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authorRoger Frank <rfrank@pglaf.org>2025-10-15 05:27:54 -0700
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+The Project Gutenberg eBook of Märchen-Almanach auf das Jahr 1826, by Wilhelm Hauff
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
+most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
+whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
+of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
+www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you
+will have to check the laws of the country where you are located before
+using this eBook.
+
+Title: Märchen-Almanach auf das Jahr 1826
+
+Author: Wilhelm Hauff
+
+Release Date: January 9, 2003 [eBook #6638]
+[Most recently updated: July 31, 2021]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: UTF-8
+
+Produced by: Mike Pullen
+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK MÄRCHEN-ALMANACH AUF DAS JAHR 1826 ***
+
+
+
+
+Märchen-Almanach auf das Jahr 1826
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Inhalt
+
+ Märchen als Almanach
+ Die Karawane (Rahmenerzählung)
+ Die Geschichte vom Kalif Storch
+ Die Geschichte von dem Gespensterschiff
+ Die Geschichte von der abgehauenen Hand
+ Die Errettung Fatmes
+ Die Geschichte von dem kleinen Muck
+ Das Märchen vom falschen Prinzen
+
+
+
+
+Märchen als Almanach
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+In einem schönen, fernen Reiche, von welchem die Sage lebt, daß die
+Sonne in seinen ewig grünen Gärten niemals untergehe, herrschte von
+Anfang an bis heute die Königin Phantasie. Mit vollen Händen spendete
+diese seit vielen Jahrhunderten die Fülle des Segens über die Ihrigen
+und war geliebt, verehrt von allen, die sie kannten. Das Herz der
+Königin war aber zu groß, als daß sie mit ihren Wohltaten bei ihrem
+Lande stehen geblieben wäre; sie selbst, im königlichen Schmuck ihrer
+ewigen Jugend und Schönheit, stieg herab auf die Erde; denn sie hatte
+gehört, daß dort Menschen wohnen, die ihr Leben in traurigem Ernst,
+unter Mühe und Arbeit hinbringen. Diesen hatte sie die schönsten Gaben
+aus ihrem Reiche mitgebracht, und seit die schöne Königin durch die
+Fluren der Erde gegangen war, waren die Menschen fröhlich bei der
+Arbeit, heiter in ihrem Ernst.
+
+Auch ihre Kinder, nicht minder schön und lieblich als die königliche
+Mutter, sandte sie aus, um die Menschen zu beglücken. Einst kam
+Märchen, die älteste Tochter der Königin, von der Erde zurück. Die
+Mutter bemerkte, daß Märchen traurig sei, ja, hier und da wollte ihr
+bedünken, als ob sie verweinte Augen hätte.
+
+„Was hast du, liebes Märchen“, sprach die Königin zu ihr, „du bist seit
+deiner Reise so traurig und niedergeschlagen, willst du deiner Mutter
+nicht anvertrauen, was dir fehlt?“
+
+„Ach, liebe Mutter“, antwortete Märchen, „ich hätte gewiß nicht so
+lange geschwiegen, wenn ich nicht wüßte, daß mein Kummer auch der
+deinige ist.“
+
+„Sprich immer, meine Tochter“, bat die schöne Königin, „der Gram ist
+ein Stein, der den einzelnen niederdrückt, aber zwei tragen ihn leicht
+aus dem Wege.“
+
+„Du willst es“, antwortete Märchen, „so höre: Du weißt, wie gerne ich
+mit den Menschen umgehe, wie ich freudig auch bei dem Ärmsten vor
+seiner Hütte sitze, um nach der Arbeit ein Stündchen mit ihm zu
+verplaudern; sie boten mir auch sonst gleich freundlich die Hand zum
+Gruß, wenn ich kam, und sahen mir lächelnd und zufrieden nach, wenn ich
+weiterging; aber in diesen Tagen ist es gar nicht mehr so!“
+
+„Armes Märchen!“ sprach die Königin und streichelte ihr die Wange, die
+von einer Träne feucht war, „aber du bildest dir vielleicht dies alles
+nur ein?“
+
+„Glaube mir, ich fühle es nur zu gut“, entgegnete Märchen, „sie lieben
+mich nicht mehr. Überall, wo ich hinkomme, begegnen mir kalte Blicke;
+nirgends bin ich mehr gern gesehen; selbst die Kinder, die ich doch
+immer so lieb hatte, lachen über mich und wenden mir altklug den Rücken
+zu.“
+
+Die Königin stützte die Stirne in die Hand und schwieg sinnend.
+
+„Und woher soll es denn“, fragte die Königin, „kommen, Märchen, daß
+sich die Leute da unten so geändert haben?“
+
+„Sieh, die Menschen haben kluge Wächter aufgestellt, die alles, was aus
+deinem Reich kommt, o Königin Phantasie, mit scharfem Blicke mustern
+und prüfen. Wenn nun einer kommt, der nicht nach ihrem Sinne ist, so
+erheben sie ein großes Geschrei, schlagen ihn tot oder verleumden ihn
+doch so sehr bei den Menschen, die ihnen aufs Wort glauben, daß man gar
+keine Liebe, kein Fünkchen Zutrauen mehr findet. Ach, wie gut haben es
+meine Brüder, die Träume, fröhlich und leicht hüpfen sie auf die Erde
+hinab, fragen nichts nach jenen klugen Männern, besuchen die
+schlummernden Menschen und weben und malen ihnen, was das Herz beglückt
+und das Auge erfreut!“
+
+„Deine Brüder sind Leichtfüße“, sagte die Königin, „und du, mein
+Liebling, hast keine Ursache, sie zu beneiden. Jene Grenzwächter kenne
+ich übrigens wohl; die Menschen haben so unrecht nicht, sie
+aufzustellen; es kam so mancher windige Geselle und tat, als ob er
+geradewegs aus meinem Reiche käme, und doch hatte er höchstens von
+einem Berge zu uns herübergeschaut.“
+
+„Aber warum lassen sie dies mich, deine eigene Tochter, entgelten“,
+weinte Märchen. „Ach, wenn du wüßtest, wie sie es mit mir gemacht
+haben; sie schalten mich eine alte Jungfer und drohten, mich das
+nächste Mal gar nicht mehr hereinzulassen.“ „Wie, meine Tochter nicht
+mehr einzulassen?“ rief die Königin, und Zorn rötete ihre Wangen. „Aber
+ich sehe schon, woher dies kommt; die böse Muhme hat uns verleumdet!“
+
+„Die Mode? Nicht möglich!“ rief Märchen, „sie tat ja sonst immer so
+freundlich.“
+
+„Oh! Ich kenne sie, die Falsche“, antwortete die Königin, „aber
+versuche es ihr zum Trotze wieder, meine Tochter, wer Gutes tun will,
+darf nicht rasten.“
+
+„Ach, Mutter! Wenn sie mich dann ganz zurückweisen, oder wenn sie mich
+verleumden, daß mich die Menschen nicht ansehen oder einsam und
+verachtet in der Ecke stehen lassen?“
+
+„Wenn die Alten, von der Mode betört, dich geringschätzen, so wende
+dich an die Kleinen, wahrlich, sie sind meine Lieblinge, ihnen sende
+ich meine lieblichsten Bilder durch deine Brüder, die Träume, ja, ich
+bin schon oft selbst zu ihnen hinabgeschwebt, habe sie geherzt und
+geküßt und schöne Spiele mit ihnen gespielt; sie kennen mich auch wohl,
+sie wissen zwar meinen Namen nicht, aber ich habe schon oft bemerkt,
+wie sie nachts zu meinen Sternen herauflächeln und morgens, wenn meine
+glänzenden Lämmer am Himmel ziehen, vor Freuden die Hände
+zusammenschlagen. Auch wenn sie größer werden, lieben sie mich noch,
+ich helfe dann den lieblichen Mädchen bunte Kränze flechten, und die
+wilden Knaben werden stiller, wenn ich auf hoher Felsenspitze mich zu
+ihnen setze, aus der Nebelwelt der fernen, blauen Berge hohe Burgen und
+glänzende Paläste auftauchen lasse und aus den rötlichen Wolken des
+Abends kühne Reiterscharen und wunderliche Wallfahrtszüge bilde.“
+
+„O die guten Kinder!“ rief Märchen bewegt aus. „Ja, es sei! Mit ihnen
+will ich es noch einmal versuchen.“
+
+„Ja, du gute Tochter“, sprach die Königin, „gehe zu ihnen; aber ich
+will dich auch ein wenig ordentlich ankleiden, daß du den Kleinen
+gefällst und die Großen dich nicht zurückstoßen; siehe, das Gewand
+eines Almanachs will ich dir geben.“
+
+„Eines Almanachs, Mutter? Ach!—Ich schäme mich, so vor den Leuten zu
+prangen.“
+
+Die Königin winkte, und die Dienerinnen brachten das zierliche Gewand
+eines Almanachs. Es war von glänzenden Farben und schöne Figuren
+eingewoben.
+
+Die Zofen flochten dem schönen Mädchen das lange Haar; sie banden ihr
+goldene Sandalen unter die Füße und hingen ihr dann das Gewand um.
+
+Das bescheidene Märchen wagte nicht aufzublicken, die Mutter aber
+betrachtete es mit Wohlgefallen und schloß es in ihre Arme. „Gehe hin“,
+sprach sie zu der Kleinen, „mein Segen sei mit dir. Und wenn sie dich
+verachten und höhnen, so kehre zurück zu mir, vielleicht, daß spätere
+Geschlechter, getreuer der Natur, ihr Herz dir wieder zuwenden.“
+
+Also sprach die Königin Phantasie. Märchen aber stieg hinab auf die
+Erde. Mit pochendem Herzen nahte sie dem Ort, wo die klugen Wächter
+hauseten; sie senkte das Köpfchen zur Erde, sie zog das schöne Gewand
+enger um sich her, und mit zagendem Schritt nahte sie dem Tor.
+
+„Halt!“ rief eine tiefe, rauhe Stimme. „Wache heraus! Da kommt ein
+neuer Almanach!“
+
+Märchen zitterte, als sie dies hörte; viele ältliche Männer von
+finsterem Aussehen stürzten hervor; sie hatten spitzige Federn in der
+Faust und hielten sie dem Märchen entgegen. Einer aus der Schar schritt
+auf sie zu und packte sie mit rauher Hand am Kinn. „Nur auch den Kopf
+aufgerichtet, Herr Almanach“, schrie er, „daß man Ihm in den Augen
+ansiehet, ob er was Rechtes ist oder nicht!“
+
+Errötend richtete Märchen das Köpfchen in die Höhe und schlug das
+dunkle Auge auf.
+
+„Das Märchen!“ riefen die Wächter und lachten aus vollem Hals, „das
+Märchen! Haben wunder gemeint, was da käme! Wie kommst du nur in diesen
+Rock?“
+
+„Die Mutter hat ihn mir angezogen“, antwortete Märchen. „So? Sie will
+dich bei uns einschwärzen? Nichts da! Hebe dich weg, mach, daß du
+fortkommst!“ riefen die Wächter untereinander und erhoben die scharfen
+Federn.
+
+„Aber ich will ja nur zu den Kindern“, bat Märchen, „dies könnt ihr mir
+ja doch erlauben.“
+
+„Läuft nicht schon genug solches Gesindel im Land umher?“ rief einer
+der Wächter. „Sie schwatzen nur unseren Kindern dummes Zeug vor.“
+
+„Laßt uns sehen, was sie diesmal weiß!“ sprach ein anderer.
+
+„Nun ja“, riefen sie, „sag an, was du weißt, aber beeile dich, denn wir
+haben nicht viele Zeit für dich!“
+
+Märchen streckte die Hand aus und schrieb mit dem Zeigefinger viele
+Zeichen in die Luft. Da sah man bunte Gestalten vorüberziehen;
+Karawanen mit schönen Rossen, geschmückte Reiter, viele Zelte im Sand
+der Wüste; Vögel und Schiffe auf stürmischen Meeren; stille Wälder und
+volkreiche Plätze und Straßen; Schlachten und friedliche Nomaden, sie
+alle schwebten in belebten Bildern, in buntem Gewimmel vorüber.
+
+Märchen hatte in dem Eifer, mit welchem sie die Bilder aufsteigen ließ,
+nicht bemerkt, wie die Wächter des Tores nach und nach eingeschlafen
+waren. Eben wollte sie neue Zeichen schreiben, als ein freundlicher
+Mann auf sie zutrat und ihre Hand ergriff. „Siehe her, gutes Märchen“,
+sagte er, indem er auf die Schlafenden zeigte, „für diese sind deine
+bunten Sachen nichts; schlüpfe schnell durch das Tor; sie ahnen dann
+nicht, daß du im Lande bist, und du kannst friedlich und unbemerkt
+deine Straße ziehen. Ich will dich zu meinen Kindern führen; in meinem
+Hause geb’ ich dir ein stilles, freundliches Plätzchen; dort kannst du
+wohnen und für dich leben; wenn dann meine Söhne und Töchter gut
+gelernt haben, dürfen sie mit ihren Gespielen zu dir kommen und dir
+zuhören. Willst du so?“
+
+„Oh, wie gerne folge ich dir zu deinen lieben Kleinen; wie will ich
+mich befleißen, ihnen zuweilen ein heiteres Stündchen zu machen!“
+
+Der gute Mann nickte ihr freundlich zu und half ihr, über die Füße der
+schlafenden Wächter hinüberzusteigen. Lächelnd sah sich Märchen um, als
+sie hinüber war, und schlüpfte dann schnell in das Tor.
+
+
+
+
+Die Karawane
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Es zog einmal eine große Karawane durch die Wüste. Auf der ungeheuren
+Ebene, wo man nichts als Sand und Himmel sieht, hörte man schon in
+weiter Ferne die Glocken der Kamele und die silbernen Röllchen der
+Pferde, eine dichte Staubwolke, die ihr vorherging, verkündete ihre
+Nähe, und wenn ein Luftzug die Wolke teilte, blendeten funkelnde Waffen
+und helleuchtende Gewänder das Auge. So stellte sich die Karawane einem
+Manne dar, welcher von der Seite her auf sie zuritt. Er ritt ein
+schönes arabisches Pferd, mit einer Tigerdecke behängt, an dem
+hochroten Riemenwerk hingen silberne Glöckchen, und auf dem Kopf des
+Pferdes wehte ein schöner Reiherbusch. Der Reiter sah stattlich aus,
+und sein Anzug entsprach der Pracht seines Rosses; ein weißer Turban,
+reich mit Gold bestickt, bedeckte das Haupt; der Rock und die weiten
+Beinkleider waren von brennendem Rot, ein gekrümmtes Schwert mit
+reichem Griff an seiner Seite. Er hatte den Turban tief ins Gesicht
+gedrückt; dies und die schwarzen Augen, die unter buschigen Brauen
+hervorblitzten, der lange Bart, der unter der gebogenen Nase herabhing,
+gaben ihm ein wildes, kühnes Aussehen.
+
+Als der Reiter ungefähr auf fünfzig Schritt dem Vortrab der Karawane
+nahe war, spornte er sein Pferd an und war in wenigen Augenblicken an
+der Spitze des Zuges angelangt. Es war ein so ungewöhnliches Ereignis,
+einen einzelnen Reiter durch die Wüste ziehen zu sehen, daß die Wächter
+des Zuges, einen Überfall befürchtend, ihm ihre Lanzen
+entgegenstreckten.
+
+„Was wollt ihr“, rief der Reiter, als er sich so kriegerisch empfangen
+sah, „glaubt ihr, ein einzelner Mann werde eure Karawane angreifen?“
+
+Beschämt schwangen die Wächter ihre Lanzen wieder auf, ihr Anführer
+aber ritt an den Fremden heran und fragte nach seinem Begehr.
+
+„Wer ist der Herr der Karawane?“ fragte der Reiter.
+
+„Sie gehört nicht einem Herrn“, antwortete der Gefragte, „sondern es
+sind mehrere Kaufleute, die von Mekka in ihre Heimat ziehen und die wir
+durch die Wüste geleiten, weil oft allerlei Gesindel die Reisenden
+beunruhigt.“
+
+„So führt mich zu den Kaufleuten“, begehrte der Fremde.
+
+„Das kann jetzt nicht geschehen“, antwortete der Führer, „weil wir ohne
+Aufenthalt weiterziehen müssen und die Kaufleute wenigstens eine
+Viertelstunde weiter hinten sind; wollt Ihr aber mit mir weiterreiten,
+bis wir lagern, um Mittagsruhe zu halten, so werde ich Eurem Wunsch
+willfahren.“
+
+Der Fremde sagte hierauf nichts; er zog eine lange Pfeife, die er am
+Sattel festgebunden hatte, hervor und fing an in großen Zügen zu
+rauchen, indem er neben dem Anführer des Vortrabs weiterritt. Dieser
+wußte nicht, was er aus dem Fremden machen sollte; er wagte es nicht,
+ihn geradezu nach seinem Namen zu fragen, und so künstlich er auch ein
+Gespräch anzuknüpfen suchte, der Fremde hatte auf das: „Ihr raucht da
+einen guten Tabak“, oder: „Euer Rapp’ hat einen braven Schritt“, immer
+nur mit einem kurzen „Ja, ja!“ geantwortet.
+
+Endlich waren sie auf dem Platz angekommen, wo man Mittagsruhe halten
+wollte. Der Anführer hatte seine Leute als Wachen aufgestellt; er
+selbst hielt mit dem Fremden, um die Karawane herankommen zu lassen.
+Dreißig Kamele, schwer beladen, zogen vorüber, von bewaffneten Führern
+geleitet. Nach diesen kamen auf schönen Pferden die fünf Kaufleute,
+denen die Karawane gehörte. Es waren meistens Männer von vorgerücktem
+Alter, ernst und gesetzt aussehend, nur einer schien viel jünger als
+die übrigen, wie auch froher und lebhafter. Eine große Anzahl Kamele
+und Packpferde schloß den Zug.
+
+Man hatte Zelte aufgeschlagen und die Kamele und Pferde rings
+umhergestellt. In der Mitte war ein großes Zelt von blauem Seidenzeug.
+Dorthin führte der Anführer der Wache den Fremden. Als sie durch den
+Vorhang des Zeltes getreten waren, sahen sie die fünf Kaufleute auf
+goldgewirkten Polstern sitzen; schwarze Sklaven reichten ihnen Speise
+und Getränke. „Wen bringt Ihr uns da?“ rief der junge Kaufmann dem
+Führer zu.
+
+Ehe noch der Führer antworten konnte, sprach der Fremde: „Ich heiße
+Selim Baruch und bin aus Bagdad; ich wurde auf einer Reise nach Mekka
+von einer Räuberhorde gefangen und habe mich vor drei Tagen heimlich
+aus der Gefangenschaft befreit. Der große Prophet ließ mich die Glocken
+eurer Karawane in weiter Ferne hören, und so kam ich bei euch an.
+Erlaubet mir, daß ich in eurer Gesellschaft reise! Ihr werdet euren
+Schutz keinem Unwürdigen schenken, und so ihr nach Bagdad kommet, werde
+ich eure Güte reichlich belohnen denn ich bin der Neffe des
+Großwesirs.“
+
+Der älteste der Kaufleute nahm das Wort: „Selim Baruch“, sprach er,
+„sei willkommen in unserem Schatten. Es macht uns Freude, dir
+beizustehen; vor allem aber setze dich und iß und trinke mit uns.“
+
+Selim Baruch setzte sich zu den Kaufleuten und aß und trank mit ihnen.
+Nach dem Essen räumten die Sklaven die Geschirre hinweg und brachten
+lange Pfeifen und türkischen Sorbet. Die Kaufleute saßen lange
+schweigend, indem sie die bläulichen Rauchwolken vor sich hinbliesen
+und zusahen, wie sie sich ringelten und verzogen und endlich in die
+Luft verschwebten. Der junge Kaufmann brach endlich das Stillschweigen:
+„So sitzen wir seit drei Tagen“, sprach er, „zu Pferd und am Tisch,
+ohne uns durch etwas die Zeit zu vertreiben. Ich verspüre gewaltig
+Langeweile, denn ich bin gewohnt, nach Tisch Tänzer zu sehen oder
+Gesang und Musik zu hören. Wißt ihr gar nichts, meine Freunde, das uns
+die Zeit vertreibt?“
+
+Die vier älteren Kaufleute rauchten fort und schienen ernsthaft
+nachzusinnen, der Fremde aber sprach: „Wenn es mir erlaubt ist, will
+ich euch einen Vorschlag machen. Ich meine, auf jedem Lagerplatz könnte
+einer von uns den anderen etwas erzählen. Dies könnte uns schon die
+Zeit vertreiben.“
+
+„Selim Baruch, du hast wahr gesprochen“, sagte Achmet, der älteste der
+Kaufleute, „laßt uns den Vorschlag annehmen.“
+
+„Es freut mich, wenn euch der Vorschlag behagt“, sprach Selim, „damit
+ihr aber sehet, daß ich nichts Unbilliges verlange, so will ich den
+Anfang machen.“
+
+Vergnügt rückten die fünf Kaufleute näher zusammen und ließen den
+Fremden in ihrer Mitte sitzen. Die Sklaven schenkten die Becher wieder
+voll, stopften die Pfeifen ihrer Herren frisch und brachten glühende
+Kohlen zum Anzünden. Selim aber erfrischte seine Stimme mit einem
+tüchtigen Zuge Sorbet, strich den langen Bart über dem Mund weg und
+sprach:
+
+„So hört denn die Geschichte vom Kalif Storch.“
+
+Als Selim Baruch seine Geschichte beendet hatte, bezeugten sich die
+Kaufleute sehr zufrieden damit. „Wahrhaftig, der Nachmittag ist uns
+vergangen, ohne daß wir merkten wie!“ sagte einer derselben, indem er
+die Decke des Zeltes zurückschlug. „Der Abendwind wehet kühl, und wir
+könnten noch eine gute Strecke Weges zurücklegen.“ Seine Gefährten
+waren damit einverstanden, die Zelte wurden abgebrochen, und die
+Karawane machte sich in der nämlichen Ordnung, in welcher sie
+herangezogen war, auf den Weg.
+
+Sie ritten beinahe die ganze Nacht hindurch, denn es war schwül am
+Tage, die Nacht aber war erquicklich und sternhell. Sie kamen endlich
+an einem bequemen Lagerplatz an, schlugen die Zelte auf und legten sich
+zur Ruhe. Für den Fremden aber sorgten die Kaufleute, wie wenn er ihr
+wertester Gastfreund wäre. Der eine gab ihm Polster, der andere Decken,
+ein dritter gab ihm Sklaven, kurz, er wurde so gut bedient, als ob er
+zu Hause wäre. Die heißeren Stunden des Tages waren schon
+heraufgekommen, als sie sich wieder erhoben, und sie beschlossen
+einmütig, hier den Abend abzuwarten. Nachdem sie miteinander gespeist
+hatten, rückten sie wieder näher zusammen, und der junge Kaufmann
+wandte sich an den ältesten und sprach: „Selim Baruch hat uns gestern
+einen vergnügten Nachmittag bereitet, wie wäre es, Achmet, wenn Ihr uns
+auch etwas erzähltet, sei es nun aus Eurem langen Leben, das wohl viele
+Abenteuer aufzuweisen hat, oder sei es auch ein hübsches Märchen.“
+Achmet schwieg auf diese Anrede eine Zeitlang, wie wenn er bei sich im
+Zweifel wäre, ob er dies oder jenes sagen sollte oder nicht; endlich
+fing er an zu sprechen:
+
+„Liebe Freunde! Ihr habt euch auf dieser unserer Reise als treue
+Gesellen erprobt, und auch Selim verdient mein Vertrauen; daher will
+ich euch etwas aus meinem Leben mitteilen, das ich sonst ungern und
+nicht jedem erzähle: die Geschichte von dem Gespensterschiff.“
+
+Die Reise der Karawane war den anderen Tag ohne Hindernis fürder
+gegangen, und als man im Lagerplatz sich erholt hatte, begann Selim,
+der Fremde, zu Muley, dem jüngsten der Kaufleute, also zu sprechen:
+
+„Ihr seid zwar der Jüngste von uns, doch seid Ihr immer fröhlich und
+wißt für uns gewiß irgendeinen guten Schwank. Tischet ihn auf, daß er
+uns erquicke nach der Hitze des Tages!“
+
+„Wohl möchte ich euch etwas erzählen“, antwortete Muley, „das euch Spaß
+machen könnte, doch der Jugend ziemt Bescheidenheit in allen Dingen;
+darum müssen meine älteren Reisegefährten den Vorrang haben. Zaleukos
+ist immer so ernst und verschlossen, sollte er uns nicht erzählen, was
+sein Leben so ernst machte? Vielleicht, daß wir seinen Kummer, wenn er
+solchen hat, lindern können; denn gerne dienen wir dem Bruder, wenn er
+auch anderen Glaubens ist.“
+
+Der Aufgerufene war ein griechischer Kaufmann, ein Mann in mittleren
+Jahren, schön und kräftig, aber sehr ernst. Ob er gleich ein
+Ungläubiger (nicht Muselmann) war, so liebten ihn doch seine
+Reisegefährten, denn er hatte durch sein ganzes Wesen Achtung und
+Zutrauen eingeflößt. Er hatte übrigens nur eine Hand, und einige seiner
+Gefährten vermuteten, daß vielleicht dieser Verlust ihn so ernst
+stimme.
+
+Zaleukos antwortete auf die zutrauliche Frage Muleys: „Ich bin sehr
+geehrt durch euer Zutrauen; Kummer habe ich keinen, wenigstens keinen,
+von welchem ihr auch mit dem besten Willen mir helfen könntet. Doch
+weil Muley mir meinen Ernst vorzuwerfen scheint, so will ich euch
+einiges erzählen, was mich rechtfertigen soll, wenn ich ernster bin als
+andere Leute. Ihr sehet, daß ich meine linke Hand verloren habe. Sie
+fehlt mir nicht von Geburt an, sondern ich habe sie in den
+schrecklichsten Tagen meines Lebens eingebüßt. Ob ich die Schuld davon
+trage, ob ich unrecht habe, seit jenen Tagen ernster, als es meine Lage
+mit sich bringt, zu sein, möget ihr beurteilen, wenn ihr vernommen habt
+die Geschichte von der abgehauenen Hand.“
+
+Zaleukos, der griechische Kaufmann, hatte seine Geschichte geendigt.
+Mit großer Teilnahme hatten ihm die übrigen zugehört, besonders der
+Fremde schien sehr davon ergriffen zu sein; er hatte einigemal tief
+geseufzt, und Muley schien es sogar, als habe er einmal Tränen in den
+Augen gehabt. Sie besprachen sich noch lange Zeit über diese
+Geschichte.
+
+„Und haßt Ihr den Unbekannten nicht, der Euch so schnöd’ um ein so
+edles Glied Eures Körpers, der selbst Euer Leben in Gefahr brachte?“
+fragte der Fremde.
+
+„Wohl gab es in früherer Zeit Stunden“, antwortete der Grieche, „in
+denen mein Herz ihn vor Gott angeklagt, daß er diesen Kummer über mich
+gebracht und mein Leben vergiftet habe; aber ich fand Trost in dem
+Glauben meiner Väter, und dieser befiehlt mir, meine Feinde zu lieben;
+auch ist er wohl noch unglücklicher als ich.“
+
+„Ihr seid ein edler Mann!“ rief der Fremde und drückte gerührt dem
+Griechen die Hand.
+
+Der Anführer der Wache unterbrach sie aber in ihrem Gespräch. Er trat
+mit besorgter Miene in das Zelt und berichtete, daß man sich nicht der
+Ruhe überlassen dürfe; denn hier sei die Stelle, wo gewöhnlich die
+Karawanen angegriffen würden, auch glaubten seine Wachen, in der
+Entfernung mehrere Reiter zu sehen.
+
+Die Kaufleute waren sehr bestürzt über diese Nachricht; Selim, der
+Fremde, aber wunderte sich über ihre Bestürzung und meinte, daß sie so
+gut geschätzt wären, daß sie einen Trupp räuberischer Araber nicht zu
+fürchten brauchten.
+
+„Ja, Herr!“ entgegnete ihm der Anführer der Wache. „Wenn es nur solches
+Gesindel wäre, könnte man sich ohne Sorge zur Ruhe legen; aber seit
+einiger Zeit zeigt sich der furchtbare Orbasan wieder, und da gilt es,
+auf seiner Hut zu sein.“
+
+Der Fremde fragte, wer denn dieser Orbasan sei, und Achmet, der alte
+Kaufmann, antwortete ihm: „Es gehen allerlei Sagen unter dem Volke über
+diesen wunderbaren Mann. Die einen halten ihn für ein übermenschliches
+Wesen, weil er oft mit fünf bis sechs Männern zumal einen Kampf
+besteht, andere halten ihn für einen tapferen Franken, den das Unglück
+in diese Gegend verschlagen habe; von allem aber ist nur so viel gewiß,
+daß er ein verruchter Mörder und Dieb ist.“
+
+„Das könnt Ihr aber doch nicht behaupten“, entgegnete ihm Lezah, einer
+der Kaufleute. „Wenn er auch ein Räuber ist, so ist er doch ein edler
+Mann, und als solcher hat er sich an meinem Bruder bewiesen, wie ich
+Euch erzählen könnte. Er hat seinen ganzen Stamm zu geordneten Menschen
+gemacht, und so lange er die Wüste durchstreift, darf kein anderer
+Stamm es wagen, sich sehen zu lassen. Auch raubt er nicht wie andere,
+sondern er erhebt nur ein Schutzgeld von den Karawanen, und wer ihm
+dieses willig bezahlt, der ziehet ungefährdet weiter; denn Orbasan ist
+der Herr der Wüste.“
+
+Also sprachen unter sich die Reisenden im Zelte; die Wachen aber, die
+um den Lagerplatz ausgestellt waren, begannen unruhig zu werden. Ein
+ziemlich bedeutender Haufe bewaffneter Reiter zeigte sich in der
+Entfernung einer halben Stunde; sie schienen gerade auf das Lager
+zuzureiten. Einer der Männer von der Wache ging daher in das Zelt, um
+zu verkünden, daß sie wahrscheinlich angegriffen würden. Die Kaufleute
+berieten sich untereinander, was zu tun sei, ob man ihnen entgegengehen
+oder den Angriff abwarten solle. Achmet und die zwei älteren Kaufleute
+wollten das letztere, der feurige Muley aber und Zaleukos verlangten
+das erstere und riefen den Fremden zu ihrem Beistand auf. Dieser zog
+ruhig ein kleines, blaues Tuch mit roten Sternen aus seinem Gürtel
+hervor, band es an eine Lanze und befahl einem der Sklaven, es auf das
+Zelt zu stecken; er setze sein Leben zum Pfand, sagte er, die Reiter
+werden, wenn sie dieses Zeichen sehen, ruhig vorüberziehen. Muley
+glaubte nicht an den Erfolg, der Sklave aber steckte die Lanze auf das
+Zelt. Inzwischen hatten alle, die im Lager waren, zu den Waffen
+gegriffen und sahen in gespannter Erwartung den Reitern entgegen. Doch
+diese schienen das Zeichen auf dem Zelte erblickt zu haben, sie wichen
+plötzlich von ihrer Richtung auf das Lager ab und zogen in einem großen
+Bogen auf der Seite hin.
+
+Verwundert standen einige Augenblicke die Reisenden und sahen bald auf
+die Reiter, bald auf den Fremden. Dieser stand ganz gleichgültig, wie
+wenn nichts vorgefallen wäre, vor dem Zelte und blickte über die Ebene
+hin. Endlich brach Muley das Stillschweigen. „Wer bist du, mächtiger
+Fremdling“, rief er aus, „der du die wilden Horden der Wüste durch
+einen Wink bezähmst?“
+
+„Ihr schlagt meine Kunst höher an, als sie ist“, antwortete Selim
+Baruch. „Ich habe mich mit diesem Zeichen versehen, als ich der
+Gefangenschaft entfloh; was es zu bedeuten hat, weiß ich selbst nicht;
+nur so viel weiß ich, daß, wer mit diesem Zeichen reiset, unter
+mächtigem Schutze steht.“
+
+Die Kaufleute dankten dem Fremden und nannten ihn ihren Erretter.
+Wirklich war auch die Anzahl der Reiter so groß gewesen, daß wohl die
+Karawane nicht lange hätte Widerstand leisten können.
+
+Mit leichterem Herzen begab man sich jetzt zur Ruhe, und als die Sonne
+zu sinken begann und der Abendwind über die Sandebene hinstrich,
+brachen sie auf und zogen weiter.
+
+Am nächsten Tage lagerten sie ungefähr nur noch eine Tagreise von dem
+Ausgang der Wüste entfernt. Als sich die Reisenden wieder in dem großen
+Zelt versammelt hatten, nahm Lezah, der Kaufmann, das Wort:
+
+„Ich habe euch gestern gesagt, daß der gefürchtete Orbasan ein edler
+Mann sei, erlaubt mir, daß ich es euch heute durch die Erzählung der
+Schicksale meines Bruders beweise. Mein Vater war Kadi in Akara. Er
+hatte drei Kinder. Ich war der Älteste, ein Bruder und eine Schwester
+waren bei weitem jünger als ich. Als ich zwanzig Jahre alt war, rief
+mich ein Bruder meines Vaters zu sich. Er setzte mich zum Erben seiner
+Güter ein, mit der Bedingung, daß ich bis zu seinem Tode bei ihm
+bleibe. Aber er erreichte ein hohes Alter, so daß ich erst vor zwei
+Jahren in meine Heimat zurückkehrte und nichts davon wußte, welch
+schreckliches Schicksal indes mein Haus betroffen und wie gütig Allah
+es gewendet hatte.“ Die Errettung Fatmes
+
+Die Karawane hatte das Ende der Wüste erreicht, und fröhlich begrüßten
+die Reisenden die grünen Matten und die dichtbelaubten Bäume, deren
+lieblichen Anblick sie viele Tage entbehrt hatten. In einem schönen
+Tale lag eine Karawanserei, die sie sich zum Nachtlager wählten, und
+obgleich sie wenig Bequemlichkeit und Erfrischung darbot, so war doch
+die ganze Gesellschaft heiterer und zutraulicher als je; denn der
+Gedanke, den Gefahren und Beschwerlichkeiten, die eine Reise durch die
+Wüste mit sich bringt, entronnen zu sein, hatte alle Herzen geöffnet
+und die Gemüter zu Scherz und Kurzweil gestimmt. Muley, der junge
+lustige Kaufmann, tanzte einen komischen Tanz und sang Lieder dazu, die
+selbst dem ernsten Griechen Zaleukos ein Lächeln entlockten. Aber nicht
+genug, daß er seine Gefährten durch Tanz und Spiel erheitert hatte, er
+gab ihnen auch noch die Geschichte zum besten, die er ihnen versprochen
+hatte, und hub, als er von seinen Luftsprüngen sich erholt hatte, also
+zu erzählen an: Die Geschichte von dem kleinen Muck.
+
+„So erzählte mir mein Vater; ich bezeugte ihm meine Reue über mein
+rohes Betragen gegen den guten kleinen Mann, und mein Vater schenkte
+mir die andere Hälfte der Strafe, die er mir zugedacht hatte. Ich
+erzählte meinen Kameraden die wunderbaren Schicksale des Kleinen, und
+wir gewannen ihn so lieb, daß ihn keiner mehr schimpfte. Im Gegenteil,
+wir ehrten ihn, solange er lebte, und haben uns vor ihm immer so tief
+wie vor Kadi und Mufti gebückt.“
+
+Die Reisenden beschlossen, einen Rasttag in dieser Karawanserei zu
+machen, um sich und die Tiere zur weiteren Reise zu stärken. Die
+gestrige Fröhlichkeit ging auch auf diesen Tag über, und sie ergötzten
+sich in allerlei Spielen. Nach dem Essen aber riefen sie dem fünften
+Kaufmann, Ali Sizah, zu, auch seine Schuldigkeit gleich den übrigen zu
+tun und eine Geschichte zu erzählen. Er antwortete, sein Leben sei zu
+arm an auffallenden Begebenheiten, als daß er ihnen etwas davon
+mitteilen möchte, daher wolle er ihnen etwas anderes erzählen, nämlich:
+Das Märchen vom falschen Prinzen.
+
+Mit Sonnenaufgang brach die Karawane auf und gelangte bald nach Birket
+el Had oder dem Pilgrimsbrunnen, von wo es nur noch drei Stunden Weges
+nach Kairo waren—Man hatte um diese Zeit die Karawane erwartet, und
+bald hatten die Kaufleute die Freude, ihre Freunde aus Kairo ihnen
+entgegenkommen zu sehen. Sie zogen in die Stadt durch das Tor Bebel
+Falch; denn es wird für eine glückliche Vorbedeutung gehalten, wenn man
+von Mekka kommt, durch dieses Tor einzuziehen, weil der Prophet
+hindurchgezogen ist.
+
+Auf dem Markt verabschiedeten sich die vier türkischen Kaufleute von
+dem Fremden und dem griechischen Kaufmann Zaleukos und gingen mit ihren
+Freunden nach Haus. Zaleukos aber zeigte dem Fremden eine gute
+Karawanserei und lud ihn ein, mit ihm das Mittagsmahl zu nehmen. Der
+Fremde sagte zu und versprach, wenn er nur vorher sich umgekleidet
+habe, zu erscheinen.
+
+Der Grieche hatte alle Anstalten getroffen, den Fremden, welchen er auf
+der Reise liebgewonnen hatte, gut zu bewirten, und als die Speisen und
+Getränke in gehöriger Ordnung aufgestellt waren, setzte er sich, seinen
+Gast zu erwarten.
+
+Langsam und schweren Schrittes hörte er ihn den Gang, der zu seinem
+Gemach führte, heraufkommen. Er erhob sich, um ihm freundlich
+entgegenzusehen und ihn an der Schwelle zu bewillkommnen; aber voll
+Entsetzen fuhr er zurück, als er die Türe öffnete; denn jener
+schreckliche Rotmantel trat ihm entgegen; er warf noch einen Blick auf
+ihn, es war keine Täuschung; dieselbe hohe, gebietende Gestalt, die
+Larve, aus welcher ihn die dunklen Augen anblitzten, der rote Mantel
+mit der goldenen Stickerei waren ihm nur allzuwohl bekannt aus den
+schrecklichsten Stunden seines Lebens.
+
+Widerstreitende Gefühle wogten in Zaleukos Brust; er hatte sich mit
+diesem Bild seiner Erinnerung längst ausgesöhnt und ihm vergeben, und
+doch riß sein Anblick alle seine Wunden wieder auf; alle jene
+qualvollen Stunden der Todesangst, jener Gram, der die Blüte seines
+Lebens vergiftete, zogen im Flug eines Augenblicks an seiner Seele
+vorüber.
+
+„Was willst du, Schrecklicher?“ rief der Grieche aus, als die
+Erscheinung noch immer regungslos auf der Schwelle stand. „Weiche
+schnell von hinnen, daß ich dir nicht fluche!“
+
+„Zaleukos!“ sprach eine bekannte Stimme unter der Larve hervor.
+„Zaleukos! So empfängst du deinen Gastfreund?“ Der Sprechende nahm die
+Larve ab, schlug den Mantel zurück; es war Selim Baruch, der Fremde.
+
+Aber Zaleukos schien noch nicht beruhigt, ihm graute vor dem Fremden;
+denn nur zu deutlich hatte er in ihm den Unbekannten von der Ponte
+vecchio erkannt; aber die alte Gewohnheit der Gastfreundschaft siegte;
+er winkte schweigend dem Fremden, sich zu ihm ans Mahl zu setzen.
+
+„Ich errate deine Gedanken“, nahm dieser das Wort, als sie sich gesetzt
+hatten. „Deine Augen sehen fragend auf mich—ich hätte schweigen und
+mich deinen Blicken nie mehr zeigen können, aber ich bin dir
+Rechenschaft schuldig, und darum wagte ich es auch, auf die Gefahr hin,
+daß du mir fluchtest, vor dir in meiner alten Gestalt zu erscheinen. Du
+sagtest einst zu mir: Der Glaube meiner Väter befiehlt mir, ihn zu
+lieben, auch ist er wohl unglücklicher als ich; glaube dieses, mein
+Freund, und höre meine Rechtfertigung!
+
+Ich muß weit ausholen, um mich dir ganz verständlich zu machen. Ich bin
+in Alessandria von christlichen Eltern geboren. Mein Vater, der jüngere
+Sohn eines alten, berühmten französischen Hauses, war Konsul seines
+Landes in Alessandria. Ich wurde von meinem zehnten Jahre an in
+Frankreich bei einem Bruder meiner Mutter erzogen und verließ erst
+einige Jahre nach dem Ausbruch der Revolution mein Vaterland, um mit
+meinem Oheim, der in dem Lande seiner Ahnen nicht mehr sicher war, über
+dem Meer bei meinen Eltern eine Zuflucht zu suchen. Voll Hoffnung, die
+Ruhe und den Frieden, den uns das empörte Volk der Franzosen entrissen,
+im elterlichen Hause wiederzufinden, landeten wir. Aber ach! Ich fand
+nicht alles in meines Vaters Hause, wie es sein sollte; die äußeren
+Stürme der bewegten Zeit waren zwar noch nicht bis hierher gelangt,
+desto unerwarteter hatte das Unglück mein Haus im innersten Herzen
+heimgesucht. Mein Bruder, ein junger, hoffnungsvoller Mann, erster
+Sekretär meines Vaters, hatte sich erst seit kurzem mit einem jungen
+Mädchen, der Tochter eines florentinischen Edelmanns, der in unserer
+Nachbarschaft wohnte, verheiratet; zwei Tage vor unserer Ankunft war
+diese auf einmal verschwunden, ohne daß weder unsere Familie noch ihr
+Vater die geringste Spur von ihr auffinden konnten. Man glaubte
+endlich, sie habe sich auf einem Spaziergang zu weit gewagt und sei in
+Räuberhände gefallen. Beinahe tröstlicher wäre dieser Gedanke für
+meinen armen Bruder gewesen als die Wahrheit, die uns nur bald kund
+wurde. Die Treulose hatte sich mit einem jungen Neapolitaner, den sie
+im Hause ihres Vaters kennengelernt hatte, eingeschifft. Mein Bruder,
+aufs äußerste empört über diesen Schritt, bot alles auf, die Schuldige
+zur Strafe zu ziehen; doch vergebens; seine Versuche, die in Neapel und
+Florenz Aufsehen erregt hatten, dienten nur dazu, sein und unser aller
+Unglück zu vollenden. Der florentinische Edelmann reiste in sein
+Vaterland zurück, zwar mit dem Vorgeben, meinem Bruder Recht zu
+verschaffen, der Tat nach aber, um uns zu verderben. Er schlug in
+Florenz alle jene Untersuchungen, welche mein Bruder angeknüpft hatte,
+nieder und wußte seinen Einfluß, den er auf alle Art sich verschafft
+hatte, so gut zu benützen, daß mein Vater und mein Bruder ihrer
+Regierung verdächtig gemacht und durch die schändlichsten Mittel
+gefangen, nach Frankreich geführt und dort vom Beil des Henkers getötet
+wurden. Meine arme Mutter verfiel in Wahnsinn, und erst nach zehn
+langen Monaten erlöste sie der Tod von ihrem schrecklichen Zustand, der
+aber in den letzten Tagen zu vollem, klarem Bewußtsein geworden war. So
+stand ich jetzt ganz allein in der Welt, aber nur ein Gedanke
+beschäftigte meine Seele, nur ein Gedanke ließ mich meine Trauer
+vergessen, es war jene mächtige Flamme, die meine Mutter in ihrer
+letzten Stunde in mir angefacht hatte.
+
+In den letzten Stunden war, wie ich dir sagte, ihr Bewußtsein
+zurückgekehrt; sie ließ mich rufen und sprach mit Ruhe von unserem
+Schicksal und ihrem Ende. Dann aber ließ sie alle aus dem Zimmer gehen,
+richtete sich mit feierlicher Miene von ihrem ärmlichen Lager auf und
+sagte, ich könne mir ihren Segen erwerben, wenn ich ihr schwöre, etwas
+auszuführen, das sie mir auftragen würde—Ergriffen von den Worten der
+sterbenden Mutter, gelobte ich mit einem Eide zu tun, wie sie mir sagen
+werde. Sie brach nun in Verwünschungen gegen den Florentiner und seine
+Tochter aus und legte mir mit den fürchterlichsten Drohungen ihres
+Fluches auf, mein unglückliches Haus an ihm zu rächen. Sie starb in
+meinen Armen. Jener Gedanke der Rache hatte schon lange in meiner Seele
+geschlummert; jetzt erwachte er mit aller Macht. Ich sammelte den Rest
+meines väterlichen Vermögens und schwor mir, alles an meine Rache zu
+setzen oder selbst mit unterzugehen.
+
+Bald war ich in Florenz, wo ich mich so geheim als möglich aufhielt;
+mein Plan war um vieles erschwert worden durch die Lage, in welcher
+sich meine Feinde befanden. Der alte Florentiner war Gouverneur
+geworden und hatte so alle Mittel in der Hand, sobald er das geringste
+ahnte, mich zu verderben. Ein Zufall kam mir zu Hilfe. Eines Abends sah
+ich einen Menschen in bekannter Livree durch die Straßen gehen; sein
+unsicherer Gang, sein finsterer Blick und das halblaut herausgestoßene
+„Santo sacramento“, „Maledetto diavolo“ ließen mich den alten Pietro,
+einen Diener des Florentiners, den ich schon in Alessandria gekannt
+hatte, erkennen. Ich war nicht in Zweifel, daß er über seinen Herrn in
+Zorn geraten sei, und beschloß, seine Stimmung zu benützen. Er schien
+sehr überrascht, mich hier zu sehen, klagte mir sein Leiden, daß er
+seinem Herrn, seit er Gouverneur geworden, nichts mehr recht machen
+könne, und mein Gold, unterstützt von seinem Zorn, brachte ihn bald auf
+meine Seite. Das Schwierigste war jetzt beseitigt; ich hatte einen Mann
+in meinem Solde, der mir zu jeder Stunde die Türe meines Feindes
+öffnete, und nun reifte mein Racheplan immer schneller heran. Das Leben
+des alten Florentiners schien mir ein zu geringes Gewicht, dem
+Untergang meines Hauses gegenüber, zu haben. Sein Liebstes mußte er
+gemordet sehen, und dies war Bianka, seine Tochter. Hatte ja sie so
+schändlich an meinem Bruder gefrevelt, war ja doch sie die Ursache
+unseres Unglücks. Gar erwünscht kam sogar meinem rachedürstigen Herzen
+die Nachricht, daß in dieser Zeit Bianka zum zweitenmal sich vermählen
+wollte, es war beschlossen, sie mußte sterben. Aber mir selbst graute
+vor der Tat, und auch Pietro traute sich zu wenig Kraft zu; darum
+spähten wir umher nach einem Mann, der das Geschäft vollbringen könne.
+Unter den Florentinern wagte ich keinen zu dingen, denn gegen den
+Gouverneur würde keiner etwas Solches unternommen haben. Da fiel Pietro
+der Plan ein, den ich nachher ausgeführt habe; zugleich schlug er dich
+als Fremden und Arzt als den Tauglichsten vor. Den Verlauf der Sache
+weißt du. Nur an deiner großen Vorsicht und Ehrlichkeit schien mein
+Unternehmen zu scheitern. Daher der Zufall mit dem Mantel.
+
+Pietro öffnete uns das Pförtchen an dem Palast des Gouverneurs; er
+hätte uns auch ebenso heimlich wieder hinausgeleitet, wenn wir nicht,
+durch den schrecklichen Anblick, der sich uns durch die Türspalte
+darbot, erschreckt, entflohen wären. Von Schrecken und Reue gejagt, war
+ich über zweihundert Schritte fortgerannt, bis ich auf den Stufen einer
+Kirche niedersank. Dort erst sammelte ich mich wieder, und mein erster
+Gedanke warst du und dein schreckliches Schicksal, wenn man dich in dem
+Hause fände. Ich schlich an den Palast, aber weder von Pietro noch von
+dir konnte ich eine Spur entdecken; das Pförtchen aber war offen, so
+konnte ich wenigstens hoffen, daß du die Gelegenheit zur Flucht benützt
+haben könntest.
+
+Als aber der Tag anbrach, ließ mich die Angst vor der Entdeckung und
+ein unabweisbares Gefühl von Reue nicht mehr in den Mauern von Florenz.
+Ich eilte nach Rom. Aber denke dir meine Bestürzung, als man dort nach
+einigen Tagen überall diese Geschichte erzählte mit dem Beisatz, man
+habe den Mörder, einen griechischen Arzt, gefangen. Ich kehrte in
+banger Besorgnis nach Florenz zurück; denn schien mir meine Rache schon
+vorher zu stark, so verfluchte ich sie jetzt, denn sie war mir durch
+dein Leben allzu teuer erkauft. Ich kam an demselben Tage an, der dich
+der Hand beraubte. Ich schweige von dem, was ich fühlte, als ich dich
+das Schafott besteigen und so heldenmütig leiden sah. Aber damals, als
+dein Blut in Strömen aufspritzte, war der Entschluß fest in mir, dir
+deine übrigen Lebenstage zu versüßen. Was weiter geschehen ist, weißt
+du, nur das bleibt mir noch zu sagen übrig, warum ich diese Reise mit
+dir machte.
+
+Als eine schwere Last drückte mich der Gedanke, daß du mir noch immer
+nicht vergeben habest; darum entschloß ich mich, viele Tage mit dir zu
+leben und dir endlich Rechenschaft abzulegen von dem, was ich mit dir
+getan.“
+
+Schweigend hatte der Grieche seinen Gast angehört; mit sanftem Blick
+bot er ihm, als er geendet hatte, seine Rechte. „Ich wußte wohl, daß du
+unglücklicher sein müßtest als ich, denn jene grausame Tat wird wie
+eine dunkle Wolke ewig deine Tage verfinstern; ich vergebe dir von
+Herzen. Aber erlaube mir noch eine Frage: Wie kommst du unter dieser
+Gestalt in die Wüste? Was fingst du an, nachdem du in Konstantinopel
+mir das Haus gekauft hattest?“
+
+„Ich ging nach Alessandria zurück“, antwortete der Gefragte. „Haß gegen
+alle Menschen tobte in meiner Brust, brennender Haß besonders gegen
+jene Nationen, die man die gebildeten nennt. Glaube mir, unter meinen
+Moslemiten war mir wohler! Kaum war ich einige Monate in Alessandria,
+als jene Landung meiner Landsleute erfolgte.
+
+Ich sah in ihnen nur die Henker meines Vaters und meines Bruders; darum
+sammelte ich einige gleichgesinnte junge Leute meiner Bekanntschaft und
+schloß mich jenen tapferen Mamelucken an, die so oft der Schrecken des
+französischen Heeres wurden. Als der Feldzug beendigt war, konnte ich
+mich nicht entschließen, zu den Künsten des Friedens zurückzukehren.
+Ich lebte mit einer kleinen Anzahl gleichdenkender Freunde ein unstetes
+und flüchtiges, dem Kampf und der Jagd geweihtes Leben; ich lebe
+zufrieden unter diesen Leuten, die mich wie ihren Fürsten ehren; denn
+wenn meine Asiaten auch nicht so gebildet sind wie Eure Europäer, so
+sind sie doch weit entfernt von Neid und Verleumdung, von Selbstsucht
+und Ehrgeiz.“
+
+Zaleukos dankte dem Fremden für seine Mitteilung, aber er verbarg ihm
+nicht, daß er es für seinen Stand, für seine Bildung angemessener
+fände, wenn er in christlichen, in europäischen Ländern leben und
+wirken würde. Er faßte seine Hand und bat ihn, mit ihm zu ziehen, bei
+ihm zu leben und zu sterben.
+
+Gerührt sah ihn der Gastfreund an. „Daraus erkenne ich“, sagte er, „daß
+du mir ganz vergeben hast, daß du mich liebst. Nimm meinen innigsten
+Dank dafür!“ Er sprang auf und stand in seiner ganzen Größe vor dem
+Griechen, dem vor dem kriegerischen Anstand, den dunkel blitzenden
+Augen, der tiefen Stimme seines Gastes beinahe graute. „Dein Vorschlag
+ist schön“, sprach jener weiter, „er möchte für jeden andern lockend
+sein—ich kann ihn nicht benützen. Schon steht mein Roß gesattelt,
+erwarten mich meine Diener; lebe wohl, Zaleukos!“ Die Freunde, die das
+Schicksal so wunderbar zusammengeführt, umarmten sich zum Abschied.
+„Und wie nenne ich dich? Wie heißt mein Gastfreund, der auf ewig in
+meinem Gedächtnis leben wird?“ fragte der Grieche.
+
+Der Fremde sah ihn lange an, drückte ihm noch einmal die Hand und
+sprach: „Man nennt mich den Herrn der Wüste; ich bin der Räuber
+Orbasan.“
+
+
+
+
+Kalif Storch
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Der Kalif Chasid zu Bagdad saß einmal an einem schönen Nachmittag
+behaglich auf seinem Sofa; er hatte ein wenig geschlafen, denn es war
+ein heißer Tag, und sah nun nach seinem Schläfchen recht heiter aus. Er
+rauchte aus einer langen Pfeife von Rosenholz, trank hier und da ein
+wenig Kaffee, den ihm ein Sklave einschenkte, und strich sich allemal
+vergnügt den Bart, wenn es ihm geschmeckt hatte. Kurz, man sah dem
+Kalifen an, daß es ihm recht wohl war. Um diese Stunde konnte man gar
+gut mit ihm reden, weil er da immer recht mild und leutselig war,
+deswegen besuchte ihn auch sein Großwesir Mansor alle Tage um diese
+Zeit. An diesem Nachmittage nun kam er auch, sah aber sehr nachdenklich
+aus, ganz gegen seine Gewohnheit. Der Kalif tat die Pfeife ein wenig
+aus dem Mund und sprach: „Warum machst du ein so nachdenkliches
+Gesicht, Großwesir?“
+
+Der Großwesir schlug seine Arme kreuzweis über die Brust, verneigte
+sich vor seinem Herrn und antwortete: „Herr, ob ich ein nachdenkliches
+Gesicht mache, weiß ich nicht, aber da drunten am Schloß steht ein
+Krämer, der hat so schöne Sachen, daß es mich ärgert, nicht viel
+überflüssiges Geld zu haben.“
+
+Der Kalif, der seinem Großwesir schon lange gerne eine Freude gemacht
+hätte, schickte seinen schwarzen Sklaven hinunter, um den Krämer
+heraufzuholen. Bald kam der Sklave mit dem Krämer zurück. Dieser war
+ein kleiner, dicker Mann, schwarzbraun im Gesicht und in zerlumptem
+Anzug. Er trug einen Kasten, in welchem er allerhand Waren hatte,
+Perlen und Ringe, reichbeschlagene Pistolen, Becher und Kämme. Der
+Kalif und sein Wesir musterten alles durch, und der Kalif kaufte
+endlich für sich und Mansor schöne Pistolen, für die Frau des Wesirs
+aber einen Kamm. Als der Krämer seinen Kasten schon wieder zumachen
+wollte, sah der Kalif eine kleine Schublade und fragte, ob da auch noch
+Waren seien. Der Krämer zog die Schublade heraus und zeigte darin eine
+Dose mit schwärzlichem Pulver und ein Papier mit sonderbarer Schrift,
+die weder der Kalif noch Mansor lesen konnte. „Ich bekam einmal diese
+zwei Stücke von einem Kaufmanne, der sie in Mekka auf der Straße fand“,
+sagte der Krämer, „Ich weiß nicht, was sie enthalten; euch stehen sie
+um geringen Preis zu Dienst, ich kann doch nichts damit anfangen.“
+
+Der Kalif, der in seiner Bibliothek gerne alte Manuskripte hatte, wenn
+er sie auch nicht lesen konnte, kaufte Schrift und Dose und entließ den
+Krämer. Der Kalif aber dachte, er möchte gerne wissen, was die Schrift
+enthalte, und, fragte den Wesir, ob er keinen kenne, der es entziffern
+könnte.
+
+„Gnädigster Herr und Gebieter“, antwortete dieser, „an der großen
+Moschee wohnt ein Mann, er heißt Selim, der Gelehrte, der versteht alle
+Sprachen, laß ihn kommen, vielleicht kennt er diese geheimnisvollen
+Züge.“
+
+Der Gelehrte Selim war bald herbeigeholt. „Selim“, sprach zu ihm der
+Kalif, „Selim, man sagt, du seiest sehr gelehrt; guck einmal ein wenig
+in diese Schrift, ob du sie lesen kannst; kannst du sie lesen, so
+bekommst du ein neues Festkleid von mir, kannst du es nicht, so
+bekommst du zwölf Backenstreiche und fünfundzwanzig auf die Fußsohlen,
+weil man dich dann umsonst Selim, den Gelehrten, nennt.“
+
+Selim verneigte sich und sprach: „Dein Wille geschehe, o Herr!“ Lange
+betrachtete er die Schrift, plötzlich aber rief er aus: „Das ist
+Lateinisch, o Herr, oder ich laß mich hängen.“ „Sag, was drinsteht“,
+befahl der Kalif, „wenn es Lateinisch ist.“
+
+Selim fing an zu übersetzen: „Mensch, der du dieses findest, preise
+Allah für seine Gnade. Wer von dem Pulver in dieser Dose schnupft und
+dazu spricht: mutabor, der kann sich in jedes Tier verwandeln und
+versteht auch die Sprache der Tiere.
+
+Will er wieder in seine menschliche Gestalt zurückkehren, so neige er
+sich dreimal gen Osten und spreche jenes Wort; aber hüte dich, wenn du
+verwandelt bist, daß du nicht lachest, sonst verschwindet das
+Zauberwort gänzlich aus deinem Gedächtnis, und du bleibst ein Tier.“
+
+Als Selim, der Gelehrte, also gelesen hatte, war der Kalif über die
+Maßen vergnügt. Er ließ den Gelehrten schwören, niemandem etwas von dem
+Geheimnis zu sagen, schenkte ihm ein schönes Kleid und entließ ihn. Zu
+seinem Großwesir aber sagte er: „Das heiß’ ich gut einkaufen, Mansor!
+Wie freue ich mich, bis ich ein Tier bin. Morgen früh kommst du zu mir;
+wir gehen dann miteinander aufs Feld, schnupfen etwas Weniges aus
+meiner Dose und belauschen dann, was in der Luft und im Wasser, im Wald
+und Feld gesprochen wird!“
+
+Kaum hatte am anderen Morgen der Kalif Chasid gefrühstückt und sich
+angekleidet, als schon der Großwesir erschien, ihn, wie er befohlen,
+auf dem Spaziergang zu begleiten. Der Kalif steckte die Dose mit dem
+Zauberpulver in den Gürtel, und nachdem er seinem Gefolge befohlen,
+zurückzubleiben, machte er sich mit dem Großwesir ganz allein auf den
+Weg. Sie gingen zuerst durch die weiten Gärten des Kalifen, spähten
+aber vergebens nach etwas Lebendigem, um ihr Kunststück zu probieren.
+Der Wesir schlug endlich vor, weiter hinaus an einen Teich zu gehen, wo
+er schon oft viele Tiere, namentlich Störche, gesehen habe, die durch
+ihr gravitätisches Wesen und ihr Geklapper immer seine Aufmerksamkeit
+erregt hatten.
+
+Der Kalif billigte den Vorschlag seines Wesirs und ging mit ihm dem
+Teich zu. Als sie dort angekommen waren, sahen sie einen Storch
+ernsthaft auf und ab gehen, Frösche suchend und hier und da etwas vor
+sich hinklappernd. Zugleich sahen sie auch weit oben in der Luft einen
+anderen Storch dieser Gegend zuschweben.
+
+„Ich wette meinen Bart, gnädigster Herr“, sagte der Großwesir, „wenn
+nicht diese zwei Langfüßler ein schönes Gespräch miteinander führen
+werden. Wie wäre es, wenn wir Störche würden?“
+
+„Wohl gesprochen!“ antwortete der Kalif. „Aber vorher wollen wir noch
+einmal betrachten, wie man wieder Mensch wird.—Richtig! Dreimal gen
+Osten geneigt und mutabor gesagt, so bin ich wieder Kalif und du Wesir.
+Aber nur um Himmels willen nicht gelacht, sonst sind wir verloren!“
+
+Während der Kalif also sprach, sah er den anderen Storch über ihrem
+Haupte schweben und langsam sich zur Erde lassen. Schnell zog er die
+Dose aus dem Gürtel, nahm eine gute Prise, bot sie dem Großwesir dar,
+der gleichfalls schnupfte, und beide riefen: mutabor!
+
+Da schrumpften ihre Beine ein und wurden dünn und rot, die schönen
+gelben Pantoffeln des Kalifen und seines Begleiters wurden unförmliche
+Storchfüße, die Arme wurden zu Flügeln, der Hals fuhr aus den Achseln
+und ward eine Elle lang, der Bart war verschwunden, und den Körper
+bedeckten weiche Federn.
+
+„Ihr habt einen hübschen Schnabel, Herr Großwesir“, sprach nach langem
+Erstaunen der Kalif. „Beim Bart des Propheten, so etwas habe ich in
+meinem Leben nicht gesehen.“ „Danke untertänigst“, erwiderte der
+Großwesir, indem er sich bückte, „aber wenn ich es wagen darf, möchte
+ich behaupten, Eure Hoheit sehen als Storch beinahe noch hübscher aus
+denn als Kalif. Aber kommt, wenn es Euch gefällig ist, daß wir unsere
+Kameraden dort belauschen und erfahren, ob wir wirklich Storchisch
+können.“
+
+Indem war der andere Storch auf der Erde angekommen; er putzte sich mit
+dem Schnabel seine Füße, legte seine Federn zurecht und ging auf den
+ersten Storch zu. Die beiden neuen Störche aber beeilten sich, in ihre
+Nähe zu kommen, und vernahmen zu ihrem Erstaunen folgendes Gespräch:
+
+„Guten Morgen, Frau Langbein, so früh schon auf der Wiese?“
+
+„Schönen Dank, liebe Klapperschnabel! Ich habe mir nur ein kleines
+Frühstück geholt. Ist Euch vielleicht ein Viertelchen Eidechs gefällig
+oder ein Froschschenkelein?“
+
+„Danke gehorsamst; habe heute gar keinen Appetit. Ich komme auch wegen
+etwas ganz anderem auf die Wiese. Ich soll heute vor den Gästen meines
+Vaters tanzen, und da will ich mich im stillen ein wenig üben.“
+
+Zugleich schritt die junge Störchin in wunderlichen Bewegungen durch
+das Feld. Der Kalif und Mansor sahen ihr verwundert nach; als sie aber
+in malerischer Stellung auf einem Fuß stand und mit den Flügeln anmutig
+dazu wedelte, da konnten sich die beiden nicht mehr halten; ein
+unaufhaltsames Gelächter brach aus ihren Schnäbeln hervor, von dem sie
+sich erst nach langer Zeit erholten. Der Kalif faßte sich zuerst
+wieder: „Das war einmal ein Spaß“, rief er, „der nicht mit Gold zu
+bezahlen ist; schade, daß die Tiere durch unser Gelächter sich haben
+verscheuchen lassen, sonst hätten sie gewiß auch noch gesungen!“
+
+Aber jetzt fiel es dem Großwesir ein, daß das Lachen während der
+Verwandlung verboten war. Er teilte seine Angst deswegen dem Kalifen
+mit. „Potz Mekka und Medina! Das wäre ein schlechter Spaß, wenn ich ein
+Storch bleiben müßte! Besinne dich doch auf das dumme Wort, ich bring’
+es nicht heraus.“
+
+„Dreimal gen Osten müssen wir uns bücken und dazu sprechen: mu—mu—mu—“
+
+Sie stellten sich gegen Osten und bückten sich in einem fort, daß ihre
+Schnäbel beinahe die Erde berührten; aber, o Jammer! Das Zauberwort war
+ihnen entfallen, und so oft sich auch der Kalif bückte, so sehnlich
+auch sein Wesir mu—mu dazu rief, jede Erinnerung daran war
+verschwunden, und der arme Chasid und sein Wesir waren und blieben
+Störche.
+
+Traurig wandelten die Verzauberten durch die Felder, sie wußten gar
+nicht, was sie in ihrem Elend anfangen sollten. Aus ihrer Storchenhaut
+konnten sie nicht heraus, in die Stadt zurück konnten sie auch nicht,
+um sich zu erkennen zu geben; denn wer hätte einem Storch geglaubt, daß
+er der Kalif sei, und wenn man es auch geglaubt hätte, würden die
+Einwohner von Bagdad einen Storch zum Kalif gewollt haben?
+
+So schlichen sie mehrere Tage umher und ernährten sich kümmerlich von
+Feldfrüchten, die sie aber wegen ihrer langen Schnäbel nicht gut
+verspeisen konnten. Auf Eidechsen und Frösche hatten sie übrigens
+keinen Appetit, denn sie befürchteten, mit solchen Leckerbissen sich
+den Magen zu verderben. Ihr einziges Vergnügen in dieser traurigen Lage
+war, daß sie fliegen konnten, und so flogen sie oft auf die Dächer von
+Bagdad, um zu sehen, was darin vorging.
+
+In den ersten Tagen bemerkten sie große Unruhe und Trauer in den
+Straßen; aber ungefähr am vierten Tag nach ihrer Verzauberung saßen sie
+auf dem Palast des Kalifen, da sahen sie unten in der Straße einen
+prächtigen Aufzug; Trommeln und Pfeifen ertönten, ein Mann in einem
+goldbestickten Scharlachmantel saß auf einem geschmückten Pferd,
+umgeben von glänzenden Dienern, halb Bagdad sprang ihm nach, und alle
+schrien: „Heil Mizra, dem Herrscher von Bagdad!“
+
+Da sahen die beiden Störche auf dem Dache des Palastes einander an, und
+der Kalif Chasid sprach: „Ahnst du jetzt, warum ich verzaubert bin,
+Großwesir? Dieser Mizra ist der Sohn meines Todfeindes, des mächtigen
+Zauberers Kaschnur, der mir in einer bösen Stunde Rache schwur. Aber
+noch gebe ich die Hoffnung nicht auf—Komm mit mir, du treuer Gefährte
+meines Elends, wir wollen zum Grabe des Propheten wandern, vielleicht,
+daß an heiliger Stätte der Zauber gelöst wird.“
+
+Sie erhoben sich vom Dach des Palastes und flogen der Gegend von Medina
+zu.
+
+Mit dem Fliegen wollte es aber nicht gar gut gehen; denn die beiden
+Störche hatten noch wenig Übung. „O Herr“, ächzte nach ein paar Stunden
+der Großwesir, „ich halte es mit Eurer Erlaubnis nicht mehr lange aus;
+Ihr fliegt gar zu schnell! Auch ist es schon Abend, und wir täten wohl,
+ein Unterkommen für die Nacht zu suchen.“
+
+Chasid gab der Bitte seines Dieners Gehör; und da er unten im Tale eine
+Ruine erblickte, die ein Obdach zu gewähren schien, so flogen sie
+dahin. Der Ort, wo sie sich für diese Nacht niedergelassen hatten,
+schien ehemals ein Schloß gewesen zu sein. Schöne Säulen ragten unter
+den Trümmern hervor, mehrere Gemächer, die noch ziemlich erhalten
+waren, zeugten von der ehemaligen Pracht des Hauses. Chasid und sein
+Begleiter gingen durch die Gänge umher, um sich ein trockenes Plätzchen
+zu suchen; plötzlich blieb der Storch Mansor stehen. „Herr und
+Gebieter“, flüsterte er leise, „wenn es nur nicht töricht für einen
+Großwesir, noch mehr aber für einen Storch wäre, sich vor Gespenstern
+zu fürchten! Mir ist ganz unheimlich zumute; denn hier neben hat es
+ganz vernehmlich geseufzt und gestöhnt.“ Der Kalif blieb nun auch
+stehen und hörte ganz deutlich ein leises Weinen, das eher einem
+Menschen als einem Tiere anzugehören schien. Voll Erwartung wollte er
+der Gegend zugehen, woher die Klagetöne kamen; der Wesir aber packte
+ihn mit dem Schnabel am Flügel und bat ihn flehentlich, sich nicht in
+neue, unbekannte Gefahren zu stürzen. Doch vergebens! Der Kalif, dem
+auch unter dem Storchenflügel ein tapferes Herz schlug, riß sich mit
+Verlust einiger Federn los und eilte in einen finsteren Gang. Bald war
+er an einer Tür angelangt, die nur angelehnt schien und woraus er
+deutliche Seufzer mit ein wenig Geheul vernahm. Er stieß mit dem
+Schnabel die Türe auf, blieb aber überrascht auf der Schwelle stehen.
+In dem verfallenen Gemach, das nur durch ein kleines Gitterfenster
+spärlich erleuchtet war, sah er eine große Nachteule am Boden sitzen.
+Dicke Tränen rollten ihr aus den großen, runden Augen, und mit heiserer
+Stimme stieß sie ihre Klagen zu dem krummen Schnabel heraus. Als sie
+aber den Kalifen und seinen Wesir, der indes auch herbeigeschlichen
+war, erblickte, erhob sie ein lautes Freudengeschrei. Zierlich wischte
+sie mit dem braungefleckten Flügel die Tränen aus dem Auge, und zu dem
+größten Erstaunen der beiden rief sie in gutem menschlichem Arabisch:
+„Willkommen, ihr Störche! Ihr seid mir ein gutes Zeichen meiner
+Errettung; denn durch Störche werde mir ein großes Glück kommen, ist
+mir einst prophezeit worden!“
+
+Als sich der Kalif von seinem Erstaunen erholt hatte, bückte er sich
+mit seinem langen Hals, brachte seine dünnen Füße in eine zierliche
+Stellung und sprach: „Nachteule! Deinen Worten nach darf ich glauben,
+eine Leidensgefährtin in dir zu sehen. Aber ach! Deine Hoffnung, daß
+durch uns deine Rettung kommen werde, ist vergeblich. Du wirst unsere
+Hilflosigkeit selbst erkennen, wenn du unsere Geschichte hörst.“ Die
+Nachteule bat ihn zu erzählen, was der Kalif sogleich tat.
+
+Als der Kalif der Eule seine Geschichte vorgetragen hatte, dankte sie
+ihm und sagte: „Vernimm auch meine Geschichte und höre, wie ich nicht
+weniger unglücklich bin als du. Mein Vater ist der König von Indien,
+ich, seine einzige unglückliche Tochter, heiße Lusa. Jener Zauberer
+Kaschnur, der euch verzauberte, hat auch mich ins Unglück gestürzt. Er
+kam eines Tages zu meinem Vater und begehrte mich zur Frau für seinen
+Sohn Mizra. Mein Vater aber, der ein hitziger Mann ist, ließ ihn die
+Treppe hinunterwerfen. Der Elende wußte sich unter einer anderen
+Gestalt wieder in meine Nähe zu schleichen, und als ich einst in meinem
+Garten Erfrischungen zu mir nehmen wollte, brachte er mir, als Sklave
+verkleidet, einen Trank bei, der mich in diese abscheuliche Gestalt
+verwandelte. Vor Schrecken ohnmächtig, brachte er mich hierher und rief
+mir mit schrecklicher Stimme in die Ohren:
+
+,Da sollst du bleiben, häßlich, selbst von den Tieren verachtet, bis an
+dein Ende, oder bis einer aus freiem Willen dich, selbst in dieser
+schrecklichen Gestalt, zur Gattin begehrt. So räche ich mich an dir und
+deinem stolzen Vater.‘
+
+Seitdem sind viele Monate verflossen. Einsam und traurig lebe ich als
+Einsiedlerin in diesem Gemäuer, verabscheut von der Welt, selbst den
+Tieren ein Greuel; die schöne Natur ist vor mir verschlossen; denn ich
+bin blind am Tage, und nur, wenn der Mond sein bleiches Licht über dies
+Gemäuer ausgießt, fällt der verhüllende Schleier von meinem Auge.“
+
+Die Eule hatte geendet und wischte sich mit dem Flügel wieder die Augen
+aus, denn die Erzählung ihrer Leiden hatte ihr Tränen entlockt.
+
+Der Kalif war bei der Erzählung der Prinzessin in tiefes Nachdenken
+versunken. „Wenn mich nicht alles täuscht“, sprach er, „so findet
+zwischen unserem Unglück ein geheimer Zusammenhang statt; aber wo finde
+ich den Schlüssel zu diesem Rätsel?“
+
+Die Eule antwortete ihm: „O Herr! Auch mir ahnet dies; denn es ist mir
+einst in meiner frühesten Jugend von einer weisen Frau prophezeit
+worden, daß ein Storch mir ein großes Glück bringen werde, und ich
+wüßte vielleicht, wie wir uns retten könnten.“ Der Kalif war sehr
+erstaunt und fragte, auf welchem Wege sie meine. „Der Zauberer, der uns
+beide unglücklich gemacht hat“, sagte sie, „kommt alle Monate einmal in
+diese Ruinen. Nicht weit von diesem Gemach ist ein Saal. Dort pflegt er
+dann mit vielen Genossen zu schmausen. Schon oft habe ich sie dort
+belauscht. Sie erzählen dann einander ihre schändlichen Werke;
+vielleicht, daß er dann das Zauberwort, das ihr vergessen habt,
+ausspricht.“
+
+„O, teuerste Prinzessin“, rief der Kalif, „sag an, wann kommt er, und
+wo ist der Saal?“
+
+Die Eule schwieg einen Augenblick und sprach dann: „Nehmet es nicht
+ungütig, aber nur unter einer Bedingung kann ich Euern Wunsch
+erfüllen.“
+
+„Sprich aus! Sprich aus!“ schrie Chasid. „Befiehl, es ist mir jede
+recht.“
+
+„Nämlich, ich möchte auch gern zugleich frei sein; dies kann aber nur
+geschehen, wenn einer von euch mir seine Hand reicht.“
+
+Die Störche schienen über den Antrag etwas betroffen zu sein, und der
+Kalif winkte seinem Diener, ein wenig mit ihm hinauszugehen.
+
+„Großwesir“, sprach vor der Türe der Kalif, „das ist ein dummer Handel;
+aber Ihr könntet sie schon nehmen.“
+
+„So“, antwortete dieser, „daß mir meine Frau, wenn ich nach Hause
+komme, die Augen auskratzt? Auch bin ich ein alter Mann, und Ihr seid
+noch jung und unverheiratet und könnet eher einer jungen, schönen
+Prinzessin die Hand geben.“
+
+„Das ist es eben“, seufzte der Kalif, indem er traurig die Flügel
+hängen ließ, „wer sagt dir denn, daß sie jung und schön ist? Das heißt
+eine Katze im Sack kaufen!“
+
+Sie redeten einander gegenseitig noch lange zu; endlich aber, als der
+Kalif sah, daß sein Wesir lieber Storch bleiben als die Eule heiraten
+wollte, entschloß er sich, die Bedingung lieber selbst zu erfüllen. Die
+Eule war hocherfreut. Sie gestand ihnen, daß sie zu keiner besseren
+Zeit hätten kommen können, weil wahrscheinlich in dieser Nacht die
+Zauberer sich versammeln würden.
+
+Sie verließ mit den Störchen das Gemach, um sie in jenen Saal zu
+führen; sie gingen lange in einem finsteren Gang hin; endlich strahlte
+ihnen aus einer halbverfallenen Mauer ein heller Schein entgegen. Als
+sie dort angelangt waren, riet ihnen die Eule, sich ganz ruhig zu
+verhalten. Sie konnten von der Lücke, an welcher sie standen, einen
+großen Saal übersehen. Er war ringsum mit Säulen geschmückt und
+prachtvoll verziert. Viele farbige Lampen ersetzten das Licht des
+Tages. In der Mitte des Saales stand ein runder Tisch, mit vielen und
+ausgesuchten Speisen besetzt. Rings um den Tisch zog sich ein Sofa, auf
+welchem acht Männer saßen. In einem dieser Männer erkannten die Störche
+jenen Krämer wieder, der ihnen das Zauberpulver verkauft hatte. Sein
+Nebensitzer forderte ihn auf, ihnen seine neuesten Taten zu erzählen.
+Er erzählte unter anderen auch die Geschichte des Kalifen und seines
+Wesirs.
+
+„Was für ein Wort hast du ihnen denn aufgegeben?“ fragte ihn ein
+anderer Zauberer. „Ein recht schweres lateinisches, es heißt mutabor.“
+
+Als die Störche an der Mauerlücke dieses hörten, kamen sie vor Freuden
+beinahe außer sich. Sie liefen auf ihren langen Füßen so schnell dem
+Tore der Ruine zu, daß die Eule kaum folgen konnte. Dort sprach der
+Kalif gerührt zu der Eule: „Retterin meines Lebens und des Lebens
+meines Freundes, nimm zum ewigen Dank für das, was du an uns getan,
+mich zum Gemahl an!“ Dann aber wandte er sich nach Osten. Dreimal
+bückten die Störche ihre langen Hälse der Sonne entgegen, die soeben
+hinter dem Gebirge heraufstieg: „Mutabor!“ riefen sie, im Nu waren sie
+verwandelt, und in der hohen Freude des neugeschenkten Lebens lagen
+Herr und Diener lachend und weinend einander in den Armen.
+
+Wer beschreibt aber ihr Erstaunen, als sie sich umsahen? Eine schöne
+Dame, herrlich geschmückt, stand vor ihnen. Lächelnd gab sie dem
+Kalifen die Hand. „Erkennt Ihr Eure Nachteule nicht mehr?“ sagte sie.
+Sie war es; der Kalif war von ihrer Schönheit und Anmut entzückt.
+
+Die drei zogen nun miteinander auf Bagdad zu. Der Kalif fand in seinen
+Kleidern nicht nur die Dose mit Zauberpulver, sondern auch seinen
+Geldbeutel. Er kaufte daher im nächsten Dorfe, was zu ihrer Reise nötig
+war, und so kamen sie bald an die Tore von Bagdad. Dort aber erregte
+die Ankunft des Kalifen großes Erstaunen. Man hatte ihn für tot
+ausgegeben, und das Volk war daher hocherfreut, seinen geliebten
+Herrscher wiederzuhaben.
+
+Um so mehr aber entbrannte ihr Haß gegen den Betrüger Mizra. Sie zogen
+in den Palast und nahmen den alten Zauberer und seinen Sohn gefangen.
+Den Alten schickte der Kalif in dasselbe Gemach der Ruine, das die
+Prinzessin als Eule bewohnt hatte, und ließ ihn dort aufhängen. Dem
+Sohn aber, welcher nichts von den Künsten des Vaters verstand, ließ der
+Kalif die Wahl, ob er sterben oder schnupfen wolle. Als er das letztere
+wählte, bot ihm der Großwesir die Dose. Eine tüchtige Prise, und das
+Zauberwort des Kalifen verwandelte ihn in einen Storch. Der Kalif ließ
+ihn in einen eisernen Käfig sperren und in seinem Garten aufstellen.
+
+Lange und vergnügt lebte Kalif Chasid mit seiner Frau, der Prinzessin;
+seine vergnügtesten Stunden waren immer die, wenn ihn der Großwesir
+nachmittags besuchte; da sprachen sie dann oft von ihrem
+Storchabenteuer, und wenn der Kalif recht heiter war, ließ er sich
+herab, den Großwesir nachzuahmen, wie er als Storch aussah. Er stieg
+dann ernsthaft, mit steifen Füßen im Zimmer auf und ab, klapperte,
+wedelte mit den Armen wie mit Flügeln und zeigte, wie jener sich
+vergeblich nach Osten geneigt und Mu—Mu—dazu gerufen habe. Für die Frau
+Kalifin und ihre Kinder war diese Vorstellung allemal eine große
+Freude; wenn aber der Kalif gar zu lange klapperte und nickte und
+Mu—Mu—schrie, dann drohte ihm lächelnd der Wesir: Er wolle das, was vor
+der Türe der Prinzessin Nachteule verhandelt worden sei, der Frau
+Kalifin mitteilen.
+
+Als Selim Baruch seine Geschichte beendet hatte, bezeugten sich die
+Kaufleute sehr zufrieden damit. „Wahrhaftig, der Nachmittag ist uns
+vergangen, ohne daß wir merkten wie!“ sagte einer derselben, indem er
+die Decke des Zeltes zurückschlug. „Der Abendwind wehet kühl, und wir
+könnten noch eine gute Strecke Weges zurücklegen.“ Seine Gefährten
+waren damit einverstanden, die Zelte wurden abgebrochen, und die
+Karawane machte sich in der nämlichen Ordnung, in welcher sie
+herangezogen war, auf den Weg.
+
+Sie ritten beinahe die ganze Nacht hindurch, denn es war schwül am
+Tage, die Nacht aber war erquicklich und sternhell. Sie kamen endlich
+an einem bequemen Lagerplatz an, schlugen die Zelte auf und legten sich
+zur Ruhe. Für den Fremden aber sorgten die Kaufleute, wie wenn er ihr
+wertester Gastfreund wäre. Der eine gab ihm Polster, der andere Decken,
+ein dritter gab ihm Sklaven, kurz, er wurde so gut bedient, als ob er
+zu Hause wäre. Die heißeren Stunden des Tages waren schon
+heraufgekommen, als sie sich wieder erhoben, und sie beschlossen
+einmütig, hier den Abend abzuwarten. Nachdem sie miteinander gespeist
+hatten, rückten sie wieder näher zusammen, und der junge Kaufmann
+wandte sich an den ältesten und sprach: „Selim Baruch hat uns gestern
+einen vergnügten Nachmittag bereitet, wie wäre es, Achmet, wenn Ihr uns
+auch etwas erzähltet, sei es nun aus Eurem langen Leben, das wohl viele
+Abenteuer aufzuweisen hat, oder sei es auch ein hübsches Märchen.“
+Achmet schwieg auf diese Anrede eine Zeitlang, wie wenn er bei sich im
+Zweifel wäre, ob er dies oder jenes sagen sollte oder nicht; endlich
+fing er an zu sprechen:
+
+„Liebe Freunde! Ihr habt euch auf dieser unserer Reise als treue
+Gesellen erprobt, und auch Selim verdient mein Vertrauen; daher will
+ich euch etwas aus meinem Leben mitteilen, das ich sonst ungern und
+nicht jedem erzähle: die Geschichte von dem Gespensterschiff.“
+
+
+
+
+Die Geschichte von dem Gespensterschiff
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Mein Vater hatte einen kleinen Laden in Balsora; er war weder arm noch
+reich und einer von jenen Leuten, die nicht gerne etwas wagen, aus
+Furcht, das Wenige zu verlieren, das sie haben. Er erzog mich schlicht
+und recht und brachte es bald so weit, daß ich ihm an die Hand gehen
+konnte. Gerade als ich achtzehn Jahre alt war, als er die erste größere
+Spekulation machte, starb er, wahrscheinlich aus Gram, tausend
+Goldstücke dem Meere anvertraut zu haben. Ich mußte ihn bald nachher
+wegen seines Todes glücklich preisen, denn wenige Wochen hernach lief
+die Nachricht ein, daß das Schiff, dem mein Vater seine Güter
+mitgegeben hatte, versunken sei. Meinen jugendlichen Mut konnte aber
+dieser Unfall nicht beugen. Ich machte alles vollends zu Geld, was mein
+Vater hinterlassen hatte, und zog aus, um in der Fremde mein Glück zu
+probieren, nur von einem alten Diener meines Vaters begleitet.
+
+Im Hafen von Balsora schifften wir uns mit günstigem Winde ein. Das
+Schiff, auf dem ich mich eingemietet hatte, war nach Indien bestimmt.
+Wir waren schon fünfzehn Tage auf der gewöhnlichen Straße gefahren, als
+uns der Kapitän einen Sturm verkündete. Er machte ein bedenkliches
+Gesicht, denn es schien, er kenne in dieser Gegend das Fahrwasser nicht
+genug, um einem Sturm mit Ruhe begegnen zu können. Er ließ alle Segel
+einziehen, und wir trieben ganz langsam hin. Die Nacht war angebrochen,
+war hell und kalt, und der Kapitän glaubte schon, sich in den Anzeichen
+des Sturmes getäuscht zu haben. Auf einmal schwebte ein Schiff, das wir
+vorher nicht gesehen hatten, dicht an dem unsrigen vorbei. Wildes
+Jauchzen und Geschrei erscholl aus dem Verdeck herüber, worüber ich
+mich zu dieser angstvollen Stunde vor einem Sturm nicht wenig wunderte.
+Aber der Kapitän an meiner Seite wurde blaß wie der Tod. „Mein Schiff
+ist verloren“, rief er, „dort segelt der Tod!“
+
+Ehe ich ihn noch über diesen sonderbaren Ausruf befragen konnte,
+stürzten schon heulend und schreiend die Matrosen herein. „Habt ihr ihn
+gesehen?“ schrien sie. „Jetzt ist’s mit uns vorbei!“
+
+Der Kapitän aber ließ Trostsprüche aus dem Koran vorlesen und setzte
+sich selbst ans Steuerruder. Aber vergebens! Zusehends brauste der
+Sturm auf, und ehe eine Stunde verging, krachte das Schiff und blieb
+sitzen. Die Boote wurden ausgesetzt, und kaum hatten sich die letzten
+Matrosen gerettet, so versank das Schiff vor unseren Augen, und als ein
+Bettler fuhr ich in die See hinaus. Aber der Jammer hatte noch kein
+Ende. Fürchterlicher tobte der Sturm; das Boot war nicht mehr zu
+regieren. Ich hatte meinen alten Diener fest umschlungen, und wir
+versprachen uns, nie voneinander zu weichen. Endlich brach der Tag an.
+Aber mit dem ersten Anblick der Morgenröte faßte der Wind das Boot, in
+welchem wir saßen, und stürzte es um. Ich habe keinen meiner
+Schiffsleute mehr gesehen. Der Sturz hatte mich betäubt; und als ich
+aufwachte, befand ich mich in den Armen meines alten treuen Dieners,
+der sich auf das umgeschlagene Boot gerettet und mich nachgezogen
+hatte. Der Sturm hatte sich gelegt. Von unserem Schiff war nichts mehr
+zu sehen, wohl aber entdeckten wir nicht weit von uns ein anderes
+Schiff, auf das die Wellen uns hintrieben. Als wir näher hinzukamen,
+erkannte ich das Schiff als dasselbe, das in der Nacht an uns
+vorbeifuhr und welches den Kapitän so sehr in Schrecken gesetzt hatte.
+Ich empfand ein sonderbares Grauen vor diesem Schiffe. Die Äußerung des
+Kapitäns, die sich so furchtbar bestätigt hatte, das öde Aussehen des
+Schiffes, auf dem sich, so nahe wir auch herankamen, so laut wir
+schrien, niemand zeigte, erschreckten mich. Doch es war unser einziges
+Rettungsmittel; darum priesen wir den Propheten, der uns so wundervoll
+erhalten hatte.
+
+Am Vorderteil des Schiffes hing ein langes Tau herab. Mit Händen und
+Füßen ruderten wir darauf zu, um es zu erfassen. Endlich glückte es.
+Noch einmal erhob ich meine Stimme, aber immer blieb es still auf dem
+Schiff. Da klimmten wir an dem Tau hinauf, ich als der Jüngste voran.
+Aber Entsetzen! Welches Schauspiel stellte sich meinem Auge dar, als
+ich das Verdeck betrat! Der Boden war mit Blut gerötet, zwanzig bis
+dreißig Leichname in türkischen Kleidern lagen auf dem Boden, am
+mittleren Mastbaum stand ein Mann, reich gekleidet, den Säbel in der
+Hand, aber das Gesicht war blaß und verzerrt, durch die Stirn ging ein
+großer Nagel, der ihn an den Mastbaum heftete, auch er war tot.
+Schrecken fesselte meine Schritte, ich wagte kaum zu atmen. Endlich war
+auch mein Begleiter heraufgekommen. Auch ihn überraschte der Anblick
+des Verdecks, das gar nichts Lebendiges, sondern nur so viele
+schreckliche Tote zeigte. Wir wagten es endlich, nachdem wir in der
+Seelenangst zum Propheten gefleht hatten, weiter vorzuschreiten. Bei
+jedem Schritte sahen wir uns um, ob nicht etwas Neues, noch
+Schrecklicheres sich darbiete; aber alles blieb, wie es war; weit und
+breit nichts Lebendiges als wir und das Weltmeer. Nicht einmal laut zu
+sprechen wagten wir, aus Furcht, der tote, am Mast angespießte Kapitano
+möchte seine starren Augen nach uns hindrehen oder einer der Getöteten
+möchte seinen Kopf umwenden. Endlich waren wir bis an eine Treppe
+gekommen, die in den Schiffsraum führte. Unwillkürlich machten wir dort
+halt und sahen einander an, denn keiner wagte es recht, seine Gedanken
+zu äußern.
+
+„O Herr“, sprach mein treuer Diener, „hier ist etwas Schreckliches
+geschehen. Doch wenn auch das Schiff da unten voll Mörder steckt, so
+will ich mich ihnen doch lieber auf Gnade und Ungnade ergeben, als
+längere Zeit unter diesen Toten zubringen.“ Ich dachte wie er; wir
+faßten uns ein Herz und stiegen voll Erwartung hinunter. Totenstille
+war aber auch hier, und nur unsere Schritte hallten auf der Treppe. Wir
+standen an der Türe der Kajüte. Ich legte mein Ohr an die Türe und
+lauschte; es war nichts zu hören. Ich machte auf. Das Gemach bot einen
+unordentlichen Anblick dar. Kleider, Waffen und andere Geräte lagen
+untereinander. Nichts in Ordnung. Die Mannschaft oder wenigstens der
+Kapitano mußten vor kurzem gezechet haben; denn es lag alles noch
+umher. Wir gingen weiter von Raum zu Raum, von Gemach zu Gemach,
+überall fanden wir herrliche Vorräte in Seide, Perlen, Zucker usw. Ich
+war vor Freude über diesen Anblick außer mir, denn da niemand auf dem
+Schiff war, glaubte ich, alles mir zueignen zu dürfen, Ibrahim aber
+machte mich aufmerksam darauf, daß wir wahrscheinlich noch sehr weit
+vom Lande seien, wohin wir allein und ohne menschliche Hilfe nicht
+kommen könnten.
+
+Wir labten uns an den Speisen und Getränken, die wir in reichem Maß
+vorfanden, und stiegen endlich wieder aufs Verdeck. Aber hier
+schauderte uns immer die Haut ob dem schrecklichen Anblick der Leichen.
+Wir beschlossen, uns davon zu befreien und sie über Bord zu werfen;
+aber wie schauerlich ward uns zumut, als wir fanden, daß sich keiner
+aus seiner Lage bewegen ließ. Wie festgebannt lagen sie am Boden, und
+man hätte den Boden des Verdecks ausheben müssen, um sie zu entfernen,
+und dazu gebrach es uns an Werkzeugen. Auch der Kapitano ließ sich
+nicht von seinem Mast losmachen; nicht einmal seinen Säbel konnten wir
+der starren Hand entwinden. Wir brachten den Tag in trauriger
+Betrachtung unserer Lage zu, und als es Nacht zu werden anfing,
+erlaubte ich dem alten Ibrahim, sich schlafen zu legen, ich selbst aber
+wollte auf dem Verdeck wachen, um nach Rettung auszuspähen. Als aber
+der Mond heraufkam und ich nach den Gestirnen berechnete, daß es wohl
+um die elfte Stunde sei, überfiel mich ein so unwiderstehlicher Schlaf,
+daß ich unwillkürlich hinter ein Faß, das auf dem Verdeck stand,
+zurückfiel. Doch war es mehr Betäubung als Schlaf, denn ich hörte
+deutlich die See an der Seite des Schiffes anschlagen und die Segel vom
+Winde knarren und pfeifen. Auf einmal glaubte ich Stimmen und
+Männertritte auf dem Verdeck zu hören. Ich wollte mich aufrichten, um
+danach zu schauen. Aber eine unsichtbare Gewalt hielt meine Glieder
+gefesselt; nicht einmal die Augen konnte ich aufschlagen. Aber immer
+deutlicher wurden die Stimmen, es war mir, als wenn ein fröhliches
+Schiffsvolk auf dem Verdeck sich umhertriebe; mitunter glaubte ich, die
+kräftige Stimme eines Befehlenden zu hören, auch hörte ich Taue und
+Segel deutlich auf- und abziehen. Nach und nach aber schwanden mir die
+Sinne, ich verfiel in einen tieferen Schlaf, in dem ich nur noch ein
+Geräusch von Waffen zu hören glaubte, und erwachte erst, als die Sonne
+schon hoch stand und mir aufs Gesicht brannte. Verwundert schaute ich
+mich um, Sturm, Schiff, die Toten und was ich in dieser Nacht gehört
+hatte, kam mir wie ein Traum vor, aber als ich aufblickte, fand ich
+alles wie gestern. Unbeweglich lagen die Toten, unbeweglich war der
+Kapitano an den Mastbaum geheftet. Ich lachte über meinen Traum und
+stand auf, um meinen Alten zu suchen.
+
+Dieser saß ganz nachdenklich in der Kajüte. „O Herr!“ rief er aus, als
+ich zu ihm hineintrat, „ich wollte lieber im tiefsten Grund des Meeres
+liegen, als in diesem verhexten Schiff noch eine Nacht zubringen.“ Ich
+fragte ihn nach der Ursache seines Kummers, und er antwortete mir: „Als
+ich einige Stunden geschlafen hatte, wachte ich auf und vernahm, wie
+man über meinem Haupt hin und her lief. Ich dachte zuerst, Ihr wäret
+es, aber es waren wenigstens zwanzig, die oben umherliefen; auch hörte
+ich rufen und schreien. Endlich kamen schwere Tritte die Treppe herab.
+Da wußte ich nichts mehr von mir, nur hie und da kehrte auf einige
+Augenblicke meine Besinnung zurück, und da sah ich dann denselben Mann,
+der oben am Mast angenagelt ist, an jenem Tisch dort sitzen, singend
+und trinkend; aber der, der in einem roten Scharlachkleid nicht weit
+von ihm am Boden liegt, saß neben ihm und half ihm trinken.“ Also
+erzählte mir mein alter Diener.
+
+Ihr könnt mir es glauben, meine Freunde, daß mir gar nicht wohl zumute
+war; denn es war keine Täuschung, ich hatte ja auch die Toten gar wohl
+gehört. In solcher Gesellschaft zu schiffen, war mir greulich. Mein
+Ibrahim aber versank wieder in tiefes Nachdenken. „Jetzt hab’ ich’s!“
+rief er endlich aus; es fiel ihm nämlich ein Sprüchlein ein, das ihn
+sein Großvater, ein erfahrener, weitgereister Mann, gelehrt hatte und
+das gegen jeden Geister- und Zauberspuk helfen sollte; auch behauptete
+er, jenen unnatürlichen Schlaf, der uns befiel, in der nächsten Nacht
+verhindern zu können, wenn wir nämlich recht eifrig Sprüche aus dem
+Koran beteten. Der Vorschlag des alten Mannes gefiel mir wohl. In
+banger Erwartung sahen wir die Nacht herankommen. Neben der Kajüte war
+ein kleines Kämmerchen, dorthin beschlossen wir uns zurückzuziehen. Wir
+bohrten mehrere Löcher in die Türe, hinlänglich groß, um durch sie die
+ganze Kajüte zu überschauen, dann verschlossen wir die Türe, so gut es
+ging, von innen, und Ibrahim schrieb den Namen des Propheten in alle
+vier Ecken. So erwarteten wir die Schrecken der Nacht. Es mochte wieder
+ungefähr elf Uhr sein, als es mich gewaltig zu schläfern anfing. Mein
+Gefährte riet mir daher, einige Sprüche des Korans zu beten, was mir
+auch half. Mit einem Male schien es oben lebhaft zu werden; die Taue
+knarrten, Schritte gingen über das Verdeck, und mehrere Stimmen waren
+deutlich zu unterscheiden—Mehrere Minuten hatten wir so in gespannter
+Erwartung gesessen, da hörten wir etwas die Treppe der Kajüte
+herabkommen. Als dies der Alte hörte, fing er an, den Spruch, den ihn
+sein Großvater gegen Spuk und Zauberei gelehrt hatte, herzusagen:
+
+„Kommt ihr herab aus der Luft,
+Steigt ihr aus tiefem Meer,
+Schlieft ihr in dunkler Gruft,
+Stammt ihr vom Feuer her:
+Allah ist euer Herr und Meister,
+ihm sind gehorsam alle Geister.“
+
+
+Ich muß gestehen, ich glaubte gar nicht recht an diesen Spruch, und mir
+stieg das Haar zu Berg, als die Tür aufflog. Herein trat jener große,
+stattliche Mann, den ich am Mastbaum angenagelt gesehen hatte. Der
+Nagel ging ihm auch jetzt mitten durchs Hirn; das Schwert aber hatte er
+in die Scheide gesteckt; hinter ihm trat noch ein anderer herein,
+weniger kostbar gekleidet; auch ihn hatte ich oben liegen sehen. Der
+Kapitano, denn dies war er unverkennbar, hatte ein bleiches Gesicht,
+einen großen, schwarzen Bart, wildrollende Augen, mit denen er sich im
+ganzen Gemach umsah. Ich konnte ihn ganz deutlich sehen, als er an
+unserer Türe vorüberging; er aber schien gar nicht auf die Türe zu
+achten, die uns verbarg. Beide setzten sich an den Tisch, der in der
+Mitte der Kajüte stand, und sprachen laut und fast schreiend
+miteinander in einer unbekannten Sprache. Sie wurden immer lauter und
+eifriger, bis endlich der Kapitano mit geballter Faust auf den Tisch
+hineinschlug, daß das Zimmer dröhnte. Mit wildem Gelächter sprang der
+andere auf und winkte dem Kapitano, ihm zu folgen. Dieser stand auf,
+riß seinen Säbel aus der Scheide, und beide verließen das Gemach. Wir
+atmeten freier, als sie weg waren; aber unsere Angst hatte noch lange
+kein Ende. Immer lauter und lauter ward es auf dem Verdeck. Man hörte
+eilends hin und her laufen und schreien, lachen und heulen. Endlich
+ging ein wahrhaft höllischer Lärm los, so daß wir glaubten, das Verdeck
+mit allen Segeln komme zu uns herab, Waffengeklirr und Geschrei—auf
+einmal aber tiefe Stille. Als wir es nach vielen Stunden wagten
+hinaufzugehen, trafen wir alles wie sonst; nicht einer lag anders als
+früher. Alle waren steif wie Holz.
+
+So waren wir mehrere Tage auf dem Schiffe; es ging immer nach Osten,
+wohin zu, nach meiner Berechnung, Land liegen mußte; aber wenn es auch
+bei Tag viele Meilen zurückgelegt hatte, bei Nacht schien es immer
+wieder zurückzukehren, denn wir befanden uns immer wieder am nämlichen
+Fleck, wenn die Sonne aufging. Wir konnten uns dies nicht anders
+erklären, als daß die Toten jede Nacht mit vollem Winde zurücksegelten.
+Um nun dies zu verhüten, zogen wir, ehe es Nacht wurde, alle Segel ein
+und wandten dasselbe Mittel an wie bei der Türe in der Kajüte; wir
+schrieben den Namen des Propheten auf Pergament und auch das Sprüchlein
+des Großvaters dazu und banden es um die eingezogenen Segel. Ängstlich
+warteten wir in unserem Kämmerchen den Erfolg ab. Der Spuk schien
+diesmal noch ärger zu toben, aber siehe, am anderen Morgen waren die
+Segel noch aufgerollt, wie wir sie verlassen hatten. Wir spannten den
+Tag über nur so viele Segel auf, als nötig waren, das Schiff sanft
+fortzutreiben, und so legten wir in fünf Tagen eine gute Strecke
+zurück.
+
+Endlich, am Morgen des sechsten Tages, entdeckten wir in geringer Ferne
+Land, und wir dankten Allah und seinem Propheten für unsere wunderbare
+Rettung. Diesen Tag und die folgende Nacht trieben wir an einer Küste
+hin, und am siebenten Morgen glaubten wir in geringer Entfernung eine
+Stadt zu entdecken; wir ließen mit vieler Mühe einen Anker in die See,
+der alsobald Grund faßte, setzten ein kleines Boot, das auf dem Verdeck
+stand, aus und ruderten mit aller Macht der Stadt zu. Nach einer halben
+Stunde liefen wir in einen Fluß ein, der sich in die See ergoß, und
+stiegen ans Ufer. Am Stadttor erkundigten wir uns, wie die Stadt heiße,
+und erfuhren, daß es eine indische Stadt sei, nicht weit von der
+Gegend, wohin ich zuerst zu schiffen willens war. Wir begaben uns in
+eine Karawanserei und erfrischten uns von unserer abenteuerlichen
+Reise. Ich forschte daselbst auch nach einem weisen und verständigen
+Manne, indem ich dem Wirt zu verstehen gab, daß ich einen solchen haben
+möchte, der sich ein wenig auf Zauberei verstehe. Er führte mich in
+eine abgelegene Straße, an ein unscheinbares Haus, pochte an, und man
+ließ mich eintreten mit der Weisung, ich solle nur nach Muley fragen.
+
+In dem Hause kam mir ein altes Männlein mit grauem Bart und langer Nase
+entgegen und fragte nach meinem Begehr. Ich sagte ihm, ich suche den
+weisen Muley, und er antwortete mir, er sei es selbst. Ich fragte ihn
+nun um Rat, was ich mit den Toten machen solle und wie ich es angreifen
+müsse, um sie aus dem Schiff zu bringen. Er antwortete mir, die Leute
+des Schiffes seien wahrscheinlich wegen irgendeines Frevels auf das
+Meer verzaubert; er glaube, der Zauber werde sich lösen, wenn man sie
+ans Land bringe; dies könne aber nicht geschehen, als wenn man die
+Bretter, auf denen sie lägen, losmache. Mir gehöre von Gott und Rechts
+wegen das Schiff samt allen Gütern, weil ich es gleichsam gefunden
+habe; doch solle ich alles sehr geheimzuhalten trachten und ihm ein
+kleines Geschenk von meinem Überfluß machen; er wolle dafür mit seinen
+Sklaven mir behilflich sein, die Toten wegzuschaffen. Ich versprach,
+ihn reichlich zu belohnen, und wir machten uns mit fünf Sklaven, die
+mit Sägen und Beilen versehen waren, auf den Weg. Unterwegs konnte der
+Zauberer Muley unseren glücklichen Einfall, die Segel mit den Sprüchen
+des Korans zu umwinden, nicht genug loben. Er sagte, es sei dies das
+einzige Mittel gewesen, uns zu retten.
+
+Es war noch ziemlich früh am Tage, als wir beim Schiff ankamen. Wir
+machten uns alle sogleich ans Werk, und in einer Stunde lagen schon
+vier in dem Nachen. Einige der Sklaven mußten sie an Land rudern, um
+sie dort zu verscharren. Sie erzählten, als sie zurückkamen, die Toten
+hätten ihnen die Mühe des Begrabens erspart, indem sie, sowie man sie
+auf die Erde gelegt habe, in Staub zerfallen seien. Wir fuhren fort,
+die Toten abzusägen, und bis vor Abend waren alle an Land gebracht. Es
+war endlich keiner mehr an Bord als der, welcher am Mast angenagelt
+war. Umsonst suchten wir den Nagel aus dem Holze zu ziehen, keine
+Gewalt vermochte ihn auch nur ein Haarbreit zu verrücken. Ich wußte
+nicht, was anzufangen war; man konnte doch nicht den Mastbaum abhauen,
+um ihn ans Land zu führen. Doch aus dieser Verlegenheit half Muley. Er
+ließ schnell einen Sklaven an Land rudern, um einen Topf mit Erde zu
+bringen. Als dieser herbeigeholt war, sprach der Zauberer
+geheimnisvolle Worte darüber aus und schüttete die Erde auf das Haupt
+des Toten. Sogleich schlug dieser die Augen auf, holte tief Atem, und
+die Wunde des Nagels in seiner Stirne fing an zu bluten. Wir zogen den
+Nagel jetzt leicht heraus, und der Verwundete fiel einem Sklaven in die
+Arme.
+
+„Wer hat mich hierhergeführt?“ sprach er, nachdem er sich ein wenig
+erholt zu haben schien. Muley zeigte auf mich, und ich trat zu ihm.
+„Dank dir, unbekannter Fremdling, du hast mich von langen Qualen
+errettet. Seit fünfzig Jahren schifft mein Leib durch diese Wogen, und
+mein Geist war verdammt, jede Nacht in ihn zurückzukehren. Aber jetzt
+hat mein Haupt die Erde berührt, und ich kann versöhnt zu meinen Vätern
+gehen.“
+
+Ich bat ihn, uns doch zu sagen, wie er zu diesem schrecklichen Zustand
+gekommen sei, und er sprach: „Vor fünfzig Jahren war ich ein mächtiger,
+angesehener Mann und wohnte in Algier; die Sucht nach Gewinn trieb
+mich, ein Schiff auszurüsten und Seeraub zu treiben. Ich hatte dieses
+Geschäft schon einige Zeit fortgeführt, da nahm ich einmal auf Zante
+einen Derwisch an Bord, der umsonst reisen wollte. Ich und meine
+Gesellen waren rohe Leute und achteten nicht auf die Heiligkeit des
+Mannes; vielmehr trieb ich mein Gespött mit ihm. Als er aber einst in
+heiligem Eifer mir meinen sündigen Lebenswandel verwiesen hatte,
+übermannte mich nachts in meiner Kajüte, als ich mit meinem Steuermann
+viel getrunken hatte, der Zorn. Wütend über das, was mir ein Derwisch
+gesagt hatte und was ich mir von keinem Sultan hätte sagen lassen,
+stürzte ich aufs Verdeck und stieß ihm meinen Dolch in die Brust.
+Sterbend verwünschte er mich und meine Mannschaft, nicht sterben und
+nicht leben zu können, bis wir unser Haupt auf die Erde legten. Der
+Derwisch starb, und wir warfen ihn in die See und verlachten seine
+Drohungen; aber noch in derselben Nacht erfüllten sich seine Worte. Ein
+Teil meiner Mannschaft empörte sich gegen mich—Mit fürchterlicher Wut
+wurde gestritten, bis meine Anhänger unterlagen und ich an den Mast
+genagelt wurde. Aber auch die Empörer erlagen ihren Wunden, und bald
+war mein Schiff nur ein großes Grab. Auch mir brachen die Augen, mein
+Atem hielt an, und ich meinte zu sterben. Aber es war nur eine
+Erstarrung, die mich gefesselt hielt; in der nächsten Nacht, zur
+nämlichen Stunde, da wir den Derwisch in die See geworfen, erwachten
+ich und alle meine Genossen, das Leben war zurückgekehrt, aber wir
+konnten nichts tun und sprechen, als was wir in jener Nacht gesprochen
+und getan hatten. So segeln wir seit fünfzig Jahren, können nicht
+leben, nicht sterben; denn wie konnten wir das Land erreichen? Mit
+toller Freude segelten wir allemal mit vollen Segeln in den Sturm, weil
+wir hofften, endlich an einer Klippe zu zerschellen und das müde Haupt
+auf dem Grund des Meeres zur Ruhe zu legen. Es ist uns nicht gelungen.
+Jetzt aber werde ich sterben. Noch einmal meinen Dank, unbekannter
+Retter, wenn Schätze dich lohnen können, so nimm mein Schiff als
+Zeichen meiner Dankbarkeit.“
+
+Der Kapitano ließ sein Haupt sinken, als er so gesprochen hatte, und
+verschied. Sogleich zerfiel er auch, wie seine Gefährten, in Staub. Wir
+sammelten diesen in ein Kästchen und begruben ihn an Land; aus der
+Stadt nahm ich aber Arbeiter, die mir mein Schiff in guten Zustand
+setzten. Nachdem ich die Waren, die ich an Bord hatte, gegen andere mit
+großem Gewinn eingetauscht hatte, mietete ich Matrosen, beschenkte
+meinen Freund Muley reichlich und schiffte mich nach meinem Vaterlande
+ein. Ich machte aber einen Umweg, indem ich an vielen Inseln und
+Ländern landete und meine Waren zu Markt brachte. Der Prophet segnete
+mein Unternehmen. Nach dreiviertel Jahren lief ich, noch einmal so
+reich, als mich der sterbende Kapitän gemacht hatte, in Balsora ein.
+Meine Mitbürger waren erstaunt über meine Reichtümer und mein Glück und
+glaubten nicht anders, als daß ich das Diamantental des berühmten
+Reisenden Sindbad gefunden habe. Ich ließ sie in ihrem Glauben, von nun
+an aber mußten die jungen Leute von Balsora, wenn sie kaum achtzehn
+Jahre alt waren, in die Welt hinaus, um gleich mir ihr Glück zu machen.
+Ich aber lebte ruhig und in Frieden, und alle fünf Jahre mache ich eine
+Reise nach Mekka, um dem Herrn an heiliger Stätte für seinen Segen zu
+danken und für den Kapitano und seine Leute zu bitten, daß er sie in
+sein Paradies aufnehme.
+
+
+Die Reise der Karawane war den anderen Tag ohne Hindernis fürder
+gegangen, und als man im Lagerplatz sich erholt hatte, begann Selim,
+der Fremde, zu Muley, dem jüngsten der Kaufleute, also zu sprechen:
+
+„Ihr seid zwar der Jüngste von uns, doch seid Ihr immer fröhlich und
+wißt für uns gewiß irgendeinen guten Schwank. Tischet ihn auf, daß er
+uns erquicke nach der Hitze des Tages!“
+
+„Wohl möchte ich euch etwas erzählen“, antwortete Muley, „das euch Spaß
+machen könnte, doch der Jugend ziemt Bescheidenheit in allen Dingen;
+darum müssen meine älteren Reisegefährten den Vorrang haben. Zaleukos
+ist immer so ernst und verschlossen, sollte er uns nicht erzählen, was
+sein Leben so ernst machte? Vielleicht, daß wir seinen Kummer, wenn er
+solchen hat, lindern können; denn gerne dienen wir dem Bruder, wenn er
+auch anderen Glaubens ist.“
+
+Der Aufgerufene war ein griechischer Kaufmann, ein Mann in mittleren
+Jahren, schön und kräftig, aber sehr ernst. Ob er gleich ein
+Ungläubiger (nicht Muselmann) war, so liebten ihn doch seine
+Reisegefährten, denn er hatte durch sein ganzes Wesen Achtung und
+Zutrauen eingeflößt. Er hatte übrigens nur eine Hand, und einige seiner
+Gefährten vermuteten, daß vielleicht dieser Verlust ihn so ernst
+stimme.
+
+Zaleukos antwortete auf die zutrauliche Frage Muleys: „Ich bin sehr
+geehrt durch euer Zutrauen; Kummer habe ich keinen, wenigstens keinen,
+von welchem ihr auch mit dem besten Willen mir helfen könntet. Doch
+weil Muley mir meinen Ernst vorzuwerfen scheint, so will ich euch
+einiges erzählen, was mich rechtfertigen soll, wenn ich ernster bin als
+andere Leute. Ihr sehet, daß ich meine linke Hand verloren habe. Sie
+fehlt mir nicht von Geburt an, sondern ich habe sie in den
+schrecklichsten Tagen meines Lebens eingebüßt. Ob ich die Schuld davon
+trage, ob ich unrecht habe, seit jenen Tagen ernster, als es meine Lage
+mit sich bringt, zu sein, möget ihr beurteilen, wenn ihr vernommen habt
+die Geschichte von der abgehauenen Hand.“
+
+
+
+
+Die Geschichte von der abgehauenen Hand
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Ich bin in Konstantinopel geboren; mein Vater war ein Dragoman
+(Dolmetscher) bei der Pforte (dem türkischen Hof) und trieb nebenbei
+einen ziemlich einträglichen Handel mit wohlriechenden Essenzen und
+seidenen Stoffen. Er gab mir eine gute Erziehung, indem er mich teils
+selbst unterrichtete, teils von einem unserer Priester mir Unterricht
+geben ließ. Er bestimmte mich anfangs, seinen Laden einmal zu
+übernehmen, als ich aber größere Fähigkeiten zeigte, als er erwartet
+hatte, bestimmte er mich auf das Anraten seiner Freunde zum Arzt; weil
+ein Arzt, wenn er etwas mehr gelernt hat als die gewöhnlichen
+Marktschreier, in Konstantinopel sein Glück machen kann. Es kamen viele
+Franken in unser Haus, und einer davon überredete meinen Vater, mich in
+sein Vaterland, nach der Stadt Paris, reisen zu lassen, wo man solche
+Sachen unentgeltlich und am besten lernen könne. Er selbst aber wolle
+mich, wenn er zurückreise, umsonst mitnehmen. Mein Vater, der in seiner
+Jugend auch gereist war, schlug ein, und der Franke sagte mir, ich
+könne mich in drei Monaten bereithalten. Ich war außer mir vor Freude,
+fremde Länder zu sehen.
+
+Der Franke hatte endlich seine Geschäfte abgemacht und sich zur Reise
+bereitet; am Vorabend der Reise führte mich mein Vater in sein
+Schlafkämmerlein. Dort sah ich schöne Kleider und Waffen auf dem Tische
+liegen. Was meine Blicke aber noch mehr anzog, war ein großer Haufe
+Goldes, denn ich hatte noch nie so viel beieinander gesehen. Mein Vater
+umarmte mich und sagte: „Siehe, mein Sohn, ich habe dir Kleider zu der
+Reise besorgt. Jene Waffen sind dein, es sind die nämlichen, die mir
+dein Großvater umhing, als ich in die Fremde auszog. Ich weiß, du
+kannst sie führen; gebrauche sie aber nie, als wenn du angegriffen
+wirst; dann aber schlage auch tüchtig drauf. Mein Vermögen ist nicht
+groß; siehe, ich habe es in drei Teile geteilt, einer davon ist dein;
+einer davon ist mein Unterhalt und Notpfennig, der dritte aber sei mir
+ein heiliges, unantastbares Gut, er diene dir in der Stunde der Not!“
+So sprach mein alter Vater, und Tränen hingen ihm im Auge, vielleicht
+aus Ahnung, denn ich habe ihn nie wieder gesehen.
+
+Die Reise ging gut von Statten; wir waren bald im Lande der Franken
+angelangt, und sechs Tagreisen nachher kamen wir in die große Stadt
+Paris. Hier mietete mir mein fränkischer Freund ein Zimmer und riet
+mir, mein Geld, das in allem zweitausend Taler betrug, vorsichtig
+anzuwenden. Ich lebte drei Jahre in dieser Stadt und lernte, was ein
+tüchtiger Arzt wissen muß; ich müßte aber lügen, wenn ich sagte, daß
+ich gerne dort gewesen sei; denn die Sitten dieses Volkes gefielen mir
+nicht; auch hatte ich nur wenige gute Freunde dort, diese aber waren
+edle, junge Männer.
+
+Die Sehnsucht nach der Heimat wurde endlich mächtig in mir; in der
+ganzen Zeit hatte ich nichts von meinem Vater gehört, und ich ergriff
+daher eine günstige Gelegenheit, nach Hause zu kommen.
+
+Es ging nämlich eine Gesandtschaft aus Frankenland nach der Hohen
+Pforte. Ich verdingte mich als Wundarzt in das Gefolge des Gesandten
+und kam glücklich wieder nach Stambul. Das Haus meines Vaters aber fand
+ich verschlossen, und die Nachbarn staunten, als sie mich sahen, und
+sagten mir, mein Vater sei vor zwei Monaten gestorben. Jener Priester,
+der mich in meiner Jugend unterrichtet hatte, brachte nur den
+Schlüssel; allein und verlassen zog ich in das verödete Haus ein. Ich
+fand noch alles, wie es mein Vater verlassen hatte; nur das Gold, das
+er mir zu hinterlassen versprach, fehlte. Ich fragte den Priester
+darüber, und dieser verneigte sich und sprach: „Euer Vater ist als ein
+heiliger Mann gestorben; denn er hat sein Gold der Kirche vermacht.“
+Dies war und blieb mir unbegreiflich; doch was wollte ich machen; ich
+hatte keine Zeugen gegen den Priester und mußte froh sein, daß er nicht
+auch das Haus und die Waren meines Vaters als Vermächtnis angesehen
+hatte.
+
+Dies war das erste Unglück, das mich traf. Von jetzt an aber kam es
+Schlag auf Schlag. Mein Ruf als Arzt wollte sich gar nicht ausbreiten,
+weil ich mich schämte, den Marktschreier zu machen, und überall fehlte
+mir die Empfehlung meines Vaters, der mich bei den Reichsten und
+Vornehmsten eingeführt hätte, die jetzt nicht mehr an den armen
+Zaleukos dachten. Auch die Waren meines Vaters fanden keinen Abgang;
+denn die Kunden hatten sich nach seinem Tode verlaufen, und neue
+bekommt man nur langsam. Als ich einst trostlos über meine Lage
+nachdachte, fiel mir ein, daß ich oft in Franken Männer meines Volkes
+gesehen hatte, die das Land durchzogen und ihre Waren auf den Märkten
+der Städte auslegten; ich erinnerte mich, daß man ihnen gerne abkaufte,
+weil sie aus der Fremde kamen, und daß man bei solchem Handel das
+Hundertfache erwerben könne. Sogleich war auch mein Entschluß gefaßt.
+Ich verkaufte mein väterliches Haus, gab einen Teil des gelösten Geldes
+einem bewährten Freunde zum Aufbewahren, von dem übrigen aber kaufte
+ich, was man in Franken selten hat, wie Schals, seidene Zeuge, Salben
+und Öle, mietete einen Platz auf einem Schiff und trat so meine zweite
+Reise nach Franken an.
+
+Es schien, als ob das Glück, sobald ich die Schlösser der Dardanellen
+im Rücken hatte, mir wieder günstig geworden wäre. Unsere Fahrt war
+kurz und glücklich. Ich durchzog die großen und kleinen Städte der
+Franken und fand überall willige Käufer meiner Waren. Mein Freund in
+Stambul sandte mir immer wieder frische Vorräte, und ich wurde von Tag
+zu Tag wohlhabender. Als ich endlich so viel erspart hatte, daß ich
+glaubte, ein größeres Unternehmen wagen zu können, zog ich mit meinen
+Waren nach Italien. Etwas muß ich aber noch gestehen, was mir auch
+nicht wenig Geld einbrachte: ich nahm auch meine Arzneikunst zu Hilfe.
+Wenn ich in eine Stadt kam, ließ ich durch Zettel verkünden, daß ein
+griechischer Arzt da sei, der schon viele geheilt habe; und wahrlich,
+mein Balsam und meine Arzneien haben mir manche Zechine eingebracht.
+
+So war ich endlich nach der Stadt Florenz in Italien gekommen. Ich nahm
+mir vor, längere Zeit in dieser Stadt zu bleiben, teils weil sie mir so
+wohl gefiel, teils auch, weil ich mich von den Strapazen meines
+Umherziehens erholen wollte. Ich mietete mir ein Gewölbe in dem
+Stadtviertel St. Croce und nicht weit davon ein paar schöne Zimmer, die
+auf einen Altan führten, in einem Wirtshaus. Sogleich ließ ich auch
+meine Zettel umhertragen, die mich als Arzt und Kaufmann ankündigten.
+Ich hatte kaum mein Gewölbe eröffnet, so strömten auch die Käufer
+herzu, und ob ich gleich ein wenig hohe Preise hatte, so verkaufte ich
+doch mehr als andere, weil ich gefällig und freundlich gegen meine
+Kunden war. Ich hatte schon vier Tage vergnügt in Florenz verlebt, als
+ich eines Abends, da ich schon mein Gewölbe schließen und nur die
+Vorräte in meinen Salbenbüchsen nach meiner Gewohnheit noch einmal
+mustern wollte, in einer kleinen Büchse einen Zettel fand, den ich mich
+nicht erinnerte, hineingetan zu haben. Ich öffnete den Zettel und fand
+darin eine Einladung, diese Nacht Punkt zwölf Uhr auf der Brücke, die
+man Ponte vecchio heißt, mich einzufinden. Ich sann lange darüber nach,
+wer es wohl sein könnte, der mich dorthin einlud, da ich aber keine
+Seele in Florenz kannte, dachte ich, man werde mich vielleicht heimlich
+zu irgendeinem Kranken führen wollen, was schon öfter geschehen war.
+Ich beschloß also hinzugehen, doch hing ich zur Vorsicht den Säbel um,
+den mir einst mein Vater geschenkt hatte.
+
+Als es stark gegen Mitternacht ging, machte ich mich auf den Weg und
+kam bald auf die Ponte vecchio. Ich fand die Brücke verlassen und öde
+und beschloß zu warten, bis er erscheinen würde, der mich rief. Es war
+eine kalte Nacht; der Mond schien hell, und ich schaute hinab in die
+Wellen des Arno, die weithin im Mondlicht schimmerten. Auf den Kirchen
+der Stadt schlug es jetzt zwölf Uhr; ich richtete mich auf, und vor mir
+stand ein großer Mann, ganz in einen roten Mantel gehüllt, dessen einen
+Zipfel er vor das Gesicht hielt.
+
+Ich war von Anfang etwas erschrocken, weil er so plötzlich hinter mir
+stand, faßte mich aber sogleich wieder und sprach: „Wenn Ihr mich habt
+hierher bestellt, so sagt an, was steht zu Eurem Befehl?“
+
+Der Rotmantel wandte sich um und sagte langsam: „Folge!“ Da ward mir’s
+doch etwas unheimlich zumute, mit diesem Unbekannten allein zu gehen;
+ich blieb stehen und sprach: „Nicht also, lieber Herr, wollet mir
+vorerst sagen, wohin; auch könnet Ihr mir Euer Gesicht ein wenig
+zeigen, daß ich sehe, ob Ihr Gutes mit mir vorhabt.“
+
+Der Rote aber schien sich nicht darum zu kümmern. „Wenn du nicht
+willst, Zaleukos, so bleibe!“ antwortete er und ging weiter.
+
+Da entbrannte mein Zorn. „Meinet Ihr“, rief ich aus, „ein Mann wie ich
+lasse sich von jedem Narren foppen, und ich werde in dieser kalten
+Nacht umsonst gewartet haben?“ In drei Sprüngen hatte ich ihn erreicht,
+packte ihn an seinem Mantel und schrie noch lauter, indem ich die
+andere Hand an den Säbel legte; aber der Mantel blieb mir in der Hand,
+und der Unbekannte war um die nächste Ecke verschwunden. Mein Zorn
+legte sich nach und nach; ich hatte doch den Mantel, und dieser sollte
+mir schon den Schlüssel zu diesem wunderlichen Abenteuer geben.
+
+Ich hing ihn um und ging meinen Weg weiter nach Hause. Als ich kaum
+noch hundert Schritte davon entfernt war, streifte jemand dicht an mir
+vorüber und flüsterte in fränkischer Sprache: „Nehmt Euch in acht,
+Graf, heute nacht ist nichts zu machen.“ Ehe ich mich aber umsehen
+konnte, war dieser Jemand schon vorbei, und ich sah nur noch einen
+Schatten an den Häusern hinschweben. Daß dieser Zuruf den Mantel und
+nicht mich anging, sah ich ein; doch gab er mir kein Licht über die
+Sache. Am anderen Morgen überlegte ich, was zu tun sei. Ich war von
+Anfang gesonnen, den Mantel ausrufen zu lassen, als hätte ich ihn
+gefunden; doch da konnte der Unbekannte ihn durch einen Dritten holen
+lassen, und ich hätte dann keinen Aufschluß über die Sache gehabt. Ich
+besah, indem ich so nachdachte, den Mantel näher. Er war von schwerem
+genuesischem Samt, purpurrot, mit astrachanischem Pelz verbrämt und
+reich mit Gold bestickt. Der prachtvolle Anblick des Mantels brachte
+mich auf einen Gedanken, den ich auszuführen beschloß.
+
+Ich trug ihn in mein Gewölbe und legte ihn zum Verkauf aus, setzte aber
+auf ihn einen so hohen Preis, daß ich gewiß war, keinen Käufer zu
+finden. Mein Zweck dabei war, jeden, der nach dem Pelz fragen würde,
+scharf ins Auge zu fassen; denn die Gestalt des Unbekannten, die sich
+mir nach Verlust des Mantels, wenn auch nur flüchtig, doch bestimmt
+zeigte, wollte ich aus Tausenden erkennen. Es fanden sich viele
+Kauflustige zu dem Mantel, dessen außerordentliche Schönheit alle Augen
+auf sich zog; aber keiner glich entfernt dem Unbekannten, keiner wollte
+den hohen Preis von zweihundert Zechinen dafür bezahlen. Auffallend war
+mir dabei, daß, wenn ich einen oder den anderen fragte, ob denn sonst
+kein solcher Mantel in Florenz sei, alle mit „Nein!“ antworteten und
+versicherten, eine so kostbare und geschmackvolle Arbeit nie gesehen zu
+haben.
+
+Es wollte schon Abend werden, da kam endlich ein junger Mann, der schon
+oft bei mir gewesen war und auch heute viel auf den Mantel geboten
+hatte, warf einen Beutel mit Zechinen auf den Tisch und rief: „Bei
+Gott! Zaleukos, ich muß deinen Mantel haben, und sollte ich zum Bettler
+darüber werden.“ Zugleich begann er, seine Goldstücke aufzuzählen. Ich
+kam in große Not; ich hatte den Mantel nur ausgehängt, um vielleicht
+die Blicke meines Unbekannten darauf zu ziehen, und jetzt kam ein
+junger Tor, um den ungeheuren Preis zu zahlen. Doch was blieb mir
+übrig; ich gab nach, denn es tat mir auf der anderen Seite der Gedanke
+wohl, für mein nächtliches Abenteuer so schön entschädigt zu werden.
+Der Jüngling hing sich den Mantel um und ging; er kehrte aber auf der
+Schwelle wieder um, indem er ein Papier, das am Mantel befestigt war,
+losmachte, mir zuwarf und sagte: „Hier, Zaleukos, hängt etwas, das wohl
+nicht zu dem Mantel gehört.“
+
+Gleichgültig nahm ich den Zettel; aber siehe da, dort stand
+geschrieben: „Bringe heute nacht um die bewußte Stunde den Mantel auf
+die Ponte vecchio, vierhundert Zechinen warten deiner.“
+
+Ich stand wie niedergedonnert. So hatte ich also mein Glück selbst
+verscherzt und meinen Zweck gänzlich verfehlt! Doch ich besann mich
+nicht lange, raffte die zweihundert Zechinen zusammen, sprang dem, der
+den Mantel gekauft hatte, nach und sprach: „Nehmt Eure Zechinen wieder,
+guter Freund, und laßt mir den Mantel, ich kann ihn unmöglich
+hergeben.“ Dieser hielt die Sache von Anfang für Spaß, als er aber
+merkte, daß es Ernst war, geriet er in Zorn über meine Forderung,
+schalt mich einen Narren, und so kam es endlich zu Schlägen. Doch ich
+war so glücklich, im Handgemenge ihm den Mantel zu entreißen, und
+wollte schon mit ihm davoneilen, als der junge Mann die Polizei zu
+Hilfe rief und mich mit sich vor Gericht zog. Der Richter war sehr
+erstaunt über die Anklage und sprach meinem Gegner den Mantel zu. Ich
+aber bot dem Jünglinge zwanzig, fünfzig, achtzig, ja hundert Zechinen
+über seine zweihundert, wenn er mir den Mantel ließe. Was meine Bitten
+nicht vermochten, bewirkte mein Gold. Er nahm meine guten Zechinen, ich
+aber zog mit dem Mantel triumphierend ab und mußte mir gefallen lassen,
+daß man mich in ganz Florenz für einen Wahnsinnigen hielt. Doch die
+Meinung der Leute war mir gleichgültig; ich wußte es ja besser als sie,
+daß ich an dem Handel noch gewann.
+
+Mit Ungeduld erwartete ich die Nacht. Um dieselbe Zeit wie gestern ging
+ich, den Mantel unter dem Arm, auf die Ponte vecchio. Mit dem letzten
+Glockenschlag kam die Gestalt aus der Nacht heraus auf mich zu. Es war
+unverkennbar der Mann von gestern. „Hast du den Mantel?“ wurde ich
+gefragt.
+
+„Ja, Herr“, antwortete ich, „aber er kostete mich bar hundert
+Zechinen.“
+
+„Ich weiß es“, entgegnete jener. „Schau auf, hier sind vierhundert.“ Er
+trat mit mir an das breite Geländer der Brücke und zählte die
+Goldstücke hin. Vierhundert waren es; prächtig blitzten sie im
+Mondschein, ihr Glanz erfreute mein Herz, ach! Es ahnete nicht, daß es
+seine letzte Freude sein werde. Ich steckte mein Geld in die Tasche und
+wollte mir nun auch den gütigen Unbekannten recht betrachten; aber er
+hatte eine Larve vor dem Gesicht, aus der mich dunkle Augen furchtbar
+anblitzten.
+
+„Ich danke Euch, Herr, für Eure Güte“, sprach ich zu ihm, „was verlangt
+Ihr jetzt von mir? Das sage ich Euch aber vorher, daß es nichts
+Unrechtes sein darf.“
+
+„Unnötige Sorge“, antwortete er, indem er den Mantel um die Schultern
+legte, „ich bedarf Eurer Hilfe als Arzt; doch nicht für einen Lebenden,
+sondern für einen Toten.“
+
+„Wie kann das sein?“ rief ich voll Verwunderung.
+
+„Ich kam mit meiner Schwester aus fernen Landen“, erzählte er und
+winkte mir zugleich, ihm zu folgen. „Ich wohnte hier mit ihr bei einem
+Freund meines Hauses. Meine Schwester starb gestern schnell an einer
+Krankheit, und die Verwandten wollen sie morgen begraben. Nach einer
+alten Sitte unserer Familie aber sollen alle in der Gruft der Väter
+ruhen; viele, die in fremden Landen starben, ruhen dennoch dort
+einbalsamiert. Meinen Verwandten gönne ich nun ihren Körper; meinem
+Vater aber muß ich wenigstens den Kopf seiner Tochter bringen, damit er
+sie noch einmal sehe.“ Diese Sitte, die Köpfe geliebter Anverwandten
+abzuschneiden, kam mir zwar etwas schrecklich vor; doch wagte ich
+nichts dagegen einzuwenden aus Furcht, den Unbekannten zu beleidigen.
+Ich sagte ihm daher, daß ich mit dem Einbalsamieren der Toten wohl
+umgehen könne, und bat ihn, mich zu der Verstorbenen zu führen. Doch
+konnte ich mich nicht enthalten zu fragen, warum denn dies alles so
+geheimnisvoll und in der Nacht geschehen müsse. Er antwortete mir, daß
+seine Anverwandten, die seine Absicht für grausam hielten, bei Tage ihn
+abhalten würden; sei aber nur erst einmal der Kopf abgenommen, so
+könnten sie wenig mehr darüber sagen. Er hätte mir zwar den Kopf
+bringen können; aber ein natürliches Gefühl halte ihn ab, ihn selbst
+abzunehmen.
+
+Wir waren indes bis an ein großes, prachtvolles Haus gekommen. Mein
+Begleiter zeigte es mir als das Ziel unseres nächtlichen Spazierganges.
+Wir gingen an dem Haupttor des Hauses vorbei, traten in eine kleine
+Pforte, die der Unbekannte sorgfältig hinter sich zumachte, und stiegen
+nun im Finstern eine enge Wendeltreppe hinan. Sie führte in einen
+spärlich erleuchteten Gang, aus welchem wir in ein Zimmer gelangten,
+das eine Lampe, die an der Decke befestigt war, erleuchtete.
+
+In diesem Gemach stand ein Bett, in welchem der Leichnam lag. Der
+Unbekannte wandte sein Gesicht ab und schien Tränen verbergen zu
+wollen. Er deutete nach dem Bett, befahl mir, mein Geschäft gut und
+schnell zu verrichten, und ging wieder zur Türe hinaus.
+
+Ich packte meine Messer, die ich als Arzt immer bei mir führte, aus und
+näherte mich dem Bett. Nur der Kopf war von der Leiche sichtbar; aber
+dieser war so schön, daß mich unwillkürlich das innigste Mitleiden
+ergriff. In langen Flechten hing das dunkle Haar herab, das Gesicht war
+bleich, die Augen geschlossen. Ich machte zuerst einen Einschnitt in
+die Haut, nach der Weise der Ärzte, wenn sie ein Glied abschneiden.
+Sodann nahm ich mein schärfstes Messer und schnitt mit einem Zug die
+Kehle durch. Aber welcher Schrecken! Die Tote schlug die Augen auf,
+schloß sie aber gleich wieder, und in einem tiefen Seufzer schien sie
+jetzt erst ihr Leben auszuhauchen. Zugleich schoß mir ein Strahl heißen
+Blutes aus der Wunde entgegen. Ich überzeugte mich, daß ich erst die
+Arme getötet hatte; denn daß sie tot sei, war kein Zweifel, da es von
+dieser Wunde keine Rettung gab. Ich stand einige Minuten in banger
+Beklommenheit über das, was geschehen war. Hatte der Rotmantel mich
+betrogen, oder war die Schwester vielleicht nur scheintot gewesen? Das
+letztere schien mir wahrscheinlicher. Aber ich durfte dem Bruder der
+Verstorbenen nicht sagen, daß vielleicht ein weniger rascher Schnitt
+sie erweckt hätte, ohne sie zu töten, darum wollte ich den Kopf
+vollends ablösen; aber noch einmal stöhnte die Sterbende, streckt sich
+in schmerzhafter Bewegung aus und starb. Da übermannte mich der
+Schrecken, und ich stürzte schaudernd aus dem Gemach. Aber draußen im
+Gang war es finster; denn die Lampe war verlöscht. Keine Spur von
+meinem Begleiter war zu entdecken, und ich mußte aufs ungefähr mich im
+Finstern an der Wand fortbewegen, um an die Wendeltreppe zu gelangen.
+Ich fand sie endlich und kam halb fallend, halb gleitend hinab. Auch
+unten war kein Mensch. Die Türe fand ich nur angelehnt, und ich atmete
+freier, als ich auf der Straße war; denn in dem Hause war mir ganz
+unheimlich geworden. Von Schrecken gespornt, rannte ich in meine
+Wohnung und begrub mich in die Polster meines Lagers, um das
+Schreckliche zu vergessen, das ich getan hatte. Aber der Schlaf floh
+mich, und erst der Morgen ermahnte mich wieder, mich zu fassen. Es war
+mir wahrscheinlich, daß der Mann, der mich zu dieser verruchten Tat,
+wie sie mir jetzt erschien, verführt hatte, mich nicht angeben würde.
+Ich entschloß mich, gleich in mein Gewölbe an mein Geschäft zu gehen
+und womöglich eine sorglose Miene anzunehmen. Aber ach! Ein neuer
+Umstand, den ich jetzt erst bemerkte, vermehrte noch meinen Kummer.
+Meine Mütze und mein Gürtel wie auch meine Messer fehlten mir, und ich
+war ungewiß, ob ich sie in dem Zimmer der Getöteten gelassen oder erst
+auf meiner Flucht verloren hatte. Leider schien das erste
+wahrscheinlicher, und man konnte mich also als Mörder entdecken.
+
+Ich öffnete zur gewöhnlichen Zeit mein Gewölbe. Mein Nachbar trat zu
+mir her, wie er alle Morgen zu tun pflegte, denn er war ein
+gesprächiger Mann. „Ei, was sagt Ihr zu der schrecklichen Geschichte“,
+hub er an, „die heute nacht vorgefallen ist?“ Ich tat, als ob ich
+nichts wüßte. „Wie, solltet Ihr nicht wissen, von was die ganze Stadt
+erfüllt ist? Nicht wissen, daß die schönste Blume von Florenz, Bianka,
+die Tochter des Gouverneurs, in dieser Nacht ermordet wurde? Ach! Ich
+sah sie gestern noch so heiter durch die Straßen fahren mit ihrem
+Bräutigam, denn heute hätten sie Hochzeit gehabt.“
+
+Jedes Wort des Nachbarn war mir ein Stich ins Herz. Und wie oft kehrte
+meine Marter wieder; denn jeder meiner Kunden erzählte mir die
+Geschichte, immer einer schrecklicher als der andere, und doch konnte
+keiner so Schreckliches sagen, als ich selbst gesehen hatte. Um Mittag
+ungefähr trat ein Mann vom Gericht in mein Gewölbe und bat mich, die
+Leute zu entfernen. „Signore Zaleukos“, sprach er, indem er die Sachen,
+die ich vermißte, hervorzog, „gehören diese Sachen Euch zu?“ Ich besann
+mich, ob ich sie nicht gänzlich ableugnen sollte; aber als ich durch
+die halbgeöffnete Tür meinen Wirt und mehrere Bekannte, die wohl gegen
+mich zeugen konnten, erblickte, beschloß ich, die Sache nicht noch
+durch eine Lüge zu verschlimmern, und bekannte mich zu den vorgezeigten
+Dingen. Der Gerichtsmann bat mich, ihm zu folgen, und führte mich in
+ein großes Gebäude, das ich bald für das Gefängnis erkannte. Dort wies
+er mir bis auf weiteres ein Gemach an.
+
+Meine Lage war schrecklich, als ich so in der Einsamkeit darüber
+nachdachte. Der Gedanke, gemordet zu haben, wenn auch ohne Willen,
+kehrte immer wieder. Auch konnte ich mir nicht verhehlen, daß der Glanz
+des Goldes meine Sinne befangen gehalten hatte; sonst hätte ich nicht
+so blindlings in die Falle gehen können. Zwei Stunden nach meiner
+Verhaftung wurde ich aus meinem Gemach geführt. Mehrere Treppen ging es
+hinab, dann kam man in einen großen Saal. Um einen langen,
+schwarzbehängten Tisch saßen dort zwölf Männer, meistens Greise. An den
+Seiten des Saales zogen sich Bänke herab, angefüllt mit den Vornehmsten
+von Florenz; auf den Galerien, die in der Höhe angebracht waren,
+standen dicht gedrängt die Zuschauer. Als ich bis vor den schwarzen
+Tisch getreten war, erhob sich ein Mann mit finsterer, trauriger Miene;
+es war der Gouverneur. Er sprach zu den Versammelten, daß er als Vater
+in dieser Sache nicht richten könne und daß er seine Stelle für diesmal
+an den ältesten der Senatoren abtrete. Der älteste der Senatoren war
+ein Greis von wenigstens neunzig Jahren. Er stand gebückt, und seine
+Schläfen waren mit dünnem, weißem Haar umhängt; aber feurig brannten
+noch seine Augen, und seine Stimme war stark und sicher. Er hub an,
+mich zu fragen, ob ich den Mord gestehe. Ich bat ihn um Gehör und
+erzählte unerschrocken und mit vernehmlichen Stimme, was ich getan
+hatte und was ich wußte. Ich bemerkte, daß der Gouverneur während
+meiner Erzählung bald blaß, bald rot wurde, und als ich geschlossen,
+fuhr er wütend auf: „Wie, Elender!“ rief er mir zu, „so willst du ein
+Verbrechen, das du aus Habgier begangen, noch einem anderen aufbürden?“
+
+Der Senator verwies ihm seine Unterbrechung, da er sich freiwillig
+seines Rechtes begeben habe; auch sei es gar nicht so erwiesen, daß ich
+aus Habgier gefrevelt; denn nach seiner eigenen Aussage sei ja der
+Getöteten nichts gestohlen worden. Ja, er ging noch weiter; er erklärte
+dem Gouverneur, daß er über das frühere Leben seiner Tochter
+Rechenschaft geben müsse; denn nur so könne man schließen, ob ich die
+Wahrheit gesagt habe oder nicht. Zugleich hob er für heute das Gericht
+auf, um sich, wie er sagte, aus den Papieren der Verstorbenen, die ihm
+der Gouverneur übergeben werde, Rat zu holen. Ich wurde wieder in mein
+Gefängnis zurückgeführt, wo ich einen schaurigen Tag verlebte, immer
+mit dem heißen Wunsch beschäftigt, daß man doch irgendeine Verbindung
+zwischen der Toten und dem Rotmantel entdecken möchte. Voll Hoffnung
+trat ich den anderen Tag in den Gerichtssaal. Es lagen mehrere Briefe
+auf dem Tisch. Der alte Senator fragte mich, ob sie meine Handschrift
+seien. Ich sah sie an und fand, daß sie von derselben Hand sein müßten
+wie jene beiden Zettel, die ich erhalten. Ich äußerte dies den
+Senatoren; aber man schien nicht darauf zu achten und antwortete, daß
+ich beides geschrieben haben könne und müsse; denn der Namenszug unter
+den Briefen sei unverkennbar ein Z, der Anfangsbuchstabe meines Namens.
+Die Briefe aber enthielten Drohungen an die Verstorbene und Warnungen
+vor der Hochzeit, die sie zu vollziehen im Begriff war.
+
+Der Gouverneur schien sonderbare Aufschlüsse in Hinsicht auf meine
+Person gegeben zu haben; denn man behandelte mich an diesem Tage
+mißtrauischer und strenger. Ich berief mich zu meiner Rechtfertigung
+auf meine Papiere, die sich in meinem Zimmer finden müßten; aber man
+sagte mir, man habe nachgesucht und nichts gefunden. So schwand mir am
+Schlusse dieses Gerichts alle Hoffnung, und als ich am dritten Tag
+wieder in den Saal geführt wurde, las man mir das Urteil vor, daß ich,
+eines vorsätzlichen Mordes überwiesen, zum Tode verurteilt sei. Dahin
+also war es mit mir gekommen. Verlassen von allem, was mir auf Erden
+noch teuer war, fern von meiner Heimat, sollte ich unschuldig in der
+Blüte meiner Jahre vom Beile sterben.
+
+Ich saß am Abend dieses schrecklichen Tages, der über mein Schicksal
+entschieden hatte, in meinem einsamen Kerker; meine Hoffnungen waren
+dahin, meine Gedanken ernsthaft auf den Tod gerichtet. Da tat sich die
+Türe meines Gefängnisses auf, und ein Mann trat herein, der mich lange
+schweigend betrachtete. „So finde ich dich wieder, Zaleukos?“ sagte er;
+ich hatte ihn bei dem matten Schein meiner Lampe nicht erkannt, aber
+der Klang seiner Stimme erweckte alte Erinnerungen in mir, es war
+Valetty, einer jener wenigen Freunde, die ich in der Stadt Paris
+während meiner Studien kannte. Er sagte, daß er zufällig nach Florenz
+gekommen sei, wo sein Vater als angesehener Mann wohne, er habe von
+meiner Geschichte gehört und sei gekommen, um mich noch einmal zu sehen
+und von mir selbst zu erfahren, wie ich mich so schwer habe verschulden
+können. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte. Er schien darüber sehr
+verwundert und beschwor mich, ihm, meinem einzigen Freunde, alles zu
+sagen, um nicht mit einer Lüge von hinnen zu gehen. Ich schwor ihm mit
+dem teuersten Eid, daß ich wahr gesprochen und daß keine andere Schuld
+mich drücke, als daß ich, von dem Glanze des Goldes geblendet, das
+Unwahrscheinliche der Erzählung des Unbekannten nicht erkannt habe. „So
+hast du Bianka nicht gekannt?“ fragte jener. Ich beteuerte ihm, sie nie
+gesehen zu haben. Valetty erzählte mir nun, daß ein tiefes Geheimnis
+auf der Tat liege, daß der Gouverneur meine Verurteilung sehr hastig
+betrieben habe, und es sei nun ein Gerücht unter die Leute gekommen,
+daß ich Bianka schon längst gekannt und aus Rache über ihre Heirat mit
+einem anderen sie ermordet habe. Ich bemerkte ihm, daß dies alles ganz
+auf den Rotmantel passe, daß ich aber seine Teilnahme an der Tat mit
+nichts beweisen könne. Valetty umarmte mich weinend und versprach mir,
+alles zu tun, um wenigstens mein Leben zu retten. Ich hatte wenig
+Hoffnung; doch wußte ich, daß Valetty ein weiser und der Gesetze
+kundiger Mann sei und daß er alles tun werde, mich zu retten. Zwei
+lange Tage war ich in Ungewißheit: Endlich erschien auch Valetty. „Ich
+bringe Trost, wenn auch einen schmerzlichen. Du wirst leben und frei
+sein; aber mit Verlust einer Hand.“ Gerührt dankte ich meinem Freunde
+für mein Leben. Er sagte mir, daß der Gouverneur unerbittlich gewesen
+sei, die Sache noch einmal untersuchen zu lassen; daß er aber endlich,
+um nicht ungerecht zu erscheinen, bewilligt habe, wenn man in den
+Büchern der florentinischen Geschichte einen ähnlichen Fall finde, so
+solle meine Strafe sich nach der Strafe, die dort ausgesprochen sei,
+richten. Er und sein Vater haben nun Tag und Nacht in den alten Büchern
+gelesen und endlich einen ganz dem meinigen ähnlichen Fall gefunden.
+Dort laute die Strafe: Es soll ihm die linke Hand abgehauen, seine
+Güter eingezogen, er selbst auf ewig verbannt werden. So laute jetzt
+auch meine Strafe, und ich solle mich jetzt bereiten zu der
+schmerzhaften Stunde, die meiner warte. Ich will euch nicht diese
+schreckliche Stunde vor das Auge führen, wo ich auf offenem Markt meine
+Hand auf den Block legte, wo mein eigenes Blut in weitem Bogen mich
+überströmte!
+
+Valetty nahm mich in sein Haus auf, bis ich genesen war, dann versah er
+mich edelmütig mit Reisegeld; denn alles, was ich mir so mühsam
+erworben, war eine Beute des Gerichts geworden. Ich reiste von Florenz
+nach Sizilien und von da mit dem ersten Schiff, das ich fand, nach
+Konstantinopel. Meine Hoffnung war auf die Summe gerichtet, die ich
+meinem Freunde übergeben hatte, auch bat ich ihn, bei ihm wohnen zu
+dürfen; aber wie erstaunte ich, als dieser mich fragte, warum ich denn
+nicht mein Haus beziehe! Er sagte mir, daß ein fremder Mann unter
+meinem Namen ein Haus in dem Quartier der Griechen gekauft habe;
+derselbe habe auch den Nachbarn gesagt, daß ich bald selbst kommen
+werde. Ich ging sogleich mit meinem Freunde dahin und wurde von allen
+meinen Bekannten freudig empfangen. Ein alter Kaufmann gab mir einen
+Brief, den der Mann, der für mich gekauft hatte, hiergelassen habe.
+
+Ich las: „Zaleukos! Zwei Hände stehen bereit, rastlos zu schaffen, daß
+Du nicht fühlest den Verlust der einen. Das Haus, das Du siehest, und
+alles, was darin ist, ist Dein, und alle Jahre wird man Dir so viel
+reichen, daß Du zu den Reichen Deines Volkes gehören wirst. Mögest Du
+dem vergeben, der unglücklicher ist als Du.“ Ich konnte ahnen, wer es
+geschrieben, und der Kaufmann sagte mir auf meine Frage: Es sei ein
+Mann gewesen, den er für einen Franken gehalten, er habe einen roten
+Mantel angehabt. Ich wußte genug, um mir zu gestehen, daß der
+Unbekannte doch nicht ganz von aller edlen Gesinnung entblößt sein
+müsse. In meinem neuen Haus fand ich alles aufs beste eingerichtet,
+auch ein Gewölbe mit Waren, schöner als ich sie je gehabt. Zehn Jahre
+sind seitdem verstrichen; mehr aus alter Gewohnheit, als weil ich es
+nötig habe, setze ich meine Handelsreisen fort; doch habe ich jenes
+Land, wo ich so unglücklich wurde, nie mehr gesehen. Jedes Jahr erhielt
+ich seitdem tausend Goldstücke; aber, wenn es mir auch Freude macht,
+jenen Unglücklichen edel zu wissen, so kann er mir doch den Kummer
+meiner Seele nicht abkaufen, denn ewig lebt in mir das grauenvolle Bild
+der ermordeten Bianka.
+
+
+Zaleukos, der griechische Kaufmann, hatte seine Geschichte geendigt.
+Mit großer Teilnahme hatten ihm die übrigen zugehört, besonders der
+Fremde schien sehr davon ergriffen zu sein; er hatte einigemal tief
+geseufzt, und Muley schien es sogar, als habe er einmal Tränen in den
+Augen gehabt. Sie besprachen sich noch lange Zeit über diese
+Geschichte.
+
+„Und haßt Ihr den Unbekannten nicht, der Euch so schnöd’ um ein so
+edles Glied Eures Körpers, der selbst Euer Leben in Gefahr brachte?“
+fragte der Fremde.
+
+„Wohl gab es in früherer Zeit Stunden“, antwortete der Grieche, „in
+denen mein Herz ihn vor Gott angeklagt, daß er diesen Kummer über mich
+gebracht und mein Leben vergiftet habe; aber ich fand Trost in dem
+Glauben meiner Väter, und dieser befiehlt mir, meine Feinde zu lieben;
+auch ist er wohl noch unglücklicher als ich.“
+
+„Ihr seid ein edler Mann!“ rief der Fremde und drückte gerührt dem
+Griechen die Hand.
+
+Der Anführer der Wache unterbrach sie aber in ihrem Gespräch. Er trat
+mit besorgter Miene in das Zelt und berichtete, daß man sich nicht der
+Ruhe überlassen dürfe; denn hier sei die Stelle, wo gewöhnlich die
+Karawanen angegriffen würden, auch glaubten seine Wachen, in der
+Entfernung mehrere Reiter zu sehen.
+
+Die Kaufleute waren sehr bestürzt über diese Nachricht; Selim, der
+Fremde, aber wunderte sich über ihre Bestürzung und meinte, daß sie so
+gut geschätzt wären, daß sie einen Trupp räuberischer Araber nicht zu
+fürchten brauchten.
+
+„Ja, Herr!“ entgegnete ihm der Anführer der Wache. „Wenn es nur solches
+Gesindel wäre, könnte man sich ohne Sorge zur Ruhe legen; aber seit
+einiger Zeit zeigt sich der furchtbare Orbasan wieder, und da gilt es,
+auf seiner Hut zu sein.“
+
+Der Fremde fragte, wer denn dieser Orbasan sei, und Achmet, der alte
+Kaufmann, antwortete ihm: „Es gehen allerlei Sagen unter dem Volke über
+diesen wunderbaren Mann. Die einen halten ihn für ein übermenschliches
+Wesen, weil er oft mit fünf bis sechs Männern zumal einen Kampf
+besteht, andere halten ihn für einen tapferen Franken, den das Unglück
+in diese Gegend verschlagen habe; von allem aber ist nur so viel gewiß,
+daß er ein verruchter Mörder und Dieb ist.“
+
+„Das könnt Ihr aber doch nicht behaupten“, entgegnete ihm Lezah, einer
+der Kaufleute. „Wenn er auch ein Räuber ist, so ist er doch ein edler
+Mann, und als solcher hat er sich an meinem Bruder bewiesen, wie ich
+Euch erzählen könnte. Er hat seinen ganzen Stamm zu geordneten Menschen
+gemacht, und so lange er die Wüste durchstreift, darf kein anderer
+Stamm es wagen, sich sehen zu lassen. Auch raubt er nicht wie andere,
+sondern er erhebt nur ein Schutzgeld von den Karawanen, und wer ihm
+dieses willig bezahlt, der ziehet ungefährdet weiter; denn Orbasan ist
+der Herr der Wüste.“
+
+Also sprachen unter sich die Reisenden im Zelte; die Wachen aber, die
+um den Lagerplatz ausgestellt waren, begannen unruhig zu werden. Ein
+ziemlich bedeutender Haufe bewaffneter Reiter zeigte sich in der
+Entfernung einer halben Stunde; sie schienen gerade auf das Lager
+zuzureiten. Einer der Männer von der Wache ging daher in das Zelt, um
+zu verkünden, daß sie wahrscheinlich angegriffen würden. Die Kaufleute
+berieten sich untereinander, was zu tun sei, ob man ihnen entgegengehen
+oder den Angriff abwarten solle. Achmet und die zwei älteren Kaufleute
+wollten das letztere, der feurige Muley aber und Zaleukos verlangten
+das erstere und riefen den Fremden zu ihrem Beistand auf. Dieser zog
+ruhig ein kleines, blaues Tuch mit roten Sternen aus seinem Gürtel
+hervor, band es an eine Lanze und befahl einem der Sklaven, es auf das
+Zelt zu stecken; er setze sein Leben zum Pfand, sagte er, die Reiter
+werden, wenn sie dieses Zeichen sehen, ruhig vorüberziehen. Muley
+glaubte nicht an den Erfolg, der Sklave aber steckte die Lanze auf das
+Zelt. Inzwischen hatten alle, die im Lager waren, zu den Waffen
+gegriffen und sahen in gespannter Erwartung den Reitern entgegen. Doch
+diese schienen das Zeichen auf dem Zelte erblickt zu haben, sie wichen
+plötzlich von ihrer Richtung auf das Lager ab und zogen in einem großen
+Bogen auf der Seite hin.
+
+Verwundert standen einige Augenblicke die Reisenden und sahen bald auf
+die Reiter, bald auf den Fremden. Dieser stand ganz gleichgültig, wie
+wenn nichts vorgefallen wäre, vor dem Zelte und blickte über die Ebene
+hin. Endlich brach Muley das Stillschweigen. „Wer bist du, mächtiger
+Fremdling“, rief er aus, „der du die wilden Horden der Wüste durch
+einen Wink bezähmst?“
+
+„Ihr schlagt meine Kunst höher an, als sie ist“, antwortete Selim
+Baruch. „Ich habe mich mit diesem Zeichen versehen, als ich der
+Gefangenschaft entfloh; was es zu bedeuten hat, weiß ich selbst nicht;
+nur so viel weiß ich, daß, wer mit diesem Zeichen reiset, unter
+mächtigem Schutze steht.“
+
+Die Kaufleute dankten dem Fremden und nannten ihn ihren Erretter.
+Wirklich war auch die Anzahl der Reiter so groß gewesen, daß wohl die
+Karawane nicht lange hätte Widerstand leisten können.
+
+Mit leichterem Herzen begab man sich jetzt zur Ruhe, und als die Sonne
+zu sinken begann und der Abendwind über die Sandebene hinstrich,
+brachen sie auf und zogen weiter.
+
+Am nächsten Tage lagerten sie ungefähr nur noch eine Tagreise von dem
+Ausgang der Wüste entfernt. Als sich die Reisenden wieder in dem großen
+Zelt versammelt hatten, nahm Lezah, der Kaufmann, das Wort:
+
+„Ich habe euch gestern gesagt, daß der gefürchtete Orbasan ein edler
+Mann sei, erlaubt mir, daß ich es euch heute durch die Erzählung der
+Schicksale meines Bruders beweise. Mein Vater war Kadi in Akara. Er
+hatte drei Kinder. Ich war der Älteste, ein Bruder und eine Schwester
+waren bei weitem jünger als ich. Als ich zwanzig Jahre alt war, rief
+mich ein Bruder meines Vaters zu sich. Er setzte mich zum Erben seiner
+Güter ein, mit der Bedingung, daß ich bis zu seinem Tode bei ihm
+bleibe. Aber er erreichte ein hohes Alter, so daß ich erst vor zwei
+Jahren in meine Heimat zurückkehrte und nichts davon wußte, welch
+schreckliches Schicksal indes mein Haus betroffen und wie gütig Allah
+es gewendet hatte.“
+
+
+
+
+Die Errettung Fatmes
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Mein Bruder Mustapha und meine Schwester Fatme waren beinahe in
+gleichem Alter; jener hatte höchstens zwei Jahre voraus. Sie liebten
+einander innig und trugen vereint alles bei, was unserem kränklichen
+Vater die Last seines Alters erleichtern konnte. An Fatmes sechzehntem
+Geburtstage veranstaltete der Bruder ein Fest. Er ließ alle ihre
+Gespielinnen einladen, setzte ihnen in dem Garten des Vaters
+ausgesuchte Speisen vor, und als es Abend wurde, lud er sie ein, auf
+einer Barke, die er gemietet und festlich geschmückt hatte, ein wenig
+hinaus in die See zu fahren. Fatme und ihre Gespielinnen willigten mit
+Freuden ein; denn der Abend war schön, und die Stadt gewährte besonders
+abends, von dem Meere aus betrachtet, einen herrlichen Anblick. Den
+Mädchen aber gefiel es so gut auf der Barke, daß sie meinen Bruder
+bewogen, immer weiter in die See hinauszufahren. Mustapha gab aber
+ungern nach, weil sich vor einigen Tagen ein Korsar hatte sehen lassen.
+Nicht weit von der Stadt zieht sich ein Vorgebirge in das Meer. Dorthin
+wollten noch die Mädchen, um von da die Sonne in das Meer sinken zu
+sehen. Als sie um das Vorgebirg’ herumruderten, sahen sie in geringer
+Entfernung eine Barke, die mit Bewaffneten besetzt war. Nichts Gutes
+ahnend, befahl mein Bruder den Ruderern, sein Schiff zu drehen und dem
+Lande zuzurudern. Wirklich schien sich auch seine Besorgnis zu
+bestätigen; denn jene Barke kam der meines Bruders schnell nach,
+überholte sie, da sie mehr Ruder hatte, und hielt sich immer zwischen
+dem Land, und unserer Barke. Die Mädchen aber, als sie die Gefahr
+erkannten, in der sie schwebten, sprangen auf und schrien und klagten;
+umsonst suchte sie Mustapha zu beruhigen, umsonst stellte er ihnen vor,
+ruhig zu bleiben, weil sie durch ihr Hin- und Herrennen die Barke in
+Gefahr brächten umzuschlagen. Es half nichts, und da sie sich endlich
+bei Annäherung des anderen Bootes alle auf die hintere Seite der Barke
+stürzten, schlug diese um. Indessen aber hatte man vom Land aus die
+Bewegungen des fremden Bootes beobachtet, und da man schon seit einiger
+Zeit Besorgnisse wegen Korsaren hegte, hatte dieses Boot Verdacht
+erregt, und mehrere Barken stießen vom Lande, um den Unsrigen
+beizustehen. Aber sie kamen nur noch zu rechter Zeit, um die
+Untersinkenden aufzunehmen. In der Verwirrung war das feindliche Boot
+entwischt, auf den beiden Barken aber, welche die Geretteten
+aufgenommen hatten, war man ungewiß, ob alle gerettet seien. Man
+näherte sich gegenseitig, und ach! Es fand sich, daß meine Schwester
+und eine ihrer Gespielinnen fehlten; zugleich entdeckte man aber einen
+Fremden in einer der Barken, den niemand kannte. Auf die Drohungen
+Mustaphas gestand er, daß er zu dem feindlichen Schiff, das zwei Meilen
+ostwärts vor Anker liege, gehöre, und daß ihn seine Gefährten auf ihrer
+eiligen Flucht im Stich gelassen hätten, indem er im Begriff gewesen
+sei, die Mädchen auffischen zu helfen; auch sagte er aus, daß er
+gesehen habe, wie man zwei derselben in das Schiff gezogen.
+
+Der Schmerz meines alten Vaters war grenzenlos, aber auch Mustapha war
+bis zum Tod betrübt, denn nicht nur, daß seine geliebte Schwester
+verloren war und daß er sich anklagte, an ihrem Unglück schuld zu
+sein—jene Freundin Fatmes, die ihr Unglück teilte, war von ihren Eltern
+ihm zur Gattin zugesagt gewesen, und nur unserem Vater hatte er es noch
+nicht zu gestehen gewagt, weil ihre Eltern arm und von geringer Abkunft
+waren. Mein Vater aber war ein strenger Mann; als sein Schmerz sich ein
+wenig gelegt hatte, ließ er Mustapha vor sich kommen und sprach zu ihm:
+„Deine Torheit hat mir den Trost meines Alters und die Freude meiner
+Augen geraubt. Gehe hin, ich verbanne dich auf ewig von meinem
+Angesicht, ich fluche dir und deinen Nachkommen, aber nur, wenn du mir
+Fatme wiederbringst, soll dein Haupt rein sein von dem Fluche des
+Vaters.“
+
+Dies hatte mein armer Bruder nicht erwartet; schon vorher hatte er sich
+entschlossen gehabt, seine Schwester und ihre Freundin aufzusuchen, und
+wollte sich nur noch den Segen des Vaters dazu erbitten, und jetzt
+schickte er ihn, mit dem Fluch beladen, in die Welt. Aber hatte ihn
+jener Jammer vorher gebeugt, so stählte jetzt die Fülle des Unglücks,
+das er nicht verdient hatte, seinen Mut.
+
+Er ging zu dem gefangenen Seeräuber und befragte ihn, wohin die Fahrt
+seines Schiffes ginge, und erfuhr, daß sie Sklavenhandel trieben und
+gewöhnlich in Balsora großen Markt hielten.
+
+Als er wieder nach Hause kam, um sich zur Reise anzuschicken, schien
+sich der Zorn des Vaters ein wenig gelegt zu haben, denn er sandte ihm
+einen Beutel mit Gold zur Unterstützung auf der Reise. Mustapha aber
+nahm weinend von den Eltern Zoraides, so hieß seine geliebte Braut,
+Abschied und machte sich auf den Weg nach Balsora.
+
+Mustapha machte die Reise zu Land, weil von unserer kleinen Stadt aus
+nicht gerade ein Schiff nach Balsora ging. Er mußte daher sehr starke
+Tagreisen machen, um nicht zu lange nach den Seeräubern nach Balsora zu
+kommen; doch da er ein gutes Roß und kein Gepäck hatte, konnte er
+hoffen, diese Stadt am Ende des sechsten Tages zu erreichen. Aber am
+Abend des vierten Tages, als er ganz allein seines Weges ritt, fielen
+ihn plötzlich drei Männer an. Da er merkte, daß sie gut bewaffnet und
+stark seien und daß es mehr auf sein Geld und sein Roß als auf sein
+Leben abgesehen war, so rief er ihnen zu, daß er sich ihnen ergeben
+wolle. Sie stiegen von ihren Pferden ab und banden ihm die Füße unter
+dem Bauch seines Tieres zusammen; ihn selbst aber nahmen sie in die
+Mitte und trabten, indem einer den Zügel seines Pferdes ergriff,
+schnell mit ihm davon, ohne jedoch ein Wort zu sprechen.
+
+Mustapha gab sich einer dumpfen Verzweiflung hin, der Fluch seines
+Vaters schien schon jetzt an dem Unglücklichen in Erfüllung zu gehen,
+und wie konnte er hoffen, seine Schwester und Zoraide zu retten, wenn
+er, aller Mittel beraubt, nur sein ärmliches Leben zu ihrer Befreiung
+aufwenden konnte. Mustapha und seine stummen Begleiter mochten wohl
+eine Stunde geritten sein, als sie in ein kleines Seitental einbogen.
+Das Tälchen war von hohen Bäumen eingefaßt; ein weicher dunkelgrüner
+Rasen, ein Bach, der schnell durch seine Mitte hinrollte, luden zur
+Ruhe ein. Wirklich sah er auch fünfzehn bis zwanzig Zelte dort
+aufgeschlagen; an den Pflöcken der Zelte waren Kamele und schöne Pferde
+angebunden, aus einem der Zelte hervor tönte die lustige Weise einer
+Zither und zweier schöner Männerstimmen. Meinem Bruder schien es, als
+ob Leute, die ein so fröhliches Lagerplätzchen sich erwählt hatten,
+nichts Böses gegen ihn im Sinne haben könnten, und er folgte also ohne
+Bangigkeit dem Ruf seiner Führer, die, als sie seine Bande gelöst
+hatten, ihm winkten, abzusteigen. Man führte ihn in ein Zelt, das
+größer als die übrigen und im Innern hübsch, fast zierlich aufgeputzt
+war. Prächtige, goldbestickte Polster, gewirkte Fußteppiche,
+übergoldete Rauchpfannen hätten anderswo Reichtum und Wohlleben
+verraten; hier schienen sie nur kühner Raub. Auf einem der Polster saß
+ein alter kleiner Mann; sein Gesicht war häßlich, seine Haut
+schwarzbraun und glänzend, und ein widriger Zug von tückischer
+Schlauheit um Augen und Mund machte seinen Anblick verhaßt. Obgleich
+sich dieser Mann einiges Ansehen zu geben suchte, so merkte doch
+Mustapha bald, daß nicht für ihn das Zelt so reich geschmückt sei, und
+die Unterredung seiner Führer schien seine Bemerkung zu bestätigen. „Wo
+ist der Starke?“ fragten sie den Kleinen.
+
+„Er ist auf der kleinen Jagd“, antwortete jener, „aber er hat mir
+aufgetragen, seine Stelle zu versehen.“
+
+„Das hat er nicht gescheit gemacht“, entgegnete einer der Räuber, „denn
+es muß sich bald entscheiden, ob dieser Hund sterben oder zahlen soll,
+und das weiß der Starke besser als du.“
+
+Der kleine Mann erhob sich im Gefühl seiner Würde, streckte sich lang
+aus, um mit der Spitze seiner Hand das Ohr seines Gegners zu erreichen,
+denn er schien Lust zu haben, sich durch einen Schlag zu rächen, als er
+aber sah, daß seine Bemühung fruchtlos sei, fing er an zu schimpfen
+(und wahrlich! Die anderen blieben ihm nichts schuldig), daß das Zelt
+von ihrem Streit erdröhnte. Da tat sich auf einmal die Türe des Zeltes
+auf, und herein trat ein hoher, stattlicher Mann, jung und schön wie
+ein Perserprinz; seine Kleidung und seine Waffen waren, außer einem
+reichbesetzten Dolch und einem glänzenden Säbel, gering und einfach;
+aber sein ernstes Auge, sein ganzer Anstand gebot Achtung, ohne Furcht
+einzuflößen.
+
+„Wer ist’s, der es wagt, in meinem Zelte Streit zu beginnen?“ rief er
+den Erschrockenen zu. Eine Zeitlang herrschte tiefe Stille; endlich
+erzählte einer von denen, die Mustapha hergebracht hatten, wie es
+gegangen sei. Da schien sich das Gesicht „des Starken“, wie sie ihn
+nannten, vor Zorn zu röten. „Wann hätte ich dich je an meine Stelle
+gesetzt, Hassan?“ schrie er mit furchtbarer Stimme dem Kleinen zu.
+Dieser zog sich vor Furcht in sich selbst zusammen, daß er noch viel
+kleiner aussah als zuvor, und schlich sich der Zelttüre zu. Ein
+hinlänglicher Tritt des Starken machte, daß er in einem großen
+sonderbaren Sprung zur Zelttüre hinausflog.
+
+Als der Kleine verschwunden war, führten die drei Männer Mustapha vor
+den Herrn des Zeltes, der sich indes auf die Polster gelegt hatte.
+„Hier bringen wir den, welchen du uns zu fangen befohlen hast.“
+
+Jener blickte den Gefangenen lange an und sprach sodann: „Bassa von
+Sulieika! Dein eigenes Gewissen wird dir sagen, warum du vor Orbasan
+stehst.“
+
+Als mein Bruder dies hörte, warf er sich nieder vor jenem und
+antwortete: „O Herr! Du scheinst im Irrtum zu sein. Ich bin ein armer
+Unglücklicher, aber nicht der Bassa, den du suchst!“
+
+Alle im Zelt waren über diese Rede erstaunt. Der Herr des Zeltes aber
+sprach: „Es kann dir wenig helfen, dich zu verstellen; denn ich will
+die Leute vorführen, die dich wohl kennen.“ Er befahl, Zuleima
+vorzufahren. Man brachte ein altes Weib in das Zelt, das auf die Frage,
+ob sie in meinem Bruder nicht den Bassa von Sulieika erkenne,
+antwortete: „Jawohl!“ Und sie schwöre es beim Grab des Propheten, es
+sei der Bassa und kein anderer.
+
+„Siehst du, Erbärmlicher, wie deine List zu Wasser geworden ist!“
+begann zürnend der Starke. „Du bist mir zu elend, als daß ich meinen
+guten Dolch mit deinem Blut besudeln sollte, aber an den Schweif meines
+Rosses will ich dich binden, morgen, wenn die Sonne aufgeht, und durch
+die Wälder mit dir jagen, bis sie scheidet hinter die Hügel von
+Sulieika!“
+
+Da sank meinem armen Bruder der Mut. „Das ist der Fluch meines harten
+Vaters, der mich zum schmachvollen Tode treibt“, rief er weinend, „und
+auch du bist verloren, süße Schwester, auch du, Zoraide!“
+
+„Deine Verstellung hilft dir nichts“, sprach einer der Räuber, indem er
+ihm die Hände auf den Rücken band, „mach, daß du aus dem Zelte kommst!
+Denn der Starke beißt sich in die Lippen und blickt nach seinem Dolch.
+Wenn du noch eine Nacht leben willst, so komm!“
+
+Als die Räuber gerade meinen Bruder aus dem Zelt führen wollten,
+begegneten sie drei anderen, die einen Gefangenen vor sich hintrieben.
+Sie traten mit ihm ein. „Hier bringen wir den Bassa, wie du uns
+befohlen hast“, sprachen sie und führten den Gefangenen vor das Polster
+des Starken. Als der Gefangene dorthin geführt wurde, hatte mein Bruder
+Gelegenheit, ihn zu betrachten, und ihm selbst fiel die Ähnlichkeit
+auf, die dieser Mann mit ihm hatte, nur war er dunkler im Gesicht und
+hatte einen schwärzeren Bart.
+
+Der Starke schien sehr erstaunt über die Erscheinung des zweiten
+Gefangenen. „Wer von euch ist denn der Rechte?“ sprach er, indem er
+bald meinen Bruder, bald den anderen Mann ansah.
+
+„Wenn du den Bassa von Sulieika meinst“, antwortete in stolzem Ton der
+Gefangene, „der bin ich!“ Der Starke sah ihn lange mit seinem ernsten,
+furchtbaren Blick an; dann winkte er schweigend, den Bassa wegzuführen.
+
+Als dies geschehen war, ging er auf meinen Bruder zu, zerschnitt seine
+Bande mit dem Dolch und winkte ihm, sich zu ihm aufs Polster zu setzen.
+„Es tut mir leid, Fremdling“, sagte er, „daß ich dich für jenes
+Ungeheuer hielt; schreibe es aber einer sonderbaren Fügung des Himmels
+zu, die dich gerade in der Stunde, welche dem Untergang jenes
+Verruchten geweiht war, in die Hände meiner Brüder führte.“ Mein Bruder
+bat ihn um die einzige Gunst, ihn gleich wieder weiterreisen zu lassen,
+weil jeder Aufschub ihm verderblich werden könne. Der Starke erkundigte
+sich nach seinen eiligen Geschäften, und als ihm Mustapha alles erzählt
+hatte, überredete ihn jener, diese Nacht in seinem Zelt zu bleiben, er
+und sein Roß werden der Ruhe bedürfen; den folgenden Tag aber wolle er
+ihm einen Weg zeigen, der ihn in anderthalb Tagen nach Balsora
+bringe—Mein Bruder schlug ein, wurde trefflich bewirtet und schlief
+sanft bis zum Morgen in dem Zelt des Räubers.
+
+Als er aufgewacht war, sah er sich ganz allein im Zelt; vor dem Vorhang
+des Zeltes aber hörte er mehrere Stimmen zusammen sprechen, die dem
+Herrn des Zeltes und dem kleinen schwarzbraunen Mann anzugehören
+schienen. Er lauschte ein wenig und hörte zu seinem Schrecken, daß der
+Kleine dringend den anderen aufforderte, den Fremden zu töten, weil er,
+wenn er freigelassen würde, sie alle verraten könnte.
+
+Mustapha merkte gleich, daß der Kleine ihm gram sei, weil er die
+Ursache war, daß er gestern so übel behandelt wurde; der Starke schien
+sich einige Augenblicke zu besinnen. „Nein“, sprach er, „er ist mein
+Gastfreund, und das Gastrecht ist mir heilig; auch sieht er mir nicht
+aus, als ob er uns verraten wollte.“
+
+Als er so gesprochen, schlug er den Vorhang zurück und trat ein.
+„Friede sei mit dir, Mustapha!“ sprach er, „laß uns den Morgentrunk
+kosten, und rüste dich dann zum Aufbruch!“ Er reichte meinem Bruder
+einen Becher Sorbet, und als sie getrunken hatten, zäumten sie die
+Pferde auf, und wahrlich, mit leichterem Herzen, als er gekommen war,
+schwang sich Mustapha aufs Pferd. Sie hatten bald die Zelte im Rücken
+und schlugen dann einen breiten Pfad ein, der in den Wald führte. Der
+Starke erzählte meinem Bruder, daß jener Bassa, den sie auf der Jagd
+gefangen hätten, ihnen versprochen habe, sie ungefährdet in seinem
+Gebiete zu dulden; vor einigen Wochen aber habe er einen ihrer
+tapfersten Männer aufgefangen und nach den schrecklichsten Martern
+aufhängen lassen. Er habe ihm nun lange auflauern lassen, und heute
+noch müsse er sterben. Mustapha wagte es nicht, etwas dagegen
+einzuwenden; denn er war froh, selbst mit heiler Haut davongekommen zu
+sein.
+
+Am Ausgang des Waldes hielt der Starke sein Pferd an, beschrieb meinem
+Bruder den Weg, bot ihm die Hand zum Abschied und sprach: „Mustapha, du
+bist auf sonderbare Weise der Gastfreund des Räubers Orbasan geworden;
+ich will dich nicht auffordern, nicht zu verraten, was du gesehen und
+gehört hast. Du hast ungerechterweise Todesangst ausgestanden, und ich
+bin dir Vergütung schuldig. Nimm diesen Dolch als Andenken, und so du
+Hilfe brauchst, so sende ihn mir zu, und ich will eilen, dir
+beizustehen. Diesen Beutel aber kannst du vielleicht zu deiner Reise
+brauchen.“ Mein Bruder dankte ihm für seinen Edelmut; er nahm den
+Dolch, den Beutel aber schlug er aus. Doch Orbasan drückte ihm noch
+einmal die Hand, ließ den Beutel auf die Erde fallen und sprengte mit
+Sturmeseile in den Wald. Als Mustapha sah, daß er ihn doch nicht mehr
+werde einholen können, stieg er ab, um den Beutel aufzuheben, und
+erschrak über die Größe von seines Gastfreundes Großmut; denn der
+Beutel enthielt eine Menge Gold. Er dankte Allah für seine Rettung,
+empfahl ihm den edlen Räuber in seine Gnade und zog dann heiteren Mutes
+weiter auf seinem Wege nach Balsora.
+
+Lezah schwieg und sah Achmet, den alten Kaufmann, fragend an. „Nein,
+wenn es so ist“, sprach dieser, „so verbessere ich gern mein Urteil von
+Orbasan; denn wahrlich, an deinem Bruder hat er schön gehandelt.“
+
+„Er hat getan wie ein braver Muselmann“, rief Muley; „aber ich hoffe,
+du hast deine Geschichte damit nicht geschlossen; denn wie mich
+bedünkt, sind wir alle begierig, weiter zu hören, wie es deinem Bruder
+erging und ob er Fatme, deine Schwester, und die schöne Zoraide befreit
+hat.“
+
+„Wenn ich euch nicht damit langweile, erzähle ich gerne weiter“,
+entgegnete Lezah, „denn die Geschichte meines Bruders ist allerdings
+abenteuerlich und wundervoll.“
+
+Am Mittag des siebenten Tages nach seiner Abreise zog Mustapha in die
+Tore von Balsora ein. Sobald er in einer Karawanserei abgestiegen war,
+fragte er, wann der Sklavenmarkt, der alljährlich hier gehalten werde,
+anfange. Aber er erhielt die Schreckensantwort, daß er zwei Tage zu
+spät komme. Man bedauerte seine Verspätung und erzählte ihm, daß er
+viel verloren habe; denn noch an dem letzten Tage des Marktes seien
+zwei Sklavinnen angekommen, von so hoher Schönheit, daß sie die Augen
+aller Käufer auf sich gezogen hätten. Man habe sich ordentlich um sie
+gerissen und geschlagen, und sie seien freilich auch zu einem so hohen
+Preise verkauft worden, daß ihn nur ihr jetziger Herr nicht habe
+scheuen können. Er erkundigte sich näher nach diesen beiden, und es
+blieb ihm kein Zweifel, daß es die Unglücklichen seien, die er suchte.
+Auch erfuhr er, daß der Mann, der sie beide gekauft habe, vierzig
+Stunden von Balsora wohne und Thiuli-Kos heiße, ein vornehmer, reicher,
+aber schon ältlicher Mann, der früher Kapudan-Bassa des Großherrn
+gewesen, jetzt aber sich mit seinen gesammelten Reichtümern zur Ruhe
+gesetzt habe.
+
+Mustapha wollte von Anfang sich gleich wieder zu Pferd setzen, um dem
+Thiuli-Kos, der kaum einen Tag Vorsprung haben konnte, nachzueilen. Als
+er aber bedachte, daß er als einzelner Mann dem mächtigen Reisenden
+doch nichts anhaben noch weniger seine Beute ihm abjagen konnte, sann
+er auf einen anderen Plan und hatte ihn auch bald gefunden. Die
+Verwechslung mit dem Bassa von Sulieika, die ihm beinahe so gefährlich
+geworden wäre, brachte ihn auf den Gedanken, unter diesem Namen in das
+Haus des Thiuli-Kos zu gehen und so einen Versuch zur Rettung der
+beiden unglücklichen Mädchen zu wagen. Er mietete daher einige Diener
+und Pferde, wobei ihm Orbasans Geld trefflich zustatten kam, schaffte
+sich und seinen Dienern prächtige Kleider an und machte sich auf den
+Weg nach dem Schlosse Thiulis. Nach fünf Tagen war er in die Nähe
+dieses Schlosses gekommen. Es lag in einer schönen Ebene und war rings
+von hohen Mauern umschlossen, die nur ganz wenig von den Gebäuden
+überragt wurden. Als Mustapha dort angekommen war, färbte er Haar und
+Bart schwarz, sein Gesicht aber bestrich er mit dem Saft einer Pflanze,
+die ihm eine bräunliche Farbe gab, ganz wie sie jener Bassa gehabt
+hatte. Er schickte hierauf einen seiner Diener in das Schloß und ließ
+im Namen des Bassa von Sulieika um ein Nachtlager bitten. Der Diener
+kam bald wieder, und mit ihm vier schöngekleidete Sklaven, die
+Mustaphas Pferd am Zügel nahmen und in den Schloßhof führten. Dort
+halfen sie ihm selbst vom Pferd, und vier andere geleiteten ihn eine
+breite Marmortreppe hinauf zu Thiuli.
+
+Dieser, ein alter, lustiger Geselle, empfing meinen Bruder ehrerbietig
+und ließ ihm das Beste, was sein Koch zubereiten konnte, aufsetzen.
+Nach Tisch brachte Mustapha das Gespräch nach und nach auf die neuen
+Sklavinnen, und Thiuli rühmte ihre Schönheit und beklagte nur, daß sie
+immer so traurig seien; doch er glaubte, dieses würde sich bald geben.
+Mein Bruder war sehr vergnügt über diesen Empfang und legte sich mit
+den schönsten Hoffnungen zur Ruhe nieder.
+
+Er mochte ungefähr eine Stunde geschlafen haben, da weckte ihn der
+Schein einer Lampe, der blendend auf sein Auge fiel. Als er sich
+aufrichtete, glaubte er noch zu träumen; denn vor ihm stand jener
+kleine, schwarzbraune Kerl aus Orbasans Zelt, eine Lampe in der Hand,
+sein breites Maul zu einem widrigen Lächeln verzogen. Mustapha zwickte
+sich in den Arm, zupfte sich an der Nase, um sich zu überzeugen, ob er
+denn wache; aber die Erscheinung blieb wie zuvor. „Was willst du an
+meinem Bette?“ rief Mustapha, als er sich von seinem Erstaunen erholt
+hatte.
+
+„Bemühet Euch doch nicht so, Herr!“ sprach der Kleine. „Ich habe wohl
+erraten, weswegen Ihr hierherkommt. Auch war mir Euer wertes Gesicht
+noch wohl erinnerlich; doch wahrlich, wenn ich nicht den Bassa mit
+eigener Hand hätte erhängen helfen, so hättet Ihr mich vielleicht
+getäuscht. Jetzt aber bin ich da, um eine Frage zu machen.“
+
+„Vor allem sage, wie du hierherkommst“, entgegnete ihm Mustapha voll
+Wut, daß er verraten war.
+
+„Das will ich Euch sagen“, antwortete jener, „ich konnte mich mit dem
+Starken nicht länger vertragen, deswegen floh ich; aber du, Mustapha,
+warst eigentlich die Ursache unseres Streites, und dafür mußt du mir
+deine Schwester zur Frau geben, und ich will Euch zur Flucht behilflich
+sein; gibst du sie nicht, so gehe ich zu meinem neuen Herrn und erzähle
+ihm etwas von dem neuen Bassa.“
+
+Mustapha war vor Schrecken und Wut außer sich; jetzt, wo er sich am
+sicheren Ziel seiner Wünsche glaubte, sollte dieser Elende kommen und
+sie vereiteln; es war nur ein Mittel, das seinen Plan retten konnte: Er
+mußte das kleine Ungetüm töten. Mit einem Sprung fuhr er daher aus dem
+Bette auf den Kleinen zu; doch dieser, der etwas Solches geahnt haben
+mochte, ließ die Lampe fallen, daß sie verlöschte, und entsprang im
+Dunkeln, indem er mörderisch um Hilfe schrie.
+
+Jetzt war guter Rat teuer; die Mädchen mußte er für den Augenblick
+aufgeben und nur auf die eigene Rettung denken; daher ging er an das
+Fenster, um zu sehen, ob er nicht entspringen könnte. Es war eine
+ziemliche Tiefe bis zum Boden, und auf der anderen Seite stand eine
+hohe Mauer, die zu übersteigen war. Sinnend stand er an dem Fenster; da
+hörte er viele Stimmen sich seinem Zimmer nähern; schon waren sie an
+der Türe; da faßte er verzweiflungsvoll seinen Dolch und seine Kleider
+und schwang sich zum Fenster hinaus. Der Fall war hart; aber er fühlte,
+daß er kein Glied gebrochen hatte; drum sprang er auf und lief der
+Mauer zu, die den Hof umschloß, stieg, zum Erstaunen seiner Verfolger,
+hinauf und befand sich bald im Freien. Er floh, bis er an einen kleinen
+Wald kam, wo er sich erschöpft niederwarf. Hier überlegte er, was zu
+tun sei.
+
+Seine Pferde und seine Diener hatte er im Stiche lassen müssen; aber
+sein Geld, das er in dem Gürtel trug, hatte er gerettet.
+
+Sein erfinderischer Kopf zeigte ihm bald einen anderen Weg zur Rettung.
+Er ging in dem Wald weiter, bis er an ein Dorf kam, wo er um geringen
+Preis ein Pferd kaufte, das ihn in Bälde in eine Stadt trug. Dort
+forschte er nach einem Arzt, und man riet ihm einen alten, erfahrenen
+Mann. Diesen bewog er durch einige Goldstücke, daß er ihm eine Arznei
+mitteilte, die einen todähnlichen Schlaf herbeiführte, der durch ein
+anderes Mittel augenblicklich wieder gehoben werden könnte. Als er im
+Besitz dieses Mittels war, kaufte er sich einen langen falschen Bart,
+einen schwarzen Talar und allerlei Büchsen und Kolben, so daß er
+füglich einen reisenden Arzt vorstellen konnte, lud seine Sachen auf
+einen Esel und reiste in das Schloß des Thiuli-Kos zurück. Er durfte
+gewiß sein, diesmal nicht erkannt zu werden, denn der Bart entstellte
+ihn so, daß er sich selbst kaum mehr kannte. Bei Thiuli angekommen,
+ließ er sich als den Arzt Chakamankabudibaba anmelden, und, wie er es
+gedacht hatte, geschah es; der prachtvolle Namen empfahl ihn bei dem
+alten Narren ungemein, so daß er ihn gleich zur Tafel einlud.
+
+Chakamankabudibaba erschien vor Thiuli, und als sie sich kaum eine
+Stunde besprochen hatten, beschloß der Alte, alle seine Sklavinnen der
+Kur des weisen Arztes zu unterwerfen. Dieser konnte seine Freude kaum
+verbergen, daß er jetzt seine geliebte Schwester wiedersehen solle, und
+folgte mit klopfendem Herzen Thiuli, der ihn ins Serail führte. Sie
+waren in ein Zimmer gekommen, das schön ausgeschmückt war, worin sich
+aber niemand befand. „Chambaba oder wie du heißt, lieber Arzt“, sprach
+Thiuli-Kos, „betrachte einmal jenes Loch dort in der Mauer, dort wird
+jede meiner Sklavinnen einen Arm herausstrecken, und du kannst dann
+untersuchen, ob der Puls krank oder gesund ist.“ Mustapha mochte
+einwenden, was er wollte, zu sehen bekam er sie nicht; doch willigte
+Thiuli ein, daß er ihm allemal sagen wolle, wie sie sich sonst
+gewöhnlich befänden. Thiuli zog nun einen langen Zettel aus dem Gürtel
+und begann mit lauter Stimme seine Sklavinnen einzeln beim Namen zu
+rufen, worauf allemal eine Hand aus der Mauer kam und der Arzt den Puls
+untersuchte. Sechs waren schon abgelesen und sämtlich für gesund
+erklärt; da las Thiuli als die siebente „Fatme“ ab, und eine kleine
+weiße Hand schlüpfte aus der Mauer. Zitternd vor Freude, ergreift
+Mustapha diese Hand und erklärt sie mit wichtiger Miene für bedeutend
+krank. Thiuli ward sehr besorgt und befahl seinem weisen
+Chakamankabudibaba, schnell eine Arznei für sie zu bereiten. Der Arzt
+ging hinaus, schrieb auf einen kleinen Zettel: Fatme! Ich will Dich
+retten, wenn Du Dich entschließen kannst, eine Arznei zu nehmen, die
+Dich auf zwei Tage tot macht; doch ich besitze das Mittel, Dich wieder
+zum Leben zu bringen. Willst Du, so sage nur, dieser Trank habe nicht
+geholfen, und es soll mir ein Zeichen sein, daß Du einwilligst.
+
+Bald kam er in das Zimmer zurück, wo Thiuli seiner harrte. Er brachte
+ein unschädliches Tränklein mit, fühlte der kranken Fatme noch einmal
+den Puls und schob ihr zugleich den Zettel unter ihr Armband; das
+Tränklein aber reichte er ihr durch die Öffnung in der Mauer. Thiuli
+schien in großen Sorgen wegen Fatme zu sein und schob die Untersuchung
+der übrigen bis auf eine gelegenere Zeit auf. Als er mit Mustapha das
+Zimmer verlassen hatte, sprach er in traurigem Ton: „Chadibaba, sage
+aufrichtig, was hältst du von Fatmes Krankheit?“
+
+Chakamankabudibaba antwortete mit einem tiefen Seufzer: „Ach Herr, möge
+der Prophet dir Trost verleihen! Sie hat ein schleichendes Fieber, das
+ihr wohl den Garaus machen kann.“ Da entbrannte der Zorn Thiulis: „Was
+sagst du, verfluchter Hund von einem Arzt? Sie, um die ich zweitausend
+Goldstücke gab, soll mir sterben wie eine Kuh? Wisse, wenn du sie nicht
+rettest, so hau’ ich dir den Kopf ab!“ Da merkte mein Bruder, daß er
+einen dummen Streich gemacht habe, und gab Thiuli wieder Hoffnung. Als
+sie noch so sprachen, kam ein schwarzer Sklave aus dem Serail, dem Arzt
+zu sagen, daß das Tränklein nicht geholfen habe. „Biete deine ganze
+Kunst auf, Chakamdababelba, oder wie du dich schreibst, ich zahle dir,
+was du willst“, schrie Thiuli-Kos, fast heulend vor Angst, so viel Gold
+zu verlieren.
+
+„Ich will ihr ein Säftlein geben, das sie von aller Not befreit“,
+antwortete der Arzt.
+
+„Ja! Ja! Gib ihr ein Säftlein“, schluchzte der alte Thiuli.
+
+Frohen Mutes ging Mustapha, seinen Schlaftrunk zu holen, und als er ihn
+dem schwarzen Sklaven gegeben und gezeigt hatte, wieviel man auf einmal
+nehmen müsse, ging er zu Thiuli und sagte, er müsse noch einige
+heilsame Kräuter am See holen, und eilte zum Tor hinaus. An dem See,
+der nicht weit von dem Schloß entfernt war, zog er seine falschen
+Kleider aus und warf sie ins Wasser, daß sie lustig umherschwammen; er
+selbst aber verbarg sich im Gesträuch, wartete die Nacht ab und schlich
+sich dann in den Begräbnisplatz an dem Schlosse Thiulis.
+
+Als Mustapha kaum eine Stunde lang aus dem Schloß abwesend sein mochte,
+brachte man Thiuli die schreckliche Nachricht, daß seine Sklavin Fatme
+im Sterben liege. Er schickte hinaus an den See, um schnell den Arzt zu
+holen; aber bald kehrten seine Boten allein zurück und erzählten ihm,
+daß der arme Arzt ins Wasser gefallen und ertrunken sei; seinen
+schwarzen Talar sehe man im See schwimmen, und hier und da gucke auch
+sein stattlicher Bart aus den Wellen hervor. Als Thiuli keine Rettung
+mehr sah, verwünschte er sich und die ganze Welt, raufte sich den Bart
+aus und rannte mit dem Kopf gegen die Mauer. Aber alles dies konnte
+nichts helfen; denn Fatme gab bald unter den Händen der übrigen Weiber
+den Geist auf. Als Thiuli die Nachricht ihres Todes hörte, befahl er,
+schnell einen Sarg zu machen; denn er konnte keinen Toten im Hause
+leiden und ließ den Leichnam in das Begräbnishaus tragen. Die Träger
+brachten den Sarg dorthin, setzten ihn schnell nieder und entflohen,
+denn sie hatten unter den übrigen Särgen Stöhnen und Seufzen gehört.
+
+Mustapha, der sich hinter den Särgen verborgen und von dort aus die
+Träger des Sarges in die Flucht gejagt hatte, kam hervor und zündete
+sich eine Lampe an, die er zu diesem Zweck mitgebracht hatte. Dann zog
+er ein Glas hervor, das die erweckende Arznei enthielt, und hob dann
+den Deckel von Fatmes Sarg. Aber welches Entsetzen befiel ihn, als sich
+ihm beim Scheine der Lampe ganz fremde Züge zeigten! Weder meine
+Schwester noch Zoraide, sondern eine ganz andere lag in dem Sarg. Er
+brauchte lange, um sich von dem neuen Schlag des Schicksals zu fassen;
+endlich überwog doch Mitleid seinen Zorn. Er öffnete sein Glas und
+flößte ihr die Arznei ein. Sie atmete, sie schlug die Augen auf und
+schien sich lange zu besinnen, wo sie sei. Endlich erinnerte sie sich
+des Vorgefallenen; sie stand auf aus dem Sarg und stürzte zu Mustaphas
+Füßen. „Wie kann ich dir danken, gütiges Wesen“, rief sie aus, „daß du
+mich aus meiner schrecklichen Gefangenschaft befreitest!“ Mustapha
+unterbrach ihre Danksagungen mit der Frage, wie es denn geschehen sei,
+daß sie und nicht Fatme, seine Schwester, gerettet worden sei? Jene sah
+ihn staunend an. „Jetzt wird mir meine Rettung erst klar, die mir
+vorher unbegreiflich war“, antwortete sie; „wisse, man hieß mich in
+jenem Schloß Fatme, und mir hast du deinen Zettel und den Rettungstrank
+gegeben.“ Mein Bruder forderte die Gerettete auf, ihm von seiner
+Schwester und Zoraide Nachricht zu geben, und erfuhr, daß sie sich
+beide im Schloß befanden, aber nach der Gewohnheit Thiulis andere Namen
+bekommen hatten; sie hießen jetzt Mirza und Nurmahal.“
+
+Als Fatme, die gerettete Sklavin, sah, daß mein Bruder durch diesen
+Fehlgriff so niedergeschlagen sei, sprach sie ihm Mut ein und
+versprach, ihm ein Mittel zu sagen, wie er jene beiden Mädchen dennoch
+retten könne. Aufgeweckt durch diesen Gedanken, schöpfte Mustapha von
+neuem Hoffnung und bat sie, dieses Mittel ihm zu nennen, und sie
+sprach:
+
+„Ich bin zwar erst seit fünf Monaten die Sklavin Thiulis, doch habe ich
+gleich von Anfang auf Rettung gesonnen; aber für mich allein war sie zu
+schwer. In dem inneren Hof des Schlosses wirst du einen Brunnen bemerkt
+haben, der aus zehn Röhren Wasser speit; dieser Brunnen fiel mir auf.
+Ich erinnerte mich, in dem Hause meines Vaters einen ähnlichen gesehen
+zu haben, dessen Wasser durch eine geräumige Wasserleitung
+herbeiströmt; um nun zu erfahren, ob dieser Brunnen auch so gebaut ist,
+rühmte ich eines Tages vor Thiuli seine Pracht und fragte nach seinem
+Baumeister. *Ich selbst habe ihn gebaut*, antwortete er, *und das, was
+du hier siehst, ist noch das Geringste; aber das Wasser dazu kommt
+wenigstens tausend Schritte weit von einem Bach her und geht durch eine
+gewölbte Wasserleitung, die wenigstens mannshoch ist; und alles dies
+habe ich selbst angegeben.* Als ich dies gehört hatte, wünschte ich mir
+oft, nur auf einen Augenblick die Stärke eines Mannes zu haben, um
+einen Stein an der Seite des Brunnens ausheben zu können; dann könnte
+ich fliehen, wohin ich wollte. Die Wasserleitung nun will ich dir
+zeigen; durch sie kannst du nachts in das Schloß gelangen und jene
+befreien. Aber du mußt wenigstens noch zwei Männer bei dir haben, um
+die Sklaven, die das Serail bei Nacht bewachen, zu überwältigen.“
+
+So sprach sie; mein Bruder Mustapha aber, obgleich schon zweimal in
+seinen Hoffnungen getäuscht, faßte noch einmal Mut und hoffte mit
+Allahs Hilfe den Plan der Sklavin auszuführen. Er versprach ihr, für
+ihr weiteres Fortkommen in ihre Heimat zu sorgen, wenn sie ihm
+behilflich sein wollte, ins Schloß zu gelangen. Aber ein Gedanke machte
+ihm noch Sorge, nämlich der, woher er zwei oder drei treue Gehilfen
+bekommen könnte. Da fiel ihm Orbasans Dolch ein und das Versprechen,
+das ihm jener gegeben hatte, ihm, wo er seiner bedürfe, zu Hilfe zu
+eilen, und er machte sich daher mit Fatme aus dem Begräbnis auf, um den
+Räuber aufzusuchen.
+
+In der nämlichen Stadt, wo er sich zum Arzt umgewandelt hatte, kaufte
+er um sein letztes Geld ein Roß und mietete Fatme bei einer armen Frau
+in der Vorstadt ein. Er selbst aber eilte dem Gebirge zu, wo er Orbasan
+zum erstenmal getroffen hatte, und gelangte in drei Tagen dahin. Er
+fand bald wieder jene Zelte und trat unverhofft vor Orbasan, der ihn
+freundlich bewillkommnete. Er erzählte ihm seine mißlungenen Versuche,
+wobei sich der ernsthafte Orbasan nicht enthalten konnte, hier und da
+ein wenig zu lachen, besonders, wenn er sich den Arzt
+Chakamankabudibaba dachte. Über die Verräterei des Kleinen aber war er
+wütend; er schwur, ihn mit eigener Hand aufzuhängen, wo er ihn finde.
+Meinem Bruder aber versprach er, sogleich zur Hilfe bereit zu sein,
+wenn er sich vorher von der Reise gestärkt haben würde. Mustapha blieb
+daher diese Nacht wieder in Orbasans Zelt; mit dem ersten Frührot aber
+brachen sie auf, und Orbasan nahm drei seiner tapfersten Männer, wohl
+beritten und bewaffnet, mit sich. Sie ritten stark zu und kamen nach
+zwei Tagen in die kleine Stadt, wo Mustapha die gerettete Fatme
+zurückgelassen hatte. Von da aus reisten sie mit dieser weiter bis zu
+dem kleinen Wald, von wo aus man das Schloß Thiulis in geringer
+Entfernung sehen konnte; dort lagerten sie sich, um die Nacht
+abzuwarten.
+
+Sobald es dunkel wurde, schlichen sie sich, von Fatme geführt, an den
+Bach, wo die Wasserleitung anfing, und fanden diese bald. Dort ließen
+sie Fatme und einen Diener mit den Rossen zurück und schickten sich an,
+hinabzusteigen; ehe sie aber hinabstiegen, wiederholte ihnen Fatme noch
+einmal alles genau, nämlich: daß sie durch den Brunnen in den inneren
+Schloßhof kämen, dort seien rechts und links in der Ecke zwei Türme, in
+der sechsten Türe, vom Turme rechts gerechnet, befänden sich Fatme und
+Zoraide, bewacht von zwei schwarzen Sklaven. Mit Waffen und Brecheisen
+wohl versehen, stiegen Mustapha, Orbasan und zwei andere Männer hinab
+in die Wasserleitung; sie sanken zwar bis an den Gürtel ins Wasser;
+aber nichtsdestoweniger gingen sie rüstig vorwärts. Nach einer halben
+Stunde kamen sie an den Brunnen selbst und setzten sogleich ihre
+Brecheisen an. Die Mauer war dick und fest; aber den vereinten Kräften
+der vier Männer konnte sie nicht lange widerstehen; bald hatten sie
+eine Öffnung eingebrochen, groß genug, um bequem durchschlüpfen zu
+können. Orbasan schlüpfte zuerst durch und half den anderen nach. Als
+sie alle im Hof waren, betrachteten sie die Seite des Schlosses, die
+vor ihnen lag, um die beschriebene Türe zu erforschen. Aber sie waren
+nicht einig, welche es sei; denn als sie von dem rechten Turm zum
+linken zählten, fanden sie eine Türe, die zugemauert war, und wußten
+nun nicht, ob Fatme diese übersprungen oder mitgezählt habe. Aber
+Orbasan besann sich nicht lange. „Mein gutes Schwert wird mir jede Tür
+öffnen“, rief er aus, ging auf die sechste Türe zu, und die anderen
+folgten ihm.
