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+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 59374 ***
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+[Illustration: Ex libris]
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+Die Steinbergs
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+[Illustration: Die Steinbergs. (Seite 4.)]
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+ Die Steinbergs
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+ Eine Erzählung aus der Zeit der Befreiungskriege
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+ von
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+ Josephine Siebe
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+ Mit sechs farbigen Vollbildern von Wilhelm Roegge
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+ [Illustration: Dekoration]
+
+ Stuttgart
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+ Verlag von Levy & Müller
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+
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+
+Nachdruck verboten.
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+=Alle Rechte=, insbesondere das Uebersetzungsrecht, vorbehalten.
+
+
+Druck: Chr. Verlagshaus, Stuttgart.
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+Inhalt
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+ Seite
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+ Erstes Kapitel. Gute Hausgenossen 1
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+ Zweites Kapitel. Das Schreiberlein des Herrn Advokaten
+ Schnabel 18
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+ Drittes Kapitel. Abschiedsstunden 37
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+ Viertes Kapitel. Auf Hohensteinberg 55
+
+ Fünftes Kapitel. Als Fremdling in des Vaters Heimat 66
+
+ Sechstes Kapitel. Der Tugendbund wird gegründet 81
+
+ Siebentes Kapitel. Der Tugendbund nimmt ein jähes
+ Ende 101
+
+ Achtes Kapitel. Einem traurigen Morgen folgen
+ schwere Tage 115
+
+ Neuntes Kapitel. Auf weiten Wegen ins alte Nest
+ zurück 126
+
+ Zehntes Kapitel. Nach langer Not zum heiligen Krieg 141
+
+ Elftes Kapitel. Fürs Vaterland was es auch 161
+
+ Zwölftes Kapitel. Ausklang 175
+
+[Illustration: Dekoration Blatt]
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+[Illustration: Dekoration]
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+[Illustration: Ansicht, Titel 1. Kapitel]
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+Erstes Kapitel.
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+Gute Hausgenossen.
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+»Richtig ist das nicht mit dem Bengel,« schalt der dicke Bäckermeister
+Käsmodel und schlurrte aufgeregt in dem kleinen Laden auf und ab, der
+ein Schiebefenster nach dem Hausflur hin hatte, durch das die Backware
+verkauft wurde. »Allweil, wenn ich'n brauche, hat er zu lernen, immer
+zu lernen. Das Gymnasium, scheint's mir, hat ihm den Kopf verdreht.«
+
+»Aber Christian,« beschwichtigte die Frau Bäckermeisterin, die gerade
+dabei war, Backware in die Körbe zu zählen, »hast es ja selbst gewollt,
+daß Gottlieb auf die hohe Schule kommt!«
+
+»Na, ja,« murrte der Bäckermeister, »hast allweil recht. Wenn man von
+drei Jungen nur einen übrig behält, will man an den auch was wenden.
+Aber mein Herr Vater selig hätte mir schön heimgeleuchtet, wenn ich
+beim Austragen und Helfen nicht gleich wie der Blitz zur Hand gewesen
+wäre. Aber unserer, daß Gott erbarm!«
+
+»Mann, Mann, er tut doch nichts Schlimmes,« mahnte die Frau freundlich,
+»und zum Austragen ist ja Raoul immer bereit.«
+
+»Na freilich,« spottete der Bäcker, »'s ist gut, einen Boten bezahlen
+bei den schlechten Zeiten, nur weil der Musjeh Sohn nicht mag. Und
+warum mag er nicht? Weil er sich schämt, Laufjunge für seinen Vater zu
+sein, seit er auf der Lateinschule mit den feinen Herrchens verkehrt.
+Solche Alfanzereien hätte mir mein Vater selig kräftig mit dem
+Stock -- --«
+
+»So ist's nicht, Vater, das müssen Sie nicht denken!« -- Aus einem
+dunklen Winkel des Lädchens, hinter Mehlsäcken schaute in diesem
+Augenblick zur grenzenlosen Überraschung seiner Eltern ein keckes,
+rundes Bubengesicht hervor.
+
+»Daß dich das Mäuschen beißt!« schrie der dicke Bäckermeister wütend,
+ergriff im Eifer einen langen Holzlöffel, der ihm gerade zur Hand lag,
+und wollte damit seinem Sohne etwas unsanft um die Ohren fahren.
+
+»Christian,« bat die Frau etwas ängstlich und hielt ihren Mann am
+weißen Kittel fest, »hör' doch den Jungen erst an!«
+
+Der war furchtlos aus seinem Versteck hervorgekrochen; er sah weiß und
+bemehlt aus, wie ein rechter Bäckerbub, selbst die Wimpern, die die
+trotzigen, ehrlichen Blauaugen überschatteten, schimmerten weiß.
+
+»Ich will's dem Herrn Vater bekennen, warum ich nicht Austräger sein
+mag,« rief der kräftige, stämmige Bursche unerschrocken, »es ist wegen
+dem Raoul, nicht wegen der feinen Mitschüler, wie's der Herr Vater
+denkt. Der Raoul ist über jeden Groschen glücklich, den er seiner
+Mutter bringen kann; schenken läßt er sich nichts, aber verdienen ist
+was anders, und darum --«
+
+»Siehst du, Christian,« sagte die Bäckermeisterin, und ein
+Freudenschein lag auf ihrem Gesicht, »unser Junge meint's gut.«
+
+»Na freilich, der reine Engel ist's, nur schade, daß man's so selten
+merkt, ist aus seines Vaters Tasche heraus großmütig, faulenzt aus
+lauter Freundschaft,« brummelte Meister Käsmodel, der es nicht zeigen
+wollte, wie weich es ihm eigentlich ums Herz war.
+
+Gottlieb aber kannte seinen Vater und wußte schon, daß der Zorn
+verraucht war, und so rief er vergnügt: »Ich denke, den Herrn Vater
+machen die paar Groschen nicht zum armen Mann, und er gönnt Raoul schon
+den kleinen Verdienst.«
+
+»Na ja, na ja, meinetwegen. Ein Jammer ist's ja, so eine feine,
+vornehme Frau, der's wahrhaftig anders an der Wiege gesungen wurde, und
+muß sich so kümmerlich durchs Leben bringen. Na ja, ja, meinetwegen,
+lauf, Gottlieb, und hol' deinen Freund. Nee nee, 's soll keiner vom
+Meister Käsmodel sagen, daß er nicht gern hilft, wenn er kann!«
+
+Gottlieb war schon, ehe der Vater noch recht seine Rede beendet hatte,
+durch die Tür aus den Hausflur geschlüpft, und mit einer Schnelligkeit,
+die wohl niemand seiner kurzen, gedrungenen Gestalt zugetraut hätte,
+stürmte er die Treppen in dem alten, himmelhohen Haus empor. Oben gab
+es zuletzt nur eine Leitertreppe, auch sie kletterte er mit Windeseile
+hinan. Vor einer niedrigen Türe blieb er aber dann einige Sekunden
+pustend stehen und klopfte nun leise und vorsichtig. Doppelstimmig
+klang es von drinnen »herein«, und als Gottlieb rasch eintrat, scholl
+es ihm entgegen. »Gottlieb ist's, ich dachte es mir schon!«
+
+Ein schlanker, etwa dreizehnjähriger Knabe, der den Bäckerssohn um
+einen Kopf überragte und in seiner ärmlichen, abgetragenen Kleidung
+fast wie ein verwunschener Prinz aussah, kam eilig herbei, und in
+seinen dunklen Augen blitzte es wie Hoffnung auf: »Soll ich kommen?«
+
+Gottlieb nickte und sagte, verlegen sich durch seinen Strubbelkopf
+fahrend: »Es ist schon nötig, bist nicht böse drüber, nein?«
+
+Und ohne eine Antwort abzuwarten, ging Gottlieb Käsmodel rasch durch
+das Zimmer und verbeugte sich, so gut er es zuwege brachte, und so
+tief, daß sein dichter, blonder Haarschopf beinahe den Boden fegte,
+vor einer Dame, die an einem der beiden kleinen Fenster saß und das
+verdämmernde Licht des kurzen Wintertages noch emsig zu ihrer Näharbeit
+ausnützte.
+
+Trotzdem auch sie schlicht, ja ärmlich gekleidet war, würde jeder in
+dieser schlanken Frau die vornehme Dame erkannt haben. Sie, der Knabe
+und ein paar von blitzenden Goldrahmen umfaßte Ölbilder nahmen sich
+ganz fremd in der Stube mit den schiefen Wänden, den kleinen Fenstern
+und dem ärmlichen Hausrat aus.
+
+»Darf Raoul kommen?« fragte Gottlieb, der ganz unwillkürlich hier immer
+etwas seine laute Stimme dämpfte.
+
+Über das sehr blasse Gesicht der Frau, auf dem Kummer und Sorge noch
+nicht die einstige strahlende Schönheit verwischt hatten, glitt ein
+wehes Lächeln. »Gewiß gern, lieber Gottlieb,« sagte sie unendlich
+sanft, »und grüße die Eltern!«
+
+Gottlieb Käsmodel verneigte sich noch einmal so tief, daß er nun
+beinahe nicht wieder in die Höhe gekommen wäre, Raoul von Steinberg
+küßte seiner Mutter ehrfurchtsvoll die Hand, und dann eilten die Knaben
+hinaus, leise und gemessen durch das Zimmer, die Treppen aber polterten
+sie gar geschwind hinab.
+
+»Wenn du fertig bist, kommst du in meine Kammer,« bat Gottlieb, »ich
+warte mit den Aufgaben.«
+
+Raoul nickte nur und schlüpfte eilfertig durch den Hausflur in das
+Lädchen. Dort hatte die Bäckermeisterin zwei große Körbe mit Backwaren
+gefüllt, und Raoul bekam die Weisung, dahin und dorthin dies und das zu
+tragen. »Ein Bäckerjunge muß aber zeigen, daß die Ware gut ist, und was
+essen,« sagte die Frau gutmütig und steckte dem schlanken Knaben ein
+paar recht große Wecken zu. Einer hätte wohl genügt, um einen gesunden
+Bubenappetit zu stillen, aber die Meisterin wußte, daß der andere
+hinauf wanderte in das Dachzimmer und dort eine Mahlzeit der Frau von
+Steinberg bildete. Raoul teilte immer mit der Mutter, mochten die
+Bissen noch so klein und der Hunger noch so groß sein.
+
+Während Raoul von Steinberg an diesem etwas trüben Januartag des Jahres
+1811 durch die engen Straßen der alten Stadt Leipzig lief und die
+bestellte Ware Meister Käsmodels Kunden zutrug, vollendete seine Mutter
+eine vielfach gefältelte Frauenhaube. So mühsam die Arbeit war, sie
+ließ ihr doch Zeit genug, mit ihren Gedanken in die Vergangenheit zu
+eilen. Die Gegenwart war so trübe, und die Zukunft lag so schwer und
+hoffnungslos vor der Frau, daß ihr die glückliche Vergangenheit wie ein
+blumenreiches Gärtlein war, in dem sie nach des Tages Last und Mühe
+still einherging.
+
+Frau Madeleine von Steinberg war eine Französin von Geburt. Sie
+entstammte einer sehr vornehmen Emigrantenfamilie, die sich vor den
+Schrecken der Revolution erst in eine kleine rheinische Stadt, dann
+nach Dresden geflüchtet hatte. In dieser schönen, heiteren Stadt
+verlebte Madeleine ihre Mädchenjahre. Ihr Vater hatte wenigstens einen
+Teil seines Vermögens gerettet, und zwar so viel, daß die Familie
+ohne Sorgen leben konnte. Ein Vetter der Gräfin hatte ein hohes Amt
+am sächsischen Hofe inne. In seinem Hause und durch seine Vermittlung
+wurde Madeleine in die Gesellschaft eingeführt, und auf einem Balle
+lernte sie auch ihren nachherigen Gatten, Georg Wilhelm von Steinberg,
+kennen. Dieser, Ostpreuße von Geburt, hielt sich nur kurze Zeit in
+Dresden auf; als er ging, bat er Madeleines Vater um die Hand seiner
+Tochter. Doch der wies ihn ab, er sagte, er wolle keinen Preußen zum
+Schwiegersohn. Die Mutter, der das feste, ehrenhafte Wesen dieses
+preußischen Junkers gut gefiel, tröstete: »Abwarten! Die Zeit mildert
+wohl des Vaters Sinn!« Aber ehe dies geschah, starb der Graf, gerade
+als sich sein Sohn nach Frankreich begeben hatte, um dort zu versuchen,
+die reichen Güter der Familie zurückzugewinnen, denn der wilde Brand
+der Revolution war im Erlöschen. Die Gräfin, eine zarte, schwächliche
+Frau, war müde von allem Leid, sie wollte ihre junge Tochter in gutem
+Schutz wissen, und so durfte diese dem abgewiesenen Freier schreiben,
+daß einer Heirat nichts mehr im Wege stand. Nach wenigen Wochen schon
+wurde Madeleine Georg Wilhelm von Steinbergs Gattin, und wieder nach
+wenigen Wochen stand sie am Sarge der Mutter.
+
+Das junge Ehepaar siedelte nach Berlin über; Herr von Steinberg war
+preußischer Offizier und stand in der Hauptstadt. Madeleine hatte
+nicht geahnt, daß gleich ihrem Vater auch die Familie ihres Mannes die
+Heirat ungern gesehen hatte. In diese alte preußische Familie passe
+keine Französin hinein, hatte die Mutter ihres Mannes geschrieben.
+Diese, eine stolze, durch ein schweres Leben herb und verschlossen
+gewordene Frau, hatte den herzlichen, um Liebe bittenden Brief
+der Schwiegertochter nur kühl erwidert. Vielleicht wäre es Frau
+Madeleine gelungen, nach und nach die Liebe und das Vertrauen der
+neuen Verwandten zu erringen, sie war aber scheu, und ein hartes Wort
+schreckte sie gleich zurück. Ihr Gatte zürnte den Verwandten, er bat
+auch nicht weiter, ja die Vorwürfe der Mutter verletzten ihn so, daß er
+zuletzt gar nicht mehr schrieb, und zu einer Fahrt in die Heimat kam es
+auch nicht. Doch auch Madeleines eigener Bruder zürnte ihr: er wieder
+haßte den Preußen, und sein Haß ging so weit, daß er der Schwester das
+Erbteil entzog.
+
+Mit Sorge und Leid begann die junge Ehe, und doch war sie unendlich
+glücklich; die Jahre, die Madeleine an der Seite ihres Mannes verlebt
+hatte, waren für sie der reiche, köstliche Blumengarten, in den ihre
+Seele immer wieder zurückkehrte. Dann kam der Krieg von 1806/1807. Bei
+Saalfeld wurde Rittmeister von Steinberg schwer verwundet. Einem Freund
+von ihm gelang es, den Verwundeten zu retten und ihn nach Leipzig zu
+schaffen. Dort fand Frau Madeleine den Gatten, dort pflegte sie ihn die
+letzten schweren Monate seines Lebens, dort starb er, und nach seinem
+Tode blieb die Witwe mit ihrem einzigen Kinde, einem Knaben, in der
+Stadt.
+
+Die Krankheit, der Krieg und eigenes schweres Leiden raubten der Witwe
+das geringe Vermögen, und zwei Jahre nach dem Tode ihres Mannes befand
+sie sich in den ärmlichsten Verhältnissen. Sie wandte sich mit der
+Bitte um Hilfe an ihren Bruder, der inzwischen in Napoleons Dienst
+getreten war und alle seine Güter zurückerhalten hatte. Ein hartes
+Nein war die Antwort. »Ich will dir nur helfen, wenn du hier in dein
+Vaterland zurückkehrst und deinen Sohn als Franzosen erziehst,«
+schrieb er, doch Frau Madeleine hatte dem Gatten gelobt, den Sohn in
+der Heimat zu erziehen, und sie hielt ihr Wort.
+
+Die Verwandten ihres Mannes um Hilfe zu bitten, wagte sie nach dieser
+harten Abweisung des einzigen Bruders gar nicht mehr, dazu war sie zu
+scheu und zaghaft, so nahm sie tapfer allein den Kampf mit dem Leben
+auf. Sie blieb in Leipzig, bezog mit ihrem Sohne eine Mansardenstube
+im Hause des Bäckermeisters Käsmodel und versuchte sich mit feinen
+Putzarbeiten zu ernähren. Es wäre ihr wohl auch ganz gut gegangen, denn
+sie war geschickt und erwarb sich bald einige Kunden, doch die Zeiten
+waren schlecht, und dazu kamen wochenlange Krankheiten, die sie oft
+arbeitsunfähig machten. Das wenige Geld, das sie besaß, mußte nach und
+nach verbraucht werden, und mit heißer Angst dachte sie manchmal an
+die Zukunft. Was sollte aus ihrem Sohn werden? Sie erzog den Knaben,
+dem Wort getreu, das sie ihrem sterbenden Manne gegeben hatte, im
+Sinne seines Vaters. Sie selbst besaß nur noch eine blasse Erinnerung
+an ihr schönes Heimatland, an das Schloß ihres Vaters an den Ufern
+der Loire und das Palais in Paris. Die neue Herrschaft in Frankreich,
+Napoleons Eroberungszüge erfüllten ihre sanfte Seele mit Schrecken.
+Ihr Mann war im Kampf gegen den unersättlichen Eroberer gefallen,
+sie sah, welch namenloses Leid dieser gewissenlose Emporkömmling
+über die Länder brachte, und ihr Herz blutete vor Mitgefühl mit den
+gepeinigten, zertretenen Völkern. Napoleon war für sie nicht der Kaiser
+von Frankreich, dieses schönen, anmutigen Landes, das ihr wie ein
+Märchenland in der Erinnerung lebte, er war ihr ein böser Dämon, der
+Not, namenloses Leiden über die Menschen brachte. In dieser Anschauung
+wuchs Raoul auf; ein tiefer Haß gegen den Völkervernichter, ein heißes
+Mitleid mit denen, die unter seiner Tyrannei litten, wurde groß in dem
+Herzen des Knaben. --
+
+Die Dämmerung hatte nach und nach das Mansardenzimmer Frau von
+Steinbergs in Dunkel gehüllt, nur am Fenster hing noch ein matter
+Lichtschein, zu schwach aber, um bei ihm weiter arbeiten zu können.
+Erschöpft ließ die Frau die Arbeit sinken; Brust und Rücken taten ihr
+weh, und fröstelnd zog sie das dünne Tuch um ihre Schultern. Es war
+kalt im Zimmer, in dem Öfchen war das Feuer ausgegangen, und draußen
+wehte ein scharfer, harter Nordwind. Doch Brennholz kostete Geld,
+Nahrung, Kleidung, alles kostete Geld, und der Verdienst war gering.
+Ein paar Goldstücke lagen freilich noch in dem Kasten, in dem Frau
+Madeleine den Trauring ihres Mannes, sein Bild, eine Haarlocke von ihm
+und ähnliche Erinnerungen aufbewahrte, aber dieser Notgroschen sollte,
+mußte für Raoul bleiben. »Wenn ich nicht mehr lebe,« dachte die Frau
+müde.
+
+Draußen polterte wieder jemand die Stiegen herauf, es klopfte, und
+einen Augenblick später trat breit und behaglich, ein bammelndes
+Laternchen in der Hand, die Bäckermeisterin Käsmodel in das Zimmer.
+»Nichts für ungut, wenn ich störe,« sagte sie freundlich, »ich wollte
+nur sagen, daß es in unserer Backstube kuchenwarm ist, und daß es
+eigentlich jammerschade ist, daß Feuer und Licht nicht genug ausgenutzt
+werden. Na, und dann, Frau von Steinberg wissen, wie himmelgern ich so
+'n kleinen Tratsch mache. 'n bißchen was von Dresden hören, darüber
+geht nur nichts. Wär's gar so unbescheiden, wenn ich bitten tät, auf
+ein Stündchen herunterzukommen?«
+
+Madeleine von Steinberg sah die Bäckermeisterin dankbar an, die im
+Lichtschein ihres Laternchens an der Türe stand und die blasse
+Frau anschaute, just als möchte sie sagen: Komm, du armes, krankes
+Menschenkind, laß dich lieb haben von mir und dir was Gutes tun!
+
+Diese Szene wiederholte sich allabendlich: immer wenn es dunkel und
+kalt in der Kammer wurde, holte die Meisterin ihre Hausgenossin in die
+warme Stube hinab, in der es so kräftig nach Mehl und nach frischem
+Brot roch. Dann saßen die Frauen bis zum Nachtmahl zusammen, wohl
+noch darüber hinaus, denn oft baten die Bäckersleute, es sei doch
+gerade so gemütlich, da könnte Frau von Steinberg doch ein Häppchen
+mitessen, es sei ihnen dies eine besondere Ehre. Anfangs hatte sich
+die Frau gegen diese stille, versteckte Wohltätigkeit gewehrt, hatte
+nichts, auch gar nichts annehmen wollen, aber jetzt war sie so müde und
+niedergeschlagen; die Einsamkeit lastete so schwer auf ihr, daß sie
+aufatmete, wenn die Meisterin Käsmodel mit ihrem Laternchen erschien.
+
+Auch heute raffte Madeleine von Steinberg hastig ihre Näherei zusammen
+und folgte der freundlichen Hausgenossin die steilen Treppen hinab
+in das durch das Ofenfeuer und eine Unschlittkerze traulich erhellte
+Stübchen. Die Meisterin strickte und bewunderte dazwischen höchlichst
+die Fältchen, Tollen und Schleifen, die unter Frau von Steinbergs
+geschickten Händen entstanden. »'s ist wirklich zum Anbeißen adrett,
+was Sie da nähen, aber freilich, die Lust vergeht einem schon an
+solchen Dingen, eine gar so böse Zeit ist's.« Die Bäckermeisterin
+seufzte tief. »Wohin man hört, gibt's Kummer. Draußen auf den
+Landstraßen soll man seines Lebens nicht mehr sicher sein.«
+
+Am Schiebefensterchen nach dem Hausflur hin bimmelte die Klingel, und
+ein von der Luft gerötetes Mädchengesicht erschien daran. Ein Brot
+wurde verlangt, die Meisterin reichte es hinaus und erkundigte sich
+dabei gleich, ob die Madame Preußer wieder wohlauf sei.
+
+»Die Madame ist wieder beisammen,« erzählte die Magd, »aber der Herr,
+der Herr! Gestern hab' ich ihn sagen hören, an nichts hätt' er mehr
+Freude, seit die Franzosenbagasch« --
+
+»Halt Sie das Maul,« fuhr die sonst so sanftmütige Meisterin Käsmodel
+die Magd heftig an, »so was hört mer nicht, und wenn mer's hört, sagt
+mersch nicht! Verstanden?«
+
+Die Magd riß ihre großen wasserblauen Augen weit auf vor Schreck, und
+ganz kleinlaut versicherte sie: »Ich sag nischte mehr, nie nich.«
+
+»Das ist auch am besten,« brummte die Bäckermeisterin und wandte sich
+einer neuen Kundin zu, einem schmächtigen, verhutzelten Weiblein, das
+ganz scheu in eine Ecke gedrückt im dunklen Flur stand und kaum an das
+Schiebefensterchen zu treten wagte. »Na, was gibt's, Schmidten, soll's
+ein Brot sein?«
+
+Die Frau wartete erst, bis die stattliche Magd gegangen war, dann trat
+sie vor und flüsterte mit heiserer, ängstlicher Stimme: »Wenn Se mer's
+borgen täten, Frau Meistern, nich en Groschen hab' ich im Haus!«
+
+Die Bäckerin seufzte, und ihr Blick überflog die auf den Ständern
+aufgereihten Brote. Wie manches ging davon weg ohne Bezahlung.
+Ihr Mann schalt oft, sie sei zu weichherzig, bringe sie alle noch
+an den Bettelstab, aber was sollte sie tun? Die Frau dort am
+Schiebefensterchen hatte fünf Kinder daheim. Wo ihr Mann geblieben war,
+wußte niemand; er war in die Fremde gezogen, um einen Verdienst zu
+finden, als die harten Zeiten anfingen, und dort war er verschollen,
+vielleicht gestorben.
+
+»Da, Schmidten, Gott segne es ihr und den Kindern,« sagte die Meisterin
+und legte rasch eins der Brote in die verlangend ausgestreckte Hand der
+Frau. Dann schloß sie, da keine Kunden mehr draußen standen, geschwind
+das Schiebefensterchen und kehrte zu ihrem Gast zurück.
+
+Die beiden Frauen waren nach Stand und Bildung sehr verschieden
+voneinander, denn als Madeleine von Steinberg noch in Dresden die
+glänzenden Feste der Hofgesellschaft mitgemacht hatte, war Frau
+Käsmodel eine flinke, fröhliche Magd im Pfarrhause an der Kirche von
+St. Thomä gewesen, aber trotzdem verstanden sie sich gut mitsammen.
+Frau von Steinberg kannte Not und Entbehrung aus Erfahrung. Die
+Bäckermeisterin hatte zwar noch nie um ihr tägliches Brot gebangt,
+aber sie sah, wie ringsum die Armut wuchs, wie die Zeiten schlechter
+und schlechter wurden. Sie hatte auch tiefes Mutterleid erfahren:
+zwei Kinder waren ihr gestorben, und so wußten sich die beiden Frauen
+mancherlei zu sagen. Der Meisterin Käsmodel konnte die zarte, langsam
+dahinsiechende Bewohnerin aus der Mansarde auch von ihrer Sorge um
+ihres einzigen Kindes Zukunft sprechen.
+
+Während die Mütter mal wieder über ihre Kinder sprachen, -- die
+Bäckersleute besaßen noch zwei dralle runde Mädels von drei und
+vier Jahren, -- saßen die beiden Buben zusammen auf einem Bänkchen
+im Backofenwinkel und lernten, daß ihnen die Köpfe rauchten. Seit
+einem Jahre besuchte Gottlieb das Gymnasium. Meister Käsmodel wollte
+seinem Buben eine gute Bildung geben lassen, er pflegte zu sagen: »Du
+mußt ebenso gescheit werden wie drei!« Zu dieser großen Gescheitheit
+verspürte Gottlieb nun freilich keine allzu große Lust, und er wäre
+vielleicht etwas schwer über die Anfänge der lateinischen Sprache
+hinweggekommen, wenn Raoul nicht gewesen wäre. Frau von Steinberg, die
+selbst eine sehr gute Bildung genossen hatte, unterrichtete ihren Sohn
+selbst; es war ihr unmöglich, ihn auf eine höhere Schule zu schicken.
+Als der Sohn heranwuchs, sah sie freilich, daß es zu wenig war, was
+sie den glänzend begabten Knaben lehren konnte, allein Raoul war so
+lerneifrig, daß er selbst voll Eifer aus den wenigen Büchern, die er
+besaß, lernte, was er vermochte. »Ich wollte, du könntest statt meiner
+dies alberne Latein lernen!« murrte Gottlieb einmal, als er seufzend
+und stöhnend die ersten Gymnasiumstage hinter sich hatte.
+
+»Ich will mit dir lernen,« sagte Raoul dienstwillig, »vielleicht wird
+es dir dann leichter!«
+
+Gottlieb hatte das Anerbieten gern angenommen, und seitdem arbeiteten
+die Knaben zusammen und merkten bald, daß sie beide Vorteil davon
+hatten. Was der Bäckerssohn in der Schule gelernt hatte, teilte er dem
+Freunde mit. Dabei wurde ihm selbst manchmal erst klar, was er nicht
+verstanden hatte; er paßte auch besser auf, um sich seiner Dummheit
+nicht schämen zu müssen, und wußte er einmal gar nicht weiter, dann
+fand sicher Raoul aus den Büchern den richtigen Weg, und so umschifften
+beide gemeinsam manche Klippe der lateinischen Grammatik und der andern
+Lehrbücher. Raoul sagte oft sehr vergnügt zu seiner Mutter: »Es ist
+beinahe so gut, als ob ich selbst auf das Gymnasium ginge.«
+
+An diesem Abend hatten sich die Buben beide in die Geheimnisse der
+römischen Geschichte vertieft. Gottlieb ein wenig unlustig, er sah
+nämlich nicht ein, warum ein zukünftiger ehrsamer Bäckermeister die
+römischen Könige, Volkstribunen und Kaiser mit Namen kennen mußte, und
+daß er einmal Vater Käsmodels Beruf ergreifen würde, stand bei ihm
+fest. »Du,« brummte er und stieß den Kameraden an, »die kaufen doch mal
+keine Brote und Wecken bei mir, warum soll ich sie nun alle kennen?«
+
+Raoul sah mit seinen ernsten Augen nachdenklich auf den Freund und
+sagte träumerisch: »Ich wollte, ich wär' ein Römer!«
+
+»Nee,« rief Gottlieb verdutzt, »das hab' ich mir noch nie gewünscht,
+aber weißte, Soldat möchte ich werden und dem Napoljong feste de Jacke
+verhauen; dazu brauch' ich doch aber nicht alle diese eklichen Namen zu
+wissen.«
+
+Das stimmte nun freilich, und der sonst so lerneifrige Raoul ließ
+auch für ein Weilchen das Buch sinken, denn jetzt waren die Knaben
+wieder mal bei dem allerbeliebtesten Gespräch angelangt: Napoleon
+und seine Kriege. Im Hause Meister Käsmodels war man alleweg gut
+deutsch gesinnt. Das Kriechen und Katzbuckeln vor Frankreich, das
+Verherrlichen des gewissenlosen Eroberers, das auch in Leipzig leider
+in manchen guten Bürgersfamilien geübt wurde, war dem ehrlichen,
+aufrichtigen Bäckermeister in der Seele zuwider. Er war zwar ein
+schlichter, ungelehrter Mann, aber er hatte einen hellen, klaren
+Verstand, und voll Schmerz sah er, wie tief der deutsche Stolz, das
+deutsche Vaterlandsgefühl am Boden lag; nach den Reden mancher Bürger
+hätte man meinen müssen, Sachsen gehöre von Gottes und Rechts wegen
+zu Frankreich. In widerlich schmeichelnden Lobeshymnen sang man
+Bonapartes Lob, und man hatte ganz vergessen, daß es Deutsche waren,
+Stammesgenossen, die von Napoleon geknechtet wurden. Der Kaiserhaß, der
+Abscheu vor dem französischen Übermut hinderte dabei die Bäckersleute
+nicht, ihrer Hausgenossin, der Französin, in Treue hilfreich
+beizustehen. »Denn,« pflegte der Meister Käsmodel zu sagen, »der
+einzelne Mensch, der meine Hilfe braucht, ist alleweil mein Nächster,
+und wenn man über ein Volk auch gerade vor Wut bersten möchte, kommt
+uns einer davon in die Quere, so ist es eben Christenpflicht zu helfen,
+wenn man kann. Na, und so'n armes Weiberseelchen hat in der lieben
+Gotteswelt noch keinem ein Unrecht getan. Pfui Teufel, wäre das ruppig,
+der nicht beizustehen!«
+
+In diesem Geist wuchsen die Kinder auf, und sie vertrugen sich so
+gut zusammen, daß nie ein Streit die Freundschaft trübte. Gottlieb
+bewunderte Raoul restlos. Der war ein Idealist, ein Feuerkopf, der von
+hohen Taten träumte, und manchmal staunte der praktische, ein bißchen
+schwerfällige Bäckerssohn über des Freundes kühne, hochfliegende
+Zukunftspläne.
+
+»Warum ist man nur noch so jung!« schrie Raoul plötzlich in
+hellflammender Tatensehnsucht auf.
+
+»Allweil nu möcht ich wissen, warum der Musjeh zu jung ist?« fragte
+Meister Käsmodel, der gerade wieder eintrat. »Jugend ist alleweil der
+einzige Fehler, von dem man jeden Tag 'n Linschen ablegt.«
+
+»Ich möchte groß sein, Soldat sein und in den Kampf gegen Napoleon
+ziehen können!« rief Raoul.
+
+»Jetzt ist Frieden,« brummte der Meister, »Frieden, ihr Bengels,
+aber merkt's: alleweil ist's mit dem Frieden jetzt so wie mit meiner
+Backofenglut. Wenn ich nicht backe, decke ich Asche drauf, viel Asche,
+und nachher, wenn ich wieder Feuer brauche, stöbere ich die Asche weg,
+ein paar Scheite drauf, und heissa, das Feuer brennt!«
+
+»Das Feuer brennt!« schrieen die Knaben unwillkürlich mit, die Frauen
+aber schraken zusammen, und die Bäckermeisterin bat ängstlich: »Mann,
+Käsmodel, setz den Jungens doch nicht solche Gedanken in'n Kopf, man
+weiß heute nie, was draus wird.« Sie sah sich scheu um. »Man muß
+vorsichtig sein.«
+
+»Ih was,« knurrte der Meister, »Glut muß bleiben -- bis die Zeit zum
+Backen kommt! Hab' ich nicht recht, Frau Nachbarin?«
+
+Frau von Steinberg schloß sekundenlang die Augen; sie sah sich wieder
+am Sterbebett ihres Mannes stehen und hörte ihn mit versagender Stimme
+rufen: »Die Schmach muß ausgewetzt werden, vergiß es nicht, vergiß es
+nie!« -- und ganz leise sagte sie: »Sie haben recht, Meister, die Glut
+muß bleiben -- bis die Zeit kommt.«
+
+Dann legte sie ihre Arbeit zusammen und nahm Abschied von ihren
+freundlichen Wirtsleuten, es war Zeit zur Nachtruhe. Raoul folgte
+bereitwillig der Mutter. Er hoffte noch auf ein Plauderstündchen, um
+ihr von allem zu erzählen, was er auf seinem Botengange gesehen und was
+er mit Gottlieb gelernt hatte, aber oben sagte die Mutter sanft, und
+ihre Stimme klang unendlich müde: »Erzähl mir morgen alles, Raoul, ich
+brauche heute Ruhe.«
+
+Es dauerte nicht lange, und der Bube lag im Bett und schlief auf dem
+harten Strohsack fest wie ein Murmeltier. Seine Mutter aber fand keinen
+Schlaf. Brust und Rücken schmerzten, sie fror, und quälender noch als
+Schmerzen und Kälte peinigte sie der Gedanke an die Zukunft. Wieder wie
+so oft in den langen Wochen, da sie fühlte, daß ihre Kräfte mehr und
+mehr abnahmen, dachte sie an die Verwandten ihres Mannes, an seinen
+Bruder auf Hohensteinberg und -- an seine Mutter. Sie hatte, seit sie
+selbst Mutter war, oft gedacht, daß sie und ihr Mann damals wohl zu
+rasch das Werben um die Verzeihung der alten Frau aufgegeben. Die hatte
+sie ja nicht gekannt, nichts von ihr gewußt, fremd war sie ihr, -- wie
+durfte sie da gleich Liebe fordern! Vielleicht hätte die Mutter ihr
+gern geholfen, sie verstanden. Und wieder rang sie mit ihrem Stolz und
+nahm sich vor, an die Mutter, den Schwager zu schreiben und um Hilfe
+zu bitten, nicht mehr für sich, aber für ihren Sohn, damit er nicht
+verlassen und schutzlos war, wenn sie von ihm gehen mußte -- vielleicht
+würde das bald sein, sehr bald.
+
+Ein tiefes Stöhnen entrang sich der schmerzenden Brust der armen Frau,
+und Raoul, der im Winkel unter dem schrägen Dach schlief, wachte auf.
+»Riefst du mich, Mama?« Doch alles blieb still, vom Bett der Mutter kam
+keine Antwort, und so huschelte sich Raoul beruhigt wieder in seine
+Decke ein und schlief seinen festen, gesunden Jugendschlaf weiter.
+
+Die Frau preßte die Lippen fest zusammen, damit kein Klagelaut wieder
+den Schlaf ihres Kindes stören sollte, über ihr Gesicht aber rannen
+Tränen, bittere, schwere Tränen. Draußen hatte sich der Wind erhoben,
+er sauste und brauste um die hohen, spitzgiebligen Häuser herum, drehte
+knarrend die Wetterfahne auf dem Dach und klapperte an der Dachrinne.
+Die Frau hörte das wilde Lied und dachte an den Sturm, der ihr Glück
+vernichtet hatte. Jetzt schwieg er, Friede herrschte, aber wie lange
+noch? Erst gegen Morgen, als sich auch draußen der Sturm legte, schloß
+der Schlaf für wenige Stunden die müden Augen, und ein heiterer Traum
+entführte ihre Seele für kurze Zeit der trüben, schweren Gegenwart.
+
+[Illustration: Dekoration Ende 1. Kapitel]
+
+
+
+
+[Illustration: Dekoration Titel 2. Kapitel]
+
+
+
+
+Zweites Kapitel.
+
+Das Schreiberlein des Herrn Advokaten Schnabel.
+
+
+»Mit der Frau von Steinberg steht's nicht gut, Mann,« sagte die
+Meisterin ein paar Tage später, als ihre Hausgenossin gerade von einem
+Ausgang zurückkehrte und langsam, die schlanke Gestalt vornübergeneigt,
+den dämmrigen, schmalen Flur durchschritt.
+
+»Ach, Unsinn! Weiberleut müssen sich allweil ängstigen,« knurrte der
+behäbige Bäcker, aber auch er sah der bleichen Frau ernst nach. Stufe
+auf Stufe stieg diese die Treppe empor. So himmelhoch und endlos wie
+heut waren sie ihr noch nie erschienen. Sie hatte an diesem Tage selbst
+eine Haube forttragen müssen zu einer wohlhabenden Kaufmannsfrau, die
+verlangt hatte, sie solle ihr das Kunstwerk gleich einmal aufsetzen.
+
+Der Weg bei dem rauhen, unwirtlichen Wetter war Madeleine von Steinberg
+sehr schwer geworden, und als sie auf der zweiten Treppe angelangt war,
+mußte sie sich einen Augenblick an die Wand lehnen; fast unmöglich
+erschien es ihr, hinaufzukommen, noch so viele Stufen, noch die mühsame
+Leiter gab es zu erklimmen.
+
+»Mama, was fehlt dir?« Raoul von Steinberg fuhr ein paar Minuten später
+erschrocken auf und ließ das Buch, in dem er gelernt hatte, zu Boden
+fallen. »Um Gotteswillen, Mama, Mutter!«
+
+»Ich -- es ist nichts, mein Junge, mein -- armer Junge!« Die Frau
+taumelte und wäre zu Boden gefallen, wenn nicht des Knaben starke junge
+Arme sie gehalten hätten.
+
+Ein Hilferuf gellte durch das Haus, ein weher, verzweifelter Angstruf.
+Er drang auch hinunter in das warme Bäckerlädchen, schreckte die
+Meisterin auf und trieb Gottlieb aus seinem Ofenwinkel heraus. Der
+Meister kam auch, die Magd mit den beiden Kleinen lief herzu, oben
+im Hause, in dem ein Warenlager untergebracht war, wurden Türen
+geschlagen, man hörte rufen, und dann stand von allen Hausgenossen
+doch die rundliche Bäckermeisterin zuerst oben im Mansardenstübchen,
+hinter ihr tauchte Gottlieb auf, und beide sahen Frau von Steinberg
+wachsbleich, mit blutbeflecktem Kleid in Raouls Armen liegen.
+
+»Die Mutter stirbt,« schrie der Knabe verzweifelt, und seine heißen
+Tränen mischten sich mit dem roten Blut der Mutter, das tropfenweise
+dem blassen Munde entströmte.
+
+Die Meisterin griff herzhaft zu, und als nach wenigen Minuten auch
+die andern Hausgenossen im Zimmer erschienen, trieb sie alle hinaus,
+nur die Magd durfte bleiben und die Kranke in ihr Bett legen helfen.
+Gottlieb rannte zu einem Arzt, der in der nahen Nikolaistraße wohnte,
+und Raoul saß im Winkel und sah mit heißer Angst zu, wie die Meisterin
+die Mutter bettete, sie rieb und mit warmen Tüchern umwickelte. Auf
+seinem Herzen lag dumpf und schwer die Ahnung kommenden Leides.
+
+Bange Tage folgten, lange Wochen des Leidens kamen, Frau von Steinberg
+siechte langsam dahin. Wohl stand sie nach etlichen Tagen wieder
+auf und machte den Versuch, wenigstens die bestellten Arbeiten zu
+vollenden, aber es war nur ein mühsames Ringen mit versagenden Kräften.
+Immer wieder entsank die Nadel ihren müden Händen, immer wieder mußte
+sie stundenlang still auf ihrem Lager ruhen, unfähig, auch nur etwas zu
+tun.
+
+Raoul pflegte, von der Meisterin Käsmodel tatkräftig unterstützt,
+seine Mutter, so gut er nur konnte. »Du mußt ihr eine Stütze sein,
+darfst selbst nicht klagen und nicht trübselig dreinschauen,« hatte
+die Meisterin zu ihm am ersten Tage der Krankheit gesagt, und danach
+richtete sich der Knabe, wenn es ihm auch noch so schwer fiel. Er nahm
+seiner Mutter alle Arbeit in der kleinen Wirtschaft ab, er kehrte,
+wusch und kochte wie eine Dienstmagd, und dann rannte er draußen noch
+stundenlang herum und tat Botengänge für kargen Lohn. Die Geschäfte
+gingen schlecht, die Not der Zeit drückte alles nieder, jeder sparte,
+wo er konnte, und recht gering war das, was da ein halbwüchsiger Junge
+verdienen konnte. Er brachte jeden Pfennig mit strahlendem Gesicht
+heim, noch ahnte er ja nicht, wie schwer die Sorge auf der Mutter
+lag. Aber dann, an einem hellen, sonnigen Februartag war es, der wie
+ein erster heiterer Frühlingsgruß über die Erde ging, mußte Frau von
+Steinberg doch das erste Goldstück ihres heimlichen kleinen Schatzes
+nehmen. Sie konnte ihren Sohn nicht hungern lassen, sie wollte aber
+auch nicht von den gutherzig gegebenen Gaben der Bäckersleute leben,
+dazu war sie zu stolz.
+
+»Zahl' unten die Miete und das Brotgeld! Käsmodels wollen es nicht,
+ich will aber nichts schuldig bleiben, Raoul,« sagte sie leise, und
+eine Träne fiel brennend auf die ausgestreckte Hand des Sohnes.
+
+Tief erschrocken sah der Knabe aus, und in diesem Augenblick verstand
+er voll die Sorge der Mutter. In wild ausbrechendem Schmerz schlang
+er seine Arme um sie und flehte: »Weine nicht, ach, weine nicht! Im
+Frühling wird alles gut, du wirst gesund, und ich finde schon einen
+Verdienst.«
+
+»Im Frühling -- ja,« flüsterte die Mutter und küßte zärtlich ihr Kind,
+»du hast recht, dann wird alles gut.«
+
+Ach, sie fühlte es ja gerade an diesem sonnigen Tage, der von dem
+kommenden Lenz zu erzählen wußte, daß ihre Stunden auf der Erde gezählt
+waren, und daß sie nicht mehr lange über ihrem Kinde wachen konnte. Und
+als Raoul gegangen war, überwand sie endlich ihren Stolz und schrieb an
+den Bruder ihres Mannes, an den Freiherrn Wolf-Friedrich von Steinberg
+auf Hohensteinberg, schilderte ihm ihre Lage und bat ihn, sich ihres
+Kindes anzunehmen, wenn sie tot sei. Sie schloß auch ein Brieflein für
+die Mutter mit ein. Für sich bat sie um nichts, nur Hilfe für den Sohn
+wollte sie. Den Brief trug die Meisterin Käsmodel selbst auf die Post,
+zahlte das Porto und sandte dem Schreiben ihre guten Wünsche nach, denn
+sie billigte im innersten Herzen den Schritt, den ihre Mieterin getan
+hatte. Sie ahnte nicht, daß ein böses Geschick den Brief tief im Grunde
+eines Postsackes festhielt, viele, viele Wochen lang.
+
+Ein paar Tage später stürmte Raoul am Nachmittag hastig und aufgeregt
+in das Zimmer. »Mama,« rief er, »Herzensmama, denke doch, ach denke
+doch, welch ein Glück mir widerfahren ist!« Er umschlang stürmisch
+die bleiche Mutter, und an ihr vorbeisehend, damit sie ihm nicht in
+die Augen blicken konnte, denn die sahen gar nicht glücklich aus,
+erzählte er hastig: »Der Meister war mit mir beim Advokaten Schnabel
+in der Burgstraße; dem ist sein junger Schreiber davongelaufen, und
+der Meister meinte, schreiben könnte ich so gut wie er backen. Wir
+sind also hingegangen, und der Herr Advokat hat uns vorgelassen. Der
+hat gleich geschrieen: >Das ist ein Kind, der ist zu jung, zu jung, zu
+jung, 's ist nichts damit!<«
+
+Bei der Erinnerung an diese Szene kam in Raouls Augen nun doch das
+Lachen. Er blickte seine Mutter froh an, als er fortfuhr: »Meister
+Käsmodel hat sich einfach auf einen Stuhl gesetzt, und allemal, wenn
+der Herr Advokat schrie: >Zu jung, zu jung,< hat er genickt, und
+endlich hat er gesagt: >Alleweil jetzt, Herr Advokat, ist der Junge
+schon etwas älter geworden, und Jugend hat noch nie jemanden geärgert,
+höchstens das Altwerden.< Erst machte der Herr Advokat ein ganz
+bitterböses Gesicht, dann fing er an zu lachen. Ich mußte schreiben,
+das gefiel ihm, und nun, Mama, bin ich angestellter Schreiber und
+bekomme -- zwei Taler vorläufig auf den Monat. Ist das nicht schön?
+freust du dich auch?«
+
+»Sehr schön,« flüsterte Frau von Steinberg, »ich freue mich sehr,
+mein guter Junge du.« Sie kämpfte krampfhaft die aufsteigenden Tränen
+zurück, und Mutter und Sohn hielten sich lange umschlungen. Sie sahen
+sich nicht in die Augen, denn jedes fürchtete den heimlich getragenen
+Schmerz sehen zu lassen. Ein Freiherr von Steinberg, Enkel des Grafen
+Turaillon, eines der vornehmsten Würdenträger am Hofe Ludwigs _XVI._,
+ein Schreiberlein mit zwei Talern Monatsgeld. Der Mutter zog sich
+das Herz zusammen, wenn sie daran dachte, und sie sah sich im Geist
+mit dem geliebten Gatten an der Wiege ihres Kindes sitzen und hörte
+wieder die so früh verklungene Stimme: »Mein Sohn soll einmal dem
+Namen Steinberg Ehre machen,« und nun mußte dieser Sohn als armes
+Schreiberlein ein kümmerliches Brot verdienen.
+
+Raoul sollte am nächsten Morgen bereits seine Stellung antreten. Die
+Meisterin hatte ihm versprochen, sie wollte für seine Mutter sorgen,
+aber er stand doch noch früher als sonst auf und fegte erst die Stube
+aus, kochte fürsorglich die Morgensuppe für die Mutter und sich, und
+dann eilte er rasch nach kurzem Abschied davon. Er hatte es nicht weit,
+und geschwind lief er über den Marktplatz, bog in ein schmales Gäßchen
+ein und langte bald in der Burggasse an. Dort kletterte er eilfertig
+in einem uralten Hause zwei enge Treppen empor und zog die Klingel an
+Advokat Schnabels Wohnung. Eine Magd öffnete und brummte unwirsch:
+»Jemineh, der neue Schreibbursche! Nee, so'n Dreikäsehoch aber auch! Da
+hast'n Besen, nun kehre mal flink die Schreibstube aus. Rasch, rasch,
+tummle dich, sieh nicht erst 'n Loch in die Türe!«
+
+Raoul stieg das Blut in das Gesicht. Er war ein stolzer, kleiner
+Bursche, und es demütigte ihn tief, daß er solche Dienste verrichten
+sollte und sich von der Magd so grob anfahren lassen mußte. Am liebsten
+wäre er gleich umgekehrt, aber er preßte die Lippen fest aufeinander,
+um nicht eine patzige Antwort zu geben. Das Zimmer, das er betrat,
+lag nach dem Hof hinaus, die graue Rückwand eines Hauses nahm jede
+Aussicht, nur wer sich weit aus dem Fenster bog, der konnte den Turm
+der nahen Thomaskirche aufragen sehen. Einen Augenblick blieb Raoul
+unschlüssig an der Türe stehen und überschaute den Raum, der ihm
+fortan tagaus, tagein Aufenthaltsort sein sollte. Bis zur Decke hinauf
+krochen die Ständer, angefüllt mit dicken Aktenbündeln, ein paar von
+Tintenflecken übersäte Tische standen dicht an den Fenstern, deren
+Scheiben gewiß lange nicht geputzt waren. Seufzend begann Raoul mit dem
+Auskehren, er dachte dabei immer nur: Zwei Taler, zwei Taler, wie wird
+sich die Mutter freuen!
+
+Er war noch nicht mit seiner Arbeit fertig, denn Staub und Schmutz
+lagen dick in allen Winkeln, als die Türe mit einem lauten Krach
+geöffnet wurde und zwei noch junge Männer hereinkamen. Der eine war
+lang und dünn, sein Gesicht, seine Hände, sein Anzug sahen grau,
+ungewaschen und ungebürstet aus; der andere war klein, verwachsen, er
+hatte etwas Zartes, Sanftes in seiner ganzen Erscheinung. Der Lange
+schaute Raoul von oben bis unten an; er kniff dabei die Augen zusammen,
+und der Knabe erschrak vor dem unangenehmen Ausdruck des Gesichtes.
+»He, ist er der Neue, wie heißt er denn?«
+
+Raoul sagte ruhig seinen Namen, ohne den Adel, den er auf Wunsch des
+Advokaten selbst nicht nannte, und sah dabei mit seinen schönen,
+dunklen Augen offen zu dem langen Schreiber empor. Der grinste und
+schrie dem Verwachsenen zu: »Ein halber Franzos! Du Napoleonfresser,
+das ist was für dich, hihihi! Da, junger Dachs, nehm er meinen Rock,
+mein Schreibkittel hängt dort im Schrank. Flink, er weiß wohl gar
+nicht, was sich gehört?«
+
+Der Verwachsene war still an den Schrank getreten, hatte einen
+abgeschabten, zerflederten Rock herausgenommen, der so schmutzig
+war, daß Raoul sich ekelte, ihn anzugreifen. Den reichte er dem
+Knaben, damit er ihn dem Langen brächte, er selbst zog sich ein paar
+Schreibärmel über, und da gleichzeitig im Nebenzimmer Schritte laut
+wurden, eilten die Schreiber an ihre Plätze. Der Lange, der Paul
+Neumann hieß, wies Raoul grob einen Platz neben sich an, aber kaum
+saß der Knabe und hatte begonnen, mit dem Gänsekiel ein Aktenstück
+zu kopieren, als ihn sein Nachbar anfuhr: »Trag das hinüber, flink,
+marsch! Er schläft wohl?«
+
+Da schrak Raoul so zusammen, daß ein dicker Klecks auf sein Papier
+tropfte, und ein Hagel von Scheltworten brauste auf ihn herab. Er hörte
+Worte, die er noch gar nicht kannte, die roh und gemein in seinen Ohren
+gellten. Er war froh, als ein paar Leute kamen und der lange Schreiber
+in das Nebenzimmer gerufen wurde. Den ganzen Vormittag ging das so
+fort: einer nach dem andern kam, und Paul Neumann lief wichtig hin und
+her, er war einmal von unterwürfiger Höflichkeit zu den Klienten seines
+Herrn, das andere Mal grob und hochfahrend, dann wieder vertraulich,
+machte alberne Späße, je nach Rang und Stellung der Kommenden.
+
+Der kleine Verwachsene, Karl Wagner genannt, blieb immer ruhig an
+seinem Tisch sitzen und schrieb emsig. Raoul, der die Arbeit des andern
+übersehen konnte, staunte, wie schnell sich in schöner, klarer Schrift
+Wort an Wort reihte. Der Verwachsene sprach nichts, nur ein paarmal
+warf er seinem jungen Genossen einen guten, freundlichen Blick zu,
+einen, der zu trösten und aufzumuntern schien. Aber dennoch war es dem
+Knaben, als schlichen an diesem Tage die Stunden unendlich langsam
+dahin, und er atmete erleichert auf, als mit tiefem Dröhnen der Schall
+der Mittagsglocke in die Schreibstube hineintönte.
+
+Raoul hatte gemeint, er würde nun eilig davonlaufen können und mit
+der Mutter die karge Freistunde genießen; das gab es aber nicht. Erst
+mußte er noch für Paul Neumann einen Gang tun, und es waren schon zehn
+Minuten seiner Freizeit verronnen, ehe er heimwärts laufen konnte.
+Dann rannte er freilich wie der Wind, und heiß und atemlos kam er oben
+im Mansardenstübchen an. Kaum sah er der Mutter in das liebe, sanfte
+Gesicht, da wurde es ihm auch wieder leicht ums Herz, und ganz heiter
+erzählte er von seinem ersten Vormittag als Schreiberlein. Ja, nun er
+nicht mehr in der Schreibstube saß, erschien ihm alles, was er gesehen
+und erlebt hatte, recht lustig und abwechslungsvoll zu sein, und er
+schwatzte so munter drauf los, daß ein Lächeln das Gesicht der Mutter
+verklärte.
+
+Aber waren die Vormittagsstunden wie Schnecken dahingeschlichen, so
+raste die Freistunde vorbei wie ein wild gewordenes Pferd. Es hieß
+wieder scheiden, und Raoul nahm zärtlich Abschied. Er rannte zurück,
+und als er das graue Haus in der Burgstraße wieder betrat, war es ihm,
+als sinke eine schwere, schwere Last auf ihn herab.
+
+Mit der Arbeit schien es am Nachmittag, solange der Advokat selbst
+nicht in seinem Zimmer war, gar nicht eilig zu sein. Karl Wagner
+schrieb zwar still und unverdrossen weiter, aber der lange Neumann
+hatte die Feder hinters Ohr gesteckt und redete laut von allerlei,
+und Raoul mußte ihm zuhören und antworten. Der Schreiber gehörte zu
+jenen, die in kriechender Schmeichelei Napoleon huldigten; er hatte
+sogar ein Gedicht angefangen, in dem er seinen Helden verherrlichte,
+zu seiner großen Betrübnis wollte ihm aber das Dichten nicht gelingen.
+»Kannst von Glück sagen, Bursche,« meinte er an diesem Nachmittag mit
+herablassendem Grinsen, »daß du einen französischen Vornamen hast. Ist
+doch was Feines! Aber ich, wenn ich auch nur einen elenden deutschen
+Namen führe, habe doch einmal den Kaiser gesehen, habe ihn gegrüßt und
+er hat mir gedankt! He, was sagt er zu der Ehre, Musjeh? Bewunderst ihn
+auch, gelt?«
+
+»Ich? Nein,« schrie Raoul. Er war jung und unbesonnen und wollte gerade
+rasch und heiß seine Verachtung aussprechen, als ihn Karl Wagner ganz
+scharf anrief: »Reich mir dort den Aktenstoß her! Schnell, scheinst mir
+ein rechter Faulpelz zu sein!«
+
+Erschrocken sprang Raoul auf, von dem sanften Genossen hatte er einen
+so groben Anruf nicht erwartet, und holte hastig das Gewünschte herbei.
+In diesem Augenblick ertönte nebenan eine Stimme, und der Advokat rief:
+»Neumann, die Akten Müller gegen Hohmann!«
+
+Der Lange raffte geschwind ein Aktenbündel zusammen und entschwand
+im Nebenzimmer, Karl Wagner aber zog Raouls Kopf zu sich herab und
+flüsterte: »Halt deinen Mund, Junge, und hüte dich vor dem Neumann,
+sag' nichts gegen Napoleon!«
+
+»Aber ich hasse ihn doch, er ist ein Tyrann, er --« Raouls Augen
+flammten; er war es nicht gewöhnt, seine Gedanken und Gefühle zu
+verschweigen. Daheim und bei Meister Käsmodel durfte man schon ein
+freies Wort sagen. Aber der Verwachsene legte ihm rasch die Hand auf
+den Mund: »Schweig, mein Kind, wir müssen stille sein und warten, bis
+die Zeit kommt. Und sie kommt,« fügte er hinzu; seine graublauen Augen
+leuchteten begeistert, das blasse kümmerliche Gesicht erstrahlte und
+schien dem Knaben auf einmal seltsam schön und anziehend zu sein. Er
+hätte gern noch mehr mit Karl Wagner gesprochen, aber der lauschte eine
+Sekunde nach dem Nebenzimmer hin und sagte dann leise: »Geh an deine
+Arbeit.«
+
+Als kurze Zeit darauf der lange Neumann in das Zimmer trat, herrschte
+tiefe Stille. Die beiden schrieben eifrig, und Karl Wagner schien seine
+mißtrauischen Blicke nicht zu merken. Da der Advokat nebenan blieb und
+die Türe offen stand, konnte das Gespräch nicht fortgesetzt werden,
+denn Paul Neumann war immer dann fleißig, wenn es sein Herr sah, war
+der nicht daheim, rührte er keine Feder.
+
+Wieder schlichen die Stunden langsam, träge dahin, und Raoul sehnte den
+Abend herbei. Dieser erste Arbeitstag war ihm bitterschwer geworden,
+aber dennoch trat er auch am Abend heiter bei der Mutter ein. Er
+schwatzte ein bißchen lauter und aufgeregter als sonst und ahnte
+nicht, daß die Mutteraugen tief in sein Herz hineinsahen und hinter
+aller erzwungenen Fröhlichkeit doch die Last sahen, die auf den jungen
+Schultern ihres Kindes ruhte.
+
+Raoul dachte jetzt oft: Sind die Tage lang, und sind die Sonntage und
+Abende kurz! Wenn er bei der Mutter saß und die fiebrige Röte aus
+den eingefallenen Wangen kindlich für ein Zeichen wiederkehrender
+Gesundheit nahm, oder wenn er mit Gottlieb lernte und sie sich
+gegenseitig ihre Erlebnisse erzählten, dann war er glücklich und vergaß
+die düstere Schreibstube und seines langen Genossen Quälereien.
+
+Paul Neumann hatte es, trotzdem Raoul schwieg, doch bald
+herausbekommen, daß der Bube kein Kaiserbewunderer war. Seitdem quälte
+und peinigte er ihn noch mehr, als er es sonst getan hätte. Der lange
+Schreiber war wohl unendlich demütig zu denen, die über ihm standen,
+aber er ließ gleich alle seine Roheit aus an denen, über die er Gewalt
+hatte, denen er befehlen durfte. Er war in der Schreibstube der Erste,
+und es half Karl Wagner nicht viel, wenn er Raoul in Schutz nahm;
+nur ganz heimlich durfte er dem Knaben helfen. Sah Paul Neumann das
+Einverständnis, dann rächte er sich und jagte Raoul hin und her,
+namentlich in der Mittagsstunde, und es kam oft genug vor, daß dem
+Knaben nicht einmal so viel Zeit blieb, zur Mutter zu laufen und sein
+Mittagbrot zu essen.
+
+Endlich kam aber doch der Tag, an dem Raoul seine ersten zwei Taler
+nach Hause tragen konnte. Aber gerade an diesem Abend hielt ihn
+Neumann mit allerlei Aufträgen zurück, und Minute auf Minute verrann.
+Raoul zitterte vor Ungeduld heimzukommen, und er atmete erlöst auf,
+als der Advokat selbst kam und noch einmal seinen ersten Schreiber
+sprechen wollte. Da entwischte Raoul, obwohl er wußte, daß er es
+morgen doppelt schwer haben würde. Wie der Wind jagte er die steilen
+Treppen hinunter, die Burgstraße entlang, durch die Gäßchen über den
+Marktplatz. Er jagte so, die beiden Taler krampfhaft in der Hand, daß
+er den dicken Metzgermeister Mayer, der just zu einem Abendschöpplein
+gehen wollte, beinahe über den Haufen rannte. Bums! stieß er an dessen
+Bauch, es dröhnte ordentlich, und wütend holte der Meister zu einer
+gewaltigen Ohrfeige aus, aber hui, ging die in die Luft, denn Raoul
+war schon fort, die dunklen Laubengänge des Rathauses verbargen ihn
+den zornigen Blicken des Meisters. Atemlos kam er oben an. Die letzten
+Stufen der steilen Treppe hastete er so empor, daß er beinahe wieder
+hinuntergefallen wäre, und dann stand er vor seiner Mutter und hielt
+ihr stumm, glückstrahlend die beiden Taler hin.
+
+Frau von Steinberg nahm sie wortlos, und wortlos umschlang sie
+ihr Kind, und Raoul fühlte, wie heiße Tropfen auf seine Stirne
+niederrannen. »Mama,« flehte er bang, »Mama, freue dich doch!«
+
+»Ich freue mich, mein lieber, tapferer Junge du,« hauchte die Frau,
+kaum fähig, sich noch aufrecht zu halten. Ein Schwindel überfiel sie,
+und der Knabe mußte sie stützen und auf ihren Stuhl zurückleiten. »Bist
+du wieder krank?« forschte er angstvoll, »soll ich die Frau Meisterin
+heraufholen?«
+
+»Nein, nein, ich bin gesund, ganz gesund, nur die Freude war es --
+allein die Freude,« murmelte die Mutter und strich liebkosend über
+ihres Kindes braunes Gelock. »Gott segne dich, mein Sohn, du mein
+Glück!«
+
+Viel später dachte Raoul noch oft an diese Stunde zurück, an diesem
+Abend ließ die Freude, daß der erste Monat vorbei war, die ersten zwei
+Taler errungen waren, keine trüben Gedanken in ihm aufkommen. Er war
+sehr vergnügt, vergaß alle Quälereien des langen Schreibers und brachte
+mit seiner Heiterkeit zuletzt auch die Mutter zum Lachen. --
+
+Weil es Frau von Steinberg jetzt so schwer fiel, die Treppen zu
+steigen, kam nach dem Abendbrot noch oft die Meisterin hinauf,
+mit einem Eimerchen glühender Holzkohlen beladen. »Weil es unten
+sonst unnütz verbrennt,« sagte sie jedesmal entschuldigend, damit
+die Hausgenossin nur ja nicht merken sollte, daß sie immer darnach
+trachtete, ihr eine warme Stube zu verschaffen. Auch Gottlieb folgte
+der Mutter an diesem Abend, und nach einem Weilchen tappte selbst
+Meister Käsmodel die Stiege herauf, und alle drei bewunderten ehrlich
+und herzlich den verdienten Reichtum.
+
+»Aus dem wird allweil noch mal was,« sagte der Meister schmunzelnd zu
+Frau von Steinberg, »das ist gute Art.«
+
+Dankbar sah die Mutter zu dem biederen Manne auf; die Freude über ihren
+Sohn, die feste Zuversicht, daß er eines tüchtigen Vaters Ebenbild
+werden würde, ließ sie an diesem Abend heiterer in die Zukunft sehen.
+Ein heller Glanz kam in ihre Augen, ihr Lachen mischte sich leise und
+froh in das der anderen, und die Meisterin sagte nachher zu ihrem Mann:
+»Vielleicht irrt der Doktor sich doch, und Frau von Steinberg wird
+gesund.«
+
+Daß nach einem frohen Abend nicht immer ein heiterer Morgen folgt,
+merkte Raoul am andern Tag. Als er ging, schien ihm die Mutter wieder
+schwächer und matter als sonst zu sein, und als er das Schreibzimmer
+betrat, kam es ihm auch noch düsterer und dumpfiger vor als sonst,
+denn draußen braute ein dicker Nebel, und nur karges Licht fiel in
+das Gemach. Grau wie der Nebel draußen war auch Herrn Paul Neumanns
+Laune: er war an diesem Morgen entschieden mit dem linken Fuß zuerst
+aufgestanden. Die Magd, zu deren Tugenden die Ordnung nicht gehörte,
+hatte vor der Türe einen Wischlappen liegen lassen, über den stolperte
+der lange Schreiber in das Zimmer hinein, und bei dem Versuch, sich
+an einem Stuhl festzuhalten, plumpste er mit samt dem Stuhl um und
+rutschte, so lang er war, in das Zimmer hinein.
+
+Diesem bösen Anfang folgte eine Flut von Schimpfworten, die alle Raoul
+galten. »He, er spitznasiger, eingebildeter Zierbengel er, warum ist
+er gestern abend weggelaufen, he? Er hat wohl die Faulkrankheit, was?
+Denkt wohl, so ein Sündengeld verdient man mit Herumvagabondieren?«
+
+Raoul sagte kein Wort, er wußte genau, daß eine Widerrede oder der
+leiseste Versuch, sich zu verteidigen, nur die Sache verschlimmern
+würde.
+
+»Laß ihn sich austoben,« hatte einmal Karl Wagner geraten, aber an
+diesem Morgen dauerte das Toben recht lange. Zum Unglück war der Herr
+Advokat selbst nicht da, so konnte der lange Schreiber schimpfen und
+schreien nach Herzenslust, und Raoul bekam so viele Schelte, so viele
+harte Worte zu hören, daß es ihm war, als prassele ein Hagelwetter auf
+ihn herab.
+
+Endlich, endlich, nachdem er dies hatte tun müssen und jenes holen,
+konnte er sich an seinen Arbeitsplatz setzen. Eben setzte er an,
+um zierlich und fein geschnörkelt einen Satz zu beginnen, als Paul
+Neumann ihn unsanft an den Arm stieß. Ein Schrei, und über den großen
+Aktenbogen rann eine dunkle Tintenflut.
+
+»Was hat er da wieder angerichtet, er Dummerjan?« schrie der Schreiber
+wütend, aber da klang plötzlich ganz ruhig in das Schreien hinein Karl
+Wagners Stimme: »Du hast ihn gestoßen, er kann nichts dafür!«
+
+Der kleine Verwachsene hatte zwar schon oft die Erfahrung gemacht, daß
+seine Verteidigung dem armen Schreiberlein wenig nützte, er brachte es
+aber nicht fertig, zu dieser Ungerechtigkeit zu schweigen, und just
+wollte er noch etwas sagen, als eine mächtige Ohrfeige auf Raouls Wange
+herniedersauste. »Will doch sehen, ob der nicht Strafe bekommt, der sie
+verdient,« rief der Lange zornig.
+
+Mit einem Schrei war Raoul emporgefahren, Tränen der Wut und Scham
+entstürzten seinen Augen. »Ich lasse mich nicht schlagen,« schrie
+er, »ein Steinberg läßt sich nicht schlagen!« In leidenschaftlichem
+Zorn wollte er sich auf seinen Peiniger stürzen, aber da fühlte er
+sich von hinten festgehalten, und Karl Wagners ernste, graue Augen
+sahen ihn mahnend, liebevoll an. »Sei ruhig!« und ganz leise, nur ihm
+verständlich, klang es an sein Ohr: »Denk an deine Mutter!«
+
+Stumm senkte Raoul den Kopf. Die Mutter, ihre Freude gestern, sein
+Stolz, seine Hoffnung, ihr immer mehr eine Stütze werden zu können, --
+alles fiel ihm ein. Er mußte still sein, aushalten, sein Amt durfte er
+nicht verlieren.
+
+»Die Madame läßt sagen, das wär'n Lärm wie auf der Messe und nicht wie
+in 'ne anständige Schreibstube, und sie würd's dem Herrn berichten,«
+kreischte mit einemmal die Magd in das Zimmer hinein, und schwapp
+krachte sie die Türe mit solcher Gewalt wieder zu, daß leise der Kalk
+von den Wänden herabrieselte.
+
+»Da sieht er's, was er angerichtet hat,« knurrte Neumann, dem es sehr
+unangenehm war, daß man drinnen in der Wohnung des Advokaten den Lärm
+gehört hatte. Herr Schnabel pflegte in solchen Fällen nicht ihn allein
+nach dem Grund zu fragen, und daß Karl Wagner nicht auf seiner Seite
+stand, fühlte er. Darum hielt er es für besser zu schweigen, der Blick
+aber, den er Raoul zuwarf, verhieß nichts Gutes für die Zukunft.
+
+Als der arme, kleine Schreiber zu Mittag heimeilen wollte, -- die
+Schreibstube war trotz des Langen Zorn zu rechter Zeit geschlossen
+worden, -- hielt Karl Wagner ihn fest. »Komm mit mir,« sagte er
+freundlich. »Hast du ein paar Minuten Zeit?«
+
+Raoul nickte nur, er konnte nicht sprechen, die gewaltsam unterdrückten
+Tränen erstickten ihn fast, und der Gedanke, so niedergeschlagen und
+gedemütigt vor seine Mutter treten zu müssen, lastete schwer auf ihm.
+Er war zum erstenmal froh, daß der Heimweg hinausgeschoben wurde, und
+willig folgte er Karl Wagner in die nahe Thomaskirche, die dieser durch
+eine Seitenpforte betrat.
+
+Die Kirche war völlig leer. Das trübe Licht des Nebeltages fiel nur
+matt durch die bunten Fenster in den gewölbten Raum, den ein schönes,
+sanftes Klingen durchrauschte. Jemand spielte die Orgel, der Kantor
+von Sankt Thomas, Herr Müller, war es, wie Karl Wagner leise seinem
+Schützling zuflüsterte. Vorsichtig, den Schall der Schritte dämpfend,
+gingen die beiden bis in das Mittelschiff und setzten sich dort nieder.
+
+Raoul war noch nie in einer leeren Kirche gewesen, er hatte auch noch
+nie ein so wundervolles Orgelspiel gehört.
+
+»Den Anfang, Mitt' und Ende, ach Herr, zum besten wende,« sang Karl
+Wagner ganz leise die Worte des Liedes nach, das oben der Kantor
+spielte.
+
+Immer rauschender und voller, wie Bittgesang und Dankesjauchzen
+tönte es durch die Kirche, und ganz wundersam feierlich wurde es dem
+armen, geplagten Schreiberlein ums Herz. Sein Kopf sank leise an die
+Schulter des Verwachsenen, und die schmerzlichen Tränen, die er vorher
+krampfhaft herabgeschluckt hatte, rannen und rannen, und als sie
+endlich versiegt waren, da konnte er den Kopf wieder heben und wieder
+frei und mutig um sich schauen. Er dachte an seine Mutter, an ihre
+Freude gestern abend, und auf einmal schien ihm alles nicht mehr so
+schwer zu sein. Ich ertrag's schon, dachte er mutig, es muß gehen, Mama
+darf nichts merken!
+
+Ein Weilchen saßen die beiden Schreibgenossen noch still zusammen, bis
+die letzten Töne verhallt waren und ein Klappen und Schließen oben
+anzeigte, daß auch der fromme Spieler heimging. »Vielen Dank,« sagte
+Raoul draußen und schüttelte herzhaft Karl Wagner die Hand, »es war
+schön!«
+
+»Kannst du nun zur Mutter gehen?« fragte der Schreiber freundlich.
+
+Raoul nickte froh. »Sie soll nichts merken, bestimmt nicht. Ich
+schluck's hinunter!«
+
+»So ist's recht, immer tapfer voran! Nach bösen Stunden kommen auch
+gute. Nun Gott befohlen! Am Nachmittag sind wir allein, da wollen wir
+zusammen fleißig sein und nachholen, was wir am bösen Morgen versäumt
+haben,« sagte Karl Wagner und wandte sich rasch dem kleinen Haus im
+Winkel des Thomaskirchhofes zu, in dem er wohnte.
+
+Einen Herzschlag lang sah Raoul ihm noch dankbar nach, dann lief er
+eilig den vertrauten Weg entlang. Er flog fast, so geschwind ging es,
+und die frische Luft kühlte ihm die heißen Wangen und Augen. Er kam
+sehr vergnügt bei seiner Mutter an, und diese merkte nicht, wie schwer
+der Morgen gewesen war. Nur Gottlieb erfuhr am Abend den Auftritt
+in der Schreiberstube, und er geriet darüber in einen solchen Zorn,
+daß er seine lateinische Grammatik aus den Boden warf. »Man muß ihn
+verdreschen, aber feste,« schrie er.
+
+»Den langen Neumann?« Raoul mußte doch lachen; sein kleiner, stämmiger
+Freund und der lange dünne Schreiber schienen ihm auch ein zu
+ungleiches Paar zu sein. »Wie wolltest du das anfangen?«
+
+»Ach was, das krieg' ich schon fertig,« brummte Gottlieb, »David ist
+mit dem Goliath auch fertig geworden. Freilich, merken dürft' er's
+nicht, von wem die Dresche stammt, sonst geht dir's schlecht. Vater
+sagt, Lehrjahre sind nicht Herrenjahre, und Ohrfeigen gehören dazu, die
+müssen sein!«
+
+»Wenn's aber ungerecht ist,« rief Raoul finster, »nur aus Niedertracht,
+dann« -- er seufzte, »ich muß doch still halten, um der Mutter willen!«
+
+»Ja freilich,« stimmte Gottlieb kleinlaut zu, »aber -- seine Dresche
+kriegt er noch. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, sagte unser Geselle
+immer, wenn er nicht alles auf einmal essen konnte. Er kriegt sie noch,
+aber feste!«
+
+Mit dieser düsteren Prophezeiung trennte sich Gottlieb Käsmodel von
+seinem bewunderten Freund. Wer dem was tat, dem war er gram, der sollte
+sich vor ihm in acht nehmen.
+
+[Illustration: Dekoration Ende 2. Kapitel]
+
+
+
+
+[Illustration: Dekoration Titel 3. Kapitel]
+
+
+
+
+Drittes Kapitel.
+
+Abschiedsstunden.
+
+
+Leicht hatte es Raoul von Steinberg wirklich nicht als Schreiberlein
+mit zwei Talern Monatsgehalt im Dienst des Advokaten Schnabel. Es gab
+Arbeit in Hülle und Fülle und Plackerei und Quälerei Tag für Tag. Der
+lange Neumann suchte alles heraus, womit er den Knaben peinigen konnte,
+und es kamen immer und immer wieder Stunden, in denen Raouls Mut zu
+sinken drohte. Dann redete ihm Karl Wagner gut zu, und daheim tröstete
+die Mutter zart und lind, denn es gelang dem Knaben doch nicht, ihr
+all seine Kümmernisse zu verbergen. Mutteraugen sehen zu tief und
+scharf, und Frau von Steinberg hatte lange gemerkt, ehe es ihr der
+Sohn gestand, daß er kein leichtes Amt übernommen hatte. Ihr einziger
+Trost war, daß es nur eine kurze Zeit dauern würde; sie meinte, die
+Verwandten würden und müßten ihr doch antworten, ihr ihre Bitte
+erfüllen.
+
+Doch die Tage wurden länger, der Frühlingssturm raste über das Land,
+und schon hingen zarte, grüne Schleier über Busch und Baum, und so
+sehnsüchtig Frau von Steinberg auch hoffte und harrte, kein Brief,
+keine Antwort kam. Als der Sommer ins Land ging, erstarb endlich die
+Hoffnung. »Man will meinem Kinde nicht helfen,« dachte sie bitter. In
+dieser Zeit sprach sie einmal mit Meister Käsmodel, und nach dieser
+Unterredung wurde sie ruhiger; der treue Mann hatte ihr das Versprechen
+gegeben, nie ihren Sohn zu verlassen, wenn sich die Verwandten seiner
+nicht annahmen. --
+
+Es war an einem milden, warmen Sommertag, als Raoul von Steinberg
+noch schwereren Herzens als sonst die Treppe hinabstieg, um nach
+der Schreibstube zu wandern. Die Mutter war heute so seltsam bleich
+gewesen, und so trat er, ehe er ging, noch an das Schiebefensterchen
+und bat die Frau Meisterin, doch recht bald einmal nach ihr zu sehen.
+Dabei huschte Gottlieb aus der Ladenstube heraus und schloß sich ihm
+an. »Ich begleite dich,« sagte er kurz.
+
+»Hast du denn heute keine Schule?« fragte Raoul.
+
+»Nee, noch nicht, unser Lateiner ist krank, da fallen ein paar Stunden
+aus,« gab Gottlieb sehr vergnügt zur Antwort. »Du, ich muß dir aber ein
+Rätsel ausgeben: Wer ist der frechste Pferdedieb von Berlin?«
+
+Raoul sah etwas verdutzt drein, und Gottlieb prustete vor Lachen, dann
+neigte er sich an das Ohr des Freundes und flüsterte: »Napoleon.«
+
+»Aber Gottlieb!«
+
+»Ja, det stimmt, sagt unser neuer Geselle, der ein Berliner ist, er hat
+mir's gestern erzählt; sie nennen ihn so, weil er die Siegesgöttin samt
+ihrem Wagen vom Brandenburger Tor weggemaust hat. Fein, was?«
+
+»Sehr fein,« lobte Raoul anerkennend, »den Gesellen muß ich sehen!«
+
+»Komm nur heute abend, der schimpft ordentlich auf den Pferdedieb.«
+Gottlieb quiekte vor Lachen. »Wenn ich Pferdedieb sage, weiß keiner,
+wen ich meine.«
+
+»Tu's lieber nicht,« riet Raoul. »Karl Wagner sagt, es sei
+vernünftiger, seinen Mund zu halten, die Zeit sei noch nicht da.«
+
+»Ist auch gut,« brummte Gottlieb und reckte seine Gestalt, »ich will
+erst so weit sein, um mal mitgehen zu können, denn wenn sie erst mal
+den Pferdedieb verhauen, dann lauf' ich nach Preußen rüber, wenn es
+hier stille bleibt.«
+
+Da waren sie beide am Haus in der Burgstraße angelangt, und Raoul lief
+nach kurzem Abschied hastig hinauf, denn die Zeit war knapp, und wehe
+ihm, wenn er noch nicht ausgeräumt hatte, wenn der lange Neumann kam.
+
+Gottlieb blieb vor dem Hause stehen. Er steckte die Hände in die
+Hosentaschen und summte leise, ganz leise den Anfang eines Verses vor
+sich hin, den ihm sein neuer Freund, der Berliner Geselle, beigebracht
+hatte: »Warte, warte, Bonaparte!« Eigentlich meinte er just aber nicht
+den Kaiser der Franzosen mit seinem: »Warte, warte!« sondern vielmehr
+den langen Schreiber, seines Freundes Quälgeist. Als er den die Straße
+entlang kommen sah, verschwand er geschwind im dunklen Hausflur,
+drückte sich fest in eine Nische an der Haustüre und schob gerade in
+dem Augenblick, in dem Paul Neumann die Stufen überschreiten wollte,
+einen Stock vor. Der Lange stolpert, rutschte aus und fiel die Treppe
+mit ziemlichem Gekrach hinauf.
+
+»Das bedeutet Glück,« schrie Gottlieb unten und entwischte so eilig,
+daß der lange Schreiber nicht einmal mehr sehen konnte, wer ihn zu
+Fall gebracht hatte. Der Bäckerbube ging sehr befriedigt zur Schule.
+Strafe muß sein, dachte er, und mußte dann seufzend diese Erfahrung
+an sich selbst machen, denn seinem Lehrer rutschte an diesem Tage beim
+zweiundzwanzigsten Fehler die Hand einmal ordentlich aus und klatschte
+derb auf Gottliebs Wange nieder. Das war bös und trübte beträchtlich
+die Morgenfreude.
+
+Gottlieb Käsmodel ahnte nicht, daß er seinem Freund einen schlechten
+Streich gespielt hatte, denn der Fall auf der Treppe hatte Neumann
+ordentlich in Wut gebracht, und diese Wut mußte das jüngste
+Schreiberlein büßen. Beim Eintritt schalt er gleich, es sei nicht
+ordentlich aufgeräumt worden, dies sei nicht recht und das. Raoul mußte
+noch einmal kehren, dann mußte er auf alle Aktenschränke klettern und
+Staub wischen, und er atmete auf, als nebenan der Advokat eintrat.
+Da wurde es stiller, und er konnte sich endlich an das Pult setzen
+und schreiben. Er hatte ein endloses Aktenstück zu kopieren: zwei
+Nachbarn hatten sich um einen Apfelbaum gezankt, von dem jeder glaubte,
+er sei sein Eigentum. Nun waren die Männer alt und grau geworden,
+wußten aber immer noch nicht, wem der Apfelbaum gehörte. Der Knabe
+fand die ganze Sache herzlich langweilig, und trotz aller Mühe, die
+er sich gab, machten seine Gedanken allerhand Kreuz- und Quersprünge.
+Gottliebs Erzählung und seine Tat, denn er hatte schnell erraten,
+daß der Missetäter unten im Hausflur sein Freund gewesen war, hatten
+seine Gedanken abgelenkt; nun kehrten sie zur Mutter zurück, und eine
+bange Angst quälte ihn. Es war ihm so seltsam unruhig zumute, daß er
+unwillkürlich auf seinem Sessel hin und her rutschte.
+
+»An was denkt er denn? Kann er nicht ruhig sitzen?« schrie Paul Neumann
+ihn plötzlich an. »So'n Trantiegel, so'n Tagedieb! Er schreibt ja, als
+wär' er 'ne Schnecke. Zeige er mal her, gewiß hat er hundert Fehler
+gemacht, und ich hab' nachher den Ärger.«
+
+Paul Neumann schrie absichtlich laut, damit es der Advokat nebenan
+hören sollte, welchen Ärger ihm der Schreibbursche bereitete. Und
+da er wirklich in der Abschrift einen Fehler entdeckte, brüllte er,
+am liebsten möchte er die Arbeit dem Jungen um die Ohren schlagen;
+zur Strafe müsse er über Mittag dableiben und die Sache noch einmal
+abschreiben.
+
+Raoul zuckte zusammen. Heute, gerade heute, wo die Mutter so gebeten
+hatte: »Komm schnell heim!« Er warf einen hilfesuchenden Blick auf
+Karl Wagner, und der nickte ihm ermunternd zu. Wieder wie damals
+in der Kirche, und seitdem oft in den Wochen, die vorübergegangen
+waren, fühlte sich Raoul durch den ernsten, stillen Blick des kleinen
+Verwachsenen getröstet. Der war ihm längst ein guter Freund geworden,
+dem er all seine Sorgen anvertraute. Etlichemal war Karl Wagner auch
+Sonntags bei Frau von Steinberg gewesen, und er, der einst ein Arzt
+hatte werden wollen, aber um seiner Armut willen das Studium hatte
+aufgeben müssen, wußte bald, daß seines kleinen Freundes Mutter kränker
+war, als alle ahnten. Er fragte darum besorgt, als der Lange nach einem
+Weilchen in das Zimmer des Advokaten gerufen wurde: »Was ist heute?«
+
+»Mama geht es nicht gut, sie bat so sehr, ich möchte heimkommen,«
+flüsterte Raoul zurück.
+
+»Es wird schon gehen,« tröstete der Freund, und dann stand er auf, als
+Neumann zurückkehrte, und klopfte an die Tür des Advokaten.
+
+»Was soll's?« schrie der Lange, »was will er drinnen?«
+
+Er erhielt keine Antwort auf seine grobe Frage. Still schloß sich
+die Tür hinter Karl Wagner, und nach einigen Minuten kam er heraus
+und sagte sanft: »Du sollst heimgehen, Raoul, hast heute frei, Herr
+Schnabel hat es erlaubt.«
+
+»Da hört doch alles auf!« schrie Neumann empört. »Der faule Strick,
+der Trantiegel soll frei haben? Nein, das leid' ich nicht!« Er
+sprang wütend auf, aber Raoul hatte schon seine Sachen genommen
+und war blitzschnell, mit einem dankbaren Gruß für seinen Helfer,
+hinausgeflitzt. Er ahnte nicht, daß der kleine Schreiber es übernommen
+hatte, auch noch seine Arbeit auszuführen, und ihm seine knappen
+Freistunden opferte.
+
+Raoul überlegte überhaupt nicht viel an diesem Vormittag. Eine
+unerklärliche Unruhe trieb ihn vorwärts, und auf seinem kurzen Weg, den
+er wie immer im Trab zurücklegte, hatte er nur den einen Gedanken: Wie
+froh wird Mutter sein, daß ich komme!
+
+Einen raschen Blick warf er unten durch das Schiebefensterchen in die
+Ladenstube. Niemand war drin, und eilig hastete er die Treppe hinauf.
+Oben wollte er stürmisch die Türe aufreißen mit dem Freudenruf: »Ich
+bin da!« aber dann öffnete er sie doch ganz zaghaft und leise; wieder
+war jene unerklärliche Angst über ihn gekommen.
+
+Als er eintrat, sah er die Meisterin am Bett sitzen. Die wandte sich
+um, und nun sah er die Mutter.
+
+Mit einem Schrei stürzte der Knabe vorwärts, so bleich, so verändert
+sah die Mutter aus. »Mama, o Gott, Mama,« flehte er, »was fehlt dir?«
+
+»Mein Junge!« Weit öffneten sich die Augen der bleichen Frau, und ein
+Blick unendlicher Liebe, unendlichen Schmerzes traf den Knaben, der
+an ihrem Bett niedergesunken war. »Du kommst -- gottlob!« Zitternd
+tastete die Hand der Mutter nach ihres Kindes Haupt, schwer und kühl
+sank sie darauf nieder: »Werde wie dein Vater! Gott -- segne dich!«
+
+Die letzten Worte klangen nur noch wie ein Hauch, aber Raoul hatte sie
+doch verstanden. Angstvoll umschlang er die Mutter und flehte jammernd:
+»Mama, Mama, ach, was fehlt dir?«
+
+»Mußt nicht so schreien, mein armer Junge,« sagte die brave Meisterin,
+der dicke, dicke Tränen über die Wangen liefen, »sei tapfer und mach's
+deiner Mutter nicht so schwer!«
+
+Raoul verstand nicht, was die Meisterin meinte, er hörte nur die
+Mahnung, tapfer zu sein um seiner Mutter willen, da bezwang er sich
+und streichelte nur zärtlich die weißen Hände. Unter diesem Streicheln
+schlief die Mutter sanft ein, um nicht mehr zu erwachen, sie war
+tot. -- -- --
+
+Im dumpfen Schmerz der ersten Tage dachte Raoul gar nicht darüber nach,
+wie einsam und verlassen er nun auf der Welt war. Er saß unten im
+Bäckerstübchen. Gottlieb suchte ihn in seiner rauhen Art zu trösten,
+die Meisterin war gut zu ihm wie eine rechte Mutter, und dem Meister
+Käsmodel konnte es jeder, der ihn kannte, ansehen, daß er nur so
+ein grimmiges Gesicht machte, um nicht zu zeigen, wie leid ihm sein
+kleiner Hausgenosse tat. Er sorgte väterlich für den Knaben, ging
+selbst zu Herrn Schnabel und sprach mit diesem, und die beiden Männer
+kamen überein, es sei wohl am besten, wenn Raoul vorläufig weiter als
+Schreiber arbeitete, bis von den Verwandten eine Antwort gekommen sei.
