und kniff
-ihr dabei derb in die Nase. Die kleinen Sèvres-Figürchen auf dem Kamin
-schürzten ihre Rokokokleidchen zum Tanz und der Nußknacker, der in der
-Uniform eines Gardelieutenants auf dem Weihnachtstische stand, klemmte sein
-Monocle ins Auge, näselte: »Charmant, auf Taille!« und klappte seine
-Kinnladen mit einem gefährlichen Ruck wieder zu. Dieser Nußknacker war
-überhaupt ein Don Juan; just hatte er der niedlichen kleinen Puppendame,
-die in Balltoilette auf einem rotsammetenen Lehnstuhl saß, versichert,
-sie sei seine erste und einzige Liebe, und nun warf er der porzellanenen
-Schäferin da oben Kußhände zu und entschuldigte sich damit, daß es ja
-Weihnachten sei.
-
-Da entdeckte er plötzlich die beiden kleinen Fremdlinge, die sich in ihren
-weißen Schwanenpelzchen scheu in die Fensterbank gedrückt hielten.
-
-»Das ist ja etwas sehr Niedliches!« Und der Lieutenant klemmte seine
-Monocle ein und beeilte sich, mit allersteifsten Gardebeinen durch den Saal
-zu marschieren.
-
-»Premier-Lieutenant Knack von Mandelkern, I. Rrrment, Bleisoldaten
-zu Fuß,« schnarrte er und schlug die Hacken aneinander, daß unsere
-Schneeflöckchen erstaunt seine Füße anguckten. -- »Damen fremd hier? --
-äh -- dürfte Ehre haben, Chaperoneur zu sein?«
-
-»Ach,« sagten die Flöckchen schüchtern, »wir gehören hier eigentlich
-gar nicht her -- wir sind nur hereingekommen -- wir wollten gern wissen --
-können Sie uns vielleicht sagen, was Weihnacht ist?«
-
-»Wa -- wa -- was -- Weihnachten?« Dem Herrn Gardelieutenant fiel vor
-Erstaunen das Monocle weg, ohne daß er erst dazu eine Fratze zu schneiden
-brauchte, und sein Nußknackermund blieb ihm offen stehen, worüber die
-Flöckchen so erschraken, daß sie aufsprangen und von der Fensterbank auf
-die Erde flogen.
-
-»Weihnachten? -- Weihnachten ist Weihnachten,« brummte Lieutenant Knack
-von Mandelkern entrüstet, nachdem er vorher seinen Mund wieder zugeklappt
-hatte -- dann klemmte er das Glas wieder ein und sah den Flöckchen nach
--- »nette Pusselchen -- aber noch sehr jrün -- die reene Unschuld vom
-Lande.« -- --
-
-Die Schneeflöckchen aber waren geradewegs auf ein schönes Buch mit
-Goldschnitt gesunken, das vom Tisch auf die Erde gefallen war -- auf dem
-stand mit großen bunten Lettern als Titel gedruckt: Weihnacht und unsere
-Vorfahren! Das sprach jetzt mit gewählten Worten: »Was Weihnachten ist,
-wünschen Sie zu wissen, meine Lieben? -- Sehen Sie mich an.« Und dabei
-schlug es sich auf und begann zu lesen: »Schon zur Zeit Winfrieds, des
-hl. Bonifacius, des großen Heidenbekehrers, feierten unsere Altvordern,
-beseelt von einem dunklen Drange, der sie zur Verehrung eines unbestimmten
-Etwas antrieb, im Winter, unter Schnee und Eis, ein Fest.«
-
-»Altes Buch, schweig' doch still! -- Hüh! Hoh! Wollt Ihr wohl laufen, Ihr
-faulen Tierchen!« klang es da unter dem Tischdeckenzipfel hervor, und als
-die Schneeflöckchen, die sich große Mühe gaben, die weisen Worte des
-Buches zu verstehen, sich umschauten, kam pfeilgeschwind eine
-drollige kleine Equipage herangesaust, schnurgerade über das gelehrte
-Goldschnittbuch hinweg, das sich voller Entrüstung erhob und mit Würde
-von dannen wandelte. -- In dem von sechs weißen Mäuschen gezogenen
-Wägelchen stand ein kleiner nackter Junge, mit Flügeln an den Schultern
-und einem Bogen in der Hand, und sang und jubelte in die Welt hinein. Der
-hat auf einer schönen Dose gesessen, in der allerlei bunte, glänzende
-Steine und Goldsachen blitzten, und als der alte Herr in der Uhr die
-Geisterstunde verkündete, da ist er heruntergesprungen und hat sein
-lustiges Wesen getrieben.
-
-Ei, wie ihn die Rubinenaugen des Schlangenarmbandes anfunkelten, und so
-viel die Schlange auch nach ihm mit dem Goldzünglein gezischelt, -- »ich
-bin die Schlangenkönigin,« sagte sie, »ich ringele mich um weiße Arme,
-weiße Nacken, ich ringele mich bis ins Herz hinein und bringe ihm den
-Schlangenzauber, dem niemand wiedersteht,« -- es half ihr nichts: das
-kecke Bürschchen schlang sie sich um die kleine weiße Brust, und die
-Rubinenaugen funkelten ihm von der Schulter herunter.
-
-»Pah!« lachte er, »mein Pfeilgift ist viel stärker als Deins, -- Du
-kannst mir nichts anhaben.«
-
-Nun setzte er sich in die große Walnußschale, die ihm der Nußknacker
-geschenkt hatte dafür, daß er der niedlichen Rokokodame einen Pfeil ins
-Sèvresherzchen geschossen.
-
-Aber er hatte keine Pferde zum Vorspannen. Da war er auf den
-Weihnachtstisch spaziert, wo die heilige Krippe aufgebaut war, und hatte
-den hl. Joseph um das Oechslein und das Eselein gebeten, sein Wägelchen
-zu ziehen; aber der hl. Joseph hatte die Hände über dem Kopf
-zusammengeschlagen über solch ein Ansinnen, obgleich Mutter Maria mit dem
-Kindlein auf dem Schoß ihre Freude an dem kecken Gesellen gehabt hatte.
-
-Da war er den hl. Drei Königen aus dem Morgenlande entgegengegangen,
-die gar bedächtig mit prächtigem Gefolge heranmarschiert kamen.
-»Majestät,« sagte das Gesellchen höflich, »dürfte ich vielleicht
-eines Ihrer Kamele für mein Wägelchen benutzen? -- Sie haben ja deren so
-viele.«
-
-Aber der schwarze Balthasar, der Mohrenkönig, fletschte ihm seine weißen
-Zähne entgegen, und Kaspar und Melchior hielten ihm das Weihrauchfaß mit
-Myrrhen unter die Nase, daß er niesen mußte -- da sprang er davon und bat
-den Tannenbaum, und der schenkte ihm sechs kleine, weiße Zuckermäuse, die
-an seinen Zweigen hingen.
-
-Nun hielt er mit seinem flinken Gespann vor den Schneeflöckchen und
-lachte: »Ach, was seid Ihr für herzige Dingerchen. -- Gleich möchte
-ich mit meinem Goldpfeil durch Eure Schwanenpelzchen in die Herzchen
-hineinschießen. Kommt, steigt ein -- wir fahren zum Weihnachtsball in
-die Puppenstube; da tanzen Sie gravitätisch und mit Anstand ein würdiges
-Menuett und sind brav und gesittet -- aber Ihr sollt 'mal sehen, was ich da
-für einen Wirrwarr anrichte.«
-
-Den Schnee-Engelchen gefiel zwar der kleine Bursche sehr gut, aber sie
-schüttelten doch die Köpfe, daß die Pelzkapuzchen hin und her wackelten.
-
-»Ach nein,« sagten sie, »hier können wir nicht tanzen -- hier ist es
-uns viel zu warm. Wir sind auch nur hereingekommen, um zu lernen, was wohl
-eigentlich Weihnacht ist.«
-
-Da setzte sich das Gesellchen auf den Rand seiner Nußschale, schlug
-ein Bein über das andere und legte simulierend den Finger an das kecke
-Näschen:
-
-»Ja, sehen Sie, meine kleinen Engelchen -- das ist eine kuriose
-Geschichte. Da unter dem Weihnachtsbaum liegt ein kleines, nacktes Kindchen
-in einer Krippe, dessen Geburtstag feiern sie, und sie sagen, er sei der
-Gott der Liebe. -- Nun aber hat mir mein heidnischer Vater im Olymp -- ich
-bin nämlich ein Heide, mein Name ist Amor -- immer gesagt, ich wäre der
-Gott der Liebe, und ich wäre, trotz meiner Jugend, so alt wie der Olymp
-und die Welt und das große, große Meer selber. -- Da muß also irgendwo
-eine Verwechselung sein. -- Ich schlage vor, wir feiern das ganze Jahr
-Weihnacht und halten mein Schwesterchen Freude, wenn sie davon fliegen
-will, am Gewandzipfel fest. -- Ich kehre mich so wie so nicht viel an die
-Jahreszeiten -- meine Pfeile fliegen das ganze Jahr durch, und die Küsse
-sind immer am süßesten, wenn sie geküßt werden.« -- Und dabei breitete
-der kleine Schlingel die Arme aus und wollte die hübschen Flöckchen
-küssen; die aber faßten sich an die Hände und flogen ihm davon,
-geradeswegs auf die Tanne zu und klammerten sich an ihre Zweige fest und
-schaukelten sich und sangen:
-
- Von den Bergen, wo der Wind,
- Wo die Tannenschwestern sind,
- Sind wir hergeflogen,
- Sind wir hergezogen --
-
-Sag' uns, was ist Weihnacht?
-
-Da ging ein Leben durch die Zweige der Tanne, all' das Rauschegold, mit dem
-sie geschmückt, knisterte und raschelte, die Krystallkugeln klirrten --
-stärker denn je dufteten die Tannennadeln, und horch! mit dem Tannenduft
-ziehen Sehnsuchtslaute durch den Saal:
-
-»Ach, meine Flöckchen, wohl bin ich geschmückt, wohl trage ich
-eine Krone, wohl habe ich geflammt in vieler Kerzen Schein -- für die
-Weihnacht. -- Aber gebt mir die Wintersonnenwende wieder, laßt
-mich umbrausen, umtosen vom Wind, laßt den ersten Sonnenstrahl mich
-umschmeicheln und mir ins Herz hineinlachen. -- Nehmt mir Alles dafür hin!
-
-Was die Weihnacht ist?
-
-Kummer und Trübsal, und Haß und Neid und Mißgunst, und Heuchelei und
-Geldstolz -- das ist Weihnacht unter den Menschen; und zum Hohn nennen
-sie's das Fest der Liebe! Schneeflöckchen, wenn Ihr die Liebe sucht,
-fliegt nimmer zu Thal. Und eines doch: Wenn das Kinderauge uns anlacht --
-wenn wir in seinem reinen Glanz uns spiegeln, wenn die Kinderärmchen sich
-nach uns ausstrecken, die Kinderstimme uns anjauchzt --«
-
-Da öffnete sich leise, leise die Thür, und auf der Schwelle stand ein
-Kindchen und blickte verschlafen um sich und strich sich die blonden
-Härchen aus dem heißen Gesicht. -- Nicht schlafen konnte das Kind vor
-Freude über Weihnacht, und es hatte ein Geraune und Geflüster gehört
-neben dran und war aufgestanden, ganz leise, daß es die Eltern nicht
-gestört, und schlich mit den bloßen Füßchen über den Teppich hin, und
-stand mitten unter dem lustigen Volk. --
-
-Aber da schnarrte die Uhr und das alte Männchen kam wieder herausspaziert
-und sagte mit dumpfer Stimme: Eins! und nun war alles wieder still und
-stumm und leblos, wie es vorher gewesen. Nur die Schnee-Engelchen konnten
-nicht so schnell zum Fenster hinfliegen -- da erblickte sie das Kind:
-»Das sind die Engelein vom Himmel,« jauchzte es, »Tanne, die hast du mir
-mitgebracht!«
-
-Und mit beiden Armen griff es nach den Flöckchen und preßte sie an sich
-und drückte und herzte sie -- ach -- und da vergingen sie ihm unter den
-Händen, und das Kind betrachtete verwundert seine leeren feuchten
-Aermchen -- da schlich es betrübt in sein kleines Bett und weinte, weinte
-bitterlich.
-
-Aber die Tannennadeln, die sich in seinem Kraushaar gefangen hatten
-beim Spielen, die neigten sich an des Kindes Ohr und erzählten ihm vom
-Tannenwald und dem Wind und der Schneeflöckchen-Reise, das ganze Märlein,
-da schliefs Kindchen ein.
-
-Und wann es aufgewacht ist, und wieder und wieder aufgewacht, und größer
-und älter geworden, wann die Wintersonnenwende ihm gekommen ist, da zieht
-ihm, dem großen Kind, zu Weihnacht mit dem Tannenduft immer wieder
-das Märchen durch die Seele -- das Märchen von den Schneeflocken, die
-ausgezogen, die Liebe zu suchen, und an der Liebe gestorben sind.
-
-
-
-
-Das Märchen von der weißen Stadt.
-
-
-Es lag ein Mensch zu sterben. Der hatte all seine Gedanken, all seinen
-Willen hergegeben, die eine große That seines Lebens zu vollenden. Aber
-der Griffel entsank seiner Hand, und die Seele entfloh dem Leibe. Es hatte
-dieser Mensch die Fluten sehr geliebt. Er konnte stundenlang am Ufer des
-Sees sitzen und die blauen Wasser betrachten, wie sie kamen und gingen,
-immerzu, immerzu; und aus den Wassern sahen ihn seine Gedanken an. Als
-seine Seele nun ohne Körper umherirrte, da kamen die Luftgeister
-und trugen die Menschenseele hin über den See. Aus ihren wehenden,
-silbergrauen Gewändern troff es wie Nebel zum Wasser nieder, und ein
-leiser Wind bewegte die Fluten, daß sie sich kräuselten. Oben auf
-den Wogenkämmen schaukelten die weißen Leiber der Seejungfrauen; sie
-streckten die Arme aus nach der Seele des Menschen und zogen sie hinab in
-die weichen, wiegenden, schmeichelnden Gewässer. -- Drunten in der Tiefe
-saß der Seekönig und hielt Hof. Er war ein kleiner Mann mit starken Armen
-und langem, weißem Bart. Auf dem weißen Haupte trug er eine Krone von
-hellroten Korallen; die hatte ihm sein Vetter, der Meerkaiser, geschickt,
-aus Anerkennung, weil der kleine Seekönig manchmal seine Gewässer mit
-den starken Armen so aufrührt, daß viele Schiffe und Menschen umkommen
-müssen, gerade wie auf dem Meere. Denn die Meerleute mögen es gern, wenn
-Menschenkinder zu ihnen hinuntersteigen müssen. Sie stellen die weißen
-Körper in ihren wundersamen Meergärten auf, wie wir die Marmorstatuen.
-Die Menschen können nicht leben bei ihnen; nur wenn einer die Fluten sehr
-geliebt hat, dessen Seele gleitet des Nachts in den Wellen als weißer
-Schaum. Kommt ihn aber die Sehnsucht an, den Tag zu sehen, und es berührt
-ihn die Sonne, in deren Licht er geatmet, dann muß er für immer zur
-Leiche werden. --
-
-Der kleine Seekönig hielt also Hof. Sechs große Räte mit wunderlichen
-Fischgesichtern saßen im Kreise um ein großes Blatt Papier, das ganz bunt
-vor lauter Strichelchen und Pünktchen aussah; vier dicke Büffelfische
-trugen es auf ihren Rücken, sie hielten es fischchenstill; nur zuweilen
-zuckte einer mit dem beweglichen Schwanz oder pustete die Kiefern auf
-und zu, als ob er Wasser rauche; und dann zupfte ihn der Herr Rat mit dem
-Karauschengesicht mahnend an den Flossen, worauf er gehorsam still hielt.
-Die Menschenseele, die als zarter, weißer Schaum auf der Schulter der
-Seejungfrau lag, sah neugierig das weiße Papier an; es kam ihr so bekannt
-vor. Das hatte sie schon gesehen, als sie noch Mensch war. Es war ihr,
-als müsse sie eine Hand danach ausstrecken. -- »Still!« flüsterte die
-Seejungfrau, »gleich wirst du hören.« -- Und dann sagte der Seekönig:
-
-»Die Menschen da oben auf der Erde machen uns alles nach. Gerade wie wir
-zuweilen Besuch bekommen von den Bewohnern anderer Seen und Meere, die dann
-allerlei Kostbarkeiten mitbringen, um sie uns zu zeigen, so macht es das
-Volk da oben auch. Nur sind sie sehr arm. Während wir alle die
-fremden Seltenheiten und unsere eigenen dazu, einfach in unserem ewigen
-Krystallpalast aufstellen, müssen die sich erst Häuser dazu bauen. Und
-das Bauen -- welche Umständlichkeit! Erst kommt einer und denkt sichs aus
-und zeichnet es auf, und dann geht es an viele Leute, die alle etwas zu
-mäkeln und zu ändern haben. Schließlich soll es dann wirklich gebaut
-werden, aber wie lange das alles dauert, dazu habe ich nicht Zeit genug,
-das zu erzählen. Seht, da hat auch so ein armer Mensch mit kurzem
-Gedächtnis seine Gedanken auf das Papier geschrieben; ein guter Mensch,
-der uns sehr geliebt hat. Denn er hat gesagt: »Wenn ich meinen See nicht
-hätte! Der muß das Beste thun.« Und dann hat er unsere Fluten überall
-eindringen lassen in seine Pläne, damit wir seine Paläste wie mit
-Silberarmen umschlingen und ihre Schönheit wiederspiegeln. -- Dann ist
-er gestorben. -- Und jetzt werden andere kommen und seine Pläne zunichte
-machen und uns vielleicht einengen und tyrannisieren. Wollen wir das
-dulden? Nein!« rief der Seekönig und hob die starken Arme, daß oben
-die Wellen klatschend gegen das Ufer schlugen. Und die Räte schüttelten
-heftig ihre Fischköpfe. Die Seejungfrau lächelte der horchenden
-Menschenseele zu. --
-
-»Kommt herbei, ihr Seevolk, und hört, was ich euch sagen werde,« fuhr
-der Seekönig fort: »Die Luftgeister, unsere Freunde, haben dieses Papier,
-das der tote Mensch mit seinen Gedanken beschrieben und dem Großen Rat
-da oben auf der Erde vorgelegt hat, aus seinen Händen weg und zu uns
-herabgeweht. Schwimmt, ihr Fische, bis ans Meer, lasset die im Meere es
-weitertragen zu den Geistern der Völker an der andern Seite des großen
-Wassers, wie das Seevolk der Menschenseele Werk erfüllen will.« -- Da
-schlugen die vier Büffelfische mit dem Schwanz unter das Papier, daß es
-auf in die Wellen flog; die fischköpfigen Räte griffen entsetzt danach:
-»Erst sehen, sehen!« Aber der kleine Seekönig lachte, daß es ein
-Seebeben gab, und zerriß das Papier in tausend Fetzen: »Wir sehen nicht
--- wir bauen!« sagte er.
-
-»Siehst du?« lächelte die Seejungfrau und neigte ihr Antlitz der
-Menschenseele zu, »jetzt werden deine Gedanken, die du ins Wasser
-hineingeträumt hast, doch wirklich. Ich habe dich oft gesehen, habe vor
-dir geschaukelt, wenn du dachtest, es seien die weißen Wellenkämme. Ich
-hätte dich mir geholt -- ach so gern! Jetzt bist du bei mir. Die Menschen
-denken, sie haben dich begraben; aber ich halte dich in meinen Armen --
-ewig. Du darfst nicht hinaufschwimmen und dein Werk beschauen, nicht so
-lange die Sonne scheint. Dann würdest du zur Leiche. Ich will nicht, daß
-dich die Schwestern in ihre Gärten stellen. Ich will dich behalten -- für
-mich.« -- Dann glitt sie zum Seekönig hin und schmeichelte: »Väterchen,
-mach' es recht schön!« -- Er aber streichelte ihr langes Haar, das
-glänzte wie Sonnenstrahlen auf dem Wasser, und sagte ernsthaft: »Du
-darfst die Menschenseele hüten, daß sie uns nicht entflieht; denn nur
-durch sie können wir das Große vollenden.«
-
-Nun beginnt die Arbeit. Ei, wie flink die Fischlein dabei sind, das blaue
-Wasser zu kommandieren, daß es in langen, glänzenden Streifen zwischen
-grünen Inseln sich durchzwängt, alles Land verschlingend, das ihm im
-Wege ist, daß es unter wölbende Brücken sich duckt und schmeichelnd zu
-Füßen schlanker Säulenhallen sich schmiegt. Und die Nixen kommen und
-spielen mit den Fluten, daß sie in glitzernden, schillernden Farben zu den
-Luftgeistern emporsprühen. Wie geschickt die Gnomen und Kobolde Stein auf
-Stein, Bogen an Bogen zu fügen wissen, daß es sich erhebt aus der Tiefe
-des Sees -- eine weiße, wundersame Wunschstadt. Da tauchen Türme auf mit
-seltsam zackigen Verzierungen; ein kleiner Nix sitzt darauf und lehrt sie
-allerlei alte Weisen mit seiner Glockenstimme, und nun singen die Türme
-sie weiter. Hier schwimmt eine schneeweiße Rotunde mit lauter kleinen
-Fensterchen rundum; und die Fische leiten das klare Wasser hinein und
-tummeln sich darin. Und still und groß und schön wächst es und wächst
-es, schier in die Ewigkeit hinein. -- In einer großen Muschel, davor
-sechs buntscheckige Forellen geschirrt sind, durchzieht der Seekönig die
-Wasserkanäle, mit scharfen Augen Umschau haltend. Hier zwickt er ein paar
-faulen Weißfischen aufmunternd die platten Schwänzchen; dort schilt
-er zwei streitlustige Hechte, die beide denselben Riesenpalast errichten
-wollen und ihn dabei unsanft hinfallen lassen. Ein energisches Nixlein ruft
-er herbei als Oberaufseher, und das lenkt mit seinen weißen Fäustchen die
-störrischen Gesellen wie ein paar gutmütige Oechslein. -- -- Als
-aber der Seekönig sieht, wie alles gut ist, taucht er unter in seine
-Schatzkammer, füllt seine Muschel mit Gold, so viel sie tragen kann,
-schüttet es am Ufer aus und befiehlt: »Da -- krönt das Ganze damit! daß
-die Kuppel weithin leuchte wie eine Sonne!«
-
-In der Tiefe des Sees ruht die Seejungfrau, regungslos, daß sie die zarten
-Fäden nicht zerreiße, die von dem weißen Schaum an ihrer schönen
-Brust aufsteigen zu dem Werk da oben. Und die Menschenseele harret der
-Vollendung.
-
-Da wallt ein Zug daher über das Wasser. Nebelschleier spinnen ihn ein,
-daß er wie eine Wolke über dem See schwebt, und er zieht eine Bahn,
-silbern wie der Mond auf dem Wasser liegt. Schweigend klimmt er das Ufer
-hinan, wo droben der Seekönig seiner harrt, und über ihm schwebt
-die goldene Kuppel wie eine große Krone. -- Nachts, wenn die Menschen
-schlafen, ergeht sich das Wasservolk oftmals am Ufer und pflegt Zwiesprache
-mit Mond und Sternen. -- Voran im Zuge schreiten Patres mit fahlen
-Gesichtern in schwarzer, spanischer Mönchstracht. Sie tragen gewaltige
-Lasten auf ihren Schultern: Türme und Türmchen, spitze und runde,
-Mauern so dick wie Gefängnismauern mit tiefen Kreuzgängen und
-schweren Wölbungen. Sie keuchen unter ihrer Last; ein lustiges, weißes
-Elfengesindel kommt neckisch gesprungen und weist ihnen den Weg unter
-hohen Bäumen, und hilft ihnen, das wunderliche Ding, das einem spanischen
-Kloster ähnelt, von den gebeugten Rücken abzuladen. Da richten sich
-die schwarzen Geister der Patres zufrieden auf, und sie bauen mit dem
-geschmeidigen Nixenvolk, dessen Listen sie wohl gewachsen sind, vergnügt
-weiter.
-
-Eine mächtige Gestalt schreitet auf dem Wasser; ein Gewand von Gold
-umstarrt sie; sie trägt einen goldenen Helm; golden leuchtet ihr strenges
-Antlitz daraus hervor. Siegesgewiß, siegesbewußt geht sie mit großen
-Schritten an dem Seekönig vorüber, ihm herablassend huldvoll zuwinkend.
-Der lächelt fein ihr nach, wie sie sich gravitätisch aufpflanzt inmitten
-all des Schönen -- ein wenig zimperlich, ein wenig ungelenk. »Laßt sie
-nur dastehen,« nickt er, »man wird schon sehen, daß es nicht unsere
-wirkliche Athene ist -- nur eine große, große, goldene, emancipierte
-Alte-Kunst-Jungfer.« -- Und dann streckt er freudig seine Hände
-den schlanken Gestalten entgegen, die aus dem Nebel sich loslösen,
-einherwallen in faltigen Gewändern, die sich feucht um die herrlichen
-Glieder schmiegen; und sie tragen auf den stolzen Häuptern die weißen,
-strahlenden, wundervollen Trümmer der Heimat. »Du Land der Sehnsucht!«
-flüstert der Seekönig. Sie lächeln ihm zu mit den schönen, traurigen
-Gesichtern. Sie pflanzen Säulen in die Erde, rein und schön, wie sie
-selber, sie breiten die Hände aus, und eine erhabene Harmonie lagert sich
-über der Wunschstadt. Sie erheben die kraftvollen Arme und sprechen: »Du
-lässest uns, o Vater Zeus, die Schönheit schauen, nicht zertrümmert,
-nicht zerschlagen, nein, in ihrer ganzen siegenden Gewalt.« -- Und
-demütig neigen die Karyatiden die stolzen Häupter unter der Last der
-Schönheit, die sie tragen.
-
-Wunderlich Volk zieht im Zuge einher, der übers Wasser wallt. Ein kleiner,
-nackter Bub, der nur einen Frack und Cylinderhut trägt für seine
-Blöße, bietet zierlich einer Rokokodame den Arm, die gar stattlich in
-Hackenschuhen und Reifrock mit einer Trikolore auf dem hochfrisierten
-Köpfchen einherstolziert: »Wir sind barock, nicht wahr?« nickte der
-kleine Schelm dem alten Seekönig zu. -- »Wir, Puck Amor und Dame la
-France!« -- In einem muschelförmigen Wagen, schimmernd von Gold und
-Edelgestein, kommt ein ernsthafter Mann. Er hat ein braunes Gesicht, aus
-dem seltsam überirdische Augen schauen, trägt nur einen schlichten,
-weißen Kaftan um die Hüften gegürtet, und doch neigt Seekönig sich
-tief vor ihm, und eine zarte, braune Elfe, schön wie des Gottes Bajadere,
-geheimnisvoll wie die Wunder Indiens, gleitet vor ihm her, ihm seinen
-Wohnort zeigend. --
-
-Und so kommen sie alle, die Geister der Völker, die der Seekönig
-entboten hat. Plumpe nordische Burschen tragen Paläste von plumper Pracht.
-Ernsthafte, blondköpfige Gesellen bringen ein seltsam Häuschen mit
-spitzragendem Turm, mit schönen Gewölben, durch deren bunte Glasfenster
-es lieblich leuchtet, wie eine Geistessonne. Zierliche, dunkeläugige
-Mädchen kommen im Tanz geflogen: ihre Gewänder flattern im Wind, sie
-streuen Rosen aus, duftende Rosen der Anmut. -- Seltsame Fahrzeuge gleiten
-im Nebel im Geisterzug. Unbeholfen, schwankend die einen. Schwarze,
-düsterblickende Gesellen stehen darin und blicken drohend hinüber zu dem
-schlanken Schiffchen, das, seinen Drachenkopf vorgestreckt, wie ein Renner
-durch die Fluten schießt, pfeilgeschwind, die andern weit hinter sich
-lassend. Wie nur das Schifflein die Hünengestalten seiner Mannschaft, die
-mit sehnigen Armen die Ruder führen, birgt in dem schlanken Rumpf?! Hoch
-richten sich die Gestalten auf, sie wachsen und wachsen, daß ihre Leiber
-dunkle Schatten werfen weithin über den See. Und sieh' nur -- wie
-die geisterhaften Schwarzen in den schweren Kreuzesschiffen zum Himmel
-hinaufragen, fanatisch glühen ihre Augen durch den Nebel -- der beginnt
-wunderlich zu leben, wogt und zerrt her und hin, bis er die Riesengestalten
-verschlungen hat. Dann gleiten Karavelen und Vikinger in glatte Buchten,
-gezogen von muntern Fischlein, gesteuert von weißarmigen Wassernixen.
-
-Da bebt der See. Hoch sprühen die Wasser auf. In den schäumenden,
-singenden Strudel steigt der Seekönig hinab in sein Reich, gefolgt von
-seinem fleißigen Volke. Drunten in der Tiefe ruht die Menschenseele.
-»Wann wird es vollendet sein?« fragt sie sehnsüchtig. »Es ist
-vollendet,« sagt der Seekönig. »Sobald der erste Sonnenstrahl die
-goldene Kuppel trifft, wird es den Augen der Menschen sichtbar sein.«
-»Und sichtbar bleiben? Immer?« fragt die Menschenseele. »Nur eine kurze
-Spanne Zeit hat das Wasservolk Macht über die Erde. Nur bis die Sonne
-in die Fluten sinkt und die Zauberwelt, die wir gebaut haben, mit sich
-hinabreißt. Aber wenn dein Seelenauge dein Werk erschaut, ehe die Sonne
-die goldene Krone bestrahlt hat -- dann wird es ewig sein. Dann aber wirst
-du sterben und dein Name wird vergessen werden unter den Menschen.« -- Die
-Menschenseele lächelte. Eng schmiegte sie sich an die atmende Brust der
-Seejungfrau.
-
-Droben, von der verschlafenen Erde, erhob sich die Nacht und zog ihre
-schwarzen Schleier schleppend hinter sich her, über den Himmel. Da ward
-es Licht auf der Erde. -- Es war aber alles noch den Augen der Menschen
-verborgen; denn die Menschen sind ein blödsichtig Geschlecht, und sie
-sehen nur, was ihre Augen ihnen zeigen. Aber die Tiere öffneten
-ihre klugen Augen. Die Vöglein in der Luft flatterten hin über
-die Wunschstadt, setzten sich neugierig auf die zackigen Türme und
-zwitscherten hernieder von den Stangen der bunten Fahnen. Die klugen
-kleinen Enten schwammen in den Wasserkanälen und erzählten schnatternd
-von dem Schloß der Wasserfrauen, das sich zur Nacht aus Busch und Schilf
-erhoben hatte. -- Verwundert blickte der Ackersmann, der mit seinem Gaul
-dahergeschritten kam, Furche auf Furche durch die wilde Erde zu ziehen,
-zu den Vöglein auf: wie konnten sie nur mit geschlossenen Flügeln in der
-Luft schweben, als ob sie auf Bäumen säßen? -- Und die zwei Reiter, die
-dort hintereinander über die Prärie jagten, sahen die Entlein auf dem
-hohen Präriegras schwimmen wie im Wasser. Aber sie haben nicht Zeit, sich
-lange zu verwundern -- da -- der gelbe Rücken des Puma taucht auf, den
-sie gejagt -- der Schuß kracht aus der Büchse des Trappers -- der Pfeil
-schnellt von dem Bogen des roten Mannes: gilt er dem König seines eigenen
-Landes? gilt er dem weißen Fremdling da vor ihm? -- Hoch richtet er sich
-im Sattel auf, daß die Adlerfedern in seinem schwarzen Schopfe nicken.
-Was ist das? -- da -- glitt nicht der Puma hinab in blaues, kräuselndes
-Wasser? Was ringt sich los aus den Nebeln? Das Roß des Trappers bäumt
-sich, geblendet schützt der Indianer die Augen mit der Hand, und späht
-und späht. -- Still lehnt der Ackersmann an seinem Gaul, sein Blick
-sucht die Erde, seine Erde, die er bebauen muß. Und sie schauen, wie es
-herauswächst aus dem Morgengrauen, weiß und still; wie es emporstrebt zum
-Himmel, eine wundersame, andere Welt, die sie mit erhabenen Augen anschaut,
-sie mit weißen Armen umfängt, sich wie weiße, stille, reine Gedanken in
-ihre Seele senkt. Wie sie stehen und schauen, umweht es sie lind und kühl
--- ein Hauch der Ewigkeit.
-
-Ein klein lustig Elflein aber zerrt den Puma, der verdutzt da kauert in
-der Wunderwelt, an den Ohren zu einem Marmorsockel hin. »Da lieg', du
-Wilder!« lacht es, und der Tiere König läßt willig sich in die Fesseln
-der Schönheit schlagen. --
-
-Horch! Es geht ein Brausen durch die Lüfte, ein Singen, Klingen, lieblich
-Geläute: aus dem Morgengrauen erhebt sich der junge Tag, und sein
-leuchtendes Auge weilt liebend auf dem weißen Wunder.
-
-Auf den blauen Fluten des Sees trieb ein zarter weißer Schaum. Ein
-Sonnenstrahl irrte zu ihm hin und küßte ihn bebend. Da ward er zur
-Leiche. Die Menschenseele war aufgestiegen aus den geliebten Wassern, um
-zu sterben. Der See bebt, als sei er in seinen Tiefen erschüttert. In den
-sprühenden Wogen aber taucht die Seejungfrau auf, an deren weißer Brust
-des Toten Seele geruht hat. Ihr goldenes Haar glitzert auf den Fluten.
-Klagend schlingt sie die weißen Arme um ihn, sein schönes, bleiches
-Antlitz über Wasser haltend. So gleiten sie dahin über die murmelnde,
-singende Fläche -- weit, weit hin, den weißen Tempeln zu. Und das Licht,
-das die Seele getötet, liegt liebkosend auf der stolzen Stirn. -- -- --
-
-Es kamen die Menschen und nahmen Besitz von der Wunschstadt in der neuen
-Welt.
-
-
-
-
-Welt-Ausstellung im Walde.
-
-
-Draußen im Wald flüstern die bunten Bäume miteinander und streuen gelbe
-und rote Blätter auf die braun sich färbende Erde, wie der Frühling
-Rosen streut; der Herbstwind rauscht und raunt in den Zweigen, und eine
-milde Herbstsonne glüht auf die Weinblätter am Eichenstamm, daß sie
-tiefrot schimmern, wie lauter Blutstropfen.
-
-Am träge über Kiesel und trockene Aeste dahin murmelnden Bächlein nickt
-ein grüner Zweig -- da leuchtet etwas Blaues auf, dann tönt ein Lockruf,
-sanft, zärtlich, dringend -- jetzt die Antwort -- noch etwas Blaues -- --
-Zwei Vöglein sind's: blaue Flügel schwirren durch die Luft, und zartgrau
-glänzt der Leib.
-
-»Was nur heute los ist!« sagte der eine Blauvogel zum andern, »keine
-Fliege, kein Käferchen läßt sich sehen, alle ziehen dort hinein in's
-Tannendickicht, und selbst die Mücken machen ganz ernsthafte Gesichter!«
-
-»Guten Abend, guten Abend, meine Herrschaften,« schnarrt es über ihnen.
-Da hängt am Baumstamm ein goldgelbes Vögelchen. Zu welcher Klasse es
-gehört, das weiß ich nicht (schlagt einmal in Nehrling's amerikanischem
-Vogelbuch nach), aber es hämmert in die harte Baumrinde, daß es durch den
-ganzen Wald schallt, und so wollen wir es kühn »Gelbspecht« titulieren.
-
-»Ja, ja, Sie haben Recht, es muß etwas im Walde sein bei dem kleinen
-Getier,« sagt der Specht, »ich habe schon dieselben Beobachtungen
-gemacht. Aber sehen Sie einmal da -- die Spinne!« An einem trockenen
-Zweiglein hängt eine große Spinne, eifrig beschäftigt, silberglänzende
-Fäden zu einem kunstvollen Netz zu verweben.
-
-»Was machen Sie denn da, Verehrteste?« fragt der Specht, als der
-Zudringlichste; denn die Blauvögelein haben etwas Schüchternes, sie
-mischen sich nicht gern in anderer Leute Angelegenheiten und sind nicht
-weltgewandt wie der Herr Gelbspecht.
-
-»Ich spinne,« sagt die Spinne ernsthaft.
-
-»Ja, das sehen wir,« entgegnete der Specht, »aber, meine Gnädigste, was
-spinnen Sie?«
-
-»Ein Netz,« sagt die Spinne.
-
-Die Blauvögel stoßen ein leises, glucksendes Lachen aus, und der Specht
-hämmert entrüstet gegen den Baum.
-
-Jetzt schlingt die Spinne einen letzten Knoten und krabbelt langbeinig
-davon: »Es muß fertig werden zur Ausstellung, die wird heute Abend
-eröffnet,« ruft sie zurück.
-
-»Ausstellung?« fragen die poetisch-unwissenden Blauvögel und schlagen
-verwundert mit den Flügeln. »Von was? Wozu? Davon haben wir noch nie
-etwas gehört.«
-
-»Ja, das glaube ich,« lächelt der Specht mitleidig, »Ihr schwebt
-ja immer in den Lüften und schwärmt für Sonnenuntergänge, düstere
-Waldpartien mit Lichteffekten und dergleichen Humbug. Ich weiß wohl, das
-Getier da unten auf der Erde hält eine Weltausstellung --«
-
-»O, da laßt uns hingehen,« jubeln die Blauvögel. »Aber wo ist sie
-denn?«
-
-In der Nähe erhebt sich plötzlich ein nimmer endenwollendes Geschrei,
-Gekrächze, Gejohle --
-
-Der Specht wiegt überlegend sein gelbes Köpfchen: »Wißt Ihr was? Wir
-wollen die Schwarzvögel fragen -- die wissen alles! Hört, wie sie
-reden und schnattern? Die haben wieder Kaffeegesellschaft oder Loge oder
-Gesangverein -- die ganze Eiche dort ist ja schwarz von lauter Staarherren
-und Damen, und wenn ihre Sitzungen vorüber sind, wissen sie alles, was im
-ganzen Walde passiert ist: wie viele Kinder die Madame Maus das letzte Mal
-zur Welt gebracht hat, und wie es auf dem Grashüpferball hergegangen ist,
-daß sie im Eichhörnchenturnverein sich fast geprügelt haben bei der
-Sprecherwahl und daß der Gesangverein der Locusts sich geeinigt -- --«
-
-»Gibt's nicht, gibt's nicht! Nee, so blau,« piepst ein unverschämter
-Spatz und fliegt dem Specht dicht vor dem Schnabel her in den nächsten
-Baum.
-
-Der aber beachtet den naseweisen Gesellen gar nicht und spricht ruhig
-weiter.
-
-»Ach, hören Sie auf, bitte, Herr Specht,« rufen die Blauvögel, »das
-ist ja wie ein ›Eingesandt‹ in der Zeitung!«
-
-»Aber Kaffernreligion,« lacht der Specht.
-
-»Seht, da kommt Ihr Bruder -- »Ober-Edel-Erz« angeflogen! Halt, den
-wollen wir uns kaufen!«
-
-»Oh, Herr Staar, wollen Sie nicht die Güte haben, sich hier ein wenig auf
-diesen bequemen Baum zu bemühen?«
-
-»Man muß immer höflich sein mit den Leuten, wenn man etwas von ihnen
-will,« flüstert der Schlaue den simplen Blauvögelchen zu, die vor
-Erstaunen den Schnabel aufsperren.
-
-Der Staar krächzt freundlich der Bitte Gewährung, läßt sich auf einem
-Ast etwas erhöht über den andern Vögeln nieder, wirft den Kopf in
-den Nacken und dreht und wendet sich, daß seine roten und gelben
-Logenabzeichen auf den Schultern in der Sonne schillern. Nachdem die
-Vorstellung glücklich vorübergegangen ist, bei der der Herr Staar
-herablassend den spitzen Schnabel gesenkt und die Blauvögelchen verlegen
-die niedlichen Köpfchen geduckt haben, erkundigt sich der Gelbspecht in
-den gewähltesten Ausdrücken nach der internationalen Ausstellung.
-
-»Jawohl, jawohl,« entgegnete Herr Staar würdevoll, »heute Abend ist
-Eröffnung. Es soll ja etwas Großartiges werden.
-
-Sehen Sie, meine verehrten Zuhörer, es geht ein neuer Zug durch den
-ganzen, alten Schlendrian, namentlich was Kunst anbelangt. Ich bin
-ein weitgereister Mann, ich höre und sehe mancherlei. Ein krankhaftes
-Verlangen nach etwas Neuem, Sensationellem, ein Hunger nach Aufregung, nach
-Vernichtung des Alten, Hergebrachten, zieht durch die ganze Welt. Und wenn
-sie auch auf Abwege geraten, in Irrtümer verfallen, das Falsche dem
-Wahren vorziehen -- es ist doch alles nur der durch Jahrtausende immer
-wiederkehrende und immer bleibende, große, unersättliche Durst nach
--- Freiheit, der Angstschrei der Völker, der zum stillen, hohen Himmel
-dringt. Und das macht sich auch in der Kunst bemerkbar -- -- ob zu ihrem
-Nutzen und Frommen? Und in der Musik, ja, in der Musik --« hier räuspert
-sich der Staar und blickt gen Himmel -- »ja, auch in der Musik gellt und
-dröhnt und paukt und trompetet jener Freiheitsschrei in die Lüfte, die
-Ohren der Zuhörer mächtig mit sich fortreißend. -- Nein, das geht
-ja nicht. Ich -- ich -- ich lasse mich immer so von meinen Gefühlen
-überwältigen, meine Lieben -- und« -- Ja, da bleibt der gebildete Staar
-stecken. Mit Gesichtern voll Ehrfurcht und inniger Verständnislosigkeit
-haben unsere Blauvögel die lange Rede angehört, während der Gelbspecht
-mit philosophischer Gelassenheit äußert: »Das mag alles recht schön und
-ersprießlich sein, verehrter Redner, aber so lange wie es genug Mücken
-und Fliegen in der Luft gibt und wie ich nach Herzenslust an den Bäumen
-herumhämmern kann, ist mir die ganze Wirtschaft furchtbar egal und um den
-allgemeinen Freiheitsdrang kümmere sich der Kuckuck!
-
-Vorläufig wollen wir aber einmal diese merkwürdige Ausstellung ansehen,
-wenn Sie, verehrter Herr Staar, uns gütigst führen wollen.«
-
-»Ja, ja,« rufen die Blauvögel und schlagen mit den Flügeln, und
-
-»Hier hinein, ins Tannendickicht, liebe Leute,« belehrt sie der Staar.
-Und dann fliegen alle vier davon. Der Zweig über'm Bächlein nickt
-gedankenverloren auf und ab, und das Bächlein murmelt und kichert dazu.
-
-Drinnen im Tannendickicht herrscht schon reges Leben, die Ausstellung
-scheint im vollen Gange zu sein. Ein geschniegeltes Mäuseherrchen, den
-Schnurrbart gewichst, die Oehrlein gespitzt, steht am Eingang als Portier.
-Der Eintritt ist frei -- wie nach Bellamy im Jahre 2000 bei den Menschen,
-gibt es im Tierstaate kein Geld -- und unsere vier Vögel flattern in das
-Dickicht.
-
-»Ah, guten Tag, Herr Mäuserich,« sagt der Staar, der alle Welt zu kennen
-scheint, »was macht die Frau Gemahlin? Hat sie sich vom letzten Wochenbett
-erholt?«
-
-»Schönen Dank, bester Herr Staar,« entgegnete der glückliche
-Mäusepapa, »alle zwölf wohlauf, aber es ist 'ne Last, die lieben
-Kinderchen großzuziehen.«
-
-»Können Sie denn das nicht per Elektricität besorgen lassen? Heutzutage
-sollte doch alles möglich sein -- Eier ausbrüten -- Kleinigkeit!
-Warum nicht auch Kinderfüttern, Kinderprügeln, Kinderkriegen etc.?«
-Mittlerweile hüpften sie weiter durch die verschlungenen Wege des
-Tannendickichts. Zwar sind die Plätze einiger Nachzügler noch unbesetzt,
-Vieles ist nicht ganz vollendet, wie ein halbfertiger Maulwurfshaufen
-z. B., ein Sprungbrett, eine angefangene Wendeltreppe für Eichhörnchen,
-ein prachtvoller Bau mit geheimnisvollen, unterirdischen Gängen, in
-welchen Kaninchen noch eifrig beschäftigt sind, zu graben, und dergl.
-mehr, aber im Ganzen scheint die Sache recht gelungen zu sein.
-
-Zwei wohlgenährte, etwas verschwiemelt aussehende Ratten, kleine Knüppel
-in der Hand, Mützchen von im Wald gefundenem blauem Butterbrotspapier
-über den dicken Nasen, eine weiße Sternblume auf der Brust befestigt,
-marschieren würdevoll und bedächtig als heilige Wächter der Ordnung oder
-Wächter der heiligen Ordnung umher. Und es ist auch nötig: das schwirrt
-und summt und brummt durcheinander, und hüpft und tanzt und zirpt, daß
-es wahrhaftig einer energischen Rattenpolizei bedarf, um das leichtfüßige
-Gesindel in Ordnung zu halten. Doch vor unserer Vogelgesellschaft bezeigen
-die Tierlein großen Respekt; sie halten sich in gewisser Entfernung
-und verneigen sich achtungsvoll, sobald ein Blick aus Vogelaugen auf sie
-fällt. Nur ein großer Hirschkäfer mit stattlichem Geweih nähert sich
-mit höflich-gemessener Verbeugung und bietet sich den hohen Herrschaften
-als Führer an, was mit Dank angenommen wird.
-
-»Sehen Sie, meine Hochverehrten, hier unser Kunstdepartement. Alles neu,
-noch nie dagewesen. Sehen Sie, dies Spinnengewebe« -- die langbeinige
-Spinne, die es vorhin so eilig hatte, steht daneben und begrüßt sie
-mit einem Auskratzen ihrer langen Spinnenbeine -- »wie fein, wie zart,
-geschickt die Fäden verknüpft! Und die fette, zappelnde Fliege darin,
-jeden Tag wird eine frische gefangen und hineingesetzt -- das nenne ich
-Naturalismus.
-
-»Schrecken der Hinterlist« ist es betitelt.
-
-Hier die noch lebende, schwer am Licht verbrannte Motte -- »Schrecken der
-Aufklärungssucht«.
-
-Jener Schmetterling, dem eine rauhe Menschenhand den Duft von den zarten
-Flügeln gewischt, nun kann er nicht mehr fliegen -- »Schrecken des
-Freiheitsdranges«. Ach, und noch so vieles Traurig-Schauderhaft-Schöne!
-Sehen Sie, die von Ameisen abgenagte Drosselleiche« -- die Vögel
-schütteln sich und machen unangenehme Gesichter -- »und der glänzend
-reine Katzenschädel« -- die Vögel nicken befriedigt mit den Köpfen, und
-der Gelbspecht macht eine Bewegung, als wolle er die leeren Augenhöhlen
-auspicken -- »wirklich eine recht sinnige Zusammenstellung.
-
-Bitte, blicken Sie hierher -- lauter Raritäten -- da, das so natürliche
-Loch in der Erde, hier eine kleine Blätterhütte, ein Einsiedler-Heimchen
-wohnt darin und zirpt bescheiden für sich allein, dort jene sorgfältig
-getrockneten Heuschreckenleichen, eine Reminiscenz aus dem großen
-Heuschrecken-Grashüpferkrieg. -- Und hier, bitte, sehen Sie einmal durch
-dies Loch im Tannendickicht -- nicht wahr, ein reizendes Panorama: im
-Hintergrund die Wolken als Schneeberge, davor ein einsamer, schwebender
-Rabe -- großartig, nicht wahr?«
-
-»Aeußerst großartig,« meint der Specht, »aber was stellt es vor?«
-
-»Es ist auch ein Kriegsbild: Eine vergessene Heuschreckenleiche!« (Frei
-nach Wereschagin.)
-
-Die Vögel sehen sich erstaunt unter einander an, suchen die Leiche und
-erklären, nun einmal etwas Anderes sehen zu wollen. Das gibt es ja auch
-in Hülle und Fülle für jede Geschmacksrichtung. Hier, ein Eiffelturm
-aus Eicheln, ein Eichhörnchen sitzt oben drauf, zeigt auf Kommando sein
-buschiges Schwänzchen und knackt Nüsse zur allgemeinen Belustigung,
-dazu marschieren allerliebste kleine Nagetierchen kauend durch die
-Zuschauermenge und bieten goldgelben Harz-Chewing-Gum als Erfrischung
-an. Da ist eine Grotte aus kleinen Tropfsteinen und Tannenzapfen,
-geheimnisvolles Dämmerlicht; einige Glühlichtwürmchen leuchten dazu,
-auf grauen, trockenen Blättern und Gräsern sind vorgestrige
-Regentropfen gesammelt, die schimmern wie Wasserfluten, und ein schlankes
-Grillenfräulein, die Grillenbeine mit Schleiern aus glänzendem,
-flatterndem Altweibersommer bewickelt, als Fischschwanz, bewegt sich
-rhythmisch hin und her und fährt mit den langen Vorderbeinen sich graziös
-über den Kopf, als kämme sie sich.
-
-»Was macht die da drinnen?« fragt der eine Blauvogel neugierig, während
-der andere starr vor Erstaunen dasteht.
-
-»Ich bin unten Melusine und oben Loreley,« sagt das Grillenfräulein,
-»denn ich habe einen Fischschwanz und kämme dazu mein goldenes Haar.«
-
-»Ja so,« sagt der Specht.
-
-Dicht daneben tanzen ein paar Grashüpferdamen Ballett auf einer Schaukel
-von Grashalmen, und springen so hoch, daß man sie kaum noch sehen kann,
-während auf der andern Seite ein paar Mäusejünglinge in grauen Tricots
-mit aus Nußschalen gedrechselten Bällen auf kunstgerechte Weise Baseball
-spielen.
-
-Dieser ganze Wirrwarr, der Lärm und das Getöse, dies Hin und Her,
-wirkt ungeheuer ermüdend auf die Nerven ungeübter Zuschauer, und unsere
-Blauvögel piepsen und flüstern miteinander, und fühlen sich recht
-ungemütlich.
-
-»Musik, meine Herrschaften, hören Sie unsere allermodernsten Vorträge,«
-ruft jetzt der Hirschkäfer. Alles stürzt nach einem hübsch mit
-Tannennadeln bestreuten freien Platz. Auf einem Tannenzapfen steht
-erhobenen Armes eine große Locuste, so eifrig gestikulierend, daß ihr die
-Augen vor den Kopf treten; und um sie her scharen sich allerlei musikalisch
-beanlagte Tiere. Nun gibt der Herr Kapellmeister das Zeichen, indem er
-seine Fühlhörner weit ausstreckt, und das Konzert braust durch das
-Tannendickicht. Sämtliche Grillen des Waldes zirpen so laut sie können,
-dazu schnarren die Locusts, pfeifen die Mücken, brummen die Käfer
-aller Art; die Kaninchen gebrauchen kräftig ihre Trommelstöcke -- ein
-Höllenlärm!
-
-»Ist das nicht herrlich?« fragt der Hirschkäfer unsere Vögel.
-
-»Sehr schön,« entgegnete der Gelbspecht, »nur etwas unverständlich.«
-Der Staar macht ein sehr gebildetes Gesicht, und die Blauvögel meinen
-schüchtern:
-
-»Es ist aber recht eintönig, und immer so dudelig.«
-
-»Das ist ja gerade das Schöne,« sagt stolz Kapellmeister Locuste,
-»sehen Sie, wie gut Sie es verstanden haben? Es war unsere Nationalhymne
--- der Moskito-Doodle!«
-
-Den Blauvögeln kam die Sache immer problematischer vor, und als vollends
-der Herr Mistkäfer mit der ganzen Familie auf sie zukommt und sie
-freundlich auch mit dem Nützlichen der Ausstellung bekannt machen will
--- die verschiedenen Blätterpräparate, wie Regenmäntel, Schirme und
-schützende Laubdächer und Haushaltungsgegenstände aller Art; ferner
-Delikatessen: Tauwein über Grashalme abgezogen, dazu Konfekt mit dem
-kuriosen Namen Fliegendreck, Misthäufchen, Schneckengelee etc. -- da
-fliegen unsere Blauvögel entsetzt kerzengerade in die Höhe und davon, und
-auch der Herr Staar, trotz seiner Gleichheitsideen, meint: »es wäre doch
-recht gemischte Gesellschaft, und überhaupt vertrüge sich die Heiterkeit
-dieser Ausstellung nicht mit seiner ernsten Geistesrichtung,« während
-Herr Gelbspecht übermütig erklärt:
-
-»Nein, mir gefällt es hier famos! Ich will erst den ganzen Schwindel
-sehen, und wenn mir die dicke, fette Fliege da morgen im Sonnenschein
-begegnet, so fresse ich sie auf vor lauter Liebe.«
-
-Hoch oben auf einer Berghöhe, von wo man weit über Baum und Strauch
-hinüberblickt -- dahin haben sich die Blauvögelein geflüchtet, und der
-Staar gesellt sich zu ihnen, weil er just nichts Besseres zu thun hat.
-Außerdem hält er die Blauvögel für recht belehrungsbedürftige Wesen,
-denen eine kleine Pauke über »die langsam sich vollziehende Umwälzung
-der Weltordnung« gar nichts schaden kann.
-
-Aber unsere blauen Waldvögelein werden hier oben in der Einsamkeit
-selber so beredt, daß dem wohlmeinenden Staar nichts übrig bleibt, als
-zuzuhören.
-
-»Blick' um Dich,« singen sie, »das ist unsere Ausstellung, das ist
-unsere Freude und die Freude der ganzen Welt. Sieh', wie die bunten
-Blätter die Bäume schmücken, wie die glührote Weinranke die dunkle
-Tanne zärtlich umfängt. Horch! _Unser_ Konzert! Wie das rauscht und
-flüstert in den Zweigen, wie der stürmische Herbstwind in den Blättern
-tost, und sieh', wie der schönfarbige Schmetterling die geliebten
-Herbstblumen umgaukelt! Und blick' um Dich: die Sonne geht zur Rüste, sie
-glüht und leuchtet noch einmal und dann sinkt sie in ihr zartes, graues
-Wolkenbett und vergoldet es mit ihrem Schein, und ein strahlender Rand
-zieht sich um die seltsamen Wolkengebilde. Ist das nicht schön? Ist das
-nicht herrlich!
-
-Und horch! da unter uns am Fuß des Baumes -- das sind Menschen! Ein
-seltsam Geschlecht -- kluge Gedanken und weiche Herzen -- Ich liebe sie,
-wenn sie zu Zweien im Walde wandern, wie diese hier. Hör', was sagen
-sie?« -- Ja, es sind Menschen -- ein Mann und ein Weib. Und durch des
-Mannes dunkles Haar ziehen sich Silberfäden, und auf des Weibes glatter
-Stirn hat das Leben zarte Furchen gezogen. --
-
-»Sieh', liebes Weib,« sagte der Mann, »diese frühen Herbstblätter
-in dem grünen Wald erinnern mich an meine weißen Haare, an Deine ersten
-Falten auf der Stirn. Ach, Kind, spät ist's schon im Leben, und jetzt erst
-lernen wir das Glück kennen!«
-
-»Liebster,« entgegnet sie, »sieh', wie die Sonne strahlend und
-liebkosend über die Baumstämme gleitet, wie alles noch einmal in voller
-Pracht glänzt, glüht und leuchtet -- zum letztenmal, ehe es Winter wird.
-So freuen wir uns jetzt noch einmal des Glückes und der Liebe, ehe _unser_
-Winter kommt. Liebster, wie schön ist die Welt und das Leben!«
-
-Da zieht der Mann das holde, ernste Weib an sein Herz und küßt die Falten
-auf der blassen Stirn, und das Gesicht des Weibes glüht und blüht nun,
-wie die Rose in ihrem Lebensfrühling.
-
-Sie sehen hinüber, bis die Sonne verlischt. -- Und die Vöglein lauschen,
-und der Staar meint:
-
-»Die verlangt's auch nicht nach Veränderung, und die denken auch, gerade
-wie ihr dummen, kleinen Dinger, das Leben sei doch schön. Merkwürdig! Und
-die Welt soll doch so schlecht sein, sagen sie im Verein für Freiheit und
-sittlichen Umsturz. Was ist nun wahr? Darüber muß ich auf einem einsamen
-Eichenwipfel etwas näher nachdenken.«
-
-Er spreizt seine dekorierten Flügel und fliegt von dannen. Blauvöglein
-aber locken in den Abend hinein und setzen sich dicht nebeneinander auf
-einen Zweig und plustern sich und träumen. Die sanfte Nacht kommt gezogen
-und breitet ihre schwarzen Fittiche lind über die müde Erde -- -- über
-selige, herbstliche Menschenkinder, über plusternde Blauvögelein und
-melancholische Staare -- ja, und über all das kriechende, sich duckende,
-hochmütige, aberwitzige Volk und den weltklugen Gelbspecht in der
-Weltausstellung im Tannendickicht. --
-
-
-
-
-Das Märchen von Einem, der auszog, ein Sonntagskind zu werden.
-
-
-Die braune Drossel saß auf einem hohen Baume im Garten und zwitscherte:
-»Es ist Sonntag heute. Der Sonntag sitzt mitten im Frühling und hat eine
-Krone von Blüten auf dem Haupte, und --«
-
-Weiter konnte man nichts hören, denn die Sperlinge, denen die Drossel das
-erzählte, piepsten und schrieen und zankten so durcheinander, daß die
-Drossel auf und davon flog. Was ging es auch die Stadtspatzen an, was die
-Walddrossel zu erzählen hatte!
-
-Die bleiche Frau Sehnsucht aber stand am geöffneten Fenster ihres Hauses
-und sah der Drossel nach. »Ach,« seufzte sie, »wer doch ein Sonntagskind
-wäre und verstehen könnte, was die Vögel singen! Ach, und wenn nur das
-Kind, das ich gebären werde, ein Sonntagskind würde, dann wollte ich gern
-glücklich und zufrieden sein.«
-
-Als aber ihre schwere Stunde kam, da war der lachende Sonntag noch nicht
-aufgestanden, und der stille Sonnabend lehnte noch an der kleinen Wiege mit
-großen, müden Augen. Er legte eine kühle Hand auf die Stirn des kleinen,
-roten, zappelnden Dinges, das mit geballten Fäustchen unter dem Deckchen
-herumarbeitete und mit Zornesfalten im Gesicht in die Welt hinausschrie.
-
-»Nur eine Viertelstunde zu früh,« seufzte die blasse Frau Sehnsucht, und
-zwei heiße Thränen fielen auf die geschlossenen Augen des Bübchens in
-ihrem Arm.
-
-Der kleine Bursche aber wuchs kräftig heran und wurde so stark, daß die
-ungezogenen Buben in der Nachbarschaft ihm gern aus dem Wege schlichen.
-Er stand an seiner Mutter Knie gelehnt und lauschte mit leuchtenden,
-wundersamen Augen, wenn sie von den Sonntagskindern erzählte, wie sie gar
-so klug sind und wissen, wie die Welt geht, und verstehen, was die Tiere
-sprechen, und wie sie den Wolkenflug deuten können. -- »Warum kann ich
-nicht jetzt noch ein Sonntagskind werden?« rief er zornig. Dann sprang er
-hinaus in den Garten und legte das Ohr auf die Erde, ob er nicht das Gras
-wachsen höre, wie ein richtiges Sonntagskind. Er hörte wohl ein zartes,
-leises Murmeln, aber ob es nicht die kleinen Käfer und Ameisen waren, die
-da raschelten, das wußte er nicht zu sagen. Er stand unter den Bäumen und
-hörte zu, was die Vögel sangen; es war ihm, als verstände er einzelne
-Worte, wie Sonnenschein, Glück, Blütenduft; aber er war doch nicht
-sicher, ob es ihm nicht sein eigenes Herz zugeflüstert hatte. Und weinend
-lief er hin zu seiner Mutter und trotzte: »Ich will doch ein Sonntagskind
-werden!«
-
-»Der Sonnabend leidet's nicht,« sagte Frau Sehnsucht traurig. »Und es
-war doch nur eine Viertelstunde!«
-
-»Es muß in den Büchern stehen,« sagte der Knabe, als er in die
-Schule ging. Und er lernte alles, was in den Büchern stand und wurde ein
-berühmter Mann. Von weit, weit her kamen die Menschen nach dem kleinen
-Häuschen der Frau Sehnsucht und wollten von dem jungen Gesellen Antwort
-haben auf ihre neugierigen Fragen, und er sagte ihnen alles. Aber insgeheim
-glaubte er selber nicht an das, was er ihnen so gelehrt auseinandersetzte;
-hatte er doch in keinem Buche Bescheid auf seine einzige Frage erhalten:
-Wie er es anfangen könne, ein Sonntagskind zu werden? -- Als nun eines
-Tages wieder einmal ein paar kluge Professoren kamen, die aber doch nicht
-so klug waren, wie er, und die spitzigen Zeigefinger an die spitzigen Nasen
-legten, und ihm die wichtige Frage stellten: Wie kommt es, daß der
-Mensch die Nase mitten im Gesicht hat? -- da fielen dem Gesellen seine
-Riesenkräfte ein. Er warf die Professoren mitsamt der ganzen Universität
-zur Thür hinaus, reckte und streckte sich einmal, that einen tüchtigen
-Jauchzer und sagte zur Frau Sehnsucht:
-
-»Mutter, jetzt ziehe ich in die Welt hinaus, dem Sonntag nach, und komme
-nicht eher wieder, bis ich ihn eingeholt habe.«
-
-Frau Sehnsucht legte ihre weißen Hände auf sein lockiges Haupt und
-küßte ihn. Dann schloß sie die schönen, traurigen Augen für immer.
-
-Der Geselle aber zog in die Welt hinaus. Er sah die goldene Sonne am Himmel
-stehen und er sagte: »O Sonne, güldene Sonne du -- ich suche, suche immer
-zu. Zeig mir den Weg, wohin ich geh', o Sonne, güldene Sonne du!« Aber
-die Sonne lachte ihn aus und antwortete nicht und ging weiter, immer
-weiter, bis er sie zuletzt gar nicht mehr sehen konnte. Da kam er in einen
-großen Wald, darin reichten die Bäume bis in den Himmel, seltsam große
-Blumen standen am Wege und sahen ihn an, und bunte Vögel flogen sprechend
-von einem Ast zum andern.
-
-»Sagt mir's, ihr Bäume, duftet, Blumen, rauscht mir's, ihr Winde,
-murmelt, ihr Quellen -- wie fange ich es an, daß ich ein Sonntagskind
-werde?« rief der Geselle.
-
-Da kicherte und lachte es an allen Ecken und Enden. Schelmische
-Mädchengesichter tauchten aus den Kelchen der seltsamen Blumen empor und
-nickten ihm lächelnd zu. An den Schlinggewächsen turnten winzige nackte
-Engelsbübchen, die warfen mit duftenden Blütenblättern nach ihm, und
-ein Rauschen und Raunen zog durch den ganzen Wald, daß der Geselle gewiß
-alles erfahren hätte, was er wissen wollte, wenn er nur eine Viertelstunde
-später auf die Welt gekommen wäre. Zuweilen war es ihm wieder, als
-verstände er ein paar Worte, und horch! klang's nicht im Windesrauschen,
-wie: Bis an's Ende der Welt? Kopfschüttelnd ging der Geselle weiter.
-
-Da wurde mit einemmal der Wald hell und licht; das kam von einem schönen
-Stern, der fiel vom Himmel nieder, und sieh' -- der Stern nahm Gestalt
-an, so schön und sanft wie die Mutter ausgesehen hatte, und seine Augen
-strahlten still und traurig, wie die der Frau Sehnsucht. Die schöne
-Sternenfrau aber sprach: »Ich will dir Antwort auf deine Frage geben. Gehe
-weiter, immer weiter, bis du ans Ende der Welt kommst. Dort wirst du den
-Baum der Erkenntnis finden. Wenn du von diesem ein Blatt brichst, dann
-wirst du erfahren, was du wissen willst. Aber spute dich! der Weg ist
-weit.«
-
-Der Stern stieg langsam auf gen Himmel, es wurde immer lichter, der Wald
-verschwand und der Geselle stand ganz allein auf einer großen Heide, über
-die der Wind pfiff.
-
-»Bis ans Ende der Welt? -- da kann ich meine Füße in die Hand nehmen,
-wenn ich noch ankommen will,« sagte er und wanderte fürbaß. Weil's ihm
-aber einsam am Wege war, sang er sich das Liedel von dem andern Gesellen:
-
- »Ein fahrender Geselle durchzog die weite Welt,
- Zu suchen nach der Stelle, wo's immer ihm gefällt.
-
- Doch nimmer mocht er rasten, und nirgend fand er Ruh,
- Ihn trieb's zum Weiterhasten, nur weiter! immer zu!
-
- Er hatte durchstudieret den ganzen Bücherwust,
- Mit Wissen ausstaffieret das Herz in seiner Brust --
-
- Da fluchte er dem Buche, sah an es nimmermehr:
- Das ist's nicht, was ich suche! Das Glück, das Glück gebt her!
-
- Und kommt er in das Städtchen und winkt ihm aus dem Thor
- Das liebe braune Mädchen mit Schelmenaug' hervor --
-
- Laß küssen dich, du Feine! -- Schaut ihr ins Angesicht;
- Du bist's nicht, die ich meine! -- er da voll Trauer spricht.
-
- Da ward aus dem Scholaren ein flotter Kriegersmann,
- Auch lernt er mit den Jahren, daß man sich bücken kann,
-
- Und fromme Verse schmieden von Freiheit und von Blut,
- Und vor dem Bürgerfrieden voll Ehrfurcht zieh'n den Hut.
-
- Doch alles wollt nicht frommen, was er sich auch erdacht.
- Das Glück wollt ihm nicht kommen -- hörst, wie's von Ferne lacht?
-
- Da ward aus ihm ein Zecher, der zecht' von früh bis spat,
- Bis ihm der leere Becher vom Munde sinken that.
-
- Lag denn das Glück im Weine? -- Der heilte allen Gram.
- Doch weh -- auch nur zum Scheine, nur bis der Morgen kam;
-
- In seinem grauen Schimmer, wie lag so leer die Welt! --
- Die Nacht verheißt uns immer, was nie der Morgen hält.«
-
-Als der Geselle sein Liedlein ausgepfiffen hatte, da führte ihn der Weg an
-einem Königreich vorbei, und weil die Thür bloß eingeklinkt war, ging er
-hinein. Die alte Reichsmauer wackelte hin und her, als er eintrat, und das
-Thürschloß behielt er gar in der Hand, so morsch war der Griff. In dem
-Königreich saß der König auf einem Throne, der wackelte, und hatte eine
-Krone auf dem alten, wackligen Haupt, die wackelte auch. Die Räte um ihn
-her hatten kleine Zöpfchen im Nacken, die wackelten, und die Räte selber
-wackelten, und das ganze Königreich wackelte. Und weil nun alles so
-wacklig war, da nahm der Geselle sein Bein und gab der ganzen Wackelei
-einen Tritt; da fiel alles um, und der Geselle sah lachend zu, wie der
-König und die Krone und die Räte mit ihren Zöpfen und das ganze morsche
-Königreich durcheinander purzelten. Des Königs schöne Tochter aber fing
-er in seinen Armen auf; doch als er sie küssen wollte, da welkte sie hin
-und lag tot an seiner Brust. Ihre Seele verwandelte sich in einen schönen
-weißen Vogel, der kreiste über des Gesellen Haupt und sang ihm zu:
-
- »Weil' nicht am Wege,
- Er ist noch weit;
- Noch ist die neue, die selige Zeit,
- Noch ist sie nimmer geboren.«
-
-Als der Geselle nun weiter ging, kam er an eine große, große Stadt,
-darin war eitel Freude und Lustigkeit, das ganze Volk tanzte und sprang
-und geberdete sich wie toll. In den Moscheen, Kirchen, Freiheitstempeln
-läuteten die Glocken und große Götzen saßen darin, die machten mit
-schrecklichen Grimassen die Mäuler auf, und dann warf das Volk alles
-Schöne und Gute den Götzen in den Schlund, und das Häßliche und Gemeine
-stand grinsend auf den Schultern der Götzen, und das Volk jubelte ihm zu.
--- Da faßte den Gesellen ein grimmer Zorn, er hob sein gutes Schwert und
-schlug zu, und schlug den Götzen die Köpfe ab. Aus den Rümpfen stieg ein
-starker, grauer Dunst auf, wie eine Weihrauchwolke, der lagerte sich hin
-über die Stadt und erstickte all das lärmende Volk, daß es tot dalag.
-Ueber der Nebelwolke aber schwebte ein neuer, schöner, weißer Vogel und
-gesellte sich dem andern zu; sie umkreisten den Gesellen und sangen ihm zu:
-
- »Weil' nicht am Wege,
- Er ist noch weit;
- Noch ist die neue, die selige Zeit,
- Noch ist sie nimmer geboren.«
-
-Als der Geselle nun weiter ging, kam er an einen hohen, hohen Berg, darauf
-wimmelte es von Menschen. »Ist hier das Ende der Welt?« fragte er.
-»Was?« riefen sie ihm von der Spitze des Berges zu, »das Ende der
-Welt? Bewahre! Hier fängt die Welt erst an!« -- Als nun der Geselle oben
-angekommen war, sah er, daß all' die Menschen ihr eigenes Ich genommen und
-es vor sich hingestellt hatten; und nun drehten sich die Körper um das Ich
-in der Runde und sangen feierliche Weisen und beteten es an. »Siehst du,«
-riefen sie ihm zu, »das ist es, was du suchst. Wir sind die Welt, wir sind
-das All, wir, unser eigenstes Ich. Wir wissen alles, wir können alles, wir
-lieben uns, wir beten uns an.« -- Voll Verwunderung stand der Geselle und
-sah dem seltsamen Treiben zu. »Aber wie könnt ihr denn leben, wenn ihr
-euer eigenes Ich aus euch herausgenommen habt?« -- »Wir zehren von seinem
-Anblick, er ist uns Nahrung, Luft und Licht. Wenn wir unser Ich ansehen,
-werden wir so von seiner Größe und Erhabenheit durchdrungen, daß wir
-unsere körperlichen Beine aufheben und tanzen müssen, und dann schreien
-wir von diesem hohen Berge das Heil des Ichs in die Welt unter uns hinaus,
-damit auch sie daran glaube und selig werde.«
-
-Da faßte den Gesellen, als er ihre seelenlosen Köpfe und verdrehten
-Glieder sah, ein ungeheurer Ekel. Er nahm seine starken Fäuste und
-schleuderte einen der tanzenden Körper nach dem andern in die Tiefe, und
-wenn sie gegen die Felsblöcke, die am Fuße des Berges lagen, anprallten,
-dann platzten sie mit einem Knall, wie ein aufgeblasener Pilz im Walde, auf
-den du unversehens trittst. »Jetzt spiele ich Kegel mit den Püstern!«
-sagte der Geselle. -- Dann nahm er alle die angebeteten Ichs, die entseelt
-zu Boden gesunken waren, schichtete sie aufeinander, wie einen Holzstoß,
-und zündete sie an, daß die rote Lohe weithin in die Welt schien. Aus den
-Flammen aber flog wieder ein schöner, weißer Vogel -- denn aus allem, was
-zu Grunde geht, wächst doch noch ein Schönes -- und er gesellte sich
-zu den andern, und sie umkreisten ihn. Aber sie sangen nicht mehr, ihr
-Flügelschlag wurde immer lautloser. Und doch war es dem Gesellen, als
-trieben diese weichen Flügel ihn weiter, hin über trotzige Felsblöcke,
-an denen sich seine Füße blutig stießen, über weite gefrorene Seen,
-über denen er hinglitt wie über einen Spiegel. Er wußte nicht mehr,
-ob er schon lange gewandert sei oder eben erst die schlanke, kühle Hand
-seiner Mutter, der Frau Sehnsucht, auf seiner Stirn gefühlt hatte. Er
-wußte nur noch, daß er weiter, immer weiter getrieben wurde. Endlich sank
-er erschöpft zu Boden. Als er die Augen öffnete, lag er auf einer weiten
-Ebene. Schöne Tiere traten an ihn heran und betrachteten ihn mit stillen,
-klaren Augen; aber sie waren stumm. Vögel schwebten über ihn hin; aber
-sie sangen nicht. Blumen blühten an glänzenden Bächen, aber das Wasser
-murmelte nicht; der Wind, der durch die Zweige strich, rauschte nicht --
-es war tiefe, tiefe Stille. Lautlos flogen die drei weißen Vögel vor
-dem Gesellen her. -- In der Ferne, am Ende der Ebene, schwebte eine weiße
-Wolke. Als der Geselle näher kam, sah er, daß es tausend und aber tausend
-von ebensolchen großen, weißen Vögeln waren, wie die, die ihn begleitet
-hatten, und er dachte daran, wie viele Menschen wohl gleich ihm denselben
-Weg gemacht hatten, wie viel erst zertrümmert werden mußte, damit diese
-Wolke sich hatte bilden können. Die weißen Vögel umkreisten leise, leise
-einen starken, grünen Baum, dessen viele Zweige gingen auf und nieder
-zwischen Erd' und Himmel. Der Baum blühte nicht und trug keine Früchte,
-er hatte nur unzählige grüne, kraftstrotzende Blätter. Die drei weißen
-Vögel aber, die den Gesellen begleitet hatten, mischten sich unter die
-andern, die in den Zweigen des Baumes nisteten, so daß er sie nicht mehr
-unterscheiden konnte. Und wie er so in der weißen Wolke stand, und der
-weiche Flügelschlag der schönen Vögel seine Stirn fächelte, da war es
-ihm, als höre er die Worte:
-
- »Weil' nicht am Wege,
- Nicht ist er mehr weit.
- Wir kreisen und hüten die kommende Zeit,
- Wir weben ihr reines, ihr glänzendes Kleid --
- Im Baum schläft sie sicher geborgen.«
-
-Da streckte der Geselle die Hand aus und brach eines der saftgrünen
-Blätter. Es fiel ein Tropfen, rot wie Blut, in seine Hand. Da zog sein
-ganzes Leben an ihm vorüber: er sah sich, wie er immer dem Sonntag
-nachgejagt war, alles andere darüber vergessend; er sah, wie er nicht die
-Welt und sie nicht ihn verstanden hatte, denn er war ja eine Viertelstunde
-zu früh geboren. Wie er auf das Blatt in seiner Hand hinschaute, lange,
-lange, da bleichte sein Haar, seine Stirn begann sich zu runzeln, sein
-starker Körper bog sich zur Erde. Aus dem Manne ward ein Greis, und nun
-wußte er, wann er den Sonntag einholen würde. -- Er sah auf und sah die
-weißen Vögel, die mit ihren stillen, großen Flügeln einen starken Wind
-erhoben; der wehte ihn fort, weit fort, den Weg zurück, den er gekommen
-war. Auf dem Berge glühte noch das Feuer, über der Stadt lag der Dunst,
-das zerfallene Königreich bröckelte am Wege -- er schaute nicht um
-danach. Er ging durch den dunklen Wald, darin die Bäume regungslos
-standen. Er ging und ging, bis er in das Stübchen kam, in dem Frau
-Sehnsucht die schönen, traurigen Augen für immer geschlossen hatte.
-Da setzte sich der greise Geselle ans Fenster und schaute in den Garten
-hinein.
-
-Auf dem Apfelbaum saß die braune Drossel und erzählte den Spatzen: »Es
-ist Sonntag heute. Der Sonntag sitzt mitten im Frühling und hat eine
-Blütenkrone auf dem lachenden Haupte, und die Blumen bringen ihm ihre
-Düfte, und die Winde tragen den Duft hin über die Stirnen der Kinder, die
-heute geboren werden.«
-
-Da nickte der Greis am Fenster und lächelte. Er schloß die Augen, und
-seine Seele zog vor des Sonntags Thron, damit sie als Duft auf die Stirn
-eines neugeborenen Sonntagkindes gelegt werde. -- Im Tode war der Geselle
-ein Sonntagskind geworden.
-
-»Es ist Sonntag!« sang die Drossel. »Das ist etwas ganz Alltägliches,«
-piepsten die Spatzen, »das passiert jede Woche einmal.«
-
-
-
-
-Rauch.
-
-
-Es war einmal ein kleiner Schmiedegeselle, der war es müde, immer am
-Amboß zu stehen und Gedanken zu hämmern. Er hätte gar zu gern gesehen,
-wie sich die Gedanken ausnahmen, noch ehe sie zum Schmiedematerial
-zusammengegossen waren. Eines Tages hatte er mit heller Lust ein paar
-kräftige Gedanken, die im Feuer glührot und geschmeidig geworden waren,
-zu ein paar starken Hufeisen zusammengeschweißt; die Funken sprühten,
-wenn man damit auf einen Stein schlug. Da klopfte ihm der große Meister
-auf die Schulter und sagte:
-
-»Geselle, geh' auf die Wanderschaft.«
-
-Und da zog er aus. -- Als er wegging, schien die Sonne hell, obwohl es
-mitten im Winter war; der Himmel hatte überall blaue Batzen auf die
-Wolkenlöcher gesetzt, und der Wind hatte dazu gefiedelt:
-
- Die Erde hat sich schlafen gelegt,
- Mit weißem Lailach zugedeckt,
- Der rasche Wind den Himmel fegt,
- Bis er die Sonne hat erweckt.
-
- Nun scheint sie hinunter auf den Schnee
- Und lacht hinweg ihn nach und nach:
- Wenn auch die Welt sich duckt in Weh;
- Sie wird doch einmal wieder wach.
-
- Dann jauchzt sie auf in grüner Lust,
- Hüllt sich in lauter Liebe ein --
- Und ahnend klingt's in deiner Brust:
- Im Winter ist es auch gut sein! --
-
-Als aber der kleine Schmiedegeselle ein Stücklein Wegs gegangen war, da
-sah er eine schwere dunkle Wolke in der Ferne schweben, und je näher er
-kam, desto trüber wurde es um ihn her, bis schließlich Himmel und
-Erde und die ganze Welt schmutzig aussah; und er sah, daß es ein ganzes
-Sammelsurium von Häusern war, das alles so finster machte. Die Häuser
-waren so hoch, daß sie die Wolken an den Fußsohlen kitzeln konnten.
-
-Der kleine Schmiedgeselle stand und guckte an so einem hohen Kasten in die
-Höhe:
-
-»Könnt ihr da oben durch die Wolken sehen?« fragte er, »und die Sonne
-auf der andern Seite scheinen sehen? -- Eia, das muß schön sein!«
-
-»Da, komm nur mit in das Loch hinein, kleiner Wurm,« sagte ein Mann neben
-ihm, schob ihn vor sich her, und schwupp! flogen sie in einem viereckigen
-kleinen Kasten so schnell himmelan, daß es dem Gesellen ganz übel wurde.
-
-Der Mann lachte spöttisch aus ein paar klugen Augen.
-
-»Ja früher,« sagte er, »wenn der Teufel einen armen Handwerksgesellen
-holte, da flogen sie miteinander auf schwarzen Gespensterflügeln in die
-Tiefe hinab. Wir machen das jetzt per Elektricität und fliegen himmelan.«
-
-Erschrocken sah das Gesellchen zur Seite, erblickte aber nur einen ganz
-einfachen Menschen, der ein ganz klein wenig hinkte. Nur seine Ohren waren
-so sonderbar lang und schmal; wenn er lachte, schienen sie sich zu spitzen,
-und er lachte so, daß der Schmiedegeselle mitlachen mußte, und das Ding,
-in dem sie saßen, vor Vergnügen in die Höhe sprang.
-
-Dann waren sie oben. Das war ein großes, flaches Dach mit Kieselsteinchen
-bedeckt, als ob sie drauf geregnet wären. Allerlei Verzierungen sprangen
-an den Ecken auf und auf zwei kleinen Säulchen saßen vergoldete Zierate,
-die sahen aus wie Champagnerpfropfen.
-
-»I, da schlag' doch der Teufel den Herrgott tot!« rief der Mann mit einem
-vergnügten Grinsen, »da hab' ich doch gedacht, ich könnte dem kleinen
-Wurm das ganze Riesentreibhaus auf einmal zeigen, und nebendran das
-große Wasser, in dem man eigentlich die nichtsnutzige Brut gleich wieder
-ersäufen sollte, nachdem man sie hervorgebracht hat -- und da -- nichts,
-aber auch rein gar nichts, als das wüste Gebrodel, das mein Vetter, der
-große Nebel, so erstaunlich schön herauszukriegen versteht. Er ist ein
-ganz gelungener Kerl, sage ich dir, und dabei ein Phantast, trotz seiner
-Schwere. Und unbeständig ist er, nirgends zu fassen. Der geht in einer
-Minute alle Ideen der Welt durch, um schließlich mit seinem grauen
-Einerlei platt über die ganze Erde hinzufallen, daß man drunter ersticken
-sollte. Uff! wie schwer er schon wieder herunterhängt. -- Und siehst du,
-mit einemmal reißt er sein langes Hemd in Fetzen entzwei und tanzt herum
-wie ein toller Bacchant. Zum Verzweifeln für einen feierlichen Kerl!«
-
-Dabei nahm er einen gespreizten Ton an, schob die linke Hand zwischen die
-Brustknöpfe seines Rockes und hob das Haupt mit einem idealischen Schwung.
-Als das Gesellchen ihn entsetzt ansah, schnitt er plötzlich allerlei
-Grimassen, liebkoste ein paar kleine, niedliche Bockshörnchen, die
-zwischen dem Kraushaar über der Stirn hervorwuchsen, und spitzte seine
-Faunsohren nach dem Wind. Nachdem er den kleinen Schmiedegesellen genügend
-verwirrt hatte, fing er an, ihm ernsthaft allerlei Erklärungen zu geben.
-
-»Sieh',« sagte er, »das ist der große Hexenkessel, Höllengebrodel, da
-werden alle die Gedanken ausgekocht von dem Menschenpack, das tief unten
-mit Beinen, Händen, Köpfen oder Magen schuftet; und die nehmen dann
-Gestalt an, und paß einmal auf, da aus den Tausenden von Schlöten fahren
-sie hinaus in den Nebel, der verschlingt sie, wird groß und stark daran,
-wächst und wächst bis einmal die Welt ein großer Gedanken-Nebel geworden
-ist. Dann kommt die Zeit für uns Faune, uns Satanskerle, Teufelsstricke,
-und wir ziehen gegen den Nebel zu Felde, gegen meinen großen Vetter --
-da kämpfen wir, das ewige, blühende, lachende Leben gegen die blassen,
-umnebelten und vernebelten Gedanken. -- Sieh', da fliegen sie --«
-
-Der kleine Schmiedegeselle hatte derweilen stumm in das graue Meer
-geschaut, drin es wogte und zerrte, drin die Schornsteine und Schlöte der
-vielen, vielen Häuser hineinragten und schwere Dampfwolken entsendeten,
-schwarze, dicke, schmierige, lichte, flinke, weiße oder rötlich
-scheinende, von den Flammen tief drunten, die zuweilen bis zum Kamin
-herausschlugen. Es sah aus, als ob die himmelhohen Häuser der Riesenstadt
-eigentlich ganz klein hoch in der Luft ständen, nur mit den großen
-Schlöten daran; als ob da unten auf der Straße eine ganz andere Welt sei,
-und nur ganz fern, fern, wie das Bienengesummse an einem Sommermittag am
-Kornfeld, drang das Getrappel, Gerolle, Getose herauf zu dem Dach, wo die
-Wolken mit ihren schweren Fittichen des kleinen Gesellen Haupt streiften.
-Der stand und schaute. Der wunderliche Mann saß neben ihm, deckte ein Bein
-mit dem andern und deutete mit dem langen, ausgestreckten Zeigefinger bald
-auf diesen, bald auf jenen Schornstein, und er grinste spöttisch dazu,
-oder lachte ingrimmig, oder seine Augen leuchteten, wie in stiller Wonne.
-So jetzt eben wieder.
-
-Da stieg aus einem schlanken Rauchfang ein silberweißes Rauchsäulchen
-auf, kräuselte sich lustig, ehe es im Nebel zerging, und auf dem
-schaumigen Gezausel tanzten putzige kleine Kerle mit runden Bäuchlein
-und weinroten Gesichtern, sie hatten Weinreben sich umwunden und lallten
-allerlei tolles Zeug und schrieen dem lächelnden Manne, Faun, Mephisto,
-was immer er sich nannte, ein jauchzendes ~Evoë Bacche!~
-
-Und sobald die einen im Nebel vergangen waren, wurden neue aus den Ringeln
-der Rauchsäule geboren, schöne und drollige, große und kleine, Männlein
-und Fräulein, und ob auch aus den Augen eines Alten ein ernstes Denken
-sprach, ob die weichen Glieder einer jungen Bacchantin im Wirbel sich
-drehten -- gleichsam aus ihnen heraus über die ganze Erde hin leuchtete,
-strahlte eine selige, mutige, weinduftende Begeisterung.
-
-Jetzt lachte der Geselle laut auf. Da hatten ein paar trunkene kleine
-Satyrn die Nebelfetzen zusammengeballt wie Schneebälle, schnitten wütende
-Gesichter nach einem andern Schlot hin, streckten denen, die da oben
-aufstiegen, die Zunge heraus, und begannen sie zu bombardieren. Es war
-ein weiter Kamin, nicht sehr hoch, der Rauch, der da herauskam, hatte eine
-eklige, semmelblonde Farbe, die Gedanken, die drauf ritten, auch, und
-sie waren feist und schwammig. Sie versuchten, recht forsch und protzig
-aufzutreten, aber sie krümmten sich dabei, als wenn sie Bauchgrimmen
-hätten, und sie streckten flehentlich die Arme aus, so gut es eben ging,
-nach einem andern Schornstein und stöhnten:
-
-»Gebt uns was ab! Gebt uns was ab!«
-
-Das war ein mächtiger, weiter Schlot, und der Rauch und Qualm, der ihm
-entquoll, schwarz, finster, beklemmend. Bleiche Gestalten stiegen drauf
-zur Höhe, hohlwangig wie eine durchwachte Nacht, finster wie eine
-Gewitterwolke. Immer mehr, Millionen von ihnen tauchten auf aus dem
-Dunkel, nicht aus einem, nein, aus hundert Schlöten, ganze Heere von
-Elendsgestalten, ganze Heere von drohenden Fäusten, von rachedurstenden
-Augen, von verzweifelten Gesichtern.
-
-Und der kleine Geselle drückte sich scheu an den Mann, der ingrimmig
-hohnlachte.
-
-»Wo kommen die her, alle, alle, ohne Ende?« fragte der Geselle bebend.
-
-»Aus den Fabriken, aus den Werkstätten, aus den Mietskasernen, aus den
-Spelunken da unten,« knurrte der mit den Bockshörnchen. »Bande, elendes
-Pack, warum drücken sie die andern nicht tot, schaffen sich Platz in der
-Welt, so viele, wie sie sind! Aber sie haben Furcht, gerade so viel Furcht,
-wie die da drüben -- sieh' -- da aus dem himmelhohen Rauchfang, der
-so kerzengerade aufwächst -- Mitleid haben. Prrr -- Puah -- Mitleid,
-Mitgefühl, Menschenliebe, Gleichheit, Brüderlichkeit -- sieh', wie sie da
-alle schweben, die schönen Gedanken! Schau einmal genau hin! Glaubst du,
-sie kämen alle aus demselben hohen, ragenden, lichten, freundlichen Kamin?
-Ist schön gebaut, der Rauchfang! Aber schließ' dein Auge ab von all dem
-andern, indem du die Hand krümmst wie ein Fernrohr davor -- das gibt mehr
-Perspektive. Siehst du nun wohl, daß jeder der schönen Gedanken
-seinen Privatschlot hat, der nur an den andern sich anlehnt? -- Und die
-Rauchsäulchen, -- recht fein hell anzusehen -- dürfen sich mit keinen
-von den andern vermischen, beileibe nicht, und der Kamin muß immer mit
-demselben Heizmaterial gefüttert werden, und jedes Rauchwölkchen hat
-seinen Parteinebel, in den es sich auflöst.«
-
-Aber immer und immer wieder stieg das bleiche, finstere Heer auf, auf,
-stetig, unverdrossen.
-
-»Da, sieh' her, du kleiner Wurm, der du die Gedanken nackt und
-unverarbeitet in der Welt herumlaufen sehen wolltest,« schrie der
-Mann-Faun-Mephisto, »siehst du jene dort drüben aus dem Marmorkamin sich
-entwirren? -- Wohlgenährte Gestalten sind drunter mit schwimmenden Augen,
-magere Kerle mit Beil-Gesichtern, und alle mit so einem Air um sich herum,
-als wollten sie auf alles andere spucken. Kapitalsbestien nennt man sie mit
-dem Kunstausdruck, d. h. die Kapitäler sind ihnen jetzt da oben im Rauch
-abhanden gekommen, und nur die Bestien sind übrig geblieben. Und nun
-schau die guten, mitleidigen, allesliebenden, weltbeglückenden
-Fanatikergedanken, die eigene kleine Weltbegriffe auf Silberrauchsäulchen
-ausdünsten -- schau auch alle die winzigen Nebengedanken, die von der
-Silbersäule abspringen, ihre Nachbarn zerren und stoßen, zu Boden
-schlagen, ins Gesicht treten -- kommt es dir nicht schließlich vor, als
-wäre der eine wie der andere: Fanatiker seines eigenen Ichs? Und sie
-verteidigen dieses ihr Besitztum, die einen mit nackter Brutalität, die
-andern mit alles überwältigendem Mitleid für die Menschheit. Ist recht,
-ist ja recht so. Nur sollen sie nicht das Du-Geschrei erheben, wenn sie das
-Ich meinen. Aber guck einmal da!« --
-
-Aus dem lichten, ragenden Schornstein, dessen viele Teile das Gesellchen
-jetzt deutlich erblickte, war eine Schar Gedanken-Geister aufgetaucht, die
-sich mit Mäulern, Fäusten und Füßen ingrimmig bearbeiteten: die einen
-suchten die nächsten unter sich zu ducken, zerrend, heulend, schimpfend;
-die zarten Gestalten aus demselben Rauchfang, die über ihnen schwebten,
-rangen traurig die Hände; die Bestien aus dem Marmorkamin sahen behaglich
-zu, und die kleinen Weinkameraden ritten auf ihrem Rauchgekräusel herzu,
-jauchzten und lachten, schütteten duftenden Rheinwein über sie aus,
-wie man über die beißenden Hunde Wasser gießt, und trieben allerhand
-Allotria.
-
-Die hungrige, bleiche, verzweifelte Schreckensschar aber stieg immerfort,
-stetig auf; auf aus den Tausenden von Schlöten und verzehrte sich im
-Nebel, immerzu, regelmäßig, wie ein grauenhaftes Uhrwerk.
-
-»Bande, Bande!« knurrte der neben dem Gesellchen. »Wann kommt's? -- Wann
-kommt's und schlägt den Kram in Fetzen? -- Ist ein lustig Leben, kleines
-Wurm, so hoch über ihnen, was? -- Und doch mitten drunter. Die da tief
-drunten, alle, glauben, sie kennen, sie haben mich, und ahnen nicht,
-daß ich es bin, der ihre Gedanken hier oben spuken läßt zur eigenen
-Verlustierung, wie Nero einst Rom in Brand setzte! _Nicht_ sie mich --
-_ich_ hab' _sie_! -- Hoho -- aber da -- da, meine Braven!«
-
-Da schlug aus einem mächtigen Rauchfang eine hohe Feuersäule auf,
-glührot, wie aus einer Schmiede-Esse, und darauf schwebte, nein, stampfte
-eine gewichtige Schar, die zog den Ambos und dröhnte die Schmiedehämmer
-nieder, daß es durch die Lüfte klang. Riesengestalten mit mächtigen
-Köpfen und lustigen Augen. Bei jedem Hammerschlag von ihren Fäusten
-stoben die Funken, und in jedem Funken sang es:
-
- »Mir sein die Hammerschmiedsgsölln, Hammerschmiedsgsölln,
- Mir könn' dableiben, mir könn' furtgeh'n,
- Mir könn' dhun, was mer wöll'n, dhun, was mer wöll'n!«
-
-Schritt vor Schritt weitergreifend, die rußigen Gesichter umglüht
-vom Flammenschein, stampften sie alles unter ihre Füße, Bestien und
-Mitleidsgedanken und Elendsgestalten, was ihnen in den Weg kam, trieben
-die Rauchwolken zur Seite und machten Bahn frei -- bis endlich, nach langem
-Kampf, auch sie der große Nebel verschlang.
-
-Aber dort, wo sie verschwunden waren, da lag in lichter Ferne -- das
-Gesellchen sah es ganz deutlich, und der Mann breitete seine Arme aus --
-der silberne See, der hob und senkte sich leise. -- Möven flogen
-drüber hin, die tauchten mit der weißen Brust ein in die Silberflut und
-schüttelten die leuchtenden Tropfen von den Flügeln.
-
-Wo sie das Wasser berührten, tauchte ein Wunderwesen nach dem andern
-auf; diese reihten sich aneinander, und bald wimmelte der See von zarten,
-lieblichen, von starken, gewaltigen Wesen. Auf ihren ausgestreckten Armen
-kamen zwei wunderselige Frauengestalten einhergeschwebt, ein leiser,
-flüchtiger Gesang zog ihnen voran:
-
- »Wir geleiten hohe Frauen,
- Die den Wassern sind entstiegen,
- Die sich auf den Nebeln wiegen,
- Und die Wellen stets durchwallen,
- Unerkannt von allen, allen,
- Denn von zwei'n ist eine keine:
- Diese Hehre, Hohe, Reine,
- Jene, die da gleißt im Scheine --
- Nur zusammen kannst sie schauen.
- Wie die Sonne aus dem Meere
- Ihre Strahlen weiter sendet,
- So zieh'n im Gedankenheere
- Sie, bis ihre Bahn vollendet.
- Sinken in die Wasser nieder,
- Kommen mit der Sonne wieder.«
-
-So schwebten sie hin über das Häusermeer der Riesenstadt. Die schönen
-Frauen glichen sich eine der andern so, daß man sie nicht unterscheiden
-konnte, und das Gesellchen hätte gar zu gern gewußt, wer sie seien.
-
-Der Mann sah mit verschränkten Armen den Zug an sich vorüber wallen,
-musterte mit kritischen Augen die weißen Nixenglieder, lächelte
-vertraulich dem schönen Frauenpaar zu. -- Da war es dem Gesellen, als habe
-die eine listig gewinkt, die andere nur milde gelächelt. Aus dem Nebel,
-der sie umwogte, aber tönte das Lied der Hammerschmiedsgesellen:
-
- »Mir könn' dhun, mir könn' treiben, mir könn' loss'n, was mer
- wöll'n!«
-
-»Ja, ja,« nickte der Mann, »wenn's alle Hammerschmiedsgesellen wären!
-Aber doch, kleines Wurm, wissen auch sie nicht genau, gerade wie du
-und alle die andern es gar nicht wissen, wer von den beiden lieben
-Frauenzimmerchen da -- die Wahrheit und welches die Lüge ist.«
-
-Als er das sagte und der kleine Schmiedsgeselle flehend die Arme hob, da
-schauten die beiden herrlichen Frauen zurück -- die eine milde lächelnd:
-
-»_Du_ bist die Wahrheit!« jauchzte der Geselle.
-
-Da hob die andere sachte und ernst den Finger an den Mund. --
-
-Und der Geselle barg das Gesicht in die Hände und weinte.
-
-Als er wieder aufschaute, sah er den Mann vor dem Champagnerkorken stehen
-und Zwiesprache halten mit einem nackten, kleinen Schlingel, der rittlings
-auf dem einen goldenen Pfropfen saß, Bogen und Köcher umgehängt hatte
-und blutrote Pfeile nach allen Richtungen verschoß; sein Krauskopf
-glänzte voll goldener Locken und trotz der Lachgrübchen saßen ein paar
-bitterernste Augen in dem jungen Gesicht.
-
-»Ich bin echt!« sagte er und zielte auf den Gesellen, und dem wurde es
-plötzlich ganz leicht um's Herz. Da lachte der kleine, nackte Bub ein
-tolles, befreiendes Lachen, und der Mann fiel ein, und das Gesellchen
-mußte mitlachen, bis ihm die Thränen aus den Augen liefen.
-
-Dicht hing der Nebel herunter. Die Wolken rieben sich die Fußsohlen an den
-Champagnerkorken. Rauch, schwerer, schwarzer, lichter, semmelblonder stieg
-auf aus allen Schlöten. In der Ferne sah der Geselle einen silbernen
-Streifen, auf dem ein Mövenflügel blitzte. Ein dumpfes Gegroll wogte zu
-ihnen herüber. Ein Amboßschlag dröhnte.
-
-Fest mit den Füßen aufstampfend, ging der wunderliche Mann mit dem
-kleinen Schmiedegesellen viele Stufen hinab, und es klang, als ob jede
-Stufe knurrte:
-
- »Hammerschmiedsg'söll'n -- dhun, was mer wöll'n!«
-
-Unten angekommen, sah der Mann wieder aus wie ein gewöhnlicher
-Europäer, und die Stube, in die sie eintraten, wie eine ganz gewöhnliche
-Kaufmannsstube.
-
-»Hör',« sagte der Mann zu einem andern, der da saß und schrieb, »wir
-müssen die Champagnerpropfen da oben an dem Dach neu vergolden, die hat
-der Nebel ganz blind gemacht.«
-
-Der andere nickte und schrieb weiter.
-
-Der Mann aber sah den kleinen Schmiedegesellen an und zupfte sich an den
-spitzen Oehrchen. Und dann lachten sie.
-
-
-
-
-Druckfehler.
-
-
- Seite 24, Zeile 4 von oben, lies: ~hant~ statt ~hante~.
- " 68, " 3 " " " : Silberflut statt Silberglut.
- " 97, " 15 " " " : Weh _in der_ Welt.
- " 118, " 8 " " " : _ni_mmer statt immer.
- " 122, " 26 " " " : aus _seinen_ Händen.
- " 129, " 10 " " " : _sein_ leuchtendes Auge.
- " 155, " 23 " " " : _drauf_ ritten.
-
-
-
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-alle Buchhandlungen zu beziehen:
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- #Heißes Blut.# Roman aus der französischen Provinz. 2 Theile. Von
- _Hermann Gosseck_. -- 5 Mk. = 6 Fr. 25 Cts.
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- #Scherben.# Gesammelt vom müden Manne (_Richard Voß_.) Zweite, stark
- vermehrte Auflage. -- 5 Mk. = 6 Fr. 25 Cts.
-
- #Schlimme Geschichten.# Drei Novellen. Von _Gustav Adolf_. --
- 1 Mk. 60 Pf. = 2 Fr.
-
- #Ueber Graphologie# oder die Kunst, die Geistes- und
- Gemüthseigenschaften eines Menschen aus seiner Handschrift zu
- erkennen. Von _Fritz Machmer_. -- 2 Mk. = 2 Fr. 50 Cts.
-
-
-
-
-[ Hinweise zur Transkription
-
-
-Der Schmutztitel wurde entfernt.
-
-Im Originalbuch tragen die Kapitel jeweils am Anfang ornamentalen und am
-Ende floralen Schmuck, auf den in dieser Transkription verzichtet wurde.
-
-Die im Buch enthaltene Verlagswerbung wurde von der Rückseite des vorderen
-Einbanddeckels an das Buchende verschoben.
-
-Das Originalbuch ist in Fraktur gesetzt.
-
-Darstellung abweichender Schriftarten: _gesperrt_, ~Antiqua~, #fett#.
-
-Der Text des Originalbuchs wurde grundsätzlich beibehalten,
-einschließlich uneinheitlicher Schreibweisen wie beispielsweise "Apollo"
--- "Appollo", "Bacchus" -- "Bacchos", "Höckerweib" -- "Hökerweib",
-"Schmiedegeselle" -- "Schmiedgeselle", "Sonntagkind" -- "Sonntagskind",
-
-mit folgenden Ausnahmen,
-
-entsprechend dem Korrekturverzeichnis des Originalbuchs
-
- Seite 24:
- im Original "ich hete in mîne hante gesmogen"
- geändert in "ich hete in mîne hant gesmogen"
-
- Seite 68:
- im Original "In tiefe, rauschende Silberglut"
- geändert in "In tiefe, rauschende Silberflut"
-
- Seite 97:
- im Original "als ob all das Weh in Welt"
- geändert in "als ob all das Weh in der Welt"
-
- Seite 118:
- im Original "wenn Ihr die Liebe sucht, fliegt immer zu Thal"
- geändert in "wenn Ihr die Liebe sucht, fliegt nimmer zu Thal"
-
- Seite 122:
- im Original "aus ihren Händen weg und zu uns"
- geändert in "aus seinen Händen weg und zu uns"
-
- Seite 129:
- im Original "und ein leuchtendes Auge weilt"
- geändert in "und sein leuchtendes Auge weilt"
-
- Seite 155:
- im Original "die Gedanken, die draus ritten"
- geändert in "die Gedanken, die drauf ritten"
-
-und außerdem
-
- Seite 13:
- im Original "wo wollen die vielen Menschen hin die dort"
- geändert in "wo wollen die vielen Menschen hin, die dort"
-
- Seite 25:
- im Original "Flüstern durch den Saal und und ein Beben"
- geändert in "Flüstern durch den Saal und ein Beben"
-
- Seite 39:
- im Original "Weise Hosen, schwarzes Röcklein und auf dem Kopf"
- geändert in "Weiße Hosen, schwarzes Röcklein und auf dem Kopf"
-
- Seite 40:
- im Original "wenn ihr die zackigen Blätter"
- geändert in "wenn Ihr die zackigen Blätter"
-
- Seite 45:
- im Original "Cochenille -- Kaktus, unansehnliche, häßliche Dinger"
- geändert in "Cochenille-Kaktus, unansehnliche, häßliche Dinger"
-
- Seite 49:
- im Original "Wohl süß ist es zu singen"
- geändert in "»Wohl süß ist es zu singen"
-
- Seite 56:
- im Original "sieh', doch, da ist das Märchen!"
- geändert in "sieh' doch, da ist das Märchen!"
-
- Seite 56:
- im Original "die Kinder faßten sich bei deu Händen"
- geändert in "die Kinder faßten sich bei den Händen"
-
- Seite 76:
- im Original "den Bäuuen aus dem Wege gehen"
- geändert in "den Bäumen aus dem Wege gehen"
-
- Seite 85:
- im Original "Regiment Weizenfeld-Allerfeinste-Mehlsorte No. 1"
- geändert in "Regiment Weizenfeld-Allerfeinste-Mehlsorte No. I"
-
- Seite 108:
- im Original "deren heißes Menschenherz langsam, zu"
- geändert in "deren heißes Menschenherz langsam zu"
-
- Seite 135:
- im Original "wie zart, geschickt die Fäden verknüpft!«"
- geändert in "wie zart, geschickt die Fäden verknüpft!"
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- Seite 139:
- im Original "Mannes dunkles Haar ziehen sich Silderfäden"
- geändert in "Mannes dunkles Haar ziehen sich Silberfäden"
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- Seite 140:
- im Original "dekorierten Flügel und fliegt von dannen"
- geändert in "dekorierten Flügel und fliegt von dannen."
-
- Seite 146:
- im Original "Seele verwandelte sich einen"
- geändert in "Seele verwandelte sich in einen"
-
- Seite 155:
- im Original "finster, beklemmend, Bleiche Gestalten"
- geändert in "finster, beklemmend. Bleiche Gestalten"
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- Seite 157:
- im Original "Aus dem lichten, ragenden, Schornstein"
- geändert in "Aus dem lichten, ragenden Schornstein"
-
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- im Original "Rosenberg. -- 1 Mk. 60 Pf. = 2 Fr. = 1 Fr."
- geändert in "Rosenberg. -- 1 Mk. 60 Pf. = 2 Fr." ]
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-*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK VENUSMÄRCHEN ***
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-Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary
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-<title>The Project Gutenberg eBook of
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-<p style='text-align:center; font-size:1.2em; font-weight:bold'>The Project Gutenberg eBook of Venusmärchen, by Edna Fern</p>
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
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-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
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-are not located in the United States, you will have to check the laws of the
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-</div>
-
-<p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Title: Venusmärchen</p>
-<p style='display:block; margin-left:2em; text-indent:0; margin-top:0; margin-bottom:1em;'>Geschichten aus einer andern Welt</p>
- <p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Authors: Edna Fern</p>
- <p style='display:block; margin-top:0; margin-bottom:0; margin-left:2em;'>Fernande Richter</p>
-<p style='display:block; text-indent:0; margin:1em 0'>Release Date: December 26, 2021 [eBook #67015]</p>
-<p style='display:block; text-indent:0; margin:1em 0'>Language: German</p>
- <p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em; text-align:left'>Produced by: the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)</p>
-<div style='margin-top:2em; margin-bottom:4em'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK VENUSMÄRCHEN ***</div>
-
-
-<h1 class="pb">Venusmärchen.</h1>
-
-<p class="mt2 ce fsxl">Geschichten aus einer andern Welt.</p>
-
-<p class="mt2 ce lh2">Von<br />
-<b><span class="ge fsl ">Edna Fern.</span></b></p>
-
-<p class="mt2 ce"><img src="images/emblem.jpg" alt="" /></p>
-
-<p class="mt2 ce lh1"><span class="fsl">Zürich 1899.</span><br />
-Verlags-Magazin J. Schabelitz.</p>
-
-<p class="mt2 ce lh1">Alle Rechte vorbehalten.<br />
-<span class="fss">Druck von J. Schabelitz in Zürich.</span></p>
-
-
-
-
-<div class="pb mt6">
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl"><b>W</b>as ich als Kind einst von der alten Muhme</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In märchengrauer Dämmerstund' erlauscht,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Was sonnenhell mir Wind und Wald gerauscht,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Was mir geduftet hat die stille Blume,</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das wuchs in mir zu einem Heiligtume.&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da kam das Leben, wichtig aufgebauscht,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und hätt' vernünftig thuend gern vertauscht</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das Märchen mir &ndash; zu ernstem Wissens-Ruhme.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Doch lächelnd ging das Flüchtige vor mir her</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und zeigte mir den Weg aus Tages Enge</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und hob empor mich aus der Welt Gedränge&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Der Märchen-Weisheit ewige Wiederkehr,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die lehrt' es mich. &ndash; Nun nimmt es seinen Lauf</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Mild siegend weiter: Nehmt es bei euch auf!&nbsp;&ndash;</td></tr>
-</table>
-</div>
-
-<hr />
-
-
-
-
-<h2>Inhalt.</h2>
-
-
-<table cellpadding="2" summary="">
- <tr>
- <td class="tdl">&nbsp;</td>
- <td class="tdr fss">Seite</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Venus und Madonna</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_001">1</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Der kleine Finger der Venus von Medici</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_005">5</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Der gefesselte Cupido</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_018">18</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Psyche</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_024">24</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Unser Frühling</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_037">37</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Frostiger Frühling</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_043">43</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Das Märchen, das gar nicht kommen wollte</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_050">50</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Klein Hildegard</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_058">58</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Das Märchen, das verloren gegangen war</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_070">70</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">In der Gosse</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_081">81</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Sonniger Winter</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_091">91</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Ein Weihnachtsmärchen</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_099">99</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Schneeflocken</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_108">108</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Das Märchen von der weißen Stadt</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_120">120</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Weltausstellung im Walde</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_130">130</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Das Märchen von Einem, der auszog, ein Sonntagskind zu werden&emsp;</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_141">141</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Rauch</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_151">151</a></td>
- </tr>
-</table>
-
-<hr />
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_001" title="1"> </a>
-Venus und Madonna.</h2>
-
-
-<p>Dunkel wölbt sich der Himmel über der Erde, und die
-Sterne grüßen einander und winken &ndash; das ist das Flimmern
-&ndash; fassen einander bei den Händen und tanzen einen feierlichen
-Reigen über die unermeßlichen Himmelsbahnen,
-und »Seht, wie klar die Milchstraße heute Abend ist!«
-sagen sie auf der Erde.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Da löst sich ein großer, glänzender Stern vom Firmament,
-der hat funkelnd im kalten Norden gestanden, zieht
-seine leuchtende Bahn über den dunkeln Nachthimmel hinweg
-und fällt zur Erde nieder.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Da löst sich ein anderer, ein flimmernder, unruhiger
-Stern vom Firmament, der hat blitzend im Süden gestanden,
-zieht seine schimmernde Bahn über den dunkeln
-Nachthimmel und fällt zur Erde nieder.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Und die beiden schönen Sterne fallen auf die große,
-weite Erde, in einen Wald voll mächtiger Bäume, süß
-duftender Blumen, singender Vögelein, spielender Tiere. &ndash;
-Und siehe! da stehen die ersten Menschen, ein Mann und
-ein Weib, sie blicken einander an, reichen sich die Hände
-und küssen sich. Die beiden vom Himmel gefallenen, Mensch
-gewordenen Sterne &ndash; sie sind der Glaube, der Glaube an
-das Schöne, und die Sehnsucht.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_002" title="2"> </a>
-Und wieder und wieder flimmern, zittern, funkeln die
-Sterne am Himmel. Im Walde der Ewigkeit ruht das
-Weib in den Armen des Mannes; und sie gebiert ihm die
-Liebe &ndash; das Kind der Sehnsucht und des Glaubens.</p>
-
-<p>Da aber das schöne Menschenpaar ganz allein im großen,
-weiten Walde wohnt, und nichts weiß von dem Gewimmel
-des Zwergengeschlechtes weit draußen in der Welt, so wissen
-sie auch nicht, wen sie wohl zu Gevatter bitten sollen,
-als sie ihr Kind, die holde Liebe, mit Himmelstau zu
-taufen gedenken. Schon beginnen die Maiglöckchen ein
-wunderlieblich Geläut, die Vöglein konzertieren und singen
-und flöten, und einherziehen gravitätisch die Tiere des
-Waldes.</p>
-
-<p>Das anmutige Reh äugt mit klugen Augen, das Häslein
-putzt sich, das Eichhörnchen tanzt, der Dachs lugt hervor
-aus seinem Versteck, die Eidechsen und Käfer huschen
-und jagen, die Schmetterlinge gaukeln um die Blätterwiege,
-in der die Liebe ruht&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;, aber niemand ist da, der
-das Kindlein tauft, und keine Gevatterin, die Liebe über
-die Taufe zu halten.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Ich,« spricht der Fuchs und kommt geschlichen und
-streckt sein spitzes Näschen zur Wiege des Kindes empor,
-»ich versteh's, das Taufen, bin bei den Jesuiten in die
-Lehre gegangen, bin gut katholisch und sehr schlau.«</p>
-
-<p>»Krah, krah!« krächzt ein großer, schwarzer Kolkrabe,
-»hier, nehmt mich! Strengorthodox, schwarz, düster, wie
-meine Religion.«</p>
-
-<p>»Vielleicht alttestamentarisch?« fragt höflich ein Eidechslein,
-glitzernd von Gold, und dreht und windet sich immer
-wieder heran.</p>
-
-<p>»Oder gar freisinnig?« klappert der Storch, spießt nach
-dem Eidechslein, kröpft sich und schlägt sehr stolz und freisinnig
-mit den Flügeln.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_003" title="3"> </a>
-Vater Glaube und Mutter Sehnsucht schütteln die
-schönen Häupter und blicken ratlos um sich &ndash; doch sieh!
-Licht, Sonnenschein überall um sie her, flutet über Blumen
-und Vöglein und Tiere hin, und</p>
-
-<p>»Ich,« spricht der Sonnenstrahl, »will die Liebe taufen.
-Ich dringe ihr ins Herz hinein, ich wohne in ihren Augen.
-In jedem Lächeln ihres Mundes zittere Sonnenschein, in
-jeder Bewegung ihrer Glieder herrsche Anmut, Freude,
-Wärme.« Und</p>
-
-<p>»Wir,« klingen sanfte und wunderbar eindringliche
-Stimmen, »wir wollen Paten sein.« Zwei Frauengestalten
-neigen sich zu jeder Seite der Wiege, in der die Liebe
-schlummert, so schön, so überirdisch schön, daß Glaube und
-Sehnsucht demütig niederknieen. Die wissen nicht, ist es
-ein und dieselbe, die zwei Gestalten angenommen hat, oder
-sind es zwei hehre Frauen, die da niedergestiegen sind aus
-den Wolken, die Liebe zu segnen. Wunderbar ähnlich sind
-sich die Schwestern, nur trägt die eine langwallende Gewänder,
-und sie hält ein lieblich Kindlein fest an ihr Herz
-gedrückt, und mild und rein ist das Lächeln ihres Mundes.
-Unverhüllt glänzen der andern herrliche Glieder, süß berauschend
-wirkt ihre Nähe, und heiße Glut entströmt den
-Augen.</p>
-
-<p>Die beugt sich nieder zur Blätterwiege und küßt das
-schlummernd Kindlein auf die unschuldigen Lippen, und
-spricht:</p>
-
-<p>»Deinen Körper gib hin, o Liebe, und all deine Sinne
-und jede Fiber deines Herzens!«</p>
-
-<p>Da legt die Erste segnend die Hand auf des Kindes Haupt:</p>
-
-<p>»Deine Seele gib,« hauchte sie, »und Mutterliebe sei
-dein Glück!«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Und siehe! Aus dem Kinde ist plötzlich ein Weib geworden,
-himmlisch schön, wie das Schwesterpaar &ndash;
-<a class="pagenum" id="page_004" title="4"> </a>
-es steht allein in all seiner Pracht auf der weiten, sonnigen
-Erde. So zieht die Liebe in die Welt hinaus, das Kind
-der Sehnsucht und des Glaubens, keusch wie Madonna,
-wonnig wie Venus &ndash; und das Zwergengeschlecht wendet
-sich ab von ihr, denn es kennt sie nicht. &ndash; Weiche Lüfte
-aber wehen und tragen das Elternpaar, das der Welt die
-Liebe geboren hat, hinan zum Himmel. Dort, zwischen
-den Sternen, wohnen nun wieder die Sehnsucht nach dem
-Glück und der Glaube an das Schöne.&nbsp;&ndash;</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_005" title="5"> </a>
-Der kleine Finger der Venus
-von Medici.</h2>
-
-
-<p>Es war einmal ein Sonntagskind, das wanderte in der
-Welt umher und suchte &ndash; es wußte selber nicht was.
-Aber es blieb nicht auf dem schönen, trockenen, breiten
-Wege, den schon so viele andere vor ihm gewandelt waren,
-sondern mit der, den Kindern eigenen Passion für das Unbequeme,
-lief es quer über die Straße, kletterte mühsam
-über einen großen Stein, tappste in eine Pfütze, wie es ja
-deren so viele in der Welt gibt, und als es erschrocken seine
-schönen, reinen Füßchen zurückzog, geriet es in den Straßenkot;
-da eilte es entsetzt weiter, stolperte auf der anderen
-Seite über einen noch größeren Stein und rannte mit dem
-Magen gegen eines der eisernen Gitter, die überall in der
-Welt herumstehen. Nun hatte vorläufig seine Reise ein
-Ende. Verdutzt sah es ein Weilchen das häßliche Gitter
-an, dann um sich und nun über sich, und es erblickte eine
-große, dunkle Wolke, die ballte sich zusammen aus all dem
-Dampf, der aus den Häusern, den Fabrikschornsteinen, den
-Lokomotiven aufstieg, und zog wie ein Heer Gespenster
-über den lieben Abendhimmel. Der schien seltsam bunt
-drunter hervor &ndash; glührot und rosenfarben und lichtgrau
-<a class="pagenum" id="page_006" title="6"> </a>
-und blau und zartes Grün &ndash; wie als ob er dem schwarzen
-Gespensterheer mit seinen Lichtelfen Trotz zu bieten gedächte.
-Aber die finstere Riesenwolke ballt sich immer
-drohender und trotziger zusammen, und da wird es dem
-Sonntagskinde ganz beklommen und bange ums Herz, und
-es stürzt davon, durch die Straßen, so schnell es seine Füße
-tragen können, und über ihm zieht die Wolke. Da aber
-verschwindet sie plötzlich, wie fortgeweht, und das Kind
-hält inne in seinem tollen Lauf, denn es steht vor einem
-goldenen Gitter, hinter dem hohe Bäume herüberwinken
-und ein süßer, feiner Duft emporzieht.</p>
-
-<p>»Ach,« denkt das Sonntagskind, »da drinnen muß es
-gut sein, ich möchte ausruhen, denn ich bin sehr müde &ndash;
-ob ich wohl hineinschlüpfen dürfte? &ndash; Ich will auch ganz
-leise sein.«</p>
-
-<p>Kaum hat es das gedacht, so öffnet sich die goldene
-Thür, sanft, wie von Feenhand, und das Sonntagskind
-schleicht vorsichtig hinein, sich noch einmal bang nach der
-schwarzen Wolke umschauend. &ndash; Richtig, ganz in weiter
-Ferne hängt sie und blickt drohend herüber.</p>
-
-<p>Nun ist das Sonntagskind drinnen in einem herrlichen
-Garten. Weg ist seine Müdigkeit; mit weitgeöffneten,
-glänzenden Augen wandelt es auf weichen Wegen unter
-hohen, ernsthaften Bäumen; mit zitternden Lippen saugt
-es süße, berauschende Düfte ein, es lauscht mit Herzklopfen
-den wonnevollen Tönen, von denen die Luft ringsum erfüllt
-ist. Wie tausend Nachtigallen Gesang klingt es, aber
-es sind nicht allein die kleinen Vöglein in den Zweigen,
-die so liebliche Melodieen erschallen lassen. Nein, jedes
-Blättlein, jede Blüte ist wie ein Echo und trägt die
-weichen, sehnsüchtigen Nachtigallentöne vieltausendfach weiter.
-Und all die Blumen &ndash; die Hyacinthen läuten mit ihren
-Glöckchen »Klingling! Ach, wie wonnig ist's hier!« und
-<a class="pagenum" id="page_007" title="7"> </a>
-»Dingdang, dingdang!« antwortet die blaue Glockenblume,
-»ich läute zur Abendmette der Natur!«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Die hohen, schneeigen Lilien senden ihre schweren, süßen
-Düfte nach oben, der sentimentale Jasmin, die neckische
-Syringe; und die schwermütige Narcisse wendet ihr weißes
-Blumengesicht sehnsüchtig dem Monde zu. Denn Nacht
-ist's geworden: Millionen blitzender Sterne sehen mit
-funkelnden Augen vom Himmel hernieder, und der Mond
-gleitet mit ruhigem Schein über den Garten hinweg, so
-hell und klar, daß das Sonntagskind die vielen zierlichen
-Gestalten sehen kann, kleine Elfen und Kobolde, die sich im
-Gras zwischen den Blumen tummeln, und die Nixen und
-Wasserelfen &ndash; auf den großen, grünen Blättern der Wasserrosen
-im See kauern sie und lassen sich schaukelnd hin und
-her treiben und greifen jauchzend nach dem glitzernden
-Sprühregen, den Tritonen im mächtigen Strahl gen Himmel
-senden und der, leuchtend wie Diamanten im Mondesglanz,
-zu ihnen niederfällt.</p>
-
-<p>In den lauschigen Ecken und Winkeln der Gebüsche
-stehen weiße Gestalten &ndash; sind's Menschen? Sie sind nackt,
-kaum mit einem leichten Flor bekleidet. &ndash; Sie sind schön,
-himmlisch schön, und das Sonntagskind tritt näher und
-faßt Mut, weil sie so gar lieb und gut blicken, und es berührt
-sie ganz vorsichtig und leise mit der Hand, streichelt
-die schönen, nackten Füße und &ndash; fährt erschrocken zurück,
-denn eiseskalt sind sie und tot.</p>
-
-<p>Doch sieh &ndash; bewegen sie sich nicht? Und horch &ndash;
-hörst Du nicht leises Kichern, Flüstern, neckisches Lachen
-&ndash; ach, und klagendes Schluchzen? &ndash; Die Hand des Sonntagskindes
-hat sie berührt &ndash; sie leben, die schönen, marmornen
-Menschenbilder, das rote, warme Blut rollt durch
-ihre Adern, sie lächeln, es bebt ihr Fuß zum Weiterschreiten.
-Da neigen sie sich vor ihrer Königin &ndash; die steht in ihrer
-<a class="pagenum" id="page_008" title="8"> </a>
-Mitte, ein wonnevoll Weib, zierlich treten ihre schlanken
-Füße den Boden, die linke Hand deckt schamhaft den Schoß,
-die rechte den schneeigen Busen, zur Seite geneigt hält sie
-das liebliche Haupt, die holde Venus von Medici &ndash; und
-nun fassen sie sich bei den Händen, die herrlichen Göttergestalten
-und die Elfen und Nixen mit ihrer weichen,
-eidechsenhaften Schmiegsamkeit und die komischen Kobolde
-mit ihren langen Bärten und listigen Aeuglein und drolligen
-Bewegungen; sie tanzen einen zierlichen, wunderlichen
-Reigen um das Sonntagskind im Kreise, und sie singen:</p>
-
-<p>»Bleib' bei uns &ndash; o hier ist's gut sein! Hier ist Schönheit,
-hier ist Liebe &ndash; zu süßer Freude wandelt die Lust
-sich, zu mildem Frieden Angst und Unruh' &ndash;&nbsp;&ndash; Ach, und
-der Schmerz, der wild durchtobt des Menschen Herz &ndash; er
-löst sich auf in sanftes Klagen, die Sorge wird hier zu
-Grab' getragen, und aller Kummer lind gestillt.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Hörst Du der Nachtigall Gesang? &ndash; So singt die
-Sehnsucht in Deinem Herzen.</p>
-
-<p>»Hörst Du der Blumen Geläut? &ndash; So läuten sie Deine
-bange Seele zur Ruh.«</p>
-
-<p>Und horch! Welch wunderlieblich Geklinge und Gesinge,
-wie Glockentöne in weiter Ferne! Näher kommt's &ndash; immer
-näher &ndash; husch! der lustige Kreis stiebt auseinander,
-blitzschnell, wie er gekommen, und vor dem Sonntagskinde
-steht eine hehre, schöne Frau, deren zarten Leib umgibt ein
-Kleid von Rosenblättern, auf dem wonnesamen Haupt
-strahlt eine Sternenkrone, die Flügel des Königsfalters
-trägt sie an den Schultern, und ihre Füße wandeln auf
-Blumen.</p>
-
-<p>Sie lächelt &ndash; da zittert die Luft vor Freude &ndash; Sie
-spricht &ndash; da lauschen Mond und Sterne. &ndash; »Haben sie
-Dich erschreckt da draußen in der Welt, Du Menschenkind?«
-sagt sie, »hat die große, schwere Wolke Dir das Herz
-<a class="pagenum" id="page_009" title="9"> </a>
-beklemmt und Dir den Atem genommen? Und bist Du
-zu mir geflüchtet, in den Garten der Wonne, in mein
-Königreich, das Reich der Phantasie? &ndash; Ich wußte es
-wohl, Ihr Menschenkinder könnt ohne mich nicht bestehen.
-Da geht ein lautes Gerede, ein wildes Geschrei durch die
-Welt: sie brauchen mich nicht, <em class="ge">nur</em> Natur wollen sie, und
-nur im groben Alltagskleid, nicht im glänzenden Schmuck,
-im schimmernden Geschmeid, womit ich sie überschütte. &ndash;
-Aber siehst Du, Du Sonntagskind, kommst doch geflüchtet
-zu Deiner Trösterin, ohne die Du die Natur nicht ertragen,
-ohne die Du nicht leben kannst. &ndash; Und wenn Du wieder
-hinausziehst, dann sag' es ihnen draußen in der Welt, was
-Du geschaut in meinem Reich. &ndash; Ach, gerade jetzt sollten
-sie es wissen, wo die dunkle Wolke schwer über den Völkern
-schwebt und sie darnieder drückt.</p>
-
-<p>»<em class="ge">Weißt</em> Du, warum gerade jetzt? <em class="ge">Willst</em> Du es
-wissen?«</p>
-
-<p>Sie blickt um sich und klatscht in die Hände. Und
-siehe &ndash; ein wunderlicher Geselle kommt gehüpft, getollt,
-gesprungen: nackt ist er und zart von Gliedern, mit schelmischem
-Mund und ernsthaften Augen, einen Bogen trägt
-er in der Hand und einen Köcher mit Pfeilen an der
-Hüfte. &ndash; Sah ihn das Sonntagskind nicht dort im Syringengebüsch
-auf einer Säule stehen?</p>
-
-<p>Doch nun &ndash; einen Purzelbaum schlägt er auf dem
-weichen Gras und ist zum eisgrauen Männlein geworden,
-das lustig mit den Aeuglein zwinkert und allerlei Kapriolen
-macht, und plötzlich schwebt er in der Luft, so fein und
-zart, als sei er aus Mondenschein gewebt, als sei er auf
-Blumen geboren, als sei er mit Tautropfen genährt. Und
-nun wieder trottelt er daher wie ein kleiner Brummbär
-und schlägt mit einer Keule um sich, daß die Nixchen und
-Elflein entsetzt zur Seite weichen.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_010" title="10"> </a>
-»O, laß die Possen, Du närrischer Kauz,« lächelt Frau
-Phantasie, »nimm Deine wahre Gestalt an, mein Gesell«
-&ndash; da klingelt's wie von silbernen Glöckchen, die trägt das
-wunderliche Kerlchen an seiner Schellenkappe auf dem
-Haupte, und legt sein Gesicht in ernsthaft-drollige Falten,
-hängt seinen Bogen über den Rücken, als gebrauche er ihn
-nicht mehr, und schreitet umher mit gravitätischen Schritten.</p>
-
-<p>»Ist das Deine wahre Gestalt?« Frau Phantasie
-schüttelt das schöne Haupt&nbsp;... »nun, sei es drum. Sieh',«
-sagt sie zum Sonntagskind gewandt, »den Mittler zwischen
-mir und den Menschen. Nenne ihn Amor, Puck, Geist,
-wie Du willst; kannst ihn auch Humor heißen, das hört
-er am liebsten. Geh' mit ihm &ndash; die Welt soll er Dir
-zeigen, wie sie uns Göttern erscheint. An seiner Hand
-wird es Dich weniger schmerzen.«</p>
-
-<p>Sie gleitet dahin wie der Mondesstrahl, die hehre
-Königin, und ihr nach durch Busch und Zweig, über
-Blumen und Moos huscht das lose Volk, Leuchtkäfern gleich,
-die in Abendluft baden, und in der Ferne tönt neckisch
-Gelache.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Komm',« sagt der närrische Geselle, und schüttelt seine
-Kappe, daß die Glöckchen klingen, »reich' mir Deine Hand,
-armes Sonntagskind. Hab Dich schon gesehen draußen in
-der Welt, wie Du über Steine gestolpert bist und in Pfützen
-getreten hast. Ja, es ist immer sicherer, auf den hübsch
-ausgetretenen Pfaden der Alltäglichkeit zu wandeln, als
-seinen eigenen Weg gehen zu wollen. Hast Dich zur rechten
-Zeit in meiner Mutter Phantasie Garten gerettet, sonst
-hättest Du Dir sicher noch einmal an irgend einem Weltgitter
-Kopf und Herz eingerannt, Du dummes Sonntagskind,
-Du. &ndash; Also ich soll Dir zeigen, wie es in der Welt
-eigentlich aussieht. Wohl kann ich Dir's erklären, denn
-ich treibe mich viel draußen herum. Einige in der Welt
-<a class="pagenum" id="page_011" title="11"> </a>
-schwärmen für mich, andere sagen, ich sei ein wahrer Teufel.
-Wenn ich mit der Schellenkappe klingele, verstehen mich die
-Wenigsten; da muß ich oft schon mit der Plumpkeule dreinschlagen,
-und dann schreien sie und sagen, ich hätte ihnen
-weh gethan. &ndash; Komisches Volk, diese Menschen!«</p>
-
-<p>Jetzt sind sie am Ende des Gartens angelangt. Eine
-hohe Mauer scheidet ihn von der Außenwelt; an der ranken
-sich wilder Wein und Epheu, und blaue Clematis hängen
-hernieder und rote Trompetenblumen, so dicht, daß man
-von den rauhen Steinen nichts gewahr wird, wie nur die
-runden Glasfensterchen, die hie und da in die Quadern
-eingefügt sind.</p>
-
-<p>»Sieh,« sagt der närrische Sohn der Phantasie und reicht
-dem Sonntagskind eine große Trompetenblume als Fernrohr,
-»die ganze Welt zieht wie die Bilder eines Guckkastens
-an unsern Fensterchen vorüber. Mußt aber nicht durch
-dieses hier sehen, das ist die rosenfarbene Brille, durch das
-schauen nur die Faulen, die ihre Gedanken nicht anstrengen
-mögen &ndash; <i>nota bene</i>, wenn sie welche haben &ndash; und jenes
-Fenster dort ist gelb wie der Neid und dieses rot wie Blut,
-als ob die Welt in Feuer stünde. Nein, schau hierher &ndash;
-Clematis und Weinranken haben ein schönes, kleines Guckloch
-gebildet, ein Vöglein, das früh morgens zur Sonne
-singt, hat sich drüber ein Nestlein gebaut &ndash; <em class="ge">das</em> Glas
-ist klar und wahr wie meiner Mutter Augen. Komm, Du
-Sonntagskind, laß mich über Deine Schulter lehnen und Dir
-sehen helfen.«</p>
-
-<p>»Nein, wie ist die Welt klein!« ruft das Sonntagskind
-verwundert.</p>
-
-<p>»Nicht wahr?« antwortet der Geselle, »und Du hast sie
-immer für so riesengroß und wichtig gehalten.«</p>
-
-<p>»Und die Menschen &ndash; wie Zwerge! Sieh' nur das
-Gewimmel!« lacht das Sonntagskind.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_012" title="12"> </a>
-»Ja, das macht Spaß, die Welt übersehen zu können,«
-nickt der Geselle und die Glöckchen an seiner Schellenkappe
-klingeln dazu.</p>
-
-<p>Da draußen in der Welt krabbelt's, prustet's, keucht's
-und läuft und schiebt und stößt &ndash; die Großen drängen
-die Kleinen zur Seite, die Starken schlagen die Schwachen
-tot, und die Armen wehklagen gen Himmel.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Wie eilig sie es alle haben!« wundert sich das Sonntagskind.</p>
-
-<p>»O sieh' nur, sieh' &ndash; den alten Mann, einen Kahlkopf
-hat er und unterm Kinn einen grauen Ziegenbart, und die
-Augenbrauen stehen wie Borsten in die Höhe und die Augen
-glitzern gierig darunter hervor. &ndash; Sieh', wie er an dem
-Sack zerrt, wie Gold schimmert es durch die Löcher &ndash; er
-kann ihn kaum regieren und Angst und Zornesthränen
-rinnen aus seinen Augen.«</p>
-
-<p>»Ja, und er trägt rot und weiß gestreifte Hosen und
-einen blauen Rock,« sagt Puck, »und er kaut Tabak, und
-er flucht englisch, wenn die andern seinem Geldsack zu nahe
-kommen.«</p>
-
-<p>»Ach, und jener dort &ndash; mit großen Sprüngen, mit
-ellenlangen Schritten setzt er dem kleinen Irrlicht nach,
-das über Berg und Thal, durch Sumpf und Morast vor
-ihm herhüpft, und sieh' nur, wie seine Frau sich anstrengt,
-mitzukommen.«</p>
-
-<p>»Sieh, sie hebt ihre schönen, seidenen Kleider auf, daß
-sie nicht schmutzig werden, und patsch! springt sie mit
-beiden Füßen in die Wasserlache &ndash; nachher läßt sie die
-Kleider wieder drüber hängen &ndash; dann sieht man ihre
-beschmutzten Füße nicht &ndash; und guck! das Irrlicht sieht
-aus wie ein Ordensbändchen.«</p>
-
-<p>»O, aber hier, wie schrecklich &ndash; sie bücken sich tief zur
-Erde, damit andere auf ihre Rücken treten können und
-<a class="pagenum" id="page_013" title="13"> </a>
-weiter schreiten dort hinauf, wo es so glitzert und gleißt
-wie von Prunk und Geschmeide. &ndash; Und dort läßt sich
-einer schlagen &ndash; ach, geduldig und wehrt sich nicht!«</p>
-
-<p>»Liebes Kind,« sagt der Gesell, »die sind aus dem
-Land, wo die Bedienten gut geraten.«</p>
-
-<p>»Lieber Gesell &ndash; o siehst Du den Mann dort in der
-Ferne &ndash; mit bleichen Lippen, mit rollenden Augen? Siehst
-Du, wie er mordet und zittert und flucht und betet, wie
-er angstvoll sich windet&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Liebes Kind &ndash; der sitzt auf einem Thron, der wackelt
-hin und her, und er trägt den Wahnsinn als Krone und
-als Scepter eine blutrote Brandfackel &ndash; wenn er die von
-sich schleudert, dann bebt die Erde von Kanonendonner und
-Menschengestöhn &ndash; und ›Väterchen‹ nennt sich der Mann,
-liebes Sonntagskind.«</p>
-
-<p>»Ach, mein Geselle, wo wollen die vielen Menschen hin,
-die dort mit den feinen, kostbaren Kleidern angethan, die
-ein mit Silber beschlagenes Buch und einen Geldbeutel in
-den Händen tragen, die, mit den frommen, ergebenen Gesichtern&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»In die Kirche, Du dummes Sonntagskind, auf daß
-der Prediger ihnen in tönenden, salbungsvollen Worten
-die Angst vom Herzen rede. Dann thun sie, als ob sie's
-glauben, was er sagt, und gehen neugestärkt nach Hause
-und &ndash; leben weiter.«</p>
-
-<p>»Und siehst Du jene Schar dort, mein Geselle, Ballettänzer
-scheinen sie zu sein. Hei! was sie für Sprünge
-machen! &ndash; Schau, die wunderlichen Gesten, und wie elegant
-sie zu posieren verstehen &ndash; dem Publikum eine rechte
-Augenweide. Aber doch &ndash; ich glaube sie thun nur so, es
-ist ihnen nicht wohl ums Herz &ndash; sie schauen bleich aus,
-trotz Schminke und Puder. &ndash; Sag, mir, was sind's für
-Leute?«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_014" title="14"> </a>
-»Liebes Kind &ndash; Litteraten sind's, moderne aus dem
-neunzehnten Jahrhundert, und die barocken Sprünge und
-eleganten Posen machen sie aus Angst, um sich und das
-Publikum d'rüber hinwegzutäuschen.«</p>
-
-<p>»Und, mein Geselle, sieh' den Mann dort hinter dem
-Ofen, in Schlafrock und Pantoffeln, mit langer Pfeife und
-dem Bierseidel in der Hand. &ndash; Recht unzufrieden scheint
-er mir zu sein, er rückt unruhig hin und her &ndash; horch! er
-schilt und gebraucht böse Worte.«</p>
-
-<p>»Ja, liebes Kind &ndash; das Bier schmeckt nicht, und die
-Kartoffeln sind mißraten, und die Pfeife qualmt und durch
-die Schlafrockärmel pfeift der Wind, und die Pantoffeln
-sind unbequem. Da hadert er mit seinem langmütigen
-Herrgott im Himmel droben, mit dem Brauersknecht, dem
-Nigger, dem Schuster und am meisten mit seiner lieben
-Frau &ndash; und es ist doch nur die Angst, die ihn in seiner
-eigenen Haut sich nicht wohl fühlen läßt. &ndash; Ja, und
-›Philister‹ nennt man den Mann, liebes Sonntagskind.«</p>
-
-<p>»Ach, und, mein Geselle, dort jene Hungernden, Darbenden,
-Elenden, jene Neidischen, Unzufriedenen, Hassenden,
-auf was warten sie finstern Auges, trotziger Stirn, rachsüchtigen
-Herzens? Und dort jene Ballgeschmückten, die
-im Reigen sich drehen! Was ziehen sie in ihren Masken
-und Flittern einher, als wollten sie die Freude zu Grabe
-tragen?«</p>
-
-<p>Da faßt der Geselle das Sonntagskind bei den Schultern
-und wendet es ein wenig zur Seite:</p>
-
-<p>»Schau dort hinüber, liebes Kind,« sagt er, »sieh' weithin
-über die Welt!«</p>
-
-<p>Da steht auf einem Berge, hoch über dem Gewirr, Gewimmel,
-Gehast, ein großes, starkes Weib, das schwingt
-mit grimmigem Lächeln, mit finsterem Angesicht eine Peitsche
-in ihren Händen, deren vielteilige, zackige Enden zischend
-<a class="pagenum" id="page_015" title="15"> </a>
-über die ganze Welt hinsausen &ndash; und hohnlachend sieht
-das Riesenweib, wie die Menschen angstvoll zusammenfahren
-und bei jedem Schlage noch verwirrter durcheinander
-rennen.</p>
-
-<p>»Die Wolke, die große Wolke!« ruft das Sonntagskind
-entsetzt, »siehst Du, wie sie über die Welt hinfährt? Hörst
-Du sie zischen und brausen? Das ist sie, die mich so erschreckt!«</p>
-
-<p>»Ja,« antwortet der neben ihm und richtet sich auf
-zu voller Höhe und seine Augen blitzen.</p>
-
-<p>»Das ist die Wolke &ndash; das ist die große Angst, die
-schwer auf der Welt liegt, die Angst der Völker vor etwas
-Entsetzlichem, etwas Furchtbarem, das über sie kommen
-wird, wie der Blitz durch die Wolken fährt. &ndash; Wird es
-sie vernichten? Wird es die Welt zerschmettern, zu nichts
-zertrümmern &ndash; oder wird aus dem Chaos ein Neues entstehen,
-ein Herrliches, wie der Vogel Phönix aus der Asche!
-Sie wissen's nicht und beben vor Furcht und wagen kaum,
-tief Atem zu holen.«</p>
-
-<p>»Gibt es denn gar kein Mittel, um die Welt von dieser
-wahnsinnigen Angst zu befreien, auf daß sie ihr kühn entgegenblicke
-und ihre ganzen Kräfte anstrenge, dem Schrecklichen
-mit Vernunft entgegen zu arbeiten?« fragt das
-Sonntagskind schüchtern.</p>
-
-<p>»Ach, liebes Sonntagskind,« lächelt der Geselle und
-schüttelt seine Glöckchen, »das Mittel ist schon da und die
-Menschen kennen's auch, nur haben sie es vergessen. &ndash;
-&ndash; All die große, schwere Angst der Völker würde sich in
-nichts verflüchtigen, wenn sie nur ein klein wenig mehr
-an &ndash; den kleinen Finger der Venus von Medici denken
-wollten.«</p>
-
-<p>»An den kleinen Finger der Venus von Medici?« fragt
-das Sonntagskind mit großen, verwunderten Augen.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_016" title="16"> </a>
-»Komm,« sagt der närrische Geselle, und schweigend
-wandern sie durch die Nacht tief in den Garten hinein.
-Da stehen sie vor einem dichten Gebüsch, von lauter seltsamen
-Sträuchern gebildet; Pinien wiegen ihre schlanken
-Wipfel und dunkler Lorbeer schmiegt seine Zweige ineinander.