+
+Sie öffneten die Türe und fanden sechs schwarze Sklaven auf dem Boden
+liegend und schlafend; sie wollten schon wieder leise sich
+zurückziehen, weil sie sahen, daß sie die rechte Türe verfehlt hatten,
+als eine Gestalt in der Ecke sich aufrichtete und mit wohlbekannter
+Stimme um Hilfe rief. Es war der Kleine aus Orbasans Lager. Aber ehe
+noch die Schwarzen recht wußten, wie ihnen geschah, stürzte Orbasan auf
+den Kleinen zu, riß seinen Gürtel entzwei, verstopfte ihm den Mund und
+band ihm die Hände auf den Rücken; dann wandte er sich an die Sklaven,
+wovon schon einige von Mustapha und den zwei anderen halb gebunden
+waren, und half sie vollends überwältigen. Man setzte den Sklaven den
+Dolch auf die Brust und fragte sie, wo Nurmahal und Nürza wären, und
+sie gestanden, daß sie im Gemach nebenan seien. Mustapha stürzte in das
+Gemach und fand Fatme und Zoraide, die der Lärm erweckt hatte. Schnell
+rafften diese ihren Schmuck und ihre Kleider zusammen und folgten
+Mustapha; die beiden Räuber schlugen indes Orbasan vor, zu plündern,
+was man fände; doch dieser verbot es ihnen und sprach: „Man soll nicht
+von Orbasan sagen können, daß er nachts in die Häuser steige, um Gold
+zu stehlen!“ Mustapha und die Geretteten schlüpften schnell in die
+Wasserleitung, wohin ihnen Orbasan sogleich zu folgen versprach. Als
+jene in die Wasserleitung hinabgestiegen waren, nahmen Orbasan und
+einer der Räuber den Kleinen und führten ihn hinaus in den Hof; dort
+banden sie ihm eine seidene Schnur, die sie deshalb mitgenommen hatten,
+um den Hals und hingen ihn an der höchsten Spitze des Brunnens auf.
+Nachdem sie so den Verrat des Elenden bestraft hatten, stiegen sie
+selbst hinab in die Wasserleitung und folgten Mustapha. Mit Tränen
+dankten die beiden ihrem edelmütigen Retter Orbasan; doch dieser trieb
+sie eilends zur Flucht an, denn es war sehr wahrscheinlich, daß sie
+Thiuli-Kos nach allen Seiten verfolgen ließ. Mit tiefer Rührung
+trennten sich am anderen Tag Mustapha und seine Geretteten von Orbasan;
+wahrlich, sie werden ihn nie vergessen. Fatme aber, die befreite
+Sklavin, ging verkleidet nach Balsora, um sich dort in ihre Heimat
+einzuschiffen.
+
+Nach einer kurzen und vergnügten Reise kamen die Meinigen in die
+Heimat. Meinen alten Vater tötete beinahe die Freude des Wiedersehens;
+den anderen Tag nach ihrer Ankunft veranstaltete er ein großes Fest, an
+welchem die ganze Stadt teilnahm. Vor einer großen Versammlung von
+Verwandten und Freunden mußte mein Bruder seine Geschichte erzählen,
+und einstimmig priesen sie ihn und den edlen Räuber.
+
+Als aber mein Bruder geschlossen hatte, stand mein Vater auf und führte
+Zoraide ihm zu. „So löse ich denn“, sprach er mit feierlicher Stimme,
+„den Fluch von deinem Haupte; nimm diese hin als die Belohnung, die du
+dir durch deinen rastlosen Eifer erkämpft hast; nimm meinen väterlichen
+Segen, und möge es nie unserer Stadt an Männern fehlen, die an
+brüderlicher Liebe, an Klugheit und Eifer dir gleichen!“
+
+Die Karawane hatte das Ende der Wüste erreicht, und fröhlich begrüßten
+die Reisenden die grünen Matten und die dichtbelaubten Bäume, deren
+lieblichen Anblick sie viele Tage entbehrt hatten. In einem schönen
+Tale lag eine Karawanserei, die sie sich zum Nachtlager wählten, und
+obgleich sie wenig Bequemlichkeit und Erfrischung darbot, so war doch
+die ganze Gesellschaft heiterer und zutraulicher als je; denn der
+Gedanke, den Gefahren und Beschwerlichkeiten, die eine Reise durch die
+Wüste mit sich bringt, entronnen zu sein, hatte alle Herzen geöffnet
+und die Gemüter zu Scherz und Kurzweil gestimmt. Muley, der junge
+lustige Kaufmann, tanzte einen komischen Tanz und sang Lieder dazu, die
+selbst dem ernsten Griechen Zaleukos ein Lächeln entlockten. Aber nicht
+genug, daß er seine Gefährten durch Tanz und Spiel erheitert hatte, er
+gab ihnen auch noch die Geschichte zum besten, die er ihnen versprochen
+hatte, und hub, als er von seinen Luftsprüngen sich erholt hatte, also
+zu erzählen an: Die Geschichte von dem kleinen Muck.
+
+
+
+
+Die Geschichte von dem kleinen Muck
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+In Nicea, meiner lieben Vaterstadt, wohnte ein Mann, den man den
+kleinen Muck hieß. Ich kann mir ihn, ob ich gleich damals noch sehr
+jung war, noch recht wohl denken, besonders weil ich einmal von meinem
+Vater wegen seiner halbtot geprügelt wurde. Der kleine Muck nämlich war
+schon ein alter Geselle, als ich ihn kannte; doch war er nur drei bis
+vier Schuh hoch, dabei hatte er eine sonderbare Gestalt, denn sein
+Leib, so klein und zierlich er war, mußte einen Kopf tragen, viel
+größer und dicker als der Kopf anderer Leute; er wohnte ganz allein in
+einem großen Haus und kochte sich sogar selbst, auch hätte man in der
+Stadt nicht gewußt, ob er lebe oder gestorben sei, denn er ging nur
+alle vier Wochen einmal aus, wenn nicht um die Mittagsstunde ein
+mächtiger Dampf aus dem Hause aufgestiegen wäre, doch sah man ihn oft
+abends auf seinem Dache auf und ab gehen, von der Straße aus glaubte
+man aber, nur sein großer Kopf allein laufe auf dem Dache umher. Ich
+und meine Kameraden waren böse Buben, die jedermann gerne neckten und
+belachten, daher war es uns allemal ein Festtag, wenn der kleine Muck
+ausging; wir versammelten uns an dem bestimmten Tage vor seinem Haus
+und warteten, bis er herauskam; wenn dann die Türe aufging und zuerst
+der große Kopf mit dem noch größeren Turban herausguckte, wenn das
+übrige Körperlein nachfolgte, angetan mit einem abgeschabten Mäntelein,
+weiten Beinkleidern und einem breiten Gürtel, an welchem ein langer
+Dolch hing, so lang, daß man nicht wußte, ob Muck an dem Dolch, oder
+der Dolch an Muck stak, wenn er so heraustrat, da ertönte die Luft von
+unserem Freudengeschrei, wir warfen unsere Mützen in die Höhe und
+tanzten wie toll um ihn her. Der kleine Muck aber grüßte uns mit
+ernsthaftem Kopfnicken und ging mit langsamen Schritten die Straße
+hinab. Wir Knaben liefen hinter ihm her und schrien immer: „Kleiner
+Muck, kleiner Muck!“ Auch hatten wir ein lustiges Verslein, das wir ihm
+zu Ehren hier und da sangen; es hieß:
+
+„Kleiner Muck, kleiner Muck,
+Wohnst in einem großen Haus,
+Gehst nur all vier Wochen aus,
+Bist ein braver, kleiner Zwerg,
+Hast ein Köpflein wie ein Berg,
+Schau dich einmal um und guck,
+Lauf und fang uns, kleiner Muck!“
+
+
+So hatten wir schon oft unsere Kurzweil getrieben, und zu meiner
+Schande muß ich es gestehen, ich trieb’s am ärgsten; denn ich zupfte
+ihn oft am Mäntelein, und einmal trat ich ihm auch von hinten auf die
+großen Pantoffeln, daß er hinfiel. Dies kam mir nun höchst lächerlich
+vor, aber das Lachen verging mir, als ich den kleinen Muck auf meines
+Vaters Haus zugehen sah. Er ging richtig hinein und blieb einige Zeit
+dort. Ich versteckte mich an der Haustüre und sah den Muck wieder
+herauskommen, von meinem Vater begleitet, der ihn ehrerbietig an der
+Hand hielt und an der Türe unter vielen Bücklingen sich von ihm
+verabschiedete. Mir war gar nicht wohl zumute; ich blieb daher lange in
+meinem Versteck; endlich aber trieb mich der Hunger, den ich ärger
+fürchtete als Schläge, heraus, und demütig und mit gesenktem Kopf trat
+ich vor meinen Vater. „Du hast, wie ich höre, den guten Muck
+beschimpft?“ sprach er in sehr ernstem Tone. „Ich will dir die
+Geschichte dieses Muck erzählen, und du wirst ihn gewiß nicht mehr
+auslachen; vor- und nachher aber bekommst du das Gewöhnliche.“ Das
+Gewöhnliche aber waren fünfundzwanzig Hiebe, die er nur allzu richtig
+aufzuzählen pflegte. Er nahm daher sein langes Pfeifenrohr, schraubte
+die Bernsteinmundspitze ab und bearbeitete mich ärger als je zuvor.
+
+Als die Fünfundzwanzig voll waren, befahl er mir, aufzumerken, und
+erzählte mir von dem kleinen Muck:
+
+Der Vater des kleinen Muck, der eigentlich Muckrah heißt, war ein
+angesehener, aber armer Mann hier in Nicea. Er lebte beinahe so
+einsiedlerisch wie jetzt sein Sohn. Diesen konnte er nicht wohl leiden,
+weil er sich seiner Zwerggestalt schämte, und ließ ihn daher auch in
+Unwissenheit aufwachsen. Der kleine Muck war noch in seinem sechzehnten
+Jahr ein lustiges Kind, und der Vater, ein ernster Mann, tadelte ihn
+immer, daß er, der schon längst die Kinderschuhe zertreten haben
+sollte, noch so dumm und läppisch sei.
+
+Der Alte tat aber einmal einen bösen Fall, an welchem er auch starb und
+den kleinen Muck arm und unwissend zurückließ. Die harten Verwandten,
+denen der Verstorbene mehr schuldig war, als er bezahlen konnte, jagten
+den armen Kleinen aus dem Hause und rieten ihm, in die Welt
+hinauszugehen und sein Glück zu suchen. Der kleine Muck antwortete, er
+sei schon reisefertig, bat sich aber nur noch den Anzug seines Vaters
+aus, und dieser wurde ihm auch bewilligt. Sein Vater war ein großer,
+starker Mann gewesen, daher paßten die Kleider nicht. Muck aber wußte
+bald Rat; er schnitt ab, was zu lang war, und zog dann die Kleider an.
+Er schien aber vergessen zu haben, daß er auch in der Weite davon
+schneiden müsse, daher sein sonderbarer Aufzug, wie er noch heute zu
+sehen ist; der große Turban, der breite Gürtel, die weiten Hosen, das
+blaue Mäntelein, alles dies sind Erbstücke seines Vaters, die er
+seitdem getragen; den langen Damaszenerdolch seines Vaters aber steckte
+er in den Gürtel, ergriff ein Stöcklein und wanderte zum Tor hinaus.
+
+Fröhlich wanderte er den ganzen Tag; denn er war ja ausgezogen, um sein
+Glück zu suchen; wenn er eine Scherbe auf der Erde im Sonnenschein
+glänzen sah, so steckte er sie gewiß zu sich, im Glauben, daß sie sich
+in den schönsten Diamanten verwandeln werde; sah er in der Ferne die
+Kuppel einer Moschee wie Feuer strahlen, sah er einen See wie einen
+Spiegel blinken, so eilte er voll Freude darauf zu; denn er dachte, in
+einem Zauberland angekommen zu sein. Aber ach! Jene Trugbilder
+verschwanden in der Nähe, und nur allzubald erinnerten ihn seine
+Müdigkeit und sein vor Hunger knurrender Magen, daß er noch im Lande
+der Sterblichen sich befinde. So war er zwei Tage gereist unter Hunger
+und Kummer und verzweifelte, sein Glück zu finden; die Früchte des
+Feldes waren seine einzige Nahrung, die harte Erde sein Nachtlager. Am
+Morgen des dritten Tages erblickte er von einer Anhöhe eine große
+Stadt.
+
+Hell leuchtete der Halbmond auf ihren Zinnen, bunte Fahnen schimmerten
+auf den Dächern und schienen den kleinen Muck zu sich herzuwinken.
+Überrascht stand er stille und betrachtete Stadt und Gegend. „Ja, dort
+wird Klein-Muck sein Glück finden“, sprach er zu sich und machte trotz
+seiner Müdigkeit einen Luftsprung, „dort oder nirgends.“ Er raffte alle
+seine Kräfte zusammen und schritt auf die Stadt zu. Aber obgleich sie
+ganz nahe schien, konnte er sie doch erst gegen Mittag erreichen; denn
+seine kleinen Glieder versagten ihm beinahe gänzlich ihren Dienst, und
+er mußte sich oft in den Schatten einer Palme setzen, um auszuruhen.
+Endlich war er an dem Tor der Stadt angelangt. Er legte sein Mäntelein
+zurecht, band den Turban schöner um, zog den Gürtel noch breiter an und
+steckte den langen Dolch schiefer; dann wischte er den Staub von den
+Schuhen, ergriff sein Stöcklein und ging mutig zum Tor hinein.
+
+Er hatte schon einige Straßen durchwandert; aber nirgends öffnete sich
+ihm die Türe, nirgends rief man, wie er sich vorgestellt hatte:
+„Kleiner Muck, komm herein und iß und trink und laß deine Füßlein
+ausruhen!“
+
+Er schaute gerade auch wieder recht sehnsüchtig an einem großen,
+schönen Haus hinauf; da öffnete sich ein Fenster, eine alte Frau
+schaute heraus und rief mit singender Stimme:
+
+„Herbei, herbei!
+Gekocht ist der Brei,
+Den Tisch ließ ich decken,
+Drum laßt es euch schmecken;
+Ihr Nachbarn herbei,
+Gekocht ist der Brei.“
+
+
+Die Türe des Hauses öffnete sich, und Muck sah viele Hunde und Katzen
+hineingehen. Er stand einige Augenblicke in Zweifel, ob er der
+Einladung folgen sollte; endlich aber faßte er sich ein Herz und ging
+in das Haus. Vor ihm her gingen ein paar junge Kätzlein, und er
+beschloß, ihnen zu folgen, weil sie vielleicht die Küche besser wüßten
+als er.
+
+Als Muck die Treppe hinaufgestiegen war, begegnete er jener alten Frau,
+die zum Fenster herausgeschaut hatte. Sie sah ihn mürrisch an und
+fragte nach seinem Begehr. „Du hast ja jedermann zu deinem Brei
+eingeladen“, antwortete der kleine Muck, „und weil ich so gar hungrig
+bin, bin ich auch gekommen.“
+
+Die Alte lachte und sprach: „Woher kommst du denn, wunderlicher Gesell?
+Die ganze Stadt weiß, daß ich für niemand koche als für meine lieben
+Katzen, und hier und da lade ich ihnen Gesellschaft aus der
+Nachbarschaft ein, wie du siehst.“
+
+Der kleine Muck erzählte der alten Frau, wie es ihm nach seines Vaters
+Tod so hart ergangen sei, und bat sie, ihn heute mit ihren Katzen
+speisen zu lassen. Die Frau, welcher die treuherzige Erzählung des
+Kleinen wohl gefiel, erlaubte ihm, ihr Gast zu sein, und gab ihm
+reichlich zu essen und zu trinken. Als er gesättigt und gestärkt war,
+betrachtete ihn die Frau lange und sagte dann: „Kleiner Muck, bleibe
+bei mir in meinem Dienste! Du hast geringe Mühe und sollst gut gehalten
+sein.“
+
+Der kleine Muck, dem der Katzenbrei geschmeckt hatte, willigte ein und
+wurde also der Bedienstete der Frau Ahavzi. Er hatte einen leichten,
+aber sonderbaren Dienst. Frau Ahavzi hatte nämlich zwei Kater und vier
+Katzen, diesen mußte der kleine Muck alle Morgen den Pelz kämmen und
+mit köstlichen Salben einreiben; wenn die Frau ausging, mußte er auf
+die Katzen Achtung geben, wenn sie aßen, mußte er ihnen die Schüsseln
+vorlegen, und nachts mußte er sie auf seidene Polster legen und sie mit
+samtenen Decken einhüllen. Auch waren noch einige kleine Hunde im Haus,
+die er bedienen mußte, doch wurden mit diesen nicht so viele Umstände
+gemacht wie mit den Katzen, welche Frau Ahavzi wie ihre eigenen Kinder
+hielt. Übrigens führte Muck ein so einsames Leben wie in seines Vaters
+Haus, denn außer der Frau sah er den ganzen Tag nur Hunde und Katzen.
+Eine Zeitlang ging es dem kleinen Muck ganz gut; er hatte immer zu
+essen und wenig zu arbeiten, und die alte Frau schien recht zufrieden
+mit ihm zu sein, aber nach und nach wurden die Katzen unartig, wenn die
+Alte ausgegangen war, sprangen sie wie besessen in den Zimmern umher,
+warfen alles durcheinander und zerbrachen manches schöne Geschirr, das
+ihnen im Weg stand. Wenn sie aber die Frau die Treppe heraufkommen
+hörten, verkrochen sie sich auf ihre Polster und wedelten ihr mit den
+Schwänzen entgegen, wie wenn nichts geschehen wäre. Die Frau Ahavzi
+geriet dann in Zorn, wenn sie ihre Zimmer so verwüstet sah, und schob
+alles auf Muck, er mochte seine Unschuld beteuern, wie er wollte, sie
+glaubte ihren Katzen, die so unschuldig aussahen, mehr als ihrem
+Diener.
+
+Der kleine Muck war sehr traurig, daß er also auch hier sein Glück
+nicht gefunden hatte, und beschloß bei sich, den Dienst der Frau Ahavzi
+zu verlassen. Da er aber auf seiner ersten Reise erfahren hatte, wie
+schlecht man ohne Geld lebt, so beschloß er, den Lohn, den ihm seine
+Gebieterin immer versprochen, aber nie gegeben hatte, sich auf
+irgendeine Art zu verschaffen. Es befand sich in dem Hause der Frau
+Ahavzi ein Zimmer, das immer verschlossen war und dessen Inneres er nie
+gesehen hatte. Doch hatte er die Frau oft darin rumoren gehört, und er
+hätte oft für sein Leben gern gewußt, was sie dort versteckt habe. Als
+er nun an sein Reisegeld dachte, fiel ihm ein, daß dort die Schätze der
+Frau versteckt sein könnten. Aber immer war die Tür fest verschlossen,
+und er konnte daher den Schätzen nie beikommen.
+
+Eines Morgens, als die Frau Ahavzi ausgegangen war, zupfte ihn eines
+der Hundlein, welches von der Frau immer sehr stiefmütterlich behandelt
+wurde, dessen Gunst er sich aber durch allerlei Liebesdienste in hohem
+Grade erworben hatte, an seinen weiten Beinkleidern und gebärdete sich
+dabei, wie wenn Muck ihm folgen sollte. Muck, welcher gerne mit den
+Hunden spielte, folgte ihm, und siehe da, das Hundlein führte ihn in
+die Schlafkammer der Frau Ahavzi vor eine kleine Türe, die er nie zuvor
+dort bemerkt hatte. Die Türe war halb offen. Das Hundlein ging hinein,
+und Muck folgte ihm, und wie freudig war er überrascht, als er sah, daß
+er sich in dem Gemach befand, das schon lange das Ziel seiner Wünsche
+war. Er spähte überall umher, ob er kein Geld finden könne, fand aber
+nichts. Nur alte Kleider und wunderlich geformte Geschirre standen
+umher. Eines dieser Geschirre zog seine besondere Aufmerksamkeit auf
+sich. Es war von Kristall, und schöne Figuren waren darauf
+ausgeschnitten. Er hob es auf und drehte es nach allen Seiten. Aber, o
+Schrecken! Er hatte nicht bemerkt, daß es einen Deckel hatte, der nur
+leicht darauf hingesetzt war. Der Deckel fiel herab und zerbrach in
+tausend Stücke.
+
+Lange stand der kleine Muck vor Schrecken leblos. Jetzt war sein
+Schicksal entschieden, jetzt mußte er entfliehen, sonst schlug ihn die
+Alte tot. Sogleich war auch seine Reise beschlossen, und nur noch
+einmal wollte er sich umschauen, ob er nichts von den Habseligkeiten
+der Frau Ahavzi zu seinem Marsch brauchen könnte. Da fielen ihm ein
+Paar mächtig große Pantoffeln ins Auge; sie waren zwar nicht schön;
+aber seine eigenen konnten keine Reise mehr mitmachen; auch zogen ihn
+jene wegen ihrer Größe an; denn hatte er diese am Fuß, so mußten ihm
+hoffentlich alle Leute ansehen, daß er die Kinderschuhe vertreten habe.
+Er zog also schnell seine Töffelein aus und fuhr in die großen hinein.
+Ein Spazierstöcklein mit einem schön geschnittenen Löwenkopf schien ihm
+auch hier allzu müßig in der Ecke zu stehen; er nahm es also mit und
+eilte zum Zimmer hinaus. Schnell ging er jetzt auf seine Kammer, zog
+sein Mäntelein an, setzte den väterlichen Turban auf, steckte den Dolch
+in den Gürtel und lief, so schnell ihn seine Füße trugen, zum Haus und
+zur Stadt hinaus. Vor der Stadt lief er, aus Angst vor der Alten, immer
+weiter fort, bis er vor Müdigkeit beinahe nicht mehr konnte. So schnell
+war er in seinem Leben nicht gegangen; ja, es schien ihm, als könne er
+gar nicht aufhören zu rennen; denn eine unsichtbare Gewalt schien ihn
+fortzureißen. Endlich bemerkte er, daß es mit den Pantoffeln eine
+eigene Bewandtnis haben müsse; denn diese schossen immer fort und
+führten ihn mit sich. Er versuchte auf allerlei Weise stillzustehen;
+aber es wollte nicht gelingen; da rief er in der höchsten Not, wie man
+den Pferden zuruft, sich selbst zu: „Oh—oh, halt, oh!“ Da hielten die
+Pantoffeln, und Muck warf sich erschöpft auf die Erde nieder.
+
+Die Pantoffeln freuten ihn ungemein. So hatte er sich denn doch durch
+seine Verdienste etwas erworben, das ihm in der Welt auf seinem Weg das
+Glück zu suchen, forthelfen konnte. Er schlief trotz seiner Freude vor
+Erschöpfung ein; denn das Körperlein des kleinen Muck, das einen so
+schweren Kopf zu tragen hatte, konnte nicht viel aushalten. Im Traum
+erschien ihm das Hundlein, welches ihm im Hause der Frau Ahavzi zu den
+Pantoffeln verholfen hatte, und sprach zu ihm: „Lieber Muck, du
+verstehst den Gebrauch der Pantoffeln noch nicht recht; wisse, wenn du
+dich in ihnen dreimal auf dem Absatz herumdrehst, so kannst du
+hinfliegen, wohin du nur willst, und mit dem Stöcklein kannst du
+Schätze finden, denn wo Gold vergraben ist, da wird es dreimal auf die
+Erde schlagen, bei Silber zweimal.“ So träumte der kleine Muck. Als er
+aber aufwachte, dachte er über den wunderbaren Traum nach und beschloß,
+alsbald einen Versuch zu machen. Er zog die Pantoffeln an, lupfte einen
+Fuß und begann sich auf dem Absatz umzudrehen. Wer es aber jemals
+versucht hat, in einem ungeheuer weiten Pantoffel dieses Kunststück
+dreimal hintereinander zu machen, der wird sich nicht wundern, wenn es
+dem kleinen Muck nicht gleich glückte, besonders wenn man bedenkt, daß
+ihn sein schwerer Kopf bald auf diese, bald auf jene Seite hinüberzog.
+
+Der arme Kleine fiel einigemal tüchtig auf die Nase; doch ließ er sich
+nicht abschrecken, den Versuch zu wiederholen, und endlich glückte es.
+Wie ein Rad fuhr er auf seinem Absatz herum, wünschte sich in die
+nächste große Stadt, und—die Pantoffeln ruderten hinauf in die Lüfte,
+liefen mit Windeseile durch die Wolken, und ehe sich der kleine Muck
+noch besinnen konnte, wie ihm geschah, befand er sich schon auf einem
+großen Marktplatz, wo viele Buden aufgeschlagen waren und unzählige
+Menschen geschäftig hin und her liefen. Er ging unter den Leuten hin
+und her, hielt es aber für ratsamer, sich in eine einsamere Straße zu
+begeben; denn auf dem Markt trat ihm bald da einer auf die Pantoffeln,
+daß er beinahe umfiel, bald stieß er mit seinem weit hinausstehenden
+Dolch einen oder den anderen an, daß er mit Mühe den Schlägen entging.
+
+Der kleine Muck bedachte nun ernstlich, was er wohl anfangen könnte, um
+sich ein Stück Geld zu verdienen; er hatte zwar ein Stäblein, das ihm
+verborgene Schätze anzeigte, aber wo sollte er gleich einen Platz
+finden, wo Gold oder Silber vergraben wäre? Auch hätte er sich zur Not
+für Geld sehen lassen können; aber dazu war er doch zu stolz. Endlich
+fiel ihm die Schnelligkeit seiner Füße ein, „vielleicht“, dachte er,
+„können mir meine Pantoffeln Unterhalt gewähren“, und er beschloß, sich
+als Schnelläufer zu verdingen. Da er aber hoffen durfte, daß der König
+dieser Stadt solche Dienste am besten bezahle, so erfragte er den
+Palast. Unter dem Tor des Palastes stand eine Wache, die ihn fragte,
+was er hier zu suchen habe. Auf seine Antwort, daß er einen Dienst
+suche, wies man ihn zum Aufseher der Sklaven. Diesem trug er sein
+Anliegen vor und bat ihn, ihm einen Dienst unter den königlichen Boten
+zu besorgen. Der Aufseher maß ihn mit seinen Augen von Kopf bis zu den
+Füßen und sprach: „Wie, mit deinen Füßlein, die kaum so lang als eine
+Spanne sind, willst du königlicher Schnelläufer werden? Hebe dich weg,
+ich bin nicht dazu da, mit jedem Narren Kurzweil zu machen.“ Der kleine
+Muck versicherte ihm aber, daß es ihm vollkommen ernst sei mit seinem
+Antrag und daß er es mit dem Schnellsten auf eine Wette ankommen lassen
+wollte. Dem Aufseher kam die Sache gar lächerlich vor; er befahl ihm,
+sich bis auf den Abend zu einem Wettlauf bereitzuhalten, führte ihn in
+die Küche und sorgte dafür, daß ihm gehörig Speis’ und Trank gereicht
+wurde; er selbst aber begab sich zum König und erzählte ihm vom kleinen
+Muck und seinem Anerbieten. Der König war ein lustiger Herr, daher
+gefiel es ihm wohl, daß der Aufseher der Sklaven den kleinen Menschen
+zu einem Spaß behalten habe, er befahl ihm, auf einer großen Wiese
+hinter dem Schloß Anstalten zu treffen, daß das Wettlaufen mit
+Bequemlichkeit von seinem ganzen Hofstaat könnte gesehen werden, und
+empfahl ihm nochmals, große Sorgfalt für den Zwerg zu haben. Der König
+erzählte seinen Prinzen und Prinzessinnen, was sie diesen Abend für ein
+Schauspiel haben würden, diese erzählten es wieder ihren Dienern, und
+als der Abend herankam, war man in gespannter Erwartung, und alles, was
+Füße hatte, strömte hinaus auf die Wiese, wo Gerüste aufgeschlagen
+waren, um den großsprecherischen Zwerg laufen zu sehen.
+
+Als der König und seine Söhne und Töchter auf dem Gerüst Platz genommen
+hatten, trat der kleine Muck heraus auf die Wiese und machte vor den
+hohen Herrschaften eine überaus zierliche Verbeugung. Ein allgemeines
+Freudengeschrei ertönte, als man des Kleinen ansichtig wurde; eine
+solche Figur hatte man dort noch nie gesehen. Das Körperlein mit dem
+mächtigen Kopf, das Mäntelein und die weiten Beinkleider, der lange
+Dolch in dem breiten Gürtel, die kleinen Füßlein in den weiten
+Pantoffeln—nein! Es war zu drollig anzusehen, als daß man nicht hätte
+laut lachen sollen. Der kleine Muck ließ sich aber durch das Gelächter
+nicht irremachen. Er stellte sich stolz, auf sein Stöcklein gestützt,
+hin und erwartete seinen Gegner. Der Aufseher der Sklaven hatte nach
+Mucks eigenem Wunsche den besten Läufer ausgesucht. Dieser trat nun
+heraus, stellte sich neben den Kleinen, und beide harrten auf das
+Zeichen. Da winkte Prinzessin Amarza, wie es ausgemacht war, mit ihrem
+Schleier, und wie zwei Pfeile, auf dasselbe Ziel abgeschossen, flogen
+die beiden Wettläufer über die Wiese hin.
+
+Von Anfang hatte Mucks Gegner einen bedeutenden Vorsprung, aber dieser
+jagte ihm auf seinem Pantoffelfuhrwerk nach, holte ihn ein, überfing
+ihn und stand längst am Ziele, als jener noch, nach Luft schnappend,
+daherlief. Verwunderung und Staunen fesselten einige Augenblicke die
+Zuschauer, als aber der König zuerst in die Hände klatschte, da
+jauchzte die Menge, und alle riefen: „Hoch lebe der kleine Muck, der
+Sieger im Wettlauf!“
+
+Man hatte indes den kleinen Muck herbeigebracht; er warf sich vor dem
+König nieder und sprach: „Großmächtigster König, ich habe dir hier nur
+eine kleine Probe meiner Kunst gegeben; wolle nur gestatten, daß man
+mir eine Stelle unter deinen Läufern gebe!“
+
+Der König aber antwortete ihm: „Nein, du sollst mein Leibläufer und
+immer um meine Person sein, lieber Muck, jährlich sollst du hundert
+Goldstücke erhalten als Lohn, und an der Tafel meiner ersten Diener
+sollst du speisen.“
+
+So glaubte denn Muck, endlich das Glück gefunden zu haben, das er so
+lange suchte, und war fröhlich und wohlgemut in seinem Herzen. Auch
+erfreute er sich der besonderen Gnade des Königs, denn dieser
+gebrauchte ihn zu seinen schnellsten und geheimsten Sendungen, die er
+dann mit der größten Genauigkeit und mit unbegreiflicher Schnelle
+besorgte.
+
+Aber die übrigen Diener des Königs waren ihm gar nicht zugetan, weil
+sie sich ungern durch einen Zwerg, der nichts verstand, als schnell zu
+laufen, in der Gunst ihres Herrn zurückgesetzt sahen. Sie
+veranstalteten daher manche Verschwörung gegen ihn, um ihn zu stürzen;
+aber alle schlugen fehl an dem großen Zutrauen, das der König in seinen
+geheimen Oberleibläufer (denn zu dieser Würde hatte er es in so kurzer
+Zeit gebracht) setzte.
+
+Muck, dem diese Bewegungen gegen ihn nicht entgingen, sann nicht auf
+Rache, dazu hatte er ein zu gutes Herz, nein, auf Mittel dachte er,
+sich bei seinen Feinden notwendig und beliebt zu machen. Da fiel ihm
+sein Stäblein, das er in seinem Glück außer acht gelassen hatte, ein;
+wenn er Schätze finde, dachte er, würden ihm die Herren schon geneigter
+werden. Er hatte schon oft gehört, daß der Vater des jetzigen Königs
+viele seiner Schätze vergraben habe, als der Feind sein Land
+überfallen; man sagte auch, er sei darüber gestorben, ohne daß er sein
+Geheimnis habe seinem Sohn mitteilen können. Von nun an nahm Muck immer
+sein Stöcklein mit, in der Hoffnung, einmal an einem Ort
+vorüberzugehen, wo das Geld des alten Königs vergraben sei. Eines
+Abends führte ihn der Zufall in einen entlegenen Teil des
+Schloßgartens, den er wenig besuchte, und plötzlich fühlte er das
+Stöcklein in seiner Hand zucken, und dreimal schlug es gegen den Boden.
+Nun wußte er schon, was dies zu bedeuten hatte. Er zog daher seinen
+Dolch heraus, machte Zeichen in die umstellenden Bäume und schlich sich
+wieder in das Schloß; dort verschaffte er sich einen Spaten und wartete
+die Nacht zu seinem Unternehmen ab.
+
+Das Schatzgraben selbst machte übrigens dem kleinen Muck mehr zu
+schaffen, als er geglaubt hatte.
+
+Seine Arme waren gar zu schwach, sein Spaten aber groß und schwer; und
+er mochte wohl schon zwei Stunden gearbeitet haben, ehe er ein paar Fuß
+tief gegraben hatte. Endlich stieß er auf etwas Hartes, das wie Eisen
+klang. Er grub jetzt emsiger, und bald hatte er einen großen eisernen
+Deckel zutage gefördert; er stieg selbst in die Grube hinab, um
+nachzuspähen, was wohl der Deckel könnte bedeckt haben, und fand
+richtig einen großen Topf, mit Goldstücken angefüllt. Aber seine
+schwachen Kräfte reichten nicht hin, den Topf zu heben, daher steckte
+er in seine Beinkleider und seinen Gürtel, so viel er zu tragen
+vermochte, und auch sein Mäntelein füllte er damit, bedeckte das übrige
+wieder sorgfältig und lud es auf den Rücken. Aber wahrlich, wenn er die
+Pantoffeln nicht an den Füßen gehabt hätte, er wäre nicht vom Fleck
+gekommen, so zog ihn die Last des Goldes nieder. Doch unbemerkt kam er
+auf sein Zimmer und verwahrte dort sein Gold unter den Polstern seines
+Sofas.
+
+Als der kleine Muck sich im Besitz so vielen Goldes sah, glaubte er,
+das Blatt werde sich jetzt wenden und er werde sich unter seinen
+Feinden am Hofe viele Gönner und warme Anhänger erwerben. Aber schon
+daran konnte man erkennen, daß der gute Muck keine gar sorgfältige
+Erziehung genossen haben mußte, sonst hätte er sich wohl nicht
+einbilden können, durch Gold wahre Freunde zu gewinnen. Ach, daß er
+damals seine Pantoffeln geschmiert und sich mit seinem Mäntelein voll
+Gold aus dem Staub gemacht hätte!
+
+Das Gold, das der kleine Muck von jetzt an mit vollen Händen austeilte,
+erweckte den Neid der übrigen Hofbediensteten. Der Küchenmeister Ahuli
+sagte: „Er ist ein Falschmünzer.“
+
+Der Sklavenaufseher Achmet sagte: „Er hat’s dem König abgeschwatzt.“
+
+Archaz, der Schatzmeister, aber, sein ärgster Feind, der selbst hier
+und da einen Griff in des Königs Kasse tun mochte, sagte geradezu: „Er
+hat’s gestohlen.“
+
+Um nun ihrer Sache gewiß zu sein, verabredeten sie sich, und der
+Obermundschenk Korchuz stellte sich eines Tages recht traurig und
+niedergeschlagen vor die Augen des Königs. Er machte seine traurigen
+Gebärden so auffallend, daß ihn der König fragte, was ihm fehle.
+
+„Ah“, antwortete er, „ich bin traurig, daß ich die Gnade meines Herrn
+verloren habe.“
+
+„Was fabelst du, Freund Korchuz?“ entgegnete ihm der König. „Seit wann
+hätte ich die Sonne meiner Gnade nicht über dich leuchten lassen?“ Der
+Obermundschenk antwortete ihm, daß er ja den geheimen Oberleibläufer
+mit Gold belade, seinen armen, treuen Dienern aber nichts gebe.
+
+Der König war sehr erstaunt über diese Nachricht, ließ sich die
+Goldausteilungen des kleinen Muck erzählen, und die Verschworenen
+brachten ihm leicht den Verdacht bei, daß Muck auf irgendeine Art das
+Geld aus der Schatzkammer gestohlen habe. Sehr lieb war diese Wendung
+der Sache dem Schatzmeister, der ohnehin nicht gerne Rechnung ablegte.
+Der König gab daher den Befehl, heimlich auf alle Schritte des kleinen
+Muck achtzugeben, um ihn womöglich auf der Tat zu ertappen. Als nun in
+der Nacht, die auf diesen Unglückstag folgte, der kleine Muck, da er
+durch seine Freigebigkeit seine Kasse sehr erschöpft sah, den Spaten
+nahm und in den Schloßgarten schlich, um dort von seinem geheimen
+Schatze neuen Vorrat zu holen, folgten ihm von weitem die Wachen, von
+dem Küchenmeister Ahuli und Archaz, dem Schatzmeister, angeführt, und
+in dem Augenblick, da er das Gold aus dem Topf in sein Mäntelein legen
+wollte, fielen sie über ihn her, banden ihn und führten ihn sogleich
+vor den König. Dieser, den ohnehin die Unterbrechung seines Schlafes
+mürrisch gemacht hatte, empfing seinen armen Oberleibläufer sehr
+ungnädig und stellte sogleich das Verhör über ihn an. Man hatte den
+Topf vollends aus der Erde gegraben und mit dem Spaten und mit dem
+Mäntelein voll Gold vor die Füße des Königs gesetzt. Der Schatzmeister
+sagte aus, daß er mit seinen Wachen den Muck überrascht habe, wie er
+diesen Topf mit Gold gerade in die Erde gegraben habe.
+
+Der König befragte hierauf den Angeklagten, ob es wahr sei und woher er
+das Gold, das er vergraben, bekommen habe.
+
+Der kleine Muck, im Gefühl seiner Unschuld, sagte aus, daß er diesen
+Topf im Garten entdeckt habe, daß er ihn habe nicht ein-, sondern
+ausgraben wollen.
+
+Alle Anwesenden lachten laut über diese Entschuldigung, der König aber,
+aufs höchste erzürnt über die vermeintliche Frechheit des Kleinen, rief
+aus: „Wie, Elender! Du willst deinen König so dumm und schändlich
+belügen, nachdem du ihn bestohlen hast? Schatzmeister Archaz! Ich
+fordere dich auf, zu sagen, ob du diese Summe Goldes für die nämliche
+erkennst, die in meinem Schatze fehlt.“
+
+Der Schatzmeister aber antwortete, er sei seiner Sache ganz gewiß, so
+viel und noch mehr fehle seit einiger Zeit von dem königlichen Schatz,
+und er könne einen Eid darauf ablegen, daß dies das Gestohlene sei.
+
+Da befahl der König, den kleinen Muck in enge Ketten zu legen und in
+den Turm zu führen; dem Schatzmeister aber übergab er das Gold, um es
+wieder in den Schatz zu tragen. Vergnügt über den glücklichen Ausgang
+der Sache, zog dieser ab und zählte zu Haus die blinkenden Goldstücke;
+aber das hat dieser schlechte Mann niemals angezeigt, daß unten in dem
+Topf ein Zettel lag, der sagte: „Der Feind hat mein Land überschwemmt,
+daher verberge ich hier einen Teil meiner Schätze; wer es auch finden
+mag, den treffe der Fluch seines Königs, wenn er es nicht sogleich
+meinem Sohne ausliefert! König Sadi.“
+
+Der kleine Muck stellte in seinem Kerker traurige Betrachtungen an; er
+wußte, daß auf Diebstahl an königlichen Sachen der Tod gesetzt war, und
+doch mochte er das Geheimnis mit dem Stäbchen dem König nicht verraten,
+weil er mit Recht fürchtete, dieses und seiner Pantoffeln beraubt zu
+werden. Seine Pantoffeln konnten ihm leider auch keine Hilfe bringen;
+denn da er in engen Ketten an die Mauer geschlossen war, konnte er, so
+sehr er sich quälte, sich nicht auf dem Absatz umdrehen. Als ihm aber
+am anderen Tage sein Tod angekündigt wurde, da gedachte er doch, es sei
+besser, ohne das Zauberstäbchen zu leben als mit ihm zu sterben, ließ
+den König um geheimes Gehör bitten und entdeckte ihm das Geheimnis. Der
+König maß von Anfang an seinem Geständnis keinen Glauben bei; aber der
+kleine Muck versprach eine Probe, wenn ihm der König zugestünde, daß er
+nicht getötet werden solle.
+
+Der König gab ihm sein Wort darauf und ließ, von Muck ungesehen,
+einiges Gold in die Erde graben und befahl diesem, mit seinem Stäbchen
+zu suchen. In wenigen Augenblicken hatte er es gefunden; denn das
+Stäbchen schlug deutlich dreimal auf die Erde. Da merkte der König, daß
+ihn sein Schatzmeister betrogen hatte, und sandte ihm, wie es im
+Morgenland gebräuchlich ist, eine seidene Schnur, damit er sich selbst
+erdroßle. Zum kleinen Muck aber sprach er: „Ich habe dir zwar dein
+Leben versprochen; aber es scheint mir, als ob du nicht allein dieses
+Geheimnis mit dem Stäbchen besitzest; darum bleibst du in ewiger
+Gefangenschaft, wenn du nicht gestehst, was für eine Bewandtnis es mit
+deinem Schnellaufen hat.“ Der kleine Muck, den die einzige Nacht im
+Turm alle Lust zu längerer Gefangenschaft benommen hatte, bekannte, daß
+seine ganze Kunst in den Pantoffeln liege, doch lehrte er den König
+nicht das Geheimnis von dem dreimaligen Umdrehen auf dem Absatz. Der
+König schlüpfte selbst in die Pantoffeln, um die Probe zu machen, und
+jagte wie unsinnig im Garten umher; oft wollte er anhalten; aber er
+wußte nicht, wie man die Pantoffeln zum Stehen brachte, und der kleine
+Muck, der diese kleine Rache sich nicht versagen konnte, ließ ihn
+laufen, bis er ohnmächtig niederfiel.
+
+Als der König wieder zur Besinnung zurückgekehrt war, war er
+schrecklich aufgebracht über den kleinen Muck, der ihn so ganz außer
+Atem hatte laufen lassen. „Ich habe dir mein Wort gegeben, dir Freiheit
+und Leben zu schenken; aber innerhalb zwölf Stunden mußt du mein Land
+verlassen, sonst lasse ich dich aufknöpfen!“ Die Pantoffeln und das
+Stäbchen aber ließ er in seine Schatzkammer legen.
+
+So arm als je wanderte der kleine Muck zum Land hinaus, seine Torheit
+verwünschend, die ihm vorgespiegelt hatte, er könne eine bedeutende
+Rolle am Hofe spielen. Das Land, aus dem er gejagt wurde, war zum Glück
+nicht groß, daher war er schon nach acht Stunden auf der Grenze,
+obgleich ihn das Gehen, da er an seine lieben Pantoffeln gewöhnt war,
+sehr sauer ankam.
+
+Als er über der Grenze war, verließ er die gewöhnliche Straße, um die
+dichteste Einöde der Wälder aufzusuchen und dort nur sich zu leben;
+denn er war allen Menschen gram. In einem dichten Walde traf er auf
+einen Platz, der ihm zu dem Entschluß, den er gefaßt hatte, ganz
+tauglich schien. Ein klarer Bach, von großen, schattigen Feigenbäumen
+umgeben, ein weicher Rasen luden ihn ein; hier warf er sich nieder mit
+dem Entschluß, keine Speise mehr zu sich zu nehmen, sondern hier den
+Tod zu erwarten. Über traurigen Todesbetrachtungen schlief er ein; als
+er aber wieder aufwachte und der Hunger ihn zu quälen anfing, bedachte
+er doch, daß der Hungertod eine gefährliche Sache sei, und sah sich um,
+ob er nirgends etwas zu essen bekommen könnte.
+
+Köstliche reife Feigen hingen an dem Baume, unter welchem er geschlafen
+hatte; er stieg hinauf, um sich einige zu pflücken, ließ es sich
+trefflich schmecken und ging dann hinunter an den Bach, um seinen Durst
+zu löschen. Aber wie groß war sein Schrecken, als ihm das Wasser seinen
+Kopf mit zwei gewaltigen Ohren und einer dicken, langen Nase geschmückt
+zeigte! Bestürzt griff er mit den Händen nach den Ohren, und wirklich,
+sie waren über eine halbe Elle lang.
+
+„Ich verdiene Eselsohren!“ rief er aus; „denn ich habe mein Glück wie
+ein Esel mit Füßen getreten.“ Er wanderte unter den Bäumen umher, und
+als er wieder Hunger fühlte, mußte er noch einmal zu den Feigen seine
+Zuflucht nehmen; denn sonst fand er nichts Eßbares an den Bäumen. Als
+ihm über der zweiten Portion Feigen einfiel, ob wohl seine Ohren nicht
+unter seinem großen Turban Platz hätten, damit er doch nicht gar zu
+lächerlich aussehe, fühlte er, daß seine Ohren verschwunden waren. Er
+lief gleich an den Bach zurück, um sich davon zu überzeugen, und
+wirklich, es war so, seine Ohren hatten ihre vorige Gestalt, seine
+lange, unförmliche Nase war nicht mehr. Jetzt merkte er aber, wie dies
+gekommen war; von dem ersten Feigenbaum hatte er die lange Nase und
+Ohren bekommen, der zweite hatte ihn geheilt; freudig erkannte er, daß
+sein gütiges Geschick ihm noch einmal die Mittel in die Hand gebe,
+glücklich zu sein. Er pflückte daher von jedem Baum so viel, wie er
+tragen konnte, und ging in das Land zurück, das er vor kurzem verlassen
+hatte. Dort machte er sich in dem ersten Städtchen durch andere Kleider
+ganz unkenntlich und ging dann weiter auf die Stadt zu, die jener König
+bewohnte, und kam auch bald dort an.
+
+Es war gerade zu einer Jahreszeit, wo reife Früchte noch ziemlich
+selten waren; der kleine Muck setzte sich daher unter das Tor des
+Palastes; denn ihm war von früherer Zeit her wohl bekannt, daß hier
+solche Seltenheiten von dem Küchenmeister für die königliche Tafel
+eingekauft wurden. Muck hatte noch nicht lange gesessen, als er den
+Küchenmeister über den Hof herüberschreiten sah. Er musterte die Waren
+der Verkäufer, die sich am Tor des Palastes eingefunden hatten; endlich
+fiel sein Blick auch auf Mucks Körbchen. „Ah, ein seltener Bissen“,
+sagte er, „der Ihro Majestät gewiß behagen wird. Was willst du für den
+ganzen Korb?“ Der kleine Muck bestimmte einen mäßigen Preis, und sie
+waren bald des Handels einig. Der Küchenmeister übergab den Korb einem
+Sklaven und ging weiter; der kleine Muck aber macht sich einstweilen
+aus dem Staub, weil er befürchtete, wenn sich das Unglück an den Köpfen
+des Hofes zeigte, möchte man ihn als Verkäufer aufsuchen und bestrafen.
+
+Der König war über Tisch sehr heiter gestimmt und sagte seinem
+Küchenmeister einmal über das andere Lobsprüche wegen seiner guten
+Küche und der Sorgfalt, mit der er immer das Seltenste für ihn
+aussuche; der Küchenmeister aber, welcher wohl wußte, welchen
+Leckerbissen er noch im Hintergrund habe, schmunzelte gar freundlich
+und ließ nur einzelne Worte fallen, als: „Es ist noch nicht aller Tage
+Abend“, oder „Ende gut, alles gut“, so daß die Prinzessinnen sehr
+neugierig wurden, was er wohl noch bringen werde. Als er aber die
+schönen, einladenden Feigen aufsetzen ließ, da entfloh ein allgemeines
+Ah! dem Munde der Anwesenden.
+
+„Wie reif, wie appetitlich!“ rief der König. „Küchenmeister, du bist
+ein ganzer Kerl und verdienst unsere ganz besondere Gnade!“ Also
+sprechend, teilte der König, der mit solchen Leckerbissen sehr sparsam
+zu sein pflegte, mit eigener Hand die Feigen an seiner Tafel aus. Jeder
+Prinz und jede Prinzessin bekam zwei, die Hofdamen und die Wesire und
+Agas eine, die übrigen stellte er vor sich hin und begann mit großem
+Behagen sie zu verschlingen.
+
+„Aber, lieber Gott, wie siehst du so wunderlich aus, Vater?“ rief auf
+einmal die Prinzessin Amarza. Alle sahen den König erstaunt an;
+ungeheure Ohren hingen ihm am Kopf, eine lange Nase zog sich über sein
+Kinn herunter; auch sich selbst betrachteten sie untereinander mit
+Staunen und Schrecken; alle waren mehr oder minder mit dem sonderbaren
+Kopfputz geschmeckt.
+
+Man denke sich den Schrecken des Hofes! Man schickte sogleich nach
+allen Ärzten der Stadt; sie kamen haufenweise, verordneten Pillen und
+Mixturen; aber die Ohren und die Nasen blieben. Man operierte einen der
+Prinzen; aber die Ohren wuchsen nach.
+
+Muck hatte die ganze Geschichte in seinem Versteck, wohin er sich
+zurückgezogen hatte, gehört und erkannte, daß es jetzt Zeit sei zu
+handeln. Er hatte sich schon vorher von dem aus den Feigen gelösten
+Geld einen Anzug verschafft, der ihn als Gelehrten darstellen konnte;
+ein langer Bart aus Ziegenhaaren vollendete die Täuschung. Mit einem
+Säckchen voll Feigen wanderte er in den Palast des Königs und bot als
+fremder Arzt seine Hilfe an. Man war von Anfang sehr ungläubig; als
+aber der kleine Muck eine Feige einem der Prinzen zu essen gab und
+Ohren und Nase dadurch in den alten Zustand zurückbrachte, da wollte
+alles von dem fremden Arzte geheilt sein. Aber der König nahm ihn
+schweigend bei der Hand und führte ihn in sein Gemach; dort schloß er
+eine Türe auf, die in die Schatzkammer führte, und winkte Muck, ihm zu
+folgen. „Hier sind meine Schätze“, sprach der König, „wähle dir, was es
+auch sei, es soll dir gewährt werden, wenn du mich von diesem
+schmachvollen Übel befreist.“
+
+Das war süße Musik in des kleinen Muck Ohren; er hatte gleich beim
+Eintritt seine Pantoffeln auf dem Boden stehen sehen, gleich daneben
+lag auch sein Stäbchen. Er ging nun umher in dem Saal, wie wenn er die
+Schätze des Königs bewundern wollte; kaum aber war er an seine
+Pantoffeln gekommen, so schlüpfte er eilends hinein, ergriff sein
+Stäbchen, riß seinen falschen Bart herab und zeigte dem erstaunten
+König das wohlbekannte Gesicht seines verstoßenen Muck. „Treuloser
+König“, sprach er, „der du treue Dienste mit Undank lohnst, nimm als
+wohlverdiente Strafe die Mißgestalt, die du trägst. Die Ohren laß ich
+dir zurück, damit sie dich täglich erinnern an den kleinen Muck.“ Als
+er so gesprochen hatte, drehte er sich schnell auf dem Absatz herum,
+wünschte sich weit hinweg, und ehe noch der König um Hilfe rufen
+konnte, war der kleine Muck entflohen. Seitdem lebt der kleine Muck
+hier in großem Wohlstand, aber einsam; denn er verachtet die Menschen.
+Er ist durch Erfahrung ein weiser Mann geworden, welcher, wenn auch
+sein Äußeres etwas Auffallendes haben mag, deine Bewunderung mehr als
+deinen Spott verdient.
+
+„So erzählte mir mein Vater; ich bezeugte ihm meine Reue über mein
+rohes Betragen gegen den guten kleinen Mann, und mein Vater schenkte
+mir die andere Hälfte der Strafe, die er mir zugedacht hatte. Ich
+erzählte meinen Kameraden die wunderbaren Schicksale des Kleinen, und
+wir gewannen ihn so lieb, daß ihn keiner mehr schimpfte. Im Gegenteil,
+wir ehrten ihn, solange er lebte, und haben uns vor ihm immer so tief
+wie vor Kadi und Mufti gebückt.“
+
+Die Reisenden beschlossen, einen Rasttag in dieser Karawanserei zu
+machen, um sich und die Tiere zur weiteren Reise zu stärken. Die
+gestrige Fröhlichkeit ging auch auf diesen Tag über, und sie ergötzten
+sich in allerlei Spielen. Nach dem Essen aber riefen sie dem fünften
+Kaufmann, Ali Sizah, zu, auch seine Schuldigkeit gleich den übrigen zu
+tun und eine Geschichte zu erzählen. Er antwortete, sein Leben sei zu
+arm an auffallenden Begebenheiten, als daß er ihnen etwas davon
+mitteilen möchte, daher wolle er ihnen etwas anderes erzählen, nämlich:
+Das Märchen vom falschen Prinzen.
+
+
+
+
+Das Märchen vom falschen Prinzen
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Es war einmal ein ehrsamer Schneidergeselle, namens Labakan, der bei
+einem geschickten Meister in Alessandria sein Handwerk lernte. Man
+konnte nicht sagen, daß Labakan ungeschickt mit der Nadel war, im
+Gegenteil, er konnte recht feine Arbeit machen. Auch tat man ihm
+unrecht, wenn man ihn geradezu faul schalt; aber ganz richtig war es
+doch nicht mit dem Gesellen, denn er konnte oft stundenweis in einem
+fort nähen, daß ihm die Nadel in der Hand glühend ward und der Faden
+rauchte, da gab es ihm dann ein Stück wie keinem anderen; ein andermal
+aber, und dies geschah leider öfters, saß er in tiefen Gedanken, sah
+mit starren Augen vor sich hin und hatte dabei in Gesicht und Wesen
+etwas so Eigenes, daß sein Meister und die übrigen Gesellen von diesem
+Zustand nie anders sprachen als: „Labakan hat wieder sein vornehmes
+Gesicht.“
+
+Am Freitag aber, wenn andere Leute vom Gebet ruhig nach Haus an ihre
+Arbeit gingen, trat Labakan in einem schönen Kleid, das er sich mit
+vieler Mühe zusammengespart hatte, aus der Moschee, ging langsam und
+stolzen Schrittes durch die Plätze und Straßen der Stadt, und wenn ihm
+einer seiner Kameraden ein „Friede sei mit dir“, oder „Wie geht es,
+Freund Labakan?“ bot, so winkte er gnädig mit der Hand oder nickte,
+wenn es hoch kam, vornehm mit dem Kopf. Wenn dann sein Meister im Spaß
+zu ihm sagte: „An dir ist ein Prinz verlorengegangen, Labakan“, so
+freute er sich darüber und antwortete: „Habt Ihr das auch bemerkt?“
+oder: „Ich habe es schon lange gedacht!“
+
+So trieb es der ehrsame Schneidergeselle Labakan schon eine geraume
+Zeit, sein Meister aber duldete seine Narrheit, weil er sonst ein guter
+Mensch und geschickter Arbeiter war. Aber eines Tages schickte Selim,
+der Bruder des Sultans, der gerade durch Alessandria reiste, ein
+Festkleid zu dem Meister, um einiges daran verändern zu lassen, und der
+Meister gab es Labakan, weil dieser die feinste Arbeit machte. Als
+abends der Meister und die Gesellen sich hinwegbegeben hatten, um nach
+des Tages Last sich zu erholen, trieb eine unwiderstehliche Sehnsucht
+Labakan wieder in die Werkstatt zurück, wo das Kleid des kaiserlichen
+Bruders hing. Er stand lange sinnend davor, bald den Glanz der
+Stickerei, bald die schillernden Farben des Samts und der Seide an dem
+Kleide bewundernd. Er konnte nicht anders, er mußte es anziehen, und
+siehe da, es paßte ihm so trefflich, wie wenn es für ihn wäre gemacht
+worden. „Bin ich nicht so gut ein Prinz als einer?“ fragte er sich,
+indem er im Zimmer auf und ab schritt. „Hat nicht der Meister selbst
+schon gesagt, daß ich zum Prinzen geboren sei?“ Mit den Kleidern schien
+der Geselle eine ganz königliche Gesinnung angezogen zu haben; er
+konnte sich nicht anders denken, als er sei ein unbekannter Königssohn,
+und als solcher beschloß er, in die Welt zu reisen und einen Ort zu
+verlassen, wo die Leute bisher so töricht gewesen waren, unter der
+Hülle seines niederen Standes nicht seine angebotene Würde zu erkennen.
+Das prachtvolle Kleid schien ihm von einer gütigen Fee geschickt, er
+hütete sich daher wohl, ein so teures Geschenk zu verschmähen, steckte
+seine geringe Barschaft zu sich und wanderte, begünstigt von dem Dunkel
+der Nacht, aus Alessandrias Toren.
+
+Der neue Prinz erregte überall auf seiner Wanderschaft Verwunderung,
+denn das prachtvolle Kleid und sein ernstes, majestätisches Wesen
+wollten gar nicht passen für einen Fußgänger. Wenn man ihn darüber
+befragte, pflegte er mit geheimnisvoller Miene zu antworten, daß das
+seine eigenen Ursachen habe. Als er aber merkte, daß er sich durch
+seine Fußwanderungen lächerlich machte, kaufte er um geringen Preis ein
+altes Roß, welches sehr für ihn paßte, da es ihn mit seiner gesetzten
+Ruhe und Sanftmut nie in die Verlegenheit brachte, sich als geschickter
+Reiter zeigen zu müssen, was gar nicht seine Sache war.
+
+Eines Tages, als er Schritt vor Schritt auf seinem Murva, so hatte er
+sein Roß genannt, seine Straße zog, schloß sich ein Reiter an ihn an
+und bat ihn, in seiner Gesellschaft reiten zu dürfen, weil ihm der Weg
+viel kürzer werde im Gespräch mit einem anderen. Der Reiter war ein
+fröhlicher, junger Mann, schön und angenehm im Umgang. Er hatte mit
+Labakan bald ein Gespräch angeknüpft über Woher und Wohin, und es traf
+sich, daß auch er, wie der Schneidergeselle, ohne Plan in die Welt
+hinauszog. Er sagte, er heiße Omar, sei der Neffe Elfi Beys, des
+unglücklichen Bassas von Kairo, und reise nun umher, um einen Auftrag,
+den ihm sein Oheim auf dem Sterbebette erteilt habe, auszurichten.
+Labakan ließ sich nicht so offenherzig über seine Verhältnisse aus, er
+gab ihm zu verstehen, daß er von hoher Abkunft sei und zu seinem
+Vergnügen reise.
+
+Die beiden jungen Herren fanden Gefallen aneinander und zogen fürder.
+Am zweiten Tage ihrer gemeinschaftlichen Reise fragte Labakan seinen
+Gefährten Omar nach den Aufträgen, die er zu besorgen habe, und erfuhr
+zu seinem Erstaunen folgendes: Elfi Bey, der Bassa von Kairo, hatte den
+Omar seit seiner frühesten Kindheit erzogen, und dieser hatte seine
+Eltern nie gekannt. Als nun Elfi Bey von seinen Feinden überfallen
+worden war und nach drei unglücklichen Schlachten, tödlich verwundet,
+fliehen mußte, entdeckte er seinem Zögling, daß er nicht sein Neffe
+sei, sondern der Sohn eines mächtigen Herrschers, welcher aus Furcht
+vor den Prophezeiungen seiner Sterndeuter den jungen Prinzen von seinem
+Hofe entfernt habe, mit dem Schwur, ihn erst an seinem
+zweiundzwanzigsten Geburtstage wiedersehen zu wollen. Elfi Bey habe ihm
+den Namen seines Vaters nicht genannt, sondern ihm nur aufs
+bestimmteste aufgetragen, am fünften Tage des kommenden Monats Ramadan,
+an welchem Tage er zweiundzwanzig Jahre alt werde, sich an der
+berühmten Säule El-Serujah, vier Tagreisen östlich von Alessandria,
+einzufinden; dort soll er den Männern, die an der Säule stehen würden,
+einen Dolch, den er ihm gab, überreichen mit den Worten: „Hier bin ich,
+den ihr suchet“; wenn sie antworteten: „Gelobt sei der Prophet, der
+dich erhielt!“, so solle er ihnen folgen, sie würden ihn zu seinem
+Vater führen.
+
+Der Schneidergeselle Labakan war sehr erstaunt über diese Mitteilung,
+er betrachtete von jetzt an den Prinzen Omar mit neidischen Augen,
+erzürnt darüber, daß das Schicksal jenem, obgleich er schon für den
+Neffen eines mächtigen Bassa galt, noch die Würde eines Fürstensohnes
+verliehen, ihm aber, den es mit allem, was einem Prinzen nottut,
+ausgerüstet, gleichsam zum Hohn eine dunkle Geburt und einen
+gewöhnlichen Lebensweg verliehen habe. Er stellte Vergleichungen
+zwischen sich und dem Prinzen an. Er mußte sich gestehen, es sei jener
+ein Mann von sehr vorteilhafter Gesichtsbildung; schöne, lebhafte
+Augen, eine kühngebogene Nase, ein sanftes, zuvorkommendes Benehmen,
+kurz, so viele Vorzüge des Äußeren, die jemand empfehlen können, waren
+jenem eigen. Aber so viele Vorzüge er auch an seinem Begleiter fand, so
+gestand er sich doch bei diesen Beobachtungen, daß ein Labakan dem
+fürstlichen Vater wohl noch willkommener sein dürfte als der wirkliche
+Prinz.
+
+Diese Betrachtungen verfolgten Labakan den ganzen Tag, mit ihnen
+schlief er im nächsten Nachtlager ein, aber als er morgens aufwachte
+und sein Blick auf den neben ihm schlafenden Omar fiel, der so ruhig
+schlafen und von seinem gewissen Glück träumen konnte, da erwachte in
+ihm der Gedanke, sich durch List oder Gewalt zu erstreben, was ihm das
+ungünstige Schicksal versagt hatte. Der Dolch, das Erkennungszeichen
+des heimkehrenden Prinzen, sah aus dem Gürtel des Schlafenden hervor,
+leise zog er ihn hervor, um ihn in die Brust des Eigentümers zu stoßen.
+Doch vor dem Gedanken des Mordes entsetzte sich die friedfertige Seele
+des Gesellen; er begnügte sich, den Dolch zu sich zu stecken, das
+schnellere Pferd des Prinzen für sich aufzäumen zu lassen, und ehe Omar
+aufwachte und sich aller seiner Hoffnungen beraubt sah, hatte sein
+treuloser Gefährte schon einen Vorsprung von mehreren Meilen.
+
+Es war gerade der erste Tag des heiligen Monats Ramadan, an welchem
+Labakan den Raub an dem Prinzen begangen hatte, und er hatte also noch
+vier Tage, um zu der Säule El Serujah, welche ihm wohlbekannt war, zu
+gelangen. Obgleich die Gegend, worin sich diese Säule befand, höchstens
+noch zwei Tagreisen entfernt sein konnte, so beeilte er sich doch
+hinzukommen, weil er immer fürchtete, von dem wahren Prinzen eingeholt
+zu werden.
+
+Am Ende des zweiten Tages erblickte Labakan die Säule El-Serujah. Sie
+stand auf einer kleinen Anhöhe in einer weiten Ebene und konnte auf
+zwei bis drei Stunden gesehen werden. Labakans Herz pochte lauter bei
+diesem Anblick; obgleich er die letzten zwei Tage hindurch Zeit genug
+gehabt, über die Rolle, die er zu spielen hatte, nachzudenken, so
+machte ihn doch das böse Gewissen etwas ängstlich, aber der Gedanke,
+daß er zum Prinzen geboren sei, stärkte ihn wieder, so daß er
+getrösteter seinem Ziele entgegenging.
+
+Die Gegend um die Säule El-Serujah war unbewohnt und öde, und der neue
+Prinz wäre wegen seines Unterhalts etwas in Verlegenheit gekommen, wenn
+er sich nicht auf mehrere Tage versehen hätte. Er lagerte sich also
+neben seinem Pferd unter einigen Palmen und erwartete dort sein
+ferneres Schicksal.
+
+Gegen die Mitte des anderen Tages sah er einen großen Zug von Pferden
+und Kamelen über die Ebene her auf die Säule El-Serujah zuziehen. Der
+Zug hielt am Fuße des Hügels, auf welchem die Säule stand, man schlug
+prächtige Zelte auf, und das Ganze sah aus wie der Reisezug eines
+reichen Bassa oder Scheik. Labakan ahnte, daß die vielen Leute, welche
+er sah, sich seinetwegen hierher bemüht hatten, und hätte ihnen gerne
+schon heute ihren künftigen Gebieter gezeigt; aber er mäßigte seine
+Begierde, als Prinz aufzutreten, da ja doch der nächste Morgen seine
+kühnsten Wünsche vollkommen befriedigen mußte.
+
+Die Morgensonne weckte den überglücklichen Schneider zu dem wichtigsten
+Augenblick seines Lebens, welcher ihn aus einem niederen, unbekannten
+Sterblichen an die Seite eines fürstlichen Vaters erheben sollte; zwar
+fiel ihm, als er sein Pferd aufzäumte, um zu der Säule hinzureiten,
+wohl auch das Unrechtmäßige seines Schrittes ein; zwar führten ihm
+seine Gedanken den Schmerz des in seinen schönen Hoffnungen betrogenen
+Fürstensohnes vor, aber—der Würfel war geworfen, er konnte nicht mehr
+ungeschehen machen, was geschehen war, und seine Eigenliebe flüsterte
+ihm zu, daß er stattlich genug aussehe, um dem mächtigsten König sich
+als Sohn vorzustellen; ermutigt durch diesen Gedanken, schwang er sich
+auf sein Roß, nahm alle seine Tapferkeit zusammen, um es in einen
+ordentlichen Galopp zu bringen, und in weniger als einer Viertelstunde
+war er am Fuße des Hügels angelangt. Er stieg ab von seinem Pferd und
+band es an eine Staude, deren mehrere an dem Hügel wuchsen; hierauf zog
+er den Dolch des Prinzen Omar hervor und stieg den Hügel hinan. Am Fuß
+der Säule standen sechs Männer um einen Greis von hohem, königlichem
+Ansehen; ein prachtvoller Kaftan von Goldstoff, mit einem weißen
+Kaschmirschal umgürtet, der weiße, mit blitzenden Edelsteinen
+geschmückte Turban bezeichneten ihn als einen Mann von Reichtum und
+Würde.
+
+Auf ihn ging Labakan zu, neigte sich tief vor ihm und sprach, indem er
+den Dolch darreichte: „Hier bin ich, den Ihr suchet. „
+
+„Gelobt sei der Prophet, der dich erhielt!“ antwortete der Greis mit
+Freudentränen. „Umarme deinen alten Vater, mein geliebter Sohn Omar!“
+Der gute Schneider war sehr gerührt durch diese feierlichen Worte und
+sank mit einem Gemisch von Freude und Scham in die Arme des alten
+Fürsten.
+
+Aber nur einen Augenblick sollte er ungetrübt die Wonne seines neuen
+Standes genießen; als er sich aus den Armen des fürstlichen Greises
+aufrichtete, sah er einen Reiter über die Ebene her auf den Hügel
+zueilen. Der Reiter und sein Roß gewährten einen sonderbaren Anblick;
+das Roß schien aus Eigensinn oder Müdigkeit nicht vorwärts zu wollen,
+in einem stolpernden Gang, der weder Schritt noch Trab war, zog es
+daher, der Reiter aber trieb es mit Händen und Füßen zu schnellerem
+Laufe an. Nur zu bald erkannte Labakan sein Roß Murva und den echten
+Prinzen Omar, aber der böse Geist der Lüge war einmal in ihn gefahren,
+und er beschloß, wie es auch kommen möge, mit eiserner Stirne seine
+angemaßten Rechte zu behaupten.
+
+Schon aus der Ferne hatte man den Reiter winken gesehen; jetzt war er
+trotz des schlechten Trabes des Rosses Murva am Fuße des Hügels
+angekommen, warf sich vom Pferd und stürzte den Hügel hinan. „Haltet
+ein!“ rief er. „Wer ihr auch sein möget, haltet ein und laßt euch nicht
+von dem schändlichsten Betrüger täuschen; ich heiße Omar, und kein
+Sterblicher wage es, meinen Namen zu mißbrauchen!“
+
+Auf den Gesichtern der Umstehenden malte sich tiefes Erstaunen über
+diese Wendung der Dinge; besonders schien der Greis sehr betroffen,
+indem er bald den einen, bald den anderen fragend ansah; Labakan aber
+sprach mit mühsam errungener Ruhe: „Gnädigster Herr und Vater, laßt
+Euch nicht irremachen durch diesen Menschen da! Es ist, soviel ich
+weiß, ein wahnsinniger Schneidergeselle aus Alessandria, Labakan
+geheißen, der mehr unser Mitleid als unseren Zorn verdient.“
+
+Bis zur Raserei aber brachten diese Worte den Prinzen; schäumend vor
+Wut wollte er auf Labakan eindringen, aber die Umstehenden warfen sich
+dazwischen und hielten ihn fest, und der Fürst sprach: „Wahrhaftig,
+mein lieber Sohn, der arme Mensch ist verrückt; man binde ihn und setze
+ihn auf eines unserer Dromedare, vielleicht, daß wir dem Unglücklichen
+Hilfe schaffen können.“
+
+Die Wut des Prinzen hatte sich gelegt, weinend rief er dem Fürsten zu:
+„Mein Herz sagt mir, daß Ihr mein Vater seid; bei dem Andenken meiner
+Mutter beschwöre ich Euch, hört mich an!“
+
+„Ei, Gott bewahre uns!“ antwortete dieser, „er fängt schon wieder an,
+irre zu reden, wie doch der Mensch auf so tolle Gedanken kommen kann!“
+Damit ergriff er Labakans Arm und ließ sich von ihm den Hügel
+hinuntergeleiten; sie setzten sich beide auf schöne, mit reichen Decken
+behängte Pferde und ritten an der Spitze des Zuges über die Ebene hin.
+Dem unglücklichen Prinzen aber fesselte man die Hände und band ihn auf
+einem Dromedar fest, und zwei Reiter waren ihm immer zur Seite, die ein
+wachsames Auge auf jede seiner Bewegungen hatten.
+
+Der fürstliche Greis war Saaud, der Sultan der Wechabiten. Er hatte
+lange ohne Kinder gelebt, endlich wurde ihm ein Prinz geboren, nach dem
+er sich so lange gesehnt hatte; aber die Sterndeuter, welche er um die
+Vorbedeutungen des Knaben befragte, taten den Ausspruch, „daß er bis
+ins zweiundzwanzigste Jahr in Gefahr stehe, von einem Feinde verdrängt
+zu werden“, deswegen, um recht sicherzugehen, hatte der Sultan den
+Prinzen seinem alten, erprobten Freunde Elfi-Bey zum Erziehen gegeben
+und zweiundzwanzig schmerzliche Jahre auf seinen Anblick geharrt.
+
+Dieses hatte der Sultan seinem (vermeintlichen) Sohne erzählt und sich
+ihm außerordentlich zufrieden mit seiner Gestalt und seinem würdevollen
+Benehmen gezeigt.
+
+Als sie in das Land des Sultans kamen, wurden sie überall von den
+Einwohnern mit Freudengeschrei empfangen; denn das Gerücht von der
+Ankunft des Prinzen hatte sich wie ein Lauffeuer durch alle Städte und
+Dörfer verbreitet. Auf den Straßen, durch welche sie zogen, waren Bögen
+von Blumen und Zweigen errichtet, glänzende Teppiche von allen Farben
+schmeckten die Häuser, und das Volk pries laut Gott und seinen
+Propheten, der ihnen einen so schönen Prinzen gesandt habe. Alles dies
+erfüllte das stolze Herz des Schneiders mit Wonne; desto unglücklicher
+mußte sich aber der echte Omar fühlen, der, noch immer gefesselt, in
+stiller Verzweiflung dem Zuge folgte. Niemand kümmerte sich um ihn bei
+dem allgemeinen Jubel, der doch ihm galt; den Namen Omar riefen tausend
+und wieder tausend Stimmen, aber ihn, der diesen Namen mit Recht trug,
+ihn beachtete keiner; höchstens fragte einer oder der andere, wen man
+denn so fest gebunden mit fortfahre, und schrecklich tönte in das Ohr
+des Prinzen die Antwort seiner Begleiter, es sei ein wahnsinniger
+Schneider.
+
+Der Zug war endlich in die Hauptstadt des Sultans gekommen, wo alles
+noch glänzender zu ihrem Empfang bereitet war als in den übrigen
+Städten. Die Sultanin, eine ältliche, ehrwürdige Frau, erwartete sie
+mit ihrem ganzen Hofstaat in dem prachtvollsten Saal des Schlosses. Der
+Boden dieses Saales war mit einem ungeheuren Teppich bedeckt, die Wände
+waren mit hellblauem Tuch geschmeckt, das in goldenen Quasten und
+Schnüren an großen, silbernen Haken hing.
+
+Es war schon dunkel, als der Zug anlangte, daher waren im Saale viele
+kugelrunde, farbige Lampen angezündet, welche die Nacht zum Tag
+erhellten. Am klarsten und vielfarbigsten strahlten sie aber im
+Hintergrund des Saales, wo die Sultanin auf einem Throne saß. Der Thron
+stand auf vier Stufen und war von lauterem Golde und mit großen
+Amethysten ausgelegt. Die vier vornehmsten Emire hielten einen
+Baldachin von roter Seide über dem Haupte der Sultanin, und der Scheik
+von Medina fächelte ihr mit einer Windfuchtel von weißen Pfauenfedern
+Kühlung zu.
+
+So erwartete die Sultanin ihren Gemahl und ihren Sohn, auch sie hatte
+ihn seit seiner Geburt nicht mehr gesehen, aber bedeutsam Träume hatten
+ihr den Ersehnten gezeigt, daß sie ihn aus Tausenden erkennen wollte.
+Jetzt hörte man das Geräusch des nahenden Zuges, Trompeten und Trommeln
+mischten sich in das Zujauchzen der Menge, der Hufschlag der Rosse
+tönte im Hof des Palastes, näher und näher rauschten die Tritte der
+Kommenden, die Türen des Saales flogen auf, und durch die Reihen der
+niederfallenden Diener eilte der Sultan an der Hand seines Sohnes vor
+den Thron der Mutter.
+
+„Hier“, sprach er, „bringe ich dir den, nach welchem du dich so lange
+gesehnet.“
+
+Die Sultanin aber fiel ihm in die Rede: „Das ist mein Sohn nicht!“ rief
+sie aus, „das sind nicht die Züge, die mir der Prophet im Traume
+gezeigt hat!“
+
+Gerade, als ihr der Sultan ihren Aberglauben verweisen wollte, sprang
+die Türe des Saales auf. Prinz Omar stürzte herein, verfolgt von seinen
+Wächtern, denen er sich mit Anstrengung aller seiner Kraft entrissen
+hatte, er warf sich atemlos vor dem Throne nieder: „Hier will ich
+sterben, laßt mich töten, grausamer Vater; denn diese Schmach dulde ich
+nicht länger!“
+
+Alles war bestürzt über diese Reden; man drängte sich um den
+Unglücklichen her, und schon wollten ihn die herbeieilenden Wachen
+ergreifen und ihm wieder seine Bande anlegen, als die Sultanin, die in
+sprachlosem Erstaunen dieses alles mit angesehen hatte, von dem Throne
+aufsprang. „Haltet ein!“ rief sie, „dieser und kein anderer ist der
+Rechte, dieser ist’s, den meine Augen nie gesehen und den mein Herz
+doch gekannt hat!“
+
+Die Wächter hatten unwillkürlich von Omar abgelassen, aber der Sultan,
+entflammt von wütendem Zorn, rief ihnen zu, den Wahnsinnigen zu binden:
+„Ich habe hier zu entscheiden“, sprach er mit gebietender Stimme, „und
+hier richtet man nicht nach den Träumen der Weiber, sondern nach
+gewissen, untrüglichen Zeichen. Dieser hier (indem er auf Labakan
+zeigte) ist mein Sohn; denn er hat mir das Wahrzeichen meines Freundes
+Elfi, den Dolch, gebracht.“
+
+„Gestohlen hat er ihn“, schrie Omar, „mein argloses Vertrauen hat er
+zum Verrat mißbraucht!“ Der Sultan aber hörte nicht auf die Stimme
+seines Sohnes; denn er war in allen Dingen gewohnt, eigensinnig nur
+seinem Urteil zu folgen; daher ließ er den unglücklichen Omar mit
+Gewalt aus dem Saal schleppen. Er selbst aber begab sich mit Labakan in
+sein Gemach, voll Wut über die Sultanin, seine Gemahlin, mit der er
+doch seit fünfundzwanzig Jahren in Frieden gelebt hatte.
+
+Die Sultanin aber war voll Kummer über diese Begebenheiten; sie war
+vollkommen überzeugt, daß ein Betrüger sich des Herzens des Sultans
+bemächtigt hatte, denn jenen Unglücklichen hatten ihr so viele
+bedeutsam Träume als ihren Sohn gezeigt.
+
+Als sich ihr Schmerz ein wenig gelegt hatte, sann sie auf Mittel, um
+ihren Gemahl von seinem Unrecht zu überzeugen. Es war dies allerdings
+schwierig; denn jener, der sich für ihren Sohn ausgab, hatte das
+Erkennungszeichen, den Dolch, überreicht und hatte auch, wie sie
+erfuhr, so viel von Omars früherem Leben von diesem selbst sich
+erzählen lassen, daß er seine Rolle, ohne sich zu verraten, spielte.
+
+Sie berief die Männer zu sich, die den Sultan zu der Säule El-Serujah
+begleitet hatten, um sich alles genau erzählen zu lassen, und hielt
+dann mit ihren vertrautesten Sklavinnen Rat. Sie wählten und verwarfen
+dies und jenes Mittel; endlich sprach Melechsalah, eine alte, kluge
+Zierkassierin: „Wenn ich recht gehört habe, verehrte Gebieterin, so
+nannte der Überbringer des Dolches den, welchen du für deinen Sohn
+hältst, Labakan, einen verwirrten Schneider?“
+
+„Ja, so ist es“, antwortete die Sultanin, „aber was willst du damit?“
+
+„Was meint Ihr“, fuhr jene fort, „wenn dieser Betrüger Eurem Sohn
+seinen eigenen Namen aufgeheftet hätte?—Und wenn dies ist, so gibt es
+ein herrliches Mittel, den Betrüger zu fangen, das ich Euch ganz im
+geheimen sagen will.“ Die Sultanin bot ihrer Sklavin das Ohr, und diese
+flüsterte ihr einen Rat zu, der ihr zu behagen schien, denn sie
+schickte sich an, sogleich zum Sultan zu gehen.
+
+Die Sultanin war eine kluge Frau, welche wohl die schwachen Seiten des
+Sultans kannte und sie zu benützen verstand. Sie schien daher, ihm
+nachgeben und den Sohn anerkennen zu wollen, und bat sich nur eine
+Bedingung aus; der Sultan, dem sein Aufbrausen gegen seine Frau leid
+tat, gestand die Bedingung zu, und sie sprach: „Ich möchte gerne den
+beiden eine Probe ihrer Geschicklichkeit auferlegen; eine andere würde
+sie vielleicht reiten, fechten oder Speere werfen lassen, aber das sind
+Sachen, die ein jeder kann; nein, ich will ihnen etwas geben, wozu
+Scharfsinn gehört! Es soll nämlich jeder von ihnen einen Kaftan und ein
+Paar Beinkleider verfertigen, und da wollen wir einmal sehen, wer die
+schönsten macht.“
+
+Der Sultan lachte und sprach: „Ei, da hast du ja etwas recht Kluges
+ausgesonnen. Mein Sohn sollte mit deinem wahnsinnigen Schneider
+wetteifern, wer den besten Kaftan macht? Nein, das ist nichts.“
+
+Die Sultanin aber berief sich darauf, daß er ihr die Bedingung zum
+Voraus zugesagt habe, und der Sultan, welcher ein Mann von Wort war,
+gab endlich nach, obgleich er schwor, wenn der wahnsinnige Schneider
+seinen Kaftan auch noch so schön mache, könne er ihn doch nicht für
+seinen Sohn erkennen.
+
+Der Sultan ging selbst zu seinem Sohn und bat ihn, sich in die Grillen
+seiner Mutter zu schicken, die nun einmal durchaus einen Kaftan von
+seiner Hand zu sehen wünsche. Dem guten Labakan lachte das Herz vor
+Freude; wenn es nur an dem fehlt, dachte er bei sich, da soll die Frau
+Sultanin bald Freude an mir erleben.
+
+Man hatte zwei Zimmer eingerichtet, eines für den Prinzen, das andere
+für den Schneider; dort sollten sie ihre Kunst erproben, und man hatte
+jedem nur ein hinlängliches Stück Seidenzeug, Schere, Nadel und Faden
+gegeben.
+
+Der Sultan war sehr begierig, was für ein Ding von Kaftan wohl sein
+Sohn zutage fördern werde, aber auch der Sultanin pochte unruhig das
+Herz, ob ihre List wohl gelingen werde oder nicht. Man hatte den beiden
+zwei Tage zu ihrem Geschäft ausgesetzt, am dritten ließ der Sultan
+seine Gemahlin rufen, und als sie erschienen war, schickte er in jene
+zwei Zimmer, um die beiden Kaftane und ihre Verfertiger holen zu
+lassen. Triumphierend trat Labakan ein und breitete seinen Kaftan vor
+den erstaunten Blicken des Sultans aus. „Siehe her, Vater“, sprach er,
+„siehe her, verehrte Mutter, ob dies nicht ein Meisterstück von einem
+Kaftan ist? Da laß ich es mit dem geschicktesten Hofschneider auf eine
+Wette ankommen, ob er einen solchen herausbringt.“
+
+Die Sultanin lächelte und wandte sich zu Omar: „Und was hast du
+herausgebracht, mein Sohn?“
+
+Unwillig warf dieser den Seidenstoff und die Schere auf den Boden: „Man
+hat mich gelehrt, ein Roß zu bändigen und einen Säbel zu schwingen, und
+meine Lanze trifft auf sechzig Gänge ihr Ziel—aber die Künste der Nadel
+sind mir fremd, sie wären auch unwürdig für einen Zögling Elfi Beys,
+des Beherrschers von Kairo.“
+
+„Oh, du echter Sohn meines Herrn“, rief die Sultanin, „ach, daß ich
+dich umarmen, dich Sohn nennen dürfte! Verzeihet, mein Gemahl und
+Gebieter“, sprach sie dann, indem sie sich zum Sultan wandte, „daß ich
+diese List gegen Euch gebraucht habe; sehet Ihr jetzt noch nicht ein,
+wer Prinz und wer Schneider ist; fürwahr, der Kaftan ist köstlich, den
+Euer Herr Sohn gemacht hat, und ich möchte ihn gerne fragen, bei
+welchem Meister er gelernt habe.“
+
+Der Sultan saß in tiefen Gedanken, mißtrauisch bald seine Frau, bald
+Labakan anschauend, der umsonst sein Erröten und seine Bestürzung, daß
+er sich so dumm verraten habe, zu bekämpfen suchte. „Auch dieser Beweis
+genügt nicht“, sprach er, „aber ich weiß, Allah sei es gedankt, ein
+Mittel, zu erfahren, ob ich betrogen bin oder nicht.“
+
+Er befahl, sein schnellstes Pferd vorzufahren, schwang sich auf und
+ritt in einen Wald, der nicht weit von der Stadt begann. Dort wohnte
+nach einer alten Sage eine gütige Fee, Adolzaide geheißen, welche oft
+schon den Königen seines Stammes in der Stunde der Not mit ihrem Rat
+beigestanden war; dorthin eilte der Sultan.
+
+In der Mitte des Waldes war ein freier Platz, von hohen Zedern umgeben.
+Dort wohnte nach der Sage die Fee, und selten betrat ein Sterblicher
+diesen Platz, denn eine gewisse Scheu davor hatte sich aus alten Zeiten
+vom Vater auf den Sohn vererbt.
+
+Als der Sultan dort angekommen war, stieg er ab, band sein Pferd an
+einen Baum, stellte sich in die Mitte des Platzes und sprach mit lauter
+Stimme: „Wenn es wahr ist, daß du meinen Vätern gütigen Rat erteiltest
+in der Stunde der Not, so verschmähe nicht die Bitte ihres Enkels und
+rate mir, wo menschlicher Verstand zu kurzsichtig ist!“
+
+Er hatte kaum die letzten Worte gesprochen, als sich eine der Zedern
+öffnete und eine verschleierte Frau in langen, weißen Gewändern
+hervortrat. „Ich weiß, warum du zu mir kommst, Sultan Saaud, dein Wille
+ist redlich; darum soll dir auch meine Hilfe werden. Nimm diese zwei
+Kistchen! Laß jene beiden, welche deine Söhne sein wollen, wählen! Ich
+weiß, daß der, welcher der echte ist, das rechte nicht verfehlen wird.“
+So sprach die Verschleierte und reichte ihm zwei kleine Kistchen von
+Elfenbein, reich mit Gold und Perlen verziert; auf den Deckeln, die der
+Sultan vergebens zu öffnen versuchte, standen Inschriften von
+eingesetzten Diamanten.
+
+Der Sultan besann sich, als er nach Hause ritt, hin und her, was wohl
+in den Kistchen sein könnte, welche er mit aller Mühe nicht zu öffnen
+vermochte. Auch die Aufschrift gab ihm kein Licht in der Sache; denn
+auf dem einen stand: „Ehre und Ruhm“, auf dem anderen: „Glück und
+Reichtum“. Der Sultan dachte bei sich, da würde auch ihm die Wahl
+schwer werden unter diesen beiden Dingen, die gleich anziehend, gleich
+lockend seien.
+
+Als er in seinen Palast zurückgekommen war, ließ er die Sultanin rufen
+und sagte ihr den Ausspruch der Fee, und eine wunderbare Hoffnung
+erfüllte sie, daß jener, zu dem ihr Herz sie hinzog, das Kistchen
+wählen würde, welches seine königliche Abkunft beweisen sollte.
+
+Vor dem Throne des Sultans wurden zwei Tische aufgestellt; auf sie
+setzte der Sultan mit eigener Hand die beiden Kistchen, bestieg dann
+den Thron und winkte einem seiner Sklaven, die Pforte des Saales zu
+öffnen. Eine glänzende Versammlung von Bassas und Emiren des Reiches,
+die der Sultan berufen hatte, strömte durch die geöffnete Pforte. Sie
+ließen sich auf prachtvollen Polstern nieder, welche die Wände entlang
+aufgestellt waren.
+
+Als sie sich alle niedergelassen hatten, winkte der König zum
+zweitenmal, und Labakan wurde hereingeführt. Mit stolzem Schritte ging
+er durch den Saal, warf sich vor dem Throne nieder und sprach: „Was
+befiehlt mein Herr und Vater?“
+
+Der Sultan erhob sich auf seinem Thron und sprach: „Mein Sohn! Es sind
+Zweifel an der Echtheit deiner Ansprüche auf diesen Namen erhoben
+worden; eines jener Kistchen enthält die Bestätigung deiner echten
+Geburt, wähle! Ich zweifle nicht, du wirst das rechte wählen!“
+
+Labakan erhob sich und trat vor die Kistchen, er erwog lange, was er
+wählen sollte, endlich sprach er: „Verehrter Vater! Was kann es Höheres
+geben als das Glück, dein Sohn zu sein, was Edleres als den Reichtum
+deiner Gnade? Ich wähle das Kistchen, das die Aufschrift „Glück und
+Reichtum“ zeigt.“
+
+„Wir werden nachher erfahren, ob du recht gewählt hast; einstweilen
+setze dich dort auf das Polster zum Bassa von Medina“, sagte der Sultan
+und winkte seinen Sklaven.
+
+Omar wurde hereingeführt; sein Blick war düster, seine Miene traurig,
+und sein Anblick erregte allgemeine Teilnahme unter den Anwesenden. Er
+warf sich vor dem Throne nieder und fragte nach dem Willen des Sultans.
+
+Der Sultan deutete ihm an, daß er eines der Kistchen zu wählen habe, er
+stand auf und trat vor den Tisch.
+
+Er las aufmerksam beide Inschriften und sprach: „Die letzten Tage haben
+mich gelehrt, wie unsicher das Glück, wie vergänglich der Reichtum ist;
+sie haben mich aber auch gelehrt, daß ein unzerstörbares Gut in der
+Brust des Tapferen wohnt, die Ehre, und daß der leuchtende Stern des
+Ruhmes nicht mit dem Glück zugleich vergeht. Und sollte ich einer Krone
+entsagen, der Würfel liegt—Ehre und Ruhm, ich wähle euch!“
+
+Er setzte seine Hand auf das Kistchen, das er erwählt hatte; aber der
+Sultan befahl ihm, einzuhalten; er winkte Labakan, gleichfalls vor
+seinen Tisch zu treten, und auch dieser legte seine Hand auf sein
+Kistchen.
+
+Der Sultan aber ließ sich ein Becken mit Wasser von dem heiligen
+Brunnen Zemzem in Mekka bringen, wusch seine Hände zum Gebet, wandte
+sein Gesicht nach Osten, warf sich nieder und betete: „Gott meiner
+Väter! Der du seit Jahrhunderten unsern Stamm rein und unverfälscht
+bewahrtest, gib nicht zu, daß ein Unwürdiger den Namen der Abassiden
+schände, sei mit deinem Schutze meinem echten Sohne nahe in dieser
+Stunde der Prüfung!“
+
+Der Sultan erhob sich und bestieg seinen Thron wieder; allgemeine
+Erwartung fesselte die Anwesenden, man wagte kaum zu atmen, man hätte
+ein Mäuschen über den Saal gehen hören können, so still und gespannt
+waren alle, die hintersten machten lange Hälse, um über die vorderen
+nach den Kistchen sehen zu können. Jetzt sprach der Sultan: „Öffnet die
+Kistchen“, und diese, die vorher keine Gewalt zu öffnen vermochte,
+sprangen von selbst auf.
+
+In dem Kistchen, das Omar gewählt hatte, lagen auf einem samtenen
+Kissen eine kleine goldene Krone und ein Zepter; in Labakans
+Kistchen—eine große Nadel und ein wenig Zwirn! Der Sultan befahl den
+beiden, ihre Kistchen vor ihn zu bringen. Er nahm das Krönchen von dem
+Kissen in seine Hand, und wunderbar war es anzusehen, wie er es nahm,
+wurde es größer und größer, bis es die Größe einer rechten Krone
+erreicht hatte. Er setzte die Krone seinem Sohn Omar, der vor ihm
+kniete, auf das Haupt, küßte ihn auf die Stirne und hieß ihn zu seiner
+Rechten sich niedersetzen. Zu Labakan aber wandte er sich und sprach:
+„Es ist ein altes Sprichwort: Der Schuster bleibe bei seinem Leisten!
+Es scheint, als solltest du bei der Nadel bleiben. Zwar hast du meine
+Gnade nicht verdient, aber es hat jemand für dich gebeten, dem ich
+heute nichts abschlagen kann; drum schenke ich dir dein armseliges
+Leben, aber wenn ich dir guten Rates bin, so beeile dich, daß du aus
+meinem Lande kommst!“
+
+Beschämt, vernichtet, wie er war, vermochte der arme Schneidergeselle
+nichts zu erwidern; er warf sich vor dem Prinzen nieder, und Tränen
+drangen ihm aus den Augen: „Könnt Ihr mir vergeben, Prinz?“ sagte er.
+
+„Treue gegen den Freund, Großmut gegen den Feind ist des Abassiden
+Stolz“, antwortete der Prinz, indem er ihn aufhob, „gehe hin in
+Frieden!“
+
+„O du mein echter Sohn!“ rief gerührt der alte Sultan und sank an die
+Brust des Sohnes; die Emire und Bassa und alle Großen des Reiches
+standen auf von ihren Sitzen und riefen: „Heil dem neuen Königssohn!“
+Und unter dem allgemeinen Jubel schlich sich Labakan, sein Kistchen
+unter dem Arm, aus dem Saal.
+
+Er ging hinunter in die Ställe des Sultans, zäumte sein Roß Murva auf
+und ritt zum Tore hinaus, Alessandria zu. Sein ganzes Prinzenleben kam
+ihm wie ein Traum vor, und nur das prachtvolle Kistchen, reich mit
+Perlen und Diamanten geschmückt, erinnerte ihn, daß er doch nicht
+geträumt habe.
+
+Als er endlich wieder nach Alessandria kam, ritt er vor das Haus seines
+alten Meisters, stieg ab, band sein Rößlein an die Türe und trat in die
+Werkstatt. Der Meister, der ihn nicht gleich kannte, machte ein großes
+Wesen und fragte, was ihm zu Dienst stehe; als er aber den Gast näher
+ansah und seinen alten Labakan erkannte, rief er seine Gesellen und
+Lehrlinge herbei, und alle stürzten sich wie wütend auf den armen
+Labakan, der keines solchen Empfangs gewärtig war, stießen und schlugen
+ihn mit Bügeleisen und Ellenmaß, stachen ihn mit Nadeln und zwickten
+ihn mit scharfen Scheren, bis er erschöpft auf einen Haufen alter
+Kleider niedersank.
+
+Als er nun so dalag, hielt ihm der Meister eine Strafrede über das
+gestohlene Kleid; vergebens versicherte Labakan, daß er nur deswegen
+wiedergekommen sei, um ihm alles zu ersetzen, vergebens bot er ihm den
+dreifachen Schadenersatz, der Meister und seine Gesellen fielen wieder
+über ihn her, schlugen ihn weidlich und warfen ihn zur Türe hinaus;
+zerschlagen und zerfetzt stieg er auf das Roß Murva und ritt in eine
+Karawanserei. Dort legte er sein müdes, zerschlagenes Haupt nieder und
+stellte Betrachtungen an über die Leiden der Erde, über das so oft
+verkannte Verdienst und über die Nichtigkeit und Flüchtigkeit aller
+Güter. Er schlief mit dem Entschluß ein, aller Größe zu entsagen und
+ein ehrsamer Bürger zu werden.
+
+Und den andere Tag gereute ihn sein Entschluß nicht; denn die schweren
+Hände des Meisters und seiner Gesellen schienen alle Hoheit aus ihm
+herausgeprügelt zu haben.
+
+Er verkaufte um einen hohen Preis sein Kistchen an einen
+Juwelenhändler, kaufte sich ein Haus und richtete sich eine Werkstatt
+zu seinem Gewerbe ein. Als er alles eingerichtet und auch ein Schild
+mit der Aufschrift Labakan, Kleidermacher vor sein Fenster gehängt
+hatte, setzte er sich und begann mit jener Nadel und dem Zwirn, die er
+in dem Kistchen gefunden, den Rock zu flicken, welchen ihm sein Meister
+so grausam zerfetzt hatte. Er wurde von seinem Geschäft abgerufen, und
+als er sich wieder an die Arbeit setzen wollte, welch sonderbarer
+Anblick bot sich ihm dar! Die Nadel nähte emsig fort, ohne von jemand
+geführt zu werden; sie machte feine, zierliche Stiche, wie sie selbst
+Labakan in seinen kunstreichsten Augenblicken nicht gemacht hatte!
+
+Wahrlich, auch das geringste Geschenk einer gütigen Fee ist nützlich
+und von großem Wert! Noch einen andere Wert hatte aber dies Geschenk,
+nämlich: Das Stückchen Zwirn ging nie aus, die Nadel mochte so fleißig
+sein, als sie wollte.
+
+Labakan bekam viele Kunden und war bald der berühmteste Schneider weit
+und breit; er schnitt die Gewänder zu und machte den ersten Stich mit
+der Nadel daran, und flugs arbeitete diese weiter ohne Unterlaß, bis
+das Gewand fertig war. Meister Labakan hatte bald die ganze Stadt zu
+Kunden; denn er arbeitete schön und außerordentlich billig, und nur
+über eines schüttelten die Leute von Alessandria den Kopf, nämlich: daß
+er ganz ohne Gesellen und bei verschlossenen Türen arbeitete.
+
+So war der Spruch des Kistchens, Glück und Reichtum verheißend, in
+Erfüllung gegangen; Glück und Reichtum begleiteten, wenn auch in
+bescheidenem Maße, die Schritte des guten Schneiders, und wenn er von
+dem Ruhm des jungen Sultans Omar, der in aller Munde lebte, hörte, wenn
+er hörte, daß dieser Tapfere der Stolz und die Liebe seines Volkes und
+der Schrecken seiner Feinde sei, da dachte der ehemalige Prinz bei
+sich: „Es ist doch besser, daß ich ein Schneider geblieben bin; denn um
+die Ehre und den Ruhm ist es eine gar gefährliche Sache.“ So lebte
+Labakan, zufrieden mit sich, geachtet von seinen Mitbürgern, und wenn
+die Nadel indes nicht ihre Kraft verloren, so näht sie noch jetzt mit
+dem ewigen Zwirn der gütigen Fee Adolzaide.
+
+Mit Sonnenaufgang brach die Karawane auf und gelangte bald nach Birket
+el Had oder dem Pilgrimsbrunnen, von wo es nur noch drei Stunden Weges
+nach Kairo waren—Man hatte um diese Zeit die Karawane erwartet, und
+bald hatten die Kaufleute die Freude, ihre Freunde aus Kairo ihnen
+entgegenkommen zu sehen. Sie zogen in die Stadt durch das Tor Bebel
+Falch; denn es wird für eine glückliche Vorbedeutung gehalten, wenn man
+von Mekka kommt, durch dieses Tor einzuziehen, weil der Prophet
+hindurchgezogen ist.
+
+Auf dem Markt verabschiedeten sich die vier türkischen Kaufleute von
+dem Fremden und dem griechischen Kaufmann Zaleukos und gingen mit ihren
+Freunden nach Haus. Zaleukos aber zeigte dem Fremden eine gute
+Karawanserei und lud ihn ein, mit ihm das Mittagsmahl zu nehmen. Der
+Fremde sagte zu und versprach, wenn er nur vorher sich umgekleidet
+habe, zu erscheinen.
+
+Der Grieche hatte alle Anstalten getroffen, den Fremden, welchen er auf
+der Reise liebgewonnen hatte, gut zu bewirten, und als die Speisen und
+Getränke in gehöriger Ordnung aufgestellt waren, setzte er sich, seinen
+Gast zu erwarten.
+
+Langsam und schweren Schrittes hörte er ihn den Gang, der zu seinem
+Gemach führte, heraufkommen. Er erhob sich, um ihm freundlich
+entgegenzusehen und ihn an der Schwelle zu bewillkommnen; aber voll
+Entsetzen fuhr er zurück, als er die Türe öffnete; denn jener
+schreckliche Rotmantel trat ihm entgegen; er warf noch einen Blick auf
+ihn, es war keine Täuschung; dieselbe hohe, gebietende Gestalt, die
+Larve, aus welcher ihn die dunklen Augen anblitzten, der rote Mantel
+mit der goldenen Stickerei waren ihm nur allzuwohl bekannt aus den
+schrecklichsten Stunden seines Lebens.
+
+Widerstreitende Gefühle wogten in Zaleukos Brust; er hatte sich mit
+diesem Bild seiner Erinnerung längst ausgesöhnt und ihm vergeben, und
+doch riß sein Anblick alle seine Wunden wieder auf; alle jene
+qualvollen Stunden der Todesangst, jener Gram, der die Blüte seines
+Lebens vergiftete, zogen im Flug eines Augenblicks an seiner Seele
+vorüber.
+
+„Was willst du, Schrecklicher?“ rief der Grieche aus, als die
+Erscheinung noch immer regungslos auf der Schwelle stand. „Weiche
+schnell von hinnen, daß ich dir nicht fluche!“
+
+„Zaleukos!“ sprach eine bekannte Stimme unter der Larve hervor.
+„Zaleukos! So empfängst du deinen Gastfreund?“ Der Sprechende nahm die
+Larve ab, schlug den Mantel zurück; es war Selim Baruch, der Fremde.
+
+Aber Zaleukos schien noch nicht beruhigt, ihm graute vor dem Fremden;
+denn nur zu deutlich hatte er in ihm den Unbekannten von der Ponte
+vecchio erkannt; aber die alte Gewohnheit der Gastfreundschaft siegte;
+er winkte schweigend dem Fremden, sich zu ihm ans Mahl zu setzen.
+
+„Ich errate deine Gedanken“, nahm dieser das Wort, als sie sich gesetzt
+hatten. „Deine Augen sehen fragend auf mich—ich hätte schweigen und
+mich deinen Blicken nie mehr zeigen können, aber ich bin dir
+Rechenschaft schuldig, und darum wagte ich es auch, auf die Gefahr hin,
+daß du mir fluchtest, vor dir in meiner alten Gestalt zu erscheinen. Du
+sagtest einst zu mir: Der Glaube meiner Väter befiehlt mir, ihn zu
+lieben, auch ist er wohl unglücklicher als ich; glaube dieses, mein
+Freund, und höre meine Rechtfertigung!
+
+Ich muß weit ausholen, um mich dir ganz verständlich zu machen. Ich bin
+in Alessandria von christlichen Eltern geboren. Mein Vater, der jüngere
+Sohn eines alten, berühmten französischen Hauses, war Konsul seines
+Landes in Alessandria. Ich wurde von meinem zehnten Jahre an in
+Frankreich bei einem Bruder meiner Mutter erzogen und verließ erst
+einige Jahre nach dem Ausbruch der Revolution mein Vaterland, um mit
+meinem Oheim, der in dem Lande seiner Ahnen nicht mehr sicher war, über
+dem Meer bei meinen Eltern eine Zuflucht zu suchen. Voll Hoffnung, die
+Ruhe und den Frieden, den uns das empörte Volk der Franzosen entrissen,
+im elterlichen Hause wiederzufinden, landeten wir. Aber ach! Ich fand
+nicht alles in meines Vaters Hause, wie es sein sollte; die äußeren
+Stürme der bewegten Zeit waren zwar noch nicht bis hierher gelangt,
+desto unerwarteter hatte das Unglück mein Haus im innersten Herzen
+heimgesucht. Mein Bruder, ein junger, hoffnungsvoller Mann, erster
+Sekretär meines Vaters, hatte sich erst seit kurzem mit einem jungen
+Mädchen, der Tochter eines florentinischen Edelmanns, der in unserer
+Nachbarschaft wohnte, verheiratet; zwei Tage vor unserer Ankunft war
+diese auf einmal verschwunden, ohne daß weder unsere Familie noch ihr
+Vater die geringste Spur von ihr auffinden konnten. Man glaubte
+endlich, sie habe sich auf einem Spaziergang zu weit gewagt und sei in
+Räuberhände gefallen. Beinahe tröstlicher wäre dieser Gedanke für
+meinen armen Bruder gewesen als die Wahrheit, die uns nur bald kund
+wurde. Die Treulose hatte sich mit einem jungen Neapolitaner, den sie
+im Hause ihres Vaters kennengelernt hatte, eingeschifft. Mein Bruder,
+aufs äußerste empört über diesen Schritt, bot alles auf, die Schuldige
+zur Strafe zu ziehen; doch vergebens; seine Versuche, die in Neapel und
+Florenz Aufsehen erregt hatten, dienten nur dazu, sein und unser aller
+Unglück zu vollenden. Der florentinische Edelmann reiste in sein
+Vaterland zurück, zwar mit dem Vorgeben, meinem Bruder Recht zu
+verschaffen, der Tat nach aber, um uns zu verderben. Er schlug in
+Florenz alle jene Untersuchungen, welche mein Bruder angeknüpft hatte,
+nieder und wußte seinen Einfluß, den er auf alle Art sich verschafft
+hatte, so gut zu benützen, daß mein Vater und mein Bruder ihrer
+Regierung verdächtig gemacht und durch die schändlichsten Mittel
+gefangen, nach Frankreich geführt und dort vom Beil des Henkers getötet
+wurden. Meine arme Mutter verfiel in Wahnsinn, und erst nach zehn
+langen Monaten erlöste sie der Tod von ihrem schrecklichen Zustand, der
+aber in den letzten Tagen zu vollem, klarem Bewußtsein geworden war. So
+stand ich jetzt ganz allein in der Welt, aber nur ein Gedanke
+beschäftigte meine Seele, nur ein Gedanke ließ mich meine Trauer
+vergessen, es war jene mächtige Flamme, die meine Mutter in ihrer
+letzten Stunde in mir angefacht hatte.
+
+In den letzten Stunden war, wie ich dir sagte, ihr Bewußtsein
+zurückgekehrt; sie ließ mich rufen und sprach mit Ruhe von unserem
+Schicksal und ihrem Ende. Dann aber ließ sie alle aus dem Zimmer gehen,
+richtete sich mit feierlicher Miene von ihrem ärmlichen Lager auf und
+sagte, ich könne mir ihren Segen erwerben, wenn ich ihr schwöre, etwas
+auszufahren, das sie mir auftragen würde—Ergriffen von den Worten der
+sterbenden Mutter, gelobte ich mit einem Eide zu tun, wie sie mir sagen
+werde. Sie brach nun in Verwünschungen gegen den Florentiner und seine
+Tochter aus und legte mir mit den fürchterlichsten Drohungen ihres
+Fluches auf, mein unglückliches Haus an ihm zu rächen. Sie starb in
+meinen Armen. Jener Gedanke der Rache hatte schon lange in meiner Seele
+geschlummert; jetzt erwachte er mit aller Macht. Ich sammelte den Rest
+meines väterlichen Vermögens und schwor mir, alles an meine Rache zu
+setzen oder selbst mit unterzugehen.
+
+Bald war ich in Florenz, wo ich mich so geheim als möglich aufhielt;
+mein Plan war um vieles erschwert worden durch die Lage, in welcher
+sich meine Feinde befanden. Der alte Florentiner war Gouverneur
+geworden und hatte so alle Mittel in der Hand, sobald er das geringste
+ahnte, mich zu verderben. Ein Zufall kam mir zu Hilfe. Eines Abends sah
+ich einen Menschen in bekannter Livree durch die Straßen gehen; sein
+unsicherer Gang, sein finsterer Blick und das halblaut herausgestoßene
+„Santo sacramento“, „Maledetto diavolo“ ließen mich den alten Pietro,
+einen Diener des Florentiners, den ich schon in Alessandria gekannt
+hatte, erkennen. Ich war nicht in Zweifel, daß er über seinen Herrn in
+Zorn geraten sei, und beschloß, seine Stimmung zu benützen. Er schien
+sehr überrascht, mich hier zu sehen, klagte mir sein Leiden, daß er
+seinem Herrn, seit er Gouverneur geworden, nichts mehr recht machen
+könne, und mein Gold, unterstützt von seinem Zorn, brachte ihn bald auf
+meine Seite. Das Schwierigste war jetzt beseitigt; ich hatte einen Mann
+in meinem Solde, der mir zu jeder Stunde die Türe meines Feindes
+öffnete, und nun reifte mein Racheplan immer schneller heran. Das Leben
+des alten Florentiners schien mir ein zu geringes Gewicht, dem
+Untergang meines Hauses gegenüber, zu haben. Sein Liebstes mußte er
+gemordet sehen, und dies war Bianka, seine Tochter. Hatte ja sie so
+schändlich an meinem Bruder gefrevelt, war ja doch sie die Ursache
+unseres Unglücks. Gar erwünscht kam sogar meinem rachedürstigen Herzen
+die Nachricht, daß in dieser Zeit Bianka zum zweitenmal sich vermählen
+wollte, es war beschlossen, sie mußte sterben. Aber mir selbst graute
+vor der Tat, und auch Pietro traute sich zu wenig Kraft zu; darum
+spähten wir umher nach einem Mann, der das Geschäft vollbringen könne.
+Unter den Florentinern wagte ich keinen zu dingen, denn gegen den
+Gouverneur würde keiner etwas Solches unternommen haben. Da fiel Pietro
+der Plan ein, den ich nachher ausgeführt habe; zugleich schlug er dich
+als Fremden und Arzt als den Tauglichsten vor. Den Verlauf der Sache
+weißt du. Nur an deiner großen Vorsicht und Ehrlichkeit schien mein
+Unternehmen zu scheitern. Daher der Zufall mit dem Mantel.
+
+Pietro öffnete uns das Pförtchen an dem Palast des Gouverneurs; er
+hätte uns auch ebenso heimlich wieder hinausgeleitet, wenn wir nicht,
+durch den schrecklichen Anblick, der sich uns durch die Türspalte
+darbot, erschreckt, entflohen wären. Von Schrecken und Reue gejagt, war
+ich über zweihundert Schritte fortgerannt, bis ich auf den Stufen einer
+Kirche niedersank. Dort erst sammelte ich mich wieder, und mein erster
+Gedanke warst du und dein schreckliches Schicksal, wenn man dich in dem
+Hause fände. Ich schlich an den Palast, aber weder von Pietro noch von
+dir konnte ich eine Spur entdecken; das Pförtchen aber war offen, so
+konnte ich wenigstens hoffen, daß du die Gelegenheit zur Flucht benützt
+haben könntest.
+
+Als aber der Tag anbrach, ließ mich die Angst vor der Entdeckung und
+ein unabweisbares Gefühl von Reue nicht mehr in den Mauern von Florenz.
+Ich eilte nach Rom. Aber denke dir meine Bestürzung, als man dort nach
+einigen Tagen überall diese Geschichte erzählte mit dem Beisatz, man
+habe den Mörder, einen griechischen Arzt, gefangen. Ich kehrte in
+banger Besorgnis nach Florenz zurück; denn schien mir meine Rache schon
+vorher zu stark, so verfluchte ich sie jetzt, denn sie war mir durch
+dein Leben allzu teuer erkauft. Ich kam an demselben Tage an, der dich
+der Hand beraubte. Ich schweige von dem, was ich fühlte, als ich dich
+das Schafott besteigen und so heldenmütig leiden sah. Aber damals, als
+dein Blut in Strömen aufspritzte, war der Entschluß fest in mir, dir
+deine übrigen Lebenstage zu versüßen. Was weiter geschehen ist, weißt
+du, nur das bleibt mir noch zu sagen übrig, warum ich diese Reise mit
+dir machte.
+
+Als eine schwere Last drückte mich der Gedanke, daß du mir noch immer
+nicht vergeben habest; darum entschloß ich mich, viele Tage mit dir zu
+leben und dir endlich Rechenschaft abzulegen von dem, was ich mit dir
+getan.“
+
+Schweigend hatte der Grieche seinen Gast angehört; mit sanftem Blick
+bot er ihm, als er geendet hatte, seine Rechte. „Ich wußte wohl, daß du
+unglücklicher sein müßtest als ich, denn jene grausame Tat wird wie
+eine dunkle Wolke ewig deine Tage verfinstern; ich vergebe dir von
+Herzen. Aber erlaube mir noch eine Frage: Wie kommst du unter dieser
+Gestalt in die Wüste? Was fingst du an, nachdem du in Konstantinopel
+mir das Haus gekauft hattest?“
+
+„Ich ging nach Alessandria zurück“, antwortete der Gefragte. „Haß gegen
+alle Menschen tobte in meiner Brust, brennender Haß besonders gegen
+jene Nationen, die man die gebildeten nennt. Glaube mir, unter meinen
+Moslemiten war mir wohler! Kaum war ich einige Monate in Alessandria,
+als jene Landung meiner Landsleute erfolgte.
+
+Ich sah in ihnen nur die Henker meines Vaters und meines Bruders; darum
+sammelte ich einige gleichgesinnte junge Leute meiner Bekanntschaft und
+schloß mich jenen tapferen Mamelucken an, die so oft der Schrecken des
+französischen Heeres wurden. Als der Feldzug beendigt war, konnte ich
+mich nicht entschließen, zu den Künsten des Friedens zurückzukehren.
+Ich lebte mit einer kleinen Anzahl gleichdenkender Freunde ein unstetes
+und flüchtiges, dem Kampf und der Jagd geweihtes Leben; ich lebe
+zufrieden unter diesen Leuten, die mich wie ihren Fürsten ehren; denn
+wenn meine Asiaten auch nicht so gebildet sind wie Eure Europäer, so
+sind sie doch weit entfernt von Neid und Verleumdung, von Selbstsucht
+und Ehrgeiz.“
+
+Zaleukos dankte dem Fremden für seine Mitteilung, aber er verbarg ihm
+nicht, daß er es für seinen Stand, für seine Bildung angemessener
+fände, wenn er in christlichen, in europäischen Ländern leben und
+wirken würde. Er faßte seine Hand und bat ihn, mit ihm zu ziehen, bei
+ihm zu leben und zu sterben.
+
+Gerührt sah ihn der Gastfreund an. „Daraus erkenne ich“, sagte er, „daß
+du mir ganz vergeben hast, daß du mich liebst. Nimm meinen innigsten
+Dank dafür!“ Er sprang auf und stand in seiner ganzen Größe vor dem
+Griechen, dem vor dem kriegerischen Anstand, den dunkel blitzenden
+Augen, der tiefen Stimme seines Gastes beinahe graute. „Dein Vorschlag
+ist schön“, sprach jener weiter, „er möchte für jeden andern lockend
+sein—ich kann ihn nicht benützen. Schon steht mein Roß gesattelt,
+erwarten mich meine Diener; lebe wohl, Zaleukos!“ Die Freunde, die das
+Schicksal so wunderbar zusammengeführt, umarmten sich zum Abschied.
+„Und wie nenne ich dich? Wie heißt mein Gastfreund, der auf ewig in
+meinem Gedächtnis leben wird?“ fragte der Grieche.
+
+Der Fremde sah ihn lange an, drückte ihm noch einmal die Hand und
+sprach: „Man nennt mich den Herrn der Wüste; ich bin der Räuber
+Orbasan.“
+
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK MÄRCHEN-ALMANACH AUF DAS JAHR 1826 ***
+
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+of this license, apply to copying and distributing Project
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+the second copy is also defective, you may demand a refund in writing
+without further opportunities to fix the problem.
+
+1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
+in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO
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+LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
+
+1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
+warranties or the exclusion or limitation of certain types of
+damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
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+limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
+unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
+remaining provisions.
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+or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
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+exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
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+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
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+generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
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+Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
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+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
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+necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
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+facility: www.gutenberg.org
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+This website includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
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+<div style='text-align:center; font-size:1.2em; font-weight:bold'>The Project Gutenberg eBook of Märchen-Almanach auf das Jahr 1826, by Wilhelm Hauff</div>
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
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+whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
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+</div>
+<div style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:1em; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Title: Märchen-Almanach auf das Jahr 1826</div>
+<div style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:1em; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Author: Wilhelm Hauff</div>
+<div style='display:block; margin:1em 0'>Release Date: January 9, 2003 [eBook #6638]<br />
+[Most recently updated: July 31, 2021]</div>
+<div style='display:block; margin:1em 0'>Language: German</div>
+<div style='display:block; margin:1em 0'>Character set encoding: UTF-8</div>
+<div style='display:block; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Produced by: Mike Pullen</div>
+<div style='margin-top:2em; margin-bottom:4em'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK MÄRCHEN-ALMANACH AUF DAS JAHR 1826 ***</div>
+
+<h1>Märchen-Almanach auf das Jahr 1826</h1>
+
+<h2 class="no-break">Wilhelm Hauff</h2>
+
+<hr />
+
+<h2>Inhalt</h2>
+
+<table summary="" style="">
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap01">Märchen als Almanach</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap02">Die Karawane (Rahmenerzählung)</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap03">Die Geschichte vom Kalif Storch</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap04">Die Geschichte von dem Gespensterschiff</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap05">Die Geschichte von der abgehauenen Hand</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap06">Die Errettung Fatmes</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap07">Die Geschichte von dem kleinen Muck</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap08">Das Märchen vom falschen Prinzen</a></td>
+</tr>
+
+</table>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap01"></a>Märchen als Almanach</h2>
+
+<p class="center">
+Wilhelm Hauff
+</p>
+
+<p>
+In einem schönen, fernen Reiche, von welchem die Sage lebt, daß die Sonne in
+seinen ewig grünen Gärten niemals untergehe, herrschte von Anfang an bis heute
+die Königin Phantasie. Mit vollen Händen spendete diese seit vielen
+Jahrhunderten die Fülle des Segens über die Ihrigen und war geliebt, verehrt
+von allen, die sie kannten. Das Herz der Königin war aber zu groß, als daß sie
+mit ihren Wohltaten bei ihrem Lande stehen geblieben wäre; sie selbst, im
+königlichen Schmuck ihrer ewigen Jugend und Schönheit, stieg herab auf die
+Erde; denn sie hatte gehört, daß dort Menschen wohnen, die ihr Leben in
+traurigem Ernst, unter Mühe und Arbeit hinbringen. Diesen hatte sie die
+schönsten Gaben aus ihrem Reiche mitgebracht, und seit die schöne Königin durch
+die Fluren der Erde gegangen war, waren die Menschen fröhlich bei der Arbeit,
+heiter in ihrem Ernst.
+</p>
+
+<p>
+Auch ihre Kinder, nicht minder schön und lieblich als die königliche Mutter,
+sandte sie aus, um die Menschen zu beglücken. Einst kam Märchen, die älteste
+Tochter der Königin, von der Erde zurück. Die Mutter bemerkte, daß Märchen
+traurig sei, ja, hier und da wollte ihr bedünken, als ob sie verweinte Augen
+hätte.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Was hast du, liebes Märchen&ldquo;, sprach die Königin zu ihr, &bdquo;du
+bist seit deiner Reise so traurig und niedergeschlagen, willst du deiner Mutter
+nicht anvertrauen, was dir fehlt?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ach, liebe Mutter&ldquo;, antwortete Märchen, &bdquo;ich hätte gewiß
+nicht so lange geschwiegen, wenn ich nicht wüßte, daß mein Kummer auch der
+deinige ist.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Sprich immer, meine Tochter&ldquo;, bat die schöne Königin, &bdquo;der
+Gram ist ein Stein, der den einzelnen niederdrückt, aber zwei tragen ihn leicht
+aus dem Wege.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Du willst es&ldquo;, antwortete Märchen, &bdquo;so höre: Du weißt, wie
+gerne ich mit den Menschen umgehe, wie ich freudig auch bei dem Ärmsten vor
+seiner Hütte sitze, um nach der Arbeit ein Stündchen mit ihm zu verplaudern;
+sie boten mir auch sonst gleich freundlich die Hand zum Gruß, wenn ich kam, und
+sahen mir lächelnd und zufrieden nach, wenn ich weiterging; aber in diesen
+Tagen ist es gar nicht mehr so!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Armes Märchen!&ldquo; sprach die Königin und streichelte ihr die Wange,
+die von einer Träne feucht war, &bdquo;aber du bildest dir vielleicht dies
+alles nur ein?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Glaube mir, ich fühle es nur zu gut&ldquo;, entgegnete Märchen,
+&bdquo;sie lieben mich nicht mehr. Überall, wo ich hinkomme, begegnen mir kalte
+Blicke; nirgends bin ich mehr gern gesehen; selbst die Kinder, die ich doch
+immer so lieb hatte, lachen über mich und wenden mir altklug den Rücken
+zu.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Königin stützte die Stirne in die Hand und schwieg sinnend.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Und woher soll es denn&ldquo;, fragte die Königin, &bdquo;kommen,
+Märchen, daß sich die Leute da unten so geändert haben?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Sieh, die Menschen haben kluge Wächter aufgestellt, die alles, was aus
+deinem Reich kommt, o Königin Phantasie, mit scharfem Blicke mustern und
+prüfen. Wenn nun einer kommt, der nicht nach ihrem Sinne ist, so erheben sie
+ein großes Geschrei, schlagen ihn tot oder verleumden ihn doch so sehr bei den
+Menschen, die ihnen aufs Wort glauben, daß man gar keine Liebe, kein Fünkchen
+Zutrauen mehr findet. Ach, wie gut haben es meine Brüder, die Träume, fröhlich
+und leicht hüpfen sie auf die Erde hinab, fragen nichts nach jenen klugen
+Männern, besuchen die schlummernden Menschen und weben und malen ihnen, was das
+Herz beglückt und das Auge erfreut!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Deine Brüder sind Leichtfüße&ldquo;, sagte die Königin, &bdquo;und du,
+mein Liebling, hast keine Ursache, sie zu beneiden. Jene Grenzwächter kenne ich
+übrigens wohl; die Menschen haben so unrecht nicht, sie aufzustellen; es kam so
+mancher windige Geselle und tat, als ob er geradewegs aus meinem Reiche käme,
+und doch hatte er höchstens von einem Berge zu uns herübergeschaut.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Aber warum lassen sie dies mich, deine eigene Tochter, entgelten&ldquo;,
+weinte Märchen. &bdquo;Ach, wenn du wüßtest, wie sie es mit mir gemacht haben;
+sie schalten mich eine alte Jungfer und drohten, mich das nächste Mal gar nicht
+mehr hereinzulassen.&ldquo; &bdquo;Wie, meine Tochter nicht mehr
+einzulassen?&ldquo; rief die Königin, und Zorn rötete ihre Wangen. &bdquo;Aber
+ich sehe schon, woher dies kommt; die böse Muhme hat uns verleumdet!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Die Mode? Nicht möglich!&ldquo; rief Märchen, &bdquo;sie tat ja sonst
+immer so freundlich.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Oh! Ich kenne sie, die Falsche&ldquo;, antwortete die Königin,
+&bdquo;aber versuche es ihr zum Trotze wieder, meine Tochter, wer Gutes tun
+will, darf nicht rasten.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ach, Mutter! Wenn sie mich dann ganz zurückweisen, oder wenn sie mich
+verleumden, daß mich die Menschen nicht ansehen oder einsam und verachtet in
+der Ecke stehen lassen?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wenn die Alten, von der Mode betört, dich geringschätzen, so wende dich
+an die Kleinen, wahrlich, sie sind meine Lieblinge, ihnen sende ich meine
+lieblichsten Bilder durch deine Brüder, die Träume, ja, ich bin schon oft
+selbst zu ihnen hinabgeschwebt, habe sie geherzt und geküßt und schöne Spiele
+mit ihnen gespielt; sie kennen mich auch wohl, sie wissen zwar meinen Namen
+nicht, aber ich habe schon oft bemerkt, wie sie nachts zu meinen Sternen
+herauflächeln und morgens, wenn meine glänzenden Lämmer am Himmel ziehen, vor
+Freuden die Hände zusammenschlagen. Auch wenn sie größer werden, lieben sie
+mich noch, ich helfe dann den lieblichen Mädchen bunte Kränze flechten, und die
+wilden Knaben werden stiller, wenn ich auf hoher Felsenspitze mich zu ihnen
+setze, aus der Nebelwelt der fernen, blauen Berge hohe Burgen und glänzende
+Paläste auftauchen lasse und aus den rötlichen Wolken des Abends kühne
+Reiterscharen und wunderliche Wallfahrtszüge bilde.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;O die guten Kinder!&ldquo; rief Märchen bewegt aus. &bdquo;Ja, es sei!
+Mit ihnen will ich es noch einmal versuchen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ja, du gute Tochter&ldquo;, sprach die Königin, &bdquo;gehe zu ihnen;
+aber ich will dich auch ein wenig ordentlich ankleiden, daß du den Kleinen
+gefällst und die Großen dich nicht zurückstoßen; siehe, das Gewand eines
+Almanachs will ich dir geben.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Eines Almanachs, Mutter? Ach!&mdash;Ich schäme mich, so vor den Leuten
+zu prangen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Königin winkte, und die Dienerinnen brachten das zierliche Gewand eines
+Almanachs. Es war von glänzenden Farben und schöne Figuren eingewoben.
+</p>
+
+<p>
+Die Zofen flochten dem schönen Mädchen das lange Haar; sie banden ihr goldene
+Sandalen unter die Füße und hingen ihr dann das Gewand um.
+</p>
+
+<p>
+Das bescheidene Märchen wagte nicht aufzublicken, die Mutter aber betrachtete
+es mit Wohlgefallen und schloß es in ihre Arme. &bdquo;Gehe hin&ldquo;, sprach
+sie zu der Kleinen, &bdquo;mein Segen sei mit dir. Und wenn sie dich verachten
+und höhnen, so kehre zurück zu mir, vielleicht, daß spätere Geschlechter,
+getreuer der Natur, ihr Herz dir wieder zuwenden.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Also sprach die Königin Phantasie. Märchen aber stieg hinab auf die Erde. Mit
+pochendem Herzen nahte sie dem Ort, wo die klugen Wächter hauseten; sie senkte
+das Köpfchen zur Erde, sie zog das schöne Gewand enger um sich her, und mit
+zagendem Schritt nahte sie dem Tor.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Halt!&ldquo; rief eine tiefe, rauhe Stimme. &bdquo;Wache heraus! Da
+kommt ein neuer Almanach!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Märchen zitterte, als sie dies hörte; viele ältliche Männer von finsterem
+Aussehen stürzten hervor; sie hatten spitzige Federn in der Faust und hielten
+sie dem Märchen entgegen. Einer aus der Schar schritt auf sie zu und packte sie
+mit rauher Hand am Kinn. &bdquo;Nur auch den Kopf aufgerichtet, Herr
+Almanach&ldquo;, schrie er, &bdquo;daß man Ihm in den Augen ansiehet, ob er was
+Rechtes ist oder nicht!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Errötend richtete Märchen das Köpfchen in die Höhe und schlug das dunkle Auge
+auf.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Das Märchen!&ldquo; riefen die Wächter und lachten aus vollem Hals,
+&bdquo;das Märchen! Haben wunder gemeint, was da käme! Wie kommst du nur in
+diesen Rock?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Die Mutter hat ihn mir angezogen&ldquo;, antwortete Märchen. &bdquo;So?
+Sie will dich bei uns einschwärzen? Nichts da! Hebe dich weg, mach, daß du
+fortkommst!&ldquo; riefen die Wächter untereinander und erhoben die scharfen
+Federn.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Aber ich will ja nur zu den Kindern&ldquo;, bat Märchen, &bdquo;dies
+könnt ihr mir ja doch erlauben.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Läuft nicht schon genug solches Gesindel im Land umher?&ldquo; rief
+einer der Wächter. &bdquo;Sie schwatzen nur unseren Kindern dummes Zeug
+vor.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Laßt uns sehen, was sie diesmal weiß!&ldquo; sprach ein anderer.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Nun ja&ldquo;, riefen sie, &bdquo;sag an, was du weißt, aber beeile
+dich, denn wir haben nicht viele Zeit für dich!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Märchen streckte die Hand aus und schrieb mit dem Zeigefinger viele Zeichen in
+die Luft. Da sah man bunte Gestalten vorüberziehen; Karawanen mit schönen
+Rossen, geschmückte Reiter, viele Zelte im Sand der Wüste; Vögel und Schiffe
+auf stürmischen Meeren; stille Wälder und volkreiche Plätze und Straßen;
+Schlachten und friedliche Nomaden, sie alle schwebten in belebten Bildern, in
+buntem Gewimmel vorüber.
+</p>
+
+<p>
+Märchen hatte in dem Eifer, mit welchem sie die Bilder aufsteigen ließ, nicht
+bemerkt, wie die Wächter des Tores nach und nach eingeschlafen waren. Eben
+wollte sie neue Zeichen schreiben, als ein freundlicher Mann auf sie zutrat und
+ihre Hand ergriff. &bdquo;Siehe her, gutes Märchen&ldquo;, sagte er, indem er
+auf die Schlafenden zeigte, &bdquo;für diese sind deine bunten Sachen nichts;
+schlüpfe schnell durch das Tor; sie ahnen dann nicht, daß du im Lande bist, und
+du kannst friedlich und unbemerkt deine Straße ziehen. Ich will dich zu meinen
+Kindern führen; in meinem Hause geb&rsquo; ich dir ein stilles, freundliches
+Plätzchen; dort kannst du wohnen und für dich leben; wenn dann meine Söhne und
+Töchter gut gelernt haben, dürfen sie mit ihren Gespielen zu dir kommen und dir
+zuhören. Willst du so?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Oh, wie gerne folge ich dir zu deinen lieben Kleinen; wie will ich mich
+befleißen, ihnen zuweilen ein heiteres Stündchen zu machen!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der gute Mann nickte ihr freundlich zu und half ihr, über die Füße der
+schlafenden Wächter hinüberzusteigen. Lächelnd sah sich Märchen um, als sie
+hinüber war, und schlüpfte dann schnell in das Tor.
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap02"></a>Die Karawane</h2>
+
+<p class="center">
+Wilhelm Hauff
+</p>
+
+<p>
+Es zog einmal eine große Karawane durch die Wüste. Auf der ungeheuren Ebene, wo
+man nichts als Sand und Himmel sieht, hörte man schon in weiter Ferne die
+Glocken der Kamele und die silbernen Röllchen der Pferde, eine dichte
+Staubwolke, die ihr vorherging, verkündete ihre Nähe, und wenn ein Luftzug die
+Wolke teilte, blendeten funkelnde Waffen und helleuchtende Gewänder das Auge.
+So stellte sich die Karawane einem Manne dar, welcher von der Seite her auf sie
+zuritt. Er ritt ein schönes arabisches Pferd, mit einer Tigerdecke behängt, an
+dem hochroten Riemenwerk hingen silberne Glöckchen, und auf dem Kopf des
+Pferdes wehte ein schöner Reiherbusch. Der Reiter sah stattlich aus, und sein
+Anzug entsprach der Pracht seines Rosses; ein weißer Turban, reich mit Gold
+bestickt, bedeckte das Haupt; der Rock und die weiten Beinkleider waren von
+brennendem Rot, ein gekrümmtes Schwert mit reichem Griff an seiner Seite. Er
+hatte den Turban tief ins Gesicht gedrückt; dies und die schwarzen Augen, die
+unter buschigen Brauen hervorblitzten, der lange Bart, der unter der gebogenen
+Nase herabhing, gaben ihm ein wildes, kühnes Aussehen.
+</p>
+
+<p>
+Als der Reiter ungefähr auf fünfzig Schritt dem Vortrab der Karawane nahe war,
+spornte er sein Pferd an und war in wenigen Augenblicken an der Spitze des
+Zuges angelangt. Es war ein so ungewöhnliches Ereignis, einen einzelnen Reiter
+durch die Wüste ziehen zu sehen, daß die Wächter des Zuges, einen Überfall
+befürchtend, ihm ihre Lanzen entgegenstreckten.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Was wollt ihr&ldquo;, rief der Reiter, als er sich so kriegerisch
+empfangen sah, &bdquo;glaubt ihr, ein einzelner Mann werde eure Karawane
+angreifen?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Beschämt schwangen die Wächter ihre Lanzen wieder auf, ihr Anführer aber ritt
+an den Fremden heran und fragte nach seinem Begehr.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wer ist der Herr der Karawane?&ldquo; fragte der Reiter.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Sie gehört nicht einem Herrn&ldquo;, antwortete der Gefragte,
+&bdquo;sondern es sind mehrere Kaufleute, die von Mekka in ihre Heimat ziehen
+und die wir durch die Wüste geleiten, weil oft allerlei Gesindel die Reisenden
+beunruhigt.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;So führt mich zu den Kaufleuten&ldquo;, begehrte der Fremde.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Das kann jetzt nicht geschehen&ldquo;, antwortete der Führer,
+&bdquo;weil wir ohne Aufenthalt weiterziehen müssen und die Kaufleute
+wenigstens eine Viertelstunde weiter hinten sind; wollt Ihr aber mit mir
+weiterreiten, bis wir lagern, um Mittagsruhe zu halten, so werde ich Eurem
+Wunsch willfahren.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der Fremde sagte hierauf nichts; er zog eine lange Pfeife, die er am Sattel
+festgebunden hatte, hervor und fing an in großen Zügen zu rauchen, indem er
+neben dem Anführer des Vortrabs weiterritt. Dieser wußte nicht, was er aus dem
+Fremden machen sollte; er wagte es nicht, ihn geradezu nach seinem Namen zu
+fragen, und so künstlich er auch ein Gespräch anzuknüpfen suchte, der Fremde
+hatte auf das: &bdquo;Ihr raucht da einen guten Tabak&ldquo;, oder: &bdquo;Euer
+Rapp&rsquo; hat einen braven Schritt&ldquo;, immer nur mit einem kurzen
+&bdquo;Ja, ja!&ldquo; geantwortet.
+</p>
+
+<p>
+Endlich waren sie auf dem Platz angekommen, wo man Mittagsruhe halten wollte.
+Der Anführer hatte seine Leute als Wachen aufgestellt; er selbst hielt mit dem
+Fremden, um die Karawane herankommen zu lassen. Dreißig Kamele, schwer beladen,
+zogen vorüber, von bewaffneten Führern geleitet. Nach diesen kamen auf schönen
+Pferden die fünf Kaufleute, denen die Karawane gehörte. Es waren meistens
+Männer von vorgerücktem Alter, ernst und gesetzt aussehend, nur einer schien
+viel jünger als die übrigen, wie auch froher und lebhafter. Eine große Anzahl
+Kamele und Packpferde schloß den Zug.
+</p>
+
+<p>
+Man hatte Zelte aufgeschlagen und die Kamele und Pferde rings umhergestellt. In
+der Mitte war ein großes Zelt von blauem Seidenzeug. Dorthin führte der
+Anführer der Wache den Fremden. Als sie durch den Vorhang des Zeltes getreten
+waren, sahen sie die fünf Kaufleute auf goldgewirkten Polstern sitzen; schwarze
+Sklaven reichten ihnen Speise und Getränke. &bdquo;Wen bringt Ihr uns
+da?&ldquo; rief der junge Kaufmann dem Führer zu.
+</p>
+
+<p>
+Ehe noch der Führer antworten konnte, sprach der Fremde: &bdquo;Ich heiße Selim
+Baruch und bin aus Bagdad; ich wurde auf einer Reise nach Mekka von einer
+Räuberhorde gefangen und habe mich vor drei Tagen heimlich aus der
+Gefangenschaft befreit. Der große Prophet ließ mich die Glocken eurer Karawane
+in weiter Ferne hören, und so kam ich bei euch an. Erlaubet mir, daß ich in
+eurer Gesellschaft reise! Ihr werdet euren Schutz keinem Unwürdigen schenken,
+und so ihr nach Bagdad kommet, werde ich eure Güte reichlich belohnen denn ich
+bin der Neffe des Großwesirs.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der älteste der Kaufleute nahm das Wort: &bdquo;Selim Baruch&ldquo;, sprach er,
+&bdquo;sei willkommen in unserem Schatten. Es macht uns Freude, dir
+beizustehen; vor allem aber setze dich und iß und trinke mit uns.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Selim Baruch setzte sich zu den Kaufleuten und aß und trank mit ihnen. Nach dem
+Essen räumten die Sklaven die Geschirre hinweg und brachten lange Pfeifen und
+türkischen Sorbet. Die Kaufleute saßen lange schweigend, indem sie die
+bläulichen Rauchwolken vor sich hinbliesen und zusahen, wie sie sich ringelten
+und verzogen und endlich in die Luft verschwebten. Der junge Kaufmann brach
+endlich das Stillschweigen: &bdquo;So sitzen wir seit drei Tagen&ldquo;, sprach
+er, &bdquo;zu Pferd und am Tisch, ohne uns durch etwas die Zeit zu vertreiben.
+Ich verspüre gewaltig Langeweile, denn ich bin gewohnt, nach Tisch Tänzer zu
+sehen oder Gesang und Musik zu hören. Wißt ihr gar nichts, meine Freunde, das
+uns die Zeit vertreibt?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die vier älteren Kaufleute rauchten fort und schienen ernsthaft nachzusinnen,
+der Fremde aber sprach: &bdquo;Wenn es mir erlaubt ist, will ich euch einen
+Vorschlag machen. Ich meine, auf jedem Lagerplatz könnte einer von uns den
+anderen etwas erzählen. Dies könnte uns schon die Zeit vertreiben.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Selim Baruch, du hast wahr gesprochen&ldquo;, sagte Achmet, der älteste
+der Kaufleute, &bdquo;laßt uns den Vorschlag annehmen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Es freut mich, wenn euch der Vorschlag behagt&ldquo;, sprach Selim,
+&bdquo;damit ihr aber sehet, daß ich nichts Unbilliges verlange, so will ich
+den Anfang machen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Vergnügt rückten die fünf Kaufleute näher zusammen und ließen den Fremden in
+ihrer Mitte sitzen. Die Sklaven schenkten die Becher wieder voll, stopften die
+Pfeifen ihrer Herren frisch und brachten glühende Kohlen zum Anzünden. Selim
+aber erfrischte seine Stimme mit einem tüchtigen Zuge Sorbet, strich den langen
+Bart über dem Mund weg und sprach:
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;So hört denn die Geschichte vom Kalif Storch.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Als Selim Baruch seine Geschichte beendet hatte, bezeugten sich die Kaufleute
+sehr zufrieden damit. &bdquo;Wahrhaftig, der Nachmittag ist uns vergangen, ohne
+daß wir merkten wie!&ldquo; sagte einer derselben, indem er die Decke des
+Zeltes zurückschlug. &bdquo;Der Abendwind wehet kühl, und wir könnten noch eine
+gute Strecke Weges zurücklegen.&ldquo; Seine Gefährten waren damit
+einverstanden, die Zelte wurden abgebrochen, und die Karawane machte sich in
+der nämlichen Ordnung, in welcher sie herangezogen war, auf den Weg.
+</p>
+
+<p>
+Sie ritten beinahe die ganze Nacht hindurch, denn es war schwül am Tage, die
+Nacht aber war erquicklich und sternhell. Sie kamen endlich an einem bequemen
+Lagerplatz an, schlugen die Zelte auf und legten sich zur Ruhe. Für den Fremden
+aber sorgten die Kaufleute, wie wenn er ihr wertester Gastfreund wäre. Der eine
+gab ihm Polster, der andere Decken, ein dritter gab ihm Sklaven, kurz, er wurde
+so gut bedient, als ob er zu Hause wäre. Die heißeren Stunden des Tages waren
+schon heraufgekommen, als sie sich wieder erhoben, und sie beschlossen
+einmütig, hier den Abend abzuwarten. Nachdem sie miteinander gespeist hatten,
+rückten sie wieder näher zusammen, und der junge Kaufmann wandte sich an den
+ältesten und sprach: &bdquo;Selim Baruch hat uns gestern einen vergnügten
+Nachmittag bereitet, wie wäre es, Achmet, wenn Ihr uns auch etwas erzähltet,
+sei es nun aus Eurem langen Leben, das wohl viele Abenteuer aufzuweisen hat,
+oder sei es auch ein hübsches Märchen.&ldquo; Achmet schwieg auf diese Anrede
+eine Zeitlang, wie wenn er bei sich im Zweifel wäre, ob er dies oder jenes
+sagen sollte oder nicht; endlich fing er an zu sprechen:
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Liebe Freunde! Ihr habt euch auf dieser unserer Reise als treue Gesellen
+erprobt, und auch Selim verdient mein Vertrauen; daher will ich euch etwas aus
+meinem Leben mitteilen, das ich sonst ungern und nicht jedem erzähle: die
+Geschichte von dem Gespensterschiff.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Reise der Karawane war den anderen Tag ohne Hindernis fürder gegangen, und
+als man im Lagerplatz sich erholt hatte, begann Selim, der Fremde, zu Muley,
+dem jüngsten der Kaufleute, also zu sprechen:
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ihr seid zwar der Jüngste von uns, doch seid Ihr immer fröhlich und wißt
+für uns gewiß irgendeinen guten Schwank. Tischet ihn auf, daß er uns erquicke
+nach der Hitze des Tages!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wohl möchte ich euch etwas erzählen&ldquo;, antwortete Muley, &bdquo;das
+euch Spaß machen könnte, doch der Jugend ziemt Bescheidenheit in allen Dingen;
+darum müssen meine älteren Reisegefährten den Vorrang haben. Zaleukos ist immer
+so ernst und verschlossen, sollte er uns nicht erzählen, was sein Leben so
+ernst machte? Vielleicht, daß wir seinen Kummer, wenn er solchen hat, lindern
+können; denn gerne dienen wir dem Bruder, wenn er auch anderen Glaubens
+ist.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der Aufgerufene war ein griechischer Kaufmann, ein Mann in mittleren Jahren,
+schön und kräftig, aber sehr ernst. Ob er gleich ein Ungläubiger (nicht
+Muselmann) war, so liebten ihn doch seine Reisegefährten, denn er hatte durch
+sein ganzes Wesen Achtung und Zutrauen eingeflößt. Er hatte übrigens nur eine
+Hand, und einige seiner Gefährten vermuteten, daß vielleicht dieser Verlust ihn
+so ernst stimme.
+</p>
+
+<p>
+Zaleukos antwortete auf die zutrauliche Frage Muleys: &bdquo;Ich bin sehr
+geehrt durch euer Zutrauen; Kummer habe ich keinen, wenigstens keinen, von
+welchem ihr auch mit dem besten Willen mir helfen könntet. Doch weil Muley mir
+meinen Ernst vorzuwerfen scheint, so will ich euch einiges erzählen, was mich
+rechtfertigen soll, wenn ich ernster bin als andere Leute. Ihr sehet, daß ich
+meine linke Hand verloren habe. Sie fehlt mir nicht von Geburt an, sondern ich
+habe sie in den schrecklichsten Tagen meines Lebens eingebüßt. Ob ich die
+Schuld davon trage, ob ich unrecht habe, seit jenen Tagen ernster, als es meine
+Lage mit sich bringt, zu sein, möget ihr beurteilen, wenn ihr vernommen habt
+die Geschichte von der abgehauenen Hand.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Zaleukos, der griechische Kaufmann, hatte seine Geschichte geendigt. Mit großer
+Teilnahme hatten ihm die übrigen zugehört, besonders der Fremde schien sehr
+davon ergriffen zu sein; er hatte einigemal tief geseufzt, und Muley schien es
+sogar, als habe er einmal Tränen in den Augen gehabt. Sie besprachen sich noch
+lange Zeit über diese Geschichte.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Und haßt Ihr den Unbekannten nicht, der Euch so schnöd&rsquo; um ein so
+edles Glied Eures Körpers, der selbst Euer Leben in Gefahr brachte?&ldquo;
+fragte der Fremde.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wohl gab es in früherer Zeit Stunden&ldquo;, antwortete der Grieche,
+&bdquo;in denen mein Herz ihn vor Gott angeklagt, daß er diesen Kummer über
+mich gebracht und mein Leben vergiftet habe; aber ich fand Trost in dem Glauben
+meiner Väter, und dieser befiehlt mir, meine Feinde zu lieben; auch ist er wohl
+noch unglücklicher als ich.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ihr seid ein edler Mann!&ldquo; rief der Fremde und drückte gerührt dem
+Griechen die Hand.
+</p>
+
+<p>
+Der Anführer der Wache unterbrach sie aber in ihrem Gespräch. Er trat mit
+besorgter Miene in das Zelt und berichtete, daß man sich nicht der Ruhe
+überlassen dürfe; denn hier sei die Stelle, wo gewöhnlich die Karawanen
+angegriffen würden, auch glaubten seine Wachen, in der Entfernung mehrere
+Reiter zu sehen.
+</p>
+
+<p>
+Die Kaufleute waren sehr bestürzt über diese Nachricht; Selim, der Fremde, aber
+wunderte sich über ihre Bestürzung und meinte, daß sie so gut geschätzt wären,
+daß sie einen Trupp räuberischer Araber nicht zu fürchten brauchten.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ja, Herr!&ldquo; entgegnete ihm der Anführer der Wache. &bdquo;Wenn es
+nur solches Gesindel wäre, könnte man sich ohne Sorge zur Ruhe legen; aber seit
+einiger Zeit zeigt sich der furchtbare Orbasan wieder, und da gilt es, auf
+seiner Hut zu sein.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der Fremde fragte, wer denn dieser Orbasan sei, und Achmet, der alte Kaufmann,
+antwortete ihm: &bdquo;Es gehen allerlei Sagen unter dem Volke über diesen
+wunderbaren Mann. Die einen halten ihn für ein übermenschliches Wesen, weil er
+oft mit fünf bis sechs Männern zumal einen Kampf besteht, andere halten ihn für
+einen tapferen Franken, den das Unglück in diese Gegend verschlagen habe; von
+allem aber ist nur so viel gewiß, daß er ein verruchter Mörder und Dieb
+ist.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Das könnt Ihr aber doch nicht behaupten&ldquo;, entgegnete ihm Lezah,
+einer der Kaufleute. &bdquo;Wenn er auch ein Räuber ist, so ist er doch ein
+edler Mann, und als solcher hat er sich an meinem Bruder bewiesen, wie ich Euch
+erzählen könnte. Er hat seinen ganzen Stamm zu geordneten Menschen gemacht, und
+so lange er die Wüste durchstreift, darf kein anderer Stamm es wagen, sich
+sehen zu lassen. Auch raubt er nicht wie andere, sondern er erhebt nur ein
+Schutzgeld von den Karawanen, und wer ihm dieses willig bezahlt, der ziehet
+ungefährdet weiter; denn Orbasan ist der Herr der Wüste.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Also sprachen unter sich die Reisenden im Zelte; die Wachen aber, die um den
+Lagerplatz ausgestellt waren, begannen unruhig zu werden. Ein ziemlich
+bedeutender Haufe bewaffneter Reiter zeigte sich in der Entfernung einer halben
+Stunde; sie schienen gerade auf das Lager zuzureiten. Einer der Männer von der
+Wache ging daher in das Zelt, um zu verkünden, daß sie wahrscheinlich
+angegriffen würden. Die Kaufleute berieten sich untereinander, was zu tun sei,
+ob man ihnen entgegengehen oder den Angriff abwarten solle. Achmet und die zwei
+älteren Kaufleute wollten das letztere, der feurige Muley aber und Zaleukos
+verlangten das erstere und riefen den Fremden zu ihrem Beistand auf. Dieser zog
+ruhig ein kleines, blaues Tuch mit roten Sternen aus seinem Gürtel hervor, band
+es an eine Lanze und befahl einem der Sklaven, es auf das Zelt zu stecken; er
+setze sein Leben zum Pfand, sagte er, die Reiter werden, wenn sie dieses
+Zeichen sehen, ruhig vorüberziehen. Muley glaubte nicht an den Erfolg, der
+Sklave aber steckte die Lanze auf das Zelt. Inzwischen hatten alle, die im
+Lager waren, zu den Waffen gegriffen und sahen in gespannter Erwartung den
+Reitern entgegen. Doch diese schienen das Zeichen auf dem Zelte erblickt zu
+haben, sie wichen plötzlich von ihrer Richtung auf das Lager ab und zogen in
+einem großen Bogen auf der Seite hin.
+</p>
+
+<p>
+Verwundert standen einige Augenblicke die Reisenden und sahen bald auf die
+Reiter, bald auf den Fremden. Dieser stand ganz gleichgültig, wie wenn nichts
+vorgefallen wäre, vor dem Zelte und blickte über die Ebene hin. Endlich brach
+Muley das Stillschweigen. &bdquo;Wer bist du, mächtiger Fremdling&ldquo;, rief
+er aus, &bdquo;der du die wilden Horden der Wüste durch einen Wink
+bezähmst?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ihr schlagt meine Kunst höher an, als sie ist&ldquo;, antwortete Selim
+Baruch. &bdquo;Ich habe mich mit diesem Zeichen versehen, als ich der
+Gefangenschaft entfloh; was es zu bedeuten hat, weiß ich selbst nicht; nur so
+viel weiß ich, daß, wer mit diesem Zeichen reiset, unter mächtigem Schutze
+steht.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Kaufleute dankten dem Fremden und nannten ihn ihren Erretter. Wirklich war
+auch die Anzahl der Reiter so groß gewesen, daß wohl die Karawane nicht lange
+hätte Widerstand leisten können.
+</p>
+
+<p>
+Mit leichterem Herzen begab man sich jetzt zur Ruhe, und als die Sonne zu
+sinken begann und der Abendwind über die Sandebene hinstrich, brachen sie auf
+und zogen weiter.
+</p>
+
+<p>
+Am nächsten Tage lagerten sie ungefähr nur noch eine Tagreise von dem Ausgang
+der Wüste entfernt. Als sich die Reisenden wieder in dem großen Zelt versammelt
+hatten, nahm Lezah, der Kaufmann, das Wort:
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich habe euch gestern gesagt, daß der gefürchtete Orbasan ein edler Mann
+sei, erlaubt mir, daß ich es euch heute durch die Erzählung der Schicksale
+meines Bruders beweise. Mein Vater war Kadi in Akara. Er hatte drei Kinder. Ich
+war der Älteste, ein Bruder und eine Schwester waren bei weitem jünger als ich.
+Als ich zwanzig Jahre alt war, rief mich ein Bruder meines Vaters zu sich. Er
+setzte mich zum Erben seiner Güter ein, mit der Bedingung, daß ich bis zu
+seinem Tode bei ihm bleibe. Aber er erreichte ein hohes Alter, so daß ich erst
+vor zwei Jahren in meine Heimat zurückkehrte und nichts davon wußte, welch
+schreckliches Schicksal indes mein Haus betroffen und wie gütig Allah es
+gewendet hatte.&ldquo; Die Errettung Fatmes
+</p>
+
+<p>
+Die Karawane hatte das Ende der Wüste erreicht, und fröhlich begrüßten die
+Reisenden die grünen Matten und die dichtbelaubten Bäume, deren lieblichen
+Anblick sie viele Tage entbehrt hatten. In einem schönen Tale lag eine
+Karawanserei, die sie sich zum Nachtlager wählten, und obgleich sie wenig
+Bequemlichkeit und Erfrischung darbot, so war doch die ganze Gesellschaft
+heiterer und zutraulicher als je; denn der Gedanke, den Gefahren und
+Beschwerlichkeiten, die eine Reise durch die Wüste mit sich bringt, entronnen
+zu sein, hatte alle Herzen geöffnet und die Gemüter zu Scherz und Kurzweil
+gestimmt. Muley, der junge lustige Kaufmann, tanzte einen komischen Tanz und
+sang Lieder dazu, die selbst dem ernsten Griechen Zaleukos ein Lächeln
+entlockten. Aber nicht genug, daß er seine Gefährten durch Tanz und Spiel
+erheitert hatte, er gab ihnen auch noch die Geschichte zum besten, die er ihnen
+versprochen hatte, und hub, als er von seinen Luftsprüngen sich erholt hatte,
+also zu erzählen an: Die Geschichte von dem kleinen Muck.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;So erzählte mir mein Vater; ich bezeugte ihm meine Reue über mein rohes
+Betragen gegen den guten kleinen Mann, und mein Vater schenkte mir die andere
+Hälfte der Strafe, die er mir zugedacht hatte. Ich erzählte meinen Kameraden
+die wunderbaren Schicksale des Kleinen, und wir gewannen ihn so lieb, daß ihn
+keiner mehr schimpfte. Im Gegenteil, wir ehrten ihn, solange er lebte, und
+haben uns vor ihm immer so tief wie vor Kadi und Mufti gebückt.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Reisenden beschlossen, einen Rasttag in dieser Karawanserei zu machen, um
+sich und die Tiere zur weiteren Reise zu stärken. Die gestrige Fröhlichkeit
+ging auch auf diesen Tag über, und sie ergötzten sich in allerlei Spielen. Nach
+dem Essen aber riefen sie dem fünften Kaufmann, Ali Sizah, zu, auch seine
+Schuldigkeit gleich den übrigen zu tun und eine Geschichte zu erzählen. Er
+antwortete, sein Leben sei zu arm an auffallenden Begebenheiten, als daß er
+ihnen etwas davon mitteilen möchte, daher wolle er ihnen etwas anderes
+erzählen, nämlich: Das Märchen vom falschen Prinzen.
+</p>
+
+<p>
+Mit Sonnenaufgang brach die Karawane auf und gelangte bald nach Birket el Had
+oder dem Pilgrimsbrunnen, von wo es nur noch drei Stunden Weges nach Kairo
+waren&mdash;Man hatte um diese Zeit die Karawane erwartet, und bald hatten die
+Kaufleute die Freude, ihre Freunde aus Kairo ihnen entgegenkommen zu sehen. Sie
+zogen in die Stadt durch das Tor Bebel Falch; denn es wird für eine glückliche
+Vorbedeutung gehalten, wenn man von Mekka kommt, durch dieses Tor einzuziehen,
+weil der Prophet hindurchgezogen ist.
+</p>
+
+<p>
+Auf dem Markt verabschiedeten sich die vier türkischen Kaufleute von dem
+Fremden und dem griechischen Kaufmann Zaleukos und gingen mit ihren Freunden
+nach Haus. Zaleukos aber zeigte dem Fremden eine gute Karawanserei und lud ihn
+ein, mit ihm das Mittagsmahl zu nehmen. Der Fremde sagte zu und versprach, wenn
+er nur vorher sich umgekleidet habe, zu erscheinen.
+</p>
+
+<p>
+Der Grieche hatte alle Anstalten getroffen, den Fremden, welchen er auf der
+Reise liebgewonnen hatte, gut zu bewirten, und als die Speisen und Getränke in
+gehöriger Ordnung aufgestellt waren, setzte er sich, seinen Gast zu erwarten.
+</p>
+
+<p>
+Langsam und schweren Schrittes hörte er ihn den Gang, der zu seinem Gemach
+führte, heraufkommen. Er erhob sich, um ihm freundlich entgegenzusehen und ihn
+an der Schwelle zu bewillkommnen; aber voll Entsetzen fuhr er zurück, als er
+die Türe öffnete; denn jener schreckliche Rotmantel trat ihm entgegen; er warf
+noch einen Blick auf ihn, es war keine Täuschung; dieselbe hohe, gebietende
+Gestalt, die Larve, aus welcher ihn die dunklen Augen anblitzten, der rote
+Mantel mit der goldenen Stickerei waren ihm nur allzuwohl bekannt aus den
+schrecklichsten Stunden seines Lebens.
+</p>
+
+<p>
+Widerstreitende Gefühle wogten in Zaleukos Brust; er hatte sich mit diesem Bild
+seiner Erinnerung längst ausgesöhnt und ihm vergeben, und doch riß sein Anblick
+alle seine Wunden wieder auf; alle jene qualvollen Stunden der Todesangst,
+jener Gram, der die Blüte seines Lebens vergiftete, zogen im Flug eines
+Augenblicks an seiner Seele vorüber.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Was willst du, Schrecklicher?&ldquo; rief der Grieche aus, als die
+Erscheinung noch immer regungslos auf der Schwelle stand. &bdquo;Weiche schnell
+von hinnen, daß ich dir nicht fluche!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Zaleukos!&ldquo; sprach eine bekannte Stimme unter der Larve hervor.
+&bdquo;Zaleukos! So empfängst du deinen Gastfreund?&ldquo; Der Sprechende nahm
+die Larve ab, schlug den Mantel zurück; es war Selim Baruch, der Fremde.
+</p>
+
+<p>
+Aber Zaleukos schien noch nicht beruhigt, ihm graute vor dem Fremden; denn nur
+zu deutlich hatte er in ihm den Unbekannten von der Ponte vecchio erkannt; aber
+die alte Gewohnheit der Gastfreundschaft siegte; er winkte schweigend dem
+Fremden, sich zu ihm ans Mahl zu setzen.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich errate deine Gedanken&ldquo;, nahm dieser das Wort, als sie sich
+gesetzt hatten. &bdquo;Deine Augen sehen fragend auf mich&mdash;ich hätte
+schweigen und mich deinen Blicken nie mehr zeigen können, aber ich bin dir
+Rechenschaft schuldig, und darum wagte ich es auch, auf die Gefahr hin, daß du
+mir fluchtest, vor dir in meiner alten Gestalt zu erscheinen. Du sagtest einst
+zu mir: Der Glaube meiner Väter befiehlt mir, ihn zu lieben, auch ist er wohl
+unglücklicher als ich; glaube dieses, mein Freund, und höre meine
+Rechtfertigung!
+</p>
+
+<p>
+Ich muß weit ausholen, um mich dir ganz verständlich zu machen. Ich bin in
+Alessandria von christlichen Eltern geboren. Mein Vater, der jüngere Sohn eines
+alten, berühmten französischen Hauses, war Konsul seines Landes in Alessandria.
+Ich wurde von meinem zehnten Jahre an in Frankreich bei einem Bruder meiner
+Mutter erzogen und verließ erst einige Jahre nach dem Ausbruch der Revolution
+mein Vaterland, um mit meinem Oheim, der in dem Lande seiner Ahnen nicht mehr
+sicher war, über dem Meer bei meinen Eltern eine Zuflucht zu suchen. Voll
+Hoffnung, die Ruhe und den Frieden, den uns das empörte Volk der Franzosen
+entrissen, im elterlichen Hause wiederzufinden, landeten wir. Aber ach! Ich
+fand nicht alles in meines Vaters Hause, wie es sein sollte; die äußeren Stürme
+der bewegten Zeit waren zwar noch nicht bis hierher gelangt, desto unerwarteter
+hatte das Unglück mein Haus im innersten Herzen heimgesucht. Mein Bruder, ein
+junger, hoffnungsvoller Mann, erster Sekretär meines Vaters, hatte sich erst
+seit kurzem mit einem jungen Mädchen, der Tochter eines florentinischen
+Edelmanns, der in unserer Nachbarschaft wohnte, verheiratet; zwei Tage vor
+unserer Ankunft war diese auf einmal verschwunden, ohne daß weder unsere
+Familie noch ihr Vater die geringste Spur von ihr auffinden konnten. Man
+glaubte endlich, sie habe sich auf einem Spaziergang zu weit gewagt und sei in
+Räuberhände gefallen. Beinahe tröstlicher wäre dieser Gedanke für meinen armen
+Bruder gewesen als die Wahrheit, die uns nur bald kund wurde. Die Treulose
+hatte sich mit einem jungen Neapolitaner, den sie im Hause ihres Vaters
+kennengelernt hatte, eingeschifft. Mein Bruder, aufs äußerste empört über
+diesen Schritt, bot alles auf, die Schuldige zur Strafe zu ziehen; doch
+vergebens; seine Versuche, die in Neapel und Florenz Aufsehen erregt hatten,
+dienten nur dazu, sein und unser aller Unglück zu vollenden. Der florentinische
+Edelmann reiste in sein Vaterland zurück, zwar mit dem Vorgeben, meinem Bruder
+Recht zu verschaffen, der Tat nach aber, um uns zu verderben. Er schlug in
+Florenz alle jene Untersuchungen, welche mein Bruder angeknüpft hatte, nieder
+und wußte seinen Einfluß, den er auf alle Art sich verschafft hatte, so gut zu
+benützen, daß mein Vater und mein Bruder ihrer Regierung verdächtig gemacht und
+durch die schändlichsten Mittel gefangen, nach Frankreich geführt und dort vom
+Beil des Henkers getötet wurden. Meine arme Mutter verfiel in Wahnsinn, und
+erst nach zehn langen Monaten erlöste sie der Tod von ihrem schrecklichen
+Zustand, der aber in den letzten Tagen zu vollem, klarem Bewußtsein geworden
+war. So stand ich jetzt ganz allein in der Welt, aber nur ein Gedanke
+beschäftigte meine Seele, nur ein Gedanke ließ mich meine Trauer vergessen, es
+war jene mächtige Flamme, die meine Mutter in ihrer letzten Stunde in mir
+angefacht hatte.
+</p>
+
+<p>
+In den letzten Stunden war, wie ich dir sagte, ihr Bewußtsein zurückgekehrt;
+sie ließ mich rufen und sprach mit Ruhe von unserem Schicksal und ihrem Ende.
+Dann aber ließ sie alle aus dem Zimmer gehen, richtete sich mit feierlicher
+Miene von ihrem ärmlichen Lager auf und sagte, ich könne mir ihren Segen
+erwerben, wenn ich ihr schwöre, etwas auszuführen, das sie mir auftragen
+würde&mdash;Ergriffen von den Worten der sterbenden Mutter, gelobte ich mit
+einem Eide zu tun, wie sie mir sagen werde. Sie brach nun in Verwünschungen
+gegen den Florentiner und seine Tochter aus und legte mir mit den
+fürchterlichsten Drohungen ihres Fluches auf, mein unglückliches Haus an ihm zu
+rächen. Sie starb in meinen Armen. Jener Gedanke der Rache hatte schon lange in
+meiner Seele geschlummert; jetzt erwachte er mit aller Macht. Ich sammelte den
+Rest meines väterlichen Vermögens und schwor mir, alles an meine Rache zu
+setzen oder selbst mit unterzugehen.
+</p>
+
+<p>
+Bald war ich in Florenz, wo ich mich so geheim als möglich aufhielt; mein Plan
+war um vieles erschwert worden durch die Lage, in welcher sich meine Feinde
+befanden. Der alte Florentiner war Gouverneur geworden und hatte so alle Mittel
+in der Hand, sobald er das geringste ahnte, mich zu verderben. Ein Zufall kam
+mir zu Hilfe. Eines Abends sah ich einen Menschen in bekannter Livree durch die
+Straßen gehen; sein unsicherer Gang, sein finsterer Blick und das halblaut
+herausgestoßene &bdquo;Santo sacramento&ldquo;, &bdquo;Maledetto diavolo&ldquo;
+ließen mich den alten Pietro, einen Diener des Florentiners, den ich schon in
+Alessandria gekannt hatte, erkennen. Ich war nicht in Zweifel, daß er über
+seinen Herrn in Zorn geraten sei, und beschloß, seine Stimmung zu benützen. Er
+schien sehr überrascht, mich hier zu sehen, klagte mir sein Leiden, daß er
+seinem Herrn, seit er Gouverneur geworden, nichts mehr recht machen könne, und
+mein Gold, unterstützt von seinem Zorn, brachte ihn bald auf meine Seite. Das
+Schwierigste war jetzt beseitigt; ich hatte einen Mann in meinem Solde, der mir
+zu jeder Stunde die Türe meines Feindes öffnete, und nun reifte mein Racheplan
+immer schneller heran. Das Leben des alten Florentiners schien mir ein zu
+geringes Gewicht, dem Untergang meines Hauses gegenüber, zu haben. Sein
+Liebstes mußte er gemordet sehen, und dies war Bianka, seine Tochter. Hatte ja
+sie so schändlich an meinem Bruder gefrevelt, war ja doch sie die Ursache
+unseres Unglücks. Gar erwünscht kam sogar meinem rachedürstigen Herzen die
+Nachricht, daß in dieser Zeit Bianka zum zweitenmal sich vermählen wollte, es
+war beschlossen, sie mußte sterben. Aber mir selbst graute vor der Tat, und
+auch Pietro traute sich zu wenig Kraft zu; darum spähten wir umher nach einem
+Mann, der das Geschäft vollbringen könne. Unter den Florentinern wagte ich
+keinen zu dingen, denn gegen den Gouverneur würde keiner etwas Solches
+unternommen haben. Da fiel Pietro der Plan ein, den ich nachher ausgeführt
+habe; zugleich schlug er dich als Fremden und Arzt als den Tauglichsten vor.
+Den Verlauf der Sache weißt du. Nur an deiner großen Vorsicht und Ehrlichkeit
+schien mein Unternehmen zu scheitern. Daher der Zufall mit dem Mantel.
+</p>
+
+<p>
+Pietro öffnete uns das Pförtchen an dem Palast des Gouverneurs; er hätte uns
+auch ebenso heimlich wieder hinausgeleitet, wenn wir nicht, durch den
+schrecklichen Anblick, der sich uns durch die Türspalte darbot, erschreckt,
+entflohen wären. Von Schrecken und Reue gejagt, war ich über zweihundert
+Schritte fortgerannt, bis ich auf den Stufen einer Kirche niedersank. Dort erst
+sammelte ich mich wieder, und mein erster Gedanke warst du und dein
+schreckliches Schicksal, wenn man dich in dem Hause fände. Ich schlich an den
+Palast, aber weder von Pietro noch von dir konnte ich eine Spur entdecken; das
+Pförtchen aber war offen, so konnte ich wenigstens hoffen, daß du die
+Gelegenheit zur Flucht benützt haben könntest.
+</p>
+
+<p>
+Als aber der Tag anbrach, ließ mich die Angst vor der Entdeckung und ein
+unabweisbares Gefühl von Reue nicht mehr in den Mauern von Florenz. Ich eilte
+nach Rom. Aber denke dir meine Bestürzung, als man dort nach einigen Tagen
+überall diese Geschichte erzählte mit dem Beisatz, man habe den Mörder, einen
+griechischen Arzt, gefangen. Ich kehrte in banger Besorgnis nach Florenz
+zurück; denn schien mir meine Rache schon vorher zu stark, so verfluchte ich
+sie jetzt, denn sie war mir durch dein Leben allzu teuer erkauft. Ich kam an
+demselben Tage an, der dich der Hand beraubte. Ich schweige von dem, was ich
+fühlte, als ich dich das Schafott besteigen und so heldenmütig leiden sah. Aber
+damals, als dein Blut in Strömen aufspritzte, war der Entschluß fest in mir,
+dir deine übrigen Lebenstage zu versüßen. Was weiter geschehen ist, weißt du,
+nur das bleibt mir noch zu sagen übrig, warum ich diese Reise mit dir machte.
+</p>
+
+<p>
+Als eine schwere Last drückte mich der Gedanke, daß du mir noch immer nicht
+vergeben habest; darum entschloß ich mich, viele Tage mit dir zu leben und dir
+endlich Rechenschaft abzulegen von dem, was ich mit dir getan.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Schweigend hatte der Grieche seinen Gast angehört; mit sanftem Blick bot er
+ihm, als er geendet hatte, seine Rechte. &bdquo;Ich wußte wohl, daß du
+unglücklicher sein müßtest als ich, denn jene grausame Tat wird wie eine dunkle
+Wolke ewig deine Tage verfinstern; ich vergebe dir von Herzen. Aber erlaube mir
+noch eine Frage: Wie kommst du unter dieser Gestalt in die Wüste? Was fingst du
+an, nachdem du in Konstantinopel mir das Haus gekauft hattest?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich ging nach Alessandria zurück&ldquo;, antwortete der Gefragte.
+&bdquo;Haß gegen alle Menschen tobte in meiner Brust, brennender Haß besonders
+gegen jene Nationen, die man die gebildeten nennt. Glaube mir, unter meinen
+Moslemiten war mir wohler! Kaum war ich einige Monate in Alessandria, als jene
+Landung meiner Landsleute erfolgte.
+</p>
+
+<p>
+Ich sah in ihnen nur die Henker meines Vaters und meines Bruders; darum
+sammelte ich einige gleichgesinnte junge Leute meiner Bekanntschaft und schloß
+mich jenen tapferen Mamelucken an, die so oft der Schrecken des französischen
+Heeres wurden. Als der Feldzug beendigt war, konnte ich mich nicht
+entschließen, zu den Künsten des Friedens zurückzukehren. Ich lebte mit einer
+kleinen Anzahl gleichdenkender Freunde ein unstetes und flüchtiges, dem Kampf
+und der Jagd geweihtes Leben; ich lebe zufrieden unter diesen Leuten, die mich
+wie ihren Fürsten ehren; denn wenn meine Asiaten auch nicht so gebildet sind
+wie Eure Europäer, so sind sie doch weit entfernt von Neid und Verleumdung, von
+Selbstsucht und Ehrgeiz.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Zaleukos dankte dem Fremden für seine Mitteilung, aber er verbarg ihm nicht,
+daß er es für seinen Stand, für seine Bildung angemessener fände, wenn er in
+christlichen, in europäischen Ländern leben und wirken würde. Er faßte seine
+Hand und bat ihn, mit ihm zu ziehen, bei ihm zu leben und zu sterben.
+</p>
+
+<p>
+Gerührt sah ihn der Gastfreund an. &bdquo;Daraus erkenne ich&ldquo;, sagte er,
+&bdquo;daß du mir ganz vergeben hast, daß du mich liebst. Nimm meinen innigsten
+Dank dafür!&ldquo; Er sprang auf und stand in seiner ganzen Größe vor dem
+Griechen, dem vor dem kriegerischen Anstand, den dunkel blitzenden Augen, der
+tiefen Stimme seines Gastes beinahe graute. &bdquo;Dein Vorschlag ist
+schön&ldquo;, sprach jener weiter, &bdquo;er möchte für jeden andern lockend
+sein&mdash;ich kann ihn nicht benützen. Schon steht mein Roß gesattelt,
+erwarten mich meine Diener; lebe wohl, Zaleukos!&ldquo; Die Freunde, die das
+Schicksal so wunderbar zusammengeführt, umarmten sich zum Abschied. &bdquo;Und
+wie nenne ich dich? Wie heißt mein Gastfreund, der auf ewig in meinem
+Gedächtnis leben wird?&ldquo; fragte der Grieche.
+</p>
+
+<p>
+Der Fremde sah ihn lange an, drückte ihm noch einmal die Hand und sprach:
+&bdquo;Man nennt mich den Herrn der Wüste; ich bin der Räuber Orbasan.&ldquo;
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap03"></a>Kalif Storch</h2>
+
+<p class="center">
+Wilhelm Hauff
+</p>
+
+<p>
+Der Kalif Chasid zu Bagdad saß einmal an einem schönen Nachmittag behaglich auf
+seinem Sofa; er hatte ein wenig geschlafen, denn es war ein heißer Tag, und sah
+nun nach seinem Schläfchen recht heiter aus. Er rauchte aus einer langen Pfeife
+von Rosenholz, trank hier und da ein wenig Kaffee, den ihm ein Sklave
+einschenkte, und strich sich allemal vergnügt den Bart, wenn es ihm geschmeckt
+hatte. Kurz, man sah dem Kalifen an, daß es ihm recht wohl war. Um diese Stunde
+konnte man gar gut mit ihm reden, weil er da immer recht mild und leutselig
+war, deswegen besuchte ihn auch sein Großwesir Mansor alle Tage um diese Zeit.
+An diesem Nachmittage nun kam er auch, sah aber sehr nachdenklich aus, ganz
+gegen seine Gewohnheit. Der Kalif tat die Pfeife ein wenig aus dem Mund und
+sprach: &bdquo;Warum machst du ein so nachdenkliches Gesicht, Großwesir?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der Großwesir schlug seine Arme kreuzweis über die Brust, verneigte sich vor
+seinem Herrn und antwortete: &bdquo;Herr, ob ich ein nachdenkliches Gesicht
+mache, weiß ich nicht, aber da drunten am Schloß steht ein Krämer, der hat so
+schöne Sachen, daß es mich ärgert, nicht viel überflüssiges Geld zu
+haben.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der Kalif, der seinem Großwesir schon lange gerne eine Freude gemacht hätte,
+schickte seinen schwarzen Sklaven hinunter, um den Krämer heraufzuholen. Bald
+kam der Sklave mit dem Krämer zurück. Dieser war ein kleiner, dicker Mann,
+schwarzbraun im Gesicht und in zerlumptem Anzug. Er trug einen Kasten, in
+welchem er allerhand Waren hatte, Perlen und Ringe, reichbeschlagene Pistolen,
+Becher und Kämme. Der Kalif und sein Wesir musterten alles durch, und der Kalif
+kaufte endlich für sich und Mansor schöne Pistolen, für die Frau des Wesirs
+aber einen Kamm. Als der Krämer seinen Kasten schon wieder zumachen wollte, sah
+der Kalif eine kleine Schublade und fragte, ob da auch noch Waren seien. Der
+Krämer zog die Schublade heraus und zeigte darin eine Dose mit schwärzlichem
+Pulver und ein Papier mit sonderbarer Schrift, die weder der Kalif noch Mansor
+lesen konnte. &bdquo;Ich bekam einmal diese zwei Stücke von einem Kaufmanne,
+der sie in Mekka auf der Straße fand&ldquo;, sagte der Krämer, &bdquo;Ich weiß
+nicht, was sie enthalten; euch stehen sie um geringen Preis zu Dienst, ich kann
+doch nichts damit anfangen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der Kalif, der in seiner Bibliothek gerne alte Manuskripte hatte, wenn er sie
+auch nicht lesen konnte, kaufte Schrift und Dose und entließ den Krämer. Der
+Kalif aber dachte, er möchte gerne wissen, was die Schrift enthalte, und,
+fragte den Wesir, ob er keinen kenne, der es entziffern könnte.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Gnädigster Herr und Gebieter&ldquo;, antwortete dieser, &bdquo;an der
+großen Moschee wohnt ein Mann, er heißt Selim, der Gelehrte, der versteht alle
+Sprachen, laß ihn kommen, vielleicht kennt er diese geheimnisvollen
+Züge.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der Gelehrte Selim war bald herbeigeholt. &bdquo;Selim&ldquo;, sprach zu ihm
+der Kalif, &bdquo;Selim, man sagt, du seiest sehr gelehrt; guck einmal ein
+wenig in diese Schrift, ob du sie lesen kannst; kannst du sie lesen, so
+bekommst du ein neues Festkleid von mir, kannst du es nicht, so bekommst du
+zwölf Backenstreiche und fünfundzwanzig auf die Fußsohlen, weil man dich dann
+umsonst Selim, den Gelehrten, nennt.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Selim verneigte sich und sprach: &bdquo;Dein Wille geschehe, o Herr!&ldquo;
+Lange betrachtete er die Schrift, plötzlich aber rief er aus: &bdquo;Das ist
+Lateinisch, o Herr, oder ich laß mich hängen.&ldquo; &bdquo;Sag, was
+drinsteht&ldquo;, befahl der Kalif, &bdquo;wenn es Lateinisch ist.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Selim fing an zu übersetzen: &bdquo;Mensch, der du dieses findest, preise Allah
+für seine Gnade. Wer von dem Pulver in dieser Dose schnupft und dazu spricht:
+mutabor, der kann sich in jedes Tier verwandeln und versteht auch die Sprache
+der Tiere.
+</p>
+
+<p>
+Will er wieder in seine menschliche Gestalt zurückkehren, so neige er sich
+dreimal gen Osten und spreche jenes Wort; aber hüte dich, wenn du verwandelt
+bist, daß du nicht lachest, sonst verschwindet das Zauberwort gänzlich aus
+deinem Gedächtnis, und du bleibst ein Tier.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Als Selim, der Gelehrte, also gelesen hatte, war der Kalif über die Maßen
+vergnügt. Er ließ den Gelehrten schwören, niemandem etwas von dem Geheimnis zu
+sagen, schenkte ihm ein schönes Kleid und entließ ihn. Zu seinem Großwesir aber
+sagte er: &bdquo;Das heiß&rsquo; ich gut einkaufen, Mansor! Wie freue ich mich,
+bis ich ein Tier bin. Morgen früh kommst du zu mir; wir gehen dann miteinander
+aufs Feld, schnupfen etwas Weniges aus meiner Dose und belauschen dann, was in
+der Luft und im Wasser, im Wald und Feld gesprochen wird!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Kaum hatte am anderen Morgen der Kalif Chasid gefrühstückt und sich
+angekleidet, als schon der Großwesir erschien, ihn, wie er befohlen, auf dem
+Spaziergang zu begleiten. Der Kalif steckte die Dose mit dem Zauberpulver in
+den Gürtel, und nachdem er seinem Gefolge befohlen, zurückzubleiben, machte er
+sich mit dem Großwesir ganz allein auf den Weg. Sie gingen zuerst durch die
+weiten Gärten des Kalifen, spähten aber vergebens nach etwas Lebendigem, um ihr
+Kunststück zu probieren. Der Wesir schlug endlich vor, weiter hinaus an einen
+Teich zu gehen, wo er schon oft viele Tiere, namentlich Störche, gesehen habe,
+die durch ihr gravitätisches Wesen und ihr Geklapper immer seine Aufmerksamkeit
+erregt hatten.
+</p>
+
+<p>
+Der Kalif billigte den Vorschlag seines Wesirs und ging mit ihm dem Teich zu.
+Als sie dort angekommen waren, sahen sie einen Storch ernsthaft auf und ab
+gehen, Frösche suchend und hier und da etwas vor sich hinklappernd. Zugleich
+sahen sie auch weit oben in der Luft einen anderen Storch dieser Gegend
+zuschweben.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich wette meinen Bart, gnädigster Herr&ldquo;, sagte der Großwesir,
+&bdquo;wenn nicht diese zwei Langfüßler ein schönes Gespräch miteinander führen
+werden. Wie wäre es, wenn wir Störche würden?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wohl gesprochen!&ldquo; antwortete der Kalif. &bdquo;Aber vorher wollen
+wir noch einmal betrachten, wie man wieder Mensch wird.&mdash;Richtig! Dreimal
+gen Osten geneigt und mutabor gesagt, so bin ich wieder Kalif und du Wesir.
+Aber nur um Himmels willen nicht gelacht, sonst sind wir verloren!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Während der Kalif also sprach, sah er den anderen Storch über ihrem Haupte
+schweben und langsam sich zur Erde lassen. Schnell zog er die Dose aus dem
+Gürtel, nahm eine gute Prise, bot sie dem Großwesir dar, der gleichfalls
+schnupfte, und beide riefen: mutabor!
+</p>
+
+<p>
+Da schrumpften ihre Beine ein und wurden dünn und rot, die schönen gelben
+Pantoffeln des Kalifen und seines Begleiters wurden unförmliche Storchfüße, die
+Arme wurden zu Flügeln, der Hals fuhr aus den Achseln und ward eine Elle lang,
+der Bart war verschwunden, und den Körper bedeckten weiche Federn.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ihr habt einen hübschen Schnabel, Herr Großwesir&ldquo;, sprach nach
+langem Erstaunen der Kalif. &bdquo;Beim Bart des Propheten, so etwas habe ich
+in meinem Leben nicht gesehen.&ldquo; &bdquo;Danke untertänigst&ldquo;,
+erwiderte der Großwesir, indem er sich bückte, &bdquo;aber wenn ich es wagen
+darf, möchte ich behaupten, Eure Hoheit sehen als Storch beinahe noch hübscher
+aus denn als Kalif. Aber kommt, wenn es Euch gefällig ist, daß wir unsere
+Kameraden dort belauschen und erfahren, ob wir wirklich Storchisch
+können.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Indem war der andere Storch auf der Erde angekommen; er putzte sich mit dem
+Schnabel seine Füße, legte seine Federn zurecht und ging auf den ersten Storch
+zu. Die beiden neuen Störche aber beeilten sich, in ihre Nähe zu kommen, und
+vernahmen zu ihrem Erstaunen folgendes Gespräch:
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Guten Morgen, Frau Langbein, so früh schon auf der Wiese?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Schönen Dank, liebe Klapperschnabel! Ich habe mir nur ein kleines
+Frühstück geholt. Ist Euch vielleicht ein Viertelchen Eidechs gefällig oder ein
+Froschschenkelein?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Danke gehorsamst; habe heute gar keinen Appetit. Ich komme auch wegen
+etwas ganz anderem auf die Wiese. Ich soll heute vor den Gästen meines Vaters
+tanzen, und da will ich mich im stillen ein wenig üben.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Zugleich schritt die junge Störchin in wunderlichen Bewegungen durch das Feld.
+Der Kalif und Mansor sahen ihr verwundert nach; als sie aber in malerischer
+Stellung auf einem Fuß stand und mit den Flügeln anmutig dazu wedelte, da
+konnten sich die beiden nicht mehr halten; ein unaufhaltsames Gelächter brach
+aus ihren Schnäbeln hervor, von dem sie sich erst nach langer Zeit erholten.
+Der Kalif faßte sich zuerst wieder: &bdquo;Das war einmal ein Spaß&ldquo;, rief
+er, &bdquo;der nicht mit Gold zu bezahlen ist; schade, daß die Tiere durch
+unser Gelächter sich haben verscheuchen lassen, sonst hätten sie gewiß auch
+noch gesungen!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Aber jetzt fiel es dem Großwesir ein, daß das Lachen während der Verwandlung
+verboten war. Er teilte seine Angst deswegen dem Kalifen mit. &bdquo;Potz Mekka
+und Medina! Das wäre ein schlechter Spaß, wenn ich ein Storch bleiben müßte!
+Besinne dich doch auf das dumme Wort, ich bring&rsquo; es nicht heraus.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Dreimal gen Osten müssen wir uns bücken und dazu sprechen:
+mu&mdash;mu&mdash;mu&mdash;&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Sie stellten sich gegen Osten und bückten sich in einem fort, daß ihre Schnäbel
+beinahe die Erde berührten; aber, o Jammer! Das Zauberwort war ihnen entfallen,
+und so oft sich auch der Kalif bückte, so sehnlich auch sein Wesir mu&mdash;mu
+dazu rief, jede Erinnerung daran war verschwunden, und der arme Chasid und sein
+Wesir waren und blieben Störche.
+</p>
+
+<p>
+Traurig wandelten die Verzauberten durch die Felder, sie wußten gar nicht, was
+sie in ihrem Elend anfangen sollten. Aus ihrer Storchenhaut konnten sie nicht
+heraus, in die Stadt zurück konnten sie auch nicht, um sich zu erkennen zu
+geben; denn wer hätte einem Storch geglaubt, daß er der Kalif sei, und wenn man
+es auch geglaubt hätte, würden die Einwohner von Bagdad einen Storch zum Kalif
+gewollt haben?
+</p>
+
+<p>
+So schlichen sie mehrere Tage umher und ernährten sich kümmerlich von
+Feldfrüchten, die sie aber wegen ihrer langen Schnäbel nicht gut verspeisen
+konnten. Auf Eidechsen und Frösche hatten sie übrigens keinen Appetit, denn sie
+befürchteten, mit solchen Leckerbissen sich den Magen zu verderben. Ihr
+einziges Vergnügen in dieser traurigen Lage war, daß sie fliegen konnten, und
+so flogen sie oft auf die Dächer von Bagdad, um zu sehen, was darin vorging.
+</p>
+
+<p>
+In den ersten Tagen bemerkten sie große Unruhe und Trauer in den Straßen; aber
+ungefähr am vierten Tag nach ihrer Verzauberung saßen sie auf dem Palast des
+Kalifen, da sahen sie unten in der Straße einen prächtigen Aufzug; Trommeln und
+Pfeifen ertönten, ein Mann in einem goldbestickten Scharlachmantel saß auf
+einem geschmückten Pferd, umgeben von glänzenden Dienern, halb Bagdad sprang
+ihm nach, und alle schrien: &bdquo;Heil Mizra, dem Herrscher von Bagdad!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Da sahen die beiden Störche auf dem Dache des Palastes einander an, und der
+Kalif Chasid sprach: &bdquo;Ahnst du jetzt, warum ich verzaubert bin,
+Großwesir? Dieser Mizra ist der Sohn meines Todfeindes, des mächtigen Zauberers
+Kaschnur, der mir in einer bösen Stunde Rache schwur. Aber noch gebe ich die
+Hoffnung nicht auf&mdash;Komm mit mir, du treuer Gefährte meines Elends, wir
+wollen zum Grabe des Propheten wandern, vielleicht, daß an heiliger Stätte der
+Zauber gelöst wird.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Sie erhoben sich vom Dach des Palastes und flogen der Gegend von Medina zu.
+</p>
+
+<p>
+Mit dem Fliegen wollte es aber nicht gar gut gehen; denn die beiden Störche
+hatten noch wenig Übung. &bdquo;O Herr&ldquo;, ächzte nach ein paar Stunden der
+Großwesir, &bdquo;ich halte es mit Eurer Erlaubnis nicht mehr lange aus; Ihr
+fliegt gar zu schnell! Auch ist es schon Abend, und wir täten wohl, ein
+Unterkommen für die Nacht zu suchen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Chasid gab der Bitte seines Dieners Gehör; und da er unten im Tale eine Ruine
+erblickte, die ein Obdach zu gewähren schien, so flogen sie dahin. Der Ort, wo
+sie sich für diese Nacht niedergelassen hatten, schien ehemals ein Schloß
+gewesen zu sein. Schöne Säulen ragten unter den Trümmern hervor, mehrere
+Gemächer, die noch ziemlich erhalten waren, zeugten von der ehemaligen Pracht
+des Hauses. Chasid und sein Begleiter gingen durch die Gänge umher, um sich ein
+trockenes Plätzchen zu suchen; plötzlich blieb der Storch Mansor stehen.
+&bdquo;Herr und Gebieter&ldquo;, flüsterte er leise, &bdquo;wenn es nur nicht
+töricht für einen Großwesir, noch mehr aber für einen Storch wäre, sich vor
+Gespenstern zu fürchten! Mir ist ganz unheimlich zumute; denn hier neben hat es
+ganz vernehmlich geseufzt und gestöhnt.&ldquo; Der Kalif blieb nun auch stehen
+und hörte ganz deutlich ein leises Weinen, das eher einem Menschen als einem
+Tiere anzugehören schien. Voll Erwartung wollte er der Gegend zugehen, woher
+die Klagetöne kamen; der Wesir aber packte ihn mit dem Schnabel am Flügel und
+bat ihn flehentlich, sich nicht in neue, unbekannte Gefahren zu stürzen. Doch
+vergebens! Der Kalif, dem auch unter dem Storchenflügel ein tapferes Herz
+schlug, riß sich mit Verlust einiger Federn los und eilte in einen finsteren
+Gang. Bald war er an einer Tür angelangt, die nur angelehnt schien und woraus
+er deutliche Seufzer mit ein wenig Geheul vernahm. Er stieß mit dem Schnabel
+die Türe auf, blieb aber überrascht auf der Schwelle stehen. In dem verfallenen
+Gemach, das nur durch ein kleines Gitterfenster spärlich erleuchtet war, sah er
+eine große Nachteule am Boden sitzen. Dicke Tränen rollten ihr aus den großen,
+runden Augen, und mit heiserer Stimme stieß sie ihre Klagen zu dem krummen
+Schnabel heraus. Als sie aber den Kalifen und seinen Wesir, der indes auch
+herbeigeschlichen war, erblickte, erhob sie ein lautes Freudengeschrei.
+Zierlich wischte sie mit dem braungefleckten Flügel die Tränen aus dem Auge,
+und zu dem größten Erstaunen der beiden rief sie in gutem menschlichem
+Arabisch: &bdquo;Willkommen, ihr Störche! Ihr seid mir ein gutes Zeichen meiner
+Errettung; denn durch Störche werde mir ein großes Glück kommen, ist mir einst
+prophezeit worden!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Als sich der Kalif von seinem Erstaunen erholt hatte, bückte er sich mit seinem
+langen Hals, brachte seine dünnen Füße in eine zierliche Stellung und sprach:
+&bdquo;Nachteule! Deinen Worten nach darf ich glauben, eine Leidensgefährtin in
+dir zu sehen. Aber ach! Deine Hoffnung, daß durch uns deine Rettung kommen
+werde, ist vergeblich. Du wirst unsere Hilflosigkeit selbst erkennen, wenn du
+unsere Geschichte hörst.&ldquo; Die Nachteule bat ihn zu erzählen, was der
+Kalif sogleich tat.
+</p>
+
+<p>
+Als der Kalif der Eule seine Geschichte vorgetragen hatte, dankte sie ihm und
+sagte: &bdquo;Vernimm auch meine Geschichte und höre, wie ich nicht weniger
+unglücklich bin als du. Mein Vater ist der König von Indien, ich, seine einzige
+unglückliche Tochter, heiße Lusa. Jener Zauberer Kaschnur, der euch
+verzauberte, hat auch mich ins Unglück gestürzt. Er kam eines Tages zu meinem
+Vater und begehrte mich zur Frau für seinen Sohn Mizra. Mein Vater aber, der
+ein hitziger Mann ist, ließ ihn die Treppe hinunterwerfen. Der Elende wußte
+sich unter einer anderen Gestalt wieder in meine Nähe zu schleichen, und als
+ich einst in meinem Garten Erfrischungen zu mir nehmen wollte, brachte er mir,
+als Sklave verkleidet, einen Trank bei, der mich in diese abscheuliche Gestalt
+verwandelte. Vor Schrecken ohnmächtig, brachte er mich hierher und rief mir mit
+schrecklicher Stimme in die Ohren:
+</p>
+
+<p>
+,Da sollst du bleiben, häßlich, selbst von den Tieren verachtet, bis an dein
+Ende, oder bis einer aus freiem Willen dich, selbst in dieser schrecklichen
+Gestalt, zur Gattin begehrt. So räche ich mich an dir und deinem stolzen
+Vater.&lsquo;
+</p>
+
+<p>
+Seitdem sind viele Monate verflossen. Einsam und traurig lebe ich als
+Einsiedlerin in diesem Gemäuer, verabscheut von der Welt, selbst den Tieren ein
+Greuel; die schöne Natur ist vor mir verschlossen; denn ich bin blind am Tage,
+und nur, wenn der Mond sein bleiches Licht über dies Gemäuer ausgießt, fällt
+der verhüllende Schleier von meinem Auge.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Eule hatte geendet und wischte sich mit dem Flügel wieder die Augen aus,
+denn die Erzählung ihrer Leiden hatte ihr Tränen entlockt.
+</p>
+
+<p>
+Der Kalif war bei der Erzählung der Prinzessin in tiefes Nachdenken versunken.
+&bdquo;Wenn mich nicht alles täuscht&ldquo;, sprach er, &bdquo;so findet
+zwischen unserem Unglück ein geheimer Zusammenhang statt; aber wo finde ich den
+Schlüssel zu diesem Rätsel?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Eule antwortete ihm: &bdquo;O Herr! Auch mir ahnet dies; denn es ist mir
+einst in meiner frühesten Jugend von einer weisen Frau prophezeit worden, daß
+ein Storch mir ein großes Glück bringen werde, und ich wüßte vielleicht, wie
+wir uns retten könnten.&ldquo; Der Kalif war sehr erstaunt und fragte, auf
+welchem Wege sie meine. &bdquo;Der Zauberer, der uns beide unglücklich gemacht
+hat&ldquo;, sagte sie, &bdquo;kommt alle Monate einmal in diese Ruinen. Nicht
+weit von diesem Gemach ist ein Saal. Dort pflegt er dann mit vielen Genossen zu
+schmausen. Schon oft habe ich sie dort belauscht. Sie erzählen dann einander
+ihre schändlichen Werke; vielleicht, daß er dann das Zauberwort, das ihr
+vergessen habt, ausspricht.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;O, teuerste Prinzessin&ldquo;, rief der Kalif, &bdquo;sag an, wann kommt
+er, und wo ist der Saal?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Eule schwieg einen Augenblick und sprach dann: &bdquo;Nehmet es nicht
+ungütig, aber nur unter einer Bedingung kann ich Euern Wunsch erfüllen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Sprich aus! Sprich aus!&ldquo; schrie Chasid. &bdquo;Befiehl, es ist mir
+jede recht.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Nämlich, ich möchte auch gern zugleich frei sein; dies kann aber nur
+geschehen, wenn einer von euch mir seine Hand reicht.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Störche schienen über den Antrag etwas betroffen zu sein, und der Kalif
+winkte seinem Diener, ein wenig mit ihm hinauszugehen.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Großwesir&ldquo;, sprach vor der Türe der Kalif, &bdquo;das ist ein
+dummer Handel; aber Ihr könntet sie schon nehmen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;So&ldquo;, antwortete dieser, &bdquo;daß mir meine Frau, wenn ich nach
+Hause komme, die Augen auskratzt? Auch bin ich ein alter Mann, und Ihr seid
+noch jung und unverheiratet und könnet eher einer jungen, schönen Prinzessin
+die Hand geben.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Das ist es eben&ldquo;, seufzte der Kalif, indem er traurig die Flügel
+hängen ließ, &bdquo;wer sagt dir denn, daß sie jung und schön ist? Das heißt
+eine Katze im Sack kaufen!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Sie redeten einander gegenseitig noch lange zu; endlich aber, als der Kalif
+sah, daß sein Wesir lieber Storch bleiben als die Eule heiraten wollte,
+entschloß er sich, die Bedingung lieber selbst zu erfüllen. Die Eule war
+hocherfreut. Sie gestand ihnen, daß sie zu keiner besseren Zeit hätten kommen
+können, weil wahrscheinlich in dieser Nacht die Zauberer sich versammeln
+würden.
+</p>
+
+<p>
+Sie verließ mit den Störchen das Gemach, um sie in jenen Saal zu führen; sie
+gingen lange in einem finsteren Gang hin; endlich strahlte ihnen aus einer
+halbverfallenen Mauer ein heller Schein entgegen. Als sie dort angelangt waren,
+riet ihnen die Eule, sich ganz ruhig zu verhalten. Sie konnten von der Lücke,
+an welcher sie standen, einen großen Saal übersehen. Er war ringsum mit Säulen
+geschmückt und prachtvoll verziert. Viele farbige Lampen ersetzten das Licht
+des Tages. In der Mitte des Saales stand ein runder Tisch, mit vielen und
+ausgesuchten Speisen besetzt. Rings um den Tisch zog sich ein Sofa, auf welchem
+acht Männer saßen. In einem dieser Männer erkannten die Störche jenen Krämer
+wieder, der ihnen das Zauberpulver verkauft hatte. Sein Nebensitzer forderte
+ihn auf, ihnen seine neuesten Taten zu erzählen. Er erzählte unter anderen auch
+die Geschichte des Kalifen und seines Wesirs.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Was für ein Wort hast du ihnen denn aufgegeben?&ldquo; fragte ihn ein
+anderer Zauberer. &bdquo;Ein recht schweres lateinisches, es heißt
+mutabor.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Als die Störche an der Mauerlücke dieses hörten, kamen sie vor Freuden beinahe
+außer sich. Sie liefen auf ihren langen Füßen so schnell dem Tore der Ruine zu,
+daß die Eule kaum folgen konnte. Dort sprach der Kalif gerührt zu der Eule:
+&bdquo;Retterin meines Lebens und des Lebens meines Freundes, nimm zum ewigen
+Dank für das, was du an uns getan, mich zum Gemahl an!&ldquo; Dann aber wandte
+er sich nach Osten. Dreimal bückten die Störche ihre langen Hälse der Sonne
+entgegen, die soeben hinter dem Gebirge heraufstieg: &bdquo;Mutabor!&ldquo;
+riefen sie, im Nu waren sie verwandelt, und in der hohen Freude des
+neugeschenkten Lebens lagen Herr und Diener lachend und weinend einander in den
+Armen.
+</p>
+
+<p>
+Wer beschreibt aber ihr Erstaunen, als sie sich umsahen? Eine schöne Dame,
+herrlich geschmückt, stand vor ihnen. Lächelnd gab sie dem Kalifen die Hand.
+&bdquo;Erkennt Ihr Eure Nachteule nicht mehr?&ldquo; sagte sie. Sie war es; der
+Kalif war von ihrer Schönheit und Anmut entzückt.
+</p>
+
+<p>
+Die drei zogen nun miteinander auf Bagdad zu. Der Kalif fand in seinen Kleidern
+nicht nur die Dose mit Zauberpulver, sondern auch seinen Geldbeutel. Er kaufte
+daher im nächsten Dorfe, was zu ihrer Reise nötig war, und so kamen sie bald an
+die Tore von Bagdad. Dort aber erregte die Ankunft des Kalifen großes
+Erstaunen. Man hatte ihn für tot ausgegeben, und das Volk war daher
+hocherfreut, seinen geliebten Herrscher wiederzuhaben.
+</p>
+
+<p>
+Um so mehr aber entbrannte ihr Haß gegen den Betrüger Mizra. Sie zogen in den
+Palast und nahmen den alten Zauberer und seinen Sohn gefangen. Den Alten
+schickte der Kalif in dasselbe Gemach der Ruine, das die Prinzessin als Eule
+bewohnt hatte, und ließ ihn dort aufhängen. Dem Sohn aber, welcher nichts von
+den Künsten des Vaters verstand, ließ der Kalif die Wahl, ob er sterben oder
+schnupfen wolle. Als er das letztere wählte, bot ihm der Großwesir die Dose.
+Eine tüchtige Prise, und das Zauberwort des Kalifen verwandelte ihn in einen
+Storch. Der Kalif ließ ihn in einen eisernen Käfig sperren und in seinem Garten
+aufstellen.
+</p>
+
+<p>
+Lange und vergnügt lebte Kalif Chasid mit seiner Frau, der Prinzessin; seine
+vergnügtesten Stunden waren immer die, wenn ihn der Großwesir nachmittags
+besuchte; da sprachen sie dann oft von ihrem Storchabenteuer, und wenn der
+Kalif recht heiter war, ließ er sich herab, den Großwesir nachzuahmen, wie er
+als Storch aussah. Er stieg dann ernsthaft, mit steifen Füßen im Zimmer auf und
+ab, klapperte, wedelte mit den Armen wie mit Flügeln und zeigte, wie jener sich
+vergeblich nach Osten geneigt und Mu&mdash;Mu&mdash;dazu gerufen habe. Für die
+Frau Kalifin und ihre Kinder war diese Vorstellung allemal eine große Freude;
+wenn aber der Kalif gar zu lange klapperte und nickte und
+Mu&mdash;Mu&mdash;schrie, dann drohte ihm lächelnd der Wesir: Er wolle das, was
+vor der Türe der Prinzessin Nachteule verhandelt worden sei, der Frau Kalifin
+mitteilen.
+</p>
+
+<p>
+Als Selim Baruch seine Geschichte beendet hatte, bezeugten sich die Kaufleute
+sehr zufrieden damit. &bdquo;Wahrhaftig, der Nachmittag ist uns vergangen, ohne
+daß wir merkten wie!&ldquo; sagte einer derselben, indem er die Decke des
+Zeltes zurückschlug. &bdquo;Der Abendwind wehet kühl, und wir könnten noch eine
+gute Strecke Weges zurücklegen.&ldquo; Seine Gefährten waren damit
+einverstanden, die Zelte wurden abgebrochen, und die Karawane machte sich in
+der nämlichen Ordnung, in welcher sie herangezogen war, auf den Weg.