+
+»Ich schreib' selbst, schreib' ihnen aber mal richtig, wie sich die
+arme Frau gequält hat,« sagte der brave Meister. Er grollte dem Herrn
+von Steinberg von Herzen, weil er den Brief unbeantwortet gelassen,
+den ihm seine Schwägerin in ihrer Not geschrieben hatte.
+
+Nach dem Begräbnis sprach Meister Käsmodel mit Raoul über seine
+Zukunft. »Du bleibst bei uns, bis eine Antwort von deinem Oheim kommt,
+und kommt keine, na, dann bleibst du alleweil erst recht, bleibst immer
+bei uns. Ich habe deiner Frau Mutter selig versprochen, dich nie zu
+verlassen, aber erst noch einmal an deinen Oheim zu schreiben. Sein
+Versprechen muß man halten, sonst hätte ich wahrhaftig kein Wort an die
+hochmütige Verwandtschaft da oben, wo sich die Füchse Gutenacht sagen,
+geschrieben. So, und nun beiß die Zähne zusammen, zeige, daß du ein
+Mann werden willst, so einer, wie dein Vater selig einer gewesen ist.«
+
+Da biß Raoul wirklich die Zähne zusammen und half am nächsten Tage
+selbst die liebe, freundliche Mansardenstube räumen. Andere Mieter
+sollten hinaufziehen, er kam zu Gottlieb in die Kammer. Die Bilder und
+die wenigen Andenken an die Mutter verwahrte der Meister getreulich mit
+dem Rest des Geldes für seinen Pflegling. Der stieg am nächsten Morgen
+mit schwerem Herzen wieder zu der Schreibstube empor. Nun ihn nicht
+mehr der Gedanke bewegte, er könnte mit dem verdienten Gelde seiner
+Mutter die Sorgen erleichtern, erschien es ihm fast unerträglich,
+weiter in dieser düsteren Schreibstube seine Tage zu verbringen. An
+diesem ersten Morgen erlebte er aber eine große Überraschung: Paul
+Neumann war kriechend freundlich gegen ihn, er tat, als wären sie
+zusammen stets die allerbesten Freunde gewesen.
+
+Was hat er? dachte Karl Wagner, der erstaunt den Gefährten beobachtete,
+Mitleid ist das nicht bei ihm!
+
+Daß es nicht Mitleid war, erfuhr er bald genug. Der lange Schreiber
+hatte nun erfahren, woher Raouls Mutter gestammt hatte, und auf einmal
+erschien ihm der bisher so verächtlich behandelte Knabe ein anderer
+zu sein. Vielleicht lohnte es sich, dessen Vertrauen zu gewinnen,
+vielleicht hatte er noch einflußreiche Verwandte in Frankreich, und
+klug forschte und fragte er, wenn Karl Wagner nicht da war, nach den
+französischen Verwandten.
+
+Raoul dachte: Ich tu ihm leid, weil meine Mutter gestorben ist, und so
+wenig er auch den langen Gesellen leiden konnte, so erzählte er ihm
+doch alles, was er wissen wollte. Er nannte den Namen seines Oheims
+und sagte, daß dieser am Hofe des Kaisers zu Paris eine hohe Stellung
+inne hätte. Als er später Karl Wagner sein Gespräch mitteilte, lachte
+der und sagte: »Nun wirst du wenigstens nicht gequält werden. Vor einem
+französischen Adelsnamen hat er Respekt; jetzt sieht er dich mit ganz
+andern Augen an.«
+
+Da lächelte auch Raoul zum erstenmal wieder ein wenig und erzählte
+seinem Freund Gottlieb die Geschichte. »Feiger Kriecher,« rief er
+verächtlich, »er muß doch noch mal Dresche haben!«
+
+Weiter sprachen die Knaben nicht darüber, sie ahnten nicht, welchem
+Plan der lange Schreiber nachhing.
+
+Jedesmal, wenn Raoul von seiner Arbeit zurückkehrte, zuckte es ihm in
+den Füßen, in die Mansarde hinaufzusteigen. Dann stand er ein paar
+Minuten still an der Treppe, und immer wieder überkam ihn von neuem
+heiß die Sehnsucht nach der Mutter, und manche Nacht, wenn Gottlieb
+schon schlief, lag er wach und weinte heiße Tränen. Er wurde immer
+stiller und bleicher, und die Meisterin Käsmodel sagte manchmal
+seufzend: »Der paßt nicht zu einem Schreiber, ganz sicher nicht.«
+
+»Allweil das tut er auch nicht,« rief Meister Käsmodel, »und wenn sich
+die Verwandtschaft nicht bald rappelt, dann geh' ich aufs Gericht und
+verlang' den Raoul für uns. Nachher mag er die leidige Schreiberei an
+den Nagel hängen!«
+
+Doch dazu kam's nicht. An einem Spätsommertag erhielt Meister
+Käsmodel einen dicken Brief von Herrn Wolf-Friedrich von Steinberg
+auf Hohensteinberg. Der Freiherr schrieb selbst, und er schrieb so
+herzlich, daß die Meisterin Käsmodel vor Rührung in eine Tränenflut
+ausbrach und der Meister einmal über das andere schrie: »Allweil ein
+nobler, guter Mann muß das sein, aber allweil die Knochen möcht' man
+den Postleuten einschlagen, daß sie just so einen Brief verloren gehen
+ließen.«
+
+Der Freiherr schrieb, er hätte den Brief seiner Schwägerin nie
+bekommen. Auf seine schon vor Jahren, eingezogene Erkundigung nach dem
+Tode seines Bruders habe er die Auskunft erhalten, seine Schwägerin
+sei mit ihrem Kinde nach Frankreich gezogen. Er bedaure es tief, daß
+er der armen Frau keine Stütze hätte sein können, ihr Sohn aber solle
+in seinem Hause eine Heimat finden. Wenn es möglich sei, möchte der
+Meister den Knaben jemand übergeben, der die Reise bis Berlin mache,
+von dort würde ein Freund ihn in wenigen Wochen mit nach Hohensteinberg
+bringen.
+
+»Na, dann ist's bald zu Ende mit dem Musjeh und uns,« brummelte der
+Meister, »in drei Wochen muß er reisen.«
+
+»Ich wollte, ich könnte ihn behalten,« sagte die Meisterin leise, »aber
+freilich, für ihn mag's besser sein. Wenn er doch bald heimkäme und die
+Sache erführe!«
+
+Dieser Wunsch ging früher in Erfüllung, als sie ahnte, denn noch war
+sie dabei, mit ihrem Manne die Sache zu bereden, als plötzlich Raoul
+aufgeregt in die Ladenstube stürmte und schrie: »Frau Meisterin, mein
+Onkel hat geschrieben, ich soll nach Paris kommen!«
+
+»Ja, biste allweil übergeschnappt? Nach Paris sollst du doch nicht
+kommen, Junge; Junge, wo haste deine Gedanken?« fuhr ihn der Meister an.
+
+»Doch nach Paris und gleich!«
+
+»Aber Raoul, nach Hohensteinberg, das liegt da oben bei Rußland herum,«
+rief die Meisterin nun auch.
+
+»Nach Hohensteinberg? Aber es steht doch in dem Briefe nach Paris, ich
+hab' doch gelesen!«
+
+»Daß dich das Mäuschen beißt,« schrie der Meister verdutzt, »wie kann
+er denn den Brief gelesen haben, wenn er ihn doch gar nicht gesehen
+hat? Das ist allweil eine kuriose Sache!«
+
+»Aber, aber der Herr Advokat hat doch den Brief bekommen, von dem
+französischen Gesandten in Dresden und --«
+
+»Nun schlägt's dreizehn!« Der dicke Bäckermeister fiel fast mit seinem
+Stuhl um, so heftig setzte er sich nieder, und die Frau Meisterin sank
+stöhnend auf einen Mehlsack. »Junge, Junge, was redest du da? Woher ist
+der Brief?«
+
+Und Raoul erzählte. Von dem Bruder seiner Mutter war eine Anfrage nach
+ihm gekommen. Der Onkel wollte ihn zu sich nehmen und ihn als seinen
+Sohn erziehen lassen; morgen schon sollte ein Begleiter aus Dresden
+eintreffen, der ihn nach Paris geleiten würde.
+
+»So,« murrte Meister Käsmodel, »na, da hat ja der Musjeh die Auswahl,
+ob er in Deutschland bleiben will oder nach Frankreich gehen und
+vielleicht um den Bonaparte herumscharwenzeln.« Dabei warf er dem
+Knaben den Brief höchst unwirsch zu. Der las erstaunt. Eine tiefe Glut
+überzog dabei langsam sein Gesicht. Da stand er am Scheidewege: des
+Vaters und der Mutter Heimat, sie standen ihm beide offen, und größerer
+Reichtum, höherer Rang, sie lockten aus Paris, denn Graf Turaillon
+besaß keine Kinder, er hatte sich bereit erklärt, den Neffen als seinen
+Erben zu erziehen.
+
+Aber gab es denn noch ein Besinnen da, wo die Mutter ihm selbst
+den Weg gewiesen hatte? Raoul richtete sich auf, und seine dunklen
+Augen blitzten. »Nein, Herr Meister, ich werde nie um den Bonaparte
+herumscharwenzeln. Mein Vater fiel im Kampf gegen ihn, das vergesse ich
+nicht: ich bin ein Steinberg und will ein Steinberg bleiben.«
+
+»Warte, warte, Bonaparte,« summte Gottlieb und schob sich in die Türe
+herein, gerade als Raoul seine Antwort gab. Heisa, was war das? Er
+drängte sich vor und schrie: »Soll's losgehen?«
+
+»Verflixter Bengel, muß er denn seine Nase allweil in alles stecken?«
+schnauzte ihn der Vater an. Er sah aber nicht böse aus; sein finstres
+Gesicht hatte sich aufgehellt, und er streckte Raoul froh die Hand
+hin. »So ist's recht! Deine Frau Mutter selig hätte nicht anders
+entschieden. Da heißt's nun freilich, sich zur Reise rüsten, hm,
+allweil -- da hilft nichts.«
+
+Ein Besinnen kam Raoul. Der Brief, den ihm der Advokat vorgelesen
+hatte, fiel ihm ein: morgen schon sollte der Begleiter kommen, der ihn
+nach Frankreich bringen wollte, und hastig sprach er es aus. »Was wird
+er sagen, wenn ich nicht mitgehen will?«
+
+»Na, wer nicht will, der will nicht,« entschied Gottlieb kaltblütig und
+reckte kühn seine freche, kleine Stubsnase hoch.
+
+Dem Meister schien die Sache aber doch nicht so einfach zu sein, er
+machte ein bedenkliches Gesicht und murmelte: »Dresden ist nahe, und
+wenn der Herr Graf dort gute Freunde hat, dann könnte es sein, daß sie
+den Raoul nach Frankreich schaffen, ob er allweil will oder nicht.«
+
+»Dann reiße ich lieber aus,« rief der Knabe empört, »mit Gewalt lasse
+ich mich nicht nach Frankreich schaffen, nein, nein, nie!«
+
+»Ich reiß' mit aus, hurra, das --« klatsch fuhr die väterliche Hand
+Gottlieb etwas unsanft auf den Mund, und der Schluß seiner Rede blieb
+ungesagt. Da ihn die Mutter auch noch vorwurfsvoll ansah und leise
+fragte: »Ja, hast du denn einen Grund zum Ausreißen?« zog sich der Bube
+lieber etwas in den Hintergrund der Ladenstube zurück, die Sache mit
+dem Ausreißen konnte er sich ja noch überlegen.
+
+Meister Käsmodel saß in tiefes Nachdenken versunken da. Vielleicht war
+es am besten, er ging zu Herrn Schnabel und fragte den um Rat; aber
+freilich, der Advokat war auch einer von denen, die sich ängstlich
+hüteten, es mit einem Franzosen zu verderben. Und ein Zögern erschien
+ihm, je mehr er die Sache überdachte, immer gefährlicher.
+
+»Ich setze mich in die Post und fahre geschwind fort,« drängte Raoul;
+»ich will nicht nach Frankreich.«
+
+»Die Post nach Berlin fährt morgen früh, und erfährt es der Herr, dann
+kann man dich im Preußischen allweil aufgreifen,« sagte der Meister
+nachdenklich. Doch plötzlich fuhr er auf: »Potzwetter, jetzt fällt mir
+etwas ein: Nachbar Koch fährt heute mittag nach Halle mit seinem Wagen,
+der nimmt dich schon mit, und von Halle aus fährst du mit der Post
+weiter, da merkt man's hier nicht; na, und nachher weiß ich ja nicht,
+wo du gerade bist. Flink, Frau, tummle dich, rüste die Sachen, in einer
+Stunde muß der Junge aus dem Hause sein.«
+
+»So schnell, du meine Güte, so schnell?« rief die Meisterin
+erschrocken, und da kam es Raoul erst recht zum Bewußtsein, daß er
+scheiden mußte von den Menschen, die ihm doch auf der weiten Welt am
+liebsten waren. Die Verwandten, zu denen er reisen sollte, waren ihm ja
+so fremd wie die Gegend, in der sie wohnten. Es war gut, daß alles so
+schnell gehen mußte, da gab es keine Zeit zu Abschiedsgedanken; und daß
+es recht war, wie es der Meister vorgeschlagen hatte, bestätigte Karl
+Wagner, der kurz vor seines jungen Freundes Abreise in das Bäckerhaus
+kam. Herr Schnabel hielt es für Raoul für ein großes Glück, daß sein
+Onkel ihn zu sich nehmen wollte; er würde gewiß eine schnelle Abreise
+verhindert haben, hätte man ihn darum gefragt.
+
+»Allweil, jetzt möcht' ich nur wissen, woher der gräfliche Onkel in
+Paris auf einmal darauf kommt, um den Jungen zu schreiben,« fragte der
+Meister.
+
+Karl Wagner lächelte ein wenig: »Neumann hat nach Paris geschrieben. Er
+hat Raoul den Freundschaftsdienst erwiesen, weil er meint, es sei für
+jeden Menschen am besten, ein Franzose zu sein.«
+
+»O, jetzt verstehe ich's,« rief Raoul, »er hat mich so genau um alles
+gefragt, und darum war er gewiß auch so freundlich in der letzten Zeit.
+Gestern sagte er auf einmal, er wolle mein Freund sein.«
+
+»Der muß noch mal Dresche haben,« knurrte Gottlieb wütend, »der ist so
+falsch wie -- wie --«
+
+»Deine Rechenexempel, die stimmen auch nie,« sagte Meister Käsmodel
+lachend. »Na, ich gönn' dem Musjeh die Enttäuschung. Aber nun los,
+sonst fährt Nachbar Koch ab. Geschwind, zum Abschied ist allweil keine
+Zeit mehr, kommt auch nichts dabei raus. Zieh mit Gott, Junge, und
+vergiß nicht, was du deiner Frau Mutter selig gelobt hast, und vergiß
+auch nicht, daß die Käsmodels dir allweil gute Freunde sind und bleiben
+werden. Hier findest du immer einen Platz, eine Heimat, wenn du mal
+nicht aus noch ein wissen solltest.«
+
+Draußen knallte eine Peitsche, ein langgezogenes Hoiho ertönte, Nachbar
+Koch wartete vor seinem Hause. Da mußte nun wirklich eins, zwei, drei
+Abschied genommen werden. Niemand kam mit vor das Haus, der Meister
+meinte, es sei besser, nicht erst die Neugier der Nachbarschaft zu
+erregen. Still huschte Raoul mit seinem Bündel hinaus, kletterte auf
+den Wagen, und fort ging es durch die in mittäglicher Glut und Stille
+liegenden Straßen. Noch einmal sah sich der Knabe um: da oben, da
+waren die Mansardenfenster, da hatte die Mutter so oft gesessen. Ein
+Schluchzen stieg in ihm auf, ein heißer, würgender Schmerz preßte ihm
+das Herz zusammen, und einen Augenblick war es ihm, als müßte er vom
+Wagen herabspringen und zurückeilen in das alte Haus, das ihm bis
+dahin eine Heimat gewesen war. Aber er bezwang sich und schluckte
+tapfer die Tränen hinab. Mama würde sich freuen, dachte er, sie hat
+es sich so gewünscht. Er versuchte an die neuen Verwandten zu denken,
+aber er konnte sich kein rechtes Bild von ihnen machen; seine Gedanken
+wirrten durcheinander und kehrten immer, immer wieder in das verlassene
+Bäckerhaus zurück.
+
+Mit finsterem Blick hatte Gottlieb den Freund scheiden sehen. Er zog
+die Stirn ganz kraus und schob die Unterlippe trotzig vor, damit nur
+niemand merken sollte, daß ihm der Abschied bitter schwer wurde. Dann,
+als der Wagen nicht mehr auf der Straße zu hören war, entschlüpfte
+er und eilte in die Burgstraße; dort in des Advokaten Schnabel Haus
+stellte er sich wieder in den dunklen Flurwinkel und wartete, bis Paul
+Neumann kam.
+
+»Schockschwerebrett!« schimpfte der, als er mit einem lauten Plumps
+wieder die Treppe hinauffiel. Oben in der Schreibstube zeterte er sich
+seine Wut vom Herzen herunter: »Ich möchte nur wissen, was das für ein
+infamer Bengel ist, der mir im Hausflur immer ein Bein stellt. Na wehe,
+wenn ich den erwische! Übrigens, wer weiß, wie lange es noch dauert,
+dann bin ich die Sache los. Der Graf Turaillon wird mir schon Dank
+wissen. Vielleicht, vielleicht reise ich auch nach Paris, dort werde
+ich mehr werden als ein simpler Schreiber!«
+
+Während Paul Neumann so von seinem Ärger und seinen Luftschlössern
+redete, schlenderte Gottlieb pfeifend und gemütsruhig über den
+Marktplatz nach Hause. Er spürte gar keine Reue über seine Tat, leid
+tat ihm nur, daß er Raoul nicht mehr den wohlgelungenen Streich
+erzählen konnte. Brummig saß er dann lange in seinem Winkel, der Freund
+fehlte ihm überall, und zuletzt spielte er sogar in der Verzweiflung
+seines Herzens mit den beiden kleinen Schwestern, etwas, was er sonst
+sehr unter seiner Würde hielt. Als aber das vierjährige Lottchen
+fragte: »Kommt Raoul bald?« da warf er unsanft die Puppe hinweg und
+stürzte davon. Er verkroch sich in der dunkelsten Ecke der Mehlkammer,
+und dort heulte er so lange, bis der Schmerz von Hunger und Müdigkeit
+abgelöst wurde und er einschlief.
+
+Am nächsten Tag, so um die dritte Nachmittagsstunde herum, sah
+Gottlieb endlich, er lag schon lange auf der Lauer, einen feinen
+Herrn das Haus betreten. Der ist's, dachte er, und schlüpfte eilig in
+seinen Horcherwinkel hinterm Ofen. Es war auch wirklich der erwartete
+Begleiter, ein eleganter, geschniegelter Herr. Mit unsäglichem Hochmut
+schaute er sich in der Ladenstube um, und ein Mehlstäubchen, das auf
+seinen Rock gekommen war, tupfte er hinweg, als hätte ein giftiges
+Insekt da Platz genommen. Breitbeinig und fest stand Meister Käsmodel
+vor dem jungen Mann und erzählte, Raoul sei als Wanderbursch nach
+Ostpreußen gezogen; von dem Umweg über Halle sagte er freilich nichts.
+
+»Was?« schrie der Fremde, »der Neffe des Grafen Turaillon ist als
+Wanderbursch davongezogen? Das ist ja empörend! Wie konnten Sie
+das dulden? Sie werden es büßen müssen! Graf Turaillon wird sich
+beschweren, daß man seinen Enkelsohn entführt hat. Sie sind ein Räuber,
+ein Betrüger, ein -- --«
+
+»Allweil jetzt halten Sie den Mund,« sagte der Bäcker gelassen, aber
+seine Augen blitzten drohend, und der schlanke, feine, junge Herr
+wich unwillkürlich zurück. »Ich hab' der Frau von Steinberg mein Wort
+gegeben, für ihren Sohn zu sorgen nach ihrem Willen, das hab' ich
+gehalten, und von Ihrem Herrn Grafen ist nie die Rede gewesen. Was ich
+getan habe, kann ich verantworten, und nun wär's nur recht, wenn Sie
+sich mal mein Haus von draußen ansehen möchten, es nimmt sich ganz
+stattlich aus. Ich muß in die Backstube, und allweil muß erst die
+Arbeit kommen und dann das Vergnügen.«
+
+»Sie werden noch daran denken müssen,« schrie der junge Mann wütend und
+verließ das Haus, aber Meister Käsmodel sah ihm ruhig nach. »Ich habe
+allweil nur meine Pflicht getan, mag kommen, was kommen will!«
+
+Es kam aber nichts danach, nur ein paar Verhöre auf dem Rathaus,
+bei denen Meister Käsmodel klipp und klar seine Tat verantwortete,
+und ehe ein neuer Befehl aus Paris eintraf, war Raoul von Steinberg
+längst in der Heimat seines Vaters angelangt. Paul Neumann aber saß in
+grimmigster Laune an seinem Schreibpult, -- die schöne Hoffnung, nach
+Paris zu kommen, war zerflossen wie eine Schneeflocke im Frühling.
+
+[Illustration: Dekoration Ende 3. Kapitel]
+
+
+
+
+[Illustration: Dekoration Titel 4. Kapitel]
+
+
+
+
+Viertes Kapitel.
+
+Auf Hohensteinberg.
+
+
+Der Sommer rüstete sich bereits zum Abschiednehmen, weil er schon
+überall an Hecken und Hängen, im Garten, auf den Feldern und im Walde
+den Boten seines Bruders Herbst begegnete. Und weil die Sonne in
+Freundschaft von dem ihr so lieben Sommer scheiden wollte und auch
+dem Herbst einen guten Willkomm zu bereiten trachtete, strahlte sie
+in allerbester Laune auf die Erde herab, und es gab warme, schöne
+Tage. Am späten Nachmittag eines solchen sonnenhellen Tages rasselte
+über den Marktplatz der kleinen ostpreußischen Stadt Langenstein eine
+herrschaftliche Kutsche. Ein paar Kinder, die auf der Straße spielten,
+starrten mit offenem Munde dem Wagen nach, und die Postmeisterin
+Lebrecht schob neugierig das Schiebefensterchen in ihrer Wohnstube hoch
+und sah hinaus.
+
+»Minettchen, sieh nur, die Frau Kammerherrin ist's wahrhaftig, die da
+gefahren kommt. Rasch, Mariell, sieh nach, ob meine Haube sitzt, ich
+muß dero doch meine Reverenz machen!«
+
+Die kleine, rundliche Frau eilte aus dem Zimmer, noch ehe Minettchen,
+das blonde Postmeistertöchterlein, Zeit gefunden hatte, ihr Urteil
+über den Sitz der mütterlichen Haube abzugeben. Draußen hielt auch
+schon das Gefährt, neben seiner Gattin erschien der Herr Postmeister,
+und ehrerbietig verneigte sich das Ehepaar vor den Insassen des
+Wagens. Drinnen im Zimmer drückte Minettchen ihr Stumpfnäschen an
+die Fensterscheiben und blickte voll Bewunderung auf die gnädigen
+Fräuleins, die mit der Kammerherrin von Steinberg fuhren. Diese
+selbst, eine große, stattliche Frau, saß kerzengrade aufrecht auf
+dem Vordersitze des Wagens; ihr braunes Taftkleid, das, entgegen der
+herrschenden Mode, noch von recht beträchtlicher Weite war, bedeckte
+den ganzen Sitz. Der Großmutter gegenüber saßen schlank und jung,
+eng aneinander geschmiegt, ihre drei Enkelinnen. Es wäre gegen alle
+Schicklichkeit gewesen, hätte eines der jungen Mädchen neben der
+Großmutter auf dem Vordersitz gesessen. Die Schwestern Gottliebe und
+Gottlobe von Steinberg hatten ihre Base Karoline von Prillwitz zärtlich
+in die Mitte genommen, denn das Bäslein war Gast und genoß alle
+Vorteile eines gern gesehenen Besuches.
+
+»Hat er Postsachen für mich?« fragte die Kammerherrin den Postmeister
+mit herablassender Freundlichkeit, der sich von der alten Dame noch das
+»Er« gefallen ließ, das er so leicht keinem andern verziehen hätte.
+
+»Ei gewiß, Ihro Gnaden, aus Leipzig ist ein Päckchen gekommen,
+spekuliere, es wird ein Buch sein,« gab der Postmeister zur Antwort und
+begab sich eilfertig in die Schreibstube, das Gewünschte zu holen.
+
+Bei dem Wort »aus Leipzig« schauten die drei Mädels neugierig auf, und
+über das Gesicht der alten Dame lief ein Schatten. Ihre Hände, die auf
+dem Schoß gefaltet lagen, zitterten leise, aber sie beherrschte sich,
+und die Postmeisterin bekam eine gnädige Nachfrage, wie es ihr gehe,
+und ob ihr der Tee, den sie jüngst vom Gute geholt, auch gegen den
+Brustkrampf geholfen habe.
+
+Die Auskunft lautete befriedigend, die dicke Frau Postmeisterin sah
+auch blühend und gesund aus, trotzdem seufzte sie herzbrechend, als die
+Kammerherrin sie fragte, wie es sonst noch gehe.
+
+»Unsereins kann ja nicht klagen,« sagte sie mit ehrlicher Betrübnis,
+»bisher hat's immer noch in unserem Hause zugelangt, aber bei den armen
+Leuten und draußen auf dem Lande, wie es da im Winter werden soll, das
+weiß unser lieber Herrgott!«
+
+Ihr Mann, der wieder aus dem Hause trat, hatte die letzten Worte
+gehört, und sein sonst so freundliches Gesicht verdüsterte sich. »Der
+gnädigen Frau Kammerherrin braucht man nichts zu klagen, sie weiß, wie
+groß die Not im Lande ist,« sagte er bitter, »und ehe wir nicht die
+Franzosenwirtschaft los werden, gibt's keine Besserung.«
+
+»Mann,« schrie seine Frau erschrocken, »du redest dich noch um Kopf und
+Amt.«
+
+Frau von Steinberg aber reichte dem Postmeister die Hand. »Wie er,
+denkt heute jeder ehrliche deutsche Mann, ob er es sagt oder bei sich
+behält.«
+
+Das Schelmenlächeln auf den Gesichtern der drei Basen, die mit dem
+Minettchen Blicke getauscht hatten, erstarb jäh bei diesem ernsten
+Gespräch, und alle drei schauten den Postmeister ehrfürchtig an: ein
+Lob aus Großmutters Munde, das bedeutete noch etwas.
+
+Der Postmeister hatte die Blicke der jungen Mädchen bemerkt; er
+räusperte sich ein wenig verlegen und reichte mit einer abermaligen
+Verbeugung das vielfach versiegelte Päckchen in den Wagen hinein.
+
+»Vielleicht ist es ein Almanach, der etliche neue Modekupfer bringt,
+an denen die gnädigen Demoiselles die neuen Moden, die man jetzo
+trägt, adorieren können,« sagte er mit verschnörkelter, altmodischer
+Höflichkeit. Er meinte, diese Art sei gar fein den vornehmen Damen
+gegenüber, aber grob schnitt ihm die Kammerherrin die Rede ab: »Halt
+er den Mund! Red er doch Deutsch, wie sein Schnabel gewachsen ist, und
+setz' er den drei Gänsen, meinen Enkeltöchtern, nicht Flausen in die
+Köpfe; sie sind schon eitel genug und denken mehr an Putz und Tand, als
+es sich für die heutige Zeit gebührt. Und sie, Frau Postmeisterin, lebe
+sie wohl; wenn sie Wurstgewürze braucht, dann kann sie sich welches
+holen lassen. Schick' sie mir ihr Minettchen, sie soll sich aber ja
+nicht wieder so aufputzen wie das vorige Mal; sie sah aus, als ginge
+sie zum Erntekranz. Putz und Tanz sind unserer Zeit unwürdig. Und nun
+Gott befohlen!«
+
+Die Pferde zogen an, und der Wagen rasselte davon; etwas verdutzt
+sahen die Eheleute ihm nach. »Ja, ja, so ist sie einmal, immer rasch
+und streng; aber gut ist sie doch dabei, und in der Not kann man sich
+immer an die Steinbergs wenden, das ist was wert. Das Minettchen aber
+soll mir nicht mehr mit den vielen Firlefanzbändern herumlaufen,
+ich leid's nicht,« brummte der Herr Postmeister und ging wieder in
+seine Schreibstube. Seine Frau kehrte in das Wohnzimmer zurück, und
+das ahnungslose Minettchen bekam dort brühwarm die Schelte der Frau
+Kammerherrin zu hören. Sehr beschämt beugte es sich über seine
+Näharbeit und schickte dem verbotenen Putz manch heimlichen Seufzer
+nach.
+
+Der Wagen rollte unterdessen auf dem Landwege dahin, der das Rittergut
+Hohensteinberg mit dem Städtchen Langenstein verband. Hell strahlte
+die Sonne auf kahle Felder herab, und der links an der Straße sich
+hinziehende Laubwald schillerte in lichtem Goldgelb.
+
+In dem Wagen herrschte Schweigen, und die Großmutter sah düster auf
+die Stoppelfelder am Wegrand; ach, sie hatten nur spärliche Frucht
+in diesem Jahre getragen, so spärlich, daß das Gespenst des Hungers
+schon vor vielen Türen stand, um sich mit dem Winter zugleich
+einzuschleichen. Die drei Enkelinnen aber kämpften noch mit ihrem Ärger
+über die großmütterlichen »Gänse«.
+
+Karoline von Prillwitz, deren Eltern in Königsberg lebten, --
+ihre Mutter war die einzige Tochter der Kammerherrin, -- verstand
+weniger die Gedanken, die die Großmutter bewegten, als Gottliebe und
+Gottlobe, die tagtäglich all das bittere Klagen um den ausgebliebenen
+Erntesegen angehört hatten. Sie fand darum das tiefe Schweigen auch
+recht langweilig. Sie seufzte einigemal, nicht zu sehr, damit es die
+Großmutter nicht hörte, und spähte eifrig die Straße entlang. Kam
+denn nichts und niemand des Weges daher? Als ein Bauer ankam und
+ehrfurchtsvoll grüßte, schaute sich die neugierige kleine Städterin
+so lange nach ihm um, als sie seine Gestalt noch verfolgen konnte:
+dabei übersah sie fast einen schlanken, blassen Jungen, der an einer
+Wegbiegung stand und träumend in die Weite blickte.
+
+»Heda,« rief der Kutscher, »aus dem Wege!«
+
+Der Knabe sprang zur Seite, er grüßte höflich, und in dem Blick seiner
+Augen lag eine Frage: es war, als wollte er vortreten und sprechen.
+
+Die alte Frau von Steinberg war durch den Zuruf des Kutschers aus ihren
+Gedanken aufgeschreckt. Auch sie sah nun den Knaben und verstand seine
+stumme Frage. Da sie auch fast jedes Gesicht in der Gegend kannte,
+fiel ihr ein Fremder sofort aus. Sie rief dem Kutscher ein Halt zu und
+winkte gebieterisch den Knaben zu sich heran.
+
+Der folgte der Aufforderung. Unerschrocken sah er zu der alten Dame
+auf, die ihn fragte: »Wohin will er?«
+
+»Nach Hohensteinberg.«
+
+Ein scharfer, prüfender Blick ans den hellen, klugen Augen überflog
+das Gesicht des Knaben, und eine leise Unruhe trat in die Züge der
+Kammerherrin. Etwas zögernd fast fragte sie weiter: »Zu wem will er da?«
+
+»Zu dem Freiherrn von Steinberg.«
+
+Sechs Mädchenaugen schauten neugierig, erwartungsvoll den kleinen
+Fremdling an, und Gottliebes Lippen öffneten sich; aber das vorschnelle
+Wort blieb ungesprochen, denn die Großmutter sprach wieder, und ihre
+sonst so herbe Stimme schwankte ein wenig: »Wie heißt er?«
+
+Der Knabe wurde rot. Diesmal kam seine Antwort nicht so rasch, er
+zögerte, aber dann sagte er doch so freimütig wie vorher: »Ich heiße
+Raoul von Steinberg!«
+
+Ein dreifacher Aufschrei erfolgte, die blonden Mädels hopsten auf ihrem
+schmalen Sitz hoch, und der Kutscher vergaß allen sonstigen Respekt vor
+seiner Herrin. Er drehte sich um und rief mit breitem Grinsen: »Ne--in,
+is doch nich meechlich, das Jungchen will --«
+
+[Illustration: Die Steinbergs. (Seite 60.)]
+
+»Halt er den Mund,« wies ihn die Kammerherrin zurecht, und zu dem
+Knaben gewandt, sagte sie: »Steig er ein, er kann mitfahren. Rückt
+zusammen, Mariellen, er hat noch Platz zwischen euch. Das Bündel nimmt
+Heinrich auf den Bock.«
+
+Aber Raoul folgte der Aufforderung nicht, so verlockend es für ihn war,
+seine müden Füße ausruhen zu können; die hochmütige Art verdroß ihn. So
+verneigte er sich nur mit dem feinen, zierlichen Anstand, den er der
+Erziehung seiner Mutter verdankte, und sagte höflich: »Ich danke sehr,
+gnädige Frau, aber ich kann noch gehen!« Und ohne Besinnen nahm er
+wieder sein Bündel über die Schulter und trabte die Landstraße entlang.
+
+Die Augen der alten Frau blitzten. Wie ein Wetterleuchten zog es über
+das alte, herbe Gesicht, und ohne sich noch weiter um den Knaben zu
+kümmern, rief sie: »Fahr er zu, rasch, laß er die Pferde laufen!«
+
+Heinrich folgte dem Befehl, und eine Minute später rollte das Gefährt
+an Raoul vorbei. Eine Staubwolke umhüllte den Jungen, der noch einmal
+stehen blieb und wartete, bis der Wagen einen weiten Vorsprung hatte,
+dann schritt er weiter, nicht schnell, denn das Wandern fiel ihm
+schwer, es war ihm ungewohnt, und ein Fuß war schon wund gelaufen. --
+
+Raoul von Steinberg war glücklich mit Meister Koch nach Halle gekommen
+und von da in tagelanger Postfahrt über Berlin bis nach Thorn. Von
+hier aus war das Vorwärtskommen beschwerlicher gewesen. Er selbst
+wußte nicht die rechte Richtung, die Posten gingen seltener und waren
+besetzt, auch war seine Barschaft sehr zusammengeschmolzen. Meister
+Käsmodel hatte selbst noch nie eine so weite Reise gemacht und hatte
+gemeint, gar gut und reichlich für seinen Schützling gesorgt zu haben,
+und es wäre ihm selbst wohl bitter leid gewesen, wenn er gewußt hätte,
+wie mühselig dessen Reise war. Aber Raoul hatte sich schon in seiner
+Jugend in mancherlei Widerwärtigkeiten schicken müssen, er kam durch,
+lebte einfach, schlief in Scheunen und sah sich endlich dem Ziel seiner
+Reise nahe. Etlichemal hatten Bauern ihn ein Stück des Weges für einen
+freundlichen Dank mitgenommen, und er war gern gefahren; die stattliche
+Dame aber in dem wohlhäbigen Wagen hatte ihm das Mitfahren doch zu sehr
+als ein Almosen angeboten, und eine solche Behandlung wollte er sich
+nicht gefallen lassen.
+
+»Ich komme schon hin,« dachte der Knabe mutig und schritt weiter, »lang
+kann's nicht sein!« Und wieder wie in all den vergangenen Reisetagen
+suchte er sich seine neue Heimat vorzustellen, und wie man ihn wohl
+empfangen würde, und ob der Oheim dem Vater ähnlich sah.
+
+Endlich sah er das Gutshaus am Ende einer langen, schattigen
+Lindenallee auftauchen: ein schlichtes, zweistöckiges, aber
+umfangreiches Gebäude, an das sich links der Gutshof mit Scheunen und
+Stallungen anschloß, rechts dehnte sich weit, von einer niedrigen
+Lehmmauer umgeben, ein großer Park aus. An der Haustüre standen
+der Freiherr von Steinberg, neben ihm seine Frau Maria, und beide
+umdrängten die drei blonden Bäslein, die seit der Begegnung auf der
+Landstraße es vor Neugier einfach nicht mehr aushielten, sich den neuen
+Vetter näher anzuschauen. Joachim, der noch nicht ganz fünfzehnjährige
+Sohn des Hauses, stand etwas zurück in dem weiten Hausflur. Er
+wollte es nicht zeigen, daß auch ihn der unbekannte Vetter lebhaft
+beschäftigte, denn er hatte es den beiden Schwestern und der Base mehr
+als einmal gesagt, daß es ihm lieber wäre, wenn der Halbfranzose gar
+nicht käme; eine rechte Sache würde das doch nicht mit ihm.
+
+»Die Großmutter tat recht, daß sie ihn auf der Landstraße stehen
+ließ,« hatte er erklärt, als die Mädels sehr lebhaft ihre Begegnung
+schilderten.
+
+Darüber waren die Schwestern tief entrüstet gewesen, denn sie empfanden
+inniges Mitleid mit dem blassen Knaben. »Die Großmutter hätte ihn doch
+mitnehmen sollen, ihm sagen, wer wir waren,« grollte Gottliebe. Sie
+ahnte nicht, daß der alten Frau selbst schon ihr rasches Davonfahren
+leid tat.
+
+»Wäre er doch endlich da, der arme Junge!« sagte die Hausfrau gerade
+leise, als Raoul am Anfang der Allee auftauchte.
+
+»Dort kommt er,« riefen die Mädels, und als sie sahen, daß Vater und
+Mutter schnell dem Ankommenden entgegengingen, taten sie es ihnen nach,
+und so sah sich Raoul auf einmal von den neuen Verwandten umringt: man
+hatte ihn erwartet, wußte von seinem Kommen. Er sah die Bäschen an
+und errötete heiß, denn er erkannte sie gleich wieder, und zugleich
+wußte er auch, ohne daß es ihm jemand sagte, daß die alte Dame seine
+Großmutter gewesen war. Seines Vater Mutter! Er senkte stumm den Kopf,
+und in die tiefe Freude, die ihn erfüllt hatte, als er endlich das
+Heimatshaus seines Vaters erblickte, endlich am Ziel war, fiel der
+erste bittere Tropfen.
+
+»Willkommen, mein Junge!« sagte der Oheim herzlich und hob das Gesicht
+des Knaben zu sich empor. Ernst, traurig sah dieser ihn an, und das
+gleiche Gefühl der Reue, das ihn ergriffen hatte, als Meister Käsmodels
+Brief eingetroffen war, bewegte wieder des Freiherrn Herz. Er zog den
+Knaben an seine Brust und sagte warm: »Gott segne deinen Eingang.«
+
+Frau Maria empfing den Neffen mit gleicher Herzlichkeit. Auch die
+blonden Bäslein grüßten ihn froh, und schon wollte ein Gefühl der
+Befreiung über Raoul kommen, als Joachim hinzutrat. Dieser, der ihn ein
+beträchtliches Stück überragte, sah hochmütig, ja fast verächtlich auf
+den in abgetragenen, verstaubten Kleidern steckenden Vetter herab. Wie
+ein Betteljunge sieht er aus, dachte er, und dieser Gedanke stand so
+deutlich auf seinem Gesicht, daß Raoul rasch die schon ausgestreckte
+Hand sinken ließ. Vor ihm tauchte das derbe, gutmütige Gesicht seines
+Freundes Gottlieb Käsmodel auf, und eine heiße Sehnsucht nach dem
+Bäckerhaus wallte in ihm empor.
+
+»Nun, da ist ja der Wanderbursch, der das Fußlaufen angenehmer findet
+als das Wagenfahren,« rief die Kammerherrin durch den Flur. Vor innerer
+Bewegung klang die Stimme der alten Frau härter und herber als sonst;
+sie mußte an sich halten, um das Kind ihres Sohnes, dieses Sohnes, um
+den sie zahllose Tränen geweint und tausend Schmerzen gelitten hatte,
+nicht weinend an ihr Herz zu ziehen. Raoul hörte nur die Härte, die
+Herbheit heraus; er dachte nur daran, daß es die Großmutter gewesen
+war, die ihn auf der Landstraße hatte stehen lassen. Unwillkürlich
+raffte er sich zusammen und verbeugte sich dann höflich und küßte die
+Hand der alten Frau, aber seine Lippen blieben fest geschlossen, und in
+seine sonnenverbrannte Stirn zog sich eine tiefe, senkrechte Falte, die
+seinem Gesicht etwas unendlich Hochmütiges, Trotziges gab.
+
+Genau so hatte sein Vater einst die Stirn gezogen, und in diesem
+Augenblick glich er trotz den dunklen Augen und den dunklen Locken dem
+Vater so auffallend, daß die Kammerherrin diesen zu sehen vermeinte.
+Fast entsetzt starrte sie den Enkelsohn an, dann wandte sie sich stumm
+ab und verließ wortlos, nicht so aufrecht als sonst die Halle, -- die
+alten Wunden waren von neuem aufgebrochen.
+
+Frau Maria tat der arme, blasse Knabe leid. Sie zog ihn mütterlich
+liebevoll an sich und sagte herzlich: »Nun komm aber erst in deine
+Kammer, mein Kind, du wirst müde und hungrig sein. Heute sollst du Ruhe
+haben, morgen erzählst du uns dann von deiner Reise und siehst dich in
+deiner neuen Heimat um!«
+
+»Morgen soll er erst erzählen?« rief Gottliebe namenlos enttäuscht, die
+schon immer vor Ungeduld von einem Bein auf das andere getreten war,
+»ich platze ja vor Neugier!«
+
+»Dann wirst du wieder zusammengenäht, Mariell,« tröstete der Vater,
+und das heitere Lachen, in das alle einstimmten, fand nun selbst
+auf Raouls Gesicht einen schwachen Widerschein. Zum Erzählen war er
+aber doch zu müde, und er war froh, als er im Bett lag und schlafen
+durfte. Er schaute sich auch kaum noch in der freundlichen Stube um,
+in die ihn Frau Maria führte, und deren sanfte Stimme sowie Gottliebes
+zwitscherndes Lachen draußen aus dem Flur waren das letzte, was er noch
+mit wachen Sinnen hörte, dann schlief er ein. Tief und fest schlief er
+einem neuen Tage, einem neuen Leben entgegen.
+
+[Illustration: Dekoration Ende 4. Kapitel]
+
+
+
+
+[Illustration: Dekoration Titel 5. Kapitel]
+
+
+
+
+Fünftes Kapitel.
+
+Als Fremdling in des Vaters Heimat.
+
+
+Als Raoul am nächsten Morgen spät erwachte, schien die Sonne hell in
+sein Stübchen; in allen Winkeln lag das goldene Licht, und von seinem
+Bett aus konnte der Knabe noch in die Krone einer dicken Kastanie
+hineinsehen. Er lag ein Weilchen blinzelnd still, er mußte es sich
+erst überlegen, daß er nun wirklich in Hohensteinberg, der Heimat
+seines Vaters war. Dann aber sprang er eilig aus dem Bett, zog sich
+den Sonntagsanzug an, den ihm Meister Käsmodel noch gekauft hatte, und
+eilte die Treppe hinab. Er hatte es sich nicht recht gemerkt, wo das
+Wohnzimmer lag, und als er Stimmen hörte, ging er dem Schall nach und
+stand unversehens vor einer offenen Tür. In dem Gemach, das ganz wie
+sein Stübchen von Sonnenlicht durchflutet war, saßen die Kinder des
+Hauses beisammen mit ein paar jungen Gästen, die eben eingetroffen
+waren: Arnold und Fritz von Berkow, deren Vater der nächste Nachbar
+von Hohensteinberg war. Am Fenster saß die Großmutter, und neben ihr
+stand ein großer überschlanker Mann, Pfarrer Josua Buschmann. Dieser
+lebte auch auf dem Schlosse und versah zugleich neben seinem Pfarramt
+das eines Lehrers der Steinbergschen Kinder. Das Pfarrhaus im Dorf
+war 1807 in dem trübseligen, schweren Kriegswinter abgebrannt, und des
+Pfarrers Weib war wenige Wochen später gestorben. Da war der einsame
+Mann ins Schloß gezogen, um der Gemeinde nicht die Last aufzubürden,
+ein neues Pfarrhaus bauen zu müssen. Er war mit den Berkows zusammen
+gekommen, da er am Tage vorher über Land gewesen war.
+
+Niemand hatte Raoul kommen hören, und einige Sekunden stand er zögernd
+und verlegen an der Türe, unschlüssig, was er tun sollte, als die
+Stimme Arnolds von Berkow sich laut aus den andern hervorhob: »Sagt,
+was ihr wollt, seine Mutter war doch eine Französin. Also ein halber
+Franzose ist euer Vetter doch und kein Verlaß auf ihn!«
+
+Ein Schrei entrang sich Raouls Lippen, und plötzlich stand er mitten
+im Zimmer, stand vor dem langen Jungen, der ihn um einen halben Kopf
+überragte, und streckte ihm die drohend geballte Faust entgegen. »Meine
+Mutter, meine Mutter« -- er konnte vor Empörung nicht sprechen, nur
+seine Augen blitzten in wildem Zorn.
+
+Josua Buschmann sprang hinzu und zog den leidenschaftlich erregten
+Knaben fort, die Großmutter gebot scharf: »Geht hinaus, ihr Buben!« und
+einige Augenblicke später war Raoul allein mit der Großmutter, seiner
+Tante und dem Pfarrer. Die Buben und die Bäslein hatten alle zusammen
+das Zimmer verlassen.
+
+Frau Maria sprach freundlich zu ihm, auch die Großmutter sagte ein paar
+Worte, aber Raoul war es doch, als hätte sich der helle Sommermorgen
+auf einmal in einen grauen, trüben Regentag verwandelt, und nur mühsam
+gab er auf alle Fragen Antwort. --
+
+Raoul war mit einem Herzen voll Sehnsucht nach Liebe hergekommen, und
+auf der langen, beschwerlichen Reise hatte er sich die heitersten
+Bilder ausgemalt. Er hatte eine tiefe Dankbarkeit empfunden, daß er
+kommen durfte, und dabei hatte er auch wieder mit ein bißchen Stolz
+gedacht, daß die Verwandten sich gewiß recht freuen würden, daß er
+Hohensteinberg gewählt hatte und nicht nach Paris gezogen war. Ein
+grenzenloses Vertrauen zu der Mutter, dem Bruder seines Vaters war
+in ihm aufgeblüht; alles wollte er ihnen sagen, sein ganzes Leben
+schildern, und nun war es plötzlich, als habe sich da in seinem
+Herzen eine Türe geschlossen. Wie zugeschüttet war alles durch das
+eine unbedachte Wort. Er hatte es in seinem jungen Leben gelernt sich
+zu beherrschen, und so gab er sich auch alle Mühe, niemand merken
+zu lassen, wie es in seinem Herzen aussah. Kein Wort kam über seine
+Lippen, wenn er nicht gefragt wurde, und wenn er antwortete, tat er es
+so knapp und kurz, daß seine Verwandten wenig genug von seinem Leben
+erfuhren. Warum er eigentlich so rasch von Leipzig abgereist war, ahnte
+niemand in Hohensteinberg, niemand, wie tapfer Raoul für seine Mutter
+gearbeitet hatte, und wie lieb ihm die Bäckerfamilie war.
+
+Nach ein paar Tagen hatten sich alle im Hause daran gewöhnt, daß
+Raoul da war, daß er schweigsam am Tisch saß, und daß er arbeitete
+und lernte. Kam er, merkte man es kaum, ging er, vermißte ihn
+niemand. »Er ist langweilig,« sagten die Basen; Joachim nannte ihn
+»verstockt, falsch, einen Franzosenfreund«, denn er grollte ihm, daß
+um seinetwillen sein Freund Arnold eine derbe Rüge empfangen hatte. Er
+ist wohl nur scheu, dachte Frau Maria, aber ihr Mann und seine Mutter
+empfanden es bitter, daß der Knabe so anders war als sein Vater; sie
+beide hätten so gern gut gemacht, was sie an Unversöhnlichkeit und
+Härte an seinen Eltern verschuldet hatten. Er ist von anderer Art,
+dachte die Großmutter schmerzvoll und verschloß auch ihr Herz vor ihm,
+wenn ihr gegenüber der Enkelsohn immer stumm blieb, ja ihr sichtlich
+aus dem Wege ging.
+
+Nur der Pfarrer Josua Buschmann ahnte etwas von dem stillen Leiden des
+blassen Knaben. Er hatte ihn auf den Wunsch seines Onkels hin geprüft,
+und er war erstaunt gewesen, wie viel Raoul wußte, obgleich er doch,
+wie er selbst sagte, nie auf einer Schule gewesen war. Von dem Lernen
+mit dem Bäckerbuben zusammen erzählte Raoul nie. In den ersten Tagen
+nur hatte er einmal geantwortet: »Gottlieb hat mir das gesagt.«
+
+Man hatte im Garten zusammengesessen, und Gottliebe rief verwundert:
+»Gottlieb, mein Namensvetter, wer ist das?«
+
+»Mein Freund,« gab Raoul kurz zur Antwort.
+
+»Wie heißt er denn weiter?« forschte Gottliebe neugierig, »erzähl doch!«
+
+»Er heißt Käsmodel, sein Vater ist Bäcker,« sagte Raoul mit leisem
+Zögern. Er hätte gern noch mehr gesagt, denn auf einmal sah er deutlich
+Gottliebs gutes, treues Gesicht vor sich, und die Sehnsucht, von ihm
+sprechen zu können, erwachte jäh.
+
+»Käsmodel,« schrie aber Karoline, »Käsmodel, nein, so ein Name! Und
+mit einem Bäckersohn hast du verkehrt?« Sie war ein etwas hochmütiges
+Jüngferlein und schnell und unbedacht in ihrer Rede; der Name erschien
+ihr auch so lächerlich, daß sie kichernd ihre kleine Nase hinter einem
+Buch verbarg. Auch Lobe lachte laut: »Käsmodel, nein, Käsmodel! Wie
+drollig!«-- »Käsmodel!« rief auch Joachim spöttisch, »und von dem hast
+du was gelernt, von dem stammt deine Weisheit?«
+
+»Er ist mein Freund,« erwiderte Raoul herb, und wieder grub sich auf
+seiner Stirn die senkrechte Falte ein, die ihn seinem Vater so ähnlich
+machte.
+
+»Er ist gewiß sehr nett,« sagte Gottliebe schnell, der der Vetter leid
+tat, und auch Pfarrer Buschmann fragte freundlich nach dem Freunde
+und warf den Spöttern einen mahnenden, zürnenden Blick zu. Später
+fragte auch Frau Maria, und selbst der Oheim erkundigte sich nach den
+Bäckersleuten, aber Raoul gab immer nur kurze, ausweichende Antworten.
+Sie spotten doch nur über meine Freunde, dachte er bitter.
+
+Er war durch diese Erfahrung noch scheuer geworden und fühlte sich bei
+den Verwandten durch Worte verletzt, die er früher kaum beachtet hätte.
+
+Meister Käsmodel hatte oft herzhaft über die Franzosenwirtschaft
+geschimpft, und nie hatten Raoul und seine Mutter sich gekränkt
+gefühlt; jetzt auf einmal spürte der Knabe überall eine Feindseligkeit
+heraus.
+
+Es wurde auf Hohensteinberg, als der Winter näher kam, viel von dem
+kommenden Krieg zwischen Rußland und Frankreich gesprochen, der drohte,
+und vor dem die Länder zitterten. An seinem Geburtstag, den 15. August,
+hatte Napoleon dem russischen Gesandten so scharfe Worte gesagt, daß
+alle den Krieg ahnten. Für Preußen war es durch die Mißernte des Jahres
+ohnehin eine harte Zeit, wie würde es werden, wenn der Zug Napoleons
+nach Rußland zur Wahrheit würde! Da ballte sich manche Faust heimlich
+in der Tasche, und mancher tapfere Mann hätte lieber dreingeschlagen
+als von einem Bündnis mit dem Eroberer gesprochen. Der König von
+Preußen Napoleons Verbündeter! Wie ein Hohn erschien das vielen, und zu
+denen, die des Landes Schmach mitfühlten, gehörte auch der Freiherr
+von Steinberg.
+
+In der Wohnstube von Hohensteinberg wurde manches freie, kühne
+Wort gesprochen, wenn die Berkows da waren und _Dr._ Martinsen aus
+Langenstein, des Hauses alter Freund. Die Jugend des Hauses durfte
+zuhören. »Sie müssen die Not unserer Zeit erkennen lernen, sie müssen
+aufwachsen in der Sehnsucht nach Freiheit,« pflegte der Freiherr zu
+sagen.
+
+Da war es Raoul aber manchmal, als stocke die Rede, wenn er dabei war;
+und wenn ihm zuweilen in heißem Mitgefühl das Blut in die Wangen stieg
+und er an seinen für das Vaterland gefallenen Vater dachte, da fühlte
+er, wie die Großmutter oder der Oheim ihn prüfend ansahen. Warum wurde
+er rot? Kränkten ihn die freien Worte?
+
+Und warum schweigt er immer? dachte Joachim und sagte es dann zu seinen
+Freunden.
+
+»Er ist für die Franzosen, natürlich!« spottete Arnold.
+
+Den drei Knaben wäre es am liebsten gewesen, sie hätten gleich in den
+Kampf ziehen können. Was die Väter sprachen, erschien ihnen zu kühl und
+besonnen, und die Schwestern waren auf ihrer Seite. Die hatten auch die
+Köpfe voller Kriegsgedanken, am meisten Gottliebe, die war ungeduldiger
+und feuriger beinahe als die Buben.
+
+Gottliebe war Joachims Lieblingsschwester, sie genoß sein volles
+Vertrauen, und die beiden hingen wie die Kletten zusammen. Die
+sanftere, ein Jahr jüngere Gottlobe pflegte eine zärtliche,
+schwärmerische Freundschaft mit Helene von Berkow, und seit Karoline
+auf Hohensteinberg weilte, auch mit dieser.
+
+Seit Raoul gekommen war, gab es aber manchmal Streit zwischen Bruder
+und Schwester. Gottliebe tat der Vetter oft leid, sie konnte keine
+traurigen Menschen sehen. Weil sie wie der ferne Freund hieß, ruhten
+Raouls schöne, dunkle Augen oft, ihm selbst unbewußt, voll Traurigkeit
+gerade auf ihr, und Gottliebe fühlte, daß er litt, fühlte es wie
+Pfarrer Buschmann, und sie versuchte es auch wie der Geistliche immer
+wieder, des Vetters Vertrauen zu gewinnen. Sie suchte ihm kleine
+Gefälligkeiten zu erweisen; gab er eine gute Antwort in den Stunden,
+die sie gemeinsam hatten, dann rief sie wohl bewundernd: »Aber Raoul
+ist klug!«
+
+Das verdroß Joachim. Der war begabt, aber er liebte es, mehr in Wald
+und Feld herumzustreifen oder mit den Berkows kühne Luftschlösser zu
+bauen, als eifrig zu lernen. Da mußte er dann sehen, daß der jüngere
+Vetter ihn, trotzdem er viel weniger Unterricht in seinem Leben
+empfangen hatte, manchmal überflügelte. »Natürlich, er ist ein Streber
+und Heimlichtuer,« sagte er, aber daß die Schwester den Verhaßten
+bewunderte, kränkte ihn tief, und manches scharfe Wort fiel darum
+zwischen den Geschwistern. Es gab Streit und Tränen, und die schöne
+Einigkeit war gestört.
+
+Pfarrer Buschmann hörte das Streiten. Er sah, wie die Geschwister
+auseinanderkamen und Raoul doch einsam blieb, und versuchte zu
+versöhnen, aber Joachim besaß einen echten Steinbergschen Trotzkopf,
+der nicht so leicht zu brechen war. Je mehr der Pfarrer zum Guten
+sprach, desto mehr fühlte sich Joachim auch von dem so geliebten
+Lehrer zurückgesetzt und wurde auch gegen diesen mißtrauisch, sah mit
+Eifersucht auf Raouls rasches Vorwärtskommen und zeigte dem immer
+unverhohlener seine Abneigung.
+
+So gärte und brodelte es im engen Kreise wie draußen in der weiten
+Welt, und darüber gingen die Tage dahin, und der Winter kam mit leisen
+Schritten gegangen. Er kam hier in Ostpreußen früher als in Sachsen,
+und er war schöner auf dem weiten, flachen Lande als drinnen in der
+engen Stadt. Der Schnee fiel schmeichelnd weich, weiß und still. Er
+lag bald in dicken Polstern auf den Dächern und Mauern, die Bäume
+neigten ihre Äste unter der weißen Last, und bald mußten die Wege zu
+den Scheunen und Stallungen und ins Dorf hinein geschaufelt werden.
+In dieser Zeit wuchs aber auch die Not im Lande. Auf Hohensteinberg
+freilich brauchte niemand Hunger zu leiden, und auch für die
+Dorfbewohner sorgten der Gutsherr und seine Frau, so gut sie es nur
+konnten. Doch der Klang der Not tönte auch von fern kommend in diese
+friedsame Stille hinein, und Raoul dachte in dieser Zeit oft daran, wie
+noch vor einem Jahr die Mutter gebangt und gesorgt hatte. Gar manchmal
+mußten in dieser Zeit die Töchter des Hauses in das Dorf gehen und
+den Kranken und Armen Speise aus der Schloßküche hintragen. An einem
+Dezembertag rüstete sich Gottliebe zu einem solchen Gang. Sie tat es
+gern, und die Dorfleute sahen sie gern kommen, denn wie ein lachender
+Sonnenschein kam sie in die niedrigen Stuben. Als Gottliebe durch den
+Hausflur ging, sah sie Raoul, und rasch bat sie: »Komm mit ins Dorf.«
+
+»Mit dir allein?«
+
+»Herr Pfarrer geht mit,« sagte Gottliebe und stellte ihren Korb an die
+Haustüre, »er kommt gleich, wir müssen nur ein Weilchen warten. Kommst
+du?«
+
+Raoul nickte und trat neben die Base, und diese, die nicht gerade zu
+den Schweigsamen gehörte, erzählte ihm gleich: »Mutter schickt den
+alten, kranken Jakobsleuten Essen. Dort hinten im letzten Haus beinahe
+wohnen sie.« Da Raoul stumm blieb, fuhr sie lebhaft fort: »Ach, es muß
+schrecklich sein, arm zu sein, Hunger zu haben!«
+
+»Sehr schrecklich ist's,« sagte Raoul, und die Falte grub sich in seine
+Stirn.
+
+Gottliebe, der es plötzlich einfiel, daß Raoul und seine Mutter ja arm
+gewesen waren, sagte schnell, aus tiefstem Herzen heraus: »Armer Raoul!«
+
+Das klang so kindlich lieb und herzlich, daß zum erstenmal wieder seit
+langer Zeit über Raoul der Wunsch kam, von der Mutter, von Leipzig und
+seinem Leben dort zu erzählen, aber es war, als wären ihm die Worte im
+Munde eingefroren: er, der sonst so lustig hatte plaudern können, wußte
+jetzt kaum noch etwas zu sagen. Doch Gottliebe schien seinen Wunsch zu
+ahnen, und herzlich bat sie: »Sag mir doch was von deinem Gottlieb! War
+er lustig?«
+
+»Sehr,« gab Raoul zur Antwort, »und gut und tapfer.« Da kam ihm aus
+einmal das Erinnern an Gottliebs Zorn über den langen Schreiber, und er
+lächelte in den Gedanken daran ein wenig.
+
+»Du lachst,« schrie Gottliebe erfreut, »dir ist was Vergnügtes
+eingefallen. Ach, und so was höre ich doch furchtbar gern. Bitte, los,
+erzähle, ich glaube, dein Gottlieb würde mir gefallen!«
+
+»Natürlich, Gottlieb und Gottliebe, der Bäckerssohn paßt gut zu dir,«
+ertönte hinter den beiden auf einmal spöttisch Joachims Stimme, er war
+lautlos im Schnee am Hause entlang gekommen.
+
+Ein heftiges Wort kam Raoul auf die Lippen, aber noch ehe er es
+ausgesprochen hatte, rief Gottliebe schon empört: »Pfui, wie du bist,
+Achim, wie hochmütig! Der Bäckerjunge, der ist gewiß sehr nett,
+vielleicht viel, viel netter und besser als du! Ja gewiß, er ist
+besser,« trumpfte Gottliebe noch auf, der im Zorn auch leicht Worte
+entfuhren, die ihr nachher selbst bitter leid taten.
+
+Wortlos, blaß vor Wut drehte sich Joachim um und ließ die beiden
+stehen, und als er gegangen war, kam Gottliebe die Besinnung, daß sie
+mit ihrer Heftigkeit alles noch schlimmer gemacht hatte. »Ich bin zu
+dumm!« klagte sie. »Nun ist Achim fuchswild, und dabei will er immer
+recht sanft sein und alles gut machen und Frieden stiften und -- --«
+
+»Der Mund geht uns immer durch,« sagte Pfarrer Buschmann, der den
+letzten Ausruf gehört hatte, »was hat's denn gegeben?«
+
+Treuherzig schilderte Gottliebe den Vorgang und stellte sich dabei
+noch einmal das Zeugnis aus, daß sie sehr dumm sei. »Manchmal stimmt
+es, aber nicht immer,« sagte der Pfarrer lächelnd und strich über die
+glühenden Wangen des Mädchens, und dann ging sein Blick von dieser
+hinweg zu Raoul, der finster in das weiße Land hinausstarrte. »Mußt es
+nicht zu schwer nehmen, mein Junge. Joachim ist ein Sprudelkopf, aber
+er kommt schon noch zur Besinnung.«
+
+»Wär' ich doch nie hergekommen!« rief Raoul. »Es wäre schon besser
+gewesen, ich wäre nach .....« Er stockte, die Tränen stiegen ihm heiß in
+die Augen; in diesem Augenblick fühlte er tiefer noch als sonst seine
+Verlassenheit, und hastig drehte er sich um und eilte hinweg.
+
+Traurig sah ihm der Pfarrer nach. »Armer Junge!« sagte er, dann nahm
+er Gottliebes Hand und schritt mit ihr dem Dorfe zu, und unterwegs
+sprach er mit dieser von Raoul, und daß der so einsam sei. »Du willst
+immer eine große Tat vollbringen, Gottliebe,« sagte er milde, »nun
+sieh einmal, hier könntest du es vielleicht, du könntest mit Geduld
+und Liebe Raouls Vertrauen zu gewinnen suchen und ihn mit deinen
+Geschwistern, mit den Berkows versöhnen. Da mußt du freilich dich
+selbst erst recht beherrschen lernen und darfst nicht verzagen, wenn es
+nicht gleich geht. Willst du das?«
+
+Über Gottliebes Gesichtchen purzelten die Tränen nur so. »Ich will,«
+rief sie schluchzend, »ach ja, ich will ja ganz gewiß ein leibhaftiger
+Friedensengel werden, wenn's nur nicht so gräßlich schwer wäre. Hops!
+habe ich immer alles vergessen, und ich glaube, ich platze, wenn ich
+nicht sage, was ich denke.«
+
+Pfarrer Buschmann lächelte linde, der kleine, zukünftige Friedensengel
+hatte doch noch recht viel zu lernen für sein Amt. »Mir scheint,
+Mariellchen,« sagte er, »du platzt recht oft, mal vor Wut, mal vor
+Neugier, mal vor Ungeduld, und schließlich werden wir doch einmal zu
+Meister Schramm nach Langenstein fahren müssen und dir einen Reifen
+umlegen lassen, oder die Flickmareike muß dich zusammennähen. Nimm dich
+nur in acht, sonst sehen wir alle nie etwas von dem Friedensengel.«
+
+Halb lachend, halb weinend gelobte Gottliebe Besserung. »Ich geh
+nachher gleich zu Achim und bitte ihn, er soll gut sein,« sagte sie,
+»denn wenn er brummt, kann ich ihn doch nicht versöhnen, und zu Raoul
+will ich schrecklich nett sein.«
+
+Nach ihrer Heimkehr fing Gottliebe gleich mit der Nettigkeit an, sie
+raste in Joachims Zimmer und fand dort die Berkows. Das kümmerte
+sie wenig. Mit einem lauten Schrei fiel sie dem Bruder um den Hals
+und bettelte: »Sei wieder gut, ich hab's ja nicht böse gemeint, und
+natürlich bist du viel, viel besser als alle andern.«
+
+Joachim wollte zwar brummen, es tat ihm aber doch sehr wohl, daß
+ihn die Schwester in Gegenwart der Freunde so leidenschaftlich
+um Verzeihung bat. Er vergaß rasch, daß er eigentlich den Zank
+hervorgerufen hatte und die Hauptschuld trug, und sagte gnädig: »Na,
+laß nur, Liebe, es ist schon alles wieder gut. Aber nun geh, wir haben
+etwas zu besprechen. Vielleicht bekommt ihr Mariellen es auch bald zu
+erfahren, es ist etwas sehr Schönes, sehr Hohes, sehr Wichtiges. Erst
+müssen wir Männer es aber allein bereden.«
+
+Beinahe wäre Gottliebe nun vor Lachen über die »Männer« geplatzt, aber
+sie bezwang sich, dachte an Pfarrer Buschmanns Mahnung und schlüpfte,
+die Schürze vor dem Gesicht haltend, hinaus. Draußen kicherte sie
+vergnügt hinter der Schürze und raste die Treppe hinab, dabei rannte
+sie beinahe Jungfer Rosalie um. Die Jungfer war eine wichtige Person
+in Hohensteinberg; sie waltete neben der Hausfrau in Haus und Hof und
+nichts entging leicht ihren scharfen Blicken, keine Unordnung, keine
+Nachlässigkeit blieb ungerügt.
+
+»Hui,« brummte diese, »verdreht!« Die ältere, sehr hagere Person
+richtete sich nach dem Sprichwort: Reden ist Silber, Schweigen ist
+Gold, und schien eine wahre Abneigung gegen Silber zu haben. Wenn sie
+einmal mehr als zehn Worte hintereinander sagte, staunte das ganze
+Haus. Trotzdem führte sie in der Küche ein scharfes Regiment, und wenn
+sie ein Wort sagte, so war das oft so gut wie eine lange Strafpredigt.
+Auch Gottliebe entfloh ihr heute eilig, die Jungfer hatte so grimmig
+dreingesehen, daß es wohl besser war, nicht in ihre Nähe zu kommen.
+Doch kaum war sie ein paar Schritte gelaufen, da fiel ihr ein, Jungfer
+Rosalie könnte ihr doch einen Apfel geben. Diesen Apfel könnte sie
+Raoul bringen, und Raoul würde sich darüber freuen, und dann würden sie
+zusammen plaudern. Sie lief also hinter der Jungfer her, faßte sie am
+Rockzipfel und bettelte: »Schenk mir einen Apfel!«
+
+»Jetzt?« Die Jungfer sah Gottliebe nur an, und hinter dem »Jetzt«
+meinte diese zu hören: »Jetzt ist es gar keine Zeit, Äpfel zu fordern.
+Äpfel sind Leckerbissen in dieser Zeit, und es ist sehr viel verlangt
+und sehr unbescheiden, so mitten am Tage einen Leckerbissen zu
+verlangen.«
+
+»Ach Jungfer Rosalie, zuckersüße Jungfer Rosalie,« flehte Gottliebe,
+»es ist ja für Raoul, weißt du. Der arme Raoul ist traurig; Achim
+war so garstig zu ihm, und ich glaube, der arme, arme Raoul ist sehr
+unglücklich bei uns, und Herr Pfarrer Buschmann hat gesagt, ich möchte
+doch ein Friedensengel sein.«
+
+»Schnapp!« knurrte die Jungfer, der die Rede viel zu lang war, aber
+dann nahm sie ihr Schlüsselbund und suchte sehr nachdrücklich einen
+Schlüssel, in dem Gottliebe sofort den zur Apfelkammer erkannte. Sie
+lief, selbst erstaunt über ihren schnellen Erfolg, vergnügt hinter der
+Jungfer her und erhielt auch wirklich den gewünschten Apfel, sogar
+einen besonders schönen roten. Sie ahnte nicht, daß Jungfer Rosalie ein
+tiefes Mitleid für den blassen Fremdling im Herzen trug. Sie bewohnte
+nämlich die Kammer neben Raouls Stube, und schon manche Nacht war das
+heiße, sehnsüchtige Schluchzen des Knaben an ihr Ohr gedrungen. Man muß
+ihm gut tun, dachte sie, und sie war froh, daß Gottliebe den gleichen
+Wunsch hegte. Sie drehte sich daher an der Tür noch einmal um und
+sagte: »Recht, daß d' gut bist!«
+
+Zur selben Stunde sprach auch Josua Buschmann der Kammerherrin davon,
+daß man Raoul gut tun müsse. Die alte Dame hörte ihn schweigsam an,
+aber der herbe Ausdruck ihres Gesichts milderte sich nicht. Endlich
+sagte sie kühl: »Ich glaube, Sie irren sich, lieber Buschmann. Der
+Junge ist von anderer Art; er mag im Herzen doch mehr der Nation seiner
+Mutter angehören und fühlt sich darum fremd hier. Das macht ihn still
+und verschlossen.«
+
+Der Pfarrer schüttelte den Kopf und erzählte wieder, was Raoul
+ausgerufen hatte. »Da klang ein tiefes Leid heraus. Ich weiß es nicht,
+aber mir ist es schon manchmal seltsam vorgekommen, daß Raoul damals so
+schnell kam, sich gar nicht nach der Anordnung seines Oheims gerichtet
+hat. Vielleicht hatte er einen Grund.«
+
+Ein feines, kühles Lächeln umspielte die Lippen der alten Frau. »Lieber
+Buschmann, Sie sind ein Idealist und sehen mehr in dem Jungen, als in
+ihm steckt. Er ist ein Trotzkopf, das habe ich schon damals auf der
+Landstraße gemerkt. Darin gleicht er seinem Vater, aber freilich,« sie
+seufzte tief, »der war ehrlich und offen, und Raoul ist hinterhältig
+und verstockt. Vielleicht hat die Umgebung, in der er gelebt hat,
+auch einen schlechten Einfluß auf ihn gehabt, obgleich dieser Meister
+Käsmodel in Leipzig brav und ehrlich nach seinen Briefen schien.
+Ich will aber an Ihre Worte denken und mich meines Enkelsohnes mehr
+annehmen. Vielleicht gelingt es doch, ihn mehr zu einem Steinberg zu
+erziehen, zu einem echten deutschen Mann.«
+
+Der Pfarrer neigte still das Haupt. »Solche brauchen wir in dieser
+Zeit, und vielleicht steckt in manchem ein Held, der stille seines
+Weges geht, und die Zeit enthüllt wohl das Gute, das verborgen ist.«
+
+[Illustration: Dekoration Ende 5. Kapitel]
+
+
+
+
+[Illustration: Dekoration Titel 6. Kapitel]
+
+
+
+
+Sechstes Kapitel.
+
+Der Tugendbund wird gegründet.
+
+
+Weihnachten kam und ging vorbei. Es war ein stilles Fest in diesem
+Jahr, an dem die Sorgen nicht schwiegen. Teuerung im Lande und der
+Krieg in Aussicht. Was sollte da erst werden, wenn die französische
+Armee nach Rußland zog, wenn all die Tausende den Weg durch Deutschland
+nahmen? Immer lauter klang die Frage, immer fühlbarer wurde allen die
+Schmach, immer drückender empfand man das Joch der Fremdherrschaft.
+
+Hohensteinberg lag im Winterschlaf, und im Hause ging alles seinen
+stillen Gang weiter. Raoul war noch immer ein Fremdling im Hause,
+nur mit Gottliebe sprach er manchmal vertraulicher. Ihr hatte er von
+Gottlieb erzählt und von der Mutter. Da hatte Gottliebe plötzlich ihre
+Arme um seinen Hals geschlungen und gerufen: »Wie lieb muß die gewesen
+sein!« Seitdem war Raoul dem Bäslein im innersten Herzen zugetan, und
+wenn er es auch noch nicht fertig brachte, ihr von allem zu erzählen,
+so gab es doch manche heimliche Plauderstunde zwischen beiden, und
+Raoul empfand Gottliebes Freundschaft als besonderes Glück, und seitdem
+ertrug er die offene Feindschaft Joachims etwas leichter. Auch zu
+seiner Tante Maria und zu dem Pfarrer trug er eine stille Zuneigung im
+Herzen, aber immer wieder verschloß ihm eine unerklärliche Scheu den
+Mund, und die Großmutter sagte manchmal zürnend, wenn sie es in ihrer
+herben Art wieder versucht hatte, Raouls Vertrauen zu gewinnen: »Der
+ist doch von anderer Art.« Dann war sie so schroff und abweisend gegen
+den Knaben, konnte ihn so hart anlassen, daß sie wieder zerstörte,
+was Frau Marias Milde, Gottliebes zärtliche Freundschaft und Pfarrer
+Buschmanns klare Güte nach und nach aufgeweckt hatten. Und wie die
+Mutter dachte der Sohn; auch er wurde kühler und kühler gegen den
+Neffen, auch er sagte oft. »Er ist von anderer Art.«
+
+Von Leipzig hatte Raoul noch keine Nachricht wieder. Er hatte
+einmal an Gottlieb und Karl Wagner geschrieben, sein Brief hatte
+traurig geklungen, und er hatte ihn lange liegen lassen, ehe er ihn
+absandte. Als er dann fort war, dachte er freilich oft: Wenn sie doch
+antworteten, mir erzählten, wie dort alles ist! Aber die Zeit verrann,
+der Brief kam noch immer nicht.
+
+An einem Januartag war die Großmutter mit ihren Enkelinnen wieder
+einmal in Langenstein gewesen, und sie kehrten von der Fahrt zurück,
+als das erste leise Dämmern begann. Der Gutsherr kam eilig herbei,
+um seiner Mutter ritterlich beim Aussteigen zu helfen. An seinem Arm
+führte er sie in das Haus. Es waren Gäste gekommen, und die Erwachsenen
+saßen in dem Staatszimmer des Hauses.
+
+In der Halle kam Joachim seinen Schwestern entgegen. »Kommt nach oben,«
+sagte er mit gedämpfter Stimme zu ihnen und Karoline, »ich habe mit
+euch zu reden.« Ein mißtrauischer Blick streifte dabei Raoul, der
+gerade dazukam.
+
+Hurtig sprangen die drei Mädchen die breite Holztreppe hinauf, die in
+das erste Stockwerk führte, und langsam folgte ihnen Joachim.
+
+Raoul starrte ihnen nach. Immer blieb er doch ausgeschlossen, immer
+allein. Jetzt hatten die andern wieder ein Geheimnis vor ihm, er merkte
+es an ihrem Flüstern und Tuscheln, an ihren verlegenen Mienen, wenn er
+plötzlich zu ihnen trat. Und wieder dachte er, wie er so verlassen in
+der Halle stand: Ich könnte weit weggehen, weit weg, und niemand würde
+mich vermissen.
+
+Während sich Raoul in seinem Zimmer in ein Buch vertiefte, saßen in
+Joachims Kammer die andern Kinder mit den drei Berkows zusammen,
+denn auch Helene von Berkow, ein kräftiges, frohes Mädel von
+dreizehn Jahren, war mitgekommen. Die vier Mädchen hockten eng
+aneinandergeschmiegt wie drei Spätzlein auf dem Dachfirst auf einer
+großen, buntbemalten Truhe; Joachim selbst hatte seinen Platz aus dem
+einzigen Stuhl, der sich in dem Zimmer befand, während seine Freunde
+auf dem Bett saßen.
+
+»Hiermit haben wir also heute den Tugendbund gegründet,« sagte Joachim
+und schlug kräftig auf ein kleines, grünes Buch, das vor ihm auf dem
+Tische lag. Auf der ersten Seite des Buches stand: »Gut preußisch
+alleweg,« darunter: »Heute wurde allhier der Tugendbund gegründet.
+Hohensteinberg, am 17. Januar 1812.« Auf der nächsten Seite stand: »Wir
+geloben alles, was in unserer Kraft steht, zum Wohle des Vaterlandes zu
+tun.« Arnold von Berkow hatte noch trotz des allgemeinen Widerspruchs
+darunter geschrieben: »Fluch Bonaparte, und Verderben allen Feinden des
+Vaterlandes!« Zuletzt kamen die Namen, und wohlgefällig besahen sich
+nun alle das Buch.
+
+»Und es ist doch unrecht, daß wir Raoul nicht mit dazu nehmen,« sagte
+Gottliebe plötzlich, nachdem sie eine Weile schweigsam dagesessen hatte.
+
+»Es geht nicht,« rief Joachim heftig, »er ist doch ein halber Franzose
+und ein Schleicher und Heimlichtuer dazu! Der gehört nicht in unsere
+Gesellschaft.«
+
+Gottliebe stieß mit ihren Füßchen, die in schwarzen Kreuzbänderschuhen
+und weißen Zwickelstrümpfen steckten, nachdrücklich an die Truhenwand.
+»Er ist ein Steinberg wie wir, und ein Schleicher ist er nicht, und es
+ist abscheulich, daß wir ihn nicht in den Tugendbund aufgenommen haben.
+Wir behandeln ihn alle schlecht, und du bist am allerschlechtesten zu
+ihm.«
+
+»Aber Liebe!« sagte die sanftere Gottlobe erschrocken, und Joachim warf
+der Schwester einen strafenden Blick zu.
+
+»Frauenzimmer haben zu schweigen, wenn Männer reden,« rief Arnold von
+Berkow mit dem ganzen Stolz seiner fünfzehn Jahre. Gottliebe lachte
+hell auf. »Zwei Jahre bist du älter und redest wie ein Uralter; dabei
+sagt der Herr Pfarrer, deine Exerzitien wären voller Fehler,« spottete
+sie. Das Lachen steckte an, Karoline hielt sich kichernd ihre schwarze
+Taftschürze vor das Gesicht, und Gottlobe quiekte vor Vergnügen.
+
+»Siehst du, Joachim,« rief Arnold erbost, »ich habe es immer gesagt:
+die Mariellen stören unsern ganzen Bund.«
+
+»Sei doch nicht so ungalant,« sagte Karoline schmollend und verzog
+ihr hübsches Gesicht. Gottliebe aber sprang lachend auf. Schlank und
+feingliedrig stand sie da, wie goldene Fäden schimmerten ihre blonden
+Haare, ihre blauen Augen blitzten übermütig, und mit einem tiefen
+Knicks verneigte sie sich schelmisch vor Arnold von Berkow und sagte
+neckend: »Ich, ein Frauenzimmer, bitte um Verzeihung, daß ich hier bin
+und Luft schnappe, happ, happ!« machte sie dazu.
+
+Arnold sah sie halb lachend, halb ärgerlich an, aber Joachim rief
+drohend: »Du bist ein Irrwisch, Liebe. Wenn du nicht still bist, wirst
+du hinausgesteckt!«
+
+»Pah, du Brummbär!« sagte Gottliebe leichthin.
+
+»Geh lieber hinaus -- geh doch zu Raoul!« schrie der Bruder heftig.
+Blitzschnell verschwand bei diesen Worten der Ausdruck heiterer
+Schelmerei aus Gottliebes Gesicht; mit zornsprühenden Augen maß sie den
+Bruder, und wie sie beide so nebeneinander standen, da glichen sie sich
+Zug um Zug, beider Augen schimmerten fast schwarz vor Zorn.
+
+»Liebe, aber Liebe, Joachim, zankt euch doch nicht!« rief Gottlobe
+ängstlich. Sie wußte schon, wenn Bruder und Schwester aneinander
+gerieten, gab es, trotz aller Liebe, heftige Worte. Doch Gottliebe warf
+den Kopf zurück und sagte trotzig: »Ich gehe. Gründet ihr alleine euren
+Tugendbund. Es ist doch Kinderei -- ihr wißt ja gar nicht, was ihr
+wollt!«
+
+»Ja geh, geh nur schnell, geh zu Raoul, du -- du Franzosenfreundin du!«
+rief Joachim empört.
+
+Einen Augenblick starrte Gottliebe den Bruder an, als wollte sie
+auf ihn losspringen, dann warf sie die blonden Locken in den Nacken
+und verließ lachend das Zimmer. Draußen aber stürzten ihr jäh die
+Tränen aus den Augen, und ein paar Sekunden lehnte sie fassungslos
+an der Wand. Dann eilte sie in das obere Stockwerk; dort gab es ein
+Kämmerchen, das nur zum Aufbewahren getrockneter Kräuter gebraucht
+wurde. Gottliebe hatte hier schon manchen Kummer verweint, und das
+dämmrige Kräuterkämmerchen war ein rechter Schmoll- und Trostwinkel
+für sie geworden. Sie weinte sich auch an diesem Tage die Last vom
+Herzen, und als sie genug geweint hatte, schüttelte sie sich wie
+ein ins Wasser gefallenes Kätzchen und sagte, überzeugt, daß bald
+alles wieder gut sein werde, ein paarmal in die kräuterduftende
+Stille hinein: »Der dumme Tugendbund ist an allem schuld, der dumme
+Tugendbund!«
+
+»Wir wollen Gottliebes Namen ausstreichen,« sagte Joachim bedrückt, als
+die Schwester das Zimmer verlassen hatte. Er ergriff den Gänsekiel und
+strich den Namen aus, und dabei klangen in ihm die Worte nach: »Es ist
+ja Kinderei!« Hatte die Schwester vielleicht recht?
+
+Joachim hatte viel durch einen Oheim von dem Königsberger Tugendbund
+gehört, dessen Auslösung König Friedrich Wilhelm _III._, dem
+französischen Drucke nachgebend, im Dezember 1809 verfügt hatte. Alle
+echten Vaterlandsfreunde waren durch diese Auflösung schmerzlich
+betroffen worden, auch in Hohensteinberg hatte man bitter darüber
+geklagt. Joachim sah auch die Not des Vaterlandes. Fest wurzelten in
+seiner Erinnerung noch die Schrecken des Kriegswinters von 1806/07,
+und in seinem jungen, feurigen Herzen reifte so der Plan, etwas zur
+Befreiung des Vaterlandes zu tun, irgend eine stolze, mutige Tat
+auszuführen. In den beiden Berkows fand er Gesinnungsgenossen. Alle
+drei schmiedeten schon lange abenteuerliche Pläne und gründeten endlich
+zusammen einen Bund, den sie mit einem gewissen Trotz den »Tugendbund«
+nannten, und für den sie eine glänzende Zukunft träumten. Weil Fritz
+von Berkow gemeint hatte, ein Bund müßte viele Mitglieder haben, und
+es auf den umliegenden Gütern wenig Altersgenossen gab, hatten die
+Brüder mit viel gnädiger Herablassung die Schwestern zum Beitritt
+aufgefordert, obgleich Helene von Berkow gleich sagte, die Sache wäre
+doch ein wenig unheimlich und vielleicht auch unrecht.
+
+»Was sollen wir nun eigentlich tun?« fragte Karoline plötzlich
+gelangweilt; sie fand, Joachim brauche recht viel Zeit, Gottliebes
+Namen auszustreichen.
+
+»Warten, bis die Zeit kommt. Ihr Frauenzimmer seid auch immer
+ungeduldig!« rief Arnold von Berkow ärgerlich.
+
+»Ja, wir wollen etwas tun,« rief Fritz, dem die lange Pause auch
+nicht gefiel. »Joachim, mache einen Vorschlag, was wollen wir zuerst
+beginnen? Auch ein Freikorps bilden wie der Schill? Heisa, das sollte
+ein Kämpfen werden!«
+
+Joachim klappte langsam das Buch zu und starrte den Freund an. Das
+war ein schmalbrüstiger, überlanger Junge, dessen wasserblaue Augen
+nicht gerade geistreich dreinsahen. Der ein zweiter Schill! Er hätte
+lachen mögen, so töricht kam ihm auf einmal die Sache vor, und dabei
+rötete sich doch seine Stirn vor Scham und Ärger. Hastig warf er das
+Buch in seine Truhe und rief ungeduldig: »Für heute ist's genug, ich
+schließe die Versammlung! Am Mittwoch treffen wir uns des Nachmittags
+im Freundschaftstempel, da sind wir ungestört.«
+
+Die andern stimmten Joachims Vorschlag zu, Gottlobe und Karoline zwar
+etwas verstimmt über Gottliebes Austritt, sie wagten aber nicht recht,
+ihre Partei zu nehmen, und so verließen sie alle die Stube -- die erste
+Sitzung des Tugendbundes hatte ihr Ende erreicht.
+
+Nach einem Streit hatten sich sonst die Geschwister wohl noch
+ein bißchen angeknurrt oder waren ein paar Stunden um einander
+herumgegangen wie Muja, die Hauskatze, um ihre Suppenschüssel, wenn
+ihr der Dampf zu heiß ins Näschen stieg, aber dann hatte Liebe ein
+wenig geblinzelt, Joachim hatte irgend etwas Unverständliches geknurrt,
+und auf einmal hatten dann beide gelacht, herzlich befreiend, und die
+Schwester war wohl dem Bruder um den Hals gefallen, oder der hatte
+lachend die blonden Locken gezaust.
+
+Diesmal war es anders, und die Versöhnung kam nicht mit solcher
+Windeseile, wie Gottliebe es gemeint hatte. Tage kamen, Tage gingen,
+und immer wich Joachim in stummem Trotz der Schwester aus. Er tat
+es, weil er sich schämte, und dieses Gefühl verbarg er hinter einer
+beleidigten Miene.