-Aber des Mondes Strahl dringt doch hindurch &ndash;
-oder ist es das schöne Weib dort, das den wundersamen
-Glanz ausstrahlt? Da steht sie in ihrer schimmernden,
-weißen Nacktheit inmitten all dem Grünen &ndash; zierlich treten
-ihre schlanken Füße den Boden, die linke Hand deckt schamhaft
-den Schoß, die rechte den schneeigen Busen, und der
-wunderbare kleine Finger dieser rechten Hand spreizt sich
-ein wenig von den andern ab, zur Seite geneigt hält sie
-das schöne Haupt &ndash; lauscht sie?&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Betäubt von all ihrer Schönheit sinkt das Sonntagskind
-in die Knie. Der Geselle aber tritt bescheiden hin
-vor das wonnevolle Weib, schleudert seine Narrenkappe
-zur Seite und faltet bittend die Hände:</p>
-
-<p>»Hehre Göttin, süße Königin, Dein Knecht, dem Du
-stets Dich huldvoll geneigt hast, dem Du so manchesmal
-aus der Not geholfen, in die ihn sein Uebermut gestürzt
-hat &ndash; Dein dankbarer Liebling naht sich Dir mit einer
-demütigen Bitte: Gib diesem Menschenkinde, das zu uns
-in seinem Kummer geflüchtet ist, einen Trost auf seinen
-Weg, den es der Welt verkünden kann. Laß es die Macht
-Deines vornehmen kleinen Fingers ahnen &ndash; zeig' ihm,
-warum Du ihn so entzückend neckisch gespreizt hältst.«</p>
-
-<p>Da lächelt Venus: »Nun, wozu sollte er denn sonst
-wohl gut sein,« sagt sie schelmisch, erhebt die rechte Hand,
-läßt sanft den kleinen gespreizten Finger in die zierliche
-Ohrmuschel gleiten und schüttelt ihn ein wenig &ndash; dann
-lauscht sie lächelnd freudig in die Ferne.</p>
-
-<p>»Ich höre wieder die bebenden Laute der Liebe und
-<a class="pagenum" id="page_017" title="17"> </a>
-des Erbarmens &ndash; himmlisch wohllautend dringen sie in
-mein Ohr!«</p>
-
-<p>»Sieh', kleines Sonntagskind,« sagt der ernsthafte Geselle,
-»wie die Venus mit ihrem kleinen Finger die Spinnenweben
-der Lüge und Heuchelei und Hartherzigkeit aus
-ihrem Ohr hinaus schüttelt, so sollten es auch die Völker
-thun, dann würde die große, schwere Angst von ihnen
-weichen und die bebenden Laute der Liebe und des Erbarmens
-auch an ihr Ohr dringen.</p>
-
-<p>»Pah,« lacht er dann, nimmt seine Schellenkappe auf
-und wirft sie in die Luft, daß die silbernen Glöckchen
-klingeln, »armes Sonntagskind &ndash; die Welt wird Dich
-steinigen, wirst Du ihnen das verkünden. Lache über sie,
-so wie ich, das ist das Einzige, was sie fürchtet.«</p>
-
-<p>Und mit immer länger werdenden Schritten, riesengroß
-anwachsend, ist er im Mondenlicht verschwunden.</p>
-
-<p>Dem Sonntagskinde aber hat die Venus gelächelt &ndash;
-tiefer Friede deckt seine schweren Augenlider.</p>
-
-<p>Hell scheint die Sonne ihm ins Angesicht, es steht auf,
-schaut verwundert um sich &ndash; dann erhebt es seine rechte
-Hand und schüttelt mit dem kleinen Finger ein wenig im
-Ohr &ndash; es lauscht &ndash; eine Lerche steigt jubelnd gen Himmel
-&ndash; und in ganz weiter, weiter Ferne hängt ein dunkles
-Wölkchen am Horizont.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_018" title="18"> </a>
-Der gefesselte Cupido.</h2>
-
-
-<p>Eines Tages saß Cupido &ndash; ich meine nicht den patentierten,
-konzessionierten Heiratsvermittler und Rechenmeister
-des neunzehnten Jahrhunderts, sondern das liebe, mutwillige
-Bübchen, von dem Anacreon erzählt und Goethe in
-seiner »Brautnacht«&nbsp;&ndash;, der saß eines Tages im Olymp
-und langweilte sich. Er hatte zwar eben erst allerlei
-Schabernack verübt, hatte sogar dem Vater Zeus einen
-Brand-Pfeil ins Herz gesandt, so daß er nicht wußte, nach
-welcher hübschen Erdentochter er zuerst schmachten sollte,
-hatte versucht, die lange Artemis anzuschießen, aber vergebens,
-ebenso die Athene; und aus Rache dafür, daß sie
-ihm ihren kolossalen Minervaschild vorhielt, zupfte er ihre
-Eulen, die sie just fütterte, am Schwanz, so daß sie entrüstet
-»Huhu« sagten. Tante Juno hatte ihm sehr energisch
-auf die Finger geklopft, als er den Nymphen allerlei
-süße Dummheiten ins Ohr flüsterte und schließlich sogar
-den Dienerinnen der Vesta nachstellte; da war er zu seiner
-holdseligen Mutter Aphrodite geflüchtet, und sie breitete
-ihm sehnsüchtig die Arme entgegen, und schwirr, da flog
-der Pfeil und stak ihr im Herzen. Der böse, liebe Junge
-&ndash; aber Aphrodite lächelte &ndash; sie war's ja gewohnt! &ndash;
-<a class="pagenum" id="page_019" title="19"> </a>
-Nun saß Cupido auf einer Wolke und bammelte mit den
-Beinchen und guckte zur Erde hinab und langweilte sich.
-Da kam Hermes daher geflogen, der hatte irgend einer
-Schönen im Auftrage des Vaters Zeus eine Düte Ambrosia
-gebracht und dafür ein Stelldichein verabredet. Er
-mochte den Cupido gut leiden und hockte sich ein wenig
-zum Ausruhen neben ihn.</p>
-
-<p>»Du &ndash; weißt Du, was sie da unten mit Dir gemacht
-haben?« fragte er ihn.</p>
-
-<p>»Nee &ndash; was denn?«</p>
-
-<p>»Erst 'mal haben sie Dich riesig elegant angezogen, im
-schwarzen Frack und Cylinder, und sie sagen, Du hießest
-gar nicht Amor, sondern Puck; und außerdem wäre es unanständig,
-wenn man nackt ginge. Und dann haben sie
-Dir eine große Brille aufgesetzt, weil Du blind wärest, sagten
-sie und haben Dir Deinen Köcher mit Goldstücken statt mit
-Pfeilen gefüllt, das zöge besser, sagten sie, und haben Dir
-statt eines Bogens ein Tintenfaß in die Hand gegeben und
-Dir eine Feder hinters Ohr gesteckt, damit Du gleich die
-Ehekontrakte ausschreiben könntest, sagten sie, und wenn Du
-doch 'mal ganz splitterfadennackt, ganz natürlich, ohne alle
-Zuthaten zu ihnen kommen wolltest &ndash; sie möchten Dich
-eigentlich ganz gern so, sagten sie &ndash; dann müßtest Du aber
-durchs Hinterthürchen schlüpfen, damit dich ja auch keiner
-sähe, denn sonst genierten sie sich, sagten sie.«</p>
-
-<p>»Beim heiligen Kriegsungewitter!« fluchte Cupido &ndash;
-»das ist ja eine ganz urweltliche Bande!«</p>
-
-<p>»Hör' nur weiter &ndash; es kommt noch besser. Da hat
-sich einer &ndash; so'n ganz vertrocknetes Kerlchen mit einer
-Brille auf der Nase, auf einen hohen Stuhl gesetzt, und
-hat mit dem Finger &ndash; weißt Du, mit so einem langen
-knöcherigen &ndash; auf den Tisch geklopft und hat gesagt: Es
-gäbe Dich gar nicht, Du wärest eine Mythe, und die Liebe,
-<a class="pagenum" id="page_020" title="20"> </a>
-das wäre eine Nervenaufregung, die leicht in Irrsinn übergehen
-könnte, und deshalb hätten die weisen Männer Gesetze
-gemacht, nach denen die Gefühle geregelt würden.«</p>
-
-<p>Da sprang aber Cupido in die Höhe:</p>
-
-<p>»Heilige Mutter Aphrodite! Gesetze? Für mich? &ndash;
-Na &ndash; das möchte ich mal sehen. &ndash; Liebster, bester Hermes,
-geh' &ndash; sattle mir schnell den blanken Stern da, ich will
-hinunterreiten, das muß ich mir aus nächster Nähe betrachten!«</p>
-
-<p>Und da saß er schon auf seinem glänzenden Stern und
-fuhr hinab, und auf der Erde sagten sie: Da fällt eine
-Sternschnuppe.</p>
-
-<p>Es kam aber dem Cupido furchtbar kalt vor im neunzehnten
-Jahrhundert, obwohl es im August war, wo die
-meisten Sternschnuppen fallen, und bei Sonnenaufgang fror
-es ihn ganz erbärmlich, trotz des Umschlagetuches, das ihm
-das alte Hökerweib geschenkt hatte. Die saß schon am
-ganz frühen Morgen mit ihren Körben auf dem Markte,
-und wie sie den nackten, kleinen Gesellen daherkommen sah,
-da wurde es ihr so weich und sehnsüchtig ums Herz, sie
-meinte, es wäre Mitleid &ndash; es war aber die Erinnerung:
-sie sah sich wieder jung und hübsch, sie war beim Tanz
-unter der Linde, der schönste Bursche schwang sie im Reigen
-&ndash; heißa! &ndash; hoch in die Luft, daß die Röcke flogen, und dann
-küßte er sie. Und da machte sie die Augen auf, und vor
-ihr stand wieder der drollige kleine Junge. Der nahm
-das Höckerweib frischweg beim Kopf und gab ihr einen
-Kuß für das Umschlagetüchelchen, das sie ihm gegen die
-Kälte geschenkt, und die Alte faltete die Hände und träumte
-von ihrer Jugend. &ndash;&nbsp;&ndash; Den Cupido fror es aber doch
-an den nackten Beinchen, und er dachte: »Ich will doch
-sehen, ob ich nicht irgendwo hineinschlüpfen kann und mich
-wärmen.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_021" title="21"> </a>
-Doch da kam er schön an.</p>
-
-<p>»Was willst Du hier?« fuhren sie ihn im ersten Hause
-an &ndash; »Du bist so unbequem &ndash; mach', daß Du fortkommst!«
-Im zweiten öffneten ihm zwei alte Jungfern die Thür,
-liefen kreischend davon und schrieen:</p>
-
-<p>»Hülfe &ndash; ein Sansculotte &ndash; er hat nichts an!« Und
-der dicke Mops saß auf dem Sofa und bellte ihm nach.
-Im dritten Hause fragten sie höflich verwundert: »Was
-wollen Sie hier? Wir sind ja verheiratet.«</p>
-
-<p>Im vierten hielten sie ihm einen Ehekontrakt unter die
-Nase, und im fünften sprachen sie von Gesetzen und &ndash;
-da wurde Cupido böse und sagte:</p>
-
-<p>»Wartet, ich will Euch! Ihr wollt mich hier verleugnen?
-Bei unserer lieben Frau von Milo &ndash; Ihr sollt es büßen!«
-Er schwang sich in die Lüfte, spannte den Bogen, und &ndash;
-huidi! &ndash; da schwirrten die Pfeile! Er schoß blindlings
-drauf los, ganz einerlei, ob nach Grundsatz oder Gesetz &ndash;
-aber sie trafen. Und nun gab es eine heillose Verwirrung
-unter den Menschen; sie hatten geglaubt, den Liebesgott
-hinwegspotten und -klügeln zu können, und da war er plötzlich
-mitten unter ihnen und sie duckten sich, bange, wehklagend
-und nach Hülfe wimmernd. &ndash; Da ist ein Mägdlein
-gekommen. Wie Cupido das erblickte, verschwand der
-Zorn aus seinem Angesicht, lächelnd sah er es an &ndash; und
-wählte seinen allerschönsten Pfeil, mit dem er schon einmal
-seine holde Mutter geritzt hatte. &ndash; Es war aber ein trotzig
-Mägdelein. Keck schauten die Augen in die Welt hinein
-und sein roter Mund sagte:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;»Was frag' ich nach Liebe?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;Mir liegt's nicht im Sinn!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;Wohl hab' ich ein Herzel&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;Doch pocht es nicht drinn!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und daß Ihr's nur wißt, und daß Ihr's nur wißt:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es hat mich noch keiner, noch keiner geküßt!</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;Zwar hab' ich ein Mündlein<a class="pagenum" id="page_022" title="22"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;Und seht nur &ndash; wie rot!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;Und ach &ndash; wie kann's lachen&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;Das macht Euch viel Not!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Doch daß Ihr's nur wißt, doch daß Ihr's nur wißt:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es hat mich noch keiner, noch keiner geküßt!«</td></tr>
-</table>
-
-<p>Horch! &ndash; da schwirrt es und singt und klingt! Und
-sieh' &ndash; da steckt der Pfeil in der schönen, weißen Mädchenbrust&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Das trotzige Mägdelein hat mit der Hand ans Herze
-gegriffen, ist glührot geworden, ist scheu davon geschlichen.
-Aus der Ferne tönt es:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Nun frag' ich nach Liebe&nbsp;&ndash;&emsp;&emsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Nun trag' ich's im Sinn!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Nun fühl' ich mein Herze!&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es pocht so darin!«</td></tr>
-</table>
-
-<p>Und Cupido lauscht, biegt sich vor und lächelt, blinkt
-mit den Schelmenaugen, hebt deutend das weiße Fingerchen,
-und spitzbübisch singt er ihr nach:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Und daß Ihr's nur wißt, und daß Ihr's nur wißt:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Just hat sie der Liebste, der Liebste geküßt!«&nbsp;&ndash;</td></tr>
-</table>
-
-<hr />
-
-<p>Gerade da kam ein Mann des Weges gegangen, der
-war ein Sonntagskind, der konnte schauen, was andern
-verborgen war &ndash; der hat den kleinen, herzigen Schlingel
-stehen sehen, wie er dem trotzigen Mägdelein nachgehöhnt
-hat. »So sollst du ewig sein!« sagte er.</p>
-
-<p>Cupido aber ist ihm entgegengehüpft, denn der Mann
-war ein Künstler, und die Künstler stehen auf gar vertrautem
-Fuße mit all dem lustigen, alten Göttergesindel &ndash;
-<a class="pagenum" id="page_023" title="23"> </a>
-er ist geduldig mit ihm gegangen und hat sich in marmorne
-Fesseln schlagen lassen. Und so steht er da in der ganzen
-Pracht seiner Schönheit, ein wenig nach vorn geneigt, das
-süße Schelmengesicht voll Sonnenschein, das Fingerchen erhoben
-und deutet auf euch, die er euch eben mitten ins Herz
-getroffen hat &ndash; und lachend klingt's von seinen Schelmenlippen:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Und daß Ihr's nur wißt, und daß Ihr's nur wißt:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Nun wird die Liebste vom Liebsten geküßt!«</td></tr>
-</table>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_024" title="24"> </a>
-Psyche.</h2>
-
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl"><i>»Ich saz ûf eime steine,</i></td></tr>
- <tr><td class="tdl"><i>und dahte bein mit beine:</i></td></tr>
- <tr><td class="tdl"><i>dar ûf sazt ich den ellenbogen:</i></td></tr>
- <tr><td class="tdl"><i>ich hete in mîne hant gesmogen</i></td></tr>
- <tr><td class="tdl"><i>daz kinne und ein mîn wange,«</i></td></tr>
-</table>
-
-<p class="in0">sagt Walter von der Vogelweide. So sitze ich im Gips-Museum
-und träume vor mich hin und lasse mir von
-Antinous verliebte Blicke zuwerfen.</p>
-
-<p>O, Du Abbild erster, toller, süßer Liebe!</p>
-
-<p>Erste Liebe &ndash; wo man liebt, ich möchte sagen, um zu
-lieben, um sein eigen Herz einmal pochen zu hören, um
-voll Seligkeit zu verzweifeln, und weinend zu jubeln &ndash;
-wo ein liebes Auge, eine schöne Gestalt, ein lustig-gutes
-Lachen, einem vollauf Grund genug zum Lieben scheint.</p>
-
-<p>Später freilich, dann, meine ich, wenn die wahre, einzige,
-ewige Liebe über einen kommt, wenn man mit vollem
-Verstande, mit ganzer Ueberlegung, mit festem Willen liebt,
-dann &ndash; ja, dann verlangt man freilich mehr, wie Du,
-schöner Antinous, bieten kannst.</p>
-
-<p>Sieh', der letzte, warme Sonnenstrahl hängt aufleuchtend,
-zögernd an seinem holden Antlitze.</p>
-
-<p>Er lächelt.&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_025" title="25"> </a>
-Der Faun da hinter ihm guckt schelmisch um die Ecke:
-»Reizender Bengel! Nicht wahr?« grinst er vergnügt, und
-die zwölf Apostel am Sarge des heiligen Sebald schüttelten
-vorwurfsvoll ihre bärtigen Häupter. Warum, o meine
-hochverehrten Herren, begaben Sie sich auch in diese heidnisch-vergnügte
-Gesellschaft? Wird es Ihnen nicht ganz
-sonderbar zu Mute?</p>
-
-<p>Es geht ein wunderlich Flüstern durch den Saal und
-ein Beben durch die nackten, weißen Götter-Menschenleiber.
-Mir schwimmt es vor den Augen und mein Herz
-klopft. Soll ich fliehen? Schnell zur Türe!</p>
-
-<p>Ah, die ist geschlossen! Sie haben mich vergessen in
-meiner Ecke hinter den zwölf Aposteln, und ich bin allein
-im ganzen Haus &ndash; allein, und doch in der allerbesten
-Gesellschaft. Mir ahnt, jetzt wird sich etwas begeben, etwas
-wunderlich Liebliches, himmlisch Schönes. Ein seltsames
-Leben und Weben zittert in der ganzen Luft, und ich verstecke
-mich still und neugierig und warte &ndash; worauf? Ich
-weiß es selber nicht.</p>
-
-<p>Doch &ndash; was ist das? Träume ich? Wache ich? Ein
-zitternder Laut, halb Seufzer, halb Jubel. &ndash; Woher kommt
-er? Aus den Herzen der toten Gestalten? &ndash; Sieh' &ndash; sie
-leben! Sie heben die Arme, sie bewegen sich &ndash; das Blut
-rinnt durch die Adern, sie atmen, und doch sind's keine
-Menschen. Denn durchsichtig werden die Glieder von Gips,
-sie schimmern und glänzen, geisterhaft, geheimnisvoll &ndash;
-das ist Ewigkeit, die von den weißen Stirnen leuchtet, und
-sieghaft strahlen die klaren Augen. &ndash; Ach, und demütig
-beuge ich mein Knie.</p>
-
-<p>Lautlose Stille. &ndash; Da ertönt mächtig, wie Donnerrollen,
-gewaltig, wie Schlachtenruf, eine Stimme, die schallt
-durch den ganzen Saal: »Ist es fort, das elende Gesindel,
-das sich Menschen nennt, und sich so unendlich viel dünkt,
-<a class="pagenum" id="page_026" title="26"> </a>
-daß es sich herausnimmt, uns stundenlang anzustarren und
-unsere Götterleiber zu kritisieren? &ndash; Sind wir allein? &ndash;
-Gebt Antwort!«</p>
-
-<p>Apollo ist's, von Belvedere, er tritt hervor in Herrlichkeit
-und Majestät, und zu ihm gesellt sich Mars, der da
-mit aller Arroganz auftritt, deren nur ein Kürassier-Lieutenant
-fähig ist, sei es auch ein olympischer; und er gähnt
-herzhaft und schüttelt die prächtigen Glieder, und die Venus
-von Milo sieht ihn holdselig an. Er aber fährt sich mit
-der Hand durch die krausen Locken, die Erinnerung an
-selige Stunden überkommt ihn, und schmunzelnd nickt er
-ihr herablassend liebevoll zu:</p>
-
-<p>»Venuschen, kleiner Schatz, bist Du immer noch in
-meiner Nähe? Geh', frage doch einmal Deinen niedlichen
-Schlingel von Jungen, ob die Luft ganz rein ist, ob wir
-uns endlich ein bischen gehen lassen können, nachdem wir
-den ganzen Tag so ehrbar dagesessen haben! Der kleine
-neugierige Bengel hockt natürlich da, wo es am meisten
-zu gucken gibt.«</p>
-
-<p>Und wunderbar! Die hochmütige, vornehme Dame von
-Milo nimmt diese etwas familiäre Anrede gar nicht übel,
-ja, ein Lächeln spielt sogar um den stolzen Mund, der so
-oft verächtlich auf die Besucher des Museums herunterblicken
-kann.</p>
-
-<p>»Mamachen, Mamachen,« ruft eine piepsige Stimme,
-und der pauspackige, kleine Gesell, das Kind Amor, springt
-von seiner Marmorsäule herunter, stellt sich dicht vor mich
-hin und nickt mir zu.</p>
-
-<p>»Mamachen, hier sitzt noch eine in der Ecke; aber sie
-sagt nichts. Ein ganz kleines Mädchen ist es, und sie
-macht große, verwunderte Augen, und ihre Stirn leuchtet
-eben so weiß, wie Deine!«</p>
-
-<p>»Hinaus mit ihr! Hier werden keine Sterblichen geduldet!
-<a class="pagenum" id="page_027" title="27"> </a>
-Wir wollen keine Lauscher,« sagt die lange Diana
-von Versailles mit ihrer scharfen Stimme, »hetzt die Hunde
-auf die Unberufene.«</p>
-
-<p>»Willst Du hier das große Wort führen?« lächelt unsere
-liebe Frau von Milo etwas höhnisch, »alte Jungfern
-sind freilich flink mit der Zunge, aber ich denke, wir, die
-wir unsere Aufgabe im Leben &ndash; Lieben und Geliebtwerden
-&ndash; erfüllt haben, wir gelten mehr hier im Reich der
-Freude!«</p>
-
-<p>Diana zuckt die schlanken Schultern und hüllt sich keusch
-in vornehmes Schweigen.</p>
-
-<p>»Geh', Amorchen,« schmeichelt die tanzende Bacchantin
-&ndash; war sie nicht eben noch kopflos? Jetzt trägt sie ein
-lieblich-übermütiges Haupt auf dem zierlichen Hälschen.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Frag' sie einmal: Hast Du Jemanden lieb? Recht von
-Herzen, recht freudig? Und wenn sie ›Ja‹ sagt, dann laßt
-sie nur immer hier. Denkt wohl, ich sei ein dummes, kleines
-Ding, aber Amorchen, Du weißt, ich verstehe mich auf
-solche Sachen!«</p>
-
-<p>Und sie dreht sich im Tanz und schüttelt die anmutigen
-Glieder, daß der musikalische Faun neben ihr schnell ein
-lustiges »Klingkling« hören läßt. &ndash; Da erhebt sich eine
-Stimme, sanft, wie Windessäuseln, stark, wie Sturmeswehen
-und ernst, wie das Grab: Hermes spricht. Majestätisch
-ragt sein wunderbares Haupt über die andern hinweg,
-und seine armen zertrümmerten Glieder umgibt Würde
-und Hoheit.</p>
-
-<p>Götterbote! Glück und Freude, Schmerz und Tod trugst
-Du hin über alle Welt! Ich möchte niederknieen vor Dir
-und Deine ewige Schönheit anbeten und über Deine verstümmelten
-Glieder meine armseligen Thränen weinen!</p>
-
-<p>»Laßt sie gewähren, Ihr Götter,« sprichst Du, und
-Deine Augen sehen mich an, milde, verheißend &ndash; »denn ich
-<a class="pagenum" id="page_028" title="28"> </a>
-kenne sie. An ihrer Wiege stand ich und brachte ihr das
-Geschenk des himmlischen Vaters, beugte mich über sie,
-hauchte es in ihre Stirn, legte die Hand ihr auf's Herz,
-und da zog es ein &ndash; und küßte ihren Mund, und da
-lernte sie lächeln und &ndash; lieben.« Leise nickt er, und ich
-möchte weinen.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Horch! Das seltsame Geräusch! Rollend, rasselnd, im
-Takt sich wiederholend &ndash; dazwischen ein melodisches Pfeifen,
-ein kunstvoller Schnörkel am Ausgang des tiefen,
-rollenden Tones, behaglich einschläfernd klingt's in seinem
-rhythmischen Taktfall, seiner ruhigen Gleichmäßigkeit.</p>
-
-<p>Alle stehen und lauschen&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Da balanciert der alte, bärtige Silen das Bacchuskindlein
-geschickt auf dem einen Arm und deutet mit dem andern
-lächelnd über die Schulter auf den Faun hinter ihm,
-welcher, trunken von Wein und Freude, seine kolossalen
-Glieder im tiefen Schlafe dehnt. &ndash; Die kleine Bacchantin
-bricht in ein schallendes Gelächter aus: »Der Faun schnarcht!
-Denkt Euch, er schnarcht! Zuviel des feurigen Griechenweines
-hast Du getrunken, Du liederlicher, großer Gesell
-Du!« schilt sie und kitzelt ihm neckisch die Fußsohlen. Der
-Faun murmelt unverständliche Worte und bewegt die mächtigen
-Glieder und versucht den Arm zu erheben. Aber
-schwer sinkt die Hand auf den Felsen zurück, auf dem er
-ruht, und bald tönt wieder sein musikalisches Schnarchen
-mit dem lustigen Endschnörkel durch den Saal.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Heraus aus den Schluchten, aus Klüften und Thälern,
-kommt hervor aus den Quellen, huscht flink aus den Bäumen,
-ihr Nymphen, Dryaden, ihr schelmischen Mädchen,
-ihr lustiges Volk! Tanzt, lacht und singt, und hüpfet und
-springt! Weckt den faulen Schläfer dort und bittet Bacchos,
-den süßen Wein Euch zu reichen!«</p>
-
-<p>Eine klangvolle, frische Stimme schallt von der Thür
-<a class="pagenum" id="page_029" title="29"> </a>
-her. Diana ist es, aber nicht die lange Versaillerin: eine
-liebliche, mädchenhafte Diana, mit kurzem Röckchen, noch
-nicht ganz fertig mit der Toilette &ndash; und sie klatscht in die
-schlanken Hände, und unsere liebe Frau von Milo lächelt
-ihr holdselig zu.</p>
-
-<p>Nun wird es lebendig um mich her; allüberall aus den
-Winkeln und Ecken, die Treppen hinauf, hinunter kommt's
-gehuscht, geflogen, gekichert. Nackte, liebliche Mädchengestalten,
-üppige Weiber, bockshörnige Faune, tapfere Krieger,
-die vor Troja gefochten, ernstblickende Römer &ndash; alles wirbelt
-lustig durcheinander und sie umtanzen den schlafenden
-Faun, sie kitzeln ihm die Seiten und zausen ihm die Haare,
-sie halten ihm den würzigen Griechenwein unter die Nase
-und lachen ihm ein lustig Lachen in die Ohren, bis er die
-sehnigen Glieder reckt und streckt &ndash; da steht er mitten
-unter ihnen und dreht sich im wilden Reigen. Wie der
-Jubel sie alle begeistert, wie die tolle Lust sie hinzieht in
-ihr Freudenreich! Sieh' den alten Sokrates &ndash; mühsam
-kriecht er aus der Verzierung des römischen Sarkophags
-heraus, umgeben von den lieblichen Musen; Terpsichore
-tanzt Ballett, und da stehen Seneca und Demosthenes und
-Pindar und Cäsar und viele alte Kahlköpfe und sehen zu.
-Mit mächtigem Satz springt der borghesische Fechter in die
-Tanzenden hinein, eine weichhäutige Nymphe hoch in die
-Lüfte schwingend, die Ringkämpfer lassen ihren Zorn und
-stimmen in das fröhliche Gelächter ein; die beiden schlanken
-Discus-Werfer schleudern ihre Metallscheibe geschickt über
-die Köpfe der neun Musen hinweg, daß die alten Herren
-entsetzt von ihnen zurückweichen, und mein schwermütiger,
-holder Antinous küßt die schwellenden Lippen der liebetrunkenen,
-kleinen Bacchantin.</p>
-
-<p>Majestätisch ernst sehen die drei Parzen vom Parthenon
-in das Getümmel und Helios lächelt siegreich von
-<a class="pagenum" id="page_030" title="30"> </a>
-seinem Sonnenwagen hernieder. Frau Venus steht als
-Sonnenkönigin mitten unter den Jubelnden in aller Pracht
-und lächelt ihrem Volke voll Huld.</p>
-
-<p>Und die Dichterin Sappho öffnet ihren liederreichen,
-holdseligen Mund und flüstert schmachtend:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Die Du thronst auf Blumen, o Schaumgeborene,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Tochter Zeus, listsinnende, höre mich rufen!«</td></tr>
-</table>
-
-<p>Und da, ach, siehe da &ndash; die kokett verhüllte Göttin der
-Schamhaftigkeit sinkt sehnsuchtsvoll in die geöffneten Arme
-eines kräftigen, schöngestalteten Fauns. &ndash; Dacht' ich's
-doch!&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Ja, sogar die Tiere stimmen ein in die allgemeine
-Fröhlichkeit: die Schlangen des Laokoon lassen ab von
-ihren Opfern &ndash; des Vaters Stirn blickt heiter nun, und
-die sanften Knaben fürchten sich nicht mehr &ndash; und unterhalten
-sich mit der Eidechse des schönen Appollo, des
-Eidechsentöters, dessen Körper etwas von der Geschmeidigkeit
-der Lacerte an sich hat &ndash; und der Panter des Bacchos
-(der Riesenkater) lauscht grimmig-herablassend dem Gespräch.</p>
-
-<p>Doch, was ist das? Fürwahr, eine seltsame Prozession:
-langsam ziehen sie einher, im ehrbaren Reigen sich schwingend,
-gravitätisch-lüstern die Blicke um sich werfend, und jeder
-am Arme ein sittsam Dämchen mit unendlich vielen Kleidern
-&ndash; zimperlich geschürzt mit geübter Rechten.</p>
-
-<p>Wahrhaftig, die zwölf Apostel sind's an der St.&nbsp;Sebalds-Kirche
-und irgend welche heilige Damen, die hoch oben im
-Christenhimmel thronen, haben sie sich zum Heidentanz
-engagiert.</p>
-
-<p>So ist's recht! Hebt die Füße, streckt die Arme, hierhin,
-dorthin, auf und ab!</p>
-
-<p>Tanzt lustig den Reigen und dreht Euch im Kreise.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Mitten im zierlichen Tanz stehen die heiligen Weiblein
-<a class="pagenum" id="page_031" title="31"> </a>
-bewundernd vor dem schönen, nackten Leib des Antinous,
-dem offenbarenden Mund des heiligen Johannes entströmen
-Worte der Begeisterung über die Wunder der Weibesschönheit,
-der heilige Paulus seufzt: »Hieße ich doch noch Saulus!«,
-und der heilige Petrus rasselt mit den Himmelsschlüssel-Castagnetten
-dazu. Und sie schwingen sich im Kreise, daß
-die heiligen Gewänder fliegen, die heiligen Bärte wehen
-und der heilige Schweiß von den heiligen Stirnen rieselt.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Bim, bim &ndash; bim, bim! Horch! Ein Glöcklein! Das
-Vesperglöcklein der St.&nbsp;Sebalds-Kirche.</p>
-
-<p>Schlaff sinkt der heiligen Schar der Arm, es stockt der
-Fuß &ndash; starren Auges schauen sie zur Thür. Da steht
-eine hagere Mönchsgestalt in brauner Kutte und winkt mit
-langem, dürrem Finger und bim, bim, &ndash; bim, bim, tönt's
-Glöcklein wieder. Stark wie Riesenarme ist die Macht der
-Gewohnheit! Dahin stürzen sie, die lieben Heiligen alle,
-in atemloser Hast sich überstürzend, überkugelnd.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Zur Vesper, zur Vesper!«</p>
-
-<p>Und der heilige Paulus-Saulus wendet sein bärtig
-Antlitz:</p>
-
-<p>»Ueber ein Weilchen werdet Ihr uns nicht mehr sehen,
-und über ein Weilchen werdet Ihr uns wiedersehen, wenn
-&ndash; wir die Vesper gesungen!«</p>
-
-<p>Ein lustig schallendes »Evoe!« antwortet ihm und &ndash;
-bim, bim &ndash; bim, bim tönt's Glöcklein von der St.&nbsp;Sebalds-Kirche.&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Banges Stöhnen, sanftes Klagen, todesmüde Laute
-dringen an mein Ohr:</p>
-
-<p>»Tod, was eilest Du? Nimmer begehr' ich Dein!« dringt's
-über die bleichen Lippen des sterbenden Sklaven Michel Angelos,
-und bang sinken seine schönen Glieder ineinander.</p>
-
-<p>»Wohl brannte die heiße Sonne Italiens erbarmungslos
-auf mich nieder, wohl sengte sie mir mein Hirn, meine
-<a class="pagenum" id="page_032" title="32"> </a>
-Seele; wohl fühlte ich die scharfe Peitsche auf meinen
-nackten Schultern, wohl schnitten mir rauhe Flüche ins
-Herz &ndash; aber ich lebte doch, und mit mir die Hoffnung!
-Bei den mitleidsvollen Strahlen der Sonne dachte ich an
-kühle Eichenhaine, beim Brausen des Sirocco an das Rauschen
-meines Nordlandmeeres, unter Blüten und Früchten
-und ewig blauem Himmel an Eis und Schnee, an Sturm
-und Regen. Und wenn die Peitsche des Vogts klatschend
-auf mich fiel, da &ndash; in meinen Gedanken &ndash; kühlte lieb
-Mütterleins Hand ihr Brennen und meines süßen Liebs
-Mund küßte mein Herz gesund.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Tod, zögere noch! Laß mir die Hoffnung, laß mir das
-Leben! Tod, warum kommst Du!«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Stirb doch! Dann bist Du frei!« antwortet ihm eine
-rauhe Stimme, und es rasselt wie von Ketten, dumpfes
-Stöhnen entringt sich der Brust seines gefesselten Kameraden
-neben ihm.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Freiheit, Freiheit! Gib mir Freiheit! Sie haben mich
-an diesen Felsen geschmiedet, meine Hände, meine Füße,
-meinen Leib &ndash; und ohnmächtig schüttle ich meine Ketten.
-Und weißt Du, warum sie mich fesselten? Warum sie
-mich des höchsten Gutes, der Freiheit, beraubten? Weil
-sie mich fürchteten, weil die Angst, die wahnwitzige Todesangst
-sie dazu trieb. Weil sie wußten, ich würde den
-Brand des Aufruhrs in die Welt hinaus schleudern, würde
-nicht eher rasten und ruhen, bis ich die alte Erde vernichtet,
-zertrümmert, daß eine neue aus ihr entsteht &ndash;
-gut, rein, stolz, wie <em class="ge">sie</em> sie <em class="ge">nicht</em> schaffen können.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Und darum nehmen sie mir meine Freiheit und werfen
-mich in Ketten, schmieden mich an und hohnlachen in mein
-Gesicht.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Du allmächtiges Wesen, das Du da oben über den
-Wolken thronen sollst, wenn Du mich verstehen kannst, so
-höre meinen Ruf:</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_033" title="33"> </a>
-»Gib mir Freiheit &ndash; oder laß mich sterben! &ndash;&nbsp;&ndash;
-Keine Antwort &ndash; ohnmächtig oder grausam bist Du &ndash;
-denn sieh', stark bin ich noch, und mein Herz schlägt, mein
-Kopf denkt noch, rastlos, unermüdlich, und &ndash; hörst Du's?
-&ndash; meine Ketten klirren höhnisch, immer weiter, immerzu!
-&ndash; O Tod, warum kommst Du nicht!«</p>
-
-<p>&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash; Lustig Rufen übertönt seine grollende Stimme,
-Beifallklatschen, Jauchzen, und dazwischen der Ruf: »Bacchos,
-Bacchos!« Und hierher wälzt sich der fröhliche Strom
-jubelnder Götter und Menschen und »Dich wollen wir,
-Bacchos, Gott der Freude, wo weilst Du so lange!« Sie
-knieen vor der schönen Jünglingsgestalt mit der berauschend
-lieblichen Traube neben ihm, und sie nehmen ihn in ihre
-starken Arme, und Nymphen und Göttinnen umschmeicheln,
-umkosen ihn. Da lassen sie ihn nieder, auf die Kniee des
-egyptischen Götzenbildes &ndash; denn das ist leblos und von
-Stein geblieben &ndash; und neigen sich huldigend vor ihm.
-Doch er erhebt den Arm und deutet mit der Götterhand
-auf die Marmorgebilde neuester Zeit, in der Mitte des Saales:</p>
-
-<p>»Was wollen die unter uns?« fragte er mit zorniger
-Stimme, »schafft sie fort &ndash; sie stören mich!« Athene steht
-neben ihm, die blauäugige, siegende Göttin; sie hört ihn, sie
-winkt ihrem Liebling, dem starken, schnellfüßigen Achill,
-und der&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Naus da, 'naus da aus dem Haus da! Fort mit
-dir, Gesindel!«</p>
-
-<p>Und jubelnd sehen alle, wie Zenobia in voller Kleiderpracht,
-eine falsche Oenone, ein paar weichliche Marmorkinder,
-eine vollbusige, schamlose Schönheit, zertrümmert
-die Steintreppe hinunterfliegen. &ndash; Dann aber neigt sich
-Achilles voll Anstand vor der Statue des Lincoln mit dem
-Sklaven und spricht mit Höflichkeit:</p>
-
-<p>»Mein Herr, gern mögen Sie unter Heroen weilen, aber
-<a class="pagenum" id="page_034" title="34"> </a>
-Sie werden begreifen, daß Sie dann auch in voller Heroen-Uniform
-zu erscheinen haben, und die möchte Ihnen vielleicht
-nicht gut stehen. Entschieden aber können wir in
-unserm Reich der Schönheit das Untier von Häßlichkeit da
-zu ihren Füßen unmöglich dulden.« Und Lincoln verbeugt
-sich verständnisvoll und verläßt den Saal.</p>
-
-<p>Da wankt eine müde Gestalt die Treppe herauf &ndash;
-einst der Stolz der Götter, immer die Freude der Menschen
-&ndash; und läßt sich schwer auf die Stufen nieder; die starken
-Schultern beugen sich, der Leib zieht sich schmerzlich zusammen,
-ein mächtiges Haupt sitzt plötzlich auf dem starren
-Nacken des Herkules-Torso und senkt sich matt, todesmatt;
-und klagend, grollend erfüllt eine Stimme den Saal:
-»Müde bin ich &ndash; endlich! Müde, der Welt zu dienen,
-müde, Undank zu ernten, müde, zu lieben, müde, zu leben&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Einst lag die Welt schön und gut vor mir, einst hatte
-ich Lebensmut, Lebenslust, einst habe ich gekämpft, gestritten,
-gerungen &ndash; und nun? Nun bin ich müde und
-möchte schlafen!«&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Die starken, trotzigen Glieder sinken zusammen, und
-das starke Haupt stützt sich schwer auf den kraftvollen Arm.</p>
-
-<p>Es nahen sich zwei schlanke, schöne Jünglingsgestalten,
-eng aneinander geschmiegt, die Arme verschlungen, und ein
-mildes Licht strahlt von ihnen aus. Da legt der eine ernst
-und leise die Hand auf die müde Stirn des Herkules&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Schlaf',« sagte er sanft.</p>
-
-<p>Da senkt der andere still die brennende Fackel zur Erde,
-daß sie erlischt&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Ewig,« lächelt er.</p>
-
-<p>Und voller Ehrfurcht beugt das lustige Göttervolk das
-Knie und huldigt dem Toten.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Liebliches Klingen, Singen, Getöne &ndash; ein wunderbar
-Leuchten, hell, sanft und mild&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_035" title="35"> </a>
-Da schwebt etwas die Treppe hernieder, zartduftig,
-schimmernd in weißer Pracht &ndash; himmlisch lieblich, lebensvoll
-schön &ndash; Ach, ich sinke in die Kniee und blicke zagend
-zu der göttlichen Gestalt der Medicäerin empor, denn <em class="ge">sie</em>
-ist es &ndash; Sie kommt zu mir, sie tritt vor mich hin, und
-ein wundersames Schauern durchbebt mir Kopf und Herz.
-Sie neigt ihr holdseliges Antlitz zu mir, und sie küßt mich
-auf den Mund, es rinnt wie Feuer durch meine Glieder.
-Neben ihr steht ein schöner Jüngling, dem strahlen viele
-kostbare Gedanken von der weißen Stirn. Er sieht mich
-an, ernst und voll kindlicher Weisheit, und spannt seinen
-Bogen und zielt gut &ndash; denn der Pfeil dringt mir mitten
-ins Herz hinein. Und dann &ndash; bin ich es noch? Lebe ich?
-Mir ist's so groß ums Herz &ndash; Sieh', meine Hände! Durchsichtig
-klar sind sie, und mein Körper schimmert, wie die
-der Marmorgestalten &ndash; Ach, meine Glieder zittern&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Da faßt Aphrodite mich an der Hand und führt mich
-den Uebrigen entgegen &ndash; Und Hermes lächelt zu mir:
-»Psyche, bist Du erstanden?«</p>
-
-<p>Jubelnd begrüßen mich alle, alle &ndash; und sie heben mich
-empor zu Nike, der Göttin des Sieges, und ich schmiege
-mich an ihren schönen Körper, der kein Haupt mehr auf
-ihren Schultern trägt.</p>
-
-<p>Du schwebst zwischen Himmel und Erde, o hehre Göttin!
-Thörichte Menschen schlugen Dir Dein stolzes Haupt ab,
-engherzige, fromme, nicht denkende Menschen. Sie sagten:
-Du dürftest Dein Haupt nicht erheben, mit Deiner freudigen
-Stimme die Menschen nicht begeistern, auf daß sie
-stumpfsinnig würden, wie jene selber. Ach, Du Göttin,
-Deine ganze Gestalt, Deine verstümmelten Arme, Deine stolzen
-Füße, die leisesten Falten Deines Gewandes &ndash; Alles spricht
-Sieg! Sieg über die Finsternis, die Kleinheit, über freche
-Gewalt, und fromme Erbärmlichkeit.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_036" title="36"> </a>
-Und sieh', in Deinen Armen hältst Du Psyche, die
-Seele, die Ewigkeit &ndash; und weit hinaus ragt Ihr, über
-alles herrscht Ihr, über Götter und Menschen!«&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Da, Licht! Es fällt durch die Fenster &ndash; es wird
-Tag&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Tiefe Stille &ndash;&nbsp;&ndash; Und ich fahre mit eisiger Hand über
-meine heiße Stirn &ndash;&nbsp;&ndash; und da stehe ich &ndash; ein armes,
-sterbliches Kind des nüchternen, kühlen, praktischen neunzehnten
-Jahrhunderts.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_037" title="37"> </a>
-Unser Frühling.</h2>
-
-
-<p>»Ich bin da &ndash; siehst Du mich?« sagte die Ranunkel
-zur Sonne, »sieh', ich glänze &ndash; bin ebenso golden wie Du!«</p>
-
-<p>Und sie richtete sich in die Höhe, spreizte ihre eigelben
-Blütenblättchen auseinander und sah unglaublich frech in
-die Welt hinein.</p>
-
-<p>Der Sonnenstrahl aber glitt über sie hinweg, über die
-Anemonen hin.</p>
-
-<p>»Ihr seid schöner als die gelbe Blume,« flüsterte er
-ihnen zu, und sie erröteten wie junge, bleichsüchtige Mädchen
-und wurden sehr stolz.</p>
-
-<p>»Was wollt Ihr hier?« riefen sie den Veilchen entgegen,
-die frisch und munter im grünen Röckchen und blauer
-Blouse anmarschiert kamen.</p>
-
-<p>»Ihr habt hier nichts zu suchen &ndash; das ist unser Boden.«
-Aber das kümmerte das Veilchen gar wenig. Ueberall, wo
-es Wurzeln fassen konnte, zwischen Ranunkeln und Anemonen
-und Kuhblumen, zwischen Moos und Gras, unter
-Blättern und Reisig, sogar zwischen den vornehmen, sonderbaren
-Frühlingsblumen, die erst vorsichtig einen Blätterregenschirm
-aufspannen, damit ihre kleinen weißen Blüten,
-<a class="pagenum" id="page_038" title="38"> </a>
-die sie unten am Stengel tragen, nicht naß werden &ndash;
-überall öffnete das Veilchen seine Blauaugen und lächelte
-sanft dem Frühling entgegen.</p>
-
-<p>»Seid Ihr ein exklusives Volk,« sagte der. Er saß mit
-gekreuzten Beinen auf einem allmächtig großen Schneckenhaus
-und hatte eine Blütenkrone auf dem Haupt und eine
-Weidengerte mit lustigen Kätzchen daran in der Hand; er
-spielte mit einem überjährigen Schneeballen, der irgendwo
-in einem Waldwinkel, von der Sonne vergessen, liegen geblieben
-war, und der schmolz jetzt und träufelte der Schnecke,
-die aus ihrem Fenster guckte und schrecklich große Augen
-machte, gerade auf die Nase, daß sie entrüstet ihre Fühlhörner
-einzog und das Fenster zumachte. Die Schmetterlinge,
-die den Frühlingsknaben umgaukelten und wie Blumen
-aussahen, die von ihren Stengeln geflogen und auf die
-Wanderschaft gegangen waren &ndash; gerade wie unsere sehnsüchtigen
-Gedanken mitunter &ndash; machten vor Vergnügen
-die lustigsten Capriolen in der Luft und schlugen übermütig-hastig
-mit den kleinen, bunten Sammetflügeln. »Ihr
-seid ein exklusives Volk hier im Walde,« sagte der Frühling,
-»jede Sippe hockt auf ihrem Fleckchen Erde für sich
-und macht scheele Gesichter, kommt ihm ein anderes zu
-nahe. Und erst die Bäume &ndash; hier die Eichen, dort die
-Tannen, drüben die Birken &ndash; die Weiden sind in die
-Wiese geflüchtet, damit sie's Reich für sich allein haben,
-und die Obstbäume wollen erst recht nichts von den andern
-wissen. Freilich &ndash; seid auch auf verschiedenem Erdreich
-groß geworden. &ndash; 'S wär' auch langweilig in der Welt,
-wär' alles über einen Kamm geschoren! Und doch &ndash; <em class="ge">Eine</em>
-strahlende Sonne scheint über Euch alle, und <em class="ge">ein</em> gütiger
-Regen erquickt Euch!« &ndash; Und der Frühling erhob sich vom
-Schneckenhaus und schlenderte davon. Gern hätte er die
-Hände in die Hosentaschen gesteckt, aber das ging nicht,
-<a class="pagenum" id="page_039" title="39"> </a>
-denn &ndash; er war ganz nackt und bloß wie die Natur selber,
-und der Sonnenstrahl strich gleitend vor ihm her und
-leuchtete ihm. Pfeifend und singend mit heller Stimme
-zog der Frühling durch den Wald; unter seinen Tritten
-sprossen die Blumen und sein Lachen &ndash; das war der
-Frühlingswind, der warme Südwind, der belebend über
-die Erde fuhr. Die Vöglein kamen und antworteten
-mit sehnsüchtigen Lauten. &ndash; Ueber den Wald hin schallt
-der starke Weckruf der Blauvögel. Sieh' &ndash; da blitzt es
-feuerrot auf &ndash; das ist ein lieblicher Sänger! Und horch!
-Hier die rostbraune Drossel &ndash; Hörst Du, was sie sagt?
-»Tüterlü! Der Frühling kommt! Siehst Du ihn &ndash; Du,
-Du, Du, Du!« &ndash; Und: »Komm' zu mir, komm' zu mir!
-Zerr &ndash; zeck, zeck, zeck, zeck!« bläst der Zaunkönig sein
-Kehlchen auf &ndash; wupp! schlüpft er durch die Hecke, und dahin
-geht's, im Lauf, geschwind wie ein Mäuschen. &ndash; Siehst
-Du den Specht? Weiße Hosen, schwarzes Röcklein und auf
-dem Kopf ein tiefrot Käpplein über dem schlauen, spitzen
-Näschen &ndash; ist doch gar ein putzig Weschen! Sieh', wie
-klug die schwarzen Augen funkeln, sieh' &ndash; wie er mit dem
-Frühling Verstecken spielt! Bald an dieser, bald an jener
-Seite des Stammes schimmert sein rotes Köpfchen und
-wirft ihm der Frühling eine Hand voll Blätter ins Gesicht,
-die sich schnell an die Zweige anklammern &ndash; hei!
-Da sitzt er schon ganz hoch oben im Baum und lugt
-schelmisch um die Ecke:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Pick, &ndash; pick, &ndash; pick, &ndash; pick &ndash; hier find' ich mein Mücklein!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Pick, &ndash; pick, &ndash; pick, &ndash; pick &ndash; hier schlag' ich mein Brücklein,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Von Baum zu Baum über Busch und Strauch&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ei, Frühling &ndash; geschwinde! Nun folge Du auch.«</td></tr>
-</table>
-
-<p>»Hahaha,« lacht die Spottdrossel wie toll und gleich
-darauf klingen langgezogene, friedliche Sehnsuchtslaute aus
-<a class="pagenum" id="page_040" title="40"> </a>
-ihrer Nachtigallenkehle, daß alle Vögel inne halten und
-dem Frühling die Thränen aus den Augen rinnen.</p>
-
-<p>Wo hört' ich jüngst solch ein Spottdrossellied? &ndash; Weich
-und schwül &ndash; hohnlachend &ndash;&nbsp;&ndash; war's nicht in meinem
-Herzen? Ist's nicht das Menschenherz selber &ndash; in all
-seinem Leid, all seiner Sehnsucht, all seinem Haß?&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Sputet Euch,« sagt der Frühling zu den Eichen und
-schlägt sie schmeichelnd mit seiner Weidengerte, »Ihr knorrigen
-Gesellen! Seid zwar auch <em class="ge">so</em> schön mit Euren kuriosen
-Knorpeln und verdrehten Aesten &ndash; gerade so knorpelig und
-verzwickt, wie ein Menschenhirn &ndash; aber wenn Ihr die zackigen
-Blätter von Euch spreizt, habe ich Euch noch lieber!«</p>
-
-<p>Und da sproßten die roten Keime und Blättchen, und
-nun hatten sie ein noch wunderlicheres Ansehen, gerade
-wie ein Schalksnarr, dem die Liebe aus den Augen
-guckt.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Ich,« sagt die Ulme, »ich bin vorgeschritten in der
-Kultur &ndash; seht, mein krauses, grünes Gewand ist schon fix
-und fertig.«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Und der Frühling geht weiter:</p>
-
-<p>»Sieh', sieh', wie schön steht das maigrüne Kleidchen
-zu Deiner weißen Haut, kleine Birke, &ndash; bist fast die Schönste
-von allen! Alte Tanne« &ndash; er streicht über der Tanne
-stattliche Haare &ndash; »mußt immer dasselbe dunkle Kleid
-tragen jahraus, jahrein &ndash; bist wohl gar neidisch?«</p>
-
-<p>Aber die Tanne ist unartig, sie streckt dem Frühling
-und seiner Birke eine lange, hellgrüne Zunge aus den dunkeln
-Nadeln heraus und antwortet noch nicht einmal vor
-Trotz.</p>
-
-<p>»Böses, altes Ding Du,« schilt der Frühling, und um
-sie zu ärgern, gibt er den Lärchen lauter kleine hellgrüne
-Federbüsche, kleinen Pinseln gleich, die tragen sie stolz, wie
-ein angehender Maler seine Farbenpinsel in der Brusttasche.
-<a class="pagenum" id="page_041" title="41"> </a>
-&ndash; Horch! Was regt sich hinter dem Tannendickicht?
-Ein hübsches, verstecktes Plätzchen &ndash; Taubengegirr, Vogelgesang
-&ndash; ist's Windessäuseln, rauschen die Zweige, geheimnis-ahnungsvoll!
-Leise schleicht sich der Frühling heran,
-er verbirgt sich hinter einem Baumstamm &ndash; er lauscht &ndash;
-er sieht&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Menschenkinder sind's, zwei junge, lachende, kosende
-Menschenkinder, den ewigen Frühling, die Liebe, im Herzen,
-in den Augen. &ndash; Sie ruht im Gras, den Kopf gegen eine
-Tanne gelehnt, er zu ihren Füßen, den braunen Lockenkopf
-in ihrem Schoß &ndash; leises Lachen, halblautes Singen,
-abgebrochene, unverständliche Laute &ndash; halbgeflüsterte, halbgeküßte
-Liebesworte. &ndash; Glückliche, selige Menschenkinder &ndash;
-was wißt Ihr vom brennenden Sommer, vom welkenden
-Herbst, vom eisigen Winter? &ndash; Der Frühling streichelt
-Euch Stirn und Wangen. &ndash; Blondes Mädchen, Du streichst
-Dir die Löckchen aus der Stirn und schiltst über den Wind
-&ndash; oder den Geliebten, der Dir die Haare zerzaust hat &ndash;
-und der Sonnenstrahl küßt Euch und dringt Euch bis ins
-junge Herz hinein!&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Auf leisen, flüchtigen Sohlen eilt der Frühling von
-dannen:</p>
-
-<p>»Jetzt muß ich aber auch die Obstbäume anlächeln,«
-sagt er im raschen Lauf, »daß sie treiben und blühen und
-Früchte tragen.« Aber die waren voreilig gewesen, wie
-gewöhnlich, hatten nicht auf das Lächeln des Frühlings
-gewartet, hatten sogar vergessen, sich erst die Blätter anzuziehen.
-&ndash; Da stehen sie in ihren schlohweißen Hemdchen
-und lächeln verschämt, ach, und Apfelbäume und Pfirsiche
-werden ganz rot, als sie den Frühling kommen sehen, und
-nur die Birne ruft triumphierend: »Ein paar grüne Blättchen
-habe ich schon &ndash; aber Du, Frühling, bist ja ganz
-nackt!« Hei, wie sie sich alle schütteln vor Lachen, daß ihr
-<a class="pagenum" id="page_042" title="42"> </a>
-weicher, duftender Blütenschnee über die grüne Erde hinweht.
-&ndash; Ganz überschüttet wird der Frühling; in seinen
-Locken hängt die duftige Ueberfülle, um Stirn und Wangen
-schmeicheln die süßen Boten &ndash; da wird es ihm ganz weh
-ums Herz vor Wonne und Jubel, sehnsüchtig breitet er
-seine Arme der Geliebten entgegen, der leuchtenden Sonne
-&ndash; und da wird er zum Manne &ndash; er vermählt sich mit der
-Sonnenglut &ndash; und siehe, es war Sommer!</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_043" title="43"> </a>
-Frostiger Frühling.</h2>
-
-
-<p>Um unsere Blüten sind wir betrogen! &ndash; Im März,
-als der warme Sonnenstrahl die erwachende Erde überglänzte,
-da lag ein rötender Hauch über den Obstbäumen,
-licht wie ein rosenfarbenes Wölkchen am Frühhimmel &ndash;
-heute haben die Birnbäume und die knorrigen Apfelbäume
-ein festes grünes Mieder angezogen, aus dem sie stramm
-und vernünftig herausschauen, und das Mädchenerröten
-haben sie längst vergessen.</p>
-
-<p>Um unsere Blüten sind wir betrogen! &ndash; Hat der Frost
-sie getötet, der lauernd über die Erde schlich? Hat unsere
-schönen Hoffnungen der Sturmwind verweht? Ist der
-Regen gekommen auf seinen grauen Rossen, den Wolken,
-und hat sie mit seinem gleichförmigen Gedrissel &ndash; patsch!
-patsch! Tropfen auf Tropfen, wie die tägliche Langeweile,
-&ndash; verwaschen, verknittert, zerblättert?&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Nackt stehen die Magnolienbäume im botanischen Garten.
-Sie, die sonst im Mai zum Frühlingsreigen in prächtigen
-Balltoiletten der verwunschenen Prinzen harrten; sie, die
-sonst von der Ueberfülle ihrer Schönheit den neckischen
-Winden preisgaben, daß die Blütenblätter und ihr Duft
-die Luft erfüllte. Heute stehen sie kahl und düster und
-traurig da, kein lächelnder Prinz wird um die südliche
-<a class="pagenum" id="page_044" title="44"> </a>
-Schöne werben und der Frühling hat die Prächtige, Ueppige,
-Duftende vergessen. &ndash; Da gleitet ein Sonnenstrahl über die
-schwarzen, vom Frost geknickten Spitzen der Magnolien.
-Es ist, als lächle er. In seinem Flimmer tanzt ein gelber
-kleiner Schmetterling, er taucht sich in die vergessene weiße
-Blüte eines jungen Birnbaums, der schon winzige Früchte
-am andern Zweige trägt. Und da lispeln sie alle heimliche
-Worte &ndash; horch!</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">Zur Blüte sprach der Schmetterling: »Was nützt mir's, daß ich strahle?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wenn meinen Schmelz ein Fingerdruck wegwischt mit einemmale?«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;Da lachte der Sonnenschein.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es sprach die Blüte zum jungen Blatt: »Was nützt mir's, daß ich blühe?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wenn ich nach einer Regennacht verblätt're in der Frühe?«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;Da lachte der Sonnenschein.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es sprach die Frucht zum grünen Baum: »Was nützt mir all mein Süßen?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In meinem Herzen nagt ein Wurm: tot fall' ich Dir zu Füßen.«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;Da lachte der Sonnenschein.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ich rief wohl in die weite Welt: »Was nützt mir all das Klingen?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die rauhe Hand, die Nacht, der Wurm &ndash; Ein Sterbelied muß ich singen!«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;Da lachte der Sonnenschein.</td></tr>
-</table>
-
-<p>Ich folge dem lachenden Sonnenstrahl. Er huscht über
-die Stiefmütterchen am Wege, die ihm ihre großen bunten
-Augen zuwenden, über rote dickköpfige Tulpen, die sich
-blähen vor lauter Vornehmheit; er klopft an die Fenster
-des Treibhauses: ich bin da, ich bin da! &ndash; Aber was
-kümmert das nervöse Volk da drinnen in ihrem überheizten
-Haus der warme Sonnenschein? &ndash; Halt! du lockender
-Strahl! laß mich erst einmal hineinschauen in die Blumen-Menagerie.
-<a class="pagenum" id="page_045" title="45"> </a>
-Sehnsüchtig sehen die armen Eingesperrten
-durch die Glasfenster, und schauern zusammen, wenn die
-kühle Frühlingsluft durch die offene Thür sie trifft. Sie
-fühlen sich wohl in der heißen, feuchten Luft künstlicher
-Bildung; einmal ihres heimatlichen Bodens beraubt, gedeihen
-sie prächtig in der erstickenden Atmosphäre der Ueberfeinerung
-&ndash; oh, und diese höchste Kultur zeitigt bizarre
-Charaktere: da die Kaktus mit ihren Stacheln über und
-über, an denen ein rauhes Gewebe klebt wie graues Haar;
-dem bekannten Meergreis gleich, der »in die Wüste ging
-und ein Wüstling ward«, frühzeitig gealtert wie unsere
-nervös überfütterten Dandys <i>fin de siècle</i>. Protzige Agaven
-mit dicken, fleischigen, ausstreckenden Zeigefingern. Cochenille-Kaktus,
-unansehnliche, häßliche Dinger, nur dazu
-gut, daß andere sich von ihnen nähren &ndash; die kleine, rote
-Blattlaus, die aus diesem Häßlichen das Schöne bildet:
-das leuchtende Cochenille-Rot. Hier die Palmen, groß, still,
-erhaben, die Löwen der Blumen-Menagerie. &ndash; Die vielarmigen
-Dracänen, die üppig wuchernden Schlinggewächse,
-die seltsamen stillen Blumen mit Blättern und Blüten wie
-aus Wachs geformt, &ndash; gleitet nicht Scheherezade durch diese
-schwüle Luft und erzählt Märchen aus Tausend und einer
-Nacht unter lispelnden Palmen und großen duftlosen Blumen?
-&ndash; Aber dort unter dem First des Glasdaches, dem Licht
-zustrebend &ndash; dort liegt es wie glänzend weißer Schnee,
-besäet mit funkelndem roten Blutstropfen. »Weiß wie
-Schnee, rot wie Blut!« Schneewittchen aus unserem lieben
-deutschen Märchen nickt hervor aus diesem lieblichen Blumenmeer
-und lächelt uns an. Eine Schlingpflanze ist es mit
-schwarzgrünen Blättern; sie rankt sich hoch und immer höher
-dem Himmel entgegen, der blau durch die Fenster ihres
-Gefängnisses schimmert und tausend weiße, stille Blumenherzen
-wenden sich ihrem Gott, dem Lichte, zu, und rot und
-<a class="pagenum" id="page_046" title="46"> </a>
-glühend entströmt ihnen ihr Gebet. &ndash; Da öffnet sich die
-Thür, der Sonnenstrahl huscht hinein und küßt die roten
-Blumenlippen, und winkt mir: Komm, komm! Ich zeig'
-Dir viel Schönes, wenn auch die Blüten Dir genommen
-sind.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Draußen im botanischen Garten glänzen die feingeharkten
-Kieswege. Zwischen wohlgepflegten Blumenbeeten
-wandeln wohlgepflegte Städterinnen. Die ordentlichen
-Blumen auf den ordentlichen Beeten blühen noch nicht; die
-ordentlichen Städterinnen haben schon geblüht. Deshalb
-strömen sie einen künstlichen, starken Parfüm aus, der
-schlecht harmoniert mit der süßen, berauschenden Frühlingsluft.</p>
-
-<p>»Vorüber, ihr Schafe, vorüber!« singt Goethes Schäfer,
-als ihm »gar so weh« wird &ndash; und wir huschen dem
-Sonnenstrahl nach, aus dem ordentlichen Garten hinaus,
-hinter die hohe Mauer, wo die Wildnis anfängt. Hier
-ist auch eine Menagerie, die der Bäume. Aber die Wildlinge
-aus Nord und Süd haben in dem fremden Boden
-Wurzel gefaßt, ihn sich angeeignet, und so gedeihen sie und
-wachsen und wachsen, als habe die neue Heimat ihnen die
-alte ersetzt. &ndash; Was es nicht alles zu sehen gibt unter den
-fremden Bäumen: dort, wohin die Tannen nicht mehr gelangen
-können mit ihren langen Armen, kriecht kleines,
-grünes Moos dicht an das Nadelbett heran, das die Tanne,
-wie Frau Holle den Schnee, um sich ausgeschüttet; es
-blüht, das Moos, mit lauter gelbgrünen Zäckchen, und
-zwischen den feinen krausen Spitzen kriechen winzige Insekten,
-denen der Mooswald wohl so gewaltig dünkt, wie
-uns jene blühende Kiefer. O wie blüht die Kiefer! Ueberall,
-überall auf den starken Aesten, in den Stacheln verborgen,
-da blüht es wie rotes Gold; sieben kleine Goldkätzchen
-in einem Nest &ndash; und rührst Du daran mit vorwitzigem
-<a class="pagenum" id="page_047" title="47"> </a>
-Finger, dann rieselt ein feiner, gelber Blütenstaub
-in Deine geöffnete Hand. Weich wie ein zartes Kinderbäckchen
-berührt dich's, und ein würziger Duft erzählt dir
-von unendlichen Kieferwäldern, in denen der Wind singt.</p>
-
-<p>»Bilde Dir nur nichts ein,« sagt die Nachbarin der
-Kiefer, die deutsche Edeltanne, und sie reckt sich kerzengrade,
-so daß sie noch einen Finger breit über jene hinweg schaut
-&ndash; »Du mit Deinem Blühen! Sieh' mich an: meine Orden,
-huldvollst verliehen von Sr. rauschenden Majestät dem
-Frühling.« &ndash; Und sie klappt ihre Zweige zusammen, daß
-ein feines Nadelgeriesel zur Erde fällt. Ueber und über ist
-sie besäet mit hellgrünen Knöpfchen, frischen Nadelspitzen,
-die vergnügt aus dem Dunkel ihrer Wintertracht hervorblitzen.</p>
-
-<p>Zwischen den Bäumen, aus Gras und Moos erheben
-sich dunkle Blumenbeete. Seltsame Blumen stehen darauf:
-aus dunklen Blättern hängt an einem dünnen Stiel eine
-kleine, gelbe Tasche; &ndash; ich bin immer die vierundzwanzigste
-mit fünfundzwanzig Fehlern in der Botanik gewesen, und
-nun möchte ich wissen, ob diese niedliche, kleine, gelbe Tasche
-nicht eine Art von Venus-Fliegenfalle ist? Kriecht ein
-dummes Mückchen am Rand der schönen Blüte hin und
-bleibt daran kleben: sacht schließt die schöne Blüte ihre
-Tasche, und Mückchen ist gefangen und muß elend zu Grunde
-gehen. Denn so eine Venus-Fliegenfalle gibt ihre Beute
-nicht wieder los; ob's Mückchen auch zappelt &ndash; es wird
-festgehalten bis an sein unseliges Ende.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Wenn nach einem deutschen Städtchen aus der nächsten
-Garnison die Militärkapelle kommt und ein Biergartenkonzert
-abhält, dann sitzen die unnützen Buben hinter der
-grünen Hecke des Gartens und gucken hindurch und haben
-die prächtige Musik mit allem Tschingdara-Bumbum und
-die Herren- und Damen-Honoratioren, die weißröckigen
-<a class="pagenum" id="page_048" title="48"> </a>
-Mädchen, und all den Kaffee und das Bier &ndash; nämlich
-indem sie sehen, wie es getrunken wird &ndash; ganz umsonst.
-Sie nennen das: ein Heckenbillet nehmen. Ich habe auch
-ein Heckenbillet genommen: ich sitze hinter der großen Mauer,
-an der sich rotblühendes Gaisblatt rankt, und kein Mensch
-im gebildeten Garten weiß, daß ich da bin, und ich höre
-das süße Vogelkonzert, ich sehe die ernsthaften, andächtigen
-Bäume und das kindlich lustige Gras, in dem die blauäugigen
-Veilchen grüßen, ich trinke die wonnige Frühlingsluft
-&ndash; alles umsonst.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Vor mir an der Mauer hinauf, einer Weinranke entlang,
-läuft ein winzig klein Vögelein, geschwind wie ein
-Mäuschen. Pick &ndash; pick! hier wetzt es sein Schnäbelein;
-husch &ndash; husch! dort jagt es dem Käferchen nach &ndash; und
-es sieht mich an mit den klugen Augen, als rief' es: Guck,
-mach' mir das nach! Da ist es oben, reckt die kleinen Flügel
-und mit einem jubelnden Gekicher ist es davon. &ndash; Horch!
-über mir: da lacht und küßt und tollt ein braunes Drosselpaar.
-Kokett wiegt sich das Weibchen auf dem schwanken
-Ast; der Liebste lugt um den Stamm und zwitschert zärtlich:
-Kind, sühst meck nich? &ndash; sühst Du meck nich? &ndash; Hier bün
-eck! hier bün eck! lacht das Weibchen, und fort sind sie, in
-das Dickicht hinein.</p>
-
-<p>Da kommt wieder mein Sonnenstrahl und lockt mich
-aus meiner Ruhe und gleitet vor mir her &ndash; und ist verschwunden.
-Wo bin ich? Was wölbt sich über mir &ndash;
-weit, groß, allmächtig. Ich schaue hinaus, und schaue:
-immer höher, immer gewaltiger weitet sich der grüne Dom
-von Blättern. Die Zweige der beiden norwegischen Baumriesen
-neigen sich gegen einander, sie werden zu gothischen
-Spitzbögen, anstrebend in die Unendlichkeit. Sanftes
-Dämmerlicht liegt in meiner Kirche. Durch das grüne,
-schimmernde Blätterdach schaut der Himmel wie blaue,
-<a class="pagenum" id="page_049" title="49"> </a>
-freundliche Sterne. Ein lieblicher Weihrauch umweht mich.
-Es ist der Duft der kleinen weißen Blüten des wilden
-Apfelbaumes, der meine Kirche mit wonniger Süße erfüllt.
-Ich stehe und schaue. Ich breite die Arme aus nach der
-grünen Unendlichkeit da droben, und es ist still, still, um
-mich, in mir.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Als ich hinaustrete aus den dämmernden Bögen meines
-Domes, liegt die Welt hell zu meinen Füßen. Ihr Duft
-umhüllt mich. Ihr Licht gleitet warm in mein Herz. Es
-ist Frühling.</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">In den Lüften singt es und klingt es &ndash; und&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs"><hr /></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ich flüstere in die weite Welt: »Wohl süß ist es zu singen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wenn Vogelschlag und Frühlingsduft weich dir ins Herze klingen«&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;Da lachte der Sonnenschein.</td></tr>
-</table>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_050" title="50"> </a>
-Das Märchen, das gar nicht
-kommen wollte.</h2>
-
-
-<p>Es war einmal ein Märchen, das hatte sich eingepuppt
-wie eine Schmetterlingsraupe und sich versteckt in dem Astloch
-einer alten Eiche im Walde; nur zuweilen öffnete es
-die Augen ein wenig und blinzelte um sich, und wenn es
-sah, daß die Welt immer noch grau und kahl und ungemütlich
-war, dann machte es die Augen zu und schlief
-wieder ein. &ndash; Während dessen liefen die Menschen in dieser
-kalten Welt herum und jammerten nach dem Märchen, das
-gar nicht kommen wollte. Das heißt, eigentlich waren es
-nur ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen, die überall
-nach dem Märchen fragten. Sie hatten dicht bei einander
-auf dem Fußschemel gesessen und zugehört, was die
-alte Märchenmuhme erzählte. Die großen Leute hatten
-keine Zeit dazu, die hatten so viel zu sorgen und zu wirtschaften
-und zu studieren, daß sie sich um ein Märchen nicht
-weiter bekümmern konnten; außerdem sagten sie, so ein
-Märchen, das sei nur für Kinder und solche, die es immer
-bleiben; dabei käme gar nichts heraus, und man sollte nur
-einmal die gelehrten Leute fragen, die den täglichen Bildungsbedarf
-<a class="pagenum" id="page_051" title="51"> </a>
-fürs Volk liefern &ndash; das viele Zeitungspapier
-&ndash; die werden Euch schon sagen, was man von dem Märchen
-zu halten hat.</p>
-
-<p>Da sagte der kleine Junge zu dem kleinen Mädchen:</p>
-
-<p>»Komm', wir wollen hingehen und sie fragen!«</p>
-
-<p>Als sie bis an eine große düstere Thür gekommen
-waren, &ndash; da wären sie am liebsten wieder umgekehrt; aber
-der kleine Junge war sehr mutig, und so gingen sie hinein.
-Da saß der Gelehrte und las aus einem gewaltig großen
-Stück Papier.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Sieh' 'mal, der hat vier Augen,« sagte das kleine Mädchen
-&ndash; und dann guckte er mit ein paar allmächtigen
-schwarzen Augen über die gläsernen hinweg, die ihm unten
-auf der großen Nase saßen, und das kleine Mädchen steckte
-schnell den Finger in den Mund und der kleine Junge
-ballte die Faust, während der Gelehrte brummte (Gelehrte
-brummen meistens):</p>
-
-<p>»Sie haben zu viel Phantasie, meine Lieben, das hindert
-Sie durchaus am logischen Denken und schwächt den Verstand.
-Doch, es wird sich schon geben, darüber seien Sie
-nur unbesorgt.«</p>
-
-<p>Da gingen die Kinder nach dem andern Gelehrten,
-der war sehr freundlich, tätschelte ihre blonden Köpfe und
-sagte: sie sollten nur wieder hingehen &ndash; das sei Alles in
-schönster Ordnung. &ndash; Dann nahm er des ersten Zeitung
-und schnitt da ein Stück heraus, aber so, daß der Anfang
-fehlte und man nicht wußte, um was es sich eigentlich
-handelte, und druckte es in seine eigene Litteratursammlung
-hinein, und dann stand da zu lesen: Dieses ist für die
-Kinder durchaus schädlich. Es verleitet sie zum Lügen und
-könnte Veranlassung geben, daß sie sogar Phantasie bekämen.
-&ndash; In unserem heutigen realistischen Zeitalter ist es nicht
-<a class="pagenum" id="page_052" title="52"> </a>
-angebracht, und der Konflikt zwischen Konservativismus
-und Modernität wird immer wieder aufgefrischt.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Aber davon verstanden der kleine Junge und das kleine
-Mädchen gar nichts; ganz traurig gingen sie wieder fort
-und suchten immer noch nach dem Märchen, das gar nicht
-kommen wollte. Sie hauchten ein Guckloch in die Eisblumen
-am Fenster, ob es vielleicht außen davor säße; wie der
-Schnee mit geheimnisvollem Sausen vom Dache rutschte,
-öffneten sie das Fenster und dachten, nun käme es ganz
-weiß hereingeflogen, und wie die Sonne anfing zu scheinen,
-liefen sie hinter den Sonnenstrahlen her, um sie zu haschen,
-denn sie meinten, das sei es nun; und dann schlichen sie
-auf den Zehenspitzen ans Fenster, wo die großen, weißen
-Hyacinthen standen und dufteten, und guckten zu, ob es
-vielleicht in einer der stillen Blütenglocken zur Ruhe gegangen
-sei.</p>
-
-<p>Aber das Märchen wollte und wollte nicht kommen.
-Und unterdessen war es in der Welt immer noch kalt und
-grau und trostlos. Die Menschen hasteten und jagten und
-trieben einander und machten lauter dummes Zeug. Es
-war eine häßliche Welt und häßliche Menschen darin, die
-sich viel Leides thaten, und die beiden Kinder dachten oft,
-ob denn das Märchen noch immer nicht kommen wollte und
-Ordnung schaffen und die Welt wieder gut und schön machen.</p>
-
-<p>Da kam eines Tages der Südwind daher gefahren.
-Er stieg von den Bergen hernieder, daß die Lawinen
-donnernd vor ihm niederkrachten; er jagte das Eis auf den
-Flüssen vor sich her, daß es sich bog und knackte und schrie;
-er pfiff durch die Tannenwälder, daß die Nadeln den alten
-Fichten um die Ohren sausten, und knickte die dürren Aeste
-der Wälder, daß Platz wurde für die jungen, neuen Triebe.
-Die Wolken trieb er vor sich her &ndash; runde, regenschwere
-Wolken, in wilder Jagd; sie drängten und schoben sich
-<a class="pagenum" id="page_053" title="53"> </a>
-und sprangen einander auf den Rücken, wie die Buben,
-wenn sie Haschen spielen. Dann stob er in die Stadt
-mit wildem Jauchzen und Getöse; er blies in die Kamine
-hinein, wie in ein Sprachrohr, und trieb Schabernack mit
-des Petrus goldnem Hahn auf der Kirchturmspitze; er
-deckte die Dächer ab und guckte den Leuten in die Häuser
-und blies sie an, daß es den dummen Menschen angst und
-bange wurde. Ja, er fuhr sogar dem König um die Nase,
-als der just vor seinem Königreiche stand und, die Hände
-in den Hosentaschen, darüber nachdachte, wie sein Volk ihn
-wohl wieder einmal beglücken könne; und er warf ihm sein
-Reichsaushängeschild gerade vor der Nase herunter, so daß
-der König sich entrüstet umdrehte und in sein Reich hineinging
-und die Thür zuwarf, daß es krachte.</p>
-
-<p>Aber der Wind lachte nur: »Puh! wenn ich nur wollte,
-dann brauste ich Dich mit samt Deinem Königreich von der
-Erde hinweg, wie einen Strohhalm &ndash; aber ich will nicht!
-&ndash; Bist mir viel zu klein, du Königlein!«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Und dann warf er ein paar ehrsamen Bürgern, die des
-Weges kamen, die blanken Cylinder von den gedankenschweren
-Häuptern, als wolle er sehen, was in den Köpfen stecke;
-und wehte ein paar schlanken Jungfräulein die langen
-Kleider eng um die schönen Glieder und freute sich darüber,
-der wilde Geselle, wie die kleinen Frauenfüße so tapfer
-gegen ihn ankämpften.</p>
-
-<p>Mit lustigem Gekicher fuhr er zu den Wolken auf und
-spielte Fangball mit ihnen; die Wolken fangen an zu weinen
-und dann fällt ein weicher, warmer, feiner Frühlingsregen
-auf die Erde nieder, eine zarte, graue Nebeldecke breitet sich
-über die Welt aus, und unter dieser dampfenden feuchtwarmen
-Decke da geht der Sturmwind zur Ruhe.</p>
-
-<p>Dort im Wald, in dem Astloch der großen Eiche regt
-sich etwas, das ist das Märchen; das ist aufgewacht von
-<a class="pagenum" id="page_054" title="54"> </a>
-des Südwinds wildem Gesang und merkt, daß es nun Zeit
-ist, aufzustehen. Es gähnt noch einmal recht herzhaft und
-reckt und plustert sich wie ein Vögelein im Nest; dann
-schiebt es erst das eine rosige Füßchen heraus und dann
-das andere, dann gähnt es noch einmal, und nun
-breitet es seine sammetenen Schmetterlingsflügel aus und
-fliegt zur Erde nieder. Da leuchtet mit einemmal eine
-große, glänzende Sonne durch den Nebel, und nun kann
-man erst sehen, was für ein niedliches Märchen es ist. Es
-ist sehr klein und fein, hat schöne, weiße Gliederchen und
-große, dunkelblaue Stiefmütterchenaugen und die schönsten
-goldnen Haare von der Welt, die glänzen in der Sonne
-wie das rote Gold, das die Schlangenkönigin bewacht; auf
-dem Köpfchen trägt es eine blaue Glockenblume, die macht
-ein sanftes Geläute, wo das Märchen geht und steht.</p>
-
-<p>Es mußte wohl von dem Getön und Geklinge sein,
-daß plötzlich alles lebendig wurde im Wald, daß die Vögelein
-ein artig Konzertieren begannen und die Blumen &ndash; die
-Krokus und Anemonen und Schneeglöckchen und wie sie alle
-heißen &ndash; aus der Erde sprangen, wie kleine, weißhäutige
-Kobolde, und ein duftiger Reigen begann in Wald und
-Flur. Ei! wie es die Bäume da eilig hatten, ihr neues
-grünes Kleid anzulegen, und wie die alten Tannen die
-spitzen, gelbgrünen Finger ausstreckten, als wollten sie sich
-auch so ein grasgrünes Flörchen erhaschen. Am Waldteich
-der alte Erlenstumpf sagte zu seinen grünen Jungen, die
-ihn dicht umstanden:</p>
-
-<p>»Reckt Euch in die Höhe, Jungens, damit das Märchen
-nicht sieht, wie alt und vertrocknet ich bin.«</p>
-
-<p>Aber im Teich erhob sich plötzlich ein lautes Gequake
-und Gejohle. Das waren die Frösche, die hielten einen
-Froschvolks-Thing ab und wollten sich eine neue Verfassung
-gründen; sie sprachen sehr ernsthaft über Kaulquappenerziehung,
-<a class="pagenum" id="page_055" title="55"> </a>
-Schulvorlagen und Militärbudgets, und daß der
-Storch und der Reiher von jetzt an unter froschlicher Oberhoheit
-stehen sollten; und ein noch ganz grünes Fröschlein
-aus dem vornehmen Geschlecht derer von Ochsenfrosch wollte
-immer alles besser wissen und durchaus einen ganz uralten
-Kurs als das Neueste einführen im Froschteich.</p>
-
-<p>Es war wirklich sehr interessant, und es war gar nicht
-recht, daß der Weidenbaum am Ufer plötzlich anfing zu
-jauchzen und zu lachen und zu spotten, und sich geberdete,
-als hätte er zu viel Blütenwein getrunken. Die gebildeten
-Frösche kamen ganz ärgerlich ans Ufer und glotzten ihn an,
-und der tolle Geselle, dem die buschigen, hellgrünen Weidenkätzchen
-von seiner Narrenkappe herunterbaumelten, schnitt
-höhnisch eine Fratze und spreizte seine vielen grauen Finger
-von sich und hielt eine lange Rede, von der die Frösche
-kein Wort verstanden; denn er sprach von Blütenwein und
-Trunkenheit und Auferstehung und Frühlingsduft und
-Märchenaugen &ndash; und schloß mit:</p>
-
-<p>»Kinder und Narren sprechen die Wahrheit, und wahrlich,
-ich sage Euch, so Ihr nicht werdet wie sie, so könnet
-Ihr nimmer in den Frühling eingehen!«</p>
-
-<p>Hei! Da begann ein Geschelte und Gequake, ein Koaxkoax
-und Brekekekex, daß die Vöglein in der Luft im Fliegen
-innehielten und verwundert zum Waldteich herniederschauten.
-Und der Weidenbusch verbeugte sich lächelnd nach allen
-Seiten und schüttelte seine Kätzchen lustig durcheinander
-und sagte:</p>
-
-<p>»Verehrte Anwesende, ich glaube verstanden zu haben,
-daß Sie mir vollständig beistimmen; und da oben kommt
-Se.&nbsp;Excellenz, der Generalfeldmarschall Graf Storch, angeflogen,
-der wird Ihnen&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Quack! sagten die Frösche und tauchten unter, und
-lange herrschte Totenstille im Teich, bis sie merkten, daß
-<a class="pagenum" id="page_056" title="56"> </a>
-der tolle Weidenbusch sie genasführt hatte; dann begann
-zögernd erst die eine Stimme und dann eine zweite,
-und der grasgrüne Froschjüngling sagte: Kroax! und seine
-Base, die gelehrte und tiefsinnige Schriftstellerin von Unke,
-antwortete: P&ndash;unkt&ndash;um! &ndash; und bald war der hochweise
-Disput mit These und Antithese wieder im schönsten Gange.</p>
-
-<p>Das Märchen aber nickte lächelnd zum Weidenbusch
-hinüber und warf Kußhändchen nach allen Seiten, dann
-flog es schnurstracks durch den grünenden, blühenden, duftenden
-Wald, über Felder und Gärten, in die Stadt, in
-das Haus, in die Stube hinein, wo der kleine Junge und
-das kleine Mädchen auf dem Fußschemel saßen und aufmerksam
-zuhörten, wie die Märchenmuhme ihnen die Geschichte
-von den Löwen- und den Bärenkindern erzählte,
-und als sie gerade sagte: »Die Bärenkinder aber waren so
-schrecklich unartig« &ndash; da rief der kleine Junge:</p>
-
-<p>»Sieh', &ndash; sieh' doch, da ist das Märchen!«</p>
-
-<p>Und das kleine Mädchen klatschte in die Hände und
-jubelte: »Das Märchen! das Märchen!«</p>
-
-<p>Und wirklich, da stand das Märchen auf der Thürschwelle,
-seine Augen leuchteten, seine Haare glänzten wie
-die Sonne, und dann nickte und winkte es ihnen; die Kinder
-faßten sich bei den Händen, sprangen zur Thür hinaus,
-hinter ihm her und riefen und sangen immerfort:</p>
-
-<p>»Das Märchen! Da ist das Märchen, das gar nicht
-kommen wollte!«</p>
-
-<p>Es waren aber viele Kinder auf der Straße, die sahen
-das Märchen zwar nicht, aber sie riefen doch: Das Märchen,
-das Märchen! und tanzten hinter dem kleinen Jungen und
-dem kleinen Mädchen her, und so ging der Zug durch die
-Stadt zum Thore hinaus, als wenn der Rattenfänger von
-Hameln ihnen aufspielte. Die großen Leute, denen sie begegneten,
-blieben stehen und lachten und sagten:</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_057" title="57"> </a>
-»Ach, das ist ja ein Schmetterling, der heißt&nbsp;&ndash;« und
-dann nannten sie einen langen, lateinischen Namen. Und
-andere sprachen:</p>
-
-<p>»Das ist ja ein Sonnenstrahl, und nun ist es Frühling
-geworden. Der Frühling ist eine natürliche, höchst angenehme,
-alljährlich wiederkehrende Naturerscheinung. Es ist
-gar nichts Märchenhaftes daran.«</p>
-
-<p>Aber nun waren es der kleine Junge und das kleine
-Mädchen, welche lachten &ndash; sie wußten es ja viel besser.
-Sie liefen in den Wald hinein &ndash; da tanzten die Blumen
-mit den Elfen und Kobolden, und die Kinder waren mitten
-unter ihnen. Das Märchen schenkte ihnen den Frühlingswein
-aus Blütenkelchen, und sie lagen auf weichem Moos
-und guckten in den blauen Himmel hinein, von dem die
-weißen Wölkchen winkten und grüßten und weiter segelten.</p>
-
-<p>Das Märchen aber wuchs und wurde größer und wurde
-eine liebliche Jungfrau und ein blühendes Weib; und dann
-wurde es ein liebes, eisgraues Mütterlein, und dann &ndash;
-ja, dann spann es sich wieder ein, wie eine Schmetterlingsraupe
-und kam lange, lange nicht mehr; nur zur Zeit der
-Wintersonnenwende, als die weißen Grüße vom Himmel
-an der alten Eiche im Walde vorüberwehten, da öffnete
-es die blauen Märchenaugen ein wenig und blinzelte um
-sich, und dann schlief es wieder ein und wartete auf den
-singenden, sausenden, brausenden Frühlingswind.</p>
-
-<p>Und der kleine Junge und das kleine Mädchen wuchsen
-auch und wurden größer und schöner und wurden Mann
-und Weib; dann spannen sie sich auch ein, in sich und ihre
-Welt; und dann erzählten sie ihren Kindern und Kindeskindern
-das Märchen vom Märchen, das gar nicht kommen
-wollte, und endlich, endlich doch gekommen war.&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_058" title="58"> </a>
-Klein Hildegard.</h2>
-
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">Klein Hildegard wollte zur Schule gehn,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da blieb am Walde sie sinnend stehn;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Der sah sie mit winkenden Augen an,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Vöglein lockten aus dem Tann:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Klein Hildegard, komm, so schön ist's hier,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wir rauschen Dir Märchen, wir singen Dir</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Von Elfenkönigs goldenem Thor</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Viel Süßes, Geheimnisvolles ins Ohr;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wir singen Dir von des Nixen Spiel&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Tief unten im Wasser, da weint er so viel.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wir streuen Dir duftende Blumen umher,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Der Wind regt die Zweige, brausend wie's Meer.«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&ndash; Doch Hildegard richtet sich ernsthaft auf</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und schickt sich wieder an zum Lauf:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Zur Schule, zur Schule!« die Mutter spricht,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Im Walde spielen, das darfst Du nicht!«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da fällt, plumps! von dem Tannenast</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ein Zapfen auf das Näschen fast:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Au! böse Tanne!« schilt das Kind,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Bist unartig, wie Kinder sind!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Willst mir wohl gar was sagen, gelt?&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ei nun, so rede, wenn's gefällt!«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Lieb schmiegt klein Hilde sich heran<a class="pagenum" id="page_059" title="59"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Zum rauhen Stamm der alten Tann.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Vergessen ist Schule, der Mutter Gebot&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ja, Sonntagskinder machen viel Not.&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Vom Tannenbaum fall'n &ndash; tip, tip, tap,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die würz'gen Nadeln sacht herab.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und, wie sie rieseln, wie sie fallen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Hört Hilde Stimmchen draus erschallen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die lullen's Kindchen kosend ein</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In seltsamliche Träumerein;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Zur Schule geh', mein liebes Kind,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Doch da nicht, wo die andern sind.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Geh' Du zur Schule in dem Wald;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Was Du da lernst, vergißst Du nicht bald.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Denn hier im Wald, da lernst Du verstehn,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Was Bäume rauschen und Blüten verwehn;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Warum am ewigen Himmelszelt</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Wolken ziehen über die Welt;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Was Blumen duften, Vöglein singen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Was Bächlein murmeln, Stürme klingen&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Was unsere ganze schöne Welt,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die kunterbunte, zusammenhält&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Horch nur auf jedes Gezirpe fein,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">So wirst Du bald klug wie Waldvöglein sein.«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">So spricht im Walde die alte Tann',</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und Hilde hält den Atem an,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Daß ihr die Wörtlein nicht entrinnen.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Dann wandert lustig sie von hinnen.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es grüßen Blumen von allen Seiten,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und Hilde nickt, als weitergleiten</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Im weichen, kühlen Gras und Moos</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die kleinen Füße, nackt und bloß.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Pflück' mich,« spricht die Königskerze,<a class="pagenum" id="page_060" title="60"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Sieh', wie ich gen Himmel schwanke,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Schlanker Stab aus Sammetblättern,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Bin ganz Sehnsucht, ganz Gedanke,&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Vor Idealen, hoch und hehr,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Seh' ich den eignen Stamm nicht mehr!«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da lacht das kecke Heidekraut:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Ich wurzle in der Erde traut;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und wie ich dufte, wie ich blühe,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und wie ich stark und kräftig bin,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und wie ich feurig rot erglühe&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">All das gab mir die Erde hin!«&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Horch! Welch ein feines Stimmchen schallt</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Vom nahen Eichstamm durch den Wald?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die wilde Weinblüt' ist's, die spricht</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ganz spöttisch: »O, Ihr dummen Wicht'!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Vom Himmel träufelt uns der Regen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Vom Himmel wärmt die liebe Sonn',</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und Mutter Erde will uns hegen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wenn Frost und Eise starren schon.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ich lieb', was mir der Himmel gab,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Erd', in der ich Wurzeln hab'.«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">So flüstert's, lacht es auf und an;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Klein Hilde pflückt so viel sie kann.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Schau! Dieses bunte Blumenmeer!&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Fast wird's dem Aermchen gar zu schwer.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Im schilfigen Gras glüht rot es auf.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Pechnelken stehen da zu Hauf,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und schütteln ihre Federköpfe,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und spreizen sich, die eitlen Tröpfe.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Ei, liebes Kind, mußt mich ansehn,«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Eine spricht, »bin wunderschön!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Brichst mich in meinem Purpur-Prangen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">So bleibst an meinem Stengel fein<a class="pagenum" id="page_061" title="61"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Unwiderstehlich daran hangen</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Mit Deinen Kinderhändchen rein;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wer mich nur einmal hat berührt,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Stets neue Lust nach mir verspürt.«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Doch &ndash; »Bim &ndash; bam!« klingelt da die Blaue,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Glockenblum', »Nur der nicht traue!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Denn Lüg' ist Alles, was sie spricht&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Kennst Du das alte Sprüchwort nicht?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wer Pech anfaßt, besudelt sich!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und das ist richtig, sicherlich!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Hör', rote Nelke, das ist schlimm!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das Glöcklein läutet stets: Bim &ndash; bim!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und öffnest Du den Lügenmund,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">So klingelt es ganz kunterbunt:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Bimbam, bimbam, bimbam, bimbum!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Du Federnelke, bist Du dumm!«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und lachend steht Klein Hildegard</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und droht dem blauen Glöcklein: »Wart',</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Du lieber Schelm, jetzt pflück' ich Dich,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Dann läutest Du »Bimbim!« für mich,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und läutest artig mich nach Haus;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Doch jetzt ruh' ich mich erst 'mal aus.«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es winkt der gelbe Ginsterbusch,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und wie das graue Häslein &ndash; husch!&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Schlüpft unser Kind geschwind hinein</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ins goldne Blütenbettelein,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und dehnet wohlig sich zur Ruh',</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und schließt die müden Aeuglein zu.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Blumen hält im Arm sie fest,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Denn wenn man die gewähren läßt,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">So fangen sie zu leben an</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und wandern fort durch Wald und Tann.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es ist just um die Mittagsstunde.<a class="pagenum" id="page_062" title="62"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wo Waldesgeister ziehn die Runde.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Kennst nicht das Waldesweben Du?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wenn rings im Wald ist tiefe Ruh',</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und doch ein seltsamliches Weben</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ein raunend, flüsternd Zauberleben?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Bäume stehen still und stumm,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Kein Blättlein reget sich ringsum.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Im Schatten schläft das Vöglein lieb,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Reckt sich einmal, sagt leise: »Piep!«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und plustert seine Federlein</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und schläft dann sänftlich wieder ein.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Doch die Frau Sonne, die ist wach</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und luget durch das Blätterdach.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es tanzt auf ihrem Flimmerstrahl</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Der blanken Sonnengeister Zahl.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Im hohen Grase zirpt die Grille&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Nun zirpt es Antwort &ndash; dann wird's stille.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Der Falter taumelt über Blüten,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das sind die Schäflein, die muß er hüten;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Doch in dem heißen Sonnenschein</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da schläfert's ihn mitunter ein;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und ist er wieder aufgewacht,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Dann hat sie sich davon gemacht,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Blüten-Herde, und fliegt wie er,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Im hellen Sonnenglanz umher.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Dann hebet an ein Singen, Klingen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Von Märchen, wunderlichen Dingen;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das Bächlein gluckst sein schelmisch Lied,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und Moos und Steinchen singen mit.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Vergißmeinnicht am Rande träumt:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Hat's Wiederkommen er versäumt?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ich rief so oft: Vergißmeinnicht!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In weiter Ferne &ndash; hört er's nicht?«<a class="pagenum" id="page_063" title="63"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Der Ginster winket zu ihr her:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Klein Blümchen, was verlangst Du mehr?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Kannst, kleine Blaue, Du's verstehn?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Lieb' soll nie von Liebe gehn&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Sonst geht die Treue hinterdrein.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ich sing' ein Lied Dir &ndash; lausche fein:</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ueber die Heide weht der Wind,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da sitzt das blasse Königskind,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Singt: Leide, leide, leide&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Bei Sonnenlicht und Sternenschein</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da suche ich den Buhlen mein&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Wo weilt er auch am Wege?</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ach, wollt', er wäre noch bei mir,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ich wollt' ihn küssen und herzen schier</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Auf stiller, stiller Heide.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ach, wollt', ich läg' in seinem Arm,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ich wollt' vergessen allen Harm,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Wollt' lachen nur und kosen.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ueber die Heide weht der Wind,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da sitzt das blasse Königskind,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Singt: Leide, leide, leide.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und wartet noch gar manches Jahr&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und kämmet ihr langes, goldnes Haar,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Das wehet in dem Winde.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und als der Bub dann kommen ist,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Der sie so oftmals hat geküßt,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Da sucht er auf der Heide.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">War da ein feiner Ginsterstrauch,<a class="pagenum" id="page_064" title="64"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Des gelbe Blumen strahlten auch</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Wie lauter lichtes Golde.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da hat er so viel weinen 'müßt,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und hat die Ginsterblumen 'küßt&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Dann ist er fortgezogen.«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und als verklungen ist die Weise,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da reget sich Klein Hilde leise:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In ihrem Arm die Blümelein,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die fangen an zu reden fein.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das Löwenzähnchen schilt: »O Ginster,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wie sind doch Deine Träume finster!«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»<i>Noblesse oblige!</i>« ruft Rittersporn,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Auch in der Lieb' &ndash; bei meinem Zorn!«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und trotzig mit gar mut'gem Sinn</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Grüßt er zur Wickenblüte hin;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Verschämt senkt die das Köpfchen tief,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ein lieblich Rot sie überlief.&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da lacht es plötzlich neben ihr:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Ich halt' die Liebe weg von mir!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ich wehre mich vor jedermann&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und fühlt, wie ich doch brennen kann!«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da jubeln alle auf und sagen:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Hört &ndash; Brennessel will auch was wagen!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Geh', Unkraut, pfeife uns ein Lied,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Im Chorus singen wir dann mit.«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und neckisch stimmt die Grüne dann</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das Nessellied, und hebet an:</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Ich wollt' einmal spazieren gehn,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Am Rain, wo bunte Blumen stehn.«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und jauchzend fällt der Chorus ein:<a class="pagenum" id="page_065" title="65"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Nessel, Nesselbusch am Rain!«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Da schaut ein weißes Blümlein 'raus,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und ach &ndash; so schämig sah es aus.«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und jauchzend fällt der Chorus ein:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Nessel sieht so schämig drein!«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Und als ich bückte mich danach,&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Gar plötzlich mir's den Finger stach.«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und jauchzend fällt der Chorus ein:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Nessel, Nessel, wehr' Dich fein!«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Ei, böse Blume, halt' doch still</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wie die andern, wenn ich Dich brechen will!«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und jauchzend fällt der Chorus ein:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Nessel, &ndash; hörst &ndash; sollst stille sein!«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da lacht die grüne Blum' und spricht:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Ja Brennesselblüten, die pflückt man nicht!«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und jauchzend fällt der Chorus ein:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Brennt die Nessel &ndash; laß sie sein!«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Nun reichen alle sich die Hände,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und singen's Tanzlied: »Wende, wende</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Dich her zu mir, und auf und ab.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Zieh' die Kreise, zart und leise,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Sing' die alte Wunderweise,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wie die Blumenfee sie gab.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In den Blüten schläft das Kind&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Küsse, küsse es geschwind,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Daß es eins der unsern werde;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Daß es blumenduftig schwebe,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Daß es waldesselig lebe</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Auf der hellen, grünen Erde.«<a class="pagenum" id="page_066" title="66"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da ist klein Hilde aufgewacht,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und hat die Aeuglein aufgemacht:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und all die Sonnenpracht umher!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und all das Duften, süß und schwer!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und sieh' &ndash; die Blumen neigen sich,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Umkreisen sie gar seltsamlich&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Sie trägt ein rosenfarben Kleid,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das strahlet hell von Taugeschmeid'.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und Rosen trägt sie in dem Haar,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und Rosen in den Händen gar.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Blumen knieen vor ihr hin:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Heil unsrer Rosenkönigin!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und eh' sie weiß, wie ihr geschah,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">So ruhet sie auf Rosen da;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und allgewärtig ihren Winken</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Blumen stehn zur Rechten und Linken,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und Hilde grüßt nach allen Seiten</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Huldvoll, wie sie vorüberschreiten.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Aus Blumen trinkt sie den Blütenwein</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und nascht den goldnen Honigseim.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Sonne wirkt ihr die goldne Kron'</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und die glänzenden Flitter für den Königsthron.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Schmetterlinge tanzen vor ihr,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Grillen spielen auf dafür.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">So ruhet sie an Baches Rand</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Als Königin übers ganze Land.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da &ndash; horch! was rauscht es ihr zu Füßen?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und welch ein Nicken, Winken, Grüßen</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Von Blum' und Moos am Ufer dort?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das Wasser schwillet fort und fort&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und aus den grauen Nebelwogen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da kommt es zu ihr hergezogen<a class="pagenum" id="page_067" title="67"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">So wunderselig. Aus dem Fluß</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Erhebet sich mit süßem Gruß</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Der Nix in silbernem Gewand</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und hält die Harfe in der Hand</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die gibt gar traurig hellen Ton&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ob's Glück mit Thränen gemischt sei schon.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Er breitet die Arme aus nach ihr:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»O Rosenkönigin, komm' zu mir!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ich will in meinem Arm Dich hegen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ich will Dich schaukeln auf der Flut;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die zarten Glieder sollst Du legen</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Auf Wasserrosen, &ndash; da ruht sich's gut.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Mit meinen Fischlein sollst Du spielen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ein neckisch Haschen, her und hin&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die kleinen, weißen Füßchen kühlen</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In klaren Silberwellen drin.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es ist so einsam in der Tiefe,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Im Wasserhaus so kalt für mich&nbsp;&ndash;.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und kämst Du wohl, wenn ich Dich riefe?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">O Königin, ich hole Dich!«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da wird Klein Hilde das Herz so weh&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es ruft in ihr: O geh', o geh'!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wie wird es ihr so seltsam kalt?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Was zieht es sie mit solcher Gewalt?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wie schwillt das Wasser immer mehr&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da kommt der Nix gar zu ihr her,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und faßt sie mit feuchten Armen an&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Klein Hilde sich kaum noch regen kann.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Vor Angst, vor Glück? &ndash; Sie weiß es nicht,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es küßt der Nix ihr blasses Gesicht;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Er wieget sie in seinem Arm,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es wird ihm &ndash; ach &ndash; so wohlig warm;<a class="pagenum" id="page_068" title="68"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Er will sich rauben das junge Blut</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In tiefe, rauschende Silberflut.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Klein Hilde schaudert &ndash; an seine Brust</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Zieht er sie eng mit sehnender Lust&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Schon netzt das Wasser ihr Gewand,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Er zieht sie hin mit zwingender Hand&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Nun sinkt Klein Hilde sacht hinab</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In des Nixen stilles Wassergrab.&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und horch! wie's um sie rauscht und singt!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wie's brausend durch die Lüfte klingt!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Klein Hilde, wache auf geschwind,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Sonst weht der wilde Brausewind</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Dich wirklich in das Bächlein dort&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Zum Schlafen einen bösen Ort</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Hast Du Dir eben ausersehn.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und dann mußt Du nach Hause gehn:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Schule ist schon lange aus,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und alle Kinder schon zu Haus.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da hat Klein Hilde sich erhoben</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und schaut verwundert hin nach oben,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wo Wolken ziehen kreuz und quer,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Gar über die liebe Sonne her.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wie war doch alles das geschehn?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Hat sie den Nixen nicht gesehn?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ist nicht am Saum ihr Röckchen naß?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das ist doch nicht vom feuchten Gras?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wo ist ihr Rosenkleidchen hin?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">War sie denn nicht die Königin?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Bäume neigen sich um sie her,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das kommt vom Wind, der wehet sehr,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Der pfeifet ängstlich durch den Tann;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Klein Hilde hält den Atem an&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es wird ihr plötzlich so beklommen<a class="pagenum" id="page_069" title="69"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da hat sie hurtig aufgenommen</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Blumen alle nebendran,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und springt davon so schnell sie kann.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Jetzt ist sie auf der kleinen Brücke,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da rauscht es unter ihr voll Tücke:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Da, Wassermann,« ruft sie geschwind,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Da, nimm das bunte Blumenkind!«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und wirft ein schönes Blümelein</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In Wassermannes Haus hinein.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Mit weißer Hand greift der es an,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und strudelnd sinkt's zur Tiefe dann.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und als Klein Hilde kam nach Haus</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und hat gesagt, was sie gesehn,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und hat erzählt, was ihr geschehn&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da lachen sie Klein Hilde aus.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und scheltend streng die Mutter spricht:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Im Walde spielen sollst Du nicht!«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und Hilde setzt ins Eckchen sich</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und weinet, weinet bitterlich.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Klein Hilde, werde wieder froh;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Uns Großen geht es ebenso:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wenn wir im Walde etwas sehen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Was all die andern nicht verstehen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">So lachen sie uns auch nur aus</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In diesem weisen Weltenhaus.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und Mutter Ordnung ernsthaft spricht:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Der Phantasie bedarf man nicht!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Poesie &ndash; die braucht man nicht!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Mehr sehn, wie andre, soll man nicht!&nbsp;&ndash;«</td></tr>
-</table>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_070" title="70"> </a>
-Das Märchen,
-das verloren gegangen war.</h2>
-
-
-<p>Das war, als ich einmal spazieren ging und tiefsinnige
-Gedanken hatte &ndash; worüber? &ndash; Sie waren zu tief, um das
-ergründen zu können. Vielleicht war's, ob die Welt da um
-mich her mit ihren langen Straßen und engen Häusern eine
-wirkliche Welt sei oder ob ich sie mir bloß einbilde, und ob
-die Menschen, die mir begegnen, wirklich so blödgesichtig dreinschauen,
-oder ob ich bloß Schwingungen in meinem Gehirn
-und Augen habe, die mir das alles so erscheinen lassen &ndash;
-ja, vielleicht war's das, worüber ich nachdachte. Und neben
-mir her trippelte ein feines Etwas mit großen Augen,
-und das kicherte und plapperte mit einem leisen murmelnden
-Stimmchen wie ein kleiner Bach; und weil mich das
-in meinem tiefsinnigen Denken störte, sagte ich:</p>
-
-<p>»Ei, so sei doch ruhig und stör' mich nicht!«</p>
-
-<p>Da schwieg das feine Etwas erschrocken still. Aber
-als das liebliche Gemurmel nicht mehr neben mir einherging,
-konnte ich erst recht nicht denken, und als ich mich
-ungeduldig umwandte, da hatte ich das Märchen verloren.
-Nun war mir's ganz ungemütlich zu Mut. Ich ging gleich
-wieder zurück, blickte rechts und links, hinter jeden Baum,
-<a class="pagenum" id="page_071" title="71"> </a>
-und unter die trockenen Blätter, die darunter lagen, aber
-nirgends leuchteten die Zauberaugen meines Märchens.</p>
-
-<p>Da fragte ich die Uhr, die vor mir hoch oben in einem
-langen, spitzen Kirchturm saß:</p>
-
-<p>»Du wohnst so hoch und hast einen weiten Ausblick &ndash;
-hast du mein Märchen nicht gesehen?«</p>
-
-<p>Aber die Uhr sagte nur: Tick-tack-tick-tack! Und
-als sie schnarrend zu einer Antwort einsetzte, da sagte sie
-mit rasselnder Stimme eine ganze Menge Zahlen her &ndash;
-als ob Zahlen etwas mit einem Märchen zu thun hätten!
-Nun fragte ich die Leute auf der Straße:</p>
-
-<p>»Ihr seid so klein, und guckt immer auf die Erde &ndash;
-habt Ihr mein Märchen nicht gesehen?«</p>
-
-<p>Aber die antworteten: »Eine solche Person kennen wir
-nicht. Und wenn sie Dir gehört und weggelaufen ist, so
-zeige es doch bei der Polizei an« &ndash;&nbsp;&ndash; als ob eine blauröckige
-Polizei mit einem Knüppel ein Märchen einfangen könnte!</p>
-
-<p>Nun fragte ich die Bäume im Park, an dem ich vorüberging.
-Aber die standen ganz still und regten sich nicht
-und ließen nur zwei, drei gelbe Blätter vor mir niedersinken.
-Da merkte ich, daß es Stadtbäume waren und zu gebildet
-zum Antworten auf eine Märchenfrage, und weil ich
-nun durchaus mein Märchen, das ich so leichtsinnig verloren
-hatte, wieder haben mußte, so ging ich auf Reisen,
-ihm nach.</p>
-
-<p>Ich kam an ein großes Wasser, das lag friedlich da,
-wie eine grünsammetene Wiese, auf der kleine Grabhügel
-sich wölben, über und über bedeckt von weißen Maßliebchen.
-Mir war es, als ob mein Märchen sein goldenes
-Haupt lächelnd aus diesen Grabhügeln strecke, und als ob
-es kichere: »Nicht in Gräbern findest Du mich &ndash; ich bin
-das Leben!« &ndash; Aber da kam ein zarter, grauer Nebel und
-deckte die grüne Sammetwiese und die Maßliebchenhügel
-<a class="pagenum" id="page_072" title="72"> </a>
-zu, und nur ganz in der Ferne sah ich es aufblitzen wie
-weiße Mövenflügel.</p>
-
-<p>Ich kam an eine Insel, darüber flutete ein warmes
-Abendrot, und ein Rauschen, ein bedeutsames Raunen zog
-durch die Wipfel der hohen, stillen Bäume, als spräche mein
-Märchen zu mir aus tausend Zungen. Bunte Blumen standen
-auf der Insel, die sie die »Schöne« nannten, und sahen
-mit stillen Augen zu den Sternen auf, die ganz zart und
-licht am Abendhimmel aufleuchteten, wie die ersten Liebesgedanken
-in einer weichen Mädchenseele. Leise glucksten
-kleine lustige Wellchen gegen das Ufer, als lachten sie über
-die Wassernixen, die mit ihren weißen Entenfüßchen das
-Ufer heranklimmen wollten und immer wieder ins laue
-Wasser plumpsten. Wie nah', wie nah' war mir mein Märchen!
-Ich fühlte es mich umwehn &ndash; aber als ich danach
-haschte, sah es mich mit tiefen Augen spottend an, und ich
-griff in die Luft.</p>
-
-<p>Danach sah ich mein Märchen wieder in einem Krankenzimmer;
-da saß es tief verborgen in dem großen weißen
-Kelch einer Lilie. Aus deren sammetigen, weißen Blütenblättern
-lagen rote Tropfen, als habe das Märchen blutige
-Thränen geweint, und es sah mit himmlisch klaren Augen
-in die Weite. Wie ein Hauch flog es durch das Gemach:
-»Hier kannst Du mich nicht halten, da würde ich vergehen
-vor Traurigkeit« &ndash;&nbsp;&ndash; und husch! wie ein Flügelschlag &ndash;
-da war's aus dem Fenster, und die Menschen um mich
-sahen sich fragend an: Was war das?</p>
-
-<p>Eines Morgens, ganz, ganz früh, als die Nacht auf
-ihrem Lager flehend die Arme hob, den leuchtenden, ihr
-entfliehenden Tag zu halten, da erwachte ich und sah etwas
-Weißes, Flüchtiges von meiner Seite davonschweben. Und
-es umgab mich ein leises Klingen, und Worte tönten &ndash;
-war's in mir? war's um mich? &ndash; Horch:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">Die Nacht, als ich geschlafen hab',<a class="pagenum" id="page_073" title="73"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da lag das Glück bei mir;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Im Morgenschimmer sah ich nur</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Entfliehn die weiße Zier.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es lächelt, nickt und winkt mir zu:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Du hast es nicht gewußt,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Daß schlummernd ich mein Köpfchen hab'</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Gelegt auf Deine Brust;</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wärst Du erwacht, hätt'st mich gefaßt,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">So wär's um mich geschehn&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Nur leis, nur heimlich darf das Glück</td></tr>
- <tr><td class="tdl">An Deiner Seite gehn.«</td></tr>
-</table>
-
-<p>Nun hatten es viele gute Menschen gehört, daß ich
-mein Märchen nicht wieder finden könnte, und weil sie ein
-verloren gegangenes Märchen für etwas sehr Trauriges
-hielten &ndash; ganz anders als die in der Philisterstadt, die
-gar nicht recht wußten, was ein Märchen war &ndash; da wollten
-sie mir alle suchen helfen. Aber sie thaten es mit so viel
-Bewußtsein und Ueberlegung, daß das Märchen sich immer
-tiefer versteckte; und selbst der rauschige Weinduft, der ausgesandt
-wurde, nach ihm zu forschen, kehrte statt mit meinem
-lieblich plappernden Märchenkinde mit einem wolligen, miauenden
-Kätzchen zurück, das gar scharfe Krallen zeigte.</p>
-
-<p>Da ging ich in die Einsamkeit. Ich kam an wildes,
-weites Wasser, das rauscht und brodelt und donnert, als
-wolle es eine Welt vernichten &ndash; oder emporheben. Und
-eine Brücke führt über die weiße Gischt, die ging ich hinüber.
-Da war ich auf einer Insel mit hohen, wiegenden
-Bäumen; die hielten Felsblöcke mit ihren Wurzeln umklammert
-wie mit riesigen Greifenklauen. Und da war
-noch eine Insel, und noch eine, und noch eine. Zwischen
-ihnen drängte sich überall das weiße Wasser hindurch; es
-<a class="pagenum" id="page_074" title="74"> </a>
-war so klar, daß man die kleinen Mooswälder auf dem
-Gestein unter ihm sehen konnte, und die Höhlen, dunkelblau
-und tiefgolden, in denen die Wasserkobolde wohnen.
-Wie ich nun an der äußersten Spitze der letzten kleinen
-Insel angekommen bin und hinsehe über das weite, schäumende
-Wasser, da sitzt dicht vor mir, nahe am brausenden
-Wasserabsturz, mein Märchen auf einem Felsblock. Es
-hat seine nackten Beinchen hoch heraufgezogen, damit sie
-nicht naß werden, und umschlingt die Kniee mit den weißen
-Armen; das Haar rollt silberglänzend um die kleine Gestalt,
-wie der sonnendurchleuchtete Kamm einer Woge, und
-die meergrünen Zauberaugen sehen zwingend zu mir hinüber.
-So sitzen wir beide und lächeln uns an, so froh,
-daß wir uns wieder haben, und dann erzählt das Märchen:</p>
-
-<p>Weit droben im großen See tief auf dem Grund, da
-steht das Schloß des alten Wasserkönigs. Von grünem,
-strahlendem Krystall ist es erbaut, und die Wände sind so
-klar, daß der Wasserkönig mit seinen seegrünen Augen hindurchschauen
-kann und alles sieht, was in seinem Reiche
-vorgeht. Wenn die Fische rebellieren wollen, dann weiß
-er es schon, noch ehe sie den revolutionären Gedanken gefaßt
-haben, und der Kopf wird ihnen abgebissen, ehe sie
-wissen, wo er ihnen eigentlich sitzt. Ja, der König führt
-ein strenges Regiment, sogar unter den weiblichen Unterthanen,
-und manch hübschem Nixlein bebt das goldschillernde
-Schwänzchen, wenn der König musternd die Reihen durchschreitet;
-denn manch Nixlein hat ein böses Gewissen, und
-&ndash; ach, die königlichen Zwillingssöhne sind gar so herzliebe
-Gesellen.</p>
-
-<p>Da berief der König eines Tages seinen Hofstaat um
-sich. Er saß auf einem Thron von goldglänzendem Kiesel,
-auf dem weißen Haupte trug er die Seekrone von Smaragden,
-und in den langen silbernen Bartwellen funkelten
-<a class="pagenum" id="page_075" title="75"> </a>
-die Schaumperlen. Ringsum harrte das Gesinde in ehrfürchtigem
-Schweigen, kaum, daß die beweglichen Schwänzchen
-hin und her zuckten. Vor ihm aber standen die Zwillinge
-und warteten des königlichen Vaters Befehle. Schöne,
-schlanke Burschen sind's, mit festen Gliedern und kühnen
-Augen. Die des einen mit der gedankenvollen Stirn
-hingen an den Lippen des Vaters; die des andern, Rastlosen,
-Trotzigen, flogen lächelnd und kosend über die Schar
-der Nixlein, durch deren Reihen eine plötzliche schillernde
-Bewegung ging. Der Wasserkönig aber sprach:</p>
-
-<p>»Prinzen, Ihr habt gelernt, wie man im Wasser lebt,
-herrscht und richtet. Es ist Zeit, daß Ihr Euch die Wasserfläche
-draußen anseht. Bahnt Euch eine Straße, zerschmettert,
-was Euch im Wege ist, und erobert Euch Euer Reich.
-Ziehet hin in Frieden und beherrschet künftig Eure Unterthanen
-mit Zucht und Strenge.«</p>
-
-<p>Unwillkürlich ruckten die Fische mit ihren Köpfen bei
-dieser Rede, ob sie auch noch festsäßen, und die Nixen und
-Wassermänner zupften sich an den Flossen, ob sie die auch
-noch hätten. &ndash; Die schönen Zwillingsbrüder aber schwammen
-Hand in Hand in die Welt hinaus. Zuerst waren sie sehr
-übermütig, schlugen Purzelbäume, daß die Wellen in die Höhe
-klatschten, und neckten die Fische, die pfeilschnell an ihnen
-vorüberflohen. Dann wurden sie stiller und träumerisch,
-wiegten sich Hand in Hand an der spiegelglatten Oberfläche
-des Wassers und sprachen von den Heldenthaten, die sie
-verrichten wollten. Der mit der hohen Stirn und den
-schwärmerischen Augen lispelte von der hohen, der herrlichen
-Welt, die er sich erträume und die er besitzen müsse, koste
-es, was es wolle. Der Trotzige aber lachte dazu: »Leben
-will ich &ndash; und lieben und genießen!« rief er und schüttelte
-übermütig eine ganze Welle voll Flußsand über des Bruders
-schönem Haupte aus, daß der prustete und sich schüttelte
-<a class="pagenum" id="page_076" title="76"> </a>
-wie ein nasses Menschenkind. &ndash; Nun kamen sie an einen
-hohen, grünen Wald, der lag mitten in ihrem Weg und
-machte auch keine Miene, ihnen auszuweichen.</p>
-
-<p>»Zerschmettert, was im Wege steht!« wiederholte der
-mit der hohen Stirn. »Komm, laß uns die Bäume niederreißen,
-und die Felsen zerbröckeln.«</p>
-
-<p>»Pah,« lachte der Wilde, »wozu die Arbeit, die eine
-Ewigkeit dauert? &ndash; Weiter, weiter will ich, ins Leben
-hinein! &ndash; Hör', laß uns den Bäumen aus dem Wege
-gehen, Du dort herum, und ich hier, und dann wollen wir
-sehen, wer zuerst ankommt, zuerst sein Ziel erreicht &ndash; Du
-oder ich!«</p>
-
-<p>Das reizte den Zwillingsbruder; wußte er doch, daß
-er natürlich der Erste sein würde. Ein flüchtiges Lebewohl
-nur, und er brauste dahin, ungestüm, hier ein Stück Fels
-wegreißend, dort einen Baumstamm mit sich zerrend. Er
-sah nicht die Welt um ihn; er sah nur in die Ferne, wo
-seine Welt liegen mußte, die er erträumt, die er besitzen,
-beherrschen wollte. Nur immer weiter, weiter, dahin, wo
-der zarte Dunst aufsteigt, wo ein erster Sonnenstrahl glitzert
-wie auf Türmen &ndash; die seines neuen Reiches &ndash; und in
-wilden Sprüngen, brausend und jauchzend, setzt er der
-Traumwelt nach, bis er schwankt und schwankt und ihm
-schwindelt, und er den Boden unter den Füßen verliert,
-und er in den Abgrund stürzt, in den Abgrund von erträumter
-Leidenschaft. Es war ein jäher Sturz. In ihm
-zerschellen alle seine Träume, alle seine erhabenen Gedanken.
-Voll Grausen blickt er hinauf zu der schwindelnden Höhe,
-auf der er einst geweilt hatte: so groß und erhaben hatte
-er sich das Leben gedacht, nichts hatte er haben wollen,
-keine Freude, keine Liebe, nur Größe und immer mehr
-Größe. Nun trieb er dahin in einem breiten, gemächlichen
-Strombett, immer mehr wiegend, erschlaffend, duselnd &ndash;
-<a class="pagenum" id="page_077" title="77"> </a>
-und nur wie weißer, kreisender Schaum trieb die Erinnerung
-auf seinen langsam sich wälzenden Fluten. Einmal
-schaute er sich um nach seinem Bruder: eine brausende,
-dampfende Gischt in der Ferne verhüllte alles hinter ihm.</p>
-
-<p>Der trotzige, lächelnde, genußsüchtige Zwillingsbruder
-aber war gar gemütlich seines Weges gezogen, hatte die Bäume
-auf der schwimmenden Insel neckisch an den Zweigen gezupft,
-wie die unnützen Buben die schmollenden Schulmädchen
-an den Zöpfen, hatte seine neugierigen, geschwätzigen Fluten
-durch jeden kleinen Felsengang geschickt, bis er mitten durch
-die Insel hindurchlugen konnte, und da sah er etwas sehr
-Liebliches. Nicht eine Insel war es nämlich, sondern neben
-der großen, die das Königreich einer vornehmen alten
-Waldnymphe war, wie die Wasserboten berichteten, lagen
-noch drei kleinere, und jede von ihnen hatte ein Töchterlein
-der Waldkönigin zur Herrin, und sie lebten da in
-eitel Freude und Lustbarkeit. Keinen Gebieter wollten sie
-über sich erkennen und frei wie die Luft leben, so lange
-die Welt steht. Da kam jetzt der schöne Flußheld geschwommen,
-ganz nahe an die Insel der ersten Schwester
-heran, siehe, da steht ein wunderschön Jungfräulein, mit Guirlanden
-von Blumen umwunden und ein fröhlich Liedchen
-summend. Und horch! wie die Antwort zu ihr aufsteigt
-aus den weißen Wassern, die plötzlich aus dem Dunkel der
-Felsen hervorbrechen und sie erschrecken, daß sie schreiend
-davonläuft. Er aber schwimmt ihr nach, rund um die
-Insel, siehe &ndash; da sitzt auf einem Felsblock der zweiten
-kleinen Insel ein noch viel schöneres Jungfräulein, die
-schüttelt ihr lockiges Haar, als sie die weißen, starken Arme
-des Flußhelden sieht, die er nach ihr ausstreckt. Und sie
-lacht höhnisch und nimmt spitzes Gestein und wirft es nach
-ihm, daß ihn die scharfen Kanten ritzen. Da wird er
-zornig und will aufwallen &ndash; doch ach, drüben auf der
-<a class="pagenum" id="page_078" title="78"> </a>
-letzten, kleinsten Insel, da sitzt am Ufer, mit den Füßen
-die neuen Wellen patschend, das dritte Prinzeßchen; und
-sie hat langes, güldenes Haar, und die meerblauen Augen
-sehen neugierig zu ihm hinüber, und die schönen Glieder
-wiegen sich mit den Wellen. Da schwimmt er ganz nahe
-zu ihr, legt seine große Männerhand um ihr weißes, weiches
-Füßchen, und sie lächelt nur &ndash; da zieht er sie hinab in
-seine schaukelnde, weite Wasserwiege. Wie eine Wehklage
-braust es durch die Waldwipfel; aber sein Jubelruf übertönt
-die Klage, und weit enteilt er, seine Beute bergend
-vor Fels und Abgründen. Regungslos liegt die Schlanke,
-Weiße in seinen Armen. Sie kann ja nicht sprechen im
-Wasser, nur die meerblauen Augen sehen ihn an, und
-tief drin liegt eine stille Klage: Warum hast du mich in
-ein fremdes Element gezogen? Warum dich zum Herrn
-gemacht über ein freies Geschöpf?</p>
-
-<p>Nun wußte er eine Grotte, darin sollte die stille, weiße
-Geliebte wohnen. Tiefgrün war es darin von lauter Smaragden,
-und das Edelgestein leuchtete und funkelte wie von
-tausend Lampen. Der trotzige Held aber webt und webt,
-und webt mit seinen Wasserfäden den schönsten Brautschleier
-von kostbaren Spitzen, und er hängt das duftige
-zarte Gewebe, so hoch, so fein, rund im Halbkreis vor das
-smaragdene Wasserschloß, daß niemand seine Heimlichkeit
-störe, keiner seine weiße Braut, zu deren Füßen er ruht,
-ihm rauben könne. Sie aber spielt in seinen langen Haaren,
-küßt seinen roten Mund, legt ihr Köpfchen an seine breite
-Brust &ndash; aber immer wieder fragt sie: Wo ist die Sonne?
-die goldene Sonne?</p>
-
-<p>Und eines Tages, als er fern ist, da wird die Sehnsucht
-nach dem Licht so mächtig in ihr, daß sie der Wasserkobolde
-und neckischen Nixen vergißt, die draußen ihr Wesen
-treiben und die Spitzenschleier immer wieder erneuern und
-<a class="pagenum" id="page_079" title="79"> </a>
-verdichten. Ganz nahe tritt sie heran an die zauberischen
-Vorhänge &ndash; wie hell, wie licht es da ist; sie rückt ein
-wenig daran, sie lüpft ein zartes Eckchen. &ndash; Siehe, da über
-den wogenden Wasserdünsten steht die Sonne, ihre Sonne
-in strahlender Pracht &ndash; und die Arme sehnsüchtig ihr entgegenbreitend,
-sinkt das Waldkind, eingehüllt in die Brautschleier,
-zur tosenden, unbarmherzigen Tiefe nieder. Wie
-ein leuchtender Strahl fliegt es an dem Trotzigen vorbei,
-der seine starken Glieder im wildesten Flutengetos kühlt,
-und da vor ihm, da im Strudel treibt der weiße, weiche
-Leib seiner stillen Waldlilie. &ndash; Es überkommt ihn ein großer
-Zorn. Brüllend vor Schmerz und Wut, daß es wie Donner
-grollt, wirft er die Wasser gen Himmel, damit ihr Schaum,
-ihr wilder Gischt die Sonne, die verhaßte, verdecke. So
-steht er im Strudel und rast und trotzt gen Himmel. Er
-sendet seine Fluten auf zu der Insel, wo seine Waldlilie
-wuchs; sie zerren und wühlen an dem Gestein, ein Stück
-nach dem andern sinkt in die Tiefe und ein höhnender
-Schrei gellt von Welle zu Welle, wenn ein Baum mit
-hinabgerissen wird und hülflos in den Fluten treibt. Oben
-in den Wipfeln der Bäume aber rauscht eine wehmütige
-Klage um die Waldlilie, die an der Sonnensehnsucht verging.</p>
-
-<p>Doch die wundersamen Spitzenschleier, die das Brautgemach
-bargen, wallen immer noch nieder vor dem smaragdenen
-Schloß und verhüllen in zarter Weiße seine erbarmungslose
-Leere. Die goldene Sonne aber taucht ihre
-Strahlen tief in das Wassergebrodel, läßt sie niedergleiten
-an den Schleiern, als suche sie die, die aus Sehnsucht nach
-dem Lichte gestorben ist; und die Strahlen bauen von Tag
-zu Tag eine wunderleuchtende Brücke hinauf, hinauf zur
-Sonne.</p>
-
-<p>Da endete das Märchen und es breitete seine Arme
-<a class="pagenum" id="page_080" title="80"> </a>
-aus nach den fallenden Wassern. Ein leises, wehmütiges
-Klingen zog herüber von den Inseln der drei Schwestern.</p>
-
-<p>Das Märchen erhob sich, flog mit breiten, weißen
-Mövenflügeln hin über die Fluten, die wild aufschäumten
-und es haschen wollten. Aber sie netzten nur seine Füße.
-Und mit leisem Gekicher kreiste es über meinem Haupte &ndash;
-mein verlorenes und wiedergefundenes Märchen &ndash; an den
-fallenden Wassern des Niagara.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_081" title="81"> </a>
-In der Gosse.</h2>
-
-
-<p>»Hei! Der hat's eilig!« sagten die trockenen Blätter,
-als der Wind sie packte und die glatte Straße hinunterwirbelte,
-daß sie den Atem anhielten.</p>
-
-<p>»Nein, ich will nicht!« raschelte das eine ganz große
-Blatt, das, trotz seiner verkrümpelten Gestalt, noch einen
-grünlichen Schimmer auf sich hatte und sogar noch einen
-ordentlichen Stiel besaß. Und es hob sich erst von der
-einen Seite, und dann von der andern &ndash; wie ein ungeschickter
-Bauernbursche, der zum Tanze antritt; aber es
-half ihm nichts: der Wind blies die Backen auf, und heidi!
-da sauste es davon, so viel es auch versuchte, an allen
-Steinchen und Schmutzhaufen hängen zu bleiben. Wütend
-sprang es schließlich noch toller wie die andern und legte
-sich oben auf die kleinen Blätter, um sie festzuhalten. &ndash;
-Da plötzlich &ndash; an der Straßenecke stieß der Westwind
-laut jubelnd den Nordwind an &ndash; so spielten sie immer,
-die beiden wilden Gesellen, und wollten sich dann schier
-totlachen, wenn sie alles Lebendige mit in ihren tollen
-Reigen hineinzerrten. &ndash; Und nun wirbelten sie zusammen
-die trockenen Blätter in die Höhe, daß sie den Bäumen
-entgegenflogen, die sehnsüchtig die leeren, nackten Arme
-nach ihnen ausstreckten. Aber da lagen sie schon wieder
-<a class="pagenum" id="page_082" title="82"> </a>
-auf der Erde, küselten verwirrt umeinander und schleiften,
-schlürften, raschelten über die glatten Steine hinab in die
-Gosse.</p>
-
-<p>Da lagen sie nun und dachten nach. Und dachten,
-wie sie &ndash; es war schon lange, lange her &ndash; die braunen
-Köpfchen einst vorsichtig aus der Baumrinde hervorgestreckt
-hatten, und in die Welt hinein geguckt, wie sie dann groß
-und grün und schön geworden waren, wie die Spatzen in
-ihnen gehuscht, wie der Mond zwischen ihnen hindurchgelugt,
-und wie die Menschenkinder in ihrem Schatten sich geküßt
-hatten. Dann war der Herbstwind gekommen und hatte
-sie selber geküßt, und sie waren gestorben an seinen eisigen
-Küssen &ndash; hatten sich erst so herrlich geschmückt für ihn,
-die armen Dinger, rot und gelb und violett und braun,
-und dann fielen sie ohnmächtig aus seiner wilden Umarmung
-zur Erde nieder, wurden hin und her gejagt von den
-Winden, und nun? Nun liegen sie in der Gosse und
-denken nach.</p>
-
-<p>Hei! Wie der Wind bläst! Die Kleider der schönen
-Frauen, welche die Straße entlang gehen, schlägt er zur
-Seite, daß die schlanken Füße sichtbar werden. Und die
-Blätter in der Gosse flüstern einander zu: »Jetzt werden
-sie auch anfangen zu tanzen und rascheln und schleifen die
-glatte Straße hinab in die Gosse!«</p>
-
-<p>Aber nein, die kleinen Füße schreiten fest und sicher
-weiter, der Wind kann ihnen nichts anhaben &ndash; aber der
-andere, der im Herzen weht, durch das Leben stürmt, ob
-der die schlanken Frauenfüße wohl nicht vom glatten Weg
-hinabwirbelt &ndash; in die Gosse?</p>
-
-<p>Davon freilich wußten die trockenen Blätter nichts:
-sie lagen in der Gosse und dachten nach; und der Wind
-strich jauchzend über sie hin. Es wäre ihm ein Leichtes
-gewesen, die ganze Gesellschaft aus dem Rinnstein hinauszuwirbeln,
-<a class="pagenum" id="page_083" title="83"> </a>
-über alle Welt zu jagen. Doch er that es nicht;
-lauernd hing er über ihnen und sang sein Lied:</p>
-
-<p>»Jetzt schirre ich meine Wolkenrosse und stürme dahin
-und brause über die Stadt und über das Land in den
-Wald. Eure Schwestern will ich besuchen, die glührot an
-den Bäumen hängen. Und ich hause in den Zweigen, und
-ich brause über die Wipfel, und ich schüttle die bunte Pracht.
-&ndash; Seht Ihr den bunten Blätterregen?</p>
-
-<p>Und seht Ihr die Trauerweiden, wie sie den Waldteich
-bewachen, düster, schwermut-geheimnisvoll? Ich peitsche
-ihre niederhängenden Haare, daß sie wie graue Schlangen
-zischeln und züngeln. Ich wühle die schwarzen Fluten des
-Waldteichs auf, daß die Wellen schäumen und sich kräuseln
-und mit nassen, starken Armen die Wasserrosen hinabziehen
-in das dunkle, dunkle Grab.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Nur die Königin &ndash; sieh', da ruht sie auf schwarzgrünen
-Blättern, und sehnsüchtig leuchtet ihr weißes Blumengesicht
-mir entgegen. Ich fliege zu ihr, und ich reiße sie
-an mich in wilder Lust, kosend schaukle ich sie hin und
-her, ich sauge wollüstig den Duft aus ihrem weißen Kelche,
-ich küsse sie mit zärtlich stürmischen Küssen &ndash; sie stirbt an
-diesen Küssen &ndash; und ich trage ihre Blumenblätter hin über
-den schwarzen Waldesteich, hin über die Welt &ndash;&nbsp;&ndash; Ist
-es süß, zu sterben an den Küssen des Gewaltigen?&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Heiho! &ndash; Ihr Wolkenrosse &ndash; graue, schwarze! senkt
-Euch tiefer, daß ich Euch besteige, daß ich Euch zügle hin
-über die Erde &ndash; der ich Vernichtung bringe&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Raschelnd flogen die trockenen Blätter ihm nach, aber
-nur eine Spanne hoch, dann fielen sie wieder herunter in
-den Rinnstein. Und da lagen sie wieder mit ihren Gedanken.</p>
-
-<p>Es hatte sich eine sehr gemischte Gesellschaft in der
-Gosse zusammengefunden. Da waren Blätter von allen
-<a class="pagenum" id="page_084" title="84"> </a>
-Größen und jedes sah ganz anders aus. Sie gehörten zwar
-alle entweder zu der großen Familie »Derer von Baum«
-oder zu der »Von dem Busche« &ndash; aber eine rechte Einigkeit
-konnte nicht erzielt werden, da sich die vom Baum
-viel vornehmer dünkten, als die von dem Busche, und daher
-wurde so viel von Stammbäumen, Wappenschildern und
-dem Gothaer geredet, den die Firma Frühling, Sommer
-u.&nbsp;Co. herausgab, daß die übrige Gesellschaft im Rinnstein,
-die nicht von so hoher Abkunft war, in tiefster Ergebenheit
-erstarb. Darin waren sie sich jedoch alle einig, daß sie nur
-durch unverschuldetes Unglück, durch widrige Winde und
-plötzliche Regengüsse so heruntergekommen waren, daß sie
-sich nun in der Gosse befanden.</p>
-
-<p>Da stak mitten unter dem Blätterhaufen ein langer,
-schlanker Strohhalm, hineingeflogen wie ein Pfeil &ndash; die
-Blätter hatten ihn immer für etwas ganz Unbedeutendes
-gehalten &ndash; der that jetzt den Mund auf und begann zu
-erzählen: »Ich bin sehr vornehm,« sagte er, »ich bin ein
-Prinz. Ich bin Oberst gewesen in Ihrer Majestät der
-Frau Königin Erde Weizenfeld, Allerfeinste-Mehlsorte No.&nbsp;I.
-Ich trug eine gelbe Uniform und einen prächtigen Raupenhelm
-auf dem Kopfe. &ndash; Ihr hättet es sehen sollen, unser
-Regiment! Wie wir in Reih' und Glied standen &ndash; fest
-wie eine Mauer! Wie wir exercierten &ndash; hierhin, dorthin,
-auf und nieder, wenn unser Kommandant, Generalissimus
-Wind, seine brausende Stimme erschallen ließ. Hei! das
-war eine Freude, uns anzuschauen! &ndash; Und dann kam der
-Krieg, das war ein schneidiger Krieg! Erbarmungslos
-mähte der Feind, jenes uncivilisierte raubgierige Gesindel,
-das sie Menschen nennen, uns nieder, und wir fielen ebenso
-schön in Reih' und Glied, wie wir gestanden hatten. &ndash;
-Aber tot waren wir nicht &ndash; bewahre! (denn sonst könnte
-ich es Euch ja nicht erzählen). Wir gerieten nur in Gefangenschaft,
-<a class="pagenum" id="page_085" title="85"> </a>
-und in bittere Gefangenschaft. Sie banden
-uns zusammen, wie die Indianer, und schleppten uns fort
-und steckten uns in die Folter, bis sie all den Reichtum,
-den wir in unserm Raupenhelm trugen, herausgequetscht
-hatten, und dann, ja dann sollten wir erniedrigt werden,
-den Pferden Dienste zu leisten, den Pferden unserer Feinde.
-Die wollten auf uns herumtrampeln, die wollten uns als
-Lager benutzen, die wollten &ndash; mit einem Wort &ndash; Mist
-sollten wir werden! &ndash; Ich, Prinz von Halm-Halm &ndash;
-auf Aehre &ndash; Oberst in Ihrer Majestät der Königin Erde
-Regiment Weizenfeld-Allerfeinste-Mehlsorte No.&nbsp;I.</p>
-
-<p>Da, als wir gefesselt, geknebelt, aufeinandergepackt, in
-dem Transport-Wagen lagen &ndash; da habe ich zum erstenmal
-in meinem Leben die Subordination vergessen &ndash; ich,
-dem die Subordination alles war, und bin ausgerissen.</p>
-
-<p>Und die Folge davon? &ndash; Ich liege in der Gosse&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Ja, Subordination muß sein!« sagte der Strohhalm,
-grub sich mit seiner leeren Kornähre, seiner Raupe, in den
-Gossenschlamm und philosophierte über die Gefahren der Unbotmäßigkeit.
-&ndash; »Siehst Du, Prinz Halm-Halm: Schmieg'
-Dich dem Schicksal an, so kriegst Du einen warmen Pferdestall
-&ndash; lehn' Dich dagegen auf und Du fällst in die Gosse
-&ndash; auf Aehre! &ndash; Burrrr &ndash; brumm!« schnarrte es neben
-ihm. Ein richtiger, bunter Brummkreisel war es, der auf
-irgend eine Weise in die Gosse geraten, unter die Blätter,
-und von den Kindern vergessen worden war.</p>
-
-<p>»Subordination. &ndash; Ich brumme was auf die Subordination!
-Wer wie ich zeitlebens von allen unnützen
-Buben auf den Straßen herumgepeitscht worden ist &ndash; zuweilen
-waren ein halbes Dutzend hinter mir, und dann
-mußte ich tanzen und brummen, bis mir der Atem ausging
-&ndash; der ist froh, wenn er auskratzen kann und sein
-Leben gemütlich in der Gosse beschließen darf.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_086" title="86"> </a>
-Wie habe ich mich gesträubt und gewehrt, all' mein
-Leben lang! Ich habe den Bindfaden, der an mir saß,
-so fest um mich herumgewickelt, daß er beinahe mit keiner
-Macht der Erde wieder loszumachen war; ich habe mich
-mit meinem einzigen spitzen Bein in die Ritzen der Steine
-geklemmt, daß sie mich beinahe nicht wieder herauskriegen
-konnten; ich bin allen Jungen und Mädchen zwischen die
-Füße gefahren, daß sie stolperten, und habe dabei gebrummt,
-daß mir selber angst und bange wurde. Aber es half mir
-nichts. Ich mußte tanzen und schnurren und Kapriolen
-machen mit der bittersten Empörung in meinem Brummkreiselherzen.
-Sie hatten die Peitsche und folglich auch die
-Macht und ich mußte tanzen, bis ich eines schönen Tages
-in der Gosse lag &ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash; Brrrrr &ndash; brumm!« sagte der
-Kreisel, als der Wind über ihn hinfuhr und ihn zwang, sich
-um sich selbst zu drehen.</p>
-
-<p>»Ja, mein lieber Herr Kreisel,« sprach da salbungsvoll
-ein weißes, bedrucktes Stück Papier, das die Schulkinder
-aus einem ihrer Bücher verloren hatten. Die Blätter
-wollten es nicht für voll anerkennen &ndash; es war zwar auch
-ein Blatt und auch trocken, aber es gehörte zu einer ganz
-andern Familie &ndash; sie waren gar nicht verwandt. Es
-hielt sich deshalb ein wenig abseits und sprach in gebildetem
-Tone:</p>
-
-<p>»Sehen Sie, mein lieber Herr Kreisel,« sagte es, »das
-ist von alters her so gewesen &ndash; ich muß das wissen, denn
-ich bin aus einem Geschichtsbuche &ndash; die Starken hatten
-die Macht und, wie Sie so sehr richtig bemerkten, folglich
-auch die Peitsche, mit der sie sehr energisch umzugehen
-wußten, und die Schwachen &ndash; nun, die wurden gepeitscht.
-Da hilft kein Auflehnen gegen den Willen von oben und
-gegen die Peitsche der Straßenjungen; die Kreisel wie alle
-Armen und Schwachen müssen tanzen &ndash; so ist es immer
-<a class="pagenum" id="page_087" title="87"> </a>
-gewesen, so ist es heute noch, und so wird es bleiben. Wir
-haben uns einmal daran gewöhnt, und wir Gebildeten
-sehen auch ein, daß es nicht anders sein kann und daß
-es so am besten ist.«</p>
-
-<p>Da fuhr aber der Kreisel auf:</p>
-
-<p>»Daran gewöhnt? Fällt uns gar nicht ein! Denken
-gar nicht daran! Und wenn wir uns einmal alle zusammenrotteten
-&ndash; die Bäume und die Büsche und die Strohhalme,
-und alles, was so herumliegt, und wir Kreisel und &ndash; und
-so weiter &ndash; und wir machten 'mal so eine kleine, lustige
-Revolu&ndash;&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Hui! Da faßte ihn der Wind und schüttelte ihn, und
-da duckte er sich und sagte: »Brumm!«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Ach,« jammerte da ein feines, zärtliches Stimmchen,
-»was ist das alles gegen den Kummer, den ich erlebt habe?«</p>
-
-<p>Das war ein Stückchen Papier, lachsfarben, gepreßt,
-mit Tinte beschrieben &ndash; man sah, es war etwas Feines.