+</p>
+
+<p>
+Sie ritten beinahe die ganze Nacht hindurch, denn es war schwül am Tage, die
+Nacht aber war erquicklich und sternhell. Sie kamen endlich an einem bequemen
+Lagerplatz an, schlugen die Zelte auf und legten sich zur Ruhe. Für den Fremden
+aber sorgten die Kaufleute, wie wenn er ihr wertester Gastfreund wäre. Der eine
+gab ihm Polster, der andere Decken, ein dritter gab ihm Sklaven, kurz, er wurde
+so gut bedient, als ob er zu Hause wäre. Die heißeren Stunden des Tages waren
+schon heraufgekommen, als sie sich wieder erhoben, und sie beschlossen
+einmütig, hier den Abend abzuwarten. Nachdem sie miteinander gespeist hatten,
+rückten sie wieder näher zusammen, und der junge Kaufmann wandte sich an den
+ältesten und sprach: &bdquo;Selim Baruch hat uns gestern einen vergnügten
+Nachmittag bereitet, wie wäre es, Achmet, wenn Ihr uns auch etwas erzähltet,
+sei es nun aus Eurem langen Leben, das wohl viele Abenteuer aufzuweisen hat,
+oder sei es auch ein hübsches Märchen.&ldquo; Achmet schwieg auf diese Anrede
+eine Zeitlang, wie wenn er bei sich im Zweifel wäre, ob er dies oder jenes
+sagen sollte oder nicht; endlich fing er an zu sprechen:
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Liebe Freunde! Ihr habt euch auf dieser unserer Reise als treue Gesellen
+erprobt, und auch Selim verdient mein Vertrauen; daher will ich euch etwas aus
+meinem Leben mitteilen, das ich sonst ungern und nicht jedem erzähle: die
+Geschichte von dem Gespensterschiff.&ldquo;
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap04"></a>Die Geschichte von dem Gespensterschiff</h2>
+
+<p class="center">
+Wilhelm Hauff
+</p>
+
+<p>
+Mein Vater hatte einen kleinen Laden in Balsora; er war weder arm noch reich
+und einer von jenen Leuten, die nicht gerne etwas wagen, aus Furcht, das Wenige
+zu verlieren, das sie haben. Er erzog mich schlicht und recht und brachte es
+bald so weit, daß ich ihm an die Hand gehen konnte. Gerade als ich achtzehn
+Jahre alt war, als er die erste größere Spekulation machte, starb er,
+wahrscheinlich aus Gram, tausend Goldstücke dem Meere anvertraut zu haben. Ich
+mußte ihn bald nachher wegen seines Todes glücklich preisen, denn wenige Wochen
+hernach lief die Nachricht ein, daß das Schiff, dem mein Vater seine Güter
+mitgegeben hatte, versunken sei. Meinen jugendlichen Mut konnte aber dieser
+Unfall nicht beugen. Ich machte alles vollends zu Geld, was mein Vater
+hinterlassen hatte, und zog aus, um in der Fremde mein Glück zu probieren, nur
+von einem alten Diener meines Vaters begleitet.
+</p>
+
+<p>
+Im Hafen von Balsora schifften wir uns mit günstigem Winde ein. Das Schiff, auf
+dem ich mich eingemietet hatte, war nach Indien bestimmt. Wir waren schon
+fünfzehn Tage auf der gewöhnlichen Straße gefahren, als uns der Kapitän einen
+Sturm verkündete. Er machte ein bedenkliches Gesicht, denn es schien, er kenne
+in dieser Gegend das Fahrwasser nicht genug, um einem Sturm mit Ruhe begegnen
+zu können. Er ließ alle Segel einziehen, und wir trieben ganz langsam hin. Die
+Nacht war angebrochen, war hell und kalt, und der Kapitän glaubte schon, sich
+in den Anzeichen des Sturmes getäuscht zu haben. Auf einmal schwebte ein
+Schiff, das wir vorher nicht gesehen hatten, dicht an dem unsrigen vorbei.
+Wildes Jauchzen und Geschrei erscholl aus dem Verdeck herüber, worüber ich mich
+zu dieser angstvollen Stunde vor einem Sturm nicht wenig wunderte. Aber der
+Kapitän an meiner Seite wurde blaß wie der Tod. &bdquo;Mein Schiff ist
+verloren&ldquo;, rief er, &bdquo;dort segelt der Tod!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Ehe ich ihn noch über diesen sonderbaren Ausruf befragen konnte, stürzten schon
+heulend und schreiend die Matrosen herein. &bdquo;Habt ihr ihn gesehen?&ldquo;
+schrien sie. &bdquo;Jetzt ist&rsquo;s mit uns vorbei!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der Kapitän aber ließ Trostsprüche aus dem Koran vorlesen und setzte sich
+selbst ans Steuerruder. Aber vergebens! Zusehends brauste der Sturm auf, und
+ehe eine Stunde verging, krachte das Schiff und blieb sitzen. Die Boote wurden
+ausgesetzt, und kaum hatten sich die letzten Matrosen gerettet, so versank das
+Schiff vor unseren Augen, und als ein Bettler fuhr ich in die See hinaus. Aber
+der Jammer hatte noch kein Ende. Fürchterlicher tobte der Sturm; das Boot war
+nicht mehr zu regieren. Ich hatte meinen alten Diener fest umschlungen, und wir
+versprachen uns, nie voneinander zu weichen. Endlich brach der Tag an. Aber mit
+dem ersten Anblick der Morgenröte faßte der Wind das Boot, in welchem wir
+saßen, und stürzte es um. Ich habe keinen meiner Schiffsleute mehr gesehen. Der
+Sturz hatte mich betäubt; und als ich aufwachte, befand ich mich in den Armen
+meines alten treuen Dieners, der sich auf das umgeschlagene Boot gerettet und
+mich nachgezogen hatte. Der Sturm hatte sich gelegt. Von unserem Schiff war
+nichts mehr zu sehen, wohl aber entdeckten wir nicht weit von uns ein anderes
+Schiff, auf das die Wellen uns hintrieben. Als wir näher hinzukamen, erkannte
+ich das Schiff als dasselbe, das in der Nacht an uns vorbeifuhr und welches den
+Kapitän so sehr in Schrecken gesetzt hatte. Ich empfand ein sonderbares Grauen
+vor diesem Schiffe. Die Äußerung des Kapitäns, die sich so furchtbar bestätigt
+hatte, das öde Aussehen des Schiffes, auf dem sich, so nahe wir auch
+herankamen, so laut wir schrien, niemand zeigte, erschreckten mich. Doch es war
+unser einziges Rettungsmittel; darum priesen wir den Propheten, der uns so
+wundervoll erhalten hatte.
+</p>
+
+<p>
+Am Vorderteil des Schiffes hing ein langes Tau herab. Mit Händen und Füßen
+ruderten wir darauf zu, um es zu erfassen. Endlich glückte es. Noch einmal
+erhob ich meine Stimme, aber immer blieb es still auf dem Schiff. Da klimmten
+wir an dem Tau hinauf, ich als der Jüngste voran. Aber Entsetzen! Welches
+Schauspiel stellte sich meinem Auge dar, als ich das Verdeck betrat! Der Boden
+war mit Blut gerötet, zwanzig bis dreißig Leichname in türkischen Kleidern
+lagen auf dem Boden, am mittleren Mastbaum stand ein Mann, reich gekleidet, den
+Säbel in der Hand, aber das Gesicht war blaß und verzerrt, durch die Stirn ging
+ein großer Nagel, der ihn an den Mastbaum heftete, auch er war tot. Schrecken
+fesselte meine Schritte, ich wagte kaum zu atmen. Endlich war auch mein
+Begleiter heraufgekommen. Auch ihn überraschte der Anblick des Verdecks, das
+gar nichts Lebendiges, sondern nur so viele schreckliche Tote zeigte. Wir
+wagten es endlich, nachdem wir in der Seelenangst zum Propheten gefleht hatten,
+weiter vorzuschreiten. Bei jedem Schritte sahen wir uns um, ob nicht etwas
+Neues, noch Schrecklicheres sich darbiete; aber alles blieb, wie es war; weit
+und breit nichts Lebendiges als wir und das Weltmeer. Nicht einmal laut zu
+sprechen wagten wir, aus Furcht, der tote, am Mast angespießte Kapitano möchte
+seine starren Augen nach uns hindrehen oder einer der Getöteten möchte seinen
+Kopf umwenden. Endlich waren wir bis an eine Treppe gekommen, die in den
+Schiffsraum führte. Unwillkürlich machten wir dort halt und sahen einander an,
+denn keiner wagte es recht, seine Gedanken zu äußern.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;O Herr&ldquo;, sprach mein treuer Diener, &bdquo;hier ist etwas
+Schreckliches geschehen. Doch wenn auch das Schiff da unten voll Mörder steckt,
+so will ich mich ihnen doch lieber auf Gnade und Ungnade ergeben, als längere
+Zeit unter diesen Toten zubringen.&ldquo; Ich dachte wie er; wir faßten uns ein
+Herz und stiegen voll Erwartung hinunter. Totenstille war aber auch hier, und
+nur unsere Schritte hallten auf der Treppe. Wir standen an der Türe der Kajüte.
+Ich legte mein Ohr an die Türe und lauschte; es war nichts zu hören. Ich machte
+auf. Das Gemach bot einen unordentlichen Anblick dar. Kleider, Waffen und
+andere Geräte lagen untereinander. Nichts in Ordnung. Die Mannschaft oder
+wenigstens der Kapitano mußten vor kurzem gezechet haben; denn es lag alles
+noch umher. Wir gingen weiter von Raum zu Raum, von Gemach zu Gemach, überall
+fanden wir herrliche Vorräte in Seide, Perlen, Zucker usw. Ich war vor Freude
+über diesen Anblick außer mir, denn da niemand auf dem Schiff war, glaubte ich,
+alles mir zueignen zu dürfen, Ibrahim aber machte mich aufmerksam darauf, daß
+wir wahrscheinlich noch sehr weit vom Lande seien, wohin wir allein und ohne
+menschliche Hilfe nicht kommen könnten.
+</p>
+
+<p>
+Wir labten uns an den Speisen und Getränken, die wir in reichem Maß vorfanden,
+und stiegen endlich wieder aufs Verdeck. Aber hier schauderte uns immer die
+Haut ob dem schrecklichen Anblick der Leichen. Wir beschlossen, uns davon zu
+befreien und sie über Bord zu werfen; aber wie schauerlich ward uns zumut, als
+wir fanden, daß sich keiner aus seiner Lage bewegen ließ. Wie festgebannt lagen
+sie am Boden, und man hätte den Boden des Verdecks ausheben müssen, um sie zu
+entfernen, und dazu gebrach es uns an Werkzeugen. Auch der Kapitano ließ sich
+nicht von seinem Mast losmachen; nicht einmal seinen Säbel konnten wir der
+starren Hand entwinden. Wir brachten den Tag in trauriger Betrachtung unserer
+Lage zu, und als es Nacht zu werden anfing, erlaubte ich dem alten Ibrahim,
+sich schlafen zu legen, ich selbst aber wollte auf dem Verdeck wachen, um nach
+Rettung auszuspähen. Als aber der Mond heraufkam und ich nach den Gestirnen
+berechnete, daß es wohl um die elfte Stunde sei, überfiel mich ein so
+unwiderstehlicher Schlaf, daß ich unwillkürlich hinter ein Faß, das auf dem
+Verdeck stand, zurückfiel. Doch war es mehr Betäubung als Schlaf, denn ich
+hörte deutlich die See an der Seite des Schiffes anschlagen und die Segel vom
+Winde knarren und pfeifen. Auf einmal glaubte ich Stimmen und Männertritte auf
+dem Verdeck zu hören. Ich wollte mich aufrichten, um danach zu schauen. Aber
+eine unsichtbare Gewalt hielt meine Glieder gefesselt; nicht einmal die Augen
+konnte ich aufschlagen. Aber immer deutlicher wurden die Stimmen, es war mir,
+als wenn ein fröhliches Schiffsvolk auf dem Verdeck sich umhertriebe; mitunter
+glaubte ich, die kräftige Stimme eines Befehlenden zu hören, auch hörte ich
+Taue und Segel deutlich auf- und abziehen. Nach und nach aber schwanden mir die
+Sinne, ich verfiel in einen tieferen Schlaf, in dem ich nur noch ein Geräusch
+von Waffen zu hören glaubte, und erwachte erst, als die Sonne schon hoch stand
+und mir aufs Gesicht brannte. Verwundert schaute ich mich um, Sturm, Schiff,
+die Toten und was ich in dieser Nacht gehört hatte, kam mir wie ein Traum vor,
+aber als ich aufblickte, fand ich alles wie gestern. Unbeweglich lagen die
+Toten, unbeweglich war der Kapitano an den Mastbaum geheftet. Ich lachte über
+meinen Traum und stand auf, um meinen Alten zu suchen.
+</p>
+
+<p>
+Dieser saß ganz nachdenklich in der Kajüte. &bdquo;O Herr!&ldquo; rief er aus,
+als ich zu ihm hineintrat, &bdquo;ich wollte lieber im tiefsten Grund des
+Meeres liegen, als in diesem verhexten Schiff noch eine Nacht zubringen.&ldquo;
+Ich fragte ihn nach der Ursache seines Kummers, und er antwortete mir:
+&bdquo;Als ich einige Stunden geschlafen hatte, wachte ich auf und vernahm, wie
+man über meinem Haupt hin und her lief. Ich dachte zuerst, Ihr wäret es, aber
+es waren wenigstens zwanzig, die oben umherliefen; auch hörte ich rufen und
+schreien. Endlich kamen schwere Tritte die Treppe herab. Da wußte ich nichts
+mehr von mir, nur hie und da kehrte auf einige Augenblicke meine Besinnung
+zurück, und da sah ich dann denselben Mann, der oben am Mast angenagelt ist, an
+jenem Tisch dort sitzen, singend und trinkend; aber der, der in einem roten
+Scharlachkleid nicht weit von ihm am Boden liegt, saß neben ihm und half ihm
+trinken.&ldquo; Also erzählte mir mein alter Diener.
+</p>
+
+<p>
+Ihr könnt mir es glauben, meine Freunde, daß mir gar nicht wohl zumute war;
+denn es war keine Täuschung, ich hatte ja auch die Toten gar wohl gehört. In
+solcher Gesellschaft zu schiffen, war mir greulich. Mein Ibrahim aber versank
+wieder in tiefes Nachdenken. &bdquo;Jetzt hab&rsquo; ich&rsquo;s!&ldquo; rief
+er endlich aus; es fiel ihm nämlich ein Sprüchlein ein, das ihn sein Großvater,
+ein erfahrener, weitgereister Mann, gelehrt hatte und das gegen jeden Geister-
+und Zauberspuk helfen sollte; auch behauptete er, jenen unnatürlichen Schlaf,
+der uns befiel, in der nächsten Nacht verhindern zu können, wenn wir nämlich
+recht eifrig Sprüche aus dem Koran beteten. Der Vorschlag des alten Mannes
+gefiel mir wohl. In banger Erwartung sahen wir die Nacht herankommen. Neben der
+Kajüte war ein kleines Kämmerchen, dorthin beschlossen wir uns zurückzuziehen.
+Wir bohrten mehrere Löcher in die Türe, hinlänglich groß, um durch sie die
+ganze Kajüte zu überschauen, dann verschlossen wir die Türe, so gut es ging,
+von innen, und Ibrahim schrieb den Namen des Propheten in alle vier Ecken. So
+erwarteten wir die Schrecken der Nacht. Es mochte wieder ungefähr elf Uhr sein,
+als es mich gewaltig zu schläfern anfing. Mein Gefährte riet mir daher, einige
+Sprüche des Korans zu beten, was mir auch half. Mit einem Male schien es oben
+lebhaft zu werden; die Taue knarrten, Schritte gingen über das Verdeck, und
+mehrere Stimmen waren deutlich zu unterscheiden&mdash;Mehrere Minuten hatten
+wir so in gespannter Erwartung gesessen, da hörten wir etwas die Treppe der
+Kajüte herabkommen. Als dies der Alte hörte, fing er an, den Spruch, den ihn
+sein Großvater gegen Spuk und Zauberei gelehrt hatte, herzusagen:
+</p>
+
+<p class="poem">
+&bdquo;Kommt ihr herab aus der Luft,<br/>
+Steigt ihr aus tiefem Meer,<br/>
+Schlieft ihr in dunkler Gruft,<br/>
+Stammt ihr vom Feuer her:<br/>
+Allah ist euer Herr und Meister,<br/>
+ihm sind gehorsam alle Geister.&ldquo;
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Ich muß gestehen, ich glaubte gar nicht recht an diesen Spruch, und mir stieg
+das Haar zu Berg, als die Tür aufflog. Herein trat jener große, stattliche
+Mann, den ich am Mastbaum angenagelt gesehen hatte. Der Nagel ging ihm auch
+jetzt mitten durchs Hirn; das Schwert aber hatte er in die Scheide gesteckt;
+hinter ihm trat noch ein anderer herein, weniger kostbar gekleidet; auch ihn
+hatte ich oben liegen sehen. Der Kapitano, denn dies war er unverkennbar, hatte
+ein bleiches Gesicht, einen großen, schwarzen Bart, wildrollende Augen, mit
+denen er sich im ganzen Gemach umsah. Ich konnte ihn ganz deutlich sehen, als
+er an unserer Türe vorüberging; er aber schien gar nicht auf die Türe zu
+achten, die uns verbarg. Beide setzten sich an den Tisch, der in der Mitte der
+Kajüte stand, und sprachen laut und fast schreiend miteinander in einer
+unbekannten Sprache. Sie wurden immer lauter und eifriger, bis endlich der
+Kapitano mit geballter Faust auf den Tisch hineinschlug, daß das Zimmer
+dröhnte. Mit wildem Gelächter sprang der andere auf und winkte dem Kapitano,
+ihm zu folgen. Dieser stand auf, riß seinen Säbel aus der Scheide, und beide
+verließen das Gemach. Wir atmeten freier, als sie weg waren; aber unsere Angst
+hatte noch lange kein Ende. Immer lauter und lauter ward es auf dem Verdeck.
+Man hörte eilends hin und her laufen und schreien, lachen und heulen. Endlich
+ging ein wahrhaft höllischer Lärm los, so daß wir glaubten, das Verdeck mit
+allen Segeln komme zu uns herab, Waffengeklirr und Geschrei&mdash;auf einmal
+aber tiefe Stille. Als wir es nach vielen Stunden wagten hinaufzugehen, trafen
+wir alles wie sonst; nicht einer lag anders als früher. Alle waren steif wie
+Holz.
+</p>
+
+<p>
+So waren wir mehrere Tage auf dem Schiffe; es ging immer nach Osten, wohin zu,
+nach meiner Berechnung, Land liegen mußte; aber wenn es auch bei Tag viele
+Meilen zurückgelegt hatte, bei Nacht schien es immer wieder zurückzukehren,
+denn wir befanden uns immer wieder am nämlichen Fleck, wenn die Sonne aufging.
+Wir konnten uns dies nicht anders erklären, als daß die Toten jede Nacht mit
+vollem Winde zurücksegelten. Um nun dies zu verhüten, zogen wir, ehe es Nacht
+wurde, alle Segel ein und wandten dasselbe Mittel an wie bei der Türe in der
+Kajüte; wir schrieben den Namen des Propheten auf Pergament und auch das
+Sprüchlein des Großvaters dazu und banden es um die eingezogenen Segel.
+Ängstlich warteten wir in unserem Kämmerchen den Erfolg ab. Der Spuk schien
+diesmal noch ärger zu toben, aber siehe, am anderen Morgen waren die Segel noch
+aufgerollt, wie wir sie verlassen hatten. Wir spannten den Tag über nur so
+viele Segel auf, als nötig waren, das Schiff sanft fortzutreiben, und so legten
+wir in fünf Tagen eine gute Strecke zurück.
+</p>
+
+<p>
+Endlich, am Morgen des sechsten Tages, entdeckten wir in geringer Ferne Land,
+und wir dankten Allah und seinem Propheten für unsere wunderbare Rettung.
+Diesen Tag und die folgende Nacht trieben wir an einer Küste hin, und am
+siebenten Morgen glaubten wir in geringer Entfernung eine Stadt zu entdecken;
+wir ließen mit vieler Mühe einen Anker in die See, der alsobald Grund faßte,
+setzten ein kleines Boot, das auf dem Verdeck stand, aus und ruderten mit aller
+Macht der Stadt zu. Nach einer halben Stunde liefen wir in einen Fluß ein, der
+sich in die See ergoß, und stiegen ans Ufer. Am Stadttor erkundigten wir uns,
+wie die Stadt heiße, und erfuhren, daß es eine indische Stadt sei, nicht weit
+von der Gegend, wohin ich zuerst zu schiffen willens war. Wir begaben uns in
+eine Karawanserei und erfrischten uns von unserer abenteuerlichen Reise. Ich
+forschte daselbst auch nach einem weisen und verständigen Manne, indem ich dem
+Wirt zu verstehen gab, daß ich einen solchen haben möchte, der sich ein wenig
+auf Zauberei verstehe. Er führte mich in eine abgelegene Straße, an ein
+unscheinbares Haus, pochte an, und man ließ mich eintreten mit der Weisung, ich
+solle nur nach Muley fragen.
+</p>
+
+<p>
+In dem Hause kam mir ein altes Männlein mit grauem Bart und langer Nase
+entgegen und fragte nach meinem Begehr. Ich sagte ihm, ich suche den weisen
+Muley, und er antwortete mir, er sei es selbst. Ich fragte ihn nun um Rat, was
+ich mit den Toten machen solle und wie ich es angreifen müsse, um sie aus dem
+Schiff zu bringen. Er antwortete mir, die Leute des Schiffes seien
+wahrscheinlich wegen irgendeines Frevels auf das Meer verzaubert; er glaube,
+der Zauber werde sich lösen, wenn man sie ans Land bringe; dies könne aber
+nicht geschehen, als wenn man die Bretter, auf denen sie lägen, losmache. Mir
+gehöre von Gott und Rechts wegen das Schiff samt allen Gütern, weil ich es
+gleichsam gefunden habe; doch solle ich alles sehr geheimzuhalten trachten und
+ihm ein kleines Geschenk von meinem Überfluß machen; er wolle dafür mit seinen
+Sklaven mir behilflich sein, die Toten wegzuschaffen. Ich versprach, ihn
+reichlich zu belohnen, und wir machten uns mit fünf Sklaven, die mit Sägen und
+Beilen versehen waren, auf den Weg. Unterwegs konnte der Zauberer Muley unseren
+glücklichen Einfall, die Segel mit den Sprüchen des Korans zu umwinden, nicht
+genug loben. Er sagte, es sei dies das einzige Mittel gewesen, uns zu retten.
+</p>
+
+<p>
+Es war noch ziemlich früh am Tage, als wir beim Schiff ankamen. Wir machten uns
+alle sogleich ans Werk, und in einer Stunde lagen schon vier in dem Nachen.
+Einige der Sklaven mußten sie an Land rudern, um sie dort zu verscharren. Sie
+erzählten, als sie zurückkamen, die Toten hätten ihnen die Mühe des Begrabens
+erspart, indem sie, sowie man sie auf die Erde gelegt habe, in Staub zerfallen
+seien. Wir fuhren fort, die Toten abzusägen, und bis vor Abend waren alle an
+Land gebracht. Es war endlich keiner mehr an Bord als der, welcher am Mast
+angenagelt war. Umsonst suchten wir den Nagel aus dem Holze zu ziehen, keine
+Gewalt vermochte ihn auch nur ein Haarbreit zu verrücken. Ich wußte nicht, was
+anzufangen war; man konnte doch nicht den Mastbaum abhauen, um ihn ans Land zu
+führen. Doch aus dieser Verlegenheit half Muley. Er ließ schnell einen Sklaven
+an Land rudern, um einen Topf mit Erde zu bringen. Als dieser herbeigeholt war,
+sprach der Zauberer geheimnisvolle Worte darüber aus und schüttete die Erde auf
+das Haupt des Toten. Sogleich schlug dieser die Augen auf, holte tief Atem, und
+die Wunde des Nagels in seiner Stirne fing an zu bluten. Wir zogen den Nagel
+jetzt leicht heraus, und der Verwundete fiel einem Sklaven in die Arme.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wer hat mich hierhergeführt?&ldquo; sprach er, nachdem er sich ein wenig
+erholt zu haben schien. Muley zeigte auf mich, und ich trat zu ihm. &bdquo;Dank
+dir, unbekannter Fremdling, du hast mich von langen Qualen errettet. Seit
+fünfzig Jahren schifft mein Leib durch diese Wogen, und mein Geist war
+verdammt, jede Nacht in ihn zurückzukehren. Aber jetzt hat mein Haupt die Erde
+berührt, und ich kann versöhnt zu meinen Vätern gehen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Ich bat ihn, uns doch zu sagen, wie er zu diesem schrecklichen Zustand gekommen
+sei, und er sprach: &bdquo;Vor fünfzig Jahren war ich ein mächtiger,
+angesehener Mann und wohnte in Algier; die Sucht nach Gewinn trieb mich, ein
+Schiff auszurüsten und Seeraub zu treiben. Ich hatte dieses Geschäft schon
+einige Zeit fortgeführt, da nahm ich einmal auf Zante einen Derwisch an Bord,
+der umsonst reisen wollte. Ich und meine Gesellen waren rohe Leute und achteten
+nicht auf die Heiligkeit des Mannes; vielmehr trieb ich mein Gespött mit ihm.
+Als er aber einst in heiligem Eifer mir meinen sündigen Lebenswandel verwiesen
+hatte, übermannte mich nachts in meiner Kajüte, als ich mit meinem Steuermann
+viel getrunken hatte, der Zorn. Wütend über das, was mir ein Derwisch gesagt
+hatte und was ich mir von keinem Sultan hätte sagen lassen, stürzte ich aufs
+Verdeck und stieß ihm meinen Dolch in die Brust. Sterbend verwünschte er mich
+und meine Mannschaft, nicht sterben und nicht leben zu können, bis wir unser
+Haupt auf die Erde legten. Der Derwisch starb, und wir warfen ihn in die See
+und verlachten seine Drohungen; aber noch in derselben Nacht erfüllten sich
+seine Worte. Ein Teil meiner Mannschaft empörte sich gegen mich&mdash;Mit
+fürchterlicher Wut wurde gestritten, bis meine Anhänger unterlagen und ich an
+den Mast genagelt wurde. Aber auch die Empörer erlagen ihren Wunden, und bald
+war mein Schiff nur ein großes Grab. Auch mir brachen die Augen, mein Atem
+hielt an, und ich meinte zu sterben. Aber es war nur eine Erstarrung, die mich
+gefesselt hielt; in der nächsten Nacht, zur nämlichen Stunde, da wir den
+Derwisch in die See geworfen, erwachten ich und alle meine Genossen, das Leben
+war zurückgekehrt, aber wir konnten nichts tun und sprechen, als was wir in
+jener Nacht gesprochen und getan hatten. So segeln wir seit fünfzig Jahren,
+können nicht leben, nicht sterben; denn wie konnten wir das Land erreichen? Mit
+toller Freude segelten wir allemal mit vollen Segeln in den Sturm, weil wir
+hofften, endlich an einer Klippe zu zerschellen und das müde Haupt auf dem
+Grund des Meeres zur Ruhe zu legen. Es ist uns nicht gelungen. Jetzt aber werde
+ich sterben. Noch einmal meinen Dank, unbekannter Retter, wenn Schätze dich
+lohnen können, so nimm mein Schiff als Zeichen meiner Dankbarkeit.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der Kapitano ließ sein Haupt sinken, als er so gesprochen hatte, und verschied.
+Sogleich zerfiel er auch, wie seine Gefährten, in Staub. Wir sammelten diesen
+in ein Kästchen und begruben ihn an Land; aus der Stadt nahm ich aber Arbeiter,
+die mir mein Schiff in guten Zustand setzten. Nachdem ich die Waren, die ich an
+Bord hatte, gegen andere mit großem Gewinn eingetauscht hatte, mietete ich
+Matrosen, beschenkte meinen Freund Muley reichlich und schiffte mich nach
+meinem Vaterlande ein. Ich machte aber einen Umweg, indem ich an vielen Inseln
+und Ländern landete und meine Waren zu Markt brachte. Der Prophet segnete mein
+Unternehmen. Nach dreiviertel Jahren lief ich, noch einmal so reich, als mich
+der sterbende Kapitän gemacht hatte, in Balsora ein. Meine Mitbürger waren
+erstaunt über meine Reichtümer und mein Glück und glaubten nicht anders, als
+daß ich das Diamantental des berühmten Reisenden Sindbad gefunden habe. Ich
+ließ sie in ihrem Glauben, von nun an aber mußten die jungen Leute von Balsora,
+wenn sie kaum achtzehn Jahre alt waren, in die Welt hinaus, um gleich mir ihr
+Glück zu machen. Ich aber lebte ruhig und in Frieden, und alle fünf Jahre mache
+ich eine Reise nach Mekka, um dem Herrn an heiliger Stätte für seinen Segen zu
+danken und für den Kapitano und seine Leute zu bitten, daß er sie in sein
+Paradies aufnehme.
+</p>
+
+<hr />
+
+<p>
+Die Reise der Karawane war den anderen Tag ohne Hindernis fürder gegangen, und
+als man im Lagerplatz sich erholt hatte, begann Selim, der Fremde, zu Muley,
+dem jüngsten der Kaufleute, also zu sprechen:
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ihr seid zwar der Jüngste von uns, doch seid Ihr immer fröhlich und wißt
+für uns gewiß irgendeinen guten Schwank. Tischet ihn auf, daß er uns erquicke
+nach der Hitze des Tages!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wohl möchte ich euch etwas erzählen&ldquo;, antwortete Muley, &bdquo;das
+euch Spaß machen könnte, doch der Jugend ziemt Bescheidenheit in allen Dingen;
+darum müssen meine älteren Reisegefährten den Vorrang haben. Zaleukos ist immer
+so ernst und verschlossen, sollte er uns nicht erzählen, was sein Leben so
+ernst machte? Vielleicht, daß wir seinen Kummer, wenn er solchen hat, lindern
+können; denn gerne dienen wir dem Bruder, wenn er auch anderen Glaubens
+ist.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der Aufgerufene war ein griechischer Kaufmann, ein Mann in mittleren Jahren,
+schön und kräftig, aber sehr ernst. Ob er gleich ein Ungläubiger (nicht
+Muselmann) war, so liebten ihn doch seine Reisegefährten, denn er hatte durch
+sein ganzes Wesen Achtung und Zutrauen eingeflößt. Er hatte übrigens nur eine
+Hand, und einige seiner Gefährten vermuteten, daß vielleicht dieser Verlust ihn
+so ernst stimme.
+</p>
+
+<p>
+Zaleukos antwortete auf die zutrauliche Frage Muleys: &bdquo;Ich bin sehr
+geehrt durch euer Zutrauen; Kummer habe ich keinen, wenigstens keinen, von
+welchem ihr auch mit dem besten Willen mir helfen könntet. Doch weil Muley mir
+meinen Ernst vorzuwerfen scheint, so will ich euch einiges erzählen, was mich
+rechtfertigen soll, wenn ich ernster bin als andere Leute. Ihr sehet, daß ich
+meine linke Hand verloren habe. Sie fehlt mir nicht von Geburt an, sondern ich
+habe sie in den schrecklichsten Tagen meines Lebens eingebüßt. Ob ich die
+Schuld davon trage, ob ich unrecht habe, seit jenen Tagen ernster, als es meine
+Lage mit sich bringt, zu sein, möget ihr beurteilen, wenn ihr vernommen habt
+die Geschichte von der abgehauenen Hand.&ldquo;
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap05"></a>Die Geschichte von der abgehauenen Hand</h2>
+
+<p class="center">
+Wilhelm Hauff
+</p>
+
+<p>
+Ich bin in Konstantinopel geboren; mein Vater war ein Dragoman (Dolmetscher)
+bei der Pforte (dem türkischen Hof) und trieb nebenbei einen ziemlich
+einträglichen Handel mit wohlriechenden Essenzen und seidenen Stoffen. Er gab
+mir eine gute Erziehung, indem er mich teils selbst unterrichtete, teils von
+einem unserer Priester mir Unterricht geben ließ. Er bestimmte mich anfangs,
+seinen Laden einmal zu übernehmen, als ich aber größere Fähigkeiten zeigte, als
+er erwartet hatte, bestimmte er mich auf das Anraten seiner Freunde zum Arzt;
+weil ein Arzt, wenn er etwas mehr gelernt hat als die gewöhnlichen
+Marktschreier, in Konstantinopel sein Glück machen kann. Es kamen viele Franken
+in unser Haus, und einer davon überredete meinen Vater, mich in sein Vaterland,
+nach der Stadt Paris, reisen zu lassen, wo man solche Sachen unentgeltlich und
+am besten lernen könne. Er selbst aber wolle mich, wenn er zurückreise, umsonst
+mitnehmen. Mein Vater, der in seiner Jugend auch gereist war, schlug ein, und
+der Franke sagte mir, ich könne mich in drei Monaten bereithalten. Ich war
+außer mir vor Freude, fremde Länder zu sehen.
+</p>
+
+<p>
+Der Franke hatte endlich seine Geschäfte abgemacht und sich zur Reise bereitet;
+am Vorabend der Reise führte mich mein Vater in sein Schlafkämmerlein. Dort sah
+ich schöne Kleider und Waffen auf dem Tische liegen. Was meine Blicke aber noch
+mehr anzog, war ein großer Haufe Goldes, denn ich hatte noch nie so viel
+beieinander gesehen. Mein Vater umarmte mich und sagte: &bdquo;Siehe, mein
+Sohn, ich habe dir Kleider zu der Reise besorgt. Jene Waffen sind dein, es sind
+die nämlichen, die mir dein Großvater umhing, als ich in die Fremde auszog. Ich
+weiß, du kannst sie führen; gebrauche sie aber nie, als wenn du angegriffen
+wirst; dann aber schlage auch tüchtig drauf. Mein Vermögen ist nicht groß;
+siehe, ich habe es in drei Teile geteilt, einer davon ist dein; einer davon ist
+mein Unterhalt und Notpfennig, der dritte aber sei mir ein heiliges,
+unantastbares Gut, er diene dir in der Stunde der Not!&ldquo; So sprach mein
+alter Vater, und Tränen hingen ihm im Auge, vielleicht aus Ahnung, denn ich
+habe ihn nie wieder gesehen.
+</p>
+
+<p>
+Die Reise ging gut von Statten; wir waren bald im Lande der Franken angelangt,
+und sechs Tagreisen nachher kamen wir in die große Stadt Paris. Hier mietete
+mir mein fränkischer Freund ein Zimmer und riet mir, mein Geld, das in allem
+zweitausend Taler betrug, vorsichtig anzuwenden. Ich lebte drei Jahre in dieser
+Stadt und lernte, was ein tüchtiger Arzt wissen muß; ich müßte aber lügen, wenn
+ich sagte, daß ich gerne dort gewesen sei; denn die Sitten dieses Volkes
+gefielen mir nicht; auch hatte ich nur wenige gute Freunde dort, diese aber
+waren edle, junge Männer.
+</p>
+
+<p>
+Die Sehnsucht nach der Heimat wurde endlich mächtig in mir; in der ganzen Zeit
+hatte ich nichts von meinem Vater gehört, und ich ergriff daher eine günstige
+Gelegenheit, nach Hause zu kommen.
+</p>
+
+<p>
+Es ging nämlich eine Gesandtschaft aus Frankenland nach der Hohen Pforte. Ich
+verdingte mich als Wundarzt in das Gefolge des Gesandten und kam glücklich
+wieder nach Stambul. Das Haus meines Vaters aber fand ich verschlossen, und die
+Nachbarn staunten, als sie mich sahen, und sagten mir, mein Vater sei vor zwei
+Monaten gestorben. Jener Priester, der mich in meiner Jugend unterrichtet
+hatte, brachte nur den Schlüssel; allein und verlassen zog ich in das verödete
+Haus ein. Ich fand noch alles, wie es mein Vater verlassen hatte; nur das Gold,
+das er mir zu hinterlassen versprach, fehlte. Ich fragte den Priester darüber,
+und dieser verneigte sich und sprach: &bdquo;Euer Vater ist als ein heiliger
+Mann gestorben; denn er hat sein Gold der Kirche vermacht.&ldquo; Dies war und
+blieb mir unbegreiflich; doch was wollte ich machen; ich hatte keine Zeugen
+gegen den Priester und mußte froh sein, daß er nicht auch das Haus und die
+Waren meines Vaters als Vermächtnis angesehen hatte.
+</p>
+
+<p>
+Dies war das erste Unglück, das mich traf. Von jetzt an aber kam es Schlag auf
+Schlag. Mein Ruf als Arzt wollte sich gar nicht ausbreiten, weil ich mich
+schämte, den Marktschreier zu machen, und überall fehlte mir die Empfehlung
+meines Vaters, der mich bei den Reichsten und Vornehmsten eingeführt hätte, die
+jetzt nicht mehr an den armen Zaleukos dachten. Auch die Waren meines Vaters
+fanden keinen Abgang; denn die Kunden hatten sich nach seinem Tode verlaufen,
+und neue bekommt man nur langsam. Als ich einst trostlos über meine Lage
+nachdachte, fiel mir ein, daß ich oft in Franken Männer meines Volkes gesehen
+hatte, die das Land durchzogen und ihre Waren auf den Märkten der Städte
+auslegten; ich erinnerte mich, daß man ihnen gerne abkaufte, weil sie aus der
+Fremde kamen, und daß man bei solchem Handel das Hundertfache erwerben könne.
+Sogleich war auch mein Entschluß gefaßt. Ich verkaufte mein väterliches Haus,
+gab einen Teil des gelösten Geldes einem bewährten Freunde zum Aufbewahren, von
+dem übrigen aber kaufte ich, was man in Franken selten hat, wie Schals, seidene
+Zeuge, Salben und Öle, mietete einen Platz auf einem Schiff und trat so meine
+zweite Reise nach Franken an.
+</p>
+
+<p>
+Es schien, als ob das Glück, sobald ich die Schlösser der Dardanellen im Rücken
+hatte, mir wieder günstig geworden wäre. Unsere Fahrt war kurz und glücklich.
+Ich durchzog die großen und kleinen Städte der Franken und fand überall willige
+Käufer meiner Waren. Mein Freund in Stambul sandte mir immer wieder frische
+Vorräte, und ich wurde von Tag zu Tag wohlhabender. Als ich endlich so viel
+erspart hatte, daß ich glaubte, ein größeres Unternehmen wagen zu können, zog
+ich mit meinen Waren nach Italien. Etwas muß ich aber noch gestehen, was mir
+auch nicht wenig Geld einbrachte: ich nahm auch meine Arzneikunst zu Hilfe.
+Wenn ich in eine Stadt kam, ließ ich durch Zettel verkünden, daß ein
+griechischer Arzt da sei, der schon viele geheilt habe; und wahrlich, mein
+Balsam und meine Arzneien haben mir manche Zechine eingebracht.
+</p>
+
+<p>
+So war ich endlich nach der Stadt Florenz in Italien gekommen. Ich nahm mir
+vor, längere Zeit in dieser Stadt zu bleiben, teils weil sie mir so wohl
+gefiel, teils auch, weil ich mich von den Strapazen meines Umherziehens erholen
+wollte. Ich mietete mir ein Gewölbe in dem Stadtviertel St. Croce und nicht
+weit davon ein paar schöne Zimmer, die auf einen Altan führten, in einem
+Wirtshaus. Sogleich ließ ich auch meine Zettel umhertragen, die mich als Arzt
+und Kaufmann ankündigten. Ich hatte kaum mein Gewölbe eröffnet, so strömten
+auch die Käufer herzu, und ob ich gleich ein wenig hohe Preise hatte, so
+verkaufte ich doch mehr als andere, weil ich gefällig und freundlich gegen
+meine Kunden war. Ich hatte schon vier Tage vergnügt in Florenz verlebt, als
+ich eines Abends, da ich schon mein Gewölbe schließen und nur die Vorräte in
+meinen Salbenbüchsen nach meiner Gewohnheit noch einmal mustern wollte, in
+einer kleinen Büchse einen Zettel fand, den ich mich nicht erinnerte,
+hineingetan zu haben. Ich öffnete den Zettel und fand darin eine Einladung,
+diese Nacht Punkt zwölf Uhr auf der Brücke, die man Ponte vecchio heißt, mich
+einzufinden. Ich sann lange darüber nach, wer es wohl sein könnte, der mich
+dorthin einlud, da ich aber keine Seele in Florenz kannte, dachte ich, man
+werde mich vielleicht heimlich zu irgendeinem Kranken führen wollen, was schon
+öfter geschehen war. Ich beschloß also hinzugehen, doch hing ich zur Vorsicht
+den Säbel um, den mir einst mein Vater geschenkt hatte.
+</p>
+
+<p>
+Als es stark gegen Mitternacht ging, machte ich mich auf den Weg und kam bald
+auf die Ponte vecchio. Ich fand die Brücke verlassen und öde und beschloß zu
+warten, bis er erscheinen würde, der mich rief. Es war eine kalte Nacht; der
+Mond schien hell, und ich schaute hinab in die Wellen des Arno, die weithin im
+Mondlicht schimmerten. Auf den Kirchen der Stadt schlug es jetzt zwölf Uhr; ich
+richtete mich auf, und vor mir stand ein großer Mann, ganz in einen roten
+Mantel gehüllt, dessen einen Zipfel er vor das Gesicht hielt.
+</p>
+
+<p>
+Ich war von Anfang etwas erschrocken, weil er so plötzlich hinter mir stand,
+faßte mich aber sogleich wieder und sprach: &bdquo;Wenn Ihr mich habt hierher
+bestellt, so sagt an, was steht zu Eurem Befehl?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der Rotmantel wandte sich um und sagte langsam: &bdquo;Folge!&ldquo; Da ward
+mir&rsquo;s doch etwas unheimlich zumute, mit diesem Unbekannten allein zu
+gehen; ich blieb stehen und sprach: &bdquo;Nicht also, lieber Herr, wollet mir
+vorerst sagen, wohin; auch könnet Ihr mir Euer Gesicht ein wenig zeigen, daß
+ich sehe, ob Ihr Gutes mit mir vorhabt.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der Rote aber schien sich nicht darum zu kümmern. &bdquo;Wenn du nicht willst,
+Zaleukos, so bleibe!&ldquo; antwortete er und ging weiter.
+</p>
+
+<p>
+Da entbrannte mein Zorn. &bdquo;Meinet Ihr&ldquo;, rief ich aus, &bdquo;ein
+Mann wie ich lasse sich von jedem Narren foppen, und ich werde in dieser kalten
+Nacht umsonst gewartet haben?&ldquo; In drei Sprüngen hatte ich ihn erreicht,
+packte ihn an seinem Mantel und schrie noch lauter, indem ich die andere Hand
+an den Säbel legte; aber der Mantel blieb mir in der Hand, und der Unbekannte
+war um die nächste Ecke verschwunden. Mein Zorn legte sich nach und nach; ich
+hatte doch den Mantel, und dieser sollte mir schon den Schlüssel zu diesem
+wunderlichen Abenteuer geben.
+</p>
+
+<p>
+Ich hing ihn um und ging meinen Weg weiter nach Hause. Als ich kaum noch
+hundert Schritte davon entfernt war, streifte jemand dicht an mir vorüber und
+flüsterte in fränkischer Sprache: &bdquo;Nehmt Euch in acht, Graf, heute nacht
+ist nichts zu machen.&ldquo; Ehe ich mich aber umsehen konnte, war dieser
+Jemand schon vorbei, und ich sah nur noch einen Schatten an den Häusern
+hinschweben. Daß dieser Zuruf den Mantel und nicht mich anging, sah ich ein;
+doch gab er mir kein Licht über die Sache. Am anderen Morgen überlegte ich, was
+zu tun sei. Ich war von Anfang gesonnen, den Mantel ausrufen zu lassen, als
+hätte ich ihn gefunden; doch da konnte der Unbekannte ihn durch einen Dritten
+holen lassen, und ich hätte dann keinen Aufschluß über die Sache gehabt. Ich
+besah, indem ich so nachdachte, den Mantel näher. Er war von schwerem
+genuesischem Samt, purpurrot, mit astrachanischem Pelz verbrämt und reich mit
+Gold bestickt. Der prachtvolle Anblick des Mantels brachte mich auf einen
+Gedanken, den ich auszuführen beschloß.
+</p>
+
+<p>
+Ich trug ihn in mein Gewölbe und legte ihn zum Verkauf aus, setzte aber auf ihn
+einen so hohen Preis, daß ich gewiß war, keinen Käufer zu finden. Mein Zweck
+dabei war, jeden, der nach dem Pelz fragen würde, scharf ins Auge zu fassen;
+denn die Gestalt des Unbekannten, die sich mir nach Verlust des Mantels, wenn
+auch nur flüchtig, doch bestimmt zeigte, wollte ich aus Tausenden erkennen. Es
+fanden sich viele Kauflustige zu dem Mantel, dessen außerordentliche Schönheit
+alle Augen auf sich zog; aber keiner glich entfernt dem Unbekannten, keiner
+wollte den hohen Preis von zweihundert Zechinen dafür bezahlen. Auffallend war
+mir dabei, daß, wenn ich einen oder den anderen fragte, ob denn sonst kein
+solcher Mantel in Florenz sei, alle mit &bdquo;Nein!&ldquo; antworteten und
+versicherten, eine so kostbare und geschmackvolle Arbeit nie gesehen zu haben.
+</p>
+
+<p>
+Es wollte schon Abend werden, da kam endlich ein junger Mann, der schon oft bei
+mir gewesen war und auch heute viel auf den Mantel geboten hatte, warf einen
+Beutel mit Zechinen auf den Tisch und rief: &bdquo;Bei Gott! Zaleukos, ich muß
+deinen Mantel haben, und sollte ich zum Bettler darüber werden.&ldquo; Zugleich
+begann er, seine Goldstücke aufzuzählen. Ich kam in große Not; ich hatte den
+Mantel nur ausgehängt, um vielleicht die Blicke meines Unbekannten darauf zu
+ziehen, und jetzt kam ein junger Tor, um den ungeheuren Preis zu zahlen. Doch
+was blieb mir übrig; ich gab nach, denn es tat mir auf der anderen Seite der
+Gedanke wohl, für mein nächtliches Abenteuer so schön entschädigt zu werden.
+Der Jüngling hing sich den Mantel um und ging; er kehrte aber auf der Schwelle
+wieder um, indem er ein Papier, das am Mantel befestigt war, losmachte, mir
+zuwarf und sagte: &bdquo;Hier, Zaleukos, hängt etwas, das wohl nicht zu dem
+Mantel gehört.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Gleichgültig nahm ich den Zettel; aber siehe da, dort stand geschrieben:
+&bdquo;Bringe heute nacht um die bewußte Stunde den Mantel auf die Ponte
+vecchio, vierhundert Zechinen warten deiner.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Ich stand wie niedergedonnert. So hatte ich also mein Glück selbst verscherzt
+und meinen Zweck gänzlich verfehlt! Doch ich besann mich nicht lange, raffte
+die zweihundert Zechinen zusammen, sprang dem, der den Mantel gekauft hatte,
+nach und sprach: &bdquo;Nehmt Eure Zechinen wieder, guter Freund, und laßt mir
+den Mantel, ich kann ihn unmöglich hergeben.&ldquo; Dieser hielt die Sache von
+Anfang für Spaß, als er aber merkte, daß es Ernst war, geriet er in Zorn über
+meine Forderung, schalt mich einen Narren, und so kam es endlich zu Schlägen.
+Doch ich war so glücklich, im Handgemenge ihm den Mantel zu entreißen, und
+wollte schon mit ihm davoneilen, als der junge Mann die Polizei zu Hilfe rief
+und mich mit sich vor Gericht zog. Der Richter war sehr erstaunt über die
+Anklage und sprach meinem Gegner den Mantel zu. Ich aber bot dem Jünglinge
+zwanzig, fünfzig, achtzig, ja hundert Zechinen über seine zweihundert, wenn er
+mir den Mantel ließe. Was meine Bitten nicht vermochten, bewirkte mein Gold. Er
+nahm meine guten Zechinen, ich aber zog mit dem Mantel triumphierend ab und
+mußte mir gefallen lassen, daß man mich in ganz Florenz für einen Wahnsinnigen
+hielt. Doch die Meinung der Leute war mir gleichgültig; ich wußte es ja besser
+als sie, daß ich an dem Handel noch gewann.
+</p>
+
+<p>
+Mit Ungeduld erwartete ich die Nacht. Um dieselbe Zeit wie gestern ging ich,
+den Mantel unter dem Arm, auf die Ponte vecchio. Mit dem letzten Glockenschlag
+kam die Gestalt aus der Nacht heraus auf mich zu. Es war unverkennbar der Mann
+von gestern. &bdquo;Hast du den Mantel?&ldquo; wurde ich gefragt.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ja, Herr&ldquo;, antwortete ich, &bdquo;aber er kostete mich bar hundert
+Zechinen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich weiß es&ldquo;, entgegnete jener. &bdquo;Schau auf, hier sind
+vierhundert.&ldquo; Er trat mit mir an das breite Geländer der Brücke und
+zählte die Goldstücke hin. Vierhundert waren es; prächtig blitzten sie im
+Mondschein, ihr Glanz erfreute mein Herz, ach! Es ahnete nicht, daß es seine
+letzte Freude sein werde. Ich steckte mein Geld in die Tasche und wollte mir
+nun auch den gütigen Unbekannten recht betrachten; aber er hatte eine Larve vor
+dem Gesicht, aus der mich dunkle Augen furchtbar anblitzten.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich danke Euch, Herr, für Eure Güte&ldquo;, sprach ich zu ihm,
+&bdquo;was verlangt Ihr jetzt von mir? Das sage ich Euch aber vorher, daß es
+nichts Unrechtes sein darf.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Unnötige Sorge&ldquo;, antwortete er, indem er den Mantel um die
+Schultern legte, &bdquo;ich bedarf Eurer Hilfe als Arzt; doch nicht für einen
+Lebenden, sondern für einen Toten.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wie kann das sein?&ldquo; rief ich voll Verwunderung.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich kam mit meiner Schwester aus fernen Landen&ldquo;, erzählte er und
+winkte mir zugleich, ihm zu folgen. &bdquo;Ich wohnte hier mit ihr bei einem
+Freund meines Hauses. Meine Schwester starb gestern schnell an einer Krankheit,
+und die Verwandten wollen sie morgen begraben. Nach einer alten Sitte unserer
+Familie aber sollen alle in der Gruft der Väter ruhen; viele, die in fremden
+Landen starben, ruhen dennoch dort einbalsamiert. Meinen Verwandten gönne ich
+nun ihren Körper; meinem Vater aber muß ich wenigstens den Kopf seiner Tochter
+bringen, damit er sie noch einmal sehe.&ldquo; Diese Sitte, die Köpfe geliebter
+Anverwandten abzuschneiden, kam mir zwar etwas schrecklich vor; doch wagte ich
+nichts dagegen einzuwenden aus Furcht, den Unbekannten zu beleidigen. Ich sagte
+ihm daher, daß ich mit dem Einbalsamieren der Toten wohl umgehen könne, und bat
+ihn, mich zu der Verstorbenen zu führen. Doch konnte ich mich nicht enthalten
+zu fragen, warum denn dies alles so geheimnisvoll und in der Nacht geschehen
+müsse. Er antwortete mir, daß seine Anverwandten, die seine Absicht für grausam
+hielten, bei Tage ihn abhalten würden; sei aber nur erst einmal der Kopf
+abgenommen, so könnten sie wenig mehr darüber sagen. Er hätte mir zwar den Kopf
+bringen können; aber ein natürliches Gefühl halte ihn ab, ihn selbst
+abzunehmen.
+</p>
+
+<p>
+Wir waren indes bis an ein großes, prachtvolles Haus gekommen. Mein Begleiter
+zeigte es mir als das Ziel unseres nächtlichen Spazierganges. Wir gingen an dem
+Haupttor des Hauses vorbei, traten in eine kleine Pforte, die der Unbekannte
+sorgfältig hinter sich zumachte, und stiegen nun im Finstern eine enge
+Wendeltreppe hinan. Sie führte in einen spärlich erleuchteten Gang, aus welchem
+wir in ein Zimmer gelangten, das eine Lampe, die an der Decke befestigt war,
+erleuchtete.
+</p>
+
+<p>
+In diesem Gemach stand ein Bett, in welchem der Leichnam lag. Der Unbekannte
+wandte sein Gesicht ab und schien Tränen verbergen zu wollen. Er deutete nach
+dem Bett, befahl mir, mein Geschäft gut und schnell zu verrichten, und ging
+wieder zur Türe hinaus.
+</p>
+
+<p>
+Ich packte meine Messer, die ich als Arzt immer bei mir führte, aus und näherte
+mich dem Bett. Nur der Kopf war von der Leiche sichtbar; aber dieser war so
+schön, daß mich unwillkürlich das innigste Mitleiden ergriff. In langen
+Flechten hing das dunkle Haar herab, das Gesicht war bleich, die Augen
+geschlossen. Ich machte zuerst einen Einschnitt in die Haut, nach der Weise der
+Ärzte, wenn sie ein Glied abschneiden. Sodann nahm ich mein schärfstes Messer
+und schnitt mit einem Zug die Kehle durch. Aber welcher Schrecken! Die Tote
+schlug die Augen auf, schloß sie aber gleich wieder, und in einem tiefen
+Seufzer schien sie jetzt erst ihr Leben auszuhauchen. Zugleich schoß mir ein
+Strahl heißen Blutes aus der Wunde entgegen. Ich überzeugte mich, daß ich erst
+die Arme getötet hatte; denn daß sie tot sei, war kein Zweifel, da es von
+dieser Wunde keine Rettung gab. Ich stand einige Minuten in banger
+Beklommenheit über das, was geschehen war. Hatte der Rotmantel mich betrogen,
+oder war die Schwester vielleicht nur scheintot gewesen? Das letztere schien
+mir wahrscheinlicher. Aber ich durfte dem Bruder der Verstorbenen nicht sagen,
+daß vielleicht ein weniger rascher Schnitt sie erweckt hätte, ohne sie zu
+töten, darum wollte ich den Kopf vollends ablösen; aber noch einmal stöhnte die
+Sterbende, streckt sich in schmerzhafter Bewegung aus und starb. Da übermannte
+mich der Schrecken, und ich stürzte schaudernd aus dem Gemach. Aber draußen im
+Gang war es finster; denn die Lampe war verlöscht. Keine Spur von meinem
+Begleiter war zu entdecken, und ich mußte aufs ungefähr mich im Finstern an der
+Wand fortbewegen, um an die Wendeltreppe zu gelangen. Ich fand sie endlich und
+kam halb fallend, halb gleitend hinab. Auch unten war kein Mensch. Die Türe
+fand ich nur angelehnt, und ich atmete freier, als ich auf der Straße war; denn
+in dem Hause war mir ganz unheimlich geworden. Von Schrecken gespornt, rannte
+ich in meine Wohnung und begrub mich in die Polster meines Lagers, um das
+Schreckliche zu vergessen, das ich getan hatte. Aber der Schlaf floh mich, und
+erst der Morgen ermahnte mich wieder, mich zu fassen. Es war mir
+wahrscheinlich, daß der Mann, der mich zu dieser verruchten Tat, wie sie mir
+jetzt erschien, verführt hatte, mich nicht angeben würde. Ich entschloß mich,
+gleich in mein Gewölbe an mein Geschäft zu gehen und womöglich eine sorglose
+Miene anzunehmen. Aber ach! Ein neuer Umstand, den ich jetzt erst bemerkte,
+vermehrte noch meinen Kummer. Meine Mütze und mein Gürtel wie auch meine Messer
+fehlten mir, und ich war ungewiß, ob ich sie in dem Zimmer der Getöteten
+gelassen oder erst auf meiner Flucht verloren hatte. Leider schien das erste
+wahrscheinlicher, und man konnte mich also als Mörder entdecken.
+</p>
+
+<p>
+Ich öffnete zur gewöhnlichen Zeit mein Gewölbe. Mein Nachbar trat zu mir her,
+wie er alle Morgen zu tun pflegte, denn er war ein gesprächiger Mann.
+&bdquo;Ei, was sagt Ihr zu der schrecklichen Geschichte&ldquo;, hub er an,
+&bdquo;die heute nacht vorgefallen ist?&ldquo; Ich tat, als ob ich nichts
+wüßte. &bdquo;Wie, solltet Ihr nicht wissen, von was die ganze Stadt erfüllt
+ist? Nicht wissen, daß die schönste Blume von Florenz, Bianka, die Tochter des
+Gouverneurs, in dieser Nacht ermordet wurde? Ach! Ich sah sie gestern noch so
+heiter durch die Straßen fahren mit ihrem Bräutigam, denn heute hätten sie
+Hochzeit gehabt.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Jedes Wort des Nachbarn war mir ein Stich ins Herz. Und wie oft kehrte meine
+Marter wieder; denn jeder meiner Kunden erzählte mir die Geschichte, immer
+einer schrecklicher als der andere, und doch konnte keiner so Schreckliches
+sagen, als ich selbst gesehen hatte. Um Mittag ungefähr trat ein Mann vom
+Gericht in mein Gewölbe und bat mich, die Leute zu entfernen. &bdquo;Signore
+Zaleukos&ldquo;, sprach er, indem er die Sachen, die ich vermißte, hervorzog,
+&bdquo;gehören diese Sachen Euch zu?&ldquo; Ich besann mich, ob ich sie nicht
+gänzlich ableugnen sollte; aber als ich durch die halbgeöffnete Tür meinen Wirt
+und mehrere Bekannte, die wohl gegen mich zeugen konnten, erblickte, beschloß
+ich, die Sache nicht noch durch eine Lüge zu verschlimmern, und bekannte mich
+zu den vorgezeigten Dingen. Der Gerichtsmann bat mich, ihm zu folgen, und
+führte mich in ein großes Gebäude, das ich bald für das Gefängnis erkannte.
+Dort wies er mir bis auf weiteres ein Gemach an.
+</p>
+
+<p>
+Meine Lage war schrecklich, als ich so in der Einsamkeit darüber nachdachte.
+Der Gedanke, gemordet zu haben, wenn auch ohne Willen, kehrte immer wieder.
+Auch konnte ich mir nicht verhehlen, daß der Glanz des Goldes meine Sinne
+befangen gehalten hatte; sonst hätte ich nicht so blindlings in die Falle gehen
+können. Zwei Stunden nach meiner Verhaftung wurde ich aus meinem Gemach
+geführt. Mehrere Treppen ging es hinab, dann kam man in einen großen Saal. Um
+einen langen, schwarzbehängten Tisch saßen dort zwölf Männer, meistens Greise.
+An den Seiten des Saales zogen sich Bänke herab, angefüllt mit den Vornehmsten
+von Florenz; auf den Galerien, die in der Höhe angebracht waren, standen dicht
+gedrängt die Zuschauer. Als ich bis vor den schwarzen Tisch getreten war, erhob
+sich ein Mann mit finsterer, trauriger Miene; es war der Gouverneur. Er sprach
+zu den Versammelten, daß er als Vater in dieser Sache nicht richten könne und
+daß er seine Stelle für diesmal an den ältesten der Senatoren abtrete. Der
+älteste der Senatoren war ein Greis von wenigstens neunzig Jahren. Er stand
+gebückt, und seine Schläfen waren mit dünnem, weißem Haar umhängt; aber feurig
+brannten noch seine Augen, und seine Stimme war stark und sicher. Er hub an,
+mich zu fragen, ob ich den Mord gestehe. Ich bat ihn um Gehör und erzählte
+unerschrocken und mit vernehmlichen Stimme, was ich getan hatte und was ich
+wußte. Ich bemerkte, daß der Gouverneur während meiner Erzählung bald blaß,
+bald rot wurde, und als ich geschlossen, fuhr er wütend auf: &bdquo;Wie,
+Elender!&ldquo; rief er mir zu, &bdquo;so willst du ein Verbrechen, das du aus
+Habgier begangen, noch einem anderen aufbürden?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der Senator verwies ihm seine Unterbrechung, da er sich freiwillig seines
+Rechtes begeben habe; auch sei es gar nicht so erwiesen, daß ich aus Habgier
+gefrevelt; denn nach seiner eigenen Aussage sei ja der Getöteten nichts
+gestohlen worden. Ja, er ging noch weiter; er erklärte dem Gouverneur, daß er
+über das frühere Leben seiner Tochter Rechenschaft geben müsse; denn nur so
+könne man schließen, ob ich die Wahrheit gesagt habe oder nicht. Zugleich hob
+er für heute das Gericht auf, um sich, wie er sagte, aus den Papieren der
+Verstorbenen, die ihm der Gouverneur übergeben werde, Rat zu holen. Ich wurde
+wieder in mein Gefängnis zurückgeführt, wo ich einen schaurigen Tag verlebte,
+immer mit dem heißen Wunsch beschäftigt, daß man doch irgendeine Verbindung
+zwischen der Toten und dem Rotmantel entdecken möchte. Voll Hoffnung trat ich
+den anderen Tag in den Gerichtssaal. Es lagen mehrere Briefe auf dem Tisch. Der
+alte Senator fragte mich, ob sie meine Handschrift seien. Ich sah sie an und
+fand, daß sie von derselben Hand sein müßten wie jene beiden Zettel, die ich
+erhalten. Ich äußerte dies den Senatoren; aber man schien nicht darauf zu
+achten und antwortete, daß ich beides geschrieben haben könne und müsse; denn
+der Namenszug unter den Briefen sei unverkennbar ein Z, der Anfangsbuchstabe
+meines Namens. Die Briefe aber enthielten Drohungen an die Verstorbene und
+Warnungen vor der Hochzeit, die sie zu vollziehen im Begriff war.
+</p>
+
+<p>
+Der Gouverneur schien sonderbare Aufschlüsse in Hinsicht auf meine Person
+gegeben zu haben; denn man behandelte mich an diesem Tage mißtrauischer und
+strenger. Ich berief mich zu meiner Rechtfertigung auf meine Papiere, die sich
+in meinem Zimmer finden müßten; aber man sagte mir, man habe nachgesucht und
+nichts gefunden. So schwand mir am Schlusse dieses Gerichts alle Hoffnung, und
+als ich am dritten Tag wieder in den Saal geführt wurde, las man mir das Urteil
+vor, daß ich, eines vorsätzlichen Mordes überwiesen, zum Tode verurteilt sei.
+Dahin also war es mit mir gekommen. Verlassen von allem, was mir auf Erden noch
+teuer war, fern von meiner Heimat, sollte ich unschuldig in der Blüte meiner
+Jahre vom Beile sterben.
+</p>
+
+<p>
+Ich saß am Abend dieses schrecklichen Tages, der über mein Schicksal
+entschieden hatte, in meinem einsamen Kerker; meine Hoffnungen waren dahin,
+meine Gedanken ernsthaft auf den Tod gerichtet. Da tat sich die Türe meines
+Gefängnisses auf, und ein Mann trat herein, der mich lange schweigend
+betrachtete. &bdquo;So finde ich dich wieder, Zaleukos?&ldquo; sagte er; ich
+hatte ihn bei dem matten Schein meiner Lampe nicht erkannt, aber der Klang
+seiner Stimme erweckte alte Erinnerungen in mir, es war Valetty, einer jener
+wenigen Freunde, die ich in der Stadt Paris während meiner Studien kannte. Er
+sagte, daß er zufällig nach Florenz gekommen sei, wo sein Vater als angesehener
+Mann wohne, er habe von meiner Geschichte gehört und sei gekommen, um mich noch
+einmal zu sehen und von mir selbst zu erfahren, wie ich mich so schwer habe
+verschulden können. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte. Er schien darüber
+sehr verwundert und beschwor mich, ihm, meinem einzigen Freunde, alles zu
+sagen, um nicht mit einer Lüge von hinnen zu gehen. Ich schwor ihm mit dem
+teuersten Eid, daß ich wahr gesprochen und daß keine andere Schuld mich drücke,
+als daß ich, von dem Glanze des Goldes geblendet, das Unwahrscheinliche der
+Erzählung des Unbekannten nicht erkannt habe. &bdquo;So hast du Bianka nicht
+gekannt?&ldquo; fragte jener. Ich beteuerte ihm, sie nie gesehen zu haben.
+Valetty erzählte mir nun, daß ein tiefes Geheimnis auf der Tat liege, daß der
+Gouverneur meine Verurteilung sehr hastig betrieben habe, und es sei nun ein
+Gerücht unter die Leute gekommen, daß ich Bianka schon längst gekannt und aus
+Rache über ihre Heirat mit einem anderen sie ermordet habe. Ich bemerkte ihm,
+daß dies alles ganz auf den Rotmantel passe, daß ich aber seine Teilnahme an
+der Tat mit nichts beweisen könne. Valetty umarmte mich weinend und versprach
+mir, alles zu tun, um wenigstens mein Leben zu retten. Ich hatte wenig
+Hoffnung; doch wußte ich, daß Valetty ein weiser und der Gesetze kundiger Mann
+sei und daß er alles tun werde, mich zu retten. Zwei lange Tage war ich in
+Ungewißheit: Endlich erschien auch Valetty. &bdquo;Ich bringe Trost, wenn auch
+einen schmerzlichen. Du wirst leben und frei sein; aber mit Verlust einer
+Hand.&ldquo; Gerührt dankte ich meinem Freunde für mein Leben. Er sagte mir,
+daß der Gouverneur unerbittlich gewesen sei, die Sache noch einmal untersuchen
+zu lassen; daß er aber endlich, um nicht ungerecht zu erscheinen, bewilligt
+habe, wenn man in den Büchern der florentinischen Geschichte einen ähnlichen
+Fall finde, so solle meine Strafe sich nach der Strafe, die dort ausgesprochen
+sei, richten. Er und sein Vater haben nun Tag und Nacht in den alten Büchern
+gelesen und endlich einen ganz dem meinigen ähnlichen Fall gefunden. Dort laute
+die Strafe: Es soll ihm die linke Hand abgehauen, seine Güter eingezogen, er
+selbst auf ewig verbannt werden. So laute jetzt auch meine Strafe, und ich
+solle mich jetzt bereiten zu der schmerzhaften Stunde, die meiner warte. Ich
+will euch nicht diese schreckliche Stunde vor das Auge führen, wo ich auf
+offenem Markt meine Hand auf den Block legte, wo mein eigenes Blut in weitem
+Bogen mich überströmte!
+</p>
+
+<p>
+Valetty nahm mich in sein Haus auf, bis ich genesen war, dann versah er mich
+edelmütig mit Reisegeld; denn alles, was ich mir so mühsam erworben, war eine
+Beute des Gerichts geworden. Ich reiste von Florenz nach Sizilien und von da
+mit dem ersten Schiff, das ich fand, nach Konstantinopel. Meine Hoffnung war
+auf die Summe gerichtet, die ich meinem Freunde übergeben hatte, auch bat ich
+ihn, bei ihm wohnen zu dürfen; aber wie erstaunte ich, als dieser mich fragte,
+warum ich denn nicht mein Haus beziehe! Er sagte mir, daß ein fremder Mann
+unter meinem Namen ein Haus in dem Quartier der Griechen gekauft habe; derselbe
+habe auch den Nachbarn gesagt, daß ich bald selbst kommen werde. Ich ging
+sogleich mit meinem Freunde dahin und wurde von allen meinen Bekannten freudig
+empfangen. Ein alter Kaufmann gab mir einen Brief, den der Mann, der für mich
+gekauft hatte, hiergelassen habe.
+</p>
+
+<p>
+Ich las: &bdquo;Zaleukos! Zwei Hände stehen bereit, rastlos zu schaffen, daß Du
+nicht fühlest den Verlust der einen. Das Haus, das Du siehest, und alles, was
+darin ist, ist Dein, und alle Jahre wird man Dir so viel reichen, daß Du zu den
+Reichen Deines Volkes gehören wirst. Mögest Du dem vergeben, der unglücklicher
+ist als Du.&ldquo; Ich konnte ahnen, wer es geschrieben, und der Kaufmann sagte
+mir auf meine Frage: Es sei ein Mann gewesen, den er für einen Franken
+gehalten, er habe einen roten Mantel angehabt. Ich wußte genug, um mir zu
+gestehen, daß der Unbekannte doch nicht ganz von aller edlen Gesinnung entblößt
+sein müsse. In meinem neuen Haus fand ich alles aufs beste eingerichtet, auch
+ein Gewölbe mit Waren, schöner als ich sie je gehabt. Zehn Jahre sind seitdem
+verstrichen; mehr aus alter Gewohnheit, als weil ich es nötig habe, setze ich
+meine Handelsreisen fort; doch habe ich jenes Land, wo ich so unglücklich
+wurde, nie mehr gesehen. Jedes Jahr erhielt ich seitdem tausend Goldstücke;
+aber, wenn es mir auch Freude macht, jenen Unglücklichen edel zu wissen, so
+kann er mir doch den Kummer meiner Seele nicht abkaufen, denn ewig lebt in mir
+das grauenvolle Bild der ermordeten Bianka.
+</p>
+
+<hr />
+
+<p>
+Zaleukos, der griechische Kaufmann, hatte seine Geschichte geendigt. Mit großer
+Teilnahme hatten ihm die übrigen zugehört, besonders der Fremde schien sehr
+davon ergriffen zu sein; er hatte einigemal tief geseufzt, und Muley schien es
+sogar, als habe er einmal Tränen in den Augen gehabt. Sie besprachen sich noch
+lange Zeit über diese Geschichte.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Und haßt Ihr den Unbekannten nicht, der Euch so schnöd&rsquo; um ein so
+edles Glied Eures Körpers, der selbst Euer Leben in Gefahr brachte?&ldquo;
+fragte der Fremde.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wohl gab es in früherer Zeit Stunden&ldquo;, antwortete der Grieche,
+&bdquo;in denen mein Herz ihn vor Gott angeklagt, daß er diesen Kummer über
+mich gebracht und mein Leben vergiftet habe; aber ich fand Trost in dem Glauben
+meiner Väter, und dieser befiehlt mir, meine Feinde zu lieben; auch ist er wohl
+noch unglücklicher als ich.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ihr seid ein edler Mann!&ldquo; rief der Fremde und drückte gerührt dem
+Griechen die Hand.
+</p>
+
+<p>
+Der Anführer der Wache unterbrach sie aber in ihrem Gespräch. Er trat mit
+besorgter Miene in das Zelt und berichtete, daß man sich nicht der Ruhe
+überlassen dürfe; denn hier sei die Stelle, wo gewöhnlich die Karawanen
+angegriffen würden, auch glaubten seine Wachen, in der Entfernung mehrere
+Reiter zu sehen.
+</p>
+
+<p>
+Die Kaufleute waren sehr bestürzt über diese Nachricht; Selim, der Fremde, aber
+wunderte sich über ihre Bestürzung und meinte, daß sie so gut geschätzt wären,
+daß sie einen Trupp räuberischer Araber nicht zu fürchten brauchten.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ja, Herr!&ldquo; entgegnete ihm der Anführer der Wache. &bdquo;Wenn es
+nur solches Gesindel wäre, könnte man sich ohne Sorge zur Ruhe legen; aber seit
+einiger Zeit zeigt sich der furchtbare Orbasan wieder, und da gilt es, auf
+seiner Hut zu sein.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der Fremde fragte, wer denn dieser Orbasan sei, und Achmet, der alte Kaufmann,
+antwortete ihm: &bdquo;Es gehen allerlei Sagen unter dem Volke über diesen
+wunderbaren Mann. Die einen halten ihn für ein übermenschliches Wesen, weil er
+oft mit fünf bis sechs Männern zumal einen Kampf besteht, andere halten ihn für
+einen tapferen Franken, den das Unglück in diese Gegend verschlagen habe; von
+allem aber ist nur so viel gewiß, daß er ein verruchter Mörder und Dieb
+ist.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Das könnt Ihr aber doch nicht behaupten&ldquo;, entgegnete ihm Lezah,
+einer der Kaufleute. &bdquo;Wenn er auch ein Räuber ist, so ist er doch ein
+edler Mann, und als solcher hat er sich an meinem Bruder bewiesen, wie ich Euch
+erzählen könnte. Er hat seinen ganzen Stamm zu geordneten Menschen gemacht, und
+so lange er die Wüste durchstreift, darf kein anderer Stamm es wagen, sich
+sehen zu lassen. Auch raubt er nicht wie andere, sondern er erhebt nur ein
+Schutzgeld von den Karawanen, und wer ihm dieses willig bezahlt, der ziehet
+ungefährdet weiter; denn Orbasan ist der Herr der Wüste.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Also sprachen unter sich die Reisenden im Zelte; die Wachen aber, die um den
+Lagerplatz ausgestellt waren, begannen unruhig zu werden. Ein ziemlich
+bedeutender Haufe bewaffneter Reiter zeigte sich in der Entfernung einer halben
+Stunde; sie schienen gerade auf das Lager zuzureiten. Einer der Männer von der
+Wache ging daher in das Zelt, um zu verkünden, daß sie wahrscheinlich
+angegriffen würden. Die Kaufleute berieten sich untereinander, was zu tun sei,
+ob man ihnen entgegengehen oder den Angriff abwarten solle. Achmet und die zwei
+älteren Kaufleute wollten das letztere, der feurige Muley aber und Zaleukos
+verlangten das erstere und riefen den Fremden zu ihrem Beistand auf. Dieser zog
+ruhig ein kleines, blaues Tuch mit roten Sternen aus seinem Gürtel hervor, band
+es an eine Lanze und befahl einem der Sklaven, es auf das Zelt zu stecken; er
+setze sein Leben zum Pfand, sagte er, die Reiter werden, wenn sie dieses
+Zeichen sehen, ruhig vorüberziehen. Muley glaubte nicht an den Erfolg, der
+Sklave aber steckte die Lanze auf das Zelt. Inzwischen hatten alle, die im
+Lager waren, zu den Waffen gegriffen und sahen in gespannter Erwartung den
+Reitern entgegen. Doch diese schienen das Zeichen auf dem Zelte erblickt zu
+haben, sie wichen plötzlich von ihrer Richtung auf das Lager ab und zogen in
+einem großen Bogen auf der Seite hin.
+</p>
+
+<p>
+Verwundert standen einige Augenblicke die Reisenden und sahen bald auf die
+Reiter, bald auf den Fremden. Dieser stand ganz gleichgültig, wie wenn nichts
+vorgefallen wäre, vor dem Zelte und blickte über die Ebene hin. Endlich brach
+Muley das Stillschweigen. &bdquo;Wer bist du, mächtiger Fremdling&ldquo;, rief
+er aus, &bdquo;der du die wilden Horden der Wüste durch einen Wink
+bezähmst?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ihr schlagt meine Kunst höher an, als sie ist&ldquo;, antwortete Selim
+Baruch. &bdquo;Ich habe mich mit diesem Zeichen versehen, als ich der
+Gefangenschaft entfloh; was es zu bedeuten hat, weiß ich selbst nicht; nur so
+viel weiß ich, daß, wer mit diesem Zeichen reiset, unter mächtigem Schutze
+steht.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Kaufleute dankten dem Fremden und nannten ihn ihren Erretter. Wirklich war
+auch die Anzahl der Reiter so groß gewesen, daß wohl die Karawane nicht lange
+hätte Widerstand leisten können.
+</p>
+
+<p>
+Mit leichterem Herzen begab man sich jetzt zur Ruhe, und als die Sonne zu
+sinken begann und der Abendwind über die Sandebene hinstrich, brachen sie auf
+und zogen weiter.
+</p>
+
+<p>
+Am nächsten Tage lagerten sie ungefähr nur noch eine Tagreise von dem Ausgang
+der Wüste entfernt. Als sich die Reisenden wieder in dem großen Zelt versammelt
+hatten, nahm Lezah, der Kaufmann, das Wort:
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich habe euch gestern gesagt, daß der gefürchtete Orbasan ein edler Mann
+sei, erlaubt mir, daß ich es euch heute durch die Erzählung der Schicksale
+meines Bruders beweise. Mein Vater war Kadi in Akara. Er hatte drei Kinder. Ich
+war der Älteste, ein Bruder und eine Schwester waren bei weitem jünger als ich.
+Als ich zwanzig Jahre alt war, rief mich ein Bruder meines Vaters zu sich. Er
+setzte mich zum Erben seiner Güter ein, mit der Bedingung, daß ich bis zu
+seinem Tode bei ihm bleibe. Aber er erreichte ein hohes Alter, so daß ich erst
+vor zwei Jahren in meine Heimat zurückkehrte und nichts davon wußte, welch
+schreckliches Schicksal indes mein Haus betroffen und wie gütig Allah es
+gewendet hatte.&ldquo;
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap06"></a>Die Errettung Fatmes</h2>
+
+<p class="center">
+Wilhelm Hauff
+</p>
+
+<p>
+Mein Bruder Mustapha und meine Schwester Fatme waren beinahe in gleichem Alter;
+jener hatte höchstens zwei Jahre voraus. Sie liebten einander innig und trugen
+vereint alles bei, was unserem kränklichen Vater die Last seines Alters
+erleichtern konnte. An Fatmes sechzehntem Geburtstage veranstaltete der Bruder
+ein Fest. Er ließ alle ihre Gespielinnen einladen, setzte ihnen in dem Garten
+des Vaters ausgesuchte Speisen vor, und als es Abend wurde, lud er sie ein, auf
+einer Barke, die er gemietet und festlich geschmückt hatte, ein wenig hinaus in
+die See zu fahren. Fatme und ihre Gespielinnen willigten mit Freuden ein; denn
+der Abend war schön, und die Stadt gewährte besonders abends, von dem Meere aus
+betrachtet, einen herrlichen Anblick. Den Mädchen aber gefiel es so gut auf der
+Barke, daß sie meinen Bruder bewogen, immer weiter in die See hinauszufahren.
+Mustapha gab aber ungern nach, weil sich vor einigen Tagen ein Korsar hatte
+sehen lassen. Nicht weit von der Stadt zieht sich ein Vorgebirge in das Meer.
+Dorthin wollten noch die Mädchen, um von da die Sonne in das Meer sinken zu
+sehen. Als sie um das Vorgebirg&rsquo; herumruderten, sahen sie in geringer
+Entfernung eine Barke, die mit Bewaffneten besetzt war. Nichts Gutes ahnend,
+befahl mein Bruder den Ruderern, sein Schiff zu drehen und dem Lande
+zuzurudern. Wirklich schien sich auch seine Besorgnis zu bestätigen; denn jene
+Barke kam der meines Bruders schnell nach, überholte sie, da sie mehr Ruder
+hatte, und hielt sich immer zwischen dem Land, und unserer Barke. Die Mädchen
+aber, als sie die Gefahr erkannten, in der sie schwebten, sprangen auf und
+schrien und klagten; umsonst suchte sie Mustapha zu beruhigen, umsonst stellte
+er ihnen vor, ruhig zu bleiben, weil sie durch ihr Hin- und Herrennen die Barke
+in Gefahr brächten umzuschlagen. Es half nichts, und da sie sich endlich bei
+Annäherung des anderen Bootes alle auf die hintere Seite der Barke stürzten,
+schlug diese um. Indessen aber hatte man vom Land aus die Bewegungen des
+fremden Bootes beobachtet, und da man schon seit einiger Zeit Besorgnisse wegen
+Korsaren hegte, hatte dieses Boot Verdacht erregt, und mehrere Barken stießen
+vom Lande, um den Unsrigen beizustehen. Aber sie kamen nur noch zu rechter
+Zeit, um die Untersinkenden aufzunehmen. In der Verwirrung war das feindliche
+Boot entwischt, auf den beiden Barken aber, welche die Geretteten aufgenommen
+hatten, war man ungewiß, ob alle gerettet seien. Man näherte sich gegenseitig,
+und ach! Es fand sich, daß meine Schwester und eine ihrer Gespielinnen fehlten;
+zugleich entdeckte man aber einen Fremden in einer der Barken, den niemand
+kannte. Auf die Drohungen Mustaphas gestand er, daß er zu dem feindlichen
+Schiff, das zwei Meilen ostwärts vor Anker liege, gehöre, und daß ihn seine
+Gefährten auf ihrer eiligen Flucht im Stich gelassen hätten, indem er im
+Begriff gewesen sei, die Mädchen auffischen zu helfen; auch sagte er aus, daß
+er gesehen habe, wie man zwei derselben in das Schiff gezogen.
+</p>
+
+<p>
+Der Schmerz meines alten Vaters war grenzenlos, aber auch Mustapha war bis zum
+Tod betrübt, denn nicht nur, daß seine geliebte Schwester verloren war und daß
+er sich anklagte, an ihrem Unglück schuld zu sein&mdash;jene Freundin Fatmes,
+die ihr Unglück teilte, war von ihren Eltern ihm zur Gattin zugesagt gewesen,
+und nur unserem Vater hatte er es noch nicht zu gestehen gewagt, weil ihre
+Eltern arm und von geringer Abkunft waren. Mein Vater aber war ein strenger
+Mann; als sein Schmerz sich ein wenig gelegt hatte, ließ er Mustapha vor sich
+kommen und sprach zu ihm: &bdquo;Deine Torheit hat mir den Trost meines Alters
+und die Freude meiner Augen geraubt. Gehe hin, ich verbanne dich auf ewig von
+meinem Angesicht, ich fluche dir und deinen Nachkommen, aber nur, wenn du mir
+Fatme wiederbringst, soll dein Haupt rein sein von dem Fluche des
+Vaters.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Dies hatte mein armer Bruder nicht erwartet; schon vorher hatte er sich
+entschlossen gehabt, seine Schwester und ihre Freundin aufzusuchen, und wollte
+sich nur noch den Segen des Vaters dazu erbitten, und jetzt schickte er ihn,
+mit dem Fluch beladen, in die Welt. Aber hatte ihn jener Jammer vorher gebeugt,
+so stählte jetzt die Fülle des Unglücks, das er nicht verdient hatte, seinen
+Mut.
+</p>
+
+<p>
+Er ging zu dem gefangenen Seeräuber und befragte ihn, wohin die Fahrt seines
+Schiffes ginge, und erfuhr, daß sie Sklavenhandel trieben und gewöhnlich in
+Balsora großen Markt hielten.
+</p>
+
+<p>
+Als er wieder nach Hause kam, um sich zur Reise anzuschicken, schien sich der
+Zorn des Vaters ein wenig gelegt zu haben, denn er sandte ihm einen Beutel mit
+Gold zur Unterstützung auf der Reise. Mustapha aber nahm weinend von den Eltern
+Zoraides, so hieß seine geliebte Braut, Abschied und machte sich auf den Weg
+nach Balsora.
+</p>
+
+<p>
+Mustapha machte die Reise zu Land, weil von unserer kleinen Stadt aus nicht
+gerade ein Schiff nach Balsora ging. Er mußte daher sehr starke Tagreisen
+machen, um nicht zu lange nach den Seeräubern nach Balsora zu kommen; doch da
+er ein gutes Roß und kein Gepäck hatte, konnte er hoffen, diese Stadt am Ende
+des sechsten Tages zu erreichen. Aber am Abend des vierten Tages, als er ganz
+allein seines Weges ritt, fielen ihn plötzlich drei Männer an. Da er merkte,
+daß sie gut bewaffnet und stark seien und daß es mehr auf sein Geld und sein
+Roß als auf sein Leben abgesehen war, so rief er ihnen zu, daß er sich ihnen
+ergeben wolle. Sie stiegen von ihren Pferden ab und banden ihm die Füße unter
+dem Bauch seines Tieres zusammen; ihn selbst aber nahmen sie in die Mitte und
+trabten, indem einer den Zügel seines Pferdes ergriff, schnell mit ihm davon,
+ohne jedoch ein Wort zu sprechen.
+</p>
+
+<p>
+Mustapha gab sich einer dumpfen Verzweiflung hin, der Fluch seines Vaters
+schien schon jetzt an dem Unglücklichen in Erfüllung zu gehen, und wie konnte
+er hoffen, seine Schwester und Zoraide zu retten, wenn er, aller Mittel
+beraubt, nur sein ärmliches Leben zu ihrer Befreiung aufwenden konnte. Mustapha
+und seine stummen Begleiter mochten wohl eine Stunde geritten sein, als sie in
+ein kleines Seitental einbogen. Das Tälchen war von hohen Bäumen eingefaßt; ein
+weicher dunkelgrüner Rasen, ein Bach, der schnell durch seine Mitte hinrollte,
+luden zur Ruhe ein. Wirklich sah er auch fünfzehn bis zwanzig Zelte dort
+aufgeschlagen; an den Pflöcken der Zelte waren Kamele und schöne Pferde
+angebunden, aus einem der Zelte hervor tönte die lustige Weise einer Zither und
+zweier schöner Männerstimmen. Meinem Bruder schien es, als ob Leute, die ein so
+fröhliches Lagerplätzchen sich erwählt hatten, nichts Böses gegen ihn im Sinne
+haben könnten, und er folgte also ohne Bangigkeit dem Ruf seiner Führer, die,
+als sie seine Bande gelöst hatten, ihm winkten, abzusteigen. Man führte ihn in
+ein Zelt, das größer als die übrigen und im Innern hübsch, fast zierlich
+aufgeputzt war. Prächtige, goldbestickte Polster, gewirkte Fußteppiche,
+übergoldete Rauchpfannen hätten anderswo Reichtum und Wohlleben verraten; hier
+schienen sie nur kühner Raub. Auf einem der Polster saß ein alter kleiner Mann;
+sein Gesicht war häßlich, seine Haut schwarzbraun und glänzend, und ein
+widriger Zug von tückischer Schlauheit um Augen und Mund machte seinen Anblick
+verhaßt. Obgleich sich dieser Mann einiges Ansehen zu geben suchte, so merkte
+doch Mustapha bald, daß nicht für ihn das Zelt so reich geschmückt sei, und die
+Unterredung seiner Führer schien seine Bemerkung zu bestätigen. &bdquo;Wo ist
+der Starke?&ldquo; fragten sie den Kleinen.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Er ist auf der kleinen Jagd&ldquo;, antwortete jener, &bdquo;aber er hat
+mir aufgetragen, seine Stelle zu versehen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Das hat er nicht gescheit gemacht&ldquo;, entgegnete einer der Räuber,
+&bdquo;denn es muß sich bald entscheiden, ob dieser Hund sterben oder zahlen
+soll, und das weiß der Starke besser als du.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der kleine Mann erhob sich im Gefühl seiner Würde, streckte sich lang aus, um
+mit der Spitze seiner Hand das Ohr seines Gegners zu erreichen, denn er schien
+Lust zu haben, sich durch einen Schlag zu rächen, als er aber sah, daß seine
+Bemühung fruchtlos sei, fing er an zu schimpfen (und wahrlich! Die anderen
+blieben ihm nichts schuldig), daß das Zelt von ihrem Streit erdröhnte. Da tat
+sich auf einmal die Türe des Zeltes auf, und herein trat ein hoher, stattlicher
+Mann, jung und schön wie ein Perserprinz; seine Kleidung und seine Waffen
+waren, außer einem reichbesetzten Dolch und einem glänzenden Säbel, gering und
+einfach; aber sein ernstes Auge, sein ganzer Anstand gebot Achtung, ohne Furcht
+einzuflößen.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wer ist&rsquo;s, der es wagt, in meinem Zelte Streit zu beginnen?&ldquo;
+rief er den Erschrockenen zu. Eine Zeitlang herrschte tiefe Stille; endlich
+erzählte einer von denen, die Mustapha hergebracht hatten, wie es gegangen sei.
+Da schien sich das Gesicht &bdquo;des Starken&ldquo;, wie sie ihn nannten, vor
+Zorn zu röten. &bdquo;Wann hätte ich dich je an meine Stelle gesetzt,
+Hassan?&ldquo; schrie er mit furchtbarer Stimme dem Kleinen zu. Dieser zog sich
+vor Furcht in sich selbst zusammen, daß er noch viel kleiner aussah als zuvor,
+und schlich sich der Zelttüre zu. Ein hinlänglicher Tritt des Starken machte,
+daß er in einem großen sonderbaren Sprung zur Zelttüre hinausflog.
+</p>
+
+<p>
+Als der Kleine verschwunden war, führten die drei Männer Mustapha vor den Herrn
+des Zeltes, der sich indes auf die Polster gelegt hatte. &bdquo;Hier bringen
+wir den, welchen du uns zu fangen befohlen hast.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Jener blickte den Gefangenen lange an und sprach sodann: &bdquo;Bassa von
+Sulieika! Dein eigenes Gewissen wird dir sagen, warum du vor Orbasan
+stehst.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Als mein Bruder dies hörte, warf er sich nieder vor jenem und antwortete:
+&bdquo;O Herr! Du scheinst im Irrtum zu sein. Ich bin ein armer Unglücklicher,
+aber nicht der Bassa, den du suchst!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Alle im Zelt waren über diese Rede erstaunt. Der Herr des Zeltes aber sprach:
+&bdquo;Es kann dir wenig helfen, dich zu verstellen; denn ich will die Leute
+vorführen, die dich wohl kennen.&ldquo; Er befahl, Zuleima vorzufahren. Man
+brachte ein altes Weib in das Zelt, das auf die Frage, ob sie in meinem Bruder
+nicht den Bassa von Sulieika erkenne, antwortete: &bdquo;Jawohl!&ldquo; Und sie
+schwöre es beim Grab des Propheten, es sei der Bassa und kein anderer.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Siehst du, Erbärmlicher, wie deine List zu Wasser geworden ist!&ldquo;
+begann zürnend der Starke. &bdquo;Du bist mir zu elend, als daß ich meinen
+guten Dolch mit deinem Blut besudeln sollte, aber an den Schweif meines Rosses
+will ich dich binden, morgen, wenn die Sonne aufgeht, und durch die Wälder mit
+dir jagen, bis sie scheidet hinter die Hügel von Sulieika!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Da sank meinem armen Bruder der Mut. &bdquo;Das ist der Fluch meines harten
+Vaters, der mich zum schmachvollen Tode treibt&ldquo;, rief er weinend,
+&bdquo;und auch du bist verloren, süße Schwester, auch du, Zoraide!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Deine Verstellung hilft dir nichts&ldquo;, sprach einer der Räuber,
+indem er ihm die Hände auf den Rücken band, &bdquo;mach, daß du aus dem Zelte
+kommst! Denn der Starke beißt sich in die Lippen und blickt nach seinem Dolch.
+Wenn du noch eine Nacht leben willst, so komm!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Als die Räuber gerade meinen Bruder aus dem Zelt führen wollten, begegneten sie
+drei anderen, die einen Gefangenen vor sich hintrieben. Sie traten mit ihm ein.
+&bdquo;Hier bringen wir den Bassa, wie du uns befohlen hast&ldquo;, sprachen
+sie und führten den Gefangenen vor das Polster des Starken. Als der Gefangene
+dorthin geführt wurde, hatte mein Bruder Gelegenheit, ihn zu betrachten, und
+ihm selbst fiel die Ähnlichkeit auf, die dieser Mann mit ihm hatte, nur war er
+dunkler im Gesicht und hatte einen schwärzeren Bart.
+</p>
+
+<p>
+Der Starke schien sehr erstaunt über die Erscheinung des zweiten Gefangenen.
+&bdquo;Wer von euch ist denn der Rechte?&ldquo; sprach er, indem er bald meinen
+Bruder, bald den anderen Mann ansah.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wenn du den Bassa von Sulieika meinst&ldquo;, antwortete in stolzem Ton
+der Gefangene, &bdquo;der bin ich!&ldquo; Der Starke sah ihn lange mit seinem
+ernsten, furchtbaren Blick an; dann winkte er schweigend, den Bassa
+wegzuführen.
+</p>
+
+<p>
+Als dies geschehen war, ging er auf meinen Bruder zu, zerschnitt seine Bande
+mit dem Dolch und winkte ihm, sich zu ihm aufs Polster zu setzen. &bdquo;Es tut
+mir leid, Fremdling&ldquo;, sagte er, &bdquo;daß ich dich für jenes Ungeheuer
+hielt; schreibe es aber einer sonderbaren Fügung des Himmels zu, die dich
+gerade in der Stunde, welche dem Untergang jenes Verruchten geweiht war, in die
+Hände meiner Brüder führte.&ldquo; Mein Bruder bat ihn um die einzige Gunst,
+ihn gleich wieder weiterreisen zu lassen, weil jeder Aufschub ihm verderblich
+werden könne. Der Starke erkundigte sich nach seinen eiligen Geschäften, und
+als ihm Mustapha alles erzählt hatte, überredete ihn jener, diese Nacht in
+seinem Zelt zu bleiben, er und sein Roß werden der Ruhe bedürfen; den folgenden
+Tag aber wolle er ihm einen Weg zeigen, der ihn in anderthalb Tagen nach
+Balsora bringe&mdash;Mein Bruder schlug ein, wurde trefflich bewirtet und
+schlief sanft bis zum Morgen in dem Zelt des Räubers.
+</p>
+
+<p>
+Als er aufgewacht war, sah er sich ganz allein im Zelt; vor dem Vorhang des
+Zeltes aber hörte er mehrere Stimmen zusammen sprechen, die dem Herrn des
+Zeltes und dem kleinen schwarzbraunen Mann anzugehören schienen. Er lauschte
+ein wenig und hörte zu seinem Schrecken, daß der Kleine dringend den anderen
+aufforderte, den Fremden zu töten, weil er, wenn er freigelassen würde, sie
+alle verraten könnte.
+</p>
+
+<p>
+Mustapha merkte gleich, daß der Kleine ihm gram sei, weil er die Ursache war,
+daß er gestern so übel behandelt wurde; der Starke schien sich einige
+Augenblicke zu besinnen. &bdquo;Nein&ldquo;, sprach er, &bdquo;er ist mein
+Gastfreund, und das Gastrecht ist mir heilig; auch sieht er mir nicht aus, als
+ob er uns verraten wollte.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Als er so gesprochen, schlug er den Vorhang zurück und trat ein. &bdquo;Friede
+sei mit dir, Mustapha!&ldquo; sprach er, &bdquo;laß uns den Morgentrunk kosten,
+und rüste dich dann zum Aufbruch!&ldquo; Er reichte meinem Bruder einen Becher
+Sorbet, und als sie getrunken hatten, zäumten sie die Pferde auf, und wahrlich,
+mit leichterem Herzen, als er gekommen war, schwang sich Mustapha aufs Pferd.
+Sie hatten bald die Zelte im Rücken und schlugen dann einen breiten Pfad ein,
+der in den Wald führte. Der Starke erzählte meinem Bruder, daß jener Bassa, den
+sie auf der Jagd gefangen hätten, ihnen versprochen habe, sie ungefährdet in
+seinem Gebiete zu dulden; vor einigen Wochen aber habe er einen ihrer
+tapfersten Männer aufgefangen und nach den schrecklichsten Martern aufhängen
+lassen. Er habe ihm nun lange auflauern lassen, und heute noch müsse er
+sterben. Mustapha wagte es nicht, etwas dagegen einzuwenden; denn er war froh,
+selbst mit heiler Haut davongekommen zu sein.
+</p>
+
+<p>
+Am Ausgang des Waldes hielt der Starke sein Pferd an, beschrieb meinem Bruder
+den Weg, bot ihm die Hand zum Abschied und sprach: &bdquo;Mustapha, du bist auf
+sonderbare Weise der Gastfreund des Räubers Orbasan geworden; ich will dich
+nicht auffordern, nicht zu verraten, was du gesehen und gehört hast. Du hast
+ungerechterweise Todesangst ausgestanden, und ich bin dir Vergütung schuldig.
+Nimm diesen Dolch als Andenken, und so du Hilfe brauchst, so sende ihn mir zu,
+und ich will eilen, dir beizustehen. Diesen Beutel aber kannst du vielleicht zu
+deiner Reise brauchen.&ldquo; Mein Bruder dankte ihm für seinen Edelmut; er
+nahm den Dolch, den Beutel aber schlug er aus. Doch Orbasan drückte ihm noch
+einmal die Hand, ließ den Beutel auf die Erde fallen und sprengte mit
+Sturmeseile in den Wald. Als Mustapha sah, daß er ihn doch nicht mehr werde
+einholen können, stieg er ab, um den Beutel aufzuheben, und erschrak über die
+Größe von seines Gastfreundes Großmut; denn der Beutel enthielt eine Menge
+Gold. Er dankte Allah für seine Rettung, empfahl ihm den edlen Räuber in seine
+Gnade und zog dann heiteren Mutes weiter auf seinem Wege nach Balsora.
+</p>
+
+<p>
+Lezah schwieg und sah Achmet, den alten Kaufmann, fragend an. &bdquo;Nein, wenn
+es so ist&ldquo;, sprach dieser, &bdquo;so verbessere ich gern mein Urteil von
+Orbasan; denn wahrlich, an deinem Bruder hat er schön gehandelt.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Er hat getan wie ein braver Muselmann&ldquo;, rief Muley; &bdquo;aber
+ich hoffe, du hast deine Geschichte damit nicht geschlossen; denn wie mich
+bedünkt, sind wir alle begierig, weiter zu hören, wie es deinem Bruder erging
+und ob er Fatme, deine Schwester, und die schöne Zoraide befreit hat.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wenn ich euch nicht damit langweile, erzähle ich gerne weiter&ldquo;,
+entgegnete Lezah, &bdquo;denn die Geschichte meines Bruders ist allerdings
+abenteuerlich und wundervoll.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Am Mittag des siebenten Tages nach seiner Abreise zog Mustapha in die Tore von
+Balsora ein. Sobald er in einer Karawanserei abgestiegen war, fragte er, wann
+der Sklavenmarkt, der alljährlich hier gehalten werde, anfange. Aber er erhielt
+die Schreckensantwort, daß er zwei Tage zu spät komme. Man bedauerte seine
+Verspätung und erzählte ihm, daß er viel verloren habe; denn noch an dem
+letzten Tage des Marktes seien zwei Sklavinnen angekommen, von so hoher
+Schönheit, daß sie die Augen aller Käufer auf sich gezogen hätten. Man habe
+sich ordentlich um sie gerissen und geschlagen, und sie seien freilich auch zu
+einem so hohen Preise verkauft worden, daß ihn nur ihr jetziger Herr nicht habe
+scheuen können. Er erkundigte sich näher nach diesen beiden, und es blieb ihm
+kein Zweifel, daß es die Unglücklichen seien, die er suchte. Auch erfuhr er,
+daß der Mann, der sie beide gekauft habe, vierzig Stunden von Balsora wohne und
+Thiuli-Kos heiße, ein vornehmer, reicher, aber schon ältlicher Mann, der früher
+Kapudan-Bassa des Großherrn gewesen, jetzt aber sich mit seinen gesammelten
+Reichtümern zur Ruhe gesetzt habe.
+</p>
+
+<p>
+Mustapha wollte von Anfang sich gleich wieder zu Pferd setzen, um dem
+Thiuli-Kos, der kaum einen Tag Vorsprung haben konnte, nachzueilen. Als er aber
+bedachte, daß er als einzelner Mann dem mächtigen Reisenden doch nichts anhaben
+noch weniger seine Beute ihm abjagen konnte, sann er auf einen anderen Plan und
+hatte ihn auch bald gefunden. Die Verwechslung mit dem Bassa von Sulieika, die
+ihm beinahe so gefährlich geworden wäre, brachte ihn auf den Gedanken, unter
+diesem Namen in das Haus des Thiuli-Kos zu gehen und so einen Versuch zur
+Rettung der beiden unglücklichen Mädchen zu wagen. Er mietete daher einige
+Diener und Pferde, wobei ihm Orbasans Geld trefflich zustatten kam, schaffte
+sich und seinen Dienern prächtige Kleider an und machte sich auf den Weg nach
+dem Schlosse Thiulis. Nach fünf Tagen war er in die Nähe dieses Schlosses
+gekommen. Es lag in einer schönen Ebene und war rings von hohen Mauern
+umschlossen, die nur ganz wenig von den Gebäuden überragt wurden. Als Mustapha
+dort angekommen war, färbte er Haar und Bart schwarz, sein Gesicht aber
+bestrich er mit dem Saft einer Pflanze, die ihm eine bräunliche Farbe gab, ganz
+wie sie jener Bassa gehabt hatte. Er schickte hierauf einen seiner Diener in
+das Schloß und ließ im Namen des Bassa von Sulieika um ein Nachtlager bitten.
+Der Diener kam bald wieder, und mit ihm vier schöngekleidete Sklaven, die
+Mustaphas Pferd am Zügel nahmen und in den Schloßhof führten. Dort halfen sie
+ihm selbst vom Pferd, und vier andere geleiteten ihn eine breite Marmortreppe
+hinauf zu Thiuli.
+</p>
+
+<p>
+Dieser, ein alter, lustiger Geselle, empfing meinen Bruder ehrerbietig und ließ
+ihm das Beste, was sein Koch zubereiten konnte, aufsetzen. Nach Tisch brachte
+Mustapha das Gespräch nach und nach auf die neuen Sklavinnen, und Thiuli rühmte
+ihre Schönheit und beklagte nur, daß sie immer so traurig seien; doch er
+glaubte, dieses würde sich bald geben. Mein Bruder war sehr vergnügt über
+diesen Empfang und legte sich mit den schönsten Hoffnungen zur Ruhe nieder.
+</p>
+
+<p>
+Er mochte ungefähr eine Stunde geschlafen haben, da weckte ihn der Schein einer
+Lampe, der blendend auf sein Auge fiel. Als er sich aufrichtete, glaubte er
+noch zu träumen; denn vor ihm stand jener kleine, schwarzbraune Kerl aus
+Orbasans Zelt, eine Lampe in der Hand, sein breites Maul zu einem widrigen
+Lächeln verzogen. Mustapha zwickte sich in den Arm, zupfte sich an der Nase, um
+sich zu überzeugen, ob er denn wache; aber die Erscheinung blieb wie zuvor.
+&bdquo;Was willst du an meinem Bette?&ldquo; rief Mustapha, als er sich von
+seinem Erstaunen erholt hatte.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Bemühet Euch doch nicht so, Herr!&ldquo; sprach der Kleine. &bdquo;Ich
+habe wohl erraten, weswegen Ihr hierherkommt. Auch war mir Euer wertes Gesicht
+noch wohl erinnerlich; doch wahrlich, wenn ich nicht den Bassa mit eigener Hand
+hätte erhängen helfen, so hättet Ihr mich vielleicht getäuscht. Jetzt aber bin
+ich da, um eine Frage zu machen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Vor allem sage, wie du hierherkommst&ldquo;, entgegnete ihm Mustapha
+voll Wut, daß er verraten war.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Das will ich Euch sagen&ldquo;, antwortete jener, &bdquo;ich konnte mich
+mit dem Starken nicht länger vertragen, deswegen floh ich; aber du, Mustapha,
+warst eigentlich die Ursache unseres Streites, und dafür mußt du mir deine
+Schwester zur Frau geben, und ich will Euch zur Flucht behilflich sein; gibst
+du sie nicht, so gehe ich zu meinem neuen Herrn und erzähle ihm etwas von dem
+neuen Bassa.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Mustapha war vor Schrecken und Wut außer sich; jetzt, wo er sich am sicheren
+Ziel seiner Wünsche glaubte, sollte dieser Elende kommen und sie vereiteln; es
+war nur ein Mittel, das seinen Plan retten konnte: Er mußte das kleine Ungetüm
+töten. Mit einem Sprung fuhr er daher aus dem Bette auf den Kleinen zu; doch
+dieser, der etwas Solches geahnt haben mochte, ließ die Lampe fallen, daß sie
+verlöschte, und entsprang im Dunkeln, indem er mörderisch um Hilfe schrie.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt war guter Rat teuer; die Mädchen mußte er für den Augenblick aufgeben und
+nur auf die eigene Rettung denken; daher ging er an das Fenster, um zu sehen,
+ob er nicht entspringen könnte. Es war eine ziemliche Tiefe bis zum Boden, und
+auf der anderen Seite stand eine hohe Mauer, die zu übersteigen war. Sinnend
+stand er an dem Fenster; da hörte er viele Stimmen sich seinem Zimmer nähern;
+schon waren sie an der Türe; da faßte er verzweiflungsvoll seinen Dolch und
+seine Kleider und schwang sich zum Fenster hinaus. Der Fall war hart; aber er
+fühlte, daß er kein Glied gebrochen hatte; drum sprang er auf und lief der
+Mauer zu, die den Hof umschloß, stieg, zum Erstaunen seiner Verfolger, hinauf
+und befand sich bald im Freien. Er floh, bis er an einen kleinen Wald kam, wo
+er sich erschöpft niederwarf. Hier überlegte er, was zu tun sei.
+</p>
+
+<p>
+Seine Pferde und seine Diener hatte er im Stiche lassen müssen; aber sein Geld,
+das er in dem Gürtel trug, hatte er gerettet.
+</p>
+
+<p>
+Sein erfinderischer Kopf zeigte ihm bald einen anderen Weg zur Rettung. Er ging
+in dem Wald weiter, bis er an ein Dorf kam, wo er um geringen Preis ein Pferd
+kaufte, das ihn in Bälde in eine Stadt trug. Dort forschte er nach einem Arzt,
+und man riet ihm einen alten, erfahrenen Mann. Diesen bewog er durch einige
+Goldstücke, daß er ihm eine Arznei mitteilte, die einen todähnlichen Schlaf
+herbeiführte, der durch ein anderes Mittel augenblicklich wieder gehoben werden
+könnte. Als er im Besitz dieses Mittels war, kaufte er sich einen langen
+falschen Bart, einen schwarzen Talar und allerlei Büchsen und Kolben, so daß er
+füglich einen reisenden Arzt vorstellen konnte, lud seine Sachen auf einen Esel
+und reiste in das Schloß des Thiuli-Kos zurück. Er durfte gewiß sein, diesmal
+nicht erkannt zu werden, denn der Bart entstellte ihn so, daß er sich selbst
+kaum mehr kannte. Bei Thiuli angekommen, ließ er sich als den Arzt
+Chakamankabudibaba anmelden, und, wie er es gedacht hatte, geschah es; der
+prachtvolle Namen empfahl ihn bei dem alten Narren ungemein, so daß er ihn
+gleich zur Tafel einlud.
+</p>
+
+<p>
+Chakamankabudibaba erschien vor Thiuli, und als sie sich kaum eine Stunde
+besprochen hatten, beschloß der Alte, alle seine Sklavinnen der Kur des weisen
+Arztes zu unterwerfen. Dieser konnte seine Freude kaum verbergen, daß er jetzt
+seine geliebte Schwester wiedersehen solle, und folgte mit klopfendem Herzen
+Thiuli, der ihn ins Serail führte. Sie waren in ein Zimmer gekommen, das schön
+ausgeschmückt war, worin sich aber niemand befand. &bdquo;Chambaba oder wie du
+heißt, lieber Arzt&ldquo;, sprach Thiuli-Kos, &bdquo;betrachte einmal jenes
+Loch dort in der Mauer, dort wird jede meiner Sklavinnen einen Arm
+herausstrecken, und du kannst dann untersuchen, ob der Puls krank oder gesund
+ist.&ldquo; Mustapha mochte einwenden, was er wollte, zu sehen bekam er sie
+nicht; doch willigte Thiuli ein, daß er ihm allemal sagen wolle, wie sie sich
+sonst gewöhnlich befänden. Thiuli zog nun einen langen Zettel aus dem Gürtel
+und begann mit lauter Stimme seine Sklavinnen einzeln beim Namen zu rufen,
+worauf allemal eine Hand aus der Mauer kam und der Arzt den Puls untersuchte.
+Sechs waren schon abgelesen und sämtlich für gesund erklärt; da las Thiuli als
+die siebente &bdquo;Fatme&ldquo; ab, und eine kleine weiße Hand schlüpfte aus
+der Mauer. Zitternd vor Freude, ergreift Mustapha diese Hand und erklärt sie
+mit wichtiger Miene für bedeutend krank. Thiuli ward sehr besorgt und befahl
+seinem weisen Chakamankabudibaba, schnell eine Arznei für sie zu bereiten. Der
+Arzt ging hinaus, schrieb auf einen kleinen Zettel: Fatme! Ich will Dich
+retten, wenn Du Dich entschließen kannst, eine Arznei zu nehmen, die Dich auf
+zwei Tage tot macht; doch ich besitze das Mittel, Dich wieder zum Leben zu
+bringen. Willst Du, so sage nur, dieser Trank habe nicht geholfen, und es soll
+mir ein Zeichen sein, daß Du einwilligst.
+</p>
+
+<p>
+Bald kam er in das Zimmer zurück, wo Thiuli seiner harrte. Er brachte ein
+unschädliches Tränklein mit, fühlte der kranken Fatme noch einmal den Puls und
+schob ihr zugleich den Zettel unter ihr Armband; das Tränklein aber reichte er
+ihr durch die Öffnung in der Mauer. Thiuli schien in großen Sorgen wegen Fatme
+zu sein und schob die Untersuchung der übrigen bis auf eine gelegenere Zeit
+auf. Als er mit Mustapha das Zimmer verlassen hatte, sprach er in traurigem
+Ton: &bdquo;Chadibaba, sage aufrichtig, was hältst du von Fatmes
+Krankheit?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Chakamankabudibaba antwortete mit einem tiefen Seufzer: &bdquo;Ach Herr, möge
+der Prophet dir Trost verleihen! Sie hat ein schleichendes Fieber, das ihr wohl
+den Garaus machen kann.&ldquo; Da entbrannte der Zorn Thiulis: &bdquo;Was sagst
+du, verfluchter Hund von einem Arzt? Sie, um die ich zweitausend Goldstücke
+gab, soll mir sterben wie eine Kuh? Wisse, wenn du sie nicht rettest, so
+hau&rsquo; ich dir den Kopf ab!&ldquo; Da merkte mein Bruder, daß er einen
+dummen Streich gemacht habe, und gab Thiuli wieder Hoffnung. Als sie noch so
+sprachen, kam ein schwarzer Sklave aus dem Serail, dem Arzt zu sagen, daß das
+Tränklein nicht geholfen habe. &bdquo;Biete deine ganze Kunst auf,
+Chakamdababelba, oder wie du dich schreibst, ich zahle dir, was du
+willst&ldquo;, schrie Thiuli-Kos, fast heulend vor Angst, so viel Gold zu
+verlieren.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich will ihr ein Säftlein geben, das sie von aller Not befreit&ldquo;,
+antwortete der Arzt.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ja! Ja! Gib ihr ein Säftlein&ldquo;, schluchzte der alte Thiuli.
+</p>
+
+<p>
+Frohen Mutes ging Mustapha, seinen Schlaftrunk zu holen, und als er ihn dem
+schwarzen Sklaven gegeben und gezeigt hatte, wieviel man auf einmal nehmen
+müsse, ging er zu Thiuli und sagte, er müsse noch einige heilsame Kräuter am
+See holen, und eilte zum Tor hinaus. An dem See, der nicht weit von dem Schloß
+entfernt war, zog er seine falschen Kleider aus und warf sie ins Wasser, daß
+sie lustig umherschwammen; er selbst aber verbarg sich im Gesträuch, wartete
+die Nacht ab und schlich sich dann in den Begräbnisplatz an dem Schlosse
+Thiulis.
+</p>
+
+<p>
+Als Mustapha kaum eine Stunde lang aus dem Schloß abwesend sein mochte, brachte
+man Thiuli die schreckliche Nachricht, daß seine Sklavin Fatme im Sterben
+liege. Er schickte hinaus an den See, um schnell den Arzt zu holen; aber bald
+kehrten seine Boten allein zurück und erzählten ihm, daß der arme Arzt ins
+Wasser gefallen und ertrunken sei; seinen schwarzen Talar sehe man im See
+schwimmen, und hier und da gucke auch sein stattlicher Bart aus den Wellen
+hervor. Als Thiuli keine Rettung mehr sah, verwünschte er sich und die ganze
+Welt, raufte sich den Bart aus und rannte mit dem Kopf gegen die Mauer. Aber
+alles dies konnte nichts helfen; denn Fatme gab bald unter den Händen der
+übrigen Weiber den Geist auf. Als Thiuli die Nachricht ihres Todes hörte,
+befahl er, schnell einen Sarg zu machen; denn er konnte keinen Toten im Hause
+leiden und ließ den Leichnam in das Begräbnishaus tragen. Die Träger brachten
+den Sarg dorthin, setzten ihn schnell nieder und entflohen, denn sie hatten
+unter den übrigen Särgen Stöhnen und Seufzen gehört.
+</p>
+
+<p>
+Mustapha, der sich hinter den Särgen verborgen und von dort aus die Träger des
+Sarges in die Flucht gejagt hatte, kam hervor und zündete sich eine Lampe an,
+die er zu diesem Zweck mitgebracht hatte. Dann zog er ein Glas hervor, das die
+erweckende Arznei enthielt, und hob dann den Deckel von Fatmes Sarg. Aber
+welches Entsetzen befiel ihn, als sich ihm beim Scheine der Lampe ganz fremde
+Züge zeigten! Weder meine Schwester noch Zoraide, sondern eine ganz andere lag
+in dem Sarg. Er brauchte lange, um sich von dem neuen Schlag des Schicksals zu
+fassen; endlich überwog doch Mitleid seinen Zorn. Er öffnete sein Glas und
+flößte ihr die Arznei ein. Sie atmete, sie schlug die Augen auf und schien sich
+lange zu besinnen, wo sie sei. Endlich erinnerte sie sich des Vorgefallenen;
+sie stand auf aus dem Sarg und stürzte zu Mustaphas Füßen. &bdquo;Wie kann ich
+dir danken, gütiges Wesen&ldquo;, rief sie aus, &bdquo;daß du mich aus meiner
+schrecklichen Gefangenschaft befreitest!&ldquo; Mustapha unterbrach ihre
+Danksagungen mit der Frage, wie es denn geschehen sei, daß sie und nicht Fatme,
+seine Schwester, gerettet worden sei? Jene sah ihn staunend an. &bdquo;Jetzt
+wird mir meine Rettung erst klar, die mir vorher unbegreiflich war&ldquo;,
+antwortete sie; &bdquo;wisse, man hieß mich in jenem Schloß Fatme, und mir hast
+du deinen Zettel und den Rettungstrank gegeben.&ldquo; Mein Bruder forderte die
+Gerettete auf, ihm von seiner Schwester und Zoraide Nachricht zu geben, und
+erfuhr, daß sie sich beide im Schloß befanden, aber nach der Gewohnheit Thiulis
+andere Namen bekommen hatten; sie hießen jetzt Mirza und Nurmahal.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Als Fatme, die gerettete Sklavin, sah, daß mein Bruder durch diesen Fehlgriff
+so niedergeschlagen sei, sprach sie ihm Mut ein und versprach, ihm ein Mittel
+zu sagen, wie er jene beiden Mädchen dennoch retten könne. Aufgeweckt durch
+diesen Gedanken, schöpfte Mustapha von neuem Hoffnung und bat sie, dieses
+Mittel ihm zu nennen, und sie sprach:
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich bin zwar erst seit fünf Monaten die Sklavin Thiulis, doch habe ich
+gleich von Anfang auf Rettung gesonnen; aber für mich allein war sie zu schwer.
+In dem inneren Hof des Schlosses wirst du einen Brunnen bemerkt haben, der aus
+zehn Röhren Wasser speit; dieser Brunnen fiel mir auf. Ich erinnerte mich, in
+dem Hause meines Vaters einen ähnlichen gesehen zu haben, dessen Wasser durch
+eine geräumige Wasserleitung herbeiströmt; um nun zu erfahren, ob dieser
+Brunnen auch so gebaut ist, rühmte ich eines Tages vor Thiuli seine Pracht und
+fragte nach seinem Baumeister. *Ich selbst habe ihn gebaut*, antwortete er,
+*und das, was du hier siehst, ist noch das Geringste; aber das Wasser dazu
+kommt wenigstens tausend Schritte weit von einem Bach her und geht durch eine
+gewölbte Wasserleitung, die wenigstens mannshoch ist; und alles dies habe ich
+selbst angegeben.* Als ich dies gehört hatte, wünschte ich mir oft, nur auf
+einen Augenblick die Stärke eines Mannes zu haben, um einen Stein an der Seite
+des Brunnens ausheben zu können; dann könnte ich fliehen, wohin ich wollte. Die
+Wasserleitung nun will ich dir zeigen; durch sie kannst du nachts in das Schloß
+gelangen und jene befreien. Aber du mußt wenigstens noch zwei Männer bei dir
+haben, um die Sklaven, die das Serail bei Nacht bewachen, zu
+überwältigen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+So sprach sie; mein Bruder Mustapha aber, obgleich schon zweimal in seinen
+Hoffnungen getäuscht, faßte noch einmal Mut und hoffte mit Allahs Hilfe den
+Plan der Sklavin auszuführen. Er versprach ihr, für ihr weiteres Fortkommen in
+ihre Heimat zu sorgen, wenn sie ihm behilflich sein wollte, ins Schloß zu
+gelangen. Aber ein Gedanke machte ihm noch Sorge, nämlich der, woher er zwei
+oder drei treue Gehilfen bekommen könnte. Da fiel ihm Orbasans Dolch ein und
+das Versprechen, das ihm jener gegeben hatte, ihm, wo er seiner bedürfe, zu
+Hilfe zu eilen, und er machte sich daher mit Fatme aus dem Begräbnis auf, um
+den Räuber aufzusuchen.
+</p>
+
+<p>
+In der nämlichen Stadt, wo er sich zum Arzt umgewandelt hatte, kaufte er um
+sein letztes Geld ein Roß und mietete Fatme bei einer armen Frau in der
+Vorstadt ein. Er selbst aber eilte dem Gebirge zu, wo er Orbasan zum erstenmal
+getroffen hatte, und gelangte in drei Tagen dahin. Er fand bald wieder jene
+Zelte und trat unverhofft vor Orbasan, der ihn freundlich bewillkommnete. Er
+erzählte ihm seine mißlungenen Versuche, wobei sich der ernsthafte Orbasan
+nicht enthalten konnte, hier und da ein wenig zu lachen, besonders, wenn er
+sich den Arzt Chakamankabudibaba dachte. Über die Verräterei des Kleinen aber
+war er wütend; er schwur, ihn mit eigener Hand aufzuhängen, wo er ihn finde.
+Meinem Bruder aber versprach er, sogleich zur Hilfe bereit zu sein, wenn er
+sich vorher von der Reise gestärkt haben würde. Mustapha blieb daher diese
+Nacht wieder in Orbasans Zelt; mit dem ersten Frührot aber brachen sie auf, und
+Orbasan nahm drei seiner tapfersten Männer, wohl beritten und bewaffnet, mit
+sich. Sie ritten stark zu und kamen nach zwei Tagen in die kleine Stadt, wo
+Mustapha die gerettete Fatme zurückgelassen hatte. Von da aus reisten sie mit
+dieser weiter bis zu dem kleinen Wald, von wo aus man das Schloß Thiulis in
+geringer Entfernung sehen konnte; dort lagerten sie sich, um die Nacht
+abzuwarten.
+</p>
+
+<p>
+Sobald es dunkel wurde, schlichen sie sich, von Fatme geführt, an den Bach, wo
+die Wasserleitung anfing, und fanden diese bald. Dort ließen sie Fatme und
+einen Diener mit den Rossen zurück und schickten sich an, hinabzusteigen; ehe
+sie aber hinabstiegen, wiederholte ihnen Fatme noch einmal alles genau,
+nämlich: daß sie durch den Brunnen in den inneren Schloßhof kämen, dort seien
+rechts und links in der Ecke zwei Türme, in der sechsten Türe, vom Turme rechts
+gerechnet, befänden sich Fatme und Zoraide, bewacht von zwei schwarzen Sklaven.
+Mit Waffen und Brecheisen wohl versehen, stiegen Mustapha, Orbasan und zwei
+andere Männer hinab in die Wasserleitung; sie sanken zwar bis an den Gürtel ins
+Wasser; aber nichtsdestoweniger gingen sie rüstig vorwärts. Nach einer halben
+Stunde kamen sie an den Brunnen selbst und setzten sogleich ihre Brecheisen an.
+Die Mauer war dick und fest; aber den vereinten Kräften der vier Männer konnte
+sie nicht lange widerstehen; bald hatten sie eine Öffnung eingebrochen, groß
+genug, um bequem durchschlüpfen zu können. Orbasan schlüpfte zuerst durch und
+half den anderen nach. Als sie alle im Hof waren, betrachteten sie die Seite
+des Schlosses, die vor ihnen lag, um die beschriebene Türe zu erforschen. Aber
+sie waren nicht einig, welche es sei; denn als sie von dem rechten Turm zum
+linken zählten, fanden sie eine Türe, die zugemauert war, und wußten nun nicht,
+ob Fatme diese übersprungen oder mitgezählt habe. Aber Orbasan besann sich
+nicht lange. &bdquo;Mein gutes Schwert wird mir jede Tür öffnen&ldquo;, rief er
+aus, ging auf die sechste Türe zu, und die anderen folgten ihm.
+</p>
+
+<p>
+Sie öffneten die Türe und fanden sechs schwarze Sklaven auf dem Boden liegend
+und schlafend; sie wollten schon wieder leise sich zurückziehen, weil sie
+sahen, daß sie die rechte Türe verfehlt hatten, als eine Gestalt in der Ecke
+sich aufrichtete und mit wohlbekannter Stimme um Hilfe rief. Es war der Kleine
+aus Orbasans Lager. Aber ehe noch die Schwarzen recht wußten, wie ihnen
+geschah, stürzte Orbasan auf den Kleinen zu, riß seinen Gürtel entzwei,
+verstopfte ihm den Mund und band ihm die Hände auf den Rücken; dann wandte er
+sich an die Sklaven, wovon schon einige von Mustapha und den zwei anderen halb
+gebunden waren, und half sie vollends überwältigen. Man setzte den Sklaven den
+Dolch auf die Brust und fragte sie, wo Nurmahal und Nürza wären, und sie
+gestanden, daß sie im Gemach nebenan seien. Mustapha stürzte in das Gemach und
+fand Fatme und Zoraide, die der Lärm erweckt hatte. Schnell rafften diese ihren
+Schmuck und ihre Kleider zusammen und folgten Mustapha; die beiden Räuber
+schlugen indes Orbasan vor, zu plündern, was man fände; doch dieser verbot es
+ihnen und sprach: &bdquo;Man soll nicht von Orbasan sagen können, daß er nachts
+in die Häuser steige, um Gold zu stehlen!&ldquo; Mustapha und die Geretteten
+schlüpften schnell in die Wasserleitung, wohin ihnen Orbasan sogleich zu folgen
+versprach. Als jene in die Wasserleitung hinabgestiegen waren, nahmen Orbasan
+und einer der Räuber den Kleinen und führten ihn hinaus in den Hof; dort banden
+sie ihm eine seidene Schnur, die sie deshalb mitgenommen hatten, um den Hals
+und hingen ihn an der höchsten Spitze des Brunnens auf. Nachdem sie so den
+Verrat des Elenden bestraft hatten, stiegen sie selbst hinab in die
+Wasserleitung und folgten Mustapha. Mit Tränen dankten die beiden ihrem
+edelmütigen Retter Orbasan; doch dieser trieb sie eilends zur Flucht an, denn
+es war sehr wahrscheinlich, daß sie Thiuli-Kos nach allen Seiten verfolgen
+ließ. Mit tiefer Rührung trennten sich am anderen Tag Mustapha und seine
+Geretteten von Orbasan; wahrlich, sie werden ihn nie vergessen. Fatme aber, die
+befreite Sklavin, ging verkleidet nach Balsora, um sich dort in ihre Heimat
+einzuschiffen.
+</p>
+
+<p>
+Nach einer kurzen und vergnügten Reise kamen die Meinigen in die Heimat. Meinen
+alten Vater tötete beinahe die Freude des Wiedersehens; den anderen Tag nach
+ihrer Ankunft veranstaltete er ein großes Fest, an welchem die ganze Stadt
+teilnahm. Vor einer großen Versammlung von Verwandten und Freunden mußte mein
+Bruder seine Geschichte erzählen, und einstimmig priesen sie ihn und den edlen
+Räuber.
+</p>
+
+<p>
+Als aber mein Bruder geschlossen hatte, stand mein Vater auf und führte Zoraide
+ihm zu. &bdquo;So löse ich denn&ldquo;, sprach er mit feierlicher Stimme,
+&bdquo;den Fluch von deinem Haupte; nimm diese hin als die Belohnung, die du
+dir durch deinen rastlosen Eifer erkämpft hast; nimm meinen väterlichen Segen,
+und möge es nie unserer Stadt an Männern fehlen, die an brüderlicher Liebe, an
+Klugheit und Eifer dir gleichen!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Karawane hatte das Ende der Wüste erreicht, und fröhlich begrüßten die
+Reisenden die grünen Matten und die dichtbelaubten Bäume, deren lieblichen
+Anblick sie viele Tage entbehrt hatten. In einem schönen Tale lag eine
+Karawanserei, die sie sich zum Nachtlager wählten, und obgleich sie wenig
+Bequemlichkeit und Erfrischung darbot, so war doch die ganze Gesellschaft
+heiterer und zutraulicher als je; denn der Gedanke, den Gefahren und
+Beschwerlichkeiten, die eine Reise durch die Wüste mit sich bringt, entronnen
+zu sein, hatte alle Herzen geöffnet und die Gemüter zu Scherz und Kurzweil
+gestimmt. Muley, der junge lustige Kaufmann, tanzte einen komischen Tanz und
+sang Lieder dazu, die selbst dem ernsten Griechen Zaleukos ein Lächeln
+entlockten. Aber nicht genug, daß er seine Gefährten durch Tanz und Spiel
+erheitert hatte, er gab ihnen auch noch die Geschichte zum besten, die er ihnen
+versprochen hatte, und hub, als er von seinen Luftsprüngen sich erholt hatte,
+also zu erzählen an: Die Geschichte von dem kleinen Muck.
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap07"></a>Die Geschichte von dem kleinen Muck</h2>
+
+<p class="center">
+Wilhelm Hauff
+</p>
+
+<p>
+In Nicea, meiner lieben Vaterstadt, wohnte ein Mann, den man den kleinen Muck
+hieß. Ich kann mir ihn, ob ich gleich damals noch sehr jung war, noch recht
+wohl denken, besonders weil ich einmal von meinem Vater wegen seiner halbtot
+geprügelt wurde. Der kleine Muck nämlich war schon ein alter Geselle, als ich
+ihn kannte; doch war er nur drei bis vier Schuh hoch, dabei hatte er eine
+sonderbare Gestalt, denn sein Leib, so klein und zierlich er war, mußte einen
+Kopf tragen, viel größer und dicker als der Kopf anderer Leute; er wohnte ganz
+allein in einem großen Haus und kochte sich sogar selbst, auch hätte man in der
+Stadt nicht gewußt, ob er lebe oder gestorben sei, denn er ging nur alle vier
+Wochen einmal aus, wenn nicht um die Mittagsstunde ein mächtiger Dampf aus dem
+Hause aufgestiegen wäre, doch sah man ihn oft abends auf seinem Dache auf und
+ab gehen, von der Straße aus glaubte man aber, nur sein großer Kopf allein
+laufe auf dem Dache umher. Ich und meine Kameraden waren böse Buben, die
+jedermann gerne neckten und belachten, daher war es uns allemal ein Festtag,
+wenn der kleine Muck ausging; wir versammelten uns an dem bestimmten Tage vor
+seinem Haus und warteten, bis er herauskam; wenn dann die Türe aufging und
+zuerst der große Kopf mit dem noch größeren Turban herausguckte, wenn das
+übrige Körperlein nachfolgte, angetan mit einem abgeschabten Mäntelein, weiten
+Beinkleidern und einem breiten Gürtel, an welchem ein langer Dolch hing, so
+lang, daß man nicht wußte, ob Muck an dem Dolch, oder der Dolch an Muck stak,
+wenn er so heraustrat, da ertönte die Luft von unserem Freudengeschrei, wir
+warfen unsere Mützen in die Höhe und tanzten wie toll um ihn her. Der kleine
+Muck aber grüßte uns mit ernsthaftem Kopfnicken und ging mit langsamen
+Schritten die Straße hinab. Wir Knaben liefen hinter ihm her und schrien immer:
+&bdquo;Kleiner Muck, kleiner Muck!&ldquo; Auch hatten wir ein lustiges
+Verslein, das wir ihm zu Ehren hier und da sangen; es hieß:
+</p>
+
+<p class="poem">
+&bdquo;Kleiner Muck, kleiner Muck,<br/>
+Wohnst in einem großen Haus,<br/>
+Gehst nur all vier Wochen aus,<br/>
+Bist ein braver, kleiner Zwerg,<br/>
+Hast ein Köpflein wie ein Berg,<br/>
+Schau dich einmal um und guck,<br/>
+Lauf und fang uns, kleiner Muck!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+So hatten wir schon oft unsere Kurzweil getrieben, und zu meiner Schande muß
+ich es gestehen, ich trieb&rsquo;s am ärgsten; denn ich zupfte ihn oft am
+Mäntelein, und einmal trat ich ihm auch von hinten auf die großen Pantoffeln,
+daß er hinfiel. Dies kam mir nun höchst lächerlich vor, aber das Lachen verging
+mir, als ich den kleinen Muck auf meines Vaters Haus zugehen sah. Er ging
+richtig hinein und blieb einige Zeit dort. Ich versteckte mich an der Haustüre
+und sah den Muck wieder herauskommen, von meinem Vater begleitet, der ihn
+ehrerbietig an der Hand hielt und an der Türe unter vielen Bücklingen sich von
+ihm verabschiedete. Mir war gar nicht wohl zumute; ich blieb daher lange in
+meinem Versteck; endlich aber trieb mich der Hunger, den ich ärger fürchtete
+als Schläge, heraus, und demütig und mit gesenktem Kopf trat ich vor meinen
+Vater. &bdquo;Du hast, wie ich höre, den guten Muck beschimpft?&ldquo; sprach
+er in sehr ernstem Tone. &bdquo;Ich will dir die Geschichte dieses Muck
+erzählen, und du wirst ihn gewiß nicht mehr auslachen; vor- und nachher aber
+bekommst du das Gewöhnliche.&ldquo; Das Gewöhnliche aber waren fünfundzwanzig
+Hiebe, die er nur allzu richtig aufzuzählen pflegte. Er nahm daher sein langes
+Pfeifenrohr, schraubte die Bernsteinmundspitze ab und bearbeitete mich ärger
+als je zuvor.
+</p>
+
+<p>
+Als die Fünfundzwanzig voll waren, befahl er mir, aufzumerken, und erzählte mir
+von dem kleinen Muck:
+</p>
+
+<p>
+Der Vater des kleinen Muck, der eigentlich Muckrah heißt, war ein angesehener,
+aber armer Mann hier in Nicea. Er lebte beinahe so einsiedlerisch wie jetzt
+sein Sohn. Diesen konnte er nicht wohl leiden, weil er sich seiner Zwerggestalt
+schämte, und ließ ihn daher auch in Unwissenheit aufwachsen. Der kleine Muck
+war noch in seinem sechzehnten Jahr ein lustiges Kind, und der Vater, ein
+ernster Mann, tadelte ihn immer, daß er, der schon längst die Kinderschuhe
+zertreten haben sollte, noch so dumm und läppisch sei.
+</p>
+
+<p>
+Der Alte tat aber einmal einen bösen Fall, an welchem er auch starb und den
+kleinen Muck arm und unwissend zurückließ. Die harten Verwandten, denen der
+Verstorbene mehr schuldig war, als er bezahlen konnte, jagten den armen Kleinen
+aus dem Hause und rieten ihm, in die Welt hinauszugehen und sein Glück zu
+suchen. Der kleine Muck antwortete, er sei schon reisefertig, bat sich aber nur
+noch den Anzug seines Vaters aus, und dieser wurde ihm auch bewilligt. Sein
+Vater war ein großer, starker Mann gewesen, daher paßten die Kleider nicht.
+Muck aber wußte bald Rat; er schnitt ab, was zu lang war, und zog dann die
+Kleider an. Er schien aber vergessen zu haben, daß er auch in der Weite davon
+schneiden müsse, daher sein sonderbarer Aufzug, wie er noch heute zu sehen ist;
+der große Turban, der breite Gürtel, die weiten Hosen, das blaue Mäntelein,
+alles dies sind Erbstücke seines Vaters, die er seitdem getragen; den langen
+Damaszenerdolch seines Vaters aber steckte er in den Gürtel, ergriff ein
+Stöcklein und wanderte zum Tor hinaus.
+</p>
+
+<p>
+Fröhlich wanderte er den ganzen Tag; denn er war ja ausgezogen, um sein Glück
+zu suchen; wenn er eine Scherbe auf der Erde im Sonnenschein glänzen sah, so
+steckte er sie gewiß zu sich, im Glauben, daß sie sich in den schönsten
+Diamanten verwandeln werde; sah er in der Ferne die Kuppel einer Moschee wie
+Feuer strahlen, sah er einen See wie einen Spiegel blinken, so eilte er voll
+Freude darauf zu; denn er dachte, in einem Zauberland angekommen zu sein. Aber
+ach! Jene Trugbilder verschwanden in der Nähe, und nur allzubald erinnerten ihn
+seine Müdigkeit und sein vor Hunger knurrender Magen, daß er noch im Lande der
+Sterblichen sich befinde. So war er zwei Tage gereist unter Hunger und Kummer
+und verzweifelte, sein Glück zu finden; die Früchte des Feldes waren seine
+einzige Nahrung, die harte Erde sein Nachtlager. Am Morgen des dritten Tages
+erblickte er von einer Anhöhe eine große Stadt.
+</p>
+
+<p>
+Hell leuchtete der Halbmond auf ihren Zinnen, bunte Fahnen schimmerten auf den
+Dächern und schienen den kleinen Muck zu sich herzuwinken. Überrascht stand er
+stille und betrachtete Stadt und Gegend. &bdquo;Ja, dort wird Klein-Muck sein
+Glück finden&ldquo;, sprach er zu sich und machte trotz seiner Müdigkeit einen
+Luftsprung, &bdquo;dort oder nirgends.&ldquo; Er raffte alle seine Kräfte
+zusammen und schritt auf die Stadt zu. Aber obgleich sie ganz nahe schien,
+konnte er sie doch erst gegen Mittag erreichen; denn seine kleinen Glieder
+versagten ihm beinahe gänzlich ihren Dienst, und er mußte sich oft in den
+Schatten einer Palme setzen, um auszuruhen. Endlich war er an dem Tor der Stadt
+angelangt. Er legte sein Mäntelein zurecht, band den Turban schöner um, zog den
+Gürtel noch breiter an und steckte den langen Dolch schiefer; dann wischte er
+den Staub von den Schuhen, ergriff sein Stöcklein und ging mutig zum Tor
+hinein.
+</p>
+
+<p>
+Er hatte schon einige Straßen durchwandert; aber nirgends öffnete sich ihm die
+Türe, nirgends rief man, wie er sich vorgestellt hatte: &bdquo;Kleiner Muck,
+komm herein und iß und trink und laß deine Füßlein ausruhen!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Er schaute gerade auch wieder recht sehnsüchtig an einem großen, schönen Haus
+hinauf; da öffnete sich ein Fenster, eine alte Frau schaute heraus und rief mit
+singender Stimme:
+</p>
+
+<p class="poem">
+&bdquo;Herbei, herbei!<br/>
+Gekocht ist der Brei,<br/>
+Den Tisch ließ ich decken,<br/>
+Drum laßt es euch schmecken;<br/>
+Ihr Nachbarn herbei,<br/>
+Gekocht ist der Brei.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Türe des Hauses öffnete sich, und Muck sah viele Hunde und Katzen
+hineingehen. Er stand einige Augenblicke in Zweifel, ob er der Einladung folgen
+sollte; endlich aber faßte er sich ein Herz und ging in das Haus. Vor ihm her
+gingen ein paar junge Kätzlein, und er beschloß, ihnen zu folgen, weil sie
+vielleicht die Küche besser wüßten als er.
+</p>
+
+<p>
+Als Muck die Treppe hinaufgestiegen war, begegnete er jener alten Frau, die zum
+Fenster herausgeschaut hatte. Sie sah ihn mürrisch an und fragte nach seinem
+Begehr. &bdquo;Du hast ja jedermann zu deinem Brei eingeladen&ldquo;,
+antwortete der kleine Muck, &bdquo;und weil ich so gar hungrig bin, bin ich
+auch gekommen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Alte lachte und sprach: &bdquo;Woher kommst du denn, wunderlicher Gesell?
+Die ganze Stadt weiß, daß ich für niemand koche als für meine lieben Katzen,
+und hier und da lade ich ihnen Gesellschaft aus der Nachbarschaft ein, wie du
+siehst.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der kleine Muck erzählte der alten Frau, wie es ihm nach seines Vaters Tod so
+hart ergangen sei, und bat sie, ihn heute mit ihren Katzen speisen zu lassen.
+Die Frau, welcher die treuherzige Erzählung des Kleinen wohl gefiel, erlaubte
+ihm, ihr Gast zu sein, und gab ihm reichlich zu essen und zu trinken. Als er
+gesättigt und gestärkt war, betrachtete ihn die Frau lange und sagte dann:
+&bdquo;Kleiner Muck, bleibe bei mir in meinem Dienste! Du hast geringe Mühe und
+sollst gut gehalten sein.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der kleine Muck, dem der Katzenbrei geschmeckt hatte, willigte ein und wurde
+also der Bedienstete der Frau Ahavzi. Er hatte einen leichten, aber sonderbaren
+Dienst. Frau Ahavzi hatte nämlich zwei Kater und vier Katzen, diesen mußte der
+kleine Muck alle Morgen den Pelz kämmen und mit köstlichen Salben einreiben;
+wenn die Frau ausging, mußte er auf die Katzen Achtung geben, wenn sie aßen,
+mußte er ihnen die Schüsseln vorlegen, und nachts mußte er sie auf seidene
+Polster legen und sie mit samtenen Decken einhüllen. Auch waren noch einige
+kleine Hunde im Haus, die er bedienen mußte, doch wurden mit diesen nicht so
+viele Umstände gemacht wie mit den Katzen, welche Frau Ahavzi wie ihre eigenen
+Kinder hielt. Übrigens führte Muck ein so einsames Leben wie in seines Vaters
+Haus, denn außer der Frau sah er den ganzen Tag nur Hunde und Katzen. Eine
+Zeitlang ging es dem kleinen Muck ganz gut; er hatte immer zu essen und wenig
+zu arbeiten, und die alte Frau schien recht zufrieden mit ihm zu sein, aber
+nach und nach wurden die Katzen unartig, wenn die Alte ausgegangen war,
+sprangen sie wie besessen in den Zimmern umher, warfen alles durcheinander und
+zerbrachen manches schöne Geschirr, das ihnen im Weg stand. Wenn sie aber die
+Frau die Treppe heraufkommen hörten, verkrochen sie sich auf ihre Polster und
+wedelten ihr mit den Schwänzen entgegen, wie wenn nichts geschehen wäre. Die
+Frau Ahavzi geriet dann in Zorn, wenn sie ihre Zimmer so verwüstet sah, und
+schob alles auf Muck, er mochte seine Unschuld beteuern, wie er wollte, sie
+glaubte ihren Katzen, die so unschuldig aussahen, mehr als ihrem Diener.
+</p>
+
+<p>
+Der kleine Muck war sehr traurig, daß er also auch hier sein Glück nicht
+gefunden hatte, und beschloß bei sich, den Dienst der Frau Ahavzi zu verlassen.
+Da er aber auf seiner ersten Reise erfahren hatte, wie schlecht man ohne Geld
+lebt, so beschloß er, den Lohn, den ihm seine Gebieterin immer versprochen,
+aber nie gegeben hatte, sich auf irgendeine Art zu verschaffen. Es befand sich
+in dem Hause der Frau Ahavzi ein Zimmer, das immer verschlossen war und dessen
+Inneres er nie gesehen hatte. Doch hatte er die Frau oft darin rumoren gehört,
+und er hätte oft für sein Leben gern gewußt, was sie dort versteckt habe. Als
+er nun an sein Reisegeld dachte, fiel ihm ein, daß dort die Schätze der Frau
+versteckt sein könnten. Aber immer war die Tür fest verschlossen, und er konnte
+daher den Schätzen nie beikommen.
+</p>
+
+<p>
+Eines Morgens, als die Frau Ahavzi ausgegangen war, zupfte ihn eines der
+Hundlein, welches von der Frau immer sehr stiefmütterlich behandelt wurde,
+dessen Gunst er sich aber durch allerlei Liebesdienste in hohem Grade erworben
+hatte, an seinen weiten Beinkleidern und gebärdete sich dabei, wie wenn Muck
+ihm folgen sollte. Muck, welcher gerne mit den Hunden spielte, folgte ihm, und
+siehe da, das Hundlein führte ihn in die Schlafkammer der Frau Ahavzi vor eine
+kleine Türe, die er nie zuvor dort bemerkt hatte. Die Türe war halb offen. Das
+Hundlein ging hinein, und Muck folgte ihm, und wie freudig war er überrascht,
+als er sah, daß er sich in dem Gemach befand, das schon lange das Ziel seiner
+Wünsche war. Er spähte überall umher, ob er kein Geld finden könne, fand aber
+nichts. Nur alte Kleider und wunderlich geformte Geschirre standen umher. Eines
+dieser Geschirre zog seine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Es war von
+Kristall, und schöne Figuren waren darauf ausgeschnitten. Er hob es auf und
+drehte es nach allen Seiten. Aber, o Schrecken! Er hatte nicht bemerkt, daß es
+einen Deckel hatte, der nur leicht darauf hingesetzt war. Der Deckel fiel herab
+und zerbrach in tausend Stücke.
+</p>
+
+<p>
+Lange stand der kleine Muck vor Schrecken leblos. Jetzt war sein Schicksal
+entschieden, jetzt mußte er entfliehen, sonst schlug ihn die Alte tot. Sogleich
+war auch seine Reise beschlossen, und nur noch einmal wollte er sich umschauen,
+ob er nichts von den Habseligkeiten der Frau Ahavzi zu seinem Marsch brauchen
+könnte. Da fielen ihm ein Paar mächtig große Pantoffeln ins Auge; sie waren
+zwar nicht schön; aber seine eigenen konnten keine Reise mehr mitmachen; auch
+zogen ihn jene wegen ihrer Größe an; denn hatte er diese am Fuß, so mußten ihm
+hoffentlich alle Leute ansehen, daß er die Kinderschuhe vertreten habe. Er zog
+also schnell seine Töffelein aus und fuhr in die großen hinein. Ein
+Spazierstöcklein mit einem schön geschnittenen Löwenkopf schien ihm auch hier
+allzu müßig in der Ecke zu stehen; er nahm es also mit und eilte zum Zimmer
+hinaus. Schnell ging er jetzt auf seine Kammer, zog sein Mäntelein an, setzte
+den väterlichen Turban auf, steckte den Dolch in den Gürtel und lief, so
+schnell ihn seine Füße trugen, zum Haus und zur Stadt hinaus. Vor der Stadt
+lief er, aus Angst vor der Alten, immer weiter fort, bis er vor Müdigkeit
+beinahe nicht mehr konnte. So schnell war er in seinem Leben nicht gegangen;
+ja, es schien ihm, als könne er gar nicht aufhören zu rennen; denn eine
+unsichtbare Gewalt schien ihn fortzureißen. Endlich bemerkte er, daß es mit den
+Pantoffeln eine eigene Bewandtnis haben müsse; denn diese schossen immer fort
+und führten ihn mit sich. Er versuchte auf allerlei Weise stillzustehen; aber
+es wollte nicht gelingen; da rief er in der höchsten Not, wie man den Pferden
+zuruft, sich selbst zu: &bdquo;Oh&mdash;oh, halt, oh!&ldquo; Da hielten die
+Pantoffeln, und Muck warf sich erschöpft auf die Erde nieder.
+</p>
+
+<p>
+Die Pantoffeln freuten ihn ungemein. So hatte er sich denn doch durch seine
+Verdienste etwas erworben, das ihm in der Welt auf seinem Weg das Glück zu
+suchen, forthelfen konnte. Er schlief trotz seiner Freude vor Erschöpfung ein;
+denn das Körperlein des kleinen Muck, das einen so schweren Kopf zu tragen
+hatte, konnte nicht viel aushalten. Im Traum erschien ihm das Hundlein, welches
+ihm im Hause der Frau Ahavzi zu den Pantoffeln verholfen hatte, und sprach zu
+ihm: &bdquo;Lieber Muck, du verstehst den Gebrauch der Pantoffeln noch nicht
+recht; wisse, wenn du dich in ihnen dreimal auf dem Absatz herumdrehst, so
+kannst du hinfliegen, wohin du nur willst, und mit dem Stöcklein kannst du
+Schätze finden, denn wo Gold vergraben ist, da wird es dreimal auf die Erde
+schlagen, bei Silber zweimal.&ldquo; So träumte der kleine Muck. Als er aber
+aufwachte, dachte er über den wunderbaren Traum nach und beschloß, alsbald
+einen Versuch zu machen. Er zog die Pantoffeln an, lupfte einen Fuß und begann
+sich auf dem Absatz umzudrehen. Wer es aber jemals versucht hat, in einem
+ungeheuer weiten Pantoffel dieses Kunststück dreimal hintereinander zu machen,
+der wird sich nicht wundern, wenn es dem kleinen Muck nicht gleich glückte,
+besonders wenn man bedenkt, daß ihn sein schwerer Kopf bald auf diese, bald auf
+jene Seite hinüberzog.
+</p>
+
+<p>
+Der arme Kleine fiel einigemal tüchtig auf die Nase; doch ließ er sich nicht
+abschrecken, den Versuch zu wiederholen, und endlich glückte es. Wie ein Rad
+fuhr er auf seinem Absatz herum, wünschte sich in die nächste große Stadt,
+und&mdash;die Pantoffeln ruderten hinauf in die Lüfte, liefen mit Windeseile
+durch die Wolken, und ehe sich der kleine Muck noch besinnen konnte, wie ihm
+geschah, befand er sich schon auf einem großen Marktplatz, wo viele Buden
+aufgeschlagen waren und unzählige Menschen geschäftig hin und her liefen. Er
+ging unter den Leuten hin und her, hielt es aber für ratsamer, sich in eine
+einsamere Straße zu begeben; denn auf dem Markt trat ihm bald da einer auf die
+Pantoffeln, daß er beinahe umfiel, bald stieß er mit seinem weit
+hinausstehenden Dolch einen oder den anderen an, daß er mit Mühe den Schlägen
+entging.
+</p>
+
+<p>
+Der kleine Muck bedachte nun ernstlich, was er wohl anfangen könnte, um sich
+ein Stück Geld zu verdienen; er hatte zwar ein Stäblein, das ihm verborgene
+Schätze anzeigte, aber wo sollte er gleich einen Platz finden, wo Gold oder
+Silber vergraben wäre? Auch hätte er sich zur Not für Geld sehen lassen können;
+aber dazu war er doch zu stolz. Endlich fiel ihm die Schnelligkeit seiner Füße
+ein, &bdquo;vielleicht&ldquo;, dachte er, &bdquo;können mir meine Pantoffeln
+Unterhalt gewähren&ldquo;, und er beschloß, sich als Schnelläufer zu verdingen.
+Da er aber hoffen durfte, daß der König dieser Stadt solche Dienste am besten
+bezahle, so erfragte er den Palast. Unter dem Tor des Palastes stand eine
+Wache, die ihn fragte, was er hier zu suchen habe. Auf seine Antwort, daß er
+einen Dienst suche, wies man ihn zum Aufseher der Sklaven. Diesem trug er sein
+Anliegen vor und bat ihn, ihm einen Dienst unter den königlichen Boten zu
+besorgen. Der Aufseher maß ihn mit seinen Augen von Kopf bis zu den Füßen und
+sprach: &bdquo;Wie, mit deinen Füßlein, die kaum so lang als eine Spanne sind,
+willst du königlicher Schnelläufer werden? Hebe dich weg, ich bin nicht dazu
+da, mit jedem Narren Kurzweil zu machen.&ldquo; Der kleine Muck versicherte ihm
+aber, daß es ihm vollkommen ernst sei mit seinem Antrag und daß er es mit dem
+Schnellsten auf eine Wette ankommen lassen wollte. Dem Aufseher kam die Sache
+gar lächerlich vor; er befahl ihm, sich bis auf den Abend zu einem Wettlauf
+bereitzuhalten, führte ihn in die Küche und sorgte dafür, daß ihm gehörig
+Speis&rsquo; und Trank gereicht wurde; er selbst aber begab sich zum König und
+erzählte ihm vom kleinen Muck und seinem Anerbieten. Der König war ein lustiger
+Herr, daher gefiel es ihm wohl, daß der Aufseher der Sklaven den kleinen
+Menschen zu einem Spaß behalten habe, er befahl ihm, auf einer großen Wiese
+hinter dem Schloß Anstalten zu treffen, daß das Wettlaufen mit Bequemlichkeit
+von seinem ganzen Hofstaat könnte gesehen werden, und empfahl ihm nochmals,
+große Sorgfalt für den Zwerg zu haben. Der König erzählte seinen Prinzen und
+Prinzessinnen, was sie diesen Abend für ein Schauspiel haben würden, diese
+erzählten es wieder ihren Dienern, und als der Abend herankam, war man in
+gespannter Erwartung, und alles, was Füße hatte, strömte hinaus auf die Wiese,
+wo Gerüste aufgeschlagen waren, um den großsprecherischen Zwerg laufen zu
+sehen.
+</p>
+
+<p>
+Als der König und seine Söhne und Töchter auf dem Gerüst Platz genommen hatten,
+trat der kleine Muck heraus auf die Wiese und machte vor den hohen Herrschaften
+eine überaus zierliche Verbeugung. Ein allgemeines Freudengeschrei ertönte, als
+man des Kleinen ansichtig wurde; eine solche Figur hatte man dort noch nie
+gesehen. Das Körperlein mit dem mächtigen Kopf, das Mäntelein und die weiten
+Beinkleider, der lange Dolch in dem breiten Gürtel, die kleinen Füßlein in den
+weiten Pantoffeln&mdash;nein! Es war zu drollig anzusehen, als daß man nicht
+hätte laut lachen sollen. Der kleine Muck ließ sich aber durch das Gelächter
+nicht irremachen. Er stellte sich stolz, auf sein Stöcklein gestützt, hin und
+erwartete seinen Gegner. Der Aufseher der Sklaven hatte nach Mucks eigenem
+Wunsche den besten Läufer ausgesucht. Dieser trat nun heraus, stellte sich
+neben den Kleinen, und beide harrten auf das Zeichen. Da winkte Prinzessin
+Amarza, wie es ausgemacht war, mit ihrem Schleier, und wie zwei Pfeile, auf
+dasselbe Ziel abgeschossen, flogen die beiden Wettläufer über die Wiese hin.
+</p>
+
+<p>
+Von Anfang hatte Mucks Gegner einen bedeutenden Vorsprung, aber dieser jagte
+ihm auf seinem Pantoffelfuhrwerk nach, holte ihn ein, überfing ihn und stand
+längst am Ziele, als jener noch, nach Luft schnappend, daherlief. Verwunderung
+und Staunen fesselten einige Augenblicke die Zuschauer, als aber der König
+zuerst in die Hände klatschte, da jauchzte die Menge, und alle riefen:
+&bdquo;Hoch lebe der kleine Muck, der Sieger im Wettlauf!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Man hatte indes den kleinen Muck herbeigebracht; er warf sich vor dem König
+nieder und sprach: &bdquo;Großmächtigster König, ich habe dir hier nur eine
+kleine Probe meiner Kunst gegeben; wolle nur gestatten, daß man mir eine Stelle
+unter deinen Läufern gebe!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der König aber antwortete ihm: &bdquo;Nein, du sollst mein Leibläufer und immer
+um meine Person sein, lieber Muck, jährlich sollst du hundert Goldstücke
+erhalten als Lohn, und an der Tafel meiner ersten Diener sollst du
+speisen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+So glaubte denn Muck, endlich das Glück gefunden zu haben, das er so lange
+suchte, und war fröhlich und wohlgemut in seinem Herzen. Auch erfreute er sich
+der besonderen Gnade des Königs, denn dieser gebrauchte ihn zu seinen
+schnellsten und geheimsten Sendungen, die er dann mit der größten Genauigkeit
+und mit unbegreiflicher Schnelle besorgte.
+</p>
+
+<p>
+Aber die übrigen Diener des Königs waren ihm gar nicht zugetan, weil sie sich
+ungern durch einen Zwerg, der nichts verstand, als schnell zu laufen, in der
+Gunst ihres Herrn zurückgesetzt sahen. Sie veranstalteten daher manche
+Verschwörung gegen ihn, um ihn zu stürzen; aber alle schlugen fehl an dem
+großen Zutrauen, das der König in seinen geheimen Oberleibläufer (denn zu
+dieser Würde hatte er es in so kurzer Zeit gebracht) setzte.
+</p>
+
+<p>
+Muck, dem diese Bewegungen gegen ihn nicht entgingen, sann nicht auf Rache,
+dazu hatte er ein zu gutes Herz, nein, auf Mittel dachte er, sich bei seinen
+Feinden notwendig und beliebt zu machen. Da fiel ihm sein Stäblein, das er in
+seinem Glück außer acht gelassen hatte, ein; wenn er Schätze finde, dachte er,
+würden ihm die Herren schon geneigter werden. Er hatte schon oft gehört, daß
+der Vater des jetzigen Königs viele seiner Schätze vergraben habe, als der
+Feind sein Land überfallen; man sagte auch, er sei darüber gestorben, ohne daß
+er sein Geheimnis habe seinem Sohn mitteilen können. Von nun an nahm Muck immer
+sein Stöcklein mit, in der Hoffnung, einmal an einem Ort vorüberzugehen, wo das
+Geld des alten Königs vergraben sei. Eines Abends führte ihn der Zufall in
+einen entlegenen Teil des Schloßgartens, den er wenig besuchte, und plötzlich
+fühlte er das Stöcklein in seiner Hand zucken, und dreimal schlug es gegen den
+Boden. Nun wußte er schon, was dies zu bedeuten hatte. Er zog daher seinen
+Dolch heraus, machte Zeichen in die umstellenden Bäume und schlich sich wieder
+in das Schloß; dort verschaffte er sich einen Spaten und wartete die Nacht zu
+seinem Unternehmen ab.
+</p>
+
+<p>
+Das Schatzgraben selbst machte übrigens dem kleinen Muck mehr zu schaffen, als
+er geglaubt hatte.
+</p>
+
+<p>
+Seine Arme waren gar zu schwach, sein Spaten aber groß und schwer; und er
+mochte wohl schon zwei Stunden gearbeitet haben, ehe er ein paar Fuß tief
+gegraben hatte. Endlich stieß er auf etwas Hartes, das wie Eisen klang. Er grub
+jetzt emsiger, und bald hatte er einen großen eisernen Deckel zutage gefördert;
+er stieg selbst in die Grube hinab, um nachzuspähen, was wohl der Deckel könnte
+bedeckt haben, und fand richtig einen großen Topf, mit Goldstücken angefüllt.
+Aber seine schwachen Kräfte reichten nicht hin, den Topf zu heben, daher
+steckte er in seine Beinkleider und seinen Gürtel, so viel er zu tragen
+vermochte, und auch sein Mäntelein füllte er damit, bedeckte das übrige wieder
+sorgfältig und lud es auf den Rücken. Aber wahrlich, wenn er die Pantoffeln
+nicht an den Füßen gehabt hätte, er wäre nicht vom Fleck gekommen, so zog ihn
+die Last des Goldes nieder. Doch unbemerkt kam er auf sein Zimmer und verwahrte
+dort sein Gold unter den Polstern seines Sofas.
+</p>
+
+<p>
+Als der kleine Muck sich im Besitz so vielen Goldes sah, glaubte er, das Blatt
+werde sich jetzt wenden und er werde sich unter seinen Feinden am Hofe viele
+Gönner und warme Anhänger erwerben. Aber schon daran konnte man erkennen, daß
+der gute Muck keine gar sorgfältige Erziehung genossen haben mußte, sonst hätte
+er sich wohl nicht einbilden können, durch Gold wahre Freunde zu gewinnen. Ach,
+daß er damals seine Pantoffeln geschmiert und sich mit seinem Mäntelein voll
+Gold aus dem Staub gemacht hätte!
+</p>
+
+<p>
+Das Gold, das der kleine Muck von jetzt an mit vollen Händen austeilte,
+erweckte den Neid der übrigen Hofbediensteten. Der Küchenmeister Ahuli sagte:
+&bdquo;Er ist ein Falschmünzer.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der Sklavenaufseher Achmet sagte: &bdquo;Er hat&rsquo;s dem König
+abgeschwatzt.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Archaz, der Schatzmeister, aber, sein ärgster Feind, der selbst hier und da
+einen Griff in des Königs Kasse tun mochte, sagte geradezu: &bdquo;Er
+hat&rsquo;s gestohlen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Um nun ihrer Sache gewiß zu sein, verabredeten sie sich, und der Obermundschenk
+Korchuz stellte sich eines Tages recht traurig und niedergeschlagen vor die
+Augen des Königs. Er machte seine traurigen Gebärden so auffallend, daß ihn der
+König fragte, was ihm fehle.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ah&ldquo;, antwortete er, &bdquo;ich bin traurig, daß ich die Gnade
+meines Herrn verloren habe.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Was fabelst du, Freund Korchuz?&ldquo; entgegnete ihm der König.
+&bdquo;Seit wann hätte ich die Sonne meiner Gnade nicht über dich leuchten
+lassen?&ldquo; Der Obermundschenk antwortete ihm, daß er ja den geheimen
+Oberleibläufer mit Gold belade, seinen armen, treuen Dienern aber nichts gebe.
+</p>
+
+<p>
+Der König war sehr erstaunt über diese Nachricht, ließ sich die
+Goldausteilungen des kleinen Muck erzählen, und die Verschworenen brachten ihm
+leicht den Verdacht bei, daß Muck auf irgendeine Art das Geld aus der
+Schatzkammer gestohlen habe. Sehr lieb war diese Wendung der Sache dem
+Schatzmeister, der ohnehin nicht gerne Rechnung ablegte. Der König gab daher
+den Befehl, heimlich auf alle Schritte des kleinen Muck achtzugeben, um ihn
+womöglich auf der Tat zu ertappen. Als nun in der Nacht, die auf diesen
+Unglückstag folgte, der kleine Muck, da er durch seine Freigebigkeit seine
+Kasse sehr erschöpft sah, den Spaten nahm und in den Schloßgarten schlich, um
+dort von seinem geheimen Schatze neuen Vorrat zu holen, folgten ihm von weitem
+die Wachen, von dem Küchenmeister Ahuli und Archaz, dem Schatzmeister,
+angeführt, und in dem Augenblick, da er das Gold aus dem Topf in sein Mäntelein
+legen wollte, fielen sie über ihn her, banden ihn und führten ihn sogleich vor
+den König. Dieser, den ohnehin die Unterbrechung seines Schlafes mürrisch
+gemacht hatte, empfing seinen armen Oberleibläufer sehr ungnädig und stellte
+sogleich das Verhör über ihn an. Man hatte den Topf vollends aus der Erde
+gegraben und mit dem Spaten und mit dem Mäntelein voll Gold vor die Füße des
+Königs gesetzt. Der Schatzmeister sagte aus, daß er mit seinen Wachen den Muck
+überrascht habe, wie er diesen Topf mit Gold gerade in die Erde gegraben habe.
+</p>
+
+<p>
+Der König befragte hierauf den Angeklagten, ob es wahr sei und woher er das
+Gold, das er vergraben, bekommen habe.
+</p>
+
+<p>
+Der kleine Muck, im Gefühl seiner Unschuld, sagte aus, daß er diesen Topf im
+Garten entdeckt habe, daß er ihn habe nicht ein-, sondern ausgraben wollen.
+</p>
+
+<p>
+Alle Anwesenden lachten laut über diese Entschuldigung, der König aber, aufs
+höchste erzürnt über die vermeintliche Frechheit des Kleinen, rief aus:
+&bdquo;Wie, Elender! Du willst deinen König so dumm und schändlich belügen,
+nachdem du ihn bestohlen hast? Schatzmeister Archaz! Ich fordere dich auf, zu
+sagen, ob du diese Summe Goldes für die nämliche erkennst, die in meinem
+Schatze fehlt.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der Schatzmeister aber antwortete, er sei seiner Sache ganz gewiß, so viel und
+noch mehr fehle seit einiger Zeit von dem königlichen Schatz, und er könne
+einen Eid darauf ablegen, daß dies das Gestohlene sei.
+</p>
+
+<p>
+Da befahl der König, den kleinen Muck in enge Ketten zu legen und in den Turm
+zu führen; dem Schatzmeister aber übergab er das Gold, um es wieder in den
+Schatz zu tragen. Vergnügt über den glücklichen Ausgang der Sache, zog dieser
+ab und zählte zu Haus die blinkenden Goldstücke; aber das hat dieser schlechte
+Mann niemals angezeigt, daß unten in dem Topf ein Zettel lag, der sagte:
+&bdquo;Der Feind hat mein Land überschwemmt, daher verberge ich hier einen Teil
+meiner Schätze; wer es auch finden mag, den treffe der Fluch seines Königs,
+wenn er es nicht sogleich meinem Sohne ausliefert! König Sadi.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der kleine Muck stellte in seinem Kerker traurige Betrachtungen an; er wußte,
+daß auf Diebstahl an königlichen Sachen der Tod gesetzt war, und doch mochte er
+das Geheimnis mit dem Stäbchen dem König nicht verraten, weil er mit Recht
+fürchtete, dieses und seiner Pantoffeln beraubt zu werden. Seine Pantoffeln
+konnten ihm leider auch keine Hilfe bringen; denn da er in engen Ketten an die
+Mauer geschlossen war, konnte er, so sehr er sich quälte, sich nicht auf dem
+Absatz umdrehen. Als ihm aber am anderen Tage sein Tod angekündigt wurde, da
+gedachte er doch, es sei besser, ohne das Zauberstäbchen zu leben als mit ihm
+zu sterben, ließ den König um geheimes Gehör bitten und entdeckte ihm das
+Geheimnis. Der König maß von Anfang an seinem Geständnis keinen Glauben bei;
+aber der kleine Muck versprach eine Probe, wenn ihm der König zugestünde, daß
+er nicht getötet werden solle.
+</p>
+
+<p>
+Der König gab ihm sein Wort darauf und ließ, von Muck ungesehen, einiges Gold
+in die Erde graben und befahl diesem, mit seinem Stäbchen zu suchen. In wenigen
+Augenblicken hatte er es gefunden; denn das Stäbchen schlug deutlich dreimal
+auf die Erde. Da merkte der König, daß ihn sein Schatzmeister betrogen hatte,
+und sandte ihm, wie es im Morgenland gebräuchlich ist, eine seidene Schnur,
+damit er sich selbst erdroßle. Zum kleinen Muck aber sprach er: &bdquo;Ich habe
+dir zwar dein Leben versprochen; aber es scheint mir, als ob du nicht allein
+dieses Geheimnis mit dem Stäbchen besitzest; darum bleibst du in ewiger
+Gefangenschaft, wenn du nicht gestehst, was für eine Bewandtnis es mit deinem
+Schnellaufen hat.&ldquo; Der kleine Muck, den die einzige Nacht im Turm alle
+Lust zu längerer Gefangenschaft benommen hatte, bekannte, daß seine ganze Kunst
+in den Pantoffeln liege, doch lehrte er den König nicht das Geheimnis von dem
+dreimaligen Umdrehen auf dem Absatz. Der König schlüpfte selbst in die
+Pantoffeln, um die Probe zu machen, und jagte wie unsinnig im Garten umher; oft
+wollte er anhalten; aber er wußte nicht, wie man die Pantoffeln zum Stehen
+brachte, und der kleine Muck, der diese kleine Rache sich nicht versagen
+konnte, ließ ihn laufen, bis er ohnmächtig niederfiel.
+</p>
+
+<p>
+Als der König wieder zur Besinnung zurückgekehrt war, war er schrecklich
+aufgebracht über den kleinen Muck, der ihn so ganz außer Atem hatte laufen
+lassen. &bdquo;Ich habe dir mein Wort gegeben, dir Freiheit und Leben zu
+schenken; aber innerhalb zwölf Stunden mußt du mein Land verlassen, sonst lasse
+ich dich aufknöpfen!&ldquo; Die Pantoffeln und das Stäbchen aber ließ er in
+seine Schatzkammer legen.
+</p>
+
+<p>
+So arm als je wanderte der kleine Muck zum Land hinaus, seine Torheit
+verwünschend, die ihm vorgespiegelt hatte, er könne eine bedeutende Rolle am
+Hofe spielen. Das Land, aus dem er gejagt wurde, war zum Glück nicht groß,
+daher war er schon nach acht Stunden auf der Grenze, obgleich ihn das Gehen, da
+er an seine lieben Pantoffeln gewöhnt war, sehr sauer ankam.
+</p>
+
+<p>
+Als er über der Grenze war, verließ er die gewöhnliche Straße, um die dichteste
+Einöde der Wälder aufzusuchen und dort nur sich zu leben; denn er war allen
+Menschen gram. In einem dichten Walde traf er auf einen Platz, der ihm zu dem
+Entschluß, den er gefaßt hatte, ganz tauglich schien. Ein klarer Bach, von
+großen, schattigen Feigenbäumen umgeben, ein weicher Rasen luden ihn ein; hier
+warf er sich nieder mit dem Entschluß, keine Speise mehr zu sich zu nehmen,
+sondern hier den Tod zu erwarten. Über traurigen Todesbetrachtungen schlief er
+ein; als er aber wieder aufwachte und der Hunger ihn zu quälen anfing, bedachte
+er doch, daß der Hungertod eine gefährliche Sache sei, und sah sich um, ob er
+nirgends etwas zu essen bekommen könnte.
+</p>
+
+<p>
+Köstliche reife Feigen hingen an dem Baume, unter welchem er geschlafen hatte;
+er stieg hinauf, um sich einige zu pflücken, ließ es sich trefflich schmecken
+und ging dann hinunter an den Bach, um seinen Durst zu löschen. Aber wie groß
+war sein Schrecken, als ihm das Wasser seinen Kopf mit zwei gewaltigen Ohren
+und einer dicken, langen Nase geschmückt zeigte! Bestürzt griff er mit den
+Händen nach den Ohren, und wirklich, sie waren über eine halbe Elle lang.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich verdiene Eselsohren!&ldquo; rief er aus; &bdquo;denn ich habe mein
+Glück wie ein Esel mit Füßen getreten.&ldquo; Er wanderte unter den Bäumen
+umher, und als er wieder Hunger fühlte, mußte er noch einmal zu den Feigen
+seine Zuflucht nehmen; denn sonst fand er nichts Eßbares an den Bäumen. Als ihm
+über der zweiten Portion Feigen einfiel, ob wohl seine Ohren nicht unter seinem
+großen Turban Platz hätten, damit er doch nicht gar zu lächerlich aussehe,
+fühlte er, daß seine Ohren verschwunden waren. Er lief gleich an den Bach
+zurück, um sich davon zu überzeugen, und wirklich, es war so, seine Ohren
+hatten ihre vorige Gestalt, seine lange, unförmliche Nase war nicht mehr. Jetzt
+merkte er aber, wie dies gekommen war; von dem ersten Feigenbaum hatte er die
+lange Nase und Ohren bekommen, der zweite hatte ihn geheilt; freudig erkannte
+er, daß sein gütiges Geschick ihm noch einmal die Mittel in die Hand gebe,
+glücklich zu sein. Er pflückte daher von jedem Baum so viel, wie er tragen
+konnte, und ging in das Land zurück, das er vor kurzem verlassen hatte. Dort
+machte er sich in dem ersten Städtchen durch andere Kleider ganz unkenntlich
+und ging dann weiter auf die Stadt zu, die jener König bewohnte, und kam auch
+bald dort an.
+</p>
+
+<p>
+Es war gerade zu einer Jahreszeit, wo reife Früchte noch ziemlich selten waren;
+der kleine Muck setzte sich daher unter das Tor des Palastes; denn ihm war von
+früherer Zeit her wohl bekannt, daß hier solche Seltenheiten von dem
+Küchenmeister für die königliche Tafel eingekauft wurden. Muck hatte noch nicht
+lange gesessen, als er den Küchenmeister über den Hof herüberschreiten sah. Er
+musterte die Waren der Verkäufer, die sich am Tor des Palastes eingefunden
+hatten; endlich fiel sein Blick auch auf Mucks Körbchen. &bdquo;Ah, ein
+seltener Bissen&ldquo;, sagte er, &bdquo;der Ihro Majestät gewiß behagen wird.
+Was willst du für den ganzen Korb?&ldquo; Der kleine Muck bestimmte einen
+mäßigen Preis, und sie waren bald des Handels einig. Der Küchenmeister übergab
+den Korb einem Sklaven und ging weiter; der kleine Muck aber macht sich
+einstweilen aus dem Staub, weil er befürchtete, wenn sich das Unglück an den
+Köpfen des Hofes zeigte, möchte man ihn als Verkäufer aufsuchen und bestrafen.
+</p>
+
+<p>
+Der König war über Tisch sehr heiter gestimmt und sagte seinem Küchenmeister
+einmal über das andere Lobsprüche wegen seiner guten Küche und der Sorgfalt,
+mit der er immer das Seltenste für ihn aussuche; der Küchenmeister aber,
+welcher wohl wußte, welchen Leckerbissen er noch im Hintergrund habe,
+schmunzelte gar freundlich und ließ nur einzelne Worte fallen, als: &bdquo;Es
+ist noch nicht aller Tage Abend&ldquo;, oder &bdquo;Ende gut, alles gut&ldquo;,
+so daß die Prinzessinnen sehr neugierig wurden, was er wohl noch bringen werde.
+Als er aber die schönen, einladenden Feigen aufsetzen ließ, da entfloh ein
+allgemeines Ah! dem Munde der Anwesenden.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wie reif, wie appetitlich!&ldquo; rief der König. &bdquo;Küchenmeister,
+du bist ein ganzer Kerl und verdienst unsere ganz besondere Gnade!&ldquo; Also
+sprechend, teilte der König, der mit solchen Leckerbissen sehr sparsam zu sein
+pflegte, mit eigener Hand die Feigen an seiner Tafel aus. Jeder Prinz und jede
+Prinzessin bekam zwei, die Hofdamen und die Wesire und Agas eine, die übrigen
+stellte er vor sich hin und begann mit großem Behagen sie zu verschlingen.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Aber, lieber Gott, wie siehst du so wunderlich aus, Vater?&ldquo; rief
+auf einmal die Prinzessin Amarza. Alle sahen den König erstaunt an; ungeheure
+Ohren hingen ihm am Kopf, eine lange Nase zog sich über sein Kinn herunter;
+auch sich selbst betrachteten sie untereinander mit Staunen und Schrecken; alle
+waren mehr oder minder mit dem sonderbaren Kopfputz geschmeckt.
+</p>
+
+<p>
+Man denke sich den Schrecken des Hofes! Man schickte sogleich nach allen Ärzten
+der Stadt; sie kamen haufenweise, verordneten Pillen und Mixturen; aber die
+Ohren und die Nasen blieben. Man operierte einen der Prinzen; aber die Ohren
+wuchsen nach.
+</p>
+
+<p>
+Muck hatte die ganze Geschichte in seinem Versteck, wohin er sich zurückgezogen
+hatte, gehört und erkannte, daß es jetzt Zeit sei zu handeln. Er hatte sich
+schon vorher von dem aus den Feigen gelösten Geld einen Anzug verschafft, der
+ihn als Gelehrten darstellen konnte; ein langer Bart aus Ziegenhaaren
+vollendete die Täuschung. Mit einem Säckchen voll Feigen wanderte er in den
+Palast des Königs und bot als fremder Arzt seine Hilfe an. Man war von Anfang
+sehr ungläubig; als aber der kleine Muck eine Feige einem der Prinzen zu essen
+gab und Ohren und Nase dadurch in den alten Zustand zurückbrachte, da wollte
+alles von dem fremden Arzte geheilt sein. Aber der König nahm ihn schweigend
+bei der Hand und führte ihn in sein Gemach; dort schloß er eine Türe auf, die
+in die Schatzkammer führte, und winkte Muck, ihm zu folgen. &bdquo;Hier sind
+meine Schätze&ldquo;, sprach der König, &bdquo;wähle dir, was es auch sei, es
+soll dir gewährt werden, wenn du mich von diesem schmachvollen Übel
+befreist.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Das war süße Musik in des kleinen Muck Ohren; er hatte gleich beim Eintritt
+seine Pantoffeln auf dem Boden stehen sehen, gleich daneben lag auch sein
+Stäbchen. Er ging nun umher in dem Saal, wie wenn er die Schätze des Königs
+bewundern wollte; kaum aber war er an seine Pantoffeln gekommen, so schlüpfte
+er eilends hinein, ergriff sein Stäbchen, riß seinen falschen Bart herab und
+zeigte dem erstaunten König das wohlbekannte Gesicht seines verstoßenen Muck.
+&bdquo;Treuloser König&ldquo;, sprach er, &bdquo;der du treue Dienste mit
+Undank lohnst, nimm als wohlverdiente Strafe die Mißgestalt, die du trägst. Die
+Ohren laß ich dir zurück, damit sie dich täglich erinnern an den kleinen
+Muck.&ldquo; Als er so gesprochen hatte, drehte er sich schnell auf dem Absatz
+herum, wünschte sich weit hinweg, und ehe noch der König um Hilfe rufen konnte,
+war der kleine Muck entflohen. Seitdem lebt der kleine Muck hier in großem
+Wohlstand, aber einsam; denn er verachtet die Menschen. Er ist durch Erfahrung
+ein weiser Mann geworden, welcher, wenn auch sein Äußeres etwas Auffallendes
+haben mag, deine Bewunderung mehr als deinen Spott verdient.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;So erzählte mir mein Vater; ich bezeugte ihm meine Reue über mein rohes
+Betragen gegen den guten kleinen Mann, und mein Vater schenkte mir die andere
+Hälfte der Strafe, die er mir zugedacht hatte. Ich erzählte meinen Kameraden
+die wunderbaren Schicksale des Kleinen, und wir gewannen ihn so lieb, daß ihn
+keiner mehr schimpfte. Im Gegenteil, wir ehrten ihn, solange er lebte, und
+haben uns vor ihm immer so tief wie vor Kadi und Mufti gebückt.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Reisenden beschlossen, einen Rasttag in dieser Karawanserei zu machen, um
+sich und die Tiere zur weiteren Reise zu stärken. Die gestrige Fröhlichkeit
+ging auch auf diesen Tag über, und sie ergötzten sich in allerlei Spielen. Nach
+dem Essen aber riefen sie dem fünften Kaufmann, Ali Sizah, zu, auch seine
+Schuldigkeit gleich den übrigen zu tun und eine Geschichte zu erzählen. Er
+antwortete, sein Leben sei zu arm an auffallenden Begebenheiten, als daß er
+ihnen etwas davon mitteilen möchte, daher wolle er ihnen etwas anderes
+erzählen, nämlich: Das Märchen vom falschen Prinzen.
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap08"></a>Das Märchen vom falschen Prinzen</h2>
+
+<p class="center">
+Wilhelm Hauff
+</p>
+
+<p>
+Es war einmal ein ehrsamer Schneidergeselle, namens Labakan, der bei einem
+geschickten Meister in Alessandria sein Handwerk lernte. Man konnte nicht
+sagen, daß Labakan ungeschickt mit der Nadel war, im Gegenteil, er konnte recht
+feine Arbeit machen. Auch tat man ihm unrecht, wenn man ihn geradezu faul
+schalt; aber ganz richtig war es doch nicht mit dem Gesellen, denn er konnte
+oft stundenweis in einem fort nähen, daß ihm die Nadel in der Hand glühend ward
+und der Faden rauchte, da gab es ihm dann ein Stück wie keinem anderen; ein
+andermal aber, und dies geschah leider öfters, saß er in tiefen Gedanken, sah
+mit starren Augen vor sich hin und hatte dabei in Gesicht und Wesen etwas so
+Eigenes, daß sein Meister und die übrigen Gesellen von diesem Zustand nie
+anders sprachen als: &bdquo;Labakan hat wieder sein vornehmes Gesicht.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Am Freitag aber, wenn andere Leute vom Gebet ruhig nach Haus an ihre Arbeit
+gingen, trat Labakan in einem schönen Kleid, das er sich mit vieler Mühe
+zusammengespart hatte, aus der Moschee, ging langsam und stolzen Schrittes
+durch die Plätze und Straßen der Stadt, und wenn ihm einer seiner Kameraden ein
+&bdquo;Friede sei mit dir&ldquo;, oder &bdquo;Wie geht es, Freund
+Labakan?&ldquo; bot, so winkte er gnädig mit der Hand oder nickte, wenn es hoch
+kam, vornehm mit dem Kopf. Wenn dann sein Meister im Spaß zu ihm sagte:
+&bdquo;An dir ist ein Prinz verlorengegangen, Labakan&ldquo;, so freute er sich
+darüber und antwortete: &bdquo;Habt Ihr das auch bemerkt?&ldquo; oder:
+&bdquo;Ich habe es schon lange gedacht!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+So trieb es der ehrsame Schneidergeselle Labakan schon eine geraume Zeit, sein
+Meister aber duldete seine Narrheit, weil er sonst ein guter Mensch und
+geschickter Arbeiter war. Aber eines Tages schickte Selim, der Bruder des
+Sultans, der gerade durch Alessandria reiste, ein Festkleid zu dem Meister, um
+einiges daran verändern zu lassen, und der Meister gab es Labakan, weil dieser
+die feinste Arbeit machte. Als abends der Meister und die Gesellen sich
+hinwegbegeben hatten, um nach des Tages Last sich zu erholen, trieb eine
+unwiderstehliche Sehnsucht Labakan wieder in die Werkstatt zurück, wo das Kleid
+des kaiserlichen Bruders hing. Er stand lange sinnend davor, bald den Glanz der
+Stickerei, bald die schillernden Farben des Samts und der Seide an dem Kleide
+bewundernd. Er konnte nicht anders, er mußte es anziehen, und siehe da, es
+paßte ihm so trefflich, wie wenn es für ihn wäre gemacht worden. &bdquo;Bin ich
+nicht so gut ein Prinz als einer?&ldquo; fragte er sich, indem er im Zimmer auf
+und ab schritt. &bdquo;Hat nicht der Meister selbst schon gesagt, daß ich zum
+Prinzen geboren sei?&ldquo; Mit den Kleidern schien der Geselle eine ganz
+königliche Gesinnung angezogen zu haben; er konnte sich nicht anders denken,
+als er sei ein unbekannter Königssohn, und als solcher beschloß er, in die Welt
+zu reisen und einen Ort zu verlassen, wo die Leute bisher so töricht gewesen
+waren, unter der Hülle seines niederen Standes nicht seine angebotene Würde zu
+erkennen. Das prachtvolle Kleid schien ihm von einer gütigen Fee geschickt, er
+hütete sich daher wohl, ein so teures Geschenk zu verschmähen, steckte seine
+geringe Barschaft zu sich und wanderte, begünstigt von dem Dunkel der Nacht,
+aus Alessandrias Toren.
+</p>
+
+<p>
+Der neue Prinz erregte überall auf seiner Wanderschaft Verwunderung, denn das
+prachtvolle Kleid und sein ernstes, majestätisches Wesen wollten gar nicht
+passen für einen Fußgänger. Wenn man ihn darüber befragte, pflegte er mit
+geheimnisvoller Miene zu antworten, daß das seine eigenen Ursachen habe. Als er
+aber merkte, daß er sich durch seine Fußwanderungen lächerlich machte, kaufte
+er um geringen Preis ein altes Roß, welches sehr für ihn paßte, da es ihn mit
+seiner gesetzten Ruhe und Sanftmut nie in die Verlegenheit brachte, sich als
+geschickter Reiter zeigen zu müssen, was gar nicht seine Sache war.
+</p>
+
+<p>
+Eines Tages, als er Schritt vor Schritt auf seinem Murva, so hatte er sein Roß
+genannt, seine Straße zog, schloß sich ein Reiter an ihn an und bat ihn, in
+seiner Gesellschaft reiten zu dürfen, weil ihm der Weg viel kürzer werde im
+Gespräch mit einem anderen. Der Reiter war ein fröhlicher, junger Mann, schön
+und angenehm im Umgang. Er hatte mit Labakan bald ein Gespräch angeknüpft über
+Woher und Wohin, und es traf sich, daß auch er, wie der Schneidergeselle, ohne
+Plan in die Welt hinauszog. Er sagte, er heiße Omar, sei der Neffe Elfi Beys,
+des unglücklichen Bassas von Kairo, und reise nun umher, um einen Auftrag, den
+ihm sein Oheim auf dem Sterbebette erteilt habe, auszurichten. Labakan ließ
+sich nicht so offenherzig über seine Verhältnisse aus, er gab ihm zu verstehen,
+daß er von hoher Abkunft sei und zu seinem Vergnügen reise.
+</p>
+
+<p>
+Die beiden jungen Herren fanden Gefallen aneinander und zogen fürder. Am
+zweiten Tage ihrer gemeinschaftlichen Reise fragte Labakan seinen Gefährten
+Omar nach den Aufträgen, die er zu besorgen habe, und erfuhr zu seinem
+Erstaunen folgendes: Elfi Bey, der Bassa von Kairo, hatte den Omar seit seiner
+frühesten Kindheit erzogen, und dieser hatte seine Eltern nie gekannt. Als nun
+Elfi Bey von seinen Feinden überfallen worden war und nach drei unglücklichen
+Schlachten, tödlich verwundet, fliehen mußte, entdeckte er seinem Zögling, daß
+er nicht sein Neffe sei, sondern der Sohn eines mächtigen Herrschers, welcher
+aus Furcht vor den Prophezeiungen seiner Sterndeuter den jungen Prinzen von
+seinem Hofe entfernt habe, mit dem Schwur, ihn erst an seinem
+zweiundzwanzigsten Geburtstage wiedersehen zu wollen. Elfi Bey habe ihm den
+Namen seines Vaters nicht genannt, sondern ihm nur aufs bestimmteste
+aufgetragen, am fünften Tage des kommenden Monats Ramadan, an welchem Tage er
+zweiundzwanzig Jahre alt werde, sich an der berühmten Säule El-Serujah, vier
+Tagreisen östlich von Alessandria, einzufinden; dort soll er den Männern, die
+an der Säule stehen würden, einen Dolch, den er ihm gab, überreichen mit den
+Worten: &bdquo;Hier bin ich, den ihr suchet&ldquo;; wenn sie antworteten:
+&bdquo;Gelobt sei der Prophet, der dich erhielt!&ldquo;, so solle er ihnen
+folgen, sie würden ihn zu seinem Vater führen.
+</p>
+
+<p>
+Der Schneidergeselle Labakan war sehr erstaunt über diese Mitteilung, er
+betrachtete von jetzt an den Prinzen Omar mit neidischen Augen, erzürnt
+darüber, daß das Schicksal jenem, obgleich er schon für den Neffen eines
+mächtigen Bassa galt, noch die Würde eines Fürstensohnes verliehen, ihm aber,
+den es mit allem, was einem Prinzen nottut, ausgerüstet, gleichsam zum Hohn
+eine dunkle Geburt und einen gewöhnlichen Lebensweg verliehen habe. Er stellte
+Vergleichungen zwischen sich und dem Prinzen an. Er mußte sich gestehen, es sei
+jener ein Mann von sehr vorteilhafter Gesichtsbildung; schöne, lebhafte Augen,
+eine kühngebogene Nase, ein sanftes, zuvorkommendes Benehmen, kurz, so viele
+Vorzüge des Äußeren, die jemand empfehlen können, waren jenem eigen. Aber so
+viele Vorzüge er auch an seinem Begleiter fand, so gestand er sich doch bei
+diesen Beobachtungen, daß ein Labakan dem fürstlichen Vater wohl noch
+willkommener sein dürfte als der wirkliche Prinz.
+</p>
+
+<p>
+Diese Betrachtungen verfolgten Labakan den ganzen Tag, mit ihnen schlief er im
+nächsten Nachtlager ein, aber als er morgens aufwachte und sein Blick auf den
+neben ihm schlafenden Omar fiel, der so ruhig schlafen und von seinem gewissen
+Glück träumen konnte, da erwachte in ihm der Gedanke, sich durch List oder
+Gewalt zu erstreben, was ihm das ungünstige Schicksal versagt hatte. Der Dolch,
+das Erkennungszeichen des heimkehrenden Prinzen, sah aus dem Gürtel des
+Schlafenden hervor, leise zog er ihn hervor, um ihn in die Brust des
+Eigentümers zu stoßen. Doch vor dem Gedanken des Mordes entsetzte sich die
+friedfertige Seele des Gesellen; er begnügte sich, den Dolch zu sich zu
+stecken, das schnellere Pferd des Prinzen für sich aufzäumen zu lassen, und ehe
+Omar aufwachte und sich aller seiner Hoffnungen beraubt sah, hatte sein
+treuloser Gefährte schon einen Vorsprung von mehreren Meilen.
+</p>
+
+<p>
+Es war gerade der erste Tag des heiligen Monats Ramadan, an welchem Labakan den
+Raub an dem Prinzen begangen hatte, und er hatte also noch vier Tage, um zu der
+Säule El Serujah, welche ihm wohlbekannt war, zu gelangen. Obgleich die Gegend,
+worin sich diese Säule befand, höchstens noch zwei Tagreisen entfernt sein
+konnte, so beeilte er sich doch hinzukommen, weil er immer fürchtete, von dem
+wahren Prinzen eingeholt zu werden.
+</p>
+
+<p>
+Am Ende des zweiten Tages erblickte Labakan die Säule El-Serujah. Sie stand auf
+einer kleinen Anhöhe in einer weiten Ebene und konnte auf zwei bis drei Stunden
+gesehen werden. Labakans Herz pochte lauter bei diesem Anblick; obgleich er die
+letzten zwei Tage hindurch Zeit genug gehabt, über die Rolle, die er zu spielen
+hatte, nachzudenken, so machte ihn doch das böse Gewissen etwas ängstlich, aber
+der Gedanke, daß er zum Prinzen geboren sei, stärkte ihn wieder, so daß er
+getrösteter seinem Ziele entgegenging.
+</p>
+
+<p>
+Die Gegend um die Säule El-Serujah war unbewohnt und öde, und der neue Prinz
+wäre wegen seines Unterhalts etwas in Verlegenheit gekommen, wenn er sich nicht
+auf mehrere Tage versehen hätte. Er lagerte sich also neben seinem Pferd unter
+einigen Palmen und erwartete dort sein ferneres Schicksal.
+</p>
+
+<p>
+Gegen die Mitte des anderen Tages sah er einen großen Zug von Pferden und
+Kamelen über die Ebene her auf die Säule El-Serujah zuziehen. Der Zug hielt am
+Fuße des Hügels, auf welchem die Säule stand, man schlug prächtige Zelte auf,
+und das Ganze sah aus wie der Reisezug eines reichen Bassa oder Scheik. Labakan
+ahnte, daß die vielen Leute, welche er sah, sich seinetwegen hierher bemüht
+hatten, und hätte ihnen gerne schon heute ihren künftigen Gebieter gezeigt;
+aber er mäßigte seine Begierde, als Prinz aufzutreten, da ja doch der nächste
+Morgen seine kühnsten Wünsche vollkommen befriedigen mußte.
+</p>
+
+<p>
+Die Morgensonne weckte den überglücklichen Schneider zu dem wichtigsten
+Augenblick seines Lebens, welcher ihn aus einem niederen, unbekannten
+Sterblichen an die Seite eines fürstlichen Vaters erheben sollte; zwar fiel
+ihm, als er sein Pferd aufzäumte, um zu der Säule hinzureiten, wohl auch das
+Unrechtmäßige seines Schrittes ein; zwar führten ihm seine Gedanken den Schmerz
+des in seinen schönen Hoffnungen betrogenen Fürstensohnes vor, aber&mdash;der
+Würfel war geworfen, er konnte nicht mehr ungeschehen machen, was geschehen
+war, und seine Eigenliebe flüsterte ihm zu, daß er stattlich genug aussehe, um
+dem mächtigsten König sich als Sohn vorzustellen; ermutigt durch diesen
+Gedanken, schwang er sich auf sein Roß, nahm alle seine Tapferkeit zusammen, um
+es in einen ordentlichen Galopp zu bringen, und in weniger als einer
+Viertelstunde war er am Fuße des Hügels angelangt. Er stieg ab von seinem Pferd
+und band es an eine Staude, deren mehrere an dem Hügel wuchsen; hierauf zog er
+den Dolch des Prinzen Omar hervor und stieg den Hügel hinan. Am Fuß der Säule
+standen sechs Männer um einen Greis von hohem, königlichem Ansehen; ein
+prachtvoller Kaftan von Goldstoff, mit einem weißen Kaschmirschal umgürtet, der
+weiße, mit blitzenden Edelsteinen geschmückte Turban bezeichneten ihn als einen
+Mann von Reichtum und Würde.
+</p>
+
+<p>
+Auf ihn ging Labakan zu, neigte sich tief vor ihm und sprach, indem er den
+Dolch darreichte: &bdquo;Hier bin ich, den Ihr suchet. &bdquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Gelobt sei der Prophet, der dich erhielt!&ldquo; antwortete der Greis
+mit Freudentränen. &bdquo;Umarme deinen alten Vater, mein geliebter Sohn
+Omar!&ldquo; Der gute Schneider war sehr gerührt durch diese feierlichen Worte
+und sank mit einem Gemisch von Freude und Scham in die Arme des alten Fürsten.
+</p>
+
+<p>
+Aber nur einen Augenblick sollte er ungetrübt die Wonne seines neuen Standes
+genießen; als er sich aus den Armen des fürstlichen Greises aufrichtete, sah er
+einen Reiter über die Ebene her auf den Hügel zueilen. Der Reiter und sein Roß
+gewährten einen sonderbaren Anblick; das Roß schien aus Eigensinn oder
+Müdigkeit nicht vorwärts zu wollen, in einem stolpernden Gang, der weder
+Schritt noch Trab war, zog es daher, der Reiter aber trieb es mit Händen und
+Füßen zu schnellerem Laufe an. Nur zu bald erkannte Labakan sein Roß Murva und
+den echten Prinzen Omar, aber der böse Geist der Lüge war einmal in ihn
+gefahren, und er beschloß, wie es auch kommen möge, mit eiserner Stirne seine
+angemaßten Rechte zu behaupten.
+</p>
+
+<p>
+Schon aus der Ferne hatte man den Reiter winken gesehen; jetzt war er trotz des
+schlechten Trabes des Rosses Murva am Fuße des Hügels angekommen, warf sich vom
+Pferd und stürzte den Hügel hinan. &bdquo;Haltet ein!&ldquo; rief er.
+&bdquo;Wer ihr auch sein möget, haltet ein und laßt euch nicht von dem
+schändlichsten Betrüger täuschen; ich heiße Omar, und kein Sterblicher wage es,
+meinen Namen zu mißbrauchen!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Auf den Gesichtern der Umstehenden malte sich tiefes Erstaunen über diese
+Wendung der Dinge; besonders schien der Greis sehr betroffen, indem er bald den
+einen, bald den anderen fragend ansah; Labakan aber sprach mit mühsam
+errungener Ruhe: &bdquo;Gnädigster Herr und Vater, laßt Euch nicht irremachen
+durch diesen Menschen da! Es ist, soviel ich weiß, ein wahnsinniger
+Schneidergeselle aus Alessandria, Labakan geheißen, der mehr unser Mitleid als
+unseren Zorn verdient.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Bis zur Raserei aber brachten diese Worte den Prinzen; schäumend vor Wut wollte
+er auf Labakan eindringen, aber die Umstehenden warfen sich dazwischen und
+hielten ihn fest, und der Fürst sprach: &bdquo;Wahrhaftig, mein lieber Sohn,
+der arme Mensch ist verrückt; man binde ihn und setze ihn auf eines unserer
+Dromedare, vielleicht, daß wir dem Unglücklichen Hilfe schaffen können.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Wut des Prinzen hatte sich gelegt, weinend rief er dem Fürsten zu:
+&bdquo;Mein Herz sagt mir, daß Ihr mein Vater seid; bei dem Andenken meiner
+Mutter beschwöre ich Euch, hört mich an!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ei, Gott bewahre uns!&ldquo; antwortete dieser, &bdquo;er fängt schon
+wieder an, irre zu reden, wie doch der Mensch auf so tolle Gedanken kommen
+kann!&ldquo; Damit ergriff er Labakans Arm und ließ sich von ihm den Hügel
+hinuntergeleiten; sie setzten sich beide auf schöne, mit reichen Decken
+behängte Pferde und ritten an der Spitze des Zuges über die Ebene hin. Dem
+unglücklichen Prinzen aber fesselte man die Hände und band ihn auf einem
+Dromedar fest, und zwei Reiter waren ihm immer zur Seite, die ein wachsames
+Auge auf jede seiner Bewegungen hatten.
+</p>
+
+<p>
+Der fürstliche Greis war Saaud, der Sultan der Wechabiten. Er hatte lange ohne
+Kinder gelebt, endlich wurde ihm ein Prinz geboren, nach dem er sich so lange
+gesehnt hatte; aber die Sterndeuter, welche er um die Vorbedeutungen des Knaben
+befragte, taten den Ausspruch, &bdquo;daß er bis ins zweiundzwanzigste Jahr in
+Gefahr stehe, von einem Feinde verdrängt zu werden&ldquo;, deswegen, um recht
+sicherzugehen, hatte der Sultan den Prinzen seinem alten, erprobten Freunde
+Elfi-Bey zum Erziehen gegeben und zweiundzwanzig schmerzliche Jahre auf seinen
+Anblick geharrt.
+</p>
+
+<p>
+Dieses hatte der Sultan seinem (vermeintlichen) Sohne erzählt und sich ihm
+außerordentlich zufrieden mit seiner Gestalt und seinem würdevollen Benehmen
+gezeigt.
+</p>
+
+<p>
+Als sie in das Land des Sultans kamen, wurden sie überall von den Einwohnern
+mit Freudengeschrei empfangen; denn das Gerücht von der Ankunft des Prinzen
+hatte sich wie ein Lauffeuer durch alle Städte und Dörfer verbreitet. Auf den
+Straßen, durch welche sie zogen, waren Bögen von Blumen und Zweigen errichtet,
+glänzende Teppiche von allen Farben schmeckten die Häuser, und das Volk pries
+laut Gott und seinen Propheten, der ihnen einen so schönen Prinzen gesandt
+habe. Alles dies erfüllte das stolze Herz des Schneiders mit Wonne; desto
+unglücklicher mußte sich aber der echte Omar fühlen, der, noch immer gefesselt,
+in stiller Verzweiflung dem Zuge folgte. Niemand kümmerte sich um ihn bei dem
+allgemeinen Jubel, der doch ihm galt; den Namen Omar riefen tausend und wieder
+tausend Stimmen, aber ihn, der diesen Namen mit Recht trug, ihn beachtete
+keiner; höchstens fragte einer oder der andere, wen man denn so fest gebunden
+mit fortfahre, und schrecklich tönte in das Ohr des Prinzen die Antwort seiner
+Begleiter, es sei ein wahnsinniger Schneider.
+</p>
+
+<p>
+Der Zug war endlich in die Hauptstadt des Sultans gekommen, wo alles noch
+glänzender zu ihrem Empfang bereitet war als in den übrigen Städten. Die
+Sultanin, eine ältliche, ehrwürdige Frau, erwartete sie mit ihrem ganzen
+Hofstaat in dem prachtvollsten Saal des Schlosses. Der Boden dieses Saales war
+mit einem ungeheuren Teppich bedeckt, die Wände waren mit hellblauem Tuch
+geschmeckt, das in goldenen Quasten und Schnüren an großen, silbernen Haken
+hing.
+</p>
+
+<p>
+Es war schon dunkel, als der Zug anlangte, daher waren im Saale viele
+kugelrunde, farbige Lampen angezündet, welche die Nacht zum Tag erhellten. Am
+klarsten und vielfarbigsten strahlten sie aber im Hintergrund des Saales, wo
+die Sultanin auf einem Throne saß. Der Thron stand auf vier Stufen und war von
+lauterem Golde und mit großen Amethysten ausgelegt. Die vier vornehmsten Emire
+hielten einen Baldachin von roter Seide über dem Haupte der Sultanin, und der
+Scheik von Medina fächelte ihr mit einer Windfuchtel von weißen Pfauenfedern
+Kühlung zu.
+</p>
+
+<p>
+So erwartete die Sultanin ihren Gemahl und ihren Sohn, auch sie hatte ihn seit
+seiner Geburt nicht mehr gesehen, aber bedeutsam Träume hatten ihr den
+Ersehnten gezeigt, daß sie ihn aus Tausenden erkennen wollte. Jetzt hörte man
+das Geräusch des nahenden Zuges, Trompeten und Trommeln mischten sich in das
+Zujauchzen der Menge, der Hufschlag der Rosse tönte im Hof des Palastes, näher
+und näher rauschten die Tritte der Kommenden, die Türen des Saales flogen auf,
+und durch die Reihen der niederfallenden Diener eilte der Sultan an der Hand
+seines Sohnes vor den Thron der Mutter.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Hier&ldquo;, sprach er, &bdquo;bringe ich dir den, nach welchem du dich
+so lange gesehnet.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Sultanin aber fiel ihm in die Rede: &bdquo;Das ist mein Sohn nicht!&ldquo;
+rief sie aus, &bdquo;das sind nicht die Züge, die mir der Prophet im Traume
+gezeigt hat!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Gerade, als ihr der Sultan ihren Aberglauben verweisen wollte, sprang die Türe
+des Saales auf. Prinz Omar stürzte herein, verfolgt von seinen Wächtern, denen
+er sich mit Anstrengung aller seiner Kraft entrissen hatte, er warf sich
+atemlos vor dem Throne nieder: &bdquo;Hier will ich sterben, laßt mich töten,
+grausamer Vater; denn diese Schmach dulde ich nicht länger!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Alles war bestürzt über diese Reden; man drängte sich um den Unglücklichen her,
+und schon wollten ihn die herbeieilenden Wachen ergreifen und ihm wieder seine
+Bande anlegen, als die Sultanin, die in sprachlosem Erstaunen dieses alles mit
+angesehen hatte, von dem Throne aufsprang. &bdquo;Haltet ein!&ldquo; rief sie,
+&bdquo;dieser und kein anderer ist der Rechte, dieser ist&rsquo;s, den meine
+Augen nie gesehen und den mein Herz doch gekannt hat!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Wächter hatten unwillkürlich von Omar abgelassen, aber der Sultan,
+entflammt von wütendem Zorn, rief ihnen zu, den Wahnsinnigen zu binden:
+&bdquo;Ich habe hier zu entscheiden&ldquo;, sprach er mit gebietender Stimme,
+&bdquo;und hier richtet man nicht nach den Träumen der Weiber, sondern nach
+gewissen, untrüglichen Zeichen. Dieser hier (indem er auf Labakan zeigte) ist
+mein Sohn; denn er hat mir das Wahrzeichen meines Freundes Elfi, den Dolch,
+gebracht.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Gestohlen hat er ihn&ldquo;, schrie Omar, &bdquo;mein argloses Vertrauen
+hat er zum Verrat mißbraucht!&ldquo; Der Sultan aber hörte nicht auf die Stimme
+seines Sohnes; denn er war in allen Dingen gewohnt, eigensinnig nur seinem
+Urteil zu folgen; daher ließ er den unglücklichen Omar mit Gewalt aus dem Saal
+schleppen. Er selbst aber begab sich mit Labakan in sein Gemach, voll Wut über
+die Sultanin, seine Gemahlin, mit der er doch seit fünfundzwanzig Jahren in
+Frieden gelebt hatte.