+
+Er hatte rasch alle Lust an dem Tugendbund verloren, aber er wagte es
+nicht einzugestehen, daß er sich selbst mit seinen Ideen auf einmal
+sehr kindisch und unreif vorkam. Als das nächste Mal die Verbündeten
+zusammenkamen, hielt er dann die wildesten, blutdürstigsten Reden,
+sprach von Freischaren, und daß man, wenn die Franzosen nach Rußland
+ziehen würden, diese angreifen müßte; er betäubte die mahnende Stimme
+in seinem Herzen selbst durch seine wilden Worte.
+
+Ich bitt' ihn nicht, wenn er nicht will, dachte Gottliebe, wenn
+ihr stummes Werben, ihr versöhnliches Entgegenkommen immer wieder
+zurückgewiesen wurde. Sie litt aber schwer unter dem Zwist mit dem
+Bruder. Sie wurde darüber still und nachdenklich, und nicht mehr wie
+sonst schallte ihre Stimme unter denen der Geschwister in hellster
+Fröhlichkeit heraus. Und weil sie selbst litt, begann sie immer besser
+zu verstehen, wie einsam und verlassen sich Raoul fühlen mußte. Sie
+suchte darum immer mehr, dem Vetter Freundlichkeiten zu erweisen, und
+ließ diesen nicht mehr so allein seines Weges gehen.
+
+Pfarrer Buschmann, der viel in der Welt seiner Bücher lebte, freute
+sich darüber. Der sanfte, stille Mann ahnte nichts von dem unter den
+Geschwistern ausgebrochenen Streit, er dachte, nun würde Joachim
+bald dem Beispiel seiner Schwester folgen. Er lächelte darum auch
+nachsichtig und milde, als Gottliebe an einem sonnenhellen Nachmittag
+ziemlich ungestüm in die Bücherstube eindrang mit dem Ruf: »Kommst du
+mit nach Langenstein, Raoul?«
+
+»Warum willst du denn so eilig dorthin, Liebe?« fragte Josua Buschmann
+und sah das errötende Mädel freundlich an.
+
+Gottliebe hatte nicht gewußt, daß der Pfarrer anwesend war, und sie
+erzählte etwas verlegen: »Großmutter möchte von Jungfer Mahdissen
+allerlei haben, und weil Heinrich gerade nach Langenstein fährt, soll
+ich selbst mitfahren und alles holen.«
+
+Jungfer Mahdissen war ein kleines, ältliches Persönchen. Sie besaß ein
+Lädchen, in dem es Zwirn, Nadeln, Wolle, auch allerlei Stoffe, Bänder
+und Perlen gab. Zu ihr gingen die Steinbergschen Mädchen himmelgern,
+der Laden -- es war eine kleine Stube mit einer Türe nach dem Flur,
+an der ein Glöckchen bimmelte, wenn jemand kam -- barg so viele
+Herrlichkeiten, alles darin erschien den jungen Dingern wundervoll, und
+Liebe in ihrer stürmischen Art hatte schon oft gewünscht: »Ich möchte
+einen Laden haben wie Jungfer Mahdissen!«
+
+Seit Karoline von Prillwitz einmal die Kostbarkeiten des Lädchens ein
+wenig naserümpfend betrachtet hatte, meinte auch Gottlobe, es sei nicht
+mehr so reizvoll, zu Jungfer Mahdissen zu gehen, und so hatte sich
+Gottliebe allein erboten, für die Großmutter einzukaufen. Nachher hatte
+es den andern freilich leid getan, und sie wären gern mitgefahren,
+obgleich nur der alte Kastenschlitten benutzt wurde, aber Liebe,
+ärgerlich über Karolines Putenhaftigkeit, wie sie das Urteil der Base
+nannte, erklärte schnippisch: »Großmutter hat mir den Auftrag gegeben,
+nicht euch!«
+
+»Ist auch besser,« spottete Line, »wir haben wichtigere Dinge vor.«
+Sie meinte damit eine Sitzung des Tugendbundes, die am Nachmittag
+stattfinden sollte, und Liebe, die sie wohl verstand, wurde blutrot
+und lief wütend hinaus. Sie ärgerte sich jedesmal, wenn sie an den
+Tugendbund dachte, und daß sie nicht dabei sein durfte, und vor lauter
+Schmerz und Ärger, und weil sie sich ganz verlassen fühlte, rannte sie,
+um Raoul zu holen.
+
+»Also zu Jungfer Mahdissen,« sagte der Pfarrer schelmisch, »da fahre
+nur mit, Raoul, und sieh dir das Zauberreich an. So etwas Schönes hast
+du gewiß noch nie gesehen. Vergiß nur das Wiederkommen nicht, Liebe,
+und grüß mir die Jungfer auch.«
+
+Liebe dankte und knickste und lief dann mit Raoul hinaus. Der
+Kastenschlitten stand schon zur Abfahrt bereit, und Heinrich brummelte
+bereits über die »Nölerei«. Geschwind stiegen die beiden hinein,
+wickelten sich in ein paar dicke Wolldecken, und fort ging es auf
+glatter, schimmernder Schneebahn dem Städtchen zu.
+
+Joachim hatte die beiden fahren sehen, auch Lobe und Line, und alle
+drei fanden es empörend von der Schwester und Base, daß sie Raoul ihnen
+so vorzog, und alle drei gestanden sich die eigene Schuld nicht ein.
+
+Auch die Kammerherrin hatte von ihrem Fenster aus die Abfahrt
+beobachtet, aber sie hatte sich darüber ein wenig gefreut, es war schon
+besser, die Kinder vertrugen sich zusammen.
+
+»Wer ist denn Jungfer Mahdissen?« fragte Raoul das Bäslein.
+
+[Illustration: Die Steinbergs. (Seite 91.)]
+
+Etwas Besseres, um ein Gespräch in Gang zu bringen, hätte Raoul nicht
+fragen können. Liebes Zünglein kläpperte förmlich, und mit bewundernder
+Begeisterung schilderte sie den kleinen Laden; dazwischen sagte sie
+immer wieder: »Wirst schon sehen!«
+
+»Wie bei Käsmodels,« sagte Raoul sinnend, als Liebe sogar die bimmelnde
+Ladentür erwähnte, und auf der Base Gegenfrage erzählte er wieder von
+dem Bäckerhaus. Darüber verging den beiden die Zeit fast zu schnell,
+sie hatten beide kaum einen Blick für die weiße, im Sonnenglanz so
+schöne Landschaft. Wie eine tiefblaue Wand begrenzte fern der Nadelwald
+den Horizont. Sie waren der Stadt schon nahe gekommen, als über ihnen
+ein Krähenzug mit lautem Gekrächz hinwegzog, dem fernen Walde zu.
+
+»Wohin geht es dort?« fragte Raoul, dessen Blicke den schwarzen Vögeln
+folgten.
+
+»In einem weg nach Rußland, ein gut Stück bis hin ist's freilich noch,«
+sagte Kutscher Heinrich, der die Frage gehört hatte; er drehte sich um
+und wies mit dem Peitschenstiel nach Osten: »Dorthin will der Bonaparte
+ziehen, sagen jetzt alle. Einen weiten Weg hat er, wird manchem jungen
+Kerl das Leben kosten.«
+
+Liebe schauerte zusammen und schmiegte sich unwillkürlich fester an den
+Vetter an. »Wenn die Franzosen nach Rußland ziehen, dann -- dann --«
+sie stockte und sah in hilfloser Angst zu dem Knecht auf.
+
+Der verstand die unausgesprochene Frage. Er nickte, und sein ehrliches
+Gesicht verfinsterte sich. »Dann kommen sie hier durch, und wir haben
+den schönsten Kladderadatsch. Gnade uns Gott, wenn das geschieht! Sie
+sagen zwar, unser König wollte jetzt dem Bonaparte sein Freund und
+Verbündeter werden, -- na, den als Freund haben, da kommt doch eine
+böse Sache heraus.« Er drehte sich wieder um, knallte mit der Peitsche,
+und schneller holten die Pferde aus. Näher und näher kam das Städtchen.
+
+»Wenn die Franzosen kommen,« flüsterte Gottliebe, »dann -- nützt doch
+der Tugendbund auch nichts?«
+
+»Was?« fragte Raoul erstaunt zurück.
+
+»Leise,« bat Liebe, und tuschelnd vertraute sie dem Gefährten die
+Geschichte vom Tugendbund an. Auf einmal bedrückte sie die Sache, die
+sie vorher als Kinderei angesehen hatte: das Heimliche, Verborgene
+wollte ihr daran nicht recht gefallen, die Eltern hätten es doch wissen
+müssen. »Es ist vielleicht nicht recht, daß ich dir das verrate, aber
+-- aber mir ist so bange!«
+
+»Es ist nur eine Kinderei,« dachte Raoul, »und doch -- es wäre besser,
+Joachim ließe solche Sachen,« sagte er nachdenklich. »Meister Käsmodel
+hat zwar oft auf Napoleon geschimpft, er hat uns aber oft gesagt, man
+müßte vorsichtig sein, und die Zeit sei noch nicht gekommen.«
+
+»Meinst du, daß der Tugendbund eine -- eine Verschwörung ist?« fragte
+Liebe angstvoll.
+
+Da mußte Raoul doch lachen; so gefährlich erschien ihm der Bund nicht,
+und er tröstete das Bäslein und hatte es gerade erreicht, daß Liebe
+wieder vergnügt um sich blickte, als der Wagen vor Jungfer Mahdissens
+Lädchen hielt.
+
+Raoul fand freilich die Herrlichkeiten der kleinen Ladenstube nicht
+so überwältigend, aber Gottliebe schaute sich einmal wieder in hellem
+Entzücken in dem Raume um, sie wurde auch von der Besitzerin mit sehr
+viel Freude begrüßt. »Ne--in, trautstes Mariellchen, Demoisellchen,
+ist das ein Freudchen!« rief Jungfer Mahdissen, die vielleicht um
+der eigenen Kleinheit willen die Gewohnheit hatte, allen Wörtern ein
+»chen« anzuhängen. So brachte sie denn Wollchen, Zwirnchen, Nadelchen,
+Stoffchen und allerlei herbei, pries wortreich die Güte ihrer Ware,
+nannte Raoul ein allerbastes Junkerchen, weil der Liebe an die Äpfel
+erinnerte, die die Mutter der Jungfer schickte.
+
+»Nein, so ein Freudchen! Nun ist mir's ganze Tagchen lieb!« schrie
+die kleine Jungfer und warf vor lauter Freude erst ihr Ellenmaßchen,
+dann ihr Scherchen und zuletzt das ganze Bandchen unter das Tischchen.
+Nachher öffnete sie noch auf Gottliebes Bitten allerlei Kästen, zeigte
+Perlen und Bänder, angefangene spinnwebfeine Stickereien und behauptete
+kühn, »in ganz Parischen gäbe es nicht solche Sachchen,« was Liebe
+glaubte, aber Raoul etwas bezweifelte.
+
+»Und so wundervolle Hauben kann Jungfer Mahdissen nähen,« rühmte Liebe
+deren Kunst dem Freund.
+
+Eine tiefe Glut färbte jäh das Gesicht des Knaben, dann strömte das
+Blut schnell zurück, und Raoul sah noch bleicher und ernster aus als
+sonst. Die Erinnerung an die Mutter war ihm gekommen, wie sie -- krank
+-- Haube um Haube zierlich fein genäht und gefältelt hatte. Hastig bat
+er: »Wir sollten noch zum Posthalter gehen. Liebe, komm!«
+
+Jungfer Mahdissen hätte die beiden gewiß nicht fortgelassen, wenn nicht
+eine Magd gekommen wäre, um für einen Groschen Zwirn zu kaufen; da
+nahm sie wortreich, mit sehr vielen »chens« Abschied von den Kindern.
+Draußen fragte Liebe: »Gefiel's dir nicht bei der Jungfer Mahdissen?«
+
+»Doch!« sagte Raoul, und während sie beide den Weg aus dem schmalen
+Gäßlein, das den wunderlichen Namen »Katzenwinkel« trug, nach dem
+Marktplatz antraten, erzählte Raoul, wie fein und fleißig seine Mutter
+Hauben genäht hatte.
+
+»Oh, du,« rief Gottliebe in ihrer warmherzigen Art, »wie gut, wie
+schrecklich gut muß deine Mutter gewesen sein! Weißt du, ich habe sie
+lieb. Ach, lebte sie doch noch, könnte ich sie einmal sehen!«
+
+Raoul blieb stehen und sah das Bäslein dankbar an: »Du bist auch gut,
+Gottliebe, du und Pfarrer Buschmann, ihr seid gut zu mir.«
+
+»Doch auch die Eltern, die doch auch!«
+
+»Ja,« sagte Raoul mit leisem Zögern, »aber -- dein Vater mag mich nicht
+leiden und die Großmutter auch nicht; von Joachim und Lobe sag ich erst
+gar nichts, und weißt du, es wäre viel, viel besser, ich ginge wieder
+fort.«
+
+»Aber Raoul,« rief Liebe entsetzt. So hatte der Vetter ihr noch
+nie gezeigt, wie tief er litt, und ihr Herz floß über von innigem
+Mitleiden. Sie faßte Raouls Hand und gelobte, während ihr die hellen
+Tränen über die Wangen liefen: »Ich behalte dich immer, immer lieb,
+Raoul, du bist mein Bruder, und paß auf, die andern gewinnen dich auch
+lieb. Der Herr Pfarrer sagt es auch. Aber du darfst nie weggehen, nie!
+Versprich mir das, bitte, bitte!«
+
+»Nein,« sagte Raoul leise, aber fest, »das kann ich dir nicht
+versprechen,« und sehnsüchtig sahen seine Augen die schmale Straße
+entlang, durch die sie schritten. Könnte er sie doch hinab gehen, zur
+Stadt hinaus, immer westwärts, Leipzig zu! Er schwieg aber davon, sagte
+jedoch tröstend: »Liebe, ich bin ja noch da, aber wenn du weinst, reiße
+ich gleich aus!«
+
+Husch kam gleich das Lachen, wie Sonnenschein flog es über Gottliebes
+bewegliches Gesichtchen. Sie ergriff die Hand des Vetters und eilte
+lachend mit ihm schnell die Straße hinab über den Marktplatz hin.
+
+Postmeisters Minettchen sah die beiden vom Fenster aus kommen. »Frau
+Mutter,« rief sie, »Gottliebe von Steinberg kommt, und sie lacht
+wieder, daß ich's beinahe höre!«
+
+»Ei, sieh da, und der Französische ist auch dabei,« sagte der Herr
+Rentmeister Meldeling, der gerade bei Postmeisters einen Besuch
+abstattete.
+
+In der Stadt war dieser kleine, immer lächelnde Mann nicht sehr
+beliebt; niemand hatte rechtes Zutrauen zu ihm, da er allgemein
+als Franzosenfreund galt. Er kniff die Augen zusammen und lächelte
+höhnisch: »Ja, ja, die vornehmen Herrschaften sind alle Tage lustig,
+Sorgen kennen die nicht!«
+
+»Da ist Er schief gewickelt, -- Er -- --« Grasaffe -- -- wollte die
+Frau Postmeisterin sagen, sie schluckte aber das letzte Wort noch
+rechtzeitig herunter. »Die Steinberger Herrschaften leben nicht lustig,
+wenn es andern Leuten schlecht geht; sie haben ein Herz für die armen
+Leute, und -- gut deutsch sind sie auch gesinnt.«
+
+Das Wort klang dem Rentmeister übel in den Ohren, denn er war auch
+einer von denen, die sich der deutschen Art schämten. Er verabschiedete
+sich darum sehr eilig, aber an der Türe traf er doch noch mit den
+jungen Steinbergs zusammen. Er grüßte Gottliebe übertrieben höflich und
+schaute Raoul forschend und prüfend an.
+
+»Der Mensch ist mir doch in der Seele zuwider,« rief die Frau
+Postmeisterin, nachdem sie die Eintretenden begrüßt hatte, »rein
+schlimm kann mir von seinem dummen Lächeln werden. Immer fragt er nach
+tausend Dingen, die ihn den Kuckuck was angehen. Mein Mann traut ihm
+auch nicht über den Weg, er sagt, er hält es mit den Franzosen. Und das
+ist einmal wahr: im schlimmen Jahr, als die Franzosen hier in Haufen
+durchzogen, da katzbuckelte er nur immer um sie herum und bonjourierte
+und dienerte in einem fort. Der stiftet noch mal ein Unheil an, das
+sage ich und --,« da brach die redselige Frau jäh ab, denn ihr fiel
+ein, daß ihr Mann sie immer ermahnte, nicht alles zu sagen, was sie
+dachte.
+
+»Man könnte sich ordentlich fürchten,« sagte Gottliebe nachdenklich:
+»Mein Vater sagte erst neulich, der Rentmeister habe einen besonderen
+Haß auf ihn; ob das wahr ist, Frau Postmeisterin?«
+
+»Hassen, das ist schon möglich, aber was kann das schaden?« meinte
+die Postmeisterin. »Dem gnädigen Herrn von Steinberg kann der falsche
+Mensch ja doch nichts anhaben; auf Hohensteinberg geschieht nichts, was
+nicht jeder wissen kann.«
+
+Sekundenlang sahen sich Vetter und Base an, beide dachten bei diesen
+Worten: der »Tugendbund,« und beide durchrieselte eine leichte Angst.
+War es doch vielleicht mehr als eine Torheit?
+
+Da kam der Postmeister in das Zimmer und brachte einige Postsachen.
+»Ein Brief für den Herrn Vater ist dabei,« sagte er, »aus Frankreich
+kommt er, es steht aber dabei, daß er nur dem Herrn Vater selbst
+ausgeliefert werden darf. Da will ich heute selbst noch hinauskommen;
+es muß alles seine Richtigkeit haben, alles hübsch nach der Ordnung!«
+
+»Aber mein Vater ist in Königsberg, er kommt wohl erst morgen zurück,«
+rief Gottliebe und schaute neugierig auf den Brief. »Aus Frankreich?
+Ach, Herr Postmeister, ich graule mich.«
+
+Der dicke Postmeister lachte: »Ich glaube gar, das gnädige
+Demoisellchen denkt, der Brief kommt von Napoleon selbst. Es sind ja
+viele gute Deutsche drüben, warum soll's davon nicht einem einfallen,
+an den Herrn Vater zu schreiben? Spekuliere, gar so wichtig wird die
+Sache nicht sein. Aber vielleicht sagen Sie daheim nichts, die Frau
+Mutter könnte sonst auch gleich Gespenster sehen. Weiberleut haben das
+so an sich.«
+
+»Mann,« rief die Postmeisterin empört, »wie kannst du nur so
+despektierlich von der gnädigen Frau von Steinberg reden!«
+
+»Na, na,« brummelte ihr Mann ein wenig verlegen, »eigentlich meinte
+ich ja dich. Du witterst ja überall eine Verschwörung und denkst, der
+Napoleon steckt hinter jeder Türe. Aber halt, da ist auch ein Brief für
+den Junker, aus Leipzig kommt er.«
+
+Ein Brief aus Leipzig! Raouls Augen blitzten, und verlangend streckte
+er die Hand nach dem dicken Schreiben aus. Die Adresse da hatte Karl
+Wagner geschrieben, die klare, feste Schrift kannte er gut. Und wie
+er den Brief in der Hand hielt, kam die Sehnsucht wieder über ihn
+nach denen, die ihn lieb hatten, die ihn verstanden. Er konnte es
+kaum erwarten, den Brief zu lesen, aber trotzdem riß er ihn zu Liebes
+grenzenlosem Erstaunen nicht gleich auf; er behielt ihn in der Hand,
+auch als sie beide draußen wieder im Schlitten saßen und im ersten
+matten Abenddämmern Hohensteinberg entgegenfuhren. »Warum liest du
+den Brief nicht?« tuschelte Gottliebe dem Vetter zu. »Ich wäre schon
+geplatzt vor Neugier.«
+
+»Erst versprich mir etwas, Liebe, gute Liebe,« bat Raoul, den Brief
+noch immer uneröffnet in der Hand haltend. »Erzähl' es niemand, daß
+ich einen Brief bekommen habe -- sonst lachen sie wieder über meine
+Freunde, über den drolligen Namen, über --« Er zögerte und bat noch
+einmal: »Sag's niemand!«
+
+»Ich bin stumm wie ein Fisch,« gelobte Gottliebe. »Es ist so fein,
+daß wir auch ein Geheimnis haben!« Und vor lauter Freude hopste und
+zappelte sie auf dem harten Sitz des schwerfälligen Schlittens hin und
+her, und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre sie hinausgefallen. »Aber
+nun lies nur, lies, und dann, -- bitte, bitte, mir sagst du doch, was
+drin steht?«
+
+Raoul erbrach den Brief und las, während ein tiefrotes Glühen, der
+Widerschein der sinkenden Sonne, auf den Schneefeldern lag. Karl
+Wagner hatte geschrieben, einen klugen, herzlichen Brief, daß es nun
+ganz anders in der Schreibstube sei, der lange Neumann sei auf und
+davon gezogen. Er schrieb auch, er habe das Grab von Raouls Mutter
+manchmal aufgesucht und zuletzt Tannenzweige aus dem Universitätswald
+hingetragen; daneben sei ein frisches Grab: das kleine Lottchen von
+Meister Käsmodels sei gestorben, und die Eltern seien gar traurig um
+den Verlust des lieben Kindes. Der Schluß lautete: »Dein Brief klang
+nicht froh, Raoul, er klang nach Heimweh und Einsamkeit. Verzage nicht,
+wenn Dir die Heimat Deines Vaters nicht gleich Heimat wird, sondern
+Dir noch eine Weile fremd bleibt, eine Heimat gewinnt man nicht im
+Sturm. In Deiner Mutter Heimatland wärest Du vielleicht noch weniger
+glücklich gewesen, und der äußere Glanz hätte Dich auch nicht beglückt.
+Du tatest nach dem Willen Deiner Mutter: der Gedanke muß Dich trösten
+und aufrichten. Kopf hoch und mutig voran!«
+
+»Wie gut er schreibt, dein Freund!« flüsterte Liebe. »Aber was meint er
+damit, von der Heimat deiner Mutter und dem äußeren Glanz?«
+
+»Ich erzähle es dir später einmal,« sagte Raoul und schob den Brief
+in seine Tasche. Es war noch einer darin, und er ahnte, daß der von
+Gottlieb kam, und eine ihn wieder ergreifende Scheu hielt ihn ab, auch
+diesen Brief der neuen Freundin zu zeigen.
+
+»Na, wenn ich nicht platze, so voll von Geheimnissen wie ich bin!«
+sagte Liebe nachdenklich, als der Schlitten sich wieder dem Schlosse
+näherte. »Es ist wirklich schwer. Bitte, Raoul, knuffe mich immer,
+wenn ich den Mund auftue, weißt du, sonst fährt mal was raus, ich weiß
+hinterher nicht wie!«
+
+Der Knabe versprach das Knuffen gern, er hatte es aber nicht nötig:
+Gottliebe hielt an diesem Abend ihren Mund ängstlich geschlossen, sie
+war so schweigsam, daß es selbst der Großmutter auffiel; nicht einmal
+eine begeisterte Schilderung von Jungfer Mahdissens wundervollem Laden
+erfolgte. Und da auch Raoul schwieg, selbst mit Liebe nicht sprach,
+erklärte Joachim nachher den beiden anderen Mädchen mit grimmiger
+Freude: »Sie haben sich miteinander gezankt.«
+
+Raoul aber las am Abend in der Stille seiner Kammer Gottliebs Brief,
+der nun nicht gerade ein Muster von Orthographie und Schönschrift war.
+»Lieber Raoul,« schrieb der Freund, »es ist fürchderliche Lankeweile
+seidtem daß Du fohrt bist und auch trauhrich denn unser Lottchen ist
+gestorben und wir sind alle trauhrich. Ich heuhle auch Mannichmal und
+habe keine Luhst mehr Lateinisch zu lernen, ich pleibe auch sihtzen.
+Raoul, komme doch nur wieder dann geht es allmahl besser. Vater sagt
+daß auch, reiße nur aus wenn sie Dich schlecht behanteln, den Weg weist
+Du ja schon und ich schicke Dir einen Thaler damit Du essen kannst.
+Reiße aus, reiße aus. Der lange Neumann ist fohrt und kann nicht mehr
+die Trepe rauf fallen. Reiße aus und alle grühsen Dich fielemahl.
+
+ Dein gantz getreuer liehber Freund Gottlieb.
+
+Ich habe auch immer lauder Viehren und sie sagen ich bin am faulsten,
+aber es ist nicht war, Berger ist fiel fauhler und schreibt noch
+schlechter und macht noch mer Pfehler, wenn du komst geht es gewiehs
+besser.«
+
+Raoul atmete tief auf und verbarg den Brief in seiner Tasche.
+Ausreißen, -- vielleicht wäre es am besten!
+
+[Illustration: Dekoration Ende 6. Kapitel]
+
+
+
+
+[Illustration: Dekoration Titel 7. Kapitel]
+
+
+
+
+Siebentes Kapitel.
+
+Der Tugendbund nimmt ein jähes Ende.
+
+
+Am nächsten Tag wurde der Hausherr zurückerwartet, und da man die
+Stunde seiner Ankunft nicht genau bestimmen konnte, entlief immer mal
+eines der Kinder der Stunde bei dem Pfarrer, und der ließ sie laufen
+und den Weg entlang spähen, ob der Vater noch immer nicht kam.
+
+Auch seine Frau und seine Mutter sahen öfters hinaus, Frau Maria in
+doppelter Sorge: sie besaß einen Bruder, der um einiger Schriften
+willen das Land hatte verlassen müssen. Er war nach England gegangen,
+um dort zu warten, bis es Zeit war, in sein Vaterland zurückzukehren.
+Von diesem Bruder sollte auf dem Seewege nach Königsberg eine Nachricht
+kommen. Seit vielen Wochen hatten die Verwandten nichts von ihm gehört,
+und nun hoffte Frau Maria, ihr Mann werde einen Brief mitbringen.
+
+Auch Joachim dachte an diesen Onkel Wolfgang, den er sehr bewunderte,
+und mitten in der Stunde -- er war mit Raoul und Arnold von Berkow
+allein beim Pfarrer -- sagte er plötzlich: »Ist's nicht eine Schande,
+daß der Oheim außer Landes gehen mußte?«
+
+Pfarrer Josua Buschmann nickte trübe: »Das ist's, mein Sohn. Er war
+aber auch recht unvorsichtig in seinem Tun!«
+
+»Pah,« rief Joachim, »soll ein Preuße nicht sagen dürfen, was er
+denkt? Was hat denn der Oheim getan? Dem Tugendbund hat er angehört
+und nachher nur seine Meinung gesagt, daß es ein Unrecht sei, den Bund
+aufzulösen.«
+
+Raoul horchte auf. Das hatte er noch nicht gewußt; von dem Bruder
+Frau Marias war selten gesprochen worden. Hatte Joachim vielleicht in
+Gedanken an den Oheim den Tugendbund gegründet? Und wenn dieser hatte
+fliehen müssen, war die heimliche Sache nicht doch gefährlich? Recht
+lebhaft war Raoul dem Gespräche gefolgt, und als Pfarrer Buschmann
+antwortete, horchte er so aufmerksam zu, daß er nicht bemerkte, wie
+Joachim ihn beobachtete. In dem stieg die Wut heiß empor, und plötzlich
+sprang er auf. Seine blauen Augen waren fast schwarz vor Zorn, und
+den Stuhl heftig zurückschiebend, schrie er: »Wie er horcht, der
+Schleicher, der -- der -- Franzose -- wie --«
+
+»Achim!« Schwer fiel des Pfarrers Hand auf des unbändigen Schülers
+Arm, und die milden Augen des alten Mannes schauten mit einem so
+unaussprechlich leidvollen Ausdruck in das erregte Gesicht, daß
+Joachim sein Haupt senkte. Er fühlte, wieder hatte er sich von seinem
+ungerechten Zorn übermannen lassen, aber wieder hatte er nicht die
+Kraft, seine Schuld einzugestehen, und bissig grollte er: »Ich kann ihn
+nicht leiden!«
+
+»Ich ihn auch nicht,« murmelte Arnold von Berkow leise nach, aber Raoul
+hatte auch das Wort gehört. Seine Brust hob und senkte sich, einen
+Augenblick war es, als wollte er sich auf die beiden Knaben stürzen,
+doch des Pfarrers Gegenwart bannte ihn. Er drehte sich um, verließ
+hastig das Zimmer und rannte den Flur entlang seiner Stube zu. Unten
+hörte er lautes Rufen, Hundegebell, -- der Oheim war angekommen, Freude
+war im Haus.
+
+Und über dieser Freude merkte es niemand recht, daß Joachim beim
+Mittagessen still war. Arnold von Berkow gab sich Mühe, laut und
+lustig zu antworten, wenn er gefragt wurde, er vermied es aber, Raoul
+anzusehen. Pfarrer Buschmann hatte von den Knaben gefordert, sie
+sollten dem gekränkten Kameraden Abbitte leisten. Noch nie hatte der
+gütige Mann so hart, so streng mit seinen Schülern gesprochen, noch
+nie ihnen so das Unedle, Niedrige ihrer Handlungsweise klar gemacht.
+Es hatte Joachim tief getroffen, und tief bohrte und nagte die Scham
+über sein Tun in dem Knaben. Arnold nahm es leichter; er wäre auch eher
+bereit gewesen, das Versprechen der Abbitte zu geben, aber Joachim
+hatte es nicht getan, und so hatte der Pfarrer seine Zöglinge entlassen
+mit den Worten, er würde ihren Eltern Mitteilung machen und eine
+Trennung bewirken, wenn sie seinen Willen nicht erfüllten.
+
+Nach Tisch sprach Josua Buschmann auch mit Raoul, aber es schien,
+als hätte sich die Seele des Knaben, die sich dem Lehrer schon
+etwas geöffnet hatte, wieder geschlossen. Still, blaß, mit fest
+zusammengepreßten Lippen hörte er die gütigen Worte an. Er klagte
+nicht, er sprach den Namen seiner Gegner gar nicht aus, nur als der
+Pfarrer ihn entließ, drehte sich Raoul plötzlich auf der Schwelle
+wieder um, kehrte zurück und küßte rasch, wie bittend, die Hand des
+alten Mannes, und ein paar Sekunden sahen die beiden sich an. »Mein
+Junge, mein armer Junge!« rief der Pfarrer tief bewegt und zog Raoul
+an sich, denn ein so wilder Schmerz hatte ihm aus den dunklen Augen
+entgegengeblickt, daß er fühlte, hier war ein Leid, das über den Kummer
+eines Kindes hinausging. Es darf nicht so weiter gehen, dachte er,
+sonst geht an kindischem Trotz, an unvernünftiger Torheit eine junge
+Seele zugrunde. --
+
+Gottliebe merkte nichts von der neuen Kränkung, die dem Freunde
+widerfahren war, sie hatte sich für den Nachmittag etwas ausgesonnen,
+was sie ganz allein ausführen wollte. Niemand im Hause ahnte etwas
+von dem Tugendbund, der allwöchentlich zweimal in einem kleinen
+Freundschaftstempel am Parkende tagte. Pfarrer Buschmann pflegte um
+die Nachmittagszeit in das Dorf zu wandern, und den andern fiel es
+nicht auf, daß die Kinder in den Freundschaftstempel gingen. Die beiden
+Berkows und Oswald Hippel, der Sohn des Marienfelder Amtmannes, der
+auch in den Bund eingetreten war, kamen auf heimlichen Waldwegen und
+fanden dies heimliche Kommen ungemein romantisch.
+
+Seit ihrem stürmischen Austritt hatte Gottliebe kein Wort mehr über den
+Tugendbund von den Geschwistern gehört; sie war zu stolz und trotzig,
+um darnach zu fragen, aber sie war die einzige, die die heimlichen
+Zusammenkünfte merkte. Deshalb war sie auch brennend neugierig, einmal
+dabei zu sein, und so beschloß sie, es heimlich zu tun. Und dieser
+Nachmittag erschien ihr wundervoll geeignet, ihren Plan auszuführen.
+
+Im Schatten hochstämmiger Ulmen lag am Ende des Gartens der
+Freundschaftstempel. Er war von einem Urgroßvater der Kinder erbaut,
+und manch heiteres Fest war einst darin gefeiert worden. Die Wände
+des Tempels waren mit Malereien bedeckt. Da wandelten zierliche
+Schäferinnen in Reifrock und hoher gepuderter Frisur einher und führten
+weiße Lämmchen an rosenfarbenen Bändern. Wohl waren die Malereien zum
+Teil zerstört, aber die Kinder betrachteten immer wieder die anmutigen
+Bilder mit neuem Entzücken. Über dem Eingang standen, ein wenig
+verwischt zwar, aber noch leserlich, die Worte:
+
+ Freundschaft hege,
+ Freundschaft pflege,
+ Freundschaft ist ein Himmelslicht,
+ Wehe dem, der Freundschaft bricht.
+
+Gartengeräte und allerlei altes Gerümpel wurden in dem Tempelchen
+aufbewahrt, das von den Erwachsenen nur selten noch betreten wurde,
+denn die ernste Gegenwart hatte keine Zeit mehr für die lustigen
+Gartengesellschaften vergangener Tage.
+
+In ein dickes, graues Tuch gehüllt, huschte Gottliebe an diesem
+Nachmittag durch den Gartenausgang des Schlosses hinaus und eilte nach
+dem Tempelchen. So sehr war das lebhafte Jüngferlein von ihrem Vorhaben
+erfüllt, daß sie nicht merkte, wie Raoul den Versuch machte, mit ihr zu
+sprechen. Er hatte an der Haustüre auf sie gewartet, nun sie so rasch
+davonlief, kehrte er still und traurig in das Haus zurück. Sie purzelte
+fast hin vor Eile, und im Tempelchen angekommen, versteckte sie sich
+eilig hinter einer im Winkel stehenden mächtigen Wassertonne und
+kicherte übermütig vor sich hin, als nach einer Weile die Geschwister
+mit den Freunden den Raum betraten. Gottliebe lauschte gespannt, aber
+irgend etwas Neues, etwas Besonderes hörte sie nicht. Die Berkows,
+besonders Fritz, hielten wilde Reden gegen den Feind, und Karoline und
+Gottlobe, die auf einer umgestürzten Schiebkarre saßen, quietschten
+manchmal laut auf, wenn einer der Knaben gar zu heftige Worte sagte.
+Joachim saß schweigend und finster da, er schien kaum zuzuhören.
+Gottliebe konnte gerade sein Gesicht sehen, und sie dachte: Ihm ist
+die Geschichte nicht recht. Doch sie hatte die Gedanken des Bruders nur
+halb erraten: der Auftritt des Morgens, des Pfarrers Worte hallten in
+ihm nach, und noch törichter, kindischer als sonst fand er der Freunde
+Reden. »Es ist langweilig, albern!« sagte er plötzlich hart.
+
+In diesem Augenblick hörte Gottliebe neben sich ein Knistern, sie sah
+auf und erblickte auf dem Deckel der Wassertonne -- eine Ratte, die
+dort vergnügt auf und ab spazierte. Vor Ratten und Mäusen aber hatte
+Gottliebe eine schreckliche Furcht, und voller Grauen sah sie auf das
+Tierchen, dem es ganz behaglich zu sein schien.
+
+Ich darf nicht schreien, dachte sie und preßte ihr Tuch fest vor den
+Mund; ach, wäre ich doch nur erst draußen! Die Ratte lief hin und her,
+dann versuchte sie an der Außenwand der Tonne herunterzuklettern.
+
+»Sie kommt, sie kommt!« Gottliebe kroch immer mehr auf ihrem Platz
+zusammen. »Der dumme Tugendbund,« schalt sie wütend, »wäre ich nur
+nicht hierher gekommen!« Der Angstschweiß trat ihr auf die Stirn, und
+sie bebte vor Furcht: das wildeste Raubtier der Wüste hätte ihr keinen
+größeren Schrecken einjagen können. »Wenn sie mir ins Gesicht springt,
+sich in meine Haare verwickelt, wenn -- wenn --« Tausend Fährnisse
+fielen ihr ein, und ihre Augen ruhten immer starrer, immer entsetzter
+auf dem Tiere, das sein Dasein ganz behaglich zu finden schien. Das
+lief nach rechts, nach links, und auf einmal schien es sich nach
+Abwechslung zu sehnen. Plumps, sprang es von der Tonne herunter, und
+Gottlobe und Karoline kreischten. »Hier sind Mäuse!«
+
+»Nein, Ratten!« brüllte Gottliebe, der plötzlich die Ratte auf den
+Schoß hopste. Mit einem gellenden Schrei sprang sie auf und stieß an
+die Wassertonne, die ins Wanken geriet, und es rasselte und polterte
+laut. An den erschrockenen Tugendbundgenossen vorbei raste Gottliebe
+und stürmte in den Garten hinaus. Draußen stieß sie unversehens an eine
+dunkle Gestalt an; ein unterdrückter Aufschrei wurde laut, und kollernd
+wälzte sich ein Mann auf dem Rasen.
+
+Verdutzt blieb Gottliebe einige Sekunden stehen, der Mann richtete sich
+auf, und das Mädchen erkannte in ihm einen ehemaligen Gärtner, den
+der Hofverwalter vor einiger Zeit wegen Untreue entlassen hatte. »Ach
+gnädigstes Fräulein,« stammelte der Mann, »ich wollte -- ich dachte --!«
+
+Da kamen die Tugendbündler schon aus dem Tempelchen heraus.
+Blitzschnell entschwand der Mann in dem nahen Gebüsch, dort duckte er
+sich nieder, und Gottliebe raste, von den andern verfolgt, dem Hause
+zu. »Haltet die Spionin, haltet sie auf!« schrie Joachim dicht hinter
+ihr.
+
+Doch auf einmal stutzten alle und drängten verlegen rückwärts, --
+Raoul stand vor ihnen. Er hielt Gottliebe fest, trotzdem sie flehte:
+»Laß mich los, die andern -- und in der Regentonne ist -- die Ratte
+auf mich gehopst.« Der Knabe achtete gar nicht auf die verwirrte Rede.
+»Bleibt,« sagte er schroff, aber leise, »ich glaube, ihr seid verraten.
+Der Rentamtmann, Liebe, von dem du gestern gesagt hast, er haßt deinen
+Vater, ist bei ihm, ich sah ihn kommen. Ein Mann ist mit ihm gewesen,
+der lief nach dem Park, und ich sah von meinem Fenster aus, wie er an
+der Türe des Tempelchens horchte!« Kurz, stoßweise hatte der Knabe die
+Worte hervorgebracht, sie waren ihm sichtlich schwer geworden, aber
+plötzlich warf er einen schnellen Blick in das Dickicht neben dem Weg,
+rief nur noch: »Haltet ihn!« und setzte einem davoneilenden Manne nach.
+
+»Er ist's,« rief Liebe, und einige Sekunden später raste auch sie dem
+Lauscher nach.
+
+Doch Raoul hatte ihn schon gefaßt, und blitzschnell ersah er ein
+kleines, grünes Buch in seiner Hand. Von dem Buche hatte doch Gottliebe
+gesprochen. Mit einem Ruck entriß er es dem Manne, der wollte es wieder
+an sich reißen und versetzte Raoul einen Faustschlag, aber schon hatten
+die vier andern Knaben die beiden umringt, und der Lauscher dachte nur
+noch daran, sich in Sicherheit zu bringen. Er war ein starker Mann
+und warf erst Arnold, dann Fritz von Berkow in den Schnee, und ehe
+noch Joachim ihn halten konnte, war er fort und über die Gartenmauer
+gesprungen.
+
+Wenige Minuten nur hatte das Schreien und Toben den Garten durchgellt,
+dann war eine tiefe Stille eingetreten, und die Verschwörer sahen alle
+verlegen, beschämt und ruhig auf Raoul, dem das Blut aus der Nase rann,
+-- der Faustschlag hatte gut getroffen.
+
+Gottliebe fand zuerst Worte. »Er blutet,« jammerte sie und hielt dem
+Vetter gleich hilfbereit die Schürze hin.
+
+»Es ist nicht schlimm,« sagte der, »hier ist das Buch!« Er warf Joachim
+das Buch zu, drehte sich um und eilte in das Haus zurück. Er lief dort
+gerade Frau Maria in die Arme, die von dem Lärm herbeigelockt worden
+war und sich nun erschrocken liebevoll des Neffen annahm. Als sie beide
+durch den Hausflur gingen, schlüpfte ihnen Gottliebe nach, und alle
+drei hörten aus des Hausherrn Zimmer heraus heftige Stimmen klingen.
+Gottliebe schaute so entsetzt zur Mutter auf, daß diese sagte: »Es
+ist nicht schlimm: der Rentamtmann hat allerlei Klagen, brauchst keine
+Sorgen zu haben!«
+
+Gottliebe atmete auf, aber dann dachte sie wieder an den entlassenen
+Gärtnerburschen, der das Buch gefunden hatte, und Raoul mußte von den
+gleichen Gedanken bewegt werden; er beugte sich vor und flüsterte so
+leise, daß es die Tante nicht hören konnte: »Sie sollten es verbrennen!«
+
+»Lauf mal in die Küche und sage Jungfer Rosalie, sie solle Leinwand
+und Essig bringen,« gebot Frau Maria da, und eilig lief Gottliebe,
+den Auftrag auszurichten. Atemlos bestellte sie der Jungfer Rosalie,
+was die Mutter gesagt hatte, und just war sie fertig, als Joachim mit
+seinen langen Beinen durch das offene Fenster in die zu ebener Erde
+liegende Küche einstieg und zu Jungfer Rosalies grenzenlosem Erstaunen
+ein grünes Etwas in das hellbrennende Feuer warf.
+
+»Na?« rief die treue Hüterin der Küche verdutzt.
+
+»Ja,« brummte Joachim nicht minder lakonisch und starrte in die
+Flammen. Das Büchlein wandte und drehte sich, es sperrte seine Deckel
+weit auseinander, und dann -- war es zu einem Häuflein glühender Asche
+verwandelt.
+
+Gottliebe hatte mit der gleichen gespannten Aufmerksamkeit zugesehen,
+und als nichts mehr von dem unseligen Buch zu sehen war, schaute sie
+zu dem Bruder auf, und sekundenlang blickten die Geschwister sich
+wie befreit an. »Es war dumm,« murmelte Joachim und stieg dann eilig
+wieder zum Fenster hinaus, um den ziemlich verwirrten und verängstigten
+Tugendbündlern zu melden, daß das Werk vollbracht sei.
+
+Gottliebe kehrte zur Mutter zurück. Sie sollte Raoul pflegen helfen.
+Es gab aber nicht viel zu pflegen, der Knabe bat nur, man möchte
+ihn allein lassen, schlafen lassen, er sei so müde. Und weil er so
+blaß aussah und jedes Wort ihm schwer zu fallen schien, willfahrte
+Frau Maria gern dem Wunsch und ließ den Neffen allein. Einigemal noch
+sah sie an dem Nachmittag in das Stübchen, und immer fand sie Raoul
+anscheinend in tiefem, festem Schlafe liegen. Still, wie sie gekommen
+war, verließ sie wieder das Zimmer und ahnte nicht, welche schwere,
+unruhige Gedanken den Knaben bewegten, wie er rang, um den rechten Weg
+für sein Tun zu finden.
+
+»Der Raoul ist doch ein anständiger Kerl! Brav, wie er uns geholfen
+hat! Aber Liebe ist eine Klatschbase und Horcherin,« hatte Arnold von
+Berkow im Kreise der Tugendbündler erklärt, die noch immer mitten
+im Schnee des Parkes standen und gar nicht wußten, was sie beginnen
+sollten.
+
+»Sie war vernünftiger als wir,« grollte Joachim. »Wißt ihr,« wandte
+er sich an die Freunde, »ihr geht nach Hause, und ich begleite euch.
+Vielleicht ist es jetzt am besten, wir sind nicht zu finden.«
+
+Der Vorschlag wurde einstimmig angenommen, die Mädels meinten, sie
+wollten in das Dorf gehen und einen Krankenbesuch machen, und die
+Knaben schlugen im Geschwindschritt den Heimweg an. Joachim ging
+eigentlich nur mit, weil er eine Frage des Vaters fürchtete. Zu feige,
+eine Schuld zu leugnen, war er nicht, aber es trieb ihn hinaus, weil
+Raoul im Hause war, Raoul, dem er so schweres Unrecht zugefügt hatte.
+Er fühlte, er mußte den Vetter um Verzeihung bitten, das war seine
+Pflicht, aber der harte Steinbergtrotz in ihm lehnte sich noch immer
+gegen die Demütigung auf. »Ich hasse ihn,« dachte er, und dabei sah
+er immer noch das blasse, blutige Gesicht vor sich, die schönen,
+traurigen Augen, und er fühlte dumpf und unklar, daß auch sein Haß nur
+Trotz war.
+
+Schweigsam schritt er neben den Freunden hin, die noch laut und
+aufgeregt den Fall besprachen, und was hätte geschehen können, wenn
+das Buch mit all den wilden Schmähworten wirklich in die Hände des
+Gärtnerburschen gefallen wäre. »Es wäre uns schlimm ergangen,« meinte
+Fritz von Berkow kleinlaut, und Oswald Hippel rief immer wieder in
+ehrlicher Selbsterkenntnis: »Eigentlich war's doch eine dämliche
+Kinderei!«
+
+Als Joachim von den Freunden Abschied nahm, bat Arnold: »Grüße Raoul.
+Ich sag's ihm morgen, daß mir die Geschichte leid tut.«
+
+»Morgen, morgen ist Zeit genug,« dachte Joachim, »ja, morgen, da will
+ich's ihm auch sagen.« Und als er heimkam, atmete er erleichtert auf,
+als er hörte, daß Raoul schlief, da rückte doch auch die bittere Stunde
+für ihn in die Ferne.
+
+Gottliebe hatte den Geschwistern gleich mitgeteilt, was die Mutter
+von dem Besuch des Rentamtmannes gesagt hatte, also wußte der Vater
+nichts davon, und der Sturm war an ihnen vorübergebraust. Sie
+hatten aber doch sein Sausen gehört, und sie saßen alle wie Vögel
+nach einem Gewittersturm am Abend am Familientisch. Auch Liebe war
+niedergeschlagen, obgleich weder Bruder noch Schwester und Base sie um
+des Horchens willen geneckt hatten. Zwischen ihnen waren auf einmal
+alle bitteren Worte vergessen, die gemeinsame Angst hatte sie wieder
+vereinigt.
+
+Der Eltern Augen aber ruhten forschend auf den Kindern, und der
+Großmutter Blick haftete immer an Raouls leerem Platz. Nach dem
+Abendessen, als Jungfer Rosalie und der Vogt, die nach altem Brauch
+am Herrentisch aßen, gegangen waren, rief Herr von Steinberg: »Kinder
+bleibt! Joachim, erzähl' mal, wer hat Raoul geschlagen?«
+
+»Der Jakeit,« gab Joachim zur Antwort, während eine heiße Röte über
+sein Gesicht lief, lügen konnte er nicht.
+
+»Der Jakeit?« fragte der Vater erstaunt, »wie kam er dazu? wo war er?«
+
+»Er trieb sich -- im Park herum. Wir wollten ihn halten, da schlug er
+Raoul, warf Arnold und Fritz hin und riß aus!«
+
+»Wie ist der Jakeit wieder in den Park gekommen?«
+
+»Jungfer Rosalie sagt, er wäre als Begleiter des Rentamtmannes
+gekommen,« mischte sich Frau Maria ein.
+
+»Was steckt aber dahinter? Ihr seid so verstört!« fragte die Großmutter
+scharf, und ihre Augen suchten prüfend die Gesichter der Enkelkinder.
+Die schwiegen, eins sah das andere an, sie wurden alle rot und wagten
+doch nichts zu sagen.
+
+»Wieder ein Streit mit Raoul!« rief Pfarrer Buschmann traurig. »Wie
+junge Raben hacken sie auf den armen Burschen ein, es ist kein
+Vertragen, keine Liebe zwischen ihnen.«
+
+»Die andere Art!« Die Kammerherrin murmelte es nur leise, aber
+Frau Maria hatte das Wort vernommen, und sie sagte sanft: »Und
+Raoul ist doch ein Steinberg, ist manchmal ganz sein Vater, so wie
+mir Georg-Wilhelm in der Erinnerung lebt, nur weicher, ernster,
+verschlossener ist er. Ich denke immer, wir tun allesamt dem armen
+Jungen unrecht und bringen ihm nicht genug Liebe entgegen!«
+
+»Bei Gott, Maria,« rief der Freiherr, »du hast recht. Ein echter
+Steinberg ist der Raoul, und wir haben ihn alle verkannt. Hört, was ich
+heute erfahren habe.« Und bewegt erzählte er, daß Graf Turaillon an
+ihn geschrieben und ihm mitgeteilt habe, daß Raoul damals in Leipzig
+unauffindbar gewesen wäre. Bäckermeister Käsmodel hätte erklärt, auf
+Wunsch seiner Mutter hätte der Knabe sich zu den Verwandten seines
+Vaters begeben. Noch einmal bot der Graf dem Neffen an, er wolle ihn
+zum einzigen Erben seiner Reichtümer einsetzen, und bat den Freiherrn,
+der doch Kinder hatte, ihm den Knaben auszuliefern. »Darum ist der
+Junge damals so eilig gekommen! Er hat uns gewählt, hat sich zu uns
+Steinbergs gehalten,« rief der Vater, »aber er mag wohl nicht das
+rechte Zutrauen haben fassen können, sonst hätte er uns alles erzählt.«
+
+»Jetzt versteh' ich's,« rief Liebe plötzlich und wurde dann namenlos
+verlegen, weil es nicht Sitte war, daß eins der Kinder ungefragt sich
+in das Gespräch der Erwachsenen einmischte.
+
+Doch diesmal blieb ihre Vorwitzigkeit ungerügt, und der Vater fragte:
+»Was verstehst du jetzt?«
+
+»Karl Wagners Brief,« stammelte Liebe, und dann erzählte sie sehr
+geschwinde, sehr kraus mit allerlei Abschweifungen, wer Karl Wagner
+sei, was er geschrieben habe, und daß Raoul nichts mehr von seinen
+Freunden sagen wollte, weil -- weil -- hier stockte sie und fuhr dann
+fort, tapfer die Schuld der Geschwister mit auf ihre Schultern nehmend,
+»wir so über den komischen Namen und die Bäckersleute gelacht haben.
+Aber sie sind gewiß alle gut, und sie können alle Napoleon nicht
+leiden, und Gottlieb singt immer: Warte, warte, Bonaparte, und --«
+Gottliebe mußte einmal nach Luft schnappen, die Rede war zu lang und
+eilig gewesen, und sanft strich die Mutter, neben der sie saß, über das
+heiße Gesicht des Kindes. »Wir haben Raoul wohl alle nicht verstanden,
+haben uns beeinflussen lassen, weil -- seine Mutter eine Französin
+gewesen ist!«
+
+»Ach, und sie muß himmlisch gut gewesen sein, und Hauben hat sie
+genäht, und Raoul hat sie so viel von der Großmutter und unserem Vater
+erzählt.« Wieder rügte an diesem Abend niemand Gottliebes lebhaften
+Zwischenruf, und wieder strich die Mutter liebkosend die blühende Wange
+ihres Kindes und dachte still: Du gutes Herzlein, du!
+
+»Wer gefehlt hat, soll trachten, es gut zu machen, damit Raoul in
+diesem Hause auch die Heimat findet, die er gesucht hat,« sagte der
+Freiherr ernst, tauschte einen Blick mit seiner Mutter und sah dann auf
+Joachim. Der senkte den Kopf. Morgen, morgen, klang's in ihm.
+
+Nachher ging Frau Maria noch einmal in des Neffen Zimmer, und da lag
+der still und gab keine Antwort auf den leisen Ruf. Morgen, morgen,
+dachte auch die Frau und klinkte die Türe ein und ermahnte dann ihre
+Kinder: »Geht leise, stört Raoul nicht, er schläft.«
+
+»Wie dumm,« seufzte Gottliebe, »nun muß ich bis morgen warten, um ihm
+alles zu erzählen. Warum muß er auch heute so müde sein!«
+
+[Illustration: Dekoration Ende 7. Kapitel]
+
+
+
+
+[Illustration: Dekoration Titel 8. Kapitel]
+
+
+
+
+Achtes Kapitel.
+
+Einem traurigen Morgen folgen schwere Tage.
+
+
+Im Hause verloschen allgemach die Lichter, und ganz Hohensteinberg
+versank in tiefe, nächtliche Stille, nur aus dem Fenster der
+Kammerherrin fiel noch lange ein heller Schein in die Nacht hinaus.
+Zum zweitenmal in ihrem Leben beklagte die alte Frau, daß sie zu hart,
+zu streng gewesen war, aber diesmal konnte sie noch sühnen, konnte
+gutmachen, was sie einst nicht mehr gekonnt hatte. Damals, als sie
+die Nachricht von dem Tode ihres Sohnes erhalten hatte und die Witwe
+und sein Kind unauffindbar gewesen waren, hatte sie es nicht mehr
+können. Nun lebte des Sohnes Sohn in ihrem Hause, und wie hatte sie
+bisher die seinem Vater erwiesene Härte gesühnt? Die stolze Frau litt
+namenlos in dieser Stunde, als sie sich wieder einmal sagen mußte: Du
+tatest unrecht! Aber doch klang es auch in ihrem Herzen hoffnungsvoll:
+»Morgen, morgen.«
+
+»Morgen soll ein neues Leben für den armen Jungen beginnen,« hatte auch
+der Freiherr zu seiner Frau gesagt. »Wie konnte ich nur bisher so wenig
+erkennen, daß das Fremde in seiner Art gut ist! Eine Prachtfrau muß die
+Mutter gewesen sein.«
+
+Morgen, morgen, dachte auch Joachim unablässig; er, der sonst einen
+Bärenschlaf hatte, warf sich in dieser Nacht unruhig auf seinem Lager
+hin und her. Er rang immer noch mit seinem Trotz, und dazu hatte sich
+die Eifersucht gesellt: nun würden auf einmal alle Raoul lieben, er
+würde beiseite geschoben werden von den andern, wie es schon Gottliebe
+mit ihm getan hatte.
+
+Draußen hatte sich der Wind erhoben; er sauste und brauste um das Haus
+herum, es knisterte und raschelte in dem alten Gebälk, ganz unheimlich
+klang es. Einmal fuhr Joachim empor, es war ihm, als hätte er tastende
+Schritte gehört. Aber nein, es war doch wohl nur der Sturm gewesen. Die
+Wetterfahne auf dem Dache drehte sich gerade knarrend, und irgendwo
+klappte ein Fenster -- oder war es eine Tür?
+
+»Unsinn!« murmelte Joachim und grub den Kopf tief in die Kissen hinein.
+Da schlug draußen ein Hund an, kurz, und er verstummte gleich wieder,
+und wieder war allein das Brausen des Windes hörbar. Noch eine Weile
+lauschte der Knabe, aber nichts, gar nichts war zu hören, und doch
+preßte eine seltsame, beklemmende Angst ihm das Herz zusammen. Und
+wieder sagte er »Unsinn!« zu sich und versuchte zu schlafen, aber es
+dauerte noch lange, ehe ihn der Schlaf übermannte. Er schlief so fest,
+daß er das laute Klopfen, mit dem Jungfer Rosalie morgens die Kinder
+zu wecken pflegte, überhörte und weiter schlief. Erst der Jammerruf:
+»Joachim, Joachim!« den Gottliebe ausstieß, ermunterte ihn völlig. Die
+Schwester stand in der offenen Türe, ihr liebes Gesichtchen war ganz
+von Tränen überflutet. »Raoul ist fort,« schluchzte sie, »Raoul ist
+fort!«
+
+»Raoul -- fort?« stammelte Joachim, »wie denn fort?«
+
+»Fort ist er, seine Sachen hat er mitgenommen, er -- ach Raoul, Raoul!«
+jammerte das Mädel.
+
+Hinter Gottliebe trat rasch Pfarrer Buschmann in das Zimmer. Er schob
+das Mädel sanft hinaus, ihr über die verwirrten Locken streichend. »Geh
+zu deiner Mutter, Kind, sie verlangt nach dir,« sagte er milde, und
+dann wandte er sich an Joachim: »Steh auf, eile dich und hilf deinem
+Vater suchen; oder -- weißt du etwa um seine Flucht?«
+
+Joachim schüttelte verstört den Kopf. »Warum -- warum nur?« stammelte
+er.
+
+»Das fragst du noch?«
+
+»Ich -- ich wollte ihm abbitten -- heute!«
+
+»Warum tatest du es nicht gestern, warum verschobst du es?« fragte
+der alte Mann und sah traurig seinen trotzigen Schüler an. »Es kommt
+oft ein Morgen, an dem ein gutes Wort zu spät kommt. Raoul muß in der
+Nacht geflohen sein, er hat nur ein kleines Bündel Sachen mitgenommen,
+nur -- was er hergebracht hat. Dein Vater ist schon unterwegs. Nach
+Langenstein ist geschickt worden, wir hoffen alle, den armen, lieben
+Jungen zu finden.«
+
+»Ich finde ihn, ich muß ihn finden,« rief Joachim heftig. Er zog sich
+in zitternder Eile an und wollte hinaus.
+
+»Halt, sachte, nicht so stürmisch!« Pfarrer Buschmann hielt ihn fest.
+»Willst du ohne Sinn und Verstand drauf los rennen, Wege, die schon
+andere abgesucht haben? Das nützt wenig. Du sollst zu Berkows reiten
+und von dort aus nachforschen. Es ist nicht unmöglich, daß Raoul den
+Waldweg eingeschlagen hat und dann --« Der alte Mann vollendete nicht,
+aber Joachim wußte genau, was er meinte. Den Waldweg, der ein großes
+Stück nach der nächsten Poststation hinter Langenstein abkürzte,
+konnten nur Kundige gehen, namentlich im Schnee konnte man sich leicht
+verirren. War Raoul ihn gegangen in der Sturmnacht? Wer weiß, in
+welcher weglosen Einsamkeit er sich schon verirrt hatte.
+
+Raoul mußte sich von seinem Fenster aus an der Kastanie herabgelassen
+haben, abgebrochene Zweige deuteten darauf hin. Sonst hatte der
+Schneesturm in dieser Nacht jede Fußspur verweht. Jungfer Rosalie
+klagte mit einem ihr sonst fremden Wortreichtum: »Daß ich's nicht
+gehört habe, immer nur gemeint, der Sturm sei's, und das Fenster hat
+doch geklappt!«
+
+An die Knie der Großmutter geschmiegt, weinte Gottliebe in
+fassungslosem Schmerz, und jedes Aufschluchzen fand in der Ecke des
+Zimmers ein leises Echo. Dort saßen Gottlobe und Karoline, und beide
+zuckten immer wieder zusammen und fühlten jedes ihr Teilchen Schuld,
+wenn die Schwester klagte: »Wir waren nicht gut genug zu ihm.« Ihr, die
+dem Entflohenen am meisten Liebe von den Kindern erwiesen hatte, fiel
+immer wieder etwas ein, was sie hätte tun können, und alles sagte sie
+und ahnte nicht, daß jeder Vorwurf, den sie gegen sich selbst erhob,
+die Großmutter bitter traf. Die sagte mit einer seltsam schweren,
+weichen Stimme: »Sei ruhig, mein Kind, Raoul kommt schon wieder, heute
+abend ist er wieder da. Sicher, er kommt wieder.« Und mit diesem Trost
+versuchte die Kammerherrin sich selbst zu trösten, versuchte sie ihre
+schwere Sorge zu bannen.
+
+»Wir werden ihn schon finden,« hatte der Freiherr, der über des Neffen
+Flucht tief betroffen war, die Seinen getröstet, »er ist doch nur zu
+Fuß gegangen, unsere Pferde holen ihn schon ein!« Aber als der Abend
+kam, war noch keine Spur von dem Vermißten gefunden. Niemand hatte ihn
+gesehen, durch kein Dorf schien er gekommen zu sein! Auf allen Wegen,
+die süd- und westwärts führten, waren die Boten weit ins Land hinein
+gefahren und geritten, denn alle nahmen an, der Knabe habe nach Leipzig
+zurückkehren wollen, um vielleicht von dort aus zu seinem Onkel nach
+Paris zu wandern.
+
+»Ich muß ihn finden, ich muß ihn finden,« dachte Joachim verzweifelt,
+und nur die ernsten Ermahnungen seiner Eltern und des Pfarrers konnten
+ihn nach dem Tage vergeblichen Suchens abhalten, ins Blaue hinein dem
+Vetter nachzuziehen. Wie eine schwere Last lag die Schuld gegen den
+Vetter auf seiner Seele, und als der Vater näher forschte und fragte,
+um den wahren Grund zur Flucht zu erkennen, da erzählte Joachim
+selbst die Geschichte des Tugendbundes, und wie sie Raoul von allem
+ausgeschlossen hätten. Er verschwieg nicht dessen tapferes Eintreten
+für die Tugendbündler, und während der Knabe dies alles bekannte, wurde
+ihm sein Unrecht immer klarer. »Ich bin schuld,« murmelte er, »ich
+allein!«
+
+Die Kammerherrin sah von ihrem Enkelsohn zu ihrem Sohn, und der
+Freiherr nickte ihr trübe zu. »Wir wollen nicht untersuchen und
+fragen, wo die meiste Schuld liegt,« sagte er mit schwerem Ernst.
+»Euer Tugendbund war freilich eine Torheit, eine Kinderei: ihr paar
+Jungen und Mädels werdet das Vaterland nicht aus seiner tiefen Not
+befreien. Kindereien sind nicht am Platz in einer so schweren Zeit,
+das merkt euch alle, wir brauchen den Ernst und die Tat. Aber euch
+allen sei diese Torheit nicht angerechnet, weil diese Torheit aus Liebe
+zum Vaterland erwachsen ist. Diese Liebe haltet fest und erstarket
+in ihr, damit ihr dereinst fähig seid, wenn die Stunde kommt, in der
+das Vaterland euch braucht, Opfer zu bringen. Einen Tugendbund dürft
+ihr untereinander schließen, aber dazu braucht es keiner geheimen
+Versammlungen und törichter Bücher, euer Tun soll Zeuge sein von eurer
+Liebe zum Vaterland und eurer Liebe untereinander.«
+
+Bei dem letzten Wort des Vaters sahen sich Joachim und Gottliebe
+unwillkürlich an, und mit einem Schrei flog das lebhafte Mädel auf den
+Bruder zu, hing an seinem Hals und rief schluchzend: »Wir wollen uns
+wieder lieb haben, und wenn Raoul -- wiederkommt, dann haben wir ihn
+alle, alle lieb!«
+
+»Ich will ihn suchen,« murmelte Joachim, und nicht mehr, wie so
+manchmal in der letzten Zeit, stieß er die Schwester unwirsch fort. Er
+hielt ihre Hand fest, fest in der seinen, und Liebe verstand den Bruder
+auch ohne Worte.
+
+Joachim hielt Wort. Er suchte fieberhaft nach einer Spur des
+Verlorenen, er fragte da und dort, aber keine Spur fand sich, auch die
+Nachforschungen des Freiherrn blieben erfolglos. Der schrieb an den
+Grafen Turaillon, schrieb, daß der Neffe entflohen sei; wie er vermute,
+habe er sich nach Paris gewandt. Auch an den Bäckermeister Käsmodel
+schrieb er, und dieser Brief wurde ihm herzlich schwer; aus Leipzig kam
+rasch Antwort, Raoul sei nicht dort eingetroffen, und nach Wochen kam
+die gleiche, in einem scharfen, beleidigenden Tone abgefaßte Antwort
+aus Paris. Der Graf nahm an, man hätte den Neffen absichtlich entfernt,
+um ihn vor seinen Nachforschungen zu verbergen.
+
+»Das wußte ich,« frohlockte Gottliebe, »nach Paris ist Raoul nicht
+gegangen, er haßt den Bonaparte.« Sie wurde aber gleich wieder traurig.
+»Aber wo mag er sein?«
+
+Ja, wo war der Knabe? War er gestorben und verdorben in dem großen
+Wirrsal, in der tiefen Not, die von neuem über das deutsche Vaterland
+hereinbrach?
+
+Mit dem Frühling kam von Westen her das Unheil. Napoleon zog wirklich
+nach Rußland, des Zaren Macht wollte er brechen. Wie ein Märchenland
+lockte und lockte den Eroberer das unermeßliche Reich des Ostens mit
+seinen endlosen Steppen und weiten Wäldern. Aber Deutschland, Preußen,
+lag zwischen ihm und seinem Ziel, und so zwang er dem Könige von
+Preußen ein Bündnis auf, das das arme Land förmlich der Plünderung
+der großen Armee preisgab. Und manche deutsche Mutter sah weinend den
+Sohn in die Ferne ziehen, denn zu Tausenden mußten deutsche Söhne
+den französischen Fahnen folgen, und zu denen gesellten sich noch
+manche, die freiwillig mitzogen, weil sie den Glauben an des eigenen
+Vaterlandes Kraft verloren hatten.
+
+Als von eines solchen freiwilligen Kämpfers Mitzug, der ein Sohn alter
+Freunde war, die Kunde nach Hohensteinberg kam, schrie Joachim aus vor
+Empörung: »Ein Vaterlandsverräter!«
+
+»Ein Armer, ein Unseliger,« sagte die Kammerherrin; die alte Frau war
+sehr milde geworden in dem Leid der letzten Wochen. »Wehe ihm, wehe
+uns! Wehe dem, der den Glauben an sein Vaterland verliert, und wehe
+uns, daß wir nicht mehr stolz auf unseres Vaterlandes Stärke sein
+können!«
+
+Da schwieg Joachim, er schwieg jetzt oft und sann stille den Worten der
+Erwachsenen nach. Er, der Trotzige, Ungebärdige war in der Zeit des
+werdenden Frühlings zu einem ernsten Jüngling herangereift. Die Schuld,
+die ihn quälte, des Vaterlandes Not wandelte sein Wesen und machte ihn
+über seine Jahre hinaus ernst.
+
+Es war überhaupt keine rechte Zeit für Jugendlust und Jugendübermut,
+und wenn die Steinbergschen Kinder mit ihren Freunden und Freundinnen
+zusammenkamen, dann gab es oft gar ernste, nachdenkliche Gespräche.
+Sie nannten sich untereinander Tugendbündler, die Eltern wußten es und
+widerstrebten nicht, nur mußte der Name verschwiegen bleiben, auch
+durfte kein Wort niedergeschrieben werden. Wohl war ringsum alles gut
+preußisch gesinnt, aber es gab doch etliche solcher Kreaturen im Land,
+wie der Rentamtmann Meldeling, und in Pillau saß eine französische
+Besatzung wie in manchen andern Festungen des Landes. Napoleon bewachte
+auch seine Bundesgenossen gut, er ahnte, daß niedergehalten in der
+Tiefe der Haß schlummerte.
+
+Nur Gottliebes unverwüstliche Fröhlichkeit brach immer wieder durch,
+und so sehr sie sich um Raoul grämte, es kamen doch immer wieder
+Stunden, in denen ihr Lachen das Haus durchschallte, und einen
+Widerschein auf allen Gesichtern fand. Selbst Jungfer Rosalies
+mürrische Miene hellte sich dann ein wenig auf. Gottlobe hatte sich
+auch verändert. Sie schwärmte nicht mehr so überschwenglich mit ihren
+Freundinnen, sie hielt sich jetzt mehr zu Bruder und Schwester, und
+als eines Tages Karoline heimgeholt wurde, denn die Eltern wollten
+ihr Kind lieber bei sich in der Stadt haben in dieser Zeit, da weinte
+sich Lobe nicht, wie Liebe prophezeit hatte, die Augen aus dem Kopf.
+Ja sie lehnte sogar das Anerbieten, mit nach Königsberg zu kommen,
+ab; die Eltern hatten es ihr freigestellt, weil es Lobe sich immer so
+sehnlichst gewünscht hatte, in Königsberg sein zu dürfen.
+
+»Sie bleibt bei uns,« schrie Gottliebe begeistert, als die Schwester
+ihr »Nein« sagte, »Achim, hörst du?«
+
+In Joachims Augen leuchtete es auch freudig auf, er rief halb
+zweifelnd: »Bleibst du wirklich?«
+
+»Ich bin doch eine Steinberg und gehöre hierher,« sagte Gottlobe
+ein wenig gekränkt, daß die Geschwister ihren Entschluß gar so
+verwunderlich fanden. Die sichtbare Freude stimmte sie aber froh,
+und von dieser Stunde an gab es eine schöne Dreisamkeit unter den
+Geschwistern, und in allen Sorgen erstarkte die Geschwisterliebe mehr
+und mehr.
+
+»Die Franzosen kommen!« Unzähligemal ertönte in dem Frühling und Sommer
+des Jahres 1812 dies Wort im preußischen Land. Erst war es nur ein Ruf
+der Angst, der bangen Ahnung, bis dann eines Tages von Ort zu Ort die
+unheilschwere Kunde flog: »Sie kommen wirklich.«
+
+Sie kamen als Freunde, Bundesgenossen und hausten wie Feinde, sie
+leerten die Kornkammern, trieben das Vieh aus den Ställen und
+zerstampften die blühenden Saaten.
+
+Eines Tages hieß es auch in Hohensteinberg: »Sie kommen!« Und wie
+überall mußten es die Bewohner vom Schloß und Dorf mit ansehen, wie
+die Abteilung, die hier durchkam, »ihre Vorräte ergänzte«, so nannte
+es der führende Offizier, ein sehr höflicher Italiener. Er nahm, was
+er nur irgend an Lebensmitteln erhalten konnte, aber er war doch so
+menschlich, nicht den ärmsten Dorfleuten das letzte Stück Vieh aus den
+Ställen zu treiben. »Glauben Sie mir, mein Err,« versicherte er dem
+Freiherrn, »mir mackt dies Krieg kein Spaß, und es mackt viele keine
+Spaß. Dies Land da,« und er deutete mit der Hand finster in die Ferne,
+»ist wie der Maul von eine große Tier, er verschlingt uns! Sicker -- er
+verschlingt uns!«
+
+Nach diesen kamen noch andere, und Jungfer Rosalie schloß diesen
+bereitwillig die Speisekammer auf, stemmte die Hände in die Seiten und
+sagte kaltblütig. »Da!« Eine einzige Wurst bammelte an einem Faden,
+und ein paar Brocken lagen auf dem Brotschrank, sonst war die Kammer
+leer.
+
+Die Soldaten schimpften und drohten, aber Jungfer Rosalie wischte sich
+mit der Hand über den Mund und zeigte kläglich auf den Magen, als
+wollte sie den eigenen Hunger andeuten. Dabei hatte sie selbst alle
+Vorräte in einen gut verborgenen Keller geschafft, den nicht einmal
+alle Bewohner des Hauses kannten. In dem dunklen Keller lagerte auch
+mancher Notgroschen, manche Wurst und manches Mehlsäcklein, das die
+Dorfbewohner vertrauensvoll ihrem Gutsherrn gebracht hatten.
+
+Und als zum drittenmal Soldaten kamen, bammelte wieder nur eine Wurst
+in der Speisekammer, und wieder gab es nur dürftige Reste, und wieder
+schalten und drohten die Soldaten, und wieder blieb Jungfer Rosalie
+ungerührt mit in die Seite gestemmten Armen stehen. Als es aber einer
+der Leute gar zu schlimm machte und ihr mit dem Gewehr vor der Nase
+herumfuchtelte, da ergriff sie kurz entschlossen den Mann und stülpte
+ihn kopfüber in das leere Mehlfaß. »Sucht selbst!« sagte sie mürrisch.
+
+Die Sache hätte freilich für die tapfere Jungfer recht übel ablaufen
+können, wenn sich nicht ein Offizier ihrer angenommen hätte. Er
+beruhigte den Soldaten, der in einem fürchterlichen Kauderwälsch
+Bestrafung der Untäterin verlangte, als er endlich wieder Augen und
+Mund von dem Mehlstaub frei hatte. Dem Offizier, einem Rheinländer
+von Geburt, schien der Zug nach dem weiten Rußland auch wenig Spaß zu
+machen, desto besser gefiel ihm die tapfere Jungfer. Er sagte beim
+Abschied lachend zu ihr: »Schade, daß sie kein Mann ist, sie hätte
+einen guten Gardisten abgegeben und gewiß tapfer gefochten!«
+
+»Ja, wenn's gegen die Franzosen ginge,« sagte Jungfer Rosalie gelassen.
+Da schwieg der Offizier und nickte nur noch einmal grüßend zurück, --
+vielleicht hätte er auch lieber sein Leben für des Vaterlandes Freiheit
+eingesetzt!
+
+Und als die Durchzüge beendet waren, die letzten Nachzügler der
+großen Armee den Niemen überschritten hatten, da war es, als wäre
+ein verheerendes Unwetter mit Hagel und Sturmflut über die Gegenden
+dahingebraust, die an der großen Landstraße lagen, und dem Heere
+folgten die Flüche, folgte das Jammern des gequälten Volkes nach.
+
+[Illustration: Dekoration Ende 8. Kapitel]
+
+
+
+
+[Illustration: Dekoration Titel 9. Kapitel]
+
+
+
+
+Neuntes Kapitel.
+
+Auf weiten Wegen ins alte Nest zurück.
+
+
+In dieser Zeit, da die Frühlingsstürme den Winter vertrieben, und
+da über die deutschen Lande eine neue Not kam, wanderte Raoul von
+Steinberg durch viele Wirrsale in der Fremde herum. Er hatte gemeint,
+es sei am besten, das Haus zu verlassen, in dem ihm so wenig Liebe
+geworden war, und als er an jenem verhängnisvollen Tage stumm auf
+seinem Lager lag, so still, daß Frau Maria ihn schlafend wähnte, da
+hatte er nichts mehr von all den guten Vorsätzen vernommen, die im
+Familienzimmer laut wurden. Um Mitternacht war er aufgestanden, hatte
+sein Bündel gepackt und war durch das Fenster entflohen. Unten hatte er
+ein paar Minuten gezögert. Tat er recht? Da oben schliefen Frau Maria,
+Pfarrer Buschmann und Gottliebe, die hatten ihn doch lieb, waren gut
+zu ihm, ihnen würde seine Flucht vielleicht wehe tun. Er hätte ihnen
+schreiben mögen, sagen, daß er sie nie vergessen würde, aber dazu war
+es zu spät. Kehrte er in das Haus zurück, dann hörte ihn wohl jemand,
+man würde seine Absicht erraten, und Joachim würde lachen, spöttisch,
+verächtlich, wie er es so oft getan hatte. Nein, nur das nicht. Die
+Verachtung, mit der man auf ihn um der Mutter willen, der guten,
+geliebten Mutter willen herabsah, die konnte er nicht ertragen, lieber
+wollte er wieder Schreiber werden oder sonst eine Arbeit tun. Und ohne
+rechtes Ziel war er in das Schneewehen hinausgetrabt, nur die Straße
+mied er, die er gekommen war. Auf einem ihm unbekannten Pfade war er
+weiter und weiter geschritten, und der Wille, fortzukommen, hatte seine
+Kraft gestärkt.
+
+Im Morgengrauen traf er einen Wagen, einen, der mit grauer Leinwand
+rund überdacht war, und den ein mageres Pferd nur mühsam durch
+den Schnee zog. Jahrmarktsleute waren es, die, von der russischen
+Grenze kommend, durch die winterliche Einsamkeit zogen. Hoch oben im
+Thüringerwalde war ihre Heimat, von da aus zogen sie mit Holzgeräten,
+Spielsachen und Topfwaren, mit Quirlen, Löffeln, Brettern, Butterformen
+und allerlei solchen Dingen in der Welt herum, von Markt zu Markt.
+Raoul stand erschöpft an einen Baum gelehnt, als die Leute an ihm
+vorbeikamen, und der Knabe, der so allein in dieser grauen Morgenstille
+war, fiel ihnen auf. Der Mann hielt an und forschte nach dem Weg. »Ich
+habe keine Heimat,« sagte Raoul traurig, »meine Eltern sind tot, in
+Leipzig leben gute Freunde, zu ihnen will ich.«
+
+»Nach Leipzig kommen wir auch, aber erst im Frühling,« sagte die Frau,
+und über ihr blasses Gesicht ging ein Freudenschein. Von Leipzig aus
+nach dem Thüringerwald war es schon näher, und sie sehnte sich nach der
+Heimat.
+
+»Willst en Linschen mitfohre jo--e? Dann kumm ruff,« sagte der Mann
+gutmütig in seinem Thüringerdialekt. »Es gäht uff Marienburg, jo--e, 's
+ist noch sähre weit!«
+
+Raoul überlegte nicht lange. Konnte er ein Stück mit den Leuten fahren,
+dann verwischte sich am besten seine Spur, der Oheim fand ihn, wenn er
+wirklich nach ihm suchen ließ, nicht so leicht, und er kam wohl auch
+nach Leipzig.
+
+So zog er mit den Händlersleuten. Als die sahen, daß der fremde Knabe
+etwas Geld besaß, -- es war wenig genug, -- willigten sie gern ein, ihn
+in ihrem Wagen mitzunehmen. »Dos Foahre hoaste for nischt,« sagte der
+Mann, »abersch 's Ässen mußte alleene kofen.«
+
+Brot und Wasser reichen aus, dachte Raoul, und dafür langte seine
+Barschaft schon ein Weilchen, und seine Hoffnung wuchs, das ersehnte
+Ziel zu erreichen. In den ersten Tagen der gemeinsamen Wanderschaft
+hielt sich der Knabe immer fern, wenn man in ein Dorf, an ein Gutshaus
+kam und die Händlersleute versuchten, ihren Kram loszuwerden. Als aber
+nach einigen Tagen eine kleine Stadt erreicht wurde, bot Raoul der
+Frau an, er wolle ihr verkaufen helfen. Es wurde ihm nicht leicht,
+aber er mochte auch nicht gern ganz umsonst seine Mitfahrt genießen.
+Mit einem Bündel Holzlöffeln und Quirlen, ein paar Brettern und Töpfen
+trat er seinen Weg an, und er hatte Glück: sein sanftes, feines Wesen,
+der traurige Blick seiner schönen Augen bestimmten die Hausfrauen,
+dem kleinen Händler doch etwas abzukaufen, und als Raoul zum Wagen
+zurückkehrte, hatte er ein besseres Geschäft als die Frau gemacht.
+»Dich hat der Himmel geschickt!« rief sie. »So--e Glicke! Du mußt bei
+uns bleiben, gelle Mann?«
+
+Auch der Mann freute sich über den jungen Gehilfen und teilte an diesem
+Tage seine Mahlzeit mit ihm: »Das haste verdient, und wenn de bleiben
+willst, mir is 's racht!«
+
+Und wieder überlegte Raoul nicht lange, sondern sagte zu, bis Leipzig
+die Händlersleute zu begleiten. Die erzählten ihm viel von ihrem
+Leben. Im Winter lebten sie meist eine Zeitlang in ihrem Dörfchen im
+Thüringerwald, und sonst war nur immer der Mann mit dem Beginn des
+Frühlings ausgezogen, die im Winter geschnitzte Ware zu verkaufen.
+Doch der älteste Bube, der den Vater zu begleiten pflegte, war
+krank geworden im letzten Frühling, und da hatte die Frau ihre vier
+Kinder der Sorge der Großmutter anvertraut und hatte selbst den Mann
+begleitet. Weil die Geschäfte gar so schlecht gegangen waren, -- in
+diesen Zeiten bedeutete in gar manchem Haushalt schon ein neuer Quirl
+eine Ausgabe, die man sich zehnmal überlegte, -- waren die Leute weiter
+ostwärts gezogen. Im Herbst war der Mann erkrankt, er hatte sich einen
+Fuß gebrochen, und das Ehepaar hatte eine Zeitlang in Königsberg
+bleiben müssen. Dort hatten beide die Zeit benutzt und neue Geräte
+geschnitzt, und nun zogen sie mit vollem Wagen wieder von Stadt zu
+Stadt, hoffend, endlich im Frühling heimzukommen.
+
+Die Frau sorgte sich um die Kinder, von denen sie nun fast das ganze
+Jahr getrennt gewesen war, und sie war froh, daß sie ihrem jungen
+Begleiter von ihrem Konrad, ihrer Rose, Liese und dem kleinen Peter
+erzählen konnte. Sie fragte gutmütig auch nach Raouls Leben, und der
+erzählte von der Mutter, von den Bäckersleuten, aber von Hohensteinberg
+nichts. Dahin kehrten aber seine Gedanken desto öfter zurück, und
+manchmal war's ihm, als flüstere leise, leise eine Stimme in seinem
+Herzen: Du hättest bleiben sollen.
+
+Ein langes Wandern durch deutsche Gaue, deutsche Dörfer und Städte
+war es. Die alte Stadt Marienburg war der erste Ort, wo sie länger
+rasteten. Es war gerade Markt, und Raoul suchte eifrig zu verkaufen.
+Hier hörten die Händlersleute aber auch, daß die Franzosen wirklich
+bald kommen sollten, und sie beschlossen, auf den nächsten Wegen,
+jedoch abseits von der großen Heerstraße, heimzukehren. Um Berlin
+herum wollten sie einen großen Bogen machen, sie waren von namenloser
+Furcht vor den Franzosen erfüllt. 1806 hatte der Kriegslärm bis in
+ihr einsames Walddorf hinauf geschallt, und sie erzählten Raoul beide
+allerlei aus jener Zeit, erzählten, was Verwandte unten im Saaletal
+erlebt hatten.
+
+Da sprach auch Raoul von seinem Vater, der bei Saalfeld gefallen war.
+Die Leute wunderten sich nicht, daß er ein Offizier gewesen war; sie
+hatten es bald gemerkt, daß ihr kleiner Begleiter aus gutem Hause war,
+aber sie forschten nicht weiter, sie hatten am eigenen Sorgenbündel
+genug zu tragen.
+
+Und wohin auch die Wanderer kamen, überall sprachen die Leute von der
+neuen Not, dem neuen Krieg. Denn wie die Schrecken des Krieges selbst
+sahen alle den drohenden Durchzug der Franzosen an. Das Bündnis mit
+Frankreich, das nun wirklich der König von Preußen abgeschlossen hatte,
+gab ja das arme Land dem Eroberer förmlich preis. Jammer, Angst und
+glimmenden Haß sahen die drei, wohin sie kamen, und dabei hub sachte
+ein erstes, zartes Frühlingsgrünen an, und hier und da standen schon
+Büsche mit feinen, grünen Schleiern überhangen, und manchmal pflückte
+Raoul blaue Osterblumen und Himmelsschlüssel, steckte sie an seine
+vertragene Kappe und rief wohl froh: »Hier ist es schön!«
+
+»Bei uns ist's scheener,« erwiderte immer die Frau, und der Mann nickte
+jedesmal zustimmend: »Da haste was Richtiges gesagt.«
+
+Die Leute sehnten sich immer stärker danach, heimzukommen, es wurde
+ihnen zu unsicher auf den Straßen, und der Handel wurde auch immer
+kärglicher. Die Frau steckte jedesmal ein Sträußchen vertrockneten
+Quendel zu sich, wenn sie ging, nach dem alten Spruch: »Quendel,
+Quandel, mach mir Handel,« aber es nutzte nicht viel. Raoul lachte
+zwar über den Aberglauben, aber er nahm gutwillig doch auch immer das
+Quendelsträußchen mit. Einmal verlor er es, und um die Frau nicht zu
+kränken, steckte er rasch ein paar trockene, vorjährige Grashalme vom
+Wege in das Papiertütchen. Sie rasteten gerade in einem Dorf, und
+Raoul kam zu einer Bauersfrau, der war in diesen Tagen ihre Küche
+ausgebrannt, und die Handelsleute kamen zu guter Stunde. Raoul mußte
+noch mehr Ware bringen, und als am Abend der Verdienst überzählt wurde
+und das erlöste Sümmchen ihnen allen dreien fast märchenhaft erschien,
+rief die Frau froh: »Sihst de nu -- e, Quendel, Quandel, mach mir
+Handel, jetzund hast de's erfoahren.«
+
+Über Raoul kam ein fröhlicher Übermut wie seit langem nicht, er lachte
+aus vollem Halse, und lachend gestand er der Frau, daß er den Quendel
+verloren und dürres Gras genommen habe.
+
+Aber so ein echtes Thüringer Waldfrauchen ließ nicht so rasch vom
+gewohnten Aberglauben, sie meinte nachdenklich: »Dann mag do -- e was
+Gutes drunter gewesen sein. Gib mir 's Kraut.«
+
+»Sin Faxen,« brummelte der Mann lachend, aber die Frau nahm doch das
+Grasbüschlein und verwahrte es sorgsam an ihrer Brust, man konnte doch
+nicht wissen! Am nächsten Tag ging sie dann mit sehr viel Mut aus den
+Handel und kehrte mit aller Ware heim, nur einen einzigen kleinen Quirl
+war sie los geworden. Gutmütig lachte sie dann sich selbst aus, und der
+Quendel verlor etwas sein Ansehen bei ihr.
+
+Endlich langten die drei an einem Tage, früh im April, der sich aber
+ganz wie ein schöner, sonnenheller Maitag aufspielte, in Halle an. Hier
+wollte Raoul von seinen Gefährten Abschied nehmen, die nicht erst den
+kleinen Umweg über Leipzig machen wollten. »Sie kommen, sie kommen!«
+klang überall der Angstruf, und alles zitterte und zagte vor dem
+gewaltigen Heere, das seinen Marsch durch Deutschland schon angetreten
+hatte.