-Der Wind hatte es eben erst in wilder Jagd die Straße
-hinuntergepustet, und atemlos war es mit einem Purzelbaum
-in der Gosse gelandet.</p>
-
-<p>»Ich war rein und hellblank, und ich duftete stärker
-wie die Veilchen in der Vase, die vor dem Fenster stand;
-und ich lag auf einem zierlichen Schreibtisch und ein reizender,
-goldener Federhalter kritzelte über mich hin. &ndash; Ach,
-dieser Federhalter! Etwas Glänzenderes, Schlankeres, Zierlicheres
-habe ich nie gesehen. Und alle die süßen, zärtlichen
-Worte, die er mir ins Ohr flüsterte &ndash; war es ein Wunder,
-daß ich seinen Schwüren glaubte, daß ich ihn liebte mit
-all der Glut, deren mein papierenes Herz fähig war? &ndash;
-Ach, wie war das Leben schön!</p>
-
-<p>Aber da kritzelte er mir eines Tages mit einem großen
-dicken Tintenstrich etwas ganz Unheimliches, Unverständliches
-zu, so daß ich erschrak, und dann ergriffen mich
-<a class="pagenum" id="page_088" title="88"> </a>
-plötzlich kleine, weiße Fingerchen, und ich knickte vor Angst
-in der Mitte durch, und sie sperrten mich in einen dunklen
-Behälter, der wurde fest zugemacht, und eine glockenhelle
-Stimme trillerte dazu:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">Such' ich mir 'nen andern Schatz&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;juhu &ndash; andern Schatz&nbsp;&ndash;</td></tr>
-</table>
-
-<p class="in0">und dann reiste ich fort, weit fort, und mein schlanker,
-goldener Geliebter blieb zurück, und ich habe ihn nie wieder
-gesehen. Ach, ich war wie in einer Betäubung und kam
-erst wieder zur Besinnung, als mein Gefängnis sich öffnete
-und ich herausgeholt wurde &ndash; und da &ndash; da geschah etwas
-Schreckliches: ich hörte eine wuterstickte Stimme, die mich
-fürchterlich ausschalt, und große, rauhe Finger nahmen
-mich und rissen mich mitten durch, nicht nur einmal, nein,
-in lauter kleine Fetzen, und wir flatterten zur Erde nieder
-und der Wind kam und nahm uns mit sich fort. &ndash; Ach,
-und wenn nun mein Federhalter mich sucht, dann erkennt
-er in diesem kleinen, schmutzigen Flecken seine schöne lachsfarbene
-Geliebte nicht wieder. &ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash; Ach, was sind alle
-Leiden und Kümmernisse der Welt gegen die Schmerzen
-unglücklicher Liebe!«</p>
-
-<p>Als das traurige Papierchen geendet hatte, entstand
-eine tiefe Stille in dem Rinnstein. Sie waren alle gerührt
-und kämpften mit den Thränen&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Denn eigenes Unglück und eigener Kummer machen
-das Herz empfänglich für die Leiden anderer!« sagte das
-Blatt aus dem Geschichtsbuche für die Jugend gebildeter
-Stände. Nur das große Blatt mit dem Stiel, eines der
-vornehmsten aus dem Hause derer vom Baume, murmelte
-etwas von »plebejischer Gefühlsduselei!« und der Brummkreisel
-sagte: »Bitte, meine Herrschaften, werden Sie nicht
-sentimental &ndash; das ist veraltet &ndash; und von Liebe halten
-wir heutzutage nicht viel, die Wissenschaft hat diesen geheimnisvollen
-<a class="pagenum" id="page_089" title="89"> </a>
-Vorgang in unserem Innern mit grausamer
-Deutlichkeit aufgeklärt &ndash; brrrr&ndash;brumm!« Da aber gab es
-einen großen Disput, wie in einer politischen Sitzung, und
-wie sie noch im besten Zanken waren, öffnete sich in dem
-nächsten Hause eine Thür und ein junges Mädchen trat
-heraus mit einem Besen in der Hand, denn es war Sonnabend,
-und die Straße sollte gekehrt werden. Mit kleinen
-lustigen Schritten trippelte sie daher und die braunen
-Augen sahen zuversichtlich in die Welt hinein. Sie begann
-mit kräftigen Bewegungen den Rinnstein auszukehren und
-summte halblaut dazu:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">Wenn ich wüßt', wenn ich wüßt',&emsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wo mein Schatzerl ist&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ist wohl in die weite Welt&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;juhu &ndash; weite Welt&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ist wohl fortgezogen!</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wenn ich wüßt', wenn ich wüßt',</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wo mein Schatzerl ist&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wär' ich in die weite Welt&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;juhu &ndash; weite Welt&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wär' ihm nachgezogen!</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da er mir nun nichts gesagt,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Warte ich wohl über Nacht&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Such' mir dann ein andern Bub&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;juhu &ndash; andern Bub'&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Muß mich nit verlassen!«&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</td></tr>
-</table>
-
-<p>Und nun purzelte alles durcheinander: die Blätter
-und der Strohhalm und das Papier und der Kreisel. Das
-Mädchen kehrte sie zusammen auf einen großen Haufen,
-und jubelnd kamen die Kinder herbei und zündeten das
-trockene Laub an&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_090" title="90"> </a>
-»Burrr!« sagte der Kreisel, »mein revolutionäres Feuer
-schmilzt mich auf!«</p>
-
-<p>Und knisternd flog die lachsfarbene Schönheit in die
-Höhe; denn der Wind blies in den Scheiterhaufen, daß die
-Funken stoben, er trug sie mit sich fort, wie die weißen
-Blätter der Wasserrosenkönigin, und streute sie aus auf
-seinem Wege, daß ein Feuerregen niederfiel. Die braunen
-Augen des Mädchens sahen ihnen nach, und sie sang:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Ist wohl in die weite Welt &ndash; juhu&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;juhu &ndash; weite Welt&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ist wohl fortgezogen!«</td></tr>
-</table>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_091" title="91"> </a>
-Sonniger Winter.</h2>
-
-
-<p>Sie sagten, es sei Winter. Da ging ich hinaus, ihn
-zu begrüßen. Denn hier drinnen in der engen Stadt hat
-er ein gar häßliches Aussehen, rauchig und schmutzig, und
-er blickt dich an mit den Augen des Hungers. &ndash; Draußen
-aber lag der lachende Sonnenschein. War das der Winter?
-Er hat ja kein weißes Kleid an. Die Bäume recken ihre
-nackten Zweige kraus und zackig in den blauen Himmel
-hinein, und ihre Rinde schimmert rötlich, oder weiß, oder
-stahlgrau in der schwimmenden, flockigen Luft. Ah, die
-Luft! Das weitet die Brust &ndash; wie du mit einem tiefen
-Atemzug alle den Wald einhauchst, daß er die Stadt, die
-rauchige, schmutzige, in dir verzehrt! &ndash; Mein Fuß wühlt
-im langen, zottigen Gras. Wenn du nicht hinsiehst im
-Park, wo die glatten Wege sind, wo die feinen Karossen
-fahren, wo die Menschen auf ebenen Pfaden wandeln, dann
-meinst du im Wald zu sein &ndash; still ringsum, nur hohe
-Bäume, nur das Lispeln, das seltsame, traurige Lispeln
-in den nackten Zweigen, die ohne Blätter nicht rauschen
-und raunen können, wie sie im Sommer, im Herbst es
-thaten. Nur die Prärie vor dir, durch die sich das geschäftige
-Bächlein im Sonnenschein dahinschlängelt. Ein
-<a class="pagenum" id="page_092" title="92"> </a>
-zaubrisch Bächlein &ndash; wie es lockt und winkt, eilig über
-die blanken, feuchten Steine kollert, und immer raunt und
-murmelt und erzählt &ndash; was es nur immer sagt? Ich
-klettere den Abhang hinunter, tiefgrün schimmert das Wasser
-von den bemoosten Steinen herauf. Einzelne ragen draus
-hervor, sie sehen mich lockend an &ndash; soll ich hinüber klettern
-auf den Springsteinen, zum andern Ufer des Bächleins,
-dorthin, wo stille, grüne Tannen stehen, wo es ganz einsam
-ist? &ndash; Da &ndash; mitten drin &ndash; du böser Nix, was hast du
-an dem Stein zu rütteln? Das hält ja so ein tappig
-Menschenkind nicht aus! Natürlich, da patsche ich mit den
-Füßen im Wasser &ndash; und nun schnell gesprungen, in den
-Sonnenschein, in das hohe Gras hinein, daß ich wieder trocken
-werde. Böser Bach mit deinem Nixen. &ndash; Aber was ist
-das? War es Zauberwasser, das mich berührt hat? &ndash;
-Der Wald ist lebendig geworden, die Bäume fangen an
-zu reden, ich verstehe, was die Vöglein zwitschern, die
-kleinen, grauen, die Waldvagabonden, die einzigen, die geblieben
-sind. Piep! sagen sie, uns ist's einerlei, ob die
-Blumen blühen und die Bäume Blätter haben. Dann
-bauen wir unser Nest in den kahlen Zweigen, und zwitschern
-von den zukünftigen Blüten, und die Nahrung &ndash;
-nun, die stehlen wir uns irgendwo &ndash; nur Freiheit, Freiheit
-wollen wir haben! &ndash; Au! sagt das Gras unter meinen
-Füßen, warum trittst du mich? &ndash; Ich bin nicht tot. Da,
-sieh' einmal her &ndash; Und wie ich dann die langen, zerzausten
-Haare vorsichtig zur Seite schiebe, da lugt frischer, grüner
-Klee schelmisch hervor. Der grüne, grüne Klee &ndash; Weißt
-du noch, grüner Klee, wie es war zur Sommerszeit?</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">Es war zur goldnen Sommerszeit,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Welt war groß und war so weit&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Und grüner, grüner Klee.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Der blühte still im Waldesthal<a class="pagenum" id="page_093" title="93"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wie Tropfen Blutes allzumal</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Die Blüten stehn im Klee.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und Falter spielen drüber hin.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und wir? Wir lagern uns tiefdrin,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Im grünen, grünen Klee.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Dein Aug' ist wie der Falter blau,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Dein Mund rot wie die Blüt' im Tau,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Die Blüte rot im Klee.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Dein Haar ist wie das Sonnenlicht,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das gleitet durch die Zweige dicht</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Wohl über grünen Klee.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Dein lieber Hals, der luget leis,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wie die Maßlieben wunderweiß,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Aus grünem, grünem Klee.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da hab' ich mich geneigt zur Stund'</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und hab geküßt den roten Mund</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Im grünen, grünen Klee.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und nur ein Vöglein sah's mit an,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das lockte süß aus dunklem Tann</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Ganz nah beim grünen Klee.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da war es, wo im Waldesthal</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ich fand zum allererstenmal</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Der Blätter vier am Klee.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Merkt ihr, was das bedeuten soll?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Mein Lieb und ich &ndash; wir wissen's wohl&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Ja &ndash; und der grüne Klee.&nbsp;&ndash;</td></tr>
-</table>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_094" title="94"> </a>
-Hat mir das Bächlein das Lied gegluckst? Haben's
-die kleinen Waldtramps gezwitschert? Hat es der Klee gelispelt
-&ndash; oder hauchten es die Sonnenstrahlen in die Welt
-hinein? Rings um mich singt es und klingt es. Und
-plötzlich trottet eine kleine Schar neben mir, putzige Gesellen
-mit feinen Gliederchen und lustigem Wesen. Sie
-laufen neben mir wie eine Schar Hündchen, sie klettern
-die platten Baumstämme hinauf und wiegen sich in dem
-weiten Geäst hurtig wie die Eichkätzchen, und sie tragen
-kleine Narrenkappen auf den Krausköpfchen, damit klingeln
-sie: Gedanken! Gedanken! Wir sind deine Gedanken.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Aber, ihr flinken Gesellchen &ndash; Gedanken? Ich meinte
-Gedanken, die hätten schwere Köpfe, und Brillen auf der
-Nase, und gingen mit gewichtigen Schritten in den Büchern
-auf und ab spazieren. Was wollt ihr im Wald mit mir?</p>
-
-<p>»Wir wollen hören, was er rauscht, was die Bäume
-sagen, und der Wind weht. Wir wollen sehen, wo der
-Winter ist? &ndash; Da, siehst du.« &ndash; Mitten auf der Wiese
-war das lange Gras fein säuberlich zur Seite gewachsen
-und hatte einem grünen Moosteppich Platz gemacht, der
-sich glatt und fein ausbreitete: »Sieh',« flüsterte mir ein
-Gedanke ins Ohr, »siehst du die Elfen tanzen, und die
-Gnomen mit den weißen, zottigen Bärten und den spitzen,
-haarigen Oehrlein? Wie die weißen Leiber der Winterelfen
-schimmern, wie ihre flockigen Schleier wehen und wie
-die Lüfte aufspielen zum Tanz. &ndash; Horch! Wie Schneeknirschen
-klingt's, und wie die Eiszapfen, wenn sie klirrend
-von den Bäumen brechen. Und siehst du, da mitten im
-Gewirr den sonnigen Winter stehn? Seine Augen glänzen
-und er lacht, daß die weißen Zähne aus dem feurigen
-Barte blitzen.« &ndash; In den starken Armen hält er die Winde;
-wie sie zappeln und die Backen aufblasen vor Wut, daß
-sie nicht loskommen können &ndash; da schlägt er den Nordwind
-<a class="pagenum" id="page_095" title="95"> </a>
-und den Westwind mit den Köpfen zusammen, die bösen
-Gesellen, und stößt sie mitten unter das Elfengesindel, das
-sie jauchzend mit Tannenkränzen umwindet und fesselt;
-oben auf des sonnigen Winters Schultern aber steht der
-Südwind und stößt jubelnd ins Horn, daß es von den
-Bergen ringsum widerklingt. Und jauchzend fallen die
-Gedanken um mich herum in das tolle Treiben &ndash; so daß
-ich mich ordentlich schäme für sie &ndash; was sollen nur die
-Menschen davon denken? »Ihr solltet auch nicht denken,
-ihr Menschen,« lachten meine wilden Gesellchen &ndash; »denn
-wenn ihr denkt, dann denkt ihr immer was Dummes. Es
-wäre überhaupt viel besser, ihr dächtet gar nicht, und überließet
-es uns, euch plötzlich mit etwas Gescheitem durch
-den Kopf zu fahren &ndash; wie ein Blitz.«</p>
-
-<p>»Da sieh' hin, die zwei Bäumchen, die da angewackelt
-kommen,« sagte ein spöttischer kleiner Gedanke und überschlug
-sich wie ein Kobold im Gras vor Vergnügen. »Du
-denkst, es wären Fichten, aber schau sie einmal an: sie
-kommen in kurzem Lauf, ein wenig vornüber, dahergetrottet,
-ihre Nadeln stehen zierlich nach beiden Seiten, wie lauter
-gewichste Schnurrbärtchen, die Kronen sind ihnen ins Gesicht
-gerutscht, so daß es aussieht, als wenn sie die großen
-Hüte bis tief auf die Nase sitzen hätten, und da die Zweige
-just ein bischen über dem Erdboden beginnen, scheint es,
-als hätten sie sich die schloddrigen Hosen sorgfältig aufgekrempelt.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Ei! wie die Herrchen laufen,« höhnt der lustige Gedanke
-und zupfte an ihren Nadeln, worauf sie sich wütend
-umdrehen und mit den jungen Birken, die sie als Spazierstöcke
-mit sich schleppen, nach ihm schlagen &ndash; »sie thun, als
-wollten sie dem sonnigen Winter eine Referenz machen,
-und dabei schielen sie doch nur nach den weißhäutigen
-Elfendirnen.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_096" title="96"> </a>
-Nun kommen sie von allen Seiten gewandert: die
-breitästigen Eichen, die schlanken Birken im weißen Hemdchen,
-knorrige Burschen vom Geschlecht der Baumriesen; und
-eine nackte Trauerweide tänzelt so lustig daher, daß die
-langen, fast bis auf die Füße hängenden Haarsträhne im
-Winde flattern. &ndash; Ei, sieh', wen haben wir hier? &ndash; Eine
-Prozession ehrbarer Herren in dunkelgrünen Röcken, die
-bis zur Erde reichen; und aus den stachligen Kapuzen
-schauen lustige Mönchsgesichter, und die Aeuglein blinzeln
-über die feisten Wangen hinweg nach den schlanken, grünen
-Nönnchen, die ihre Kiefernkleidchen gar züchtig geschürzt
-haben und sittsam kokett neben der Tannenprozession einhertrippeln.
-Voran schreitet ein baumlanger Tannenriese,
-stark wie Rabelais' Mönch Johann. »Halt da!« kommandiert
-er, »hübsch paarweise antreten!« und er bombardiert
-die letzten in der Reihe mit Tannenzapfen, damit sie ihn
-besser verständen &ndash; »und wem's nicht recht ist, hier im
-Wald, dem schlage ich die Knochen im Leibe entzwei!«</p>
-
-<p>Da faßt ein Mönch je ein Nönnchen bei der Hand,
-und, die grünen Röcke ein wenig lüpfend, tänzeln sie im
-Menuettschritt über die Wiese hin zum lachenden, sonnigen
-Winter und beginnen artig zu psalmodieren, daß es in den
-Wald hineinschallt:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Brave Mönche sind wir Tannen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Brummeln unser Mönchsgebet&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und wenn es zum Schlucken geht,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Laufen nimmer wir von dannen&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;Eia, Hallelujah!</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Nönnchen sind wir, Nönnchen heiter,&emsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Leben gottgefällig weiter,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Putzen unser grünes Kleid&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">'s Himmelreich ist auch nicht weit&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;Eia, Hallelujah!</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Und so leben wir gar traulich,<a class="pagenum" id="page_097" title="97"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Brüder, Schwestern, Hand in Hand&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&ndash; Unsre Kutten sind verwandt&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Unser Trachten ist beschaulich&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;Eia, Halleluja!«</td></tr>
-</table>
-
-<p>»Ei, so hört auf zu plärren,« dröhnt Bruder Johanns
-mächtige Stimme dazwischen&nbsp;&ndash;</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Kurze Worte dringen zum Himmel eh'r,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Lange Züge machen die Kanne leer&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;Eia, Halleluja!«</td></tr>
-</table>
-
-<p>Und mit tollem Jubel drehn sie sich mit im Elfenreigen,
-daß die grünen Kutten im Winde wehn.</p>
-
-<p>»Hast du nun den Winter gefunden?« flüstert mir
-ein Gedanke ins Ohr, »sieh', wie die Sonne über ihm steht,
-lichtspendend, milde lächelnd, als ob all das Weh in der
-Welt nur ein Wassertröpfchen wäre, das sie lächelnd aufsaugt.«</p>
-
-<p>»Sagtest du: Weh, kleiner Gedanke?« haucht es neben
-mir, »weißt du, was das ist?«</p>
-
-<p>Ich wandte mich; da steht unter den hohen Bäumen
-des sonnigen Winters der allerhöchste und breitet seine
-mächtigen Zweige aus, als wolle er die Welt an seine
-Brust ziehn. »Sieh',« sagt er und senkt das starke Haupt,
-»meine Krone haben sie mir geraubt, der Sturm, als er
-hinzog mit seinen weißen Jägern über mein Reich &ndash; meine
-Aeste haben sie zerschlagen und die Augen mir geblendet.
-Weißt du, was es heißt, leben, und die Sonne nicht mehr
-sehn, nie mehr!«</p>
-
-<p>Es geht ein Aechzen durch den zersplitterten Stamm,
-die Zweige bewegen sich schwankend hin und her &ndash; es ist, als
-wolle sich der Riese zur Erde neigen. Aber noch ist er stark,
-noch steht er aufrecht, bis der Sturm wieder einmal gegen ihn
-zu Felde zieht &ndash; und nur wie ein »Weh &ndash; das thut weh!«
-&ndash; zittert es durch die Luft.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_098" title="98"> </a>
-Mich fröstelte es, die Sonne sank tiefer, ich ging dem
-Heimweg zu. Einzelne Gedanken blieben im Wald beim
-Tanz auf dem Elfenteppich, bei dem sonnigen Winter, andere
-sprangen mir flüsternd, raunend, kichernd zur Seite;
-bis zum Hügel hinauf, am Rand des Waldes, da waren
-sie verschwunden. Einige waren den eleganten Karossen
-nachgelaufen und guckten spöttisch grinsend in die Wagenfenster,
-andere hatten sich den Heimatlosen, vagabondierenden
-Menschenkindern angeschlossen, die unter den Büschen des
-sonnigen Winters ihr Nachtlager suchten. Nur Einer, ein
-ernsthafter, blasser, kleiner Geselle stand neben mir, als ich
-mich umwandte am Berg und mein Auge die Sonne suchte
-&ndash; wie seltsam! Die Sonne, die goldene, große, strahlende,
-hing herrlich am Himmel &ndash; aber der Wald, die Welt?
-Was eben noch leuchtete, schimmerte, in wunderbarsten
-Farben, das lag tot und kalt und schwarz zu ihren Füßen.</p>
-
-<p>»Siehst du,« sagte der ernsthafte Gedanke neben mir,
-»so wollt ihr die Wahrheit suchen mit eurem Verstand und
-eurer Tüftelei, so seht ihr in die Sonne mit der Brille der
-kalten Berechnung auf der Nase &ndash; ja die Sonne steht dort
-am Firmament, strahlend, so himmlisch leuchtend, daß euer
-blödes Auge sie nicht ertragen kann, und die Welt, über
-die ihr die Wahrheit ergründen wollt, liegt schwarz und
-tot da. Aber schau dich um, schau mit der Sonne, schau
-dahin, wo nur die Strahlen der Sonne hindringen, wohin
-die Wahrheit ihr goldenes Licht wirft &ndash; siehst du nun, wie
-herrlich die Welt daliegt, in Farbe, in Glut gehüllt, verklärt?
-Fühle nur die weiche, flimmernde, golddurchglühte Luft, die
-dich mit linden Armen umfängt &ndash; schaue die jauchzende,
-die lebende, lichte Welt!&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Und weißt du nun, was Poesie ist?« flüsterte der
-ernsthafte, kleine Gedanke mir ins Ohr.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_099" title="99"> </a>
-Ein Weihnachtsmärchen.</h2>
-
-
-<p>Weit, weit hinter den Wolkenbergen, da, wo der Sonne
-Heimat ist, die zu verlassen ihr so schwer fällt, daß sie
-Tauthränen weinen muß, da, wo gut sein, fromm sein ist,
-und die Religion die Liebe, da, wo es keinen Neid, keine
-Polizei und keine Geldnöten gibt, da ist das Reich der
-Träume, das Wunderland, wo die schöne Frau Phantasie
-als Königin herrscht. Da sitzt sie auf ihrem goldenen
-Sonnenthron, umgeben von all' dem lustigen und luftigen
-Volk, den Elfen, Nixen und Kobolden, die durch das
-Christentum und das Geld aus der Welt vertrieben wurden,
-und hält Hof, und die Blümelein sind ihre Vasallen und
-die Bäume ihre Schildwachen, und die Vögelein jubilieren
-und konzertieren, und die Mücken und Grillen und Heimchen
-tanzen Ballett; und der Wind, der säuselnde, sanfte, der
-starke, stürmische, immer gewaltige Sänger, ist zum Hofpoeten
-ernannt. Aber die mitleidige Königin, so gut sie
-es auch in ihrem wonnigen Traumland hat &ndash; sie ist
-nimmer zufrieden damit.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Sie gedenkt ihres Sorgenkindes, der Welt, die ihr
-schon manch' bitteres Weh bereitet hat, sie hüllt sich in ihren
-blauen Himmelsmantel, mit goldenen Sternlein besäet, und
-fliegt mit geheimnisvoll leisem Flügelschlag über die Erde,
-<a class="pagenum" id="page_100" title="100"> </a>
-und wenn sie sieht, daß ihr Sorgenkind immer noch so
-verdrießlich und wetterwendisch und eigensinnig-dumm und
-boshaft und lieblos ist, dann fließen Thränen der Wehmut
-und des Zornes und des Mitleids aus ihren schönen Augen,
-vermischt mit Hoffnungsbalsam und Sehnsuchtslauten nach
-ihrem Traumland, und diese kostbaren Thränen fallen zur
-Erde hinunter in die Herzen ahnungsvoller Menschen, die
-von Liebe entbrennen zur herrlichen Göttin Phantasie; sie
-singen dann, was ihr Herz bewegt, und die Welt nennt sie
-Dichter.</p>
-
-<p>Aber Frau Phantasie verhüllt sich mit ihrem blauen
-Himmelsmantel, so daß nur die kleinen nackten Füßchen
-wie zartrosa Wölkchen darunter hervorgucken, der Wind
-nimmt sie auf seine Flügel und trägt sie in ihr Königreich,
-und dann geht die Sonne auf.</p>
-
-<p>Lange schon ist es her, daß die Königin ihre letzte
-Reise unternommen hat; sie hat über den Wolken gethront
-im Traumland; aber Wehegeschrei und Kanonendonner
-sind bis zu ihr hinaufgedrungen und Zornesrufe nach
-Freiheit und Fluchworte gegen Lüge und Heuchelei, und
-dann wurde es ruhig, ganz ruhig unter ihr &ndash; da erhob
-sie sich von ihrem Thron, legte die weiße Hand gegen das
-rosige Ohr, lauschte in die Ferne, und sie sprach zu ihrem
-versammelten Volke:</p>
-
-<p>»Horch, so friedlich ist's da drunten! Sollte wohl
-jetzt die Zeit gekommen sein, wo ich meine Lieblinge hinaussenden
-kann, auf daß sie der Welt Erlösung bringen?
-Meine Kinder, meine weißen, süßen, unschuldigen Kinder:
-Wahrheit und Liebe, die ich mit dem Sonnengott, dem
-ewigen Licht, gezeugt; sie schlummern unter Blumen nun
-seit vielen tausend Jahren und immer wollte ich sie wecken
-und immer noch war es zu früh; immer begann es wieder
-zu lärmen auf der Welt, wenn ich gerade mich niederbeugen
-<a class="pagenum" id="page_101" title="101"> </a>
-wollte, um sie wachzuküssen &ndash; die beiden Zwillingsrosen.
-Nun aber ist's Zeit.</p>
-
-<p>Geschwinde, Ihr lustiges Volk, geschwinde, Ihr meine
-Treuen &ndash; kommt, kommt, laßt sie uns wecken!«</p>
-
-<p>Und da huscht es, und haucht es und weht und faucht
-es über sie hin, um sie her, und da singt es und saust es
-und klingt es und braust es, und die Blümlein duften süß
-und die Zweige neigen sich flüsternd und leise. &ndash; Da stehen
-zwei holde Kinder mitten unter ihnen, ein Knabe und ein
-Mägdelein &ndash; sein Antlitz ist ernst und klar und trotzig
-und sonnig, in ihrem rosigen Gesichtchen lacht der Frühling,
-und doch thront auf der Stirn eine leise Schwermut und
-in den Augen wohnt die Sehnsucht. Und die Königin
-zieht ihre holden Lieblinge an ihr Herz und weint Glücksthränen
-auf ihre jungen Häupter, und all ihr Volk steht
-erwartungsvoll schweigend um sie her. Da spricht sie:</p>
-
-<p>»Ihr meine jungen Helden, mein ernster Knabe, mein
-lachend Mägdelein &ndash; steigt nieder zur Erde, zieht hin
-über die Welt und verkündet ihr das neue Evangelium,
-bringt ihr die Liebe, lehrt sie die Wahrheit. Ach, sie ist
-arm, arm an Glück und Liebe &ndash; lehrt sie, daß nur durch
-Liebe die Seligkeit zu erringen ist, von der sie so viel gehört
-und die sie nicht verstanden hat.</p>
-
-<p>Laßt Euch nicht abschrecken durch rauhe Worte, durch
-herzlose That &ndash; predigt immer wieder, ruft in die Welt,
-in ihre Herzen hinein, jubelt ihr entgegen das Evangelium
-von der Liebe, ohne die nichts ist, hier nicht, wie auf Erden.</p>
-
-<p>O meine Kinder, vor allem trennt Euch nicht, faltet
-Eure Händchen zusammen, verlaßt Euch nicht, denn die
-Wahrheit ist nicht ohne die Liebe, und die Liebe tot ohne
-die Wahrheit.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Allein seid Ihr nichts, vereint alles!«</p>
-
-<p>Da gab man ihnen Oelzweige in die Hände, Mutter
-<a class="pagenum" id="page_102" title="102"> </a>
-Phantasie nahm die Kinder in ihren Himmelsmantel und
-trug sie zur Erde nieder, und die Elfchen und Nixchen und
-Kobolde huschten um sie her, die Vöglein zogen mit ihnen
-und sangen und alles war voll Freude.</p>
-
-<p>Aber der alte, weltweise, vernünftige Uhu saß in dem
-Eichbaum, unter welchem Wahrheit und Liebe, von duftenden
-Blumen zugedeckt, viele tausend Jahre geschlummert hatten,
-klappte seine großen Augen auf und zu und seufzte, daß
-es in den Klüften und Schluchten wiederhallte:</p>
-
-<p>»Zu früh, viel zu früh, ach, es ist zu früh!«</p>
-
-<p>Hand in Hand irrte nun das Zwillingspaar durch
-die Lande, über Berg und Thal, über Fluß und Steg, an
-all den vielen Städten und Burgen vorüber, mit ihren
-vielen tausend Bewohnern, aber keiner wollte so recht etwas
-von ihnen wissen. Da waren wohl viele, die sagten: »Ach,
-wie schön seid Ihr!« Das waren lauter junge Leute, die
-Kopf und Herz noch voll herrlicher Gedanken und beseligender
-Empfindungen trugen, aber sie hielten sich doch in
-scheuer Entfernung, denn sie kannten die Kinder nicht. Da
-waren Andere, die tätschelten sie gönnerhaft auf die lockigen
-Häupter und sagten: »Ja, recht schön, aber unpraktisch!«
-Das waren alte, weißhaarige Männer und Frauen. Da
-waren noch Andere, die wollten mit lustigen, bunten, lügnerischen
-Lappen die schöne, reine Nacktheit der beiden
-Kinder bedecken, aber da eilten diese angstvoll von dannen
-und hinter ihnen her gellte höhnisches Gelächter.</p>
-
-<p>So kamen sie eines Tages durch einen schönen großen
-Wald, darin zwitscherte es gar lieblich von Vogelgesang
-und duftete es süß von Blumenduft, die Bäume neigten
-ihre Zweige vor ihnen, und der Vater, der Sonnengott,
-liebkoste sie mit seinen warmen Armen.</p>
-
-<p>Die Tiere des Waldes kamen, die scheuen Rehe, die
-flinken Füchse, die leichtfüßigen Eichhörnchen, sie sahen sie
-<a class="pagenum" id="page_103" title="103"> </a>
-mit klugen Augen an, und plötzlich klang's von fern und
-nah, in allen Zweigen, in allen Lüften:</p>
-
-<p>»Bleibt hier, o bleibt hier! Bei uns ist's gut sein,
-aber draußen ist's Winter; die kalte, böse Welt, sie
-thut Euch weh und treibt Euch fort, und dann müßt Ihr
-leiden!«</p>
-
-<p>Aber ein kleines, grünes Tannenbäumchen neigte sich
-zu ihnen hin und sprach: »Jetzt bin ich allein; eine schöne
-Tanne stand bis gestern noch neben mir; die haben die
-Menschen geholt, denn Weihnacht ist draußen, sagen sie, das
-Fest der Liebe, und da ist die Tanne gern mit ihnen gegangen,
-denn dann wird sie geschmückt, geputzt und geliebt. Nun
-stehe ich allein und möchte wissen, wohin sie gegangen ist.«</p>
-
-<p>Da blickten die Kinder zu ihrem Sonnenvater hinauf
-&ndash; der nickte lächelnd, und sie zogen weiter.</p>
-
-<p>Draußen, jenseits des Waldes, war Schnee und Eis
-und die Bäume senkten matt ihre dürren Aeste unter der
-Last, die ihnen aufgebürdet war; kein grünes Hälmchen
-sah unter der Schneedecke hervor und die kleinen Spatzen
-piepsten traurig auf der Hecke am Wege. Das liebe Zwillingspaar
-aber war ganz warm und der Schnee that ihren nackten
-Füßchen nicht weh, denn des Vaters Sonnenstrahlen hüpften
-um sie her und schützten sie vor der Kälte.</p>
-
-<p>Nun kamen sie an ein großes, hohes Schloß, das blitzte,
-funkelte und strahlte von lauter Gold und von Edelgestein,
-und wie sie die hohe Marmortreppe hinaufstiegen, da kamen
-sie in einen großen Saal, darin stand ein wunderschöner
-Tannenbaum mit vielen, vielen Lichtern, und um ihn her
-sprangen und lachten und scherzten fröhliche Kinder und
-freundliche Menschen &ndash; ach, da ging ihnen das Herz auf
-und sie traten dicht vor den stattlichen Mann hin, der eine
-schöne Frau am Arme führte, und öffneten ihre lieblichen
-Lippen:</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_104" title="104"> </a>
-»Wahrheit und Liebe heißen wir,« sagten sie, »das neue
-Evangelium wollen wir verkündigen, daß es weit hinschalle
-über alle Welt!«</p>
-
-<p>Da schüttelte der stattliche Mann den Kopf und die
-schöne Frau wich ängstlich zurück und rief ihre Kinder zu
-sich, daß sie nicht den kleinen Fremdlingen zu nahe kämen.</p>
-
-<p>»Ein neues Evangelium! Damit seid Ihr nicht am
-rechten Platz. Nur keine Neuerungen! Festhalten am Alten,
-Hergebrachten, das ist eines Edelmannes würdig. Und
-Wahrheit und Liebe? Gewiß! aber streng nach den Regeln
-der Etikette müssen sie sein.«</p>
-
-<p>»Komm, Schwesterchen,« sagte der Knabe Wahrheit zur
-Liebe, »hier ist nicht gut sein.«</p>
-
-<p>Und sie gingen weiter. &ndash; Da kamen sie in eine große
-Stadt. Da waren so viele Häuser und so viele Menschen,
-daß sie gar nicht wußten, wohin sie gehen und an wen sie
-sich wenden sollten.</p>
-
-<p>So schritten sie kühn in ein vornehmes Haus hinein,
-darin war es gar warm und behaglich, und sie stiegen die
-teppichbedeckten Stufen hinan und kamen in ein schönes
-Gemach, das war reich und bunt ausgestattet, und in der
-Mitte auf einem Tisch stand ein großer Weihnachtsbaum,
-der leuchtete von vielen, vielen Lichtern, lauter geputzte
-Leute standen um ihn und bewunderten die kostbaren Sachen,
-die darunter lagen. Das Zwillingspaar hielt sich fest an
-den Händen, und sie traten zu dem Herrn des Hauses, der
-neben einer schönen Dame im Sofa saß, und öffneten ihre
-lieblichen Lippen:</p>
-
-<p>»Wahrheit und Liebe heißen wir,« sagten sie, »das neue
-Evangelium wollen wir verkünden, auf daß es Lüge und
-Unglück aus der Welt von hinnen treibe.«</p>
-
-<p>Da wollte sich der Herr des reichen Hauses schier von
-Sinnen lachen: »Wahrheit,« sagte er, »mein Junge, damit
-<a class="pagenum" id="page_105" title="105"> </a>
-kann man nicht handeln« und »Liebe,« lachte die schöne
-Dame neben ihm, »<i>quelle idée!</i> Die ist gar so unbequem
-und aufreibend&nbsp;&ndash;!«</p>
-
-<p>»Komm, Schwesterchen,« sagte der Knabe und sah trotzig
-um sich, »hier ist nicht gut sein.«</p>
-
-<p>Die Kleine schmiegte sich dicht an seine warme Seite
-und sie zogen weiter.</p>
-
-<p>Nun kamen sie in ein ganz kleines, unscheinbares
-Häuschen, da brannte auch ein Tannenbäumchen, aber nur
-ein ganz winziges, mit zwei kleinen Lichtchen und ein paar
-Aepfeln und Nüssen daran.</p>
-
-<p>Neben dem Baum saß eine junge blasse Frau mit zwei
-Kinderchen im Arm und am Fenster ein finsterer Mann,
-der brütete vor sich hin und sah das Weihnachtsbäumchen
-kaum.</p>
-
-<p>Und das Zwillingspaar trat ein und lächelte dem
-anderen Pärchen zu:</p>
-
-<p>»Weihnachten ist heute, das Fest der Liebe. Vom
-Traumhimmel sind wir gesandt, die neue Religion zu verkündigen,
-das Evangelium der Liebe und Wahrheit.«</p>
-
-<p>Aber die angeredeten Kinderchen wandten sich verschüchtert
-zur Seite, und der blassen Frau liefen die Thränen
-über die schmalen Wangen.</p>
-
-<p>»Liebe,« schluchzte sie, »Liebe ist nur vom Uebel, denn
-sie hängt schwer an Einem, und von Liebe kann man nicht
-leben.«</p>
-
-<p>»Und Wahrheit?« fragte der Mann mit bitterem
-Lachen, »wenn man die Wahrheit sagt, wird man mit Hunden
-gehetzt. Geht weiter, Euer Evangelium ist nicht für Arme.«</p>
-
-<p>Da zogen sie traurig von dannen und irrten in den
-Straßen umher und wagten nicht mehr in die Häuser einzutreten.
-Sie kamen an ein großes, großes Haus, das
-hatte einen Turm, der ragte bis in den Himmel hinein
-<a class="pagenum" id="page_106" title="106"> </a>
-und aus den geöffneten Fenstern drang freundlicher Lichtschein
-von vielen Lichtern, Orgelklang und Gesang von vielen
-frommen Stimmen; sie schlüpften hinein und standen in
-einer Kirche voll frommer Menschen und vor dem Altare
-stand eine Krippe, darin lag ein kleines Kindlein, nackt,
-wie sie selber, mit einem goldenen Krönchen auf dem Haupte.</p>
-
-<p>Und sie liefen hin und freuten sich und wandten sich
-zum Volk und verkündeten mit lauter Stimme das neue
-Evangelium; denn sie dachten, hier wäre es gut und fromm
-und hier würden die Menschen auf sie hören.</p>
-
-<p>Kaum aber hatten die von einer neuen Religion vernommen,
-da erhob sich ein böses Geschrei und wütendes
-Toben, und an der Spitze der Mann, der an der Krippe
-des Jesukindes schöne Worte gesprochen hatte, und:</p>
-
-<p>»Neuerer, Ketzer! steinigt sie, treibt sie hinaus!« &ndash;
-riefen sie.</p>
-
-<p>Ach, die armen Sonnenkinder, sie wußten nicht, wie
-ihnen geschah, als sie plötzlich draußen vor der Kirchenthür
-sich befanden, die krachend hinter ihnen zufiel.</p>
-
-<p>»Ach wären wir im Traumland,« seufzten sie, »unter
-Blumen und Vögelein, unter der Königin blauem Sternenmantel
-&ndash; uns friert, ach so sehr.«</p>
-
-<p>Da, fern von der Stadt, begegneten ihnen zwei hohe,
-schlanke Gestalten, ein Mann und ein Weib &ndash; die hielten
-sich eng umschlungen und von ihren Stirnen ging ein
-Leuchten aus, daß es die Kinder wundersam durchschauerte.
-Sie faßten Mut und gingen jenen entgegen und fragten:</p>
-
-<p>»Was thut Ihr hier draußen?«</p>
-
-<p>»Wir feiern Weihnachten,« sagten jene beiden lächelnd.</p>
-
-<p>»Ohne Baum und Menschen?«</p>
-
-<p>»Für uns allein; in unserem Herzen, denn die Menschen
-haben uns von sich gestoßen!«</p>
-
-<p>»Was thatet Ihr?«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_107" title="107"> </a>
-»Wir sprachen die Wahrheit und in unserem Herzem
-thronte die Liebe,« sagten jene beiden und ihre Augen
-leuchteten. »Das aber kann die Welt nicht dulden, es ist
-gegen ihr Gesetz, und darum haben sie uns von sich gestoßen.«</p>
-
-<p>Da sangen und jubelten die Kinder ihr neues Evangelium
-in alle Winde hinaus und der Mann zog sein
-Weib in seine Arme und sie lauschten der Lehre von der
-Wahrheit und der Liebe, die die Kinder der ewigen Sonne
-und der Phantasie ihnen predigten.</p>
-
-<p>Da aber kam der Wind und trug die Sonnenkinder
-über die Wolken ins Land der Träume.</p>
-
-<p>Und wie sie der schönen Mutter ihre Leiden, ihren
-Kummer und ihre Seligkeit vertrauten, da weinte sie goldene
-Thränen und sie fielen in die Herzen jener seligen Menschenkinder,
-die die Welt von sich gestoßen hatte.</p>
-
-<p>Die Elfen und Gnomen und die Vöglein alle, das
-lustige, leichtlebige Volk, tanzten und jubilierten, und nur
-der große Uhu saß im Eichbaum, unter dem die Sonnenkinder
-wieder schliefen, unter Blumen zugedeckt, und knurrte
-prophetisch:</p>
-
-<p>»Zu früh, viel zu früh, die Welt ist noch nicht reif
-für das Evangelium der Liebe und Wahrheit!«</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_108" title="108"> </a>
-Schneeflocken.</h2>
-
-
-<p>Die Schneeflocken haben Ball heute Abend. Hei! Wie
-sie sich schwingen in tollem Reigen da oben auf den Bergen,
-wie sie durcheinander wirbeln und auf und niederspringen,
-daß einem ganz schwindelig wird beim Hereinschauen. Und
-der Wind spielt ihnen auf dazu; er saust durch die Tannenwipfel
-und schüttelt die Kronen der alten Waldriesen, daß
-sie die Zweige pfeifend gegen einander schlagen; er braust
-durch die Schluchten und gellt durch die Felsenklüfte, daß
-es fast wie Hohngelächter klingt, er singt ihnen ein Nordlandslied,
-wild wie sein Brausen und Toben. Er singt
-ihnen von den eisigen Gletschern da oben im Norden, und
-von der Eisjungfrau, die da haust mit Augen, klar und
-doch unergründlich, wie der Bergsee; er singt, wie sie mit
-schrillem Lachen die weißen Arme ausbreitet und an den
-Schneewänden ihres Eispalastes rüttelt &ndash; dann stürzen
-die Lawinen krachend zu Thal und begraben das Menschenvolk
-da unten. Von den lustigen Gesellen, den Eisbären,
-erzählt er, seinen Freunden, wie sie im täppischen Tanz
-umeinander sich drehen, fast wie riesengroße, weiße Schneeflocken,
-daß es gar komisch anzusehen ist; und von den
-Schiffen, die zwischen den Eisblöcken stecken, und den
-Menschen darauf, deren heißes Menschenherz langsam zu
-<a class="pagenum" id="page_109" title="109"> </a>
-starrem Eise wird; von den flimmernden, glitzernden,
-funkelnden, kalten Sternen da oben am Himmel, die
-todesruhig lächelnd herniederschauen; von dem Nordlicht,
-das aufflammt mit trotziger Glut und der Eisjungfrau auf
-ihrem Gletscher einen rosigen Schleier überwirft, aus dem
-sie herauslächelt, fast wie ein Menschenbild &ndash; so lockt sie
-die Menschen an, die kühnen Jäger, und sie steigen hinauf
-zu ihr, immer höher und höher, und sie winkt ihnen und
-lächelt süß, verheißend &ndash; und dann stürzt sie die thörichten
-Gesellen hinab, in die eisige Tiefe. &ndash; Hoiho! jauchzt der
-Wind, wild ist mein Nordlandslied! Wild, wie der Eiskönigin
-Lachen, wie der Lawinendonner! Und hoch empor
-wirbelt er die armen Flöckchen, bis sie sich ermattet an
-den Tannenzweigen festklammern.</p>
-
-<p>Da ist's gut ruhen; sie schmiegen sich eng an die
-Nadeln hin &ndash; die flüstern und kosen mit ihnen, die wiegen
-sie hin und her und erzählen ihnen Waldmärlein: von
-dem naseweisen Tannenbäumchen, das gar nicht zufrieden
-gewesen damit, daß es im schönen grünen Wald gewohnt
-und die Füßlein im weichen Moos gebettet hat; gelangweilt
-hat es sich auf seinem heimatlichen Stückchen Erde
-und hat hinausgewollt in die weite, weite Welt und gejammert
-und geschluchzt: O Wind, nimm mich mit! O
-Quell, rausch' mich zu Thal!</p>
-
-<p>Da hat mit einemmal die Waldfee vor ihm gestanden
-im grünen Gewand und lockigen Haar, hat es mit den
-Blumenaugen angeschaut, mit den zarten Händen berührt
-und gesagt: »Geh', mein Bäumchen, reise zu Thal. &ndash; Sie
-werden Dir weh tun, Dich von Ort zu Ort schleppen, und
-doch bringst Du ihnen von den Bergen herunter die Sehnsucht
-mit &ndash; den Tannenduft, damit sollst Du ihnen die
-Seele erfüllen, daß sie gut werden und sich freuen wie
-die Kinder.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_110" title="110"> </a>
-Dann hat sie das Bäumchen geküßt und ist im Wald
-verschwunden.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Danach sind eines Tages zwei Männer gekommen und
-haben sich das Tannenbäumchen von allen Seiten angeguckt
-und zufrieden mit den Köpfen genickt. Dann haben sie
-ihre Pelzkappen zurückgeschoben und sich die Hände gerieben
-und die blanken Aexte genommen und haben die Füßchen
-der Tanne geschlagen, daß es durch den Wald gedröhnt
-hat, haben sie zur Erde geworfen, ihr einen Strick um
-den Leib gebunden und sie hinter sich hergeschleift über Stock
-und Stein, durch Schnee und Eis. Und das Tannenbäumchen
-hat leise vor sich hingeweint, und die großen
-Bäume auch; aber die Männer haben das nicht gehört,
-die meinten: Horch &ndash; wie der Wind pfeift!</p>
-
-<p>So ist die kleine Tanne zum Weihnachtsbäumchen geworden,
-wie die Waldfee sagt &ndash; denn da unten im Thal
-feiern sie Weihnacht&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Was ist das?« fragten zwei neugierige kleine Schneeflocken,
-die sich angefaßt hatten und mit ihren zarten, weißen
-Gliederchen auf den Zweigen der alten Tanne auf und nieder
-wippten.</p>
-
-<p>»Ja, was ist das!« sagte die alte Tanne, »Wintersonnenwende
-nennen wir's, und die Waldfee sagt: Jetzt
-wacht die Sonne auf und nun beginnt tief unten in der
-Erde das Keimen und Wachsen, bis es schließlich herauf
-dringt zu uns und die ganze Welt erfüllt. Aber da unten
-im Thal nennen sie's Weihnacht und sagen, die Liebe wäre
-ihnen geboren &ndash; und dann schmücken sie das Tannenbäumchen
-mit vielen, vielen Lichtern und zünden sie an,
-daß man meint, der ganze Baum stände in Flammen, und
-läuten mit ihren Glocken dazu &ndash; da &ndash; hört Ihr's?«</p>
-
-<p>»Bim bam bum!« singen die kleinen Schneeflocken,
-»da möchten wir hin!« und sie bitten den Wind: »Wind,
-<a class="pagenum" id="page_111" title="111"> </a>
-fahr' uns hinab!« &ndash; Der breitet seine großen, weißen
-Schwingen aus, die beiden Flöckchen klammern sich mit
-ihren vielen Fingerchen daran fest und nesteln sich in ihren
-Zottelpelzen tief in die Fittige ein, und heidi! da ging's
-zu Thale.</p>
-
-<p>»Grüßt mir das Tannenbäumchen!« rief die alte Tanne
-ihnen nach &ndash; und sie brummte in den Schneemantel hinein,
-der sich allgemach um ihre starken Glieder gelegt hatte:
-»Komisches Volk, diese Menschen! Mußte ihnen die Liebe
-erst geboren werden? Ist sie denn nicht so alt, wie die
-Welt steht?«</p>
-
-<p>Und dann schüttelte sie ihre Nadeln, daß die Schneeflocken,
-die schon darauf eingeschlafen waren, erschrocken
-in die Höhe fuhren.</p>
-
-<p>Die beiden neugierigen Schnee-Engelchen aber flogen zu
-Thal, und der Wind war bös und pfiff ihnen in die kleinen
-Ohren, daß es gellte: Puh &ndash; da unten ist's schlecht. Was
-wollt Ihr bei den Menschen? Entweder sie ballen Euch
-zusammen und werfen sich mit Euch gegenseitig an die
-Köpfe, oder sie kehren Euch auf einen Haufen, daß ihr ganz
-schmutzig werdet und die Sonne Euch aufschmilzt &ndash; umkommen
-thut Ihr jedenfalls!</p>
-
-<p>Doch da waren sie schon im Thal angelangt, vor einem
-großen, schönen Hause; das lag still und dunkel und allein.
-Nur aus einem Fenster schimmerte ein roter Schein, dahin
-flog der Wind, und sieh'! von dem Fenster her grüßte und
-winkte es den Flöckchen entgegen &ndash; das waren ihre Basen,
-die Eisblumen, die an den Glasscheiben in die Höhe wuchsen
-und allerlei wunderliche Gestalten angenommen hatten, und
-die Flöckchen setzten sich zu ihnen und guckten in's Haus
-hinein. Da drinnen ist's prächtig: ein hohes, weites
-Gemach, und aus einem großen, weißen Marmorkamin
-flutet der rote Feuerschein drüber hin, über den Tannenbaum,
-<a class="pagenum" id="page_112" title="112"> </a>
-der schön geschmückt und glänzend dasteht, über die
-vielen bunten Spielsachen und all die kleinen Figürchen,
-die da unter'm Tannenbaum ihr Wesen treiben.</p>
-
-<p>Die Eisblumen erzählten, wie schön es gewesen sei,
-als das Tannenbäumchen ganz in Flammen gestanden und
-die Kinder um es herumgesprungen wären und gelacht
-und getollt und gejubelt hätten. Dann haben sie die
-Lichter gelöscht und ein Duft ist durch das Zimmer gezogen,
-so würzig, so zart, so wunderstark, noch riecht's in allen
-Ecken darnach&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Die Schneeflöckchen vergingen fast vor Sehnsucht nach
-all dem Schönen. Mitleidig verrieten ihnen die Eisblumen,
-daß ganz, ganz unten am Fenster eine schmale Ritze offen
-wäre, da könnten sie noch besser hineingucken, und vorsichtig
-kletterten die Flöckchen an den glatten Scheiben hinunter
-und nun stehen sie vor der Fensterritze&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Also, so sieht Weihnacht aus!« flüstern sie einander
-zu, »komm', wir wollen uns an die Händchen fassen und
-hineingehen und den Weihnachtsduft einatmen.«</p>
-
-<p>»Thut das nicht,« antworteten die Eisblumen, »Ihr
-seid Kinder der Luft, Ihr gehört nicht zu denen dadrinnen
-&ndash; Ihr werdet hinsterben vor Sehnsucht zu ihnen.«</p>
-
-<p>Aber die Flöckchen hörten nicht auf die Erfahrenen;
-sie zogen sich ihre kleinen Schneemützchen über die Ohren,
-damit sie auch hübsch kalt blieben und schlüpften durch die
-Fensterritze. &ndash; Da schlug's Zwölf. Das kleine Männchen
-in der bunten Uhr, die auf dem Kaminsims stand, kam
-zwölfmal herausspaziert und beim letzten Mal nahm es
-seinen kleinen Dreimaster ab und verbeugte sich und sagte:
-»Meine Herrschaften, die Geisterstunde hat geschlagen!«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Dann verschwand es wieder in seinem Glashäuschen,
-und klirrend schlug die Thür hinter ihm zu.</p>
-
-<p>Nun begann ein wunderliches Wispern und Tustern
-<a class="pagenum" id="page_113" title="113"> </a>
-in allen Ecken und Winkeln &ndash; alles im Zimmer wurde
-lebendig und es war plötzlich ein Stimmengewirr wie beim
-Turmbau zu Babel. Alle die vielen Deckchen und Schleifen,
-die an den Stühlen und Lehnen herumhingen, fingen an,
-eine der andern Vorwürfe zu machen, daß sie sich immer den
-Menschen auf den Rücken setzten oder auf der Erde herumtrieben,
-und wurden so heftig dabei, daß sie sich schließlich
-gegenseitig mit sich selber bombardierten. &ndash; Das Sofakissen
-wurde elegisch und machte der Schlummerrolle eine
-Liebeserklärung. &ndash; »Sie haben eine so schöne Gestalt!«
-sagte es, &ndash; »von oben bis unten egal!« Und die Feuerzange
-beim Ofen wollte die Schaufel umarmen und kniff
-ihr dabei derb in die Nase. Die kleinen Sèvres-Figürchen
-auf dem Kamin schürzten ihre Rokokokleidchen zum Tanz
-und der Nußknacker, der in der Uniform eines Gardelieutenants
-auf dem Weihnachtstische stand, klemmte sein
-Monocle ins Auge, näselte: »Charmant, auf Taille!« und
-klappte seine Kinnladen mit einem gefährlichen Ruck wieder
-zu. Dieser Nußknacker war überhaupt ein Don Juan;
-just hatte er der niedlichen kleinen Puppendame, die in
-Balltoilette auf einem rotsammetenen Lehnstuhl saß, versichert,
-sie sei seine erste und einzige Liebe, und nun warf
-er der porzellanenen Schäferin da oben Kußhände zu und
-entschuldigte sich damit, daß es ja Weihnachten sei.</p>
-
-<p>Da entdeckte er plötzlich die beiden kleinen Fremdlinge,
-die sich in ihren weißen Schwanenpelzchen scheu in die
-Fensterbank gedrückt hielten.</p>
-
-<p>»Das ist ja etwas sehr Niedliches!« Und der Lieutenant
-klemmte seine Monocle ein und beeilte sich, mit
-allersteifsten Gardebeinen durch den Saal zu marschieren.</p>
-
-<p>»Premier-Lieutenant Knack von Mandelkern, I.&nbsp;Rrrment,
-Bleisoldaten zu Fuß,« schnarrte er und schlug die Hacken
-aneinander, daß unsere Schneeflöckchen erstaunt seine Füße
-<a class="pagenum" id="page_114" title="114"> </a>
-anguckten. &ndash; »Damen fremd hier? &ndash; äh &ndash; dürfte Ehre
-haben, Chaperoneur zu sein?«</p>
-
-<p>»Ach,« sagten die Flöckchen schüchtern, »wir gehören
-hier eigentlich gar nicht her &ndash; wir sind nur hereingekommen
-&ndash; wir wollten gern wissen &ndash; können Sie uns vielleicht
-sagen, was Weihnacht ist?«</p>
-
-<p>»Wa &ndash; wa &ndash; was &ndash; Weihnachten?« Dem Herrn
-Gardelieutenant fiel vor Erstaunen das Monocle weg, ohne
-daß er erst dazu eine Fratze zu schneiden brauchte, und
-sein Nußknackermund blieb ihm offen stehen, worüber die
-Flöckchen so erschraken, daß sie aufsprangen und von der
-Fensterbank auf die Erde flogen.</p>
-
-<p>»Weihnachten? &ndash; Weihnachten ist Weihnachten,«
-brummte Lieutenant Knack von Mandelkern entrüstet,
-nachdem er vorher seinen Mund wieder zugeklappt hatte
-&ndash; dann klemmte er das Glas wieder ein und sah den
-Flöckchen nach &ndash; »nette Pusselchen &ndash; aber noch sehr jrün
-&ndash; die reene Unschuld vom Lande.«&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Die Schneeflöckchen aber waren geradewegs auf ein
-schönes Buch mit Goldschnitt gesunken, das vom Tisch auf
-die Erde gefallen war &ndash; auf dem stand mit großen bunten
-Lettern als Titel gedruckt: Weihnacht und unsere Vorfahren!
-Das sprach jetzt mit gewählten Worten: »Was
-Weihnachten ist, wünschen Sie zu wissen, meine Lieben?
-&ndash; Sehen Sie mich an.« Und dabei schlug es sich auf
-und begann zu lesen: »Schon zur Zeit Winfrieds, des hl.&nbsp;Bonifacius,
-des großen Heidenbekehrers, feierten unsere Altvordern,
-beseelt von einem dunklen Drange, der sie zur
-Verehrung eines unbestimmten Etwas antrieb, im Winter,
-unter Schnee und Eis, ein Fest.«</p>
-
-<p>»Altes Buch, schweig' doch still! &ndash; Hüh! Hoh!
-Wollt Ihr wohl laufen, Ihr faulen Tierchen!« klang es
-da unter dem Tischdeckenzipfel hervor, und als die Schneeflöckchen,
-<a class="pagenum" id="page_115" title="115"> </a>
-die sich große Mühe gaben, die weisen Worte
-des Buches zu verstehen, sich umschauten, kam pfeilgeschwind
-eine drollige kleine Equipage herangesaust, schnurgerade
-über das gelehrte Goldschnittbuch hinweg, das sich voller
-Entrüstung erhob und mit Würde von dannen wandelte. &ndash;
-In dem von sechs weißen Mäuschen gezogenen Wägelchen
-stand ein kleiner nackter Junge, mit Flügeln an den
-Schultern und einem Bogen in der Hand, und sang und
-jubelte in die Welt hinein. Der hat auf einer schönen
-Dose gesessen, in der allerlei bunte, glänzende Steine und
-Goldsachen blitzten, und als der alte Herr in der Uhr die
-Geisterstunde verkündete, da ist er heruntergesprungen und
-hat sein lustiges Wesen getrieben.</p>
-
-<p>Ei, wie ihn die Rubinenaugen des Schlangenarmbandes
-anfunkelten, und so viel die Schlange auch nach ihm mit
-dem Goldzünglein gezischelt, &ndash; »ich bin die Schlangenkönigin,«
-sagte sie, »ich ringele mich um weiße Arme, weiße
-Nacken, ich ringele mich bis ins Herz hinein und bringe
-ihm den Schlangenzauber, dem niemand wiedersteht,« &ndash;
-es half ihr nichts: das kecke Bürschchen schlang sie sich um
-die kleine weiße Brust, und die Rubinenaugen funkelten
-ihm von der Schulter herunter.</p>
-
-<p>»Pah!« lachte er, »mein Pfeilgift ist viel stärker als
-Deins, &ndash; Du kannst mir nichts anhaben.«</p>
-
-<p>Nun setzte er sich in die große Walnußschale, die ihm
-der Nußknacker geschenkt hatte dafür, daß er der niedlichen
-Rokokodame einen Pfeil ins Sèvresherzchen geschossen.</p>
-
-<p>Aber er hatte keine Pferde zum Vorspannen. Da war
-er auf den Weihnachtstisch spaziert, wo die heilige Krippe
-aufgebaut war, und hatte den hl.&nbsp;Joseph um das Oechslein
-und das Eselein gebeten, sein Wägelchen zu ziehen; aber
-der hl.&nbsp;Joseph hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen
-über solch ein Ansinnen, obgleich Mutter Maria
-<a class="pagenum" id="page_116" title="116"> </a>
-mit dem Kindlein auf dem Schoß ihre Freude an dem
-kecken Gesellen gehabt hatte.</p>
-
-<p>Da war er den hl.&nbsp;Drei Königen aus dem Morgenlande
-entgegengegangen, die gar bedächtig mit prächtigem Gefolge
-heranmarschiert kamen. »Majestät,« sagte das Gesellchen
-höflich, »dürfte ich vielleicht eines Ihrer Kamele für mein
-Wägelchen benutzen? &ndash; Sie haben ja deren so viele.«</p>
-
-<p>Aber der schwarze Balthasar, der Mohrenkönig, fletschte
-ihm seine weißen Zähne entgegen, und Kaspar und Melchior
-hielten ihm das Weihrauchfaß mit Myrrhen unter die Nase,
-daß er niesen mußte &ndash; da sprang er davon und bat den
-Tannenbaum, und der schenkte ihm sechs kleine, weiße Zuckermäuse,
-die an seinen Zweigen hingen.</p>
-
-<p>Nun hielt er mit seinem flinken Gespann vor den
-Schneeflöckchen und lachte: »Ach, was seid Ihr für herzige
-Dingerchen. &ndash; Gleich möchte ich mit meinem Goldpfeil
-durch Eure Schwanenpelzchen in die Herzchen hineinschießen.
-Kommt, steigt ein &ndash; wir fahren zum Weihnachtsball in
-die Puppenstube; da tanzen Sie gravitätisch und mit Anstand
-ein würdiges Menuett und sind brav und gesittet
-&ndash; aber Ihr sollt 'mal sehen, was ich da für einen Wirrwarr
-anrichte.«</p>
-
-<p>Den Schnee-Engelchen gefiel zwar der kleine Bursche
-sehr gut, aber sie schüttelten doch die Köpfe, daß die Pelzkapuzchen
-hin und her wackelten.</p>
-
-<p>»Ach nein,« sagten sie, »hier können wir nicht tanzen
-&ndash; hier ist es uns viel zu warm. Wir sind auch nur
-hereingekommen, um zu lernen, was wohl eigentlich Weihnacht
-ist.«</p>
-
-<p>Da setzte sich das Gesellchen auf den Rand seiner
-Nußschale, schlug ein Bein über das andere und legte
-simulierend den Finger an das kecke Näschen:</p>
-
-<p>»Ja, sehen Sie, meine kleinen Engelchen &ndash; das ist eine
-<a class="pagenum" id="page_117" title="117"> </a>
-kuriose Geschichte. Da unter dem Weihnachtsbaum liegt
-ein kleines, nacktes Kindchen in einer Krippe, dessen Geburtstag
-feiern sie, und sie sagen, er sei der Gott der Liebe.
-&ndash; Nun aber hat mir mein heidnischer Vater im Olymp &ndash;
-ich bin nämlich ein Heide, mein Name ist Amor &ndash; immer
-gesagt, ich wäre der Gott der Liebe, und ich wäre, trotz
-meiner Jugend, so alt wie der Olymp und die Welt und das
-große, große Meer selber. &ndash; Da muß also irgendwo eine
-Verwechselung sein. &ndash; Ich schlage vor, wir feiern das
-ganze Jahr Weihnacht und halten mein Schwesterchen
-Freude, wenn sie davon fliegen will, am Gewandzipfel fest.
-&ndash; Ich kehre mich so wie so nicht viel an die Jahreszeiten
-&ndash; meine Pfeile fliegen das ganze Jahr durch, und die
-Küsse sind immer am süßesten, wenn sie geküßt werden.«
-&ndash; Und dabei breitete der kleine Schlingel die Arme aus
-und wollte die hübschen Flöckchen küssen; die aber faßten
-sich an die Hände und flogen ihm davon, geradeswegs auf
-die Tanne zu und klammerten sich an ihre Zweige fest und
-schaukelten sich und sangen:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">Von den Bergen, wo der Wind,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wo die Tannenschwestern sind,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Sind wir hergeflogen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Sind wir hergezogen&nbsp;&ndash;</td></tr>
-</table>
-
-<p>Sag' uns, was ist Weihnacht?</p>
-
-<p>Da ging ein Leben durch die Zweige der Tanne, all'
-das Rauschegold, mit dem sie geschmückt, knisterte und
-raschelte, die Krystallkugeln klirrten &ndash; stärker denn je
-dufteten die Tannennadeln, und horch! mit dem Tannenduft
-ziehen Sehnsuchtslaute durch den Saal:</p>
-
-<p>»Ach, meine Flöckchen, wohl bin ich geschmückt, wohl
-trage ich eine Krone, wohl habe ich geflammt in vieler
-Kerzen Schein &ndash; für die Weihnacht. &ndash; Aber gebt mir die
-Wintersonnenwende wieder, laßt mich umbrausen, umtosen
-<a class="pagenum" id="page_118" title="118"> </a>
-vom Wind, laßt den ersten Sonnenstrahl mich umschmeicheln
-und mir ins Herz hineinlachen. &ndash; Nehmt mir Alles
-dafür hin!</p>
-
-<p>Was die Weihnacht ist?</p>
-
-<p>Kummer und Trübsal, und Haß und Neid und Mißgunst,
-und Heuchelei und Geldstolz &ndash; das ist Weihnacht unter den
-Menschen; und zum Hohn nennen sie's das Fest der Liebe!
-Schneeflöckchen, wenn Ihr die Liebe sucht, fliegt nimmer zu
-Thal. Und eines doch: Wenn das Kinderauge uns anlacht
-&ndash; wenn wir in seinem reinen Glanz uns spiegeln, wenn
-die Kinderärmchen sich nach uns ausstrecken, die Kinderstimme
-uns anjauchzt&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Da öffnete sich leise, leise die Thür, und auf der
-Schwelle stand ein Kindchen und blickte verschlafen um sich
-und strich sich die blonden Härchen aus dem heißen Gesicht. &ndash;
-Nicht schlafen konnte das Kind vor Freude über Weihnacht,
-und es hatte ein Geraune und Geflüster gehört neben dran
-und war aufgestanden, ganz leise, daß es die Eltern nicht
-gestört, und schlich mit den bloßen Füßchen über den Teppich
-hin, und stand mitten unter dem lustigen Volk.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Aber da schnarrte die Uhr und das alte Männchen
-kam wieder herausspaziert und sagte mit dumpfer Stimme:
-Eins! und nun war alles wieder still und stumm und
-leblos, wie es vorher gewesen. Nur die Schnee-Engelchen
-konnten nicht so schnell zum Fenster hinfliegen &ndash; da erblickte
-sie das Kind: »Das sind die Engelein vom Himmel,«
-jauchzte es, »Tanne, die hast du mir mitgebracht!«</p>
-
-<p>Und mit beiden Armen griff es nach den Flöckchen
-und preßte sie an sich und drückte und herzte sie &ndash; ach &ndash;
-und da vergingen sie ihm unter den Händen, und das Kind
-betrachtete verwundert seine leeren feuchten Aermchen &ndash;
-da schlich es betrübt in sein kleines Bett und weinte, weinte
-bitterlich.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_119" title="119"> </a>
-Aber die Tannennadeln, die sich in seinem Kraushaar
-gefangen hatten beim Spielen, die neigten sich an des
-Kindes Ohr und erzählten ihm vom Tannenwald und dem
-Wind und der Schneeflöckchen-Reise, das ganze Märlein,
-da schliefs Kindchen ein.</p>
-
-<p>Und wann es aufgewacht ist, und wieder und wieder
-aufgewacht, und größer und älter geworden, wann die
-Wintersonnenwende ihm gekommen ist, da zieht ihm, dem
-großen Kind, zu Weihnacht mit dem Tannenduft immer
-wieder das Märchen durch die Seele &ndash; das Märchen von
-den Schneeflocken, die ausgezogen, die Liebe zu suchen, und
-an der Liebe gestorben sind.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_120" title="120"> </a>
-Das Märchen
-von der weißen Stadt.</h2>
-
-
-<p>Es lag ein Mensch zu sterben. Der hatte all seine
-Gedanken, all seinen Willen hergegeben, die eine große That
-seines Lebens zu vollenden. Aber der Griffel entsank seiner
-Hand, und die Seele entfloh dem Leibe. Es hatte dieser
-Mensch die Fluten sehr geliebt. Er konnte stundenlang am
-Ufer des Sees sitzen und die blauen Wasser betrachten, wie
-sie kamen und gingen, immerzu, immerzu; und aus den
-Wassern sahen ihn seine Gedanken an. Als seine Seele
-nun ohne Körper umherirrte, da kamen die Luftgeister und
-trugen die Menschenseele hin über den See. Aus ihren
-wehenden, silbergrauen Gewändern troff es wie Nebel zum
-Wasser nieder, und ein leiser Wind bewegte die Fluten,
-daß sie sich kräuselten. Oben auf den Wogenkämmen
-schaukelten die weißen Leiber der Seejungfrauen; sie streckten
-die Arme aus nach der Seele des Menschen und zogen sie
-hinab in die weichen, wiegenden, schmeichelnden Gewässer. &ndash;
-Drunten in der Tiefe saß der Seekönig und hielt Hof.
-Er war ein kleiner Mann mit starken Armen und langem,
-weißem Bart. Auf dem weißen Haupte trug er eine Krone
-von hellroten Korallen; die hatte ihm sein Vetter, der Meerkaiser,
-geschickt, aus Anerkennung, weil der kleine Seekönig
-<a class="pagenum" id="page_121" title="121"> </a>
-manchmal seine Gewässer mit den starken Armen so aufrührt,
-daß viele Schiffe und Menschen umkommen müssen,
-gerade wie auf dem Meere. Denn die Meerleute mögen
-es gern, wenn Menschenkinder zu ihnen hinuntersteigen
-müssen. Sie stellen die weißen Körper in ihren wundersamen
-Meergärten auf, wie wir die Marmorstatuen. Die
-Menschen können nicht leben bei ihnen; nur wenn einer
-die Fluten sehr geliebt hat, dessen Seele gleitet des Nachts
-in den Wellen als weißer Schaum. Kommt ihn aber die
-Sehnsucht an, den Tag zu sehen, und es berührt ihn die
-Sonne, in deren Licht er geatmet, dann muß er für immer
-zur Leiche werden.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Der kleine Seekönig hielt also Hof. Sechs große Räte
-mit wunderlichen Fischgesichtern saßen im Kreise um ein
-großes Blatt Papier, das ganz bunt vor lauter Strichelchen
-und Pünktchen aussah; vier dicke Büffelfische trugen es auf
-ihren Rücken, sie hielten es fischchenstill; nur zuweilen zuckte
-einer mit dem beweglichen Schwanz oder pustete die Kiefern
-auf und zu, als ob er Wasser rauche; und dann zupfte
-ihn der Herr Rat mit dem Karauschengesicht mahnend an
-den Flossen, worauf er gehorsam still hielt. Die Menschenseele,
-die als zarter, weißer Schaum auf der Schulter der
-Seejungfrau lag, sah neugierig das weiße Papier an; es
-kam ihr so bekannt vor. Das hatte sie schon gesehen, als
-sie noch Mensch war. Es war ihr, als müsse sie eine Hand
-danach ausstrecken. &ndash; »Still!« flüsterte die Seejungfrau,
-»gleich wirst du hören.« &ndash; Und dann sagte der Seekönig:</p>
-
-<p>»Die Menschen da oben auf der Erde machen uns
-alles nach. Gerade wie wir zuweilen Besuch bekommen
-von den Bewohnern anderer Seen und Meere, die dann
-allerlei Kostbarkeiten mitbringen, um sie uns zu zeigen, so
-macht es das Volk da oben auch. Nur sind sie sehr arm.
-Während wir alle die fremden Seltenheiten und unsere
-<a class="pagenum" id="page_122" title="122"> </a>
-eigenen dazu, einfach in unserem ewigen Krystallpalast aufstellen,
-müssen die sich erst Häuser dazu bauen. Und das
-Bauen &ndash; welche Umständlichkeit! Erst kommt einer und
-denkt sichs aus und zeichnet es auf, und dann geht es an
-viele Leute, die alle etwas zu mäkeln und zu ändern haben.
-Schließlich soll es dann wirklich gebaut werden, aber wie
-lange das alles dauert, dazu habe ich nicht Zeit genug, das
-zu erzählen. Seht, da hat auch so ein armer Mensch mit
-kurzem Gedächtnis seine Gedanken auf das Papier geschrieben;
-ein guter Mensch, der uns sehr geliebt hat. Denn er hat
-gesagt: »Wenn ich meinen See nicht hätte! Der muß das
-Beste thun.« Und dann hat er unsere Fluten überall eindringen
-lassen in seine Pläne, damit wir seine Paläste wie
-mit Silberarmen umschlingen und ihre Schönheit wiederspiegeln.
-&ndash; Dann ist er gestorben. &ndash; Und jetzt werden
-andere kommen und seine Pläne zunichte machen und uns
-vielleicht einengen und tyrannisieren. Wollen wir das
-dulden? Nein!« rief der Seekönig und hob die starken
-Arme, daß oben die Wellen klatschend gegen das Ufer schlugen.
-Und die Räte schüttelten heftig ihre Fischköpfe. Die Seejungfrau
-lächelte der horchenden Menschenseele zu.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Kommt herbei, ihr Seevolk, und hört, was ich euch
-sagen werde,« fuhr der Seekönig fort: »Die Luftgeister,
-unsere Freunde, haben dieses Papier, das der tote Mensch
-mit seinen Gedanken beschrieben und dem Großen Rat da
-oben auf der Erde vorgelegt hat, aus seinen Händen weg
-und zu uns herabgeweht. Schwimmt, ihr Fische, bis ans
-Meer, lasset die im Meere es weitertragen zu den Geistern
-der Völker an der andern Seite des großen Wassers, wie
-das Seevolk der Menschenseele Werk erfüllen will.« &ndash; Da
-schlugen die vier Büffelfische mit dem Schwanz unter das
-Papier, daß es auf in die Wellen flog; die fischköpfigen
-Räte griffen entsetzt danach: »Erst sehen, sehen!« Aber
-<a class="pagenum" id="page_123" title="123"> </a>
-der kleine Seekönig lachte, daß es ein Seebeben gab, und
-zerriß das Papier in tausend Fetzen: »Wir sehen nicht &ndash;
-wir bauen!« sagte er.</p>
-
-<p>»Siehst du?« lächelte die Seejungfrau und neigte ihr
-Antlitz der Menschenseele zu, »jetzt werden deine Gedanken,
-die du ins Wasser hineingeträumt hast, doch wirklich. Ich
-habe dich oft gesehen, habe vor dir geschaukelt, wenn du
-dachtest, es seien die weißen Wellenkämme. Ich hätte dich
-mir geholt &ndash; ach so gern! Jetzt bist du bei mir. Die
-Menschen denken, sie haben dich begraben; aber ich halte
-dich in meinen Armen &ndash; ewig. Du darfst nicht hinaufschwimmen
-und dein Werk beschauen, nicht so lange die
-Sonne scheint. Dann würdest du zur Leiche. Ich will nicht,
-daß dich die Schwestern in ihre Gärten stellen. Ich will
-dich behalten &ndash; für mich.« &ndash; Dann glitt sie zum Seekönig
-hin und schmeichelte: »Väterchen, mach' es recht schön!« &ndash;
-Er aber streichelte ihr langes Haar, das glänzte wie Sonnenstrahlen
-auf dem Wasser, und sagte ernsthaft: »Du darfst
-die Menschenseele hüten, daß sie uns nicht entflieht; denn
-nur durch sie können wir das Große vollenden.«</p>
-
-<p>Nun beginnt die Arbeit. Ei, wie flink die Fischlein
-dabei sind, das blaue Wasser zu kommandieren, daß es in
-langen, glänzenden Streifen zwischen grünen Inseln sich
-durchzwängt, alles Land verschlingend, das ihm im Wege
-ist, daß es unter wölbende Brücken sich duckt und schmeichelnd
-zu Füßen schlanker Säulenhallen sich schmiegt. Und die
-Nixen kommen und spielen mit den Fluten, daß sie in
-glitzernden, schillernden Farben zu den Luftgeistern emporsprühen.
-Wie geschickt die Gnomen und Kobolde Stein auf
-Stein, Bogen an Bogen zu fügen wissen, daß es sich erhebt
-aus der Tiefe des Sees &ndash; eine weiße, wundersame Wunschstadt.
-Da tauchen Türme auf mit seltsam zackigen Verzierungen;
-ein kleiner Nix sitzt darauf und lehrt sie allerlei
-<a class="pagenum" id="page_124" title="124"> </a>
-alte Weisen mit seiner Glockenstimme, und nun singen die
-Türme sie weiter. Hier schwimmt eine schneeweiße Rotunde
-mit lauter kleinen Fensterchen rundum; und die Fische
-leiten das klare Wasser hinein und tummeln sich darin.
-Und still und groß und schön wächst es und wächst es,
-schier in die Ewigkeit hinein. &ndash; In einer großen Muschel,
-davor sechs buntscheckige Forellen geschirrt sind, durchzieht
-der Seekönig die Wasserkanäle, mit scharfen Augen Umschau
-haltend. Hier zwickt er ein paar faulen Weißfischen
-aufmunternd die platten Schwänzchen; dort schilt er zwei
-streitlustige Hechte, die beide denselben Riesenpalast errichten
-wollen und ihn dabei unsanft hinfallen lassen. Ein energisches
-Nixlein ruft er herbei als Oberaufseher, und das lenkt
-mit seinen weißen Fäustchen die störrischen Gesellen
-wie ein paar gutmütige Oechslein. &ndash;&nbsp;&ndash; Als aber der
-Seekönig sieht, wie alles gut ist, taucht er unter in seine
-Schatzkammer, füllt seine Muschel mit Gold, so viel sie
-tragen kann, schüttet es am Ufer aus und befiehlt: »Da &ndash;
-krönt das Ganze damit! daß die Kuppel weithin leuchte
-wie eine Sonne!«</p>
-
-<p>In der Tiefe des Sees ruht die Seejungfrau, regungslos,
-daß sie die zarten Fäden nicht zerreiße, die von dem
-weißen Schaum an ihrer schönen Brust aufsteigen zu dem
-Werk da oben. Und die Menschenseele harret der Vollendung.</p>
-
-<p>Da wallt ein Zug daher über das Wasser. Nebelschleier
-spinnen ihn ein, daß er wie eine Wolke über dem
-See schwebt, und er zieht eine Bahn, silbern wie der Mond
-auf dem Wasser liegt. Schweigend klimmt er das Ufer hinan,
-wo droben der Seekönig seiner harrt, und über ihm schwebt
-die goldene Kuppel wie eine große Krone. &ndash; Nachts, wenn
-die Menschen schlafen, ergeht sich das Wasservolk oftmals
-am Ufer und pflegt Zwiesprache mit Mond und Sternen.
-&ndash; Voran im Zuge schreiten Patres mit fahlen Gesichtern
-<a class="pagenum" id="page_125" title="125"> </a>
-in schwarzer, spanischer Mönchstracht. Sie tragen gewaltige
-Lasten auf ihren Schultern: Türme und Türmchen, spitze
-und runde, Mauern so dick wie Gefängnismauern mit tiefen
-Kreuzgängen und schweren Wölbungen. Sie keuchen unter
-ihrer Last; ein lustiges, weißes Elfengesindel kommt
-neckisch gesprungen und weist ihnen den Weg unter hohen
-Bäumen, und hilft ihnen, das wunderliche Ding, das einem
-spanischen Kloster ähnelt, von den gebeugten Rücken abzuladen.
-Da richten sich die schwarzen Geister der Patres
-zufrieden auf, und sie bauen mit dem geschmeidigen Nixenvolk,
-dessen Listen sie wohl gewachsen sind, vergnügt weiter.</p>
-
-<p>Eine mächtige Gestalt schreitet auf dem Wasser; ein
-Gewand von Gold umstarrt sie; sie trägt einen goldenen
-Helm; golden leuchtet ihr strenges Antlitz daraus hervor.
-Siegesgewiß, siegesbewußt geht sie mit großen Schritten an
-dem Seekönig vorüber, ihm herablassend huldvoll zuwinkend.
-Der lächelt fein ihr nach, wie sie sich gravitätisch aufpflanzt
-inmitten all des Schönen &ndash; ein wenig zimperlich, ein
-wenig ungelenk. »Laßt sie nur dastehen,« nickt er, »man
-wird schon sehen, daß es nicht unsere wirkliche Athene ist
-&ndash; nur eine große, große, goldene, emancipierte Alte-Kunst-Jungfer.«
-&ndash; Und dann streckt er freudig seine Hände den
-schlanken Gestalten entgegen, die aus dem Nebel sich loslösen,
-einherwallen in faltigen Gewändern, die sich feucht
-um die herrlichen Glieder schmiegen; und sie tragen auf
-den stolzen Häuptern die weißen, strahlenden, wundervollen
-Trümmer der Heimat. »Du Land der Sehnsucht!« flüstert
-der Seekönig. Sie lächeln ihm zu mit den schönen, traurigen
-Gesichtern. Sie pflanzen Säulen in die Erde, rein und
-schön, wie sie selber, sie breiten die Hände aus, und eine
-erhabene Harmonie lagert sich über der Wunschstadt. Sie
-erheben die kraftvollen Arme und sprechen: »Du lässest uns,
-o Vater Zeus, die Schönheit schauen, nicht zertrümmert,
-<a class="pagenum" id="page_126" title="126"> </a>
-nicht zerschlagen, nein, in ihrer ganzen siegenden Gewalt.«
-&ndash; Und demütig neigen die Karyatiden die stolzen Häupter
-unter der Last der Schönheit, die sie tragen.</p>
-
-<p>Wunderlich Volk zieht im Zuge einher, der übers Wasser
-wallt. Ein kleiner, nackter Bub, der nur einen Frack und
-Cylinderhut trägt für seine Blöße, bietet zierlich einer Rokokodame
-den Arm, die gar stattlich in Hackenschuhen und Reifrock
-mit einer Trikolore auf dem hochfrisierten Köpfchen einherstolziert:
-»Wir sind barock, nicht wahr?« nickte der kleine
-Schelm dem alten Seekönig zu. &ndash; »Wir, Puck Amor und
-Dame la France!« &ndash; In einem muschelförmigen Wagen,
-schimmernd von Gold und Edelgestein, kommt ein ernsthafter
-Mann. Er hat ein braunes Gesicht, aus dem seltsam überirdische
-Augen schauen, trägt nur einen schlichten, weißen
-Kaftan um die Hüften gegürtet, und doch neigt Seekönig
-sich tief vor ihm, und eine zarte, braune Elfe, schön wie
-des Gottes Bajadere, geheimnisvoll wie die Wunder Indiens,
-gleitet vor ihm her, ihm seinen Wohnort zeigend.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Und so kommen sie alle, die Geister der Völker, die
-der Seekönig entboten hat. Plumpe nordische Burschen
-tragen Paläste von plumper Pracht. Ernsthafte, blondköpfige
-Gesellen bringen ein seltsam Häuschen mit spitzragendem
-Turm, mit schönen Gewölben, durch deren bunte
-Glasfenster es lieblich leuchtet, wie eine Geistessonne. Zierliche,
-dunkeläugige Mädchen kommen im Tanz geflogen:
-ihre Gewänder flattern im Wind, sie streuen Rosen aus,
-duftende Rosen der Anmut. &ndash; Seltsame Fahrzeuge gleiten
-im Nebel im Geisterzug. Unbeholfen, schwankend die einen.
-Schwarze, düsterblickende Gesellen stehen darin und blicken
-drohend hinüber zu dem schlanken Schiffchen, das, seinen
-Drachenkopf vorgestreckt, wie ein Renner durch die Fluten
-schießt, pfeilgeschwind, die andern weit hinter sich lassend.
-Wie nur das Schifflein die Hünengestalten seiner Mannschaft,
-<a class="pagenum" id="page_127" title="127"> </a>
-die mit sehnigen Armen die Ruder führen, birgt in
-dem schlanken Rumpf?! Hoch richten sich die Gestalten auf,
-sie wachsen und wachsen, daß ihre Leiber dunkle Schatten
-werfen weithin über den See. Und sieh' nur &ndash; wie die
-geisterhaften Schwarzen in den schweren Kreuzesschiffen zum
-Himmel hinaufragen, fanatisch glühen ihre Augen durch
-den Nebel &ndash; der beginnt wunderlich zu leben, wogt und
-zerrt her und hin, bis er die Riesengestalten verschlungen
-hat. Dann gleiten Karavelen und Vikinger in glatte
-Buchten, gezogen von muntern Fischlein, gesteuert von weißarmigen
-Wassernixen.</p>
-
-<p>Da bebt der See. Hoch sprühen die Wasser auf. In
-den schäumenden, singenden Strudel steigt der Seekönig
-hinab in sein Reich, gefolgt von seinem fleißigen Volke.
-Drunten in der Tiefe ruht die Menschenseele. »Wann
-wird es vollendet sein?« fragt sie sehnsüchtig. »Es ist vollendet,«
-sagt der Seekönig. »Sobald der erste Sonnenstrahl
-die goldene Kuppel trifft, wird es den Augen der Menschen
-sichtbar sein.« »Und sichtbar bleiben? Immer?« fragt die
-Menschenseele. »Nur eine kurze Spanne Zeit hat das
-Wasservolk Macht über die Erde. Nur bis die Sonne in
-die Fluten sinkt und die Zauberwelt, die wir gebaut haben,
-mit sich hinabreißt. Aber wenn dein Seelenauge dein Werk
-erschaut, ehe die Sonne die goldene Krone bestrahlt hat &ndash;
-dann wird es ewig sein. Dann aber wirst du sterben und
-dein Name wird vergessen werden unter den Menschen.« &ndash;
-Die Menschenseele lächelte. Eng schmiegte sie sich an die
-atmende Brust der Seejungfrau.</p>
-
-<p>Droben, von der verschlafenen Erde, erhob sich die
-Nacht und zog ihre schwarzen Schleier schleppend hinter
-sich her, über den Himmel. Da ward es Licht auf der
-Erde. &ndash; Es war aber alles noch den Augen der Menschen
-verborgen; denn die Menschen sind ein blödsichtig Geschlecht,
-<a class="pagenum" id="page_128" title="128"> </a>
-und sie sehen nur, was ihre Augen ihnen zeigen. Aber
-die Tiere öffneten ihre klugen Augen. Die Vöglein in der
-Luft flatterten hin über die Wunschstadt, setzten sich neugierig
-auf die zackigen Türme und zwitscherten hernieder
-von den Stangen der bunten Fahnen. Die klugen kleinen
-Enten schwammen in den Wasserkanälen und erzählten
-schnatternd von dem Schloß der Wasserfrauen, das sich
-zur Nacht aus Busch und Schilf erhoben hatte. &ndash; Verwundert
-blickte der Ackersmann, der mit seinem Gaul
-dahergeschritten kam, Furche auf Furche durch die wilde
-Erde zu ziehen, zu den Vöglein auf: wie konnten sie nur
-mit geschlossenen Flügeln in der Luft schweben, als ob sie
-auf Bäumen säßen? &ndash; Und die zwei Reiter, die dort
-hintereinander über die Prärie jagten, sahen die Entlein
-auf dem hohen Präriegras schwimmen wie im Wasser.
-Aber sie haben nicht Zeit, sich lange zu verwundern &ndash;
-da &ndash; der gelbe Rücken des Puma taucht auf, den sie
-gejagt &ndash; der Schuß kracht aus der Büchse des Trappers
-&ndash; der Pfeil schnellt von dem Bogen des roten Mannes:
-gilt er dem König seines eigenen Landes? gilt er dem
-weißen Fremdling da vor ihm? &ndash; Hoch richtet er sich im
-Sattel auf, daß die Adlerfedern in seinem schwarzen Schopfe
-nicken. Was ist das? &ndash; da &ndash; glitt nicht der Puma hinab
-in blaues, kräuselndes Wasser? Was ringt sich los aus
-den Nebeln? Das Roß des Trappers bäumt sich, geblendet
-schützt der Indianer die Augen mit der Hand, und späht
-und späht. &ndash; Still lehnt der Ackersmann an seinem Gaul,
-sein Blick sucht die Erde, seine Erde, die er bebauen muß.
-Und sie schauen, wie es herauswächst aus dem Morgengrauen,
-weiß und still; wie es emporstrebt zum Himmel,
-eine wundersame, andere Welt, die sie mit erhabenen Augen
-anschaut, sie mit weißen Armen umfängt, sich wie weiße,
-stille, reine Gedanken in ihre Seele senkt. Wie sie stehen
-<a class="pagenum" id="page_129" title="129"> </a>
-und schauen, umweht es sie lind und kühl &ndash; ein Hauch
-der Ewigkeit.</p>
-
-<p>Ein klein lustig Elflein aber zerrt den Puma, der verdutzt
-da kauert in der Wunderwelt, an den Ohren zu einem
-Marmorsockel hin. »Da lieg', du Wilder!« lacht es, und
-der Tiere König läßt willig sich in die Fesseln der Schönheit
-schlagen.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Horch! Es geht ein Brausen durch die Lüfte, ein
-Singen, Klingen, lieblich Geläute: aus dem Morgengrauen
-erhebt sich der junge Tag, und sein leuchtendes Auge weilt
-liebend auf dem weißen Wunder.</p>
-
-<p>Auf den blauen Fluten des Sees trieb ein zarter
-weißer Schaum. Ein Sonnenstrahl irrte zu ihm hin und
-küßte ihn bebend. Da ward er zur Leiche. Die Menschenseele
-war aufgestiegen aus den geliebten Wassern, um zu
-sterben. Der See bebt, als sei er in seinen Tiefen erschüttert.
-In den sprühenden Wogen aber taucht die Seejungfrau auf,
-an deren weißer Brust des Toten Seele geruht hat. Ihr
-goldenes Haar glitzert auf den Fluten. Klagend schlingt
-sie die weißen Arme um ihn, sein schönes, bleiches Antlitz
-über Wasser haltend. So gleiten sie dahin über die murmelnde,
-singende Fläche &ndash; weit, weit hin, den weißen
-Tempeln zu. Und das Licht, das die Seele getötet, liegt
-liebkosend auf der stolzen Stirn.&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Es kamen die Menschen und nahmen Besitz von der
-Wunschstadt in der neuen Welt.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_130" title="130"> </a>
-Welt-Ausstellung im Walde.</h2>
-
-
-<p>Draußen im Wald flüstern die bunten Bäume miteinander
-und streuen gelbe und rote Blätter auf die braun
-sich färbende Erde, wie der Frühling Rosen streut; der
-Herbstwind rauscht und raunt in den Zweigen, und eine
-milde Herbstsonne glüht auf die Weinblätter am Eichenstamm,
-daß sie tiefrot schimmern, wie lauter Blutstropfen.</p>
-
-<p>Am träge über Kiesel und trockene Aeste dahin murmelnden
-Bächlein nickt ein grüner Zweig &ndash; da leuchtet
-etwas Blaues auf, dann tönt ein Lockruf, sanft, zärtlich,
-dringend &ndash; jetzt die Antwort &ndash; noch etwas Blaues &ndash;&nbsp;&ndash;
-Zwei Vöglein sind's: blaue Flügel schwirren durch die
-Luft, und zartgrau glänzt der Leib.</p>
-
-<p>»Was nur heute los ist!« sagte der eine Blauvogel
-zum andern, »keine Fliege, kein Käferchen läßt sich sehen,
-alle ziehen dort hinein in's Tannendickicht, und selbst die
-Mücken machen ganz ernsthafte Gesichter!«</p>
-
-<p>»Guten Abend, guten Abend, meine Herrschaften,«
-schnarrt es über ihnen. Da hängt am Baumstamm ein goldgelbes
-Vögelchen. Zu welcher Klasse es gehört, das weiß
-ich nicht (schlagt einmal in Nehrling's amerikanischem
-Vogelbuch nach), aber es hämmert in die harte Baumrinde,
-<a class="pagenum" id="page_131" title="131"> </a>
-daß es durch den ganzen Wald schallt, und so wollen wir
-es kühn »Gelbspecht« titulieren.</p>
-
-<p>»Ja, ja, Sie haben Recht, es muß etwas im Walde
-sein bei dem kleinen Getier,« sagt der Specht, »ich habe
-schon dieselben Beobachtungen gemacht. Aber sehen Sie einmal
-da &ndash; die Spinne!« An einem trockenen Zweiglein
-hängt eine große Spinne, eifrig beschäftigt, silberglänzende
-Fäden zu einem kunstvollen Netz zu verweben.</p>
-
-<p>»Was machen Sie denn da, Verehrteste?« fragt der
-Specht, als der Zudringlichste; denn die Blauvögelein haben
-etwas Schüchternes, sie mischen sich nicht gern in anderer
-Leute Angelegenheiten und sind nicht weltgewandt wie der
-Herr Gelbspecht.</p>
-
-<p>»Ich spinne,« sagt die Spinne ernsthaft.</p>
-
-<p>»Ja, das sehen wir,« entgegnete der Specht, »aber,
-meine Gnädigste, was spinnen Sie?«</p>
-
-<p>»Ein Netz,« sagt die Spinne.</p>
-
-<p>Die Blauvögel stoßen ein leises, glucksendes Lachen
-aus, und der Specht hämmert entrüstet gegen den Baum.</p>
-
-<p>Jetzt schlingt die Spinne einen letzten Knoten und
-krabbelt langbeinig davon: »Es muß fertig werden zur
-Ausstellung, die wird heute Abend eröffnet,« ruft sie zurück.</p>
-
-<p>»Ausstellung?« fragen die poetisch-unwissenden Blauvögel
-und schlagen verwundert mit den Flügeln. »Von was?
-Wozu? Davon haben wir noch nie etwas gehört.«</p>
-
-<p>»Ja, das glaube ich,« lächelt der Specht mitleidig,
-»Ihr schwebt ja immer in den Lüften und schwärmt für
-Sonnenuntergänge, düstere Waldpartien mit Lichteffekten
-und dergleichen Humbug. Ich weiß wohl, das Getier da
-unten auf der Erde hält eine Weltausstellung&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»O, da laßt uns hingehen,« jubeln die Blauvögel. »Aber
-wo ist sie denn?«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_132" title="132"> </a>
-In der Nähe erhebt sich plötzlich ein nimmer endenwollendes
-Geschrei, Gekrächze, Gejohle&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Der Specht wiegt überlegend sein gelbes Köpfchen:
-»Wißt Ihr was? Wir wollen die Schwarzvögel fragen
-&ndash; die wissen alles! Hört, wie sie reden und schnattern?
-Die haben wieder Kaffeegesellschaft oder Loge oder Gesangverein
-&ndash; die ganze Eiche dort ist ja schwarz von lauter
-Staarherren und Damen, und wenn ihre Sitzungen vorüber
-sind, wissen sie alles, was im ganzen Walde passiert
-ist: wie viele Kinder die Madame Maus das letzte Mal
-zur Welt gebracht hat, und wie es auf dem Grashüpferball
-hergegangen ist, daß sie im Eichhörnchenturnverein sich fast
-geprügelt haben bei der Sprecherwahl und daß der Gesangverein
-der Locusts sich geeinigt&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Gibt's nicht, gibt's nicht! Nee, so blau,« piepst ein
-unverschämter Spatz und fliegt dem Specht dicht vor dem
-Schnabel her in den nächsten Baum.</p>
-
-<p>Der aber beachtet den naseweisen Gesellen gar nicht
-und spricht ruhig weiter.</p>
-
-<p>»Ach, hören Sie auf, bitte, Herr Specht,« rufen die
-Blauvögel, »das ist ja wie ein ›Eingesandt‹ in der Zeitung!«</p>
-
-<p>»Aber Kaffernreligion,« lacht der Specht.</p>
-
-<p>»Seht, da kommt Ihr Bruder &ndash; »Ober-Edel-Erz« angeflogen!
-Halt, den wollen wir uns kaufen!«</p>
-
-<p>»Oh, Herr Staar, wollen Sie nicht die Güte haben,
-sich hier ein wenig auf diesen bequemen Baum zu bemühen?«</p>
-
-<p>»Man muß immer höflich sein mit den Leuten, wenn
-man etwas von ihnen will,« flüstert der Schlaue den simplen
-Blauvögelchen zu, die vor Erstaunen den Schnabel aufsperren.</p>
-
-<p>Der Staar krächzt freundlich der Bitte Gewährung,
-läßt sich auf einem Ast etwas erhöht über den andern
-Vögeln nieder, wirft den Kopf in den Nacken und dreht
-<a class="pagenum" id="page_133" title="133"> </a>
-und wendet sich, daß seine roten und gelben Logenabzeichen
-auf den Schultern in der Sonne schillern. Nachdem die
-Vorstellung glücklich vorübergegangen ist, bei der der Herr
-Staar herablassend den spitzen Schnabel gesenkt und die
-Blauvögelchen verlegen die niedlichen Köpfchen geduckt haben,
-erkundigt sich der Gelbspecht in den gewähltesten Ausdrücken
-nach der internationalen Ausstellung.</p>
-
-<p>»Jawohl, jawohl,« entgegnete Herr Staar würdevoll,
-»heute Abend ist Eröffnung. Es soll ja etwas Großartiges
-werden.</p>
-
-<p>Sehen Sie, meine verehrten Zuhörer, es geht ein neuer
-Zug durch den ganzen, alten Schlendrian, namentlich was
-Kunst anbelangt. Ich bin ein weitgereister Mann, ich höre
-und sehe mancherlei. Ein krankhaftes Verlangen nach etwas
-Neuem, Sensationellem, ein Hunger nach Aufregung, nach
-Vernichtung des Alten, Hergebrachten, zieht durch die ganze
-Welt. Und wenn sie auch auf Abwege geraten, in Irrtümer
-verfallen, das Falsche dem Wahren vorziehen &ndash; es
-ist doch alles nur der durch Jahrtausende immer wiederkehrende
-und immer bleibende, große, unersättliche Durst
-nach &ndash; Freiheit, der Angstschrei der Völker, der zum stillen,
-hohen Himmel dringt. Und das macht sich auch in der
-Kunst bemerkbar &ndash;&nbsp;&ndash; ob zu ihrem Nutzen und Frommen?
-Und in der Musik, ja, in der Musik&nbsp;&ndash;« hier räuspert sich
-der Staar und blickt gen Himmel &ndash; »ja, auch in der
-Musik gellt und dröhnt und paukt und trompetet jener
-Freiheitsschrei in die Lüfte, die Ohren der Zuhörer mächtig
-mit sich fortreißend. &ndash; Nein, das geht ja nicht. Ich &ndash;
-ich &ndash; ich lasse mich immer so von meinen Gefühlen überwältigen,
-meine Lieben &ndash; und« &ndash; Ja, da bleibt der gebildete
-Staar stecken. Mit Gesichtern voll Ehrfurcht und
-inniger Verständnislosigkeit haben unsere Blauvögel die
-lange Rede angehört, während der Gelbspecht mit philosophischer
-<a class="pagenum" id="page_134" title="134"> </a>
-Gelassenheit äußert: »Das mag alles recht schön
-und ersprießlich sein, verehrter Redner, aber so lange wie
-es genug Mücken und Fliegen in der Luft gibt und wie
-ich nach Herzenslust an den Bäumen herumhämmern kann,
-ist mir die ganze Wirtschaft furchtbar egal und um den
-allgemeinen Freiheitsdrang kümmere sich der Kuckuck!</p>
-
-<p>Vorläufig wollen wir aber einmal diese merkwürdige
-Ausstellung ansehen, wenn Sie, verehrter Herr Staar, uns
-gütigst führen wollen.«</p>
-
-<p>»Ja, ja,« rufen die Blauvögel und schlagen mit den
-Flügeln, und</p>
-
-<p>»Hier hinein, ins Tannendickicht, liebe Leute,« belehrt
-sie der Staar. Und dann fliegen alle vier davon. Der
-Zweig über'm Bächlein nickt gedankenverloren auf und ab,
-und das Bächlein murmelt und kichert dazu.</p>
-
-<p>Drinnen im Tannendickicht herrscht schon reges Leben,
-die Ausstellung scheint im vollen Gange zu sein. Ein geschniegeltes
-Mäuseherrchen, den Schnurrbart gewichst, die
-Oehrlein gespitzt, steht am Eingang als Portier. Der
-Eintritt ist frei &ndash; wie nach Bellamy im Jahre 2000 bei
-den Menschen, gibt es im Tierstaate kein Geld &ndash; und
-unsere vier Vögel flattern in das Dickicht.</p>
-
-<p>»Ah, guten Tag, Herr Mäuserich,« sagt der Staar,
-der alle Welt zu kennen scheint, »was macht die Frau Gemahlin?
-Hat sie sich vom letzten Wochenbett erholt?«</p>
-
-<p>»Schönen Dank, bester Herr Staar,« entgegnete der
-glückliche Mäusepapa, »alle zwölf wohlauf, aber es ist 'ne
-Last, die lieben Kinderchen großzuziehen.«</p>
-
-<p>»Können Sie denn das nicht per Elektricität besorgen
-lassen? Heutzutage sollte doch alles möglich sein &ndash;
-Eier ausbrüten &ndash; Kleinigkeit! Warum nicht auch Kinderfüttern,
-Kinderprügeln, Kinderkriegen etc.?« Mittlerweile
-hüpften sie weiter durch die verschlungenen Wege des
-<a class="pagenum" id="page_135" title="135"> </a>
-Tannendickichts. Zwar sind die Plätze einiger Nachzügler
-noch unbesetzt, Vieles ist nicht ganz vollendet, wie ein halbfertiger
-Maulwurfshaufen z.&nbsp;B., ein Sprungbrett, eine angefangene
-Wendeltreppe für Eichhörnchen, ein prachtvoller
-Bau mit geheimnisvollen, unterirdischen Gängen, in welchen
-Kaninchen noch eifrig beschäftigt sind, zu graben, und dergl.
-mehr, aber im Ganzen scheint die Sache recht gelungen
-zu sein.</p>
-
-<p>Zwei wohlgenährte, etwas verschwiemelt aussehende
-Ratten, kleine Knüppel in der Hand, Mützchen von im
-Wald gefundenem blauem Butterbrotspapier über den dicken
-Nasen, eine weiße Sternblume auf der Brust befestigt,
-marschieren würdevoll und bedächtig als heilige Wächter
-der Ordnung oder Wächter der heiligen Ordnung umher.
-Und es ist auch nötig: das schwirrt und summt und
-brummt durcheinander, und hüpft und tanzt und zirpt, daß
-es wahrhaftig einer energischen Rattenpolizei bedarf, um
-das leichtfüßige Gesindel in Ordnung zu halten. Doch vor
-unserer Vogelgesellschaft bezeigen die Tierlein großen Respekt;
-sie halten sich in gewisser Entfernung und verneigen
-sich achtungsvoll, sobald ein Blick aus Vogelaugen auf sie
-fällt. Nur ein großer Hirschkäfer mit stattlichem Geweih
-nähert sich mit höflich-gemessener Verbeugung und bietet sich
-den hohen Herrschaften als Führer an, was mit Dank angenommen
-wird.</p>
-
-<p>»Sehen Sie, meine Hochverehrten, hier unser Kunstdepartement.
-Alles neu, noch nie dagewesen. Sehen Sie,
-dies Spinnengewebe« &ndash; die langbeinige Spinne, die es
-vorhin so eilig hatte, steht daneben und begrüßt sie mit
-einem Auskratzen ihrer langen Spinnenbeine &ndash; »wie fein,
-wie zart, geschickt die Fäden verknüpft! Und die fette,
-zappelnde Fliege darin, jeden Tag wird eine frische gefangen
-und hineingesetzt &ndash; das nenne ich Naturalismus.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_136" title="136"> </a>
-»Schrecken der Hinterlist« ist es betitelt.</p>
-
-<p>Hier die noch lebende, schwer am Licht verbrannte
-Motte &ndash; »Schrecken der Aufklärungssucht«.</p>
-
-<p>Jener Schmetterling, dem eine rauhe Menschenhand
-den Duft von den zarten Flügeln gewischt, nun kann er
-nicht mehr fliegen &ndash; »Schrecken des Freiheitsdranges«.
-Ach, und noch so vieles Traurig-Schauderhaft-Schöne!
-Sehen Sie, die von Ameisen abgenagte Drosselleiche« &ndash;
-die Vögel schütteln sich und machen unangenehme Gesichter
-&ndash; »und der glänzend reine Katzenschädel« &ndash; die Vögel
-nicken befriedigt mit den Köpfen, und der Gelbspecht macht
-eine Bewegung, als wolle er die leeren Augenhöhlen auspicken
-&ndash; »wirklich eine recht sinnige Zusammenstellung.</p>
-
-<p>Bitte, blicken Sie hierher &ndash; lauter Raritäten &ndash; da,
-das so natürliche Loch in der Erde, hier eine kleine Blätterhütte,
-ein Einsiedler-Heimchen wohnt darin und zirpt bescheiden
-für sich allein, dort jene sorgfältig getrockneten Heuschreckenleichen,
-eine Reminiscenz aus dem großen Heuschrecken-Grashüpferkrieg.
-&ndash; Und hier, bitte, sehen Sie einmal
-durch dies Loch im Tannendickicht &ndash; nicht wahr, ein
-reizendes Panorama: im Hintergrund die Wolken als
-Schneeberge, davor ein einsamer, schwebender Rabe &ndash; großartig,
-nicht wahr?«</p>
-
-<p>»Aeußerst großartig,« meint der Specht, »aber was
-stellt es vor?«</p>
-
-<p>»Es ist auch ein Kriegsbild: Eine vergessene Heuschreckenleiche!«
-(Frei nach Wereschagin.)</p>
-
-<p>Die Vögel sehen sich erstaunt unter einander an,
-suchen die Leiche und erklären, nun einmal etwas Anderes
-sehen zu wollen. Das gibt es ja auch in Hülle und Fülle
-für jede Geschmacksrichtung. Hier, ein Eiffelturm aus
-Eicheln, ein Eichhörnchen sitzt oben drauf, zeigt auf Kommando
-sein buschiges Schwänzchen und knackt Nüsse zur
-<a class="pagenum" id="page_137" title="137"> </a>
-allgemeinen Belustigung, dazu marschieren allerliebste kleine
-Nagetierchen kauend durch die Zuschauermenge und bieten
-goldgelben Harz-Chewing-Gum als Erfrischung an. Da ist
-eine Grotte aus kleinen Tropfsteinen und Tannenzapfen,
-geheimnisvolles Dämmerlicht; einige Glühlichtwürmchen
-leuchten dazu, auf grauen, trockenen Blättern und Gräsern
-sind vorgestrige Regentropfen gesammelt, die schimmern wie
-Wasserfluten, und ein schlankes Grillenfräulein, die Grillenbeine
-mit Schleiern aus glänzendem, flatterndem Altweibersommer
-bewickelt, als Fischschwanz, bewegt sich rhythmisch
-hin und her und fährt mit den langen Vorderbeinen sich
-graziös über den Kopf, als kämme sie sich.</p>
-
-<p>»Was macht die da drinnen?« fragt der eine Blauvogel
-neugierig, während der andere starr vor Erstaunen dasteht.</p>
-
-<p>»Ich bin unten Melusine und oben Loreley,« sagt das
-Grillenfräulein, »denn ich habe einen Fischschwanz und
-kämme dazu mein goldenes Haar.«</p>
-
-<p>»Ja so,« sagt der Specht.</p>
-
-<p>Dicht daneben tanzen ein paar Grashüpferdamen Ballett
-auf einer Schaukel von Grashalmen, und springen so hoch,
-daß man sie kaum noch sehen kann, während auf der andern
-Seite ein paar Mäusejünglinge in grauen Tricots mit aus
-Nußschalen gedrechselten Bällen auf kunstgerechte Weise
-Baseball spielen.</p>
-
-<p>Dieser ganze Wirrwarr, der Lärm und das Getöse, dies
-Hin und Her, wirkt ungeheuer ermüdend auf die Nerven
-ungeübter Zuschauer, und unsere Blauvögel piepsen und
-flüstern miteinander, und fühlen sich recht ungemütlich.</p>
-
-<p>»Musik, meine Herrschaften, hören Sie unsere allermodernsten
-Vorträge,« ruft jetzt der Hirschkäfer. Alles stürzt
-nach einem hübsch mit Tannennadeln bestreuten freien Platz.
-Auf einem Tannenzapfen steht erhobenen Armes eine große
-Locuste, so eifrig gestikulierend, daß ihr die Augen vor den
-<a class="pagenum" id="page_138" title="138"> </a>
-Kopf treten; und um sie her scharen sich allerlei musikalisch
-beanlagte Tiere. Nun gibt der Herr Kapellmeister das
-Zeichen, indem er seine Fühlhörner weit ausstreckt, und das
-Konzert braust durch das Tannendickicht. Sämtliche Grillen
-des Waldes zirpen so laut sie können, dazu schnarren die
-Locusts, pfeifen die Mücken, brummen die Käfer aller Art;
-die Kaninchen gebrauchen kräftig ihre Trommelstöcke &ndash; ein
-Höllenlärm!</p>
-
-<p>»Ist das nicht herrlich?« fragt der Hirschkäfer unsere Vögel.</p>
-
-<p>»Sehr schön,« entgegnete der Gelbspecht, »nur etwas
-unverständlich.« Der Staar macht ein sehr gebildetes Gesicht,
-und die Blauvögel meinen schüchtern:</p>
-
-<p>»Es ist aber recht eintönig, und immer so dudelig.«</p>
-
-<p>»Das ist ja gerade das Schöne,« sagt stolz Kapellmeister
-Locuste, »sehen Sie, wie gut Sie es verstanden haben?
-Es war unsere Nationalhymne &ndash; der Moskito-Doodle!«</p>
-
-<p>Den Blauvögeln kam die Sache immer problematischer
-vor, und als vollends der Herr Mistkäfer mit der ganzen
-Familie auf sie zukommt und sie freundlich auch mit dem
-Nützlichen der Ausstellung bekannt machen will &ndash; die verschiedenen
-Blätterpräparate, wie Regenmäntel, Schirme und
-schützende Laubdächer und Haushaltungsgegenstände aller
-Art; ferner Delikatessen: Tauwein über Grashalme abgezogen,
-dazu Konfekt mit dem kuriosen Namen Fliegendreck,
-Misthäufchen, Schneckengelee etc. &ndash; da fliegen unsere
-Blauvögel entsetzt kerzengerade in die Höhe und davon,
-und auch der Herr Staar, trotz seiner Gleichheitsideen, meint:
-»es wäre doch recht gemischte Gesellschaft, und überhaupt
-vertrüge sich die Heiterkeit dieser Ausstellung nicht mit seiner
-ernsten Geistesrichtung,« während Herr Gelbspecht übermütig
-erklärt:</p>
-
-<p>»Nein, mir gefällt es hier famos! Ich will erst den
-ganzen Schwindel sehen, und wenn mir die dicke, fette Fliege
-<a class="pagenum" id="page_139" title="139"> </a>
-da morgen im Sonnenschein begegnet, so fresse ich sie auf
-vor lauter Liebe.«</p>
-
-<p>Hoch oben auf einer Berghöhe, von wo man weit über
-Baum und Strauch hinüberblickt &ndash; dahin haben sich die
-Blauvögelein geflüchtet, und der Staar gesellt sich zu ihnen,
-weil er just nichts Besseres zu thun hat. Außerdem hält er
-die Blauvögel für recht belehrungsbedürftige Wesen, denen
-eine kleine Pauke über »die langsam sich vollziehende Umwälzung
-der Weltordnung« gar nichts schaden kann.</p>
-
-<p>Aber unsere blauen Waldvögelein werden hier oben
-in der Einsamkeit selber so beredt, daß dem wohlmeinenden
-Staar nichts übrig bleibt, als zuzuhören.</p>
-
-<p>»Blick' um Dich,« singen sie, »das ist unsere Ausstellung,
-das ist unsere Freude und die Freude der ganzen Welt.
-Sieh', wie die bunten Blätter die Bäume schmücken, wie
-die glührote Weinranke die dunkle Tanne zärtlich umfängt.
-Horch! <em class="ge">Unser</em> Konzert! Wie das rauscht und flüstert in
-den Zweigen, wie der stürmische Herbstwind in den Blättern
-tost, und sieh', wie der schönfarbige Schmetterling die geliebten
-Herbstblumen umgaukelt! Und blick' um Dich: die
-Sonne geht zur Rüste, sie glüht und leuchtet noch einmal
-und dann sinkt sie in ihr zartes, graues Wolkenbett und
-vergoldet es mit ihrem Schein, und ein strahlender Rand
-zieht sich um die seltsamen Wolkengebilde. Ist das nicht
-schön? Ist das nicht herrlich!</p>
-
-<p>Und horch! da unter uns am Fuß des Baumes &ndash;
-das sind Menschen! Ein seltsam Geschlecht &ndash; kluge Gedanken
-und weiche Herzen &ndash; Ich liebe sie, wenn sie zu
-Zweien im Walde wandern, wie diese hier. Hör', was
-sagen sie?« &ndash; Ja, es sind Menschen &ndash; ein Mann und
-ein Weib. Und durch des Mannes dunkles Haar ziehen
-sich Silberfäden, und auf des Weibes glatter Stirn hat
-das Leben zarte Furchen gezogen.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_140" title="140"> </a>
-»Sieh', liebes Weib,« sagte der Mann, »diese frühen
-Herbstblätter in dem grünen Wald erinnern mich an meine
-weißen Haare, an Deine ersten Falten auf der Stirn. Ach,
-Kind, spät ist's schon im Leben, und jetzt erst lernen wir
-das Glück kennen!«</p>
-
-<p>»Liebster,« entgegnet sie, »sieh', wie die Sonne strahlend
-und liebkosend über die Baumstämme gleitet, wie alles noch
-einmal in voller Pracht glänzt, glüht und leuchtet &ndash; zum
-letztenmal, ehe es Winter wird. So freuen wir uns jetzt
-noch einmal des Glückes und der Liebe, ehe <em class="ge">unser</em> Winter
-kommt. Liebster, wie schön ist die Welt und das Leben!«</p>
-
-<p>Da zieht der Mann das holde, ernste Weib an sein Herz
-und küßt die Falten auf der blassen Stirn, und das Gesicht
-des Weibes glüht und blüht nun, wie die Rose in ihrem
-Lebensfrühling.</p>
-
-<p>Sie sehen hinüber, bis die Sonne verlischt. &ndash; Und
-die Vöglein lauschen, und der Staar meint:</p>
-
-<p>»Die verlangt's auch nicht nach Veränderung, und die
-denken auch, gerade wie ihr dummen, kleinen Dinger, das
-Leben sei doch schön. Merkwürdig! Und die Welt soll doch so
-schlecht sein, sagen sie im Verein für Freiheit und sittlichen Umsturz.
-Was ist nun wahr? Darüber muß ich auf einem
-einsamen Eichenwipfel etwas näher nachdenken.«</p>
-
-<p>Er spreizt seine dekorierten Flügel und fliegt von dannen.
-Blauvöglein aber locken in den Abend hinein und setzen sich
-dicht nebeneinander auf einen Zweig und plustern sich und
-träumen. Die sanfte Nacht kommt gezogen und breitet ihre
-schwarzen Fittiche lind über die müde Erde &ndash;&nbsp;&ndash; über selige,
-herbstliche Menschenkinder, über plusternde Blauvögelein und
-melancholische Staare &ndash; ja, und über all das kriechende, sich
-duckende, hochmütige, aberwitzige Volk und den weltklugen
-Gelbspecht in der Weltausstellung im Tannendickicht.&nbsp;&ndash;</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_141" title="141"> </a>
-Das Märchen von Einem,
-der auszog,
-ein Sonntagskind zu werden.</h2>
-
-
-<p>Die braune Drossel saß auf einem hohen Baume im
-Garten und zwitscherte: »Es ist Sonntag heute. Der Sonntag
-sitzt mitten im Frühling und hat eine Krone von
-Blüten auf dem Haupte, und&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Weiter konnte man nichts hören, denn die Sperlinge,
-denen die Drossel das erzählte, piepsten und schrieen und
-zankten so durcheinander, daß die Drossel auf und davon
-flog. Was ging es auch die Stadtspatzen an, was die
-Walddrossel zu erzählen hatte!</p>
-
-<p>Die bleiche Frau Sehnsucht aber stand am geöffneten
-Fenster ihres Hauses und sah der Drossel nach. »Ach,«
-seufzte sie, »wer doch ein Sonntagskind wäre und verstehen
-könnte, was die Vögel singen! Ach, und wenn nur
-das Kind, das ich gebären werde, ein Sonntagskind würde,
-dann wollte ich gern glücklich und zufrieden sein.«</p>
-
-<p>Als aber ihre schwere Stunde kam, da war der lachende
-Sonntag noch nicht aufgestanden, und der stille Sonnabend
-lehnte noch an der kleinen Wiege mit großen, müden Augen.
-Er legte eine kühle Hand auf die Stirn des kleinen, roten,
-<a class="pagenum" id="page_142" title="142"> </a>
-zappelnden Dinges, das mit geballten Fäustchen unter dem
-Deckchen herumarbeitete und mit Zornesfalten im Gesicht
-in die Welt hinausschrie.</p>
-
-<p>»Nur eine Viertelstunde zu früh,« seufzte die blasse
-Frau Sehnsucht, und zwei heiße Thränen fielen auf die
-geschlossenen Augen des Bübchens in ihrem Arm.</p>
-
-<p>Der kleine Bursche aber wuchs kräftig heran und
-wurde so stark, daß die ungezogenen Buben in der Nachbarschaft
-ihm gern aus dem Wege schlichen. Er stand an
-seiner Mutter Knie gelehnt und lauschte mit leuchtenden,
-wundersamen Augen, wenn sie von den Sonntagskindern
-erzählte, wie sie gar so klug sind und wissen, wie die Welt
-geht, und verstehen, was die Tiere sprechen, und wie sie
-den Wolkenflug deuten können. &ndash; »Warum kann ich nicht
-jetzt noch ein Sonntagskind werden?« rief er zornig. Dann
-sprang er hinaus in den Garten und legte das Ohr auf
-die Erde, ob er nicht das Gras wachsen höre, wie ein
-richtiges Sonntagskind. Er hörte wohl ein zartes, leises
-Murmeln, aber ob es nicht die kleinen Käfer und Ameisen
-waren, die da raschelten, das wußte er nicht zu sagen. Er
-stand unter den Bäumen und hörte zu, was die Vögel
-sangen; es war ihm, als verstände er einzelne Worte, wie
-Sonnenschein, Glück, Blütenduft; aber er war doch nicht
-sicher, ob es ihm nicht sein eigenes Herz zugeflüstert hatte.
-Und weinend lief er hin zu seiner Mutter und trotzte:
-»Ich will doch ein Sonntagskind werden!«</p>
-
-<p>»Der Sonnabend leidet's nicht,« sagte Frau Sehnsucht
-traurig. »Und es war doch nur eine Viertelstunde!«</p>
-
-<p>»Es muß in den Büchern stehen,« sagte der Knabe,
-als er in die Schule ging. Und er lernte alles, was in
-den Büchern stand und wurde ein berühmter Mann. Von
-weit, weit her kamen die Menschen nach dem kleinen Häuschen
-der Frau Sehnsucht und wollten von dem jungen
-<a class="pagenum" id="page_143" title="143"> </a>
-Gesellen Antwort haben auf ihre neugierigen Fragen, und
-er sagte ihnen alles. Aber insgeheim glaubte er selber
-nicht an das, was er ihnen so gelehrt auseinandersetzte;
-hatte er doch in keinem Buche Bescheid auf seine einzige
-Frage erhalten: Wie er es anfangen könne, ein Sonntagskind
-zu werden? &ndash; Als nun eines Tages wieder einmal
-ein paar kluge Professoren kamen, die aber doch nicht so
-klug waren, wie er, und die spitzigen Zeigefinger an die
-spitzigen Nasen legten, und ihm die wichtige Frage stellten:
-Wie kommt es, daß der Mensch die Nase mitten im Gesicht
-hat? &ndash; da fielen dem Gesellen seine Riesenkräfte
-ein. Er warf die Professoren mitsamt der ganzen Universität
-zur Thür hinaus, reckte und streckte sich einmal,
-that einen tüchtigen Jauchzer und sagte zur Frau Sehnsucht:</p>
-
-<p>»Mutter, jetzt ziehe ich in die Welt hinaus, dem Sonntag
-nach, und komme nicht eher wieder, bis ich ihn eingeholt
-habe.«</p>
-
-<p>Frau Sehnsucht legte ihre weißen Hände auf sein
-lockiges Haupt und küßte ihn. Dann schloß sie die schönen,
-traurigen Augen für immer.</p>
-
-<p>Der Geselle aber zog in die Welt hinaus. Er sah die
-goldene Sonne am Himmel stehen und er sagte: »O Sonne,
-güldene Sonne du &ndash; ich suche, suche immer zu. Zeig
-mir den Weg, wohin ich geh', o Sonne, güldene Sonne
-du!« Aber die Sonne lachte ihn aus und antwortete
-nicht und ging weiter, immer weiter, bis er sie zuletzt gar
-nicht mehr sehen konnte. Da kam er in einen großen
-Wald, darin reichten die Bäume bis in den Himmel, seltsam
-große Blumen standen am Wege und sahen ihn an,
-und bunte Vögel flogen sprechend von einem Ast zum
-andern.</p>
-
-<p>»Sagt mir's, ihr Bäume, duftet, Blumen, rauscht
-<a class="pagenum" id="page_144" title="144"> </a>
-mir's, ihr Winde, murmelt, ihr Quellen &ndash; wie fange ich
-es an, daß ich ein Sonntagskind werde?« rief der Geselle.</p>
-
-<p>Da kicherte und lachte es an allen Ecken und Enden.
-Schelmische Mädchengesichter tauchten aus den Kelchen der
-seltsamen Blumen empor und nickten ihm lächelnd zu. An
-den Schlinggewächsen turnten winzige nackte Engelsbübchen,
-die warfen mit duftenden Blütenblättern nach ihm, und
-ein Rauschen und Raunen zog durch den ganzen Wald,
-daß der Geselle gewiß alles erfahren hätte, was er wissen
-wollte, wenn er nur eine Viertelstunde später auf die Welt
-gekommen wäre. Zuweilen war es ihm wieder, als verstände
-er ein paar Worte, und horch! klang's nicht im
-Windesrauschen, wie: Bis an's Ende der Welt? Kopfschüttelnd
-ging der Geselle weiter.</p>
-
-<p>Da wurde mit einemmal der Wald hell und licht;
-das kam von einem schönen Stern, der fiel vom Himmel
-nieder, und sieh' &ndash; der Stern nahm Gestalt an, so schön
-und sanft wie die Mutter ausgesehen hatte, und seine
-Augen strahlten still und traurig, wie die der Frau Sehnsucht.
-Die schöne Sternenfrau aber sprach: »Ich will dir
-Antwort auf deine Frage geben. Gehe weiter, immer
-weiter, bis du ans Ende der Welt kommst. Dort wirst
-du den Baum der Erkenntnis finden. Wenn du von diesem
-ein Blatt brichst, dann wirst du erfahren, was du wissen
-willst. Aber spute dich! der Weg ist weit.«</p>
-
-<p>Der Stern stieg langsam auf gen Himmel, es wurde
-immer lichter, der Wald verschwand und der Geselle stand
-ganz allein auf einer großen Heide, über die der Wind
-pfiff.</p>
-
-<p>»Bis ans Ende der Welt? &ndash; da kann ich meine Füße
-in die Hand nehmen, wenn ich noch ankommen will,« sagte
-er und wanderte fürbaß. Weil's ihm aber einsam am Wege
-war, sang er sich das Liedel von dem andern Gesellen:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Ein fahrender Geselle durchzog die weite Welt,<a class="pagenum" id="page_145" title="145"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Zu suchen nach der Stelle, wo's immer ihm gefällt.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Doch nimmer mocht er rasten, und nirgend fand er Ruh,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ihn trieb's zum Weiterhasten, nur weiter! immer zu!</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Er hatte durchstudieret den ganzen Bücherwust,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Mit Wissen ausstaffieret das Herz in seiner Brust&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da fluchte er dem Buche, sah an es nimmermehr:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das ist's nicht, was ich suche! Das Glück, das Glück gebt her!</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und kommt er in das Städtchen und winkt ihm aus dem Thor</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das liebe braune Mädchen mit Schelmenaug' hervor&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Laß küssen dich, du Feine! &ndash; Schaut ihr ins Angesicht;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Du bist's nicht, die ich meine! &ndash; er da voll Trauer spricht.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da ward aus dem Scholaren ein flotter Kriegersmann,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Auch lernt er mit den Jahren, daß man sich bücken kann,</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und fromme Verse schmieden von Freiheit und von Blut,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und vor dem Bürgerfrieden voll Ehrfurcht zieh'n den Hut.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Doch alles wollt nicht frommen, was er sich auch erdacht.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das Glück wollt ihm nicht kommen &ndash; hörst, wie's von Ferne lacht?</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da ward aus ihm ein Zecher, der zecht' von früh bis spat,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Bis ihm der leere Becher vom Munde sinken that.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Lag denn das Glück im Weine? &ndash; Der heilte allen Gram.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Doch weh &ndash; auch nur zum Scheine, nur bis der Morgen kam;</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In seinem grauen Schimmer, wie lag so leer die Welt!&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Nacht verheißt uns immer, was nie der Morgen hält.«</td></tr>
-</table>
-
-<p>Als der Geselle sein Liedlein ausgepfiffen hatte, da
-führte ihn der Weg an einem Königreich vorbei, und weil
-die Thür bloß eingeklinkt war, ging er hinein. Die alte
-Reichsmauer wackelte hin und her, als er eintrat, und das
-Thürschloß behielt er gar in der Hand, so morsch war der
-Griff. In dem Königreich saß der König auf einem
-Throne, der wackelte, und hatte eine Krone auf dem alten,
-<a class="pagenum" id="page_146" title="146"> </a>
-wackligen Haupt, die wackelte auch. Die Räte um ihn
-her hatten kleine Zöpfchen im Nacken, die wackelten, und
-die Räte selber wackelten, und das ganze Königreich wackelte.
-Und weil nun alles so wacklig war, da nahm der Geselle
-sein Bein und gab der ganzen Wackelei einen Tritt; da
-fiel alles um, und der Geselle sah lachend zu, wie der
-König und die Krone und die Räte mit ihren Zöpfen und
-das ganze morsche Königreich durcheinander purzelten. Des
-Königs schöne Tochter aber fing er in seinen Armen auf;
-doch als er sie küssen wollte, da welkte sie hin und lag tot
-an seiner Brust. Ihre Seele verwandelte sich in einen schönen
-weißen Vogel, der kreiste über des Gesellen Haupt und
-sang ihm zu:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Weil' nicht am Wege,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Er ist noch weit;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Noch ist die neue, die selige Zeit,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Noch ist sie nimmer geboren.«</td></tr>
-</table>
-
-<p>Als der Geselle nun weiter ging, kam er an eine große,
-große Stadt, darin war eitel Freude und Lustigkeit, das
-ganze Volk tanzte und sprang und geberdete sich wie toll.
-In den Moscheen, Kirchen, Freiheitstempeln läuteten die
-Glocken und große Götzen saßen darin, die machten mit
-schrecklichen Grimassen die Mäuler auf, und dann warf
-das Volk alles Schöne und Gute den Götzen in den Schlund,
-und das Häßliche und Gemeine stand grinsend auf den
-Schultern der Götzen, und das Volk jubelte ihm zu. &ndash;
-Da faßte den Gesellen ein grimmer Zorn, er hob sein gutes
-Schwert und schlug zu, und schlug den Götzen die Köpfe
-ab. Aus den Rümpfen stieg ein starker, grauer Dunst
-auf, wie eine Weihrauchwolke, der lagerte sich hin über die
-Stadt und erstickte all das lärmende Volk, daß es tot
-dalag. Ueber der Nebelwolke aber schwebte ein neuer,
-<a class="pagenum" id="page_147" title="147"> </a>
-schöner, weißer Vogel und gesellte sich dem andern zu; sie
-umkreisten den Gesellen und sangen ihm zu:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Weil' nicht am Wege,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Er ist noch weit;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Noch ist die neue, die selige Zeit,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Noch ist sie nimmer geboren.«</td></tr>
-</table>
-
-<p>Als der Geselle nun weiter ging, kam er an einen
-hohen, hohen Berg, darauf wimmelte es von Menschen.
-»Ist hier das Ende der Welt?« fragte er. »Was?« riefen
-sie ihm von der Spitze des Berges zu, »das Ende der
-Welt? Bewahre! Hier fängt die Welt erst an!« &ndash; Als
-nun der Geselle oben angekommen war, sah er, daß all'
-die Menschen ihr eigenes Ich genommen und es vor sich
-hingestellt hatten; und nun drehten sich die Körper um das
-Ich in der Runde und sangen feierliche Weisen und beteten
-es an. »Siehst du,« riefen sie ihm zu, »das ist es, was
-du suchst. Wir sind die Welt, wir sind das All, wir, unser
-eigenstes Ich. Wir wissen alles, wir können alles, wir
-lieben uns, wir beten uns an.« &ndash; Voll Verwunderung
-stand der Geselle und sah dem seltsamen Treiben zu. »Aber
-wie könnt ihr denn leben, wenn ihr euer eigenes Ich aus
-euch herausgenommen habt?« &ndash; »Wir zehren von seinem
-Anblick, er ist uns Nahrung, Luft und Licht. Wenn wir
-unser Ich ansehen, werden wir so von seiner Größe und
-Erhabenheit durchdrungen, daß wir unsere körperlichen
-Beine aufheben und tanzen müssen, und dann schreien wir
-von diesem hohen Berge das Heil des Ichs in die Welt
-unter uns hinaus, damit auch sie daran glaube und selig
-werde.«</p>
-
-<p>Da faßte den Gesellen, als er ihre seelenlosen Köpfe
-und verdrehten Glieder sah, ein ungeheurer Ekel. Er nahm
-seine starken Fäuste und schleuderte einen der tanzenden
-Körper nach dem andern in die Tiefe, und wenn sie gegen
-<a class="pagenum" id="page_148" title="148"> </a>
-die Felsblöcke, die am Fuße des Berges lagen, anprallten,
-dann platzten sie mit einem Knall, wie ein aufgeblasener
-Pilz im Walde, auf den du unversehens trittst. »Jetzt
-spiele ich Kegel mit den Püstern!« sagte der Geselle. &ndash;
-Dann nahm er alle die angebeteten Ichs, die entseelt zu
-Boden gesunken waren, schichtete sie aufeinander, wie einen
-Holzstoß, und zündete sie an, daß die rote Lohe weithin in
-die Welt schien. Aus den Flammen aber flog wieder ein
-schöner, weißer Vogel &ndash; denn aus allem, was zu Grunde
-geht, wächst doch noch ein Schönes &ndash; und er gesellte sich
-zu den andern, und sie umkreisten ihn. Aber sie sangen
-nicht mehr, ihr Flügelschlag wurde immer lautloser. Und
-doch war es dem Gesellen, als trieben diese weichen Flügel
-ihn weiter, hin über trotzige Felsblöcke, an denen sich seine
-Füße blutig stießen, über weite gefrorene Seen, über denen
-er hinglitt wie über einen Spiegel. Er wußte nicht mehr,
-ob er schon lange gewandert sei oder eben erst die schlanke,
-kühle Hand seiner Mutter, der Frau Sehnsucht, auf seiner
-Stirn gefühlt hatte. Er wußte nur noch, daß er weiter,
-immer weiter getrieben wurde. Endlich sank er erschöpft
-zu Boden. Als er die Augen öffnete, lag er auf einer
-weiten Ebene. Schöne Tiere traten an ihn heran und betrachteten
-ihn mit stillen, klaren Augen; aber sie waren
-stumm. Vögel schwebten über ihn hin; aber sie sangen
-nicht. Blumen blühten an glänzenden Bächen, aber das
-Wasser murmelte nicht; der Wind, der durch die Zweige
-strich, rauschte nicht &ndash; es war tiefe, tiefe Stille. Lautlos
-flogen die drei weißen Vögel vor dem Gesellen her. &ndash; In
-der Ferne, am Ende der Ebene, schwebte eine weiße Wolke.
-Als der Geselle näher kam, sah er, daß es tausend und
-aber tausend von ebensolchen großen, weißen Vögeln waren,
-wie die, die ihn begleitet hatten, und er dachte daran, wie
-viele Menschen wohl gleich ihm denselben Weg gemacht
-<a class="pagenum" id="page_149" title="149"> </a>
-hatten, wie viel erst zertrümmert werden mußte, damit
-diese Wolke sich hatte bilden können. Die weißen Vögel
-umkreisten leise, leise einen starken, grünen Baum, dessen
-viele Zweige gingen auf und nieder zwischen Erd' und
-Himmel. Der Baum blühte nicht und trug keine Früchte,
-er hatte nur unzählige grüne, kraftstrotzende Blätter. Die
-drei weißen Vögel aber, die den Gesellen begleitet hatten,
-mischten sich unter die andern, die in den Zweigen des
-Baumes nisteten, so daß er sie nicht mehr unterscheiden
-konnte. Und wie er so in der weißen Wolke stand, und
-der weiche Flügelschlag der schönen Vögel seine Stirn
-fächelte, da war es ihm, als höre er die Worte:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">&emsp;»Weil' nicht am Wege,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Nicht ist er mehr weit.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wir kreisen und hüten die kommende Zeit,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wir weben ihr reines, ihr glänzendes Kleid&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Im Baum schläft sie sicher geborgen.«</td></tr>
-</table>
-
-<p>Da streckte der Geselle die Hand aus und brach eines
-der saftgrünen Blätter. Es fiel ein Tropfen, rot wie Blut,
-in seine Hand. Da zog sein ganzes Leben an ihm vorüber:
-er sah sich, wie er immer dem Sonntag nachgejagt
-war, alles andere darüber vergessend; er sah, wie er nicht
-die Welt und sie nicht ihn verstanden hatte, denn er war
-ja eine Viertelstunde zu früh geboren. Wie er auf das
-Blatt in seiner Hand hinschaute, lange, lange, da bleichte
-sein Haar, seine Stirn begann sich zu runzeln, sein starker
-Körper bog sich zur Erde. Aus dem Manne ward ein
-Greis, und nun wußte er, wann er den Sonntag einholen
-würde. &ndash; Er sah auf und sah die weißen Vögel, die mit
-ihren stillen, großen Flügeln einen starken Wind erhoben;
-der wehte ihn fort, weit fort, den Weg zurück, den er gekommen
-war. Auf dem Berge glühte noch das Feuer, über
-der Stadt lag der Dunst, das zerfallene Königreich bröckelte
-<a class="pagenum" id="page_150" title="150"> </a>
-am Wege &ndash; er schaute nicht um danach. Er ging durch
-den dunklen Wald, darin die Bäume regungslos standen.
-Er ging und ging, bis er in das Stübchen kam, in dem
-Frau Sehnsucht die schönen, traurigen Augen für immer
-geschlossen hatte. Da setzte sich der greise Geselle ans Fenster
-und schaute in den Garten hinein.</p>
-
-<p>Auf dem Apfelbaum saß die braune Drossel und erzählte
-den Spatzen: »Es ist Sonntag heute. Der Sonntag
-sitzt mitten im Frühling und hat eine Blütenkrone auf
-dem lachenden Haupte, und die Blumen bringen ihm ihre
-Düfte, und die Winde tragen den Duft hin über die Stirnen
-der Kinder, die heute geboren werden.«</p>
-
-<p>Da nickte der Greis am Fenster und lächelte. Er
-schloß die Augen, und seine Seele zog vor des Sonntags
-Thron, damit sie als Duft auf die Stirn eines neugeborenen
-Sonntagkindes gelegt werde. &ndash; Im Tode war der
-Geselle ein Sonntagskind geworden.</p>
-
-<p>»Es ist Sonntag!« sang die Drossel. »Das ist etwas
-ganz Alltägliches,« piepsten die Spatzen, »das passiert jede
-Woche einmal.«</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_151" title="151"> </a>
-Rauch.</h2>
-
-
-<p>Es war einmal ein kleiner Schmiedegeselle, der war
-es müde, immer am Amboß zu stehen und Gedanken zu
-hämmern. Er hätte gar zu gern gesehen, wie sich die Gedanken
-ausnahmen, noch ehe sie zum Schmiedematerial zusammengegossen
-waren. Eines Tages hatte er mit heller
-Lust ein paar kräftige Gedanken, die im Feuer glührot und
-geschmeidig geworden waren, zu ein paar starken Hufeisen
-zusammengeschweißt; die Funken sprühten, wenn man damit
-auf einen Stein schlug. Da klopfte ihm der große Meister
-auf die Schulter und sagte:</p>
-
-<p>»Geselle, geh' auf die Wanderschaft.«</p>
-
-<p>Und da zog er aus. &ndash; Als er wegging, schien die
-Sonne hell, obwohl es mitten im Winter war; der Himmel
-hatte überall blaue Batzen auf die Wolkenlöcher gesetzt,
-und der Wind hatte dazu gefiedelt:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">Die Erde hat sich schlafen gelegt,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Mit weißem Lailach zugedeckt,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Der rasche Wind den Himmel fegt,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Bis er die Sonne hat erweckt.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Nun scheint sie hinunter auf den Schnee</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und lacht hinweg ihn nach und nach:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wenn auch die Welt sich duckt in Weh;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Sie wird doch einmal wieder wach.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Dann jauchzt sie auf in grüner Lust,<a class="pagenum" id="page_152" title="152"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Hüllt sich in lauter Liebe ein&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und ahnend klingt's in deiner Brust:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Im Winter ist es auch gut sein!&nbsp;&ndash;</td></tr>
-</table>
-
-<p>Als aber der kleine Schmiedegeselle ein Stücklein Wegs
-gegangen war, da sah er eine schwere dunkle Wolke in der
-Ferne schweben, und je näher er kam, desto trüber wurde
-es um ihn her, bis schließlich Himmel und Erde und die
-ganze Welt schmutzig aussah; und er sah, daß es ein ganzes
-Sammelsurium von Häusern war, das alles so finster
-machte. Die Häuser waren so hoch, daß sie die Wolken
-an den Fußsohlen kitzeln konnten.</p>
-
-<p>Der kleine Schmiedgeselle stand und guckte an so einem
-hohen Kasten in die Höhe:</p>
-
-<p>»Könnt ihr da oben durch die Wolken sehen?« fragte
-er, »und die Sonne auf der andern Seite scheinen sehen?
-&ndash; Eia, das muß schön sein!«</p>
-
-<p>»Da, komm nur mit in das Loch hinein, kleiner Wurm,«
-sagte ein Mann neben ihm, schob ihn vor sich her, und
-schwupp! flogen sie in einem viereckigen kleinen Kasten so
-schnell himmelan, daß es dem Gesellen ganz übel wurde.</p>
-
-<p>Der Mann lachte spöttisch aus ein paar klugen Augen.</p>
-
-<p>»Ja früher,« sagte er, »wenn der Teufel einen armen
-Handwerksgesellen holte, da flogen sie miteinander auf
-schwarzen Gespensterflügeln in die Tiefe hinab. Wir machen
-das jetzt per Elektricität und fliegen himmelan.«</p>
-
-<p>Erschrocken sah das Gesellchen zur Seite, erblickte aber
-nur einen ganz einfachen Menschen, der ein ganz klein
-wenig hinkte. Nur seine Ohren waren so sonderbar lang
-und schmal; wenn er lachte, schienen sie sich zu spitzen,
-und er lachte so, daß der Schmiedegeselle mitlachen mußte,
-und das Ding, in dem sie saßen, vor Vergnügen in die
-Höhe sprang.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_153" title="153"> </a>
-Dann waren sie oben. Das war ein großes, flaches
-Dach mit Kieselsteinchen bedeckt, als ob sie drauf geregnet
-wären. Allerlei Verzierungen sprangen an den Ecken auf
-und auf zwei kleinen Säulchen saßen vergoldete Zierate,
-die sahen aus wie Champagnerpfropfen.</p>
-
-<p>»I, da schlag' doch der Teufel den Herrgott tot!« rief
-der Mann mit einem vergnügten Grinsen, »da hab' ich doch
-gedacht, ich könnte dem kleinen Wurm das ganze Riesentreibhaus
-auf einmal zeigen, und nebendran das große
-Wasser, in dem man eigentlich die nichtsnutzige Brut gleich
-wieder ersäufen sollte, nachdem man sie hervorgebracht hat
-&ndash; und da &ndash; nichts, aber auch rein gar nichts, als das
-wüste Gebrodel, das mein Vetter, der große Nebel, so erstaunlich
-schön herauszukriegen versteht. Er ist ein ganz
-gelungener Kerl, sage ich dir, und dabei ein Phantast, trotz
-seiner Schwere. Und unbeständig ist er, nirgends zu fassen.