+</p>
+
+<p>
+Die Sultanin aber war voll Kummer über diese Begebenheiten; sie war vollkommen
+überzeugt, daß ein Betrüger sich des Herzens des Sultans bemächtigt hatte, denn
+jenen Unglücklichen hatten ihr so viele bedeutsam Träume als ihren Sohn
+gezeigt.
+</p>
+
+<p>
+Als sich ihr Schmerz ein wenig gelegt hatte, sann sie auf Mittel, um ihren
+Gemahl von seinem Unrecht zu überzeugen. Es war dies allerdings schwierig; denn
+jener, der sich für ihren Sohn ausgab, hatte das Erkennungszeichen, den Dolch,
+überreicht und hatte auch, wie sie erfuhr, so viel von Omars früherem Leben von
+diesem selbst sich erzählen lassen, daß er seine Rolle, ohne sich zu verraten,
+spielte.
+</p>
+
+<p>
+Sie berief die Männer zu sich, die den Sultan zu der Säule El-Serujah begleitet
+hatten, um sich alles genau erzählen zu lassen, und hielt dann mit ihren
+vertrautesten Sklavinnen Rat. Sie wählten und verwarfen dies und jenes Mittel;
+endlich sprach Melechsalah, eine alte, kluge Zierkassierin: &bdquo;Wenn ich
+recht gehört habe, verehrte Gebieterin, so nannte der Überbringer des Dolches
+den, welchen du für deinen Sohn hältst, Labakan, einen verwirrten
+Schneider?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ja, so ist es&ldquo;, antwortete die Sultanin, &bdquo;aber was willst du
+damit?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Was meint Ihr&ldquo;, fuhr jene fort, &bdquo;wenn dieser Betrüger Eurem
+Sohn seinen eigenen Namen aufgeheftet hätte?&mdash;Und wenn dies ist, so gibt
+es ein herrliches Mittel, den Betrüger zu fangen, das ich Euch ganz im geheimen
+sagen will.&ldquo; Die Sultanin bot ihrer Sklavin das Ohr, und diese flüsterte
+ihr einen Rat zu, der ihr zu behagen schien, denn sie schickte sich an,
+sogleich zum Sultan zu gehen.
+</p>
+
+<p>
+Die Sultanin war eine kluge Frau, welche wohl die schwachen Seiten des Sultans
+kannte und sie zu benützen verstand. Sie schien daher, ihm nachgeben und den
+Sohn anerkennen zu wollen, und bat sich nur eine Bedingung aus; der Sultan, dem
+sein Aufbrausen gegen seine Frau leid tat, gestand die Bedingung zu, und sie
+sprach: &bdquo;Ich möchte gerne den beiden eine Probe ihrer Geschicklichkeit
+auferlegen; eine andere würde sie vielleicht reiten, fechten oder Speere werfen
+lassen, aber das sind Sachen, die ein jeder kann; nein, ich will ihnen etwas
+geben, wozu Scharfsinn gehört! Es soll nämlich jeder von ihnen einen Kaftan und
+ein Paar Beinkleider verfertigen, und da wollen wir einmal sehen, wer die
+schönsten macht.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der Sultan lachte und sprach: &bdquo;Ei, da hast du ja etwas recht Kluges
+ausgesonnen. Mein Sohn sollte mit deinem wahnsinnigen Schneider wetteifern, wer
+den besten Kaftan macht? Nein, das ist nichts.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Sultanin aber berief sich darauf, daß er ihr die Bedingung zum Voraus
+zugesagt habe, und der Sultan, welcher ein Mann von Wort war, gab endlich nach,
+obgleich er schwor, wenn der wahnsinnige Schneider seinen Kaftan auch noch so
+schön mache, könne er ihn doch nicht für seinen Sohn erkennen.
+</p>
+
+<p>
+Der Sultan ging selbst zu seinem Sohn und bat ihn, sich in die Grillen seiner
+Mutter zu schicken, die nun einmal durchaus einen Kaftan von seiner Hand zu
+sehen wünsche. Dem guten Labakan lachte das Herz vor Freude; wenn es nur an dem
+fehlt, dachte er bei sich, da soll die Frau Sultanin bald Freude an mir
+erleben.
+</p>
+
+<p>
+Man hatte zwei Zimmer eingerichtet, eines für den Prinzen, das andere für den
+Schneider; dort sollten sie ihre Kunst erproben, und man hatte jedem nur ein
+hinlängliches Stück Seidenzeug, Schere, Nadel und Faden gegeben.
+</p>
+
+<p>
+Der Sultan war sehr begierig, was für ein Ding von Kaftan wohl sein Sohn zutage
+fördern werde, aber auch der Sultanin pochte unruhig das Herz, ob ihre List
+wohl gelingen werde oder nicht. Man hatte den beiden zwei Tage zu ihrem
+Geschäft ausgesetzt, am dritten ließ der Sultan seine Gemahlin rufen, und als
+sie erschienen war, schickte er in jene zwei Zimmer, um die beiden Kaftane und
+ihre Verfertiger holen zu lassen. Triumphierend trat Labakan ein und breitete
+seinen Kaftan vor den erstaunten Blicken des Sultans aus. &bdquo;Siehe her,
+Vater&ldquo;, sprach er, &bdquo;siehe her, verehrte Mutter, ob dies nicht ein
+Meisterstück von einem Kaftan ist? Da laß ich es mit dem geschicktesten
+Hofschneider auf eine Wette ankommen, ob er einen solchen herausbringt.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Sultanin lächelte und wandte sich zu Omar: &bdquo;Und was hast du
+herausgebracht, mein Sohn?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Unwillig warf dieser den Seidenstoff und die Schere auf den Boden: &bdquo;Man
+hat mich gelehrt, ein Roß zu bändigen und einen Säbel zu schwingen, und meine
+Lanze trifft auf sechzig Gänge ihr Ziel&mdash;aber die Künste der Nadel sind
+mir fremd, sie wären auch unwürdig für einen Zögling Elfi Beys, des
+Beherrschers von Kairo.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Oh, du echter Sohn meines Herrn&ldquo;, rief die Sultanin, &bdquo;ach,
+daß ich dich umarmen, dich Sohn nennen dürfte! Verzeihet, mein Gemahl und
+Gebieter&ldquo;, sprach sie dann, indem sie sich zum Sultan wandte, &bdquo;daß
+ich diese List gegen Euch gebraucht habe; sehet Ihr jetzt noch nicht ein, wer
+Prinz und wer Schneider ist; fürwahr, der Kaftan ist köstlich, den Euer Herr
+Sohn gemacht hat, und ich möchte ihn gerne fragen, bei welchem Meister er
+gelernt habe.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der Sultan saß in tiefen Gedanken, mißtrauisch bald seine Frau, bald Labakan
+anschauend, der umsonst sein Erröten und seine Bestürzung, daß er sich so dumm
+verraten habe, zu bekämpfen suchte. &bdquo;Auch dieser Beweis genügt
+nicht&ldquo;, sprach er, &bdquo;aber ich weiß, Allah sei es gedankt, ein
+Mittel, zu erfahren, ob ich betrogen bin oder nicht.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Er befahl, sein schnellstes Pferd vorzufahren, schwang sich auf und ritt in
+einen Wald, der nicht weit von der Stadt begann. Dort wohnte nach einer alten
+Sage eine gütige Fee, Adolzaide geheißen, welche oft schon den Königen seines
+Stammes in der Stunde der Not mit ihrem Rat beigestanden war; dorthin eilte der
+Sultan.
+</p>
+
+<p>
+In der Mitte des Waldes war ein freier Platz, von hohen Zedern umgeben. Dort
+wohnte nach der Sage die Fee, und selten betrat ein Sterblicher diesen Platz,
+denn eine gewisse Scheu davor hatte sich aus alten Zeiten vom Vater auf den
+Sohn vererbt.
+</p>
+
+<p>
+Als der Sultan dort angekommen war, stieg er ab, band sein Pferd an einen Baum,
+stellte sich in die Mitte des Platzes und sprach mit lauter Stimme: &bdquo;Wenn
+es wahr ist, daß du meinen Vätern gütigen Rat erteiltest in der Stunde der Not,
+so verschmähe nicht die Bitte ihres Enkels und rate mir, wo menschlicher
+Verstand zu kurzsichtig ist!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Er hatte kaum die letzten Worte gesprochen, als sich eine der Zedern öffnete
+und eine verschleierte Frau in langen, weißen Gewändern hervortrat. &bdquo;Ich
+weiß, warum du zu mir kommst, Sultan Saaud, dein Wille ist redlich; darum soll
+dir auch meine Hilfe werden. Nimm diese zwei Kistchen! Laß jene beiden, welche
+deine Söhne sein wollen, wählen! Ich weiß, daß der, welcher der echte ist, das
+rechte nicht verfehlen wird.&ldquo; So sprach die Verschleierte und reichte ihm
+zwei kleine Kistchen von Elfenbein, reich mit Gold und Perlen verziert; auf den
+Deckeln, die der Sultan vergebens zu öffnen versuchte, standen Inschriften von
+eingesetzten Diamanten.
+</p>
+
+<p>
+Der Sultan besann sich, als er nach Hause ritt, hin und her, was wohl in den
+Kistchen sein könnte, welche er mit aller Mühe nicht zu öffnen vermochte. Auch
+die Aufschrift gab ihm kein Licht in der Sache; denn auf dem einen stand:
+&bdquo;Ehre und Ruhm&ldquo;, auf dem anderen: &bdquo;Glück und Reichtum&ldquo;.
+Der Sultan dachte bei sich, da würde auch ihm die Wahl schwer werden unter
+diesen beiden Dingen, die gleich anziehend, gleich lockend seien.
+</p>
+
+<p>
+Als er in seinen Palast zurückgekommen war, ließ er die Sultanin rufen und
+sagte ihr den Ausspruch der Fee, und eine wunderbare Hoffnung erfüllte sie, daß
+jener, zu dem ihr Herz sie hinzog, das Kistchen wählen würde, welches seine
+königliche Abkunft beweisen sollte.
+</p>
+
+<p>
+Vor dem Throne des Sultans wurden zwei Tische aufgestellt; auf sie setzte der
+Sultan mit eigener Hand die beiden Kistchen, bestieg dann den Thron und winkte
+einem seiner Sklaven, die Pforte des Saales zu öffnen. Eine glänzende
+Versammlung von Bassas und Emiren des Reiches, die der Sultan berufen hatte,
+strömte durch die geöffnete Pforte. Sie ließen sich auf prachtvollen Polstern
+nieder, welche die Wände entlang aufgestellt waren.
+</p>
+
+<p>
+Als sie sich alle niedergelassen hatten, winkte der König zum zweitenmal, und
+Labakan wurde hereingeführt. Mit stolzem Schritte ging er durch den Saal, warf
+sich vor dem Throne nieder und sprach: &bdquo;Was befiehlt mein Herr und
+Vater?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der Sultan erhob sich auf seinem Thron und sprach: &bdquo;Mein Sohn! Es sind
+Zweifel an der Echtheit deiner Ansprüche auf diesen Namen erhoben worden; eines
+jener Kistchen enthält die Bestätigung deiner echten Geburt, wähle! Ich zweifle
+nicht, du wirst das rechte wählen!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Labakan erhob sich und trat vor die Kistchen, er erwog lange, was er wählen
+sollte, endlich sprach er: &bdquo;Verehrter Vater! Was kann es Höheres geben
+als das Glück, dein Sohn zu sein, was Edleres als den Reichtum deiner Gnade?
+Ich wähle das Kistchen, das die Aufschrift &bdquo;Glück und Reichtum&ldquo;
+zeigt.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wir werden nachher erfahren, ob du recht gewählt hast; einstweilen setze
+dich dort auf das Polster zum Bassa von Medina&ldquo;, sagte der Sultan und
+winkte seinen Sklaven.
+</p>
+
+<p>
+Omar wurde hereingeführt; sein Blick war düster, seine Miene traurig, und sein
+Anblick erregte allgemeine Teilnahme unter den Anwesenden. Er warf sich vor dem
+Throne nieder und fragte nach dem Willen des Sultans.
+</p>
+
+<p>
+Der Sultan deutete ihm an, daß er eines der Kistchen zu wählen habe, er stand
+auf und trat vor den Tisch.
+</p>
+
+<p>
+Er las aufmerksam beide Inschriften und sprach: &bdquo;Die letzten Tage haben
+mich gelehrt, wie unsicher das Glück, wie vergänglich der Reichtum ist; sie
+haben mich aber auch gelehrt, daß ein unzerstörbares Gut in der Brust des
+Tapferen wohnt, die Ehre, und daß der leuchtende Stern des Ruhmes nicht mit dem
+Glück zugleich vergeht. Und sollte ich einer Krone entsagen, der Würfel
+liegt&mdash;Ehre und Ruhm, ich wähle euch!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Er setzte seine Hand auf das Kistchen, das er erwählt hatte; aber der Sultan
+befahl ihm, einzuhalten; er winkte Labakan, gleichfalls vor seinen Tisch zu
+treten, und auch dieser legte seine Hand auf sein Kistchen.
+</p>
+
+<p>
+Der Sultan aber ließ sich ein Becken mit Wasser von dem heiligen Brunnen Zemzem
+in Mekka bringen, wusch seine Hände zum Gebet, wandte sein Gesicht nach Osten,
+warf sich nieder und betete: &bdquo;Gott meiner Väter! Der du seit
+Jahrhunderten unsern Stamm rein und unverfälscht bewahrtest, gib nicht zu, daß
+ein Unwürdiger den Namen der Abassiden schände, sei mit deinem Schutze meinem
+echten Sohne nahe in dieser Stunde der Prüfung!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Der Sultan erhob sich und bestieg seinen Thron wieder; allgemeine Erwartung
+fesselte die Anwesenden, man wagte kaum zu atmen, man hätte ein Mäuschen über
+den Saal gehen hören können, so still und gespannt waren alle, die hintersten
+machten lange Hälse, um über die vorderen nach den Kistchen sehen zu können.
+Jetzt sprach der Sultan: &bdquo;Öffnet die Kistchen&ldquo;, und diese, die
+vorher keine Gewalt zu öffnen vermochte, sprangen von selbst auf.
+</p>
+
+<p>
+In dem Kistchen, das Omar gewählt hatte, lagen auf einem samtenen Kissen eine
+kleine goldene Krone und ein Zepter; in Labakans Kistchen&mdash;eine große
+Nadel und ein wenig Zwirn! Der Sultan befahl den beiden, ihre Kistchen vor ihn
+zu bringen. Er nahm das Krönchen von dem Kissen in seine Hand, und wunderbar
+war es anzusehen, wie er es nahm, wurde es größer und größer, bis es die Größe
+einer rechten Krone erreicht hatte. Er setzte die Krone seinem Sohn Omar, der
+vor ihm kniete, auf das Haupt, küßte ihn auf die Stirne und hieß ihn zu seiner
+Rechten sich niedersetzen. Zu Labakan aber wandte er sich und sprach: &bdquo;Es
+ist ein altes Sprichwort: Der Schuster bleibe bei seinem Leisten! Es scheint,
+als solltest du bei der Nadel bleiben. Zwar hast du meine Gnade nicht verdient,
+aber es hat jemand für dich gebeten, dem ich heute nichts abschlagen kann; drum
+schenke ich dir dein armseliges Leben, aber wenn ich dir guten Rates bin, so
+beeile dich, daß du aus meinem Lande kommst!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Beschämt, vernichtet, wie er war, vermochte der arme Schneidergeselle nichts zu
+erwidern; er warf sich vor dem Prinzen nieder, und Tränen drangen ihm aus den
+Augen: &bdquo;Könnt Ihr mir vergeben, Prinz?&ldquo; sagte er.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Treue gegen den Freund, Großmut gegen den Feind ist des Abassiden
+Stolz&ldquo;, antwortete der Prinz, indem er ihn aufhob, &bdquo;gehe hin in
+Frieden!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;O du mein echter Sohn!&ldquo; rief gerührt der alte Sultan und sank an
+die Brust des Sohnes; die Emire und Bassa und alle Großen des Reiches standen
+auf von ihren Sitzen und riefen: &bdquo;Heil dem neuen Königssohn!&ldquo; Und
+unter dem allgemeinen Jubel schlich sich Labakan, sein Kistchen unter dem Arm,
+aus dem Saal.
+</p>
+
+<p>
+Er ging hinunter in die Ställe des Sultans, zäumte sein Roß Murva auf und ritt
+zum Tore hinaus, Alessandria zu. Sein ganzes Prinzenleben kam ihm wie ein Traum
+vor, und nur das prachtvolle Kistchen, reich mit Perlen und Diamanten
+geschmückt, erinnerte ihn, daß er doch nicht geträumt habe.
+</p>
+
+<p>
+Als er endlich wieder nach Alessandria kam, ritt er vor das Haus seines alten
+Meisters, stieg ab, band sein Rößlein an die Türe und trat in die Werkstatt.
+Der Meister, der ihn nicht gleich kannte, machte ein großes Wesen und fragte,
+was ihm zu Dienst stehe; als er aber den Gast näher ansah und seinen alten
+Labakan erkannte, rief er seine Gesellen und Lehrlinge herbei, und alle
+stürzten sich wie wütend auf den armen Labakan, der keines solchen Empfangs
+gewärtig war, stießen und schlugen ihn mit Bügeleisen und Ellenmaß, stachen ihn
+mit Nadeln und zwickten ihn mit scharfen Scheren, bis er erschöpft auf einen
+Haufen alter Kleider niedersank.
+</p>
+
+<p>
+Als er nun so dalag, hielt ihm der Meister eine Strafrede über das gestohlene
+Kleid; vergebens versicherte Labakan, daß er nur deswegen wiedergekommen sei,
+um ihm alles zu ersetzen, vergebens bot er ihm den dreifachen Schadenersatz,
+der Meister und seine Gesellen fielen wieder über ihn her, schlugen ihn
+weidlich und warfen ihn zur Türe hinaus; zerschlagen und zerfetzt stieg er auf
+das Roß Murva und ritt in eine Karawanserei. Dort legte er sein müdes,
+zerschlagenes Haupt nieder und stellte Betrachtungen an über die Leiden der
+Erde, über das so oft verkannte Verdienst und über die Nichtigkeit und
+Flüchtigkeit aller Güter. Er schlief mit dem Entschluß ein, aller Größe zu
+entsagen und ein ehrsamer Bürger zu werden.
+</p>
+
+<p>
+Und den andere Tag gereute ihn sein Entschluß nicht; denn die schweren Hände
+des Meisters und seiner Gesellen schienen alle Hoheit aus ihm herausgeprügelt
+zu haben.
+</p>
+
+<p>
+Er verkaufte um einen hohen Preis sein Kistchen an einen Juwelenhändler, kaufte
+sich ein Haus und richtete sich eine Werkstatt zu seinem Gewerbe ein. Als er
+alles eingerichtet und auch ein Schild mit der Aufschrift Labakan,
+Kleidermacher vor sein Fenster gehängt hatte, setzte er sich und begann mit
+jener Nadel und dem Zwirn, die er in dem Kistchen gefunden, den Rock zu
+flicken, welchen ihm sein Meister so grausam zerfetzt hatte. Er wurde von
+seinem Geschäft abgerufen, und als er sich wieder an die Arbeit setzen wollte,
+welch sonderbarer Anblick bot sich ihm dar! Die Nadel nähte emsig fort, ohne
+von jemand geführt zu werden; sie machte feine, zierliche Stiche, wie sie
+selbst Labakan in seinen kunstreichsten Augenblicken nicht gemacht hatte!
+</p>
+
+<p>
+Wahrlich, auch das geringste Geschenk einer gütigen Fee ist nützlich und von
+großem Wert! Noch einen andere Wert hatte aber dies Geschenk, nämlich: Das
+Stückchen Zwirn ging nie aus, die Nadel mochte so fleißig sein, als sie wollte.
+</p>
+
+<p>
+Labakan bekam viele Kunden und war bald der berühmteste Schneider weit und
+breit; er schnitt die Gewänder zu und machte den ersten Stich mit der Nadel
+daran, und flugs arbeitete diese weiter ohne Unterlaß, bis das Gewand fertig
+war. Meister Labakan hatte bald die ganze Stadt zu Kunden; denn er arbeitete
+schön und außerordentlich billig, und nur über eines schüttelten die Leute von
+Alessandria den Kopf, nämlich: daß er ganz ohne Gesellen und bei verschlossenen
+Türen arbeitete.
+</p>
+
+<p>
+So war der Spruch des Kistchens, Glück und Reichtum verheißend, in Erfüllung
+gegangen; Glück und Reichtum begleiteten, wenn auch in bescheidenem Maße, die
+Schritte des guten Schneiders, und wenn er von dem Ruhm des jungen Sultans
+Omar, der in aller Munde lebte, hörte, wenn er hörte, daß dieser Tapfere der
+Stolz und die Liebe seines Volkes und der Schrecken seiner Feinde sei, da
+dachte der ehemalige Prinz bei sich: &bdquo;Es ist doch besser, daß ich ein
+Schneider geblieben bin; denn um die Ehre und den Ruhm ist es eine gar
+gefährliche Sache.&ldquo; So lebte Labakan, zufrieden mit sich, geachtet von
+seinen Mitbürgern, und wenn die Nadel indes nicht ihre Kraft verloren, so näht
+sie noch jetzt mit dem ewigen Zwirn der gütigen Fee Adolzaide.
+</p>
+
+<p>
+Mit Sonnenaufgang brach die Karawane auf und gelangte bald nach Birket el Had
+oder dem Pilgrimsbrunnen, von wo es nur noch drei Stunden Weges nach Kairo
+waren&mdash;Man hatte um diese Zeit die Karawane erwartet, und bald hatten die
+Kaufleute die Freude, ihre Freunde aus Kairo ihnen entgegenkommen zu sehen. Sie
+zogen in die Stadt durch das Tor Bebel Falch; denn es wird für eine glückliche
+Vorbedeutung gehalten, wenn man von Mekka kommt, durch dieses Tor einzuziehen,
+weil der Prophet hindurchgezogen ist.
+</p>
+
+<p>
+Auf dem Markt verabschiedeten sich die vier türkischen Kaufleute von dem
+Fremden und dem griechischen Kaufmann Zaleukos und gingen mit ihren Freunden
+nach Haus. Zaleukos aber zeigte dem Fremden eine gute Karawanserei und lud ihn
+ein, mit ihm das Mittagsmahl zu nehmen. Der Fremde sagte zu und versprach, wenn
+er nur vorher sich umgekleidet habe, zu erscheinen.
+</p>
+
+<p>
+Der Grieche hatte alle Anstalten getroffen, den Fremden, welchen er auf der
+Reise liebgewonnen hatte, gut zu bewirten, und als die Speisen und Getränke in
+gehöriger Ordnung aufgestellt waren, setzte er sich, seinen Gast zu erwarten.
+</p>
+
+<p>
+Langsam und schweren Schrittes hörte er ihn den Gang, der zu seinem Gemach
+führte, heraufkommen. Er erhob sich, um ihm freundlich entgegenzusehen und ihn
+an der Schwelle zu bewillkommnen; aber voll Entsetzen fuhr er zurück, als er
+die Türe öffnete; denn jener schreckliche Rotmantel trat ihm entgegen; er warf
+noch einen Blick auf ihn, es war keine Täuschung; dieselbe hohe, gebietende
+Gestalt, die Larve, aus welcher ihn die dunklen Augen anblitzten, der rote
+Mantel mit der goldenen Stickerei waren ihm nur allzuwohl bekannt aus den
+schrecklichsten Stunden seines Lebens.
+</p>
+
+<p>
+Widerstreitende Gefühle wogten in Zaleukos Brust; er hatte sich mit diesem Bild
+seiner Erinnerung längst ausgesöhnt und ihm vergeben, und doch riß sein Anblick
+alle seine Wunden wieder auf; alle jene qualvollen Stunden der Todesangst,
+jener Gram, der die Blüte seines Lebens vergiftete, zogen im Flug eines
+Augenblicks an seiner Seele vorüber.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Was willst du, Schrecklicher?&ldquo; rief der Grieche aus, als die
+Erscheinung noch immer regungslos auf der Schwelle stand. &bdquo;Weiche schnell
+von hinnen, daß ich dir nicht fluche!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Zaleukos!&ldquo; sprach eine bekannte Stimme unter der Larve hervor.
+&bdquo;Zaleukos! So empfängst du deinen Gastfreund?&ldquo; Der Sprechende nahm
+die Larve ab, schlug den Mantel zurück; es war Selim Baruch, der Fremde.
+</p>
+
+<p>
+Aber Zaleukos schien noch nicht beruhigt, ihm graute vor dem Fremden; denn nur
+zu deutlich hatte er in ihm den Unbekannten von der Ponte vecchio erkannt; aber
+die alte Gewohnheit der Gastfreundschaft siegte; er winkte schweigend dem
+Fremden, sich zu ihm ans Mahl zu setzen.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich errate deine Gedanken&ldquo;, nahm dieser das Wort, als sie sich
+gesetzt hatten. &bdquo;Deine Augen sehen fragend auf mich&mdash;ich hätte
+schweigen und mich deinen Blicken nie mehr zeigen können, aber ich bin dir
+Rechenschaft schuldig, und darum wagte ich es auch, auf die Gefahr hin, daß du
+mir fluchtest, vor dir in meiner alten Gestalt zu erscheinen. Du sagtest einst
+zu mir: Der Glaube meiner Väter befiehlt mir, ihn zu lieben, auch ist er wohl
+unglücklicher als ich; glaube dieses, mein Freund, und höre meine
+Rechtfertigung!
+</p>
+
+<p>
+Ich muß weit ausholen, um mich dir ganz verständlich zu machen. Ich bin in
+Alessandria von christlichen Eltern geboren. Mein Vater, der jüngere Sohn eines
+alten, berühmten französischen Hauses, war Konsul seines Landes in Alessandria.
+Ich wurde von meinem zehnten Jahre an in Frankreich bei einem Bruder meiner
+Mutter erzogen und verließ erst einige Jahre nach dem Ausbruch der Revolution
+mein Vaterland, um mit meinem Oheim, der in dem Lande seiner Ahnen nicht mehr
+sicher war, über dem Meer bei meinen Eltern eine Zuflucht zu suchen. Voll
+Hoffnung, die Ruhe und den Frieden, den uns das empörte Volk der Franzosen
+entrissen, im elterlichen Hause wiederzufinden, landeten wir. Aber ach! Ich
+fand nicht alles in meines Vaters Hause, wie es sein sollte; die äußeren Stürme
+der bewegten Zeit waren zwar noch nicht bis hierher gelangt, desto unerwarteter
+hatte das Unglück mein Haus im innersten Herzen heimgesucht. Mein Bruder, ein
+junger, hoffnungsvoller Mann, erster Sekretär meines Vaters, hatte sich erst
+seit kurzem mit einem jungen Mädchen, der Tochter eines florentinischen
+Edelmanns, der in unserer Nachbarschaft wohnte, verheiratet; zwei Tage vor
+unserer Ankunft war diese auf einmal verschwunden, ohne daß weder unsere
+Familie noch ihr Vater die geringste Spur von ihr auffinden konnten. Man
+glaubte endlich, sie habe sich auf einem Spaziergang zu weit gewagt und sei in
+Räuberhände gefallen. Beinahe tröstlicher wäre dieser Gedanke für meinen armen
+Bruder gewesen als die Wahrheit, die uns nur bald kund wurde. Die Treulose
+hatte sich mit einem jungen Neapolitaner, den sie im Hause ihres Vaters
+kennengelernt hatte, eingeschifft. Mein Bruder, aufs äußerste empört über
+diesen Schritt, bot alles auf, die Schuldige zur Strafe zu ziehen; doch
+vergebens; seine Versuche, die in Neapel und Florenz Aufsehen erregt hatten,
+dienten nur dazu, sein und unser aller Unglück zu vollenden. Der florentinische
+Edelmann reiste in sein Vaterland zurück, zwar mit dem Vorgeben, meinem Bruder
+Recht zu verschaffen, der Tat nach aber, um uns zu verderben. Er schlug in
+Florenz alle jene Untersuchungen, welche mein Bruder angeknüpft hatte, nieder
+und wußte seinen Einfluß, den er auf alle Art sich verschafft hatte, so gut zu
+benützen, daß mein Vater und mein Bruder ihrer Regierung verdächtig gemacht und
+durch die schändlichsten Mittel gefangen, nach Frankreich geführt und dort vom
+Beil des Henkers getötet wurden. Meine arme Mutter verfiel in Wahnsinn, und
+erst nach zehn langen Monaten erlöste sie der Tod von ihrem schrecklichen
+Zustand, der aber in den letzten Tagen zu vollem, klarem Bewußtsein geworden
+war. So stand ich jetzt ganz allein in der Welt, aber nur ein Gedanke
+beschäftigte meine Seele, nur ein Gedanke ließ mich meine Trauer vergessen, es
+war jene mächtige Flamme, die meine Mutter in ihrer letzten Stunde in mir
+angefacht hatte.
+</p>
+
+<p>
+In den letzten Stunden war, wie ich dir sagte, ihr Bewußtsein zurückgekehrt;
+sie ließ mich rufen und sprach mit Ruhe von unserem Schicksal und ihrem Ende.
+Dann aber ließ sie alle aus dem Zimmer gehen, richtete sich mit feierlicher
+Miene von ihrem ärmlichen Lager auf und sagte, ich könne mir ihren Segen
+erwerben, wenn ich ihr schwöre, etwas auszufahren, das sie mir auftragen
+würde&mdash;Ergriffen von den Worten der sterbenden Mutter, gelobte ich mit
+einem Eide zu tun, wie sie mir sagen werde. Sie brach nun in Verwünschungen
+gegen den Florentiner und seine Tochter aus und legte mir mit den
+fürchterlichsten Drohungen ihres Fluches auf, mein unglückliches Haus an ihm zu
+rächen. Sie starb in meinen Armen. Jener Gedanke der Rache hatte schon lange in
+meiner Seele geschlummert; jetzt erwachte er mit aller Macht. Ich sammelte den
+Rest meines väterlichen Vermögens und schwor mir, alles an meine Rache zu
+setzen oder selbst mit unterzugehen.
+</p>
+
+<p>
+Bald war ich in Florenz, wo ich mich so geheim als möglich aufhielt; mein Plan
+war um vieles erschwert worden durch die Lage, in welcher sich meine Feinde
+befanden. Der alte Florentiner war Gouverneur geworden und hatte so alle Mittel
+in der Hand, sobald er das geringste ahnte, mich zu verderben. Ein Zufall kam
+mir zu Hilfe. Eines Abends sah ich einen Menschen in bekannter Livree durch die
+Straßen gehen; sein unsicherer Gang, sein finsterer Blick und das halblaut
+herausgestoßene &bdquo;Santo sacramento&ldquo;, &bdquo;Maledetto diavolo&ldquo;
+ließen mich den alten Pietro, einen Diener des Florentiners, den ich schon in
+Alessandria gekannt hatte, erkennen. Ich war nicht in Zweifel, daß er über
+seinen Herrn in Zorn geraten sei, und beschloß, seine Stimmung zu benützen. Er
+schien sehr überrascht, mich hier zu sehen, klagte mir sein Leiden, daß er
+seinem Herrn, seit er Gouverneur geworden, nichts mehr recht machen könne, und
+mein Gold, unterstützt von seinem Zorn, brachte ihn bald auf meine Seite. Das
+Schwierigste war jetzt beseitigt; ich hatte einen Mann in meinem Solde, der mir
+zu jeder Stunde die Türe meines Feindes öffnete, und nun reifte mein Racheplan
+immer schneller heran. Das Leben des alten Florentiners schien mir ein zu
+geringes Gewicht, dem Untergang meines Hauses gegenüber, zu haben. Sein
+Liebstes mußte er gemordet sehen, und dies war Bianka, seine Tochter. Hatte ja
+sie so schändlich an meinem Bruder gefrevelt, war ja doch sie die Ursache
+unseres Unglücks. Gar erwünscht kam sogar meinem rachedürstigen Herzen die
+Nachricht, daß in dieser Zeit Bianka zum zweitenmal sich vermählen wollte, es
+war beschlossen, sie mußte sterben. Aber mir selbst graute vor der Tat, und
+auch Pietro traute sich zu wenig Kraft zu; darum spähten wir umher nach einem
+Mann, der das Geschäft vollbringen könne. Unter den Florentinern wagte ich
+keinen zu dingen, denn gegen den Gouverneur würde keiner etwas Solches
+unternommen haben. Da fiel Pietro der Plan ein, den ich nachher ausgeführt
+habe; zugleich schlug er dich als Fremden und Arzt als den Tauglichsten vor.
+Den Verlauf der Sache weißt du. Nur an deiner großen Vorsicht und Ehrlichkeit
+schien mein Unternehmen zu scheitern. Daher der Zufall mit dem Mantel.
+</p>
+
+<p>
+Pietro öffnete uns das Pförtchen an dem Palast des Gouverneurs; er hätte uns
+auch ebenso heimlich wieder hinausgeleitet, wenn wir nicht, durch den
+schrecklichen Anblick, der sich uns durch die Türspalte darbot, erschreckt,
+entflohen wären. Von Schrecken und Reue gejagt, war ich über zweihundert
+Schritte fortgerannt, bis ich auf den Stufen einer Kirche niedersank. Dort erst
+sammelte ich mich wieder, und mein erster Gedanke warst du und dein
+schreckliches Schicksal, wenn man dich in dem Hause fände. Ich schlich an den
+Palast, aber weder von Pietro noch von dir konnte ich eine Spur entdecken; das
+Pförtchen aber war offen, so konnte ich wenigstens hoffen, daß du die
+Gelegenheit zur Flucht benützt haben könntest.
+</p>
+
+<p>
+Als aber der Tag anbrach, ließ mich die Angst vor der Entdeckung und ein
+unabweisbares Gefühl von Reue nicht mehr in den Mauern von Florenz. Ich eilte
+nach Rom. Aber denke dir meine Bestürzung, als man dort nach einigen Tagen
+überall diese Geschichte erzählte mit dem Beisatz, man habe den Mörder, einen
+griechischen Arzt, gefangen. Ich kehrte in banger Besorgnis nach Florenz
+zurück; denn schien mir meine Rache schon vorher zu stark, so verfluchte ich
+sie jetzt, denn sie war mir durch dein Leben allzu teuer erkauft. Ich kam an
+demselben Tage an, der dich der Hand beraubte. Ich schweige von dem, was ich
+fühlte, als ich dich das Schafott besteigen und so heldenmütig leiden sah. Aber
+damals, als dein Blut in Strömen aufspritzte, war der Entschluß fest in mir,
+dir deine übrigen Lebenstage zu versüßen. Was weiter geschehen ist, weißt du,
+nur das bleibt mir noch zu sagen übrig, warum ich diese Reise mit dir machte.
+</p>
+
+<p>
+Als eine schwere Last drückte mich der Gedanke, daß du mir noch immer nicht
+vergeben habest; darum entschloß ich mich, viele Tage mit dir zu leben und dir
+endlich Rechenschaft abzulegen von dem, was ich mit dir getan.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Schweigend hatte der Grieche seinen Gast angehört; mit sanftem Blick bot er
+ihm, als er geendet hatte, seine Rechte. &bdquo;Ich wußte wohl, daß du
+unglücklicher sein müßtest als ich, denn jene grausame Tat wird wie eine dunkle
+Wolke ewig deine Tage verfinstern; ich vergebe dir von Herzen. Aber erlaube mir
+noch eine Frage: Wie kommst du unter dieser Gestalt in die Wüste? Was fingst du
+an, nachdem du in Konstantinopel mir das Haus gekauft hattest?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich ging nach Alessandria zurück&ldquo;, antwortete der Gefragte.
+&bdquo;Haß gegen alle Menschen tobte in meiner Brust, brennender Haß besonders
+gegen jene Nationen, die man die gebildeten nennt. Glaube mir, unter meinen
+Moslemiten war mir wohler! Kaum war ich einige Monate in Alessandria, als jene
+Landung meiner Landsleute erfolgte.
+</p>
+
+<p>
+Ich sah in ihnen nur die Henker meines Vaters und meines Bruders; darum
+sammelte ich einige gleichgesinnte junge Leute meiner Bekanntschaft und schloß
+mich jenen tapferen Mamelucken an, die so oft der Schrecken des französischen
+Heeres wurden. Als der Feldzug beendigt war, konnte ich mich nicht
+entschließen, zu den Künsten des Friedens zurückzukehren. Ich lebte mit einer
+kleinen Anzahl gleichdenkender Freunde ein unstetes und flüchtiges, dem Kampf
+und der Jagd geweihtes Leben; ich lebe zufrieden unter diesen Leuten, die mich
+wie ihren Fürsten ehren; denn wenn meine Asiaten auch nicht so gebildet sind
+wie Eure Europäer, so sind sie doch weit entfernt von Neid und Verleumdung, von
+Selbstsucht und Ehrgeiz.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Zaleukos dankte dem Fremden für seine Mitteilung, aber er verbarg ihm nicht,
+daß er es für seinen Stand, für seine Bildung angemessener fände, wenn er in
+christlichen, in europäischen Ländern leben und wirken würde. Er faßte seine
+Hand und bat ihn, mit ihm zu ziehen, bei ihm zu leben und zu sterben.
+</p>
+
+<p>
+Gerührt sah ihn der Gastfreund an. &bdquo;Daraus erkenne ich&ldquo;, sagte er,
+&bdquo;daß du mir ganz vergeben hast, daß du mich liebst. Nimm meinen innigsten
+Dank dafür!&ldquo; Er sprang auf und stand in seiner ganzen Größe vor dem
+Griechen, dem vor dem kriegerischen Anstand, den dunkel blitzenden Augen, der
+tiefen Stimme seines Gastes beinahe graute. &bdquo;Dein Vorschlag ist
+schön&ldquo;, sprach jener weiter, &bdquo;er möchte für jeden andern lockend
+sein&mdash;ich kann ihn nicht benützen. Schon steht mein Roß gesattelt,
+erwarten mich meine Diener; lebe wohl, Zaleukos!&ldquo; Die Freunde, die das
+Schicksal so wunderbar zusammengeführt, umarmten sich zum Abschied. &bdquo;Und
+wie nenne ich dich? Wie heißt mein Gastfreund, der auf ewig in meinem
+Gedächtnis leben wird?&ldquo; fragte der Grieche.
+</p>
+
+<p>
+Der Fremde sah ihn lange an, drückte ihm noch einmal die Hand und sprach:
+&bdquo;Man nennt mich den Herrn der Wüste; ich bin der Räuber Orbasan.&ldquo;
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div style='display:block; margin-top:4em'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK MÄRCHEN-ALMANACH AUF DAS JAHR 1826 ***</div>
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+</div>
+
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+</div>
+
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+1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
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+or any Project Gutenberg&#8482; work, (b) alteration, modification, or
+additions or deletions to any Project Gutenberg&#8482; work, and (c) any
+Defect you cause.
+</div>
+
+<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg&#8482;
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+Project Gutenberg&#8482; is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of
+computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
+exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
+from people in all walks of life.
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg&#8482;&#8217;s
+goals and ensuring that the Project Gutenberg&#8482; collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg&#8482; and future
+generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
+Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.
+</div>
+
+<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation&#8217;s EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
+U.S. federal laws and your state&#8217;s laws.
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+The Foundation&#8217;s business office is located at 809 North 1500 West,
+Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
+to date contact information can be found at the Foundation&#8217;s website
+and official page at www.gutenberg.org/contact
+</div>
+
+<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+Project Gutenberg&#8482; depends upon and cannot survive without widespread
+public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
+DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
+visit <a href="https://www.gutenberg.org/donate/">www.gutenberg.org/donate</a>.
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including checks, online payments and credit card donations. To
+donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
+</div>
+
+<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
+Section 5. General Information About Project Gutenberg&#8482; electronic works
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
+Gutenberg&#8482; concept of a library of electronic works that could be
+freely shared with anyone. For forty years, he produced and
+distributed Project Gutenberg&#8482; eBooks with only a loose network of
+volunteer support.
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+Project Gutenberg&#8482; eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
+the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
+necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
+edition.
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+Most people start at our website which has the main PG search
+facility: <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>.
+</div>
+
+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+This website includes information about Project Gutenberg&#8482;,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
+</div>
+
+</div>
+
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+</html>
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--- /dev/null
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+This eBook, including all associated images, markup, improvements,
+metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be
+in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES.
+
+Procedures for determining public domain status are described in
+the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org.
+
+No investigation has been made concerning possible copyrights in
+jurisdictions other than the United States. Anyone seeking to utilize
+this eBook outside of the United States should confirm copyright
+status under the laws that apply to them.
diff --git a/README.md b/README.md
new file mode 100644
index 0000000..8fc4681
--- /dev/null
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@@ -0,0 +1,2 @@
+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for
+eBook #6638 (https://www.gutenberg.org/ebooks/6638)
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index 0000000..93c29e5
--- /dev/null
+++ b/old/6638-8.txt
@@ -0,0 +1,4932 @@
+Project Gutenberg's Maerchen-Almanach auf das Jahr 1826, by Wilhelm Hauff
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Maerchen-Almanach auf das Jahr 1826
+
+Author: Wilhelm Hauff
+
+Posting Date: June 6, 2012 [EBook #6638]
+Release Date: October, 2004
+First Posted: January 9, 2003
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MAERCHEN-ALMANAC 1826 ***
+
+
+
+
+Produced by Mike Pullen
+
+
+
+
+
+
+
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+This book content was graciously contributed by the
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+Märchen-Almanach auf das Jahr 1826
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+Wilhelm Hauff
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+Inhalt:
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+Märchen als Almanach
+Die Karawane (Rahmenerzählung)
+Die Geschichte vom Kalif Storch
+Die Geschichte von dem Gespensterschiff
+Die Geschichte von der abgehauenen Hand
+Die Errettung Fatmes
+Die Geschichte von dem kleinen Muck
+Das Märchen vom falschen Prinzen
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+Märchen als Almanach
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+Wilhelm Hauff
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+In einem schönen, fernen Reiche, von welchem die Sage lebt, daß die
+Sonne in seinen ewig grünen Gärten niemals untergehe, herrschte von
+Anfang an bis heute die Königin Phantasie. Mit vollen Händen
+spendete diese seit vielen Jahrhunderten die Fülle des Segens über
+die Ihrigen und war geliebt, verehrt von allen, die sie kannten. Das
+Herz der Königin war aber zu groß, als daß sie mit ihren Wohltaten
+bei ihrem Lande stehen geblieben wäre; sie selbst, im königlichen
+Schmuck ihrer ewigen Jugend und Schönheit, stieg herab auf die Erde;
+denn sie hatte gehört, daß dort Menschen wohnen, die ihr Leben in
+traurigem Ernst, unter Mühe und Arbeit hinbringen. Diesen hatte sie
+die schönsten Gaben aus ihrem Reiche mitgebracht, und seit die schöne
+Königin durch die Fluren der Erde gegangen war, waren die Menschen
+fröhlich bei der Arbeit, heiter in ihrem Ernst.
+
+Auch ihre Kinder,nicht minder schön und lieblich als die königliche
+Mutter, sandte sie aus, um die Menschen zu beglücken. Einst kam
+Märchen, die älteste Tochter der Königin, von der Erde zurück. Die
+Mutter bemerkte, daß Märchen traurig sei, ja, hier und da wollte ihr
+bedünken, als ob sie verweinte Augen hätte.
+
+"Was hast du, liebes Märchen", sprach die Königin zu ihr, "du bist
+seit deiner Reise so traurig und niedergeschlagen, willst du deiner
+Mutter nicht anvertrauen, was dir fehlt?"
+
+"Ach, liebe Mutter", antwortete Märchen, "ich hätte gewiß nicht so
+lange geschwiegen, wenn ich nicht wüßte, daß mein Kummer auch der
+deinige ist."
+
+"Sprich immer, meine Tochter", bat die schöne Königin, "der Gram ist
+ein Stein, der den einzelnen niederdrückt, aber zwei tragen ihn
+leicht aus dem Wege."
+
+"Du willst es", antwortete Märchen, "so höre: Du weißt, wie gerne ich
+mit den Menschen umgehe, wie ich freudig auch bei dem Ärmsten vor
+seiner Hütte sitze, um nach der Arbeit ein Stündchen mit ihm zu
+verplaudern; sie boten mir auch sonst gleich freundlich die Hand zum
+Gruß, wenn ich kam, und sahen mir lächelnd und zufrieden nach, wenn
+ich weiterging; aber in diesen Tagen ist es gar nicht mehr so!"
+
+"Armes Märchen!" sprach die Königin und streichelte ihr die Wange,
+die von einer Träne feucht war, "aber du bildest dir vielleicht dies
+alles nur ein?"
+
+"Glaube mir, ich fühle es nur zu gut", entgegnete Märchen, "sie
+lieben mich nicht mehr. Überall, wo ich hinkomme, begegnen mir
+kalte Blicke; nirgends bin ich mehr gern gesehen; selbst die Kinder,
+die ich doch immer so lieb hatte, lachen über mich und wenden mir
+altklug den Rücken zu."
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+Die Königin stützte die Stirne in die Hand und schwieg sinnend.
+
+"Und woher soll es denn", fragte die Königin, "kommen, Märchen, daß
+sich die Leute da unten so geändert haben?"
+
+"Sieh, die Menschen haben kluge Wächter aufgestellt, die alles, was
+aus deinem Reich kommt, o Königin Phantasie, mit scharfem Blicke
+mustern und prüfen. Wenn nun einer kommt, der nicht nach ihrem Sinne
+ist, so erheben sie ein großes Geschrei, schlagen ihn tot oder
+verleumden ihn doch so sehr bei den Menschen, die ihnen aufs Wort
+glauben, daß man gar keine Liebe, kein Fünkchen Zutrauen mehr findet.
+Ach, wie gut haben es meine Brüder, die Träume, fröhlich und leicht
+hüpfen sie auf die Erde hinab, fragen nichts nach jenen klugen
+Männern, besuchen die schlummernden Menschen und weben und malen
+ihnen, was das Herz beglückt und das Auge erfreut!"
+
+"Deine Brüder sind Leichtfüße", sagte die Königin, "und du, mein
+Liebling, hast keine Ursache, sie zu beneiden. Jene Grenzwächter
+kenne ich übrigens wohl; die Menschen haben so unrecht nicht, sie
+aufzustellen; es kam so mancher windige Geselle und tat, als ob er
+geradewegs aus meinem Reiche käme, und doch hatte er höchstens von
+einem Berge zu uns herübergeschaut."
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+"Aber warum lassen sie dies mich, deine eigene Tochter, entgelten",
+weinte Märchen. "Ach, wenn du wüßtest, wie sie es mit mir gemacht
+haben; sie schalten mich eine alte Jungfer und drohten, mich das
+nächste Mal gar nicht mehr hereinzulassen." "Wie, meine Tochter nicht
+mehr einzulassen?" rief die Königin, und Zorn rötete ihre Wangen.
+"Aber ich sehe schon, woher dies kommt; die böse Muhme hat uns
+verleumdet!"
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+"Die Mode? Nicht möglich!" rief Märchen, "sie tat ja sonst immer so
+freundlich."
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+"Oh! Ich kenne sie, die Falsche", antwortete die Königin, "aber
+versuche es ihr zum Trotze wieder, meine Tochter, wer Gutes tun will,
+darf nicht rasten."
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+"Ach, Mutter! Wenn sie mich dann ganz zurückweisen, oder wenn sie
+mich verleumden, daß mich die Menschen nicht ansehen oder einsam und
+verachtet in der Ecke stehen lassen?"
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+"Wenn die Alten, von der Mode betört, dich geringschätzen, so wende
+dich an die Kleinen, wahrlich, sie sind meine Lieblinge, ihnen sende
+ich meine lieblichsten Bilder durch deine Brüder, die Träume, ja, ich
+bin schon oft selbst zu ihnen hinabgeschwebt, habe sie geherzt und
+geküßt und schöne Spiele mit ihnen gespielt; sie kennen mich auch
+wohl, sie wissen zwar meinen Namen nicht, aber ich habe schon oft
+bemerkt, wie sie nachts zu meinen Sternen herauflächeln und morgens,
+wenn meine glänzenden Lämmer am Himmel ziehen, vor Freuden die Hände
+zusammenschlagen. Auch wenn sie größer werden, lieben sie mich noch,
+ich helfe dann den lieblichen Mädchen bunte Kränze flechten, und die
+wilden Knaben werden stiller, wenn ich auf hoher Felsenspitze mich zu
+ihnen setze, aus der Nebelwelt der fernen, blauen Berge hohe Burgen
+und glänzende Paläste auftauchen lasse und aus den rötlichen Wolken
+des Abends kühne Reiterscharen und wunderliche Wallfahrtszüge bilde."
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+"O die guten Kinder!" rief Märchen bewegt aus. "Ja, es sei! Mit
+ihnen will ich es noch einmal versuchen."
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+"Ja, du gute Tochter", sprach die Königin, "gehe zu ihnen; aber ich
+will dich auch ein wenig ordentlich ankleiden, daß du den Kleinen
+gefällst und die Großen dich nicht zurückstoßen; siehe, das Gewand
+eines Almanachs will ich dir geben."
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+"Eines Almanachs, Mutter? Ach!--Ich schäme mich, so vor den Leuten
+zu prangen."
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+Die Königin winkte, und die Dienerinnen brachten das zierliche Gewand
+eines Almanachs. Es war von glänzenden Farben und schöne Figuren
+eingewoben.
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+Die Zofen flochten dem schönen Mädchen das lange Haar; sie banden ihr
+goldene Sandalen unter die Füße und hingen ihr dann das Gewand um.
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+Das bescheidene Märchen wagte nicht aufzublicken, die Mutter aber
+betrachtete es mit Wohlgefallen und schloß es in ihre Arme. "Gehe
+hin", sprach sie zu der Kleinen, "mein Segen sei mit dir. Und wenn
+sie dich verachten und höhnen, so kehre zurück zu mir, vielleicht,
+daß spätere Geschlechter, getreuer der Natur, ihr Herz dir wieder
+zuwenden."
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+Also sprach die Königin Phantasie. Märchen aber stieg hinab auf die
+Erde. Mit pochendem Herzen nahte sie dem Ort, wo die klugen Wächter
+hauseten; sie senkte das Köpfchen zur Erde, sie zog das schöne Gewand
+enger um sich her, und mit zagendem Schritt nahte sie dem Tor.
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+"Halt!" rief eine tiefe, rauhe Stimme. "Wache heraus! Da kommt ein
+neuer Almanach!"
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+Märchen zitterte, als sie dies hörte; viele ältliche Männer von
+finsterem Aussehen stürzten hervor; sie hatten spitzige Federn in der
+Faust und hielten sie dem Märchen entgegen. Einer aus der Schar
+schritt auf sie zu und packte sie mit rauher Hand am Kinn. "Nur auch
+den Kopf aufgerichtet, Herr Almanach", schrie er, "daß man Ihm in den
+Augen ansiehet, ob er was Rechtes ist oder nicht!"
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+Errötend richtete Märchen das Köpfchen in die Höhe und schlug das
+dunkle Auge auf.
+
+"Das Märchen!" riefen die Wächter und lachten aus vollem Hals, "das
+Märchen! Haben wunder gemeint, was da käme! Wie kommst du nur in
+diesen Rock?"
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+"Die Mutter hat ihn mir angezogen", antwortete Märchen. "So? Sie
+will dich bei uns einschwärzen? Nichts da! Hebe dich weg, mach, daß
+du fortkommst!" riefen die Wächter untereinander und erhoben die
+scharfen Federn.
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+"Aber ich will ja nur zu den Kindern", bat Märchen, "dies könnt ihr
+mir ja doch erlauben."
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+"Läuft nicht schon genug solches Gesindel im Land umher?" rief einer
+der Wächter. "Sie schwatzen nur unseren Kindern dummes Zeug vor."
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+"Laßt uns sehen, was sie diesmal weiß!" sprach ein anderer.
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+"Nun ja", riefen sie, "sag an, was du weißt, aber beeile dich, denn
+wir haben nicht viele Zeit für dich!"
+
+Märchen streckte die Hand aus und schrieb mit dem Zeigefinger viele
+Zeichen in die Luft. Da sah man bunte Gestalten vorüberziehen;
+Karawanen mit schönen Rossen, geschmückte Reiter, viele Zelte im Sand
+der Wüste; Vögel und Schiffe auf stürmischen Meeren; stille Wälder
+und volkreiche Plätze und Straßen; Schlachten und friedliche Nomaden,
+sie alle schwebten in belebten Bildern, in buntem Gewimmel vorüber.
+
+Märchen hatte in dem Eifer, mit welchem sie die Bilder aufsteigen
+ließ, nicht bemerkt, wie die Wächter des Tores nach und nach
+eingeschlafen waren. Eben wollte sie neue Zeichen schreiben, als ein
+freundlicher Mann auf sie zutrat und ihre Hand ergriff. "Siehe her,
+gutes Märchen", sagte er, indem er auf die Schlafenden zeigte, "für
+diese sind deine bunten Sachen nichts; schlüpfe schnell durch das Tor;
+sie ahnen dann nicht, daß du im Lande bist, und du kannst friedlich
+und unbemerkt deine Straße ziehen. Ich will dich zu meinen Kindern
+führen; in meinem Hause geb' ich dir ein stilles, freundliches
+Plätzchen; dort kannst du wohnen und für dich leben; wenn dann meine
+Söhne und Töchter gut gelernt haben, dürfen sie mit ihren Gespielen
+zu dir kommen und dir zuhören. Willst du so?"
+
+"Oh, wie gerne folge ich dir zu deinen lieben Kleinen; wie will ich
+mich befleißen, ihnen zuweilen ein heiteres Stündchen zu machen!"
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+Der gute Mann nickte ihr freundlich zu und half ihr, über die Füße
+der schlafenden Wächter hinüberzusteigen. Lächelnd sah sich Märchen
+um, als sie hinüber war, und schlüpfte dann schnell in das Tor.
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+Die Karawane
+
+Wilhelm Hauff
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+Es zog einmal eine große Karawane durch die Wüste. Auf der
+ungeheuren Ebene, wo man nichts als Sand und Himmel sieht, hörte man
+schon in weiter Ferne die Glocken der Kamele und die silbernen
+Röllchen der Pferde, eine dichte Staubwolke, die ihr vorherging,
+verkündete ihre Nähe, und wenn ein Luftzug die Wolke teilte,
+blendeten funkelnde Waffen und helleuchtende Gewänder das Auge. So
+stellte sich die Karawane einem Manne dar, welcher von der Seite her
+auf sie zuritt. Er ritt ein schönes arabisches Pferd, mit einer
+Tigerdecke behängt, an dem hochroten Riemenwerk hingen silberne
+Glöckchen, und auf dem Kopf des Pferdes wehte ein schöner Reiherbusch.
+Der Reiter sah stattlich aus, und sein Anzug entsprach der Pracht
+seines Rosses; ein weißer Turban, reich mit Gold bestickt, bedeckte
+das Haupt; der Rock und die weiten Beinkleider waren von brennendem
+Rot, ein gekrümmtes Schwert mit reichem Griff an seiner Seite. Er
+hatte den Turban tief ins Gesicht gedrückt; dies und die schwarzen
+Augen, die unter buschigen Brauen hervorblitzten, der lange Bart, der
+unter der gebogenen Nase herabhing, gaben ihm ein wildes, kühnes
+Aussehen.
+
+Als der Reiter ungefähr auf fünfzig Schritt dem Vortrab der Karawane
+nahe war, spornte er sein Pferd an und war in wenigen Augenblicken an
+der Spitze des Zuges angelangt. Es war ein so ungewöhnliches
+Ereignis, einen einzelnen Reiter durch die Wüste ziehen zu sehen, daß
+die Wächter des Zuges, einen Überfall befürchtend, ihm ihre Lanzen
+entgegenstreckten.
+
+"Was wollt ihr", rief der Reiter, als er sich so kriegerisch
+empfangen sah, "glaubt ihr, ein einzelner Mann werde eure Karawane
+angreifen?"
+
+Beschämt schwangen die Wächter ihre Lanzen wieder auf, ihr Anführer
+aber ritt an den Fremden heran und fragte nach seinem Begehr.
+
+"Wer ist der Herr der Karawane?" fragte der Reiter.
+
+"Sie gehört nicht einem Herrn", antwortete der Gefragte, "sondern es
+sind mehrere Kaufleute, die von Mekka in ihre Heimat ziehen und die
+wir durch die Wüste geleiten, weil oft allerlei Gesindel die
+Reisenden beunruhigt."
+
+"So führt mich zu den Kaufleuten", begehrte der Fremde.
+
+"Das kann jetzt nicht geschehen", antwortete der Führer, "weil wir
+ohne Aufenthalt weiterziehen müssen und die Kaufleute wenigstens eine
+Viertelstunde weiter hinten sind; wollt Ihr aber mit mir weiterreiten,
+bis wir lagern, um Mittagsruhe zu halten, so werde ich Eurem Wunsch
+willfahren."
+
+Der Fremde sagte hierauf nichts; er zog eine lange Pfeife, die er am
+Sattel festgebunden hatte, hervor und fing an in großen Zügen zu
+rauchen, indem er neben dem Anführer des Vortrabs weiterritt. Dieser
+wußte nicht, was er aus dem Fremden machen sollte; er wagte es nicht,
+ihn geradezu nach seinem Namen zu fragen, und so künstlich er auch
+ein Gespräch anzuknüpfen suchte, der Fremde hatte auf das: "Ihr
+raucht da einen guten Tabak", oder: "Euer Rapp' hat einen braven
+Schritt", immer nur mit einem kurzen "Ja, ja!" geantwortet.
+
+Endlich waren sie auf dem Platz angekommen, wo man Mittagsruhe halten
+wollte. Der Anführer hatte seine Leute als Wachen aufgestellt; er
+selbst hielt mit dem Fremden, um die Karawane herankommen zu lassen.
+Dreißig Kamele, schwer beladen, zogen vorüber, von bewaffneten
+Führern geleitet. Nach diesen kamen auf schönen Pferden die fünf
+Kaufleute, denen die Karawane gehörte. Es waren meistens Männer von
+vorgerücktem Alter, ernst und gesetzt aussehend, nur einer schien
+viel jünger als die übrigen, wie auch froher und lebhafter. Eine
+große Anzahl Kamele und Packpferde schloß den Zug.
+
+Man hatte Zelte aufgeschlagen und die Kamele und Pferde rings
+umhergestellt. In der Mitte war ein großes Zelt von blauem
+Seidenzeug. Dorthin führte der Anführer der Wache den Fremden. Als
+sie durch den Vorhang des Zeltes getreten waren, sahen sie die fünf
+Kaufleute auf goldgewirkten Polstern sitzen; schwarze Sklaven
+reichten ihnen Speise und Getränke. "Wen bringt Ihr uns da?" rief
+der junge Kaufmann dem Führer zu.
+
+Ehe noch der Führer antworten konnte, sprach der Fremde: "Ich heiße
+Selim Baruch und bin aus Bagdad; ich wurde auf einer Reise nach Mekka
+von einer Räuberhorde gefangen und habe mich vor drei Tagen heimlich
+aus der Gefangenschaft befreit. Der große Prophet ließ mich die
+Glocken eurer Karawane in weiter Ferne hören, und so kam ich bei euch
+an. Erlaubet mir, daß ich in eurer Gesellschaft reise! Ihr werdet
+euren Schutz keinem Unwürdigen schenken, und so ihr nach Bagdad
+kommet, werde ich eure Güte reichlich belohnen denn ich bin der Neffe
+des Großwesirs."
+
+Der älteste der Kaufleute nahm das Wort: "Selim Baruch", sprach er,
+"sei willkommen in unserem Schatten. Es macht uns Freude, dir
+beizustehen; vor allem aber setze dich und iß und trinke mit uns."
+
+Selim Baruch setzte sich zu den Kaufleuten und aß und trank mit ihnen.
+Nach dem Essen räumten die Sklaven die Geschirre hinweg und
+brachten lange Pfeifen und türkischen Sorbet. Die Kaufleute saßen
+lange schweigend, indem sie die bläulichen Rauchwolken vor sich
+hinbliesen und zusahen, wie sie sich ringelten und verzogen und
+endlich in die Luft verschwebten. Der junge Kaufmann brach endlich
+das Stillschweigen: "So sitzen wir seit drei Tagen", sprach er, "zu
+Pferd und am Tisch, ohne uns durch etwas die Zeit zu vertreiben. Ich
+verspüre gewaltig Langeweile, denn ich bin gewohnt, nach Tisch Tänzer
+zu sehen oder Gesang und Musik zu hören. Wißt ihr gar nichts, meine
+Freunde, das uns die Zeit vertreibt?"
+
+Die vier älteren Kaufleute rauchten fort und schienen ernsthaft
+nachzusinnen, der Fremde aber sprach: "Wenn es mir erlaubt ist, will
+ich euch einen Vorschlag machen. Ich meine, auf jedem Lagerplatz
+könnte einer von uns den anderen etwas erzählen. Dies könnte uns
+schon die Zeit vertreiben."
+
+"Selim Baruch, du hast wahr gesprochen", sagte Achmet, der älteste
+der Kaufleute, "laßt uns den Vorschlag annehmen."
+
+"Es freut mich, wenn euch der Vorschlag behagt", sprach Selim, "damit
+ihr aber sehet, daß ich nichts Unbilliges verlange, so will ich den
+Anfang machen."
+
+Vergnügt rückten die fünf Kaufleute näher zusammen und ließen den
+Fremden in ihrer Mitte sitzen. Die Sklaven schenkten die Becher
+wieder voll, stopften die Pfeifen ihrer Herren frisch und brachten
+glühende Kohlen zum Anzünden. Selim aber erfrischte seine Stimme mit
+einem tüchtigen Zuge Sorbet, strich den langen Bart über dem Mund weg
+und sprach:
+
+"So hört denn die Geschichte vom Kalif Storch."
+
+Als Selim Baruch seine Geschichte beendet hatte, bezeugten sich die
+Kaufleute sehr zufrieden damit. "Wahrhaftig, der Nachmittag ist uns
+vergangen, ohne daß wir merkten wie!" sagte einer derselben, indem er
+die Decke des Zeltes zurückschlug. "Der Abendwind wehet kühl, und
+wir könnten noch eine gute Strecke Weges zurücklegen." Seine
+Gefährten waren damit einverstanden, die Zelte wurden abgebrochen,
+und die Karawane machte sich in der nämlichen Ordnung, in welcher sie
+herangezogen war, auf den Weg.
+
+Sie ritten beinahe die ganze Nacht hindurch, denn es war schwül am
+Tage, die Nacht aber war erquicklich und sternhell. Sie kamen
+endlich an einem bequemen Lagerplatz an, schlugen die Zelte auf und
+legten sich zur Ruhe. Für den Fremden aber sorgten die Kaufleute,
+wie wenn er ihr wertester Gastfreund wäre. Der eine gab ihm Polster,
+der andere Decken, ein dritter gab ihm Sklaven, kurz, er wurde so gut
+bedient, als ob er zu Hause wäre. Die heißeren Stunden des Tages
+waren schon heraufgekommen, als sie sich wieder erhoben, und sie
+beschlossen einmütig, hier den Abend abzuwarten. Nachdem sie
+miteinander gespeist hatten, rückten sie wieder näher zusammen, und
+der junge Kaufmann wandte sich an den ältesten und sprach: "Selim
+Baruch hat uns gestern einen vergnügten Nachmittag bereitet, wie wäre
+es, Achmet, wenn Ihr uns auch etwas erzähltet, sei es nun aus Eurem
+langen Leben, das wohl viele Abenteuer aufzuweisen hat, oder sei es
+auch ein hübsches Märchen." Achmet schwieg auf diese Anrede eine
+Zeitlang, wie wenn er bei sich im Zweifel wäre, ob er dies oder jenes
+sagen sollte oder nicht; endlich fing er an zu sprechen:
+
+"Liebe Freunde! Ihr habt euch auf dieser unserer Reise als treue
+Gesellen erprobt, und auch Selim verdient mein Vertrauen; daher will
+ich euch etwas aus meinem Leben mitteilen, das ich sonst ungern und
+nicht jedem erzähle: die Geschichte von dem Gespensterschiff."
+
+Die Reise der Karawane war den anderen Tag ohne Hindernis fürder
+gegangen, und als man im Lagerplatz sich erholt hatte, begann Selim,
+der Fremde, zu Muley, dem jüngsten der Kaufleute, also zu sprechen:
+
+"Ihr seid zwar der Jüngste von uns, doch seid Ihr immer fröhlich und
+wißt für uns gewiß irgendeinen guten Schwank. Tischet ihn auf, daß
+er uns erquicke nach der Hitze des Tages!"
+
+"Wohl möchte ich euch etwas erzählen", antwortete Muley, "das euch
+Spaß machen könnte, doch der Jugend ziemt Bescheidenheit in allen
+Dingen; darum müssen meine älteren Reisegefährten den Vorrang haben.
+Zaleukos ist immer so ernst und verschlossen, sollte er uns nicht
+erzählen, was sein Leben so ernst machte? Vielleicht, daß wir seinen
+Kummer, wenn er solchen hat, lindern können; denn gerne dienen wir
+dem Bruder, wenn er auch anderen Glaubens ist."
+
+Der Aufgerufene war ein griechischer Kaufmann, ein Mann in mittleren
+Jahren, schön und kräftig, aber sehr ernst. Ob er gleich ein
+Ungläubiger (nicht Muselmann) war, so liebten ihn doch seine
+Reisegefährten, denn er hatte durch sein ganzes Wesen Achtung und
+Zutrauen eingeflößt. Er hatte übrigens nur eine Hand, und einige
+seiner Gefährten vermuteten, daß vielleicht dieser Verlust ihn so
+ernst stimme.
+
+Zaleukos antwortete auf die zutrauliche Frage Muleys: "Ich bin sehr
+geehrt durch euer Zutrauen; Kummer habe ich keinen, wenigstens keinen,
+von welchem ihr auch mit dem besten Willen mir helfen könntet. Doch
+weil Muley mir meinen Ernst vorzuwerfen scheint, so will ich euch
+einiges erzählen, was mich rechtfertigen soll, wenn ich ernster bin
+als andere Leute. Ihr sehet, daß ich meine linke Hand verloren habe.
+Sie fehlt mir nicht von Geburt an, sondern ich habe sie in den
+schrecklichsten Tagen meines Lebens eingebüßt. Ob ich die Schuld
+davon trage, ob ich unrecht habe, seit jenen Tagen ernster, als es
+meine Lage mit sich bringt, zu sein, möget ihr beurteilen, wenn ihr
+vernommen habt die Geschichte von der abgehauenen Hand."
+
+Zaleukos, der griechische Kaufmann, hatte seine Geschichte geendigt.
+Mit großer Teilnahme hatten ihm die übrigen zugehört, besonders der
+Fremde schien sehr davon ergriffen zu sein; er hatte einigemal tief
+geseufzt, und Muley schien es sogar, als habe er einmal Tränen in den
+Augen gehabt. Sie besprachen sich noch lange Zeit über diese
+Geschichte.
+
+"Und haßt Ihr den Unbekannten nicht, der Euch so schnöd' um ein so
+edles Glied Eures Körpers, der selbst Euer Leben in Gefahr brachte?"
+fragte der Fremde.
+
+"Wohl gab es in früherer Zeit Stunden", antwortete der Grieche, "in
+denen mein Herz ihn vor Gott angeklagt, daß er diesen Kummer über
+mich gebracht und mein Leben vergiftet habe; aber ich fand Trost in
+dem Glauben meiner Väter, und dieser befiehlt mir, meine Feinde zu
+lieben; auch ist er wohl noch unglücklicher als ich."
+
+"Ihr seid ein edler Mann!" rief der Fremde und drückte gerührt dem
+Griechen die Hand.
+
+Der Anführer der Wache unterbrach sie aber in ihrem Gespräch. Er
+trat mit besorgter Miene in das Zelt und berichtete, daß man sich
+nicht der Ruhe überlassen dürfe; denn hier sei die Stelle, wo
+gewöhnlich die Karawanen angegriffen würden, auch glaubten seine
+Wachen, in der Entfernung mehrere Reiter zu sehen.
+
+Die Kaufleute waren sehr bestürzt über diese Nachricht; Selim, der
+Fremde, aber wunderte sich über ihre Bestürzung und meinte, daß sie
+so gut geschätzt wären, daß sie einen Trupp räuberischer Araber nicht
+zu fürchten brauchten.
+
+"Ja, Herr!" entgegnete ihm der Anführer der Wache. "Wenn es nur
+solches Gesindel wäre, könnte man sich ohne Sorge zur Ruhe legen;
+aber seit einiger Zeit zeigt sich der furchtbare Orbasan wieder, und
+da gilt es, auf seiner Hut zu sein."
+
+Der Fremde fragte, wer denn dieser Orbasan sei, und Achmet, der alte
+Kaufmann, antwortete ihm: "Es gehen allerlei Sagen unter dem Volke
+über diesen wunderbaren Mann. Die einen halten ihn für ein
+übermenschliches Wesen, weil er oft mit fünf bis sechs Männern zumal
+einen Kampf besteht, andere halten ihn für einen tapferen Franken,
+den das Unglück in diese Gegend verschlagen habe; von allem aber ist
+nur so viel gewiß, daß er ein verruchter Mörder und Dieb ist."
+
+"Das könnt Ihr aber doch nicht behaupten", entgegnete ihm Lezah,
+einer der Kaufleute. "Wenn er auch ein Räuber ist, so ist er doch
+ein edler Mann, und als solcher hat er sich an meinem Bruder bewiesen,
+wie ich Euch erzählen könnte. Er hat seinen ganzen Stamm zu
+geordneten Menschen gemacht, und so lange er die Wüste durchstreift,
+darf kein anderer Stamm es wagen, sich sehen zu lassen. Auch raubt
+er nicht wie andere, sondern er erhebt nur ein Schutzgeld von den
+Karawanen, und wer ihm dieses willig bezahlt, der ziehet ungefährdet
+weiter; denn Orbasan ist der Herr der Wüste."
+
+Also sprachen unter sich die Reisenden im Zelte; die Wachen aber, die
+um den Lagerplatz ausgestellt waren, begannen unruhig zu werden. Ein
+ziemlich bedeutender Haufe bewaffneter Reiter zeigte sich in der
+Entfernung einer halben Stunde; sie schienen gerade auf das Lager
+zuzureiten. Einer der Männer von der Wache ging daher in das Zelt,
+um zu verkünden, daß sie wahrscheinlich angegriffen würden. Die
+Kaufleute berieten sich untereinander, was zu tun sei, ob man ihnen
+entgegengehen oder den Angriff abwarten solle. Achmet und die zwei
+älteren Kaufleute wollten das letztere, der feurige Muley aber und
+Zaleukos verlangten das erstere und riefen den Fremden zu ihrem
+Beistand auf. Dieser zog ruhig ein kleines, blaues Tuch mit roten
+Sternen aus seinem Gürtel hervor, band es an eine Lanze und befahl
+einem der Sklaven, es auf das Zelt zu stecken; er setze sein Leben
+zum Pfand, sagte er, die Reiter werden, wenn sie dieses Zeichen sehen,
+ruhig vorüberziehen. Muley glaubte nicht an den Erfolg, der Sklave
+aber steckte die Lanze auf das Zelt. Inzwischen hatten alle, die im
+Lager waren, zu den Waffen gegriffen und sahen in gespannter
+Erwartung den Reitern entgegen. Doch diese schienen das Zeichen auf
+dem Zelte erblickt zu haben, sie wichen plötzlich von ihrer Richtung
+auf das Lager ab und zogen in einem großen Bogen auf der Seite hin.
+
+Verwundert standen einige Augenblicke die Reisenden und sahen bald
+auf die Reiter, bald auf den Fremden. Dieser stand ganz gleichgültig,
+wie wenn nichts vorgefallen wäre, vor dem Zelte und blickte über die
+Ebene hin. Endlich brach Muley das Stillschweigen. "Wer bist du,
+mächtiger Fremdling", rief er aus, "der du die wilden Horden der
+Wüste durch einen Wink bezähmst?"
+
+"Ihr schlagt meine Kunst höher an, als sie ist", antwortete Selim
+Baruch. "Ich habe mich mit diesem Zeichen versehen, als ich der
+Gefangenschaft entfloh; was es zu bedeuten hat, weiß ich selbst nicht;
+nur so viel weiß ich, daß, wer mit diesem Zeichen reiset, unter
+mächtigem Schutze steht."
+
+Die Kaufleute dankten dem Fremden und nannten ihn ihren Erretter.
+Wirklich war auch die Anzahl der Reiter so groß gewesen, daß wohl die
+Karawane nicht lange hätte Widerstand leisten können.
+
+Mit leichterem Herzen begab man sich jetzt zur Ruhe, und als die
+Sonne zu sinken begann und der Abendwind über die Sandebene hinstrich,
+brachen sie auf und zogen weiter.
+
+Am nächsten Tage lagerten sie ungefähr nur noch eine Tagreise von dem
+Ausgang der Wüste entfernt. Als sich die Reisenden wieder in dem
+großen Zelt versammelt hatten, nahm Lezah, der Kaufmann, das Wort:
+
+"Ich habe euch gestern gesagt, daß der gefürchtete Orbasan ein edler
+Mann sei, erlaubt mir, daß ich es euch heute durch die Erzählung der
+Schicksale meines Bruders beweise. Mein Vater war Kadi in Akara. Er
+hatte drei Kinder. Ich war der Älteste, ein Bruder und eine
+Schwester waren bei weitem jünger als ich. Als ich zwanzig Jahre alt
+war, rief mich ein Bruder meines Vaters zu sich. Er setzte mich zum
+Erben seiner Güter ein, mit der Bedingung, daß ich bis zu seinem Tode
+bei ihm bleibe. Aber er erreichte ein hohes Alter, so daß ich erst
+vor zwei Jahren in meine Heimat zurückkehrte und nichts davon wußte,
+welch schreckliches Schicksal indes mein Haus betroffen und wie gütig
+Allah es gewendet hatte." Die Errettung Fatmes
+
+Die Karawane hatte das Ende der Wüste erreicht, und fröhlich
+begrüßten die Reisenden die grünen Matten und die dichtbelaubten
+Bäume, deren lieblichen Anblick sie viele Tage entbehrt hatten. In
+einem schönen Tale lag eine Karawanserei, die sie sich zum Nachtlager
+wählten, und obgleich sie wenig Bequemlichkeit und Erfrischung darbot,
+so war doch die ganze Gesellschaft heiterer und zutraulicher als je;
+denn der Gedanke, den Gefahren und Beschwerlichkeiten, die eine Reise
+durch die Wüste mit sich bringt, entronnen zu sein, hatte alle Herzen
+geöffnet und die Gemüter zu Scherz und Kurzweil gestimmt. Muley, der
+junge lustige Kaufmann, tanzte einen komischen Tanz und sang Lieder
+dazu, die selbst dem ernsten Griechen Zaleukos ein Lächeln entlockten.
+Aber nicht genug, daß er seine Gefährten durch Tanz und Spiel
+erheitert hatte, er gab ihnen auch noch die Geschichte zum besten,
+die er ihnen versprochen hatte, und hub, als er von seinen
+Luftsprüngen sich erholt hatte, also zu erzählen an: Die Geschichte
+von dem kleinen Muck.
+
+"So erzählte mir mein Vater; ich bezeugte ihm meine Reue über mein
+rohes Betragen gegen den guten kleinen Mann, und mein Vater schenkte
+mir die andere Hälfte der Strafe, die er mir zugedacht hatte. Ich
+erzählte meinen Kameraden die wunderbaren Schicksale des Kleinen, und
+wir gewannen ihn so lieb, daß ihn keiner mehr schimpfte. Im
+Gegenteil, wir ehrten ihn, solange er lebte, und haben uns vor ihm
+immer so tief wie vor Kadi und Mufti gebückt."
+
+Die Reisenden beschlossen, einen Rasttag in dieser Karawanserei zu
+machen, um sich und die Tiere zur weiteren Reise zu stärken. Die
+gestrige Fröhlichkeit ging auch auf diesen Tag über, und sie
+ergötzten sich in allerlei Spielen. Nach dem Essen aber riefen sie
+dem fünften Kaufmann, Ali Sizah, zu, auch seine Schuldigkeit gleich
+den übrigen zu tun und eine Geschichte zu erzählen. Er antwortete,
+sein Leben sei zu arm an auffallenden Begebenheiten, als daß er ihnen
+etwas davon mitteilen möchte, daher wolle er ihnen etwas anderes
+erzählen, nämlich: Das Märchen vom falschen Prinzen.
+
+
+Mit Sonnenaufgang brach die Karawane auf und gelangte bald nach
+Birket el Had oder dem Pilgrimsbrunnen, von wo es nur noch drei
+Stunden Weges nach Kairo waren--Man hatte um diese Zeit die Karawane
+erwartet, und bald hatten die Kaufleute die Freude, ihre Freunde aus
+Kairo ihnen entgegenkommen zu sehen. Sie zogen in die Stadt durch
+das Tor Bebel Falch; denn es wird für eine glückliche Vorbedeutung
+gehalten, wenn man von Mekka kommt, durch dieses Tor einzuziehen,
+weil der Prophet hindurchgezogen ist.
+
+Auf dem Markt verabschiedeten sich die vier türkischen Kaufleute von
+dem Fremden und dem griechischen Kaufmann Zaleukos und gingen mit
+ihren Freunden nach Haus. Zaleukos aber zeigte dem Fremden eine gute
+Karawanserei und lud ihn ein, mit ihm das Mittagsmahl zu nehmen. Der
+Fremde sagte zu und versprach, wenn er nur vorher sich umgekleidet
+habe, zu erscheinen.
+
+Der Grieche hatte alle Anstalten getroffen, den Fremden, welchen er
+auf der Reise liebgewonnen hatte, gut zu bewirten, und als die
+Speisen und Getränke in gehöriger Ordnung aufgestellt waren, setzte
+er sich, seinen Gast zu erwarten.
+
+Langsam und schweren Schrittes hörte er ihn den Gang, der zu seinem
+Gemach führte, heraufkommen. Er erhob sich, um ihm freundlich
+entgegenzusehen und ihn an der Schwelle zu bewillkommnen; aber voll
+Entsetzen fuhr er zurück, als er die Türe öffnete; denn jener
+schreckliche Rotmantel trat ihm entgegen; er warf noch einen Blick
+auf ihn, es war keine Täuschung; dieselbe hohe, gebietende Gestalt,
+die Larve, aus welcher ihn die dunklen Augen anblitzten, der rote
+Mantel mit der goldenen Stickerei waren ihm nur allzuwohl bekannt aus
+den schrecklichsten Stunden seines Lebens.
+
+Widerstreitende Gefühle wogten in Zaleukos Brust; er hatte sich mit
+diesem Bild seiner Erinnerung längst ausgesöhnt und ihm vergeben, und
+doch riß sein Anblick alle seine Wunden wieder auf; alle jene
+qualvollen Stunden der Todesangst, jener Gram, der die Blüte seines
+Lebens vergiftete, zogen im Flug eines Augenblicks an seiner Seele
+vorüber.
+
+"Was willst du, Schrecklicher?" rief der Grieche aus, als die
+Erscheinung noch immer regungslos auf der Schwelle stand. "Weiche
+schnell von hinnen, daß ich dir nicht fluche!"
+
+"Zaleukos!" sprach eine bekannte Stimme unter der Larve hervor.
+"Zaleukos! So empfängst du deinen Gastfreund?" Der Sprechende nahm
+die Larve ab, schlug den Mantel zurück; es war Selim Baruch, der
+Fremde.
+
+Aber Zaleukos schien noch nicht beruhigt, ihm graute vor dem Fremden;
+denn nur zu deutlich hatte er in ihm den Unbekannten von der Ponte
+vecchio erkannt; aber die alte Gewohnheit der Gastfreundschaft siegte;
+er winkte schweigend dem Fremden, sich zu ihm ans Mahl zu setzen.
+
+"Ich errate deine Gedanken", nahm dieser das Wort, als sie sich
+gesetzt hatten. "Deine Augen sehen fragend auf mich--ich hätte
+schweigen und mich deinen Blicken nie mehr zeigen können, aber ich
+bin dir Rechenschaft schuldig, und darum wagte ich es auch, auf die
+Gefahr hin, daß du mir fluchtest, vor dir in meiner alten Gestalt zu
+erscheinen. Du sagtest einst zu mir: Der Glaube meiner Väter
+befiehlt mir, ihn zu lieben, auch ist er wohl unglücklicher als ich;
+glaube dieses, mein Freund, und höre meine Rechtfertigung!
+
+Ich muß weit ausholen, um mich dir ganz verständlich zu machen. Ich
+bin in Alessandria von christlichen Eltern geboren. Mein Vater, der
+jüngere Sohn eines alten, berühmten französischen Hauses, war Konsul
+seines Landes in Alessandria. Ich wurde von meinem zehnten Jahre an
+in Frankreich bei einem Bruder meiner Mutter erzogen und verließ erst
+einige Jahre nach dem Ausbruch der Revolution mein Vaterland, um mit
+meinem Oheim, der in dem Lande seiner Ahnen nicht mehr sicher war,
+über dem Meer bei meinen Eltern eine Zuflucht zu suchen. Voll
+Hoffnung, die Ruhe und den Frieden, den uns das empörte Volk der
+Franzosen entrissen, im elterlichen Hause wiederzufinden, landeten
+wir. Aber ach! Ich fand nicht alles in meines Vaters Hause, wie es
+sein sollte; die äußeren Stürme der bewegten Zeit waren zwar noch
+nicht bis hierher gelangt, desto unerwarteter hatte das Unglück mein
+Haus im innersten Herzen heimgesucht. Mein Bruder, ein junger,
+hoffnungsvoller Mann, erster Sekretär meines Vaters, hatte sich erst
+seit kurzem mit einem jungen Mädchen, der Tochter eines
+florentinischen Edelmanns, der in unserer Nachbarschaft wohnte,
+verheiratet; zwei Tage vor unserer Ankunft war diese auf einmal
+verschwunden, ohne daß weder unsere Familie noch ihr Vater die
+geringste Spur von ihr auffinden konnten. Man glaubte endlich, sie
+habe sich auf einem Spaziergang zu weit gewagt und sei in Räuberhände
+gefallen. Beinahe tröstlicher wäre dieser Gedanke für meinen armen
+Bruder gewesen als die Wahrheit, die uns nur bald kund wurde. Die
+Treulose hatte sich mit einem jungen Neapolitaner, den sie im Hause
+ihres Vaters kennengelernt hatte, eingeschifft. Mein Bruder, aufs
+äußerste empört über diesen Schritt, bot alles auf, die Schuldige zur
+Strafe zu ziehen; doch vergebens; seine Versuche, die in Neapel und
+Florenz Aufsehen erregt hatten, dienten nur dazu, sein und unser
+aller Unglück zu vollenden. Der florentinische Edelmann reiste in
+sein Vaterland zurück, zwar mit dem Vorgeben, meinem Bruder Recht zu
+verschaffen, der Tat nach aber, um uns zu verderben. Er schlug in
+Florenz alle jene Untersuchungen, welche mein Bruder angeknüpft hatte,
+nieder und wußte seinen Einfluß, den er auf alle Art sich verschafft
+hatte, so gut zu benützen, daß mein Vater und mein Bruder ihrer
+Regierung verdächtig gemacht und durch die schändlichsten Mittel
+gefangen, nach Frankreich geführt und dort vom Beil des Henkers
+getötet wurden. Meine arme Mutter verfiel in Wahnsinn, und erst nach
+zehn langen Monaten erlöste sie der Tod von ihrem schrecklichen
+Zustand, der aber in den letzten Tagen zu vollem, klarem Bewußtsein
+geworden war. So stand ich jetzt ganz allein in der Welt, aber nur
+ein Gedanke beschäftigte meine Seele, nur ein Gedanke ließ mich meine
+Trauer vergessen, es war jene mächtige Flamme, die meine Mutter in
+ihrer letzten Stunde in mir angefacht hatte.
+
+In den letzten Stunden war, wie ich dir sagte, ihr Bewußtsein
+zurückgekehrt; sie ließ mich rufen und sprach mit Ruhe von unserem
+Schicksal und ihrem Ende. Dann aber ließ sie alle aus dem Zimmer
+gehen, richtete sich mit feierlicher Miene von ihrem ärmlichen Lager
+auf und sagte, ich könne mir ihren Segen erwerben, wenn ich ihr
+schwöre, etwas auszuführen, das sie mir auftragen würde--Ergriffen
+von den Worten der sterbenden Mutter, gelobte ich mit einem Eide zu
+tun, wie sie mir sagen werde. Sie brach nun in Verwünschungen gegen
+den Florentiner und seine Tochter aus und legte mir mit den
+fürchterlichsten Drohungen ihres Fluches auf, mein unglückliches Haus
+an ihm zu rächen. Sie starb in meinen Armen. Jener Gedanke der
+Rache hatte schon lange in meiner Seele geschlummert; jetzt erwachte
+er mit aller Macht. Ich sammelte den Rest meines väterlichen
+Vermögens und schwor mir, alles an meine Rache zu setzen oder selbst
+mit unterzugehen.
+
+Bald war ich in Florenz, wo ich mich so geheim als möglich aufhielt;
+mein Plan war um vieles erschwert worden durch die Lage, in welcher
+sich meine Feinde befanden. Der alte Florentiner war Gouverneur
+geworden und hatte so alle Mittel in der Hand, sobald er das
+geringste ahnte, mich zu verderben. Ein Zufall kam mir zu Hilfe.
+Eines Abends sah ich einen Menschen in bekannter Livree durch die
+Straßen gehen; sein unsicherer Gang, sein finsterer Blick und das
+halblaut herausgestoßene "Santo sacramento", "Maledetto diavolo"
+ließen mich den alten Pietro, einen Diener des Florentiners, den ich
+schon in Alessandria gekannt hatte, erkennen. Ich war nicht in
+Zweifel, daß er über seinen Herrn in Zorn geraten sei, und beschloß,
+seine Stimmung zu benützen. Er schien sehr überrascht, mich hier zu
+sehen, klagte mir sein Leiden, daß er seinem Herrn, seit er
+Gouverneur geworden, nichts mehr recht machen könne, und mein Gold,
+unterstützt von seinem Zorn, brachte ihn bald auf meine Seite. Das
+Schwierigste war jetzt beseitigt; ich hatte einen Mann in meinem
+Solde, der mir zu jeder Stunde die Türe meines Feindes öffnete, und
+nun reifte mein Racheplan immer schneller heran. Das Leben des alten
+Florentiners schien mir ein zu geringes Gewicht, dem Untergang meines
+Hauses gegenüber, zu haben. Sein Liebstes mußte er gemordet sehen,
+und dies war Bianka, seine Tochter. Hatte ja sie so schändlich an
+meinem Bruder gefrevelt, war ja doch sie die Ursache unseres Unglücks.
+Gar erwünscht kam sogar meinem rachedürstigen Herzen die Nachricht,
+daß in dieser Zeit Bianka zum zweitenmal sich vermählen wollte, es
+war beschlossen, sie mußte sterben. Aber mir selbst graute vor der
+Tat, und auch Pietro traute sich zu wenig Kraft zu; darum spähten wir
+umher nach einem Mann, der das Geschäft vollbringen könne. Unter den
+Florentinern wagte ich keinen zu dingen, denn gegen den Gouverneur
+würde keiner etwas Solches unternommen haben. Da fiel Pietro der
+Plan ein, den ich nachher ausgeführt habe; zugleich schlug er dich
+als Fremden und Arzt als den Tauglichsten vor. Den Verlauf der Sache
+weißt du. Nur an deiner großen Vorsicht und Ehrlichkeit schien mein
+Unternehmen zu scheitern. Daher der Zufall mit dem Mantel.
+
+Pietro öffnete uns das Pförtchen an dem Palast des Gouverneurs; er
+hätte uns auch ebenso heimlich wieder hinausgeleitet, wenn wir nicht,
+durch den schrecklichen Anblick, der sich uns durch die Türspalte
+darbot, erschreckt, entflohen wären. Von Schrecken und Reue gejagt,
+war ich über zweihundert Schritte fortgerannt, bis ich auf den Stufen
+einer Kirche niedersank. Dort erst sammelte ich mich wieder, und
+mein erster Gedanke warst du und dein schreckliches Schicksal, wenn
+man dich in dem Hause fände. Ich schlich an den Palast, aber weder
+von Pietro noch von dir konnte ich eine Spur entdecken; das Pförtchen
+aber war offen, so konnte ich wenigstens hoffen, daß du die
+Gelegenheit zur Flucht benützt haben könntest.
+
+Als aber der Tag anbrach, ließ mich die Angst vor der Entdeckung und
+ein unabweisbares Gefühl von Reue nicht mehr in den Mauern von
+Florenz. Ich eilte nach Rom. Aber denke dir meine Bestürzung, als
+man dort nach einigen Tagen überall diese Geschichte erzählte mit dem
+Beisatz, man habe den Mörder, einen griechischen Arzt, gefangen. Ich
+kehrte in banger Besorgnis nach Florenz zurück; denn schien mir meine
+Rache schon vorher zu stark, so verfluchte ich sie jetzt, denn sie
+war mir durch dein Leben allzu teuer erkauft. Ich kam an demselben
+Tage an, der dich der Hand beraubte. Ich schweige von dem, was ich
+fühlte, als ich dich das Schafott besteigen und so heldenmütig leiden
+sah. Aber damals, als dein Blut in Strömen aufspritzte, war der
+Entschluß fest in mir, dir deine übrigen Lebenstage zu versüßen. Was
+weiter geschehen ist, weißt du, nur das bleibt mir noch zu sagen
+übrig, warum ich diese Reise mit dir machte.
+
+Als eine schwere Last drückte mich der Gedanke, daß du mir noch immer
+nicht vergeben habest; darum entschloß ich mich, viele Tage mit dir
+zu leben und dir endlich Rechenschaft abzulegen von dem, was ich mit
+dir getan."
+
+Schweigend hatte der Grieche seinen Gast angehört; mit sanftem Blick
+bot er ihm, als er geendet hatte, seine Rechte. "Ich wußte wohl, daß
+du unglücklicher sein müßtest als ich, denn jene grausame Tat wird
+wie eine dunkle Wolke ewig deine Tage verfinstern; ich vergebe dir
+von Herzen. Aber erlaube mir noch eine Frage: Wie kommst du unter
+dieser Gestalt in die Wüste? Was fingst du an, nachdem du in
+Konstantinopel mir das Haus gekauft hattest?"
+
+"Ich ging nach Alessandria zurück", antwortete der Gefragte. "Haß
+gegen alle Menschen tobte in meiner Brust, brennender Haß besonders
+gegen jene Nationen, die man die gebildeten nennt. Glaube mir, unter
+meinen Moslemiten war mir wohler! Kaum war ich einige Monate in
+Alessandria, als jene Landung meiner Landsleute erfolgte.
+
+Ich sah in ihnen nur die Henker meines Vaters und meines Bruders;
+darum sammelte ich einige gleichgesinnte junge Leute meiner
+Bekanntschaft und schloß mich jenen tapferen Mamelucken an, die so
+oft der Schrecken des französischen Heeres wurden. Als der Feldzug
+beendigt war, konnte ich mich nicht entschließen, zu den Künsten des
+Friedens zurückzukehren. Ich lebte mit einer kleinen Anzahl
+gleichdenkender Freunde ein unstetes und flüchtiges, dem Kampf und
+der Jagd geweihtes Leben; ich lebe zufrieden unter diesen Leuten, die
+mich wie ihren Fürsten ehren; denn wenn meine Asiaten auch nicht so
+gebildet sind wie Eure Europäer, so sind sie doch weit entfernt von
+Neid und Verleumdung, von Selbstsucht und Ehrgeiz."
+
+Zaleukos dankte dem Fremden für seine Mitteilung, aber er verbarg ihm
+nicht, daß er es für seinen Stand, für seine Bildung angemessener
+fände, wenn er in christlichen, in europäischen Ländern leben und
+wirken würde. Er faßte seine Hand und bat ihn, mit ihm zu ziehen,
+bei ihm zu leben und zu sterben.
+
+Gerührt sah ihn der Gastfreund an. "Daraus erkenne ich", sagte er,
+"daß du mir ganz vergeben hast, daß du mich liebst. Nimm meinen
+innigsten Dank dafür!" Er sprang auf und stand in seiner ganzen Größe
+vor dem Griechen, dem vor dem kriegerischen Anstand, den dunkel
+blitzenden Augen, der tiefen Stimme seines Gastes beinahe graute.
+"Dein Vorschlag ist schön", sprach jener weiter, "er möchte für jeden
+andern lockend sein--ich kann ihn nicht benützen. Schon steht mein
+Roß gesattelt, erwarten mich meine Diener; lebe wohl, Zaleukos!" Die
+Freunde, die das Schicksal so wunderbar zusammengeführt, umarmten
+sich zum Abschied. "Und wie nenne ich dich? Wie heißt mein
+Gastfreund, der auf ewig in meinem Gedächtnis leben wird?" fragte der
+Grieche.
+
+Der Fremde sah ihn lange an, drückte ihm noch einmal die Hand und
+sprach: "Man nennt mich den Herrn der Wüste; ich bin der Räuber
+Orbasan."
+
+
+
+
+Kalif Storch
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Der Kalif Chasid zu Bagdad saß einmal an einem schönen Nachmittag
+behaglich auf seinem Sofa; er hatte ein wenig geschlafen, denn es war
+ein heißer Tag, und sah nun nach seinem Schläfchen recht heiter aus.
+Er rauchte aus einer langen Pfeife von Rosenholz, trank hier und da
+ein wenig Kaffee, den ihm ein Sklave einschenkte, und strich sich
+allemal vergnügt den Bart, wenn es ihm geschmeckt hatte. Kurz, man
+sah dem Kalifen an, daß es ihm recht wohl war. Um diese Stunde
+konnte man gar gut mit ihm reden, weil er da immer recht mild und
+leutselig war, deswegen besuchte ihn auch sein Großwesir Mansor alle
+Tage um diese Zeit. An diesem Nachmittage nun kam er auch, sah aber
+sehr nachdenklich aus, ganz gegen seine Gewohnheit. Der Kalif tat
+die Pfeife ein wenig aus dem Mund und sprach: "Warum machst du ein so
+nachdenkliches Gesicht, Großwesir?"
+
+Der Großwesir schlug seine Arme kreuzweis über die Brust, verneigte
+sich vor seinem Herrn und antwortete: "Herr, ob ich ein
+nachdenkliches Gesicht mache, weiß ich nicht, aber da drunten am
+Schloß steht ein Krämer, der hat so schöne Sachen, daß es mich ärgert,
+nicht viel überflüssiges Geld zu haben."
+
+Der Kalif, der seinem Großwesir schon lange gerne eine Freude gemacht
+hätte, schickte seinen schwarzen Sklaven hinunter, um den Krämer
+heraufzuholen. Bald kam der Sklave mit dem Krämer zurück. Dieser
+war ein kleiner, dicker Mann, schwarzbraun im Gesicht und in
+zerlumptem Anzug. Er trug einen Kasten, in welchem er allerhand
+Waren hatte, Perlen und Ringe, reichbeschlagene Pistolen, Becher und
+Kämme. Der Kalif und sein Wesir musterten alles durch, und der Kalif
+kaufte endlich für sich und Mansor schöne Pistolen, für die Frau des
+Wesirs aber einen Kamm. Als der Krämer seinen Kasten schon wieder
+zumachen wollte, sah der Kalif eine kleine Schublade und fragte, ob
+da auch noch Waren seien. Der Krämer zog die Schublade heraus und
+zeigte darin eine Dose mit schwärzlichem Pulver und ein Papier mit
+sonderbarer Schrift, die weder der Kalif noch Mansor lesen konnte.
+"Ich bekam einmal diese zwei Stücke von einem Kaufmanne, der sie in
+Mekka auf der Straße fand", sagte der Krämer, "Ich weiß nicht, was
+sie enthalten; euch stehen sie um geringen Preis zu Dienst, ich kann
+doch nichts damit anfangen."
+
+Der Kalif, der in seiner Bibliothek gerne alte Manuskripte hatte,
+wenn er sie auch nicht lesen konnte, kaufte Schrift und Dose und
+entließ den Krämer. Der Kalif aber dachte, er möchte gerne wissen,
+was die Schrift enthalte, und, fragte den Wesir, ob er keinen kenne,
+der es entziffern könnte.
+
+"Gnädigster Herr und Gebieter", antwortete dieser, "an der großen
+Moschee wohnt ein Mann, er heißt Selim, der Gelehrte, der versteht
+alle Sprachen, laß ihn kommen, vielleicht kennt er diese
+geheimnisvollen Züge."
+
+Der Gelehrte Selim war bald herbeigeholt. "Selim", sprach zu ihm der
+Kalif, "Selim, man sagt, du seiest sehr gelehrt; guck einmal ein
+wenig in diese Schrift, ob du sie lesen kannst; kannst du sie lesen,
+so bekommst du ein neues Festkleid von mir, kannst du es nicht, so
+bekommst du zwölf Backenstreiche und fünfundzwanzig auf die Fußsohlen,
+weil man dich dann umsonst Selim, den Gelehrten, nennt."
+
+Selim verneigte sich und sprach: "Dein Wille geschehe, o Herr!" Lange
+betrachtete er die Schrift, plötzlich aber rief er aus: "Das ist
+Lateinisch, o Herr, oder ich laß mich hängen." "Sag, was drinsteht",
+befahl der Kalif, "wenn es Lateinisch ist."
+
+Selim fing an zu übersetzen: "Mensch, der du dieses findest, preise
+Allah für seine Gnade. Wer von dem Pulver in dieser Dose schnupft
+und dazu spricht: mutabor, der kann sich in jedes Tier verwandeln und
+versteht auch die Sprache der Tiere.
+
+Will er wieder in seine menschliche Gestalt zurückkehren, so neige er
+sich dreimal gen Osten und spreche jenes Wort; aber hüte dich, wenn
+du verwandelt bist, daß du nicht lachest, sonst verschwindet das
+Zauberwort gänzlich aus deinem Gedächtnis, und du bleibst ein Tier."
+
+Als Selim, der Gelehrte, also gelesen hatte, war der Kalif über die
+Maßen vergnügt. Er ließ den Gelehrten schwören, niemandem etwas von
+dem Geheimnis zu sagen, schenkte ihm ein schönes Kleid und entließ
+ihn. Zu seinem Großwesir aber sagte er: "Das heiß' ich gut einkaufen,
+Mansor! Wie freue ich mich, bis ich ein Tier bin. Morgen früh
+kommst du zu mir; wir gehen dann miteinander aufs Feld, schnupfen
+etwas Weniges aus meiner Dose und belauschen dann, was in der Luft
+und im Wasser, im Wald und Feld gesprochen wird!"
+
+Kaum hatte am anderen Morgen der Kalif Chasid gefrühstückt und sich
+angekleidet, als schon der Großwesir erschien, ihn, wie er befohlen,
+auf dem Spaziergang zu begleiten. Der Kalif steckte die Dose mit dem
+Zauberpulver in den Gürtel, und nachdem er seinem Gefolge befohlen,
+zurückzubleiben, machte er sich mit dem Großwesir ganz allein auf den
+Weg. Sie gingen zuerst durch die weiten Gärten des Kalifen, spähten
+aber vergebens nach etwas Lebendigem, um ihr Kunststück zu probieren.
+Der Wesir schlug endlich vor, weiter hinaus an einen Teich zu gehen,
+wo er schon oft viele Tiere, namentlich Störche, gesehen habe, die
+durch ihr gravitätisches Wesen und ihr Geklapper immer seine
+Aufmerksamkeit erregt hatten.
+
+Der Kalif billigte den Vorschlag seines Wesirs und ging mit ihm dem
+Teich zu. Als sie dort angekommen waren, sahen sie einen Storch
+ernsthaft auf und ab gehen, Frösche suchend und hier und da etwas vor
+sich hinklappernd. Zugleich sahen sie auch weit oben in der Luft
+einen anderen Storch dieser Gegend zuschweben.
+
+"Ich wette meinen Bart, gnädigster Herr", sagte er Großwesir, "wenn
+nicht diese zwei Langfüßler ein schönes Gespräch miteinander führen
+werden. Wie wäre es, wenn wir Störche würden?"
+
+"Wohl gesprochen!" antwortete der Kalif. "Aber vorher wollen wir
+noch einmal betrachten, wie man wieder Mensch wird.--Richtig!
+Dreimal gen Osten geneigt und mutabor gesagt, so bin ich wieder Kalif
+und du Wesir. Aber nur um Himmels willen nicht gelacht, sonst sind
+wir verloren!"
+
+Während der Kalif also sprach, sah er den anderen Storch über ihrem
+Haupte schweben und langsam sich zur Erde lassen. Schnell zog er die
+Dose aus dem Gürtel, nahm eine gute Prise, bot sie dem Großwesir dar,
+der gleichfalls schnupfte, und beide riefen: mutabor!
+
+Da schrumpften ihre Beine ein und wurden dünn und rot, die schönen
+gelben Pantoffeln des Kalifen und seines Begleiters wurden
+unförmliche Storchfüße, die Arme wurden zu Flügeln, der Hals fuhr aus
+den Achseln und ward eine Elle lang, der Bart war verschwunden, und
+den Körper bedeckten weiche Federn.
+
+"Ihr habt einen hübschen Schnabel, Herr Großwesir", sprach nach
+langem Erstaunen der Kalif. "Beim Bart des Propheten, so etwas habe
+ich in meinem Leben nicht gesehen." "Danke untertänigst", erwiderte
+der Großwesir, indem er sich bückte, "aber wenn ich es wagen darf,
+möchte ich behaupten, Eure Hoheit sehen als Storch beinahe noch
+hübscher aus denn als Kalif. Aber kommt, wenn es Euch gefällig ist,
+daß wir unsere Kameraden dort belauschen und erfahren, ob wir
+wirklich Storchisch können."
+
+Indem war der andere Storch auf der Erde angekommen; er putzte sich
+mit dem Schnabel seine Füße, legte seine Federn zurecht und ging auf
+den ersten Storch zu. Die beiden neuen Störche aber beeilten sich,
+in ihre Nähe zu kommen, und vernahmen zu ihrem Erstaunen folgendes
+Gespräch:
+
+"Guten Morgen, Frau Langbein, so früh schon auf der Wiese?"
+
+"Schönen Dank, liebe Klapperschnabel! Ich habe mir nur ein kleines
+Frühstück geholt. Ist Euch vielleicht ein Viertelchen Eidechs
+gefällig oder ein Froschschenkelein?"
+
+"Danke gehorsamst; habe heute gar keinen Appetit. Ich komme auch
+wegen etwas ganz anderem auf die Wiese. Ich soll heute vor den
+Gästen meines Vaters tanzen, und da will ich mich im stillen ein
+wenig üben."
+
+Zugleich schritt die junge Störchin in wunderlichen Bewegungen durch
+das Feld. Der Kalif und Mansor sahen ihr verwundert nach; als sie
+aber in malerischer Stellung auf einem Fuß stand und mit den Flügeln
+anmutig dazu wedelte, da konnten sich die beiden nicht mehr halten;
+ein unaufhaltsames Gelächter brach aus ihren Schnäbeln hervor, von
+dem sie sich erst nach langer Zeit erholten. Der Kalif faßte sich
+zuerst wieder: "Das war einmal ein Spaß", rief er, "der nicht mit
+Gold zu bezahlen ist; schade, daß die Tiere durch unser Gelächter
+sich haben verscheuchen lassen, sonst hätten sie gewiß auch noch
+gesungen!"
+
+Aber jetzt fiel es dem Großwesir ein, daß das Lachen während der
+Verwandlung verboten war. Er teilte seine Angst deswegen dem Kalifen
+mit. "Potz Mekka und Medina! Das wäre ein schlechter Spaß, wenn ich
+ein Storch bleiben müßte! Besinne dich doch auf das dumme Wort, ich
+bring' es nicht heraus."
+
+"Dreimal gen Osten müssen wir uns bücken und dazu sprechen:
+mu--mu--mu--"
+
+Sie stellten sich gegen Osten und bückten sich in einem fort, daß
+ihre Schnäbel beinahe die Erde berührten; aber, o Jammer! Das
+Zauberwort war ihnen entfallen, und so oft sich auch der Kalif bückte,
+so sehnlich auch sein Wesir mu--mu dazu rief, jede Erinnerung daran
+war verschwunden, und der arme Chasid und sein Wesir waren und
+blieben Störche.
+
+Traurig wandelten die Verzauberten durch die Felder, sie wußten gar
+nicht, was sie in ihrem Elend anfangen sollten. Aus ihrer
+Storchenhaut konnten sie nicht heraus, in die Stadt zurück konnten
+sie auch nicht, um sich zu erkennen zu geben; denn wer hätte einem
+Storch geglaubt, daß er der Kalif sei, und wenn man es auch geglaubt
+hätte, würden die Einwohner von Bagdad einen Storch zum Kalif gewollt
+haben?
+
+So schlichen sie mehrere Tage umher und ernährten sich kümmerlich von
+Feldfrüchten, die sie aber wegen ihrer langen Schnäbel nicht gut
+verspeisen konnten. Auf Eidechsen und Frösche hatten sie übrigens
+keinen Appetit, denn sie befürchteten, mit solchen Leckerbissen sich
+den Magen zu verderben. Ihr einziges Vergnügen in dieser traurigen
+Lage war, daß sie fliegen konnten, und so flogen sie oft auf die
+Dächer von Bagdad, um zu sehen, was darin vorging.
+
+In den ersten Tagen bemerkten sie große Unruhe und Trauer in den
+Straßen; aber ungefähr am vierten Tag nach ihrer Verzauberung saßen
+sie auf dem Palast des Kalifen, da sahen sie unten in der Straße
+einen prächtigen Aufzug; Trommeln und Pfeifen ertönten, ein Mann in
+einem goldbestickten Scharlachmantel saß auf einem geschmückten Pferd,
+umgeben von glänzenden Dienern, halb Bagdad sprang ihm nach, und
+alle schrien: "Heil Mizra, dem Herrscher von Bagdad!"
+
+Da sahen die beiden Störche auf dem Dache des Palastes einander an,
+und der Kalif Chasid sprach: "Ahnst du jetzt, warum ich verzaubert
+bin, Großwesir? Dieser Mizra ist der Sohn meines Todfeindes, des
+mächtigen Zauberers Kaschnur, der mir in einer bösen Stunde Rache
+schwur. Aber noch gebe ich die Hoffnung nicht auf--Komm mit mir, du
+treuer Gefährte meines Elends, wir wollen zum Grabe des Propheten
+wandern, vielleicht, daß an heiliger Stätte der Zauber gelöst wird."
+
+Sie erhoben sich vom Dach des Palastes und flogen der Gegend von
+Medina zu.
+
+Mit dem Fliegen wollte es aber nicht gar gut gehen; denn die beiden
+Störche hatten noch wenig Übung. "O Herr", ächzte nach ein paar
+Stunden der Großwesir, "ich halte es mit Eurer Erlaubnis nicht mehr
+lange aus; Ihr fliegt gar zu schnell! Auch ist es schon Abend, und
+wir täten wohl, ein Unterkommen für die Nacht zu suchen."
+
+Chasid gab der Bitte seines Dieners Gehör; und da er unten im Tale
+eine Ruine erblickte, die ein Obdach zu gewähren schien, so flogen
+sie dahin. Der Ort, wo sie sich für diese Nacht niedergelassen
+hatten, schien ehemals ein Schloß gewesen zu sein. Schöne Säulen
+ragten unter den Trümmern hervor, mehrere Gemächer, die noch ziemlich
+erhalten waren, zeugten von der ehemaligen Pracht des Hauses. Chasid
+und sein Begleiter gingen durch die Gänge umher, um sich ein
+trockenes Plätzchen zu suchen; plötzlich blieb der Storch Mansor
+stehen. "Herr und Gebieter", flüsterte er leise, "wenn es nur nicht
+töricht für einen Großwesir, noch mehr aber für einen Storch wäre,
+sich vor Gespenstern zu fürchten! Mir ist ganz unheimlich zumute;
+denn hier neben hat es ganz vernehmlich geseufzt und gestöhnt." Der
+Kalif blieb nun auch stehen und hörte ganz deutlich ein leises Weinen,
+das eher einem Menschen als einem Tiere anzugehören schien. Voll
+Erwartung wollte er der Gegend zugehen, woher die Klagetöne kamen;
+der Wesir aber packte ihn mit dem Schnabel am Flügel und bat ihn
+flehentlich, sich nicht in neue, unbekannte Gefahren zu stürzen.
+Doch vergebens! Der Kalif, dem auch unter dem Storchenflügel ein
+tapferes Herz schlug, riß sich mit Verlust einiger Federn los und
+eilte in einen finsteren Gang. Bald war er an einer Tür angelangt,
+die nur angelehnt schien und woraus er deutliche Seufzer mit ein
+wenig Geheul vernahm. Er stieß mit dem Schnabel die Türe auf, blieb
+aber überrascht auf der Schwelle stehen. In dem verfallenen Gemach,
+das nur durch ein kleines Gitterfenster spärlich erleuchtet war, sah
+er eine große Nachteule am Boden sitzen. Dicke Tränen rollten ihr
+aus den großen, runden Augen, und mit heiserer Stimme stieß sie ihre
+Klagen zu dem krummen Schnabel heraus. Als sie aber den Kalifen und
+seinen Wesir, der indes auch herbeigeschlichen war, erblickte, erhob
+sie ein lautes Freudengeschrei. Zierlich wischte sie mit dem
+braungefleckten Flügel die Tränen aus dem Auge, und zu dem größten
+Erstaunen der beiden rief sie in gutem menschlichem Arabisch:
+"Willkommen, ihr Störche! Ihr seid mir ein gutes Zeichen meiner
+Errettung; denn durch Störche werde mir ein großes Glück kommen, ist
+mir einst prophezeit worden!"
+
+Als sich der Kalif von seinem Erstaunen erholt hatte, bückte er sich
+mit seinem langen Hals, brachte seine dünnen Füße in eine zierliche
+Stellung und sprach: "Nachteule! Deinen Worten nach darf ich glauben,
+eine Leidensgefährtin in dir zu sehen. Aber ach! Deine Hoffnung,
+daß durch uns deine Rettung kommen werde, ist vergeblich. Du wirst
+unsere Hilflosigkeit selbst erkennen, wenn du unsere Geschichte hörst."
+Die Nachteule bat ihn zu erzählen, was der Kalif sogleich tat.
+
+Als der Kalif der Eule seine Geschichte vorgetragen hatte, dankte sie
+ihm und sagte: "Vernimm auch meine Geschichte und höre, wie ich nicht
+weniger unglücklich bin als du. Mein Vater ist der König von Indien,
+ich, seine einzige unglückliche Tochter, heiße Lusa. Jener Zauberer
+Kaschnur, der euch verzauberte, hat auch mich ins Unglück gestürzt.
+Er kam eines Tages zu meinem Vater und begehrte mich zur Frau für
+seinen Sohn Mizra. Mein Vater aber, der ein hitziger Mann ist, ließ
+ihn die Treppe hinunterwerfen. Der Elende wußte sich unter einer
+anderen Gestalt wieder in meine Nähe zu schleichen, und als ich einst
+in meinem Garten Erfrischungen zu mir nehmen wollte, brachte er mir,
+als Sklave verkleidet, einen Trank bei, der mich in diese
+abscheuliche Gestalt verwandelte. Vor Schrecken ohnmächtig, brachte
+er mich hierher und rief mir mit schrecklicher Stimme in die Ohren:
+
+'Da sollst du bleiben, häßlich, selbst von den Tieren verachtet, bis
+an dein Ende, oder bis einer aus freiem Willen dich, selbst in dieser
+schrecklichen Gestalt, zur Gattin begehrt. So räche ich mich an dir
+und deinem stolzen Vater.'
+
+Seitdem sind viele Monate verflossen. Einsam und traurig lebe ich
+als Einsiedlerin in diesem Gemäuer, verabscheut von der Welt, selbst
+den Tieren ein Greuel; die schöne Natur ist vor mir verschlossen;
+denn ich bin blind am Tage, und nur, wenn der Mond sein bleiches
+Licht über dies Gemäuer ausgießt, fällt der verhüllende Schleier von
+meinem Auge."
+
+Die Eule hatte geendet und wischte sich mit dem Flügel wieder die
+Augen aus, denn die Erzählung ihrer Leiden hatte ihr Tränen entlockt.
+
+Der Kalif war bei der Erzählung der Prinzessin in tiefes Nachdenken
+versunken. "Wenn mich nicht alles täuscht", sprach er, "so findet
+zwischen unserem Unglück ein geheimer Zusammenhang statt; aber wo
+finde ich den Schlüssel zu diesem Rätsel?"
+
+Die Eule antwortete ihm: "O Herr! Auch mir ahnet dies; denn es ist
+mir einst in meiner frühesten Jugend von einer weisen Frau prophezeit
+worden, daß ein Storch mir ein großes Glück bringen werde, und ich
+wüßte vielleicht, wie wir uns retten könnten." Der Kalif war sehr
+erstaunt und fragte, auf welchem Wege sie meine. "Der Zauberer, der
+uns beide unglücklich gemacht hat", sagte sie, "kommt alle Monate
+einmal in diese Ruinen. Nicht weit von diesem Gemach ist ein Saal.
+Dort pflegt er dann mit vielen Genossen zu schmausen. Schon oft habe
+ich sie dort belauscht. Sie erzählen dann einander ihre schändlichen
+Werke; vielleicht, daß er dann das Zauberwort, das ihr vergessen habt,
+ausspricht."
+
+"O, teuerste Prinzessin", rief der Kalif, "sag an, wann kommt er, und
+wo ist der Saal?"
+
+Die Eule schwieg einen Augenblick und sprach dann: "Nehmet es nicht
+ungütig, aber nur unter einer Bedingung kann ich Euern Wunsch
+erfüllen."
+
+"Sprich aus! Sprich aus!" schrie Chasid. "Befiehl, es ist mir jede
+recht."
+
+"Nämlich, ich möchte auch gern zugleich frei sein; dies kann aber nur
+geschehen, wenn einer von euch mir seine Hand reicht."
+
+Die Störche schienen über den Antrag etwas betroffen zu sein, und der
+Kalif winkte seinem Diener, ein wenig mit ihm hinauszugehen.
+
+"Großwesir", sprach vor der Türe der Kalif, "das ist ein dummer
+Handel; aber Ihr könntet sie schon nehmen."
+
+"So", antwortete dieser, "daß mir meine Frau, wenn ich nach Hause
+komme, die Augen auskratzt? Auch bin ich ein alter Mann, und Ihr
+seid noch jung und unverheiratet und könnet eher einer jungen,
+schönen Prinzessin die Hand geben."
+
+"Das ist es eben", seufzte der Kalif, indem er traurig die Flügel
+hängen ließ, "wer sagt dir denn, daß sie jung und schön ist? Das
+heißt eine Katze im Sack kaufen!"
+
+Sie redeten einander gegenseitig noch lange zu; endlich aber, als der
+Kalif sah, daß sein Wesir lieber Storch bleiben als die Eule heiraten
+wollte, entschloß er sich, die Bedingung lieber selbst zu erfüllen.
+Die Eule war hocherfreut. Sie gestand ihnen, daß sie zu keiner
+besseren Zeit hätten kommen können, weil wahrscheinlich in dieser
+Nacht die Zauberer sich versammeln würden.
+
+Sie verließ mit den Störchen das Gemach, um sie in jenen Saal zu
+führen; sie gingen lange in einem finsteren Gang hin; endlich
+strahlte ihnen aus einer halbverfallenen Mauer ein heller Schein
+entgegen. Als sie dort angelangt waren, riet ihnen die Eule, sich
+ganz ruhig zu verhalten. Sie konnten von der Lücke, an welcher sie
+standen, einen großen Saal übersehen. Er war ringsum mit Säulen
+geschmückt und prachtvoll verziert. Viele farbige Lampen ersetzten
+das Licht des Tages. In der Mitte des Saales stand ein runder Tisch,
+mit vielen und ausgesuchten Speisen besetzt. Rings um den Tisch zog
+sich ein Sofa, auf welchem acht Männer saßen. In einem dieser Männer
+erkannten die Störche jenen Krämer wieder, der ihnen das Zauberpulver
+verkauft hatte. Sein Nebensitzer forderte ihn auf, ihnen seine
+neuesten Taten zu erzählen. Er erzählte unter anderen auch die
+Geschichte des Kalifen und seines Wesirs.
+
+"Was für ein Wort hast du ihnen denn aufgegeben?" fragte ihn ein
+anderer Zauberer. "Ein recht schweres lateinisches, es heißt mutabor."
+
+Als die Störche an der Mauerlücke dieses hörten, kamen sie vor
+Freuden beinahe außer sich. Sie liefen auf ihren langen Füßen so
+schnell dem Tore der Ruine zu, daß die Eule kaum folgen konnte. Dort
+sprach der Kalif gerührt zu der Eule: "Retterin meines Lebens und des
+Lebens meines Freundes, nimm zum ewigen Dank für das, was du an uns
+getan, mich zum Gemahl an!" Dann aber wandte er sich nach Osten.
+Dreimal bückten die Störche ihre langen Hälse der Sonne entgegen, die
+soeben hinter dem Gebirge heraufstieg: "Mutabor!" riefen sie, im Nu
+waren sie verwandelt, und in der hohen Freude des neugeschenkten
+Lebens lagen Herr und Diener lachend und weinend einander in den
+Armen.
+
+Wer beschreibt aber ihr Erstaunen, als sie sich umsahen? Eine schöne
+Dame, herrlich geschmückt, stand vor ihnen. Lächelnd gab sie dem
+Kalifen die Hand. "Erkennt Ihr Eure Nachteule nicht mehr?" sagte sie.
+Sie war es; der Kalif war von ihrer Schönheit und Anmut entzückt.
+
+Die drei zogen nun miteinander auf Bagdad zu. Der Kalif fand in
+seinen Kleidern nicht nur die Dose mit Zauberpulver, sondern auch
+seinen Geldbeutel. Er kaufte daher im nächsten Dorfe, was zu ihrer
+Reise nötig war, und so kamen sie bald an die Tore von Bagdad. Dort
+aber erregte die Ankunft des Kalifen großes Erstaunen. Man hatte ihn
+für tot ausgegeben, und das Volk war daher hocherfreut, seinen
+geliebten Herrscher wiederzuhaben.
+
+Um so mehr aber entbrannte ihr Haß gegen den Betrüger Mizra. Sie
+zogen in den Palast und nahmen den alten Zauberer und seinen Sohn
+gefangen. Den Alten schickte der Kalif in dasselbe Gemach der Ruine,
+das die Prinzessin als Eule bewohnt hatte, und ließ ihn dort
+aufhängen. Dem Sohn aber, welcher nichts von den Künsten des Vaters
+verstand, ließ der Kalif die Wahl, ob er sterben oder schnupfen wolle.
+Als er das letztere wählte, bot ihm der Großwesir die Dose. Eine
+tüchtige Prise, und das Zauberwort des Kalifen verwandelte ihn in
+einen Storch. Der Kalif ließ ihn in einen eisernen Käfig sperren und
+in seinem Garten aufstellen.
+
+Lange und vergnügt lebte Kalif Chasid mit seiner Frau, der Prinzessin;
+seine vergnügtesten Stunden waren immer die, wenn ihn der Großwesir
+nachmittags besuchte; da sprachen sie dann oft von ihrem
+Storchabenteuer, und wenn der Kalif recht heiter war, ließ er sich
+herab, den Großwesir nachzuahmen, wie er als Storch aussah. Er stieg
+dann ernsthaft, mit steifen Füßen im Zimmer auf und ab, klapperte,
+wedelte mit den Armen wie mit Flügeln und zeigte, wie jener sich
+vergeblich nach Osten geneigt und Mu--Mu--dazu gerufen habe. Für die
+Frau Kalifin und ihre Kinder war diese Vorstellung allemal eine große
+Freude; wenn aber der Kalif gar zu lange klapperte und nickte und
+Mu--Mu--schrie, dann drohte ihm lächelnd der Wesir: Er wolle das, was
+vor der Türe der Prinzessin Nachteule verhandelt worden sei, der Frau
+Kalifin mitteilen.
+
+Als Selim Baruch seine Geschichte beendet hatte, bezeugten sich die
+Kaufleute sehr zufrieden damit. "Wahrhaftig, der Nachmittag ist uns
+vergangen, ohne daß wir merkten wie!" sagte einer derselben, indem er
+die Decke des Zeltes zurückschlug. "Der Abendwind wehet kühl, und
+wir könnten noch eine gute Strecke Weges zurücklegen." Seine
+Gefährten waren damit einverstanden, die Zelte wurden abgebrochen,
+und die Karawane machte sich in der nämlichen Ordnung, in welcher sie
+herangezogen war, auf den Weg.
+
+Sie ritten beinahe die ganze Nacht hindurch, denn es war schwül am
+Tage, die Nacht aber war erquicklich und sternhell. Sie kamen
+endlich an einem bequemen Lagerplatz an, schlugen die Zelte auf und
+legten sich zur Ruhe. Für den Fremden aber sorgten die Kaufleute,
+wie wenn er ihr wertester Gastfreund wäre. Der eine gab ihm Polster,
+der andere Decken, ein dritter gab ihm Sklaven, kurz, er wurde so gut
+bedient, als ob er zu Hause wäre. Die heißeren Stunden des Tages
+waren schon heraufgekommen, als sie sich wieder erhoben, und sie
+beschlossen einmütig, hier den Abend abzuwarten. Nachdem sie
+miteinander gespeist hatten, rückten sie wieder näher zusammen, und
+der junge Kaufmann wandte sich an den ältesten und sprach: "Selim
+Baruch hat uns gestern einen vergnügten Nachmittag bereitet, wie wäre
+es, Achmet, wenn Ihr uns auch etwas erzähltet, sei es nun aus Eurem
+langen Leben, das wohl viele Abenteuer aufzuweisen hat, oder sei es
+auch ein hübsches Märchen." Achmet schwieg auf diese Anrede eine
+Zeitlang, wie wenn er bei sich im Zweifel wäre, ob er dies oder jenes
+sagen sollte oder nicht; endlich fing er an zu sprechen:
+
+"Liebe Freunde! Ihr habt euch auf dieser unserer Reise als treue
+Gesellen erprobt, und auch Selim verdient mein Vertrauen; daher will
+ich euch etwas aus meinem Leben mitteilen, das ich sonst ungern und
+nicht jedem erzähle: die Geschichte von dem Gespensterschiff."
+
+
+
+
+Die Geschichte von dem Gespensterschiff
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Mein Vater hatte einen kleinen Laden in Balsora; er war weder arm
+noch reich und einer von jenen Leuten, die nicht gerne etwas wagen,
+aus Furcht, das Wenige zu verlieren, das sie haben. Er erzog mich
+schlicht und recht und brachte es bald so weit, daß ich ihm an die
+Hand gehen konnte. Gerade als ich achtzehn Jahre alt war, als er die
+erste größere Spekulation machte, starb er, wahrscheinlich aus Gram,
+tausend Goldstücke dem Meere anvertraut zu haben. Ich mußte ihn bald
+nachher wegen seines Todes glücklich preisen, denn wenige Wochen
+hernach lief die Nachricht ein, daß das Schiff, dem mein Vater seine
+Güter mitgegeben hatte, versunken sei. Meinen jugendlichen Mut
+konnte aber dieser Unfall nicht beugen. Ich machte alles vollends zu
+Geld, was mein Vater hinterlassen hatte, und zog aus, um in der
+Fremde mein Glück zu probieren, nur von einem alten Diener meines
+Vaters begleitet.
+
+Im Hafen von Balsora schifften wir uns mit günstigem Winde ein. Das
+Schiff, auf dem ich mich eingemietet hatte, war nach Indien bestimmt.
+Wir waren schon fünfzehn Tage auf der gewöhnlichen Straße gefahren,
+als uns der Kapitän einen Sturm verkündete. Er machte ein
+bedenkliches Gesicht, denn es schien, er kenne in dieser Gegend das
+Fahrwasser nicht genug, um einem Sturm mit Ruhe begegnen zu können.
+Er ließ alle Segel einziehen, und wir trieben ganz langsam hin. Die
+Nacht war angebrochen, war hell und kalt, und der Kapitän glaubte
+schon, sich in den Anzeichen des Sturmes getäuscht zu haben. Auf
+einmal schwebte ein Schiff, das wir vorher nicht gesehen hatten,
+dicht an dem unsrigen vorbei. Wildes Jauchzen und Geschrei erscholl
+aus dem Verdeck herüber, worüber ich mich zu dieser angstvollen
+Stunde vor einem Sturm nicht wenig wunderte. Aber der Kapitän an
+meiner Seite wurde blaß wie der Tod. "Mein Schiff ist verloren",
+rief er, "dort segelt der Tod!"
+
+Ehe ich ihn noch über diesen sonderbaren Ausruf befragen konnte,
+stürzten schon heulend und schreiend die Matrosen herein. "Habt ihr
+ihn gesehen?" schrien sie. "Jetzt ist's mit uns vorbei!"
+
+Der Kapitän aber ließ Trostsprüche aus dem Koran vorlesen und setzte
+sich selbst ans Steuerruder. Aber vergebens! Zusehends brauste der
+Sturm auf, und ehe eine Stunde verging, krachte das Schiff und blieb
+sitzen. Die Boote wurden ausgesetzt, und kaum hatten sich die
+letzten Matrosen gerettet, so versank das Schiff vor unseren Augen,
+und als ein Bettler fuhr ich in die See hinaus. Aber der Jammer
+hatte noch kein Ende. Fürchterlicher tobte der Sturm; das Boot war
+nicht mehr zu regieren. Ich hatte meinen alten Diener fest
+umschlungen, und wir versprachen uns, nie voneinander zu weichen.
+Endlich brach der Tag an. Aber mit dem ersten Anblick der Morgenröte
+faßte der Wind das Boot, in welchem wir saßen, und stürzte es um.
+Ich habe keinen meiner Schiffsleute mehr gesehen. Der Sturz hatte
+mich betäubt; und als ich aufwachte, befand ich mich in den Armen
+meines alten treuen Dieners, der sich auf das umgeschlagene Boot
+gerettet und mich nachgezogen hatte. Der Sturm hatte sich gelegt.
+Von unserem Schiff war nichts mehr zu sehen, wohl aber entdeckten wir
+nicht weit von uns ein anderes Schiff, auf das die Wellen uns
+hintrieben. Als wir näher hinzukamen, erkannte ich das Schiff als
+dasselbe, das in der Nacht an uns vorbeifuhr und welches den Kapitän
+so sehr in Schrecken gesetzt hatte. Ich empfand ein sonderbares
+Grauen vor diesem Schiffe. Die Äußerung des Kapitäns, die sich so
+furchtbar bestätigt hatte, das öde Aussehen des Schiffes, auf dem
+sich, so nahe wir auch herankamen, so laut wir schrien, niemand
+zeigte, erschreckten mich. Doch es war unser einziges Rettungsmittel;
+darum priesen wir den Propheten, der uns so wundervoll erhalten
+hatte.
+
+Am Vorderteil des Schiffes hing ein langes Tau herab. Mit Händen und
+Füßen ruderten wir darauf zu, um es zu erfassen. Endlich glückte es.
+Noch einmal erhob ich meine Stimme, aber immer blieb es still auf
+dem Schiff. Da klimmten wir an dem Tau hinauf, ich als der Jüngste
+voran. Aber Entsetzen! Welches Schauspiel stellte sich meinem Auge
+dar, als ich das Verdeck betrat! Der Boden war mit Blut gerötet,
+zwanzig bis dreißig Leichname in türkischen Kleidern lagen auf dem
+Boden, am mittleren Mastbaum stand ein Mann, reich gekleidet, den
+Säbel in der Hand, aber das Gesicht war blaß und verzerrt, durch die
+Stirn ging ein großer Nagel, der ihn an den Mastbaum heftete, auch er
+war tot. Schrecken fesselte meine Schritte, ich wagte kaum zu atmen.
+Endlich war auch mein Begleiter heraufgekommen. Auch ihn
+überraschte der Anblick des Verdecks, das gar nichts Lebendiges,
+sondern nur so viele schreckliche Tote zeigte. Wir wagten es endlich,
+nachdem wir in der Seelenangst zum Propheten gefleht hatten, weiter
+vorzuschreiten. Bei jedem Schritte sahen wir uns um, ob nicht etwas
+Neues, noch Schrecklicheres sich darbiete; aber alles blieb, wie es
+war; weit und breit nichts Lebendiges als wir und das Weltmeer.
+Nicht einmal laut zu sprechen wagten wir, aus Furcht, der tote, am
+Mast angespießte Kapitano möchte seine starren Augen nach uns
+hindrehen oder einer der Getöteten möchte seinen Kopf umwenden.
+Endlich waren wir bis an eine Treppe gekommen, die in den Schiffsraum
+führte. Unwillkürlich machten wir dort halt und sahen einander an,
+denn keiner wagte es recht, seine Gedanken zu äußern.
+
+"O Herr", sprach mein treuer Diener, "hier ist etwas Schreckliches
+geschehen. Doch wenn auch das Schiff da unten voll Mörder steckt, so
+will ich mich ihnen doch lieber auf Gnade und Ungnade ergeben, als
+längere Zeit unter diesen Toten zubringen." Ich dachte wie er; wir
+faßten uns ein Herz und stiegen voll Erwartung hinunter. Totenstille
+war aber auch hier, und nur unsere Schritte hallten auf der Treppe.
+Wir standen an der Türe der Kajüte. Ich legte mein Ohr an die Türe
+und lauschte; es war nichts zu hören. Ich machte auf. Das Gemach
+bot einen unordentlichen Anblick dar. Kleider, Waffen und andere
+Geräte lagen untereinander. Nichts in Ordnung. Die Mannschaft oder
+wenigstens der Kapitano mußten vor kurzem gezechet haben; denn es lag
+alles noch umher. Wir gingen weiter von Raum zu Raum, von Gemach zu
+Gemach, überall fanden wir herrliche Vorräte in Seide, Perlen, Zucker
+usw. Ich war vor Freude über diesen Anblick außer mir, denn da
+niemand auf dem Schiff war, glaubte ich, alles mir zueignen zu dürfen,
+Ibrahim aber machte mich aufmerksam darauf, daß wir wahrscheinlich
+noch sehr weit vom Lande seien, wohin wir allein und ohne menschliche
+Hilfe nicht kommen könnten.
+
+Wir labten uns an den Speisen und Getränken, die wir in reichem Maß
+vorfanden, und stiegen endlich wieder aufs Verdeck. Aber hier
+schauderte uns immer die Haut ob dem schrecklichen Anblick der
+Leichen. Wir beschlossen, uns davon zu befreien und sie über Bord zu
+werfen; aber wie schauerlich ward uns zumut, als wir fanden, daß sich
+keiner aus seiner Lage bewegen ließ. Wie festgebannt lagen sie am
+Boden, und man hätte den Boden des Verdecks ausheben müssen, um sie
+zu entfernen, und dazu gebrach es uns an Werkzeugen. Auch der
+Kapitano ließ sich nicht von seinem Mast losmachen; nicht einmal
+seinen Säbel konnten wir der starren Hand entwinden. Wir brachten
+den Tag in trauriger Betrachtung unserer Lage zu, und als es Nacht zu
+werden anfing, erlaubte ich dem alten Ibrahim, sich schlafen zu legen,
+ich selbst aber wollte auf dem Verdeck wachen, um nach Rettung
+auszuspähen. Als aber der Mond heraufkam und ich nach den Gestirnen
+berechnete, daß es wohl um die elfte Stunde sei, überfiel mich ein so
+unwiderstehlicher Schlaf, daß ich unwillkürlich hinter ein Faß, das
+auf dem Verdeck stand, zurückfiel. Doch war es mehr Betäubung als
+Schlaf, denn ich hörte deutlich die See an der Seite des Schiffes
+anschlagen und die Segel vom Winde knarren und pfeifen. Auf einmal
+glaubte ich Stimmen und Männertritte auf dem Verdeck zu hören. Ich
+wollte mich aufrichten, um danach zu schauen. Aber eine unsichtbare
+Gewalt hielt meine Glieder gefesselt; nicht einmal die Augen konnte
+ich aufschlagen. Aber immer deutlicher wurden die Stimmen, es war
+mir, als wenn ein fröhliches Schiffsvolk auf dem Verdeck sich
+umhertriebe; mitunter glaubte ich, die kräftige Stimme eines
+Befehlenden zu hören, auch hörte ich Taue und Segel deutlich auf- und
+abziehen. Nach und nach aber schwanden mir die Sinne, ich verfiel in
+einen tieferen Schlaf, in dem ich nur noch ein Geräusch von Waffen zu
+hören glaubte, und erwachte erst, als die Sonne schon hoch stand und
+mir aufs Gesicht brannte. Verwundert schaute ich mich um, Sturm,
+Schiff, die Toten und was ich in dieser Nacht gehört hatte, kam mir
+wie ein Traum vor, aber als ich aufblickte, fand ich alles wie
+gestern. Unbeweglich lagen die Toten, unbeweglich war der Kapitano
+an den Mastbaum geheftet. Ich lachte über meinen Traum und stand auf,
+um meinen Alten zu suchen.
+
+Dieser saß ganz nachdenklich in der Kajüte. "O Herr!" rief er aus,
+als ich zu ihm hineintrat, "ich wollte lieber im tiefsten Grund des
+Meeres liegen, als in diesem verhexten Schiff noch eine Nacht
+zubringen." Ich fragte ihn nach der Ursache seines Kummers, und er
+antwortete mir: "Als ich einige Stunden geschlafen hatte, wachte ich
+auf und vernahm, wie man über meinem Haupt hin und her lief. Ich
+dachte zuerst, Ihr wäret es, aber es waren wenigstens zwanzig, die
+oben umherliefen; auch hörte ich rufen und schreien. Endlich kamen
+schwere Tritte die Treppe herab. Da wußte ich nichts mehr von mir,
+nur hie und da kehrte auf einige Augenblicke meine Besinnung zurück,
+und da sah ich dann denselben Mann, der oben am Mast angenagelt ist,
+an jenem Tisch dort sitzen, singend und trinkend; aber der, der in
+einem roten Scharlachkleid nicht weit von ihm am Boden liegt, saß
+neben ihm und half ihm trinken." Also erzählte mir mein alter Diener.
+
+Ihr könnt mir es glauben, meine Freunde, daß mir gar nicht wohl
+zumute war; denn es war keine Täuschung, ich hatte ja auch die Toten
+gar wohl gehört. In solcher Gesellschaft zu schiffen, war mir
+greulich. Mein Ibrahim aber versank wieder in tiefes Nachdenken.
+"Jetzt hab' ich's!" rief er endlich aus; es fiel ihm nämlich ein
+Sprüchlein ein, das ihn sein Großvater, ein erfahrener, weitgereister
+Mann, gelehrt hatte und das gegen jeden Geister- und Zauberspuk
+helfen sollte; auch behauptete er, jenen unnatürlichen Schlaf, der
+uns befiel, in der nächsten Nacht verhindern zu können, wenn wir
+nämlich recht eifrig Sprüche aus dem Koran beteten. Der Vorschlag
+des alten Mannes gefiel mir wohl. In banger Erwartung sahen wir die
+Nacht herankommen. Neben der Kajüte war ein kleines Kämmerchen,
+dorthin beschlossen wir uns zurückzuziehen. Wir bohrten mehrere
+Löcher in die Türe, hinlänglich groß, um durch sie die ganze Kajüte
+zu überschauen, dann verschlossen wir die Türe, so gut es ging, von
+innen, und Ibrahim schrieb den Namen des Propheten in alle vier Ecken.
+So erwarteten wir die Schrecken der Nacht. Es mochte wieder
+ungefähr elf Uhr sein, als es mich gewaltig zu schläfern anfing.
+Mein Gefährte riet mir daher, einige Sprüche des Korans zu beten, was
+mir auch half. Mit einem Male schien es oben lebhaft zu werden; die
+Taue knarrten, Schritte gingen über das Verdeck, und mehrere Stimmen
+waren deutlich zu unterscheiden--Mehrere Minuten hatten wir so in
+gespannter Erwartung gesessen, da hörten wir etwas die Treppe der
+Kajüte herabkommen. Als dies der Alte hörte, fing er an, den Spruch,
+den ihn sein Großvater gegen Spuk und Zauberei gelehrt hatte,
+herzusagen:
+
+"Kommt ihr herab aus der Luft,
+Steigt ihr aus tiefem Meer,
+Schlieft ihr in dunkler Gruft,
+Stammt ihr vom Feuer her:
+Allah ist euer Herr und Meister,
+ihm sind gehorsam alle Geister."
+
+Ich muß gestehen, ich glaubte gar nicht recht an diesen Spruch, und
+mir stieg das Haar zu Berg, als die Tür aufflog. Herein trat jener
+große, stattliche Mann, den ich am Mastbaum angenagelt gesehen hatte.
+Der Nagel ging ihm auch jetzt mitten durchs Hirn; das Schwert aber
+hatte er in die Scheide gesteckt; hinter ihm trat noch ein anderer
+herein, weniger kostbar gekleidet; auch ihn hatte ich oben liegen
+sehen. Der Kapitano, denn dies war er unverkennbar, hatte ein
+bleiches Gesicht, einen großen, schwarzen Bart, wildrollende Augen,
+mit denen er sich im ganzen Gemach umsah. Ich konnte ihn ganz
+deutlich sehen, als er an unserer Türe vorüberging; er aber schien
+gar nicht auf die Türe zu achten, die uns verbarg. Beide setzten
+sich an den Tisch, der in der Mitte der Kajüte stand, und sprachen
+laut und fast schreiend miteinander in einer unbekannten Sprache.
+Sie wurden immer lauter und eifriger, bis endlich der Kapitano mit
+geballter Faust auf den Tisch hineinschlug, daß das Zimmer dröhnte.
+Mit wildem Gelächter sprang der andere auf und winkte dem Kapitano,
+ihm zu folgen. Dieser stand auf, riß seinen Säbel aus der Scheide,
+und beide verließen das Gemach. Wir atmeten freier, als sie weg
+waren; aber unsere Angst hatte noch lange kein Ende. Immer lauter
+und lauter ward es auf dem Verdeck. Man hörte eilends hin und her
+laufen und schreien, lachen und heulen. Endlich ging ein wahrhaft
+höllischer Lärm los, so daß wir glaubten, das Verdeck mit allen
+Segeln komme zu uns herab, Waffengeklirr und Geschrei--auf einmal
+aber tiefe Stille. Als wir es nach vielen Stunden wagten
+hinaufzugehen, trafen wir alles wie sonst; nicht einer lag anders als
+früher. Alle waren steif wie Holz.
+
+So waren wir mehrere Tage auf dem Schiffe; es ging immer nach Osten,
+wohin zu, nach meiner Berechnung, Land liegen mußte; aber wenn es
+auch bei Tag viele Meilen zurückgelegt hatte, bei Nacht schien es
+immer wieder zurückzukehren, denn wir befanden uns immer wieder am
+nämlichen Fleck, wenn die Sonne aufging. Wir konnten uns dies nicht
+anders erklären, als daß die Toten jede Nacht mit vollem Winde
+zurücksegelten. Um nun dies zu verhüten, zogen wir, ehe es Nacht
+wurde, alle Segel ein und wandten dasselbe Mittel an wie bei der Türe
+in der Kajüte; wir schrieben den Namen des Propheten auf Pergament
+und auch das Sprüchlein des Großvaters dazu und banden es um die
+eingezogenen Segel. Ängstlich warteten wir in unserem Kämmerchen
+den Erfolg ab. Der Spuk schien diesmal noch ärger zu toben, aber
+siehe, am anderen Morgen waren die Segel noch aufgerollt, wie wir sie
+verlassen hatten. Wir spannten den Tag über nur so viele Segel auf,
+als nötig waren, das Schiff sanft fortzutreiben, und so legten wir in
+fünf Tagen eine gute Strecke zurück.
+
+Endlich, am Morgen des sechsten Tages, entdeckten wir in geringer
+Ferne Land, und wir dankten Allah und seinem Propheten für unsere
+wunderbare Rettung. Diesen Tag und die folgende Nacht trieben wir an
+einer Küste hin, und am siebenten Morgen glaubten wir in geringer
+Entfernung eine Stadt zu entdecken; wir ließen mit vieler Mühe einen
+Anker in die See, der alsobald Grund faßte, setzten ein kleines Boot,
+das auf dem Verdeck stand, aus und ruderten mit aller Macht der Stadt
+zu. Nach einer halben Stunde liefen wir in einen Fluß ein, der sich
+in die See ergoß, und stiegen ans Ufer. Am Stadttor erkundigten wir
+uns, wie die Stadt heiße, und erfuhren, daß es eine indische Stadt
+sei, nicht weit von der Gegend, wohin ich zuerst zu schiffen willens
+war. Wir begaben uns in eine Karawanserei und erfrischten uns von
+unserer abenteuerlichen Reise. Ich forschte daselbst auch nach einem
+weisen und verständigen Manne, indem ich dem Wirt zu verstehen gab,
+daß ich einen solchen haben möchte, der sich ein wenig auf Zauberei
+verstehe. Er führte mich in eine abgelegene Straße, an ein
+unscheinbares Haus, pochte an, und man ließ mich eintreten mit der
+Weisung, ich solle nur nach Muley fragen.
+
+In dem Hause kam mir ein altes Männlein mit grauem Bart und langer
+Nase entgegen und fragte nach meinem Begehr. Ich sagte ihm, ich
+suche den weisen Muley, und er antwortete mir, er sei es selbst. Ich
+fragte ihn nun um Rat, was ich mit den Toten machen solle und wie ich
+es angreifen müsse, um sie aus dem Schiff zu bringen. Er antwortete
+mir, die Leute des Schiffes seien wahrscheinlich wegen irgendeines
+Frevels auf das Meer verzaubert; er glaube, der Zauber werde sich
+lösen, wenn man sie ans Land bringe; dies könne aber nicht geschehen,
+als wenn man die Bretter, auf denen sie lägen, losmache. Mir gehöre
+von Gott und Rechts wegen das Schiff samt allen Gütern, weil ich es
+gleichsam gefunden habe; doch solle ich alles sehr geheimzuhalten
+trachten und ihm ein kleines Geschenk von meinem Überfluß machen; er
+wolle dafür mit seinen Sklaven mir behilflich sein, die Toten
+wegzuschaffen. Ich versprach, ihn reichlich zu belohnen, und wir
+machten uns mit fünf Sklaven, die mit Sägen und Beilen versehen waren,
+auf den Weg. Unterwegs konnte der Zauberer Muley unseren glücklichen
+Einfall, die Segel mit den Sprüchen des Korans zu umwinden, nicht
+genug loben. Er sagte, es sei dies das einzige Mittel gewesen, uns
+zu retten.
+
+Es war noch ziemlich früh am Tage, als wir beim Schiff ankamen. Wir
+machten uns alle sogleich ans Werk, und in einer Stunde lagen schon
+vier in dem Nachen. Einige der Sklaven mußten sie an Land rudern, um
+sie dort zu verscharren. Sie erzählten, als sie zurückkamen, die
+Toten hätten ihnen die Mühe des Begrabens erspart, indem sie, sowie
+man sie auf die Erde gelegt habe, in Staub zerfallen seien. Wir
+fuhren fort, die Toten abzusägen, und bis vor Abend waren alle an
+Land gebracht. Es war endlich keiner mehr an Bord als der, welcher
+am Mast angenagelt war. Umsonst suchten wir den Nagel aus dem Holze
+zu ziehen, keine Gewalt vermochte ihn auch nur ein Haarbreit zu
+verrücken. Ich wußte nicht, was anzufangen war; man konnte doch
+nicht den Mastbaum abhauen, um ihn ans Land zu führen. Doch aus
+dieser Verlegenheit half Muley. Er ließ schnell einen Sklaven an
+Land rudern, um einen Topf mit Erde zu bringen. Als dieser
+herbeigeholt war, sprach der Zauberer geheimnisvolle Worte darüber
+aus und schüttete die Erde auf das Haupt des Toten. Sogleich schlug
+dieser die Augen auf, holte tief Atem, und die Wunde des Nagels in
+seiner Stirne fing an zu bluten. Wir zogen den Nagel jetzt leicht
+heraus, und der Verwundete fiel einem Sklaven in die Arme.
+
+"Wer hat mich hierhergeführt?" sprach er, nachdem er sich ein wenig
+erholt zu haben schien. Muley zeigte auf mich, und ich trat zu ihm.
+"Dank dir, unbekannter Fremdling, du hast mich von langen Qualen
+errettet. Seit fünfzig Jahren schifft mein Leib durch diese Wogen,
+und mein Geist war verdammt, jede Nacht in ihn zurückzukehren. Aber
+jetzt hat mein Haupt die Erde berührt, und ich kann versöhnt zu
+meinen Vätern gehen."
+
+Ich bat ihn, uns doch zu sagen, wie er zu diesem schrecklichen
+Zustand gekommen sei, und er sprach: "Vor fünfzig Jahren war ich ein
+mächtiger, angesehener Mann und wohnte in Algier; die Sucht nach
+Gewinn trieb mich, ein Schiff auszurüsten und Seeraub zu treiben.
+Ich hatte dieses Geschäft schon einige Zeit fortgeführt, da nahm ich
+einmal auf Zante einen Derwisch an Bord, der umsonst reisen wollte.
+Ich und meine Gesellen waren rohe Leute und achteten nicht auf die
+Heiligkeit des Mannes; vielmehr trieb ich mein Gespött mit ihm. Als
+er aber einst in heiligem Eifer mir meinen sündigen Lebenswandel
+verwiesen hatte, übermannte mich nachts in meiner Kajüte, als ich mit
+meinem Steuermann viel getrunken hatte, der Zorn. Wütend über das,
+was mir ein Derwisch gesagt hatte und was ich mir von keinem Sultan
+hätte sagen lassen, stürzte ich aufs Verdeck und stieß ihm meinen
+Dolch in die Brust. Sterbend verwünschte er mich und meine
+Mannschaft, nicht sterben und nicht leben zu können, bis wir unser
+Haupt auf die Erde legten. Der Derwisch starb, und wir warfen ihn in
+die See und verlachten seine Drohungen; aber noch in derselben Nacht
+erfüllten sich seine Worte. Ein Teil meiner Mannschaft empörte sich
+gegen mich--Mit fürchterlicher Wut wurde gestritten, bis meine
+Anhänger unterlagen und ich an den Mast genagelt wurde. Aber auch
+die Empörer erlagen ihren Wunden, und bald war mein Schiff nur ein
+großes Grab. Auch mir brachen die Augen, mein Atem hielt an, und ich
+meinte zu sterben. Aber es war nur eine Erstarrung, die mich
+gefesselt hielt; in der nächsten Nacht, zur nämlichen Stunde, da wir
+den Derwisch in die See geworfen, erwachten ich und alle meine
+Genossen, das Leben war zurückgekehrt, aber wir konnten nichts tun
+und sprechen, als was wir in jener Nacht gesprochen und getan hatten.
+So segeln wir seit fünfzig Jahren, können nicht leben, nicht sterben;
+denn wie konnten wir das Land erreichen? Mit toller Freude segelten
+wir allemal mit vollen Segeln in den Sturm, weil wir hofften, endlich
+an einer Klippe zu zerschellen und das müde Haupt auf dem Grund des
+Meeres zur Ruhe zu legen. Es ist uns nicht gelungen. Jetzt aber
+werde ich sterben. Noch einmal meinen Dank, unbekannter Retter, wenn
+Schätze dich lohnen können, so nimm mein Schiff als Zeichen meiner
+Dankbarkeit."
+
+Der Kapitano ließ sein Haupt sinken, als er so gesprochen hatte, und
+verschied. Sogleich zerfiel er auch, wie seine Gefährten, in Staub.
+Wir sammelten diesen in ein Kästchen und begruben ihn an Land; aus
+der Stadt nahm ich aber Arbeiter, die mir mein Schiff in guten
+Zustand setzten. Nachdem ich die Waren, die ich an Bord hatte, gegen
+andere mit großem Gewinn eingetauscht hatte, mietete ich Matrosen,
+beschenkte meinen Freund Muley reichlich und schiffte mich nach
+meinem Vaterlande ein. Ich machte aber einen Umweg, indem ich an
+vielen Inseln und Ländern landete und meine Waren zu Markt brachte.
+Der Prophet segnete mein Unternehmen. Nach dreiviertel Jahren lief
+ich, noch einmal so reich, als mich der sterbende Kapitän gemacht
+hatte, in Balsora ein. Meine Mitbürger waren erstaunt über meine
+Reichtümer und mein Glück und glaubten nicht anders, als daß ich das
+Diamantental des berühmten Reisenden Sindbad gefunden habe. Ich ließ
+sie in ihrem Glauben, von nun an aber mußten die jungen Leute von
+Balsora, wenn sie kaum achtzehn Jahre alt waren, in die Welt hinaus,
+um gleich mir ihr Glück zu machen. Ich aber lebte ruhig und in
+Frieden, und alle fünf Jahre mache ich eine Reise nach Mekka, um dem
+Herrn an heiliger Stätte für seinen Segen zu danken und für den
+Kapitano und seine Leute zu bitten, daß er sie in sein Paradies
+aufnehme.
+
+--------------------------Die Reise der Karawane war den anderen Tag
+ohne Hindernis fürder gegangen, und als man im Lagerplatz sich erholt
+hatte, begann Selim, der Fremde, zu Muley, dem jüngsten der Kaufleute,
+also zu sprechen:
+
+"Ihr seid zwar der Jüngste von uns, doch seid Ihr immer fröhlich und
+wißt für uns gewiß irgendeinen guten Schwank. Tischet ihn auf, daß
+er uns erquicke nach der Hitze des Tages!"
+
+"Wohl möchte ich euch etwas erzählen", antwortete Muley, "das euch
+Spaß machen könnte, doch der Jugend ziemt Bescheidenheit in allen
+Dingen; darum müssen meine älteren Reisegefährten den Vorrang haben.
+Zaleukos ist immer so ernst und verschlossen, sollte er uns nicht
+erzählen, was sein Leben so ernst machte? Vielleicht, daß wir seinen
+Kummer, wenn er solchen hat, lindern können; denn gerne dienen wir
+dem Bruder, wenn er auch anderen Glaubens ist."
+
+Der Aufgerufene war ein griechischer Kaufmann, ein Mann in mittleren
+Jahren, schön und kräftig, aber sehr ernst. Ob er gleich ein
+Ungläubiger (nicht Muselmann) war, so liebten ihn doch seine
+Reisegefährten, denn er hatte durch sein ganzes Wesen Achtung und
+Zutrauen eingeflößt. Er hatte übrigens nur eine Hand, und einige
+seiner Gefährten vermuteten, daß vielleicht dieser Verlust ihn so
+ernst stimme.
+
+Zaleukos antwortete auf die zutrauliche Frage Muleys: "Ich bin sehr
+geehrt durch euer Zutrauen; Kummer habe ich keinen, wenigstens keinen,
+von welchem ihr auch mit dem besten Willen mir helfen könntet. Doch
+weil Muley mir meinen Ernst vorzuwerfen scheint, so will ich euch
+einiges erzählen, was mich rechtfertigen soll, wenn ich ernster bin
+als andere Leute. Ihr sehet, daß ich meine linke Hand verloren habe.
+Sie fehlt mir nicht von Geburt an, sondern ich habe sie in den
+schrecklichsten Tagen meines Lebens eingebüßt. Ob ich die Schuld
+davon trage, ob ich unrecht habe, seit jenen Tagen ernster, als es
+meine Lage mit sich bringt, zu sein, möget ihr beurteilen, wenn ihr
+vernommen habt die Geschichte von der abgehauenen Hand."
+
+
+
+
+Die Geschichte von der abgehauenen Hand
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Ich bin in Konstantinopel geboren; mein Vater war ein Dragoman
+(Dolmetscher) bei der Pforte (dem türkischen Hof) und trieb nebenbei
+einen ziemlich einträglichen Handel mit wohlriechenden Essenzen und
+seidenen Stoffen. Er gab mir eine gute Erziehung, indem er mich
+teils selbst unterrichtete, teils von einem unserer Priester mir
+Unterricht geben ließ. Er bestimmte mich anfangs, seinen Laden
+einmal zu übernehmen, als ich aber größere Fähigkeiten zeigte, als er
+erwartet hatte, bestimmte er mich auf das Anraten seiner Freunde zum
+Arzt; weil ein Arzt, wenn er etwas mehr gelernt hat als die
+gewöhnlichen Marktschreier, in Konstantinopel sein Glück machen kann.
+Es kamen viele Franken in unser Haus, und einer davon überredete
+meinen Vater, mich in sein Vaterland, nach der Stadt Paris, reisen zu
+lassen, wo man solche Sachen unentgeltlich und am besten lernen könne.
+Er selbst aber wolle mich, wenn er zurückreise, umsonst mitnehmen.
+Mein Vater, der in seiner Jugend auch gereist war, schlug ein, und
+der Franke sagte mir, ich könne mich in drei Monaten bereithalten.
+Ich war außer mir vor Freude, fremde Länder zu sehen.
+
+Der Franke hatte endlich seine Geschäfte abgemacht und sich zur Reise
+bereitet; am Vorabend der Reise führte mich mein Vater in sein
+Schlafkämmerlein. Dort sah ich schöne Kleider und Waffen auf dem
+Tische liegen. Was meine Blicke aber noch mehr anzog, war ein großer
+Haufe Goldes, denn ich hatte noch nie so viel beieinander gesehen.
+Mein Vater umarmte mich und sagte: "Siehe, mein Sohn, ich habe dir
+Kleider zu der Reise besorgt. Jene Waffen sind dein, es sind die
+nämlichen, die mir dein Großvater umhing, als ich in die Fremde
+auszog. Ich weiß, du kannst sie fuhren; gebrauche sie aber nie, als
+wenn du angegriffen wirst; dann aber schlage auch tüchtig drauf.
+Mein Vermögen ist nicht groß; siehe, ich habe es in drei Teile
+geteilt, einer davon ist dein; einer davon ist mein Unterhalt und
+Notpfennig, der dritte aber sei mir ein heiliges, unantastbares Gut,
+er diene dir in der Stunde der Not!" So sprach mein alter Vater, und
+Tränen hingen ihm im Auge, vielleicht aus Ahnung, denn ich habe ihn
+nie wiedergesehen.
+
+Die Reise ging gut vonstatten; wir waren bald im Lande der Franken
+angelangt, und sechs Tagreisen nachher kamen wir in die große Stadt
+Paris. Hier mietete mir mein fränkischer Freund ein Zimmer und riet
+mir, mein Geld, das in allem zweitausend Taler betrug, vorsichtig
+anzuwenden. Ich lebte drei Jahre in dieser Stadt und lernte, was ein
+tüchtiger Arzt wissen muß; ich müßte aber lügen, wenn ich sagte, daß
+ich gerne dort gewesen sei; denn die Sitten dieses Volkes gefielen
+mir nicht; auch hatte ich nur wenige gute Freunde dort, diese aber
+waren edle, junge Männer.
+
+Die Sehnsucht nach der Heimat wurde endlich mächtig in mir; in der
+ganzen Zeit hatte ich nichts von meinem Vater gehört, und ich ergriff
+daher eine günstige Gelegenheit, nach Hause zu kommen.
+
+Es ging nämlich eine Gesandtschaft aus Frankenland nach der Hohen
+Pforte. Ich verdingte mich als Wundarzt in das Gefolge des Gesandten
+und kam glücklich wieder nach Stambul. Das Haus meines Vaters aber
+fand ich verschlossen, und die Nachbarn staunten, als sie mich sahen,
+und sagten mir, mein Vater sei vor zwei Monaten gestorben. Jener
+Priester, der mich in meiner Jugend unterrichtet hatte, brachte nur
+den Schlüssel; allein und verlassen zog ich in das verödete Haus ein.
+Ich fand noch alles, wie es mein Vater verlassen hatte; nur das Gold,
+das er mir zu hinterlassen versprach, fehlte. Ich fragte den
+Priester darüber, und dieser verneigte sich und sprach: "Euer Vater
+ist als ein heiliger Mann gestorben; denn er hat sein Gold der Kirche
+vermacht." Dies war und blieb mir unbegreiflich; doch was wollte ich
+machen; ich hatte keine Zeugen gegen den Priester und mußte froh sein,
+daß er nicht auch das Haus und die Waren meines Vaters als
+Vermächtnis angesehen hatte.
+
+Dies war das erste Unglück, das mich traf. Von jetzt an aber kam es
+Schlag auf Schlag. Mein Ruf als Arzt wollte sich gar nicht
+ausbreiten, weil ich mich schämte, den Marktschreier zu machen, und
+überall fehlte mir die Empfehlung meines Vaters, der mich bei den
+Reichsten und Vornehmsten eingeführt hätte, die jetzt nicht mehr an
+den armen Zaleukos dachten. Auch die Waren meines Vaters fanden
+keinen Abgang; denn die Kunden hatten sich nach seinem Tode verlaufen,
+und neue bekommt man nur langsam. Als ich einst trostlos über meine
+Lage nachdachte, fiel mir ein, daß ich oft in Franken Männer meines
+Volkes gesehen hatte, die das Land durchzogen und ihre Waren auf den
+Märkten der Städte auslegten; ich erinnerte mich, daß man ihnen gerne
+abkaufte, weil sie aus der Fremde kamen, und daß man bei solchem
+Handel das Hundertfache erwerben könne. Sogleich war auch mein
+Entschluß gefaßt. Ich verkaufte mein väterliches Haus, gab einen
+Teil des gelösten Geldes einem bewährten Freunde zum Aufbewahren, von
+dem übrigen aber kaufte ich, was man in Franken selten hat, wie
+Schals, seidene Zeuge, Salben und Öle, mietete einen Platz auf einem
+Schiff und trat so meine zweite Reise nach Franken an.
+
+Es schien, als ob das Glück, sobald ich die Schlösser der Dardanellen
+im Rücken hatte, mir wieder günstig geworden wäre. Unsere Fahrt war
+kurz und glücklich. Ich durchzog die großen und kleinen Städte der
+Franken und fand überall willige Käufer meiner Waren. Mein Freund in
+Stambul sandte mir immer wieder frische Vorräte, und ich wurde von
+Tag zu Tag wohlhabender. Als ich endlich so viel erspart hatte, daß
+ich glaubte, ein größeres Unternehmen wagen zu können, zog ich mit
+meinen Waren nach Italien. Etwas muß ich aber noch gestehen, was mir
+auch nicht wenig Geld einbrachte: ich nahm auch meine Arzneikunst zu
+Hilfe. Wenn ich in eine Stadt kam, ließ ich durch Zettel verkünden,
+daß ein griechischer Arzt da sei, der schon viele geheilt habe; und
+wahrlich, mein Balsam und meine Arzneien haben mir manche Zechine
+eingebracht.
+
+So war ich endlich nach der Stadt Florenz in Italien gekommen. Ich
+nahm mir vor, längere Zeit in dieser Stadt zu bleiben, teils weil sie
+mir so wohl gefiel, teils auch, weil ich mich von den Strapazen
+meines Umherziehens erholen wollte. Ich mietete mir ein Gewölbe in
+dem Stadtviertel St. Croce und nicht weit davon ein paar schöne
+Zimmer, die auf einen Altan führten, in einem Wirtshaus. Sogleich
+ließ ich auch meine Zettel umhertragen, die mich als Arzt und
+Kaufmann ankündigten. Ich hatte kaum mein Gewölbe eröffnet, so
+strömten auch die Käufer herzu, und ob ich gleich ein wenig hohe
+Preise hatte, so verkaufte ich doch mehr als andere, weil ich
+gefällig und freundlich gegen meine Kunden war. Ich hatte schon vier
+Tage vergnügt in Florenz verlebt, als ich eines Abends, da ich schon
+mein Gewölbe schließen und nur die Vorräte in meinen Salbenbüchsen
+nach meiner Gewohnheit noch einmal mustern wollte, in einer kleinen
+Büchse einen Zettel fand, den ich mich nicht erinnerte, hineingetan
+zu haben. Ich öffnete den Zettel und fand darin eine Einladung,
+diese Nacht Punkt zwölf Uhr auf der Brücke, die man Ponte vecchio
+heißt, mich einzufinden. Ich sann lange darüber nach, wer es wohl
+sein könnte, der mich dorthin einlud, da ich aber keine Seele in
+Florenz kannte, dachte ich, man werde mich vielleicht heimlich zu
+irgendeinem Kranken führen wollen, was schon öfter geschehen war.
+Ich beschloß also hinzugehen, doch hing ich zur Vorsicht den Säbel um,
+den mir einst mein Vater geschenkt hatte.
+
+Als es stark gegen Mitternacht ging, machte ich mich auf den Weg und
+kam bald auf die Ponte vecchio. Ich fand die Brücke verlassen und
+öde und beschloß zu warten, bis er erscheinen würde, der mich rief.
+Es war eine kalte Nacht; der Mond schien hell, und ich schaute hinab
+in die Wellen des Arno, die weithin im Mondlicht schimmerten. Auf
+den Kirchen der Stadt schlug es jetzt zwölf Uhr; ich richtete mich
+auf, und vor mir stand ein großer Mann, ganz in einen roten Mantel
+gehüllt, dessen einen Zipfel er vor das Gesicht hielt.
+
+Ich war von Anfang etwas erschrocken, weil er so plötzlich hinter mir
+stand, faßte mich aber sogleich wieder und sprach: "Wenn Ihr mich
+habt hierher bestellt, so sagt an, was steht zu Eurem Befehl?"
+
+Der Rotmantel wandte sich um und sagte langsam: "Folge!" Da ward
+mir's doch etwas unheimlich zumute, mit diesem Unbekannten allein zu
+gehen; ich blieb stehen und sprach: "Nicht also, lieber Herr, wollet
+mir vorerst sagen, wohin; auch könnet Ihr mir Euer Gesicht ein wenig
+zeigen, daß ich sehe, ob Ihr Gutes mit mir vorhabt."
+
+Der Rote aber schien sich nicht darum zu kümmern. "Wenn du nicht
+willst, Zaleukos, so bleibe!" antwortete er und ging weiter.
+
+Da entbrannte mein Zorn. "Meinet Ihr", rief ich aus, "ein Mann wie
+ich lasse sich von jedem Narren foppen, und ich werde in dieser
+kalten Nacht umsonst gewartet haben?" In drei Sprüngen hatte ich ihn
+erreicht, packte ihn an seinem Mantel und schrie noch lauter, indem
+ich die andere Hand an den Säbel legte; aber der Mantel blieb mir in
+der Hand, und der Unbekannte war um die nächste Ecke verschwunden.
+Mein Zorn legte sich nach und nach; ich hatte doch den Mantel, und
+dieser sollte mir schon den Schlüssel zu diesem wunderlichen
+Abenteuer geben.
+
+Ich hing ihn um und ging meinen Weg weiter nach Hause. Als ich kaum
+noch hundert Schritte davon entfernt war, streifte jemand dicht an
+mir vorüber und flüsterte in fränkischer Sprache: "Nehmt Euch in acht,
+Graf, heute nacht ist nichts zu machen." Ehe ich mich aber umsehen
+konnte, war dieser Jemand schon vorbei, und ich sah nur noch einen
+Schatten an den Häusern hinschweben. Daß dieser Zuruf den Mantel und
+nicht mich anging, sah ich ein; doch gab er mir kein Licht über die
+Sache. Am anderen Morgen überlegte ich, was zu tun sei. Ich war von
+Anfang gesonnen, den Mantel ausrufen zu lassen, als hätte ich ihn
+gefunden; doch da konnte der Unbekannte ihn durch einen Dritten holen
+lassen, und ich hätte dann keinen Aufschluß über die Sache gehabt.
+Ich besah, indem ich so nachdachte, den Mantel näher. Er war von
+schwerem genuesischem Samt, purpurrot, mit astrachanischem Pelz
+verbrämt und reich mit Gold bestickt. Der prachtvolle Anblick des
+Mantels brachte mich auf einen Gedanken, den ich auszuführen beschloß.
+
+Ich trug ihn in mein Gewölbe und legte ihn zum Verkauf aus, setzte
+aber auf ihn einen so hohen Preis, daß ich gewiß war, keinen Käufer
+zu finden. Mein Zweck dabei war, jeden, der nach dem Pelz fragen
+würde, scharf ins Auge zu fassen; denn die Gestalt des Unbekannten,
+die sich mir nach Verlust des Mantels, wenn auch nur flüchtig, doch
+bestimmt zeigte, wollte ich aus Tausenden erkennen. Es fanden sich
+viele Kauflustige zu dem Mantel, dessen außerordentliche Schönheit
+alle Augen auf sich zog; aber keiner glich entfernt dem Unbekannten,
+keiner wollte den hohen Preis von zweihundert Zechinen dafür bezahlen.
+Auffallend war mir dabei, daß, wenn ich einen oder den anderen
+fragte, ob denn sonst kein solcher Mantel in Florenz sei, alle mit
+"Nein!" antworteten und versicherten, eine so kostbare und
+geschmackvolle Arbeit nie gesehen zu haben.
+
+Es wollte schon Abend werden, da kam endlich ein junger Mann, der
+schon oft bei mir gewesen war und auch heute viel auf den Mantel
+geboten hatte, warf einen Beutel mit Zechinen auf den Tisch und rief:
+"Bei Gott! Zaleukos, ich muß deinen Mantel haben, und sollte ich zum
+Bettler darüber werden." Zugleich begann er, seine Goldstücke
+aufzuzählen. Ich kam in große Not; ich hatte den Mantel nur
+ausgehängt, um vielleicht die Blicke meines Unbekannten darauf zu
+ziehen, und jetzt kam ein junger Tor, um den ungeheuren Preis zu
+zahlen. Doch was blieb mir übrig; ich gab nach, denn es tat mir auf
+der anderen Seite der Gedanke wohl, für mein nächtliches Abenteuer so
+schön entschädigt zu werden. Der Jüngling hing sich den Mantel um
+und ging; er kehrte aber auf der Schwelle wieder um, indem er ein
+Papier, das am Mantel befestigt war, losmachte, mir zuwarf und sagte:
+"Hier, Zaleukos, hängt etwas, das wohl nicht zu dem Mantel gehört."
+
+Gleichgültig nahm ich den Zettel; aber siehe da, dort stand
+geschrieben: "Bringe heute nacht um die bewußte Stunde den Mantel auf
+die Ponte vecchio, vierhundert Zechinen warten deiner."
+
+Ich stand wie niedergedonnert. So hatte ich also mein Glück selbst
+verscherzt und meinen Zweck gänzlich verfehlt! Doch ich besann mich
+nicht lange, raffte die zweihundert Zechinen zusammen, sprang dem,
+der den Mantel gekauft hatte, nach und sprach: "Nehmt Eure Zechinen
+wieder, guter Freund, und laßt mir den Mantel, ich kann ihn unmöglich
+hergeben." Dieser hielt die Sache von Anfang für Spaß, als er aber
+merkte, daß es Ernst war, geriet er in Zorn über meine Forderung,
+schalt mich einen Narren, und so kam es endlich zu Schlägen. Doch
+ich war so glücklich, im Handgemenge ihm den Mantel zu entreißen, und
+wollte schon mit ihm davoneilen, als der junge Mann die Polizei zu
+Hilfe rief und mich mit sich vor Gericht zog. Der Richter war sehr
+erstaunt über die Anklage und sprach meinem Gegner den Mantel zu.
+Ich aber bot dem Jünglinge zwanzig, fünfzig, achtzig, ja hundert
+Zechinen über seine zweihundert, wenn er mir den Mantel ließe. Was
+meine Bitten nicht vermochten, bewirkte mein Gold. Er nahm meine
+guten Zechinen, ich aber zog mit dem Mantel triumphierend ab und
+mußte mir gefallen lassen, daß man mich in ganz Florenz für einen
+Wahnsinnigen hielt. Doch die Meinung der Leute war mir gleichgültig;
+ich wußte es ja besser als sie, daß ich an dem Handel noch gewann.
+
+Mit Ungeduld erwartete ich die Nacht. Um dieselbe Zeit wie gestern
+ging ich, den Mantel unter dem Arm, auf die Ponte vecchio. Mit dem
+letzten Glockenschlag kam die Gestalt aus der Nacht heraus auf mich
+zu. Es war unverkennbar der Mann von gestern. "Hast du den Mantel?"
+wurde ich gefragt.
+
+"Ja, Herr", antwortete ich, "aber er kostete mich bar hundert
+Zechinen."
+
+"Ich weiß es", entgegnete jener. "Schau auf, hier sind vierhundert."
+Er trat mit mir an das breite Geländer der Brücke und zählte die
+Goldstücke hin. Vierhundert waren es; prächtig blitzten sie im
+Mondschein, ihr Glanz erfreute mein Herz, ach! Es ahnete nicht, daß
+es seine letzte Freude sein werde. Ich steckte mein Geld in die
+Tasche und wollte mir nun auch den gütigen Unbekannten recht
+betrachten; aber er hatte eine Larve vor dem Gesicht, aus der mich
+dunkle Augen furchtbar anblitzten.
+
+"Ich danke Euch, Herr, für Eure Güte", sprach ich zu ihm, "was
+verlangt Ihr jetzt von mir? Das sage ich Euch aber vorher, daß es
+nichts Unrechtes sein darf."
+
+"Unnötige Sorge", antwortete er, indem er den Mantel um die Schultern
+legte, "ich bedarf Eurer Hilfe als Arzt; doch nicht für einen
+Lebenden, sondern für einen Toten."
+
+"Wie kann das sein?" rief ich voll Verwunderung.
+
+"Ich kam mit meiner Schwester aus fernen Landen", erzählte er und
+winkte mir zugleich, ihm zu folgen. "Ich wohnte hier mit ihr bei
+einem Freund meines Hauses. Meine Schwester starb gestern schnell an
+einer Krankheit, und die Verwandten wollen sie morgen begraben. Nach
+einer alten Sitte unserer Familie aber sollen alle in der Gruft der
+Väter ruhen; viele, die in fremden Landen starben, ruhen dennoch dort
+einbalsamiert. Meinen Verwandten gönne ich nun ihren Körper; meinem
+Vater aber muß ich wenigstens den Kopf seiner Tochter bringen, damit
+er sie noch einmal sehe." Diese Sitte, die Köpfe geliebter
+Anverwandten abzuschneiden, kam mir zwar etwas schrecklich vor; doch
+wagte ich nichts dagegen einzuwenden aus Furcht, den Unbekannten zu
+beleidigen. Ich sagte ihm daher, daß ich mit dem Einbalsamieren der
+Toten wohl umgehen könne, und bat ihn, mich zu der Verstorbenen zu
+führen. Doch konnte ich mich nicht enthalten zu fragen, warum denn
+dies alles so geheimnisvoll und in der Nacht geschehen müsse. Er
+antwortete mir, daß seine Anverwandten, die seine Absicht für grausam
+hielten, bei Tage ihn abhalten würden; sei aber nur erst einmal der
+Kopf abgenommen, so könnten sie wenig mehr darüber sagen. Er hätte
+mir zwar den Kopf bringen können; aber ein natürliches Gefühl halte
+ihn ab, ihn selbst abzunehmen.
+
+Wir waren indes bis an ein großes, prachtvolles Haus gekommen. Mein
+Begleiter zeigte es mir als das Ziel unseres nächtlichen
+Spazierganges. Wir gingen an dem Haupttor des Hauses vorbei, traten
+in eine kleine Pforte, die der Unbekannte sorgfältig hinter sich
+zumachte, und stiegen nun im Finstern eine enge Wendeltreppe hinan.
+Sie führte in einen spärlich erleuchteten Gang, aus welchem wir in
+ein Zimmer gelangten, das eine Lampe, die an der Decke befestigt war,
+erleuchtete.
+
+In diesem Gemach stand ein Bett, in welchem der Leichnam lag. Der
+Unbekannte wandte sein Gesicht ab und schien Tränen verbergen zu
+wollen. Er deutete nach dem Bett, befahl mir, mein Geschäft gut und
+schnell zu verrichten, und ging wieder zur Türe hinaus.
+
+Ich packte meine Messer, die ich als Arzt immer bei mir führte, aus
+und näherte mich dem Bett. Nur der Kopf war von der Leiche sichtbar;
+aber dieser war so schön, daß mich unwillkürlich das innigste
+Mitleiden ergriff. In langen Flechten hing das dunkle Haar herab,
+das Gesicht war bleich, die Augen geschlossen. Ich machte zuerst
+einen Einschnitt in die Haut, nach der Weise der Ärzte, wenn sie ein
+Glied abschneiden. Sodann nahm ich mein schärfstes Messer und
+schnitt mit einem Zug die Kehle durch. Aber welcher Schrecken! Die
+Tote schlug die Augen auf, schloß sie aber gleich wieder, und in
+einem tiefen Seufzer schien sie jetzt erst ihr Leben auszuhauchen.
+Zugleich schoß mir ein Strahl heißen Blutes aus der Wunde entgegen.
+Ich überzeugte mich, daß ich erst die Arme getötet hatte; denn daß
+sie tot sei, war kein Zweifel, da es von dieser Wunde keine Rettung
+gab. Ich stand einige Minuten in banger Beklommenheit über das, was
+geschehen war. Hatte der Rotmantel mich betrogen, oder war die
+Schwester vielleicht nur scheintot gewesen? Das letztere schien mir
+wahrscheinlicher. Aber ich durfte dem Bruder der Verstorbenen nicht
+sagen, daß vielleicht ein weniger rascher Schnitt sie erweckt hätte,
+ohne sie zu töten, darum wollte ich den Kopf vollends ablösen; aber
+noch einmal stöhnte die Sterbende, streckt sich in schmerzhafter
+Bewegung aus und starb. Da übermannte mich der Schrecken, und ich
+stürzte schaudernd aus dem Gemach. Aber draußen im Gang war es
+finster; denn die Lampe war verlöscht. Keine Spur von meinem
+Begleiter war zu entdecken, und ich mußte aufs ungefähr mich im
+Finstern an der Wand fortbewegen, um an die Wendeltreppe zu gelangen.
+Ich fand sie endlich und kam halb fallend, halb gleitend hinab.
+Auch unten war kein Mensch. Die Türe fand ich nur angelehnt, und ich
+atmete freier, als ich auf der Straße war; denn in dem Hause war mir
+ganz unheimlich geworden. Von Schrecken gespornt, rannte ich in
+meine Wohnung und begrub mich in die Polster meines Lagers, um das
+Schreckliche zu vergessen, das ich getan hatte. Aber der Schlaf floh
+mich, und erst der Morgen ermahnte mich wieder, mich zu fassen. Es
+war mir wahrscheinlich, daß der Mann, der mich zu dieser verruchten
+Tat, wie sie mir jetzt erschien, verführt hatte, mich nicht angeben
+würde. Ich entschloß mich, gleich in mein Gewölbe an mein Geschäft
+zu gehen und womöglich eine sorglose Miene anzunehmen. Aber ach!
+Ein neuer Umstand, den ich jetzt erst bemerkte, vermehrte noch meinen
+Kummer. Meine Mütze und mein Gürtel wie auch meine Messer fehlten
+mir, und ich war ungewiß, ob ich sie in dem Zimmer der Getöteten
+gelassen oder erst auf meiner Flucht verloren hatte. Leider schien
+das erste wahrscheinlicher, und man konnte mich also als Mörder
+entdecken.
+
+Ich öffnete zur gewöhnlichen Zeit mein Gewölbe. Mein Nachbar trat zu
+mir her, wie er alle Morgen zu tun pflegte, denn er war ein
+gesprächiger Mann. "Ei, was sagt Ihr zu der schrecklichen
+Geschichte", hub er an, "die heute nacht vorgefallen ist?" Ich tat,
+als ob ich nichts wüßte. "Wie, solltet Ihr nicht wissen, von was die
+ganze Stadt erfüllt ist? Nicht wissen, daß die schönste Blume von
+Florenz, Bianka, die Tochter des Gouverneurs, in dieser Nacht
+ermordet wurde? Ach! Ich sah sie gestern noch so heiter durch die
+Straßen fahren mit ihrem Bräutigam, denn heute hätten sie Hochzeit
+gehabt."
+
+Jedes Wort des Nachbarn war mir ein Stich ins Herz. Und wie oft
+kehrte meine Marter wieder; denn jeder meiner Kunden erzählte mir die
+Geschichte, immer einer schrecklicher als der andere, und doch konnte
+keiner so Schreckliches sagen, als ich selbst gesehen hatte. Um
+Mittag ungefähr trat ein Mann vom Gericht in mein Gewölbe und bat
+mich, die Leute zu entfernen. "Signore Zaleukos", sprach er, indem
+er die Sachen, die ich vermißte, hervorzog, "gehören diese Sachen
+Euch zu?" Ich besann mich, ob ich sie nicht gänzlich ableugnen sollte;
+aber als ich durch die halbgeöffnete Tür meinen Wirt und mehrere
+Bekannte, die wohl gegen mich zeugen konnten, erblickte, beschloß ich,
+die Sache nicht noch durch eine Lüge zu verschlimmern, und bekannte
+mich zu den vorgezeigten Dingen. Der Gerichtsmann bat mich, ihm zu
+folgen, und führte mich in ein großes Gebäude, das ich bald für das
+Gefängnis erkannte. Dort wies er mir bis auf weiteres ein Gemach an.
+
+Meine Lage war schrecklich, als ich so in der Einsamkeit darüber
+nachdachte. Der Gedanke, gemordet zu haben, wenn auch ohne Willen,
+kehrte immer wieder. Auch konnte ich mir nicht verhehlen, daß der
+Glanz des Goldes meine Sinne befangen gehalten hatte; sonst hätte ich
+nicht so blindlings in die Falle gehen können. Zwei Stunden nach
+meiner Verhaftung wurde ich aus meinem Gemach geführt. Mehrere
+Treppen ging es hinab, dann kam man in einen großen Saal. Um einen
+langen, schwarzbehängten Tisch saßen dort zwölf Männer, meistens
+Greise. An den Seiten des Saales zogen sich Bänke herab, angefüllt
+mit den Vornehmsten von Florenz; auf den Galerien, die in der Höhe
+angebracht waren, standen dicht gedrängt die Zuschauer. Als ich bis
+vor den schwarzen Tisch getreten war, erhob sich ein Mann mit
+finsterer, trauriger Miene; es war der Gouverneur. Er sprach zu den
+Versammelten, daß er als Vater in dieser Sache nicht richten könne
+und daß er seine Stelle für diesmal an den ältesten der Senatoren
+abtrete. Der älteste der Senatoren war ein Greis von wenigstens
+neunzig Jahren. Er stand gebückt, und seine Schläfen waren mit
+dünnem, weißem Haar umhängt; aber feurig brannten noch seine Augen,
+und seine Stimme war stark und sicher. Er hub an, mich zu fragen, ob
+ich den Mord gestehe. Ich bat ihn um Gehör und erzählte
+unerschrocken und mit vernehmlichen Stimme, was ich getan hatte und
+was ich wußte. Ich bemerkte, daß der Gouverneur während meiner
+Erzählung bald blaß, bald rot wurde, und als ich geschlossen, fuhr er
+wütend auf: "Wie, Elender!" rief er mir zu, "so willst du ein
+Verbrechen, das du aus Habgier begangen, noch einem anderen
+aufbürden?"
+
+Der Senator verwies ihm seine Unterbrechung, da er sich freiwillig
+seines Rechtes begeben habe; auch sei es gar nicht so erwiesen, daß
+ich aus Habgier gefrevelt; denn nach seiner eigenen Aussage sei ja
+der Getöteten nichts gestohlen worden. Ja, er ging noch weiter; er
+erklärte dem Gouverneur, daß er über das frühere Leben seiner Tochter
+Rechenschaft geben müsse; denn nur so könne man schließen, ob ich die
+Wahrheit gesagt habe oder nicht. Zugleich hob er für heute das
+Gericht auf, um sich, wie er sagte, aus den Papieren der Verstorbenen,
+die ihm der Gouverneur übergeben werde, Rat zu holen. Ich wurde
+wieder in mein Gefängnis zurückgeführt, wo ich einen schaurigen Tag
+verlebte, immer mit dem heißen Wunsch beschäftigt, daß man doch
+irgendeine Verbindung zwischen der Toten und dem Rotmantel entdecken
+möchte. Voll Hoffnung trat ich den anderen Tag in den Gerichtssaal.
+Es lagen mehrere Briefe auf dem Tisch. Der alte Senator fragte mich,
+ob sie meine Handschrift seien. Ich sah sie an und fand, daß sie von
+derselben Hand sein müßten wie jene beiden Zettel, die ich erhalten.
+Ich äußerte dies den Senatoren; aber man schien nicht darauf zu
+achten und antwortete, daß ich beides geschrieben haben könne und
+müsse; denn der Namenszug unter den Briefen sei unverkennbar ein Z,
+der Anfangsbuchstabe meines Namens. Die Briefe aber enthielten
+Drohungen an die Verstorbene und Warnungen vor der Hochzeit, die sie
+zu vollziehen im Begriff war.
+
+Der Gouverneur schien sonderbare Aufschlüsse in Hinsicht auf meine
+Person gegeben zu haben; denn man behandelte mich an diesem Tage
+mißtrauischer und strenger. Ich berief mich zu meiner Rechtfertigung
+auf meine Papiere, die sich in meinem Zimmer finden müßten; aber man
+sagte mir, man habe nachgesucht und nichts gefunden. So schwand mir
+am Schlusse dieses Gerichts alle Hoffnung, und als ich am dritten Tag
+wieder in den Saal geführt wurde, las man mir das Urteil vor, daß ich,
+eines vorsätzlichen Mordes überwiesen, zum Tode verurteilt sei.
+Dahin also war es mit mir gekommen. Verlassen von allem, was mir auf
+Erden noch teuer war, fern von meiner Heimat, sollte ich unschuldig
+in der Blüte meiner Jahre vom Beile sterben.
+
+Ich saß am Abend dieses schrecklichen Tages, der über mein Schicksal
+entschieden hatte, in meinem einsamen Kerker; meine Hoffnungen waren
+dahin, meine Gedanken ernsthaft auf den Tod gerichtet. Da tat sich
+die Türe meines Gefängnisses auf, und ein Mann trat herein, der mich
+lange schweigend betrachtete. "So finde ich dich wieder, Zaleukos?"
+sagte er; ich hatte ihn bei dem matten Schein meiner Lampe nicht
+erkannt, aber der Klang seiner Stimme erweckte alte Erinnerungen in
+mir, es war Valetty, einer jener wenigen Freunde, die ich in der
+Stadt Paris während meiner Studien kannte. Er sagte, daß er zufällig
+nach Florenz gekommen sei, wo sein Vater als angesehener Mann wohne,
+er habe von meiner Geschichte gehört und sei gekommen, um mich noch
+einmal zu sehen und von mir selbst zu erfahren, wie ich mich so
+schwer habe verschulden können. Ich erzählte ihm die ganze
+Geschichte. Er schien darüber sehr verwundert und beschwor mich, ihm,
+meinem einzigen Freunde, alles zu sagen, um nicht mit einer Lüge von
+hinnen zu gehen. Ich schwor ihm mit dem teuersten Eid, daß ich wahr
+gesprochen und daß keine andere Schuld mich drücke, als daß ich, von
+dem Glanze des Goldes geblendet, das Unwahrscheinliche der Erzählung
+des Unbekannten nicht erkannt habe. "So hast du Bianka nicht
+gekannt?" fragte jener. Ich beteuerte ihm, sie nie gesehen zu haben.
+Valetty erzählte mir nun, daß ein tiefes Geheimnis auf der Tat liege,
+daß der Gouverneur meine Verurteilung sehr hastig betrieben habe,
+und es sei nun ein Gerücht unter die Leute gekommen, daß ich Bianka
+schon längst gekannt und aus Rache über ihre Heirat mit einem anderen
+sie ermordet habe. Ich bemerkte ihm, daß dies alles ganz auf den
+Rotmantel passe, daß ich aber seine Teilnahme an der Tat mit nichts
+beweisen könne. Valetty umarmte mich weinend und versprach mir,
+alles zu tun, um wenigstens mein Leben zu retten. Ich hatte wenig
+Hoffnung; doch wußte ich, daß Valetty ein weiser und der Gesetze
+kundiger Mann sei und daß er alles tun werde, mich zu retten. Zwei
+lange Tage war ich in Ungewißheit: Endlich erschien auch Valetty.
+"Ich bringe Trost, wenn auch einen schmerzlichen. Du wirst leben und
+frei sein; aber mit Verlust einer Hand." Gerührt dankte ich meinem
+Freunde für mein Leben. Er sagte mir, daß der Gouverneur
+unerbittlich gewesen sei, die Sache noch einmal untersuchen zu lassen;
+daß er aber endlich, um nicht ungerecht zu erscheinen, bewilligt
+habe, wenn man in den Büchern der florentinischen Geschichte einen
+ähnlichen Fall finde, so solle meine Strafe sich nach der Strafe, die
+dort ausgesprochen sei, richten. Er und sein Vater haben nun Tag und
+Nacht in den alten Büchern gelesen und endlich einen ganz dem
+meinigen ähnlichen Fall gefunden. Dort laute die Strafe: Es soll ihm
+die linke Hand abgehauen, seine Güter eingezogen, er selbst auf ewig
+verbannt werden. So laute jetzt auch meine Strafe, und ich solle
+mich jetzt bereiten zu der schmerzhaften Stunde, die meiner warte.
+Ich will euch nicht diese schreckliche Stunde vor das Auge führen, wo
+ich auf offenem Markt meine Hand auf den Block legte, wo mein eigenes
+Blut in weitem Bogen mich überströmte!
+
+Valetty nahm mich in sein Haus auf, bis ich genesen war, dann versah
+er mich edelmütig mit Reisegeld; denn alles, was ich mir so mühsam
+erworben, war eine Beute des Gerichts geworden. Ich reiste von
+Florenz nach Sizilien und von da mit dem ersten Schiff, das ich fand,
+nach Konstantinopel. Meine Hoffnung war auf die Summe gerichtet, die
+ich meinem Freunde übergeben hatte, auch bat ich ihn, bei ihm wohnen
+zu dürfen; aber wie erstaunte ich, als dieser mich fragte, warum ich
+denn nicht mein Haus beziehe! Er sagte mir, daß ein fremder Mann
+unter meinem Namen ein Haus in dem Quartier der Griechen gekauft habe;
+derselbe habe auch den Nachbarn gesagt, daß ich bald selbst kommen
+werde. Ich ging sogleich mit meinem Freunde dahin und wurde von
+allen meinen Bekannten freudig empfangen. Ein alter Kaufmann gab mir
+einen Brief, den der Mann, der für mich gekauft hatte, hiergelassen
+habe.
+
+Ich las: "Zaleukos! Zwei Hände stehen bereit, rastlos zu schaffen,
+daß Du nicht fühlest den Verlust der einen. Das Haus, das Du siehest,
+und alles, was darin ist, ist Dein, und alle Jahre wird man Dir so
+viel reichen, daß Du zu den Reichen Deines Volkes gehören wirst.
+Mögest Du dem vergeben, der unglücklicher ist als Du." Ich konnte
+ahnen, wer es geschrieben, und der Kaufmann sagte mir auf meine Frage:
+Es sei ein Mann gewesen, den er für einen Franken gehalten, er habe
+einen roten Mantel angehabt. Ich wußte genug, um mir zu gestehen,
+daß der Unbekannte doch nicht ganz von aller edlen Gesinnung entblößt
+sein müsse. In meinem neuen Haus fand ich alles aufs beste
+eingerichtet, auch ein Gewölbe mit Waren, schöner als ich sie je
+gehabt. Zehn Jahre sind seitdem verstrichen; mehr aus alter
+Gewohnheit, als weil ich es nötig habe, setze ich meine Handelsreisen
+fort; doch habe ich jenes Land, wo ich so unglücklich wurde, nie mehr
+gesehen. Jedes Jahr erhielt ich seitdem tausend Goldstücke; aber,
+wenn es mir auch Freude macht, jenen Unglücklichen edel zu wissen, so
+kann er mir doch den Kummer meiner Seele nicht abkaufen, denn ewig
+lebt in mir das grauenvolle Bild der ermordeten Bianka.
+
+--------------------------Zaleukos, der griechische Kaufmann, hatte
+seine Geschichte geendigt. Mit großer Teilnahme hatten ihm die
+übrigen zugehört, besonders der Fremde schien sehr davon ergriffen zu
+sein; er hatte einigemal tief geseufzt, und Muley schien es sogar,
+als habe er einmal Tränen in den Augen gehabt. Sie besprachen sich
+noch lange Zeit über diese Geschichte.
+
+"Und haßt Ihr den Unbekannten nicht, der Euch so schnöd' um ein so
+edles Glied Eures Körpers, der selbst Euer Leben in Gefahr brachte?"
+fragte der Fremde.
+
+"Wohl gab es in früherer Zeit Stunden", antwortete der Grieche, "in
+denen mein Herz ihn vor Gott angeklagt, daß er diesen Kummer über
+mich gebracht und mein Leben vergiftet habe; aber ich fand Trost in
+dem Glauben meiner Väter, und dieser befiehlt mir, meine Feinde zu
+lieben; auch ist er wohl noch unglücklicher als ich."
+
+"Ihr seid ein edler Mann!" rief der Fremde und drückte gerührt dem
+Griechen die Hand.
+
+Der Anführer der Wache unterbrach sie aber in ihrem Gespräch. Er
+trat mit besorgter Miene in das Zelt und berichtete, daß man sich
+nicht der Ruhe überlassen dürfe; denn hier sei die Stelle, wo
+gewöhnlich die Karawanen angegriffen würden, auch glaubten seine
+Wachen, in der Entfernung mehrere Reiter zu sehen.
+
+Die Kaufleute waren sehr bestürzt über diese Nachricht; Selim, der
+Fremde, aber wunderte sich über ihre Bestürzung und meinte, daß sie
+so gut geschätzt wären, daß sie einen Trupp räuberischer Araber nicht
+zu fürchten brauchten.
+
+"Ja, Herr!" entgegnete ihm der Anführer der Wache. "Wenn es nur
+solches Gesindel wäre, könnte man sich ohne Sorge zur Ruhe legen;
+aber seit einiger Zeit zeigt sich der furchtbare Orbasan wieder, und
+da gilt es, auf seiner Hut zu sein."
+
+Der Fremde fragte, wer denn dieser Orbasan sei, und Achmet, der alte
+Kaufmann, antwortete ihm: "Es gehen allerlei Sagen unter dem Volke
+über diesen wunderbaren Mann. Die einen halten ihn für ein
+übermenschliches Wesen, weil er oft mit fünf bis sechs Männern zumal
+einen Kampf besteht, andere halten ihn für einen tapferen Franken,
+den das Unglück in diese Gegend verschlagen habe; von allem aber ist
+nur so viel gewiß, daß er ein verruchter Mörder und Dieb ist."
+
+"Das könnt Ihr aber doch nicht behaupten", entgegnete ihm Lezah,
+einer der Kaufleute. "Wenn er auch ein Räuber ist, so ist er doch
+ein edler Mann, und als solcher hat er sich an meinem Bruder bewiesen,
+wie ich Euch erzählen könnte. Er hat seinen ganzen Stamm zu
+geordneten Menschen gemacht, und so lange er die Wüste durchstreift,
+darf kein anderer Stamm es wagen, sich sehen zu lassen. Auch raubt
+er nicht wie andere, sondern er erhebt nur ein Schutzgeld von den
+Karawanen, und wer ihm dieses willig bezahlt, der ziehet ungefährdet
+weiter; denn Orbasan ist der Herr der Wüste."
+
+Also sprachen unter sich die Reisenden im Zelte; die Wachen aber, die
+um den Lagerplatz ausgestellt waren, begannen unruhig zu werden. Ein
+ziemlich bedeutender Haufe bewaffneter Reiter zeigte sich in der
+Entfernung einer halben Stunde; sie schienen gerade auf das Lager
+zuzureiten. Einer der Männer von der Wache ging daher in das Zelt,
+um zu verkünden, daß sie wahrscheinlich angegriffen würden. Die
+Kaufleute berieten sich untereinander, was zu tun sei, ob man ihnen
+entgegengehen oder den Angriff abwarten solle. Achmet und die zwei
+älteren Kaufleute wollten das letztere, der feurige Muley aber und
+Zaleukos verlangten das erstere und riefen den Fremden zu ihrem
+Beistand auf. Dieser zog ruhig ein kleines, blaues Tuch mit roten
+Sternen aus seinem Gürtel hervor, band es an eine Lanze und befahl
+einem der Sklaven, es auf das Zelt zu stecken; er setze sein Leben
+zum Pfand, sagte er, die Reiter werden, wenn sie dieses Zeichen sehen,
+ruhig vorüberziehen. Muley glaubte nicht an den Erfolg, der Sklave
+aber steckte die Lanze auf das Zelt. Inzwischen hatten alle, die im
+Lager waren, zu den Waffen gegriffen und sahen in gespannter
+Erwartung den Reitern entgegen. Doch diese schienen das Zeichen auf
+dem Zelte erblickt zu haben, sie wichen plötzlich von ihrer Richtung
+auf das Lager ab und zogen in einem großen Bogen auf der Seite hin.
+
+Verwundert standen einige Augenblicke die Reisenden und sahen bald
+auf die Reiter, bald auf den Fremden. Dieser stand ganz gleichgültig,
+wie wenn nichts vorgefallen wäre, vor dem Zelte und blickte über die
+Ebene hin. Endlich brach Muley das Stillschweigen. "Wer bist du,
+mächtiger Fremdling", rief er aus, "der du die wilden Horden der
+Wüste durch einen Wink bezähmst?"
+
+"Ihr schlagt meine Kunst höher an, als sie ist", antwortete Selim
+Baruch. "Ich habe mich mit diesem Zeichen versehen, als ich der
+Gefangenschaft entfloh; was es zu bedeuten hat, weiß ich selbst nicht;
+nur so viel weiß ich, daß, wer mit diesem Zeichen reiset, unter
+mächtigem Schutze steht."
+
+Die Kaufleute dankten dem Fremden und nannten ihn ihren Erretter.
+Wirklich war auch die Anzahl der Reiter so groß gewesen, daß wohl die
+Karawane nicht lange hätte Widerstand leisten können.
+
+Mit leichterem Herzen begab man sich jetzt zur Ruhe, und als die
+Sonne zu sinken begann und der Abendwind über die Sandebene hinstrich,
+brachen sie auf und zogen weiter.
+
+Am nächsten Tage lagerten sie ungefähr nur noch eine Tagreise von dem
+Ausgang der Wüste entfernt. Als sich die Reisenden wieder in dem
+großen Zelt versammelt hatten, nahm Lezah, der Kaufmann, das Wort:
+
+"Ich habe euch gestern gesagt, daß der gefürchtete Orbasan ein edler
+Mann sei, erlaubt mir, daß ich es euch heute durch die Erzählung der
+Schicksale meines Bruders beweise. Mein Vater war Kadi in Akara. Er
+hatte drei Kinder. Ich war der Älteste, ein Bruder und eine
+Schwester waren bei weitem jünger als ich. Als ich zwanzig Jahre alt
+war, rief mich ein Bruder meines Vaters zu sich. Er setzte mich zum
+Erben seiner Güter ein, mit der Bedingung, daß ich bis zu seinem Tode
+bei ihm bleibe. Aber er erreichte ein hohes Alter, so daß ich erst
+vor zwei Jahren in meine Heimat zurückkehrte und nichts davon wußte,
+welch schreckliches Schicksal indes mein Haus betroffen und wie gütig
+Allah es gewendet hatte."
+
+
+
+
+Die Errettung Fatmes
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Mein Bruder Mustapha und meine Schwester Fatme waren beinahe in
+gleichem Alter; jener hatte höchstens zwei Jahre voraus. Sie liebten
+einander innig und trugen vereint alles bei, was unserem kränklichen
+Vater die Last seines Alters erleichtern konnte. An Fatmes
+sechzehntem Geburtstage veranstaltete der Bruder ein Fest. Er ließ
+alle ihre Gespielinnen einladen, setzte ihnen in dem Garten des
+Vaters ausgesuchte Speisen vor, und als es Abend wurde, lud er sie
+ein, auf einer Barke, die er gemietet und festlich geschmückt hatte,
+ein wenig hinaus in die See zu fahren. Fatme und ihre Gespielinnen
+willigten mit Freuden ein; denn der Abend war schön, und die Stadt
+gewährte besonders abends, von dem Meere aus betrachtet, einen
+herrlichen Anblick. Den Mädchen aber gefiel es so gut auf der Barke,
+daß sie meinen Bruder bewogen, immer weiter in die See hinauszufahren.
+Mustapha gab aber ungern nach, weil sich vor einigen Tagen ein
+Korsar hatte sehen lassen. Nicht weit von der Stadt zieht sich ein
+Vorgebirge in das Meer. Dorthin wollten noch die Mädchen, um von da
+die Sonne in das Meer sinken zu sehen. Als sie um das Vorgebirg'
+herumruderten, sahen sie in geringer Entfernung eine Barke, die mit
+Bewaffneten besetzt war. Nichts Gutes ahnend, befahl mein Bruder den
+Ruderern, sein Schiff zu drehen und dem Lande zuzurudern. Wirklich
+schien sich auch seine Besorgnis zu bestätigen; denn jene Barke kam
+der meines Bruders schnell nach, überholte sie, da sie mehr Ruder
+hatte, und hielt sich immer zwischen dem Land, und unserer Barke.