+
+In einer Ausspannung am Roßmarkt, der außerhalb der Stadt lag, rasteten
+die Handelsleute. Sie wären am liebsten gleich weiter gezogen, doch das
+Pferdchen brauchte Ruhe. Raoul wollte bis zum nächsten Morgen warten
+und dann in aller Frühe seine Wanderung nach Leipzig antreten. Er lief
+rasch einmal durch die Straßen der Stadt, um das Wirtshaus zu suchen,
+in dem damals Meister Koch abgestiegen war. Vielleicht wußten die Leute
+was von ihm, der öfter hin und her fuhr, und vielleicht auch etwas von
+Käsmodels. Nun er Leipzig so nahe war, hatte ihn eine heftige Unruhe
+erfaßt, ob sie noch alle lebten, ob das Haus noch stand, und ob sie
+sich auch freuen würden, daß er so unerwartet kam.
+
+Er lief und lief, dort mußte es doch sein, nein dort! Auf einmal blieb
+er mitten auf der Straße stehen und überlegte, er wußte ja gar nicht
+mehr den Namen des Wirtshauses. Es war ein Roß, dachte er, nein, ein
+Hirsch -- und weil gerade ein Mann vorbeikam, fragte er hastig: »Ach,
+bitte, sagen Sie mir, ist hier ein goldenes Roß, nein, ein weißes Roß
+-- nein, ein Schwan oder eine Gans -- nein, ich glaube, es war ein --«
+
+»Dummkopf!« schrie der Mann, »hältst mich wohl zum Narren!«
+Fuchsteufelswild drehte er sich um und rannte einem dicken Mann etwas
+unsanft gegen den Bauch, aber der schien das gar nicht zu spüren, er
+starrte nur Raoul an und rief: »Daß dich das Mäuschen beißt, das ist ja
+allweil unser Raoul!«
+
+»Herr Meister -- ich!« Mit einem Schrei hing Raoul an des dicken
+Meisters Hals, ein Tränenstrom brach aus seinen Augen, und fassungslos
+vor Freude umklammerte er den dicken Mann.
+
+Der schluckte, prustete, brummelte, wischte sich die Augen und
+schneuzte sich laut, endlich brüllte er, daß es die Straße entlang
+schallte: »Da ist er ja, der Musjeh Raoul, allweil, nee so was! Junge,
+Junge, heule doch nicht so! Du bist da und bleibst da, und alleweil
+wieder fort, das gibt's nicht. Aber jetzt sag', wie du hergekommen
+bist!«
+
+Doch Raoul konnte noch nicht sprechen, er hielt die Hand des Meisters
+so fest, als wollte ihn jemand mit Gewalt von dem Manne wieder trennen.
+»Na sachte, alleweil sachte,« brummte der, »ich nehm' dich gleich mit.
+Wärst du eine halbe Stunde später gekommen, dann hättest du laufen
+müssen. Zu uns willst du doch, oder bist du etwa auf dem Wege zu deinem
+französischen Onkel?«
+
+»Nein!« rief Raoul, und ein Lachen flog nun über sein Gesicht, und dann
+sagte er ausatmend: »Ich bin ausgerissen!«
+
+»Das wissen wir schon!« Der Meister schmunzelte so, daß sich sein
+rundes Gesicht in lauter Falten zog. »Dein Oheim hat's schon
+geschrieben, und danach tut es ihnen allen furchtbar leid. Ich habe
+geschwind geantwortet, daß ich nichts von dir wüßte, ich dachte aber
+doch, alleweil kommt er schon, wenn er noch 's Leben hat. Der Gottlieb,
+der verflixte Bengel, hat sich schon beinahe die Augen aus dem Kopf
+nach dir ausgeguckt. Daß die teuren Bücher auch zum Hineinsehen sind,
+das vergißt er alleweil. Doch nun komm, unterwegs erzählst du mir,
+warum du's mit dem Ausreißen so eilig hattest!«
+
+Jetzt erst fielen dem Knaben wieder seine Weggenossen ein, und er
+erzählte eifrig und ein bißchen kraus durcheinander, auf welche Art er
+die Reise gemacht habe, und ein paarmal nickte der Meister anerkennend
+dazu. Nach kurzem Nachdenken wurde beschlossen, den kleinen Umweg zu
+machen und an der Ausspannung vorbeizufahren, wo die Handelsleute
+weilten. Es dauerte nicht lange, da saß Raoul neben seinem Beschützer,
+und mit Hühhott ging es durch die Stadt, und die braven Thüringer
+staunten nicht wenig, wie stattlich ihr junger Genosse auf einmal
+daherkam. Der Leipziger Bürger und Meister flößte ihnen gewaltigen
+Respekt ein, und da er ihnen noch als Mitbringsel für ihre Kinder ein
+kleines Geldgeschenk gab, sagte die Frau wieder zu Raoul: »Du hast uns
+Glicke gebracht!«
+
+Es gab einen sehr herzlichen Abschied. Der Meister riet den Leuten
+dringend, möglichst schnell auf Nebenwegen in ihren Wald zurückzugehen.
+»Sie ziehen daher wie ein Heuschreckenschwarm,« sagte er finster.
+Der Händler nickte trübe: »Iche wollte meine Schecke und den Wagen
+verkaufen und zu Fuße ziehen, aber jetzund kauft das Pferd niemand; sie
+sagen alle, die Franzosen nehmen's uns vielleicht weg, jo--e es will
+jeder sein Geld im Sacke behalten.«
+
+Noch einmal rief Raoul den Genossen ein Lebewohl und gute Heimkehr zu,
+dann zog der Meister die Zügel an, und fort ging die Fahrt, auf Leipzig
+zu.
+
+Unterwegs erzählte Raoul dem Meister getreulich und ausführlich alles,
+was er erlebt hatte, er verschwieg nichts, auch nicht die erfahrene
+Güte, aber zu seiner Verwunderung schwieg der nachdenklich und sah
+sinnend auf den braunen Pferderücken vor sich, als gefiele ihm der
+ganz besonders. Da begann Raoul das Herz zu schlagen, und leise, scheu
+fragte er: »War's recht?«
+
+»Alleweil nee, mein Junge,« rief der biedere Meister. »Sie haben dir
+übel mitgespielt, aber nicht alle; weil's doch deine Frau Mutter selig
+gewollt hat, darum hättest du noch etwas aushalten, lieber mal dem
+Hochhinaus, dem Joachim, ordentlich die Jacke vollhauen sollen. Na ja,«
+beschwichtigte er, als er Raouls erschrockenen Blick sah, »du bist von
+anderer Art als wir Käsmodels, und ich glaube beinahe, darin gleichst
+du deiner Frau Mutter selig. Schlecht behandeln, nee, das ließ die sich
+nicht, lieber arbeitete sie über ihre Kräfte und hungerte dazu. Einzig
+schade ist's, daß deine Verwandten nicht deine Mutter gekannt haben,
+alleweil, das war ihr größtes Unrecht, daß sie gleich nichts Gutes
+von ihr dachten, bloß weil sie eine Französin war. Aber wie es ist, so
+ist's, ich habe deiner Frau Mutter selig gelobt, dir ein Freund zu
+bleiben, und das halte ich. Du hast ihren Willen erfüllt, bist zu den
+Verwandten gereist und bist freiwillig wiedergekommen, und nun bleibst
+du bei uns und gehst mit dem Bengel, dem Gottlieb, auch aufs Gymnasium,
+'s wird euch beiden gut sein. Uff!« Der dicke Meister atmete tief nach
+dieser langen Rede, und Raoul schmiegte sich fest an ihn an. Er fühlte
+wohl, daß sein Beschützer recht hatte, daß er zu vorschnell gewesen
+war, aber die Freude, wieder in der alten Heimat zu sein, war doch
+größer als die Reue.
+
+Die Nacht war schon heraufgekommen, als Meister Käsmodel mit seinem
+Schützling durch das Hallesche Tor in Leipzig einfuhr. Zum Ärger
+manches braven Bürgers rasselte das Wäglein laut durch die stillen,
+dunklen Gassen, und aus manchem Federbett heraus kam brummend das
+scheltende Wort: »Es ist unerhört, daß zu nachtschlafender Zeit wieder
+ein Wagen fährt. Nicht einmal in der Nacht hat man seine Ruhe.«
+
+Als die Meisterin Käsmodel aber in der Backstube das Rollen vernahm,
+horchte sie freudig auf: ihr Mann kehrte zurück, um den sie schon sehr
+gebangt hatte, denn eine Fahrt auf der Landstraße bei Dunkelheit war in
+den unruhigen Zeiten nicht ungefährlich.
+
+Sie eilte selbst, die Haustür zu öffnen, und mit einem Laternchen
+beleuchtete sie die Heimkehrenden. Es war aber gut, daß der Meister
+geschwind zusprang, sonst wäre das Laternchen hingefallen, so
+überrascht war die Frau, als sie Raoul erblickte. Sie zog den Knaben
+rasch gar liebevoll in die Arme, streichelte ihn mütterlich und sagte:
+»Nun sind's wieder drei!«
+
+»Das Lottchen,« flüsterte Raoul, er wußte nicht viel zu sagen, aber
+die Meisterin verstand ihn: »Es hat eben jeder sein Kreuz zu tragen in
+der Welt,« sagte sie sanft. »Nun komm aber hinein, Gott segne deinem
+Einzug!«
+
+»Und der Gottlieb, der Racker, schläft alleweil wie ein Bär,« rief der
+Meister. »Na, der wird morgen Augen machen. Kannst dich übrigens gleich
+in das Bett in seine Kammer legen. Der verflixte Bengel hat doch nicht
+geruht, das Bett mußte aufgestellt werden, noch an dem Tage, an dem der
+Herr Oheim geschrieben hat.«
+
+Mit strahlenden Augen sah sich Raoul in der Backstube um. Der warme,
+kräftige Brotgeruch mutete ihn so heimatlich an, und daneben in dem
+Stübchen hatte er so oft mit der Mutter gesessen, wenn es oben in der
+Mansarde kalt gewesen war, und unwillkürlich sagte er laut: »Ich bin so
+froh, so froh!«
+
+»Ist recht,« sagte der Meister, »und nun, Mutter, gib ihm mal was zu
+essen, und dann in die Federn. Den Gottlieb wecken wir heute nicht, der
+schreit uns sonst alleweil die ganze Nachbarschaft zusammen vor Freude.«
+
+Ganz still kroch Raoul dann in des Freundes Kammer in das
+bereitstehende Bett, und Gottlob pustete und schnarchte und merkte
+nicht, daß der Ersehnte heimgekommen war. Der konnte freilich trotz
+seiner Müdigkeit nicht gleich einschlafen; wie ein wunderlich wirrer
+Traum lagen die letzten Wochen hinter ihm, und in alle Freude, endlich
+am Ziel zu sein, tönten ihm aber doch immer des Meisters Worte hinein,
+daß er es noch hätte aushalten sollen. Er meinte Gottliebes helles
+Lachen zu hören, ihr liebliches Gesicht zu sehen; vielleicht weinte sie
+um ihn, und die Tante war traurig, und Pfarrer Buschmann schüttelte
+bekümmert das Haupt über den entlaufenen Schüler. Aushalten, aushalten,
+nicht heimlich davonlaufen! klang es immer in ihm. Nun werden sie dich
+feige schelten und erst recht nicht für einen echten Steinberg halten.
+Da ballte er die Hände zur Faust in seinem Bett und sagte ganz leise zu
+sich wie ein festes, schweres Gelöbnis: »Sie sollen doch noch sehen,
+daß ich ein Steinberg bin.« Und in dem Schlummer, der nun endlich
+über ihn kam, sah er plötzlich Joachim vor sich stehen, der lachte
+spöttisch: »Bist doch kein echter Steinberg!« Halbwach fuhr Raoul noch
+einmal empor und murmelte drohend: »Warte nur, ich werde dir's doch
+beweisen!« -- --
+
+Als Gottlieb Käsmodel am nächsten Morgen erwachte, reckte und dehnte er
+sich gähnend in seinem Bett herum und schaute erst die Wand an, dann
+in das Zimmer hinein. Da fuhr er plötzlich mit einem gellenden Schrei
+in seinem Bett empor. Mit einem Sprung war er drüben am andern Bett
+und zog Raoul mit einer solchen Kraft aus dem Bett, daß im nächsten
+Augenblick beide Jungen auf der Erde lagen.
+
+»Er ist da, er ist da,« brüllte Gottlieb, sprang auf, setzte über Raoul
+hinweg, riß die Türe auf und brüllte wie besessen die Treppe hinab: »Er
+ist da, er ist da, huuh, huuh!« Ein wildes, schauerliches Freudengeheul
+erfolgte, und im Nu öffneten sich Türen, man hörte ängstliche Stimmen,
+jemand schrie: »Es brennt, es brennt!« und dann klappten Schritte,
+oben, unten, überall waren die Bewohner aufgeschreckt.
+
+Raoul aber saß auf seinem Bett und lachte, lachte, und Gottlieb tanzte
+im Hemd im Zimmer herum und stieß solche Siegesschreie aus, daß selbst
+Bonaparte vor diesem Gebrüll vielleicht auf und davon gelaufen wäre.
+
+»Donnerwetter, ja!« mit diesem Ruf war Meister Käsmodel aus seinem
+süßen Morgenschlummer aufgefahren. Er wollte hinaus, aber dann besann
+er sich noch zur rechten Zeit und rief nur: »Mutter, halt doch dem
+Bengel, unserem Gottlieb, mal den Schnabel zu; der Junge bringt ja
+die Nachbarschaft in Aufregung. Nee, wenn der mal so backen kann wie
+schreien, dann wird er Obermeister oder gar Hofbäcker.«
+
+Oben legte sich schon der Lärm, denn Gottlieb war von der
+unbezwinglichen Sehnsucht erfaßt worden, des Freundes Schicksale zu
+hören, und an diesem Tage verwünschte er die Schule noch mehr als
+sonst, und nur der Gedanke vermochte ihn zu trösten, daß künftig der
+Freund mit ihm die Plage teilen würde.
+
+In der Mittagsstunde stand dann Raoul wie einst in der Burggasse,
+stand und wartete auf Karl Wagner, dessen Freude beim Anblick seines
+ehemaligen Schreibgenossen freilich nicht so laut und stürmisch war wie
+die von Gottlieb Käsmodel.
+
+Die klaren Augen ruhten aber so warm und doch so ernst fragend auf dem
+Knaben, daß der den Kopf senkte. Es war ihm, als schaute der kleine
+Schreiber ihm tief auf den Grund der Seele. »Ich bin ausgerissen,«
+sagte er leise, »es war nicht recht, ich hätte aushalten sollen,
+aber --«
+
+»Du bist froh, daß du hier bist, mein Junge. Nun, wir begehen alle
+Torheiten im Leben, und es kommen auch schon Stunden, in denen man gut
+machen und Fehler sühnen kann. Doch Gott zum Gruß, daß du wieder da
+bist, daran wollen wir uns heute freuen. Ich hab' es erwartet. Gottlieb
+hat mir erst gestern gesagt, du kämst so gewiß wie seine Vier in der
+nächsten lateinischen Arbeit!«
+
+»Das stimmt,« rief Raoul, »er hat sie heute bekommen,« und mit einem
+strahlenden Lachen sah er zu Karl Wagner auf: »Ich bin so froh, so
+froh!« --
+
+Das Bäckerhaus, das sich dem heimatlosen Knaben so bereitwillig
+geöffnet hatte, wurde ihm bald wieder eine liebe Heimat. Jetzt, da er
+freiwillig die Verwandten verlassen hatte, betrachtete ihn Meister
+Käsmodel als seinen Sohn und handelte wie ein guter, treuer Vater an
+ihm. Mit Gottlieb besuchte Raoul zusammen das Gymnasium, und mit seiner
+Hilfe umschiffte Gottlieb die Klippen der lateinischen Sprache, nahm
+sicherer die bösen Gräben der Orthographie, und schaute fortan die
+Schule nicht mehr wie einen Käfig an, in dem ein Raubtier eingesperrt
+werden soll.
+
+Raoul hatte den Adel ablegen müssen, Meister Käsmodel meinte, es
+würde zu viel Gefrage drum geben. »Bleib nur adlig im Herzen, mein
+Junge, das ist die Hauptsache. Nachher, wenn du was Rechtes geworden
+bist, allweil kannst du dich wieder mit dem alten Namen nennen.« Der
+biedere Meister fürchtete immer, Graf Turaillon könnte doch wieder dem
+Neffen nachforschen, und nach Frankreich hätte er den Pflegesohn nur
+bitter schwer ziehen lassen. Zu seiner großen Beruhigung war der lange
+Schreiber Neumann aber wirklich aus Leipzig fortgezogen, der konnte
+also Raouls Anwesenheit nicht mehr verraten.
+
+Es kam in diesem ersten Sommer aber noch einmal ein Briefchen aus
+Hohensteinberg ins Bäckerhaus, Gottliebe hatte es geschrieben. Sie
+schrieb darin, sie glaube bestimmt, daß Raoul da ist, und sie bat
+gar lieb und herzlich, der Vetter möchte zurückkehren. Da wurde dem
+Knaben das Herz doch schwer, und wenn er jetzt an alles dachte,
+was er in Hohensteinberg erlebt hatte, da fühlte er immer mehr und
+mehr, daß seine Flucht zu rasch, zu unüberlegt gewesen war. Aber
+zurückkehren wollte er doch nicht, und so schwer es ihm auch wurde,
+er ließ Gottliebes Brief unbeantwortet. Das Bäslein im fernen Osten
+weinte manche Träne darum, als der Brief, auf den sie gewartet hatte,
+ausblieb; sie hoffte und hoffte, und erst als der Winter kam, schwand
+ihre Hoffnung, und sie dachte nun auch wie die andern, Raoul sei
+untergegangen oder nach Frankreich zu seiner Mutter Bruder entwichen.
+
+[Illustration: Dekoration Ende 9. Kapitel]
+
+
+
+
+[Illustration: Dekoration Titel 10. Kapitel]
+
+
+
+
+Zehntes Kapitel.
+
+Nach langer Not zum heiligen Krieg.
+
+
+In dem Sommer von 1812 hatte in Preußen keiner die rechte Freude an
+aller Sommerlust, an Sonnenglanz, blühenden, grünenden Wiesen und
+kühlem Waldesschatten gehabt, und als sich der Winter früh meldete, da
+klagte niemand dem Sommer nach. Mit Schnee und Eis, mit frostklaren
+Tagen und Nächten kamen zugleich über die Grenze Nachrichten geflogen,
+die jedes vaterlandstreue Herz erbeben ließen. Napoleon sei geschlagen,
+raunte es erst leise, bis dann die gewisse Kunde kam von dem Untergang
+der großen Armee. Im Wintersturm flohen die letzten Reste des einst so
+glanzvollen Heeres aus dem unbesiegten Lande.
+
+Da hob ein Singen und Klingen in viel tausend deutschen Herzen an, und
+überall blühte die Hoffnung empor, daß der Freiheitskampf, nach dem
+sich alle sehnten, der sie vom Joch der Fremdherrschaft erlösen sollte,
+nun beginnen würde. Wie ein Gottesgericht erschien ihnen allen der
+furchtbare Schlag, der die übermütigen Eroberer getroffen hatte, aber
+die Freude zeigte sich nicht, als in kleineren Trupps, manchmal gar nur
+zu zweien und dreien, die letzten Überlebenden der großen Armee über
+die russische Grenze kamen. »Man muß sie vernichten,« hatte mancher
+gerufen, wenn er an die Härten des Sommers dachte, der mancher Familie
+den letzten Wohlstand geraubt hatte. Doch als die Flüchtlinge kamen,
+wahre Jammergestalten, da schwieg der Haß, und das Mitleid regte sich.
+
+Durch Hohensteinberg kam an einem der ersten Tage des Jahres auch ein
+Trupp Flüchtlinge, und Joachim in seinem überschäumenden Knabenhaß
+rief, als er von ihrem Nahen hörte: »Man darf sie nicht aufnehmen, es
+sind Feinde!«
+
+Nachher stand er neben seinem Vater auf dem Hof und sah das Trüpplein
+vor sich. Wohl fünfzehn Männer waren es; von Hunger, Kälte, dem langen
+Marsch und Krankheiten waren sie so erschöpft, daß nur ein paar noch
+klare Antwort geben konnten über ihre Schicksale, die andern starrten
+dumpf vor sich nieder, ein paar waren kraftlos in den Schnee gesunken.
+Die Knechte, Mägde, die Dorfleute, alle waren herbeigeeilt und
+umstanden in finsterem Schweigen die Unglücklichen, und der Freiherr
+fragte nach den Namen, der Herkunft. Da klang ein deutscher Name nach
+dem andern an sein Ohr: die Leute waren alle Süddeutsche, sie alle
+hatten den französischen Fahnen folgen müssen.
+
+Die Hausfrau hatte die Flüchtlinge kommen sehen. Sie hatte nicht viel
+geforscht und überlegt, nicht viel nach Namen und Art gefragt, sondern
+sie war selbst in die Küche gegangen und hatte mit Jungfer Rosalie eine
+kräftige Mehlsuppe gekocht, und bald kamen aus dem Haus die Hausfrau
+mit ihren Töchtern und Mägden, und alle trugen Töpfe voll dampfender
+Suppe und Körbe voll Brot.
+
+Ein Schreien, ein gieriges Schreien gellte auf, die erloschenen Augen
+der Flüchtlinge blitzten, zitternd streckten sie die Hände aus: Essen,
+warmes Essen nach so vielen langen, langen Tagen wieder!
+
+Die Frauen mußten mahnen: »Ihr verbrennt euch, nicht so hastig!« Doch
+die Flüchtlinge rissen ihnen die heißen Töpfe fast aus den Händen, sie
+schluchzten, schlangen, und manch einem Mann rannen die Tränen über das
+hohlwangige Gesicht. Essen, Essen, eine warme Suppe, wie wohl das tat!
+
+In tiefem Schweigen sahen die Männer und Frauen zu. Kein Schmähwort
+wurde laut, keine Hand ballte sich mehr zur Faust, vor diesem Jammer
+schwieg der Haß. Und als der Freiherr sich zu seinen Knechten wandte:
+»Räumt eine große Stube für die Leute aus, ihr könnt in den leeren
+Gastzimmern wohnen,« da boten sich eilig ein paar Bauern zur Hilfe an,
+und ein paar Frauen sagten, sie könnten wohl noch allerlei Sachen aus
+ihrem Vorrat hergeben.
+
+Schweigend folgte auch Joachim den Knechten und half räumen und
+Strohlager herrichten, und manchmal streifte sein Blick die Flüchtlinge
+voll tiefen Mitleids, die, in Lumpen gehüllt, die Beine mit alten
+Fellen und Stroh umwickelt, auf dem Kopfe wohl Frauentücher und Hauben,
+in nichts mehr den siegesfrohen Kriegern des Sommers glichen. Und alle
+waren Deutsche. Des Jünglings Herz krampfte sich zusammen, und in
+dieser Stunde begriff er völlig die Schmach seines Vaterlandes.
+
+Man hatte auf Hohensteinberg noch manchmal Gelegenheit, den
+Flüchtlingen zu helfen, und alle auf dem Schloß und im Dorfe taten es
+mit christlichem Erbarmen. Ein paar der Leute starben, andere wurden
+gesund, einige kehrten in die Heimat zurück, andere aber blieben,
+blieben, um in das preußische Heer einzutreten und für ihrer Brüder
+Freiheit zu kämpfen.
+
+Es regte sich überall. Laut sprachen die, die bisher hatten schweigen
+müssen, von dem bevorstehenden Freiheitskampf, und keinem Krieg hatte
+man in Preußen so entgegengejubelt wie diesem, den der Frühling von
+1813 bringen sollte und dessen Ausbruch man kaum erwarten konnte.
+
+An einem Märztag, an dem es schon lenzlich sproßte und Büsche und
+Bäume im jungen Safte schwollen, gab es in Hohensteinberg eine bittere
+Abschiedsstunde. Vater und Sohn zogen beide in den heiligen Kampf, und
+aus dem Dorfe folgten ihnen alle Männer, die noch die Kraft in sich
+fühlten, mitzustreiten und mitzusiegen, denn Sieg war aller Gebet und
+Hoffnung.
+
+Joachim wollte mit seinen Freunden, den Tugendbündlern, in das ganz
+aus Freiwilligen gebildete Reiterregiment, das Graf Lehndorf in
+Königsberg sammelte, eintreten. Daß nur Arnold von Berkow gerade die
+vorgeschriebenen siebzehn Jahre zählte, kümmerte sie alle nicht, sie
+hofften, niemand werde es so genau damit nehmen.
+
+Es hatte in Hohensteinberg auch niemand daran gezweifelt, daß Joachim
+mitziehen würde, und Frau Maria, die bei aller Sanftmut doch eine
+starke, tapfere Frau war, brachte ohne Klagen das schwere Opfer. Die
+Frauen des Hauses trugen in dieser Zeit eine stille, gefaßte Miene zur
+Schau, keine wollte es den Scheidenden schwer machen. Als Gottlobe
+zuerst in Strömen von Tränen Trost suchte, hatte die Großmutter sie
+in der alten herben Art, von der seit Raouls Flucht nur wenig noch
+zu spüren war, angerufen: »Schweig! Eine Steinberg heult nicht.« Da
+war Gottlobe jäh verstummt, und nur der Schwester klagte sie. »O der
+furchtbare Krieg! Wenn doch kein Krieg käme!«
+
+»Bist dumm,« erklärte Gottliebe, und in ihr weiches Gesichtchen grub
+sich die feste, harte Steinbergfalte, »ich wollte nur, ich könnte mit
+wie Joachim!« Gottlobes Entsetzen ließ die Schwester ungerührt, und es
+ahnte niemand, wie oft Gottliebe es wünschte, ein Junge zu sein.
+
+Wenige Tage vor dem Aufbruch trat sie zu dem Vater in das Zimmer. Zu
+ungewohnter Zeit und ohne Erlaubnis wagten es die Kinder selten, des
+Vaters Zimmer zu betreten, und der Freiherr, der über Büchern und
+Rechnungen saß, schaute erstaunt auf sein Mädel. »Was willst du?«
+
+»Vater!« Gottliebe preßte beide Hände an die Brust, und wie sie so vor
+dem Vater stand im schlichten, dunklen Kleid, ein weißes, feines Tuch
+um Hals und Brust geschlungen, das junge Gesicht von den blonden Locken
+umrahmt, sah sie unendlich lieblich aus, und des Vaters Augen freuten
+sich an der jungen Schönheit seines Kindes. »Nun,« fragte er noch
+einmal freundlich, als Gottliebe stockte, »was will mein Mariellchen?«
+
+»Vater -- ich --« Purpurglut lief über das Gesichtchen, »ich -- will
+mich als Achims Bruder verkleiden, weißt du, als ob ich sein Bruder
+wäre und nicht seine Schwester, und mitziehen in den Krieg. Ich kann's,
+Vater, gewiß! Bitte, bitte, lachen Sie nicht, ich habe die Kraft und
+-- ich schäme mich, daß ich nichts, gar nichts für mein Vaterland tun
+kann, nur ein Mädchen bin.«
+
+»Nur ein Mädchen!« Der Freiherr zog sein Kind an sich. »Meine Liebe,
+mein tapferes Kind, was sagst du da? Nur ein Mädchen -- ist es denn
+nicht etwas Schönes, ein Mädchen zu sein, eine Frau zu werden, zu
+sorgen und zu schaffen für der anderen Wohl? Ei, Liebe, was sollten wir
+Männer tun, wenn wir in den Krieg ziehen müssen und daheim nicht unsere
+Mütter, Frauen und Schwestern unsere Arbeit täten?«
+
+»Es ist so wenig,« flüsterte Gottliebe, »es sind -- keine großen
+Taten.«
+
+Ein ernstes Lächeln glitt über des Freiherrn Gesicht. »Keine großen
+Taten? Du Kind du! Auch wir, die wir in den Kampf ziehen, wissen nicht,
+ob uns das Schicksal für große Taten bestimmt hat. Es wird mancher
+an einem Zaun verbluten und sein Leben lassen, der ein Held war, und
+dessen Name nie jemand nennt. Sieh hinaus, meine Mariell, dort grünen
+die Saaten, dort wächst die Ernte des Jahres heran, und es würde
+schlimm darum bestellt sein, wenn die Frauen nicht den goldenen Segen
+hüten wollten, und unsere Ställe und Kornkammern würden leer sein ohne
+der Frauen Arbeit, und wer diese Arbeit leistet, der tut auch etwas für
+sein Vaterland. Ich ziehe fort und Joachim, und wir wissen nicht, wann
+wir wiederkehren, und ob wir noch einmal die Heimat sehen. Da lege ich
+denn auf deine Schultern einen Teil meiner Sorge und Last: du sollst
+deiner Mutter ein Segen, ein Trost sein, ihre Helferin in den Tagen der
+Mühe, die kommen werden. Es wird dir wenig Zeit für heitere Jugendlust
+bleiben, aber ich weiß, daß du treu an deiner Stelle stehen wirst,
+und an der Liebe für die Deinen, für das Vaterland wird deine Kraft,
+dein Wille erstarken. Gott hat jeden an seinen Platz gestellt, und es
+braucht keiner zu sagen: Ich bin nur dies, nur das! der seine Pflichten
+in Treue erfüllt. Die Frauen unseres Geschlechts waren immer tapfer und
+treu und verloren nicht ihren Mut in den Zeiten der Not. Sei auch du
+eine Steinberg, mein Kind, und draußen im Wirrsal des Krieges will ich
+froh denken: Meine Liebe schafft daheim, meine Tochter. Gott sei Dank,
+daß mir der Himmel zum Sohne auch Töchter gab!«
+
+Gottliebe schmiegte sich bebend an den Vater an, sie fand keine Worte.
+Erst als der Vater sie prüfend anschauend fragte: »Willst du noch
+verkleidet mitziehen, und bist du nun noch traurig, nur ein Mädchen
+zu sein, meine kleine Tugendbündlerin?« da sagte sie leise, mit einem
+feierlichen, frommen Klang in der jungen Stimme: »Ich will daheim
+bleiben!«
+
+Es wurde nicht viel geweint und keine Klagen ertönten, als ein paar
+Tage später die freiwilligen Kämpfer Abschied nahmen. Alle waren
+ernst und gefaßt, selbst die weichmütige Gottlobe versuchte, tapfer
+ihre Tränen zurückzudrängen; Gottliebe aber stand dabei mit einem so
+ernsten, reifen Ausdruck in dem Gesicht, daß der Vater diese Tochter
+noch einmal mit besonderer Liebe umfaßte. »Ich weiß, daß ich mich auf
+dich verlassen kann, mein Mädel,« sagte er ernst.
+
+Und die Zurückgebliebenen nahmen tapfer und willig die vermehrte
+Arbeitslast auf sich, und so emsig auch jeder schaffte, sie staunten
+in Hohensteinberg doch alle über Gottliebe. Mit einem Ernst, der ihre
+Jahre weit überragte, suchte sie sich selbst ihre Arbeit. Pfarrer
+Buschmann willigte ein, daß vorläufig die Stunden ausgesetzt wurden,
+und Gottliebe packte die Bücher fort, die sie so liebte; auch für
+heitere Mädchenlust und zärtliche Freundschaftsbriefe fand sie
+keine Zeit mehr. Schon nach etlichen Wochen nannte Frau Maria ihre
+älteste Tochter ihren kleinen Minister, und Jungfer Rosalie wollte
+fast eifersüchtig werden, aber die Freude über des jungen Mädchens
+ernsten Fleiß war größer als das kleinliche Gefühl der Eifersucht.
+Die weichere, schwärmerische Gottlobe ließ sich von der Schwester
+fortreißen, aber wenn Liebe schon vor Tau und Tag aufstand, um
+auf dem Hof nach dem Rechten zu sehen, dehnte sie sich doch noch
+oft im Schlafe, und sie konnte auch das Seufzen und Klagen nicht
+ganz unterlassen; trotzdem wurde sie in dieser Zeit doch auch ein
+tüchtiges, pflichtgetreues Mädchen, eine rechte Tugendbündlerin, wie es
+die Schwester nannte. --
+
+Und es wurde manche in dieser harten, schweren Zeit zur Heldin, manche
+Frau lernte das tapfere Aushalten, und für manches Mädchen gingen
+Jugendlust und Freude unter in dem ernsten Alltag. Das Gefühl, in einer
+großen, gewaltigen Zeit zu stehen, befreite viele von kleinlichem
+Kummer, kleinen Fehlern, kleinen Gedanken.
+
+Eine große, eine wunderbare Zeit war es. Als Herr von Steinberg mit
+seinem Sohne, Freunden und Heimatgenossen nach Königsberg zog, da
+hatte der König von Preußen sein Volk noch gar nicht gerufen, aber
+doch strömten von überall her die Freiwilligen zu den Fahnen. Das Volk
+selbst forderte den heiligen Krieg, es forderte ihn so einmütig, mit
+solcher Opferwilligkeit, daß die meisten fühlten, nur Sieg oder ein
+völliger Untergang konnte das Ende sein. In Ostpreußen aber fühlte man
+es vielleicht am tiefsten, daß das herrliche, tapfere Preußenvolk nicht
+untergehen konnte.
+
+Aber auch aus den andern Ländern deutscher Zunge außerhalb Preußens
+strömte die Jugend herbei, um dem Bruderlande zu helfen. Da litt
+mancher schwer, weil das engere Vaterland sich noch zu Frankreichs
+Bundesgenossen rechnete, und mancher kehrte dem kleinen Vaterland den
+Rücken und eilte über die Grenze nach Breslau, wo König Friedrich
+Wilhelm weilte, um unter dem preußischen Adler zu fechten. Sie fühlten,
+daß es diesmal für Preußen kämpfen für die deutsche Sache überhaupt
+kämpfen hieß.
+
+ * * * * *
+
+Raoul von Steinberg träumte mit seinem Freunde Gottlieb auch viel von
+Kampf und Sieg, und in dem Ofenwinkel schmiedeten die zwei in den
+ersten Monaten des Jahres 1813 manchen kühnen Plan. Meister Käsmodel
+sagte nichts dagegen, wenn die Jungen laut von Kampf und Sieg sprachen;
+er war auch einer von denen, die voll Hoffnung auf den kommenden Sieg
+sahen, auch ihn bedrückte schwer die Schmach der deutschen Uneinigkeit,
+und er sagte manchmal: »Es ist wider die Natur, daß wir Sachsen
+Bonapartes Bundesgenossen sind. Herrgott, ich wollte, wir alle, die wir
+deutsch sprechen, hätten einen Kaiser, es wäre ein Reich.«
+
+Das milde Klima des Pleißentales hatte in Leipzig schon im Februar hier
+und dort grüne Spitzen hervorgebracht, und es gab schon frühlingswarme
+Tage. Statt Schnee rann wohl auch der Regen in Strömen vom Himmel
+herunter, und an einem solchen platschenden, warmen Regentag kamen
+Raoul und Gottlieb mit einer solchen Eile, mit so viel Geschrei aus der
+Schule heim, daß ihr Rufen selbst das kleine blonde Minchen aus dem
+Puppenwinkel hervorlockte. Die Meisterin ließ den Kochherd im Stich,
+und der Meister kam mehlbestaubt aus der Backstube herbei. »Alleweil
+jetzt möcht' ich wissen, was das Geschrei soll, Bengels! Nächstens
+fällt noch unser guter, dicker Thomasturm um von eurem Geschrei.«
+
+»Sie ziehen nach Breslau,« schrie Gottlieb und fuchtelte mit den Armen
+in der Luft herum, »und wir woll'n mit.«
+
+»Wer -- was zieht nach Breslau? Junge, rede doch vernünftig!« brummte
+der Meister.
+
+»Die Hallenser Studenten ziehen nach Breslau, um dort als Soldaten
+einzutreten,« sagte Raoul heiß und erregt. »Sie sagen alle, dort würden
+neue Regimenter gebildet, und der Herr Konrektor hat's selbst erzählt,
+in einigen Tagen schon reisen die Studenten ab, sein Neffe ist auch
+dabei, und da -- da -- wollen wir mit.«
+
+»Seid doch keine Studenten,« rief die Meisterin ärgerlich, die um
+ihren Sohn bangte, -- »euch nehmen sie ja gar nicht, und die Studenten
+möchten sich schön umschauen, wenn so'n paar Dreikäsehochs mitwollten.«
+
+»Hoho,« schrie Gottlieb empört, »wir sind fünfzehn Jahre, 'n paar Tage
+fehlen mir nur noch, sie nehmen uns schon.«
+
+»Sie nehmen euch nicht! Mann, rede du doch etwas!« Die Meisterin sah
+bittend zu ihrem Manne hin. Sagte der denn kein Wort, redete der nicht
+den Buben den Unsinn aus?
+
+Doch der Meister schwieg. Er sah von einem zum andern, und das Herz tat
+ihm weh, daß er die beiden Jungens aus dem Hause lassen sollte, aber --
+er selbst hätte es wohl verlangt, wenn er in ihrem Alter gewesen wäre,
+er verstand, daß die Jugend vor Kampfeslust glühte. »Du bist unser
+Einziger,« sagte er zögernd, »da ist's wohl allweil besser --«
+
+»Das sagt Raoul auch,« schrie Gottlieb, und sein Gesicht flammte, »aber
+ich bleib' nicht hinterm Ofen sitzen, ich schäm' mich halbtot.«
+
+»Mein Himmel,« stammelte die Meisterin entsetzt, »der Junge ist
+ja außer Rand und Band und soll nun mal ein richtiger, gesetzter
+Bäckermeister werden! Mann, schaff Ordnung!«
+
+Doch dem Meister gelang es nicht, Ordnung nach dem Sinne des zagenden,
+sorgenden Mutterherzens zu schaffen. Er redete den Knaben gütlich und
+ernst zu, aber Gottlieb merkte wohl das heimliche Zögern des Vaters,
+und daß der im Herzen ihm recht gab, und er bat, flehte, trotzte auf,
+und im Bäckerhaus gab es ein paar stürmische, tränenvolle Tage. Die
+Meisterin wollte und wollte nicht einsehen, daß gerade sie ihren Sohn
+ziehen lassen müßte, und dabei schaute sie doch immer mit heimlichem
+Stolz auf Gottlieb. Es war, als wüchse der in diesen Tagen; er streifte
+viel Kindisches, Törichtes von sich ab, sein heißes Wollen, die
+brennende Sehnsucht, die in ihm gärte, reifte ihn, und endlich gab die
+Mutter nach und fügte sich mit blutendem Herzen darein, den Sohn ziehen
+zu lassen. Um des Vaters Einwilligung brauchte Gottlieb nicht zu ringen.
+
+»Wartet es doch wenigstens ab, bis man wirklich weiß, ob es losgeht,«
+bat die Meisterin, der jeder Tag Aufschub ein Geschenk schien; aber
+dann brachte Meister Koch eines Tages die Nachricht, daß die Hallenser
+Studenten wirklich nach Breslau zu ziehen gedächten. Da gab es kein
+Halten mehr. Gottlieb und Raoul eilten zu ihrem Konrektor und erbaten
+sich einen Empfehlungsbrief an dessen Neffen, und der redete nichts
+dagegen, sondern gab ihnen das Schreiben. Beim Abschied sagte er dann:
+»Ich glaube, Gottlieb, du wirst ein besserer Soldat als Lateiner
+werden, trotz deiner Jugend. Nun, Gott befohlen, ihr Jungen! Es wird
+eine heiße Zeit werden, und ich wollte, ich könnte euch erst wieder
+auf der Schulbank sehen, dann freute ich mich wohl selbst an deinem
+Fehlergewimmel, Gottlieb!«
+
+Auch Meister Käsmodel hatte sich ein paar Empfehlungsschreiben
+verschafft, und so fuhr er selbst eines Morgens die beiden Knaben
+heimlich nach Halle. Es schien ihm gut und vernünftig, wenn die beiden
+sich den Hallenser Studenten anschlossen. Das war eine bitterschwere
+Abschiedsstunde in der kleinen Ladenstube. Die Meisterin hielt ihr
+Minchen an der Hand und schluchzte herzbrechend: »Nun bleibt mir nur
+das eine von meinen Kindern.«
+
+»Ich komme wieder, Mutter, haben Sie keine Sorge,« flüsterte
+Gottlieb, dem nun doch der Abschied so schwer wurde, daß er die Zähne
+zusammenbeißen mußte, um nicht laut zu heulen. Er starrte immer
+geradeaus an der Mutter vorbei. Da lagen die Brote auf dem Schrank,
+eins, zwei, drei, vier, fünf, zählte er in Gedanken, eins, zwei, drei,
+vier -- er schluchzte auf und rannte plötzlich hinaus und kletterte auf
+den Wagen. Herrgott, das hätte er nicht gedacht, daß ein Abschied eine
+so schlimme Sache war!
+
+Raoul war gefaßter, doch als er des Freundes Kampf, der Mutter
+Jammer sah, dachte er an die bitteren Abschiedsstunden, die er schon
+durchlitten hatte. »Frau Meisterin,« sagte er rasch und faßte die Hand
+der Frau, »ich halt' zu Gottlieb, wie's auch kommt!«
+
+Da war's, als glitte ein schwaches Leuchten über das vergrämte Gesicht
+der guten Frau, und sie strich über des Knaben Haupt. »'s ist mir ein
+rechter Trost, daß du dabei bist,« murmelte sie. »Fahrt mit Gott!«
+
+Ein letztes Winken und Grüßen, und wie damals, als er nach
+Hohensteinberg gefahren war, rasselte das Wäglein die Straße entlang,
+und Raoul warf einen letzten Blick auf das spitzgieblige Haus; nun eine
+Biegung, es war nicht mehr zu sehen. Gottlieb schaute sich nicht einmal
+um; er saß ganz zusammengekauert da, und erst als Leipzig weit, weit
+hinter ihm lag, richtete er sich auf und fragte ein wenig unsicher:
+»Glaubst du, Raoul, daß uns die Studenten auch mitnehmen?«
+
+»Freilich,« antwortete der Freund sorglos, und auch der Meister meinte
+gewichtig: »Warum denn nicht? Ich habe gute Empfehlungsschreiben.«
+
+[Illustration: Die Steinbergs. (Seite 153.)]
+
+Es gab auf dem Marktplatz zu Halle aber ein lautes Hallo und Geschrei,
+als der Leipziger Bäckermeister auf ein dort versammeltes Häuflein
+Studenten zutrat und sein Anliegen vorbrachte. »Sind wir Kindermuhmen,
+sind wir Magister, die kleine Buben in Zucht und Lehre nehmen?« schrie
+ein baumlanger Kerl in Samtrock, der aus einer Pfeife rauchte, die
+beinahe so lang wie Meister Käsmodel selbst war.
+
+»Euer Brot ist noch zu frischgebacken, wohllöblicher Bäckermeister,«
+spottete ein anderer und schaute lachend auf Gottlieb. Und ein dritter
+höhnte: »Schick den Backofen mit auf die Reise, damit die Büblein es
+gut warm haben.«
+
+Heisa, da fuhr der Meister aus! Sein Gesicht glühte ihm wie ein
+gutgeheizter Backofen selbst, und seine Stimme dröhnte laut über die
+anderen hinweg. »Was schert es euch, ihr Herren, wenn den Buben ein
+paar Jährlein fehlen? Seid ihr der König von Preußen selbst? Sollte
+meinen, lang ist das allweil noch nicht her, als ihr selbst die
+Schulbänke drücktet! Nennt ihr das Vaterlandsliebe, aus langen Pfeifen
+schmauchen, in Samtkitteln einherlaufen und über ehrsame Bürgersleute
+spotten? Ein Paar junge Arme sind viel wert in dieser Zeit, und mein
+Gottlieb tut seine Sache vielleicht besser als so ein Bücherschnüffel,
+und mein Pflegesohn da, -- dem sein Vater selig, der ist bei Saalfeld
+gefallen, und sein Sohn wird ihm Ehre machen. Gehabt euch wohl, ich
+meinte, in der Zeit müßte einer wie'n Bruder zum andern stehen, aber
+mir scheint, ihr zieht auf den Tanzsaal mit Lust und Übermut und
+allweil nicht in den heiligen Krieg fürs Vaterland.«
+
+Der dicke Meister wischte sich danach den Schweiß von der Stirn, die
+Rede war kein leichtes Stück gewesen, aber sie hatte eine gute Wirkung
+getan. Die Studenten sahen einander betroffen an, dann trat einer vor
+und sagte höflich: »Nichts für ungut, so arg war's nicht gemeint, und
+wenn der Herr Meister uns die Söhne anvertrauen will, ich will sie wohl
+mitnehmen.«
+
+Die andern fielen ein, so sei es recht, und nach ein paar Minuten
+war der Friede geschlossen, und es wurde abgemacht, daß Raoul und
+Gottlieb mit ungefähr zwanzig Studenten am nächsten Morgen die Fahrt
+nach Breslau antreten sollten. Mit festem Handschlag wurde brüderliche
+Treue gelobt, und Gottlieb, der schlechte Lateiner, der unerbittliche
+Feind aller Grammatik und Orthographie, hatte in dieser Minute beinahe
+Respekt vor sich selbst, vor diesem Gottlieb Käsmodel, der ein Genosse
+der Studenten geworden war. »Raoul,« flüsterte er, »von der Schule aus
+brächte ich's nie so weit, wenn -- die nur nicht lateinisch reden.«
+
+Aber daran dachten die Musensöhne nicht, sie redeten ein kräftiges,
+kernfestes Deutsch in dieser Zeit, und es zeigte sich bald, daß sie
+wirklich mit heiligem Ernst in den Krieg zogen. Der Meister wurde rasch
+gut Freund mit ihnen, und etliche versprachen ihm: »Wenn wir nach
+Frankreich marschieren und durch Leipzig kommen, dann vergessen wir es
+nicht, Meister, bei Ihnen Einkehr zu halten.«
+
+»Das ist ein Wort,« rief der Meister, »aber so weit sind wir allweil
+noch nicht, und ehe ihr den Musjeh Bonaparte in seinem Frankreich
+selbst aufsuchen könnt, mag noch viel Wasser die Berge herabrennen.«
+
+Mit schmetterndem Gesang ging es am nächsten Morgen frohgemut mit
+der Extrapost zur Stadt hinaus. Meister Käsmodel sah das Trüpplein
+davonfahren, und er lüftete ehrerbietig seine Kappe, als es stolz und
+froh in den kühlen Vorfrühlingsmorgen hinausschallte:
+
+ »Eine Ernte ist getreten
+ Von dem Feinde in den Kot,
+ Eh' ihn unsre Schwerter mähten,
+ Doch wir wuchsen auch in Not.
+ Eine Saat ist aufgestiegen,
+ Drachenzähne setzt die Brut;
+ Mag es brechen, will's nicht biegen,
+ Jugend hat ein heißes Blut.« --
+
+Schon von Mitte Februar an zogen in Breslau die ersten freiwilligen
+Kämpfer ein, und als nach einer Fahrt, mit mancherlei List und
+Vorsicht, denn noch gab es überall französische Besatzungen, die
+Hallenser mit Raoul und Gottlieb an einem Märztage ihr Ziel erreichten,
+da herrschte auf den engen Straßen schon ein ungewöhnliches Leben.
+In Scharen kamen die Freiwilligen an, jeder hatte sich ausstaffiert,
+wie es gerade ging, und manch einer trug noch einen alten Säbel,
+den sein Vorfahre schon unter des großen Fritzen siegreichen Fahnen
+geschwungen hatte. Die Uniformen waren wunderlich zusammengestoppelt:
+ein bunter Kragen auf dem Alltagsrock -- das war manchmal das einzige
+Zeichen, welchem Regiment einer zugehörte. Auch Gottlieb und Raoul
+waren noch nicht ausgerüstet, sie liefen in ihren Schulkleidern mit,
+als die Studenten sich einschreiben ließen. In dem großen Saal, in der
+Menschenmasse, den vielen höheren Offizieren gegenüber wurde es den
+Buben dann seltsam beklommen zumute. »Sie nehmen uns nicht,« flüsterte
+Gottlieb entmutigt, aber Raoul beharrte: »Sie müssen uns nehmen, ich
+muß mitziehen.«
+
+In einer Ecke des großen Saales standen einige ältere Offiziere
+zusammen in eifrigem Gespräch. Ein hochgewachsener Mann in der Uniform
+der preußischen Landwehr erzählte lebhaft, wie es droben in Ostpreußen
+aussehe, und die andern lauschten aufmerksam seinen Schilderungen. Nur
+manchmal warf einer einen Blick auf die Schar der eben angekommenen
+Freiwilligen, von denen einer nach dem andern vortrat und seinen Namen
+und Stand nannte. Doch plötzlich horchten alle auf, das Stimmengewirr
+hatte sich jäh gelegt, und in die Stille hinein gellte eine helle
+Knabenstimme: »Ich muß mit, ich muß mit! Nehmen Sie mich doch, ich bin
+stark genug! Ich heiße Steinberg, und mein Vater fiel bei Saalfeld.«
+
+»Steinberg, hören Sie, da ist einer Ihres Namens,« wandte sich ein
+General an den stattlichen Mann in preußischer Landwehruniform, und der
+drehte sich blitzschnell um. »Ein Steinberg, wo?« Da traf sein Blick
+Raoul, der blaß, hochaufgerichtet vor dem Tisch stand, auf dem die
+Listen der Eingeschriebenen lagen. Senkrecht grub sich in die Stirn des
+Knaben die tiefe Falte, und seine Augen sprühten und blitzten, eine
+so feste Entschlossenheit lag in dem jungen Gesicht, daß der General
+unwillkürlich sagte: »Donnerwetter, um den wär's schade!«
+
+»Raoul!« Der Freiherr von Steinberg war rasch vorgetreten, da stand er,
+der verlorene Neffe, der Knabe, der so eigenmächtig sein Schicksal in
+die Hand genommen hatte. »Raoul, du hier?«
+
+O diese Stimme! Raoul wandte sich jäh um und stand nun seinem Oheim
+Auge in Auge gegenüber. Eine tiefe Glut überflog sein Gesicht, aber
+seine Augen hielten doch den Blick des Oheims aus, und dem war es,
+als schaute er durch diese dunklen, ernsten Augen hindurch auf einen
+lichten, reinen Grund. Er legte seine Hand auf des Knaben Haupt: »Was
+ist's denn mit dir?«
+
+»Ich bin zu jung, Gottlieb und ich sind zu jung,« rief Raoul, der jetzt
+nur an die Gegenwart dachte, rasch des Freundes Hand ergreifend, der
+einen Schritt hinter ihm stand.
+
+»Zu jung, zu jung! Erst fünfzehn Jahre. Siebzehn müssen es sein,« sagte
+der Protokollführer und wiegte bedauernd den Kopf.
+
+»Tretet zurück,« sagte Herr von Steinberg, »ich werde sehen, was sich
+tun läßt,« und ohne ein Wort weiter zu sagen, schob er Raoul vor sich
+her, stellte ihn vor den General hin und sagte: »Mein Neffe, der Sohn
+meines Bruders, der bei Saalfeld fiel, und noch ein Steinberg, der mit
+will. Mein Sohn, der auch noch nicht seine siebzehn hat, zieht auch
+mit. Ein Steinberg kann nicht daheim bleiben in dieser Zeit.«
+
+Der General musterte Raoul von Kopf bis zu Füßen. »Ein wackerer
+Bursche,« sagte er anerkennend, »und ein Steinberg, das ist ein guter
+Empfehlungsbrief. Ich denke, wir können hier auch über die fünfzehn
+hinwegkommen. Aber was ist der andere?«
+
+»Mein Freund Gottlieb Käsmodel aus Leipzig,« sagte Raoul, denn Gottlieb
+war ganz verstummt. »Wir sind zusammen gekommen.«
+
+»Auch nicht älter?«
+
+»Nein!«
+
+»Na, dann muß der schon heimziehen, nur Jungen können wir doch nicht
+gebrauchen. Ist er ein einziger Sohn? Was ist sein Vater?«
+
+»Ja, sein Vater ist Bäckermeister in Leipzig.«
+
+»Ein gutes Gewerbe! Zieh heim, mein Sohn, und hilf dem Vater
+ordentlich,« sagte der General freundlich.
+
+Raoul atmete tief auf, dann trat er einen Schritt vor, und seine
+dunklen Augen unverwandt auf den General gerichtet, rief er: »Wir
+müssen beide mit. Der Gottlieb ist mein Freund, ich hab's ihm gelobt,
+zusammen oder -- nicht.« Seine Stimme schwankte. »Er hat noch mehr
+Kräfte als ich, wir halten's beide ganz bestimmt gut aus!«
+
+Nun irrte sein flehender Blick zu seinem Oheim hin, und dessen Herz
+schlug.
+
+So war seines Bruders Sohn, so treu, so tapfer! Er trat an den General
+heran und erzählte ihm leise kurz des Neffen Geschichte, und immer
+wohlwollender ruhten die hellen Reiteraugen des Generals auf den
+beiden Knaben. »Uns wird's nicht fehlen, Kameraden,« sagte er zu
+den umstehenden Offizieren, »wenn solche Jugend für des Vaterlandes
+Freiheit ficht. Tretet jetzt zurück und wartet draußen, ihr beiden, ich
+werde an eure Sache denken.«
+
+Und nebeneinander, Raoul größer, schlanker, Gottlieb kleiner und
+untersetzter, mit brennenden Wangen und strahlenden Augen gingen beide
+durch den Saal und harrten dann vor der Türe in Zuversicht, daß sich
+ihr Schicksal entscheiden werde. »Der Oheim zürnt nicht,« sagte Raoul
+leise, froh.
+
+»Jetzt begreif' ich's allweil nicht,« flüsterte Gottlieb, des Vaters
+Lieblingswort unwillkürlich gebrauchend, »warum du da ausgerissen bist.
+Aber gut war's, denn ohne dich schickten sie mich heim.«
+
+Sie saßen beide auf einem Holzbänkchen im Winkel, und es dauerte lange,
+ehe der Freiherr herauskam. »Das ist er,« flüsterte Raoul und schnellte
+in die Höhe, und kerzengerade, viel größer geworden in dem einen Jahr
+der Trennung, stand er vor seinem Oheim. »Junge, Junge,« rief der mit
+bewegter Stimme, »weißt du denn nicht, welche Sorge du uns gemacht
+hast? Ahnst du nicht, wie wir uns gegrämt haben um dich?«
+
+»Es war eine Dummheit,« bekannte Raoul offenherzig, »es war unrecht.«
+
+Da zog der Mann ihn an seine Brust. »Sieh von jetzt ab deinen Vater in
+mir, und wenn wir heimkehren, dann soll dir Hohensteinberg wirklich
+eine Heimat sein!«
+
+Raoul drückte nur fest des Oheims Hand, er konnte nicht sprechen, und
+Gottlieb zog ein Gesicht, als wäre er dabei, eine Literflasche voll
+Essig auszutrinken. Da wandte sich der Freiherr zu ihm: »Du bist also
+der Gottlieb, von dem meine Mariell, deine Namensschwester, mir so viel
+erzählt hat! Schau nicht so finster drein, ich will dir den Freund
+nicht nehmen, so gute Freundschaft hält, meine ich, das ganze Leben.
+Gib mir die Hand, Gottlieb, auf gute Freundschaft auch zwischen uns
+zweien. Deinen Eltern und dir bin ich viel Dank schuldig für das, was
+ihr an meines Bruders Sohn getan habt!«
+
+Gottlieb war puterrot geworden. Er hätte gern etwas recht Kluges,
+Feierliches gesagt, aber eine große Verlegenheit schnürte ihm fast
+die Kehle zusammen. Er trat von einem Bein auf das andere und platzte
+endlich heraus: »Raoul, warst du'n Esel! Vor so'nem Oheim wär' ich doch
+nicht davongelaufen!«
+
+Der Freiherr lachte, daß ihm die Tränen über die Backen liefen, und
+herzhaft schüttelte er immer wieder die feste Bubenhand. »Du bist ein
+Prachtkerl, Junge!« sagte er. »Nun aber kommt noch hinein, es ist mir
+gelungen, eure Aufnahme durchzusetzen, da es euer Wille ist und deine
+Eltern, Gottlieb, doch einverstanden sind?«
+
+»Freilich,« rief der und gab Raoul einen Puff. »Erzähl, wie's war!«
+Und Raoul erzählte dem Oheim kurz, wie sie hergekommen waren, und daß
+Meister Käsmodel sie selbst nach Halle gebracht hatte.
+
+»Na, dann kommt!« sagte der Freiherr und betrat mit den beiden nochmals
+den Saal. Sie wurden eingeschrieben, und mancher wohlwollende Blick
+traf die beiden Jungen, und mancher dachte auch wie Herr von Steinberg:
+»Wie wird ihr Schicksal sein? Werden sie heimkommen aus diesem harten
+Kampf, der vor uns steht?«
+
+Am nächsten Tage schon trennte die Unruhe der Zeit den Freiherrn von
+den beiden Knaben: er mußte nach Ostpreußen zurück, die Jungen aber
+blieben in Breslau. Es war ein kurzer Abschied. Auf Wiedersehen riefen
+die Knaben hoffnungsfroh, aber der besonnene Mann setzte ernst hinzu:
+»Gott gebe es uns, daß wir uns als Sieger wiedersehen.«
+
+[Illustration: Dekoration Ende 10. Kapitel]
+
+
+
+
+[Illustration: Dekoration Titel 11. Kapitel]
+
+
+
+
+Elftes Kapitel.
+
+Fürs Vaterland war es auch.
+
+
+Der Sturm, der am Ende des Jahres 1812 durch Deutschland zu brausen
+begann, wurde stärker, sein Tosen gellte lauter und lauter, und immer
+höher schlugen die Flammen der Begeisterung. Als am 17. März König
+Friedrich Wilhelms »Aufruf an mein Volk« erschien, da strömten die
+Freiwilligen in immer größeren Scharen dem preußischen Adler zu, und
+es gab wohl kaum eine Familie, die nicht an Blut und Gut ihr Opfer dem
+Vaterland darbrachte. Und ein hartes, schweres Ringen um die Freiheit
+hub an. Die Völker vereinten sich, um Napoleons Joch abzuschütteln,
+doch der hatte nach der russischen Niederlage rasch neue Kräfte
+gesammelt. Ihn kümmerte es wenig, daß Frankreich selbst kriegsmüde und
+tief erschöpft war, er wollte nur seinen maßlosen Ehrgeiz befriedigen.
+Überall ließ er neue Soldaten ausheben, blutjunge Burschen mußten
+eintreten, und viele, viele Deutsche wurden wieder zum Kampf gegen
+die deutschen Brüder gezwungen. Das unglückliche Sachsen wurde zum
+Schauplatz des Krieges, sein König mußte Napoleons Bundesgenosse
+bleiben, der in Dresden residierte. Das Volk mußte namenlose Opfer
+aufbringen, das Landvolk namentlich war ganz der Willkür der Franzosen
+preisgegeben, und in Dresden und Leipzig lagen nach den Schlachten bei
+Großgörschen und Bautzen Tausende von Verwundeten. Die Lebensmittel
+wurden immer knapper, immer teurer, und in vielen Häusern, in denen
+einst blühender Wohlstand geherrscht hatte, war bittere Not eingekehrt.
+
+Auch in dem Hause Meister Käsmodels sah es trübselig genug aus, und
+der Meister sagte manchmal: »Es ist keine Freude, Bäcker zu sein, wenn
+das Brot so sündhaft teuer ist.« Die Meisterin ging still und bedrückt
+einher. Sie zagte und bangte um den fernen Sohn. »Er steht bei den
+Feinden,« klagte sie oft.
+
+»Er kämpft für die gerechte Sache,« sagte der Mann dagegen. Dieser
+einfache, schlichte Mann erkannte in dieser Zeit klarer als mancher
+gelehrte Würdenträger, wo das Heil für Deutschland lag, und so
+sorgenbeschwert ihm auch das Herz war, er hoffte doch unverzagt und
+gläubig, daß es den Verbündeten gelingen würde, das Land von der
+Fremdherrschaft zu erlösen.
+
+Freilich der Sommer 1813 ging ins Land und wandelte sich zum Herbst,
+und noch immer schwankte die Wage hin und her. In einem langen
+Waffenstillstand suchte Napoleon von Dresden aus sein Heer zum
+entscheidenden Kampfe zu rüsten, aber seine Gegner waren in dieser
+Zeit nicht müßig gewesen: dem russisch preußischen Bündnis hatten sich
+Österreich und Schweden zugesellt. England gab Gelder her, und als
+sich im Oktober auf den weiten Ebenen um Leipzig herum die Völker zur
+entscheidenden Schlacht sammelten, da beseelte eine stolze Zuversicht
+die Führer der verbündeten Armeen.
+
+Im grauen, feinen Regendunst sah Gottlieb Käsmodel seine Vaterstadt am
+Morgen des 16. Oktober zum erstenmal wieder. Als Feind stand er draußen
+vor den Toren, und wie er, so fragten sich zitternd die Bewohner der
+bedrohten Stadt: »Was wird unser Schicksal sein?«
+
+Nebeneinander standen die Freunde an diesem Morgen. Der Frühling und
+Sommer dieses harten Jahres hatte in ihre jungen Gesichter tiefe Spuren
+gegraben, sie hatten im Schlachtenlärm gestanden, hatten Kameraden
+fallen sehen, hatten allen Jammer des Kriegs erlebt. Das hatte Gottlieb
+Käsmodels Knabenübermut gedämpft und Raoul noch stiller und ernster
+gemacht. »Wenn's zu einem Sturm auf Leipzig kommt!« murmelte Gottlieb
+und starrte in die Ferne, wo er ganz zart im Grau die vieltürmige Stadt
+liegen sah.
+
+Raoul atmete schwer, auch seine Gedanken kreisten in dieser Stunde um
+das Bäckerhaus, in dem es ihm so wohl gewesen war. »Wir müssen unsere
+Pflicht tun,« sagte er herb und sah den Freund an. Der nickte: »Wir
+müssen durch -- wenn ich nur wüßte, wie's drinnen aussieht!«
+
+Seit Wochen fehlte den beiden jede Nachricht von dort, und drinnen
+weinte um diese Stunde die Meisterin in nicht enden wollendem Leid.
+»Mein Gottlieb, mein Gottlieb, wie mag's ihm ergehen! Nun steht er wohl
+draußen als Feind.«
+
+Das kleine Minchen, das mit seinen fünf Jahren noch nicht den Ernst der
+Stunden erfaßte, hob plötzlich sein Fingerchen: »Mutter, das bummst so!
+Der liebe Gott donnert.«
+
+Dumpf dröhnte und hallte der Kanonendonner über Leipzig hin, und im
+weiten Kreis um die Stadt herum raste der Kampf. Am Mittag wurde es
+stiller, und dann plötzlich fingen von den Türmen die Glocken zu läuten
+an, Sieg, Sieg!
+
+»Herrgott,« schrie der Meister Käsmodel verzweifelt auf, »der Bonaparte
+hat wieder gesiegt! Verloren die gerechte Sache!«
+
+Doch das Siegesläuten verstummte; nur ein Scheinsieg war es gewesen,
+den die Franzosen allzu schnell verkündet hatten: der alte Löwe Blücher
+hatte Bonaparte seine Klauen gezeigt und ihm schwere Wunden beigebracht.
+
+Es waren fürchterliche Tage für Leipzig. Blutrot flammte der Himmel
+über der Stadt: es war der Widerschein der brennenden Dörfer ringsum.
+Die Straßen hallten wider vom Wehgeschrei der Verwundeten, die in
+Scharen in die Stadt hineinströmten, und Geschützwagen rasselten eilig
+dazwischen. Die öffentlichen Gebäude und Kirchen waren in Spitäler
+verwandelt worden. Am 17. Oktober, einem Sonntag, riefen die Glocken
+nicht wie sonst die Bewohner zur Kirche. In dumpfer Angst blieben alle
+in ihren Häusern. Wer nicht mußte, wagte sich nicht auf die Straße
+hinaus, viele verkrochen sich in die Keller und verrammelten Türen
+und Fenster ihrer Häuser. Am 18. Oktober stieg die Sonne in feuriger
+Glut über der Stadt und der weiten Ebene empor und bestrahlte den
+mörderischen Kampf dieses Tages. Zu Tausenden bedeckten Sterbende,
+Tote, Verwundete die Felder um Leipzig, wie Fackeln brannten die
+Dörfer, das Rollen und Donnern der Geschütze tönte unablässig fort, und
+die Bewohner von Leipzig sahen in dumpfer Verzweiflung ihrem völligen
+Untergang entgegen.
+
+»Die Stadt wird gestürmt, die Stadt wird geplündert! Nun müssen wir das
+Bündnis mit Frankreich büßen, an dem wir schon so viel gelitten haben,«
+klagten die Bürger.
+
+Dann flog plötzlich der Ruf durch die Stadt, wie ein Erlösungsschrei
+klang es: »Die Sachsen sind zu den verbündeten Heeren übergegangen.«
+Und als der Abend kam, drängten die fliehenden Franzosen in Scharen
+in die Stadt hinein und flohen in wilder Hast dem Ranstädter Tore
+zu, und Napoleon ließ die andern Tore noch verteidigen, um den Resten
+seiner Armee den Rückzug zu decken.
+
+[Illustration: Die Steinbergs. (Seite 164.)]
+
+Doch schon am nächsten Morgen drangen die Verbündeten von drei Seiten
+auf die Stadt ein. Laut brauste der Jubel der Einwohner ihnen entgegen.
+»Sieg, Sieg, Sieg!« hallte es durch die Straßen, jeder fühlte, daß
+der Sieg der Franzosen nur neues Leid, neue Schmerzen bedeutet hätte.
+»Sieg, Sieg, Sieg!« läuteten die Glocken und übertönten das Stöhnen und
+Ächzen der vielen Verwundeten, die, ein Obdach suchend, durch die Stadt
+irrten.
+
+An alle Türen klopften Hilfesuchende, und bald war alles überfüllt.
+Auf den Straßen, den Friedhöfen lagerten die Unglücklichen, frierend,
+hungernd in der rauhen Luft des Oktobertages. Die Bürger nahmen auf, so
+viele sie konnten, aber Mangel und Not waren so groß, daß selbst die
+wohlhabenden Leute nur knapp zu essen hatten. Auch Meister Käsmodel
+hatte das Backen einstellen müssen; er war ein Bäcker ohne Mehl, nur
+für das eigene Hans gab es noch einen kümmerlichen Vorrat. Dafür lagen
+in den Stuben Verwundete, und die braven Meistersleute sorgten, so gut
+sie es vermochten, für die Unglücklichen. Nur Gottliebs und Raouls
+Kammer war unbesetzt, die Betten standen bereit. »Wenn die Jungen
+heimkommen, sollen sie doch ihr Unterkommen haben,« hatte die Meisterin
+gesagt.
+
+Und bei jedem Klopfen an der Türe schraken Mann und Frau zusammen und
+liefen hinaus, und immer wieder kehrten sie enttäuscht zurück, -- die
+Erwarteten kamen nicht.
+
+Gegen Abend des 19. Oktober klopfte es wieder laut an die Haustüre, und
+als der Meister hinauseilte, sah er einen hochgewachsenen preußischen
+Offizier draußen stehen. Er leuchtete ihm mit seinem Laternchen
+forschend ins Gesicht, der Offizier fragte: »Bin ich hier recht bei
+Meister Käsmodel?«
+
+»Das stimmt,« sagte der Meister. »Wenn ich nur wüßte, wo ich das
+Gesicht schon sah!«
+
+»Steinberg ist mein Name,« erwiderte der Fremde, »ich --«
+
+»Daß mich das Mäuschen beißt, das ist doch alleweil der Oheim von
+unserm Raoul!«
+
+»Sie haben mich also doch erkannt?« fragte Herr von Steinberg, der war
+es wirklich.
+
+»Treten Sie ein, Herr Baron,« sagte der Meister. »Unsere Frau von
+Steinberg, Gott hab' sie selig, hatte ein Bild von ihrem Manne, dem
+gleichen Sie aufs Haar.« Er ließ den Gast vorangehen und schloß dann
+eilig wieder die Türe, denn schon drängten andere in den Lichtschimmer
+des Laternchens. Rasch prüfte des Meisters Blick den Freiherrn, der
+bleich und erschöpft aussah. »Mir scheint's, Sie brauchen Ruhe!«
+
+Herr von Steinberg nickte. »Die brauchen wir wohl alle. Ich bin auch
+verwundet an der Schulter, es ist nicht arg; doch darum kam ich nicht.
+Ihr Sohn Gottlieb liegt verwundet in einer Scheune bei Gohlis, ich
+komme, Sie zur Hilfe holen.«
+
+»Mein Junge,« schrie der Meister, »er ist verwundet, aber er lebt?
+Sagen Sie mir, daß er lebt!«
+
+»Ich hoffe, er lebt,« sagte der Freiherr ernst. »Ich sah ihn selbst
+nicht. Heute in der Frühe erhielt ich Botschaft: mein Neffe Raoul
+hatte gestern schon einen Ordonnanzoffizier gebeten, wenn er mich
+treffen sollte, mir diesen Zettel zu bringen.« Herr von Steinberg gab
+dem Meister einen Zettel, auf dem stand in eiliger Schrift: »Gottlieb
+Käsmodel liegt in einer Scheune links von Gohlis, drei Bäume stehen
+rechts, in der Nähe ist ein Wassertümpel. Wenn Sie nach Leipzig
+kommen, sagen Sie es, bitte, Meister Käsmodel, lieber Onkel. Raoul.«
+
+»Und Raoul?« fragte der Meister zurück.
+
+Der Freiherr zuckte die Achseln. »Ich habe nichts mehr von ihm gehört,
+der Zettel kam nur durch einen glücklichen Zufall in meine Hände. Sein
+Regiment soll große Verluste gehabt haben. Wer kann in diesem Wirrsal
+wissen, wo der ist und jener! Ich weiß auch nichts von meinem Sohn.«
+
+»Einen Wagen kann ich wohl beschaffen,« sagte der Meister hastig, »aber
+werde ich hinauskommen?«
+
+»Ich werde Sie begleiten, vielleicht gelingt es mir, uns Durchfahrt zu
+verschaffen.«
+
+»Aber Sie sind verwundet, Herr Baron!«
+
+»Was schadet das! Ein Streifschuß nur. Es war eine böse Sache heute am
+Grimmaischen Tor, nur« -- der Freiherr stockte -- »Hunger habe ich!«
+
+»Hunger? Kommen Sie herein, schnell, schnell,« drängte der Meister,
+»meine Frau soll für Sie sorgen, und allweil schaffe ich einen Wagen
+herbei.«
+
+Nach wenigen Minuten saß der Freiherr in der Backstube, in dem Raum, in
+dem seine Schwägerin so oft mit ihrem Sohn sich an kalten Winterabenden
+erwärmt hatte, und die Meisterin gab ihrem Gast, was sie nur hatte.
+Ihr flossen die Tränen im Leid um ihren Sohn, und die gemeinsame Sorge
+knüpfte rasch ein festes Band um die einfache Frau und ihren vornehmen
+Gast. Der sagte: »Ich kann's Raoul nicht verdenken, daß es ihm hier
+wohl war,« und die Meisterin gab schlicht zur Antwort: »Wir haben ihn
+alle lieb.«
+
+»Is Raoul totgeschoßt?« fragte Minchen weinerlich am Knie der Mutter,
+und die seufzte schwer: »Wo mag er sein? Und wird mein Gottlieb noch
+leben?«
+
+Nach einer Stunde kehrte der Meister zurück, es war ihm nicht leicht
+geworden, einen Wagen aufzutreiben, und als er ihn hatte, wäre er ihm
+noch beinahe auf der Straße von preußischen Soldaten fortgenommen
+worden; nur der Hinweis, der Wagen solle Verwundete holen, hatte
+geholfen.
+
+Ein mühsames Fahren war es durch die überfüllten, schlecht beleuchteten
+Straßen. Am Halleschen Tor staute sich wieder die Menge, und wäre
+Herr von Steinberg nicht mit gewesen, dann hätte der Meister nie das
+Ziel erreicht. Endlich, die Nacht war schon hereingebrochen, gelang
+es den beiden, mit ihrem Wäglein hinauszukommen, und der Meister,
+der wegkundig war, fuhr in einem Bogen nach Gohlis hin. Es war eine
+schauervolle Fahrt. Noch glühte der Himmel rot, da und dort brannte
+es noch in weitem Umkreis in den Dörfern. Überall lagen Verwundete,
+Sterbende, Tote, Jammerrufe durchhallten die Nacht, und dann huschten
+Lichtlein hin und her, Wagen rasselten dumpf über die Felder, die
+Verwundeten wurden geborgen. Es war auch schwer, die Scheune nach
+Raouls Angaben zu finden in der Nacht: da war eine und da drei und da
+ein Trümmerhaufen, auch Bäume standen da und dort, und Verwundete lagen
+unter jedem Dach, und alle flehten um Wasser, baten mitgenommen zu
+werden.
+
+Der Meister hatte vorsorglich die letzten zwei Flaschen Wein, die er
+besaß, und Brot mitgenommen, und er teilte aus bis auf einen Rest. »Der
+muß für meinen Jungen bleiben, aber die da jammern, haben's allweil so
+nötig,« meinte er.
+
+Schon graute leise der Morgen, als die beiden endlich die Scheune
+entdeckten, die drei Bäume daneben und ein paar Schritte weiter
+einen schmutzigen, kleinen Tümpel. »Dort ist's,« riefen beide zu
+gleicher Zeit, lenkten den Wagen darauf zu und sprangen ab. Seltsame
+Töne klangen ihnen entgegen, als sie die Scheune erreicht hatten, und
+unwillkürlich blieben beide stehen. Drinnen sangen zwei, eine helle,
+durchdringende Stimme war es und eine, die tiefer klang, und in den
+grauenden Tag hinaus tönte es:
+
+ »Doch Brüder sind wir allzusamm',
+ Und das schwellt unsern Mut,
+ Uns knüpft der Sprache heilig Band,
+ Uns knüpft ein Gott, ein Vaterland,
+ Ein treues deutsches Blut!«
+
+»Das ist allweil mein Gottlieb, der singt,« schrie der Meister und
+stürzte voran. »Gottlieb, Junge, bist du's?« rief er in die dunkle
+Scheune hinein, und jubelnd klang es zurück: »Vater, Vater, hier!« Dann
+brach die Stimme jäh, und viel matter tönte es nach: »Wir versingen uns
+Schmerzen und Hunger!«
+
+Mit seinem Laternchen leuchtete der Meister voran. Da kauerten zwei im
+Winkel, und einer lag stöhnend daneben. »Ist Raoul dabei?« rief Meister
+Käsmodel.
+
+»Nein!« antwortete Gottlieb und richtete sich etwas auf, »der hat
+mich nur herausgehauen, aber feste! Vater, wär' ich der König,
+dreimal kriegte er das eiserne Kreuz. Am Abend hat er mich dann
+hierhergeschleppt, aber wo er jetzt ist, das weiß ich nicht,« fügte er
+leiser hinzu.
+
+»Die Unseren sind weiter gezogen,« sagte der zweite, der im Winkel
+kauerte, und als der Meister ihm ins Gesicht leuchtete, erkannte er in
+ihm den einen der Hallenser Studenten. »Ich bin's, Herr Meister, und
+mein Bein ist zerschossen, aber Viktoria, wir haben gesiegt!«
+
+»Das stimmt allweil,« brummte der Meister und hob sacht seinen Sohn
+auf, »aber jetzt gilt's die Glieder zusammenflicken. Komm, Junge, ich
+trag dich, Mutter wartet schon auf dich.«
+
+»Aber meine Kameraden müssen mit,« bat Gottlieb ächzend, dem das
+Aufheben bittere Schmerzen bereitete, »zwei Tage und Nächte liegen wir
+schon zusammen, wir müssen zusammen bleiben.«
+
+»Allweil, das versteht sich, Junge,« sagte der Meister und biß die
+Zähne zusammen, um seinem Sohn nicht zu zeigen, wie sehr der ihn
+jammerte.
+
+Herr von Steinberg half, und bald lagen die drei im Wagen, und die
+beiden Männer schritten nebenher; das magere Pferdchen hatte schwer
+genug an den Verwundeten zu ziehen.
+
+Der Rückweg über das Schlachtfeld und durch das erstürmte Tor war
+im Morgengrauen noch fürchterlicher, aber es ging nun schneller
+vorwärts, und ernst und schweigsam langte der Zug noch am Vormittag
+am Bäckerhause an. Die Mutter unterdrückte tapfer jede Klage, als sie
+ihren Sohn wiedersah. Der lachte sie aber trotz aller Schmerzen an:
+»Mutter, wir haben gesiegt, und das da heilt schon. Wenn ich nur wüßte,
+wo Raoul wäre!«
+
+Vorläufig kam der lange Student in die Kammer und in Raouls Bett, der
+dritte wurde noch unten untergebracht; es war auch ein junger Bursch,
+doch ihn hatten die feindlichen Kugeln zu schwer getroffen, er war nur
+in das Haus gekommen zu einem friedlichen Sterben.
+
+Herr von Steinberg mußte, so voll das Haus schon war, im Bäckerhause
+im Quartier bleiben, bis seine leichte Wunde geheilt war. Er war froh
+darüber, denn alles war überfüllt, und es war schwer, nur ein Bett
+zu finden. Er benutzte die Zeit, um nach seinem Sohn und nach Raoul
+zu forschen. Joachim sei gefallen, sagten ihm seine Kameraden; das
+Regiment aber, bei dem Raoul stand, war wirklich, wie der Student
+gesagt hatte, weitergezogen. Jemand in den Lazaretten während dieser
+schlimmen Tage zu suchen, war fast unmöglich, Meister Käsmodel aber
+wußte einen guten Führer. Karl Wagner, der um seines Gebrechens willen
+nicht hatte mitziehen können, hatte sich als Pfleger gemeldet. Der
+kleine Schreiber war auch einer von jenen, deren stilles Heldentum
+unbemerkt bleibt; ihm dankte nur mancher erlöste Blick der Verwundeten,
+deren Leiden er nach Kräften milderte. Mit Hilfe dieses treuen Freundes
+von Raoul gelang es dem Freiherrn wirklich, seinen Sohn zu finden. Er
+lag mit vielen andern in der Kirche von St. Nikolai, er hatte eine
+schwere Wunde im Rücken erhalten. Mit einer kleinen Abteilung war er
+bereits am Morgen des 16. Oktober in einen Hinterhalt gefallen und von
+rücklings niedergeschossen worden, die große Schlacht war dann an ihm
+vorübergerauscht, er war gar nicht zum Kampf gekommen.
+
+»Ich habe nicht einmal meinen Säbel gezogen, Vater,« klagte er
+bitter, als der Freiherr ihn fand, »so mußte ich fallen, so, ich, ein
+Steinberg, so ruhmlos untergehen.«
+
+»Es kann in dieser Zeit nicht jeder sich als Held hervortun, mein
+Junge,« tröstete ihn der Vater, »du hast deine Pflicht getan, was
+willst du mehr? Bist du ausgezogen um des Ruhmes willen, oder weil des
+Vaterlandes Not dich bewegte?«
+
+Da schwieg Joachim, nur sein schweres Stöhnen verriet dem Vater, wie
+sehr doch das heiße, junge, ehrgeizige Herz litt.
+
+Im Bäckerhause war inzwischen Platz geworden, und Meister Käsmodel
+holte sich eines Tages selbst Joachim aus dem Spital, und Herr von
+Steinberg dankte es ihm warm, denn in den Spitälern rafften Fieber und
+andere ansteckende Krankheiten viele hinweg, und Joachims Wunde war
+schwer, sie bedurfte langer, sorgsamer Pflege. Joachim sträubte sich
+nicht, er fühlte wohl, wie gut es ihm war, daß er aus der kalten, von
+Fieberdünsten erfüllten Kirche herauskam, aber als er dann in Raouls
+Kammer, in des Vetters Bett lag, Gottlieb Käsmodel als Stubengenossen,
+da brach er in ein wildes Weinen aus. Er kam sich auf einmal tief, tief
+gedemütigt vor: er, der von Heldentaten geträumt hatte, mußte hier in
+dem Hause liegen, über dessen Bewohner er oft so hochmütig gespottet
+hatte, und die ihm nun so viel Liebe und Güte erwiesen.
+
+Die Meisterin wollte mitleidig trösten, der Freiherr bat sie aber:
+»Lassen Sie ihn jetzt allein, er wird schon zu sich kommen.« Das klang
+schmerzlich, und Joachim hörte es wohl, und er schämte sich seiner
+kleinlichen Empfindungen, er wurde aber wieder einmal nicht Herr über
+sich selbst.
+
+Man ließ ihn allein, nur Gottlieb schaute von seinem Bett aus
+unverwandt zu dem neuen Kameraden hinüber. Also das war der Joachim,
+auf den er aus lauter Freundschaft für Raoul oft heftig gescholten
+hatte! Jetzt fühlte er aber gar keinen Groll gegen ihn, und so sagte er
+aus tiefstem Herzen heraus: »Heul' nur feste weiter! Als Raoul mich in
+die Scheune geschleppt hatte, und ich von drinnen das Geknatter hörte,
+da habe ich auch geheult vor lauter Wut, weil ich nicht mehr dabei sein
+konnte, nachher habe ich aber gesungen!«
+
+Joachim hob ein wenig den Kopf, ganz jäh überkam ihn plötzlich das
+Bewußtsein, daß er nur einer unter vielen war, daß Tausende litten wie
+er. »Du bist Gottlieb,« murmelte er und fand das brüderliche Du, das
+Gottlieb angeschlagen hatte, selbstverständlich. »Wie bist du verwundet
+worden?«
+
+Gottlieb stützte sich ein wenig auf seinen Arm und erzählte. »Ich hatte
+ja gedacht, mich würde der Blücher mindestens selbst loben; aber weißt
+du, ich hab's schon in Breslau gemerkt, daß man auch nicht mehr ist wie
+-- wie 'n einzelnes Brot im vollen Backofen.«
+
+Ein Lächeln ging über Joachims bleiches Gesicht, dann schloß er
+aufseufzend die Augen: der andere hatte recht, aber ja, er hatte auch
+gedacht, Blücher selbst oder York der Eiserne müßten seinen Heldenmut
+anerkennen.
+
+Da klang wieder Gottliebs Stimme zu ihm herüber: »Erzähl' doch, wie
+war's bei dir, oder bist du zu schwach?«
+
+»Nein,« murmelte Joachim sich zusammennehmend, »aber ich habe nicht
+viel zu erzählen. Immer habe ich einen Posten auf verlorener Stelle
+gehabt, habe Wache stehen müssen und dergleichen, habe alles nur von
+ferne gesehen. Nun sollten wir drankommen, hier bei Leipzig, sollten
+einen gefährlichen Ritt machen und einen wichtigen Punkt besetzen. Kaum
+sind wir ausgeritten, da fühle ich ein Sausen, einen heftigen Schmerz
+-- und schon lag ich am Boden; ich hörte nur Schreien, Schießen, dann
+verlor ich die Besinnung, auf einem Karren erwachte ich wieder. Das war
+alles!«
+
+»Na, ich danke,« rief Gottlieb, »Wache stehen während einer Schlacht
+ist kein Zuckerbrot, und fallen muß jemand; wärst du's nicht gewesen,
+hätte es einen andern getroffen. Weißt du, als ich so fuchswild
+und wütend in der Scheune lag und mich nicht rühren konnte, da
+habe ich gedacht: Na, all die Wut, all die langen, langen Stunden,
+-- schließlich einer muß es leiden, da war ich es eben, und fürs
+Vaterland war es auch. Gesiegt haben wir doch, und dabei waren wir!«
+
+»Erzähl mir von Raoul,« bat Joachim plötzlich, und dann lag er still
+mit geschlossenen Augen und ließ sich von dem Vetter erzählen, wie sich
+der so tapfer durchgeschlagen hatte als Schreiberlein und dann nicht
+nach Paris gewollt hatte. Wenn Gottlieb auf Raoul kam, dann fand er so
+leicht kein Ende, und er hätte wohl noch lange erzählt, wenn die Mutter
+nicht gekommen wäre und Ruhe geboten hätte.
+
+»Kranke brauchen Schlaf,« sagte sie. Und Gottlieb schloß auch gehorsam
+die Augen. Er fand trotz der Wunde bald Ruhe; es lag sich so gut nach
+all den harten Kriegslagern in der stillen Kammer des Vaterhauses. Aber
+Joachim lag lange, lange noch wach; Fieber und Schmerzen peinigten ihn
+qualvoll, und doch dachte er zum erstenmal nicht an sein Leid, sondern
+an den großen errungenen Sieg, und eine tiefe, heilige Freude kam über
+ihn, und Gottliebs Wort klang in ihm nach: »Fürs Vaterland war es auch!«
+
+[Illustration: Dekoration Ende 11. Kapitel]
+
+
+
+
+[Illustration: Dekoration Titel 12. Kapitel]
+
+
+
+
+Zwölftes Kapitel.
+
+Ausklang.
+
+
+Nach der großen, blutigen Schlacht auf Leipzigs Feldern kam der
+ersehnte Friede immer noch nicht über die Lande, nur zog sich der
+Krieg nach Frankreich hin. Der Marschall Vorwärts überschritt in der
+Neujahrsnacht den Rhein, und am 31. März zogen, nach mancher blutigen
+Schlacht auf Frankreichs Boden, die verbündeten Heere in Paris ein,
+und auch dort begrüßte das Volk den Kaiser von Rußland und den König
+von Preußen als seinen Befreier. Napoleon wurde seines Thrones für
+verlustig erklärt, nach Elba gebracht, und am 30. Mai kam der erste
+Friede von Paris zum Abschluß. Die Völker atmeten auf; für eine Weile
+war Ruhe eingekehrt, und niemand ahnte, daß noch ein schweres Ringen
+bevorstand, ehe sich für viele Jahre der Friede über die Lande breiten
+konnte.