-Der geht in einer Minute alle Ideen der Welt durch, um
-schließlich mit seinem grauen Einerlei platt über die ganze
-Erde hinzufallen, daß man drunter ersticken sollte. Uff!
-wie schwer er schon wieder herunterhängt. &ndash; Und siehst
-du, mit einemmal reißt er sein langes Hemd in Fetzen
-entzwei und tanzt herum wie ein toller Bacchant. Zum
-Verzweifeln für einen feierlichen Kerl!«</p>
-
-<p>Dabei nahm er einen gespreizten Ton an, schob die
-linke Hand zwischen die Brustknöpfe seines Rockes und hob
-das Haupt mit einem idealischen Schwung. Als das Gesellchen
-ihn entsetzt ansah, schnitt er plötzlich allerlei Grimassen,
-liebkoste ein paar kleine, niedliche Bockshörnchen,
-die zwischen dem Kraushaar über der Stirn hervorwuchsen,
-und spitzte seine Faunsohren nach dem Wind. Nachdem
-er den kleinen Schmiedegesellen genügend verwirrt hatte,
-fing er an, ihm ernsthaft allerlei Erklärungen zu geben.</p>
-
-<p>»Sieh',« sagte er, »das ist der große Hexenkessel, Höllengebrodel,
-<a class="pagenum" id="page_154" title="154"> </a>
-da werden alle die Gedanken ausgekocht von dem
-Menschenpack, das tief unten mit Beinen, Händen, Köpfen
-oder Magen schuftet; und die nehmen dann Gestalt an,
-und paß einmal auf, da aus den Tausenden von Schlöten
-fahren sie hinaus in den Nebel, der verschlingt sie, wird
-groß und stark daran, wächst und wächst bis einmal die
-Welt ein großer Gedanken-Nebel geworden ist. Dann
-kommt die Zeit für uns Faune, uns Satanskerle, Teufelsstricke,
-und wir ziehen gegen den Nebel zu Felde, gegen
-meinen großen Vetter &ndash; da kämpfen wir, das ewige,
-blühende, lachende Leben gegen die blassen, umnebelten und
-vernebelten Gedanken. &ndash; Sieh', da fliegen sie&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Der kleine Schmiedegeselle hatte derweilen stumm in
-das graue Meer geschaut, drin es wogte und zerrte, drin
-die Schornsteine und Schlöte der vielen, vielen Häuser
-hineinragten und schwere Dampfwolken entsendeten, schwarze,
-dicke, schmierige, lichte, flinke, weiße oder rötlich scheinende,
-von den Flammen tief drunten, die zuweilen bis zum Kamin
-herausschlugen. Es sah aus, als ob die himmelhohen
-Häuser der Riesenstadt eigentlich ganz klein hoch in der
-Luft ständen, nur mit den großen Schlöten daran; als ob
-da unten auf der Straße eine ganz andere Welt sei, und
-nur ganz fern, fern, wie das Bienengesummse an einem
-Sommermittag am Kornfeld, drang das Getrappel, Gerolle,
-Getose herauf zu dem Dach, wo die Wolken mit ihren
-schweren Fittichen des kleinen Gesellen Haupt streiften.
-Der stand und schaute. Der wunderliche Mann saß neben
-ihm, deckte ein Bein mit dem andern und deutete mit dem
-langen, ausgestreckten Zeigefinger bald auf diesen, bald auf
-jenen Schornstein, und er grinste spöttisch dazu, oder lachte
-ingrimmig, oder seine Augen leuchteten, wie in stiller Wonne.
-So jetzt eben wieder.</p>
-
-<p>Da stieg aus einem schlanken Rauchfang ein silberweißes
-<a class="pagenum" id="page_155" title="155"> </a>
-Rauchsäulchen auf, kräuselte sich lustig, ehe es im
-Nebel zerging, und auf dem schaumigen Gezausel tanzten
-putzige kleine Kerle mit runden Bäuchlein und weinroten
-Gesichtern, sie hatten Weinreben sich umwunden und lallten
-allerlei tolles Zeug und schrieen dem lächelnden Manne,
-Faun, Mephisto, was immer er sich nannte, ein jauchzendes
-<i>Evoë Bacche!</i></p>
-
-<p>Und sobald die einen im Nebel vergangen waren,
-wurden neue aus den Ringeln der Rauchsäule geboren,
-schöne und drollige, große und kleine, Männlein und Fräulein,
-und ob auch aus den Augen eines Alten ein ernstes
-Denken sprach, ob die weichen Glieder einer jungen Bacchantin
-im Wirbel sich drehten &ndash; gleichsam aus ihnen
-heraus über die ganze Erde hin leuchtete, strahlte eine selige,
-mutige, weinduftende Begeisterung.</p>
-
-<p>Jetzt lachte der Geselle laut auf. Da hatten ein paar
-trunkene kleine Satyrn die Nebelfetzen zusammengeballt wie
-Schneebälle, schnitten wütende Gesichter nach einem andern
-Schlot hin, streckten denen, die da oben aufstiegen, die
-Zunge heraus, und begannen sie zu bombardieren. Es war
-ein weiter Kamin, nicht sehr hoch, der Rauch, der da herauskam,
-hatte eine eklige, semmelblonde Farbe, die Gedanken,
-die drauf ritten, auch, und sie waren feist und schwammig.
-Sie versuchten, recht forsch und protzig aufzutreten, aber
-sie krümmten sich dabei, als wenn sie Bauchgrimmen hätten,
-und sie streckten flehentlich die Arme aus, so gut es eben
-ging, nach einem andern Schornstein und stöhnten:</p>
-
-<p>»Gebt uns was ab! Gebt uns was ab!«</p>
-
-<p>Das war ein mächtiger, weiter Schlot, und der Rauch
-und Qualm, der ihm entquoll, schwarz, finster, beklemmend.
-Bleiche Gestalten stiegen drauf zur Höhe, hohlwangig wie
-eine durchwachte Nacht, finster wie eine Gewitterwolke.
-Immer mehr, Millionen von ihnen tauchten auf aus dem
-<a class="pagenum" id="page_156" title="156"> </a>
-Dunkel, nicht aus einem, nein, aus hundert Schlöten, ganze
-Heere von Elendsgestalten, ganze Heere von drohenden
-Fäusten, von rachedurstenden Augen, von verzweifelten
-Gesichtern.</p>
-
-<p>Und der kleine Geselle drückte sich scheu an den Mann,
-der ingrimmig hohnlachte.</p>
-
-<p>»Wo kommen die her, alle, alle, ohne Ende?« fragte
-der Geselle bebend.</p>
-
-<p>»Aus den Fabriken, aus den Werkstätten, aus den
-Mietskasernen, aus den Spelunken da unten,« knurrte der
-mit den Bockshörnchen. »Bande, elendes Pack, warum
-drücken sie die andern nicht tot, schaffen sich Platz in der
-Welt, so viele, wie sie sind! Aber sie haben Furcht, gerade
-so viel Furcht, wie die da drüben &ndash; sieh' &ndash; da aus dem
-himmelhohen Rauchfang, der so kerzengerade aufwächst &ndash;
-Mitleid haben. Prrr &ndash; Puah &ndash; Mitleid, Mitgefühl,
-Menschenliebe, Gleichheit, Brüderlichkeit &ndash; sieh', wie sie da
-alle schweben, die schönen Gedanken! Schau einmal genau
-hin! Glaubst du, sie kämen alle aus demselben hohen, ragenden,
-lichten, freundlichen Kamin? Ist schön gebaut, der
-Rauchfang! Aber schließ' dein Auge ab von all dem andern,
-indem du die Hand krümmst wie ein Fernrohr davor &ndash;
-das gibt mehr Perspektive. Siehst du nun wohl, daß jeder
-der schönen Gedanken seinen Privatschlot hat, der nur an
-den andern sich anlehnt? &ndash; Und die Rauchsäulchen, &ndash;
-recht fein hell anzusehen &ndash; dürfen sich mit keinen von den
-andern vermischen, beileibe nicht, und der Kamin muß
-immer mit demselben Heizmaterial gefüttert werden, und jedes
-Rauchwölkchen hat seinen Parteinebel, in den es sich auflöst.«</p>
-
-<p>Aber immer und immer wieder stieg das bleiche, finstere
-Heer auf, auf, stetig, unverdrossen.</p>
-
-<p>»Da, sieh' her, du kleiner Wurm, der du die Gedanken
-nackt und unverarbeitet in der Welt herumlaufen sehen
-<a class="pagenum" id="page_157" title="157"> </a>
-wolltest,« schrie der Mann-Faun-Mephisto, »siehst du jene
-dort drüben aus dem Marmorkamin sich entwirren? &ndash;
-Wohlgenährte Gestalten sind drunter mit schwimmenden
-Augen, magere Kerle mit Beil-Gesichtern, und alle mit so
-einem Air um sich herum, als wollten sie auf alles andere
-spucken. Kapitalsbestien nennt man sie mit dem Kunstausdruck,
-d.&nbsp;h. die Kapitäler sind ihnen jetzt da oben im
-Rauch abhanden gekommen, und nur die Bestien sind übrig
-geblieben. Und nun schau die guten, mitleidigen, allesliebenden,
-weltbeglückenden Fanatikergedanken, die eigene
-kleine Weltbegriffe auf Silberrauchsäulchen ausdünsten &ndash;
-schau auch alle die winzigen Nebengedanken, die von der
-Silbersäule abspringen, ihre Nachbarn zerren und stoßen,
-zu Boden schlagen, ins Gesicht treten &ndash; kommt es dir nicht
-schließlich vor, als wäre der eine wie der andere: Fanatiker
-seines eigenen Ichs? Und sie verteidigen dieses ihr Besitztum,
-die einen mit nackter Brutalität, die andern mit alles
-überwältigendem Mitleid für die Menschheit. Ist recht,
-ist ja recht so. Nur sollen sie nicht das Du-Geschrei erheben,
-wenn sie das Ich meinen. Aber guck einmal
-da!«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Aus dem lichten, ragenden Schornstein, dessen viele
-Teile das Gesellchen jetzt deutlich erblickte, war eine Schar
-Gedanken-Geister aufgetaucht, die sich mit Mäulern, Fäusten
-und Füßen ingrimmig bearbeiteten: die einen suchten die
-nächsten unter sich zu ducken, zerrend, heulend, schimpfend;
-die zarten Gestalten aus demselben Rauchfang, die über
-ihnen schwebten, rangen traurig die Hände; die Bestien
-aus dem Marmorkamin sahen behaglich zu, und die kleinen
-Weinkameraden ritten auf ihrem Rauchgekräusel herzu,
-jauchzten und lachten, schütteten duftenden Rheinwein über
-sie aus, wie man über die beißenden Hunde Wasser gießt,
-und trieben allerhand Allotria.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_158" title="158"> </a>
-Die hungrige, bleiche, verzweifelte Schreckensschar aber
-stieg immerfort, stetig auf; auf aus den Tausenden von
-Schlöten und verzehrte sich im Nebel, immerzu, regelmäßig,
-wie ein grauenhaftes Uhrwerk.</p>
-
-<p>»Bande, Bande!« knurrte der neben dem Gesellchen.
-»Wann kommt's? &ndash; Wann kommt's und schlägt den Kram
-in Fetzen? &ndash; Ist ein lustig Leben, kleines Wurm, so hoch
-über ihnen, was? &ndash; Und doch mitten drunter. Die da
-tief drunten, alle, glauben, sie kennen, sie haben mich, und
-ahnen nicht, daß ich es bin, der ihre Gedanken hier oben
-spuken läßt zur eigenen Verlustierung, wie Nero einst Rom
-in Brand setzte! <em class="ge">Nicht</em> sie mich &ndash; <em class="ge">ich</em> hab' <em class="ge">sie</em>! &ndash; Hoho
-&ndash; aber da &ndash; da, meine Braven!«</p>
-
-<p>Da schlug aus einem mächtigen Rauchfang eine hohe
-Feuersäule auf, glührot, wie aus einer Schmiede-Esse, und
-darauf schwebte, nein, stampfte eine gewichtige Schar, die
-zog den Ambos und dröhnte die Schmiedehämmer nieder,
-daß es durch die Lüfte klang. Riesengestalten mit mächtigen
-Köpfen und lustigen Augen. Bei jedem Hammerschlag
-von ihren Fäusten stoben die Funken, und in jedem
-Funken sang es:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Mir sein die Hammerschmiedsgsölln, Hammerschmiedsgsölln,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Mir könn' dableiben, mir könn' furtgeh'n,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Mir könn' dhun, was mer wöll'n, dhun, was mer wöll'n!«</td></tr>
-</table>
-
-<p>Schritt vor Schritt weitergreifend, die rußigen Gesichter
-umglüht vom Flammenschein, stampften sie alles
-unter ihre Füße, Bestien und Mitleidsgedanken und Elendsgestalten,
-was ihnen in den Weg kam, trieben die Rauchwolken
-zur Seite und machten Bahn frei &ndash; bis endlich,
-nach langem Kampf, auch sie der große Nebel verschlang.</p>
-
-<p>Aber dort, wo sie verschwunden waren, da lag in
-lichter Ferne &ndash; das Gesellchen sah es ganz deutlich, und
-der Mann breitete seine Arme aus &ndash; der silberne See,
-<a class="pagenum" id="page_159" title="159"> </a>
-der hob und senkte sich leise. &ndash; Möven flogen drüber hin,
-die tauchten mit der weißen Brust ein in die Silberflut
-und schüttelten die leuchtenden Tropfen von den Flügeln.</p>
-
-<p>Wo sie das Wasser berührten, tauchte ein Wunderwesen
-nach dem andern auf; diese reihten sich aneinander,
-und bald wimmelte der See von zarten, lieblichen, von
-starken, gewaltigen Wesen. Auf ihren ausgestreckten Armen
-kamen zwei wunderselige Frauengestalten einhergeschwebt,
-ein leiser, flüchtiger Gesang zog ihnen voran:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Wir geleiten hohe Frauen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die den Wassern sind entstiegen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die sich auf den Nebeln wiegen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und die Wellen stets durchwallen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Unerkannt von allen, allen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Denn von zwei'n ist eine keine:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Diese Hehre, Hohe, Reine,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Jene, die da gleißt im Scheine&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Nur zusammen kannst sie schauen.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wie die Sonne aus dem Meere</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ihre Strahlen weiter sendet,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">So zieh'n im Gedankenheere</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Sie, bis ihre Bahn vollendet.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Sinken in die Wasser nieder,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Kommen mit der Sonne wieder.«</td></tr>
-</table>
-
-<p>So schwebten sie hin über das Häusermeer der Riesenstadt.
-Die schönen Frauen glichen sich eine der andern so,
-daß man sie nicht unterscheiden konnte, und das Gesellchen
-hätte gar zu gern gewußt, wer sie seien.</p>
-
-<p>Der Mann sah mit verschränkten Armen den Zug an
-sich vorüber wallen, musterte mit kritischen Augen die weißen
-Nixenglieder, lächelte vertraulich dem schönen Frauenpaar
-zu. &ndash; Da war es dem Gesellen, als habe die eine listig
-gewinkt, die andere nur milde gelächelt. Aus dem Nebel,
-<a class="pagenum" id="page_160" title="160"> </a>
-der sie umwogte, aber tönte das Lied der Hammerschmiedsgesellen:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Mir könn' dhun, mir könn' treiben, mir könn' loss'n, was mer wöll'n!«</td></tr>
-</table>
-
-<p>»Ja, ja,« nickte der Mann, »wenn's alle Hammerschmiedsgesellen
-wären! Aber doch, kleines Wurm, wissen
-auch sie nicht genau, gerade wie du und alle die andern
-es gar nicht wissen, wer von den beiden lieben Frauenzimmerchen
-da &ndash; die Wahrheit und welches die Lüge ist.«</p>
-
-<p>Als er das sagte und der kleine Schmiedsgeselle flehend
-die Arme hob, da schauten die beiden herrlichen Frauen
-zurück &ndash; die eine milde lächelnd:</p>
-
-<p>»<em class="ge">Du</em> bist die Wahrheit!« jauchzte der Geselle.</p>
-
-<p>Da hob die andere sachte und ernst den Finger an
-den Mund.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Und der Geselle barg das Gesicht in die Hände und
-weinte.</p>
-
-<p>Als er wieder aufschaute, sah er den Mann vor dem
-Champagnerkorken stehen und Zwiesprache halten mit einem
-nackten, kleinen Schlingel, der rittlings auf dem einen goldenen
-Pfropfen saß, Bogen und Köcher umgehängt hatte
-und blutrote Pfeile nach allen Richtungen verschoß; sein
-Krauskopf glänzte voll goldener Locken und trotz der Lachgrübchen
-saßen ein paar bitterernste Augen in dem jungen
-Gesicht.</p>
-
-<p>»Ich bin echt!« sagte er und zielte auf den Gesellen,
-und dem wurde es plötzlich ganz leicht um's Herz. Da
-lachte der kleine, nackte Bub ein tolles, befreiendes Lachen,
-und der Mann fiel ein, und das Gesellchen mußte mitlachen,
-bis ihm die Thränen aus den Augen liefen.</p>
-
-<p>Dicht hing der Nebel herunter. Die Wolken rieben
-sich die Fußsohlen an den Champagnerkorken. Rauch,
-schwerer, schwarzer, lichter, semmelblonder stieg auf aus
-<a class="pagenum" id="page_161" title="161"> </a>
-allen Schlöten. In der Ferne sah der Geselle einen silbernen
-Streifen, auf dem ein Mövenflügel blitzte. Ein
-dumpfes Gegroll wogte zu ihnen herüber. Ein Amboßschlag
-dröhnte.</p>
-
-<p>Fest mit den Füßen aufstampfend, ging der wunderliche
-Mann mit dem kleinen Schmiedegesellen viele Stufen
-hinab, und es klang, als ob jede Stufe knurrte:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Hammerschmiedsg'söll'n &ndash; dhun, was mer wöll'n!«</td></tr>
-</table>
-
-<p>Unten angekommen, sah der Mann wieder aus wie
-ein gewöhnlicher Europäer, und die Stube, in die sie eintraten,
-wie eine ganz gewöhnliche Kaufmannsstube.</p>
-
-<p>»Hör',« sagte der Mann zu einem andern, der da saß
-und schrieb, »wir müssen die Champagnerpropfen da oben
-an dem Dach neu vergolden, die hat der Nebel ganz blind
-gemacht.«</p>
-
-<p>Der andere nickte und schrieb weiter.</p>
-
-<p>Der Mann aber sah den kleinen Schmiedegesellen an
-und zupfte sich an den spitzen Oehrchen. Und dann lachten
-sie.</p>
-
-<hr />
-
-
-
-
-<div class="fss">
-<h2><a class="pagenum" id="page_162" title="162"> </a>
-Druckfehler.</h2>
-
-
-<table summary="" class="pa2">
- <tr>
- <td class="tdc">Seite</td>
- <td class="tdr">24,</td>
- <td class="tdc">Zeile</td>
- <td class="tdr">4</td>
- <td class="tdc">von</td>
- <td class="tdc">oben,</td>
- <td class="tdc">lies</td>
- <td class="tdc">:</td>
- <td class="tdl"><i>hant</i> statt <i>hante</i>.</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">68,</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">3</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">:</td>
- <td class="tdl">Silberflut statt Silberglut.</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">97,</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">15</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">:</td>
- <td class="tdl">Weh <em class="ge">in der</em> Welt.</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">118,</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">8</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">:</td>
- <td class="tdl"><em class="ge">ni</em>mmer statt immer.</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">122,</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">26</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">:</td>
- <td class="tdl">aus <em class="ge">seinen</em> Händen.</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">129,</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">10</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">:</td>
- <td class="tdl"><em class="ge">sein</em> leuchtendes Auge.</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">155,</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">23</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">:</td>
- <td class="tdl"><em class="ge">drauf</em> ritten.</td>
- </tr>
-</table>
-</div>
-
-<hr class="mb4"/>
-
-
-
-
-<div class="mw30 fss mb4">
-<h2 class="mt0">Im <em class="ge">Verlags-Magazin J.&nbsp;Schabelitz</em> in <em class="ge">Zürich</em> ist
-erschienen und durch alle Buchhandlungen zu beziehen:</h2>
-
-
-<p class="tdl"><b>Amerikanische Lebensbilder.</b> Skizzen und Tagebuchblätter. Von
-<em class="ge">Karl Knortz</em>. &ndash; 2&nbsp;Mk. =&nbsp;2&nbsp;Fr.&nbsp;50&nbsp;Cts.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Eines deutschen Matrosen Nordpolfahrten.</b> Wilhelm Nindemann's
-Erinnerungen an die Nordpolexpedition der »Polaris«
-und »Jeanette«. Von <em class="ge">Karl Knortz</em>. &ndash; 70&nbsp;Pf. =&nbsp;85&nbsp;Cts.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Hamlet und Faust.</b> Von <em class="ge">Karl Knortz</em>. &ndash; 1&nbsp;Mk. =&nbsp;1&nbsp;Fr.&nbsp;25&nbsp;Cts.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Irländische Märchen.</b> Von <em class="ge">Karl Knortz</em>. &ndash; Mk.&nbsp;1.60. =&nbsp;2&nbsp;Fr.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Nokomis.</b> Märchen und Sagen der nordamerikanischen Indianer.
-Von <em class="ge">Karl Knortz</em>. &ndash; 1&nbsp;Mk.&nbsp;60&nbsp;Pf. =&nbsp;2&nbsp;Fr.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Neue Epigramme.</b> Von <em class="ge">Karl Knortz</em>. &ndash; 1&nbsp;Mk. =&nbsp;1&nbsp;Fr.&nbsp;25&nbsp;Cts.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Goethe und die Wertherzeit.</b> Ein Vortrag. Von <em class="ge">Karl Knortz</em>.
-Mit dem Anhange: Goethe in Amerika. &ndash; 80&nbsp;Pf. =&nbsp;1&nbsp;Fr.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Grashalme.</b> Gedichte von <em class="ge">Walt Whitman</em>. In Auswahl
-übersetzt von <em class="ge">Karl Knortz</em> und <em class="ge">T.&nbsp;W. Rolleston</em>. &ndash; 2&nbsp;Mk.&nbsp;50&nbsp;Pf.
-=&nbsp;3&nbsp;Fr.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Vom Hudson bis zum goldenen Thor.</b> Ernste und heitere
-Erzählungen aus dem amerikanischen Leben. Von <em class="ge">Joseph
-Treumann</em>. 2&nbsp;Bände. &ndash; 5&nbsp;Mk. =&nbsp;6&nbsp;Fr.&nbsp;25&nbsp;Cts.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Ueberseeische Reisen.</b> Von <em class="ge">Amand Goegg</em>. &ndash; 2&nbsp;Mk.&nbsp;40&nbsp;Pf.
-=&nbsp;3&nbsp;Fr.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Bilder aus den Vereinigten Staaten.</b> Von <i>Dr.</i> <em class="ge">J.&nbsp;Richter</em>.
-&ndash; 1&nbsp;Mk.&nbsp;60&nbsp;Pf. =&nbsp;2&nbsp;Fr.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Aus dem Reiche des Tantalus.</b> Alfresco-Skizzen von <em class="ge">W.&nbsp;L.
-Rosenberg</em>. &ndash; 1&nbsp;Mk.&nbsp;60&nbsp;Pf. =&nbsp;2&nbsp;Fr.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Zweierlei Hoheit.</b> Roman von <em class="ge">Juvenalis Minor</em>. &ndash; 3&nbsp;Mk.&nbsp;60&nbsp;Pf.
-=&nbsp;4&nbsp;Fr.&nbsp;50&nbsp;Cts.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Heißes Blut.</b> Roman aus der französischen Provinz. 2&nbsp;Theile.
-Von <em class="ge">Hermann Gosseck</em>. &ndash; 5&nbsp;Mk. =&nbsp;6&nbsp;Fr.&nbsp;25&nbsp;Cts.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Scherben.</b> Gesammelt vom müden Manne (<em class="ge">Richard Voß</em>.)
-Zweite, stark vermehrte Auflage. &ndash; 5&nbsp;Mk. =&nbsp;6&nbsp;Fr.&nbsp;25&nbsp;Cts.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Schlimme Geschichten.</b> Drei Novellen. Von <em class="ge">Gustav Adolf</em>.
-&ndash; 1&nbsp;Mk.&nbsp;60&nbsp;Pf. =&nbsp;2&nbsp;Fr.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Ueber Graphologie</b> oder die Kunst, die Geistes- und Gemüthseigenschaften
-eines Menschen aus seiner Handschrift zu erkennen.
-Von <em class="ge">Fritz Machmer</em>. &ndash; 2&nbsp;Mk. =&nbsp;2&nbsp;Fr.&nbsp;50&nbsp;Cts.</p>
-</div>
-
-
-
-
-<div class="mw36 bo">
-<h2 class="mt0">Hinweise zur Transkription</h2>
-
-
-<p class="in0">Der Schmutztitel wurde entfernt.</p>
-
-<p class="in0">Im Originalbuch tragen die Kapitel jeweils am Anfang ornamentalen
-und am Ende floralen Schmuck, auf den in dieser Transkription verzichtet wurde.</p>
-
-<p class="in0">Die im Buch enthaltene Verlagswerbung wurde von der Rückseite des
-vorderen Einbanddeckels an das Buchende verschoben.</p>
-
-<p class="in0">Das Originalbuch ist in Fraktur gesetzt.</p>
-
-<p class="in0">Darstellung abweichender Schriftarten: <em class="ge">gesperrt</em>, <i>Antiqua</i>, <b>fett</b>.</p>
-
-<p class="in0">Der Text des Originalbuchs wurde grundsätzlich beibehalten,
-einschließlich uneinheitlicher Schreibweisen wie beispielsweise
-"Apollo" &ndash; "Appollo", "Bacchus" &ndash; "Bacchos", "Höckerweib" &ndash; "Hökerweib",
-"Schmiedegeselle" &ndash; "Schmiedgeselle", "Sonntagkind" &ndash; "Sonntagskind",</p>
-
-<p class="in0">mit folgenden Ausnahmen,</p>
-
-<p class="in0">entsprechend dem Korrekturverzeichnis des Originalbuchs</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_024">24</a>:<br />
-im Original "ich hete in mîne hante gesmogen"<br />
-geändert in "ich hete in mîne hant gesmogen"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_068">68</a>:<br />
-im Original "In tiefe, rauschende Silberglut"<br />
-geändert in "In tiefe, rauschende Silberflut"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_097">97</a>:<br />
-im Original "als ob all das Weh in Welt"<br />
-geändert in "als ob all das Weh in der Welt"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_118">118</a>:<br />
-im Original "wenn Ihr die Liebe sucht, fliegt immer zu Thal"<br />
-geändert in "wenn Ihr die Liebe sucht, fliegt nimmer zu Thal"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_122">122</a>:<br />
-im Original "aus ihren Händen weg und zu uns"<br />
-geändert in "aus seinen Händen weg und zu uns"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_129">129</a>:<br />
-im Original "und ein leuchtendes Auge weilt"<br />
-geändert in "und sein leuchtendes Auge weilt"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_155">155</a>:<br />
-im Original "die Gedanken, die draus ritten"<br />
-geändert in "die Gedanken, die drauf ritten"</p>
-
-<p class="in0">und außerdem</p>
-
-<p class="ci">Seite 13:<br />
-im Original "wo wollen die vielen Menschen hin die dort"<br />
-geändert in "wo wollen die vielen Menschen hin, die dort"</p>
-
-<p class="ci">Seite 25:<br />
-im Original "Flüstern durch den Saal und und ein Beben"<br />
-geändert in "Flüstern durch den Saal und ein Beben"</p>
-
-<p class="ci">Seite 39:<br />
-im Original "Weise Hosen, schwarzes Röcklein und auf dem Kopf"<br />
-geändert in "Weiße Hosen, schwarzes Röcklein und auf dem Kopf"</p>
-
-<p class="ci">Seite 40:<br />
-im Original "wenn ihr die zackigen Blätter"<br />
-geändert in "wenn Ihr die zackigen Blätter"</p>
-
-<p class="ci">Seite 45:<br />
-im Original "Cochenille &ndash; Kaktus, unansehnliche, häßliche Dinger"<br />
-geändert in "Cochenille-Kaktus, unansehnliche, häßliche Dinger"</p>
-
-<p class="ci">Seite 49:<br />
-im Original "Wohl süß ist es zu singen"<br />
-geändert in "»Wohl süß ist es zu singen"</p>
-
-<p class="ci">Seite 56:<br />
-im Original "sieh', doch, da ist das Märchen!"<br />
-geändert in "sieh' doch, da ist das Märchen!"</p>
-
-<p class="ci">Seite 56:<br />
-im Original "die Kinder faßten sich bei deu Händen"<br />
-geändert in "die Kinder faßten sich bei den Händen"</p>
-
-<p class="ci">Seite 76:<br />
-im Original "den Bäuuen aus dem Wege gehen"<br />
-geändert in "den Bäumen aus dem Wege gehen"</p>
-
-<p class="ci">Seite 85:<br />
-im Original "Regiment Weizenfeld-Allerfeinste-Mehlsorte No.&nbsp;1"<br />
-geändert in "Regiment Weizenfeld-Allerfeinste-Mehlsorte No.&nbsp;I"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_108">108</a>:<br />
-im Original "deren heißes Menschenherz langsam, zu"<br />
-geändert in "deren heißes Menschenherz langsam zu"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_135">135</a>:<br />
-im Original "wie zart, geschickt die Fäden verknüpft!«"<br />
-geändert in "wie zart, geschickt die Fäden verknüpft!"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_139">139</a>:<br />
-im Original "Mannes dunkles Haar ziehen sich Silderfäden"<br />
-geändert in "Mannes dunkles Haar ziehen sich Silberfäden"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_140">140</a>:<br />
-im Original "dekorierten Flügel und fliegt von dannen"<br />
-geändert in "dekorierten Flügel und fliegt von dannen."</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_146">146</a>:<br />
-im Original "Seele verwandelte sich einen"<br />
-geändert in "Seele verwandelte sich in einen"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_155">155</a>:<br />
-im Original "finster, beklemmend, Bleiche Gestalten"<br />
-geändert in "finster, beklemmend. Bleiche Gestalten"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_157">157</a>:<br />
-im Original "Aus dem lichten, ragenden, Schornstein"<br />
-geändert in "Aus dem lichten, ragenden Schornstein"</p>
-
-<p class="ci">in der Verlagswerbung:<br />
-im Original "Rosenberg. &ndash; 1&nbsp;Mk.&nbsp;60&nbsp;Pf. =&nbsp;2&nbsp;Fr. =&nbsp;1&nbsp;Fr."<br />
-geändert in "Rosenberg. &ndash; 1&nbsp;Mk.&nbsp;60&nbsp;Pf. =&nbsp;2&nbsp;Fr."</p>
-</div>
-
-<div style='display:block; margin-top:4em'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK VENUSMÄRCHEN ***</div>
-<div style='text-align:left'>
-
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-Updated editions will replace the previous one&#8212;the old editions will
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-</div>
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-</div>
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- of the country where you are located before using this eBook.
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-Vanilla ASCII&#8221; or other form. Any alternate format must include the
-full Project Gutenberg&#8482; License as specified in paragraph 1.E.1.
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- Section 4, &#8220;Information about donations to the Project Gutenberg
- Literary Archive Foundation.&#8221;
- </div>
-
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-
-
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@@ -1,5415 +0,0 @@
-The Project Gutenberg eBook of Venusmärchen, by Edna Fern
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
-most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
-of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you
-will have to check the laws of the country where you are located before
-using this eBook.
-
-Title: Venusmärchen
- Geschichten aus einer andern Welt
-
-Authors: Edna Fern
- Fernande Richter
-
-Release Date: December 26, 2021 [eBook #67015]
-
-Language: German
-
-Produced by: the Online Distributed Proofreading Team at
- https://www.pgdp.net (This file was produced from images
- generously made available by The Internet Archive)
-
-*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK VENUSMäRCHEN ***
-
-
-
-
-
- Venusmärchen.
-
- Geschichten aus einer andern Welt.
-
-
- Von
-
- Edna Fern.
-
-
- [Illustration]
-
-
- Zürich 1899.
-
- Verlags-Magazin J. Schabelitz.
-
-
- Alle Rechte vorbehalten.
-
- Druck von J. Schabelitz in Zürich.
-
-
-
-
- Was ich als Kind einst von der alten Muhme
- In märchengrauer Dämmerstund' erlauscht,
- Was sonnenhell mir Wind und Wald gerauscht,
- Was mir geduftet hat die stille Blume,
-
- Das wuchs in mir zu einem Heiligtume. --
- Da kam das Leben, wichtig aufgebauscht,
- Und hätt' vernünftig thuend gern vertauscht
- Das Märchen mir -- zu ernstem Wissens-Ruhme.
-
- Doch lächelnd ging das Flüchtige vor mir her
- Und zeigte mir den Weg aus Tages Enge
- Und hob empor mich aus der Welt Gedränge --
-
- Der Märchen-Weisheit ewige Wiederkehr,
- Die lehrt' es mich. -- Nun nimmt es seinen Lauf
- Mild siegend weiter: Nehmt es bei euch auf! --
-
-
-
-
-Inhalt.
-
-
- Seite
-
- Venus und Madonna 1
-
- Der kleine Finger der Venus von Medici 5
-
- Der gefesselte Cupido 18
-
- Psyche 24
-
- Unser Frühling 37
-
- Frostiger Frühling 43
-
- Das Märchen, das gar nicht kommen wollte 50
-
- Klein Hildegard 58
-
- Das Märchen, das verloren gegangen war 70
-
- In der Gosse 81
-
- Sonniger Winter 91
-
- Ein Weihnachtsmärchen 99
-
- Schneeflocken 108
-
- Das Märchen von der weißen Stadt 120
-
- Weltausstellung im Walde 130
-
- Das Märchen von Einem, der auszog, ein Sonntagskind zu werden 141
-
- Rauch 151
-
-
-
-
-Venus und Madonna.
-
-
-Dunkel wölbt sich der Himmel über der Erde, und die Sterne grüßen
-einander und winken -- das ist das Flimmern -- fassen einander bei den
-Händen und tanzen einen feierlichen Reigen über die unermeßlichen
-Himmelsbahnen, und »Seht, wie klar die Milchstraße heute Abend ist!«
-sagen sie auf der Erde. --
-
-Da löst sich ein großer, glänzender Stern vom Firmament, der hat
-funkelnd im kalten Norden gestanden, zieht seine leuchtende Bahn über den
-dunkeln Nachthimmel hinweg und fällt zur Erde nieder. --
-
-Da löst sich ein anderer, ein flimmernder, unruhiger Stern vom Firmament,
-der hat blitzend im Süden gestanden, zieht seine schimmernde Bahn über
-den dunkeln Nachthimmel und fällt zur Erde nieder. --
-
-Und die beiden schönen Sterne fallen auf die große, weite Erde, in einen
-Wald voll mächtiger Bäume, süß duftender Blumen, singender Vögelein,
-spielender Tiere. -- Und siehe! da stehen die ersten Menschen, ein Mann
-und ein Weib, sie blicken einander an, reichen sich die Hände und küssen
-sich. Die beiden vom Himmel gefallenen, Mensch gewordenen Sterne -- sie
-sind der Glaube, der Glaube an das Schöne, und die Sehnsucht. --
-
-Und wieder und wieder flimmern, zittern, funkeln die Sterne am Himmel. Im
-Walde der Ewigkeit ruht das Weib in den Armen des Mannes; und sie gebiert
-ihm die Liebe -- das Kind der Sehnsucht und des Glaubens.
-
-Da aber das schöne Menschenpaar ganz allein im großen, weiten Walde
-wohnt, und nichts weiß von dem Gewimmel des Zwergengeschlechtes weit
-draußen in der Welt, so wissen sie auch nicht, wen sie wohl zu Gevatter
-bitten sollen, als sie ihr Kind, die holde Liebe, mit Himmelstau zu taufen
-gedenken. Schon beginnen die Maiglöckchen ein wunderlieblich Geläut,
-die Vöglein konzertieren und singen und flöten, und einherziehen
-gravitätisch die Tiere des Waldes.
-
-Das anmutige Reh äugt mit klugen Augen, das Häslein putzt sich, das
-Eichhörnchen tanzt, der Dachs lugt hervor aus seinem Versteck, die
-Eidechsen und Käfer huschen und jagen, die Schmetterlinge gaukeln um die
-Blätterwiege, in der die Liebe ruht -- --, aber niemand ist da, der
-das Kindlein tauft, und keine Gevatterin, die Liebe über die Taufe zu
-halten. --
-
-»Ich,« spricht der Fuchs und kommt geschlichen und streckt sein spitzes
-Näschen zur Wiege des Kindes empor, »ich versteh's, das Taufen, bin bei
-den Jesuiten in die Lehre gegangen, bin gut katholisch und sehr schlau.«
-
-»Krah, krah!« krächzt ein großer, schwarzer Kolkrabe, »hier, nehmt
-mich! Strengorthodox, schwarz, düster, wie meine Religion.«
-
-»Vielleicht alttestamentarisch?« fragt höflich ein Eidechslein,
-glitzernd von Gold, und dreht und windet sich immer wieder heran.
-
-»Oder gar freisinnig?« klappert der Storch, spießt nach dem Eidechslein,
-kröpft sich und schlägt sehr stolz und freisinnig mit den Flügeln.
-
-Vater Glaube und Mutter Sehnsucht schütteln die schönen Häupter und
-blicken ratlos um sich -- doch sieh! Licht, Sonnenschein überall um sie
-her, flutet über Blumen und Vöglein und Tiere hin, und
-
-»Ich,« spricht der Sonnenstrahl, »will die Liebe taufen. Ich dringe ihr
-ins Herz hinein, ich wohne in ihren Augen. In jedem Lächeln ihres Mundes
-zittere Sonnenschein, in jeder Bewegung ihrer Glieder herrsche Anmut,
-Freude, Wärme.« Und
-
-»Wir,« klingen sanfte und wunderbar eindringliche Stimmen, »wir wollen
-Paten sein.« Zwei Frauengestalten neigen sich zu jeder Seite der Wiege,
-in der die Liebe schlummert, so schön, so überirdisch schön, daß Glaube
-und Sehnsucht demütig niederknieen. Die wissen nicht, ist es ein und
-dieselbe, die zwei Gestalten angenommen hat, oder sind es zwei hehre
-Frauen, die da niedergestiegen sind aus den Wolken, die Liebe zu
-segnen. Wunderbar ähnlich sind sich die Schwestern, nur trägt die eine
-langwallende Gewänder, und sie hält ein lieblich Kindlein fest an
-ihr Herz gedrückt, und mild und rein ist das Lächeln ihres Mundes.
-Unverhüllt glänzen der andern herrliche Glieder, süß berauschend wirkt
-ihre Nähe, und heiße Glut entströmt den Augen.
-
-Die beugt sich nieder zur Blätterwiege und küßt das schlummernd Kindlein
-auf die unschuldigen Lippen, und spricht:
-
-»Deinen Körper gib hin, o Liebe, und all deine Sinne und jede Fiber
-deines Herzens!«
-
-Da legt die Erste segnend die Hand auf des Kindes Haupt:
-
-»Deine Seele gib,« hauchte sie, »und Mutterliebe sei dein Glück!« --
-
-Und siehe! Aus dem Kinde ist plötzlich ein Weib geworden, himmlisch
-schön, wie das Schwesterpaar -- es steht allein in all seiner Pracht auf
-der weiten, sonnigen Erde. So zieht die Liebe in die Welt hinaus, das Kind
-der Sehnsucht und des Glaubens, keusch wie Madonna, wonnig wie Venus -- und
-das Zwergengeschlecht wendet sich ab von ihr, denn es kennt sie nicht. --
-Weiche Lüfte aber wehen und tragen das Elternpaar, das der Welt die Liebe
-geboren hat, hinan zum Himmel. Dort, zwischen den Sternen, wohnen nun
-wieder die Sehnsucht nach dem Glück und der Glaube an das Schöne. --
-
-
-
-
-Der kleine Finger der Venus von Medici.
-
-
-Es war einmal ein Sonntagskind, das wanderte in der Welt umher und suchte
--- es wußte selber nicht was. Aber es blieb nicht auf dem schönen,
-trockenen, breiten Wege, den schon so viele andere vor ihm gewandelt waren,
-sondern mit der, den Kindern eigenen Passion für das Unbequeme, lief
-es quer über die Straße, kletterte mühsam über einen großen Stein,
-tappste in eine Pfütze, wie es ja deren so viele in der Welt gibt, und als
-es erschrocken seine schönen, reinen Füßchen zurückzog, geriet es in
-den Straßenkot; da eilte es entsetzt weiter, stolperte auf der anderen
-Seite über einen noch größeren Stein und rannte mit dem Magen gegen
-eines der eisernen Gitter, die überall in der Welt herumstehen. Nun
-hatte vorläufig seine Reise ein Ende. Verdutzt sah es ein Weilchen das
-häßliche Gitter an, dann um sich und nun über sich, und es erblickte
-eine große, dunkle Wolke, die ballte sich zusammen aus all dem Dampf, der
-aus den Häusern, den Fabrikschornsteinen, den Lokomotiven aufstieg,
-und zog wie ein Heer Gespenster über den lieben Abendhimmel. Der schien
-seltsam bunt drunter hervor -- glührot und rosenfarben und lichtgrau und
-blau und zartes Grün -- wie als ob er dem schwarzen Gespensterheer mit
-seinen Lichtelfen Trotz zu bieten gedächte. Aber die finstere Riesenwolke
-ballt sich immer drohender und trotziger zusammen, und da wird es dem
-Sonntagskinde ganz beklommen und bange ums Herz, und es stürzt davon,
-durch die Straßen, so schnell es seine Füße tragen können, und über
-ihm zieht die Wolke. Da aber verschwindet sie plötzlich, wie fortgeweht,
-und das Kind hält inne in seinem tollen Lauf, denn es steht vor einem
-goldenen Gitter, hinter dem hohe Bäume herüberwinken und ein süßer,
-feiner Duft emporzieht.
-
-»Ach,« denkt das Sonntagskind, »da drinnen muß es gut sein, ich möchte
-ausruhen, denn ich bin sehr müde -- ob ich wohl hineinschlüpfen dürfte?
--- Ich will auch ganz leise sein.«
-
-Kaum hat es das gedacht, so öffnet sich die goldene Thür, sanft, wie
-von Feenhand, und das Sonntagskind schleicht vorsichtig hinein, sich noch
-einmal bang nach der schwarzen Wolke umschauend. -- Richtig, ganz in weiter
-Ferne hängt sie und blickt drohend herüber.
-
-Nun ist das Sonntagskind drinnen in einem herrlichen Garten. Weg ist seine
-Müdigkeit; mit weitgeöffneten, glänzenden Augen wandelt es auf weichen
-Wegen unter hohen, ernsthaften Bäumen; mit zitternden Lippen saugt es
-süße, berauschende Düfte ein, es lauscht mit Herzklopfen den wonnevollen
-Tönen, von denen die Luft ringsum erfüllt ist. Wie tausend Nachtigallen
-Gesang klingt es, aber es sind nicht allein die kleinen Vöglein in
-den Zweigen, die so liebliche Melodieen erschallen lassen. Nein,
-jedes Blättlein, jede Blüte ist wie ein Echo und trägt die weichen,
-sehnsüchtigen Nachtigallentöne vieltausendfach weiter. Und all die Blumen
--- die Hyacinthen läuten mit ihren Glöckchen »Klingling! Ach, wie wonnig
-ist's hier!« und »Dingdang, dingdang!« antwortet die blaue Glockenblume,
-»ich läute zur Abendmette der Natur!« --
-
-Die hohen, schneeigen Lilien senden ihre schweren, süßen Düfte nach
-oben, der sentimentale Jasmin, die neckische Syringe; und die schwermütige
-Narcisse wendet ihr weißes Blumengesicht sehnsüchtig dem Monde zu. Denn
-Nacht ist's geworden: Millionen blitzender Sterne sehen mit funkelnden
-Augen vom Himmel hernieder, und der Mond gleitet mit ruhigem Schein über
-den Garten hinweg, so hell und klar, daß das Sonntagskind die vielen
-zierlichen Gestalten sehen kann, kleine Elfen und Kobolde, die sich im
-Gras zwischen den Blumen tummeln, und die Nixen und Wasserelfen -- auf den
-großen, grünen Blättern der Wasserrosen im See kauern sie und lassen
-sich schaukelnd hin und her treiben und greifen jauchzend nach dem
-glitzernden Sprühregen, den Tritonen im mächtigen Strahl gen Himmel
-senden und der, leuchtend wie Diamanten im Mondesglanz, zu ihnen
-niederfällt.
-
-In den lauschigen Ecken und Winkeln der Gebüsche stehen weiße Gestalten
--- sind's Menschen? Sie sind nackt, kaum mit einem leichten Flor bekleidet.
--- Sie sind schön, himmlisch schön, und das Sonntagskind tritt näher und
-faßt Mut, weil sie so gar lieb und gut blicken, und es berührt sie ganz
-vorsichtig und leise mit der Hand, streichelt die schönen, nackten Füße
-und -- fährt erschrocken zurück, denn eiseskalt sind sie und tot.
-
-Doch sieh -- bewegen sie sich nicht? Und horch -- hörst Du nicht leises
-Kichern, Flüstern, neckisches Lachen -- ach, und klagendes Schluchzen? --
-Die Hand des Sonntagskindes hat sie berührt -- sie leben, die schönen,
-marmornen Menschenbilder, das rote, warme Blut rollt durch ihre Adern,
-sie lächeln, es bebt ihr Fuß zum Weiterschreiten. Da neigen sie sich vor
-ihrer Königin -- die steht in ihrer Mitte, ein wonnevoll Weib, zierlich
-treten ihre schlanken Füße den Boden, die linke Hand deckt schamhaft den
-Schoß, die rechte den schneeigen Busen, zur Seite geneigt hält sie das
-liebliche Haupt, die holde Venus von Medici -- und nun fassen sie sich bei
-den Händen, die herrlichen Göttergestalten und die Elfen und Nixen mit
-ihrer weichen, eidechsenhaften Schmiegsamkeit und die komischen Kobolde mit
-ihren langen Bärten und listigen Aeuglein und drolligen Bewegungen; sie
-tanzen einen zierlichen, wunderlichen Reigen um das Sonntagskind im Kreise,
-und sie singen:
-
-»Bleib' bei uns -- o hier ist's gut sein! Hier ist Schönheit, hier ist
-Liebe -- zu süßer Freude wandelt die Lust sich, zu mildem Frieden Angst
-und Unruh' -- -- Ach, und der Schmerz, der wild durchtobt des Menschen
-Herz -- er löst sich auf in sanftes Klagen, die Sorge wird hier zu Grab'
-getragen, und aller Kummer lind gestillt. --
-
-»Hörst Du der Nachtigall Gesang? -- So singt die Sehnsucht in Deinem
-Herzen.
-
-»Hörst Du der Blumen Geläut? -- So läuten sie Deine bange Seele zur
-Ruh.«
-
-Und horch! Welch wunderlieblich Geklinge und Gesinge, wie Glockentöne in
-weiter Ferne! Näher kommt's -- immer näher -- husch! der lustige
-Kreis stiebt auseinander, blitzschnell, wie er gekommen, und vor dem
-Sonntagskinde steht eine hehre, schöne Frau, deren zarten Leib umgibt
-ein Kleid von Rosenblättern, auf dem wonnesamen Haupt strahlt eine
-Sternenkrone, die Flügel des Königsfalters trägt sie an den Schultern,
-und ihre Füße wandeln auf Blumen.
-
-Sie lächelt -- da zittert die Luft vor Freude -- Sie spricht -- da
-lauschen Mond und Sterne. -- »Haben sie Dich erschreckt da draußen in der
-Welt, Du Menschenkind?« sagt sie, »hat die große, schwere Wolke Dir das
-Herz beklemmt und Dir den Atem genommen? Und bist Du zu mir geflüchtet, in
-den Garten der Wonne, in mein Königreich, das Reich der Phantasie? -- Ich
-wußte es wohl, Ihr Menschenkinder könnt ohne mich nicht bestehen. Da geht
-ein lautes Gerede, ein wildes Geschrei durch die Welt: sie brauchen mich
-nicht, _nur_ Natur wollen sie, und nur im groben Alltagskleid, nicht
-im glänzenden Schmuck, im schimmernden Geschmeid, womit ich sie
-überschütte. -- Aber siehst Du, Du Sonntagskind, kommst doch geflüchtet
-zu Deiner Trösterin, ohne die Du die Natur nicht ertragen, ohne die Du
-nicht leben kannst. -- Und wenn Du wieder hinausziehst, dann sag' es ihnen
-draußen in der Welt, was Du geschaut in meinem Reich. -- Ach, gerade
-jetzt sollten sie es wissen, wo die dunkle Wolke schwer über den Völkern
-schwebt und sie darnieder drückt.
-
-»_Weißt_ Du, warum gerade jetzt? _Willst_ Du es wissen?«
-
-Sie blickt um sich und klatscht in die Hände. Und siehe -- ein
-wunderlicher Geselle kommt gehüpft, getollt, gesprungen: nackt ist er und
-zart von Gliedern, mit schelmischem Mund und ernsthaften Augen, einen Bogen
-trägt er in der Hand und einen Köcher mit Pfeilen an der Hüfte. --
-Sah ihn das Sonntagskind nicht dort im Syringengebüsch auf einer Säule
-stehen?
-
-Doch nun -- einen Purzelbaum schlägt er auf dem weichen Gras und ist zum
-eisgrauen Männlein geworden, das lustig mit den Aeuglein zwinkert und
-allerlei Kapriolen macht, und plötzlich schwebt er in der Luft, so
-fein und zart, als sei er aus Mondenschein gewebt, als sei er auf Blumen
-geboren, als sei er mit Tautropfen genährt. Und nun wieder trottelt er
-daher wie ein kleiner Brummbär und schlägt mit einer Keule um sich, daß
-die Nixchen und Elflein entsetzt zur Seite weichen.
-
-»O, laß die Possen, Du närrischer Kauz,« lächelt Frau Phantasie,
-»nimm Deine wahre Gestalt an, mein Gesell« -- da klingelt's wie von
-silbernen Glöckchen, die trägt das wunderliche Kerlchen an seiner
-Schellenkappe auf dem Haupte, und legt sein Gesicht in ernsthaft-drollige
-Falten, hängt seinen Bogen über den Rücken, als gebrauche er ihn nicht
-mehr, und schreitet umher mit gravitätischen Schritten.
-
-»Ist das Deine wahre Gestalt?« Frau Phantasie schüttelt das schöne
-Haupt ... »nun, sei es drum. Sieh',« sagt sie zum Sonntagskind gewandt,
-»den Mittler zwischen mir und den Menschen. Nenne ihn Amor, Puck, Geist,
-wie Du willst; kannst ihn auch Humor heißen, das hört er am liebsten.
-Geh' mit ihm -- die Welt soll er Dir zeigen, wie sie uns Göttern
-erscheint. An seiner Hand wird es Dich weniger schmerzen.«
-
-Sie gleitet dahin wie der Mondesstrahl, die hehre Königin, und ihr
-nach durch Busch und Zweig, über Blumen und Moos huscht das lose Volk,
-Leuchtkäfern gleich, die in Abendluft baden, und in der Ferne tönt
-neckisch Gelache. --
-
-»Komm',« sagt der närrische Geselle, und schüttelt seine Kappe, daß
-die Glöckchen klingen, »reich' mir Deine Hand, armes Sonntagskind. Hab
-Dich schon gesehen draußen in der Welt, wie Du über Steine gestolpert
-bist und in Pfützen getreten hast. Ja, es ist immer sicherer, auf den
-hübsch ausgetretenen Pfaden der Alltäglichkeit zu wandeln, als seinen
-eigenen Weg gehen zu wollen. Hast Dich zur rechten Zeit in meiner Mutter
-Phantasie Garten gerettet, sonst hättest Du Dir sicher noch einmal an
-irgend einem Weltgitter Kopf und Herz eingerannt, Du dummes Sonntagskind,
-Du. -- Also ich soll Dir zeigen, wie es in der Welt eigentlich aussieht.
-Wohl kann ich Dir's erklären, denn ich treibe mich viel draußen herum.
-Einige in der Welt schwärmen für mich, andere sagen, ich sei ein wahrer
-Teufel. Wenn ich mit der Schellenkappe klingele, verstehen mich die
-Wenigsten; da muß ich oft schon mit der Plumpkeule dreinschlagen, und dann
-schreien sie und sagen, ich hätte ihnen weh gethan. -- Komisches Volk,
-diese Menschen!«
-
-Jetzt sind sie am Ende des Gartens angelangt. Eine hohe Mauer scheidet ihn
-von der Außenwelt; an der ranken sich wilder Wein und Epheu, und blaue
-Clematis hängen hernieder und rote Trompetenblumen, so dicht, daß man von
-den rauhen Steinen nichts gewahr wird, wie nur die runden Glasfensterchen,
-die hie und da in die Quadern eingefügt sind.
-
-»Sieh,« sagt der närrische Sohn der Phantasie und reicht dem
-Sonntagskind eine große Trompetenblume als Fernrohr, »die ganze Welt
-zieht wie die Bilder eines Guckkastens an unsern Fensterchen vorüber.
-Mußt aber nicht durch dieses hier sehen, das ist die rosenfarbene Brille,
-durch das schauen nur die Faulen, die ihre Gedanken nicht anstrengen mögen
--- ~nota bene~, wenn sie welche haben -- und jenes Fenster dort ist gelb
-wie der Neid und dieses rot wie Blut, als ob die Welt in Feuer stünde.
-Nein, schau hierher -- Clematis und Weinranken haben ein schönes, kleines
-Guckloch gebildet, ein Vöglein, das früh morgens zur Sonne singt, hat
-sich drüber ein Nestlein gebaut -- _das_ Glas ist klar und wahr wie meiner
-Mutter Augen. Komm, Du Sonntagskind, laß mich über Deine Schulter lehnen
-und Dir sehen helfen.«
-
-»Nein, wie ist die Welt klein!« ruft das Sonntagskind verwundert.
-
-»Nicht wahr?« antwortet der Geselle, »und Du hast sie immer für so
-riesengroß und wichtig gehalten.«
-
-»Und die Menschen -- wie Zwerge! Sieh' nur das Gewimmel!« lacht das
-Sonntagskind.
-
-»Ja, das macht Spaß, die Welt übersehen zu können,« nickt der Geselle
-und die Glöckchen an seiner Schellenkappe klingeln dazu.
-
-Da draußen in der Welt krabbelt's, prustet's, keucht's und läuft und
-schiebt und stößt -- die Großen drängen die Kleinen zur Seite, die
-Starken schlagen die Schwachen tot, und die Armen wehklagen gen Himmel. --
-
-»Wie eilig sie es alle haben!« wundert sich das Sonntagskind.
-
-»O sieh' nur, sieh' -- den alten Mann, einen Kahlkopf hat er und unterm
-Kinn einen grauen Ziegenbart, und die Augenbrauen stehen wie Borsten in die
-Höhe und die Augen glitzern gierig darunter hervor. -- Sieh', wie er an
-dem Sack zerrt, wie Gold schimmert es durch die Löcher -- er kann ihn kaum
-regieren und Angst und Zornesthränen rinnen aus seinen Augen.«
-
-»Ja, und er trägt rot und weiß gestreifte Hosen und einen blauen Rock,«
-sagt Puck, »und er kaut Tabak, und er flucht englisch, wenn die andern
-seinem Geldsack zu nahe kommen.«
-
-»Ach, und jener dort -- mit großen Sprüngen, mit ellenlangen Schritten
-setzt er dem kleinen Irrlicht nach, das über Berg und Thal, durch Sumpf
-und Morast vor ihm herhüpft, und sieh' nur, wie seine Frau sich anstrengt,
-mitzukommen.«
-
-»Sieh, sie hebt ihre schönen, seidenen Kleider auf, daß sie nicht
-schmutzig werden, und patsch! springt sie mit beiden Füßen in die
-Wasserlache -- nachher läßt sie die Kleider wieder drüber hängen --
-dann sieht man ihre beschmutzten Füße nicht -- und guck! das Irrlicht
-sieht aus wie ein Ordensbändchen.«
-
-»O, aber hier, wie schrecklich -- sie bücken sich tief zur Erde, damit
-andere auf ihre Rücken treten können und weiter schreiten dort hinauf, wo
-es so glitzert und gleißt wie von Prunk und Geschmeide. -- Und dort läßt
-sich einer schlagen -- ach, geduldig und wehrt sich nicht!«
-
-»Liebes Kind,« sagt der Gesell, »die sind aus dem Land, wo die Bedienten
-gut geraten.«
-
-»Lieber Gesell -- o siehst Du den Mann dort in der Ferne -- mit bleichen
-Lippen, mit rollenden Augen? Siehst Du, wie er mordet und zittert und
-flucht und betet, wie er angstvoll sich windet --«
-
-»Liebes Kind -- der sitzt auf einem Thron, der wackelt hin und her, und er
-trägt den Wahnsinn als Krone und als Scepter eine blutrote Brandfackel --
-wenn er die von sich schleudert, dann bebt die Erde von Kanonendonner
-und Menschengestöhn -- und ›Väterchen‹ nennt sich der Mann, liebes
-Sonntagskind.«
-
-»Ach, mein Geselle, wo wollen die vielen Menschen hin, die dort mit den
-feinen, kostbaren Kleidern angethan, die ein mit Silber beschlagenes Buch
-und einen Geldbeutel in den Händen tragen, die, mit den frommen, ergebenen
-Gesichtern --«
-
-»In die Kirche, Du dummes Sonntagskind, auf daß der Prediger ihnen in
-tönenden, salbungsvollen Worten die Angst vom Herzen rede. Dann thun sie,
-als ob sie's glauben, was er sagt, und gehen neugestärkt nach Hause und --
-leben weiter.«
-
-»Und siehst Du jene Schar dort, mein Geselle, Ballettänzer scheinen sie
-zu sein. Hei! was sie für Sprünge machen! -- Schau, die wunderlichen
-Gesten, und wie elegant sie zu posieren verstehen -- dem Publikum eine
-rechte Augenweide. Aber doch -- ich glaube sie thun nur so, es ist ihnen
-nicht wohl ums Herz -- sie schauen bleich aus, trotz Schminke und Puder. --
-Sag, mir, was sind's für Leute?«
-
-»Liebes Kind -- Litteraten sind's, moderne aus dem neunzehnten
-Jahrhundert, und die barocken Sprünge und eleganten Posen machen sie aus
-Angst, um sich und das Publikum d'rüber hinwegzutäuschen.«
-
-»Und, mein Geselle, sieh' den Mann dort hinter dem Ofen, in Schlafrock
-und Pantoffeln, mit langer Pfeife und dem Bierseidel in der Hand. -- Recht
-unzufrieden scheint er mir zu sein, er rückt unruhig hin und her -- horch!
-er schilt und gebraucht böse Worte.«
-
-»Ja, liebes Kind -- das Bier schmeckt nicht, und die Kartoffeln sind
-mißraten, und die Pfeife qualmt und durch die Schlafrockärmel pfeift
-der Wind, und die Pantoffeln sind unbequem. Da hadert er mit seinem
-langmütigen Herrgott im Himmel droben, mit dem Brauersknecht, dem Nigger,
-dem Schuster und am meisten mit seiner lieben Frau -- und es ist doch nur
-die Angst, die ihn in seiner eigenen Haut sich nicht wohl fühlen läßt.
--- Ja, und ›Philister‹ nennt man den Mann, liebes Sonntagskind.«
-
-»Ach, und, mein Geselle, dort jene Hungernden, Darbenden, Elenden, jene
-Neidischen, Unzufriedenen, Hassenden, auf was warten sie finstern Auges,
-trotziger Stirn, rachsüchtigen Herzens? Und dort jene Ballgeschmückten,
-die im Reigen sich drehen! Was ziehen sie in ihren Masken und Flittern
-einher, als wollten sie die Freude zu Grabe tragen?«
-
-Da faßt der Geselle das Sonntagskind bei den Schultern und wendet es ein
-wenig zur Seite:
-
-»Schau dort hinüber, liebes Kind,« sagt er, »sieh' weithin über die
-Welt!«
-
-Da steht auf einem Berge, hoch über dem Gewirr, Gewimmel, Gehast, ein
-großes, starkes Weib, das schwingt mit grimmigem Lächeln, mit finsterem
-Angesicht eine Peitsche in ihren Händen, deren vielteilige, zackige
-Enden zischend über die ganze Welt hinsausen -- und hohnlachend sieht das
-Riesenweib, wie die Menschen angstvoll zusammenfahren und bei jedem Schlage
-noch verwirrter durcheinander rennen.
-
-»Die Wolke, die große Wolke!« ruft das Sonntagskind entsetzt, »siehst
-Du, wie sie über die Welt hinfährt? Hörst Du sie zischen und brausen?
-Das ist sie, die mich so erschreckt!«
-
-»Ja,« antwortet der neben ihm und richtet sich auf zu voller Höhe und
-seine Augen blitzen.
-
-»Das ist die Wolke -- das ist die große Angst, die schwer auf der Welt
-liegt, die Angst der Völker vor etwas Entsetzlichem, etwas Furchtbarem,
-das über sie kommen wird, wie der Blitz durch die Wolken fährt. -- Wird
-es sie vernichten? Wird es die Welt zerschmettern, zu nichts zertrümmern
--- oder wird aus dem Chaos ein Neues entstehen, ein Herrliches, wie der
-Vogel Phönix aus der Asche! Sie wissen's nicht und beben vor Furcht und
-wagen kaum, tief Atem zu holen.«
-
-»Gibt es denn gar kein Mittel, um die Welt von dieser wahnsinnigen Angst
-zu befreien, auf daß sie ihr kühn entgegenblicke und ihre ganzen Kräfte
-anstrenge, dem Schrecklichen mit Vernunft entgegen zu arbeiten?« fragt das
-Sonntagskind schüchtern.
-
-»Ach, liebes Sonntagskind,« lächelt der Geselle und schüttelt seine
-Glöckchen, »das Mittel ist schon da und die Menschen kennen's auch, nur
-haben sie es vergessen. -- -- All die große, schwere Angst der Völker
-würde sich in nichts verflüchtigen, wenn sie nur ein klein wenig mehr an
--- den kleinen Finger der Venus von Medici denken wollten.«
-
-»An den kleinen Finger der Venus von Medici?« fragt das Sonntagskind mit
-großen, verwunderten Augen.
-
-»Komm,« sagt der närrische Geselle, und schweigend wandern sie durch die
-Nacht tief in den Garten hinein. Da stehen sie vor einem dichten Gebüsch,
-von lauter seltsamen Sträuchern gebildet; Pinien wiegen ihre schlanken
-Wipfel und dunkler Lorbeer schmiegt seine Zweige ineinander. Aber des
-Mondes Strahl dringt doch hindurch -- oder ist es das schöne Weib dort,
-das den wundersamen Glanz ausstrahlt? Da steht sie in ihrer schimmernden,
-weißen Nacktheit inmitten all dem Grünen -- zierlich treten ihre
-schlanken Füße den Boden, die linke Hand deckt schamhaft den Schoß,
-die rechte den schneeigen Busen, und der wunderbare kleine Finger dieser
-rechten Hand spreizt sich ein wenig von den andern ab, zur Seite geneigt
-hält sie das schöne Haupt -- lauscht sie? --
-
-Betäubt von all ihrer Schönheit sinkt das Sonntagskind in die Knie. Der
-Geselle aber tritt bescheiden hin vor das wonnevolle Weib, schleudert seine
-Narrenkappe zur Seite und faltet bittend die Hände:
-
-»Hehre Göttin, süße Königin, Dein Knecht, dem Du stets Dich huldvoll
-geneigt hast, dem Du so manchesmal aus der Not geholfen, in die ihn sein
-Uebermut gestürzt hat -- Dein dankbarer Liebling naht sich Dir mit einer
-demütigen Bitte: Gib diesem Menschenkinde, das zu uns in seinem Kummer
-geflüchtet ist, einen Trost auf seinen Weg, den es der Welt verkünden
-kann. Laß es die Macht Deines vornehmen kleinen Fingers ahnen -- zeig'
-ihm, warum Du ihn so entzückend neckisch gespreizt hältst.«
-
-Da lächelt Venus: »Nun, wozu sollte er denn sonst wohl gut sein,«
-sagt sie schelmisch, erhebt die rechte Hand, läßt sanft den kleinen
-gespreizten Finger in die zierliche Ohrmuschel gleiten und schüttelt ihn
-ein wenig -- dann lauscht sie lächelnd freudig in die Ferne.
-
-»Ich höre wieder die bebenden Laute der Liebe und des Erbarmens --
-himmlisch wohllautend dringen sie in mein Ohr!«
-
-»Sieh', kleines Sonntagskind,« sagt der ernsthafte Geselle, »wie die
-Venus mit ihrem kleinen Finger die Spinnenweben der Lüge und Heuchelei
-und Hartherzigkeit aus ihrem Ohr hinaus schüttelt, so sollten es auch die
-Völker thun, dann würde die große, schwere Angst von ihnen weichen und
-die bebenden Laute der Liebe und des Erbarmens auch an ihr Ohr dringen.
-
-»Pah,« lacht er dann, nimmt seine Schellenkappe auf und wirft sie in die
-Luft, daß die silbernen Glöckchen klingeln, »armes Sonntagskind -- die
-Welt wird Dich steinigen, wirst Du ihnen das verkünden. Lache über sie,
-so wie ich, das ist das Einzige, was sie fürchtet.«
-
-Und mit immer länger werdenden Schritten, riesengroß anwachsend, ist er
-im Mondenlicht verschwunden.
-
-Dem Sonntagskinde aber hat die Venus gelächelt -- tiefer Friede deckt
-seine schweren Augenlider.
-
-Hell scheint die Sonne ihm ins Angesicht, es steht auf, schaut verwundert
-um sich -- dann erhebt es seine rechte Hand und schüttelt mit dem kleinen
-Finger ein wenig im Ohr -- es lauscht -- eine Lerche steigt jubelnd gen
-Himmel -- und in ganz weiter, weiter Ferne hängt ein dunkles Wölkchen am
-Horizont.
-
-
-
-
-Der gefesselte Cupido.
-
-
-Eines Tages saß Cupido -- ich meine nicht den patentierten,
-konzessionierten Heiratsvermittler und Rechenmeister des neunzehnten
-Jahrhunderts, sondern das liebe, mutwillige Bübchen, von dem Anacreon
-erzählt und Goethe in seiner »Brautnacht« --, der saß eines Tages im
-Olymp und langweilte sich. Er hatte zwar eben erst allerlei Schabernack
-verübt, hatte sogar dem Vater Zeus einen Brand-Pfeil ins Herz gesandt,
-so daß er nicht wußte, nach welcher hübschen Erdentochter er zuerst
-schmachten sollte, hatte versucht, die lange Artemis anzuschießen, aber
-vergebens, ebenso die Athene; und aus Rache dafür, daß sie ihm ihren
-kolossalen Minervaschild vorhielt, zupfte er ihre Eulen, die sie just
-fütterte, am Schwanz, so daß sie entrüstet »Huhu« sagten. Tante
-Juno hatte ihm sehr energisch auf die Finger geklopft, als er den Nymphen
-allerlei süße Dummheiten ins Ohr flüsterte und schließlich sogar den
-Dienerinnen der Vesta nachstellte; da war er zu seiner holdseligen Mutter
-Aphrodite geflüchtet, und sie breitete ihm sehnsüchtig die Arme entgegen,
-und schwirr, da flog der Pfeil und stak ihr im Herzen. Der böse, liebe
-Junge -- aber Aphrodite lächelte -- sie war's ja gewohnt! -- Nun saß
-Cupido auf einer Wolke und bammelte mit den Beinchen und guckte zur Erde
-hinab und langweilte sich. Da kam Hermes daher geflogen, der hatte irgend
-einer Schönen im Auftrage des Vaters Zeus eine Düte Ambrosia gebracht
-und dafür ein Stelldichein verabredet. Er mochte den Cupido gut leiden und
-hockte sich ein wenig zum Ausruhen neben ihn.
-
-»Du -- weißt Du, was sie da unten mit Dir gemacht haben?« fragte er ihn.
-
-»Nee -- was denn?«
-
-»Erst 'mal haben sie Dich riesig elegant angezogen, im schwarzen Frack
-und Cylinder, und sie sagen, Du hießest gar nicht Amor, sondern Puck; und
-außerdem wäre es unanständig, wenn man nackt ginge. Und dann haben sie
-Dir eine große Brille aufgesetzt, weil Du blind wärest, sagten sie und
-haben Dir Deinen Köcher mit Goldstücken statt mit Pfeilen gefüllt, das
-zöge besser, sagten sie, und haben Dir statt eines Bogens ein Tintenfaß
-in die Hand gegeben und Dir eine Feder hinters Ohr gesteckt, damit Du
-gleich die Ehekontrakte ausschreiben könntest, sagten sie, und wenn Du
-doch 'mal ganz splitterfadennackt, ganz natürlich, ohne alle Zuthaten zu
-ihnen kommen wolltest -- sie möchten Dich eigentlich ganz gern so, sagten
-sie -- dann müßtest Du aber durchs Hinterthürchen schlüpfen, damit dich
-ja auch keiner sähe, denn sonst genierten sie sich, sagten sie.«
-
-»Beim heiligen Kriegsungewitter!« fluchte Cupido -- »das ist ja eine
-ganz urweltliche Bande!«
-
-»Hör' nur weiter -- es kommt noch besser. Da hat sich einer -- so'n ganz
-vertrocknetes Kerlchen mit einer Brille auf der Nase, auf einen hohen
-Stuhl gesetzt, und hat mit dem Finger -- weißt Du, mit so einem langen
-knöcherigen -- auf den Tisch geklopft und hat gesagt: Es gäbe Dich
-gar nicht, Du wärest eine Mythe, und die Liebe, das wäre eine
-Nervenaufregung, die leicht in Irrsinn übergehen könnte, und deshalb
-hätten die weisen Männer Gesetze gemacht, nach denen die Gefühle
-geregelt würden.«
-
-Da sprang aber Cupido in die Höhe:
-
-»Heilige Mutter Aphrodite! Gesetze? Für mich? -- Na -- das möchte ich
-mal sehen. -- Liebster, bester Hermes, geh' -- sattle mir schnell den
-blanken Stern da, ich will hinunterreiten, das muß ich mir aus nächster
-Nähe betrachten!«
-
-Und da saß er schon auf seinem glänzenden Stern und fuhr hinab, und auf
-der Erde sagten sie: Da fällt eine Sternschnuppe.
-
-Es kam aber dem Cupido furchtbar kalt vor im neunzehnten Jahrhundert,
-obwohl es im August war, wo die meisten Sternschnuppen fallen, und bei
-Sonnenaufgang fror es ihn ganz erbärmlich, trotz des Umschlagetuches, das
-ihm das alte Hökerweib geschenkt hatte. Die saß schon am ganz frühen
-Morgen mit ihren Körben auf dem Markte, und wie sie den nackten, kleinen
-Gesellen daherkommen sah, da wurde es ihr so weich und sehnsüchtig ums
-Herz, sie meinte, es wäre Mitleid -- es war aber die Erinnerung: sie
-sah sich wieder jung und hübsch, sie war beim Tanz unter der Linde, der
-schönste Bursche schwang sie im Reigen -- heißa! -- hoch in die Luft,
-daß die Röcke flogen, und dann küßte er sie. Und da machte sie die
-Augen auf, und vor ihr stand wieder der drollige kleine Junge. Der nahm
-das Höckerweib frischweg beim Kopf und gab ihr einen Kuß für das
-Umschlagetüchelchen, das sie ihm gegen die Kälte geschenkt, und die Alte
-faltete die Hände und träumte von ihrer Jugend. -- -- Den Cupido fror es
-aber doch an den nackten Beinchen, und er dachte: »Ich will doch sehen, ob
-ich nicht irgendwo hineinschlüpfen kann und mich wärmen.«
-
-Doch da kam er schön an.
-
-»Was willst Du hier?« fuhren sie ihn im ersten Hause an -- »Du bist so
-unbequem -- mach', daß Du fortkommst!« Im zweiten öffneten ihm zwei alte
-Jungfern die Thür, liefen kreischend davon und schrieen:
-
-»Hülfe -- ein Sansculotte -- er hat nichts an!« Und der dicke Mops saß
-auf dem Sofa und bellte ihm nach. Im dritten Hause fragten sie höflich
-verwundert: »Was wollen Sie hier? Wir sind ja verheiratet.«
-
-Im vierten hielten sie ihm einen Ehekontrakt unter die Nase, und im
-fünften sprachen sie von Gesetzen und -- da wurde Cupido böse und sagte:
-
-»Wartet, ich will Euch! Ihr wollt mich hier verleugnen? Bei unserer lieben
-Frau von Milo -- Ihr sollt es büßen!« Er schwang sich in die Lüfte,
-spannte den Bogen, und -- huidi! -- da schwirrten die Pfeile! Er schoß
-blindlings drauf los, ganz einerlei, ob nach Grundsatz oder Gesetz -- aber
-sie trafen. Und nun gab es eine heillose Verwirrung unter den Menschen; sie
-hatten geglaubt, den Liebesgott hinwegspotten und -klügeln zu können,
-und da war er plötzlich mitten unter ihnen und sie duckten sich, bange,
-wehklagend und nach Hülfe wimmernd. -- Da ist ein Mägdlein gekommen. Wie
-Cupido das erblickte, verschwand der Zorn aus seinem Angesicht, lächelnd
-sah er es an -- und wählte seinen allerschönsten Pfeil, mit dem er
-schon einmal seine holde Mutter geritzt hatte. -- Es war aber ein trotzig
-Mägdelein. Keck schauten die Augen in die Welt hinein und sein roter Mund
-sagte:
-
- »Was frag' ich nach Liebe?
- Mir liegt's nicht im Sinn!
- Wohl hab' ich ein Herzel --
- Doch pocht es nicht drinn!
- Und daß Ihr's nur wißt, und daß Ihr's nur wißt:
- Es hat mich noch keiner, noch keiner geküßt!
-
- Zwar hab' ich ein Mündlein
- Und seht nur -- wie rot!
- Und ach -- wie kann's lachen --
- Das macht Euch viel Not!
- Doch daß Ihr's nur wißt, doch daß Ihr's nur wißt:
- Es hat mich noch keiner, noch keiner geküßt!«
-
-Horch! -- da schwirrt es und singt und klingt! Und sieh' -- da steckt der
-Pfeil in der schönen, weißen Mädchenbrust --
-
-Das trotzige Mägdelein hat mit der Hand ans Herze gegriffen, ist glührot
-geworden, ist scheu davon geschlichen. Aus der Ferne tönt es:
-
- »Nun frag' ich nach Liebe --
- Nun trag' ich's im Sinn!
- Nun fühl' ich mein Herze! --
- Es pocht so darin!«
-
-Und Cupido lauscht, biegt sich vor und lächelt, blinkt mit den
-Schelmenaugen, hebt deutend das weiße Fingerchen, und spitzbübisch singt
-er ihr nach:
-
- »Und daß Ihr's nur wißt, und daß Ihr's nur wißt:
- Just hat sie der Liebste, der Liebste geküßt!« --
-
- * * * * *
-
-Gerade da kam ein Mann des Weges gegangen, der war ein Sonntagskind, der
-konnte schauen, was andern verborgen war -- der hat den kleinen, herzigen
-Schlingel stehen sehen, wie er dem trotzigen Mägdelein nachgehöhnt hat.
-»So sollst du ewig sein!« sagte er.
-
-Cupido aber ist ihm entgegengehüpft, denn der Mann war ein Künstler, und
-die Künstler stehen auf gar vertrautem Fuße mit all dem lustigen,
-alten Göttergesindel -- er ist geduldig mit ihm gegangen und hat sich in
-marmorne Fesseln schlagen lassen. Und so steht er da in der ganzen Pracht
-seiner Schönheit, ein wenig nach vorn geneigt, das süße Schelmengesicht
-voll Sonnenschein, das Fingerchen erhoben und deutet auf euch, die er
-euch eben mitten ins Herz getroffen hat -- und lachend klingt's von seinen
-Schelmenlippen:
-
- »Und daß Ihr's nur wißt, und daß Ihr's nur wißt:
- Nun wird die Liebste vom Liebsten geküßt!«
-
-
-
-
-Psyche.
-
-
- »~Ich saz ûf eime steine,
- und dahte bein mit beine:
- dar ûf sazt ich den ellenbogen:
- ich hete in mîne hant gesmogen
- daz kinne und ein mîn wange~,«
-
-sagt Walter von der Vogelweide. So sitze ich im Gips-Museum und träume vor
-mich hin und lasse mir von Antinous verliebte Blicke zuwerfen.
-
-O, Du Abbild erster, toller, süßer Liebe!
-
-Erste Liebe -- wo man liebt, ich möchte sagen, um zu lieben, um sein eigen
-Herz einmal pochen zu hören, um voll Seligkeit zu verzweifeln, und weinend
-zu jubeln -- wo ein liebes Auge, eine schöne Gestalt, ein lustig-gutes
-Lachen, einem vollauf Grund genug zum Lieben scheint.
-
-Später freilich, dann, meine ich, wenn die wahre, einzige, ewige Liebe
-über einen kommt, wenn man mit vollem Verstande, mit ganzer Ueberlegung,
-mit festem Willen liebt, dann -- ja, dann verlangt man freilich mehr, wie
-Du, schöner Antinous, bieten kannst.
-
-Sieh', der letzte, warme Sonnenstrahl hängt aufleuchtend, zögernd an
-seinem holden Antlitze.
-
-Er lächelt. -- --
-
-Der Faun da hinter ihm guckt schelmisch um die Ecke: »Reizender Bengel!
-Nicht wahr?« grinst er vergnügt, und die zwölf Apostel am Sarge des
-heiligen Sebald schüttelten vorwurfsvoll ihre bärtigen Häupter. Warum,
-o meine hochverehrten Herren, begaben Sie sich auch in diese
-heidnisch-vergnügte Gesellschaft? Wird es Ihnen nicht ganz sonderbar zu
-Mute?
-
-Es geht ein wunderlich Flüstern durch den Saal und ein Beben durch die
-nackten, weißen Götter-Menschenleiber. Mir schwimmt es vor den Augen und
-mein Herz klopft. Soll ich fliehen? Schnell zur Türe!
-
-Ah, die ist geschlossen! Sie haben mich vergessen in meiner Ecke hinter den
-zwölf Aposteln, und ich bin allein im ganzen Haus -- allein, und doch
-in der allerbesten Gesellschaft. Mir ahnt, jetzt wird sich etwas begeben,
-etwas wunderlich Liebliches, himmlisch Schönes. Ein seltsames Leben
-und Weben zittert in der ganzen Luft, und ich verstecke mich still und
-neugierig und warte -- worauf? Ich weiß es selber nicht.
-
-Doch -- was ist das? Träume ich? Wache ich? Ein zitternder Laut, halb
-Seufzer, halb Jubel. -- Woher kommt er? Aus den Herzen der toten Gestalten?
--- Sieh' -- sie leben! Sie heben die Arme, sie bewegen sich -- das Blut
-rinnt durch die Adern, sie atmen, und doch sind's keine Menschen. Denn
-durchsichtig werden die Glieder von Gips, sie schimmern und glänzen,
-geisterhaft, geheimnisvoll -- das ist Ewigkeit, die von den weißen Stirnen
-leuchtet, und sieghaft strahlen die klaren Augen. -- Ach, und demütig
-beuge ich mein Knie.
-
-Lautlose Stille. -- Da ertönt mächtig, wie Donnerrollen, gewaltig, wie
-Schlachtenruf, eine Stimme, die schallt durch den ganzen Saal: »Ist es
-fort, das elende Gesindel, das sich Menschen nennt, und sich so unendlich
-viel dünkt, daß es sich herausnimmt, uns stundenlang anzustarren und
-unsere Götterleiber zu kritisieren? -- Sind wir allein? -- Gebt Antwort!«
-
-Apollo ist's, von Belvedere, er tritt hervor in Herrlichkeit und Majestät,
-und zu ihm gesellt sich Mars, der da mit aller Arroganz auftritt, deren nur
-ein Kürassier-Lieutenant fähig ist, sei es auch ein olympischer; und er
-gähnt herzhaft und schüttelt die prächtigen Glieder, und die Venus von
-Milo sieht ihn holdselig an. Er aber fährt sich mit der Hand durch die
-krausen Locken, die Erinnerung an selige Stunden überkommt ihn, und
-schmunzelnd nickt er ihr herablassend liebevoll zu:
-
-»Venuschen, kleiner Schatz, bist Du immer noch in meiner Nähe? Geh',
-frage doch einmal Deinen niedlichen Schlingel von Jungen, ob die Luft ganz
-rein ist, ob wir uns endlich ein bischen gehen lassen können, nachdem wir
-den ganzen Tag so ehrbar dagesessen haben! Der kleine neugierige Bengel
-hockt natürlich da, wo es am meisten zu gucken gibt.«
-
-Und wunderbar! Die hochmütige, vornehme Dame von Milo nimmt diese etwas
-familiäre Anrede gar nicht übel, ja, ein Lächeln spielt sogar um
-den stolzen Mund, der so oft verächtlich auf die Besucher des Museums
-herunterblicken kann.
-
-»Mamachen, Mamachen,« ruft eine piepsige Stimme, und der pauspackige,
-kleine Gesell, das Kind Amor, springt von seiner Marmorsäule herunter,
-stellt sich dicht vor mich hin und nickt mir zu.
-
-»Mamachen, hier sitzt noch eine in der Ecke; aber sie sagt nichts. Ein
-ganz kleines Mädchen ist es, und sie macht große, verwunderte Augen, und
-ihre Stirn leuchtet eben so weiß, wie Deine!«
-
-»Hinaus mit ihr! Hier werden keine Sterblichen geduldet! Wir wollen keine
-Lauscher,« sagt die lange Diana von Versailles mit ihrer scharfen Stimme,
-»hetzt die Hunde auf die Unberufene.«
-
-»Willst Du hier das große Wort führen?« lächelt unsere liebe Frau von
-Milo etwas höhnisch, »alte Jungfern sind freilich flink mit der Zunge,
-aber ich denke, wir, die wir unsere Aufgabe im Leben -- Lieben und
-Geliebtwerden -- erfüllt haben, wir gelten mehr hier im Reich der
-Freude!«
-
-Diana zuckt die schlanken Schultern und hüllt sich keusch in vornehmes
-Schweigen.
-
-»Geh', Amorchen,« schmeichelt die tanzende Bacchantin -- war sie nicht
-eben noch kopflos? Jetzt trägt sie ein lieblich-übermütiges Haupt auf
-dem zierlichen Hälschen. --
-
-»Frag' sie einmal: Hast Du Jemanden lieb? Recht von Herzen, recht freudig?
-Und wenn sie ›Ja‹ sagt, dann laßt sie nur immer hier. Denkt wohl, ich
-sei ein dummes, kleines Ding, aber Amorchen, Du weißt, ich verstehe mich
-auf solche Sachen!«
-
-Und sie dreht sich im Tanz und schüttelt die anmutigen Glieder, daß der
-musikalische Faun neben ihr schnell ein lustiges »Klingkling« hören
-läßt. -- Da erhebt sich eine Stimme, sanft, wie Windessäuseln, stark,
-wie Sturmeswehen und ernst, wie das Grab: Hermes spricht. Majestätisch
-ragt sein wunderbares Haupt über die andern hinweg, und seine armen
-zertrümmerten Glieder umgibt Würde und Hoheit.
-
-Götterbote! Glück und Freude, Schmerz und Tod trugst Du hin über alle
-Welt! Ich möchte niederknieen vor Dir und Deine ewige Schönheit anbeten
-und über Deine verstümmelten Glieder meine armseligen Thränen weinen!
-
-»Laßt sie gewähren, Ihr Götter,« sprichst Du, und Deine Augen sehen
-mich an, milde, verheißend -- »denn ich kenne sie. An ihrer Wiege stand
-ich und brachte ihr das Geschenk des himmlischen Vaters, beugte mich über
-sie, hauchte es in ihre Stirn, legte die Hand ihr auf's Herz, und da zog es
-ein -- und küßte ihren Mund, und da lernte sie lächeln und -- lieben.«
-Leise nickt er, und ich möchte weinen. --
-
-Horch! Das seltsame Geräusch! Rollend, rasselnd, im Takt sich wiederholend
--- dazwischen ein melodisches Pfeifen, ein kunstvoller Schnörkel am
-Ausgang des tiefen, rollenden Tones, behaglich einschläfernd klingt's in
-seinem rhythmischen Taktfall, seiner ruhigen Gleichmäßigkeit.
-
-Alle stehen und lauschen -- --
-
-Da balanciert der alte, bärtige Silen das Bacchuskindlein geschickt auf
-dem einen Arm und deutet mit dem andern lächelnd über die Schulter auf
-den Faun hinter ihm, welcher, trunken von Wein und Freude, seine kolossalen
-Glieder im tiefen Schlafe dehnt. -- Die kleine Bacchantin bricht in ein
-schallendes Gelächter aus: »Der Faun schnarcht! Denkt Euch, er schnarcht!
-Zuviel des feurigen Griechenweines hast Du getrunken, Du liederlicher,
-großer Gesell Du!« schilt sie und kitzelt ihm neckisch die Fußsohlen.
-Der Faun murmelt unverständliche Worte und bewegt die mächtigen Glieder
-und versucht den Arm zu erheben. Aber schwer sinkt die Hand auf den
-Felsen zurück, auf dem er ruht, und bald tönt wieder sein musikalisches
-Schnarchen mit dem lustigen Endschnörkel durch den Saal. --
-
-»Heraus aus den Schluchten, aus Klüften und Thälern, kommt hervor
-aus den Quellen, huscht flink aus den Bäumen, ihr Nymphen, Dryaden, ihr
-schelmischen Mädchen, ihr lustiges Volk! Tanzt, lacht und singt, und
-hüpfet und springt! Weckt den faulen Schläfer dort und bittet Bacchos,
-den süßen Wein Euch zu reichen!«
-
-Eine klangvolle, frische Stimme schallt von der Thür her. Diana ist es,
-aber nicht die lange Versaillerin: eine liebliche, mädchenhafte Diana,
-mit kurzem Röckchen, noch nicht ganz fertig mit der Toilette -- und sie
-klatscht in die schlanken Hände, und unsere liebe Frau von Milo lächelt
-ihr holdselig zu.
-
-Nun wird es lebendig um mich her; allüberall aus den Winkeln und Ecken,
-die Treppen hinauf, hinunter kommt's gehuscht, geflogen, gekichert. Nackte,
-liebliche Mädchengestalten, üppige Weiber, bockshörnige Faune, tapfere
-Krieger, die vor Troja gefochten, ernstblickende Römer -- alles wirbelt
-lustig durcheinander und sie umtanzen den schlafenden Faun, sie kitzeln
-ihm die Seiten und zausen ihm die Haare, sie halten ihm den würzigen
-Griechenwein unter die Nase und lachen ihm ein lustig Lachen in die Ohren,
-bis er die sehnigen Glieder reckt und streckt -- da steht er mitten unter
-ihnen und dreht sich im wilden Reigen. Wie der Jubel sie alle begeistert,
-wie die tolle Lust sie hinzieht in ihr Freudenreich! Sieh' den alten
-Sokrates -- mühsam kriecht er aus der Verzierung des römischen Sarkophags
-heraus, umgeben von den lieblichen Musen; Terpsichore tanzt Ballett, und
-da stehen Seneca und Demosthenes und Pindar und Cäsar und viele alte
-Kahlköpfe und sehen zu. Mit mächtigem Satz springt der borghesische
-Fechter in die Tanzenden hinein, eine weichhäutige Nymphe hoch in die
-Lüfte schwingend, die Ringkämpfer lassen ihren Zorn und stimmen in das
-fröhliche Gelächter ein; die beiden schlanken Discus-Werfer schleudern
-ihre Metallscheibe geschickt über die Köpfe der neun Musen hinweg,
-daß die alten Herren entsetzt von ihnen zurückweichen, und mein
-schwermütiger, holder Antinous küßt die schwellenden Lippen der
-liebetrunkenen, kleinen Bacchantin.
-
-Majestätisch ernst sehen die drei Parzen vom Parthenon in das Getümmel
-und Helios lächelt siegreich von seinem Sonnenwagen hernieder. Frau Venus
-steht als Sonnenkönigin mitten unter den Jubelnden in aller Pracht und
-lächelt ihrem Volke voll Huld.
-
-Und die Dichterin Sappho öffnet ihren liederreichen, holdseligen Mund und
-flüstert schmachtend:
-
- »Die Du thronst auf Blumen, o Schaumgeborene,
- Tochter Zeus, listsinnende, höre mich rufen!«
-
-Und da, ach, siehe da -- die kokett verhüllte Göttin der Schamhaftigkeit
-sinkt sehnsuchtsvoll in die geöffneten Arme eines kräftigen,
-schöngestalteten Fauns. -- Dacht' ich's doch! --
-
-Ja, sogar die Tiere stimmen ein in die allgemeine Fröhlichkeit: die
-Schlangen des Laokoon lassen ab von ihren Opfern -- des Vaters Stirn
-blickt heiter nun, und die sanften Knaben fürchten sich nicht mehr --
-und unterhalten sich mit der Eidechse des schönen Appollo, des
-Eidechsentöters, dessen Körper etwas von der Geschmeidigkeit der Lacerte
-an sich hat -- und der Panter des Bacchos (der Riesenkater) lauscht
-grimmig-herablassend dem Gespräch.
-
-Doch, was ist das? Fürwahr, eine seltsame Prozession: langsam ziehen sie
-einher, im ehrbaren Reigen sich schwingend, gravitätisch-lüstern
-die Blicke um sich werfend, und jeder am Arme ein sittsam Dämchen mit
-unendlich vielen Kleidern -- zimperlich geschürzt mit geübter Rechten.
-
-Wahrhaftig, die zwölf Apostel sind's an der St. Sebalds-Kirche und irgend
-welche heilige Damen, die hoch oben im Christenhimmel thronen, haben sie
-sich zum Heidentanz engagiert.
-
-So ist's recht! Hebt die Füße, streckt die Arme, hierhin, dorthin, auf
-und ab!
-
-Tanzt lustig den Reigen und dreht Euch im Kreise. --
-
-Mitten im zierlichen Tanz stehen die heiligen Weiblein bewundernd vor dem
-schönen, nackten Leib des Antinous, dem offenbarenden Mund des
-heiligen Johannes entströmen Worte der Begeisterung über die Wunder
-der Weibesschönheit, der heilige Paulus seufzt: »Hieße ich
-doch noch Saulus!«, und der heilige Petrus rasselt mit den
-Himmelsschlüssel-Castagnetten dazu. Und sie schwingen sich im Kreise, daß
-die heiligen Gewänder fliegen, die heiligen Bärte wehen und der heilige
-Schweiß von den heiligen Stirnen rieselt. --
-
-Bim, bim -- bim, bim! Horch! Ein Glöcklein! Das Vesperglöcklein der
-St. Sebalds-Kirche.
-
-Schlaff sinkt der heiligen Schar der Arm, es stockt der Fuß -- starren
-Auges schauen sie zur Thür. Da steht eine hagere Mönchsgestalt in brauner
-Kutte und winkt mit langem, dürrem Finger und bim, bim, -- bim, bim,
-tönt's Glöcklein wieder. Stark wie Riesenarme ist die Macht der
-Gewohnheit! Dahin stürzen sie, die lieben Heiligen alle, in atemloser Hast
-sich überstürzend, überkugelnd. --
-
-»Zur Vesper, zur Vesper!«
-
-Und der heilige Paulus-Saulus wendet sein bärtig Antlitz:
-
-»Ueber ein Weilchen werdet Ihr uns nicht mehr sehen, und über ein
-Weilchen werdet Ihr uns wiedersehen, wenn -- wir die Vesper gesungen!«
-
-Ein lustig schallendes »Evoe!« antwortet ihm und -- bim, bim -- bim, bim
-tönt's Glöcklein von der St. Sebalds-Kirche. -- --
-
-Banges Stöhnen, sanftes Klagen, todesmüde Laute dringen an mein Ohr:
-
-»Tod, was eilest Du? Nimmer begehr' ich Dein!« dringt's über die
-bleichen Lippen des sterbenden Sklaven Michel Angelos, und bang sinken
-seine schönen Glieder ineinander.
-
-»Wohl brannte die heiße Sonne Italiens erbarmungslos auf mich nieder,
-wohl sengte sie mir mein Hirn, meine Seele; wohl fühlte ich die scharfe
-Peitsche auf meinen nackten Schultern, wohl schnitten mir rauhe Flüche
-ins Herz -- aber ich lebte doch, und mit mir die Hoffnung! Bei den
-mitleidsvollen Strahlen der Sonne dachte ich an kühle Eichenhaine, beim
-Brausen des Sirocco an das Rauschen meines Nordlandmeeres, unter Blüten
-und Früchten und ewig blauem Himmel an Eis und Schnee, an Sturm und Regen.
-Und wenn die Peitsche des Vogts klatschend auf mich fiel, da -- in meinen
-Gedanken -- kühlte lieb Mütterleins Hand ihr Brennen und meines süßen
-Liebs Mund küßte mein Herz gesund. --
-
-»Tod, zögere noch! Laß mir die Hoffnung, laß mir das Leben! Tod, warum
-kommst Du!« --
-
-»Stirb doch! Dann bist Du frei!« antwortet ihm eine rauhe Stimme, und
-es rasselt wie von Ketten, dumpfes Stöhnen entringt sich der Brust seines
-gefesselten Kameraden neben ihm. --
-
-»Freiheit, Freiheit! Gib mir Freiheit! Sie haben mich an diesen Felsen
-geschmiedet, meine Hände, meine Füße, meinen Leib -- und ohnmächtig
-schüttle ich meine Ketten. Und weißt Du, warum sie mich fesselten?
-Warum sie mich des höchsten Gutes, der Freiheit, beraubten? Weil sie mich
-fürchteten, weil die Angst, die wahnwitzige Todesangst sie dazu trieb.
-Weil sie wußten, ich würde den Brand des Aufruhrs in die Welt hinaus
-schleudern, würde nicht eher rasten und ruhen, bis ich die alte Erde
-vernichtet, zertrümmert, daß eine neue aus ihr entsteht -- gut, rein,
-stolz, wie _sie_ sie _nicht_ schaffen können. --
-
-»Und darum nehmen sie mir meine Freiheit und werfen mich in Ketten,
-schmieden mich an und hohnlachen in mein Gesicht. --
-
-»Du allmächtiges Wesen, das Du da oben über den Wolken thronen sollst,
-wenn Du mich verstehen kannst, so höre meinen Ruf:
-
-»Gib mir Freiheit -- oder laß mich sterben! -- -- Keine Antwort --
-ohnmächtig oder grausam bist Du -- denn sieh', stark bin ich noch, und
-mein Herz schlägt, mein Kopf denkt noch, rastlos, unermüdlich, und --
-hörst Du's? -- meine Ketten klirren höhnisch, immer weiter, immerzu! -- O
-Tod, warum kommst Du nicht!«
-
--- -- -- -- Lustig Rufen übertönt seine grollende Stimme,
-Beifallklatschen, Jauchzen, und dazwischen der Ruf: »Bacchos, Bacchos!«
-Und hierher wälzt sich der fröhliche Strom jubelnder Götter und Menschen
-und »Dich wollen wir, Bacchos, Gott der Freude, wo weilst Du so lange!«
-Sie knieen vor der schönen Jünglingsgestalt mit der berauschend
-lieblichen Traube neben ihm, und sie nehmen ihn in ihre starken Arme,
-und Nymphen und Göttinnen umschmeicheln, umkosen ihn. Da lassen sie ihn
-nieder, auf die Kniee des egyptischen Götzenbildes -- denn das ist leblos
-und von Stein geblieben -- und neigen sich huldigend vor ihm. Doch er
-erhebt den Arm und deutet mit der Götterhand auf die Marmorgebilde
-neuester Zeit, in der Mitte des Saales:
-
-»Was wollen die unter uns?« fragte er mit zorniger Stimme, »schafft
-sie fort -- sie stören mich!« Athene steht neben ihm, die blauäugige,
-siegende Göttin; sie hört ihn, sie winkt ihrem Liebling, dem starken,
-schnellfüßigen Achill, und der --
-
-»Naus da, 'naus da aus dem Haus da! Fort mit dir, Gesindel!«
-
-Und jubelnd sehen alle, wie Zenobia in voller Kleiderpracht, eine falsche
-Oenone, ein paar weichliche Marmorkinder, eine vollbusige, schamlose
-Schönheit, zertrümmert die Steintreppe hinunterfliegen. -- Dann aber
-neigt sich Achilles voll Anstand vor der Statue des Lincoln mit dem Sklaven
-und spricht mit Höflichkeit:
-
-»Mein Herr, gern mögen Sie unter Heroen weilen, aber Sie werden
-begreifen, daß Sie dann auch in voller Heroen-Uniform zu erscheinen haben,
-und die möchte Ihnen vielleicht nicht gut stehen. Entschieden aber können
-wir in unserm Reich der Schönheit das Untier von Häßlichkeit da zu ihren
-Füßen unmöglich dulden.« Und Lincoln verbeugt sich verständnisvoll und
-verläßt den Saal.
-
-Da wankt eine müde Gestalt die Treppe herauf -- einst der Stolz der
-Götter, immer die Freude der Menschen -- und läßt sich schwer auf die
-Stufen nieder; die starken Schultern beugen sich, der Leib zieht sich
-schmerzlich zusammen, ein mächtiges Haupt sitzt plötzlich auf dem starren
-Nacken des Herkules-Torso und senkt sich matt, todesmatt; und klagend,
-grollend erfüllt eine Stimme den Saal: »Müde bin ich -- endlich! Müde,
-der Welt zu dienen, müde, Undank zu ernten, müde, zu lieben, müde, zu
-leben -- --
-
-Einst lag die Welt schön und gut vor mir, einst hatte ich Lebensmut,
-Lebenslust, einst habe ich gekämpft, gestritten, gerungen -- und nun? Nun
-bin ich müde und möchte schlafen!« -- --
-
-Die starken, trotzigen Glieder sinken zusammen, und das starke Haupt
-stützt sich schwer auf den kraftvollen Arm.
-
-Es nahen sich zwei schlanke, schöne Jünglingsgestalten, eng aneinander
-geschmiegt, die Arme verschlungen, und ein mildes Licht strahlt von ihnen
-aus. Da legt der eine ernst und leise die Hand auf die müde Stirn des
-Herkules --
-
-»Schlaf',« sagte er sanft.
-
-Da senkt der andere still die brennende Fackel zur Erde, daß sie
-erlischt --
-
-»Ewig,« lächelt er.
-
-Und voller Ehrfurcht beugt das lustige Göttervolk das Knie und huldigt dem
-Toten. --
-
-Liebliches Klingen, Singen, Getöne -- ein wunderbar Leuchten, hell, sanft
-und mild --
-
-Da schwebt etwas die Treppe hernieder, zartduftig, schimmernd in weißer
-Pracht -- himmlisch lieblich, lebensvoll schön -- Ach, ich sinke in die
-Kniee und blicke zagend zu der göttlichen Gestalt der Medicäerin empor,
-denn _sie_ ist es -- Sie kommt zu mir, sie tritt vor mich hin, und ein
-wundersames Schauern durchbebt mir Kopf und Herz. Sie neigt ihr holdseliges
-Antlitz zu mir, und sie küßt mich auf den Mund, es rinnt wie Feuer durch
-meine Glieder. Neben ihr steht ein schöner Jüngling, dem strahlen viele
-kostbare Gedanken von der weißen Stirn. Er sieht mich an, ernst und voll
-kindlicher Weisheit, und spannt seinen Bogen und zielt gut -- denn der
-Pfeil dringt mir mitten ins Herz hinein. Und dann -- bin ich es noch? Lebe
-ich? Mir ist's so groß ums Herz -- Sieh', meine Hände! Durchsichtig klar
-sind sie, und mein Körper schimmert, wie die der Marmorgestalten -- Ach,
-meine Glieder zittern -- --
-
-Da faßt Aphrodite mich an der Hand und führt mich den Uebrigen entgegen
--- Und Hermes lächelt zu mir: »Psyche, bist Du erstanden?«
-
-Jubelnd begrüßen mich alle, alle -- und sie heben mich empor zu Nike, der
-Göttin des Sieges, und ich schmiege mich an ihren schönen Körper, der
-kein Haupt mehr auf ihren Schultern trägt.
-
-Du schwebst zwischen Himmel und Erde, o hehre Göttin! Thörichte Menschen
-schlugen Dir Dein stolzes Haupt ab, engherzige, fromme, nicht denkende
-Menschen. Sie sagten: Du dürftest Dein Haupt nicht erheben, mit Deiner
-freudigen Stimme die Menschen nicht begeistern, auf daß sie stumpfsinnig
-würden, wie jene selber. Ach, Du Göttin, Deine ganze Gestalt, Deine
-verstümmelten Arme, Deine stolzen Füße, die leisesten Falten Deines
-Gewandes -- Alles spricht Sieg! Sieg über die Finsternis, die Kleinheit,
-über freche Gewalt, und fromme Erbärmlichkeit.
-
-Und sieh', in Deinen Armen hältst Du Psyche, die Seele, die Ewigkeit
--- und weit hinaus ragt Ihr, über alles herrscht Ihr, über Götter und
-Menschen!« -- --
-
-Da, Licht! Es fällt durch die Fenster -- es wird Tag -- --
-
-Tiefe Stille -- -- Und ich fahre mit eisiger Hand über meine heiße Stirn
--- -- und da stehe ich -- ein armes, sterbliches Kind des nüchternen,
-kühlen, praktischen neunzehnten Jahrhunderts.
-
-
-
-
-Unser Frühling.
-
-
-»Ich bin da -- siehst Du mich?« sagte die Ranunkel zur Sonne, »sieh',
-ich glänze -- bin ebenso golden wie Du!«
-
-Und sie richtete sich in die Höhe, spreizte ihre eigelben
-Blütenblättchen auseinander und sah unglaublich frech in die Welt hinein.
-
-Der Sonnenstrahl aber glitt über sie hinweg, über die Anemonen hin.
-
-»Ihr seid schöner als die gelbe Blume,« flüsterte er ihnen zu, und sie
-erröteten wie junge, bleichsüchtige Mädchen und wurden sehr stolz.
-
-»Was wollt Ihr hier?« riefen sie den Veilchen entgegen, die frisch und
-munter im grünen Röckchen und blauer Blouse anmarschiert kamen.
-
-»Ihr habt hier nichts zu suchen -- das ist unser Boden.« Aber das
-kümmerte das Veilchen gar wenig. Ueberall, wo es Wurzeln fassen konnte,
-zwischen Ranunkeln und Anemonen und Kuhblumen, zwischen Moos und Gras,
-unter Blättern und Reisig, sogar zwischen den vornehmen, sonderbaren
-Frühlingsblumen, die erst vorsichtig einen Blätterregenschirm aufspannen,
-damit ihre kleinen weißen Blüten, die sie unten am Stengel tragen, nicht
-naß werden -- überall öffnete das Veilchen seine Blauaugen und lächelte
-sanft dem Frühling entgegen.
-
-»Seid Ihr ein exklusives Volk,« sagte der. Er saß mit gekreuzten Beinen
-auf einem allmächtig großen Schneckenhaus und hatte eine Blütenkrone auf
-dem Haupt und eine Weidengerte mit lustigen Kätzchen daran in der Hand;
-er spielte mit einem überjährigen Schneeballen, der irgendwo in einem
-Waldwinkel, von der Sonne vergessen, liegen geblieben war, und der schmolz
-jetzt und träufelte der Schnecke, die aus ihrem Fenster guckte und
-schrecklich große Augen machte, gerade auf die Nase, daß sie entrüstet
-ihre Fühlhörner einzog und das Fenster zumachte. Die Schmetterlinge, die
-den Frühlingsknaben umgaukelten und wie Blumen aussahen, die von ihren
-Stengeln geflogen und auf die Wanderschaft gegangen waren -- gerade wie
-unsere sehnsüchtigen Gedanken mitunter -- machten vor Vergnügen die
-lustigsten Capriolen in der Luft und schlugen übermütig-hastig mit den
-kleinen, bunten Sammetflügeln. »Ihr seid ein exklusives Volk hier im
-Walde,« sagte der Frühling, »jede Sippe hockt auf ihrem Fleckchen Erde
-für sich und macht scheele Gesichter, kommt ihm ein anderes zu nahe. Und
-erst die Bäume -- hier die Eichen, dort die Tannen, drüben die Birken
--- die Weiden sind in die Wiese geflüchtet, damit sie's Reich für sich
-allein haben, und die Obstbäume wollen erst recht nichts von den andern
-wissen. Freilich -- seid auch auf verschiedenem Erdreich groß geworden.
--- 'S wär' auch langweilig in der Welt, wär' alles über einen Kamm
-geschoren! Und doch -- _Eine_ strahlende Sonne scheint über Euch alle, und
-_ein_ gütiger Regen erquickt Euch!« -- Und der Frühling erhob sich
-vom Schneckenhaus und schlenderte davon. Gern hätte er die Hände in die
-Hosentaschen gesteckt, aber das ging nicht, denn -- er war ganz nackt und
-bloß wie die Natur selber, und der Sonnenstrahl strich gleitend vor ihm
-her und leuchtete ihm. Pfeifend und singend mit heller Stimme zog der
-Frühling durch den Wald; unter seinen Tritten sprossen die Blumen und
-sein Lachen -- das war der Frühlingswind, der warme Südwind, der belebend
-über die Erde fuhr. Die Vöglein kamen und antworteten mit sehnsüchtigen
-Lauten. -- Ueber den Wald hin schallt der starke Weckruf der Blauvögel.
-Sieh' -- da blitzt es feuerrot auf -- das ist ein lieblicher Sänger! Und
-horch! Hier die rostbraune Drossel -- Hörst Du, was sie sagt? »Tüterlü!
-Der Frühling kommt! Siehst Du ihn -- Du, Du, Du, Du!« -- Und: »Komm' zu
-mir, komm' zu mir! Zerr -- zeck, zeck, zeck, zeck!« bläst der Zaunkönig
-sein Kehlchen auf -- wupp! schlüpft er durch die Hecke, und dahin geht's,
-im Lauf, geschwind wie ein Mäuschen. -- Siehst Du den Specht? Weiße
-Hosen, schwarzes Röcklein und auf dem Kopf ein tiefrot Käpplein über dem
-schlauen, spitzen Näschen -- ist doch gar ein putzig Weschen! Sieh',
-wie klug die schwarzen Augen funkeln, sieh' -- wie er mit dem Frühling
-Verstecken spielt! Bald an dieser, bald an jener Seite des Stammes
-schimmert sein rotes Köpfchen und wirft ihm der Frühling eine Hand voll
-Blätter ins Gesicht, die sich schnell an die Zweige anklammern -- hei! Da
-sitzt er schon ganz hoch oben im Baum und lugt schelmisch um die Ecke:
-
- »Pick, -- pick, -- pick, -- pick -- hier find' ich mein Mücklein!
- Pick, -- pick, -- pick, -- pick -- hier schlag' ich mein Brücklein,
- Von Baum zu Baum über Busch und Strauch --
- Ei, Frühling -- geschwinde! Nun folge Du auch.«
-
-»Hahaha,« lacht die Spottdrossel wie toll und gleich darauf klingen
-langgezogene, friedliche Sehnsuchtslaute aus ihrer Nachtigallenkehle,
-daß alle Vögel inne halten und dem Frühling die Thränen aus den Augen
-rinnen.
-
-Wo hört' ich jüngst solch ein Spottdrossellied? -- Weich und schwül
--- hohnlachend -- -- war's nicht in meinem Herzen? Ist's nicht das
-Menschenherz selber -- in all seinem Leid, all seiner Sehnsucht, all seinem
-Haß? --
-
-»Sputet Euch,« sagt der Frühling zu den Eichen und schlägt sie
-schmeichelnd mit seiner Weidengerte, »Ihr knorrigen Gesellen! Seid zwar
-auch _so_ schön mit Euren kuriosen Knorpeln und verdrehten Aesten --
-gerade so knorpelig und verzwickt, wie ein Menschenhirn -- aber wenn Ihr
-die zackigen Blätter von Euch spreizt, habe ich Euch noch lieber!«
-
-Und da sproßten die roten Keime und Blättchen, und nun hatten sie ein
-noch wunderlicheres Ansehen, gerade wie ein Schalksnarr, dem die Liebe aus
-den Augen guckt. --
-
-»Ich,« sagt die Ulme, »ich bin vorgeschritten in der Kultur -- seht,
-mein krauses, grünes Gewand ist schon fix und fertig.« --
-
-Und der Frühling geht weiter:
-
-»Sieh', sieh', wie schön steht das maigrüne Kleidchen zu Deiner weißen
-Haut, kleine Birke, -- bist fast die Schönste von allen! Alte Tanne«
--- er streicht über der Tanne stattliche Haare -- »mußt immer dasselbe
-dunkle Kleid tragen jahraus, jahrein -- bist wohl gar neidisch?«
-
-Aber die Tanne ist unartig, sie streckt dem Frühling und seiner Birke eine
-lange, hellgrüne Zunge aus den dunkeln Nadeln heraus und antwortet noch
-nicht einmal vor Trotz.
-
-»Böses, altes Ding Du,« schilt der Frühling, und um sie zu ärgern,
-gibt er den Lärchen lauter kleine hellgrüne Federbüsche, kleinen Pinseln
-gleich, die tragen sie stolz, wie ein angehender Maler seine Farbenpinsel
-in der Brusttasche. -- Horch! Was regt sich hinter dem Tannendickicht? Ein
-hübsches, verstecktes Plätzchen -- Taubengegirr, Vogelgesang -- ist's
-Windessäuseln, rauschen die Zweige, geheimnis-ahnungsvoll! Leise schleicht
-sich der Frühling heran, er verbirgt sich hinter einem Baumstamm -- er
-lauscht -- er sieht -- --
-
-Menschenkinder sind's, zwei junge, lachende, kosende Menschenkinder, den
-ewigen Frühling, die Liebe, im Herzen, in den Augen. -- Sie ruht im
-Gras, den Kopf gegen eine Tanne gelehnt, er zu ihren Füßen, den
-braunen Lockenkopf in ihrem Schoß -- leises Lachen, halblautes Singen,
-abgebrochene, unverständliche Laute -- halbgeflüsterte, halbgeküßte
-Liebesworte. -- Glückliche, selige Menschenkinder -- was wißt Ihr
-vom brennenden Sommer, vom welkenden Herbst, vom eisigen Winter? --
-Der Frühling streichelt Euch Stirn und Wangen. -- Blondes Mädchen, Du
-streichst Dir die Löckchen aus der Stirn und schiltst über den Wind --
-oder den Geliebten, der Dir die Haare zerzaust hat -- und der Sonnenstrahl
-küßt Euch und dringt Euch bis ins junge Herz hinein! --
-
-Auf leisen, flüchtigen Sohlen eilt der Frühling von dannen:
-
-»Jetzt muß ich aber auch die Obstbäume anlächeln,« sagt er im raschen
-Lauf, »daß sie treiben und blühen und Früchte tragen.« Aber die
-waren voreilig gewesen, wie gewöhnlich, hatten nicht auf das Lächeln
-des Frühlings gewartet, hatten sogar vergessen, sich erst die Blätter
-anzuziehen. -- Da stehen sie in ihren schlohweißen Hemdchen und lächeln
-verschämt, ach, und Apfelbäume und Pfirsiche werden ganz rot, als sie den
-Frühling kommen sehen, und nur die Birne ruft triumphierend: »Ein paar
-grüne Blättchen habe ich schon -- aber Du, Frühling, bist ja ganz
-nackt!« Hei, wie sie sich alle schütteln vor Lachen, daß ihr
-weicher, duftender Blütenschnee über die grüne Erde hinweht. -- Ganz
-überschüttet wird der Frühling; in seinen Locken hängt die duftige
-Ueberfülle, um Stirn und Wangen schmeicheln die süßen Boten -- da wird
-es ihm ganz weh ums Herz vor Wonne und Jubel, sehnsüchtig breitet er seine
-Arme der Geliebten entgegen, der leuchtenden Sonne -- und da wird er zum
-Manne -- er vermählt sich mit der Sonnenglut -- und siehe, es war Sommer!
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-Frostiger Frühling.
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-Um unsere Blüten sind wir betrogen! -- Im März, als der warme
-Sonnenstrahl die erwachende Erde überglänzte, da lag ein rötender Hauch
-über den Obstbäumen, licht wie ein rosenfarbenes Wölkchen am Frühhimmel
--- heute haben die Birnbäume und die knorrigen Apfelbäume ein festes
-grünes Mieder angezogen, aus dem sie stramm und vernünftig herausschauen,
-und das Mädchenerröten haben sie längst vergessen.
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-Um unsere Blüten sind wir betrogen! -- Hat der Frost sie getötet,
-der lauernd über die Erde schlich? Hat unsere schönen Hoffnungen der
-Sturmwind verweht? Ist der Regen gekommen auf seinen grauen Rossen, den
-Wolken, und hat sie mit seinem gleichförmigen Gedrissel -- patsch!
-patsch! Tropfen auf Tropfen, wie die tägliche Langeweile, -- verwaschen,
-verknittert, zerblättert? --
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-Nackt stehen die Magnolienbäume im botanischen Garten. Sie, die sonst im
-Mai zum Frühlingsreigen in prächtigen Balltoiletten der verwunschenen
-Prinzen harrten; sie, die sonst von der Ueberfülle ihrer Schönheit den
-neckischen Winden preisgaben, daß die Blütenblätter und ihr Duft die
-Luft erfüllte. Heute stehen sie kahl und düster und traurig da, kein
-lächelnder Prinz wird um die südliche Schöne werben und der Frühling
-hat die Prächtige, Ueppige, Duftende vergessen. -- Da gleitet ein
-Sonnenstrahl über die schwarzen, vom Frost geknickten Spitzen der
-Magnolien. Es ist, als lächle er. In seinem Flimmer tanzt ein gelber
-kleiner Schmetterling, er taucht sich in die vergessene weiße Blüte eines
-jungen Birnbaums, der schon winzige Früchte am andern Zweige trägt. Und
-da lispeln sie alle heimliche Worte -- horch!
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- Zur Blüte sprach der Schmetterling: »Was nützt mir's, daß ich
- strahle?
- Wenn meinen Schmelz ein Fingerdruck wegwischt mit einemmale?«
- Da lachte der Sonnenschein.
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- Es sprach die Blüte zum jungen Blatt: »Was nützt mir's, daß ich
- blühe?
- Wenn ich nach einer Regennacht verblätt're in der Frühe?«
- Da lachte der Sonnenschein.
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- Es sprach die Frucht zum grünen Baum: »Was nützt mir all mein Süßen?
- In meinem Herzen nagt ein Wurm: tot fall' ich Dir zu Füßen.«
- Da lachte der Sonnenschein.
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- Ich rief wohl in die weite Welt: »Was nützt mir all das Klingen?
- Die rauhe Hand, die Nacht, der Wurm -- Ein Sterbelied muß ich singen!«
- Da lachte der Sonnenschein.
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-Ich folge dem lachenden Sonnenstrahl. Er huscht über die Stiefmütterchen
-am Wege, die ihm ihre großen bunten Augen zuwenden, über rote
-dickköpfige Tulpen, die sich blähen vor lauter Vornehmheit; er klopft an
-die Fenster des Treibhauses: ich bin da, ich bin da! -- Aber was kümmert
-das nervöse Volk da drinnen in ihrem überheizten Haus der warme
-Sonnenschein? -- Halt! du lockender Strahl! laß mich erst einmal
-hineinschauen in die Blumen-Menagerie. Sehnsüchtig sehen die armen
-Eingesperrten durch die Glasfenster, und schauern zusammen, wenn die kühle
-Frühlingsluft durch die offene Thür sie trifft. Sie fühlen sich wohl in
-der heißen, feuchten Luft künstlicher Bildung; einmal ihres heimatlichen
-Bodens beraubt, gedeihen sie prächtig in der erstickenden Atmosphäre der
-Ueberfeinerung -- oh, und diese höchste Kultur zeitigt bizarre Charaktere:
-da die Kaktus mit ihren Stacheln über und über, an denen ein rauhes
-Gewebe klebt wie graues Haar; dem bekannten Meergreis gleich, der »in
-die Wüste ging und ein Wüstling ward«, frühzeitig gealtert wie unsere
-nervös überfütterten Dandys ~fin de siècle~. Protzige Agaven mit
-dicken, fleischigen, ausstreckenden Zeigefingern. Cochenille-Kaktus,
-unansehnliche, häßliche Dinger, nur dazu gut, daß andere sich von ihnen
-nähren -- die kleine, rote Blattlaus, die aus diesem Häßlichen das
-Schöne bildet: das leuchtende Cochenille-Rot. Hier die Palmen, groß,
-still, erhaben, die Löwen der Blumen-Menagerie. -- Die vielarmigen
-Dracänen, die üppig wuchernden Schlinggewächse, die seltsamen stillen
-Blumen mit Blättern und Blüten wie aus Wachs geformt, -- gleitet nicht
-Scheherezade durch diese schwüle Luft und erzählt Märchen aus Tausend
-und einer Nacht unter lispelnden Palmen und großen duftlosen Blumen? --
-Aber dort unter dem First des Glasdaches, dem Licht zustrebend -- dort
-liegt es wie glänzend weißer Schnee, besäet mit funkelndem roten
-Blutstropfen. »Weiß wie Schnee, rot wie Blut!« Schneewittchen aus
-unserem lieben deutschen Märchen nickt hervor aus diesem lieblichen
-Blumenmeer und lächelt uns an. Eine Schlingpflanze ist es mit
-schwarzgrünen Blättern; sie rankt sich hoch und immer höher dem Himmel
-entgegen, der blau durch die Fenster ihres Gefängnisses schimmert und
-tausend weiße, stille Blumenherzen wenden sich ihrem Gott, dem Lichte,
-zu, und rot und glühend entströmt ihnen ihr Gebet. -- Da öffnet sich die
-Thür, der Sonnenstrahl huscht hinein und küßt die roten Blumenlippen,
-und winkt mir: Komm, komm! Ich zeig' Dir viel Schönes, wenn auch die
-Blüten Dir genommen sind. --
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-Draußen im botanischen Garten glänzen die feingeharkten Kieswege.
-Zwischen wohlgepflegten Blumenbeeten wandeln wohlgepflegte Städterinnen.
-Die ordentlichen Blumen auf den ordentlichen Beeten blühen noch nicht; die
-ordentlichen Städterinnen haben schon geblüht. Deshalb strömen sie einen
-künstlichen, starken Parfüm aus, der schlecht harmoniert mit der süßen,
-berauschenden Frühlingsluft.
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-»Vorüber, ihr Schafe, vorüber!« singt Goethes Schäfer, als ihm
-»gar so weh« wird -- und wir huschen dem Sonnenstrahl nach, aus dem
-ordentlichen Garten hinaus, hinter die hohe Mauer, wo die Wildnis anfängt.
-Hier ist auch eine Menagerie, die der Bäume. Aber die Wildlinge aus Nord
-und Süd haben in dem fremden Boden Wurzel gefaßt, ihn sich angeeignet,
-und so gedeihen sie und wachsen und wachsen, als habe die neue Heimat ihnen
-die alte ersetzt. -- Was es nicht alles zu sehen gibt unter den fremden
-Bäumen: dort, wohin die Tannen nicht mehr gelangen können mit ihren
-langen Armen, kriecht kleines, grünes Moos dicht an das Nadelbett heran,
-das die Tanne, wie Frau Holle den Schnee, um sich ausgeschüttet; es
-blüht, das Moos, mit lauter gelbgrünen Zäckchen, und zwischen den feinen
-krausen Spitzen kriechen winzige Insekten, denen der Mooswald wohl so
-gewaltig dünkt, wie uns jene blühende Kiefer. O wie blüht die Kiefer!
-Ueberall, überall auf den starken Aesten, in den Stacheln verborgen, da
-blüht es wie rotes Gold; sieben kleine Goldkätzchen in einem Nest -- und
-rührst Du daran mit vorwitzigem Finger, dann rieselt ein feiner, gelber
-Blütenstaub in Deine geöffnete Hand. Weich wie ein zartes Kinderbäckchen
-berührt dich's, und ein würziger Duft erzählt dir von unendlichen
-Kieferwäldern, in denen der Wind singt.
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-»Bilde Dir nur nichts ein,« sagt die Nachbarin der Kiefer, die deutsche
-Edeltanne, und sie reckt sich kerzengrade, so daß sie noch einen Finger
-breit über jene hinweg schaut -- »Du mit Deinem Blühen! Sieh' mich
-an: meine Orden, huldvollst verliehen von Sr. rauschenden Majestät dem
-Frühling.« -- Und sie klappt ihre Zweige zusammen, daß ein feines
-Nadelgeriesel zur Erde fällt. Ueber und über ist sie besäet mit
-hellgrünen Knöpfchen, frischen Nadelspitzen, die vergnügt aus dem Dunkel
-ihrer Wintertracht hervorblitzen.
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-Zwischen den Bäumen, aus Gras und Moos erheben sich dunkle Blumenbeete.
-Seltsame Blumen stehen darauf: aus dunklen Blättern hängt an
-einem dünnen Stiel eine kleine, gelbe Tasche; -- ich bin immer die
-vierundzwanzigste mit fünfundzwanzig Fehlern in der Botanik gewesen, und
-nun möchte ich wissen, ob diese niedliche, kleine, gelbe Tasche nicht eine
-Art von Venus-Fliegenfalle ist? Kriecht ein dummes Mückchen am Rand der
-schönen Blüte hin und bleibt daran kleben: sacht schließt die schöne
-Blüte ihre Tasche, und Mückchen ist gefangen und muß elend zu Grunde
-gehen. Denn so eine Venus-Fliegenfalle gibt ihre Beute nicht wieder los;
-ob's Mückchen auch zappelt -- es wird festgehalten bis an sein unseliges
-Ende. --
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-Wenn nach einem deutschen Städtchen aus der nächsten Garnison die
-Militärkapelle kommt und ein Biergartenkonzert abhält, dann sitzen die
-unnützen Buben hinter der grünen Hecke des Gartens und gucken hindurch
-und haben die prächtige Musik mit allem Tschingdara-Bumbum und die Herren-
-und Damen-Honoratioren, die weißröckigen Mädchen, und all den Kaffee
-und das Bier -- nämlich indem sie sehen, wie es getrunken wird -- ganz
-umsonst. Sie nennen das: ein Heckenbillet nehmen. Ich habe auch ein
-Heckenbillet genommen: ich sitze hinter der großen Mauer, an der sich
-rotblühendes Gaisblatt rankt, und kein Mensch im gebildeten Garten weiß,
-daß ich da bin, und ich höre das süße Vogelkonzert, ich sehe die
-ernsthaften, andächtigen Bäume und das kindlich lustige Gras, in dem die
-blauäugigen Veilchen grüßen, ich trinke die wonnige Frühlingsluft --
-alles umsonst. --
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-Vor mir an der Mauer hinauf, einer Weinranke entlang, läuft ein winzig
-klein Vögelein, geschwind wie ein Mäuschen. Pick -- pick! hier wetzt es
-sein Schnäbelein; husch -- husch! dort jagt es dem Käferchen nach -- und
-es sieht mich an mit den klugen Augen, als rief' es: Guck, mach' mir das
-nach! Da ist es oben, reckt die kleinen Flügel und mit einem jubelnden
-Gekicher ist es davon. -- Horch! über mir: da lacht und küßt und tollt
-ein braunes Drosselpaar. Kokett wiegt sich das Weibchen auf dem schwanken
-Ast; der Liebste lugt um den Stamm und zwitschert zärtlich: Kind, sühst
-meck nich? -- sühst Du meck nich? -- Hier bün eck! hier bün eck! lacht
-das Weibchen, und fort sind sie, in das Dickicht hinein.
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-Da kommt wieder mein Sonnenstrahl und lockt mich aus meiner Ruhe und
-gleitet vor mir her -- und ist verschwunden. Wo bin ich? Was wölbt sich
-über mir -- weit, groß, allmächtig. Ich schaue hinaus, und schaue: immer
-höher, immer gewaltiger weitet sich der grüne Dom von Blättern. Die
-Zweige der beiden norwegischen Baumriesen neigen sich gegen einander, sie
-werden zu gothischen Spitzbögen, anstrebend in die Unendlichkeit.
-Sanftes Dämmerlicht liegt in meiner Kirche. Durch das grüne, schimmernde
-Blätterdach schaut der Himmel wie blaue, freundliche Sterne. Ein
-lieblicher Weihrauch umweht mich. Es ist der Duft der kleinen weißen
-Blüten des wilden Apfelbaumes, der meine Kirche mit wonniger Süße
-erfüllt. Ich stehe und schaue. Ich breite die Arme aus nach der grünen
-Unendlichkeit da droben, und es ist still, still, um mich, in mir. --
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-Als ich hinaustrete aus den dämmernden Bögen meines Domes, liegt die Welt
-hell zu meinen Füßen. Ihr Duft umhüllt mich. Ihr Licht gleitet warm in
-mein Herz. Es ist Frühling.
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- In den Lüften singt es und klingt es -- und --
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- * * * * *
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- Ich flüstere in die weite Welt: »Wohl süß ist es zu singen,
- Wenn Vogelschlag und Frühlingsduft weich dir ins Herze klingen« --
- Da lachte der Sonnenschein.
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-Das Märchen, das gar nicht kommen wollte.
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-Es war einmal ein Märchen, das hatte sich eingepuppt wie eine
-Schmetterlingsraupe und sich versteckt in dem Astloch einer alten Eiche im
-Walde; nur zuweilen öffnete es die Augen ein wenig und blinzelte um sich,
-und wenn es sah, daß die Welt immer noch grau und kahl und ungemütlich
-war, dann machte es die Augen zu und schlief wieder ein. -- Während dessen
-liefen die Menschen in dieser kalten Welt herum und jammerten nach dem
-Märchen, das gar nicht kommen wollte. Das heißt, eigentlich waren es nur
-ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen, die überall nach dem Märchen
-fragten. Sie hatten dicht bei einander auf dem Fußschemel gesessen und
-zugehört, was die alte Märchenmuhme erzählte. Die großen Leute hatten
-keine Zeit dazu, die hatten so viel zu sorgen und zu wirtschaften und zu
-studieren, daß sie sich um ein Märchen nicht weiter bekümmern konnten;
-außerdem sagten sie, so ein Märchen, das sei nur für Kinder und solche,
-die es immer bleiben; dabei käme gar nichts heraus, und man sollte nur
-einmal die gelehrten Leute fragen, die den täglichen Bildungsbedarf fürs
-Volk liefern -- das viele Zeitungspapier -- die werden Euch schon sagen,
-was man von dem Märchen zu halten hat.
-
-Da sagte der kleine Junge zu dem kleinen Mädchen:
-
-»Komm', wir wollen hingehen und sie fragen!«
-
-Als sie bis an eine große düstere Thür gekommen waren, -- da wären sie
-am liebsten wieder umgekehrt; aber der kleine Junge war sehr mutig, und so
-gingen sie hinein. Da saß der Gelehrte und las aus einem gewaltig großen
-Stück Papier. --
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-»Sieh' 'mal, der hat vier Augen,« sagte das kleine Mädchen -- und dann
-guckte er mit ein paar allmächtigen schwarzen Augen über die gläsernen
-hinweg, die ihm unten auf der großen Nase saßen, und das kleine Mädchen
-steckte schnell den Finger in den Mund und der kleine Junge ballte die
-Faust, während der Gelehrte brummte (Gelehrte brummen meistens):
-
-»Sie haben zu viel Phantasie, meine Lieben, das hindert Sie durchaus
-am logischen Denken und schwächt den Verstand. Doch, es wird sich schon
-geben, darüber seien Sie nur unbesorgt.«
-
-Da gingen die Kinder nach dem andern Gelehrten, der war sehr freundlich,
-tätschelte ihre blonden Köpfe und sagte: sie sollten nur wieder hingehen
--- das sei Alles in schönster Ordnung. -- Dann nahm er des ersten Zeitung
-und schnitt da ein Stück heraus, aber so, daß der Anfang fehlte und man
-nicht wußte, um was es sich eigentlich handelte, und druckte es in seine
-eigene Litteratursammlung hinein, und dann stand da zu lesen: Dieses
-ist für die Kinder durchaus schädlich. Es verleitet sie zum Lügen
-und könnte Veranlassung geben, daß sie sogar Phantasie bekämen. -- In
-unserem heutigen realistischen Zeitalter ist es nicht angebracht, und
-der Konflikt zwischen Konservativismus und Modernität wird immer wieder
-aufgefrischt. --
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-Aber davon verstanden der kleine Junge und das kleine Mädchen gar nichts;
-ganz traurig gingen sie wieder fort und suchten immer noch nach dem
-Märchen, das gar nicht kommen wollte. Sie hauchten ein Guckloch in die
-Eisblumen am Fenster, ob es vielleicht außen davor säße; wie der Schnee
-mit geheimnisvollem Sausen vom Dache rutschte, öffneten sie das Fenster
-und dachten, nun käme es ganz weiß hereingeflogen, und wie die Sonne
-anfing zu scheinen, liefen sie hinter den Sonnenstrahlen her, um sie zu
-haschen, denn sie meinten, das sei es nun; und dann schlichen sie auf den
-Zehenspitzen ans Fenster, wo die großen, weißen Hyacinthen standen
-und dufteten, und guckten zu, ob es vielleicht in einer der stillen
-Blütenglocken zur Ruhe gegangen sei.
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-Aber das Märchen wollte und wollte nicht kommen. Und unterdessen war es in
-der Welt immer noch kalt und grau und trostlos. Die Menschen hasteten und
-jagten und trieben einander und machten lauter dummes Zeug. Es war eine
-häßliche Welt und häßliche Menschen darin, die sich viel Leides thaten,
-und die beiden Kinder dachten oft, ob denn das Märchen noch immer nicht
-kommen wollte und Ordnung schaffen und die Welt wieder gut und schön
-machen.
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-Da kam eines Tages der Südwind daher gefahren. Er stieg von den Bergen
-hernieder, daß die Lawinen donnernd vor ihm niederkrachten; er jagte das
-Eis auf den Flüssen vor sich her, daß es sich bog und knackte und schrie;
-er pfiff durch die Tannenwälder, daß die Nadeln den alten Fichten um die
-Ohren sausten, und knickte die dürren Aeste der Wälder, daß Platz wurde
-für die jungen, neuen Triebe. Die Wolken trieb er vor sich her -- runde,
-regenschwere Wolken, in wilder Jagd; sie drängten und schoben sich und
-sprangen einander auf den Rücken, wie die Buben, wenn sie Haschen spielen.
-Dann stob er in die Stadt mit wildem Jauchzen und Getöse; er blies in die
-Kamine hinein, wie in ein Sprachrohr, und trieb Schabernack mit des Petrus
-goldnem Hahn auf der Kirchturmspitze; er deckte die Dächer ab und guckte
-den Leuten in die Häuser und blies sie an, daß es den dummen Menschen
-angst und bange wurde. Ja, er fuhr sogar dem König um die Nase, als der
-just vor seinem Königreiche stand und, die Hände in den Hosentaschen,
-darüber nachdachte, wie sein Volk ihn wohl wieder einmal beglücken
-könne; und er warf ihm sein Reichsaushängeschild gerade vor der Nase
-herunter, so daß der König sich entrüstet umdrehte und in sein Reich
-hineinging und die Thür zuwarf, daß es krachte.
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-Aber der Wind lachte nur: »Puh! wenn ich nur wollte, dann brauste ich Dich
-mit samt Deinem Königreich von der Erde hinweg, wie einen Strohhalm --
-aber ich will nicht! -- Bist mir viel zu klein, du Königlein!« --
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-Und dann warf er ein paar ehrsamen Bürgern, die des Weges kamen, die
-blanken Cylinder von den gedankenschweren Häuptern, als wolle er sehen,
-was in den Köpfen stecke; und wehte ein paar schlanken Jungfräulein die
-langen Kleider eng um die schönen Glieder und freute sich darüber,
-der wilde Geselle, wie die kleinen Frauenfüße so tapfer gegen ihn
-ankämpften.
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-Mit lustigem Gekicher fuhr er zu den Wolken auf und spielte Fangball mit
-ihnen; die Wolken fangen an zu weinen und dann fällt ein weicher, warmer,
-feiner Frühlingsregen auf die Erde nieder, eine zarte, graue Nebeldecke
-breitet sich über die Welt aus, und unter dieser dampfenden feuchtwarmen
-Decke da geht der Sturmwind zur Ruhe.
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-Dort im Wald, in dem Astloch der großen Eiche regt sich etwas, das ist
-das Märchen; das ist aufgewacht von des Südwinds wildem Gesang und merkt,
-daß es nun Zeit ist, aufzustehen. Es gähnt noch einmal recht herzhaft und
-reckt und plustert sich wie ein Vögelein im Nest; dann schiebt es erst
-das eine rosige Füßchen heraus und dann das andere, dann gähnt es noch
-einmal, und nun breitet es seine sammetenen Schmetterlingsflügel aus und
-fliegt zur Erde nieder. Da leuchtet mit einemmal eine große, glänzende
-Sonne durch den Nebel, und nun kann man erst sehen, was für ein
-niedliches Märchen es ist. Es ist sehr klein und fein, hat schöne,
-weiße Gliederchen und große, dunkelblaue Stiefmütterchenaugen und die
-schönsten goldnen Haare von der Welt, die glänzen in der Sonne wie das
-rote Gold, das die Schlangenkönigin bewacht; auf dem Köpfchen trägt es
-eine blaue Glockenblume, die macht ein sanftes Geläute, wo das Märchen
-geht und steht.
-
-Es mußte wohl von dem Getön und Geklinge sein, daß plötzlich alles
-lebendig wurde im Wald, daß die Vögelein ein artig Konzertieren begannen
-und die Blumen -- die Krokus und Anemonen und Schneeglöckchen und wie sie
-alle heißen -- aus der Erde sprangen, wie kleine, weißhäutige Kobolde,
-und ein duftiger Reigen begann in Wald und Flur. Ei! wie es die Bäume da
-eilig hatten, ihr neues grünes Kleid anzulegen, und wie die alten Tannen
-die spitzen, gelbgrünen Finger ausstreckten, als wollten sie sich auch
-so ein grasgrünes Flörchen erhaschen. Am Waldteich der alte Erlenstumpf
-sagte zu seinen grünen Jungen, die ihn dicht umstanden:
-
-»Reckt Euch in die Höhe, Jungens, damit das Märchen nicht sieht, wie alt
-und vertrocknet ich bin.«
-
-Aber im Teich erhob sich plötzlich ein lautes Gequake und Gejohle. Das
-waren die Frösche, die hielten einen Froschvolks-Thing ab und wollten
-sich eine neue Verfassung gründen; sie sprachen sehr ernsthaft über
-Kaulquappenerziehung, Schulvorlagen und Militärbudgets, und daß der
-Storch und der Reiher von jetzt an unter froschlicher Oberhoheit stehen
-sollten; und ein noch ganz grünes Fröschlein aus dem vornehmen Geschlecht
-derer von Ochsenfrosch wollte immer alles besser wissen und durchaus einen
-ganz uralten Kurs als das Neueste einführen im Froschteich.
-
-Es war wirklich sehr interessant, und es war gar nicht recht, daß der
-Weidenbaum am Ufer plötzlich anfing zu jauchzen und zu lachen und zu
-spotten, und sich geberdete, als hätte er zu viel Blütenwein getrunken.
-Die gebildeten Frösche kamen ganz ärgerlich ans Ufer und glotzten ihn an,
-und der tolle Geselle, dem die buschigen, hellgrünen Weidenkätzchen von
-seiner Narrenkappe herunterbaumelten, schnitt höhnisch eine Fratze und
-spreizte seine vielen grauen Finger von sich und hielt eine lange Rede, von
-der die Frösche kein Wort verstanden; denn er sprach von Blütenwein und
-Trunkenheit und Auferstehung und Frühlingsduft und Märchenaugen -- und
-schloß mit:
-
-»Kinder und Narren sprechen die Wahrheit, und wahrlich, ich sage Euch,
-so Ihr nicht werdet wie sie, so könnet Ihr nimmer in den Frühling
-eingehen!«
-
-Hei! Da begann ein Geschelte und Gequake, ein Koaxkoax und Brekekekex,
-daß die Vöglein in der Luft im Fliegen innehielten und verwundert zum
-Waldteich herniederschauten. Und der Weidenbusch verbeugte sich lächelnd
-nach allen Seiten und schüttelte seine Kätzchen lustig durcheinander und
-sagte:
-
-»Verehrte Anwesende, ich glaube verstanden zu haben, daß Sie
-mir vollständig beistimmen; und da oben kommt Se. Excellenz, der
-Generalfeldmarschall Graf Storch, angeflogen, der wird Ihnen --«
-
-Quack! sagten die Frösche und tauchten unter, und lange herrschte
-Totenstille im Teich, bis sie merkten, daß der tolle Weidenbusch sie
-genasführt hatte; dann begann zögernd erst die eine Stimme und dann eine
-zweite, und der grasgrüne Froschjüngling sagte: Kroax! und seine Base,
-die gelehrte und tiefsinnige Schriftstellerin von Unke, antwortete:
-P--unkt--um! -- und bald war der hochweise Disput mit These und Antithese
-wieder im schönsten Gange.
-
-Das Märchen aber nickte lächelnd zum Weidenbusch hinüber und warf
-Kußhändchen nach allen Seiten, dann flog es schnurstracks durch den
-grünenden, blühenden, duftenden Wald, über Felder und Gärten, in die
-Stadt, in das Haus, in die Stube hinein, wo der kleine Junge und das kleine
-Mädchen auf dem Fußschemel saßen und aufmerksam zuhörten, wie die
-Märchenmuhme ihnen die Geschichte von den Löwen- und den Bärenkindern
-erzählte, und als sie gerade sagte: »Die Bärenkinder aber waren so
-schrecklich unartig« -- da rief der kleine Junge:
-
-»Sieh', -- sieh' doch, da ist das Märchen!«
-
-Und das kleine Mädchen klatschte in die Hände und jubelte: »Das
-Märchen! das Märchen!«
-
-Und wirklich, da stand das Märchen auf der Thürschwelle, seine Augen
-leuchteten, seine Haare glänzten wie die Sonne, und dann nickte und winkte
-es ihnen; die Kinder faßten sich bei den Händen, sprangen zur Thür
-hinaus, hinter ihm her und riefen und sangen immerfort:
-
-»Das Märchen! Da ist das Märchen, das gar nicht kommen wollte!«
-
-Es waren aber viele Kinder auf der Straße, die sahen das Märchen zwar
-nicht, aber sie riefen doch: Das Märchen, das Märchen! und tanzten hinter
-dem kleinen Jungen und dem kleinen Mädchen her, und so ging der Zug durch
-die Stadt zum Thore hinaus, als wenn der Rattenfänger von Hameln ihnen
-aufspielte. Die großen Leute, denen sie begegneten, blieben stehen und
-lachten und sagten:
-
-»Ach, das ist ja ein Schmetterling, der heißt --« und dann nannten sie
-einen langen, lateinischen Namen. Und andere sprachen:
-
-»Das ist ja ein Sonnenstrahl, und nun ist es Frühling geworden.