+Die Mädchen aber, als sie die Gefahr erkannten, in der sie schwebten,
+sprangen auf und schrien und klagten; umsonst suchte sie Mustapha zu
+beruhigen, umsonst stellte er ihnen vor, ruhig zu bleiben, weil sie
+durch ihr Hin- und Herrennen die Barke in Gefahr brächten
+umzuschlagen. Es half nichts, und da sie sich endlich bei Annäherung
+des anderen Bootes alle auf die hintere Seite der Barke stürzten,
+schlug diese um. Indessen aber hatte man vom Land aus die Bewegungen
+des fremden Bootes beobachtet, und da man schon seit einiger Zeit
+Besorgnisse wegen Korsaren hegte, hatte dieses Boot Verdacht erregt,
+und mehrere Barken stießen vom Lande, um den Unsrigen beizustehen.
+Aber sie kamen nur noch zu rechter Zeit, um die Untersinkenden
+aufzunehmen. In der Verwirrung war das feindliche Boot entwischt,
+auf den beiden Barken aber, welche die Geretteten aufgenommen hatten,
+war man ungewiß, ob alle gerettet seien. Man näherte sich
+gegenseitig, und ach! Es fand sich, daß meine Schwester und eine
+ihrer Gespielinnen fehlten; zugleich entdeckte man aber einen Fremden
+in einer der Barken, den niemand kannte. Auf die Drohungen Mustaphas
+gestand er, daß er zu dem feindlichen Schiff, das zwei Meilen
+ostwärts vor Anker liege, gehöre, und daß ihn seine Gefährten auf
+ihrer eiligen Flucht im Stich gelassen hätten, indem er im Begriff
+gewesen sei, die Mädchen auffischen zu helfen; auch sagte er aus, daß
+er gesehen habe, wie man zwei derselben in das Schiff gezogen.
+
+Der Schmerz meines alten Vaters war grenzenlos, aber auch Mustapha
+war bis zum Tod betrübt, denn nicht nur, daß seine geliebte Schwester
+verloren war und daß er sich anklagte, an ihrem Unglück schuld zu
+sein--jene Freundin Fatmes, die ihr Unglück teilte, war von ihren
+Eltern ihm zur Gattin zugesagt gewesen, und nur unserem Vater hatte
+er es noch nicht zu gestehen gewagt, weil ihre Eltern arm und von
+geringer Abkunft waren. Mein Vater aber war ein strenger Mann; als
+sein Schmerz sich ein wenig gelegt hatte, ließ er Mustapha vor sich
+kommen und sprach zu ihm: "Deine Torheit hat mir den Trost meines
+Alters und die Freude meiner Augen geraubt. Gehe hin, ich verbanne
+dich auf ewig von meinem Angesicht, ich fluche dir und deinen
+Nachkommen, aber nur, wenn du mir Fatme wiederbringst, soll dein
+Haupt rein sein von dem Fluche des Vaters."
+
+Dies hatte mein armer Bruder nicht erwartet; schon vorher hatte er
+sich entschlossen gehabt, seine Schwester und ihre Freundin
+aufzusuchen, und wollte sich nur noch den Segen des Vaters dazu
+erbitten, und jetzt schickte er ihn, mit dem Fluch beladen, in die
+Welt. Aber hatte ihn jener Jammer vorher gebeugt, so stählte jetzt
+die Fülle des Unglücks, das er nicht verdient hatte, seinen Mut.
+
+Er ging zu dem gefangenen Seeräuber und befragte ihn, wohin die Fahrt
+seines Schiffes ginge, und erfuhr, daß sie Sklavenhandel trieben und
+gewöhnlich in Balsora großen Markt hielten.
+
+Als er wieder nach Hause kam, um sich zur Reise anzuschicken, schien
+sich der Zorn des Vaters ein wenig gelegt zu haben, denn er sandte
+ihm einen Beutel mit Gold zur Unterstützung auf der Reise. Mustapha
+aber nahm weinend von den Eltern Zoraides, so hieß seine geliebte
+Braut, Abschied und machte sich auf den Weg nach Balsora.
+
+Mustapha machte die Reise zu Land, weil von unserer kleinen Stadt aus
+nicht gerade ein Schiff nach Balsora ging. Er mußte daher sehr
+starke Tagreisen machen, um nicht zu lange nach den Seeräubern nach
+Balsora zu kommen; doch da er ein gutes Roß und kein Gepäck hatte,
+konnte er hoffen, diese Stadt am Ende des sechsten Tages zu erreichen.
+Aber am Abend des vierten Tages, als er ganz allein seines Weges
+ritt, fielen ihn plötzlich drei Männer an. Da er merkte, daß sie gut
+bewaffnet und stark seien und daß es mehr auf sein Geld und sein Roß
+als auf sein Leben abgesehen war, so rief er ihnen zu, daß er sich
+ihnen ergeben wolle. Sie stiegen von ihren Pferden ab und banden ihm
+die Füße unter dem Bauch seines Tieres zusammen; ihn selbst aber
+nahmen sie in die Mitte und trabten, indem einer den Zügel seines
+Pferdes ergriff, schnell mit ihm davon, ohne jedoch ein Wort zu
+sprechen.
+
+Mustapha gab sich einer dumpfen Verzweiflung hin, der Fluch seines
+Vaters schien schon jetzt an dem Unglücklichen in Erfüllung zu gehen,
+und wie konnte er hoffen, seine Schwester und Zoraide zu retten, wenn
+er, aller Mittel beraubt, nur sein ärmliches Leben zu ihrer Befreiung
+aufwenden konnte. Mustapha und seine stummen Begleiter mochten wohl
+eine Stunde geritten sein, als sie in ein kleines Seitental einbogen.
+Das Tälchen war von hohen Bäumen eingefaßt; ein weicher dunkelgrüner
+Rasen, ein Bach, der schnell durch seine Mitte hinrollte, luden zur
+Ruhe ein. Wirklich sah er auch fünfzehn bis zwanzig Zelte dort
+aufgeschlagen; an den Pflöcken der Zelte waren Kamele und schöne
+Pferde angebunden, aus einem der Zelte hervor tönte die lustige Weise
+einer Zither und zweier schöner Männerstimmen. Meinem Bruder schien
+es, als ob Leute, die ein so fröhliches Lagerplätzchen sich erwählt
+hatten, nichts Böses gegen ihn im Sinne haben könnten, und er folgte
+also ohne Bangigkeit dem Ruf seiner Führer, die, als sie seine Bande
+gelöst hatten, ihm winkten, abzusteigen. Man führte ihn in ein Zelt,
+das größer als die übrigen und im Innern hübsch, fast zierlich
+aufgeputzt war. Prächtige, goldbestickte Polster, gewirkte
+Fußteppiche, übergoldete Rauchpfannen hätten anderswo Reichtum und
+Wohlleben verraten; hier schienen sie nur kühner Raub. Auf einem der
+Polster saß ein alter kleiner Mann; sein Gesicht war häßlich, seine
+Haut schwarzbraun und glänzend, und ein widriger Zug von tückischer
+Schlauheit um Augen und Mund machte seinen Anblick verhaßt. Obgleich
+sich dieser Mann einiges Ansehen zu geben suchte, so merkte doch
+Mustapha bald, daß nicht für ihn das Zelt so reich geschmückt sei,
+und die Unterredung seiner Führer schien seine Bemerkung zu
+bestätigen. "Wo ist der Starke?" fragten sie den Kleinen.
+
+"Er ist auf der kleinen Jagd", antwortete jener, "aber er hat mir
+aufgetragen, seine Stelle zu versehen."
+
+"Das hat er nicht gescheit gemacht", entgegnete einer der Räuber,
+"denn es muß sich bald entscheiden, ob dieser Hund sterben oder
+zahlen soll, und das weiß der Starke besser als du."
+
+Der kleine Mann erhob sich im Gefühl seiner Würde, streckte sich lang
+aus, um mit der Spitze seiner Hand das Ohr seines Gegners zu
+erreichen, denn er schien Lust zu haben, sich durch einen Schlag zu
+rächen, als er aber sah, daß seine Bemühung fruchtlos sei, fing er an
+zu schimpfen (und wahrlich! Die anderen blieben ihm nichts schuldig),
+daß das Zelt von ihrem Streit erdröhnte. Da tat sich auf einmal die
+Türe des Zeltes auf, und herein trat ein hoher, stattlicher Mann,
+jung und schön wie ein Perserprinz; seine Kleidung und seine Waffen
+waren, außer einem reichbesetzten Dolch und einem glänzenden Säbel,
+gering und einfach; aber sein ernstes Auge, sein ganzer Anstand gebot
+Achtung, ohne Furcht einzuflößen.
+
+"Wer ist's, der es wagt, in meinem Zelte Streit zu beginnen?" rief er
+den Erschrockenen zu. Eine Zeitlang herrschte tiefe Stille; endlich
+erzählte einer von denen, die Mustapha hergebracht hatten, wie es
+gegangen sei. Da schien sich das Gesicht "des Starken", wie sie ihn
+nannten, vor Zorn zu röten. "Wann hätte ich dich je an meine Stelle
+gesetzt, Hassan?" schrie er mit furchtbarer Stimme dem Kleinen zu.
+Dieser zog sich vor Furcht in sich selbst zusammen, daß er noch viel
+kleiner aussah als zuvor, und schlich sich der Zelttüre zu. Ein
+hinlänglicher Tritt des Starken machte, daß er in einem großen
+sonderbaren Sprung zur Zelttüre hinausflog.
+
+Als der Kleine verschwunden war, führten die drei Männer Mustapha vor
+den Herrn des Zeltes, der sich indes auf die Polster gelegt hatte.
+"Hier bringen wir den, welchen du uns zu fangen befohlen hast."
+
+Jener blickte den Gefangenen lange an und sprach sodann: "Bassa von
+Sulieika! Dein eigenes Gewissen wird dir sagen, warum du vor Orbasan
+stehst."
+
+Als mein Bruder dies hörte, warf er sich nieder vor jenem und
+antwortete: "O Herr! Du scheinst im Irrtum zu sein. Ich bin ein
+armer Unglücklicher, aber nicht der Bassa, den du suchst!"
+
+Alle im Zelt waren über diese Rede erstaunt. Der Herr des Zeltes
+aber sprach: "Es kann dir wenig helfen, dich zu verstellen; denn ich
+will die Leute vorführen, die dich wohl kennen." Er befahl, Zuleima
+vorzufahren. Man brachte ein altes Weib in das Zelt, das auf die
+Frage, ob sie in meinem Bruder nicht den Bassa von Sulieika erkenne,
+antwortete: "Jawohl!" Und sie schwöre es beim Grab des Propheten, es
+sei der Bassa und kein anderer.
+
+"Siehst du, Erbärmlicher, wie deine List zu Wasser geworden ist!"
+begann zürnend der Starke. "Du bist mir zu elend, als daß ich meinen
+guten Dolch mit deinem Blut besudeln sollte, aber an den Schweif
+meines Rosses will ich dich binden, morgen, wenn die Sonne aufgeht,
+und durch die Wälder mit dir jagen, bis sie scheidet hinter die Hügel
+von Sulieika!"
+
+Da sank meinem armen Bruder der Mut. "Das ist der Fluch meines
+harten Vaters, der mich zum schmachvollen Tode treibt", rief er
+weinend, "und auch du bist verloren, süße Schwester, auch du, Zoraide!"
+
+"Deine Verstellung hilft dir nichts", sprach einer der Räuber, indem
+er ihm die Hände auf den Rücken band, "mach, daß du aus dem Zelte
+kommst! Denn der Starke beißt sich in die Lippen und blickt nach
+seinem Dolch. Wenn du noch eine Nacht leben willst, so komm!"
+
+Als die Räuber gerade meinen Bruder aus dem Zelt führen wollten,
+begegneten sie drei anderen, die einen Gefangenen vor sich hintrieben.
+Sie traten mit ihm ein. "Hier bringen wir den Bassa, wie du uns
+befohlen hast", sprachen sie und führten den Gefangenen vor das
+Polster des Starken. Als der Gefangene dorthin geführt wurde, hatte
+mein Bruder Gelegenheit, ihn zu betrachten, und ihm selbst fiel die
+Ähnlichkeit auf, die dieser Mann mit ihm hatte, nur war er dunkler im
+Gesicht und hatte einen schwärzeren Bart.
+
+Der Starke schien sehr erstaunt über die Erscheinung des zweiten
+Gefangenen. "Wer von euch ist denn der Rechte?" sprach er, indem er
+bald meinen Bruder, bald den anderen Mann ansah.
+
+"Wenn du den Bassa von Sulieika meinst", antwortete in stolzem Ton
+der Gefangene, "der bin ich!" Der Starke sah ihn lange mit seinem
+ernsten, furchtbaren Blick an; dann winkte er schweigend, den Bassa
+wegzuführen.
+
+Als dies geschehen war, ging er auf meinen Bruder zu, zerschnitt
+seine Bande mit dem Dolch und winkte ihm, sich zu ihm aufs Polster zu
+setzen. "Es tut mir leid, Fremdling", sagte er, "daß ich dich für
+jenes Ungeheuer hielt; schreibe es aber einer sonderbaren Fügung des
+Himmels zu, die dich gerade in der Stunde, welche dem Untergang jenes
+Verruchten geweiht war, in die Hände meiner Brüder führte." Mein
+Bruder bat ihn um die einzige Gunst, ihn gleich wieder weiterreisen
+zu lassen, weil jeder Aufschub ihm verderblich werden könne. Der
+Starke erkundigte sich nach seinen eiligen Geschäften, und als ihm
+Mustapha alles erzählt hatte, überredete ihn jener, diese Nacht in
+seinem Zelt zu bleiben, er und sein Roß werden der Ruhe bedürfen; den
+folgenden Tag aber wolle er ihm einen Weg zeigen, der ihn in
+anderthalb Tagen nach Balsora bringe--Mein Bruder schlug ein, wurde
+trefflich bewirtet und schlief sanft bis zum Morgen in dem Zelt des
+Räubers.
+
+Als er aufgewacht war, sah er sich ganz allein im Zelt; vor dem
+Vorhang des Zeltes aber hörte er mehrere Stimmen zusammen sprechen,
+die dem Herrn des Zeltes und dem kleinen schwarzbraunen Mann
+anzugehören schienen. Er lauschte ein wenig und hörte zu seinem
+Schrecken, daß der Kleine dringend den anderen aufforderte, den
+Fremden zu töten, weil er, wenn er freigelassen würde, sie alle
+verraten könnte.
+
+Mustapha merkte gleich, daß der Kleine ihm gram sei, weil er die
+Ursache war, daß er gestern so übel behandelt wurde; der Starke
+schien sich einige Augenblicke zu besinnen. "Nein", sprach er, "er
+ist mein Gastfreund, und das Gastrecht ist mir heilig; auch sieht er
+mir nicht aus, als ob er uns verraten wollte."
+
+Als er so gesprochen, schlug er den Vorhang zurück und trat ein.
+"Friede sei mit dir, Mustapha!" sprach er, "laß uns den Morgentrunk
+kosten, und rüste dich dann zum Aufbruch!" Er reichte meinem Bruder
+einen Becher Sorbet, und als sie getrunken hatten, zäumten sie die
+Pferde auf, und wahrlich, mit leichterem Herzen, als er gekommen war,
+schwang sich Mustapha aufs Pferd. Sie hatten bald die Zelte im
+Rücken und schlugen dann einen breiten Pfad ein, der in den Wald
+führte. Der Starke erzählte meinem Bruder, daß jener Bassa, den sie
+auf der Jagd gefangen hätten, ihnen versprochen habe, sie ungefährdet
+in seinem Gebiete zu dulden; vor einigen Wochen aber habe er einen
+ihrer tapfersten Männer aufgefangen und nach den schrecklichsten
+Martern aufhängen lassen. Er habe ihm nun lange auflauern lassen,
+und heute noch müsse er sterben. Mustapha wagte es nicht, etwas
+dagegen einzuwenden; denn er war froh, selbst mit heiler Haut
+davongekommen zu sein.
+
+Am Ausgang des Waldes hielt der Starke sein Pferd an, beschrieb
+meinem Bruder den Weg, bot ihm die Hand zum Abschied und sprach:
+"Mustapha, du bist auf sonderbare Weise der Gastfreund des Räubers
+Orbasan geworden; ich will dich nicht auffordern, nicht zu verraten,
+was du gesehen und gehört hast. Du hast ungerechterweise Todesangst
+ausgestanden, und ich bin dir Vergütung schuldig. Nimm diesen Dolch
+als Andenken, und so du Hilfe brauchst, so sende ihn mir zu, und ich
+will eilen, dir beizustehen. Diesen Beutel aber kannst du vielleicht
+zu deiner Reise brauchen." Mein Bruder dankte ihm für seinen Edelmut;
+er nahm den Dolch, den Beutel aber schlug er aus. Doch Orbasan
+drückte ihm noch einmal die Hand, ließ den Beutel auf die Erde fallen
+und sprengte mit Sturmeseile in den Wald. Als Mustapha sah, daß er
+ihn doch nicht mehr werde einholen können, stieg er ab, um den Beutel
+aufzuheben, und erschrak über die Größe von seines Gastfreundes
+Großmut; denn der Beutel enthielt eine Menge Gold. Er dankte Allah
+für seine Rettung, empfahl ihm den edlen Räuber in seine Gnade und
+zog dann heiteren Mutes weiter auf seinem Wege nach Balsora.
+
+Lezah schwieg und sah Achmet, den alten Kaufmann, fragend an. "Nein,
+wenn es so ist", sprach dieser, "so verbessere ich gern mein Urteil
+von Orbasan; denn wahrlich, an deinem Bruder hat er schön gehandelt."
+
+"Er hat getan wie ein braver Muselmann", rief Muley; "aber ich hoffe,
+du hast deine Geschichte damit nicht geschlossen; denn wie mich
+bedünkt, sind wir alle begierig, weiter zu hören, wie es deinem
+Bruder erging und ob er Fatme, deine Schwester, und die schöne
+Zoraide befreit hat."
+
+"Wenn ich euch nicht damit langweile, erzähle ich gerne weiter",
+entgegnete Lezah, "denn die Geschichte meines Bruders ist allerdings
+abenteuerlich und wundervoll."
+
+Am Mittag des siebenten Tages nach seiner Abreise zog Mustapha in die
+Tore von Balsora ein. Sobald er in einer Karawanserei abgestiegen
+war, fragte er, wann der Sklavenmarkt, der alljährlich hier gehalten
+werde, anfange. Aber er erhielt die Schreckensantwort, daß er zwei
+Tage zu spät komme. Man bedauerte seine Verspätung und erzählte ihm,
+daß er viel verloren habe; denn noch an dem letzten Tage des Marktes
+seien zwei Sklavinnen angekommen, von so hoher Schönheit, daß sie die
+Augen aller Käufer auf sich gezogen hätten. Man habe sich ordentlich
+um sie gerissen und geschlagen, und sie seien freilich auch zu einem
+so hohen Preise verkauft worden, daß ihn nur ihr jetziger Herr nicht
+habe scheuen können. Er erkundigte sich näher nach diesen beiden,
+und es blieb ihm kein Zweifel, daß es die Unglücklichen seien, die er
+suchte. Auch erfuhr er, daß der Mann, der sie beide gekauft habe,
+vierzig Stunden von Balsora wohne und Thiuli-Kos heiße, ein vornehmer,
+reicher, aber schon ältlicher Mann, der früher Kapudan-Bassa des
+Großherrn gewesen, jetzt aber sich mit seinen gesammelten Reichtümern
+zur Ruhe gesetzt habe.
+
+Mustapha wollte von Anfang sich gleich wieder zu Pferd setzen, um dem
+Thiuli-Kos, der kaum einen Tag Vorsprung haben konnte, nachzueilen.
+Als er aber bedachte, daß er als einzelner Mann dem mächtigen
+Reisenden doch nichts anhaben noch weniger seine Beute ihm abjagen
+konnte, sann er auf einen anderen Plan und hatte ihn auch bald
+gefunden. Die Verwechslung mit dem Bassa von Sulieika, die ihm
+beinahe so gefährlich geworden wäre, brachte ihn auf den Gedanken,
+unter diesem Namen in das Haus des Thiuli-Kos zu gehen und so einen
+Versuch zur Rettung der beiden unglücklichen Mädchen zu wagen. Er
+mietete daher einige Diener und Pferde, wobei ihm Orbasans Geld
+trefflich zustatten kam, schaffte sich und seinen Dienern prächtige
+Kleider an und machte sich auf den Weg nach dem Schlosse Thiulis.
+Nach fünf Tagen war er in die Nähe dieses Schlosses gekommen. Es lag
+in einer schönen Ebene und war rings von hohen Mauern umschlossen,
+die nur ganz wenig von den Gebäuden überragt wurden. Als Mustapha
+dort angekommen war, färbte er Haar und Bart schwarz, sein Gesicht
+aber bestrich er mit dem Saft einer Pflanze, die ihm eine bräunliche
+Farbe gab, ganz wie sie jener Bassa gehabt hatte. Er schickte
+hierauf einen seiner Diener in das Schloß und ließ im Namen des Bassa
+von Sulieika um ein Nachtlager bitten. Der Diener kam bald wieder,
+und mit ihm vier schöngekleidete Sklaven, die Mustaphas Pferd am
+Zügel nahmen und in den Schloßhof führten. Dort halfen sie ihm
+selbst vom Pferd, und vier andere geleiteten ihn eine breite
+Marmortreppe hinauf zu Thiuli.
+
+Dieser, ein alter, lustiger Geselle, empfing meinen Bruder
+ehrerbietig und ließ ihm das Beste, was sein Koch zubereiten konnte,
+aufsetzen. Nach Tisch brachte Mustapha das Gespräch nach und nach
+auf die neuen Sklavinnen, und Thiuli rühmte ihre Schönheit und
+beklagte nur, daß sie immer so traurig seien; doch er glaubte, dieses
+würde sich bald geben. Mein Bruder war sehr vergnügt über diesen
+Empfang und legte sich mit den schönsten Hoffnungen zur Ruhe nieder.
+
+Er mochte ungefähr eine Stunde geschlafen haben, da weckte ihn der
+Schein einer Lampe, der blendend auf sein Auge fiel. Als er sich
+aufrichtete, glaubte er noch zu träumen; denn vor ihm stand jener
+kleine, schwarzbraune Kerl aus Orbasans Zelt, eine Lampe in der Hand,
+sein breites Maul zu einem widrigen Lächeln verzogen. Mustapha
+zwickte sich in den Arm, zupfte sich an der Nase, um sich zu
+überzeugen, ob er denn wache; aber die Erscheinung blieb wie zuvor.
+"Was willst du an meinem Bette?" rief Mustapha, als er sich von
+seinem Erstaunen erholt hatte.
+
+"Bemühet Euch doch nicht so, Herr!" sprach der Kleine. "Ich habe
+wohl erraten, weswegen Ihr hierherkommt. Auch war mir Euer wertes
+Gesicht noch wohl erinnerlich; doch wahrlich, wenn ich nicht den
+Bassa mit eigener Hand hätte erhängen helfen, so hättet Ihr mich
+vielleicht getäuscht. Jetzt aber bin ich da, um eine Frage zu machen."
+
+"Vor allem sage, wie du hierherkommst", entgegnete ihm Mustapha voll
+Wut, daß er verraten war.
+
+"Das will ich Euch sagen", antwortete jener, "ich konnte mich mit dem
+Starken nicht länger vertragen, deswegen floh ich; aber du, Mustapha,
+warst eigentlich die Ursache unseres Streites, und dafür mußt du mir
+deine Schwester zur Frau geben, und ich will Euch zur Flucht
+behilflich sein; gibst du sie nicht, so gehe ich zu meinem neuen
+Herrn und erzähle ihm etwas von dem neuen Bassa."
+
+Mustapha war vor Schrecken und Wut außer sich; jetzt, wo er sich am
+sicheren Ziel seiner Wünsche glaubte, sollte dieser Elende kommen und
+sie vereiteln; es war nur ein Mittel, das seinen Plan retten konnte:
+Er mußte das kleine Ungetüm töten. Mit einem Sprung fuhr er daher
+aus dem Bette auf den Kleinen zu; doch dieser, der etwas Solches
+geahnt haben mochte, ließ die Lampe fallen, daß sie verlöschte, und
+entsprang im Dunkeln, indem er mörderisch um Hilfe schrie.
+
+Jetzt war guter Rat teuer; die Mädchen mußte er für den Augenblick
+aufgeben und nur auf die eigene Rettung denken; daher ging er an das
+Fenster, um zu sehen, ob er nicht entspringen könnte. Es war eine
+ziemliche Tiefe bis zum Boden, und auf der anderen Seite stand eine
+hohe Mauer, die zu übersteigen war. Sinnend stand er an dem Fenster;
+da hörte er viele Stimmen sich seinem Zimmer nähern; schon waren sie
+an der Türe; da faßte er verzweiflungsvoll seinen Dolch und seine
+Kleider und schwang sich zum Fenster hinaus. Der Fall war hart; aber
+er fühlte, daß er kein Glied gebrochen hatte; drum sprang er auf und
+lief der Mauer zu, die den Hof umschloß, stieg, zum Erstaunen seiner
+Verfolger, hinauf und befand sich bald im Freien. Er floh, bis er an
+einen kleinen Wald kam, wo er sich erschöpft niederwarf. Hier
+überlegte er, was zu tun sei.
+
+Seine Pferde und seine Diener hatte er im Stiche lassen müssen; aber
+sein Geld, das er in dem Gürtel trug, hatte er gerettet.
+
+Sein erfinderischer Kopf zeigte ihm bald einen anderen Weg zur
+Rettung. Er ging in dem Wald weiter, bis er an ein Dorf kam, wo er
+um geringen Preis ein Pferd kaufte, das ihn in Bälde in eine Stadt
+trug. Dort forschte er nach einem Arzt, und man riet ihm einen alten,
+erfahrenen Mann. Diesen bewog er durch einige Goldstücke, daß er
+ihm eine Arznei mitteilte, die einen todähnlichen Schlaf herbeiführte,
+der durch ein anderes Mittel augenblicklich wieder gehoben werden
+könnte. Als er im Besitz dieses Mittels war, kaufte er sich einen
+langen falschen Bart, einen schwarzen Talar und allerlei Büchsen und
+Kolben, so daß er füglich einen reisenden Arzt vorstellen konnte, lud
+seine Sachen auf einen Esel und reiste in das Schloß des Thiuli-Kos
+zurück. Er durfte gewiß sein, diesmal nicht erkannt zu werden, denn
+der Bart entstellte ihn so, daß er sich selbst kaum mehr kannte. Bei
+Thiuli angekommen, ließ er sich als den Arzt Chakamankabudibaba
+anmelden, und, wie er es gedacht hatte, geschah es; der prachtvolle
+Namen empfahl ihn bei dem alten Narren ungemein, so daß er ihn gleich
+zur Tafel einlud.
+
+Chakamankabudibaba erschien vor Thiuli, und als sie sich kaum eine
+Stunde besprochen hatten, beschloß der Alte, alle seine Sklavinnen
+der Kur des weisen Arztes zu unterwerfen. Dieser konnte seine Freude
+kaum verbergen, daß er jetzt seine geliebte Schwester wiedersehen
+solle, und folgte mit klopfendem Herzen Thiuli, der ihn ins Serail
+führte. Sie waren in ein Zimmer gekommen, das schön ausgeschmückt
+war, worin sich aber niemand befand. "Chambaba oder wie du heißt,
+lieber Arzt", sprach Thiuli-Kos, "betrachte einmal jenes Loch dort in
+der Mauer, dort wird jede meiner Sklavinnen einen Arm herausstrecken,
+und du kannst dann untersuchen, ob der Puls krank oder gesund ist."
+Mustapha mochte einwenden, was er wollte, zu sehen bekam er sie nicht;
+doch willigte Thiuli ein, daß er ihm allemal sagen wolle, wie sie
+sich sonst gewöhnlich befänden. Thiuli zog nun einen langen Zettel
+aus dem Gürtel und begann mit lauter Stimme seine Sklavinnen einzeln
+beim Namen zu rufen, worauf allemal eine Hand aus der Mauer kam und
+der Arzt den Puls untersuchte. Sechs waren schon abgelesen und
+sämtlich für gesund erklärt; da las Thiuli als die siebente "Fatme"
+ab, und eine kleine weiße Hand schlüpfte aus der Mauer. Zitternd vor
+Freude, ergreift Mustapha diese Hand und erklärt sie mit wichtiger
+Miene für bedeutend krank. Thiuli ward sehr besorgt und befahl
+seinem weisen Chakamankabudibaba, schnell eine Arznei für sie zu
+bereiten. Der Arzt ging hinaus, schrieb auf einen kleinen Zettel:
+Fatme! Ich will Dich retten, wenn Du Dich entschließen kannst, eine
+Arznei zu nehmen, die Dich auf zwei Tage tot macht; doch ich besitze
+das Mittel, Dich wieder zum Leben zu bringen. Willst Du, so sage nur,
+dieser Trank habe nicht geholfen, und es soll mir ein Zeichen sein,
+daß Du einwilligst.
+
+Bald kam er in das Zimmer zurück, wo Thiuli seiner harrte. Er
+brachte ein unschädliches Tränklein mit, fühlte der kranken Fatme
+noch einmal den Puls und schob ihr zugleich den Zettel unter ihr
+Armband; das Tränklein aber reichte er ihr durch die Öffnung in der
+Mauer. Thiuli schien in großen Sorgen wegen Fatme zu sein und schob
+die Untersuchung der übrigen bis auf eine gelegenere Zeit auf. Als
+er mit Mustapha das Zimmer verlassen hatte, sprach er in traurigem
+Ton: "Chadibaba, sage aufrichtig, was hältst du von Fatmes Krankheit?"
+
+Chakamankabudibaba antwortete mit einem tiefen Seufzer: "Ach Herr,
+möge der Prophet dir Trost verleihen! Sie hat ein schleichendes
+Fieber, das ihr wohl den Garaus machen kann." Da entbrannte der Zorn
+Thiulis: "Was sagst du, verfluchter Hund von einem Arzt? Sie, um die
+ich zweitausend Goldstücke gab, soll mir sterben wie eine Kuh? Wisse,
+wenn du sie nicht rettest, so hau' ich dir den Kopf ab!" Da merkte
+mein Bruder, daß er einen dummen Streich gemacht habe, und gab Thiuli
+wieder Hoffnung. Als sie noch so sprachen, kam ein schwarzer Sklave
+aus dem Serail, dem Arzt zu sagen, daß das Tränklein nicht geholfen
+habe. "Biete deine ganze Kunst auf, Chakamdababelba, oder wie du
+dich schreibst, ich zahle dir, was du willst", schrie Thiuli-Kos,
+fast heulend vor Angst, so viel Gold zu verlieren.
+
+"Ich will ihr ein Säftlein geben, das sie von aller Not befreit",
+antwortete der Arzt.
+
+"Ja! Ja! Gib ihr ein Säftlein", schluchzte der alte Thiuli.
+
+Frohen Mutes ging Mustapha, seinen Schlaftrunk zu holen, und als er
+ihn dem schwarzen Sklaven gegeben und gezeigt hatte, wieviel man auf
+einmal nehmen müsse, ging er zu Thiuli und sagte, er müsse noch
+einige heilsame Kräuter am See holen, und eilte zum Tor hinaus. An
+dem See, der nicht weit von dem Schloß entfernt war, zog er seine
+falschen Kleider aus und warf sie ins Wasser, daß sie lustig
+umherschwammen; er selbst aber verbarg sich im Gesträuch, wartete die
+Nacht ab und schlich sich dann in den Begräbnisplatz an dem Schlosse
+Thiulis.
+
+Als Mustapha kaum eine Stunde lang aus dem Schloß abwesend sein
+mochte, brachte man Thiuli die schreckliche Nachricht, daß seine
+Sklavin Fatme im Sterben liege. Er schickte hinaus an den See, um
+schnell den Arzt zu holen; aber bald kehrten seine Boten allein
+zurück und erzählten ihm, daß der arme Arzt ins Wasser gefallen und
+ertrunken sei; seinen schwarzen Talar sehe man im See schwimmen, und
+hier und da gucke auch sein stattlicher Bart aus den Wellen hervor.
+Als Thiuli keine Rettung mehr sah, verwünschte er sich und die ganze
+Welt, raufte sich den Bart aus und rannte mit dem Kopf gegen die
+Mauer. Aber alles dies konnte nichts helfen; denn Fatme gab bald
+unter den Händen der übrigen Weiber den Geist auf. Als Thiuli die
+Nachricht ihres Todes hörte, befahl er, schnell einen Sarg zu machen;
+denn er konnte keinen Toten im Hause leiden und ließ den Leichnam in
+das Begräbnishaus tragen. Die Träger brachten den Sarg dorthin,
+setzten ihn schnell nieder und entflohen, denn sie hatten unter den
+übrigen Särgen Stöhnen und Seufzen gehört.
+
+Mustapha, der sich hinter den Särgen verborgen und von dort aus die
+Träger des Sarges in die Flucht gejagt hatte, kam hervor und zündete
+sich eine Lampe an, die er zu diesem Zweck mitgebracht hatte. Dann
+zog er ein Glas hervor, das die erweckende Arznei enthielt, und hob
+dann den Deckel von Fatmes Sarg. Aber welches Entsetzen befiel ihn,
+als sich ihm beim Scheine der Lampe ganz fremde Züge zeigten! Weder
+meine Schwester noch Zoraide, sondern eine ganz andere lag in dem
+Sarg. Er brauchte lange, um sich von dem neuen Schlag des Schicksals
+zu fassen; endlich überwog doch Mitleid seinen Zorn. Er öffnete sein
+Glas und flößte ihr die Arznei ein. Sie atmete, sie schlug die Augen
+auf und schien sich lange zu besinnen, wo sie sei. Endlich erinnerte
+sie sich des Vorgefallenen; sie stand auf aus dem Sarg und stürzte zu
+Mustaphas Füßen. "Wie kann ich dir danken, gütiges Wesen", rief sie
+aus, "daß du mich aus meiner schrecklichen Gefangenschaft befreitest!"
+Mustapha unterbrach ihre Danksagungen mit der Frage, wie es denn
+geschehen sei, daß sie und nicht Fatme, seine Schwester, gerettet
+worden sei? Jene sah ihn staunend an. "Jetzt wird mir meine Rettung
+erst klar, die mir vorher unbegreiflich war", antwortete sie; "wisse,
+man hieß mich in jenem Schloß Fatme, und mir hast du deinen Zettel
+und den Rettungstrank gegeben." Mein Bruder forderte die Gerettete
+auf, ihm von seiner Schwester und Zoraide Nachricht zu geben, und
+erfuhr, daß sie sich beide im Schloß befanden, aber nach der
+Gewohnheit Thiulis andere Namen bekommen hatten; sie hießen jetzt
+Mirza und Nurmahal."
+
+Als Fatme, die gerettete Sklavin, sah, daß mein Bruder durch diesen
+Fehlgriff so niedergeschlagen sei, sprach sie ihm Mut ein und
+versprach, ihm ein Mittel zu sagen, wie er jene beiden Mädchen
+dennoch retten könne. Aufgeweckt durch diesen Gedanken, schöpfte
+Mustapha von neuem Hoffnung und bat sie, dieses Mittel ihm zu nennen,
+und sie sprach:
+
+"Ich bin zwar erst seit fünf Monaten die Sklavin Thiulis, doch habe
+ich gleich von Anfang auf Rettung gesonnen; aber für mich allein war
+sie zu schwer. In dem inneren Hof des Schlosses wirst du einen
+Brunnen bemerkt haben, der aus zehn Röhren Wasser speit; dieser
+Brunnen fiel mir auf. Ich erinnerte mich, in dem Hause meines Vaters
+einen ähnlichen gesehen zu haben, dessen Wasser durch eine geräumige
+Wasserleitung herbeiströmt; um nun zu erfahren, ob dieser Brunnen
+auch so gebaut ist, rühmte ich eines Tages vor Thiuli seine Pracht
+und fragte nach seinem Baumeister. *Ich selbst habe ihn gebaut*,
+antwortete er, *und das, was du hier siehst, ist noch das Geringste;
+aber das Wasser dazu kommt wenigstens tausend Schritte weit von einem
+Bach her und geht durch eine gewölbte Wasserleitung, die wenigstens
+mannshoch ist; und alles dies habe ich selbst angegeben.* Als ich
+dies gehört hatte, wünschte ich mir oft, nur auf einen Augenblick die
+Stärke eines Mannes zu haben, um einen Stein an der Seite des
+Brunnens ausheben zu können; dann könnte ich fliehen, wohin ich
+wollte. Die Wasserleitung nun will ich dir zeigen; durch sie kannst
+du nachts in das Schloß gelangen und jene befreien. Aber du mußt
+wenigstens noch zwei Männer bei dir haben, um die Sklaven, die das
+Serail bei Nacht bewachen, zu überwältigen."
+
+So sprach sie; mein Bruder Mustapha aber, obgleich schon zweimal in
+seinen Hoffnungen getäuscht, faßte noch einmal Mut und hoffte mit
+Allahs Hilfe den Plan der Sklavin auszuführen. Er versprach ihr, für
+ihr weiteres Fortkommen in ihre Heimat zu sorgen, wenn sie ihm
+behilflich sein wollte, ins Schloß zu gelangen. Aber ein Gedanke
+machte ihm noch Sorge, nämlich der, woher er zwei oder drei treue
+Gehilfen bekommen könnte. Da fiel ihm Orbasans Dolch ein und das
+Versprechen, das ihm jener gegeben hatte, ihm, wo er seiner bedürfe,
+zu Hilfe zu eilen, und er machte sich daher mit Fatme aus dem
+Begräbnis auf, um den Räuber aufzusuchen.
+
+In der nämlichen Stadt, wo er sich zum Arzt umgewandelt hatte, kaufte
+er um sein letztes Geld ein Roß und mietete Fatme bei einer armen
+Frau in der Vorstadt ein. Er selbst aber eilte dem Gebirge zu, wo er
+Orbasan zum erstenmal getroffen hatte, und gelangte in drei Tagen
+dahin. Er fand bald wieder jene Zelte und trat unverhofft vor
+Orbasan, der ihn freundlich bewillkommnete. Er erzählte ihm seine
+mißlungenen Versuche, wobei sich der ernsthafte Orbasan nicht
+enthalten konnte, hier und da ein wenig zu lachen, besonders, wenn er
+sich den Arzt Chakamankabudibaba dachte. Über die Verräterei des
+Kleinen aber war er wütend; er schwur, ihn mit eigener Hand
+aufzuhängen, wo er ihn finde. Meinem Bruder aber versprach er,
+sogleich zur Hilfe bereit zu sein, wenn er sich vorher von der Reise
+gestärkt haben würde. Mustapha blieb daher diese Nacht wieder in
+Orbasans Zelt; mit dem ersten Frührot aber brachen sie auf, und
+Orbasan nahm drei seiner tapfersten Männer, wohl beritten und
+bewaffnet, mit sich. Sie ritten stark zu und kamen nach zwei Tagen
+in die kleine Stadt, wo Mustapha die gerettete Fatme zurückgelassen
+hatte. Von da aus reisten sie mit dieser weiter bis zu dem kleinen
+Wald, von wo aus man das Schloß Thiulis in geringer Entfernung sehen
+konnte; dort lagerten sie sich, um die Nacht abzuwarten.
+
+Sobald es dunkel wurde, schlichen sie sich, von Fatme geführt, an den
+Bach, wo die Wasserleitung anfing, und fanden diese bald. Dort
+ließen sie Fatme und einen Diener mit den Rossen zurück und schickten
+sich an, hinabzusteigen; ehe sie aber hinabstiegen, wiederholte ihnen
+Fatme noch einmal alles genau, nämlich: daß sie durch den Brunnen in
+den inneren Schloßhof kämen, dort seien rechts und links in der Ecke
+zwei Türme, in der sechsten Türe, vom Turme rechts gerechnet,
+befänden sich Fatme und Zoraide, bewacht von zwei schwarzen Sklaven.
+Mit Waffen und Brecheisen wohl versehen, stiegen Mustapha, Orbasan
+und zwei andere Männer hinab in die Wasserleitung; sie sanken zwar
+bis an den Gürtel ins Wasser; aber nichtsdestoweniger gingen sie
+rüstig vorwärts. Nach einer halben Stunde kamen sie an den Brunnen
+selbst und setzten sogleich ihre Brecheisen an. Die Mauer war dick
+und fest; aber den vereinten Kräften der vier Männer konnte sie nicht
+lange widerstehen; bald hatten sie eine Öffnung eingebrochen, groß
+genug, um bequem durchschlüpfen zu können. Orbasan schlüpfte zuerst
+durch und half den anderen nach. Als sie alle im Hof waren,
+betrachteten sie die Seite des Schlosses, die vor ihnen lag, um die
+beschriebene Türe zu erforschen. Aber sie waren nicht einig, welche
+es sei; denn als sie von dem rechten Turm zum linken zählten, fanden
+sie eine Türe, die zugemauert war, und wußten nun nicht, ob Fatme
+diese übersprungen oder mitgezählt habe. Aber Orbasan besann sich
+nicht lange. "Mein gutes Schwert wird mir jede Tür öffnen", rief er
+aus, ging auf die sechste Türe zu, und die anderen folgten ihm.
+
+Sie öffneten die Türe und fanden sechs schwarze Sklaven auf dem Boden
+liegend und schlafend; sie wollten schon wieder leise sich
+zurückziehen, weil sie sahen, daß sie die rechte Türe verfehlt hatten,
+als eine Gestalt in der Ecke sich aufrichtete und mit wohlbekannter
+Stimme um Hilfe rief. Es war der Kleine aus Orbasans Lager. Aber
+ehe noch die Schwarzen recht wußten, wie ihnen geschah, stürzte
+Orbasan auf den Kleinen zu, riß seinen Gürtel entzwei, verstopfte ihm
+den Mund und band ihm die Hände auf den Rücken; dann wandte er sich
+an die Sklaven, wovon schon einige von Mustapha und den zwei anderen
+halb gebunden waren, und half sie vollends überwältigen. Man setzte
+den Sklaven den Dolch auf die Brust und fragte sie, wo Nurmahal und
+Nürza wären, und sie gestanden, daß sie im Gemach nebenan seien.
+Mustapha stürzte in das Gemach und fand Fatme und Zoraide, die der
+Lärm erweckt hatte. Schnell rafften diese ihren Schmuck und ihre
+Kleider zusammen und folgten Mustapha; die beiden Räuber schlugen
+indes Orbasan vor, zu plündern, was man fände; doch dieser verbot es
+ihnen und sprach: "Man soll nicht von Orbasan sagen können, daß er
+nachts in die Häuser steige, um Gold zu stehlen!" Mustapha und die
+Geretteten schlüpften schnell in die Wasserleitung, wohin ihnen
+Orbasan sogleich zu folgen versprach. Als jene in die Wasserleitung
+hinabgestiegen waren, nahmen Orbasan und einer der Räuber den Kleinen
+und führten ihn hinaus in den Hof; dort banden sie ihm eine seidene
+Schnur, die sie deshalb mitgenommen hatten, um den Hals und hingen
+ihn an der höchsten Spitze des Brunnens auf. Nachdem sie so den
+Verrat des Elenden bestraft hatten, stiegen sie selbst hinab in die
+Wasserleitung und folgten Mustapha. Mit Tränen dankten die beiden
+ihrem edelmütigen Retter Orbasan; doch dieser trieb sie eilends zur
+Flucht an, denn es war sehr wahrscheinlich, daß sie Thiuli-Kos nach
+allen Seiten verfolgen ließ. Mit tiefer Rührung trennten sich am
+anderen Tag Mustapha und seine Geretteten von Orbasan; wahrlich, sie
+werden ihn nie vergessen. Fatme aber, die befreite Sklavin, ging
+verkleidet nach Balsora, um sich dort in ihre Heimat einzuschiffen.
+
+Nach einer kurzen und vergnügten Reise kamen die Meinigen in die
+Heimat. Meinen alten Vater tötete beinahe die Freude des
+Wiedersehens; den anderen Tag nach ihrer Ankunft veranstaltete er ein
+großes Fest, an welchem die ganze Stadt teilnahm. Vor einer großen
+Versammlung von Verwandten und Freunden mußte mein Bruder seine
+Geschichte erzählen, und einstimmig priesen sie ihn und den edlen
+Räuber.
+
+Als aber mein Bruder geschlossen hatte, stand mein Vater auf und
+führte Zoraide ihm zu. "So löse ich denn", sprach er mit feierlicher
+Stimme, "den Fluch von deinem Haupte; nimm diese hin als die
+Belohnung, die du dir durch deinen rastlosen Eifer erkämpft hast;
+nimm meinen väterlichen Segen, und möge es nie unserer Stadt an
+Männern fehlen, die an brüderlicher Liebe, an Klugheit und Eifer dir
+gleichen!"
+
+Die Karawane hatte das Ende der Wüste erreicht, und fröhlich
+begrüßten die Reisenden die grünen Matten und die dichtbelaubten
+Bäume, deren lieblichen Anblick sie viele Tage entbehrt hatten. In
+einem schönen Tale lag eine Karawanserei, die sie sich zum Nachtlager
+wählten, und obgleich sie wenig Bequemlichkeit und Erfrischung darbot,
+so war doch die ganze Gesellschaft heiterer und zutraulicher als je;
+denn der Gedanke, den Gefahren und Beschwerlichkeiten, die eine Reise
+durch die Wüste mit sich bringt, entronnen zu sein, hatte alle Herzen
+geöffnet und die Gemüter zu Scherz und Kurzweil gestimmt. Muley, der
+junge lustige Kaufmann, tanzte einen komischen Tanz und sang Lieder
+dazu, die selbst dem ernsten Griechen Zaleukos ein Lächeln entlockten.
+Aber nicht genug, daß er seine Gefährten durch Tanz und Spiel
+erheitert hatte, er gab ihnen auch noch die Geschichte zum besten,
+die er ihnen versprochen hatte, und hub, als er von seinen
+Luftsprüngen sich erholt hatte, also zu erzählen an: Die Geschichte
+von dem kleinen Muck.
+
+
+
+
+Die Geschichte von dem kleinen Muck
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+In Nicea, meiner lieben Vaterstadt, wohnte ein Mann, den man den
+kleinen Muck hieß. Ich kann mir ihn, ob ich gleich damals noch sehr
+jung war, noch recht wohl denken, besonders weil ich einmal von
+meinem Vater wegen seiner halbtot geprügelt wurde. Der kleine Muck
+nämlich war schon ein alter Geselle, als ich ihn kannte; doch war er
+nur drei bis vier Schuh hoch, dabei hatte er eine sonderbare Gestalt,
+denn sein Leib, so klein und zierlich er war, mußte einen Kopf tragen,
+viel größer und dicker als der Kopf anderer Leute; er wohnte ganz
+allein in einem großen Haus und kochte sich sogar selbst, auch hätte
+man in der Stadt nicht gewußt, ob er lebe oder gestorben sei, denn er
+ging nur alle vier Wochen einmal aus, wenn nicht um die Mittagsstunde
+ein mächtiger Dampf aus dem Hause aufgestiegen wäre, doch sah man ihn
+oft abends auf seinem Dache auf und ab gehen, von der Straße aus
+glaubte man aber, nur sein großer Kopf allein laufe auf dem Dache
+umher. Ich und meine Kameraden waren böse Buben, die jedermann gerne
+neckten und belachten, daher war es uns allemal ein Festtag, wenn der
+kleine Muck ausging; wir versammelten uns an dem bestimmten Tage vor
+seinem Haus und warteten, bis er herauskam; wenn dann die Türe
+aufging und zuerst der große Kopf mit dem noch größeren Turban
+herausguckte, wenn das übrige Körperlein nachfolgte, angetan mit
+einem abgeschabten Mäntelein, weiten Beinkleidern und einem breiten
+Gürtel, an welchem ein langer Dolch hing, so lang, daß man nicht
+wußte, ob Muck an dem Dolch, oder der Dolch an Muck stak, wenn er so
+heraustrat, da ertönte die Luft von unserem Freudengeschrei, wir
+warfen unsere Mützen in die Höhe und tanzten wie toll um ihn her.
+Der kleine Muck aber grüßte uns mit ernsthaftem Kopfnicken und ging
+mit langsamen Schritten die Straße hinab. Wir Knaben liefen hinter
+ihm her und schrien immer: "Kleiner Muck, kleiner Muck!" Auch hatten
+wir ein lustiges Verslein, das wir ihm zu Ehren hier und da sangen;
+es hieß:
+
+"Kleiner Muck, kleiner Muck,
+Wohnst in einem großen Haus,
+Gehst nur all vier Wochen aus,
+Bist ein braver, kleiner Zwerg,
+Hast ein Köpflein wie ein Berg,
+Schau dich einmal um und guck,
+Lauf und fang uns, kleiner Muck!"
+
+So hatten wir schon oft unsere Kurzweil getrieben, und zu meiner
+Schande muß ich es gestehen, ich trieb's am ärgsten; denn ich zupfte
+ihn oft am Mäntelein, und einmal trat ich ihm auch von hinten auf die
+großen Pantoffeln, daß er hinfiel. Dies kam mir nun höchst
+lächerlich vor, aber das Lachen verging mir, als ich den kleinen Muck
+auf meines Vaters Haus zugehen sah. Er ging richtig hinein und blieb
+einige Zeit dort. Ich versteckte mich an der Haustüre und sah den
+Muck wieder herauskommen, von meinem Vater begleitet, der ihn
+ehrerbietig an der Hand hielt und an der Türe unter vielen Bücklingen
+sich von ihm verabschiedete. Mir war gar nicht wohl zumute; ich
+blieb daher lange in meinem Versteck; endlich aber trieb mich der
+Hunger, den ich ärger fürchtete als Schläge, heraus, und demütig und
+mit gesenktem Kopf trat ich vor meinen Vater. "Du hast, wie ich höre,
+den guten Muck beschimpft?" sprach er in sehr ernstem Tone. "Ich
+will dir die Geschichte dieses Muck erzählen, und du wirst ihn gewiß
+nicht mehr auslachen; vor- und nachher aber bekommst du das
+Gewöhnliche." Das Gewöhnliche aber waren fünfundzwanzig Hiebe, die er
+nur allzu richtig aufzuzählen pflegte. Er nahm daher sein langes
+Pfeifenrohr, schraubte die Bernsteinmundspitze ab und bearbeitete
+mich ärger als je zuvor.
+
+Als die Fünfundzwanzig voll waren, befahl er mir, aufzumerken, und
+erzählte mir von dem kleinen Muck:
+
+Der Vater des kleinen Muck, der eigentlich Muckrah heißt, war ein
+angesehener, aber armer Mann hier in Nicea. Er lebte beinahe so
+einsiedlerisch wie jetzt sein Sohn. Diesen konnte er nicht wohl
+leiden, weil er sich seiner Zwerggestalt schämte, und ließ ihn daher
+auch in Unwissenheit aufwachsen. Der kleine Muck war noch in seinem
+sechzehnten Jahr ein lustiges Kind, und der Vater, ein ernster Mann,
+tadelte ihn immer, daß er, der schon längst die Kinderschuhe
+zertreten haben sollte, noch so dumm und läppisch sei.
+
+Der Alte tat aber einmal einen bösen Fall, an welchem er auch starb
+und den kleinen Muck arm und unwissend zurückließ. Die harten
+Verwandten, denen der Verstorbene mehr schuldig war, als er bezahlen
+konnte, jagten den armen Kleinen aus dem Hause und rieten ihm, in die
+Welt hinauszugehen und sein Glück zu suchen. Der kleine Muck
+antwortete, er sei schon reisefertig, bat sich aber nur noch den
+Anzug seines Vaters aus, und dieser wurde ihm auch bewilligt. Sein
+Vater war ein großer, starker Mann gewesen, daher paßten die Kleider
+nicht. Muck aber wußte bald Rat; er schnitt ab, was zu lang war, und
+zog dann die Kleider an. Er schien aber vergessen zu haben, daß er
+auch in der Weite davon schneiden müsse, daher sein sonderbarer
+Aufzug, wie er noch heute zu sehen ist; der große Turban, der breite
+Gürtel, die weiten Hosen, das blaue Mäntelein, alles dies sind
+Erbstücke seines Vaters, die er seitdem getragen; den langen
+Damaszenerdolch seines Vaters aber steckte er in den Gürtel, ergriff
+ein Stöcklein und wanderte zum Tor hinaus.
+
+Fröhlich wanderte er den ganzen Tag; denn er war ja ausgezogen, um
+sein Glück zu suchen; wenn er eine Scherbe auf der Erde im
+Sonnenschein glänzen sah, so steckte er sie gewiß zu sich, im Glauben,
+daß sie sich in den schönsten Diamanten verwandeln werde; sah er in
+der Ferne die Kuppel einer Moschee wie Feuer strahlen, sah er einen
+See wie einen Spiegel blinken, so eilte er voll Freude darauf zu;
+denn er dachte, in einem Zauberland angekommen zu sein. Aber ach!
+Jene Trugbilder verschwanden in der Nähe, und nur allzubald
+erinnerten ihn seine Müdigkeit und sein vor Hunger knurrender Magen,
+daß er noch im Lande der Sterblichen sich befinde. So war er zwei
+Tage gereist unter Hunger und Kummer und verzweifelte, sein Glück zu
+finden; die Früchte des Feldes waren seine einzige Nahrung, die harte
+Erde sein Nachtlager. Am Morgen des dritten Tages erblickte er von
+einer Anhöhe eine große Stadt.
+
+Hell leuchtete der Halbmond auf ihren Zinnen, bunte Fahnen
+schimmerten auf den Dächern und schienen den kleinen Muck zu sich
+herzuwinken. Überrascht stand er stille und betrachtete Stadt und
+Gegend. "Ja, dort wird Klein-Muck sein Glück finden", sprach er zu
+sich und machte trotz seiner Müdigkeit einen Luftsprung, "dort oder
+nirgends." Er raffte alle seine Kräfte zusammen und schritt auf die
+Stadt zu. Aber obgleich sie ganz nahe schien, konnte er sie doch
+erst gegen Mittag erreichen; denn seine kleinen Glieder versagten ihm
+beinahe gänzlich ihren Dienst, und er mußte sich oft in den Schatten
+einer Palme setzen, um auszuruhen. Endlich war er an dem Tor der
+Stadt angelangt. Er legte sein Mäntelein zurecht, band den Turban
+schöner um, zog den Gürtel noch breiter an und steckte den langen
+Dolch schiefer; dann wischte er den Staub von den Schuhen, ergriff
+sein Stöcklein und ging mutig zum Tor hinein.
+
+Er hatte schon einige Straßen durchwandert; aber nirgends öffnete
+sich ihm die Türe, nirgends rief man, wie er sich vorgestellt hatte:
+"Kleiner Muck, komm herein und iß und trink und laß deine Füßlein
+ausruhen!"
+
+Er schaute gerade auch wieder recht sehnsüchtig an einem großen,
+schönen Haus hinauf; da öffnete sich ein Fenster, eine alte Frau
+schaute heraus und rief mit singender Stimme:
+
+"Herbei, herbei!
+Gekocht ist der Brei,
+Den Tisch ließ ich decken,
+Drum laßt es euch schmecken;
+Ihr Nachbarn herbei,
+Gekocht ist der Brei."
+
+Die Türe des Hauses öffnete sich, und Muck sah viele Hunde und Katzen
+hineingehen. Er stand einige Augenblicke in Zweifel, ob er der
+Einladung folgen sollte; endlich aber faßte er sich ein Herz und ging
+in das Haus. Vor ihm her gingen ein paar junge Kätzlein, und er
+beschloß, ihnen zu folgen, weil sie vielleicht die Küche besser
+wüßten als er.
+
+Als Muck die Treppe hinaufgestiegen war, begegnete er jener alten
+Frau, die zum Fenster herausgeschaut hatte. Sie sah ihn mürrisch an
+und fragte nach seinem Begehr. "Du hast ja jedermann zu deinem Brei
+eingeladen", antwortete der kleine Muck, "und weil ich so gar hungrig
+bin, bin ich auch gekommen."
+
+Die Alte lachte und sprach: "Woher kommst du denn, wunderlicher
+Gesell? Die ganze Stadt weiß, daß ich für niemand koche als für
+meine lieben Katzen, und hier und da lade ich ihnen Gesellschaft aus
+der Nachbarschaft ein, wie du siehst."
+
+Der kleine Muck erzählte der alten Frau, wie es ihm nach seines
+Vaters Tod so hart ergangen sei, und bat sie, ihn heute mit ihren
+Katzen speisen zu lassen. Die Frau, welcher die treuherzige
+Erzählung des Kleinen wohl gefiel, erlaubte ihm, ihr Gast zu sein,
+und gab ihm reichlich zu essen und zu trinken. Als er gesättigt und
+gestärkt war, betrachtete ihn die Frau lange und sagte dann: "Kleiner
+Muck, bleibe bei mir in meinem Dienste! Du hast geringe Mühe und
+sollst gut gehalten sein."
+
+Der kleine Muck, dem der Katzenbrei geschmeckt hatte, willigte ein
+und wurde also der Bedienstete der Frau Ahavzi. Er hatte einen
+leichten, aber sonderbaren Dienst. Frau Ahavzi hatte nämlich zwei
+Kater und vier Katzen, diesen mußte der kleine Muck alle Morgen den
+Pelz kämmen und mit köstlichen Salben einreiben; wenn die Frau
+ausging, mußte er auf die Katzen Achtung geben, wenn sie aßen, mußte
+er ihnen die Schüsseln vorlegen, und nachts mußte er sie auf seidene
+Polster legen und sie mit samtenen Decken einhüllen. Auch waren noch
+einige kleine Hunde im Haus, die er bedienen mußte, doch wurden mit
+diesen nicht so viele Umstände gemacht wie mit den Katzen, welche
+Frau Ahavzi wie ihre eigenen Kinder hielt. Übrigens führte Muck
+ein so einsames Leben wie in seines Vaters Haus, denn außer der Frau
+sah er den ganzen Tag nur Hunde und Katzen. Eine Zeitlang ging es
+dem kleinen Muck ganz gut; er hatte immer zu essen und wenig zu
+arbeiten, und die alte Frau schien recht zufrieden mit ihm zu sein,
+aber nach und nach wurden die Katzen unartig, wenn die Alte
+ausgegangen war, sprangen sie wie besessen in den Zimmern umher,
+warfen alles durcheinander und zerbrachen manches schöne Geschirr,
+das ihnen im Weg stand. Wenn sie aber die Frau die Treppe
+heraufkommen hörten, verkrochen sie sich auf ihre Polster und
+wedelten ihr mit den Schwänzen entgegen, wie wenn nichts geschehen
+wäre. Die Frau Ahavzi geriet dann in Zorn, wenn sie ihre Zimmer so
+verwüstet sah, und schob alles auf Muck, er mochte seine Unschuld
+beteuern, wie er wollte, sie glaubte ihren Katzen, die so unschuldig
+aussahen, mehr als ihrem Diener.
+
+Der kleine Muck war sehr traurig, daß er also auch hier sein Glück
+nicht gefunden hatte, und beschloß bei sich, den Dienst der Frau
+Ahavzi zu verlassen. Da er aber auf seiner ersten Reise erfahren
+hatte, wie schlecht man ohne Geld lebt, so beschloß er, den Lohn, den
+ihm seine Gebieterin immer versprochen, aber nie gegeben hatte, sich
+auf irgendeine Art zu verschaffen. Es befand sich in dem Hause der
+Frau Ahavzi ein Zimmer, das immer verschlossen war und dessen Inneres
+er nie gesehen hatte. Doch hatte er die Frau oft darin rumoren
+gehört, und er hätte oft für sein Leben gern gewußt, was sie dort
+versteckt habe. Als er nun an sein Reisegeld dachte, fiel ihm ein,
+daß dort die Schätze der Frau versteckt sein könnten. Aber immer war
+die Tür fest verschlossen, und er konnte daher den Schätzen nie
+beikommen.
+
+Eines Morgens, als die Frau Ahavzi ausgegangen war, zupfte ihn eines
+der Hundlein, welches von der Frau immer sehr stiefmütterlich
+behandelt wurde, dessen Gunst er sich aber durch allerlei
+Liebesdienste in hohem Grade erworben hatte, an seinen weiten
+Beinkleidern und gebärdete sich dabei, wie wenn Muck ihm folgen
+sollte. Muck, welcher gerne mit den Hunden spielte, folgte ihm, und
+siehe da, das Hundlein führte ihn in die Schlafkammer der Frau Ahavzi
+vor eine kleine Türe, die er nie zuvor dort bemerkt hatte. Die Türe
+war halb offen. Das Hundlein ging hinein, und Muck folgte ihm, und
+wie freudig war er überrascht, als er sah, daß er sich in dem Gemach
+befand, das schon lange das Ziel seiner Wünsche war. Er spähte
+überall umher, ob er kein Geld finden könne, fand aber nichts. Nur
+alte Kleider und wunderlich geformte Geschirre standen umher. Eines
+dieser Geschirre zog seine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Es war
+von Kristall, und schöne Figuren waren darauf ausgeschnitten. Er hob
+es auf und drehte es nach allen Seiten. Aber, o Schrecken! Er hatte
+nicht bemerkt, daß es einen Deckel hatte, der nur leicht darauf
+hingesetzt war. Der Deckel fiel herab und zerbrach in tausend Stücke.
+
+Lange stand der kleine Muck vor Schrecken leblos. Jetzt war sein
+Schicksal entschieden, jetzt mußte er entfliehen, sonst schlug ihn
+die Alte tot. Sogleich war auch seine Reise beschlossen, und nur
+noch einmal wollte er sich umschauen, ob er nichts von den
+Habseligkeiten der Frau Ahavzi zu seinem Marsch brauchen könnte. Da
+fielen ihm ein Paar mächtig große Pantoffeln ins Auge; sie waren zwar
+nicht schön; aber seine eigenen konnten keine Reise mehr mitmachen;
+auch zogen ihn jene wegen ihrer Größe an; denn hatte er diese am Fuß,
+so mußten ihm hoffentlich alle Leute ansehen, daß er die Kinderschuhe
+vertreten habe. Er zog also schnell seine Töffelein aus und fuhr in
+die großen hinein. Ein Spazierstöcklein mit einem schön
+geschnittenen Löwenkopf schien ihm auch hier allzu müßig in der Ecke
+zu stehen; er nahm es also mit und eilte zum Zimmer hinaus. Schnell
+ging er jetzt auf seine Kammer, zog sein Mäntelein an, setzte den
+väterlichen Turban auf, steckte den Dolch in den Gürtel und lief, so
+schnell ihn seine Füße trugen, zum Haus und zur Stadt hinaus. Vor
+der Stadt lief er, aus Angst vor der Alten, immer weiter fort, bis er
+vor Müdigkeit beinahe nicht mehr konnte. So schnell war er in seinem
+Leben nicht gegangen; ja, es schien ihm, als könne er gar nicht
+aufhören zu rennen; denn eine unsichtbare Gewalt schien ihn
+fortzureißen. Endlich bemerkte er, daß es mit den Pantoffeln eine
+eigene Bewandtnis haben müsse; denn diese schossen immer fort und
+führten ihn mit sich. Er versuchte auf allerlei Weise stillzustehen;
+aber es wollte nicht gelingen; da rief er in der höchsten Not, wie
+man den Pferden zuruft, sich selbst zu: "Oh--oh, halt, oh!" Da
+hielten die Pantoffeln, und Muck warf sich erschöpft auf die Erde
+nieder.
+
+Die Pantoffeln freuten ihn ungemein. So hatte er sich denn doch
+durch seine Verdienste etwas erworben, das ihm in der Welt auf seinem
+Weg das Glück zu suchen, forthelfen konnte. Er schlief trotz seiner
+Freude vor Erschöpfung ein; denn das Körperlein des kleinen Muck, das
+einen so schweren Kopf zu tragen hatte, konnte nicht viel aushalten.
+Im Traum erschien ihm das Hundlein, welches ihm im Hause der Frau
+Ahavzi zu den Pantoffeln verholfen hatte, und sprach zu ihm: "Lieber
+Muck, du verstehst den Gebrauch der Pantoffeln noch nicht recht;
+wisse, wenn du dich in ihnen dreimal auf dem Absatz herumdrehst, so
+kannst du hinfliegen, wohin du nur willst, und mit dem Stöcklein
+kannst du Schätze finden, denn wo Gold vergraben ist, da wird es
+dreimal auf die Erde schlagen, bei Silber zweimal." So träumte der
+kleine Muck. Als er aber aufwachte, dachte er über den wunderbaren
+Traum nach und beschloß, alsbald einen Versuch zu machen. Er zog die
+Pantoffeln an, lupfte einen Fuß und begann sich auf dem Absatz
+umzudrehen. Wer es aber jemals versucht hat, in einem ungeheuer
+weiten Pantoffel dieses Kunststück dreimal hintereinander zu machen,
+der wird sich nicht wundern, wenn es dem kleinen Muck nicht gleich
+glückte, besonders wenn man bedenkt, daß ihn sein schwerer Kopf bald
+auf diese, bald auf jene Seite hinüberzog.
+
+Der arme Kleine fiel einigemal tüchtig auf die Nase; doch ließ er
+sich nicht abschrecken, den Versuch zu wiederholen, und endlich
+glückte es. Wie ein Rad fuhr er auf seinem Absatz herum, wünschte
+sich in die nächste große Stadt, und--die Pantoffeln ruderten hinauf
+in die Lüfte, liefen mit Windeseile durch die Wolken, und ehe sich
+der kleine Muck noch besinnen konnte, wie ihm geschah, befand er sich
+schon auf einem großen Marktplatz, wo viele Buden aufgeschlagen waren
+und unzählige Menschen geschäftig hin und her liefen. Er ging unter
+den Leuten hin und her, hielt es aber für ratsamer, sich in eine
+einsamere Straße zu begeben; denn auf dem Markt trat ihm bald da
+einer auf die Pantoffeln, daß er beinahe umfiel, bald stieß er mit
+seinem weit hinausstehenden Dolch einen oder den anderen an, daß er
+mit Mühe den Schlägen entging.
+
+Der kleine Muck bedachte nun ernstlich, was er wohl anfangen könnte,
+um sich ein Stück Geld zu verdienen; er hatte zwar ein Stäblein, das
+ihm verborgene Schätze anzeigte, aber wo sollte er gleich einen Platz
+finden, wo Gold oder Silber vergraben wäre? Auch hätte er sich zur
+Not für Geld sehen lassen können; aber dazu war er doch zu stolz.
+Endlich fiel ihm die Schnelligkeit seiner Füße ein, "vielleicht",
+dachte er, "können mir meine Pantoffeln Unterhalt gewähren", und er
+beschloß, sich als Schnelläufer zu verdingen. Da er aber hoffen
+durfte, daß der König dieser Stadt solche Dienste am besten bezahle,
+so erfragte er den Palast. Unter dem Tor des Palastes stand eine
+Wache, die ihn fragte, was er hier zu suchen habe. Auf seine Antwort,
+daß er einen Dienst suche, wies man ihn zum Aufseher der Sklaven.
+Diesem trug er sein Anliegen vor und bat ihn, ihm einen Dienst unter
+den königlichen Boten zu besorgen. Der Aufseher maß ihn mit seinen
+Augen von Kopf bis zu den Füßen und sprach: "Wie, mit deinen Füßlein,
+die kaum so lang als eine Spanne sind, willst du königlicher
+Schnelläufer werden? Hebe dich weg, ich bin nicht dazu da, mit jedem
+Narren Kurzweil zu machen." Der kleine Muck versicherte ihm aber, daß
+es ihm vollkommen ernst sei mit seinem Antrag und daß er es mit dem
+Schnellsten auf eine Wette ankommen lassen wollte. Dem Aufseher kam
+die Sache gar lächerlich vor; er befahl ihm, sich bis auf den Abend
+zu einem Wettlauf bereitzuhalten, führte ihn in die Küche und sorgte
+dafür, daß ihm gehörig Speis' und Trank gereicht wurde; er selbst
+aber begab sich zum König und erzählte ihm vom kleinen Muck und
+seinem Anerbieten. Der König war ein lustiger Herr, daher gefiel es
+ihm wohl, daß der Aufseher der Sklaven den kleinen Menschen zu einem
+Spaß behalten habe, er befahl ihm, auf einer großen Wiese hinter dem
+Schloß Anstalten zu treffen, daß das Wettlaufen mit Bequemlichkeit
+von seinem ganzen Hofstaat könnte gesehen werden, und empfahl ihm
+nochmals, große Sorgfalt für den Zwerg zu haben. Der König erzählte
+seinen Prinzen und Prinzessinnen, was sie diesen Abend für ein
+Schauspiel haben würden, diese erzählten es wieder ihren Dienern, und
+als der Abend herankam, war man in gespannter Erwartung, und alles,
+was Füße hatte, strömte hinaus auf die Wiese, wo Gerüste
+aufgeschlagen waren, um den großsprecherischen Zwerg laufen zu sehen.
+
+Als der König und seine Söhne und Töchter auf dem Gerüst Platz
+genommen hatten, trat der kleine Muck heraus auf die Wiese und machte
+vor den hohen Herrschaften eine überaus zierliche Verbeugung. Ein
+allgemeines Freudengeschrei ertönte, als man des Kleinen ansichtig
+wurde; eine solche Figur hatte man dort noch nie gesehen. Das
+Körperlein mit dem mächtigen Kopf, das Mäntelein und die weiten
+Beinkleider, der lange Dolch in dem breiten Gürtel, die kleinen
+Füßlein in den weiten Pantoffeln--nein! Es war zu drollig anzusehen,
+als daß man nicht hätte laut lachen sollen. Der kleine Muck ließ
+sich aber durch das Gelächter nicht irremachen. Er stellte sich
+stolz, auf sein Stöcklein gestützt, hin und erwartete seinen Gegner.
+Der Aufseher der Sklaven hatte nach Mucks eigenem Wunsche den besten
+Läufer ausgesucht. Dieser trat nun heraus, stellte sich neben den
+Kleinen, und beide harrten auf das Zeichen. Da winkte Prinzessin
+Amarza, wie es ausgemacht war, mit ihrem Schleier, und wie zwei
+Pfeile, auf dasselbe Ziel abgeschossen, flogen die beiden Wettläufer
+über die Wiese hin.
+
+Von Anfang hatte Mucks Gegner einen bedeutenden Vorsprung, aber
+dieser jagte ihm auf seinem Pantoffelfuhrwerk nach, holte ihn ein,
+überfing ihn und stand längst am Ziele, als jener noch, nach Luft
+schnappend, daherlief. Verwunderung und Staunen fesselten einige
+Augenblicke die Zuschauer, als aber der König zuerst in die Hände
+klatschte, da jauchzte die Menge, und alle riefen: "Hoch lebe der
+kleine Muck, der Sieger im Wettlauf!"
+
+Man hatte indes den kleinen Muck herbeigebracht; er warf sich vor dem
+König nieder und sprach: "Großmächtigster König, ich habe dir hier
+nur eine kleine Probe meiner Kunst gegeben; wolle nur gestatten, daß
+man mir eine Stelle unter deinen Läufern gebe!"
+
+Der König aber antwortete ihm: "Nein, du sollst mein Leibläufer und
+immer um meine Person sein, lieber Muck, jährlich sollst du hundert
+Goldstücke erhalten als Lohn, und an der Tafel meiner ersten Diener
+sollst du speisen."
+
+So glaubte denn Muck, endlich das Glück gefunden zu haben, das er so
+lange suchte, und war fröhlich und wohlgemut in seinem Herzen. Auch
+erfreute er sich der besonderen Gnade des Königs, denn dieser
+gebrauchte ihn zu seinen schnellsten und geheimsten Sendungen, die er
+dann mit der größten Genauigkeit und mit unbegreiflicher Schnelle
+besorgte.
+
+Aber die übrigen Diener des Königs waren ihm gar nicht zugetan, weil
+sie sich ungern durch einen Zwerg, der nichts verstand, als schnell
+zu laufen, in der Gunst ihres Herrn zurückgesetzt sahen. Sie
+veranstalteten daher manche Verschwörung gegen ihn, um ihn zu stürzen;
+aber alle schlugen fehl an dem großen Zutrauen, das der König in
+seinen geheimen Oberleibläufer (denn zu dieser Würde hatte er es in
+so kurzer Zeit gebracht) setzte.
+
+Muck, dem diese Bewegungen gegen ihn nicht entgingen, sann nicht auf
+Rache, dazu hatte er ein zu gutes Herz, nein, auf Mittel dachte er,
+sich bei seinen Feinden notwendig und beliebt zu machen. Da fiel ihm
+sein Stäblein, das er in seinem Glück außer acht gelassen hatte, ein;
+wenn er Schätze finde, dachte er, würden ihm die Herren schon
+geneigter werden. Er hatte schon oft gehört, daß der Vater des
+jetzigen Königs viele seiner Schätze vergraben habe, als der Feind
+sein Land überfallen; man sagte auch, er sei darüber gestorben, ohne
+daß er sein Geheimnis habe seinem Sohn mitteilen können. Von nun an
+nahm Muck immer sein Stöcklein mit, in der Hoffnung, einmal an einem
+Ort vorüberzugehen, wo das Geld des alten Königs vergraben sei.
+Eines Abends führte ihn der Zufall in einen entlegenen Teil des
+Schloßgartens, den er wenig besuchte, und plötzlich fühlte er das
+Stöcklein in seiner Hand zucken, und dreimal schlug es gegen den
+Boden. Nun wußte er schon, was dies zu bedeuten hatte. Er zog daher
+seinen Dolch heraus, machte Zeichen in die umstellenden Bäume und
+schlich sich wieder in das Schloß; dort verschaffte er sich einen
+Spaten und wartete die Nacht zu seinem Unternehmen ab.
+
+Das Schatzgraben selbst machte übrigens dem kleinen Muck mehr zu
+schaffen, als er geglaubt hatte.
+
+Seine Arme waren gar zu schwach, sein Spaten aber groß und schwer;
+und er mochte wohl schon zwei Stunden gearbeitet haben, ehe er ein
+paar Fuß tief gegraben hatte. Endlich stieß er auf etwas Hartes, das
+wie Eisen klang. Er grub jetzt emsiger, und bald hatte er einen
+großen eisernen Deckel zutage gefördert; er stieg selbst in die Grube
+hinab, um nachzuspähen, was wohl der Deckel könnte bedeckt haben, und
+fand richtig einen großen Topf, mit Goldstücken angefüllt. Aber
+seine schwachen Kräfte reichten nicht hin, den Topf zu heben, daher
+steckte er in seine Beinkleider und seinen Gürtel, so viel er zu
+tragen vermochte, und auch sein Mäntelein füllte er damit, bedeckte
+das übrige wieder sorgfältig und lud es auf den Rücken. Aber
+wahrlich, wenn er die Pantoffeln nicht an den Füßen gehabt hätte, er
+wäre nicht vom Fleck gekommen, so zog ihn die Last des Goldes nieder.
+Doch unbemerkt kam er auf sein Zimmer und verwahrte dort sein Gold
+unter den Polstern seines Sofas.
+
+Als der kleine Muck sich im Besitz so vielen Goldes sah, glaubte er,
+das Blatt werde sich jetzt wenden und er werde sich unter seinen
+Feinden am Hofe viele Gönner und warme Anhänger erwerben. Aber schon
+daran konnte man erkennen, daß der gute Muck keine gar sorgfältige
+Erziehung genossen haben mußte, sonst hätte er sich wohl nicht
+einbilden können, durch Gold wahre Freunde zu gewinnen. Ach, daß er
+damals seine Pantoffeln geschmiert und sich mit seinem Mäntelein voll
+Gold aus dem Staub gemacht hätte!
+
+Das Gold, das der kleine Muck von jetzt an mit vollen Händen
+austeilte, erweckte den Neid der übrigen Hofbediensteten. Der
+Küchenmeister Ahuli sagte: "Er ist ein Falschmünzer."
+
+Der Sklavenaufseher Achmet sagte: "Er hat's dem König abgeschwatzt."
+
+Archaz, der Schatzmeister, aber, sein ärgster Feind, der selbst hier
+und da einen Griff in des Königs Kasse tun mochte, sagte geradezu:
+"Er hat's gestohlen."
+
+Um nun ihrer Sache gewiß zu sein, verabredeten sie sich, und der
+Obermundschenk Korchuz stellte sich eines Tages recht traurig und
+niedergeschlagen vor die Augen des Königs. Er machte seine traurigen
+Gebärden so auffallend, daß ihn der König fragte, was ihm fehle.
+
+"Ah", antwortete er, "ich bin traurig, daß ich die Gnade meines Herrn
+verloren habe."
+
+"Was fabelst du, Freund Korchuz?" entgegnete ihm der König. "Seit
+wann hätte ich die Sonne meiner Gnade nicht über dich leuchten
+lassen?" Der Obermundschenk antwortete ihm, daß er ja den geheimen
+Oberleibläufer mit Gold belade, seinen armen, treuen Dienern aber
+nichts gebe.
+
+Der König war sehr erstaunt über diese Nachricht, ließ sich die
+Goldausteilungen des kleinen Muck erzählen, und die Verschworenen
+brachten ihm leicht den Verdacht bei, daß Muck auf irgendeine Art das
+Geld aus der Schatzkammer gestohlen habe. Sehr lieb war diese
+Wendung der Sache dem Schatzmeister, der ohnehin nicht gerne Rechnung
+ablegte. Der König gab daher den Befehl, heimlich auf alle Schritte
+des kleinen Muck achtzugeben, um ihn womöglich auf der Tat zu
+ertappen. Als nun in der Nacht, die auf diesen Unglückstag folgte,
+der kleine Muck, da er durch seine Freigebigkeit seine Kasse sehr
+erschöpft sah, den Spaten nahm und in den Schloßgarten schlich, um
+dort von seinem geheimen Schatze neuen Vorrat zu holen, folgten ihm
+von weitem die Wachen, von dem Küchenmeister Ahuli und Archaz, dem
+Schatzmeister, angeführt, und in dem Augenblick, da er das Gold aus
+dem Topf in sein Mäntelein legen wollte, fielen sie über ihn her,
+banden ihn und führten ihn sogleich vor den König. Dieser, den
+ohnehin die Unterbrechung seines Schlafes mürrisch gemacht hatte,
+empfing seinen armen Oberleibläufer sehr ungnädig und stellte
+sogleich das Verhör über ihn an. Man hatte den Topf vollends aus der
+Erde gegraben und mit dem Spaten und mit dem Mäntelein voll Gold vor
+die Füße des Königs gesetzt. Der Schatzmeister sagte aus, daß er mit
+seinen Wachen den Muck überrascht habe, wie er diesen Topf mit Gold
+gerade in die Erde gegraben habe.
+
+Der König befragte hierauf den Angeklagten, ob es wahr sei und woher
+er das Gold, das er vergraben, bekommen habe.
+
+Der kleine Muck, im Gefühl seiner Unschuld, sagte aus, daß er diesen
+Topf im Garten entdeckt habe, daß er ihn habe nicht ein-, sondern
+ausgraben wollen.
+
+Alle Anwesenden lachten laut über diese Entschuldigung, der König
+aber, aufs höchste erzürnt über die vermeintliche Frechheit des
+Kleinen, rief aus: "Wie, Elender! Du willst deinen König so dumm und
+schändlich belügen, nachdem du ihn bestohlen hast? Schatzmeister
+Archaz! Ich fordere dich auf, zu sagen, ob du diese Summe Goldes für
+die nämliche erkennst, die in meinem Schatze fehlt."
+
+Der Schatzmeister aber antwortete, er sei seiner Sache ganz gewiß, so
+viel und noch mehr fehle seit einiger Zeit von dem königlichen Schatz,
+und er könne einen Eid darauf ablegen, daß dies das Gestohlene sei.
+
+Da befahl der König, den kleinen Muck in enge Ketten zu legen und in
+den Turm zu führen; dem Schatzmeister aber übergab er das Gold, um es
+wieder in den Schatz zu tragen. Vergnügt über den glücklichen
+Ausgang der Sache, zog dieser ab und zählte zu Haus die blinkenden
+Goldstücke; aber das hat dieser schlechte Mann niemals angezeigt, daß
+unten in dem Topf ein Zettel lag, der sagte: "Der Feind hat mein Land
+überschwemmt, daher verberge ich hier einen Teil meiner Schätze; wer
+es auch finden mag, den treffe der Fluch seines Königs, wenn er es
+nicht sogleich meinem Sohne ausliefert! König Sadi."
+
+Der kleine Muck stellte in seinem Kerker traurige Betrachtungen an;
+er wußte, daß auf Diebstahl an königlichen Sachen der Tod gesetzt war,
+und doch mochte er das Geheimnis mit dem Stäbchen dem König nicht
+verraten, weil er mit Recht fürchtete, dieses und seiner Pantoffeln
+beraubt zu werden. Seine Pantoffeln konnten ihm leider auch keine
+Hilfe bringen; denn da er in engen Ketten an die Mauer geschlossen
+war, konnte er, so sehr er sich quälte, sich nicht auf dem Absatz
+umdrehen. Als ihm aber am anderen Tage sein Tod angekündigt wurde,
+da gedachte er doch, es sei besser, ohne das Zauberstäbchen zu leben
+als mit ihm zu sterben, ließ den König um geheimes Gehör bitten und
+entdeckte ihm das Geheimnis. Der König maß von Anfang an seinem
+Geständnis keinen Glauben bei; aber der kleine Muck versprach eine
+Probe, wenn ihm der König zugestünde, daß er nicht getötet werden
+solle.
+
+Der König gab ihm sein Wort darauf und ließ, von Muck ungesehen,
+einiges Gold in die Erde graben und befahl diesem, mit seinem
+Stäbchen zu suchen. In wenigen Augenblicken hatte er es gefunden;
+denn das Stäbchen schlug deutlich dreimal auf die Erde. Da merkte
+der König, daß ihn sein Schatzmeister betrogen hatte, und sandte ihm,
+wie es im Morgenland gebräuchlich ist, eine seidene Schnur, damit er
+sich selbst erdroßle. Zum kleinen Muck aber sprach er: "Ich habe dir
+zwar dein Leben versprochen; aber es scheint mir, als ob du nicht
+allein dieses Geheimnis mit dem Stäbchen besitzest; darum bleibst du
+in ewiger Gefangenschaft, wenn du nicht gestehst, was für eine
+Bewandtnis es mit deinem Schnellaufen hat." Der kleine Muck, den die
+einzige Nacht im Turm alle Lust zu längerer Gefangenschaft benommen
+hatte, bekannte, daß seine ganze Kunst in den Pantoffeln liege, doch
+lehrte er den König nicht das Geheimnis von dem dreimaligen Umdrehen
+auf dem Absatz. Der König schlüpfte selbst in die Pantoffeln, um die
+Probe zu machen, und jagte wie unsinnig im Garten umher; oft wollte
+er anhalten; aber er wußte nicht, wie man die Pantoffeln zum Stehen
+brachte, und der kleine Muck, der diese kleine Rache sich nicht
+versagen konnte, ließ ihn laufen, bis er ohnmächtig niederfiel.
+
+Als der König wieder zur Besinnung zurückgekehrt war, war er
+schrecklich aufgebracht über den kleinen Muck, der ihn so ganz außer
+Atem hatte laufen lassen. "Ich habe dir mein Wort gegeben, dir
+Freiheit und Leben zu schenken; aber innerhalb zwölf Stunden mußt du
+mein Land verlassen, sonst lasse ich dich aufknöpfen!" Die Pantoffeln
+und das Stäbchen aber ließ er in seine Schatzkammer legen.
+
+So arm als je wanderte der kleine Muck zum Land hinaus, seine Torheit
+verwünschend, die ihm vorgespiegelt hatte, er könne eine bedeutende
+Rolle am Hofe spielen. Das Land, aus dem er gejagt wurde, war zum
+Glück nicht groß, daher war er schon nach acht Stunden auf der Grenze,
+obgleich ihn das Gehen, da er an seine lieben Pantoffeln gewöhnt war,
+sehr sauer ankam.
+
+Als er über der Grenze war, verließ er die gewöhnliche Straße, um die
+dichteste Einöde der Wälder aufzusuchen und dort nur sich zu leben;
+denn er war allen Menschen gram. In einem dichten Walde traf er auf
+einen Platz, der ihm zu dem Entschluß, den er gefaßt hatte, ganz
+tauglich schien. Ein klarer Bach, von großen, schattigen
+Feigenbäumen umgeben, ein weicher Rasen luden ihn ein; hier warf er
+sich nieder mit dem Entschluß, keine Speise mehr zu sich zu nehmen,
+sondern hier den Tod zu erwarten. Über traurigen
+Todesbetrachtungen schlief er ein; als er aber wieder aufwachte und
+der Hunger ihn zu quälen anfing, bedachte er doch, daß der Hungertod
+eine gefährliche Sache sei, und sah sich um, ob er nirgends etwas zu
+essen bekommen könnte.
+
+Köstliche reife Feigen hingen an dem Baume, unter welchem er
+geschlafen hatte; er stieg hinauf, um sich einige zu pflücken, ließ
+es sich trefflich schmecken und ging dann hinunter an den Bach, um
+seinen Durst zu löschen. Aber wie groß war sein Schrecken, als ihm
+das Wasser seinen Kopf mit zwei gewaltigen Ohren und einer dicken,
+langen Nase geschmückt zeigte! Bestürzt griff er mit den Händen nach
+den Ohren, und wirklich, sie waren über eine halbe Elle lang.
+
+"Ich verdiene Eselsohren!" rief er aus; "denn ich habe mein Glück wie
+ein Esel mit Füßen getreten." Er wanderte unter den Bäumen umher, und
+als er wieder Hunger fühlte, mußte er noch einmal zu den Feigen seine
+Zuflucht nehmen; denn sonst fand er nichts Eßbares an den Bäumen.
+Als ihm über der zweiten Portion Feigen einfiel, ob wohl seine Ohren
+nicht unter seinem großen Turban Platz hätten, damit er doch nicht
+gar zu lächerlich aussehe, fühlte er, daß seine Ohren verschwunden
+waren. Er lief gleich an den Bach zurück, um sich davon zu
+überzeugen, und wirklich, es war so, seine Ohren hatten ihre vorige
+Gestalt, seine lange, unförmliche Nase war nicht mehr. Jetzt merkte
+er aber, wie dies gekommen war; von dem ersten Feigenbaum hatte er
+die lange Nase und Ohren bekommen, der zweite hatte ihn geheilt;
+freudig erkannte er, daß sein gütiges Geschick ihm noch einmal die
+Mittel in die Hand gebe, glücklich zu sein. Er pflückte daher von
+jedem Baum so viel, wie er tragen konnte, und ging in das Land zurück,
+das er vor kurzem verlassen hatte. Dort machte er sich in dem
+ersten Städtchen durch andere Kleider ganz unkenntlich und ging dann
+weiter auf die Stadt zu, die jener König bewohnte, und kam auch bald
+dort an.
+
+Es war gerade zu einer Jahreszeit, wo reife Früchte noch ziemlich
+selten waren; der kleine Muck setzte sich daher unter das Tor des
+Palastes; denn ihm war von früherer Zeit her wohl bekannt, daß hier
+solche Seltenheiten von dem Küchenmeister für die königliche Tafel
+eingekauft wurden. Muck hatte noch nicht lange gesessen, als er den
+Küchenmeister über den Hof herüberschreiten sah. Er musterte die
+Waren der Verkäufer, die sich am Tor des Palastes eingefunden hatten;
+endlich fiel sein Blick auch auf Mucks Körbchen. "Ah, ein seltener
+Bissen", sagte er, "der Ihro Majestät gewiß behagen wird. Was willst
+du für den ganzen Korb?" Der kleine Muck bestimmte einen mäßigen
+Preis, und sie waren bald des Handels einig. Der Küchenmeister
+übergab den Korb einem Sklaven und ging weiter; der kleine Muck aber
+macht sich einstweilen aus dem Staub, weil er befürchtete, wenn sich
+das Unglück an den Köpfen des Hofes zeigte, möchte man ihn als
+Verkäufer aufsuchen und bestrafen.
+
+Der König war über Tisch sehr heiter gestimmt und sagte seinem
+Küchenmeister einmal über das andere Lobsprüche wegen seiner guten
+Küche und der Sorgfalt, mit der er immer das Seltenste für ihn
+aussuche; der Küchenmeister aber, welcher wohl wußte, welchen
+Leckerbissen er noch im Hintergrund habe, schmunzelte gar freundlich
+und ließ nur einzelne Worte fallen, als: "Es ist noch nicht aller
+Tage Abend", oder "Ende gut, alles gut", so daß die Prinzessinnen
+sehr neugierig wurden, was er wohl noch bringen werde. Als er aber
+die schönen, einladenden Feigen aufsetzen ließ, da entfloh ein
+allgemeines Ah! dem Munde der Anwesenden.
+
+"Wie reif, wie appetitlich!" rief der König. "Küchenmeister, du bist
+ein ganzer Kerl und verdienst unsere ganz besondere Gnade!" Also
+sprechend, teilte der König, der mit solchen Leckerbissen sehr
+sparsam zu sein pflegte, mit eigener Hand die Feigen an seiner Tafel
+aus. Jeder Prinz und jede Prinzessin bekam zwei, die Hofdamen und
+die Wesire und Agas eine, die übrigen stellte er vor sich hin und
+begann mit großem Behagen sie zu verschlingen.
+
+"Aber, lieber Gott, wie siehst du so wunderlich aus, Vater?" rief auf
+einmal die Prinzessin Amarza. Alle sahen den König erstaunt an;
+ungeheure Ohren hingen ihm am Kopf, eine lange Nase zog sich über
+sein Kinn herunter; auch sich selbst betrachteten sie untereinander
+mit Staunen und Schrecken; alle waren mehr oder minder mit dem
+sonderbaren Kopfputz geschmeckt.
+
+Man denke sich den Schrecken des Hofes! Man schickte sogleich nach
+allen Ärzten der Stadt; sie kamen haufenweise, verordneten Pillen und
+Mixturen; aber die Ohren und die Nasen blieben. Man operierte einen
+der Prinzen; aber die Ohren wuchsen nach.
+
+Muck hatte die ganze Geschichte in seinem Versteck, wohin er sich
+zurückgezogen hatte, gehört und erkannte, daß es jetzt Zeit sei zu
+handeln. Er hatte sich schon vorher von dem aus den Feigen gelösten
+Geld einen Anzug verschafft, der ihn als Gelehrten darstellen konnte;
+ein langer Bart aus Ziegenhaaren vollendete die Täuschung. Mit einem
+Säckchen voll Feigen wanderte er in den Palast des Königs und bot als
+fremder Arzt seine Hilfe an. Man war von Anfang sehr ungläubig; als
+aber der kleine Muck eine Feige einem der Prinzen zu essen gab und
+Ohren und Nase dadurch in den alten Zustand zurückbrachte, da wollte
+alles von dem fremden Arzte geheilt sein. Aber der König nahm ihn
+schweigend bei der Hand und führte ihn in sein Gemach; dort schloß er
+eine Türe auf, die in die Schatzkammer führte, und winkte Muck, ihm
+zu folgen. "Hier sind meine Schätze", sprach der König, "wähle dir,
+was es auch sei, es soll dir gewährt werden, wenn du mich von diesem
+schmachvollen Übel befreist."
+
+Das war süße Musik in des kleinen Muck Ohren; er hatte gleich beim
+Eintritt seine Pantoffeln auf dem Boden stehen sehen, gleich daneben
+lag auch sein Stäbchen. Er ging nun umher in dem Saal, wie wenn er
+die Schätze des Königs bewundern wollte; kaum aber war er an seine
+Pantoffeln gekommen, so schlüpfte er eilends hinein, ergriff sein
+Stäbchen, riß seinen falschen Bart herab und zeigte dem erstaunten
+König das wohlbekannte Gesicht seines verstoßenen Muck. "Treuloser
+König", sprach er, "der du treue Dienste mit Undank lohnst, nimm als
+wohlverdiente Strafe die Mißgestalt, die du trägst. Die Ohren laß
+ich dir zurück, damit sie dich täglich erinnern an den kleinen Muck."
+Als er so gesprochen hatte, drehte er sich schnell auf dem Absatz
+herum, wünschte sich weit hinweg, und ehe noch der König um Hilfe
+rufen konnte, war der kleine Muck entflohen. Seitdem lebt der kleine
+Muck hier in großem Wohlstand, aber einsam; denn er verachtet die
+Menschen. Er ist durch Erfahrung ein weiser Mann geworden, welcher,
+wenn auch sein Äußeres etwas Auffallendes haben mag, deine
+Bewunderung mehr als deinen Spott verdient.
+
+"So erzählte mir mein Vater; ich bezeugte ihm meine Reue über mein
+rohes Betragen gegen den guten kleinen Mann, und mein Vater schenkte
+mir die andere Hälfte der Strafe, die er mir zugedacht hatte. Ich
+erzählte meinen Kameraden die wunderbaren Schicksale des Kleinen, und
+wir gewannen ihn so lieb, daß ihn keiner mehr schimpfte. Im
+Gegenteil, wir ehrten ihn, solange er lebte, und haben uns vor ihm
+immer so tief wie vor Kadi und Mufti gebückt."
+
+Die Reisenden beschlossen, einen Rasttag in dieser Karawanserei zu
+machen, um sich und die Tiere zur weiteren Reise zu stärken. Die
+gestrige Fröhlichkeit ging auch auf diesen Tag über, und sie
+ergötzten sich in allerlei Spielen. Nach dem Essen aber riefen sie
+dem fünften Kaufmann, Ali Sizah, zu, auch seine Schuldigkeit gleich
+den übrigen zu tun und eine Geschichte zu erzählen. Er antwortete,
+sein Leben sei zu arm an auffallenden Begebenheiten, als daß er ihnen
+etwas davon mitteilen möchte, daher wolle er ihnen etwas anderes
+erzählen, nämlich: Das Märchen vom falschen Prinzen.
+
+
+
+
+Das Märchen vom falschen Prinzen
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Es war einmal ein ehrsamer Schneidergeselle, namens Labakan, der bei
+einem geschickten Meister in Alessandria sein Handwerk lernte. Man
+konnte nicht sagen, daß Labakan ungeschickt mit der Nadel war, im
+Gegenteil, er konnte recht feine Arbeit machen. Auch tat man ihm
+unrecht, wenn man ihn geradezu faul schalt; aber ganz richtig war es
+doch nicht mit dem Gesellen, denn er konnte oft stundenweis in einem
+fort nähen, daß ihm die Nadel in der Hand glühend ward und der Faden
+rauchte, da gab es ihm dann ein Stück wie keinem anderen; ein
+andermal aber, und dies geschah leider öfters, saß er in tiefen
+Gedanken, sah mit starren Augen vor sich hin und hatte dabei in
+Gesicht und Wesen etwas so Eigenes, daß sein Meister und die übrigen
+Gesellen von diesem Zustand nie anders sprachen als: "Labakan hat
+wieder sein vornehmes Gesicht."
+
+Am Freitag aber, wenn andere Leute vom Gebet ruhig nach Haus an ihre
+Arbeit gingen, trat Labakan in einem schönen Kleid, das er sich mit
+vieler Mühe zusammengespart hatte, aus der Moschee, ging langsam und
+stolzen Schrittes durch die Plätze und Straßen der Stadt, und wenn
+ihm einer seiner Kameraden ein "Friede sei mit dir", oder "Wie geht
+es, Freund Labakan?" bot, so winkte er gnädig mit der Hand oder
+nickte, wenn es hoch kam, vornehm mit dem Kopf. Wenn dann sein
+Meister im Spaß zu ihm sagte: "An dir ist ein Prinz verlorengegangen,
+Labakan", so freute er sich darüber und antwortete: "Habt Ihr das
+auch bemerkt?" oder: "Ich habe es schon lange gedacht!"
+
+So trieb es der ehrsame Schneidergeselle Labakan schon eine geraume
+Zeit, sein Meister aber duldete seine Narrheit, weil er sonst ein
+guter Mensch und geschickter Arbeiter war. Aber eines Tages schickte
+Selim, der Bruder des Sultans, der gerade durch Alessandria reiste,
+ein Festkleid zu dem Meister, um einiges daran verändern zu lassen,
+und der Meister gab es Labakan, weil dieser die feinste Arbeit machte.
+Als abends der Meister und die Gesellen sich hinwegbegeben hatten,
+um nach des Tages Last sich zu erholen, trieb eine unwiderstehliche
+Sehnsucht Labakan wieder in die Werkstatt zurück, wo das Kleid des
+kaiserlichen Bruders hing. Er stand lange sinnend davor, bald den
+Glanz der Stickerei, bald die schillernden Farben des Samts und der
+Seide an dem Kleide bewundernd. Er konnte nicht anders, er mußte es
+anziehen, und siehe da, es paßte ihm so trefflich, wie wenn es für
+ihn wäre gemacht worden. "Bin ich nicht so gut ein Prinz als einer?"
+fragte er sich, indem er im Zimmer auf und ab schritt. "Hat nicht
+der Meister selbst schon gesagt, daß ich zum Prinzen geboren sei?"
+Mit den Kleidern schien der Geselle eine ganz königliche Gesinnung
+angezogen zu haben; er konnte sich nicht anders denken, als er sei
+ein unbekannter Königssohn, und als solcher beschloß er, in die Welt
+zu reisen und einen Ort zu verlassen, wo die Leute bisher so töricht
+gewesen waren, unter der Hülle seines niederen Standes nicht seine
+angebotene Würde zu erkennen. Das prachtvolle Kleid schien ihm von
+einer gütigen Fee geschickt, er hütete sich daher wohl, ein so teures
+Geschenk zu verschmähen, steckte seine geringe Barschaft zu sich und
+wanderte, begünstigt von dem Dunkel der Nacht, aus Alessandrias Toren.
+
+Der neue Prinz erregte überall auf seiner Wanderschaft Verwunderung,
+denn das prachtvolle Kleid und sein ernstes, majestätisches Wesen
+wollten gar nicht passen für einen Fußgänger. Wenn man ihn darüber
+befragte, pflegte er mit geheimnisvoller Miene zu antworten, daß das
+seine eigenen Ursachen habe. Als er aber merkte, daß er sich durch
+seine Fußwanderungen lächerlich machte, kaufte er um geringen Preis
+ein altes Roß, welches sehr für ihn paßte, da es ihn mit seiner
+gesetzten Ruhe und Sanftmut nie in die Verlegenheit brachte, sich als
+geschickter Reiter zeigen zu müssen, was gar nicht seine Sache war.
+
+Eines Tages, als er Schritt vor Schritt auf seinem Murva, so hatte er
+sein Roß genannt,; seine Straße zog, schloß sich ein Reiter an ihn an
+und bat ihn, in seiner Gesellschaft reiten zu dürfen, weil ihm der
+Weg viel kürzer werde im Gespräch mit einem anderen. Der Reiter war
+ein fröhlicher, junger Mann, schön und angenehm im Umgang. Er hatte
+mit Labakan bald ein Gespräch angeknüpft über Woher und Wohin, und es
+traf sich, daß auch er, wie der Schneidergeselle, ohne Plan in die
+Welt hinauszog. Er sagte, er heiße Omar, sei der Neffe Elfi Beys,
+des unglücklichen Bassas von Kairo, und reise nun umher, um einen
+Auftrag, den ihm sein Oheim auf dem Sterbebette erteilt habe,
+auszurichten. Labakan ließ sich nicht so offenherzig über seine
+Verhältnisse aus, er gab ihm zu verstehen, daß er von hoher Abkunft
+sei und zu seinem Vergnügen reise.
+
+Die beiden jungen Herren fanden Gefallen aneinander und zogen fürder.
+Am zweiten Tage ihrer gemeinschaftlichen Reise fragte Labakan seinen
+Gefährten Omar nach den Aufträgen, die er zu besorgen habe, und
+erfuhr zu seinem Erstaunen folgendes: Elfi Bey, der Bassa von Kairo,
+hatte den Omar seit seiner frühesten Kindheit erzogen, und dieser
+hatte seine Eltern nie gekannt. Als nun Elfi Bey von seinen Feinden
+überfallen worden war und nach drei unglücklichen Schlachten, tödlich
+verwundet, fliehen mußte, entdeckte er seinem Zögling, daß er nicht
+sein Neffe sei, sondern der Sohn eines mächtigen Herrschers, welcher
+aus Furcht vor den Prophezeiungen seiner Sterndeuter den jungen
+Prinzen von seinem Hofe entfernt habe, mit dem Schwur, ihn erst an
+seinem zweiundzwanzigsten Geburtstage wiedersehen zu wollen. Elfi
+Bey habe ihm den Namen seines Vaters nicht genannt, sondern ihm nur
+aufs bestimmteste aufgetragen, am fünften Tage des kommenden Monats
+Ramadan, an welchem Tage er zweiundzwanzig Jahre alt werde, sich an
+der berühmten Säule El-Serujah, vier Tagreisen östlich von
+Alessandria, einzufinden; dort soll er den Männern, die an der Säule
+stehen würden, einen Dolch, den er ihm gab, überreichen mit den
+Worten: "leer bin ich, den ihr suchet"; wenn sie antworteten: "Gelobt
+sei der Prophet, der dich erhielt!", so solle er ihnen folgen, sie
+würden ihn zu seinem Vater führen.
+
+Der Schneidergeselle Labakan war sehr erstaunt über diese Mitteilung,
+er betrachtete von jetzt an den Prinzen Omar mit neidischen Augen,
+erzürnt darüber, daß das Schicksal jenem, obgleich er schon für den
+Neffen eines mächtigen Bassa galt, noch die Würde eines Fürstensohnes
+verliehen, ihm aber, den es mit allem, was einem Prinzen nottut,
+ausgerüstet, gleichsam zum Hohn eine dunkle Geburt und einen
+gewöhnlichen Lebensweg verliehen habe. Er stellte Vergleichungen
+zwischen sich und dem Prinzen an. Er mußte sich gestehen, es sei
+jener ein Mann von sehr vorteilhafter Gesichtsbildung; schöne,
+lebhafte Augen, eine kühngebogene Nase, ein sanftes, zuvorkommendes
+Benehmen, kurz, so viele Vorzüge des Äußeren, die jemand empfehlen
+können, waren jenem eigen. Aber so viele Vorzüge er auch an seinem
+Begleiter fand, so gestand er sich doch bei diesen Beobachtungen, daß
+ein Labakan dem fürstlichen Vater wohl noch willkommener sein dürfte
+als der wirkliche Prinz.
+
+Diese Betrachtungen verfolgten Labakan den ganzen Tag, mit ihnen
+schlief er im nächsten Nachtlager ein, aber als er morgens aufwachte
+und sein Blick auf den neben ihm schlafenden Omar fiel, der so ruhig
+schlafen und von seinem gewissen Glück träumen konnte, da erwachte in
+ihm der Gedanke, sich durch List oder Gewalt zu erstreben, was ihm
+das ungünstige Schicksal versagt hatte. Der Dolch, das
+Erkennungszeichen des heimkehrenden Prinzen, sah aus dem Gürtel des
+Schlafenden hervor, leise zog er ihn hervor, um ihn in die Brust des
+Eigentümers zu stoßen. Doch vor dem Gedanken des Mordes entsetzte
+sich die friedfertige Seele des Gesellen; er begnügte sich, den Dolch
+zu sich zu stecken, das schnellere Pferd des Prinzen für sich
+aufzäumen zu lassen, und ehe Omar aufwachte und sich aller seiner
+Hoffnungen beraubt sah, hatte sein treuloser Gefährte schon einen
+Vorsprung von mehreren Meilen.
+
+Es war gerade der erste Tag des heiligen Monats Ramadan, an welchem
+Labakan den Raub an dem Prinzen begangen hatte, und er hatte also
+noch vier Tage, um zu der Säule El Serujah, welche ihm wohlbekannt
+war, zu gelangen. Obgleich die Gegend, worin sich diese Säule befand,
+höchstens noch zwei Tagreisen entfernt sein konnte, so beeilte er
+sich doch hinzukommen, weil er immer fürchtete, von dem wahren
+Prinzen eingeholt zu werden.
+
+Am Ende des zweiten Tages erblickte Labakan die Säule El-Serujah.
+Sie stand auf einer kleinen Anhöhe in einer weiten Ebene und konnte
+auf zwei bis drei Stunden gesehen werden. Labakans Herz pochte
+lauter bei diesem Anblick; obgleich er die letzten zwei Tage hindurch
+Zeit genug gehabt, über die Rolle, die er zu spielen hatte,
+nachzudenken, so machte ihn doch das böse Gewissen etwas ängstlich,
+aber der Gedanke, daß er zum Prinzen geboren sei, stärkte ihn wieder,
+so daß er getrösteter seinem Ziele entgegenging.
+
+Die Gegend um die Säule El-Serujah war unbewohnt und öde, und der
+neue Prinz wäre wegen seines Unterhalts etwas in Verlegenheit
+gekommen, wenn er sich nicht auf mehrere Tage versehen hätte. Er
+lagerte sich also neben seinem Pferd unter einigen Palmen und
+erwartete dort sein ferneres Schicksal.
+
+Gegen die Mitte des anderen Tages sah er einen großen Zug von Pferden
+und Kamelen über die Ebene her auf die Säule El-Serujah zuziehen.
+Der Zug hielt am Fuße des Hügels, auf welchem die Säule stand, man
+schlug prächtige Zelte auf, und das Ganze sah aus wie der Reisezug
+eines reichen Bassa oder Scheik. Labakan ahnte, daß die vielen Leute,
+welche er sah, sich seinetwegen hierher bemüht hatten, und hätte
+ihnen gerne schon heute ihren künftigen Gebieter gezeigt; aber er
+mäßigte seine Begierde, als Prinz aufzutreten, da ja doch der nächste
+Morgen seine kühnsten Wünsche vollkommen befriedigen mußte.
+
+Die Morgensonne weckte den überglücklichen Schneider zu dem
+wichtigsten Augenblick seines Lebens, welcher ihn aus einem niederen,
+unbekannten Sterblichen an die Seite eines fürstlichen Vaters erheben
+sollte; zwar fiel ihm, als er sein Pferd aufzäumte, um zu der Säule
+hinzureiten, wohl auch das Unrechtmäßige seines Schrittes ein; zwar
+führten ihm seine Gedanken den Schmerz des in seinen schönen
+Hoffnungen betrogenen Fürstensohnes vor, aber--der Würfel war
+geworfen, er konnte nicht mehr ungeschehen machen, was geschehen war,
+und seine Eigenliebe flüsterte ihm zu, daß er stattlich genug aussehe,
+um dem mächtigsten König sich als Sohn vorzustellen; ermutigt durch
+diesen Gedanken, schwang er sich auf sein Roß, nahm alle seine
+Tapferkeit zusammen, um es in einen ordentlichen Galopp zu bringen,
+und in weniger als einer Viertelstunde war er am Fuße des Hügels
+angelangt. Er stieg ab von seinem Pferd und band es an eine Staude,
+deren mehrere an dem Hügel wuchsen; hierauf zog er den Dolch des
+Prinzen Omar hervor und stieg den Hügel hinan. Am Fuß der Säule
+standen sechs Männer um einen Greis von hohem, königlichem Ansehen;
+ein prachtvoller Kaftan von Goldstoff, mit einem weißen Kaschmirschal
+umgürtet, der weiße, mit blitzenden Edelsteinen geschmückte Turban
+bezeichneten ihn als einen Mann von Reichtum und Würde.
+
+Auf ihn ging Labakan zu, neigte sich tief vor ihm und sprach, indem
+er den Dolch darreichte: "Hier bin ich, den Ihr suchet. "
+
+"Gelobt sei der Prophet, der dich erhielt!" antwortete der Greis mit
+Freudentränen. "Umarme deinen alten Vater, mein geliebter Sohn Omar!"
+Der gute Schneider war sehr gerührt durch diese feierlichen Worte
+und sank mit einem Gemisch von Freude und Scham in die Arme des alten
+Fürsten.
+
+Aber nur einen Augenblick sollte er ungetrübt die Wonne seines neuen
+Standes genießen; als er sich aus den Armen des fürstlichen Greises
+aufrichtete, sah er einen Reiter über die Ebene her auf den Hügel
+zueilen. Der Reiter und sein Roß gewährten einen sonderbaren Anblick;
+das Roß schien aus Eigensinn oder Müdigkeit nicht vorwärts zu wollen,
+in einem stolpernden Gang, der weder Schritt noch Trab war, zog es
+daher, der Reiter aber trieb es mit Händen und Füßen zu schnellerem
+Laufe an. Nur zu bald erkannte Labakan sein Roß Murva und den echten
+Prinzen Omar, aber der böse Geist der Lüge war einmal in ihn gefahren,
+und er beschloß, wie es auch kommen möge, mit eiserner Stirne seine
+angemaßten Rechte zu behaupten.
+
+Schon aus der Ferne hatte man den Reiter winken gesehen; jetzt war er
+trotz des schlechten Trabes des Rosses Murva am Fuße des Hügels
+angekommen, warf sich vom Pferd und stürzte den Hügel hinan. "Haltet
+ein!" rief er. "Wer ihr auch sein möget, haltet ein und laßt euch
+nicht von dem schändlichsten Betrüger täuschen; ich heiße Omar, und
+kein Sterblicher wage es, meinen Namen zu mißbrauchen!"
+
+Auf den Gesichtern der Umstehenden malte sich tiefes Erstaunen über
+diese Wendung der Dinge; besonders schien der Greis sehr betroffen,
+indem er bald den einen, bald den anderen fragend ansah; Labakan aber
+sprach mit mühsam errungener Ruhe: "Gnädigster Herr und Vater, laßt
+Euch nicht irremachen durch diesen Menschen da! Es ist, soviel ich
+weiß, ein wahnsinniger Schneidergeselle aus Alessandria, Labakan
+geheißen, der mehr unser Mitleid als unseren Zorn verdient."
+
+Bis zur Raserei aber brachten diese Worte den Prinzen; schäumend vor
+Wut wollte er auf Labakan eindringen, aber die Umstehenden warfen
+sich dazwischen und hielten ihn fest, und der Fürst sprach:
+"Wahrhaftig, mein lieber Sohn, der arme Mensch ist verrückt; man
+binde ihn und setze ihn auf eines unserer Dromedare, vielleicht, daß
+wir dem Unglücklichen Hilfe schaffen können."
+
+Die Wut des Prinzen hatte sich gelegt, weinend rief er dem Fürsten zu:
+"Mein Herz sagt mir, daß Ihr mein Vater seid; bei dem Andenken
+meiner Mutter beschwöre ich Euch, hört mich an!"
+
+"Ei, Gott bewahre uns!" antwortete dieser, "er fängt schon wieder an,
+irre zu reden, wie doch der Mensch auf so tolle Gedanken kommen kann!"
+Damit ergriff er Labakans Arm und ließ sich von ihm den Hügel
+hinuntergeleiten; sie setzten sich beide auf schöne, mit reichen
+Decken behängte Pferde und ritten an der Spitze des Zuges über die
+Ebene hin. Dem unglücklichen Prinzen aber fesselte man die Hände und
+band ihn auf einem Dromedar fest, und zwei Reiter waren ihm immer zur
+Seite, die ein wachsames Auge auf jede seiner Bewegungen hatten.
+
+Der fürstliche Greis war Saaud, der Sultan der Wechabiten. Er hatte
+lange ohne Kinder gelebt, endlich wurde ihm ein Prinz geboren, nach
+dem er sich so lange gesehnt hatte; aber die Sterndeuter, welche er
+um die Vorbedeutungen des Knaben befragte, taten den Ausspruch, "daß
+er bis ins zweiundzwanzigste Jahr in Gefahr stehe, von einem Feinde
+verdrängt zu werden", deswegen, um recht sicherzugehen, hatte der
+Sultan den Prinzen seinem alten, erprobten Freunde Elfi-Bey zum
+Erziehen gegeben und zweiundzwanzig schmerzliche Jahre auf seinen
+Anblick geharrt.
+
+Dieses hatte der Sultan seinem (vermeintlichen) Sohne erzählt und
+sich ihm außerordentlich zufrieden mit seiner Gestalt und seinem
+würdevollen Benehmen gezeigt.
+
+Als sie in das Land des Sultans kamen, wurden sie überall von den
+Einwohnern mit Freudengeschrei empfangen; denn das Gerücht von der
+Ankunft des Prinzen hatte sich wie ein Lauffeuer durch alle Städte
+und Dörfer verbreitet. Auf den Straßen, durch welche sie zogen,
+waren Bögen von Blumen und Zweigen errichtet, glänzende Teppiche von
+allen Farben schmeckten die Häuser, und das Volk pries laut Gott und
+seinen Propheten, der ihnen einen so schönen Prinzen gesandt habe.
+Alles dies erfüllte das stolze Herz des Schneiders mit Wonne; desto
+unglücklicher mußte sich aber der echte Omar fühlen, der, noch immer
+gefesselt, in stiller Verzweiflung dem Zuge folgte. Niemand kümmerte
+sich um ihn bei dem allgemeinen Jubel, der doch ihm galt; den Namen
+Omar riefen tausend und wieder tausend Stimmen, aber ihn, der diesen
+Namen mit Recht trug, ihn beachtete keiner; höchstens fragte einer
+oder der andere, wen man denn so fest gebunden mit fortfahre, und
+schrecklich tönte in das Ohr des Prinzen die Antwort seiner Begleiter,
+es sei ein wahnsinniger Schneider.
+
+Der Zug war endlich in die Hauptstadt des Sultans gekommen, wo alles
+noch glänzender zu ihrem Empfang bereitet war als in den übrigen
+Städten. Die Sultanin, eine ältliche, ehrwürdige Frau, erwartete sie
+mit ihrem ganzen Hofstaat in dem prachtvollsten Saal des Schlosses.
+Der Boden dieses Saales war mit einem ungeheuren Teppich bedeckt, die
+Wände waren mit hellblauem Tuch geschmeckt, das in goldenen Quasten
+und Schnüren an großen, silbernen Haken hing.
+
+Es war schon dunkel, als der Zug anlangte, daher waren im Saale viele
+kugelrunde, farbige Lampen angezündet, welche die Nacht zum Tag
+erhellten. Am klarsten und vielfarbigsten strahlten sie aber im
+Hintergrund des Saales, wo die Sultanin auf einem Throne saß. Der
+Thron stand auf vier Stufen und war von lauterem Golde und mit großen
+Amethysten ausgelegt. Die vier vornehmsten Emire hielten einen
+Baldachin von roter Seide über dem Haupte der Sultanin, und der
+Scheik von Medina fächelte ihr mit einer Windfuchtel von weißen
+Pfauenfedern Kühlung zu.
+
+So erwartete die Sultanin ihren Gemahl und ihren Sohn, auch sie hatte
+ihn seit seiner Geburt nicht mehr gesehen, aber bedeutsam Träume
+hatten ihr den Ersehnten gezeigt, daß sie ihn aus Tausenden erkennen
+wollte. Jetzt hörte man das Geräusch des nahenden Zuges, Trompeten
+und Trommeln mischten sich in das Zujauchzen der Menge, der Hufschlag
+der Rosse tönte im Hof des Palastes, näher und näher rauschten die
+Tritte der Kommenden, die Türen des Saales flogen auf, und durch die
+Reihen der niederfallenden Diener eilte der Sultan an der Hand seines
+Sohnes vor den Thron der Mutter.
+
+"Hier", sprach er, "bringe ich dir den, nach welchem du dich so lange
+gesehnet."
+
+Die Sultanin aber fiel ihm in die Rede: "Das ist mein Sohn nicht!"
+rief sie aus, "das sind nicht die Züge, die mir der Prophet im Traume
+gezeigt hat!"
+
+Gerade, als ihr der Sultan ihren Aberglauben verweisen wollte, sprang
+die Türe des Saales auf. Prinz Omar stürzte herein, verfolgt von
+seinen Wächtern, denen er sich mit Anstrengung aller seiner Kraft
+entrissen hatte, er warf sich atemlos vor dem Throne nieder: "leer
+will ich sterben, laßt mich töten, grausamer Vater; denn diese
+Schmach dulde ich nicht länger!"
+
+Alles war bestürzt über diese Reden; man drängte sich um den
+Unglücklichen her, und schon wollten ihn die herbeieilenden Wachen
+ergreifen und ihm wieder seine Bande anlegen, als die Sultanin, die
+in sprachlosem Erstaunen dieses alles mit angesehen hatte, von dem
+Throne aufsprang. "Haltet ein!" rief sie, "dieser und kein anderer
+ist der Rechte, dieser ist's, den meine Augen nie gesehen und den
+mein Herz doch gekannt hat!"
+
+Die Wächter hatten unwillkürlich von Omar abgelassen, aber der Sultan,
+entflammt von wütendem Zorn, rief ihnen zu, den Wahnsinnigen zu
+binden: "Ich habe hier zu entscheiden", sprach er mit gebietender
+Stimme, "und hier richtet man nicht nach den Träumen der Weiber,
+sondern nach gewissen, untrüglichen Zeichen. Dieser hier (indem er
+auf Labakan zeigte) ist mein Sohn; denn er hat mir das Wahrzeichen
+meines Freundes Elfi, den Dolch, gebracht."
+
+"Gestohlen hat er ihn", schrie Omar, "mein argloses Vertrauen hat er
+zum Verrat mißbraucht!" Der Sultan aber hörte nicht auf die Stimme
+seines Sohnes; denn er war in allen Dingen gewohnt, eigensinnig nur
+seinem Urteil zu folgen; daher ließ er den unglücklichen Omar mit
+Gewalt aus dem Saal schleppen. Er selbst aber begab sich mit Labakan
+in sein Gemach, voll Wut über die Sultanin, seine Gemahlin, mit der
+er doch seit fünfundzwanzig Jahren in Frieden gelebt hatte.
+
+Die Sultanin aber war voll Kummer über diese Begebenheiten; sie war
+vollkommen überzeugt, daß ein Betrüger sich des Herzens des Sultans
+bemächtigt hatte, denn jenen Unglücklichen hatten ihr so viele
+bedeutsam Träume als ihren Sohn gezeigt.
+
+Als sich ihr Schmerz ein wenig gelegt hatte, sann sie auf Mittel, um
+ihren Gemahl von seinem Unrecht zu überzeugen. Es war dies
+allerdings schwierig; denn jener, der sich für ihren Sohn ausgab,
+hatte das Erkennungszeichen, den Dolch, überreicht und hatte auch,
+wie sie erfuhr, so viel von Omars früherem Leben von diesem selbst
+sich erzählen lassen, daß er seine Rolle, ohne sich zu verraten,
+spielte.
+
+Sie berief die Männer zu sich, die den Sultan zu der Säule El-Serujah
+begleitet hatten, um sich alles genau erzählen zu lassen, und hielt
+dann mit ihren vertrautesten Sklavinnen Rat. Sie wählten und
+verwarfen dies und jenes Mittel; endlich sprach Melechsalah, eine
+alte, kluge Zierkassierin: "Wenn ich recht gehört habe, verehrte
+Gebieterin, so nannte der Überbringer des Dolches den, welchen du für
+deinen Sohn hältst, Labakan, einen verwirrten Schneider?"
+
+"Ja, so ist es", antwortete die Sultanin, "aber was willst du damit?"
+
+"Was meint Ihr", fuhr jene fort, "wenn dieser Betrüger Eurem Sohn
+seinen eigenen Namen aufgeheftet hätte?--Und wenn dies ist, so gibt
+es ein herrliches Mittel, den Betrüger zu fangen, das ich Euch ganz
+im geheimen sagen will." Die Sultanin bot ihrer Sklavin das Ohr, und
+diese flüsterte ihr einen Rat zu, der ihr zu behagen schien, denn sie
+schickte sich an, sogleich zum Sultan zu gehen.
+
+Die Sultanin war eine kluge Frau, welche wohl die schwachen Seiten
+des Sultans kannte und sie zu benützen verstand. Sie schien daher,
+ihm nachgeben und den Sohn anerkennen zu wollen, und bat sich nur
+eine Bedingung aus; der Sultan, dem sein Aufbrausen gegen seine Frau
+leid tat, gestand die Bedingung zu, und sie sprach: "Ich möchte gerne
+den beiden eine Probe ihrer Geschicklichkeit auferlegen; eine andere
+würde sie vielleicht reiten, fechten oder Speere werfen lassen, aber
+das sind Sachen, die ein jeder kann; nein, ich will ihnen etwas geben,
+wozu Scharfsinn gehört! Es soll nämlich jeder von ihnen einen
+Kaftan und ein Paar Beinkleider verfertigen, und da wollen wir einmal
+sehen, wer die schönsten macht."
+
+Der Sultan lachte und sprach: "Ei, da hast du ja etwas recht Kluges
+ausgesonnen. Mein Sohn sollte mit deinem wahnsinnigen Schneider
+wetteifern, wer den besten Kaftan macht? Nein, das ist nichts."
+
+Die Sultanin aber berief sich darauf, daß er ihr die Bedingung zum
+Voraus zugesagt habe, und der Sultan, welcher ein Mann von Wort war,
+gab endlich nach, obgleich er schwor, wenn der wahnsinnige Schneider
+seinen Kaftan auch noch so schön mache, könne er ihn doch nicht für
+seinen Sohn erkennen.
+
+Der Sultan ging selbst zu seinem Sohn und bat ihn, sich in die
+Grillen seiner Mutter zu schicken, die nun einmal durchaus einen
+Kaftan von seiner Hand zu sehen wünsche. Dem guten Labakan lachte
+das Herz vor Freude; wenn es nur an dem fehlt, dachte er bei sich, da
+soll die Frau Sultanin bald Freude an mir erleben.
+
+Man hatte zwei Zimmer eingerichtet, eines für den Prinzen, das andere
+für den Schneider; dort sollten sie ihre Kunst erproben, und man
+hatte jedem nur ein hinlängliches Stück Seidenzeug, Schere, Nadel und
+Faden gegeben.
+
+Der Sultan war sehr begierig, was für ein Ding von Kaftan wohl sein
+Sohn zutage fördern werde, aber auch der Sultanin pochte unruhig das
+Herz, ob ihre List wohl gelingen werde oder nicht. Man hatte den
+beiden zwei Tage zu ihrem Geschäft ausgesetzt, am dritten ließ der
+Sultan seine Gemahlin rufen, und als sie erschienen war, schickte er
+in jene zwei Zimmer, um die beiden Kaftane und ihre Verfertiger holen
+zu lassen. Triumphierend trat Labakan ein und breitete seinen Kaftan
+vor den erstaunten Blicken des Sultans aus. "Siehe her, Vater",
+sprach er, "siehe her, verehrte Mutter, ob dies nicht ein
+Meisterstück von einem Kaftan ist? Da laß ich es mit dem
+geschicktesten Hofschneider auf eine Wette ankommen, ob er einen
+solchen herausbringt."
+
+Die Sultanin lächelte und wandte sich zu Omar: "Und was hast du
+herausgebracht, mein Sohn?"
+
+Unwillig warf dieser den Seidenstoff und die Schere auf den Boden:
+"Man hat mich gelehrt, ein Roß zu bändigen und einen Säbel zu
+schwingen, und meine Lanze trifft auf sechzig Gänge ihr Ziel--aber
+die Künste der Nadel sind mir fremd, sie wären auch unwürdig für
+einen Zögling Elfi Beys, des Beherrschers von Kairo."
+
+"Oh, du echter Sohn meines Herrn", rief die Sultanin, "ach, daß ich
+dich umarmen, dich Sohn nennen dürfte! Verzeihet, mein Gemahl und
+Gebieter", sprach sie dann, indem sie sich zum Sultan wandte, "daß
+ich diese List gegen Euch gebraucht habe; sehet Ihr jetzt noch nicht
+ein, wer Prinz und wer Schneider ist; fürwahr, der Kaftan ist
+köstlich, den Euer Herr Sohn gemacht hat, und ich möchte ihn gerne
+fragen, bei welchem Meister er gelernt habe."
+
+Der Sultan saß in tiefen Gedanken, mißtrauisch bald seine Frau, bald
+Labakan anschauend, der umsonst sein Erröten und seine Bestürzung,
+daß er sich so dumm verraten habe, zu bekämpfen suchte. "Auch dieser
+Beweis genügt nicht", sprach er, "aber ich weiß, Allah sei es gedankt,
+ein Mittel, zu erfahren, ob ich betrogen bin oder nicht."
+
+Er befahl, sein schnellstes Pferd vorzufahren, schwang sich auf und
+ritt in einen Wald, der nicht weit von der Stadt begann. Dort wohnte
+nach einer alten Sage eine gütige Fee, Adolzaide geheißen, welche oft
+schon den Königen seines Stammes in der Stunde der Not mit ihrem Rat
+beigestanden war; dorthin eilte der Sultan.
+
+In der Mitte des Waldes war ein freier Platz, von hohen Zedern
+umgeben. Dort wohnte nach der Sage die Fee, und selten betrat ein
+Sterblicher diesen Platz, denn eine gewisse Scheu davor hatte sich
+aus alten Zeiten vom Vater auf den Sohn vererbt.
+
+Als der Sultan dort angekommen war, stieg er ab, band sein Pferd an
+einen Baum, stellte sich in die Mitte des Platzes und sprach mit
+lauter Stimme: "Wenn es wahr ist, daß du meinen Vätern gütigen Rat
+erteiltest in der Stunde der Not, so verschmähe nicht die Bitte ihres
+Enkels und rate mir, wo menschlicher Verstand zu kurzsichtig ist!"
+
+Er hatte kaum die letzten Worte gesprochen, als sich eine der Zedern
+öffnete und eine verschleierte Frau in langen, weißen Gewändern
+hervortrat. "Ich weiß, warum du zu mir kommst, Sultan Saaud, dein
+Wille ist redlich; darum soll dir auch meine Hilfe werden. Nimm
+diese zwei Kistchen! Laß jene beiden, welche deine Söhne sein wollen,
+wählen! Ich weiß, daß der, welcher der echte ist, das rechte nicht
+verfehlen wird." So sprach die Verschleierte und reichte ihm zwei
+kleine Kistchen von Elfenbein, reich mit Gold und Perlen verziert;
+auf den Deckeln, die der Sultan vergebens zu öffnen versuchte,
+standen Inschriften von eingesetzten Diamanten.
+
+Der Sultan besann sich, als er nach Hause ritt, hin und her, was wohl
+in den Kistchen sein könnte, welche er mit aller Mühe nicht zu öffnen
+vermochte. Auch die Aufschrift gab ihm kein Licht in der Sache; denn
+auf dem einen stand: "Ehre und Ruhm", auf dem anderen: "Glück und
+Reichtum". Der Sultan dachte bei sich, da würde auch ihm die Wahl
+schwer werden unter diesen beiden Dingen, die gleich anziehend,
+gleich lockend seien.
+
+Als er in seinen Palast zurückgekommen war, ließ er die Sultanin
+rufen und sagte ihr den Ausspruch der Fee, und eine wunderbare
+Hoffnung erfüllte sie, daß jener, zu dem ihr Herz sie hinzog, das
+Kistchen wählen Würde, welches seine königliche Abkunft beweisen
+sollte.
+
+Vor dem Ibrone des Sultans wurden zwei Tische aufgestellt; auf sie
+setzte der Sultan mit eigener Hand die beiden Kistchen, bestieg dann
+den Thron und winkte einem seiner Sklaven, die Pforte des Saales zu
+öffnen. Eine glänzende Versammlung von Bassas und Emiren des Reiches,
+die der Sultan berufen hatte, strömte durch die geöffnete Pforte.
+Sie ließen sich auf prachtvollen Polstern nieder, welche die Wände
+entlang aufgestellt waren.
+
+Als sie sich alle niedergelassen hatten, winkte der König zum
+zweitenmal, und Labakan wurde hereingeführt. Mit stolzem Schritte
+ging er durch den Saal, warf sich vor dem Throne nieder und sprach:
+"Was befiehlt mein Herr und Vater?"
+
+Der Sultan erhob sich auf seinem Thron und sprach: "Mein Sohn! Es
+sind Zweifel an der Echtheit deiner Ansprüche auf diesen Namen
+erhoben worden; eines jener Kistchen enthält die Bestätigung deiner
+echten Geburt, wähle! Ich zweifle nicht, du wirst das rechte wählen!"
+
+Labakan erhob sich und trat vor die Kistchen, er erwog lange, was er
+wählen sollte, endlich sprach er: "Verehrter Vater! Was kann es
+Höheres geben als das Glück, dein Sohn zu sein, was Edleres als den
+Reichtum deiner Gnade? Ich wähle das Kistchen, das die Aufschrift
+"Gliick und Reichtum" zeigt."
+
+"Wir werden nachher erfahren, ob du recht gewählt hast; einstweilen
+setze dich dort auf das Polster zum Bassa von Medina", sagte der
+Sultan und winkte seinen Sklaven.
+
+Omar wurde hereingeführt; sein Blick war düster, seine Miene traurig,
+und sein Anblick erregte allgemeine Teilnahme unter den Anwesenden.
+Er warf sich vor dem Throne nieder und fragte nach dem Willen des
+Sultans.
+
+Der Sultan deutete ihm an, daß er eines der Kistchen zu wählen habe,
+er stand auf und trat vor den Tisch.
+
+Er las aufmerksam beide Inschriften und sprach: "Die letzten Tage
+haben mich gelehrt, wie unsicher das Glück, wie vergänglich der
+Reichtum ist; sie haben mich aber auch gelehrt, daß ein
+unzerstörbares Gut in der Brust des Tapferen wohnt, die Ehre, und daß
+der leuchtende Stern des Ruhmes nicht mit dem Glück zugleich vergeht.
+Und sollte ich einer Krone entsagen, der Würfel liegt--Ehre und Ruhm,
+ich wähle euch!"
+
+Er setzte seine Hand auf das Kistchen, das er erwählt hatte; aber der
+Sultan befahl ihm, einzuhalten; er winkte Labakan, gleichfalls vor
+seinen Tisch zu treten, und auch dieser legte seine Hand auf sein
+Kistchen.
+
+Der Sultan aber ließ sich ein Becken mit Wasser von dem heiligen
+Brunnen Zemzem in Mekka bringen, wusch seine Hände zum Gebet, wandte
+sein Gesicht nach Osten, warf sich nieder und betete: "Gott meiner
+Väter! Der du seit Jahrhunderten unsern Stamm rein und unverfälscht
+bewahrtest, gib nicht zu, daß ein Unwürdiger den Namen der Abassiden
+schände, sei mit deinem Schutze meinem echten Sohne nahe in dieser
+Stunde der Prüfung!"
+
+Der Sultan erhob sich und bestieg seinen Thron wieder; allgemeine
+Erwartung fesselte die Anwesenden, man wagte kaum zu atmen, man hätte
+ein Mäuschen über den Saal gehen hören können, so still und gespannt
+waren alle, die hintersten machten lange Hälse, um über die vorderen
+nach den Kistchen sehen zu können. Jetzt sprach der Sultan: "Öffnet
+die Kistchen", und diese, die vorher keine Gewalt zu öffnen vermochte,
+sprangen von selbst auf.
+
+In dem Kistchen, das Omar gewählt hatte, lagen auf einem samtenen
+Kissen eine kleine goldene Krone und ein Zepter; in Labakans
+Kistchen--eine große Nadel und ein wenig Zwirn! Der Sultan befahl
+den beiden, ihre Kistchen vor ihn zu bringen. Er nahm das Krönchen
+von dem Kissen in seine Hand, und wunderbar war es anzusehen, wie er
+es nahm, wurde es größer und größer, bis es die Größe einer rechten
+Krone erreicht hatte. Er setzte die Krone seinem Sohn Omar, der vor
+ihm kniete, auf das Haupt, küßte ihn auf die Stirne und hieß ihn zu
+seiner Rechten sich niedersetzen. Zu Labakan aber wandte er sich und
+sprach: "Es ist ein altes Sprichwort: Der Schuster bleibe bei seinem
+Leisten! Es scheint, als solltest du bei der Nadel bleiben. Zwar
+hast du meine Gnade nicht verdient, aber es hat jemand für dich
+gebeten, dem ich heute nichts abschlagen kann; drum schenke ich dir
+dein armseliges Leben, aber wenn ich dir guten Rates bin, so beeile
+dich, daß du aus meinem Lande kommst!"
+
+Beschämt, vernichtet, wie er war, vermochte der arme Schneidergeselle
+nichts zu erwidern; er warf sich vor dem Prinzen nieder, und Tränen
+drangen ihm aus den Augen: "Könnt Ihr mir vergeben, Prinz?" sagte er.
+
+"Treue gegen den Freund, Großmut gegen den Feind ist des Abassiden
+Stolz", antwortete der Prinz, indem er ihn aufhob, "gehe hin in
+Frieden!"
+
+"O du mein echter Sohn!" rief gerührt der alte Sultan und sank an die
+Brust des Sohnes; die Emire und Bassa und alle Großen des Reiches
+standen auf von ihren Sitzen und riefen: "Heil dem neuen Königssohn!"
+Und unter dem allgemeinen Jubel schlich sich Labakan, sein Kistchen
+unter dem Arm, aus dem Saal.
+
+Er ging hinunter in die Ställe des Sultans, zäumte sein Roß Murva auf
+und ritt zum Tore hinaus, Alessandria zu. Sein ganzes Prinzenleben
+kam ihm wie ein Traum vor, und nur das prachtvolle Kistchen, reich
+mit Perlen und Diamanten geschmückt, erinnerte ihn, daß er doch nicht
+geträumt habe.
+
+Als er endlich wieder nach Alessandria kam, ritt er vor das Haus
+seines alten Meisters, stieg ab, band sein Rößlein an die Türe und
+trat in die Werkstatt. Der Meister, der ihn nicht gleich kannte,
+machte ein großes Wesen und fragte, was ihm zu Dienst stehe; als er
+aber den Gast näher ansah und seinen alten Labakan erkannte, rief er
+seine Gesellen und Lehrlinge herbei, und alle stürzten sich wie
+wütend auf den armen Labakan, der keines solchen Empfangs gewärtig
+war, stießen und schlugen ihn mit Bügeleisen und Ellenmaß, stachen
+ihn mit Nadeln und zwickten ihn mit scharfen Scheren, bis er
+erschöpft auf einen Haufen alter Kleider niedersank.
+
+Als er nun so dalag, hielt ihm der Meister eine Strafrede über das
+gestohlene Kleid; vergebens versicherte Labakan, daß er nur deswegen
+wiedergekommen sei, um ihm alles zu ersetzen, vergebens bot er ihm
+den dreifachen Schadenersatz, der Meister und seine Gesellen fielen
+wieder über ihn her, schlugen ihn weidlich und warfen ihn zur Türe
+hinaus; zerschlagen und zerfetzt stieg er auf das Roß Murva und ritt
+in eine Karawanserei. Dort legte er sein müdes, zerschlagenes Haupt
+nieder und stellte Betrachtungen an über die Leiden der Erde, über
+das so oft verkannte Verdienst und über die Nichtigkeit und
+Flüchtigkeit aller Güter. Er schlief mit dem Entschluß ein, aller
+Größe zu entsagen und ein ehrsamer Bürger zu werden.
+
+Und den andere Tag gereute ihn sein Entschluß nicht; denn die
+schweren Hände des Meisters und seiner Gesellen schienen alle Hoheit
+aus ihm herausgeprügelt zu haben.
+
+Er verkaufte um einen hohen Preis sein Kistchen an einen
+Juwelenhändler, kaufte sich ein Haus und richtete sich eine Werkstatt
+zu seinem Gewerbe ein. Als er alles eingerichtet und auch ein Schild
+mit der Aufschrift Labakan, Kleidermacher vor sein Fenster gehängt
+hatte, setzte er sich und begann mit jener Nadel und dem Zwirn, die
+er in dem Kistchen gefunden, den Rock zu flicken, welchen ihm sein
+Meister so grausam zerfetzt hatte. Er wurde von seinem Geschäft
+abgerufen, und als er sich wieder an die Arbeit setzen wollte, welch
+sonderbarer Anblick bot sich ihm dar! Die Nadel nähte emsig fort,
+ohne von jemand geführt zu werden; sie machte feine, zierliche Stiche,
+wie sie selbst Labakan in seinen kunstreichsten Augenblicken nicht
+gemacht hatte!
+
+Wahrlich, auch das geringste Geschenk einer gütigen Fee ist nützlich
+und von großem Wert! Noch einen andere Wert hatte aber dies Geschenk,
+nämlich: Das Stückchen Zwirn ging nie aus, die Nadel mochte so
+fleißig sein, als sie wollte.
+
+Labakan bekam viele Kunden und war bald der berühmteste Schneider
+weit und breit; er schnitt die Gewänder zu und machte den ersten
+Stich mit der Nadel daran, und flugs arbeitete diese weiter ohne
+Unterlaß, bis das Gewand fertig war. Meister Labakan hatte bald die
+ganze Stadt zu Kunden; denn er arbeitete schön und außerordentlich
+billig, und nur über eines schüttelten die Leute von Alessandria den
+Kopf, nämlich: daß er ganz ohne Gesellen und bei verschlossenen Türen
+arbeitete.
+
+So war der Spruch des Kistchens, Glück und Reichtum verheißend, in
+Erfüllung gegangen; Glück und Reichtum begleiteten, wenn auch in
+bescheidenem Maße, die Schritte des guten Schneiders, und wenn er von
+dem Ruhm des jungen Sultans Omar, der in aller Munde lebte, hörte,
+wenn er hörte, daß dieser Tapfere der Stolz und die Liebe seines
+Volkes und der Schrecken seiner Feinde sei, da dachte der ehemalige
+Prinz bei sich: "Es ist doch besser, daß ich ein Schneider geblieben
+bin; denn um die Ehre und den Ruhm ist es eine gar gefährliche Sache."
+So lebte Labakan, zufrieden mit sich, geachtet von seinen
+Mitbürgern, und wenn die Nadel indes nicht ihre Kraft verloren, so
+näht sie noch jetzt mit dem ewigen Zwirn der gütigen Fee Adolzaide.
+
+Mit Sonnenaufgang brach die Karawane auf und gelangte bald nach
+Birket el Had oder dem Pilgrimsbrunnen, von wo es nur noch drei
+Stunden Weges nach Kairo waren--Man hatte um diese Zeit die Karawane
+erwartet, und bald hatten die Kaufleute die Freude, ihre Freunde aus
+Kairo ihnen entgegenkommen zu sehen. Sie zogen in die Stadt durch
+das Tor Bebel Falch; denn es wird für eine glückliche Vorbedeutung
+gehalten, wenn man von Mekka kommt, durch dieses Tor einzuziehen,
+weil der Prophet hindurchgezogen ist.
+
+Auf dem Markt verabschiedeten sich die vier türkischen Kaufleute von
+dem Fremden und dem griechischen Kaufmann Zaleukos und gingen mit
+ihren Freunden nach Haus. Zaleukos aber zeigte dem Fremden eine gute
+Karawanserei und lud ihn ein, mit ihm das Mittagsmahl zu nehmen. Der
+Fremde sagte zu und versprach, wenn er nur vorher sich umgekleidet
+habe, zu erscheinen.
+
+Der Grieche hatte alle Anstalten getroffen, den Fremden, welchen er
+auf der Reise liebgewonnen hatte, gut zu bewirten, und als die
+Speisen und Getränke in gehöriger Ordnung aufgestellt waren, setzte
+er sich, seinen Gast zu erwarten.
+
+Langsam und schweren Schrittes hörte er ihn den Gang, der zu seinem
+Gemach führte, heraufkommen. Er erhob sich, um ihm freundlich
+entgegenzusehen und ihn an der Schwelle zu bewillkommnen; aber voll
+Entsetzen fuhr er zurück, als er die Türe öffnete; denn jener
+schreckliche Rotmantel trat ihm entgegen; er warf noch einen Blick
+auf ihn, es war keine Täuschung; dieselbe hohe, gebietende Gestalt,
+die Larve, aus welcher ihn die dunklen Augen anblitzten, der rote
+Mantel mit der goldenen Stickerei waren ihm nur allzuwohl bekannt aus
+den schrecklichsten Stunden seines Lebens.
+
+Widerstreitende Gefühle wogten in Zaleukos Brust; er hatte sich mit
+diesem Bild seiner Erinnerung längst ausgesöhnt und ihm vergeben, und
+doch riß sein Anblick alle seine Wunden wieder auf; alle jene
+qualvollen Stunden der Todesangst, jener Gram, der die Blüte seines
+Lebens vergiftete, zogen im Flug eines Augenblicks an seiner Seele
+vorüber.
+
+"Was willst du, Schrecklicher?" rief der Grieche aus, als die
+Erscheinung noch immer regungslos auf der Schwelle stand. "Weiche
+schnell von hinnen, daß ich dir nicht fluche!"
+
+"Zaleukos!" sprach eine bekannte Stimme unter der Larve hervor.
+"Zaleukos! So empfängst du deinen Gastfreund?" Der Sprechende nahm
+die Larve ab, schlug den Mantel zurück; es war Selim Baruch, der
+Fremde.
+
+Aber Zaleukos schien noch nicht beruhigt, ihm graute vor dem Fremden;
+denn nur zu deutlich hatte er in ihm den Unbekannten von der Ponte
+vecchio erkannt; aber die alte Gewohnheit der Gastfreundschaft siegte;
+er winkte schweigend dem Fremden, sich zu ihm ans Mahl zu setzen.
+
+"Ich errate deine Gedanken", nahm dieser das Wort, als sie sich
+gesetzt hatten. "Deine Augen sehen fragend auf mich--ich hätte
+schweigen und mich deinen Blicken nie mehr zeigen können, aber ich
+bin dir Rechenschaft schuldig, und darum wagte ich es auch, auf die
+Gefahr hin, daß du mir fluchtest, vor dir in meiner alten Gestalt zu
+erscheinen. Du sagtest einst zu mir: Der Glaube meiner Väter
+befiehlt mir, ihn zu lieben, auch ist er wohl unglücklicher als ich;
+glaube dieses, mein Freund, und höre meine Rechtfertigung!
+
+Ich muß weit ausholen, um mich dir ganz verständlich zu machen. Ich
+bin in Alessandria von christlichen Eltern geboren. Mein Vater, der
+jüngere Sohn eines alten, berühmten französischen Hauses, war Konsul
+seines Landes in Alessandria. Ich wurde von meinem zehnten Jahre an
+in Frankreich bei einem Bruder meiner Mutter erzogen und verließ erst
+einige Jahre nach dem Ausbruch der Revolution mein Vaterland, um mit
+meinem Oheim, der in dem Lande seiner Ahnen nicht mehr sicher war,
+über dem Meer bei meinen Eltern eine Zuflucht zu suchen. Voll
+Hoffnung, die Ruhe und den Frieden, den uns das empörte Volk der
+Franzosen entrissen, im elterlichen Hause wiederzufinden, landeten
+wir. Aber ach! Ich fand nicht alles in meines Vaters Hause, wie es
+sein sollte; die äußeren Stürme der bewegten Zeit waren zwar noch
+nicht bis hierher gelangt, desto unerwarteter hatte das Unglück mein
+Haus im innersten Herzen heimgesucht. Mein Bruder, ein junger,
+hoffnungsvoller Mann, erster Sekretär meines Vaters, hatte sich erst
+seit kurzem mit einem jungen Mädchen, der Tochter eines
+florentinischen Edelmanns, der in unserer Nachbarschaft wohnte,
+verheiratet; zwei Tage vor unserer Ankunft war diese auf einmal
+verschwunden, ohne daß weder unsere Familie noch ihr Vater die
+geringste Spur von ihr auffinden konnten. Man glaubte endlich, sie
+habe sich auf einem Spaziergang zu weit gewagt und sei in Räuberhände
+gefallen. Beinahe tröstlicher wäre dieser Gedanke für meinen armen
+Bruder gewesen als die Wahrheit, die uns nur bald kund wurde. Die
+Treulose hatte sich mit einem jungen Neapolitaner, den sie im Hause
+ihres Vaters kennengelernt hatte, eingeschifft. Mein Bruder, aufs
+äußerste empört über diesen Schritt, bot alles auf, die Schuldige zur
+Strafe zu ziehen; doch vergebens; seine Versuche, die in Neapel und
+Florenz Aufsehen erregt hatten, dienten nur dazu, sein und unser
+aller Unglück zu vollenden. Der florentinische Edelmann reiste in
+sein Vaterland zurück, zwar mit dem Vorgeben, meinem Bruder Recht zu
+verschaffen, der Tat nach aber, um uns zu verderben. Er schlug in
+Florenz alle jene Untersuchungen, welche mein Bruder angeknüpft hatte,
+nieder und wußte seinen Einfluß, den er auf alle Art sich verschafft
+hatte, so gut zu benützen, daß mein Vater und mein Bruder ihrer
+Regierung verdächtig gemacht und durch die schändlichsten Mittel
+gefangen, nach Frankreich geführt und dort vom Beil des Henkers
+getötet wurden. Meine arme Mutter verfiel in Wahnsinn, und erst nach
+zehn langen Monaten erlöste sie der Tod von ihrem schrecklichen
+Zustand, der aber in den letzten Tagen zu vollem, klarem Bewußtsein
+geworden war. So stand ich jetzt ganz allein in der Welt, aber nur
+ein Gedanke beschäftigte meine Seele, nur ein Gedanke ließ mich meine
+Trauer vergessen, es war jene mächtige Flamme, die meine Mutter in
+ihrer letzten Stunde in mir angefacht hatte.
+
+In den letzten Stunden war, wie ich dir sagte, ihr Bewußtsein
+zurückgekehrt; sie ließ mich rufen und sprach mit Ruhe von unserem
+Schicksal und ihrem Ende. Dann aber ließ sie alle aus dem Zimmer
+gehen, richtete sich mit feierlicher Miene von ihrem ärmlichen Lager
+auf und sagte, ich könne mir ihren Segen erwerben, wenn ich ihr
+schwöre, etwas auszufahren, das sie mir auftragen würde--Ergriffen
+von den Worten der sterbenden Mutter, gelobte ich mit einem Eide zu
+tun, wie sie mir sagen werde. Sie brach nun in Verwünschungen gegen
+den Florentiner und seine Tochter aus und legte mir mit den
+fürchterlichsten Drohungen ihres Fluches auf, mein unglückliches Haus
+an ihm zu rächen. Sie starb in meinen Armen. Jener Gedanke der
+Rache hatte schon lange in meiner Seele geschlummert; jetzt erwachte
+er mit aller Macht. Ich sammelte den Rest meines väterlichen
+Vermögens und schwor mir, alles an meine Rache zu setzen oder selbst
+mit unterzugehen.
+
+Bald war ich in Florenz, wo ich mich so geheim als möglich aufhielt;
+mein Plan war um vieles erschwert worden durch die Lage, in welcher
+sich meine Feinde befanden. Der alte Florentiner war Gouverneur
+geworden und hatte so alle Mittel in der Hand, sobald er das
+geringste ahnte, mich zu verderben. Ein Zufall kam mir zu Hilfe.
+Eines Abends sah ich einen Menschen in bekannter Livree durch die
+Straßen gehen; sein unsicherer Gang, sein finsterer Blick und das
+halblaut herausgestoßene "Santo sacramento", "Maledetto diavolo"
+ließen mich den alten Pietro, einen Diener des Florentiners, den ich
+schon in Alessandria gekannt hatte, erkennen. Ich war nicht in
+Zweifel, daß er über seinen Herrn in Zorn geraten sei, und beschloß,
+seine Stimmung zu benützen. Er schien sehr überrascht, mich hier zu
+sehen, klagte mir sein Leiden, daß er seinem Herrn, seit er
+Gouverneur geworden, nichts mehr recht machen könne, und mein Gold,
+unterstützt von seinem Zorn, brachte ihn bald auf meine Seite. Das
+Schwierigste war jetzt beseitigt; ich hatte einen Mann in meinem
+Solde, der mir zu jeder Stunde die Türe meines Feindes öffnete, und
+nun reifte mein Racheplan immer schneller heran. Das Leben des alten
+Florentiners schien mir ein zu geringes Gewicht, dem Untergang meines
+Hauses gegenüber, zu haben. Sein Liebstes mußte er gemordet sehen,
+und dies war Bianka, seine Tochter. Hatte ja sie so schändlich an
+meinem Bruder gefrevelt, war ja doch sie die Ursache unseres Unglücks.
+Gar erwünscht kam sogar meinem rachedürstigen Herzen die Nachricht,
+daß in dieser Zeit Bianka zum zweitenmal sich vermählen wollte, es
+war beschlossen, sie mußte sterben. Aber mir selbst graute vor der
+Tat, und auch Pietro traute sich zu wenig Kraft zu; darum spähten wir
+umher nach einem Mann, der das Geschäft vollbringen könne. Unter den
+Florentinern wagte ich keinen zu dingen, denn gegen den Gouverneur
+würde keiner etwas Solches unternommen haben. Da fiel Pietro der
+Plan ein, den ich nachher ausgeführt habe; zugleich schlug er dich
+als Fremden und Arzt als den Tauglichsten vor. Den Verlauf der Sache
+weißt du. Nur an deiner großen Vorsicht und Ehrlichkeit schien mein
+Unternehmen zu scheitern. Daher der Zufall mit dem Mantel.
+
+Pietro öffnete uns das Pförtchen an dem Palast des Gouverneurs; er
+hätte uns auch ebenso heimlich wieder hinausgeleitet, wenn wir nicht,
+durch den schrecklichen Anblick, der sich uns durch die Türspalte
+darbot, erschreckt, entflohen wären. Von Schrecken und Reue gejagt,
+war ich über zweihundert Schritte fortgerannt, bis ich auf den Stufen
+einer Kirche niedersank. Dort erst sammelte ich mich wieder, und
+mein erster Gedanke warst du und dein schreckliches Schicksal, wenn
+man dich in dem Hause fände. Ich schlich an den Palast, aber weder
+von Pietro noch von dir konnte ich eine Spur entdecken; das Pförtchen
+aber war offen, so konnte ich wenigstens hoffen, daß du die
+Gelegenheit zur Flucht benützt haben könntest.
+
+Als aber der Tag anbrach, ließ mich die Angst vor der Entdeckung und
+ein unabweisbares Gefühl von Reue nicht mehr in den Mauern von
+Florenz. Ich eilte nach Rom. Aber denke dir meine Bestürzung, als
+man dort nach einigen Tagen überall diese Geschichte erzählte mit dem
+Beisatz, man habe den Mörder, einen griechischen Arzt, gefangen. Ich
+kehrte in banger Besorgnis nach Florenz zurück; denn schien mir meine
+Rache schon vorher zu stark, so verfluchte ich sie jetzt, denn sie
+war mir durch dein Leben allzu teuer erkauft. Ich kam an demselben
+Tage an, der dich der Hand beraubte. Ich schweige von dem, was ich
+fühlte, als ich dich das Schafott besteigen und so heldenmütig leiden
+sah. Aber damals, als dein Blut in Strömen aufspritzte, war der
+Entschluß fest in mir, dir deine übrigen Lebenstage zu versüßen. Was
+weiter geschehen ist, weißt du, nur das bleibt mir noch zu sagen
+übrig, warum ich diese Reise mit dir machte.
+
+Als eine schwere Last drückte mich der Gedanke, daß du mir noch immer
+nicht vergeben habest; darum entschloß ich mich, viele Tage mit dir
+zu leben und dir endlich Rechenschaft abzulegen von dem, was ich mit
+dir getan."
+
+Schweigend hatte der Grieche seinen Gast angehört; mit sanftem Blick
+bot er ihm, als er geendet hatte, seine Rechte. "Ich wußte wohl, daß
+du unglücklicher sein müßtest als ich, denn jene grausame Tat wird
+wie eine dunkle Wolke ewig deine Tage verfinstern; ich vergebe dir
+von Herzen. Aber erlaube mir noch eine Frage: Wie kommst du unter
+dieser Gestalt in die Wüste? Was fingst du an, nachdem du in
+Konstantinopel mir das Haus gekauft hattest?"
+
+"Ich ging nach Alessandria zurück", antwortete der Gefragte. "Haß
+gegen alle Menschen tobte in meiner Brust, brennender Haß besonders
+gegen jene Nationen, die man die gebildeten nennt. Glaube mir, unter
+meinen Moslemiten war mir wohler! Kaum war ich einige Monate in
+Alessandria, als jene Landung meiner Landsleute erfolgte.
+
+Ich sah in ihnen nur die Henker meines Vaters und meines Bruders;
+darum sammelte ich einige gleichgesinnte junge Leute meiner
+Bekanntschaft und schloß mich jenen tapferen Mamelucken an, die so
+oft der Schrecken des französischen Heeres wurden. Als der Feldzug
+beendigt war, konnte ich mich nicht entschließen, zu den Künsten des
+Friedens zurückzukehren. Ich lebte mit einer kleinen Anzahl
+gleichdenkender Freunde ein unstetes und flüchtiges, dem Kampf und
+der Jagd geweihtes Leben; ich lebe zufrieden unter diesen Leuten, die
+mich wie ihren Fürsten ehren; denn wenn meine Asiaten auch nicht so
+gebildet sind wie Eure Europäer, so sind sie doch weit entfernt von
+Neid und Verleumdung, von Selbstsucht und Ehrgeiz."
+
+Zaleukos dankte dem Fremden für seine Mitteilung, aber er verbarg ihm
+nicht, daß er es für seinen Stand, für seine Bildung angemessener
+fände, wenn er in christlichen, in europäischen Ländern leben und
+wirken würde. Er faßte seine Hand und bat ihn, mit ihm zu ziehen,
+bei ihm zu leben und zu sterben.
+
+Gerührt sah ihn der Gastfreund an. "Daraus erkenne ich", sagte er,
+"daß du mir ganz vergeben hast, daß du mich liebst. Nimm meinen
+innigsten Dank dafür!" Er sprang auf und stand in seiner ganzen Größe
+vor dem Griechen, dem vor dem kriegerischen Anstand, den dunkel
+blitzenden Augen, der tiefen Stimme seines Gastes beinahe graute.
+"Dein Vorschlag ist schön", sprach jener weiter, "er möchte für jeden
+andern lockend sein--ich kann ihn nicht benützen. Schon steht mein
+Roß gesattelt, erwarten mich meine Diener; lebe wohl, Zaleukos!" Die
+Freunde, die das Schicksal so wunderbar zusammengeführt, umarmten
+sich zum Abschied. "Und wie nenne ich dich? Wie heißt mein
+Gastfreund, der auf ewig in meinem Gedächtnis leben wird?" fragte der
+Grieche.
+
+Der Fremde sah ihn lange an, drückte ihm noch einmal die Hand und
+sprach: "Man nennt mich den Herrn der Wüste; ich bin der Räuber
+Orbasan."
+
+
+Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes "Märchen-Almanach auf das Jahr
+1826", von Wilhelm Hauff.
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Maerchen-Almanach auf das Jahr 1826, by
+Wilhelm Hauff
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MAERCHEN-ALMANAC 1826 ***
+
+***** This file should be named 6638-8.txt or 6638-8.zip *****
+This and all associated files of various formats will be found in:
+ http://www.gutenberg.org/6/6/3/6638/
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+Produced by Mike Pullen
+
+Updated editions will replace the previous one--the old editions
+will be renamed.
+
+Creating the works from public domain print editions means that no
+one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
+permission and without paying copyright royalties. Special rules,
+set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to
+copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to
+protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project
+Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
+charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you
+do not charge anything for copies of this eBook, complying with the
+rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose
+such as creation of derivative works, reports, performances and
+research. They may be modified and printed and given away--you may do
+practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is
+subject to the trademark license, especially commercial
+redistribution.
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+Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the
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+even without complying with the full terms of this agreement. See
+paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
+Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
+and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
+works. See paragraph 1.E below.
+
+1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
+or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
+Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
+collection are in the public domain in the United States. If an
+individual work is in the public domain in the United States and you are
+located in the United States, we do not claim a right to prevent you from
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+ sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the
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+ money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
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+PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
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+INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
+DAMAGE.
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+defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
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+receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy
+is also defective, you may demand a refund in writing without further
+opportunities to fix the problem.
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+in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO OTHER
+WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
+WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
+
+1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
+warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
+If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
+law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
+interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
+the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any
+provision of this agreement shall not void the remaining provisions.
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+trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
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+with this agreement, and any volunteers associated with the production,
+promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
+harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
+that arise directly or indirectly from any of the following which you do
+or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
+
+
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation information page at www.gutenberg.org
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
+
+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at 809
+North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email
+contact links and up to date contact information can be found at the
+Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact
+
+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit www.gutenberg.org/donate
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including checks, online payments and credit card donations.
+To donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For forty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
+
+ www.gutenberg.org
+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
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index 0000000..4d86b29
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index 0000000..7d92fab
--- /dev/null
+++ b/old/7alm110.txt
@@ -0,0 +1,4909 @@
+The Project Gutenberg EBook of Maerchen-Almanach auf das Jahr 1826
+by Wilhelm Hauff
+
+Copyright laws are changing all over the world. Be sure to check the
+copyright laws for your country before downloading or redistributing
+this or any other Project Gutenberg eBook.
+
+This header should be the first thing seen when viewing this Project
+Gutenberg file. Please do not remove it. Do not change or edit the
+header without written permission.
+
+Please read the "legal small print," and other information about the
+eBook and Project Gutenberg at the bottom of this file. Included is
+important information about your specific rights and restrictions in
+how the file may be used. You can also find out about how to make a
+donation to Project Gutenberg, and how to get involved.
+
+
+**Welcome To The World of Free Plain Vanilla Electronic Texts**
+
+**eBooks Readable By Both Humans and By Computers, Since 1971**
+
+*****These eBooks Were Prepared By Thousands of Volunteers!*****
+
+
+Title: Maerchen-Almanach auf das Jahr 1826
+
+Author: Wilhelm Hauff
+
+Release Date: October, 2004 [EBook #6638]
+[Yes, we are more than one year ahead of schedule]
+[This file was first posted on January 9, 2003]
+
+Edition: 10
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ASCII
+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, MAERCHEN-ALMANACH AUF DAS JAHR 1826 ***
+
+
+
+
+Produced by Mike Pullen.
+
+
+
+This Etext is in German.
+
+We are releasing two versions of this Etext, one in 7-bit format,
+known as Plain Vanilla ASCII, which can be sent via plain email--
+and one in 8-bit format, which includes higher order characters--
+which requires a binary transfer, or sent as email attachment and
+may require more specialized programs to display the accents.
+This is the 8-bit version.
+
+This book content was graciously contributed by the Gutenberg Projekt-DE.
+That project is reachable at the web site http://gutenberg2000.de.
+
+Dieses Buch wurde uns freundlicherweise vom "Gutenberg Projekt-DE"
+zur Verfügung gestellt. Das Projekt ist unter der
+Internet-Adresse http://gutenberg2000.de erreichbar.
+
+
+
+
+
+Maerchen-Almanach auf das Jahr 1826
+
+Wilhelm Hauff
+
+Inhalt:
+
+Maerchen als Almanach
+Die Karawane (Rahmenerzaehlung)
+Die Geschichte vom Kalif Storch
+Die Geschichte von dem Gespensterschiff
+Die Geschichte von der abgehauenen Hand
+Die Errettung Fatmes
+Die Geschichte von dem kleinen Muck
+Das Maerchen vom falschen Prinzen
+
+
+
+
+Maerchen als Almanach
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+In einem schoenen, fernen Reiche, von welchem die Sage lebt, dass die
+Sonne in seinen ewig gruenen Gaerten niemals untergehe, herrschte von
+Anfang an bis heute die Koenigin Phantasie. Mit vollen Haenden
+spendete diese seit vielen Jahrhunderten die Fuelle des Segens ueber
+die Ihrigen und war geliebt, verehrt von allen, die sie kannten. Das
+Herz der Koenigin war aber zu gross, als dass sie mit ihren Wohltaten
+bei ihrem Lande stehen geblieben waere; sie selbst, im koeniglichen
+Schmuck ihrer ewigen Jugend und Schoenheit, stieg herab auf die Erde;
+denn sie hatte gehoert, dass dort Menschen wohnen, die ihr Leben in
+traurigem Ernst, unter Muehe und Arbeit hinbringen. Diesen hatte sie
+die schoensten Gaben aus ihrem Reiche mitgebracht, und seit die schoene
+Koenigin durch die Fluren der Erde gegangen war, waren die Menschen
+froehlich bei der Arbeit, heiter in ihrem Ernst.
+
+Auch ihre Kinder,nicht minder schoen und lieblich als die koenigliche
+Mutter, sandte sie aus, um die Menschen zu begluecken. Einst kam
+Maerchen, die aelteste Tochter der Koenigin, von der Erde zurueck. Die
+Mutter bemerkte, dass Maerchen traurig sei, ja, hier und da wollte ihr
+beduenken, als ob sie verweinte Augen haette.
+
+"Was hast du, liebes Maerchen", sprach die Koenigin zu ihr, "du bist
+seit deiner Reise so traurig und niedergeschlagen, willst du deiner
+Mutter nicht anvertrauen, was dir fehlt?"
+
+"Ach, liebe Mutter", antwortete Maerchen, "ich haette gewiss nicht so
+lange geschwiegen, wenn ich nicht wuesste, dass mein Kummer auch der
+deinige ist."
+
+"Sprich immer, meine Tochter", bat die schoene Koenigin, "der Gram ist
+ein Stein, der den einzelnen niederdrueckt, aber zwei tragen ihn
+leicht aus dem Wege."
+
+"Du willst es", antwortete Maerchen, "so hoere: Du weisst, wie gerne ich
+mit den Menschen umgehe, wie ich freudig auch bei dem Aermsten vor
+seiner Huette sitze, um nach der Arbeit ein Stuendchen mit ihm zu
+verplaudern; sie boten mir auch sonst gleich freundlich die Hand zum
+Gruss, wenn ich kam, und sahen mir laechelnd und zufrieden nach, wenn
+ich weiterging; aber in diesen Tagen ist es gar nicht mehr so!"
+
+"Armes Maerchen!" sprach die Koenigin und streichelte ihr die Wange,
+die von einer Traene feucht war, "aber du bildest dir vielleicht dies
+alles nur ein?"
+
+"Glaube mir, ich fuehle es nur zu gut", entgegnete Maerchen, "sie
+lieben mich nicht mehr. Ueberall, wo ich hinkomme, begegnen mir
+kalte Blicke; nirgends bin ich mehr gern gesehen; selbst die Kinder,
+die ich doch immer so lieb hatte, lachen ueber mich und wenden mir
+altklug den Ruecken zu."
+
+Die Koenigin stuetzte die Stirne in die Hand und schwieg sinnend.
+
+"Und woher soll es denn", fragte die Koenigin, "kommen, Maerchen, dass
+sich die Leute da unten so geaendert haben?"
+
+"Sieh, die Menschen haben kluge Waechter aufgestellt, die alles, was
+aus deinem Reich kommt, o Koenigin Phantasie, mit scharfem Blicke
+mustern und pruefen. Wenn nun einer kommt, der nicht nach ihrem Sinne
+ist, so erheben sie ein grosses Geschrei, schlagen ihn tot oder
+verleumden ihn doch so sehr bei den Menschen, die ihnen aufs Wort
+glauben, dass man gar keine Liebe, kein Fuenkchen Zutrauen mehr findet.
+Ach, wie gut haben es meine Brueder, die Traeume, froehlich und leicht
+huepfen sie auf die Erde hinab, fragen nichts nach jenen klugen
+Maennern, besuchen die schlummernden Menschen und weben und malen
+ihnen, was das Herz beglueckt und das Auge erfreut!"
+
+"Deine Brueder sind Leichtfuesse", sagte die Koenigin, "und du, mein
+Liebling, hast keine Ursache, sie zu beneiden. Jene Grenzwaechter
+kenne ich uebrigens wohl; die Menschen haben so unrecht nicht, sie
+aufzustellen; es kam so mancher windige Geselle und tat, als ob er
+geradewegs aus meinem Reiche kaeme, und doch hatte er hoechstens von
+einem Berge zu uns heruebergeschaut."
+
+"Aber warum lassen sie dies mich, deine eigene Tochter, entgelten",
+weinte Maerchen. "Ach, wenn du wuesstest, wie sie es mit mir gemacht
+haben; sie schalten mich eine alte Jungfer und drohten, mich das
+naechste Mal gar nicht mehr hereinzulassen." "Wie, meine Tochter nicht
+mehr einzulassen?" rief die Koenigin, und Zorn roetete ihre Wangen.
+"Aber ich sehe schon, woher dies kommt; die boese Muhme hat uns
+verleumdet!"
+
+"Die Mode? Nicht moeglich!" rief Maerchen, "sie tat ja sonst immer so
+freundlich."
+
+"Oh! Ich kenne sie, die Falsche", antwortete die Koenigin, "aber
+versuche es ihr zum Trotze wieder, meine Tochter, wer Gutes tun will,
+darf nicht rasten."
+
+"Ach, Mutter! Wenn sie mich dann ganz zurueckweisen, oder wenn sie
+mich verleumden, dass mich die Menschen nicht ansehen oder einsam und
+verachtet in der Ecke stehen lassen?"
+
+"Wenn die Alten, von der Mode betoert, dich geringschaetzen, so wende
+dich an die Kleinen, wahrlich, sie sind meine Lieblinge, ihnen sende
+ich meine lieblichsten Bilder durch deine Brueder, die Traeume, ja, ich
+bin schon oft selbst zu ihnen hinabgeschwebt, habe sie geherzt und
+gekuesst und schoene Spiele mit ihnen gespielt; sie kennen mich auch
+wohl, sie wissen zwar meinen Namen nicht, aber ich habe schon oft
+bemerkt, wie sie nachts zu meinen Sternen herauflaecheln und morgens,
+wenn meine glaenzenden Laemmer am Himmel ziehen, vor Freuden die Haende
+zusammenschlagen. Auch wenn sie groesser werden, lieben sie mich noch,
+ich helfe dann den lieblichen Maedchen bunte Kraenze flechten, und die
+wilden Knaben werden stiller, wenn ich auf hoher Felsenspitze mich zu
+ihnen setze, aus der Nebelwelt der fernen, blauen Berge hohe Burgen
+und glaenzende Palaeste auftauchen lasse und aus den roetlichen Wolken
+des Abends kuehne Reiterscharen und wunderliche Wallfahrtszuege bilde."
+
+"O die guten Kinder!" rief Maerchen bewegt aus. "Ja, es sei! Mit
+ihnen will ich es noch einmal versuchen."
+
+"Ja, du gute Tochter", sprach die Koenigin, "gehe zu ihnen; aber ich
+will dich auch ein wenig ordentlich ankleiden, dass du den Kleinen
+gefaellst und die Grossen dich nicht zurueckstossen; siehe, das Gewand
+eines Almanachs will ich dir geben."
+
+"Eines Almanachs, Mutter? Ach!--Ich schaeme mich, so vor den Leuten
+zu prangen."
+
+Die Koenigin winkte, und die Dienerinnen brachten das zierliche Gewand
+eines Almanachs. Es war von glaenzenden Farben und schoene Figuren
+eingewoben.
+
+Die Zofen flochten dem schoenen Maedchen das lange Haar; sie banden ihr
+goldene Sandalen unter die Fuesse und hingen ihr dann das Gewand um.
+
+Das bescheidene Maerchen wagte nicht aufzublicken, die Mutter aber
+betrachtete es mit Wohlgefallen und schloss es in ihre Arme. "Gehe
+hin", sprach sie zu der Kleinen, "mein Segen sei mit dir. Und wenn
+sie dich verachten und hoehnen, so kehre zurueck zu mir, vielleicht,
+dass spaetere Geschlechter, getreuer der Natur, ihr Herz dir wieder
+zuwenden."
+
+Also sprach die Koenigin Phantasie. Maerchen aber stieg hinab auf die
+Erde. Mit pochendem Herzen nahte sie dem Ort, wo die klugen Waechter
+hauseten; sie senkte das Koepfchen zur Erde, sie zog das schoene Gewand
+enger um sich her, und mit zagendem Schritt nahte sie dem Tor.
+
+"Halt!" rief eine tiefe, rauhe Stimme. "Wache heraus! Da kommt ein
+neuer Almanach!"
+
+Maerchen zitterte, als sie dies hoerte; viele aeltliche Maenner von
+finsterem Aussehen stuerzten hervor; sie hatten spitzige Federn in der
+Faust und hielten sie dem Maerchen entgegen. Einer aus der Schar
+schritt auf sie zu und packte sie mit rauher Hand am Kinn. "Nur auch
+den Kopf aufgerichtet, Herr Almanach", schrie er, "dass man Ihm in den
+Augen ansiehet, ob er was Rechtes ist oder nicht!"
+
+Erroetend richtete Maerchen das Koepfchen in die Hoehe und schlug das
+dunkle Auge auf.
+
+"Das Maerchen!" riefen die Waechter und lachten aus vollem Hals, "das
+Maerchen! Haben wunder gemeint, was da kaeme! Wie kommst du nur in
+diesen Rock?"
+
+"Die Mutter hat ihn mir angezogen", antwortete Maerchen. "So? Sie
+will dich bei uns einschwaerzen? Nichts da! Hebe dich weg, mach, dass
+du fortkommst!" riefen die Waechter untereinander und erhoben die
+scharfen Federn.
+
+"Aber ich will ja nur zu den Kindern", bat Maerchen, "dies koennt ihr
+mir ja doch erlauben."
+
+"Laeuft nicht schon genug solches Gesindel im Land umher?" rief einer
+der Waechter. "Sie schwatzen nur unseren Kindern dummes Zeug vor."
+
+"Lasst uns sehen, was sie diesmal weiss!" sprach ein anderer.
+
+"Nun ja", riefen sie, "sag an, was du weisst, aber beeile dich, denn
+wir haben nicht viele Zeit fuer dich!"
+
+Maerchen streckte die Hand aus und schrieb mit dem Zeigefinger viele
+Zeichen in die Luft. Da sah man bunte Gestalten vorueberziehen;
+Karawanen mit schoenen Rossen, geschmueckte Reiter, viele Zelte im Sand
+der Wueste; Voegel und Schiffe auf stuermischen Meeren; stille Waelder
+und volkreiche Plaetze und Strassen; Schlachten und friedliche Nomaden,
+sie alle schwebten in belebten Bildern, in buntem Gewimmel vorueber.
+
+Maerchen hatte in dem Eifer, mit welchem sie die Bilder aufsteigen
+liess, nicht bemerkt, wie die Waechter des Tores nach und nach
+eingeschlafen waren. Eben wollte sie neue Zeichen schreiben, als ein
+freundlicher Mann auf sie zutrat und ihre Hand ergriff. "Siehe her,
+gutes Maerchen", sagte er, indem er auf die Schlafenden zeigte, "fuer
+diese sind deine bunten Sachen nichts; schluepfe schnell durch das Tor;
+sie ahnen dann nicht, dass du im Lande bist, und du kannst friedlich
+und unbemerkt deine Strasse ziehen. Ich will dich zu meinen Kindern
+fuehren; in meinem Hause geb' ich dir ein stilles, freundliches
+Plaetzchen; dort kannst du wohnen und fuer dich leben; wenn dann meine
+Soehne und Toechter gut gelernt haben, duerfen sie mit ihren Gespielen
+zu dir kommen und dir zuhoeren. Willst du so?"
+
+"Oh, wie gerne folge ich dir zu deinen lieben Kleinen; wie will ich
+mich befleissen, ihnen zuweilen ein heiteres Stuendchen zu machen!"
+
+Der gute Mann nickte ihr freundlich zu und half ihr, ueber die Fuesse
+der schlafenden Waechter hinueberzusteigen. Laechelnd sah sich Maerchen
+um, als sie hinueber war, und schluepfte dann schnell in das Tor.
+
+
+
+
+Die Karawane
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Es zog einmal eine grosse Karawane durch die Wueste. Auf der
+ungeheuren Ebene, wo man nichts als Sand und Himmel sieht, hoerte man
+schon in weiter Ferne die Glocken der Kamele und die silbernen
+Roellchen der Pferde, eine dichte Staubwolke, die ihr vorherging,
+verkuendete ihre Naehe, und wenn ein Luftzug die Wolke teilte,
+blendeten funkelnde Waffen und helleuchtende Gewaender das Auge. So
+stellte sich die Karawane einem Manne dar, welcher von der Seite her
+auf sie zuritt. Er ritt ein schoenes arabisches Pferd, mit einer
+Tigerdecke behaengt, an dem hochroten Riemenwerk hingen silberne
+Gloeckchen, und auf dem Kopf des Pferdes wehte ein schoener Reiherbusch.
+Der Reiter sah stattlich aus, und sein Anzug entsprach der Pracht
+seines Rosses; ein weisser Turban, reich mit Gold bestickt, bedeckte
+das Haupt; der Rock und die weiten Beinkleider waren von brennendem
+Rot, ein gekruemmtes Schwert mit reichem Griff an seiner Seite. Er
+hatte den Turban tief ins Gesicht gedrueckt; dies und die schwarzen
+Augen, die unter buschigen Brauen hervorblitzten, der lange Bart, der
+unter der gebogenen Nase herabhing, gaben ihm ein wildes, kuehnes
+Aussehen.
+
+Als der Reiter ungefaehr auf fuenfzig Schritt dem Vortrab der Karawane
+nahe war, spornte er sein Pferd an und war in wenigen Augenblicken an
+der Spitze des Zuges angelangt. Es war ein so ungewoehnliches
+Ereignis, einen einzelnen Reiter durch die Wueste ziehen zu sehen, dass
+die Waechter des Zuges, einen Ueberfall befuerchtend, ihm ihre Lanzen
+entgegenstreckten.
+
+"Was wollt ihr", rief der Reiter, als er sich so kriegerisch
+empfangen sah, "glaubt ihr, ein einzelner Mann werde eure Karawane
+angreifen?"
+
+Beschaemt schwangen die Waechter ihre Lanzen wieder auf, ihr Anfuehrer
+aber ritt an den Fremden heran und fragte nach seinem Begehr.
+
+"Wer ist der Herr der Karawane?" fragte der Reiter.
+
+"Sie gehoert nicht einem Herrn", antwortete der Gefragte, "sondern es
+sind mehrere Kaufleute, die von Mekka in ihre Heimat ziehen und die
+wir durch die Wueste geleiten, weil oft allerlei Gesindel die
+Reisenden beunruhigt."
+
+"So fuehrt mich zu den Kaufleuten", begehrte der Fremde.
+
+"Das kann jetzt nicht geschehen", antwortete der Fuehrer, "weil wir
+ohne Aufenthalt weiterziehen muessen und die Kaufleute wenigstens eine
+Viertelstunde weiter hinten sind; wollt Ihr aber mit mir weiterreiten,
+bis wir lagern, um Mittagsruhe zu halten, so werde ich Eurem Wunsch
+willfahren."
+
+Der Fremde sagte hierauf nichts; er zog eine lange Pfeife, die er am
+Sattel festgebunden hatte, hervor und fing an in grossen Zuegen zu
+rauchen, indem er neben dem Anfuehrer des Vortrabs weiterritt. Dieser
+wusste nicht, was er aus dem Fremden machen sollte; er wagte es nicht,
+ihn geradezu nach seinem Namen zu fragen, und so kuenstlich er auch
+ein Gespraech anzuknuepfen suchte, der Fremde hatte auf das: "Ihr
+raucht da einen guten Tabak", oder: "Euer Rapp' hat einen braven
+Schritt", immer nur mit einem kurzen "Ja, ja!" geantwortet.
+
+Endlich waren sie auf dem Platz angekommen, wo man Mittagsruhe halten
+wollte. Der Anfuehrer hatte seine Leute als Wachen aufgestellt; er
+selbst hielt mit dem Fremden, um die Karawane herankommen zu lassen.
+Dreissig Kamele, schwer beladen, zogen vorueber, von bewaffneten
+Fuehrern geleitet. Nach diesen kamen auf schoenen Pferden die fuenf
+Kaufleute, denen die Karawane gehoerte. Es waren meistens Maenner von
+vorgeruecktem Alter, ernst und gesetzt aussehend, nur einer schien
+viel juenger als die uebrigen, wie auch froher und lebhafter. Eine
+grosse Anzahl Kamele und Packpferde schloss den Zug.
+
+Man hatte Zelte aufgeschlagen und die Kamele und Pferde rings
+umhergestellt. In der Mitte war ein grosses Zelt von blauem
+Seidenzeug. Dorthin fuehrte der Anfuehrer der Wache den Fremden. Als
+sie durch den Vorhang des Zeltes getreten waren, sahen sie die fuenf
+Kaufleute auf goldgewirkten Polstern sitzen; schwarze Sklaven
+reichten ihnen Speise und Getraenke. "Wen bringt Ihr uns da?" rief
+der junge Kaufmann dem Fuehrer zu.
+
+Ehe noch der Fuehrer antworten konnte, sprach der Fremde: "Ich heisse
+Selim Baruch und bin aus Bagdad; ich wurde auf einer Reise nach Mekka
+von einer Raeuberhorde gefangen und habe mich vor drei Tagen heimlich
+aus der Gefangenschaft befreit. Der grosse Prophet liess mich die
+Glocken eurer Karawane in weiter Ferne hoeren, und so kam ich bei euch
+an. Erlaubet mir, dass ich in eurer Gesellschaft reise! Ihr werdet
+euren Schutz keinem Unwuerdigen schenken, und so ihr nach Bagdad
+kommet, werde ich eure Guete reichlich belohnen denn ich bin der Neffe
+des Grosswesirs."
+
+Der aelteste der Kaufleute nahm das Wort: "Selim Baruch", sprach er,
+"sei willkommen in unserem Schatten. Es macht uns Freude, dir
+beizustehen; vor allem aber setze dich und iss und trinke mit uns."
+
+Selim Baruch setzte sich zu den Kaufleuten und ass und trank mit ihnen.
+Nach dem Essen raeumten die Sklaven die Geschirre hinweg und
+brachten lange Pfeifen und tuerkischen Sorbet. Die Kaufleute sassen
+lange schweigend, indem sie die blaeulichen Rauchwolken vor sich
+hinbliesen und zusahen, wie sie sich ringelten und verzogen und
+endlich in die Luft verschwebten. Der junge Kaufmann brach endlich
+das Stillschweigen: "So sitzen wir seit drei Tagen", sprach er, "zu
+Pferd und am Tisch, ohne uns durch etwas die Zeit zu vertreiben. Ich
+verspuere gewaltig Langeweile, denn ich bin gewohnt, nach Tisch Taenzer
+zu sehen oder Gesang und Musik zu hoeren. Wisst ihr gar nichts, meine
+Freunde, das uns die Zeit vertreibt?"
+
+Die vier aelteren Kaufleute rauchten fort und schienen ernsthaft
+nachzusinnen, der Fremde aber sprach: "Wenn es mir erlaubt ist, will
+ich euch einen Vorschlag machen. Ich meine, auf jedem Lagerplatz
+koennte einer von uns den anderen etwas erzaehlen. Dies koennte uns
+schon die Zeit vertreiben."
+
+"Selim Baruch, du hast wahr gesprochen", sagte Achmet, der aelteste
+der Kaufleute, "lasst uns den Vorschlag annehmen."
+
+"Es freut mich, wenn euch der Vorschlag behagt", sprach Selim, "damit
+ihr aber sehet, dass ich nichts Unbilliges verlange, so will ich den
+Anfang machen."
+
+Vergnuegt rueckten die fuenf Kaufleute naeher zusammen und liessen den
+Fremden in ihrer Mitte sitzen. Die Sklaven schenkten die Becher
+wieder voll, stopften die Pfeifen ihrer Herren frisch und brachten
+gluehende Kohlen zum Anzuenden. Selim aber erfrischte seine Stimme mit
+einem tuechtigen Zuge Sorbet, strich den langen Bart ueber dem Mund weg
+und sprach:
+
+"So hoert denn die Geschichte vom Kalif Storch."
+
+Als Selim Baruch seine Geschichte beendet hatte, bezeugten sich die
+Kaufleute sehr zufrieden damit. "Wahrhaftig, der Nachmittag ist uns
+vergangen, ohne dass wir merkten wie!" sagte einer derselben, indem er
+die Decke des Zeltes zurueckschlug. "Der Abendwind wehet kuehl, und
+wir koennten noch eine gute Strecke Weges zuruecklegen." Seine
+Gefaehrten waren damit einverstanden, die Zelte wurden abgebrochen,
+und die Karawane machte sich in der naemlichen Ordnung, in welcher sie
+herangezogen war, auf den Weg.
+
+Sie ritten beinahe die ganze Nacht hindurch, denn es war schwuel am
+Tage, die Nacht aber war erquicklich und sternhell. Sie kamen
+endlich an einem bequemen Lagerplatz an, schlugen die Zelte auf und
+legten sich zur Ruhe. Fuer den Fremden aber sorgten die Kaufleute,
+wie wenn er ihr wertester Gastfreund waere. Der eine gab ihm Polster,
+der andere Decken, ein dritter gab ihm Sklaven, kurz, er wurde so gut
+bedient, als ob er zu Hause waere. Die heisseren Stunden des Tages
+waren schon heraufgekommen, als sie sich wieder erhoben, und sie
+beschlossen einmuetig, hier den Abend abzuwarten. Nachdem sie
+miteinander gespeist hatten, rueckten sie wieder naeher zusammen, und
+der junge Kaufmann wandte sich an den aeltesten und sprach: "Selim
+Baruch hat uns gestern einen vergnuegten Nachmittag bereitet, wie waere
+es, Achmet, wenn Ihr uns auch etwas erzaehltet, sei es nun aus Eurem
+langen Leben, das wohl viele Abenteuer aufzuweisen hat, oder sei es
+auch ein huebsches Maerchen." Achmet schwieg auf diese Anrede eine
+Zeitlang, wie wenn er bei sich im Zweifel waere, ob er dies oder jenes
+sagen sollte oder nicht; endlich fing er an zu sprechen:
+
+"Liebe Freunde! Ihr habt euch auf dieser unserer Reise als treue
+Gesellen erprobt, und auch Selim verdient mein Vertrauen; daher will
+ich euch etwas aus meinem Leben mitteilen, das ich sonst ungern und
+nicht jedem erzaehle: die Geschichte von dem Gespensterschiff."
+
+Die Reise der Karawane war den anderen Tag ohne Hindernis fuerder
+gegangen, und als man im Lagerplatz sich erholt hatte, begann Selim,
+der Fremde, zu Muley, dem juengsten der Kaufleute, also zu sprechen:
+
+"Ihr seid zwar der Juengste von uns, doch seid Ihr immer froehlich und
+wisst fuer uns gewiss irgendeinen guten Schwank. Tischet ihn auf, dass
+er uns erquicke nach der Hitze des Tages!"
+
+"Wohl moechte ich euch etwas erzaehlen", antwortete Muley, "das euch
+Spass machen koennte, doch der Jugend ziemt Bescheidenheit in allen
+Dingen; darum muessen meine aelteren Reisegefaehrten den Vorrang haben.
+Zaleukos ist immer so ernst und verschlossen, sollte er uns nicht
+erzaehlen, was sein Leben so ernst machte? Vielleicht, dass wir seinen
+Kummer, wenn er solchen hat, lindern koennen; denn gerne dienen wir
+dem Bruder, wenn er auch anderen Glaubens ist."
+
+Der Aufgerufene war ein griechischer Kaufmann, ein Mann in mittleren
+Jahren, schoen und kraeftig, aber sehr ernst. Ob er gleich ein
+Unglaeubiger (nicht Muselmann) war, so liebten ihn doch seine
+Reisegefaehrten, denn er hatte durch sein ganzes Wesen Achtung und
+Zutrauen eingefloesst. Er hatte uebrigens nur eine Hand, und einige
+seiner Gefaehrten vermuteten, dass vielleicht dieser Verlust ihn so
+ernst stimme.
+
+Zaleukos antwortete auf die zutrauliche Frage Muleys: "Ich bin sehr
+geehrt durch euer Zutrauen; Kummer habe ich keinen, wenigstens keinen,
+von welchem ihr auch mit dem besten Willen mir helfen koenntet. Doch
+weil Muley mir meinen Ernst vorzuwerfen scheint, so will ich euch
+einiges erzaehlen, was mich rechtfertigen soll, wenn ich ernster bin
+als andere Leute. Ihr sehet, dass ich meine linke Hand verloren habe.
+Sie fehlt mir nicht von Geburt an, sondern ich habe sie in den
+schrecklichsten Tagen meines Lebens eingebuesst. Ob ich die Schuld
+davon trage, ob ich unrecht habe, seit jenen Tagen ernster, als es
+meine Lage mit sich bringt, zu sein, moeget ihr beurteilen, wenn ihr
+vernommen habt die Geschichte von der abgehauenen Hand."
+
+Zaleukos, der griechische Kaufmann, hatte seine Geschichte geendigt.
+Mit grosser Teilnahme hatten ihm die uebrigen zugehoert, besonders der
+Fremde schien sehr davon ergriffen zu sein; er hatte einigemal tief
+geseufzt, und Muley schien es sogar, als habe er einmal Traenen in den
+Augen gehabt. Sie besprachen sich noch lange Zeit ueber diese
+Geschichte.
+
+"Und hasst Ihr den Unbekannten nicht, der Euch so schnoed' um ein so
+edles Glied Eures Koerpers, der selbst Euer Leben in Gefahr brachte?"
+fragte der Fremde.
+
+"Wohl gab es in frueherer Zeit Stunden", antwortete der Grieche, "in
+denen mein Herz ihn vor Gott angeklagt, dass er diesen Kummer ueber
+mich gebracht und mein Leben vergiftet habe; aber ich fand Trost in
+dem Glauben meiner Vaeter, und dieser befiehlt mir, meine Feinde zu
+lieben; auch ist er wohl noch ungluecklicher als ich."
+
+"Ihr seid ein edler Mann!" rief der Fremde und drueckte geruehrt dem
+Griechen die Hand.
+
+Der Anfuehrer der Wache unterbrach sie aber in ihrem Gespraech. Er
+trat mit besorgter Miene in das Zelt und berichtete, dass man sich
+nicht der Ruhe ueberlassen duerfe; denn hier sei die Stelle, wo
+gewoehnlich die Karawanen angegriffen wuerden, auch glaubten seine
+Wachen, in der Entfernung mehrere Reiter zu sehen.
+
+Die Kaufleute waren sehr bestuerzt ueber diese Nachricht; Selim, der
+Fremde, aber wunderte sich ueber ihre Bestuerzung und meinte, dass sie
+so gut geschaetzt waeren, dass sie einen Trupp raeuberischer Araber nicht
+zu fuerchten brauchten.
+
+"Ja, Herr!" entgegnete ihm der Anfuehrer der Wache. "Wenn es nur
+solches Gesindel waere, koennte man sich ohne Sorge zur Ruhe legen;
+aber seit einiger Zeit zeigt sich der furchtbare Orbasan wieder, und
+da gilt es, auf seiner Hut zu sein."
+
+Der Fremde fragte, wer denn dieser Orbasan sei, und Achmet, der alte
+Kaufmann, antwortete ihm: "Es gehen allerlei Sagen unter dem Volke
+ueber diesen wunderbaren Mann. Die einen halten ihn fuer ein
+uebermenschliches Wesen, weil er oft mit fuenf bis sechs Maennern zumal
+einen Kampf besteht, andere halten ihn fuer einen tapferen Franken,
+den das Unglueck in diese Gegend verschlagen habe; von allem aber ist
+nur so viel gewiss, dass er ein verruchter Moerder und Dieb ist."
+
+"Das koennt Ihr aber doch nicht behaupten", entgegnete ihm Lezah,
+einer der Kaufleute. "Wenn er auch ein Raeuber ist, so ist er doch
+ein edler Mann, und als solcher hat er sich an meinem Bruder bewiesen,
+wie ich Euch erzaehlen koennte. Er hat seinen ganzen Stamm zu
+geordneten Menschen gemacht, und so lange er die Wueste durchstreift,
+darf kein anderer Stamm es wagen, sich sehen zu lassen. Auch raubt
+er nicht wie andere, sondern er erhebt nur ein Schutzgeld von den
+Karawanen, und wer ihm dieses willig bezahlt, der ziehet ungefaehrdet
+weiter; denn Orbasan ist der Herr der Wueste."
+
+Also sprachen unter sich die Reisenden im Zelte; die Wachen aber, die
+um den Lagerplatz ausgestellt waren, begannen unruhig zu werden. Ein
+ziemlich bedeutender Haufe bewaffneter Reiter zeigte sich in der
+Entfernung einer halben Stunde; sie schienen gerade auf das Lager
+zuzureiten. Einer der Maenner von der Wache ging daher in das Zelt,
+um zu verkuenden, dass sie wahrscheinlich angegriffen wuerden. Die
+Kaufleute berieten sich untereinander, was zu tun sei, ob man ihnen
+entgegengehen oder den Angriff abwarten solle. Achmet und die zwei
+aelteren Kaufleute wollten das letztere, der feurige Muley aber und
+Zaleukos verlangten das erstere und riefen den Fremden zu ihrem
+Beistand auf. Dieser zog ruhig ein kleines, blaues Tuch mit roten
+Sternen aus seinem Guertel hervor, band es an eine Lanze und befahl
+einem der Sklaven, es auf das Zelt zu stecken; er setze sein Leben
+zum Pfand, sagte er, die Reiter werden, wenn sie dieses Zeichen sehen,
+ruhig vorueberziehen. Muley glaubte nicht an den Erfolg, der Sklave
+aber steckte die Lanze auf das Zelt. Inzwischen hatten alle, die im
+Lager waren, zu den Waffen gegriffen und sahen in gespannter
+Erwartung den Reitern entgegen. Doch diese schienen das Zeichen auf
+dem Zelte erblickt zu haben, sie wichen ploetzlich von ihrer Richtung
+auf das Lager ab und zogen in einem grossen Bogen auf der Seite hin.
+
+Verwundert standen einige Augenblicke die Reisenden und sahen bald
+auf die Reiter, bald auf den Fremden. Dieser stand ganz gleichgueltig,
+wie wenn nichts vorgefallen waere, vor dem Zelte und blickte ueber die
+Ebene hin. Endlich brach Muley das Stillschweigen. "Wer bist du,
+maechtiger Fremdling", rief er aus, "der du die wilden Horden der
+Wueste durch einen Wink bezaehmst?"
+
+"Ihr schlagt meine Kunst hoeher an, als sie ist", antwortete Selim
+Baruch. "Ich habe mich mit diesem Zeichen versehen, als ich der
+Gefangenschaft entfloh; was es zu bedeuten hat, weiss ich selbst nicht;
+nur so viel weiss ich, dass, wer mit diesem Zeichen reiset, unter
+maechtigem Schutze steht."
+
+Die Kaufleute dankten dem Fremden und nannten ihn ihren Erretter.
+Wirklich war auch die Anzahl der Reiter so gross gewesen, dass wohl die
+Karawane nicht lange haette Widerstand leisten koennen.
+
+Mit leichterem Herzen begab man sich jetzt zur Ruhe, und als die
+Sonne zu sinken begann und der Abendwind ueber die Sandebene hinstrich,
+brachen sie auf und zogen weiter.
+
+Am naechsten Tage lagerten sie ungefaehr nur noch eine Tagreise von dem
+Ausgang der Wueste entfernt. Als sich die Reisenden wieder in dem
+grossen Zelt versammelt hatten, nahm Lezah, der Kaufmann, das Wort:
+
+"Ich habe euch gestern gesagt, dass der gefuerchtete Orbasan ein edler
+Mann sei, erlaubt mir, dass ich es euch heute durch die Erzaehlung der
+Schicksale meines Bruders beweise. Mein Vater war Kadi in Akara. Er
+hatte drei Kinder. Ich war der Aelteste, ein Bruder und eine
+Schwester waren bei weitem juenger als ich. Als ich zwanzig Jahre alt
+war, rief mich ein Bruder meines Vaters zu sich. Er setzte mich zum
+Erben seiner Gueter ein, mit der Bedingung, dass ich bis zu seinem Tode
+bei ihm bleibe. Aber er erreichte ein hohes Alter, so dass ich erst
+vor zwei Jahren in meine Heimat zurueckkehrte und nichts davon wusste,
+welch schreckliches Schicksal indes mein Haus betroffen und wie guetig
+Allah es gewendet hatte." Die Errettung Fatmes
+
+Die Karawane hatte das Ende der Wueste erreicht, und froehlich
+begruessten die Reisenden die gruenen Matten und die dichtbelaubten
+Baeume, deren lieblichen Anblick sie viele Tage entbehrt hatten. In
+einem schoenen Tale lag eine Karawanserei, die sie sich zum Nachtlager
+waehlten, und obgleich sie wenig Bequemlichkeit und Erfrischung darbot,
+so war doch die ganze Gesellschaft heiterer und zutraulicher als je;
+denn der Gedanke, den Gefahren und Beschwerlichkeiten, die eine Reise
+durch die Wueste mit sich bringt, entronnen zu sein, hatte alle Herzen
+geoeffnet und die Gemueter zu Scherz und Kurzweil gestimmt. Muley, der
+junge lustige Kaufmann, tanzte einen komischen Tanz und sang Lieder
+dazu, die selbst dem ernsten Griechen Zaleukos ein Laecheln entlockten.
+Aber nicht genug, dass er seine Gefaehrten durch Tanz und Spiel
+erheitert hatte, er gab ihnen auch noch die Geschichte zum besten,
+die er ihnen versprochen hatte, und hub, als er von seinen
+Luftspruengen sich erholt hatte, also zu erzaehlen an: Die Geschichte
+von dem kleinen Muck.
+
+"So erzaehlte mir mein Vater; ich bezeugte ihm meine Reue ueber mein
+rohes Betragen gegen den guten kleinen Mann, und mein Vater schenkte
+mir die andere Haelfte der Strafe, die er mir zugedacht hatte. Ich
+erzaehlte meinen Kameraden die wunderbaren Schicksale des Kleinen, und
+wir gewannen ihn so lieb, dass ihn keiner mehr schimpfte. Im
+Gegenteil, wir ehrten ihn, solange er lebte, und haben uns vor ihm
+immer so tief wie vor Kadi und Mufti gebueckt."
+
+Die Reisenden beschlossen, einen Rasttag in dieser Karawanserei zu
+machen, um sich und die Tiere zur weiteren Reise zu staerken. Die
+gestrige Froehlichkeit ging auch auf diesen Tag ueber, und sie
+ergoetzten sich in allerlei Spielen. Nach dem Essen aber riefen sie
+dem fuenften Kaufmann, Ali Sizah, zu, auch seine Schuldigkeit gleich
+den uebrigen zu tun und eine Geschichte zu erzaehlen. Er antwortete,
+sein Leben sei zu arm an auffallenden Begebenheiten, als dass er ihnen
+etwas davon mitteilen moechte, daher wolle er ihnen etwas anderes
+erzaehlen, naemlich: Das Maerchen vom falschen Prinzen.
+
+
+Mit Sonnenaufgang brach die Karawane auf und gelangte bald nach
+Birket el Had oder dem Pilgrimsbrunnen, von wo es nur noch drei
+Stunden Weges nach Kairo waren--Man hatte um diese Zeit die Karawane
+erwartet, und bald hatten die Kaufleute die Freude, ihre Freunde aus
+Kairo ihnen entgegenkommen zu sehen. Sie zogen in die Stadt durch
+das Tor Bebel Falch; denn es wird fuer eine glueckliche Vorbedeutung
+gehalten, wenn man von Mekka kommt, durch dieses Tor einzuziehen,
+weil der Prophet hindurchgezogen ist.
+
+Auf dem Markt verabschiedeten sich die vier tuerkischen Kaufleute von
+dem Fremden und dem griechischen Kaufmann Zaleukos und gingen mit
+ihren Freunden nach Haus. Zaleukos aber zeigte dem Fremden eine gute
+Karawanserei und lud ihn ein, mit ihm das Mittagsmahl zu nehmen. Der
+Fremde sagte zu und versprach, wenn er nur vorher sich umgekleidet
+habe, zu erscheinen.
+
+Der Grieche hatte alle Anstalten getroffen, den Fremden, welchen er
+auf der Reise liebgewonnen hatte, gut zu bewirten, und als die
+Speisen und Getraenke in gehoeriger Ordnung aufgestellt waren, setzte
+er sich, seinen Gast zu erwarten.
+
+Langsam und schweren Schrittes hoerte er ihn den Gang, der zu seinem
+Gemach fuehrte, heraufkommen. Er erhob sich, um ihm freundlich
+entgegenzusehen und ihn an der Schwelle zu bewillkommnen; aber voll
+Entsetzen fuhr er zurueck, als er die Tuere oeffnete; denn jener
+schreckliche Rotmantel trat ihm entgegen; er warf noch einen Blick
+auf ihn, es war keine Taeuschung; dieselbe hohe, gebietende Gestalt,
+die Larve, aus welcher ihn die dunklen Augen anblitzten, der rote
+Mantel mit der goldenen Stickerei waren ihm nur allzuwohl bekannt aus
+den schrecklichsten Stunden seines Lebens.
+
+Widerstreitende Gefuehle wogten in Zaleukos Brust; er hatte sich mit
+diesem Bild seiner Erinnerung laengst ausgesoehnt und ihm vergeben, und
+doch riss sein Anblick alle seine Wunden wieder auf; alle jene
+qualvollen Stunden der Todesangst, jener Gram, der die Bluete seines
+Lebens vergiftete, zogen im Flug eines Augenblicks an seiner Seele
+vorueber.
+
+"Was willst du, Schrecklicher?" rief der Grieche aus, als die
+Erscheinung noch immer regungslos auf der Schwelle stand. "Weiche
+schnell von hinnen, dass ich dir nicht fluche!"
+
+"Zaleukos!" sprach eine bekannte Stimme unter der Larve hervor.
+"Zaleukos! So empfaengst du deinen Gastfreund?" Der Sprechende nahm
+die Larve ab, schlug den Mantel zurueck; es war Selim Baruch, der
+Fremde.
+
+Aber Zaleukos schien noch nicht beruhigt, ihm graute vor dem Fremden;
+denn nur zu deutlich hatte er in ihm den Unbekannten von der Ponte
+vecchio erkannt; aber die alte Gewohnheit der Gastfreundschaft siegte;
+er winkte schweigend dem Fremden, sich zu ihm ans Mahl zu setzen.
+
+"Ich errate deine Gedanken", nahm dieser das Wort, als sie sich
+gesetzt hatten. "Deine Augen sehen fragend auf mich--ich haette
+schweigen und mich deinen Blicken nie mehr zeigen koennen, aber ich
+bin dir Rechenschaft schuldig, und darum wagte ich es auch, auf die
+Gefahr hin, dass du mir fluchtest, vor dir in meiner alten Gestalt zu
+erscheinen. Du sagtest einst zu mir: Der Glaube meiner Vaeter
+befiehlt mir, ihn zu lieben, auch ist er wohl ungluecklicher als ich;
+glaube dieses, mein Freund, und hoere meine Rechtfertigung!