+
+Von den Steinbergs kam nur Raoul nach Paris. Sein Oheim blieb bei den
+Truppen im Lande, und Joachim konnte nicht mehr mitziehen. Raoul hatte
+sich tapfer geschlagen, hatte einige leichte Wunden davongetragen und
+war auf dem Schlachtfeld zum Leutnant befördert worden. Trotz allem
+Siegesjubel ringsum war ihm das Herz aber doch schwer, als er an einem
+der ersten Apriltage durch die Straßen von Paris ritt. Ihm fehlte jede
+Nachricht von den Freunden daheim, er wußte nicht, was aus Gottlieb
+geworden war, nichts von allem, was nach den heißen Tagen bei Leipzig
+geschehen war. Er hatte sich nach dem Palais des Grafen Turaillon,
+seines Oheims, erkundigt, denn auf einmal sehnte er sich darnach, das
+Haus zu sehen, in dem seine Mutter ein paar Kinderjahre verbracht
+hatte. Vor dem zierlichen, im Rokokostil erbauten Schlößchen, das
+inmitten eines weiten Gartens lag, dessen Wege von hohen Taxuswänden
+begrenzt wurden, stand ein preußischer Soldat Wache; ein paar hohe
+Offiziere bewohnten jetzt das Haus. Als Raoul einen vorbeieilenden
+Diener nach dem Besitzer fragte, erhielt er zur Antwort, daß der Graf
+schon lange auf dem Lande weile, er sei im Groll vom Hofe Napoleons
+geschieden.
+
+Träumerisch schaute Raoul durch das offenstehende Tor in den Garten
+hinein und dachte: Ich könnte jetzt der Erbe von allem sein! Aber kein
+Bedauern überkam ihn, daß er es nicht war, und seine Armut dünkte ihn
+nicht schwer zu tragen. Er freute sich aber über des Onkels Scheiden
+von Napoleons Hof, und fast bedauerte er, daß er ihn nun nicht sehen
+konnte: er war doch der geliebten Mutter Bruder. Wie er so in Sinnen
+verloren stand, kamen zwei junge Offiziere aus dem Haus heraus. Sie
+schauten ihn prüfend an, und der eine rief überrascht: »Da ist er doch,
+wir haben hier doch recht gesucht!«
+
+Erstaunt sah Raoul auf, und er mußte erst ein paar Sekunden
+nachsinnen, ehe er in dem langen, blonden Menschen Arnold von Berkow
+wiedererkannte. Er wich unwillkürlich zurück, ihm kam der Gedanke an
+die erlittenen Kränkungen, und sein Gesicht wurde finster. Doch der
+andere kümmerte sich nicht darum, er streckte ihm freimütig die Hand
+hin: »Wir haben dich gesucht, Raoul, wie eine Stecknadel, den ganzen
+Feldzug durch. Vor ein paar Tagen hatte ich von Achim einen --«
+
+»Lebt er?« rief Raoul rasch.
+
+»Ja, er lebt,« sagte Arnold von Berkow und schob seinen Arm in
+den Raouls. »Komm mit, ich erzähle dir alles. Laß die alte, dumme
+Feindschaft ruhen, wir Tugendbündler waren damals recht dumme Jungen,
+und Gottliebe hatte recht: du warst der Verständigste von uns allen, du
+wärst der beste Tugendbündler gewesen. Übrigens, ich trage seit Wochen
+einen Brief von Gottliebe an dich in der Tasche; die Mariellen denken,
+im Krieg trifft man sich wie auf den Gassen von Langenstein.«
+
+»Und mich kennst du wohl gar nicht mehr?« fragte der andere, »war doch
+auch ein Tugendbündler!«
+
+»Oswald Hippel,« rief Raoul, »doch wo ist Fritz --?«
+
+»Der blieb bei Leipzig,« sagte Arnold trübe, »da sind so viele
+geblieben. Es ist fast ein Wunder, wenn man noch jemand wiederfindet.
+Aber dein Gottlieb lebt!«
+
+»Er lebt?« Raouls Augen leuchteten. »Sag, woher du es weißt!«
+
+»Kommt alles nach und nach, und Gottliebes Brief bekommst du auch. Die
+hat geschrieben, sie ist mir ewig böse, wenn ich dich nicht ausfindig
+mache. Aber was will der Kerl da?«
+
+Ein hagerer, verkommen aussehender, zerlumpter Mensch drängte sich
+an die jungen Leute heran und flehte: »Ein armer Landsmann bin ich,
+halbverhungert.«
+
+»Neumann,« rief Raoul von Steinberg und starrte dem Bettler ins
+Gesicht. Eine fliegende Röte huschte über dessen Wangen, scheu sah er
+den fremden Offizier an, es war ihm wohl nicht angenehm, bei seinem
+Namen genannt zu werden. »Paul Neumann,« sagte Raoul noch einmal, der
+seinen einstigen Peiniger gleich erkannt hatte.
+
+Auch der hatte nun Raoul erkannt. Erschrocken taumelte er zurück, und
+ganz plötzlich kehrte er sich um und rannte mit schnellen Schritten
+wie gejagt davon, die Straße entlang, um eine Ecke herum, und noch
+ehe die drei die Sache recht erfaßt hatten, war er verschwunden. »Ich
+erzähl' euch auch nachher von ihm,« sagte Raoul, »ihn trieb wohl sein
+schlechtes Gewissen weg. Er war einer von Napoleons Bewunderern, das
+scheint ihm aber nicht gut bekommen zu sein.«
+
+»Nein,« meinte Oswald Hippel, »jämmerlich genug sah er aus!«
+
+Die drei sprachen aber nicht weiter von der Begegnung, sie hatten sich
+Wichtigeres zu erzählen, und bald saßen sie so einträchtig wie nie
+vorher in Arnolds Quartier, und der berichtete, daß sie das Palais des
+Grafen bereits zum drittenmal aufgesucht hätten, weil sie hofften,
+Raoul würde sich dort nach seinem Oheim erkundigen. »So wunderbar ist
+unser Zusammentreffen also nicht,« sagte Arnold, »viel wunderbarer
+ist's, daß die Steinbergs und Käsmodels sich zusammengefunden haben,
+und daß Joachim in deinem Bett gesund geworden ist.«
+
+»Joachim?« fragte Raoul überrascht, »ist er bei Leipzig verwundet
+worden?«
+
+Arnold erzählte, in dem großen Wirrsal nach der Schlacht habe er
+Joachim nicht gesehen, aber später in Frankfurt Herrn von Steinberg
+getroffen und von diesem alles erfahren. Er habe auch vor kurzem erst
+Briefe aus der Heimat erhalten. Joachim war wieder in Hohensteinberg
+und Gottlieb mit ihm, sie mußten sich beide noch von einem sehr
+langen, schweren Siechtum erholen und hatten beide nicht mehr zu ihren
+Regimentern zurückkehren können.
+
+Gottlieb in Hohensteinberg! Es kam Raoul fast wie ein Traum vor, und
+dann ergriff ihn eine solche Sehnsucht, alles zu wissen, von allem
+einzeln zu hören, daß er Arnold mit einer förmlichen Flut von Fragen
+überschüttete. Der rief in heller Verwunderung: »O Raoul, so hast du
+früher nie reden können!«
+
+»Habt ihr mich denn reden lassen?« antwortete der halb lachend, halb
+traurig, »aber nun laß mich dafür nicht warten, erzähle, erzähle!«
+
+»Ich glaube, du sagst wie Gottliebe, du platzt vor Neugier,« erwiderte
+Arnold und begann ausführlich zu erzählen, was er von den Steinbergs
+wußte, von Joachims Verwundung, auch wie Gottlieb aufgefunden wurde.
+
+»Armer Joachim,« sagte Raoul ernst, »er ersehnte den Ruhm und ist nun
+nie so recht dabei gewesen! Doch was schreibt Gottliebe? Du sagtest
+doch, es wäre ein Brief von ihr für mich da?«
+
+»Da, du Nimmersatt!« Arnold reichte ihm den Brief, und Raoul erbrach
+ihn rasch und las: »Lieber, böser Raoul, das ist nun der dritte Brief,
+den ich an dich schreibe, immer denke ich, einen mußt du doch erhalten,
+und einmal mußt du mir antworten. Wir haben alle viel Sorge um dich,
+und Großmutter sagte oft, als sie jetzt krank war: Könnte ich Raoul
+nur einmal noch sehen! Jetzt reden wir noch mehr von dir, seit Joachim
+wieder da ist und Gottlieb mitgebracht hat. Achim sagte gestern zu mir:
+Ich wollte jetzt, Raoul wäre mein Freund. Es war sehr schlimm bei uns,
+weil alle Leute so arm sind und wir so viele, viele Sorgen hatten, aber
+als wir von den Siegen hörten, da wurden wir alle froh. Ich wollte
+aber doch, der Krieg wäre bald zu Ende und der Vater käme heim und
+du, Raoul, und es würde nie, nie mehr Krieg. Wenn Achim und Gottlieb
+davon erzählen, muß ich immer weinen, und weißt du, ich war einmal so
+dumm und wollte mitziehen, das hätte ich doch nicht fertig gebracht.
+Hier sind alle gesund, nur die Großmutter ist viel krank gewesen. Sie
+lassen dich alle grüßen, sie sehnen sich alle nach dir. Ich bete jeden
+Abend für dich. Ach Raoul, möchtest du doch gesund bleiben und bald
+wiederkommen!
+
+ Deine Base Gottliebe.«
+
+Raoul war beim Lesen an das Fenster getreten, nun ließ er den Brief
+sinken und starrte auf die belebte Straße von Paris hinab. Er sah aber
+nichts von all dem bunten, fremdartigen Leben da unten, er war mit
+seinen Gedanken weit, weit weg, und eine große Sehnsucht überkam ihn
+nach dem Vaterland, nach den Menschen, die er lieb hatte. Er reckte
+sich und breitete die Arme aus: »Ach ja, es wäre gut, wenn es erst
+Frieden würde!«
+
+»Und wir daheim,« rief Arnold von Berkow, und Oswald nickte: »Ich wär's
+zufrieden, bei Gott, es wäre gut.«
+
+Die drei verlebten als gute Kameraden in Paris viele Stunden
+miteinander, bis endlich der Tag kam, da auch sie heimwärts ziehen
+konnten, zurück in das befreite Vaterland.
+
+ * * * * *
+
+In Hohensteinberg war mit der Nachricht, daß endlich Friede geschlossen
+war, die rechte Sommerfreude eingekehrt. Endlich hatten sie alle wieder
+einmal Zeit, sich an dem Blühen, Wachsen und Reifen ringsum zu freuen,
+und auf den Feldern, über die vor zwei Jahren die Heere gestampft
+waren, wogte jetzt das Korn, und an den Rändern blühten rot und blau
+friedlich die Sommerblumen.
+
+»Die Ernte steht gut,« sagte Herr von Steinberg froh, als er an einem
+sonnenhellen Junitag vom Felde heimkam, »es wird hoffentlich ein gutes
+Jahr werden.«
+
+Die Seinen saßen alle vor dem Schloß und schauten, wie so oft in diesen
+Tagen, die schattige Allee entlang, und Gottliebe, die auf den Stufen
+vor dem Hause saß und mit nimmermüden Händen die ersten Frühbohnen
+schnitzte, sagte einmal wieder: »Ich könnte platzen vor Ungeduld. Warum
+Raoul nur noch immer nicht kommt!«
+
+Arnold von Berkow und Oswald Hippel waren bereits heimgekehrt, Raoul
+aber war noch in Leipzig geblieben, und wurde nun jeden Tag auf
+Hohensteinberg erwartet. Des Posthalters Wäglein stand immer bereit,
+ihn gleich nach dem Gute hinauszufahren.
+
+Gottlieb Käsmodel lachte. »Ja, mein Leipzig, das zieht halt den Raoul
+an sich!«
+
+»Du mit deinem Leipzig,« rief Gottliebe schmollend, »sag es doch
+endlich einmal, daß es in Hohensteinberg schöner ist.«
+
+»Nun geht der Streit schon wieder los. Ihr seid ja schlimmer als
+Bonaparte,« rief Joachim lachend. Der saß neben der Großmutter auf der
+Bank. Er war noch immer bleich, war noch immer nicht im Vollbesitz
+seiner Jugendkraft, aber seine Augen schauten viel heiterer drein, und
+nicht mehr wie einst überschattete so oft finstrer Trotz sein hübsches
+Gesicht.
+
+Die andern lachten auch; der Streit zwischen Gottliebe und Gottlieb
+über die Vorzüge von Stadt und Land wollte nie ruhen, es gab immer
+wieder ein lustiges, neckendes Wortgeplänkel zwischen den beiden, das
+ihrer Freundschaft aber nie Abbruch tat.
+
+»Ich bleib' dabei,« rief Liebe schelmisch und warf ihrem guten
+Kameraden und Namensvetter eine Bohne an die Nase, »daß es auf dem
+Lande am schönsten ist. Puh, gräßlich muß es sein, in einer dunklen
+Stadt zu wohnen. Da rennt man immer an die Häuser an, sieht nie Feld
+und Wald, und wenn man Brot essen will, muß man erst zu Herrn Meister
+Käsmodel gehen und eins kaufen; wir backen es uns allein!«
+
+»Das ist gerade fein,« rief Gottlobe, »da kann man nicht unversehens
+einen Scheffel Mehl über den Kopf bekommen, wie ihn mir neulich Jungfer
+Rosalie übergestülpt hatte. Ich möchte gleich in einer Stadt wohnen.«
+
+»Der Herr Pfarrer soll entscheiden, ob es in der Stadt besser ist
+als auf dem Lande,« rief Gottliebe und wandte sich bittend dem alten
+Freunde und Lehrer zu, der just zu ihnen trat. Ihm war das Haar völlig
+gebleicht in den letzten Jahren, wie Silber lag es aus seinem Haupt,
+seine Augen blickten mild und gütig wie immer auf die Jugend, die so
+heiter, den blühenden Blumen gleich, im Sommersonnenglanz dreinsah.
+»Ich werde nichts vom Lande und nichts von der Stadt sagen,« antwortete
+der Pfarrer fröhlich, »denn in einer Minute würdet ihr mir doch alle
+nicht mehr zuhören. Wollt ihr nicht sehen, wer dort kommt?«
+
+Aller Blicke wandten sich der Allee zu. »Raoul!« schrie Gottliebe auf,
+und die Bohnenschüssel fiel krachend zu Boden, und »Raoul!« tönte
+es vielstimmig nach. Gottliebe aber raste dem jungen Offizier, der
+mit raschen Schritten den schattigen Weg entlang kam, entgegen. Doch
+plötzlich blieb sie betroffen stehen und fragte fast zaghaft: »Bist du
+das wirklich, Raoul?«
+
+[Illustration: Die Steinbergs. (Seite 182.)]
+
+Der ergriff lachend des Bäsleins beide Hände. »Ich bin's, aber fast
+möchte ich fragen, bist du's, Gottliebe? Du siehst ja beinahe wie --
+eine junge Dame aus.«
+
+Da hing sich Gottliebe lachend an seinen Arm. »Damit hat's noch gute
+Wege, aber weißt du, ich freue mich zum Platzen, daß du da bist.«
+
+Raoul kam nicht dazu, ihr eine Antwort zu geben, die andern umdrängten
+ihn. Der Onkel zog ihn in seine Arme, Frau Maria küßte ihn liebevoll
+wie einen Sohn, Pfarrer Buschmann schüttelte ihm die Hand, Gottlobe
+wollte es auch tun, und Gottlieb schrie jauchzend: »Viktoria, Viktoria,
+er ist da, der Sieger ist da!«
+
+Die Großmutter war still auf der Bank sitzen geblieben. Joachim stand
+neben ihr, und beide dachten unwillkürlich: Er muß erst die anderen
+begrüßen. Doch Raoul hatte die Großmutter schon von weitem gesehen, sie
+zuerst; sie war viel älter geworden und saß nicht mehr so aufrecht wie
+früher da, und es trieb ihn zu ihr hin. »Großmutter,« sagte er rasch
+und kniete neben ihr nieder, »verzeihen Sie mir!«
+
+»Raoul, mein Kind, mein liebes, liebes Kind!« Die alte Frau zog des
+Enkels Kopf an sich. »O, daß ich dich wiedersehen kann, daß mir Gott
+diese Freude noch gab!« Und ganz leise, nur dem Jüngling verständlich,
+flüsterte sie: »Verzeih du mir, ich tat unrecht.«
+
+»Das ist ja wie in der Kirche,« brummte Gottlieb vor sich hin. Er
+schnitt ein wütendes Gesicht vor lauter Rührung und wäre am liebsten
+davongelaufen, doch etwas hielt ihn, eine Art von Bangigkeit war's: Wie
+wird er Joachim begrüßen? Er hatte den einstigen Feind seines Freundes
+so lieb gewonnen, daß er den Gedanken schon unerträglich fand, die
+beiden könnten sich nicht verstehen.
+
+Es war, als hätte die Großmutter seine Sehnsucht geahnt, sie ergriff
+Joachims Hand und legte die Hände der Enkelsöhne ineinander. »Ihr habt
+als Brüder für das Vaterland gekämpft, seid nun auch Brüder im Frieden!«
+
+Raoul sprang auf, und sekundenlang standen die Jünglinge sich Auge in
+Auge gegenüber. Nur ein kurzes, stummes Zögern und Fragen war's nach
+alter Feindschaft, altem Haß, dann lagen sie sich in den Armen, und
+jeder rief froh des andern Namen, daß beide zusammenklangen wie ein
+Wort.
+
+»Viktoria!« schrie Gottlieb wieder, und Liebe und Lobe fielen jauchzend
+ein. Aber trotz des Freudenrufes war Gottlieb das Herz auf einmal
+zentnerschwer geworden: nun gehörte Raoul, sein Raoul, ganz den
+Steinbergs an, und er hatte ihn verloren. Er wollte sich heimlich
+davonschleichen, aber Gottliebe sah es und hielt ihn fest. »Lauf doch
+nicht fort, du gehörst doch jetzt hierher. Was soll denn Raoul denken,
+wenn du nicht dabei bist?«
+
+Da blieb Gottlieb und merkte es dann bald, daß er den Freund nicht
+verloren hatte, und daß der mit alter Liebe und Treue an ihm hing. Er
+brachte ihm Grüße von seinen Eltern und der kleinen Schwester, von Karl
+Wagner und etlichen Schulgenossen. Meister Käsmodel hatte es schwer in
+dieser Zeit. Auch ihn hatte der Krieg fast zum armen Manne gemacht,
+aber er sah darum doch unverzagt und froh der Zukunft entgegen. »Die
+Hauptsache ist, daß wir frei sind von all der Fremdherrschaft,« hatte
+er gesagt.
+
+Das sagten viele mit dem braven Meister, wenn auch die fröhlichen,
+heiteren Friedenspläne, die an dem Tage von Raouls Heimkehr in
+Hohensteinberg geschmiedet wurden, nicht so bald in Erfüllung gingen.
+An diesem Tage wollte das Erzählen, Fragen, das Erinnern an vergangene
+Tage, das Pläneschmieden für künftige Zeiten kein Ende nehmen. Manchmal
+mahnten die Älteren: »Nun ist's genug! Alles muß nicht an einem Tage
+erzählt sein,« aber die Jugend fing immer wieder von neuem an mit
+»Weißt du noch?« und »Wie war dies und das?« So jubelnd, so herzenswarm
+hatte sich Raoul die Freude über seine Heimkehr nicht vorgestellt. Das
+Gefühl, so willkommen zu sein, tilgte an diesem Tage auch noch das
+letzte Restchen Bitterkeit aus seinem Herzen, und zuletzt erzählte er
+selbst mit lachendem Munde und strahlenden Augen die Geschichte seiner
+Flucht.
+
+»Aber nun ist alles gut,« sagte Gottliebe leise, froh, »und nun ist
+Friede, und hoffentlich kommt nie, nie mehr Krieg!«
+
+Doch Gottliebe mußte es erleben, daß noch einmal die Sturmglocken
+läuteten, daß noch einmal die Völker gegen Napoleon ziehen mußten.
+Wieder waren zwei Steinbergs dabei und kämpften tapfer. Raoul kehrte
+bald zurück, da er schon im ersten Gefecht verwundet wurde, Joachim
+aber konnte diesmal im siegreichen Heere mit in Paris einziehen und als
+Sieger heimkommen.
+
+Raoul blieb nicht Offizier, wie es sein Oheim gedacht hatte. In dem
+harten, schweren Krieg, dem furchtbaren Ringen war er zur Erkenntnis
+gekommen, daß er besser für ein stilles Studium geeignet sei, daß es
+seiner Neigung mehr entsprach, Wunden zu heilen als Wunden zu schlagen.
+Er wurde Arzt, der erste der Steinbergs, der diesen Beruf erwählte,
+und obgleich des Neffen Studium ihm neue Sorgen aufbürdete, ließ ihn
+der Oheim gewähren. Die Steinbergs gehörten auch zu denen, die um
+vieles ärmer geworden waren in den langen Kriegsjahren, aber das
+störte nicht den fröhlichen Mut, mit dem alle schafften. Joachim blieb
+dem Lande treu. Ein Jahr nur studierte er in Berlin, und die beiden
+Vettern verlebten eine arbeitsfrohe, freudenreiche Zeit zusammen.
+Dann kehrte Joachim nach Hohensteinberg zurück. Raoul aber zog wieder
+einmal in das trauliche Bäckerhaus als willkommener Pflegesohn, um ein
+paar Semester an der Leipziger Universität zu studieren. Sein Freund
+Gottlieb schaffte schon tüchtig in der Backstube, und der rastlosen
+Arbeit von Vater und Sohn gelang es wieder zu erwerben, was der
+Krieg ihnen genommen hatte. Die verschiedenen Berufe trübten nicht
+die Freundschaft der beiden, sie blieben Zeit ihres Lebens in treuer
+Zuneigung verbunden, und als dritter im Bunde gesellte sich immer Karl
+Wagner zu ihnen, der neidlos sah, daß sein einstiger Schreibgenosse den
+Beruf erwählen konnte, auf den ^er^ hatte verzichten müssen.
+
+Die Ferien verbrachte Raoul dann immer in Hohensteinberg, »zu Hause,«
+wie er oft dankbar sagte, wenn er wieder mit der Postkutsche über den
+Langensteiner Markt rollte und mit rüstigem Schritt den wohlbekannten
+Weg entlang lief.
+
+Dann gab es auch einmal eine Hochzeit auf Hohensteinberg: Lobe
+wurde Oswald Hippels Frau und eine tüchtige, tätige Landwirtin. Sie
+behauptete nun kühnlich, auf dem Lande sei es doch am schönsten, sie
+hatte alle Stadtsehnsucht verloren. Liebe flocht der jüngeren Schwester
+frohgemut den Brautkranz, sie sah Helene von Berkow Joachims Braut
+werden und las voll Freude, daß der junge Meister Käsmodel in Leipzig
+sich eine junge Meisterin gesucht hatte.
+
+Sie selbst blieb noch manches Jahr daheim, war des Hauses
+Sonnenstrahl, der Mutter erster Minister, des Vaters kluger kleiner Rat
+und der Geschwister treueste Freundin. Aber dann kam eines Tages Raoul
+und holte sich Gottliebe zur Frau, holte sie fort von Hohensteinberg
+gleich in die allergrößte Stadt Deutschlands, nach Berlin. Er hatte es
+mit unermüdlichem Eifer und Fleiß zu einem tüchtigen Arzt gebracht,
+sein Name wurde später weit über den Kreis seines Vaterlandes hinaus
+in hohen Ehren genannt. Doch weil Raoul sie holte, weil sie an Raouls
+Seite ging, erschien Gottliebe auch die fremde, große Stadt wie eine
+Heimat.
+
+»Eine rechte Tugendbündlerin fürchtet sich auch nicht vor der Fremde,«
+sagte sie heiter. Und als Eltern und Geschwister sie fragten: »Wirst du
+denn wo anders als in Hohensteinberg glücklich sein?« erwiderte sie:
+»Mit Raoul immer und überall!«
+
+»Raoul ist auch der einzige, dem ich dich gönne,« sagte Joachim am
+Hochzeitstag, und die Großmutter legte segnend die Hände auf der
+Enkelin blonden Scheitel: »Einen Besseren konntest du nicht finden!«
+
+[Illustration: Dekoration ENDE des Buches]
+
+
+
+
+Notizen des Bearbeiters
+
+Eingefügt: Hinweise auf Illustrationen am Ende des jew. Kapitels
+und am Anfang jeden Kapitels.
+
+Gesperrter Text markiert durch: ^gesperrt^
+
+Antiqua-Text markiert durch: _Antiqua_
+
+Fett gedruckter Text markiert durch: =fett=
+
+Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Die Steinbergs, by Josephine Siebe
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 59374 ***
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+++ /dev/null
@@ -1,6038 +0,0 @@
-The Project Gutenberg EBook of Die Steinbergs, by Josephine Siebe
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
-almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
-re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
-with this eBook or online at www.gutenberg.org/license
-
-
-Title: Die Steinbergs
- Eine Erzählung aus der Zeit der Befreiungskriege
-
-Author: Josephine Siebe
-
-Illustrator: Wilhelm Roegge
-
-Release Date: April 27, 2019 [EBook #59374]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE STEINBERGS ***
-
-
-
-
-Produced by Norbert H. Langkau, Matthias Grammel and the
-Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
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-[Illustration: Ex libris]
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-Die Steinbergs
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-[Illustration: Die Steinbergs. (Seite 4.)]
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- Die Steinbergs
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- Eine Erzählung aus der Zeit der Befreiungskriege
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- von
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- Josephine Siebe
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- Mit sechs farbigen Vollbildern von Wilhelm Roegge
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- [Illustration: Dekoration]
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- Stuttgart
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- Verlag von Levy & Müller
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-Nachdruck verboten.
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-=Alle Rechte=, insbesondere das Uebersetzungsrecht, vorbehalten.
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-Druck: Chr. Verlagshaus, Stuttgart.
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-Inhalt
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- Seite
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- Erstes Kapitel. Gute Hausgenossen 1
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- Zweites Kapitel. Das Schreiberlein des Herrn Advokaten
- Schnabel 18
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- Drittes Kapitel. Abschiedsstunden 37
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- Viertes Kapitel. Auf Hohensteinberg 55
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- Fünftes Kapitel. Als Fremdling in des Vaters Heimat 66
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- Sechstes Kapitel. Der Tugendbund wird gegründet 81
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- Siebentes Kapitel. Der Tugendbund nimmt ein jähes
- Ende 101
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- Achtes Kapitel. Einem traurigen Morgen folgen
- schwere Tage 115
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- Neuntes Kapitel. Auf weiten Wegen ins alte Nest
- zurück 126
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- Zehntes Kapitel. Nach langer Not zum heiligen Krieg 141
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- Elftes Kapitel. Fürs Vaterland was es auch 161
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- Zwölftes Kapitel. Ausklang 175
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-[Illustration: Dekoration Blatt]
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-[Illustration: Dekoration]
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-[Illustration: Ansicht, Titel 1. Kapitel]
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-Erstes Kapitel.
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-Gute Hausgenossen.
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-»Richtig ist das nicht mit dem Bengel,« schalt der dicke Bäckermeister
-Käsmodel und schlurrte aufgeregt in dem kleinen Laden auf und ab, der
-ein Schiebefenster nach dem Hausflur hin hatte, durch das die Backware
-verkauft wurde. »Allweil, wenn ich'n brauche, hat er zu lernen, immer
-zu lernen. Das Gymnasium, scheint's mir, hat ihm den Kopf verdreht.«
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-»Aber Christian,« beschwichtigte die Frau Bäckermeisterin, die gerade
-dabei war, Backware in die Körbe zu zählen, »hast es ja selbst gewollt,
-daß Gottlieb auf die hohe Schule kommt!«
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-»Na, ja,« murrte der Bäckermeister, »hast allweil recht. Wenn man von
-drei Jungen nur einen übrig behält, will man an den auch was wenden.
-Aber mein Herr Vater selig hätte mir schön heimgeleuchtet, wenn ich
-beim Austragen und Helfen nicht gleich wie der Blitz zur Hand gewesen
-wäre. Aber unserer, daß Gott erbarm!«
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-»Mann, Mann, er tut doch nichts Schlimmes,« mahnte die Frau freundlich,
-»und zum Austragen ist ja Raoul immer bereit.«
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-»Na freilich,« spottete der Bäcker, »'s ist gut, einen Boten bezahlen
-bei den schlechten Zeiten, nur weil der Musjeh Sohn nicht mag. Und
-warum mag er nicht? Weil er sich schämt, Laufjunge für seinen Vater zu
-sein, seit er auf der Lateinschule mit den feinen Herrchens verkehrt.
-Solche Alfanzereien hätte mir mein Vater selig kräftig mit dem
-Stock -- --«
-
-»So ist's nicht, Vater, das müssen Sie nicht denken!« -- Aus einem
-dunklen Winkel des Lädchens, hinter Mehlsäcken schaute in diesem
-Augenblick zur grenzenlosen Überraschung seiner Eltern ein keckes,
-rundes Bubengesicht hervor.
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-»Daß dich das Mäuschen beißt!« schrie der dicke Bäckermeister wütend,
-ergriff im Eifer einen langen Holzlöffel, der ihm gerade zur Hand lag,
-und wollte damit seinem Sohne etwas unsanft um die Ohren fahren.
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-»Christian,« bat die Frau etwas ängstlich und hielt ihren Mann am
-weißen Kittel fest, »hör' doch den Jungen erst an!«
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-Der war furchtlos aus seinem Versteck hervorgekrochen; er sah weiß und
-bemehlt aus, wie ein rechter Bäckerbub, selbst die Wimpern, die die
-trotzigen, ehrlichen Blauaugen überschatteten, schimmerten weiß.
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-»Ich will's dem Herrn Vater bekennen, warum ich nicht Austräger sein
-mag,« rief der kräftige, stämmige Bursche unerschrocken, »es ist wegen
-dem Raoul, nicht wegen der feinen Mitschüler, wie's der Herr Vater
-denkt. Der Raoul ist über jeden Groschen glücklich, den er seiner
-Mutter bringen kann; schenken läßt er sich nichts, aber verdienen ist
-was anders, und darum --«
-
-»Siehst du, Christian,« sagte die Bäckermeisterin, und ein
-Freudenschein lag auf ihrem Gesicht, »unser Junge meint's gut.«
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-»Na freilich, der reine Engel ist's, nur schade, daß man's so selten
-merkt, ist aus seines Vaters Tasche heraus großmütig, faulenzt aus
-lauter Freundschaft,« brummelte Meister Käsmodel, der es nicht zeigen
-wollte, wie weich es ihm eigentlich ums Herz war.
-
-Gottlieb aber kannte seinen Vater und wußte schon, daß der Zorn
-verraucht war, und so rief er vergnügt: »Ich denke, den Herrn Vater
-machen die paar Groschen nicht zum armen Mann, und er gönnt Raoul schon
-den kleinen Verdienst.«
-
-»Na ja, na ja, meinetwegen. Ein Jammer ist's ja, so eine feine,
-vornehme Frau, der's wahrhaftig anders an der Wiege gesungen wurde, und
-muß sich so kümmerlich durchs Leben bringen. Na ja, ja, meinetwegen,
-lauf, Gottlieb, und hol' deinen Freund. Nee nee, 's soll keiner vom
-Meister Käsmodel sagen, daß er nicht gern hilft, wenn er kann!«
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-Gottlieb war schon, ehe der Vater noch recht seine Rede beendet hatte,
-durch die Tür aus den Hausflur geschlüpft, und mit einer Schnelligkeit,
-die wohl niemand seiner kurzen, gedrungenen Gestalt zugetraut hätte,
-stürmte er die Treppen in dem alten, himmelhohen Haus empor. Oben gab
-es zuletzt nur eine Leitertreppe, auch sie kletterte er mit Windeseile
-hinan. Vor einer niedrigen Türe blieb er aber dann einige Sekunden
-pustend stehen und klopfte nun leise und vorsichtig. Doppelstimmig
-klang es von drinnen »herein«, und als Gottlieb rasch eintrat, scholl
-es ihm entgegen. »Gottlieb ist's, ich dachte es mir schon!«
-
-Ein schlanker, etwa dreizehnjähriger Knabe, der den Bäckerssohn um
-einen Kopf überragte und in seiner ärmlichen, abgetragenen Kleidung
-fast wie ein verwunschener Prinz aussah, kam eilig herbei, und in
-seinen dunklen Augen blitzte es wie Hoffnung auf: »Soll ich kommen?«
-
-Gottlieb nickte und sagte, verlegen sich durch seinen Strubbelkopf
-fahrend: »Es ist schon nötig, bist nicht böse drüber, nein?«
-
-Und ohne eine Antwort abzuwarten, ging Gottlieb Käsmodel rasch durch
-das Zimmer und verbeugte sich, so gut er es zuwege brachte, und so
-tief, daß sein dichter, blonder Haarschopf beinahe den Boden fegte,
-vor einer Dame, die an einem der beiden kleinen Fenster saß und das
-verdämmernde Licht des kurzen Wintertages noch emsig zu ihrer Näharbeit
-ausnützte.
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-Trotzdem auch sie schlicht, ja ärmlich gekleidet war, würde jeder in
-dieser schlanken Frau die vornehme Dame erkannt haben. Sie, der Knabe
-und ein paar von blitzenden Goldrahmen umfaßte Ölbilder nahmen sich
-ganz fremd in der Stube mit den schiefen Wänden, den kleinen Fenstern
-und dem ärmlichen Hausrat aus.
-
-»Darf Raoul kommen?« fragte Gottlieb, der ganz unwillkürlich hier immer
-etwas seine laute Stimme dämpfte.
-
-Über das sehr blasse Gesicht der Frau, auf dem Kummer und Sorge noch
-nicht die einstige strahlende Schönheit verwischt hatten, glitt ein
-wehes Lächeln. »Gewiß gern, lieber Gottlieb,« sagte sie unendlich
-sanft, »und grüße die Eltern!«
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-Gottlieb Käsmodel verneigte sich noch einmal so tief, daß er nun
-beinahe nicht wieder in die Höhe gekommen wäre, Raoul von Steinberg
-küßte seiner Mutter ehrfurchtsvoll die Hand, und dann eilten die Knaben
-hinaus, leise und gemessen durch das Zimmer, die Treppen aber polterten
-sie gar geschwind hinab.
-
-»Wenn du fertig bist, kommst du in meine Kammer,« bat Gottlieb, »ich
-warte mit den Aufgaben.«
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-Raoul nickte nur und schlüpfte eilfertig durch den Hausflur in das
-Lädchen. Dort hatte die Bäckermeisterin zwei große Körbe mit Backwaren
-gefüllt, und Raoul bekam die Weisung, dahin und dorthin dies und das zu
-tragen. »Ein Bäckerjunge muß aber zeigen, daß die Ware gut ist, und was
-essen,« sagte die Frau gutmütig und steckte dem schlanken Knaben ein
-paar recht große Wecken zu. Einer hätte wohl genügt, um einen gesunden
-Bubenappetit zu stillen, aber die Meisterin wußte, daß der andere
-hinauf wanderte in das Dachzimmer und dort eine Mahlzeit der Frau von
-Steinberg bildete. Raoul teilte immer mit der Mutter, mochten die
-Bissen noch so klein und der Hunger noch so groß sein.
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-Während Raoul von Steinberg an diesem etwas trüben Januartag des Jahres
-1811 durch die engen Straßen der alten Stadt Leipzig lief und die
-bestellte Ware Meister Käsmodels Kunden zutrug, vollendete seine Mutter
-eine vielfach gefältelte Frauenhaube. So mühsam die Arbeit war, sie
-ließ ihr doch Zeit genug, mit ihren Gedanken in die Vergangenheit zu
-eilen. Die Gegenwart war so trübe, und die Zukunft lag so schwer und
-hoffnungslos vor der Frau, daß ihr die glückliche Vergangenheit wie ein
-blumenreiches Gärtlein war, in dem sie nach des Tages Last und Mühe
-still einherging.
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-Frau Madeleine von Steinberg war eine Französin von Geburt. Sie
-entstammte einer sehr vornehmen Emigrantenfamilie, die sich vor den
-Schrecken der Revolution erst in eine kleine rheinische Stadt, dann
-nach Dresden geflüchtet hatte. In dieser schönen, heiteren Stadt
-verlebte Madeleine ihre Mädchenjahre. Ihr Vater hatte wenigstens einen
-Teil seines Vermögens gerettet, und zwar so viel, daß die Familie
-ohne Sorgen leben konnte. Ein Vetter der Gräfin hatte ein hohes Amt
-am sächsischen Hofe inne. In seinem Hause und durch seine Vermittlung
-wurde Madeleine in die Gesellschaft eingeführt, und auf einem Balle
-lernte sie auch ihren nachherigen Gatten, Georg Wilhelm von Steinberg,
-kennen. Dieser, Ostpreuße von Geburt, hielt sich nur kurze Zeit in
-Dresden auf; als er ging, bat er Madeleines Vater um die Hand seiner
-Tochter. Doch der wies ihn ab, er sagte, er wolle keinen Preußen zum
-Schwiegersohn. Die Mutter, der das feste, ehrenhafte Wesen dieses
-preußischen Junkers gut gefiel, tröstete: »Abwarten! Die Zeit mildert
-wohl des Vaters Sinn!« Aber ehe dies geschah, starb der Graf, gerade
-als sich sein Sohn nach Frankreich begeben hatte, um dort zu versuchen,
-die reichen Güter der Familie zurückzugewinnen, denn der wilde Brand
-der Revolution war im Erlöschen. Die Gräfin, eine zarte, schwächliche
-Frau, war müde von allem Leid, sie wollte ihre junge Tochter in gutem
-Schutz wissen, und so durfte diese dem abgewiesenen Freier schreiben,
-daß einer Heirat nichts mehr im Wege stand. Nach wenigen Wochen schon
-wurde Madeleine Georg Wilhelm von Steinbergs Gattin, und wieder nach
-wenigen Wochen stand sie am Sarge der Mutter.
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-Das junge Ehepaar siedelte nach Berlin über; Herr von Steinberg war
-preußischer Offizier und stand in der Hauptstadt. Madeleine hatte
-nicht geahnt, daß gleich ihrem Vater auch die Familie ihres Mannes die
-Heirat ungern gesehen hatte. In diese alte preußische Familie passe
-keine Französin hinein, hatte die Mutter ihres Mannes geschrieben.
-Diese, eine stolze, durch ein schweres Leben herb und verschlossen
-gewordene Frau, hatte den herzlichen, um Liebe bittenden Brief
-der Schwiegertochter nur kühl erwidert. Vielleicht wäre es Frau
-Madeleine gelungen, nach und nach die Liebe und das Vertrauen der
-neuen Verwandten zu erringen, sie war aber scheu, und ein hartes Wort
-schreckte sie gleich zurück. Ihr Gatte zürnte den Verwandten, er bat
-auch nicht weiter, ja die Vorwürfe der Mutter verletzten ihn so, daß er
-zuletzt gar nicht mehr schrieb, und zu einer Fahrt in die Heimat kam es
-auch nicht. Doch auch Madeleines eigener Bruder zürnte ihr: er wieder
-haßte den Preußen, und sein Haß ging so weit, daß er der Schwester das
-Erbteil entzog.
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-Mit Sorge und Leid begann die junge Ehe, und doch war sie unendlich
-glücklich; die Jahre, die Madeleine an der Seite ihres Mannes verlebt
-hatte, waren für sie der reiche, köstliche Blumengarten, in den ihre
-Seele immer wieder zurückkehrte. Dann kam der Krieg von 1806/1807. Bei
-Saalfeld wurde Rittmeister von Steinberg schwer verwundet. Einem Freund
-von ihm gelang es, den Verwundeten zu retten und ihn nach Leipzig zu
-schaffen. Dort fand Frau Madeleine den Gatten, dort pflegte sie ihn die
-letzten schweren Monate seines Lebens, dort starb er, und nach seinem
-Tode blieb die Witwe mit ihrem einzigen Kinde, einem Knaben, in der
-Stadt.
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-Die Krankheit, der Krieg und eigenes schweres Leiden raubten der Witwe
-das geringe Vermögen, und zwei Jahre nach dem Tode ihres Mannes befand
-sie sich in den ärmlichsten Verhältnissen. Sie wandte sich mit der
-Bitte um Hilfe an ihren Bruder, der inzwischen in Napoleons Dienst
-getreten war und alle seine Güter zurückerhalten hatte. Ein hartes
-Nein war die Antwort. »Ich will dir nur helfen, wenn du hier in dein
-Vaterland zurückkehrst und deinen Sohn als Franzosen erziehst,«
-schrieb er, doch Frau Madeleine hatte dem Gatten gelobt, den Sohn in
-der Heimat zu erziehen, und sie hielt ihr Wort.
-
-Die Verwandten ihres Mannes um Hilfe zu bitten, wagte sie nach dieser
-harten Abweisung des einzigen Bruders gar nicht mehr, dazu war sie zu
-scheu und zaghaft, so nahm sie tapfer allein den Kampf mit dem Leben
-auf. Sie blieb in Leipzig, bezog mit ihrem Sohne eine Mansardenstube
-im Hause des Bäckermeisters Käsmodel und versuchte sich mit feinen
-Putzarbeiten zu ernähren. Es wäre ihr wohl auch ganz gut gegangen, denn
-sie war geschickt und erwarb sich bald einige Kunden, doch die Zeiten
-waren schlecht, und dazu kamen wochenlange Krankheiten, die sie oft
-arbeitsunfähig machten. Das wenige Geld, das sie besaß, mußte nach und
-nach verbraucht werden, und mit heißer Angst dachte sie manchmal an
-die Zukunft. Was sollte aus ihrem Sohn werden? Sie erzog den Knaben,
-dem Wort getreu, das sie ihrem sterbenden Manne gegeben hatte, im
-Sinne seines Vaters. Sie selbst besaß nur noch eine blasse Erinnerung
-an ihr schönes Heimatland, an das Schloß ihres Vaters an den Ufern
-der Loire und das Palais in Paris. Die neue Herrschaft in Frankreich,
-Napoleons Eroberungszüge erfüllten ihre sanfte Seele mit Schrecken.
-Ihr Mann war im Kampf gegen den unersättlichen Eroberer gefallen,
-sie sah, welch namenloses Leid dieser gewissenlose Emporkömmling
-über die Länder brachte, und ihr Herz blutete vor Mitgefühl mit den
-gepeinigten, zertretenen Völkern. Napoleon war für sie nicht der Kaiser
-von Frankreich, dieses schönen, anmutigen Landes, das ihr wie ein
-Märchenland in der Erinnerung lebte, er war ihr ein böser Dämon, der
-Not, namenloses Leiden über die Menschen brachte. In dieser Anschauung
-wuchs Raoul auf; ein tiefer Haß gegen den Völkervernichter, ein heißes
-Mitleid mit denen, die unter seiner Tyrannei litten, wurde groß in dem
-Herzen des Knaben. --
-
-Die Dämmerung hatte nach und nach das Mansardenzimmer Frau von
-Steinbergs in Dunkel gehüllt, nur am Fenster hing noch ein matter
-Lichtschein, zu schwach aber, um bei ihm weiter arbeiten zu können.
-Erschöpft ließ die Frau die Arbeit sinken; Brust und Rücken taten ihr
-weh, und fröstelnd zog sie das dünne Tuch um ihre Schultern. Es war
-kalt im Zimmer, in dem Öfchen war das Feuer ausgegangen, und draußen
-wehte ein scharfer, harter Nordwind. Doch Brennholz kostete Geld,
-Nahrung, Kleidung, alles kostete Geld, und der Verdienst war gering.
-Ein paar Goldstücke lagen freilich noch in dem Kasten, in dem Frau
-Madeleine den Trauring ihres Mannes, sein Bild, eine Haarlocke von ihm
-und ähnliche Erinnerungen aufbewahrte, aber dieser Notgroschen sollte,
-mußte für Raoul bleiben. »Wenn ich nicht mehr lebe,« dachte die Frau
-müde.
-
-Draußen polterte wieder jemand die Stiegen herauf, es klopfte, und
-einen Augenblick später trat breit und behaglich, ein bammelndes
-Laternchen in der Hand, die Bäckermeisterin Käsmodel in das Zimmer.
-»Nichts für ungut, wenn ich störe,« sagte sie freundlich, »ich wollte
-nur sagen, daß es in unserer Backstube kuchenwarm ist, und daß es
-eigentlich jammerschade ist, daß Feuer und Licht nicht genug ausgenutzt
-werden. Na, und dann, Frau von Steinberg wissen, wie himmelgern ich so
-'n kleinen Tratsch mache. 'n bißchen was von Dresden hören, darüber
-geht nur nichts. Wär's gar so unbescheiden, wenn ich bitten tät, auf
-ein Stündchen herunterzukommen?«
-
-Madeleine von Steinberg sah die Bäckermeisterin dankbar an, die im
-Lichtschein ihres Laternchens an der Türe stand und die blasse
-Frau anschaute, just als möchte sie sagen: Komm, du armes, krankes
-Menschenkind, laß dich lieb haben von mir und dir was Gutes tun!
-
-Diese Szene wiederholte sich allabendlich: immer wenn es dunkel und
-kalt in der Kammer wurde, holte die Meisterin ihre Hausgenossin in die
-warme Stube hinab, in der es so kräftig nach Mehl und nach frischem
-Brot roch. Dann saßen die Frauen bis zum Nachtmahl zusammen, wohl
-noch darüber hinaus, denn oft baten die Bäckersleute, es sei doch
-gerade so gemütlich, da könnte Frau von Steinberg doch ein Häppchen
-mitessen, es sei ihnen dies eine besondere Ehre. Anfangs hatte sich
-die Frau gegen diese stille, versteckte Wohltätigkeit gewehrt, hatte
-nichts, auch gar nichts annehmen wollen, aber jetzt war sie so müde und
-niedergeschlagen; die Einsamkeit lastete so schwer auf ihr, daß sie
-aufatmete, wenn die Meisterin Käsmodel mit ihrem Laternchen erschien.
-
-Auch heute raffte Madeleine von Steinberg hastig ihre Näherei zusammen
-und folgte der freundlichen Hausgenossin die steilen Treppen hinab
-in das durch das Ofenfeuer und eine Unschlittkerze traulich erhellte
-Stübchen. Die Meisterin strickte und bewunderte dazwischen höchlichst
-die Fältchen, Tollen und Schleifen, die unter Frau von Steinbergs
-geschickten Händen entstanden. »'s ist wirklich zum Anbeißen adrett,
-was Sie da nähen, aber freilich, die Lust vergeht einem schon an
-solchen Dingen, eine gar so böse Zeit ist's.« Die Bäckermeisterin
-seufzte tief. »Wohin man hört, gibt's Kummer. Draußen auf den
-Landstraßen soll man seines Lebens nicht mehr sicher sein.«
-
-Am Schiebefensterchen nach dem Hausflur hin bimmelte die Klingel, und
-ein von der Luft gerötetes Mädchengesicht erschien daran. Ein Brot
-wurde verlangt, die Meisterin reichte es hinaus und erkundigte sich
-dabei gleich, ob die Madame Preußer wieder wohlauf sei.
-
-»Die Madame ist wieder beisammen,« erzählte die Magd, »aber der Herr,
-der Herr! Gestern hab' ich ihn sagen hören, an nichts hätt' er mehr
-Freude, seit die Franzosenbagasch« --
-
-»Halt Sie das Maul,« fuhr die sonst so sanftmütige Meisterin Käsmodel
-die Magd heftig an, »so was hört mer nicht, und wenn mer's hört, sagt
-mersch nicht! Verstanden?«
-
-Die Magd riß ihre großen wasserblauen Augen weit auf vor Schreck, und
-ganz kleinlaut versicherte sie: »Ich sag nischte mehr, nie nich.«
-
-»Das ist auch am besten,« brummte die Bäckermeisterin und wandte sich
-einer neuen Kundin zu, einem schmächtigen, verhutzelten Weiblein, das
-ganz scheu in eine Ecke gedrückt im dunklen Flur stand und kaum an das
-Schiebefensterchen zu treten wagte. »Na, was gibt's, Schmidten, soll's
-ein Brot sein?«
-
-Die Frau wartete erst, bis die stattliche Magd gegangen war, dann trat
-sie vor und flüsterte mit heiserer, ängstlicher Stimme: »Wenn Se mer's
-borgen täten, Frau Meistern, nich en Groschen hab' ich im Haus!«
-
-Die Bäckerin seufzte, und ihr Blick überflog die auf den Ständern
-aufgereihten Brote. Wie manches ging davon weg ohne Bezahlung.
-Ihr Mann schalt oft, sie sei zu weichherzig, bringe sie alle noch
-an den Bettelstab, aber was sollte sie tun? Die Frau dort am
-Schiebefensterchen hatte fünf Kinder daheim. Wo ihr Mann geblieben war,
-wußte niemand; er war in die Fremde gezogen, um einen Verdienst zu
-finden, als die harten Zeiten anfingen, und dort war er verschollen,
-vielleicht gestorben.
-
-»Da, Schmidten, Gott segne es ihr und den Kindern,« sagte die Meisterin
-und legte rasch eins der Brote in die verlangend ausgestreckte Hand der
-Frau. Dann schloß sie, da keine Kunden mehr draußen standen, geschwind
-das Schiebefensterchen und kehrte zu ihrem Gast zurück.
-
-Die beiden Frauen waren nach Stand und Bildung sehr verschieden
-voneinander, denn als Madeleine von Steinberg noch in Dresden die
-glänzenden Feste der Hofgesellschaft mitgemacht hatte, war Frau
-Käsmodel eine flinke, fröhliche Magd im Pfarrhause an der Kirche von
-St. Thomä gewesen, aber trotzdem verstanden sie sich gut mitsammen.
-Frau von Steinberg kannte Not und Entbehrung aus Erfahrung. Die
-Bäckermeisterin hatte zwar noch nie um ihr tägliches Brot gebangt,
-aber sie sah, wie ringsum die Armut wuchs, wie die Zeiten schlechter
-und schlechter wurden. Sie hatte auch tiefes Mutterleid erfahren:
-zwei Kinder waren ihr gestorben, und so wußten sich die beiden Frauen
-mancherlei zu sagen. Der Meisterin Käsmodel konnte die zarte, langsam
-dahinsiechende Bewohnerin aus der Mansarde auch von ihrer Sorge um
-ihres einzigen Kindes Zukunft sprechen.
-
-Während die Mütter mal wieder über ihre Kinder sprachen, -- die
-Bäckersleute besaßen noch zwei dralle runde Mädels von drei und
-vier Jahren, -- saßen die beiden Buben zusammen auf einem Bänkchen
-im Backofenwinkel und lernten, daß ihnen die Köpfe rauchten. Seit
-einem Jahre besuchte Gottlieb das Gymnasium. Meister Käsmodel wollte
-seinem Buben eine gute Bildung geben lassen, er pflegte zu sagen: »Du
-mußt ebenso gescheit werden wie drei!« Zu dieser großen Gescheitheit
-verspürte Gottlieb nun freilich keine allzu große Lust, und er wäre
-vielleicht etwas schwer über die Anfänge der lateinischen Sprache
-hinweggekommen, wenn Raoul nicht gewesen wäre. Frau von Steinberg, die
-selbst eine sehr gute Bildung genossen hatte, unterrichtete ihren Sohn
-selbst; es war ihr unmöglich, ihn auf eine höhere Schule zu schicken.
-Als der Sohn heranwuchs, sah sie freilich, daß es zu wenig war, was
-sie den glänzend begabten Knaben lehren konnte, allein Raoul war so
-lerneifrig, daß er selbst voll Eifer aus den wenigen Büchern, die er
-besaß, lernte, was er vermochte. »Ich wollte, du könntest statt meiner
-dies alberne Latein lernen!« murrte Gottlieb einmal, als er seufzend
-und stöhnend die ersten Gymnasiumstage hinter sich hatte.
-
-»Ich will mit dir lernen,« sagte Raoul dienstwillig, »vielleicht wird
-es dir dann leichter!«
-
-Gottlieb hatte das Anerbieten gern angenommen, und seitdem arbeiteten
-die Knaben zusammen und merkten bald, daß sie beide Vorteil davon
-hatten. Was der Bäckerssohn in der Schule gelernt hatte, teilte er dem
-Freunde mit. Dabei wurde ihm selbst manchmal erst klar, was er nicht
-verstanden hatte; er paßte auch besser auf, um sich seiner Dummheit
-nicht schämen zu müssen, und wußte er einmal gar nicht weiter, dann
-fand sicher Raoul aus den Büchern den richtigen Weg, und so umschifften
-beide gemeinsam manche Klippe der lateinischen Grammatik und der andern
-Lehrbücher. Raoul sagte oft sehr vergnügt zu seiner Mutter: »Es ist
-beinahe so gut, als ob ich selbst auf das Gymnasium ginge.«
-
-An diesem Abend hatten sich die Buben beide in die Geheimnisse der
-römischen Geschichte vertieft. Gottlieb ein wenig unlustig, er sah
-nämlich nicht ein, warum ein zukünftiger ehrsamer Bäckermeister die
-römischen Könige, Volkstribunen und Kaiser mit Namen kennen mußte, und
-daß er einmal Vater Käsmodels Beruf ergreifen würde, stand bei ihm
-fest. »Du,« brummte er und stieß den Kameraden an, »die kaufen doch mal
-keine Brote und Wecken bei mir, warum soll ich sie nun alle kennen?«
-
-Raoul sah mit seinen ernsten Augen nachdenklich auf den Freund und
-sagte träumerisch: »Ich wollte, ich wär' ein Römer!«
-
-»Nee,« rief Gottlieb verdutzt, »das hab' ich mir noch nie gewünscht,
-aber weißte, Soldat möchte ich werden und dem Napoljong feste de Jacke
-verhauen; dazu brauch' ich doch aber nicht alle diese eklichen Namen zu
-wissen.«
-
-Das stimmte nun freilich, und der sonst so lerneifrige Raoul ließ
-auch für ein Weilchen das Buch sinken, denn jetzt waren die Knaben
-wieder mal bei dem allerbeliebtesten Gespräch angelangt: Napoleon
-und seine Kriege. Im Hause Meister Käsmodels war man alleweg gut
-deutsch gesinnt. Das Kriechen und Katzbuckeln vor Frankreich, das
-Verherrlichen des gewissenlosen Eroberers, das auch in Leipzig leider
-in manchen guten Bürgersfamilien geübt wurde, war dem ehrlichen,
-aufrichtigen Bäckermeister in der Seele zuwider. Er war zwar ein
-schlichter, ungelehrter Mann, aber er hatte einen hellen, klaren
-Verstand, und voll Schmerz sah er, wie tief der deutsche Stolz, das
-deutsche Vaterlandsgefühl am Boden lag; nach den Reden mancher Bürger
-hätte man meinen müssen, Sachsen gehöre von Gottes und Rechts wegen
-zu Frankreich. In widerlich schmeichelnden Lobeshymnen sang man
-Bonapartes Lob, und man hatte ganz vergessen, daß es Deutsche waren,
-Stammesgenossen, die von Napoleon geknechtet wurden. Der Kaiserhaß, der
-Abscheu vor dem französischen Übermut hinderte dabei die Bäckersleute
-nicht, ihrer Hausgenossin, der Französin, in Treue hilfreich
-beizustehen. »Denn,« pflegte der Meister Käsmodel zu sagen, »der
-einzelne Mensch, der meine Hilfe braucht, ist alleweil mein Nächster,
-und wenn man über ein Volk auch gerade vor Wut bersten möchte, kommt
-uns einer davon in die Quere, so ist es eben Christenpflicht zu helfen,
-wenn man kann. Na, und so'n armes Weiberseelchen hat in der lieben
-Gotteswelt noch keinem ein Unrecht getan. Pfui Teufel, wäre das ruppig,
-der nicht beizustehen!«
-
-In diesem Geist wuchsen die Kinder auf, und sie vertrugen sich so
-gut zusammen, daß nie ein Streit die Freundschaft trübte. Gottlieb
-bewunderte Raoul restlos. Der war ein Idealist, ein Feuerkopf, der von
-hohen Taten träumte, und manchmal staunte der praktische, ein bißchen
-schwerfällige Bäckerssohn über des Freundes kühne, hochfliegende
-Zukunftspläne.
-
-»Warum ist man nur noch so jung!« schrie Raoul plötzlich in
-hellflammender Tatensehnsucht auf.
-
-»Allweil nu möcht ich wissen, warum der Musjeh zu jung ist?« fragte
-Meister Käsmodel, der gerade wieder eintrat. »Jugend ist alleweil der
-einzige Fehler, von dem man jeden Tag 'n Linschen ablegt.«
-
-»Ich möchte groß sein, Soldat sein und in den Kampf gegen Napoleon
-ziehen können!« rief Raoul.
-
-»Jetzt ist Frieden,« brummte der Meister, »Frieden, ihr Bengels,
-aber merkt's: alleweil ist's mit dem Frieden jetzt so wie mit meiner
-Backofenglut. Wenn ich nicht backe, decke ich Asche drauf, viel Asche,
-und nachher, wenn ich wieder Feuer brauche, stöbere ich die Asche weg,
-ein paar Scheite drauf, und heissa, das Feuer brennt!«
-
-»Das Feuer brennt!« schrieen die Knaben unwillkürlich mit, die Frauen
-aber schraken zusammen, und die Bäckermeisterin bat ängstlich: »Mann,
-Käsmodel, setz den Jungens doch nicht solche Gedanken in'n Kopf, man
-weiß heute nie, was draus wird.« Sie sah sich scheu um. »Man muß
-vorsichtig sein.«
-
-»Ih was,« knurrte der Meister, »Glut muß bleiben -- bis die Zeit zum
-Backen kommt! Hab' ich nicht recht, Frau Nachbarin?«
-
-Frau von Steinberg schloß sekundenlang die Augen; sie sah sich wieder
-am Sterbebett ihres Mannes stehen und hörte ihn mit versagender Stimme
-rufen: »Die Schmach muß ausgewetzt werden, vergiß es nicht, vergiß es
-nie!« -- und ganz leise sagte sie: »Sie haben recht, Meister, die Glut
-muß bleiben -- bis die Zeit kommt.«
-
-Dann legte sie ihre Arbeit zusammen und nahm Abschied von ihren
-freundlichen Wirtsleuten, es war Zeit zur Nachtruhe. Raoul folgte
-bereitwillig der Mutter. Er hoffte noch auf ein Plauderstündchen, um
-ihr von allem zu erzählen, was er auf seinem Botengange gesehen und was
-er mit Gottlieb gelernt hatte, aber oben sagte die Mutter sanft, und
-ihre Stimme klang unendlich müde: »Erzähl mir morgen alles, Raoul, ich
-brauche heute Ruhe.«
-
-Es dauerte nicht lange, und der Bube lag im Bett und schlief auf dem
-harten Strohsack fest wie ein Murmeltier. Seine Mutter aber fand keinen
-Schlaf. Brust und Rücken schmerzten, sie fror, und quälender noch als
-Schmerzen und Kälte peinigte sie der Gedanke an die Zukunft. Wieder wie
-so oft in den langen Wochen, da sie fühlte, daß ihre Kräfte mehr und
-mehr abnahmen, dachte sie an die Verwandten ihres Mannes, an seinen
-Bruder auf Hohensteinberg und -- an seine Mutter. Sie hatte, seit sie
-selbst Mutter war, oft gedacht, daß sie und ihr Mann damals wohl zu
-rasch das Werben um die Verzeihung der alten Frau aufgegeben. Die hatte
-sie ja nicht gekannt, nichts von ihr gewußt, fremd war sie ihr, -- wie
-durfte sie da gleich Liebe fordern! Vielleicht hätte die Mutter ihr
-gern geholfen, sie verstanden. Und wieder rang sie mit ihrem Stolz und
-nahm sich vor, an die Mutter, den Schwager zu schreiben und um Hilfe
-zu bitten, nicht mehr für sich, aber für ihren Sohn, damit er nicht
-verlassen und schutzlos war, wenn sie von ihm gehen mußte -- vielleicht
-würde das bald sein, sehr bald.
-
-Ein tiefes Stöhnen entrang sich der schmerzenden Brust der armen Frau,
-und Raoul, der im Winkel unter dem schrägen Dach schlief, wachte auf.
-»Riefst du mich, Mama?« Doch alles blieb still, vom Bett der Mutter kam
-keine Antwort, und so huschelte sich Raoul beruhigt wieder in seine
-Decke ein und schlief seinen festen, gesunden Jugendschlaf weiter.
-
-Die Frau preßte die Lippen fest zusammen, damit kein Klagelaut wieder
-den Schlaf ihres Kindes stören sollte, über ihr Gesicht aber rannen
-Tränen, bittere, schwere Tränen. Draußen hatte sich der Wind erhoben,
-er sauste und brauste um die hohen, spitzgiebligen Häuser herum, drehte
-knarrend die Wetterfahne auf dem Dach und klapperte an der Dachrinne.
-Die Frau hörte das wilde Lied und dachte an den Sturm, der ihr Glück
-vernichtet hatte. Jetzt schwieg er, Friede herrschte, aber wie lange
-noch? Erst gegen Morgen, als sich auch draußen der Sturm legte, schloß
-der Schlaf für wenige Stunden die müden Augen, und ein heiterer Traum
-entführte ihre Seele für kurze Zeit der trüben, schweren Gegenwart.
-
-[Illustration: Dekoration Ende 1. Kapitel]
-
-
-
-
-[Illustration: Dekoration Titel 2. Kapitel]
-
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-
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-Zweites Kapitel.
-
-Das Schreiberlein des Herrn Advokaten Schnabel.
-
-
-»Mit der Frau von Steinberg steht's nicht gut, Mann,« sagte die
-Meisterin ein paar Tage später, als ihre Hausgenossin gerade von einem
-Ausgang zurückkehrte und langsam, die schlanke Gestalt vornübergeneigt,
-den dämmrigen, schmalen Flur durchschritt.
-
-»Ach, Unsinn! Weiberleut müssen sich allweil ängstigen,« knurrte der
-behäbige Bäcker, aber auch er sah der bleichen Frau ernst nach. Stufe
-auf Stufe stieg diese die Treppe empor. So himmelhoch und endlos wie
-heut waren sie ihr noch nie erschienen. Sie hatte an diesem Tage selbst
-eine Haube forttragen müssen zu einer wohlhabenden Kaufmannsfrau, die
-verlangt hatte, sie solle ihr das Kunstwerk gleich einmal aufsetzen.
-
-Der Weg bei dem rauhen, unwirtlichen Wetter war Madeleine von Steinberg
-sehr schwer geworden, und als sie auf der zweiten Treppe angelangt war,
-mußte sie sich einen Augenblick an die Wand lehnen; fast unmöglich
-erschien es ihr, hinaufzukommen, noch so viele Stufen, noch die mühsame
-Leiter gab es zu erklimmen.
-
-»Mama, was fehlt dir?« Raoul von Steinberg fuhr ein paar Minuten später
-erschrocken auf und ließ das Buch, in dem er gelernt hatte, zu Boden
-fallen. »Um Gotteswillen, Mama, Mutter!«
-
-»Ich -- es ist nichts, mein Junge, mein -- armer Junge!« Die Frau
-taumelte und wäre zu Boden gefallen, wenn nicht des Knaben starke junge
-Arme sie gehalten hätten.
-
-Ein Hilferuf gellte durch das Haus, ein weher, verzweifelter Angstruf.
-Er drang auch hinunter in das warme Bäckerlädchen, schreckte die
-Meisterin auf und trieb Gottlieb aus seinem Ofenwinkel heraus. Der
-Meister kam auch, die Magd mit den beiden Kleinen lief herzu, oben
-im Hause, in dem ein Warenlager untergebracht war, wurden Türen
-geschlagen, man hörte rufen, und dann stand von allen Hausgenossen
-doch die rundliche Bäckermeisterin zuerst oben im Mansardenstübchen,
-hinter ihr tauchte Gottlieb auf, und beide sahen Frau von Steinberg
-wachsbleich, mit blutbeflecktem Kleid in Raouls Armen liegen.
-
-»Die Mutter stirbt,« schrie der Knabe verzweifelt, und seine heißen
-Tränen mischten sich mit dem roten Blut der Mutter, das tropfenweise
-dem blassen Munde entströmte.
-
-Die Meisterin griff herzhaft zu, und als nach wenigen Minuten auch
-die andern Hausgenossen im Zimmer erschienen, trieb sie alle hinaus,
-nur die Magd durfte bleiben und die Kranke in ihr Bett legen helfen.
-Gottlieb rannte zu einem Arzt, der in der nahen Nikolaistraße wohnte,
-und Raoul saß im Winkel und sah mit heißer Angst zu, wie die Meisterin
-die Mutter bettete, sie rieb und mit warmen Tüchern umwickelte. Auf
-seinem Herzen lag dumpf und schwer die Ahnung kommenden Leides.
-
-Bange Tage folgten, lange Wochen des Leidens kamen, Frau von Steinberg
-siechte langsam dahin. Wohl stand sie nach etlichen Tagen wieder
-auf und machte den Versuch, wenigstens die bestellten Arbeiten zu
-vollenden, aber es war nur ein mühsames Ringen mit versagenden Kräften.
-Immer wieder entsank die Nadel ihren müden Händen, immer wieder mußte
-sie stundenlang still auf ihrem Lager ruhen, unfähig, auch nur etwas zu
-tun.
-
-Raoul pflegte, von der Meisterin Käsmodel tatkräftig unterstützt,
-seine Mutter, so gut er nur konnte. »Du mußt ihr eine Stütze sein,
-darfst selbst nicht klagen und nicht trübselig dreinschauen,« hatte
-die Meisterin zu ihm am ersten Tage der Krankheit gesagt, und danach
-richtete sich der Knabe, wenn es ihm auch noch so schwer fiel. Er nahm
-seiner Mutter alle Arbeit in der kleinen Wirtschaft ab, er kehrte,
-wusch und kochte wie eine Dienstmagd, und dann rannte er draußen noch
-stundenlang herum und tat Botengänge für kargen Lohn. Die Geschäfte
-gingen schlecht, die Not der Zeit drückte alles nieder, jeder sparte,
-wo er konnte, und recht gering war das, was da ein halbwüchsiger Junge
-verdienen konnte. Er brachte jeden Pfennig mit strahlendem Gesicht
-heim, noch ahnte er ja nicht, wie schwer die Sorge auf der Mutter
-lag. Aber dann, an einem hellen, sonnigen Februartag war es, der wie
-ein erster heiterer Frühlingsgruß über die Erde ging, mußte Frau von
-Steinberg doch das erste Goldstück ihres heimlichen kleinen Schatzes
-nehmen. Sie konnte ihren Sohn nicht hungern lassen, sie wollte aber
-auch nicht von den gutherzig gegebenen Gaben der Bäckersleute leben,
-dazu war sie zu stolz.
-
-»Zahl' unten die Miete und das Brotgeld! Käsmodels wollen es nicht,
-ich will aber nichts schuldig bleiben, Raoul,« sagte sie leise, und
-eine Träne fiel brennend auf die ausgestreckte Hand des Sohnes.
-
-Tief erschrocken sah der Knabe aus, und in diesem Augenblick verstand
-er voll die Sorge der Mutter. In wild ausbrechendem Schmerz schlang
-er seine Arme um sie und flehte: »Weine nicht, ach, weine nicht! Im
-Frühling wird alles gut, du wirst gesund, und ich finde schon einen
-Verdienst.«
-
-»Im Frühling -- ja,« flüsterte die Mutter und küßte zärtlich ihr Kind,
-»du hast recht, dann wird alles gut.«
-
-Ach, sie fühlte es ja gerade an diesem sonnigen Tage, der von dem
-kommenden Lenz zu erzählen wußte, daß ihre Stunden auf der Erde gezählt
-waren, und daß sie nicht mehr lange über ihrem Kinde wachen konnte. Und
-als Raoul gegangen war, überwand sie endlich ihren Stolz und schrieb an
-den Bruder ihres Mannes, an den Freiherrn Wolf-Friedrich von Steinberg
-auf Hohensteinberg, schilderte ihm ihre Lage und bat ihn, sich ihres
-Kindes anzunehmen, wenn sie tot sei. Sie schloß auch ein Brieflein für
-die Mutter mit ein. Für sich bat sie um nichts, nur Hilfe für den Sohn
-wollte sie. Den Brief trug die Meisterin Käsmodel selbst auf die Post,
-zahlte das Porto und sandte dem Schreiben ihre guten Wünsche nach, denn
-sie billigte im innersten Herzen den Schritt, den ihre Mieterin getan
-hatte. Sie ahnte nicht, daß ein böses Geschick den Brief tief im Grunde
-eines Postsackes festhielt, viele, viele Wochen lang.
-
-Ein paar Tage später stürmte Raoul am Nachmittag hastig und aufgeregt
-in das Zimmer. »Mama,« rief er, »Herzensmama, denke doch, ach denke
-doch, welch ein Glück mir widerfahren ist!« Er umschlang stürmisch
-die bleiche Mutter, und an ihr vorbeisehend, damit sie ihm nicht in
-die Augen blicken konnte, denn die sahen gar nicht glücklich aus,
-erzählte er hastig: »Der Meister war mit mir beim Advokaten Schnabel
-in der Burgstraße; dem ist sein junger Schreiber davongelaufen, und
-der Meister meinte, schreiben könnte ich so gut wie er backen. Wir
-sind also hingegangen, und der Herr Advokat hat uns vorgelassen. Der
-hat gleich geschrieen: >Das ist ein Kind, der ist zu jung, zu jung, zu
-jung, 's ist nichts damit!<«
-
-Bei der Erinnerung an diese Szene kam in Raouls Augen nun doch das
-Lachen. Er blickte seine Mutter froh an, als er fortfuhr: »Meister
-Käsmodel hat sich einfach auf einen Stuhl gesetzt, und allemal, wenn
-der Herr Advokat schrie: >Zu jung, zu jung,< hat er genickt, und
-endlich hat er gesagt: >Alleweil jetzt, Herr Advokat, ist der Junge
-schon etwas älter geworden, und Jugend hat noch nie jemanden geärgert,
-höchstens das Altwerden.< Erst machte der Herr Advokat ein ganz
-bitterböses Gesicht, dann fing er an zu lachen. Ich mußte schreiben,
-das gefiel ihm, und nun, Mama, bin ich angestellter Schreiber und
-bekomme -- zwei Taler vorläufig auf den Monat. Ist das nicht schön?
-freust du dich auch?«
-
-»Sehr schön,« flüsterte Frau von Steinberg, »ich freue mich sehr,
-mein guter Junge du.« Sie kämpfte krampfhaft die aufsteigenden Tränen
-zurück, und Mutter und Sohn hielten sich lange umschlungen. Sie sahen
-sich nicht in die Augen, denn jedes fürchtete den heimlich getragenen
-Schmerz sehen zu lassen. Ein Freiherr von Steinberg, Enkel des Grafen
-Turaillon, eines der vornehmsten Würdenträger am Hofe Ludwigs _XVI._,
-ein Schreiberlein mit zwei Talern Monatsgeld. Der Mutter zog sich
-das Herz zusammen, wenn sie daran dachte, und sie sah sich im Geist
-mit dem geliebten Gatten an der Wiege ihres Kindes sitzen und hörte
-wieder die so früh verklungene Stimme: »Mein Sohn soll einmal dem
-Namen Steinberg Ehre machen,« und nun mußte dieser Sohn als armes
-Schreiberlein ein kümmerliches Brot verdienen.
-
-Raoul sollte am nächsten Morgen bereits seine Stellung antreten. Die
-Meisterin hatte ihm versprochen, sie wollte für seine Mutter sorgen,
-aber er stand doch noch früher als sonst auf und fegte erst die Stube
-aus, kochte fürsorglich die Morgensuppe für die Mutter und sich, und
-dann eilte er rasch nach kurzem Abschied davon. Er hatte es nicht weit,
-und geschwind lief er über den Marktplatz, bog in ein schmales Gäßchen
-ein und langte bald in der Burggasse an. Dort kletterte er eilfertig
-in einem uralten Hause zwei enge Treppen empor und zog die Klingel an
-Advokat Schnabels Wohnung. Eine Magd öffnete und brummte unwirsch:
-»Jemineh, der neue Schreibbursche! Nee, so'n Dreikäsehoch aber auch! Da
-hast'n Besen, nun kehre mal flink die Schreibstube aus. Rasch, rasch,
-tummle dich, sieh nicht erst 'n Loch in die Türe!«
-
-Raoul stieg das Blut in das Gesicht. Er war ein stolzer, kleiner
-Bursche, und es demütigte ihn tief, daß er solche Dienste verrichten
-sollte und sich von der Magd so grob anfahren lassen mußte. Am liebsten
-wäre er gleich umgekehrt, aber er preßte die Lippen fest aufeinander,
-um nicht eine patzige Antwort zu geben. Das Zimmer, das er betrat,
-lag nach dem Hof hinaus, die graue Rückwand eines Hauses nahm jede
-Aussicht, nur wer sich weit aus dem Fenster bog, der konnte den Turm
-der nahen Thomaskirche aufragen sehen. Einen Augenblick blieb Raoul
-unschlüssig an der Türe stehen und überschaute den Raum, der ihm
-fortan tagaus, tagein Aufenthaltsort sein sollte. Bis zur Decke hinauf
-krochen die Ständer, angefüllt mit dicken Aktenbündeln, ein paar von
-Tintenflecken übersäte Tische standen dicht an den Fenstern, deren
-Scheiben gewiß lange nicht geputzt waren. Seufzend begann Raoul mit dem
-Auskehren, er dachte dabei immer nur: Zwei Taler, zwei Taler, wie wird
-sich die Mutter freuen!
-
-Er war noch nicht mit seiner Arbeit fertig, denn Staub und Schmutz
-lagen dick in allen Winkeln, als die Türe mit einem lauten Krach
-geöffnet wurde und zwei noch junge Männer hereinkamen. Der eine war
-lang und dünn, sein Gesicht, seine Hände, sein Anzug sahen grau,
-ungewaschen und ungebürstet aus; der andere war klein, verwachsen, er
-hatte etwas Zartes, Sanftes in seiner ganzen Erscheinung. Der Lange
-schaute Raoul von oben bis unten an; er kniff dabei die Augen zusammen,
-und der Knabe erschrak vor dem unangenehmen Ausdruck des Gesichtes.
-»He, ist er der Neue, wie heißt er denn?«
-
-Raoul sagte ruhig seinen Namen, ohne den Adel, den er auf Wunsch des
-Advokaten selbst nicht nannte, und sah dabei mit seinen schönen,
-dunklen Augen offen zu dem langen Schreiber empor. Der grinste und
-schrie dem Verwachsenen zu: »Ein halber Franzos! Du Napoleonfresser,
-das ist was für dich, hihihi! Da, junger Dachs, nehm er meinen Rock,
-mein Schreibkittel hängt dort im Schrank. Flink, er weiß wohl gar
-nicht, was sich gehört?«
-
-Der Verwachsene war still an den Schrank getreten, hatte einen
-abgeschabten, zerflederten Rock herausgenommen, der so schmutzig
-war, daß Raoul sich ekelte, ihn anzugreifen. Den reichte er dem
-Knaben, damit er ihn dem Langen brächte, er selbst zog sich ein paar
-Schreibärmel über, und da gleichzeitig im Nebenzimmer Schritte laut
-wurden, eilten die Schreiber an ihre Plätze. Der Lange, der Paul
-Neumann hieß, wies Raoul grob einen Platz neben sich an, aber kaum
-saß der Knabe und hatte begonnen, mit dem Gänsekiel ein Aktenstück
-zu kopieren, als ihn sein Nachbar anfuhr: »Trag das hinüber, flink,
-marsch! Er schläft wohl?«
-
-Da schrak Raoul so zusammen, daß ein dicker Klecks auf sein Papier
-tropfte, und ein Hagel von Scheltworten brauste auf ihn herab. Er hörte
-Worte, die er noch gar nicht kannte, die roh und gemein in seinen Ohren
-gellten. Er war froh, als ein paar Leute kamen und der lange Schreiber
-in das Nebenzimmer gerufen wurde. Den ganzen Vormittag ging das so
-fort: einer nach dem andern kam, und Paul Neumann lief wichtig hin und
-her, er war einmal von unterwürfiger Höflichkeit zu den Klienten seines
-Herrn, das andere Mal grob und hochfahrend, dann wieder vertraulich,
-machte alberne Späße, je nach Rang und Stellung der Kommenden.
-
-Der kleine Verwachsene, Karl Wagner genannt, blieb immer ruhig an
-seinem Tisch sitzen und schrieb emsig. Raoul, der die Arbeit des andern
-übersehen konnte, staunte, wie schnell sich in schöner, klarer Schrift
-Wort an Wort reihte. Der Verwachsene sprach nichts, nur ein paarmal
-warf er seinem jungen Genossen einen guten, freundlichen Blick zu,
-einen, der zu trösten und aufzumuntern schien. Aber dennoch war es dem
-Knaben, als schlichen an diesem Tage die Stunden unendlich langsam
-dahin, und er atmete erleichert auf, als mit tiefem Dröhnen der Schall
-der Mittagsglocke in die Schreibstube hineintönte.
-
-Raoul hatte gemeint, er würde nun eilig davonlaufen können und mit
-der Mutter die karge Freistunde genießen; das gab es aber nicht. Erst
-mußte er noch für Paul Neumann einen Gang tun, und es waren schon zehn
-Minuten seiner Freizeit verronnen, ehe er heimwärts laufen konnte.
-Dann rannte er freilich wie der Wind, und heiß und atemlos kam er oben
-im Mansardenstübchen an. Kaum sah er der Mutter in das liebe, sanfte
-Gesicht, da wurde es ihm auch wieder leicht ums Herz, und ganz heiter
-erzählte er von seinem ersten Vormittag als Schreiberlein. Ja, nun er
-nicht mehr in der Schreibstube saß, erschien ihm alles, was er gesehen
-und erlebt hatte, recht lustig und abwechslungsvoll zu sein, und er
-schwatzte so munter drauf los, daß ein Lächeln das Gesicht der Mutter
-verklärte.
-
-Aber waren die Vormittagsstunden wie Schnecken dahingeschlichen, so
-raste die Freistunde vorbei wie ein wild gewordenes Pferd. Es hieß
-wieder scheiden, und Raoul nahm zärtlich Abschied. Er rannte zurück,
-und als er das graue Haus in der Burgstraße wieder betrat, war es ihm,
-als sinke eine schwere, schwere Last auf ihn herab.
-
-Mit der Arbeit schien es am Nachmittag, solange der Advokat selbst
-nicht in seinem Zimmer war, gar nicht eilig zu sein. Karl Wagner
-schrieb zwar still und unverdrossen weiter, aber der lange Neumann
-hatte die Feder hinters Ohr gesteckt und redete laut von allerlei,
-und Raoul mußte ihm zuhören und antworten. Der Schreiber gehörte zu
-jenen, die in kriechender Schmeichelei Napoleon huldigten; er hatte
-sogar ein Gedicht angefangen, in dem er seinen Helden verherrlichte,
-zu seiner großen Betrübnis wollte ihm aber das Dichten nicht gelingen.
-»Kannst von Glück sagen, Bursche,« meinte er an diesem Nachmittag mit
-herablassendem Grinsen, »daß du einen französischen Vornamen hast. Ist
-doch was Feines! Aber ich, wenn ich auch nur einen elenden deutschen
-Namen führe, habe doch einmal den Kaiser gesehen, habe ihn gegrüßt und
-er hat mir gedankt! He, was sagt er zu der Ehre, Musjeh? Bewunderst ihn
-auch, gelt?«
-
-»Ich? Nein,« schrie Raoul. Er war jung und unbesonnen und wollte gerade
-rasch und heiß seine Verachtung aussprechen, als ihn Karl Wagner ganz
-scharf anrief: »Reich mir dort den Aktenstoß her! Schnell, scheinst mir
-ein rechter Faulpelz zu sein!«
-
-Erschrocken sprang Raoul auf, von dem sanften Genossen hatte er einen
-so groben Anruf nicht erwartet, und holte hastig das Gewünschte herbei.
-In diesem Augenblick ertönte nebenan eine Stimme, und der Advokat rief:
-»Neumann, die Akten Müller gegen Hohmann!«
-
-Der Lange raffte geschwind ein Aktenbündel zusammen und entschwand
-im Nebenzimmer, Karl Wagner aber zog Raouls Kopf zu sich herab und
-flüsterte: »Halt deinen Mund, Junge, und hüte dich vor dem Neumann,
-sag' nichts gegen Napoleon!«
-
-»Aber ich hasse ihn doch, er ist ein Tyrann, er --« Raouls Augen
-flammten; er war es nicht gewöhnt, seine Gedanken und Gefühle zu
-verschweigen. Daheim und bei Meister Käsmodel durfte man schon ein
-freies Wort sagen. Aber der Verwachsene legte ihm rasch die Hand auf
-den Mund: »Schweig, mein Kind, wir müssen stille sein und warten, bis
-die Zeit kommt. Und sie kommt,« fügte er hinzu; seine graublauen Augen
-leuchteten begeistert, das blasse kümmerliche Gesicht erstrahlte und
-schien dem Knaben auf einmal seltsam schön und anziehend zu sein. Er
-hätte gern noch mehr mit Karl Wagner gesprochen, aber der lauschte eine
-Sekunde nach dem Nebenzimmer hin und sagte dann leise: »Geh an deine
-Arbeit.«
-
-Als kurze Zeit darauf der lange Neumann in das Zimmer trat, herrschte
-tiefe Stille. Die beiden schrieben eifrig, und Karl Wagner schien seine
-mißtrauischen Blicke nicht zu merken. Da der Advokat nebenan blieb und
-die Türe offen stand, konnte das Gespräch nicht fortgesetzt werden,
-denn Paul Neumann war immer dann fleißig, wenn es sein Herr sah, war
-der nicht daheim, rührte er keine Feder.
-
-Wieder schlichen die Stunden langsam, träge dahin, und Raoul sehnte den
-Abend herbei. Dieser erste Arbeitstag war ihm bitterschwer geworden,
-aber dennoch trat er auch am Abend heiter bei der Mutter ein. Er
-schwatzte ein bißchen lauter und aufgeregter als sonst und ahnte
-nicht, daß die Mutteraugen tief in sein Herz hineinsahen und hinter
-aller erzwungenen Fröhlichkeit doch die Last sahen, die auf den jungen
-Schultern ihres Kindes ruhte.
-
-Raoul dachte jetzt oft: Sind die Tage lang, und sind die Sonntage und
-Abende kurz! Wenn er bei der Mutter saß und die fiebrige Röte aus
-den eingefallenen Wangen kindlich für ein Zeichen wiederkehrender
-Gesundheit nahm, oder wenn er mit Gottlieb lernte und sie sich
-gegenseitig ihre Erlebnisse erzählten, dann war er glücklich und vergaß
-die düstere Schreibstube und seines langen Genossen Quälereien.
-
-Paul Neumann hatte es, trotzdem Raoul schwieg, doch bald
-herausbekommen, daß der Bube kein Kaiserbewunderer war. Seitdem quälte
-und peinigte er ihn noch mehr, als er es sonst getan hätte. Der lange
-Schreiber war wohl unendlich demütig zu denen, die über ihm standen,
-aber er ließ gleich alle seine Roheit aus an denen, über die er Gewalt
-hatte, denen er befehlen durfte. Er war in der Schreibstube der Erste,
-und es half Karl Wagner nicht viel, wenn er Raoul in Schutz nahm;
-nur ganz heimlich durfte er dem Knaben helfen. Sah Paul Neumann das
-Einverständnis, dann rächte er sich und jagte Raoul hin und her,
-namentlich in der Mittagsstunde, und es kam oft genug vor, daß dem
-Knaben nicht einmal so viel Zeit blieb, zur Mutter zu laufen und sein
-Mittagbrot zu essen.
-
-Endlich kam aber doch der Tag, an dem Raoul seine ersten zwei Taler
-nach Hause tragen konnte. Aber gerade an diesem Abend hielt ihn
-Neumann mit allerlei Aufträgen zurück, und Minute auf Minute verrann.
-Raoul zitterte vor Ungeduld heimzukommen, und er atmete erlöst auf,
-als der Advokat selbst kam und noch einmal seinen ersten Schreiber
-sprechen wollte. Da entwischte Raoul, obwohl er wußte, daß er es
-morgen doppelt schwer haben würde. Wie der Wind jagte er die steilen
-Treppen hinunter, die Burgstraße entlang, durch die Gäßchen über den
-Marktplatz. Er jagte so, die beiden Taler krampfhaft in der Hand, daß
-er den dicken Metzgermeister Mayer, der just zu einem Abendschöpplein
-gehen wollte, beinahe über den Haufen rannte. Bums! stieß er an dessen
-Bauch, es dröhnte ordentlich, und wütend holte der Meister zu einer
-gewaltigen Ohrfeige aus, aber hui, ging die in die Luft, denn Raoul
-war schon fort, die dunklen Laubengänge des Rathauses verbargen ihn
-den zornigen Blicken des Meisters. Atemlos kam er oben an. Die letzten
-Stufen der steilen Treppe hastete er so empor, daß er beinahe wieder
-hinuntergefallen wäre, und dann stand er vor seiner Mutter und hielt
-ihr stumm, glückstrahlend die beiden Taler hin.