-Der Frühling ist eine natürliche, höchst angenehme, alljährlich
-wiederkehrende Naturerscheinung. Es ist gar nichts Märchenhaftes daran.«
-
-Aber nun waren es der kleine Junge und das kleine Mädchen, welche lachten
--- sie wußten es ja viel besser. Sie liefen in den Wald hinein -- da
-tanzten die Blumen mit den Elfen und Kobolden, und die Kinder waren
-mitten unter ihnen. Das Märchen schenkte ihnen den Frühlingswein aus
-Blütenkelchen, und sie lagen auf weichem Moos und guckten in den blauen
-Himmel hinein, von dem die weißen Wölkchen winkten und grüßten und
-weiter segelten.
-
-Das Märchen aber wuchs und wurde größer und wurde eine liebliche
-Jungfrau und ein blühendes Weib; und dann wurde es ein liebes, eisgraues
-Mütterlein, und dann -- ja, dann spann es sich wieder ein, wie eine
-Schmetterlingsraupe und kam lange, lange nicht mehr; nur zur Zeit der
-Wintersonnenwende, als die weißen Grüße vom Himmel an der alten Eiche im
-Walde vorüberwehten, da öffnete es die blauen Märchenaugen ein wenig
-und blinzelte um sich, und dann schlief es wieder ein und wartete auf den
-singenden, sausenden, brausenden Frühlingswind.
-
-Und der kleine Junge und das kleine Mädchen wuchsen auch und wurden
-größer und schöner und wurden Mann und Weib; dann spannen sie sich
-auch ein, in sich und ihre Welt; und dann erzählten sie ihren Kindern und
-Kindeskindern das Märchen vom Märchen, das gar nicht kommen wollte, und
-endlich, endlich doch gekommen war. -- --
-
-
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-
-Klein Hildegard.
-
-
- Klein Hildegard wollte zur Schule gehn,
- Da blieb am Walde sie sinnend stehn;
- Der sah sie mit winkenden Augen an,
- Die Vöglein lockten aus dem Tann:
- »Klein Hildegard, komm, so schön ist's hier,
- Wir rauschen Dir Märchen, wir singen Dir
- Von Elfenkönigs goldenem Thor
- Viel Süßes, Geheimnisvolles ins Ohr;
- Wir singen Dir von des Nixen Spiel --
- Tief unten im Wasser, da weint er so viel.
- Wir streuen Dir duftende Blumen umher,
- Der Wind regt die Zweige, brausend wie's Meer.«
- -- Doch Hildegard richtet sich ernsthaft auf
- Und schickt sich wieder an zum Lauf:
- »Zur Schule, zur Schule!« die Mutter spricht,
- »Im Walde spielen, das darfst Du nicht!«
- Da fällt, plumps! von dem Tannenast
- Ein Zapfen auf das Näschen fast:
- »Au! böse Tanne!« schilt das Kind,
- »Bist unartig, wie Kinder sind!
- Willst mir wohl gar was sagen, gelt? --
- Ei nun, so rede, wenn's gefällt!«
- Lieb schmiegt klein Hilde sich heran
- Zum rauhen Stamm der alten Tann.
- Vergessen ist Schule, der Mutter Gebot --
- Ja, Sonntagskinder machen viel Not. --
- Vom Tannenbaum fall'n -- tip, tip, tap,
- Die würz'gen Nadeln sacht herab.
- Und, wie sie rieseln, wie sie fallen,
- Hört Hilde Stimmchen draus erschallen,
- Die lullen's Kindchen kosend ein
- In seltsamliche Träumerein;
- »Zur Schule geh', mein liebes Kind,
- Doch da nicht, wo die andern sind.
- Geh' Du zur Schule in dem Wald;
- Was Du da lernst, vergißst Du nicht bald.
- Denn hier im Wald, da lernst Du verstehn,
- Was Bäume rauschen und Blüten verwehn;
- Warum am ewigen Himmelszelt
- Die Wolken ziehen über die Welt;
- Was Blumen duften, Vöglein singen,
- Was Bächlein murmeln, Stürme klingen -- --
- Was unsere ganze schöne Welt,
- Die kunterbunte, zusammenhält -- -- --
- Horch nur auf jedes Gezirpe fein,
- So wirst Du bald klug wie Waldvöglein sein.«
- So spricht im Walde die alte Tann',
- Und Hilde hält den Atem an,
- Daß ihr die Wörtlein nicht entrinnen.
- Dann wandert lustig sie von hinnen.
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- Es grüßen Blumen von allen Seiten,
- Und Hilde nickt, als weitergleiten
- Im weichen, kühlen Gras und Moos
- Die kleinen Füße, nackt und bloß.
- »Pflück' mich,« spricht die Königskerze,
- »Sieh', wie ich gen Himmel schwanke,
- Schlanker Stab aus Sammetblättern,
- Bin ganz Sehnsucht, ganz Gedanke, --
- Vor Idealen, hoch und hehr,
- Seh' ich den eignen Stamm nicht mehr!«
- Da lacht das kecke Heidekraut:
- »Ich wurzle in der Erde traut;
- Und wie ich dufte, wie ich blühe,
- Und wie ich stark und kräftig bin,
- Und wie ich feurig rot erglühe --
- All das gab mir die Erde hin!« --
- Horch! Welch ein feines Stimmchen schallt
- Vom nahen Eichstamm durch den Wald?
- Die wilde Weinblüt' ist's, die spricht
- Ganz spöttisch: »O, Ihr dummen Wicht'!
- Vom Himmel träufelt uns der Regen,
- Vom Himmel wärmt die liebe Sonn',
- Und Mutter Erde will uns hegen,
- Wenn Frost und Eise starren schon.
- Ich lieb', was mir der Himmel gab,
- Die Erd', in der ich Wurzeln hab'.«
- So flüstert's, lacht es auf und an;
- Klein Hilde pflückt so viel sie kann.
- Schau! Dieses bunte Blumenmeer! --
- Fast wird's dem Aermchen gar zu schwer.
- Im schilfigen Gras glüht rot es auf.
- Pechnelken stehen da zu Hauf,
- Und schütteln ihre Federköpfe,
- Und spreizen sich, die eitlen Tröpfe.
- »Ei, liebes Kind, mußt mich ansehn,«
- Die Eine spricht, »bin wunderschön!
- Brichst mich in meinem Purpur-Prangen,
- So bleibst an meinem Stengel fein
- Unwiderstehlich daran hangen
- Mit Deinen Kinderhändchen rein;
- Wer mich nur einmal hat berührt,
- Stets neue Lust nach mir verspürt.«
- Doch -- »Bim -- bam!« klingelt da die Blaue,
- Die Glockenblum', »Nur der nicht traue!
- Denn Lüg' ist Alles, was sie spricht --
- Kennst Du das alte Sprüchwort nicht?
- Wer Pech anfaßt, besudelt sich!
- Und das ist richtig, sicherlich!
- Hör', rote Nelke, das ist schlimm!
- Das Glöcklein läutet stets: Bim -- bim!
- Und öffnest Du den Lügenmund,
- So klingelt es ganz kunterbunt:
- »Bimbam, bimbam, bimbam, bimbum!
- Du Federnelke, bist Du dumm!«
- Und lachend steht Klein Hildegard
- Und droht dem blauen Glöcklein: »Wart',
- Du lieber Schelm, jetzt pflück' ich Dich,
- Dann läutest Du »Bimbim!« für mich,
- Und läutest artig mich nach Haus;
- Doch jetzt ruh' ich mich erst 'mal aus.«
- Es winkt der gelbe Ginsterbusch,
- Und wie das graue Häslein -- husch! --
- Schlüpft unser Kind geschwind hinein
- Ins goldne Blütenbettelein,
- Und dehnet wohlig sich zur Ruh',
- Und schließt die müden Aeuglein zu.
- Die Blumen hält im Arm sie fest,
- Denn wenn man die gewähren läßt,
- So fangen sie zu leben an
- Und wandern fort durch Wald und Tann.
- Es ist just um die Mittagsstunde.
- Wo Waldesgeister ziehn die Runde.
- Kennst nicht das Waldesweben Du?
- Wenn rings im Wald ist tiefe Ruh',
- Und doch ein seltsamliches Weben
- Ein raunend, flüsternd Zauberleben?
- Die Bäume stehen still und stumm,
- Kein Blättlein reget sich ringsum.
- Im Schatten schläft das Vöglein lieb,
- Reckt sich einmal, sagt leise: »Piep!«
- Und plustert seine Federlein
- Und schläft dann sänftlich wieder ein.
- Doch die Frau Sonne, die ist wach
- Und luget durch das Blätterdach.
- Es tanzt auf ihrem Flimmerstrahl
- Der blanken Sonnengeister Zahl.
- Im hohen Grase zirpt die Grille --
- Nun zirpt es Antwort -- dann wird's stille.
- Der Falter taumelt über Blüten,
- Das sind die Schäflein, die muß er hüten;
- Doch in dem heißen Sonnenschein
- Da schläfert's ihn mitunter ein;
- Und ist er wieder aufgewacht,
- Dann hat sie sich davon gemacht,
- Die Blüten-Herde, und fliegt wie er,
- Im hellen Sonnenglanz umher.
- Dann hebet an ein Singen, Klingen,
- Von Märchen, wunderlichen Dingen;
- Das Bächlein gluckst sein schelmisch Lied,
- Und Moos und Steinchen singen mit.
- Vergißmeinnicht am Rande träumt:
- »Hat's Wiederkommen er versäumt?
- Ich rief so oft: Vergißmeinnicht!
- In weiter Ferne -- hört er's nicht?«
- Der Ginster winket zu ihr her:
- »Klein Blümchen, was verlangst Du mehr?
- Kannst, kleine Blaue, Du's verstehn?
- Die Lieb' soll nie von Liebe gehn --
- Sonst geht die Treue hinterdrein.
- Ich sing' ein Lied Dir -- lausche fein:
-
- Ueber die Heide weht der Wind,
- Da sitzt das blasse Königskind,
- Singt: Leide, leide, leide --
-
- Bei Sonnenlicht und Sternenschein
- Da suche ich den Buhlen mein --
- Wo weilt er auch am Wege?
-
- Ach, wollt', er wäre noch bei mir,
- Ich wollt' ihn küssen und herzen schier
- Auf stiller, stiller Heide.
-
- Ach, wollt', ich läg' in seinem Arm,
- Ich wollt' vergessen allen Harm,
- Wollt' lachen nur und kosen.
-
- Ueber die Heide weht der Wind,
- Da sitzt das blasse Königskind,
- Singt: Leide, leide, leide.
-
- Und wartet noch gar manches Jahr --
- Und kämmet ihr langes, goldnes Haar,
- Das wehet in dem Winde.
-
- Und als der Bub dann kommen ist,
- Der sie so oftmals hat geküßt,
- Da sucht er auf der Heide.
-
- War da ein feiner Ginsterstrauch,
- Des gelbe Blumen strahlten auch
- Wie lauter lichtes Golde.
-
- Da hat er so viel weinen 'müßt,
- Und hat die Ginsterblumen 'küßt -- --
- Dann ist er fortgezogen.«
-
- Und als verklungen ist die Weise,
- Da reget sich Klein Hilde leise:
- In ihrem Arm die Blümelein,
- Die fangen an zu reden fein.
- Das Löwenzähnchen schilt: »O Ginster,
- Wie sind doch Deine Träume finster!«
- »~Noblesse oblige!~« ruft Rittersporn,
- »Auch in der Lieb' -- bei meinem Zorn!«
- Und trotzig mit gar mut'gem Sinn
- Grüßt er zur Wickenblüte hin;
- Verschämt senkt die das Köpfchen tief,
- Ein lieblich Rot sie überlief. --
- Da lacht es plötzlich neben ihr:
- »Ich halt' die Liebe weg von mir!
- Ich wehre mich vor jedermann --
- Und fühlt, wie ich doch brennen kann!«
- Da jubeln alle auf und sagen:
- »Hört -- Brennessel will auch was wagen!
- Geh', Unkraut, pfeife uns ein Lied,
- Im Chorus singen wir dann mit.«
- Und neckisch stimmt die Grüne dann
- Das Nessellied, und hebet an:
-
- »Ich wollt' einmal spazieren gehn,
- Am Rain, wo bunte Blumen stehn.«
-
- Und jauchzend fällt der Chorus ein:
- »Nessel, Nesselbusch am Rain!«
-
- »Da schaut ein weißes Blümlein 'raus,
- Und ach -- so schämig sah es aus.«
-
- Und jauchzend fällt der Chorus ein:
- »Nessel sieht so schämig drein!«
-
- »Und als ich bückte mich danach, --
- Gar plötzlich mir's den Finger stach.«
-
- Und jauchzend fällt der Chorus ein:
- »Nessel, Nessel, wehr' Dich fein!«
-
- »Ei, böse Blume, halt' doch still
- Wie die andern, wenn ich Dich brechen will!«
-
- Und jauchzend fällt der Chorus ein:
- »Nessel, -- hörst -- sollst stille sein!«
-
- Da lacht die grüne Blum' und spricht:
- »Ja Brennesselblüten, die pflückt man nicht!«
-
- Und jauchzend fällt der Chorus ein:
- »Brennt die Nessel -- laß sie sein!«
-
- Nun reichen alle sich die Hände,
- Und singen's Tanzlied: »Wende, wende
- Dich her zu mir, und auf und ab.
- Zieh' die Kreise, zart und leise,
- Sing' die alte Wunderweise,
- Wie die Blumenfee sie gab.
- In den Blüten schläft das Kind --
- Küsse, küsse es geschwind,
- Daß es eins der unsern werde;
- Daß es blumenduftig schwebe,
- Daß es waldesselig lebe
- Auf der hellen, grünen Erde.«
- Da ist klein Hilde aufgewacht,
- Und hat die Aeuglein aufgemacht:
- Und all die Sonnenpracht umher!
- Und all das Duften, süß und schwer!
- Und sieh' -- die Blumen neigen sich,
- Umkreisen sie gar seltsamlich --
- Sie trägt ein rosenfarben Kleid,
- Das strahlet hell von Taugeschmeid'.
- Und Rosen trägt sie in dem Haar,
- Und Rosen in den Händen gar.
- Die Blumen knieen vor ihr hin:
- Heil unsrer Rosenkönigin!
- Und eh' sie weiß, wie ihr geschah,
- So ruhet sie auf Rosen da;
- Und allgewärtig ihren Winken
- Die Blumen stehn zur Rechten und Linken,
- Und Hilde grüßt nach allen Seiten
- Huldvoll, wie sie vorüberschreiten.
- Aus Blumen trinkt sie den Blütenwein
- Und nascht den goldnen Honigseim.
- Die Sonne wirkt ihr die goldne Kron'
- Und die glänzenden Flitter für den Königsthron.
- Die Schmetterlinge tanzen vor ihr,
- Die Grillen spielen auf dafür.
- So ruhet sie an Baches Rand
- Als Königin übers ganze Land.
-
- Da -- horch! was rauscht es ihr zu Füßen?
- Und welch ein Nicken, Winken, Grüßen
- Von Blum' und Moos am Ufer dort?
- Das Wasser schwillet fort und fort --
- Und aus den grauen Nebelwogen,
- Da kommt es zu ihr hergezogen
- So wunderselig. Aus dem Fluß
- Erhebet sich mit süßem Gruß
- Der Nix in silbernem Gewand
- Und hält die Harfe in der Hand
- Die gibt gar traurig hellen Ton --
- Ob's Glück mit Thränen gemischt sei schon.
- Er breitet die Arme aus nach ihr:
- »O Rosenkönigin, komm' zu mir!
- Ich will in meinem Arm Dich hegen,
- Ich will Dich schaukeln auf der Flut;
- Die zarten Glieder sollst Du legen
- Auf Wasserrosen, -- da ruht sich's gut.
- Mit meinen Fischlein sollst Du spielen,
- Ein neckisch Haschen, her und hin --
- Die kleinen, weißen Füßchen kühlen
- In klaren Silberwellen drin.
- Es ist so einsam in der Tiefe,
- Im Wasserhaus so kalt für mich --.
- Und kämst Du wohl, wenn ich Dich riefe?
- O Königin, ich hole Dich!«
-
- Da wird Klein Hilde das Herz so weh --
- Es ruft in ihr: O geh', o geh'!
- Wie wird es ihr so seltsam kalt?
- Was zieht es sie mit solcher Gewalt?
- Wie schwillt das Wasser immer mehr --
- Da kommt der Nix gar zu ihr her,
- Und faßt sie mit feuchten Armen an --
- Klein Hilde sich kaum noch regen kann.
- Vor Angst, vor Glück? -- Sie weiß es nicht,
- Es küßt der Nix ihr blasses Gesicht;
- Er wieget sie in seinem Arm,
- Es wird ihm -- ach -- so wohlig warm;
- Er will sich rauben das junge Blut
- In tiefe, rauschende Silberflut.
- Klein Hilde schaudert -- an seine Brust
- Zieht er sie eng mit sehnender Lust --
- Schon netzt das Wasser ihr Gewand,
- Er zieht sie hin mit zwingender Hand --
- Nun sinkt Klein Hilde sacht hinab
- In des Nixen stilles Wassergrab. --
- Und horch! wie's um sie rauscht und singt!
- Wie's brausend durch die Lüfte klingt!
- Klein Hilde, wache auf geschwind,
- Sonst weht der wilde Brausewind
- Dich wirklich in das Bächlein dort --
- Zum Schlafen einen bösen Ort
- Hast Du Dir eben ausersehn.
- Und dann mußt Du nach Hause gehn:
- Die Schule ist schon lange aus,
- Und alle Kinder schon zu Haus.
- Da hat Klein Hilde sich erhoben
- Und schaut verwundert hin nach oben,
- Wo Wolken ziehen kreuz und quer,
- Gar über die liebe Sonne her.
- Wie war doch alles das geschehn?
- Hat sie den Nixen nicht gesehn?
- Ist nicht am Saum ihr Röckchen naß?
- Das ist doch nicht vom feuchten Gras?
- Wo ist ihr Rosenkleidchen hin?
- War sie denn nicht die Königin?
- Die Bäume neigen sich um sie her,
- Das kommt vom Wind, der wehet sehr,
- Der pfeifet ängstlich durch den Tann;
- Klein Hilde hält den Atem an --
- Es wird ihr plötzlich so beklommen
- Da hat sie hurtig aufgenommen
- Die Blumen alle nebendran,
- Und springt davon so schnell sie kann.
- Jetzt ist sie auf der kleinen Brücke,
- Da rauscht es unter ihr voll Tücke:
- »Da, Wassermann,« ruft sie geschwind,
- »Da, nimm das bunte Blumenkind!«
- Und wirft ein schönes Blümelein
- In Wassermannes Haus hinein.
- Mit weißer Hand greift der es an,
- Und strudelnd sinkt's zur Tiefe dann.
-
- Und als Klein Hilde kam nach Haus
- Und hat gesagt, was sie gesehn,
- Und hat erzählt, was ihr geschehn --
- Da lachen sie Klein Hilde aus.
- Und scheltend streng die Mutter spricht:
- »Im Walde spielen sollst Du nicht!«
- Und Hilde setzt ins Eckchen sich
- Und weinet, weinet bitterlich.
-
- Klein Hilde, werde wieder froh;
- Uns Großen geht es ebenso:
- Wenn wir im Walde etwas sehen,
- Was all die andern nicht verstehen,
- So lachen sie uns auch nur aus
- In diesem weisen Weltenhaus.
- Und Mutter Ordnung ernsthaft spricht:
- »Der Phantasie bedarf man nicht!
- Die Poesie -- die braucht man nicht!
- Mehr sehn, wie andre, soll man nicht! --«
-
-
-
-
-Das Märchen, das verloren gegangen war.
-
-
-Das war, als ich einmal spazieren ging und tiefsinnige Gedanken hatte --
-worüber? -- Sie waren zu tief, um das ergründen zu können. Vielleicht
-war's, ob die Welt da um mich her mit ihren langen Straßen und engen
-Häusern eine wirkliche Welt sei oder ob ich sie mir bloß einbilde, und
-ob die Menschen, die mir begegnen, wirklich so blödgesichtig dreinschauen,
-oder ob ich bloß Schwingungen in meinem Gehirn und Augen habe, die mir
-das alles so erscheinen lassen -- ja, vielleicht war's das, worüber ich
-nachdachte. Und neben mir her trippelte ein feines Etwas mit großen Augen,
-und das kicherte und plapperte mit einem leisen murmelnden Stimmchen wie
-ein kleiner Bach; und weil mich das in meinem tiefsinnigen Denken störte,
-sagte ich:
-
-»Ei, so sei doch ruhig und stör' mich nicht!«
-
-Da schwieg das feine Etwas erschrocken still. Aber als das liebliche
-Gemurmel nicht mehr neben mir einherging, konnte ich erst recht nicht
-denken, und als ich mich ungeduldig umwandte, da hatte ich das Märchen
-verloren. Nun war mir's ganz ungemütlich zu Mut. Ich ging gleich wieder
-zurück, blickte rechts und links, hinter jeden Baum, und unter die
-trockenen Blätter, die darunter lagen, aber nirgends leuchteten die
-Zauberaugen meines Märchens.
-
-Da fragte ich die Uhr, die vor mir hoch oben in einem langen, spitzen
-Kirchturm saß:
-
-»Du wohnst so hoch und hast einen weiten Ausblick -- hast du mein Märchen
-nicht gesehen?«
-
-Aber die Uhr sagte nur: Tick-tack-tick-tack! Und als sie schnarrend zu
-einer Antwort einsetzte, da sagte sie mit rasselnder Stimme eine ganze
-Menge Zahlen her -- als ob Zahlen etwas mit einem Märchen zu thun hätten!
-Nun fragte ich die Leute auf der Straße:
-
-»Ihr seid so klein, und guckt immer auf die Erde -- habt Ihr mein Märchen
-nicht gesehen?«
-
-Aber die antworteten: »Eine solche Person kennen wir nicht. Und wenn sie
-Dir gehört und weggelaufen ist, so zeige es doch bei der Polizei an«
--- -- als ob eine blauröckige Polizei mit einem Knüppel ein Märchen
-einfangen könnte!
-
-Nun fragte ich die Bäume im Park, an dem ich vorüberging. Aber die
-standen ganz still und regten sich nicht und ließen nur zwei, drei gelbe
-Blätter vor mir niedersinken. Da merkte ich, daß es Stadtbäume waren und
-zu gebildet zum Antworten auf eine Märchenfrage, und weil ich nun durchaus
-mein Märchen, das ich so leichtsinnig verloren hatte, wieder haben mußte,
-so ging ich auf Reisen, ihm nach.
-
-Ich kam an ein großes Wasser, das lag friedlich da, wie eine
-grünsammetene Wiese, auf der kleine Grabhügel sich wölben, über und
-über bedeckt von weißen Maßliebchen. Mir war es, als ob mein Märchen
-sein goldenes Haupt lächelnd aus diesen Grabhügeln strecke, und als ob
-es kichere: »Nicht in Gräbern findest Du mich -- ich bin das Leben!« --
-Aber da kam ein zarter, grauer Nebel und deckte die grüne Sammetwiese und
-die Maßliebchenhügel zu, und nur ganz in der Ferne sah ich es aufblitzen
-wie weiße Mövenflügel.
-
-Ich kam an eine Insel, darüber flutete ein warmes Abendrot, und ein
-Rauschen, ein bedeutsames Raunen zog durch die Wipfel der hohen, stillen
-Bäume, als spräche mein Märchen zu mir aus tausend Zungen. Bunte Blumen
-standen auf der Insel, die sie die »Schöne« nannten, und sahen mit
-stillen Augen zu den Sternen auf, die ganz zart und licht am Abendhimmel
-aufleuchteten, wie die ersten Liebesgedanken in einer weichen
-Mädchenseele. Leise glucksten kleine lustige Wellchen gegen das Ufer, als
-lachten sie über die Wassernixen, die mit ihren weißen Entenfüßchen das
-Ufer heranklimmen wollten und immer wieder ins laue Wasser plumpsten. Wie
-nah', wie nah' war mir mein Märchen! Ich fühlte es mich umwehn -- aber
-als ich danach haschte, sah es mich mit tiefen Augen spottend an, und ich
-griff in die Luft.
-
-Danach sah ich mein Märchen wieder in einem Krankenzimmer; da saß es tief
-verborgen in dem großen weißen Kelch einer Lilie. Aus deren sammetigen,
-weißen Blütenblättern lagen rote Tropfen, als habe das Märchen blutige
-Thränen geweint, und es sah mit himmlisch klaren Augen in die Weite. Wie
-ein Hauch flog es durch das Gemach: »Hier kannst Du mich nicht halten,
-da würde ich vergehen vor Traurigkeit« -- -- und husch! wie ein
-Flügelschlag -- da war's aus dem Fenster, und die Menschen um mich sahen
-sich fragend an: Was war das?
-
-Eines Morgens, ganz, ganz früh, als die Nacht auf ihrem Lager flehend die
-Arme hob, den leuchtenden, ihr entfliehenden Tag zu halten, da erwachte ich
-und sah etwas Weißes, Flüchtiges von meiner Seite davonschweben. Und es
-umgab mich ein leises Klingen, und Worte tönten -- war's in mir? war's um
-mich? -- Horch:
-
- Die Nacht, als ich geschlafen hab',
- Da lag das Glück bei mir;
- Im Morgenschimmer sah ich nur
- Entfliehn die weiße Zier.
-
- Es lächelt, nickt und winkt mir zu:
- »Du hast es nicht gewußt,
- Daß schlummernd ich mein Köpfchen hab'
- Gelegt auf Deine Brust;
-
- Wärst Du erwacht, hätt'st mich gefaßt,
- So wär's um mich geschehn --
- Nur leis, nur heimlich darf das Glück
- An Deiner Seite gehn.«
-
-Nun hatten es viele gute Menschen gehört, daß ich mein Märchen nicht
-wieder finden könnte, und weil sie ein verloren gegangenes Märchen für
-etwas sehr Trauriges hielten -- ganz anders als die in der Philisterstadt,
-die gar nicht recht wußten, was ein Märchen war -- da wollten sie
-mir alle suchen helfen. Aber sie thaten es mit so viel Bewußtsein und
-Ueberlegung, daß das Märchen sich immer tiefer versteckte; und selbst
-der rauschige Weinduft, der ausgesandt wurde, nach ihm zu forschen, kehrte
-statt mit meinem lieblich plappernden Märchenkinde mit einem wolligen,
-miauenden Kätzchen zurück, das gar scharfe Krallen zeigte.
-
-Da ging ich in die Einsamkeit. Ich kam an wildes, weites Wasser, das
-rauscht und brodelt und donnert, als wolle es eine Welt vernichten -- oder
-emporheben. Und eine Brücke führt über die weiße Gischt, die ging ich
-hinüber. Da war ich auf einer Insel mit hohen, wiegenden Bäumen;
-die hielten Felsblöcke mit ihren Wurzeln umklammert wie mit riesigen
-Greifenklauen. Und da war noch eine Insel, und noch eine, und noch eine.
-Zwischen ihnen drängte sich überall das weiße Wasser hindurch; es war
-so klar, daß man die kleinen Mooswälder auf dem Gestein unter ihm
-sehen konnte, und die Höhlen, dunkelblau und tiefgolden, in denen die
-Wasserkobolde wohnen. Wie ich nun an der äußersten Spitze der letzten
-kleinen Insel angekommen bin und hinsehe über das weite, schäumende
-Wasser, da sitzt dicht vor mir, nahe am brausenden Wasserabsturz,
-mein Märchen auf einem Felsblock. Es hat seine nackten Beinchen hoch
-heraufgezogen, damit sie nicht naß werden, und umschlingt die Kniee mit
-den weißen Armen; das Haar rollt silberglänzend um die kleine Gestalt,
-wie der sonnendurchleuchtete Kamm einer Woge, und die meergrünen
-Zauberaugen sehen zwingend zu mir hinüber. So sitzen wir beide und
-lächeln uns an, so froh, daß wir uns wieder haben, und dann erzählt das
-Märchen:
-
-Weit droben im großen See tief auf dem Grund, da steht das Schloß des
-alten Wasserkönigs. Von grünem, strahlendem Krystall ist es erbaut, und
-die Wände sind so klar, daß der Wasserkönig mit seinen seegrünen Augen
-hindurchschauen kann und alles sieht, was in seinem Reiche vorgeht. Wenn
-die Fische rebellieren wollen, dann weiß er es schon, noch ehe sie den
-revolutionären Gedanken gefaßt haben, und der Kopf wird ihnen abgebissen,
-ehe sie wissen, wo er ihnen eigentlich sitzt. Ja, der König führt ein
-strenges Regiment, sogar unter den weiblichen Unterthanen, und manch
-hübschem Nixlein bebt das goldschillernde Schwänzchen, wenn der König
-musternd die Reihen durchschreitet; denn manch Nixlein hat ein böses
-Gewissen, und -- ach, die königlichen Zwillingssöhne sind gar so
-herzliebe Gesellen.
-
-Da berief der König eines Tages seinen Hofstaat um sich. Er saß auf
-einem Thron von goldglänzendem Kiesel, auf dem weißen Haupte trug er die
-Seekrone von Smaragden, und in den langen silbernen Bartwellen funkelten
-die Schaumperlen. Ringsum harrte das Gesinde in ehrfürchtigem Schweigen,
-kaum, daß die beweglichen Schwänzchen hin und her zuckten. Vor ihm
-aber standen die Zwillinge und warteten des königlichen Vaters Befehle.
-Schöne, schlanke Burschen sind's, mit festen Gliedern und kühnen Augen.
-Die des einen mit der gedankenvollen Stirn hingen an den Lippen des Vaters;
-die des andern, Rastlosen, Trotzigen, flogen lächelnd und kosend über die
-Schar der Nixlein, durch deren Reihen eine plötzliche schillernde Bewegung
-ging. Der Wasserkönig aber sprach:
-
-»Prinzen, Ihr habt gelernt, wie man im Wasser lebt, herrscht und richtet.
-Es ist Zeit, daß Ihr Euch die Wasserfläche draußen anseht. Bahnt Euch
-eine Straße, zerschmettert, was Euch im Wege ist, und erobert Euch Euer
-Reich. Ziehet hin in Frieden und beherrschet künftig Eure Unterthanen mit
-Zucht und Strenge.«
-
-Unwillkürlich ruckten die Fische mit ihren Köpfen bei dieser Rede, ob sie
-auch noch festsäßen, und die Nixen und Wassermänner zupften sich an den
-Flossen, ob sie die auch noch hätten. -- Die schönen Zwillingsbrüder
-aber schwammen Hand in Hand in die Welt hinaus. Zuerst waren sie
-sehr übermütig, schlugen Purzelbäume, daß die Wellen in die
-Höhe klatschten, und neckten die Fische, die pfeilschnell an ihnen
-vorüberflohen. Dann wurden sie stiller und träumerisch, wiegten sich Hand
-in Hand an der spiegelglatten Oberfläche des Wassers und sprachen von den
-Heldenthaten, die sie verrichten wollten. Der mit der hohen Stirn und den
-schwärmerischen Augen lispelte von der hohen, der herrlichen Welt, die
-er sich erträume und die er besitzen müsse, koste es, was es wolle. Der
-Trotzige aber lachte dazu: »Leben will ich -- und lieben und genießen!«
-rief er und schüttelte übermütig eine ganze Welle voll Flußsand über
-des Bruders schönem Haupte aus, daß der prustete und sich schüttelte wie
-ein nasses Menschenkind. -- Nun kamen sie an einen hohen, grünen Wald, der
-lag mitten in ihrem Weg und machte auch keine Miene, ihnen auszuweichen.
-
-»Zerschmettert, was im Wege steht!« wiederholte der mit der hohen Stirn.
-»Komm, laß uns die Bäume niederreißen, und die Felsen zerbröckeln.«
-
-»Pah,« lachte der Wilde, »wozu die Arbeit, die eine Ewigkeit dauert? --
-Weiter, weiter will ich, ins Leben hinein! -- Hör', laß uns den Bäumen
-aus dem Wege gehen, Du dort herum, und ich hier, und dann wollen wir sehen,
-wer zuerst ankommt, zuerst sein Ziel erreicht -- Du oder ich!«
-
-Das reizte den Zwillingsbruder; wußte er doch, daß er natürlich der
-Erste sein würde. Ein flüchtiges Lebewohl nur, und er brauste dahin,
-ungestüm, hier ein Stück Fels wegreißend, dort einen Baumstamm mit sich
-zerrend. Er sah nicht die Welt um ihn; er sah nur in die Ferne, wo seine
-Welt liegen mußte, die er erträumt, die er besitzen, beherrschen wollte.
-Nur immer weiter, weiter, dahin, wo der zarte Dunst aufsteigt, wo ein
-erster Sonnenstrahl glitzert wie auf Türmen -- die seines neuen Reiches
--- und in wilden Sprüngen, brausend und jauchzend, setzt er der Traumwelt
-nach, bis er schwankt und schwankt und ihm schwindelt, und er den Boden
-unter den Füßen verliert, und er in den Abgrund stürzt, in den Abgrund
-von erträumter Leidenschaft. Es war ein jäher Sturz. In ihm zerschellen
-alle seine Träume, alle seine erhabenen Gedanken. Voll Grausen blickt er
-hinauf zu der schwindelnden Höhe, auf der er einst geweilt hatte: so groß
-und erhaben hatte er sich das Leben gedacht, nichts hatte er haben wollen,
-keine Freude, keine Liebe, nur Größe und immer mehr Größe. Nun trieb
-er dahin in einem breiten, gemächlichen Strombett, immer mehr wiegend,
-erschlaffend, duselnd -- und nur wie weißer, kreisender Schaum trieb die
-Erinnerung auf seinen langsam sich wälzenden Fluten. Einmal schaute er
-sich um nach seinem Bruder: eine brausende, dampfende Gischt in der Ferne
-verhüllte alles hinter ihm.
-
-Der trotzige, lächelnde, genußsüchtige Zwillingsbruder aber war gar
-gemütlich seines Weges gezogen, hatte die Bäume auf der schwimmenden
-Insel neckisch an den Zweigen gezupft, wie die unnützen Buben die
-schmollenden Schulmädchen an den Zöpfen, hatte seine neugierigen,
-geschwätzigen Fluten durch jeden kleinen Felsengang geschickt, bis er
-mitten durch die Insel hindurchlugen konnte, und da sah er etwas sehr
-Liebliches. Nicht eine Insel war es nämlich, sondern neben der großen,
-die das Königreich einer vornehmen alten Waldnymphe war, wie die
-Wasserboten berichteten, lagen noch drei kleinere, und jede von ihnen hatte
-ein Töchterlein der Waldkönigin zur Herrin, und sie lebten da in eitel
-Freude und Lustbarkeit. Keinen Gebieter wollten sie über sich erkennen und
-frei wie die Luft leben, so lange die Welt steht. Da kam jetzt der schöne
-Flußheld geschwommen, ganz nahe an die Insel der ersten Schwester heran,
-siehe, da steht ein wunderschön Jungfräulein, mit Guirlanden von Blumen
-umwunden und ein fröhlich Liedchen summend. Und horch! wie die Antwort zu
-ihr aufsteigt aus den weißen Wassern, die plötzlich aus dem Dunkel der
-Felsen hervorbrechen und sie erschrecken, daß sie schreiend davonläuft.
-Er aber schwimmt ihr nach, rund um die Insel, siehe -- da sitzt auf einem
-Felsblock der zweiten kleinen Insel ein noch viel schöneres Jungfräulein,
-die schüttelt ihr lockiges Haar, als sie die weißen, starken Arme des
-Flußhelden sieht, die er nach ihr ausstreckt. Und sie lacht höhnisch und
-nimmt spitzes Gestein und wirft es nach ihm, daß ihn die scharfen Kanten
-ritzen. Da wird er zornig und will aufwallen -- doch ach, drüben auf
-der letzten, kleinsten Insel, da sitzt am Ufer, mit den Füßen die neuen
-Wellen patschend, das dritte Prinzeßchen; und sie hat langes, güldenes
-Haar, und die meerblauen Augen sehen neugierig zu ihm hinüber, und die
-schönen Glieder wiegen sich mit den Wellen. Da schwimmt er ganz nahe zu
-ihr, legt seine große Männerhand um ihr weißes, weiches Füßchen,
-und sie lächelt nur -- da zieht er sie hinab in seine schaukelnde, weite
-Wasserwiege. Wie eine Wehklage braust es durch die Waldwipfel; aber sein
-Jubelruf übertönt die Klage, und weit enteilt er, seine Beute bergend vor
-Fels und Abgründen. Regungslos liegt die Schlanke, Weiße in seinen Armen.
-Sie kann ja nicht sprechen im Wasser, nur die meerblauen Augen sehen
-ihn an, und tief drin liegt eine stille Klage: Warum hast du mich in ein
-fremdes Element gezogen? Warum dich zum Herrn gemacht über ein freies
-Geschöpf?
-
-Nun wußte er eine Grotte, darin sollte die stille, weiße Geliebte wohnen.
-Tiefgrün war es darin von lauter Smaragden, und das Edelgestein leuchtete
-und funkelte wie von tausend Lampen. Der trotzige Held aber webt und webt,
-und webt mit seinen Wasserfäden den schönsten Brautschleier von kostbaren
-Spitzen, und er hängt das duftige zarte Gewebe, so hoch, so fein, rund im
-Halbkreis vor das smaragdene Wasserschloß, daß niemand seine Heimlichkeit
-störe, keiner seine weiße Braut, zu deren Füßen er ruht, ihm rauben
-könne. Sie aber spielt in seinen langen Haaren, küßt seinen roten Mund,
-legt ihr Köpfchen an seine breite Brust -- aber immer wieder fragt sie: Wo
-ist die Sonne? die goldene Sonne?
-
-Und eines Tages, als er fern ist, da wird die Sehnsucht nach dem Licht so
-mächtig in ihr, daß sie der Wasserkobolde und neckischen Nixen vergißt,
-die draußen ihr Wesen treiben und die Spitzenschleier immer wieder
-erneuern und verdichten. Ganz nahe tritt sie heran an die zauberischen
-Vorhänge -- wie hell, wie licht es da ist; sie rückt ein wenig daran, sie
-lüpft ein zartes Eckchen. -- Siehe, da über den wogenden Wasserdünsten
-steht die Sonne, ihre Sonne in strahlender Pracht -- und die Arme
-sehnsüchtig ihr entgegenbreitend, sinkt das Waldkind, eingehüllt in
-die Brautschleier, zur tosenden, unbarmherzigen Tiefe nieder. Wie ein
-leuchtender Strahl fliegt es an dem Trotzigen vorbei, der seine starken
-Glieder im wildesten Flutengetos kühlt, und da vor ihm, da im Strudel
-treibt der weiße, weiche Leib seiner stillen Waldlilie. -- Es überkommt
-ihn ein großer Zorn. Brüllend vor Schmerz und Wut, daß es wie Donner
-grollt, wirft er die Wasser gen Himmel, damit ihr Schaum, ihr wilder Gischt
-die Sonne, die verhaßte, verdecke. So steht er im Strudel und rast und
-trotzt gen Himmel. Er sendet seine Fluten auf zu der Insel, wo seine
-Waldlilie wuchs; sie zerren und wühlen an dem Gestein, ein Stück nach
-dem andern sinkt in die Tiefe und ein höhnender Schrei gellt von Welle
-zu Welle, wenn ein Baum mit hinabgerissen wird und hülflos in den Fluten
-treibt. Oben in den Wipfeln der Bäume aber rauscht eine wehmütige Klage
-um die Waldlilie, die an der Sonnensehnsucht verging.
-
-Doch die wundersamen Spitzenschleier, die das Brautgemach bargen, wallen
-immer noch nieder vor dem smaragdenen Schloß und verhüllen in zarter
-Weiße seine erbarmungslose Leere. Die goldene Sonne aber taucht ihre
-Strahlen tief in das Wassergebrodel, läßt sie niedergleiten an den
-Schleiern, als suche sie die, die aus Sehnsucht nach dem Lichte gestorben
-ist; und die Strahlen bauen von Tag zu Tag eine wunderleuchtende Brücke
-hinauf, hinauf zur Sonne.
-
-Da endete das Märchen und es breitete seine Arme aus nach den fallenden
-Wassern. Ein leises, wehmütiges Klingen zog herüber von den Inseln der
-drei Schwestern.
-
-Das Märchen erhob sich, flog mit breiten, weißen Mövenflügeln hin über
-die Fluten, die wild aufschäumten und es haschen wollten. Aber sie netzten
-nur seine Füße. Und mit leisem Gekicher kreiste es über meinem Haupte --
-mein verlorenes und wiedergefundenes Märchen -- an den fallenden Wassern
-des Niagara.
-
-
-
-
-In der Gosse.
-
-
-»Hei! Der hat's eilig!« sagten die trockenen Blätter, als der Wind
-sie packte und die glatte Straße hinunterwirbelte, daß sie den Atem
-anhielten.
-
-»Nein, ich will nicht!« raschelte das eine ganz große Blatt, das, trotz
-seiner verkrümpelten Gestalt, noch einen grünlichen Schimmer auf sich
-hatte und sogar noch einen ordentlichen Stiel besaß. Und es hob sich
-erst von der einen Seite, und dann von der andern -- wie ein ungeschickter
-Bauernbursche, der zum Tanze antritt; aber es half ihm nichts: der Wind
-blies die Backen auf, und heidi! da sauste es davon, so viel es auch
-versuchte, an allen Steinchen und Schmutzhaufen hängen zu bleiben. Wütend
-sprang es schließlich noch toller wie die andern und legte sich oben
-auf die kleinen Blätter, um sie festzuhalten. -- Da plötzlich -- an
-der Straßenecke stieß der Westwind laut jubelnd den Nordwind an -- so
-spielten sie immer, die beiden wilden Gesellen, und wollten sich dann
-schier totlachen, wenn sie alles Lebendige mit in ihren tollen Reigen
-hineinzerrten. -- Und nun wirbelten sie zusammen die trockenen Blätter
-in die Höhe, daß sie den Bäumen entgegenflogen, die sehnsüchtig die
-leeren, nackten Arme nach ihnen ausstreckten. Aber da lagen sie schon
-wieder auf der Erde, küselten verwirrt umeinander und schleiften,
-schlürften, raschelten über die glatten Steine hinab in die Gosse.
-
-Da lagen sie nun und dachten nach. Und dachten, wie sie -- es war schon
-lange, lange her -- die braunen Köpfchen einst vorsichtig aus der
-Baumrinde hervorgestreckt hatten, und in die Welt hinein geguckt, wie sie
-dann groß und grün und schön geworden waren, wie die Spatzen in
-ihnen gehuscht, wie der Mond zwischen ihnen hindurchgelugt, und wie
-die Menschenkinder in ihrem Schatten sich geküßt hatten. Dann war der
-Herbstwind gekommen und hatte sie selber geküßt, und sie waren gestorben
-an seinen eisigen Küssen -- hatten sich erst so herrlich geschmückt für
-ihn, die armen Dinger, rot und gelb und violett und braun, und dann fielen
-sie ohnmächtig aus seiner wilden Umarmung zur Erde nieder, wurden hin und
-her gejagt von den Winden, und nun? Nun liegen sie in der Gosse und denken
-nach.
-
-Hei! Wie der Wind bläst! Die Kleider der schönen Frauen, welche die
-Straße entlang gehen, schlägt er zur Seite, daß die schlanken Füße
-sichtbar werden. Und die Blätter in der Gosse flüstern einander zu:
-»Jetzt werden sie auch anfangen zu tanzen und rascheln und schleifen die
-glatte Straße hinab in die Gosse!«
-
-Aber nein, die kleinen Füße schreiten fest und sicher weiter, der Wind
-kann ihnen nichts anhaben -- aber der andere, der im Herzen weht, durch das
-Leben stürmt, ob der die schlanken Frauenfüße wohl nicht vom glatten Weg
-hinabwirbelt -- in die Gosse?
-
-Davon freilich wußten die trockenen Blätter nichts: sie lagen in der
-Gosse und dachten nach; und der Wind strich jauchzend über sie hin. Es
-wäre ihm ein Leichtes gewesen, die ganze Gesellschaft aus dem Rinnstein
-hinauszuwirbeln, über alle Welt zu jagen. Doch er that es nicht; lauernd
-hing er über ihnen und sang sein Lied:
-
-»Jetzt schirre ich meine Wolkenrosse und stürme dahin und brause
-über die Stadt und über das Land in den Wald. Eure Schwestern will
-ich besuchen, die glührot an den Bäumen hängen. Und ich hause in den
-Zweigen, und ich brause über die Wipfel, und ich schüttle die bunte
-Pracht. -- Seht Ihr den bunten Blätterregen?
-
-Und seht Ihr die Trauerweiden, wie sie den Waldteich bewachen, düster,
-schwermut-geheimnisvoll? Ich peitsche ihre niederhängenden Haare, daß sie
-wie graue Schlangen zischeln und züngeln. Ich wühle die schwarzen Fluten
-des Waldteichs auf, daß die Wellen schäumen und sich kräuseln und mit
-nassen, starken Armen die Wasserrosen hinabziehen in das dunkle, dunkle
-Grab. --
-
-Nur die Königin -- sieh', da ruht sie auf schwarzgrünen Blättern, und
-sehnsüchtig leuchtet ihr weißes Blumengesicht mir entgegen. Ich fliege zu
-ihr, und ich reiße sie an mich in wilder Lust, kosend schaukle ich sie hin
-und her, ich sauge wollüstig den Duft aus ihrem weißen Kelche, ich küsse
-sie mit zärtlich stürmischen Küssen -- sie stirbt an diesen Küssen --
-und ich trage ihre Blumenblätter hin über den schwarzen Waldesteich,
-hin über die Welt -- -- Ist es süß, zu sterben an den Küssen des
-Gewaltigen? -- --
-
-Heiho! -- Ihr Wolkenrosse -- graue, schwarze! senkt Euch tiefer, daß
-ich Euch besteige, daß ich Euch zügle hin über die Erde -- der ich
-Vernichtung bringe -- --«
-
-Raschelnd flogen die trockenen Blätter ihm nach, aber nur eine Spanne
-hoch, dann fielen sie wieder herunter in den Rinnstein. Und da lagen sie
-wieder mit ihren Gedanken.
-
-Es hatte sich eine sehr gemischte Gesellschaft in der Gosse
-zusammengefunden. Da waren Blätter von allen Größen und jedes sah ganz
-anders aus. Sie gehörten zwar alle entweder zu der großen Familie »Derer
-von Baum« oder zu der »Von dem Busche« -- aber eine rechte Einigkeit
-konnte nicht erzielt werden, da sich die vom Baum viel vornehmer dünkten,
-als die von dem Busche, und daher wurde so viel von Stammbäumen,
-Wappenschildern und dem Gothaer geredet, den die Firma Frühling, Sommer
-u. Co. herausgab, daß die übrige Gesellschaft im Rinnstein, die nicht
-von so hoher Abkunft war, in tiefster Ergebenheit erstarb. Darin waren sie
-sich jedoch alle einig, daß sie nur durch unverschuldetes Unglück, durch
-widrige Winde und plötzliche Regengüsse so heruntergekommen waren, daß
-sie sich nun in der Gosse befanden.
-
-Da stak mitten unter dem Blätterhaufen ein langer, schlanker Strohhalm,
-hineingeflogen wie ein Pfeil -- die Blätter hatten ihn immer für etwas
-ganz Unbedeutendes gehalten -- der that jetzt den Mund auf und begann zu
-erzählen: »Ich bin sehr vornehm,« sagte er, »ich bin ein Prinz. Ich
-bin Oberst gewesen in Ihrer Majestät der Frau Königin Erde Weizenfeld,
-Allerfeinste-Mehlsorte No. I. Ich trug eine gelbe Uniform und einen
-prächtigen Raupenhelm auf dem Kopfe. -- Ihr hättet es sehen sollen, unser
-Regiment! Wie wir in Reih' und Glied standen -- fest wie eine Mauer! Wie
-wir exercierten -- hierhin, dorthin, auf und nieder, wenn unser Kommandant,
-Generalissimus Wind, seine brausende Stimme erschallen ließ. Hei! das
-war eine Freude, uns anzuschauen! -- Und dann kam der Krieg, das war ein
-schneidiger Krieg! Erbarmungslos mähte der Feind, jenes uncivilisierte
-raubgierige Gesindel, das sie Menschen nennen, uns nieder, und wir fielen
-ebenso schön in Reih' und Glied, wie wir gestanden hatten. -- Aber tot
-waren wir nicht -- bewahre! (denn sonst könnte ich es Euch ja
-nicht erzählen). Wir gerieten nur in Gefangenschaft, und in bittere
-Gefangenschaft. Sie banden uns zusammen, wie die Indianer, und schleppten
-uns fort und steckten uns in die Folter, bis sie all den Reichtum, den wir
-in unserm Raupenhelm trugen, herausgequetscht hatten, und dann, ja dann
-sollten wir erniedrigt werden, den Pferden Dienste zu leisten, den Pferden
-unserer Feinde. Die wollten auf uns herumtrampeln, die wollten uns als
-Lager benutzen, die wollten -- mit einem Wort -- Mist sollten wir werden!
--- Ich, Prinz von Halm-Halm -- auf Aehre -- Oberst in Ihrer Majestät der
-Königin Erde Regiment Weizenfeld-Allerfeinste-Mehlsorte No. I.
-
-Da, als wir gefesselt, geknebelt, aufeinandergepackt, in dem
-Transport-Wagen lagen -- da habe ich zum erstenmal in meinem Leben die
-Subordination vergessen -- ich, dem die Subordination alles war, und bin
-ausgerissen.
-
-Und die Folge davon? -- Ich liege in der Gosse -- --
-
-Ja, Subordination muß sein!« sagte der Strohhalm, grub sich mit seiner
-leeren Kornähre, seiner Raupe, in den Gossenschlamm und philosophierte
-über die Gefahren der Unbotmäßigkeit. -- »Siehst Du, Prinz Halm-Halm:
-Schmieg' Dich dem Schicksal an, so kriegst Du einen warmen Pferdestall --
-lehn' Dich dagegen auf und Du fällst in die Gosse -- auf Aehre! -- Burrrr
--- brumm!« schnarrte es neben ihm. Ein richtiger, bunter Brummkreisel war
-es, der auf irgend eine Weise in die Gosse geraten, unter die Blätter, und
-von den Kindern vergessen worden war.
-
-»Subordination. -- Ich brumme was auf die Subordination! Wer wie ich
-zeitlebens von allen unnützen Buben auf den Straßen herumgepeitscht
-worden ist -- zuweilen waren ein halbes Dutzend hinter mir, und dann mußte
-ich tanzen und brummen, bis mir der Atem ausging -- der ist froh, wenn er
-auskratzen kann und sein Leben gemütlich in der Gosse beschließen darf.
-
-Wie habe ich mich gesträubt und gewehrt, all' mein Leben lang! Ich habe
-den Bindfaden, der an mir saß, so fest um mich herumgewickelt, daß er
-beinahe mit keiner Macht der Erde wieder loszumachen war; ich habe mich mit
-meinem einzigen spitzen Bein in die Ritzen der Steine geklemmt, daß sie
-mich beinahe nicht wieder herauskriegen konnten; ich bin allen Jungen und
-Mädchen zwischen die Füße gefahren, daß sie stolperten, und habe dabei
-gebrummt, daß mir selber angst und bange wurde. Aber es half mir nichts.
-Ich mußte tanzen und schnurren und Kapriolen machen mit der bittersten
-Empörung in meinem Brummkreiselherzen. Sie hatten die Peitsche und
-folglich auch die Macht und ich mußte tanzen, bis ich eines schönen Tages
-in der Gosse lag -- -- -- Brrrrr -- brumm!« sagte der Kreisel, als der
-Wind über ihn hinfuhr und ihn zwang, sich um sich selbst zu drehen.
-
-»Ja, mein lieber Herr Kreisel,« sprach da salbungsvoll ein weißes,
-bedrucktes Stück Papier, das die Schulkinder aus einem ihrer Bücher
-verloren hatten. Die Blätter wollten es nicht für voll anerkennen -- es
-war zwar auch ein Blatt und auch trocken, aber es gehörte zu einer ganz
-andern Familie -- sie waren gar nicht verwandt. Es hielt sich deshalb ein
-wenig abseits und sprach in gebildetem Tone:
-
-»Sehen Sie, mein lieber Herr Kreisel,« sagte es, »das ist von alters her
-so gewesen -- ich muß das wissen, denn ich bin aus einem Geschichtsbuche
--- die Starken hatten die Macht und, wie Sie so sehr richtig bemerkten,
-folglich auch die Peitsche, mit der sie sehr energisch umzugehen wußten,
-und die Schwachen -- nun, die wurden gepeitscht. Da hilft kein Auflehnen
-gegen den Willen von oben und gegen die Peitsche der Straßenjungen; die
-Kreisel wie alle Armen und Schwachen müssen tanzen -- so ist es immer
-gewesen, so ist es heute noch, und so wird es bleiben. Wir haben uns einmal
-daran gewöhnt, und wir Gebildeten sehen auch ein, daß es nicht anders
-sein kann und daß es so am besten ist.«
-
-Da fuhr aber der Kreisel auf:
-
-»Daran gewöhnt? Fällt uns gar nicht ein! Denken gar nicht daran! Und
-wenn wir uns einmal alle zusammenrotteten -- die Bäume und die Büsche und
-die Strohhalme, und alles, was so herumliegt, und wir Kreisel und -- und so
-weiter -- und wir machten 'mal so eine kleine, lustige Revolu-- --«
-
-Hui! Da faßte ihn der Wind und schüttelte ihn, und da duckte er sich und
-sagte: »Brumm!« --
-
-»Ach,« jammerte da ein feines, zärtliches Stimmchen, »was ist das alles
-gegen den Kummer, den ich erlebt habe?«
-
-Das war ein Stückchen Papier, lachsfarben, gepreßt, mit Tinte beschrieben
--- man sah, es war etwas Feines. Der Wind hatte es eben erst in wilder Jagd
-die Straße hinuntergepustet, und atemlos war es mit einem Purzelbaum in
-der Gosse gelandet.
-
-»Ich war rein und hellblank, und ich duftete stärker wie die Veilchen
-in der Vase, die vor dem Fenster stand; und ich lag auf einem zierlichen
-Schreibtisch und ein reizender, goldener Federhalter kritzelte über
-mich hin. -- Ach, dieser Federhalter! Etwas Glänzenderes, Schlankeres,
-Zierlicheres habe ich nie gesehen. Und alle die süßen, zärtlichen
-Worte, die er mir ins Ohr flüsterte -- war es ein Wunder, daß ich
-seinen Schwüren glaubte, daß ich ihn liebte mit all der Glut, deren mein
-papierenes Herz fähig war? -- Ach, wie war das Leben schön!
-
-Aber da kritzelte er mir eines Tages mit einem großen dicken Tintenstrich
-etwas ganz Unheimliches, Unverständliches zu, so daß ich erschrak, und
-dann ergriffen mich plötzlich kleine, weiße Fingerchen, und ich knickte
-vor Angst in der Mitte durch, und sie sperrten mich in einen dunklen
-Behälter, der wurde fest zugemacht, und eine glockenhelle Stimme trillerte
-dazu:
-
- Such' ich mir 'nen andern Schatz --
- juhu -- andern Schatz --
-
-und dann reiste ich fort, weit fort, und mein schlanker, goldener Geliebter
-blieb zurück, und ich habe ihn nie wieder gesehen. Ach, ich war wie in
-einer Betäubung und kam erst wieder zur Besinnung, als mein Gefängnis
-sich öffnete und ich herausgeholt wurde -- und da -- da geschah etwas
-Schreckliches: ich hörte eine wuterstickte Stimme, die mich fürchterlich
-ausschalt, und große, rauhe Finger nahmen mich und rissen mich mitten
-durch, nicht nur einmal, nein, in lauter kleine Fetzen, und wir flatterten
-zur Erde nieder und der Wind kam und nahm uns mit sich fort. -- Ach, und
-wenn nun mein Federhalter mich sucht, dann erkennt er in diesem kleinen,
-schmutzigen Flecken seine schöne lachsfarbene Geliebte nicht wieder.
--- -- -- Ach, was sind alle Leiden und Kümmernisse der Welt gegen die
-Schmerzen unglücklicher Liebe!«
-
-Als das traurige Papierchen geendet hatte, entstand eine tiefe Stille in
-dem Rinnstein. Sie waren alle gerührt und kämpften mit den Thränen --
-
-»Denn eigenes Unglück und eigener Kummer machen das Herz empfänglich
-für die Leiden anderer!« sagte das Blatt aus dem Geschichtsbuche für die
-Jugend gebildeter Stände. Nur das große Blatt mit dem Stiel, eines
-der vornehmsten aus dem Hause derer vom Baume, murmelte etwas von
-»plebejischer Gefühlsduselei!« und der Brummkreisel sagte: »Bitte,
-meine Herrschaften, werden Sie nicht sentimental -- das ist veraltet --
-und von Liebe halten wir heutzutage nicht viel, die Wissenschaft hat
-diesen geheimnisvollen Vorgang in unserem Innern mit grausamer Deutlichkeit
-aufgeklärt -- brrrr--brumm!« Da aber gab es einen großen Disput, wie
-in einer politischen Sitzung, und wie sie noch im besten Zanken waren,
-öffnete sich in dem nächsten Hause eine Thür und ein junges Mädchen
-trat heraus mit einem Besen in der Hand, denn es war Sonnabend, und die
-Straße sollte gekehrt werden. Mit kleinen lustigen Schritten trippelte sie
-daher und die braunen Augen sahen zuversichtlich in die Welt hinein. Sie
-begann mit kräftigen Bewegungen den Rinnstein auszukehren und summte
-halblaut dazu:
-
- Wenn ich wüßt', wenn ich wüßt',
- Wo mein Schatzerl ist --
- Ist wohl in die weite Welt --
- juhu -- weite Welt --
- Ist wohl fortgezogen!
-
- Wenn ich wüßt', wenn ich wüßt',
- Wo mein Schatzerl ist --
- Wär' ich in die weite Welt --
- juhu -- weite Welt --
- Wär' ihm nachgezogen!
-
- Da er mir nun nichts gesagt,
- Warte ich wohl über Nacht --
- Such' mir dann ein andern Bub --
- juhu -- andern Bub' --
- Muß mich nit verlassen!« -- --
-
-Und nun purzelte alles durcheinander: die Blätter und der Strohhalm und
-das Papier und der Kreisel. Das Mädchen kehrte sie zusammen auf einen
-großen Haufen, und jubelnd kamen die Kinder herbei und zündeten das
-trockene Laub an -- --
-
-»Burrr!« sagte der Kreisel, »mein revolutionäres Feuer schmilzt mich
-auf!«
-
-Und knisternd flog die lachsfarbene Schönheit in die Höhe; denn der Wind
-blies in den Scheiterhaufen, daß die Funken stoben, er trug sie mit sich
-fort, wie die weißen Blätter der Wasserrosenkönigin, und streute sie
-aus auf seinem Wege, daß ein Feuerregen niederfiel. Die braunen Augen des
-Mädchens sahen ihnen nach, und sie sang:
-
- »Ist wohl in die weite Welt -- juhu --
- juhu -- weite Welt --
- Ist wohl fortgezogen!«
-
-
-
-
-Sonniger Winter.
-
-
-Sie sagten, es sei Winter. Da ging ich hinaus, ihn zu begrüßen. Denn hier
-drinnen in der engen Stadt hat er ein gar häßliches Aussehen, rauchig
-und schmutzig, und er blickt dich an mit den Augen des Hungers. -- Draußen
-aber lag der lachende Sonnenschein. War das der Winter? Er hat ja kein
-weißes Kleid an. Die Bäume recken ihre nackten Zweige kraus und zackig
-in den blauen Himmel hinein, und ihre Rinde schimmert rötlich, oder weiß,
-oder stahlgrau in der schwimmenden, flockigen Luft. Ah, die Luft!
-Das weitet die Brust -- wie du mit einem tiefen Atemzug alle den Wald
-einhauchst, daß er die Stadt, die rauchige, schmutzige, in dir verzehrt!
--- Mein Fuß wühlt im langen, zottigen Gras. Wenn du nicht hinsiehst
-im Park, wo die glatten Wege sind, wo die feinen Karossen fahren, wo die
-Menschen auf ebenen Pfaden wandeln, dann meinst du im Wald zu sein -- still
-ringsum, nur hohe Bäume, nur das Lispeln, das seltsame, traurige Lispeln
-in den nackten Zweigen, die ohne Blätter nicht rauschen und raunen
-können, wie sie im Sommer, im Herbst es thaten. Nur die Prärie vor dir,
-durch die sich das geschäftige Bächlein im Sonnenschein dahinschlängelt.
-Ein zaubrisch Bächlein -- wie es lockt und winkt, eilig über die blanken,
-feuchten Steine kollert, und immer raunt und murmelt und erzählt -- was es
-nur immer sagt? Ich klettere den Abhang hinunter, tiefgrün schimmert das
-Wasser von den bemoosten Steinen herauf. Einzelne ragen draus hervor, sie
-sehen mich lockend an -- soll ich hinüber klettern auf den Springsteinen,
-zum andern Ufer des Bächleins, dorthin, wo stille, grüne Tannen stehen,
-wo es ganz einsam ist? -- Da -- mitten drin -- du böser Nix, was hast du
-an dem Stein zu rütteln? Das hält ja so ein tappig Menschenkind nicht
-aus! Natürlich, da patsche ich mit den Füßen im Wasser -- und nun
-schnell gesprungen, in den Sonnenschein, in das hohe Gras hinein, daß ich
-wieder trocken werde. Böser Bach mit deinem Nixen. -- Aber was ist das?
-War es Zauberwasser, das mich berührt hat? -- Der Wald ist lebendig
-geworden, die Bäume fangen an zu reden, ich verstehe, was die Vöglein
-zwitschern, die kleinen, grauen, die Waldvagabonden, die einzigen, die
-geblieben sind. Piep! sagen sie, uns ist's einerlei, ob die Blumen blühen
-und die Bäume Blätter haben. Dann bauen wir unser Nest in den kahlen
-Zweigen, und zwitschern von den zukünftigen Blüten, und die Nahrung --
-nun, die stehlen wir uns irgendwo -- nur Freiheit, Freiheit wollen wir
-haben! -- Au! sagt das Gras unter meinen Füßen, warum trittst du mich?
--- Ich bin nicht tot. Da, sieh' einmal her -- Und wie ich dann die langen,
-zerzausten Haare vorsichtig zur Seite schiebe, da lugt frischer, grüner
-Klee schelmisch hervor. Der grüne, grüne Klee -- Weißt du noch, grüner
-Klee, wie es war zur Sommerszeit?
-
- Es war zur goldnen Sommerszeit,
- Die Welt war groß und war so weit --
- Und grüner, grüner Klee.
-
- Der blühte still im Waldesthal
- Wie Tropfen Blutes allzumal
- Die Blüten stehn im Klee.
-
- Und Falter spielen drüber hin.
- Und wir? Wir lagern uns tiefdrin,
- Im grünen, grünen Klee.
-
- Dein Aug' ist wie der Falter blau,
- Dein Mund rot wie die Blüt' im Tau,
- Die Blüte rot im Klee.
-
- Dein Haar ist wie das Sonnenlicht,
- Das gleitet durch die Zweige dicht
- Wohl über grünen Klee.
-
- Dein lieber Hals, der luget leis,
- Wie die Maßlieben wunderweiß,
- Aus grünem, grünem Klee.
-
- Da hab' ich mich geneigt zur Stund'
- Und hab geküßt den roten Mund
- Im grünen, grünen Klee.
-
- Und nur ein Vöglein sah's mit an,
- Das lockte süß aus dunklem Tann
- Ganz nah beim grünen Klee.
-
- Da war es, wo im Waldesthal
- Ich fand zum allererstenmal
- Der Blätter vier am Klee.
-
- Merkt ihr, was das bedeuten soll?
- Mein Lieb und ich -- wir wissen's wohl --
- Ja -- und der grüne Klee. --
-
-Hat mir das Bächlein das Lied gegluckst? Haben's die kleinen Waldtramps
-gezwitschert? Hat es der Klee gelispelt -- oder hauchten es die
-Sonnenstrahlen in die Welt hinein? Rings um mich singt es und klingt es.
-Und plötzlich trottet eine kleine Schar neben mir, putzige Gesellen mit
-feinen Gliederchen und lustigem Wesen. Sie laufen neben mir wie eine Schar
-Hündchen, sie klettern die platten Baumstämme hinauf und wiegen sich
-in dem weiten Geäst hurtig wie die Eichkätzchen, und sie tragen kleine
-Narrenkappen auf den Krausköpfchen, damit klingeln sie: Gedanken!
-Gedanken! Wir sind deine Gedanken. --
-
-Aber, ihr flinken Gesellchen -- Gedanken? Ich meinte Gedanken, die hätten
-schwere Köpfe, und Brillen auf der Nase, und gingen mit gewichtigen
-Schritten in den Büchern auf und ab spazieren. Was wollt ihr im Wald mit
-mir?
-
-»Wir wollen hören, was er rauscht, was die Bäume sagen, und der Wind
-weht. Wir wollen sehen, wo der Winter ist? -- Da, siehst du.« -- Mitten
-auf der Wiese war das lange Gras fein säuberlich zur Seite gewachsen und
-hatte einem grünen Moosteppich Platz gemacht, der sich glatt und fein
-ausbreitete: »Sieh',« flüsterte mir ein Gedanke ins Ohr, »siehst du
-die Elfen tanzen, und die Gnomen mit den weißen, zottigen Bärten und
-den spitzen, haarigen Oehrlein? Wie die weißen Leiber der Winterelfen
-schimmern, wie ihre flockigen Schleier wehen und wie die Lüfte aufspielen
-zum Tanz. -- Horch! Wie Schneeknirschen klingt's, und wie die Eiszapfen,
-wenn sie klirrend von den Bäumen brechen. Und siehst du, da mitten im
-Gewirr den sonnigen Winter stehn? Seine Augen glänzen und er lacht, daß
-die weißen Zähne aus dem feurigen Barte blitzen.« -- In den starken
-Armen hält er die Winde; wie sie zappeln und die Backen aufblasen vor Wut,
-daß sie nicht loskommen können -- da schlägt er den Nordwind und den
-Westwind mit den Köpfen zusammen, die bösen Gesellen, und stößt sie
-mitten unter das Elfengesindel, das sie jauchzend mit Tannenkränzen
-umwindet und fesselt; oben auf des sonnigen Winters Schultern aber steht
-der Südwind und stößt jubelnd ins Horn, daß es von den Bergen ringsum
-widerklingt. Und jauchzend fallen die Gedanken um mich herum in das tolle
-Treiben -- so daß ich mich ordentlich schäme für sie -- was sollen nur
-die Menschen davon denken? »Ihr solltet auch nicht denken, ihr Menschen,«
-lachten meine wilden Gesellchen -- »denn wenn ihr denkt, dann denkt ihr
-immer was Dummes. Es wäre überhaupt viel besser, ihr dächtet gar nicht,
-und überließet es uns, euch plötzlich mit etwas Gescheitem durch den
-Kopf zu fahren -- wie ein Blitz.«
-
-»Da sieh' hin, die zwei Bäumchen, die da angewackelt kommen,« sagte ein
-spöttischer kleiner Gedanke und überschlug sich wie ein Kobold im Gras
-vor Vergnügen. »Du denkst, es wären Fichten, aber schau sie einmal an:
-sie kommen in kurzem Lauf, ein wenig vornüber, dahergetrottet, ihre Nadeln
-stehen zierlich nach beiden Seiten, wie lauter gewichste Schnurrbärtchen,
-die Kronen sind ihnen ins Gesicht gerutscht, so daß es aussieht, als wenn
-sie die großen Hüte bis tief auf die Nase sitzen hätten, und da die
-Zweige just ein bischen über dem Erdboden beginnen, scheint es, als
-hätten sie sich die schloddrigen Hosen sorgfältig aufgekrempelt. --
-
-»Ei! wie die Herrchen laufen,« höhnt der lustige Gedanke und zupfte an
-ihren Nadeln, worauf sie sich wütend umdrehen und mit den jungen Birken,
-die sie als Spazierstöcke mit sich schleppen, nach ihm schlagen -- »sie
-thun, als wollten sie dem sonnigen Winter eine Referenz machen, und dabei
-schielen sie doch nur nach den weißhäutigen Elfendirnen.«
-
-Nun kommen sie von allen Seiten gewandert: die breitästigen Eichen, die
-schlanken Birken im weißen Hemdchen, knorrige Burschen vom Geschlecht der
-Baumriesen; und eine nackte Trauerweide tänzelt so lustig daher, daß die
-langen, fast bis auf die Füße hängenden Haarsträhne im Winde flattern.
--- Ei, sieh', wen haben wir hier? -- Eine Prozession ehrbarer Herren in
-dunkelgrünen Röcken, die bis zur Erde reichen; und aus den stachligen
-Kapuzen schauen lustige Mönchsgesichter, und die Aeuglein blinzeln über
-die feisten Wangen hinweg nach den schlanken, grünen Nönnchen, die ihre
-Kiefernkleidchen gar züchtig geschürzt haben und sittsam kokett neben
-der Tannenprozession einhertrippeln. Voran schreitet ein baumlanger
-Tannenriese, stark wie Rabelais' Mönch Johann. »Halt da!« kommandiert
-er, »hübsch paarweise antreten!« und er bombardiert die letzten in der
-Reihe mit Tannenzapfen, damit sie ihn besser verständen -- »und wem's
-nicht recht ist, hier im Wald, dem schlage ich die Knochen im Leibe
-entzwei!«
-
-Da faßt ein Mönch je ein Nönnchen bei der Hand, und, die grünen Röcke
-ein wenig lüpfend, tänzeln sie im Menuettschritt über die Wiese hin zum
-lachenden, sonnigen Winter und beginnen artig zu psalmodieren, daß es in
-den Wald hineinschallt:
-
- »Brave Mönche sind wir Tannen,
- Brummeln unser Mönchsgebet --
- Und wenn es zum Schlucken geht,
- Laufen nimmer wir von dannen --
- Eia, Hallelujah!
-
- »Nönnchen sind wir, Nönnchen heiter,
- Leben gottgefällig weiter,
- Putzen unser grünes Kleid --
- 's Himmelreich ist auch nicht weit --
- Eia, Hallelujah!
-
- »Und so leben wir gar traulich,
- Brüder, Schwestern, Hand in Hand --
- -- Unsre Kutten sind verwandt --
- Unser Trachten ist beschaulich --
- Eia, Halleluja!«
-
-»Ei, so hört auf zu plärren,« dröhnt Bruder Johanns mächtige Stimme
-dazwischen --
-
- »Kurze Worte dringen zum Himmel eh'r,
- Lange Züge machen die Kanne leer --
- Eia, Halleluja!«
-
-Und mit tollem Jubel drehn sie sich mit im Elfenreigen, daß die grünen
-Kutten im Winde wehn.
-
-»Hast du nun den Winter gefunden?« flüstert mir ein Gedanke ins Ohr,
-»sieh', wie die Sonne über ihm steht, lichtspendend, milde lächelnd,
-als ob all das Weh in der Welt nur ein Wassertröpfchen wäre, das sie
-lächelnd aufsaugt.«
-
-»Sagtest du: Weh, kleiner Gedanke?« haucht es neben mir, »weißt du, was
-das ist?«
-
-Ich wandte mich; da steht unter den hohen Bäumen des sonnigen Winters der
-allerhöchste und breitet seine mächtigen Zweige aus, als wolle er die
-Welt an seine Brust ziehn. »Sieh',« sagt er und senkt das starke Haupt,
-»meine Krone haben sie mir geraubt, der Sturm, als er hinzog mit seinen
-weißen Jägern über mein Reich -- meine Aeste haben sie zerschlagen und
-die Augen mir geblendet. Weißt du, was es heißt, leben, und die Sonne
-nicht mehr sehn, nie mehr!«
-
-Es geht ein Aechzen durch den zersplitterten Stamm, die Zweige bewegen sich
-schwankend hin und her -- es ist, als wolle sich der Riese zur Erde neigen.
-Aber noch ist er stark, noch steht er aufrecht, bis der Sturm wieder einmal
-gegen ihn zu Felde zieht -- und nur wie ein »Weh -- das thut weh!« --
-zittert es durch die Luft.
-
-Mich fröstelte es, die Sonne sank tiefer, ich ging dem Heimweg zu.
-Einzelne Gedanken blieben im Wald beim Tanz auf dem Elfenteppich, bei dem
-sonnigen Winter, andere sprangen mir flüsternd, raunend, kichernd
-zur Seite; bis zum Hügel hinauf, am Rand des Waldes, da waren sie
-verschwunden. Einige waren den eleganten Karossen nachgelaufen und
-guckten spöttisch grinsend in die Wagenfenster, andere hatten sich den
-Heimatlosen, vagabondierenden Menschenkindern angeschlossen, die unter
-den Büschen des sonnigen Winters ihr Nachtlager suchten. Nur Einer,
-ein ernsthafter, blasser, kleiner Geselle stand neben mir, als ich mich
-umwandte am Berg und mein Auge die Sonne suchte -- wie seltsam! Die Sonne,
-die goldene, große, strahlende, hing herrlich am Himmel -- aber der Wald,
-die Welt? Was eben noch leuchtete, schimmerte, in wunderbarsten Farben, das
-lag tot und kalt und schwarz zu ihren Füßen.
-
-»Siehst du,« sagte der ernsthafte Gedanke neben mir, »so wollt ihr die
-Wahrheit suchen mit eurem Verstand und eurer Tüftelei, so seht ihr in die
-Sonne mit der Brille der kalten Berechnung auf der Nase -- ja die Sonne
-steht dort am Firmament, strahlend, so himmlisch leuchtend, daß euer
-blödes Auge sie nicht ertragen kann, und die Welt, über die ihr die
-Wahrheit ergründen wollt, liegt schwarz und tot da. Aber schau dich um,
-schau mit der Sonne, schau dahin, wo nur die Strahlen der Sonne hindringen,
-wohin die Wahrheit ihr goldenes Licht wirft -- siehst du nun, wie herrlich
-die Welt daliegt, in Farbe, in Glut gehüllt, verklärt? Fühle nur die
-weiche, flimmernde, golddurchglühte Luft, die dich mit linden Armen
-umfängt -- schaue die jauchzende, die lebende, lichte Welt! --
-
-Und weißt du nun, was Poesie ist?« flüsterte der ernsthafte, kleine
-Gedanke mir ins Ohr.
-
-
-
-
-Ein Weihnachtsmärchen.
-
-
-Weit, weit hinter den Wolkenbergen, da, wo der Sonne Heimat ist, die zu
-verlassen ihr so schwer fällt, daß sie Tauthränen weinen muß, da, wo
-gut sein, fromm sein ist, und die Religion die Liebe, da, wo es keinen
-Neid, keine Polizei und keine Geldnöten gibt, da ist das Reich der
-Träume, das Wunderland, wo die schöne Frau Phantasie als Königin
-herrscht. Da sitzt sie auf ihrem goldenen Sonnenthron, umgeben von all' dem
-lustigen und luftigen Volk, den Elfen, Nixen und Kobolden, die durch das
-Christentum und das Geld aus der Welt vertrieben wurden, und hält Hof, und
-die Blümelein sind ihre Vasallen und die Bäume ihre Schildwachen, und
-die Vögelein jubilieren und konzertieren, und die Mücken und Grillen und
-Heimchen tanzen Ballett; und der Wind, der säuselnde, sanfte, der starke,
-stürmische, immer gewaltige Sänger, ist zum Hofpoeten ernannt. Aber die
-mitleidige Königin, so gut sie es auch in ihrem wonnigen Traumland hat --
-sie ist nimmer zufrieden damit. --
-
-Sie gedenkt ihres Sorgenkindes, der Welt, die ihr schon manch' bitteres Weh
-bereitet hat, sie hüllt sich in ihren blauen Himmelsmantel, mit goldenen
-Sternlein besäet, und fliegt mit geheimnisvoll leisem Flügelschlag
-über die Erde, und wenn sie sieht, daß ihr Sorgenkind immer noch so
-verdrießlich und wetterwendisch und eigensinnig-dumm und boshaft und
-lieblos ist, dann fließen Thränen der Wehmut und des Zornes und des
-Mitleids aus ihren schönen Augen, vermischt mit Hoffnungsbalsam und
-Sehnsuchtslauten nach ihrem Traumland, und diese kostbaren Thränen fallen
-zur Erde hinunter in die Herzen ahnungsvoller Menschen, die von Liebe
-entbrennen zur herrlichen Göttin Phantasie; sie singen dann, was ihr Herz
-bewegt, und die Welt nennt sie Dichter.
-
-Aber Frau Phantasie verhüllt sich mit ihrem blauen Himmelsmantel, so
-daß nur die kleinen nackten Füßchen wie zartrosa Wölkchen darunter
-hervorgucken, der Wind nimmt sie auf seine Flügel und trägt sie in ihr
-Königreich, und dann geht die Sonne auf.
-
-Lange schon ist es her, daß die Königin ihre letzte Reise unternommen
-hat; sie hat über den Wolken gethront im Traumland; aber Wehegeschrei und
-Kanonendonner sind bis zu ihr hinaufgedrungen und Zornesrufe nach Freiheit
-und Fluchworte gegen Lüge und Heuchelei, und dann wurde es ruhig, ganz
-ruhig unter ihr -- da erhob sie sich von ihrem Thron, legte die weiße
-Hand gegen das rosige Ohr, lauschte in die Ferne, und sie sprach zu ihrem
-versammelten Volke:
-
-»Horch, so friedlich ist's da drunten! Sollte wohl jetzt die Zeit gekommen
-sein, wo ich meine Lieblinge hinaussenden kann, auf daß sie der Welt
-Erlösung bringen? Meine Kinder, meine weißen, süßen, unschuldigen
-Kinder: Wahrheit und Liebe, die ich mit dem Sonnengott, dem ewigen Licht,
-gezeugt; sie schlummern unter Blumen nun seit vielen tausend Jahren und
-immer wollte ich sie wecken und immer noch war es zu früh; immer begann es
-wieder zu lärmen auf der Welt, wenn ich gerade mich niederbeugen wollte,
-um sie wachzuküssen -- die beiden Zwillingsrosen. Nun aber ist's Zeit.
-
-Geschwinde, Ihr lustiges Volk, geschwinde, Ihr meine Treuen -- kommt,
-kommt, laßt sie uns wecken!«
-
-Und da huscht es, und haucht es und weht und faucht es über sie hin, um
-sie her, und da singt es und saust es und klingt es und braust es, und die
-Blümlein duften süß und die Zweige neigen sich flüsternd und leise.
--- Da stehen zwei holde Kinder mitten unter ihnen, ein Knabe und ein
-Mägdelein -- sein Antlitz ist ernst und klar und trotzig und sonnig, in
-ihrem rosigen Gesichtchen lacht der Frühling, und doch thront auf der
-Stirn eine leise Schwermut und in den Augen wohnt die Sehnsucht. Und die
-Königin zieht ihre holden Lieblinge an ihr Herz und weint Glücksthränen
-auf ihre jungen Häupter, und all ihr Volk steht erwartungsvoll schweigend
-um sie her. Da spricht sie:
-
-»Ihr meine jungen Helden, mein ernster Knabe, mein lachend Mägdelein --
-steigt nieder zur Erde, zieht hin über die Welt und verkündet ihr das
-neue Evangelium, bringt ihr die Liebe, lehrt sie die Wahrheit. Ach, sie
-ist arm, arm an Glück und Liebe -- lehrt sie, daß nur durch Liebe die
-Seligkeit zu erringen ist, von der sie so viel gehört und die sie nicht
-verstanden hat.
-
-Laßt Euch nicht abschrecken durch rauhe Worte, durch herzlose That --
-predigt immer wieder, ruft in die Welt, in ihre Herzen hinein, jubelt ihr
-entgegen das Evangelium von der Liebe, ohne die nichts ist, hier nicht, wie
-auf Erden.
-
-O meine Kinder, vor allem trennt Euch nicht, faltet Eure Händchen
-zusammen, verlaßt Euch nicht, denn die Wahrheit ist nicht ohne die Liebe,
-und die Liebe tot ohne die Wahrheit. --
-
-Allein seid Ihr nichts, vereint alles!«
-
-Da gab man ihnen Oelzweige in die Hände, Mutter Phantasie nahm die Kinder
-in ihren Himmelsmantel und trug sie zur Erde nieder, und die Elfchen und
-Nixchen und Kobolde huschten um sie her, die Vöglein zogen mit ihnen und
-sangen und alles war voll Freude.
-
-Aber der alte, weltweise, vernünftige Uhu saß in dem Eichbaum, unter
-welchem Wahrheit und Liebe, von duftenden Blumen zugedeckt, viele tausend
-Jahre geschlummert hatten, klappte seine großen Augen auf und zu und
-seufzte, daß es in den Klüften und Schluchten wiederhallte:
-
-»Zu früh, viel zu früh, ach, es ist zu früh!«
-
-Hand in Hand irrte nun das Zwillingspaar durch die Lande, über Berg und
-Thal, über Fluß und Steg, an all den vielen Städten und Burgen vorüber,
-mit ihren vielen tausend Bewohnern, aber keiner wollte so recht etwas
-von ihnen wissen. Da waren wohl viele, die sagten: »Ach, wie schön seid
-Ihr!« Das waren lauter junge Leute, die Kopf und Herz noch voll herrlicher
-Gedanken und beseligender Empfindungen trugen, aber sie hielten sich doch
-in scheuer Entfernung, denn sie kannten die Kinder nicht. Da waren Andere,
-die tätschelten sie gönnerhaft auf die lockigen Häupter und sagten:
-»Ja, recht schön, aber unpraktisch!« Das waren alte, weißhaarige
-Männer und Frauen. Da waren noch Andere, die wollten mit lustigen,
-bunten, lügnerischen Lappen die schöne, reine Nacktheit der beiden Kinder
-bedecken, aber da eilten diese angstvoll von dannen und hinter ihnen her
-gellte höhnisches Gelächter.
-
-So kamen sie eines Tages durch einen schönen großen Wald, darin
-zwitscherte es gar lieblich von Vogelgesang und duftete es süß von
-Blumenduft, die Bäume neigten ihre Zweige vor ihnen, und der Vater, der
-Sonnengott, liebkoste sie mit seinen warmen Armen.
-
-Die Tiere des Waldes kamen, die scheuen Rehe, die flinken Füchse, die
-leichtfüßigen Eichhörnchen, sie sahen sie mit klugen Augen an, und
-plötzlich klang's von fern und nah, in allen Zweigen, in allen Lüften:
-
-»Bleibt hier, o bleibt hier! Bei uns ist's gut sein, aber draußen ist's
-Winter; die kalte, böse Welt, sie thut Euch weh und treibt Euch fort, und
-dann müßt Ihr leiden!«
-
-Aber ein kleines, grünes Tannenbäumchen neigte sich zu ihnen hin und
-sprach: »Jetzt bin ich allein; eine schöne Tanne stand bis gestern noch
-neben mir; die haben die Menschen geholt, denn Weihnacht ist draußen,
-sagen sie, das Fest der Liebe, und da ist die Tanne gern mit ihnen
-gegangen, denn dann wird sie geschmückt, geputzt und geliebt. Nun stehe
-ich allein und möchte wissen, wohin sie gegangen ist.«
-
-Da blickten die Kinder zu ihrem Sonnenvater hinauf -- der nickte lächelnd,
-und sie zogen weiter.
-
-Draußen, jenseits des Waldes, war Schnee und Eis und die Bäume senkten
-matt ihre dürren Aeste unter der Last, die ihnen aufgebürdet war; kein
-grünes Hälmchen sah unter der Schneedecke hervor und die kleinen Spatzen
-piepsten traurig auf der Hecke am Wege. Das liebe Zwillingspaar aber war
-ganz warm und der Schnee that ihren nackten Füßchen nicht weh, denn
-des Vaters Sonnenstrahlen hüpften um sie her und schützten sie vor der
-Kälte.
-
-Nun kamen sie an ein großes, hohes Schloß, das blitzte, funkelte
-und strahlte von lauter Gold und von Edelgestein, und wie sie die hohe
-Marmortreppe hinaufstiegen, da kamen sie in einen großen Saal, darin stand
-ein wunderschöner Tannenbaum mit vielen, vielen Lichtern, und um ihn
-her sprangen und lachten und scherzten fröhliche Kinder und freundliche
-Menschen -- ach, da ging ihnen das Herz auf und sie traten dicht vor den
-stattlichen Mann hin, der eine schöne Frau am Arme führte, und öffneten
-ihre lieblichen Lippen:
-
-»Wahrheit und Liebe heißen wir,« sagten sie, »das neue Evangelium
-wollen wir verkündigen, daß es weit hinschalle über alle Welt!«
-
-Da schüttelte der stattliche Mann den Kopf und die schöne Frau wich
-ängstlich zurück und rief ihre Kinder zu sich, daß sie nicht den kleinen
-Fremdlingen zu nahe kämen.
-
-»Ein neues Evangelium! Damit seid Ihr nicht am rechten Platz. Nur keine
-Neuerungen! Festhalten am Alten, Hergebrachten, das ist eines Edelmannes
-würdig. Und Wahrheit und Liebe? Gewiß! aber streng nach den Regeln der
-Etikette müssen sie sein.«
-
-»Komm, Schwesterchen,« sagte der Knabe Wahrheit zur Liebe, »hier ist
-nicht gut sein.«
-
-Und sie gingen weiter. -- Da kamen sie in eine große Stadt. Da waren so
-viele Häuser und so viele Menschen, daß sie gar nicht wußten, wohin sie
-gehen und an wen sie sich wenden sollten.
-
-So schritten sie kühn in ein vornehmes Haus hinein, darin war es gar warm
-und behaglich, und sie stiegen die teppichbedeckten Stufen hinan und kamen
-in ein schönes Gemach, das war reich und bunt ausgestattet, und in der
-Mitte auf einem Tisch stand ein großer Weihnachtsbaum, der leuchtete
-von vielen, vielen Lichtern, lauter geputzte Leute standen um ihn und
-bewunderten die kostbaren Sachen, die darunter lagen. Das Zwillingspaar
-hielt sich fest an den Händen, und sie traten zu dem Herrn des Hauses,
-der neben einer schönen Dame im Sofa saß, und öffneten ihre lieblichen
-Lippen:
-
-»Wahrheit und Liebe heißen wir,« sagten sie, »das neue Evangelium
-wollen wir verkünden, auf daß es Lüge und Unglück aus der Welt von
-hinnen treibe.«
-
-Da wollte sich der Herr des reichen Hauses schier von Sinnen lachen:
-»Wahrheit,« sagte er, »mein Junge, damit kann man nicht handeln« und
-»Liebe,« lachte die schöne Dame neben ihm, »~quelle idée!~ Die ist gar
-so unbequem und aufreibend --!«
-
-»Komm, Schwesterchen,« sagte der Knabe und sah trotzig um sich, »hier
-ist nicht gut sein.«
-
-Die Kleine schmiegte sich dicht an seine warme Seite und sie zogen weiter.
-
-Nun kamen sie in ein ganz kleines, unscheinbares Häuschen, da brannte auch
-ein Tannenbäumchen, aber nur ein ganz winziges, mit zwei kleinen Lichtchen
-und ein paar Aepfeln und Nüssen daran.
-
-Neben dem Baum saß eine junge blasse Frau mit zwei Kinderchen im Arm
-und am Fenster ein finsterer Mann, der brütete vor sich hin und sah das
-Weihnachtsbäumchen kaum.
-
-Und das Zwillingspaar trat ein und lächelte dem anderen Pärchen zu:
-
-»Weihnachten ist heute, das Fest der Liebe. Vom Traumhimmel sind wir
-gesandt, die neue Religion zu verkündigen, das Evangelium der Liebe und
-Wahrheit.«
-
-Aber die angeredeten Kinderchen wandten sich verschüchtert zur Seite, und
-der blassen Frau liefen die Thränen über die schmalen Wangen.
-
-»Liebe,« schluchzte sie, »Liebe ist nur vom Uebel, denn sie hängt
-schwer an Einem, und von Liebe kann man nicht leben.«
-
-»Und Wahrheit?« fragte der Mann mit bitterem Lachen, »wenn man die
-Wahrheit sagt, wird man mit Hunden gehetzt. Geht weiter, Euer Evangelium
-ist nicht für Arme.«
-
-Da zogen sie traurig von dannen und irrten in den Straßen umher und wagten
-nicht mehr in die Häuser einzutreten. Sie kamen an ein großes, großes
-Haus, das hatte einen Turm, der ragte bis in den Himmel hinein und aus den
-geöffneten Fenstern drang freundlicher Lichtschein von vielen Lichtern,
-Orgelklang und Gesang von vielen frommen Stimmen; sie schlüpften hinein
-und standen in einer Kirche voll frommer Menschen und vor dem Altare stand
-eine Krippe, darin lag ein kleines Kindlein, nackt, wie sie selber, mit
-einem goldenen Krönchen auf dem Haupte.
-
-Und sie liefen hin und freuten sich und wandten sich zum Volk und
-verkündeten mit lauter Stimme das neue Evangelium; denn sie dachten, hier
-wäre es gut und fromm und hier würden die Menschen auf sie hören.
-
-Kaum aber hatten die von einer neuen Religion vernommen, da erhob sich ein
-böses Geschrei und wütendes Toben, und an der Spitze der Mann, der an der
-Krippe des Jesukindes schöne Worte gesprochen hatte, und:
-
-»Neuerer, Ketzer! steinigt sie, treibt sie hinaus!« -- riefen sie.
-
-Ach, die armen Sonnenkinder, sie wußten nicht, wie ihnen geschah, als sie
-plötzlich draußen vor der Kirchenthür sich befanden, die krachend hinter
-ihnen zufiel.
-
-»Ach wären wir im Traumland,« seufzten sie, »unter Blumen und
-Vögelein, unter der Königin blauem Sternenmantel -- uns friert, ach so
-sehr.«
-
-Da, fern von der Stadt, begegneten ihnen zwei hohe, schlanke Gestalten, ein
-Mann und ein Weib -- die hielten sich eng umschlungen und von ihren Stirnen
-ging ein Leuchten aus, daß es die Kinder wundersam durchschauerte. Sie
-faßten Mut und gingen jenen entgegen und fragten:
-
-»Was thut Ihr hier draußen?«
-
-»Wir feiern Weihnachten,« sagten jene beiden lächelnd.
-
-»Ohne Baum und Menschen?«
-
-»Für uns allein; in unserem Herzen, denn die Menschen haben uns von sich
-gestoßen!«
-
-»Was thatet Ihr?«
-
-»Wir sprachen die Wahrheit und in unserem Herzem thronte die Liebe,«
-sagten jene beiden und ihre Augen leuchteten. »Das aber kann die Welt
-nicht dulden, es ist gegen ihr Gesetz, und darum haben sie uns von sich
-gestoßen.«
-
-Da sangen und jubelten die Kinder ihr neues Evangelium in alle Winde hinaus
-und der Mann zog sein Weib in seine Arme und sie lauschten der Lehre
-von der Wahrheit und der Liebe, die die Kinder der ewigen Sonne und der
-Phantasie ihnen predigten.
-
-Da aber kam der Wind und trug die Sonnenkinder über die Wolken ins Land
-der Träume.
-
-Und wie sie der schönen Mutter ihre Leiden, ihren Kummer und ihre
-Seligkeit vertrauten, da weinte sie goldene Thränen und sie fielen in die
-Herzen jener seligen Menschenkinder, die die Welt von sich gestoßen hatte.
-
-Die Elfen und Gnomen und die Vöglein alle, das lustige, leichtlebige Volk,
-tanzten und jubilierten, und nur der große Uhu saß im Eichbaum, unter
-dem die Sonnenkinder wieder schliefen, unter Blumen zugedeckt, und knurrte
-prophetisch:
-
-»Zu früh, viel zu früh, die Welt ist noch nicht reif für das Evangelium
-der Liebe und Wahrheit!«
-
-
-
-
-Schneeflocken.
-
-
-Die Schneeflocken haben Ball heute Abend. Hei! Wie sie sich schwingen in
-tollem Reigen da oben auf den Bergen, wie sie durcheinander wirbeln und auf
-und niederspringen, daß einem ganz schwindelig wird beim Hereinschauen.
-Und der Wind spielt ihnen auf dazu; er saust durch die Tannenwipfel und
-schüttelt die Kronen der alten Waldriesen, daß sie die Zweige pfeifend
-gegen einander schlagen; er braust durch die Schluchten und gellt durch die
-Felsenklüfte, daß es fast wie Hohngelächter klingt, er singt ihnen ein
-Nordlandslied, wild wie sein Brausen und Toben. Er singt ihnen von den
-eisigen Gletschern da oben im Norden, und von der Eisjungfrau, die da haust
-mit Augen, klar und doch unergründlich, wie der Bergsee; er singt, wie sie
-mit schrillem Lachen die weißen Arme ausbreitet und an den Schneewänden
-ihres Eispalastes rüttelt -- dann stürzen die Lawinen krachend zu Thal
-und begraben das Menschenvolk da unten. Von den lustigen Gesellen, den
-Eisbären, erzählt er, seinen Freunden, wie sie im täppischen Tanz
-umeinander sich drehen, fast wie riesengroße, weiße Schneeflocken,
-daß es gar komisch anzusehen ist; und von den Schiffen, die zwischen den
-Eisblöcken stecken, und den Menschen darauf, deren heißes Menschenherz
-langsam zu starrem Eise wird; von den flimmernden, glitzernden,
-funkelnden, kalten Sternen da oben am Himmel, die todesruhig lächelnd
-herniederschauen; von dem Nordlicht, das aufflammt mit trotziger Glut und
-der Eisjungfrau auf ihrem Gletscher einen rosigen Schleier überwirft,
-aus dem sie herauslächelt, fast wie ein Menschenbild -- so lockt sie
-die Menschen an, die kühnen Jäger, und sie steigen hinauf zu ihr, immer
-höher und höher, und sie winkt ihnen und lächelt süß, verheißend --
-und dann stürzt sie die thörichten Gesellen hinab, in die eisige Tiefe.
--- Hoiho! jauchzt der Wind, wild ist mein Nordlandslied! Wild, wie der
-Eiskönigin Lachen, wie der Lawinendonner! Und hoch empor wirbelt er die
-armen Flöckchen, bis sie sich ermattet an den Tannenzweigen festklammern.
-
-Da ist's gut ruhen; sie schmiegen sich eng an die Nadeln hin -- die
-flüstern und kosen mit ihnen, die wiegen sie hin und her und erzählen
-ihnen Waldmärlein: von dem naseweisen Tannenbäumchen, das gar nicht
-zufrieden gewesen damit, daß es im schönen grünen Wald gewohnt und die
-Füßlein im weichen Moos gebettet hat; gelangweilt hat es sich auf seinem
-heimatlichen Stückchen Erde und hat hinausgewollt in die weite, weite Welt
-und gejammert und geschluchzt: O Wind, nimm mich mit! O Quell, rausch' mich
-zu Thal!
-
-Da hat mit einemmal die Waldfee vor ihm gestanden im grünen Gewand und
-lockigen Haar, hat es mit den Blumenaugen angeschaut, mit den zarten
-Händen berührt und gesagt: »Geh', mein Bäumchen, reise zu Thal. --
-Sie werden Dir weh tun, Dich von Ort zu Ort schleppen, und doch bringst Du
-ihnen von den Bergen herunter die Sehnsucht mit -- den Tannenduft, damit
-sollst Du ihnen die Seele erfüllen, daß sie gut werden und sich freuen
-wie die Kinder.«
-
-Dann hat sie das Bäumchen geküßt und ist im Wald verschwunden. --
-
-Danach sind eines Tages zwei Männer gekommen und haben sich das
-Tannenbäumchen von allen Seiten angeguckt und zufrieden mit den Köpfen
-genickt. Dann haben sie ihre Pelzkappen zurückgeschoben und sich die
-Hände gerieben und die blanken Aexte genommen und haben die Füßchen der
-Tanne geschlagen, daß es durch den Wald gedröhnt hat, haben sie zur
-Erde geworfen, ihr einen Strick um den Leib gebunden und sie hinter
-sich hergeschleift über Stock und Stein, durch Schnee und Eis. Und das
-Tannenbäumchen hat leise vor sich hingeweint, und die großen Bäume auch;
-aber die Männer haben das nicht gehört, die meinten: Horch -- wie der
-Wind pfeift!
-
-So ist die kleine Tanne zum Weihnachtsbäumchen geworden, wie die Waldfee
-sagt -- denn da unten im Thal feiern sie Weihnacht -- --
-
-»Was ist das?« fragten zwei neugierige kleine Schneeflocken, die sich
-angefaßt hatten und mit ihren zarten, weißen Gliederchen auf den Zweigen
-der alten Tanne auf und nieder wippten.
-
-»Ja, was ist das!« sagte die alte Tanne, »Wintersonnenwende nennen
-wir's, und die Waldfee sagt: Jetzt wacht die Sonne auf und nun beginnt tief
-unten in der Erde das Keimen und Wachsen, bis es schließlich herauf dringt
-zu uns und die ganze Welt erfüllt. Aber da unten im Thal nennen sie's
-Weihnacht und sagen, die Liebe wäre ihnen geboren -- und dann schmücken
-sie das Tannenbäumchen mit vielen, vielen Lichtern und zünden sie an,
-daß man meint, der ganze Baum stände in Flammen, und läuten mit ihren
-Glocken dazu -- da -- hört Ihr's?«
-
-»Bim bam bum!« singen die kleinen Schneeflocken, »da möchten wir hin!«
-und sie bitten den Wind: »Wind, fahr' uns hinab!« -- Der breitet seine
-großen, weißen Schwingen aus, die beiden Flöckchen klammern sich mit
-ihren vielen Fingerchen daran fest und nesteln sich in ihren Zottelpelzen
-tief in die Fittige ein, und heidi! da ging's zu Thale.
-
-»Grüßt mir das Tannenbäumchen!« rief die alte Tanne ihnen nach -- und
-sie brummte in den Schneemantel hinein, der sich allgemach um ihre starken
-Glieder gelegt hatte: »Komisches Volk, diese Menschen! Mußte ihnen die
-Liebe erst geboren werden? Ist sie denn nicht so alt, wie die Welt steht?«
-
-Und dann schüttelte sie ihre Nadeln, daß die Schneeflocken, die schon
-darauf eingeschlafen waren, erschrocken in die Höhe fuhren.
-
-Die beiden neugierigen Schnee-Engelchen aber flogen zu Thal, und der Wind
-war bös und pfiff ihnen in die kleinen Ohren, daß es gellte: Puh -- da
-unten ist's schlecht. Was wollt Ihr bei den Menschen? Entweder sie ballen
-Euch zusammen und werfen sich mit Euch gegenseitig an die Köpfe, oder sie
-kehren Euch auf einen Haufen, daß ihr ganz schmutzig werdet und die Sonne
-Euch aufschmilzt -- umkommen thut Ihr jedenfalls!
-
-Doch da waren sie schon im Thal angelangt, vor einem großen, schönen
-Hause; das lag still und dunkel und allein. Nur aus einem Fenster
-schimmerte ein roter Schein, dahin flog der Wind, und sieh'! von dem
-Fenster her grüßte und winkte es den Flöckchen entgegen -- das waren
-ihre Basen, die Eisblumen, die an den Glasscheiben in die Höhe wuchsen
-und allerlei wunderliche Gestalten angenommen hatten, und die Flöckchen
-setzten sich zu ihnen und guckten in's Haus hinein. Da drinnen ist's
-prächtig: ein hohes, weites Gemach, und aus einem großen, weißen
-Marmorkamin flutet der rote Feuerschein drüber hin, über den Tannenbaum,
-der schön geschmückt und glänzend dasteht, über die vielen bunten
-Spielsachen und all die kleinen Figürchen, die da unter'm Tannenbaum ihr
-Wesen treiben.
-
-Die Eisblumen erzählten, wie schön es gewesen sei, als das
-Tannenbäumchen ganz in Flammen gestanden und die Kinder um es
-herumgesprungen wären und gelacht und getollt und gejubelt hätten. Dann
-haben sie die Lichter gelöscht und ein Duft ist durch das Zimmer
-gezogen, so würzig, so zart, so wunderstark, noch riecht's in allen Ecken
-darnach --
-
-Die Schneeflöckchen vergingen fast vor Sehnsucht nach all dem Schönen.
-Mitleidig verrieten ihnen die Eisblumen, daß ganz, ganz unten am Fenster
-eine schmale Ritze offen wäre, da könnten sie noch besser hineingucken,
-und vorsichtig kletterten die Flöckchen an den glatten Scheiben hinunter
-und nun stehen sie vor der Fensterritze -- -- --
-
-»Also, so sieht Weihnacht aus!« flüstern sie einander zu, »komm', wir
-wollen uns an die Händchen fassen und hineingehen und den Weihnachtsduft
-einatmen.«
-
-»Thut das nicht,« antworteten die Eisblumen, »Ihr seid Kinder der Luft,
-Ihr gehört nicht zu denen dadrinnen -- Ihr werdet hinsterben vor Sehnsucht
-zu ihnen.«
-
-Aber die Flöckchen hörten nicht auf die Erfahrenen; sie zogen sich
-ihre kleinen Schneemützchen über die Ohren, damit sie auch hübsch kalt
-blieben und schlüpften durch die Fensterritze. -- Da schlug's Zwölf.
-Das kleine Männchen in der bunten Uhr, die auf dem Kaminsims stand,
-kam zwölfmal herausspaziert und beim letzten Mal nahm es seinen kleinen
-Dreimaster ab und verbeugte sich und sagte: »Meine Herrschaften, die
-Geisterstunde hat geschlagen!« --
-
-Dann verschwand es wieder in seinem Glashäuschen, und klirrend schlug die
-Thür hinter ihm zu.
-
-Nun begann ein wunderliches Wispern und Tustern in allen Ecken und Winkeln
--- alles im Zimmer wurde lebendig und es war plötzlich ein Stimmengewirr
-wie beim Turmbau zu Babel. Alle die vielen Deckchen und Schleifen, die an
-den Stühlen und Lehnen herumhingen, fingen an, eine der andern Vorwürfe
-zu machen, daß sie sich immer den Menschen auf den Rücken setzten oder
-auf der Erde herumtrieben, und wurden so heftig dabei, daß sie sich
-schließlich gegenseitig mit sich selber bombardierten. -- Das Sofakissen
-wurde elegisch und machte der Schlummerrolle eine Liebeserklärung. --
-»Sie haben eine so schöne Gestalt!« sagte es, -- »von oben bis unten
-egal!« Und die Feuerzange beim Ofen wollte die Schaufel umarmen und kniff
-ihr dabei derb in die Nase. Die kleinen Sèvres-Figürchen auf dem Kamin
-schürzten ihre Rokokokleidchen zum Tanz und der Nußknacker, der in der
-Uniform eines Gardelieutenants auf dem Weihnachtstische stand, klemmte sein
-Monocle ins Auge, näselte: »Charmant, auf Taille!« und klappte seine
-Kinnladen mit einem gefährlichen Ruck wieder zu. Dieser Nußknacker war
-überhaupt ein Don Juan; just hatte er der niedlichen kleinen Puppendame,
-die in Balltoilette auf einem rotsammetenen Lehnstuhl saß, versichert,
-sie sei seine erste und einzige Liebe, und nun warf er der porzellanenen
-Schäferin da oben Kußhände zu und entschuldigte sich damit, daß es ja
-Weihnachten sei.
-
-Da entdeckte er plötzlich die beiden kleinen Fremdlinge, die sich in ihren
-weißen Schwanenpelzchen scheu in die Fensterbank gedrückt hielten.
-
-»Das ist ja etwas sehr Niedliches!« Und der Lieutenant klemmte seine
-Monocle ein und beeilte sich, mit allersteifsten Gardebeinen durch den Saal
-zu marschieren.
-
-»Premier-Lieutenant Knack von Mandelkern, I. Rrrment, Bleisoldaten
-zu Fuß,« schnarrte er und schlug die Hacken aneinander, daß unsere
-Schneeflöckchen erstaunt seine Füße anguckten. -- »Damen fremd hier? --
-äh -- dürfte Ehre haben, Chaperoneur zu sein?«
-
-»Ach,« sagten die Flöckchen schüchtern, »wir gehören hier eigentlich
-gar nicht her -- wir sind nur hereingekommen -- wir wollten gern wissen --
-können Sie uns vielleicht sagen, was Weihnacht ist?«
-
-»Wa -- wa -- was -- Weihnachten?« Dem Herrn Gardelieutenant fiel vor
-Erstaunen das Monocle weg, ohne daß er erst dazu eine Fratze zu schneiden
-brauchte, und sein Nußknackermund blieb ihm offen stehen, worüber die
-Flöckchen so erschraken, daß sie aufsprangen und von der Fensterbank auf
-die Erde flogen.
-
-»Weihnachten? -- Weihnachten ist Weihnachten,« brummte Lieutenant Knack
-von Mandelkern entrüstet, nachdem er vorher seinen Mund wieder zugeklappt
-hatte -- dann klemmte er das Glas wieder ein und sah den Flöckchen nach
--- »nette Pusselchen -- aber noch sehr jrün -- die reene Unschuld vom
-Lande.« -- --
-
-Die Schneeflöckchen aber waren geradewegs auf ein schönes Buch mit
-Goldschnitt gesunken, das vom Tisch auf die Erde gefallen war -- auf dem
-stand mit großen bunten Lettern als Titel gedruckt: Weihnacht und unsere
-Vorfahren! Das sprach jetzt mit gewählten Worten: »Was Weihnachten ist,
-wünschen Sie zu wissen, meine Lieben? -- Sehen Sie mich an.« Und dabei
-schlug es sich auf und begann zu lesen: »Schon zur Zeit Winfrieds, des
-hl. Bonifacius, des großen Heidenbekehrers, feierten unsere Altvordern,
-beseelt von einem dunklen Drange, der sie zur Verehrung eines unbestimmten
-Etwas antrieb, im Winter, unter Schnee und Eis, ein Fest.«
-
-»Altes Buch, schweig' doch still! -- Hüh! Hoh! Wollt Ihr wohl laufen, Ihr
-faulen Tierchen!« klang es da unter dem Tischdeckenzipfel hervor, und als
-die Schneeflöckchen, die sich große Mühe gaben, die weisen Worte des
-Buches zu verstehen, sich umschauten, kam pfeilgeschwind eine
-drollige kleine Equipage herangesaust, schnurgerade über das gelehrte
-Goldschnittbuch hinweg, das sich voller Entrüstung erhob und mit Würde
-von dannen wandelte. -- In dem von sechs weißen Mäuschen gezogenen
-Wägelchen stand ein kleiner nackter Junge, mit Flügeln an den Schultern
-und einem Bogen in der Hand, und sang und jubelte in die Welt hinein. Der
-hat auf einer schönen Dose gesessen, in der allerlei bunte, glänzende
-Steine und Goldsachen blitzten, und als der alte Herr in der Uhr die
-Geisterstunde verkündete, da ist er heruntergesprungen und hat sein
-lustiges Wesen getrieben.
-
-Ei, wie ihn die Rubinenaugen des Schlangenarmbandes anfunkelten, und so
-viel die Schlange auch nach ihm mit dem Goldzünglein gezischelt, -- »ich
-bin die Schlangenkönigin,« sagte sie, »ich ringele mich um weiße Arme,
-weiße Nacken, ich ringele mich bis ins Herz hinein und bringe ihm den
-Schlangenzauber, dem niemand wiedersteht,« -- es half ihr nichts: das
-kecke Bürschchen schlang sie sich um die kleine weiße Brust, und die
-Rubinenaugen funkelten ihm von der Schulter herunter.
-
-»Pah!« lachte er, »mein Pfeilgift ist viel stärker als Deins, -- Du
-kannst mir nichts anhaben.«
-
-Nun setzte er sich in die große Walnußschale, die ihm der Nußknacker
-geschenkt hatte dafür, daß er der niedlichen Rokokodame einen Pfeil ins
-Sèvresherzchen geschossen.
-
-Aber er hatte keine Pferde zum Vorspannen. Da war er auf den
-Weihnachtstisch spaziert, wo die heilige Krippe aufgebaut war, und hatte
-den hl. Joseph um das Oechslein und das Eselein gebeten, sein Wägelchen
-zu ziehen; aber der hl. Joseph hatte die Hände über dem Kopf
-zusammengeschlagen über solch ein Ansinnen, obgleich Mutter Maria mit dem
-Kindlein auf dem Schoß ihre Freude an dem kecken Gesellen gehabt hatte.
-
-Da war er den hl. Drei Königen aus dem Morgenlande entgegengegangen,
-die gar bedächtig mit prächtigem Gefolge heranmarschiert kamen.
-»Majestät,« sagte das Gesellchen höflich, »dürfte ich vielleicht
-eines Ihrer Kamele für mein Wägelchen benutzen? -- Sie haben ja deren so
-viele.«
-
-Aber der schwarze Balthasar, der Mohrenkönig, fletschte ihm seine weißen
-Zähne entgegen, und Kaspar und Melchior hielten ihm das Weihrauchfaß mit
-Myrrhen unter die Nase, daß er niesen mußte -- da sprang er davon und bat
-den Tannenbaum, und der schenkte ihm sechs kleine, weiße Zuckermäuse, die
-an seinen Zweigen hingen.
-
-Nun hielt er mit seinem flinken Gespann vor den Schneeflöckchen und
-lachte: »Ach, was seid Ihr für herzige Dingerchen. -- Gleich möchte
-ich mit meinem Goldpfeil durch Eure Schwanenpelzchen in die Herzchen
-hineinschießen. Kommt, steigt ein -- wir fahren zum Weihnachtsball in
-die Puppenstube; da tanzen Sie gravitätisch und mit Anstand ein würdiges
-Menuett und sind brav und gesittet -- aber Ihr sollt 'mal sehen, was ich da
-für einen Wirrwarr anrichte.«
-
-Den Schnee-Engelchen gefiel zwar der kleine Bursche sehr gut, aber sie
-schüttelten doch die Köpfe, daß die Pelzkapuzchen hin und her wackelten.
-
-»Ach nein,« sagten sie, »hier können wir nicht tanzen -- hier ist es
-uns viel zu warm. Wir sind auch nur hereingekommen, um zu lernen, was wohl
-eigentlich Weihnacht ist.«
-
-Da setzte sich das Gesellchen auf den Rand seiner Nußschale, schlug
-ein Bein über das andere und legte simulierend den Finger an das kecke
-Näschen:
-
-»Ja, sehen Sie, meine kleinen Engelchen -- das ist eine kuriose
-Geschichte. Da unter dem Weihnachtsbaum liegt ein kleines, nacktes Kindchen
-in einer Krippe, dessen Geburtstag feiern sie, und sie sagen, er sei der
-Gott der Liebe. -- Nun aber hat mir mein heidnischer Vater im Olymp -- ich
-bin nämlich ein Heide, mein Name ist Amor -- immer gesagt, ich wäre der
-Gott der Liebe, und ich wäre, trotz meiner Jugend, so alt wie der Olymp
-und die Welt und das große, große Meer selber. -- Da muß also irgendwo
-eine Verwechselung sein. -- Ich schlage vor, wir feiern das ganze Jahr
-Weihnacht und halten mein Schwesterchen Freude, wenn sie davon fliegen
-will, am Gewandzipfel fest. -- Ich kehre mich so wie so nicht viel an die
-Jahreszeiten -- meine Pfeile fliegen das ganze Jahr durch, und die Küsse
-sind immer am süßesten, wenn sie geküßt werden.« -- Und dabei breitete
-der kleine Schlingel die Arme aus und wollte die hübschen Flöckchen
-küssen; die aber faßten sich an die Hände und flogen ihm davon,
-geradeswegs auf die Tanne zu und klammerten sich an ihre Zweige fest und
-schaukelten sich und sangen:
-
- Von den Bergen, wo der Wind,
- Wo die Tannenschwestern sind,
- Sind wir hergeflogen,
- Sind wir hergezogen --
-
-Sag' uns, was ist Weihnacht?
-
-Da ging ein Leben durch die Zweige der Tanne, all' das Rauschegold, mit dem
-sie geschmückt, knisterte und raschelte, die Krystallkugeln klirrten --
-stärker denn je dufteten die Tannennadeln, und horch! mit dem Tannenduft
-ziehen Sehnsuchtslaute durch den Saal:
-
-»Ach, meine Flöckchen, wohl bin ich geschmückt, wohl trage ich
-eine Krone, wohl habe ich geflammt in vieler Kerzen Schein -- für die
-Weihnacht. -- Aber gebt mir die Wintersonnenwende wieder, laßt
-mich umbrausen, umtosen vom Wind, laßt den ersten Sonnenstrahl mich
-umschmeicheln und mir ins Herz hineinlachen. -- Nehmt mir Alles dafür hin!
-
-Was die Weihnacht ist?
-
-Kummer und Trübsal, und Haß und Neid und Mißgunst, und Heuchelei und
-Geldstolz -- das ist Weihnacht unter den Menschen; und zum Hohn nennen
-sie's das Fest der Liebe! Schneeflöckchen, wenn Ihr die Liebe sucht,
-fliegt nimmer zu Thal. Und eines doch: Wenn das Kinderauge uns anlacht --
-wenn wir in seinem reinen Glanz uns spiegeln, wenn die Kinderärmchen sich
-nach uns ausstrecken, die Kinderstimme uns anjauchzt --«
-
-Da öffnete sich leise, leise die Thür, und auf der Schwelle stand ein
-Kindchen und blickte verschlafen um sich und strich sich die blonden
-Härchen aus dem heißen Gesicht. -- Nicht schlafen konnte das Kind vor
-Freude über Weihnacht, und es hatte ein Geraune und Geflüster gehört
-neben dran und war aufgestanden, ganz leise, daß es die Eltern nicht
-gestört, und schlich mit den bloßen Füßchen über den Teppich hin, und
-stand mitten unter dem lustigen Volk. --
-
-Aber da schnarrte die Uhr und das alte Männchen kam wieder herausspaziert
-und sagte mit dumpfer Stimme: Eins! und nun war alles wieder still und
-stumm und leblos, wie es vorher gewesen. Nur die Schnee-Engelchen konnten
-nicht so schnell zum Fenster hinfliegen -- da erblickte sie das Kind:
-»Das sind die Engelein vom Himmel,« jauchzte es, »Tanne, die hast du mir
-mitgebracht!«
-
-Und mit beiden Armen griff es nach den Flöckchen und preßte sie an sich
-und drückte und herzte sie -- ach -- und da vergingen sie ihm unter den
-Händen, und das Kind betrachtete verwundert seine leeren feuchten
-Aermchen -- da schlich es betrübt in sein kleines Bett und weinte, weinte
-bitterlich.
-
-Aber die Tannennadeln, die sich in seinem Kraushaar gefangen hatten
-beim Spielen, die neigten sich an des Kindes Ohr und erzählten ihm vom
-Tannenwald und dem Wind und der Schneeflöckchen-Reise, das ganze Märlein,
-da schliefs Kindchen ein.
-
-Und wann es aufgewacht ist, und wieder und wieder aufgewacht, und größer
-und älter geworden, wann die Wintersonnenwende ihm gekommen ist, da zieht
-ihm, dem großen Kind, zu Weihnacht mit dem Tannenduft immer wieder
-das Märchen durch die Seele -- das Märchen von den Schneeflocken, die
-ausgezogen, die Liebe zu suchen, und an der Liebe gestorben sind.
-
-
-
-
-Das Märchen von der weißen Stadt.
-
-
-Es lag ein Mensch zu sterben. Der hatte all seine Gedanken, all seinen
-Willen hergegeben, die eine große That seines Lebens zu vollenden. Aber
-der Griffel entsank seiner Hand, und die Seele entfloh dem Leibe. Es hatte
-dieser Mensch die Fluten sehr geliebt. Er konnte stundenlang am Ufer des
-Sees sitzen und die blauen Wasser betrachten, wie sie kamen und gingen,
-immerzu, immerzu; und aus den Wassern sahen ihn seine Gedanken an. Als
-seine Seele nun ohne Körper umherirrte, da kamen die Luftgeister
-und trugen die Menschenseele hin über den See. Aus ihren wehenden,
-silbergrauen Gewändern troff es wie Nebel zum Wasser nieder, und ein
-leiser Wind bewegte die Fluten, daß sie sich kräuselten. Oben auf
-den Wogenkämmen schaukelten die weißen Leiber der Seejungfrauen; sie
-streckten die Arme aus nach der Seele des Menschen und zogen sie hinab in
-die weichen, wiegenden, schmeichelnden Gewässer. -- Drunten in der Tiefe
-saß der Seekönig und hielt Hof. Er war ein kleiner Mann mit starken Armen
-und langem, weißem Bart. Auf dem weißen Haupte trug er eine Krone von
-hellroten Korallen; die hatte ihm sein Vetter, der Meerkaiser, geschickt,
-aus Anerkennung, weil der kleine Seekönig manchmal seine Gewässer mit
-den starken Armen so aufrührt, daß viele Schiffe und Menschen umkommen
-müssen, gerade wie auf dem Meere. Denn die Meerleute mögen es gern, wenn
-Menschenkinder zu ihnen hinuntersteigen müssen. Sie stellen die weißen
-Körper in ihren wundersamen Meergärten auf, wie wir die Marmorstatuen.
-Die Menschen können nicht leben bei ihnen; nur wenn einer die Fluten sehr
-geliebt hat, dessen Seele gleitet des Nachts in den Wellen als weißer
-Schaum. Kommt ihn aber die Sehnsucht an, den Tag zu sehen, und es berührt
-ihn die Sonne, in deren Licht er geatmet, dann muß er für immer zur
-Leiche werden. --
-
-Der kleine Seekönig hielt also Hof. Sechs große Räte mit wunderlichen
-Fischgesichtern saßen im Kreise um ein großes Blatt Papier, das ganz bunt
-vor lauter Strichelchen und Pünktchen aussah; vier dicke Büffelfische
-trugen es auf ihren Rücken, sie hielten es fischchenstill; nur zuweilen
-zuckte einer mit dem beweglichen Schwanz oder pustete die Kiefern auf
-und zu, als ob er Wasser rauche; und dann zupfte ihn der Herr Rat mit dem
-Karauschengesicht mahnend an den Flossen, worauf er gehorsam still hielt.
-Die Menschenseele, die als zarter, weißer Schaum auf der Schulter der
-Seejungfrau lag, sah neugierig das weiße Papier an; es kam ihr so bekannt
-vor. Das hatte sie schon gesehen, als sie noch Mensch war. Es war ihr,
-als müsse sie eine Hand danach ausstrecken. -- »Still!« flüsterte die
-Seejungfrau, »gleich wirst du hören.« -- Und dann sagte der Seekönig:
-
-»Die Menschen da oben auf der Erde machen uns alles nach. Gerade wie wir
-zuweilen Besuch bekommen von den Bewohnern anderer Seen und Meere, die dann
-allerlei Kostbarkeiten mitbringen, um sie uns zu zeigen, so macht es das
-Volk da oben auch. Nur sind sie sehr arm. Während wir alle die
-fremden Seltenheiten und unsere eigenen dazu, einfach in unserem ewigen
-Krystallpalast aufstellen, müssen die sich erst Häuser dazu bauen. Und
-das Bauen -- welche Umständlichkeit! Erst kommt einer und denkt sichs aus
-und zeichnet es auf, und dann geht es an viele Leute, die alle etwas zu
-mäkeln und zu ändern haben. Schließlich soll es dann wirklich gebaut
-werden, aber wie lange das alles dauert, dazu habe ich nicht Zeit genug,
-das zu erzählen. Seht, da hat auch so ein armer Mensch mit kurzem
-Gedächtnis seine Gedanken auf das Papier geschrieben; ein guter Mensch,
-der uns sehr geliebt hat. Denn er hat gesagt: »Wenn ich meinen See nicht
-hätte! Der muß das Beste thun.« Und dann hat er unsere Fluten überall
-eindringen lassen in seine Pläne, damit wir seine Paläste wie mit
-Silberarmen umschlingen und ihre Schönheit wiederspiegeln. -- Dann ist
-er gestorben. -- Und jetzt werden andere kommen und seine Pläne zunichte
-machen und uns vielleicht einengen und tyrannisieren. Wollen wir das
-dulden? Nein!« rief der Seekönig und hob die starken Arme, daß oben
-die Wellen klatschend gegen das Ufer schlugen. Und die Räte schüttelten
-heftig ihre Fischköpfe. Die Seejungfrau lächelte der horchenden
-Menschenseele zu. --
-
-»Kommt herbei, ihr Seevolk, und hört, was ich euch sagen werde,« fuhr
-der Seekönig fort: »Die Luftgeister, unsere Freunde, haben dieses Papier,
-das der tote Mensch mit seinen Gedanken beschrieben und dem Großen Rat
-da oben auf der Erde vorgelegt hat, aus seinen Händen weg und zu uns
-herabgeweht. Schwimmt, ihr Fische, bis ans Meer, lasset die im Meere es
-weitertragen zu den Geistern der Völker an der andern Seite des großen
-Wassers, wie das Seevolk der Menschenseele Werk erfüllen will.« -- Da
-schlugen die vier Büffelfische mit dem Schwanz unter das Papier, daß es
-auf in die Wellen flog; die fischköpfigen Räte griffen entsetzt danach:
-»Erst sehen, sehen!« Aber der kleine Seekönig lachte, daß es ein
-Seebeben gab, und zerriß das Papier in tausend Fetzen: »Wir sehen nicht
--- wir bauen!« sagte er.
-
-»Siehst du?« lächelte die Seejungfrau und neigte ihr Antlitz der
-Menschenseele zu, »jetzt werden deine Gedanken, die du ins Wasser
-hineingeträumt hast, doch wirklich. Ich habe dich oft gesehen, habe vor
-dir geschaukelt, wenn du dachtest, es seien die weißen Wellenkämme. Ich
-hätte dich mir geholt -- ach so gern! Jetzt bist du bei mir. Die Menschen
-denken, sie haben dich begraben; aber ich halte dich in meinen Armen --
-ewig. Du darfst nicht hinaufschwimmen und dein Werk beschauen, nicht so
-lange die Sonne scheint. Dann würdest du zur Leiche. Ich will nicht, daß
-dich die Schwestern in ihre Gärten stellen. Ich will dich behalten -- für
-mich.« -- Dann glitt sie zum Seekönig hin und schmeichelte: »Väterchen,
-mach' es recht schön!« -- Er aber streichelte ihr langes Haar, das
-glänzte wie Sonnenstrahlen auf dem Wasser, und sagte ernsthaft: »Du
-darfst die Menschenseele hüten, daß sie uns nicht entflieht; denn nur
-durch sie können wir das Große vollenden.«
-
-Nun beginnt die Arbeit. Ei, wie flink die Fischlein dabei sind, das blaue
-Wasser zu kommandieren, daß es in langen, glänzenden Streifen zwischen
-grünen Inseln sich durchzwängt, alles Land verschlingend, das ihm im
-Wege ist, daß es unter wölbende Brücken sich duckt und schmeichelnd zu
-Füßen schlanker Säulenhallen sich schmiegt. Und die Nixen kommen und
-spielen mit den Fluten, daß sie in glitzernden, schillernden Farben zu den
-Luftgeistern emporsprühen. Wie geschickt die Gnomen und Kobolde Stein auf
-Stein, Bogen an Bogen zu fügen wissen, daß es sich erhebt aus der Tiefe
-des Sees -- eine weiße, wundersame Wunschstadt. Da tauchen Türme auf mit
-seltsam zackigen Verzierungen; ein kleiner Nix sitzt darauf und lehrt sie
-allerlei alte Weisen mit seiner Glockenstimme, und nun singen die Türme
-sie weiter. Hier schwimmt eine schneeweiße Rotunde mit lauter kleinen
-Fensterchen rundum; und die Fische leiten das klare Wasser hinein und
-tummeln sich darin. Und still und groß und schön wächst es und wächst
-es, schier in die Ewigkeit hinein. -- In einer großen Muschel, davor
-sechs buntscheckige Forellen geschirrt sind, durchzieht der Seekönig die
-Wasserkanäle, mit scharfen Augen Umschau haltend. Hier zwickt er ein paar
-faulen Weißfischen aufmunternd die platten Schwänzchen; dort schilt
-er zwei streitlustige Hechte, die beide denselben Riesenpalast errichten
-wollen und ihn dabei unsanft hinfallen lassen. Ein energisches Nixlein ruft
-er herbei als Oberaufseher, und das lenkt mit seinen weißen Fäustchen die
-störrischen Gesellen wie ein paar gutmütige Oechslein. -- -- Als
-aber der Seekönig sieht, wie alles gut ist, taucht er unter in seine
-Schatzkammer, füllt seine Muschel mit Gold, so viel sie tragen kann,
-schüttet es am Ufer aus und befiehlt: »Da -- krönt das Ganze damit! daß
-die Kuppel weithin leuchte wie eine Sonne!«
-
-In der Tiefe des Sees ruht die Seejungfrau, regungslos, daß sie die zarten
-Fäden nicht zerreiße, die von dem weißen Schaum an ihrer schönen
-Brust aufsteigen zu dem Werk da oben. Und die Menschenseele harret der
-Vollendung.
-
-Da wallt ein Zug daher über das Wasser. Nebelschleier spinnen ihn ein,
-daß er wie eine Wolke über dem See schwebt, und er zieht eine Bahn,
-silbern wie der Mond auf dem Wasser liegt. Schweigend klimmt er das Ufer
-hinan, wo droben der Seekönig seiner harrt, und über ihm schwebt
-die goldene Kuppel wie eine große Krone. -- Nachts, wenn die Menschen
-schlafen, ergeht sich das Wasservolk oftmals am Ufer und pflegt Zwiesprache
-mit Mond und Sternen. -- Voran im Zuge schreiten Patres mit fahlen
-Gesichtern in schwarzer, spanischer Mönchstracht. Sie tragen gewaltige
-Lasten auf ihren Schultern: Türme und Türmchen, spitze und runde,
-Mauern so dick wie Gefängnismauern mit tiefen Kreuzgängen und
-schweren Wölbungen. Sie keuchen unter ihrer Last; ein lustiges, weißes
-Elfengesindel kommt neckisch gesprungen und weist ihnen den Weg unter
-hohen Bäumen, und hilft ihnen, das wunderliche Ding, das einem spanischen
-Kloster ähnelt, von den gebeugten Rücken abzuladen. Da richten sich
-die schwarzen Geister der Patres zufrieden auf, und sie bauen mit dem
-geschmeidigen Nixenvolk, dessen Listen sie wohl gewachsen sind, vergnügt
-weiter.
-
-Eine mächtige Gestalt schreitet auf dem Wasser; ein Gewand von Gold
-umstarrt sie; sie trägt einen goldenen Helm; golden leuchtet ihr strenges
-Antlitz daraus hervor. Siegesgewiß, siegesbewußt geht sie mit großen
-Schritten an dem Seekönig vorüber, ihm herablassend huldvoll zuwinkend.
-Der lächelt fein ihr nach, wie sie sich gravitätisch aufpflanzt inmitten
-all des Schönen -- ein wenig zimperlich, ein wenig ungelenk. »Laßt sie
-nur dastehen,« nickt er, »man wird schon sehen, daß es nicht unsere
-wirkliche Athene ist -- nur eine große, große, goldene, emancipierte
-Alte-Kunst-Jungfer.« -- Und dann streckt er freudig seine Hände
-den schlanken Gestalten entgegen, die aus dem Nebel sich loslösen,
-einherwallen in faltigen Gewändern, die sich feucht um die herrlichen
-Glieder schmiegen; und sie tragen auf den stolzen Häuptern die weißen,
-strahlenden, wundervollen Trümmer der Heimat. »Du Land der Sehnsucht!«
-flüstert der Seekönig. Sie lächeln ihm zu mit den schönen, traurigen
-Gesichtern. Sie pflanzen Säulen in die Erde, rein und schön, wie sie
-selber, sie breiten die Hände aus, und eine erhabene Harmonie lagert sich
-über der Wunschstadt. Sie erheben die kraftvollen Arme und sprechen: »Du
-lässest uns, o Vater Zeus, die Schönheit schauen, nicht zertrümmert,
-nicht zerschlagen, nein, in ihrer ganzen siegenden Gewalt.« -- Und
-demütig neigen die Karyatiden die stolzen Häupter unter der Last der
-Schönheit, die sie tragen.
-
-Wunderlich Volk zieht im Zuge einher, der übers Wasser wallt. Ein kleiner,
-nackter Bub, der nur einen Frack und Cylinderhut trägt für seine
-Blöße, bietet zierlich einer Rokokodame den Arm, die gar stattlich in
-Hackenschuhen und Reifrock mit einer Trikolore auf dem hochfrisierten
-Köpfchen einherstolziert: »Wir sind barock, nicht wahr?« nickte der
-kleine Schelm dem alten Seekönig zu. -- »Wir, Puck Amor und Dame la
-France!« -- In einem muschelförmigen Wagen, schimmernd von Gold und
-Edelgestein, kommt ein ernsthafter Mann. Er hat ein braunes Gesicht, aus
-dem seltsam überirdische Augen schauen, trägt nur einen schlichten,
-weißen Kaftan um die Hüften gegürtet, und doch neigt Seekönig sich
-tief vor ihm, und eine zarte, braune Elfe, schön wie des Gottes Bajadere,
-geheimnisvoll wie die Wunder Indiens, gleitet vor ihm her, ihm seinen
-Wohnort zeigend. --
-
-Und so kommen sie alle, die Geister der Völker, die der Seekönig
-entboten hat. Plumpe nordische Burschen tragen Paläste von plumper Pracht.
-Ernsthafte, blondköpfige Gesellen bringen ein seltsam Häuschen mit
-spitzragendem Turm, mit schönen Gewölben, durch deren bunte Glasfenster
-es lieblich leuchtet, wie eine Geistessonne. Zierliche, dunkeläugige
-Mädchen kommen im Tanz geflogen: ihre Gewänder flattern im Wind, sie
-streuen Rosen aus, duftende Rosen der Anmut. -- Seltsame Fahrzeuge gleiten
-im Nebel im Geisterzug. Unbeholfen, schwankend die einen. Schwarze,
-düsterblickende Gesellen stehen darin und blicken drohend hinüber zu dem
-schlanken Schiffchen, das, seinen Drachenkopf vorgestreckt, wie ein Renner
-durch die Fluten schießt, pfeilgeschwind, die andern weit hinter sich
-lassend. Wie nur das Schifflein die Hünengestalten seiner Mannschaft, die
-mit sehnigen Armen die Ruder führen, birgt in dem schlanken Rumpf?! Hoch
-richten sich die Gestalten auf, sie wachsen und wachsen, daß ihre Leiber
-dunkle Schatten werfen weithin über den See. Und sieh' nur -- wie
-die geisterhaften Schwarzen in den schweren Kreuzesschiffen zum Himmel
-hinaufragen, fanatisch glühen ihre Augen durch den Nebel -- der beginnt
-wunderlich zu leben, wogt und zerrt her und hin, bis er die Riesengestalten
-verschlungen hat. Dann gleiten Karavelen und Vikinger in glatte Buchten,
-gezogen von muntern Fischlein, gesteuert von weißarmigen Wassernixen.
-
-Da bebt der See. Hoch sprühen die Wasser auf. In den schäumenden,
-singenden Strudel steigt der Seekönig hinab in sein Reich, gefolgt von
-seinem fleißigen Volke. Drunten in der Tiefe ruht die Menschenseele.
-»Wann wird es vollendet sein?« fragt sie sehnsüchtig. »Es ist
-vollendet,« sagt der Seekönig. »Sobald der erste Sonnenstrahl die
-goldene Kuppel trifft, wird es den Augen der Menschen sichtbar sein.«
-»Und sichtbar bleiben? Immer?« fragt die Menschenseele. »Nur eine kurze
-Spanne Zeit hat das Wasservolk Macht über die Erde. Nur bis die Sonne
-in die Fluten sinkt und die Zauberwelt, die wir gebaut haben, mit sich
-hinabreißt. Aber wenn dein Seelenauge dein Werk erschaut, ehe die Sonne
-die goldene Krone bestrahlt hat -- dann wird es ewig sein. Dann aber wirst
-du sterben und dein Name wird vergessen werden unter den Menschen.« -- Die
-Menschenseele lächelte. Eng schmiegte sie sich an die atmende Brust der
-Seejungfrau.
-
-Droben, von der verschlafenen Erde, erhob sich die Nacht und zog ihre
-schwarzen Schleier schleppend hinter sich her, über den Himmel. Da ward
-es Licht auf der Erde. -- Es war aber alles noch den Augen der Menschen
-verborgen; denn die Menschen sind ein blödsichtig Geschlecht, und sie
-sehen nur, was ihre Augen ihnen zeigen. Aber die Tiere öffneten
-ihre klugen Augen. Die Vöglein in der Luft flatterten hin über
-die Wunschstadt, setzten sich neugierig auf die zackigen Türme und
-zwitscherten hernieder von den Stangen der bunten Fahnen. Die klugen
-kleinen Enten schwammen in den Wasserkanälen und erzählten schnatternd
-von dem Schloß der Wasserfrauen, das sich zur Nacht aus Busch und Schilf
-erhoben hatte. -- Verwundert blickte der Ackersmann, der mit seinem Gaul
-dahergeschritten kam, Furche auf Furche durch die wilde Erde zu ziehen,
-zu den Vöglein auf: wie konnten sie nur mit geschlossenen Flügeln in der
-Luft schweben, als ob sie auf Bäumen säßen? -- Und die zwei Reiter, die
-dort hintereinander über die Prärie jagten, sahen die Entlein auf dem
-hohen Präriegras schwimmen wie im Wasser. Aber sie haben nicht Zeit, sich
-lange zu verwundern -- da -- der gelbe Rücken des Puma taucht auf, den
-sie gejagt -- der Schuß kracht aus der Büchse des Trappers -- der Pfeil
-schnellt von dem Bogen des roten Mannes: gilt er dem König seines eigenen
-Landes? gilt er dem weißen Fremdling da vor ihm? -- Hoch richtet er sich
-im Sattel auf, daß die Adlerfedern in seinem schwarzen Schopfe nicken.
-Was ist das? -- da -- glitt nicht der Puma hinab in blaues, kräuselndes
-Wasser? Was ringt sich los aus den Nebeln? Das Roß des Trappers bäumt
-sich, geblendet schützt der Indianer die Augen mit der Hand, und späht
-und späht. -- Still lehnt der Ackersmann an seinem Gaul, sein Blick
-sucht die Erde, seine Erde, die er bebauen muß. Und sie schauen, wie es
-herauswächst aus dem Morgengrauen, weiß und still; wie es emporstrebt zum
-Himmel, eine wundersame, andere Welt, die sie mit erhabenen Augen anschaut,
-sie mit weißen Armen umfängt, sich wie weiße, stille, reine Gedanken in
-ihre Seele senkt. Wie sie stehen und schauen, umweht es sie lind und kühl
--- ein Hauch der Ewigkeit.
-
-Ein klein lustig Elflein aber zerrt den Puma, der verdutzt da kauert in
-der Wunderwelt, an den Ohren zu einem Marmorsockel hin. »Da lieg', du
-Wilder!« lacht es, und der Tiere König läßt willig sich in die Fesseln
-der Schönheit schlagen. --
-
-Horch! Es geht ein Brausen durch die Lüfte, ein Singen, Klingen, lieblich
-Geläute: aus dem Morgengrauen erhebt sich der junge Tag, und sein
-leuchtendes Auge weilt liebend auf dem weißen Wunder.
-
-Auf den blauen Fluten des Sees trieb ein zarter weißer Schaum. Ein
-Sonnenstrahl irrte zu ihm hin und küßte ihn bebend. Da ward er zur
-Leiche. Die Menschenseele war aufgestiegen aus den geliebten Wassern, um
-zu sterben. Der See bebt, als sei er in seinen Tiefen erschüttert. In den
-sprühenden Wogen aber taucht die Seejungfrau auf, an deren weißer Brust
-des Toten Seele geruht hat. Ihr goldenes Haar glitzert auf den Fluten.
-Klagend schlingt sie die weißen Arme um ihn, sein schönes, bleiches
-Antlitz über Wasser haltend. So gleiten sie dahin über die murmelnde,
-singende Fläche -- weit, weit hin, den weißen Tempeln zu. Und das Licht,
-das die Seele getötet, liegt liebkosend auf der stolzen Stirn. -- -- --
-
-Es kamen die Menschen und nahmen Besitz von der Wunschstadt in der neuen
-Welt.
-
-
-
-
-Welt-Ausstellung im Walde.
-
-
-Draußen im Wald flüstern die bunten Bäume miteinander und streuen gelbe
-und rote Blätter auf die braun sich färbende Erde, wie der Frühling
-Rosen streut; der Herbstwind rauscht und raunt in den Zweigen, und eine
-milde Herbstsonne glüht auf die Weinblätter am Eichenstamm, daß sie
-tiefrot schimmern, wie lauter Blutstropfen.
-
-Am träge über Kiesel und trockene Aeste dahin murmelnden Bächlein nickt
-ein grüner Zweig -- da leuchtet etwas Blaues auf, dann tönt ein Lockruf,
-sanft, zärtlich, dringend -- jetzt die Antwort -- noch etwas Blaues -- --
-Zwei Vöglein sind's: blaue Flügel schwirren durch die Luft, und zartgrau
-glänzt der Leib.
-
-»Was nur heute los ist!« sagte der eine Blauvogel zum andern, »keine
-Fliege, kein Käferchen läßt sich sehen, alle ziehen dort hinein in's
-Tannendickicht, und selbst die Mücken machen ganz ernsthafte Gesichter!«
-
-»Guten Abend, guten Abend, meine Herrschaften,« schnarrt es über ihnen.
-Da hängt am Baumstamm ein goldgelbes Vögelchen. Zu welcher Klasse es
-gehört, das weiß ich nicht (schlagt einmal in Nehrling's amerikanischem
-Vogelbuch nach), aber es hämmert in die harte Baumrinde, daß es durch den
-ganzen Wald schallt, und so wollen wir es kühn »Gelbspecht« titulieren.
-
-»Ja, ja, Sie haben Recht, es muß etwas im Walde sein bei dem kleinen
-Getier,« sagt der Specht, »ich habe schon dieselben Beobachtungen
-gemacht. Aber sehen Sie einmal da -- die Spinne!« An einem trockenen
-Zweiglein hängt eine große Spinne, eifrig beschäftigt, silberglänzende
-Fäden zu einem kunstvollen Netz zu verweben.
-
-»Was machen Sie denn da, Verehrteste?« fragt der Specht, als der
-Zudringlichste; denn die Blauvögelein haben etwas Schüchternes, sie
-mischen sich nicht gern in anderer Leute Angelegenheiten und sind nicht
-weltgewandt wie der Herr Gelbspecht.
-
-»Ich spinne,« sagt die Spinne ernsthaft.
-
-»Ja, das sehen wir,« entgegnete der Specht, »aber, meine Gnädigste, was
-spinnen Sie?«
-
-»Ein Netz,« sagt die Spinne.
-
-Die Blauvögel stoßen ein leises, glucksendes Lachen aus, und der Specht
-hämmert entrüstet gegen den Baum.
-
-Jetzt schlingt die Spinne einen letzten Knoten und krabbelt langbeinig
-davon: »Es muß fertig werden zur Ausstellung, die wird heute Abend
-eröffnet,« ruft sie zurück.