+
+Ich muss weit ausholen, um mich dir ganz verstaendlich zu machen. Ich
+bin in Alessandria von christlichen Eltern geboren. Mein Vater, der
+juengere Sohn eines alten, beruehmten franzoesischen Hauses, war Konsul
+seines Landes in Alessandria. Ich wurde von meinem zehnten Jahre an
+in Frankreich bei einem Bruder meiner Mutter erzogen und verliess erst
+einige Jahre nach dem Ausbruch der Revolution mein Vaterland, um mit
+meinem Oheim, der in dem Lande seiner Ahnen nicht mehr sicher war,
+ueber dem Meer bei meinen Eltern eine Zuflucht zu suchen. Voll
+Hoffnung, die Ruhe und den Frieden, den uns das empoerte Volk der
+Franzosen entrissen, im elterlichen Hause wiederzufinden, landeten
+wir. Aber ach! Ich fand nicht alles in meines Vaters Hause, wie es
+sein sollte; die aeusseren Stuerme der bewegten Zeit waren zwar noch
+nicht bis hierher gelangt, desto unerwarteter hatte das Unglueck mein
+Haus im innersten Herzen heimgesucht. Mein Bruder, ein junger,
+hoffnungsvoller Mann, erster Sekretaer meines Vaters, hatte sich erst
+seit kurzem mit einem jungen Maedchen, der Tochter eines
+florentinischen Edelmanns, der in unserer Nachbarschaft wohnte,
+verheiratet; zwei Tage vor unserer Ankunft war diese auf einmal
+verschwunden, ohne dass weder unsere Familie noch ihr Vater die
+geringste Spur von ihr auffinden konnten. Man glaubte endlich, sie
+habe sich auf einem Spaziergang zu weit gewagt und sei in Raeuberhaende
+gefallen. Beinahe troestlicher waere dieser Gedanke fuer meinen armen
+Bruder gewesen als die Wahrheit, die uns nur bald kund wurde. Die
+Treulose hatte sich mit einem jungen Neapolitaner, den sie im Hause
+ihres Vaters kennengelernt hatte, eingeschifft. Mein Bruder, aufs
+aeusserste empoert ueber diesen Schritt, bot alles auf, die Schuldige zur
+Strafe zu ziehen; doch vergebens; seine Versuche, die in Neapel und
+Florenz Aufsehen erregt hatten, dienten nur dazu, sein und unser
+aller Unglueck zu vollenden. Der florentinische Edelmann reiste in
+sein Vaterland zurueck, zwar mit dem Vorgeben, meinem Bruder Recht zu
+verschaffen, der Tat nach aber, um uns zu verderben. Er schlug in
+Florenz alle jene Untersuchungen, welche mein Bruder angeknuepft hatte,
+nieder und wusste seinen Einfluss, den er auf alle Art sich verschafft
+hatte, so gut zu benuetzen, dass mein Vater und mein Bruder ihrer
+Regierung verdaechtig gemacht und durch die schaendlichsten Mittel
+gefangen, nach Frankreich gefuehrt und dort vom Beil des Henkers
+getoetet wurden. Meine arme Mutter verfiel in Wahnsinn, und erst nach
+zehn langen Monaten erloeste sie der Tod von ihrem schrecklichen
+Zustand, der aber in den letzten Tagen zu vollem, klarem Bewusstsein
+geworden war. So stand ich jetzt ganz allein in der Welt, aber nur
+ein Gedanke beschaeftigte meine Seele, nur ein Gedanke liess mich meine
+Trauer vergessen, es war jene maechtige Flamme, die meine Mutter in
+ihrer letzten Stunde in mir angefacht hatte.
+
+In den letzten Stunden war, wie ich dir sagte, ihr Bewusstsein
+zurueckgekehrt; sie liess mich rufen und sprach mit Ruhe von unserem
+Schicksal und ihrem Ende. Dann aber liess sie alle aus dem Zimmer
+gehen, richtete sich mit feierlicher Miene von ihrem aermlichen Lager
+auf und sagte, ich koenne mir ihren Segen erwerben, wenn ich ihr
+schwoere, etwas auszufuehren, das sie mir auftragen wuerde--Ergriffen
+von den Worten der sterbenden Mutter, gelobte ich mit einem Eide zu
+tun, wie sie mir sagen werde. Sie brach nun in Verwuenschungen gegen
+den Florentiner und seine Tochter aus und legte mir mit den
+fuerchterlichsten Drohungen ihres Fluches auf, mein unglueckliches Haus
+an ihm zu raechen. Sie starb in meinen Armen. Jener Gedanke der
+Rache hatte schon lange in meiner Seele geschlummert; jetzt erwachte
+er mit aller Macht. Ich sammelte den Rest meines vaeterlichen
+Vermoegens und schwor mir, alles an meine Rache zu setzen oder selbst
+mit unterzugehen.
+
+Bald war ich in Florenz, wo ich mich so geheim als moeglich aufhielt;
+mein Plan war um vieles erschwert worden durch die Lage, in welcher
+sich meine Feinde befanden. Der alte Florentiner war Gouverneur
+geworden und hatte so alle Mittel in der Hand, sobald er das
+geringste ahnte, mich zu verderben. Ein Zufall kam mir zu Hilfe.
+Eines Abends sah ich einen Menschen in bekannter Livree durch die
+Strassen gehen; sein unsicherer Gang, sein finsterer Blick und das
+halblaut herausgestossene "Santo sacramento", "Maledetto diavolo"
+liessen mich den alten Pietro, einen Diener des Florentiners, den ich
+schon in Alessandria gekannt hatte, erkennen. Ich war nicht in
+Zweifel, dass er ueber seinen Herrn in Zorn geraten sei, und beschloss,
+seine Stimmung zu benuetzen. Er schien sehr ueberrascht, mich hier zu
+sehen, klagte mir sein Leiden, dass er seinem Herrn, seit er
+Gouverneur geworden, nichts mehr recht machen koenne, und mein Gold,
+unterstuetzt von seinem Zorn, brachte ihn bald auf meine Seite. Das
+Schwierigste war jetzt beseitigt; ich hatte einen Mann in meinem
+Solde, der mir zu jeder Stunde die Tuere meines Feindes oeffnete, und
+nun reifte mein Racheplan immer schneller heran. Das Leben des alten
+Florentiners schien mir ein zu geringes Gewicht, dem Untergang meines
+Hauses gegenueber, zu haben. Sein Liebstes musste er gemordet sehen,
+und dies war Bianka, seine Tochter. Hatte ja sie so schaendlich an
+meinem Bruder gefrevelt, war ja doch sie die Ursache unseres Ungluecks.
+Gar erwuenscht kam sogar meinem racheduerstigen Herzen die Nachricht,
+dass in dieser Zeit Bianka zum zweitenmal sich vermaehlen wollte, es
+war beschlossen, sie musste sterben. Aber mir selbst graute vor der
+Tat, und auch Pietro traute sich zu wenig Kraft zu; darum spaehten wir
+umher nach einem Mann, der das Geschaeft vollbringen koenne. Unter den
+Florentinern wagte ich keinen zu dingen, denn gegen den Gouverneur
+wuerde keiner etwas Solches unternommen haben. Da fiel Pietro der
+Plan ein, den ich nachher ausgefuehrt habe; zugleich schlug er dich
+als Fremden und Arzt als den Tauglichsten vor. Den Verlauf der Sache
+weisst du. Nur an deiner grossen Vorsicht und Ehrlichkeit schien mein
+Unternehmen zu scheitern. Daher der Zufall mit dem Mantel.
+
+Pietro oeffnete uns das Pfoertchen an dem Palast des Gouverneurs; er
+haette uns auch ebenso heimlich wieder hinausgeleitet, wenn wir nicht,
+durch den schrecklichen Anblick, der sich uns durch die Tuerspalte
+darbot, erschreckt, entflohen waeren. Von Schrecken und Reue gejagt,
+war ich ueber zweihundert Schritte fortgerannt, bis ich auf den Stufen
+einer Kirche niedersank. Dort erst sammelte ich mich wieder, und
+mein erster Gedanke warst du und dein schreckliches Schicksal, wenn
+man dich in dem Hause faende. Ich schlich an den Palast, aber weder
+von Pietro noch von dir konnte ich eine Spur entdecken; das Pfoertchen
+aber war offen, so konnte ich wenigstens hoffen, dass du die
+Gelegenheit zur Flucht benuetzt haben koenntest.
+
+Als aber der Tag anbrach, liess mich die Angst vor der Entdeckung und
+ein unabweisbares Gefuehl von Reue nicht mehr in den Mauern von
+Florenz. Ich eilte nach Rom. Aber denke dir meine Bestuerzung, als
+man dort nach einigen Tagen ueberall diese Geschichte erzaehlte mit dem
+Beisatz, man habe den Moerder, einen griechischen Arzt, gefangen. Ich
+kehrte in banger Besorgnis nach Florenz zurueck; denn schien mir meine
+Rache schon vorher zu stark, so verfluchte ich sie jetzt, denn sie
+war mir durch dein Leben allzu teuer erkauft. Ich kam an demselben
+Tage an, der dich der Hand beraubte. Ich schweige von dem, was ich
+fuehlte, als ich dich das Schafott besteigen und so heldenmuetig leiden
+sah. Aber damals, als dein Blut in Stroemen aufspritzte, war der
+Entschluss fest in mir, dir deine uebrigen Lebenstage zu versuessen. Was
+weiter geschehen ist, weisst du, nur das bleibt mir noch zu sagen
+uebrig, warum ich diese Reise mit dir machte.
+
+Als eine schwere Last drueckte mich der Gedanke, dass du mir noch immer
+nicht vergeben habest; darum entschloss ich mich, viele Tage mit dir
+zu leben und dir endlich Rechenschaft abzulegen von dem, was ich mit
+dir getan."
+
+Schweigend hatte der Grieche seinen Gast angehoert; mit sanftem Blick
+bot er ihm, als er geendet hatte, seine Rechte. "Ich wusste wohl, dass
+du ungluecklicher sein muesstest als ich, denn jene grausame Tat wird
+wie eine dunkle Wolke ewig deine Tage verfinstern; ich vergebe dir
+von Herzen. Aber erlaube mir noch eine Frage: Wie kommst du unter
+dieser Gestalt in die Wueste? Was fingst du an, nachdem du in
+Konstantinopel mir das Haus gekauft hattest?"
+
+"Ich ging nach Alessandria zurueck", antwortete der Gefragte. "Hass
+gegen alle Menschen tobte in meiner Brust, brennender Hass besonders
+gegen jene Nationen, die man die gebildeten nennt. Glaube mir, unter
+meinen Moslemiten war mir wohler! Kaum war ich einige Monate in
+Alessandria, als jene Landung meiner Landsleute erfolgte.
+
+Ich sah in ihnen nur die Henker meines Vaters und meines Bruders;
+darum sammelte ich einige gleichgesinnte junge Leute meiner
+Bekanntschaft und schloss mich jenen tapferen Mamelucken an, die so
+oft der Schrecken des franzoesischen Heeres wurden. Als der Feldzug
+beendigt war, konnte ich mich nicht entschliessen, zu den Kuensten des
+Friedens zurueckzukehren. Ich lebte mit einer kleinen Anzahl
+gleichdenkender Freunde ein unstetes und fluechtiges, dem Kampf und
+der Jagd geweihtes Leben; ich lebe zufrieden unter diesen Leuten, die
+mich wie ihren Fuersten ehren; denn wenn meine Asiaten auch nicht so
+gebildet sind wie Eure Europaeer, so sind sie doch weit entfernt von
+Neid und Verleumdung, von Selbstsucht und Ehrgeiz."
+
+Zaleukos dankte dem Fremden fuer seine Mitteilung, aber er verbarg ihm
+nicht, dass er es fuer seinen Stand, fuer seine Bildung angemessener
+faende, wenn er in christlichen, in europaeischen Laendern leben und
+wirken wuerde. Er fasste seine Hand und bat ihn, mit ihm zu ziehen,
+bei ihm zu leben und zu sterben.
+
+Geruehrt sah ihn der Gastfreund an. "Daraus erkenne ich", sagte er,
+"dass du mir ganz vergeben hast, dass du mich liebst. Nimm meinen
+innigsten Dank dafuer!" Er sprang auf und stand in seiner ganzen Groesse
+vor dem Griechen, dem vor dem kriegerischen Anstand, den dunkel
+blitzenden Augen, der tiefen Stimme seines Gastes beinahe graute.
+"Dein Vorschlag ist schoen", sprach jener weiter, "er moechte fuer jeden
+andern lockend sein--ich kann ihn nicht benuetzen. Schon steht mein
+Ross gesattelt, erwarten mich meine Diener; lebe wohl, Zaleukos!" Die
+Freunde, die das Schicksal so wunderbar zusammengefuehrt, umarmten
+sich zum Abschied. "Und wie nenne ich dich? Wie heisst mein
+Gastfreund, der auf ewig in meinem Gedaechtnis leben wird?" fragte der
+Grieche.
+
+Der Fremde sah ihn lange an, drueckte ihm noch einmal die Hand und
+sprach: "Man nennt mich den Herrn der Wueste; ich bin der Raeuber
+Orbasan."
+
+
+
+
+Kalif Storch
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Der Kalif Chasid zu Bagdad sass einmal an einem schoenen Nachmittag
+behaglich auf seinem Sofa; er hatte ein wenig geschlafen, denn es war
+ein heisser Tag, und sah nun nach seinem Schlaefchen recht heiter aus.
+Er rauchte aus einer langen Pfeife von Rosenholz, trank hier und da
+ein wenig Kaffee, den ihm ein Sklave einschenkte, und strich sich
+allemal vergnuegt den Bart, wenn es ihm geschmeckt hatte. Kurz, man
+sah dem Kalifen an, dass es ihm recht wohl war. Um diese Stunde
+konnte man gar gut mit ihm reden, weil er da immer recht mild und
+leutselig war, deswegen besuchte ihn auch sein Grosswesir Mansor alle
+Tage um diese Zeit. An diesem Nachmittage nun kam er auch, sah aber
+sehr nachdenklich aus, ganz gegen seine Gewohnheit. Der Kalif tat
+die Pfeife ein wenig aus dem Mund und sprach: "Warum machst du ein so
+nachdenkliches Gesicht, Grosswesir?"
+
+Der Grosswesir schlug seine Arme kreuzweis ueber die Brust, verneigte
+sich vor seinem Herrn und antwortete: "Herr, ob ich ein
+nachdenkliches Gesicht mache, weiss ich nicht, aber da drunten am
+Schloss steht ein Kraemer, der hat so schoene Sachen, dass es mich aergert,
+nicht viel ueberfluessiges Geld zu haben."
+
+Der Kalif, der seinem Grosswesir schon lange gerne eine Freude gemacht
+haette, schickte seinen schwarzen Sklaven hinunter, um den Kraemer
+heraufzuholen. Bald kam der Sklave mit dem Kraemer zurueck. Dieser
+war ein kleiner, dicker Mann, schwarzbraun im Gesicht und in
+zerlumptem Anzug. Er trug einen Kasten, in welchem er allerhand
+Waren hatte, Perlen und Ringe, reichbeschlagene Pistolen, Becher und
+Kaemme. Der Kalif und sein Wesir musterten alles durch, und der Kalif
+kaufte endlich fuer sich und Mansor schoene Pistolen, fuer die Frau des
+Wesirs aber einen Kamm. Als der Kraemer seinen Kasten schon wieder
+zumachen wollte, sah der Kalif eine kleine Schublade und fragte, ob
+da auch noch Waren seien. Der Kraemer zog die Schublade heraus und
+zeigte darin eine Dose mit schwaerzlichem Pulver und ein Papier mit
+sonderbarer Schrift, die weder der Kalif noch Mansor lesen konnte.
+"Ich bekam einmal diese zwei Stuecke von einem Kaufmanne, der sie in
+Mekka auf der Strasse fand", sagte der Kraemer, "Ich weiss nicht, was
+sie enthalten; euch stehen sie um geringen Preis zu Dienst, ich kann
+doch nichts damit anfangen."
+
+Der Kalif, der in seiner Bibliothek gerne alte Manuskripte hatte,
+wenn er sie auch nicht lesen konnte, kaufte Schrift und Dose und
+entliess den Kraemer. Der Kalif aber dachte, er moechte gerne wissen,
+was die Schrift enthalte, und, fragte den Wesir, ob er keinen kenne,
+der es entziffern koennte.
+
+"Gnaedigster Herr und Gebieter", antwortete dieser, "an der grossen
+Moschee wohnt ein Mann, er heisst Selim, der Gelehrte, der versteht
+alle Sprachen, lass ihn kommen, vielleicht kennt er diese
+geheimnisvollen Zuege."
+
+Der Gelehrte Selim war bald herbeigeholt. "Selim", sprach zu ihm der
+Kalif, "Selim, man sagt, du seiest sehr gelehrt; guck einmal ein
+wenig in diese Schrift, ob du sie lesen kannst; kannst du sie lesen,
+so bekommst du ein neues Festkleid von mir, kannst du es nicht, so
+bekommst du zwoelf Backenstreiche und fuenfundzwanzig auf die Fusssohlen,
+weil man dich dann umsonst Selim, den Gelehrten, nennt."
+
+Selim verneigte sich und sprach: "Dein Wille geschehe, o Herr!" Lange
+betrachtete er die Schrift, ploetzlich aber rief er aus: "Das ist
+Lateinisch, o Herr, oder ich lass mich haengen." "Sag, was drinsteht",
+befahl der Kalif, "wenn es Lateinisch ist."
+
+Selim fing an zu uebersetzen: "Mensch, der du dieses findest, preise
+Allah fuer seine Gnade. Wer von dem Pulver in dieser Dose schnupft
+und dazu spricht: mutabor, der kann sich in jedes Tier verwandeln und
+versteht auch die Sprache der Tiere.
+
+Will er wieder in seine menschliche Gestalt zurueckkehren, so neige er
+sich dreimal gen Osten und spreche jenes Wort; aber huete dich, wenn
+du verwandelt bist, dass du nicht lachest, sonst verschwindet das
+Zauberwort gaenzlich aus deinem Gedaechtnis, und du bleibst ein Tier."
+
+Als Selim, der Gelehrte, also gelesen hatte, war der Kalif ueber die
+Massen vergnuegt. Er liess den Gelehrten schwoeren, niemandem etwas von
+dem Geheimnis zu sagen, schenkte ihm ein schoenes Kleid und entliess
+ihn. Zu seinem Grosswesir aber sagte er: "Das heiss' ich gut einkaufen,
+Mansor! Wie freue ich mich, bis ich ein Tier bin. Morgen frueh
+kommst du zu mir; wir gehen dann miteinander aufs Feld, schnupfen
+etwas Weniges aus meiner Dose und belauschen dann, was in der Luft
+und im Wasser, im Wald und Feld gesprochen wird!"
+
+Kaum hatte am anderen Morgen der Kalif Chasid gefruehstueckt und sich
+angekleidet, als schon der Grosswesir erschien, ihn, wie er befohlen,
+auf dem Spaziergang zu begleiten. Der Kalif steckte die Dose mit dem
+Zauberpulver in den Guertel, und nachdem er seinem Gefolge befohlen,
+zurueckzubleiben, machte er sich mit dem Grosswesir ganz allein auf den
+Weg. Sie gingen zuerst durch die weiten Gaerten des Kalifen, spaehten
+aber vergebens nach etwas Lebendigem, um ihr Kunststueck zu probieren.
+Der Wesir schlug endlich vor, weiter hinaus an einen Teich zu gehen,
+wo er schon oft viele Tiere, namentlich Stoerche, gesehen habe, die
+durch ihr gravitaetisches Wesen und ihr Geklapper immer seine
+Aufmerksamkeit erregt hatten.
+
+Der Kalif billigte den Vorschlag seines Wesirs und ging mit ihm dem
+Teich zu. Als sie dort angekommen waren, sahen sie einen Storch
+ernsthaft auf und ab gehen, Froesche suchend und hier und da etwas vor
+sich hinklappernd. Zugleich sahen sie auch weit oben in der Luft
+einen anderen Storch dieser Gegend zuschweben.
+
+"Ich wette meinen Bart, gnaedigster Herr", sagte er Grosswesir, "wenn
+nicht diese zwei Langfuessler ein schoenes Gespraech miteinander fuehren
+werden. Wie waere es, wenn wir Stoerche wuerden?"
+
+"Wohl gesprochen!" antwortete der Kalif. "Aber vorher wollen wir
+noch einmal betrachten, wie man wieder Mensch wird.--Richtig!
+Dreimal gen Osten geneigt und mutabor gesagt, so bin ich wieder Kalif
+und du Wesir. Aber nur um Himmels willen nicht gelacht, sonst sind
+wir verloren!"
+
+Waehrend der Kalif also sprach, sah er den anderen Storch ueber ihrem
+Haupte schweben und langsam sich zur Erde lassen. Schnell zog er die
+Dose aus dem Guertel, nahm eine gute Prise, bot sie dem Grosswesir dar,
+der gleichfalls schnupfte, und beide riefen: mutabor!
+
+Da schrumpften ihre Beine ein und wurden duenn und rot, die schoenen
+gelben Pantoffeln des Kalifen und seines Begleiters wurden
+unfoermliche Storchfuesse, die Arme wurden zu Fluegeln, der Hals fuhr aus
+den Achseln und ward eine Elle lang, der Bart war verschwunden, und
+den Koerper bedeckten weiche Federn.
+
+"Ihr habt einen huebschen Schnabel, Herr Grosswesir", sprach nach
+langem Erstaunen der Kalif. "Beim Bart des Propheten, so etwas habe
+ich in meinem Leben nicht gesehen." "Danke untertaenigst", erwiderte
+der Grosswesir, indem er sich bueckte, "aber wenn ich es wagen darf,
+moechte ich behaupten, Eure Hoheit sehen als Storch beinahe noch
+huebscher aus denn als Kalif. Aber kommt, wenn es Euch gefaellig ist,
+dass wir unsere Kameraden dort belauschen und erfahren, ob wir
+wirklich Storchisch koennen."
+
+Indem war der andere Storch auf der Erde angekommen; er putzte sich
+mit dem Schnabel seine Fuesse, legte seine Federn zurecht und ging auf
+den ersten Storch zu. Die beiden neuen Stoerche aber beeilten sich,
+in ihre Naehe zu kommen, und vernahmen zu ihrem Erstaunen folgendes
+Gespraech:
+
+"Guten Morgen, Frau Langbein, so frueh schon auf der Wiese?"
+
+"Schoenen Dank, liebe Klapperschnabel! Ich habe mir nur ein kleines
+Fruehstueck geholt. Ist Euch vielleicht ein Viertelchen Eidechs
+gefaellig oder ein Froschschenkelein?"
+
+"Danke gehorsamst; habe heute gar keinen Appetit. Ich komme auch
+wegen etwas ganz anderem auf die Wiese. Ich soll heute vor den
+Gaesten meines Vaters tanzen, und da will ich mich im stillen ein
+wenig ueben."
+
+Zugleich schritt die junge Stoerchin in wunderlichen Bewegungen durch
+das Feld. Der Kalif und Mansor sahen ihr verwundert nach; als sie
+aber in malerischer Stellung auf einem Fuss stand und mit den Fluegeln
+anmutig dazu wedelte, da konnten sich die beiden nicht mehr halten;
+ein unaufhaltsames Gelaechter brach aus ihren Schnaebeln hervor, von
+dem sie sich erst nach langer Zeit erholten. Der Kalif fasste sich
+zuerst wieder: "Das war einmal ein Spass", rief er, "der nicht mit
+Gold zu bezahlen ist; schade, dass die Tiere durch unser Gelaechter
+sich haben verscheuchen lassen, sonst haetten sie gewiss auch noch
+gesungen!"
+
+Aber jetzt fiel es dem Grosswesir ein, dass das Lachen waehrend der
+Verwandlung verboten war. Er teilte seine Angst deswegen dem Kalifen
+mit. "Potz Mekka und Medina! Das waere ein schlechter Spass, wenn ich
+ein Storch bleiben muesste! Besinne dich doch auf das dumme Wort, ich
+bring' es nicht heraus."
+
+"Dreimal gen Osten muessen wir uns buecken und dazu sprechen:
+mu--mu--mu--"
+
+Sie stellten sich gegen Osten und bueckten sich in einem fort, dass
+ihre Schnaebel beinahe die Erde beruehrten; aber, o Jammer! Das
+Zauberwort war ihnen entfallen, und so oft sich auch der Kalif bueckte,
+so sehnlich auch sein Wesir mu--mu dazu rief, jede Erinnerung daran
+war verschwunden, und der arme Chasid und sein Wesir waren und
+blieben Stoerche.
+
+Traurig wandelten die Verzauberten durch die Felder, sie wussten gar
+nicht, was sie in ihrem Elend anfangen sollten. Aus ihrer
+Storchenhaut konnten sie nicht heraus, in die Stadt zurueck konnten
+sie auch nicht, um sich zu erkennen zu geben; denn wer haette einem
+Storch geglaubt, dass er der Kalif sei, und wenn man es auch geglaubt
+haette, wuerden die Einwohner von Bagdad einen Storch zum Kalif gewollt
+haben?
+
+So schlichen sie mehrere Tage umher und ernaehrten sich kuemmerlich von
+Feldfruechten, die sie aber wegen ihrer langen Schnaebel nicht gut
+verspeisen konnten. Auf Eidechsen und Froesche hatten sie uebrigens
+keinen Appetit, denn sie befuerchteten, mit solchen Leckerbissen sich
+den Magen zu verderben. Ihr einziges Vergnuegen in dieser traurigen
+Lage war, dass sie fliegen konnten, und so flogen sie oft auf die
+Daecher von Bagdad, um zu sehen, was darin vorging.
+
+In den ersten Tagen bemerkten sie grosse Unruhe und Trauer in den
+Strassen; aber ungefaehr am vierten Tag nach ihrer Verzauberung sassen
+sie auf dem Palast des Kalifen, da sahen sie unten in der Strasse
+einen praechtigen Aufzug; Trommeln und Pfeifen ertoenten, ein Mann in
+einem goldbestickten Scharlachmantel sass auf einem geschmueckten Pferd,
+umgeben von glaenzenden Dienern, halb Bagdad sprang ihm nach, und
+alle schrien: "Heil Mizra, dem Herrscher von Bagdad!"
+
+Da sahen die beiden Stoerche auf dem Dache des Palastes einander an,
+und der Kalif Chasid sprach: "Ahnst du jetzt, warum ich verzaubert
+bin, Grosswesir? Dieser Mizra ist der Sohn meines Todfeindes, des
+maechtigen Zauberers Kaschnur, der mir in einer boesen Stunde Rache
+schwur. Aber noch gebe ich die Hoffnung nicht auf--Komm mit mir, du
+treuer Gefaehrte meines Elends, wir wollen zum Grabe des Propheten
+wandern, vielleicht, dass an heiliger Staette der Zauber geloest wird."
+
+Sie erhoben sich vom Dach des Palastes und flogen der Gegend von
+Medina zu.
+
+Mit dem Fliegen wollte es aber nicht gar gut gehen; denn die beiden
+Stoerche hatten noch wenig Uebung. "O Herr", aechzte nach ein paar
+Stunden der Grosswesir, "ich halte es mit Eurer Erlaubnis nicht mehr
+lange aus; Ihr fliegt gar zu schnell! Auch ist es schon Abend, und
+wir taeten wohl, ein Unterkommen fuer die Nacht zu suchen."
+
+Chasid gab der Bitte seines Dieners Gehoer; und da er unten im Tale
+eine Ruine erblickte, die ein Obdach zu gewaehren schien, so flogen
+sie dahin. Der Ort, wo sie sich fuer diese Nacht niedergelassen
+hatten, schien ehemals ein Schloss gewesen zu sein. Schoene Saeulen
+ragten unter den Truemmern hervor, mehrere Gemaecher, die noch ziemlich
+erhalten waren, zeugten von der ehemaligen Pracht des Hauses. Chasid
+und sein Begleiter gingen durch die Gaenge umher, um sich ein
+trockenes Plaetzchen zu suchen; ploetzlich blieb der Storch Mansor
+stehen. "Herr und Gebieter", fluesterte er leise, "wenn es nur nicht
+toericht fuer einen Grosswesir, noch mehr aber fuer einen Storch waere,
+sich vor Gespenstern zu fuerchten! Mir ist ganz unheimlich zumute;
+denn hier neben hat es ganz vernehmlich geseufzt und gestoehnt." Der
+Kalif blieb nun auch stehen und hoerte ganz deutlich ein leises Weinen,
+das eher einem Menschen als einem Tiere anzugehoeren schien. Voll
+Erwartung wollte er der Gegend zugehen, woher die Klagetoene kamen;
+der Wesir aber packte ihn mit dem Schnabel am Fluegel und bat ihn
+flehentlich, sich nicht in neue, unbekannte Gefahren zu stuerzen.
+Doch vergebens! Der Kalif, dem auch unter dem Storchenfluegel ein
+tapferes Herz schlug, riss sich mit Verlust einiger Federn los und
+eilte in einen finsteren Gang. Bald war er an einer Tuer angelangt,
+die nur angelehnt schien und woraus er deutliche Seufzer mit ein
+wenig Geheul vernahm. Er stiess mit dem Schnabel die Tuere auf, blieb
+aber ueberrascht auf der Schwelle stehen. In dem verfallenen Gemach,
+das nur durch ein kleines Gitterfenster spaerlich erleuchtet war, sah
+er eine grosse Nachteule am Boden sitzen. Dicke Traenen rollten ihr
+aus den grossen, runden Augen, und mit heiserer Stimme stiess sie ihre
+Klagen zu dem krummen Schnabel heraus. Als sie aber den Kalifen und
+seinen Wesir, der indes auch herbeigeschlichen war, erblickte, erhob
+sie ein lautes Freudengeschrei. Zierlich wischte sie mit dem
+braungefleckten Fluegel die Traenen aus dem Auge, und zu dem groessten
+Erstaunen der beiden rief sie in gutem menschlichem Arabisch:
+"Willkommen, ihr Stoerche! Ihr seid mir ein gutes Zeichen meiner
+Errettung; denn durch Stoerche werde mir ein grosses Glueck kommen, ist
+mir einst prophezeit worden!"
+
+Als sich der Kalif von seinem Erstaunen erholt hatte, bueckte er sich
+mit seinem langen Hals, brachte seine duennen Fuesse in eine zierliche
+Stellung und sprach: "Nachteule! Deinen Worten nach darf ich glauben,
+eine Leidensgefaehrtin in dir zu sehen. Aber ach! Deine Hoffnung,
+dass durch uns deine Rettung kommen werde, ist vergeblich. Du wirst
+unsere Hilflosigkeit selbst erkennen, wenn du unsere Geschichte hoerst."
+Die Nachteule bat ihn zu erzaehlen, was der Kalif sogleich tat.
+
+Als der Kalif der Eule seine Geschichte vorgetragen hatte, dankte sie
+ihm und sagte: "Vernimm auch meine Geschichte und hoere, wie ich nicht
+weniger ungluecklich bin als du. Mein Vater ist der Koenig von Indien,
+ich, seine einzige unglueckliche Tochter, heisse Lusa. Jener Zauberer
+Kaschnur, der euch verzauberte, hat auch mich ins Unglueck gestuerzt.
+Er kam eines Tages zu meinem Vater und begehrte mich zur Frau fuer
+seinen Sohn Mizra. Mein Vater aber, der ein hitziger Mann ist, liess
+ihn die Treppe hinunterwerfen. Der Elende wusste sich unter einer
+anderen Gestalt wieder in meine Naehe zu schleichen, und als ich einst
+in meinem Garten Erfrischungen zu mir nehmen wollte, brachte er mir,
+als Sklave verkleidet, einen Trank bei, der mich in diese
+abscheuliche Gestalt verwandelte. Vor Schrecken ohnmaechtig, brachte
+er mich hierher und rief mir mit schrecklicher Stimme in die Ohren:
+
+'Da sollst du bleiben, haesslich, selbst von den Tieren verachtet, bis
+an dein Ende, oder bis einer aus freiem Willen dich, selbst in dieser
+schrecklichen Gestalt, zur Gattin begehrt. So raeche ich mich an dir
+und deinem stolzen Vater.'
+
+Seitdem sind viele Monate verflossen. Einsam und traurig lebe ich
+als Einsiedlerin in diesem Gemaeuer, verabscheut von der Welt, selbst
+den Tieren ein Greuel; die schoene Natur ist vor mir verschlossen;
+denn ich bin blind am Tage, und nur, wenn der Mond sein bleiches
+Licht ueber dies Gemaeuer ausgiesst, faellt der verhuellende Schleier von
+meinem Auge."
+
+Die Eule hatte geendet und wischte sich mit dem Fluegel wieder die
+Augen aus, denn die Erzaehlung ihrer Leiden hatte ihr Traenen entlockt.
+
+Der Kalif war bei der Erzaehlung der Prinzessin in tiefes Nachdenken
+versunken. "Wenn mich nicht alles taeuscht", sprach er, "so findet
+zwischen unserem Unglueck ein geheimer Zusammenhang statt; aber wo
+finde ich den Schluessel zu diesem Raetsel?"
+
+Die Eule antwortete ihm: "O Herr! Auch mir ahnet dies; denn es ist
+mir einst in meiner fruehesten Jugend von einer weisen Frau prophezeit
+worden, dass ein Storch mir ein grosses Glueck bringen werde, und ich
+wuesste vielleicht, wie wir uns retten koennten." Der Kalif war sehr
+erstaunt und fragte, auf welchem Wege sie meine. "Der Zauberer, der
+uns beide ungluecklich gemacht hat", sagte sie, "kommt alle Monate
+einmal in diese Ruinen. Nicht weit von diesem Gemach ist ein Saal.
+Dort pflegt er dann mit vielen Genossen zu schmausen. Schon oft habe
+ich sie dort belauscht. Sie erzaehlen dann einander ihre schaendlichen
+Werke; vielleicht, dass er dann das Zauberwort, das ihr vergessen habt,
+ausspricht."
+
+"O, teuerste Prinzessin", rief der Kalif, "sag an, wann kommt er, und
+wo ist der Saal?"
+
+Die Eule schwieg einen Augenblick und sprach dann: "Nehmet es nicht
+unguetig, aber nur unter einer Bedingung kann ich Euern Wunsch
+erfuellen."
+
+"Sprich aus! Sprich aus!" schrie Chasid. "Befiehl, es ist mir jede
+recht."
+
+"Naemlich, ich moechte auch gern zugleich frei sein; dies kann aber nur
+geschehen, wenn einer von euch mir seine Hand reicht."
+
+Die Stoerche schienen ueber den Antrag etwas betroffen zu sein, und der
+Kalif winkte seinem Diener, ein wenig mit ihm hinauszugehen.
+
+"Grosswesir", sprach vor der Tuere der Kalif, "das ist ein dummer
+Handel; aber Ihr koenntet sie schon nehmen."
+
+"So", antwortete dieser, "dass mir meine Frau, wenn ich nach Hause
+komme, die Augen auskratzt? Auch bin ich ein alter Mann, und Ihr
+seid noch jung und unverheiratet und koennet eher einer jungen,
+schoenen Prinzessin die Hand geben."
+
+"Das ist es eben", seufzte der Kalif, indem er traurig die Fluegel
+haengen liess, "wer sagt dir denn, dass sie jung und schoen ist? Das
+heisst eine Katze im Sack kaufen!"
+
+Sie redeten einander gegenseitig noch lange zu; endlich aber, als der
+Kalif sah, dass sein Wesir lieber Storch bleiben als die Eule heiraten
+wollte, entschloss er sich, die Bedingung lieber selbst zu erfuellen.
+Die Eule war hocherfreut. Sie gestand ihnen, dass sie zu keiner
+besseren Zeit haetten kommen koennen, weil wahrscheinlich in dieser
+Nacht die Zauberer sich versammeln wuerden.
+
+Sie verliess mit den Stoerchen das Gemach, um sie in jenen Saal zu
+fuehren; sie gingen lange in einem finsteren Gang hin; endlich
+strahlte ihnen aus einer halbverfallenen Mauer ein heller Schein
+entgegen. Als sie dort angelangt waren, riet ihnen die Eule, sich
+ganz ruhig zu verhalten. Sie konnten von der Luecke, an welcher sie
+standen, einen grossen Saal uebersehen. Er war ringsum mit Saeulen
+geschmueckt und prachtvoll verziert. Viele farbige Lampen ersetzten
+das Licht des Tages. In der Mitte des Saales stand ein runder Tisch,
+mit vielen und ausgesuchten Speisen besetzt. Rings um den Tisch zog
+sich ein Sofa, auf welchem acht Maenner sassen. In einem dieser Maenner
+erkannten die Stoerche jenen Kraemer wieder, der ihnen das Zauberpulver
+verkauft hatte. Sein Nebensitzer forderte ihn auf, ihnen seine
+neuesten Taten zu erzaehlen. Er erzaehlte unter anderen auch die
+Geschichte des Kalifen und seines Wesirs.
+
+"Was fuer ein Wort hast du ihnen denn aufgegeben?" fragte ihn ein
+anderer Zauberer. "Ein recht schweres lateinisches, es heisst mutabor."
+
+Als die Stoerche an der Mauerluecke dieses hoerten, kamen sie vor
+Freuden beinahe ausser sich. Sie liefen auf ihren langen Fuessen so
+schnell dem Tore der Ruine zu, dass die Eule kaum folgen konnte. Dort
+sprach der Kalif geruehrt zu der Eule: "Retterin meines Lebens und des
+Lebens meines Freundes, nimm zum ewigen Dank fuer das, was du an uns
+getan, mich zum Gemahl an!" Dann aber wandte er sich nach Osten.
+Dreimal bueckten die Stoerche ihre langen Haelse der Sonne entgegen, die
+soeben hinter dem Gebirge heraufstieg: "Mutabor!" riefen sie, im Nu
+waren sie verwandelt, und in der hohen Freude des neugeschenkten
+Lebens lagen Herr und Diener lachend und weinend einander in den
+Armen.
+
+Wer beschreibt aber ihr Erstaunen, als sie sich umsahen? Eine schoene
+Dame, herrlich geschmueckt, stand vor ihnen. Laechelnd gab sie dem
+Kalifen die Hand. "Erkennt Ihr Eure Nachteule nicht mehr?" sagte sie.
+Sie war es; der Kalif war von ihrer Schoenheit und Anmut entzueckt.
+
+Die drei zogen nun miteinander auf Bagdad zu. Der Kalif fand in
+seinen Kleidern nicht nur die Dose mit Zauberpulver, sondern auch
+seinen Geldbeutel. Er kaufte daher im naechsten Dorfe, was zu ihrer
+Reise noetig war, und so kamen sie bald an die Tore von Bagdad. Dort
+aber erregte die Ankunft des Kalifen grosses Erstaunen. Man hatte ihn
+fuer tot ausgegeben, und das Volk war daher hocherfreut, seinen
+geliebten Herrscher wiederzuhaben.
+
+Um so mehr aber entbrannte ihr Hass gegen den Betrueger Mizra. Sie
+zogen in den Palast und nahmen den alten Zauberer und seinen Sohn
+gefangen. Den Alten schickte der Kalif in dasselbe Gemach der Ruine,
+das die Prinzessin als Eule bewohnt hatte, und liess ihn dort
+aufhaengen. Dem Sohn aber, welcher nichts von den Kuensten des Vaters
+verstand, liess der Kalif die Wahl, ob er sterben oder schnupfen wolle.
+Als er das letztere waehlte, bot ihm der Grosswesir die Dose. Eine
+tuechtige Prise, und das Zauberwort des Kalifen verwandelte ihn in
+einen Storch. Der Kalif liess ihn in einen eisernen Kaefig sperren und
+in seinem Garten aufstellen.
+
+Lange und vergnuegt lebte Kalif Chasid mit seiner Frau, der Prinzessin;
+seine vergnuegtesten Stunden waren immer die, wenn ihn der Grosswesir
+nachmittags besuchte; da sprachen sie dann oft von ihrem
+Storchabenteuer, und wenn der Kalif recht heiter war, liess er sich
+herab, den Grosswesir nachzuahmen, wie er als Storch aussah. Er stieg
+dann ernsthaft, mit steifen Fuessen im Zimmer auf und ab, klapperte,
+wedelte mit den Armen wie mit Fluegeln und zeigte, wie jener sich
+vergeblich nach Osten geneigt und Mu--Mu--dazu gerufen habe. Fuer die
+Frau Kalifin und ihre Kinder war diese Vorstellung allemal eine grosse
+Freude; wenn aber der Kalif gar zu lange klapperte und nickte und
+Mu--Mu--schrie, dann drohte ihm laechelnd der Wesir: Er wolle das, was
+vor der Tuere der Prinzessin Nachteule verhandelt worden sei, der Frau
+Kalifin mitteilen.
+
+Als Selim Baruch seine Geschichte beendet hatte, bezeugten sich die
+Kaufleute sehr zufrieden damit. "Wahrhaftig, der Nachmittag ist uns
+vergangen, ohne dass wir merkten wie!" sagte einer derselben, indem er
+die Decke des Zeltes zurueckschlug. "Der Abendwind wehet kuehl, und
+wir koennten noch eine gute Strecke Weges zuruecklegen." Seine
+Gefaehrten waren damit einverstanden, die Zelte wurden abgebrochen,
+und die Karawane machte sich in der naemlichen Ordnung, in welcher sie
+herangezogen war, auf den Weg.
+
+Sie ritten beinahe die ganze Nacht hindurch, denn es war schwuel am
+Tage, die Nacht aber war erquicklich und sternhell. Sie kamen
+endlich an einem bequemen Lagerplatz an, schlugen die Zelte auf und
+legten sich zur Ruhe. Fuer den Fremden aber sorgten die Kaufleute,
+wie wenn er ihr wertester Gastfreund waere. Der eine gab ihm Polster,
+der andere Decken, ein dritter gab ihm Sklaven, kurz, er wurde so gut
+bedient, als ob er zu Hause waere. Die heisseren Stunden des Tages
+waren schon heraufgekommen, als sie sich wieder erhoben, und sie
+beschlossen einmuetig, hier den Abend abzuwarten. Nachdem sie
+miteinander gespeist hatten, rueckten sie wieder naeher zusammen, und
+der junge Kaufmann wandte sich an den aeltesten und sprach: "Selim
+Baruch hat uns gestern einen vergnuegten Nachmittag bereitet, wie waere
+es, Achmet, wenn Ihr uns auch etwas erzaehltet, sei es nun aus Eurem
+langen Leben, das wohl viele Abenteuer aufzuweisen hat, oder sei es
+auch ein huebsches Maerchen." Achmet schwieg auf diese Anrede eine
+Zeitlang, wie wenn er bei sich im Zweifel waere, ob er dies oder jenes
+sagen sollte oder nicht; endlich fing er an zu sprechen:
+
+"Liebe Freunde! Ihr habt euch auf dieser unserer Reise als treue
+Gesellen erprobt, und auch Selim verdient mein Vertrauen; daher will
+ich euch etwas aus meinem Leben mitteilen, das ich sonst ungern und
+nicht jedem erzaehle: die Geschichte von dem Gespensterschiff."
+
+
+
+
+Die Geschichte von dem Gespensterschiff
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Mein Vater hatte einen kleinen Laden in Balsora; er war weder arm
+noch reich und einer von jenen Leuten, die nicht gerne etwas wagen,
+aus Furcht, das Wenige zu verlieren, das sie haben. Er erzog mich
+schlicht und recht und brachte es bald so weit, dass ich ihm an die
+Hand gehen konnte. Gerade als ich achtzehn Jahre alt war, als er die
+erste groessere Spekulation machte, starb er, wahrscheinlich aus Gram,
+tausend Goldstuecke dem Meere anvertraut zu haben. Ich musste ihn bald
+nachher wegen seines Todes gluecklich preisen, denn wenige Wochen
+hernach lief die Nachricht ein, dass das Schiff, dem mein Vater seine
+Gueter mitgegeben hatte, versunken sei. Meinen jugendlichen Mut
+konnte aber dieser Unfall nicht beugen. Ich machte alles vollends zu
+Geld, was mein Vater hinterlassen hatte, und zog aus, um in der
+Fremde mein Glueck zu probieren, nur von einem alten Diener meines
+Vaters begleitet.
+
+Im Hafen von Balsora schifften wir uns mit guenstigem Winde ein. Das
+Schiff, auf dem ich mich eingemietet hatte, war nach Indien bestimmt.
+Wir waren schon fuenfzehn Tage auf der gewoehnlichen Strasse gefahren,
+als uns der Kapitaen einen Sturm verkuendete. Er machte ein
+bedenkliches Gesicht, denn es schien, er kenne in dieser Gegend das
+Fahrwasser nicht genug, um einem Sturm mit Ruhe begegnen zu koennen.
+Er liess alle Segel einziehen, und wir trieben ganz langsam hin. Die
+Nacht war angebrochen, war hell und kalt, und der Kapitaen glaubte
+schon, sich in den Anzeichen des Sturmes getaeuscht zu haben. Auf
+einmal schwebte ein Schiff, das wir vorher nicht gesehen hatten,
+dicht an dem unsrigen vorbei. Wildes Jauchzen und Geschrei erscholl
+aus dem Verdeck herueber, worueber ich mich zu dieser angstvollen
+Stunde vor einem Sturm nicht wenig wunderte. Aber der Kapitaen an
+meiner Seite wurde blass wie der Tod. "Mein Schiff ist verloren",
+rief er, "dort segelt der Tod!"
+
+Ehe ich ihn noch ueber diesen sonderbaren Ausruf befragen konnte,
+stuerzten schon heulend und schreiend die Matrosen herein. "Habt ihr
+ihn gesehen?" schrien sie. "Jetzt ist's mit uns vorbei!"
+
+Der Kapitaen aber liess Trostsprueche aus dem Koran vorlesen und setzte
+sich selbst ans Steuerruder. Aber vergebens! Zusehends brauste der
+Sturm auf, und ehe eine Stunde verging, krachte das Schiff und blieb
+sitzen. Die Boote wurden ausgesetzt, und kaum hatten sich die
+letzten Matrosen gerettet, so versank das Schiff vor unseren Augen,
+und als ein Bettler fuhr ich in die See hinaus. Aber der Jammer
+hatte noch kein Ende. Fuerchterlicher tobte der Sturm; das Boot war
+nicht mehr zu regieren. Ich hatte meinen alten Diener fest
+umschlungen, und wir versprachen uns, nie voneinander zu weichen.
+Endlich brach der Tag an. Aber mit dem ersten Anblick der Morgenroete
+fasste der Wind das Boot, in welchem wir sassen, und stuerzte es um.
+Ich habe keinen meiner Schiffsleute mehr gesehen. Der Sturz hatte
+mich betaeubt; und als ich aufwachte, befand ich mich in den Armen
+meines alten treuen Dieners, der sich auf das umgeschlagene Boot
+gerettet und mich nachgezogen hatte. Der Sturm hatte sich gelegt.
+Von unserem Schiff war nichts mehr zu sehen, wohl aber entdeckten wir
+nicht weit von uns ein anderes Schiff, auf das die Wellen uns
+hintrieben. Als wir naeher hinzukamen, erkannte ich das Schiff als
+dasselbe, das in der Nacht an uns vorbeifuhr und welches den Kapitaen
+so sehr in Schrecken gesetzt hatte. Ich empfand ein sonderbares
+Grauen vor diesem Schiffe. Die Aeusserung des Kapitaens, die sich so
+furchtbar bestaetigt hatte, das oede Aussehen des Schiffes, auf dem
+sich, so nahe wir auch herankamen, so laut wir schrien, niemand
+zeigte, erschreckten mich. Doch es war unser einziges Rettungsmittel;
+darum priesen wir den Propheten, der uns so wundervoll erhalten
+hatte.
+
+Am Vorderteil des Schiffes hing ein langes Tau herab. Mit Haenden und
+Fuessen ruderten wir darauf zu, um es zu erfassen. Endlich glueckte es.
+Noch einmal erhob ich meine Stimme, aber immer blieb es still auf
+dem Schiff. Da klimmten wir an dem Tau hinauf, ich als der Juengste
+voran. Aber Entsetzen! Welches Schauspiel stellte sich meinem Auge
+dar, als ich das Verdeck betrat! Der Boden war mit Blut geroetet,
+zwanzig bis dreissig Leichname in tuerkischen Kleidern lagen auf dem
+Boden, am mittleren Mastbaum stand ein Mann, reich gekleidet, den
+Saebel in der Hand, aber das Gesicht war blass und verzerrt, durch die
+Stirn ging ein grosser Nagel, der ihn an den Mastbaum heftete, auch er
+war tot. Schrecken fesselte meine Schritte, ich wagte kaum zu atmen.
+Endlich war auch mein Begleiter heraufgekommen. Auch ihn
+ueberraschte der Anblick des Verdecks, das gar nichts Lebendiges,
+sondern nur so viele schreckliche Tote zeigte. Wir wagten es endlich,
+nachdem wir in der Seelenangst zum Propheten gefleht hatten, weiter
+vorzuschreiten. Bei jedem Schritte sahen wir uns um, ob nicht etwas
+Neues, noch Schrecklicheres sich darbiete; aber alles blieb, wie es
+war; weit und breit nichts Lebendiges als wir und das Weltmeer.
+Nicht einmal laut zu sprechen wagten wir, aus Furcht, der tote, am
+Mast angespiesste Kapitano moechte seine starren Augen nach uns
+hindrehen oder einer der Getoeteten moechte seinen Kopf umwenden.
+Endlich waren wir bis an eine Treppe gekommen, die in den Schiffsraum
+fuehrte. Unwillkuerlich machten wir dort halt und sahen einander an,
+denn keiner wagte es recht, seine Gedanken zu aeussern.
+
+"O Herr", sprach mein treuer Diener, "hier ist etwas Schreckliches
+geschehen. Doch wenn auch das Schiff da unten voll Moerder steckt, so
+will ich mich ihnen doch lieber auf Gnade und Ungnade ergeben, als
+laengere Zeit unter diesen Toten zubringen." Ich dachte wie er; wir
+fassten uns ein Herz und stiegen voll Erwartung hinunter. Totenstille
+war aber auch hier, und nur unsere Schritte hallten auf der Treppe.
+Wir standen an der Tuere der Kajuete. Ich legte mein Ohr an die Tuere
+und lauschte; es war nichts zu hoeren. Ich machte auf. Das Gemach
+bot einen unordentlichen Anblick dar. Kleider, Waffen und andere
+Geraete lagen untereinander. Nichts in Ordnung. Die Mannschaft oder
+wenigstens der Kapitano mussten vor kurzem gezechet haben; denn es lag
+alles noch umher. Wir gingen weiter von Raum zu Raum, von Gemach zu
+Gemach, ueberall fanden wir herrliche Vorraete in Seide, Perlen, Zucker
+usw. Ich war vor Freude ueber diesen Anblick ausser mir, denn da
+niemand auf dem Schiff war, glaubte ich, alles mir zueignen zu duerfen,
+Ibrahim aber machte mich aufmerksam darauf, dass wir wahrscheinlich
+noch sehr weit vom Lande seien, wohin wir allein und ohne menschliche
+Hilfe nicht kommen koennten.
+
+Wir labten uns an den Speisen und Getraenken, die wir in reichem Mass
+vorfanden, und stiegen endlich wieder aufs Verdeck. Aber hier
+schauderte uns immer die Haut ob dem schrecklichen Anblick der
+Leichen. Wir beschlossen, uns davon zu befreien und sie ueber Bord zu
+werfen; aber wie schauerlich ward uns zumut, als wir fanden, dass sich
+keiner aus seiner Lage bewegen liess. Wie festgebannt lagen sie am
+Boden, und man haette den Boden des Verdecks ausheben muessen, um sie
+zu entfernen, und dazu gebrach es uns an Werkzeugen. Auch der
+Kapitano liess sich nicht von seinem Mast losmachen; nicht einmal
+seinen Saebel konnten wir der starren Hand entwinden. Wir brachten
+den Tag in trauriger Betrachtung unserer Lage zu, und als es Nacht zu
+werden anfing, erlaubte ich dem alten Ibrahim, sich schlafen zu legen,
+ich selbst aber wollte auf dem Verdeck wachen, um nach Rettung
+auszuspaehen. Als aber der Mond heraufkam und ich nach den Gestirnen
+berechnete, dass es wohl um die elfte Stunde sei, ueberfiel mich ein so
+unwiderstehlicher Schlaf, dass ich unwillkuerlich hinter ein Fass, das
+auf dem Verdeck stand, zurueckfiel. Doch war es mehr Betaeubung als
+Schlaf, denn ich hoerte deutlich die See an der Seite des Schiffes
+anschlagen und die Segel vom Winde knarren und pfeifen. Auf einmal
+glaubte ich Stimmen und Maennertritte auf dem Verdeck zu hoeren. Ich
+wollte mich aufrichten, um danach zu schauen. Aber eine unsichtbare
+Gewalt hielt meine Glieder gefesselt; nicht einmal die Augen konnte
+ich aufschlagen. Aber immer deutlicher wurden die Stimmen, es war
+mir, als wenn ein froehliches Schiffsvolk auf dem Verdeck sich
+umhertriebe; mitunter glaubte ich, die kraeftige Stimme eines
+Befehlenden zu hoeren, auch hoerte ich Taue und Segel deutlich auf- und
+abziehen. Nach und nach aber schwanden mir die Sinne, ich verfiel in
+einen tieferen Schlaf, in dem ich nur noch ein Geraeusch von Waffen zu
+hoeren glaubte, und erwachte erst, als die Sonne schon hoch stand und
+mir aufs Gesicht brannte. Verwundert schaute ich mich um, Sturm,
+Schiff, die Toten und was ich in dieser Nacht gehoert hatte, kam mir
+wie ein Traum vor, aber als ich aufblickte, fand ich alles wie
+gestern. Unbeweglich lagen die Toten, unbeweglich war der Kapitano
+an den Mastbaum geheftet. Ich lachte ueber meinen Traum und stand auf,
+um meinen Alten zu suchen.
+
+Dieser sass ganz nachdenklich in der Kajuete. "O Herr!" rief er aus,
+als ich zu ihm hineintrat, "ich wollte lieber im tiefsten Grund des
+Meeres liegen, als in diesem verhexten Schiff noch eine Nacht
+zubringen." Ich fragte ihn nach der Ursache seines Kummers, und er
+antwortete mir: "Als ich einige Stunden geschlafen hatte, wachte ich
+auf und vernahm, wie man ueber meinem Haupt hin und her lief. Ich
+dachte zuerst, Ihr waeret es, aber es waren wenigstens zwanzig, die
+oben umherliefen; auch hoerte ich rufen und schreien. Endlich kamen
+schwere Tritte die Treppe herab. Da wusste ich nichts mehr von mir,
+nur hie und da kehrte auf einige Augenblicke meine Besinnung zurueck,
+und da sah ich dann denselben Mann, der oben am Mast angenagelt ist,
+an jenem Tisch dort sitzen, singend und trinkend; aber der, der in
+einem roten Scharlachkleid nicht weit von ihm am Boden liegt, sass
+neben ihm und half ihm trinken." Also erzaehlte mir mein alter Diener.
+
+Ihr koennt mir es glauben, meine Freunde, dass mir gar nicht wohl
+zumute war; denn es war keine Taeuschung, ich hatte ja auch die Toten
+gar wohl gehoert. In solcher Gesellschaft zu schiffen, war mir
+greulich. Mein Ibrahim aber versank wieder in tiefes Nachdenken.
+"Jetzt hab' ich's!" rief er endlich aus; es fiel ihm naemlich ein
+Spruechlein ein, das ihn sein Grossvater, ein erfahrener, weitgereister
+Mann, gelehrt hatte und das gegen jeden Geister- und Zauberspuk
+helfen sollte; auch behauptete er, jenen unnatuerlichen Schlaf, der
+uns befiel, in der naechsten Nacht verhindern zu koennen, wenn wir
+naemlich recht eifrig Sprueche aus dem Koran beteten. Der Vorschlag
+des alten Mannes gefiel mir wohl. In banger Erwartung sahen wir die
+Nacht herankommen. Neben der Kajuete war ein kleines Kaemmerchen,
+dorthin beschlossen wir uns zurueckzuziehen. Wir bohrten mehrere
+Loecher in die Tuere, hinlaenglich gross, um durch sie die ganze Kajuete
+zu ueberschauen, dann verschlossen wir die Tuere, so gut es ging, von
+innen, und Ibrahim schrieb den Namen des Propheten in alle vier Ecken.
+So erwarteten wir die Schrecken der Nacht. Es mochte wieder
+ungefaehr elf Uhr sein, als es mich gewaltig zu schlaefern anfing.
+Mein Gefaehrte riet mir daher, einige Sprueche des Korans zu beten, was
+mir auch half. Mit einem Male schien es oben lebhaft zu werden; die
+Taue knarrten, Schritte gingen ueber das Verdeck, und mehrere Stimmen
+waren deutlich zu unterscheiden--Mehrere Minuten hatten wir so in
+gespannter Erwartung gesessen, da hoerten wir etwas die Treppe der
+Kajuete herabkommen. Als dies der Alte hoerte, fing er an, den Spruch,
+den ihn sein Grossvater gegen Spuk und Zauberei gelehrt hatte,
+herzusagen:
+
+"Kommt ihr herab aus der Luft,
+Steigt ihr aus tiefem Meer,
+Schlieft ihr in dunkler Gruft,
+Stammt ihr vom Feuer her:
+Allah ist euer Herr und Meister,
+ihm sind gehorsam alle Geister."
+
+Ich muss gestehen, ich glaubte gar nicht recht an diesen Spruch, und
+mir stieg das Haar zu Berg, als die Tuer aufflog. Herein trat jener
+grosse, stattliche Mann, den ich am Mastbaum angenagelt gesehen hatte.
+Der Nagel ging ihm auch jetzt mitten durchs Hirn; das Schwert aber
+hatte er in die Scheide gesteckt; hinter ihm trat noch ein anderer
+herein, weniger kostbar gekleidet; auch ihn hatte ich oben liegen
+sehen. Der Kapitano, denn dies war er unverkennbar, hatte ein
+bleiches Gesicht, einen grossen, schwarzen Bart, wildrollende Augen,
+mit denen er sich im ganzen Gemach umsah. Ich konnte ihn ganz
+deutlich sehen, als er an unserer Tuere vorueberging; er aber schien
+gar nicht auf die Tuere zu achten, die uns verbarg. Beide setzten
+sich an den Tisch, der in der Mitte der Kajuete stand, und sprachen
+laut und fast schreiend miteinander in einer unbekannten Sprache.
+Sie wurden immer lauter und eifriger, bis endlich der Kapitano mit
+geballter Faust auf den Tisch hineinschlug, dass das Zimmer droehnte.
+Mit wildem Gelaechter sprang der andere auf und winkte dem Kapitano,
+ihm zu folgen. Dieser stand auf, riss seinen Saebel aus der Scheide,
+und beide verliessen das Gemach. Wir atmeten freier, als sie weg
+waren; aber unsere Angst hatte noch lange kein Ende. Immer lauter
+und lauter ward es auf dem Verdeck. Man hoerte eilends hin und her
+laufen und schreien, lachen und heulen. Endlich ging ein wahrhaft
+hoellischer Laerm los, so dass wir glaubten, das Verdeck mit allen
+Segeln komme zu uns herab, Waffengeklirr und Geschrei--auf einmal
+aber tiefe Stille. Als wir es nach vielen Stunden wagten
+hinaufzugehen, trafen wir alles wie sonst; nicht einer lag anders als
+frueher. Alle waren steif wie Holz.
+
+So waren wir mehrere Tage auf dem Schiffe; es ging immer nach Osten,
+wohin zu, nach meiner Berechnung, Land liegen musste; aber wenn es
+auch bei Tag viele Meilen zurueckgelegt hatte, bei Nacht schien es
+immer wieder zurueckzukehren, denn wir befanden uns immer wieder am
+naemlichen Fleck, wenn die Sonne aufging. Wir konnten uns dies nicht
+anders erklaeren, als dass die Toten jede Nacht mit vollem Winde
+zuruecksegelten. Um nun dies zu verhueten, zogen wir, ehe es Nacht
+wurde, alle Segel ein und wandten dasselbe Mittel an wie bei der Tuere
+in der Kajuete; wir schrieben den Namen des Propheten auf Pergament
+und auch das Spruechlein des Grossvaters dazu und banden es um die
+eingezogenen Segel. Aengstlich warteten wir in unserem Kaemmerchen
+den Erfolg ab. Der Spuk schien diesmal noch aerger zu toben, aber
+siehe, am anderen Morgen waren die Segel noch aufgerollt, wie wir sie
+verlassen hatten. Wir spannten den Tag ueber nur so viele Segel auf,
+als noetig waren, das Schiff sanft fortzutreiben, und so legten wir in
+fuenf Tagen eine gute Strecke zurueck.
+
+Endlich, am Morgen des sechsten Tages, entdeckten wir in geringer
+Ferne Land, und wir dankten Allah und seinem Propheten fuer unsere
+wunderbare Rettung. Diesen Tag und die folgende Nacht trieben wir an
+einer Kueste hin, und am siebenten Morgen glaubten wir in geringer
+Entfernung eine Stadt zu entdecken; wir liessen mit vieler Muehe einen
+Anker in die See, der alsobald Grund fasste, setzten ein kleines Boot,
+das auf dem Verdeck stand, aus und ruderten mit aller Macht der Stadt
+zu. Nach einer halben Stunde liefen wir in einen Fluss ein, der sich
+in die See ergoss, und stiegen ans Ufer. Am Stadttor erkundigten wir
+uns, wie die Stadt heisse, und erfuhren, dass es eine indische Stadt
+sei, nicht weit von der Gegend, wohin ich zuerst zu schiffen willens
+war. Wir begaben uns in eine Karawanserei und erfrischten uns von
+unserer abenteuerlichen Reise. Ich forschte daselbst auch nach einem
+weisen und verstaendigen Manne, indem ich dem Wirt zu verstehen gab,
+dass ich einen solchen haben moechte, der sich ein wenig auf Zauberei
+verstehe. Er fuehrte mich in eine abgelegene Strasse, an ein
+unscheinbares Haus, pochte an, und man liess mich eintreten mit der
+Weisung, ich solle nur nach Muley fragen.
+
+In dem Hause kam mir ein altes Maennlein mit grauem Bart und langer
+Nase entgegen und fragte nach meinem Begehr. Ich sagte ihm, ich
+suche den weisen Muley, und er antwortete mir, er sei es selbst. Ich
+fragte ihn nun um Rat, was ich mit den Toten machen solle und wie ich
+es angreifen muesse, um sie aus dem Schiff zu bringen. Er antwortete
+mir, die Leute des Schiffes seien wahrscheinlich wegen irgendeines
+Frevels auf das Meer verzaubert; er glaube, der Zauber werde sich
+loesen, wenn man sie ans Land bringe; dies koenne aber nicht geschehen,
+als wenn man die Bretter, auf denen sie laegen, losmache. Mir gehoere
+von Gott und Rechts wegen das Schiff samt allen Guetern, weil ich es
+gleichsam gefunden habe; doch solle ich alles sehr geheimzuhalten
+trachten und ihm ein kleines Geschenk von meinem Ueberfluss machen; er
+wolle dafuer mit seinen Sklaven mir behilflich sein, die Toten
+wegzuschaffen. Ich versprach, ihn reichlich zu belohnen, und wir
+machten uns mit fuenf Sklaven, die mit Saegen und Beilen versehen waren,
+auf den Weg. Unterwegs konnte der Zauberer Muley unseren gluecklichen
+Einfall, die Segel mit den Spruechen des Korans zu umwinden, nicht
+genug loben. Er sagte, es sei dies das einzige Mittel gewesen, uns
+zu retten.
+
+Es war noch ziemlich frueh am Tage, als wir beim Schiff ankamen. Wir
+machten uns alle sogleich ans Werk, und in einer Stunde lagen schon
+vier in dem Nachen. Einige der Sklaven mussten sie an Land rudern, um
+sie dort zu verscharren. Sie erzaehlten, als sie zurueckkamen, die
+Toten haetten ihnen die Muehe des Begrabens erspart, indem sie, sowie
+man sie auf die Erde gelegt habe, in Staub zerfallen seien. Wir
+fuhren fort, die Toten abzusaegen, und bis vor Abend waren alle an
+Land gebracht. Es war endlich keiner mehr an Bord als der, welcher
+am Mast angenagelt war. Umsonst suchten wir den Nagel aus dem Holze
+zu ziehen, keine Gewalt vermochte ihn auch nur ein Haarbreit zu
+verruecken. Ich wusste nicht, was anzufangen war; man konnte doch
+nicht den Mastbaum abhauen, um ihn ans Land zu fuehren. Doch aus
+dieser Verlegenheit half Muley. Er liess schnell einen Sklaven an
+Land rudern, um einen Topf mit Erde zu bringen. Als dieser
+herbeigeholt war, sprach der Zauberer geheimnisvolle Worte darueber
+aus und schuettete die Erde auf das Haupt des Toten. Sogleich schlug
+dieser die Augen auf, holte tief Atem, und die Wunde des Nagels in
+seiner Stirne fing an zu bluten. Wir zogen den Nagel jetzt leicht
+heraus, und der Verwundete fiel einem Sklaven in die Arme.
+
+"Wer hat mich hierhergefuehrt?" sprach er, nachdem er sich ein wenig
+erholt zu haben schien. Muley zeigte auf mich, und ich trat zu ihm.
+"Dank dir, unbekannter Fremdling, du hast mich von langen Qualen
+errettet. Seit fuenfzig Jahren schifft mein Leib durch diese Wogen,
+und mein Geist war verdammt, jede Nacht in ihn zurueckzukehren. Aber
+jetzt hat mein Haupt die Erde beruehrt, und ich kann versoehnt zu
+meinen Vaetern gehen."
+
+Ich bat ihn, uns doch zu sagen, wie er zu diesem schrecklichen
+Zustand gekommen sei, und er sprach: "Vor fuenfzig Jahren war ich ein
+maechtiger, angesehener Mann und wohnte in Algier; die Sucht nach
+Gewinn trieb mich, ein Schiff auszuruesten und Seeraub zu treiben.
+Ich hatte dieses Geschaeft schon einige Zeit fortgefuehrt, da nahm ich
+einmal auf Zante einen Derwisch an Bord, der umsonst reisen wollte.
+Ich und meine Gesellen waren rohe Leute und achteten nicht auf die
+Heiligkeit des Mannes; vielmehr trieb ich mein Gespoett mit ihm. Als
+er aber einst in heiligem Eifer mir meinen suendigen Lebenswandel
+verwiesen hatte, uebermannte mich nachts in meiner Kajuete, als ich mit
+meinem Steuermann viel getrunken hatte, der Zorn. Wuetend ueber das,
+was mir ein Derwisch gesagt hatte und was ich mir von keinem Sultan
+haette sagen lassen, stuerzte ich aufs Verdeck und stiess ihm meinen
+Dolch in die Brust. Sterbend verwuenschte er mich und meine
+Mannschaft, nicht sterben und nicht leben zu koennen, bis wir unser
+Haupt auf die Erde legten. Der Derwisch starb, und wir warfen ihn in
+die See und verlachten seine Drohungen; aber noch in derselben Nacht
+erfuellten sich seine Worte. Ein Teil meiner Mannschaft empoerte sich
+gegen mich--Mit fuerchterlicher Wut wurde gestritten, bis meine
+Anhaenger unterlagen und ich an den Mast genagelt wurde. Aber auch
+die Empoerer erlagen ihren Wunden, und bald war mein Schiff nur ein
+grosses Grab. Auch mir brachen die Augen, mein Atem hielt an, und ich
+meinte zu sterben. Aber es war nur eine Erstarrung, die mich
+gefesselt hielt; in der naechsten Nacht, zur naemlichen Stunde, da wir
+den Derwisch in die See geworfen, erwachten ich und alle meine
+Genossen, das Leben war zurueckgekehrt, aber wir konnten nichts tun
+und sprechen, als was wir in jener Nacht gesprochen und getan hatten.
+So segeln wir seit fuenfzig Jahren, koennen nicht leben, nicht sterben;
+denn wie konnten wir das Land erreichen? Mit toller Freude segelten
+wir allemal mit vollen Segeln in den Sturm, weil wir hofften, endlich
+an einer Klippe zu zerschellen und das muede Haupt auf dem Grund des
+Meeres zur Ruhe zu legen. Es ist uns nicht gelungen. Jetzt aber
+werde ich sterben. Noch einmal meinen Dank, unbekannter Retter, wenn
+Schaetze dich lohnen koennen, so nimm mein Schiff als Zeichen meiner
+Dankbarkeit."
+
+Der Kapitano liess sein Haupt sinken, als er so gesprochen hatte, und
+verschied. Sogleich zerfiel er auch, wie seine Gefaehrten, in Staub.
+Wir sammelten diesen in ein Kaestchen und begruben ihn an Land; aus
+der Stadt nahm ich aber Arbeiter, die mir mein Schiff in guten
+Zustand setzten. Nachdem ich die Waren, die ich an Bord hatte, gegen
+andere mit grossem Gewinn eingetauscht hatte, mietete ich Matrosen,
+beschenkte meinen Freund Muley reichlich und schiffte mich nach
+meinem Vaterlande ein. Ich machte aber einen Umweg, indem ich an
+vielen Inseln und Laendern landete und meine Waren zu Markt brachte.
+Der Prophet segnete mein Unternehmen. Nach dreiviertel Jahren lief
+ich, noch einmal so reich, als mich der sterbende Kapitaen gemacht
+hatte, in Balsora ein. Meine Mitbuerger waren erstaunt ueber meine
+Reichtuemer und mein Glueck und glaubten nicht anders, als dass ich das
+Diamantental des beruehmten Reisenden Sindbad gefunden habe. Ich liess
+sie in ihrem Glauben, von nun an aber mussten die jungen Leute von
+Balsora, wenn sie kaum achtzehn Jahre alt waren, in die Welt hinaus,
+um gleich mir ihr Glueck zu machen. Ich aber lebte ruhig und in
+Frieden, und alle fuenf Jahre mache ich eine Reise nach Mekka, um dem
+Herrn an heiliger Staette fuer seinen Segen zu danken und fuer den
+Kapitano und seine Leute zu bitten, dass er sie in sein Paradies
+aufnehme.
+
+--------------------------Die Reise der Karawane war den anderen Tag
+ohne Hindernis fuerder gegangen, und als man im Lagerplatz sich erholt
+hatte, begann Selim, der Fremde, zu Muley, dem juengsten der Kaufleute,
+also zu sprechen:
+
+"Ihr seid zwar der Juengste von uns, doch seid Ihr immer froehlich und
+wisst fuer uns gewiss irgendeinen guten Schwank. Tischet ihn auf, dass
+er uns erquicke nach der Hitze des Tages!"
+
+"Wohl moechte ich euch etwas erzaehlen", antwortete Muley, "das euch
+Spass machen koennte, doch der Jugend ziemt Bescheidenheit in allen
+Dingen; darum muessen meine aelteren Reisegefaehrten den Vorrang haben.
+Zaleukos ist immer so ernst und verschlossen, sollte er uns nicht
+erzaehlen, was sein Leben so ernst machte? Vielleicht, dass wir seinen
+Kummer, wenn er solchen hat, lindern koennen; denn gerne dienen wir
+dem Bruder, wenn er auch anderen Glaubens ist."
+
+Der Aufgerufene war ein griechischer Kaufmann, ein Mann in mittleren
+Jahren, schoen und kraeftig, aber sehr ernst. Ob er gleich ein
+Unglaeubiger (nicht Muselmann) war, so liebten ihn doch seine
+Reisegefaehrten, denn er hatte durch sein ganzes Wesen Achtung und
+Zutrauen eingefloesst. Er hatte uebrigens nur eine Hand, und einige
+seiner Gefaehrten vermuteten, dass vielleicht dieser Verlust ihn so
+ernst stimme.
+
+Zaleukos antwortete auf die zutrauliche Frage Muleys: "Ich bin sehr
+geehrt durch euer Zutrauen; Kummer habe ich keinen, wenigstens keinen,
+von welchem ihr auch mit dem besten Willen mir helfen koenntet. Doch
+weil Muley mir meinen Ernst vorzuwerfen scheint, so will ich euch
+einiges erzaehlen, was mich rechtfertigen soll, wenn ich ernster bin
+als andere Leute. Ihr sehet, dass ich meine linke Hand verloren habe.
+Sie fehlt mir nicht von Geburt an, sondern ich habe sie in den
+schrecklichsten Tagen meines Lebens eingebuesst. Ob ich die Schuld
+davon trage, ob ich unrecht habe, seit jenen Tagen ernster, als es
+meine Lage mit sich bringt, zu sein, moeget ihr beurteilen, wenn ihr
+vernommen habt die Geschichte von der abgehauenen Hand."
+
+
+
+
+Die Geschichte von der abgehauenen Hand
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Ich bin in Konstantinopel geboren; mein Vater war ein Dragoman
+(Dolmetscher) bei der Pforte (dem tuerkischen Hof) und trieb nebenbei
+einen ziemlich eintraeglichen Handel mit wohlriechenden Essenzen und
+seidenen Stoffen. Er gab mir eine gute Erziehung, indem er mich
+teils selbst unterrichtete, teils von einem unserer Priester mir
+Unterricht geben liess. Er bestimmte mich anfangs, seinen Laden
+einmal zu uebernehmen, als ich aber groessere Faehigkeiten zeigte, als er
+erwartet hatte, bestimmte er mich auf das Anraten seiner Freunde zum
+Arzt; weil ein Arzt, wenn er etwas mehr gelernt hat als die
+gewoehnlichen Marktschreier, in Konstantinopel sein Glueck machen kann.
+Es kamen viele Franken in unser Haus, und einer davon ueberredete
+meinen Vater, mich in sein Vaterland, nach der Stadt Paris, reisen zu
+lassen, wo man solche Sachen unentgeltlich und am besten lernen koenne.
+Er selbst aber wolle mich, wenn er zurueckreise, umsonst mitnehmen.
+Mein Vater, der in seiner Jugend auch gereist war, schlug ein, und
+der Franke sagte mir, ich koenne mich in drei Monaten bereithalten.
+Ich war ausser mir vor Freude, fremde Laender zu sehen.
+
+Der Franke hatte endlich seine Geschaefte abgemacht und sich zur Reise
+bereitet; am Vorabend der Reise fuehrte mich mein Vater in sein
+Schlafkaemmerlein. Dort sah ich schoene Kleider und Waffen auf dem
+Tische liegen. Was meine Blicke aber noch mehr anzog, war ein grosser
+Haufe Goldes, denn ich hatte noch nie so viel beieinander gesehen.
+Mein Vater umarmte mich und sagte: "Siehe, mein Sohn, ich habe dir
+Kleider zu der Reise besorgt. Jene Waffen sind dein, es sind die
+naemlichen, die mir dein Grossvater umhing, als ich in die Fremde
+auszog. Ich weiss, du kannst sie fuhren; gebrauche sie aber nie, als
+wenn du angegriffen wirst; dann aber schlage auch tuechtig drauf.
+Mein Vermoegen ist nicht gross; siehe, ich habe es in drei Teile
+geteilt, einer davon ist dein; einer davon ist mein Unterhalt und
+Notpfennig, der dritte aber sei mir ein heiliges, unantastbares Gut,
+er diene dir in der Stunde der Not!" So sprach mein alter Vater, und
+Traenen hingen ihm im Auge, vielleicht aus Ahnung, denn ich habe ihn
+nie wiedergesehen.
+
+Die Reise ging gut vonstatten; wir waren bald im Lande der Franken
+angelangt, und sechs Tagreisen nachher kamen wir in die grosse Stadt
+Paris. Hier mietete mir mein fraenkischer Freund ein Zimmer und riet
+mir, mein Geld, das in allem zweitausend Taler betrug, vorsichtig
+anzuwenden. Ich lebte drei Jahre in dieser Stadt und lernte, was ein
+tuechtiger Arzt wissen muss; ich muesste aber luegen, wenn ich sagte, dass
+ich gerne dort gewesen sei; denn die Sitten dieses Volkes gefielen
+mir nicht; auch hatte ich nur wenige gute Freunde dort, diese aber
+waren edle, junge Maenner.
+
+Die Sehnsucht nach der Heimat wurde endlich maechtig in mir; in der
+ganzen Zeit hatte ich nichts von meinem Vater gehoert, und ich ergriff
+daher eine guenstige Gelegenheit, nach Hause zu kommen.
+
+Es ging naemlich eine Gesandtschaft aus Frankenland nach der Hohen
+Pforte. Ich verdingte mich als Wundarzt in das Gefolge des Gesandten
+und kam gluecklich wieder nach Stambul. Das Haus meines Vaters aber
+fand ich verschlossen, und die Nachbarn staunten, als sie mich sahen,
+und sagten mir, mein Vater sei vor zwei Monaten gestorben. Jener
+Priester, der mich in meiner Jugend unterrichtet hatte, brachte nur
+den Schluessel; allein und verlassen zog ich in das veroedete Haus ein.
+Ich fand noch alles, wie es mein Vater verlassen hatte; nur das Gold,
+das er mir zu hinterlassen versprach, fehlte. Ich fragte den
+Priester darueber, und dieser verneigte sich und sprach: "Euer Vater
+ist als ein heiliger Mann gestorben; denn er hat sein Gold der Kirche
+vermacht." Dies war und blieb mir unbegreiflich; doch was wollte ich
+machen; ich hatte keine Zeugen gegen den Priester und musste froh sein,
+dass er nicht auch das Haus und die Waren meines Vaters als
+Vermaechtnis angesehen hatte.
+
+Dies war das erste Unglueck, das mich traf. Von jetzt an aber kam es
+Schlag auf Schlag. Mein Ruf als Arzt wollte sich gar nicht
+ausbreiten, weil ich mich schaemte, den Marktschreier zu machen, und
+ueberall fehlte mir die Empfehlung meines Vaters, der mich bei den
+Reichsten und Vornehmsten eingefuehrt haette, die jetzt nicht mehr an
+den armen Zaleukos dachten. Auch die Waren meines Vaters fanden
+keinen Abgang; denn die Kunden hatten sich nach seinem Tode verlaufen,
+und neue bekommt man nur langsam. Als ich einst trostlos ueber meine
+Lage nachdachte, fiel mir ein, dass ich oft in Franken Maenner meines
+Volkes gesehen hatte, die das Land durchzogen und ihre Waren auf den
+Maerkten der Staedte auslegten; ich erinnerte mich, dass man ihnen gerne
+abkaufte, weil sie aus der Fremde kamen, und dass man bei solchem
+Handel das Hundertfache erwerben koenne. Sogleich war auch mein
+Entschluss gefasst. Ich verkaufte mein vaeterliches Haus, gab einen
+Teil des geloesten Geldes einem bewaehrten Freunde zum Aufbewahren, von
+dem uebrigen aber kaufte ich, was man in Franken selten hat, wie
+Schals, seidene Zeuge, Salben und Oele, mietete einen Platz auf einem
+Schiff und trat so meine zweite Reise nach Franken an.
+
+Es schien, als ob das Glueck, sobald ich die Schloesser der Dardanellen
+im Ruecken hatte, mir wieder guenstig geworden waere. Unsere Fahrt war
+kurz und gluecklich. Ich durchzog die grossen und kleinen Staedte der
+Franken und fand ueberall willige Kaeufer meiner Waren. Mein Freund in
+Stambul sandte mir immer wieder frische Vorraete, und ich wurde von
+Tag zu Tag wohlhabender. Als ich endlich so viel erspart hatte, dass
+ich glaubte, ein groesseres Unternehmen wagen zu koennen, zog ich mit
+meinen Waren nach Italien. Etwas muss ich aber noch gestehen, was mir
+auch nicht wenig Geld einbrachte: ich nahm auch meine Arzneikunst zu
+Hilfe. Wenn ich in eine Stadt kam, liess ich durch Zettel verkuenden,
+dass ein griechischer Arzt da sei, der schon viele geheilt habe; und
+wahrlich, mein Balsam und meine Arzneien haben mir manche Zechine
+eingebracht.
+
+So war ich endlich nach der Stadt Florenz in Italien gekommen. Ich
+nahm mir vor, laengere Zeit in dieser Stadt zu bleiben, teils weil sie
+mir so wohl gefiel, teils auch, weil ich mich von den Strapazen
+meines Umherziehens erholen wollte. Ich mietete mir ein Gewoelbe in
+dem Stadtviertel St. Croce und nicht weit davon ein paar schoene
+Zimmer, die auf einen Altan fuehrten, in einem Wirtshaus. Sogleich
+liess ich auch meine Zettel umhertragen, die mich als Arzt und
+Kaufmann ankuendigten. Ich hatte kaum mein Gewoelbe eroeffnet, so
+stroemten auch die Kaeufer herzu, und ob ich gleich ein wenig hohe
+Preise hatte, so verkaufte ich doch mehr als andere, weil ich
+gefaellig und freundlich gegen meine Kunden war. Ich hatte schon vier
+Tage vergnuegt in Florenz verlebt, als ich eines Abends, da ich schon
+mein Gewoelbe schliessen und nur die Vorraete in meinen Salbenbuechsen
+nach meiner Gewohnheit noch einmal mustern wollte, in einer kleinen
+Buechse einen Zettel fand, den ich mich nicht erinnerte, hineingetan
+zu haben. Ich oeffnete den Zettel und fand darin eine Einladung,
+diese Nacht Punkt zwoelf Uhr auf der Bruecke, die man Ponte vecchio
+heisst, mich einzufinden. Ich sann lange darueber nach, wer es wohl
+sein koennte, der mich dorthin einlud, da ich aber keine Seele in
+Florenz kannte, dachte ich, man werde mich vielleicht heimlich zu
+irgendeinem Kranken fuehren wollen, was schon oefter geschehen war.
+Ich beschloss also hinzugehen, doch hing ich zur Vorsicht den Saebel um,
+den mir einst mein Vater geschenkt hatte.
+
+Als es stark gegen Mitternacht ging, machte ich mich auf den Weg und
+kam bald auf die Ponte vecchio. Ich fand die Bruecke verlassen und
+oede und beschloss zu warten, bis er erscheinen wuerde, der mich rief.
+Es war eine kalte Nacht; der Mond schien hell, und ich schaute hinab
+in die Wellen des Arno, die weithin im Mondlicht schimmerten. Auf
+den Kirchen der Stadt schlug es jetzt zwoelf Uhr; ich richtete mich
+auf, und vor mir stand ein grosser Mann, ganz in einen roten Mantel
+gehuellt, dessen einen Zipfel er vor das Gesicht hielt.
+
+Ich war von Anfang etwas erschrocken, weil er so ploetzlich hinter mir
+stand, fasste mich aber sogleich wieder und sprach: "Wenn Ihr mich
+habt hierher bestellt, so sagt an, was steht zu Eurem Befehl?"
+
+Der Rotmantel wandte sich um und sagte langsam: "Folge!" Da ward
+mir's doch etwas unheimlich zumute, mit diesem Unbekannten allein zu
+gehen; ich blieb stehen und sprach: "Nicht also, lieber Herr, wollet
+mir vorerst sagen, wohin; auch koennet Ihr mir Euer Gesicht ein wenig
+zeigen, dass ich sehe, ob Ihr Gutes mit mir vorhabt."
+
+Der Rote aber schien sich nicht darum zu kuemmern. "Wenn du nicht
+willst, Zaleukos, so bleibe!" antwortete er und ging weiter.
+
+Da entbrannte mein Zorn. "Meinet Ihr", rief ich aus, "ein Mann wie
+ich lasse sich von jedem Narren foppen, und ich werde in dieser
+kalten Nacht umsonst gewartet haben?" In drei Spruengen hatte ich ihn
+erreicht, packte ihn an seinem Mantel und schrie noch lauter, indem
+ich die andere Hand an den Saebel legte; aber der Mantel blieb mir in
+der Hand, und der Unbekannte war um die naechste Ecke verschwunden.
+Mein Zorn legte sich nach und nach; ich hatte doch den Mantel, und
+dieser sollte mir schon den Schluessel zu diesem wunderlichen
+Abenteuer geben.
+
+Ich hing ihn um und ging meinen Weg weiter nach Hause. Als ich kaum
+noch hundert Schritte davon entfernt war, streifte jemand dicht an
+mir vorueber und fluesterte in fraenkischer Sprache: "Nehmt Euch in acht,
+Graf, heute nacht ist nichts zu machen." Ehe ich mich aber umsehen
+konnte, war dieser Jemand schon vorbei, und ich sah nur noch einen
+Schatten an den Haeusern hinschweben. Dass dieser Zuruf den Mantel und
+nicht mich anging, sah ich ein; doch gab er mir kein Licht ueber die
+Sache. Am anderen Morgen ueberlegte ich, was zu tun sei. Ich war von
+Anfang gesonnen, den Mantel ausrufen zu lassen, als haette ich ihn
+gefunden; doch da konnte der Unbekannte ihn durch einen Dritten holen
+lassen, und ich haette dann keinen Aufschluss ueber die Sache gehabt.
+Ich besah, indem ich so nachdachte, den Mantel naeher. Er war von
+schwerem genuesischem Samt, purpurrot, mit astrachanischem Pelz
+verbraemt und reich mit Gold bestickt. Der prachtvolle Anblick des
+Mantels brachte mich auf einen Gedanken, den ich auszufuehren beschloss.
+
+Ich trug ihn in mein Gewoelbe und legte ihn zum Verkauf aus, setzte
+aber auf ihn einen so hohen Preis, dass ich gewiss war, keinen Kaeufer
+zu finden. Mein Zweck dabei war, jeden, der nach dem Pelz fragen
+wuerde, scharf ins Auge zu fassen; denn die Gestalt des Unbekannten,
+die sich mir nach Verlust des Mantels, wenn auch nur fluechtig, doch
+bestimmt zeigte, wollte ich aus Tausenden erkennen. Es fanden sich
+viele Kauflustige zu dem Mantel, dessen ausserordentliche Schoenheit
+alle Augen auf sich zog; aber keiner glich entfernt dem Unbekannten,
+keiner wollte den hohen Preis von zweihundert Zechinen dafuer bezahlen.
+Auffallend war mir dabei, dass, wenn ich einen oder den anderen
+fragte, ob denn sonst kein solcher Mantel in Florenz sei, alle mit
+"Nein!" antworteten und versicherten, eine so kostbare und
+geschmackvolle Arbeit nie gesehen zu haben.
+
+Es wollte schon Abend werden, da kam endlich ein junger Mann, der
+schon oft bei mir gewesen war und auch heute viel auf den Mantel
+geboten hatte, warf einen Beutel mit Zechinen auf den Tisch und rief:
+"Bei Gott! Zaleukos, ich muss deinen Mantel haben, und sollte ich zum
+Bettler darueber werden." Zugleich begann er, seine Goldstuecke
+aufzuzaehlen. Ich kam in grosse Not; ich hatte den Mantel nur
+ausgehaengt, um vielleicht die Blicke meines Unbekannten darauf zu
+ziehen, und jetzt kam ein junger Tor, um den ungeheuren Preis zu
+zahlen. Doch was blieb mir uebrig; ich gab nach, denn es tat mir auf
+der anderen Seite der Gedanke wohl, fuer mein naechtliches Abenteuer so
+schoen entschaedigt zu werden. Der Juengling hing sich den Mantel um
+und ging; er kehrte aber auf der Schwelle wieder um, indem er ein
+Papier, das am Mantel befestigt war, losmachte, mir zuwarf und sagte:
+"Hier, Zaleukos, haengt etwas, das wohl nicht zu dem Mantel gehoert."
+
+Gleichgueltig nahm ich den Zettel; aber siehe da, dort stand
+geschrieben: "Bringe heute nacht um die bewusste Stunde den Mantel auf
+die Ponte vecchio, vierhundert Zechinen warten deiner."
+
+Ich stand wie niedergedonnert. So hatte ich also mein Glueck selbst
+verscherzt und meinen Zweck gaenzlich verfehlt! Doch ich besann mich
+nicht lange, raffte die zweihundert Zechinen zusammen, sprang dem,
+der den Mantel gekauft hatte, nach und sprach: "Nehmt Eure Zechinen
+wieder, guter Freund, und lasst mir den Mantel, ich kann ihn unmoeglich
+hergeben." Dieser hielt die Sache von Anfang fuer Spass, als er aber
+merkte, dass es Ernst war, geriet er in Zorn ueber meine Forderung,
+schalt mich einen Narren, und so kam es endlich zu Schlaegen. Doch
+ich war so gluecklich, im Handgemenge ihm den Mantel zu entreissen, und
+wollte schon mit ihm davoneilen, als der junge Mann die Polizei zu
+Hilfe rief und mich mit sich vor Gericht zog. Der Richter war sehr
+erstaunt ueber die Anklage und sprach meinem Gegner den Mantel zu.
+Ich aber bot dem Juenglinge zwanzig, fuenfzig, achtzig, ja hundert
+Zechinen ueber seine zweihundert, wenn er mir den Mantel liesse. Was
+meine Bitten nicht vermochten, bewirkte mein Gold. Er nahm meine
+guten Zechinen, ich aber zog mit dem Mantel triumphierend ab und
+musste mir gefallen lassen, dass man mich in ganz Florenz fuer einen
+Wahnsinnigen hielt. Doch die Meinung der Leute war mir gleichgueltig;
+ich wusste es ja besser als sie, dass ich an dem Handel noch gewann.
+
+Mit Ungeduld erwartete ich die Nacht. Um dieselbe Zeit wie gestern
+ging ich, den Mantel unter dem Arm, auf die Ponte vecchio. Mit dem
+letzten Glockenschlag kam die Gestalt aus der Nacht heraus auf mich
+zu. Es war unverkennbar der Mann von gestern. "Hast du den Mantel?"
+wurde ich gefragt.
+
+"Ja, Herr", antwortete ich, "aber er kostete mich bar hundert
+Zechinen."
+
+"Ich weiss es", entgegnete jener. "Schau auf, hier sind vierhundert."
+Er trat mit mir an das breite Gelaender der Bruecke und zaehlte die
+Goldstuecke hin. Vierhundert waren es; praechtig blitzten sie im
+Mondschein, ihr Glanz erfreute mein Herz, ach! Es ahnete nicht, dass
+es seine letzte Freude sein werde. Ich steckte mein Geld in die
+Tasche und wollte mir nun auch den guetigen Unbekannten recht
+betrachten; aber er hatte eine Larve vor dem Gesicht, aus der mich
+dunkle Augen furchtbar anblitzten.
+
+"Ich danke Euch, Herr, fuer Eure Guete", sprach ich zu ihm, "was
+verlangt Ihr jetzt von mir? Das sage ich Euch aber vorher, dass es
+nichts Unrechtes sein darf."
+
+"Unnoetige Sorge", antwortete er, indem er den Mantel um die Schultern
+legte, "ich bedarf Eurer Hilfe als Arzt; doch nicht fuer einen
+Lebenden, sondern fuer einen Toten."
+
+"Wie kann das sein?" rief ich voll Verwunderung.
+
+"Ich kam mit meiner Schwester aus fernen Landen", erzaehlte er und
+winkte mir zugleich, ihm zu folgen. "Ich wohnte hier mit ihr bei
+einem Freund meines Hauses. Meine Schwester starb gestern schnell an
+einer Krankheit, und die Verwandten wollen sie morgen begraben. Nach
+einer alten Sitte unserer Familie aber sollen alle in der Gruft der
+Vaeter ruhen; viele, die in fremden Landen starben, ruhen dennoch dort
+einbalsamiert. Meinen Verwandten goenne ich nun ihren Koerper; meinem
+Vater aber muss ich wenigstens den Kopf seiner Tochter bringen, damit
+er sie noch einmal sehe." Diese Sitte, die Koepfe geliebter
+Anverwandten abzuschneiden, kam mir zwar etwas schrecklich vor; doch
+wagte ich nichts dagegen einzuwenden aus Furcht, den Unbekannten zu
+beleidigen. Ich sagte ihm daher, dass ich mit dem Einbalsamieren der
+Toten wohl umgehen koenne, und bat ihn, mich zu der Verstorbenen zu
+fuehren. Doch konnte ich mich nicht enthalten zu fragen, warum denn
+dies alles so geheimnisvoll und in der Nacht geschehen muesse. Er
+antwortete mir, dass seine Anverwandten, die seine Absicht fuer grausam
+hielten, bei Tage ihn abhalten wuerden; sei aber nur erst einmal der
+Kopf abgenommen, so koennten sie wenig mehr darueber sagen. Er haette
+mir zwar den Kopf bringen koennen; aber ein natuerliches Gefuehl halte
+ihn ab, ihn selbst abzunehmen.
+
+Wir waren indes bis an ein grosses, prachtvolles Haus gekommen. Mein
+Begleiter zeigte es mir als das Ziel unseres naechtlichen
+Spazierganges. Wir gingen an dem Haupttor des Hauses vorbei, traten
+in eine kleine Pforte, die der Unbekannte sorgfaeltig hinter sich
+zumachte, und stiegen nun im Finstern eine enge Wendeltreppe hinan.
+Sie fuehrte in einen spaerlich erleuchteten Gang, aus welchem wir in
+ein Zimmer gelangten, das eine Lampe, die an der Decke befestigt war,
+erleuchtete.
+
+In diesem Gemach stand ein Bett, in welchem der Leichnam lag. Der
+Unbekannte wandte sein Gesicht ab und schien Traenen verbergen zu
+wollen. Er deutete nach dem Bett, befahl mir, mein Geschaeft gut und
+schnell zu verrichten, und ging wieder zur Tuere hinaus.
+
+Ich packte meine Messer, die ich als Arzt immer bei mir fuehrte, aus
+und naeherte mich dem Bett. Nur der Kopf war von der Leiche sichtbar;
+aber dieser war so schoen, dass mich unwillkuerlich das innigste
+Mitleiden ergriff. In langen Flechten hing das dunkle Haar herab,
+das Gesicht war bleich, die Augen geschlossen. Ich machte zuerst
+einen Einschnitt in die Haut, nach der Weise der Aerzte, wenn sie ein
+Glied abschneiden. Sodann nahm ich mein schaerfstes Messer und
+schnitt mit einem Zug die Kehle durch. Aber welcher Schrecken! Die
+Tote schlug die Augen auf, schloss sie aber gleich wieder, und in
+einem tiefen Seufzer schien sie jetzt erst ihr Leben auszuhauchen.
+Zugleich schoss mir ein Strahl heissen Blutes aus der Wunde entgegen.
+Ich ueberzeugte mich, dass ich erst die Arme getoetet hatte; denn dass
+sie tot sei, war kein Zweifel, da es von dieser Wunde keine Rettung
+gab. Ich stand einige Minuten in banger Beklommenheit ueber das, was
+geschehen war. Hatte der Rotmantel mich betrogen, oder war die
+Schwester vielleicht nur scheintot gewesen? Das letztere schien mir
+wahrscheinlicher. Aber ich durfte dem Bruder der Verstorbenen nicht
+sagen, dass vielleicht ein weniger rascher Schnitt sie erweckt haette,
+ohne sie zu toeten, darum wollte ich den Kopf vollends abloesen; aber
+noch einmal stoehnte die Sterbende, streckt sich in schmerzhafter
+Bewegung aus und starb. Da uebermannte mich der Schrecken, und ich
+stuerzte schaudernd aus dem Gemach. Aber draussen im Gang war es
+finster; denn die Lampe war verloescht. Keine Spur von meinem
+Begleiter war zu entdecken, und ich musste aufs ungefaehr mich im
+Finstern an der Wand fortbewegen, um an die Wendeltreppe zu gelangen.
+Ich fand sie endlich und kam halb fallend, halb gleitend hinab.
+Auch unten war kein Mensch. Die Tuere fand ich nur angelehnt, und ich
+atmete freier, als ich auf der Strasse war; denn in dem Hause war mir
+ganz unheimlich geworden. Von Schrecken gespornt, rannte ich in
+meine Wohnung und begrub mich in die Polster meines Lagers, um das
+Schreckliche zu vergessen, das ich getan hatte. Aber der Schlaf floh
+mich, und erst der Morgen ermahnte mich wieder, mich zu fassen. Es
+war mir wahrscheinlich, dass der Mann, der mich zu dieser verruchten
+Tat, wie sie mir jetzt erschien, verfuehrt hatte, mich nicht angeben
+wuerde. Ich entschloss mich, gleich in mein Gewoelbe an mein Geschaeft
+zu gehen und womoeglich eine sorglose Miene anzunehmen. Aber ach!
+Ein neuer Umstand, den ich jetzt erst bemerkte, vermehrte noch meinen
+Kummer. Meine Muetze und mein Guertel wie auch meine Messer fehlten
+mir, und ich war ungewiss, ob ich sie in dem Zimmer der Getoeteten
+gelassen oder erst auf meiner Flucht verloren hatte. Leider schien
+das erste wahrscheinlicher, und man konnte mich also als Moerder
+entdecken.
+
+Ich oeffnete zur gewoehnlichen Zeit mein Gewoelbe. Mein Nachbar trat zu
+mir her, wie er alle Morgen zu tun pflegte, denn er war ein
+gespraechiger Mann. "Ei, was sagt Ihr zu der schrecklichen
+Geschichte", hub er an, "die heute nacht vorgefallen ist?" Ich tat,
+als ob ich nichts wuesste. "Wie, solltet Ihr nicht wissen, von was die
+ganze Stadt erfuellt ist? Nicht wissen, dass die schoenste Blume von
+Florenz, Bianka, die Tochter des Gouverneurs, in dieser Nacht
+ermordet wurde? Ach! Ich sah sie gestern noch so heiter durch die
+Strassen fahren mit ihrem Braeutigam, denn heute haetten sie Hochzeit
+gehabt."
+
+Jedes Wort des Nachbarn war mir ein Stich ins Herz. Und wie oft
+kehrte meine Marter wieder; denn jeder meiner Kunden erzaehlte mir die
+Geschichte, immer einer schrecklicher als der andere, und doch konnte
+keiner so Schreckliches sagen, als ich selbst gesehen hatte. Um
+Mittag ungefaehr trat ein Mann vom Gericht in mein Gewoelbe und bat
+mich, die Leute zu entfernen. "Signore Zaleukos", sprach er, indem
+er die Sachen, die ich vermisste, hervorzog, "gehoeren diese Sachen
+Euch zu?" Ich besann mich, ob ich sie nicht gaenzlich ableugnen sollte;
+aber als ich durch die halbgeoeffnete Tuer meinen Wirt und mehrere
+Bekannte, die wohl gegen mich zeugen konnten, erblickte, beschloss ich,
+die Sache nicht noch durch eine Luege zu verschlimmern, und bekannte
+mich zu den vorgezeigten Dingen. Der Gerichtsmann bat mich, ihm zu
+folgen, und fuehrte mich in ein grosses Gebaeude, das ich bald fuer das
+Gefaengnis erkannte. Dort wies er mir bis auf weiteres ein Gemach an.
+
+Meine Lage war schrecklich, als ich so in der Einsamkeit darueber
+nachdachte. Der Gedanke, gemordet zu haben, wenn auch ohne Willen,
+kehrte immer wieder. Auch konnte ich mir nicht verhehlen, dass der
+Glanz des Goldes meine Sinne befangen gehalten hatte; sonst haette ich
+nicht so blindlings in die Falle gehen koennen. Zwei Stunden nach
+meiner Verhaftung wurde ich aus meinem Gemach gefuehrt. Mehrere
+Treppen ging es hinab, dann kam man in einen grossen Saal. Um einen
+langen, schwarzbehaengten Tisch sassen dort zwoelf Maenner, meistens
+Greise. An den Seiten des Saales zogen sich Baenke herab, angefuellt
+mit den Vornehmsten von Florenz; auf den Galerien, die in der Hoehe
+angebracht waren, standen dicht gedraengt die Zuschauer. Als ich bis
+vor den schwarzen Tisch getreten war, erhob sich ein Mann mit
+finsterer, trauriger Miene; es war der Gouverneur. Er sprach zu den
+Versammelten, dass er als Vater in dieser Sache nicht richten koenne
+und dass er seine Stelle fuer diesmal an den aeltesten der Senatoren
+abtrete. Der aelteste der Senatoren war ein Greis von wenigstens
+neunzig Jahren. Er stand gebueckt, und seine Schlaefen waren mit
+duennem, weissem Haar umhaengt; aber feurig brannten noch seine Augen,
+und seine Stimme war stark und sicher. Er hub an, mich zu fragen, ob
+ich den Mord gestehe. Ich bat ihn um Gehoer und erzaehlte
+unerschrocken und mit vernehmlichen Stimme, was ich getan hatte und
+was ich wusste. Ich bemerkte, dass der Gouverneur waehrend meiner
+Erzaehlung bald blass, bald rot wurde, und als ich geschlossen, fuhr er
+wuetend auf: "Wie, Elender!" rief er mir zu, "so willst du ein
+Verbrechen, das du aus Habgier begangen, noch einem anderen
+aufbuerden?"
+
+Der Senator verwies ihm seine Unterbrechung, da er sich freiwillig
+seines Rechtes begeben habe; auch sei es gar nicht so erwiesen, dass
+ich aus Habgier gefrevelt; denn nach seiner eigenen Aussage sei ja
+der Getoeteten nichts gestohlen worden. Ja, er ging noch weiter; er
+erklaerte dem Gouverneur, dass er ueber das fruehere Leben seiner Tochter
+Rechenschaft geben muesse; denn nur so koenne man schliessen, ob ich die
+Wahrheit gesagt habe oder nicht. Zugleich hob er fuer heute das
+Gericht auf, um sich, wie er sagte, aus den Papieren der Verstorbenen,
+die ihm der Gouverneur uebergeben werde, Rat zu holen. Ich wurde
+wieder in mein Gefaengnis zurueckgefuehrt, wo ich einen schaurigen Tag
+verlebte, immer mit dem heissen Wunsch beschaeftigt, dass man doch
+irgendeine Verbindung zwischen der Toten und dem Rotmantel entdecken
+moechte. Voll Hoffnung trat ich den anderen Tag in den Gerichtssaal.
+Es lagen mehrere Briefe auf dem Tisch. Der alte Senator fragte mich,
+ob sie meine Handschrift seien. Ich sah sie an und fand, dass sie von
+derselben Hand sein muessten wie jene beiden Zettel, die ich erhalten.
+Ich aeusserte dies den Senatoren; aber man schien nicht darauf zu
+achten und antwortete, dass ich beides geschrieben haben koenne und
+muesse; denn der Namenszug unter den Briefen sei unverkennbar ein Z,
+der Anfangsbuchstabe meines Namens. Die Briefe aber enthielten
+Drohungen an die Verstorbene und Warnungen vor der Hochzeit, die sie
+zu vollziehen im Begriff war.
+
+Der Gouverneur schien sonderbare Aufschluesse in Hinsicht auf meine
+Person gegeben zu haben; denn man behandelte mich an diesem Tage
+misstrauischer und strenger. Ich berief mich zu meiner Rechtfertigung
+auf meine Papiere, die sich in meinem Zimmer finden muessten; aber man
+sagte mir, man habe nachgesucht und nichts gefunden. So schwand mir
+am Schlusse dieses Gerichts alle Hoffnung, und als ich am dritten Tag
+wieder in den Saal gefuehrt wurde, las man mir das Urteil vor, dass ich,
+eines vorsaetzlichen Mordes ueberwiesen, zum Tode verurteilt sei.
+Dahin also war es mit mir gekommen. Verlassen von allem, was mir auf
+Erden noch teuer war, fern von meiner Heimat, sollte ich unschuldig
+in der Bluete meiner Jahre vom Beile sterben.
+
+Ich sass am Abend dieses schrecklichen Tages, der ueber mein Schicksal
+entschieden hatte, in meinem einsamen Kerker; meine Hoffnungen waren
+dahin, meine Gedanken ernsthaft auf den Tod gerichtet. Da tat sich
+die Tuere meines Gefaengnisses auf, und ein Mann trat herein, der mich
+lange schweigend betrachtete. "So finde ich dich wieder, Zaleukos?"
+sagte er; ich hatte ihn bei dem matten Schein meiner Lampe nicht
+erkannt, aber der Klang seiner Stimme erweckte alte Erinnerungen in
+mir, es war Valetty, einer jener wenigen Freunde, die ich in der
+Stadt Paris waehrend meiner Studien kannte. Er sagte, dass er zufaellig
+nach Florenz gekommen sei, wo sein Vater als angesehener Mann wohne,
+er habe von meiner Geschichte gehoert und sei gekommen, um mich noch
+einmal zu sehen und von mir selbst zu erfahren, wie ich mich so
+schwer habe verschulden koennen. Ich erzaehlte ihm die ganze
+Geschichte. Er schien darueber sehr verwundert und beschwor mich, ihm,
+meinem einzigen Freunde, alles zu sagen, um nicht mit einer Luege von
+hinnen zu gehen. Ich schwor ihm mit dem teuersten Eid, dass ich wahr
+gesprochen und dass keine andere Schuld mich druecke, als dass ich, von
+dem Glanze des Goldes geblendet, das Unwahrscheinliche der Erzaehlung
+des Unbekannten nicht erkannt habe. "So hast du Bianka nicht
+gekannt?" fragte jener. Ich beteuerte ihm, sie nie gesehen zu haben.
+Valetty erzaehlte mir nun, dass ein tiefes Geheimnis auf der Tat liege,
+dass der Gouverneur meine Verurteilung sehr hastig betrieben habe,
+und es sei nun ein Geruecht unter die Leute gekommen, dass ich Bianka
+schon laengst gekannt und aus Rache ueber ihre Heirat mit einem anderen
+sie ermordet habe. Ich bemerkte ihm, dass dies alles ganz auf den
+Rotmantel passe, dass ich aber seine Teilnahme an der Tat mit nichts
+beweisen koenne. Valetty umarmte mich weinend und versprach mir,
+alles zu tun, um wenigstens mein Leben zu retten. Ich hatte wenig
+Hoffnung; doch wusste ich, dass Valetty ein weiser und der Gesetze
+kundiger Mann sei und dass er alles tun werde, mich zu retten. Zwei
+lange Tage war ich in Ungewissheit: Endlich erschien auch Valetty.
+"Ich bringe Trost, wenn auch einen schmerzlichen. Du wirst leben und
+frei sein; aber mit Verlust einer Hand." Geruehrt dankte ich meinem
+Freunde fuer mein Leben. Er sagte mir, dass der Gouverneur
+unerbittlich gewesen sei, die Sache noch einmal untersuchen zu lassen;
+dass er aber endlich, um nicht ungerecht zu erscheinen, bewilligt
+habe, wenn man in den Buechern der florentinischen Geschichte einen
+aehnlichen Fall finde, so solle meine Strafe sich nach der Strafe, die
+dort ausgesprochen sei, richten. Er und sein Vater haben nun Tag und
+Nacht in den alten Buechern gelesen und endlich einen ganz dem
+meinigen aehnlichen Fall gefunden. Dort laute die Strafe: Es soll ihm
+die linke Hand abgehauen, seine Gueter eingezogen, er selbst auf ewig
+verbannt werden. So laute jetzt auch meine Strafe, und ich solle
+mich jetzt bereiten zu der schmerzhaften Stunde, die meiner warte.
+Ich will euch nicht diese schreckliche Stunde vor das Auge fuehren, wo
+ich auf offenem Markt meine Hand auf den Block legte, wo mein eigenes
+Blut in weitem Bogen mich ueberstroemte!
+
+Valetty nahm mich in sein Haus auf, bis ich genesen war, dann versah
+er mich edelmuetig mit Reisegeld; denn alles, was ich mir so muehsam
+erworben, war eine Beute des Gerichts geworden. Ich reiste von
+Florenz nach Sizilien und von da mit dem ersten Schiff, das ich fand,
+nach Konstantinopel. Meine Hoffnung war auf die Summe gerichtet, die
+ich meinem Freunde uebergeben hatte, auch bat ich ihn, bei ihm wohnen
+zu duerfen; aber wie erstaunte ich, als dieser mich fragte, warum ich
+denn nicht mein Haus beziehe! Er sagte mir, dass ein fremder Mann
+unter meinem Namen ein Haus in dem Quartier der Griechen gekauft habe;
+derselbe habe auch den Nachbarn gesagt, dass ich bald selbst kommen
+werde. Ich ging sogleich mit meinem Freunde dahin und wurde von
+allen meinen Bekannten freudig empfangen. Ein alter Kaufmann gab mir
+einen Brief, den der Mann, der fuer mich gekauft hatte, hiergelassen
+habe.
+
+Ich las: "Zaleukos! Zwei Haende stehen bereit, rastlos zu schaffen,
+dass Du nicht fuehlest den Verlust der einen. Das Haus, das Du siehest,
+und alles, was darin ist, ist Dein, und alle Jahre wird man Dir so
+viel reichen, dass Du zu den Reichen Deines Volkes gehoeren wirst.
+Moegest Du dem vergeben, der ungluecklicher ist als Du." Ich konnte
+ahnen, wer es geschrieben, und der Kaufmann sagte mir auf meine Frage:
+Es sei ein Mann gewesen, den er fuer einen Franken gehalten, er habe
+einen roten Mantel angehabt. Ich wusste genug, um mir zu gestehen,
+dass der Unbekannte doch nicht ganz von aller edlen Gesinnung entbloesst
+sein muesse. In meinem neuen Haus fand ich alles aufs beste
+eingerichtet, auch ein Gewoelbe mit Waren, schoener als ich sie je
+gehabt. Zehn Jahre sind seitdem verstrichen; mehr aus alter
+Gewohnheit, als weil ich es noetig habe, setze ich meine Handelsreisen
+fort; doch habe ich jenes Land, wo ich so ungluecklich wurde, nie mehr
+gesehen. Jedes Jahr erhielt ich seitdem tausend Goldstuecke; aber,
+wenn es mir auch Freude macht, jenen Ungluecklichen edel zu wissen, so
+kann er mir doch den Kummer meiner Seele nicht abkaufen, denn ewig
+lebt in mir das grauenvolle Bild der ermordeten Bianka.
+
+--------------------------Zaleukos, der griechische Kaufmann, hatte
+seine Geschichte geendigt. Mit grosser Teilnahme hatten ihm die
+uebrigen zugehoert, besonders der Fremde schien sehr davon ergriffen zu
+sein; er hatte einigemal tief geseufzt, und Muley schien es sogar,
+als habe er einmal Traenen in den Augen gehabt. Sie besprachen sich
+noch lange Zeit ueber diese Geschichte.
+
+"Und hasst Ihr den Unbekannten nicht, der Euch so schnoed' um ein so
+edles Glied Eures Koerpers, der selbst Euer Leben in Gefahr brachte?"
+fragte der Fremde.
+
+"Wohl gab es in frueherer Zeit Stunden", antwortete der Grieche, "in
+denen mein Herz ihn vor Gott angeklagt, dass er diesen Kummer ueber
+mich gebracht und mein Leben vergiftet habe; aber ich fand Trost in
+dem Glauben meiner Vaeter, und dieser befiehlt mir, meine Feinde zu
+lieben; auch ist er wohl noch ungluecklicher als ich."
+
+"Ihr seid ein edler Mann!" rief der Fremde und drueckte geruehrt dem
+Griechen die Hand.
+
+Der Anfuehrer der Wache unterbrach sie aber in ihrem Gespraech. Er
+trat mit besorgter Miene in das Zelt und berichtete, dass man sich
+nicht der Ruhe ueberlassen duerfe; denn hier sei die Stelle, wo
+gewoehnlich die Karawanen angegriffen wuerden, auch glaubten seine
+Wachen, in der Entfernung mehrere Reiter zu sehen.
+
+Die Kaufleute waren sehr bestuerzt ueber diese Nachricht; Selim, der
+Fremde, aber wunderte sich ueber ihre Bestuerzung und meinte, dass sie
+so gut geschaetzt waeren, dass sie einen Trupp raeuberischer Araber nicht
+zu fuerchten brauchten.
+
+"Ja, Herr!" entgegnete ihm der Anfuehrer der Wache. "Wenn es nur
+solches Gesindel waere, koennte man sich ohne Sorge zur Ruhe legen;
+aber seit einiger Zeit zeigt sich der furchtbare Orbasan wieder, und
+da gilt es, auf seiner Hut zu sein."
+
+Der Fremde fragte, wer denn dieser Orbasan sei, und Achmet, der alte
+Kaufmann, antwortete ihm: "Es gehen allerlei Sagen unter dem Volke
+ueber diesen wunderbaren Mann. Die einen halten ihn fuer ein
+uebermenschliches Wesen, weil er oft mit fuenf bis sechs Maennern zumal
+einen Kampf besteht, andere halten ihn fuer einen tapferen Franken,
+den das Unglueck in diese Gegend verschlagen habe; von allem aber ist
+nur so viel gewiss, dass er ein verruchter Moerder und Dieb ist."
+
+"Das koennt Ihr aber doch nicht behaupten", entgegnete ihm Lezah,
+einer der Kaufleute. "Wenn er auch ein Raeuber ist, so ist er doch
+ein edler Mann, und als solcher hat er sich an meinem Bruder bewiesen,
+wie ich Euch erzaehlen koennte. Er hat seinen ganzen Stamm zu
+geordneten Menschen gemacht, und so lange er die Wueste durchstreift,
+darf kein anderer Stamm es wagen, sich sehen zu lassen. Auch raubt
+er nicht wie andere, sondern er erhebt nur ein Schutzgeld von den
+Karawanen, und wer ihm dieses willig bezahlt, der ziehet ungefaehrdet
+weiter; denn Orbasan ist der Herr der Wueste."
+
+Also sprachen unter sich die Reisenden im Zelte; die Wachen aber, die
+um den Lagerplatz ausgestellt waren, begannen unruhig zu werden. Ein
+ziemlich bedeutender Haufe bewaffneter Reiter zeigte sich in der
+Entfernung einer halben Stunde; sie schienen gerade auf das Lager
+zuzureiten. Einer der Maenner von der Wache ging daher in das Zelt,
+um zu verkuenden, dass sie wahrscheinlich angegriffen wuerden. Die
+Kaufleute berieten sich untereinander, was zu tun sei, ob man ihnen
+entgegengehen oder den Angriff abwarten solle. Achmet und die zwei
+aelteren Kaufleute wollten das letztere, der feurige Muley aber und
+Zaleukos verlangten das erstere und riefen den Fremden zu ihrem
+Beistand auf. Dieser zog ruhig ein kleines, blaues Tuch mit roten
+Sternen aus seinem Guertel hervor, band es an eine Lanze und befahl
+einem der Sklaven, es auf das Zelt zu stecken; er setze sein Leben
+zum Pfand, sagte er, die Reiter werden, wenn sie dieses Zeichen sehen,
+ruhig vorueberziehen. Muley glaubte nicht an den Erfolg, der Sklave
+aber steckte die Lanze auf das Zelt. Inzwischen hatten alle, die im
+Lager waren, zu den Waffen gegriffen und sahen in gespannter
+Erwartung den Reitern entgegen. Doch diese schienen das Zeichen auf
+dem Zelte erblickt zu haben, sie wichen ploetzlich von ihrer Richtung
+auf das Lager ab und zogen in einem grossen Bogen auf der Seite hin.
+
+Verwundert standen einige Augenblicke die Reisenden und sahen bald
+auf die Reiter, bald auf den Fremden. Dieser stand ganz gleichgueltig,
+wie wenn nichts vorgefallen waere, vor dem Zelte und blickte ueber die
+Ebene hin. Endlich brach Muley das Stillschweigen. "Wer bist du,
+maechtiger Fremdling", rief er aus, "der du die wilden Horden der
+Wueste durch einen Wink bezaehmst?"
+
+"Ihr schlagt meine Kunst hoeher an, als sie ist", antwortete Selim
+Baruch. "Ich habe mich mit diesem Zeichen versehen, als ich der
+Gefangenschaft entfloh; was es zu bedeuten hat, weiss ich selbst nicht;
+nur so viel weiss ich, dass, wer mit diesem Zeichen reiset, unter
+maechtigem Schutze steht."
+
+Die Kaufleute dankten dem Fremden und nannten ihn ihren Erretter.
+Wirklich war auch die Anzahl der Reiter so gross gewesen, dass wohl die
+Karawane nicht lange haette Widerstand leisten koennen.
+
+Mit leichterem Herzen begab man sich jetzt zur Ruhe, und als die
+Sonne zu sinken begann und der Abendwind ueber die Sandebene hinstrich,
+brachen sie auf und zogen weiter.
+
+Am naechsten Tage lagerten sie ungefaehr nur noch eine Tagreise von dem
+Ausgang der Wueste entfernt. Als sich die Reisenden wieder in dem
+grossen Zelt versammelt hatten, nahm Lezah, der Kaufmann, das Wort:
+
+"Ich habe euch gestern gesagt, dass der gefuerchtete Orbasan ein edler
+Mann sei, erlaubt mir, dass ich es euch heute durch die Erzaehlung der
+Schicksale meines Bruders beweise. Mein Vater war Kadi in Akara. Er
+hatte drei Kinder. Ich war der Aelteste, ein Bruder und eine
+Schwester waren bei weitem juenger als ich. Als ich zwanzig Jahre alt
+war, rief mich ein Bruder meines Vaters zu sich. Er setzte mich zum
+Erben seiner Gueter ein, mit der Bedingung, dass ich bis zu seinem Tode
+bei ihm bleibe. Aber er erreichte ein hohes Alter, so dass ich erst
+vor zwei Jahren in meine Heimat zurueckkehrte und nichts davon wusste,
+welch schreckliches Schicksal indes mein Haus betroffen und wie guetig
+Allah es gewendet hatte."
+
+
+
+
+Die Errettung Fatmes
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Mein Bruder Mustapha und meine Schwester Fatme waren beinahe in
+gleichem Alter; jener hatte hoechstens zwei Jahre voraus. Sie liebten
+einander innig und trugen vereint alles bei, was unserem kraenklichen
+Vater die Last seines Alters erleichtern konnte. An Fatmes
+sechzehntem Geburtstage veranstaltete der Bruder ein Fest. Er liess
+alle ihre Gespielinnen einladen, setzte ihnen in dem Garten des
+Vaters ausgesuchte Speisen vor, und als es Abend wurde, lud er sie
+ein, auf einer Barke, die er gemietet und festlich geschmueckt hatte,
+ein wenig hinaus in die See zu fahren. Fatme und ihre Gespielinnen
+willigten mit Freuden ein; denn der Abend war schoen, und die Stadt
+gewaehrte besonders abends, von dem Meere aus betrachtet, einen
+herrlichen Anblick. Den Maedchen aber gefiel es so gut auf der Barke,
+dass sie meinen Bruder bewogen, immer weiter in die See hinauszufahren.
+Mustapha gab aber ungern nach, weil sich vor einigen Tagen ein
+Korsar hatte sehen lassen. Nicht weit von der Stadt zieht sich ein
+Vorgebirge in das Meer. Dorthin wollten noch die Maedchen, um von da
+die Sonne in das Meer sinken zu sehen. Als sie um das Vorgebirg'
+herumruderten, sahen sie in geringer Entfernung eine Barke, die mit
+Bewaffneten besetzt war. Nichts Gutes ahnend, befahl mein Bruder den
+Ruderern, sein Schiff zu drehen und dem Lande zuzurudern. Wirklich
+schien sich auch seine Besorgnis zu bestaetigen; denn jene Barke kam
+der meines Bruders schnell nach, ueberholte sie, da sie mehr Ruder
+hatte, und hielt sich immer zwischen dem Land, und unserer Barke.
+Die Maedchen aber, als sie die Gefahr erkannten, in der sie schwebten,
+sprangen auf und schrien und klagten; umsonst suchte sie Mustapha zu
+beruhigen, umsonst stellte er ihnen vor, ruhig zu bleiben, weil sie
+durch ihr Hin- und Herrennen die Barke in Gefahr braechten
+umzuschlagen. Es half nichts, und da sie sich endlich bei Annaeherung
+des anderen Bootes alle auf die hintere Seite der Barke stuerzten,
+schlug diese um. Indessen aber hatte man vom Land aus die Bewegungen
+des fremden Bootes beobachtet, und da man schon seit einiger Zeit
+Besorgnisse wegen Korsaren hegte, hatte dieses Boot Verdacht erregt,
+und mehrere Barken stiessen vom Lande, um den Unsrigen beizustehen.
+Aber sie kamen nur noch zu rechter Zeit, um die Untersinkenden
+aufzunehmen. In der Verwirrung war das feindliche Boot entwischt,
+auf den beiden Barken aber, welche die Geretteten aufgenommen hatten,
+war man ungewiss, ob alle gerettet seien. Man naeherte sich
+gegenseitig, und ach! Es fand sich, dass meine Schwester und eine
+ihrer Gespielinnen fehlten; zugleich entdeckte man aber einen Fremden
+in einer der Barken, den niemand kannte. Auf die Drohungen Mustaphas
+gestand er, dass er zu dem feindlichen Schiff, das zwei Meilen
+ostwaerts vor Anker liege, gehoere, und dass ihn seine Gefaehrten auf
+ihrer eiligen Flucht im Stich gelassen haetten, indem er im Begriff
+gewesen sei, die Maedchen auffischen zu helfen; auch sagte er aus, dass
+er gesehen habe, wie man zwei derselben in das Schiff gezogen.
+
+Der Schmerz meines alten Vaters war grenzenlos, aber auch Mustapha
+war bis zum Tod betruebt, denn nicht nur, dass seine geliebte Schwester
+verloren war und dass er sich anklagte, an ihrem Unglueck schuld zu
+sein--jene Freundin Fatmes, die ihr Unglueck teilte, war von ihren
+Eltern ihm zur Gattin zugesagt gewesen, und nur unserem Vater hatte
+er es noch nicht zu gestehen gewagt, weil ihre Eltern arm und von
+geringer Abkunft waren. Mein Vater aber war ein strenger Mann; als
+sein Schmerz sich ein wenig gelegt hatte, liess er Mustapha vor sich
+kommen und sprach zu ihm: "Deine Torheit hat mir den Trost meines
+Alters und die Freude meiner Augen geraubt. Gehe hin, ich verbanne
+dich auf ewig von meinem Angesicht, ich fluche dir und deinen
+Nachkommen, aber nur, wenn du mir Fatme wiederbringst, soll dein
+Haupt rein sein von dem Fluche des Vaters."
+
+Dies hatte mein armer Bruder nicht erwartet; schon vorher hatte er
+sich entschlossen gehabt, seine Schwester und ihre Freundin
+aufzusuchen, und wollte sich nur noch den Segen des Vaters dazu
+erbitten, und jetzt schickte er ihn, mit dem Fluch beladen, in die
+Welt. Aber hatte ihn jener Jammer vorher gebeugt, so staehlte jetzt
+die Fuelle des Ungluecks, das er nicht verdient hatte, seinen Mut.
+
+Er ging zu dem gefangenen Seeraeuber und befragte ihn, wohin die Fahrt
+seines Schiffes ginge, und erfuhr, dass sie Sklavenhandel trieben und
+gewoehnlich in Balsora grossen Markt hielten.
+
+Als er wieder nach Hause kam, um sich zur Reise anzuschicken, schien
+sich der Zorn des Vaters ein wenig gelegt zu haben, denn er sandte
+ihm einen Beutel mit Gold zur Unterstuetzung auf der Reise. Mustapha
+aber nahm weinend von den Eltern Zoraides, so hiess seine geliebte
+Braut, Abschied und machte sich auf den Weg nach Balsora.
+
+Mustapha machte die Reise zu Land, weil von unserer kleinen Stadt aus
+nicht gerade ein Schiff nach Balsora ging. Er musste daher sehr
+starke Tagreisen machen, um nicht zu lange nach den Seeraeubern nach
+Balsora zu kommen; doch da er ein gutes Ross und kein Gepaeck hatte,
+konnte er hoffen, diese Stadt am Ende des sechsten Tages zu erreichen.
+Aber am Abend des vierten Tages, als er ganz allein seines Weges
+ritt, fielen ihn ploetzlich drei Maenner an. Da er merkte, dass sie gut
+bewaffnet und stark seien und dass es mehr auf sein Geld und sein Ross
+als auf sein Leben abgesehen war, so rief er ihnen zu, dass er sich
+ihnen ergeben wolle. Sie stiegen von ihren Pferden ab und banden ihm
+die Fuesse unter dem Bauch seines Tieres zusammen; ihn selbst aber
+nahmen sie in die Mitte und trabten, indem einer den Zuegel seines
+Pferdes ergriff, schnell mit ihm davon, ohne jedoch ein Wort zu
+sprechen.
+
+Mustapha gab sich einer dumpfen Verzweiflung hin, der Fluch seines
+Vaters schien schon jetzt an dem Ungluecklichen in Erfuellung zu gehen,
+und wie konnte er hoffen, seine Schwester und Zoraide zu retten, wenn
+er, aller Mittel beraubt, nur sein aermliches Leben zu ihrer Befreiung
+aufwenden konnte. Mustapha und seine stummen Begleiter mochten wohl
+eine Stunde geritten sein, als sie in ein kleines Seitental einbogen.
+Das Taelchen war von hohen Baeumen eingefasst; ein weicher dunkelgruener
+Rasen, ein Bach, der schnell durch seine Mitte hinrollte, luden zur
+Ruhe ein. Wirklich sah er auch fuenfzehn bis zwanzig Zelte dort
+aufgeschlagen; an den Pfloecken der Zelte waren Kamele und schoene
+Pferde angebunden, aus einem der Zelte hervor toente die lustige Weise
+einer Zither und zweier schoener Maennerstimmen. Meinem Bruder schien
+es, als ob Leute, die ein so froehliches Lagerplaetzchen sich erwaehlt
+hatten, nichts Boeses gegen ihn im Sinne haben koennten, und er folgte
+also ohne Bangigkeit dem Ruf seiner Fuehrer, die, als sie seine Bande
+geloest hatten, ihm winkten, abzusteigen. Man fuehrte ihn in ein Zelt,
+das groesser als die uebrigen und im Innern huebsch, fast zierlich
+aufgeputzt war. Praechtige, goldbestickte Polster, gewirkte
+Fussteppiche, uebergoldete Rauchpfannen haetten anderswo Reichtum und
+Wohlleben verraten; hier schienen sie nur kuehner Raub. Auf einem der
+Polster sass ein alter kleiner Mann; sein Gesicht war haesslich, seine
+Haut schwarzbraun und glaenzend, und ein widriger Zug von tueckischer
+Schlauheit um Augen und Mund machte seinen Anblick verhasst. Obgleich
+sich dieser Mann einiges Ansehen zu geben suchte, so merkte doch
+Mustapha bald, dass nicht fuer ihn das Zelt so reich geschmueckt sei,
+und die Unterredung seiner Fuehrer schien seine Bemerkung zu
+bestaetigen. "Wo ist der Starke?" fragten sie den Kleinen.
+
+"Er ist auf der kleinen Jagd", antwortete jener, "aber er hat mir
+aufgetragen, seine Stelle zu versehen."
+
+"Das hat er nicht gescheit gemacht", entgegnete einer der Raeuber,
+"denn es muss sich bald entscheiden, ob dieser Hund sterben oder
+zahlen soll, und das weiss der Starke besser als du."
+
+Der kleine Mann erhob sich im Gefuehl seiner Wuerde, streckte sich lang
+aus, um mit der Spitze seiner Hand das Ohr seines Gegners zu
+erreichen, denn er schien Lust zu haben, sich durch einen Schlag zu
+raechen, als er aber sah, dass seine Bemuehung fruchtlos sei, fing er an
+zu schimpfen (und wahrlich! Die anderen blieben ihm nichts schuldig),
+dass das Zelt von ihrem Streit erdroehnte. Da tat sich auf einmal die
+Tuere des Zeltes auf, und herein trat ein hoher, stattlicher Mann,
+jung und schoen wie ein Perserprinz; seine Kleidung und seine Waffen
+waren, ausser einem reichbesetzten Dolch und einem glaenzenden Saebel,
+gering und einfach; aber sein ernstes Auge, sein ganzer Anstand gebot
+Achtung, ohne Furcht einzufloessen.
+
+"Wer ist's, der es wagt, in meinem Zelte Streit zu beginnen?" rief er
+den Erschrockenen zu. Eine Zeitlang herrschte tiefe Stille; endlich
+erzaehlte einer von denen, die Mustapha hergebracht hatten, wie es
+gegangen sei. Da schien sich das Gesicht "des Starken", wie sie ihn
+nannten, vor Zorn zu roeten. "Wann haette ich dich je an meine Stelle
+gesetzt, Hassan?" schrie er mit furchtbarer Stimme dem Kleinen zu.
+Dieser zog sich vor Furcht in sich selbst zusammen, dass er noch viel
+kleiner aussah als zuvor, und schlich sich der Zelttuere zu. Ein
+hinlaenglicher Tritt des Starken machte, dass er in einem grossen
+sonderbaren Sprung zur Zelttuere hinausflog.
+
+Als der Kleine verschwunden war, fuehrten die drei Maenner Mustapha vor
+den Herrn des Zeltes, der sich indes auf die Polster gelegt hatte.
+"Hier bringen wir den, welchen du uns zu fangen befohlen hast."
+
+Jener blickte den Gefangenen lange an und sprach sodann: "Bassa von
+Sulieika! Dein eigenes Gewissen wird dir sagen, warum du vor Orbasan
+stehst."
+
+Als mein Bruder dies hoerte, warf er sich nieder vor jenem und
+antwortete: "O Herr! Du scheinst im Irrtum zu sein. Ich bin ein
+armer Ungluecklicher, aber nicht der Bassa, den du suchst!"
+
+Alle im Zelt waren ueber diese Rede erstaunt. Der Herr des Zeltes
+aber sprach: "Es kann dir wenig helfen, dich zu verstellen; denn ich
+will die Leute vorfuehren, die dich wohl kennen." Er befahl, Zuleima
+vorzufahren. Man brachte ein altes Weib in das Zelt, das auf die
+Frage, ob sie in meinem Bruder nicht den Bassa von Sulieika erkenne,
+antwortete: "Jawohl!" Und sie schwoere es beim Grab des Propheten, es
+sei der Bassa und kein anderer.
+
+"Siehst du, Erbaermlicher, wie deine List zu Wasser geworden ist!"
+begann zuernend der Starke. "Du bist mir zu elend, als dass ich meinen
+guten Dolch mit deinem Blut besudeln sollte, aber an den Schweif
+meines Rosses will ich dich binden, morgen, wenn die Sonne aufgeht,
+und durch die Waelder mit dir jagen, bis sie scheidet hinter die Huegel
+von Sulieika!"
+
+Da sank meinem armen Bruder der Mut. "Das ist der Fluch meines
+harten Vaters, der mich zum schmachvollen Tode treibt", rief er
+weinend, "und auch du bist verloren, suesse Schwester, auch du, Zoraide!"
+
+"Deine Verstellung hilft dir nichts", sprach einer der Raeuber, indem
+er ihm die Haende auf den Ruecken band, "mach, dass du aus dem Zelte
+kommst! Denn der Starke beisst sich in die Lippen und blickt nach
+seinem Dolch. Wenn du noch eine Nacht leben willst, so komm!"
+
+Als die Raeuber gerade meinen Bruder aus dem Zelt fuehren wollten,
+begegneten sie drei anderen, die einen Gefangenen vor sich hintrieben.
+Sie traten mit ihm ein. "Hier bringen wir den Bassa, wie du uns
+befohlen hast", sprachen sie und fuehrten den Gefangenen vor das
+Polster des Starken. Als der Gefangene dorthin gefuehrt wurde, hatte
+mein Bruder Gelegenheit, ihn zu betrachten, und ihm selbst fiel die
+Aehnlichkeit auf, die dieser Mann mit ihm hatte, nur war er dunkler im
+Gesicht und hatte einen schwaerzeren Bart.
+
+Der Starke schien sehr erstaunt ueber die Erscheinung des zweiten
+Gefangenen. "Wer von euch ist denn der Rechte?" sprach er, indem er
+bald meinen Bruder, bald den anderen Mann ansah.
+
+"Wenn du den Bassa von Sulieika meinst", antwortete in stolzem Ton
+der Gefangene, "der bin ich!" Der Starke sah ihn lange mit seinem
+ernsten, furchtbaren Blick an; dann winkte er schweigend, den Bassa
+wegzufuehren.
+
+Als dies geschehen war, ging er auf meinen Bruder zu, zerschnitt
+seine Bande mit dem Dolch und winkte ihm, sich zu ihm aufs Polster zu
+setzen. "Es tut mir leid, Fremdling", sagte er, "dass ich dich fuer
+jenes Ungeheuer hielt; schreibe es aber einer sonderbaren Fuegung des
+Himmels zu, die dich gerade in der Stunde, welche dem Untergang jenes
+Verruchten geweiht war, in die Haende meiner Brueder fuehrte." Mein
+Bruder bat ihn um die einzige Gunst, ihn gleich wieder weiterreisen
+zu lassen, weil jeder Aufschub ihm verderblich werden koenne. Der
+Starke erkundigte sich nach seinen eiligen Geschaeften, und als ihm
+Mustapha alles erzaehlt hatte, ueberredete ihn jener, diese Nacht in
+seinem Zelt zu bleiben, er und sein Ross werden der Ruhe beduerfen; den
+folgenden Tag aber wolle er ihm einen Weg zeigen, der ihn in
+anderthalb Tagen nach Balsora bringe--Mein Bruder schlug ein, wurde
+trefflich bewirtet und schlief sanft bis zum Morgen in dem Zelt des
+Raeubers.
+
+Als er aufgewacht war, sah er sich ganz allein im Zelt; vor dem
+Vorhang des Zeltes aber hoerte er mehrere Stimmen zusammen sprechen,
+die dem Herrn des Zeltes und dem kleinen schwarzbraunen Mann
+anzugehoeren schienen. Er lauschte ein wenig und hoerte zu seinem
+Schrecken, dass der Kleine dringend den anderen aufforderte, den
+Fremden zu toeten, weil er, wenn er freigelassen wuerde, sie alle
+verraten koennte.
+
+Mustapha merkte gleich, dass der Kleine ihm gram sei, weil er die
+Ursache war, dass er gestern so uebel behandelt wurde; der Starke
+schien sich einige Augenblicke zu besinnen. "Nein", sprach er, "er
+ist mein Gastfreund, und das Gastrecht ist mir heilig; auch sieht er
+mir nicht aus, als ob er uns verraten wollte."
+
+Als er so gesprochen, schlug er den Vorhang zurueck und trat ein.
+"Friede sei mit dir, Mustapha!" sprach er, "lass uns den Morgentrunk
+kosten, und rueste dich dann zum Aufbruch!" Er reichte meinem Bruder
+einen Becher Sorbet, und als sie getrunken hatten, zaeumten sie die
+Pferde auf, und wahrlich, mit leichterem Herzen, als er gekommen war,
+schwang sich Mustapha aufs Pferd. Sie hatten bald die Zelte im
+Ruecken und schlugen dann einen breiten Pfad ein, der in den Wald
+fuehrte. Der Starke erzaehlte meinem Bruder, dass jener Bassa, den sie
+auf der Jagd gefangen haetten, ihnen versprochen habe, sie ungefaehrdet
+in seinem Gebiete zu dulden; vor einigen Wochen aber habe er einen
+ihrer tapfersten Maenner aufgefangen und nach den schrecklichsten
+Martern aufhaengen lassen. Er habe ihm nun lange auflauern lassen,
+und heute noch muesse er sterben. Mustapha wagte es nicht, etwas
+dagegen einzuwenden; denn er war froh, selbst mit heiler Haut
+davongekommen zu sein.
+
+Am Ausgang des Waldes hielt der Starke sein Pferd an, beschrieb
+meinem Bruder den Weg, bot ihm die Hand zum Abschied und sprach:
+"Mustapha, du bist auf sonderbare Weise der Gastfreund des Raeubers
+Orbasan geworden; ich will dich nicht auffordern, nicht zu verraten,
+was du gesehen und gehoert hast. Du hast ungerechterweise Todesangst
+ausgestanden, und ich bin dir Verguetung schuldig. Nimm diesen Dolch
+als Andenken, und so du Hilfe brauchst, so sende ihn mir zu, und ich
+will eilen, dir beizustehen. Diesen Beutel aber kannst du vielleicht
+zu deiner Reise brauchen." Mein Bruder dankte ihm fuer seinen Edelmut;
+er nahm den Dolch, den Beutel aber schlug er aus. Doch Orbasan
+drueckte ihm noch einmal die Hand, liess den Beutel auf die Erde fallen
+und sprengte mit Sturmeseile in den Wald. Als Mustapha sah, dass er
+ihn doch nicht mehr werde einholen koennen, stieg er ab, um den Beutel
+aufzuheben, und erschrak ueber die Groesse von seines Gastfreundes
+Grossmut; denn der Beutel enthielt eine Menge Gold. Er dankte Allah
+fuer seine Rettung, empfahl ihm den edlen Raeuber in seine Gnade und
+zog dann heiteren Mutes weiter auf seinem Wege nach Balsora.
+
+Lezah schwieg und sah Achmet, den alten Kaufmann, fragend an. "Nein,
+wenn es so ist", sprach dieser, "so verbessere ich gern mein Urteil
+von Orbasan; denn wahrlich, an deinem Bruder hat er schoen gehandelt."
+
+"Er hat getan wie ein braver Muselmann", rief Muley; "aber ich hoffe,
+du hast deine Geschichte damit nicht geschlossen; denn wie mich
+beduenkt, sind wir alle begierig, weiter zu hoeren, wie es deinem
+Bruder erging und ob er Fatme, deine Schwester, und die schoene
+Zoraide befreit hat."
+
+"Wenn ich euch nicht damit langweile, erzaehle ich gerne weiter",
+entgegnete Lezah, "denn die Geschichte meines Bruders ist allerdings
+abenteuerlich und wundervoll."
+
+Am Mittag des siebenten Tages nach seiner Abreise zog Mustapha in die
+Tore von Balsora ein. Sobald er in einer Karawanserei abgestiegen
+war, fragte er, wann der Sklavenmarkt, der alljaehrlich hier gehalten
+werde, anfange. Aber er erhielt die Schreckensantwort, dass er zwei
+Tage zu spaet komme. Man bedauerte seine Verspaetung und erzaehlte ihm,
+dass er viel verloren habe; denn noch an dem letzten Tage des Marktes
+seien zwei Sklavinnen angekommen, von so hoher Schoenheit, dass sie die
+Augen aller Kaeufer auf sich gezogen haetten. Man habe sich ordentlich
+um sie gerissen und geschlagen, und sie seien freilich auch zu einem
+so hohen Preise verkauft worden, dass ihn nur ihr jetziger Herr nicht
+habe scheuen koennen. Er erkundigte sich naeher nach diesen beiden,
+und es blieb ihm kein Zweifel, dass es die Ungluecklichen seien, die er
+suchte. Auch erfuhr er, dass der Mann, der sie beide gekauft habe,
+vierzig Stunden von Balsora wohne und Thiuli-Kos heisse, ein vornehmer,
+reicher, aber schon aeltlicher Mann, der frueher Kapudan-Bassa des
+Grossherrn gewesen, jetzt aber sich mit seinen gesammelten Reichtuemern
+zur Ruhe gesetzt habe.
+
+Mustapha wollte von Anfang sich gleich wieder zu Pferd setzen, um dem
+Thiuli-Kos, der kaum einen Tag Vorsprung haben konnte, nachzueilen.
+Als er aber bedachte, dass er als einzelner Mann dem maechtigen
+Reisenden doch nichts anhaben noch weniger seine Beute ihm abjagen
+konnte, sann er auf einen anderen Plan und hatte ihn auch bald
+gefunden. Die Verwechslung mit dem Bassa von Sulieika, die ihm
+beinahe so gefaehrlich geworden waere, brachte ihn auf den Gedanken,
+unter diesem Namen in das Haus des Thiuli-Kos zu gehen und so einen
+Versuch zur Rettung der beiden ungluecklichen Maedchen zu wagen. Er
+mietete daher einige Diener und Pferde, wobei ihm Orbasans Geld
+trefflich zustatten kam, schaffte sich und seinen Dienern praechtige
+Kleider an und machte sich auf den Weg nach dem Schlosse Thiulis.
+Nach fuenf Tagen war er in die Naehe dieses Schlosses gekommen. Es lag
+in einer schoenen Ebene und war rings von hohen Mauern umschlossen,
+die nur ganz wenig von den Gebaeuden ueberragt wurden. Als Mustapha
+dort angekommen war, faerbte er Haar und Bart schwarz, sein Gesicht
+aber bestrich er mit dem Saft einer Pflanze, die ihm eine braeunliche
+Farbe gab, ganz wie sie jener Bassa gehabt hatte. Er schickte
+hierauf einen seiner Diener in das Schloss und liess im Namen des Bassa
+von Sulieika um ein Nachtlager bitten. Der Diener kam bald wieder,
+und mit ihm vier schoengekleidete Sklaven, die Mustaphas Pferd am
+Zuegel nahmen und in den Schlosshof fuehrten. Dort halfen sie ihm
+selbst vom Pferd, und vier andere geleiteten ihn eine breite
+Marmortreppe hinauf zu Thiuli.
+
+Dieser, ein alter, lustiger Geselle, empfing meinen Bruder
+ehrerbietig und liess ihm das Beste, was sein Koch zubereiten konnte,
+aufsetzen. Nach Tisch brachte Mustapha das Gespraech nach und nach
+auf die neuen Sklavinnen, und Thiuli ruehmte ihre Schoenheit und
+beklagte nur, dass sie immer so traurig seien; doch er glaubte, dieses
+wuerde sich bald geben. Mein Bruder war sehr vergnuegt ueber diesen
+Empfang und legte sich mit den schoensten Hoffnungen zur Ruhe nieder.
+
+Er mochte ungefaehr eine Stunde geschlafen haben, da weckte ihn der
+Schein einer Lampe, der blendend auf sein Auge fiel. Als er sich
+aufrichtete, glaubte er noch zu traeumen; denn vor ihm stand jener
+kleine, schwarzbraune Kerl aus Orbasans Zelt, eine Lampe in der Hand,
+sein breites Maul zu einem widrigen Laecheln verzogen. Mustapha
+zwickte sich in den Arm, zupfte sich an der Nase, um sich zu
+ueberzeugen, ob er denn wache; aber die Erscheinung blieb wie zuvor.
+"Was willst du an meinem Bette?" rief Mustapha, als er sich von
+seinem Erstaunen erholt hatte.
+
+"Bemuehet Euch doch nicht so, Herr!" sprach der Kleine. "Ich habe
+wohl erraten, weswegen Ihr hierherkommt. Auch war mir Euer wertes
+Gesicht noch wohl erinnerlich; doch wahrlich, wenn ich nicht den
+Bassa mit eigener Hand haette erhaengen helfen, so haettet Ihr mich
+vielleicht getaeuscht. Jetzt aber bin ich da, um eine Frage zu machen."
+
+"Vor allem sage, wie du hierherkommst", entgegnete ihm Mustapha voll
+Wut, dass er verraten war.
+
+"Das will ich Euch sagen", antwortete jener, "ich konnte mich mit dem
+Starken nicht laenger vertragen, deswegen floh ich; aber du, Mustapha,
+warst eigentlich die Ursache unseres Streites, und dafuer musst du mir
+deine Schwester zur Frau geben, und ich will Euch zur Flucht
+behilflich sein; gibst du sie nicht, so gehe ich zu meinem neuen
+Herrn und erzaehle ihm etwas von dem neuen Bassa."
+
+Mustapha war vor Schrecken und Wut ausser sich; jetzt, wo er sich am
+sicheren Ziel seiner Wuensche glaubte, sollte dieser Elende kommen und
+sie vereiteln; es war nur ein Mittel, das seinen Plan retten konnte:
+Er musste das kleine Ungetuem toeten. Mit einem Sprung fuhr er daher
+aus dem Bette auf den Kleinen zu; doch dieser, der etwas Solches
+geahnt haben mochte, liess die Lampe fallen, dass sie verloeschte, und
+entsprang im Dunkeln, indem er moerderisch um Hilfe schrie.
+
+Jetzt war guter Rat teuer; die Maedchen musste er fuer den Augenblick
+aufgeben und nur auf die eigene Rettung denken; daher ging er an das
+Fenster, um zu sehen, ob er nicht entspringen koennte. Es war eine
+ziemliche Tiefe bis zum Boden, und auf der anderen Seite stand eine
+hohe Mauer, die zu uebersteigen war. Sinnend stand er an dem Fenster;
+da hoerte er viele Stimmen sich seinem Zimmer naehern; schon waren sie
+an der Tuere; da fasste er verzweiflungsvoll seinen Dolch und seine
+Kleider und schwang sich zum Fenster hinaus. Der Fall war hart; aber
+er fuehlte, dass er kein Glied gebrochen hatte; drum sprang er auf und
+lief der Mauer zu, die den Hof umschloss, stieg, zum Erstaunen seiner
+Verfolger, hinauf und befand sich bald im Freien. Er floh, bis er an
+einen kleinen Wald kam, wo er sich erschoepft niederwarf. Hier
+ueberlegte er, was zu tun sei.
+
+Seine Pferde und seine Diener hatte er im Stiche lassen muessen; aber
+sein Geld, das er in dem Guertel trug, hatte er gerettet.
+
+Sein erfinderischer Kopf zeigte ihm bald einen anderen Weg zur
+Rettung. Er ging in dem Wald weiter, bis er an ein Dorf kam, wo er
+um geringen Preis ein Pferd kaufte, das ihn in Baelde in eine Stadt
+trug. Dort forschte er nach einem Arzt, und man riet ihm einen alten,
+erfahrenen Mann. Diesen bewog er durch einige Goldstuecke, dass er
+ihm eine Arznei mitteilte, die einen todaehnlichen Schlaf herbeifuehrte,
+der durch ein anderes Mittel augenblicklich wieder gehoben werden
+koennte. Als er im Besitz dieses Mittels war, kaufte er sich einen
+langen falschen Bart, einen schwarzen Talar und allerlei Buechsen und
+Kolben, so dass er fueglich einen reisenden Arzt vorstellen konnte, lud
+seine Sachen auf einen Esel und reiste in das Schloss des Thiuli-Kos
+zurueck. Er durfte gewiss sein, diesmal nicht erkannt zu werden, denn
+der Bart entstellte ihn so, dass er sich selbst kaum mehr kannte. Bei
+Thiuli angekommen, liess er sich als den Arzt Chakamankabudibaba
+anmelden, und, wie er es gedacht hatte, geschah es; der prachtvolle
+Namen empfahl ihn bei dem alten Narren ungemein, so dass er ihn gleich
+zur Tafel einlud.
+
+Chakamankabudibaba erschien vor Thiuli, und als sie sich kaum eine
+Stunde besprochen hatten, beschloss der Alte, alle seine Sklavinnen
+der Kur des weisen Arztes zu unterwerfen. Dieser konnte seine Freude
+kaum verbergen, dass er jetzt seine geliebte Schwester wiedersehen
+solle, und folgte mit klopfendem Herzen Thiuli, der ihn ins Serail
+fuehrte. Sie waren in ein Zimmer gekommen, das schoen ausgeschmueckt
+war, worin sich aber niemand befand. "Chambaba oder wie du heisst,
+lieber Arzt", sprach Thiuli-Kos, "betrachte einmal jenes Loch dort in
+der Mauer, dort wird jede meiner Sklavinnen einen Arm herausstrecken,
+und du kannst dann untersuchen, ob der Puls krank oder gesund ist."
+Mustapha mochte einwenden, was er wollte, zu sehen bekam er sie nicht;
+doch willigte Thiuli ein, dass er ihm allemal sagen wolle, wie sie
+sich sonst gewoehnlich befaenden. Thiuli zog nun einen langen Zettel
+aus dem Guertel und begann mit lauter Stimme seine Sklavinnen einzeln
+beim Namen zu rufen, worauf allemal eine Hand aus der Mauer kam und
+der Arzt den Puls untersuchte. Sechs waren schon abgelesen und
+saemtlich fuer gesund erklaert; da las Thiuli als die siebente "Fatme"
+ab, und eine kleine weisse Hand schluepfte aus der Mauer. Zitternd vor
+Freude, ergreift Mustapha diese Hand und erklaert sie mit wichtiger
+Miene fuer bedeutend krank. Thiuli ward sehr besorgt und befahl
+seinem weisen Chakamankabudibaba, schnell eine Arznei fuer sie zu
+bereiten. Der Arzt ging hinaus, schrieb auf einen kleinen Zettel:
+Fatme! Ich will Dich retten, wenn Du Dich entschliessen kannst, eine
+Arznei zu nehmen, die Dich auf zwei Tage tot macht; doch ich besitze
+das Mittel, Dich wieder zum Leben zu bringen. Willst Du, so sage nur,
+dieser Trank habe nicht geholfen, und es soll mir ein Zeichen sein,
+dass Du einwilligst.
+
+Bald kam er in das Zimmer zurueck, wo Thiuli seiner harrte. Er
+brachte ein unschaedliches Traenklein mit, fuehlte der kranken Fatme
+noch einmal den Puls und schob ihr zugleich den Zettel unter ihr
+Armband; das Traenklein aber reichte er ihr durch die Oeffnung in der
+Mauer. Thiuli schien in grossen Sorgen wegen Fatme zu sein und schob
+die Untersuchung der uebrigen bis auf eine gelegenere Zeit auf. Als
+er mit Mustapha das Zimmer verlassen hatte, sprach er in traurigem
+Ton: "Chadibaba, sage aufrichtig, was haeltst du von Fatmes Krankheit?"
+
+Chakamankabudibaba antwortete mit einem tiefen Seufzer: "Ach Herr,
+moege der Prophet dir Trost verleihen! Sie hat ein schleichendes
+Fieber, das ihr wohl den Garaus machen kann." Da entbrannte der Zorn
+Thiulis: "Was sagst du, verfluchter Hund von einem Arzt? Sie, um die
+ich zweitausend Goldstuecke gab, soll mir sterben wie eine Kuh? Wisse,
+wenn du sie nicht rettest, so hau' ich dir den Kopf ab!" Da merkte
+mein Bruder, dass er einen dummen Streich gemacht habe, und gab Thiuli
+wieder Hoffnung. Als sie noch so sprachen, kam ein schwarzer Sklave
+aus dem Serail, dem Arzt zu sagen, dass das Traenklein nicht geholfen
+habe. "Biete deine ganze Kunst auf, Chakamdababelba, oder wie du
+dich schreibst, ich zahle dir, was du willst", schrie Thiuli-Kos,
+fast heulend vor Angst, so viel Gold zu verlieren.
+
+"Ich will ihr ein Saeftlein geben, das sie von aller Not befreit",
+antwortete der Arzt.
+
+"Ja! Ja! Gib ihr ein Saeftlein", schluchzte der alte Thiuli.
+
+Frohen Mutes ging Mustapha, seinen Schlaftrunk zu holen, und als er
+ihn dem schwarzen Sklaven gegeben und gezeigt hatte, wieviel man auf
+einmal nehmen muesse, ging er zu Thiuli und sagte, er muesse noch
+einige heilsame Kraeuter am See holen, und eilte zum Tor hinaus. An
+dem See, der nicht weit von dem Schloss entfernt war, zog er seine
+falschen Kleider aus und warf sie ins Wasser, dass sie lustig
+umherschwammen; er selbst aber verbarg sich im Gestraeuch, wartete die
+Nacht ab und schlich sich dann in den Begraebnisplatz an dem Schlosse
+Thiulis.
+
+Als Mustapha kaum eine Stunde lang aus dem Schloss abwesend sein
+mochte, brachte man Thiuli die schreckliche Nachricht, dass seine
+Sklavin Fatme im Sterben liege. Er schickte hinaus an den See, um
+schnell den Arzt zu holen; aber bald kehrten seine Boten allein
+zurueck und erzaehlten ihm, dass der arme Arzt ins Wasser gefallen und
+ertrunken sei; seinen schwarzen Talar sehe man im See schwimmen, und
+hier und da gucke auch sein stattlicher Bart aus den Wellen hervor.
+Als Thiuli keine Rettung mehr sah, verwuenschte er sich und die ganze
+Welt, raufte sich den Bart aus und rannte mit dem Kopf gegen die
+Mauer. Aber alles dies konnte nichts helfen; denn Fatme gab bald
+unter den Haenden der uebrigen Weiber den Geist auf. Als Thiuli die
+Nachricht ihres Todes hoerte, befahl er, schnell einen Sarg zu machen;
+denn er konnte keinen Toten im Hause leiden und liess den Leichnam in
+das Begraebnishaus tragen. Die Traeger brachten den Sarg dorthin,
+setzten ihn schnell nieder und entflohen, denn sie hatten unter den
+uebrigen Saergen Stoehnen und Seufzen gehoert.
+
+Mustapha, der sich hinter den Saergen verborgen und von dort aus die
+Traeger des Sarges in die Flucht gejagt hatte, kam hervor und zuendete
+sich eine Lampe an, die er zu diesem Zweck mitgebracht hatte. Dann
+zog er ein Glas hervor, das die erweckende Arznei enthielt, und hob
+dann den Deckel von Fatmes Sarg. Aber welches Entsetzen befiel ihn,
+als sich ihm beim Scheine der Lampe ganz fremde Zuege zeigten! Weder
+meine Schwester noch Zoraide, sondern eine ganz andere lag in dem
+Sarg. Er brauchte lange, um sich von dem neuen Schlag des Schicksals
+zu fassen; endlich ueberwog doch Mitleid seinen Zorn. Er oeffnete sein
+Glas und floesste ihr die Arznei ein. Sie atmete, sie schlug die Augen
+auf und schien sich lange zu besinnen, wo sie sei. Endlich erinnerte
+sie sich des Vorgefallenen; sie stand auf aus dem Sarg und stuerzte zu
+Mustaphas Fuessen. "Wie kann ich dir danken, guetiges Wesen", rief sie
+aus, "dass du mich aus meiner schrecklichen Gefangenschaft befreitest!"
+Mustapha unterbrach ihre Danksagungen mit der Frage, wie es denn
+geschehen sei, dass sie und nicht Fatme, seine Schwester, gerettet
+worden sei? Jene sah ihn staunend an. "Jetzt wird mir meine Rettung
+erst klar, die mir vorher unbegreiflich war", antwortete sie; "wisse,
+man hiess mich in jenem Schloss Fatme, und mir hast du deinen Zettel
+und den Rettungstrank gegeben." Mein Bruder forderte die Gerettete
+auf, ihm von seiner Schwester und Zoraide Nachricht zu geben, und
+erfuhr, dass sie sich beide im Schloss befanden, aber nach der
+Gewohnheit Thiulis andere Namen bekommen hatten; sie hiessen jetzt
+Mirza und Nurmahal."
+
+Als Fatme, die gerettete Sklavin, sah, dass mein Bruder durch diesen
+Fehlgriff so niedergeschlagen sei, sprach sie ihm Mut ein und
+versprach, ihm ein Mittel zu sagen, wie er jene beiden Maedchen
+dennoch retten koenne. Aufgeweckt durch diesen Gedanken, schoepfte
+Mustapha von neuem Hoffnung und bat sie, dieses Mittel ihm zu nennen,
+und sie sprach:
+
+"Ich bin zwar erst seit fuenf Monaten die Sklavin Thiulis, doch habe
+ich gleich von Anfang auf Rettung gesonnen; aber fuer mich allein war
+sie zu schwer. In dem inneren Hof des Schlosses wirst du einen
+Brunnen bemerkt haben, der aus zehn Roehren Wasser speit; dieser
+Brunnen fiel mir auf. Ich erinnerte mich, in dem Hause meines Vaters
+einen aehnlichen gesehen zu haben, dessen Wasser durch eine geraeumige
+Wasserleitung herbeistroemt; um nun zu erfahren, ob dieser Brunnen
+auch so gebaut ist, ruehmte ich eines Tages vor Thiuli seine Pracht
+und fragte nach seinem Baumeister. *Ich selbst habe ihn gebaut*,
+antwortete er, *und das, was du hier siehst, ist noch das Geringste;
+aber das Wasser dazu kommt wenigstens tausend Schritte weit von einem
+Bach her und geht durch eine gewoelbte Wasserleitung, die wenigstens
+mannshoch ist; und alles dies habe ich selbst angegeben.* Als ich
+dies gehoert hatte, wuenschte ich mir oft, nur auf einen Augenblick die
+Staerke eines Mannes zu haben, um einen Stein an der Seite des
+Brunnens ausheben zu koennen; dann koennte ich fliehen, wohin ich
+wollte. Die Wasserleitung nun will ich dir zeigen; durch sie kannst
+du nachts in das Schloss gelangen und jene befreien. Aber du musst
+wenigstens noch zwei Maenner bei dir haben, um die Sklaven, die das
+Serail bei Nacht bewachen, zu ueberwaeltigen."
+
+So sprach sie; mein Bruder Mustapha aber, obgleich schon zweimal in
+seinen Hoffnungen getaeuscht, fasste noch einmal Mut und hoffte mit
+Allahs Hilfe den Plan der Sklavin auszufuehren. Er versprach ihr, fuer
+ihr weiteres Fortkommen in ihre Heimat zu sorgen, wenn sie ihm
+behilflich sein wollte, ins Schloss zu gelangen. Aber ein Gedanke
+machte ihm noch Sorge, naemlich der, woher er zwei oder drei treue
+Gehilfen bekommen koennte. Da fiel ihm Orbasans Dolch ein und das
+Versprechen, das ihm jener gegeben hatte, ihm, wo er seiner beduerfe,
+zu Hilfe zu eilen, und er machte sich daher mit Fatme aus dem
+Begraebnis auf, um den Raeuber aufzusuchen.
+
+In der naemlichen Stadt, wo er sich zum Arzt umgewandelt hatte, kaufte
+er um sein letztes Geld ein Ross und mietete Fatme bei einer armen
+Frau in der Vorstadt ein. Er selbst aber eilte dem Gebirge zu, wo er
+Orbasan zum erstenmal getroffen hatte, und gelangte in drei Tagen
+dahin. Er fand bald wieder jene Zelte und trat unverhofft vor
+Orbasan, der ihn freundlich bewillkommnete. Er erzaehlte ihm seine
+misslungenen Versuche, wobei sich der ernsthafte Orbasan nicht
+enthalten konnte, hier und da ein wenig zu lachen, besonders, wenn er
+sich den Arzt Chakamankabudibaba dachte. Ueber die Verraeterei des
+Kleinen aber war er wuetend; er schwur, ihn mit eigener Hand
+aufzuhaengen, wo er ihn finde. Meinem Bruder aber versprach er,
+sogleich zur Hilfe bereit zu sein, wenn er sich vorher von der Reise
+gestaerkt haben wuerde. Mustapha blieb daher diese Nacht wieder in
+Orbasans Zelt; mit dem ersten Fruehrot aber brachen sie auf, und
+Orbasan nahm drei seiner tapfersten Maenner, wohl beritten und
+bewaffnet, mit sich. Sie ritten stark zu und kamen nach zwei Tagen
+in die kleine Stadt, wo Mustapha die gerettete Fatme zurueckgelassen
+hatte. Von da aus reisten sie mit dieser weiter bis zu dem kleinen
+Wald, von wo aus man das Schloss Thiulis in geringer Entfernung sehen
+konnte; dort lagerten sie sich, um die Nacht abzuwarten.
+
+Sobald es dunkel wurde, schlichen sie sich, von Fatme gefuehrt, an den
+Bach, wo die Wasserleitung anfing, und fanden diese bald. Dort
+liessen sie Fatme und einen Diener mit den Rossen zurueck und schickten
+sich an, hinabzusteigen; ehe sie aber hinabstiegen, wiederholte ihnen
+Fatme noch einmal alles genau, naemlich: dass sie durch den Brunnen in
+den inneren Schlosshof kaemen, dort seien rechts und links in der Ecke
+zwei Tuerme, in der sechsten Tuere, vom Turme rechts gerechnet,
+befaenden sich Fatme und Zoraide, bewacht von zwei schwarzen Sklaven.
+Mit Waffen und Brecheisen wohl versehen, stiegen Mustapha, Orbasan
+und zwei andere Maenner hinab in die Wasserleitung; sie sanken zwar
+bis an den Guertel ins Wasser; aber nichtsdestoweniger gingen sie
+ruestig vorwaerts. Nach einer halben Stunde kamen sie an den Brunnen
+selbst und setzten sogleich ihre Brecheisen an. Die Mauer war dick
+und fest; aber den vereinten Kraeften der vier Maenner konnte sie nicht
+lange widerstehen; bald hatten sie eine Oeffnung eingebrochen, gross
+genug, um bequem durchschluepfen zu koennen. Orbasan schluepfte zuerst
+durch und half den anderen nach. Als sie alle im Hof waren,
+betrachteten sie die Seite des Schlosses, die vor ihnen lag, um die
+beschriebene Tuere zu erforschen. Aber sie waren nicht einig, welche
+es sei; denn als sie von dem rechten Turm zum linken zaehlten, fanden
+sie eine Tuere, die zugemauert war, und wussten nun nicht, ob Fatme
+diese uebersprungen oder mitgezaehlt habe. Aber Orbasan besann sich
+nicht lange. "Mein gutes Schwert wird mir jede Tuer oeffnen", rief er
+aus, ging auf die sechste Tuere zu, und die anderen folgten ihm.
+
+Sie oeffneten die Tuere und fanden sechs schwarze Sklaven auf dem Boden
+liegend und schlafend; sie wollten schon wieder leise sich
+zurueckziehen, weil sie sahen, dass sie die rechte Tuere verfehlt hatten,
+als eine Gestalt in der Ecke sich aufrichtete und mit wohlbekannter
+Stimme um Hilfe rief. Es war der Kleine aus Orbasans Lager. Aber
+ehe noch die Schwarzen recht wussten, wie ihnen geschah, stuerzte
+Orbasan auf den Kleinen zu, riss seinen Guertel entzwei, verstopfte ihm
+den Mund und band ihm die Haende auf den Ruecken; dann wandte er sich
+an die Sklaven, wovon schon einige von Mustapha und den zwei anderen
+halb gebunden waren, und half sie vollends ueberwaeltigen. Man setzte
+den Sklaven den Dolch auf die Brust und fragte sie, wo Nurmahal und
+Nuerza waeren, und sie gestanden, dass sie im Gemach nebenan seien.
+Mustapha stuerzte in das Gemach und fand Fatme und Zoraide, die der
+Laerm erweckt hatte. Schnell rafften diese ihren Schmuck und ihre
+Kleider zusammen und folgten Mustapha; die beiden Raeuber schlugen
+indes Orbasan vor, zu pluendern, was man faende; doch dieser verbot es
+ihnen und sprach: "Man soll nicht von Orbasan sagen koennen, dass er
+nachts in die Haeuser steige, um Gold zu stehlen!" Mustapha und die
+Geretteten schluepften schnell in die Wasserleitung, wohin ihnen
+Orbasan sogleich zu folgen versprach. Als jene in die Wasserleitung
+hinabgestiegen waren, nahmen Orbasan und einer der Raeuber den Kleinen
+und fuehrten ihn hinaus in den Hof; dort banden sie ihm eine seidene
+Schnur, die sie deshalb mitgenommen hatten, um den Hals und hingen
+ihn an der hoechsten Spitze des Brunnens auf. Nachdem sie so den
+Verrat des Elenden bestraft hatten, stiegen sie selbst hinab in die
+Wasserleitung und folgten Mustapha. Mit Traenen dankten die beiden
+ihrem edelmuetigen Retter Orbasan; doch dieser trieb sie eilends zur
+Flucht an, denn es war sehr wahrscheinlich, dass sie Thiuli-Kos nach
+allen Seiten verfolgen liess. Mit tiefer Ruehrung trennten sich am
+anderen Tag Mustapha und seine Geretteten von Orbasan; wahrlich, sie
+werden ihn nie vergessen. Fatme aber, die befreite Sklavin, ging
+verkleidet nach Balsora, um sich dort in ihre Heimat einzuschiffen.
+
+Nach einer kurzen und vergnuegten Reise kamen die Meinigen in die
+Heimat. Meinen alten Vater toetete beinahe die Freude des
+Wiedersehens; den anderen Tag nach ihrer Ankunft veranstaltete er ein
+grosses Fest, an welchem die ganze Stadt teilnahm. Vor einer grossen
+Versammlung von Verwandten und Freunden musste mein Bruder seine
+Geschichte erzaehlen, und einstimmig priesen sie ihn und den edlen
+Raeuber.
+
+Als aber mein Bruder geschlossen hatte, stand mein Vater auf und
+fuehrte Zoraide ihm zu. "So loese ich denn", sprach er mit feierlicher
+Stimme, "den Fluch von deinem Haupte; nimm diese hin als die
+Belohnung, die du dir durch deinen rastlosen Eifer erkaempft hast;
+nimm meinen vaeterlichen Segen, und moege es nie unserer Stadt an
+Maennern fehlen, die an bruederlicher Liebe, an Klugheit und Eifer dir
+gleichen!"
+
+Die Karawane hatte das Ende der Wueste erreicht, und froehlich
+begruessten die Reisenden die gruenen Matten und die dichtbelaubten
+Baeume, deren lieblichen Anblick sie viele Tage entbehrt hatten. In
+einem schoenen Tale lag eine Karawanserei, die sie sich zum Nachtlager
+waehlten, und obgleich sie wenig Bequemlichkeit und Erfrischung darbot,
+so war doch die ganze Gesellschaft heiterer und zutraulicher als je;
+denn der Gedanke, den Gefahren und Beschwerlichkeiten, die eine Reise
+durch die Wueste mit sich bringt, entronnen zu sein, hatte alle Herzen
+geoeffnet und die Gemueter zu Scherz und Kurzweil gestimmt. Muley, der
+junge lustige Kaufmann, tanzte einen komischen Tanz und sang Lieder
+dazu, die selbst dem ernsten Griechen Zaleukos ein Laecheln entlockten.
+Aber nicht genug, dass er seine Gefaehrten durch Tanz und Spiel
+erheitert hatte, er gab ihnen auch noch die Geschichte zum besten,
+die er ihnen versprochen hatte, und hub, als er von seinen
+Luftspruengen sich erholt hatte, also zu erzaehlen an: Die Geschichte
+von dem kleinen Muck.
+
+
+
+
+Die Geschichte von dem kleinen Muck
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+In Nicea, meiner lieben Vaterstadt, wohnte ein Mann, den man den
+kleinen Muck hiess. Ich kann mir ihn, ob ich gleich damals noch sehr
+jung war, noch recht wohl denken, besonders weil ich einmal von
+meinem Vater wegen seiner halbtot gepruegelt wurde. Der kleine Muck
+naemlich war schon ein alter Geselle, als ich ihn kannte; doch war er
+nur drei bis vier Schuh hoch, dabei hatte er eine sonderbare Gestalt,
+denn sein Leib, so klein und zierlich er war, musste einen Kopf tragen,
+viel groesser und dicker als der Kopf anderer Leute; er wohnte ganz
+allein in einem grossen Haus und kochte sich sogar selbst, auch haette
+man in der Stadt nicht gewusst, ob er lebe oder gestorben sei, denn er
+ging nur alle vier Wochen einmal aus, wenn nicht um die Mittagsstunde
+ein maechtiger Dampf aus dem Hause aufgestiegen waere, doch sah man ihn
+oft abends auf seinem Dache auf und ab gehen, von der Strasse aus
+glaubte man aber, nur sein grosser Kopf allein laufe auf dem Dache
+umher. Ich und meine Kameraden waren boese Buben, die jedermann gerne
+neckten und belachten, daher war es uns allemal ein Festtag, wenn der
+kleine Muck ausging; wir versammelten uns an dem bestimmten Tage vor
+seinem Haus und warteten, bis er herauskam; wenn dann die Tuere
+aufging und zuerst der grosse Kopf mit dem noch groesseren Turban
+herausguckte, wenn das uebrige Koerperlein nachfolgte, angetan mit
+einem abgeschabten Maentelein, weiten Beinkleidern und einem breiten
+Guertel, an welchem ein langer Dolch hing, so lang, dass man nicht
+wusste, ob Muck an dem Dolch, oder der Dolch an Muck stak, wenn er so
+heraustrat, da ertoente die Luft von unserem Freudengeschrei, wir
+warfen unsere Muetzen in die Hoehe und tanzten wie toll um ihn her.
+Der kleine Muck aber gruesste uns mit ernsthaftem Kopfnicken und ging
+mit langsamen Schritten die Strasse hinab. Wir Knaben liefen hinter
+ihm her und schrien immer: "Kleiner Muck, kleiner Muck!" Auch hatten
+wir ein lustiges Verslein, das wir ihm zu Ehren hier und da sangen;
+es hiess:
+
+"Kleiner Muck, kleiner Muck,
+Wohnst in einem grossen Haus,
+Gehst nur all vier Wochen aus,
+Bist ein braver, kleiner Zwerg,
+Hast ein Koepflein wie ein Berg,
+Schau dich einmal um und guck,
+Lauf und fang uns, kleiner Muck!"
+
+So hatten wir schon oft unsere Kurzweil getrieben, und zu meiner
+Schande muss ich es gestehen, ich trieb's am aergsten; denn ich zupfte
+ihn oft am Maentelein, und einmal trat ich ihm auch von hinten auf die
+grossen Pantoffeln, dass er hinfiel. Dies kam mir nun hoechst
+laecherlich vor, aber das Lachen verging mir, als ich den kleinen Muck
+auf meines Vaters Haus zugehen sah. Er ging richtig hinein und blieb
+einige Zeit dort. Ich versteckte mich an der Haustuere und sah den
+Muck wieder herauskommen, von meinem Vater begleitet, der ihn
+ehrerbietig an der Hand hielt und an der Tuere unter vielen Buecklingen
+sich von ihm verabschiedete. Mir war gar nicht wohl zumute; ich
+blieb daher lange in meinem Versteck; endlich aber trieb mich der
+Hunger, den ich aerger fuerchtete als Schlaege, heraus, und demuetig und
+mit gesenktem Kopf trat ich vor meinen Vater. "Du hast, wie ich hoere,
+den guten Muck beschimpft?" sprach er in sehr ernstem Tone. "Ich
+will dir die Geschichte dieses Muck erzaehlen, und du wirst ihn gewiss
+nicht mehr auslachen; vor- und nachher aber bekommst du das
+Gewoehnliche." Das Gewoehnliche aber waren fuenfundzwanzig Hiebe, die er
+nur allzu richtig aufzuzaehlen pflegte. Er nahm daher sein langes
+Pfeifenrohr, schraubte die Bernsteinmundspitze ab und bearbeitete
+mich aerger als je zuvor.
+
+Als die Fuenfundzwanzig voll waren, befahl er mir, aufzumerken, und
+erzaehlte mir von dem kleinen Muck:
+
+Der Vater des kleinen Muck, der eigentlich Muckrah heisst, war ein
+angesehener, aber armer Mann hier in Nicea. Er lebte beinahe so
+einsiedlerisch wie jetzt sein Sohn. Diesen konnte er nicht wohl
+leiden, weil er sich seiner Zwerggestalt schaemte, und liess ihn daher
+auch in Unwissenheit aufwachsen. Der kleine Muck war noch in seinem
+sechzehnten Jahr ein lustiges Kind, und der Vater, ein ernster Mann,
+tadelte ihn immer, dass er, der schon laengst die Kinderschuhe
+zertreten haben sollte, noch so dumm und laeppisch sei.
+
+Der Alte tat aber einmal einen boesen Fall, an welchem er auch starb
+und den kleinen Muck arm und unwissend zurueckliess. Die harten
+Verwandten, denen der Verstorbene mehr schuldig war, als er bezahlen
+konnte, jagten den armen Kleinen aus dem Hause und rieten ihm, in die
+Welt hinauszugehen und sein Glueck zu suchen. Der kleine Muck
+antwortete, er sei schon reisefertig, bat sich aber nur noch den
+Anzug seines Vaters aus, und dieser wurde ihm auch bewilligt. Sein
+Vater war ein grosser, starker Mann gewesen, daher passten die Kleider
+nicht. Muck aber wusste bald Rat; er schnitt ab, was zu lang war, und
+zog dann die Kleider an. Er schien aber vergessen zu haben, dass er
+auch in der Weite davon schneiden muesse, daher sein sonderbarer
+Aufzug, wie er noch heute zu sehen ist; der grosse Turban, der breite
+Guertel, die weiten Hosen, das blaue Maentelein, alles dies sind
+Erbstuecke seines Vaters, die er seitdem getragen; den langen
+Damaszenerdolch seines Vaters aber steckte er in den Guertel, ergriff
+ein Stoecklein und wanderte zum Tor hinaus.
+
+Froehlich wanderte er den ganzen Tag; denn er war ja ausgezogen, um
+sein Glueck zu suchen; wenn er eine Scherbe auf der Erde im
+Sonnenschein glaenzen sah, so steckte er sie gewiss zu sich, im Glauben,
+dass sie sich in den schoensten Diamanten verwandeln werde; sah er in
+der Ferne die Kuppel einer Moschee wie Feuer strahlen, sah er einen
+See wie einen Spiegel blinken, so eilte er voll Freude darauf zu;
+denn er dachte, in einem Zauberland angekommen zu sein. Aber ach!
+Jene Trugbilder verschwanden in der Naehe, und nur allzubald
+erinnerten ihn seine Muedigkeit und sein vor Hunger knurrender Magen,
+dass er noch im Lande der Sterblichen sich befinde. So war er zwei
+Tage gereist unter Hunger und Kummer und verzweifelte, sein Glueck zu
+finden; die Fruechte des Feldes waren seine einzige Nahrung, die harte
+Erde sein Nachtlager. Am Morgen des dritten Tages erblickte er von
+einer Anhoehe eine grosse Stadt.
+
+Hell leuchtete der Halbmond auf ihren Zinnen, bunte Fahnen
+schimmerten auf den Daechern und schienen den kleinen Muck zu sich
+herzuwinken. Ueberrascht stand er stille und betrachtete Stadt und
+Gegend. "Ja, dort wird Klein-Muck sein Glueck finden", sprach er zu
+sich und machte trotz seiner Muedigkeit einen Luftsprung, "dort oder
+nirgends." Er raffte alle seine Kraefte zusammen und schritt auf die
+Stadt zu. Aber obgleich sie ganz nahe schien, konnte er sie doch
+erst gegen Mittag erreichen; denn seine kleinen Glieder versagten ihm
+beinahe gaenzlich ihren Dienst, und er musste sich oft in den Schatten
+einer Palme setzen, um auszuruhen. Endlich war er an dem Tor der
+Stadt angelangt. Er legte sein Maentelein zurecht, band den Turban
+schoener um, zog den Guertel noch breiter an und steckte den langen
+Dolch schiefer; dann wischte er den Staub von den Schuhen, ergriff
+sein Stoecklein und ging mutig zum Tor hinein.
+
+Er hatte schon einige Strassen durchwandert; aber nirgends oeffnete
+sich ihm die Tuere, nirgends rief man, wie er sich vorgestellt hatte:
+"Kleiner Muck, komm herein und iss und trink und lass deine Fuesslein
+ausruhen!"
+
+Er schaute gerade auch wieder recht sehnsuechtig an einem grossen,
+schoenen Haus hinauf; da oeffnete sich ein Fenster, eine alte Frau
+schaute heraus und rief mit singender Stimme:
+
+"Herbei, herbei!
+Gekocht ist der Brei,
+Den Tisch liess ich decken,
+Drum lasst es euch schmecken;
+Ihr Nachbarn herbei,
+Gekocht ist der Brei."
+
+Die Tuere des Hauses oeffnete sich, und Muck sah viele Hunde und Katzen
+hineingehen. Er stand einige Augenblicke in Zweifel, ob er der
+Einladung folgen sollte; endlich aber fasste er sich ein Herz und ging
+in das Haus. Vor ihm her gingen ein paar junge Kaetzlein, und er
+beschloss, ihnen zu folgen, weil sie vielleicht die Kueche besser
+wuessten als er.
+
+Als Muck die Treppe hinaufgestiegen war, begegnete er jener alten
+Frau, die zum Fenster herausgeschaut hatte. Sie sah ihn muerrisch an
+und fragte nach seinem Begehr. "Du hast ja jedermann zu deinem Brei
+eingeladen", antwortete der kleine Muck, "und weil ich so gar hungrig
+bin, bin ich auch gekommen."
+
+Die Alte lachte und sprach: "Woher kommst du denn, wunderlicher
+Gesell? Die ganze Stadt weiss, dass ich fuer niemand koche als fuer
+meine lieben Katzen, und hier und da lade ich ihnen Gesellschaft aus
+der Nachbarschaft ein, wie du siehst."
+
+Der kleine Muck erzaehlte der alten Frau, wie es ihm nach seines
+Vaters Tod so hart ergangen sei, und bat sie, ihn heute mit ihren
+Katzen speisen zu lassen. Die Frau, welcher die treuherzige
+Erzaehlung des Kleinen wohl gefiel, erlaubte ihm, ihr Gast zu sein,
+und gab ihm reichlich zu essen und zu trinken. Als er gesaettigt und
+gestaerkt war, betrachtete ihn die Frau lange und sagte dann: "Kleiner
+Muck, bleibe bei mir in meinem Dienste! Du hast geringe Muehe und
+sollst gut gehalten sein."
+
+Der kleine Muck, dem der Katzenbrei geschmeckt hatte, willigte ein
+und wurde also der Bedienstete der Frau Ahavzi. Er hatte einen
+leichten, aber sonderbaren Dienst. Frau Ahavzi hatte naemlich zwei
+Kater und vier Katzen, diesen musste der kleine Muck alle Morgen den
+Pelz kaemmen und mit koestlichen Salben einreiben; wenn die Frau
+ausging, musste er auf die Katzen Achtung geben, wenn sie assen, musste
+er ihnen die Schuesseln vorlegen, und nachts musste er sie auf seidene
+Polster legen und sie mit samtenen Decken einhuellen. Auch waren noch
+einige kleine Hunde im Haus, die er bedienen musste, doch wurden mit
+diesen nicht so viele Umstaende gemacht wie mit den Katzen, welche
+Frau Ahavzi wie ihre eigenen Kinder hielt. Uebrigens fuehrte Muck
+ein so einsames Leben wie in seines Vaters Haus, denn ausser der Frau
+sah er den ganzen Tag nur Hunde und Katzen. Eine Zeitlang ging es
+dem kleinen Muck ganz gut; er hatte immer zu essen und wenig zu
+arbeiten, und die alte Frau schien recht zufrieden mit ihm zu sein,
+aber nach und nach wurden die Katzen unartig, wenn die Alte
+ausgegangen war, sprangen sie wie besessen in den Zimmern umher,
+warfen alles durcheinander und zerbrachen manches schoene Geschirr,
+das ihnen im Weg stand. Wenn sie aber die Frau die Treppe
+heraufkommen hoerten, verkrochen sie sich auf ihre Polster und
+wedelten ihr mit den Schwaenzen entgegen, wie wenn nichts geschehen
+waere. Die Frau Ahavzi geriet dann in Zorn, wenn sie ihre Zimmer so
+verwuestet sah, und schob alles auf Muck, er mochte seine Unschuld
+beteuern, wie er wollte, sie glaubte ihren Katzen, die so unschuldig
+aussahen, mehr als ihrem Diener.
+
+Der kleine Muck war sehr traurig, dass er also auch hier sein Glueck
+nicht gefunden hatte, und beschloss bei sich, den Dienst der Frau
+Ahavzi zu verlassen. Da er aber auf seiner ersten Reise erfahren
+hatte, wie schlecht man ohne Geld lebt, so beschloss er, den Lohn, den
+ihm seine Gebieterin immer versprochen, aber nie gegeben hatte, sich
+auf irgendeine Art zu verschaffen. Es befand sich in dem Hause der
+Frau Ahavzi ein Zimmer, das immer verschlossen war und dessen Inneres
+er nie gesehen hatte. Doch hatte er die Frau oft darin rumoren
+gehoert, und er haette oft fuer sein Leben gern gewusst, was sie dort
+versteckt habe. Als er nun an sein Reisegeld dachte, fiel ihm ein,
+dass dort die Schaetze der Frau versteckt sein koennten. Aber immer war
+die Tuer fest verschlossen, und er konnte daher den Schaetzen nie
+beikommen.
+
+Eines Morgens, als die Frau Ahavzi ausgegangen war, zupfte ihn eines
+der Hundlein, welches von der Frau immer sehr stiefmuetterlich
+behandelt wurde, dessen Gunst er sich aber durch allerlei
+Liebesdienste in hohem Grade erworben hatte, an seinen weiten
+Beinkleidern und gebaerdete sich dabei, wie wenn Muck ihm folgen
+sollte. Muck, welcher gerne mit den Hunden spielte, folgte ihm, und
+siehe da, das Hundlein fuehrte ihn in die Schlafkammer der Frau Ahavzi
+vor eine kleine Tuere, die er nie zuvor dort bemerkt hatte. Die Tuere
+war halb offen. Das Hundlein ging hinein, und Muck folgte ihm, und
+wie freudig war er ueberrascht, als er sah, dass er sich in dem Gemach
+befand, das schon lange das Ziel seiner Wuensche war. Er spaehte
+ueberall umher, ob er kein Geld finden koenne, fand aber nichts. Nur
+alte Kleider und wunderlich geformte Geschirre standen umher. Eines
+dieser Geschirre zog seine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Es war
+von Kristall, und schoene Figuren waren darauf ausgeschnitten. Er hob
+es auf und drehte es nach allen Seiten. Aber, o Schrecken! Er hatte
+nicht bemerkt, dass es einen Deckel hatte, der nur leicht darauf
+hingesetzt war. Der Deckel fiel herab und zerbrach in tausend Stuecke.
+
+Lange stand der kleine Muck vor Schrecken leblos. Jetzt war sein
+Schicksal entschieden, jetzt musste er entfliehen, sonst schlug ihn
+die Alte tot. Sogleich war auch seine Reise beschlossen, und nur
+noch einmal wollte er sich umschauen, ob er nichts von den
+Habseligkeiten der Frau Ahavzi zu seinem Marsch brauchen koennte. Da
+fielen ihm ein Paar maechtig grosse Pantoffeln ins Auge; sie waren zwar
+nicht schoen; aber seine eigenen konnten keine Reise mehr mitmachen;
+auch zogen ihn jene wegen ihrer Groesse an; denn hatte er diese am Fuss,
+so mussten ihm hoffentlich alle Leute ansehen, dass er die Kinderschuhe
+vertreten habe. Er zog also schnell seine Toeffelein aus und fuhr in
+die grossen hinein. Ein Spazierstoecklein mit einem schoen
+geschnittenen Loewenkopf schien ihm auch hier allzu muessig in der Ecke
+zu stehen; er nahm es also mit und eilte zum Zimmer hinaus. Schnell
+ging er jetzt auf seine Kammer, zog sein Maentelein an, setzte den
+vaeterlichen Turban auf, steckte den Dolch in den Guertel und lief, so
+schnell ihn seine Fuesse trugen, zum Haus und zur Stadt hinaus. Vor
+der Stadt lief er, aus Angst vor der Alten, immer weiter fort, bis er
+vor Muedigkeit beinahe nicht mehr konnte. So schnell war er in seinem
+Leben nicht gegangen; ja, es schien ihm, als koenne er gar nicht
+aufhoeren zu rennen; denn eine unsichtbare Gewalt schien ihn
+fortzureissen. Endlich bemerkte er, dass es mit den Pantoffeln eine
+eigene Bewandtnis haben muesse; denn diese schossen immer fort und
+fuehrten ihn mit sich. Er versuchte auf allerlei Weise stillzustehen;
+aber es wollte nicht gelingen; da rief er in der hoechsten Not, wie
+man den Pferden zuruft, sich selbst zu: "Oh--oh, halt, oh!" Da
+hielten die Pantoffeln, und Muck warf sich erschoepft auf die Erde
+nieder.
+
+Die Pantoffeln freuten ihn ungemein. So hatte er sich denn doch
+durch seine Verdienste etwas erworben, das ihm in der Welt auf seinem
+Weg das Glueck zu suchen, forthelfen konnte. Er schlief trotz seiner
+Freude vor Erschoepfung ein; denn das Koerperlein des kleinen Muck, das
+einen so schweren Kopf zu tragen hatte, konnte nicht viel aushalten.
+Im Traum erschien ihm das Hundlein, welches ihm im Hause der Frau
+Ahavzi zu den Pantoffeln verholfen hatte, und sprach zu ihm: "Lieber
+Muck, du verstehst den Gebrauch der Pantoffeln noch nicht recht;
+wisse, wenn du dich in ihnen dreimal auf dem Absatz herumdrehst, so
+kannst du hinfliegen, wohin du nur willst, und mit dem Stoecklein
+kannst du Schaetze finden, denn wo Gold vergraben ist, da wird es
+dreimal auf die Erde schlagen, bei Silber zweimal." So traeumte der
+kleine Muck. Als er aber aufwachte, dachte er ueber den wunderbaren
+Traum nach und beschloss, alsbald einen Versuch zu machen. Er zog die
+Pantoffeln an, lupfte einen Fuss und begann sich auf dem Absatz
+umzudrehen. Wer es aber jemals versucht hat, in einem ungeheuer
+weiten Pantoffel dieses Kunststueck dreimal hintereinander zu machen,
+der wird sich nicht wundern, wenn es dem kleinen Muck nicht gleich
+glueckte, besonders wenn man bedenkt, dass ihn sein schwerer Kopf bald
+auf diese, bald auf jene Seite hinueberzog.
+
+Der arme Kleine fiel einigemal tuechtig auf die Nase; doch liess er
+sich nicht abschrecken, den Versuch zu wiederholen, und endlich
+glueckte es. Wie ein Rad fuhr er auf seinem Absatz herum, wuenschte
+sich in die naechste grosse Stadt, und--die Pantoffeln ruderten hinauf
+in die Luefte, liefen mit Windeseile durch die Wolken, und ehe sich
+der kleine Muck noch besinnen konnte, wie ihm geschah, befand er sich
+schon auf einem grossen Marktplatz, wo viele Buden aufgeschlagen waren
+und unzaehlige Menschen geschaeftig hin und her liefen. Er ging unter
+den Leuten hin und her, hielt es aber fuer ratsamer, sich in eine
+einsamere Strasse zu begeben; denn auf dem Markt trat ihm bald da
+einer auf die Pantoffeln, dass er beinahe umfiel, bald stiess er mit
+seinem weit hinausstehenden Dolch einen oder den anderen an, dass er
+mit Muehe den Schlaegen entging.
+
+Der kleine Muck bedachte nun ernstlich, was er wohl anfangen koennte,
+um sich ein Stueck Geld zu verdienen; er hatte zwar ein Staeblein, das
+ihm verborgene Schaetze anzeigte, aber wo sollte er gleich einen Platz
+finden, wo Gold oder Silber vergraben waere? Auch haette er sich zur
+Not fuer Geld sehen lassen koennen; aber dazu war er doch zu stolz.
+Endlich fiel ihm die Schnelligkeit seiner Fuesse ein, "vielleicht",
+dachte er, "koennen mir meine Pantoffeln Unterhalt gewaehren", und er
+beschloss, sich als Schnellaeufer zu verdingen. Da er aber hoffen
+durfte, dass der Koenig dieser Stadt solche Dienste am besten bezahle,
+so erfragte er den Palast. Unter dem Tor des Palastes stand eine
+Wache, die ihn fragte, was er hier zu suchen habe. Auf seine Antwort,
+dass er einen Dienst suche, wies man ihn zum Aufseher der Sklaven.
+Diesem trug er sein Anliegen vor und bat ihn, ihm einen Dienst unter
+den koeniglichen Boten zu besorgen. Der Aufseher mass ihn mit seinen
+Augen von Kopf bis zu den Fuessen und sprach: "Wie, mit deinen Fuesslein,
+die kaum so lang als eine Spanne sind, willst du koeniglicher
+Schnellaeufer werden? Hebe dich weg, ich bin nicht dazu da, mit jedem
+Narren Kurzweil zu machen." Der kleine Muck versicherte ihm aber, dass
+es ihm vollkommen ernst sei mit seinem Antrag und dass er es mit dem
+Schnellsten auf eine Wette ankommen lassen wollte. Dem Aufseher kam
+die Sache gar laecherlich vor; er befahl ihm, sich bis auf den Abend
+zu einem Wettlauf bereitzuhalten, fuehrte ihn in die Kueche und sorgte
+dafuer, dass ihm gehoerig Speis' und Trank gereicht wurde; er selbst
+aber begab sich zum Koenig und erzaehlte ihm vom kleinen Muck und
+seinem Anerbieten. Der Koenig war ein lustiger Herr, daher gefiel es
+ihm wohl, dass der Aufseher der Sklaven den kleinen Menschen zu einem
+Spass behalten habe, er befahl ihm, auf einer grossen Wiese hinter dem
+Schloss Anstalten zu treffen, dass das Wettlaufen mit Bequemlichkeit
+von seinem ganzen Hofstaat koennte gesehen werden, und empfahl ihm
+nochmals, grosse Sorgfalt fuer den Zwerg zu haben. Der Koenig erzaehlte
+seinen Prinzen und Prinzessinnen, was sie diesen Abend fuer ein
+Schauspiel haben wuerden, diese erzaehlten es wieder ihren Dienern, und
+als der Abend herankam, war man in gespannter Erwartung, und alles,
+was Fuesse hatte, stroemte hinaus auf die Wiese, wo Gerueste
+aufgeschlagen waren, um den grosssprecherischen Zwerg laufen zu sehen.
+
+Als der Koenig und seine Soehne und Toechter auf dem Geruest Platz
+genommen hatten, trat der kleine Muck heraus auf die Wiese und machte
+vor den hohen Herrschaften eine ueberaus zierliche Verbeugung. Ein
+allgemeines Freudengeschrei ertoente, als man des Kleinen ansichtig
+wurde; eine solche Figur hatte man dort noch nie gesehen. Das
+Koerperlein mit dem maechtigen Kopf, das Maentelein und die weiten
+Beinkleider, der lange Dolch in dem breiten Guertel, die kleinen
+Fuesslein in den weiten Pantoffeln--nein! Es war zu drollig anzusehen,
+als dass man nicht haette laut lachen sollen. Der kleine Muck liess
+sich aber durch das Gelaechter nicht irremachen. Er stellte sich
+stolz, auf sein Stoecklein gestuetzt, hin und erwartete seinen Gegner.
+Der Aufseher der Sklaven hatte nach Mucks eigenem Wunsche den besten
+Laeufer ausgesucht. Dieser trat nun heraus, stellte sich neben den
+Kleinen, und beide harrten auf das Zeichen. Da winkte Prinzessin
+Amarza, wie es ausgemacht war, mit ihrem Schleier, und wie zwei
+Pfeile, auf dasselbe Ziel abgeschossen, flogen die beiden Wettlaeufer
+ueber die Wiese hin.
+
+Von Anfang hatte Mucks Gegner einen bedeutenden Vorsprung, aber
+dieser jagte ihm auf seinem Pantoffelfuhrwerk nach, holte ihn ein,
+ueberfing ihn und stand laengst am Ziele, als jener noch, nach Luft
+schnappend, daherlief. Verwunderung und Staunen fesselten einige
+Augenblicke die Zuschauer, als aber der Koenig zuerst in die Haende
+klatschte, da jauchzte die Menge, und alle riefen: "Hoch lebe der
+kleine Muck, der Sieger im Wettlauf!"
+
+Man hatte indes den kleinen Muck herbeigebracht; er warf sich vor dem
+Koenig nieder und sprach: "Grossmaechtigster Koenig, ich habe dir hier
+nur eine kleine Probe meiner Kunst gegeben; wolle nur gestatten, dass
+man mir eine Stelle unter deinen Laeufern gebe!"
+
+Der Koenig aber antwortete ihm: "Nein, du sollst mein Leiblaeufer und
+immer um meine Person sein, lieber Muck, jaehrlich sollst du hundert
+Goldstuecke erhalten als Lohn, und an der Tafel meiner ersten Diener
+sollst du speisen."
+
+So glaubte denn Muck, endlich das Glueck gefunden zu haben, das er so
+lange suchte, und war froehlich und wohlgemut in seinem Herzen. Auch
+erfreute er sich der besonderen Gnade des Koenigs, denn dieser
+gebrauchte ihn zu seinen schnellsten und geheimsten Sendungen, die er
+dann mit der groessten Genauigkeit und mit unbegreiflicher Schnelle
+besorgte.
+
+Aber die uebrigen Diener des Koenigs waren ihm gar nicht zugetan, weil
+sie sich ungern durch einen Zwerg, der nichts verstand, als schnell
+zu laufen, in der Gunst ihres Herrn zurueckgesetzt sahen. Sie
+veranstalteten daher manche Verschwoerung gegen ihn, um ihn zu stuerzen;
+aber alle schlugen fehl an dem grossen Zutrauen, das der Koenig in
+seinen geheimen Oberleiblaeufer (denn zu dieser Wuerde hatte er es in
+so kurzer Zeit gebracht) setzte.
+
+Muck, dem diese Bewegungen gegen ihn nicht entgingen, sann nicht auf
+Rache, dazu hatte er ein zu gutes Herz, nein, auf Mittel dachte er,
+sich bei seinen Feinden notwendig und beliebt zu machen. Da fiel ihm
+sein Staeblein, das er in seinem Glueck ausser acht gelassen hatte, ein;
+wenn er Schaetze finde, dachte er, wuerden ihm die Herren schon
+geneigter werden. Er hatte schon oft gehoert, dass der Vater des
+jetzigen Koenigs viele seiner Schaetze vergraben habe, als der Feind
+sein Land ueberfallen; man sagte auch, er sei darueber gestorben, ohne
+dass er sein Geheimnis habe seinem Sohn mitteilen koennen. Von nun an
+nahm Muck immer sein Stoecklein mit, in der Hoffnung, einmal an einem
+Ort vorueberzugehen, wo das Geld des alten Koenigs vergraben sei.
+Eines Abends fuehrte ihn der Zufall in einen entlegenen Teil des
+Schlossgartens, den er wenig besuchte, und ploetzlich fuehlte er das
+Stoecklein in seiner Hand zucken, und dreimal schlug es gegen den
+Boden. Nun wusste er schon, was dies zu bedeuten hatte. Er zog daher
+seinen Dolch heraus, machte Zeichen in die umstellenden Baeume und
+schlich sich wieder in das Schloss; dort verschaffte er sich einen
+Spaten und wartete die Nacht zu seinem Unternehmen ab.
+
+Das Schatzgraben selbst machte uebrigens dem kleinen Muck mehr zu
+schaffen, als er geglaubt hatte.
+
+Seine Arme waren gar zu schwach, sein Spaten aber gross und schwer;
+und er mochte wohl schon zwei Stunden gearbeitet haben, ehe er ein
+paar Fuss tief gegraben hatte. Endlich stiess er auf etwas Hartes, das
+wie Eisen klang. Er grub jetzt emsiger, und bald hatte er einen
+grossen eisernen Deckel zutage gefoerdert; er stieg selbst in die Grube
+hinab, um nachzuspaehen, was wohl der Deckel koennte bedeckt haben, und
+fand richtig einen grossen Topf, mit Goldstuecken angefuellt. Aber
+seine schwachen Kraefte reichten nicht hin, den Topf zu heben, daher
+steckte er in seine Beinkleider und seinen Guertel, so viel er zu
+tragen vermochte, und auch sein Maentelein fuellte er damit, bedeckte
+das uebrige wieder sorgfaeltig und lud es auf den Ruecken. Aber
+wahrlich, wenn er die Pantoffeln nicht an den Fuessen gehabt haette, er
+waere nicht vom Fleck gekommen, so zog ihn die Last des Goldes nieder.
+Doch unbemerkt kam er auf sein Zimmer und verwahrte dort sein Gold
+unter den Polstern seines Sofas.
+
+Als der kleine Muck sich im Besitz so vielen Goldes sah, glaubte er,
+das Blatt werde sich jetzt wenden und er werde sich unter seinen
+Feinden am Hofe viele Goenner und warme Anhaenger erwerben. Aber schon
+daran konnte man erkennen, dass der gute Muck keine gar sorgfaeltige
+Erziehung genossen haben musste, sonst haette er sich wohl nicht
+einbilden koennen, durch Gold wahre Freunde zu gewinnen. Ach, dass er
+damals seine Pantoffeln geschmiert und sich mit seinem Maentelein voll
+Gold aus dem Staub gemacht haette!
+
+Das Gold, das der kleine Muck von jetzt an mit vollen Haenden
+austeilte, erweckte den Neid der uebrigen Hofbediensteten. Der
+Kuechenmeister Ahuli sagte: "Er ist ein Falschmuenzer."
+
+Der Sklavenaufseher Achmet sagte: "Er hat's dem Koenig abgeschwatzt."
+
+Archaz, der Schatzmeister, aber, sein aergster Feind, der selbst hier
+und da einen Griff in des Koenigs Kasse tun mochte, sagte geradezu:
+"Er hat's gestohlen."
+
+Um nun ihrer Sache gewiss zu sein, verabredeten sie sich, und der
+Obermundschenk Korchuz stellte sich eines Tages recht traurig und
+niedergeschlagen vor die Augen des Koenigs. Er machte seine traurigen
+Gebaerden so auffallend, dass ihn der Koenig fragte, was ihm fehle.
+
+"Ah", antwortete er, "ich bin traurig, dass ich die Gnade meines Herrn
+verloren habe."
+
+"Was fabelst du, Freund Korchuz?" entgegnete ihm der Koenig. "Seit
+wann haette ich die Sonne meiner Gnade nicht ueber dich leuchten
+lassen?" Der Obermundschenk antwortete ihm, dass er ja den geheimen
+Oberleiblaeufer mit Gold belade, seinen armen, treuen Dienern aber
+nichts gebe.