-
-Frau von Steinberg nahm sie wortlos, und wortlos umschlang sie
-ihr Kind, und Raoul fühlte, wie heiße Tropfen auf seine Stirne
-niederrannen. »Mama,« flehte er bang, »Mama, freue dich doch!«
-
-»Ich freue mich, mein lieber, tapferer Junge du,« hauchte die Frau,
-kaum fähig, sich noch aufrecht zu halten. Ein Schwindel überfiel sie,
-und der Knabe mußte sie stützen und auf ihren Stuhl zurückleiten. »Bist
-du wieder krank?« forschte er angstvoll, »soll ich die Frau Meisterin
-heraufholen?«
-
-»Nein, nein, ich bin gesund, ganz gesund, nur die Freude war es --
-allein die Freude,« murmelte die Mutter und strich liebkosend über
-ihres Kindes braunes Gelock. »Gott segne dich, mein Sohn, du mein
-Glück!«
-
-Viel später dachte Raoul noch oft an diese Stunde zurück, an diesem
-Abend ließ die Freude, daß der erste Monat vorbei war, die ersten zwei
-Taler errungen waren, keine trüben Gedanken in ihm aufkommen. Er war
-sehr vergnügt, vergaß alle Quälereien des langen Schreibers und brachte
-mit seiner Heiterkeit zuletzt auch die Mutter zum Lachen. --
-
-Weil es Frau von Steinberg jetzt so schwer fiel, die Treppen zu
-steigen, kam nach dem Abendbrot noch oft die Meisterin hinauf,
-mit einem Eimerchen glühender Holzkohlen beladen. »Weil es unten
-sonst unnütz verbrennt,« sagte sie jedesmal entschuldigend, damit
-die Hausgenossin nur ja nicht merken sollte, daß sie immer darnach
-trachtete, ihr eine warme Stube zu verschaffen. Auch Gottlieb folgte
-der Mutter an diesem Abend, und nach einem Weilchen tappte selbst
-Meister Käsmodel die Stiege herauf, und alle drei bewunderten ehrlich
-und herzlich den verdienten Reichtum.
-
-»Aus dem wird allweil noch mal was,« sagte der Meister schmunzelnd zu
-Frau von Steinberg, »das ist gute Art.«
-
-Dankbar sah die Mutter zu dem biederen Manne auf; die Freude über ihren
-Sohn, die feste Zuversicht, daß er eines tüchtigen Vaters Ebenbild
-werden würde, ließ sie an diesem Abend heiterer in die Zukunft sehen.
-Ein heller Glanz kam in ihre Augen, ihr Lachen mischte sich leise und
-froh in das der anderen, und die Meisterin sagte nachher zu ihrem Mann:
-»Vielleicht irrt der Doktor sich doch, und Frau von Steinberg wird
-gesund.«
-
-Daß nach einem frohen Abend nicht immer ein heiterer Morgen folgt,
-merkte Raoul am andern Tag. Als er ging, schien ihm die Mutter wieder
-schwächer und matter als sonst zu sein, und als er das Schreibzimmer
-betrat, kam es ihm auch noch düsterer und dumpfiger vor als sonst,
-denn draußen braute ein dicker Nebel, und nur karges Licht fiel in
-das Gemach. Grau wie der Nebel draußen war auch Herrn Paul Neumanns
-Laune: er war an diesem Morgen entschieden mit dem linken Fuß zuerst
-aufgestanden. Die Magd, zu deren Tugenden die Ordnung nicht gehörte,
-hatte vor der Türe einen Wischlappen liegen lassen, über den stolperte
-der lange Schreiber in das Zimmer hinein, und bei dem Versuch, sich
-an einem Stuhl festzuhalten, plumpste er mit samt dem Stuhl um und
-rutschte, so lang er war, in das Zimmer hinein.
-
-Diesem bösen Anfang folgte eine Flut von Schimpfworten, die alle Raoul
-galten. »He, er spitznasiger, eingebildeter Zierbengel er, warum ist
-er gestern abend weggelaufen, he? Er hat wohl die Faulkrankheit, was?
-Denkt wohl, so ein Sündengeld verdient man mit Herumvagabondieren?«
-
-Raoul sagte kein Wort, er wußte genau, daß eine Widerrede oder der
-leiseste Versuch, sich zu verteidigen, nur die Sache verschlimmern
-würde.
-
-»Laß ihn sich austoben,« hatte einmal Karl Wagner geraten, aber an
-diesem Morgen dauerte das Toben recht lange. Zum Unglück war der Herr
-Advokat selbst nicht da, so konnte der lange Schreiber schimpfen und
-schreien nach Herzenslust, und Raoul bekam so viele Schelte, so viele
-harte Worte zu hören, daß es ihm war, als prassele ein Hagelwetter auf
-ihn herab.
-
-Endlich, endlich, nachdem er dies hatte tun müssen und jenes holen,
-konnte er sich an seinen Arbeitsplatz setzen. Eben setzte er an,
-um zierlich und fein geschnörkelt einen Satz zu beginnen, als Paul
-Neumann ihn unsanft an den Arm stieß. Ein Schrei, und über den großen
-Aktenbogen rann eine dunkle Tintenflut.
-
-»Was hat er da wieder angerichtet, er Dummerjan?« schrie der Schreiber
-wütend, aber da klang plötzlich ganz ruhig in das Schreien hinein Karl
-Wagners Stimme: »Du hast ihn gestoßen, er kann nichts dafür!«
-
-Der kleine Verwachsene hatte zwar schon oft die Erfahrung gemacht, daß
-seine Verteidigung dem armen Schreiberlein wenig nützte, er brachte es
-aber nicht fertig, zu dieser Ungerechtigkeit zu schweigen, und just
-wollte er noch etwas sagen, als eine mächtige Ohrfeige auf Raouls Wange
-herniedersauste. »Will doch sehen, ob der nicht Strafe bekommt, der sie
-verdient,« rief der Lange zornig.
-
-Mit einem Schrei war Raoul emporgefahren, Tränen der Wut und Scham
-entstürzten seinen Augen. »Ich lasse mich nicht schlagen,« schrie
-er, »ein Steinberg läßt sich nicht schlagen!« In leidenschaftlichem
-Zorn wollte er sich auf seinen Peiniger stürzen, aber da fühlte er
-sich von hinten festgehalten, und Karl Wagners ernste, graue Augen
-sahen ihn mahnend, liebevoll an. »Sei ruhig!« und ganz leise, nur ihm
-verständlich, klang es an sein Ohr: »Denk an deine Mutter!«
-
-Stumm senkte Raoul den Kopf. Die Mutter, ihre Freude gestern, sein
-Stolz, seine Hoffnung, ihr immer mehr eine Stütze werden zu können, --
-alles fiel ihm ein. Er mußte still sein, aushalten, sein Amt durfte er
-nicht verlieren.
-
-»Die Madame läßt sagen, das wär'n Lärm wie auf der Messe und nicht wie
-in 'ne anständige Schreibstube, und sie würd's dem Herrn berichten,«
-kreischte mit einemmal die Magd in das Zimmer hinein, und schwapp
-krachte sie die Türe mit solcher Gewalt wieder zu, daß leise der Kalk
-von den Wänden herabrieselte.
-
-»Da sieht er's, was er angerichtet hat,« knurrte Neumann, dem es sehr
-unangenehm war, daß man drinnen in der Wohnung des Advokaten den Lärm
-gehört hatte. Herr Schnabel pflegte in solchen Fällen nicht ihn allein
-nach dem Grund zu fragen, und daß Karl Wagner nicht auf seiner Seite
-stand, fühlte er. Darum hielt er es für besser zu schweigen, der Blick
-aber, den er Raoul zuwarf, verhieß nichts Gutes für die Zukunft.
-
-Als der arme, kleine Schreiber zu Mittag heimeilen wollte, -- die
-Schreibstube war trotz des Langen Zorn zu rechter Zeit geschlossen
-worden, -- hielt Karl Wagner ihn fest. »Komm mit mir,« sagte er
-freundlich. »Hast du ein paar Minuten Zeit?«
-
-Raoul nickte nur, er konnte nicht sprechen, die gewaltsam unterdrückten
-Tränen erstickten ihn fast, und der Gedanke, so niedergeschlagen und
-gedemütigt vor seine Mutter treten zu müssen, lastete schwer auf ihm.
-Er war zum erstenmal froh, daß der Heimweg hinausgeschoben wurde, und
-willig folgte er Karl Wagner in die nahe Thomaskirche, die dieser durch
-eine Seitenpforte betrat.
-
-Die Kirche war völlig leer. Das trübe Licht des Nebeltages fiel nur
-matt durch die bunten Fenster in den gewölbten Raum, den ein schönes,
-sanftes Klingen durchrauschte. Jemand spielte die Orgel, der Kantor
-von Sankt Thomas, Herr Müller, war es, wie Karl Wagner leise seinem
-Schützling zuflüsterte. Vorsichtig, den Schall der Schritte dämpfend,
-gingen die beiden bis in das Mittelschiff und setzten sich dort nieder.
-
-Raoul war noch nie in einer leeren Kirche gewesen, er hatte auch noch
-nie ein so wundervolles Orgelspiel gehört.
-
-»Den Anfang, Mitt' und Ende, ach Herr, zum besten wende,« sang Karl
-Wagner ganz leise die Worte des Liedes nach, das oben der Kantor
-spielte.
-
-Immer rauschender und voller, wie Bittgesang und Dankesjauchzen
-tönte es durch die Kirche, und ganz wundersam feierlich wurde es dem
-armen, geplagten Schreiberlein ums Herz. Sein Kopf sank leise an die
-Schulter des Verwachsenen, und die schmerzlichen Tränen, die er vorher
-krampfhaft herabgeschluckt hatte, rannen und rannen, und als sie
-endlich versiegt waren, da konnte er den Kopf wieder heben und wieder
-frei und mutig um sich schauen. Er dachte an seine Mutter, an ihre
-Freude gestern abend, und auf einmal schien ihm alles nicht mehr so
-schwer zu sein. Ich ertrag's schon, dachte er mutig, es muß gehen, Mama
-darf nichts merken!
-
-Ein Weilchen saßen die beiden Schreibgenossen noch still zusammen, bis
-die letzten Töne verhallt waren und ein Klappen und Schließen oben
-anzeigte, daß auch der fromme Spieler heimging. »Vielen Dank,« sagte
-Raoul draußen und schüttelte herzhaft Karl Wagner die Hand, »es war
-schön!«
-
-»Kannst du nun zur Mutter gehen?« fragte der Schreiber freundlich.
-
-Raoul nickte froh. »Sie soll nichts merken, bestimmt nicht. Ich
-schluck's hinunter!«
-
-»So ist's recht, immer tapfer voran! Nach bösen Stunden kommen auch
-gute. Nun Gott befohlen! Am Nachmittag sind wir allein, da wollen wir
-zusammen fleißig sein und nachholen, was wir am bösen Morgen versäumt
-haben,« sagte Karl Wagner und wandte sich rasch dem kleinen Haus im
-Winkel des Thomaskirchhofes zu, in dem er wohnte.
-
-Einen Herzschlag lang sah Raoul ihm noch dankbar nach, dann lief er
-eilig den vertrauten Weg entlang. Er flog fast, so geschwind ging es,
-und die frische Luft kühlte ihm die heißen Wangen und Augen. Er kam
-sehr vergnügt bei seiner Mutter an, und diese merkte nicht, wie schwer
-der Morgen gewesen war. Nur Gottlieb erfuhr am Abend den Auftritt
-in der Schreiberstube, und er geriet darüber in einen solchen Zorn,
-daß er seine lateinische Grammatik aus den Boden warf. »Man muß ihn
-verdreschen, aber feste,« schrie er.
-
-»Den langen Neumann?« Raoul mußte doch lachen; sein kleiner, stämmiger
-Freund und der lange dünne Schreiber schienen ihm auch ein zu
-ungleiches Paar zu sein. »Wie wolltest du das anfangen?«
-
-»Ach was, das krieg' ich schon fertig,« brummte Gottlieb, »David ist
-mit dem Goliath auch fertig geworden. Freilich, merken dürft' er's
-nicht, von wem die Dresche stammt, sonst geht dir's schlecht. Vater
-sagt, Lehrjahre sind nicht Herrenjahre, und Ohrfeigen gehören dazu, die
-müssen sein!«
-
-»Wenn's aber ungerecht ist,« rief Raoul finster, »nur aus Niedertracht,
-dann« -- er seufzte, »ich muß doch still halten, um der Mutter willen!«
-
-»Ja freilich,« stimmte Gottlieb kleinlaut zu, »aber -- seine Dresche
-kriegt er noch. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, sagte unser Geselle
-immer, wenn er nicht alles auf einmal essen konnte. Er kriegt sie noch,
-aber feste!«
-
-Mit dieser düsteren Prophezeiung trennte sich Gottlieb Käsmodel von
-seinem bewunderten Freund. Wer dem was tat, dem war er gram, der sollte
-sich vor ihm in acht nehmen.
-
-[Illustration: Dekoration Ende 2. Kapitel]
-
-
-
-
-[Illustration: Dekoration Titel 3. Kapitel]
-
-
-
-
-Drittes Kapitel.
-
-Abschiedsstunden.
-
-
-Leicht hatte es Raoul von Steinberg wirklich nicht als Schreiberlein
-mit zwei Talern Monatsgehalt im Dienst des Advokaten Schnabel. Es gab
-Arbeit in Hülle und Fülle und Plackerei und Quälerei Tag für Tag. Der
-lange Neumann suchte alles heraus, womit er den Knaben peinigen konnte,
-und es kamen immer und immer wieder Stunden, in denen Raouls Mut zu
-sinken drohte. Dann redete ihm Karl Wagner gut zu, und daheim tröstete
-die Mutter zart und lind, denn es gelang dem Knaben doch nicht, ihr
-all seine Kümmernisse zu verbergen. Mutteraugen sehen zu tief und
-scharf, und Frau von Steinberg hatte lange gemerkt, ehe es ihr der
-Sohn gestand, daß er kein leichtes Amt übernommen hatte. Ihr einziger
-Trost war, daß es nur eine kurze Zeit dauern würde; sie meinte, die
-Verwandten würden und müßten ihr doch antworten, ihr ihre Bitte
-erfüllen.
-
-Doch die Tage wurden länger, der Frühlingssturm raste über das Land,
-und schon hingen zarte, grüne Schleier über Busch und Baum, und so
-sehnsüchtig Frau von Steinberg auch hoffte und harrte, kein Brief,
-keine Antwort kam. Als der Sommer ins Land ging, erstarb endlich die
-Hoffnung. »Man will meinem Kinde nicht helfen,« dachte sie bitter. In
-dieser Zeit sprach sie einmal mit Meister Käsmodel, und nach dieser
-Unterredung wurde sie ruhiger; der treue Mann hatte ihr das Versprechen
-gegeben, nie ihren Sohn zu verlassen, wenn sich die Verwandten seiner
-nicht annahmen. --
-
-Es war an einem milden, warmen Sommertag, als Raoul von Steinberg
-noch schwereren Herzens als sonst die Treppe hinabstieg, um nach
-der Schreibstube zu wandern. Die Mutter war heute so seltsam bleich
-gewesen, und so trat er, ehe er ging, noch an das Schiebefensterchen
-und bat die Frau Meisterin, doch recht bald einmal nach ihr zu sehen.
-Dabei huschte Gottlieb aus der Ladenstube heraus und schloß sich ihm
-an. »Ich begleite dich,« sagte er kurz.
-
-»Hast du denn heute keine Schule?« fragte Raoul.
-
-»Nee, noch nicht, unser Lateiner ist krank, da fallen ein paar Stunden
-aus,« gab Gottlieb sehr vergnügt zur Antwort. »Du, ich muß dir aber ein
-Rätsel ausgeben: Wer ist der frechste Pferdedieb von Berlin?«
-
-Raoul sah etwas verdutzt drein, und Gottlieb prustete vor Lachen, dann
-neigte er sich an das Ohr des Freundes und flüsterte: »Napoleon.«
-
-»Aber Gottlieb!«
-
-»Ja, det stimmt, sagt unser neuer Geselle, der ein Berliner ist, er hat
-mir's gestern erzählt; sie nennen ihn so, weil er die Siegesgöttin samt
-ihrem Wagen vom Brandenburger Tor weggemaust hat. Fein, was?«
-
-»Sehr fein,« lobte Raoul anerkennend, »den Gesellen muß ich sehen!«
-
-»Komm nur heute abend, der schimpft ordentlich auf den Pferdedieb.«
-Gottlieb quiekte vor Lachen. »Wenn ich Pferdedieb sage, weiß keiner,
-wen ich meine.«
-
-»Tu's lieber nicht,« riet Raoul. »Karl Wagner sagt, es sei
-vernünftiger, seinen Mund zu halten, die Zeit sei noch nicht da.«
-
-»Ist auch gut,« brummte Gottlieb und reckte seine Gestalt, »ich will
-erst so weit sein, um mal mitgehen zu können, denn wenn sie erst mal
-den Pferdedieb verhauen, dann lauf' ich nach Preußen rüber, wenn es
-hier stille bleibt.«
-
-Da waren sie beide am Haus in der Burgstraße angelangt, und Raoul lief
-nach kurzem Abschied hastig hinauf, denn die Zeit war knapp, und wehe
-ihm, wenn er noch nicht ausgeräumt hatte, wenn der lange Neumann kam.
-
-Gottlieb blieb vor dem Hause stehen. Er steckte die Hände in die
-Hosentaschen und summte leise, ganz leise den Anfang eines Verses vor
-sich hin, den ihm sein neuer Freund, der Berliner Geselle, beigebracht
-hatte: »Warte, warte, Bonaparte!« Eigentlich meinte er just aber nicht
-den Kaiser der Franzosen mit seinem: »Warte, warte!« sondern vielmehr
-den langen Schreiber, seines Freundes Quälgeist. Als er den die Straße
-entlang kommen sah, verschwand er geschwind im dunklen Hausflur,
-drückte sich fest in eine Nische an der Haustüre und schob gerade in
-dem Augenblick, in dem Paul Neumann die Stufen überschreiten wollte,
-einen Stock vor. Der Lange stolpert, rutschte aus und fiel die Treppe
-mit ziemlichem Gekrach hinauf.
-
-»Das bedeutet Glück,« schrie Gottlieb unten und entwischte so eilig,
-daß der lange Schreiber nicht einmal mehr sehen konnte, wer ihn zu
-Fall gebracht hatte. Der Bäckerbube ging sehr befriedigt zur Schule.
-Strafe muß sein, dachte er, und mußte dann seufzend diese Erfahrung
-an sich selbst machen, denn seinem Lehrer rutschte an diesem Tage beim
-zweiundzwanzigsten Fehler die Hand einmal ordentlich aus und klatschte
-derb auf Gottliebs Wange nieder. Das war bös und trübte beträchtlich
-die Morgenfreude.
-
-Gottlieb Käsmodel ahnte nicht, daß er seinem Freund einen schlechten
-Streich gespielt hatte, denn der Fall auf der Treppe hatte Neumann
-ordentlich in Wut gebracht, und diese Wut mußte das jüngste
-Schreiberlein büßen. Beim Eintritt schalt er gleich, es sei nicht
-ordentlich aufgeräumt worden, dies sei nicht recht und das. Raoul mußte
-noch einmal kehren, dann mußte er auf alle Aktenschränke klettern und
-Staub wischen, und er atmete auf, als nebenan der Advokat eintrat.
-Da wurde es stiller, und er konnte sich endlich an das Pult setzen
-und schreiben. Er hatte ein endloses Aktenstück zu kopieren: zwei
-Nachbarn hatten sich um einen Apfelbaum gezankt, von dem jeder glaubte,
-er sei sein Eigentum. Nun waren die Männer alt und grau geworden,
-wußten aber immer noch nicht, wem der Apfelbaum gehörte. Der Knabe
-fand die ganze Sache herzlich langweilig, und trotz aller Mühe, die
-er sich gab, machten seine Gedanken allerhand Kreuz- und Quersprünge.
-Gottliebs Erzählung und seine Tat, denn er hatte schnell erraten,
-daß der Missetäter unten im Hausflur sein Freund gewesen war, hatten
-seine Gedanken abgelenkt; nun kehrten sie zur Mutter zurück, und eine
-bange Angst quälte ihn. Es war ihm so seltsam unruhig zumute, daß er
-unwillkürlich auf seinem Sessel hin und her rutschte.
-
-»An was denkt er denn? Kann er nicht ruhig sitzen?« schrie Paul Neumann
-ihn plötzlich an. »So'n Trantiegel, so'n Tagedieb! Er schreibt ja, als
-wär' er 'ne Schnecke. Zeige er mal her, gewiß hat er hundert Fehler
-gemacht, und ich hab' nachher den Ärger.«
-
-Paul Neumann schrie absichtlich laut, damit es der Advokat nebenan
-hören sollte, welchen Ärger ihm der Schreibbursche bereitete. Und
-da er wirklich in der Abschrift einen Fehler entdeckte, brüllte er,
-am liebsten möchte er die Arbeit dem Jungen um die Ohren schlagen;
-zur Strafe müsse er über Mittag dableiben und die Sache noch einmal
-abschreiben.
-
-Raoul zuckte zusammen. Heute, gerade heute, wo die Mutter so gebeten
-hatte: »Komm schnell heim!« Er warf einen hilfesuchenden Blick auf
-Karl Wagner, und der nickte ihm ermunternd zu. Wieder wie damals
-in der Kirche, und seitdem oft in den Wochen, die vorübergegangen
-waren, fühlte sich Raoul durch den ernsten, stillen Blick des kleinen
-Verwachsenen getröstet. Der war ihm längst ein guter Freund geworden,
-dem er all seine Sorgen anvertraute. Etlichemal war Karl Wagner auch
-Sonntags bei Frau von Steinberg gewesen, und er, der einst ein Arzt
-hatte werden wollen, aber um seiner Armut willen das Studium hatte
-aufgeben müssen, wußte bald, daß seines kleinen Freundes Mutter kränker
-war, als alle ahnten. Er fragte darum besorgt, als der Lange nach einem
-Weilchen in das Zimmer des Advokaten gerufen wurde: »Was ist heute?«
-
-»Mama geht es nicht gut, sie bat so sehr, ich möchte heimkommen,«
-flüsterte Raoul zurück.
-
-»Es wird schon gehen,« tröstete der Freund, und dann stand er auf, als
-Neumann zurückkehrte, und klopfte an die Tür des Advokaten.
-
-»Was soll's?« schrie der Lange, »was will er drinnen?«
-
-Er erhielt keine Antwort auf seine grobe Frage. Still schloß sich
-die Tür hinter Karl Wagner, und nach einigen Minuten kam er heraus
-und sagte sanft: »Du sollst heimgehen, Raoul, hast heute frei, Herr
-Schnabel hat es erlaubt.«
-
-»Da hört doch alles auf!« schrie Neumann empört. »Der faule Strick,
-der Trantiegel soll frei haben? Nein, das leid' ich nicht!« Er
-sprang wütend auf, aber Raoul hatte schon seine Sachen genommen
-und war blitzschnell, mit einem dankbaren Gruß für seinen Helfer,
-hinausgeflitzt. Er ahnte nicht, daß der kleine Schreiber es übernommen
-hatte, auch noch seine Arbeit auszuführen, und ihm seine knappen
-Freistunden opferte.
-
-Raoul überlegte überhaupt nicht viel an diesem Vormittag. Eine
-unerklärliche Unruhe trieb ihn vorwärts, und auf seinem kurzen Weg, den
-er wie immer im Trab zurücklegte, hatte er nur den einen Gedanken: Wie
-froh wird Mutter sein, daß ich komme!
-
-Einen raschen Blick warf er unten durch das Schiebefensterchen in die
-Ladenstube. Niemand war drin, und eilig hastete er die Treppe hinauf.
-Oben wollte er stürmisch die Türe aufreißen mit dem Freudenruf: »Ich
-bin da!« aber dann öffnete er sie doch ganz zaghaft und leise; wieder
-war jene unerklärliche Angst über ihn gekommen.
-
-Als er eintrat, sah er die Meisterin am Bett sitzen. Die wandte sich
-um, und nun sah er die Mutter.
-
-Mit einem Schrei stürzte der Knabe vorwärts, so bleich, so verändert
-sah die Mutter aus. »Mama, o Gott, Mama,« flehte er, »was fehlt dir?«
-
-»Mein Junge!« Weit öffneten sich die Augen der bleichen Frau, und ein
-Blick unendlicher Liebe, unendlichen Schmerzes traf den Knaben, der
-an ihrem Bett niedergesunken war. »Du kommst -- gottlob!« Zitternd
-tastete die Hand der Mutter nach ihres Kindes Haupt, schwer und kühl
-sank sie darauf nieder: »Werde wie dein Vater! Gott -- segne dich!«
-
-Die letzten Worte klangen nur noch wie ein Hauch, aber Raoul hatte sie
-doch verstanden. Angstvoll umschlang er die Mutter und flehte jammernd:
-»Mama, Mama, ach, was fehlt dir?«
-
-»Mußt nicht so schreien, mein armer Junge,« sagte die brave Meisterin,
-der dicke, dicke Tränen über die Wangen liefen, »sei tapfer und mach's
-deiner Mutter nicht so schwer!«
-
-Raoul verstand nicht, was die Meisterin meinte, er hörte nur die
-Mahnung, tapfer zu sein um seiner Mutter willen, da bezwang er sich
-und streichelte nur zärtlich die weißen Hände. Unter diesem Streicheln
-schlief die Mutter sanft ein, um nicht mehr zu erwachen, sie war
-tot. -- -- --
-
-Im dumpfen Schmerz der ersten Tage dachte Raoul gar nicht darüber nach,
-wie einsam und verlassen er nun auf der Welt war. Er saß unten im
-Bäckerstübchen. Gottlieb suchte ihn in seiner rauhen Art zu trösten,
-die Meisterin war gut zu ihm wie eine rechte Mutter, und dem Meister
-Käsmodel konnte es jeder, der ihn kannte, ansehen, daß er nur so
-ein grimmiges Gesicht machte, um nicht zu zeigen, wie leid ihm sein
-kleiner Hausgenosse tat. Er sorgte väterlich für den Knaben, ging
-selbst zu Herrn Schnabel und sprach mit diesem, und die beiden Männer
-kamen überein, es sei wohl am besten, wenn Raoul vorläufig weiter als
-Schreiber arbeitete, bis von den Verwandten eine Antwort gekommen sei.
-
-»Ich schreib' selbst, schreib' ihnen aber mal richtig, wie sich die
-arme Frau gequält hat,« sagte der brave Meister. Er grollte dem Herrn
-von Steinberg von Herzen, weil er den Brief unbeantwortet gelassen,
-den ihm seine Schwägerin in ihrer Not geschrieben hatte.
-
-Nach dem Begräbnis sprach Meister Käsmodel mit Raoul über seine
-Zukunft. »Du bleibst bei uns, bis eine Antwort von deinem Oheim kommt,
-und kommt keine, na, dann bleibst du alleweil erst recht, bleibst immer
-bei uns. Ich habe deiner Frau Mutter selig versprochen, dich nie zu
-verlassen, aber erst noch einmal an deinen Oheim zu schreiben. Sein
-Versprechen muß man halten, sonst hätte ich wahrhaftig kein Wort an die
-hochmütige Verwandtschaft da oben, wo sich die Füchse Gutenacht sagen,
-geschrieben. So, und nun beiß die Zähne zusammen, zeige, daß du ein
-Mann werden willst, so einer, wie dein Vater selig einer gewesen ist.«
-
-Da biß Raoul wirklich die Zähne zusammen und half am nächsten Tage
-selbst die liebe, freundliche Mansardenstube räumen. Andere Mieter
-sollten hinaufziehen, er kam zu Gottlieb in die Kammer. Die Bilder und
-die wenigen Andenken an die Mutter verwahrte der Meister getreulich mit
-dem Rest des Geldes für seinen Pflegling. Der stieg am nächsten Morgen
-mit schwerem Herzen wieder zu der Schreibstube empor. Nun ihn nicht
-mehr der Gedanke bewegte, er könnte mit dem verdienten Gelde seiner
-Mutter die Sorgen erleichtern, erschien es ihm fast unerträglich,
-weiter in dieser düsteren Schreibstube seine Tage zu verbringen. An
-diesem ersten Morgen erlebte er aber eine große Überraschung: Paul
-Neumann war kriechend freundlich gegen ihn, er tat, als wären sie
-zusammen stets die allerbesten Freunde gewesen.
-
-Was hat er? dachte Karl Wagner, der erstaunt den Gefährten beobachtete,
-Mitleid ist das nicht bei ihm!
-
-Daß es nicht Mitleid war, erfuhr er bald genug. Der lange Schreiber
-hatte nun erfahren, woher Raouls Mutter gestammt hatte, und auf einmal
-erschien ihm der bisher so verächtlich behandelte Knabe ein anderer
-zu sein. Vielleicht lohnte es sich, dessen Vertrauen zu gewinnen,
-vielleicht hatte er noch einflußreiche Verwandte in Frankreich, und
-klug forschte und fragte er, wenn Karl Wagner nicht da war, nach den
-französischen Verwandten.
-
-Raoul dachte: Ich tu ihm leid, weil meine Mutter gestorben ist, und so
-wenig er auch den langen Gesellen leiden konnte, so erzählte er ihm
-doch alles, was er wissen wollte. Er nannte den Namen seines Oheims
-und sagte, daß dieser am Hofe des Kaisers zu Paris eine hohe Stellung
-inne hätte. Als er später Karl Wagner sein Gespräch mitteilte, lachte
-der und sagte: »Nun wirst du wenigstens nicht gequält werden. Vor einem
-französischen Adelsnamen hat er Respekt; jetzt sieht er dich mit ganz
-andern Augen an.«
-
-Da lächelte auch Raoul zum erstenmal wieder ein wenig und erzählte
-seinem Freund Gottlieb die Geschichte. »Feiger Kriecher,« rief er
-verächtlich, »er muß doch noch mal Dresche haben!«
-
-Weiter sprachen die Knaben nicht darüber, sie ahnten nicht, welchem
-Plan der lange Schreiber nachhing.
-
-Jedesmal, wenn Raoul von seiner Arbeit zurückkehrte, zuckte es ihm in
-den Füßen, in die Mansarde hinaufzusteigen. Dann stand er ein paar
-Minuten still an der Treppe, und immer wieder überkam ihn von neuem
-heiß die Sehnsucht nach der Mutter, und manche Nacht, wenn Gottlieb
-schon schlief, lag er wach und weinte heiße Tränen. Er wurde immer
-stiller und bleicher, und die Meisterin Käsmodel sagte manchmal
-seufzend: »Der paßt nicht zu einem Schreiber, ganz sicher nicht.«
-
-»Allweil das tut er auch nicht,« rief Meister Käsmodel, »und wenn sich
-die Verwandtschaft nicht bald rappelt, dann geh' ich aufs Gericht und
-verlang' den Raoul für uns. Nachher mag er die leidige Schreiberei an
-den Nagel hängen!«
-
-Doch dazu kam's nicht. An einem Spätsommertag erhielt Meister
-Käsmodel einen dicken Brief von Herrn Wolf-Friedrich von Steinberg
-auf Hohensteinberg. Der Freiherr schrieb selbst, und er schrieb so
-herzlich, daß die Meisterin Käsmodel vor Rührung in eine Tränenflut
-ausbrach und der Meister einmal über das andere schrie: »Allweil ein
-nobler, guter Mann muß das sein, aber allweil die Knochen möcht' man
-den Postleuten einschlagen, daß sie just so einen Brief verloren gehen
-ließen.«
-
-Der Freiherr schrieb, er hätte den Brief seiner Schwägerin nie
-bekommen. Auf seine schon vor Jahren, eingezogene Erkundigung nach dem
-Tode seines Bruders habe er die Auskunft erhalten, seine Schwägerin
-sei mit ihrem Kinde nach Frankreich gezogen. Er bedaure es tief, daß
-er der armen Frau keine Stütze hätte sein können, ihr Sohn aber solle
-in seinem Hause eine Heimat finden. Wenn es möglich sei, möchte der
-Meister den Knaben jemand übergeben, der die Reise bis Berlin mache,
-von dort würde ein Freund ihn in wenigen Wochen mit nach Hohensteinberg
-bringen.
-
-»Na, dann ist's bald zu Ende mit dem Musjeh und uns,« brummelte der
-Meister, »in drei Wochen muß er reisen.«
-
-»Ich wollte, ich könnte ihn behalten,« sagte die Meisterin leise, »aber
-freilich, für ihn mag's besser sein. Wenn er doch bald heimkäme und die
-Sache erführe!«
-
-Dieser Wunsch ging früher in Erfüllung, als sie ahnte, denn noch war
-sie dabei, mit ihrem Manne die Sache zu bereden, als plötzlich Raoul
-aufgeregt in die Ladenstube stürmte und schrie: »Frau Meisterin, mein
-Onkel hat geschrieben, ich soll nach Paris kommen!«
-
-»Ja, biste allweil übergeschnappt? Nach Paris sollst du doch nicht
-kommen, Junge; Junge, wo haste deine Gedanken?« fuhr ihn der Meister an.
-
-»Doch nach Paris und gleich!«
-
-»Aber Raoul, nach Hohensteinberg, das liegt da oben bei Rußland herum,«
-rief die Meisterin nun auch.
-
-»Nach Hohensteinberg? Aber es steht doch in dem Briefe nach Paris, ich
-hab' doch gelesen!«
-
-»Daß dich das Mäuschen beißt,« schrie der Meister verdutzt, »wie kann
-er denn den Brief gelesen haben, wenn er ihn doch gar nicht gesehen
-hat? Das ist allweil eine kuriose Sache!«
-
-»Aber, aber der Herr Advokat hat doch den Brief bekommen, von dem
-französischen Gesandten in Dresden und --«
-
-»Nun schlägt's dreizehn!« Der dicke Bäckermeister fiel fast mit seinem
-Stuhl um, so heftig setzte er sich nieder, und die Frau Meisterin sank
-stöhnend auf einen Mehlsack. »Junge, Junge, was redest du da? Woher ist
-der Brief?«
-
-Und Raoul erzählte. Von dem Bruder seiner Mutter war eine Anfrage nach
-ihm gekommen. Der Onkel wollte ihn zu sich nehmen und ihn als seinen
-Sohn erziehen lassen; morgen schon sollte ein Begleiter aus Dresden
-eintreffen, der ihn nach Paris geleiten würde.
-
-»So,« murrte Meister Käsmodel, »na, da hat ja der Musjeh die Auswahl,
-ob er in Deutschland bleiben will oder nach Frankreich gehen und
-vielleicht um den Bonaparte herumscharwenzeln.« Dabei warf er dem
-Knaben den Brief höchst unwirsch zu. Der las erstaunt. Eine tiefe Glut
-überzog dabei langsam sein Gesicht. Da stand er am Scheidewege: des
-Vaters und der Mutter Heimat, sie standen ihm beide offen, und größerer
-Reichtum, höherer Rang, sie lockten aus Paris, denn Graf Turaillon
-besaß keine Kinder, er hatte sich bereit erklärt, den Neffen als seinen
-Erben zu erziehen.
-
-Aber gab es denn noch ein Besinnen da, wo die Mutter ihm selbst
-den Weg gewiesen hatte? Raoul richtete sich auf, und seine dunklen
-Augen blitzten. »Nein, Herr Meister, ich werde nie um den Bonaparte
-herumscharwenzeln. Mein Vater fiel im Kampf gegen ihn, das vergesse ich
-nicht: ich bin ein Steinberg und will ein Steinberg bleiben.«
-
-»Warte, warte, Bonaparte,« summte Gottlieb und schob sich in die Türe
-herein, gerade als Raoul seine Antwort gab. Heisa, was war das? Er
-drängte sich vor und schrie: »Soll's losgehen?«
-
-»Verflixter Bengel, muß er denn seine Nase allweil in alles stecken?«
-schnauzte ihn der Vater an. Er sah aber nicht böse aus; sein finstres
-Gesicht hatte sich aufgehellt, und er streckte Raoul froh die Hand
-hin. »So ist's recht! Deine Frau Mutter selig hätte nicht anders
-entschieden. Da heißt's nun freilich, sich zur Reise rüsten, hm,
-allweil -- da hilft nichts.«
-
-Ein Besinnen kam Raoul. Der Brief, den ihm der Advokat vorgelesen
-hatte, fiel ihm ein: morgen schon sollte der Begleiter kommen, der ihn
-nach Frankreich bringen wollte, und hastig sprach er es aus. »Was wird
-er sagen, wenn ich nicht mitgehen will?«
-
-»Na, wer nicht will, der will nicht,« entschied Gottlieb kaltblütig und
-reckte kühn seine freche, kleine Stubsnase hoch.
-
-Dem Meister schien die Sache aber doch nicht so einfach zu sein, er
-machte ein bedenkliches Gesicht und murmelte: »Dresden ist nahe, und
-wenn der Herr Graf dort gute Freunde hat, dann könnte es sein, daß sie
-den Raoul nach Frankreich schaffen, ob er allweil will oder nicht.«
-
-»Dann reiße ich lieber aus,« rief der Knabe empört, »mit Gewalt lasse
-ich mich nicht nach Frankreich schaffen, nein, nein, nie!«
-
-»Ich reiß' mit aus, hurra, das --« klatsch fuhr die väterliche Hand
-Gottlieb etwas unsanft auf den Mund, und der Schluß seiner Rede blieb
-ungesagt. Da ihn die Mutter auch noch vorwurfsvoll ansah und leise
-fragte: »Ja, hast du denn einen Grund zum Ausreißen?« zog sich der Bube
-lieber etwas in den Hintergrund der Ladenstube zurück, die Sache mit
-dem Ausreißen konnte er sich ja noch überlegen.
-
-Meister Käsmodel saß in tiefes Nachdenken versunken da. Vielleicht war
-es am besten, er ging zu Herrn Schnabel und fragte den um Rat; aber
-freilich, der Advokat war auch einer von denen, die sich ängstlich
-hüteten, es mit einem Franzosen zu verderben. Und ein Zögern erschien
-ihm, je mehr er die Sache überdachte, immer gefährlicher.
-
-»Ich setze mich in die Post und fahre geschwind fort,« drängte Raoul;
-»ich will nicht nach Frankreich.«
-
-»Die Post nach Berlin fährt morgen früh, und erfährt es der Herr, dann
-kann man dich im Preußischen allweil aufgreifen,« sagte der Meister
-nachdenklich. Doch plötzlich fuhr er auf: »Potzwetter, jetzt fällt mir
-etwas ein: Nachbar Koch fährt heute mittag nach Halle mit seinem Wagen,
-der nimmt dich schon mit, und von Halle aus fährst du mit der Post
-weiter, da merkt man's hier nicht; na, und nachher weiß ich ja nicht,
-wo du gerade bist. Flink, Frau, tummle dich, rüste die Sachen, in einer
-Stunde muß der Junge aus dem Hause sein.«
-
-»So schnell, du meine Güte, so schnell?« rief die Meisterin
-erschrocken, und da kam es Raoul erst recht zum Bewußtsein, daß er
-scheiden mußte von den Menschen, die ihm doch auf der weiten Welt am
-liebsten waren. Die Verwandten, zu denen er reisen sollte, waren ihm ja
-so fremd wie die Gegend, in der sie wohnten. Es war gut, daß alles so
-schnell gehen mußte, da gab es keine Zeit zu Abschiedsgedanken; und daß
-es recht war, wie es der Meister vorgeschlagen hatte, bestätigte Karl
-Wagner, der kurz vor seines jungen Freundes Abreise in das Bäckerhaus
-kam. Herr Schnabel hielt es für Raoul für ein großes Glück, daß sein
-Onkel ihn zu sich nehmen wollte; er würde gewiß eine schnelle Abreise
-verhindert haben, hätte man ihn darum gefragt.
-
-»Allweil, jetzt möcht' ich nur wissen, woher der gräfliche Onkel in
-Paris auf einmal darauf kommt, um den Jungen zu schreiben,« fragte der
-Meister.
-
-Karl Wagner lächelte ein wenig: »Neumann hat nach Paris geschrieben. Er
-hat Raoul den Freundschaftsdienst erwiesen, weil er meint, es sei für
-jeden Menschen am besten, ein Franzose zu sein.«
-
-»O, jetzt verstehe ich's,« rief Raoul, »er hat mich so genau um alles
-gefragt, und darum war er gewiß auch so freundlich in der letzten Zeit.
-Gestern sagte er auf einmal, er wolle mein Freund sein.«
-
-»Der muß noch mal Dresche haben,« knurrte Gottlieb wütend, »der ist so
-falsch wie -- wie --«
-
-»Deine Rechenexempel, die stimmen auch nie,« sagte Meister Käsmodel
-lachend. »Na, ich gönn' dem Musjeh die Enttäuschung. Aber nun los,
-sonst fährt Nachbar Koch ab. Geschwind, zum Abschied ist allweil keine
-Zeit mehr, kommt auch nichts dabei raus. Zieh mit Gott, Junge, und
-vergiß nicht, was du deiner Frau Mutter selig gelobt hast, und vergiß
-auch nicht, daß die Käsmodels dir allweil gute Freunde sind und bleiben
-werden. Hier findest du immer einen Platz, eine Heimat, wenn du mal
-nicht aus noch ein wissen solltest.«
-
-Draußen knallte eine Peitsche, ein langgezogenes Hoiho ertönte, Nachbar
-Koch wartete vor seinem Hause. Da mußte nun wirklich eins, zwei, drei
-Abschied genommen werden. Niemand kam mit vor das Haus, der Meister
-meinte, es sei besser, nicht erst die Neugier der Nachbarschaft zu
-erregen. Still huschte Raoul mit seinem Bündel hinaus, kletterte auf
-den Wagen, und fort ging es durch die in mittäglicher Glut und Stille
-liegenden Straßen. Noch einmal sah sich der Knabe um: da oben, da
-waren die Mansardenfenster, da hatte die Mutter so oft gesessen. Ein
-Schluchzen stieg in ihm auf, ein heißer, würgender Schmerz preßte ihm
-das Herz zusammen, und einen Augenblick war es ihm, als müßte er vom
-Wagen herabspringen und zurückeilen in das alte Haus, das ihm bis
-dahin eine Heimat gewesen war. Aber er bezwang sich und schluckte
-tapfer die Tränen hinab. Mama würde sich freuen, dachte er, sie hat
-es sich so gewünscht. Er versuchte an die neuen Verwandten zu denken,
-aber er konnte sich kein rechtes Bild von ihnen machen; seine Gedanken
-wirrten durcheinander und kehrten immer, immer wieder in das verlassene
-Bäckerhaus zurück.
-
-Mit finsterem Blick hatte Gottlieb den Freund scheiden sehen. Er zog
-die Stirn ganz kraus und schob die Unterlippe trotzig vor, damit nur
-niemand merken sollte, daß ihm der Abschied bitter schwer wurde. Dann,
-als der Wagen nicht mehr auf der Straße zu hören war, entschlüpfte
-er und eilte in die Burgstraße; dort in des Advokaten Schnabel Haus
-stellte er sich wieder in den dunklen Flurwinkel und wartete, bis Paul
-Neumann kam.
-
-»Schockschwerebrett!« schimpfte der, als er mit einem lauten Plumps
-wieder die Treppe hinauffiel. Oben in der Schreibstube zeterte er sich
-seine Wut vom Herzen herunter: »Ich möchte nur wissen, was das für ein
-infamer Bengel ist, der mir im Hausflur immer ein Bein stellt. Na wehe,
-wenn ich den erwische! Übrigens, wer weiß, wie lange es noch dauert,
-dann bin ich die Sache los. Der Graf Turaillon wird mir schon Dank
-wissen. Vielleicht, vielleicht reise ich auch nach Paris, dort werde
-ich mehr werden als ein simpler Schreiber!«
-
-Während Paul Neumann so von seinem Ärger und seinen Luftschlössern
-redete, schlenderte Gottlieb pfeifend und gemütsruhig über den
-Marktplatz nach Hause. Er spürte gar keine Reue über seine Tat, leid
-tat ihm nur, daß er Raoul nicht mehr den wohlgelungenen Streich
-erzählen konnte. Brummig saß er dann lange in seinem Winkel, der Freund
-fehlte ihm überall, und zuletzt spielte er sogar in der Verzweiflung
-seines Herzens mit den beiden kleinen Schwestern, etwas, was er sonst
-sehr unter seiner Würde hielt. Als aber das vierjährige Lottchen
-fragte: »Kommt Raoul bald?« da warf er unsanft die Puppe hinweg und
-stürzte davon. Er verkroch sich in der dunkelsten Ecke der Mehlkammer,
-und dort heulte er so lange, bis der Schmerz von Hunger und Müdigkeit
-abgelöst wurde und er einschlief.
-
-Am nächsten Tag, so um die dritte Nachmittagsstunde herum, sah
-Gottlieb endlich, er lag schon lange auf der Lauer, einen feinen
-Herrn das Haus betreten. Der ist's, dachte er, und schlüpfte eilig in
-seinen Horcherwinkel hinterm Ofen. Es war auch wirklich der erwartete
-Begleiter, ein eleganter, geschniegelter Herr. Mit unsäglichem Hochmut
-schaute er sich in der Ladenstube um, und ein Mehlstäubchen, das auf
-seinen Rock gekommen war, tupfte er hinweg, als hätte ein giftiges
-Insekt da Platz genommen. Breitbeinig und fest stand Meister Käsmodel
-vor dem jungen Mann und erzählte, Raoul sei als Wanderbursch nach
-Ostpreußen gezogen; von dem Umweg über Halle sagte er freilich nichts.
-
-»Was?« schrie der Fremde, »der Neffe des Grafen Turaillon ist als
-Wanderbursch davongezogen? Das ist ja empörend! Wie konnten Sie
-das dulden? Sie werden es büßen müssen! Graf Turaillon wird sich
-beschweren, daß man seinen Enkelsohn entführt hat. Sie sind ein Räuber,
-ein Betrüger, ein -- --«
-
-»Allweil jetzt halten Sie den Mund,« sagte der Bäcker gelassen, aber
-seine Augen blitzten drohend, und der schlanke, feine, junge Herr
-wich unwillkürlich zurück. »Ich hab' der Frau von Steinberg mein Wort
-gegeben, für ihren Sohn zu sorgen nach ihrem Willen, das hab' ich
-gehalten, und von Ihrem Herrn Grafen ist nie die Rede gewesen. Was ich
-getan habe, kann ich verantworten, und nun wär's nur recht, wenn Sie
-sich mal mein Haus von draußen ansehen möchten, es nimmt sich ganz
-stattlich aus. Ich muß in die Backstube, und allweil muß erst die
-Arbeit kommen und dann das Vergnügen.«
-
-»Sie werden noch daran denken müssen,« schrie der junge Mann wütend und
-verließ das Haus, aber Meister Käsmodel sah ihm ruhig nach. »Ich habe
-allweil nur meine Pflicht getan, mag kommen, was kommen will!«
-
-Es kam aber nichts danach, nur ein paar Verhöre auf dem Rathaus,
-bei denen Meister Käsmodel klipp und klar seine Tat verantwortete,
-und ehe ein neuer Befehl aus Paris eintraf, war Raoul von Steinberg
-längst in der Heimat seines Vaters angelangt. Paul Neumann aber saß in
-grimmigster Laune an seinem Schreibpult, -- die schöne Hoffnung, nach
-Paris zu kommen, war zerflossen wie eine Schneeflocke im Frühling.
-
-[Illustration: Dekoration Ende 3. Kapitel]
-
-
-
-
-[Illustration: Dekoration Titel 4. Kapitel]
-
-
-
-
-Viertes Kapitel.
-
-Auf Hohensteinberg.
-
-
-Der Sommer rüstete sich bereits zum Abschiednehmen, weil er schon
-überall an Hecken und Hängen, im Garten, auf den Feldern und im Walde
-den Boten seines Bruders Herbst begegnete. Und weil die Sonne in
-Freundschaft von dem ihr so lieben Sommer scheiden wollte und auch
-dem Herbst einen guten Willkomm zu bereiten trachtete, strahlte sie
-in allerbester Laune auf die Erde herab, und es gab warme, schöne
-Tage. Am späten Nachmittag eines solchen sonnenhellen Tages rasselte
-über den Marktplatz der kleinen ostpreußischen Stadt Langenstein eine
-herrschaftliche Kutsche. Ein paar Kinder, die auf der Straße spielten,
-starrten mit offenem Munde dem Wagen nach, und die Postmeisterin
-Lebrecht schob neugierig das Schiebefensterchen in ihrer Wohnstube hoch
-und sah hinaus.
-
-»Minettchen, sieh nur, die Frau Kammerherrin ist's wahrhaftig, die da
-gefahren kommt. Rasch, Mariell, sieh nach, ob meine Haube sitzt, ich
-muß dero doch meine Reverenz machen!«
-
-Die kleine, rundliche Frau eilte aus dem Zimmer, noch ehe Minettchen,
-das blonde Postmeistertöchterlein, Zeit gefunden hatte, ihr Urteil
-über den Sitz der mütterlichen Haube abzugeben. Draußen hielt auch
-schon das Gefährt, neben seiner Gattin erschien der Herr Postmeister,
-und ehrerbietig verneigte sich das Ehepaar vor den Insassen des
-Wagens. Drinnen im Zimmer drückte Minettchen ihr Stumpfnäschen an
-die Fensterscheiben und blickte voll Bewunderung auf die gnädigen
-Fräuleins, die mit der Kammerherrin von Steinberg fuhren. Diese
-selbst, eine große, stattliche Frau, saß kerzengrade aufrecht auf
-dem Vordersitze des Wagens; ihr braunes Taftkleid, das, entgegen der
-herrschenden Mode, noch von recht beträchtlicher Weite war, bedeckte
-den ganzen Sitz. Der Großmutter gegenüber saßen schlank und jung,
-eng aneinander geschmiegt, ihre drei Enkelinnen. Es wäre gegen alle
-Schicklichkeit gewesen, hätte eines der jungen Mädchen neben der
-Großmutter auf dem Vordersitz gesessen. Die Schwestern Gottliebe und
-Gottlobe von Steinberg hatten ihre Base Karoline von Prillwitz zärtlich
-in die Mitte genommen, denn das Bäslein war Gast und genoß alle
-Vorteile eines gern gesehenen Besuches.
-
-»Hat er Postsachen für mich?« fragte die Kammerherrin den Postmeister
-mit herablassender Freundlichkeit, der sich von der alten Dame noch das
-»Er« gefallen ließ, das er so leicht keinem andern verziehen hätte.
-
-»Ei gewiß, Ihro Gnaden, aus Leipzig ist ein Päckchen gekommen,
-spekuliere, es wird ein Buch sein,« gab der Postmeister zur Antwort und
-begab sich eilfertig in die Schreibstube, das Gewünschte zu holen.
-
-Bei dem Wort »aus Leipzig« schauten die drei Mädels neugierig auf, und
-über das Gesicht der alten Dame lief ein Schatten. Ihre Hände, die auf
-dem Schoß gefaltet lagen, zitterten leise, aber sie beherrschte sich,
-und die Postmeisterin bekam eine gnädige Nachfrage, wie es ihr gehe,
-und ob ihr der Tee, den sie jüngst vom Gute geholt, auch gegen den
-Brustkrampf geholfen habe.
-
-Die Auskunft lautete befriedigend, die dicke Frau Postmeisterin sah
-auch blühend und gesund aus, trotzdem seufzte sie herzbrechend, als die
-Kammerherrin sie fragte, wie es sonst noch gehe.
-
-»Unsereins kann ja nicht klagen,« sagte sie mit ehrlicher Betrübnis,
-»bisher hat's immer noch in unserem Hause zugelangt, aber bei den armen
-Leuten und draußen auf dem Lande, wie es da im Winter werden soll, das
-weiß unser lieber Herrgott!«
-
-Ihr Mann, der wieder aus dem Hause trat, hatte die letzten Worte
-gehört, und sein sonst so freundliches Gesicht verdüsterte sich. »Der
-gnädigen Frau Kammerherrin braucht man nichts zu klagen, sie weiß, wie
-groß die Not im Lande ist,« sagte er bitter, »und ehe wir nicht die
-Franzosenwirtschaft los werden, gibt's keine Besserung.«
-
-»Mann,« schrie seine Frau erschrocken, »du redest dich noch um Kopf und
-Amt.«
-
-Frau von Steinberg aber reichte dem Postmeister die Hand. »Wie er,
-denkt heute jeder ehrliche deutsche Mann, ob er es sagt oder bei sich
-behält.«
-
-Das Schelmenlächeln auf den Gesichtern der drei Basen, die mit dem
-Minettchen Blicke getauscht hatten, erstarb jäh bei diesem ernsten
-Gespräch, und alle drei schauten den Postmeister ehrfürchtig an: ein
-Lob aus Großmutters Munde, das bedeutete noch etwas.
-
-Der Postmeister hatte die Blicke der jungen Mädchen bemerkt; er
-räusperte sich ein wenig verlegen und reichte mit einer abermaligen
-Verbeugung das vielfach versiegelte Päckchen in den Wagen hinein.
-
-»Vielleicht ist es ein Almanach, der etliche neue Modekupfer bringt,
-an denen die gnädigen Demoiselles die neuen Moden, die man jetzo
-trägt, adorieren können,« sagte er mit verschnörkelter, altmodischer
-Höflichkeit. Er meinte, diese Art sei gar fein den vornehmen Damen
-gegenüber, aber grob schnitt ihm die Kammerherrin die Rede ab: »Halt
-er den Mund! Red er doch Deutsch, wie sein Schnabel gewachsen ist, und
-setz' er den drei Gänsen, meinen Enkeltöchtern, nicht Flausen in die
-Köpfe; sie sind schon eitel genug und denken mehr an Putz und Tand, als
-es sich für die heutige Zeit gebührt. Und sie, Frau Postmeisterin, lebe
-sie wohl; wenn sie Wurstgewürze braucht, dann kann sie sich welches
-holen lassen. Schick' sie mir ihr Minettchen, sie soll sich aber ja
-nicht wieder so aufputzen wie das vorige Mal; sie sah aus, als ginge
-sie zum Erntekranz. Putz und Tanz sind unserer Zeit unwürdig. Und nun
-Gott befohlen!«
-
-Die Pferde zogen an, und der Wagen rasselte davon; etwas verdutzt
-sahen die Eheleute ihm nach. »Ja, ja, so ist sie einmal, immer rasch
-und streng; aber gut ist sie doch dabei, und in der Not kann man sich
-immer an die Steinbergs wenden, das ist was wert. Das Minettchen aber
-soll mir nicht mehr mit den vielen Firlefanzbändern herumlaufen,
-ich leid's nicht,« brummte der Herr Postmeister und ging wieder in
-seine Schreibstube. Seine Frau kehrte in das Wohnzimmer zurück, und
-das ahnungslose Minettchen bekam dort brühwarm die Schelte der Frau
-Kammerherrin zu hören. Sehr beschämt beugte es sich über seine
-Näharbeit und schickte dem verbotenen Putz manch heimlichen Seufzer
-nach.
-
-Der Wagen rollte unterdessen auf dem Landwege dahin, der das Rittergut
-Hohensteinberg mit dem Städtchen Langenstein verband. Hell strahlte
-die Sonne auf kahle Felder herab, und der links an der Straße sich
-hinziehende Laubwald schillerte in lichtem Goldgelb.
-
-In dem Wagen herrschte Schweigen, und die Großmutter sah düster auf
-die Stoppelfelder am Wegrand; ach, sie hatten nur spärliche Frucht
-in diesem Jahre getragen, so spärlich, daß das Gespenst des Hungers
-schon vor vielen Türen stand, um sich mit dem Winter zugleich
-einzuschleichen. Die drei Enkelinnen aber kämpften noch mit ihrem Ärger
-über die großmütterlichen »Gänse«.
-
-Karoline von Prillwitz, deren Eltern in Königsberg lebten, --
-ihre Mutter war die einzige Tochter der Kammerherrin, -- verstand
-weniger die Gedanken, die die Großmutter bewegten, als Gottliebe und
-Gottlobe, die tagtäglich all das bittere Klagen um den ausgebliebenen
-Erntesegen angehört hatten. Sie fand darum das tiefe Schweigen auch
-recht langweilig. Sie seufzte einigemal, nicht zu sehr, damit es die
-Großmutter nicht hörte, und spähte eifrig die Straße entlang. Kam
-denn nichts und niemand des Weges daher? Als ein Bauer ankam und
-ehrfurchtsvoll grüßte, schaute sich die neugierige kleine Städterin
-so lange nach ihm um, als sie seine Gestalt noch verfolgen konnte:
-dabei übersah sie fast einen schlanken, blassen Jungen, der an einer
-Wegbiegung stand und träumend in die Weite blickte.
-
-»Heda,« rief der Kutscher, »aus dem Wege!«
-
-Der Knabe sprang zur Seite, er grüßte höflich, und in dem Blick seiner
-Augen lag eine Frage: es war, als wollte er vortreten und sprechen.
-
-Die alte Frau von Steinberg war durch den Zuruf des Kutschers aus ihren
-Gedanken aufgeschreckt. Auch sie sah nun den Knaben und verstand seine
-stumme Frage. Da sie auch fast jedes Gesicht in der Gegend kannte,
-fiel ihr ein Fremder sofort aus. Sie rief dem Kutscher ein Halt zu und
-winkte gebieterisch den Knaben zu sich heran.
-
-Der folgte der Aufforderung. Unerschrocken sah er zu der alten Dame
-auf, die ihn fragte: »Wohin will er?«
-
-»Nach Hohensteinberg.«
-
-Ein scharfer, prüfender Blick ans den hellen, klugen Augen überflog
-das Gesicht des Knaben, und eine leise Unruhe trat in die Züge der
-Kammerherrin. Etwas zögernd fast fragte sie weiter: »Zu wem will er da?«
-
-»Zu dem Freiherrn von Steinberg.«
-
-Sechs Mädchenaugen schauten neugierig, erwartungsvoll den kleinen
-Fremdling an, und Gottliebes Lippen öffneten sich; aber das vorschnelle
-Wort blieb ungesprochen, denn die Großmutter sprach wieder, und ihre
-sonst so herbe Stimme schwankte ein wenig: »Wie heißt er?«
-
-Der Knabe wurde rot. Diesmal kam seine Antwort nicht so rasch, er
-zögerte, aber dann sagte er doch so freimütig wie vorher: »Ich heiße
-Raoul von Steinberg!«
-
-Ein dreifacher Aufschrei erfolgte, die blonden Mädels hopsten auf ihrem
-schmalen Sitz hoch, und der Kutscher vergaß allen sonstigen Respekt vor
-seiner Herrin. Er drehte sich um und rief mit breitem Grinsen: »Ne--in,
-is doch nich meechlich, das Jungchen will --«
-
-[Illustration: Die Steinbergs. (Seite 60.)]
-
-»Halt er den Mund,« wies ihn die Kammerherrin zurecht, und zu dem
-Knaben gewandt, sagte sie: »Steig er ein, er kann mitfahren. Rückt
-zusammen, Mariellen, er hat noch Platz zwischen euch. Das Bündel nimmt
-Heinrich auf den Bock.«
-
-Aber Raoul folgte der Aufforderung nicht, so verlockend es für ihn war,
-seine müden Füße ausruhen zu können; die hochmütige Art verdroß ihn. So
-verneigte er sich nur mit dem feinen, zierlichen Anstand, den er der
-Erziehung seiner Mutter verdankte, und sagte höflich: »Ich danke sehr,
-gnädige Frau, aber ich kann noch gehen!« Und ohne Besinnen nahm er
-wieder sein Bündel über die Schulter und trabte die Landstraße entlang.
-
-Die Augen der alten Frau blitzten. Wie ein Wetterleuchten zog es über
-das alte, herbe Gesicht, und ohne sich noch weiter um den Knaben zu
-kümmern, rief sie: »Fahr er zu, rasch, laß er die Pferde laufen!«
-
-Heinrich folgte dem Befehl, und eine Minute später rollte das Gefährt
-an Raoul vorbei. Eine Staubwolke umhüllte den Jungen, der noch einmal
-stehen blieb und wartete, bis der Wagen einen weiten Vorsprung hatte,
-dann schritt er weiter, nicht schnell, denn das Wandern fiel ihm
-schwer, es war ihm ungewohnt, und ein Fuß war schon wund gelaufen. --
-
-Raoul von Steinberg war glücklich mit Meister Koch nach Halle gekommen
-und von da in tagelanger Postfahrt über Berlin bis nach Thorn. Von
-hier aus war das Vorwärtskommen beschwerlicher gewesen. Er selbst
-wußte nicht die rechte Richtung, die Posten gingen seltener und waren
-besetzt, auch war seine Barschaft sehr zusammengeschmolzen. Meister
-Käsmodel hatte selbst noch nie eine so weite Reise gemacht und hatte
-gemeint, gar gut und reichlich für seinen Schützling gesorgt zu haben,
-und es wäre ihm selbst wohl bitter leid gewesen, wenn er gewußt hätte,
-wie mühselig dessen Reise war. Aber Raoul hatte sich schon in seiner
-Jugend in mancherlei Widerwärtigkeiten schicken müssen, er kam durch,
-lebte einfach, schlief in Scheunen und sah sich endlich dem Ziel seiner
-Reise nahe. Etlichemal hatten Bauern ihn ein Stück des Weges für einen
-freundlichen Dank mitgenommen, und er war gern gefahren; die stattliche
-Dame aber in dem wohlhäbigen Wagen hatte ihm das Mitfahren doch zu sehr
-als ein Almosen angeboten, und eine solche Behandlung wollte er sich
-nicht gefallen lassen.
-
-»Ich komme schon hin,« dachte der Knabe mutig und schritt weiter, »lang
-kann's nicht sein!« Und wieder wie in all den vergangenen Reisetagen
-suchte er sich seine neue Heimat vorzustellen, und wie man ihn wohl
-empfangen würde, und ob der Oheim dem Vater ähnlich sah.
-
-Endlich sah er das Gutshaus am Ende einer langen, schattigen
-Lindenallee auftauchen: ein schlichtes, zweistöckiges, aber
-umfangreiches Gebäude, an das sich links der Gutshof mit Scheunen und
-Stallungen anschloß, rechts dehnte sich weit, von einer niedrigen
-Lehmmauer umgeben, ein großer Park aus. An der Haustüre standen
-der Freiherr von Steinberg, neben ihm seine Frau Maria, und beide
-umdrängten die drei blonden Bäslein, die seit der Begegnung auf der
-Landstraße es vor Neugier einfach nicht mehr aushielten, sich den neuen
-Vetter näher anzuschauen. Joachim, der noch nicht ganz fünfzehnjährige
-Sohn des Hauses, stand etwas zurück in dem weiten Hausflur. Er
-wollte es nicht zeigen, daß auch ihn der unbekannte Vetter lebhaft
-beschäftigte, denn er hatte es den beiden Schwestern und der Base mehr
-als einmal gesagt, daß es ihm lieber wäre, wenn der Halbfranzose gar
-nicht käme; eine rechte Sache würde das doch nicht mit ihm.
-
-»Die Großmutter tat recht, daß sie ihn auf der Landstraße stehen
-ließ,« hatte er erklärt, als die Mädels sehr lebhaft ihre Begegnung
-schilderten.
-
-Darüber waren die Schwestern tief entrüstet gewesen, denn sie empfanden
-inniges Mitleid mit dem blassen Knaben. »Die Großmutter hätte ihn doch
-mitnehmen sollen, ihm sagen, wer wir waren,« grollte Gottliebe. Sie
-ahnte nicht, daß der alten Frau selbst schon ihr rasches Davonfahren
-leid tat.
-
-»Wäre er doch endlich da, der arme Junge!« sagte die Hausfrau gerade
-leise, als Raoul am Anfang der Allee auftauchte.
-
-»Dort kommt er,« riefen die Mädels, und als sie sahen, daß Vater und
-Mutter schnell dem Ankommenden entgegengingen, taten sie es ihnen nach,
-und so sah sich Raoul auf einmal von den neuen Verwandten umringt: man
-hatte ihn erwartet, wußte von seinem Kommen. Er sah die Bäschen an
-und errötete heiß, denn er erkannte sie gleich wieder, und zugleich
-wußte er auch, ohne daß es ihm jemand sagte, daß die alte Dame seine
-Großmutter gewesen war. Seines Vater Mutter! Er senkte stumm den Kopf,
-und in die tiefe Freude, die ihn erfüllt hatte, als er endlich das
-Heimatshaus seines Vaters erblickte, endlich am Ziel war, fiel der
-erste bittere Tropfen.
-
-»Willkommen, mein Junge!« sagte der Oheim herzlich und hob das Gesicht
-des Knaben zu sich empor. Ernst, traurig sah dieser ihn an, und das
-gleiche Gefühl der Reue, das ihn ergriffen hatte, als Meister Käsmodels
-Brief eingetroffen war, bewegte wieder des Freiherrn Herz. Er zog den
-Knaben an seine Brust und sagte warm: »Gott segne deinen Eingang.«
-
-Frau Maria empfing den Neffen mit gleicher Herzlichkeit. Auch die
-blonden Bäslein grüßten ihn froh, und schon wollte ein Gefühl der
-Befreiung über Raoul kommen, als Joachim hinzutrat. Dieser, der ihn ein
-beträchtliches Stück überragte, sah hochmütig, ja fast verächtlich auf
-den in abgetragenen, verstaubten Kleidern steckenden Vetter herab. Wie
-ein Betteljunge sieht er aus, dachte er, und dieser Gedanke stand so
-deutlich auf seinem Gesicht, daß Raoul rasch die schon ausgestreckte
-Hand sinken ließ. Vor ihm tauchte das derbe, gutmütige Gesicht seines
-Freundes Gottlieb Käsmodel auf, und eine heiße Sehnsucht nach dem
-Bäckerhaus wallte in ihm empor.
-
-»Nun, da ist ja der Wanderbursch, der das Fußlaufen angenehmer findet
-als das Wagenfahren,« rief die Kammerherrin durch den Flur. Vor innerer
-Bewegung klang die Stimme der alten Frau härter und herber als sonst;
-sie mußte an sich halten, um das Kind ihres Sohnes, dieses Sohnes, um
-den sie zahllose Tränen geweint und tausend Schmerzen gelitten hatte,
-nicht weinend an ihr Herz zu ziehen. Raoul hörte nur die Härte, die
-Herbheit heraus; er dachte nur daran, daß es die Großmutter gewesen
-war, die ihn auf der Landstraße hatte stehen lassen. Unwillkürlich
-raffte er sich zusammen und verbeugte sich dann höflich und küßte die
-Hand der alten Frau, aber seine Lippen blieben fest geschlossen, und in
-seine sonnenverbrannte Stirn zog sich eine tiefe, senkrechte Falte, die
-seinem Gesicht etwas unendlich Hochmütiges, Trotziges gab.
-
-Genau so hatte sein Vater einst die Stirn gezogen, und in diesem
-Augenblick glich er trotz den dunklen Augen und den dunklen Locken dem
-Vater so auffallend, daß die Kammerherrin diesen zu sehen vermeinte.
-Fast entsetzt starrte sie den Enkelsohn an, dann wandte sie sich stumm
-ab und verließ wortlos, nicht so aufrecht als sonst die Halle, -- die
-alten Wunden waren von neuem aufgebrochen.
-
-Frau Maria tat der arme, blasse Knabe leid. Sie zog ihn mütterlich
-liebevoll an sich und sagte herzlich: »Nun komm aber erst in deine
-Kammer, mein Kind, du wirst müde und hungrig sein. Heute sollst du Ruhe
-haben, morgen erzählst du uns dann von deiner Reise und siehst dich in
-deiner neuen Heimat um!«
-
-»Morgen soll er erst erzählen?« rief Gottliebe namenlos enttäuscht, die
-schon immer vor Ungeduld von einem Bein auf das andere getreten war,
-»ich platze ja vor Neugier!«
-
-»Dann wirst du wieder zusammengenäht, Mariell,« tröstete der Vater,
-und das heitere Lachen, in das alle einstimmten, fand nun selbst
-auf Raouls Gesicht einen schwachen Widerschein. Zum Erzählen war er
-aber doch zu müde, und er war froh, als er im Bett lag und schlafen
-durfte. Er schaute sich auch kaum noch in der freundlichen Stube um,
-in die ihn Frau Maria führte, und deren sanfte Stimme sowie Gottliebes
-zwitscherndes Lachen draußen aus dem Flur waren das letzte, was er noch
-mit wachen Sinnen hörte, dann schlief er ein. Tief und fest schlief er
-einem neuen Tage, einem neuen Leben entgegen.
-
-[Illustration: Dekoration Ende 4. Kapitel]
-
-
-
-
-[Illustration: Dekoration Titel 5. Kapitel]
-
-
-
-
-Fünftes Kapitel.
-
-Als Fremdling in des Vaters Heimat.
-
-
-Als Raoul am nächsten Morgen spät erwachte, schien die Sonne hell in
-sein Stübchen; in allen Winkeln lag das goldene Licht, und von seinem
-Bett aus konnte der Knabe noch in die Krone einer dicken Kastanie
-hineinsehen. Er lag ein Weilchen blinzelnd still, er mußte es sich
-erst überlegen, daß er nun wirklich in Hohensteinberg, der Heimat
-seines Vaters war. Dann aber sprang er eilig aus dem Bett, zog sich
-den Sonntagsanzug an, den ihm Meister Käsmodel noch gekauft hatte, und
-eilte die Treppe hinab. Er hatte es sich nicht recht gemerkt, wo das
-Wohnzimmer lag, und als er Stimmen hörte, ging er dem Schall nach und
-stand unversehens vor einer offenen Tür. In dem Gemach, das ganz wie
-sein Stübchen von Sonnenlicht durchflutet war, saßen die Kinder des
-Hauses beisammen mit ein paar jungen Gästen, die eben eingetroffen
-waren: Arnold und Fritz von Berkow, deren Vater der nächste Nachbar
-von Hohensteinberg war. Am Fenster saß die Großmutter, und neben ihr
-stand ein großer überschlanker Mann, Pfarrer Josua Buschmann. Dieser
-lebte auch auf dem Schlosse und versah zugleich neben seinem Pfarramt
-das eines Lehrers der Steinbergschen Kinder. Das Pfarrhaus im Dorf
-war 1807 in dem trübseligen, schweren Kriegswinter abgebrannt, und des
-Pfarrers Weib war wenige Wochen später gestorben. Da war der einsame
-Mann ins Schloß gezogen, um der Gemeinde nicht die Last aufzubürden,
-ein neues Pfarrhaus bauen zu müssen. Er war mit den Berkows zusammen
-gekommen, da er am Tage vorher über Land gewesen war.
-
-Niemand hatte Raoul kommen hören, und einige Sekunden stand er zögernd
-und verlegen an der Türe, unschlüssig, was er tun sollte, als die
-Stimme Arnolds von Berkow sich laut aus den andern hervorhob: »Sagt,
-was ihr wollt, seine Mutter war doch eine Französin. Also ein halber
-Franzose ist euer Vetter doch und kein Verlaß auf ihn!«
-
-Ein Schrei entrang sich Raouls Lippen, und plötzlich stand er mitten
-im Zimmer, stand vor dem langen Jungen, der ihn um einen halben Kopf
-überragte, und streckte ihm die drohend geballte Faust entgegen. »Meine
-Mutter, meine Mutter« -- er konnte vor Empörung nicht sprechen, nur
-seine Augen blitzten in wildem Zorn.
-
-Josua Buschmann sprang hinzu und zog den leidenschaftlich erregten
-Knaben fort, die Großmutter gebot scharf: »Geht hinaus, ihr Buben!« und
-einige Augenblicke später war Raoul allein mit der Großmutter, seiner
-Tante und dem Pfarrer. Die Buben und die Bäslein hatten alle zusammen
-das Zimmer verlassen.
-
-Frau Maria sprach freundlich zu ihm, auch die Großmutter sagte ein paar
-Worte, aber Raoul war es doch, als hätte sich der helle Sommermorgen
-auf einmal in einen grauen, trüben Regentag verwandelt, und nur mühsam
-gab er auf alle Fragen Antwort. --
-
-Raoul war mit einem Herzen voll Sehnsucht nach Liebe hergekommen, und
-auf der langen, beschwerlichen Reise hatte er sich die heitersten
-Bilder ausgemalt. Er hatte eine tiefe Dankbarkeit empfunden, daß er
-kommen durfte, und dabei hatte er auch wieder mit ein bißchen Stolz
-gedacht, daß die Verwandten sich gewiß recht freuen würden, daß er
-Hohensteinberg gewählt hatte und nicht nach Paris gezogen war. Ein
-grenzenloses Vertrauen zu der Mutter, dem Bruder seines Vaters war
-in ihm aufgeblüht; alles wollte er ihnen sagen, sein ganzes Leben
-schildern, und nun war es plötzlich, als habe sich da in seinem
-Herzen eine Türe geschlossen. Wie zugeschüttet war alles durch das
-eine unbedachte Wort. Er hatte es in seinem jungen Leben gelernt sich
-zu beherrschen, und so gab er sich auch alle Mühe, niemand merken
-zu lassen, wie es in seinem Herzen aussah. Kein Wort kam über seine
-Lippen, wenn er nicht gefragt wurde, und wenn er antwortete, tat er es
-so knapp und kurz, daß seine Verwandten wenig genug von seinem Leben
-erfuhren. Warum er eigentlich so rasch von Leipzig abgereist war, ahnte
-niemand in Hohensteinberg, niemand, wie tapfer Raoul für seine Mutter
-gearbeitet hatte, und wie lieb ihm die Bäckerfamilie war.
-
-Nach ein paar Tagen hatten sich alle im Hause daran gewöhnt, daß
-Raoul da war, daß er schweigsam am Tisch saß, und daß er arbeitete
-und lernte. Kam er, merkte man es kaum, ging er, vermißte ihn
-niemand. »Er ist langweilig,« sagten die Basen; Joachim nannte ihn
-»verstockt, falsch, einen Franzosenfreund«, denn er grollte ihm, daß
-um seinetwillen sein Freund Arnold eine derbe Rüge empfangen hatte. Er
-ist wohl nur scheu, dachte Frau Maria, aber ihr Mann und seine Mutter
-empfanden es bitter, daß der Knabe so anders war als sein Vater; sie
-beide hätten so gern gut gemacht, was sie an Unversöhnlichkeit und
-Härte an seinen Eltern verschuldet hatten. Er ist von anderer Art,
-dachte die Großmutter schmerzvoll und verschloß auch ihr Herz vor ihm,
-wenn ihr gegenüber der Enkelsohn immer stumm blieb, ja ihr sichtlich
-aus dem Wege ging.
-
-Nur der Pfarrer Josua Buschmann ahnte etwas von dem stillen Leiden des
-blassen Knaben. Er hatte ihn auf den Wunsch seines Onkels hin geprüft,
-und er war erstaunt gewesen, wie viel Raoul wußte, obgleich er doch,
-wie er selbst sagte, nie auf einer Schule gewesen war. Von dem Lernen
-mit dem Bäckerbuben zusammen erzählte Raoul nie. In den ersten Tagen
-nur hatte er einmal geantwortet: »Gottlieb hat mir das gesagt.«
-
-Man hatte im Garten zusammengesessen, und Gottliebe rief verwundert:
-»Gottlieb, mein Namensvetter, wer ist das?«
-
-»Mein Freund,« gab Raoul kurz zur Antwort.
-
-»Wie heißt er denn weiter?« forschte Gottliebe neugierig, »erzähl doch!«
-
-»Er heißt Käsmodel, sein Vater ist Bäcker,« sagte Raoul mit leisem
-Zögern. Er hätte gern noch mehr gesagt, denn auf einmal sah er deutlich
-Gottliebs gutes, treues Gesicht vor sich, und die Sehnsucht, von ihm
-sprechen zu können, erwachte jäh.
-
-»Käsmodel,« schrie aber Karoline, »Käsmodel, nein, so ein Name! Und
-mit einem Bäckersohn hast du verkehrt?« Sie war ein etwas hochmütiges
-Jüngferlein und schnell und unbedacht in ihrer Rede; der Name erschien
-ihr auch so lächerlich, daß sie kichernd ihre kleine Nase hinter einem
-Buch verbarg. Auch Lobe lachte laut: »Käsmodel, nein, Käsmodel! Wie
-drollig!«-- »Käsmodel!« rief auch Joachim spöttisch, »und von dem hast
-du was gelernt, von dem stammt deine Weisheit?«
-
-»Er ist mein Freund,« erwiderte Raoul herb, und wieder grub sich auf
-seiner Stirn die senkrechte Falte ein, die ihn seinem Vater so ähnlich
-machte.
-
-»Er ist gewiß sehr nett,« sagte Gottliebe schnell, der der Vetter leid
-tat, und auch Pfarrer Buschmann fragte freundlich nach dem Freunde
-und warf den Spöttern einen mahnenden, zürnenden Blick zu. Später
-fragte auch Frau Maria, und selbst der Oheim erkundigte sich nach den
-Bäckersleuten, aber Raoul gab immer nur kurze, ausweichende Antworten.
-Sie spotten doch nur über meine Freunde, dachte er bitter.
-
-Er war durch diese Erfahrung noch scheuer geworden und fühlte sich bei
-den Verwandten durch Worte verletzt, die er früher kaum beachtet hätte.
-
-Meister Käsmodel hatte oft herzhaft über die Franzosenwirtschaft
-geschimpft, und nie hatten Raoul und seine Mutter sich gekränkt
-gefühlt; jetzt auf einmal spürte der Knabe überall eine Feindseligkeit
-heraus.
-
-Es wurde auf Hohensteinberg, als der Winter näher kam, viel von dem
-kommenden Krieg zwischen Rußland und Frankreich gesprochen, der drohte,
-und vor dem die Länder zitterten. An seinem Geburtstag, den 15. August,
-hatte Napoleon dem russischen Gesandten so scharfe Worte gesagt, daß
-alle den Krieg ahnten. Für Preußen war es durch die Mißernte des Jahres
-ohnehin eine harte Zeit, wie würde es werden, wenn der Zug Napoleons
-nach Rußland zur Wahrheit würde! Da ballte sich manche Faust heimlich
-in der Tasche, und mancher tapfere Mann hätte lieber dreingeschlagen
-als von einem Bündnis mit dem Eroberer gesprochen. Der König von
-Preußen Napoleons Verbündeter! Wie ein Hohn erschien das vielen, und zu
-denen, die des Landes Schmach mitfühlten, gehörte auch der Freiherr
-von Steinberg.
-
-In der Wohnstube von Hohensteinberg wurde manches freie, kühne
-Wort gesprochen, wenn die Berkows da waren und _Dr._ Martinsen aus
-Langenstein, des Hauses alter Freund. Die Jugend des Hauses durfte
-zuhören. »Sie müssen die Not unserer Zeit erkennen lernen, sie müssen
-aufwachsen in der Sehnsucht nach Freiheit,« pflegte der Freiherr zu
-sagen.
-
-Da war es Raoul aber manchmal, als stocke die Rede, wenn er dabei war;
-und wenn ihm zuweilen in heißem Mitgefühl das Blut in die Wangen stieg
-und er an seinen für das Vaterland gefallenen Vater dachte, da fühlte
-er, wie die Großmutter oder der Oheim ihn prüfend ansahen. Warum wurde
-er rot? Kränkten ihn die freien Worte?
-
-Und warum schweigt er immer? dachte Joachim und sagte es dann zu seinen
-Freunden.
-
-»Er ist für die Franzosen, natürlich!« spottete Arnold.
-
-Den drei Knaben wäre es am liebsten gewesen, sie hätten gleich in den
-Kampf ziehen können. Was die Väter sprachen, erschien ihnen zu kühl und
-besonnen, und die Schwestern waren auf ihrer Seite. Die hatten auch die
-Köpfe voller Kriegsgedanken, am meisten Gottliebe, die war ungeduldiger
-und feuriger beinahe als die Buben.
-
-Gottliebe war Joachims Lieblingsschwester, sie genoß sein volles
-Vertrauen, und die beiden hingen wie die Kletten zusammen. Die
-sanftere, ein Jahr jüngere Gottlobe pflegte eine zärtliche,
-schwärmerische Freundschaft mit Helene von Berkow, und seit Karoline
-auf Hohensteinberg weilte, auch mit dieser.
-
-Seit Raoul gekommen war, gab es aber manchmal Streit zwischen Bruder
-und Schwester. Gottliebe tat der Vetter oft leid, sie konnte keine
-traurigen Menschen sehen. Weil sie wie der ferne Freund hieß, ruhten
-Raouls schöne, dunkle Augen oft, ihm selbst unbewußt, voll Traurigkeit
-gerade auf ihr, und Gottliebe fühlte, daß er litt, fühlte es wie
-Pfarrer Buschmann, und sie versuchte es auch wie der Geistliche immer
-wieder, des Vetters Vertrauen zu gewinnen. Sie suchte ihm kleine
-Gefälligkeiten zu erweisen; gab er eine gute Antwort in den Stunden,
-die sie gemeinsam hatten, dann rief sie wohl bewundernd: »Aber Raoul
-ist klug!«
-
-Das verdroß Joachim. Der war begabt, aber er liebte es, mehr in Wald
-und Feld herumzustreifen oder mit den Berkows kühne Luftschlösser zu
-bauen, als eifrig zu lernen. Da mußte er dann sehen, daß der jüngere
-Vetter ihn, trotzdem er viel weniger Unterricht in seinem Leben
-empfangen hatte, manchmal überflügelte. »Natürlich, er ist ein Streber
-und Heimlichtuer,« sagte er, aber daß die Schwester den Verhaßten
-bewunderte, kränkte ihn tief, und manches scharfe Wort fiel darum
-zwischen den Geschwistern. Es gab Streit und Tränen, und die schöne
-Einigkeit war gestört.
-
-Pfarrer Buschmann hörte das Streiten. Er sah, wie die Geschwister
-auseinanderkamen und Raoul doch einsam blieb, und versuchte zu
-versöhnen, aber Joachim besaß einen echten Steinbergschen Trotzkopf,
-der nicht so leicht zu brechen war. Je mehr der Pfarrer zum Guten
-sprach, desto mehr fühlte sich Joachim auch von dem so geliebten
-Lehrer zurückgesetzt und wurde auch gegen diesen mißtrauisch, sah mit
-Eifersucht auf Raouls rasches Vorwärtskommen und zeigte dem immer
-unverhohlener seine Abneigung.
-
-So gärte und brodelte es im engen Kreise wie draußen in der weiten
-Welt, und darüber gingen die Tage dahin, und der Winter kam mit leisen
-Schritten gegangen. Er kam hier in Ostpreußen früher als in Sachsen,
-und er war schöner auf dem weiten, flachen Lande als drinnen in der
-engen Stadt. Der Schnee fiel schmeichelnd weich, weiß und still. Er
-lag bald in dicken Polstern auf den Dächern und Mauern, die Bäume
-neigten ihre Äste unter der weißen Last, und bald mußten die Wege zu
-den Scheunen und Stallungen und ins Dorf hinein geschaufelt werden.
-In dieser Zeit wuchs aber auch die Not im Lande. Auf Hohensteinberg
-freilich brauchte niemand Hunger zu leiden, und auch für die
-Dorfbewohner sorgten der Gutsherr und seine Frau, so gut sie es nur
-konnten. Doch der Klang der Not tönte auch von fern kommend in diese
-friedsame Stille hinein, und Raoul dachte in dieser Zeit oft daran, wie
-noch vor einem Jahr die Mutter gebangt und gesorgt hatte. Gar manchmal
-mußten in dieser Zeit die Töchter des Hauses in das Dorf gehen und
-den Kranken und Armen Speise aus der Schloßküche hintragen. An einem
-Dezembertag rüstete sich Gottliebe zu einem solchen Gang. Sie tat es
-gern, und die Dorfleute sahen sie gern kommen, denn wie ein lachender
-Sonnenschein kam sie in die niedrigen Stuben. Als Gottliebe durch den
-Hausflur ging, sah sie Raoul, und rasch bat sie: »Komm mit ins Dorf.«
-
-»Mit dir allein?«
-
-»Herr Pfarrer geht mit,« sagte Gottliebe und stellte ihren Korb an die
-Haustüre, »er kommt gleich, wir müssen nur ein Weilchen warten. Kommst
-du?«
-
-Raoul nickte und trat neben die Base, und diese, die nicht gerade zu
-den Schweigsamen gehörte, erzählte ihm gleich: »Mutter schickt den
-alten, kranken Jakobsleuten Essen. Dort hinten im letzten Haus beinahe
-wohnen sie.« Da Raoul stumm blieb, fuhr sie lebhaft fort: »Ach, es muß
-schrecklich sein, arm zu sein, Hunger zu haben!«
-
-»Sehr schrecklich ist's,« sagte Raoul, und die Falte grub sich in seine
-Stirn.
-
-Gottliebe, der es plötzlich einfiel, daß Raoul und seine Mutter ja arm
-gewesen waren, sagte schnell, aus tiefstem Herzen heraus: »Armer Raoul!«
-
-Das klang so kindlich lieb und herzlich, daß zum erstenmal wieder seit
-langer Zeit über Raoul der Wunsch kam, von der Mutter, von Leipzig und
-seinem Leben dort zu erzählen, aber es war, als wären ihm die Worte im
-Munde eingefroren: er, der sonst so lustig hatte plaudern können, wußte
-jetzt kaum noch etwas zu sagen. Doch Gottliebe schien seinen Wunsch zu
-ahnen, und herzlich bat sie: »Sag mir doch was von deinem Gottlieb! War
-er lustig?«
-
-»Sehr,« gab Raoul zur Antwort, »und gut und tapfer.« Da kam ihm aus
-einmal das Erinnern an Gottliebs Zorn über den langen Schreiber, und er
-lächelte in den Gedanken daran ein wenig.
-
-»Du lachst,« schrie Gottliebe erfreut, »dir ist was Vergnügtes
-eingefallen. Ach, und so was höre ich doch furchtbar gern. Bitte, los,
-erzähle, ich glaube, dein Gottlieb würde mir gefallen!«
-
-»Natürlich, Gottlieb und Gottliebe, der Bäckerssohn paßt gut zu dir,«
-ertönte hinter den beiden auf einmal spöttisch Joachims Stimme, er war
-lautlos im Schnee am Hause entlang gekommen.
-
-Ein heftiges Wort kam Raoul auf die Lippen, aber noch ehe er es
-ausgesprochen hatte, rief Gottliebe schon empört: »Pfui, wie du bist,
-Achim, wie hochmütig! Der Bäckerjunge, der ist gewiß sehr nett,
-vielleicht viel, viel netter und besser als du! Ja gewiß, er ist
-besser,« trumpfte Gottliebe noch auf, der im Zorn auch leicht Worte
-entfuhren, die ihr nachher selbst bitter leid taten.