-
-»Ausstellung?« fragen die poetisch-unwissenden Blauvögel und schlagen
-verwundert mit den Flügeln. »Von was? Wozu? Davon haben wir noch nie
-etwas gehört.«
-
-»Ja, das glaube ich,« lächelt der Specht mitleidig, »Ihr schwebt
-ja immer in den Lüften und schwärmt für Sonnenuntergänge, düstere
-Waldpartien mit Lichteffekten und dergleichen Humbug. Ich weiß wohl, das
-Getier da unten auf der Erde hält eine Weltausstellung --«
-
-»O, da laßt uns hingehen,« jubeln die Blauvögel. »Aber wo ist sie
-denn?«
-
-In der Nähe erhebt sich plötzlich ein nimmer endenwollendes Geschrei,
-Gekrächze, Gejohle --
-
-Der Specht wiegt überlegend sein gelbes Köpfchen: »Wißt Ihr was? Wir
-wollen die Schwarzvögel fragen -- die wissen alles! Hört, wie sie
-reden und schnattern? Die haben wieder Kaffeegesellschaft oder Loge oder
-Gesangverein -- die ganze Eiche dort ist ja schwarz von lauter Staarherren
-und Damen, und wenn ihre Sitzungen vorüber sind, wissen sie alles, was im
-ganzen Walde passiert ist: wie viele Kinder die Madame Maus das letzte Mal
-zur Welt gebracht hat, und wie es auf dem Grashüpferball hergegangen ist,
-daß sie im Eichhörnchenturnverein sich fast geprügelt haben bei der
-Sprecherwahl und daß der Gesangverein der Locusts sich geeinigt -- --«
-
-»Gibt's nicht, gibt's nicht! Nee, so blau,« piepst ein unverschämter
-Spatz und fliegt dem Specht dicht vor dem Schnabel her in den nächsten
-Baum.
-
-Der aber beachtet den naseweisen Gesellen gar nicht und spricht ruhig
-weiter.
-
-»Ach, hören Sie auf, bitte, Herr Specht,« rufen die Blauvögel, »das
-ist ja wie ein ›Eingesandt‹ in der Zeitung!«
-
-»Aber Kaffernreligion,« lacht der Specht.
-
-»Seht, da kommt Ihr Bruder -- »Ober-Edel-Erz« angeflogen! Halt, den
-wollen wir uns kaufen!«
-
-»Oh, Herr Staar, wollen Sie nicht die Güte haben, sich hier ein wenig auf
-diesen bequemen Baum zu bemühen?«
-
-»Man muß immer höflich sein mit den Leuten, wenn man etwas von ihnen
-will,« flüstert der Schlaue den simplen Blauvögelchen zu, die vor
-Erstaunen den Schnabel aufsperren.
-
-Der Staar krächzt freundlich der Bitte Gewährung, läßt sich auf einem
-Ast etwas erhöht über den andern Vögeln nieder, wirft den Kopf in
-den Nacken und dreht und wendet sich, daß seine roten und gelben
-Logenabzeichen auf den Schultern in der Sonne schillern. Nachdem die
-Vorstellung glücklich vorübergegangen ist, bei der der Herr Staar
-herablassend den spitzen Schnabel gesenkt und die Blauvögelchen verlegen
-die niedlichen Köpfchen geduckt haben, erkundigt sich der Gelbspecht in
-den gewähltesten Ausdrücken nach der internationalen Ausstellung.
-
-»Jawohl, jawohl,« entgegnete Herr Staar würdevoll, »heute Abend ist
-Eröffnung. Es soll ja etwas Großartiges werden.
-
-Sehen Sie, meine verehrten Zuhörer, es geht ein neuer Zug durch den
-ganzen, alten Schlendrian, namentlich was Kunst anbelangt. Ich bin
-ein weitgereister Mann, ich höre und sehe mancherlei. Ein krankhaftes
-Verlangen nach etwas Neuem, Sensationellem, ein Hunger nach Aufregung, nach
-Vernichtung des Alten, Hergebrachten, zieht durch die ganze Welt. Und wenn
-sie auch auf Abwege geraten, in Irrtümer verfallen, das Falsche dem
-Wahren vorziehen -- es ist doch alles nur der durch Jahrtausende immer
-wiederkehrende und immer bleibende, große, unersättliche Durst nach
--- Freiheit, der Angstschrei der Völker, der zum stillen, hohen Himmel
-dringt. Und das macht sich auch in der Kunst bemerkbar -- -- ob zu ihrem
-Nutzen und Frommen? Und in der Musik, ja, in der Musik --« hier räuspert
-sich der Staar und blickt gen Himmel -- »ja, auch in der Musik gellt und
-dröhnt und paukt und trompetet jener Freiheitsschrei in die Lüfte, die
-Ohren der Zuhörer mächtig mit sich fortreißend. -- Nein, das geht
-ja nicht. Ich -- ich -- ich lasse mich immer so von meinen Gefühlen
-überwältigen, meine Lieben -- und« -- Ja, da bleibt der gebildete Staar
-stecken. Mit Gesichtern voll Ehrfurcht und inniger Verständnislosigkeit
-haben unsere Blauvögel die lange Rede angehört, während der Gelbspecht
-mit philosophischer Gelassenheit äußert: »Das mag alles recht schön und
-ersprießlich sein, verehrter Redner, aber so lange wie es genug Mücken
-und Fliegen in der Luft gibt und wie ich nach Herzenslust an den Bäumen
-herumhämmern kann, ist mir die ganze Wirtschaft furchtbar egal und um den
-allgemeinen Freiheitsdrang kümmere sich der Kuckuck!
-
-Vorläufig wollen wir aber einmal diese merkwürdige Ausstellung ansehen,
-wenn Sie, verehrter Herr Staar, uns gütigst führen wollen.«
-
-»Ja, ja,« rufen die Blauvögel und schlagen mit den Flügeln, und
-
-»Hier hinein, ins Tannendickicht, liebe Leute,« belehrt sie der Staar.
-Und dann fliegen alle vier davon. Der Zweig über'm Bächlein nickt
-gedankenverloren auf und ab, und das Bächlein murmelt und kichert dazu.
-
-Drinnen im Tannendickicht herrscht schon reges Leben, die Ausstellung
-scheint im vollen Gange zu sein. Ein geschniegeltes Mäuseherrchen, den
-Schnurrbart gewichst, die Oehrlein gespitzt, steht am Eingang als Portier.
-Der Eintritt ist frei -- wie nach Bellamy im Jahre 2000 bei den Menschen,
-gibt es im Tierstaate kein Geld -- und unsere vier Vögel flattern in das
-Dickicht.
-
-»Ah, guten Tag, Herr Mäuserich,« sagt der Staar, der alle Welt zu kennen
-scheint, »was macht die Frau Gemahlin? Hat sie sich vom letzten Wochenbett
-erholt?«
-
-»Schönen Dank, bester Herr Staar,« entgegnete der glückliche
-Mäusepapa, »alle zwölf wohlauf, aber es ist 'ne Last, die lieben
-Kinderchen großzuziehen.«
-
-»Können Sie denn das nicht per Elektricität besorgen lassen? Heutzutage
-sollte doch alles möglich sein -- Eier ausbrüten -- Kleinigkeit!
-Warum nicht auch Kinderfüttern, Kinderprügeln, Kinderkriegen etc.?«
-Mittlerweile hüpften sie weiter durch die verschlungenen Wege des
-Tannendickichts. Zwar sind die Plätze einiger Nachzügler noch unbesetzt,
-Vieles ist nicht ganz vollendet, wie ein halbfertiger Maulwurfshaufen
-z. B., ein Sprungbrett, eine angefangene Wendeltreppe für Eichhörnchen,
-ein prachtvoller Bau mit geheimnisvollen, unterirdischen Gängen, in
-welchen Kaninchen noch eifrig beschäftigt sind, zu graben, und dergl.
-mehr, aber im Ganzen scheint die Sache recht gelungen zu sein.
-
-Zwei wohlgenährte, etwas verschwiemelt aussehende Ratten, kleine Knüppel
-in der Hand, Mützchen von im Wald gefundenem blauem Butterbrotspapier
-über den dicken Nasen, eine weiße Sternblume auf der Brust befestigt,
-marschieren würdevoll und bedächtig als heilige Wächter der Ordnung oder
-Wächter der heiligen Ordnung umher. Und es ist auch nötig: das schwirrt
-und summt und brummt durcheinander, und hüpft und tanzt und zirpt, daß
-es wahrhaftig einer energischen Rattenpolizei bedarf, um das leichtfüßige
-Gesindel in Ordnung zu halten. Doch vor unserer Vogelgesellschaft bezeigen
-die Tierlein großen Respekt; sie halten sich in gewisser Entfernung
-und verneigen sich achtungsvoll, sobald ein Blick aus Vogelaugen auf sie
-fällt. Nur ein großer Hirschkäfer mit stattlichem Geweih nähert sich
-mit höflich-gemessener Verbeugung und bietet sich den hohen Herrschaften
-als Führer an, was mit Dank angenommen wird.
-
-»Sehen Sie, meine Hochverehrten, hier unser Kunstdepartement. Alles neu,
-noch nie dagewesen. Sehen Sie, dies Spinnengewebe« -- die langbeinige
-Spinne, die es vorhin so eilig hatte, steht daneben und begrüßt sie
-mit einem Auskratzen ihrer langen Spinnenbeine -- »wie fein, wie zart,
-geschickt die Fäden verknüpft! Und die fette, zappelnde Fliege darin,
-jeden Tag wird eine frische gefangen und hineingesetzt -- das nenne ich
-Naturalismus.
-
-»Schrecken der Hinterlist« ist es betitelt.
-
-Hier die noch lebende, schwer am Licht verbrannte Motte -- »Schrecken der
-Aufklärungssucht«.
-
-Jener Schmetterling, dem eine rauhe Menschenhand den Duft von den zarten
-Flügeln gewischt, nun kann er nicht mehr fliegen -- »Schrecken des
-Freiheitsdranges«. Ach, und noch so vieles Traurig-Schauderhaft-Schöne!
-Sehen Sie, die von Ameisen abgenagte Drosselleiche« -- die Vögel
-schütteln sich und machen unangenehme Gesichter -- »und der glänzend
-reine Katzenschädel« -- die Vögel nicken befriedigt mit den Köpfen, und
-der Gelbspecht macht eine Bewegung, als wolle er die leeren Augenhöhlen
-auspicken -- »wirklich eine recht sinnige Zusammenstellung.
-
-Bitte, blicken Sie hierher -- lauter Raritäten -- da, das so natürliche
-Loch in der Erde, hier eine kleine Blätterhütte, ein Einsiedler-Heimchen
-wohnt darin und zirpt bescheiden für sich allein, dort jene sorgfältig
-getrockneten Heuschreckenleichen, eine Reminiscenz aus dem großen
-Heuschrecken-Grashüpferkrieg. -- Und hier, bitte, sehen Sie einmal durch
-dies Loch im Tannendickicht -- nicht wahr, ein reizendes Panorama: im
-Hintergrund die Wolken als Schneeberge, davor ein einsamer, schwebender
-Rabe -- großartig, nicht wahr?«
-
-»Aeußerst großartig,« meint der Specht, »aber was stellt es vor?«
-
-»Es ist auch ein Kriegsbild: Eine vergessene Heuschreckenleiche!« (Frei
-nach Wereschagin.)
-
-Die Vögel sehen sich erstaunt unter einander an, suchen die Leiche und
-erklären, nun einmal etwas Anderes sehen zu wollen. Das gibt es ja auch
-in Hülle und Fülle für jede Geschmacksrichtung. Hier, ein Eiffelturm
-aus Eicheln, ein Eichhörnchen sitzt oben drauf, zeigt auf Kommando sein
-buschiges Schwänzchen und knackt Nüsse zur allgemeinen Belustigung,
-dazu marschieren allerliebste kleine Nagetierchen kauend durch die
-Zuschauermenge und bieten goldgelben Harz-Chewing-Gum als Erfrischung
-an. Da ist eine Grotte aus kleinen Tropfsteinen und Tannenzapfen,
-geheimnisvolles Dämmerlicht; einige Glühlichtwürmchen leuchten dazu,
-auf grauen, trockenen Blättern und Gräsern sind vorgestrige
-Regentropfen gesammelt, die schimmern wie Wasserfluten, und ein schlankes
-Grillenfräulein, die Grillenbeine mit Schleiern aus glänzendem,
-flatterndem Altweibersommer bewickelt, als Fischschwanz, bewegt sich
-rhythmisch hin und her und fährt mit den langen Vorderbeinen sich graziös
-über den Kopf, als kämme sie sich.
-
-»Was macht die da drinnen?« fragt der eine Blauvogel neugierig, während
-der andere starr vor Erstaunen dasteht.
-
-»Ich bin unten Melusine und oben Loreley,« sagt das Grillenfräulein,
-»denn ich habe einen Fischschwanz und kämme dazu mein goldenes Haar.«
-
-»Ja so,« sagt der Specht.
-
-Dicht daneben tanzen ein paar Grashüpferdamen Ballett auf einer Schaukel
-von Grashalmen, und springen so hoch, daß man sie kaum noch sehen kann,
-während auf der andern Seite ein paar Mäusejünglinge in grauen Tricots
-mit aus Nußschalen gedrechselten Bällen auf kunstgerechte Weise Baseball
-spielen.
-
-Dieser ganze Wirrwarr, der Lärm und das Getöse, dies Hin und Her,
-wirkt ungeheuer ermüdend auf die Nerven ungeübter Zuschauer, und unsere
-Blauvögel piepsen und flüstern miteinander, und fühlen sich recht
-ungemütlich.
-
-»Musik, meine Herrschaften, hören Sie unsere allermodernsten Vorträge,«
-ruft jetzt der Hirschkäfer. Alles stürzt nach einem hübsch mit
-Tannennadeln bestreuten freien Platz. Auf einem Tannenzapfen steht
-erhobenen Armes eine große Locuste, so eifrig gestikulierend, daß ihr die
-Augen vor den Kopf treten; und um sie her scharen sich allerlei musikalisch
-beanlagte Tiere. Nun gibt der Herr Kapellmeister das Zeichen, indem er
-seine Fühlhörner weit ausstreckt, und das Konzert braust durch das
-Tannendickicht. Sämtliche Grillen des Waldes zirpen so laut sie können,
-dazu schnarren die Locusts, pfeifen die Mücken, brummen die Käfer
-aller Art; die Kaninchen gebrauchen kräftig ihre Trommelstöcke -- ein
-Höllenlärm!
-
-»Ist das nicht herrlich?« fragt der Hirschkäfer unsere Vögel.
-
-»Sehr schön,« entgegnete der Gelbspecht, »nur etwas unverständlich.«
-Der Staar macht ein sehr gebildetes Gesicht, und die Blauvögel meinen
-schüchtern:
-
-»Es ist aber recht eintönig, und immer so dudelig.«
-
-»Das ist ja gerade das Schöne,« sagt stolz Kapellmeister Locuste,
-»sehen Sie, wie gut Sie es verstanden haben? Es war unsere Nationalhymne
--- der Moskito-Doodle!«
-
-Den Blauvögeln kam die Sache immer problematischer vor, und als vollends
-der Herr Mistkäfer mit der ganzen Familie auf sie zukommt und sie
-freundlich auch mit dem Nützlichen der Ausstellung bekannt machen will
--- die verschiedenen Blätterpräparate, wie Regenmäntel, Schirme und
-schützende Laubdächer und Haushaltungsgegenstände aller Art; ferner
-Delikatessen: Tauwein über Grashalme abgezogen, dazu Konfekt mit dem
-kuriosen Namen Fliegendreck, Misthäufchen, Schneckengelee etc. -- da
-fliegen unsere Blauvögel entsetzt kerzengerade in die Höhe und davon, und
-auch der Herr Staar, trotz seiner Gleichheitsideen, meint: »es wäre doch
-recht gemischte Gesellschaft, und überhaupt vertrüge sich die Heiterkeit
-dieser Ausstellung nicht mit seiner ernsten Geistesrichtung,« während
-Herr Gelbspecht übermütig erklärt:
-
-»Nein, mir gefällt es hier famos! Ich will erst den ganzen Schwindel
-sehen, und wenn mir die dicke, fette Fliege da morgen im Sonnenschein
-begegnet, so fresse ich sie auf vor lauter Liebe.«
-
-Hoch oben auf einer Berghöhe, von wo man weit über Baum und Strauch
-hinüberblickt -- dahin haben sich die Blauvögelein geflüchtet, und der
-Staar gesellt sich zu ihnen, weil er just nichts Besseres zu thun hat.
-Außerdem hält er die Blauvögel für recht belehrungsbedürftige Wesen,
-denen eine kleine Pauke über »die langsam sich vollziehende Umwälzung
-der Weltordnung« gar nichts schaden kann.
-
-Aber unsere blauen Waldvögelein werden hier oben in der Einsamkeit
-selber so beredt, daß dem wohlmeinenden Staar nichts übrig bleibt, als
-zuzuhören.
-
-»Blick' um Dich,« singen sie, »das ist unsere Ausstellung, das ist
-unsere Freude und die Freude der ganzen Welt. Sieh', wie die bunten
-Blätter die Bäume schmücken, wie die glührote Weinranke die dunkle
-Tanne zärtlich umfängt. Horch! _Unser_ Konzert! Wie das rauscht und
-flüstert in den Zweigen, wie der stürmische Herbstwind in den Blättern
-tost, und sieh', wie der schönfarbige Schmetterling die geliebten
-Herbstblumen umgaukelt! Und blick' um Dich: die Sonne geht zur Rüste, sie
-glüht und leuchtet noch einmal und dann sinkt sie in ihr zartes, graues
-Wolkenbett und vergoldet es mit ihrem Schein, und ein strahlender Rand
-zieht sich um die seltsamen Wolkengebilde. Ist das nicht schön? Ist das
-nicht herrlich!
-
-Und horch! da unter uns am Fuß des Baumes -- das sind Menschen! Ein
-seltsam Geschlecht -- kluge Gedanken und weiche Herzen -- Ich liebe sie,
-wenn sie zu Zweien im Walde wandern, wie diese hier. Hör', was sagen
-sie?« -- Ja, es sind Menschen -- ein Mann und ein Weib. Und durch des
-Mannes dunkles Haar ziehen sich Silberfäden, und auf des Weibes glatter
-Stirn hat das Leben zarte Furchen gezogen. --
-
-»Sieh', liebes Weib,« sagte der Mann, »diese frühen Herbstblätter
-in dem grünen Wald erinnern mich an meine weißen Haare, an Deine ersten
-Falten auf der Stirn. Ach, Kind, spät ist's schon im Leben, und jetzt erst
-lernen wir das Glück kennen!«
-
-»Liebster,« entgegnet sie, »sieh', wie die Sonne strahlend und
-liebkosend über die Baumstämme gleitet, wie alles noch einmal in voller
-Pracht glänzt, glüht und leuchtet -- zum letztenmal, ehe es Winter wird.
-So freuen wir uns jetzt noch einmal des Glückes und der Liebe, ehe _unser_
-Winter kommt. Liebster, wie schön ist die Welt und das Leben!«
-
-Da zieht der Mann das holde, ernste Weib an sein Herz und küßt die Falten
-auf der blassen Stirn, und das Gesicht des Weibes glüht und blüht nun,
-wie die Rose in ihrem Lebensfrühling.
-
-Sie sehen hinüber, bis die Sonne verlischt. -- Und die Vöglein lauschen,
-und der Staar meint:
-
-»Die verlangt's auch nicht nach Veränderung, und die denken auch, gerade
-wie ihr dummen, kleinen Dinger, das Leben sei doch schön. Merkwürdig! Und
-die Welt soll doch so schlecht sein, sagen sie im Verein für Freiheit und
-sittlichen Umsturz. Was ist nun wahr? Darüber muß ich auf einem einsamen
-Eichenwipfel etwas näher nachdenken.«
-
-Er spreizt seine dekorierten Flügel und fliegt von dannen. Blauvöglein
-aber locken in den Abend hinein und setzen sich dicht nebeneinander auf
-einen Zweig und plustern sich und träumen. Die sanfte Nacht kommt gezogen
-und breitet ihre schwarzen Fittiche lind über die müde Erde -- -- über
-selige, herbstliche Menschenkinder, über plusternde Blauvögelein und
-melancholische Staare -- ja, und über all das kriechende, sich duckende,
-hochmütige, aberwitzige Volk und den weltklugen Gelbspecht in der
-Weltausstellung im Tannendickicht. --
-
-
-
-
-Das Märchen von Einem, der auszog, ein Sonntagskind zu werden.
-
-
-Die braune Drossel saß auf einem hohen Baume im Garten und zwitscherte:
-»Es ist Sonntag heute. Der Sonntag sitzt mitten im Frühling und hat eine
-Krone von Blüten auf dem Haupte, und --«
-
-Weiter konnte man nichts hören, denn die Sperlinge, denen die Drossel das
-erzählte, piepsten und schrieen und zankten so durcheinander, daß die
-Drossel auf und davon flog. Was ging es auch die Stadtspatzen an, was die
-Walddrossel zu erzählen hatte!
-
-Die bleiche Frau Sehnsucht aber stand am geöffneten Fenster ihres Hauses
-und sah der Drossel nach. »Ach,« seufzte sie, »wer doch ein Sonntagskind
-wäre und verstehen könnte, was die Vögel singen! Ach, und wenn nur das
-Kind, das ich gebären werde, ein Sonntagskind würde, dann wollte ich gern
-glücklich und zufrieden sein.«
-
-Als aber ihre schwere Stunde kam, da war der lachende Sonntag noch nicht
-aufgestanden, und der stille Sonnabend lehnte noch an der kleinen Wiege mit
-großen, müden Augen. Er legte eine kühle Hand auf die Stirn des kleinen,
-roten, zappelnden Dinges, das mit geballten Fäustchen unter dem Deckchen
-herumarbeitete und mit Zornesfalten im Gesicht in die Welt hinausschrie.
-
-»Nur eine Viertelstunde zu früh,« seufzte die blasse Frau Sehnsucht, und
-zwei heiße Thränen fielen auf die geschlossenen Augen des Bübchens in
-ihrem Arm.
-
-Der kleine Bursche aber wuchs kräftig heran und wurde so stark, daß die
-ungezogenen Buben in der Nachbarschaft ihm gern aus dem Wege schlichen.
-Er stand an seiner Mutter Knie gelehnt und lauschte mit leuchtenden,
-wundersamen Augen, wenn sie von den Sonntagskindern erzählte, wie sie gar
-so klug sind und wissen, wie die Welt geht, und verstehen, was die Tiere
-sprechen, und wie sie den Wolkenflug deuten können. -- »Warum kann ich
-nicht jetzt noch ein Sonntagskind werden?« rief er zornig. Dann sprang er
-hinaus in den Garten und legte das Ohr auf die Erde, ob er nicht das Gras
-wachsen höre, wie ein richtiges Sonntagskind. Er hörte wohl ein zartes,
-leises Murmeln, aber ob es nicht die kleinen Käfer und Ameisen waren, die
-da raschelten, das wußte er nicht zu sagen. Er stand unter den Bäumen und
-hörte zu, was die Vögel sangen; es war ihm, als verstände er einzelne
-Worte, wie Sonnenschein, Glück, Blütenduft; aber er war doch nicht
-sicher, ob es ihm nicht sein eigenes Herz zugeflüstert hatte. Und weinend
-lief er hin zu seiner Mutter und trotzte: »Ich will doch ein Sonntagskind
-werden!«
-
-»Der Sonnabend leidet's nicht,« sagte Frau Sehnsucht traurig. »Und es
-war doch nur eine Viertelstunde!«
-
-»Es muß in den Büchern stehen,« sagte der Knabe, als er in die
-Schule ging. Und er lernte alles, was in den Büchern stand und wurde ein
-berühmter Mann. Von weit, weit her kamen die Menschen nach dem kleinen
-Häuschen der Frau Sehnsucht und wollten von dem jungen Gesellen Antwort
-haben auf ihre neugierigen Fragen, und er sagte ihnen alles. Aber insgeheim
-glaubte er selber nicht an das, was er ihnen so gelehrt auseinandersetzte;
-hatte er doch in keinem Buche Bescheid auf seine einzige Frage erhalten:
-Wie er es anfangen könne, ein Sonntagskind zu werden? -- Als nun eines
-Tages wieder einmal ein paar kluge Professoren kamen, die aber doch nicht
-so klug waren, wie er, und die spitzigen Zeigefinger an die spitzigen Nasen
-legten, und ihm die wichtige Frage stellten: Wie kommt es, daß der
-Mensch die Nase mitten im Gesicht hat? -- da fielen dem Gesellen seine
-Riesenkräfte ein. Er warf die Professoren mitsamt der ganzen Universität
-zur Thür hinaus, reckte und streckte sich einmal, that einen tüchtigen
-Jauchzer und sagte zur Frau Sehnsucht:
-
-»Mutter, jetzt ziehe ich in die Welt hinaus, dem Sonntag nach, und komme
-nicht eher wieder, bis ich ihn eingeholt habe.«
-
-Frau Sehnsucht legte ihre weißen Hände auf sein lockiges Haupt und
-küßte ihn. Dann schloß sie die schönen, traurigen Augen für immer.
-
-Der Geselle aber zog in die Welt hinaus. Er sah die goldene Sonne am Himmel
-stehen und er sagte: »O Sonne, güldene Sonne du -- ich suche, suche immer
-zu. Zeig mir den Weg, wohin ich geh', o Sonne, güldene Sonne du!« Aber
-die Sonne lachte ihn aus und antwortete nicht und ging weiter, immer
-weiter, bis er sie zuletzt gar nicht mehr sehen konnte. Da kam er in einen
-großen Wald, darin reichten die Bäume bis in den Himmel, seltsam große
-Blumen standen am Wege und sahen ihn an, und bunte Vögel flogen sprechend
-von einem Ast zum andern.
-
-»Sagt mir's, ihr Bäume, duftet, Blumen, rauscht mir's, ihr Winde,
-murmelt, ihr Quellen -- wie fange ich es an, daß ich ein Sonntagskind
-werde?« rief der Geselle.
-
-Da kicherte und lachte es an allen Ecken und Enden. Schelmische
-Mädchengesichter tauchten aus den Kelchen der seltsamen Blumen empor und
-nickten ihm lächelnd zu. An den Schlinggewächsen turnten winzige nackte
-Engelsbübchen, die warfen mit duftenden Blütenblättern nach ihm, und
-ein Rauschen und Raunen zog durch den ganzen Wald, daß der Geselle gewiß
-alles erfahren hätte, was er wissen wollte, wenn er nur eine Viertelstunde
-später auf die Welt gekommen wäre. Zuweilen war es ihm wieder, als
-verstände er ein paar Worte, und horch! klang's nicht im Windesrauschen,
-wie: Bis an's Ende der Welt? Kopfschüttelnd ging der Geselle weiter.
-
-Da wurde mit einemmal der Wald hell und licht; das kam von einem schönen
-Stern, der fiel vom Himmel nieder, und sieh' -- der Stern nahm Gestalt
-an, so schön und sanft wie die Mutter ausgesehen hatte, und seine Augen
-strahlten still und traurig, wie die der Frau Sehnsucht. Die schöne
-Sternenfrau aber sprach: »Ich will dir Antwort auf deine Frage geben. Gehe
-weiter, immer weiter, bis du ans Ende der Welt kommst. Dort wirst du den
-Baum der Erkenntnis finden. Wenn du von diesem ein Blatt brichst, dann
-wirst du erfahren, was du wissen willst. Aber spute dich! der Weg ist
-weit.«
-
-Der Stern stieg langsam auf gen Himmel, es wurde immer lichter, der Wald
-verschwand und der Geselle stand ganz allein auf einer großen Heide, über
-die der Wind pfiff.
-
-»Bis ans Ende der Welt? -- da kann ich meine Füße in die Hand nehmen,
-wenn ich noch ankommen will,« sagte er und wanderte fürbaß. Weil's ihm
-aber einsam am Wege war, sang er sich das Liedel von dem andern Gesellen:
-
- »Ein fahrender Geselle durchzog die weite Welt,
- Zu suchen nach der Stelle, wo's immer ihm gefällt.
-
- Doch nimmer mocht er rasten, und nirgend fand er Ruh,
- Ihn trieb's zum Weiterhasten, nur weiter! immer zu!
-
- Er hatte durchstudieret den ganzen Bücherwust,
- Mit Wissen ausstaffieret das Herz in seiner Brust --
-
- Da fluchte er dem Buche, sah an es nimmermehr:
- Das ist's nicht, was ich suche! Das Glück, das Glück gebt her!
-
- Und kommt er in das Städtchen und winkt ihm aus dem Thor
- Das liebe braune Mädchen mit Schelmenaug' hervor --
-
- Laß küssen dich, du Feine! -- Schaut ihr ins Angesicht;
- Du bist's nicht, die ich meine! -- er da voll Trauer spricht.
-
- Da ward aus dem Scholaren ein flotter Kriegersmann,
- Auch lernt er mit den Jahren, daß man sich bücken kann,
-
- Und fromme Verse schmieden von Freiheit und von Blut,
- Und vor dem Bürgerfrieden voll Ehrfurcht zieh'n den Hut.
-
- Doch alles wollt nicht frommen, was er sich auch erdacht.
- Das Glück wollt ihm nicht kommen -- hörst, wie's von Ferne lacht?
-
- Da ward aus ihm ein Zecher, der zecht' von früh bis spat,
- Bis ihm der leere Becher vom Munde sinken that.
-
- Lag denn das Glück im Weine? -- Der heilte allen Gram.
- Doch weh -- auch nur zum Scheine, nur bis der Morgen kam;
-
- In seinem grauen Schimmer, wie lag so leer die Welt! --
- Die Nacht verheißt uns immer, was nie der Morgen hält.«
-
-Als der Geselle sein Liedlein ausgepfiffen hatte, da führte ihn der Weg an
-einem Königreich vorbei, und weil die Thür bloß eingeklinkt war, ging er
-hinein. Die alte Reichsmauer wackelte hin und her, als er eintrat, und das
-Thürschloß behielt er gar in der Hand, so morsch war der Griff. In dem
-Königreich saß der König auf einem Throne, der wackelte, und hatte eine
-Krone auf dem alten, wackligen Haupt, die wackelte auch. Die Räte um ihn
-her hatten kleine Zöpfchen im Nacken, die wackelten, und die Räte selber
-wackelten, und das ganze Königreich wackelte. Und weil nun alles so
-wacklig war, da nahm der Geselle sein Bein und gab der ganzen Wackelei
-einen Tritt; da fiel alles um, und der Geselle sah lachend zu, wie der
-König und die Krone und die Räte mit ihren Zöpfen und das ganze morsche
-Königreich durcheinander purzelten. Des Königs schöne Tochter aber fing
-er in seinen Armen auf; doch als er sie küssen wollte, da welkte sie hin
-und lag tot an seiner Brust. Ihre Seele verwandelte sich in einen schönen
-weißen Vogel, der kreiste über des Gesellen Haupt und sang ihm zu:
-
- »Weil' nicht am Wege,
- Er ist noch weit;
- Noch ist die neue, die selige Zeit,
- Noch ist sie nimmer geboren.«
-
-Als der Geselle nun weiter ging, kam er an eine große, große Stadt,
-darin war eitel Freude und Lustigkeit, das ganze Volk tanzte und sprang
-und geberdete sich wie toll. In den Moscheen, Kirchen, Freiheitstempeln
-läuteten die Glocken und große Götzen saßen darin, die machten mit
-schrecklichen Grimassen die Mäuler auf, und dann warf das Volk alles
-Schöne und Gute den Götzen in den Schlund, und das Häßliche und Gemeine
-stand grinsend auf den Schultern der Götzen, und das Volk jubelte ihm zu.
--- Da faßte den Gesellen ein grimmer Zorn, er hob sein gutes Schwert und
-schlug zu, und schlug den Götzen die Köpfe ab. Aus den Rümpfen stieg ein
-starker, grauer Dunst auf, wie eine Weihrauchwolke, der lagerte sich hin
-über die Stadt und erstickte all das lärmende Volk, daß es tot dalag.
-Ueber der Nebelwolke aber schwebte ein neuer, schöner, weißer Vogel und
-gesellte sich dem andern zu; sie umkreisten den Gesellen und sangen ihm zu:
-
- »Weil' nicht am Wege,
- Er ist noch weit;
- Noch ist die neue, die selige Zeit,
- Noch ist sie nimmer geboren.«
-
-Als der Geselle nun weiter ging, kam er an einen hohen, hohen Berg, darauf
-wimmelte es von Menschen. »Ist hier das Ende der Welt?« fragte er.
-»Was?« riefen sie ihm von der Spitze des Berges zu, »das Ende der
-Welt? Bewahre! Hier fängt die Welt erst an!« -- Als nun der Geselle oben
-angekommen war, sah er, daß all' die Menschen ihr eigenes Ich genommen und
-es vor sich hingestellt hatten; und nun drehten sich die Körper um das Ich
-in der Runde und sangen feierliche Weisen und beteten es an. »Siehst du,«
-riefen sie ihm zu, »das ist es, was du suchst. Wir sind die Welt, wir sind
-das All, wir, unser eigenstes Ich. Wir wissen alles, wir können alles, wir
-lieben uns, wir beten uns an.« -- Voll Verwunderung stand der Geselle und
-sah dem seltsamen Treiben zu. »Aber wie könnt ihr denn leben, wenn ihr
-euer eigenes Ich aus euch herausgenommen habt?« -- »Wir zehren von seinem
-Anblick, er ist uns Nahrung, Luft und Licht. Wenn wir unser Ich ansehen,
-werden wir so von seiner Größe und Erhabenheit durchdrungen, daß wir
-unsere körperlichen Beine aufheben und tanzen müssen, und dann schreien
-wir von diesem hohen Berge das Heil des Ichs in die Welt unter uns hinaus,
-damit auch sie daran glaube und selig werde.«
-
-Da faßte den Gesellen, als er ihre seelenlosen Köpfe und verdrehten
-Glieder sah, ein ungeheurer Ekel. Er nahm seine starken Fäuste und
-schleuderte einen der tanzenden Körper nach dem andern in die Tiefe, und
-wenn sie gegen die Felsblöcke, die am Fuße des Berges lagen, anprallten,
-dann platzten sie mit einem Knall, wie ein aufgeblasener Pilz im Walde, auf
-den du unversehens trittst. »Jetzt spiele ich Kegel mit den Püstern!«
-sagte der Geselle. -- Dann nahm er alle die angebeteten Ichs, die entseelt
-zu Boden gesunken waren, schichtete sie aufeinander, wie einen Holzstoß,
-und zündete sie an, daß die rote Lohe weithin in die Welt schien. Aus den
-Flammen aber flog wieder ein schöner, weißer Vogel -- denn aus allem, was
-zu Grunde geht, wächst doch noch ein Schönes -- und er gesellte sich
-zu den andern, und sie umkreisten ihn. Aber sie sangen nicht mehr, ihr
-Flügelschlag wurde immer lautloser. Und doch war es dem Gesellen, als
-trieben diese weichen Flügel ihn weiter, hin über trotzige Felsblöcke,
-an denen sich seine Füße blutig stießen, über weite gefrorene Seen,
-über denen er hinglitt wie über einen Spiegel. Er wußte nicht mehr,
-ob er schon lange gewandert sei oder eben erst die schlanke, kühle Hand
-seiner Mutter, der Frau Sehnsucht, auf seiner Stirn gefühlt hatte. Er
-wußte nur noch, daß er weiter, immer weiter getrieben wurde. Endlich sank
-er erschöpft zu Boden. Als er die Augen öffnete, lag er auf einer weiten
-Ebene. Schöne Tiere traten an ihn heran und betrachteten ihn mit stillen,
-klaren Augen; aber sie waren stumm. Vögel schwebten über ihn hin; aber
-sie sangen nicht. Blumen blühten an glänzenden Bächen, aber das Wasser
-murmelte nicht; der Wind, der durch die Zweige strich, rauschte nicht --
-es war tiefe, tiefe Stille. Lautlos flogen die drei weißen Vögel vor
-dem Gesellen her. -- In der Ferne, am Ende der Ebene, schwebte eine weiße
-Wolke. Als der Geselle näher kam, sah er, daß es tausend und aber tausend
-von ebensolchen großen, weißen Vögeln waren, wie die, die ihn begleitet
-hatten, und er dachte daran, wie viele Menschen wohl gleich ihm denselben
-Weg gemacht hatten, wie viel erst zertrümmert werden mußte, damit diese
-Wolke sich hatte bilden können. Die weißen Vögel umkreisten leise, leise
-einen starken, grünen Baum, dessen viele Zweige gingen auf und nieder
-zwischen Erd' und Himmel. Der Baum blühte nicht und trug keine Früchte,
-er hatte nur unzählige grüne, kraftstrotzende Blätter. Die drei weißen
-Vögel aber, die den Gesellen begleitet hatten, mischten sich unter die
-andern, die in den Zweigen des Baumes nisteten, so daß er sie nicht mehr
-unterscheiden konnte. Und wie er so in der weißen Wolke stand, und der
-weiche Flügelschlag der schönen Vögel seine Stirn fächelte, da war es
-ihm, als höre er die Worte:
-
- »Weil' nicht am Wege,
- Nicht ist er mehr weit.
- Wir kreisen und hüten die kommende Zeit,
- Wir weben ihr reines, ihr glänzendes Kleid --
- Im Baum schläft sie sicher geborgen.«
-
-Da streckte der Geselle die Hand aus und brach eines der saftgrünen
-Blätter. Es fiel ein Tropfen, rot wie Blut, in seine Hand. Da zog sein
-ganzes Leben an ihm vorüber: er sah sich, wie er immer dem Sonntag
-nachgejagt war, alles andere darüber vergessend; er sah, wie er nicht die
-Welt und sie nicht ihn verstanden hatte, denn er war ja eine Viertelstunde
-zu früh geboren. Wie er auf das Blatt in seiner Hand hinschaute, lange,
-lange, da bleichte sein Haar, seine Stirn begann sich zu runzeln, sein
-starker Körper bog sich zur Erde. Aus dem Manne ward ein Greis, und nun
-wußte er, wann er den Sonntag einholen würde. -- Er sah auf und sah die
-weißen Vögel, die mit ihren stillen, großen Flügeln einen starken Wind
-erhoben; der wehte ihn fort, weit fort, den Weg zurück, den er gekommen
-war. Auf dem Berge glühte noch das Feuer, über der Stadt lag der Dunst,
-das zerfallene Königreich bröckelte am Wege -- er schaute nicht um
-danach. Er ging durch den dunklen Wald, darin die Bäume regungslos
-standen. Er ging und ging, bis er in das Stübchen kam, in dem Frau
-Sehnsucht die schönen, traurigen Augen für immer geschlossen hatte.
-Da setzte sich der greise Geselle ans Fenster und schaute in den Garten
-hinein.
-
-Auf dem Apfelbaum saß die braune Drossel und erzählte den Spatzen: »Es
-ist Sonntag heute. Der Sonntag sitzt mitten im Frühling und hat eine
-Blütenkrone auf dem lachenden Haupte, und die Blumen bringen ihm ihre
-Düfte, und die Winde tragen den Duft hin über die Stirnen der Kinder, die
-heute geboren werden.«
-
-Da nickte der Greis am Fenster und lächelte. Er schloß die Augen, und
-seine Seele zog vor des Sonntags Thron, damit sie als Duft auf die Stirn
-eines neugeborenen Sonntagkindes gelegt werde. -- Im Tode war der Geselle
-ein Sonntagskind geworden.
-
-»Es ist Sonntag!« sang die Drossel. »Das ist etwas ganz Alltägliches,«
-piepsten die Spatzen, »das passiert jede Woche einmal.«
-
-
-
-
-Rauch.
-
-
-Es war einmal ein kleiner Schmiedegeselle, der war es müde, immer am
-Amboß zu stehen und Gedanken zu hämmern. Er hätte gar zu gern gesehen,
-wie sich die Gedanken ausnahmen, noch ehe sie zum Schmiedematerial
-zusammengegossen waren. Eines Tages hatte er mit heller Lust ein paar
-kräftige Gedanken, die im Feuer glührot und geschmeidig geworden waren,
-zu ein paar starken Hufeisen zusammengeschweißt; die Funken sprühten,
-wenn man damit auf einen Stein schlug. Da klopfte ihm der große Meister
-auf die Schulter und sagte:
-
-»Geselle, geh' auf die Wanderschaft.«
-
-Und da zog er aus. -- Als er wegging, schien die Sonne hell, obwohl es
-mitten im Winter war; der Himmel hatte überall blaue Batzen auf die
-Wolkenlöcher gesetzt, und der Wind hatte dazu gefiedelt:
-
- Die Erde hat sich schlafen gelegt,
- Mit weißem Lailach zugedeckt,
- Der rasche Wind den Himmel fegt,
- Bis er die Sonne hat erweckt.
-
- Nun scheint sie hinunter auf den Schnee
- Und lacht hinweg ihn nach und nach:
- Wenn auch die Welt sich duckt in Weh;
- Sie wird doch einmal wieder wach.
-
- Dann jauchzt sie auf in grüner Lust,
- Hüllt sich in lauter Liebe ein --
- Und ahnend klingt's in deiner Brust:
- Im Winter ist es auch gut sein! --
-
-Als aber der kleine Schmiedegeselle ein Stücklein Wegs gegangen war, da
-sah er eine schwere dunkle Wolke in der Ferne schweben, und je näher er
-kam, desto trüber wurde es um ihn her, bis schließlich Himmel und
-Erde und die ganze Welt schmutzig aussah; und er sah, daß es ein ganzes
-Sammelsurium von Häusern war, das alles so finster machte. Die Häuser
-waren so hoch, daß sie die Wolken an den Fußsohlen kitzeln konnten.
-
-Der kleine Schmiedgeselle stand und guckte an so einem hohen Kasten in die
-Höhe:
-
-»Könnt ihr da oben durch die Wolken sehen?« fragte er, »und die Sonne
-auf der andern Seite scheinen sehen? -- Eia, das muß schön sein!«
-
-»Da, komm nur mit in das Loch hinein, kleiner Wurm,« sagte ein Mann neben
-ihm, schob ihn vor sich her, und schwupp! flogen sie in einem viereckigen
-kleinen Kasten so schnell himmelan, daß es dem Gesellen ganz übel wurde.
-
-Der Mann lachte spöttisch aus ein paar klugen Augen.
-
-»Ja früher,« sagte er, »wenn der Teufel einen armen Handwerksgesellen
-holte, da flogen sie miteinander auf schwarzen Gespensterflügeln in die
-Tiefe hinab. Wir machen das jetzt per Elektricität und fliegen himmelan.«
-
-Erschrocken sah das Gesellchen zur Seite, erblickte aber nur einen ganz
-einfachen Menschen, der ein ganz klein wenig hinkte. Nur seine Ohren waren
-so sonderbar lang und schmal; wenn er lachte, schienen sie sich zu spitzen,
-und er lachte so, daß der Schmiedegeselle mitlachen mußte, und das Ding,
-in dem sie saßen, vor Vergnügen in die Höhe sprang.
-
-Dann waren sie oben. Das war ein großes, flaches Dach mit Kieselsteinchen
-bedeckt, als ob sie drauf geregnet wären. Allerlei Verzierungen sprangen
-an den Ecken auf und auf zwei kleinen Säulchen saßen vergoldete Zierate,
-die sahen aus wie Champagnerpfropfen.
-
-»I, da schlag' doch der Teufel den Herrgott tot!« rief der Mann mit einem
-vergnügten Grinsen, »da hab' ich doch gedacht, ich könnte dem kleinen
-Wurm das ganze Riesentreibhaus auf einmal zeigen, und nebendran das
-große Wasser, in dem man eigentlich die nichtsnutzige Brut gleich wieder
-ersäufen sollte, nachdem man sie hervorgebracht hat -- und da -- nichts,
-aber auch rein gar nichts, als das wüste Gebrodel, das mein Vetter, der
-große Nebel, so erstaunlich schön herauszukriegen versteht. Er ist ein
-ganz gelungener Kerl, sage ich dir, und dabei ein Phantast, trotz seiner
-Schwere. Und unbeständig ist er, nirgends zu fassen. Der geht in einer
-Minute alle Ideen der Welt durch, um schließlich mit seinem grauen
-Einerlei platt über die ganze Erde hinzufallen, daß man drunter ersticken
-sollte. Uff! wie schwer er schon wieder herunterhängt. -- Und siehst du,
-mit einemmal reißt er sein langes Hemd in Fetzen entzwei und tanzt herum
-wie ein toller Bacchant. Zum Verzweifeln für einen feierlichen Kerl!«
-
-Dabei nahm er einen gespreizten Ton an, schob die linke Hand zwischen die
-Brustknöpfe seines Rockes und hob das Haupt mit einem idealischen Schwung.
-Als das Gesellchen ihn entsetzt ansah, schnitt er plötzlich allerlei
-Grimassen, liebkoste ein paar kleine, niedliche Bockshörnchen, die
-zwischen dem Kraushaar über der Stirn hervorwuchsen, und spitzte seine
-Faunsohren nach dem Wind. Nachdem er den kleinen Schmiedegesellen genügend
-verwirrt hatte, fing er an, ihm ernsthaft allerlei Erklärungen zu geben.
-
-»Sieh',« sagte er, »das ist der große Hexenkessel, Höllengebrodel, da
-werden alle die Gedanken ausgekocht von dem Menschenpack, das tief unten
-mit Beinen, Händen, Köpfen oder Magen schuftet; und die nehmen dann
-Gestalt an, und paß einmal auf, da aus den Tausenden von Schlöten fahren
-sie hinaus in den Nebel, der verschlingt sie, wird groß und stark daran,
-wächst und wächst bis einmal die Welt ein großer Gedanken-Nebel geworden
-ist. Dann kommt die Zeit für uns Faune, uns Satanskerle, Teufelsstricke,
-und wir ziehen gegen den Nebel zu Felde, gegen meinen großen Vetter --
-da kämpfen wir, das ewige, blühende, lachende Leben gegen die blassen,
-umnebelten und vernebelten Gedanken. -- Sieh', da fliegen sie --«
-
-Der kleine Schmiedegeselle hatte derweilen stumm in das graue Meer
-geschaut, drin es wogte und zerrte, drin die Schornsteine und Schlöte der
-vielen, vielen Häuser hineinragten und schwere Dampfwolken entsendeten,
-schwarze, dicke, schmierige, lichte, flinke, weiße oder rötlich
-scheinende, von den Flammen tief drunten, die zuweilen bis zum Kamin
-herausschlugen. Es sah aus, als ob die himmelhohen Häuser der Riesenstadt
-eigentlich ganz klein hoch in der Luft ständen, nur mit den großen
-Schlöten daran; als ob da unten auf der Straße eine ganz andere Welt sei,
-und nur ganz fern, fern, wie das Bienengesummse an einem Sommermittag am
-Kornfeld, drang das Getrappel, Gerolle, Getose herauf zu dem Dach, wo die
-Wolken mit ihren schweren Fittichen des kleinen Gesellen Haupt streiften.
-Der stand und schaute. Der wunderliche Mann saß neben ihm, deckte ein Bein
-mit dem andern und deutete mit dem langen, ausgestreckten Zeigefinger bald
-auf diesen, bald auf jenen Schornstein, und er grinste spöttisch dazu,
-oder lachte ingrimmig, oder seine Augen leuchteten, wie in stiller Wonne.
-So jetzt eben wieder.
-
-Da stieg aus einem schlanken Rauchfang ein silberweißes Rauchsäulchen
-auf, kräuselte sich lustig, ehe es im Nebel zerging, und auf dem
-schaumigen Gezausel tanzten putzige kleine Kerle mit runden Bäuchlein
-und weinroten Gesichtern, sie hatten Weinreben sich umwunden und lallten
-allerlei tolles Zeug und schrieen dem lächelnden Manne, Faun, Mephisto,
-was immer er sich nannte, ein jauchzendes ~Evoë Bacche!~
-
-Und sobald die einen im Nebel vergangen waren, wurden neue aus den Ringeln
-der Rauchsäule geboren, schöne und drollige, große und kleine, Männlein
-und Fräulein, und ob auch aus den Augen eines Alten ein ernstes Denken
-sprach, ob die weichen Glieder einer jungen Bacchantin im Wirbel sich
-drehten -- gleichsam aus ihnen heraus über die ganze Erde hin leuchtete,
-strahlte eine selige, mutige, weinduftende Begeisterung.
-
-Jetzt lachte der Geselle laut auf. Da hatten ein paar trunkene kleine
-Satyrn die Nebelfetzen zusammengeballt wie Schneebälle, schnitten wütende
-Gesichter nach einem andern Schlot hin, streckten denen, die da oben
-aufstiegen, die Zunge heraus, und begannen sie zu bombardieren. Es war
-ein weiter Kamin, nicht sehr hoch, der Rauch, der da herauskam, hatte eine
-eklige, semmelblonde Farbe, die Gedanken, die drauf ritten, auch, und
-sie waren feist und schwammig. Sie versuchten, recht forsch und protzig
-aufzutreten, aber sie krümmten sich dabei, als wenn sie Bauchgrimmen
-hätten, und sie streckten flehentlich die Arme aus, so gut es eben ging,
-nach einem andern Schornstein und stöhnten:
-
-»Gebt uns was ab! Gebt uns was ab!«
-
-Das war ein mächtiger, weiter Schlot, und der Rauch und Qualm, der ihm
-entquoll, schwarz, finster, beklemmend. Bleiche Gestalten stiegen drauf
-zur Höhe, hohlwangig wie eine durchwachte Nacht, finster wie eine
-Gewitterwolke. Immer mehr, Millionen von ihnen tauchten auf aus dem
-Dunkel, nicht aus einem, nein, aus hundert Schlöten, ganze Heere von
-Elendsgestalten, ganze Heere von drohenden Fäusten, von rachedurstenden
-Augen, von verzweifelten Gesichtern.
-
-Und der kleine Geselle drückte sich scheu an den Mann, der ingrimmig
-hohnlachte.
-
-»Wo kommen die her, alle, alle, ohne Ende?« fragte der Geselle bebend.
-
-»Aus den Fabriken, aus den Werkstätten, aus den Mietskasernen, aus den
-Spelunken da unten,« knurrte der mit den Bockshörnchen. »Bande, elendes
-Pack, warum drücken sie die andern nicht tot, schaffen sich Platz in der
-Welt, so viele, wie sie sind! Aber sie haben Furcht, gerade so viel Furcht,
-wie die da drüben -- sieh' -- da aus dem himmelhohen Rauchfang, der
-so kerzengerade aufwächst -- Mitleid haben. Prrr -- Puah -- Mitleid,
-Mitgefühl, Menschenliebe, Gleichheit, Brüderlichkeit -- sieh', wie sie da
-alle schweben, die schönen Gedanken! Schau einmal genau hin! Glaubst du,
-sie kämen alle aus demselben hohen, ragenden, lichten, freundlichen Kamin?
-Ist schön gebaut, der Rauchfang! Aber schließ' dein Auge ab von all dem
-andern, indem du die Hand krümmst wie ein Fernrohr davor -- das gibt mehr
-Perspektive. Siehst du nun wohl, daß jeder der schönen Gedanken
-seinen Privatschlot hat, der nur an den andern sich anlehnt? -- Und die
-Rauchsäulchen, -- recht fein hell anzusehen -- dürfen sich mit keinen
-von den andern vermischen, beileibe nicht, und der Kamin muß immer mit
-demselben Heizmaterial gefüttert werden, und jedes Rauchwölkchen hat
-seinen Parteinebel, in den es sich auflöst.«
-
-Aber immer und immer wieder stieg das bleiche, finstere Heer auf, auf,
-stetig, unverdrossen.
-
-»Da, sieh' her, du kleiner Wurm, der du die Gedanken nackt und
-unverarbeitet in der Welt herumlaufen sehen wolltest,« schrie der
-Mann-Faun-Mephisto, »siehst du jene dort drüben aus dem Marmorkamin sich
-entwirren? -- Wohlgenährte Gestalten sind drunter mit schwimmenden Augen,
-magere Kerle mit Beil-Gesichtern, und alle mit so einem Air um sich herum,
-als wollten sie auf alles andere spucken. Kapitalsbestien nennt man sie mit
-dem Kunstausdruck, d. h. die Kapitäler sind ihnen jetzt da oben im Rauch
-abhanden gekommen, und nur die Bestien sind übrig geblieben. Und nun
-schau die guten, mitleidigen, allesliebenden, weltbeglückenden
-Fanatikergedanken, die eigene kleine Weltbegriffe auf Silberrauchsäulchen
-ausdünsten -- schau auch alle die winzigen Nebengedanken, die von der
-Silbersäule abspringen, ihre Nachbarn zerren und stoßen, zu Boden
-schlagen, ins Gesicht treten -- kommt es dir nicht schließlich vor, als
-wäre der eine wie der andere: Fanatiker seines eigenen Ichs? Und sie
-verteidigen dieses ihr Besitztum, die einen mit nackter Brutalität, die
-andern mit alles überwältigendem Mitleid für die Menschheit. Ist recht,
-ist ja recht so. Nur sollen sie nicht das Du-Geschrei erheben, wenn sie das
-Ich meinen. Aber guck einmal da!« --
-
-Aus dem lichten, ragenden Schornstein, dessen viele Teile das Gesellchen
-jetzt deutlich erblickte, war eine Schar Gedanken-Geister aufgetaucht, die
-sich mit Mäulern, Fäusten und Füßen ingrimmig bearbeiteten: die einen
-suchten die nächsten unter sich zu ducken, zerrend, heulend, schimpfend;
-die zarten Gestalten aus demselben Rauchfang, die über ihnen schwebten,
-rangen traurig die Hände; die Bestien aus dem Marmorkamin sahen behaglich
-zu, und die kleinen Weinkameraden ritten auf ihrem Rauchgekräusel herzu,
-jauchzten und lachten, schütteten duftenden Rheinwein über sie aus,
-wie man über die beißenden Hunde Wasser gießt, und trieben allerhand
-Allotria.
-
-Die hungrige, bleiche, verzweifelte Schreckensschar aber stieg immerfort,
-stetig auf; auf aus den Tausenden von Schlöten und verzehrte sich im
-Nebel, immerzu, regelmäßig, wie ein grauenhaftes Uhrwerk.
-
-»Bande, Bande!« knurrte der neben dem Gesellchen. »Wann kommt's? -- Wann
-kommt's und schlägt den Kram in Fetzen? -- Ist ein lustig Leben, kleines
-Wurm, so hoch über ihnen, was? -- Und doch mitten drunter. Die da tief
-drunten, alle, glauben, sie kennen, sie haben mich, und ahnen nicht,
-daß ich es bin, der ihre Gedanken hier oben spuken läßt zur eigenen
-Verlustierung, wie Nero einst Rom in Brand setzte! _Nicht_ sie mich --
-_ich_ hab' _sie_! -- Hoho -- aber da -- da, meine Braven!«
-
-Da schlug aus einem mächtigen Rauchfang eine hohe Feuersäule auf,
-glührot, wie aus einer Schmiede-Esse, und darauf schwebte, nein, stampfte
-eine gewichtige Schar, die zog den Ambos und dröhnte die Schmiedehämmer
-nieder, daß es durch die Lüfte klang. Riesengestalten mit mächtigen
-Köpfen und lustigen Augen. Bei jedem Hammerschlag von ihren Fäusten
-stoben die Funken, und in jedem Funken sang es:
-
- »Mir sein die Hammerschmiedsgsölln, Hammerschmiedsgsölln,
- Mir könn' dableiben, mir könn' furtgeh'n,
- Mir könn' dhun, was mer wöll'n, dhun, was mer wöll'n!«
-
-Schritt vor Schritt weitergreifend, die rußigen Gesichter umglüht
-vom Flammenschein, stampften sie alles unter ihre Füße, Bestien und
-Mitleidsgedanken und Elendsgestalten, was ihnen in den Weg kam, trieben
-die Rauchwolken zur Seite und machten Bahn frei -- bis endlich, nach langem
-Kampf, auch sie der große Nebel verschlang.
-
-Aber dort, wo sie verschwunden waren, da lag in lichter Ferne -- das
-Gesellchen sah es ganz deutlich, und der Mann breitete seine Arme aus --
-der silberne See, der hob und senkte sich leise. -- Möven flogen
-drüber hin, die tauchten mit der weißen Brust ein in die Silberflut und
-schüttelten die leuchtenden Tropfen von den Flügeln.
-
-Wo sie das Wasser berührten, tauchte ein Wunderwesen nach dem andern
-auf; diese reihten sich aneinander, und bald wimmelte der See von zarten,
-lieblichen, von starken, gewaltigen Wesen. Auf ihren ausgestreckten Armen
-kamen zwei wunderselige Frauengestalten einhergeschwebt, ein leiser,
-flüchtiger Gesang zog ihnen voran:
-
- »Wir geleiten hohe Frauen,
- Die den Wassern sind entstiegen,
- Die sich auf den Nebeln wiegen,
- Und die Wellen stets durchwallen,
- Unerkannt von allen, allen,
- Denn von zwei'n ist eine keine:
- Diese Hehre, Hohe, Reine,
- Jene, die da gleißt im Scheine --
- Nur zusammen kannst sie schauen.
- Wie die Sonne aus dem Meere
- Ihre Strahlen weiter sendet,
- So zieh'n im Gedankenheere
- Sie, bis ihre Bahn vollendet.
- Sinken in die Wasser nieder,
- Kommen mit der Sonne wieder.«
-
-So schwebten sie hin über das Häusermeer der Riesenstadt. Die schönen
-Frauen glichen sich eine der andern so, daß man sie nicht unterscheiden
-konnte, und das Gesellchen hätte gar zu gern gewußt, wer sie seien.
-
-Der Mann sah mit verschränkten Armen den Zug an sich vorüber wallen,
-musterte mit kritischen Augen die weißen Nixenglieder, lächelte
-vertraulich dem schönen Frauenpaar zu. -- Da war es dem Gesellen, als habe
-die eine listig gewinkt, die andere nur milde gelächelt. Aus dem Nebel,
-der sie umwogte, aber tönte das Lied der Hammerschmiedsgesellen:
-
- »Mir könn' dhun, mir könn' treiben, mir könn' loss'n, was mer
- wöll'n!«
-
-»Ja, ja,« nickte der Mann, »wenn's alle Hammerschmiedsgesellen wären!
-Aber doch, kleines Wurm, wissen auch sie nicht genau, gerade wie du
-und alle die andern es gar nicht wissen, wer von den beiden lieben
-Frauenzimmerchen da -- die Wahrheit und welches die Lüge ist.«
-
-Als er das sagte und der kleine Schmiedsgeselle flehend die Arme hob, da
-schauten die beiden herrlichen Frauen zurück -- die eine milde lächelnd:
-
-»_Du_ bist die Wahrheit!« jauchzte der Geselle.
-
-Da hob die andere sachte und ernst den Finger an den Mund. --
-
-Und der Geselle barg das Gesicht in die Hände und weinte.
-
-Als er wieder aufschaute, sah er den Mann vor dem Champagnerkorken stehen
-und Zwiesprache halten mit einem nackten, kleinen Schlingel, der rittlings
-auf dem einen goldenen Pfropfen saß, Bogen und Köcher umgehängt hatte
-und blutrote Pfeile nach allen Richtungen verschoß; sein Krauskopf
-glänzte voll goldener Locken und trotz der Lachgrübchen saßen ein paar
-bitterernste Augen in dem jungen Gesicht.
-
-»Ich bin echt!« sagte er und zielte auf den Gesellen, und dem wurde es
-plötzlich ganz leicht um's Herz. Da lachte der kleine, nackte Bub ein
-tolles, befreiendes Lachen, und der Mann fiel ein, und das Gesellchen
-mußte mitlachen, bis ihm die Thränen aus den Augen liefen.
-
-Dicht hing der Nebel herunter. Die Wolken rieben sich die Fußsohlen an den
-Champagnerkorken. Rauch, schwerer, schwarzer, lichter, semmelblonder stieg
-auf aus allen Schlöten. In der Ferne sah der Geselle einen silbernen
-Streifen, auf dem ein Mövenflügel blitzte. Ein dumpfes Gegroll wogte zu
-ihnen herüber. Ein Amboßschlag dröhnte.
-
-Fest mit den Füßen aufstampfend, ging der wunderliche Mann mit dem
-kleinen Schmiedegesellen viele Stufen hinab, und es klang, als ob jede
-Stufe knurrte:
-
- »Hammerschmiedsg'söll'n -- dhun, was mer wöll'n!«
-
-Unten angekommen, sah der Mann wieder aus wie ein gewöhnlicher
-Europäer, und die Stube, in die sie eintraten, wie eine ganz gewöhnliche
-Kaufmannsstube.
-
-»Hör',« sagte der Mann zu einem andern, der da saß und schrieb, »wir
-müssen die Champagnerpropfen da oben an dem Dach neu vergolden, die hat
-der Nebel ganz blind gemacht.«
-
-Der andere nickte und schrieb weiter.
-
-Der Mann aber sah den kleinen Schmiedegesellen an und zupfte sich an den
-spitzen Oehrchen. Und dann lachten sie.
-
-
-
-
-Druckfehler.
-
-
- Seite 24, Zeile 4 von oben, lies: ~hant~ statt ~hante~.
- " 68, " 3 " " " : Silberflut statt Silberglut.
- " 97, " 15 " " " : Weh _in der_ Welt.
- " 118, " 8 " " " : _ni_mmer statt immer.
- " 122, " 26 " " " : aus _seinen_ Händen.
- " 129, " 10 " " " : _sein_ leuchtendes Auge.
- " 155, " 23 " " " : _drauf_ ritten.
-
-
-
-
-Im _Verlags-Magazin J. Schabelitz_ in _Zürich_ ist erschienen und durch
-alle Buchhandlungen zu beziehen:
-
-
- #Amerikanische Lebensbilder.# Skizzen und Tagebuchblätter. Von _Karl
- Knortz_. -- 2 Mk. = 2 Fr. 50 Cts.
-
- #Eines deutschen Matrosen Nordpolfahrten.# Wilhelm Nindemann's
- Erinnerungen an die Nordpolexpedition der »Polaris« und »Jeanette«.
- Von _Karl Knortz_. -- 70 Pf. = 85 Cts.
-
- #Hamlet und Faust.# Von _Karl Knortz_. -- 1 Mk. = 1 Fr. 25 Cts.
-
- #Irländische Märchen.# Von _Karl Knortz_. -- Mk. 1.60. = 2 Fr.
-
- #Nokomis.# Märchen und Sagen der nordamerikanischen Indianer. Von
- _Karl Knortz_. -- 1 Mk. 60 Pf. = 2 Fr.
-
- #Neue Epigramme.# Von _Karl Knortz_. -- 1 Mk. = 1 Fr. 25 Cts.
-
- #Goethe und die Wertherzeit.# Ein Vortrag. Von _Karl Knortz_. Mit dem
- Anhange: Goethe in Amerika. -- 80 Pf. = 1 Fr.
-
- #Grashalme.# Gedichte von _Walt Whitman_. In Auswahl übersetzt von
- _Karl Knortz_ und _T. W. Rolleston_. -- 2 Mk. 50 Pf. = 3 Fr.
-
- #Vom Hudson bis zum goldenen Thor.# Ernste und heitere Erzählungen aus
- dem amerikanischen Leben. Von _Joseph Treumann_. 2 Bände. -- 5 Mk.
- = 6 Fr. 25 Cts.
-
- #Ueberseeische Reisen.# Von _Amand Goegg_. -- 2 Mk. 40 Pf. = 3 Fr.
-
- #Bilder aus den Vereinigten Staaten.# Von ~Dr.~ _J. Richter_. --
- 1 Mk. 60 Pf. = 2 Fr.
-
- #Aus dem Reiche des Tantalus.# Alfresco-Skizzen von _W. L. Rosenberg_.
- -- 1 Mk. 60 Pf. = 2 Fr.
-
- #Zweierlei Hoheit.# Roman von _Juvenalis Minor_. -- 3 Mk. 60 Pf.
- = 4 Fr. 50 Cts.
-
- #Heißes Blut.# Roman aus der französischen Provinz. 2 Theile. Von
- _Hermann Gosseck_. -- 5 Mk. = 6 Fr. 25 Cts.
-
- #Scherben.# Gesammelt vom müden Manne (_Richard Voß_.) Zweite, stark
- vermehrte Auflage. -- 5 Mk. = 6 Fr. 25 Cts.
-
- #Schlimme Geschichten.# Drei Novellen. Von _Gustav Adolf_. --
- 1 Mk. 60 Pf. = 2 Fr.
-
- #Ueber Graphologie# oder die Kunst, die Geistes- und
- Gemüthseigenschaften eines Menschen aus seiner Handschrift zu
- erkennen. Von _Fritz Machmer_. -- 2 Mk. = 2 Fr. 50 Cts.
-
-
-
-
-[ Hinweise zur Transkription
-
-
-Der Schmutztitel wurde entfernt.
-
-Im Originalbuch tragen die Kapitel jeweils am Anfang ornamentalen und am
-Ende floralen Schmuck, auf den in dieser Transkription verzichtet wurde.
-
-Die im Buch enthaltene Verlagswerbung wurde von der Rückseite des vorderen
-Einbanddeckels an das Buchende verschoben.
-
-Das Originalbuch ist in Fraktur gesetzt.
-
-Darstellung abweichender Schriftarten: _gesperrt_, ~Antiqua~, #fett#.
-
-Der Text des Originalbuchs wurde grundsätzlich beibehalten,
-einschließlich uneinheitlicher Schreibweisen wie beispielsweise "Apollo"
--- "Appollo", "Bacchus" -- "Bacchos", "Höckerweib" -- "Hökerweib",
-"Schmiedegeselle" -- "Schmiedgeselle", "Sonntagkind" -- "Sonntagskind",
-
-mit folgenden Ausnahmen,
-
-entsprechend dem Korrekturverzeichnis des Originalbuchs
-
- Seite 24:
- im Original "ich hete in mîne hante gesmogen"
- geändert in "ich hete in mîne hant gesmogen"
-
- Seite 68:
- im Original "In tiefe, rauschende Silberglut"
- geändert in "In tiefe, rauschende Silberflut"
-
- Seite 97:
- im Original "als ob all das Weh in Welt"
- geändert in "als ob all das Weh in der Welt"
-
- Seite 118:
- im Original "wenn Ihr die Liebe sucht, fliegt immer zu Thal"
- geändert in "wenn Ihr die Liebe sucht, fliegt nimmer zu Thal"
-
- Seite 122:
- im Original "aus ihren Händen weg und zu uns"
- geändert in "aus seinen Händen weg und zu uns"
-
- Seite 129:
- im Original "und ein leuchtendes Auge weilt"
- geändert in "und sein leuchtendes Auge weilt"
-
- Seite 155:
- im Original "die Gedanken, die draus ritten"
- geändert in "die Gedanken, die drauf ritten"
-
-und außerdem
-
- Seite 13:
- im Original "wo wollen die vielen Menschen hin die dort"
- geändert in "wo wollen die vielen Menschen hin, die dort"
-
- Seite 25:
- im Original "Flüstern durch den Saal und und ein Beben"
- geändert in "Flüstern durch den Saal und ein Beben"
-
- Seite 39:
- im Original "Weise Hosen, schwarzes Röcklein und auf dem Kopf"
- geändert in "Weiße Hosen, schwarzes Röcklein und auf dem Kopf"
-
- Seite 40:
- im Original "wenn ihr die zackigen Blätter"
- geändert in "wenn Ihr die zackigen Blätter"
-
- Seite 45:
- im Original "Cochenille -- Kaktus, unansehnliche, häßliche Dinger"
- geändert in "Cochenille-Kaktus, unansehnliche, häßliche Dinger"
-
- Seite 49:
- im Original "Wohl süß ist es zu singen"
- geändert in "»Wohl süß ist es zu singen"
-
- Seite 56:
- im Original "sieh', doch, da ist das Märchen!"
- geändert in "sieh' doch, da ist das Märchen!"
-
- Seite 56:
- im Original "die Kinder faßten sich bei deu Händen"
- geändert in "die Kinder faßten sich bei den Händen"
-
- Seite 76:
- im Original "den Bäuuen aus dem Wege gehen"
- geändert in "den Bäumen aus dem Wege gehen"
-
- Seite 85:
- im Original "Regiment Weizenfeld-Allerfeinste-Mehlsorte No. 1"
- geändert in "Regiment Weizenfeld-Allerfeinste-Mehlsorte No. I"
-
- Seite 108:
- im Original "deren heißes Menschenherz langsam, zu"
- geändert in "deren heißes Menschenherz langsam zu"
-
- Seite 135:
- im Original "wie zart, geschickt die Fäden verknüpft!«"
- geändert in "wie zart, geschickt die Fäden verknüpft!"
-
- Seite 139:
- im Original "Mannes dunkles Haar ziehen sich Silderfäden"
- geändert in "Mannes dunkles Haar ziehen sich Silberfäden"
-
- Seite 140:
- im Original "dekorierten Flügel und fliegt von dannen"
- geändert in "dekorierten Flügel und fliegt von dannen."
-
- Seite 146:
- im Original "Seele verwandelte sich einen"
- geändert in "Seele verwandelte sich in einen"
-
- Seite 155:
- im Original "finster, beklemmend, Bleiche Gestalten"
- geändert in "finster, beklemmend. Bleiche Gestalten"
-
- Seite 157:
- im Original "Aus dem lichten, ragenden, Schornstein"
- geändert in "Aus dem lichten, ragenden Schornstein"
-
- in der Verlagswerbung:
- im Original "Rosenberg. -- 1 Mk. 60 Pf. = 2 Fr. = 1 Fr."
- geändert in "Rosenberg. -- 1 Mk. 60 Pf. = 2 Fr." ]
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-<meta http-equiv="Content-Style-Type" content="text/css" />
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-<title>The Project Gutenberg eBook of
-Venusmärchen
-by
-Edna Fern</title>
-
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-</head>
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-<body>
-<p style='text-align:center; font-size:1.2em; font-weight:bold'>The Project Gutenberg eBook of Venusmärchen, by Edna Fern</p>
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
-most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
-of the Project Gutenberg License included with this eBook or online
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-</div>
-
-<p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Title: Venusmärchen</p>
-<p style='display:block; margin-left:2em; text-indent:0; margin-top:0; margin-bottom:1em;'>Geschichten aus einer andern Welt</p>
- <p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Authors: Edna Fern</p>
- <p style='display:block; margin-top:0; margin-bottom:0; margin-left:2em;'>Fernande Richter</p>
-<p style='display:block; text-indent:0; margin:1em 0'>Release Date: December 26, 2021 [eBook #67015]</p>
-<p style='display:block; text-indent:0; margin:1em 0'>Language: German</p>
- <p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em; text-align:left'>Produced by: the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)</p>
-<div style='margin-top:2em; margin-bottom:4em'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK VENUSMäRCHEN ***</div>
-
-
-<h1 class="pb">Venusmärchen.</h1>
-
-<p class="mt2 ce fsxl">Geschichten aus einer andern Welt.</p>
-
-<p class="mt2 ce lh2">Von<br />
-<b><span class="ge fsl ">Edna Fern.</span></b></p>
-
-<p class="mt2 ce"><img src="images/emblem.jpg" alt="" /></p>
-
-<p class="mt2 ce lh1"><span class="fsl">Zürich 1899.</span><br />
-Verlags-Magazin J. Schabelitz.</p>
-
-<p class="mt2 ce lh1">Alle Rechte vorbehalten.<br />
-<span class="fss">Druck von J. Schabelitz in Zürich.</span></p>
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-
-
-
-<div class="pb mt6">
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl"><b>W</b>as ich als Kind einst von der alten Muhme</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In märchengrauer Dämmerstund' erlauscht,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Was sonnenhell mir Wind und Wald gerauscht,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Was mir geduftet hat die stille Blume,</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das wuchs in mir zu einem Heiligtume.&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da kam das Leben, wichtig aufgebauscht,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und hätt' vernünftig thuend gern vertauscht</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das Märchen mir &ndash; zu ernstem Wissens-Ruhme.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Doch lächelnd ging das Flüchtige vor mir her</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und zeigte mir den Weg aus Tages Enge</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und hob empor mich aus der Welt Gedränge&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Der Märchen-Weisheit ewige Wiederkehr,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die lehrt' es mich. &ndash; Nun nimmt es seinen Lauf</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Mild siegend weiter: Nehmt es bei euch auf!&nbsp;&ndash;</td></tr>
-</table>
-</div>
-
-<hr />
-
-
-
-
-<h2>Inhalt.</h2>
-
-
-<table cellpadding="2" summary="">
- <tr>
- <td class="tdl">&nbsp;</td>
- <td class="tdr fss">Seite</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Venus und Madonna</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_001">1</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Der kleine Finger der Venus von Medici</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_005">5</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Der gefesselte Cupido</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_018">18</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Psyche</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_024">24</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Unser Frühling</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_037">37</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Frostiger Frühling</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_043">43</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Das Märchen, das gar nicht kommen wollte</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_050">50</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Klein Hildegard</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_058">58</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Das Märchen, das verloren gegangen war</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_070">70</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">In der Gosse</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_081">81</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Sonniger Winter</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_091">91</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Ein Weihnachtsmärchen</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_099">99</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Schneeflocken</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_108">108</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Das Märchen von der weißen Stadt</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_120">120</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Weltausstellung im Walde</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_130">130</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Das Märchen von Einem, der auszog, ein Sonntagskind zu werden&emsp;</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_141">141</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdl">Rauch</td>
- <td class="tdr"><a class="ndcbl" href="#page_151">151</a></td>
- </tr>
-</table>
-
-<hr />
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_001" title="1"> </a>
-Venus und Madonna.</h2>
-
-
-<p>Dunkel wölbt sich der Himmel über der Erde, und die
-Sterne grüßen einander und winken &ndash; das ist das Flimmern
-&ndash; fassen einander bei den Händen und tanzen einen feierlichen
-Reigen über die unermeßlichen Himmelsbahnen,
-und »Seht, wie klar die Milchstraße heute Abend ist!«
-sagen sie auf der Erde.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Da löst sich ein großer, glänzender Stern vom Firmament,
-der hat funkelnd im kalten Norden gestanden, zieht
-seine leuchtende Bahn über den dunkeln Nachthimmel hinweg
-und fällt zur Erde nieder.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Da löst sich ein anderer, ein flimmernder, unruhiger
-Stern vom Firmament, der hat blitzend im Süden gestanden,
-zieht seine schimmernde Bahn über den dunkeln
-Nachthimmel und fällt zur Erde nieder.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Und die beiden schönen Sterne fallen auf die große,
-weite Erde, in einen Wald voll mächtiger Bäume, süß
-duftender Blumen, singender Vögelein, spielender Tiere. &ndash;
-Und siehe! da stehen die ersten Menschen, ein Mann und
-ein Weib, sie blicken einander an, reichen sich die Hände
-und küssen sich. Die beiden vom Himmel gefallenen, Mensch
-gewordenen Sterne &ndash; sie sind der Glaube, der Glaube an
-das Schöne, und die Sehnsucht.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_002" title="2"> </a>
-Und wieder und wieder flimmern, zittern, funkeln die
-Sterne am Himmel. Im Walde der Ewigkeit ruht das
-Weib in den Armen des Mannes; und sie gebiert ihm die
-Liebe &ndash; das Kind der Sehnsucht und des Glaubens.</p>
-
-<p>Da aber das schöne Menschenpaar ganz allein im großen,
-weiten Walde wohnt, und nichts weiß von dem Gewimmel
-des Zwergengeschlechtes weit draußen in der Welt, so wissen
-sie auch nicht, wen sie wohl zu Gevatter bitten sollen,
-als sie ihr Kind, die holde Liebe, mit Himmelstau zu
-taufen gedenken. Schon beginnen die Maiglöckchen ein
-wunderlieblich Geläut, die Vöglein konzertieren und singen
-und flöten, und einherziehen gravitätisch die Tiere des
-Waldes.</p>
-
-<p>Das anmutige Reh äugt mit klugen Augen, das Häslein
-putzt sich, das Eichhörnchen tanzt, der Dachs lugt hervor
-aus seinem Versteck, die Eidechsen und Käfer huschen
-und jagen, die Schmetterlinge gaukeln um die Blätterwiege,
-in der die Liebe ruht&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;, aber niemand ist da, der
-das Kindlein tauft, und keine Gevatterin, die Liebe über
-die Taufe zu halten.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Ich,« spricht der Fuchs und kommt geschlichen und
-streckt sein spitzes Näschen zur Wiege des Kindes empor,
-»ich versteh's, das Taufen, bin bei den Jesuiten in die
-Lehre gegangen, bin gut katholisch und sehr schlau.«</p>
-
-<p>»Krah, krah!« krächzt ein großer, schwarzer Kolkrabe,
-»hier, nehmt mich! Strengorthodox, schwarz, düster, wie
-meine Religion.«</p>
-
-<p>»Vielleicht alttestamentarisch?« fragt höflich ein Eidechslein,
-glitzernd von Gold, und dreht und windet sich immer
-wieder heran.</p>
-
-<p>»Oder gar freisinnig?« klappert der Storch, spießt nach
-dem Eidechslein, kröpft sich und schlägt sehr stolz und freisinnig
-mit den Flügeln.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_003" title="3"> </a>
-Vater Glaube und Mutter Sehnsucht schütteln die
-schönen Häupter und blicken ratlos um sich &ndash; doch sieh!
-Licht, Sonnenschein überall um sie her, flutet über Blumen
-und Vöglein und Tiere hin, und</p>
-
-<p>»Ich,« spricht der Sonnenstrahl, »will die Liebe taufen.
-Ich dringe ihr ins Herz hinein, ich wohne in ihren Augen.
-In jedem Lächeln ihres Mundes zittere Sonnenschein, in
-jeder Bewegung ihrer Glieder herrsche Anmut, Freude,
-Wärme.« Und</p>
-
-<p>»Wir,« klingen sanfte und wunderbar eindringliche
-Stimmen, »wir wollen Paten sein.« Zwei Frauengestalten
-neigen sich zu jeder Seite der Wiege, in der die Liebe
-schlummert, so schön, so überirdisch schön, daß Glaube und
-Sehnsucht demütig niederknieen. Die wissen nicht, ist es
-ein und dieselbe, die zwei Gestalten angenommen hat, oder
-sind es zwei hehre Frauen, die da niedergestiegen sind aus
-den Wolken, die Liebe zu segnen. Wunderbar ähnlich sind
-sich die Schwestern, nur trägt die eine langwallende Gewänder,
-und sie hält ein lieblich Kindlein fest an ihr Herz
-gedrückt, und mild und rein ist das Lächeln ihres Mundes.
-Unverhüllt glänzen der andern herrliche Glieder, süß berauschend
-wirkt ihre Nähe, und heiße Glut entströmt den
-Augen.</p>
-
-<p>Die beugt sich nieder zur Blätterwiege und küßt das
-schlummernd Kindlein auf die unschuldigen Lippen, und
-spricht:</p>
-
-<p>»Deinen Körper gib hin, o Liebe, und all deine Sinne
-und jede Fiber deines Herzens!«</p>
-
-<p>Da legt die Erste segnend die Hand auf des Kindes Haupt:</p>
-
-<p>»Deine Seele gib,« hauchte sie, »und Mutterliebe sei
-dein Glück!«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Und siehe! Aus dem Kinde ist plötzlich ein Weib geworden,
-himmlisch schön, wie das Schwesterpaar &ndash;
-<a class="pagenum" id="page_004" title="4"> </a>
-es steht allein in all seiner Pracht auf der weiten, sonnigen
-Erde. So zieht die Liebe in die Welt hinaus, das Kind
-der Sehnsucht und des Glaubens, keusch wie Madonna,
-wonnig wie Venus &ndash; und das Zwergengeschlecht wendet
-sich ab von ihr, denn es kennt sie nicht. &ndash; Weiche Lüfte
-aber wehen und tragen das Elternpaar, das der Welt die
-Liebe geboren hat, hinan zum Himmel. Dort, zwischen
-den Sternen, wohnen nun wieder die Sehnsucht nach dem
-Glück und der Glaube an das Schöne.&nbsp;&ndash;</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_005" title="5"> </a>
-Der kleine Finger der Venus
-von Medici.</h2>
-
-
-<p>Es war einmal ein Sonntagskind, das wanderte in der
-Welt umher und suchte &ndash; es wußte selber nicht was.
-Aber es blieb nicht auf dem schönen, trockenen, breiten
-Wege, den schon so viele andere vor ihm gewandelt waren,
-sondern mit der, den Kindern eigenen Passion für das Unbequeme,
-lief es quer über die Straße, kletterte mühsam
-über einen großen Stein, tappste in eine Pfütze, wie es ja
-deren so viele in der Welt gibt, und als es erschrocken seine
-schönen, reinen Füßchen zurückzog, geriet es in den Straßenkot;
-da eilte es entsetzt weiter, stolperte auf der anderen
-Seite über einen noch größeren Stein und rannte mit dem
-Magen gegen eines der eisernen Gitter, die überall in der
-Welt herumstehen. Nun hatte vorläufig seine Reise ein
-Ende. Verdutzt sah es ein Weilchen das häßliche Gitter
-an, dann um sich und nun über sich, und es erblickte eine
-große, dunkle Wolke, die ballte sich zusammen aus all dem
-Dampf, der aus den Häusern, den Fabrikschornsteinen, den
-Lokomotiven aufstieg, und zog wie ein Heer Gespenster
-über den lieben Abendhimmel. Der schien seltsam bunt
-drunter hervor &ndash; glührot und rosenfarben und lichtgrau
-<a class="pagenum" id="page_006" title="6"> </a>
-und blau und zartes Grün &ndash; wie als ob er dem schwarzen
-Gespensterheer mit seinen Lichtelfen Trotz zu bieten gedächte.
-Aber die finstere Riesenwolke ballt sich immer
-drohender und trotziger zusammen, und da wird es dem
-Sonntagskinde ganz beklommen und bange ums Herz, und
-es stürzt davon, durch die Straßen, so schnell es seine Füße
-tragen können, und über ihm zieht die Wolke. Da aber
-verschwindet sie plötzlich, wie fortgeweht, und das Kind
-hält inne in seinem tollen Lauf, denn es steht vor einem
-goldenen Gitter, hinter dem hohe Bäume herüberwinken
-und ein süßer, feiner Duft emporzieht.</p>
-
-<p>»Ach,« denkt das Sonntagskind, »da drinnen muß es
-gut sein, ich möchte ausruhen, denn ich bin sehr müde &ndash;
-ob ich wohl hineinschlüpfen dürfte? &ndash; Ich will auch ganz
-leise sein.«</p>
-
-<p>Kaum hat es das gedacht, so öffnet sich die goldene
-Thür, sanft, wie von Feenhand, und das Sonntagskind
-schleicht vorsichtig hinein, sich noch einmal bang nach der
-schwarzen Wolke umschauend. &ndash; Richtig, ganz in weiter
-Ferne hängt sie und blickt drohend herüber.</p>
-
-<p>Nun ist das Sonntagskind drinnen in einem herrlichen
-Garten. Weg ist seine Müdigkeit; mit weitgeöffneten,
-glänzenden Augen wandelt es auf weichen Wegen unter
-hohen, ernsthaften Bäumen; mit zitternden Lippen saugt
-es süße, berauschende Düfte ein, es lauscht mit Herzklopfen
-den wonnevollen Tönen, von denen die Luft ringsum erfüllt
-ist. Wie tausend Nachtigallen Gesang klingt es, aber
-es sind nicht allein die kleinen Vöglein in den Zweigen,
-die so liebliche Melodieen erschallen lassen. Nein, jedes
-Blättlein, jede Blüte ist wie ein Echo und trägt die
-weichen, sehnsüchtigen Nachtigallentöne vieltausendfach weiter.
-Und all die Blumen &ndash; die Hyacinthen läuten mit ihren
-Glöckchen »Klingling! Ach, wie wonnig ist's hier!« und
-<a class="pagenum" id="page_007" title="7"> </a>
-»Dingdang, dingdang!« antwortet die blaue Glockenblume,
-»ich läute zur Abendmette der Natur!«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Die hohen, schneeigen Lilien senden ihre schweren, süßen
-Düfte nach oben, der sentimentale Jasmin, die neckische
-Syringe; und die schwermütige Narcisse wendet ihr weißes
-Blumengesicht sehnsüchtig dem Monde zu. Denn Nacht
-ist's geworden: Millionen blitzender Sterne sehen mit
-funkelnden Augen vom Himmel hernieder, und der Mond
-gleitet mit ruhigem Schein über den Garten hinweg, so
-hell und klar, daß das Sonntagskind die vielen zierlichen
-Gestalten sehen kann, kleine Elfen und Kobolde, die sich im
-Gras zwischen den Blumen tummeln, und die Nixen und
-Wasserelfen &ndash; auf den großen, grünen Blättern der Wasserrosen
-im See kauern sie und lassen sich schaukelnd hin und
-her treiben und greifen jauchzend nach dem glitzernden
-Sprühregen, den Tritonen im mächtigen Strahl gen Himmel
-senden und der, leuchtend wie Diamanten im Mondesglanz,
-zu ihnen niederfällt.</p>
-
-<p>In den lauschigen Ecken und Winkeln der Gebüsche
-stehen weiße Gestalten &ndash; sind's Menschen? Sie sind nackt,
-kaum mit einem leichten Flor bekleidet. &ndash; Sie sind schön,
-himmlisch schön, und das Sonntagskind tritt näher und
-faßt Mut, weil sie so gar lieb und gut blicken, und es berührt
-sie ganz vorsichtig und leise mit der Hand, streichelt
-die schönen, nackten Füße und &ndash; fährt erschrocken zurück,
-denn eiseskalt sind sie und tot.</p>
-
-<p>Doch sieh &ndash; bewegen sie sich nicht? Und horch &ndash;
-hörst Du nicht leises Kichern, Flüstern, neckisches Lachen
-&ndash; ach, und klagendes Schluchzen? &ndash; Die Hand des Sonntagskindes
-hat sie berührt &ndash; sie leben, die schönen, marmornen
-Menschenbilder, das rote, warme Blut rollt durch
-ihre Adern, sie lächeln, es bebt ihr Fuß zum Weiterschreiten.
-Da neigen sie sich vor ihrer Königin &ndash; die steht in ihrer
-<a class="pagenum" id="page_008" title="8"> </a>
-Mitte, ein wonnevoll Weib, zierlich treten ihre schlanken
-Füße den Boden, die linke Hand deckt schamhaft den Schoß,
-die rechte den schneeigen Busen, zur Seite geneigt hält sie
-das liebliche Haupt, die holde Venus von Medici &ndash; und
-nun fassen sie sich bei den Händen, die herrlichen Göttergestalten
-und die Elfen und Nixen mit ihrer weichen,
-eidechsenhaften Schmiegsamkeit und die komischen Kobolde
-mit ihren langen Bärten und listigen Aeuglein und drolligen
-Bewegungen; sie tanzen einen zierlichen, wunderlichen
-Reigen um das Sonntagskind im Kreise, und sie singen:</p>
-
-<p>»Bleib' bei uns &ndash; o hier ist's gut sein! Hier ist Schönheit,
-hier ist Liebe &ndash; zu süßer Freude wandelt die Lust
-sich, zu mildem Frieden Angst und Unruh' &ndash;&nbsp;&ndash; Ach, und
-der Schmerz, der wild durchtobt des Menschen Herz &ndash; er
-löst sich auf in sanftes Klagen, die Sorge wird hier zu
-Grab' getragen, und aller Kummer lind gestillt.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Hörst Du der Nachtigall Gesang? &ndash; So singt die
-Sehnsucht in Deinem Herzen.</p>
-
-<p>»Hörst Du der Blumen Geläut? &ndash; So läuten sie Deine
-bange Seele zur Ruh.«</p>
-
-<p>Und horch! Welch wunderlieblich Geklinge und Gesinge,
-wie Glockentöne in weiter Ferne! Näher kommt's &ndash; immer
-näher &ndash; husch! der lustige Kreis stiebt auseinander,
-blitzschnell, wie er gekommen, und vor dem Sonntagskinde
-steht eine hehre, schöne Frau, deren zarten Leib umgibt ein
-Kleid von Rosenblättern, auf dem wonnesamen Haupt
-strahlt eine Sternenkrone, die Flügel des Königsfalters
-trägt sie an den Schultern, und ihre Füße wandeln auf
-Blumen.</p>
-
-<p>Sie lächelt &ndash; da zittert die Luft vor Freude &ndash; Sie
-spricht &ndash; da lauschen Mond und Sterne. &ndash; »Haben sie
-Dich erschreckt da draußen in der Welt, Du Menschenkind?«
-sagt sie, »hat die große, schwere Wolke Dir das Herz
-<a class="pagenum" id="page_009" title="9"> </a>
-beklemmt und Dir den Atem genommen? Und bist Du
-zu mir geflüchtet, in den Garten der Wonne, in mein
-Königreich, das Reich der Phantasie? &ndash; Ich wußte es
-wohl, Ihr Menschenkinder könnt ohne mich nicht bestehen.
-Da geht ein lautes Gerede, ein wildes Geschrei durch die
-Welt: sie brauchen mich nicht, <em class="ge">nur</em> Natur wollen sie, und
-nur im groben Alltagskleid, nicht im glänzenden Schmuck,
-im schimmernden Geschmeid, womit ich sie überschütte. &ndash;
-Aber siehst Du, Du Sonntagskind, kommst doch geflüchtet
-zu Deiner Trösterin, ohne die Du die Natur nicht ertragen,
-ohne die Du nicht leben kannst. &ndash; Und wenn Du wieder
-hinausziehst, dann sag' es ihnen draußen in der Welt, was
-Du geschaut in meinem Reich. &ndash; Ach, gerade jetzt sollten
-sie es wissen, wo die dunkle Wolke schwer über den Völkern
-schwebt und sie darnieder drückt.</p>
-
-<p>»<em class="ge">Weißt</em> Du, warum gerade jetzt? <em class="ge">Willst</em> Du es
-wissen?«</p>
-
-<p>Sie blickt um sich und klatscht in die Hände. Und
-siehe &ndash; ein wunderlicher Geselle kommt gehüpft, getollt,
-gesprungen: nackt ist er und zart von Gliedern, mit schelmischem
-Mund und ernsthaften Augen, einen Bogen trägt
-er in der Hand und einen Köcher mit Pfeilen an der
-Hüfte. &ndash; Sah ihn das Sonntagskind nicht dort im Syringengebüsch
-auf einer Säule stehen?</p>
-
-<p>Doch nun &ndash; einen Purzelbaum schlägt er auf dem
-weichen Gras und ist zum eisgrauen Männlein geworden,
-das lustig mit den Aeuglein zwinkert und allerlei Kapriolen
-macht, und plötzlich schwebt er in der Luft, so fein und
-zart, als sei er aus Mondenschein gewebt, als sei er auf
-Blumen geboren, als sei er mit Tautropfen genährt. Und
-nun wieder trottelt er daher wie ein kleiner Brummbär
-und schlägt mit einer Keule um sich, daß die Nixchen und
-Elflein entsetzt zur Seite weichen.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_010" title="10"> </a>
-»O, laß die Possen, Du närrischer Kauz,« lächelt Frau
-Phantasie, »nimm Deine wahre Gestalt an, mein Gesell«
-&ndash; da klingelt's wie von silbernen Glöckchen, die trägt das
-wunderliche Kerlchen an seiner Schellenkappe auf dem
-Haupte, und legt sein Gesicht in ernsthaft-drollige Falten,
-hängt seinen Bogen über den Rücken, als gebrauche er ihn
-nicht mehr, und schreitet umher mit gravitätischen Schritten.</p>
-
-<p>»Ist das Deine wahre Gestalt?« Frau Phantasie
-schüttelt das schöne Haupt&nbsp;... »nun, sei es drum. Sieh',«
-sagt sie zum Sonntagskind gewandt, »den Mittler zwischen
-mir und den Menschen. Nenne ihn Amor, Puck, Geist,
-wie Du willst; kannst ihn auch Humor heißen, das hört
-er am liebsten. Geh' mit ihm &ndash; die Welt soll er Dir
-zeigen, wie sie uns Göttern erscheint. An seiner Hand
-wird es Dich weniger schmerzen.«</p>
-
-<p>Sie gleitet dahin wie der Mondesstrahl, die hehre
-Königin, und ihr nach durch Busch und Zweig, über
-Blumen und Moos huscht das lose Volk, Leuchtkäfern gleich,
-die in Abendluft baden, und in der Ferne tönt neckisch
-Gelache.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Komm',« sagt der närrische Geselle, und schüttelt seine
-Kappe, daß die Glöckchen klingen, »reich' mir Deine Hand,
-armes Sonntagskind. Hab Dich schon gesehen draußen in
-der Welt, wie Du über Steine gestolpert bist und in Pfützen
-getreten hast. Ja, es ist immer sicherer, auf den hübsch
-ausgetretenen Pfaden der Alltäglichkeit zu wandeln, als
-seinen eigenen Weg gehen zu wollen. Hast Dich zur rechten
-Zeit in meiner Mutter Phantasie Garten gerettet, sonst
-hättest Du Dir sicher noch einmal an irgend einem Weltgitter
-Kopf und Herz eingerannt, Du dummes Sonntagskind,
-Du. &ndash; Also ich soll Dir zeigen, wie es in der Welt
-eigentlich aussieht. Wohl kann ich Dir's erklären, denn
-ich treibe mich viel draußen herum. Einige in der Welt
-<a class="pagenum" id="page_011" title="11"> </a>
-schwärmen für mich, andere sagen, ich sei ein wahrer Teufel.
-Wenn ich mit der Schellenkappe klingele, verstehen mich die
-Wenigsten; da muß ich oft schon mit der Plumpkeule dreinschlagen,
-und dann schreien sie und sagen, ich hätte ihnen
-weh gethan. &ndash; Komisches Volk, diese Menschen!«</p>
-
-<p>Jetzt sind sie am Ende des Gartens angelangt. Eine
-hohe Mauer scheidet ihn von der Außenwelt; an der ranken
-sich wilder Wein und Epheu, und blaue Clematis hängen
-hernieder und rote Trompetenblumen, so dicht, daß man
-von den rauhen Steinen nichts gewahr wird, wie nur die
-runden Glasfensterchen, die hie und da in die Quadern
-eingefügt sind.</p>
-
-<p>»Sieh,« sagt der närrische Sohn der Phantasie und reicht
-dem Sonntagskind eine große Trompetenblume als Fernrohr,
-»die ganze Welt zieht wie die Bilder eines Guckkastens
-an unsern Fensterchen vorüber. Mußt aber nicht durch
-dieses hier sehen, das ist die rosenfarbene Brille, durch das
-schauen nur die Faulen, die ihre Gedanken nicht anstrengen
-mögen &ndash; <i>nota bene</i>, wenn sie welche haben &ndash; und jenes
-Fenster dort ist gelb wie der Neid und dieses rot wie Blut,
-als ob die Welt in Feuer stünde. Nein, schau hierher &ndash;
-Clematis und Weinranken haben ein schönes, kleines Guckloch
-gebildet, ein Vöglein, das früh morgens zur Sonne
-singt, hat sich drüber ein Nestlein gebaut &ndash; <em class="ge">das</em> Glas
-ist klar und wahr wie meiner Mutter Augen. Komm, Du
-Sonntagskind, laß mich über Deine Schulter lehnen und Dir
-sehen helfen.«</p>
-
-<p>»Nein, wie ist die Welt klein!« ruft das Sonntagskind
-verwundert.</p>
-
-<p>»Nicht wahr?« antwortet der Geselle, »und Du hast sie
-immer für so riesengroß und wichtig gehalten.«</p>
-
-<p>»Und die Menschen &ndash; wie Zwerge! Sieh' nur das
-Gewimmel!« lacht das Sonntagskind.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_012" title="12"> </a>
-»Ja, das macht Spaß, die Welt übersehen zu können,«
-nickt der Geselle und die Glöckchen an seiner Schellenkappe
-klingeln dazu.</p>
-
-<p>Da draußen in der Welt krabbelt's, prustet's, keucht's
-und läuft und schiebt und stößt &ndash; die Großen drängen
-die Kleinen zur Seite, die Starken schlagen die Schwachen
-tot, und die Armen wehklagen gen Himmel.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Wie eilig sie es alle haben!« wundert sich das Sonntagskind.</p>
-
-<p>»O sieh' nur, sieh' &ndash; den alten Mann, einen Kahlkopf
-hat er und unterm Kinn einen grauen Ziegenbart, und die
-Augenbrauen stehen wie Borsten in die Höhe und die Augen
-glitzern gierig darunter hervor. &ndash; Sieh', wie er an dem
-Sack zerrt, wie Gold schimmert es durch die Löcher &ndash; er
-kann ihn kaum regieren und Angst und Zornesthränen
-rinnen aus seinen Augen.«</p>
-
-<p>»Ja, und er trägt rot und weiß gestreifte Hosen und
-einen blauen Rock,« sagt Puck, »und er kaut Tabak, und
-er flucht englisch, wenn die andern seinem Geldsack zu nahe
-kommen.«</p>
-
-<p>»Ach, und jener dort &ndash; mit großen Sprüngen, mit
-ellenlangen Schritten setzt er dem kleinen Irrlicht nach,
-das über Berg und Thal, durch Sumpf und Morast vor
-ihm herhüpft, und sieh' nur, wie seine Frau sich anstrengt,
-mitzukommen.«</p>
-
-<p>»Sieh, sie hebt ihre schönen, seidenen Kleider auf, daß
-sie nicht schmutzig werden, und patsch! springt sie mit
-beiden Füßen in die Wasserlache &ndash; nachher läßt sie die
-Kleider wieder drüber hängen &ndash; dann sieht man ihre
-beschmutzten Füße nicht &ndash; und guck! das Irrlicht sieht
-aus wie ein Ordensbändchen.«</p>
-
-<p>»O, aber hier, wie schrecklich &ndash; sie bücken sich tief zur
-Erde, damit andere auf ihre Rücken treten können und
-<a class="pagenum" id="page_013" title="13"> </a>
-weiter schreiten dort hinauf, wo es so glitzert und gleißt
-wie von Prunk und Geschmeide. &ndash; Und dort läßt sich
-einer schlagen &ndash; ach, geduldig und wehrt sich nicht!«</p>
-
-<p>»Liebes Kind,« sagt der Gesell, »die sind aus dem
-Land, wo die Bedienten gut geraten.«</p>
-
-<p>»Lieber Gesell &ndash; o siehst Du den Mann dort in der
-Ferne &ndash; mit bleichen Lippen, mit rollenden Augen? Siehst
-Du, wie er mordet und zittert und flucht und betet, wie
-er angstvoll sich windet&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Liebes Kind &ndash; der sitzt auf einem Thron, der wackelt
-hin und her, und er trägt den Wahnsinn als Krone und
-als Scepter eine blutrote Brandfackel &ndash; wenn er die von
-sich schleudert, dann bebt die Erde von Kanonendonner und
-Menschengestöhn &ndash; und ›Väterchen‹ nennt sich der Mann,
-liebes Sonntagskind.«</p>
-
-<p>»Ach, mein Geselle, wo wollen die vielen Menschen hin,
-die dort mit den feinen, kostbaren Kleidern angethan, die
-ein mit Silber beschlagenes Buch und einen Geldbeutel in
-den Händen tragen, die, mit den frommen, ergebenen Gesichtern&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»In die Kirche, Du dummes Sonntagskind, auf daß
-der Prediger ihnen in tönenden, salbungsvollen Worten
-die Angst vom Herzen rede. Dann thun sie, als ob sie's
-glauben, was er sagt, und gehen neugestärkt nach Hause
-und &ndash; leben weiter.«</p>
-
-<p>»Und siehst Du jene Schar dort, mein Geselle, Ballettänzer
-scheinen sie zu sein. Hei! was sie für Sprünge
-machen! &ndash; Schau, die wunderlichen Gesten, und wie elegant
-sie zu posieren verstehen &ndash; dem Publikum eine rechte
-Augenweide. Aber doch &ndash; ich glaube sie thun nur so, es
-ist ihnen nicht wohl ums Herz &ndash; sie schauen bleich aus,
-trotz Schminke und Puder. &ndash; Sag, mir, was sind's für
-Leute?«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_014" title="14"> </a>
-»Liebes Kind &ndash; Litteraten sind's, moderne aus dem
-neunzehnten Jahrhundert, und die barocken Sprünge und
-eleganten Posen machen sie aus Angst, um sich und das
-Publikum d'rüber hinwegzutäuschen.«</p>
-
-<p>»Und, mein Geselle, sieh' den Mann dort hinter dem
-Ofen, in Schlafrock und Pantoffeln, mit langer Pfeife und
-dem Bierseidel in der Hand. &ndash; Recht unzufrieden scheint
-er mir zu sein, er rückt unruhig hin und her &ndash; horch! er
-schilt und gebraucht böse Worte.«</p>
-
-<p>»Ja, liebes Kind &ndash; das Bier schmeckt nicht, und die
-Kartoffeln sind mißraten, und die Pfeife qualmt und durch
-die Schlafrockärmel pfeift der Wind, und die Pantoffeln
-sind unbequem. Da hadert er mit seinem langmütigen
-Herrgott im Himmel droben, mit dem Brauersknecht, dem
-Nigger, dem Schuster und am meisten mit seiner lieben
-Frau &ndash; und es ist doch nur die Angst, die ihn in seiner
-eigenen Haut sich nicht wohl fühlen läßt. &ndash; Ja, und
-›Philister‹ nennt man den Mann, liebes Sonntagskind.«</p>
-
-<p>»Ach, und, mein Geselle, dort jene Hungernden, Darbenden,
-Elenden, jene Neidischen, Unzufriedenen, Hassenden,
-auf was warten sie finstern Auges, trotziger Stirn, rachsüchtigen
-Herzens? Und dort jene Ballgeschmückten, die
-im Reigen sich drehen! Was ziehen sie in ihren Masken
-und Flittern einher, als wollten sie die Freude zu Grabe
-tragen?«</p>
-
-<p>Da faßt der Geselle das Sonntagskind bei den Schultern
-und wendet es ein wenig zur Seite:</p>
-
-<p>»Schau dort hinüber, liebes Kind,« sagt er, »sieh' weithin
-über die Welt!«</p>
-
-<p>Da steht auf einem Berge, hoch über dem Gewirr, Gewimmel,
-Gehast, ein großes, starkes Weib, das schwingt
-mit grimmigem Lächeln, mit finsterem Angesicht eine Peitsche
-in ihren Händen, deren vielteilige, zackige Enden zischend
-<a class="pagenum" id="page_015" title="15"> </a>
-über die ganze Welt hinsausen &ndash; und hohnlachend sieht
-das Riesenweib, wie die Menschen angstvoll zusammenfahren
-und bei jedem Schlage noch verwirrter durcheinander
-rennen.</p>
-
-<p>»Die Wolke, die große Wolke!« ruft das Sonntagskind
-entsetzt, »siehst Du, wie sie über die Welt hinfährt? Hörst
-Du sie zischen und brausen? Das ist sie, die mich so erschreckt!«</p>
-
-<p>»Ja,« antwortet der neben ihm und richtet sich auf
-zu voller Höhe und seine Augen blitzen.</p>
-
-<p>»Das ist die Wolke &ndash; das ist die große Angst, die
-schwer auf der Welt liegt, die Angst der Völker vor etwas
-Entsetzlichem, etwas Furchtbarem, das über sie kommen
-wird, wie der Blitz durch die Wolken fährt. &ndash; Wird es
-sie vernichten? Wird es die Welt zerschmettern, zu nichts
-zertrümmern &ndash; oder wird aus dem Chaos ein Neues entstehen,
-ein Herrliches, wie der Vogel Phönix aus der Asche!
-Sie wissen's nicht und beben vor Furcht und wagen kaum,
-tief Atem zu holen.«</p>
-
-<p>»Gibt es denn gar kein Mittel, um die Welt von dieser
-wahnsinnigen Angst zu befreien, auf daß sie ihr kühn entgegenblicke
-und ihre ganzen Kräfte anstrenge, dem Schrecklichen
-mit Vernunft entgegen zu arbeiten?« fragt das
-Sonntagskind schüchtern.</p>
-
-<p>»Ach, liebes Sonntagskind,« lächelt der Geselle und
-schüttelt seine Glöckchen, »das Mittel ist schon da und die
-Menschen kennen's auch, nur haben sie es vergessen. &ndash;
-&ndash; All die große, schwere Angst der Völker würde sich in
-nichts verflüchtigen, wenn sie nur ein klein wenig mehr
-an &ndash; den kleinen Finger der Venus von Medici denken
-wollten.«</p>
-
-<p>»An den kleinen Finger der Venus von Medici?« fragt
-das Sonntagskind mit großen, verwunderten Augen.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_016" title="16"> </a>
-»Komm,« sagt der närrische Geselle, und schweigend
-wandern sie durch die Nacht tief in den Garten hinein.
-Da stehen sie vor einem dichten Gebüsch, von lauter seltsamen
-Sträuchern gebildet; Pinien wiegen ihre schlanken
-Wipfel und dunkler Lorbeer schmiegt seine Zweige ineinander.
-Aber des Mondes Strahl dringt doch hindurch &ndash;
-oder ist es das schöne Weib dort, das den wundersamen
-Glanz ausstrahlt? Da steht sie in ihrer schimmernden,
-weißen Nacktheit inmitten all dem Grünen &ndash; zierlich treten
-ihre schlanken Füße den Boden, die linke Hand deckt schamhaft
-den Schoß, die rechte den schneeigen Busen, und der
-wunderbare kleine Finger dieser rechten Hand spreizt sich
-ein wenig von den andern ab, zur Seite geneigt hält sie
-das schöne Haupt &ndash; lauscht sie?&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Betäubt von all ihrer Schönheit sinkt das Sonntagskind
-in die Knie. Der Geselle aber tritt bescheiden hin
-vor das wonnevolle Weib, schleudert seine Narrenkappe
-zur Seite und faltet bittend die Hände:</p>
-
-<p>»Hehre Göttin, süße Königin, Dein Knecht, dem Du
-stets Dich huldvoll geneigt hast, dem Du so manchesmal
-aus der Not geholfen, in die ihn sein Uebermut gestürzt
-hat &ndash; Dein dankbarer Liebling naht sich Dir mit einer
-demütigen Bitte: Gib diesem Menschenkinde, das zu uns
-in seinem Kummer geflüchtet ist, einen Trost auf seinen
-Weg, den es der Welt verkünden kann. Laß es die Macht
-Deines vornehmen kleinen Fingers ahnen &ndash; zeig' ihm,
-warum Du ihn so entzückend neckisch gespreizt hältst.«</p>
-
-<p>Da lächelt Venus: »Nun, wozu sollte er denn sonst
-wohl gut sein,« sagt sie schelmisch, erhebt die rechte Hand,
-läßt sanft den kleinen gespreizten Finger in die zierliche
-Ohrmuschel gleiten und schüttelt ihn ein wenig &ndash; dann
-lauscht sie lächelnd freudig in die Ferne.</p>
-
-<p>»Ich höre wieder die bebenden Laute der Liebe und
-<a class="pagenum" id="page_017" title="17"> </a>
-des Erbarmens &ndash; himmlisch wohllautend dringen sie in
-mein Ohr!«</p>
-
-<p>»Sieh', kleines Sonntagskind,« sagt der ernsthafte Geselle,
-»wie die Venus mit ihrem kleinen Finger die Spinnenweben
-der Lüge und Heuchelei und Hartherzigkeit aus
-ihrem Ohr hinaus schüttelt, so sollten es auch die Völker
-thun, dann würde die große, schwere Angst von ihnen
-weichen und die bebenden Laute der Liebe und des Erbarmens
-auch an ihr Ohr dringen.</p>
-
-<p>»Pah,« lacht er dann, nimmt seine Schellenkappe auf
-und wirft sie in die Luft, daß die silbernen Glöckchen
-klingeln, »armes Sonntagskind &ndash; die Welt wird Dich
-steinigen, wirst Du ihnen das verkünden. Lache über sie,
-so wie ich, das ist das Einzige, was sie fürchtet.«</p>
-
-<p>Und mit immer länger werdenden Schritten, riesengroß
-anwachsend, ist er im Mondenlicht verschwunden.</p>
-
-<p>Dem Sonntagskinde aber hat die Venus gelächelt &ndash;
-tiefer Friede deckt seine schweren Augenlider.</p>
-
-<p>Hell scheint die Sonne ihm ins Angesicht, es steht auf,
-schaut verwundert um sich &ndash; dann erhebt es seine rechte
-Hand und schüttelt mit dem kleinen Finger ein wenig im
-Ohr &ndash; es lauscht &ndash; eine Lerche steigt jubelnd gen Himmel
-&ndash; und in ganz weiter, weiter Ferne hängt ein dunkles
-Wölkchen am Horizont.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_018" title="18"> </a>
-Der gefesselte Cupido.</h2>
-
-
-<p>Eines Tages saß Cupido &ndash; ich meine nicht den patentierten,
-konzessionierten Heiratsvermittler und Rechenmeister
-des neunzehnten Jahrhunderts, sondern das liebe, mutwillige
-Bübchen, von dem Anacreon erzählt und Goethe in
-seiner »Brautnacht«&nbsp;&ndash;, der saß eines Tages im Olymp
-und langweilte sich. Er hatte zwar eben erst allerlei
-Schabernack verübt, hatte sogar dem Vater Zeus einen
-Brand-Pfeil ins Herz gesandt, so daß er nicht wußte, nach
-welcher hübschen Erdentochter er zuerst schmachten sollte,
-hatte versucht, die lange Artemis anzuschießen, aber vergebens,
-ebenso die Athene; und aus Rache dafür, daß sie
-ihm ihren kolossalen Minervaschild vorhielt, zupfte er ihre
-Eulen, die sie just fütterte, am Schwanz, so daß sie entrüstet
-»Huhu« sagten. Tante Juno hatte ihm sehr energisch
-auf die Finger geklopft, als er den Nymphen allerlei
-süße Dummheiten ins Ohr flüsterte und schließlich sogar
-den Dienerinnen der Vesta nachstellte; da war er zu seiner
-holdseligen Mutter Aphrodite geflüchtet, und sie breitete
-ihm sehnsüchtig die Arme entgegen, und schwirr, da flog
-der Pfeil und stak ihr im Herzen. Der böse, liebe Junge
-&ndash; aber Aphrodite lächelte &ndash; sie war's ja gewohnt! &ndash;
-<a class="pagenum" id="page_019" title="19"> </a>
-Nun saß Cupido auf einer Wolke und bammelte mit den
-Beinchen und guckte zur Erde hinab und langweilte sich.
-Da kam Hermes daher geflogen, der hatte irgend einer
-Schönen im Auftrage des Vaters Zeus eine Düte Ambrosia
-gebracht und dafür ein Stelldichein verabredet. Er
-mochte den Cupido gut leiden und hockte sich ein wenig
-zum Ausruhen neben ihn.</p>
-
-<p>»Du &ndash; weißt Du, was sie da unten mit Dir gemacht
-haben?« fragte er ihn.</p>
-
-<p>»Nee &ndash; was denn?«</p>
-
-<p>»Erst 'mal haben sie Dich riesig elegant angezogen, im
-schwarzen Frack und Cylinder, und sie sagen, Du hießest
-gar nicht Amor, sondern Puck; und außerdem wäre es unanständig,
-wenn man nackt ginge. Und dann haben sie
-Dir eine große Brille aufgesetzt, weil Du blind wärest, sagten
-sie und haben Dir Deinen Köcher mit Goldstücken statt mit
-Pfeilen gefüllt, das zöge besser, sagten sie, und haben Dir
-statt eines Bogens ein Tintenfaß in die Hand gegeben und
-Dir eine Feder hinters Ohr gesteckt, damit Du gleich die
-Ehekontrakte ausschreiben könntest, sagten sie, und wenn Du
-doch 'mal ganz splitterfadennackt, ganz natürlich, ohne alle
-Zuthaten zu ihnen kommen wolltest &ndash; sie möchten Dich
-eigentlich ganz gern so, sagten sie &ndash; dann müßtest Du aber
-durchs Hinterthürchen schlüpfen, damit dich ja auch keiner
-sähe, denn sonst genierten sie sich, sagten sie.«</p>
-
-<p>»Beim heiligen Kriegsungewitter!« fluchte Cupido &ndash;
-»das ist ja eine ganz urweltliche Bande!«</p>
-
-<p>»Hör' nur weiter &ndash; es kommt noch besser. Da hat
-sich einer &ndash; so'n ganz vertrocknetes Kerlchen mit einer
-Brille auf der Nase, auf einen hohen Stuhl gesetzt, und
-hat mit dem Finger &ndash; weißt Du, mit so einem langen
-knöcherigen &ndash; auf den Tisch geklopft und hat gesagt: Es
-gäbe Dich gar nicht, Du wärest eine Mythe, und die Liebe,
-<a class="pagenum" id="page_020" title="20"> </a>
-das wäre eine Nervenaufregung, die leicht in Irrsinn übergehen
-könnte, und deshalb hätten die weisen Männer Gesetze
-gemacht, nach denen die Gefühle geregelt würden.«</p>
-
-<p>Da sprang aber Cupido in die Höhe:</p>
-
-<p>»Heilige Mutter Aphrodite! Gesetze? Für mich? &ndash;
-Na &ndash; das möchte ich mal sehen. &ndash; Liebster, bester Hermes,
-geh' &ndash; sattle mir schnell den blanken Stern da, ich will
-hinunterreiten, das muß ich mir aus nächster Nähe betrachten!«</p>
-
-<p>Und da saß er schon auf seinem glänzenden Stern und
-fuhr hinab, und auf der Erde sagten sie: Da fällt eine
-Sternschnuppe.</p>
-
-<p>Es kam aber dem Cupido furchtbar kalt vor im neunzehnten
-Jahrhundert, obwohl es im August war, wo die
-meisten Sternschnuppen fallen, und bei Sonnenaufgang fror
-es ihn ganz erbärmlich, trotz des Umschlagetuches, das ihm
-das alte Hökerweib geschenkt hatte. Die saß schon am
-ganz frühen Morgen mit ihren Körben auf dem Markte,
-und wie sie den nackten, kleinen Gesellen daherkommen sah,
-da wurde es ihr so weich und sehnsüchtig ums Herz, sie
-meinte, es wäre Mitleid &ndash; es war aber die Erinnerung:
-sie sah sich wieder jung und hübsch, sie war beim Tanz
-unter der Linde, der schönste Bursche schwang sie im Reigen
-&ndash; heißa! &ndash; hoch in die Luft, daß die Röcke flogen, und dann
-küßte er sie. Und da machte sie die Augen auf, und vor
-ihr stand wieder der drollige kleine Junge. Der nahm
-das Höckerweib frischweg beim Kopf und gab ihr einen
-Kuß für das Umschlagetüchelchen, das sie ihm gegen die
-Kälte geschenkt, und die Alte faltete die Hände und träumte
-von ihrer Jugend. &ndash;&nbsp;&ndash; Den Cupido fror es aber doch
-an den nackten Beinchen, und er dachte: »Ich will doch
-sehen, ob ich nicht irgendwo hineinschlüpfen kann und mich
-wärmen.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_021" title="21"> </a>
-Doch da kam er schön an.</p>
-
-<p>»Was willst Du hier?« fuhren sie ihn im ersten Hause
-an &ndash; »Du bist so unbequem &ndash; mach', daß Du fortkommst!«
-Im zweiten öffneten ihm zwei alte Jungfern die Thür,
-liefen kreischend davon und schrieen:</p>
-
-<p>»Hülfe &ndash; ein Sansculotte &ndash; er hat nichts an!« Und
-der dicke Mops saß auf dem Sofa und bellte ihm nach.
-Im dritten Hause fragten sie höflich verwundert: »Was
-wollen Sie hier? Wir sind ja verheiratet.«</p>
-
-<p>Im vierten hielten sie ihm einen Ehekontrakt unter die
-Nase, und im fünften sprachen sie von Gesetzen und &ndash;
-da wurde Cupido böse und sagte:</p>
-
-<p>»Wartet, ich will Euch! Ihr wollt mich hier verleugnen?
-Bei unserer lieben Frau von Milo &ndash; Ihr sollt es büßen!«
-Er schwang sich in die Lüfte, spannte den Bogen, und &ndash;
-huidi! &ndash; da schwirrten die Pfeile! Er schoß blindlings
-drauf los, ganz einerlei, ob nach Grundsatz oder Gesetz &ndash;
-aber sie trafen. Und nun gab es eine heillose Verwirrung
-unter den Menschen; sie hatten geglaubt, den Liebesgott
-hinwegspotten und -klügeln zu können, und da war er plötzlich
-mitten unter ihnen und sie duckten sich, bange, wehklagend
-und nach Hülfe wimmernd. &ndash; Da ist ein Mägdlein
-gekommen. Wie Cupido das erblickte, verschwand der
-Zorn aus seinem Angesicht, lächelnd sah er es an &ndash; und
-wählte seinen allerschönsten Pfeil, mit dem er schon einmal
-seine holde Mutter geritzt hatte. &ndash; Es war aber ein trotzig
-Mägdelein. Keck schauten die Augen in die Welt hinein
-und sein roter Mund sagte:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;»Was frag' ich nach Liebe?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;Mir liegt's nicht im Sinn!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;Wohl hab' ich ein Herzel&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;Doch pocht es nicht drinn!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und daß Ihr's nur wißt, und daß Ihr's nur wißt:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es hat mich noch keiner, noch keiner geküßt!</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;Zwar hab' ich ein Mündlein<a class="pagenum" id="page_022" title="22"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;Und seht nur &ndash; wie rot!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;Und ach &ndash; wie kann's lachen&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;Das macht Euch viel Not!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Doch daß Ihr's nur wißt, doch daß Ihr's nur wißt:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es hat mich noch keiner, noch keiner geküßt!«</td></tr>
-</table>
-
-<p>Horch! &ndash; da schwirrt es und singt und klingt! Und
-sieh' &ndash; da steckt der Pfeil in der schönen, weißen Mädchenbrust&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Das trotzige Mägdelein hat mit der Hand ans Herze
-gegriffen, ist glührot geworden, ist scheu davon geschlichen.
-Aus der Ferne tönt es:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Nun frag' ich nach Liebe&nbsp;&ndash;&emsp;&emsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Nun trag' ich's im Sinn!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Nun fühl' ich mein Herze!&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es pocht so darin!«</td></tr>
-</table>
-
-<p>Und Cupido lauscht, biegt sich vor und lächelt, blinkt
-mit den Schelmenaugen, hebt deutend das weiße Fingerchen,
-und spitzbübisch singt er ihr nach:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Und daß Ihr's nur wißt, und daß Ihr's nur wißt:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Just hat sie der Liebste, der Liebste geküßt!«&nbsp;&ndash;</td></tr>
-</table>
-
-<hr />
-
-<p>Gerade da kam ein Mann des Weges gegangen, der
-war ein Sonntagskind, der konnte schauen, was andern
-verborgen war &ndash; der hat den kleinen, herzigen Schlingel
-stehen sehen, wie er dem trotzigen Mägdelein nachgehöhnt
-hat. »So sollst du ewig sein!« sagte er.</p>
-
-<p>Cupido aber ist ihm entgegengehüpft, denn der Mann
-war ein Künstler, und die Künstler stehen auf gar vertrautem
-Fuße mit all dem lustigen, alten Göttergesindel &ndash;
-<a class="pagenum" id="page_023" title="23"> </a>
-er ist geduldig mit ihm gegangen und hat sich in marmorne
-Fesseln schlagen lassen. Und so steht er da in der ganzen
-Pracht seiner Schönheit, ein wenig nach vorn geneigt, das
-süße Schelmengesicht voll Sonnenschein, das Fingerchen erhoben
-und deutet auf euch, die er euch eben mitten ins Herz
-getroffen hat &ndash; und lachend klingt's von seinen Schelmenlippen:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Und daß Ihr's nur wißt, und daß Ihr's nur wißt:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Nun wird die Liebste vom Liebsten geküßt!«</td></tr>
-</table>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_024" title="24"> </a>
-Psyche.</h2>
-
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl"><i>»Ich saz ûf eime steine,</i></td></tr>
- <tr><td class="tdl"><i>und dahte bein mit beine:</i></td></tr>
- <tr><td class="tdl"><i>dar ûf sazt ich den ellenbogen:</i></td></tr>
- <tr><td class="tdl"><i>ich hete in mîne hant gesmogen</i></td></tr>
- <tr><td class="tdl"><i>daz kinne und ein mîn wange,«</i></td></tr>
-</table>
-
-<p class="in0">sagt Walter von der Vogelweide. So sitze ich im Gips-Museum
-und träume vor mich hin und lasse mir von
-Antinous verliebte Blicke zuwerfen.</p>
-
-<p>O, Du Abbild erster, toller, süßer Liebe!</p>
-
-<p>Erste Liebe &ndash; wo man liebt, ich möchte sagen, um zu
-lieben, um sein eigen Herz einmal pochen zu hören, um
-voll Seligkeit zu verzweifeln, und weinend zu jubeln &ndash;
-wo ein liebes Auge, eine schöne Gestalt, ein lustig-gutes
-Lachen, einem vollauf Grund genug zum Lieben scheint.</p>
-
-<p>Später freilich, dann, meine ich, wenn die wahre, einzige,
-ewige Liebe über einen kommt, wenn man mit vollem
-Verstande, mit ganzer Ueberlegung, mit festem Willen liebt,
-dann &ndash; ja, dann verlangt man freilich mehr, wie Du,
-schöner Antinous, bieten kannst.</p>
-
-<p>Sieh', der letzte, warme Sonnenstrahl hängt aufleuchtend,
-zögernd an seinem holden Antlitze.</p>
-
-<p>Er lächelt.&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_025" title="25"> </a>
-Der Faun da hinter ihm guckt schelmisch um die Ecke:
-»Reizender Bengel! Nicht wahr?« grinst er vergnügt, und
-die zwölf Apostel am Sarge des heiligen Sebald schüttelten
-vorwurfsvoll ihre bärtigen Häupter. Warum, o meine
-hochverehrten Herren, begaben Sie sich auch in diese heidnisch-vergnügte
-Gesellschaft? Wird es Ihnen nicht ganz
-sonderbar zu Mute?</p>
-
-<p>Es geht ein wunderlich Flüstern durch den Saal und
-ein Beben durch die nackten, weißen Götter-Menschenleiber.
-Mir schwimmt es vor den Augen und mein Herz
-klopft. Soll ich fliehen? Schnell zur Türe!</p>
-
-<p>Ah, die ist geschlossen! Sie haben mich vergessen in
-meiner Ecke hinter den zwölf Aposteln, und ich bin allein
-im ganzen Haus &ndash; allein, und doch in der allerbesten
-Gesellschaft. Mir ahnt, jetzt wird sich etwas begeben, etwas
-wunderlich Liebliches, himmlisch Schönes. Ein seltsames
-Leben und Weben zittert in der ganzen Luft, und ich verstecke
-mich still und neugierig und warte &ndash; worauf? Ich
-weiß es selber nicht.</p>
-
-<p>Doch &ndash; was ist das? Träume ich? Wache ich? Ein
-zitternder Laut, halb Seufzer, halb Jubel. &ndash; Woher kommt
-er? Aus den Herzen der toten Gestalten? &ndash; Sieh' &ndash; sie
-leben! Sie heben die Arme, sie bewegen sich &ndash; das Blut
-rinnt durch die Adern, sie atmen, und doch sind's keine
-Menschen. Denn durchsichtig werden die Glieder von Gips,
-sie schimmern und glänzen, geisterhaft, geheimnisvoll &ndash;
-das ist Ewigkeit, die von den weißen Stirnen leuchtet, und
-sieghaft strahlen die klaren Augen. &ndash; Ach, und demütig
-beuge ich mein Knie.</p>
-
-<p>Lautlose Stille. &ndash; Da ertönt mächtig, wie Donnerrollen,
-gewaltig, wie Schlachtenruf, eine Stimme, die schallt
-durch den ganzen Saal: »Ist es fort, das elende Gesindel,
-das sich Menschen nennt, und sich so unendlich viel dünkt,
-<a class="pagenum" id="page_026" title="26"> </a>
-daß es sich herausnimmt, uns stundenlang anzustarren und
-unsere Götterleiber zu kritisieren? &ndash; Sind wir allein? &ndash;
-Gebt Antwort!«</p>
-
-<p>Apollo ist's, von Belvedere, er tritt hervor in Herrlichkeit
-und Majestät, und zu ihm gesellt sich Mars, der da
-mit aller Arroganz auftritt, deren nur ein Kürassier-Lieutenant
-fähig ist, sei es auch ein olympischer; und er gähnt
-herzhaft und schüttelt die prächtigen Glieder, und die Venus
-von Milo sieht ihn holdselig an. Er aber fährt sich mit
-der Hand durch die krausen Locken, die Erinnerung an
-selige Stunden überkommt ihn, und schmunzelnd nickt er
-ihr herablassend liebevoll zu:</p>
-
-<p>»Venuschen, kleiner Schatz, bist Du immer noch in
-meiner Nähe? Geh', frage doch einmal Deinen niedlichen
-Schlingel von Jungen, ob die Luft ganz rein ist, ob wir
-uns endlich ein bischen gehen lassen können, nachdem wir
-den ganzen Tag so ehrbar dagesessen haben! Der kleine
-neugierige Bengel hockt natürlich da, wo es am meisten
-zu gucken gibt.«</p>
-
-<p>Und wunderbar! Die hochmütige, vornehme Dame von
-Milo nimmt diese etwas familiäre Anrede gar nicht übel,
-ja, ein Lächeln spielt sogar um den stolzen Mund, der so
-oft verächtlich auf die Besucher des Museums herunterblicken
-kann.</p>
-
-<p>»Mamachen, Mamachen,« ruft eine piepsige Stimme,
-und der pauspackige, kleine Gesell, das Kind Amor, springt
-von seiner Marmorsäule herunter, stellt sich dicht vor mich
-hin und nickt mir zu.</p>
-
-<p>»Mamachen, hier sitzt noch eine in der Ecke; aber sie
-sagt nichts. Ein ganz kleines Mädchen ist es, und sie
-macht große, verwunderte Augen, und ihre Stirn leuchtet
-eben so weiß, wie Deine!«</p>
-
-<p>»Hinaus mit ihr! Hier werden keine Sterblichen geduldet!
-<a class="pagenum" id="page_027" title="27"> </a>
-Wir wollen keine Lauscher,« sagt die lange Diana
-von Versailles mit ihrer scharfen Stimme, »hetzt die Hunde
-auf die Unberufene.«</p>
-
-<p>»Willst Du hier das große Wort führen?« lächelt unsere
-liebe Frau von Milo etwas höhnisch, »alte Jungfern
-sind freilich flink mit der Zunge, aber ich denke, wir, die
-wir unsere Aufgabe im Leben &ndash; Lieben und Geliebtwerden
-&ndash; erfüllt haben, wir gelten mehr hier im Reich der
-Freude!«</p>
-
-<p>Diana zuckt die schlanken Schultern und hüllt sich keusch
-in vornehmes Schweigen.</p>
-
-<p>»Geh', Amorchen,« schmeichelt die tanzende Bacchantin
-&ndash; war sie nicht eben noch kopflos? Jetzt trägt sie ein
-lieblich-übermütiges Haupt auf dem zierlichen Hälschen.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Frag' sie einmal: Hast Du Jemanden lieb? Recht von
-Herzen, recht freudig? Und wenn sie ›Ja‹ sagt, dann laßt
-sie nur immer hier. Denkt wohl, ich sei ein dummes, kleines
-Ding, aber Amorchen, Du weißt, ich verstehe mich auf
-solche Sachen!«</p>
-
-<p>Und sie dreht sich im Tanz und schüttelt die anmutigen
-Glieder, daß der musikalische Faun neben ihr schnell ein
-lustiges »Klingkling« hören läßt. &ndash; Da erhebt sich eine
-Stimme, sanft, wie Windessäuseln, stark, wie Sturmeswehen
-und ernst, wie das Grab: Hermes spricht. Majestätisch
-ragt sein wunderbares Haupt über die andern hinweg,
-und seine armen zertrümmerten Glieder umgibt Würde
-und Hoheit.</p>
-
-<p>Götterbote! Glück und Freude, Schmerz und Tod trugst
-Du hin über alle Welt! Ich möchte niederknieen vor Dir
-und Deine ewige Schönheit anbeten und über Deine verstümmelten
-Glieder meine armseligen Thränen weinen!</p>
-
-<p>»Laßt sie gewähren, Ihr Götter,« sprichst Du, und
-Deine Augen sehen mich an, milde, verheißend &ndash; »denn ich
-<a class="pagenum" id="page_028" title="28"> </a>
-kenne sie. An ihrer Wiege stand ich und brachte ihr das
-Geschenk des himmlischen Vaters, beugte mich über sie,
-hauchte es in ihre Stirn, legte die Hand ihr auf's Herz,
-und da zog es ein &ndash; und küßte ihren Mund, und da
-lernte sie lächeln und &ndash; lieben.« Leise nickt er, und ich
-möchte weinen.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Horch! Das seltsame Geräusch! Rollend, rasselnd, im
-Takt sich wiederholend &ndash; dazwischen ein melodisches Pfeifen,
-ein kunstvoller Schnörkel am Ausgang des tiefen,
-rollenden Tones, behaglich einschläfernd klingt's in seinem
-rhythmischen Taktfall, seiner ruhigen Gleichmäßigkeit.</p>
-
-<p>Alle stehen und lauschen&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Da balanciert der alte, bärtige Silen das Bacchuskindlein
-geschickt auf dem einen Arm und deutet mit dem andern
-lächelnd über die Schulter auf den Faun hinter ihm,
-welcher, trunken von Wein und Freude, seine kolossalen
-Glieder im tiefen Schlafe dehnt. &ndash; Die kleine Bacchantin
-bricht in ein schallendes Gelächter aus: »Der Faun schnarcht!
-Denkt Euch, er schnarcht! Zuviel des feurigen Griechenweines
-hast Du getrunken, Du liederlicher, großer Gesell
-Du!« schilt sie und kitzelt ihm neckisch die Fußsohlen. Der
-Faun murmelt unverständliche Worte und bewegt die mächtigen
-Glieder und versucht den Arm zu erheben. Aber
-schwer sinkt die Hand auf den Felsen zurück, auf dem er
-ruht, und bald tönt wieder sein musikalisches Schnarchen
-mit dem lustigen Endschnörkel durch den Saal.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Heraus aus den Schluchten, aus Klüften und Thälern,
-kommt hervor aus den Quellen, huscht flink aus den Bäumen,
-ihr Nymphen, Dryaden, ihr schelmischen Mädchen,
-ihr lustiges Volk! Tanzt, lacht und singt, und hüpfet und
-springt! Weckt den faulen Schläfer dort und bittet Bacchos,
-den süßen Wein Euch zu reichen!«</p>
-
-<p>Eine klangvolle, frische Stimme schallt von der Thür
-<a class="pagenum" id="page_029" title="29"> </a>
-her. Diana ist es, aber nicht die lange Versaillerin: eine
-liebliche, mädchenhafte Diana, mit kurzem Röckchen, noch
-nicht ganz fertig mit der Toilette &ndash; und sie klatscht in die
-schlanken Hände, und unsere liebe Frau von Milo lächelt
-ihr holdselig zu.</p>
-
-<p>Nun wird es lebendig um mich her; allüberall aus den
-Winkeln und Ecken, die Treppen hinauf, hinunter kommt's
-gehuscht, geflogen, gekichert. Nackte, liebliche Mädchengestalten,
-üppige Weiber, bockshörnige Faune, tapfere Krieger,
-die vor Troja gefochten, ernstblickende Römer &ndash; alles wirbelt
-lustig durcheinander und sie umtanzen den schlafenden
-Faun, sie kitzeln ihm die Seiten und zausen ihm die Haare,
-sie halten ihm den würzigen Griechenwein unter die Nase
-und lachen ihm ein lustig Lachen in die Ohren, bis er die
-sehnigen Glieder reckt und streckt &ndash; da steht er mitten
-unter ihnen und dreht sich im wilden Reigen. Wie der
-Jubel sie alle begeistert, wie die tolle Lust sie hinzieht in
-ihr Freudenreich! Sieh' den alten Sokrates &ndash; mühsam
-kriecht er aus der Verzierung des römischen Sarkophags
-heraus, umgeben von den lieblichen Musen; Terpsichore
-tanzt Ballett, und da stehen Seneca und Demosthenes und
-Pindar und Cäsar und viele alte Kahlköpfe und sehen zu.
-Mit mächtigem Satz springt der borghesische Fechter in die
-Tanzenden hinein, eine weichhäutige Nymphe hoch in die
-Lüfte schwingend, die Ringkämpfer lassen ihren Zorn und
-stimmen in das fröhliche Gelächter ein; die beiden schlanken
-Discus-Werfer schleudern ihre Metallscheibe geschickt über
-die Köpfe der neun Musen hinweg, daß die alten Herren
-entsetzt von ihnen zurückweichen, und mein schwermütiger,
-holder Antinous küßt die schwellenden Lippen der liebetrunkenen,
-kleinen Bacchantin.</p>
-
-<p>Majestätisch ernst sehen die drei Parzen vom Parthenon
-in das Getümmel und Helios lächelt siegreich von
-<a class="pagenum" id="page_030" title="30"> </a>
-seinem Sonnenwagen hernieder. Frau Venus steht als
-Sonnenkönigin mitten unter den Jubelnden in aller Pracht
-und lächelt ihrem Volke voll Huld.</p>
-
-<p>Und die Dichterin Sappho öffnet ihren liederreichen,
-holdseligen Mund und flüstert schmachtend:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Die Du thronst auf Blumen, o Schaumgeborene,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Tochter Zeus, listsinnende, höre mich rufen!«</td></tr>
-</table>
-
-<p>Und da, ach, siehe da &ndash; die kokett verhüllte Göttin der
-Schamhaftigkeit sinkt sehnsuchtsvoll in die geöffneten Arme
-eines kräftigen, schöngestalteten Fauns. &ndash; Dacht' ich's
-doch!&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Ja, sogar die Tiere stimmen ein in die allgemeine
-Fröhlichkeit: die Schlangen des Laokoon lassen ab von
-ihren Opfern &ndash; des Vaters Stirn blickt heiter nun, und
-die sanften Knaben fürchten sich nicht mehr &ndash; und unterhalten
-sich mit der Eidechse des schönen Appollo, des
-Eidechsentöters, dessen Körper etwas von der Geschmeidigkeit
-der Lacerte an sich hat &ndash; und der Panter des Bacchos
-(der Riesenkater) lauscht grimmig-herablassend dem Gespräch.</p>
-
-<p>Doch, was ist das? Fürwahr, eine seltsame Prozession:
-langsam ziehen sie einher, im ehrbaren Reigen sich schwingend,
-gravitätisch-lüstern die Blicke um sich werfend, und jeder
-am Arme ein sittsam Dämchen mit unendlich vielen Kleidern
-&ndash; zimperlich geschürzt mit geübter Rechten.</p>
-
-<p>Wahrhaftig, die zwölf Apostel sind's an der St.&nbsp;Sebalds-Kirche
-und irgend welche heilige Damen, die hoch oben im
-Christenhimmel thronen, haben sie sich zum Heidentanz
-engagiert.</p>
-
-<p>So ist's recht! Hebt die Füße, streckt die Arme, hierhin,
-dorthin, auf und ab!</p>
-
-<p>Tanzt lustig den Reigen und dreht Euch im Kreise.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Mitten im zierlichen Tanz stehen die heiligen Weiblein
-<a class="pagenum" id="page_031" title="31"> </a>
-bewundernd vor dem schönen, nackten Leib des Antinous,
-dem offenbarenden Mund des heiligen Johannes entströmen
-Worte der Begeisterung über die Wunder der Weibesschönheit,
-der heilige Paulus seufzt: »Hieße ich doch noch Saulus!«,
-und der heilige Petrus rasselt mit den Himmelsschlüssel-Castagnetten
-dazu. Und sie schwingen sich im Kreise, daß
-die heiligen Gewänder fliegen, die heiligen Bärte wehen
-und der heilige Schweiß von den heiligen Stirnen rieselt.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Bim, bim &ndash; bim, bim! Horch! Ein Glöcklein! Das
-Vesperglöcklein der St.&nbsp;Sebalds-Kirche.</p>
-
-<p>Schlaff sinkt der heiligen Schar der Arm, es stockt der
-Fuß &ndash; starren Auges schauen sie zur Thür. Da steht
-eine hagere Mönchsgestalt in brauner Kutte und winkt mit
-langem, dürrem Finger und bim, bim, &ndash; bim, bim, tönt's
-Glöcklein wieder. Stark wie Riesenarme ist die Macht der
-Gewohnheit! Dahin stürzen sie, die lieben Heiligen alle,
-in atemloser Hast sich überstürzend, überkugelnd.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Zur Vesper, zur Vesper!«</p>
-
-<p>Und der heilige Paulus-Saulus wendet sein bärtig
-Antlitz:</p>
-
-<p>»Ueber ein Weilchen werdet Ihr uns nicht mehr sehen,
-und über ein Weilchen werdet Ihr uns wiedersehen, wenn
-&ndash; wir die Vesper gesungen!«</p>
-
-<p>Ein lustig schallendes »Evoe!« antwortet ihm und &ndash;
-bim, bim &ndash; bim, bim tönt's Glöcklein von der St.&nbsp;Sebalds-Kirche.&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Banges Stöhnen, sanftes Klagen, todesmüde Laute
-dringen an mein Ohr:</p>
-
-<p>»Tod, was eilest Du? Nimmer begehr' ich Dein!« dringt's
-über die bleichen Lippen des sterbenden Sklaven Michel Angelos,
-und bang sinken seine schönen Glieder ineinander.</p>
-
-<p>»Wohl brannte die heiße Sonne Italiens erbarmungslos
-auf mich nieder, wohl sengte sie mir mein Hirn, meine
-<a class="pagenum" id="page_032" title="32"> </a>
-Seele; wohl fühlte ich die scharfe Peitsche auf meinen
-nackten Schultern, wohl schnitten mir rauhe Flüche ins
-Herz &ndash; aber ich lebte doch, und mit mir die Hoffnung!
-Bei den mitleidsvollen Strahlen der Sonne dachte ich an
-kühle Eichenhaine, beim Brausen des Sirocco an das Rauschen
-meines Nordlandmeeres, unter Blüten und Früchten
-und ewig blauem Himmel an Eis und Schnee, an Sturm
-und Regen. Und wenn die Peitsche des Vogts klatschend
-auf mich fiel, da &ndash; in meinen Gedanken &ndash; kühlte lieb
-Mütterleins Hand ihr Brennen und meines süßen Liebs
-Mund küßte mein Herz gesund.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Tod, zögere noch! Laß mir die Hoffnung, laß mir das
-Leben! Tod, warum kommst Du!«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Stirb doch! Dann bist Du frei!« antwortet ihm eine
-rauhe Stimme, und es rasselt wie von Ketten, dumpfes
-Stöhnen entringt sich der Brust seines gefesselten Kameraden
-neben ihm.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Freiheit, Freiheit! Gib mir Freiheit! Sie haben mich
-an diesen Felsen geschmiedet, meine Hände, meine Füße,
-meinen Leib &ndash; und ohnmächtig schüttle ich meine Ketten.