+
+Der Koenig war sehr erstaunt ueber diese Nachricht, liess sich die
+Goldausteilungen des kleinen Muck erzaehlen, und die Verschworenen
+brachten ihm leicht den Verdacht bei, dass Muck auf irgendeine Art das
+Geld aus der Schatzkammer gestohlen habe. Sehr lieb war diese
+Wendung der Sache dem Schatzmeister, der ohnehin nicht gerne Rechnung
+ablegte. Der Koenig gab daher den Befehl, heimlich auf alle Schritte
+des kleinen Muck achtzugeben, um ihn womoeglich auf der Tat zu
+ertappen. Als nun in der Nacht, die auf diesen Unglueckstag folgte,
+der kleine Muck, da er durch seine Freigebigkeit seine Kasse sehr
+erschoepft sah, den Spaten nahm und in den Schlossgarten schlich, um
+dort von seinem geheimen Schatze neuen Vorrat zu holen, folgten ihm
+von weitem die Wachen, von dem Kuechenmeister Ahuli und Archaz, dem
+Schatzmeister, angefuehrt, und in dem Augenblick, da er das Gold aus
+dem Topf in sein Maentelein legen wollte, fielen sie ueber ihn her,
+banden ihn und fuehrten ihn sogleich vor den Koenig. Dieser, den
+ohnehin die Unterbrechung seines Schlafes muerrisch gemacht hatte,
+empfing seinen armen Oberleiblaeufer sehr ungnaedig und stellte
+sogleich das Verhoer ueber ihn an. Man hatte den Topf vollends aus der
+Erde gegraben und mit dem Spaten und mit dem Maentelein voll Gold vor
+die Fuesse des Koenigs gesetzt. Der Schatzmeister sagte aus, dass er mit
+seinen Wachen den Muck ueberrascht habe, wie er diesen Topf mit Gold
+gerade in die Erde gegraben habe.
+
+Der Koenig befragte hierauf den Angeklagten, ob es wahr sei und woher
+er das Gold, das er vergraben, bekommen habe.
+
+Der kleine Muck, im Gefuehl seiner Unschuld, sagte aus, dass er diesen
+Topf im Garten entdeckt habe, dass er ihn habe nicht ein-, sondern
+ausgraben wollen.
+
+Alle Anwesenden lachten laut ueber diese Entschuldigung, der Koenig
+aber, aufs hoechste erzuernt ueber die vermeintliche Frechheit des
+Kleinen, rief aus: "Wie, Elender! Du willst deinen Koenig so dumm und
+schaendlich beluegen, nachdem du ihn bestohlen hast? Schatzmeister
+Archaz! Ich fordere dich auf, zu sagen, ob du diese Summe Goldes fuer
+die naemliche erkennst, die in meinem Schatze fehlt."
+
+Der Schatzmeister aber antwortete, er sei seiner Sache ganz gewiss, so
+viel und noch mehr fehle seit einiger Zeit von dem koeniglichen Schatz,
+und er koenne einen Eid darauf ablegen, dass dies das Gestohlene sei.
+
+Da befahl der Koenig, den kleinen Muck in enge Ketten zu legen und in
+den Turm zu fuehren; dem Schatzmeister aber uebergab er das Gold, um es
+wieder in den Schatz zu tragen. Vergnuegt ueber den gluecklichen
+Ausgang der Sache, zog dieser ab und zaehlte zu Haus die blinkenden
+Goldstuecke; aber das hat dieser schlechte Mann niemals angezeigt, dass
+unten in dem Topf ein Zettel lag, der sagte: "Der Feind hat mein Land
+ueberschwemmt, daher verberge ich hier einen Teil meiner Schaetze; wer
+es auch finden mag, den treffe der Fluch seines Koenigs, wenn er es
+nicht sogleich meinem Sohne ausliefert! Koenig Sadi."
+
+Der kleine Muck stellte in seinem Kerker traurige Betrachtungen an;
+er wusste, dass auf Diebstahl an koeniglichen Sachen der Tod gesetzt war,
+und doch mochte er das Geheimnis mit dem Staebchen dem Koenig nicht
+verraten, weil er mit Recht fuerchtete, dieses und seiner Pantoffeln
+beraubt zu werden. Seine Pantoffeln konnten ihm leider auch keine
+Hilfe bringen; denn da er in engen Ketten an die Mauer geschlossen
+war, konnte er, so sehr er sich quaelte, sich nicht auf dem Absatz
+umdrehen. Als ihm aber am anderen Tage sein Tod angekuendigt wurde,
+da gedachte er doch, es sei besser, ohne das Zauberstaebchen zu leben
+als mit ihm zu sterben, liess den Koenig um geheimes Gehoer bitten und
+entdeckte ihm das Geheimnis. Der Koenig mass von Anfang an seinem
+Gestaendnis keinen Glauben bei; aber der kleine Muck versprach eine
+Probe, wenn ihm der Koenig zugestuende, dass er nicht getoetet werden
+solle.
+
+Der Koenig gab ihm sein Wort darauf und liess, von Muck ungesehen,
+einiges Gold in die Erde graben und befahl diesem, mit seinem
+Staebchen zu suchen. In wenigen Augenblicken hatte er es gefunden;
+denn das Staebchen schlug deutlich dreimal auf die Erde. Da merkte
+der Koenig, dass ihn sein Schatzmeister betrogen hatte, und sandte ihm,
+wie es im Morgenland gebraeuchlich ist, eine seidene Schnur, damit er
+sich selbst erdrossle. Zum kleinen Muck aber sprach er: "Ich habe dir
+zwar dein Leben versprochen; aber es scheint mir, als ob du nicht
+allein dieses Geheimnis mit dem Staebchen besitzest; darum bleibst du
+in ewiger Gefangenschaft, wenn du nicht gestehst, was fuer eine
+Bewandtnis es mit deinem Schnellaufen hat." Der kleine Muck, den die
+einzige Nacht im Turm alle Lust zu laengerer Gefangenschaft benommen
+hatte, bekannte, dass seine ganze Kunst in den Pantoffeln liege, doch
+lehrte er den Koenig nicht das Geheimnis von dem dreimaligen Umdrehen
+auf dem Absatz. Der Koenig schluepfte selbst in die Pantoffeln, um die
+Probe zu machen, und jagte wie unsinnig im Garten umher; oft wollte
+er anhalten; aber er wusste nicht, wie man die Pantoffeln zum Stehen
+brachte, und der kleine Muck, der diese kleine Rache sich nicht
+versagen konnte, liess ihn laufen, bis er ohnmaechtig niederfiel.
+
+Als der Koenig wieder zur Besinnung zurueckgekehrt war, war er
+schrecklich aufgebracht ueber den kleinen Muck, der ihn so ganz ausser
+Atem hatte laufen lassen. "Ich habe dir mein Wort gegeben, dir
+Freiheit und Leben zu schenken; aber innerhalb zwoelf Stunden musst du
+mein Land verlassen, sonst lasse ich dich aufknoepfen!" Die Pantoffeln
+und das Staebchen aber liess er in seine Schatzkammer legen.
+
+So arm als je wanderte der kleine Muck zum Land hinaus, seine Torheit
+verwuenschend, die ihm vorgespiegelt hatte, er koenne eine bedeutende
+Rolle am Hofe spielen. Das Land, aus dem er gejagt wurde, war zum
+Glueck nicht gross, daher war er schon nach acht Stunden auf der Grenze,
+obgleich ihn das Gehen, da er an seine lieben Pantoffeln gewoehnt war,
+sehr sauer ankam.
+
+Als er ueber der Grenze war, verliess er die gewoehnliche Strasse, um die
+dichteste Einoede der Waelder aufzusuchen und dort nur sich zu leben;
+denn er war allen Menschen gram. In einem dichten Walde traf er auf
+einen Platz, der ihm zu dem Entschluss, den er gefasst hatte, ganz
+tauglich schien. Ein klarer Bach, von grossen, schattigen
+Feigenbaeumen umgeben, ein weicher Rasen luden ihn ein; hier warf er
+sich nieder mit dem Entschluss, keine Speise mehr zu sich zu nehmen,
+sondern hier den Tod zu erwarten. Ueber traurigen
+Todesbetrachtungen schlief er ein; als er aber wieder aufwachte und
+der Hunger ihn zu quaelen anfing, bedachte er doch, dass der Hungertod
+eine gefaehrliche Sache sei, und sah sich um, ob er nirgends etwas zu
+essen bekommen koennte.
+
+Koestliche reife Feigen hingen an dem Baume, unter welchem er
+geschlafen hatte; er stieg hinauf, um sich einige zu pfluecken, liess
+es sich trefflich schmecken und ging dann hinunter an den Bach, um
+seinen Durst zu loeschen. Aber wie gross war sein Schrecken, als ihm
+das Wasser seinen Kopf mit zwei gewaltigen Ohren und einer dicken,
+langen Nase geschmueckt zeigte! Bestuerzt griff er mit den Haenden nach
+den Ohren, und wirklich, sie waren ueber eine halbe Elle lang.
+
+"Ich verdiene Eselsohren!" rief er aus; "denn ich habe mein Glueck wie
+ein Esel mit Fuessen getreten." Er wanderte unter den Baeumen umher, und
+als er wieder Hunger fuehlte, musste er noch einmal zu den Feigen seine
+Zuflucht nehmen; denn sonst fand er nichts Essbares an den Baeumen.
+Als ihm ueber der zweiten Portion Feigen einfiel, ob wohl seine Ohren
+nicht unter seinem grossen Turban Platz haetten, damit er doch nicht
+gar zu laecherlich aussehe, fuehlte er, dass seine Ohren verschwunden
+waren. Er lief gleich an den Bach zurueck, um sich davon zu
+ueberzeugen, und wirklich, es war so, seine Ohren hatten ihre vorige
+Gestalt, seine lange, unfoermliche Nase war nicht mehr. Jetzt merkte
+er aber, wie dies gekommen war; von dem ersten Feigenbaum hatte er
+die lange Nase und Ohren bekommen, der zweite hatte ihn geheilt;
+freudig erkannte er, dass sein guetiges Geschick ihm noch einmal die
+Mittel in die Hand gebe, gluecklich zu sein. Er pflueckte daher von
+jedem Baum so viel, wie er tragen konnte, und ging in das Land zurueck,
+das er vor kurzem verlassen hatte. Dort machte er sich in dem
+ersten Staedtchen durch andere Kleider ganz unkenntlich und ging dann
+weiter auf die Stadt zu, die jener Koenig bewohnte, und kam auch bald
+dort an.
+
+Es war gerade zu einer Jahreszeit, wo reife Fruechte noch ziemlich
+selten waren; der kleine Muck setzte sich daher unter das Tor des
+Palastes; denn ihm war von frueherer Zeit her wohl bekannt, dass hier
+solche Seltenheiten von dem Kuechenmeister fuer die koenigliche Tafel
+eingekauft wurden. Muck hatte noch nicht lange gesessen, als er den
+Kuechenmeister ueber den Hof herueberschreiten sah. Er musterte die
+Waren der Verkaeufer, die sich am Tor des Palastes eingefunden hatten;
+endlich fiel sein Blick auch auf Mucks Koerbchen. "Ah, ein seltener
+Bissen", sagte er, "der Ihro Majestaet gewiss behagen wird. Was willst
+du fuer den ganzen Korb?" Der kleine Muck bestimmte einen maessigen
+Preis, und sie waren bald des Handels einig. Der Kuechenmeister
+uebergab den Korb einem Sklaven und ging weiter; der kleine Muck aber
+macht sich einstweilen aus dem Staub, weil er befuerchtete, wenn sich
+das Unglueck an den Koepfen des Hofes zeigte, moechte man ihn als
+Verkaeufer aufsuchen und bestrafen.
+
+Der Koenig war ueber Tisch sehr heiter gestimmt und sagte seinem
+Kuechenmeister einmal ueber das andere Lobsprueche wegen seiner guten
+Kueche und der Sorgfalt, mit der er immer das Seltenste fuer ihn
+aussuche; der Kuechenmeister aber, welcher wohl wusste, welchen
+Leckerbissen er noch im Hintergrund habe, schmunzelte gar freundlich
+und liess nur einzelne Worte fallen, als: "Es ist noch nicht aller
+Tage Abend", oder "Ende gut, alles gut", so dass die Prinzessinnen
+sehr neugierig wurden, was er wohl noch bringen werde. Als er aber
+die schoenen, einladenden Feigen aufsetzen liess, da entfloh ein
+allgemeines Ah! dem Munde der Anwesenden.
+
+"Wie reif, wie appetitlich!" rief der Koenig. "Kuechenmeister, du bist
+ein ganzer Kerl und verdienst unsere ganz besondere Gnade!" Also
+sprechend, teilte der Koenig, der mit solchen Leckerbissen sehr
+sparsam zu sein pflegte, mit eigener Hand die Feigen an seiner Tafel
+aus. Jeder Prinz und jede Prinzessin bekam zwei, die Hofdamen und
+die Wesire und Agas eine, die uebrigen stellte er vor sich hin und
+begann mit grossem Behagen sie zu verschlingen.
+
+"Aber, lieber Gott, wie siehst du so wunderlich aus, Vater?" rief auf
+einmal die Prinzessin Amarza. Alle sahen den Koenig erstaunt an;
+ungeheure Ohren hingen ihm am Kopf, eine lange Nase zog sich ueber
+sein Kinn herunter; auch sich selbst betrachteten sie untereinander
+mit Staunen und Schrecken; alle waren mehr oder minder mit dem
+sonderbaren Kopfputz geschmeckt.
+
+Man denke sich den Schrecken des Hofes! Man schickte sogleich nach
+allen Aerzten der Stadt; sie kamen haufenweise, verordneten Pillen und
+Mixturen; aber die Ohren und die Nasen blieben. Man operierte einen
+der Prinzen; aber die Ohren wuchsen nach.
+
+Muck hatte die ganze Geschichte in seinem Versteck, wohin er sich
+zurueckgezogen hatte, gehoert und erkannte, dass es jetzt Zeit sei zu
+handeln. Er hatte sich schon vorher von dem aus den Feigen geloesten
+Geld einen Anzug verschafft, der ihn als Gelehrten darstellen konnte;
+ein langer Bart aus Ziegenhaaren vollendete die Taeuschung. Mit einem
+Saeckchen voll Feigen wanderte er in den Palast des Koenigs und bot als
+fremder Arzt seine Hilfe an. Man war von Anfang sehr unglaeubig; als
+aber der kleine Muck eine Feige einem der Prinzen zu essen gab und
+Ohren und Nase dadurch in den alten Zustand zurueckbrachte, da wollte
+alles von dem fremden Arzte geheilt sein. Aber der Koenig nahm ihn
+schweigend bei der Hand und fuehrte ihn in sein Gemach; dort schloss er
+eine Tuere auf, die in die Schatzkammer fuehrte, und winkte Muck, ihm
+zu folgen. "Hier sind meine Schaetze", sprach der Koenig, "waehle dir,
+was es auch sei, es soll dir gewaehrt werden, wenn du mich von diesem
+schmachvollen Uebel befreist."
+
+Das war suesse Musik in des kleinen Muck Ohren; er hatte gleich beim
+Eintritt seine Pantoffeln auf dem Boden stehen sehen, gleich daneben
+lag auch sein Staebchen. Er ging nun umher in dem Saal, wie wenn er
+die Schaetze des Koenigs bewundern wollte; kaum aber war er an seine
+Pantoffeln gekommen, so schluepfte er eilends hinein, ergriff sein
+Staebchen, riss seinen falschen Bart herab und zeigte dem erstaunten
+Koenig das wohlbekannte Gesicht seines verstossenen Muck. "Treuloser
+Koenig", sprach er, "der du treue Dienste mit Undank lohnst, nimm als
+wohlverdiente Strafe die Missgestalt, die du traegst. Die Ohren lass
+ich dir zurueck, damit sie dich taeglich erinnern an den kleinen Muck."
+Als er so gesprochen hatte, drehte er sich schnell auf dem Absatz
+herum, wuenschte sich weit hinweg, und ehe noch der Koenig um Hilfe
+rufen konnte, war der kleine Muck entflohen. Seitdem lebt der kleine
+Muck hier in grossem Wohlstand, aber einsam; denn er verachtet die
+Menschen. Er ist durch Erfahrung ein weiser Mann geworden, welcher,
+wenn auch sein Aeusseres etwas Auffallendes haben mag, deine
+Bewunderung mehr als deinen Spott verdient.
+
+"So erzaehlte mir mein Vater; ich bezeugte ihm meine Reue ueber mein
+rohes Betragen gegen den guten kleinen Mann, und mein Vater schenkte
+mir die andere Haelfte der Strafe, die er mir zugedacht hatte. Ich
+erzaehlte meinen Kameraden die wunderbaren Schicksale des Kleinen, und
+wir gewannen ihn so lieb, dass ihn keiner mehr schimpfte. Im
+Gegenteil, wir ehrten ihn, solange er lebte, und haben uns vor ihm
+immer so tief wie vor Kadi und Mufti gebueckt."
+
+Die Reisenden beschlossen, einen Rasttag in dieser Karawanserei zu
+machen, um sich und die Tiere zur weiteren Reise zu staerken. Die
+gestrige Froehlichkeit ging auch auf diesen Tag ueber, und sie
+ergoetzten sich in allerlei Spielen. Nach dem Essen aber riefen sie
+dem fuenften Kaufmann, Ali Sizah, zu, auch seine Schuldigkeit gleich
+den uebrigen zu tun und eine Geschichte zu erzaehlen. Er antwortete,
+sein Leben sei zu arm an auffallenden Begebenheiten, als dass er ihnen
+etwas davon mitteilen moechte, daher wolle er ihnen etwas anderes
+erzaehlen, naemlich: Das Maerchen vom falschen Prinzen.
+
+
+
+
+Das Maerchen vom falschen Prinzen
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Es war einmal ein ehrsamer Schneidergeselle, namens Labakan, der bei
+einem geschickten Meister in Alessandria sein Handwerk lernte. Man
+konnte nicht sagen, dass Labakan ungeschickt mit der Nadel war, im
+Gegenteil, er konnte recht feine Arbeit machen. Auch tat man ihm
+unrecht, wenn man ihn geradezu faul schalt; aber ganz richtig war es
+doch nicht mit dem Gesellen, denn er konnte oft stundenweis in einem
+fort naehen, dass ihm die Nadel in der Hand gluehend ward und der Faden
+rauchte, da gab es ihm dann ein Stueck wie keinem anderen; ein
+andermal aber, und dies geschah leider oefters, sass er in tiefen
+Gedanken, sah mit starren Augen vor sich hin und hatte dabei in
+Gesicht und Wesen etwas so Eigenes, dass sein Meister und die uebrigen
+Gesellen von diesem Zustand nie anders sprachen als: "Labakan hat
+wieder sein vornehmes Gesicht."
+
+Am Freitag aber, wenn andere Leute vom Gebet ruhig nach Haus an ihre
+Arbeit gingen, trat Labakan in einem schoenen Kleid, das er sich mit
+vieler Muehe zusammengespart hatte, aus der Moschee, ging langsam und
+stolzen Schrittes durch die Plaetze und Strassen der Stadt, und wenn
+ihm einer seiner Kameraden ein "Friede sei mit dir", oder "Wie geht
+es, Freund Labakan?" bot, so winkte er gnaedig mit der Hand oder
+nickte, wenn es hoch kam, vornehm mit dem Kopf. Wenn dann sein
+Meister im Spass zu ihm sagte: "An dir ist ein Prinz verlorengegangen,
+Labakan", so freute er sich darueber und antwortete: "Habt Ihr das
+auch bemerkt?" oder: "Ich habe es schon lange gedacht!"
+
+So trieb es der ehrsame Schneidergeselle Labakan schon eine geraume
+Zeit, sein Meister aber duldete seine Narrheit, weil er sonst ein
+guter Mensch und geschickter Arbeiter war. Aber eines Tages schickte
+Selim, der Bruder des Sultans, der gerade durch Alessandria reiste,
+ein Festkleid zu dem Meister, um einiges daran veraendern zu lassen,
+und der Meister gab es Labakan, weil dieser die feinste Arbeit machte.
+Als abends der Meister und die Gesellen sich hinwegbegeben hatten,
+um nach des Tages Last sich zu erholen, trieb eine unwiderstehliche
+Sehnsucht Labakan wieder in die Werkstatt zurueck, wo das Kleid des
+kaiserlichen Bruders hing. Er stand lange sinnend davor, bald den
+Glanz der Stickerei, bald die schillernden Farben des Samts und der
+Seide an dem Kleide bewundernd. Er konnte nicht anders, er musste es
+anziehen, und siehe da, es passte ihm so trefflich, wie wenn es fuer
+ihn waere gemacht worden. "Bin ich nicht so gut ein Prinz als einer?"
+fragte er sich, indem er im Zimmer auf und ab schritt. "Hat nicht
+der Meister selbst schon gesagt, dass ich zum Prinzen geboren sei?"
+Mit den Kleidern schien der Geselle eine ganz koenigliche Gesinnung
+angezogen zu haben; er konnte sich nicht anders denken, als er sei
+ein unbekannter Koenigssohn, und als solcher beschloss er, in die Welt
+zu reisen und einen Ort zu verlassen, wo die Leute bisher so toericht
+gewesen waren, unter der Huelle seines niederen Standes nicht seine
+angebotene Wuerde zu erkennen. Das prachtvolle Kleid schien ihm von
+einer guetigen Fee geschickt, er huetete sich daher wohl, ein so teures
+Geschenk zu verschmaehen, steckte seine geringe Barschaft zu sich und
+wanderte, beguenstigt von dem Dunkel der Nacht, aus Alessandrias Toren.
+
+Der neue Prinz erregte ueberall auf seiner Wanderschaft Verwunderung,
+denn das prachtvolle Kleid und sein ernstes, majestaetisches Wesen
+wollten gar nicht passen fuer einen Fussgaenger. Wenn man ihn darueber
+befragte, pflegte er mit geheimnisvoller Miene zu antworten, dass das
+seine eigenen Ursachen habe. Als er aber merkte, dass er sich durch
+seine Fusswanderungen laecherlich machte, kaufte er um geringen Preis
+ein altes Ross, welches sehr fuer ihn passte, da es ihn mit seiner
+gesetzten Ruhe und Sanftmut nie in die Verlegenheit brachte, sich als
+geschickter Reiter zeigen zu muessen, was gar nicht seine Sache war.
+
+Eines Tages, als er Schritt vor Schritt auf seinem Murva, so hatte er
+sein Ross genannt,; seine Strasse zog, schloss sich ein Reiter an ihn an
+und bat ihn, in seiner Gesellschaft reiten zu duerfen, weil ihm der
+Weg viel kuerzer werde im Gespraech mit einem anderen. Der Reiter war
+ein froehlicher, junger Mann, schoen und angenehm im Umgang. Er hatte
+mit Labakan bald ein Gespraech angeknuepft ueber Woher und Wohin, und es
+traf sich, dass auch er, wie der Schneidergeselle, ohne Plan in die
+Welt hinauszog. Er sagte, er heisse Omar, sei der Neffe Elfi Beys,
+des ungluecklichen Bassas von Kairo, und reise nun umher, um einen
+Auftrag, den ihm sein Oheim auf dem Sterbebette erteilt habe,
+auszurichten. Labakan liess sich nicht so offenherzig ueber seine
+Verhaeltnisse aus, er gab ihm zu verstehen, dass er von hoher Abkunft
+sei und zu seinem Vergnuegen reise.
+
+Die beiden jungen Herren fanden Gefallen aneinander und zogen fuerder.
+Am zweiten Tage ihrer gemeinschaftlichen Reise fragte Labakan seinen
+Gefaehrten Omar nach den Auftraegen, die er zu besorgen habe, und
+erfuhr zu seinem Erstaunen folgendes: Elfi Bey, der Bassa von Kairo,
+hatte den Omar seit seiner fruehesten Kindheit erzogen, und dieser
+hatte seine Eltern nie gekannt. Als nun Elfi Bey von seinen Feinden
+ueberfallen worden war und nach drei ungluecklichen Schlachten, toedlich
+verwundet, fliehen musste, entdeckte er seinem Zoegling, dass er nicht
+sein Neffe sei, sondern der Sohn eines maechtigen Herrschers, welcher
+aus Furcht vor den Prophezeiungen seiner Sterndeuter den jungen
+Prinzen von seinem Hofe entfernt habe, mit dem Schwur, ihn erst an
+seinem zweiundzwanzigsten Geburtstage wiedersehen zu wollen. Elfi
+Bey habe ihm den Namen seines Vaters nicht genannt, sondern ihm nur
+aufs bestimmteste aufgetragen, am fuenften Tage des kommenden Monats
+Ramadan, an welchem Tage er zweiundzwanzig Jahre alt werde, sich an
+der beruehmten Saeule El-Serujah, vier Tagreisen oestlich von
+Alessandria, einzufinden; dort soll er den Maennern, die an der Saeule
+stehen wuerden, einen Dolch, den er ihm gab, ueberreichen mit den
+Worten: "leer bin ich, den ihr suchet"; wenn sie antworteten: "Gelobt
+sei der Prophet, der dich erhielt!", so solle er ihnen folgen, sie
+wuerden ihn zu seinem Vater fuehren.
+
+Der Schneidergeselle Labakan war sehr erstaunt ueber diese Mitteilung,
+er betrachtete von jetzt an den Prinzen Omar mit neidischen Augen,
+erzuernt darueber, dass das Schicksal jenem, obgleich er schon fuer den
+Neffen eines maechtigen Bassa galt, noch die Wuerde eines Fuerstensohnes
+verliehen, ihm aber, den es mit allem, was einem Prinzen nottut,
+ausgeruestet, gleichsam zum Hohn eine dunkle Geburt und einen
+gewoehnlichen Lebensweg verliehen habe. Er stellte Vergleichungen
+zwischen sich und dem Prinzen an. Er musste sich gestehen, es sei
+jener ein Mann von sehr vorteilhafter Gesichtsbildung; schoene,
+lebhafte Augen, eine kuehngebogene Nase, ein sanftes, zuvorkommendes
+Benehmen, kurz, so viele Vorzuege des Aeusseren, die jemand empfehlen
+koennen, waren jenem eigen. Aber so viele Vorzuege er auch an seinem
+Begleiter fand, so gestand er sich doch bei diesen Beobachtungen, dass
+ein Labakan dem fuerstlichen Vater wohl noch willkommener sein duerfte
+als der wirkliche Prinz.
+
+Diese Betrachtungen verfolgten Labakan den ganzen Tag, mit ihnen
+schlief er im naechsten Nachtlager ein, aber als er morgens aufwachte
+und sein Blick auf den neben ihm schlafenden Omar fiel, der so ruhig
+schlafen und von seinem gewissen Glueck traeumen konnte, da erwachte in
+ihm der Gedanke, sich durch List oder Gewalt zu erstreben, was ihm
+das unguenstige Schicksal versagt hatte. Der Dolch, das
+Erkennungszeichen des heimkehrenden Prinzen, sah aus dem Guertel des
+Schlafenden hervor, leise zog er ihn hervor, um ihn in die Brust des
+Eigentuemers zu stossen. Doch vor dem Gedanken des Mordes entsetzte
+sich die friedfertige Seele des Gesellen; er begnuegte sich, den Dolch
+zu sich zu stecken, das schnellere Pferd des Prinzen fuer sich
+aufzaeumen zu lassen, und ehe Omar aufwachte und sich aller seiner
+Hoffnungen beraubt sah, hatte sein treuloser Gefaehrte schon einen
+Vorsprung von mehreren Meilen.
+
+Es war gerade der erste Tag des heiligen Monats Ramadan, an welchem
+Labakan den Raub an dem Prinzen begangen hatte, und er hatte also
+noch vier Tage, um zu der Saeule El Serujah, welche ihm wohlbekannt
+war, zu gelangen. Obgleich die Gegend, worin sich diese Saeule befand,
+hoechstens noch zwei Tagreisen entfernt sein konnte, so beeilte er
+sich doch hinzukommen, weil er immer fuerchtete, von dem wahren
+Prinzen eingeholt zu werden.
+
+Am Ende des zweiten Tages erblickte Labakan die Saeule El-Serujah.
+Sie stand auf einer kleinen Anhoehe in einer weiten Ebene und konnte
+auf zwei bis drei Stunden gesehen werden. Labakans Herz pochte
+lauter bei diesem Anblick; obgleich er die letzten zwei Tage hindurch
+Zeit genug gehabt, ueber die Rolle, die er zu spielen hatte,
+nachzudenken, so machte ihn doch das boese Gewissen etwas aengstlich,
+aber der Gedanke, dass er zum Prinzen geboren sei, staerkte ihn wieder,
+so dass er getroesteter seinem Ziele entgegenging.
+
+Die Gegend um die Saeule El-Serujah war unbewohnt und oede, und der
+neue Prinz waere wegen seines Unterhalts etwas in Verlegenheit
+gekommen, wenn er sich nicht auf mehrere Tage versehen haette. Er
+lagerte sich also neben seinem Pferd unter einigen Palmen und
+erwartete dort sein ferneres Schicksal.
+
+Gegen die Mitte des anderen Tages sah er einen grossen Zug von Pferden
+und Kamelen ueber die Ebene her auf die Saeule El-Serujah zuziehen.
+Der Zug hielt am Fusse des Huegels, auf welchem die Saeule stand, man
+schlug praechtige Zelte auf, und das Ganze sah aus wie der Reisezug
+eines reichen Bassa oder Scheik. Labakan ahnte, dass die vielen Leute,
+welche er sah, sich seinetwegen hierher bemueht hatten, und haette
+ihnen gerne schon heute ihren kuenftigen Gebieter gezeigt; aber er
+maessigte seine Begierde, als Prinz aufzutreten, da ja doch der naechste
+Morgen seine kuehnsten Wuensche vollkommen befriedigen musste.
+
+Die Morgensonne weckte den uebergluecklichen Schneider zu dem
+wichtigsten Augenblick seines Lebens, welcher ihn aus einem niederen,
+unbekannten Sterblichen an die Seite eines fuerstlichen Vaters erheben
+sollte; zwar fiel ihm, als er sein Pferd aufzaeumte, um zu der Saeule
+hinzureiten, wohl auch das Unrechtmaessige seines Schrittes ein; zwar
+fuehrten ihm seine Gedanken den Schmerz des in seinen schoenen
+Hoffnungen betrogenen Fuerstensohnes vor, aber--der Wuerfel war
+geworfen, er konnte nicht mehr ungeschehen machen, was geschehen war,
+und seine Eigenliebe fluesterte ihm zu, dass er stattlich genug aussehe,
+um dem maechtigsten Koenig sich als Sohn vorzustellen; ermutigt durch
+diesen Gedanken, schwang er sich auf sein Ross, nahm alle seine
+Tapferkeit zusammen, um es in einen ordentlichen Galopp zu bringen,
+und in weniger als einer Viertelstunde war er am Fusse des Huegels
+angelangt. Er stieg ab von seinem Pferd und band es an eine Staude,
+deren mehrere an dem Huegel wuchsen; hierauf zog er den Dolch des
+Prinzen Omar hervor und stieg den Huegel hinan. Am Fuss der Saeule
+standen sechs Maenner um einen Greis von hohem, koeniglichem Ansehen;
+ein prachtvoller Kaftan von Goldstoff, mit einem weissen Kaschmirschal
+umguertet, der weisse, mit blitzenden Edelsteinen geschmueckte Turban
+bezeichneten ihn als einen Mann von Reichtum und Wuerde.
+
+Auf ihn ging Labakan zu, neigte sich tief vor ihm und sprach, indem
+er den Dolch darreichte: "Hier bin ich, den Ihr suchet. "
+
+"Gelobt sei der Prophet, der dich erhielt!" antwortete der Greis mit
+Freudentraenen. "Umarme deinen alten Vater, mein geliebter Sohn Omar!"
+Der gute Schneider war sehr geruehrt durch diese feierlichen Worte
+und sank mit einem Gemisch von Freude und Scham in die Arme des alten
+Fuersten.
+
+Aber nur einen Augenblick sollte er ungetruebt die Wonne seines neuen
+Standes geniessen; als er sich aus den Armen des fuerstlichen Greises
+aufrichtete, sah er einen Reiter ueber die Ebene her auf den Huegel
+zueilen. Der Reiter und sein Ross gewaehrten einen sonderbaren Anblick;
+das Ross schien aus Eigensinn oder Muedigkeit nicht vorwaerts zu wollen,
+in einem stolpernden Gang, der weder Schritt noch Trab war, zog es
+daher, der Reiter aber trieb es mit Haenden und Fuessen zu schnellerem
+Laufe an. Nur zu bald erkannte Labakan sein Ross Murva und den echten
+Prinzen Omar, aber der boese Geist der Luege war einmal in ihn gefahren,
+und er beschloss, wie es auch kommen moege, mit eiserner Stirne seine
+angemassten Rechte zu behaupten.
+
+Schon aus der Ferne hatte man den Reiter winken gesehen; jetzt war er
+trotz des schlechten Trabes des Rosses Murva am Fusse des Huegels
+angekommen, warf sich vom Pferd und stuerzte den Huegel hinan. "Haltet
+ein!" rief er. "Wer ihr auch sein moeget, haltet ein und lasst euch
+nicht von dem schaendlichsten Betrueger taeuschen; ich heisse Omar, und
+kein Sterblicher wage es, meinen Namen zu missbrauchen!"
+
+Auf den Gesichtern der Umstehenden malte sich tiefes Erstaunen ueber
+diese Wendung der Dinge; besonders schien der Greis sehr betroffen,
+indem er bald den einen, bald den anderen fragend ansah; Labakan aber
+sprach mit muehsam errungener Ruhe: "Gnaedigster Herr und Vater, lasst
+Euch nicht irremachen durch diesen Menschen da! Es ist, soviel ich
+weiss, ein wahnsinniger Schneidergeselle aus Alessandria, Labakan
+geheissen, der mehr unser Mitleid als unseren Zorn verdient."
+
+Bis zur Raserei aber brachten diese Worte den Prinzen; schaeumend vor
+Wut wollte er auf Labakan eindringen, aber die Umstehenden warfen
+sich dazwischen und hielten ihn fest, und der Fuerst sprach:
+"Wahrhaftig, mein lieber Sohn, der arme Mensch ist verrueckt; man
+binde ihn und setze ihn auf eines unserer Dromedare, vielleicht, dass
+wir dem Ungluecklichen Hilfe schaffen koennen."
+
+Die Wut des Prinzen hatte sich gelegt, weinend rief er dem Fuersten zu:
+"Mein Herz sagt mir, dass Ihr mein Vater seid; bei dem Andenken
+meiner Mutter beschwoere ich Euch, hoert mich an!"
+
+"Ei, Gott bewahre uns!" antwortete dieser, "er faengt schon wieder an,
+irre zu reden, wie doch der Mensch auf so tolle Gedanken kommen kann!"
+Damit ergriff er Labakans Arm und liess sich von ihm den Huegel
+hinuntergeleiten; sie setzten sich beide auf schoene, mit reichen
+Decken behaengte Pferde und ritten an der Spitze des Zuges ueber die
+Ebene hin. Dem ungluecklichen Prinzen aber fesselte man die Haende und
+band ihn auf einem Dromedar fest, und zwei Reiter waren ihm immer zur
+Seite, die ein wachsames Auge auf jede seiner Bewegungen hatten.
+
+Der fuerstliche Greis war Saaud, der Sultan der Wechabiten. Er hatte
+lange ohne Kinder gelebt, endlich wurde ihm ein Prinz geboren, nach
+dem er sich so lange gesehnt hatte; aber die Sterndeuter, welche er
+um die Vorbedeutungen des Knaben befragte, taten den Ausspruch, "dass
+er bis ins zweiundzwanzigste Jahr in Gefahr stehe, von einem Feinde
+verdraengt zu werden", deswegen, um recht sicherzugehen, hatte der
+Sultan den Prinzen seinem alten, erprobten Freunde Elfi-Bey zum
+Erziehen gegeben und zweiundzwanzig schmerzliche Jahre auf seinen
+Anblick geharrt.
+
+Dieses hatte der Sultan seinem (vermeintlichen) Sohne erzaehlt und
+sich ihm ausserordentlich zufrieden mit seiner Gestalt und seinem
+wuerdevollen Benehmen gezeigt.
+
+Als sie in das Land des Sultans kamen, wurden sie ueberall von den
+Einwohnern mit Freudengeschrei empfangen; denn das Geruecht von der
+Ankunft des Prinzen hatte sich wie ein Lauffeuer durch alle Staedte
+und Doerfer verbreitet. Auf den Strassen, durch welche sie zogen,
+waren Boegen von Blumen und Zweigen errichtet, glaenzende Teppiche von
+allen Farben schmeckten die Haeuser, und das Volk pries laut Gott und
+seinen Propheten, der ihnen einen so schoenen Prinzen gesandt habe.
+Alles dies erfuellte das stolze Herz des Schneiders mit Wonne; desto
+ungluecklicher musste sich aber der echte Omar fuehlen, der, noch immer
+gefesselt, in stiller Verzweiflung dem Zuge folgte. Niemand kuemmerte
+sich um ihn bei dem allgemeinen Jubel, der doch ihm galt; den Namen
+Omar riefen tausend und wieder tausend Stimmen, aber ihn, der diesen
+Namen mit Recht trug, ihn beachtete keiner; hoechstens fragte einer
+oder der andere, wen man denn so fest gebunden mit fortfahre, und
+schrecklich toente in das Ohr des Prinzen die Antwort seiner Begleiter,
+es sei ein wahnsinniger Schneider.
+
+Der Zug war endlich in die Hauptstadt des Sultans gekommen, wo alles
+noch glaenzender zu ihrem Empfang bereitet war als in den uebrigen
+Staedten. Die Sultanin, eine aeltliche, ehrwuerdige Frau, erwartete sie
+mit ihrem ganzen Hofstaat in dem prachtvollsten Saal des Schlosses.
+Der Boden dieses Saales war mit einem ungeheuren Teppich bedeckt, die
+Waende waren mit hellblauem Tuch geschmeckt, das in goldenen Quasten
+und Schnueren an grossen, silbernen Haken hing.
+
+Es war schon dunkel, als der Zug anlangte, daher waren im Saale viele
+kugelrunde, farbige Lampen angezuendet, welche die Nacht zum Tag
+erhellten. Am klarsten und vielfarbigsten strahlten sie aber im
+Hintergrund des Saales, wo die Sultanin auf einem Throne sass. Der
+Thron stand auf vier Stufen und war von lauterem Golde und mit grossen
+Amethysten ausgelegt. Die vier vornehmsten Emire hielten einen
+Baldachin von roter Seide ueber dem Haupte der Sultanin, und der
+Scheik von Medina faechelte ihr mit einer Windfuchtel von weissen
+Pfauenfedern Kuehlung zu.
+
+So erwartete die Sultanin ihren Gemahl und ihren Sohn, auch sie hatte
+ihn seit seiner Geburt nicht mehr gesehen, aber bedeutsam Traeume
+hatten ihr den Ersehnten gezeigt, dass sie ihn aus Tausenden erkennen
+wollte. Jetzt hoerte man das Geraeusch des nahenden Zuges, Trompeten
+und Trommeln mischten sich in das Zujauchzen der Menge, der Hufschlag
+der Rosse toente im Hof des Palastes, naeher und naeher rauschten die
+Tritte der Kommenden, die Tueren des Saales flogen auf, und durch die
+Reihen der niederfallenden Diener eilte der Sultan an der Hand seines
+Sohnes vor den Thron der Mutter.
+
+"Hier", sprach er, "bringe ich dir den, nach welchem du dich so lange
+gesehnet."
+
+Die Sultanin aber fiel ihm in die Rede: "Das ist mein Sohn nicht!"
+rief sie aus, "das sind nicht die Zuege, die mir der Prophet im Traume
+gezeigt hat!"
+
+Gerade, als ihr der Sultan ihren Aberglauben verweisen wollte, sprang
+die Tuere des Saales auf. Prinz Omar stuerzte herein, verfolgt von
+seinen Waechtern, denen er sich mit Anstrengung aller seiner Kraft
+entrissen hatte, er warf sich atemlos vor dem Throne nieder: "leer
+will ich sterben, lasst mich toeten, grausamer Vater; denn diese
+Schmach dulde ich nicht laenger!"
+
+Alles war bestuerzt ueber diese Reden; man draengte sich um den
+Ungluecklichen her, und schon wollten ihn die herbeieilenden Wachen
+ergreifen und ihm wieder seine Bande anlegen, als die Sultanin, die
+in sprachlosem Erstaunen dieses alles mit angesehen hatte, von dem
+Throne aufsprang. "Haltet ein!" rief sie, "dieser und kein anderer
+ist der Rechte, dieser ist's, den meine Augen nie gesehen und den
+mein Herz doch gekannt hat!"
+
+Die Waechter hatten unwillkuerlich von Omar abgelassen, aber der Sultan,
+entflammt von wuetendem Zorn, rief ihnen zu, den Wahnsinnigen zu
+binden: "Ich habe hier zu entscheiden", sprach er mit gebietender
+Stimme, "und hier richtet man nicht nach den Traeumen der Weiber,
+sondern nach gewissen, untrueglichen Zeichen. Dieser hier (indem er
+auf Labakan zeigte) ist mein Sohn; denn er hat mir das Wahrzeichen
+meines Freundes Elfi, den Dolch, gebracht."
+
+"Gestohlen hat er ihn", schrie Omar, "mein argloses Vertrauen hat er
+zum Verrat missbraucht!" Der Sultan aber hoerte nicht auf die Stimme
+seines Sohnes; denn er war in allen Dingen gewohnt, eigensinnig nur
+seinem Urteil zu folgen; daher liess er den ungluecklichen Omar mit
+Gewalt aus dem Saal schleppen. Er selbst aber begab sich mit Labakan
+in sein Gemach, voll Wut ueber die Sultanin, seine Gemahlin, mit der
+er doch seit fuenfundzwanzig Jahren in Frieden gelebt hatte.
+
+Die Sultanin aber war voll Kummer ueber diese Begebenheiten; sie war
+vollkommen ueberzeugt, dass ein Betrueger sich des Herzens des Sultans
+bemaechtigt hatte, denn jenen Ungluecklichen hatten ihr so viele
+bedeutsam Traeume als ihren Sohn gezeigt.
+
+Als sich ihr Schmerz ein wenig gelegt hatte, sann sie auf Mittel, um
+ihren Gemahl von seinem Unrecht zu ueberzeugen. Es war dies
+allerdings schwierig; denn jener, der sich fuer ihren Sohn ausgab,
+hatte das Erkennungszeichen, den Dolch, ueberreicht und hatte auch,
+wie sie erfuhr, so viel von Omars frueherem Leben von diesem selbst
+sich erzaehlen lassen, dass er seine Rolle, ohne sich zu verraten,
+spielte.
+
+Sie berief die Maenner zu sich, die den Sultan zu der Saeule El-Serujah
+begleitet hatten, um sich alles genau erzaehlen zu lassen, und hielt
+dann mit ihren vertrautesten Sklavinnen Rat. Sie waehlten und
+verwarfen dies und jenes Mittel; endlich sprach Melechsalah, eine
+alte, kluge Zierkassierin: "Wenn ich recht gehoert habe, verehrte
+Gebieterin, so nannte der Ueberbringer des Dolches den, welchen du fuer
+deinen Sohn haeltst, Labakan, einen verwirrten Schneider?"
+
+"Ja, so ist es", antwortete die Sultanin, "aber was willst du damit?"
+
+"Was meint Ihr", fuhr jene fort, "wenn dieser Betrueger Eurem Sohn
+seinen eigenen Namen aufgeheftet haette?--Und wenn dies ist, so gibt
+es ein herrliches Mittel, den Betrueger zu fangen, das ich Euch ganz
+im geheimen sagen will." Die Sultanin bot ihrer Sklavin das Ohr, und
+diese fluesterte ihr einen Rat zu, der ihr zu behagen schien, denn sie
+schickte sich an, sogleich zum Sultan zu gehen.
+
+Die Sultanin war eine kluge Frau, welche wohl die schwachen Seiten
+des Sultans kannte und sie zu benuetzen verstand. Sie schien daher,
+ihm nachgeben und den Sohn anerkennen zu wollen, und bat sich nur
+eine Bedingung aus; der Sultan, dem sein Aufbrausen gegen seine Frau
+leid tat, gestand die Bedingung zu, und sie sprach: "Ich moechte gerne
+den beiden eine Probe ihrer Geschicklichkeit auferlegen; eine andere
+wuerde sie vielleicht reiten, fechten oder Speere werfen lassen, aber
+das sind Sachen, die ein jeder kann; nein, ich will ihnen etwas geben,
+wozu Scharfsinn gehoert! Es soll naemlich jeder von ihnen einen
+Kaftan und ein Paar Beinkleider verfertigen, und da wollen wir einmal
+sehen, wer die schoensten macht."
+
+Der Sultan lachte und sprach: "Ei, da hast du ja etwas recht Kluges
+ausgesonnen. Mein Sohn sollte mit deinem wahnsinnigen Schneider
+wetteifern, wer den besten Kaftan macht? Nein, das ist nichts."
+
+Die Sultanin aber berief sich darauf, dass er ihr die Bedingung zum
+Voraus zugesagt habe, und der Sultan, welcher ein Mann von Wort war,
+gab endlich nach, obgleich er schwor, wenn der wahnsinnige Schneider
+seinen Kaftan auch noch so schoen mache, koenne er ihn doch nicht fuer
+seinen Sohn erkennen.
+
+Der Sultan ging selbst zu seinem Sohn und bat ihn, sich in die
+Grillen seiner Mutter zu schicken, die nun einmal durchaus einen
+Kaftan von seiner Hand zu sehen wuensche. Dem guten Labakan lachte
+das Herz vor Freude; wenn es nur an dem fehlt, dachte er bei sich, da
+soll die Frau Sultanin bald Freude an mir erleben.
+
+Man hatte zwei Zimmer eingerichtet, eines fuer den Prinzen, das andere
+fuer den Schneider; dort sollten sie ihre Kunst erproben, und man
+hatte jedem nur ein hinlaengliches Stueck Seidenzeug, Schere, Nadel und
+Faden gegeben.
+
+Der Sultan war sehr begierig, was fuer ein Ding von Kaftan wohl sein
+Sohn zutage foerdern werde, aber auch der Sultanin pochte unruhig das
+Herz, ob ihre List wohl gelingen werde oder nicht. Man hatte den
+beiden zwei Tage zu ihrem Geschaeft ausgesetzt, am dritten liess der
+Sultan seine Gemahlin rufen, und als sie erschienen war, schickte er
+in jene zwei Zimmer, um die beiden Kaftane und ihre Verfertiger holen
+zu lassen. Triumphierend trat Labakan ein und breitete seinen Kaftan
+vor den erstaunten Blicken des Sultans aus. "Siehe her, Vater",
+sprach er, "siehe her, verehrte Mutter, ob dies nicht ein
+Meisterstueck von einem Kaftan ist? Da lass ich es mit dem
+geschicktesten Hofschneider auf eine Wette ankommen, ob er einen
+solchen herausbringt."
+
+Die Sultanin laechelte und wandte sich zu Omar: "Und was hast du
+herausgebracht, mein Sohn?"
+
+Unwillig warf dieser den Seidenstoff und die Schere auf den Boden:
+"Man hat mich gelehrt, ein Ross zu baendigen und einen Saebel zu
+schwingen, und meine Lanze trifft auf sechzig Gaenge ihr Ziel--aber
+die Kuenste der Nadel sind mir fremd, sie waeren auch unwuerdig fuer
+einen Zoegling Elfi Beys, des Beherrschers von Kairo."
+
+"Oh, du echter Sohn meines Herrn", rief die Sultanin, "ach, dass ich
+dich umarmen, dich Sohn nennen duerfte! Verzeihet, mein Gemahl und
+Gebieter", sprach sie dann, indem sie sich zum Sultan wandte, "dass
+ich diese List gegen Euch gebraucht habe; sehet Ihr jetzt noch nicht
+ein, wer Prinz und wer Schneider ist; fuerwahr, der Kaftan ist
+koestlich, den Euer Herr Sohn gemacht hat, und ich moechte ihn gerne
+fragen, bei welchem Meister er gelernt habe."
+
+Der Sultan sass in tiefen Gedanken, misstrauisch bald seine Frau, bald
+Labakan anschauend, der umsonst sein Erroeten und seine Bestuerzung,
+dass er sich so dumm verraten habe, zu bekaempfen suchte. "Auch dieser
+Beweis genuegt nicht", sprach er, "aber ich weiss, Allah sei es gedankt,
+ein Mittel, zu erfahren, ob ich betrogen bin oder nicht."
+
+Er befahl, sein schnellstes Pferd vorzufahren, schwang sich auf und
+ritt in einen Wald, der nicht weit von der Stadt begann. Dort wohnte
+nach einer alten Sage eine guetige Fee, Adolzaide geheissen, welche oft
+schon den Koenigen seines Stammes in der Stunde der Not mit ihrem Rat
+beigestanden war; dorthin eilte der Sultan.
+
+In der Mitte des Waldes war ein freier Platz, von hohen Zedern
+umgeben. Dort wohnte nach der Sage die Fee, und selten betrat ein
+Sterblicher diesen Platz, denn eine gewisse Scheu davor hatte sich
+aus alten Zeiten vom Vater auf den Sohn vererbt.
+
+Als der Sultan dort angekommen war, stieg er ab, band sein Pferd an
+einen Baum, stellte sich in die Mitte des Platzes und sprach mit
+lauter Stimme: "Wenn es wahr ist, dass du meinen Vaetern guetigen Rat
+erteiltest in der Stunde der Not, so verschmaehe nicht die Bitte ihres
+Enkels und rate mir, wo menschlicher Verstand zu kurzsichtig ist!"
+
+Er hatte kaum die letzten Worte gesprochen, als sich eine der Zedern
+oeffnete und eine verschleierte Frau in langen, weissen Gewaendern
+hervortrat. "Ich weiss, warum du zu mir kommst, Sultan Saaud, dein
+Wille ist redlich; darum soll dir auch meine Hilfe werden. Nimm
+diese zwei Kistchen! Lass jene beiden, welche deine Soehne sein wollen,
+waehlen! Ich weiss, dass der, welcher der echte ist, das rechte nicht
+verfehlen wird." So sprach die Verschleierte und reichte ihm zwei
+kleine Kistchen von Elfenbein, reich mit Gold und Perlen verziert;
+auf den Deckeln, die der Sultan vergebens zu oeffnen versuchte,
+standen Inschriften von eingesetzten Diamanten.
+
+Der Sultan besann sich, als er nach Hause ritt, hin und her, was wohl
+in den Kistchen sein koennte, welche er mit aller Muehe nicht zu oeffnen
+vermochte. Auch die Aufschrift gab ihm kein Licht in der Sache; denn
+auf dem einen stand: "Ehre und Ruhm", auf dem anderen: "Glueck und
+Reichtum". Der Sultan dachte bei sich, da wuerde auch ihm die Wahl
+schwer werden unter diesen beiden Dingen, die gleich anziehend,
+gleich lockend seien.
+
+Als er in seinen Palast zurueckgekommen war, liess er die Sultanin
+rufen und sagte ihr den Ausspruch der Fee, und eine wunderbare
+Hoffnung erfuellte sie, dass jener, zu dem ihr Herz sie hinzog, das
+Kistchen waehlen Wuerde, welches seine koenigliche Abkunft beweisen
+sollte.
+
+Vor dem Ibrone des Sultans wurden zwei Tische aufgestellt; auf sie
+setzte der Sultan mit eigener Hand die beiden Kistchen, bestieg dann
+den Thron und winkte einem seiner Sklaven, die Pforte des Saales zu
+oeffnen. Eine glaenzende Versammlung von Bassas und Emiren des Reiches,
+die der Sultan berufen hatte, stroemte durch die geoeffnete Pforte.
+Sie liessen sich auf prachtvollen Polstern nieder, welche die Waende
+entlang aufgestellt waren.
+
+Als sie sich alle niedergelassen hatten, winkte der Koenig zum
+zweitenmal, und Labakan wurde hereingefuehrt. Mit stolzem Schritte
+ging er durch den Saal, warf sich vor dem Throne nieder und sprach:
+"Was befiehlt mein Herr und Vater?"
+
+Der Sultan erhob sich auf seinem Thron und sprach: "Mein Sohn! Es
+sind Zweifel an der Echtheit deiner Ansprueche auf diesen Namen
+erhoben worden; eines jener Kistchen enthaelt die Bestaetigung deiner
+echten Geburt, waehle! Ich zweifle nicht, du wirst das rechte waehlen!"
+
+Labakan erhob sich und trat vor die Kistchen, er erwog lange, was er
+waehlen sollte, endlich sprach er: "Verehrter Vater! Was kann es
+Hoeheres geben als das Glueck, dein Sohn zu sein, was Edleres als den
+Reichtum deiner Gnade? Ich waehle das Kistchen, das die Aufschrift
+"Gliick und Reichtum" zeigt."
+
+"Wir werden nachher erfahren, ob du recht gewaehlt hast; einstweilen
+setze dich dort auf das Polster zum Bassa von Medina", sagte der
+Sultan und winkte seinen Sklaven.
+
+Omar wurde hereingefuehrt; sein Blick war duester, seine Miene traurig,
+und sein Anblick erregte allgemeine Teilnahme unter den Anwesenden.
+Er warf sich vor dem Throne nieder und fragte nach dem Willen des
+Sultans.
+
+Der Sultan deutete ihm an, dass er eines der Kistchen zu waehlen habe,
+er stand auf und trat vor den Tisch.
+
+Er las aufmerksam beide Inschriften und sprach: "Die letzten Tage
+haben mich gelehrt, wie unsicher das Glueck, wie vergaenglich der
+Reichtum ist; sie haben mich aber auch gelehrt, dass ein
+unzerstoerbares Gut in der Brust des Tapferen wohnt, die Ehre, und dass
+der leuchtende Stern des Ruhmes nicht mit dem Glueck zugleich vergeht.
+Und sollte ich einer Krone entsagen, der Wuerfel liegt--Ehre und Ruhm,
+ich waehle euch!"
+
+Er setzte seine Hand auf das Kistchen, das er erwaehlt hatte; aber der
+Sultan befahl ihm, einzuhalten; er winkte Labakan, gleichfalls vor
+seinen Tisch zu treten, und auch dieser legte seine Hand auf sein
+Kistchen.
+
+Der Sultan aber liess sich ein Becken mit Wasser von dem heiligen
+Brunnen Zemzem in Mekka bringen, wusch seine Haende zum Gebet, wandte
+sein Gesicht nach Osten, warf sich nieder und betete: "Gott meiner
+Vaeter! Der du seit Jahrhunderten unsern Stamm rein und unverfaelscht
+bewahrtest, gib nicht zu, dass ein Unwuerdiger den Namen der Abassiden
+schaende, sei mit deinem Schutze meinem echten Sohne nahe in dieser
+Stunde der Pruefung!"
+
+Der Sultan erhob sich und bestieg seinen Thron wieder; allgemeine
+Erwartung fesselte die Anwesenden, man wagte kaum zu atmen, man haette
+ein Maeuschen ueber den Saal gehen hoeren koennen, so still und gespannt
+waren alle, die hintersten machten lange Haelse, um ueber die vorderen
+nach den Kistchen sehen zu koennen. Jetzt sprach der Sultan: "Oeffnet
+die Kistchen", und diese, die vorher keine Gewalt zu oeffnen vermochte,
+sprangen von selbst auf.
+
+In dem Kistchen, das Omar gewaehlt hatte, lagen auf einem samtenen
+Kissen eine kleine goldene Krone und ein Zepter; in Labakans
+Kistchen--eine grosse Nadel und ein wenig Zwirn! Der Sultan befahl
+den beiden, ihre Kistchen vor ihn zu bringen. Er nahm das Kroenchen
+von dem Kissen in seine Hand, und wunderbar war es anzusehen, wie er
+es nahm, wurde es groesser und groesser, bis es die Groesse einer rechten
+Krone erreicht hatte. Er setzte die Krone seinem Sohn Omar, der vor
+ihm kniete, auf das Haupt, kuesste ihn auf die Stirne und hiess ihn zu
+seiner Rechten sich niedersetzen. Zu Labakan aber wandte er sich und
+sprach: "Es ist ein altes Sprichwort: Der Schuster bleibe bei seinem
+Leisten! Es scheint, als solltest du bei der Nadel bleiben. Zwar
+hast du meine Gnade nicht verdient, aber es hat jemand fuer dich
+gebeten, dem ich heute nichts abschlagen kann; drum schenke ich dir
+dein armseliges Leben, aber wenn ich dir guten Rates bin, so beeile
+dich, dass du aus meinem Lande kommst!"
+
+Beschaemt, vernichtet, wie er war, vermochte der arme Schneidergeselle
+nichts zu erwidern; er warf sich vor dem Prinzen nieder, und Traenen
+drangen ihm aus den Augen: "Koennt Ihr mir vergeben, Prinz?" sagte er.
+
+"Treue gegen den Freund, Grossmut gegen den Feind ist des Abassiden
+Stolz", antwortete der Prinz, indem er ihn aufhob, "gehe hin in
+Frieden!"
+
+"O du mein echter Sohn!" rief geruehrt der alte Sultan und sank an die
+Brust des Sohnes; die Emire und Bassa und alle Grossen des Reiches
+standen auf von ihren Sitzen und riefen: "Heil dem neuen Koenigssohn!"
+Und unter dem allgemeinen Jubel schlich sich Labakan, sein Kistchen
+unter dem Arm, aus dem Saal.
+
+Er ging hinunter in die Staelle des Sultans, zaeumte sein Ross Murva auf
+und ritt zum Tore hinaus, Alessandria zu. Sein ganzes Prinzenleben
+kam ihm wie ein Traum vor, und nur das prachtvolle Kistchen, reich
+mit Perlen und Diamanten geschmueckt, erinnerte ihn, dass er doch nicht
+getraeumt habe.
+
+Als er endlich wieder nach Alessandria kam, ritt er vor das Haus
+seines alten Meisters, stieg ab, band sein Roesslein an die Tuere und
+trat in die Werkstatt. Der Meister, der ihn nicht gleich kannte,
+machte ein grosses Wesen und fragte, was ihm zu Dienst stehe; als er
+aber den Gast naeher ansah und seinen alten Labakan erkannte, rief er
+seine Gesellen und Lehrlinge herbei, und alle stuerzten sich wie
+wuetend auf den armen Labakan, der keines solchen Empfangs gewaertig
+war, stiessen und schlugen ihn mit Buegeleisen und Ellenmass, stachen
+ihn mit Nadeln und zwickten ihn mit scharfen Scheren, bis er
+erschoepft auf einen Haufen alter Kleider niedersank.
+
+Als er nun so dalag, hielt ihm der Meister eine Strafrede ueber das
+gestohlene Kleid; vergebens versicherte Labakan, dass er nur deswegen
+wiedergekommen sei, um ihm alles zu ersetzen, vergebens bot er ihm
+den dreifachen Schadenersatz, der Meister und seine Gesellen fielen
+wieder ueber ihn her, schlugen ihn weidlich und warfen ihn zur Tuere
+hinaus; zerschlagen und zerfetzt stieg er auf das Ross Murva und ritt
+in eine Karawanserei. Dort legte er sein muedes, zerschlagenes Haupt
+nieder und stellte Betrachtungen an ueber die Leiden der Erde, ueber
+das so oft verkannte Verdienst und ueber die Nichtigkeit und
+Fluechtigkeit aller Gueter. Er schlief mit dem Entschluss ein, aller
+Groesse zu entsagen und ein ehrsamer Buerger zu werden.
+
+Und den andere Tag gereute ihn sein Entschluss nicht; denn die
+schweren Haende des Meisters und seiner Gesellen schienen alle Hoheit
+aus ihm herausgepruegelt zu haben.
+
+Er verkaufte um einen hohen Preis sein Kistchen an einen
+Juwelenhaendler, kaufte sich ein Haus und richtete sich eine Werkstatt
+zu seinem Gewerbe ein. Als er alles eingerichtet und auch ein Schild
+mit der Aufschrift Labakan, Kleidermacher vor sein Fenster gehaengt
+hatte, setzte er sich und begann mit jener Nadel und dem Zwirn, die
+er in dem Kistchen gefunden, den Rock zu flicken, welchen ihm sein
+Meister so grausam zerfetzt hatte. Er wurde von seinem Geschaeft
+abgerufen, und als er sich wieder an die Arbeit setzen wollte, welch
+sonderbarer Anblick bot sich ihm dar! Die Nadel naehte emsig fort,
+ohne von jemand gefuehrt zu werden; sie machte feine, zierliche Stiche,
+wie sie selbst Labakan in seinen kunstreichsten Augenblicken nicht
+gemacht hatte!
+
+Wahrlich, auch das geringste Geschenk einer guetigen Fee ist nuetzlich
+und von grossem Wert! Noch einen andere Wert hatte aber dies Geschenk,
+naemlich: Das Stueckchen Zwirn ging nie aus, die Nadel mochte so
+fleissig sein, als sie wollte.
+
+Labakan bekam viele Kunden und war bald der beruehmteste Schneider
+weit und breit; er schnitt die Gewaender zu und machte den ersten
+Stich mit der Nadel daran, und flugs arbeitete diese weiter ohne
+Unterlass, bis das Gewand fertig war. Meister Labakan hatte bald die
+ganze Stadt zu Kunden; denn er arbeitete schoen und ausserordentlich
+billig, und nur ueber eines schuettelten die Leute von Alessandria den
+Kopf, naemlich: dass er ganz ohne Gesellen und bei verschlossenen Tueren
+arbeitete.
+
+So war der Spruch des Kistchens, Glueck und Reichtum verheissend, in
+Erfuellung gegangen; Glueck und Reichtum begleiteten, wenn auch in
+bescheidenem Masse, die Schritte des guten Schneiders, und wenn er von
+dem Ruhm des jungen Sultans Omar, der in aller Munde lebte, hoerte,
+wenn er hoerte, dass dieser Tapfere der Stolz und die Liebe seines
+Volkes und der Schrecken seiner Feinde sei, da dachte der ehemalige
+Prinz bei sich: "Es ist doch besser, dass ich ein Schneider geblieben
+bin; denn um die Ehre und den Ruhm ist es eine gar gefaehrliche Sache."
+So lebte Labakan, zufrieden mit sich, geachtet von seinen
+Mitbuergern, und wenn die Nadel indes nicht ihre Kraft verloren, so
+naeht sie noch jetzt mit dem ewigen Zwirn der guetigen Fee Adolzaide.
+
+Mit Sonnenaufgang brach die Karawane auf und gelangte bald nach
+Birket el Had oder dem Pilgrimsbrunnen, von wo es nur noch drei
+Stunden Weges nach Kairo waren--Man hatte um diese Zeit die Karawane
+erwartet, und bald hatten die Kaufleute die Freude, ihre Freunde aus
+Kairo ihnen entgegenkommen zu sehen. Sie zogen in die Stadt durch
+das Tor Bebel Falch; denn es wird fuer eine glueckliche Vorbedeutung
+gehalten, wenn man von Mekka kommt, durch dieses Tor einzuziehen,
+weil der Prophet hindurchgezogen ist.
+
+Auf dem Markt verabschiedeten sich die vier tuerkischen Kaufleute von
+dem Fremden und dem griechischen Kaufmann Zaleukos und gingen mit
+ihren Freunden nach Haus. Zaleukos aber zeigte dem Fremden eine gute
+Karawanserei und lud ihn ein, mit ihm das Mittagsmahl zu nehmen. Der
+Fremde sagte zu und versprach, wenn er nur vorher sich umgekleidet
+habe, zu erscheinen.
+
+Der Grieche hatte alle Anstalten getroffen, den Fremden, welchen er
+auf der Reise liebgewonnen hatte, gut zu bewirten, und als die
+Speisen und Getraenke in gehoeriger Ordnung aufgestellt waren, setzte
+er sich, seinen Gast zu erwarten.
+
+Langsam und schweren Schrittes hoerte er ihn den Gang, der zu seinem
+Gemach fuehrte, heraufkommen. Er erhob sich, um ihm freundlich
+entgegenzusehen und ihn an der Schwelle zu bewillkommnen; aber voll
+Entsetzen fuhr er zurueck, als er die Tuere oeffnete; denn jener
+schreckliche Rotmantel trat ihm entgegen; er warf noch einen Blick
+auf ihn, es war keine Taeuschung; dieselbe hohe, gebietende Gestalt,
+die Larve, aus welcher ihn die dunklen Augen anblitzten, der rote
+Mantel mit der goldenen Stickerei waren ihm nur allzuwohl bekannt aus
+den schrecklichsten Stunden seines Lebens.
+
+Widerstreitende Gefuehle wogten in Zaleukos Brust; er hatte sich mit
+diesem Bild seiner Erinnerung laengst ausgesoehnt und ihm vergeben, und
+doch riss sein Anblick alle seine Wunden wieder auf; alle jene
+qualvollen Stunden der Todesangst, jener Gram, der die Bluete seines
+Lebens vergiftete, zogen im Flug eines Augenblicks an seiner Seele
+vorueber.
+
+"Was willst du, Schrecklicher?" rief der Grieche aus, als die
+Erscheinung noch immer regungslos auf der Schwelle stand. "Weiche
+schnell von hinnen, dass ich dir nicht fluche!"
+
+"Zaleukos!" sprach eine bekannte Stimme unter der Larve hervor.
+"Zaleukos! So empfaengst du deinen Gastfreund?" Der Sprechende nahm
+die Larve ab, schlug den Mantel zurueck; es war Selim Baruch, der
+Fremde.
+
+Aber Zaleukos schien noch nicht beruhigt, ihm graute vor dem Fremden;
+denn nur zu deutlich hatte er in ihm den Unbekannten von der Ponte
+vecchio erkannt; aber die alte Gewohnheit der Gastfreundschaft siegte;
+er winkte schweigend dem Fremden, sich zu ihm ans Mahl zu setzen.
+
+"Ich errate deine Gedanken", nahm dieser das Wort, als sie sich
+gesetzt hatten. "Deine Augen sehen fragend auf mich--ich haette
+schweigen und mich deinen Blicken nie mehr zeigen koennen, aber ich
+bin dir Rechenschaft schuldig, und darum wagte ich es auch, auf die
+Gefahr hin, dass du mir fluchtest, vor dir in meiner alten Gestalt zu
+erscheinen. Du sagtest einst zu mir: Der Glaube meiner Vaeter
+befiehlt mir, ihn zu lieben, auch ist er wohl ungluecklicher als ich;
+glaube dieses, mein Freund, und hoere meine Rechtfertigung!
+
+Ich muss weit ausholen, um mich dir ganz verstaendlich zu machen. Ich
+bin in Alessandria von christlichen Eltern geboren. Mein Vater, der
+juengere Sohn eines alten, beruehmten franzoesischen Hauses, war Konsul
+seines Landes in Alessandria. Ich wurde von meinem zehnten Jahre an
+in Frankreich bei einem Bruder meiner Mutter erzogen und verliess erst
+einige Jahre nach dem Ausbruch der Revolution mein Vaterland, um mit
+meinem Oheim, der in dem Lande seiner Ahnen nicht mehr sicher war,
+ueber dem Meer bei meinen Eltern eine Zuflucht zu suchen. Voll
+Hoffnung, die Ruhe und den Frieden, den uns das empoerte Volk der
+Franzosen entrissen, im elterlichen Hause wiederzufinden, landeten
+wir. Aber ach! Ich fand nicht alles in meines Vaters Hause, wie es
+sein sollte; die aeusseren Stuerme der bewegten Zeit waren zwar noch
+nicht bis hierher gelangt, desto unerwarteter hatte das Unglueck mein
+Haus im innersten Herzen heimgesucht. Mein Bruder, ein junger,
+hoffnungsvoller Mann, erster Sekretaer meines Vaters, hatte sich erst
+seit kurzem mit einem jungen Maedchen, der Tochter eines
+florentinischen Edelmanns, der in unserer Nachbarschaft wohnte,
+verheiratet; zwei Tage vor unserer Ankunft war diese auf einmal
+verschwunden, ohne dass weder unsere Familie noch ihr Vater die
+geringste Spur von ihr auffinden konnten. Man glaubte endlich, sie
+habe sich auf einem Spaziergang zu weit gewagt und sei in Raeuberhaende
+gefallen. Beinahe troestlicher waere dieser Gedanke fuer meinen armen
+Bruder gewesen als die Wahrheit, die uns nur bald kund wurde. Die
+Treulose hatte sich mit einem jungen Neapolitaner, den sie im Hause
+ihres Vaters kennengelernt hatte, eingeschifft. Mein Bruder, aufs
+aeusserste empoert ueber diesen Schritt, bot alles auf, die Schuldige zur
+Strafe zu ziehen; doch vergebens; seine Versuche, die in Neapel und
+Florenz Aufsehen erregt hatten, dienten nur dazu, sein und unser
+aller Unglueck zu vollenden. Der florentinische Edelmann reiste in
+sein Vaterland zurueck, zwar mit dem Vorgeben, meinem Bruder Recht zu
+verschaffen, der Tat nach aber, um uns zu verderben. Er schlug in
+Florenz alle jene Untersuchungen, welche mein Bruder angeknuepft hatte,
+nieder und wusste seinen Einfluss, den er auf alle Art sich verschafft
+hatte, so gut zu benuetzen, dass mein Vater und mein Bruder ihrer
+Regierung verdaechtig gemacht und durch die schaendlichsten Mittel
+gefangen, nach Frankreich gefuehrt und dort vom Beil des Henkers
+getoetet wurden. Meine arme Mutter verfiel in Wahnsinn, und erst nach
+zehn langen Monaten erloeste sie der Tod von ihrem schrecklichen
+Zustand, der aber in den letzten Tagen zu vollem, klarem Bewusstsein
+geworden war. So stand ich jetzt ganz allein in der Welt, aber nur
+ein Gedanke beschaeftigte meine Seele, nur ein Gedanke liess mich meine
+Trauer vergessen, es war jene maechtige Flamme, die meine Mutter in
+ihrer letzten Stunde in mir angefacht hatte.
+
+In den letzten Stunden war, wie ich dir sagte, ihr Bewusstsein
+zurueckgekehrt; sie liess mich rufen und sprach mit Ruhe von unserem
+Schicksal und ihrem Ende. Dann aber liess sie alle aus dem Zimmer
+gehen, richtete sich mit feierlicher Miene von ihrem aermlichen Lager
+auf und sagte, ich koenne mir ihren Segen erwerben, wenn ich ihr
+schwoere, etwas auszufahren, das sie mir auftragen wuerde--Ergriffen
+von den Worten der sterbenden Mutter, gelobte ich mit einem Eide zu
+tun, wie sie mir sagen werde. Sie brach nun in Verwuenschungen gegen
+den Florentiner und seine Tochter aus und legte mir mit den
+fuerchterlichsten Drohungen ihres Fluches auf, mein unglueckliches Haus
+an ihm zu raechen. Sie starb in meinen Armen. Jener Gedanke der
+Rache hatte schon lange in meiner Seele geschlummert; jetzt erwachte
+er mit aller Macht. Ich sammelte den Rest meines vaeterlichen
+Vermoegens und schwor mir, alles an meine Rache zu setzen oder selbst
+mit unterzugehen.
+
+Bald war ich in Florenz, wo ich mich so geheim als moeglich aufhielt;
+mein Plan war um vieles erschwert worden durch die Lage, in welcher
+sich meine Feinde befanden. Der alte Florentiner war Gouverneur
+geworden und hatte so alle Mittel in der Hand, sobald er das
+geringste ahnte, mich zu verderben. Ein Zufall kam mir zu Hilfe.
+Eines Abends sah ich einen Menschen in bekannter Livree durch die
+Strassen gehen; sein unsicherer Gang, sein finsterer Blick und das
+halblaut herausgestossene "Santo sacramento", "Maledetto diavolo"
+liessen mich den alten Pietro, einen Diener des Florentiners, den ich
+schon in Alessandria gekannt hatte, erkennen. Ich war nicht in
+Zweifel, dass er ueber seinen Herrn in Zorn geraten sei, und beschloss,
+seine Stimmung zu benuetzen. Er schien sehr ueberrascht, mich hier zu
+sehen, klagte mir sein Leiden, dass er seinem Herrn, seit er
+Gouverneur geworden, nichts mehr recht machen koenne, und mein Gold,
+unterstuetzt von seinem Zorn, brachte ihn bald auf meine Seite. Das
+Schwierigste war jetzt beseitigt; ich hatte einen Mann in meinem
+Solde, der mir zu jeder Stunde die Tuere meines Feindes oeffnete, und
+nun reifte mein Racheplan immer schneller heran. Das Leben des alten
+Florentiners schien mir ein zu geringes Gewicht, dem Untergang meines
+Hauses gegenueber, zu haben. Sein Liebstes musste er gemordet sehen,
+und dies war Bianka, seine Tochter. Hatte ja sie so schaendlich an
+meinem Bruder gefrevelt, war ja doch sie die Ursache unseres Ungluecks.
+Gar erwuenscht kam sogar meinem racheduerstigen Herzen die Nachricht,
+dass in dieser Zeit Bianka zum zweitenmal sich vermaehlen wollte, es
+war beschlossen, sie musste sterben. Aber mir selbst graute vor der
+Tat, und auch Pietro traute sich zu wenig Kraft zu; darum spaehten wir
+umher nach einem Mann, der das Geschaeft vollbringen koenne. Unter den
+Florentinern wagte ich keinen zu dingen, denn gegen den Gouverneur
+wuerde keiner etwas Solches unternommen haben. Da fiel Pietro der
+Plan ein, den ich nachher ausgefuehrt habe; zugleich schlug er dich
+als Fremden und Arzt als den Tauglichsten vor. Den Verlauf der Sache
+weisst du. Nur an deiner grossen Vorsicht und Ehrlichkeit schien mein
+Unternehmen zu scheitern. Daher der Zufall mit dem Mantel.
+
+Pietro oeffnete uns das Pfoertchen an dem Palast des Gouverneurs; er
+haette uns auch ebenso heimlich wieder hinausgeleitet, wenn wir nicht,
+durch den schrecklichen Anblick, der sich uns durch die Tuerspalte
+darbot, erschreckt, entflohen waeren. Von Schrecken und Reue gejagt,
+war ich ueber zweihundert Schritte fortgerannt, bis ich auf den Stufen
+einer Kirche niedersank. Dort erst sammelte ich mich wieder, und
+mein erster Gedanke warst du und dein schreckliches Schicksal, wenn
+man dich in dem Hause faende. Ich schlich an den Palast, aber weder
+von Pietro noch von dir konnte ich eine Spur entdecken; das Pfoertchen
+aber war offen, so konnte ich wenigstens hoffen, dass du die
+Gelegenheit zur Flucht benuetzt haben koenntest.
+
+Als aber der Tag anbrach, liess mich die Angst vor der Entdeckung und
+ein unabweisbares Gefuehl von Reue nicht mehr in den Mauern von
+Florenz. Ich eilte nach Rom. Aber denke dir meine Bestuerzung, als
+man dort nach einigen Tagen ueberall diese Geschichte erzaehlte mit dem
+Beisatz, man habe den Moerder, einen griechischen Arzt, gefangen. Ich
+kehrte in banger Besorgnis nach Florenz zurueck; denn schien mir meine
+Rache schon vorher zu stark, so verfluchte ich sie jetzt, denn sie
+war mir durch dein Leben allzu teuer erkauft. Ich kam an demselben
+Tage an, der dich der Hand beraubte. Ich schweige von dem, was ich
+fuehlte, als ich dich das Schafott besteigen und so heldenmuetig leiden
+sah. Aber damals, als dein Blut in Stroemen aufspritzte, war der
+Entschluss fest in mir, dir deine uebrigen Lebenstage zu versuessen. Was
+weiter geschehen ist, weisst du, nur das bleibt mir noch zu sagen
+uebrig, warum ich diese Reise mit dir machte.
+
+Als eine schwere Last drueckte mich der Gedanke, dass du mir noch immer
+nicht vergeben habest; darum entschloss ich mich, viele Tage mit dir
+zu leben und dir endlich Rechenschaft abzulegen von dem, was ich mit
+dir getan."
+
+Schweigend hatte der Grieche seinen Gast angehoert; mit sanftem Blick
+bot er ihm, als er geendet hatte, seine Rechte. "Ich wusste wohl, dass
+du ungluecklicher sein muesstest als ich, denn jene grausame Tat wird
+wie eine dunkle Wolke ewig deine Tage verfinstern; ich vergebe dir
+von Herzen. Aber erlaube mir noch eine Frage: Wie kommst du unter
+dieser Gestalt in die Wueste? Was fingst du an, nachdem du in
+Konstantinopel mir das Haus gekauft hattest?"
+
+"Ich ging nach Alessandria zurueck", antwortete der Gefragte. "Hass
+gegen alle Menschen tobte in meiner Brust, brennender Hass besonders
+gegen jene Nationen, die man die gebildeten nennt. Glaube mir, unter
+meinen Moslemiten war mir wohler! Kaum war ich einige Monate in
+Alessandria, als jene Landung meiner Landsleute erfolgte.
+
+Ich sah in ihnen nur die Henker meines Vaters und meines Bruders;
+darum sammelte ich einige gleichgesinnte junge Leute meiner
+Bekanntschaft und schloss mich jenen tapferen Mamelucken an, die so
+oft der Schrecken des franzoesischen Heeres wurden. Als der Feldzug
+beendigt war, konnte ich mich nicht entschliessen, zu den Kuensten des
+Friedens zurueckzukehren. Ich lebte mit einer kleinen Anzahl
+gleichdenkender Freunde ein unstetes und fluechtiges, dem Kampf und
+der Jagd geweihtes Leben; ich lebe zufrieden unter diesen Leuten, die
+mich wie ihren Fuersten ehren; denn wenn meine Asiaten auch nicht so
+gebildet sind wie Eure Europaeer, so sind sie doch weit entfernt von
+Neid und Verleumdung, von Selbstsucht und Ehrgeiz."
+
+Zaleukos dankte dem Fremden fuer seine Mitteilung, aber er verbarg ihm
+nicht, dass er es fuer seinen Stand, fuer seine Bildung angemessener
+faende, wenn er in christlichen, in europaeischen Laendern leben und
+wirken wuerde. Er fasste seine Hand und bat ihn, mit ihm zu ziehen,
+bei ihm zu leben und zu sterben.
+
+Geruehrt sah ihn der Gastfreund an. "Daraus erkenne ich", sagte er,
+"dass du mir ganz vergeben hast, dass du mich liebst. Nimm meinen
+innigsten Dank dafuer!" Er sprang auf und stand in seiner ganzen Groesse
+vor dem Griechen, dem vor dem kriegerischen Anstand, den dunkel
+blitzenden Augen, der tiefen Stimme seines Gastes beinahe graute.
+"Dein Vorschlag ist schoen", sprach jener weiter, "er moechte fuer jeden
+andern lockend sein--ich kann ihn nicht benuetzen. Schon steht mein
+Ross gesattelt, erwarten mich meine Diener; lebe wohl, Zaleukos!" Die
+Freunde, die das Schicksal so wunderbar zusammengefuehrt, umarmten
+sich zum Abschied. "Und wie nenne ich dich? Wie heisst mein
+Gastfreund, der auf ewig in meinem Gedaechtnis leben wird?" fragte der
+Grieche.
+
+Der Fremde sah ihn lange an, drueckte ihm noch einmal die Hand und
+sprach: "Man nennt mich den Herrn der Wueste; ich bin der Raeuber
+Orbasan."
+
+
+Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes "Maerchen-Almanach auf das Jahr
+1826", von Wilhelm Hauff.
+
+
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, MAERCHEN-ALMANACH AUF DAS JAHR 1826 ***
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+unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not
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+Please be encouraged to tell us about any error or corrections,
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+indexes our cataloguers produce obviously take a while after an
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+++ b/old/8alm110.txt
@@ -0,0 +1,4911 @@
+The Project Gutenberg EBook of Maerchen-Almanach auf das Jahr 1826
+by Wilhelm Hauff
+
+Copyright laws are changing all over the world. Be sure to check the
+copyright laws for your country before downloading or redistributing
+this or any other Project Gutenberg eBook.
+
+This header should be the first thing seen when viewing this Project
+Gutenberg file. Please do not remove it. Do not change or edit the
+header without written permission.
+
+Please read the "legal small print," and other information about the
+eBook and Project Gutenberg at the bottom of this file. Included is
+important information about your specific rights and restrictions in
+how the file may be used. You can also find out about how to make a
+donation to Project Gutenberg, and how to get involved.
+
+
+**Welcome To The World of Free Plain Vanilla Electronic Texts**
+
+**eBooks Readable By Both Humans and By Computers, Since 1971**
+
+*****These eBooks Were Prepared By Thousands of Volunteers!*****
+
+
+Title: Maerchen-Almanach auf das Jahr 1826
+
+Author: Wilhelm Hauff
+
+Release Date: October, 2004 [EBook #6638]
+[Yes, we are more than one year ahead of schedule]
+[This file was first posted on January 9, 2003]
+
+Edition: 10
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-Latin-1
+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, MAERCHEN-ALMANACH AUF DAS JAHR 1826 ***
+
+
+
+
+Produced by Mike Pullen.
+
+
+
+This Etext is in German.
+
+We are releasing two versions of this Etext, one in 7-bit format,
+known as Plain Vanilla ASCII, which can be sent via plain email--
+and one in 8-bit format, which includes higher order characters--
+which requires a binary transfer, or sent as email attachment and
+may require more specialized programs to display the accents.
+This is the 8-bit version.
+
+This book content was graciously contributed by the
+Gutenberg Projekt-DE.
+That project is reachable at the web site
+http://gutenberg2000.de.
+
+Dieses Buch wurde uns freundlicherweise vom "Gutenberg Projekt-DE"
+zur Verfügung gestellt. Das Projekt ist unter der
+Internet-Adresse http://gutenberg2000.de erreichbar.
+
+
+
+
+
+Märchen-Almanach auf das Jahr 1826
+
+Wilhelm Hauff
+
+Inhalt:
+
+Märchen als Almanach
+Die Karawane (Rahmenerzählung)
+Die Geschichte vom Kalif Storch
+Die Geschichte von dem Gespensterschiff
+Die Geschichte von der abgehauenen Hand
+Die Errettung Fatmes
+Die Geschichte von dem kleinen Muck
+Das Märchen vom falschen Prinzen
+
+
+
+
+Märchen als Almanach
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+In einem schönen, fernen Reiche, von welchem die Sage lebt, daß die
+Sonne in seinen ewig grünen Gärten niemals untergehe, herrschte von
+Anfang an bis heute die Königin Phantasie. Mit vollen Händen
+spendete diese seit vielen Jahrhunderten die Fülle des Segens über
+die Ihrigen und war geliebt, verehrt von allen, die sie kannten. Das
+Herz der Königin war aber zu groß, als daß sie mit ihren Wohltaten
+bei ihrem Lande stehen geblieben wäre; sie selbst, im königlichen
+Schmuck ihrer ewigen Jugend und Schönheit, stieg herab auf die Erde;
+denn sie hatte gehört, daß dort Menschen wohnen, die ihr Leben in
+traurigem Ernst, unter Mühe und Arbeit hinbringen. Diesen hatte sie
+die schönsten Gaben aus ihrem Reiche mitgebracht, und seit die schöne
+Königin durch die Fluren der Erde gegangen war, waren die Menschen
+fröhlich bei der Arbeit, heiter in ihrem Ernst.
+
+Auch ihre Kinder,nicht minder schön und lieblich als die königliche
+Mutter, sandte sie aus, um die Menschen zu beglücken. Einst kam
+Märchen, die älteste Tochter der Königin, von der Erde zurück. Die
+Mutter bemerkte, daß Märchen traurig sei, ja, hier und da wollte ihr
+bedünken, als ob sie verweinte Augen hätte.
+
+"Was hast du, liebes Märchen", sprach die Königin zu ihr, "du bist
+seit deiner Reise so traurig und niedergeschlagen, willst du deiner
+Mutter nicht anvertrauen, was dir fehlt?"
+
+"Ach, liebe Mutter", antwortete Märchen, "ich hätte gewiß nicht so
+lange geschwiegen, wenn ich nicht wüßte, daß mein Kummer auch der
+deinige ist."
+
+"Sprich immer, meine Tochter", bat die schöne Königin, "der Gram ist
+ein Stein, der den einzelnen niederdrückt, aber zwei tragen ihn
+leicht aus dem Wege."
+
+"Du willst es", antwortete Märchen, "so höre: Du weißt, wie gerne ich
+mit den Menschen umgehe, wie ich freudig auch bei dem Ärmsten vor
+seiner Hütte sitze, um nach der Arbeit ein Stündchen mit ihm zu
+verplaudern; sie boten mir auch sonst gleich freundlich die Hand zum
+Gruß, wenn ich kam, und sahen mir lächelnd und zufrieden nach, wenn
+ich weiterging; aber in diesen Tagen ist es gar nicht mehr so!"
+
+"Armes Märchen!" sprach die Königin und streichelte ihr die Wange,
+die von einer Träne feucht war, "aber du bildest dir vielleicht dies
+alles nur ein?"
+
+"Glaube mir, ich fühle es nur zu gut", entgegnete Märchen, "sie
+lieben mich nicht mehr. Überall, wo ich hinkomme, begegnen mir
+kalte Blicke; nirgends bin ich mehr gern gesehen; selbst die Kinder,
+die ich doch immer so lieb hatte, lachen über mich und wenden mir
+altklug den Rücken zu."
+
+Die Königin stützte die Stirne in die Hand und schwieg sinnend.
+
+"Und woher soll es denn", fragte die Königin, "kommen, Märchen, daß
+sich die Leute da unten so geändert haben?"
+
+"Sieh, die Menschen haben kluge Wächter aufgestellt, die alles, was
+aus deinem Reich kommt, o Königin Phantasie, mit scharfem Blicke
+mustern und prüfen. Wenn nun einer kommt, der nicht nach ihrem Sinne
+ist, so erheben sie ein großes Geschrei, schlagen ihn tot oder
+verleumden ihn doch so sehr bei den Menschen, die ihnen aufs Wort
+glauben, daß man gar keine Liebe, kein Fünkchen Zutrauen mehr findet.
+Ach, wie gut haben es meine Brüder, die Träume, fröhlich und leicht
+hüpfen sie auf die Erde hinab, fragen nichts nach jenen klugen
+Männern, besuchen die schlummernden Menschen und weben und malen
+ihnen, was das Herz beglückt und das Auge erfreut!"
+
+"Deine Brüder sind Leichtfüße", sagte die Königin, "und du, mein
+Liebling, hast keine Ursache, sie zu beneiden. Jene Grenzwächter
+kenne ich übrigens wohl; die Menschen haben so unrecht nicht, sie
+aufzustellen; es kam so mancher windige Geselle und tat, als ob er
+geradewegs aus meinem Reiche käme, und doch hatte er höchstens von
+einem Berge zu uns herübergeschaut."
+
+"Aber warum lassen sie dies mich, deine eigene Tochter, entgelten",
+weinte Märchen. "Ach, wenn du wüßtest, wie sie es mit mir gemacht
+haben; sie schalten mich eine alte Jungfer und drohten, mich das
+nächste Mal gar nicht mehr hereinzulassen." "Wie, meine Tochter nicht
+mehr einzulassen?" rief die Königin, und Zorn rötete ihre Wangen.
+"Aber ich sehe schon, woher dies kommt; die böse Muhme hat uns
+verleumdet!"
+
+"Die Mode? Nicht möglich!" rief Märchen, "sie tat ja sonst immer so
+freundlich."
+
+"Oh! Ich kenne sie, die Falsche", antwortete die Königin, "aber
+versuche es ihr zum Trotze wieder, meine Tochter, wer Gutes tun will,
+darf nicht rasten."
+
+"Ach, Mutter! Wenn sie mich dann ganz zurückweisen, oder wenn sie
+mich verleumden, daß mich die Menschen nicht ansehen oder einsam und
+verachtet in der Ecke stehen lassen?"
+
+"Wenn die Alten, von der Mode betört, dich geringschätzen, so wende
+dich an die Kleinen, wahrlich, sie sind meine Lieblinge, ihnen sende
+ich meine lieblichsten Bilder durch deine Brüder, die Träume, ja, ich
+bin schon oft selbst zu ihnen hinabgeschwebt, habe sie geherzt und
+geküßt und schöne Spiele mit ihnen gespielt; sie kennen mich auch
+wohl, sie wissen zwar meinen Namen nicht, aber ich habe schon oft
+bemerkt, wie sie nachts zu meinen Sternen herauflächeln und morgens,
+wenn meine glänzenden Lämmer am Himmel ziehen, vor Freuden die Hände
+zusammenschlagen. Auch wenn sie größer werden, lieben sie mich noch,
+ich helfe dann den lieblichen Mädchen bunte Kränze flechten, und die
+wilden Knaben werden stiller, wenn ich auf hoher Felsenspitze mich zu
+ihnen setze, aus der Nebelwelt der fernen, blauen Berge hohe Burgen
+und glänzende Paläste auftauchen lasse und aus den rötlichen Wolken
+des Abends kühne Reiterscharen und wunderliche Wallfahrtszüge bilde."
+
+"O die guten Kinder!" rief Märchen bewegt aus. "Ja, es sei! Mit
+ihnen will ich es noch einmal versuchen."
+
+"Ja, du gute Tochter", sprach die Königin, "gehe zu ihnen; aber ich
+will dich auch ein wenig ordentlich ankleiden, daß du den Kleinen
+gefällst und die Großen dich nicht zurückstoßen; siehe, das Gewand
+eines Almanachs will ich dir geben."
+
+"Eines Almanachs, Mutter? Ach!--Ich schäme mich, so vor den Leuten
+zu prangen."
+
+Die Königin winkte, und die Dienerinnen brachten das zierliche Gewand
+eines Almanachs. Es war von glänzenden Farben und schöne Figuren
+eingewoben.
+
+Die Zofen flochten dem schönen Mädchen das lange Haar; sie banden ihr
+goldene Sandalen unter die Füße und hingen ihr dann das Gewand um.
+
+Das bescheidene Märchen wagte nicht aufzublicken, die Mutter aber
+betrachtete es mit Wohlgefallen und schloß es in ihre Arme. "Gehe
+hin", sprach sie zu der Kleinen, "mein Segen sei mit dir. Und wenn
+sie dich verachten und höhnen, so kehre zurück zu mir, vielleicht,
+daß spätere Geschlechter, getreuer der Natur, ihr Herz dir wieder
+zuwenden."
+
+Also sprach die Königin Phantasie. Märchen aber stieg hinab auf die
+Erde. Mit pochendem Herzen nahte sie dem Ort, wo die klugen Wächter
+hauseten; sie senkte das Köpfchen zur Erde, sie zog das schöne Gewand
+enger um sich her, und mit zagendem Schritt nahte sie dem Tor.
+
+"Halt!" rief eine tiefe, rauhe Stimme. "Wache heraus! Da kommt ein
+neuer Almanach!"
+
+Märchen zitterte, als sie dies hörte; viele ältliche Männer von
+finsterem Aussehen stürzten hervor; sie hatten spitzige Federn in der
+Faust und hielten sie dem Märchen entgegen. Einer aus der Schar
+schritt auf sie zu und packte sie mit rauher Hand am Kinn. "Nur auch
+den Kopf aufgerichtet, Herr Almanach", schrie er, "daß man Ihm in den
+Augen ansiehet, ob er was Rechtes ist oder nicht!"
+
+Errötend richtete Märchen das Köpfchen in die Höhe und schlug das
+dunkle Auge auf.
+
+"Das Märchen!" riefen die Wächter und lachten aus vollem Hals, "das
+Märchen! Haben wunder gemeint, was da käme! Wie kommst du nur in
+diesen Rock?"
+
+"Die Mutter hat ihn mir angezogen", antwortete Märchen. "So? Sie
+will dich bei uns einschwärzen? Nichts da! Hebe dich weg, mach, daß
+du fortkommst!" riefen die Wächter untereinander und erhoben die
+scharfen Federn.
+
+"Aber ich will ja nur zu den Kindern", bat Märchen, "dies könnt ihr
+mir ja doch erlauben."
+
+"Läuft nicht schon genug solches Gesindel im Land umher?" rief einer
+der Wächter. "Sie schwatzen nur unseren Kindern dummes Zeug vor."
+
+"Laßt uns sehen, was sie diesmal weiß!" sprach ein anderer.
+
+"Nun ja", riefen sie, "sag an, was du weißt, aber beeile dich, denn
+wir haben nicht viele Zeit für dich!"
+
+Märchen streckte die Hand aus und schrieb mit dem Zeigefinger viele
+Zeichen in die Luft. Da sah man bunte Gestalten vorüberziehen;
+Karawanen mit schönen Rossen, geschmückte Reiter, viele Zelte im Sand
+der Wüste; Vögel und Schiffe auf stürmischen Meeren; stille Wälder
+und volkreiche Plätze und Straßen; Schlachten und friedliche Nomaden,
+sie alle schwebten in belebten Bildern, in buntem Gewimmel vorüber.
+
+Märchen hatte in dem Eifer, mit welchem sie die Bilder aufsteigen
+ließ, nicht bemerkt, wie die Wächter des Tores nach und nach
+eingeschlafen waren. Eben wollte sie neue Zeichen schreiben, als ein
+freundlicher Mann auf sie zutrat und ihre Hand ergriff. "Siehe her,
+gutes Märchen", sagte er, indem er auf die Schlafenden zeigte, "für
+diese sind deine bunten Sachen nichts; schlüpfe schnell durch das Tor;
+sie ahnen dann nicht, daß du im Lande bist, und du kannst friedlich
+und unbemerkt deine Straße ziehen. Ich will dich zu meinen Kindern
+führen; in meinem Hause geb' ich dir ein stilles, freundliches
+Plätzchen; dort kannst du wohnen und für dich leben; wenn dann meine
+Söhne und Töchter gut gelernt haben, dürfen sie mit ihren Gespielen
+zu dir kommen und dir zuhören. Willst du so?"
+
+"Oh, wie gerne folge ich dir zu deinen lieben Kleinen; wie will ich
+mich befleißen, ihnen zuweilen ein heiteres Stündchen zu machen!"
+
+Der gute Mann nickte ihr freundlich zu und half ihr, über die Füße
+der schlafenden Wächter hinüberzusteigen. Lächelnd sah sich Märchen
+um, als sie hinüber war, und schlüpfte dann schnell in das Tor.
+
+
+
+
+Die Karawane
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Es zog einmal eine große Karawane durch die Wüste. Auf der
+ungeheuren Ebene, wo man nichts als Sand und Himmel sieht, hörte man
+schon in weiter Ferne die Glocken der Kamele und die silbernen
+Röllchen der Pferde, eine dichte Staubwolke, die ihr vorherging,
+verkündete ihre Nähe, und wenn ein Luftzug die Wolke teilte,
+blendeten funkelnde Waffen und helleuchtende Gewänder das Auge. So
+stellte sich die Karawane einem Manne dar, welcher von der Seite her
+auf sie zuritt. Er ritt ein schönes arabisches Pferd, mit einer
+Tigerdecke behängt, an dem hochroten Riemenwerk hingen silberne
+Glöckchen, und auf dem Kopf des Pferdes wehte ein schöner Reiherbusch.
+Der Reiter sah stattlich aus, und sein Anzug entsprach der Pracht
+seines Rosses; ein weißer Turban, reich mit Gold bestickt, bedeckte
+das Haupt; der Rock und die weiten Beinkleider waren von brennendem
+Rot, ein gekrümmtes Schwert mit reichem Griff an seiner Seite. Er
+hatte den Turban tief ins Gesicht gedrückt; dies und die schwarzen
+Augen, die unter buschigen Brauen hervorblitzten, der lange Bart, der
+unter der gebogenen Nase herabhing, gaben ihm ein wildes, kühnes
+Aussehen.
+
+Als der Reiter ungefähr auf fünfzig Schritt dem Vortrab der Karawane
+nahe war, spornte er sein Pferd an und war in wenigen Augenblicken an
+der Spitze des Zuges angelangt. Es war ein so ungewöhnliches
+Ereignis, einen einzelnen Reiter durch die Wüste ziehen zu sehen, daß
+die Wächter des Zuges, einen Überfall befürchtend, ihm ihre Lanzen
+entgegenstreckten.
+
+"Was wollt ihr", rief der Reiter, als er sich so kriegerisch
+empfangen sah, "glaubt ihr, ein einzelner Mann werde eure Karawane
+angreifen?"
+
+Beschämt schwangen die Wächter ihre Lanzen wieder auf, ihr Anführer
+aber ritt an den Fremden heran und fragte nach seinem Begehr.
+
+"Wer ist der Herr der Karawane?" fragte der Reiter.
+
+"Sie gehört nicht einem Herrn", antwortete der Gefragte, "sondern es
+sind mehrere Kaufleute, die von Mekka in ihre Heimat ziehen und die
+wir durch die Wüste geleiten, weil oft allerlei Gesindel die
+Reisenden beunruhigt."
+
+"So führt mich zu den Kaufleuten", begehrte der Fremde.
+
+"Das kann jetzt nicht geschehen", antwortete der Führer, "weil wir
+ohne Aufenthalt weiterziehen müssen und die Kaufleute wenigstens eine
+Viertelstunde weiter hinten sind; wollt Ihr aber mit mir weiterreiten,
+bis wir lagern, um Mittagsruhe zu halten, so werde ich Eurem Wunsch
+willfahren."
+
+Der Fremde sagte hierauf nichts; er zog eine lange Pfeife, die er am
+Sattel festgebunden hatte, hervor und fing an in großen Zügen zu
+rauchen, indem er neben dem Anführer des Vortrabs weiterritt. Dieser
+wußte nicht, was er aus dem Fremden machen sollte; er wagte es nicht,
+ihn geradezu nach seinem Namen zu fragen, und so künstlich er auch
+ein Gespräch anzuknüpfen suchte, der Fremde hatte auf das: "Ihr
+raucht da einen guten Tabak", oder: "Euer Rapp' hat einen braven
+Schritt", immer nur mit einem kurzen "Ja, ja!" geantwortet.
+
+Endlich waren sie auf dem Platz angekommen, wo man Mittagsruhe halten
+wollte. Der Anführer hatte seine Leute als Wachen aufgestellt; er
+selbst hielt mit dem Fremden, um die Karawane herankommen zu lassen.
+Dreißig Kamele, schwer beladen, zogen vorüber, von bewaffneten
+Führern geleitet. Nach diesen kamen auf schönen Pferden die fünf
+Kaufleute, denen die Karawane gehörte. Es waren meistens Männer von
+vorgerücktem Alter, ernst und gesetzt aussehend, nur einer schien
+viel jünger als die übrigen, wie auch froher und lebhafter. Eine
+große Anzahl Kamele und Packpferde schloß den Zug.
+
+Man hatte Zelte aufgeschlagen und die Kamele und Pferde rings
+umhergestellt. In der Mitte war ein großes Zelt von blauem
+Seidenzeug. Dorthin führte der Anführer der Wache den Fremden. Als
+sie durch den Vorhang des Zeltes getreten waren, sahen sie die fünf
+Kaufleute auf goldgewirkten Polstern sitzen; schwarze Sklaven
+reichten ihnen Speise und Getränke. "Wen bringt Ihr uns da?" rief
+der junge Kaufmann dem Führer zu.
+
+Ehe noch der Führer antworten konnte, sprach der Fremde: "Ich heiße
+Selim Baruch und bin aus Bagdad; ich wurde auf einer Reise nach Mekka
+von einer Räuberhorde gefangen und habe mich vor drei Tagen heimlich
+aus der Gefangenschaft befreit. Der große Prophet ließ mich die
+Glocken eurer Karawane in weiter Ferne hören, und so kam ich bei euch
+an. Erlaubet mir, daß ich in eurer Gesellschaft reise! Ihr werdet
+euren Schutz keinem Unwürdigen schenken, und so ihr nach Bagdad
+kommet, werde ich eure Güte reichlich belohnen denn ich bin der Neffe
+des Großwesirs."
+
+Der älteste der Kaufleute nahm das Wort: "Selim Baruch", sprach er,
+"sei willkommen in unserem Schatten. Es macht uns Freude, dir
+beizustehen; vor allem aber setze dich und iß und trinke mit uns."
+
+Selim Baruch setzte sich zu den Kaufleuten und aß und trank mit ihnen.
+Nach dem Essen räumten die Sklaven die Geschirre hinweg und
+brachten lange Pfeifen und türkischen Sorbet. Die Kaufleute saßen
+lange schweigend, indem sie die bläulichen Rauchwolken vor sich
+hinbliesen und zusahen, wie sie sich ringelten und verzogen und
+endlich in die Luft verschwebten. Der junge Kaufmann brach endlich
+das Stillschweigen: "So sitzen wir seit drei Tagen", sprach er, "zu
+Pferd und am Tisch, ohne uns durch etwas die Zeit zu vertreiben. Ich
+verspüre gewaltig Langeweile, denn ich bin gewohnt, nach Tisch Tänzer
+zu sehen oder Gesang und Musik zu hören. Wißt ihr gar nichts, meine
+Freunde, das uns die Zeit vertreibt?"
+
+Die vier älteren Kaufleute rauchten fort und schienen ernsthaft
+nachzusinnen, der Fremde aber sprach: "Wenn es mir erlaubt ist, will
+ich euch einen Vorschlag machen. Ich meine, auf jedem Lagerplatz
+könnte einer von uns den anderen etwas erzählen. Dies könnte uns
+schon die Zeit vertreiben."
+
+"Selim Baruch, du hast wahr gesprochen", sagte Achmet, der älteste
+der Kaufleute, "laßt uns den Vorschlag annehmen."
+
+"Es freut mich, wenn euch der Vorschlag behagt", sprach Selim, "damit
+ihr aber sehet, daß ich nichts Unbilliges verlange, so will ich den
+Anfang machen."
+
+Vergnügt rückten die fünf Kaufleute näher zusammen und ließen den
+Fremden in ihrer Mitte sitzen. Die Sklaven schenkten die Becher
+wieder voll, stopften die Pfeifen ihrer Herren frisch und brachten
+glühende Kohlen zum Anzünden. Selim aber erfrischte seine Stimme mit
+einem tüchtigen Zuge Sorbet, strich den langen Bart über dem Mund weg
+und sprach:
+
+"So hört denn die Geschichte vom Kalif Storch."
+
+Als Selim Baruch seine Geschichte beendet hatte, bezeugten sich die
+Kaufleute sehr zufrieden damit. "Wahrhaftig, der Nachmittag ist uns
+vergangen, ohne daß wir merkten wie!" sagte einer derselben, indem er
+die Decke des Zeltes zurückschlug. "Der Abendwind wehet kühl, und
+wir könnten noch eine gute Strecke Weges zurücklegen." Seine
+Gefährten waren damit einverstanden, die Zelte wurden abgebrochen,
+und die Karawane machte sich in der nämlichen Ordnung, in welcher sie
+herangezogen war, auf den Weg.
+
+Sie ritten beinahe die ganze Nacht hindurch, denn es war schwül am
+Tage, die Nacht aber war erquicklich und sternhell. Sie kamen
+endlich an einem bequemen Lagerplatz an, schlugen die Zelte auf und
+legten sich zur Ruhe. Für den Fremden aber sorgten die Kaufleute,
+wie wenn er ihr wertester Gastfreund wäre. Der eine gab ihm Polster,
+der andere Decken, ein dritter gab ihm Sklaven, kurz, er wurde so gut
+bedient, als ob er zu Hause wäre. Die heißeren Stunden des Tages
+waren schon heraufgekommen, als sie sich wieder erhoben, und sie
+beschlossen einmütig, hier den Abend abzuwarten. Nachdem sie
+miteinander gespeist hatten, rückten sie wieder näher zusammen, und
+der junge Kaufmann wandte sich an den ältesten und sprach: "Selim
+Baruch hat uns gestern einen vergnügten Nachmittag bereitet, wie wäre
+es, Achmet, wenn Ihr uns auch etwas erzähltet, sei es nun aus Eurem
+langen Leben, das wohl viele Abenteuer aufzuweisen hat, oder sei es
+auch ein hübsches Märchen." Achmet schwieg auf diese Anrede eine
+Zeitlang, wie wenn er bei sich im Zweifel wäre, ob er dies oder jenes
+sagen sollte oder nicht; endlich fing er an zu sprechen:
+
+"Liebe Freunde! Ihr habt euch auf dieser unserer Reise als treue
+Gesellen erprobt, und auch Selim verdient mein Vertrauen; daher will
+ich euch etwas aus meinem Leben mitteilen, das ich sonst ungern und
+nicht jedem erzähle: die Geschichte von dem Gespensterschiff."
+
+Die Reise der Karawane war den anderen Tag ohne Hindernis fürder
+gegangen, und als man im Lagerplatz sich erholt hatte, begann Selim,
+der Fremde, zu Muley, dem jüngsten der Kaufleute, also zu sprechen:
+
+"Ihr seid zwar der Jüngste von uns, doch seid Ihr immer fröhlich und
+wißt für uns gewiß irgendeinen guten Schwank. Tischet ihn auf, daß
+er uns erquicke nach der Hitze des Tages!"
+
+"Wohl möchte ich euch etwas erzählen", antwortete Muley, "das euch
+Spaß machen könnte, doch der Jugend ziemt Bescheidenheit in allen
+Dingen; darum müssen meine älteren Reisegefährten den Vorrang haben.
+Zaleukos ist immer so ernst und verschlossen, sollte er uns nicht
+erzählen, was sein Leben so ernst machte? Vielleicht, daß wir seinen
+Kummer, wenn er solchen hat, lindern können; denn gerne dienen wir
+dem Bruder, wenn er auch anderen Glaubens ist."
+
+Der Aufgerufene war ein griechischer Kaufmann, ein Mann in mittleren
+Jahren, schön und kräftig, aber sehr ernst. Ob er gleich ein
+Ungläubiger (nicht Muselmann) war, so liebten ihn doch seine
+Reisegefährten, denn er hatte durch sein ganzes Wesen Achtung und
+Zutrauen eingeflößt. Er hatte übrigens nur eine Hand, und einige
+seiner Gefährten vermuteten, daß vielleicht dieser Verlust ihn so
+ernst stimme.
+
+Zaleukos antwortete auf die zutrauliche Frage Muleys: "Ich bin sehr
+geehrt durch euer Zutrauen; Kummer habe ich keinen, wenigstens keinen,
+von welchem ihr auch mit dem besten Willen mir helfen könntet. Doch
+weil Muley mir meinen Ernst vorzuwerfen scheint, so will ich euch
+einiges erzählen, was mich rechtfertigen soll, wenn ich ernster bin
+als andere Leute. Ihr sehet, daß ich meine linke Hand verloren habe.
+Sie fehlt mir nicht von Geburt an, sondern ich habe sie in den
+schrecklichsten Tagen meines Lebens eingebüßt. Ob ich die Schuld
+davon trage, ob ich unrecht habe, seit jenen Tagen ernster, als es
+meine Lage mit sich bringt, zu sein, möget ihr beurteilen, wenn ihr
+vernommen habt die Geschichte von der abgehauenen Hand."
+
+Zaleukos, der griechische Kaufmann, hatte seine Geschichte geendigt.
+Mit großer Teilnahme hatten ihm die übrigen zugehört, besonders der
+Fremde schien sehr davon ergriffen zu sein; er hatte einigemal tief
+geseufzt, und Muley schien es sogar, als habe er einmal Tränen in den
+Augen gehabt. Sie besprachen sich noch lange Zeit über diese
+Geschichte.
+
+"Und haßt Ihr den Unbekannten nicht, der Euch so schnöd' um ein so
+edles Glied Eures Körpers, der selbst Euer Leben in Gefahr brachte?"
+fragte der Fremde.
+
+"Wohl gab es in früherer Zeit Stunden", antwortete der Grieche, "in
+denen mein Herz ihn vor Gott angeklagt, daß er diesen Kummer über
+mich gebracht und mein Leben vergiftet habe; aber ich fand Trost in
+dem Glauben meiner Väter, und dieser befiehlt mir, meine Feinde zu
+lieben; auch ist er wohl noch unglücklicher als ich."
+
+"Ihr seid ein edler Mann!" rief der Fremde und drückte gerührt dem
+Griechen die Hand.
+
+Der Anführer der Wache unterbrach sie aber in ihrem Gespräch. Er
+trat mit besorgter Miene in das Zelt und berichtete, daß man sich
+nicht der Ruhe überlassen dürfe; denn hier sei die Stelle, wo
+gewöhnlich die Karawanen angegriffen würden, auch glaubten seine
+Wachen, in der Entfernung mehrere Reiter zu sehen.
+
+Die Kaufleute waren sehr bestürzt über diese Nachricht; Selim, der
+Fremde, aber wunderte sich über ihre Bestürzung und meinte, daß sie
+so gut geschätzt wären, daß sie einen Trupp räuberischer Araber nicht
+zu fürchten brauchten.
+
+"Ja, Herr!" entgegnete ihm der Anführer der Wache. "Wenn es nur
+solches Gesindel wäre, könnte man sich ohne Sorge zur Ruhe legen;
+aber seit einiger Zeit zeigt sich der furchtbare Orbasan wieder, und
+da gilt es, auf seiner Hut zu sein."
+
+Der Fremde fragte, wer denn dieser Orbasan sei, und Achmet, der alte
+Kaufmann, antwortete ihm: "Es gehen allerlei Sagen unter dem Volke
+über diesen wunderbaren Mann. Die einen halten ihn für ein
+übermenschliches Wesen, weil er oft mit fünf bis sechs Männern zumal
+einen Kampf besteht, andere halten ihn für einen tapferen Franken,
+den das Unglück in diese Gegend verschlagen habe; von allem aber ist
+nur so viel gewiß, daß er ein verruchter Mörder und Dieb ist."
+
+"Das könnt Ihr aber doch nicht behaupten", entgegnete ihm Lezah,
+einer der Kaufleute. "Wenn er auch ein Räuber ist, so ist er doch
+ein edler Mann, und als solcher hat er sich an meinem Bruder bewiesen,
+wie ich Euch erzählen könnte. Er hat seinen ganzen Stamm zu
+geordneten Menschen gemacht, und so lange er die Wüste durchstreift,
+darf kein anderer Stamm es wagen, sich sehen zu lassen. Auch raubt
+er nicht wie andere, sondern er erhebt nur ein Schutzgeld von den
+Karawanen, und wer ihm dieses willig bezahlt, der ziehet ungefährdet
+weiter; denn Orbasan ist der Herr der Wüste."
+
+Also sprachen unter sich die Reisenden im Zelte; die Wachen aber, die
+um den Lagerplatz ausgestellt waren, begannen unruhig zu werden. Ein
+ziemlich bedeutender Haufe bewaffneter Reiter zeigte sich in der
+Entfernung einer halben Stunde; sie schienen gerade auf das Lager
+zuzureiten. Einer der Männer von der Wache ging daher in das Zelt,
+um zu verkünden, daß sie wahrscheinlich angegriffen würden. Die
+Kaufleute berieten sich untereinander, was zu tun sei, ob man ihnen
+entgegengehen oder den Angriff abwarten solle. Achmet und die zwei
+älteren Kaufleute wollten das letztere, der feurige Muley aber und
+Zaleukos verlangten das erstere und riefen den Fremden zu ihrem
+Beistand auf. Dieser zog ruhig ein kleines, blaues Tuch mit roten
+Sternen aus seinem Gürtel hervor, band es an eine Lanze und befahl
+einem der Sklaven, es auf das Zelt zu stecken; er setze sein Leben
+zum Pfand, sagte er, die Reiter werden, wenn sie dieses Zeichen sehen,
+ruhig vorüberziehen. Muley glaubte nicht an den Erfolg, der Sklave
+aber steckte die Lanze auf das Zelt. Inzwischen hatten alle, die im
+Lager waren, zu den Waffen gegriffen und sahen in gespannter
+Erwartung den Reitern entgegen. Doch diese schienen das Zeichen auf
+dem Zelte erblickt zu haben, sie wichen plötzlich von ihrer Richtung
+auf das Lager ab und zogen in einem großen Bogen auf der Seite hin.
+
+Verwundert standen einige Augenblicke die Reisenden und sahen bald
+auf die Reiter, bald auf den Fremden. Dieser stand ganz gleichgültig,
+wie wenn nichts vorgefallen wäre, vor dem Zelte und blickte über die
+Ebene hin. Endlich brach Muley das Stillschweigen. "Wer bist du,
+mächtiger Fremdling", rief er aus, "der du die wilden Horden der
+Wüste durch einen Wink bezähmst?"
+
+"Ihr schlagt meine Kunst höher an, als sie ist", antwortete Selim
+Baruch. "Ich habe mich mit diesem Zeichen versehen, als ich der
+Gefangenschaft entfloh; was es zu bedeuten hat, weiß ich selbst nicht;
+nur so viel weiß ich, daß, wer mit diesem Zeichen reiset, unter
+mächtigem Schutze steht."
+
+Die Kaufleute dankten dem Fremden und nannten ihn ihren Erretter.
+Wirklich war auch die Anzahl der Reiter so groß gewesen, daß wohl die
+Karawane nicht lange hätte Widerstand leisten können.
+
+Mit leichterem Herzen begab man sich jetzt zur Ruhe, und als die
+Sonne zu sinken begann und der Abendwind über die Sandebene hinstrich,
+brachen sie auf und zogen weiter.
+
+Am nächsten Tage lagerten sie ungefähr nur noch eine Tagreise von dem
+Ausgang der Wüste entfernt. Als sich die Reisenden wieder in dem
+großen Zelt versammelt hatten, nahm Lezah, der Kaufmann, das Wort:
+
+"Ich habe euch gestern gesagt, daß der gefürchtete Orbasan ein edler
+Mann sei, erlaubt mir, daß ich es euch heute durch die Erzählung der
+Schicksale meines Bruders beweise. Mein Vater war Kadi in Akara. Er
+hatte drei Kinder. Ich war der Älteste, ein Bruder und eine
+Schwester waren bei weitem jünger als ich. Als ich zwanzig Jahre alt
+war, rief mich ein Bruder meines Vaters zu sich. Er setzte mich zum
+Erben seiner Güter ein, mit der Bedingung, daß ich bis zu seinem Tode
+bei ihm bleibe. Aber er erreichte ein hohes Alter, so daß ich erst
+vor zwei Jahren in meine Heimat zurückkehrte und nichts davon wußte,
+welch schreckliches Schicksal indes mein Haus betroffen und wie gütig
+Allah es gewendet hatte." Die Errettung Fatmes
+
+Die Karawane hatte das Ende der Wüste erreicht, und fröhlich
+begrüßten die Reisenden die grünen Matten und die dichtbelaubten
+Bäume, deren lieblichen Anblick sie viele Tage entbehrt hatten. In
+einem schönen Tale lag eine Karawanserei, die sie sich zum Nachtlager
+wählten, und obgleich sie wenig Bequemlichkeit und Erfrischung darbot,
+so war doch die ganze Gesellschaft heiterer und zutraulicher als je;
+denn der Gedanke, den Gefahren und Beschwerlichkeiten, die eine Reise
+durch die Wüste mit sich bringt, entronnen zu sein, hatte alle Herzen
+geöffnet und die Gemüter zu Scherz und Kurzweil gestimmt. Muley, der
+junge lustige Kaufmann, tanzte einen komischen Tanz und sang Lieder
+dazu, die selbst dem ernsten Griechen Zaleukos ein Lächeln entlockten.
+Aber nicht genug, daß er seine Gefährten durch Tanz und Spiel
+erheitert hatte, er gab ihnen auch noch die Geschichte zum besten,
+die er ihnen versprochen hatte, und hub, als er von seinen
+Luftsprüngen sich erholt hatte, also zu erzählen an: Die Geschichte
+von dem kleinen Muck.
+
+"So erzählte mir mein Vater; ich bezeugte ihm meine Reue über mein
+rohes Betragen gegen den guten kleinen Mann, und mein Vater schenkte
+mir die andere Hälfte der Strafe, die er mir zugedacht hatte. Ich
+erzählte meinen Kameraden die wunderbaren Schicksale des Kleinen, und
+wir gewannen ihn so lieb, daß ihn keiner mehr schimpfte. Im
+Gegenteil, wir ehrten ihn, solange er lebte, und haben uns vor ihm
+immer so tief wie vor Kadi und Mufti gebückt."
+
+Die Reisenden beschlossen, einen Rasttag in dieser Karawanserei zu
+machen, um sich und die Tiere zur weiteren Reise zu stärken. Die
+gestrige Fröhlichkeit ging auch auf diesen Tag über, und sie
+ergötzten sich in allerlei Spielen. Nach dem Essen aber riefen sie
+dem fünften Kaufmann, Ali Sizah, zu, auch seine Schuldigkeit gleich
+den übrigen zu tun und eine Geschichte zu erzählen. Er antwortete,
+sein Leben sei zu arm an auffallenden Begebenheiten, als daß er ihnen
+etwas davon mitteilen möchte, daher wolle er ihnen etwas anderes
+erzählen, nämlich: Das Märchen vom falschen Prinzen.
+
+
+Mit Sonnenaufgang brach die Karawane auf und gelangte bald nach
+Birket el Had oder dem Pilgrimsbrunnen, von wo es nur noch drei
+Stunden Weges nach Kairo waren--Man hatte um diese Zeit die Karawane
+erwartet, und bald hatten die Kaufleute die Freude, ihre Freunde aus
+Kairo ihnen entgegenkommen zu sehen. Sie zogen in die Stadt durch
+das Tor Bebel Falch; denn es wird für eine glückliche Vorbedeutung
+gehalten, wenn man von Mekka kommt, durch dieses Tor einzuziehen,
+weil der Prophet hindurchgezogen ist.
+
+Auf dem Markt verabschiedeten sich die vier türkischen Kaufleute von
+dem Fremden und dem griechischen Kaufmann Zaleukos und gingen mit
+ihren Freunden nach Haus. Zaleukos aber zeigte dem Fremden eine gute
+Karawanserei und lud ihn ein, mit ihm das Mittagsmahl zu nehmen. Der
+Fremde sagte zu und versprach, wenn er nur vorher sich umgekleidet
+habe, zu erscheinen.
+
+Der Grieche hatte alle Anstalten getroffen, den Fremden, welchen er
+auf der Reise liebgewonnen hatte, gut zu bewirten, und als die
+Speisen und Getränke in gehöriger Ordnung aufgestellt waren, setzte
+er sich, seinen Gast zu erwarten.
+
+Langsam und schweren Schrittes hörte er ihn den Gang, der zu seinem
+Gemach führte, heraufkommen. Er erhob sich, um ihm freundlich
+entgegenzusehen und ihn an der Schwelle zu bewillkommnen; aber voll
+Entsetzen fuhr er zurück, als er die Türe öffnete; denn jener
+schreckliche Rotmantel trat ihm entgegen; er warf noch einen Blick
+auf ihn, es war keine Täuschung; dieselbe hohe, gebietende Gestalt,
+die Larve, aus welcher ihn die dunklen Augen anblitzten, der rote
+Mantel mit der goldenen Stickerei waren ihm nur allzuwohl bekannt aus
+den schrecklichsten Stunden seines Lebens.
+
+Widerstreitende Gefühle wogten in Zaleukos Brust; er hatte sich mit
+diesem Bild seiner Erinnerung längst ausgesöhnt und ihm vergeben, und
+doch riß sein Anblick alle seine Wunden wieder auf; alle jene
+qualvollen Stunden der Todesangst, jener Gram, der die Blüte seines
+Lebens vergiftete, zogen im Flug eines Augenblicks an seiner Seele
+vorüber.
+
+"Was willst du, Schrecklicher?" rief der Grieche aus, als die
+Erscheinung noch immer regungslos auf der Schwelle stand. "Weiche
+schnell von hinnen, daß ich dir nicht fluche!"
+
+"Zaleukos!" sprach eine bekannte Stimme unter der Larve hervor.
+"Zaleukos! So empfängst du deinen Gastfreund?" Der Sprechende nahm
+die Larve ab, schlug den Mantel zurück; es war Selim Baruch, der
+Fremde.
+
+Aber Zaleukos schien noch nicht beruhigt, ihm graute vor dem Fremden;
+denn nur zu deutlich hatte er in ihm den Unbekannten von der Ponte
+vecchio erkannt; aber die alte Gewohnheit der Gastfreundschaft siegte;
+er winkte schweigend dem Fremden, sich zu ihm ans Mahl zu setzen.
+
+"Ich errate deine Gedanken", nahm dieser das Wort, als sie sich
+gesetzt hatten. "Deine Augen sehen fragend auf mich--ich hätte
+schweigen und mich deinen Blicken nie mehr zeigen können, aber ich
+bin dir Rechenschaft schuldig, und darum wagte ich es auch, auf die
+Gefahr hin, daß du mir fluchtest, vor dir in meiner alten Gestalt zu
+erscheinen. Du sagtest einst zu mir: Der Glaube meiner Väter
+befiehlt mir, ihn zu lieben, auch ist er wohl unglücklicher als ich;
+glaube dieses, mein Freund, und höre meine Rechtfertigung!
+
+Ich muß weit ausholen, um mich dir ganz verständlich zu machen. Ich
+bin in Alessandria von christlichen Eltern geboren. Mein Vater, der
+jüngere Sohn eines alten, berühmten französischen Hauses, war Konsul
+seines Landes in Alessandria. Ich wurde von meinem zehnten Jahre an
+in Frankreich bei einem Bruder meiner Mutter erzogen und verließ erst
+einige Jahre nach dem Ausbruch der Revolution mein Vaterland, um mit
+meinem Oheim, der in dem Lande seiner Ahnen nicht mehr sicher war,
+über dem Meer bei meinen Eltern eine Zuflucht zu suchen. Voll
+Hoffnung, die Ruhe und den Frieden, den uns das empörte Volk der
+Franzosen entrissen, im elterlichen Hause wiederzufinden, landeten
+wir. Aber ach! Ich fand nicht alles in meines Vaters Hause, wie es
+sein sollte; die äußeren Stürme der bewegten Zeit waren zwar noch
+nicht bis hierher gelangt, desto unerwarteter hatte das Unglück mein
+Haus im innersten Herzen heimgesucht. Mein Bruder, ein junger,
+hoffnungsvoller Mann, erster Sekretär meines Vaters, hatte sich erst
+seit kurzem mit einem jungen Mädchen, der Tochter eines
+florentinischen Edelmanns, der in unserer Nachbarschaft wohnte,
+verheiratet; zwei Tage vor unserer Ankunft war diese auf einmal
+verschwunden, ohne daß weder unsere Familie noch ihr Vater die
+geringste Spur von ihr auffinden konnten. Man glaubte endlich, sie
+habe sich auf einem Spaziergang zu weit gewagt und sei in Räuberhände
+gefallen. Beinahe tröstlicher wäre dieser Gedanke für meinen armen
+Bruder gewesen als die Wahrheit, die uns nur bald kund wurde. Die
+Treulose hatte sich mit einem jungen Neapolitaner, den sie im Hause
+ihres Vaters kennengelernt hatte, eingeschifft. Mein Bruder, aufs
+äußerste empört über diesen Schritt, bot alles auf, die Schuldige zur
+Strafe zu ziehen; doch vergebens; seine Versuche, die in Neapel und
+Florenz Aufsehen erregt hatten, dienten nur dazu, sein und unser
+aller Unglück zu vollenden. Der florentinische Edelmann reiste in
+sein Vaterland zurück, zwar mit dem Vorgeben, meinem Bruder Recht zu
+verschaffen, der Tat nach aber, um uns zu verderben. Er schlug in
+Florenz alle jene Untersuchungen, welche mein Bruder angeknüpft hatte,
+nieder und wußte seinen Einfluß, den er auf alle Art sich verschafft
+hatte, so gut zu benützen, daß mein Vater und mein Bruder ihrer
+Regierung verdächtig gemacht und durch die schändlichsten Mittel
+gefangen, nach Frankreich geführt und dort vom Beil des Henkers
+getötet wurden. Meine arme Mutter verfiel in Wahnsinn, und erst nach
+zehn langen Monaten erlöste sie der Tod von ihrem schrecklichen
+Zustand, der aber in den letzten Tagen zu vollem, klarem Bewußtsein
+geworden war. So stand ich jetzt ganz allein in der Welt, aber nur
+ein Gedanke beschäftigte meine Seele, nur ein Gedanke ließ mich meine
+Trauer vergessen, es war jene mächtige Flamme, die meine Mutter in
+ihrer letzten Stunde in mir angefacht hatte.
+
+In den letzten Stunden war, wie ich dir sagte, ihr Bewußtsein
+zurückgekehrt; sie ließ mich rufen und sprach mit Ruhe von unserem
+Schicksal und ihrem Ende. Dann aber ließ sie alle aus dem Zimmer
+gehen, richtete sich mit feierlicher Miene von ihrem ärmlichen Lager
+auf und sagte, ich könne mir ihren Segen erwerben, wenn ich ihr
+schwöre, etwas auszuführen, das sie mir auftragen würde--Ergriffen
+von den Worten der sterbenden Mutter, gelobte ich mit einem Eide zu
+tun, wie sie mir sagen werde. Sie brach nun in Verwünschungen gegen
+den Florentiner und seine Tochter aus und legte mir mit den
+fürchterlichsten Drohungen ihres Fluches auf, mein unglückliches Haus
+an ihm zu rächen. Sie starb in meinen Armen. Jener Gedanke der
+Rache hatte schon lange in meiner Seele geschlummert; jetzt erwachte
+er mit aller Macht. Ich sammelte den Rest meines väterlichen
+Vermögens und schwor mir, alles an meine Rache zu setzen oder selbst
+mit unterzugehen.
+
+Bald war ich in Florenz, wo ich mich so geheim als möglich aufhielt;
+mein Plan war um vieles erschwert worden durch die Lage, in welcher
+sich meine Feinde befanden. Der alte Florentiner war Gouverneur
+geworden und hatte so alle Mittel in der Hand, sobald er das
+geringste ahnte, mich zu verderben. Ein Zufall kam mir zu Hilfe.
+Eines Abends sah ich einen Menschen in bekannter Livree durch die
+Straßen gehen; sein unsicherer Gang, sein finsterer Blick und das
+halblaut herausgestoßene "Santo sacramento", "Maledetto diavolo"
+ließen mich den alten Pietro, einen Diener des Florentiners, den ich
+schon in Alessandria gekannt hatte, erkennen. Ich war nicht in
+Zweifel, daß er über seinen Herrn in Zorn geraten sei, und beschloß,
+seine Stimmung zu benützen. Er schien sehr überrascht, mich hier zu
+sehen, klagte mir sein Leiden, daß er seinem Herrn, seit er
+Gouverneur geworden, nichts mehr recht machen könne, und mein Gold,
+unterstützt von seinem Zorn, brachte ihn bald auf meine Seite. Das
+Schwierigste war jetzt beseitigt; ich hatte einen Mann in meinem
+Solde, der mir zu jeder Stunde die Türe meines Feindes öffnete, und
+nun reifte mein Racheplan immer schneller heran. Das Leben des alten
+Florentiners schien mir ein zu geringes Gewicht, dem Untergang meines
+Hauses gegenüber, zu haben. Sein Liebstes mußte er gemordet sehen,
+und dies war Bianka, seine Tochter. Hatte ja sie so schändlich an
+meinem Bruder gefrevelt, war ja doch sie die Ursache unseres Unglücks.
+Gar erwünscht kam sogar meinem rachedürstigen Herzen die Nachricht,
+daß in dieser Zeit Bianka zum zweitenmal sich vermählen wollte, es
+war beschlossen, sie mußte sterben. Aber mir selbst graute vor der
+Tat, und auch Pietro traute sich zu wenig Kraft zu; darum spähten wir
+umher nach einem Mann, der das Geschäft vollbringen könne. Unter den
+Florentinern wagte ich keinen zu dingen, denn gegen den Gouverneur
+würde keiner etwas Solches unternommen haben. Da fiel Pietro der
+Plan ein, den ich nachher ausgeführt habe; zugleich schlug er dich
+als Fremden und Arzt als den Tauglichsten vor. Den Verlauf der Sache
+weißt du. Nur an deiner großen Vorsicht und Ehrlichkeit schien mein
+Unternehmen zu scheitern. Daher der Zufall mit dem Mantel.
+
+Pietro öffnete uns das Pförtchen an dem Palast des Gouverneurs; er
+hätte uns auch ebenso heimlich wieder hinausgeleitet, wenn wir nicht,
+durch den schrecklichen Anblick, der sich uns durch die Türspalte
+darbot, erschreckt, entflohen wären. Von Schrecken und Reue gejagt,
+war ich über zweihundert Schritte fortgerannt, bis ich auf den Stufen
+einer Kirche niedersank. Dort erst sammelte ich mich wieder, und
+mein erster Gedanke warst du und dein schreckliches Schicksal, wenn
+man dich in dem Hause fände. Ich schlich an den Palast, aber weder
+von Pietro noch von dir konnte ich eine Spur entdecken; das Pförtchen
+aber war offen, so konnte ich wenigstens hoffen, daß du die
+Gelegenheit zur Flucht benützt haben könntest.
+
+Als aber der Tag anbrach, ließ mich die Angst vor der Entdeckung und
+ein unabweisbares Gefühl von Reue nicht mehr in den Mauern von
+Florenz. Ich eilte nach Rom. Aber denke dir meine Bestürzung, als
+man dort nach einigen Tagen überall diese Geschichte erzählte mit dem
+Beisatz, man habe den Mörder, einen griechischen Arzt, gefangen. Ich
+kehrte in banger Besorgnis nach Florenz zurück; denn schien mir meine
+Rache schon vorher zu stark, so verfluchte ich sie jetzt, denn sie
+war mir durch dein Leben allzu teuer erkauft. Ich kam an demselben
+Tage an, der dich der Hand beraubte. Ich schweige von dem, was ich
+fühlte, als ich dich das Schafott besteigen und so heldenmütig leiden
+sah. Aber damals, als dein Blut in Strömen aufspritzte, war der
+Entschluß fest in mir, dir deine übrigen Lebenstage zu versüßen. Was
+weiter geschehen ist, weißt du, nur das bleibt mir noch zu sagen
+übrig, warum ich diese Reise mit dir machte.
+
+Als eine schwere Last drückte mich der Gedanke, daß du mir noch immer
+nicht vergeben habest; darum entschloß ich mich, viele Tage mit dir
+zu leben und dir endlich Rechenschaft abzulegen von dem, was ich mit
+dir getan."
+
+Schweigend hatte der Grieche seinen Gast angehört; mit sanftem Blick
+bot er ihm, als er geendet hatte, seine Rechte. "Ich wußte wohl, daß
+du unglücklicher sein müßtest als ich, denn jene grausame Tat wird
+wie eine dunkle Wolke ewig deine Tage verfinstern; ich vergebe dir
+von Herzen. Aber erlaube mir noch eine Frage: Wie kommst du unter
+dieser Gestalt in die Wüste? Was fingst du an, nachdem du in
+Konstantinopel mir das Haus gekauft hattest?"
+
+"Ich ging nach Alessandria zurück", antwortete der Gefragte. "Haß
+gegen alle Menschen tobte in meiner Brust, brennender Haß besonders
+gegen jene Nationen, die man die gebildeten nennt. Glaube mir, unter
+meinen Moslemiten war mir wohler! Kaum war ich einige Monate in
+Alessandria, als jene Landung meiner Landsleute erfolgte.
+
+Ich sah in ihnen nur die Henker meines Vaters und meines Bruders;
+darum sammelte ich einige gleichgesinnte junge Leute meiner
+Bekanntschaft und schloß mich jenen tapferen Mamelucken an, die so
+oft der Schrecken des französischen Heeres wurden. Als der Feldzug
+beendigt war, konnte ich mich nicht entschließen, zu den Künsten des
+Friedens zurückzukehren. Ich lebte mit einer kleinen Anzahl
+gleichdenkender Freunde ein unstetes und flüchtiges, dem Kampf und
+der Jagd geweihtes Leben; ich lebe zufrieden unter diesen Leuten, die
+mich wie ihren Fürsten ehren; denn wenn meine Asiaten auch nicht so
+gebildet sind wie Eure Europäer, so sind sie doch weit entfernt von
+Neid und Verleumdung, von Selbstsucht und Ehrgeiz."
+
+Zaleukos dankte dem Fremden für seine Mitteilung, aber er verbarg ihm
+nicht, daß er es für seinen Stand, für seine Bildung angemessener
+fände, wenn er in christlichen, in europäischen Ländern leben und
+wirken würde. Er faßte seine Hand und bat ihn, mit ihm zu ziehen,
+bei ihm zu leben und zu sterben.
+
+Gerührt sah ihn der Gastfreund an. "Daraus erkenne ich", sagte er,
+"daß du mir ganz vergeben hast, daß du mich liebst. Nimm meinen
+innigsten Dank dafür!" Er sprang auf und stand in seiner ganzen Größe
+vor dem Griechen, dem vor dem kriegerischen Anstand, den dunkel
+blitzenden Augen, der tiefen Stimme seines Gastes beinahe graute.
+"Dein Vorschlag ist schön", sprach jener weiter, "er möchte für jeden
+andern lockend sein--ich kann ihn nicht benützen. Schon steht mein
+Roß gesattelt, erwarten mich meine Diener; lebe wohl, Zaleukos!" Die
+Freunde, die das Schicksal so wunderbar zusammengeführt, umarmten
+sich zum Abschied. "Und wie nenne ich dich? Wie heißt mein
+Gastfreund, der auf ewig in meinem Gedächtnis leben wird?" fragte der
+Grieche.
+
+Der Fremde sah ihn lange an, drückte ihm noch einmal die Hand und
+sprach: "Man nennt mich den Herrn der Wüste; ich bin der Räuber
+Orbasan."
+
+
+
+
+Kalif Storch
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Der Kalif Chasid zu Bagdad saß einmal an einem schönen Nachmittag
+behaglich auf seinem Sofa; er hatte ein wenig geschlafen, denn es war
+ein heißer Tag, und sah nun nach seinem Schläfchen recht heiter aus.
+Er rauchte aus einer langen Pfeife von Rosenholz, trank hier und da
+ein wenig Kaffee, den ihm ein Sklave einschenkte, und strich sich
+allemal vergnügt den Bart, wenn es ihm geschmeckt hatte. Kurz, man
+sah dem Kalifen an, daß es ihm recht wohl war. Um diese Stunde
+konnte man gar gut mit ihm reden, weil er da immer recht mild und
+leutselig war, deswegen besuchte ihn auch sein Großwesir Mansor alle
+Tage um diese Zeit. An diesem Nachmittage nun kam er auch, sah aber
+sehr nachdenklich aus, ganz gegen seine Gewohnheit. Der Kalif tat
+die Pfeife ein wenig aus dem Mund und sprach: "Warum machst du ein so
+nachdenkliches Gesicht, Großwesir?"
+
+Der Großwesir schlug seine Arme kreuzweis über die Brust, verneigte
+sich vor seinem Herrn und antwortete: "Herr, ob ich ein
+nachdenkliches Gesicht mache, weiß ich nicht, aber da drunten am
+Schloß steht ein Krämer, der hat so schöne Sachen, daß es mich ärgert,
+nicht viel überflüssiges Geld zu haben."
+
+Der Kalif, der seinem Großwesir schon lange gerne eine Freude gemacht
+hätte, schickte seinen schwarzen Sklaven hinunter, um den Krämer
+heraufzuholen. Bald kam der Sklave mit dem Krämer zurück. Dieser
+war ein kleiner, dicker Mann, schwarzbraun im Gesicht und in
+zerlumptem Anzug. Er trug einen Kasten, in welchem er allerhand
+Waren hatte, Perlen und Ringe, reichbeschlagene Pistolen, Becher und
+Kämme. Der Kalif und sein Wesir musterten alles durch, und der Kalif
+kaufte endlich für sich und Mansor schöne Pistolen, für die Frau des
+Wesirs aber einen Kamm. Als der Krämer seinen Kasten schon wieder
+zumachen wollte, sah der Kalif eine kleine Schublade und fragte, ob
+da auch noch Waren seien. Der Krämer zog die Schublade heraus und
+zeigte darin eine Dose mit schwärzlichem Pulver und ein Papier mit
+sonderbarer Schrift, die weder der Kalif noch Mansor lesen konnte.
+"Ich bekam einmal diese zwei Stücke von einem Kaufmanne, der sie in
+Mekka auf der Straße fand", sagte der Krämer, "Ich weiß nicht, was
+sie enthalten; euch stehen sie um geringen Preis zu Dienst, ich kann
+doch nichts damit anfangen."
+
+Der Kalif, der in seiner Bibliothek gerne alte Manuskripte hatte,
+wenn er sie auch nicht lesen konnte, kaufte Schrift und Dose und
+entließ den Krämer. Der Kalif aber dachte, er möchte gerne wissen,
+was die Schrift enthalte, und, fragte den Wesir, ob er keinen kenne,
+der es entziffern könnte.
+
+"Gnädigster Herr und Gebieter", antwortete dieser, "an der großen
+Moschee wohnt ein Mann, er heißt Selim, der Gelehrte, der versteht
+alle Sprachen, laß ihn kommen, vielleicht kennt er diese
+geheimnisvollen Züge."
+
+Der Gelehrte Selim war bald herbeigeholt. "Selim", sprach zu ihm der
+Kalif, "Selim, man sagt, du seiest sehr gelehrt; guck einmal ein
+wenig in diese Schrift, ob du sie lesen kannst; kannst du sie lesen,
+so bekommst du ein neues Festkleid von mir, kannst du es nicht, so
+bekommst du zwölf Backenstreiche und fünfundzwanzig auf die Fußsohlen,
+weil man dich dann umsonst Selim, den Gelehrten, nennt."
+
+Selim verneigte sich und sprach: "Dein Wille geschehe, o Herr!" Lange
+betrachtete er die Schrift, plötzlich aber rief er aus: "Das ist
+Lateinisch, o Herr, oder ich laß mich hängen." "Sag, was drinsteht",
+befahl der Kalif, "wenn es Lateinisch ist."
+
+Selim fing an zu übersetzen: "Mensch, der du dieses findest, preise
+Allah für seine Gnade. Wer von dem Pulver in dieser Dose schnupft
+und dazu spricht: mutabor, der kann sich in jedes Tier verwandeln und
+versteht auch die Sprache der Tiere.
+
+Will er wieder in seine menschliche Gestalt zurückkehren, so neige er
+sich dreimal gen Osten und spreche jenes Wort; aber hüte dich, wenn
+du verwandelt bist, daß du nicht lachest, sonst verschwindet das
+Zauberwort gänzlich aus deinem Gedächtnis, und du bleibst ein Tier."
+
+Als Selim, der Gelehrte, also gelesen hatte, war der Kalif über die
+Maßen vergnügt. Er ließ den Gelehrten schwören, niemandem etwas von
+dem Geheimnis zu sagen, schenkte ihm ein schönes Kleid und entließ
+ihn. Zu seinem Großwesir aber sagte er: "Das heiß' ich gut einkaufen,
+Mansor! Wie freue ich mich, bis ich ein Tier bin. Morgen früh
+kommst du zu mir; wir gehen dann miteinander aufs Feld, schnupfen
+etwas Weniges aus meiner Dose und belauschen dann, was in der Luft
+und im Wasser, im Wald und Feld gesprochen wird!"
+
+Kaum hatte am anderen Morgen der Kalif Chasid gefrühstückt und sich
+angekleidet, als schon der Großwesir erschien, ihn, wie er befohlen,
+auf dem Spaziergang zu begleiten. Der Kalif steckte die Dose mit dem
+Zauberpulver in den Gürtel, und nachdem er seinem Gefolge befohlen,
+zurückzubleiben, machte er sich mit dem Großwesir ganz allein auf den
+Weg. Sie gingen zuerst durch die weiten Gärten des Kalifen, spähten
+aber vergebens nach etwas Lebendigem, um ihr Kunststück zu probieren.
+Der Wesir schlug endlich vor, weiter hinaus an einen Teich zu gehen,
+wo er schon oft viele Tiere, namentlich Störche, gesehen habe, die
+durch ihr gravitätisches Wesen und ihr Geklapper immer seine
+Aufmerksamkeit erregt hatten.
+
+Der Kalif billigte den Vorschlag seines Wesirs und ging mit ihm dem
+Teich zu. Als sie dort angekommen waren, sahen sie einen Storch
+ernsthaft auf und ab gehen, Frösche suchend und hier und da etwas vor
+sich hinklappernd. Zugleich sahen sie auch weit oben in der Luft
+einen anderen Storch dieser Gegend zuschweben.
+
+"Ich wette meinen Bart, gnädigster Herr", sagte er Großwesir, "wenn
+nicht diese zwei Langfüßler ein schönes Gespräch miteinander führen
+werden. Wie wäre es, wenn wir Störche würden?"
+
+"Wohl gesprochen!" antwortete der Kalif. "Aber vorher wollen wir
+noch einmal betrachten, wie man wieder Mensch wird.--Richtig!
+Dreimal gen Osten geneigt und mutabor gesagt, so bin ich wieder Kalif
+und du Wesir. Aber nur um Himmels willen nicht gelacht, sonst sind
+wir verloren!"
+
+Während der Kalif also sprach, sah er den anderen Storch über ihrem
+Haupte schweben und langsam sich zur Erde lassen. Schnell zog er die
+Dose aus dem Gürtel, nahm eine gute Prise, bot sie dem Großwesir dar,
+der gleichfalls schnupfte, und beide riefen: mutabor!
+
+Da schrumpften ihre Beine ein und wurden dünn und rot, die schönen
+gelben Pantoffeln des Kalifen und seines Begleiters wurden
+unförmliche Storchfüße, die Arme wurden zu Flügeln, der Hals fuhr aus
+den Achseln und ward eine Elle lang, der Bart war verschwunden, und
+den Körper bedeckten weiche Federn.
+
+"Ihr habt einen hübschen Schnabel, Herr Großwesir", sprach nach
+langem Erstaunen der Kalif. "Beim Bart des Propheten, so etwas habe
+ich in meinem Leben nicht gesehen." "Danke untertänigst", erwiderte
+der Großwesir, indem er sich bückte, "aber wenn ich es wagen darf,
+möchte ich behaupten, Eure Hoheit sehen als Storch beinahe noch
+hübscher aus denn als Kalif. Aber kommt, wenn es Euch gefällig ist,
+daß wir unsere Kameraden dort belauschen und erfahren, ob wir
+wirklich Storchisch können."
+
+Indem war der andere Storch auf der Erde angekommen; er putzte sich
+mit dem Schnabel seine Füße, legte seine Federn zurecht und ging auf
+den ersten Storch zu. Die beiden neuen Störche aber beeilten sich,
+in ihre Nähe zu kommen, und vernahmen zu ihrem Erstaunen folgendes
+Gespräch:
+
+"Guten Morgen, Frau Langbein, so früh schon auf der Wiese?"
+
+"Schönen Dank, liebe Klapperschnabel! Ich habe mir nur ein kleines
+Frühstück geholt. Ist Euch vielleicht ein Viertelchen Eidechs
+gefällig oder ein Froschschenkelein?"
+
+"Danke gehorsamst; habe heute gar keinen Appetit. Ich komme auch
+wegen etwas ganz anderem auf die Wiese. Ich soll heute vor den
+Gästen meines Vaters tanzen, und da will ich mich im stillen ein
+wenig üben."
+
+Zugleich schritt die junge Störchin in wunderlichen Bewegungen durch
+das Feld. Der Kalif und Mansor sahen ihr verwundert nach; als sie
+aber in malerischer Stellung auf einem Fuß stand und mit den Flügeln
+anmutig dazu wedelte, da konnten sich die beiden nicht mehr halten;
+ein unaufhaltsames Gelächter brach aus ihren Schnäbeln hervor, von
+dem sie sich erst nach langer Zeit erholten. Der Kalif faßte sich
+zuerst wieder: "Das war einmal ein Spaß", rief er, "der nicht mit
+Gold zu bezahlen ist; schade, daß die Tiere durch unser Gelächter
+sich haben verscheuchen lassen, sonst hätten sie gewiß auch noch
+gesungen!"
+
+Aber jetzt fiel es dem Großwesir ein, daß das Lachen während der
+Verwandlung verboten war. Er teilte seine Angst deswegen dem Kalifen
+mit. "Potz Mekka und Medina! Das wäre ein schlechter Spaß, wenn ich
+ein Storch bleiben müßte! Besinne dich doch auf das dumme Wort, ich
+bring' es nicht heraus."
+
+"Dreimal gen Osten müssen wir uns bücken und dazu sprechen:
+mu--mu--mu--"
+
+Sie stellten sich gegen Osten und bückten sich in einem fort, daß
+ihre Schnäbel beinahe die Erde berührten; aber, o Jammer! Das
+Zauberwort war ihnen entfallen, und so oft sich auch der Kalif bückte,
+so sehnlich auch sein Wesir mu--mu dazu rief, jede Erinnerung daran
+war verschwunden, und der arme Chasid und sein Wesir waren und
+blieben Störche.
+
+Traurig wandelten die Verzauberten durch die Felder, sie wußten gar
+nicht, was sie in ihrem Elend anfangen sollten. Aus ihrer
+Storchenhaut konnten sie nicht heraus, in die Stadt zurück konnten
+sie auch nicht, um sich zu erkennen zu geben; denn wer hätte einem
+Storch geglaubt, daß er der Kalif sei, und wenn man es auch geglaubt
+hätte, würden die Einwohner von Bagdad einen Storch zum Kalif gewollt
+haben?
+
+So schlichen sie mehrere Tage umher und ernährten sich kümmerlich von
+Feldfrüchten, die sie aber wegen ihrer langen Schnäbel nicht gut
+verspeisen konnten. Auf Eidechsen und Frösche hatten sie übrigens
+keinen Appetit, denn sie befürchteten, mit solchen Leckerbissen sich
+den Magen zu verderben. Ihr einziges Vergnügen in dieser traurigen
+Lage war, daß sie fliegen konnten, und so flogen sie oft auf die
+Dächer von Bagdad, um zu sehen, was darin vorging.
+
+In den ersten Tagen bemerkten sie große Unruhe und Trauer in den
+Straßen; aber ungefähr am vierten Tag nach ihrer Verzauberung saßen
+sie auf dem Palast des Kalifen, da sahen sie unten in der Straße
+einen prächtigen Aufzug; Trommeln und Pfeifen ertönten, ein Mann in
+einem goldbestickten Scharlachmantel saß auf einem geschmückten Pferd,
+umgeben von glänzenden Dienern, halb Bagdad sprang ihm nach, und
+alle schrien: "Heil Mizra, dem Herrscher von Bagdad!"
+
+Da sahen die beiden Störche auf dem Dache des Palastes einander an,
+und der Kalif Chasid sprach: "Ahnst du jetzt, warum ich verzaubert
+bin, Großwesir? Dieser Mizra ist der Sohn meines Todfeindes, des
+mächtigen Zauberers Kaschnur, der mir in einer bösen Stunde Rache
+schwur. Aber noch gebe ich die Hoffnung nicht auf--Komm mit mir, du
+treuer Gefährte meines Elends, wir wollen zum Grabe des Propheten
+wandern, vielleicht, daß an heiliger Stätte der Zauber gelöst wird."
+
+Sie erhoben sich vom Dach des Palastes und flogen der Gegend von
+Medina zu.
+
+Mit dem Fliegen wollte es aber nicht gar gut gehen; denn die beiden
+Störche hatten noch wenig Übung. "O Herr", ächzte nach ein paar
+Stunden der Großwesir, "ich halte es mit Eurer Erlaubnis nicht mehr
+lange aus; Ihr fliegt gar zu schnell! Auch ist es schon Abend, und
+wir täten wohl, ein Unterkommen für die Nacht zu suchen."
+
+Chasid gab der Bitte seines Dieners Gehör; und da er unten im Tale
+eine Ruine erblickte, die ein Obdach zu gewähren schien, so flogen
+sie dahin. Der Ort, wo sie sich für diese Nacht niedergelassen
+hatten, schien ehemals ein Schloß gewesen zu sein. Schöne Säulen
+ragten unter den Trümmern hervor, mehrere Gemächer, die noch ziemlich
+erhalten waren, zeugten von der ehemaligen Pracht des Hauses. Chasid
+und sein Begleiter gingen durch die Gänge umher, um sich ein
+trockenes Plätzchen zu suchen; plötzlich blieb der Storch Mansor
+stehen. "Herr und Gebieter", flüsterte er leise, "wenn es nur nicht
+töricht für einen Großwesir, noch mehr aber für einen Storch wäre,
+sich vor Gespenstern zu fürchten! Mir ist ganz unheimlich zumute;
+denn hier neben hat es ganz vernehmlich geseufzt und gestöhnt." Der
+Kalif blieb nun auch stehen und hörte ganz deutlich ein leises Weinen,
+das eher einem Menschen als einem Tiere anzugehören schien. Voll
+Erwartung wollte er der Gegend zugehen, woher die Klagetöne kamen;
+der Wesir aber packte ihn mit dem Schnabel am Flügel und bat ihn
+flehentlich, sich nicht in neue, unbekannte Gefahren zu stürzen.
+Doch vergebens! Der Kalif, dem auch unter dem Storchenflügel ein
+tapferes Herz schlug, riß sich mit Verlust einiger Federn los und
+eilte in einen finsteren Gang. Bald war er an einer Tür angelangt,
+die nur angelehnt schien und woraus er deutliche Seufzer mit ein
+wenig Geheul vernahm. Er stieß mit dem Schnabel die Türe auf, blieb
+aber überrascht auf der Schwelle stehen. In dem verfallenen Gemach,
+das nur durch ein kleines Gitterfenster spärlich erleuchtet war, sah
+er eine große Nachteule am Boden sitzen. Dicke Tränen rollten ihr
+aus den großen, runden Augen, und mit heiserer Stimme stieß sie ihre
+Klagen zu dem krummen Schnabel heraus. Als sie aber den Kalifen und
+seinen Wesir, der indes auch herbeigeschlichen war, erblickte, erhob
+sie ein lautes Freudengeschrei. Zierlich wischte sie mit dem
+braungefleckten Flügel die Tränen aus dem Auge, und zu dem größten
+Erstaunen der beiden rief sie in gutem menschlichem Arabisch:
+"Willkommen, ihr Störche! Ihr seid mir ein gutes Zeichen meiner
+Errettung; denn durch Störche werde mir ein großes Glück kommen, ist
+mir einst prophezeit worden!"
+
+Als sich der Kalif von seinem Erstaunen erholt hatte, bückte er sich
+mit seinem langen Hals, brachte seine dünnen Füße in eine zierliche
+Stellung und sprach: "Nachteule! Deinen Worten nach darf ich glauben,
+eine Leidensgefährtin in dir zu sehen. Aber ach! Deine Hoffnung,
+daß durch uns deine Rettung kommen werde, ist vergeblich. Du wirst
+unsere Hilflosigkeit selbst erkennen, wenn du unsere Geschichte hörst."
+Die Nachteule bat ihn zu erzählen, was der Kalif sogleich tat.
+
+Als der Kalif der Eule seine Geschichte vorgetragen hatte, dankte sie
+ihm und sagte: "Vernimm auch meine Geschichte und höre, wie ich nicht
+weniger unglücklich bin als du. Mein Vater ist der König von Indien,
+ich, seine einzige unglückliche Tochter, heiße Lusa. Jener Zauberer
+Kaschnur, der euch verzauberte, hat auch mich ins Unglück gestürzt.
+Er kam eines Tages zu meinem Vater und begehrte mich zur Frau für
+seinen Sohn Mizra. Mein Vater aber, der ein hitziger Mann ist, ließ
+ihn die Treppe hinunterwerfen. Der Elende wußte sich unter einer
+anderen Gestalt wieder in meine Nähe zu schleichen, und als ich einst
+in meinem Garten Erfrischungen zu mir nehmen wollte, brachte er mir,
+als Sklave verkleidet, einen Trank bei, der mich in diese
+abscheuliche Gestalt verwandelte. Vor Schrecken ohnmächtig, brachte
+er mich hierher und rief mir mit schrecklicher Stimme in die Ohren:
+
+'Da sollst du bleiben, häßlich, selbst von den Tieren verachtet, bis
+an dein Ende, oder bis einer aus freiem Willen dich, selbst in dieser
+schrecklichen Gestalt, zur Gattin begehrt. So räche ich mich an dir
+und deinem stolzen Vater.'
+
+Seitdem sind viele Monate verflossen. Einsam und traurig lebe ich
+als Einsiedlerin in diesem Gemäuer, verabscheut von der Welt, selbst
+den Tieren ein Greuel; die schöne Natur ist vor mir verschlossen;
+denn ich bin blind am Tage, und nur, wenn der Mond sein bleiches
+Licht über dies Gemäuer ausgießt, fällt der verhüllende Schleier von
+meinem Auge."
+
+Die Eule hatte geendet und wischte sich mit dem Flügel wieder die
+Augen aus, denn die Erzählung ihrer Leiden hatte ihr Tränen entlockt.
+
+Der Kalif war bei der Erzählung der Prinzessin in tiefes Nachdenken
+versunken. "Wenn mich nicht alles täuscht", sprach er, "so findet
+zwischen unserem Unglück ein geheimer Zusammenhang statt; aber wo
+finde ich den Schlüssel zu diesem Rätsel?"
+
+Die Eule antwortete ihm: "O Herr! Auch mir ahnet dies; denn es ist
+mir einst in meiner frühesten Jugend von einer weisen Frau prophezeit
+worden, daß ein Storch mir ein großes Glück bringen werde, und ich
+wüßte vielleicht, wie wir uns retten könnten." Der Kalif war sehr
+erstaunt und fragte, auf welchem Wege sie meine. "Der Zauberer, der
+uns beide unglücklich gemacht hat", sagte sie, "kommt alle Monate
+einmal in diese Ruinen. Nicht weit von diesem Gemach ist ein Saal.
+Dort pflegt er dann mit vielen Genossen zu schmausen. Schon oft habe
+ich sie dort belauscht. Sie erzählen dann einander ihre schändlichen
+Werke; vielleicht, daß er dann das Zauberwort, das ihr vergessen habt,
+ausspricht."
+
+"O, teuerste Prinzessin", rief der Kalif, "sag an, wann kommt er, und
+wo ist der Saal?"
+
+Die Eule schwieg einen Augenblick und sprach dann: "Nehmet es nicht
+ungütig, aber nur unter einer Bedingung kann ich Euern Wunsch
+erfüllen."
+
+"Sprich aus! Sprich aus!" schrie Chasid. "Befiehl, es ist mir jede
+recht."
+
+"Nämlich, ich möchte auch gern zugleich frei sein; dies kann aber nur
+geschehen, wenn einer von euch mir seine Hand reicht."
+
+Die Störche schienen über den Antrag etwas betroffen zu sein, und der
+Kalif winkte seinem Diener, ein wenig mit ihm hinauszugehen.
+
+"Großwesir", sprach vor der Türe der Kalif, "das ist ein dummer
+Handel; aber Ihr könntet sie schon nehmen."
+
+"So", antwortete dieser, "daß mir meine Frau, wenn ich nach Hause
+komme, die Augen auskratzt? Auch bin ich ein alter Mann, und Ihr
+seid noch jung und unverheiratet und könnet eher einer jungen,
+schönen Prinzessin die Hand geben."
+
+"Das ist es eben", seufzte der Kalif, indem er traurig die Flügel
+hängen ließ, "wer sagt dir denn, daß sie jung und schön ist? Das
+heißt eine Katze im Sack kaufen!"
+
+Sie redeten einander gegenseitig noch lange zu; endlich aber, als der
+Kalif sah, daß sein Wesir lieber Storch bleiben als die Eule heiraten
+wollte, entschloß er sich, die Bedingung lieber selbst zu erfüllen.
+Die Eule war hocherfreut. Sie gestand ihnen, daß sie zu keiner
+besseren Zeit hätten kommen können, weil wahrscheinlich in dieser
+Nacht die Zauberer sich versammeln würden.
+
+Sie verließ mit den Störchen das Gemach, um sie in jenen Saal zu
+führen; sie gingen lange in einem finsteren Gang hin; endlich
+strahlte ihnen aus einer halbverfallenen Mauer ein heller Schein
+entgegen. Als sie dort angelangt waren, riet ihnen die Eule, sich
+ganz ruhig zu verhalten. Sie konnten von der Lücke, an welcher sie
+standen, einen großen Saal übersehen. Er war ringsum mit Säulen
+geschmückt und prachtvoll verziert. Viele farbige Lampen ersetzten
+das Licht des Tages. In der Mitte des Saales stand ein runder Tisch,
+mit vielen und ausgesuchten Speisen besetzt. Rings um den Tisch zog
+sich ein Sofa, auf welchem acht Männer saßen. In einem dieser Männer
+erkannten die Störche jenen Krämer wieder, der ihnen das Zauberpulver
+verkauft hatte. Sein Nebensitzer forderte ihn auf, ihnen seine
+neuesten Taten zu erzählen. Er erzählte unter anderen auch die
+Geschichte des Kalifen und seines Wesirs.
+
+"Was für ein Wort hast du ihnen denn aufgegeben?" fragte ihn ein
+anderer Zauberer. "Ein recht schweres lateinisches, es heißt mutabor."
+
+Als die Störche an der Mauerlücke dieses hörten, kamen sie vor
+Freuden beinahe außer sich. Sie liefen auf ihren langen Füßen so
+schnell dem Tore der Ruine zu, daß die Eule kaum folgen konnte. Dort
+sprach der Kalif gerührt zu der Eule: "Retterin meines Lebens und des
+Lebens meines Freundes, nimm zum ewigen Dank für das, was du an uns
+getan, mich zum Gemahl an!" Dann aber wandte er sich nach Osten.
+Dreimal bückten die Störche ihre langen Hälse der Sonne entgegen, die
+soeben hinter dem Gebirge heraufstieg: "Mutabor!" riefen sie, im Nu
+waren sie verwandelt, und in der hohen Freude des neugeschenkten
+Lebens lagen Herr und Diener lachend und weinend einander in den
+Armen.
+
+Wer beschreibt aber ihr Erstaunen, als sie sich umsahen? Eine schöne
+Dame, herrlich geschmückt, stand vor ihnen. Lächelnd gab sie dem
+Kalifen die Hand. "Erkennt Ihr Eure Nachteule nicht mehr?" sagte sie.
+Sie war es; der Kalif war von ihrer Schönheit und Anmut entzückt.
+
+Die drei zogen nun miteinander auf Bagdad zu. Der Kalif fand in
+seinen Kleidern nicht nur die Dose mit Zauberpulver, sondern auch
+seinen Geldbeutel. Er kaufte daher im nächsten Dorfe, was zu ihrer
+Reise nötig war, und so kamen sie bald an die Tore von Bagdad. Dort
+aber erregte die Ankunft des Kalifen großes Erstaunen. Man hatte ihn
+für tot ausgegeben, und das Volk war daher hocherfreut, seinen
+geliebten Herrscher wiederzuhaben.
+
+Um so mehr aber entbrannte ihr Haß gegen den Betrüger Mizra. Sie
+zogen in den Palast und nahmen den alten Zauberer und seinen Sohn
+gefangen. Den Alten schickte der Kalif in dasselbe Gemach der Ruine,
+das die Prinzessin als Eule bewohnt hatte, und ließ ihn dort
+aufhängen. Dem Sohn aber, welcher nichts von den Künsten des Vaters
+verstand, ließ der Kalif die Wahl, ob er sterben oder schnupfen wolle.
+Als er das letztere wählte, bot ihm der Großwesir die Dose. Eine
+tüchtige Prise, und das Zauberwort des Kalifen verwandelte ihn in
+einen Storch. Der Kalif ließ ihn in einen eisernen Käfig sperren und
+in seinem Garten aufstellen.
+
+Lange und vergnügt lebte Kalif Chasid mit seiner Frau, der Prinzessin;
+seine vergnügtesten Stunden waren immer die, wenn ihn der Großwesir
+nachmittags besuchte; da sprachen sie dann oft von ihrem
+Storchabenteuer, und wenn der Kalif recht heiter war, ließ er sich
+herab, den Großwesir nachzuahmen, wie er als Storch aussah. Er stieg
+dann ernsthaft, mit steifen Füßen im Zimmer auf und ab, klapperte,
+wedelte mit den Armen wie mit Flügeln und zeigte, wie jener sich
+vergeblich nach Osten geneigt und Mu--Mu--dazu gerufen habe. Für die
+Frau Kalifin und ihre Kinder war diese Vorstellung allemal eine große
+Freude; wenn aber der Kalif gar zu lange klapperte und nickte und
+Mu--Mu--schrie, dann drohte ihm lächelnd der Wesir: Er wolle das, was
+vor der Türe der Prinzessin Nachteule verhandelt worden sei, der Frau
+Kalifin mitteilen.
+
+Als Selim Baruch seine Geschichte beendet hatte, bezeugten sich die
+Kaufleute sehr zufrieden damit. "Wahrhaftig, der Nachmittag ist uns
+vergangen, ohne daß wir merkten wie!" sagte einer derselben, indem er
+die Decke des Zeltes zurückschlug. "Der Abendwind wehet kühl, und
+wir könnten noch eine gute Strecke Weges zurücklegen." Seine
+Gefährten waren damit einverstanden, die Zelte wurden abgebrochen,
+und die Karawane machte sich in der nämlichen Ordnung, in welcher sie
+herangezogen war, auf den Weg.
+
+Sie ritten beinahe die ganze Nacht hindurch, denn es war schwül am
+Tage, die Nacht aber war erquicklich und sternhell. Sie kamen
+endlich an einem bequemen Lagerplatz an, schlugen die Zelte auf und
+legten sich zur Ruhe. Für den Fremden aber sorgten die Kaufleute,
+wie wenn er ihr wertester Gastfreund wäre. Der eine gab ihm Polster,
+der andere Decken, ein dritter gab ihm Sklaven, kurz, er wurde so gut
+bedient, als ob er zu Hause wäre. Die heißeren Stunden des Tages
+waren schon heraufgekommen, als sie sich wieder erhoben, und sie
+beschlossen einmütig, hier den Abend abzuwarten. Nachdem sie
+miteinander gespeist hatten, rückten sie wieder näher zusammen, und
+der junge Kaufmann wandte sich an den ältesten und sprach: "Selim
+Baruch hat uns gestern einen vergnügten Nachmittag bereitet, wie wäre
+es, Achmet, wenn Ihr uns auch etwas erzähltet, sei es nun aus Eurem
+langen Leben, das wohl viele Abenteuer aufzuweisen hat, oder sei es
+auch ein hübsches Märchen." Achmet schwieg auf diese Anrede eine
+Zeitlang, wie wenn er bei sich im Zweifel wäre, ob er dies oder jenes
+sagen sollte oder nicht; endlich fing er an zu sprechen:
+
+"Liebe Freunde! Ihr habt euch auf dieser unserer Reise als treue
+Gesellen erprobt, und auch Selim verdient mein Vertrauen; daher will
+ich euch etwas aus meinem Leben mitteilen, das ich sonst ungern und
+nicht jedem erzähle: die Geschichte von dem Gespensterschiff."
+
+
+
+
+Die Geschichte von dem Gespensterschiff
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Mein Vater hatte einen kleinen Laden in Balsora; er war weder arm
+noch reich und einer von jenen Leuten, die nicht gerne etwas wagen,
+aus Furcht, das Wenige zu verlieren, das sie haben. Er erzog mich
+schlicht und recht und brachte es bald so weit, daß ich ihm an die
+Hand gehen konnte. Gerade als ich achtzehn Jahre alt war, als er die
+erste größere Spekulation machte, starb er, wahrscheinlich aus Gram,
+tausend Goldstücke dem Meere anvertraut zu haben. Ich mußte ihn bald
+nachher wegen seines Todes glücklich preisen, denn wenige Wochen
+hernach lief die Nachricht ein, daß das Schiff, dem mein Vater seine
+Güter mitgegeben hatte, versunken sei. Meinen jugendlichen Mut
+konnte aber dieser Unfall nicht beugen. Ich machte alles vollends zu
+Geld, was mein Vater hinterlassen hatte, und zog aus, um in der
+Fremde mein Glück zu probieren, nur von einem alten Diener meines
+Vaters begleitet.
+
+Im Hafen von Balsora schifften wir uns mit günstigem Winde ein. Das
+Schiff, auf dem ich mich eingemietet hatte, war nach Indien bestimmt.
+Wir waren schon fünfzehn Tage auf der gewöhnlichen Straße gefahren,
+als uns der Kapitän einen Sturm verkündete. Er machte ein
+bedenkliches Gesicht, denn es schien, er kenne in dieser Gegend das
+Fahrwasser nicht genug, um einem Sturm mit Ruhe begegnen zu können.
+Er ließ alle Segel einziehen, und wir trieben ganz langsam hin. Die
+Nacht war angebrochen, war hell und kalt, und der Kapitän glaubte
+schon, sich in den Anzeichen des Sturmes getäuscht zu haben. Auf
+einmal schwebte ein Schiff, das wir vorher nicht gesehen hatten,
+dicht an dem unsrigen vorbei. Wildes Jauchzen und Geschrei erscholl
+aus dem Verdeck herüber, worüber ich mich zu dieser angstvollen
+Stunde vor einem Sturm nicht wenig wunderte. Aber der Kapitän an
+meiner Seite wurde blaß wie der Tod. "Mein Schiff ist verloren",
+rief er, "dort segelt der Tod!"
+
+Ehe ich ihn noch über diesen sonderbaren Ausruf befragen konnte,
+stürzten schon heulend und schreiend die Matrosen herein. "Habt ihr
+ihn gesehen?" schrien sie. "Jetzt ist's mit uns vorbei!"
+
+Der Kapitän aber ließ Trostsprüche aus dem Koran vorlesen und setzte
+sich selbst ans Steuerruder. Aber vergebens! Zusehends brauste der
+Sturm auf, und ehe eine Stunde verging, krachte das Schiff und blieb
+sitzen. Die Boote wurden ausgesetzt, und kaum hatten sich die
+letzten Matrosen gerettet, so versank das Schiff vor unseren Augen,
+und als ein Bettler fuhr ich in die See hinaus. Aber der Jammer
+hatte noch kein Ende. Fürchterlicher tobte der Sturm; das Boot war
+nicht mehr zu regieren. Ich hatte meinen alten Diener fest
+umschlungen, und wir versprachen uns, nie voneinander zu weichen.
+Endlich brach der Tag an. Aber mit dem ersten Anblick der Morgenröte
+faßte der Wind das Boot, in welchem wir saßen, und stürzte es um.
+Ich habe keinen meiner Schiffsleute mehr gesehen. Der Sturz hatte
+mich betäubt; und als ich aufwachte, befand ich mich in den Armen
+meines alten treuen Dieners, der sich auf das umgeschlagene Boot
+gerettet und mich nachgezogen hatte. Der Sturm hatte sich gelegt.
+Von unserem Schiff war nichts mehr zu sehen, wohl aber entdeckten wir
+nicht weit von uns ein anderes Schiff, auf das die Wellen uns
+hintrieben. Als wir näher hinzukamen, erkannte ich das Schiff als
+dasselbe, das in der Nacht an uns vorbeifuhr und welches den Kapitän
+so sehr in Schrecken gesetzt hatte. Ich empfand ein sonderbares
+Grauen vor diesem Schiffe. Die Äußerung des Kapitäns, die sich so
+furchtbar bestätigt hatte, das öde Aussehen des Schiffes, auf dem
+sich, so nahe wir auch herankamen, so laut wir schrien, niemand
+zeigte, erschreckten mich. Doch es war unser einziges Rettungsmittel;
+darum priesen wir den Propheten, der uns so wundervoll erhalten
+hatte.
+
+Am Vorderteil des Schiffes hing ein langes Tau herab. Mit Händen und
+Füßen ruderten wir darauf zu, um es zu erfassen. Endlich glückte es.
+Noch einmal erhob ich meine Stimme, aber immer blieb es still auf
+dem Schiff. Da klimmten wir an dem Tau hinauf, ich als der Jüngste
+voran. Aber Entsetzen! Welches Schauspiel stellte sich meinem Auge
+dar, als ich das Verdeck betrat! Der Boden war mit Blut gerötet,
+zwanzig bis dreißig Leichname in türkischen Kleidern lagen auf dem
+Boden, am mittleren Mastbaum stand ein Mann, reich gekleidet, den
+Säbel in der Hand, aber das Gesicht war blaß und verzerrt, durch die
+Stirn ging ein großer Nagel, der ihn an den Mastbaum heftete, auch er
+war tot. Schrecken fesselte meine Schritte, ich wagte kaum zu atmen.
+Endlich war auch mein Begleiter heraufgekommen. Auch ihn
+überraschte der Anblick des Verdecks, das gar nichts Lebendiges,
+sondern nur so viele schreckliche Tote zeigte. Wir wagten es endlich,
+nachdem wir in der Seelenangst zum Propheten gefleht hatten, weiter
+vorzuschreiten. Bei jedem Schritte sahen wir uns um, ob nicht etwas
+Neues, noch Schrecklicheres sich darbiete; aber alles blieb, wie es
+war; weit und breit nichts Lebendiges als wir und das Weltmeer.
+Nicht einmal laut zu sprechen wagten wir, aus Furcht, der tote, am
+Mast angespießte Kapitano möchte seine starren Augen nach uns
+hindrehen oder einer der Getöteten möchte seinen Kopf umwenden.
+Endlich waren wir bis an eine Treppe gekommen, die in den Schiffsraum
+führte. Unwillkürlich machten wir dort halt und sahen einander an,
+denn keiner wagte es recht, seine Gedanken zu äußern.
+
+"O Herr", sprach mein treuer Diener, "hier ist etwas Schreckliches
+geschehen. Doch wenn auch das Schiff da unten voll Mörder steckt, so
+will ich mich ihnen doch lieber auf Gnade und Ungnade ergeben, als
+längere Zeit unter diesen Toten zubringen." Ich dachte wie er; wir
+faßten uns ein Herz und stiegen voll Erwartung hinunter. Totenstille
+war aber auch hier, und nur unsere Schritte hallten auf der Treppe.
+Wir standen an der Türe der Kajüte. Ich legte mein Ohr an die Türe
+und lauschte; es war nichts zu hören. Ich machte auf. Das Gemach
+bot einen unordentlichen Anblick dar. Kleider, Waffen und andere
+Geräte lagen untereinander. Nichts in Ordnung. Die Mannschaft oder
+wenigstens der Kapitano mußten vor kurzem gezechet haben; denn es lag
+alles noch umher. Wir gingen weiter von Raum zu Raum, von Gemach zu
+Gemach, überall fanden wir herrliche Vorräte in Seide, Perlen, Zucker
+usw. Ich war vor Freude über diesen Anblick außer mir, denn da
+niemand auf dem Schiff war, glaubte ich, alles mir zueignen zu dürfen,
+Ibrahim aber machte mich aufmerksam darauf, daß wir wahrscheinlich
+noch sehr weit vom Lande seien, wohin wir allein und ohne menschliche
+Hilfe nicht kommen könnten.
+
+Wir labten uns an den Speisen und Getränken, die wir in reichem Maß
+vorfanden, und stiegen endlich wieder aufs Verdeck. Aber hier
+schauderte uns immer die Haut ob dem schrecklichen Anblick der
+Leichen. Wir beschlossen, uns davon zu befreien und sie über Bord zu
+werfen; aber wie schauerlich ward uns zumut, als wir fanden, daß sich
+keiner aus seiner Lage bewegen ließ. Wie festgebannt lagen sie am
+Boden, und man hätte den Boden des Verdecks ausheben müssen, um sie
+zu entfernen, und dazu gebrach es uns an Werkzeugen. Auch der
+Kapitano ließ sich nicht von seinem Mast losmachen; nicht einmal
+seinen Säbel konnten wir der starren Hand entwinden. Wir brachten
+den Tag in trauriger Betrachtung unserer Lage zu, und als es Nacht zu
+werden anfing, erlaubte ich dem alten Ibrahim, sich schlafen zu legen,
+ich selbst aber wollte auf dem Verdeck wachen, um nach Rettung
+auszuspähen. Als aber der Mond heraufkam und ich nach den Gestirnen
+berechnete, daß es wohl um die elfte Stunde sei, überfiel mich ein so
+unwiderstehlicher Schlaf, daß ich unwillkürlich hinter ein Faß, das
+auf dem Verdeck stand, zurückfiel. Doch war es mehr Betäubung als
+Schlaf, denn ich hörte deutlich die See an der Seite des Schiffes
+anschlagen und die Segel vom Winde knarren und pfeifen. Auf einmal
+glaubte ich Stimmen und Männertritte auf dem Verdeck zu hören. Ich
+wollte mich aufrichten, um danach zu schauen. Aber eine unsichtbare
+Gewalt hielt meine Glieder gefesselt; nicht einmal die Augen konnte
+ich aufschlagen. Aber immer deutlicher wurden die Stimmen, es war
+mir, als wenn ein fröhliches Schiffsvolk auf dem Verdeck sich
+umhertriebe; mitunter glaubte ich, die kräftige Stimme eines
+Befehlenden zu hören, auch hörte ich Taue und Segel deutlich auf- und
+abziehen. Nach und nach aber schwanden mir die Sinne, ich verfiel in
+einen tieferen Schlaf, in dem ich nur noch ein Geräusch von Waffen zu
+hören glaubte, und erwachte erst, als die Sonne schon hoch stand und
+mir aufs Gesicht brannte. Verwundert schaute ich mich um, Sturm,
+Schiff, die Toten und was ich in dieser Nacht gehört hatte, kam mir
+wie ein Traum vor, aber als ich aufblickte, fand ich alles wie
+gestern. Unbeweglich lagen die Toten, unbeweglich war der Kapitano
+an den Mastbaum geheftet. Ich lachte über meinen Traum und stand auf,
+um meinen Alten zu suchen.
+
+Dieser saß ganz nachdenklich in der Kajüte. "O Herr!" rief er aus,
+als ich zu ihm hineintrat, "ich wollte lieber im tiefsten Grund des
+Meeres liegen, als in diesem verhexten Schiff noch eine Nacht
+zubringen." Ich fragte ihn nach der Ursache seines Kummers, und er
+antwortete mir: "Als ich einige Stunden geschlafen hatte, wachte ich
+auf und vernahm, wie man über meinem Haupt hin und her lief. Ich
+dachte zuerst, Ihr wäret es, aber es waren wenigstens zwanzig, die
+oben umherliefen; auch hörte ich rufen und schreien. Endlich kamen
+schwere Tritte die Treppe herab. Da wußte ich nichts mehr von mir,
+nur hie und da kehrte auf einige Augenblicke meine Besinnung zurück,
+und da sah ich dann denselben Mann, der oben am Mast angenagelt ist,
+an jenem Tisch dort sitzen, singend und trinkend; aber der, der in
+einem roten Scharlachkleid nicht weit von ihm am Boden liegt, saß
+neben ihm und half ihm trinken." Also erzählte mir mein alter Diener.
+
+Ihr könnt mir es glauben, meine Freunde, daß mir gar nicht wohl
+zumute war; denn es war keine Täuschung, ich hatte ja auch die Toten
+gar wohl gehört. In solcher Gesellschaft zu schiffen, war mir
+greulich. Mein Ibrahim aber versank wieder in tiefes Nachdenken.
+"Jetzt hab' ich's!" rief er endlich aus; es fiel ihm nämlich ein
+Sprüchlein ein, das ihn sein Großvater, ein erfahrener, weitgereister
+Mann, gelehrt hatte und das gegen jeden Geister- und Zauberspuk
+helfen sollte; auch behauptete er, jenen unnatürlichen Schlaf, der
+uns befiel, in der nächsten Nacht verhindern zu können, wenn wir
+nämlich recht eifrig Sprüche aus dem Koran beteten. Der Vorschlag
+des alten Mannes gefiel mir wohl. In banger Erwartung sahen wir die
+Nacht herankommen. Neben der Kajüte war ein kleines Kämmerchen,
+dorthin beschlossen wir uns zurückzuziehen. Wir bohrten mehrere
+Löcher in die Türe, hinlänglich groß, um durch sie die ganze Kajüte
+zu überschauen, dann verschlossen wir die Türe, so gut es ging, von
+innen, und Ibrahim schrieb den Namen des Propheten in alle vier Ecken.
+So erwarteten wir die Schrecken der Nacht. Es mochte wieder
+ungefähr elf Uhr sein, als es mich gewaltig zu schläfern anfing.
+Mein Gefährte riet mir daher, einige Sprüche des Korans zu beten, was
+mir auch half. Mit einem Male schien es oben lebhaft zu werden; die
+Taue knarrten, Schritte gingen über das Verdeck, und mehrere Stimmen
+waren deutlich zu unterscheiden--Mehrere Minuten hatten wir so in
+gespannter Erwartung gesessen, da hörten wir etwas die Treppe der
+Kajüte herabkommen. Als dies der Alte hörte, fing er an, den Spruch,
+den ihn sein Großvater gegen Spuk und Zauberei gelehrt hatte,
+herzusagen:
+
+"Kommt ihr herab aus der Luft,
+Steigt ihr aus tiefem Meer,
+Schlieft ihr in dunkler Gruft,
+Stammt ihr vom Feuer her:
+Allah ist euer Herr und Meister,
+ihm sind gehorsam alle Geister."
+
+Ich muß gestehen, ich glaubte gar nicht recht an diesen Spruch, und
+mir stieg das Haar zu Berg, als die Tür aufflog. Herein trat jener
+große, stattliche Mann, den ich am Mastbaum angenagelt gesehen hatte.
+Der Nagel ging ihm auch jetzt mitten durchs Hirn; das Schwert aber
+hatte er in die Scheide gesteckt; hinter ihm trat noch ein anderer
+herein, weniger kostbar gekleidet; auch ihn hatte ich oben liegen
+sehen. Der Kapitano, denn dies war er unverkennbar, hatte ein
+bleiches Gesicht, einen großen, schwarzen Bart, wildrollende Augen,
+mit denen er sich im ganzen Gemach umsah. Ich konnte ihn ganz
+deutlich sehen, als er an unserer Türe vorüberging; er aber schien
+gar nicht auf die Türe zu achten, die uns verbarg. Beide setzten
+sich an den Tisch, der in der Mitte der Kajüte stand, und sprachen
+laut und fast schreiend miteinander in einer unbekannten Sprache.
+Sie wurden immer lauter und eifriger, bis endlich der Kapitano mit
+geballter Faust auf den Tisch hineinschlug, daß das Zimmer dröhnte.
+Mit wildem Gelächter sprang der andere auf und winkte dem Kapitano,
+ihm zu folgen. Dieser stand auf, riß seinen Säbel aus der Scheide,
+und beide verließen das Gemach. Wir atmeten freier, als sie weg
+waren; aber unsere Angst hatte noch lange kein Ende. Immer lauter
+und lauter ward es auf dem Verdeck. Man hörte eilends hin und her
+laufen und schreien, lachen und heulen. Endlich ging ein wahrhaft
+höllischer Lärm los, so daß wir glaubten, das Verdeck mit allen
+Segeln komme zu uns herab, Waffengeklirr und Geschrei--auf einmal
+aber tiefe Stille. Als wir es nach vielen Stunden wagten
+hinaufzugehen, trafen wir alles wie sonst; nicht einer lag anders als
+früher. Alle waren steif wie Holz.
+
+So waren wir mehrere Tage auf dem Schiffe; es ging immer nach Osten,
+wohin zu, nach meiner Berechnung, Land liegen mußte; aber wenn es
+auch bei Tag viele Meilen zurückgelegt hatte, bei Nacht schien es
+immer wieder zurückzukehren, denn wir befanden uns immer wieder am
+nämlichen Fleck, wenn die Sonne aufging. Wir konnten uns dies nicht
+anders erklären, als daß die Toten jede Nacht mit vollem Winde
+zurücksegelten. Um nun dies zu verhüten, zogen wir, ehe es Nacht
+wurde, alle Segel ein und wandten dasselbe Mittel an wie bei der Türe
+in der Kajüte; wir schrieben den Namen des Propheten auf Pergament
+und auch das Sprüchlein des Großvaters dazu und banden es um die
+eingezogenen Segel. Ängstlich warteten wir in unserem Kämmerchen
+den Erfolg ab. Der Spuk schien diesmal noch ärger zu toben, aber
+siehe, am anderen Morgen waren die Segel noch aufgerollt, wie wir sie
+verlassen hatten. Wir spannten den Tag über nur so viele Segel auf,
+als nötig waren, das Schiff sanft fortzutreiben, und so legten wir in
+fünf Tagen eine gute Strecke zurück.
+
+Endlich, am Morgen des sechsten Tages, entdeckten wir in geringer
+Ferne Land, und wir dankten Allah und seinem Propheten für unsere
+wunderbare Rettung. Diesen Tag und die folgende Nacht trieben wir an
+einer Küste hin, und am siebenten Morgen glaubten wir in geringer
+Entfernung eine Stadt zu entdecken; wir ließen mit vieler Mühe einen
+Anker in die See, der alsobald Grund faßte, setzten ein kleines Boot,
+das auf dem Verdeck stand, aus und ruderten mit aller Macht der Stadt
+zu. Nach einer halben Stunde liefen wir in einen Fluß ein, der sich
+in die See ergoß, und stiegen ans Ufer. Am Stadttor erkundigten wir
+uns, wie die Stadt heiße, und erfuhren, daß es eine indische Stadt
+sei, nicht weit von der Gegend, wohin ich zuerst zu schiffen willens
+war. Wir begaben uns in eine Karawanserei und erfrischten uns von
+unserer abenteuerlichen Reise. Ich forschte daselbst auch nach einem
+weisen und verständigen Manne, indem ich dem Wirt zu verstehen gab,
+daß ich einen solchen haben möchte, der sich ein wenig auf Zauberei
+verstehe. Er führte mich in eine abgelegene Straße, an ein
+unscheinbares Haus, pochte an, und man ließ mich eintreten mit der
+Weisung, ich solle nur nach Muley fragen.
+
+In dem Hause kam mir ein altes Männlein mit grauem Bart und langer
+Nase entgegen und fragte nach meinem Begehr. Ich sagte ihm, ich
+suche den weisen Muley, und er antwortete mir, er sei es selbst. Ich
+fragte ihn nun um Rat, was ich mit den Toten machen solle und wie ich
+es angreifen müsse, um sie aus dem Schiff zu bringen. Er antwortete
+mir, die Leute des Schiffes seien wahrscheinlich wegen irgendeines
+Frevels auf das Meer verzaubert; er glaube, der Zauber werde sich
+lösen, wenn man sie ans Land bringe; dies könne aber nicht geschehen,
+als wenn man die Bretter, auf denen sie lägen, losmache. Mir gehöre
+von Gott und Rechts wegen das Schiff samt allen Gütern, weil ich es
+gleichsam gefunden habe; doch solle ich alles sehr geheimzuhalten
+trachten und ihm ein kleines Geschenk von meinem Überfluß machen; er
+wolle dafür mit seinen Sklaven mir behilflich sein, die Toten
+wegzuschaffen. Ich versprach, ihn reichlich zu belohnen, und wir
+machten uns mit fünf Sklaven, die mit Sägen und Beilen versehen waren,
+auf den Weg. Unterwegs konnte der Zauberer Muley unseren glücklichen
+Einfall, die Segel mit den Sprüchen des Korans zu umwinden, nicht
+genug loben. Er sagte, es sei dies das einzige Mittel gewesen, uns
+zu retten.
+
+Es war noch ziemlich früh am Tage, als wir beim Schiff ankamen. Wir
+machten uns alle sogleich ans Werk, und in einer Stunde lagen schon
+vier in dem Nachen. Einige der Sklaven mußten sie an Land rudern, um
+sie dort zu verscharren. Sie erzählten, als sie zurückkamen, die
+Toten hätten ihnen die Mühe des Begrabens erspart, indem sie, sowie
+man sie auf die Erde gelegt habe, in Staub zerfallen seien. Wir
+fuhren fort, die Toten abzusägen, und bis vor Abend waren alle an
+Land gebracht. Es war endlich keiner mehr an Bord als der, welcher
+am Mast angenagelt war. Umsonst suchten wir den Nagel aus dem Holze
+zu ziehen, keine Gewalt vermochte ihn auch nur ein Haarbreit zu
+verrücken. Ich wußte nicht, was anzufangen war; man konnte doch
+nicht den Mastbaum abhauen, um ihn ans Land zu führen. Doch aus
+dieser Verlegenheit half Muley. Er ließ schnell einen Sklaven an
+Land rudern, um einen Topf mit Erde zu bringen. Als dieser
+herbeigeholt war, sprach der Zauberer geheimnisvolle Worte darüber
+aus und schüttete die Erde auf das Haupt des Toten. Sogleich schlug
+dieser die Augen auf, holte tief Atem, und die Wunde des Nagels in
+seiner Stirne fing an zu bluten. Wir zogen den Nagel jetzt leicht
+heraus, und der Verwundete fiel einem Sklaven in die Arme.
+
+"Wer hat mich hierhergeführt?" sprach er, nachdem er sich ein wenig
+erholt zu haben schien. Muley zeigte auf mich, und ich trat zu ihm.
+"Dank dir, unbekannter Fremdling, du hast mich von langen Qualen
+errettet. Seit fünfzig Jahren schifft mein Leib durch diese Wogen,
+und mein Geist war verdammt, jede Nacht in ihn zurückzukehren. Aber
+jetzt hat mein Haupt die Erde berührt, und ich kann versöhnt zu
+meinen Vätern gehen."
+
+Ich bat ihn, uns doch zu sagen, wie er zu diesem schrecklichen
+Zustand gekommen sei, und er sprach: "Vor fünfzig Jahren war ich ein
+mächtiger, angesehener Mann und wohnte in Algier; die Sucht nach
+Gewinn trieb mich, ein Schiff auszurüsten und Seeraub zu treiben.
+Ich hatte dieses Geschäft schon einige Zeit fortgeführt, da nahm ich
+einmal auf Zante einen Derwisch an Bord, der umsonst reisen wollte.
+Ich und meine Gesellen waren rohe Leute und achteten nicht auf die
+Heiligkeit des Mannes; vielmehr trieb ich mein Gespött mit ihm. Als
+er aber einst in heiligem Eifer mir meinen sündigen Lebenswandel
+verwiesen hatte, übermannte mich nachts in meiner Kajüte, als ich mit
+meinem Steuermann viel getrunken hatte, der Zorn. Wütend über das,
+was mir ein Derwisch gesagt hatte und was ich mir von keinem Sultan
+hätte sagen lassen, stürzte ich aufs Verdeck und stieß ihm meinen
+Dolch in die Brust. Sterbend verwünschte er mich und meine
+Mannschaft, nicht sterben und nicht leben zu können, bis wir unser
+Haupt auf die Erde legten. Der Derwisch starb, und wir warfen ihn in
+die See und verlachten seine Drohungen; aber noch in derselben Nacht
+erfüllten sich seine Worte. Ein Teil meiner Mannschaft empörte sich
+gegen mich--Mit fürchterlicher Wut wurde gestritten, bis meine
+Anhänger unterlagen und ich an den Mast genagelt wurde. Aber auch
+die Empörer erlagen ihren Wunden, und bald war mein Schiff nur ein
+großes Grab. Auch mir brachen die Augen, mein Atem hielt an, und ich
+meinte zu sterben. Aber es war nur eine Erstarrung, die mich
+gefesselt hielt; in der nächsten Nacht, zur nämlichen Stunde, da wir
+den Derwisch in die See geworfen, erwachten ich und alle meine
+Genossen, das Leben war zurückgekehrt, aber wir konnten nichts tun
+und sprechen, als was wir in jener Nacht gesprochen und getan hatten.
+So segeln wir seit fünfzig Jahren, können nicht leben, nicht sterben;
+denn wie konnten wir das Land erreichen? Mit toller Freude segelten
+wir allemal mit vollen Segeln in den Sturm, weil wir hofften, endlich
+an einer Klippe zu zerschellen und das müde Haupt auf dem Grund des
+Meeres zur Ruhe zu legen. Es ist uns nicht gelungen. Jetzt aber
+werde ich sterben. Noch einmal meinen Dank, unbekannter Retter, wenn
+Schätze dich lohnen können, so nimm mein Schiff als Zeichen meiner
+Dankbarkeit."
+
+Der Kapitano ließ sein Haupt sinken, als er so gesprochen hatte, und
+verschied. Sogleich zerfiel er auch, wie seine Gefährten, in Staub.
+Wir sammelten diesen in ein Kästchen und begruben ihn an Land; aus
+der Stadt nahm ich aber Arbeiter, die mir mein Schiff in guten
+Zustand setzten. Nachdem ich die Waren, die ich an Bord hatte, gegen
+andere mit großem Gewinn eingetauscht hatte, mietete ich Matrosen,
+beschenkte meinen Freund Muley reichlich und schiffte mich nach
+meinem Vaterlande ein. Ich machte aber einen Umweg, indem ich an
+vielen Inseln und Ländern landete und meine Waren zu Markt brachte.
+Der Prophet segnete mein Unternehmen. Nach dreiviertel Jahren lief
+ich, noch einmal so reich, als mich der sterbende Kapitän gemacht
+hatte, in Balsora ein. Meine Mitbürger waren erstaunt über meine
+Reichtümer und mein Glück und glaubten nicht anders, als daß ich das
+Diamantental des berühmten Reisenden Sindbad gefunden habe. Ich ließ
+sie in ihrem Glauben, von nun an aber mußten die jungen Leute von
+Balsora, wenn sie kaum achtzehn Jahre alt waren, in die Welt hinaus,
+um gleich mir ihr Glück zu machen. Ich aber lebte ruhig und in
+Frieden, und alle fünf Jahre mache ich eine Reise nach Mekka, um dem
+Herrn an heiliger Stätte für seinen Segen zu danken und für den
+Kapitano und seine Leute zu bitten, daß er sie in sein Paradies
+aufnehme.
+
+--------------------------Die Reise der Karawane war den anderen Tag
+ohne Hindernis fürder gegangen, und als man im Lagerplatz sich erholt
+hatte, begann Selim, der Fremde, zu Muley, dem jüngsten der Kaufleute,
+also zu sprechen:
+
+"Ihr seid zwar der Jüngste von uns, doch seid Ihr immer fröhlich und
+wißt für uns gewiß irgendeinen guten Schwank. Tischet ihn auf, daß
+er uns erquicke nach der Hitze des Tages!"
+
+"Wohl möchte ich euch etwas erzählen", antwortete Muley, "das euch
+Spaß machen könnte, doch der Jugend ziemt Bescheidenheit in allen
+Dingen; darum müssen meine älteren Reisegefährten den Vorrang haben.
+Zaleukos ist immer so ernst und verschlossen, sollte er uns nicht
+erzählen, was sein Leben so ernst machte? Vielleicht, daß wir seinen
+Kummer, wenn er solchen hat, lindern können; denn gerne dienen wir
+dem Bruder, wenn er auch anderen Glaubens ist."
+
+Der Aufgerufene war ein griechischer Kaufmann, ein Mann in mittleren
+Jahren, schön und kräftig, aber sehr ernst. Ob er gleich ein
+Ungläubiger (nicht Muselmann) war, so liebten ihn doch seine
+Reisegefährten, denn er hatte durch sein ganzes Wesen Achtung und
+Zutrauen eingeflößt. Er hatte übrigens nur eine Hand, und einige
+seiner Gefährten vermuteten, daß vielleicht dieser Verlust ihn so
+ernst stimme.
+
+Zaleukos antwortete auf die zutrauliche Frage Muleys: "Ich bin sehr
+geehrt durch euer Zutrauen; Kummer habe ich keinen, wenigstens keinen,
+von welchem ihr auch mit dem besten Willen mir helfen könntet. Doch
+weil Muley mir meinen Ernst vorzuwerfen scheint, so will ich euch
+einiges erzählen, was mich rechtfertigen soll, wenn ich ernster bin
+als andere Leute. Ihr sehet, daß ich meine linke Hand verloren habe.
+Sie fehlt mir nicht von Geburt an, sondern ich habe sie in den
+schrecklichsten Tagen meines Lebens eingebüßt. Ob ich die Schuld
+davon trage, ob ich unrecht habe, seit jenen Tagen ernster, als es
+meine Lage mit sich bringt, zu sein, möget ihr beurteilen, wenn ihr
+vernommen habt die Geschichte von der abgehauenen Hand."
+
+
+
+
+Die Geschichte von der abgehauenen Hand
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Ich bin in Konstantinopel geboren; mein Vater war ein Dragoman
+(Dolmetscher) bei der Pforte (dem türkischen Hof) und trieb nebenbei
+einen ziemlich einträglichen Handel mit wohlriechenden Essenzen und
+seidenen Stoffen. Er gab mir eine gute Erziehung, indem er mich
+teils selbst unterrichtete, teils von einem unserer Priester mir
+Unterricht geben ließ. Er bestimmte mich anfangs, seinen Laden
+einmal zu übernehmen, als ich aber größere Fähigkeiten zeigte, als er
+erwartet hatte, bestimmte er mich auf das Anraten seiner Freunde zum
+Arzt; weil ein Arzt, wenn er etwas mehr gelernt hat als die
+gewöhnlichen Marktschreier, in Konstantinopel sein Glück machen kann.
+Es kamen viele Franken in unser Haus, und einer davon überredete
+meinen Vater, mich in sein Vaterland, nach der Stadt Paris, reisen zu
+lassen, wo man solche Sachen unentgeltlich und am besten lernen könne.
+Er selbst aber wolle mich, wenn er zurückreise, umsonst mitnehmen.
+Mein Vater, der in seiner Jugend auch gereist war, schlug ein, und
+der Franke sagte mir, ich könne mich in drei Monaten bereithalten.
+Ich war außer mir vor Freude, fremde Länder zu sehen.
+
+Der Franke hatte endlich seine Geschäfte abgemacht und sich zur Reise
+bereitet; am Vorabend der Reise führte mich mein Vater in sein
+Schlafkämmerlein. Dort sah ich schöne Kleider und Waffen auf dem
+Tische liegen. Was meine Blicke aber noch mehr anzog, war ein großer
+Haufe Goldes, denn ich hatte noch nie so viel beieinander gesehen.
+Mein Vater umarmte mich und sagte: "Siehe, mein Sohn, ich habe dir
+Kleider zu der Reise besorgt. Jene Waffen sind dein, es sind die
+nämlichen, die mir dein Großvater umhing, als ich in die Fremde
+auszog. Ich weiß, du kannst sie fuhren; gebrauche sie aber nie, als
+wenn du angegriffen wirst; dann aber schlage auch tüchtig drauf.
+Mein Vermögen ist nicht groß; siehe, ich habe es in drei Teile
+geteilt, einer davon ist dein; einer davon ist mein Unterhalt und
+Notpfennig, der dritte aber sei mir ein heiliges, unantastbares Gut,
+er diene dir in der Stunde der Not!" So sprach mein alter Vater, und
+Tränen hingen ihm im Auge, vielleicht aus Ahnung, denn ich habe ihn
+nie wiedergesehen.
+
+Die Reise ging gut vonstatten; wir waren bald im Lande der Franken
+angelangt, und sechs Tagreisen nachher kamen wir in die große Stadt
+Paris. Hier mietete mir mein fränkischer Freund ein Zimmer und riet
+mir, mein Geld, das in allem zweitausend Taler betrug, vorsichtig
+anzuwenden. Ich lebte drei Jahre in dieser Stadt und lernte, was ein
+tüchtiger Arzt wissen muß; ich müßte aber lügen, wenn ich sagte, daß
+ich gerne dort gewesen sei; denn die Sitten dieses Volkes gefielen
+mir nicht; auch hatte ich nur wenige gute Freunde dort, diese aber
+waren edle, junge Männer.
+
+Die Sehnsucht nach der Heimat wurde endlich mächtig in mir; in der
+ganzen Zeit hatte ich nichts von meinem Vater gehört, und ich ergriff
+daher eine günstige Gelegenheit, nach Hause zu kommen.
+
+Es ging nämlich eine Gesandtschaft aus Frankenland nach der Hohen
+Pforte. Ich verdingte mich als Wundarzt in das Gefolge des Gesandten
+und kam glücklich wieder nach Stambul. Das Haus meines Vaters aber
+fand ich verschlossen, und die Nachbarn staunten, als sie mich sahen,
+und sagten mir, mein Vater sei vor zwei Monaten gestorben. Jener
+Priester, der mich in meiner Jugend unterrichtet hatte, brachte nur
+den Schlüssel; allein und verlassen zog ich in das verödete Haus ein.
+Ich fand noch alles, wie es mein Vater verlassen hatte; nur das Gold,
+das er mir zu hinterlassen versprach, fehlte. Ich fragte den
+Priester darüber, und dieser verneigte sich und sprach: "Euer Vater
+ist als ein heiliger Mann gestorben; denn er hat sein Gold der Kirche
+vermacht." Dies war und blieb mir unbegreiflich; doch was wollte ich
+machen; ich hatte keine Zeugen gegen den Priester und mußte froh sein,
+daß er nicht auch das Haus und die Waren meines Vaters als
+Vermächtnis angesehen hatte.
+
+Dies war das erste Unglück, das mich traf. Von jetzt an aber kam es
+Schlag auf Schlag. Mein Ruf als Arzt wollte sich gar nicht
+ausbreiten, weil ich mich schämte, den Marktschreier zu machen, und
+überall fehlte mir die Empfehlung meines Vaters, der mich bei den
+Reichsten und Vornehmsten eingeführt hätte, die jetzt nicht mehr an
+den armen Zaleukos dachten. Auch die Waren meines Vaters fanden
+keinen Abgang; denn die Kunden hatten sich nach seinem Tode verlaufen,
+und neue bekommt man nur langsam. Als ich einst trostlos über meine
+Lage nachdachte, fiel mir ein, daß ich oft in Franken Männer meines
+Volkes gesehen hatte, die das Land durchzogen und ihre Waren auf den
+Märkten der Städte auslegten; ich erinnerte mich, daß man ihnen gerne
+abkaufte, weil sie aus der Fremde kamen, und daß man bei solchem
+Handel das Hundertfache erwerben könne. Sogleich war auch mein
+Entschluß gefaßt. Ich verkaufte mein väterliches Haus, gab einen
+Teil des gelösten Geldes einem bewährten Freunde zum Aufbewahren, von
+dem übrigen aber kaufte ich, was man in Franken selten hat, wie
+Schals, seidene Zeuge, Salben und Öle, mietete einen Platz auf einem
+Schiff und trat so meine zweite Reise nach Franken an.