-
-Wortlos, blaß vor Wut drehte sich Joachim um und ließ die beiden
-stehen, und als er gegangen war, kam Gottliebe die Besinnung, daß sie
-mit ihrer Heftigkeit alles noch schlimmer gemacht hatte. »Ich bin zu
-dumm!« klagte sie. »Nun ist Achim fuchswild, und dabei will er immer
-recht sanft sein und alles gut machen und Frieden stiften und -- --«
-
-»Der Mund geht uns immer durch,« sagte Pfarrer Buschmann, der den
-letzten Ausruf gehört hatte, »was hat's denn gegeben?«
-
-Treuherzig schilderte Gottliebe den Vorgang und stellte sich dabei
-noch einmal das Zeugnis aus, daß sie sehr dumm sei. »Manchmal stimmt
-es, aber nicht immer,« sagte der Pfarrer lächelnd und strich über die
-glühenden Wangen des Mädchens, und dann ging sein Blick von dieser
-hinweg zu Raoul, der finster in das weiße Land hinausstarrte. »Mußt es
-nicht zu schwer nehmen, mein Junge. Joachim ist ein Sprudelkopf, aber
-er kommt schon noch zur Besinnung.«
-
-»Wär' ich doch nie hergekommen!« rief Raoul. »Es wäre schon besser
-gewesen, ich wäre nach .....« Er stockte, die Tränen stiegen ihm heiß in
-die Augen; in diesem Augenblick fühlte er tiefer noch als sonst seine
-Verlassenheit, und hastig drehte er sich um und eilte hinweg.
-
-Traurig sah ihm der Pfarrer nach. »Armer Junge!« sagte er, dann nahm
-er Gottliebes Hand und schritt mit ihr dem Dorfe zu, und unterwegs
-sprach er mit dieser von Raoul, und daß der so einsam sei. »Du willst
-immer eine große Tat vollbringen, Gottliebe,« sagte er milde, »nun
-sieh einmal, hier könntest du es vielleicht, du könntest mit Geduld
-und Liebe Raouls Vertrauen zu gewinnen suchen und ihn mit deinen
-Geschwistern, mit den Berkows versöhnen. Da mußt du freilich dich
-selbst erst recht beherrschen lernen und darfst nicht verzagen, wenn es
-nicht gleich geht. Willst du das?«
-
-Über Gottliebes Gesichtchen purzelten die Tränen nur so. »Ich will,«
-rief sie schluchzend, »ach ja, ich will ja ganz gewiß ein leibhaftiger
-Friedensengel werden, wenn's nur nicht so gräßlich schwer wäre. Hops!
-habe ich immer alles vergessen, und ich glaube, ich platze, wenn ich
-nicht sage, was ich denke.«
-
-Pfarrer Buschmann lächelte linde, der kleine, zukünftige Friedensengel
-hatte doch noch recht viel zu lernen für sein Amt. »Mir scheint,
-Mariellchen,« sagte er, »du platzt recht oft, mal vor Wut, mal vor
-Neugier, mal vor Ungeduld, und schließlich werden wir doch einmal zu
-Meister Schramm nach Langenstein fahren müssen und dir einen Reifen
-umlegen lassen, oder die Flickmareike muß dich zusammennähen. Nimm dich
-nur in acht, sonst sehen wir alle nie etwas von dem Friedensengel.«
-
-Halb lachend, halb weinend gelobte Gottliebe Besserung. »Ich geh
-nachher gleich zu Achim und bitte ihn, er soll gut sein,« sagte sie,
-»denn wenn er brummt, kann ich ihn doch nicht versöhnen, und zu Raoul
-will ich schrecklich nett sein.«
-
-Nach ihrer Heimkehr fing Gottliebe gleich mit der Nettigkeit an, sie
-raste in Joachims Zimmer und fand dort die Berkows. Das kümmerte
-sie wenig. Mit einem lauten Schrei fiel sie dem Bruder um den Hals
-und bettelte: »Sei wieder gut, ich hab's ja nicht böse gemeint, und
-natürlich bist du viel, viel besser als alle andern.«
-
-Joachim wollte zwar brummen, es tat ihm aber doch sehr wohl, daß
-ihn die Schwester in Gegenwart der Freunde so leidenschaftlich
-um Verzeihung bat. Er vergaß rasch, daß er eigentlich den Zank
-hervorgerufen hatte und die Hauptschuld trug, und sagte gnädig: »Na,
-laß nur, Liebe, es ist schon alles wieder gut. Aber nun geh, wir haben
-etwas zu besprechen. Vielleicht bekommt ihr Mariellen es auch bald zu
-erfahren, es ist etwas sehr Schönes, sehr Hohes, sehr Wichtiges. Erst
-müssen wir Männer es aber allein bereden.«
-
-Beinahe wäre Gottliebe nun vor Lachen über die »Männer« geplatzt, aber
-sie bezwang sich, dachte an Pfarrer Buschmanns Mahnung und schlüpfte,
-die Schürze vor dem Gesicht haltend, hinaus. Draußen kicherte sie
-vergnügt hinter der Schürze und raste die Treppe hinab, dabei rannte
-sie beinahe Jungfer Rosalie um. Die Jungfer war eine wichtige Person
-in Hohensteinberg; sie waltete neben der Hausfrau in Haus und Hof und
-nichts entging leicht ihren scharfen Blicken, keine Unordnung, keine
-Nachlässigkeit blieb ungerügt.
-
-»Hui,« brummte diese, »verdreht!« Die ältere, sehr hagere Person
-richtete sich nach dem Sprichwort: Reden ist Silber, Schweigen ist
-Gold, und schien eine wahre Abneigung gegen Silber zu haben. Wenn sie
-einmal mehr als zehn Worte hintereinander sagte, staunte das ganze
-Haus. Trotzdem führte sie in der Küche ein scharfes Regiment, und wenn
-sie ein Wort sagte, so war das oft so gut wie eine lange Strafpredigt.
-Auch Gottliebe entfloh ihr heute eilig, die Jungfer hatte so grimmig
-dreingesehen, daß es wohl besser war, nicht in ihre Nähe zu kommen.
-Doch kaum war sie ein paar Schritte gelaufen, da fiel ihr ein, Jungfer
-Rosalie könnte ihr doch einen Apfel geben. Diesen Apfel könnte sie
-Raoul bringen, und Raoul würde sich darüber freuen, und dann würden sie
-zusammen plaudern. Sie lief also hinter der Jungfer her, faßte sie am
-Rockzipfel und bettelte: »Schenk mir einen Apfel!«
-
-»Jetzt?« Die Jungfer sah Gottliebe nur an, und hinter dem »Jetzt«
-meinte diese zu hören: »Jetzt ist es gar keine Zeit, Äpfel zu fordern.
-Äpfel sind Leckerbissen in dieser Zeit, und es ist sehr viel verlangt
-und sehr unbescheiden, so mitten am Tage einen Leckerbissen zu
-verlangen.«
-
-»Ach Jungfer Rosalie, zuckersüße Jungfer Rosalie,« flehte Gottliebe,
-»es ist ja für Raoul, weißt du. Der arme Raoul ist traurig; Achim
-war so garstig zu ihm, und ich glaube, der arme, arme Raoul ist sehr
-unglücklich bei uns, und Herr Pfarrer Buschmann hat gesagt, ich möchte
-doch ein Friedensengel sein.«
-
-»Schnapp!« knurrte die Jungfer, der die Rede viel zu lang war, aber
-dann nahm sie ihr Schlüsselbund und suchte sehr nachdrücklich einen
-Schlüssel, in dem Gottliebe sofort den zur Apfelkammer erkannte. Sie
-lief, selbst erstaunt über ihren schnellen Erfolg, vergnügt hinter der
-Jungfer her und erhielt auch wirklich den gewünschten Apfel, sogar
-einen besonders schönen roten. Sie ahnte nicht, daß Jungfer Rosalie ein
-tiefes Mitleid für den blassen Fremdling im Herzen trug. Sie bewohnte
-nämlich die Kammer neben Raouls Stube, und schon manche Nacht war das
-heiße, sehnsüchtige Schluchzen des Knaben an ihr Ohr gedrungen. Man muß
-ihm gut tun, dachte sie, und sie war froh, daß Gottliebe den gleichen
-Wunsch hegte. Sie drehte sich daher an der Tür noch einmal um und
-sagte: »Recht, daß d' gut bist!«
-
-Zur selben Stunde sprach auch Josua Buschmann der Kammerherrin davon,
-daß man Raoul gut tun müsse. Die alte Dame hörte ihn schweigsam an,
-aber der herbe Ausdruck ihres Gesichts milderte sich nicht. Endlich
-sagte sie kühl: »Ich glaube, Sie irren sich, lieber Buschmann. Der
-Junge ist von anderer Art; er mag im Herzen doch mehr der Nation seiner
-Mutter angehören und fühlt sich darum fremd hier. Das macht ihn still
-und verschlossen.«
-
-Der Pfarrer schüttelte den Kopf und erzählte wieder, was Raoul
-ausgerufen hatte. »Da klang ein tiefes Leid heraus. Ich weiß es nicht,
-aber mir ist es schon manchmal seltsam vorgekommen, daß Raoul damals so
-schnell kam, sich gar nicht nach der Anordnung seines Oheims gerichtet
-hat. Vielleicht hatte er einen Grund.«
-
-Ein feines, kühles Lächeln umspielte die Lippen der alten Frau. »Lieber
-Buschmann, Sie sind ein Idealist und sehen mehr in dem Jungen, als in
-ihm steckt. Er ist ein Trotzkopf, das habe ich schon damals auf der
-Landstraße gemerkt. Darin gleicht er seinem Vater, aber freilich,« sie
-seufzte tief, »der war ehrlich und offen, und Raoul ist hinterhältig
-und verstockt. Vielleicht hat die Umgebung, in der er gelebt hat,
-auch einen schlechten Einfluß auf ihn gehabt, obgleich dieser Meister
-Käsmodel in Leipzig brav und ehrlich nach seinen Briefen schien.
-Ich will aber an Ihre Worte denken und mich meines Enkelsohnes mehr
-annehmen. Vielleicht gelingt es doch, ihn mehr zu einem Steinberg zu
-erziehen, zu einem echten deutschen Mann.«
-
-Der Pfarrer neigte still das Haupt. »Solche brauchen wir in dieser
-Zeit, und vielleicht steckt in manchem ein Held, der stille seines
-Weges geht, und die Zeit enthüllt wohl das Gute, das verborgen ist.«
-
-[Illustration: Dekoration Ende 5. Kapitel]
-
-
-
-
-[Illustration: Dekoration Titel 6. Kapitel]
-
-
-
-
-Sechstes Kapitel.
-
-Der Tugendbund wird gegründet.
-
-
-Weihnachten kam und ging vorbei. Es war ein stilles Fest in diesem
-Jahr, an dem die Sorgen nicht schwiegen. Teuerung im Lande und der
-Krieg in Aussicht. Was sollte da erst werden, wenn die französische
-Armee nach Rußland zog, wenn all die Tausende den Weg durch Deutschland
-nahmen? Immer lauter klang die Frage, immer fühlbarer wurde allen die
-Schmach, immer drückender empfand man das Joch der Fremdherrschaft.
-
-Hohensteinberg lag im Winterschlaf, und im Hause ging alles seinen
-stillen Gang weiter. Raoul war noch immer ein Fremdling im Hause,
-nur mit Gottliebe sprach er manchmal vertraulicher. Ihr hatte er von
-Gottlieb erzählt und von der Mutter. Da hatte Gottliebe plötzlich ihre
-Arme um seinen Hals geschlungen und gerufen: »Wie lieb muß die gewesen
-sein!« Seitdem war Raoul dem Bäslein im innersten Herzen zugetan, und
-wenn er es auch noch nicht fertig brachte, ihr von allem zu erzählen,
-so gab es doch manche heimliche Plauderstunde zwischen beiden, und
-Raoul empfand Gottliebes Freundschaft als besonderes Glück, und seitdem
-ertrug er die offene Feindschaft Joachims etwas leichter. Auch zu
-seiner Tante Maria und zu dem Pfarrer trug er eine stille Zuneigung im
-Herzen, aber immer wieder verschloß ihm eine unerklärliche Scheu den
-Mund, und die Großmutter sagte manchmal zürnend, wenn sie es in ihrer
-herben Art wieder versucht hatte, Raouls Vertrauen zu gewinnen: »Der
-ist doch von anderer Art.« Dann war sie so schroff und abweisend gegen
-den Knaben, konnte ihn so hart anlassen, daß sie wieder zerstörte,
-was Frau Marias Milde, Gottliebes zärtliche Freundschaft und Pfarrer
-Buschmanns klare Güte nach und nach aufgeweckt hatten. Und wie die
-Mutter dachte der Sohn; auch er wurde kühler und kühler gegen den
-Neffen, auch er sagte oft. »Er ist von anderer Art.«
-
-Von Leipzig hatte Raoul noch keine Nachricht wieder. Er hatte
-einmal an Gottlieb und Karl Wagner geschrieben, sein Brief hatte
-traurig geklungen, und er hatte ihn lange liegen lassen, ehe er ihn
-absandte. Als er dann fort war, dachte er freilich oft: Wenn sie doch
-antworteten, mir erzählten, wie dort alles ist! Aber die Zeit verrann,
-der Brief kam noch immer nicht.
-
-An einem Januartag war die Großmutter mit ihren Enkelinnen wieder
-einmal in Langenstein gewesen, und sie kehrten von der Fahrt zurück,
-als das erste leise Dämmern begann. Der Gutsherr kam eilig herbei,
-um seiner Mutter ritterlich beim Aussteigen zu helfen. An seinem Arm
-führte er sie in das Haus. Es waren Gäste gekommen, und die Erwachsenen
-saßen in dem Staatszimmer des Hauses.
-
-In der Halle kam Joachim seinen Schwestern entgegen. »Kommt nach oben,«
-sagte er mit gedämpfter Stimme zu ihnen und Karoline, »ich habe mit
-euch zu reden.« Ein mißtrauischer Blick streifte dabei Raoul, der
-gerade dazukam.
-
-Hurtig sprangen die drei Mädchen die breite Holztreppe hinauf, die in
-das erste Stockwerk führte, und langsam folgte ihnen Joachim.
-
-Raoul starrte ihnen nach. Immer blieb er doch ausgeschlossen, immer
-allein. Jetzt hatten die andern wieder ein Geheimnis vor ihm, er merkte
-es an ihrem Flüstern und Tuscheln, an ihren verlegenen Mienen, wenn er
-plötzlich zu ihnen trat. Und wieder dachte er, wie er so verlassen in
-der Halle stand: Ich könnte weit weggehen, weit weg, und niemand würde
-mich vermissen.
-
-Während sich Raoul in seinem Zimmer in ein Buch vertiefte, saßen in
-Joachims Kammer die andern Kinder mit den drei Berkows zusammen,
-denn auch Helene von Berkow, ein kräftiges, frohes Mädel von
-dreizehn Jahren, war mitgekommen. Die vier Mädchen hockten eng
-aneinandergeschmiegt wie drei Spätzlein auf dem Dachfirst auf einer
-großen, buntbemalten Truhe; Joachim selbst hatte seinen Platz aus dem
-einzigen Stuhl, der sich in dem Zimmer befand, während seine Freunde
-auf dem Bett saßen.
-
-»Hiermit haben wir also heute den Tugendbund gegründet,« sagte Joachim
-und schlug kräftig auf ein kleines, grünes Buch, das vor ihm auf dem
-Tische lag. Auf der ersten Seite des Buches stand: »Gut preußisch
-alleweg,« darunter: »Heute wurde allhier der Tugendbund gegründet.
-Hohensteinberg, am 17. Januar 1812.« Auf der nächsten Seite stand: »Wir
-geloben alles, was in unserer Kraft steht, zum Wohle des Vaterlandes zu
-tun.« Arnold von Berkow hatte noch trotz des allgemeinen Widerspruchs
-darunter geschrieben: »Fluch Bonaparte, und Verderben allen Feinden des
-Vaterlandes!« Zuletzt kamen die Namen, und wohlgefällig besahen sich
-nun alle das Buch.
-
-»Und es ist doch unrecht, daß wir Raoul nicht mit dazu nehmen,« sagte
-Gottliebe plötzlich, nachdem sie eine Weile schweigsam dagesessen hatte.
-
-»Es geht nicht,« rief Joachim heftig, »er ist doch ein halber Franzose
-und ein Schleicher und Heimlichtuer dazu! Der gehört nicht in unsere
-Gesellschaft.«
-
-Gottliebe stieß mit ihren Füßchen, die in schwarzen Kreuzbänderschuhen
-und weißen Zwickelstrümpfen steckten, nachdrücklich an die Truhenwand.
-»Er ist ein Steinberg wie wir, und ein Schleicher ist er nicht, und es
-ist abscheulich, daß wir ihn nicht in den Tugendbund aufgenommen haben.
-Wir behandeln ihn alle schlecht, und du bist am allerschlechtesten zu
-ihm.«
-
-»Aber Liebe!« sagte die sanftere Gottlobe erschrocken, und Joachim warf
-der Schwester einen strafenden Blick zu.
-
-»Frauenzimmer haben zu schweigen, wenn Männer reden,« rief Arnold von
-Berkow mit dem ganzen Stolz seiner fünfzehn Jahre. Gottliebe lachte
-hell auf. »Zwei Jahre bist du älter und redest wie ein Uralter; dabei
-sagt der Herr Pfarrer, deine Exerzitien wären voller Fehler,« spottete
-sie. Das Lachen steckte an, Karoline hielt sich kichernd ihre schwarze
-Taftschürze vor das Gesicht, und Gottlobe quiekte vor Vergnügen.
-
-»Siehst du, Joachim,« rief Arnold erbost, »ich habe es immer gesagt:
-die Mariellen stören unsern ganzen Bund.«
-
-»Sei doch nicht so ungalant,« sagte Karoline schmollend und verzog
-ihr hübsches Gesicht. Gottliebe aber sprang lachend auf. Schlank und
-feingliedrig stand sie da, wie goldene Fäden schimmerten ihre blonden
-Haare, ihre blauen Augen blitzten übermütig, und mit einem tiefen
-Knicks verneigte sie sich schelmisch vor Arnold von Berkow und sagte
-neckend: »Ich, ein Frauenzimmer, bitte um Verzeihung, daß ich hier bin
-und Luft schnappe, happ, happ!« machte sie dazu.
-
-Arnold sah sie halb lachend, halb ärgerlich an, aber Joachim rief
-drohend: »Du bist ein Irrwisch, Liebe. Wenn du nicht still bist, wirst
-du hinausgesteckt!«
-
-»Pah, du Brummbär!« sagte Gottliebe leichthin.
-
-»Geh lieber hinaus -- geh doch zu Raoul!« schrie der Bruder heftig.
-Blitzschnell verschwand bei diesen Worten der Ausdruck heiterer
-Schelmerei aus Gottliebes Gesicht; mit zornsprühenden Augen maß sie den
-Bruder, und wie sie beide so nebeneinander standen, da glichen sie sich
-Zug um Zug, beider Augen schimmerten fast schwarz vor Zorn.
-
-»Liebe, aber Liebe, Joachim, zankt euch doch nicht!« rief Gottlobe
-ängstlich. Sie wußte schon, wenn Bruder und Schwester aneinander
-gerieten, gab es, trotz aller Liebe, heftige Worte. Doch Gottliebe warf
-den Kopf zurück und sagte trotzig: »Ich gehe. Gründet ihr alleine euren
-Tugendbund. Es ist doch Kinderei -- ihr wißt ja gar nicht, was ihr
-wollt!«
-
-»Ja geh, geh nur schnell, geh zu Raoul, du -- du Franzosenfreundin du!«
-rief Joachim empört.
-
-Einen Augenblick starrte Gottliebe den Bruder an, als wollte sie
-auf ihn losspringen, dann warf sie die blonden Locken in den Nacken
-und verließ lachend das Zimmer. Draußen aber stürzten ihr jäh die
-Tränen aus den Augen, und ein paar Sekunden lehnte sie fassungslos
-an der Wand. Dann eilte sie in das obere Stockwerk; dort gab es ein
-Kämmerchen, das nur zum Aufbewahren getrockneter Kräuter gebraucht
-wurde. Gottliebe hatte hier schon manchen Kummer verweint, und das
-dämmrige Kräuterkämmerchen war ein rechter Schmoll- und Trostwinkel
-für sie geworden. Sie weinte sich auch an diesem Tage die Last vom
-Herzen, und als sie genug geweint hatte, schüttelte sie sich wie
-ein ins Wasser gefallenes Kätzchen und sagte, überzeugt, daß bald
-alles wieder gut sein werde, ein paarmal in die kräuterduftende
-Stille hinein: »Der dumme Tugendbund ist an allem schuld, der dumme
-Tugendbund!«
-
-»Wir wollen Gottliebes Namen ausstreichen,« sagte Joachim bedrückt, als
-die Schwester das Zimmer verlassen hatte. Er ergriff den Gänsekiel und
-strich den Namen aus, und dabei klangen in ihm die Worte nach: »Es ist
-ja Kinderei!« Hatte die Schwester vielleicht recht?
-
-Joachim hatte viel durch einen Oheim von dem Königsberger Tugendbund
-gehört, dessen Auslösung König Friedrich Wilhelm _III._, dem
-französischen Drucke nachgebend, im Dezember 1809 verfügt hatte. Alle
-echten Vaterlandsfreunde waren durch diese Auflösung schmerzlich
-betroffen worden, auch in Hohensteinberg hatte man bitter darüber
-geklagt. Joachim sah auch die Not des Vaterlandes. Fest wurzelten in
-seiner Erinnerung noch die Schrecken des Kriegswinters von 1806/07,
-und in seinem jungen, feurigen Herzen reifte so der Plan, etwas zur
-Befreiung des Vaterlandes zu tun, irgend eine stolze, mutige Tat
-auszuführen. In den beiden Berkows fand er Gesinnungsgenossen. Alle
-drei schmiedeten schon lange abenteuerliche Pläne und gründeten endlich
-zusammen einen Bund, den sie mit einem gewissen Trotz den »Tugendbund«
-nannten, und für den sie eine glänzende Zukunft träumten. Weil Fritz
-von Berkow gemeint hatte, ein Bund müßte viele Mitglieder haben, und
-es auf den umliegenden Gütern wenig Altersgenossen gab, hatten die
-Brüder mit viel gnädiger Herablassung die Schwestern zum Beitritt
-aufgefordert, obgleich Helene von Berkow gleich sagte, die Sache wäre
-doch ein wenig unheimlich und vielleicht auch unrecht.
-
-»Was sollen wir nun eigentlich tun?« fragte Karoline plötzlich
-gelangweilt; sie fand, Joachim brauche recht viel Zeit, Gottliebes
-Namen auszustreichen.
-
-»Warten, bis die Zeit kommt. Ihr Frauenzimmer seid auch immer
-ungeduldig!« rief Arnold von Berkow ärgerlich.
-
-»Ja, wir wollen etwas tun,« rief Fritz, dem die lange Pause auch
-nicht gefiel. »Joachim, mache einen Vorschlag, was wollen wir zuerst
-beginnen? Auch ein Freikorps bilden wie der Schill? Heisa, das sollte
-ein Kämpfen werden!«
-
-Joachim klappte langsam das Buch zu und starrte den Freund an. Das
-war ein schmalbrüstiger, überlanger Junge, dessen wasserblaue Augen
-nicht gerade geistreich dreinsahen. Der ein zweiter Schill! Er hätte
-lachen mögen, so töricht kam ihm auf einmal die Sache vor, und dabei
-rötete sich doch seine Stirn vor Scham und Ärger. Hastig warf er das
-Buch in seine Truhe und rief ungeduldig: »Für heute ist's genug, ich
-schließe die Versammlung! Am Mittwoch treffen wir uns des Nachmittags
-im Freundschaftstempel, da sind wir ungestört.«
-
-Die andern stimmten Joachims Vorschlag zu, Gottlobe und Karoline zwar
-etwas verstimmt über Gottliebes Austritt, sie wagten aber nicht recht,
-ihre Partei zu nehmen, und so verließen sie alle die Stube -- die erste
-Sitzung des Tugendbundes hatte ihr Ende erreicht.
-
-Nach einem Streit hatten sich sonst die Geschwister wohl noch
-ein bißchen angeknurrt oder waren ein paar Stunden um einander
-herumgegangen wie Muja, die Hauskatze, um ihre Suppenschüssel, wenn
-ihr der Dampf zu heiß ins Näschen stieg, aber dann hatte Liebe ein
-wenig geblinzelt, Joachim hatte irgend etwas Unverständliches geknurrt,
-und auf einmal hatten dann beide gelacht, herzlich befreiend, und die
-Schwester war wohl dem Bruder um den Hals gefallen, oder der hatte
-lachend die blonden Locken gezaust.
-
-Diesmal war es anders, und die Versöhnung kam nicht mit solcher
-Windeseile, wie Gottliebe es gemeint hatte. Tage kamen, Tage gingen,
-und immer wich Joachim in stummem Trotz der Schwester aus. Er tat
-es, weil er sich schämte, und dieses Gefühl verbarg er hinter einer
-beleidigten Miene.
-
-Er hatte rasch alle Lust an dem Tugendbund verloren, aber er wagte es
-nicht einzugestehen, daß er sich selbst mit seinen Ideen auf einmal
-sehr kindisch und unreif vorkam. Als das nächste Mal die Verbündeten
-zusammenkamen, hielt er dann die wildesten, blutdürstigsten Reden,
-sprach von Freischaren, und daß man, wenn die Franzosen nach Rußland
-ziehen würden, diese angreifen müßte; er betäubte die mahnende Stimme
-in seinem Herzen selbst durch seine wilden Worte.
-
-Ich bitt' ihn nicht, wenn er nicht will, dachte Gottliebe, wenn
-ihr stummes Werben, ihr versöhnliches Entgegenkommen immer wieder
-zurückgewiesen wurde. Sie litt aber schwer unter dem Zwist mit dem
-Bruder. Sie wurde darüber still und nachdenklich, und nicht mehr wie
-sonst schallte ihre Stimme unter denen der Geschwister in hellster
-Fröhlichkeit heraus. Und weil sie selbst litt, begann sie immer besser
-zu verstehen, wie einsam und verlassen sich Raoul fühlen mußte. Sie
-suchte darum immer mehr, dem Vetter Freundlichkeiten zu erweisen, und
-ließ diesen nicht mehr so allein seines Weges gehen.
-
-Pfarrer Buschmann, der viel in der Welt seiner Bücher lebte, freute
-sich darüber. Der sanfte, stille Mann ahnte nichts von dem unter den
-Geschwistern ausgebrochenen Streit, er dachte, nun würde Joachim
-bald dem Beispiel seiner Schwester folgen. Er lächelte darum auch
-nachsichtig und milde, als Gottliebe an einem sonnenhellen Nachmittag
-ziemlich ungestüm in die Bücherstube eindrang mit dem Ruf: »Kommst du
-mit nach Langenstein, Raoul?«
-
-»Warum willst du denn so eilig dorthin, Liebe?« fragte Josua Buschmann
-und sah das errötende Mädel freundlich an.
-
-Gottliebe hatte nicht gewußt, daß der Pfarrer anwesend war, und sie
-erzählte etwas verlegen: »Großmutter möchte von Jungfer Mahdissen
-allerlei haben, und weil Heinrich gerade nach Langenstein fährt, soll
-ich selbst mitfahren und alles holen.«
-
-Jungfer Mahdissen war ein kleines, ältliches Persönchen. Sie besaß ein
-Lädchen, in dem es Zwirn, Nadeln, Wolle, auch allerlei Stoffe, Bänder
-und Perlen gab. Zu ihr gingen die Steinbergschen Mädchen himmelgern,
-der Laden -- es war eine kleine Stube mit einer Türe nach dem Flur,
-an der ein Glöckchen bimmelte, wenn jemand kam -- barg so viele
-Herrlichkeiten, alles darin erschien den jungen Dingern wundervoll, und
-Liebe in ihrer stürmischen Art hatte schon oft gewünscht: »Ich möchte
-einen Laden haben wie Jungfer Mahdissen!«
-
-Seit Karoline von Prillwitz einmal die Kostbarkeiten des Lädchens ein
-wenig naserümpfend betrachtet hatte, meinte auch Gottlobe, es sei nicht
-mehr so reizvoll, zu Jungfer Mahdissen zu gehen, und so hatte sich
-Gottliebe allein erboten, für die Großmutter einzukaufen. Nachher hatte
-es den andern freilich leid getan, und sie wären gern mitgefahren,
-obgleich nur der alte Kastenschlitten benutzt wurde, aber Liebe,
-ärgerlich über Karolines Putenhaftigkeit, wie sie das Urteil der Base
-nannte, erklärte schnippisch: »Großmutter hat mir den Auftrag gegeben,
-nicht euch!«
-
-»Ist auch besser,« spottete Line, »wir haben wichtigere Dinge vor.«
-Sie meinte damit eine Sitzung des Tugendbundes, die am Nachmittag
-stattfinden sollte, und Liebe, die sie wohl verstand, wurde blutrot
-und lief wütend hinaus. Sie ärgerte sich jedesmal, wenn sie an den
-Tugendbund dachte, und daß sie nicht dabei sein durfte, und vor lauter
-Schmerz und Ärger, und weil sie sich ganz verlassen fühlte, rannte sie,
-um Raoul zu holen.
-
-»Also zu Jungfer Mahdissen,« sagte der Pfarrer schelmisch, »da fahre
-nur mit, Raoul, und sieh dir das Zauberreich an. So etwas Schönes hast
-du gewiß noch nie gesehen. Vergiß nur das Wiederkommen nicht, Liebe,
-und grüß mir die Jungfer auch.«
-
-Liebe dankte und knickste und lief dann mit Raoul hinaus. Der
-Kastenschlitten stand schon zur Abfahrt bereit, und Heinrich brummelte
-bereits über die »Nölerei«. Geschwind stiegen die beiden hinein,
-wickelten sich in ein paar dicke Wolldecken, und fort ging es auf
-glatter, schimmernder Schneebahn dem Städtchen zu.
-
-Joachim hatte die beiden fahren sehen, auch Lobe und Line, und alle
-drei fanden es empörend von der Schwester und Base, daß sie Raoul ihnen
-so vorzog, und alle drei gestanden sich die eigene Schuld nicht ein.
-
-Auch die Kammerherrin hatte von ihrem Fenster aus die Abfahrt
-beobachtet, aber sie hatte sich darüber ein wenig gefreut, es war schon
-besser, die Kinder vertrugen sich zusammen.
-
-»Wer ist denn Jungfer Mahdissen?« fragte Raoul das Bäslein.
-
-[Illustration: Die Steinbergs. (Seite 91.)]
-
-Etwas Besseres, um ein Gespräch in Gang zu bringen, hätte Raoul nicht
-fragen können. Liebes Zünglein kläpperte förmlich, und mit bewundernder
-Begeisterung schilderte sie den kleinen Laden; dazwischen sagte sie
-immer wieder: »Wirst schon sehen!«
-
-»Wie bei Käsmodels,« sagte Raoul sinnend, als Liebe sogar die bimmelnde
-Ladentür erwähnte, und auf der Base Gegenfrage erzählte er wieder von
-dem Bäckerhaus. Darüber verging den beiden die Zeit fast zu schnell,
-sie hatten beide kaum einen Blick für die weiße, im Sonnenglanz so
-schöne Landschaft. Wie eine tiefblaue Wand begrenzte fern der Nadelwald
-den Horizont. Sie waren der Stadt schon nahe gekommen, als über ihnen
-ein Krähenzug mit lautem Gekrächz hinwegzog, dem fernen Walde zu.
-
-»Wohin geht es dort?« fragte Raoul, dessen Blicke den schwarzen Vögeln
-folgten.
-
-»In einem weg nach Rußland, ein gut Stück bis hin ist's freilich noch,«
-sagte Kutscher Heinrich, der die Frage gehört hatte; er drehte sich um
-und wies mit dem Peitschenstiel nach Osten: »Dorthin will der Bonaparte
-ziehen, sagen jetzt alle. Einen weiten Weg hat er, wird manchem jungen
-Kerl das Leben kosten.«
-
-Liebe schauerte zusammen und schmiegte sich unwillkürlich fester an den
-Vetter an. »Wenn die Franzosen nach Rußland ziehen, dann -- dann --«
-sie stockte und sah in hilfloser Angst zu dem Knecht auf.
-
-Der verstand die unausgesprochene Frage. Er nickte, und sein ehrliches
-Gesicht verfinsterte sich. »Dann kommen sie hier durch, und wir haben
-den schönsten Kladderadatsch. Gnade uns Gott, wenn das geschieht! Sie
-sagen zwar, unser König wollte jetzt dem Bonaparte sein Freund und
-Verbündeter werden, -- na, den als Freund haben, da kommt doch eine
-böse Sache heraus.« Er drehte sich wieder um, knallte mit der Peitsche,
-und schneller holten die Pferde aus. Näher und näher kam das Städtchen.
-
-»Wenn die Franzosen kommen,« flüsterte Gottliebe, »dann -- nützt doch
-der Tugendbund auch nichts?«
-
-»Was?« fragte Raoul erstaunt zurück.
-
-»Leise,« bat Liebe, und tuschelnd vertraute sie dem Gefährten die
-Geschichte vom Tugendbund an. Auf einmal bedrückte sie die Sache, die
-sie vorher als Kinderei angesehen hatte: das Heimliche, Verborgene
-wollte ihr daran nicht recht gefallen, die Eltern hätten es doch wissen
-müssen. »Es ist vielleicht nicht recht, daß ich dir das verrate, aber
--- aber mir ist so bange!«
-
-»Es ist nur eine Kinderei,« dachte Raoul, »und doch -- es wäre besser,
-Joachim ließe solche Sachen,« sagte er nachdenklich. »Meister Käsmodel
-hat zwar oft auf Napoleon geschimpft, er hat uns aber oft gesagt, man
-müßte vorsichtig sein, und die Zeit sei noch nicht gekommen.«
-
-»Meinst du, daß der Tugendbund eine -- eine Verschwörung ist?« fragte
-Liebe angstvoll.
-
-Da mußte Raoul doch lachen; so gefährlich erschien ihm der Bund nicht,
-und er tröstete das Bäslein und hatte es gerade erreicht, daß Liebe
-wieder vergnügt um sich blickte, als der Wagen vor Jungfer Mahdissens
-Lädchen hielt.
-
-Raoul fand freilich die Herrlichkeiten der kleinen Ladenstube nicht
-so überwältigend, aber Gottliebe schaute sich einmal wieder in hellem
-Entzücken in dem Raume um, sie wurde auch von der Besitzerin mit sehr
-viel Freude begrüßt. »Ne--in, trautstes Mariellchen, Demoisellchen,
-ist das ein Freudchen!« rief Jungfer Mahdissen, die vielleicht um
-der eigenen Kleinheit willen die Gewohnheit hatte, allen Wörtern ein
-»chen« anzuhängen. So brachte sie denn Wollchen, Zwirnchen, Nadelchen,
-Stoffchen und allerlei herbei, pries wortreich die Güte ihrer Ware,
-nannte Raoul ein allerbastes Junkerchen, weil der Liebe an die Äpfel
-erinnerte, die die Mutter der Jungfer schickte.
-
-»Nein, so ein Freudchen! Nun ist mir's ganze Tagchen lieb!« schrie
-die kleine Jungfer und warf vor lauter Freude erst ihr Ellenmaßchen,
-dann ihr Scherchen und zuletzt das ganze Bandchen unter das Tischchen.
-Nachher öffnete sie noch auf Gottliebes Bitten allerlei Kästen, zeigte
-Perlen und Bänder, angefangene spinnwebfeine Stickereien und behauptete
-kühn, »in ganz Parischen gäbe es nicht solche Sachchen,« was Liebe
-glaubte, aber Raoul etwas bezweifelte.
-
-»Und so wundervolle Hauben kann Jungfer Mahdissen nähen,« rühmte Liebe
-deren Kunst dem Freund.
-
-Eine tiefe Glut färbte jäh das Gesicht des Knaben, dann strömte das
-Blut schnell zurück, und Raoul sah noch bleicher und ernster aus als
-sonst. Die Erinnerung an die Mutter war ihm gekommen, wie sie -- krank
--- Haube um Haube zierlich fein genäht und gefältelt hatte. Hastig bat
-er: »Wir sollten noch zum Posthalter gehen. Liebe, komm!«
-
-Jungfer Mahdissen hätte die beiden gewiß nicht fortgelassen, wenn nicht
-eine Magd gekommen wäre, um für einen Groschen Zwirn zu kaufen; da
-nahm sie wortreich, mit sehr vielen »chens« Abschied von den Kindern.
-Draußen fragte Liebe: »Gefiel's dir nicht bei der Jungfer Mahdissen?«
-
-»Doch!« sagte Raoul, und während sie beide den Weg aus dem schmalen
-Gäßlein, das den wunderlichen Namen »Katzenwinkel« trug, nach dem
-Marktplatz antraten, erzählte Raoul, wie fein und fleißig seine Mutter
-Hauben genäht hatte.
-
-»Oh, du,« rief Gottliebe in ihrer warmherzigen Art, »wie gut, wie
-schrecklich gut muß deine Mutter gewesen sein! Weißt du, ich habe sie
-lieb. Ach, lebte sie doch noch, könnte ich sie einmal sehen!«
-
-Raoul blieb stehen und sah das Bäslein dankbar an: »Du bist auch gut,
-Gottliebe, du und Pfarrer Buschmann, ihr seid gut zu mir.«
-
-»Doch auch die Eltern, die doch auch!«
-
-»Ja,« sagte Raoul mit leisem Zögern, »aber -- dein Vater mag mich nicht
-leiden und die Großmutter auch nicht; von Joachim und Lobe sag ich erst
-gar nichts, und weißt du, es wäre viel, viel besser, ich ginge wieder
-fort.«
-
-»Aber Raoul,« rief Liebe entsetzt. So hatte der Vetter ihr noch
-nie gezeigt, wie tief er litt, und ihr Herz floß über von innigem
-Mitleiden. Sie faßte Raouls Hand und gelobte, während ihr die hellen
-Tränen über die Wangen liefen: »Ich behalte dich immer, immer lieb,
-Raoul, du bist mein Bruder, und paß auf, die andern gewinnen dich auch
-lieb. Der Herr Pfarrer sagt es auch. Aber du darfst nie weggehen, nie!
-Versprich mir das, bitte, bitte!«
-
-»Nein,« sagte Raoul leise, aber fest, »das kann ich dir nicht
-versprechen,« und sehnsüchtig sahen seine Augen die schmale Straße
-entlang, durch die sie schritten. Könnte er sie doch hinab gehen, zur
-Stadt hinaus, immer westwärts, Leipzig zu! Er schwieg aber davon, sagte
-jedoch tröstend: »Liebe, ich bin ja noch da, aber wenn du weinst, reiße
-ich gleich aus!«
-
-Husch kam gleich das Lachen, wie Sonnenschein flog es über Gottliebes
-bewegliches Gesichtchen. Sie ergriff die Hand des Vetters und eilte
-lachend mit ihm schnell die Straße hinab über den Marktplatz hin.
-
-Postmeisters Minettchen sah die beiden vom Fenster aus kommen. »Frau
-Mutter,« rief sie, »Gottliebe von Steinberg kommt, und sie lacht
-wieder, daß ich's beinahe höre!«
-
-»Ei, sieh da, und der Französische ist auch dabei,« sagte der Herr
-Rentmeister Meldeling, der gerade bei Postmeisters einen Besuch
-abstattete.
-
-In der Stadt war dieser kleine, immer lächelnde Mann nicht sehr
-beliebt; niemand hatte rechtes Zutrauen zu ihm, da er allgemein
-als Franzosenfreund galt. Er kniff die Augen zusammen und lächelte
-höhnisch: »Ja, ja, die vornehmen Herrschaften sind alle Tage lustig,
-Sorgen kennen die nicht!«
-
-»Da ist Er schief gewickelt, -- Er -- --« Grasaffe -- -- wollte die
-Frau Postmeisterin sagen, sie schluckte aber das letzte Wort noch
-rechtzeitig herunter. »Die Steinberger Herrschaften leben nicht lustig,
-wenn es andern Leuten schlecht geht; sie haben ein Herz für die armen
-Leute, und -- gut deutsch sind sie auch gesinnt.«
-
-Das Wort klang dem Rentmeister übel in den Ohren, denn er war auch
-einer von denen, die sich der deutschen Art schämten. Er verabschiedete
-sich darum sehr eilig, aber an der Türe traf er doch noch mit den
-jungen Steinbergs zusammen. Er grüßte Gottliebe übertrieben höflich und
-schaute Raoul forschend und prüfend an.
-
-»Der Mensch ist mir doch in der Seele zuwider,« rief die Frau
-Postmeisterin, nachdem sie die Eintretenden begrüßt hatte, »rein
-schlimm kann mir von seinem dummen Lächeln werden. Immer fragt er nach
-tausend Dingen, die ihn den Kuckuck was angehen. Mein Mann traut ihm
-auch nicht über den Weg, er sagt, er hält es mit den Franzosen. Und das
-ist einmal wahr: im schlimmen Jahr, als die Franzosen hier in Haufen
-durchzogen, da katzbuckelte er nur immer um sie herum und bonjourierte
-und dienerte in einem fort. Der stiftet noch mal ein Unheil an, das
-sage ich und --,« da brach die redselige Frau jäh ab, denn ihr fiel
-ein, daß ihr Mann sie immer ermahnte, nicht alles zu sagen, was sie
-dachte.
-
-»Man könnte sich ordentlich fürchten,« sagte Gottliebe nachdenklich:
-»Mein Vater sagte erst neulich, der Rentmeister habe einen besonderen
-Haß auf ihn; ob das wahr ist, Frau Postmeisterin?«
-
-»Hassen, das ist schon möglich, aber was kann das schaden?« meinte
-die Postmeisterin. »Dem gnädigen Herrn von Steinberg kann der falsche
-Mensch ja doch nichts anhaben; auf Hohensteinberg geschieht nichts, was
-nicht jeder wissen kann.«
-
-Sekundenlang sahen sich Vetter und Base an, beide dachten bei diesen
-Worten: der »Tugendbund,« und beide durchrieselte eine leichte Angst.
-War es doch vielleicht mehr als eine Torheit?
-
-Da kam der Postmeister in das Zimmer und brachte einige Postsachen.
-»Ein Brief für den Herrn Vater ist dabei,« sagte er, »aus Frankreich
-kommt er, es steht aber dabei, daß er nur dem Herrn Vater selbst
-ausgeliefert werden darf. Da will ich heute selbst noch hinauskommen;
-es muß alles seine Richtigkeit haben, alles hübsch nach der Ordnung!«
-
-»Aber mein Vater ist in Königsberg, er kommt wohl erst morgen zurück,«
-rief Gottliebe und schaute neugierig auf den Brief. »Aus Frankreich?
-Ach, Herr Postmeister, ich graule mich.«
-
-Der dicke Postmeister lachte: »Ich glaube gar, das gnädige
-Demoisellchen denkt, der Brief kommt von Napoleon selbst. Es sind ja
-viele gute Deutsche drüben, warum soll's davon nicht einem einfallen,
-an den Herrn Vater zu schreiben? Spekuliere, gar so wichtig wird die
-Sache nicht sein. Aber vielleicht sagen Sie daheim nichts, die Frau
-Mutter könnte sonst auch gleich Gespenster sehen. Weiberleut haben das
-so an sich.«
-
-»Mann,« rief die Postmeisterin empört, »wie kannst du nur so
-despektierlich von der gnädigen Frau von Steinberg reden!«
-
-»Na, na,« brummelte ihr Mann ein wenig verlegen, »eigentlich meinte
-ich ja dich. Du witterst ja überall eine Verschwörung und denkst, der
-Napoleon steckt hinter jeder Türe. Aber halt, da ist auch ein Brief für
-den Junker, aus Leipzig kommt er.«
-
-Ein Brief aus Leipzig! Raouls Augen blitzten, und verlangend streckte
-er die Hand nach dem dicken Schreiben aus. Die Adresse da hatte Karl
-Wagner geschrieben, die klare, feste Schrift kannte er gut. Und wie
-er den Brief in der Hand hielt, kam die Sehnsucht wieder über ihn
-nach denen, die ihn lieb hatten, die ihn verstanden. Er konnte es
-kaum erwarten, den Brief zu lesen, aber trotzdem riß er ihn zu Liebes
-grenzenlosem Erstaunen nicht gleich auf; er behielt ihn in der Hand,
-auch als sie beide draußen wieder im Schlitten saßen und im ersten
-matten Abenddämmern Hohensteinberg entgegenfuhren. »Warum liest du
-den Brief nicht?« tuschelte Gottliebe dem Vetter zu. »Ich wäre schon
-geplatzt vor Neugier.«
-
-»Erst versprich mir etwas, Liebe, gute Liebe,« bat Raoul, den Brief
-noch immer uneröffnet in der Hand haltend. »Erzähl' es niemand, daß
-ich einen Brief bekommen habe -- sonst lachen sie wieder über meine
-Freunde, über den drolligen Namen, über --« Er zögerte und bat noch
-einmal: »Sag's niemand!«
-
-»Ich bin stumm wie ein Fisch,« gelobte Gottliebe. »Es ist so fein,
-daß wir auch ein Geheimnis haben!« Und vor lauter Freude hopste und
-zappelte sie auf dem harten Sitz des schwerfälligen Schlittens hin und
-her, und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre sie hinausgefallen. »Aber
-nun lies nur, lies, und dann, -- bitte, bitte, mir sagst du doch, was
-drin steht?«
-
-Raoul erbrach den Brief und las, während ein tiefrotes Glühen, der
-Widerschein der sinkenden Sonne, auf den Schneefeldern lag. Karl
-Wagner hatte geschrieben, einen klugen, herzlichen Brief, daß es nun
-ganz anders in der Schreibstube sei, der lange Neumann sei auf und
-davon gezogen. Er schrieb auch, er habe das Grab von Raouls Mutter
-manchmal aufgesucht und zuletzt Tannenzweige aus dem Universitätswald
-hingetragen; daneben sei ein frisches Grab: das kleine Lottchen von
-Meister Käsmodels sei gestorben, und die Eltern seien gar traurig um
-den Verlust des lieben Kindes. Der Schluß lautete: »Dein Brief klang
-nicht froh, Raoul, er klang nach Heimweh und Einsamkeit. Verzage nicht,
-wenn Dir die Heimat Deines Vaters nicht gleich Heimat wird, sondern
-Dir noch eine Weile fremd bleibt, eine Heimat gewinnt man nicht im
-Sturm. In Deiner Mutter Heimatland wärest Du vielleicht noch weniger
-glücklich gewesen, und der äußere Glanz hätte Dich auch nicht beglückt.
-Du tatest nach dem Willen Deiner Mutter: der Gedanke muß Dich trösten
-und aufrichten. Kopf hoch und mutig voran!«
-
-»Wie gut er schreibt, dein Freund!« flüsterte Liebe. »Aber was meint er
-damit, von der Heimat deiner Mutter und dem äußeren Glanz?«
-
-»Ich erzähle es dir später einmal,« sagte Raoul und schob den Brief
-in seine Tasche. Es war noch einer darin, und er ahnte, daß der von
-Gottlieb kam, und eine ihn wieder ergreifende Scheu hielt ihn ab, auch
-diesen Brief der neuen Freundin zu zeigen.
-
-»Na, wenn ich nicht platze, so voll von Geheimnissen wie ich bin!«
-sagte Liebe nachdenklich, als der Schlitten sich wieder dem Schlosse
-näherte. »Es ist wirklich schwer. Bitte, Raoul, knuffe mich immer,
-wenn ich den Mund auftue, weißt du, sonst fährt mal was raus, ich weiß
-hinterher nicht wie!«
-
-Der Knabe versprach das Knuffen gern, er hatte es aber nicht nötig:
-Gottliebe hielt an diesem Abend ihren Mund ängstlich geschlossen, sie
-war so schweigsam, daß es selbst der Großmutter auffiel; nicht einmal
-eine begeisterte Schilderung von Jungfer Mahdissens wundervollem Laden
-erfolgte. Und da auch Raoul schwieg, selbst mit Liebe nicht sprach,
-erklärte Joachim nachher den beiden anderen Mädchen mit grimmiger
-Freude: »Sie haben sich miteinander gezankt.«
-
-Raoul aber las am Abend in der Stille seiner Kammer Gottliebs Brief,
-der nun nicht gerade ein Muster von Orthographie und Schönschrift war.
-»Lieber Raoul,« schrieb der Freund, »es ist fürchderliche Lankeweile
-seidtem daß Du fohrt bist und auch trauhrich denn unser Lottchen ist
-gestorben und wir sind alle trauhrich. Ich heuhle auch Mannichmal und
-habe keine Luhst mehr Lateinisch zu lernen, ich pleibe auch sihtzen.
-Raoul, komme doch nur wieder dann geht es allmahl besser. Vater sagt
-daß auch, reiße nur aus wenn sie Dich schlecht behanteln, den Weg weist
-Du ja schon und ich schicke Dir einen Thaler damit Du essen kannst.
-Reiße aus, reiße aus. Der lange Neumann ist fohrt und kann nicht mehr
-die Trepe rauf fallen. Reiße aus und alle grühsen Dich fielemahl.
-
- Dein gantz getreuer liehber Freund Gottlieb.
-
-Ich habe auch immer lauder Viehren und sie sagen ich bin am faulsten,
-aber es ist nicht war, Berger ist fiel fauhler und schreibt noch
-schlechter und macht noch mer Pfehler, wenn du komst geht es gewiehs
-besser.«
-
-Raoul atmete tief auf und verbarg den Brief in seiner Tasche.
-Ausreißen, -- vielleicht wäre es am besten!
-
-[Illustration: Dekoration Ende 6. Kapitel]
-
-
-
-
-[Illustration: Dekoration Titel 7. Kapitel]
-
-
-
-
-Siebentes Kapitel.
-
-Der Tugendbund nimmt ein jähes Ende.
-
-
-Am nächsten Tag wurde der Hausherr zurückerwartet, und da man die
-Stunde seiner Ankunft nicht genau bestimmen konnte, entlief immer mal
-eines der Kinder der Stunde bei dem Pfarrer, und der ließ sie laufen
-und den Weg entlang spähen, ob der Vater noch immer nicht kam.
-
-Auch seine Frau und seine Mutter sahen öfters hinaus, Frau Maria in
-doppelter Sorge: sie besaß einen Bruder, der um einiger Schriften
-willen das Land hatte verlassen müssen. Er war nach England gegangen,
-um dort zu warten, bis es Zeit war, in sein Vaterland zurückzukehren.
-Von diesem Bruder sollte auf dem Seewege nach Königsberg eine Nachricht
-kommen. Seit vielen Wochen hatten die Verwandten nichts von ihm gehört,
-und nun hoffte Frau Maria, ihr Mann werde einen Brief mitbringen.
-
-Auch Joachim dachte an diesen Onkel Wolfgang, den er sehr bewunderte,
-und mitten in der Stunde -- er war mit Raoul und Arnold von Berkow
-allein beim Pfarrer -- sagte er plötzlich: »Ist's nicht eine Schande,
-daß der Oheim außer Landes gehen mußte?«
-
-Pfarrer Josua Buschmann nickte trübe: »Das ist's, mein Sohn. Er war
-aber auch recht unvorsichtig in seinem Tun!«
-
-»Pah,« rief Joachim, »soll ein Preuße nicht sagen dürfen, was er
-denkt? Was hat denn der Oheim getan? Dem Tugendbund hat er angehört
-und nachher nur seine Meinung gesagt, daß es ein Unrecht sei, den Bund
-aufzulösen.«
-
-Raoul horchte auf. Das hatte er noch nicht gewußt; von dem Bruder
-Frau Marias war selten gesprochen worden. Hatte Joachim vielleicht in
-Gedanken an den Oheim den Tugendbund gegründet? Und wenn dieser hatte
-fliehen müssen, war die heimliche Sache nicht doch gefährlich? Recht
-lebhaft war Raoul dem Gespräche gefolgt, und als Pfarrer Buschmann
-antwortete, horchte er so aufmerksam zu, daß er nicht bemerkte, wie
-Joachim ihn beobachtete. In dem stieg die Wut heiß empor, und plötzlich
-sprang er auf. Seine blauen Augen waren fast schwarz vor Zorn, und
-den Stuhl heftig zurückschiebend, schrie er: »Wie er horcht, der
-Schleicher, der -- der -- Franzose -- wie --«
-
-»Achim!« Schwer fiel des Pfarrers Hand auf des unbändigen Schülers
-Arm, und die milden Augen des alten Mannes schauten mit einem so
-unaussprechlich leidvollen Ausdruck in das erregte Gesicht, daß
-Joachim sein Haupt senkte. Er fühlte, wieder hatte er sich von seinem
-ungerechten Zorn übermannen lassen, aber wieder hatte er nicht die
-Kraft, seine Schuld einzugestehen, und bissig grollte er: »Ich kann ihn
-nicht leiden!«
-
-»Ich ihn auch nicht,« murmelte Arnold von Berkow leise nach, aber Raoul
-hatte auch das Wort gehört. Seine Brust hob und senkte sich, einen
-Augenblick war es, als wollte er sich auf die beiden Knaben stürzen,
-doch des Pfarrers Gegenwart bannte ihn. Er drehte sich um, verließ
-hastig das Zimmer und rannte den Flur entlang seiner Stube zu. Unten
-hörte er lautes Rufen, Hundegebell, -- der Oheim war angekommen, Freude
-war im Haus.
-
-Und über dieser Freude merkte es niemand recht, daß Joachim beim
-Mittagessen still war. Arnold von Berkow gab sich Mühe, laut und
-lustig zu antworten, wenn er gefragt wurde, er vermied es aber, Raoul
-anzusehen. Pfarrer Buschmann hatte von den Knaben gefordert, sie
-sollten dem gekränkten Kameraden Abbitte leisten. Noch nie hatte der
-gütige Mann so hart, so streng mit seinen Schülern gesprochen, noch
-nie ihnen so das Unedle, Niedrige ihrer Handlungsweise klar gemacht.
-Es hatte Joachim tief getroffen, und tief bohrte und nagte die Scham
-über sein Tun in dem Knaben. Arnold nahm es leichter; er wäre auch eher
-bereit gewesen, das Versprechen der Abbitte zu geben, aber Joachim
-hatte es nicht getan, und so hatte der Pfarrer seine Zöglinge entlassen
-mit den Worten, er würde ihren Eltern Mitteilung machen und eine
-Trennung bewirken, wenn sie seinen Willen nicht erfüllten.
-
-Nach Tisch sprach Josua Buschmann auch mit Raoul, aber es schien,
-als hätte sich die Seele des Knaben, die sich dem Lehrer schon
-etwas geöffnet hatte, wieder geschlossen. Still, blaß, mit fest
-zusammengepreßten Lippen hörte er die gütigen Worte an. Er klagte
-nicht, er sprach den Namen seiner Gegner gar nicht aus, nur als der
-Pfarrer ihn entließ, drehte sich Raoul plötzlich auf der Schwelle
-wieder um, kehrte zurück und küßte rasch, wie bittend, die Hand des
-alten Mannes, und ein paar Sekunden sahen die beiden sich an. »Mein
-Junge, mein armer Junge!« rief der Pfarrer tief bewegt und zog Raoul
-an sich, denn ein so wilder Schmerz hatte ihm aus den dunklen Augen
-entgegengeblickt, daß er fühlte, hier war ein Leid, das über den Kummer
-eines Kindes hinausging. Es darf nicht so weiter gehen, dachte er,
-sonst geht an kindischem Trotz, an unvernünftiger Torheit eine junge
-Seele zugrunde. --
-
-Gottliebe merkte nichts von der neuen Kränkung, die dem Freunde
-widerfahren war, sie hatte sich für den Nachmittag etwas ausgesonnen,
-was sie ganz allein ausführen wollte. Niemand im Hause ahnte etwas
-von dem Tugendbund, der allwöchentlich zweimal in einem kleinen
-Freundschaftstempel am Parkende tagte. Pfarrer Buschmann pflegte um
-die Nachmittagszeit in das Dorf zu wandern, und den andern fiel es
-nicht auf, daß die Kinder in den Freundschaftstempel gingen. Die beiden
-Berkows und Oswald Hippel, der Sohn des Marienfelder Amtmannes, der
-auch in den Bund eingetreten war, kamen auf heimlichen Waldwegen und
-fanden dies heimliche Kommen ungemein romantisch.
-
-Seit ihrem stürmischen Austritt hatte Gottliebe kein Wort mehr über den
-Tugendbund von den Geschwistern gehört; sie war zu stolz und trotzig,
-um darnach zu fragen, aber sie war die einzige, die die heimlichen
-Zusammenkünfte merkte. Deshalb war sie auch brennend neugierig, einmal
-dabei zu sein, und so beschloß sie, es heimlich zu tun. Und dieser
-Nachmittag erschien ihr wundervoll geeignet, ihren Plan auszuführen.
-
-Im Schatten hochstämmiger Ulmen lag am Ende des Gartens der
-Freundschaftstempel. Er war von einem Urgroßvater der Kinder erbaut,
-und manch heiteres Fest war einst darin gefeiert worden. Die Wände
-des Tempels waren mit Malereien bedeckt. Da wandelten zierliche
-Schäferinnen in Reifrock und hoher gepuderter Frisur einher und führten
-weiße Lämmchen an rosenfarbenen Bändern. Wohl waren die Malereien zum
-Teil zerstört, aber die Kinder betrachteten immer wieder die anmutigen
-Bilder mit neuem Entzücken. Über dem Eingang standen, ein wenig
-verwischt zwar, aber noch leserlich, die Worte:
-
- Freundschaft hege,
- Freundschaft pflege,
- Freundschaft ist ein Himmelslicht,
- Wehe dem, der Freundschaft bricht.
-
-Gartengeräte und allerlei altes Gerümpel wurden in dem Tempelchen
-aufbewahrt, das von den Erwachsenen nur selten noch betreten wurde,
-denn die ernste Gegenwart hatte keine Zeit mehr für die lustigen
-Gartengesellschaften vergangener Tage.
-
-In ein dickes, graues Tuch gehüllt, huschte Gottliebe an diesem
-Nachmittag durch den Gartenausgang des Schlosses hinaus und eilte nach
-dem Tempelchen. So sehr war das lebhafte Jüngferlein von ihrem Vorhaben
-erfüllt, daß sie nicht merkte, wie Raoul den Versuch machte, mit ihr zu
-sprechen. Er hatte an der Haustüre auf sie gewartet, nun sie so rasch
-davonlief, kehrte er still und traurig in das Haus zurück. Sie purzelte
-fast hin vor Eile, und im Tempelchen angekommen, versteckte sie sich
-eilig hinter einer im Winkel stehenden mächtigen Wassertonne und
-kicherte übermütig vor sich hin, als nach einer Weile die Geschwister
-mit den Freunden den Raum betraten. Gottliebe lauschte gespannt, aber
-irgend etwas Neues, etwas Besonderes hörte sie nicht. Die Berkows,
-besonders Fritz, hielten wilde Reden gegen den Feind, und Karoline und
-Gottlobe, die auf einer umgestürzten Schiebkarre saßen, quietschten
-manchmal laut auf, wenn einer der Knaben gar zu heftige Worte sagte.
-Joachim saß schweigend und finster da, er schien kaum zuzuhören.
-Gottliebe konnte gerade sein Gesicht sehen, und sie dachte: Ihm ist
-die Geschichte nicht recht. Doch sie hatte die Gedanken des Bruders nur
-halb erraten: der Auftritt des Morgens, des Pfarrers Worte hallten in
-ihm nach, und noch törichter, kindischer als sonst fand er der Freunde
-Reden. »Es ist langweilig, albern!« sagte er plötzlich hart.
-
-In diesem Augenblick hörte Gottliebe neben sich ein Knistern, sie sah
-auf und erblickte auf dem Deckel der Wassertonne -- eine Ratte, die
-dort vergnügt auf und ab spazierte. Vor Ratten und Mäusen aber hatte
-Gottliebe eine schreckliche Furcht, und voller Grauen sah sie auf das
-Tierchen, dem es ganz behaglich zu sein schien.
-
-Ich darf nicht schreien, dachte sie und preßte ihr Tuch fest vor den
-Mund; ach, wäre ich doch nur erst draußen! Die Ratte lief hin und her,
-dann versuchte sie an der Außenwand der Tonne herunterzuklettern.
-
-»Sie kommt, sie kommt!« Gottliebe kroch immer mehr auf ihrem Platz
-zusammen. »Der dumme Tugendbund,« schalt sie wütend, »wäre ich nur
-nicht hierher gekommen!« Der Angstschweiß trat ihr auf die Stirn, und
-sie bebte vor Furcht: das wildeste Raubtier der Wüste hätte ihr keinen
-größeren Schrecken einjagen können. »Wenn sie mir ins Gesicht springt,
-sich in meine Haare verwickelt, wenn -- wenn --« Tausend Fährnisse
-fielen ihr ein, und ihre Augen ruhten immer starrer, immer entsetzter
-auf dem Tiere, das sein Dasein ganz behaglich zu finden schien. Das
-lief nach rechts, nach links, und auf einmal schien es sich nach
-Abwechslung zu sehnen. Plumps, sprang es von der Tonne herunter, und
-Gottlobe und Karoline kreischten. »Hier sind Mäuse!«
-
-»Nein, Ratten!« brüllte Gottliebe, der plötzlich die Ratte auf den
-Schoß hopste. Mit einem gellenden Schrei sprang sie auf und stieß an
-die Wassertonne, die ins Wanken geriet, und es rasselte und polterte
-laut. An den erschrockenen Tugendbundgenossen vorbei raste Gottliebe
-und stürmte in den Garten hinaus. Draußen stieß sie unversehens an eine
-dunkle Gestalt an; ein unterdrückter Aufschrei wurde laut, und kollernd
-wälzte sich ein Mann auf dem Rasen.
-
-Verdutzt blieb Gottliebe einige Sekunden stehen, der Mann richtete sich
-auf, und das Mädchen erkannte in ihm einen ehemaligen Gärtner, den
-der Hofverwalter vor einiger Zeit wegen Untreue entlassen hatte. »Ach
-gnädigstes Fräulein,« stammelte der Mann, »ich wollte -- ich dachte --!«
-
-Da kamen die Tugendbündler schon aus dem Tempelchen heraus.
-Blitzschnell entschwand der Mann in dem nahen Gebüsch, dort duckte er
-sich nieder, und Gottliebe raste, von den andern verfolgt, dem Hause
-zu. »Haltet die Spionin, haltet sie auf!« schrie Joachim dicht hinter
-ihr.
-
-Doch auf einmal stutzten alle und drängten verlegen rückwärts, --
-Raoul stand vor ihnen. Er hielt Gottliebe fest, trotzdem sie flehte:
-»Laß mich los, die andern -- und in der Regentonne ist -- die Ratte
-auf mich gehopst.« Der Knabe achtete gar nicht auf die verwirrte Rede.
-»Bleibt,« sagte er schroff, aber leise, »ich glaube, ihr seid verraten.
-Der Rentamtmann, Liebe, von dem du gestern gesagt hast, er haßt deinen
-Vater, ist bei ihm, ich sah ihn kommen. Ein Mann ist mit ihm gewesen,
-der lief nach dem Park, und ich sah von meinem Fenster aus, wie er an
-der Türe des Tempelchens horchte!« Kurz, stoßweise hatte der Knabe die
-Worte hervorgebracht, sie waren ihm sichtlich schwer geworden, aber
-plötzlich warf er einen schnellen Blick in das Dickicht neben dem Weg,
-rief nur noch: »Haltet ihn!« und setzte einem davoneilenden Manne nach.
-
-»Er ist's,« rief Liebe, und einige Sekunden später raste auch sie dem
-Lauscher nach.
-
-Doch Raoul hatte ihn schon gefaßt, und blitzschnell ersah er ein
-kleines, grünes Buch in seiner Hand. Von dem Buche hatte doch Gottliebe
-gesprochen. Mit einem Ruck entriß er es dem Manne, der wollte es wieder
-an sich reißen und versetzte Raoul einen Faustschlag, aber schon hatten
-die vier andern Knaben die beiden umringt, und der Lauscher dachte nur
-noch daran, sich in Sicherheit zu bringen. Er war ein starker Mann
-und warf erst Arnold, dann Fritz von Berkow in den Schnee, und ehe
-noch Joachim ihn halten konnte, war er fort und über die Gartenmauer
-gesprungen.
-
-Wenige Minuten nur hatte das Schreien und Toben den Garten durchgellt,
-dann war eine tiefe Stille eingetreten, und die Verschwörer sahen alle
-verlegen, beschämt und ruhig auf Raoul, dem das Blut aus der Nase rann,
--- der Faustschlag hatte gut getroffen.
-
-Gottliebe fand zuerst Worte. »Er blutet,« jammerte sie und hielt dem
-Vetter gleich hilfbereit die Schürze hin.
-
-»Es ist nicht schlimm,« sagte der, »hier ist das Buch!« Er warf Joachim
-das Buch zu, drehte sich um und eilte in das Haus zurück. Er lief dort
-gerade Frau Maria in die Arme, die von dem Lärm herbeigelockt worden
-war und sich nun erschrocken liebevoll des Neffen annahm. Als sie beide
-durch den Hausflur gingen, schlüpfte ihnen Gottliebe nach, und alle
-drei hörten aus des Hausherrn Zimmer heraus heftige Stimmen klingen.
-Gottliebe schaute so entsetzt zur Mutter auf, daß diese sagte: »Es
-ist nicht schlimm: der Rentamtmann hat allerlei Klagen, brauchst keine
-Sorgen zu haben!«
-
-Gottliebe atmete auf, aber dann dachte sie wieder an den entlassenen
-Gärtnerburschen, der das Buch gefunden hatte, und Raoul mußte von den
-gleichen Gedanken bewegt werden; er beugte sich vor und flüsterte so
-leise, daß es die Tante nicht hören konnte: »Sie sollten es verbrennen!«
-
-»Lauf mal in die Küche und sage Jungfer Rosalie, sie solle Leinwand
-und Essig bringen,« gebot Frau Maria da, und eilig lief Gottliebe,
-den Auftrag auszurichten. Atemlos bestellte sie der Jungfer Rosalie,
-was die Mutter gesagt hatte, und just war sie fertig, als Joachim mit
-seinen langen Beinen durch das offene Fenster in die zu ebener Erde
-liegende Küche einstieg und zu Jungfer Rosalies grenzenlosem Erstaunen
-ein grünes Etwas in das hellbrennende Feuer warf.
-
-»Na?« rief die treue Hüterin der Küche verdutzt.
-
-»Ja,« brummte Joachim nicht minder lakonisch und starrte in die
-Flammen. Das Büchlein wandte und drehte sich, es sperrte seine Deckel
-weit auseinander, und dann -- war es zu einem Häuflein glühender Asche
-verwandelt.
-
-Gottliebe hatte mit der gleichen gespannten Aufmerksamkeit zugesehen,
-und als nichts mehr von dem unseligen Buch zu sehen war, schaute sie
-zu dem Bruder auf, und sekundenlang blickten die Geschwister sich
-wie befreit an. »Es war dumm,« murmelte Joachim und stieg dann eilig
-wieder zum Fenster hinaus, um den ziemlich verwirrten und verängstigten
-Tugendbündlern zu melden, daß das Werk vollbracht sei.
-
-Gottliebe kehrte zur Mutter zurück. Sie sollte Raoul pflegen helfen.
-Es gab aber nicht viel zu pflegen, der Knabe bat nur, man möchte
-ihn allein lassen, schlafen lassen, er sei so müde. Und weil er so
-blaß aussah und jedes Wort ihm schwer zu fallen schien, willfahrte
-Frau Maria gern dem Wunsch und ließ den Neffen allein. Einigemal noch
-sah sie an dem Nachmittag in das Stübchen, und immer fand sie Raoul
-anscheinend in tiefem, festem Schlafe liegen. Still, wie sie gekommen
-war, verließ sie wieder das Zimmer und ahnte nicht, welche schwere,
-unruhige Gedanken den Knaben bewegten, wie er rang, um den rechten Weg
-für sein Tun zu finden.
-
-»Der Raoul ist doch ein anständiger Kerl! Brav, wie er uns geholfen
-hat! Aber Liebe ist eine Klatschbase und Horcherin,« hatte Arnold von
-Berkow im Kreise der Tugendbündler erklärt, die noch immer mitten
-im Schnee des Parkes standen und gar nicht wußten, was sie beginnen
-sollten.
-
-»Sie war vernünftiger als wir,« grollte Joachim. »Wißt ihr,« wandte
-er sich an die Freunde, »ihr geht nach Hause, und ich begleite euch.
-Vielleicht ist es jetzt am besten, wir sind nicht zu finden.«
-
-Der Vorschlag wurde einstimmig angenommen, die Mädels meinten, sie
-wollten in das Dorf gehen und einen Krankenbesuch machen, und die
-Knaben schlugen im Geschwindschritt den Heimweg an. Joachim ging
-eigentlich nur mit, weil er eine Frage des Vaters fürchtete. Zu feige,
-eine Schuld zu leugnen, war er nicht, aber es trieb ihn hinaus, weil
-Raoul im Hause war, Raoul, dem er so schweres Unrecht zugefügt hatte.
-Er fühlte, er mußte den Vetter um Verzeihung bitten, das war seine
-Pflicht, aber der harte Steinbergtrotz in ihm lehnte sich noch immer
-gegen die Demütigung auf. »Ich hasse ihn,« dachte er, und dabei sah
-er immer noch das blasse, blutige Gesicht vor sich, die schönen,
-traurigen Augen, und er fühlte dumpf und unklar, daß auch sein Haß nur
-Trotz war.
-
-Schweigsam schritt er neben den Freunden hin, die noch laut und
-aufgeregt den Fall besprachen, und was hätte geschehen können, wenn
-das Buch mit all den wilden Schmähworten wirklich in die Hände des
-Gärtnerburschen gefallen wäre. »Es wäre uns schlimm ergangen,« meinte
-Fritz von Berkow kleinlaut, und Oswald Hippel rief immer wieder in
-ehrlicher Selbsterkenntnis: »Eigentlich war's doch eine dämliche
-Kinderei!«
-
-Als Joachim von den Freunden Abschied nahm, bat Arnold: »Grüße Raoul.
-Ich sag's ihm morgen, daß mir die Geschichte leid tut.«
-
-»Morgen, morgen ist Zeit genug,« dachte Joachim, »ja, morgen, da will
-ich's ihm auch sagen.« Und als er heimkam, atmete er erleichtert auf,
-als er hörte, daß Raoul schlief, da rückte doch auch die bittere Stunde
-für ihn in die Ferne.
-
-Gottliebe hatte den Geschwistern gleich mitgeteilt, was die Mutter
-von dem Besuch des Rentamtmannes gesagt hatte, also wußte der Vater
-nichts davon, und der Sturm war an ihnen vorübergebraust. Sie
-hatten aber doch sein Sausen gehört, und sie saßen alle wie Vögel
-nach einem Gewittersturm am Abend am Familientisch. Auch Liebe war
-niedergeschlagen, obgleich weder Bruder noch Schwester und Base sie um
-des Horchens willen geneckt hatten. Zwischen ihnen waren auf einmal
-alle bitteren Worte vergessen, die gemeinsame Angst hatte sie wieder
-vereinigt.
-
-Der Eltern Augen aber ruhten forschend auf den Kindern, und der
-Großmutter Blick haftete immer an Raouls leerem Platz. Nach dem
-Abendessen, als Jungfer Rosalie und der Vogt, die nach altem Brauch
-am Herrentisch aßen, gegangen waren, rief Herr von Steinberg: »Kinder
-bleibt! Joachim, erzähl' mal, wer hat Raoul geschlagen?«
-
-»Der Jakeit,« gab Joachim zur Antwort, während eine heiße Röte über
-sein Gesicht lief, lügen konnte er nicht.
-
-»Der Jakeit?« fragte der Vater erstaunt, »wie kam er dazu? wo war er?«
-
-»Er trieb sich -- im Park herum. Wir wollten ihn halten, da schlug er
-Raoul, warf Arnold und Fritz hin und riß aus!«
-
-»Wie ist der Jakeit wieder in den Park gekommen?«
-
-»Jungfer Rosalie sagt, er wäre als Begleiter des Rentamtmannes
-gekommen,« mischte sich Frau Maria ein.
-
-»Was steckt aber dahinter? Ihr seid so verstört!« fragte die Großmutter
-scharf, und ihre Augen suchten prüfend die Gesichter der Enkelkinder.
-Die schwiegen, eins sah das andere an, sie wurden alle rot und wagten
-doch nichts zu sagen.
-
-»Wieder ein Streit mit Raoul!« rief Pfarrer Buschmann traurig. »Wie
-junge Raben hacken sie auf den armen Burschen ein, es ist kein
-Vertragen, keine Liebe zwischen ihnen.«
-
-»Die andere Art!« Die Kammerherrin murmelte es nur leise, aber
-Frau Maria hatte das Wort vernommen, und sie sagte sanft: »Und
-Raoul ist doch ein Steinberg, ist manchmal ganz sein Vater, so wie
-mir Georg-Wilhelm in der Erinnerung lebt, nur weicher, ernster,
-verschlossener ist er. Ich denke immer, wir tun allesamt dem armen
-Jungen unrecht und bringen ihm nicht genug Liebe entgegen!«
-
-»Bei Gott, Maria,« rief der Freiherr, »du hast recht. Ein echter
-Steinberg ist der Raoul, und wir haben ihn alle verkannt. Hört, was ich
-heute erfahren habe.« Und bewegt erzählte er, daß Graf Turaillon an
-ihn geschrieben und ihm mitgeteilt habe, daß Raoul damals in Leipzig
-unauffindbar gewesen wäre. Bäckermeister Käsmodel hätte erklärt, auf
-Wunsch seiner Mutter hätte der Knabe sich zu den Verwandten seines
-Vaters begeben. Noch einmal bot der Graf dem Neffen an, er wolle ihn
-zum einzigen Erben seiner Reichtümer einsetzen, und bat den Freiherrn,
-der doch Kinder hatte, ihm den Knaben auszuliefern. »Darum ist der
-Junge damals so eilig gekommen! Er hat uns gewählt, hat sich zu uns
-Steinbergs gehalten,« rief der Vater, »aber er mag wohl nicht das
-rechte Zutrauen haben fassen können, sonst hätte er uns alles erzählt.«
-
-»Jetzt versteh' ich's,« rief Liebe plötzlich und wurde dann namenlos
-verlegen, weil es nicht Sitte war, daß eins der Kinder ungefragt sich
-in das Gespräch der Erwachsenen einmischte.
-
-Doch diesmal blieb ihre Vorwitzigkeit ungerügt, und der Vater fragte:
-»Was verstehst du jetzt?«
-
-»Karl Wagners Brief,« stammelte Liebe, und dann erzählte sie sehr
-geschwinde, sehr kraus mit allerlei Abschweifungen, wer Karl Wagner
-sei, was er geschrieben habe, und daß Raoul nichts mehr von seinen
-Freunden sagen wollte, weil -- weil -- hier stockte sie und fuhr dann
-fort, tapfer die Schuld der Geschwister mit auf ihre Schultern nehmend,
-»wir so über den komischen Namen und die Bäckersleute gelacht haben.
-Aber sie sind gewiß alle gut, und sie können alle Napoleon nicht
-leiden, und Gottlieb singt immer: Warte, warte, Bonaparte, und --«
-Gottliebe mußte einmal nach Luft schnappen, die Rede war zu lang und
-eilig gewesen, und sanft strich die Mutter, neben der sie saß, über das
-heiße Gesicht des Kindes. »Wir haben Raoul wohl alle nicht verstanden,
-haben uns beeinflussen lassen, weil -- seine Mutter eine Französin
-gewesen ist!«
-
-»Ach, und sie muß himmlisch gut gewesen sein, und Hauben hat sie
-genäht, und Raoul hat sie so viel von der Großmutter und unserem Vater
-erzählt.« Wieder rügte an diesem Abend niemand Gottliebes lebhaften
-Zwischenruf, und wieder strich die Mutter liebkosend die blühende Wange
-ihres Kindes und dachte still: Du gutes Herzlein, du!
-
-»Wer gefehlt hat, soll trachten, es gut zu machen, damit Raoul in
-diesem Hause auch die Heimat findet, die er gesucht hat,« sagte der
-Freiherr ernst, tauschte einen Blick mit seiner Mutter und sah dann auf
-Joachim. Der senkte den Kopf. Morgen, morgen, klang's in ihm.
-
-Nachher ging Frau Maria noch einmal in des Neffen Zimmer, und da lag
-der still und gab keine Antwort auf den leisen Ruf. Morgen, morgen,
-dachte auch die Frau und klinkte die Türe ein und ermahnte dann ihre
-Kinder: »Geht leise, stört Raoul nicht, er schläft.«
-
-»Wie dumm,« seufzte Gottliebe, »nun muß ich bis morgen warten, um ihm
-alles zu erzählen. Warum muß er auch heute so müde sein!«
-
-[Illustration: Dekoration Ende 7. Kapitel]
-
-
-
-
-[Illustration: Dekoration Titel 8. Kapitel]
-
-
-
-
-Achtes Kapitel.
-
-Einem traurigen Morgen folgen schwere Tage.
-
-
-Im Hause verloschen allgemach die Lichter, und ganz Hohensteinberg
-versank in tiefe, nächtliche Stille, nur aus dem Fenster der
-Kammerherrin fiel noch lange ein heller Schein in die Nacht hinaus.
-Zum zweitenmal in ihrem Leben beklagte die alte Frau, daß sie zu hart,
-zu streng gewesen war, aber diesmal konnte sie noch sühnen, konnte
-gutmachen, was sie einst nicht mehr gekonnt hatte. Damals, als sie
-die Nachricht von dem Tode ihres Sohnes erhalten hatte und die Witwe
-und sein Kind unauffindbar gewesen waren, hatte sie es nicht mehr
-können. Nun lebte des Sohnes Sohn in ihrem Hause, und wie hatte sie
-bisher die seinem Vater erwiesene Härte gesühnt? Die stolze Frau litt
-namenlos in dieser Stunde, als sie sich wieder einmal sagen mußte: Du
-tatest unrecht! Aber doch klang es auch in ihrem Herzen hoffnungsvoll:
-»Morgen, morgen.«
-
-»Morgen soll ein neues Leben für den armen Jungen beginnen,« hatte auch
-der Freiherr zu seiner Frau gesagt. »Wie konnte ich nur bisher so wenig
-erkennen, daß das Fremde in seiner Art gut ist! Eine Prachtfrau muß die
-Mutter gewesen sein.«
-
-Morgen, morgen, dachte auch Joachim unablässig; er, der sonst einen
-Bärenschlaf hatte, warf sich in dieser Nacht unruhig auf seinem Lager
-hin und her. Er rang immer noch mit seinem Trotz, und dazu hatte sich
-die Eifersucht gesellt: nun würden auf einmal alle Raoul lieben, er
-würde beiseite geschoben werden von den andern, wie es schon Gottliebe
-mit ihm getan hatte.
-
-Draußen hatte sich der Wind erhoben; er sauste und brauste um das Haus
-herum, es knisterte und raschelte in dem alten Gebälk, ganz unheimlich
-klang es. Einmal fuhr Joachim empor, es war ihm, als hätte er tastende
-Schritte gehört. Aber nein, es war doch wohl nur der Sturm gewesen. Die
-Wetterfahne auf dem Dache drehte sich gerade knarrend, und irgendwo
-klappte ein Fenster -- oder war es eine Tür?
-
-»Unsinn!« murmelte Joachim und grub den Kopf tief in die Kissen hinein.
-Da schlug draußen ein Hund an, kurz, und er verstummte gleich wieder,
-und wieder war allein das Brausen des Windes hörbar. Noch eine Weile
-lauschte der Knabe, aber nichts, gar nichts war zu hören, und doch
-preßte eine seltsame, beklemmende Angst ihm das Herz zusammen. Und
-wieder sagte er »Unsinn!« zu sich und versuchte zu schlafen, aber es
-dauerte noch lange, ehe ihn der Schlaf übermannte. Er schlief so fest,
-daß er das laute Klopfen, mit dem Jungfer Rosalie morgens die Kinder
-zu wecken pflegte, überhörte und weiter schlief. Erst der Jammerruf:
-»Joachim, Joachim!« den Gottliebe ausstieß, ermunterte ihn völlig. Die
-Schwester stand in der offenen Türe, ihr liebes Gesichtchen war ganz
-von Tränen überflutet. »Raoul ist fort,« schluchzte sie, »Raoul ist
-fort!«
-
-»Raoul -- fort?« stammelte Joachim, »wie denn fort?«
-
-»Fort ist er, seine Sachen hat er mitgenommen, er -- ach Raoul, Raoul!«
-jammerte das Mädel.
-
-Hinter Gottliebe trat rasch Pfarrer Buschmann in das Zimmer. Er schob
-das Mädel sanft hinaus, ihr über die verwirrten Locken streichend. »Geh
-zu deiner Mutter, Kind, sie verlangt nach dir,« sagte er milde, und
-dann wandte er sich an Joachim: »Steh auf, eile dich und hilf deinem
-Vater suchen; oder -- weißt du etwa um seine Flucht?«
-
-Joachim schüttelte verstört den Kopf. »Warum -- warum nur?« stammelte
-er.
-
-»Das fragst du noch?«
-
-»Ich -- ich wollte ihm abbitten -- heute!«
-
-»Warum tatest du es nicht gestern, warum verschobst du es?« fragte
-der alte Mann und sah traurig seinen trotzigen Schüler an. »Es kommt
-oft ein Morgen, an dem ein gutes Wort zu spät kommt. Raoul muß in der
-Nacht geflohen sein, er hat nur ein kleines Bündel Sachen mitgenommen,
-nur -- was er hergebracht hat. Dein Vater ist schon unterwegs. Nach
-Langenstein ist geschickt worden, wir hoffen alle, den armen, lieben
-Jungen zu finden.«
-
-»Ich finde ihn, ich muß ihn finden,« rief Joachim heftig. Er zog sich
-in zitternder Eile an und wollte hinaus.
-
-»Halt, sachte, nicht so stürmisch!« Pfarrer Buschmann hielt ihn fest.
-»Willst du ohne Sinn und Verstand drauf los rennen, Wege, die schon
-andere abgesucht haben? Das nützt wenig. Du sollst zu Berkows reiten
-und von dort aus nachforschen. Es ist nicht unmöglich, daß Raoul den
-Waldweg eingeschlagen hat und dann --« Der alte Mann vollendete nicht,
-aber Joachim wußte genau, was er meinte. Den Waldweg, der ein großes
-Stück nach der nächsten Poststation hinter Langenstein abkürzte,
-konnten nur Kundige gehen, namentlich im Schnee konnte man sich leicht
-verirren. War Raoul ihn gegangen in der Sturmnacht? Wer weiß, in
-welcher weglosen Einsamkeit er sich schon verirrt hatte.
-
-Raoul mußte sich von seinem Fenster aus an der Kastanie herabgelassen
-haben, abgebrochene Zweige deuteten darauf hin. Sonst hatte der
-Schneesturm in dieser Nacht jede Fußspur verweht. Jungfer Rosalie
-klagte mit einem ihr sonst fremden Wortreichtum: »Daß ich's nicht
-gehört habe, immer nur gemeint, der Sturm sei's, und das Fenster hat
-doch geklappt!«
-
-An die Knie der Großmutter geschmiegt, weinte Gottliebe in
-fassungslosem Schmerz, und jedes Aufschluchzen fand in der Ecke des
-Zimmers ein leises Echo. Dort saßen Gottlobe und Karoline, und beide
-zuckten immer wieder zusammen und fühlten jedes ihr Teilchen Schuld,
-wenn die Schwester klagte: »Wir waren nicht gut genug zu ihm.« Ihr, die
-dem Entflohenen am meisten Liebe von den Kindern erwiesen hatte, fiel
-immer wieder etwas ein, was sie hätte tun können, und alles sagte sie
-und ahnte nicht, daß jeder Vorwurf, den sie gegen sich selbst erhob,
-die Großmutter bitter traf. Die sagte mit einer seltsam schweren,
-weichen Stimme: »Sei ruhig, mein Kind, Raoul kommt schon wieder, heute
-abend ist er wieder da. Sicher, er kommt wieder.« Und mit diesem Trost
-versuchte die Kammerherrin sich selbst zu trösten, versuchte sie ihre
-schwere Sorge zu bannen.
-
-»Wir werden ihn schon finden,« hatte der Freiherr, der über des Neffen
-Flucht tief betroffen war, die Seinen getröstet, »er ist doch nur zu
-Fuß gegangen, unsere Pferde holen ihn schon ein!« Aber als der Abend
-kam, war noch keine Spur von dem Vermißten gefunden. Niemand hatte ihn
-gesehen, durch kein Dorf schien er gekommen zu sein! Auf allen Wegen,
-die süd- und westwärts führten, waren die Boten weit ins Land hinein
-gefahren und geritten, denn alle nahmen an, der Knabe habe nach Leipzig
-zurückkehren wollen, um vielleicht von dort aus zu seinem Onkel nach
-Paris zu wandern.
-
-»Ich muß ihn finden, ich muß ihn finden,« dachte Joachim verzweifelt,
-und nur die ernsten Ermahnungen seiner Eltern und des Pfarrers konnten
-ihn nach dem Tage vergeblichen Suchens abhalten, ins Blaue hinein dem
-Vetter nachzuziehen. Wie eine schwere Last lag die Schuld gegen den
-Vetter auf seiner Seele, und als der Vater näher forschte und fragte,
-um den wahren Grund zur Flucht zu erkennen, da erzählte Joachim
-selbst die Geschichte des Tugendbundes, und wie sie Raoul von allem
-ausgeschlossen hätten. Er verschwieg nicht dessen tapferes Eintreten
-für die Tugendbündler, und während der Knabe dies alles bekannte, wurde
-ihm sein Unrecht immer klarer. »Ich bin schuld,« murmelte er, »ich
-allein!«
-
-Die Kammerherrin sah von ihrem Enkelsohn zu ihrem Sohn, und der
-Freiherr nickte ihr trübe zu. »Wir wollen nicht untersuchen und
-fragen, wo die meiste Schuld liegt,« sagte er mit schwerem Ernst.