-Und weißt Du, warum sie mich fesselten? Warum sie
-mich des höchsten Gutes, der Freiheit, beraubten? Weil
-sie mich fürchteten, weil die Angst, die wahnwitzige Todesangst
-sie dazu trieb. Weil sie wußten, ich würde den
-Brand des Aufruhrs in die Welt hinaus schleudern, würde
-nicht eher rasten und ruhen, bis ich die alte Erde vernichtet,
-zertrümmert, daß eine neue aus ihr entsteht &ndash;
-gut, rein, stolz, wie <em class="ge">sie</em> sie <em class="ge">nicht</em> schaffen können.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Und darum nehmen sie mir meine Freiheit und werfen
-mich in Ketten, schmieden mich an und hohnlachen in mein
-Gesicht.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Du allmächtiges Wesen, das Du da oben über den
-Wolken thronen sollst, wenn Du mich verstehen kannst, so
-höre meinen Ruf:</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_033" title="33"> </a>
-»Gib mir Freiheit &ndash; oder laß mich sterben! &ndash;&nbsp;&ndash;
-Keine Antwort &ndash; ohnmächtig oder grausam bist Du &ndash;
-denn sieh', stark bin ich noch, und mein Herz schlägt, mein
-Kopf denkt noch, rastlos, unermüdlich, und &ndash; hörst Du's?
-&ndash; meine Ketten klirren höhnisch, immer weiter, immerzu!
-&ndash; O Tod, warum kommst Du nicht!«</p>
-
-<p>&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash; Lustig Rufen übertönt seine grollende Stimme,
-Beifallklatschen, Jauchzen, und dazwischen der Ruf: »Bacchos,
-Bacchos!« Und hierher wälzt sich der fröhliche Strom
-jubelnder Götter und Menschen und »Dich wollen wir,
-Bacchos, Gott der Freude, wo weilst Du so lange!« Sie
-knieen vor der schönen Jünglingsgestalt mit der berauschend
-lieblichen Traube neben ihm, und sie nehmen ihn in ihre
-starken Arme, und Nymphen und Göttinnen umschmeicheln,
-umkosen ihn. Da lassen sie ihn nieder, auf die Kniee des
-egyptischen Götzenbildes &ndash; denn das ist leblos und von
-Stein geblieben &ndash; und neigen sich huldigend vor ihm.
-Doch er erhebt den Arm und deutet mit der Götterhand
-auf die Marmorgebilde neuester Zeit, in der Mitte des Saales:</p>
-
-<p>»Was wollen die unter uns?« fragte er mit zorniger
-Stimme, »schafft sie fort &ndash; sie stören mich!« Athene steht
-neben ihm, die blauäugige, siegende Göttin; sie hört ihn, sie
-winkt ihrem Liebling, dem starken, schnellfüßigen Achill,
-und der&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Naus da, 'naus da aus dem Haus da! Fort mit
-dir, Gesindel!«</p>
-
-<p>Und jubelnd sehen alle, wie Zenobia in voller Kleiderpracht,
-eine falsche Oenone, ein paar weichliche Marmorkinder,
-eine vollbusige, schamlose Schönheit, zertrümmert
-die Steintreppe hinunterfliegen. &ndash; Dann aber neigt sich
-Achilles voll Anstand vor der Statue des Lincoln mit dem
-Sklaven und spricht mit Höflichkeit:</p>
-
-<p>»Mein Herr, gern mögen Sie unter Heroen weilen, aber
-<a class="pagenum" id="page_034" title="34"> </a>
-Sie werden begreifen, daß Sie dann auch in voller Heroen-Uniform
-zu erscheinen haben, und die möchte Ihnen vielleicht
-nicht gut stehen. Entschieden aber können wir in
-unserm Reich der Schönheit das Untier von Häßlichkeit da
-zu ihren Füßen unmöglich dulden.« Und Lincoln verbeugt
-sich verständnisvoll und verläßt den Saal.</p>
-
-<p>Da wankt eine müde Gestalt die Treppe herauf &ndash;
-einst der Stolz der Götter, immer die Freude der Menschen
-&ndash; und läßt sich schwer auf die Stufen nieder; die starken
-Schultern beugen sich, der Leib zieht sich schmerzlich zusammen,
-ein mächtiges Haupt sitzt plötzlich auf dem starren
-Nacken des Herkules-Torso und senkt sich matt, todesmatt;
-und klagend, grollend erfüllt eine Stimme den Saal:
-»Müde bin ich &ndash; endlich! Müde, der Welt zu dienen,
-müde, Undank zu ernten, müde, zu lieben, müde, zu leben&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Einst lag die Welt schön und gut vor mir, einst hatte
-ich Lebensmut, Lebenslust, einst habe ich gekämpft, gestritten,
-gerungen &ndash; und nun? Nun bin ich müde und
-möchte schlafen!«&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Die starken, trotzigen Glieder sinken zusammen, und
-das starke Haupt stützt sich schwer auf den kraftvollen Arm.</p>
-
-<p>Es nahen sich zwei schlanke, schöne Jünglingsgestalten,
-eng aneinander geschmiegt, die Arme verschlungen, und ein
-mildes Licht strahlt von ihnen aus. Da legt der eine ernst
-und leise die Hand auf die müde Stirn des Herkules&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Schlaf',« sagte er sanft.</p>
-
-<p>Da senkt der andere still die brennende Fackel zur Erde,
-daß sie erlischt&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Ewig,« lächelt er.</p>
-
-<p>Und voller Ehrfurcht beugt das lustige Göttervolk das
-Knie und huldigt dem Toten.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Liebliches Klingen, Singen, Getöne &ndash; ein wunderbar
-Leuchten, hell, sanft und mild&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_035" title="35"> </a>
-Da schwebt etwas die Treppe hernieder, zartduftig,
-schimmernd in weißer Pracht &ndash; himmlisch lieblich, lebensvoll
-schön &ndash; Ach, ich sinke in die Kniee und blicke zagend
-zu der göttlichen Gestalt der Medicäerin empor, denn <em class="ge">sie</em>
-ist es &ndash; Sie kommt zu mir, sie tritt vor mich hin, und
-ein wundersames Schauern durchbebt mir Kopf und Herz.
-Sie neigt ihr holdseliges Antlitz zu mir, und sie küßt mich
-auf den Mund, es rinnt wie Feuer durch meine Glieder.
-Neben ihr steht ein schöner Jüngling, dem strahlen viele
-kostbare Gedanken von der weißen Stirn. Er sieht mich
-an, ernst und voll kindlicher Weisheit, und spannt seinen
-Bogen und zielt gut &ndash; denn der Pfeil dringt mir mitten
-ins Herz hinein. Und dann &ndash; bin ich es noch? Lebe ich?
-Mir ist's so groß ums Herz &ndash; Sieh', meine Hände! Durchsichtig
-klar sind sie, und mein Körper schimmert, wie die
-der Marmorgestalten &ndash; Ach, meine Glieder zittern&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Da faßt Aphrodite mich an der Hand und führt mich
-den Uebrigen entgegen &ndash; Und Hermes lächelt zu mir:
-»Psyche, bist Du erstanden?«</p>
-
-<p>Jubelnd begrüßen mich alle, alle &ndash; und sie heben mich
-empor zu Nike, der Göttin des Sieges, und ich schmiege
-mich an ihren schönen Körper, der kein Haupt mehr auf
-ihren Schultern trägt.</p>
-
-<p>Du schwebst zwischen Himmel und Erde, o hehre Göttin!
-Thörichte Menschen schlugen Dir Dein stolzes Haupt ab,
-engherzige, fromme, nicht denkende Menschen. Sie sagten:
-Du dürftest Dein Haupt nicht erheben, mit Deiner freudigen
-Stimme die Menschen nicht begeistern, auf daß sie
-stumpfsinnig würden, wie jene selber. Ach, Du Göttin,
-Deine ganze Gestalt, Deine verstümmelten Arme, Deine stolzen
-Füße, die leisesten Falten Deines Gewandes &ndash; Alles spricht
-Sieg! Sieg über die Finsternis, die Kleinheit, über freche
-Gewalt, und fromme Erbärmlichkeit.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_036" title="36"> </a>
-Und sieh', in Deinen Armen hältst Du Psyche, die
-Seele, die Ewigkeit &ndash; und weit hinaus ragt Ihr, über
-alles herrscht Ihr, über Götter und Menschen!«&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Da, Licht! Es fällt durch die Fenster &ndash; es wird
-Tag&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Tiefe Stille &ndash;&nbsp;&ndash; Und ich fahre mit eisiger Hand über
-meine heiße Stirn &ndash;&nbsp;&ndash; und da stehe ich &ndash; ein armes,
-sterbliches Kind des nüchternen, kühlen, praktischen neunzehnten
-Jahrhunderts.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_037" title="37"> </a>
-Unser Frühling.</h2>
-
-
-<p>»Ich bin da &ndash; siehst Du mich?« sagte die Ranunkel
-zur Sonne, »sieh', ich glänze &ndash; bin ebenso golden wie Du!«</p>
-
-<p>Und sie richtete sich in die Höhe, spreizte ihre eigelben
-Blütenblättchen auseinander und sah unglaublich frech in
-die Welt hinein.</p>
-
-<p>Der Sonnenstrahl aber glitt über sie hinweg, über die
-Anemonen hin.</p>
-
-<p>»Ihr seid schöner als die gelbe Blume,« flüsterte er
-ihnen zu, und sie erröteten wie junge, bleichsüchtige Mädchen
-und wurden sehr stolz.</p>
-
-<p>»Was wollt Ihr hier?« riefen sie den Veilchen entgegen,
-die frisch und munter im grünen Röckchen und blauer
-Blouse anmarschiert kamen.</p>
-
-<p>»Ihr habt hier nichts zu suchen &ndash; das ist unser Boden.«
-Aber das kümmerte das Veilchen gar wenig. Ueberall, wo
-es Wurzeln fassen konnte, zwischen Ranunkeln und Anemonen
-und Kuhblumen, zwischen Moos und Gras, unter
-Blättern und Reisig, sogar zwischen den vornehmen, sonderbaren
-Frühlingsblumen, die erst vorsichtig einen Blätterregenschirm
-aufspannen, damit ihre kleinen weißen Blüten,
-<a class="pagenum" id="page_038" title="38"> </a>
-die sie unten am Stengel tragen, nicht naß werden &ndash;
-überall öffnete das Veilchen seine Blauaugen und lächelte
-sanft dem Frühling entgegen.</p>
-
-<p>»Seid Ihr ein exklusives Volk,« sagte der. Er saß mit
-gekreuzten Beinen auf einem allmächtig großen Schneckenhaus
-und hatte eine Blütenkrone auf dem Haupt und eine
-Weidengerte mit lustigen Kätzchen daran in der Hand; er
-spielte mit einem überjährigen Schneeballen, der irgendwo
-in einem Waldwinkel, von der Sonne vergessen, liegen geblieben
-war, und der schmolz jetzt und träufelte der Schnecke,
-die aus ihrem Fenster guckte und schrecklich große Augen
-machte, gerade auf die Nase, daß sie entrüstet ihre Fühlhörner
-einzog und das Fenster zumachte. Die Schmetterlinge,
-die den Frühlingsknaben umgaukelten und wie Blumen
-aussahen, die von ihren Stengeln geflogen und auf die
-Wanderschaft gegangen waren &ndash; gerade wie unsere sehnsüchtigen
-Gedanken mitunter &ndash; machten vor Vergnügen
-die lustigsten Capriolen in der Luft und schlugen übermütig-hastig
-mit den kleinen, bunten Sammetflügeln. »Ihr
-seid ein exklusives Volk hier im Walde,« sagte der Frühling,
-»jede Sippe hockt auf ihrem Fleckchen Erde für sich
-und macht scheele Gesichter, kommt ihm ein anderes zu
-nahe. Und erst die Bäume &ndash; hier die Eichen, dort die
-Tannen, drüben die Birken &ndash; die Weiden sind in die
-Wiese geflüchtet, damit sie's Reich für sich allein haben,
-und die Obstbäume wollen erst recht nichts von den andern
-wissen. Freilich &ndash; seid auch auf verschiedenem Erdreich
-groß geworden. &ndash; 'S wär' auch langweilig in der Welt,
-wär' alles über einen Kamm geschoren! Und doch &ndash; <em class="ge">Eine</em>
-strahlende Sonne scheint über Euch alle, und <em class="ge">ein</em> gütiger
-Regen erquickt Euch!« &ndash; Und der Frühling erhob sich vom
-Schneckenhaus und schlenderte davon. Gern hätte er die
-Hände in die Hosentaschen gesteckt, aber das ging nicht,
-<a class="pagenum" id="page_039" title="39"> </a>
-denn &ndash; er war ganz nackt und bloß wie die Natur selber,
-und der Sonnenstrahl strich gleitend vor ihm her und
-leuchtete ihm. Pfeifend und singend mit heller Stimme
-zog der Frühling durch den Wald; unter seinen Tritten
-sprossen die Blumen und sein Lachen &ndash; das war der
-Frühlingswind, der warme Südwind, der belebend über
-die Erde fuhr. Die Vöglein kamen und antworteten
-mit sehnsüchtigen Lauten. &ndash; Ueber den Wald hin schallt
-der starke Weckruf der Blauvögel. Sieh' &ndash; da blitzt es
-feuerrot auf &ndash; das ist ein lieblicher Sänger! Und horch!
-Hier die rostbraune Drossel &ndash; Hörst Du, was sie sagt?
-»Tüterlü! Der Frühling kommt! Siehst Du ihn &ndash; Du,
-Du, Du, Du!« &ndash; Und: »Komm' zu mir, komm' zu mir!
-Zerr &ndash; zeck, zeck, zeck, zeck!« bläst der Zaunkönig sein
-Kehlchen auf &ndash; wupp! schlüpft er durch die Hecke, und dahin
-geht's, im Lauf, geschwind wie ein Mäuschen. &ndash; Siehst
-Du den Specht? Weiße Hosen, schwarzes Röcklein und auf
-dem Kopf ein tiefrot Käpplein über dem schlauen, spitzen
-Näschen &ndash; ist doch gar ein putzig Weschen! Sieh', wie
-klug die schwarzen Augen funkeln, sieh' &ndash; wie er mit dem
-Frühling Verstecken spielt! Bald an dieser, bald an jener
-Seite des Stammes schimmert sein rotes Köpfchen und
-wirft ihm der Frühling eine Hand voll Blätter ins Gesicht,
-die sich schnell an die Zweige anklammern &ndash; hei!
-Da sitzt er schon ganz hoch oben im Baum und lugt
-schelmisch um die Ecke:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Pick, &ndash; pick, &ndash; pick, &ndash; pick &ndash; hier find' ich mein Mücklein!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Pick, &ndash; pick, &ndash; pick, &ndash; pick &ndash; hier schlag' ich mein Brücklein,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Von Baum zu Baum über Busch und Strauch&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ei, Frühling &ndash; geschwinde! Nun folge Du auch.«</td></tr>
-</table>
-
-<p>»Hahaha,« lacht die Spottdrossel wie toll und gleich
-darauf klingen langgezogene, friedliche Sehnsuchtslaute aus
-<a class="pagenum" id="page_040" title="40"> </a>
-ihrer Nachtigallenkehle, daß alle Vögel inne halten und
-dem Frühling die Thränen aus den Augen rinnen.</p>
-
-<p>Wo hört' ich jüngst solch ein Spottdrossellied? &ndash; Weich
-und schwül &ndash; hohnlachend &ndash;&nbsp;&ndash; war's nicht in meinem
-Herzen? Ist's nicht das Menschenherz selber &ndash; in all
-seinem Leid, all seiner Sehnsucht, all seinem Haß?&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Sputet Euch,« sagt der Frühling zu den Eichen und
-schlägt sie schmeichelnd mit seiner Weidengerte, »Ihr knorrigen
-Gesellen! Seid zwar auch <em class="ge">so</em> schön mit Euren kuriosen
-Knorpeln und verdrehten Aesten &ndash; gerade so knorpelig und
-verzwickt, wie ein Menschenhirn &ndash; aber wenn Ihr die zackigen
-Blätter von Euch spreizt, habe ich Euch noch lieber!«</p>
-
-<p>Und da sproßten die roten Keime und Blättchen, und
-nun hatten sie ein noch wunderlicheres Ansehen, gerade
-wie ein Schalksnarr, dem die Liebe aus den Augen
-guckt.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Ich,« sagt die Ulme, »ich bin vorgeschritten in der
-Kultur &ndash; seht, mein krauses, grünes Gewand ist schon fix
-und fertig.«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Und der Frühling geht weiter:</p>
-
-<p>»Sieh', sieh', wie schön steht das maigrüne Kleidchen
-zu Deiner weißen Haut, kleine Birke, &ndash; bist fast die Schönste
-von allen! Alte Tanne« &ndash; er streicht über der Tanne
-stattliche Haare &ndash; »mußt immer dasselbe dunkle Kleid
-tragen jahraus, jahrein &ndash; bist wohl gar neidisch?«</p>
-
-<p>Aber die Tanne ist unartig, sie streckt dem Frühling
-und seiner Birke eine lange, hellgrüne Zunge aus den dunkeln
-Nadeln heraus und antwortet noch nicht einmal vor
-Trotz.</p>
-
-<p>»Böses, altes Ding Du,« schilt der Frühling, und um
-sie zu ärgern, gibt er den Lärchen lauter kleine hellgrüne
-Federbüsche, kleinen Pinseln gleich, die tragen sie stolz, wie
-ein angehender Maler seine Farbenpinsel in der Brusttasche.
-<a class="pagenum" id="page_041" title="41"> </a>
-&ndash; Horch! Was regt sich hinter dem Tannendickicht?
-Ein hübsches, verstecktes Plätzchen &ndash; Taubengegirr, Vogelgesang
-&ndash; ist's Windessäuseln, rauschen die Zweige, geheimnis-ahnungsvoll!
-Leise schleicht sich der Frühling heran,
-er verbirgt sich hinter einem Baumstamm &ndash; er lauscht &ndash;
-er sieht&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Menschenkinder sind's, zwei junge, lachende, kosende
-Menschenkinder, den ewigen Frühling, die Liebe, im Herzen,
-in den Augen. &ndash; Sie ruht im Gras, den Kopf gegen eine
-Tanne gelehnt, er zu ihren Füßen, den braunen Lockenkopf
-in ihrem Schoß &ndash; leises Lachen, halblautes Singen,
-abgebrochene, unverständliche Laute &ndash; halbgeflüsterte, halbgeküßte
-Liebesworte. &ndash; Glückliche, selige Menschenkinder &ndash;
-was wißt Ihr vom brennenden Sommer, vom welkenden
-Herbst, vom eisigen Winter? &ndash; Der Frühling streichelt
-Euch Stirn und Wangen. &ndash; Blondes Mädchen, Du streichst
-Dir die Löckchen aus der Stirn und schiltst über den Wind
-&ndash; oder den Geliebten, der Dir die Haare zerzaust hat &ndash;
-und der Sonnenstrahl küßt Euch und dringt Euch bis ins
-junge Herz hinein!&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Auf leisen, flüchtigen Sohlen eilt der Frühling von
-dannen:</p>
-
-<p>»Jetzt muß ich aber auch die Obstbäume anlächeln,«
-sagt er im raschen Lauf, »daß sie treiben und blühen und
-Früchte tragen.« Aber die waren voreilig gewesen, wie
-gewöhnlich, hatten nicht auf das Lächeln des Frühlings
-gewartet, hatten sogar vergessen, sich erst die Blätter anzuziehen.
-&ndash; Da stehen sie in ihren schlohweißen Hemdchen
-und lächeln verschämt, ach, und Apfelbäume und Pfirsiche
-werden ganz rot, als sie den Frühling kommen sehen, und
-nur die Birne ruft triumphierend: »Ein paar grüne Blättchen
-habe ich schon &ndash; aber Du, Frühling, bist ja ganz
-nackt!« Hei, wie sie sich alle schütteln vor Lachen, daß ihr
-<a class="pagenum" id="page_042" title="42"> </a>
-weicher, duftender Blütenschnee über die grüne Erde hinweht.
-&ndash; Ganz überschüttet wird der Frühling; in seinen
-Locken hängt die duftige Ueberfülle, um Stirn und Wangen
-schmeicheln die süßen Boten &ndash; da wird es ihm ganz weh
-ums Herz vor Wonne und Jubel, sehnsüchtig breitet er
-seine Arme der Geliebten entgegen, der leuchtenden Sonne
-&ndash; und da wird er zum Manne &ndash; er vermählt sich mit der
-Sonnenglut &ndash; und siehe, es war Sommer!</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_043" title="43"> </a>
-Frostiger Frühling.</h2>
-
-
-<p>Um unsere Blüten sind wir betrogen! &ndash; Im März,
-als der warme Sonnenstrahl die erwachende Erde überglänzte,
-da lag ein rötender Hauch über den Obstbäumen,
-licht wie ein rosenfarbenes Wölkchen am Frühhimmel &ndash;
-heute haben die Birnbäume und die knorrigen Apfelbäume
-ein festes grünes Mieder angezogen, aus dem sie stramm
-und vernünftig herausschauen, und das Mädchenerröten
-haben sie längst vergessen.</p>
-
-<p>Um unsere Blüten sind wir betrogen! &ndash; Hat der Frost
-sie getötet, der lauernd über die Erde schlich? Hat unsere
-schönen Hoffnungen der Sturmwind verweht? Ist der
-Regen gekommen auf seinen grauen Rossen, den Wolken,
-und hat sie mit seinem gleichförmigen Gedrissel &ndash; patsch!
-patsch! Tropfen auf Tropfen, wie die tägliche Langeweile,
-&ndash; verwaschen, verknittert, zerblättert?&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Nackt stehen die Magnolienbäume im botanischen Garten.
-Sie, die sonst im Mai zum Frühlingsreigen in prächtigen
-Balltoiletten der verwunschenen Prinzen harrten; sie, die
-sonst von der Ueberfülle ihrer Schönheit den neckischen
-Winden preisgaben, daß die Blütenblätter und ihr Duft
-die Luft erfüllte. Heute stehen sie kahl und düster und
-traurig da, kein lächelnder Prinz wird um die südliche
-<a class="pagenum" id="page_044" title="44"> </a>
-Schöne werben und der Frühling hat die Prächtige, Ueppige,
-Duftende vergessen. &ndash; Da gleitet ein Sonnenstrahl über die
-schwarzen, vom Frost geknickten Spitzen der Magnolien.
-Es ist, als lächle er. In seinem Flimmer tanzt ein gelber
-kleiner Schmetterling, er taucht sich in die vergessene weiße
-Blüte eines jungen Birnbaums, der schon winzige Früchte
-am andern Zweige trägt. Und da lispeln sie alle heimliche
-Worte &ndash; horch!</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">Zur Blüte sprach der Schmetterling: »Was nützt mir's, daß ich strahle?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wenn meinen Schmelz ein Fingerdruck wegwischt mit einemmale?«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;Da lachte der Sonnenschein.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es sprach die Blüte zum jungen Blatt: »Was nützt mir's, daß ich blühe?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wenn ich nach einer Regennacht verblätt're in der Frühe?«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;Da lachte der Sonnenschein.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es sprach die Frucht zum grünen Baum: »Was nützt mir all mein Süßen?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In meinem Herzen nagt ein Wurm: tot fall' ich Dir zu Füßen.«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;Da lachte der Sonnenschein.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ich rief wohl in die weite Welt: »Was nützt mir all das Klingen?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die rauhe Hand, die Nacht, der Wurm &ndash; Ein Sterbelied muß ich singen!«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;Da lachte der Sonnenschein.</td></tr>
-</table>
-
-<p>Ich folge dem lachenden Sonnenstrahl. Er huscht über
-die Stiefmütterchen am Wege, die ihm ihre großen bunten
-Augen zuwenden, über rote dickköpfige Tulpen, die sich
-blähen vor lauter Vornehmheit; er klopft an die Fenster
-des Treibhauses: ich bin da, ich bin da! &ndash; Aber was
-kümmert das nervöse Volk da drinnen in ihrem überheizten
-Haus der warme Sonnenschein? &ndash; Halt! du lockender
-Strahl! laß mich erst einmal hineinschauen in die Blumen-Menagerie.
-<a class="pagenum" id="page_045" title="45"> </a>
-Sehnsüchtig sehen die armen Eingesperrten
-durch die Glasfenster, und schauern zusammen, wenn die
-kühle Frühlingsluft durch die offene Thür sie trifft. Sie
-fühlen sich wohl in der heißen, feuchten Luft künstlicher
-Bildung; einmal ihres heimatlichen Bodens beraubt, gedeihen
-sie prächtig in der erstickenden Atmosphäre der Ueberfeinerung
-&ndash; oh, und diese höchste Kultur zeitigt bizarre
-Charaktere: da die Kaktus mit ihren Stacheln über und
-über, an denen ein rauhes Gewebe klebt wie graues Haar;
-dem bekannten Meergreis gleich, der »in die Wüste ging
-und ein Wüstling ward«, frühzeitig gealtert wie unsere
-nervös überfütterten Dandys <i>fin de siècle</i>. Protzige Agaven
-mit dicken, fleischigen, ausstreckenden Zeigefingern. Cochenille-Kaktus,
-unansehnliche, häßliche Dinger, nur dazu
-gut, daß andere sich von ihnen nähren &ndash; die kleine, rote
-Blattlaus, die aus diesem Häßlichen das Schöne bildet:
-das leuchtende Cochenille-Rot. Hier die Palmen, groß, still,
-erhaben, die Löwen der Blumen-Menagerie. &ndash; Die vielarmigen
-Dracänen, die üppig wuchernden Schlinggewächse,
-die seltsamen stillen Blumen mit Blättern und Blüten wie
-aus Wachs geformt, &ndash; gleitet nicht Scheherezade durch diese
-schwüle Luft und erzählt Märchen aus Tausend und einer
-Nacht unter lispelnden Palmen und großen duftlosen Blumen?
-&ndash; Aber dort unter dem First des Glasdaches, dem Licht
-zustrebend &ndash; dort liegt es wie glänzend weißer Schnee,
-besäet mit funkelndem roten Blutstropfen. »Weiß wie
-Schnee, rot wie Blut!« Schneewittchen aus unserem lieben
-deutschen Märchen nickt hervor aus diesem lieblichen Blumenmeer
-und lächelt uns an. Eine Schlingpflanze ist es mit
-schwarzgrünen Blättern; sie rankt sich hoch und immer höher
-dem Himmel entgegen, der blau durch die Fenster ihres
-Gefängnisses schimmert und tausend weiße, stille Blumenherzen
-wenden sich ihrem Gott, dem Lichte, zu, und rot und
-<a class="pagenum" id="page_046" title="46"> </a>
-glühend entströmt ihnen ihr Gebet. &ndash; Da öffnet sich die
-Thür, der Sonnenstrahl huscht hinein und küßt die roten
-Blumenlippen, und winkt mir: Komm, komm! Ich zeig'
-Dir viel Schönes, wenn auch die Blüten Dir genommen
-sind.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Draußen im botanischen Garten glänzen die feingeharkten
-Kieswege. Zwischen wohlgepflegten Blumenbeeten
-wandeln wohlgepflegte Städterinnen. Die ordentlichen
-Blumen auf den ordentlichen Beeten blühen noch nicht; die
-ordentlichen Städterinnen haben schon geblüht. Deshalb
-strömen sie einen künstlichen, starken Parfüm aus, der
-schlecht harmoniert mit der süßen, berauschenden Frühlingsluft.</p>
-
-<p>»Vorüber, ihr Schafe, vorüber!« singt Goethes Schäfer,
-als ihm »gar so weh« wird &ndash; und wir huschen dem
-Sonnenstrahl nach, aus dem ordentlichen Garten hinaus,
-hinter die hohe Mauer, wo die Wildnis anfängt. Hier
-ist auch eine Menagerie, die der Bäume. Aber die Wildlinge
-aus Nord und Süd haben in dem fremden Boden
-Wurzel gefaßt, ihn sich angeeignet, und so gedeihen sie und
-wachsen und wachsen, als habe die neue Heimat ihnen die
-alte ersetzt. &ndash; Was es nicht alles zu sehen gibt unter den
-fremden Bäumen: dort, wohin die Tannen nicht mehr gelangen
-können mit ihren langen Armen, kriecht kleines,
-grünes Moos dicht an das Nadelbett heran, das die Tanne,
-wie Frau Holle den Schnee, um sich ausgeschüttet; es
-blüht, das Moos, mit lauter gelbgrünen Zäckchen, und
-zwischen den feinen krausen Spitzen kriechen winzige Insekten,
-denen der Mooswald wohl so gewaltig dünkt, wie
-uns jene blühende Kiefer. O wie blüht die Kiefer! Ueberall,
-überall auf den starken Aesten, in den Stacheln verborgen,
-da blüht es wie rotes Gold; sieben kleine Goldkätzchen
-in einem Nest &ndash; und rührst Du daran mit vorwitzigem
-<a class="pagenum" id="page_047" title="47"> </a>
-Finger, dann rieselt ein feiner, gelber Blütenstaub
-in Deine geöffnete Hand. Weich wie ein zartes Kinderbäckchen
-berührt dich's, und ein würziger Duft erzählt dir
-von unendlichen Kieferwäldern, in denen der Wind singt.</p>
-
-<p>»Bilde Dir nur nichts ein,« sagt die Nachbarin der
-Kiefer, die deutsche Edeltanne, und sie reckt sich kerzengrade,
-so daß sie noch einen Finger breit über jene hinweg schaut
-&ndash; »Du mit Deinem Blühen! Sieh' mich an: meine Orden,
-huldvollst verliehen von Sr. rauschenden Majestät dem
-Frühling.« &ndash; Und sie klappt ihre Zweige zusammen, daß
-ein feines Nadelgeriesel zur Erde fällt. Ueber und über ist
-sie besäet mit hellgrünen Knöpfchen, frischen Nadelspitzen,
-die vergnügt aus dem Dunkel ihrer Wintertracht hervorblitzen.</p>
-
-<p>Zwischen den Bäumen, aus Gras und Moos erheben
-sich dunkle Blumenbeete. Seltsame Blumen stehen darauf:
-aus dunklen Blättern hängt an einem dünnen Stiel eine
-kleine, gelbe Tasche; &ndash; ich bin immer die vierundzwanzigste
-mit fünfundzwanzig Fehlern in der Botanik gewesen, und
-nun möchte ich wissen, ob diese niedliche, kleine, gelbe Tasche
-nicht eine Art von Venus-Fliegenfalle ist? Kriecht ein
-dummes Mückchen am Rand der schönen Blüte hin und
-bleibt daran kleben: sacht schließt die schöne Blüte ihre
-Tasche, und Mückchen ist gefangen und muß elend zu Grunde
-gehen. Denn so eine Venus-Fliegenfalle gibt ihre Beute
-nicht wieder los; ob's Mückchen auch zappelt &ndash; es wird
-festgehalten bis an sein unseliges Ende.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Wenn nach einem deutschen Städtchen aus der nächsten
-Garnison die Militärkapelle kommt und ein Biergartenkonzert
-abhält, dann sitzen die unnützen Buben hinter der
-grünen Hecke des Gartens und gucken hindurch und haben
-die prächtige Musik mit allem Tschingdara-Bumbum und
-die Herren- und Damen-Honoratioren, die weißröckigen
-<a class="pagenum" id="page_048" title="48"> </a>
-Mädchen, und all den Kaffee und das Bier &ndash; nämlich
-indem sie sehen, wie es getrunken wird &ndash; ganz umsonst.
-Sie nennen das: ein Heckenbillet nehmen. Ich habe auch
-ein Heckenbillet genommen: ich sitze hinter der großen Mauer,
-an der sich rotblühendes Gaisblatt rankt, und kein Mensch
-im gebildeten Garten weiß, daß ich da bin, und ich höre
-das süße Vogelkonzert, ich sehe die ernsthaften, andächtigen
-Bäume und das kindlich lustige Gras, in dem die blauäugigen
-Veilchen grüßen, ich trinke die wonnige Frühlingsluft
-&ndash; alles umsonst.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Vor mir an der Mauer hinauf, einer Weinranke entlang,
-läuft ein winzig klein Vögelein, geschwind wie ein
-Mäuschen. Pick &ndash; pick! hier wetzt es sein Schnäbelein;
-husch &ndash; husch! dort jagt es dem Käferchen nach &ndash; und
-es sieht mich an mit den klugen Augen, als rief' es: Guck,
-mach' mir das nach! Da ist es oben, reckt die kleinen Flügel
-und mit einem jubelnden Gekicher ist es davon. &ndash; Horch!
-über mir: da lacht und küßt und tollt ein braunes Drosselpaar.
-Kokett wiegt sich das Weibchen auf dem schwanken
-Ast; der Liebste lugt um den Stamm und zwitschert zärtlich:
-Kind, sühst meck nich? &ndash; sühst Du meck nich? &ndash; Hier bün
-eck! hier bün eck! lacht das Weibchen, und fort sind sie, in
-das Dickicht hinein.</p>
-
-<p>Da kommt wieder mein Sonnenstrahl und lockt mich
-aus meiner Ruhe und gleitet vor mir her &ndash; und ist verschwunden.
-Wo bin ich? Was wölbt sich über mir &ndash;
-weit, groß, allmächtig. Ich schaue hinaus, und schaue:
-immer höher, immer gewaltiger weitet sich der grüne Dom
-von Blättern. Die Zweige der beiden norwegischen Baumriesen
-neigen sich gegen einander, sie werden zu gothischen
-Spitzbögen, anstrebend in die Unendlichkeit. Sanftes
-Dämmerlicht liegt in meiner Kirche. Durch das grüne,
-schimmernde Blätterdach schaut der Himmel wie blaue,
-<a class="pagenum" id="page_049" title="49"> </a>
-freundliche Sterne. Ein lieblicher Weihrauch umweht mich.
-Es ist der Duft der kleinen weißen Blüten des wilden
-Apfelbaumes, der meine Kirche mit wonniger Süße erfüllt.
-Ich stehe und schaue. Ich breite die Arme aus nach der
-grünen Unendlichkeit da droben, und es ist still, still, um
-mich, in mir.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Als ich hinaustrete aus den dämmernden Bögen meines
-Domes, liegt die Welt hell zu meinen Füßen. Ihr Duft
-umhüllt mich. Ihr Licht gleitet warm in mein Herz. Es
-ist Frühling.</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">In den Lüften singt es und klingt es &ndash; und&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs"><hr /></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ich flüstere in die weite Welt: »Wohl süß ist es zu singen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wenn Vogelschlag und Frühlingsduft weich dir ins Herze klingen«&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;Da lachte der Sonnenschein.</td></tr>
-</table>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_050" title="50"> </a>
-Das Märchen, das gar nicht
-kommen wollte.</h2>
-
-
-<p>Es war einmal ein Märchen, das hatte sich eingepuppt
-wie eine Schmetterlingsraupe und sich versteckt in dem Astloch
-einer alten Eiche im Walde; nur zuweilen öffnete es
-die Augen ein wenig und blinzelte um sich, und wenn es
-sah, daß die Welt immer noch grau und kahl und ungemütlich
-war, dann machte es die Augen zu und schlief
-wieder ein. &ndash; Während dessen liefen die Menschen in dieser
-kalten Welt herum und jammerten nach dem Märchen, das
-gar nicht kommen wollte. Das heißt, eigentlich waren es
-nur ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen, die überall
-nach dem Märchen fragten. Sie hatten dicht bei einander
-auf dem Fußschemel gesessen und zugehört, was die
-alte Märchenmuhme erzählte. Die großen Leute hatten
-keine Zeit dazu, die hatten so viel zu sorgen und zu wirtschaften
-und zu studieren, daß sie sich um ein Märchen nicht
-weiter bekümmern konnten; außerdem sagten sie, so ein
-Märchen, das sei nur für Kinder und solche, die es immer
-bleiben; dabei käme gar nichts heraus, und man sollte nur
-einmal die gelehrten Leute fragen, die den täglichen Bildungsbedarf
-<a class="pagenum" id="page_051" title="51"> </a>
-fürs Volk liefern &ndash; das viele Zeitungspapier
-&ndash; die werden Euch schon sagen, was man von dem Märchen
-zu halten hat.</p>
-
-<p>Da sagte der kleine Junge zu dem kleinen Mädchen:</p>
-
-<p>»Komm', wir wollen hingehen und sie fragen!«</p>
-
-<p>Als sie bis an eine große düstere Thür gekommen
-waren, &ndash; da wären sie am liebsten wieder umgekehrt; aber
-der kleine Junge war sehr mutig, und so gingen sie hinein.
-Da saß der Gelehrte und las aus einem gewaltig großen
-Stück Papier.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Sieh' 'mal, der hat vier Augen,« sagte das kleine Mädchen
-&ndash; und dann guckte er mit ein paar allmächtigen
-schwarzen Augen über die gläsernen hinweg, die ihm unten
-auf der großen Nase saßen, und das kleine Mädchen steckte
-schnell den Finger in den Mund und der kleine Junge
-ballte die Faust, während der Gelehrte brummte (Gelehrte
-brummen meistens):</p>
-
-<p>»Sie haben zu viel Phantasie, meine Lieben, das hindert
-Sie durchaus am logischen Denken und schwächt den Verstand.
-Doch, es wird sich schon geben, darüber seien Sie
-nur unbesorgt.«</p>
-
-<p>Da gingen die Kinder nach dem andern Gelehrten,
-der war sehr freundlich, tätschelte ihre blonden Köpfe und
-sagte: sie sollten nur wieder hingehen &ndash; das sei Alles in
-schönster Ordnung. &ndash; Dann nahm er des ersten Zeitung
-und schnitt da ein Stück heraus, aber so, daß der Anfang
-fehlte und man nicht wußte, um was es sich eigentlich
-handelte, und druckte es in seine eigene Litteratursammlung
-hinein, und dann stand da zu lesen: Dieses ist für die
-Kinder durchaus schädlich. Es verleitet sie zum Lügen und
-könnte Veranlassung geben, daß sie sogar Phantasie bekämen.
-&ndash; In unserem heutigen realistischen Zeitalter ist es nicht
-<a class="pagenum" id="page_052" title="52"> </a>
-angebracht, und der Konflikt zwischen Konservativismus
-und Modernität wird immer wieder aufgefrischt.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Aber davon verstanden der kleine Junge und das kleine
-Mädchen gar nichts; ganz traurig gingen sie wieder fort
-und suchten immer noch nach dem Märchen, das gar nicht
-kommen wollte. Sie hauchten ein Guckloch in die Eisblumen
-am Fenster, ob es vielleicht außen davor säße; wie der
-Schnee mit geheimnisvollem Sausen vom Dache rutschte,
-öffneten sie das Fenster und dachten, nun käme es ganz
-weiß hereingeflogen, und wie die Sonne anfing zu scheinen,
-liefen sie hinter den Sonnenstrahlen her, um sie zu haschen,
-denn sie meinten, das sei es nun; und dann schlichen sie
-auf den Zehenspitzen ans Fenster, wo die großen, weißen
-Hyacinthen standen und dufteten, und guckten zu, ob es
-vielleicht in einer der stillen Blütenglocken zur Ruhe gegangen
-sei.</p>
-
-<p>Aber das Märchen wollte und wollte nicht kommen.
-Und unterdessen war es in der Welt immer noch kalt und
-grau und trostlos. Die Menschen hasteten und jagten und
-trieben einander und machten lauter dummes Zeug. Es
-war eine häßliche Welt und häßliche Menschen darin, die
-sich viel Leides thaten, und die beiden Kinder dachten oft,
-ob denn das Märchen noch immer nicht kommen wollte und
-Ordnung schaffen und die Welt wieder gut und schön machen.</p>
-
-<p>Da kam eines Tages der Südwind daher gefahren.
-Er stieg von den Bergen hernieder, daß die Lawinen
-donnernd vor ihm niederkrachten; er jagte das Eis auf den
-Flüssen vor sich her, daß es sich bog und knackte und schrie;
-er pfiff durch die Tannenwälder, daß die Nadeln den alten
-Fichten um die Ohren sausten, und knickte die dürren Aeste
-der Wälder, daß Platz wurde für die jungen, neuen Triebe.
-Die Wolken trieb er vor sich her &ndash; runde, regenschwere
-Wolken, in wilder Jagd; sie drängten und schoben sich
-<a class="pagenum" id="page_053" title="53"> </a>
-und sprangen einander auf den Rücken, wie die Buben,
-wenn sie Haschen spielen. Dann stob er in die Stadt
-mit wildem Jauchzen und Getöse; er blies in die Kamine
-hinein, wie in ein Sprachrohr, und trieb Schabernack mit
-des Petrus goldnem Hahn auf der Kirchturmspitze; er
-deckte die Dächer ab und guckte den Leuten in die Häuser
-und blies sie an, daß es den dummen Menschen angst und
-bange wurde. Ja, er fuhr sogar dem König um die Nase,
-als der just vor seinem Königreiche stand und, die Hände
-in den Hosentaschen, darüber nachdachte, wie sein Volk ihn
-wohl wieder einmal beglücken könne; und er warf ihm sein
-Reichsaushängeschild gerade vor der Nase herunter, so daß
-der König sich entrüstet umdrehte und in sein Reich hineinging
-und die Thür zuwarf, daß es krachte.</p>
-
-<p>Aber der Wind lachte nur: »Puh! wenn ich nur wollte,
-dann brauste ich Dich mit samt Deinem Königreich von der
-Erde hinweg, wie einen Strohhalm &ndash; aber ich will nicht!
-&ndash; Bist mir viel zu klein, du Königlein!«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Und dann warf er ein paar ehrsamen Bürgern, die des
-Weges kamen, die blanken Cylinder von den gedankenschweren
-Häuptern, als wolle er sehen, was in den Köpfen stecke;
-und wehte ein paar schlanken Jungfräulein die langen
-Kleider eng um die schönen Glieder und freute sich darüber,
-der wilde Geselle, wie die kleinen Frauenfüße so tapfer
-gegen ihn ankämpften.</p>
-
-<p>Mit lustigem Gekicher fuhr er zu den Wolken auf und
-spielte Fangball mit ihnen; die Wolken fangen an zu weinen
-und dann fällt ein weicher, warmer, feiner Frühlingsregen
-auf die Erde nieder, eine zarte, graue Nebeldecke breitet sich
-über die Welt aus, und unter dieser dampfenden feuchtwarmen
-Decke da geht der Sturmwind zur Ruhe.</p>
-
-<p>Dort im Wald, in dem Astloch der großen Eiche regt
-sich etwas, das ist das Märchen; das ist aufgewacht von
-<a class="pagenum" id="page_054" title="54"> </a>
-des Südwinds wildem Gesang und merkt, daß es nun Zeit
-ist, aufzustehen. Es gähnt noch einmal recht herzhaft und
-reckt und plustert sich wie ein Vögelein im Nest; dann
-schiebt es erst das eine rosige Füßchen heraus und dann
-das andere, dann gähnt es noch einmal, und nun
-breitet es seine sammetenen Schmetterlingsflügel aus und
-fliegt zur Erde nieder. Da leuchtet mit einemmal eine
-große, glänzende Sonne durch den Nebel, und nun kann
-man erst sehen, was für ein niedliches Märchen es ist. Es
-ist sehr klein und fein, hat schöne, weiße Gliederchen und
-große, dunkelblaue Stiefmütterchenaugen und die schönsten
-goldnen Haare von der Welt, die glänzen in der Sonne
-wie das rote Gold, das die Schlangenkönigin bewacht; auf
-dem Köpfchen trägt es eine blaue Glockenblume, die macht
-ein sanftes Geläute, wo das Märchen geht und steht.</p>
-
-<p>Es mußte wohl von dem Getön und Geklinge sein,
-daß plötzlich alles lebendig wurde im Wald, daß die Vögelein
-ein artig Konzertieren begannen und die Blumen &ndash; die
-Krokus und Anemonen und Schneeglöckchen und wie sie alle
-heißen &ndash; aus der Erde sprangen, wie kleine, weißhäutige
-Kobolde, und ein duftiger Reigen begann in Wald und
-Flur. Ei! wie es die Bäume da eilig hatten, ihr neues
-grünes Kleid anzulegen, und wie die alten Tannen die
-spitzen, gelbgrünen Finger ausstreckten, als wollten sie sich
-auch so ein grasgrünes Flörchen erhaschen. Am Waldteich
-der alte Erlenstumpf sagte zu seinen grünen Jungen, die
-ihn dicht umstanden:</p>
-
-<p>»Reckt Euch in die Höhe, Jungens, damit das Märchen
-nicht sieht, wie alt und vertrocknet ich bin.«</p>
-
-<p>Aber im Teich erhob sich plötzlich ein lautes Gequake
-und Gejohle. Das waren die Frösche, die hielten einen
-Froschvolks-Thing ab und wollten sich eine neue Verfassung
-gründen; sie sprachen sehr ernsthaft über Kaulquappenerziehung,
-<a class="pagenum" id="page_055" title="55"> </a>
-Schulvorlagen und Militärbudgets, und daß der
-Storch und der Reiher von jetzt an unter froschlicher Oberhoheit
-stehen sollten; und ein noch ganz grünes Fröschlein
-aus dem vornehmen Geschlecht derer von Ochsenfrosch wollte
-immer alles besser wissen und durchaus einen ganz uralten
-Kurs als das Neueste einführen im Froschteich.</p>
-
-<p>Es war wirklich sehr interessant, und es war gar nicht
-recht, daß der Weidenbaum am Ufer plötzlich anfing zu
-jauchzen und zu lachen und zu spotten, und sich geberdete,
-als hätte er zu viel Blütenwein getrunken. Die gebildeten
-Frösche kamen ganz ärgerlich ans Ufer und glotzten ihn an,
-und der tolle Geselle, dem die buschigen, hellgrünen Weidenkätzchen
-von seiner Narrenkappe herunterbaumelten, schnitt
-höhnisch eine Fratze und spreizte seine vielen grauen Finger
-von sich und hielt eine lange Rede, von der die Frösche
-kein Wort verstanden; denn er sprach von Blütenwein und
-Trunkenheit und Auferstehung und Frühlingsduft und
-Märchenaugen &ndash; und schloß mit:</p>
-
-<p>»Kinder und Narren sprechen die Wahrheit, und wahrlich,
-ich sage Euch, so Ihr nicht werdet wie sie, so könnet
-Ihr nimmer in den Frühling eingehen!«</p>
-
-<p>Hei! Da begann ein Geschelte und Gequake, ein Koaxkoax
-und Brekekekex, daß die Vöglein in der Luft im Fliegen
-innehielten und verwundert zum Waldteich herniederschauten.
-Und der Weidenbusch verbeugte sich lächelnd nach allen
-Seiten und schüttelte seine Kätzchen lustig durcheinander
-und sagte:</p>
-
-<p>»Verehrte Anwesende, ich glaube verstanden zu haben,
-daß Sie mir vollständig beistimmen; und da oben kommt
-Se.&nbsp;Excellenz, der Generalfeldmarschall Graf Storch, angeflogen,
-der wird Ihnen&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Quack! sagten die Frösche und tauchten unter, und
-lange herrschte Totenstille im Teich, bis sie merkten, daß
-<a class="pagenum" id="page_056" title="56"> </a>
-der tolle Weidenbusch sie genasführt hatte; dann begann
-zögernd erst die eine Stimme und dann eine zweite,
-und der grasgrüne Froschjüngling sagte: Kroax! und seine
-Base, die gelehrte und tiefsinnige Schriftstellerin von Unke,
-antwortete: P&ndash;unkt&ndash;um! &ndash; und bald war der hochweise
-Disput mit These und Antithese wieder im schönsten Gange.</p>
-
-<p>Das Märchen aber nickte lächelnd zum Weidenbusch
-hinüber und warf Kußhändchen nach allen Seiten, dann
-flog es schnurstracks durch den grünenden, blühenden, duftenden
-Wald, über Felder und Gärten, in die Stadt, in
-das Haus, in die Stube hinein, wo der kleine Junge und
-das kleine Mädchen auf dem Fußschemel saßen und aufmerksam
-zuhörten, wie die Märchenmuhme ihnen die Geschichte
-von den Löwen- und den Bärenkindern erzählte,
-und als sie gerade sagte: »Die Bärenkinder aber waren so
-schrecklich unartig« &ndash; da rief der kleine Junge:</p>
-
-<p>»Sieh', &ndash; sieh' doch, da ist das Märchen!«</p>
-
-<p>Und das kleine Mädchen klatschte in die Hände und
-jubelte: »Das Märchen! das Märchen!«</p>
-
-<p>Und wirklich, da stand das Märchen auf der Thürschwelle,
-seine Augen leuchteten, seine Haare glänzten wie
-die Sonne, und dann nickte und winkte es ihnen; die Kinder
-faßten sich bei den Händen, sprangen zur Thür hinaus,
-hinter ihm her und riefen und sangen immerfort:</p>
-
-<p>»Das Märchen! Da ist das Märchen, das gar nicht
-kommen wollte!«</p>
-
-<p>Es waren aber viele Kinder auf der Straße, die sahen
-das Märchen zwar nicht, aber sie riefen doch: Das Märchen,
-das Märchen! und tanzten hinter dem kleinen Jungen und
-dem kleinen Mädchen her, und so ging der Zug durch die
-Stadt zum Thore hinaus, als wenn der Rattenfänger von
-Hameln ihnen aufspielte. Die großen Leute, denen sie begegneten,
-blieben stehen und lachten und sagten:</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_057" title="57"> </a>
-»Ach, das ist ja ein Schmetterling, der heißt&nbsp;&ndash;« und
-dann nannten sie einen langen, lateinischen Namen. Und
-andere sprachen:</p>
-
-<p>»Das ist ja ein Sonnenstrahl, und nun ist es Frühling
-geworden. Der Frühling ist eine natürliche, höchst angenehme,
-alljährlich wiederkehrende Naturerscheinung. Es ist
-gar nichts Märchenhaftes daran.«</p>
-
-<p>Aber nun waren es der kleine Junge und das kleine
-Mädchen, welche lachten &ndash; sie wußten es ja viel besser.
-Sie liefen in den Wald hinein &ndash; da tanzten die Blumen
-mit den Elfen und Kobolden, und die Kinder waren mitten
-unter ihnen. Das Märchen schenkte ihnen den Frühlingswein
-aus Blütenkelchen, und sie lagen auf weichem Moos
-und guckten in den blauen Himmel hinein, von dem die
-weißen Wölkchen winkten und grüßten und weiter segelten.</p>
-
-<p>Das Märchen aber wuchs und wurde größer und wurde
-eine liebliche Jungfrau und ein blühendes Weib; und dann
-wurde es ein liebes, eisgraues Mütterlein, und dann &ndash;
-ja, dann spann es sich wieder ein, wie eine Schmetterlingsraupe
-und kam lange, lange nicht mehr; nur zur Zeit der
-Wintersonnenwende, als die weißen Grüße vom Himmel
-an der alten Eiche im Walde vorüberwehten, da öffnete
-es die blauen Märchenaugen ein wenig und blinzelte um
-sich, und dann schlief es wieder ein und wartete auf den
-singenden, sausenden, brausenden Frühlingswind.</p>
-
-<p>Und der kleine Junge und das kleine Mädchen wuchsen
-auch und wurden größer und schöner und wurden Mann
-und Weib; dann spannen sie sich auch ein, in sich und ihre
-Welt; und dann erzählten sie ihren Kindern und Kindeskindern
-das Märchen vom Märchen, das gar nicht kommen
-wollte, und endlich, endlich doch gekommen war.&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_058" title="58"> </a>
-Klein Hildegard.</h2>
-
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">Klein Hildegard wollte zur Schule gehn,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da blieb am Walde sie sinnend stehn;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Der sah sie mit winkenden Augen an,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Vöglein lockten aus dem Tann:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Klein Hildegard, komm, so schön ist's hier,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wir rauschen Dir Märchen, wir singen Dir</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Von Elfenkönigs goldenem Thor</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Viel Süßes, Geheimnisvolles ins Ohr;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wir singen Dir von des Nixen Spiel&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Tief unten im Wasser, da weint er so viel.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wir streuen Dir duftende Blumen umher,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Der Wind regt die Zweige, brausend wie's Meer.«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&ndash; Doch Hildegard richtet sich ernsthaft auf</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und schickt sich wieder an zum Lauf:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Zur Schule, zur Schule!« die Mutter spricht,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Im Walde spielen, das darfst Du nicht!«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da fällt, plumps! von dem Tannenast</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ein Zapfen auf das Näschen fast:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Au! böse Tanne!« schilt das Kind,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Bist unartig, wie Kinder sind!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Willst mir wohl gar was sagen, gelt?&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ei nun, so rede, wenn's gefällt!«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Lieb schmiegt klein Hilde sich heran<a class="pagenum" id="page_059" title="59"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Zum rauhen Stamm der alten Tann.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Vergessen ist Schule, der Mutter Gebot&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ja, Sonntagskinder machen viel Not.&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Vom Tannenbaum fall'n &ndash; tip, tip, tap,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die würz'gen Nadeln sacht herab.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und, wie sie rieseln, wie sie fallen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Hört Hilde Stimmchen draus erschallen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die lullen's Kindchen kosend ein</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In seltsamliche Träumerein;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Zur Schule geh', mein liebes Kind,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Doch da nicht, wo die andern sind.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Geh' Du zur Schule in dem Wald;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Was Du da lernst, vergißst Du nicht bald.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Denn hier im Wald, da lernst Du verstehn,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Was Bäume rauschen und Blüten verwehn;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Warum am ewigen Himmelszelt</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Wolken ziehen über die Welt;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Was Blumen duften, Vöglein singen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Was Bächlein murmeln, Stürme klingen&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Was unsere ganze schöne Welt,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die kunterbunte, zusammenhält&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Horch nur auf jedes Gezirpe fein,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">So wirst Du bald klug wie Waldvöglein sein.«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">So spricht im Walde die alte Tann',</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und Hilde hält den Atem an,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Daß ihr die Wörtlein nicht entrinnen.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Dann wandert lustig sie von hinnen.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es grüßen Blumen von allen Seiten,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und Hilde nickt, als weitergleiten</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Im weichen, kühlen Gras und Moos</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die kleinen Füße, nackt und bloß.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Pflück' mich,« spricht die Königskerze,<a class="pagenum" id="page_060" title="60"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Sieh', wie ich gen Himmel schwanke,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Schlanker Stab aus Sammetblättern,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Bin ganz Sehnsucht, ganz Gedanke,&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Vor Idealen, hoch und hehr,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Seh' ich den eignen Stamm nicht mehr!«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da lacht das kecke Heidekraut:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Ich wurzle in der Erde traut;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und wie ich dufte, wie ich blühe,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und wie ich stark und kräftig bin,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und wie ich feurig rot erglühe&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">All das gab mir die Erde hin!«&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Horch! Welch ein feines Stimmchen schallt</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Vom nahen Eichstamm durch den Wald?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die wilde Weinblüt' ist's, die spricht</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ganz spöttisch: »O, Ihr dummen Wicht'!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Vom Himmel träufelt uns der Regen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Vom Himmel wärmt die liebe Sonn',</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und Mutter Erde will uns hegen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wenn Frost und Eise starren schon.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ich lieb', was mir der Himmel gab,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Erd', in der ich Wurzeln hab'.«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">So flüstert's, lacht es auf und an;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Klein Hilde pflückt so viel sie kann.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Schau! Dieses bunte Blumenmeer!&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Fast wird's dem Aermchen gar zu schwer.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Im schilfigen Gras glüht rot es auf.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Pechnelken stehen da zu Hauf,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und schütteln ihre Federköpfe,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und spreizen sich, die eitlen Tröpfe.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Ei, liebes Kind, mußt mich ansehn,«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Eine spricht, »bin wunderschön!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Brichst mich in meinem Purpur-Prangen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">So bleibst an meinem Stengel fein<a class="pagenum" id="page_061" title="61"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Unwiderstehlich daran hangen</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Mit Deinen Kinderhändchen rein;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wer mich nur einmal hat berührt,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Stets neue Lust nach mir verspürt.«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Doch &ndash; »Bim &ndash; bam!« klingelt da die Blaue,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Glockenblum', »Nur der nicht traue!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Denn Lüg' ist Alles, was sie spricht&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Kennst Du das alte Sprüchwort nicht?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wer Pech anfaßt, besudelt sich!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und das ist richtig, sicherlich!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Hör', rote Nelke, das ist schlimm!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das Glöcklein läutet stets: Bim &ndash; bim!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und öffnest Du den Lügenmund,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">So klingelt es ganz kunterbunt:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Bimbam, bimbam, bimbam, bimbum!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Du Federnelke, bist Du dumm!«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und lachend steht Klein Hildegard</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und droht dem blauen Glöcklein: »Wart',</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Du lieber Schelm, jetzt pflück' ich Dich,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Dann läutest Du »Bimbim!« für mich,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und läutest artig mich nach Haus;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Doch jetzt ruh' ich mich erst 'mal aus.«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es winkt der gelbe Ginsterbusch,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und wie das graue Häslein &ndash; husch!&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Schlüpft unser Kind geschwind hinein</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ins goldne Blütenbettelein,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und dehnet wohlig sich zur Ruh',</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und schließt die müden Aeuglein zu.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Blumen hält im Arm sie fest,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Denn wenn man die gewähren läßt,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">So fangen sie zu leben an</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und wandern fort durch Wald und Tann.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es ist just um die Mittagsstunde.<a class="pagenum" id="page_062" title="62"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wo Waldesgeister ziehn die Runde.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Kennst nicht das Waldesweben Du?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wenn rings im Wald ist tiefe Ruh',</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und doch ein seltsamliches Weben</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ein raunend, flüsternd Zauberleben?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Bäume stehen still und stumm,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Kein Blättlein reget sich ringsum.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Im Schatten schläft das Vöglein lieb,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Reckt sich einmal, sagt leise: »Piep!«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und plustert seine Federlein</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und schläft dann sänftlich wieder ein.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Doch die Frau Sonne, die ist wach</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und luget durch das Blätterdach.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es tanzt auf ihrem Flimmerstrahl</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Der blanken Sonnengeister Zahl.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Im hohen Grase zirpt die Grille&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Nun zirpt es Antwort &ndash; dann wird's stille.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Der Falter taumelt über Blüten,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das sind die Schäflein, die muß er hüten;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Doch in dem heißen Sonnenschein</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da schläfert's ihn mitunter ein;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und ist er wieder aufgewacht,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Dann hat sie sich davon gemacht,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Blüten-Herde, und fliegt wie er,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Im hellen Sonnenglanz umher.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Dann hebet an ein Singen, Klingen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Von Märchen, wunderlichen Dingen;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das Bächlein gluckst sein schelmisch Lied,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und Moos und Steinchen singen mit.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Vergißmeinnicht am Rande träumt:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Hat's Wiederkommen er versäumt?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ich rief so oft: Vergißmeinnicht!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In weiter Ferne &ndash; hört er's nicht?«<a class="pagenum" id="page_063" title="63"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Der Ginster winket zu ihr her:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Klein Blümchen, was verlangst Du mehr?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Kannst, kleine Blaue, Du's verstehn?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Lieb' soll nie von Liebe gehn&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Sonst geht die Treue hinterdrein.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ich sing' ein Lied Dir &ndash; lausche fein:</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ueber die Heide weht der Wind,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da sitzt das blasse Königskind,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Singt: Leide, leide, leide&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Bei Sonnenlicht und Sternenschein</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da suche ich den Buhlen mein&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Wo weilt er auch am Wege?</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ach, wollt', er wäre noch bei mir,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ich wollt' ihn küssen und herzen schier</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Auf stiller, stiller Heide.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ach, wollt', ich läg' in seinem Arm,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ich wollt' vergessen allen Harm,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Wollt' lachen nur und kosen.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ueber die Heide weht der Wind,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da sitzt das blasse Königskind,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Singt: Leide, leide, leide.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und wartet noch gar manches Jahr&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und kämmet ihr langes, goldnes Haar,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Das wehet in dem Winde.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und als der Bub dann kommen ist,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Der sie so oftmals hat geküßt,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Da sucht er auf der Heide.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">War da ein feiner Ginsterstrauch,<a class="pagenum" id="page_064" title="64"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Des gelbe Blumen strahlten auch</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Wie lauter lichtes Golde.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da hat er so viel weinen 'müßt,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und hat die Ginsterblumen 'küßt&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Dann ist er fortgezogen.«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und als verklungen ist die Weise,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da reget sich Klein Hilde leise:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In ihrem Arm die Blümelein,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die fangen an zu reden fein.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das Löwenzähnchen schilt: »O Ginster,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wie sind doch Deine Träume finster!«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»<i>Noblesse oblige!</i>« ruft Rittersporn,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Auch in der Lieb' &ndash; bei meinem Zorn!«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und trotzig mit gar mut'gem Sinn</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Grüßt er zur Wickenblüte hin;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Verschämt senkt die das Köpfchen tief,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ein lieblich Rot sie überlief.&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da lacht es plötzlich neben ihr:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Ich halt' die Liebe weg von mir!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ich wehre mich vor jedermann&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und fühlt, wie ich doch brennen kann!«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da jubeln alle auf und sagen:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Hört &ndash; Brennessel will auch was wagen!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Geh', Unkraut, pfeife uns ein Lied,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Im Chorus singen wir dann mit.«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und neckisch stimmt die Grüne dann</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das Nessellied, und hebet an:</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Ich wollt' einmal spazieren gehn,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Am Rain, wo bunte Blumen stehn.«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und jauchzend fällt der Chorus ein:<a class="pagenum" id="page_065" title="65"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Nessel, Nesselbusch am Rain!«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Da schaut ein weißes Blümlein 'raus,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und ach &ndash; so schämig sah es aus.«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und jauchzend fällt der Chorus ein:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Nessel sieht so schämig drein!«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Und als ich bückte mich danach,&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Gar plötzlich mir's den Finger stach.«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und jauchzend fällt der Chorus ein:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Nessel, Nessel, wehr' Dich fein!«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Ei, böse Blume, halt' doch still</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wie die andern, wenn ich Dich brechen will!«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und jauchzend fällt der Chorus ein:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Nessel, &ndash; hörst &ndash; sollst stille sein!«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da lacht die grüne Blum' und spricht:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Ja Brennesselblüten, die pflückt man nicht!«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und jauchzend fällt der Chorus ein:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Brennt die Nessel &ndash; laß sie sein!«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Nun reichen alle sich die Hände,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und singen's Tanzlied: »Wende, wende</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Dich her zu mir, und auf und ab.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Zieh' die Kreise, zart und leise,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Sing' die alte Wunderweise,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wie die Blumenfee sie gab.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In den Blüten schläft das Kind&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Küsse, küsse es geschwind,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Daß es eins der unsern werde;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Daß es blumenduftig schwebe,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Daß es waldesselig lebe</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Auf der hellen, grünen Erde.«<a class="pagenum" id="page_066" title="66"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da ist klein Hilde aufgewacht,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und hat die Aeuglein aufgemacht:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und all die Sonnenpracht umher!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und all das Duften, süß und schwer!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und sieh' &ndash; die Blumen neigen sich,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Umkreisen sie gar seltsamlich&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Sie trägt ein rosenfarben Kleid,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das strahlet hell von Taugeschmeid'.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und Rosen trägt sie in dem Haar,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und Rosen in den Händen gar.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Blumen knieen vor ihr hin:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Heil unsrer Rosenkönigin!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und eh' sie weiß, wie ihr geschah,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">So ruhet sie auf Rosen da;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und allgewärtig ihren Winken</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Blumen stehn zur Rechten und Linken,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und Hilde grüßt nach allen Seiten</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Huldvoll, wie sie vorüberschreiten.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Aus Blumen trinkt sie den Blütenwein</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und nascht den goldnen Honigseim.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Sonne wirkt ihr die goldne Kron'</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und die glänzenden Flitter für den Königsthron.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Schmetterlinge tanzen vor ihr,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Grillen spielen auf dafür.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">So ruhet sie an Baches Rand</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Als Königin übers ganze Land.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da &ndash; horch! was rauscht es ihr zu Füßen?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und welch ein Nicken, Winken, Grüßen</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Von Blum' und Moos am Ufer dort?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das Wasser schwillet fort und fort&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und aus den grauen Nebelwogen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da kommt es zu ihr hergezogen<a class="pagenum" id="page_067" title="67"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">So wunderselig. Aus dem Fluß</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Erhebet sich mit süßem Gruß</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Der Nix in silbernem Gewand</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und hält die Harfe in der Hand</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die gibt gar traurig hellen Ton&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ob's Glück mit Thränen gemischt sei schon.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Er breitet die Arme aus nach ihr:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»O Rosenkönigin, komm' zu mir!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ich will in meinem Arm Dich hegen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ich will Dich schaukeln auf der Flut;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die zarten Glieder sollst Du legen</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Auf Wasserrosen, &ndash; da ruht sich's gut.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Mit meinen Fischlein sollst Du spielen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ein neckisch Haschen, her und hin&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die kleinen, weißen Füßchen kühlen</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In klaren Silberwellen drin.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es ist so einsam in der Tiefe,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Im Wasserhaus so kalt für mich&nbsp;&ndash;.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und kämst Du wohl, wenn ich Dich riefe?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">O Königin, ich hole Dich!«</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da wird Klein Hilde das Herz so weh&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es ruft in ihr: O geh', o geh'!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wie wird es ihr so seltsam kalt?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Was zieht es sie mit solcher Gewalt?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wie schwillt das Wasser immer mehr&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da kommt der Nix gar zu ihr her,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und faßt sie mit feuchten Armen an&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Klein Hilde sich kaum noch regen kann.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Vor Angst, vor Glück? &ndash; Sie weiß es nicht,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es küßt der Nix ihr blasses Gesicht;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Er wieget sie in seinem Arm,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es wird ihm &ndash; ach &ndash; so wohlig warm;<a class="pagenum" id="page_068" title="68"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Er will sich rauben das junge Blut</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In tiefe, rauschende Silberflut.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Klein Hilde schaudert &ndash; an seine Brust</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Zieht er sie eng mit sehnender Lust&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Schon netzt das Wasser ihr Gewand,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Er zieht sie hin mit zwingender Hand&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Nun sinkt Klein Hilde sacht hinab</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In des Nixen stilles Wassergrab.&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und horch! wie's um sie rauscht und singt!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wie's brausend durch die Lüfte klingt!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Klein Hilde, wache auf geschwind,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Sonst weht der wilde Brausewind</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Dich wirklich in das Bächlein dort&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Zum Schlafen einen bösen Ort</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Hast Du Dir eben ausersehn.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und dann mußt Du nach Hause gehn:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Schule ist schon lange aus,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und alle Kinder schon zu Haus.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da hat Klein Hilde sich erhoben</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und schaut verwundert hin nach oben,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wo Wolken ziehen kreuz und quer,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Gar über die liebe Sonne her.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wie war doch alles das geschehn?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Hat sie den Nixen nicht gesehn?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ist nicht am Saum ihr Röckchen naß?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das ist doch nicht vom feuchten Gras?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wo ist ihr Rosenkleidchen hin?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">War sie denn nicht die Königin?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Bäume neigen sich um sie her,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das kommt vom Wind, der wehet sehr,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Der pfeifet ängstlich durch den Tann;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Klein Hilde hält den Atem an&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es wird ihr plötzlich so beklommen<a class="pagenum" id="page_069" title="69"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da hat sie hurtig aufgenommen</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Blumen alle nebendran,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und springt davon so schnell sie kann.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Jetzt ist sie auf der kleinen Brücke,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da rauscht es unter ihr voll Tücke:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Da, Wassermann,« ruft sie geschwind,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Da, nimm das bunte Blumenkind!«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und wirft ein schönes Blümelein</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In Wassermannes Haus hinein.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Mit weißer Hand greift der es an,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und strudelnd sinkt's zur Tiefe dann.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und als Klein Hilde kam nach Haus</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und hat gesagt, was sie gesehn,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und hat erzählt, was ihr geschehn&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da lachen sie Klein Hilde aus.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und scheltend streng die Mutter spricht:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Im Walde spielen sollst Du nicht!«</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und Hilde setzt ins Eckchen sich</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und weinet, weinet bitterlich.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Klein Hilde, werde wieder froh;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Uns Großen geht es ebenso:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wenn wir im Walde etwas sehen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Was all die andern nicht verstehen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">So lachen sie uns auch nur aus</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In diesem weisen Weltenhaus.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und Mutter Ordnung ernsthaft spricht:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Der Phantasie bedarf man nicht!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Poesie &ndash; die braucht man nicht!</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Mehr sehn, wie andre, soll man nicht!&nbsp;&ndash;«</td></tr>
-</table>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_070" title="70"> </a>
-Das Märchen,
-das verloren gegangen war.</h2>
-
-
-<p>Das war, als ich einmal spazieren ging und tiefsinnige
-Gedanken hatte &ndash; worüber? &ndash; Sie waren zu tief, um das
-ergründen zu können. Vielleicht war's, ob die Welt da um
-mich her mit ihren langen Straßen und engen Häusern eine
-wirkliche Welt sei oder ob ich sie mir bloß einbilde, und ob
-die Menschen, die mir begegnen, wirklich so blödgesichtig dreinschauen,
-oder ob ich bloß Schwingungen in meinem Gehirn
-und Augen habe, die mir das alles so erscheinen lassen &ndash;
-ja, vielleicht war's das, worüber ich nachdachte. Und neben
-mir her trippelte ein feines Etwas mit großen Augen,
-und das kicherte und plapperte mit einem leisen murmelnden
-Stimmchen wie ein kleiner Bach; und weil mich das
-in meinem tiefsinnigen Denken störte, sagte ich:</p>
-
-<p>»Ei, so sei doch ruhig und stör' mich nicht!«</p>
-
-<p>Da schwieg das feine Etwas erschrocken still. Aber
-als das liebliche Gemurmel nicht mehr neben mir einherging,
-konnte ich erst recht nicht denken, und als ich mich
-ungeduldig umwandte, da hatte ich das Märchen verloren.
-Nun war mir's ganz ungemütlich zu Mut. Ich ging gleich
-wieder zurück, blickte rechts und links, hinter jeden Baum,
-<a class="pagenum" id="page_071" title="71"> </a>
-und unter die trockenen Blätter, die darunter lagen, aber
-nirgends leuchteten die Zauberaugen meines Märchens.</p>
-
-<p>Da fragte ich die Uhr, die vor mir hoch oben in einem
-langen, spitzen Kirchturm saß:</p>
-
-<p>»Du wohnst so hoch und hast einen weiten Ausblick &ndash;
-hast du mein Märchen nicht gesehen?«</p>
-
-<p>Aber die Uhr sagte nur: Tick-tack-tick-tack! Und
-als sie schnarrend zu einer Antwort einsetzte, da sagte sie
-mit rasselnder Stimme eine ganze Menge Zahlen her &ndash;
-als ob Zahlen etwas mit einem Märchen zu thun hätten!
-Nun fragte ich die Leute auf der Straße:</p>
-
-<p>»Ihr seid so klein, und guckt immer auf die Erde &ndash;
-habt Ihr mein Märchen nicht gesehen?«</p>
-
-<p>Aber die antworteten: »Eine solche Person kennen wir
-nicht. Und wenn sie Dir gehört und weggelaufen ist, so
-zeige es doch bei der Polizei an« &ndash;&nbsp;&ndash; als ob eine blauröckige
-Polizei mit einem Knüppel ein Märchen einfangen könnte!</p>
-
-<p>Nun fragte ich die Bäume im Park, an dem ich vorüberging.
-Aber die standen ganz still und regten sich nicht
-und ließen nur zwei, drei gelbe Blätter vor mir niedersinken.
-Da merkte ich, daß es Stadtbäume waren und zu gebildet
-zum Antworten auf eine Märchenfrage, und weil ich
-nun durchaus mein Märchen, das ich so leichtsinnig verloren
-hatte, wieder haben mußte, so ging ich auf Reisen,
-ihm nach.</p>
-
-<p>Ich kam an ein großes Wasser, das lag friedlich da,
-wie eine grünsammetene Wiese, auf der kleine Grabhügel
-sich wölben, über und über bedeckt von weißen Maßliebchen.
-Mir war es, als ob mein Märchen sein goldenes
-Haupt lächelnd aus diesen Grabhügeln strecke, und als ob
-es kichere: »Nicht in Gräbern findest Du mich &ndash; ich bin
-das Leben!« &ndash; Aber da kam ein zarter, grauer Nebel und
-deckte die grüne Sammetwiese und die Maßliebchenhügel
-<a class="pagenum" id="page_072" title="72"> </a>
-zu, und nur ganz in der Ferne sah ich es aufblitzen wie
-weiße Mövenflügel.</p>
-
-<p>Ich kam an eine Insel, darüber flutete ein warmes
-Abendrot, und ein Rauschen, ein bedeutsames Raunen zog
-durch die Wipfel der hohen, stillen Bäume, als spräche mein
-Märchen zu mir aus tausend Zungen. Bunte Blumen standen
-auf der Insel, die sie die »Schöne« nannten, und sahen
-mit stillen Augen zu den Sternen auf, die ganz zart und
-licht am Abendhimmel aufleuchteten, wie die ersten Liebesgedanken
-in einer weichen Mädchenseele. Leise glucksten
-kleine lustige Wellchen gegen das Ufer, als lachten sie über
-die Wassernixen, die mit ihren weißen Entenfüßchen das
-Ufer heranklimmen wollten und immer wieder ins laue
-Wasser plumpsten. Wie nah', wie nah' war mir mein Märchen!
-Ich fühlte es mich umwehn &ndash; aber als ich danach
-haschte, sah es mich mit tiefen Augen spottend an, und ich
-griff in die Luft.</p>
-
-<p>Danach sah ich mein Märchen wieder in einem Krankenzimmer;
-da saß es tief verborgen in dem großen weißen
-Kelch einer Lilie. Aus deren sammetigen, weißen Blütenblättern
-lagen rote Tropfen, als habe das Märchen blutige
-Thränen geweint, und es sah mit himmlisch klaren Augen
-in die Weite. Wie ein Hauch flog es durch das Gemach:
-»Hier kannst Du mich nicht halten, da würde ich vergehen
-vor Traurigkeit« &ndash;&nbsp;&ndash; und husch! wie ein Flügelschlag &ndash;
-da war's aus dem Fenster, und die Menschen um mich
-sahen sich fragend an: Was war das?</p>
-
-<p>Eines Morgens, ganz, ganz früh, als die Nacht auf
-ihrem Lager flehend die Arme hob, den leuchtenden, ihr
-entfliehenden Tag zu halten, da erwachte ich und sah etwas
-Weißes, Flüchtiges von meiner Seite davonschweben. Und
-es umgab mich ein leises Klingen, und Worte tönten &ndash;
-war's in mir? war's um mich? &ndash; Horch:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">Die Nacht, als ich geschlafen hab',<a class="pagenum" id="page_073" title="73"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da lag das Glück bei mir;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Im Morgenschimmer sah ich nur</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Entfliehn die weiße Zier.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Es lächelt, nickt und winkt mir zu:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Du hast es nicht gewußt,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Daß schlummernd ich mein Köpfchen hab'</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Gelegt auf Deine Brust;</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wärst Du erwacht, hätt'st mich gefaßt,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">So wär's um mich geschehn&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Nur leis, nur heimlich darf das Glück</td></tr>
- <tr><td class="tdl">An Deiner Seite gehn.«</td></tr>
-</table>
-
-<p>Nun hatten es viele gute Menschen gehört, daß ich
-mein Märchen nicht wieder finden könnte, und weil sie ein
-verloren gegangenes Märchen für etwas sehr Trauriges
-hielten &ndash; ganz anders als die in der Philisterstadt, die
-gar nicht recht wußten, was ein Märchen war &ndash; da wollten
-sie mir alle suchen helfen. Aber sie thaten es mit so viel
-Bewußtsein und Ueberlegung, daß das Märchen sich immer
-tiefer versteckte; und selbst der rauschige Weinduft, der ausgesandt
-wurde, nach ihm zu forschen, kehrte statt mit meinem
-lieblich plappernden Märchenkinde mit einem wolligen, miauenden
-Kätzchen zurück, das gar scharfe Krallen zeigte.</p>
-
-<p>Da ging ich in die Einsamkeit. Ich kam an wildes,
-weites Wasser, das rauscht und brodelt und donnert, als
-wolle es eine Welt vernichten &ndash; oder emporheben. Und
-eine Brücke führt über die weiße Gischt, die ging ich hinüber.
-Da war ich auf einer Insel mit hohen, wiegenden
-Bäumen; die hielten Felsblöcke mit ihren Wurzeln umklammert
-wie mit riesigen Greifenklauen. Und da war
-noch eine Insel, und noch eine, und noch eine. Zwischen
-ihnen drängte sich überall das weiße Wasser hindurch; es
-<a class="pagenum" id="page_074" title="74"> </a>
-war so klar, daß man die kleinen Mooswälder auf dem
-Gestein unter ihm sehen konnte, und die Höhlen, dunkelblau
-und tiefgolden, in denen die Wasserkobolde wohnen.
-Wie ich nun an der äußersten Spitze der letzten kleinen
-Insel angekommen bin und hinsehe über das weite, schäumende
-Wasser, da sitzt dicht vor mir, nahe am brausenden
-Wasserabsturz, mein Märchen auf einem Felsblock. Es
-hat seine nackten Beinchen hoch heraufgezogen, damit sie
-nicht naß werden, und umschlingt die Kniee mit den weißen
-Armen; das Haar rollt silberglänzend um die kleine Gestalt,
-wie der sonnendurchleuchtete Kamm einer Woge, und
-die meergrünen Zauberaugen sehen zwingend zu mir hinüber.
-So sitzen wir beide und lächeln uns an, so froh,
-daß wir uns wieder haben, und dann erzählt das Märchen:</p>
-
-<p>Weit droben im großen See tief auf dem Grund, da
-steht das Schloß des alten Wasserkönigs. Von grünem,
-strahlendem Krystall ist es erbaut, und die Wände sind so
-klar, daß der Wasserkönig mit seinen seegrünen Augen hindurchschauen
-kann und alles sieht, was in seinem Reiche
-vorgeht. Wenn die Fische rebellieren wollen, dann weiß
-er es schon, noch ehe sie den revolutionären Gedanken gefaßt
-haben, und der Kopf wird ihnen abgebissen, ehe sie
-wissen, wo er ihnen eigentlich sitzt. Ja, der König führt
-ein strenges Regiment, sogar unter den weiblichen Unterthanen,
-und manch hübschem Nixlein bebt das goldschillernde
-Schwänzchen, wenn der König musternd die Reihen durchschreitet;
-denn manch Nixlein hat ein böses Gewissen, und
-&ndash; ach, die königlichen Zwillingssöhne sind gar so herzliebe
-Gesellen.</p>
-
-<p>Da berief der König eines Tages seinen Hofstaat um
-sich. Er saß auf einem Thron von goldglänzendem Kiesel,
-auf dem weißen Haupte trug er die Seekrone von Smaragden,
-und in den langen silbernen Bartwellen funkelten
-<a class="pagenum" id="page_075" title="75"> </a>
-die Schaumperlen. Ringsum harrte das Gesinde in ehrfürchtigem
-Schweigen, kaum, daß die beweglichen Schwänzchen
-hin und her zuckten. Vor ihm aber standen die Zwillinge
-und warteten des königlichen Vaters Befehle. Schöne,
-schlanke Burschen sind's, mit festen Gliedern und kühnen
-Augen. Die des einen mit der gedankenvollen Stirn
-hingen an den Lippen des Vaters; die des andern, Rastlosen,
-Trotzigen, flogen lächelnd und kosend über die Schar
-der Nixlein, durch deren Reihen eine plötzliche schillernde
-Bewegung ging. Der Wasserkönig aber sprach:</p>
-
-<p>»Prinzen, Ihr habt gelernt, wie man im Wasser lebt,
-herrscht und richtet. Es ist Zeit, daß Ihr Euch die Wasserfläche
-draußen anseht. Bahnt Euch eine Straße, zerschmettert,
-was Euch im Wege ist, und erobert Euch Euer Reich.
-Ziehet hin in Frieden und beherrschet künftig Eure Unterthanen
-mit Zucht und Strenge.«</p>
-
-<p>Unwillkürlich ruckten die Fische mit ihren Köpfen bei
-dieser Rede, ob sie auch noch festsäßen, und die Nixen und
-Wassermänner zupften sich an den Flossen, ob sie die auch
-noch hätten. &ndash; Die schönen Zwillingsbrüder aber schwammen
-Hand in Hand in die Welt hinaus. Zuerst waren sie sehr
-übermütig, schlugen Purzelbäume, daß die Wellen in die Höhe
-klatschten, und neckten die Fische, die pfeilschnell an ihnen
-vorüberflohen. Dann wurden sie stiller und träumerisch,
-wiegten sich Hand in Hand an der spiegelglatten Oberfläche
-des Wassers und sprachen von den Heldenthaten, die sie
-verrichten wollten. Der mit der hohen Stirn und den
-schwärmerischen Augen lispelte von der hohen, der herrlichen
-Welt, die er sich erträume und die er besitzen müsse, koste
-es, was es wolle. Der Trotzige aber lachte dazu: »Leben
-will ich &ndash; und lieben und genießen!« rief er und schüttelte
-übermütig eine ganze Welle voll Flußsand über des Bruders
-schönem Haupte aus, daß der prustete und sich schüttelte
-<a class="pagenum" id="page_076" title="76"> </a>
-wie ein nasses Menschenkind. &ndash; Nun kamen sie an einen
-hohen, grünen Wald, der lag mitten in ihrem Weg und
-machte auch keine Miene, ihnen auszuweichen.</p>
-
-<p>»Zerschmettert, was im Wege steht!« wiederholte der
-mit der hohen Stirn. »Komm, laß uns die Bäume niederreißen,
-und die Felsen zerbröckeln.«</p>
-
-<p>»Pah,« lachte der Wilde, »wozu die Arbeit, die eine
-Ewigkeit dauert? &ndash; Weiter, weiter will ich, ins Leben
-hinein! &ndash; Hör', laß uns den Bäumen aus dem Wege
-gehen, Du dort herum, und ich hier, und dann wollen wir
-sehen, wer zuerst ankommt, zuerst sein Ziel erreicht &ndash; Du
-oder ich!«</p>
-
-<p>Das reizte den Zwillingsbruder; wußte er doch, daß
-er natürlich der Erste sein würde. Ein flüchtiges Lebewohl
-nur, und er brauste dahin, ungestüm, hier ein Stück Fels
-wegreißend, dort einen Baumstamm mit sich zerrend. Er
-sah nicht die Welt um ihn; er sah nur in die Ferne, wo
-seine Welt liegen mußte, die er erträumt, die er besitzen,
-beherrschen wollte. Nur immer weiter, weiter, dahin, wo
-der zarte Dunst aufsteigt, wo ein erster Sonnenstrahl glitzert
-wie auf Türmen &ndash; die seines neuen Reiches &ndash; und in
-wilden Sprüngen, brausend und jauchzend, setzt er der
-Traumwelt nach, bis er schwankt und schwankt und ihm
-schwindelt, und er den Boden unter den Füßen verliert,
-und er in den Abgrund stürzt, in den Abgrund von erträumter
-Leidenschaft. Es war ein jäher Sturz. In ihm
-zerschellen alle seine Träume, alle seine erhabenen Gedanken.
-Voll Grausen blickt er hinauf zu der schwindelnden Höhe,
-auf der er einst geweilt hatte: so groß und erhaben hatte
-er sich das Leben gedacht, nichts hatte er haben wollen,
-keine Freude, keine Liebe, nur Größe und immer mehr
-Größe. Nun trieb er dahin in einem breiten, gemächlichen
-Strombett, immer mehr wiegend, erschlaffend, duselnd &ndash;
-<a class="pagenum" id="page_077" title="77"> </a>
-und nur wie weißer, kreisender Schaum trieb die Erinnerung
-auf seinen langsam sich wälzenden Fluten. Einmal
-schaute er sich um nach seinem Bruder: eine brausende,
-dampfende Gischt in der Ferne verhüllte alles hinter ihm.</p>
-
-<p>Der trotzige, lächelnde, genußsüchtige Zwillingsbruder
-aber war gar gemütlich seines Weges gezogen, hatte die Bäume
-auf der schwimmenden Insel neckisch an den Zweigen gezupft,
-wie die unnützen Buben die schmollenden Schulmädchen
-an den Zöpfen, hatte seine neugierigen, geschwätzigen Fluten
-durch jeden kleinen Felsengang geschickt, bis er mitten durch
-die Insel hindurchlugen konnte, und da sah er etwas sehr
-Liebliches. Nicht eine Insel war es nämlich, sondern neben
-der großen, die das Königreich einer vornehmen alten
-Waldnymphe war, wie die Wasserboten berichteten, lagen
-noch drei kleinere, und jede von ihnen hatte ein Töchterlein
-der Waldkönigin zur Herrin, und sie lebten da in
-eitel Freude und Lustbarkeit. Keinen Gebieter wollten sie
-über sich erkennen und frei wie die Luft leben, so lange
-die Welt steht. Da kam jetzt der schöne Flußheld geschwommen,
-ganz nahe an die Insel der ersten Schwester
-heran, siehe, da steht ein wunderschön Jungfräulein, mit Guirlanden
-von Blumen umwunden und ein fröhlich Liedchen
-summend. Und horch! wie die Antwort zu ihr aufsteigt
-aus den weißen Wassern, die plötzlich aus dem Dunkel der
-Felsen hervorbrechen und sie erschrecken, daß sie schreiend
-davonläuft. Er aber schwimmt ihr nach, rund um die
-Insel, siehe &ndash; da sitzt auf einem Felsblock der zweiten
-kleinen Insel ein noch viel schöneres Jungfräulein, die
-schüttelt ihr lockiges Haar, als sie die weißen, starken Arme
-des Flußhelden sieht, die er nach ihr ausstreckt. Und sie
-lacht höhnisch und nimmt spitzes Gestein und wirft es nach
-ihm, daß ihn die scharfen Kanten ritzen. Da wird er
-zornig und will aufwallen &ndash; doch ach, drüben auf der
-<a class="pagenum" id="page_078" title="78"> </a>
-letzten, kleinsten Insel, da sitzt am Ufer, mit den Füßen
-die neuen Wellen patschend, das dritte Prinzeßchen; und
-sie hat langes, güldenes Haar, und die meerblauen Augen
-sehen neugierig zu ihm hinüber, und die schönen Glieder
-wiegen sich mit den Wellen. Da schwimmt er ganz nahe
-zu ihr, legt seine große Männerhand um ihr weißes, weiches
-Füßchen, und sie lächelt nur &ndash; da zieht er sie hinab in
-seine schaukelnde, weite Wasserwiege. Wie eine Wehklage
-braust es durch die Waldwipfel; aber sein Jubelruf übertönt
-die Klage, und weit enteilt er, seine Beute bergend
-vor Fels und Abgründen. Regungslos liegt die Schlanke,
-Weiße in seinen Armen. Sie kann ja nicht sprechen im
-Wasser, nur die meerblauen Augen sehen ihn an, und
-tief drin liegt eine stille Klage: Warum hast du mich in
-ein fremdes Element gezogen? Warum dich zum Herrn
-gemacht über ein freies Geschöpf?</p>
-
-<p>Nun wußte er eine Grotte, darin sollte die stille, weiße
-Geliebte wohnen. Tiefgrün war es darin von lauter Smaragden,
-und das Edelgestein leuchtete und funkelte wie von
-tausend Lampen. Der trotzige Held aber webt und webt,
-und webt mit seinen Wasserfäden den schönsten Brautschleier
-von kostbaren Spitzen, und er hängt das duftige
-zarte Gewebe, so hoch, so fein, rund im Halbkreis vor das
-smaragdene Wasserschloß, daß niemand seine Heimlichkeit
-störe, keiner seine weiße Braut, zu deren Füßen er ruht,
-ihm rauben könne. Sie aber spielt in seinen langen Haaren,
-küßt seinen roten Mund, legt ihr Köpfchen an seine breite
-Brust &ndash; aber immer wieder fragt sie: Wo ist die Sonne?
-die goldene Sonne?</p>
-
-<p>Und eines Tages, als er fern ist, da wird die Sehnsucht
-nach dem Licht so mächtig in ihr, daß sie der Wasserkobolde
-und neckischen Nixen vergißt, die draußen ihr Wesen
-treiben und die Spitzenschleier immer wieder erneuern und
-<a class="pagenum" id="page_079" title="79"> </a>
-verdichten. Ganz nahe tritt sie heran an die zauberischen
-Vorhänge &ndash; wie hell, wie licht es da ist; sie rückt ein
-wenig daran, sie lüpft ein zartes Eckchen. &ndash; Siehe, da über
-den wogenden Wasserdünsten steht die Sonne, ihre Sonne
-in strahlender Pracht &ndash; und die Arme sehnsüchtig ihr entgegenbreitend,
-sinkt das Waldkind, eingehüllt in die Brautschleier,
-zur tosenden, unbarmherzigen Tiefe nieder. Wie
-ein leuchtender Strahl fliegt es an dem Trotzigen vorbei,
-der seine starken Glieder im wildesten Flutengetos kühlt,
-und da vor ihm, da im Strudel treibt der weiße, weiche
-Leib seiner stillen Waldlilie. &ndash; Es überkommt ihn ein großer
-Zorn. Brüllend vor Schmerz und Wut, daß es wie Donner
-grollt, wirft er die Wasser gen Himmel, damit ihr Schaum,
-ihr wilder Gischt die Sonne, die verhaßte, verdecke. So
-steht er im Strudel und rast und trotzt gen Himmel. Er
-sendet seine Fluten auf zu der Insel, wo seine Waldlilie
-wuchs; sie zerren und wühlen an dem Gestein, ein Stück
-nach dem andern sinkt in die Tiefe und ein höhnender
-Schrei gellt von Welle zu Welle, wenn ein Baum mit
-hinabgerissen wird und hülflos in den Fluten treibt. Oben
-in den Wipfeln der Bäume aber rauscht eine wehmütige
-Klage um die Waldlilie, die an der Sonnensehnsucht verging.</p>
-
-<p>Doch die wundersamen Spitzenschleier, die das Brautgemach
-bargen, wallen immer noch nieder vor dem smaragdenen
-Schloß und verhüllen in zarter Weiße seine erbarmungslose
-Leere. Die goldene Sonne aber taucht ihre
-Strahlen tief in das Wassergebrodel, läßt sie niedergleiten
-an den Schleiern, als suche sie die, die aus Sehnsucht nach
-dem Lichte gestorben ist; und die Strahlen bauen von Tag
-zu Tag eine wunderleuchtende Brücke hinauf, hinauf zur
-Sonne.</p>
-
-<p>Da endete das Märchen und es breitete seine Arme
-<a class="pagenum" id="page_080" title="80"> </a>
-aus nach den fallenden Wassern. Ein leises, wehmütiges
-Klingen zog herüber von den Inseln der drei Schwestern.</p>
-
-<p>Das Märchen erhob sich, flog mit breiten, weißen
-Mövenflügeln hin über die Fluten, die wild aufschäumten
-und es haschen wollten. Aber sie netzten nur seine Füße.
-Und mit leisem Gekicher kreiste es über meinem Haupte &ndash;
-mein verlorenes und wiedergefundenes Märchen &ndash; an den
-fallenden Wassern des Niagara.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_081" title="81"> </a>
-In der Gosse.</h2>
-
-
-<p>»Hei! Der hat's eilig!« sagten die trockenen Blätter,
-als der Wind sie packte und die glatte Straße hinunterwirbelte,
-daß sie den Atem anhielten.</p>
-
-<p>»Nein, ich will nicht!« raschelte das eine ganz große
-Blatt, das, trotz seiner verkrümpelten Gestalt, noch einen
-grünlichen Schimmer auf sich hatte und sogar noch einen
-ordentlichen Stiel besaß. Und es hob sich erst von der
-einen Seite, und dann von der andern &ndash; wie ein ungeschickter
-Bauernbursche, der zum Tanze antritt; aber es
-half ihm nichts: der Wind blies die Backen auf, und heidi!
-da sauste es davon, so viel es auch versuchte, an allen
-Steinchen und Schmutzhaufen hängen zu bleiben. Wütend
-sprang es schließlich noch toller wie die andern und legte
-sich oben auf die kleinen Blätter, um sie festzuhalten. &ndash;
-Da plötzlich &ndash; an der Straßenecke stieß der Westwind
-laut jubelnd den Nordwind an &ndash; so spielten sie immer,
-die beiden wilden Gesellen, und wollten sich dann schier
-totlachen, wenn sie alles Lebendige mit in ihren tollen
-Reigen hineinzerrten. &ndash; Und nun wirbelten sie zusammen
-die trockenen Blätter in die Höhe, daß sie den Bäumen
-entgegenflogen, die sehnsüchtig die leeren, nackten Arme
-nach ihnen ausstreckten. Aber da lagen sie schon wieder
-<a class="pagenum" id="page_082" title="82"> </a>
-auf der Erde, küselten verwirrt umeinander und schleiften,
-schlürften, raschelten über die glatten Steine hinab in die
-Gosse.</p>
-
-<p>Da lagen sie nun und dachten nach. Und dachten,
-wie sie &ndash; es war schon lange, lange her &ndash; die braunen
-Köpfchen einst vorsichtig aus der Baumrinde hervorgestreckt
-hatten, und in die Welt hinein geguckt, wie sie dann groß
-und grün und schön geworden waren, wie die Spatzen in
-ihnen gehuscht, wie der Mond zwischen ihnen hindurchgelugt,
-und wie die Menschenkinder in ihrem Schatten sich geküßt
-hatten. Dann war der Herbstwind gekommen und hatte
-sie selber geküßt, und sie waren gestorben an seinen eisigen
-Küssen &ndash; hatten sich erst so herrlich geschmückt für ihn,
-die armen Dinger, rot und gelb und violett und braun,
-und dann fielen sie ohnmächtig aus seiner wilden Umarmung
-zur Erde nieder, wurden hin und her gejagt von den
-Winden, und nun? Nun liegen sie in der Gosse und
-denken nach.</p>
-
-<p>Hei! Wie der Wind bläst! Die Kleider der schönen
-Frauen, welche die Straße entlang gehen, schlägt er zur
-Seite, daß die schlanken Füße sichtbar werden. Und die
-Blätter in der Gosse flüstern einander zu: »Jetzt werden
-sie auch anfangen zu tanzen und rascheln und schleifen die
-glatte Straße hinab in die Gosse!«</p>
-
-<p>Aber nein, die kleinen Füße schreiten fest und sicher
-weiter, der Wind kann ihnen nichts anhaben &ndash; aber der
-andere, der im Herzen weht, durch das Leben stürmt, ob
-der die schlanken Frauenfüße wohl nicht vom glatten Weg
-hinabwirbelt &ndash; in die Gosse?</p>
-
-<p>Davon freilich wußten die trockenen Blätter nichts:
-sie lagen in der Gosse und dachten nach; und der Wind
-strich jauchzend über sie hin. Es wäre ihm ein Leichtes
-gewesen, die ganze Gesellschaft aus dem Rinnstein hinauszuwirbeln,
-<a class="pagenum" id="page_083" title="83"> </a>
-über alle Welt zu jagen. Doch er that es nicht;
-lauernd hing er über ihnen und sang sein Lied:</p>
-
-<p>»Jetzt schirre ich meine Wolkenrosse und stürme dahin
-und brause über die Stadt und über das Land in den
-Wald. Eure Schwestern will ich besuchen, die glührot an
-den Bäumen hängen. Und ich hause in den Zweigen, und
-ich brause über die Wipfel, und ich schüttle die bunte Pracht.
-&ndash; Seht Ihr den bunten Blätterregen?</p>
-
-<p>Und seht Ihr die Trauerweiden, wie sie den Waldteich
-bewachen, düster, schwermut-geheimnisvoll? Ich peitsche
-ihre niederhängenden Haare, daß sie wie graue Schlangen
-zischeln und züngeln. Ich wühle die schwarzen Fluten des
-Waldteichs auf, daß die Wellen schäumen und sich kräuseln
-und mit nassen, starken Armen die Wasserrosen hinabziehen
-in das dunkle, dunkle Grab.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Nur die Königin &ndash; sieh', da ruht sie auf schwarzgrünen
-Blättern, und sehnsüchtig leuchtet ihr weißes Blumengesicht
-mir entgegen. Ich fliege zu ihr, und ich reiße sie
-an mich in wilder Lust, kosend schaukle ich sie hin und
-her, ich sauge wollüstig den Duft aus ihrem weißen Kelche,
-ich küsse sie mit zärtlich stürmischen Küssen &ndash; sie stirbt an
-diesen Küssen &ndash; und ich trage ihre Blumenblätter hin über
-den schwarzen Waldesteich, hin über die Welt &ndash;&nbsp;&ndash; Ist
-es süß, zu sterben an den Küssen des Gewaltigen?&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Heiho! &ndash; Ihr Wolkenrosse &ndash; graue, schwarze! senkt
-Euch tiefer, daß ich Euch besteige, daß ich Euch zügle hin
-über die Erde &ndash; der ich Vernichtung bringe&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Raschelnd flogen die trockenen Blätter ihm nach, aber
-nur eine Spanne hoch, dann fielen sie wieder herunter in
-den Rinnstein. Und da lagen sie wieder mit ihren Gedanken.</p>
-
-<p>Es hatte sich eine sehr gemischte Gesellschaft in der
-Gosse zusammengefunden. Da waren Blätter von allen
-<a class="pagenum" id="page_084" title="84"> </a>
-Größen und jedes sah ganz anders aus. Sie gehörten zwar
-alle entweder zu der großen Familie »Derer von Baum«
-oder zu der »Von dem Busche« &ndash; aber eine rechte Einigkeit
-konnte nicht erzielt werden, da sich die vom Baum
-viel vornehmer dünkten, als die von dem Busche, und daher
-wurde so viel von Stammbäumen, Wappenschildern und
-dem Gothaer geredet, den die Firma Frühling, Sommer
-u.&nbsp;Co. herausgab, daß die übrige Gesellschaft im Rinnstein,
-die nicht von so hoher Abkunft war, in tiefster Ergebenheit
-erstarb. Darin waren sie sich jedoch alle einig, daß sie nur
-durch unverschuldetes Unglück, durch widrige Winde und
-plötzliche Regengüsse so heruntergekommen waren, daß sie
-sich nun in der Gosse befanden.</p>
-
-<p>Da stak mitten unter dem Blätterhaufen ein langer,
-schlanker Strohhalm, hineingeflogen wie ein Pfeil &ndash; die
-Blätter hatten ihn immer für etwas ganz Unbedeutendes
-gehalten &ndash; der that jetzt den Mund auf und begann zu
-erzählen: »Ich bin sehr vornehm,« sagte er, »ich bin ein
-Prinz. Ich bin Oberst gewesen in Ihrer Majestät der
-Frau Königin Erde Weizenfeld, Allerfeinste-Mehlsorte No.&nbsp;I.
-Ich trug eine gelbe Uniform und einen prächtigen Raupenhelm
-auf dem Kopfe. &ndash; Ihr hättet es sehen sollen, unser
-Regiment! Wie wir in Reih' und Glied standen &ndash; fest
-wie eine Mauer! Wie wir exercierten &ndash; hierhin, dorthin,
-auf und nieder, wenn unser Kommandant, Generalissimus
-Wind, seine brausende Stimme erschallen ließ. Hei! das
-war eine Freude, uns anzuschauen! &ndash; Und dann kam der
-Krieg, das war ein schneidiger Krieg! Erbarmungslos
-mähte der Feind, jenes uncivilisierte raubgierige Gesindel,
-das sie Menschen nennen, uns nieder, und wir fielen ebenso
-schön in Reih' und Glied, wie wir gestanden hatten. &ndash;
-Aber tot waren wir nicht &ndash; bewahre! (denn sonst könnte
-ich es Euch ja nicht erzählen). Wir gerieten nur in Gefangenschaft,
-<a class="pagenum" id="page_085" title="85"> </a>
-und in bittere Gefangenschaft. Sie banden
-uns zusammen, wie die Indianer, und schleppten uns fort
-und steckten uns in die Folter, bis sie all den Reichtum,
-den wir in unserm Raupenhelm trugen, herausgequetscht
-hatten, und dann, ja dann sollten wir erniedrigt werden,
-den Pferden Dienste zu leisten, den Pferden unserer Feinde.
-Die wollten auf uns herumtrampeln, die wollten uns als
-Lager benutzen, die wollten &ndash; mit einem Wort &ndash; Mist
-sollten wir werden! &ndash; Ich, Prinz von Halm-Halm &ndash;
-auf Aehre &ndash; Oberst in Ihrer Majestät der Königin Erde
-Regiment Weizenfeld-Allerfeinste-Mehlsorte No.&nbsp;I.</p>
-
-<p>Da, als wir gefesselt, geknebelt, aufeinandergepackt, in
-dem Transport-Wagen lagen &ndash; da habe ich zum erstenmal
-in meinem Leben die Subordination vergessen &ndash; ich,
-dem die Subordination alles war, und bin ausgerissen.</p>
-
-<p>Und die Folge davon? &ndash; Ich liege in der Gosse&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Ja, Subordination muß sein!« sagte der Strohhalm,
-grub sich mit seiner leeren Kornähre, seiner Raupe, in den
-Gossenschlamm und philosophierte über die Gefahren der Unbotmäßigkeit.
-&ndash; »Siehst Du, Prinz Halm-Halm: Schmieg'
-Dich dem Schicksal an, so kriegst Du einen warmen Pferdestall
-&ndash; lehn' Dich dagegen auf und Du fällst in die Gosse
-&ndash; auf Aehre! &ndash; Burrrr &ndash; brumm!« schnarrte es neben
-ihm. Ein richtiger, bunter Brummkreisel war es, der auf
-irgend eine Weise in die Gosse geraten, unter die Blätter,
-und von den Kindern vergessen worden war.</p>
-
-<p>»Subordination. &ndash; Ich brumme was auf die Subordination!
-Wer wie ich zeitlebens von allen unnützen
-Buben auf den Straßen herumgepeitscht worden ist &ndash; zuweilen
-waren ein halbes Dutzend hinter mir, und dann
-mußte ich tanzen und brummen, bis mir der Atem ausging
-&ndash; der ist froh, wenn er auskratzen kann und sein
-Leben gemütlich in der Gosse beschließen darf.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_086" title="86"> </a>
-Wie habe ich mich gesträubt und gewehrt, all' mein
-Leben lang! Ich habe den Bindfaden, der an mir saß,
-so fest um mich herumgewickelt, daß er beinahe mit keiner
-Macht der Erde wieder loszumachen war; ich habe mich
-mit meinem einzigen spitzen Bein in die Ritzen der Steine
-geklemmt, daß sie mich beinahe nicht wieder herauskriegen
-konnten; ich bin allen Jungen und Mädchen zwischen die
-Füße gefahren, daß sie stolperten, und habe dabei gebrummt,
-daß mir selber angst und bange wurde. Aber es half mir
-nichts. Ich mußte tanzen und schnurren und Kapriolen
-machen mit der bittersten Empörung in meinem Brummkreiselherzen.
-Sie hatten die Peitsche und folglich auch die
-Macht und ich mußte tanzen, bis ich eines schönen Tages
-in der Gosse lag &ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash; Brrrrr &ndash; brumm!« sagte der
-Kreisel, als der Wind über ihn hinfuhr und ihn zwang, sich
-um sich selbst zu drehen.</p>
-
-<p>»Ja, mein lieber Herr Kreisel,« sprach da salbungsvoll
-ein weißes, bedrucktes Stück Papier, das die Schulkinder
-aus einem ihrer Bücher verloren hatten. Die Blätter
-wollten es nicht für voll anerkennen &ndash; es war zwar auch
-ein Blatt und auch trocken, aber es gehörte zu einer ganz
-andern Familie &ndash; sie waren gar nicht verwandt. Es
-hielt sich deshalb ein wenig abseits und sprach in gebildetem
-Tone:</p>
-
-<p>»Sehen Sie, mein lieber Herr Kreisel,« sagte es, »das
-ist von alters her so gewesen &ndash; ich muß das wissen, denn
-ich bin aus einem Geschichtsbuche &ndash; die Starken hatten
-die Macht und, wie Sie so sehr richtig bemerkten, folglich
-auch die Peitsche, mit der sie sehr energisch umzugehen
-wußten, und die Schwachen &ndash; nun, die wurden gepeitscht.
-Da hilft kein Auflehnen gegen den Willen von oben und
-gegen die Peitsche der Straßenjungen; die Kreisel wie alle
-Armen und Schwachen müssen tanzen &ndash; so ist es immer
-<a class="pagenum" id="page_087" title="87"> </a>
-gewesen, so ist es heute noch, und so wird es bleiben. Wir
-haben uns einmal daran gewöhnt, und wir Gebildeten
-sehen auch ein, daß es nicht anders sein kann und daß
-es so am besten ist.«</p>
-
-<p>Da fuhr aber der Kreisel auf:</p>
-
-<p>»Daran gewöhnt? Fällt uns gar nicht ein! Denken
-gar nicht daran! Und wenn wir uns einmal alle zusammenrotteten
-&ndash; die Bäume und die Büsche und die Strohhalme,
-und alles, was so herumliegt, und wir Kreisel und &ndash; und
-so weiter &ndash; und wir machten 'mal so eine kleine, lustige
-Revolu&ndash;&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Hui! Da faßte ihn der Wind und schüttelte ihn, und
-da duckte er sich und sagte: »Brumm!«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Ach,« jammerte da ein feines, zärtliches Stimmchen,
-»was ist das alles gegen den Kummer, den ich erlebt habe?«</p>
-
-<p>Das war ein Stückchen Papier, lachsfarben, gepreßt,
-mit Tinte beschrieben &ndash; man sah, es war etwas Feines.
-Der Wind hatte es eben erst in wilder Jagd die Straße
-hinuntergepustet, und atemlos war es mit einem Purzelbaum
-in der Gosse gelandet.</p>
-
-<p>»Ich war rein und hellblank, und ich duftete stärker
-wie die Veilchen in der Vase, die vor dem Fenster stand;
-und ich lag auf einem zierlichen Schreibtisch und ein reizender,
-goldener Federhalter kritzelte über mich hin. &ndash; Ach,
-dieser Federhalter! Etwas Glänzenderes, Schlankeres, Zierlicheres
-habe ich nie gesehen. Und alle die süßen, zärtlichen
-Worte, die er mir ins Ohr flüsterte &ndash; war es ein Wunder,
-daß ich seinen Schwüren glaubte, daß ich ihn liebte mit
-all der Glut, deren mein papierenes Herz fähig war? &ndash;
-Ach, wie war das Leben schön!</p>
-
-<p>Aber da kritzelte er mir eines Tages mit einem großen
-dicken Tintenstrich etwas ganz Unheimliches, Unverständliches
-zu, so daß ich erschrak, und dann ergriffen mich
-<a class="pagenum" id="page_088" title="88"> </a>
-plötzlich kleine, weiße Fingerchen, und ich knickte vor Angst
-in der Mitte durch, und sie sperrten mich in einen dunklen
-Behälter, der wurde fest zugemacht, und eine glockenhelle
-Stimme trillerte dazu:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">Such' ich mir 'nen andern Schatz&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;juhu &ndash; andern Schatz&nbsp;&ndash;</td></tr>
-</table>
-
-<p class="in0">und dann reiste ich fort, weit fort, und mein schlanker,
-goldener Geliebter blieb zurück, und ich habe ihn nie wieder
-gesehen. Ach, ich war wie in einer Betäubung und kam
-erst wieder zur Besinnung, als mein Gefängnis sich öffnete
-und ich herausgeholt wurde &ndash; und da &ndash; da geschah etwas
-Schreckliches: ich hörte eine wuterstickte Stimme, die mich
-fürchterlich ausschalt, und große, rauhe Finger nahmen
-mich und rissen mich mitten durch, nicht nur einmal, nein,
-in lauter kleine Fetzen, und wir flatterten zur Erde nieder
-und der Wind kam und nahm uns mit sich fort. &ndash; Ach,
-und wenn nun mein Federhalter mich sucht, dann erkennt
-er in diesem kleinen, schmutzigen Flecken seine schöne lachsfarbene
-Geliebte nicht wieder. &ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash; Ach, was sind alle
-Leiden und Kümmernisse der Welt gegen die Schmerzen
-unglücklicher Liebe!«</p>
-
-<p>Als das traurige Papierchen geendet hatte, entstand
-eine tiefe Stille in dem Rinnstein. Sie waren alle gerührt
-und kämpften mit den Thränen&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Denn eigenes Unglück und eigener Kummer machen
-das Herz empfänglich für die Leiden anderer!« sagte das
-Blatt aus dem Geschichtsbuche für die Jugend gebildeter
-Stände. Nur das große Blatt mit dem Stiel, eines der
-vornehmsten aus dem Hause derer vom Baume, murmelte
-etwas von »plebejischer Gefühlsduselei!« und der Brummkreisel
-sagte: »Bitte, meine Herrschaften, werden Sie nicht
-sentimental &ndash; das ist veraltet &ndash; und von Liebe halten
-wir heutzutage nicht viel, die Wissenschaft hat diesen geheimnisvollen
-<a class="pagenum" id="page_089" title="89"> </a>
-Vorgang in unserem Innern mit grausamer
-Deutlichkeit aufgeklärt &ndash; brrrr&ndash;brumm!« Da aber gab es
-einen großen Disput, wie in einer politischen Sitzung, und
-wie sie noch im besten Zanken waren, öffnete sich in dem
-nächsten Hause eine Thür und ein junges Mädchen trat
-heraus mit einem Besen in der Hand, denn es war Sonnabend,
-und die Straße sollte gekehrt werden. Mit kleinen
-lustigen Schritten trippelte sie daher und die braunen
-Augen sahen zuversichtlich in die Welt hinein. Sie begann
-mit kräftigen Bewegungen den Rinnstein auszukehren und
-summte halblaut dazu:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">Wenn ich wüßt', wenn ich wüßt',&emsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wo mein Schatzerl ist&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ist wohl in die weite Welt&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;juhu &ndash; weite Welt&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ist wohl fortgezogen!</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wenn ich wüßt', wenn ich wüßt',</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wo mein Schatzerl ist&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wär' ich in die weite Welt&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;juhu &ndash; weite Welt&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wär' ihm nachgezogen!</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da er mir nun nichts gesagt,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Warte ich wohl über Nacht&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Such' mir dann ein andern Bub&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;juhu &ndash; andern Bub'&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Muß mich nit verlassen!«&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</td></tr>
-</table>
-
-<p>Und nun purzelte alles durcheinander: die Blätter
-und der Strohhalm und das Papier und der Kreisel. Das
-Mädchen kehrte sie zusammen auf einen großen Haufen,
-und jubelnd kamen die Kinder herbei und zündeten das
-trockene Laub an&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_090" title="90"> </a>
-»Burrr!« sagte der Kreisel, »mein revolutionäres Feuer
-schmilzt mich auf!«</p>
-
-<p>Und knisternd flog die lachsfarbene Schönheit in die
-Höhe; denn der Wind blies in den Scheiterhaufen, daß die
-Funken stoben, er trug sie mit sich fort, wie die weißen
-Blätter der Wasserrosenkönigin, und streute sie aus auf
-seinem Wege, daß ein Feuerregen niederfiel. Die braunen
-Augen des Mädchens sahen ihnen nach, und sie sang:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Ist wohl in die weite Welt &ndash; juhu&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;juhu &ndash; weite Welt&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ist wohl fortgezogen!«</td></tr>
-</table>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_091" title="91"> </a>
-Sonniger Winter.</h2>
-
-
-<p>Sie sagten, es sei Winter. Da ging ich hinaus, ihn
-zu begrüßen. Denn hier drinnen in der engen Stadt hat
-er ein gar häßliches Aussehen, rauchig und schmutzig, und
-er blickt dich an mit den Augen des Hungers. &ndash; Draußen
-aber lag der lachende Sonnenschein. War das der Winter?
-Er hat ja kein weißes Kleid an. Die Bäume recken ihre
-nackten Zweige kraus und zackig in den blauen Himmel
-hinein, und ihre Rinde schimmert rötlich, oder weiß, oder
-stahlgrau in der schwimmenden, flockigen Luft. Ah, die
-Luft! Das weitet die Brust &ndash; wie du mit einem tiefen
-Atemzug alle den Wald einhauchst, daß er die Stadt, die
-rauchige, schmutzige, in dir verzehrt! &ndash; Mein Fuß wühlt
-im langen, zottigen Gras. Wenn du nicht hinsiehst im
-Park, wo die glatten Wege sind, wo die feinen Karossen
-fahren, wo die Menschen auf ebenen Pfaden wandeln, dann
-meinst du im Wald zu sein &ndash; still ringsum, nur hohe
-Bäume, nur das Lispeln, das seltsame, traurige Lispeln
-in den nackten Zweigen, die ohne Blätter nicht rauschen
-und raunen können, wie sie im Sommer, im Herbst es
-thaten. Nur die Prärie vor dir, durch die sich das geschäftige
-Bächlein im Sonnenschein dahinschlängelt. Ein
-<a class="pagenum" id="page_092" title="92"> </a>
-zaubrisch Bächlein &ndash; wie es lockt und winkt, eilig über
-die blanken, feuchten Steine kollert, und immer raunt und
-murmelt und erzählt &ndash; was es nur immer sagt? Ich
-klettere den Abhang hinunter, tiefgrün schimmert das Wasser
-von den bemoosten Steinen herauf. Einzelne ragen draus
-hervor, sie sehen mich lockend an &ndash; soll ich hinüber klettern
-auf den Springsteinen, zum andern Ufer des Bächleins,
-dorthin, wo stille, grüne Tannen stehen, wo es ganz einsam
-ist? &ndash; Da &ndash; mitten drin &ndash; du böser Nix, was hast du
-an dem Stein zu rütteln? Das hält ja so ein tappig
-Menschenkind nicht aus! Natürlich, da patsche ich mit den
-Füßen im Wasser &ndash; und nun schnell gesprungen, in den
-Sonnenschein, in das hohe Gras hinein, daß ich wieder trocken
-werde. Böser Bach mit deinem Nixen. &ndash; Aber was ist
-das? War es Zauberwasser, das mich berührt hat? &ndash;
-Der Wald ist lebendig geworden, die Bäume fangen an
-zu reden, ich verstehe, was die Vöglein zwitschern, die
-kleinen, grauen, die Waldvagabonden, die einzigen, die geblieben
-sind. Piep! sagen sie, uns ist's einerlei, ob die
-Blumen blühen und die Bäume Blätter haben. Dann
-bauen wir unser Nest in den kahlen Zweigen, und zwitschern
-von den zukünftigen Blüten, und die Nahrung &ndash;
-nun, die stehlen wir uns irgendwo &ndash; nur Freiheit, Freiheit
-wollen wir haben! &ndash; Au! sagt das Gras unter meinen
-Füßen, warum trittst du mich? &ndash; Ich bin nicht tot. Da,
-sieh' einmal her &ndash; Und wie ich dann die langen, zerzausten
-Haare vorsichtig zur Seite schiebe, da lugt frischer, grüner
-Klee schelmisch hervor. Der grüne, grüne Klee &ndash; Weißt
-du noch, grüner Klee, wie es war zur Sommerszeit?</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">Es war zur goldnen Sommerszeit,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Welt war groß und war so weit&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Und grüner, grüner Klee.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Der blühte still im Waldesthal<a class="pagenum" id="page_093" title="93"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wie Tropfen Blutes allzumal</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Die Blüten stehn im Klee.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und Falter spielen drüber hin.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und wir? Wir lagern uns tiefdrin,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Im grünen, grünen Klee.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Dein Aug' ist wie der Falter blau,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Dein Mund rot wie die Blüt' im Tau,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Die Blüte rot im Klee.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Dein Haar ist wie das Sonnenlicht,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das gleitet durch die Zweige dicht</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Wohl über grünen Klee.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Dein lieber Hals, der luget leis,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wie die Maßlieben wunderweiß,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Aus grünem, grünem Klee.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da hab' ich mich geneigt zur Stund'</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und hab geküßt den roten Mund</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Im grünen, grünen Klee.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und nur ein Vöglein sah's mit an,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das lockte süß aus dunklem Tann</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Ganz nah beim grünen Klee.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da war es, wo im Waldesthal</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ich fand zum allererstenmal</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Der Blätter vier am Klee.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Merkt ihr, was das bedeuten soll?</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Mein Lieb und ich &ndash; wir wissen's wohl&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Ja &ndash; und der grüne Klee.&nbsp;&ndash;</td></tr>
-</table>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_094" title="94"> </a>
-Hat mir das Bächlein das Lied gegluckst? Haben's
-die kleinen Waldtramps gezwitschert? Hat es der Klee gelispelt
-&ndash; oder hauchten es die Sonnenstrahlen in die Welt
-hinein? Rings um mich singt es und klingt es. Und
-plötzlich trottet eine kleine Schar neben mir, putzige Gesellen
-mit feinen Gliederchen und lustigem Wesen. Sie
-laufen neben mir wie eine Schar Hündchen, sie klettern
-die platten Baumstämme hinauf und wiegen sich in dem
-weiten Geäst hurtig wie die Eichkätzchen, und sie tragen
-kleine Narrenkappen auf den Krausköpfchen, damit klingeln
-sie: Gedanken! Gedanken! Wir sind deine Gedanken.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Aber, ihr flinken Gesellchen &ndash; Gedanken? Ich meinte
-Gedanken, die hätten schwere Köpfe, und Brillen auf der
-Nase, und gingen mit gewichtigen Schritten in den Büchern
-auf und ab spazieren. Was wollt ihr im Wald mit mir?</p>
-
-<p>»Wir wollen hören, was er rauscht, was die Bäume
-sagen, und der Wind weht. Wir wollen sehen, wo der
-Winter ist? &ndash; Da, siehst du.« &ndash; Mitten auf der Wiese
-war das lange Gras fein säuberlich zur Seite gewachsen
-und hatte einem grünen Moosteppich Platz gemacht, der
-sich glatt und fein ausbreitete: »Sieh',« flüsterte mir ein
-Gedanke ins Ohr, »siehst du die Elfen tanzen, und die
-Gnomen mit den weißen, zottigen Bärten und den spitzen,
-haarigen Oehrlein? Wie die weißen Leiber der Winterelfen
-schimmern, wie ihre flockigen Schleier wehen und wie
-die Lüfte aufspielen zum Tanz. &ndash; Horch! Wie Schneeknirschen
-klingt's, und wie die Eiszapfen, wenn sie klirrend
-von den Bäumen brechen. Und siehst du, da mitten im
-Gewirr den sonnigen Winter stehn? Seine Augen glänzen
-und er lacht, daß die weißen Zähne aus dem feurigen
-Barte blitzen.« &ndash; In den starken Armen hält er die Winde;
-wie sie zappeln und die Backen aufblasen vor Wut, daß
-sie nicht loskommen können &ndash; da schlägt er den Nordwind
-<a class="pagenum" id="page_095" title="95"> </a>
-und den Westwind mit den Köpfen zusammen, die bösen
-Gesellen, und stößt sie mitten unter das Elfengesindel, das
-sie jauchzend mit Tannenkränzen umwindet und fesselt;
-oben auf des sonnigen Winters Schultern aber steht der
-Südwind und stößt jubelnd ins Horn, daß es von den
-Bergen ringsum widerklingt. Und jauchzend fallen die
-Gedanken um mich herum in das tolle Treiben &ndash; so daß
-ich mich ordentlich schäme für sie &ndash; was sollen nur die
-Menschen davon denken? »Ihr solltet auch nicht denken,
-ihr Menschen,« lachten meine wilden Gesellchen &ndash; »denn
-wenn ihr denkt, dann denkt ihr immer was Dummes. Es
-wäre überhaupt viel besser, ihr dächtet gar nicht, und überließet
-es uns, euch plötzlich mit etwas Gescheitem durch
-den Kopf zu fahren &ndash; wie ein Blitz.«</p>
-
-<p>»Da sieh' hin, die zwei Bäumchen, die da angewackelt
-kommen,« sagte ein spöttischer kleiner Gedanke und überschlug
-sich wie ein Kobold im Gras vor Vergnügen. »Du
-denkst, es wären Fichten, aber schau sie einmal an: sie
-kommen in kurzem Lauf, ein wenig vornüber, dahergetrottet,
-ihre Nadeln stehen zierlich nach beiden Seiten, wie lauter
-gewichste Schnurrbärtchen, die Kronen sind ihnen ins Gesicht
-gerutscht, so daß es aussieht, als wenn sie die großen
-Hüte bis tief auf die Nase sitzen hätten, und da die Zweige
-just ein bischen über dem Erdboden beginnen, scheint es,
-als hätten sie sich die schloddrigen Hosen sorgfältig aufgekrempelt.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Ei! wie die Herrchen laufen,« höhnt der lustige Gedanke
-und zupfte an ihren Nadeln, worauf sie sich wütend
-umdrehen und mit den jungen Birken, die sie als Spazierstöcke
-mit sich schleppen, nach ihm schlagen &ndash; »sie thun, als
-wollten sie dem sonnigen Winter eine Referenz machen,
-und dabei schielen sie doch nur nach den weißhäutigen
-Elfendirnen.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_096" title="96"> </a>
-Nun kommen sie von allen Seiten gewandert: die
-breitästigen Eichen, die schlanken Birken im weißen Hemdchen,
-knorrige Burschen vom Geschlecht der Baumriesen; und
-eine nackte Trauerweide tänzelt so lustig daher, daß die
-langen, fast bis auf die Füße hängenden Haarsträhne im
-Winde flattern. &ndash; Ei, sieh', wen haben wir hier? &ndash; Eine
-Prozession ehrbarer Herren in dunkelgrünen Röcken, die
-bis zur Erde reichen; und aus den stachligen Kapuzen
-schauen lustige Mönchsgesichter, und die Aeuglein blinzeln
-über die feisten Wangen hinweg nach den schlanken, grünen
-Nönnchen, die ihre Kiefernkleidchen gar züchtig geschürzt
-haben und sittsam kokett neben der Tannenprozession einhertrippeln.
-Voran schreitet ein baumlanger Tannenriese,
-stark wie Rabelais' Mönch Johann. »Halt da!« kommandiert
-er, »hübsch paarweise antreten!« und er bombardiert
-die letzten in der Reihe mit Tannenzapfen, damit sie ihn
-besser verständen &ndash; »und wem's nicht recht ist, hier im
-Wald, dem schlage ich die Knochen im Leibe entzwei!«</p>
-
-<p>Da faßt ein Mönch je ein Nönnchen bei der Hand,
-und, die grünen Röcke ein wenig lüpfend, tänzeln sie im
-Menuettschritt über die Wiese hin zum lachenden, sonnigen
-Winter und beginnen artig zu psalmodieren, daß es in den
-Wald hineinschallt:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Brave Mönche sind wir Tannen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Brummeln unser Mönchsgebet&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und wenn es zum Schlucken geht,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Laufen nimmer wir von dannen&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;Eia, Hallelujah!</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Nönnchen sind wir, Nönnchen heiter,&emsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Leben gottgefällig weiter,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Putzen unser grünes Kleid&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">'s Himmelreich ist auch nicht weit&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;Eia, Hallelujah!</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">»Und so leben wir gar traulich,<a class="pagenum" id="page_097" title="97"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Brüder, Schwestern, Hand in Hand&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&ndash; Unsre Kutten sind verwandt&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Unser Trachten ist beschaulich&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;Eia, Halleluja!«</td></tr>
-</table>
-
-<p>»Ei, so hört auf zu plärren,« dröhnt Bruder Johanns
-mächtige Stimme dazwischen&nbsp;&ndash;</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Kurze Worte dringen zum Himmel eh'r,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Lange Züge machen die Kanne leer&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;&emsp;&emsp;Eia, Halleluja!«</td></tr>
-</table>
-
-<p>Und mit tollem Jubel drehn sie sich mit im Elfenreigen,
-daß die grünen Kutten im Winde wehn.</p>
-
-<p>»Hast du nun den Winter gefunden?« flüstert mir
-ein Gedanke ins Ohr, »sieh', wie die Sonne über ihm steht,
-lichtspendend, milde lächelnd, als ob all das Weh in der
-Welt nur ein Wassertröpfchen wäre, das sie lächelnd aufsaugt.«</p>
-
-<p>»Sagtest du: Weh, kleiner Gedanke?« haucht es neben
-mir, »weißt du, was das ist?«</p>
-
-<p>Ich wandte mich; da steht unter den hohen Bäumen
-des sonnigen Winters der allerhöchste und breitet seine
-mächtigen Zweige aus, als wolle er die Welt an seine
-Brust ziehn. »Sieh',« sagt er und senkt das starke Haupt,
-»meine Krone haben sie mir geraubt, der Sturm, als er
-hinzog mit seinen weißen Jägern über mein Reich &ndash; meine
-Aeste haben sie zerschlagen und die Augen mir geblendet.
-Weißt du, was es heißt, leben, und die Sonne nicht mehr
-sehn, nie mehr!«</p>
-
-<p>Es geht ein Aechzen durch den zersplitterten Stamm,
-die Zweige bewegen sich schwankend hin und her &ndash; es ist, als
-wolle sich der Riese zur Erde neigen. Aber noch ist er stark,
-noch steht er aufrecht, bis der Sturm wieder einmal gegen ihn
-zu Felde zieht &ndash; und nur wie ein »Weh &ndash; das thut weh!«
-&ndash; zittert es durch die Luft.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_098" title="98"> </a>
-Mich fröstelte es, die Sonne sank tiefer, ich ging dem
-Heimweg zu. Einzelne Gedanken blieben im Wald beim
-Tanz auf dem Elfenteppich, bei dem sonnigen Winter, andere
-sprangen mir flüsternd, raunend, kichernd zur Seite;
-bis zum Hügel hinauf, am Rand des Waldes, da waren
-sie verschwunden. Einige waren den eleganten Karossen
-nachgelaufen und guckten spöttisch grinsend in die Wagenfenster,
-andere hatten sich den Heimatlosen, vagabondierenden
-Menschenkindern angeschlossen, die unter den Büschen des
-sonnigen Winters ihr Nachtlager suchten. Nur Einer, ein
-ernsthafter, blasser, kleiner Geselle stand neben mir, als ich
-mich umwandte am Berg und mein Auge die Sonne suchte
-&ndash; wie seltsam! Die Sonne, die goldene, große, strahlende,
-hing herrlich am Himmel &ndash; aber der Wald, die Welt?
-Was eben noch leuchtete, schimmerte, in wunderbarsten
-Farben, das lag tot und kalt und schwarz zu ihren Füßen.</p>
-
-<p>»Siehst du,« sagte der ernsthafte Gedanke neben mir,
-»so wollt ihr die Wahrheit suchen mit eurem Verstand und
-eurer Tüftelei, so seht ihr in die Sonne mit der Brille der
-kalten Berechnung auf der Nase &ndash; ja die Sonne steht dort
-am Firmament, strahlend, so himmlisch leuchtend, daß euer
-blödes Auge sie nicht ertragen kann, und die Welt, über
-die ihr die Wahrheit ergründen wollt, liegt schwarz und
-tot da. Aber schau dich um, schau mit der Sonne, schau
-dahin, wo nur die Strahlen der Sonne hindringen, wohin
-die Wahrheit ihr goldenes Licht wirft &ndash; siehst du nun, wie
-herrlich die Welt daliegt, in Farbe, in Glut gehüllt, verklärt?
-Fühle nur die weiche, flimmernde, golddurchglühte Luft, die
-dich mit linden Armen umfängt &ndash; schaue die jauchzende,
-die lebende, lichte Welt!&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Und weißt du nun, was Poesie ist?« flüsterte der
-ernsthafte, kleine Gedanke mir ins Ohr.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_099" title="99"> </a>
-Ein Weihnachtsmärchen.</h2>
-
-
-<p>Weit, weit hinter den Wolkenbergen, da, wo der Sonne
-Heimat ist, die zu verlassen ihr so schwer fällt, daß sie
-Tauthränen weinen muß, da, wo gut sein, fromm sein ist,
-und die Religion die Liebe, da, wo es keinen Neid, keine
-Polizei und keine Geldnöten gibt, da ist das Reich der
-Träume, das Wunderland, wo die schöne Frau Phantasie
-als Königin herrscht. Da sitzt sie auf ihrem goldenen
-Sonnenthron, umgeben von all' dem lustigen und luftigen
-Volk, den Elfen, Nixen und Kobolden, die durch das
-Christentum und das Geld aus der Welt vertrieben wurden,
-und hält Hof, und die Blümelein sind ihre Vasallen und
-die Bäume ihre Schildwachen, und die Vögelein jubilieren
-und konzertieren, und die Mücken und Grillen und Heimchen
-tanzen Ballett; und der Wind, der säuselnde, sanfte, der
-starke, stürmische, immer gewaltige Sänger, ist zum Hofpoeten
-ernannt. Aber die mitleidige Königin, so gut sie
-es auch in ihrem wonnigen Traumland hat &ndash; sie ist
-nimmer zufrieden damit.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Sie gedenkt ihres Sorgenkindes, der Welt, die ihr
-schon manch' bitteres Weh bereitet hat, sie hüllt sich in ihren
-blauen Himmelsmantel, mit goldenen Sternlein besäet, und
-fliegt mit geheimnisvoll leisem Flügelschlag über die Erde,
-<a class="pagenum" id="page_100" title="100"> </a>
-und wenn sie sieht, daß ihr Sorgenkind immer noch so
-verdrießlich und wetterwendisch und eigensinnig-dumm und
-boshaft und lieblos ist, dann fließen Thränen der Wehmut
-und des Zornes und des Mitleids aus ihren schönen Augen,
-vermischt mit Hoffnungsbalsam und Sehnsuchtslauten nach
-ihrem Traumland, und diese kostbaren Thränen fallen zur
-Erde hinunter in die Herzen ahnungsvoller Menschen, die
-von Liebe entbrennen zur herrlichen Göttin Phantasie; sie
-singen dann, was ihr Herz bewegt, und die Welt nennt sie
-Dichter.</p>
-
-<p>Aber Frau Phantasie verhüllt sich mit ihrem blauen
-Himmelsmantel, so daß nur die kleinen nackten Füßchen
-wie zartrosa Wölkchen darunter hervorgucken, der Wind
-nimmt sie auf seine Flügel und trägt sie in ihr Königreich,
-und dann geht die Sonne auf.</p>
-
-<p>Lange schon ist es her, daß die Königin ihre letzte
-Reise unternommen hat; sie hat über den Wolken gethront
-im Traumland; aber Wehegeschrei und Kanonendonner
-sind bis zu ihr hinaufgedrungen und Zornesrufe nach
-Freiheit und Fluchworte gegen Lüge und Heuchelei, und
-dann wurde es ruhig, ganz ruhig unter ihr &ndash; da erhob
-sie sich von ihrem Thron, legte die weiße Hand gegen das
-rosige Ohr, lauschte in die Ferne, und sie sprach zu ihrem
-versammelten Volke:</p>
-
-<p>»Horch, so friedlich ist's da drunten! Sollte wohl
-jetzt die Zeit gekommen sein, wo ich meine Lieblinge hinaussenden
-kann, auf daß sie der Welt Erlösung bringen?
-Meine Kinder, meine weißen, süßen, unschuldigen Kinder:
-Wahrheit und Liebe, die ich mit dem Sonnengott, dem
-ewigen Licht, gezeugt; sie schlummern unter Blumen nun
-seit vielen tausend Jahren und immer wollte ich sie wecken
-und immer noch war es zu früh; immer begann es wieder
-zu lärmen auf der Welt, wenn ich gerade mich niederbeugen
-<a class="pagenum" id="page_101" title="101"> </a>
-wollte, um sie wachzuküssen &ndash; die beiden Zwillingsrosen.
-Nun aber ist's Zeit.</p>
-
-<p>Geschwinde, Ihr lustiges Volk, geschwinde, Ihr meine
-Treuen &ndash; kommt, kommt, laßt sie uns wecken!«</p>
-
-<p>Und da huscht es, und haucht es und weht und faucht
-es über sie hin, um sie her, und da singt es und saust es
-und klingt es und braust es, und die Blümlein duften süß
-und die Zweige neigen sich flüsternd und leise. &ndash; Da stehen
-zwei holde Kinder mitten unter ihnen, ein Knabe und ein
-Mägdelein &ndash; sein Antlitz ist ernst und klar und trotzig
-und sonnig, in ihrem rosigen Gesichtchen lacht der Frühling,
-und doch thront auf der Stirn eine leise Schwermut und
-in den Augen wohnt die Sehnsucht. Und die Königin
-zieht ihre holden Lieblinge an ihr Herz und weint Glücksthränen
-auf ihre jungen Häupter, und all ihr Volk steht
-erwartungsvoll schweigend um sie her. Da spricht sie:</p>
-
-<p>»Ihr meine jungen Helden, mein ernster Knabe, mein
-lachend Mägdelein &ndash; steigt nieder zur Erde, zieht hin
-über die Welt und verkündet ihr das neue Evangelium,
-bringt ihr die Liebe, lehrt sie die Wahrheit. Ach, sie ist
-arm, arm an Glück und Liebe &ndash; lehrt sie, daß nur durch
-Liebe die Seligkeit zu erringen ist, von der sie so viel gehört
-und die sie nicht verstanden hat.</p>
-
-<p>Laßt Euch nicht abschrecken durch rauhe Worte, durch
-herzlose That &ndash; predigt immer wieder, ruft in die Welt,
-in ihre Herzen hinein, jubelt ihr entgegen das Evangelium
-von der Liebe, ohne die nichts ist, hier nicht, wie auf Erden.</p>
-
-<p>O meine Kinder, vor allem trennt Euch nicht, faltet
-Eure Händchen zusammen, verlaßt Euch nicht, denn die
-Wahrheit ist nicht ohne die Liebe, und die Liebe tot ohne
-die Wahrheit.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Allein seid Ihr nichts, vereint alles!«</p>
-
-<p>Da gab man ihnen Oelzweige in die Hände, Mutter
-<a class="pagenum" id="page_102" title="102"> </a>
-Phantasie nahm die Kinder in ihren Himmelsmantel und
-trug sie zur Erde nieder, und die Elfchen und Nixchen und
-Kobolde huschten um sie her, die Vöglein zogen mit ihnen
-und sangen und alles war voll Freude.</p>
-
-<p>Aber der alte, weltweise, vernünftige Uhu saß in dem
-Eichbaum, unter welchem Wahrheit und Liebe, von duftenden
-Blumen zugedeckt, viele tausend Jahre geschlummert hatten,
-klappte seine großen Augen auf und zu und seufzte, daß
-es in den Klüften und Schluchten wiederhallte:</p>
-
-<p>»Zu früh, viel zu früh, ach, es ist zu früh!«</p>
-
-<p>Hand in Hand irrte nun das Zwillingspaar durch
-die Lande, über Berg und Thal, über Fluß und Steg, an
-all den vielen Städten und Burgen vorüber, mit ihren
-vielen tausend Bewohnern, aber keiner wollte so recht etwas
-von ihnen wissen. Da waren wohl viele, die sagten: »Ach,
-wie schön seid Ihr!« Das waren lauter junge Leute, die
-Kopf und Herz noch voll herrlicher Gedanken und beseligender
-Empfindungen trugen, aber sie hielten sich doch in
-scheuer Entfernung, denn sie kannten die Kinder nicht. Da
-waren Andere, die tätschelten sie gönnerhaft auf die lockigen
-Häupter und sagten: »Ja, recht schön, aber unpraktisch!«
-Das waren alte, weißhaarige Männer und Frauen. Da
-waren noch Andere, die wollten mit lustigen, bunten, lügnerischen
-Lappen die schöne, reine Nacktheit der beiden
-Kinder bedecken, aber da eilten diese angstvoll von dannen
-und hinter ihnen her gellte höhnisches Gelächter.</p>
-
-<p>So kamen sie eines Tages durch einen schönen großen
-Wald, darin zwitscherte es gar lieblich von Vogelgesang
-und duftete es süß von Blumenduft, die Bäume neigten
-ihre Zweige vor ihnen, und der Vater, der Sonnengott,
-liebkoste sie mit seinen warmen Armen.</p>
-
-<p>Die Tiere des Waldes kamen, die scheuen Rehe, die
-flinken Füchse, die leichtfüßigen Eichhörnchen, sie sahen sie
-<a class="pagenum" id="page_103" title="103"> </a>
-mit klugen Augen an, und plötzlich klang's von fern und
-nah, in allen Zweigen, in allen Lüften:</p>
-
-<p>»Bleibt hier, o bleibt hier! Bei uns ist's gut sein,
-aber draußen ist's Winter; die kalte, böse Welt, sie
-thut Euch weh und treibt Euch fort, und dann müßt Ihr
-leiden!«</p>
-
-<p>Aber ein kleines, grünes Tannenbäumchen neigte sich
-zu ihnen hin und sprach: »Jetzt bin ich allein; eine schöne
-Tanne stand bis gestern noch neben mir; die haben die
-Menschen geholt, denn Weihnacht ist draußen, sagen sie, das
-Fest der Liebe, und da ist die Tanne gern mit ihnen gegangen,
-denn dann wird sie geschmückt, geputzt und geliebt. Nun
-stehe ich allein und möchte wissen, wohin sie gegangen ist.«</p>
-
-<p>Da blickten die Kinder zu ihrem Sonnenvater hinauf
-&ndash; der nickte lächelnd, und sie zogen weiter.</p>
-
-<p>Draußen, jenseits des Waldes, war Schnee und Eis
-und die Bäume senkten matt ihre dürren Aeste unter der
-Last, die ihnen aufgebürdet war; kein grünes Hälmchen
-sah unter der Schneedecke hervor und die kleinen Spatzen
-piepsten traurig auf der Hecke am Wege. Das liebe Zwillingspaar
-aber war ganz warm und der Schnee that ihren nackten
-Füßchen nicht weh, denn des Vaters Sonnenstrahlen hüpften
-um sie her und schützten sie vor der Kälte.</p>
-
-<p>Nun kamen sie an ein großes, hohes Schloß, das blitzte,
-funkelte und strahlte von lauter Gold und von Edelgestein,
-und wie sie die hohe Marmortreppe hinaufstiegen, da kamen
-sie in einen großen Saal, darin stand ein wunderschöner
-Tannenbaum mit vielen, vielen Lichtern, und um ihn her
-sprangen und lachten und scherzten fröhliche Kinder und
-freundliche Menschen &ndash; ach, da ging ihnen das Herz auf
-und sie traten dicht vor den stattlichen Mann hin, der eine
-schöne Frau am Arme führte, und öffneten ihre lieblichen
-Lippen:</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_104" title="104"> </a>
-»Wahrheit und Liebe heißen wir,« sagten sie, »das neue
-Evangelium wollen wir verkündigen, daß es weit hinschalle
-über alle Welt!«</p>
-
-<p>Da schüttelte der stattliche Mann den Kopf und die
-schöne Frau wich ängstlich zurück und rief ihre Kinder zu
-sich, daß sie nicht den kleinen Fremdlingen zu nahe kämen.</p>
-
-<p>»Ein neues Evangelium! Damit seid Ihr nicht am
-rechten Platz. Nur keine Neuerungen! Festhalten am Alten,
-Hergebrachten, das ist eines Edelmannes würdig. Und
-Wahrheit und Liebe? Gewiß! aber streng nach den Regeln
-der Etikette müssen sie sein.«</p>
-
-<p>»Komm, Schwesterchen,« sagte der Knabe Wahrheit zur
-Liebe, »hier ist nicht gut sein.«</p>
-
-<p>Und sie gingen weiter. &ndash; Da kamen sie in eine große
-Stadt. Da waren so viele Häuser und so viele Menschen,
-daß sie gar nicht wußten, wohin sie gehen und an wen sie
-sich wenden sollten.</p>
-
-<p>So schritten sie kühn in ein vornehmes Haus hinein,
-darin war es gar warm und behaglich, und sie stiegen die
-teppichbedeckten Stufen hinan und kamen in ein schönes
-Gemach, das war reich und bunt ausgestattet, und in der
-Mitte auf einem Tisch stand ein großer Weihnachtsbaum,
-der leuchtete von vielen, vielen Lichtern, lauter geputzte
-Leute standen um ihn und bewunderten die kostbaren Sachen,
-die darunter lagen. Das Zwillingspaar hielt sich fest an
-den Händen, und sie traten zu dem Herrn des Hauses, der
-neben einer schönen Dame im Sofa saß, und öffneten ihre
-lieblichen Lippen:</p>
-
-<p>»Wahrheit und Liebe heißen wir,« sagten sie, »das neue
-Evangelium wollen wir verkünden, auf daß es Lüge und
-Unglück aus der Welt von hinnen treibe.«</p>
-
-<p>Da wollte sich der Herr des reichen Hauses schier von
-Sinnen lachen: »Wahrheit,« sagte er, »mein Junge, damit
-<a class="pagenum" id="page_105" title="105"> </a>
-kann man nicht handeln« und »Liebe,« lachte die schöne
-Dame neben ihm, »<i>quelle idée!</i> Die ist gar so unbequem
-und aufreibend&nbsp;&ndash;!«</p>
-
-<p>»Komm, Schwesterchen,« sagte der Knabe und sah trotzig
-um sich, »hier ist nicht gut sein.«</p>
-
-<p>Die Kleine schmiegte sich dicht an seine warme Seite
-und sie zogen weiter.</p>
-
-<p>Nun kamen sie in ein ganz kleines, unscheinbares
-Häuschen, da brannte auch ein Tannenbäumchen, aber nur
-ein ganz winziges, mit zwei kleinen Lichtchen und ein paar
-Aepfeln und Nüssen daran.</p>
-
-<p>Neben dem Baum saß eine junge blasse Frau mit zwei
-Kinderchen im Arm und am Fenster ein finsterer Mann,
-der brütete vor sich hin und sah das Weihnachtsbäumchen
-kaum.</p>
-
-<p>Und das Zwillingspaar trat ein und lächelte dem
-anderen Pärchen zu:</p>
-
-<p>»Weihnachten ist heute, das Fest der Liebe. Vom
-Traumhimmel sind wir gesandt, die neue Religion zu verkündigen,
-das Evangelium der Liebe und Wahrheit.«</p>
-
-<p>Aber die angeredeten Kinderchen wandten sich verschüchtert
-zur Seite, und der blassen Frau liefen die Thränen
-über die schmalen Wangen.</p>
-
-<p>»Liebe,« schluchzte sie, »Liebe ist nur vom Uebel, denn
-sie hängt schwer an Einem, und von Liebe kann man nicht
-leben.«</p>
-
-<p>»Und Wahrheit?« fragte der Mann mit bitterem
-Lachen, »wenn man die Wahrheit sagt, wird man mit Hunden
-gehetzt. Geht weiter, Euer Evangelium ist nicht für Arme.«</p>
-
-<p>Da zogen sie traurig von dannen und irrten in den
-Straßen umher und wagten nicht mehr in die Häuser einzutreten.