+
+Es schien, als ob das Glück, sobald ich die Schlösser der Dardanellen
+im Rücken hatte, mir wieder günstig geworden wäre. Unsere Fahrt war
+kurz und glücklich. Ich durchzog die großen und kleinen Städte der
+Franken und fand überall willige Käufer meiner Waren. Mein Freund in
+Stambul sandte mir immer wieder frische Vorräte, und ich wurde von
+Tag zu Tag wohlhabender. Als ich endlich so viel erspart hatte, daß
+ich glaubte, ein größeres Unternehmen wagen zu können, zog ich mit
+meinen Waren nach Italien. Etwas muß ich aber noch gestehen, was mir
+auch nicht wenig Geld einbrachte: ich nahm auch meine Arzneikunst zu
+Hilfe. Wenn ich in eine Stadt kam, ließ ich durch Zettel verkünden,
+daß ein griechischer Arzt da sei, der schon viele geheilt habe; und
+wahrlich, mein Balsam und meine Arzneien haben mir manche Zechine
+eingebracht.
+
+So war ich endlich nach der Stadt Florenz in Italien gekommen. Ich
+nahm mir vor, längere Zeit in dieser Stadt zu bleiben, teils weil sie
+mir so wohl gefiel, teils auch, weil ich mich von den Strapazen
+meines Umherziehens erholen wollte. Ich mietete mir ein Gewölbe in
+dem Stadtviertel St. Croce und nicht weit davon ein paar schöne
+Zimmer, die auf einen Altan führten, in einem Wirtshaus. Sogleich
+ließ ich auch meine Zettel umhertragen, die mich als Arzt und
+Kaufmann ankündigten. Ich hatte kaum mein Gewölbe eröffnet, so
+strömten auch die Käufer herzu, und ob ich gleich ein wenig hohe
+Preise hatte, so verkaufte ich doch mehr als andere, weil ich
+gefällig und freundlich gegen meine Kunden war. Ich hatte schon vier
+Tage vergnügt in Florenz verlebt, als ich eines Abends, da ich schon
+mein Gewölbe schließen und nur die Vorräte in meinen Salbenbüchsen
+nach meiner Gewohnheit noch einmal mustern wollte, in einer kleinen
+Büchse einen Zettel fand, den ich mich nicht erinnerte, hineingetan
+zu haben. Ich öffnete den Zettel und fand darin eine Einladung,
+diese Nacht Punkt zwölf Uhr auf der Brücke, die man Ponte vecchio
+heißt, mich einzufinden. Ich sann lange darüber nach, wer es wohl
+sein könnte, der mich dorthin einlud, da ich aber keine Seele in
+Florenz kannte, dachte ich, man werde mich vielleicht heimlich zu
+irgendeinem Kranken führen wollen, was schon öfter geschehen war.
+Ich beschloß also hinzugehen, doch hing ich zur Vorsicht den Säbel um,
+den mir einst mein Vater geschenkt hatte.
+
+Als es stark gegen Mitternacht ging, machte ich mich auf den Weg und
+kam bald auf die Ponte vecchio. Ich fand die Brücke verlassen und
+öde und beschloß zu warten, bis er erscheinen würde, der mich rief.
+Es war eine kalte Nacht; der Mond schien hell, und ich schaute hinab
+in die Wellen des Arno, die weithin im Mondlicht schimmerten. Auf
+den Kirchen der Stadt schlug es jetzt zwölf Uhr; ich richtete mich
+auf, und vor mir stand ein großer Mann, ganz in einen roten Mantel
+gehüllt, dessen einen Zipfel er vor das Gesicht hielt.
+
+Ich war von Anfang etwas erschrocken, weil er so plötzlich hinter mir
+stand, faßte mich aber sogleich wieder und sprach: "Wenn Ihr mich
+habt hierher bestellt, so sagt an, was steht zu Eurem Befehl?"
+
+Der Rotmantel wandte sich um und sagte langsam: "Folge!" Da ward
+mir's doch etwas unheimlich zumute, mit diesem Unbekannten allein zu
+gehen; ich blieb stehen und sprach: "Nicht also, lieber Herr, wollet
+mir vorerst sagen, wohin; auch könnet Ihr mir Euer Gesicht ein wenig
+zeigen, daß ich sehe, ob Ihr Gutes mit mir vorhabt."
+
+Der Rote aber schien sich nicht darum zu kümmern. "Wenn du nicht
+willst, Zaleukos, so bleibe!" antwortete er und ging weiter.
+
+Da entbrannte mein Zorn. "Meinet Ihr", rief ich aus, "ein Mann wie
+ich lasse sich von jedem Narren foppen, und ich werde in dieser
+kalten Nacht umsonst gewartet haben?" In drei Sprüngen hatte ich ihn
+erreicht, packte ihn an seinem Mantel und schrie noch lauter, indem
+ich die andere Hand an den Säbel legte; aber der Mantel blieb mir in
+der Hand, und der Unbekannte war um die nächste Ecke verschwunden.
+Mein Zorn legte sich nach und nach; ich hatte doch den Mantel, und
+dieser sollte mir schon den Schlüssel zu diesem wunderlichen
+Abenteuer geben.
+
+Ich hing ihn um und ging meinen Weg weiter nach Hause. Als ich kaum
+noch hundert Schritte davon entfernt war, streifte jemand dicht an
+mir vorüber und flüsterte in fränkischer Sprache: "Nehmt Euch in acht,
+Graf, heute nacht ist nichts zu machen." Ehe ich mich aber umsehen
+konnte, war dieser Jemand schon vorbei, und ich sah nur noch einen
+Schatten an den Häusern hinschweben. Daß dieser Zuruf den Mantel und
+nicht mich anging, sah ich ein; doch gab er mir kein Licht über die
+Sache. Am anderen Morgen überlegte ich, was zu tun sei. Ich war von
+Anfang gesonnen, den Mantel ausrufen zu lassen, als hätte ich ihn
+gefunden; doch da konnte der Unbekannte ihn durch einen Dritten holen
+lassen, und ich hätte dann keinen Aufschluß über die Sache gehabt.
+Ich besah, indem ich so nachdachte, den Mantel näher. Er war von
+schwerem genuesischem Samt, purpurrot, mit astrachanischem Pelz
+verbrämt und reich mit Gold bestickt. Der prachtvolle Anblick des
+Mantels brachte mich auf einen Gedanken, den ich auszuführen beschloß.
+
+Ich trug ihn in mein Gewölbe und legte ihn zum Verkauf aus, setzte
+aber auf ihn einen so hohen Preis, daß ich gewiß war, keinen Käufer
+zu finden. Mein Zweck dabei war, jeden, der nach dem Pelz fragen
+würde, scharf ins Auge zu fassen; denn die Gestalt des Unbekannten,
+die sich mir nach Verlust des Mantels, wenn auch nur flüchtig, doch
+bestimmt zeigte, wollte ich aus Tausenden erkennen. Es fanden sich
+viele Kauflustige zu dem Mantel, dessen außerordentliche Schönheit
+alle Augen auf sich zog; aber keiner glich entfernt dem Unbekannten,
+keiner wollte den hohen Preis von zweihundert Zechinen dafür bezahlen.
+Auffallend war mir dabei, daß, wenn ich einen oder den anderen
+fragte, ob denn sonst kein solcher Mantel in Florenz sei, alle mit
+"Nein!" antworteten und versicherten, eine so kostbare und
+geschmackvolle Arbeit nie gesehen zu haben.
+
+Es wollte schon Abend werden, da kam endlich ein junger Mann, der
+schon oft bei mir gewesen war und auch heute viel auf den Mantel
+geboten hatte, warf einen Beutel mit Zechinen auf den Tisch und rief:
+"Bei Gott! Zaleukos, ich muß deinen Mantel haben, und sollte ich zum
+Bettler darüber werden." Zugleich begann er, seine Goldstücke
+aufzuzählen. Ich kam in große Not; ich hatte den Mantel nur
+ausgehängt, um vielleicht die Blicke meines Unbekannten darauf zu
+ziehen, und jetzt kam ein junger Tor, um den ungeheuren Preis zu
+zahlen. Doch was blieb mir übrig; ich gab nach, denn es tat mir auf
+der anderen Seite der Gedanke wohl, für mein nächtliches Abenteuer so
+schön entschädigt zu werden. Der Jüngling hing sich den Mantel um
+und ging; er kehrte aber auf der Schwelle wieder um, indem er ein
+Papier, das am Mantel befestigt war, losmachte, mir zuwarf und sagte:
+"Hier, Zaleukos, hängt etwas, das wohl nicht zu dem Mantel gehört."
+
+Gleichgültig nahm ich den Zettel; aber siehe da, dort stand
+geschrieben: "Bringe heute nacht um die bewußte Stunde den Mantel auf
+die Ponte vecchio, vierhundert Zechinen warten deiner."
+
+Ich stand wie niedergedonnert. So hatte ich also mein Glück selbst
+verscherzt und meinen Zweck gänzlich verfehlt! Doch ich besann mich
+nicht lange, raffte die zweihundert Zechinen zusammen, sprang dem,
+der den Mantel gekauft hatte, nach und sprach: "Nehmt Eure Zechinen
+wieder, guter Freund, und laßt mir den Mantel, ich kann ihn unmöglich
+hergeben." Dieser hielt die Sache von Anfang für Spaß, als er aber
+merkte, daß es Ernst war, geriet er in Zorn über meine Forderung,
+schalt mich einen Narren, und so kam es endlich zu Schlägen. Doch
+ich war so glücklich, im Handgemenge ihm den Mantel zu entreißen, und
+wollte schon mit ihm davoneilen, als der junge Mann die Polizei zu
+Hilfe rief und mich mit sich vor Gericht zog. Der Richter war sehr
+erstaunt über die Anklage und sprach meinem Gegner den Mantel zu.
+Ich aber bot dem Jünglinge zwanzig, fünfzig, achtzig, ja hundert
+Zechinen über seine zweihundert, wenn er mir den Mantel ließe. Was
+meine Bitten nicht vermochten, bewirkte mein Gold. Er nahm meine
+guten Zechinen, ich aber zog mit dem Mantel triumphierend ab und
+mußte mir gefallen lassen, daß man mich in ganz Florenz für einen
+Wahnsinnigen hielt. Doch die Meinung der Leute war mir gleichgültig;
+ich wußte es ja besser als sie, daß ich an dem Handel noch gewann.
+
+Mit Ungeduld erwartete ich die Nacht. Um dieselbe Zeit wie gestern
+ging ich, den Mantel unter dem Arm, auf die Ponte vecchio. Mit dem
+letzten Glockenschlag kam die Gestalt aus der Nacht heraus auf mich
+zu. Es war unverkennbar der Mann von gestern. "Hast du den Mantel?"
+wurde ich gefragt.
+
+"Ja, Herr", antwortete ich, "aber er kostete mich bar hundert
+Zechinen."
+
+"Ich weiß es", entgegnete jener. "Schau auf, hier sind vierhundert."
+Er trat mit mir an das breite Geländer der Brücke und zählte die
+Goldstücke hin. Vierhundert waren es; prächtig blitzten sie im
+Mondschein, ihr Glanz erfreute mein Herz, ach! Es ahnete nicht, daß
+es seine letzte Freude sein werde. Ich steckte mein Geld in die
+Tasche und wollte mir nun auch den gütigen Unbekannten recht
+betrachten; aber er hatte eine Larve vor dem Gesicht, aus der mich
+dunkle Augen furchtbar anblitzten.
+
+"Ich danke Euch, Herr, für Eure Güte", sprach ich zu ihm, "was
+verlangt Ihr jetzt von mir? Das sage ich Euch aber vorher, daß es
+nichts Unrechtes sein darf."
+
+"Unnötige Sorge", antwortete er, indem er den Mantel um die Schultern
+legte, "ich bedarf Eurer Hilfe als Arzt; doch nicht für einen
+Lebenden, sondern für einen Toten."
+
+"Wie kann das sein?" rief ich voll Verwunderung.
+
+"Ich kam mit meiner Schwester aus fernen Landen", erzählte er und
+winkte mir zugleich, ihm zu folgen. "Ich wohnte hier mit ihr bei
+einem Freund meines Hauses. Meine Schwester starb gestern schnell an
+einer Krankheit, und die Verwandten wollen sie morgen begraben. Nach
+einer alten Sitte unserer Familie aber sollen alle in der Gruft der
+Väter ruhen; viele, die in fremden Landen starben, ruhen dennoch dort
+einbalsamiert. Meinen Verwandten gönne ich nun ihren Körper; meinem
+Vater aber muß ich wenigstens den Kopf seiner Tochter bringen, damit
+er sie noch einmal sehe." Diese Sitte, die Köpfe geliebter
+Anverwandten abzuschneiden, kam mir zwar etwas schrecklich vor; doch
+wagte ich nichts dagegen einzuwenden aus Furcht, den Unbekannten zu
+beleidigen. Ich sagte ihm daher, daß ich mit dem Einbalsamieren der
+Toten wohl umgehen könne, und bat ihn, mich zu der Verstorbenen zu
+führen. Doch konnte ich mich nicht enthalten zu fragen, warum denn
+dies alles so geheimnisvoll und in der Nacht geschehen müsse. Er
+antwortete mir, daß seine Anverwandten, die seine Absicht für grausam
+hielten, bei Tage ihn abhalten würden; sei aber nur erst einmal der
+Kopf abgenommen, so könnten sie wenig mehr darüber sagen. Er hätte
+mir zwar den Kopf bringen können; aber ein natürliches Gefühl halte
+ihn ab, ihn selbst abzunehmen.
+
+Wir waren indes bis an ein großes, prachtvolles Haus gekommen. Mein
+Begleiter zeigte es mir als das Ziel unseres nächtlichen
+Spazierganges. Wir gingen an dem Haupttor des Hauses vorbei, traten
+in eine kleine Pforte, die der Unbekannte sorgfältig hinter sich
+zumachte, und stiegen nun im Finstern eine enge Wendeltreppe hinan.
+Sie führte in einen spärlich erleuchteten Gang, aus welchem wir in
+ein Zimmer gelangten, das eine Lampe, die an der Decke befestigt war,
+erleuchtete.
+
+In diesem Gemach stand ein Bett, in welchem der Leichnam lag. Der
+Unbekannte wandte sein Gesicht ab und schien Tränen verbergen zu
+wollen. Er deutete nach dem Bett, befahl mir, mein Geschäft gut und
+schnell zu verrichten, und ging wieder zur Türe hinaus.
+
+Ich packte meine Messer, die ich als Arzt immer bei mir führte, aus
+und näherte mich dem Bett. Nur der Kopf war von der Leiche sichtbar;
+aber dieser war so schön, daß mich unwillkürlich das innigste
+Mitleiden ergriff. In langen Flechten hing das dunkle Haar herab,
+das Gesicht war bleich, die Augen geschlossen. Ich machte zuerst
+einen Einschnitt in die Haut, nach der Weise der Ärzte, wenn sie ein
+Glied abschneiden. Sodann nahm ich mein schärfstes Messer und
+schnitt mit einem Zug die Kehle durch. Aber welcher Schrecken! Die
+Tote schlug die Augen auf, schloß sie aber gleich wieder, und in
+einem tiefen Seufzer schien sie jetzt erst ihr Leben auszuhauchen.
+Zugleich schoß mir ein Strahl heißen Blutes aus der Wunde entgegen.
+Ich überzeugte mich, daß ich erst die Arme getötet hatte; denn daß
+sie tot sei, war kein Zweifel, da es von dieser Wunde keine Rettung
+gab. Ich stand einige Minuten in banger Beklommenheit über das, was
+geschehen war. Hatte der Rotmantel mich betrogen, oder war die
+Schwester vielleicht nur scheintot gewesen? Das letztere schien mir
+wahrscheinlicher. Aber ich durfte dem Bruder der Verstorbenen nicht
+sagen, daß vielleicht ein weniger rascher Schnitt sie erweckt hätte,
+ohne sie zu töten, darum wollte ich den Kopf vollends ablösen; aber
+noch einmal stöhnte die Sterbende, streckt sich in schmerzhafter
+Bewegung aus und starb. Da übermannte mich der Schrecken, und ich
+stürzte schaudernd aus dem Gemach. Aber draußen im Gang war es
+finster; denn die Lampe war verlöscht. Keine Spur von meinem
+Begleiter war zu entdecken, und ich mußte aufs ungefähr mich im
+Finstern an der Wand fortbewegen, um an die Wendeltreppe zu gelangen.
+Ich fand sie endlich und kam halb fallend, halb gleitend hinab.
+Auch unten war kein Mensch. Die Türe fand ich nur angelehnt, und ich
+atmete freier, als ich auf der Straße war; denn in dem Hause war mir
+ganz unheimlich geworden. Von Schrecken gespornt, rannte ich in
+meine Wohnung und begrub mich in die Polster meines Lagers, um das
+Schreckliche zu vergessen, das ich getan hatte. Aber der Schlaf floh
+mich, und erst der Morgen ermahnte mich wieder, mich zu fassen. Es
+war mir wahrscheinlich, daß der Mann, der mich zu dieser verruchten
+Tat, wie sie mir jetzt erschien, verführt hatte, mich nicht angeben
+würde. Ich entschloß mich, gleich in mein Gewölbe an mein Geschäft
+zu gehen und womöglich eine sorglose Miene anzunehmen. Aber ach!
+Ein neuer Umstand, den ich jetzt erst bemerkte, vermehrte noch meinen
+Kummer. Meine Mütze und mein Gürtel wie auch meine Messer fehlten
+mir, und ich war ungewiß, ob ich sie in dem Zimmer der Getöteten
+gelassen oder erst auf meiner Flucht verloren hatte. Leider schien
+das erste wahrscheinlicher, und man konnte mich also als Mörder
+entdecken.
+
+Ich öffnete zur gewöhnlichen Zeit mein Gewölbe. Mein Nachbar trat zu
+mir her, wie er alle Morgen zu tun pflegte, denn er war ein
+gesprächiger Mann. "Ei, was sagt Ihr zu der schrecklichen
+Geschichte", hub er an, "die heute nacht vorgefallen ist?" Ich tat,
+als ob ich nichts wüßte. "Wie, solltet Ihr nicht wissen, von was die
+ganze Stadt erfüllt ist? Nicht wissen, daß die schönste Blume von
+Florenz, Bianka, die Tochter des Gouverneurs, in dieser Nacht
+ermordet wurde? Ach! Ich sah sie gestern noch so heiter durch die
+Straßen fahren mit ihrem Bräutigam, denn heute hätten sie Hochzeit
+gehabt."
+
+Jedes Wort des Nachbarn war mir ein Stich ins Herz. Und wie oft
+kehrte meine Marter wieder; denn jeder meiner Kunden erzählte mir die
+Geschichte, immer einer schrecklicher als der andere, und doch konnte
+keiner so Schreckliches sagen, als ich selbst gesehen hatte. Um
+Mittag ungefähr trat ein Mann vom Gericht in mein Gewölbe und bat
+mich, die Leute zu entfernen. "Signore Zaleukos", sprach er, indem
+er die Sachen, die ich vermißte, hervorzog, "gehören diese Sachen
+Euch zu?" Ich besann mich, ob ich sie nicht gänzlich ableugnen sollte;
+aber als ich durch die halbgeöffnete Tür meinen Wirt und mehrere
+Bekannte, die wohl gegen mich zeugen konnten, erblickte, beschloß ich,
+die Sache nicht noch durch eine Lüge zu verschlimmern, und bekannte
+mich zu den vorgezeigten Dingen. Der Gerichtsmann bat mich, ihm zu
+folgen, und führte mich in ein großes Gebäude, das ich bald für das
+Gefängnis erkannte. Dort wies er mir bis auf weiteres ein Gemach an.
+
+Meine Lage war schrecklich, als ich so in der Einsamkeit darüber
+nachdachte. Der Gedanke, gemordet zu haben, wenn auch ohne Willen,
+kehrte immer wieder. Auch konnte ich mir nicht verhehlen, daß der
+Glanz des Goldes meine Sinne befangen gehalten hatte; sonst hätte ich
+nicht so blindlings in die Falle gehen können. Zwei Stunden nach
+meiner Verhaftung wurde ich aus meinem Gemach geführt. Mehrere
+Treppen ging es hinab, dann kam man in einen großen Saal. Um einen
+langen, schwarzbehängten Tisch saßen dort zwölf Männer, meistens
+Greise. An den Seiten des Saales zogen sich Bänke herab, angefüllt
+mit den Vornehmsten von Florenz; auf den Galerien, die in der Höhe
+angebracht waren, standen dicht gedrängt die Zuschauer. Als ich bis
+vor den schwarzen Tisch getreten war, erhob sich ein Mann mit
+finsterer, trauriger Miene; es war der Gouverneur. Er sprach zu den
+Versammelten, daß er als Vater in dieser Sache nicht richten könne
+und daß er seine Stelle für diesmal an den ältesten der Senatoren
+abtrete. Der älteste der Senatoren war ein Greis von wenigstens
+neunzig Jahren. Er stand gebückt, und seine Schläfen waren mit
+dünnem, weißem Haar umhängt; aber feurig brannten noch seine Augen,
+und seine Stimme war stark und sicher. Er hub an, mich zu fragen, ob
+ich den Mord gestehe. Ich bat ihn um Gehör und erzählte
+unerschrocken und mit vernehmlichen Stimme, was ich getan hatte und
+was ich wußte. Ich bemerkte, daß der Gouverneur während meiner
+Erzählung bald blaß, bald rot wurde, und als ich geschlossen, fuhr er
+wütend auf: "Wie, Elender!" rief er mir zu, "so willst du ein
+Verbrechen, das du aus Habgier begangen, noch einem anderen
+aufbürden?"
+
+Der Senator verwies ihm seine Unterbrechung, da er sich freiwillig
+seines Rechtes begeben habe; auch sei es gar nicht so erwiesen, daß
+ich aus Habgier gefrevelt; denn nach seiner eigenen Aussage sei ja
+der Getöteten nichts gestohlen worden. Ja, er ging noch weiter; er
+erklärte dem Gouverneur, daß er über das frühere Leben seiner Tochter
+Rechenschaft geben müsse; denn nur so könne man schließen, ob ich die
+Wahrheit gesagt habe oder nicht. Zugleich hob er für heute das
+Gericht auf, um sich, wie er sagte, aus den Papieren der Verstorbenen,
+die ihm der Gouverneur übergeben werde, Rat zu holen. Ich wurde
+wieder in mein Gefängnis zurückgeführt, wo ich einen schaurigen Tag
+verlebte, immer mit dem heißen Wunsch beschäftigt, daß man doch
+irgendeine Verbindung zwischen der Toten und dem Rotmantel entdecken
+möchte. Voll Hoffnung trat ich den anderen Tag in den Gerichtssaal.
+Es lagen mehrere Briefe auf dem Tisch. Der alte Senator fragte mich,
+ob sie meine Handschrift seien. Ich sah sie an und fand, daß sie von
+derselben Hand sein müßten wie jene beiden Zettel, die ich erhalten.
+Ich äußerte dies den Senatoren; aber man schien nicht darauf zu
+achten und antwortete, daß ich beides geschrieben haben könne und
+müsse; denn der Namenszug unter den Briefen sei unverkennbar ein Z,
+der Anfangsbuchstabe meines Namens. Die Briefe aber enthielten
+Drohungen an die Verstorbene und Warnungen vor der Hochzeit, die sie
+zu vollziehen im Begriff war.
+
+Der Gouverneur schien sonderbare Aufschlüsse in Hinsicht auf meine
+Person gegeben zu haben; denn man behandelte mich an diesem Tage
+mißtrauischer und strenger. Ich berief mich zu meiner Rechtfertigung
+auf meine Papiere, die sich in meinem Zimmer finden müßten; aber man
+sagte mir, man habe nachgesucht und nichts gefunden. So schwand mir
+am Schlusse dieses Gerichts alle Hoffnung, und als ich am dritten Tag
+wieder in den Saal geführt wurde, las man mir das Urteil vor, daß ich,
+eines vorsätzlichen Mordes überwiesen, zum Tode verurteilt sei.
+Dahin also war es mit mir gekommen. Verlassen von allem, was mir auf
+Erden noch teuer war, fern von meiner Heimat, sollte ich unschuldig
+in der Blüte meiner Jahre vom Beile sterben.
+
+Ich saß am Abend dieses schrecklichen Tages, der über mein Schicksal
+entschieden hatte, in meinem einsamen Kerker; meine Hoffnungen waren
+dahin, meine Gedanken ernsthaft auf den Tod gerichtet. Da tat sich
+die Türe meines Gefängnisses auf, und ein Mann trat herein, der mich
+lange schweigend betrachtete. "So finde ich dich wieder, Zaleukos?"
+sagte er; ich hatte ihn bei dem matten Schein meiner Lampe nicht
+erkannt, aber der Klang seiner Stimme erweckte alte Erinnerungen in
+mir, es war Valetty, einer jener wenigen Freunde, die ich in der
+Stadt Paris während meiner Studien kannte. Er sagte, daß er zufällig
+nach Florenz gekommen sei, wo sein Vater als angesehener Mann wohne,
+er habe von meiner Geschichte gehört und sei gekommen, um mich noch
+einmal zu sehen und von mir selbst zu erfahren, wie ich mich so
+schwer habe verschulden können. Ich erzählte ihm die ganze
+Geschichte. Er schien darüber sehr verwundert und beschwor mich, ihm,
+meinem einzigen Freunde, alles zu sagen, um nicht mit einer Lüge von
+hinnen zu gehen. Ich schwor ihm mit dem teuersten Eid, daß ich wahr
+gesprochen und daß keine andere Schuld mich drücke, als daß ich, von
+dem Glanze des Goldes geblendet, das Unwahrscheinliche der Erzählung
+des Unbekannten nicht erkannt habe. "So hast du Bianka nicht
+gekannt?" fragte jener. Ich beteuerte ihm, sie nie gesehen zu haben.
+Valetty erzählte mir nun, daß ein tiefes Geheimnis auf der Tat liege,
+daß der Gouverneur meine Verurteilung sehr hastig betrieben habe,
+und es sei nun ein Gerücht unter die Leute gekommen, daß ich Bianka
+schon längst gekannt und aus Rache über ihre Heirat mit einem anderen
+sie ermordet habe. Ich bemerkte ihm, daß dies alles ganz auf den
+Rotmantel passe, daß ich aber seine Teilnahme an der Tat mit nichts
+beweisen könne. Valetty umarmte mich weinend und versprach mir,
+alles zu tun, um wenigstens mein Leben zu retten. Ich hatte wenig
+Hoffnung; doch wußte ich, daß Valetty ein weiser und der Gesetze
+kundiger Mann sei und daß er alles tun werde, mich zu retten. Zwei
+lange Tage war ich in Ungewißheit: Endlich erschien auch Valetty.
+"Ich bringe Trost, wenn auch einen schmerzlichen. Du wirst leben und
+frei sein; aber mit Verlust einer Hand." Gerührt dankte ich meinem
+Freunde für mein Leben. Er sagte mir, daß der Gouverneur
+unerbittlich gewesen sei, die Sache noch einmal untersuchen zu lassen;
+daß er aber endlich, um nicht ungerecht zu erscheinen, bewilligt
+habe, wenn man in den Büchern der florentinischen Geschichte einen
+ähnlichen Fall finde, so solle meine Strafe sich nach der Strafe, die
+dort ausgesprochen sei, richten. Er und sein Vater haben nun Tag und
+Nacht in den alten Büchern gelesen und endlich einen ganz dem
+meinigen ähnlichen Fall gefunden. Dort laute die Strafe: Es soll ihm
+die linke Hand abgehauen, seine Güter eingezogen, er selbst auf ewig
+verbannt werden. So laute jetzt auch meine Strafe, und ich solle
+mich jetzt bereiten zu der schmerzhaften Stunde, die meiner warte.
+Ich will euch nicht diese schreckliche Stunde vor das Auge führen, wo
+ich auf offenem Markt meine Hand auf den Block legte, wo mein eigenes
+Blut in weitem Bogen mich überströmte!
+
+Valetty nahm mich in sein Haus auf, bis ich genesen war, dann versah
+er mich edelmütig mit Reisegeld; denn alles, was ich mir so mühsam
+erworben, war eine Beute des Gerichts geworden. Ich reiste von
+Florenz nach Sizilien und von da mit dem ersten Schiff, das ich fand,
+nach Konstantinopel. Meine Hoffnung war auf die Summe gerichtet, die
+ich meinem Freunde übergeben hatte, auch bat ich ihn, bei ihm wohnen
+zu dürfen; aber wie erstaunte ich, als dieser mich fragte, warum ich
+denn nicht mein Haus beziehe! Er sagte mir, daß ein fremder Mann
+unter meinem Namen ein Haus in dem Quartier der Griechen gekauft habe;
+derselbe habe auch den Nachbarn gesagt, daß ich bald selbst kommen
+werde. Ich ging sogleich mit meinem Freunde dahin und wurde von
+allen meinen Bekannten freudig empfangen. Ein alter Kaufmann gab mir
+einen Brief, den der Mann, der für mich gekauft hatte, hiergelassen
+habe.
+
+Ich las: "Zaleukos! Zwei Hände stehen bereit, rastlos zu schaffen,
+daß Du nicht fühlest den Verlust der einen. Das Haus, das Du siehest,
+und alles, was darin ist, ist Dein, und alle Jahre wird man Dir so
+viel reichen, daß Du zu den Reichen Deines Volkes gehören wirst.
+Mögest Du dem vergeben, der unglücklicher ist als Du." Ich konnte
+ahnen, wer es geschrieben, und der Kaufmann sagte mir auf meine Frage:
+Es sei ein Mann gewesen, den er für einen Franken gehalten, er habe
+einen roten Mantel angehabt. Ich wußte genug, um mir zu gestehen,
+daß der Unbekannte doch nicht ganz von aller edlen Gesinnung entblößt
+sein müsse. In meinem neuen Haus fand ich alles aufs beste
+eingerichtet, auch ein Gewölbe mit Waren, schöner als ich sie je
+gehabt. Zehn Jahre sind seitdem verstrichen; mehr aus alter
+Gewohnheit, als weil ich es nötig habe, setze ich meine Handelsreisen
+fort; doch habe ich jenes Land, wo ich so unglücklich wurde, nie mehr
+gesehen. Jedes Jahr erhielt ich seitdem tausend Goldstücke; aber,
+wenn es mir auch Freude macht, jenen Unglücklichen edel zu wissen, so
+kann er mir doch den Kummer meiner Seele nicht abkaufen, denn ewig
+lebt in mir das grauenvolle Bild der ermordeten Bianka.
+
+--------------------------Zaleukos, der griechische Kaufmann, hatte
+seine Geschichte geendigt. Mit großer Teilnahme hatten ihm die
+übrigen zugehört, besonders der Fremde schien sehr davon ergriffen zu
+sein; er hatte einigemal tief geseufzt, und Muley schien es sogar,
+als habe er einmal Tränen in den Augen gehabt. Sie besprachen sich
+noch lange Zeit über diese Geschichte.
+
+"Und haßt Ihr den Unbekannten nicht, der Euch so schnöd' um ein so
+edles Glied Eures Körpers, der selbst Euer Leben in Gefahr brachte?"
+fragte der Fremde.
+
+"Wohl gab es in früherer Zeit Stunden", antwortete der Grieche, "in
+denen mein Herz ihn vor Gott angeklagt, daß er diesen Kummer über
+mich gebracht und mein Leben vergiftet habe; aber ich fand Trost in
+dem Glauben meiner Väter, und dieser befiehlt mir, meine Feinde zu
+lieben; auch ist er wohl noch unglücklicher als ich."
+
+"Ihr seid ein edler Mann!" rief der Fremde und drückte gerührt dem
+Griechen die Hand.
+
+Der Anführer der Wache unterbrach sie aber in ihrem Gespräch. Er
+trat mit besorgter Miene in das Zelt und berichtete, daß man sich
+nicht der Ruhe überlassen dürfe; denn hier sei die Stelle, wo
+gewöhnlich die Karawanen angegriffen würden, auch glaubten seine
+Wachen, in der Entfernung mehrere Reiter zu sehen.
+
+Die Kaufleute waren sehr bestürzt über diese Nachricht; Selim, der
+Fremde, aber wunderte sich über ihre Bestürzung und meinte, daß sie
+so gut geschätzt wären, daß sie einen Trupp räuberischer Araber nicht
+zu fürchten brauchten.
+
+"Ja, Herr!" entgegnete ihm der Anführer der Wache. "Wenn es nur
+solches Gesindel wäre, könnte man sich ohne Sorge zur Ruhe legen;
+aber seit einiger Zeit zeigt sich der furchtbare Orbasan wieder, und
+da gilt es, auf seiner Hut zu sein."
+
+Der Fremde fragte, wer denn dieser Orbasan sei, und Achmet, der alte
+Kaufmann, antwortete ihm: "Es gehen allerlei Sagen unter dem Volke
+über diesen wunderbaren Mann. Die einen halten ihn für ein
+übermenschliches Wesen, weil er oft mit fünf bis sechs Männern zumal
+einen Kampf besteht, andere halten ihn für einen tapferen Franken,
+den das Unglück in diese Gegend verschlagen habe; von allem aber ist
+nur so viel gewiß, daß er ein verruchter Mörder und Dieb ist."
+
+"Das könnt Ihr aber doch nicht behaupten", entgegnete ihm Lezah,
+einer der Kaufleute. "Wenn er auch ein Räuber ist, so ist er doch
+ein edler Mann, und als solcher hat er sich an meinem Bruder bewiesen,
+wie ich Euch erzählen könnte. Er hat seinen ganzen Stamm zu
+geordneten Menschen gemacht, und so lange er die Wüste durchstreift,
+darf kein anderer Stamm es wagen, sich sehen zu lassen. Auch raubt
+er nicht wie andere, sondern er erhebt nur ein Schutzgeld von den
+Karawanen, und wer ihm dieses willig bezahlt, der ziehet ungefährdet
+weiter; denn Orbasan ist der Herr der Wüste."
+
+Also sprachen unter sich die Reisenden im Zelte; die Wachen aber, die
+um den Lagerplatz ausgestellt waren, begannen unruhig zu werden. Ein
+ziemlich bedeutender Haufe bewaffneter Reiter zeigte sich in der
+Entfernung einer halben Stunde; sie schienen gerade auf das Lager
+zuzureiten. Einer der Männer von der Wache ging daher in das Zelt,
+um zu verkünden, daß sie wahrscheinlich angegriffen würden. Die
+Kaufleute berieten sich untereinander, was zu tun sei, ob man ihnen
+entgegengehen oder den Angriff abwarten solle. Achmet und die zwei
+älteren Kaufleute wollten das letztere, der feurige Muley aber und
+Zaleukos verlangten das erstere und riefen den Fremden zu ihrem
+Beistand auf. Dieser zog ruhig ein kleines, blaues Tuch mit roten
+Sternen aus seinem Gürtel hervor, band es an eine Lanze und befahl
+einem der Sklaven, es auf das Zelt zu stecken; er setze sein Leben
+zum Pfand, sagte er, die Reiter werden, wenn sie dieses Zeichen sehen,
+ruhig vorüberziehen. Muley glaubte nicht an den Erfolg, der Sklave
+aber steckte die Lanze auf das Zelt. Inzwischen hatten alle, die im
+Lager waren, zu den Waffen gegriffen und sahen in gespannter
+Erwartung den Reitern entgegen. Doch diese schienen das Zeichen auf
+dem Zelte erblickt zu haben, sie wichen plötzlich von ihrer Richtung
+auf das Lager ab und zogen in einem großen Bogen auf der Seite hin.
+
+Verwundert standen einige Augenblicke die Reisenden und sahen bald
+auf die Reiter, bald auf den Fremden. Dieser stand ganz gleichgültig,
+wie wenn nichts vorgefallen wäre, vor dem Zelte und blickte über die
+Ebene hin. Endlich brach Muley das Stillschweigen. "Wer bist du,
+mächtiger Fremdling", rief er aus, "der du die wilden Horden der
+Wüste durch einen Wink bezähmst?"
+
+"Ihr schlagt meine Kunst höher an, als sie ist", antwortete Selim
+Baruch. "Ich habe mich mit diesem Zeichen versehen, als ich der
+Gefangenschaft entfloh; was es zu bedeuten hat, weiß ich selbst nicht;
+nur so viel weiß ich, daß, wer mit diesem Zeichen reiset, unter
+mächtigem Schutze steht."
+
+Die Kaufleute dankten dem Fremden und nannten ihn ihren Erretter.
+Wirklich war auch die Anzahl der Reiter so groß gewesen, daß wohl die
+Karawane nicht lange hätte Widerstand leisten können.
+
+Mit leichterem Herzen begab man sich jetzt zur Ruhe, und als die
+Sonne zu sinken begann und der Abendwind über die Sandebene hinstrich,
+brachen sie auf und zogen weiter.
+
+Am nächsten Tage lagerten sie ungefähr nur noch eine Tagreise von dem
+Ausgang der Wüste entfernt. Als sich die Reisenden wieder in dem
+großen Zelt versammelt hatten, nahm Lezah, der Kaufmann, das Wort:
+
+"Ich habe euch gestern gesagt, daß der gefürchtete Orbasan ein edler
+Mann sei, erlaubt mir, daß ich es euch heute durch die Erzählung der
+Schicksale meines Bruders beweise. Mein Vater war Kadi in Akara. Er
+hatte drei Kinder. Ich war der Älteste, ein Bruder und eine
+Schwester waren bei weitem jünger als ich. Als ich zwanzig Jahre alt
+war, rief mich ein Bruder meines Vaters zu sich. Er setzte mich zum
+Erben seiner Güter ein, mit der Bedingung, daß ich bis zu seinem Tode
+bei ihm bleibe. Aber er erreichte ein hohes Alter, so daß ich erst
+vor zwei Jahren in meine Heimat zurückkehrte und nichts davon wußte,
+welch schreckliches Schicksal indes mein Haus betroffen und wie gütig
+Allah es gewendet hatte."
+
+
+
+
+Die Errettung Fatmes
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Mein Bruder Mustapha und meine Schwester Fatme waren beinahe in
+gleichem Alter; jener hatte höchstens zwei Jahre voraus. Sie liebten
+einander innig und trugen vereint alles bei, was unserem kränklichen
+Vater die Last seines Alters erleichtern konnte. An Fatmes
+sechzehntem Geburtstage veranstaltete der Bruder ein Fest. Er ließ
+alle ihre Gespielinnen einladen, setzte ihnen in dem Garten des
+Vaters ausgesuchte Speisen vor, und als es Abend wurde, lud er sie
+ein, auf einer Barke, die er gemietet und festlich geschmückt hatte,
+ein wenig hinaus in die See zu fahren. Fatme und ihre Gespielinnen
+willigten mit Freuden ein; denn der Abend war schön, und die Stadt
+gewährte besonders abends, von dem Meere aus betrachtet, einen
+herrlichen Anblick. Den Mädchen aber gefiel es so gut auf der Barke,
+daß sie meinen Bruder bewogen, immer weiter in die See hinauszufahren.
+Mustapha gab aber ungern nach, weil sich vor einigen Tagen ein
+Korsar hatte sehen lassen. Nicht weit von der Stadt zieht sich ein
+Vorgebirge in das Meer. Dorthin wollten noch die Mädchen, um von da
+die Sonne in das Meer sinken zu sehen. Als sie um das Vorgebirg'
+herumruderten, sahen sie in geringer Entfernung eine Barke, die mit
+Bewaffneten besetzt war. Nichts Gutes ahnend, befahl mein Bruder den
+Ruderern, sein Schiff zu drehen und dem Lande zuzurudern. Wirklich
+schien sich auch seine Besorgnis zu bestätigen; denn jene Barke kam
+der meines Bruders schnell nach, überholte sie, da sie mehr Ruder
+hatte, und hielt sich immer zwischen dem Land, und unserer Barke.
+Die Mädchen aber, als sie die Gefahr erkannten, in der sie schwebten,
+sprangen auf und schrien und klagten; umsonst suchte sie Mustapha zu
+beruhigen, umsonst stellte er ihnen vor, ruhig zu bleiben, weil sie
+durch ihr Hin- und Herrennen die Barke in Gefahr brächten
+umzuschlagen. Es half nichts, und da sie sich endlich bei Annäherung
+des anderen Bootes alle auf die hintere Seite der Barke stürzten,
+schlug diese um. Indessen aber hatte man vom Land aus die Bewegungen
+des fremden Bootes beobachtet, und da man schon seit einiger Zeit
+Besorgnisse wegen Korsaren hegte, hatte dieses Boot Verdacht erregt,
+und mehrere Barken stießen vom Lande, um den Unsrigen beizustehen.
+Aber sie kamen nur noch zu rechter Zeit, um die Untersinkenden
+aufzunehmen. In der Verwirrung war das feindliche Boot entwischt,
+auf den beiden Barken aber, welche die Geretteten aufgenommen hatten,
+war man ungewiß, ob alle gerettet seien. Man näherte sich
+gegenseitig, und ach! Es fand sich, daß meine Schwester und eine
+ihrer Gespielinnen fehlten; zugleich entdeckte man aber einen Fremden
+in einer der Barken, den niemand kannte. Auf die Drohungen Mustaphas
+gestand er, daß er zu dem feindlichen Schiff, das zwei Meilen
+ostwärts vor Anker liege, gehöre, und daß ihn seine Gefährten auf
+ihrer eiligen Flucht im Stich gelassen hätten, indem er im Begriff
+gewesen sei, die Mädchen auffischen zu helfen; auch sagte er aus, daß
+er gesehen habe, wie man zwei derselben in das Schiff gezogen.
+
+Der Schmerz meines alten Vaters war grenzenlos, aber auch Mustapha
+war bis zum Tod betrübt, denn nicht nur, daß seine geliebte Schwester
+verloren war und daß er sich anklagte, an ihrem Unglück schuld zu
+sein--jene Freundin Fatmes, die ihr Unglück teilte, war von ihren
+Eltern ihm zur Gattin zugesagt gewesen, und nur unserem Vater hatte
+er es noch nicht zu gestehen gewagt, weil ihre Eltern arm und von
+geringer Abkunft waren. Mein Vater aber war ein strenger Mann; als
+sein Schmerz sich ein wenig gelegt hatte, ließ er Mustapha vor sich
+kommen und sprach zu ihm: "Deine Torheit hat mir den Trost meines
+Alters und die Freude meiner Augen geraubt. Gehe hin, ich verbanne
+dich auf ewig von meinem Angesicht, ich fluche dir und deinen
+Nachkommen, aber nur, wenn du mir Fatme wiederbringst, soll dein
+Haupt rein sein von dem Fluche des Vaters."
+
+Dies hatte mein armer Bruder nicht erwartet; schon vorher hatte er
+sich entschlossen gehabt, seine Schwester und ihre Freundin
+aufzusuchen, und wollte sich nur noch den Segen des Vaters dazu
+erbitten, und jetzt schickte er ihn, mit dem Fluch beladen, in die
+Welt. Aber hatte ihn jener Jammer vorher gebeugt, so stählte jetzt
+die Fülle des Unglücks, das er nicht verdient hatte, seinen Mut.
+
+Er ging zu dem gefangenen Seeräuber und befragte ihn, wohin die Fahrt
+seines Schiffes ginge, und erfuhr, daß sie Sklavenhandel trieben und
+gewöhnlich in Balsora großen Markt hielten.
+
+Als er wieder nach Hause kam, um sich zur Reise anzuschicken, schien
+sich der Zorn des Vaters ein wenig gelegt zu haben, denn er sandte
+ihm einen Beutel mit Gold zur Unterstützung auf der Reise. Mustapha
+aber nahm weinend von den Eltern Zoraides, so hieß seine geliebte
+Braut, Abschied und machte sich auf den Weg nach Balsora.
+
+Mustapha machte die Reise zu Land, weil von unserer kleinen Stadt aus
+nicht gerade ein Schiff nach Balsora ging. Er mußte daher sehr
+starke Tagreisen machen, um nicht zu lange nach den Seeräubern nach
+Balsora zu kommen; doch da er ein gutes Roß und kein Gepäck hatte,
+konnte er hoffen, diese Stadt am Ende des sechsten Tages zu erreichen.
+Aber am Abend des vierten Tages, als er ganz allein seines Weges
+ritt, fielen ihn plötzlich drei Männer an. Da er merkte, daß sie gut
+bewaffnet und stark seien und daß es mehr auf sein Geld und sein Roß
+als auf sein Leben abgesehen war, so rief er ihnen zu, daß er sich
+ihnen ergeben wolle. Sie stiegen von ihren Pferden ab und banden ihm
+die Füße unter dem Bauch seines Tieres zusammen; ihn selbst aber
+nahmen sie in die Mitte und trabten, indem einer den Zügel seines
+Pferdes ergriff, schnell mit ihm davon, ohne jedoch ein Wort zu
+sprechen.
+
+Mustapha gab sich einer dumpfen Verzweiflung hin, der Fluch seines
+Vaters schien schon jetzt an dem Unglücklichen in Erfüllung zu gehen,
+und wie konnte er hoffen, seine Schwester und Zoraide zu retten, wenn
+er, aller Mittel beraubt, nur sein ärmliches Leben zu ihrer Befreiung
+aufwenden konnte. Mustapha und seine stummen Begleiter mochten wohl
+eine Stunde geritten sein, als sie in ein kleines Seitental einbogen.
+Das Tälchen war von hohen Bäumen eingefaßt; ein weicher dunkelgrüner
+Rasen, ein Bach, der schnell durch seine Mitte hinrollte, luden zur
+Ruhe ein. Wirklich sah er auch fünfzehn bis zwanzig Zelte dort
+aufgeschlagen; an den Pflöcken der Zelte waren Kamele und schöne
+Pferde angebunden, aus einem der Zelte hervor tönte die lustige Weise
+einer Zither und zweier schöner Männerstimmen. Meinem Bruder schien
+es, als ob Leute, die ein so fröhliches Lagerplätzchen sich erwählt
+hatten, nichts Böses gegen ihn im Sinne haben könnten, und er folgte
+also ohne Bangigkeit dem Ruf seiner Führer, die, als sie seine Bande
+gelöst hatten, ihm winkten, abzusteigen. Man führte ihn in ein Zelt,
+das größer als die übrigen und im Innern hübsch, fast zierlich
+aufgeputzt war. Prächtige, goldbestickte Polster, gewirkte
+Fußteppiche, übergoldete Rauchpfannen hätten anderswo Reichtum und
+Wohlleben verraten; hier schienen sie nur kühner Raub. Auf einem der
+Polster saß ein alter kleiner Mann; sein Gesicht war häßlich, seine
+Haut schwarzbraun und glänzend, und ein widriger Zug von tückischer
+Schlauheit um Augen und Mund machte seinen Anblick verhaßt. Obgleich
+sich dieser Mann einiges Ansehen zu geben suchte, so merkte doch
+Mustapha bald, daß nicht für ihn das Zelt so reich geschmückt sei,
+und die Unterredung seiner Führer schien seine Bemerkung zu
+bestätigen. "Wo ist der Starke?" fragten sie den Kleinen.
+
+"Er ist auf der kleinen Jagd", antwortete jener, "aber er hat mir
+aufgetragen, seine Stelle zu versehen."
+
+"Das hat er nicht gescheit gemacht", entgegnete einer der Räuber,
+"denn es muß sich bald entscheiden, ob dieser Hund sterben oder
+zahlen soll, und das weiß der Starke besser als du."
+
+Der kleine Mann erhob sich im Gefühl seiner Würde, streckte sich lang
+aus, um mit der Spitze seiner Hand das Ohr seines Gegners zu
+erreichen, denn er schien Lust zu haben, sich durch einen Schlag zu
+rächen, als er aber sah, daß seine Bemühung fruchtlos sei, fing er an
+zu schimpfen (und wahrlich! Die anderen blieben ihm nichts schuldig),
+daß das Zelt von ihrem Streit erdröhnte. Da tat sich auf einmal die
+Türe des Zeltes auf, und herein trat ein hoher, stattlicher Mann,
+jung und schön wie ein Perserprinz; seine Kleidung und seine Waffen
+waren, außer einem reichbesetzten Dolch und einem glänzenden Säbel,
+gering und einfach; aber sein ernstes Auge, sein ganzer Anstand gebot
+Achtung, ohne Furcht einzuflößen.
+
+"Wer ist's, der es wagt, in meinem Zelte Streit zu beginnen?" rief er
+den Erschrockenen zu. Eine Zeitlang herrschte tiefe Stille; endlich
+erzählte einer von denen, die Mustapha hergebracht hatten, wie es
+gegangen sei. Da schien sich das Gesicht "des Starken", wie sie ihn
+nannten, vor Zorn zu röten. "Wann hätte ich dich je an meine Stelle
+gesetzt, Hassan?" schrie er mit furchtbarer Stimme dem Kleinen zu.
+Dieser zog sich vor Furcht in sich selbst zusammen, daß er noch viel
+kleiner aussah als zuvor, und schlich sich der Zelttüre zu. Ein
+hinlänglicher Tritt des Starken machte, daß er in einem großen
+sonderbaren Sprung zur Zelttüre hinausflog.
+
+Als der Kleine verschwunden war, führten die drei Männer Mustapha vor
+den Herrn des Zeltes, der sich indes auf die Polster gelegt hatte.
+"Hier bringen wir den, welchen du uns zu fangen befohlen hast."
+
+Jener blickte den Gefangenen lange an und sprach sodann: "Bassa von
+Sulieika! Dein eigenes Gewissen wird dir sagen, warum du vor Orbasan
+stehst."
+
+Als mein Bruder dies hörte, warf er sich nieder vor jenem und
+antwortete: "O Herr! Du scheinst im Irrtum zu sein. Ich bin ein
+armer Unglücklicher, aber nicht der Bassa, den du suchst!"
+
+Alle im Zelt waren über diese Rede erstaunt. Der Herr des Zeltes
+aber sprach: "Es kann dir wenig helfen, dich zu verstellen; denn ich
+will die Leute vorführen, die dich wohl kennen." Er befahl, Zuleima
+vorzufahren. Man brachte ein altes Weib in das Zelt, das auf die
+Frage, ob sie in meinem Bruder nicht den Bassa von Sulieika erkenne,
+antwortete: "Jawohl!" Und sie schwöre es beim Grab des Propheten, es
+sei der Bassa und kein anderer.
+
+"Siehst du, Erbärmlicher, wie deine List zu Wasser geworden ist!"
+begann zürnend der Starke. "Du bist mir zu elend, als daß ich meinen
+guten Dolch mit deinem Blut besudeln sollte, aber an den Schweif
+meines Rosses will ich dich binden, morgen, wenn die Sonne aufgeht,
+und durch die Wälder mit dir jagen, bis sie scheidet hinter die Hügel
+von Sulieika!"
+
+Da sank meinem armen Bruder der Mut. "Das ist der Fluch meines
+harten Vaters, der mich zum schmachvollen Tode treibt", rief er
+weinend, "und auch du bist verloren, süße Schwester, auch du, Zoraide!"
+
+"Deine Verstellung hilft dir nichts", sprach einer der Räuber, indem
+er ihm die Hände auf den Rücken band, "mach, daß du aus dem Zelte
+kommst! Denn der Starke beißt sich in die Lippen und blickt nach
+seinem Dolch. Wenn du noch eine Nacht leben willst, so komm!"
+
+Als die Räuber gerade meinen Bruder aus dem Zelt führen wollten,
+begegneten sie drei anderen, die einen Gefangenen vor sich hintrieben.
+Sie traten mit ihm ein. "Hier bringen wir den Bassa, wie du uns
+befohlen hast", sprachen sie und führten den Gefangenen vor das
+Polster des Starken. Als der Gefangene dorthin geführt wurde, hatte
+mein Bruder Gelegenheit, ihn zu betrachten, und ihm selbst fiel die
+Ähnlichkeit auf, die dieser Mann mit ihm hatte, nur war er dunkler im
+Gesicht und hatte einen schwärzeren Bart.
+
+Der Starke schien sehr erstaunt über die Erscheinung des zweiten
+Gefangenen. "Wer von euch ist denn der Rechte?" sprach er, indem er
+bald meinen Bruder, bald den anderen Mann ansah.
+
+"Wenn du den Bassa von Sulieika meinst", antwortete in stolzem Ton
+der Gefangene, "der bin ich!" Der Starke sah ihn lange mit seinem
+ernsten, furchtbaren Blick an; dann winkte er schweigend, den Bassa
+wegzuführen.
+
+Als dies geschehen war, ging er auf meinen Bruder zu, zerschnitt
+seine Bande mit dem Dolch und winkte ihm, sich zu ihm aufs Polster zu
+setzen. "Es tut mir leid, Fremdling", sagte er, "daß ich dich für
+jenes Ungeheuer hielt; schreibe es aber einer sonderbaren Fügung des
+Himmels zu, die dich gerade in der Stunde, welche dem Untergang jenes
+Verruchten geweiht war, in die Hände meiner Brüder führte." Mein
+Bruder bat ihn um die einzige Gunst, ihn gleich wieder weiterreisen
+zu lassen, weil jeder Aufschub ihm verderblich werden könne. Der
+Starke erkundigte sich nach seinen eiligen Geschäften, und als ihm
+Mustapha alles erzählt hatte, überredete ihn jener, diese Nacht in
+seinem Zelt zu bleiben, er und sein Roß werden der Ruhe bedürfen; den
+folgenden Tag aber wolle er ihm einen Weg zeigen, der ihn in
+anderthalb Tagen nach Balsora bringe--Mein Bruder schlug ein, wurde
+trefflich bewirtet und schlief sanft bis zum Morgen in dem Zelt des
+Räubers.
+
+Als er aufgewacht war, sah er sich ganz allein im Zelt; vor dem
+Vorhang des Zeltes aber hörte er mehrere Stimmen zusammen sprechen,
+die dem Herrn des Zeltes und dem kleinen schwarzbraunen Mann
+anzugehören schienen. Er lauschte ein wenig und hörte zu seinem
+Schrecken, daß der Kleine dringend den anderen aufforderte, den
+Fremden zu töten, weil er, wenn er freigelassen würde, sie alle
+verraten könnte.
+
+Mustapha merkte gleich, daß der Kleine ihm gram sei, weil er die
+Ursache war, daß er gestern so übel behandelt wurde; der Starke
+schien sich einige Augenblicke zu besinnen. "Nein", sprach er, "er
+ist mein Gastfreund, und das Gastrecht ist mir heilig; auch sieht er
+mir nicht aus, als ob er uns verraten wollte."
+
+Als er so gesprochen, schlug er den Vorhang zurück und trat ein.
+"Friede sei mit dir, Mustapha!" sprach er, "laß uns den Morgentrunk
+kosten, und rüste dich dann zum Aufbruch!" Er reichte meinem Bruder
+einen Becher Sorbet, und als sie getrunken hatten, zäumten sie die
+Pferde auf, und wahrlich, mit leichterem Herzen, als er gekommen war,
+schwang sich Mustapha aufs Pferd. Sie hatten bald die Zelte im
+Rücken und schlugen dann einen breiten Pfad ein, der in den Wald
+führte. Der Starke erzählte meinem Bruder, daß jener Bassa, den sie
+auf der Jagd gefangen hätten, ihnen versprochen habe, sie ungefährdet
+in seinem Gebiete zu dulden; vor einigen Wochen aber habe er einen
+ihrer tapfersten Männer aufgefangen und nach den schrecklichsten
+Martern aufhängen lassen. Er habe ihm nun lange auflauern lassen,
+und heute noch müsse er sterben. Mustapha wagte es nicht, etwas
+dagegen einzuwenden; denn er war froh, selbst mit heiler Haut
+davongekommen zu sein.
+
+Am Ausgang des Waldes hielt der Starke sein Pferd an, beschrieb
+meinem Bruder den Weg, bot ihm die Hand zum Abschied und sprach:
+"Mustapha, du bist auf sonderbare Weise der Gastfreund des Räubers
+Orbasan geworden; ich will dich nicht auffordern, nicht zu verraten,
+was du gesehen und gehört hast. Du hast ungerechterweise Todesangst
+ausgestanden, und ich bin dir Vergütung schuldig. Nimm diesen Dolch
+als Andenken, und so du Hilfe brauchst, so sende ihn mir zu, und ich
+will eilen, dir beizustehen. Diesen Beutel aber kannst du vielleicht
+zu deiner Reise brauchen." Mein Bruder dankte ihm für seinen Edelmut;
+er nahm den Dolch, den Beutel aber schlug er aus. Doch Orbasan
+drückte ihm noch einmal die Hand, ließ den Beutel auf die Erde fallen
+und sprengte mit Sturmeseile in den Wald. Als Mustapha sah, daß er
+ihn doch nicht mehr werde einholen können, stieg er ab, um den Beutel
+aufzuheben, und erschrak über die Größe von seines Gastfreundes
+Großmut; denn der Beutel enthielt eine Menge Gold. Er dankte Allah
+für seine Rettung, empfahl ihm den edlen Räuber in seine Gnade und
+zog dann heiteren Mutes weiter auf seinem Wege nach Balsora.
+
+Lezah schwieg und sah Achmet, den alten Kaufmann, fragend an. "Nein,
+wenn es so ist", sprach dieser, "so verbessere ich gern mein Urteil
+von Orbasan; denn wahrlich, an deinem Bruder hat er schön gehandelt."
+
+"Er hat getan wie ein braver Muselmann", rief Muley; "aber ich hoffe,
+du hast deine Geschichte damit nicht geschlossen; denn wie mich
+bedünkt, sind wir alle begierig, weiter zu hören, wie es deinem
+Bruder erging und ob er Fatme, deine Schwester, und die schöne
+Zoraide befreit hat."
+
+"Wenn ich euch nicht damit langweile, erzähle ich gerne weiter",
+entgegnete Lezah, "denn die Geschichte meines Bruders ist allerdings
+abenteuerlich und wundervoll."
+
+Am Mittag des siebenten Tages nach seiner Abreise zog Mustapha in die
+Tore von Balsora ein. Sobald er in einer Karawanserei abgestiegen
+war, fragte er, wann der Sklavenmarkt, der alljährlich hier gehalten
+werde, anfange. Aber er erhielt die Schreckensantwort, daß er zwei
+Tage zu spät komme. Man bedauerte seine Verspätung und erzählte ihm,
+daß er viel verloren habe; denn noch an dem letzten Tage des Marktes
+seien zwei Sklavinnen angekommen, von so hoher Schönheit, daß sie die
+Augen aller Käufer auf sich gezogen hätten. Man habe sich ordentlich
+um sie gerissen und geschlagen, und sie seien freilich auch zu einem
+so hohen Preise verkauft worden, daß ihn nur ihr jetziger Herr nicht
+habe scheuen können. Er erkundigte sich näher nach diesen beiden,
+und es blieb ihm kein Zweifel, daß es die Unglücklichen seien, die er
+suchte. Auch erfuhr er, daß der Mann, der sie beide gekauft habe,
+vierzig Stunden von Balsora wohne und Thiuli-Kos heiße, ein vornehmer,
+reicher, aber schon ältlicher Mann, der früher Kapudan-Bassa des
+Großherrn gewesen, jetzt aber sich mit seinen gesammelten Reichtümern
+zur Ruhe gesetzt habe.
+
+Mustapha wollte von Anfang sich gleich wieder zu Pferd setzen, um dem
+Thiuli-Kos, der kaum einen Tag Vorsprung haben konnte, nachzueilen.
+Als er aber bedachte, daß er als einzelner Mann dem mächtigen
+Reisenden doch nichts anhaben noch weniger seine Beute ihm abjagen
+konnte, sann er auf einen anderen Plan und hatte ihn auch bald
+gefunden. Die Verwechslung mit dem Bassa von Sulieika, die ihm
+beinahe so gefährlich geworden wäre, brachte ihn auf den Gedanken,
+unter diesem Namen in das Haus des Thiuli-Kos zu gehen und so einen
+Versuch zur Rettung der beiden unglücklichen Mädchen zu wagen. Er
+mietete daher einige Diener und Pferde, wobei ihm Orbasans Geld
+trefflich zustatten kam, schaffte sich und seinen Dienern prächtige
+Kleider an und machte sich auf den Weg nach dem Schlosse Thiulis.
+Nach fünf Tagen war er in die Nähe dieses Schlosses gekommen. Es lag
+in einer schönen Ebene und war rings von hohen Mauern umschlossen,
+die nur ganz wenig von den Gebäuden überragt wurden. Als Mustapha
+dort angekommen war, färbte er Haar und Bart schwarz, sein Gesicht
+aber bestrich er mit dem Saft einer Pflanze, die ihm eine bräunliche
+Farbe gab, ganz wie sie jener Bassa gehabt hatte. Er schickte
+hierauf einen seiner Diener in das Schloß und ließ im Namen des Bassa
+von Sulieika um ein Nachtlager bitten. Der Diener kam bald wieder,
+und mit ihm vier schöngekleidete Sklaven, die Mustaphas Pferd am
+Zügel nahmen und in den Schloßhof führten. Dort halfen sie ihm
+selbst vom Pferd, und vier andere geleiteten ihn eine breite
+Marmortreppe hinauf zu Thiuli.
+
+Dieser, ein alter, lustiger Geselle, empfing meinen Bruder
+ehrerbietig und ließ ihm das Beste, was sein Koch zubereiten konnte,
+aufsetzen. Nach Tisch brachte Mustapha das Gespräch nach und nach
+auf die neuen Sklavinnen, und Thiuli rühmte ihre Schönheit und
+beklagte nur, daß sie immer so traurig seien; doch er glaubte, dieses
+würde sich bald geben. Mein Bruder war sehr vergnügt über diesen
+Empfang und legte sich mit den schönsten Hoffnungen zur Ruhe nieder.
+
+Er mochte ungefähr eine Stunde geschlafen haben, da weckte ihn der
+Schein einer Lampe, der blendend auf sein Auge fiel. Als er sich
+aufrichtete, glaubte er noch zu träumen; denn vor ihm stand jener
+kleine, schwarzbraune Kerl aus Orbasans Zelt, eine Lampe in der Hand,
+sein breites Maul zu einem widrigen Lächeln verzogen. Mustapha
+zwickte sich in den Arm, zupfte sich an der Nase, um sich zu
+überzeugen, ob er denn wache; aber die Erscheinung blieb wie zuvor.
+"Was willst du an meinem Bette?" rief Mustapha, als er sich von
+seinem Erstaunen erholt hatte.
+
+"Bemühet Euch doch nicht so, Herr!" sprach der Kleine. "Ich habe
+wohl erraten, weswegen Ihr hierherkommt. Auch war mir Euer wertes
+Gesicht noch wohl erinnerlich; doch wahrlich, wenn ich nicht den
+Bassa mit eigener Hand hätte erhängen helfen, so hättet Ihr mich
+vielleicht getäuscht. Jetzt aber bin ich da, um eine Frage zu machen."
+
+"Vor allem sage, wie du hierherkommst", entgegnete ihm Mustapha voll
+Wut, daß er verraten war.
+
+"Das will ich Euch sagen", antwortete jener, "ich konnte mich mit dem
+Starken nicht länger vertragen, deswegen floh ich; aber du, Mustapha,
+warst eigentlich die Ursache unseres Streites, und dafür mußt du mir
+deine Schwester zur Frau geben, und ich will Euch zur Flucht
+behilflich sein; gibst du sie nicht, so gehe ich zu meinem neuen
+Herrn und erzähle ihm etwas von dem neuen Bassa."
+
+Mustapha war vor Schrecken und Wut außer sich; jetzt, wo er sich am
+sicheren Ziel seiner Wünsche glaubte, sollte dieser Elende kommen und
+sie vereiteln; es war nur ein Mittel, das seinen Plan retten konnte:
+Er mußte das kleine Ungetüm töten. Mit einem Sprung fuhr er daher
+aus dem Bette auf den Kleinen zu; doch dieser, der etwas Solches
+geahnt haben mochte, ließ die Lampe fallen, daß sie verlöschte, und
+entsprang im Dunkeln, indem er mörderisch um Hilfe schrie.
+
+Jetzt war guter Rat teuer; die Mädchen mußte er für den Augenblick
+aufgeben und nur auf die eigene Rettung denken; daher ging er an das
+Fenster, um zu sehen, ob er nicht entspringen könnte. Es war eine
+ziemliche Tiefe bis zum Boden, und auf der anderen Seite stand eine
+hohe Mauer, die zu übersteigen war. Sinnend stand er an dem Fenster;
+da hörte er viele Stimmen sich seinem Zimmer nähern; schon waren sie
+an der Türe; da faßte er verzweiflungsvoll seinen Dolch und seine
+Kleider und schwang sich zum Fenster hinaus. Der Fall war hart; aber
+er fühlte, daß er kein Glied gebrochen hatte; drum sprang er auf und
+lief der Mauer zu, die den Hof umschloß, stieg, zum Erstaunen seiner
+Verfolger, hinauf und befand sich bald im Freien. Er floh, bis er an
+einen kleinen Wald kam, wo er sich erschöpft niederwarf. Hier
+überlegte er, was zu tun sei.
+
+Seine Pferde und seine Diener hatte er im Stiche lassen müssen; aber
+sein Geld, das er in dem Gürtel trug, hatte er gerettet.
+
+Sein erfinderischer Kopf zeigte ihm bald einen anderen Weg zur
+Rettung. Er ging in dem Wald weiter, bis er an ein Dorf kam, wo er
+um geringen Preis ein Pferd kaufte, das ihn in Bälde in eine Stadt
+trug. Dort forschte er nach einem Arzt, und man riet ihm einen alten,
+erfahrenen Mann. Diesen bewog er durch einige Goldstücke, daß er
+ihm eine Arznei mitteilte, die einen todähnlichen Schlaf herbeiführte,
+der durch ein anderes Mittel augenblicklich wieder gehoben werden
+könnte. Als er im Besitz dieses Mittels war, kaufte er sich einen
+langen falschen Bart, einen schwarzen Talar und allerlei Büchsen und
+Kolben, so daß er füglich einen reisenden Arzt vorstellen konnte, lud
+seine Sachen auf einen Esel und reiste in das Schloß des Thiuli-Kos
+zurück. Er durfte gewiß sein, diesmal nicht erkannt zu werden, denn
+der Bart entstellte ihn so, daß er sich selbst kaum mehr kannte. Bei
+Thiuli angekommen, ließ er sich als den Arzt Chakamankabudibaba
+anmelden, und, wie er es gedacht hatte, geschah es; der prachtvolle
+Namen empfahl ihn bei dem alten Narren ungemein, so daß er ihn gleich
+zur Tafel einlud.
+
+Chakamankabudibaba erschien vor Thiuli, und als sie sich kaum eine
+Stunde besprochen hatten, beschloß der Alte, alle seine Sklavinnen
+der Kur des weisen Arztes zu unterwerfen. Dieser konnte seine Freude
+kaum verbergen, daß er jetzt seine geliebte Schwester wiedersehen
+solle, und folgte mit klopfendem Herzen Thiuli, der ihn ins Serail
+führte. Sie waren in ein Zimmer gekommen, das schön ausgeschmückt
+war, worin sich aber niemand befand. "Chambaba oder wie du heißt,
+lieber Arzt", sprach Thiuli-Kos, "betrachte einmal jenes Loch dort in
+der Mauer, dort wird jede meiner Sklavinnen einen Arm herausstrecken,
+und du kannst dann untersuchen, ob der Puls krank oder gesund ist."
+Mustapha mochte einwenden, was er wollte, zu sehen bekam er sie nicht;
+doch willigte Thiuli ein, daß er ihm allemal sagen wolle, wie sie
+sich sonst gewöhnlich befänden. Thiuli zog nun einen langen Zettel
+aus dem Gürtel und begann mit lauter Stimme seine Sklavinnen einzeln
+beim Namen zu rufen, worauf allemal eine Hand aus der Mauer kam und
+der Arzt den Puls untersuchte. Sechs waren schon abgelesen und
+sämtlich für gesund erklärt; da las Thiuli als die siebente "Fatme"
+ab, und eine kleine weiße Hand schlüpfte aus der Mauer. Zitternd vor
+Freude, ergreift Mustapha diese Hand und erklärt sie mit wichtiger
+Miene für bedeutend krank. Thiuli ward sehr besorgt und befahl
+seinem weisen Chakamankabudibaba, schnell eine Arznei für sie zu
+bereiten. Der Arzt ging hinaus, schrieb auf einen kleinen Zettel:
+Fatme! Ich will Dich retten, wenn Du Dich entschließen kannst, eine
+Arznei zu nehmen, die Dich auf zwei Tage tot macht; doch ich besitze
+das Mittel, Dich wieder zum Leben zu bringen. Willst Du, so sage nur,
+dieser Trank habe nicht geholfen, und es soll mir ein Zeichen sein,
+daß Du einwilligst.
+
+Bald kam er in das Zimmer zurück, wo Thiuli seiner harrte. Er
+brachte ein unschädliches Tränklein mit, fühlte der kranken Fatme
+noch einmal den Puls und schob ihr zugleich den Zettel unter ihr
+Armband; das Tränklein aber reichte er ihr durch die Öffnung in der
+Mauer. Thiuli schien in großen Sorgen wegen Fatme zu sein und schob
+die Untersuchung der übrigen bis auf eine gelegenere Zeit auf. Als
+er mit Mustapha das Zimmer verlassen hatte, sprach er in traurigem
+Ton: "Chadibaba, sage aufrichtig, was hältst du von Fatmes Krankheit?"
+
+Chakamankabudibaba antwortete mit einem tiefen Seufzer: "Ach Herr,
+möge der Prophet dir Trost verleihen! Sie hat ein schleichendes
+Fieber, das ihr wohl den Garaus machen kann." Da entbrannte der Zorn
+Thiulis: "Was sagst du, verfluchter Hund von einem Arzt? Sie, um die
+ich zweitausend Goldstücke gab, soll mir sterben wie eine Kuh? Wisse,
+wenn du sie nicht rettest, so hau' ich dir den Kopf ab!" Da merkte
+mein Bruder, daß er einen dummen Streich gemacht habe, und gab Thiuli
+wieder Hoffnung. Als sie noch so sprachen, kam ein schwarzer Sklave
+aus dem Serail, dem Arzt zu sagen, daß das Tränklein nicht geholfen
+habe. "Biete deine ganze Kunst auf, Chakamdababelba, oder wie du
+dich schreibst, ich zahle dir, was du willst", schrie Thiuli-Kos,
+fast heulend vor Angst, so viel Gold zu verlieren.
+
+"Ich will ihr ein Säftlein geben, das sie von aller Not befreit",
+antwortete der Arzt.
+
+"Ja! Ja! Gib ihr ein Säftlein", schluchzte der alte Thiuli.
+
+Frohen Mutes ging Mustapha, seinen Schlaftrunk zu holen, und als er
+ihn dem schwarzen Sklaven gegeben und gezeigt hatte, wieviel man auf
+einmal nehmen müsse, ging er zu Thiuli und sagte, er müsse noch
+einige heilsame Kräuter am See holen, und eilte zum Tor hinaus. An
+dem See, der nicht weit von dem Schloß entfernt war, zog er seine
+falschen Kleider aus und warf sie ins Wasser, daß sie lustig
+umherschwammen; er selbst aber verbarg sich im Gesträuch, wartete die
+Nacht ab und schlich sich dann in den Begräbnisplatz an dem Schlosse
+Thiulis.
+
+Als Mustapha kaum eine Stunde lang aus dem Schloß abwesend sein
+mochte, brachte man Thiuli die schreckliche Nachricht, daß seine
+Sklavin Fatme im Sterben liege. Er schickte hinaus an den See, um
+schnell den Arzt zu holen; aber bald kehrten seine Boten allein
+zurück und erzählten ihm, daß der arme Arzt ins Wasser gefallen und
+ertrunken sei; seinen schwarzen Talar sehe man im See schwimmen, und
+hier und da gucke auch sein stattlicher Bart aus den Wellen hervor.
+Als Thiuli keine Rettung mehr sah, verwünschte er sich und die ganze
+Welt, raufte sich den Bart aus und rannte mit dem Kopf gegen die
+Mauer. Aber alles dies konnte nichts helfen; denn Fatme gab bald
+unter den Händen der übrigen Weiber den Geist auf. Als Thiuli die
+Nachricht ihres Todes hörte, befahl er, schnell einen Sarg zu machen;
+denn er konnte keinen Toten im Hause leiden und ließ den Leichnam in
+das Begräbnishaus tragen. Die Träger brachten den Sarg dorthin,
+setzten ihn schnell nieder und entflohen, denn sie hatten unter den
+übrigen Särgen Stöhnen und Seufzen gehört.
+
+Mustapha, der sich hinter den Särgen verborgen und von dort aus die
+Träger des Sarges in die Flucht gejagt hatte, kam hervor und zündete
+sich eine Lampe an, die er zu diesem Zweck mitgebracht hatte. Dann
+zog er ein Glas hervor, das die erweckende Arznei enthielt, und hob
+dann den Deckel von Fatmes Sarg. Aber welches Entsetzen befiel ihn,
+als sich ihm beim Scheine der Lampe ganz fremde Züge zeigten! Weder
+meine Schwester noch Zoraide, sondern eine ganz andere lag in dem
+Sarg. Er brauchte lange, um sich von dem neuen Schlag des Schicksals
+zu fassen; endlich überwog doch Mitleid seinen Zorn. Er öffnete sein
+Glas und flößte ihr die Arznei ein. Sie atmete, sie schlug die Augen
+auf und schien sich lange zu besinnen, wo sie sei. Endlich erinnerte
+sie sich des Vorgefallenen; sie stand auf aus dem Sarg und stürzte zu
+Mustaphas Füßen. "Wie kann ich dir danken, gütiges Wesen", rief sie
+aus, "daß du mich aus meiner schrecklichen Gefangenschaft befreitest!"
+Mustapha unterbrach ihre Danksagungen mit der Frage, wie es denn
+geschehen sei, daß sie und nicht Fatme, seine Schwester, gerettet
+worden sei? Jene sah ihn staunend an. "Jetzt wird mir meine Rettung
+erst klar, die mir vorher unbegreiflich war", antwortete sie; "wisse,
+man hieß mich in jenem Schloß Fatme, und mir hast du deinen Zettel
+und den Rettungstrank gegeben." Mein Bruder forderte die Gerettete
+auf, ihm von seiner Schwester und Zoraide Nachricht zu geben, und
+erfuhr, daß sie sich beide im Schloß befanden, aber nach der
+Gewohnheit Thiulis andere Namen bekommen hatten; sie hießen jetzt
+Mirza und Nurmahal."
+
+Als Fatme, die gerettete Sklavin, sah, daß mein Bruder durch diesen
+Fehlgriff so niedergeschlagen sei, sprach sie ihm Mut ein und
+versprach, ihm ein Mittel zu sagen, wie er jene beiden Mädchen
+dennoch retten könne. Aufgeweckt durch diesen Gedanken, schöpfte
+Mustapha von neuem Hoffnung und bat sie, dieses Mittel ihm zu nennen,
+und sie sprach:
+
+"Ich bin zwar erst seit fünf Monaten die Sklavin Thiulis, doch habe
+ich gleich von Anfang auf Rettung gesonnen; aber für mich allein war
+sie zu schwer. In dem inneren Hof des Schlosses wirst du einen
+Brunnen bemerkt haben, der aus zehn Röhren Wasser speit; dieser
+Brunnen fiel mir auf. Ich erinnerte mich, in dem Hause meines Vaters
+einen ähnlichen gesehen zu haben, dessen Wasser durch eine geräumige
+Wasserleitung herbeiströmt; um nun zu erfahren, ob dieser Brunnen
+auch so gebaut ist, rühmte ich eines Tages vor Thiuli seine Pracht
+und fragte nach seinem Baumeister. *Ich selbst habe ihn gebaut*,
+antwortete er, *und das, was du hier siehst, ist noch das Geringste;
+aber das Wasser dazu kommt wenigstens tausend Schritte weit von einem
+Bach her und geht durch eine gewölbte Wasserleitung, die wenigstens
+mannshoch ist; und alles dies habe ich selbst angegeben.* Als ich
+dies gehört hatte, wünschte ich mir oft, nur auf einen Augenblick die
+Stärke eines Mannes zu haben, um einen Stein an der Seite des
+Brunnens ausheben zu können; dann könnte ich fliehen, wohin ich
+wollte. Die Wasserleitung nun will ich dir zeigen; durch sie kannst
+du nachts in das Schloß gelangen und jene befreien. Aber du mußt
+wenigstens noch zwei Männer bei dir haben, um die Sklaven, die das
+Serail bei Nacht bewachen, zu überwältigen."
+
+So sprach sie; mein Bruder Mustapha aber, obgleich schon zweimal in
+seinen Hoffnungen getäuscht, faßte noch einmal Mut und hoffte mit
+Allahs Hilfe den Plan der Sklavin auszuführen. Er versprach ihr, für
+ihr weiteres Fortkommen in ihre Heimat zu sorgen, wenn sie ihm
+behilflich sein wollte, ins Schloß zu gelangen. Aber ein Gedanke
+machte ihm noch Sorge, nämlich der, woher er zwei oder drei treue
+Gehilfen bekommen könnte. Da fiel ihm Orbasans Dolch ein und das
+Versprechen, das ihm jener gegeben hatte, ihm, wo er seiner bedürfe,
+zu Hilfe zu eilen, und er machte sich daher mit Fatme aus dem
+Begräbnis auf, um den Räuber aufzusuchen.
+
+In der nämlichen Stadt, wo er sich zum Arzt umgewandelt hatte, kaufte
+er um sein letztes Geld ein Roß und mietete Fatme bei einer armen
+Frau in der Vorstadt ein. Er selbst aber eilte dem Gebirge zu, wo er
+Orbasan zum erstenmal getroffen hatte, und gelangte in drei Tagen
+dahin. Er fand bald wieder jene Zelte und trat unverhofft vor
+Orbasan, der ihn freundlich bewillkommnete. Er erzählte ihm seine
+mißlungenen Versuche, wobei sich der ernsthafte Orbasan nicht
+enthalten konnte, hier und da ein wenig zu lachen, besonders, wenn er
+sich den Arzt Chakamankabudibaba dachte. Über die Verräterei des
+Kleinen aber war er wütend; er schwur, ihn mit eigener Hand
+aufzuhängen, wo er ihn finde. Meinem Bruder aber versprach er,
+sogleich zur Hilfe bereit zu sein, wenn er sich vorher von der Reise
+gestärkt haben würde. Mustapha blieb daher diese Nacht wieder in
+Orbasans Zelt; mit dem ersten Frührot aber brachen sie auf, und
+Orbasan nahm drei seiner tapfersten Männer, wohl beritten und
+bewaffnet, mit sich. Sie ritten stark zu und kamen nach zwei Tagen
+in die kleine Stadt, wo Mustapha die gerettete Fatme zurückgelassen
+hatte. Von da aus reisten sie mit dieser weiter bis zu dem kleinen
+Wald, von wo aus man das Schloß Thiulis in geringer Entfernung sehen
+konnte; dort lagerten sie sich, um die Nacht abzuwarten.
+
+Sobald es dunkel wurde, schlichen sie sich, von Fatme geführt, an den
+Bach, wo die Wasserleitung anfing, und fanden diese bald. Dort
+ließen sie Fatme und einen Diener mit den Rossen zurück und schickten
+sich an, hinabzusteigen; ehe sie aber hinabstiegen, wiederholte ihnen
+Fatme noch einmal alles genau, nämlich: daß sie durch den Brunnen in
+den inneren Schloßhof kämen, dort seien rechts und links in der Ecke
+zwei Türme, in der sechsten Türe, vom Turme rechts gerechnet,
+befänden sich Fatme und Zoraide, bewacht von zwei schwarzen Sklaven.
+Mit Waffen und Brecheisen wohl versehen, stiegen Mustapha, Orbasan
+und zwei andere Männer hinab in die Wasserleitung; sie sanken zwar
+bis an den Gürtel ins Wasser; aber nichtsdestoweniger gingen sie
+rüstig vorwärts. Nach einer halben Stunde kamen sie an den Brunnen
+selbst und setzten sogleich ihre Brecheisen an. Die Mauer war dick
+und fest; aber den vereinten Kräften der vier Männer konnte sie nicht
+lange widerstehen; bald hatten sie eine Öffnung eingebrochen, groß
+genug, um bequem durchschlüpfen zu können. Orbasan schlüpfte zuerst
+durch und half den anderen nach. Als sie alle im Hof waren,
+betrachteten sie die Seite des Schlosses, die vor ihnen lag, um die
+beschriebene Türe zu erforschen. Aber sie waren nicht einig, welche
+es sei; denn als sie von dem rechten Turm zum linken zählten, fanden
+sie eine Türe, die zugemauert war, und wußten nun nicht, ob Fatme
+diese übersprungen oder mitgezählt habe. Aber Orbasan besann sich
+nicht lange. "Mein gutes Schwert wird mir jede Tür öffnen", rief er
+aus, ging auf die sechste Türe zu, und die anderen folgten ihm.
+
+Sie öffneten die Türe und fanden sechs schwarze Sklaven auf dem Boden
+liegend und schlafend; sie wollten schon wieder leise sich
+zurückziehen, weil sie sahen, daß sie die rechte Türe verfehlt hatten,
+als eine Gestalt in der Ecke sich aufrichtete und mit wohlbekannter
+Stimme um Hilfe rief. Es war der Kleine aus Orbasans Lager. Aber
+ehe noch die Schwarzen recht wußten, wie ihnen geschah, stürzte
+Orbasan auf den Kleinen zu, riß seinen Gürtel entzwei, verstopfte ihm
+den Mund und band ihm die Hände auf den Rücken; dann wandte er sich
+an die Sklaven, wovon schon einige von Mustapha und den zwei anderen
+halb gebunden waren, und half sie vollends überwältigen. Man setzte
+den Sklaven den Dolch auf die Brust und fragte sie, wo Nurmahal und
+Nürza wären, und sie gestanden, daß sie im Gemach nebenan seien.
+Mustapha stürzte in das Gemach und fand Fatme und Zoraide, die der
+Lärm erweckt hatte. Schnell rafften diese ihren Schmuck und ihre
+Kleider zusammen und folgten Mustapha; die beiden Räuber schlugen
+indes Orbasan vor, zu plündern, was man fände; doch dieser verbot es
+ihnen und sprach: "Man soll nicht von Orbasan sagen können, daß er
+nachts in die Häuser steige, um Gold zu stehlen!" Mustapha und die
+Geretteten schlüpften schnell in die Wasserleitung, wohin ihnen
+Orbasan sogleich zu folgen versprach. Als jene in die Wasserleitung
+hinabgestiegen waren, nahmen Orbasan und einer der Räuber den Kleinen
+und führten ihn hinaus in den Hof; dort banden sie ihm eine seidene
+Schnur, die sie deshalb mitgenommen hatten, um den Hals und hingen
+ihn an der höchsten Spitze des Brunnens auf. Nachdem sie so den
+Verrat des Elenden bestraft hatten, stiegen sie selbst hinab in die
+Wasserleitung und folgten Mustapha. Mit Tränen dankten die beiden
+ihrem edelmütigen Retter Orbasan; doch dieser trieb sie eilends zur
+Flucht an, denn es war sehr wahrscheinlich, daß sie Thiuli-Kos nach
+allen Seiten verfolgen ließ. Mit tiefer Rührung trennten sich am
+anderen Tag Mustapha und seine Geretteten von Orbasan; wahrlich, sie
+werden ihn nie vergessen. Fatme aber, die befreite Sklavin, ging
+verkleidet nach Balsora, um sich dort in ihre Heimat einzuschiffen.
+
+Nach einer kurzen und vergnügten Reise kamen die Meinigen in die
+Heimat. Meinen alten Vater tötete beinahe die Freude des
+Wiedersehens; den anderen Tag nach ihrer Ankunft veranstaltete er ein
+großes Fest, an welchem die ganze Stadt teilnahm. Vor einer großen
+Versammlung von Verwandten und Freunden mußte mein Bruder seine
+Geschichte erzählen, und einstimmig priesen sie ihn und den edlen
+Räuber.
+
+Als aber mein Bruder geschlossen hatte, stand mein Vater auf und
+führte Zoraide ihm zu. "So löse ich denn", sprach er mit feierlicher
+Stimme, "den Fluch von deinem Haupte; nimm diese hin als die
+Belohnung, die du dir durch deinen rastlosen Eifer erkämpft hast;
+nimm meinen väterlichen Segen, und möge es nie unserer Stadt an
+Männern fehlen, die an brüderlicher Liebe, an Klugheit und Eifer dir
+gleichen!"
+
+Die Karawane hatte das Ende der Wüste erreicht, und fröhlich
+begrüßten die Reisenden die grünen Matten und die dichtbelaubten
+Bäume, deren lieblichen Anblick sie viele Tage entbehrt hatten. In
+einem schönen Tale lag eine Karawanserei, die sie sich zum Nachtlager
+wählten, und obgleich sie wenig Bequemlichkeit und Erfrischung darbot,
+so war doch die ganze Gesellschaft heiterer und zutraulicher als je;
+denn der Gedanke, den Gefahren und Beschwerlichkeiten, die eine Reise
+durch die Wüste mit sich bringt, entronnen zu sein, hatte alle Herzen
+geöffnet und die Gemüter zu Scherz und Kurzweil gestimmt. Muley, der
+junge lustige Kaufmann, tanzte einen komischen Tanz und sang Lieder
+dazu, die selbst dem ernsten Griechen Zaleukos ein Lächeln entlockten.
+Aber nicht genug, daß er seine Gefährten durch Tanz und Spiel
+erheitert hatte, er gab ihnen auch noch die Geschichte zum besten,
+die er ihnen versprochen hatte, und hub, als er von seinen
+Luftsprüngen sich erholt hatte, also zu erzählen an: Die Geschichte
+von dem kleinen Muck.
+
+
+
+
+Die Geschichte von dem kleinen Muck
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+In Nicea, meiner lieben Vaterstadt, wohnte ein Mann, den man den
+kleinen Muck hieß. Ich kann mir ihn, ob ich gleich damals noch sehr
+jung war, noch recht wohl denken, besonders weil ich einmal von
+meinem Vater wegen seiner halbtot geprügelt wurde. Der kleine Muck
+nämlich war schon ein alter Geselle, als ich ihn kannte; doch war er
+nur drei bis vier Schuh hoch, dabei hatte er eine sonderbare Gestalt,
+denn sein Leib, so klein und zierlich er war, mußte einen Kopf tragen,
+viel größer und dicker als der Kopf anderer Leute; er wohnte ganz
+allein in einem großen Haus und kochte sich sogar selbst, auch hätte
+man in der Stadt nicht gewußt, ob er lebe oder gestorben sei, denn er
+ging nur alle vier Wochen einmal aus, wenn nicht um die Mittagsstunde
+ein mächtiger Dampf aus dem Hause aufgestiegen wäre, doch sah man ihn
+oft abends auf seinem Dache auf und ab gehen, von der Straße aus
+glaubte man aber, nur sein großer Kopf allein laufe auf dem Dache
+umher. Ich und meine Kameraden waren böse Buben, die jedermann gerne
+neckten und belachten, daher war es uns allemal ein Festtag, wenn der
+kleine Muck ausging; wir versammelten uns an dem bestimmten Tage vor
+seinem Haus und warteten, bis er herauskam; wenn dann die Türe
+aufging und zuerst der große Kopf mit dem noch größeren Turban
+herausguckte, wenn das übrige Körperlein nachfolgte, angetan mit
+einem abgeschabten Mäntelein, weiten Beinkleidern und einem breiten
+Gürtel, an welchem ein langer Dolch hing, so lang, daß man nicht
+wußte, ob Muck an dem Dolch, oder der Dolch an Muck stak, wenn er so
+heraustrat, da ertönte die Luft von unserem Freudengeschrei, wir
+warfen unsere Mützen in die Höhe und tanzten wie toll um ihn her.
+Der kleine Muck aber grüßte uns mit ernsthaftem Kopfnicken und ging
+mit langsamen Schritten die Straße hinab. Wir Knaben liefen hinter
+ihm her und schrien immer: "Kleiner Muck, kleiner Muck!" Auch hatten
+wir ein lustiges Verslein, das wir ihm zu Ehren hier und da sangen;
+es hieß:
+
+"Kleiner Muck, kleiner Muck,
+Wohnst in einem großen Haus,
+Gehst nur all vier Wochen aus,
+Bist ein braver, kleiner Zwerg,
+Hast ein Köpflein wie ein Berg,
+Schau dich einmal um und guck,
+Lauf und fang uns, kleiner Muck!"
+
+So hatten wir schon oft unsere Kurzweil getrieben, und zu meiner
+Schande muß ich es gestehen, ich trieb's am ärgsten; denn ich zupfte
+ihn oft am Mäntelein, und einmal trat ich ihm auch von hinten auf die
+großen Pantoffeln, daß er hinfiel. Dies kam mir nun höchst
+lächerlich vor, aber das Lachen verging mir, als ich den kleinen Muck
+auf meines Vaters Haus zugehen sah. Er ging richtig hinein und blieb
+einige Zeit dort. Ich versteckte mich an der Haustüre und sah den
+Muck wieder herauskommen, von meinem Vater begleitet, der ihn
+ehrerbietig an der Hand hielt und an der Türe unter vielen Bücklingen
+sich von ihm verabschiedete. Mir war gar nicht wohl zumute; ich
+blieb daher lange in meinem Versteck; endlich aber trieb mich der
+Hunger, den ich ärger fürchtete als Schläge, heraus, und demütig und
+mit gesenktem Kopf trat ich vor meinen Vater. "Du hast, wie ich höre,
+den guten Muck beschimpft?" sprach er in sehr ernstem Tone. "Ich
+will dir die Geschichte dieses Muck erzählen, und du wirst ihn gewiß
+nicht mehr auslachen; vor- und nachher aber bekommst du das
+Gewöhnliche." Das Gewöhnliche aber waren fünfundzwanzig Hiebe, die er
+nur allzu richtig aufzuzählen pflegte. Er nahm daher sein langes
+Pfeifenrohr, schraubte die Bernsteinmundspitze ab und bearbeitete
+mich ärger als je zuvor.
+
+Als die Fünfundzwanzig voll waren, befahl er mir, aufzumerken, und
+erzählte mir von dem kleinen Muck:
+
+Der Vater des kleinen Muck, der eigentlich Muckrah heißt, war ein
+angesehener, aber armer Mann hier in Nicea. Er lebte beinahe so
+einsiedlerisch wie jetzt sein Sohn. Diesen konnte er nicht wohl
+leiden, weil er sich seiner Zwerggestalt schämte, und ließ ihn daher
+auch in Unwissenheit aufwachsen. Der kleine Muck war noch in seinem
+sechzehnten Jahr ein lustiges Kind, und der Vater, ein ernster Mann,
+tadelte ihn immer, daß er, der schon längst die Kinderschuhe
+zertreten haben sollte, noch so dumm und läppisch sei.
+
+Der Alte tat aber einmal einen bösen Fall, an welchem er auch starb
+und den kleinen Muck arm und unwissend zurückließ. Die harten
+Verwandten, denen der Verstorbene mehr schuldig war, als er bezahlen
+konnte, jagten den armen Kleinen aus dem Hause und rieten ihm, in die
+Welt hinauszugehen und sein Glück zu suchen. Der kleine Muck
+antwortete, er sei schon reisefertig, bat sich aber nur noch den
+Anzug seines Vaters aus, und dieser wurde ihm auch bewilligt. Sein
+Vater war ein großer, starker Mann gewesen, daher paßten die Kleider
+nicht. Muck aber wußte bald Rat; er schnitt ab, was zu lang war, und
+zog dann die Kleider an. Er schien aber vergessen zu haben, daß er
+auch in der Weite davon schneiden müsse, daher sein sonderbarer
+Aufzug, wie er noch heute zu sehen ist; der große Turban, der breite
+Gürtel, die weiten Hosen, das blaue Mäntelein, alles dies sind
+Erbstücke seines Vaters, die er seitdem getragen; den langen
+Damaszenerdolch seines Vaters aber steckte er in den Gürtel, ergriff
+ein Stöcklein und wanderte zum Tor hinaus.
+
+Fröhlich wanderte er den ganzen Tag; denn er war ja ausgezogen, um
+sein Glück zu suchen; wenn er eine Scherbe auf der Erde im
+Sonnenschein glänzen sah, so steckte er sie gewiß zu sich, im Glauben,
+daß sie sich in den schönsten Diamanten verwandeln werde; sah er in
+der Ferne die Kuppel einer Moschee wie Feuer strahlen, sah er einen
+See wie einen Spiegel blinken, so eilte er voll Freude darauf zu;
+denn er dachte, in einem Zauberland angekommen zu sein. Aber ach!
+Jene Trugbilder verschwanden in der Nähe, und nur allzubald
+erinnerten ihn seine Müdigkeit und sein vor Hunger knurrender Magen,
+daß er noch im Lande der Sterblichen sich befinde. So war er zwei
+Tage gereist unter Hunger und Kummer und verzweifelte, sein Glück zu
+finden; die Früchte des Feldes waren seine einzige Nahrung, die harte
+Erde sein Nachtlager. Am Morgen des dritten Tages erblickte er von
+einer Anhöhe eine große Stadt.
+
+Hell leuchtete der Halbmond auf ihren Zinnen, bunte Fahnen
+schimmerten auf den Dächern und schienen den kleinen Muck zu sich
+herzuwinken. Überrascht stand er stille und betrachtete Stadt und
+Gegend. "Ja, dort wird Klein-Muck sein Glück finden", sprach er zu
+sich und machte trotz seiner Müdigkeit einen Luftsprung, "dort oder
+nirgends." Er raffte alle seine Kräfte zusammen und schritt auf die
+Stadt zu. Aber obgleich sie ganz nahe schien, konnte er sie doch
+erst gegen Mittag erreichen; denn seine kleinen Glieder versagten ihm
+beinahe gänzlich ihren Dienst, und er mußte sich oft in den Schatten
+einer Palme setzen, um auszuruhen. Endlich war er an dem Tor der
+Stadt angelangt. Er legte sein Mäntelein zurecht, band den Turban
+schöner um, zog den Gürtel noch breiter an und steckte den langen
+Dolch schiefer; dann wischte er den Staub von den Schuhen, ergriff
+sein Stöcklein und ging mutig zum Tor hinein.
+
+Er hatte schon einige Straßen durchwandert; aber nirgends öffnete
+sich ihm die Türe, nirgends rief man, wie er sich vorgestellt hatte:
+"Kleiner Muck, komm herein und iß und trink und laß deine Füßlein
+ausruhen!"
+
+Er schaute gerade auch wieder recht sehnsüchtig an einem großen,
+schönen Haus hinauf; da öffnete sich ein Fenster, eine alte Frau
+schaute heraus und rief mit singender Stimme:
+
+"Herbei, herbei!
+Gekocht ist der Brei,
+Den Tisch ließ ich decken,
+Drum laßt es euch schmecken;
+Ihr Nachbarn herbei,
+Gekocht ist der Brei."
+
+Die Türe des Hauses öffnete sich, und Muck sah viele Hunde und Katzen
+hineingehen. Er stand einige Augenblicke in Zweifel, ob er der
+Einladung folgen sollte; endlich aber faßte er sich ein Herz und ging
+in das Haus. Vor ihm her gingen ein paar junge Kätzlein, und er
+beschloß, ihnen zu folgen, weil sie vielleicht die Küche besser
+wüßten als er.
+
+Als Muck die Treppe hinaufgestiegen war, begegnete er jener alten
+Frau, die zum Fenster herausgeschaut hatte. Sie sah ihn mürrisch an
+und fragte nach seinem Begehr. "Du hast ja jedermann zu deinem Brei
+eingeladen", antwortete der kleine Muck, "und weil ich so gar hungrig
+bin, bin ich auch gekommen."
+
+Die Alte lachte und sprach: "Woher kommst du denn, wunderlicher
+Gesell? Die ganze Stadt weiß, daß ich für niemand koche als für
+meine lieben Katzen, und hier und da lade ich ihnen Gesellschaft aus
+der Nachbarschaft ein, wie du siehst."
+
+Der kleine Muck erzählte der alten Frau, wie es ihm nach seines
+Vaters Tod so hart ergangen sei, und bat sie, ihn heute mit ihren
+Katzen speisen zu lassen. Die Frau, welcher die treuherzige
+Erzählung des Kleinen wohl gefiel, erlaubte ihm, ihr Gast zu sein,
+und gab ihm reichlich zu essen und zu trinken. Als er gesättigt und
+gestärkt war, betrachtete ihn die Frau lange und sagte dann: "Kleiner
+Muck, bleibe bei mir in meinem Dienste! Du hast geringe Mühe und
+sollst gut gehalten sein."
+
+Der kleine Muck, dem der Katzenbrei geschmeckt hatte, willigte ein
+und wurde also der Bedienstete der Frau Ahavzi. Er hatte einen
+leichten, aber sonderbaren Dienst. Frau Ahavzi hatte nämlich zwei
+Kater und vier Katzen, diesen mußte der kleine Muck alle Morgen den
+Pelz kämmen und mit köstlichen Salben einreiben; wenn die Frau
+ausging, mußte er auf die Katzen Achtung geben, wenn sie aßen, mußte
+er ihnen die Schüsseln vorlegen, und nachts mußte er sie auf seidene
+Polster legen und sie mit samtenen Decken einhüllen. Auch waren noch
+einige kleine Hunde im Haus, die er bedienen mußte, doch wurden mit
+diesen nicht so viele Umstände gemacht wie mit den Katzen, welche
+Frau Ahavzi wie ihre eigenen Kinder hielt. Übrigens führte Muck
+ein so einsames Leben wie in seines Vaters Haus, denn außer der Frau
+sah er den ganzen Tag nur Hunde und Katzen. Eine Zeitlang ging es
+dem kleinen Muck ganz gut; er hatte immer zu essen und wenig zu
+arbeiten, und die alte Frau schien recht zufrieden mit ihm zu sein,
+aber nach und nach wurden die Katzen unartig, wenn die Alte
+ausgegangen war, sprangen sie wie besessen in den Zimmern umher,
+warfen alles durcheinander und zerbrachen manches schöne Geschirr,
+das ihnen im Weg stand. Wenn sie aber die Frau die Treppe
+heraufkommen hörten, verkrochen sie sich auf ihre Polster und
+wedelten ihr mit den Schwänzen entgegen, wie wenn nichts geschehen
+wäre. Die Frau Ahavzi geriet dann in Zorn, wenn sie ihre Zimmer so
+verwüstet sah, und schob alles auf Muck, er mochte seine Unschuld
+beteuern, wie er wollte, sie glaubte ihren Katzen, die so unschuldig
+aussahen, mehr als ihrem Diener.
+
+Der kleine Muck war sehr traurig, daß er also auch hier sein Glück
+nicht gefunden hatte, und beschloß bei sich, den Dienst der Frau
+Ahavzi zu verlassen. Da er aber auf seiner ersten Reise erfahren
+hatte, wie schlecht man ohne Geld lebt, so beschloß er, den Lohn, den
+ihm seine Gebieterin immer versprochen, aber nie gegeben hatte, sich
+auf irgendeine Art zu verschaffen. Es befand sich in dem Hause der
+Frau Ahavzi ein Zimmer, das immer verschlossen war und dessen Inneres
+er nie gesehen hatte. Doch hatte er die Frau oft darin rumoren
+gehört, und er hätte oft für sein Leben gern gewußt, was sie dort
+versteckt habe. Als er nun an sein Reisegeld dachte, fiel ihm ein,
+daß dort die Schätze der Frau versteckt sein könnten. Aber immer war
+die Tür fest verschlossen, und er konnte daher den Schätzen nie
+beikommen.
+
+Eines Morgens, als die Frau Ahavzi ausgegangen war, zupfte ihn eines
+der Hundlein, welches von der Frau immer sehr stiefmütterlich
+behandelt wurde, dessen Gunst er sich aber durch allerlei
+Liebesdienste in hohem Grade erworben hatte, an seinen weiten
+Beinkleidern und gebärdete sich dabei, wie wenn Muck ihm folgen
+sollte. Muck, welcher gerne mit den Hunden spielte, folgte ihm, und
+siehe da, das Hundlein führte ihn in die Schlafkammer der Frau Ahavzi
+vor eine kleine Türe, die er nie zuvor dort bemerkt hatte. Die Türe
+war halb offen. Das Hundlein ging hinein, und Muck folgte ihm, und
+wie freudig war er überrascht, als er sah, daß er sich in dem Gemach
+befand, das schon lange das Ziel seiner Wünsche war. Er spähte
+überall umher, ob er kein Geld finden könne, fand aber nichts. Nur
+alte Kleider und wunderlich geformte Geschirre standen umher. Eines
+dieser Geschirre zog seine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Es war
+von Kristall, und schöne Figuren waren darauf ausgeschnitten. Er hob
+es auf und drehte es nach allen Seiten. Aber, o Schrecken! Er hatte
+nicht bemerkt, daß es einen Deckel hatte, der nur leicht darauf
+hingesetzt war. Der Deckel fiel herab und zerbrach in tausend Stücke.
+
+Lange stand der kleine Muck vor Schrecken leblos. Jetzt war sein
+Schicksal entschieden, jetzt mußte er entfliehen, sonst schlug ihn
+die Alte tot. Sogleich war auch seine Reise beschlossen, und nur
+noch einmal wollte er sich umschauen, ob er nichts von den
+Habseligkeiten der Frau Ahavzi zu seinem Marsch brauchen könnte. Da
+fielen ihm ein Paar mächtig große Pantoffeln ins Auge; sie waren zwar
+nicht schön; aber seine eigenen konnten keine Reise mehr mitmachen;
+auch zogen ihn jene wegen ihrer Größe an; denn hatte er diese am Fuß,
+so mußten ihm hoffentlich alle Leute ansehen, daß er die Kinderschuhe
+vertreten habe. Er zog also schnell seine Töffelein aus und fuhr in
+die großen hinein. Ein Spazierstöcklein mit einem schön
+geschnittenen Löwenkopf schien ihm auch hier allzu müßig in der Ecke
+zu stehen; er nahm es also mit und eilte zum Zimmer hinaus. Schnell
+ging er jetzt auf seine Kammer, zog sein Mäntelein an, setzte den
+väterlichen Turban auf, steckte den Dolch in den Gürtel und lief, so
+schnell ihn seine Füße trugen, zum Haus und zur Stadt hinaus. Vor
+der Stadt lief er, aus Angst vor der Alten, immer weiter fort, bis er
+vor Müdigkeit beinahe nicht mehr konnte. So schnell war er in seinem
+Leben nicht gegangen; ja, es schien ihm, als könne er gar nicht
+aufhören zu rennen; denn eine unsichtbare Gewalt schien ihn
+fortzureißen. Endlich bemerkte er, daß es mit den Pantoffeln eine
+eigene Bewandtnis haben müsse; denn diese schossen immer fort und
+führten ihn mit sich. Er versuchte auf allerlei Weise stillzustehen;
+aber es wollte nicht gelingen; da rief er in der höchsten Not, wie
+man den Pferden zuruft, sich selbst zu: "Oh--oh, halt, oh!" Da
+hielten die Pantoffeln, und Muck warf sich erschöpft auf die Erde
+nieder.
+
+Die Pantoffeln freuten ihn ungemein. So hatte er sich denn doch
+durch seine Verdienste etwas erworben, das ihm in der Welt auf seinem
+Weg das Glück zu suchen, forthelfen konnte. Er schlief trotz seiner
+Freude vor Erschöpfung ein; denn das Körperlein des kleinen Muck, das
+einen so schweren Kopf zu tragen hatte, konnte nicht viel aushalten.
+Im Traum erschien ihm das Hundlein, welches ihm im Hause der Frau
+Ahavzi zu den Pantoffeln verholfen hatte, und sprach zu ihm: "Lieber
+Muck, du verstehst den Gebrauch der Pantoffeln noch nicht recht;
+wisse, wenn du dich in ihnen dreimal auf dem Absatz herumdrehst, so
+kannst du hinfliegen, wohin du nur willst, und mit dem Stöcklein
+kannst du Schätze finden, denn wo Gold vergraben ist, da wird es
+dreimal auf die Erde schlagen, bei Silber zweimal." So träumte der
+kleine Muck. Als er aber aufwachte, dachte er über den wunderbaren
+Traum nach und beschloß, alsbald einen Versuch zu machen. Er zog die
+Pantoffeln an, lupfte einen Fuß und begann sich auf dem Absatz
+umzudrehen. Wer es aber jemals versucht hat, in einem ungeheuer
+weiten Pantoffel dieses Kunststück dreimal hintereinander zu machen,
+der wird sich nicht wundern, wenn es dem kleinen Muck nicht gleich
+glückte, besonders wenn man bedenkt, daß ihn sein schwerer Kopf bald
+auf diese, bald auf jene Seite hinüberzog.
+
+Der arme Kleine fiel einigemal tüchtig auf die Nase; doch ließ er
+sich nicht abschrecken, den Versuch zu wiederholen, und endlich
+glückte es. Wie ein Rad fuhr er auf seinem Absatz herum, wünschte
+sich in die nächste große Stadt, und--die Pantoffeln ruderten hinauf
+in die Lüfte, liefen mit Windeseile durch die Wolken, und ehe sich
+der kleine Muck noch besinnen konnte, wie ihm geschah, befand er sich
+schon auf einem großen Marktplatz, wo viele Buden aufgeschlagen waren
+und unzählige Menschen geschäftig hin und her liefen. Er ging unter
+den Leuten hin und her, hielt es aber für ratsamer, sich in eine
+einsamere Straße zu begeben; denn auf dem Markt trat ihm bald da
+einer auf die Pantoffeln, daß er beinahe umfiel, bald stieß er mit
+seinem weit hinausstehenden Dolch einen oder den anderen an, daß er
+mit Mühe den Schlägen entging.
+
+Der kleine Muck bedachte nun ernstlich, was er wohl anfangen könnte,
+um sich ein Stück Geld zu verdienen; er hatte zwar ein Stäblein, das
+ihm verborgene Schätze anzeigte, aber wo sollte er gleich einen Platz
+finden, wo Gold oder Silber vergraben wäre? Auch hätte er sich zur
+Not für Geld sehen lassen können; aber dazu war er doch zu stolz.
+Endlich fiel ihm die Schnelligkeit seiner Füße ein, "vielleicht",
+dachte er, "können mir meine Pantoffeln Unterhalt gewähren", und er
+beschloß, sich als Schnelläufer zu verdingen. Da er aber hoffen
+durfte, daß der König dieser Stadt solche Dienste am besten bezahle,
+so erfragte er den Palast. Unter dem Tor des Palastes stand eine
+Wache, die ihn fragte, was er hier zu suchen habe. Auf seine Antwort,
+daß er einen Dienst suche, wies man ihn zum Aufseher der Sklaven.
+Diesem trug er sein Anliegen vor und bat ihn, ihm einen Dienst unter
+den königlichen Boten zu besorgen. Der Aufseher maß ihn mit seinen
+Augen von Kopf bis zu den Füßen und sprach: "Wie, mit deinen Füßlein,
+die kaum so lang als eine Spanne sind, willst du königlicher
+Schnelläufer werden? Hebe dich weg, ich bin nicht dazu da, mit jedem
+Narren Kurzweil zu machen." Der kleine Muck versicherte ihm aber, daß
+es ihm vollkommen ernst sei mit seinem Antrag und daß er es mit dem
+Schnellsten auf eine Wette ankommen lassen wollte. Dem Aufseher kam
+die Sache gar lächerlich vor; er befahl ihm, sich bis auf den Abend
+zu einem Wettlauf bereitzuhalten, führte ihn in die Küche und sorgte
+dafür, daß ihm gehörig Speis' und Trank gereicht wurde; er selbst
+aber begab sich zum König und erzählte ihm vom kleinen Muck und
+seinem Anerbieten. Der König war ein lustiger Herr, daher gefiel es
+ihm wohl, daß der Aufseher der Sklaven den kleinen Menschen zu einem
+Spaß behalten habe, er befahl ihm, auf einer großen Wiese hinter dem
+Schloß Anstalten zu treffen, daß das Wettlaufen mit Bequemlichkeit
+von seinem ganzen Hofstaat könnte gesehen werden, und empfahl ihm
+nochmals, große Sorgfalt für den Zwerg zu haben. Der König erzählte
+seinen Prinzen und Prinzessinnen, was sie diesen Abend für ein
+Schauspiel haben würden, diese erzählten es wieder ihren Dienern, und
+als der Abend herankam, war man in gespannter Erwartung, und alles,
+was Füße hatte, strömte hinaus auf die Wiese, wo Gerüste
+aufgeschlagen waren, um den großsprecherischen Zwerg laufen zu sehen.
+
+Als der König und seine Söhne und Töchter auf dem Gerüst Platz
+genommen hatten, trat der kleine Muck heraus auf die Wiese und machte
+vor den hohen Herrschaften eine überaus zierliche Verbeugung. Ein
+allgemeines Freudengeschrei ertönte, als man des Kleinen ansichtig
+wurde; eine solche Figur hatte man dort noch nie gesehen. Das
+Körperlein mit dem mächtigen Kopf, das Mäntelein und die weiten
+Beinkleider, der lange Dolch in dem breiten Gürtel, die kleinen
+Füßlein in den weiten Pantoffeln--nein! Es war zu drollig anzusehen,
+als daß man nicht hätte laut lachen sollen. Der kleine Muck ließ
+sich aber durch das Gelächter nicht irremachen. Er stellte sich
+stolz, auf sein Stöcklein gestützt, hin und erwartete seinen Gegner.
+Der Aufseher der Sklaven hatte nach Mucks eigenem Wunsche den besten
+Läufer ausgesucht. Dieser trat nun heraus, stellte sich neben den
+Kleinen, und beide harrten auf das Zeichen. Da winkte Prinzessin
+Amarza, wie es ausgemacht war, mit ihrem Schleier, und wie zwei
+Pfeile, auf dasselbe Ziel abgeschossen, flogen die beiden Wettläufer
+über die Wiese hin.
+
+Von Anfang hatte Mucks Gegner einen bedeutenden Vorsprung, aber
+dieser jagte ihm auf seinem Pantoffelfuhrwerk nach, holte ihn ein,
+überfing ihn und stand längst am Ziele, als jener noch, nach Luft
+schnappend, daherlief. Verwunderung und Staunen fesselten einige
+Augenblicke die Zuschauer, als aber der König zuerst in die Hände
+klatschte, da jauchzte die Menge, und alle riefen: "Hoch lebe der
+kleine Muck, der Sieger im Wettlauf!"
+
+Man hatte indes den kleinen Muck herbeigebracht; er warf sich vor dem
+König nieder und sprach: "Großmächtigster König, ich habe dir hier
+nur eine kleine Probe meiner Kunst gegeben; wolle nur gestatten, daß
+man mir eine Stelle unter deinen Läufern gebe!"
+
+Der König aber antwortete ihm: "Nein, du sollst mein Leibläufer und
+immer um meine Person sein, lieber Muck, jährlich sollst du hundert
+Goldstücke erhalten als Lohn, und an der Tafel meiner ersten Diener
+sollst du speisen."
+
+So glaubte denn Muck, endlich das Glück gefunden zu haben, das er so
+lange suchte, und war fröhlich und wohlgemut in seinem Herzen. Auch
+erfreute er sich der besonderen Gnade des Königs, denn dieser
+gebrauchte ihn zu seinen schnellsten und geheimsten Sendungen, die er
+dann mit der größten Genauigkeit und mit unbegreiflicher Schnelle
+besorgte.
+
+Aber die übrigen Diener des Königs waren ihm gar nicht zugetan, weil
+sie sich ungern durch einen Zwerg, der nichts verstand, als schnell
+zu laufen, in der Gunst ihres Herrn zurückgesetzt sahen. Sie
+veranstalteten daher manche Verschwörung gegen ihn, um ihn zu stürzen;
+aber alle schlugen fehl an dem großen Zutrauen, das der König in
+seinen geheimen Oberleibläufer (denn zu dieser Würde hatte er es in
+so kurzer Zeit gebracht) setzte.
+
+Muck, dem diese Bewegungen gegen ihn nicht entgingen, sann nicht auf
+Rache, dazu hatte er ein zu gutes Herz, nein, auf Mittel dachte er,
+sich bei seinen Feinden notwendig und beliebt zu machen. Da fiel ihm
+sein Stäblein, das er in seinem Glück außer acht gelassen hatte, ein;
+wenn er Schätze finde, dachte er, würden ihm die Herren schon
+geneigter werden. Er hatte schon oft gehört, daß der Vater des
+jetzigen Königs viele seiner Schätze vergraben habe, als der Feind
+sein Land überfallen; man sagte auch, er sei darüber gestorben, ohne
+daß er sein Geheimnis habe seinem Sohn mitteilen können. Von nun an
+nahm Muck immer sein Stöcklein mit, in der Hoffnung, einmal an einem
+Ort vorüberzugehen, wo das Geld des alten Königs vergraben sei.
+Eines Abends führte ihn der Zufall in einen entlegenen Teil des
+Schloßgartens, den er wenig besuchte, und plötzlich fühlte er das
+Stöcklein in seiner Hand zucken, und dreimal schlug es gegen den
+Boden. Nun wußte er schon, was dies zu bedeuten hatte. Er zog daher
+seinen Dolch heraus, machte Zeichen in die umstellenden Bäume und
+schlich sich wieder in das Schloß; dort verschaffte er sich einen
+Spaten und wartete die Nacht zu seinem Unternehmen ab.
+
+Das Schatzgraben selbst machte übrigens dem kleinen Muck mehr zu
+schaffen, als er geglaubt hatte.
+
+Seine Arme waren gar zu schwach, sein Spaten aber groß und schwer;
+und er mochte wohl schon zwei Stunden gearbeitet haben, ehe er ein
+paar Fuß tief gegraben hatte. Endlich stieß er auf etwas Hartes, das
+wie Eisen klang. Er grub jetzt emsiger, und bald hatte er einen
+großen eisernen Deckel zutage gefördert; er stieg selbst in die Grube
+hinab, um nachzuspähen, was wohl der Deckel könnte bedeckt haben, und
+fand richtig einen großen Topf, mit Goldstücken angefüllt. Aber
+seine schwachen Kräfte reichten nicht hin, den Topf zu heben, daher
+steckte er in seine Beinkleider und seinen Gürtel, so viel er zu
+tragen vermochte, und auch sein Mäntelein füllte er damit, bedeckte
+das übrige wieder sorgfältig und lud es auf den Rücken. Aber
+wahrlich, wenn er die Pantoffeln nicht an den Füßen gehabt hätte, er
+wäre nicht vom Fleck gekommen, so zog ihn die Last des Goldes nieder.
+Doch unbemerkt kam er auf sein Zimmer und verwahrte dort sein Gold
+unter den Polstern seines Sofas.
+
+Als der kleine Muck sich im Besitz so vielen Goldes sah, glaubte er,
+das Blatt werde sich jetzt wenden und er werde sich unter seinen
+Feinden am Hofe viele Gönner und warme Anhänger erwerben. Aber schon
+daran konnte man erkennen, daß der gute Muck keine gar sorgfältige
+Erziehung genossen haben mußte, sonst hätte er sich wohl nicht
+einbilden können, durch Gold wahre Freunde zu gewinnen. Ach, daß er
+damals seine Pantoffeln geschmiert und sich mit seinem Mäntelein voll
+Gold aus dem Staub gemacht hätte!
+
+Das Gold, das der kleine Muck von jetzt an mit vollen Händen
+austeilte, erweckte den Neid der übrigen Hofbediensteten. Der
+Küchenmeister Ahuli sagte: "Er ist ein Falschmünzer."
+
+Der Sklavenaufseher Achmet sagte: "Er hat's dem König abgeschwatzt."
+
+Archaz, der Schatzmeister, aber, sein ärgster Feind, der selbst hier
+und da einen Griff in des Königs Kasse tun mochte, sagte geradezu:
+"Er hat's gestohlen."
+
+Um nun ihrer Sache gewiß zu sein, verabredeten sie sich, und der
+Obermundschenk Korchuz stellte sich eines Tages recht traurig und
+niedergeschlagen vor die Augen des Königs. Er machte seine traurigen
+Gebärden so auffallend, daß ihn der König fragte, was ihm fehle.
+
+"Ah", antwortete er, "ich bin traurig, daß ich die Gnade meines Herrn
+verloren habe."
+
+"Was fabelst du, Freund Korchuz?" entgegnete ihm der König. "Seit
+wann hätte ich die Sonne meiner Gnade nicht über dich leuchten
+lassen?" Der Obermundschenk antwortete ihm, daß er ja den geheimen
+Oberleibläufer mit Gold belade, seinen armen, treuen Dienern aber
+nichts gebe.
+
+Der König war sehr erstaunt über diese Nachricht, ließ sich die
+Goldausteilungen des kleinen Muck erzählen, und die Verschworenen
+brachten ihm leicht den Verdacht bei, daß Muck auf irgendeine Art das
+Geld aus der Schatzkammer gestohlen habe. Sehr lieb war diese
+Wendung der Sache dem Schatzmeister, der ohnehin nicht gerne Rechnung
+ablegte. Der König gab daher den Befehl, heimlich auf alle Schritte
+des kleinen Muck achtzugeben, um ihn womöglich auf der Tat zu
+ertappen. Als nun in der Nacht, die auf diesen Unglückstag folgte,
+der kleine Muck, da er durch seine Freigebigkeit seine Kasse sehr
+erschöpft sah, den Spaten nahm und in den Schloßgarten schlich, um
+dort von seinem geheimen Schatze neuen Vorrat zu holen, folgten ihm
+von weitem die Wachen, von dem Küchenmeister Ahuli und Archaz, dem
+Schatzmeister, angeführt, und in dem Augenblick, da er das Gold aus
+dem Topf in sein Mäntelein legen wollte, fielen sie über ihn her,
+banden ihn und führten ihn sogleich vor den König. Dieser, den
+ohnehin die Unterbrechung seines Schlafes mürrisch gemacht hatte,
+empfing seinen armen Oberleibläufer sehr ungnädig und stellte
+sogleich das Verhör über ihn an. Man hatte den Topf vollends aus der
+Erde gegraben und mit dem Spaten und mit dem Mäntelein voll Gold vor
+die Füße des Königs gesetzt. Der Schatzmeister sagte aus, daß er mit
+seinen Wachen den Muck überrascht habe, wie er diesen Topf mit Gold
+gerade in die Erde gegraben habe.
+
+Der König befragte hierauf den Angeklagten, ob es wahr sei und woher
+er das Gold, das er vergraben, bekommen habe.
+
+Der kleine Muck, im Gefühl seiner Unschuld, sagte aus, daß er diesen
+Topf im Garten entdeckt habe, daß er ihn habe nicht ein-, sondern
+ausgraben wollen.
+
+Alle Anwesenden lachten laut über diese Entschuldigung, der König
+aber, aufs höchste erzürnt über die vermeintliche Frechheit des
+Kleinen, rief aus: "Wie, Elender! Du willst deinen König so dumm und
+schändlich belügen, nachdem du ihn bestohlen hast? Schatzmeister
+Archaz! Ich fordere dich auf, zu sagen, ob du diese Summe Goldes für
+die nämliche erkennst, die in meinem Schatze fehlt."
+
+Der Schatzmeister aber antwortete, er sei seiner Sache ganz gewiß, so
+viel und noch mehr fehle seit einiger Zeit von dem königlichen Schatz,
+und er könne einen Eid darauf ablegen, daß dies das Gestohlene sei.
+
+Da befahl der König, den kleinen Muck in enge Ketten zu legen und in
+den Turm zu führen; dem Schatzmeister aber übergab er das Gold, um es
+wieder in den Schatz zu tragen. Vergnügt über den glücklichen
+Ausgang der Sache, zog dieser ab und zählte zu Haus die blinkenden
+Goldstücke; aber das hat dieser schlechte Mann niemals angezeigt, daß
+unten in dem Topf ein Zettel lag, der sagte: "Der Feind hat mein Land
+überschwemmt, daher verberge ich hier einen Teil meiner Schätze; wer
+es auch finden mag, den treffe der Fluch seines Königs, wenn er es
+nicht sogleich meinem Sohne ausliefert! König Sadi."
+
+Der kleine Muck stellte in seinem Kerker traurige Betrachtungen an;
+er wußte, daß auf Diebstahl an königlichen Sachen der Tod gesetzt war,
+und doch mochte er das Geheimnis mit dem Stäbchen dem König nicht
+verraten, weil er mit Recht fürchtete, dieses und seiner Pantoffeln
+beraubt zu werden. Seine Pantoffeln konnten ihm leider auch keine
+Hilfe bringen; denn da er in engen Ketten an die Mauer geschlossen
+war, konnte er, so sehr er sich quälte, sich nicht auf dem Absatz
+umdrehen. Als ihm aber am anderen Tage sein Tod angekündigt wurde,
+da gedachte er doch, es sei besser, ohne das Zauberstäbchen zu leben
+als mit ihm zu sterben, ließ den König um geheimes Gehör bitten und
+entdeckte ihm das Geheimnis. Der König maß von Anfang an seinem
+Geständnis keinen Glauben bei; aber der kleine Muck versprach eine
+Probe, wenn ihm der König zugestünde, daß er nicht getötet werden
+solle.
+
+Der König gab ihm sein Wort darauf und ließ, von Muck ungesehen,
+einiges Gold in die Erde graben und befahl diesem, mit seinem
+Stäbchen zu suchen. In wenigen Augenblicken hatte er es gefunden;
+denn das Stäbchen schlug deutlich dreimal auf die Erde. Da merkte
+der König, daß ihn sein Schatzmeister betrogen hatte, und sandte ihm,
+wie es im Morgenland gebräuchlich ist, eine seidene Schnur, damit er
+sich selbst erdroßle. Zum kleinen Muck aber sprach er: "Ich habe dir
+zwar dein Leben versprochen; aber es scheint mir, als ob du nicht
+allein dieses Geheimnis mit dem Stäbchen besitzest; darum bleibst du
+in ewiger Gefangenschaft, wenn du nicht gestehst, was für eine
+Bewandtnis es mit deinem Schnellaufen hat." Der kleine Muck, den die
+einzige Nacht im Turm alle Lust zu längerer Gefangenschaft benommen
+hatte, bekannte, daß seine ganze Kunst in den Pantoffeln liege, doch
+lehrte er den König nicht das Geheimnis von dem dreimaligen Umdrehen
+auf dem Absatz. Der König schlüpfte selbst in die Pantoffeln, um die
+Probe zu machen, und jagte wie unsinnig im Garten umher; oft wollte
+er anhalten; aber er wußte nicht, wie man die Pantoffeln zum Stehen
+brachte, und der kleine Muck, der diese kleine Rache sich nicht
+versagen konnte, ließ ihn laufen, bis er ohnmächtig niederfiel.
+
+Als der König wieder zur Besinnung zurückgekehrt war, war er
+schrecklich aufgebracht über den kleinen Muck, der ihn so ganz außer
+Atem hatte laufen lassen. "Ich habe dir mein Wort gegeben, dir
+Freiheit und Leben zu schenken; aber innerhalb zwölf Stunden mußt du
+mein Land verlassen, sonst lasse ich dich aufknöpfen!" Die Pantoffeln
+und das Stäbchen aber ließ er in seine Schatzkammer legen.
+
+So arm als je wanderte der kleine Muck zum Land hinaus, seine Torheit
+verwünschend, die ihm vorgespiegelt hatte, er könne eine bedeutende
+Rolle am Hofe spielen. Das Land, aus dem er gejagt wurde, war zum
+Glück nicht groß, daher war er schon nach acht Stunden auf der Grenze,
+obgleich ihn das Gehen, da er an seine lieben Pantoffeln gewöhnt war,
+sehr sauer ankam.
+
+Als er über der Grenze war, verließ er die gewöhnliche Straße, um die
+dichteste Einöde der Wälder aufzusuchen und dort nur sich zu leben;
+denn er war allen Menschen gram. In einem dichten Walde traf er auf
+einen Platz, der ihm zu dem Entschluß, den er gefaßt hatte, ganz
+tauglich schien. Ein klarer Bach, von großen, schattigen
+Feigenbäumen umgeben, ein weicher Rasen luden ihn ein; hier warf er
+sich nieder mit dem Entschluß, keine Speise mehr zu sich zu nehmen,
+sondern hier den Tod zu erwarten. Über traurigen
+Todesbetrachtungen schlief er ein; als er aber wieder aufwachte und
+der Hunger ihn zu quälen anfing, bedachte er doch, daß der Hungertod
+eine gefährliche Sache sei, und sah sich um, ob er nirgends etwas zu
+essen bekommen könnte.
+
+Köstliche reife Feigen hingen an dem Baume, unter welchem er
+geschlafen hatte; er stieg hinauf, um sich einige zu pflücken, ließ
+es sich trefflich schmecken und ging dann hinunter an den Bach, um
+seinen Durst zu löschen. Aber wie groß war sein Schrecken, als ihm
+das Wasser seinen Kopf mit zwei gewaltigen Ohren und einer dicken,
+langen Nase geschmückt zeigte! Bestürzt griff er mit den Händen nach
+den Ohren, und wirklich, sie waren über eine halbe Elle lang.
+
+"Ich verdiene Eselsohren!" rief er aus; "denn ich habe mein Glück wie
+ein Esel mit Füßen getreten." Er wanderte unter den Bäumen umher, und
+als er wieder Hunger fühlte, mußte er noch einmal zu den Feigen seine
+Zuflucht nehmen; denn sonst fand er nichts Eßbares an den Bäumen.
+Als ihm über der zweiten Portion Feigen einfiel, ob wohl seine Ohren
+nicht unter seinem großen Turban Platz hätten, damit er doch nicht
+gar zu lächerlich aussehe, fühlte er, daß seine Ohren verschwunden
+waren. Er lief gleich an den Bach zurück, um sich davon zu
+überzeugen, und wirklich, es war so, seine Ohren hatten ihre vorige
+Gestalt, seine lange, unförmliche Nase war nicht mehr. Jetzt merkte
+er aber, wie dies gekommen war; von dem ersten Feigenbaum hatte er
+die lange Nase und Ohren bekommen, der zweite hatte ihn geheilt;
+freudig erkannte er, daß sein gütiges Geschick ihm noch einmal die
+Mittel in die Hand gebe, glücklich zu sein. Er pflückte daher von
+jedem Baum so viel, wie er tragen konnte, und ging in das Land zurück,
+das er vor kurzem verlassen hatte. Dort machte er sich in dem
+ersten Städtchen durch andere Kleider ganz unkenntlich und ging dann
+weiter auf die Stadt zu, die jener König bewohnte, und kam auch bald
+dort an.
+
+Es war gerade zu einer Jahreszeit, wo reife Früchte noch ziemlich
+selten waren; der kleine Muck setzte sich daher unter das Tor des
+Palastes; denn ihm war von früherer Zeit her wohl bekannt, daß hier
+solche Seltenheiten von dem Küchenmeister für die königliche Tafel
+eingekauft wurden. Muck hatte noch nicht lange gesessen, als er den
+Küchenmeister über den Hof herüberschreiten sah. Er musterte die
+Waren der Verkäufer, die sich am Tor des Palastes eingefunden hatten;
+endlich fiel sein Blick auch auf Mucks Körbchen. "Ah, ein seltener
+Bissen", sagte er, "der Ihro Majestät gewiß behagen wird. Was willst
+du für den ganzen Korb?" Der kleine Muck bestimmte einen mäßigen
+Preis, und sie waren bald des Handels einig. Der Küchenmeister
+übergab den Korb einem Sklaven und ging weiter; der kleine Muck aber
+macht sich einstweilen aus dem Staub, weil er befürchtete, wenn sich
+das Unglück an den Köpfen des Hofes zeigte, möchte man ihn als
+Verkäufer aufsuchen und bestrafen.
+
+Der König war über Tisch sehr heiter gestimmt und sagte seinem
+Küchenmeister einmal über das andere Lobsprüche wegen seiner guten
+Küche und der Sorgfalt, mit der er immer das Seltenste für ihn
+aussuche; der Küchenmeister aber, welcher wohl wußte, welchen
+Leckerbissen er noch im Hintergrund habe, schmunzelte gar freundlich
+und ließ nur einzelne Worte fallen, als: "Es ist noch nicht aller
+Tage Abend", oder "Ende gut, alles gut", so daß die Prinzessinnen
+sehr neugierig wurden, was er wohl noch bringen werde. Als er aber
+die schönen, einladenden Feigen aufsetzen ließ, da entfloh ein
+allgemeines Ah! dem Munde der Anwesenden.
+
+"Wie reif, wie appetitlich!" rief der König. "Küchenmeister, du bist
+ein ganzer Kerl und verdienst unsere ganz besondere Gnade!" Also
+sprechend, teilte der König, der mit solchen Leckerbissen sehr
+sparsam zu sein pflegte, mit eigener Hand die Feigen an seiner Tafel
+aus. Jeder Prinz und jede Prinzessin bekam zwei, die Hofdamen und
+die Wesire und Agas eine, die übrigen stellte er vor sich hin und
+begann mit großem Behagen sie zu verschlingen.
+
+"Aber, lieber Gott, wie siehst du so wunderlich aus, Vater?" rief auf
+einmal die Prinzessin Amarza. Alle sahen den König erstaunt an;
+ungeheure Ohren hingen ihm am Kopf, eine lange Nase zog sich über
+sein Kinn herunter; auch sich selbst betrachteten sie untereinander
+mit Staunen und Schrecken; alle waren mehr oder minder mit dem
+sonderbaren Kopfputz geschmeckt.
+
+Man denke sich den Schrecken des Hofes! Man schickte sogleich nach
+allen Ärzten der Stadt; sie kamen haufenweise, verordneten Pillen und
+Mixturen; aber die Ohren und die Nasen blieben. Man operierte einen
+der Prinzen; aber die Ohren wuchsen nach.
+
+Muck hatte die ganze Geschichte in seinem Versteck, wohin er sich
+zurückgezogen hatte, gehört und erkannte, daß es jetzt Zeit sei zu
+handeln. Er hatte sich schon vorher von dem aus den Feigen gelösten
+Geld einen Anzug verschafft, der ihn als Gelehrten darstellen konnte;
+ein langer Bart aus Ziegenhaaren vollendete die Täuschung. Mit einem
+Säckchen voll Feigen wanderte er in den Palast des Königs und bot als
+fremder Arzt seine Hilfe an. Man war von Anfang sehr ungläubig; als
+aber der kleine Muck eine Feige einem der Prinzen zu essen gab und
+Ohren und Nase dadurch in den alten Zustand zurückbrachte, da wollte
+alles von dem fremden Arzte geheilt sein. Aber der König nahm ihn
+schweigend bei der Hand und führte ihn in sein Gemach; dort schloß er
+eine Türe auf, die in die Schatzkammer führte, und winkte Muck, ihm
+zu folgen. "Hier sind meine Schätze", sprach der König, "wähle dir,
+was es auch sei, es soll dir gewährt werden, wenn du mich von diesem
+schmachvollen Übel befreist."
+
+Das war süße Musik in des kleinen Muck Ohren; er hatte gleich beim
+Eintritt seine Pantoffeln auf dem Boden stehen sehen, gleich daneben
+lag auch sein Stäbchen. Er ging nun umher in dem Saal, wie wenn er
+die Schätze des Königs bewundern wollte; kaum aber war er an seine
+Pantoffeln gekommen, so schlüpfte er eilends hinein, ergriff sein
+Stäbchen, riß seinen falschen Bart herab und zeigte dem erstaunten
+König das wohlbekannte Gesicht seines verstoßenen Muck. "Treuloser
+König", sprach er, "der du treue Dienste mit Undank lohnst, nimm als
+wohlverdiente Strafe die Mißgestalt, die du trägst. Die Ohren laß
+ich dir zurück, damit sie dich täglich erinnern an den kleinen Muck."
+Als er so gesprochen hatte, drehte er sich schnell auf dem Absatz
+herum, wünschte sich weit hinweg, und ehe noch der König um Hilfe
+rufen konnte, war der kleine Muck entflohen. Seitdem lebt der kleine
+Muck hier in großem Wohlstand, aber einsam; denn er verachtet die
+Menschen. Er ist durch Erfahrung ein weiser Mann geworden, welcher,
+wenn auch sein Äußeres etwas Auffallendes haben mag, deine
+Bewunderung mehr als deinen Spott verdient.
+
+"So erzählte mir mein Vater; ich bezeugte ihm meine Reue über mein
+rohes Betragen gegen den guten kleinen Mann, und mein Vater schenkte
+mir die andere Hälfte der Strafe, die er mir zugedacht hatte. Ich
+erzählte meinen Kameraden die wunderbaren Schicksale des Kleinen, und
+wir gewannen ihn so lieb, daß ihn keiner mehr schimpfte. Im
+Gegenteil, wir ehrten ihn, solange er lebte, und haben uns vor ihm
+immer so tief wie vor Kadi und Mufti gebückt."
+
+Die Reisenden beschlossen, einen Rasttag in dieser Karawanserei zu
+machen, um sich und die Tiere zur weiteren Reise zu stärken. Die
+gestrige Fröhlichkeit ging auch auf diesen Tag über, und sie
+ergötzten sich in allerlei Spielen. Nach dem Essen aber riefen sie
+dem fünften Kaufmann, Ali Sizah, zu, auch seine Schuldigkeit gleich
+den übrigen zu tun und eine Geschichte zu erzählen. Er antwortete,
+sein Leben sei zu arm an auffallenden Begebenheiten, als daß er ihnen
+etwas davon mitteilen möchte, daher wolle er ihnen etwas anderes
+erzählen, nämlich: Das Märchen vom falschen Prinzen.
+
+
+
+
+Das Märchen vom falschen Prinzen
+
+Wilhelm Hauff
+
+
+Es war einmal ein ehrsamer Schneidergeselle, namens Labakan, der bei
+einem geschickten Meister in Alessandria sein Handwerk lernte. Man
+konnte nicht sagen, daß Labakan ungeschickt mit der Nadel war, im
+Gegenteil, er konnte recht feine Arbeit machen. Auch tat man ihm
+unrecht, wenn man ihn geradezu faul schalt; aber ganz richtig war es
+doch nicht mit dem Gesellen, denn er konnte oft stundenweis in einem
+fort nähen, daß ihm die Nadel in der Hand glühend ward und der Faden
+rauchte, da gab es ihm dann ein Stück wie keinem anderen; ein
+andermal aber, und dies geschah leider öfters, saß er in tiefen
+Gedanken, sah mit starren Augen vor sich hin und hatte dabei in
+Gesicht und Wesen etwas so Eigenes, daß sein Meister und die übrigen
+Gesellen von diesem Zustand nie anders sprachen als: "Labakan hat
+wieder sein vornehmes Gesicht."
+
+Am Freitag aber, wenn andere Leute vom Gebet ruhig nach Haus an ihre
+Arbeit gingen, trat Labakan in einem schönen Kleid, das er sich mit
+vieler Mühe zusammengespart hatte, aus der Moschee, ging langsam und
+stolzen Schrittes durch die Plätze und Straßen der Stadt, und wenn
+ihm einer seiner Kameraden ein "Friede sei mit dir", oder "Wie geht
+es, Freund Labakan?" bot, so winkte er gnädig mit der Hand oder
+nickte, wenn es hoch kam, vornehm mit dem Kopf. Wenn dann sein
+Meister im Spaß zu ihm sagte: "An dir ist ein Prinz verlorengegangen,
+Labakan", so freute er sich darüber und antwortete: "Habt Ihr das
+auch bemerkt?" oder: "Ich habe es schon lange gedacht!"
+
+So trieb es der ehrsame Schneidergeselle Labakan schon eine geraume
+Zeit, sein Meister aber duldete seine Narrheit, weil er sonst ein
+guter Mensch und geschickter Arbeiter war. Aber eines Tages schickte
+Selim, der Bruder des Sultans, der gerade durch Alessandria reiste,
+ein Festkleid zu dem Meister, um einiges daran verändern zu lassen,
+und der Meister gab es Labakan, weil dieser die feinste Arbeit machte.
+Als abends der Meister und die Gesellen sich hinwegbegeben hatten,
+um nach des Tages Last sich zu erholen, trieb eine unwiderstehliche
+Sehnsucht Labakan wieder in die Werkstatt zurück, wo das Kleid des
+kaiserlichen Bruders hing. Er stand lange sinnend davor, bald den
+Glanz der Stickerei, bald die schillernden Farben des Samts und der
+Seide an dem Kleide bewundernd. Er konnte nicht anders, er mußte es
+anziehen, und siehe da, es paßte ihm so trefflich, wie wenn es für
+ihn wäre gemacht worden. "Bin ich nicht so gut ein Prinz als einer?"
+fragte er sich, indem er im Zimmer auf und ab schritt. "Hat nicht
+der Meister selbst schon gesagt, daß ich zum Prinzen geboren sei?"
+Mit den Kleidern schien der Geselle eine ganz königliche Gesinnung
+angezogen zu haben; er konnte sich nicht anders denken, als er sei
+ein unbekannter Königssohn, und als solcher beschloß er, in die Welt
+zu reisen und einen Ort zu verlassen, wo die Leute bisher so töricht
+gewesen waren, unter der Hülle seines niederen Standes nicht seine
+angebotene Würde zu erkennen. Das prachtvolle Kleid schien ihm von
+einer gütigen Fee geschickt, er hütete sich daher wohl, ein so teures
+Geschenk zu verschmähen, steckte seine geringe Barschaft zu sich und
+wanderte, begünstigt von dem Dunkel der Nacht, aus Alessandrias Toren.
+
+Der neue Prinz erregte überall auf seiner Wanderschaft Verwunderung,
+denn das prachtvolle Kleid und sein ernstes, majestätisches Wesen
+wollten gar nicht passen für einen Fußgänger. Wenn man ihn darüber
+befragte, pflegte er mit geheimnisvoller Miene zu antworten, daß das
+seine eigenen Ursachen habe. Als er aber merkte, daß er sich durch
+seine Fußwanderungen lächerlich machte, kaufte er um geringen Preis
+ein altes Roß, welches sehr für ihn paßte, da es ihn mit seiner
+gesetzten Ruhe und Sanftmut nie in die Verlegenheit brachte, sich als
+geschickter Reiter zeigen zu müssen, was gar nicht seine Sache war.
+
+Eines Tages, als er Schritt vor Schritt auf seinem Murva, so hatte er
+sein Roß genannt,; seine Straße zog, schloß sich ein Reiter an ihn an
+und bat ihn, in seiner Gesellschaft reiten zu dürfen, weil ihm der
+Weg viel kürzer werde im Gespräch mit einem anderen. Der Reiter war
+ein fröhlicher, junger Mann, schön und angenehm im Umgang. Er hatte
+mit Labakan bald ein Gespräch angeknüpft über Woher und Wohin, und es
+traf sich, daß auch er, wie der Schneidergeselle, ohne Plan in die
+Welt hinauszog. Er sagte, er heiße Omar, sei der Neffe Elfi Beys,
+des unglücklichen Bassas von Kairo, und reise nun umher, um einen
+Auftrag, den ihm sein Oheim auf dem Sterbebette erteilt habe,
+auszurichten. Labakan ließ sich nicht so offenherzig über seine
+Verhältnisse aus, er gab ihm zu verstehen, daß er von hoher Abkunft
+sei und zu seinem Vergnügen reise.
+
+Die beiden jungen Herren fanden Gefallen aneinander und zogen fürder.
+Am zweiten Tage ihrer gemeinschaftlichen Reise fragte Labakan seinen
+Gefährten Omar nach den Aufträgen, die er zu besorgen habe, und
+erfuhr zu seinem Erstaunen folgendes: Elfi Bey, der Bassa von Kairo,
+hatte den Omar seit seiner frühesten Kindheit erzogen, und dieser
+hatte seine Eltern nie gekannt. Als nun Elfi Bey von seinen Feinden
+überfallen worden war und nach drei unglücklichen Schlachten, tödlich
+verwundet, fliehen mußte, entdeckte er seinem Zögling, daß er nicht
+sein Neffe sei, sondern der Sohn eines mächtigen Herrschers, welcher
+aus Furcht vor den Prophezeiungen seiner Sterndeuter den jungen
+Prinzen von seinem Hofe entfernt habe, mit dem Schwur, ihn erst an
+seinem zweiundzwanzigsten Geburtstage wiedersehen zu wollen. Elfi
+Bey habe ihm den Namen seines Vaters nicht genannt, sondern ihm nur
+aufs bestimmteste aufgetragen, am fünften Tage des kommenden Monats
+Ramadan, an welchem Tage er zweiundzwanzig Jahre alt werde, sich an
+der berühmten Säule El-Serujah, vier Tagreisen östlich von
+Alessandria, einzufinden; dort soll er den Männern, die an der Säule
+stehen würden, einen Dolch, den er ihm gab, überreichen mit den
+Worten: "leer bin ich, den ihr suchet"; wenn sie antworteten: "Gelobt
+sei der Prophet, der dich erhielt!", so solle er ihnen folgen, sie
+würden ihn zu seinem Vater führen.
+
+Der Schneidergeselle Labakan war sehr erstaunt über diese Mitteilung,
+er betrachtete von jetzt an den Prinzen Omar mit neidischen Augen,
+erzürnt darüber, daß das Schicksal jenem, obgleich er schon für den
+Neffen eines mächtigen Bassa galt, noch die Würde eines Fürstensohnes
+verliehen, ihm aber, den es mit allem, was einem Prinzen nottut,
+ausgerüstet, gleichsam zum Hohn eine dunkle Geburt und einen
+gewöhnlichen Lebensweg verliehen habe. Er stellte Vergleichungen
+zwischen sich und dem Prinzen an. Er mußte sich gestehen, es sei
+jener ein Mann von sehr vorteilhafter Gesichtsbildung; schöne,
+lebhafte Augen, eine kühngebogene Nase, ein sanftes, zuvorkommendes
+Benehmen, kurz, so viele Vorzüge des Äußeren, die jemand empfehlen
+können, waren jenem eigen. Aber so viele Vorzüge er auch an seinem
+Begleiter fand, so gestand er sich doch bei diesen Beobachtungen, daß
+ein Labakan dem fürstlichen Vater wohl noch willkommener sein dürfte
+als der wirkliche Prinz.
+
+Diese Betrachtungen verfolgten Labakan den ganzen Tag, mit ihnen
+schlief er im nächsten Nachtlager ein, aber als er morgens aufwachte
+und sein Blick auf den neben ihm schlafenden Omar fiel, der so ruhig
+schlafen und von seinem gewissen Glück träumen konnte, da erwachte in
+ihm der Gedanke, sich durch List oder Gewalt zu erstreben, was ihm
+das ungünstige Schicksal versagt hatte. Der Dolch, das
+Erkennungszeichen des heimkehrenden Prinzen, sah aus dem Gürtel des
+Schlafenden hervor, leise zog er ihn hervor, um ihn in die Brust des
+Eigentümers zu stoßen. Doch vor dem Gedanken des Mordes entsetzte
+sich die friedfertige Seele des Gesellen; er begnügte sich, den Dolch
+zu sich zu stecken, das schnellere Pferd des Prinzen für sich
+aufzäumen zu lassen, und ehe Omar aufwachte und sich aller seiner
+Hoffnungen beraubt sah, hatte sein treuloser Gefährte schon einen
+Vorsprung von mehreren Meilen.
+
+Es war gerade der erste Tag des heiligen Monats Ramadan, an welchem
+Labakan den Raub an dem Prinzen begangen hatte, und er hatte also
+noch vier Tage, um zu der Säule El Serujah, welche ihm wohlbekannt
+war, zu gelangen. Obgleich die Gegend, worin sich diese Säule befand,
+höchstens noch zwei Tagreisen entfernt sein konnte, so beeilte er
+sich doch hinzukommen, weil er immer fürchtete, von dem wahren
+Prinzen eingeholt zu werden.
+
+Am Ende des zweiten Tages erblickte Labakan die Säule El-Serujah.
+Sie stand auf einer kleinen Anhöhe in einer weiten Ebene und konnte
+auf zwei bis drei Stunden gesehen werden. Labakans Herz pochte
+lauter bei diesem Anblick; obgleich er die letzten zwei Tage hindurch
+Zeit genug gehabt, über die Rolle, die er zu spielen hatte,
+nachzudenken, so machte ihn doch das böse Gewissen etwas ängstlich,
+aber der Gedanke, daß er zum Prinzen geboren sei, stärkte ihn wieder,
+so daß er getrösteter seinem Ziele entgegenging.
+
+Die Gegend um die Säule El-Serujah war unbewohnt und öde, und der
+neue Prinz wäre wegen seines Unterhalts etwas in Verlegenheit
+gekommen, wenn er sich nicht auf mehrere Tage versehen hätte. Er
+lagerte sich also neben seinem Pferd unter einigen Palmen und
+erwartete dort sein ferneres Schicksal.
+
+Gegen die Mitte des anderen Tages sah er einen großen Zug von Pferden
+und Kamelen über die Ebene her auf die Säule El-Serujah zuziehen.
+Der Zug hielt am Fuße des Hügels, auf welchem die Säule stand, man
+schlug prächtige Zelte auf, und das Ganze sah aus wie der Reisezug
+eines reichen Bassa oder Scheik. Labakan ahnte, daß die vielen Leute,
+welche er sah, sich seinetwegen hierher bemüht hatten, und hätte
+ihnen gerne schon heute ihren künftigen Gebieter gezeigt; aber er
+mäßigte seine Begierde, als Prinz aufzutreten, da ja doch der nächste
+Morgen seine kühnsten Wünsche vollkommen befriedigen mußte.
+
+Die Morgensonne weckte den überglücklichen Schneider zu dem
+wichtigsten Augenblick seines Lebens, welcher ihn aus einem niederen,
+unbekannten Sterblichen an die Seite eines fürstlichen Vaters erheben
+sollte; zwar fiel ihm, als er sein Pferd aufzäumte, um zu der Säule
+hinzureiten, wohl auch das Unrechtmäßige seines Schrittes ein; zwar
+führten ihm seine Gedanken den Schmerz des in seinen schönen
+Hoffnungen betrogenen Fürstensohnes vor, aber--der Würfel war
+geworfen, er konnte nicht mehr ungeschehen machen, was geschehen war,
+und seine Eigenliebe flüsterte ihm zu, daß er stattlich genug aussehe,
+um dem mächtigsten König sich als Sohn vorzustellen; ermutigt durch
+diesen Gedanken, schwang er sich auf sein Roß, nahm alle seine
+Tapferkeit zusammen, um es in einen ordentlichen Galopp zu bringen,
+und in weniger als einer Viertelstunde war er am Fuße des Hügels
+angelangt. Er stieg ab von seinem Pferd und band es an eine Staude,
+deren mehrere an dem Hügel wuchsen; hierauf zog er den Dolch des
+Prinzen Omar hervor und stieg den Hügel hinan. Am Fuß der Säule
+standen sechs Männer um einen Greis von hohem, königlichem Ansehen;
+ein prachtvoller Kaftan von Goldstoff, mit einem weißen Kaschmirschal
+umgürtet, der weiße, mit blitzenden Edelsteinen geschmückte Turban
+bezeichneten ihn als einen Mann von Reichtum und Würde.
+
+Auf ihn ging Labakan zu, neigte sich tief vor ihm und sprach, indem
+er den Dolch darreichte: "Hier bin ich, den Ihr suchet. "
+
+"Gelobt sei der Prophet, der dich erhielt!" antwortete der Greis mit
+Freudentränen. "Umarme deinen alten Vater, mein geliebter Sohn Omar!"
+Der gute Schneider war sehr gerührt durch diese feierlichen Worte
+und sank mit einem Gemisch von Freude und Scham in die Arme des alten
+Fürsten.
+
+Aber nur einen Augenblick sollte er ungetrübt die Wonne seines neuen
+Standes genießen; als er sich aus den Armen des fürstlichen Greises
+aufrichtete, sah er einen Reiter über die Ebene her auf den Hügel
+zueilen. Der Reiter und sein Roß gewährten einen sonderbaren Anblick;
+das Roß schien aus Eigensinn oder Müdigkeit nicht vorwärts zu wollen,
+in einem stolpernden Gang, der weder Schritt noch Trab war, zog es
+daher, der Reiter aber trieb es mit Händen und Füßen zu schnellerem
+Laufe an. Nur zu bald erkannte Labakan sein Roß Murva und den echten
+Prinzen Omar, aber der böse Geist der Lüge war einmal in ihn gefahren,
+und er beschloß, wie es auch kommen möge, mit eiserner Stirne seine
+angemaßten Rechte zu behaupten.
+
+Schon aus der Ferne hatte man den Reiter winken gesehen; jetzt war er
+trotz des schlechten Trabes des Rosses Murva am Fuße des Hügels
+angekommen, warf sich vom Pferd und stürzte den Hügel hinan. "Haltet
+ein!" rief er. "Wer ihr auch sein möget, haltet ein und laßt euch
+nicht von dem schändlichsten Betrüger täuschen; ich heiße Omar, und
+kein Sterblicher wage es, meinen Namen zu mißbrauchen!"
+
+Auf den Gesichtern der Umstehenden malte sich tiefes Erstaunen über
+diese Wendung der Dinge; besonders schien der Greis sehr betroffen,
+indem er bald den einen, bald den anderen fragend ansah; Labakan aber
+sprach mit mühsam errungener Ruhe: "Gnädigster Herr und Vater, laßt
+Euch nicht irremachen durch diesen Menschen da! Es ist, soviel ich
+weiß, ein wahnsinniger Schneidergeselle aus Alessandria, Labakan
+geheißen, der mehr unser Mitleid als unseren Zorn verdient."
+
+Bis zur Raserei aber brachten diese Worte den Prinzen; schäumend vor
+Wut wollte er auf Labakan eindringen, aber die Umstehenden warfen
+sich dazwischen und hielten ihn fest, und der Fürst sprach:
+"Wahrhaftig, mein lieber Sohn, der arme Mensch ist verrückt; man
+binde ihn und setze ihn auf eines unserer Dromedare, vielleicht, daß
+wir dem Unglücklichen Hilfe schaffen können."
+
+Die Wut des Prinzen hatte sich gelegt, weinend rief er dem Fürsten zu:
+"Mein Herz sagt mir, daß Ihr mein Vater seid; bei dem Andenken
+meiner Mutter beschwöre ich Euch, hört mich an!"
+
+"Ei, Gott bewahre uns!" antwortete dieser, "er fängt schon wieder an,
+irre zu reden, wie doch der Mensch auf so tolle Gedanken kommen kann!"
+Damit ergriff er Labakans Arm und ließ sich von ihm den Hügel
+hinuntergeleiten; sie setzten sich beide auf schöne, mit reichen
+Decken behängte Pferde und ritten an der Spitze des Zuges über die
+Ebene hin. Dem unglücklichen Prinzen aber fesselte man die Hände und
+band ihn auf einem Dromedar fest, und zwei Reiter waren ihm immer zur
+Seite, die ein wachsames Auge auf jede seiner Bewegungen hatten.
+
+Der fürstliche Greis war Saaud, der Sultan der Wechabiten. Er hatte
+lange ohne Kinder gelebt, endlich wurde ihm ein Prinz geboren, nach
+dem er sich so lange gesehnt hatte; aber die Sterndeuter, welche er
+um die Vorbedeutungen des Knaben befragte, taten den Ausspruch, "daß
+er bis ins zweiundzwanzigste Jahr in Gefahr stehe, von einem Feinde
+verdrängt zu werden", deswegen, um recht sicherzugehen, hatte der
+Sultan den Prinzen seinem alten, erprobten Freunde Elfi-Bey zum
+Erziehen gegeben und zweiundzwanzig schmerzliche Jahre auf seinen
+Anblick geharrt.
+
+Dieses hatte der Sultan seinem (vermeintlichen) Sohne erzählt und
+sich ihm außerordentlich zufrieden mit seiner Gestalt und seinem
+würdevollen Benehmen gezeigt.
+
+Als sie in das Land des Sultans kamen, wurden sie überall von den
+Einwohnern mit Freudengeschrei empfangen; denn das Gerücht von der
+Ankunft des Prinzen hatte sich wie ein Lauffeuer durch alle Städte
+und Dörfer verbreitet. Auf den Straßen, durch welche sie zogen,
+waren Bögen von Blumen und Zweigen errichtet, glänzende Teppiche von
+allen Farben schmeckten die Häuser, und das Volk pries laut Gott und
+seinen Propheten, der ihnen einen so schönen Prinzen gesandt habe.
+Alles dies erfüllte das stolze Herz des Schneiders mit Wonne; desto
+unglücklicher mußte sich aber der echte Omar fühlen, der, noch immer
+gefesselt, in stiller Verzweiflung dem Zuge folgte. Niemand kümmerte
+sich um ihn bei dem allgemeinen Jubel, der doch ihm galt; den Namen
+Omar riefen tausend und wieder tausend Stimmen, aber ihn, der diesen
+Namen mit Recht trug, ihn beachtete keiner; höchstens fragte einer
+oder der andere, wen man denn so fest gebunden mit fortfahre, und
+schrecklich tönte in das Ohr des Prinzen die Antwort seiner Begleiter,
+es sei ein wahnsinniger Schneider.
+
+Der Zug war endlich in die Hauptstadt des Sultans gekommen, wo alles
+noch glänzender zu ihrem Empfang bereitet war als in den übrigen
+Städten. Die Sultanin, eine ältliche, ehrwürdige Frau, erwartete sie
+mit ihrem ganzen Hofstaat in dem prachtvollsten Saal des Schlosses.
+Der Boden dieses Saales war mit einem ungeheuren Teppich bedeckt, die
+Wände waren mit hellblauem Tuch geschmeckt, das in goldenen Quasten
+und Schnüren an großen, silbernen Haken hing.
+
+Es war schon dunkel, als der Zug anlangte, daher waren im Saale viele
+kugelrunde, farbige Lampen angezündet, welche die Nacht zum Tag
+erhellten. Am klarsten und vielfarbigsten strahlten sie aber im
+Hintergrund des Saales, wo die Sultanin auf einem Throne saß. Der
+Thron stand auf vier Stufen und war von lauterem Golde und mit großen
+Amethysten ausgelegt. Die vier vornehmsten Emire hielten einen
+Baldachin von roter Seide über dem Haupte der Sultanin, und der
+Scheik von Medina fächelte ihr mit einer Windfuchtel von weißen
+Pfauenfedern Kühlung zu.
+
+So erwartete die Sultanin ihren Gemahl und ihren Sohn, auch sie hatte
+ihn seit seiner Geburt nicht mehr gesehen, aber bedeutsam Träume
+hatten ihr den Ersehnten gezeigt, daß sie ihn aus Tausenden erkennen
+wollte. Jetzt hörte man das Geräusch des nahenden Zuges, Trompeten
+und Trommeln mischten sich in das Zujauchzen der Menge, der Hufschlag
+der Rosse tönte im Hof des Palastes, näher und näher rauschten die
+Tritte der Kommenden, die Türen des Saales flogen auf, und durch die
+Reihen der niederfallenden Diener eilte der Sultan an der Hand seines
+Sohnes vor den Thron der Mutter.
+
+"Hier", sprach er, "bringe ich dir den, nach welchem du dich so lange
+gesehnet."
+
+Die Sultanin aber fiel ihm in die Rede: "Das ist mein Sohn nicht!"
+rief sie aus, "das sind nicht die Züge, die mir der Prophet im Traume
+gezeigt hat!"
+
+Gerade, als ihr der Sultan ihren Aberglauben verweisen wollte, sprang
+die Türe des Saales auf. Prinz Omar stürzte herein, verfolgt von
+seinen Wächtern, denen er sich mit Anstrengung aller seiner Kraft
+entrissen hatte, er warf sich atemlos vor dem Throne nieder: "leer
+will ich sterben, laßt mich töten, grausamer Vater; denn diese
+Schmach dulde ich nicht länger!"
+
+Alles war bestürzt über diese Reden; man drängte sich um den
+Unglücklichen her, und schon wollten ihn die herbeieilenden Wachen
+ergreifen und ihm wieder seine Bande anlegen, als die Sultanin, die
+in sprachlosem Erstaunen dieses alles mit angesehen hatte, von dem
+Throne aufsprang. "Haltet ein!" rief sie, "dieser und kein anderer
+ist der Rechte, dieser ist's, den meine Augen nie gesehen und den
+mein Herz doch gekannt hat!"
+
+Die Wächter hatten unwillkürlich von Omar abgelassen, aber der Sultan,
+entflammt von wütendem Zorn, rief ihnen zu, den Wahnsinnigen zu
+binden: "Ich habe hier zu entscheiden", sprach er mit gebietender
+Stimme, "und hier richtet man nicht nach den Träumen der Weiber,
+sondern nach gewissen, untrüglichen Zeichen. Dieser hier (indem er
+auf Labakan zeigte) ist mein Sohn; denn er hat mir das Wahrzeichen
+meines Freundes Elfi, den Dolch, gebracht."
+
+"Gestohlen hat er ihn", schrie Omar, "mein argloses Vertrauen hat er
+zum Verrat mißbraucht!" Der Sultan aber hörte nicht auf die Stimme
+seines Sohnes; denn er war in allen Dingen gewohnt, eigensinnig nur
+seinem Urteil zu folgen; daher ließ er den unglücklichen Omar mit
+Gewalt aus dem Saal schleppen. Er selbst aber begab sich mit Labakan
+in sein Gemach, voll Wut über die Sultanin, seine Gemahlin, mit der
+er doch seit fünfundzwanzig Jahren in Frieden gelebt hatte.
+
+Die Sultanin aber war voll Kummer über diese Begebenheiten; sie war
+vollkommen überzeugt, daß ein Betrüger sich des Herzens des Sultans
+bemächtigt hatte, denn jenen Unglücklichen hatten ihr so viele
+bedeutsam Träume als ihren Sohn gezeigt.
+
+Als sich ihr Schmerz ein wenig gelegt hatte, sann sie auf Mittel, um
+ihren Gemahl von seinem Unrecht zu überzeugen. Es war dies
+allerdings schwierig; denn jener, der sich für ihren Sohn ausgab,
+hatte das Erkennungszeichen, den Dolch, überreicht und hatte auch,
+wie sie erfuhr, so viel von Omars früherem Leben von diesem selbst
+sich erzählen lassen, daß er seine Rolle, ohne sich zu verraten,
+spielte.
+
+Sie berief die Männer zu sich, die den Sultan zu der Säule El-Serujah
+begleitet hatten, um sich alles genau erzählen zu lassen, und hielt
+dann mit ihren vertrautesten Sklavinnen Rat. Sie wählten und
+verwarfen dies und jenes Mittel; endlich sprach Melechsalah, eine
+alte, kluge Zierkassierin: "Wenn ich recht gehört habe, verehrte
+Gebieterin, so nannte der Überbringer des Dolches den, welchen du für
+deinen Sohn hältst, Labakan, einen verwirrten Schneider?"
+
+"Ja, so ist es", antwortete die Sultanin, "aber was willst du damit?"
+
+"Was meint Ihr", fuhr jene fort, "wenn dieser Betrüger Eurem Sohn
+seinen eigenen Namen aufgeheftet hätte?--Und wenn dies ist, so gibt
+es ein herrliches Mittel, den Betrüger zu fangen, das ich Euch ganz
+im geheimen sagen will." Die Sultanin bot ihrer Sklavin das Ohr, und
+diese flüsterte ihr einen Rat zu, der ihr zu behagen schien, denn sie
+schickte sich an, sogleich zum Sultan zu gehen.
+
+Die Sultanin war eine kluge Frau, welche wohl die schwachen Seiten
+des Sultans kannte und sie zu benützen verstand. Sie schien daher,
+ihm nachgeben und den Sohn anerkennen zu wollen, und bat sich nur
+eine Bedingung aus; der Sultan, dem sein Aufbrausen gegen seine Frau
+leid tat, gestand die Bedingung zu, und sie sprach: "Ich möchte gerne
+den beiden eine Probe ihrer Geschicklichkeit auferlegen; eine andere
+würde sie vielleicht reiten, fechten oder Speere werfen lassen, aber
+das sind Sachen, die ein jeder kann; nein, ich will ihnen etwas geben,
+wozu Scharfsinn gehört! Es soll nämlich jeder von ihnen einen
+Kaftan und ein Paar Beinkleider verfertigen, und da wollen wir einmal
+sehen, wer die schönsten macht."
+
+Der Sultan lachte und sprach: "Ei, da hast du ja etwas recht Kluges
+ausgesonnen. Mein Sohn sollte mit deinem wahnsinnigen Schneider
+wetteifern, wer den besten Kaftan macht? Nein, das ist nichts."
+
+Die Sultanin aber berief sich darauf, daß er ihr die Bedingung zum
+Voraus zugesagt habe, und der Sultan, welcher ein Mann von Wort war,
+gab endlich nach, obgleich er schwor, wenn der wahnsinnige Schneider
+seinen Kaftan auch noch so schön mache, könne er ihn doch nicht für
+seinen Sohn erkennen.
+
+Der Sultan ging selbst zu seinem Sohn und bat ihn, sich in die
+Grillen seiner Mutter zu schicken, die nun einmal durchaus einen
+Kaftan von seiner Hand zu sehen wünsche. Dem guten Labakan lachte
+das Herz vor Freude; wenn es nur an dem fehlt, dachte er bei sich, da
+soll die Frau Sultanin bald Freude an mir erleben.
+
+Man hatte zwei Zimmer eingerichtet, eines für den Prinzen, das andere
+für den Schneider; dort sollten sie ihre Kunst erproben, und man
+hatte jedem nur ein hinlängliches Stück Seidenzeug, Schere, Nadel und
+Faden gegeben.
+
+Der Sultan war sehr begierig, was für ein Ding von Kaftan wohl sein
+Sohn zutage fördern werde, aber auch der Sultanin pochte unruhig das
+Herz, ob ihre List wohl gelingen werde oder nicht. Man hatte den
+beiden zwei Tage zu ihrem Geschäft ausgesetzt, am dritten ließ der
+Sultan seine Gemahlin rufen, und als sie erschienen war, schickte er
+in jene zwei Zimmer, um die beiden Kaftane und ihre Verfertiger holen
+zu lassen. Triumphierend trat Labakan ein und breitete seinen Kaftan
+vor den erstaunten Blicken des Sultans aus. "Siehe her, Vater",
+sprach er, "siehe her, verehrte Mutter, ob dies nicht ein
+Meisterstück von einem Kaftan ist? Da laß ich es mit dem
+geschicktesten Hofschneider auf eine Wette ankommen, ob er einen
+solchen herausbringt."
+
+Die Sultanin lächelte und wandte sich zu Omar: "Und was hast du
+herausgebracht, mein Sohn?"
+
+Unwillig warf dieser den Seidenstoff und die Schere auf den Boden:
+"Man hat mich gelehrt, ein Roß zu bändigen und einen Säbel zu
+schwingen, und meine Lanze trifft auf sechzig Gänge ihr Ziel--aber
+die Künste der Nadel sind mir fremd, sie wären auch unwürdig für
+einen Zögling Elfi Beys, des Beherrschers von Kairo."
+
+"Oh, du echter Sohn meines Herrn", rief die Sultanin, "ach, daß ich
+dich umarmen, dich Sohn nennen dürfte! Verzeihet, mein Gemahl und
+Gebieter", sprach sie dann, indem sie sich zum Sultan wandte, "daß
+ich diese List gegen Euch gebraucht habe; sehet Ihr jetzt noch nicht
+ein, wer Prinz und wer Schneider ist; fürwahr, der Kaftan ist
+köstlich, den Euer Herr Sohn gemacht hat, und ich möchte ihn gerne
+fragen, bei welchem Meister er gelernt habe."
+
+Der Sultan saß in tiefen Gedanken, mißtrauisch bald seine Frau, bald
+Labakan anschauend, der umsonst sein Erröten und seine Bestürzung,
+daß er sich so dumm verraten habe, zu bekämpfen suchte. "Auch dieser
+Beweis genügt nicht", sprach er, "aber ich weiß, Allah sei es gedankt,
+ein Mittel, zu erfahren, ob ich betrogen bin oder nicht."
+
+Er befahl, sein schnellstes Pferd vorzufahren, schwang sich auf und
+ritt in einen Wald, der nicht weit von der Stadt begann. Dort wohnte
+nach einer alten Sage eine gütige Fee, Adolzaide geheißen, welche oft
+schon den Königen seines Stammes in der Stunde der Not mit ihrem Rat
+beigestanden war; dorthin eilte der Sultan.
+
+In der Mitte des Waldes war ein freier Platz, von hohen Zedern
+umgeben. Dort wohnte nach der Sage die Fee, und selten betrat ein
+Sterblicher diesen Platz, denn eine gewisse Scheu davor hatte sich
+aus alten Zeiten vom Vater auf den Sohn vererbt.
+
+Als der Sultan dort angekommen war, stieg er ab, band sein Pferd an
+einen Baum, stellte sich in die Mitte des Platzes und sprach mit
+lauter Stimme: "Wenn es wahr ist, daß du meinen Vätern gütigen Rat
+erteiltest in der Stunde der Not, so verschmähe nicht die Bitte ihres
+Enkels und rate mir, wo menschlicher Verstand zu kurzsichtig ist!"
+
+Er hatte kaum die letzten Worte gesprochen, als sich eine der Zedern
+öffnete und eine verschleierte Frau in langen, weißen Gewändern
+hervortrat. "Ich weiß, warum du zu mir kommst, Sultan Saaud, dein
+Wille ist redlich; darum soll dir auch meine Hilfe werden. Nimm
+diese zwei Kistchen! Laß jene beiden, welche deine Söhne sein wollen,
+wählen! Ich weiß, daß der, welcher der echte ist, das rechte nicht
+verfehlen wird." So sprach die Verschleierte und reichte ihm zwei
+kleine Kistchen von Elfenbein, reich mit Gold und Perlen verziert;
+auf den Deckeln, die der Sultan vergebens zu öffnen versuchte,
+standen Inschriften von eingesetzten Diamanten.
+
+Der Sultan besann sich, als er nach Hause ritt, hin und her, was wohl
+in den Kistchen sein könnte, welche er mit aller Mühe nicht zu öffnen
+vermochte. Auch die Aufschrift gab ihm kein Licht in der Sache; denn
+auf dem einen stand: "Ehre und Ruhm", auf dem anderen: "Glück und
+Reichtum". Der Sultan dachte bei sich, da würde auch ihm die Wahl
+schwer werden unter diesen beiden Dingen, die gleich anziehend,
+gleich lockend seien.
+
+Als er in seinen Palast zurückgekommen war, ließ er die Sultanin
+rufen und sagte ihr den Ausspruch der Fee, und eine wunderbare
+Hoffnung erfüllte sie, daß jener, zu dem ihr Herz sie hinzog, das
+Kistchen wählen Würde, welches seine königliche Abkunft beweisen
+sollte.
+
+Vor dem Ibrone des Sultans wurden zwei Tische aufgestellt; auf sie
+setzte der Sultan mit eigener Hand die beiden Kistchen, bestieg dann
+den Thron und winkte einem seiner Sklaven, die Pforte des Saales zu
+öffnen. Eine glänzende Versammlung von Bassas und Emiren des Reiches,
+die der Sultan berufen hatte, strömte durch die geöffnete Pforte.
+Sie ließen sich auf prachtvollen Polstern nieder, welche die Wände
+entlang aufgestellt waren.
+
+Als sie sich alle niedergelassen hatten, winkte der König zum
+zweitenmal, und Labakan wurde hereingeführt. Mit stolzem Schritte
+ging er durch den Saal, warf sich vor dem Throne nieder und sprach:
+"Was befiehlt mein Herr und Vater?"
+
+Der Sultan erhob sich auf seinem Thron und sprach: "Mein Sohn! Es
+sind Zweifel an der Echtheit deiner Ansprüche auf diesen Namen
+erhoben worden; eines jener Kistchen enthält die Bestätigung deiner
+echten Geburt, wähle! Ich zweifle nicht, du wirst das rechte wählen!"
+
+Labakan erhob sich und trat vor die Kistchen, er erwog lange, was er
+wählen sollte, endlich sprach er: "Verehrter Vater! Was kann es
+Höheres geben als das Glück, dein Sohn zu sein, was Edleres als den
+Reichtum deiner Gnade? Ich wähle das Kistchen, das die Aufschrift
+"Gliick und Reichtum" zeigt."
+
+"Wir werden nachher erfahren, ob du recht gewählt hast; einstweilen
+setze dich dort auf das Polster zum Bassa von Medina", sagte der
+Sultan und winkte seinen Sklaven.
+
+Omar wurde hereingeführt; sein Blick war düster, seine Miene traurig,
+und sein Anblick erregte allgemeine Teilnahme unter den Anwesenden.
+Er warf sich vor dem Throne nieder und fragte nach dem Willen des
+Sultans.
+
+Der Sultan deutete ihm an, daß er eines der Kistchen zu wählen habe,
+er stand auf und trat vor den Tisch.
+
+Er las aufmerksam beide Inschriften und sprach: "Die letzten Tage
+haben mich gelehrt, wie unsicher das Glück, wie vergänglich der
+Reichtum ist; sie haben mich aber auch gelehrt, daß ein
+unzerstörbares Gut in der Brust des Tapferen wohnt, die Ehre, und daß
+der leuchtende Stern des Ruhmes nicht mit dem Glück zugleich vergeht.
+Und sollte ich einer Krone entsagen, der Würfel liegt--Ehre und Ruhm,
+ich wähle euch!"
+
+Er setzte seine Hand auf das Kistchen, das er erwählt hatte; aber der
+Sultan befahl ihm, einzuhalten; er winkte Labakan, gleichfalls vor
+seinen Tisch zu treten, und auch dieser legte seine Hand auf sein
+Kistchen.
+
+Der Sultan aber ließ sich ein Becken mit Wasser von dem heiligen
+Brunnen Zemzem in Mekka bringen, wusch seine Hände zum Gebet, wandte
+sein Gesicht nach Osten, warf sich nieder und betete: "Gott meiner
+Väter! Der du seit Jahrhunderten unsern Stamm rein und unverfälscht
+bewahrtest, gib nicht zu, daß ein Unwürdiger den Namen der Abassiden
+schände, sei mit deinem Schutze meinem echten Sohne nahe in dieser
+Stunde der Prüfung!"
+
+Der Sultan erhob sich und bestieg seinen Thron wieder; allgemeine
+Erwartung fesselte die Anwesenden, man wagte kaum zu atmen, man hätte
+ein Mäuschen über den Saal gehen hören können, so still und gespannt
+waren alle, die hintersten machten lange Hälse, um über die vorderen
+nach den Kistchen sehen zu können. Jetzt sprach der Sultan: "Öffnet
+die Kistchen", und diese, die vorher keine Gewalt zu öffnen vermochte,
+sprangen von selbst auf.
+
+In dem Kistchen, das Omar gewählt hatte, lagen auf einem samtenen
+Kissen eine kleine goldene Krone und ein Zepter; in Labakans
+Kistchen--eine große Nadel und ein wenig Zwirn! Der Sultan befahl
+den beiden, ihre Kistchen vor ihn zu bringen. Er nahm das Krönchen
+von dem Kissen in seine Hand, und wunderbar war es anzusehen, wie er
+es nahm, wurde es größer und größer, bis es die Größe einer rechten
+Krone erreicht hatte. Er setzte die Krone seinem Sohn Omar, der vor
+ihm kniete, auf das Haupt, küßte ihn auf die Stirne und hieß ihn zu
+seiner Rechten sich niedersetzen. Zu Labakan aber wandte er sich und
+sprach: "Es ist ein altes Sprichwort: Der Schuster bleibe bei seinem
+Leisten! Es scheint, als solltest du bei der Nadel bleiben. Zwar
+hast du meine Gnade nicht verdient, aber es hat jemand für dich
+gebeten, dem ich heute nichts abschlagen kann; drum schenke ich dir
+dein armseliges Leben, aber wenn ich dir guten Rates bin, so beeile
+dich, daß du aus meinem Lande kommst!"
+
+Beschämt, vernichtet, wie er war, vermochte der arme Schneidergeselle
+nichts zu erwidern; er warf sich vor dem Prinzen nieder, und Tränen
+drangen ihm aus den Augen: "Könnt Ihr mir vergeben, Prinz?" sagte er.
+
+"Treue gegen den Freund, Großmut gegen den Feind ist des Abassiden
+Stolz", antwortete der Prinz, indem er ihn aufhob, "gehe hin in
+Frieden!"
+
+"O du mein echter Sohn!" rief gerührt der alte Sultan und sank an die
+Brust des Sohnes; die Emire und Bassa und alle Großen des Reiches
+standen auf von ihren Sitzen und riefen: "Heil dem neuen Königssohn!"
+Und unter dem allgemeinen Jubel schlich sich Labakan, sein Kistchen
+unter dem Arm, aus dem Saal.
+
+Er ging hinunter in die Ställe des Sultans, zäumte sein Roß Murva auf
+und ritt zum Tore hinaus, Alessandria zu. Sein ganzes Prinzenleben
+kam ihm wie ein Traum vor, und nur das prachtvolle Kistchen, reich
+mit Perlen und Diamanten geschmückt, erinnerte ihn, daß er doch nicht
+geträumt habe.
+
+Als er endlich wieder nach Alessandria kam, ritt er vor das Haus
+seines alten Meisters, stieg ab, band sein Rößlein an die Türe und
+trat in die Werkstatt. Der Meister, der ihn nicht gleich kannte,
+machte ein großes Wesen und fragte, was ihm zu Dienst stehe; als er
+aber den Gast näher ansah und seinen alten Labakan erkannte, rief er
+seine Gesellen und Lehrlinge herbei, und alle stürzten sich wie
+wütend auf den armen Labakan, der keines solchen Empfangs gewärtig
+war, stießen und schlugen ihn mit Bügeleisen und Ellenmaß, stachen
+ihn mit Nadeln und zwickten ihn mit scharfen Scheren, bis er
+erschöpft auf einen Haufen alter Kleider niedersank.
+
+Als er nun so dalag, hielt ihm der Meister eine Strafrede über das
+gestohlene Kleid; vergebens versicherte Labakan, daß er nur deswegen
+wiedergekommen sei, um ihm alles zu ersetzen, vergebens bot er ihm
+den dreifachen Schadenersatz, der Meister und seine Gesellen fielen
+wieder über ihn her, schlugen ihn weidlich und warfen ihn zur Türe
+hinaus; zerschlagen und zerfetzt stieg er auf das Roß Murva und ritt
+in eine Karawanserei. Dort legte er sein müdes, zerschlagenes Haupt
+nieder und stellte Betrachtungen an über die Leiden der Erde, über
+das so oft verkannte Verdienst und über die Nichtigkeit und
+Flüchtigkeit aller Güter. Er schlief mit dem Entschluß ein, aller
+Größe zu entsagen und ein ehrsamer Bürger zu werden.
+
+Und den andere Tag gereute ihn sein Entschluß nicht; denn die
+schweren Hände des Meisters und seiner Gesellen schienen alle Hoheit
+aus ihm herausgeprügelt zu haben.
+
+Er verkaufte um einen hohen Preis sein Kistchen an einen
+Juwelenhändler, kaufte sich ein Haus und richtete sich eine Werkstatt
+zu seinem Gewerbe ein. Als er alles eingerichtet und auch ein Schild
+mit der Aufschrift Labakan, Kleidermacher vor sein Fenster gehängt
+hatte, setzte er sich und begann mit jener Nadel und dem Zwirn, die
+er in dem Kistchen gefunden, den Rock zu flicken, welchen ihm sein
+Meister so grausam zerfetzt hatte. Er wurde von seinem Geschäft
+abgerufen, und als er sich wieder an die Arbeit setzen wollte, welch
+sonderbarer Anblick bot sich ihm dar! Die Nadel nähte emsig fort,
+ohne von jemand geführt zu werden; sie machte feine, zierliche Stiche,
+wie sie selbst Labakan in seinen kunstreichsten Augenblicken nicht
+gemacht hatte!
+
+Wahrlich, auch das geringste Geschenk einer gütigen Fee ist nützlich
+und von großem Wert! Noch einen andere Wert hatte aber dies Geschenk,
+nämlich: Das Stückchen Zwirn ging nie aus, die Nadel mochte so
+fleißig sein, als sie wollte.
+
+Labakan bekam viele Kunden und war bald der berühmteste Schneider
+weit und breit; er schnitt die Gewänder zu und machte den ersten
+Stich mit der Nadel daran, und flugs arbeitete diese weiter ohne
+Unterlaß, bis das Gewand fertig war. Meister Labakan hatte bald die
+ganze Stadt zu Kunden; denn er arbeitete schön und außerordentlich
+billig, und nur über eines schüttelten die Leute von Alessandria den
+Kopf, nämlich: daß er ganz ohne Gesellen und bei verschlossenen Türen
+arbeitete.
+
+So war der Spruch des Kistchens, Glück und Reichtum verheißend, in
+Erfüllung gegangen; Glück und Reichtum begleiteten, wenn auch in
+bescheidenem Maße, die Schritte des guten Schneiders, und wenn er von
+dem Ruhm des jungen Sultans Omar, der in aller Munde lebte, hörte,
+wenn er hörte, daß dieser Tapfere der Stolz und die Liebe seines
+Volkes und der Schrecken seiner Feinde sei, da dachte der ehemalige
+Prinz bei sich: "Es ist doch besser, daß ich ein Schneider geblieben
+bin; denn um die Ehre und den Ruhm ist es eine gar gefährliche Sache."
+So lebte Labakan, zufrieden mit sich, geachtet von seinen
+Mitbürgern, und wenn die Nadel indes nicht ihre Kraft verloren, so
+näht sie noch jetzt mit dem ewigen Zwirn der gütigen Fee Adolzaide.
+
+Mit Sonnenaufgang brach die Karawane auf und gelangte bald nach
+Birket el Had oder dem Pilgrimsbrunnen, von wo es nur noch drei
+Stunden Weges nach Kairo waren--Man hatte um diese Zeit die Karawane
+erwartet, und bald hatten die Kaufleute die Freude, ihre Freunde aus
+Kairo ihnen entgegenkommen zu sehen. Sie zogen in die Stadt durch
+das Tor Bebel Falch; denn es wird für eine glückliche Vorbedeutung
+gehalten, wenn man von Mekka kommt, durch dieses Tor einzuziehen,
+weil der Prophet hindurchgezogen ist.
+
+Auf dem Markt verabschiedeten sich die vier türkischen Kaufleute von
+dem Fremden und dem griechischen Kaufmann Zaleukos und gingen mit
+ihren Freunden nach Haus. Zaleukos aber zeigte dem Fremden eine gute
+Karawanserei und lud ihn ein, mit ihm das Mittagsmahl zu nehmen. Der
+Fremde sagte zu und versprach, wenn er nur vorher sich umgekleidet
+habe, zu erscheinen.
+
+Der Grieche hatte alle Anstalten getroffen, den Fremden, welchen er
+auf der Reise liebgewonnen hatte, gut zu bewirten, und als die
+Speisen und Getränke in gehöriger Ordnung aufgestellt waren, setzte
+er sich, seinen Gast zu erwarten.
+
+Langsam und schweren Schrittes hörte er ihn den Gang, der zu seinem
+Gemach führte, heraufkommen. Er erhob sich, um ihm freundlich
+entgegenzusehen und ihn an der Schwelle zu bewillkommnen; aber voll
+Entsetzen fuhr er zurück, als er die Türe öffnete; denn jener
+schreckliche Rotmantel trat ihm entgegen; er warf noch einen Blick
+auf ihn, es war keine Täuschung; dieselbe hohe, gebietende Gestalt,
+die Larve, aus welcher ihn die dunklen Augen anblitzten, der rote
+Mantel mit der goldenen Stickerei waren ihm nur allzuwohl bekannt aus
+den schrecklichsten Stunden seines Lebens.
+
+Widerstreitende Gefühle wogten in Zaleukos Brust; er hatte sich mit
+diesem Bild seiner Erinnerung längst ausgesöhnt und ihm vergeben, und
+doch riß sein Anblick alle seine Wunden wieder auf; alle jene
+qualvollen Stunden der Todesangst, jener Gram, der die Blüte seines
+Lebens vergiftete, zogen im Flug eines Augenblicks an seiner Seele
+vorüber.
+
+"Was willst du, Schrecklicher?" rief der Grieche aus, als die
+Erscheinung noch immer regungslos auf der Schwelle stand. "Weiche
+schnell von hinnen, daß ich dir nicht fluche!"
+
+"Zaleukos!" sprach eine bekannte Stimme unter der Larve hervor.
+"Zaleukos! So empfängst du deinen Gastfreund?" Der Sprechende nahm
+die Larve ab, schlug den Mantel zurück; es war Selim Baruch, der
+Fremde.
+
+Aber Zaleukos schien noch nicht beruhigt, ihm graute vor dem Fremden;
+denn nur zu deutlich hatte er in ihm den Unbekannten von der Ponte
+vecchio erkannt; aber die alte Gewohnheit der Gastfreundschaft siegte;
+er winkte schweigend dem Fremden, sich zu ihm ans Mahl zu setzen.
+
+"Ich errate deine Gedanken", nahm dieser das Wort, als sie sich
+gesetzt hatten. "Deine Augen sehen fragend auf mich--ich hätte
+schweigen und mich deinen Blicken nie mehr zeigen können, aber ich
+bin dir Rechenschaft schuldig, und darum wagte ich es auch, auf die
+Gefahr hin, daß du mir fluchtest, vor dir in meiner alten Gestalt zu
+erscheinen. Du sagtest einst zu mir: Der Glaube meiner Väter
+befiehlt mir, ihn zu lieben, auch ist er wohl unglücklicher als ich;
+glaube dieses, mein Freund, und höre meine Rechtfertigung!
+
+Ich muß weit ausholen, um mich dir ganz verständlich zu machen. Ich
+bin in Alessandria von christlichen Eltern geboren. Mein Vater, der
+jüngere Sohn eines alten, berühmten französischen Hauses, war Konsul
+seines Landes in Alessandria. Ich wurde von meinem zehnten Jahre an
+in Frankreich bei einem Bruder meiner Mutter erzogen und verließ erst
+einige Jahre nach dem Ausbruch der Revolution mein Vaterland, um mit
+meinem Oheim, der in dem Lande seiner Ahnen nicht mehr sicher war,
+über dem Meer bei meinen Eltern eine Zuflucht zu suchen. Voll
+Hoffnung, die Ruhe und den Frieden, den uns das empörte Volk der
+Franzosen entrissen, im elterlichen Hause wiederzufinden, landeten
+wir. Aber ach! Ich fand nicht alles in meines Vaters Hause, wie es
+sein sollte; die äußeren Stürme der bewegten Zeit waren zwar noch
+nicht bis hierher gelangt, desto unerwarteter hatte das Unglück mein
+Haus im innersten Herzen heimgesucht. Mein Bruder, ein junger,
+hoffnungsvoller Mann, erster Sekretär meines Vaters, hatte sich erst
+seit kurzem mit einem jungen Mädchen, der Tochter eines
+florentinischen Edelmanns, der in unserer Nachbarschaft wohnte,
+verheiratet; zwei Tage vor unserer Ankunft war diese auf einmal
+verschwunden, ohne daß weder unsere Familie noch ihr Vater die
+geringste Spur von ihr auffinden konnten. Man glaubte endlich, sie
+habe sich auf einem Spaziergang zu weit gewagt und sei in Räuberhände
+gefallen. Beinahe tröstlicher wäre dieser Gedanke für meinen armen
+Bruder gewesen als die Wahrheit, die uns nur bald kund wurde. Die
+Treulose hatte sich mit einem jungen Neapolitaner, den sie im Hause
+ihres Vaters kennengelernt hatte, eingeschifft. Mein Bruder, aufs
+äußerste empört über diesen Schritt, bot alles auf, die Schuldige zur
+Strafe zu ziehen; doch vergebens; seine Versuche, die in Neapel und
+Florenz Aufsehen erregt hatten, dienten nur dazu, sein und unser
+aller Unglück zu vollenden. Der florentinische Edelmann reiste in
+sein Vaterland zurück, zwar mit dem Vorgeben, meinem Bruder Recht zu
+verschaffen, der Tat nach aber, um uns zu verderben. Er schlug in
+Florenz alle jene Untersuchungen, welche mein Bruder angeknüpft hatte,
+nieder und wußte seinen Einfluß, den er auf alle Art sich verschafft
+hatte, so gut zu benützen, daß mein Vater und mein Bruder ihrer
+Regierung verdächtig gemacht und durch die schändlichsten Mittel
+gefangen, nach Frankreich geführt und dort vom Beil des Henkers
+getötet wurden. Meine arme Mutter verfiel in Wahnsinn, und erst nach
+zehn langen Monaten erlöste sie der Tod von ihrem schrecklichen
+Zustand, der aber in den letzten Tagen zu vollem, klarem Bewußtsein
+geworden war. So stand ich jetzt ganz allein in der Welt, aber nur
+ein Gedanke beschäftigte meine Seele, nur ein Gedanke ließ mich meine
+Trauer vergessen, es war jene mächtige Flamme, die meine Mutter in
+ihrer letzten Stunde in mir angefacht hatte.
+
+In den letzten Stunden war, wie ich dir sagte, ihr Bewußtsein
+zurückgekehrt; sie ließ mich rufen und sprach mit Ruhe von unserem
+Schicksal und ihrem Ende. Dann aber ließ sie alle aus dem Zimmer
+gehen, richtete sich mit feierlicher Miene von ihrem ärmlichen Lager
+auf und sagte, ich könne mir ihren Segen erwerben, wenn ich ihr
+schwöre, etwas auszufahren, das sie mir auftragen würde--Ergriffen
+von den Worten der sterbenden Mutter, gelobte ich mit einem Eide zu
+tun, wie sie mir sagen werde. Sie brach nun in Verwünschungen gegen
+den Florentiner und seine Tochter aus und legte mir mit den
+fürchterlichsten Drohungen ihres Fluches auf, mein unglückliches Haus
+an ihm zu rächen. Sie starb in meinen Armen. Jener Gedanke der
+Rache hatte schon lange in meiner Seele geschlummert; jetzt erwachte
+er mit aller Macht. Ich sammelte den Rest meines väterlichen
+Vermögens und schwor mir, alles an meine Rache zu setzen oder selbst
+mit unterzugehen.
+
+Bald war ich in Florenz, wo ich mich so geheim als möglich aufhielt;
+mein Plan war um vieles erschwert worden durch die Lage, in welcher
+sich meine Feinde befanden. Der alte Florentiner war Gouverneur
+geworden und hatte so alle Mittel in der Hand, sobald er das
+geringste ahnte, mich zu verderben. Ein Zufall kam mir zu Hilfe.
+Eines Abends sah ich einen Menschen in bekannter Livree durch die
+Straßen gehen; sein unsicherer Gang, sein finsterer Blick und das
+halblaut herausgestoßene "Santo sacramento", "Maledetto diavolo"
+ließen mich den alten Pietro, einen Diener des Florentiners, den ich
+schon in Alessandria gekannt hatte, erkennen. Ich war nicht in
+Zweifel, daß er über seinen Herrn in Zorn geraten sei, und beschloß,
+seine Stimmung zu benützen. Er schien sehr überrascht, mich hier zu
+sehen, klagte mir sein Leiden, daß er seinem Herrn, seit er
+Gouverneur geworden, nichts mehr recht machen könne, und mein Gold,
+unterstützt von seinem Zorn, brachte ihn bald auf meine Seite. Das
+Schwierigste war jetzt beseitigt; ich hatte einen Mann in meinem
+Solde, der mir zu jeder Stunde die Türe meines Feindes öffnete, und
+nun reifte mein Racheplan immer schneller heran. Das Leben des alten
+Florentiners schien mir ein zu geringes Gewicht, dem Untergang meines
+Hauses gegenüber, zu haben. Sein Liebstes mußte er gemordet sehen,
+und dies war Bianka, seine Tochter. Hatte ja sie so schändlich an
+meinem Bruder gefrevelt, war ja doch sie die Ursache unseres Unglücks.
+Gar erwünscht kam sogar meinem rachedürstigen Herzen die Nachricht,
+daß in dieser Zeit Bianka zum zweitenmal sich vermählen wollte, es
+war beschlossen, sie mußte sterben. Aber mir selbst graute vor der
+Tat, und auch Pietro traute sich zu wenig Kraft zu; darum spähten wir
+umher nach einem Mann, der das Geschäft vollbringen könne. Unter den
+Florentinern wagte ich keinen zu dingen, denn gegen den Gouverneur
+würde keiner etwas Solches unternommen haben. Da fiel Pietro der
+Plan ein, den ich nachher ausgeführt habe; zugleich schlug er dich
+als Fremden und Arzt als den Tauglichsten vor. Den Verlauf der Sache
+weißt du. Nur an deiner großen Vorsicht und Ehrlichkeit schien mein
+Unternehmen zu scheitern. Daher der Zufall mit dem Mantel.
+
+Pietro öffnete uns das Pförtchen an dem Palast des Gouverneurs; er
+hätte uns auch ebenso heimlich wieder hinausgeleitet, wenn wir nicht,
+durch den schrecklichen Anblick, der sich uns durch die Türspalte
+darbot, erschreckt, entflohen wären. Von Schrecken und Reue gejagt,
+war ich über zweihundert Schritte fortgerannt, bis ich auf den Stufen
+einer Kirche niedersank. Dort erst sammelte ich mich wieder, und
+mein erster Gedanke warst du und dein schreckliches Schicksal, wenn
+man dich in dem Hause fände. Ich schlich an den Palast, aber weder
+von Pietro noch von dir konnte ich eine Spur entdecken; das Pförtchen
+aber war offen, so konnte ich wenigstens hoffen, daß du die
+Gelegenheit zur Flucht benützt haben könntest.
+
+Als aber der Tag anbrach, ließ mich die Angst vor der Entdeckung und
+ein unabweisbares Gefühl von Reue nicht mehr in den Mauern von
+Florenz. Ich eilte nach Rom. Aber denke dir meine Bestürzung, als
+man dort nach einigen Tagen überall diese Geschichte erzählte mit dem
+Beisatz, man habe den Mörder, einen griechischen Arzt, gefangen. Ich
+kehrte in banger Besorgnis nach Florenz zurück; denn schien mir meine
+Rache schon vorher zu stark, so verfluchte ich sie jetzt, denn sie
+war mir durch dein Leben allzu teuer erkauft. Ich kam an demselben
+Tage an, der dich der Hand beraubte. Ich schweige von dem, was ich
+fühlte, als ich dich das Schafott besteigen und so heldenmütig leiden
+sah. Aber damals, als dein Blut in Strömen aufspritzte, war der
+Entschluß fest in mir, dir deine übrigen Lebenstage zu versüßen. Was
+weiter geschehen ist, weißt du, nur das bleibt mir noch zu sagen
+übrig, warum ich diese Reise mit dir machte.
+
+Als eine schwere Last drückte mich der Gedanke, daß du mir noch immer
+nicht vergeben habest; darum entschloß ich mich, viele Tage mit dir
+zu leben und dir endlich Rechenschaft abzulegen von dem, was ich mit
+dir getan."
+
+Schweigend hatte der Grieche seinen Gast angehört; mit sanftem Blick
+bot er ihm, als er geendet hatte, seine Rechte. "Ich wußte wohl, daß
+du unglücklicher sein müßtest als ich, denn jene grausame Tat wird
+wie eine dunkle Wolke ewig deine Tage verfinstern; ich vergebe dir
+von Herzen. Aber erlaube mir noch eine Frage: Wie kommst du unter
+dieser Gestalt in die Wüste? Was fingst du an, nachdem du in
+Konstantinopel mir das Haus gekauft hattest?"
+
+"Ich ging nach Alessandria zurück", antwortete der Gefragte. "Haß
+gegen alle Menschen tobte in meiner Brust, brennender Haß besonders
+gegen jene Nationen, die man die gebildeten nennt. Glaube mir, unter
+meinen Moslemiten war mir wohler! Kaum war ich einige Monate in
+Alessandria, als jene Landung meiner Landsleute erfolgte.
+
+Ich sah in ihnen nur die Henker meines Vaters und meines Bruders;
+darum sammelte ich einige gleichgesinnte junge Leute meiner
+Bekanntschaft und schloß mich jenen tapferen Mamelucken an, die so
+oft der Schrecken des französischen Heeres wurden. Als der Feldzug
+beendigt war, konnte ich mich nicht entschließen, zu den Künsten des
+Friedens zurückzukehren. Ich lebte mit einer kleinen Anzahl
+gleichdenkender Freunde ein unstetes und flüchtiges, dem Kampf und
+der Jagd geweihtes Leben; ich lebe zufrieden unter diesen Leuten, die
+mich wie ihren Fürsten ehren; denn wenn meine Asiaten auch nicht so
+gebildet sind wie Eure Europäer, so sind sie doch weit entfernt von
+Neid und Verleumdung, von Selbstsucht und Ehrgeiz."
+
+Zaleukos dankte dem Fremden für seine Mitteilung, aber er verbarg ihm
+nicht, daß er es für seinen Stand, für seine Bildung angemessener
+fände, wenn er in christlichen, in europäischen Ländern leben und
+wirken würde. Er faßte seine Hand und bat ihn, mit ihm zu ziehen,
+bei ihm zu leben und zu sterben.
+
+Gerührt sah ihn der Gastfreund an. "Daraus erkenne ich", sagte er,
+"daß du mir ganz vergeben hast, daß du mich liebst. Nimm meinen
+innigsten Dank dafür!" Er sprang auf und stand in seiner ganzen Größe
+vor dem Griechen, dem vor dem kriegerischen Anstand, den dunkel
+blitzenden Augen, der tiefen Stimme seines Gastes beinahe graute.
+"Dein Vorschlag ist schön", sprach jener weiter, "er möchte für jeden
+andern lockend sein--ich kann ihn nicht benützen. Schon steht mein
+Roß gesattelt, erwarten mich meine Diener; lebe wohl, Zaleukos!" Die
+Freunde, die das Schicksal so wunderbar zusammengeführt, umarmten
+sich zum Abschied. "Und wie nenne ich dich? Wie heißt mein
+Gastfreund, der auf ewig in meinem Gedächtnis leben wird?" fragte der
+Grieche.
+
+Der Fremde sah ihn lange an, drückte ihm noch einmal die Hand und
+sprach: "Man nennt mich den Herrn der Wüste; ich bin der Räuber
+Orbasan."
+
+
+Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes "Märchen-Almanach auf das Jahr
+1826", von Wilhelm Hauff.
+
+
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, MAERCHEN-ALMANACH AUF DAS JAHR 1826 ***
+
+This file should be named 8alm110.txt or 8alm110.zip
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+Project Gutenberg eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US
+unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+We are now trying to release all our eBooks one year in advance
+of the official release dates, leaving time for better editing.
+Please be encouraged to tell us about any error or corrections,
+even years after the official publication date.
+
+Please note neither this listing nor its contents are final til
+midnight of the last day of the month of any such announcement.
+The official release date of all Project Gutenberg eBooks is at
+Midnight, Central Time, of the last day of the stated month. A
+preliminary version may often be posted for suggestion, comment
+and editing by those who wish to do so.
+
+Most people start at our Web sites at:
+http://gutenberg.net or
+http://promo.net/pg
+
+These Web sites include award-winning information about Project
+Gutenberg, including how to donate, how to help produce our new
+eBooks, and how to subscribe to our email newsletter (free!).
+
+
+Those of you who want to download any eBook before announcement
+can get to them as follows, and just download by date. This is
+also a good way to get them instantly upon announcement, as the
+indexes our cataloguers produce obviously take a while after an
+announcement goes out in the Project Gutenberg Newsletter.
+
+http://www.ibiblio.org/gutenberg/etext04 or
+ftp://ftp.ibiblio.org/pub/docs/books/gutenberg/etext04
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+Or /etext03, 02, 01, 00, 99, 98, 97, 96, 95, 94, 93, 92, 92, 91 or 90
+
+Just search by the first five letters of the filename you want,
+as it appears in our Newsletters.
+
+
+Information about Project Gutenberg (one page)
+
+We produce about two million dollars for each hour we work. The
+time it takes us, a rather conservative estimate, is fifty hours
+to get any eBook selected, entered, proofread, edited, copyright
+searched and analyzed, the copyright letters written, etc. Our
+projected audience is one hundred million readers. If the value
+per text is nominally estimated at one dollar then we produce $2
+million dollars per hour in 2002 as we release over 100 new text
+files per month: 1240 more eBooks in 2001 for a total of 4000+
+We are already on our way to trying for 2000 more eBooks in 2002
+If they reach just 1-2% of the world's population then the total
+will reach over half a trillion eBooks given away by year's end.
+
+The Goal of Project Gutenberg is to Give Away 1 Trillion eBooks!
+This is ten thousand titles each to one hundred million readers,
+which is only about 4% of the present number of computer users.
+
+Here is the briefest record of our progress (* means estimated):
+
+eBooks Year Month
+
+ 1 1971 July
+ 10 1991 January
+ 100 1994 January
+ 1000 1997 August
+ 1500 1998 October
+ 2000 1999 December
+ 2500 2000 December
+ 3000 2001 November
+ 4000 2001 October/November
+ 6000 2002 December*
+ 9000 2003 November*
+10000 2004 January*
+
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation has been created
+to secure a future for Project Gutenberg into the next millennium.
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+We need your donations more than ever!
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+As of February, 2002, contributions are being solicited from people
+and organizations in: Alabama, Alaska, Arkansas, Connecticut,
+Delaware, District of Columbia, Florida, Georgia, Hawaii, Illinois,
+Indiana, Iowa, Kansas, Kentucky, Louisiana, Maine, Massachusetts,
+Michigan, Mississippi, Missouri, Montana, Nebraska, Nevada, New
+Hampshire, New Jersey, New Mexico, New York, North Carolina, Ohio,
+Oklahoma, Oregon, Pennsylvania, Rhode Island, South Carolina, South
+Dakota, Tennessee, Texas, Utah, Vermont, Virginia, Washington, West
+Virginia, Wisconsin, and Wyoming.
+
+We have filed in all 50 states now, but these are the only ones
+that have responded.
+
+As the requirements for other states are met, additions to this list
+will be made and fund raising will begin in the additional states.
+Please feel free to ask to check the status of your state.
+
+In answer to various questions we have received on this:
+
+We are constantly working on finishing the paperwork to legally
+request donations in all 50 states. If your state is not listed and
+you would like to know if we have added it since the list you have,
+just ask.
+
+While we cannot solicit donations from people in states where we are
+not yet registered, we know of no prohibition against accepting
+donations from donors in these states who approach us with an offer to
+donate.
+
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+how to make them tax-deductible, or even if they CAN be made
+deductible, and don't have the staff to handle it even if there are
+ways.
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+PMB 113
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+[Employee Identification Number] 64-622154. Donations are
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+requirements for other states are met, additions to this list will be
+made and fund-raising will begin in the additional states.
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