-Sie kamen an ein großes, großes Haus, das
-hatte einen Turm, der ragte bis in den Himmel hinein
-<a class="pagenum" id="page_106" title="106"> </a>
-und aus den geöffneten Fenstern drang freundlicher Lichtschein
-von vielen Lichtern, Orgelklang und Gesang von vielen
-frommen Stimmen; sie schlüpften hinein und standen in
-einer Kirche voll frommer Menschen und vor dem Altare
-stand eine Krippe, darin lag ein kleines Kindlein, nackt,
-wie sie selber, mit einem goldenen Krönchen auf dem Haupte.</p>
-
-<p>Und sie liefen hin und freuten sich und wandten sich
-zum Volk und verkündeten mit lauter Stimme das neue
-Evangelium; denn sie dachten, hier wäre es gut und fromm
-und hier würden die Menschen auf sie hören.</p>
-
-<p>Kaum aber hatten die von einer neuen Religion vernommen,
-da erhob sich ein böses Geschrei und wütendes
-Toben, und an der Spitze der Mann, der an der Krippe
-des Jesukindes schöne Worte gesprochen hatte, und:</p>
-
-<p>»Neuerer, Ketzer! steinigt sie, treibt sie hinaus!« &ndash;
-riefen sie.</p>
-
-<p>Ach, die armen Sonnenkinder, sie wußten nicht, wie
-ihnen geschah, als sie plötzlich draußen vor der Kirchenthür
-sich befanden, die krachend hinter ihnen zufiel.</p>
-
-<p>»Ach wären wir im Traumland,« seufzten sie, »unter
-Blumen und Vögelein, unter der Königin blauem Sternenmantel
-&ndash; uns friert, ach so sehr.«</p>
-
-<p>Da, fern von der Stadt, begegneten ihnen zwei hohe,
-schlanke Gestalten, ein Mann und ein Weib &ndash; die hielten
-sich eng umschlungen und von ihren Stirnen ging ein
-Leuchten aus, daß es die Kinder wundersam durchschauerte.
-Sie faßten Mut und gingen jenen entgegen und fragten:</p>
-
-<p>»Was thut Ihr hier draußen?«</p>
-
-<p>»Wir feiern Weihnachten,« sagten jene beiden lächelnd.</p>
-
-<p>»Ohne Baum und Menschen?«</p>
-
-<p>»Für uns allein; in unserem Herzen, denn die Menschen
-haben uns von sich gestoßen!«</p>
-
-<p>»Was thatet Ihr?«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_107" title="107"> </a>
-»Wir sprachen die Wahrheit und in unserem Herzem
-thronte die Liebe,« sagten jene beiden und ihre Augen
-leuchteten. »Das aber kann die Welt nicht dulden, es ist
-gegen ihr Gesetz, und darum haben sie uns von sich gestoßen.«</p>
-
-<p>Da sangen und jubelten die Kinder ihr neues Evangelium
-in alle Winde hinaus und der Mann zog sein
-Weib in seine Arme und sie lauschten der Lehre von der
-Wahrheit und der Liebe, die die Kinder der ewigen Sonne
-und der Phantasie ihnen predigten.</p>
-
-<p>Da aber kam der Wind und trug die Sonnenkinder
-über die Wolken ins Land der Träume.</p>
-
-<p>Und wie sie der schönen Mutter ihre Leiden, ihren
-Kummer und ihre Seligkeit vertrauten, da weinte sie goldene
-Thränen und sie fielen in die Herzen jener seligen Menschenkinder,
-die die Welt von sich gestoßen hatte.</p>
-
-<p>Die Elfen und Gnomen und die Vöglein alle, das
-lustige, leichtlebige Volk, tanzten und jubilierten, und nur
-der große Uhu saß im Eichbaum, unter dem die Sonnenkinder
-wieder schliefen, unter Blumen zugedeckt, und knurrte
-prophetisch:</p>
-
-<p>»Zu früh, viel zu früh, die Welt ist noch nicht reif
-für das Evangelium der Liebe und Wahrheit!«</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_108" title="108"> </a>
-Schneeflocken.</h2>
-
-
-<p>Die Schneeflocken haben Ball heute Abend. Hei! Wie
-sie sich schwingen in tollem Reigen da oben auf den Bergen,
-wie sie durcheinander wirbeln und auf und niederspringen,
-daß einem ganz schwindelig wird beim Hereinschauen. Und
-der Wind spielt ihnen auf dazu; er saust durch die Tannenwipfel
-und schüttelt die Kronen der alten Waldriesen, daß
-sie die Zweige pfeifend gegen einander schlagen; er braust
-durch die Schluchten und gellt durch die Felsenklüfte, daß
-es fast wie Hohngelächter klingt, er singt ihnen ein Nordlandslied,
-wild wie sein Brausen und Toben. Er singt
-ihnen von den eisigen Gletschern da oben im Norden, und
-von der Eisjungfrau, die da haust mit Augen, klar und
-doch unergründlich, wie der Bergsee; er singt, wie sie mit
-schrillem Lachen die weißen Arme ausbreitet und an den
-Schneewänden ihres Eispalastes rüttelt &ndash; dann stürzen
-die Lawinen krachend zu Thal und begraben das Menschenvolk
-da unten. Von den lustigen Gesellen, den Eisbären,
-erzählt er, seinen Freunden, wie sie im täppischen Tanz
-umeinander sich drehen, fast wie riesengroße, weiße Schneeflocken,
-daß es gar komisch anzusehen ist; und von den
-Schiffen, die zwischen den Eisblöcken stecken, und den
-Menschen darauf, deren heißes Menschenherz langsam zu
-<a class="pagenum" id="page_109" title="109"> </a>
-starrem Eise wird; von den flimmernden, glitzernden,
-funkelnden, kalten Sternen da oben am Himmel, die
-todesruhig lächelnd herniederschauen; von dem Nordlicht,
-das aufflammt mit trotziger Glut und der Eisjungfrau auf
-ihrem Gletscher einen rosigen Schleier überwirft, aus dem
-sie herauslächelt, fast wie ein Menschenbild &ndash; so lockt sie
-die Menschen an, die kühnen Jäger, und sie steigen hinauf
-zu ihr, immer höher und höher, und sie winkt ihnen und
-lächelt süß, verheißend &ndash; und dann stürzt sie die thörichten
-Gesellen hinab, in die eisige Tiefe. &ndash; Hoiho! jauchzt der
-Wind, wild ist mein Nordlandslied! Wild, wie der Eiskönigin
-Lachen, wie der Lawinendonner! Und hoch empor
-wirbelt er die armen Flöckchen, bis sie sich ermattet an
-den Tannenzweigen festklammern.</p>
-
-<p>Da ist's gut ruhen; sie schmiegen sich eng an die
-Nadeln hin &ndash; die flüstern und kosen mit ihnen, die wiegen
-sie hin und her und erzählen ihnen Waldmärlein: von
-dem naseweisen Tannenbäumchen, das gar nicht zufrieden
-gewesen damit, daß es im schönen grünen Wald gewohnt
-und die Füßlein im weichen Moos gebettet hat; gelangweilt
-hat es sich auf seinem heimatlichen Stückchen Erde
-und hat hinausgewollt in die weite, weite Welt und gejammert
-und geschluchzt: O Wind, nimm mich mit! O
-Quell, rausch' mich zu Thal!</p>
-
-<p>Da hat mit einemmal die Waldfee vor ihm gestanden
-im grünen Gewand und lockigen Haar, hat es mit den
-Blumenaugen angeschaut, mit den zarten Händen berührt
-und gesagt: »Geh', mein Bäumchen, reise zu Thal. &ndash; Sie
-werden Dir weh tun, Dich von Ort zu Ort schleppen, und
-doch bringst Du ihnen von den Bergen herunter die Sehnsucht
-mit &ndash; den Tannenduft, damit sollst Du ihnen die
-Seele erfüllen, daß sie gut werden und sich freuen wie
-die Kinder.«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_110" title="110"> </a>
-Dann hat sie das Bäumchen geküßt und ist im Wald
-verschwunden.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Danach sind eines Tages zwei Männer gekommen und
-haben sich das Tannenbäumchen von allen Seiten angeguckt
-und zufrieden mit den Köpfen genickt. Dann haben sie
-ihre Pelzkappen zurückgeschoben und sich die Hände gerieben
-und die blanken Aexte genommen und haben die Füßchen
-der Tanne geschlagen, daß es durch den Wald gedröhnt
-hat, haben sie zur Erde geworfen, ihr einen Strick um
-den Leib gebunden und sie hinter sich hergeschleift über Stock
-und Stein, durch Schnee und Eis. Und das Tannenbäumchen
-hat leise vor sich hingeweint, und die großen
-Bäume auch; aber die Männer haben das nicht gehört,
-die meinten: Horch &ndash; wie der Wind pfeift!</p>
-
-<p>So ist die kleine Tanne zum Weihnachtsbäumchen geworden,
-wie die Waldfee sagt &ndash; denn da unten im Thal
-feiern sie Weihnacht&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Was ist das?« fragten zwei neugierige kleine Schneeflocken,
-die sich angefaßt hatten und mit ihren zarten, weißen
-Gliederchen auf den Zweigen der alten Tanne auf und nieder
-wippten.</p>
-
-<p>»Ja, was ist das!« sagte die alte Tanne, »Wintersonnenwende
-nennen wir's, und die Waldfee sagt: Jetzt
-wacht die Sonne auf und nun beginnt tief unten in der
-Erde das Keimen und Wachsen, bis es schließlich herauf
-dringt zu uns und die ganze Welt erfüllt. Aber da unten
-im Thal nennen sie's Weihnacht und sagen, die Liebe wäre
-ihnen geboren &ndash; und dann schmücken sie das Tannenbäumchen
-mit vielen, vielen Lichtern und zünden sie an,
-daß man meint, der ganze Baum stände in Flammen, und
-läuten mit ihren Glocken dazu &ndash; da &ndash; hört Ihr's?«</p>
-
-<p>»Bim bam bum!« singen die kleinen Schneeflocken,
-»da möchten wir hin!« und sie bitten den Wind: »Wind,
-<a class="pagenum" id="page_111" title="111"> </a>
-fahr' uns hinab!« &ndash; Der breitet seine großen, weißen
-Schwingen aus, die beiden Flöckchen klammern sich mit
-ihren vielen Fingerchen daran fest und nesteln sich in ihren
-Zottelpelzen tief in die Fittige ein, und heidi! da ging's
-zu Thale.</p>
-
-<p>»Grüßt mir das Tannenbäumchen!« rief die alte Tanne
-ihnen nach &ndash; und sie brummte in den Schneemantel hinein,
-der sich allgemach um ihre starken Glieder gelegt hatte:
-»Komisches Volk, diese Menschen! Mußte ihnen die Liebe
-erst geboren werden? Ist sie denn nicht so alt, wie die
-Welt steht?«</p>
-
-<p>Und dann schüttelte sie ihre Nadeln, daß die Schneeflocken,
-die schon darauf eingeschlafen waren, erschrocken
-in die Höhe fuhren.</p>
-
-<p>Die beiden neugierigen Schnee-Engelchen aber flogen zu
-Thal, und der Wind war bös und pfiff ihnen in die kleinen
-Ohren, daß es gellte: Puh &ndash; da unten ist's schlecht. Was
-wollt Ihr bei den Menschen? Entweder sie ballen Euch
-zusammen und werfen sich mit Euch gegenseitig an die
-Köpfe, oder sie kehren Euch auf einen Haufen, daß ihr ganz
-schmutzig werdet und die Sonne Euch aufschmilzt &ndash; umkommen
-thut Ihr jedenfalls!</p>
-
-<p>Doch da waren sie schon im Thal angelangt, vor einem
-großen, schönen Hause; das lag still und dunkel und allein.
-Nur aus einem Fenster schimmerte ein roter Schein, dahin
-flog der Wind, und sieh'! von dem Fenster her grüßte und
-winkte es den Flöckchen entgegen &ndash; das waren ihre Basen,
-die Eisblumen, die an den Glasscheiben in die Höhe wuchsen
-und allerlei wunderliche Gestalten angenommen hatten, und
-die Flöckchen setzten sich zu ihnen und guckten in's Haus
-hinein. Da drinnen ist's prächtig: ein hohes, weites
-Gemach, und aus einem großen, weißen Marmorkamin
-flutet der rote Feuerschein drüber hin, über den Tannenbaum,
-<a class="pagenum" id="page_112" title="112"> </a>
-der schön geschmückt und glänzend dasteht, über die
-vielen bunten Spielsachen und all die kleinen Figürchen,
-die da unter'm Tannenbaum ihr Wesen treiben.</p>
-
-<p>Die Eisblumen erzählten, wie schön es gewesen sei,
-als das Tannenbäumchen ganz in Flammen gestanden und
-die Kinder um es herumgesprungen wären und gelacht
-und getollt und gejubelt hätten. Dann haben sie die
-Lichter gelöscht und ein Duft ist durch das Zimmer gezogen,
-so würzig, so zart, so wunderstark, noch riecht's in allen
-Ecken darnach&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Die Schneeflöckchen vergingen fast vor Sehnsucht nach
-all dem Schönen. Mitleidig verrieten ihnen die Eisblumen,
-daß ganz, ganz unten am Fenster eine schmale Ritze offen
-wäre, da könnten sie noch besser hineingucken, und vorsichtig
-kletterten die Flöckchen an den glatten Scheiben hinunter
-und nun stehen sie vor der Fensterritze&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Also, so sieht Weihnacht aus!« flüstern sie einander
-zu, »komm', wir wollen uns an die Händchen fassen und
-hineingehen und den Weihnachtsduft einatmen.«</p>
-
-<p>»Thut das nicht,« antworteten die Eisblumen, »Ihr
-seid Kinder der Luft, Ihr gehört nicht zu denen dadrinnen
-&ndash; Ihr werdet hinsterben vor Sehnsucht zu ihnen.«</p>
-
-<p>Aber die Flöckchen hörten nicht auf die Erfahrenen;
-sie zogen sich ihre kleinen Schneemützchen über die Ohren,
-damit sie auch hübsch kalt blieben und schlüpften durch die
-Fensterritze. &ndash; Da schlug's Zwölf. Das kleine Männchen
-in der bunten Uhr, die auf dem Kaminsims stand, kam
-zwölfmal herausspaziert und beim letzten Mal nahm es
-seinen kleinen Dreimaster ab und verbeugte sich und sagte:
-»Meine Herrschaften, die Geisterstunde hat geschlagen!«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Dann verschwand es wieder in seinem Glashäuschen,
-und klirrend schlug die Thür hinter ihm zu.</p>
-
-<p>Nun begann ein wunderliches Wispern und Tustern
-<a class="pagenum" id="page_113" title="113"> </a>
-in allen Ecken und Winkeln &ndash; alles im Zimmer wurde
-lebendig und es war plötzlich ein Stimmengewirr wie beim
-Turmbau zu Babel. Alle die vielen Deckchen und Schleifen,
-die an den Stühlen und Lehnen herumhingen, fingen an,
-eine der andern Vorwürfe zu machen, daß sie sich immer den
-Menschen auf den Rücken setzten oder auf der Erde herumtrieben,
-und wurden so heftig dabei, daß sie sich schließlich
-gegenseitig mit sich selber bombardierten. &ndash; Das Sofakissen
-wurde elegisch und machte der Schlummerrolle eine
-Liebeserklärung. &ndash; »Sie haben eine so schöne Gestalt!«
-sagte es, &ndash; »von oben bis unten egal!« Und die Feuerzange
-beim Ofen wollte die Schaufel umarmen und kniff
-ihr dabei derb in die Nase. Die kleinen Sèvres-Figürchen
-auf dem Kamin schürzten ihre Rokokokleidchen zum Tanz
-und der Nußknacker, der in der Uniform eines Gardelieutenants
-auf dem Weihnachtstische stand, klemmte sein
-Monocle ins Auge, näselte: »Charmant, auf Taille!« und
-klappte seine Kinnladen mit einem gefährlichen Ruck wieder
-zu. Dieser Nußknacker war überhaupt ein Don Juan;
-just hatte er der niedlichen kleinen Puppendame, die in
-Balltoilette auf einem rotsammetenen Lehnstuhl saß, versichert,
-sie sei seine erste und einzige Liebe, und nun warf
-er der porzellanenen Schäferin da oben Kußhände zu und
-entschuldigte sich damit, daß es ja Weihnachten sei.</p>
-
-<p>Da entdeckte er plötzlich die beiden kleinen Fremdlinge,
-die sich in ihren weißen Schwanenpelzchen scheu in die
-Fensterbank gedrückt hielten.</p>
-
-<p>»Das ist ja etwas sehr Niedliches!« Und der Lieutenant
-klemmte seine Monocle ein und beeilte sich, mit
-allersteifsten Gardebeinen durch den Saal zu marschieren.</p>
-
-<p>»Premier-Lieutenant Knack von Mandelkern, I.&nbsp;Rrrment,
-Bleisoldaten zu Fuß,« schnarrte er und schlug die Hacken
-aneinander, daß unsere Schneeflöckchen erstaunt seine Füße
-<a class="pagenum" id="page_114" title="114"> </a>
-anguckten. &ndash; »Damen fremd hier? &ndash; äh &ndash; dürfte Ehre
-haben, Chaperoneur zu sein?«</p>
-
-<p>»Ach,« sagten die Flöckchen schüchtern, »wir gehören
-hier eigentlich gar nicht her &ndash; wir sind nur hereingekommen
-&ndash; wir wollten gern wissen &ndash; können Sie uns vielleicht
-sagen, was Weihnacht ist?«</p>
-
-<p>»Wa &ndash; wa &ndash; was &ndash; Weihnachten?« Dem Herrn
-Gardelieutenant fiel vor Erstaunen das Monocle weg, ohne
-daß er erst dazu eine Fratze zu schneiden brauchte, und
-sein Nußknackermund blieb ihm offen stehen, worüber die
-Flöckchen so erschraken, daß sie aufsprangen und von der
-Fensterbank auf die Erde flogen.</p>
-
-<p>»Weihnachten? &ndash; Weihnachten ist Weihnachten,«
-brummte Lieutenant Knack von Mandelkern entrüstet,
-nachdem er vorher seinen Mund wieder zugeklappt hatte
-&ndash; dann klemmte er das Glas wieder ein und sah den
-Flöckchen nach &ndash; »nette Pusselchen &ndash; aber noch sehr jrün
-&ndash; die reene Unschuld vom Lande.«&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Die Schneeflöckchen aber waren geradewegs auf ein
-schönes Buch mit Goldschnitt gesunken, das vom Tisch auf
-die Erde gefallen war &ndash; auf dem stand mit großen bunten
-Lettern als Titel gedruckt: Weihnacht und unsere Vorfahren!
-Das sprach jetzt mit gewählten Worten: »Was
-Weihnachten ist, wünschen Sie zu wissen, meine Lieben?
-&ndash; Sehen Sie mich an.« Und dabei schlug es sich auf
-und begann zu lesen: »Schon zur Zeit Winfrieds, des hl.&nbsp;Bonifacius,
-des großen Heidenbekehrers, feierten unsere Altvordern,
-beseelt von einem dunklen Drange, der sie zur
-Verehrung eines unbestimmten Etwas antrieb, im Winter,
-unter Schnee und Eis, ein Fest.«</p>
-
-<p>»Altes Buch, schweig' doch still! &ndash; Hüh! Hoh!
-Wollt Ihr wohl laufen, Ihr faulen Tierchen!« klang es
-da unter dem Tischdeckenzipfel hervor, und als die Schneeflöckchen,
-<a class="pagenum" id="page_115" title="115"> </a>
-die sich große Mühe gaben, die weisen Worte
-des Buches zu verstehen, sich umschauten, kam pfeilgeschwind
-eine drollige kleine Equipage herangesaust, schnurgerade
-über das gelehrte Goldschnittbuch hinweg, das sich voller
-Entrüstung erhob und mit Würde von dannen wandelte. &ndash;
-In dem von sechs weißen Mäuschen gezogenen Wägelchen
-stand ein kleiner nackter Junge, mit Flügeln an den
-Schultern und einem Bogen in der Hand, und sang und
-jubelte in die Welt hinein. Der hat auf einer schönen
-Dose gesessen, in der allerlei bunte, glänzende Steine und
-Goldsachen blitzten, und als der alte Herr in der Uhr die
-Geisterstunde verkündete, da ist er heruntergesprungen und
-hat sein lustiges Wesen getrieben.</p>
-
-<p>Ei, wie ihn die Rubinenaugen des Schlangenarmbandes
-anfunkelten, und so viel die Schlange auch nach ihm mit
-dem Goldzünglein gezischelt, &ndash; »ich bin die Schlangenkönigin,«
-sagte sie, »ich ringele mich um weiße Arme, weiße
-Nacken, ich ringele mich bis ins Herz hinein und bringe
-ihm den Schlangenzauber, dem niemand wiedersteht,« &ndash;
-es half ihr nichts: das kecke Bürschchen schlang sie sich um
-die kleine weiße Brust, und die Rubinenaugen funkelten
-ihm von der Schulter herunter.</p>
-
-<p>»Pah!« lachte er, »mein Pfeilgift ist viel stärker als
-Deins, &ndash; Du kannst mir nichts anhaben.«</p>
-
-<p>Nun setzte er sich in die große Walnußschale, die ihm
-der Nußknacker geschenkt hatte dafür, daß er der niedlichen
-Rokokodame einen Pfeil ins Sèvresherzchen geschossen.</p>
-
-<p>Aber er hatte keine Pferde zum Vorspannen. Da war
-er auf den Weihnachtstisch spaziert, wo die heilige Krippe
-aufgebaut war, und hatte den hl.&nbsp;Joseph um das Oechslein
-und das Eselein gebeten, sein Wägelchen zu ziehen; aber
-der hl.&nbsp;Joseph hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen
-über solch ein Ansinnen, obgleich Mutter Maria
-<a class="pagenum" id="page_116" title="116"> </a>
-mit dem Kindlein auf dem Schoß ihre Freude an dem
-kecken Gesellen gehabt hatte.</p>
-
-<p>Da war er den hl.&nbsp;Drei Königen aus dem Morgenlande
-entgegengegangen, die gar bedächtig mit prächtigem Gefolge
-heranmarschiert kamen. »Majestät,« sagte das Gesellchen
-höflich, »dürfte ich vielleicht eines Ihrer Kamele für mein
-Wägelchen benutzen? &ndash; Sie haben ja deren so viele.«</p>
-
-<p>Aber der schwarze Balthasar, der Mohrenkönig, fletschte
-ihm seine weißen Zähne entgegen, und Kaspar und Melchior
-hielten ihm das Weihrauchfaß mit Myrrhen unter die Nase,
-daß er niesen mußte &ndash; da sprang er davon und bat den
-Tannenbaum, und der schenkte ihm sechs kleine, weiße Zuckermäuse,
-die an seinen Zweigen hingen.</p>
-
-<p>Nun hielt er mit seinem flinken Gespann vor den
-Schneeflöckchen und lachte: »Ach, was seid Ihr für herzige
-Dingerchen. &ndash; Gleich möchte ich mit meinem Goldpfeil
-durch Eure Schwanenpelzchen in die Herzchen hineinschießen.
-Kommt, steigt ein &ndash; wir fahren zum Weihnachtsball in
-die Puppenstube; da tanzen Sie gravitätisch und mit Anstand
-ein würdiges Menuett und sind brav und gesittet
-&ndash; aber Ihr sollt 'mal sehen, was ich da für einen Wirrwarr
-anrichte.«</p>
-
-<p>Den Schnee-Engelchen gefiel zwar der kleine Bursche
-sehr gut, aber sie schüttelten doch die Köpfe, daß die Pelzkapuzchen
-hin und her wackelten.</p>
-
-<p>»Ach nein,« sagten sie, »hier können wir nicht tanzen
-&ndash; hier ist es uns viel zu warm. Wir sind auch nur
-hereingekommen, um zu lernen, was wohl eigentlich Weihnacht
-ist.«</p>
-
-<p>Da setzte sich das Gesellchen auf den Rand seiner
-Nußschale, schlug ein Bein über das andere und legte
-simulierend den Finger an das kecke Näschen:</p>
-
-<p>»Ja, sehen Sie, meine kleinen Engelchen &ndash; das ist eine
-<a class="pagenum" id="page_117" title="117"> </a>
-kuriose Geschichte. Da unter dem Weihnachtsbaum liegt
-ein kleines, nacktes Kindchen in einer Krippe, dessen Geburtstag
-feiern sie, und sie sagen, er sei der Gott der Liebe.
-&ndash; Nun aber hat mir mein heidnischer Vater im Olymp &ndash;
-ich bin nämlich ein Heide, mein Name ist Amor &ndash; immer
-gesagt, ich wäre der Gott der Liebe, und ich wäre, trotz
-meiner Jugend, so alt wie der Olymp und die Welt und das
-große, große Meer selber. &ndash; Da muß also irgendwo eine
-Verwechselung sein. &ndash; Ich schlage vor, wir feiern das
-ganze Jahr Weihnacht und halten mein Schwesterchen
-Freude, wenn sie davon fliegen will, am Gewandzipfel fest.
-&ndash; Ich kehre mich so wie so nicht viel an die Jahreszeiten
-&ndash; meine Pfeile fliegen das ganze Jahr durch, und die
-Küsse sind immer am süßesten, wenn sie geküßt werden.«
-&ndash; Und dabei breitete der kleine Schlingel die Arme aus
-und wollte die hübschen Flöckchen küssen; die aber faßten
-sich an die Hände und flogen ihm davon, geradeswegs auf
-die Tanne zu und klammerten sich an ihre Zweige fest und
-schaukelten sich und sangen:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">Von den Bergen, wo der Wind,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wo die Tannenschwestern sind,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Sind wir hergeflogen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Sind wir hergezogen&nbsp;&ndash;</td></tr>
-</table>
-
-<p>Sag' uns, was ist Weihnacht?</p>
-
-<p>Da ging ein Leben durch die Zweige der Tanne, all'
-das Rauschegold, mit dem sie geschmückt, knisterte und
-raschelte, die Krystallkugeln klirrten &ndash; stärker denn je
-dufteten die Tannennadeln, und horch! mit dem Tannenduft
-ziehen Sehnsuchtslaute durch den Saal:</p>
-
-<p>»Ach, meine Flöckchen, wohl bin ich geschmückt, wohl
-trage ich eine Krone, wohl habe ich geflammt in vieler
-Kerzen Schein &ndash; für die Weihnacht. &ndash; Aber gebt mir die
-Wintersonnenwende wieder, laßt mich umbrausen, umtosen
-<a class="pagenum" id="page_118" title="118"> </a>
-vom Wind, laßt den ersten Sonnenstrahl mich umschmeicheln
-und mir ins Herz hineinlachen. &ndash; Nehmt mir Alles
-dafür hin!</p>
-
-<p>Was die Weihnacht ist?</p>
-
-<p>Kummer und Trübsal, und Haß und Neid und Mißgunst,
-und Heuchelei und Geldstolz &ndash; das ist Weihnacht unter den
-Menschen; und zum Hohn nennen sie's das Fest der Liebe!
-Schneeflöckchen, wenn Ihr die Liebe sucht, fliegt nimmer zu
-Thal. Und eines doch: Wenn das Kinderauge uns anlacht
-&ndash; wenn wir in seinem reinen Glanz uns spiegeln, wenn
-die Kinderärmchen sich nach uns ausstrecken, die Kinderstimme
-uns anjauchzt&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Da öffnete sich leise, leise die Thür, und auf der
-Schwelle stand ein Kindchen und blickte verschlafen um sich
-und strich sich die blonden Härchen aus dem heißen Gesicht. &ndash;
-Nicht schlafen konnte das Kind vor Freude über Weihnacht,
-und es hatte ein Geraune und Geflüster gehört neben dran
-und war aufgestanden, ganz leise, daß es die Eltern nicht
-gestört, und schlich mit den bloßen Füßchen über den Teppich
-hin, und stand mitten unter dem lustigen Volk.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Aber da schnarrte die Uhr und das alte Männchen
-kam wieder herausspaziert und sagte mit dumpfer Stimme:
-Eins! und nun war alles wieder still und stumm und
-leblos, wie es vorher gewesen. Nur die Schnee-Engelchen
-konnten nicht so schnell zum Fenster hinfliegen &ndash; da erblickte
-sie das Kind: »Das sind die Engelein vom Himmel,«
-jauchzte es, »Tanne, die hast du mir mitgebracht!«</p>
-
-<p>Und mit beiden Armen griff es nach den Flöckchen
-und preßte sie an sich und drückte und herzte sie &ndash; ach &ndash;
-und da vergingen sie ihm unter den Händen, und das Kind
-betrachtete verwundert seine leeren feuchten Aermchen &ndash;
-da schlich es betrübt in sein kleines Bett und weinte, weinte
-bitterlich.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_119" title="119"> </a>
-Aber die Tannennadeln, die sich in seinem Kraushaar
-gefangen hatten beim Spielen, die neigten sich an des
-Kindes Ohr und erzählten ihm vom Tannenwald und dem
-Wind und der Schneeflöckchen-Reise, das ganze Märlein,
-da schliefs Kindchen ein.</p>
-
-<p>Und wann es aufgewacht ist, und wieder und wieder
-aufgewacht, und größer und älter geworden, wann die
-Wintersonnenwende ihm gekommen ist, da zieht ihm, dem
-großen Kind, zu Weihnacht mit dem Tannenduft immer
-wieder das Märchen durch die Seele &ndash; das Märchen von
-den Schneeflocken, die ausgezogen, die Liebe zu suchen, und
-an der Liebe gestorben sind.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_120" title="120"> </a>
-Das Märchen
-von der weißen Stadt.</h2>
-
-
-<p>Es lag ein Mensch zu sterben. Der hatte all seine
-Gedanken, all seinen Willen hergegeben, die eine große That
-seines Lebens zu vollenden. Aber der Griffel entsank seiner
-Hand, und die Seele entfloh dem Leibe. Es hatte dieser
-Mensch die Fluten sehr geliebt. Er konnte stundenlang am
-Ufer des Sees sitzen und die blauen Wasser betrachten, wie
-sie kamen und gingen, immerzu, immerzu; und aus den
-Wassern sahen ihn seine Gedanken an. Als seine Seele
-nun ohne Körper umherirrte, da kamen die Luftgeister und
-trugen die Menschenseele hin über den See. Aus ihren
-wehenden, silbergrauen Gewändern troff es wie Nebel zum
-Wasser nieder, und ein leiser Wind bewegte die Fluten,
-daß sie sich kräuselten. Oben auf den Wogenkämmen
-schaukelten die weißen Leiber der Seejungfrauen; sie streckten
-die Arme aus nach der Seele des Menschen und zogen sie
-hinab in die weichen, wiegenden, schmeichelnden Gewässer. &ndash;
-Drunten in der Tiefe saß der Seekönig und hielt Hof.
-Er war ein kleiner Mann mit starken Armen und langem,
-weißem Bart. Auf dem weißen Haupte trug er eine Krone
-von hellroten Korallen; die hatte ihm sein Vetter, der Meerkaiser,
-geschickt, aus Anerkennung, weil der kleine Seekönig
-<a class="pagenum" id="page_121" title="121"> </a>
-manchmal seine Gewässer mit den starken Armen so aufrührt,
-daß viele Schiffe und Menschen umkommen müssen,
-gerade wie auf dem Meere. Denn die Meerleute mögen
-es gern, wenn Menschenkinder zu ihnen hinuntersteigen
-müssen. Sie stellen die weißen Körper in ihren wundersamen
-Meergärten auf, wie wir die Marmorstatuen. Die
-Menschen können nicht leben bei ihnen; nur wenn einer
-die Fluten sehr geliebt hat, dessen Seele gleitet des Nachts
-in den Wellen als weißer Schaum. Kommt ihn aber die
-Sehnsucht an, den Tag zu sehen, und es berührt ihn die
-Sonne, in deren Licht er geatmet, dann muß er für immer
-zur Leiche werden.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Der kleine Seekönig hielt also Hof. Sechs große Räte
-mit wunderlichen Fischgesichtern saßen im Kreise um ein
-großes Blatt Papier, das ganz bunt vor lauter Strichelchen
-und Pünktchen aussah; vier dicke Büffelfische trugen es auf
-ihren Rücken, sie hielten es fischchenstill; nur zuweilen zuckte
-einer mit dem beweglichen Schwanz oder pustete die Kiefern
-auf und zu, als ob er Wasser rauche; und dann zupfte
-ihn der Herr Rat mit dem Karauschengesicht mahnend an
-den Flossen, worauf er gehorsam still hielt. Die Menschenseele,
-die als zarter, weißer Schaum auf der Schulter der
-Seejungfrau lag, sah neugierig das weiße Papier an; es
-kam ihr so bekannt vor. Das hatte sie schon gesehen, als
-sie noch Mensch war. Es war ihr, als müsse sie eine Hand
-danach ausstrecken. &ndash; »Still!« flüsterte die Seejungfrau,
-»gleich wirst du hören.« &ndash; Und dann sagte der Seekönig:</p>
-
-<p>»Die Menschen da oben auf der Erde machen uns
-alles nach. Gerade wie wir zuweilen Besuch bekommen
-von den Bewohnern anderer Seen und Meere, die dann
-allerlei Kostbarkeiten mitbringen, um sie uns zu zeigen, so
-macht es das Volk da oben auch. Nur sind sie sehr arm.
-Während wir alle die fremden Seltenheiten und unsere
-<a class="pagenum" id="page_122" title="122"> </a>
-eigenen dazu, einfach in unserem ewigen Krystallpalast aufstellen,
-müssen die sich erst Häuser dazu bauen. Und das
-Bauen &ndash; welche Umständlichkeit! Erst kommt einer und
-denkt sichs aus und zeichnet es auf, und dann geht es an
-viele Leute, die alle etwas zu mäkeln und zu ändern haben.
-Schließlich soll es dann wirklich gebaut werden, aber wie
-lange das alles dauert, dazu habe ich nicht Zeit genug, das
-zu erzählen. Seht, da hat auch so ein armer Mensch mit
-kurzem Gedächtnis seine Gedanken auf das Papier geschrieben;
-ein guter Mensch, der uns sehr geliebt hat. Denn er hat
-gesagt: »Wenn ich meinen See nicht hätte! Der muß das
-Beste thun.« Und dann hat er unsere Fluten überall eindringen
-lassen in seine Pläne, damit wir seine Paläste wie
-mit Silberarmen umschlingen und ihre Schönheit wiederspiegeln.
-&ndash; Dann ist er gestorben. &ndash; Und jetzt werden
-andere kommen und seine Pläne zunichte machen und uns
-vielleicht einengen und tyrannisieren. Wollen wir das
-dulden? Nein!« rief der Seekönig und hob die starken
-Arme, daß oben die Wellen klatschend gegen das Ufer schlugen.
-Und die Räte schüttelten heftig ihre Fischköpfe. Die Seejungfrau
-lächelte der horchenden Menschenseele zu.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>»Kommt herbei, ihr Seevolk, und hört, was ich euch
-sagen werde,« fuhr der Seekönig fort: »Die Luftgeister,
-unsere Freunde, haben dieses Papier, das der tote Mensch
-mit seinen Gedanken beschrieben und dem Großen Rat da
-oben auf der Erde vorgelegt hat, aus seinen Händen weg
-und zu uns herabgeweht. Schwimmt, ihr Fische, bis ans
-Meer, lasset die im Meere es weitertragen zu den Geistern
-der Völker an der andern Seite des großen Wassers, wie
-das Seevolk der Menschenseele Werk erfüllen will.« &ndash; Da
-schlugen die vier Büffelfische mit dem Schwanz unter das
-Papier, daß es auf in die Wellen flog; die fischköpfigen
-Räte griffen entsetzt danach: »Erst sehen, sehen!« Aber
-<a class="pagenum" id="page_123" title="123"> </a>
-der kleine Seekönig lachte, daß es ein Seebeben gab, und
-zerriß das Papier in tausend Fetzen: »Wir sehen nicht &ndash;
-wir bauen!« sagte er.</p>
-
-<p>»Siehst du?« lächelte die Seejungfrau und neigte ihr
-Antlitz der Menschenseele zu, »jetzt werden deine Gedanken,
-die du ins Wasser hineingeträumt hast, doch wirklich. Ich
-habe dich oft gesehen, habe vor dir geschaukelt, wenn du
-dachtest, es seien die weißen Wellenkämme. Ich hätte dich
-mir geholt &ndash; ach so gern! Jetzt bist du bei mir. Die
-Menschen denken, sie haben dich begraben; aber ich halte
-dich in meinen Armen &ndash; ewig. Du darfst nicht hinaufschwimmen
-und dein Werk beschauen, nicht so lange die
-Sonne scheint. Dann würdest du zur Leiche. Ich will nicht,
-daß dich die Schwestern in ihre Gärten stellen. Ich will
-dich behalten &ndash; für mich.« &ndash; Dann glitt sie zum Seekönig
-hin und schmeichelte: »Väterchen, mach' es recht schön!« &ndash;
-Er aber streichelte ihr langes Haar, das glänzte wie Sonnenstrahlen
-auf dem Wasser, und sagte ernsthaft: »Du darfst
-die Menschenseele hüten, daß sie uns nicht entflieht; denn
-nur durch sie können wir das Große vollenden.«</p>
-
-<p>Nun beginnt die Arbeit. Ei, wie flink die Fischlein
-dabei sind, das blaue Wasser zu kommandieren, daß es in
-langen, glänzenden Streifen zwischen grünen Inseln sich
-durchzwängt, alles Land verschlingend, das ihm im Wege
-ist, daß es unter wölbende Brücken sich duckt und schmeichelnd
-zu Füßen schlanker Säulenhallen sich schmiegt. Und die
-Nixen kommen und spielen mit den Fluten, daß sie in
-glitzernden, schillernden Farben zu den Luftgeistern emporsprühen.
-Wie geschickt die Gnomen und Kobolde Stein auf
-Stein, Bogen an Bogen zu fügen wissen, daß es sich erhebt
-aus der Tiefe des Sees &ndash; eine weiße, wundersame Wunschstadt.
-Da tauchen Türme auf mit seltsam zackigen Verzierungen;
-ein kleiner Nix sitzt darauf und lehrt sie allerlei
-<a class="pagenum" id="page_124" title="124"> </a>
-alte Weisen mit seiner Glockenstimme, und nun singen die
-Türme sie weiter. Hier schwimmt eine schneeweiße Rotunde
-mit lauter kleinen Fensterchen rundum; und die Fische
-leiten das klare Wasser hinein und tummeln sich darin.
-Und still und groß und schön wächst es und wächst es,
-schier in die Ewigkeit hinein. &ndash; In einer großen Muschel,
-davor sechs buntscheckige Forellen geschirrt sind, durchzieht
-der Seekönig die Wasserkanäle, mit scharfen Augen Umschau
-haltend. Hier zwickt er ein paar faulen Weißfischen
-aufmunternd die platten Schwänzchen; dort schilt er zwei
-streitlustige Hechte, die beide denselben Riesenpalast errichten
-wollen und ihn dabei unsanft hinfallen lassen. Ein energisches
-Nixlein ruft er herbei als Oberaufseher, und das lenkt
-mit seinen weißen Fäustchen die störrischen Gesellen
-wie ein paar gutmütige Oechslein. &ndash;&nbsp;&ndash; Als aber der
-Seekönig sieht, wie alles gut ist, taucht er unter in seine
-Schatzkammer, füllt seine Muschel mit Gold, so viel sie
-tragen kann, schüttet es am Ufer aus und befiehlt: »Da &ndash;
-krönt das Ganze damit! daß die Kuppel weithin leuchte
-wie eine Sonne!«</p>
-
-<p>In der Tiefe des Sees ruht die Seejungfrau, regungslos,
-daß sie die zarten Fäden nicht zerreiße, die von dem
-weißen Schaum an ihrer schönen Brust aufsteigen zu dem
-Werk da oben. Und die Menschenseele harret der Vollendung.</p>
-
-<p>Da wallt ein Zug daher über das Wasser. Nebelschleier
-spinnen ihn ein, daß er wie eine Wolke über dem
-See schwebt, und er zieht eine Bahn, silbern wie der Mond
-auf dem Wasser liegt. Schweigend klimmt er das Ufer hinan,
-wo droben der Seekönig seiner harrt, und über ihm schwebt
-die goldene Kuppel wie eine große Krone. &ndash; Nachts, wenn
-die Menschen schlafen, ergeht sich das Wasservolk oftmals
-am Ufer und pflegt Zwiesprache mit Mond und Sternen.
-&ndash; Voran im Zuge schreiten Patres mit fahlen Gesichtern
-<a class="pagenum" id="page_125" title="125"> </a>
-in schwarzer, spanischer Mönchstracht. Sie tragen gewaltige
-Lasten auf ihren Schultern: Türme und Türmchen, spitze
-und runde, Mauern so dick wie Gefängnismauern mit tiefen
-Kreuzgängen und schweren Wölbungen. Sie keuchen unter
-ihrer Last; ein lustiges, weißes Elfengesindel kommt
-neckisch gesprungen und weist ihnen den Weg unter hohen
-Bäumen, und hilft ihnen, das wunderliche Ding, das einem
-spanischen Kloster ähnelt, von den gebeugten Rücken abzuladen.
-Da richten sich die schwarzen Geister der Patres
-zufrieden auf, und sie bauen mit dem geschmeidigen Nixenvolk,
-dessen Listen sie wohl gewachsen sind, vergnügt weiter.</p>
-
-<p>Eine mächtige Gestalt schreitet auf dem Wasser; ein
-Gewand von Gold umstarrt sie; sie trägt einen goldenen
-Helm; golden leuchtet ihr strenges Antlitz daraus hervor.
-Siegesgewiß, siegesbewußt geht sie mit großen Schritten an
-dem Seekönig vorüber, ihm herablassend huldvoll zuwinkend.
-Der lächelt fein ihr nach, wie sie sich gravitätisch aufpflanzt
-inmitten all des Schönen &ndash; ein wenig zimperlich, ein
-wenig ungelenk. »Laßt sie nur dastehen,« nickt er, »man
-wird schon sehen, daß es nicht unsere wirkliche Athene ist
-&ndash; nur eine große, große, goldene, emancipierte Alte-Kunst-Jungfer.«
-&ndash; Und dann streckt er freudig seine Hände den
-schlanken Gestalten entgegen, die aus dem Nebel sich loslösen,
-einherwallen in faltigen Gewändern, die sich feucht
-um die herrlichen Glieder schmiegen; und sie tragen auf
-den stolzen Häuptern die weißen, strahlenden, wundervollen
-Trümmer der Heimat. »Du Land der Sehnsucht!« flüstert
-der Seekönig. Sie lächeln ihm zu mit den schönen, traurigen
-Gesichtern. Sie pflanzen Säulen in die Erde, rein und
-schön, wie sie selber, sie breiten die Hände aus, und eine
-erhabene Harmonie lagert sich über der Wunschstadt. Sie
-erheben die kraftvollen Arme und sprechen: »Du lässest uns,
-o Vater Zeus, die Schönheit schauen, nicht zertrümmert,
-<a class="pagenum" id="page_126" title="126"> </a>
-nicht zerschlagen, nein, in ihrer ganzen siegenden Gewalt.«
-&ndash; Und demütig neigen die Karyatiden die stolzen Häupter
-unter der Last der Schönheit, die sie tragen.</p>
-
-<p>Wunderlich Volk zieht im Zuge einher, der übers Wasser
-wallt. Ein kleiner, nackter Bub, der nur einen Frack und
-Cylinderhut trägt für seine Blöße, bietet zierlich einer Rokokodame
-den Arm, die gar stattlich in Hackenschuhen und Reifrock
-mit einer Trikolore auf dem hochfrisierten Köpfchen einherstolziert:
-»Wir sind barock, nicht wahr?« nickte der kleine
-Schelm dem alten Seekönig zu. &ndash; »Wir, Puck Amor und
-Dame la France!« &ndash; In einem muschelförmigen Wagen,
-schimmernd von Gold und Edelgestein, kommt ein ernsthafter
-Mann. Er hat ein braunes Gesicht, aus dem seltsam überirdische
-Augen schauen, trägt nur einen schlichten, weißen
-Kaftan um die Hüften gegürtet, und doch neigt Seekönig
-sich tief vor ihm, und eine zarte, braune Elfe, schön wie
-des Gottes Bajadere, geheimnisvoll wie die Wunder Indiens,
-gleitet vor ihm her, ihm seinen Wohnort zeigend.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Und so kommen sie alle, die Geister der Völker, die
-der Seekönig entboten hat. Plumpe nordische Burschen
-tragen Paläste von plumper Pracht. Ernsthafte, blondköpfige
-Gesellen bringen ein seltsam Häuschen mit spitzragendem
-Turm, mit schönen Gewölben, durch deren bunte
-Glasfenster es lieblich leuchtet, wie eine Geistessonne. Zierliche,
-dunkeläugige Mädchen kommen im Tanz geflogen:
-ihre Gewänder flattern im Wind, sie streuen Rosen aus,
-duftende Rosen der Anmut. &ndash; Seltsame Fahrzeuge gleiten
-im Nebel im Geisterzug. Unbeholfen, schwankend die einen.
-Schwarze, düsterblickende Gesellen stehen darin und blicken
-drohend hinüber zu dem schlanken Schiffchen, das, seinen
-Drachenkopf vorgestreckt, wie ein Renner durch die Fluten
-schießt, pfeilgeschwind, die andern weit hinter sich lassend.
-Wie nur das Schifflein die Hünengestalten seiner Mannschaft,
-<a class="pagenum" id="page_127" title="127"> </a>
-die mit sehnigen Armen die Ruder führen, birgt in
-dem schlanken Rumpf?! Hoch richten sich die Gestalten auf,
-sie wachsen und wachsen, daß ihre Leiber dunkle Schatten
-werfen weithin über den See. Und sieh' nur &ndash; wie die
-geisterhaften Schwarzen in den schweren Kreuzesschiffen zum
-Himmel hinaufragen, fanatisch glühen ihre Augen durch
-den Nebel &ndash; der beginnt wunderlich zu leben, wogt und
-zerrt her und hin, bis er die Riesengestalten verschlungen
-hat. Dann gleiten Karavelen und Vikinger in glatte
-Buchten, gezogen von muntern Fischlein, gesteuert von weißarmigen
-Wassernixen.</p>
-
-<p>Da bebt der See. Hoch sprühen die Wasser auf. In
-den schäumenden, singenden Strudel steigt der Seekönig
-hinab in sein Reich, gefolgt von seinem fleißigen Volke.
-Drunten in der Tiefe ruht die Menschenseele. »Wann
-wird es vollendet sein?« fragt sie sehnsüchtig. »Es ist vollendet,«
-sagt der Seekönig. »Sobald der erste Sonnenstrahl
-die goldene Kuppel trifft, wird es den Augen der Menschen
-sichtbar sein.« »Und sichtbar bleiben? Immer?« fragt die
-Menschenseele. »Nur eine kurze Spanne Zeit hat das
-Wasservolk Macht über die Erde. Nur bis die Sonne in
-die Fluten sinkt und die Zauberwelt, die wir gebaut haben,
-mit sich hinabreißt. Aber wenn dein Seelenauge dein Werk
-erschaut, ehe die Sonne die goldene Krone bestrahlt hat &ndash;
-dann wird es ewig sein. Dann aber wirst du sterben und
-dein Name wird vergessen werden unter den Menschen.« &ndash;
-Die Menschenseele lächelte. Eng schmiegte sie sich an die
-atmende Brust der Seejungfrau.</p>
-
-<p>Droben, von der verschlafenen Erde, erhob sich die
-Nacht und zog ihre schwarzen Schleier schleppend hinter
-sich her, über den Himmel. Da ward es Licht auf der
-Erde. &ndash; Es war aber alles noch den Augen der Menschen
-verborgen; denn die Menschen sind ein blödsichtig Geschlecht,
-<a class="pagenum" id="page_128" title="128"> </a>
-und sie sehen nur, was ihre Augen ihnen zeigen. Aber
-die Tiere öffneten ihre klugen Augen. Die Vöglein in der
-Luft flatterten hin über die Wunschstadt, setzten sich neugierig
-auf die zackigen Türme und zwitscherten hernieder
-von den Stangen der bunten Fahnen. Die klugen kleinen
-Enten schwammen in den Wasserkanälen und erzählten
-schnatternd von dem Schloß der Wasserfrauen, das sich
-zur Nacht aus Busch und Schilf erhoben hatte. &ndash; Verwundert
-blickte der Ackersmann, der mit seinem Gaul
-dahergeschritten kam, Furche auf Furche durch die wilde
-Erde zu ziehen, zu den Vöglein auf: wie konnten sie nur
-mit geschlossenen Flügeln in der Luft schweben, als ob sie
-auf Bäumen säßen? &ndash; Und die zwei Reiter, die dort
-hintereinander über die Prärie jagten, sahen die Entlein
-auf dem hohen Präriegras schwimmen wie im Wasser.
-Aber sie haben nicht Zeit, sich lange zu verwundern &ndash;
-da &ndash; der gelbe Rücken des Puma taucht auf, den sie
-gejagt &ndash; der Schuß kracht aus der Büchse des Trappers
-&ndash; der Pfeil schnellt von dem Bogen des roten Mannes:
-gilt er dem König seines eigenen Landes? gilt er dem
-weißen Fremdling da vor ihm? &ndash; Hoch richtet er sich im
-Sattel auf, daß die Adlerfedern in seinem schwarzen Schopfe
-nicken. Was ist das? &ndash; da &ndash; glitt nicht der Puma hinab
-in blaues, kräuselndes Wasser? Was ringt sich los aus
-den Nebeln? Das Roß des Trappers bäumt sich, geblendet
-schützt der Indianer die Augen mit der Hand, und späht
-und späht. &ndash; Still lehnt der Ackersmann an seinem Gaul,
-sein Blick sucht die Erde, seine Erde, die er bebauen muß.
-Und sie schauen, wie es herauswächst aus dem Morgengrauen,
-weiß und still; wie es emporstrebt zum Himmel,
-eine wundersame, andere Welt, die sie mit erhabenen Augen
-anschaut, sie mit weißen Armen umfängt, sich wie weiße,
-stille, reine Gedanken in ihre Seele senkt. Wie sie stehen
-<a class="pagenum" id="page_129" title="129"> </a>
-und schauen, umweht es sie lind und kühl &ndash; ein Hauch
-der Ewigkeit.</p>
-
-<p>Ein klein lustig Elflein aber zerrt den Puma, der verdutzt
-da kauert in der Wunderwelt, an den Ohren zu einem
-Marmorsockel hin. »Da lieg', du Wilder!« lacht es, und
-der Tiere König läßt willig sich in die Fesseln der Schönheit
-schlagen.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Horch! Es geht ein Brausen durch die Lüfte, ein
-Singen, Klingen, lieblich Geläute: aus dem Morgengrauen
-erhebt sich der junge Tag, und sein leuchtendes Auge weilt
-liebend auf dem weißen Wunder.</p>
-
-<p>Auf den blauen Fluten des Sees trieb ein zarter
-weißer Schaum. Ein Sonnenstrahl irrte zu ihm hin und
-küßte ihn bebend. Da ward er zur Leiche. Die Menschenseele
-war aufgestiegen aus den geliebten Wassern, um zu
-sterben. Der See bebt, als sei er in seinen Tiefen erschüttert.
-In den sprühenden Wogen aber taucht die Seejungfrau auf,
-an deren weißer Brust des Toten Seele geruht hat. Ihr
-goldenes Haar glitzert auf den Fluten. Klagend schlingt
-sie die weißen Arme um ihn, sein schönes, bleiches Antlitz
-über Wasser haltend. So gleiten sie dahin über die murmelnde,
-singende Fläche &ndash; weit, weit hin, den weißen
-Tempeln zu. Und das Licht, das die Seele getötet, liegt
-liebkosend auf der stolzen Stirn.&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Es kamen die Menschen und nahmen Besitz von der
-Wunschstadt in der neuen Welt.</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_130" title="130"> </a>
-Welt-Ausstellung im Walde.</h2>
-
-
-<p>Draußen im Wald flüstern die bunten Bäume miteinander
-und streuen gelbe und rote Blätter auf die braun
-sich färbende Erde, wie der Frühling Rosen streut; der
-Herbstwind rauscht und raunt in den Zweigen, und eine
-milde Herbstsonne glüht auf die Weinblätter am Eichenstamm,
-daß sie tiefrot schimmern, wie lauter Blutstropfen.</p>
-
-<p>Am träge über Kiesel und trockene Aeste dahin murmelnden
-Bächlein nickt ein grüner Zweig &ndash; da leuchtet
-etwas Blaues auf, dann tönt ein Lockruf, sanft, zärtlich,
-dringend &ndash; jetzt die Antwort &ndash; noch etwas Blaues &ndash;&nbsp;&ndash;
-Zwei Vöglein sind's: blaue Flügel schwirren durch die
-Luft, und zartgrau glänzt der Leib.</p>
-
-<p>»Was nur heute los ist!« sagte der eine Blauvogel
-zum andern, »keine Fliege, kein Käferchen läßt sich sehen,
-alle ziehen dort hinein in's Tannendickicht, und selbst die
-Mücken machen ganz ernsthafte Gesichter!«</p>
-
-<p>»Guten Abend, guten Abend, meine Herrschaften,«
-schnarrt es über ihnen. Da hängt am Baumstamm ein goldgelbes
-Vögelchen. Zu welcher Klasse es gehört, das weiß
-ich nicht (schlagt einmal in Nehrling's amerikanischem
-Vogelbuch nach), aber es hämmert in die harte Baumrinde,
-<a class="pagenum" id="page_131" title="131"> </a>
-daß es durch den ganzen Wald schallt, und so wollen wir
-es kühn »Gelbspecht« titulieren.</p>
-
-<p>»Ja, ja, Sie haben Recht, es muß etwas im Walde
-sein bei dem kleinen Getier,« sagt der Specht, »ich habe
-schon dieselben Beobachtungen gemacht. Aber sehen Sie einmal
-da &ndash; die Spinne!« An einem trockenen Zweiglein
-hängt eine große Spinne, eifrig beschäftigt, silberglänzende
-Fäden zu einem kunstvollen Netz zu verweben.</p>
-
-<p>»Was machen Sie denn da, Verehrteste?« fragt der
-Specht, als der Zudringlichste; denn die Blauvögelein haben
-etwas Schüchternes, sie mischen sich nicht gern in anderer
-Leute Angelegenheiten und sind nicht weltgewandt wie der
-Herr Gelbspecht.</p>
-
-<p>»Ich spinne,« sagt die Spinne ernsthaft.</p>
-
-<p>»Ja, das sehen wir,« entgegnete der Specht, »aber,
-meine Gnädigste, was spinnen Sie?«</p>
-
-<p>»Ein Netz,« sagt die Spinne.</p>
-
-<p>Die Blauvögel stoßen ein leises, glucksendes Lachen
-aus, und der Specht hämmert entrüstet gegen den Baum.</p>
-
-<p>Jetzt schlingt die Spinne einen letzten Knoten und
-krabbelt langbeinig davon: »Es muß fertig werden zur
-Ausstellung, die wird heute Abend eröffnet,« ruft sie zurück.</p>
-
-<p>»Ausstellung?« fragen die poetisch-unwissenden Blauvögel
-und schlagen verwundert mit den Flügeln. »Von was?
-Wozu? Davon haben wir noch nie etwas gehört.«</p>
-
-<p>»Ja, das glaube ich,« lächelt der Specht mitleidig,
-»Ihr schwebt ja immer in den Lüften und schwärmt für
-Sonnenuntergänge, düstere Waldpartien mit Lichteffekten
-und dergleichen Humbug. Ich weiß wohl, das Getier da
-unten auf der Erde hält eine Weltausstellung&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»O, da laßt uns hingehen,« jubeln die Blauvögel. »Aber
-wo ist sie denn?«</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_132" title="132"> </a>
-In der Nähe erhebt sich plötzlich ein nimmer endenwollendes
-Geschrei, Gekrächze, Gejohle&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Der Specht wiegt überlegend sein gelbes Köpfchen:
-»Wißt Ihr was? Wir wollen die Schwarzvögel fragen
-&ndash; die wissen alles! Hört, wie sie reden und schnattern?
-Die haben wieder Kaffeegesellschaft oder Loge oder Gesangverein
-&ndash; die ganze Eiche dort ist ja schwarz von lauter
-Staarherren und Damen, und wenn ihre Sitzungen vorüber
-sind, wissen sie alles, was im ganzen Walde passiert
-ist: wie viele Kinder die Madame Maus das letzte Mal
-zur Welt gebracht hat, und wie es auf dem Grashüpferball
-hergegangen ist, daß sie im Eichhörnchenturnverein sich fast
-geprügelt haben bei der Sprecherwahl und daß der Gesangverein
-der Locusts sich geeinigt&nbsp;&ndash;&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Gibt's nicht, gibt's nicht! Nee, so blau,« piepst ein
-unverschämter Spatz und fliegt dem Specht dicht vor dem
-Schnabel her in den nächsten Baum.</p>
-
-<p>Der aber beachtet den naseweisen Gesellen gar nicht
-und spricht ruhig weiter.</p>
-
-<p>»Ach, hören Sie auf, bitte, Herr Specht,« rufen die
-Blauvögel, »das ist ja wie ein ›Eingesandt‹ in der Zeitung!«</p>
-
-<p>»Aber Kaffernreligion,« lacht der Specht.</p>
-
-<p>»Seht, da kommt Ihr Bruder &ndash; »Ober-Edel-Erz« angeflogen!
-Halt, den wollen wir uns kaufen!«</p>
-
-<p>»Oh, Herr Staar, wollen Sie nicht die Güte haben,
-sich hier ein wenig auf diesen bequemen Baum zu bemühen?«</p>
-
-<p>»Man muß immer höflich sein mit den Leuten, wenn
-man etwas von ihnen will,« flüstert der Schlaue den simplen
-Blauvögelchen zu, die vor Erstaunen den Schnabel aufsperren.</p>
-
-<p>Der Staar krächzt freundlich der Bitte Gewährung,
-läßt sich auf einem Ast etwas erhöht über den andern
-Vögeln nieder, wirft den Kopf in den Nacken und dreht
-<a class="pagenum" id="page_133" title="133"> </a>
-und wendet sich, daß seine roten und gelben Logenabzeichen
-auf den Schultern in der Sonne schillern. Nachdem die
-Vorstellung glücklich vorübergegangen ist, bei der der Herr
-Staar herablassend den spitzen Schnabel gesenkt und die
-Blauvögelchen verlegen die niedlichen Köpfchen geduckt haben,
-erkundigt sich der Gelbspecht in den gewähltesten Ausdrücken
-nach der internationalen Ausstellung.</p>
-
-<p>»Jawohl, jawohl,« entgegnete Herr Staar würdevoll,
-»heute Abend ist Eröffnung. Es soll ja etwas Großartiges
-werden.</p>
-
-<p>Sehen Sie, meine verehrten Zuhörer, es geht ein neuer
-Zug durch den ganzen, alten Schlendrian, namentlich was
-Kunst anbelangt. Ich bin ein weitgereister Mann, ich höre
-und sehe mancherlei. Ein krankhaftes Verlangen nach etwas
-Neuem, Sensationellem, ein Hunger nach Aufregung, nach
-Vernichtung des Alten, Hergebrachten, zieht durch die ganze
-Welt. Und wenn sie auch auf Abwege geraten, in Irrtümer
-verfallen, das Falsche dem Wahren vorziehen &ndash; es
-ist doch alles nur der durch Jahrtausende immer wiederkehrende
-und immer bleibende, große, unersättliche Durst
-nach &ndash; Freiheit, der Angstschrei der Völker, der zum stillen,
-hohen Himmel dringt. Und das macht sich auch in der
-Kunst bemerkbar &ndash;&nbsp;&ndash; ob zu ihrem Nutzen und Frommen?
-Und in der Musik, ja, in der Musik&nbsp;&ndash;« hier räuspert sich
-der Staar und blickt gen Himmel &ndash; »ja, auch in der
-Musik gellt und dröhnt und paukt und trompetet jener
-Freiheitsschrei in die Lüfte, die Ohren der Zuhörer mächtig
-mit sich fortreißend. &ndash; Nein, das geht ja nicht. Ich &ndash;
-ich &ndash; ich lasse mich immer so von meinen Gefühlen überwältigen,
-meine Lieben &ndash; und« &ndash; Ja, da bleibt der gebildete
-Staar stecken. Mit Gesichtern voll Ehrfurcht und
-inniger Verständnislosigkeit haben unsere Blauvögel die
-lange Rede angehört, während der Gelbspecht mit philosophischer
-<a class="pagenum" id="page_134" title="134"> </a>
-Gelassenheit äußert: »Das mag alles recht schön
-und ersprießlich sein, verehrter Redner, aber so lange wie
-es genug Mücken und Fliegen in der Luft gibt und wie
-ich nach Herzenslust an den Bäumen herumhämmern kann,
-ist mir die ganze Wirtschaft furchtbar egal und um den
-allgemeinen Freiheitsdrang kümmere sich der Kuckuck!</p>
-
-<p>Vorläufig wollen wir aber einmal diese merkwürdige
-Ausstellung ansehen, wenn Sie, verehrter Herr Staar, uns
-gütigst führen wollen.«</p>
-
-<p>»Ja, ja,« rufen die Blauvögel und schlagen mit den
-Flügeln, und</p>
-
-<p>»Hier hinein, ins Tannendickicht, liebe Leute,« belehrt
-sie der Staar. Und dann fliegen alle vier davon. Der
-Zweig über'm Bächlein nickt gedankenverloren auf und ab,
-und das Bächlein murmelt und kichert dazu.</p>
-
-<p>Drinnen im Tannendickicht herrscht schon reges Leben,
-die Ausstellung scheint im vollen Gange zu sein. Ein geschniegeltes
-Mäuseherrchen, den Schnurrbart gewichst, die
-Oehrlein gespitzt, steht am Eingang als Portier. Der
-Eintritt ist frei &ndash; wie nach Bellamy im Jahre 2000 bei
-den Menschen, gibt es im Tierstaate kein Geld &ndash; und
-unsere vier Vögel flattern in das Dickicht.</p>
-
-<p>»Ah, guten Tag, Herr Mäuserich,« sagt der Staar,
-der alle Welt zu kennen scheint, »was macht die Frau Gemahlin?
-Hat sie sich vom letzten Wochenbett erholt?«</p>
-
-<p>»Schönen Dank, bester Herr Staar,« entgegnete der
-glückliche Mäusepapa, »alle zwölf wohlauf, aber es ist 'ne
-Last, die lieben Kinderchen großzuziehen.«</p>
-
-<p>»Können Sie denn das nicht per Elektricität besorgen
-lassen? Heutzutage sollte doch alles möglich sein &ndash;
-Eier ausbrüten &ndash; Kleinigkeit! Warum nicht auch Kinderfüttern,
-Kinderprügeln, Kinderkriegen etc.?« Mittlerweile
-hüpften sie weiter durch die verschlungenen Wege des
-<a class="pagenum" id="page_135" title="135"> </a>
-Tannendickichts. Zwar sind die Plätze einiger Nachzügler
-noch unbesetzt, Vieles ist nicht ganz vollendet, wie ein halbfertiger
-Maulwurfshaufen z.&nbsp;B., ein Sprungbrett, eine angefangene
-Wendeltreppe für Eichhörnchen, ein prachtvoller
-Bau mit geheimnisvollen, unterirdischen Gängen, in welchen
-Kaninchen noch eifrig beschäftigt sind, zu graben, und dergl.
-mehr, aber im Ganzen scheint die Sache recht gelungen
-zu sein.</p>
-
-<p>Zwei wohlgenährte, etwas verschwiemelt aussehende
-Ratten, kleine Knüppel in der Hand, Mützchen von im
-Wald gefundenem blauem Butterbrotspapier über den dicken
-Nasen, eine weiße Sternblume auf der Brust befestigt,
-marschieren würdevoll und bedächtig als heilige Wächter
-der Ordnung oder Wächter der heiligen Ordnung umher.
-Und es ist auch nötig: das schwirrt und summt und
-brummt durcheinander, und hüpft und tanzt und zirpt, daß
-es wahrhaftig einer energischen Rattenpolizei bedarf, um
-das leichtfüßige Gesindel in Ordnung zu halten. Doch vor
-unserer Vogelgesellschaft bezeigen die Tierlein großen Respekt;
-sie halten sich in gewisser Entfernung und verneigen
-sich achtungsvoll, sobald ein Blick aus Vogelaugen auf sie
-fällt. Nur ein großer Hirschkäfer mit stattlichem Geweih
-nähert sich mit höflich-gemessener Verbeugung und bietet sich
-den hohen Herrschaften als Führer an, was mit Dank angenommen
-wird.</p>
-
-<p>»Sehen Sie, meine Hochverehrten, hier unser Kunstdepartement.
-Alles neu, noch nie dagewesen. Sehen Sie,
-dies Spinnengewebe« &ndash; die langbeinige Spinne, die es
-vorhin so eilig hatte, steht daneben und begrüßt sie mit
-einem Auskratzen ihrer langen Spinnenbeine &ndash; »wie fein,
-wie zart, geschickt die Fäden verknüpft! Und die fette,
-zappelnde Fliege darin, jeden Tag wird eine frische gefangen
-und hineingesetzt &ndash; das nenne ich Naturalismus.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_136" title="136"> </a>
-»Schrecken der Hinterlist« ist es betitelt.</p>
-
-<p>Hier die noch lebende, schwer am Licht verbrannte
-Motte &ndash; »Schrecken der Aufklärungssucht«.</p>
-
-<p>Jener Schmetterling, dem eine rauhe Menschenhand
-den Duft von den zarten Flügeln gewischt, nun kann er
-nicht mehr fliegen &ndash; »Schrecken des Freiheitsdranges«.
-Ach, und noch so vieles Traurig-Schauderhaft-Schöne!
-Sehen Sie, die von Ameisen abgenagte Drosselleiche« &ndash;
-die Vögel schütteln sich und machen unangenehme Gesichter
-&ndash; »und der glänzend reine Katzenschädel« &ndash; die Vögel
-nicken befriedigt mit den Köpfen, und der Gelbspecht macht
-eine Bewegung, als wolle er die leeren Augenhöhlen auspicken
-&ndash; »wirklich eine recht sinnige Zusammenstellung.</p>
-
-<p>Bitte, blicken Sie hierher &ndash; lauter Raritäten &ndash; da,
-das so natürliche Loch in der Erde, hier eine kleine Blätterhütte,
-ein Einsiedler-Heimchen wohnt darin und zirpt bescheiden
-für sich allein, dort jene sorgfältig getrockneten Heuschreckenleichen,
-eine Reminiscenz aus dem großen Heuschrecken-Grashüpferkrieg.
-&ndash; Und hier, bitte, sehen Sie einmal
-durch dies Loch im Tannendickicht &ndash; nicht wahr, ein
-reizendes Panorama: im Hintergrund die Wolken als
-Schneeberge, davor ein einsamer, schwebender Rabe &ndash; großartig,
-nicht wahr?«</p>
-
-<p>»Aeußerst großartig,« meint der Specht, »aber was
-stellt es vor?«</p>
-
-<p>»Es ist auch ein Kriegsbild: Eine vergessene Heuschreckenleiche!«
-(Frei nach Wereschagin.)</p>
-
-<p>Die Vögel sehen sich erstaunt unter einander an,
-suchen die Leiche und erklären, nun einmal etwas Anderes
-sehen zu wollen. Das gibt es ja auch in Hülle und Fülle
-für jede Geschmacksrichtung. Hier, ein Eiffelturm aus
-Eicheln, ein Eichhörnchen sitzt oben drauf, zeigt auf Kommando
-sein buschiges Schwänzchen und knackt Nüsse zur
-<a class="pagenum" id="page_137" title="137"> </a>
-allgemeinen Belustigung, dazu marschieren allerliebste kleine
-Nagetierchen kauend durch die Zuschauermenge und bieten
-goldgelben Harz-Chewing-Gum als Erfrischung an. Da ist
-eine Grotte aus kleinen Tropfsteinen und Tannenzapfen,
-geheimnisvolles Dämmerlicht; einige Glühlichtwürmchen
-leuchten dazu, auf grauen, trockenen Blättern und Gräsern
-sind vorgestrige Regentropfen gesammelt, die schimmern wie
-Wasserfluten, und ein schlankes Grillenfräulein, die Grillenbeine
-mit Schleiern aus glänzendem, flatterndem Altweibersommer
-bewickelt, als Fischschwanz, bewegt sich rhythmisch
-hin und her und fährt mit den langen Vorderbeinen sich
-graziös über den Kopf, als kämme sie sich.</p>
-
-<p>»Was macht die da drinnen?« fragt der eine Blauvogel
-neugierig, während der andere starr vor Erstaunen dasteht.</p>
-
-<p>»Ich bin unten Melusine und oben Loreley,« sagt das
-Grillenfräulein, »denn ich habe einen Fischschwanz und
-kämme dazu mein goldenes Haar.«</p>
-
-<p>»Ja so,« sagt der Specht.</p>
-
-<p>Dicht daneben tanzen ein paar Grashüpferdamen Ballett
-auf einer Schaukel von Grashalmen, und springen so hoch,
-daß man sie kaum noch sehen kann, während auf der andern
-Seite ein paar Mäusejünglinge in grauen Tricots mit aus
-Nußschalen gedrechselten Bällen auf kunstgerechte Weise
-Baseball spielen.</p>
-
-<p>Dieser ganze Wirrwarr, der Lärm und das Getöse, dies
-Hin und Her, wirkt ungeheuer ermüdend auf die Nerven
-ungeübter Zuschauer, und unsere Blauvögel piepsen und
-flüstern miteinander, und fühlen sich recht ungemütlich.</p>
-
-<p>»Musik, meine Herrschaften, hören Sie unsere allermodernsten
-Vorträge,« ruft jetzt der Hirschkäfer. Alles stürzt
-nach einem hübsch mit Tannennadeln bestreuten freien Platz.
-Auf einem Tannenzapfen steht erhobenen Armes eine große
-Locuste, so eifrig gestikulierend, daß ihr die Augen vor den
-<a class="pagenum" id="page_138" title="138"> </a>
-Kopf treten; und um sie her scharen sich allerlei musikalisch
-beanlagte Tiere. Nun gibt der Herr Kapellmeister das
-Zeichen, indem er seine Fühlhörner weit ausstreckt, und das
-Konzert braust durch das Tannendickicht. Sämtliche Grillen
-des Waldes zirpen so laut sie können, dazu schnarren die
-Locusts, pfeifen die Mücken, brummen die Käfer aller Art;
-die Kaninchen gebrauchen kräftig ihre Trommelstöcke &ndash; ein
-Höllenlärm!</p>
-
-<p>»Ist das nicht herrlich?« fragt der Hirschkäfer unsere Vögel.</p>
-
-<p>»Sehr schön,« entgegnete der Gelbspecht, »nur etwas
-unverständlich.« Der Staar macht ein sehr gebildetes Gesicht,
-und die Blauvögel meinen schüchtern:</p>
-
-<p>»Es ist aber recht eintönig, und immer so dudelig.«</p>
-
-<p>»Das ist ja gerade das Schöne,« sagt stolz Kapellmeister
-Locuste, »sehen Sie, wie gut Sie es verstanden haben?
-Es war unsere Nationalhymne &ndash; der Moskito-Doodle!«</p>
-
-<p>Den Blauvögeln kam die Sache immer problematischer
-vor, und als vollends der Herr Mistkäfer mit der ganzen
-Familie auf sie zukommt und sie freundlich auch mit dem
-Nützlichen der Ausstellung bekannt machen will &ndash; die verschiedenen
-Blätterpräparate, wie Regenmäntel, Schirme und
-schützende Laubdächer und Haushaltungsgegenstände aller
-Art; ferner Delikatessen: Tauwein über Grashalme abgezogen,
-dazu Konfekt mit dem kuriosen Namen Fliegendreck,
-Misthäufchen, Schneckengelee etc. &ndash; da fliegen unsere
-Blauvögel entsetzt kerzengerade in die Höhe und davon,
-und auch der Herr Staar, trotz seiner Gleichheitsideen, meint:
-»es wäre doch recht gemischte Gesellschaft, und überhaupt
-vertrüge sich die Heiterkeit dieser Ausstellung nicht mit seiner
-ernsten Geistesrichtung,« während Herr Gelbspecht übermütig
-erklärt:</p>
-
-<p>»Nein, mir gefällt es hier famos! Ich will erst den
-ganzen Schwindel sehen, und wenn mir die dicke, fette Fliege
-<a class="pagenum" id="page_139" title="139"> </a>
-da morgen im Sonnenschein begegnet, so fresse ich sie auf
-vor lauter Liebe.«</p>
-
-<p>Hoch oben auf einer Berghöhe, von wo man weit über
-Baum und Strauch hinüberblickt &ndash; dahin haben sich die
-Blauvögelein geflüchtet, und der Staar gesellt sich zu ihnen,
-weil er just nichts Besseres zu thun hat. Außerdem hält er
-die Blauvögel für recht belehrungsbedürftige Wesen, denen
-eine kleine Pauke über »die langsam sich vollziehende Umwälzung
-der Weltordnung« gar nichts schaden kann.</p>
-
-<p>Aber unsere blauen Waldvögelein werden hier oben
-in der Einsamkeit selber so beredt, daß dem wohlmeinenden
-Staar nichts übrig bleibt, als zuzuhören.</p>
-
-<p>»Blick' um Dich,« singen sie, »das ist unsere Ausstellung,
-das ist unsere Freude und die Freude der ganzen Welt.
-Sieh', wie die bunten Blätter die Bäume schmücken, wie
-die glührote Weinranke die dunkle Tanne zärtlich umfängt.
-Horch! <em class="ge">Unser</em> Konzert! Wie das rauscht und flüstert in
-den Zweigen, wie der stürmische Herbstwind in den Blättern
-tost, und sieh', wie der schönfarbige Schmetterling die geliebten
-Herbstblumen umgaukelt! Und blick' um Dich: die
-Sonne geht zur Rüste, sie glüht und leuchtet noch einmal
-und dann sinkt sie in ihr zartes, graues Wolkenbett und
-vergoldet es mit ihrem Schein, und ein strahlender Rand
-zieht sich um die seltsamen Wolkengebilde. Ist das nicht
-schön? Ist das nicht herrlich!</p>
-
-<p>Und horch! da unter uns am Fuß des Baumes &ndash;
-das sind Menschen! Ein seltsam Geschlecht &ndash; kluge Gedanken
-und weiche Herzen &ndash; Ich liebe sie, wenn sie zu
-Zweien im Walde wandern, wie diese hier. Hör', was
-sagen sie?« &ndash; Ja, es sind Menschen &ndash; ein Mann und
-ein Weib. Und durch des Mannes dunkles Haar ziehen
-sich Silberfäden, und auf des Weibes glatter Stirn hat
-das Leben zarte Furchen gezogen.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_140" title="140"> </a>
-»Sieh', liebes Weib,« sagte der Mann, »diese frühen
-Herbstblätter in dem grünen Wald erinnern mich an meine
-weißen Haare, an Deine ersten Falten auf der Stirn. Ach,
-Kind, spät ist's schon im Leben, und jetzt erst lernen wir
-das Glück kennen!«</p>
-
-<p>»Liebster,« entgegnet sie, »sieh', wie die Sonne strahlend
-und liebkosend über die Baumstämme gleitet, wie alles noch
-einmal in voller Pracht glänzt, glüht und leuchtet &ndash; zum
-letztenmal, ehe es Winter wird. So freuen wir uns jetzt
-noch einmal des Glückes und der Liebe, ehe <em class="ge">unser</em> Winter
-kommt. Liebster, wie schön ist die Welt und das Leben!«</p>
-
-<p>Da zieht der Mann das holde, ernste Weib an sein Herz
-und küßt die Falten auf der blassen Stirn, und das Gesicht
-des Weibes glüht und blüht nun, wie die Rose in ihrem
-Lebensfrühling.</p>
-
-<p>Sie sehen hinüber, bis die Sonne verlischt. &ndash; Und
-die Vöglein lauschen, und der Staar meint:</p>
-
-<p>»Die verlangt's auch nicht nach Veränderung, und die
-denken auch, gerade wie ihr dummen, kleinen Dinger, das
-Leben sei doch schön. Merkwürdig! Und die Welt soll doch so
-schlecht sein, sagen sie im Verein für Freiheit und sittlichen Umsturz.
-Was ist nun wahr? Darüber muß ich auf einem
-einsamen Eichenwipfel etwas näher nachdenken.«</p>
-
-<p>Er spreizt seine dekorierten Flügel und fliegt von dannen.
-Blauvöglein aber locken in den Abend hinein und setzen sich
-dicht nebeneinander auf einen Zweig und plustern sich und
-träumen. Die sanfte Nacht kommt gezogen und breitet ihre
-schwarzen Fittiche lind über die müde Erde &ndash;&nbsp;&ndash; über selige,
-herbstliche Menschenkinder, über plusternde Blauvögelein und
-melancholische Staare &ndash; ja, und über all das kriechende, sich
-duckende, hochmütige, aberwitzige Volk und den weltklugen
-Gelbspecht in der Weltausstellung im Tannendickicht.&nbsp;&ndash;</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_141" title="141"> </a>
-Das Märchen von Einem,
-der auszog,
-ein Sonntagskind zu werden.</h2>
-
-
-<p>Die braune Drossel saß auf einem hohen Baume im
-Garten und zwitscherte: »Es ist Sonntag heute. Der Sonntag
-sitzt mitten im Frühling und hat eine Krone von
-Blüten auf dem Haupte, und&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Weiter konnte man nichts hören, denn die Sperlinge,
-denen die Drossel das erzählte, piepsten und schrieen und
-zankten so durcheinander, daß die Drossel auf und davon
-flog. Was ging es auch die Stadtspatzen an, was die
-Walddrossel zu erzählen hatte!</p>
-
-<p>Die bleiche Frau Sehnsucht aber stand am geöffneten
-Fenster ihres Hauses und sah der Drossel nach. »Ach,«
-seufzte sie, »wer doch ein Sonntagskind wäre und verstehen
-könnte, was die Vögel singen! Ach, und wenn nur
-das Kind, das ich gebären werde, ein Sonntagskind würde,
-dann wollte ich gern glücklich und zufrieden sein.«</p>
-
-<p>Als aber ihre schwere Stunde kam, da war der lachende
-Sonntag noch nicht aufgestanden, und der stille Sonnabend
-lehnte noch an der kleinen Wiege mit großen, müden Augen.
-Er legte eine kühle Hand auf die Stirn des kleinen, roten,
-<a class="pagenum" id="page_142" title="142"> </a>
-zappelnden Dinges, das mit geballten Fäustchen unter dem
-Deckchen herumarbeitete und mit Zornesfalten im Gesicht
-in die Welt hinausschrie.</p>
-
-<p>»Nur eine Viertelstunde zu früh,« seufzte die blasse
-Frau Sehnsucht, und zwei heiße Thränen fielen auf die
-geschlossenen Augen des Bübchens in ihrem Arm.</p>
-
-<p>Der kleine Bursche aber wuchs kräftig heran und
-wurde so stark, daß die ungezogenen Buben in der Nachbarschaft
-ihm gern aus dem Wege schlichen. Er stand an
-seiner Mutter Knie gelehnt und lauschte mit leuchtenden,
-wundersamen Augen, wenn sie von den Sonntagskindern
-erzählte, wie sie gar so klug sind und wissen, wie die Welt
-geht, und verstehen, was die Tiere sprechen, und wie sie
-den Wolkenflug deuten können. &ndash; »Warum kann ich nicht
-jetzt noch ein Sonntagskind werden?« rief er zornig. Dann
-sprang er hinaus in den Garten und legte das Ohr auf
-die Erde, ob er nicht das Gras wachsen höre, wie ein
-richtiges Sonntagskind. Er hörte wohl ein zartes, leises
-Murmeln, aber ob es nicht die kleinen Käfer und Ameisen
-waren, die da raschelten, das wußte er nicht zu sagen. Er
-stand unter den Bäumen und hörte zu, was die Vögel
-sangen; es war ihm, als verstände er einzelne Worte, wie
-Sonnenschein, Glück, Blütenduft; aber er war doch nicht
-sicher, ob es ihm nicht sein eigenes Herz zugeflüstert hatte.
-Und weinend lief er hin zu seiner Mutter und trotzte:
-»Ich will doch ein Sonntagskind werden!«</p>
-
-<p>»Der Sonnabend leidet's nicht,« sagte Frau Sehnsucht
-traurig. »Und es war doch nur eine Viertelstunde!«</p>
-
-<p>»Es muß in den Büchern stehen,« sagte der Knabe,
-als er in die Schule ging. Und er lernte alles, was in
-den Büchern stand und wurde ein berühmter Mann. Von
-weit, weit her kamen die Menschen nach dem kleinen Häuschen
-der Frau Sehnsucht und wollten von dem jungen
-<a class="pagenum" id="page_143" title="143"> </a>
-Gesellen Antwort haben auf ihre neugierigen Fragen, und
-er sagte ihnen alles. Aber insgeheim glaubte er selber
-nicht an das, was er ihnen so gelehrt auseinandersetzte;
-hatte er doch in keinem Buche Bescheid auf seine einzige
-Frage erhalten: Wie er es anfangen könne, ein Sonntagskind
-zu werden? &ndash; Als nun eines Tages wieder einmal
-ein paar kluge Professoren kamen, die aber doch nicht so
-klug waren, wie er, und die spitzigen Zeigefinger an die
-spitzigen Nasen legten, und ihm die wichtige Frage stellten:
-Wie kommt es, daß der Mensch die Nase mitten im Gesicht
-hat? &ndash; da fielen dem Gesellen seine Riesenkräfte
-ein. Er warf die Professoren mitsamt der ganzen Universität
-zur Thür hinaus, reckte und streckte sich einmal,
-that einen tüchtigen Jauchzer und sagte zur Frau Sehnsucht:</p>
-
-<p>»Mutter, jetzt ziehe ich in die Welt hinaus, dem Sonntag
-nach, und komme nicht eher wieder, bis ich ihn eingeholt
-habe.«</p>
-
-<p>Frau Sehnsucht legte ihre weißen Hände auf sein
-lockiges Haupt und küßte ihn. Dann schloß sie die schönen,
-traurigen Augen für immer.</p>
-
-<p>Der Geselle aber zog in die Welt hinaus. Er sah die
-goldene Sonne am Himmel stehen und er sagte: »O Sonne,
-güldene Sonne du &ndash; ich suche, suche immer zu. Zeig
-mir den Weg, wohin ich geh', o Sonne, güldene Sonne
-du!« Aber die Sonne lachte ihn aus und antwortete
-nicht und ging weiter, immer weiter, bis er sie zuletzt gar
-nicht mehr sehen konnte. Da kam er in einen großen
-Wald, darin reichten die Bäume bis in den Himmel, seltsam
-große Blumen standen am Wege und sahen ihn an,
-und bunte Vögel flogen sprechend von einem Ast zum
-andern.</p>
-
-<p>»Sagt mir's, ihr Bäume, duftet, Blumen, rauscht
-<a class="pagenum" id="page_144" title="144"> </a>
-mir's, ihr Winde, murmelt, ihr Quellen &ndash; wie fange ich
-es an, daß ich ein Sonntagskind werde?« rief der Geselle.</p>
-
-<p>Da kicherte und lachte es an allen Ecken und Enden.
-Schelmische Mädchengesichter tauchten aus den Kelchen der
-seltsamen Blumen empor und nickten ihm lächelnd zu. An
-den Schlinggewächsen turnten winzige nackte Engelsbübchen,
-die warfen mit duftenden Blütenblättern nach ihm, und
-ein Rauschen und Raunen zog durch den ganzen Wald,
-daß der Geselle gewiß alles erfahren hätte, was er wissen
-wollte, wenn er nur eine Viertelstunde später auf die Welt
-gekommen wäre. Zuweilen war es ihm wieder, als verstände
-er ein paar Worte, und horch! klang's nicht im
-Windesrauschen, wie: Bis an's Ende der Welt? Kopfschüttelnd
-ging der Geselle weiter.</p>
-
-<p>Da wurde mit einemmal der Wald hell und licht;
-das kam von einem schönen Stern, der fiel vom Himmel
-nieder, und sieh' &ndash; der Stern nahm Gestalt an, so schön
-und sanft wie die Mutter ausgesehen hatte, und seine
-Augen strahlten still und traurig, wie die der Frau Sehnsucht.
-Die schöne Sternenfrau aber sprach: »Ich will dir
-Antwort auf deine Frage geben. Gehe weiter, immer
-weiter, bis du ans Ende der Welt kommst. Dort wirst
-du den Baum der Erkenntnis finden. Wenn du von diesem
-ein Blatt brichst, dann wirst du erfahren, was du wissen
-willst. Aber spute dich! der Weg ist weit.«</p>
-
-<p>Der Stern stieg langsam auf gen Himmel, es wurde
-immer lichter, der Wald verschwand und der Geselle stand
-ganz allein auf einer großen Heide, über die der Wind
-pfiff.</p>
-
-<p>»Bis ans Ende der Welt? &ndash; da kann ich meine Füße
-in die Hand nehmen, wenn ich noch ankommen will,« sagte
-er und wanderte fürbaß. Weil's ihm aber einsam am Wege
-war, sang er sich das Liedel von dem andern Gesellen:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Ein fahrender Geselle durchzog die weite Welt,<a class="pagenum" id="page_145" title="145"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Zu suchen nach der Stelle, wo's immer ihm gefällt.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Doch nimmer mocht er rasten, und nirgend fand er Ruh,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ihn trieb's zum Weiterhasten, nur weiter! immer zu!</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Er hatte durchstudieret den ganzen Bücherwust,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Mit Wissen ausstaffieret das Herz in seiner Brust&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da fluchte er dem Buche, sah an es nimmermehr:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das ist's nicht, was ich suche! Das Glück, das Glück gebt her!</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und kommt er in das Städtchen und winkt ihm aus dem Thor</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das liebe braune Mädchen mit Schelmenaug' hervor&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Laß küssen dich, du Feine! &ndash; Schaut ihr ins Angesicht;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Du bist's nicht, die ich meine! &ndash; er da voll Trauer spricht.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da ward aus dem Scholaren ein flotter Kriegersmann,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Auch lernt er mit den Jahren, daß man sich bücken kann,</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und fromme Verse schmieden von Freiheit und von Blut,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und vor dem Bürgerfrieden voll Ehrfurcht zieh'n den Hut.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Doch alles wollt nicht frommen, was er sich auch erdacht.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Das Glück wollt ihm nicht kommen &ndash; hörst, wie's von Ferne lacht?</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Da ward aus ihm ein Zecher, der zecht' von früh bis spat,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Bis ihm der leere Becher vom Munde sinken that.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Lag denn das Glück im Weine? &ndash; Der heilte allen Gram.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Doch weh &ndash; auch nur zum Scheine, nur bis der Morgen kam;</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">In seinem grauen Schimmer, wie lag so leer die Welt!&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die Nacht verheißt uns immer, was nie der Morgen hält.«</td></tr>
-</table>
-
-<p>Als der Geselle sein Liedlein ausgepfiffen hatte, da
-führte ihn der Weg an einem Königreich vorbei, und weil
-die Thür bloß eingeklinkt war, ging er hinein. Die alte
-Reichsmauer wackelte hin und her, als er eintrat, und das
-Thürschloß behielt er gar in der Hand, so morsch war der
-Griff. In dem Königreich saß der König auf einem
-Throne, der wackelte, und hatte eine Krone auf dem alten,
-<a class="pagenum" id="page_146" title="146"> </a>
-wackligen Haupt, die wackelte auch. Die Räte um ihn
-her hatten kleine Zöpfchen im Nacken, die wackelten, und
-die Räte selber wackelten, und das ganze Königreich wackelte.
-Und weil nun alles so wacklig war, da nahm der Geselle
-sein Bein und gab der ganzen Wackelei einen Tritt; da
-fiel alles um, und der Geselle sah lachend zu, wie der
-König und die Krone und die Räte mit ihren Zöpfen und
-das ganze morsche Königreich durcheinander purzelten. Des
-Königs schöne Tochter aber fing er in seinen Armen auf;
-doch als er sie küssen wollte, da welkte sie hin und lag tot
-an seiner Brust. Ihre Seele verwandelte sich in einen schönen
-weißen Vogel, der kreiste über des Gesellen Haupt und
-sang ihm zu:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Weil' nicht am Wege,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Er ist noch weit;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Noch ist die neue, die selige Zeit,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Noch ist sie nimmer geboren.«</td></tr>
-</table>
-
-<p>Als der Geselle nun weiter ging, kam er an eine große,
-große Stadt, darin war eitel Freude und Lustigkeit, das
-ganze Volk tanzte und sprang und geberdete sich wie toll.
-In den Moscheen, Kirchen, Freiheitstempeln läuteten die
-Glocken und große Götzen saßen darin, die machten mit
-schrecklichen Grimassen die Mäuler auf, und dann warf
-das Volk alles Schöne und Gute den Götzen in den Schlund,
-und das Häßliche und Gemeine stand grinsend auf den
-Schultern der Götzen, und das Volk jubelte ihm zu. &ndash;
-Da faßte den Gesellen ein grimmer Zorn, er hob sein gutes
-Schwert und schlug zu, und schlug den Götzen die Köpfe
-ab. Aus den Rümpfen stieg ein starker, grauer Dunst
-auf, wie eine Weihrauchwolke, der lagerte sich hin über die
-Stadt und erstickte all das lärmende Volk, daß es tot
-dalag. Ueber der Nebelwolke aber schwebte ein neuer,
-<a class="pagenum" id="page_147" title="147"> </a>
-schöner, weißer Vogel und gesellte sich dem andern zu; sie
-umkreisten den Gesellen und sangen ihm zu:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Weil' nicht am Wege,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Er ist noch weit;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Noch ist die neue, die selige Zeit,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Noch ist sie nimmer geboren.«</td></tr>
-</table>
-
-<p>Als der Geselle nun weiter ging, kam er an einen
-hohen, hohen Berg, darauf wimmelte es von Menschen.
-»Ist hier das Ende der Welt?« fragte er. »Was?« riefen
-sie ihm von der Spitze des Berges zu, »das Ende der
-Welt? Bewahre! Hier fängt die Welt erst an!« &ndash; Als
-nun der Geselle oben angekommen war, sah er, daß all'
-die Menschen ihr eigenes Ich genommen und es vor sich
-hingestellt hatten; und nun drehten sich die Körper um das
-Ich in der Runde und sangen feierliche Weisen und beteten
-es an. »Siehst du,« riefen sie ihm zu, »das ist es, was
-du suchst. Wir sind die Welt, wir sind das All, wir, unser
-eigenstes Ich. Wir wissen alles, wir können alles, wir
-lieben uns, wir beten uns an.« &ndash; Voll Verwunderung
-stand der Geselle und sah dem seltsamen Treiben zu. »Aber
-wie könnt ihr denn leben, wenn ihr euer eigenes Ich aus
-euch herausgenommen habt?« &ndash; »Wir zehren von seinem
-Anblick, er ist uns Nahrung, Luft und Licht. Wenn wir
-unser Ich ansehen, werden wir so von seiner Größe und
-Erhabenheit durchdrungen, daß wir unsere körperlichen
-Beine aufheben und tanzen müssen, und dann schreien wir
-von diesem hohen Berge das Heil des Ichs in die Welt
-unter uns hinaus, damit auch sie daran glaube und selig
-werde.«</p>
-
-<p>Da faßte den Gesellen, als er ihre seelenlosen Köpfe
-und verdrehten Glieder sah, ein ungeheurer Ekel. Er nahm
-seine starken Fäuste und schleuderte einen der tanzenden
-Körper nach dem andern in die Tiefe, und wenn sie gegen
-<a class="pagenum" id="page_148" title="148"> </a>
-die Felsblöcke, die am Fuße des Berges lagen, anprallten,
-dann platzten sie mit einem Knall, wie ein aufgeblasener
-Pilz im Walde, auf den du unversehens trittst. »Jetzt
-spiele ich Kegel mit den Püstern!« sagte der Geselle. &ndash;
-Dann nahm er alle die angebeteten Ichs, die entseelt zu
-Boden gesunken waren, schichtete sie aufeinander, wie einen
-Holzstoß, und zündete sie an, daß die rote Lohe weithin in
-die Welt schien. Aus den Flammen aber flog wieder ein
-schöner, weißer Vogel &ndash; denn aus allem, was zu Grunde
-geht, wächst doch noch ein Schönes &ndash; und er gesellte sich
-zu den andern, und sie umkreisten ihn. Aber sie sangen
-nicht mehr, ihr Flügelschlag wurde immer lautloser. Und
-doch war es dem Gesellen, als trieben diese weichen Flügel
-ihn weiter, hin über trotzige Felsblöcke, an denen sich seine
-Füße blutig stießen, über weite gefrorene Seen, über denen
-er hinglitt wie über einen Spiegel. Er wußte nicht mehr,
-ob er schon lange gewandert sei oder eben erst die schlanke,
-kühle Hand seiner Mutter, der Frau Sehnsucht, auf seiner
-Stirn gefühlt hatte. Er wußte nur noch, daß er weiter,
-immer weiter getrieben wurde. Endlich sank er erschöpft
-zu Boden. Als er die Augen öffnete, lag er auf einer
-weiten Ebene. Schöne Tiere traten an ihn heran und betrachteten
-ihn mit stillen, klaren Augen; aber sie waren
-stumm. Vögel schwebten über ihn hin; aber sie sangen
-nicht. Blumen blühten an glänzenden Bächen, aber das
-Wasser murmelte nicht; der Wind, der durch die Zweige
-strich, rauschte nicht &ndash; es war tiefe, tiefe Stille. Lautlos
-flogen die drei weißen Vögel vor dem Gesellen her. &ndash; In
-der Ferne, am Ende der Ebene, schwebte eine weiße Wolke.
-Als der Geselle näher kam, sah er, daß es tausend und
-aber tausend von ebensolchen großen, weißen Vögeln waren,
-wie die, die ihn begleitet hatten, und er dachte daran, wie
-viele Menschen wohl gleich ihm denselben Weg gemacht
-<a class="pagenum" id="page_149" title="149"> </a>
-hatten, wie viel erst zertrümmert werden mußte, damit
-diese Wolke sich hatte bilden können. Die weißen Vögel
-umkreisten leise, leise einen starken, grünen Baum, dessen
-viele Zweige gingen auf und nieder zwischen Erd' und
-Himmel. Der Baum blühte nicht und trug keine Früchte,
-er hatte nur unzählige grüne, kraftstrotzende Blätter. Die
-drei weißen Vögel aber, die den Gesellen begleitet hatten,
-mischten sich unter die andern, die in den Zweigen des
-Baumes nisteten, so daß er sie nicht mehr unterscheiden
-konnte. Und wie er so in der weißen Wolke stand, und
-der weiche Flügelschlag der schönen Vögel seine Stirn
-fächelte, da war es ihm, als höre er die Worte:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">&emsp;»Weil' nicht am Wege,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">&emsp;Nicht ist er mehr weit.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wir kreisen und hüten die kommende Zeit,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wir weben ihr reines, ihr glänzendes Kleid&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Im Baum schläft sie sicher geborgen.«</td></tr>
-</table>
-
-<p>Da streckte der Geselle die Hand aus und brach eines
-der saftgrünen Blätter. Es fiel ein Tropfen, rot wie Blut,
-in seine Hand. Da zog sein ganzes Leben an ihm vorüber:
-er sah sich, wie er immer dem Sonntag nachgejagt
-war, alles andere darüber vergessend; er sah, wie er nicht
-die Welt und sie nicht ihn verstanden hatte, denn er war
-ja eine Viertelstunde zu früh geboren. Wie er auf das
-Blatt in seiner Hand hinschaute, lange, lange, da bleichte
-sein Haar, seine Stirn begann sich zu runzeln, sein starker
-Körper bog sich zur Erde. Aus dem Manne ward ein
-Greis, und nun wußte er, wann er den Sonntag einholen
-würde. &ndash; Er sah auf und sah die weißen Vögel, die mit
-ihren stillen, großen Flügeln einen starken Wind erhoben;
-der wehte ihn fort, weit fort, den Weg zurück, den er gekommen
-war. Auf dem Berge glühte noch das Feuer, über
-der Stadt lag der Dunst, das zerfallene Königreich bröckelte
-<a class="pagenum" id="page_150" title="150"> </a>
-am Wege &ndash; er schaute nicht um danach. Er ging durch
-den dunklen Wald, darin die Bäume regungslos standen.
-Er ging und ging, bis er in das Stübchen kam, in dem
-Frau Sehnsucht die schönen, traurigen Augen für immer
-geschlossen hatte. Da setzte sich der greise Geselle ans Fenster
-und schaute in den Garten hinein.</p>
-
-<p>Auf dem Apfelbaum saß die braune Drossel und erzählte
-den Spatzen: »Es ist Sonntag heute. Der Sonntag
-sitzt mitten im Frühling und hat eine Blütenkrone auf
-dem lachenden Haupte, und die Blumen bringen ihm ihre
-Düfte, und die Winde tragen den Duft hin über die Stirnen
-der Kinder, die heute geboren werden.«</p>
-
-<p>Da nickte der Greis am Fenster und lächelte. Er
-schloß die Augen, und seine Seele zog vor des Sonntags
-Thron, damit sie als Duft auf die Stirn eines neugeborenen
-Sonntagkindes gelegt werde. &ndash; Im Tode war der
-Geselle ein Sonntagskind geworden.</p>
-
-<p>»Es ist Sonntag!« sang die Drossel. »Das ist etwas
-ganz Alltägliches,« piepsten die Spatzen, »das passiert jede
-Woche einmal.«</p>
-
-
-
-
-<h2><a class="pagenum" id="page_151" title="151"> </a>
-Rauch.</h2>
-
-
-<p>Es war einmal ein kleiner Schmiedegeselle, der war
-es müde, immer am Amboß zu stehen und Gedanken zu
-hämmern. Er hätte gar zu gern gesehen, wie sich die Gedanken
-ausnahmen, noch ehe sie zum Schmiedematerial zusammengegossen
-waren. Eines Tages hatte er mit heller
-Lust ein paar kräftige Gedanken, die im Feuer glührot und
-geschmeidig geworden waren, zu ein paar starken Hufeisen
-zusammengeschweißt; die Funken sprühten, wenn man damit
-auf einen Stein schlug. Da klopfte ihm der große Meister
-auf die Schulter und sagte:</p>
-
-<p>»Geselle, geh' auf die Wanderschaft.«</p>
-
-<p>Und da zog er aus. &ndash; Als er wegging, schien die
-Sonne hell, obwohl es mitten im Winter war; der Himmel
-hatte überall blaue Batzen auf die Wolkenlöcher gesetzt,
-und der Wind hatte dazu gefiedelt:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">Die Erde hat sich schlafen gelegt,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Mit weißem Lailach zugedeckt,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Der rasche Wind den Himmel fegt,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Bis er die Sonne hat erweckt.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Nun scheint sie hinunter auf den Schnee</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und lacht hinweg ihn nach und nach:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wenn auch die Welt sich duckt in Weh;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Sie wird doch einmal wieder wach.</td></tr>
- <tr class="fsxs"><td class="tdl fsxs">&nbsp;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Dann jauchzt sie auf in grüner Lust,<a class="pagenum" id="page_152" title="152"> </a></td></tr>
- <tr><td class="tdl">Hüllt sich in lauter Liebe ein&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und ahnend klingt's in deiner Brust:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Im Winter ist es auch gut sein!&nbsp;&ndash;</td></tr>
-</table>
-
-<p>Als aber der kleine Schmiedegeselle ein Stücklein Wegs
-gegangen war, da sah er eine schwere dunkle Wolke in der
-Ferne schweben, und je näher er kam, desto trüber wurde
-es um ihn her, bis schließlich Himmel und Erde und die
-ganze Welt schmutzig aussah; und er sah, daß es ein ganzes
-Sammelsurium von Häusern war, das alles so finster
-machte. Die Häuser waren so hoch, daß sie die Wolken
-an den Fußsohlen kitzeln konnten.</p>
-
-<p>Der kleine Schmiedgeselle stand und guckte an so einem
-hohen Kasten in die Höhe:</p>
-
-<p>»Könnt ihr da oben durch die Wolken sehen?« fragte
-er, »und die Sonne auf der andern Seite scheinen sehen?
-&ndash; Eia, das muß schön sein!«</p>
-
-<p>»Da, komm nur mit in das Loch hinein, kleiner Wurm,«
-sagte ein Mann neben ihm, schob ihn vor sich her, und
-schwupp! flogen sie in einem viereckigen kleinen Kasten so
-schnell himmelan, daß es dem Gesellen ganz übel wurde.</p>
-
-<p>Der Mann lachte spöttisch aus ein paar klugen Augen.</p>
-
-<p>»Ja früher,« sagte er, »wenn der Teufel einen armen
-Handwerksgesellen holte, da flogen sie miteinander auf
-schwarzen Gespensterflügeln in die Tiefe hinab. Wir machen
-das jetzt per Elektricität und fliegen himmelan.«</p>
-
-<p>Erschrocken sah das Gesellchen zur Seite, erblickte aber
-nur einen ganz einfachen Menschen, der ein ganz klein
-wenig hinkte. Nur seine Ohren waren so sonderbar lang
-und schmal; wenn er lachte, schienen sie sich zu spitzen,
-und er lachte so, daß der Schmiedegeselle mitlachen mußte,
-und das Ding, in dem sie saßen, vor Vergnügen in die
-Höhe sprang.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_153" title="153"> </a>
-Dann waren sie oben. Das war ein großes, flaches
-Dach mit Kieselsteinchen bedeckt, als ob sie drauf geregnet
-wären. Allerlei Verzierungen sprangen an den Ecken auf
-und auf zwei kleinen Säulchen saßen vergoldete Zierate,
-die sahen aus wie Champagnerpfropfen.</p>
-
-<p>»I, da schlag' doch der Teufel den Herrgott tot!« rief
-der Mann mit einem vergnügten Grinsen, »da hab' ich doch
-gedacht, ich könnte dem kleinen Wurm das ganze Riesentreibhaus
-auf einmal zeigen, und nebendran das große
-Wasser, in dem man eigentlich die nichtsnutzige Brut gleich
-wieder ersäufen sollte, nachdem man sie hervorgebracht hat
-&ndash; und da &ndash; nichts, aber auch rein gar nichts, als das
-wüste Gebrodel, das mein Vetter, der große Nebel, so erstaunlich
-schön herauszukriegen versteht. Er ist ein ganz
-gelungener Kerl, sage ich dir, und dabei ein Phantast, trotz
-seiner Schwere. Und unbeständig ist er, nirgends zu fassen.
-Der geht in einer Minute alle Ideen der Welt durch, um
-schließlich mit seinem grauen Einerlei platt über die ganze
-Erde hinzufallen, daß man drunter ersticken sollte. Uff!
-wie schwer er schon wieder herunterhängt. &ndash; Und siehst
-du, mit einemmal reißt er sein langes Hemd in Fetzen
-entzwei und tanzt herum wie ein toller Bacchant. Zum
-Verzweifeln für einen feierlichen Kerl!«</p>
-
-<p>Dabei nahm er einen gespreizten Ton an, schob die
-linke Hand zwischen die Brustknöpfe seines Rockes und hob
-das Haupt mit einem idealischen Schwung. Als das Gesellchen
-ihn entsetzt ansah, schnitt er plötzlich allerlei Grimassen,
-liebkoste ein paar kleine, niedliche Bockshörnchen,
-die zwischen dem Kraushaar über der Stirn hervorwuchsen,
-und spitzte seine Faunsohren nach dem Wind. Nachdem
-er den kleinen Schmiedegesellen genügend verwirrt hatte,
-fing er an, ihm ernsthaft allerlei Erklärungen zu geben.</p>
-
-<p>»Sieh',« sagte er, »das ist der große Hexenkessel, Höllengebrodel,
-<a class="pagenum" id="page_154" title="154"> </a>
-da werden alle die Gedanken ausgekocht von dem
-Menschenpack, das tief unten mit Beinen, Händen, Köpfen
-oder Magen schuftet; und die nehmen dann Gestalt an,
-und paß einmal auf, da aus den Tausenden von Schlöten
-fahren sie hinaus in den Nebel, der verschlingt sie, wird
-groß und stark daran, wächst und wächst bis einmal die
-Welt ein großer Gedanken-Nebel geworden ist. Dann
-kommt die Zeit für uns Faune, uns Satanskerle, Teufelsstricke,
-und wir ziehen gegen den Nebel zu Felde, gegen
-meinen großen Vetter &ndash; da kämpfen wir, das ewige,
-blühende, lachende Leben gegen die blassen, umnebelten und
-vernebelten Gedanken. &ndash; Sieh', da fliegen sie&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Der kleine Schmiedegeselle hatte derweilen stumm in
-das graue Meer geschaut, drin es wogte und zerrte, drin
-die Schornsteine und Schlöte der vielen, vielen Häuser
-hineinragten und schwere Dampfwolken entsendeten, schwarze,
-dicke, schmierige, lichte, flinke, weiße oder rötlich scheinende,
-von den Flammen tief drunten, die zuweilen bis zum Kamin
-herausschlugen. Es sah aus, als ob die himmelhohen
-Häuser der Riesenstadt eigentlich ganz klein hoch in der
-Luft ständen, nur mit den großen Schlöten daran; als ob
-da unten auf der Straße eine ganz andere Welt sei, und
-nur ganz fern, fern, wie das Bienengesummse an einem
-Sommermittag am Kornfeld, drang das Getrappel, Gerolle,
-Getose herauf zu dem Dach, wo die Wolken mit ihren
-schweren Fittichen des kleinen Gesellen Haupt streiften.
-Der stand und schaute. Der wunderliche Mann saß neben
-ihm, deckte ein Bein mit dem andern und deutete mit dem
-langen, ausgestreckten Zeigefinger bald auf diesen, bald auf
-jenen Schornstein, und er grinste spöttisch dazu, oder lachte
-ingrimmig, oder seine Augen leuchteten, wie in stiller Wonne.
-So jetzt eben wieder.</p>
-
-<p>Da stieg aus einem schlanken Rauchfang ein silberweißes
-<a class="pagenum" id="page_155" title="155"> </a>
-Rauchsäulchen auf, kräuselte sich lustig, ehe es im
-Nebel zerging, und auf dem schaumigen Gezausel tanzten
-putzige kleine Kerle mit runden Bäuchlein und weinroten
-Gesichtern, sie hatten Weinreben sich umwunden und lallten
-allerlei tolles Zeug und schrieen dem lächelnden Manne,
-Faun, Mephisto, was immer er sich nannte, ein jauchzendes
-<i>Evoë Bacche!</i></p>
-
-<p>Und sobald die einen im Nebel vergangen waren,
-wurden neue aus den Ringeln der Rauchsäule geboren,
-schöne und drollige, große und kleine, Männlein und Fräulein,
-und ob auch aus den Augen eines Alten ein ernstes
-Denken sprach, ob die weichen Glieder einer jungen Bacchantin
-im Wirbel sich drehten &ndash; gleichsam aus ihnen
-heraus über die ganze Erde hin leuchtete, strahlte eine selige,
-mutige, weinduftende Begeisterung.</p>
-
-<p>Jetzt lachte der Geselle laut auf. Da hatten ein paar
-trunkene kleine Satyrn die Nebelfetzen zusammengeballt wie
-Schneebälle, schnitten wütende Gesichter nach einem andern
-Schlot hin, streckten denen, die da oben aufstiegen, die
-Zunge heraus, und begannen sie zu bombardieren. Es war
-ein weiter Kamin, nicht sehr hoch, der Rauch, der da herauskam,
-hatte eine eklige, semmelblonde Farbe, die Gedanken,
-die drauf ritten, auch, und sie waren feist und schwammig.
-Sie versuchten, recht forsch und protzig aufzutreten, aber
-sie krümmten sich dabei, als wenn sie Bauchgrimmen hätten,
-und sie streckten flehentlich die Arme aus, so gut es eben
-ging, nach einem andern Schornstein und stöhnten:</p>
-
-<p>»Gebt uns was ab! Gebt uns was ab!«</p>
-
-<p>Das war ein mächtiger, weiter Schlot, und der Rauch
-und Qualm, der ihm entquoll, schwarz, finster, beklemmend.
-Bleiche Gestalten stiegen drauf zur Höhe, hohlwangig wie
-eine durchwachte Nacht, finster wie eine Gewitterwolke.
-Immer mehr, Millionen von ihnen tauchten auf aus dem
-<a class="pagenum" id="page_156" title="156"> </a>
-Dunkel, nicht aus einem, nein, aus hundert Schlöten, ganze
-Heere von Elendsgestalten, ganze Heere von drohenden
-Fäusten, von rachedurstenden Augen, von verzweifelten
-Gesichtern.</p>
-
-<p>Und der kleine Geselle drückte sich scheu an den Mann,
-der ingrimmig hohnlachte.</p>
-
-<p>»Wo kommen die her, alle, alle, ohne Ende?« fragte
-der Geselle bebend.</p>
-
-<p>»Aus den Fabriken, aus den Werkstätten, aus den
-Mietskasernen, aus den Spelunken da unten,« knurrte der
-mit den Bockshörnchen. »Bande, elendes Pack, warum
-drücken sie die andern nicht tot, schaffen sich Platz in der
-Welt, so viele, wie sie sind! Aber sie haben Furcht, gerade
-so viel Furcht, wie die da drüben &ndash; sieh' &ndash; da aus dem
-himmelhohen Rauchfang, der so kerzengerade aufwächst &ndash;
-Mitleid haben. Prrr &ndash; Puah &ndash; Mitleid, Mitgefühl,
-Menschenliebe, Gleichheit, Brüderlichkeit &ndash; sieh', wie sie da
-alle schweben, die schönen Gedanken! Schau einmal genau
-hin! Glaubst du, sie kämen alle aus demselben hohen, ragenden,
-lichten, freundlichen Kamin? Ist schön gebaut, der
-Rauchfang! Aber schließ' dein Auge ab von all dem andern,
-indem du die Hand krümmst wie ein Fernrohr davor &ndash;
-das gibt mehr Perspektive. Siehst du nun wohl, daß jeder
-der schönen Gedanken seinen Privatschlot hat, der nur an
-den andern sich anlehnt? &ndash; Und die Rauchsäulchen, &ndash;
-recht fein hell anzusehen &ndash; dürfen sich mit keinen von den
-andern vermischen, beileibe nicht, und der Kamin muß
-immer mit demselben Heizmaterial gefüttert werden, und jedes
-Rauchwölkchen hat seinen Parteinebel, in den es sich auflöst.«</p>
-
-<p>Aber immer und immer wieder stieg das bleiche, finstere
-Heer auf, auf, stetig, unverdrossen.</p>
-
-<p>»Da, sieh' her, du kleiner Wurm, der du die Gedanken
-nackt und unverarbeitet in der Welt herumlaufen sehen
-<a class="pagenum" id="page_157" title="157"> </a>
-wolltest,« schrie der Mann-Faun-Mephisto, »siehst du jene
-dort drüben aus dem Marmorkamin sich entwirren? &ndash;
-Wohlgenährte Gestalten sind drunter mit schwimmenden
-Augen, magere Kerle mit Beil-Gesichtern, und alle mit so
-einem Air um sich herum, als wollten sie auf alles andere
-spucken. Kapitalsbestien nennt man sie mit dem Kunstausdruck,
-d.&nbsp;h. die Kapitäler sind ihnen jetzt da oben im
-Rauch abhanden gekommen, und nur die Bestien sind übrig
-geblieben. Und nun schau die guten, mitleidigen, allesliebenden,
-weltbeglückenden Fanatikergedanken, die eigene
-kleine Weltbegriffe auf Silberrauchsäulchen ausdünsten &ndash;
-schau auch alle die winzigen Nebengedanken, die von der
-Silbersäule abspringen, ihre Nachbarn zerren und stoßen,
-zu Boden schlagen, ins Gesicht treten &ndash; kommt es dir nicht
-schließlich vor, als wäre der eine wie der andere: Fanatiker
-seines eigenen Ichs? Und sie verteidigen dieses ihr Besitztum,
-die einen mit nackter Brutalität, die andern mit alles
-überwältigendem Mitleid für die Menschheit. Ist recht,
-ist ja recht so. Nur sollen sie nicht das Du-Geschrei erheben,
-wenn sie das Ich meinen. Aber guck einmal
-da!«&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Aus dem lichten, ragenden Schornstein, dessen viele
-Teile das Gesellchen jetzt deutlich erblickte, war eine Schar
-Gedanken-Geister aufgetaucht, die sich mit Mäulern, Fäusten
-und Füßen ingrimmig bearbeiteten: die einen suchten die
-nächsten unter sich zu ducken, zerrend, heulend, schimpfend;
-die zarten Gestalten aus demselben Rauchfang, die über
-ihnen schwebten, rangen traurig die Hände; die Bestien
-aus dem Marmorkamin sahen behaglich zu, und die kleinen
-Weinkameraden ritten auf ihrem Rauchgekräusel herzu,
-jauchzten und lachten, schütteten duftenden Rheinwein über
-sie aus, wie man über die beißenden Hunde Wasser gießt,
-und trieben allerhand Allotria.</p>
-
-<p><a class="pagenum" id="page_158" title="158"> </a>
-Die hungrige, bleiche, verzweifelte Schreckensschar aber
-stieg immerfort, stetig auf; auf aus den Tausenden von
-Schlöten und verzehrte sich im Nebel, immerzu, regelmäßig,
-wie ein grauenhaftes Uhrwerk.</p>
-
-<p>»Bande, Bande!« knurrte der neben dem Gesellchen.
-»Wann kommt's? &ndash; Wann kommt's und schlägt den Kram
-in Fetzen? &ndash; Ist ein lustig Leben, kleines Wurm, so hoch
-über ihnen, was? &ndash; Und doch mitten drunter. Die da
-tief drunten, alle, glauben, sie kennen, sie haben mich, und
-ahnen nicht, daß ich es bin, der ihre Gedanken hier oben
-spuken läßt zur eigenen Verlustierung, wie Nero einst Rom
-in Brand setzte! <em class="ge">Nicht</em> sie mich &ndash; <em class="ge">ich</em> hab' <em class="ge">sie</em>! &ndash; Hoho
-&ndash; aber da &ndash; da, meine Braven!«</p>
-
-<p>Da schlug aus einem mächtigen Rauchfang eine hohe
-Feuersäule auf, glührot, wie aus einer Schmiede-Esse, und
-darauf schwebte, nein, stampfte eine gewichtige Schar, die
-zog den Ambos und dröhnte die Schmiedehämmer nieder,
-daß es durch die Lüfte klang. Riesengestalten mit mächtigen
-Köpfen und lustigen Augen. Bei jedem Hammerschlag
-von ihren Fäusten stoben die Funken, und in jedem
-Funken sang es:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Mir sein die Hammerschmiedsgsölln, Hammerschmiedsgsölln,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Mir könn' dableiben, mir könn' furtgeh'n,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Mir könn' dhun, was mer wöll'n, dhun, was mer wöll'n!«</td></tr>
-</table>
-
-<p>Schritt vor Schritt weitergreifend, die rußigen Gesichter
-umglüht vom Flammenschein, stampften sie alles
-unter ihre Füße, Bestien und Mitleidsgedanken und Elendsgestalten,
-was ihnen in den Weg kam, trieben die Rauchwolken
-zur Seite und machten Bahn frei &ndash; bis endlich,
-nach langem Kampf, auch sie der große Nebel verschlang.</p>
-
-<p>Aber dort, wo sie verschwunden waren, da lag in
-lichter Ferne &ndash; das Gesellchen sah es ganz deutlich, und
-der Mann breitete seine Arme aus &ndash; der silberne See,
-<a class="pagenum" id="page_159" title="159"> </a>
-der hob und senkte sich leise. &ndash; Möven flogen drüber hin,
-die tauchten mit der weißen Brust ein in die Silberflut
-und schüttelten die leuchtenden Tropfen von den Flügeln.</p>
-
-<p>Wo sie das Wasser berührten, tauchte ein Wunderwesen
-nach dem andern auf; diese reihten sich aneinander,
-und bald wimmelte der See von zarten, lieblichen, von
-starken, gewaltigen Wesen. Auf ihren ausgestreckten Armen
-kamen zwei wunderselige Frauengestalten einhergeschwebt,
-ein leiser, flüchtiger Gesang zog ihnen voran:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Wir geleiten hohe Frauen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die den Wassern sind entstiegen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Die sich auf den Nebeln wiegen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Und die Wellen stets durchwallen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Unerkannt von allen, allen,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Denn von zwei'n ist eine keine:</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Diese Hehre, Hohe, Reine,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Jene, die da gleißt im Scheine&nbsp;&ndash;</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Nur zusammen kannst sie schauen.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Wie die Sonne aus dem Meere</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Ihre Strahlen weiter sendet,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">So zieh'n im Gedankenheere</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Sie, bis ihre Bahn vollendet.</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Sinken in die Wasser nieder,</td></tr>
- <tr><td class="tdl">Kommen mit der Sonne wieder.«</td></tr>
-</table>
-
-<p>So schwebten sie hin über das Häusermeer der Riesenstadt.
-Die schönen Frauen glichen sich eine der andern so,
-daß man sie nicht unterscheiden konnte, und das Gesellchen
-hätte gar zu gern gewußt, wer sie seien.</p>
-
-<p>Der Mann sah mit verschränkten Armen den Zug an
-sich vorüber wallen, musterte mit kritischen Augen die weißen
-Nixenglieder, lächelte vertraulich dem schönen Frauenpaar
-zu. &ndash; Da war es dem Gesellen, als habe die eine listig
-gewinkt, die andere nur milde gelächelt. Aus dem Nebel,
-<a class="pagenum" id="page_160" title="160"> </a>
-der sie umwogte, aber tönte das Lied der Hammerschmiedsgesellen:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Mir könn' dhun, mir könn' treiben, mir könn' loss'n, was mer wöll'n!«</td></tr>
-</table>
-
-<p>»Ja, ja,« nickte der Mann, »wenn's alle Hammerschmiedsgesellen
-wären! Aber doch, kleines Wurm, wissen
-auch sie nicht genau, gerade wie du und alle die andern
-es gar nicht wissen, wer von den beiden lieben Frauenzimmerchen
-da &ndash; die Wahrheit und welches die Lüge ist.«</p>
-
-<p>Als er das sagte und der kleine Schmiedsgeselle flehend
-die Arme hob, da schauten die beiden herrlichen Frauen
-zurück &ndash; die eine milde lächelnd:</p>
-
-<p>»<em class="ge">Du</em> bist die Wahrheit!« jauchzte der Geselle.</p>
-
-<p>Da hob die andere sachte und ernst den Finger an
-den Mund.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Und der Geselle barg das Gesicht in die Hände und
-weinte.</p>
-
-<p>Als er wieder aufschaute, sah er den Mann vor dem
-Champagnerkorken stehen und Zwiesprache halten mit einem
-nackten, kleinen Schlingel, der rittlings auf dem einen goldenen
-Pfropfen saß, Bogen und Köcher umgehängt hatte
-und blutrote Pfeile nach allen Richtungen verschoß; sein
-Krauskopf glänzte voll goldener Locken und trotz der Lachgrübchen
-saßen ein paar bitterernste Augen in dem jungen
-Gesicht.</p>
-
-<p>»Ich bin echt!« sagte er und zielte auf den Gesellen,
-und dem wurde es plötzlich ganz leicht um's Herz. Da
-lachte der kleine, nackte Bub ein tolles, befreiendes Lachen,
-und der Mann fiel ein, und das Gesellchen mußte mitlachen,
-bis ihm die Thränen aus den Augen liefen.</p>
-
-<p>Dicht hing der Nebel herunter. Die Wolken rieben
-sich die Fußsohlen an den Champagnerkorken. Rauch,
-schwerer, schwarzer, lichter, semmelblonder stieg auf aus
-<a class="pagenum" id="page_161" title="161"> </a>
-allen Schlöten. In der Ferne sah der Geselle einen silbernen
-Streifen, auf dem ein Mövenflügel blitzte. Ein
-dumpfes Gegroll wogte zu ihnen herüber. Ein Amboßschlag
-dröhnte.</p>
-
-<p>Fest mit den Füßen aufstampfend, ging der wunderliche
-Mann mit dem kleinen Schmiedegesellen viele Stufen
-hinab, und es klang, als ob jede Stufe knurrte:</p>
-
-<table summary="">
- <tr><td class="tdl">»Hammerschmiedsg'söll'n &ndash; dhun, was mer wöll'n!«</td></tr>
-</table>
-
-<p>Unten angekommen, sah der Mann wieder aus wie
-ein gewöhnlicher Europäer, und die Stube, in die sie eintraten,
-wie eine ganz gewöhnliche Kaufmannsstube.</p>
-
-<p>»Hör',« sagte der Mann zu einem andern, der da saß
-und schrieb, »wir müssen die Champagnerpropfen da oben
-an dem Dach neu vergolden, die hat der Nebel ganz blind
-gemacht.«</p>
-
-<p>Der andere nickte und schrieb weiter.</p>
-
-<p>Der Mann aber sah den kleinen Schmiedegesellen an
-und zupfte sich an den spitzen Oehrchen. Und dann lachten
-sie.</p>
-
-<hr />
-
-
-
-
-<div class="fss">
-<h2><a class="pagenum" id="page_162" title="162"> </a>
-Druckfehler.</h2>
-
-
-<table summary="" class="pa2">
- <tr>
- <td class="tdc">Seite</td>
- <td class="tdr">24,</td>
- <td class="tdc">Zeile</td>
- <td class="tdr">4</td>
- <td class="tdc">von</td>
- <td class="tdc">oben,</td>
- <td class="tdc">lies</td>
- <td class="tdc">:</td>
- <td class="tdl"><i>hant</i> statt <i>hante</i>.</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">68,</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">3</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">:</td>
- <td class="tdl">Silberflut statt Silberglut.</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">97,</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">15</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">:</td>
- <td class="tdl">Weh <em class="ge">in der</em> Welt.</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">118,</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">8</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">:</td>
- <td class="tdl"><em class="ge">ni</em>mmer statt immer.</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">122,</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">26</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">:</td>
- <td class="tdl">aus <em class="ge">seinen</em> Händen.</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">129,</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">10</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">:</td>
- <td class="tdl"><em class="ge">sein</em> leuchtendes Auge.</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">155,</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdr">23</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">"</td>
- <td class="tdc">:</td>
- <td class="tdl"><em class="ge">drauf</em> ritten.</td>
- </tr>
-</table>
-</div>
-
-<hr class="mb4"/>
-
-
-
-
-<div class="mw30 fss mb4">
-<h2 class="mt0">Im <em class="ge">Verlags-Magazin J.&nbsp;Schabelitz</em> in <em class="ge">Zürich</em> ist
-erschienen und durch alle Buchhandlungen zu beziehen:</h2>
-
-
-<p class="tdl"><b>Amerikanische Lebensbilder.</b> Skizzen und Tagebuchblätter. Von
-<em class="ge">Karl Knortz</em>. &ndash; 2&nbsp;Mk. =&nbsp;2&nbsp;Fr.&nbsp;50&nbsp;Cts.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Eines deutschen Matrosen Nordpolfahrten.</b> Wilhelm Nindemann's
-Erinnerungen an die Nordpolexpedition der »Polaris«
-und »Jeanette«. Von <em class="ge">Karl Knortz</em>. &ndash; 70&nbsp;Pf. =&nbsp;85&nbsp;Cts.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Hamlet und Faust.</b> Von <em class="ge">Karl Knortz</em>. &ndash; 1&nbsp;Mk. =&nbsp;1&nbsp;Fr.&nbsp;25&nbsp;Cts.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Irländische Märchen.</b> Von <em class="ge">Karl Knortz</em>. &ndash; Mk.&nbsp;1.60. =&nbsp;2&nbsp;Fr.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Nokomis.</b> Märchen und Sagen der nordamerikanischen Indianer.
-Von <em class="ge">Karl Knortz</em>. &ndash; 1&nbsp;Mk.&nbsp;60&nbsp;Pf. =&nbsp;2&nbsp;Fr.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Neue Epigramme.</b> Von <em class="ge">Karl Knortz</em>. &ndash; 1&nbsp;Mk. =&nbsp;1&nbsp;Fr.&nbsp;25&nbsp;Cts.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Goethe und die Wertherzeit.</b> Ein Vortrag. Von <em class="ge">Karl Knortz</em>.
-Mit dem Anhange: Goethe in Amerika. &ndash; 80&nbsp;Pf. =&nbsp;1&nbsp;Fr.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Grashalme.</b> Gedichte von <em class="ge">Walt Whitman</em>. In Auswahl
-übersetzt von <em class="ge">Karl Knortz</em> und <em class="ge">T.&nbsp;W. Rolleston</em>. &ndash; 2&nbsp;Mk.&nbsp;50&nbsp;Pf.
-=&nbsp;3&nbsp;Fr.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Vom Hudson bis zum goldenen Thor.</b> Ernste und heitere
-Erzählungen aus dem amerikanischen Leben. Von <em class="ge">Joseph
-Treumann</em>. 2&nbsp;Bände. &ndash; 5&nbsp;Mk. =&nbsp;6&nbsp;Fr.&nbsp;25&nbsp;Cts.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Ueberseeische Reisen.</b> Von <em class="ge">Amand Goegg</em>. &ndash; 2&nbsp;Mk.&nbsp;40&nbsp;Pf.
-=&nbsp;3&nbsp;Fr.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Bilder aus den Vereinigten Staaten.</b> Von <i>Dr.</i> <em class="ge">J.&nbsp;Richter</em>.
-&ndash; 1&nbsp;Mk.&nbsp;60&nbsp;Pf. =&nbsp;2&nbsp;Fr.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Aus dem Reiche des Tantalus.</b> Alfresco-Skizzen von <em class="ge">W.&nbsp;L.
-Rosenberg</em>. &ndash; 1&nbsp;Mk.&nbsp;60&nbsp;Pf. =&nbsp;2&nbsp;Fr.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Zweierlei Hoheit.</b> Roman von <em class="ge">Juvenalis Minor</em>. &ndash; 3&nbsp;Mk.&nbsp;60&nbsp;Pf.
-=&nbsp;4&nbsp;Fr.&nbsp;50&nbsp;Cts.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Heißes Blut.</b> Roman aus der französischen Provinz. 2&nbsp;Theile.
-Von <em class="ge">Hermann Gosseck</em>. &ndash; 5&nbsp;Mk. =&nbsp;6&nbsp;Fr.&nbsp;25&nbsp;Cts.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Scherben.</b> Gesammelt vom müden Manne (<em class="ge">Richard Voß</em>.)
-Zweite, stark vermehrte Auflage. &ndash; 5&nbsp;Mk. =&nbsp;6&nbsp;Fr.&nbsp;25&nbsp;Cts.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Schlimme Geschichten.</b> Drei Novellen. Von <em class="ge">Gustav Adolf</em>.
-&ndash; 1&nbsp;Mk.&nbsp;60&nbsp;Pf. =&nbsp;2&nbsp;Fr.</p>
-
-<p class="tdl"><b>Ueber Graphologie</b> oder die Kunst, die Geistes- und Gemüthseigenschaften
-eines Menschen aus seiner Handschrift zu erkennen.
-Von <em class="ge">Fritz Machmer</em>. &ndash; 2&nbsp;Mk. =&nbsp;2&nbsp;Fr.&nbsp;50&nbsp;Cts.</p>
-</div>
-
-
-
-
-<div class="mw36 bo">
-<h2 class="mt0">Hinweise zur Transkription</h2>
-
-
-<p class="in0">Der Schmutztitel wurde entfernt.</p>
-
-<p class="in0">Im Originalbuch tragen die Kapitel jeweils am Anfang ornamentalen
-und am Ende floralen Schmuck, auf den in dieser Transkription verzichtet wurde.</p>
-
-<p class="in0">Die im Buch enthaltene Verlagswerbung wurde von der Rückseite des
-vorderen Einbanddeckels an das Buchende verschoben.</p>
-
-<p class="in0">Das Originalbuch ist in Fraktur gesetzt.</p>
-
-<p class="in0">Darstellung abweichender Schriftarten: <em class="ge">gesperrt</em>, <i>Antiqua</i>, <b>fett</b>.</p>
-
-<p class="in0">Der Text des Originalbuchs wurde grundsätzlich beibehalten,
-einschließlich uneinheitlicher Schreibweisen wie beispielsweise
-"Apollo" &ndash; "Appollo", "Bacchus" &ndash; "Bacchos", "Höckerweib" &ndash; "Hökerweib",
-"Schmiedegeselle" &ndash; "Schmiedgeselle", "Sonntagkind" &ndash; "Sonntagskind",</p>
-
-<p class="in0">mit folgenden Ausnahmen,</p>
-
-<p class="in0">entsprechend dem Korrekturverzeichnis des Originalbuchs</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_024">24</a>:<br />
-im Original "ich hete in mîne hante gesmogen"<br />
-geändert in "ich hete in mîne hant gesmogen"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_068">68</a>:<br />
-im Original "In tiefe, rauschende Silberglut"<br />
-geändert in "In tiefe, rauschende Silberflut"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_097">97</a>:<br />
-im Original "als ob all das Weh in Welt"<br />
-geändert in "als ob all das Weh in der Welt"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_118">118</a>:<br />
-im Original "wenn Ihr die Liebe sucht, fliegt immer zu Thal"<br />
-geändert in "wenn Ihr die Liebe sucht, fliegt nimmer zu Thal"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_122">122</a>:<br />
-im Original "aus ihren Händen weg und zu uns"<br />
-geändert in "aus seinen Händen weg und zu uns"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_129">129</a>:<br />
-im Original "und ein leuchtendes Auge weilt"<br />
-geändert in "und sein leuchtendes Auge weilt"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_155">155</a>:<br />
-im Original "die Gedanken, die draus ritten"<br />
-geändert in "die Gedanken, die drauf ritten"</p>
-
-<p class="in0">und außerdem</p>
-
-<p class="ci">Seite 13:<br />
-im Original "wo wollen die vielen Menschen hin die dort"<br />
-geändert in "wo wollen die vielen Menschen hin, die dort"</p>
-
-<p class="ci">Seite 25:<br />
-im Original "Flüstern durch den Saal und und ein Beben"<br />
-geändert in "Flüstern durch den Saal und ein Beben"</p>
-
-<p class="ci">Seite 39:<br />
-im Original "Weise Hosen, schwarzes Röcklein und auf dem Kopf"<br />
-geändert in "Weiße Hosen, schwarzes Röcklein und auf dem Kopf"</p>
-
-<p class="ci">Seite 40:<br />
-im Original "wenn ihr die zackigen Blätter"<br />
-geändert in "wenn Ihr die zackigen Blätter"</p>
-
-<p class="ci">Seite 45:<br />
-im Original "Cochenille &ndash; Kaktus, unansehnliche, häßliche Dinger"<br />
-geändert in "Cochenille-Kaktus, unansehnliche, häßliche Dinger"</p>
-
-<p class="ci">Seite 49:<br />
-im Original "Wohl süß ist es zu singen"<br />
-geändert in "»Wohl süß ist es zu singen"</p>
-
-<p class="ci">Seite 56:<br />
-im Original "sieh', doch, da ist das Märchen!"<br />
-geändert in "sieh' doch, da ist das Märchen!"</p>
-
-<p class="ci">Seite 56:<br />
-im Original "die Kinder faßten sich bei deu Händen"<br />
-geändert in "die Kinder faßten sich bei den Händen"</p>
-
-<p class="ci">Seite 76:<br />
-im Original "den Bäuuen aus dem Wege gehen"<br />
-geändert in "den Bäumen aus dem Wege gehen"</p>
-
-<p class="ci">Seite 85:<br />
-im Original "Regiment Weizenfeld-Allerfeinste-Mehlsorte No.&nbsp;1"<br />
-geändert in "Regiment Weizenfeld-Allerfeinste-Mehlsorte No.&nbsp;I"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_108">108</a>:<br />
-im Original "deren heißes Menschenherz langsam, zu"<br />
-geändert in "deren heißes Menschenherz langsam zu"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_135">135</a>:<br />
-im Original "wie zart, geschickt die Fäden verknüpft!«"<br />
-geändert in "wie zart, geschickt die Fäden verknüpft!"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_139">139</a>:<br />
-im Original "Mannes dunkles Haar ziehen sich Silderfäden"<br />
-geändert in "Mannes dunkles Haar ziehen sich Silberfäden"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_140">140</a>:<br />
-im Original "dekorierten Flügel und fliegt von dannen"<br />
-geändert in "dekorierten Flügel und fliegt von dannen."</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_146">146</a>:<br />
-im Original "Seele verwandelte sich einen"<br />
-geändert in "Seele verwandelte sich in einen"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_155">155</a>:<br />
-im Original "finster, beklemmend, Bleiche Gestalten"<br />
-geändert in "finster, beklemmend. Bleiche Gestalten"</p>
-
-<p class="ci">Seite <a class="ndcbl" href="#page_157">157</a>:<br />
-im Original "Aus dem lichten, ragenden, Schornstein"<br />
-geändert in "Aus dem lichten, ragenden Schornstein"</p>
-
-<p class="ci">in der Verlagswerbung:<br />
-im Original "Rosenberg. &ndash; 1&nbsp;Mk.&nbsp;60&nbsp;Pf. =&nbsp;2&nbsp;Fr. =&nbsp;1&nbsp;Fr."<br />
-geändert in "Rosenberg. &ndash; 1&nbsp;Mk.&nbsp;60&nbsp;Pf. =&nbsp;2&nbsp;Fr."</p>
-</div>
-
-<div style='display:block; margin-top:4em'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK VENUSMäRCHEN ***</div>
-<div style='text-align:left'>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Updated editions will replace the previous one&#8212;the old editions will
-be renamed.
-</div>
-
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-</div>
-
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-Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg&#8482; electronic works
-</div>
-
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-1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg&#8482;
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-Gutenberg&#8482; electronic works if you follow the terms of this
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- This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
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- of the Project Gutenberg License included with this eBook or online
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-electronic work, or any part of this electronic work, without
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-</div>
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-from the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, the manager of
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-forth in Section 3 below.
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-1.F.
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-works not protected by U.S. copyright law in creating the Project
-Gutenberg&#8482; collection. Despite these efforts, Project Gutenberg&#8482;
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-</div>
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-1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
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-unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
-remaining provisions.
-</div>
-
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-the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
-or any Project Gutenberg&#8482; work, (b) alteration, modification, or
-additions or deletions to any Project Gutenberg&#8482; work, and (c) any
-Defect you cause.
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg&#8482;
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Project Gutenberg&#8482; is synonymous with the free distribution of
-electronic works in formats readable by the widest variety of
-computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
-exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
-from people in all walks of life.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Volunteers and financial support to provide volunteers with the
-assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg&#8482;&#8217;s
-goals and ensuring that the Project Gutenberg&#8482; collection will
-remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
-Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
-and permanent future for Project Gutenberg&#8482; and future
-generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
-Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
-501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
-state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
-Revenue Service. The Foundation&#8217;s EIN or federal tax identification
-number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
-U.S. federal laws and your state&#8217;s laws.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-The Foundation&#8217;s business office is located at 809 North 1500 West,
-Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
-to date contact information can be found at the Foundation&#8217;s website
-and official page at www.gutenberg.org/contact
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Project Gutenberg&#8482; depends upon and cannot survive without widespread
-public support and donations to carry out its mission of
-increasing the number of public domain and licensed works that can be
-freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
-array of equipment including outdated equipment. Many small donations
-($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
-status with the IRS.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-The Foundation is committed to complying with the laws regulating
-charities and charitable donations in all 50 states of the United
-States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
-considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
-with these requirements. We do not solicit donations in locations
-where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
-DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
-visit <a href="https://www.gutenberg.org/donate/">www.gutenberg.org/donate</a>.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-While we cannot and do not solicit contributions from states where we
-have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
-against accepting unsolicited donations from donors in such states who
-approach us with offers to donate.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-International donations are gratefully accepted, but we cannot make
-any statements concerning tax treatment of donations received from
-outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
-methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
-ways including checks, online payments and credit card donations. To
-donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 5. General Information About Project Gutenberg&#8482; electronic works
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
-Gutenberg&#8482; concept of a library of electronic works that could be
-freely shared with anyone. For forty years, he produced and
-distributed Project Gutenberg&#8482; eBooks with only a loose network of
-volunteer support.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Project Gutenberg&#8482; eBooks are often created from several printed
-editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
-the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
-necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
-edition.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Most people start at our website which has the main PG search
-facility: <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-This website includes information about Project Gutenberg&#8482;,
-including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
-subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
-</div>
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-</div>
-</body>
-</html>
-
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