-»Euer Tugendbund war freilich eine Torheit, eine Kinderei: ihr paar
-Jungen und Mädels werdet das Vaterland nicht aus seiner tiefen Not
-befreien. Kindereien sind nicht am Platz in einer so schweren Zeit,
-das merkt euch alle, wir brauchen den Ernst und die Tat. Aber euch
-allen sei diese Torheit nicht angerechnet, weil diese Torheit aus Liebe
-zum Vaterland erwachsen ist. Diese Liebe haltet fest und erstarket
-in ihr, damit ihr dereinst fähig seid, wenn die Stunde kommt, in der
-das Vaterland euch braucht, Opfer zu bringen. Einen Tugendbund dürft
-ihr untereinander schließen, aber dazu braucht es keiner geheimen
-Versammlungen und törichter Bücher, euer Tun soll Zeuge sein von eurer
-Liebe zum Vaterland und eurer Liebe untereinander.«
-
-Bei dem letzten Wort des Vaters sahen sich Joachim und Gottliebe
-unwillkürlich an, und mit einem Schrei flog das lebhafte Mädel auf den
-Bruder zu, hing an seinem Hals und rief schluchzend: »Wir wollen uns
-wieder lieb haben, und wenn Raoul -- wiederkommt, dann haben wir ihn
-alle, alle lieb!«
-
-»Ich will ihn suchen,« murmelte Joachim, und nicht mehr, wie so
-manchmal in der letzten Zeit, stieß er die Schwester unwirsch fort. Er
-hielt ihre Hand fest, fest in der seinen, und Liebe verstand den Bruder
-auch ohne Worte.
-
-Joachim hielt Wort. Er suchte fieberhaft nach einer Spur des
-Verlorenen, er fragte da und dort, aber keine Spur fand sich, auch die
-Nachforschungen des Freiherrn blieben erfolglos. Der schrieb an den
-Grafen Turaillon, schrieb, daß der Neffe entflohen sei; wie er vermute,
-habe er sich nach Paris gewandt. Auch an den Bäckermeister Käsmodel
-schrieb er, und dieser Brief wurde ihm herzlich schwer; aus Leipzig kam
-rasch Antwort, Raoul sei nicht dort eingetroffen, und nach Wochen kam
-die gleiche, in einem scharfen, beleidigenden Tone abgefaßte Antwort
-aus Paris. Der Graf nahm an, man hätte den Neffen absichtlich entfernt,
-um ihn vor seinen Nachforschungen zu verbergen.
-
-»Das wußte ich,« frohlockte Gottliebe, »nach Paris ist Raoul nicht
-gegangen, er haßt den Bonaparte.« Sie wurde aber gleich wieder traurig.
-»Aber wo mag er sein?«
-
-Ja, wo war der Knabe? War er gestorben und verdorben in dem großen
-Wirrsal, in der tiefen Not, die von neuem über das deutsche Vaterland
-hereinbrach?
-
-Mit dem Frühling kam von Westen her das Unheil. Napoleon zog wirklich
-nach Rußland, des Zaren Macht wollte er brechen. Wie ein Märchenland
-lockte und lockte den Eroberer das unermeßliche Reich des Ostens mit
-seinen endlosen Steppen und weiten Wäldern. Aber Deutschland, Preußen,
-lag zwischen ihm und seinem Ziel, und so zwang er dem Könige von
-Preußen ein Bündnis auf, das das arme Land förmlich der Plünderung
-der großen Armee preisgab. Und manche deutsche Mutter sah weinend den
-Sohn in die Ferne ziehen, denn zu Tausenden mußten deutsche Söhne
-den französischen Fahnen folgen, und zu denen gesellten sich noch
-manche, die freiwillig mitzogen, weil sie den Glauben an des eigenen
-Vaterlandes Kraft verloren hatten.
-
-Als von eines solchen freiwilligen Kämpfers Mitzug, der ein Sohn alter
-Freunde war, die Kunde nach Hohensteinberg kam, schrie Joachim aus vor
-Empörung: »Ein Vaterlandsverräter!«
-
-»Ein Armer, ein Unseliger,« sagte die Kammerherrin; die alte Frau war
-sehr milde geworden in dem Leid der letzten Wochen. »Wehe ihm, wehe
-uns! Wehe dem, der den Glauben an sein Vaterland verliert, und wehe
-uns, daß wir nicht mehr stolz auf unseres Vaterlandes Stärke sein
-können!«
-
-Da schwieg Joachim, er schwieg jetzt oft und sann stille den Worten der
-Erwachsenen nach. Er, der Trotzige, Ungebärdige war in der Zeit des
-werdenden Frühlings zu einem ernsten Jüngling herangereift. Die Schuld,
-die ihn quälte, des Vaterlandes Not wandelte sein Wesen und machte ihn
-über seine Jahre hinaus ernst.
-
-Es war überhaupt keine rechte Zeit für Jugendlust und Jugendübermut,
-und wenn die Steinbergschen Kinder mit ihren Freunden und Freundinnen
-zusammenkamen, dann gab es oft gar ernste, nachdenkliche Gespräche.
-Sie nannten sich untereinander Tugendbündler, die Eltern wußten es und
-widerstrebten nicht, nur mußte der Name verschwiegen bleiben, auch
-durfte kein Wort niedergeschrieben werden. Wohl war ringsum alles gut
-preußisch gesinnt, aber es gab doch etliche solcher Kreaturen im Land,
-wie der Rentamtmann Meldeling, und in Pillau saß eine französische
-Besatzung wie in manchen andern Festungen des Landes. Napoleon bewachte
-auch seine Bundesgenossen gut, er ahnte, daß niedergehalten in der
-Tiefe der Haß schlummerte.
-
-Nur Gottliebes unverwüstliche Fröhlichkeit brach immer wieder durch,
-und so sehr sie sich um Raoul grämte, es kamen doch immer wieder
-Stunden, in denen ihr Lachen das Haus durchschallte, und einen
-Widerschein auf allen Gesichtern fand. Selbst Jungfer Rosalies
-mürrische Miene hellte sich dann ein wenig auf. Gottlobe hatte sich
-auch verändert. Sie schwärmte nicht mehr so überschwenglich mit ihren
-Freundinnen, sie hielt sich jetzt mehr zu Bruder und Schwester, und
-als eines Tages Karoline heimgeholt wurde, denn die Eltern wollten
-ihr Kind lieber bei sich in der Stadt haben in dieser Zeit, da weinte
-sich Lobe nicht, wie Liebe prophezeit hatte, die Augen aus dem Kopf.
-Ja sie lehnte sogar das Anerbieten, mit nach Königsberg zu kommen,
-ab; die Eltern hatten es ihr freigestellt, weil es Lobe sich immer so
-sehnlichst gewünscht hatte, in Königsberg sein zu dürfen.
-
-»Sie bleibt bei uns,« schrie Gottliebe begeistert, als die Schwester
-ihr »Nein« sagte, »Achim, hörst du?«
-
-In Joachims Augen leuchtete es auch freudig auf, er rief halb
-zweifelnd: »Bleibst du wirklich?«
-
-»Ich bin doch eine Steinberg und gehöre hierher,« sagte Gottlobe
-ein wenig gekränkt, daß die Geschwister ihren Entschluß gar so
-verwunderlich fanden. Die sichtbare Freude stimmte sie aber froh,
-und von dieser Stunde an gab es eine schöne Dreisamkeit unter den
-Geschwistern, und in allen Sorgen erstarkte die Geschwisterliebe mehr
-und mehr.
-
-»Die Franzosen kommen!« Unzähligemal ertönte in dem Frühling und Sommer
-des Jahres 1812 dies Wort im preußischen Land. Erst war es nur ein Ruf
-der Angst, der bangen Ahnung, bis dann eines Tages von Ort zu Ort die
-unheilschwere Kunde flog: »Sie kommen wirklich.«
-
-Sie kamen als Freunde, Bundesgenossen und hausten wie Feinde, sie
-leerten die Kornkammern, trieben das Vieh aus den Ställen und
-zerstampften die blühenden Saaten.
-
-Eines Tages hieß es auch in Hohensteinberg: »Sie kommen!« Und wie
-überall mußten es die Bewohner vom Schloß und Dorf mit ansehen, wie
-die Abteilung, die hier durchkam, »ihre Vorräte ergänzte«, so nannte
-es der führende Offizier, ein sehr höflicher Italiener. Er nahm, was
-er nur irgend an Lebensmitteln erhalten konnte, aber er war doch so
-menschlich, nicht den ärmsten Dorfleuten das letzte Stück Vieh aus den
-Ställen zu treiben. »Glauben Sie mir, mein Err,« versicherte er dem
-Freiherrn, »mir mackt dies Krieg kein Spaß, und es mackt viele keine
-Spaß. Dies Land da,« und er deutete mit der Hand finster in die Ferne,
-»ist wie der Maul von eine große Tier, er verschlingt uns! Sicker -- er
-verschlingt uns!«
-
-Nach diesen kamen noch andere, und Jungfer Rosalie schloß diesen
-bereitwillig die Speisekammer auf, stemmte die Hände in die Seiten und
-sagte kaltblütig. »Da!« Eine einzige Wurst bammelte an einem Faden,
-und ein paar Brocken lagen auf dem Brotschrank, sonst war die Kammer
-leer.
-
-Die Soldaten schimpften und drohten, aber Jungfer Rosalie wischte sich
-mit der Hand über den Mund und zeigte kläglich auf den Magen, als
-wollte sie den eigenen Hunger andeuten. Dabei hatte sie selbst alle
-Vorräte in einen gut verborgenen Keller geschafft, den nicht einmal
-alle Bewohner des Hauses kannten. In dem dunklen Keller lagerte auch
-mancher Notgroschen, manche Wurst und manches Mehlsäcklein, das die
-Dorfbewohner vertrauensvoll ihrem Gutsherrn gebracht hatten.
-
-Und als zum drittenmal Soldaten kamen, bammelte wieder nur eine Wurst
-in der Speisekammer, und wieder gab es nur dürftige Reste, und wieder
-schalten und drohten die Soldaten, und wieder blieb Jungfer Rosalie
-ungerührt mit in die Seite gestemmten Armen stehen. Als es aber einer
-der Leute gar zu schlimm machte und ihr mit dem Gewehr vor der Nase
-herumfuchtelte, da ergriff sie kurz entschlossen den Mann und stülpte
-ihn kopfüber in das leere Mehlfaß. »Sucht selbst!« sagte sie mürrisch.
-
-Die Sache hätte freilich für die tapfere Jungfer recht übel ablaufen
-können, wenn sich nicht ein Offizier ihrer angenommen hätte. Er
-beruhigte den Soldaten, der in einem fürchterlichen Kauderwälsch
-Bestrafung der Untäterin verlangte, als er endlich wieder Augen und
-Mund von dem Mehlstaub frei hatte. Dem Offizier, einem Rheinländer
-von Geburt, schien der Zug nach dem weiten Rußland auch wenig Spaß zu
-machen, desto besser gefiel ihm die tapfere Jungfer. Er sagte beim
-Abschied lachend zu ihr: »Schade, daß sie kein Mann ist, sie hätte
-einen guten Gardisten abgegeben und gewiß tapfer gefochten!«
-
-»Ja, wenn's gegen die Franzosen ginge,« sagte Jungfer Rosalie gelassen.
-Da schwieg der Offizier und nickte nur noch einmal grüßend zurück, --
-vielleicht hätte er auch lieber sein Leben für des Vaterlandes Freiheit
-eingesetzt!
-
-Und als die Durchzüge beendet waren, die letzten Nachzügler der
-großen Armee den Niemen überschritten hatten, da war es, als wäre
-ein verheerendes Unwetter mit Hagel und Sturmflut über die Gegenden
-dahingebraust, die an der großen Landstraße lagen, und dem Heere
-folgten die Flüche, folgte das Jammern des gequälten Volkes nach.
-
-[Illustration: Dekoration Ende 8. Kapitel]
-
-
-
-
-[Illustration: Dekoration Titel 9. Kapitel]
-
-
-
-
-Neuntes Kapitel.
-
-Auf weiten Wegen ins alte Nest zurück.
-
-
-In dieser Zeit, da die Frühlingsstürme den Winter vertrieben, und
-da über die deutschen Lande eine neue Not kam, wanderte Raoul von
-Steinberg durch viele Wirrsale in der Fremde herum. Er hatte gemeint,
-es sei am besten, das Haus zu verlassen, in dem ihm so wenig Liebe
-geworden war, und als er an jenem verhängnisvollen Tage stumm auf
-seinem Lager lag, so still, daß Frau Maria ihn schlafend wähnte, da
-hatte er nichts mehr von all den guten Vorsätzen vernommen, die im
-Familienzimmer laut wurden. Um Mitternacht war er aufgestanden, hatte
-sein Bündel gepackt und war durch das Fenster entflohen. Unten hatte er
-ein paar Minuten gezögert. Tat er recht? Da oben schliefen Frau Maria,
-Pfarrer Buschmann und Gottliebe, die hatten ihn doch lieb, waren gut
-zu ihm, ihnen würde seine Flucht vielleicht wehe tun. Er hätte ihnen
-schreiben mögen, sagen, daß er sie nie vergessen würde, aber dazu war
-es zu spät. Kehrte er in das Haus zurück, dann hörte ihn wohl jemand,
-man würde seine Absicht erraten, und Joachim würde lachen, spöttisch,
-verächtlich, wie er es so oft getan hatte. Nein, nur das nicht. Die
-Verachtung, mit der man auf ihn um der Mutter willen, der guten,
-geliebten Mutter willen herabsah, die konnte er nicht ertragen, lieber
-wollte er wieder Schreiber werden oder sonst eine Arbeit tun. Und ohne
-rechtes Ziel war er in das Schneewehen hinausgetrabt, nur die Straße
-mied er, die er gekommen war. Auf einem ihm unbekannten Pfade war er
-weiter und weiter geschritten, und der Wille, fortzukommen, hatte seine
-Kraft gestärkt.
-
-Im Morgengrauen traf er einen Wagen, einen, der mit grauer Leinwand
-rund überdacht war, und den ein mageres Pferd nur mühsam durch
-den Schnee zog. Jahrmarktsleute waren es, die, von der russischen
-Grenze kommend, durch die winterliche Einsamkeit zogen. Hoch oben im
-Thüringerwalde war ihre Heimat, von da aus zogen sie mit Holzgeräten,
-Spielsachen und Topfwaren, mit Quirlen, Löffeln, Brettern, Butterformen
-und allerlei solchen Dingen in der Welt herum, von Markt zu Markt.
-Raoul stand erschöpft an einen Baum gelehnt, als die Leute an ihm
-vorbeikamen, und der Knabe, der so allein in dieser grauen Morgenstille
-war, fiel ihnen auf. Der Mann hielt an und forschte nach dem Weg. »Ich
-habe keine Heimat,« sagte Raoul traurig, »meine Eltern sind tot, in
-Leipzig leben gute Freunde, zu ihnen will ich.«
-
-»Nach Leipzig kommen wir auch, aber erst im Frühling,« sagte die Frau,
-und über ihr blasses Gesicht ging ein Freudenschein. Von Leipzig aus
-nach dem Thüringerwald war es schon näher, und sie sehnte sich nach der
-Heimat.
-
-»Willst en Linschen mitfohre jo--e? Dann kumm ruff,« sagte der Mann
-gutmütig in seinem Thüringerdialekt. »Es gäht uff Marienburg, jo--e, 's
-ist noch sähre weit!«
-
-Raoul überlegte nicht lange. Konnte er ein Stück mit den Leuten fahren,
-dann verwischte sich am besten seine Spur, der Oheim fand ihn, wenn er
-wirklich nach ihm suchen ließ, nicht so leicht, und er kam wohl auch
-nach Leipzig.
-
-So zog er mit den Händlersleuten. Als die sahen, daß der fremde Knabe
-etwas Geld besaß, -- es war wenig genug, -- willigten sie gern ein, ihn
-in ihrem Wagen mitzunehmen. »Dos Foahre hoaste for nischt,« sagte der
-Mann, »abersch 's Ässen mußte alleene kofen.«
-
-Brot und Wasser reichen aus, dachte Raoul, und dafür langte seine
-Barschaft schon ein Weilchen, und seine Hoffnung wuchs, das ersehnte
-Ziel zu erreichen. In den ersten Tagen der gemeinsamen Wanderschaft
-hielt sich der Knabe immer fern, wenn man in ein Dorf, an ein Gutshaus
-kam und die Händlersleute versuchten, ihren Kram loszuwerden. Als aber
-nach einigen Tagen eine kleine Stadt erreicht wurde, bot Raoul der
-Frau an, er wolle ihr verkaufen helfen. Es wurde ihm nicht leicht,
-aber er mochte auch nicht gern ganz umsonst seine Mitfahrt genießen.
-Mit einem Bündel Holzlöffeln und Quirlen, ein paar Brettern und Töpfen
-trat er seinen Weg an, und er hatte Glück: sein sanftes, feines Wesen,
-der traurige Blick seiner schönen Augen bestimmten die Hausfrauen,
-dem kleinen Händler doch etwas abzukaufen, und als Raoul zum Wagen
-zurückkehrte, hatte er ein besseres Geschäft als die Frau gemacht.
-»Dich hat der Himmel geschickt!« rief sie. »So--e Glicke! Du mußt bei
-uns bleiben, gelle Mann?«
-
-Auch der Mann freute sich über den jungen Gehilfen und teilte an diesem
-Tage seine Mahlzeit mit ihm: »Das haste verdient, und wenn de bleiben
-willst, mir is 's racht!«
-
-Und wieder überlegte Raoul nicht lange, sondern sagte zu, bis Leipzig
-die Händlersleute zu begleiten. Die erzählten ihm viel von ihrem
-Leben. Im Winter lebten sie meist eine Zeitlang in ihrem Dörfchen im
-Thüringerwald, und sonst war nur immer der Mann mit dem Beginn des
-Frühlings ausgezogen, die im Winter geschnitzte Ware zu verkaufen.
-Doch der älteste Bube, der den Vater zu begleiten pflegte, war
-krank geworden im letzten Frühling, und da hatte die Frau ihre vier
-Kinder der Sorge der Großmutter anvertraut und hatte selbst den Mann
-begleitet. Weil die Geschäfte gar so schlecht gegangen waren, -- in
-diesen Zeiten bedeutete in gar manchem Haushalt schon ein neuer Quirl
-eine Ausgabe, die man sich zehnmal überlegte, -- waren die Leute weiter
-ostwärts gezogen. Im Herbst war der Mann erkrankt, er hatte sich einen
-Fuß gebrochen, und das Ehepaar hatte eine Zeitlang in Königsberg
-bleiben müssen. Dort hatten beide die Zeit benutzt und neue Geräte
-geschnitzt, und nun zogen sie mit vollem Wagen wieder von Stadt zu
-Stadt, hoffend, endlich im Frühling heimzukommen.
-
-Die Frau sorgte sich um die Kinder, von denen sie nun fast das ganze
-Jahr getrennt gewesen war, und sie war froh, daß sie ihrem jungen
-Begleiter von ihrem Konrad, ihrer Rose, Liese und dem kleinen Peter
-erzählen konnte. Sie fragte gutmütig auch nach Raouls Leben, und der
-erzählte von der Mutter, von den Bäckersleuten, aber von Hohensteinberg
-nichts. Dahin kehrten aber seine Gedanken desto öfter zurück, und
-manchmal war's ihm, als flüstere leise, leise eine Stimme in seinem
-Herzen: Du hättest bleiben sollen.
-
-Ein langes Wandern durch deutsche Gaue, deutsche Dörfer und Städte
-war es. Die alte Stadt Marienburg war der erste Ort, wo sie länger
-rasteten. Es war gerade Markt, und Raoul suchte eifrig zu verkaufen.
-Hier hörten die Händlersleute aber auch, daß die Franzosen wirklich
-bald kommen sollten, und sie beschlossen, auf den nächsten Wegen,
-jedoch abseits von der großen Heerstraße, heimzukehren. Um Berlin
-herum wollten sie einen großen Bogen machen, sie waren von namenloser
-Furcht vor den Franzosen erfüllt. 1806 hatte der Kriegslärm bis in
-ihr einsames Walddorf hinauf geschallt, und sie erzählten Raoul beide
-allerlei aus jener Zeit, erzählten, was Verwandte unten im Saaletal
-erlebt hatten.
-
-Da sprach auch Raoul von seinem Vater, der bei Saalfeld gefallen war.
-Die Leute wunderten sich nicht, daß er ein Offizier gewesen war; sie
-hatten es bald gemerkt, daß ihr kleiner Begleiter aus gutem Hause war,
-aber sie forschten nicht weiter, sie hatten am eigenen Sorgenbündel
-genug zu tragen.
-
-Und wohin auch die Wanderer kamen, überall sprachen die Leute von der
-neuen Not, dem neuen Krieg. Denn wie die Schrecken des Krieges selbst
-sahen alle den drohenden Durchzug der Franzosen an. Das Bündnis mit
-Frankreich, das nun wirklich der König von Preußen abgeschlossen hatte,
-gab ja das arme Land dem Eroberer förmlich preis. Jammer, Angst und
-glimmenden Haß sahen die drei, wohin sie kamen, und dabei hub sachte
-ein erstes, zartes Frühlingsgrünen an, und hier und da standen schon
-Büsche mit feinen, grünen Schleiern überhangen, und manchmal pflückte
-Raoul blaue Osterblumen und Himmelsschlüssel, steckte sie an seine
-vertragene Kappe und rief wohl froh: »Hier ist es schön!«
-
-»Bei uns ist's scheener,« erwiderte immer die Frau, und der Mann nickte
-jedesmal zustimmend: »Da haste was Richtiges gesagt.«
-
-Die Leute sehnten sich immer stärker danach, heimzukommen, es wurde
-ihnen zu unsicher auf den Straßen, und der Handel wurde auch immer
-kärglicher. Die Frau steckte jedesmal ein Sträußchen vertrockneten
-Quendel zu sich, wenn sie ging, nach dem alten Spruch: »Quendel,
-Quandel, mach mir Handel,« aber es nutzte nicht viel. Raoul lachte
-zwar über den Aberglauben, aber er nahm gutwillig doch auch immer das
-Quendelsträußchen mit. Einmal verlor er es, und um die Frau nicht zu
-kränken, steckte er rasch ein paar trockene, vorjährige Grashalme vom
-Wege in das Papiertütchen. Sie rasteten gerade in einem Dorf, und
-Raoul kam zu einer Bauersfrau, der war in diesen Tagen ihre Küche
-ausgebrannt, und die Handelsleute kamen zu guter Stunde. Raoul mußte
-noch mehr Ware bringen, und als am Abend der Verdienst überzählt wurde
-und das erlöste Sümmchen ihnen allen dreien fast märchenhaft erschien,
-rief die Frau froh: »Sihst de nu -- e, Quendel, Quandel, mach mir
-Handel, jetzund hast de's erfoahren.«
-
-Über Raoul kam ein fröhlicher Übermut wie seit langem nicht, er lachte
-aus vollem Halse, und lachend gestand er der Frau, daß er den Quendel
-verloren und dürres Gras genommen habe.
-
-Aber so ein echtes Thüringer Waldfrauchen ließ nicht so rasch vom
-gewohnten Aberglauben, sie meinte nachdenklich: »Dann mag do -- e was
-Gutes drunter gewesen sein. Gib mir 's Kraut.«
-
-»Sin Faxen,« brummelte der Mann lachend, aber die Frau nahm doch das
-Grasbüschlein und verwahrte es sorgsam an ihrer Brust, man konnte doch
-nicht wissen! Am nächsten Tag ging sie dann mit sehr viel Mut aus den
-Handel und kehrte mit aller Ware heim, nur einen einzigen kleinen Quirl
-war sie los geworden. Gutmütig lachte sie dann sich selbst aus, und der
-Quendel verlor etwas sein Ansehen bei ihr.
-
-Endlich langten die drei an einem Tage, früh im April, der sich aber
-ganz wie ein schöner, sonnenheller Maitag aufspielte, in Halle an. Hier
-wollte Raoul von seinen Gefährten Abschied nehmen, die nicht erst den
-kleinen Umweg über Leipzig machen wollten. »Sie kommen, sie kommen!«
-klang überall der Angstruf, und alles zitterte und zagte vor dem
-gewaltigen Heere, das seinen Marsch durch Deutschland schon angetreten
-hatte.
-
-In einer Ausspannung am Roßmarkt, der außerhalb der Stadt lag, rasteten
-die Handelsleute. Sie wären am liebsten gleich weiter gezogen, doch das
-Pferdchen brauchte Ruhe. Raoul wollte bis zum nächsten Morgen warten
-und dann in aller Frühe seine Wanderung nach Leipzig antreten. Er lief
-rasch einmal durch die Straßen der Stadt, um das Wirtshaus zu suchen,
-in dem damals Meister Koch abgestiegen war. Vielleicht wußten die Leute
-was von ihm, der öfter hin und her fuhr, und vielleicht auch etwas von
-Käsmodels. Nun er Leipzig so nahe war, hatte ihn eine heftige Unruhe
-erfaßt, ob sie noch alle lebten, ob das Haus noch stand, und ob sie
-sich auch freuen würden, daß er so unerwartet kam.
-
-Er lief und lief, dort mußte es doch sein, nein dort! Auf einmal blieb
-er mitten auf der Straße stehen und überlegte, er wußte ja gar nicht
-mehr den Namen des Wirtshauses. Es war ein Roß, dachte er, nein, ein
-Hirsch -- und weil gerade ein Mann vorbeikam, fragte er hastig: »Ach,
-bitte, sagen Sie mir, ist hier ein goldenes Roß, nein, ein weißes Roß
--- nein, ein Schwan oder eine Gans -- nein, ich glaube, es war ein --«
-
-»Dummkopf!« schrie der Mann, »hältst mich wohl zum Narren!«
-Fuchsteufelswild drehte er sich um und rannte einem dicken Mann etwas
-unsanft gegen den Bauch, aber der schien das gar nicht zu spüren, er
-starrte nur Raoul an und rief: »Daß dich das Mäuschen beißt, das ist ja
-allweil unser Raoul!«
-
-»Herr Meister -- ich!« Mit einem Schrei hing Raoul an des dicken
-Meisters Hals, ein Tränenstrom brach aus seinen Augen, und fassungslos
-vor Freude umklammerte er den dicken Mann.
-
-Der schluckte, prustete, brummelte, wischte sich die Augen und
-schneuzte sich laut, endlich brüllte er, daß es die Straße entlang
-schallte: »Da ist er ja, der Musjeh Raoul, allweil, nee so was! Junge,
-Junge, heule doch nicht so! Du bist da und bleibst da, und alleweil
-wieder fort, das gibt's nicht. Aber jetzt sag', wie du hergekommen
-bist!«
-
-Doch Raoul konnte noch nicht sprechen, er hielt die Hand des Meisters
-so fest, als wollte ihn jemand mit Gewalt von dem Manne wieder trennen.
-»Na sachte, alleweil sachte,« brummte der, »ich nehm' dich gleich mit.
-Wärst du eine halbe Stunde später gekommen, dann hättest du laufen
-müssen. Zu uns willst du doch, oder bist du etwa auf dem Wege zu deinem
-französischen Onkel?«
-
-»Nein!« rief Raoul, und ein Lachen flog nun über sein Gesicht, und dann
-sagte er ausatmend: »Ich bin ausgerissen!«
-
-»Das wissen wir schon!« Der Meister schmunzelte so, daß sich sein
-rundes Gesicht in lauter Falten zog. »Dein Oheim hat's schon
-geschrieben, und danach tut es ihnen allen furchtbar leid. Ich habe
-geschwind geantwortet, daß ich nichts von dir wüßte, ich dachte aber
-doch, alleweil kommt er schon, wenn er noch 's Leben hat. Der Gottlieb,
-der verflixte Bengel, hat sich schon beinahe die Augen aus dem Kopf
-nach dir ausgeguckt. Daß die teuren Bücher auch zum Hineinsehen sind,
-das vergißt er alleweil. Doch nun komm, unterwegs erzählst du mir,
-warum du's mit dem Ausreißen so eilig hattest!«
-
-Jetzt erst fielen dem Knaben wieder seine Weggenossen ein, und er
-erzählte eifrig und ein bißchen kraus durcheinander, auf welche Art er
-die Reise gemacht habe, und ein paarmal nickte der Meister anerkennend
-dazu. Nach kurzem Nachdenken wurde beschlossen, den kleinen Umweg zu
-machen und an der Ausspannung vorbeizufahren, wo die Handelsleute
-weilten. Es dauerte nicht lange, da saß Raoul neben seinem Beschützer,
-und mit Hühhott ging es durch die Stadt, und die braven Thüringer
-staunten nicht wenig, wie stattlich ihr junger Genosse auf einmal
-daherkam. Der Leipziger Bürger und Meister flößte ihnen gewaltigen
-Respekt ein, und da er ihnen noch als Mitbringsel für ihre Kinder ein
-kleines Geldgeschenk gab, sagte die Frau wieder zu Raoul: »Du hast uns
-Glicke gebracht!«
-
-Es gab einen sehr herzlichen Abschied. Der Meister riet den Leuten
-dringend, möglichst schnell auf Nebenwegen in ihren Wald zurückzugehen.
-»Sie ziehen daher wie ein Heuschreckenschwarm,« sagte er finster.
-Der Händler nickte trübe: »Iche wollte meine Schecke und den Wagen
-verkaufen und zu Fuße ziehen, aber jetzund kauft das Pferd niemand; sie
-sagen alle, die Franzosen nehmen's uns vielleicht weg, jo--e es will
-jeder sein Geld im Sacke behalten.«
-
-Noch einmal rief Raoul den Genossen ein Lebewohl und gute Heimkehr zu,
-dann zog der Meister die Zügel an, und fort ging die Fahrt, auf Leipzig
-zu.
-
-Unterwegs erzählte Raoul dem Meister getreulich und ausführlich alles,
-was er erlebt hatte, er verschwieg nichts, auch nicht die erfahrene
-Güte, aber zu seiner Verwunderung schwieg der nachdenklich und sah
-sinnend auf den braunen Pferderücken vor sich, als gefiele ihm der
-ganz besonders. Da begann Raoul das Herz zu schlagen, und leise, scheu
-fragte er: »War's recht?«
-
-»Alleweil nee, mein Junge,« rief der biedere Meister. »Sie haben dir
-übel mitgespielt, aber nicht alle; weil's doch deine Frau Mutter selig
-gewollt hat, darum hättest du noch etwas aushalten, lieber mal dem
-Hochhinaus, dem Joachim, ordentlich die Jacke vollhauen sollen. Na ja,«
-beschwichtigte er, als er Raouls erschrockenen Blick sah, »du bist von
-anderer Art als wir Käsmodels, und ich glaube beinahe, darin gleichst
-du deiner Frau Mutter selig. Schlecht behandeln, nee, das ließ die sich
-nicht, lieber arbeitete sie über ihre Kräfte und hungerte dazu. Einzig
-schade ist's, daß deine Verwandten nicht deine Mutter gekannt haben,
-alleweil, das war ihr größtes Unrecht, daß sie gleich nichts Gutes
-von ihr dachten, bloß weil sie eine Französin war. Aber wie es ist, so
-ist's, ich habe deiner Frau Mutter selig gelobt, dir ein Freund zu
-bleiben, und das halte ich. Du hast ihren Willen erfüllt, bist zu den
-Verwandten gereist und bist freiwillig wiedergekommen, und nun bleibst
-du bei uns und gehst mit dem Bengel, dem Gottlieb, auch aufs Gymnasium,
-'s wird euch beiden gut sein. Uff!« Der dicke Meister atmete tief nach
-dieser langen Rede, und Raoul schmiegte sich fest an ihn an. Er fühlte
-wohl, daß sein Beschützer recht hatte, daß er zu vorschnell gewesen
-war, aber die Freude, wieder in der alten Heimat zu sein, war doch
-größer als die Reue.
-
-Die Nacht war schon heraufgekommen, als Meister Käsmodel mit seinem
-Schützling durch das Hallesche Tor in Leipzig einfuhr. Zum Ärger
-manches braven Bürgers rasselte das Wäglein laut durch die stillen,
-dunklen Gassen, und aus manchem Federbett heraus kam brummend das
-scheltende Wort: »Es ist unerhört, daß zu nachtschlafender Zeit wieder
-ein Wagen fährt. Nicht einmal in der Nacht hat man seine Ruhe.«
-
-Als die Meisterin Käsmodel aber in der Backstube das Rollen vernahm,
-horchte sie freudig auf: ihr Mann kehrte zurück, um den sie schon sehr
-gebangt hatte, denn eine Fahrt auf der Landstraße bei Dunkelheit war in
-den unruhigen Zeiten nicht ungefährlich.
-
-Sie eilte selbst, die Haustür zu öffnen, und mit einem Laternchen
-beleuchtete sie die Heimkehrenden. Es war aber gut, daß der Meister
-geschwind zusprang, sonst wäre das Laternchen hingefallen, so
-überrascht war die Frau, als sie Raoul erblickte. Sie zog den Knaben
-rasch gar liebevoll in die Arme, streichelte ihn mütterlich und sagte:
-»Nun sind's wieder drei!«
-
-»Das Lottchen,« flüsterte Raoul, er wußte nicht viel zu sagen, aber
-die Meisterin verstand ihn: »Es hat eben jeder sein Kreuz zu tragen in
-der Welt,« sagte sie sanft. »Nun komm aber hinein, Gott segne deinem
-Einzug!«
-
-»Und der Gottlieb, der Racker, schläft alleweil wie ein Bär,« rief der
-Meister. »Na, der wird morgen Augen machen. Kannst dich übrigens gleich
-in das Bett in seine Kammer legen. Der verflixte Bengel hat doch nicht
-geruht, das Bett mußte aufgestellt werden, noch an dem Tage, an dem der
-Herr Oheim geschrieben hat.«
-
-Mit strahlenden Augen sah sich Raoul in der Backstube um. Der warme,
-kräftige Brotgeruch mutete ihn so heimatlich an, und daneben in dem
-Stübchen hatte er so oft mit der Mutter gesessen, wenn es oben in der
-Mansarde kalt gewesen war, und unwillkürlich sagte er laut: »Ich bin so
-froh, so froh!«
-
-»Ist recht,« sagte der Meister, »und nun, Mutter, gib ihm mal was zu
-essen, und dann in die Federn. Den Gottlieb wecken wir heute nicht, der
-schreit uns sonst alleweil die ganze Nachbarschaft zusammen vor Freude.«
-
-Ganz still kroch Raoul dann in des Freundes Kammer in das
-bereitstehende Bett, und Gottlob pustete und schnarchte und merkte
-nicht, daß der Ersehnte heimgekommen war. Der konnte freilich trotz
-seiner Müdigkeit nicht gleich einschlafen; wie ein wunderlich wirrer
-Traum lagen die letzten Wochen hinter ihm, und in alle Freude, endlich
-am Ziel zu sein, tönten ihm aber doch immer des Meisters Worte hinein,
-daß er es noch hätte aushalten sollen. Er meinte Gottliebes helles
-Lachen zu hören, ihr liebliches Gesicht zu sehen; vielleicht weinte sie
-um ihn, und die Tante war traurig, und Pfarrer Buschmann schüttelte
-bekümmert das Haupt über den entlaufenen Schüler. Aushalten, aushalten,
-nicht heimlich davonlaufen! klang es immer in ihm. Nun werden sie dich
-feige schelten und erst recht nicht für einen echten Steinberg halten.
-Da ballte er die Hände zur Faust in seinem Bett und sagte ganz leise zu
-sich wie ein festes, schweres Gelöbnis: »Sie sollen doch noch sehen,
-daß ich ein Steinberg bin.« Und in dem Schlummer, der nun endlich
-über ihn kam, sah er plötzlich Joachim vor sich stehen, der lachte
-spöttisch: »Bist doch kein echter Steinberg!« Halbwach fuhr Raoul noch
-einmal empor und murmelte drohend: »Warte nur, ich werde dir's doch
-beweisen!« -- --
-
-Als Gottlieb Käsmodel am nächsten Morgen erwachte, reckte und dehnte er
-sich gähnend in seinem Bett herum und schaute erst die Wand an, dann
-in das Zimmer hinein. Da fuhr er plötzlich mit einem gellenden Schrei
-in seinem Bett empor. Mit einem Sprung war er drüben am andern Bett
-und zog Raoul mit einer solchen Kraft aus dem Bett, daß im nächsten
-Augenblick beide Jungen auf der Erde lagen.
-
-»Er ist da, er ist da,« brüllte Gottlieb, sprang auf, setzte über Raoul
-hinweg, riß die Türe auf und brüllte wie besessen die Treppe hinab: »Er
-ist da, er ist da, huuh, huuh!« Ein wildes, schauerliches Freudengeheul
-erfolgte, und im Nu öffneten sich Türen, man hörte ängstliche Stimmen,
-jemand schrie: »Es brennt, es brennt!« und dann klappten Schritte,
-oben, unten, überall waren die Bewohner aufgeschreckt.
-
-Raoul aber saß auf seinem Bett und lachte, lachte, und Gottlieb tanzte
-im Hemd im Zimmer herum und stieß solche Siegesschreie aus, daß selbst
-Bonaparte vor diesem Gebrüll vielleicht auf und davon gelaufen wäre.
-
-»Donnerwetter, ja!« mit diesem Ruf war Meister Käsmodel aus seinem
-süßen Morgenschlummer aufgefahren. Er wollte hinaus, aber dann besann
-er sich noch zur rechten Zeit und rief nur: »Mutter, halt doch dem
-Bengel, unserem Gottlieb, mal den Schnabel zu; der Junge bringt ja
-die Nachbarschaft in Aufregung. Nee, wenn der mal so backen kann wie
-schreien, dann wird er Obermeister oder gar Hofbäcker.«
-
-Oben legte sich schon der Lärm, denn Gottlieb war von der
-unbezwinglichen Sehnsucht erfaßt worden, des Freundes Schicksale zu
-hören, und an diesem Tage verwünschte er die Schule noch mehr als
-sonst, und nur der Gedanke vermochte ihn zu trösten, daß künftig der
-Freund mit ihm die Plage teilen würde.
-
-In der Mittagsstunde stand dann Raoul wie einst in der Burggasse,
-stand und wartete auf Karl Wagner, dessen Freude beim Anblick seines
-ehemaligen Schreibgenossen freilich nicht so laut und stürmisch war wie
-die von Gottlieb Käsmodel.
-
-Die klaren Augen ruhten aber so warm und doch so ernst fragend auf dem
-Knaben, daß der den Kopf senkte. Es war ihm, als schaute der kleine
-Schreiber ihm tief auf den Grund der Seele. »Ich bin ausgerissen,«
-sagte er leise, »es war nicht recht, ich hätte aushalten sollen,
-aber --«
-
-»Du bist froh, daß du hier bist, mein Junge. Nun, wir begehen alle
-Torheiten im Leben, und es kommen auch schon Stunden, in denen man gut
-machen und Fehler sühnen kann. Doch Gott zum Gruß, daß du wieder da
-bist, daran wollen wir uns heute freuen. Ich hab' es erwartet. Gottlieb
-hat mir erst gestern gesagt, du kämst so gewiß wie seine Vier in der
-nächsten lateinischen Arbeit!«
-
-»Das stimmt,« rief Raoul, »er hat sie heute bekommen,« und mit einem
-strahlenden Lachen sah er zu Karl Wagner auf: »Ich bin so froh, so
-froh!« --
-
-Das Bäckerhaus, das sich dem heimatlosen Knaben so bereitwillig
-geöffnet hatte, wurde ihm bald wieder eine liebe Heimat. Jetzt, da er
-freiwillig die Verwandten verlassen hatte, betrachtete ihn Meister
-Käsmodel als seinen Sohn und handelte wie ein guter, treuer Vater an
-ihm. Mit Gottlieb besuchte Raoul zusammen das Gymnasium, und mit seiner
-Hilfe umschiffte Gottlieb die Klippen der lateinischen Sprache, nahm
-sicherer die bösen Gräben der Orthographie, und schaute fortan die
-Schule nicht mehr wie einen Käfig an, in dem ein Raubtier eingesperrt
-werden soll.
-
-Raoul hatte den Adel ablegen müssen, Meister Käsmodel meinte, es
-würde zu viel Gefrage drum geben. »Bleib nur adlig im Herzen, mein
-Junge, das ist die Hauptsache. Nachher, wenn du was Rechtes geworden
-bist, allweil kannst du dich wieder mit dem alten Namen nennen.« Der
-biedere Meister fürchtete immer, Graf Turaillon könnte doch wieder dem
-Neffen nachforschen, und nach Frankreich hätte er den Pflegesohn nur
-bitter schwer ziehen lassen. Zu seiner großen Beruhigung war der lange
-Schreiber Neumann aber wirklich aus Leipzig fortgezogen, der konnte
-also Raouls Anwesenheit nicht mehr verraten.
-
-Es kam in diesem ersten Sommer aber noch einmal ein Briefchen aus
-Hohensteinberg ins Bäckerhaus, Gottliebe hatte es geschrieben. Sie
-schrieb darin, sie glaube bestimmt, daß Raoul da ist, und sie bat
-gar lieb und herzlich, der Vetter möchte zurückkehren. Da wurde dem
-Knaben das Herz doch schwer, und wenn er jetzt an alles dachte,
-was er in Hohensteinberg erlebt hatte, da fühlte er immer mehr und
-mehr, daß seine Flucht zu rasch, zu unüberlegt gewesen war. Aber
-zurückkehren wollte er doch nicht, und so schwer es ihm auch wurde,
-er ließ Gottliebes Brief unbeantwortet. Das Bäslein im fernen Osten
-weinte manche Träne darum, als der Brief, auf den sie gewartet hatte,
-ausblieb; sie hoffte und hoffte, und erst als der Winter kam, schwand
-ihre Hoffnung, und sie dachte nun auch wie die andern, Raoul sei
-untergegangen oder nach Frankreich zu seiner Mutter Bruder entwichen.
-
-[Illustration: Dekoration Ende 9. Kapitel]
-
-
-
-
-[Illustration: Dekoration Titel 10. Kapitel]
-
-
-
-
-Zehntes Kapitel.
-
-Nach langer Not zum heiligen Krieg.
-
-
-In dem Sommer von 1812 hatte in Preußen keiner die rechte Freude an
-aller Sommerlust, an Sonnenglanz, blühenden, grünenden Wiesen und
-kühlem Waldesschatten gehabt, und als sich der Winter früh meldete, da
-klagte niemand dem Sommer nach. Mit Schnee und Eis, mit frostklaren
-Tagen und Nächten kamen zugleich über die Grenze Nachrichten geflogen,
-die jedes vaterlandstreue Herz erbeben ließen. Napoleon sei geschlagen,
-raunte es erst leise, bis dann die gewisse Kunde kam von dem Untergang
-der großen Armee. Im Wintersturm flohen die letzten Reste des einst so
-glanzvollen Heeres aus dem unbesiegten Lande.
-
-Da hob ein Singen und Klingen in viel tausend deutschen Herzen an, und
-überall blühte die Hoffnung empor, daß der Freiheitskampf, nach dem
-sich alle sehnten, der sie vom Joch der Fremdherrschaft erlösen sollte,
-nun beginnen würde. Wie ein Gottesgericht erschien ihnen allen der
-furchtbare Schlag, der die übermütigen Eroberer getroffen hatte, aber
-die Freude zeigte sich nicht, als in kleineren Trupps, manchmal gar nur
-zu zweien und dreien, die letzten Überlebenden der großen Armee über
-die russische Grenze kamen. »Man muß sie vernichten,« hatte mancher
-gerufen, wenn er an die Härten des Sommers dachte, der mancher Familie
-den letzten Wohlstand geraubt hatte. Doch als die Flüchtlinge kamen,
-wahre Jammergestalten, da schwieg der Haß, und das Mitleid regte sich.
-
-Durch Hohensteinberg kam an einem der ersten Tage des Jahres auch ein
-Trupp Flüchtlinge, und Joachim in seinem überschäumenden Knabenhaß
-rief, als er von ihrem Nahen hörte: »Man darf sie nicht aufnehmen, es
-sind Feinde!«
-
-Nachher stand er neben seinem Vater auf dem Hof und sah das Trüpplein
-vor sich. Wohl fünfzehn Männer waren es; von Hunger, Kälte, dem langen
-Marsch und Krankheiten waren sie so erschöpft, daß nur ein paar noch
-klare Antwort geben konnten über ihre Schicksale, die andern starrten
-dumpf vor sich nieder, ein paar waren kraftlos in den Schnee gesunken.
-Die Knechte, Mägde, die Dorfleute, alle waren herbeigeeilt und
-umstanden in finsterem Schweigen die Unglücklichen, und der Freiherr
-fragte nach den Namen, der Herkunft. Da klang ein deutscher Name nach
-dem andern an sein Ohr: die Leute waren alle Süddeutsche, sie alle
-hatten den französischen Fahnen folgen müssen.
-
-Die Hausfrau hatte die Flüchtlinge kommen sehen. Sie hatte nicht viel
-geforscht und überlegt, nicht viel nach Namen und Art gefragt, sondern
-sie war selbst in die Küche gegangen und hatte mit Jungfer Rosalie eine
-kräftige Mehlsuppe gekocht, und bald kamen aus dem Haus die Hausfrau
-mit ihren Töchtern und Mägden, und alle trugen Töpfe voll dampfender
-Suppe und Körbe voll Brot.
-
-Ein Schreien, ein gieriges Schreien gellte auf, die erloschenen Augen
-der Flüchtlinge blitzten, zitternd streckten sie die Hände aus: Essen,
-warmes Essen nach so vielen langen, langen Tagen wieder!
-
-Die Frauen mußten mahnen: »Ihr verbrennt euch, nicht so hastig!« Doch
-die Flüchtlinge rissen ihnen die heißen Töpfe fast aus den Händen, sie
-schluchzten, schlangen, und manch einem Mann rannen die Tränen über das
-hohlwangige Gesicht. Essen, Essen, eine warme Suppe, wie wohl das tat!
-
-In tiefem Schweigen sahen die Männer und Frauen zu. Kein Schmähwort
-wurde laut, keine Hand ballte sich mehr zur Faust, vor diesem Jammer
-schwieg der Haß. Und als der Freiherr sich zu seinen Knechten wandte:
-»Räumt eine große Stube für die Leute aus, ihr könnt in den leeren
-Gastzimmern wohnen,« da boten sich eilig ein paar Bauern zur Hilfe an,
-und ein paar Frauen sagten, sie könnten wohl noch allerlei Sachen aus
-ihrem Vorrat hergeben.
-
-Schweigend folgte auch Joachim den Knechten und half räumen und
-Strohlager herrichten, und manchmal streifte sein Blick die Flüchtlinge
-voll tiefen Mitleids, die, in Lumpen gehüllt, die Beine mit alten
-Fellen und Stroh umwickelt, auf dem Kopfe wohl Frauentücher und Hauben,
-in nichts mehr den siegesfrohen Kriegern des Sommers glichen. Und alle
-waren Deutsche. Des Jünglings Herz krampfte sich zusammen, und in
-dieser Stunde begriff er völlig die Schmach seines Vaterlandes.
-
-Man hatte auf Hohensteinberg noch manchmal Gelegenheit, den
-Flüchtlingen zu helfen, und alle auf dem Schloß und im Dorfe taten es
-mit christlichem Erbarmen. Ein paar der Leute starben, andere wurden
-gesund, einige kehrten in die Heimat zurück, andere aber blieben,
-blieben, um in das preußische Heer einzutreten und für ihrer Brüder
-Freiheit zu kämpfen.
-
-Es regte sich überall. Laut sprachen die, die bisher hatten schweigen
-müssen, von dem bevorstehenden Freiheitskampf, und keinem Krieg hatte
-man in Preußen so entgegengejubelt wie diesem, den der Frühling von
-1813 bringen sollte und dessen Ausbruch man kaum erwarten konnte.
-
-An einem Märztag, an dem es schon lenzlich sproßte und Büsche und
-Bäume im jungen Safte schwollen, gab es in Hohensteinberg eine bittere
-Abschiedsstunde. Vater und Sohn zogen beide in den heiligen Kampf, und
-aus dem Dorfe folgten ihnen alle Männer, die noch die Kraft in sich
-fühlten, mitzustreiten und mitzusiegen, denn Sieg war aller Gebet und
-Hoffnung.
-
-Joachim wollte mit seinen Freunden, den Tugendbündlern, in das ganz
-aus Freiwilligen gebildete Reiterregiment, das Graf Lehndorf in
-Königsberg sammelte, eintreten. Daß nur Arnold von Berkow gerade die
-vorgeschriebenen siebzehn Jahre zählte, kümmerte sie alle nicht, sie
-hofften, niemand werde es so genau damit nehmen.
-
-Es hatte in Hohensteinberg auch niemand daran gezweifelt, daß Joachim
-mitziehen würde, und Frau Maria, die bei aller Sanftmut doch eine
-starke, tapfere Frau war, brachte ohne Klagen das schwere Opfer. Die
-Frauen des Hauses trugen in dieser Zeit eine stille, gefaßte Miene zur
-Schau, keine wollte es den Scheidenden schwer machen. Als Gottlobe
-zuerst in Strömen von Tränen Trost suchte, hatte die Großmutter sie
-in der alten herben Art, von der seit Raouls Flucht nur wenig noch
-zu spüren war, angerufen: »Schweig! Eine Steinberg heult nicht.« Da
-war Gottlobe jäh verstummt, und nur der Schwester klagte sie. »O der
-furchtbare Krieg! Wenn doch kein Krieg käme!«
-
-»Bist dumm,« erklärte Gottliebe, und in ihr weiches Gesichtchen grub
-sich die feste, harte Steinbergfalte, »ich wollte nur, ich könnte mit
-wie Joachim!« Gottlobes Entsetzen ließ die Schwester ungerührt, und es
-ahnte niemand, wie oft Gottliebe es wünschte, ein Junge zu sein.
-
-Wenige Tage vor dem Aufbruch trat sie zu dem Vater in das Zimmer. Zu
-ungewohnter Zeit und ohne Erlaubnis wagten es die Kinder selten, des
-Vaters Zimmer zu betreten, und der Freiherr, der über Büchern und
-Rechnungen saß, schaute erstaunt auf sein Mädel. »Was willst du?«
-
-»Vater!« Gottliebe preßte beide Hände an die Brust, und wie sie so vor
-dem Vater stand im schlichten, dunklen Kleid, ein weißes, feines Tuch
-um Hals und Brust geschlungen, das junge Gesicht von den blonden Locken
-umrahmt, sah sie unendlich lieblich aus, und des Vaters Augen freuten
-sich an der jungen Schönheit seines Kindes. »Nun,« fragte er noch
-einmal freundlich, als Gottliebe stockte, »was will mein Mariellchen?«
-
-»Vater -- ich --« Purpurglut lief über das Gesichtchen, »ich -- will
-mich als Achims Bruder verkleiden, weißt du, als ob ich sein Bruder
-wäre und nicht seine Schwester, und mitziehen in den Krieg. Ich kann's,
-Vater, gewiß! Bitte, bitte, lachen Sie nicht, ich habe die Kraft und
--- ich schäme mich, daß ich nichts, gar nichts für mein Vaterland tun
-kann, nur ein Mädchen bin.«
-
-»Nur ein Mädchen!« Der Freiherr zog sein Kind an sich. »Meine Liebe,
-mein tapferes Kind, was sagst du da? Nur ein Mädchen -- ist es denn
-nicht etwas Schönes, ein Mädchen zu sein, eine Frau zu werden, zu
-sorgen und zu schaffen für der anderen Wohl? Ei, Liebe, was sollten wir
-Männer tun, wenn wir in den Krieg ziehen müssen und daheim nicht unsere
-Mütter, Frauen und Schwestern unsere Arbeit täten?«
-
-»Es ist so wenig,« flüsterte Gottliebe, »es sind -- keine großen
-Taten.«
-
-Ein ernstes Lächeln glitt über des Freiherrn Gesicht. »Keine großen
-Taten? Du Kind du! Auch wir, die wir in den Kampf ziehen, wissen nicht,
-ob uns das Schicksal für große Taten bestimmt hat. Es wird mancher
-an einem Zaun verbluten und sein Leben lassen, der ein Held war, und
-dessen Name nie jemand nennt. Sieh hinaus, meine Mariell, dort grünen
-die Saaten, dort wächst die Ernte des Jahres heran, und es würde
-schlimm darum bestellt sein, wenn die Frauen nicht den goldenen Segen
-hüten wollten, und unsere Ställe und Kornkammern würden leer sein ohne
-der Frauen Arbeit, und wer diese Arbeit leistet, der tut auch etwas für
-sein Vaterland. Ich ziehe fort und Joachim, und wir wissen nicht, wann
-wir wiederkehren, und ob wir noch einmal die Heimat sehen. Da lege ich
-denn auf deine Schultern einen Teil meiner Sorge und Last: du sollst
-deiner Mutter ein Segen, ein Trost sein, ihre Helferin in den Tagen der
-Mühe, die kommen werden. Es wird dir wenig Zeit für heitere Jugendlust
-bleiben, aber ich weiß, daß du treu an deiner Stelle stehen wirst,
-und an der Liebe für die Deinen, für das Vaterland wird deine Kraft,
-dein Wille erstarken. Gott hat jeden an seinen Platz gestellt, und es
-braucht keiner zu sagen: Ich bin nur dies, nur das! der seine Pflichten
-in Treue erfüllt. Die Frauen unseres Geschlechts waren immer tapfer und
-treu und verloren nicht ihren Mut in den Zeiten der Not. Sei auch du
-eine Steinberg, mein Kind, und draußen im Wirrsal des Krieges will ich
-froh denken: Meine Liebe schafft daheim, meine Tochter. Gott sei Dank,
-daß mir der Himmel zum Sohne auch Töchter gab!«
-
-Gottliebe schmiegte sich bebend an den Vater an, sie fand keine Worte.
-Erst als der Vater sie prüfend anschauend fragte: »Willst du noch
-verkleidet mitziehen, und bist du nun noch traurig, nur ein Mädchen
-zu sein, meine kleine Tugendbündlerin?« da sagte sie leise, mit einem
-feierlichen, frommen Klang in der jungen Stimme: »Ich will daheim
-bleiben!«
-
-Es wurde nicht viel geweint und keine Klagen ertönten, als ein paar
-Tage später die freiwilligen Kämpfer Abschied nahmen. Alle waren
-ernst und gefaßt, selbst die weichmütige Gottlobe versuchte, tapfer
-ihre Tränen zurückzudrängen; Gottliebe aber stand dabei mit einem so
-ernsten, reifen Ausdruck in dem Gesicht, daß der Vater diese Tochter
-noch einmal mit besonderer Liebe umfaßte. »Ich weiß, daß ich mich auf
-dich verlassen kann, mein Mädel,« sagte er ernst.
-
-Und die Zurückgebliebenen nahmen tapfer und willig die vermehrte
-Arbeitslast auf sich, und so emsig auch jeder schaffte, sie staunten
-in Hohensteinberg doch alle über Gottliebe. Mit einem Ernst, der ihre
-Jahre weit überragte, suchte sie sich selbst ihre Arbeit. Pfarrer
-Buschmann willigte ein, daß vorläufig die Stunden ausgesetzt wurden,
-und Gottliebe packte die Bücher fort, die sie so liebte; auch für
-heitere Mädchenlust und zärtliche Freundschaftsbriefe fand sie
-keine Zeit mehr. Schon nach etlichen Wochen nannte Frau Maria ihre
-älteste Tochter ihren kleinen Minister, und Jungfer Rosalie wollte
-fast eifersüchtig werden, aber die Freude über des jungen Mädchens
-ernsten Fleiß war größer als das kleinliche Gefühl der Eifersucht.
-Die weichere, schwärmerische Gottlobe ließ sich von der Schwester
-fortreißen, aber wenn Liebe schon vor Tau und Tag aufstand, um
-auf dem Hof nach dem Rechten zu sehen, dehnte sie sich doch noch
-oft im Schlafe, und sie konnte auch das Seufzen und Klagen nicht
-ganz unterlassen; trotzdem wurde sie in dieser Zeit doch auch ein
-tüchtiges, pflichtgetreues Mädchen, eine rechte Tugendbündlerin, wie es
-die Schwester nannte. --
-
-Und es wurde manche in dieser harten, schweren Zeit zur Heldin, manche
-Frau lernte das tapfere Aushalten, und für manches Mädchen gingen
-Jugendlust und Freude unter in dem ernsten Alltag. Das Gefühl, in einer
-großen, gewaltigen Zeit zu stehen, befreite viele von kleinlichem
-Kummer, kleinen Fehlern, kleinen Gedanken.
-
-Eine große, eine wunderbare Zeit war es. Als Herr von Steinberg mit
-seinem Sohne, Freunden und Heimatgenossen nach Königsberg zog, da
-hatte der König von Preußen sein Volk noch gar nicht gerufen, aber
-doch strömten von überall her die Freiwilligen zu den Fahnen. Das Volk
-selbst forderte den heiligen Krieg, es forderte ihn so einmütig, mit
-solcher Opferwilligkeit, daß die meisten fühlten, nur Sieg oder ein
-völliger Untergang konnte das Ende sein. In Ostpreußen aber fühlte man
-es vielleicht am tiefsten, daß das herrliche, tapfere Preußenvolk nicht
-untergehen konnte.
-
-Aber auch aus den andern Ländern deutscher Zunge außerhalb Preußens
-strömte die Jugend herbei, um dem Bruderlande zu helfen. Da litt
-mancher schwer, weil das engere Vaterland sich noch zu Frankreichs
-Bundesgenossen rechnete, und mancher kehrte dem kleinen Vaterland den
-Rücken und eilte über die Grenze nach Breslau, wo König Friedrich
-Wilhelm weilte, um unter dem preußischen Adler zu fechten. Sie fühlten,
-daß es diesmal für Preußen kämpfen für die deutsche Sache überhaupt
-kämpfen hieß.
-
- * * * * *
-
-Raoul von Steinberg träumte mit seinem Freunde Gottlieb auch viel von
-Kampf und Sieg, und in dem Ofenwinkel schmiedeten die zwei in den
-ersten Monaten des Jahres 1813 manchen kühnen Plan. Meister Käsmodel
-sagte nichts dagegen, wenn die Jungen laut von Kampf und Sieg sprachen;
-er war auch einer von denen, die voll Hoffnung auf den kommenden Sieg
-sahen, auch ihn bedrückte schwer die Schmach der deutschen Uneinigkeit,
-und er sagte manchmal: »Es ist wider die Natur, daß wir Sachsen
-Bonapartes Bundesgenossen sind. Herrgott, ich wollte, wir alle, die wir
-deutsch sprechen, hätten einen Kaiser, es wäre ein Reich.«
-
-Das milde Klima des Pleißentales hatte in Leipzig schon im Februar hier
-und dort grüne Spitzen hervorgebracht, und es gab schon frühlingswarme
-Tage. Statt Schnee rann wohl auch der Regen in Strömen vom Himmel
-herunter, und an einem solchen platschenden, warmen Regentag kamen
-Raoul und Gottlieb mit einer solchen Eile, mit so viel Geschrei aus der
-Schule heim, daß ihr Rufen selbst das kleine blonde Minchen aus dem
-Puppenwinkel hervorlockte. Die Meisterin ließ den Kochherd im Stich,
-und der Meister kam mehlbestaubt aus der Backstube herbei. »Alleweil
-jetzt möcht' ich wissen, was das Geschrei soll, Bengels! Nächstens
-fällt noch unser guter, dicker Thomasturm um von eurem Geschrei.«
-
-»Sie ziehen nach Breslau,« schrie Gottlieb und fuchtelte mit den Armen
-in der Luft herum, »und wir woll'n mit.«
-
-»Wer -- was zieht nach Breslau? Junge, rede doch vernünftig!« brummte
-der Meister.
-
-»Die Hallenser Studenten ziehen nach Breslau, um dort als Soldaten
-einzutreten,« sagte Raoul heiß und erregt. »Sie sagen alle, dort würden
-neue Regimenter gebildet, und der Herr Konrektor hat's selbst erzählt,
-in einigen Tagen schon reisen die Studenten ab, sein Neffe ist auch
-dabei, und da -- da -- wollen wir mit.«
-
-»Seid doch keine Studenten,« rief die Meisterin ärgerlich, die um
-ihren Sohn bangte, -- »euch nehmen sie ja gar nicht, und die Studenten
-möchten sich schön umschauen, wenn so'n paar Dreikäsehochs mitwollten.«
-
-»Hoho,« schrie Gottlieb empört, »wir sind fünfzehn Jahre, 'n paar Tage
-fehlen mir nur noch, sie nehmen uns schon.«
-
-»Sie nehmen euch nicht! Mann, rede du doch etwas!« Die Meisterin sah
-bittend zu ihrem Manne hin. Sagte der denn kein Wort, redete der nicht
-den Buben den Unsinn aus?
-
-Doch der Meister schwieg. Er sah von einem zum andern, und das Herz tat
-ihm weh, daß er die beiden Jungens aus dem Hause lassen sollte, aber --
-er selbst hätte es wohl verlangt, wenn er in ihrem Alter gewesen wäre,
-er verstand, daß die Jugend vor Kampfeslust glühte. »Du bist unser
-Einziger,« sagte er zögernd, »da ist's wohl allweil besser --«
-
-»Das sagt Raoul auch,« schrie Gottlieb, und sein Gesicht flammte, »aber
-ich bleib' nicht hinterm Ofen sitzen, ich schäm' mich halbtot.«
-
-»Mein Himmel,« stammelte die Meisterin entsetzt, »der Junge ist
-ja außer Rand und Band und soll nun mal ein richtiger, gesetzter
-Bäckermeister werden! Mann, schaff Ordnung!«
-
-Doch dem Meister gelang es nicht, Ordnung nach dem Sinne des zagenden,
-sorgenden Mutterherzens zu schaffen. Er redete den Knaben gütlich und
-ernst zu, aber Gottlieb merkte wohl das heimliche Zögern des Vaters,
-und daß der im Herzen ihm recht gab, und er bat, flehte, trotzte auf,
-und im Bäckerhaus gab es ein paar stürmische, tränenvolle Tage. Die
-Meisterin wollte und wollte nicht einsehen, daß gerade sie ihren Sohn
-ziehen lassen müßte, und dabei schaute sie doch immer mit heimlichem
-Stolz auf Gottlieb. Es war, als wüchse der in diesen Tagen; er streifte
-viel Kindisches, Törichtes von sich ab, sein heißes Wollen, die
-brennende Sehnsucht, die in ihm gärte, reifte ihn, und endlich gab die
-Mutter nach und fügte sich mit blutendem Herzen darein, den Sohn ziehen
-zu lassen. Um des Vaters Einwilligung brauchte Gottlieb nicht zu ringen.
-
-»Wartet es doch wenigstens ab, bis man wirklich weiß, ob es losgeht,«
-bat die Meisterin, der jeder Tag Aufschub ein Geschenk schien; aber
-dann brachte Meister Koch eines Tages die Nachricht, daß die Hallenser
-Studenten wirklich nach Breslau zu ziehen gedächten. Da gab es kein
-Halten mehr. Gottlieb und Raoul eilten zu ihrem Konrektor und erbaten
-sich einen Empfehlungsbrief an dessen Neffen, und der redete nichts
-dagegen, sondern gab ihnen das Schreiben. Beim Abschied sagte er dann:
-»Ich glaube, Gottlieb, du wirst ein besserer Soldat als Lateiner
-werden, trotz deiner Jugend. Nun, Gott befohlen, ihr Jungen! Es wird
-eine heiße Zeit werden, und ich wollte, ich könnte euch erst wieder
-auf der Schulbank sehen, dann freute ich mich wohl selbst an deinem
-Fehlergewimmel, Gottlieb!«
-
-Auch Meister Käsmodel hatte sich ein paar Empfehlungsschreiben
-verschafft, und so fuhr er selbst eines Morgens die beiden Knaben
-heimlich nach Halle. Es schien ihm gut und vernünftig, wenn die beiden
-sich den Hallenser Studenten anschlossen. Das war eine bitterschwere
-Abschiedsstunde in der kleinen Ladenstube. Die Meisterin hielt ihr
-Minchen an der Hand und schluchzte herzbrechend: »Nun bleibt mir nur
-das eine von meinen Kindern.«
-
-»Ich komme wieder, Mutter, haben Sie keine Sorge,« flüsterte
-Gottlieb, dem nun doch der Abschied so schwer wurde, daß er die Zähne
-zusammenbeißen mußte, um nicht laut zu heulen. Er starrte immer
-geradeaus an der Mutter vorbei. Da lagen die Brote auf dem Schrank,
-eins, zwei, drei, vier, fünf, zählte er in Gedanken, eins, zwei, drei,
-vier -- er schluchzte auf und rannte plötzlich hinaus und kletterte auf
-den Wagen. Herrgott, das hätte er nicht gedacht, daß ein Abschied eine
-so schlimme Sache war!
-
-Raoul war gefaßter, doch als er des Freundes Kampf, der Mutter
-Jammer sah, dachte er an die bitteren Abschiedsstunden, die er schon
-durchlitten hatte. »Frau Meisterin,« sagte er rasch und faßte die Hand
-der Frau, »ich halt' zu Gottlieb, wie's auch kommt!«
-
-Da war's, als glitte ein schwaches Leuchten über das vergrämte Gesicht
-der guten Frau, und sie strich über des Knaben Haupt. »'s ist mir ein
-rechter Trost, daß du dabei bist,« murmelte sie. »Fahrt mit Gott!«
-
-Ein letztes Winken und Grüßen, und wie damals, als er nach
-Hohensteinberg gefahren war, rasselte das Wäglein die Straße entlang,
-und Raoul warf einen letzten Blick auf das spitzgieblige Haus; nun eine
-Biegung, es war nicht mehr zu sehen. Gottlieb schaute sich nicht einmal
-um; er saß ganz zusammengekauert da, und erst als Leipzig weit, weit
-hinter ihm lag, richtete er sich auf und fragte ein wenig unsicher:
-»Glaubst du, Raoul, daß uns die Studenten auch mitnehmen?«
-
-»Freilich,« antwortete der Freund sorglos, und auch der Meister meinte
-gewichtig: »Warum denn nicht? Ich habe gute Empfehlungsschreiben.«
-
-[Illustration: Die Steinbergs. (Seite 153.)]
-
-Es gab auf dem Marktplatz zu Halle aber ein lautes Hallo und Geschrei,
-als der Leipziger Bäckermeister auf ein dort versammeltes Häuflein
-Studenten zutrat und sein Anliegen vorbrachte. »Sind wir Kindermuhmen,
-sind wir Magister, die kleine Buben in Zucht und Lehre nehmen?« schrie
-ein baumlanger Kerl in Samtrock, der aus einer Pfeife rauchte, die
-beinahe so lang wie Meister Käsmodel selbst war.
-
-»Euer Brot ist noch zu frischgebacken, wohllöblicher Bäckermeister,«
-spottete ein anderer und schaute lachend auf Gottlieb. Und ein dritter
-höhnte: »Schick den Backofen mit auf die Reise, damit die Büblein es
-gut warm haben.«
-
-Heisa, da fuhr der Meister aus! Sein Gesicht glühte ihm wie ein
-gutgeheizter Backofen selbst, und seine Stimme dröhnte laut über die
-anderen hinweg. »Was schert es euch, ihr Herren, wenn den Buben ein
-paar Jährlein fehlen? Seid ihr der König von Preußen selbst? Sollte
-meinen, lang ist das allweil noch nicht her, als ihr selbst die
-Schulbänke drücktet! Nennt ihr das Vaterlandsliebe, aus langen Pfeifen
-schmauchen, in Samtkitteln einherlaufen und über ehrsame Bürgersleute
-spotten? Ein Paar junge Arme sind viel wert in dieser Zeit, und mein
-Gottlieb tut seine Sache vielleicht besser als so ein Bücherschnüffel,
-und mein Pflegesohn da, -- dem sein Vater selig, der ist bei Saalfeld
-gefallen, und sein Sohn wird ihm Ehre machen. Gehabt euch wohl, ich
-meinte, in der Zeit müßte einer wie'n Bruder zum andern stehen, aber
-mir scheint, ihr zieht auf den Tanzsaal mit Lust und Übermut und
-allweil nicht in den heiligen Krieg fürs Vaterland.«
-
-Der dicke Meister wischte sich danach den Schweiß von der Stirn, die
-Rede war kein leichtes Stück gewesen, aber sie hatte eine gute Wirkung
-getan. Die Studenten sahen einander betroffen an, dann trat einer vor
-und sagte höflich: »Nichts für ungut, so arg war's nicht gemeint, und
-wenn der Herr Meister uns die Söhne anvertrauen will, ich will sie wohl
-mitnehmen.«
-
-Die andern fielen ein, so sei es recht, und nach ein paar Minuten
-war der Friede geschlossen, und es wurde abgemacht, daß Raoul und
-Gottlieb mit ungefähr zwanzig Studenten am nächsten Morgen die Fahrt
-nach Breslau antreten sollten. Mit festem Handschlag wurde brüderliche
-Treue gelobt, und Gottlieb, der schlechte Lateiner, der unerbittliche
-Feind aller Grammatik und Orthographie, hatte in dieser Minute beinahe
-Respekt vor sich selbst, vor diesem Gottlieb Käsmodel, der ein Genosse
-der Studenten geworden war. »Raoul,« flüsterte er, »von der Schule aus
-brächte ich's nie so weit, wenn -- die nur nicht lateinisch reden.«
-
-Aber daran dachten die Musensöhne nicht, sie redeten ein kräftiges,
-kernfestes Deutsch in dieser Zeit, und es zeigte sich bald, daß sie
-wirklich mit heiligem Ernst in den Krieg zogen. Der Meister wurde rasch
-gut Freund mit ihnen, und etliche versprachen ihm: »Wenn wir nach
-Frankreich marschieren und durch Leipzig kommen, dann vergessen wir es
-nicht, Meister, bei Ihnen Einkehr zu halten.«
-
-»Das ist ein Wort,« rief der Meister, »aber so weit sind wir allweil
-noch nicht, und ehe ihr den Musjeh Bonaparte in seinem Frankreich
-selbst aufsuchen könnt, mag noch viel Wasser die Berge herabrennen.«
-
-Mit schmetterndem Gesang ging es am nächsten Morgen frohgemut mit
-der Extrapost zur Stadt hinaus. Meister Käsmodel sah das Trüpplein
-davonfahren, und er lüftete ehrerbietig seine Kappe, als es stolz und
-froh in den kühlen Vorfrühlingsmorgen hinausschallte:
-
- »Eine Ernte ist getreten
- Von dem Feinde in den Kot,
- Eh' ihn unsre Schwerter mähten,
- Doch wir wuchsen auch in Not.
- Eine Saat ist aufgestiegen,
- Drachenzähne setzt die Brut;
- Mag es brechen, will's nicht biegen,
- Jugend hat ein heißes Blut.« --
-
-Schon von Mitte Februar an zogen in Breslau die ersten freiwilligen
-Kämpfer ein, und als nach einer Fahrt, mit mancherlei List und
-Vorsicht, denn noch gab es überall französische Besatzungen, die
-Hallenser mit Raoul und Gottlieb an einem Märztage ihr Ziel erreichten,
-da herrschte auf den engen Straßen schon ein ungewöhnliches Leben.
-In Scharen kamen die Freiwilligen an, jeder hatte sich ausstaffiert,
-wie es gerade ging, und manch einer trug noch einen alten Säbel,
-den sein Vorfahre schon unter des großen Fritzen siegreichen Fahnen
-geschwungen hatte. Die Uniformen waren wunderlich zusammengestoppelt:
-ein bunter Kragen auf dem Alltagsrock -- das war manchmal das einzige
-Zeichen, welchem Regiment einer zugehörte. Auch Gottlieb und Raoul
-waren noch nicht ausgerüstet, sie liefen in ihren Schulkleidern mit,
-als die Studenten sich einschreiben ließen. In dem großen Saal, in der
-Menschenmasse, den vielen höheren Offizieren gegenüber wurde es den
-Buben dann seltsam beklommen zumute. »Sie nehmen uns nicht,« flüsterte
-Gottlieb entmutigt, aber Raoul beharrte: »Sie müssen uns nehmen, ich
-muß mitziehen.«
-
-In einer Ecke des großen Saales standen einige ältere Offiziere
-zusammen in eifrigem Gespräch. Ein hochgewachsener Mann in der Uniform
-der preußischen Landwehr erzählte lebhaft, wie es droben in Ostpreußen
-aussehe, und die andern lauschten aufmerksam seinen Schilderungen. Nur
-manchmal warf einer einen Blick auf die Schar der eben angekommenen
-Freiwilligen, von denen einer nach dem andern vortrat und seinen Namen
-und Stand nannte. Doch plötzlich horchten alle auf, das Stimmengewirr
-hatte sich jäh gelegt, und in die Stille hinein gellte eine helle
-Knabenstimme: »Ich muß mit, ich muß mit! Nehmen Sie mich doch, ich bin
-stark genug! Ich heiße Steinberg, und mein Vater fiel bei Saalfeld.«
-
-»Steinberg, hören Sie, da ist einer Ihres Namens,« wandte sich ein
-General an den stattlichen Mann in preußischer Landwehruniform, und der
-drehte sich blitzschnell um. »Ein Steinberg, wo?« Da traf sein Blick
-Raoul, der blaß, hochaufgerichtet vor dem Tisch stand, auf dem die
-Listen der Eingeschriebenen lagen. Senkrecht grub sich in die Stirn des
-Knaben die tiefe Falte, und seine Augen sprühten und blitzten, eine
-so feste Entschlossenheit lag in dem jungen Gesicht, daß der General
-unwillkürlich sagte: »Donnerwetter, um den wär's schade!«
-
-»Raoul!« Der Freiherr von Steinberg war rasch vorgetreten, da stand er,
-der verlorene Neffe, der Knabe, der so eigenmächtig sein Schicksal in
-die Hand genommen hatte. »Raoul, du hier?«
-
-O diese Stimme! Raoul wandte sich jäh um und stand nun seinem Oheim
-Auge in Auge gegenüber. Eine tiefe Glut überflog sein Gesicht, aber
-seine Augen hielten doch den Blick des Oheims aus, und dem war es,
-als schaute er durch diese dunklen, ernsten Augen hindurch auf einen
-lichten, reinen Grund. Er legte seine Hand auf des Knaben Haupt: »Was
-ist's denn mit dir?«
-
-»Ich bin zu jung, Gottlieb und ich sind zu jung,« rief Raoul, der jetzt
-nur an die Gegenwart dachte, rasch des Freundes Hand ergreifend, der
-einen Schritt hinter ihm stand.
-
-»Zu jung, zu jung! Erst fünfzehn Jahre. Siebzehn müssen es sein,« sagte
-der Protokollführer und wiegte bedauernd den Kopf.
-
-»Tretet zurück,« sagte Herr von Steinberg, »ich werde sehen, was sich
-tun läßt,« und ohne ein Wort weiter zu sagen, schob er Raoul vor sich
-her, stellte ihn vor den General hin und sagte: »Mein Neffe, der Sohn
-meines Bruders, der bei Saalfeld fiel, und noch ein Steinberg, der mit
-will. Mein Sohn, der auch noch nicht seine siebzehn hat, zieht auch
-mit. Ein Steinberg kann nicht daheim bleiben in dieser Zeit.«
-
-Der General musterte Raoul von Kopf bis zu Füßen. »Ein wackerer
-Bursche,« sagte er anerkennend, »und ein Steinberg, das ist ein guter
-Empfehlungsbrief. Ich denke, wir können hier auch über die fünfzehn
-hinwegkommen. Aber was ist der andere?«
-
-»Mein Freund Gottlieb Käsmodel aus Leipzig,« sagte Raoul, denn Gottlieb
-war ganz verstummt. »Wir sind zusammen gekommen.«
-
-»Auch nicht älter?«
-
-»Nein!«
-
-»Na, dann muß der schon heimziehen, nur Jungen können wir doch nicht
-gebrauchen. Ist er ein einziger Sohn? Was ist sein Vater?«
-
-»Ja, sein Vater ist Bäckermeister in Leipzig.«
-
-»Ein gutes Gewerbe! Zieh heim, mein Sohn, und hilf dem Vater
-ordentlich,« sagte der General freundlich.
-
-Raoul atmete tief auf, dann trat er einen Schritt vor, und seine
-dunklen Augen unverwandt auf den General gerichtet, rief er: »Wir
-müssen beide mit. Der Gottlieb ist mein Freund, ich hab's ihm gelobt,
-zusammen oder -- nicht.« Seine Stimme schwankte. »Er hat noch mehr
-Kräfte als ich, wir halten's beide ganz bestimmt gut aus!«
-
-Nun irrte sein flehender Blick zu seinem Oheim hin, und dessen Herz
-schlug.
-
-So war seines Bruders Sohn, so treu, so tapfer! Er trat an den General
-heran und erzählte ihm leise kurz des Neffen Geschichte, und immer
-wohlwollender ruhten die hellen Reiteraugen des Generals auf den
-beiden Knaben. »Uns wird's nicht fehlen, Kameraden,« sagte er zu
-den umstehenden Offizieren, »wenn solche Jugend für des Vaterlandes
-Freiheit ficht. Tretet jetzt zurück und wartet draußen, ihr beiden, ich
-werde an eure Sache denken.«
-
-Und nebeneinander, Raoul größer, schlanker, Gottlieb kleiner und
-untersetzter, mit brennenden Wangen und strahlenden Augen gingen beide
-durch den Saal und harrten dann vor der Türe in Zuversicht, daß sich
-ihr Schicksal entscheiden werde. »Der Oheim zürnt nicht,« sagte Raoul
-leise, froh.
-
-»Jetzt begreif' ich's allweil nicht,« flüsterte Gottlieb, des Vaters
-Lieblingswort unwillkürlich gebrauchend, »warum du da ausgerissen bist.
-Aber gut war's, denn ohne dich schickten sie mich heim.«
-
-Sie saßen beide auf einem Holzbänkchen im Winkel, und es dauerte lange,
-ehe der Freiherr herauskam. »Das ist er,« flüsterte Raoul und schnellte
-in die Höhe, und kerzengerade, viel größer geworden in dem einen Jahr
-der Trennung, stand er vor seinem Oheim. »Junge, Junge,« rief der mit
-bewegter Stimme, »weißt du denn nicht, welche Sorge du uns gemacht
-hast? Ahnst du nicht, wie wir uns gegrämt haben um dich?«
-
-»Es war eine Dummheit,« bekannte Raoul offenherzig, »es war unrecht.«
-
-Da zog der Mann ihn an seine Brust. »Sieh von jetzt ab deinen Vater in
-mir, und wenn wir heimkehren, dann soll dir Hohensteinberg wirklich
-eine Heimat sein!«
-
-Raoul drückte nur fest des Oheims Hand, er konnte nicht sprechen, und
-Gottlieb zog ein Gesicht, als wäre er dabei, eine Literflasche voll
-Essig auszutrinken. Da wandte sich der Freiherr zu ihm: »Du bist also
-der Gottlieb, von dem meine Mariell, deine Namensschwester, mir so viel
-erzählt hat! Schau nicht so finster drein, ich will dir den Freund
-nicht nehmen, so gute Freundschaft hält, meine ich, das ganze Leben.
-Gib mir die Hand, Gottlieb, auf gute Freundschaft auch zwischen uns
-zweien. Deinen Eltern und dir bin ich viel Dank schuldig für das, was
-ihr an meines Bruders Sohn getan habt!«
-
-Gottlieb war puterrot geworden. Er hätte gern etwas recht Kluges,
-Feierliches gesagt, aber eine große Verlegenheit schnürte ihm fast
-die Kehle zusammen. Er trat von einem Bein auf das andere und platzte
-endlich heraus: »Raoul, warst du'n Esel! Vor so'nem Oheim wär' ich doch
-nicht davongelaufen!«
-
-Der Freiherr lachte, daß ihm die Tränen über die Backen liefen, und
-herzhaft schüttelte er immer wieder die feste Bubenhand. »Du bist ein
-Prachtkerl, Junge!« sagte er. »Nun aber kommt noch hinein, es ist mir
-gelungen, eure Aufnahme durchzusetzen, da es euer Wille ist und deine
-Eltern, Gottlieb, doch einverstanden sind?«
-
-»Freilich,« rief der und gab Raoul einen Puff. »Erzähl, wie's war!«
-Und Raoul erzählte dem Oheim kurz, wie sie hergekommen waren, und daß
-Meister Käsmodel sie selbst nach Halle gebracht hatte.
-
-»Na, dann kommt!« sagte der Freiherr und betrat mit den beiden nochmals
-den Saal. Sie wurden eingeschrieben, und mancher wohlwollende Blick
-traf die beiden Jungen, und mancher dachte auch wie Herr von Steinberg:
-»Wie wird ihr Schicksal sein? Werden sie heimkommen aus diesem harten
-Kampf, der vor uns steht?«
-
-Am nächsten Tage schon trennte die Unruhe der Zeit den Freiherrn von
-den beiden Knaben: er mußte nach Ostpreußen zurück, die Jungen aber
-blieben in Breslau. Es war ein kurzer Abschied. Auf Wiedersehen riefen
-die Knaben hoffnungsfroh, aber der besonnene Mann setzte ernst hinzu:
-»Gott gebe es uns, daß wir uns als Sieger wiedersehen.«
-
-[Illustration: Dekoration Ende 10. Kapitel]
-
-
-
-
-[Illustration: Dekoration Titel 11. Kapitel]
-
-
-
-
-Elftes Kapitel.
-
-Fürs Vaterland war es auch.
-
-
-Der Sturm, der am Ende des Jahres 1812 durch Deutschland zu brausen
-begann, wurde stärker, sein Tosen gellte lauter und lauter, und immer
-höher schlugen die Flammen der Begeisterung. Als am 17. März König
-Friedrich Wilhelms »Aufruf an mein Volk« erschien, da strömten die
-Freiwilligen in immer größeren Scharen dem preußischen Adler zu, und
-es gab wohl kaum eine Familie, die nicht an Blut und Gut ihr Opfer dem
-Vaterland darbrachte. Und ein hartes, schweres Ringen um die Freiheit
-hub an. Die Völker vereinten sich, um Napoleons Joch abzuschütteln,
-doch der hatte nach der russischen Niederlage rasch neue Kräfte
-gesammelt. Ihn kümmerte es wenig, daß Frankreich selbst kriegsmüde und
-tief erschöpft war, er wollte nur seinen maßlosen Ehrgeiz befriedigen.
-Überall ließ er neue Soldaten ausheben, blutjunge Burschen mußten
-eintreten, und viele, viele Deutsche wurden wieder zum Kampf gegen
-die deutschen Brüder gezwungen. Das unglückliche Sachsen wurde zum
-Schauplatz des Krieges, sein König mußte Napoleons Bundesgenosse
-bleiben, der in Dresden residierte. Das Volk mußte namenlose Opfer
-aufbringen, das Landvolk namentlich war ganz der Willkür der Franzosen
-preisgegeben, und in Dresden und Leipzig lagen nach den Schlachten bei
-Großgörschen und Bautzen Tausende von Verwundeten. Die Lebensmittel
-wurden immer knapper, immer teurer, und in vielen Häusern, in denen
-einst blühender Wohlstand geherrscht hatte, war bittere Not eingekehrt.
-
-Auch in dem Hause Meister Käsmodels sah es trübselig genug aus, und
-der Meister sagte manchmal: »Es ist keine Freude, Bäcker zu sein, wenn
-das Brot so sündhaft teuer ist.« Die Meisterin ging still und bedrückt
-einher. Sie zagte und bangte um den fernen Sohn. »Er steht bei den
-Feinden,« klagte sie oft.
-
-»Er kämpft für die gerechte Sache,« sagte der Mann dagegen. Dieser
-einfache, schlichte Mann erkannte in dieser Zeit klarer als mancher
-gelehrte Würdenträger, wo das Heil für Deutschland lag, und so
-sorgenbeschwert ihm auch das Herz war, er hoffte doch unverzagt und
-gläubig, daß es den Verbündeten gelingen würde, das Land von der
-Fremdherrschaft zu erlösen.
-
-Freilich der Sommer 1813 ging ins Land und wandelte sich zum Herbst,
-und noch immer schwankte die Wage hin und her. In einem langen
-Waffenstillstand suchte Napoleon von Dresden aus sein Heer zum
-entscheidenden Kampfe zu rüsten, aber seine Gegner waren in dieser
-Zeit nicht müßig gewesen: dem russisch preußischen Bündnis hatten sich
-Österreich und Schweden zugesellt. England gab Gelder her, und als
-sich im Oktober auf den weiten Ebenen um Leipzig herum die Völker zur
-entscheidenden Schlacht sammelten, da beseelte eine stolze Zuversicht
-die Führer der verbündeten Armeen.
-
-Im grauen, feinen Regendunst sah Gottlieb Käsmodel seine Vaterstadt am
-Morgen des 16. Oktober zum erstenmal wieder. Als Feind stand er draußen
-vor den Toren, und wie er, so fragten sich zitternd die Bewohner der
-bedrohten Stadt: »Was wird unser Schicksal sein?«
-
-Nebeneinander standen die Freunde an diesem Morgen. Der Frühling und
-Sommer dieses harten Jahres hatte in ihre jungen Gesichter tiefe Spuren
-gegraben, sie hatten im Schlachtenlärm gestanden, hatten Kameraden
-fallen sehen, hatten allen Jammer des Kriegs erlebt. Das hatte Gottlieb
-Käsmodels Knabenübermut gedämpft und Raoul noch stiller und ernster
-gemacht. »Wenn's zu einem Sturm auf Leipzig kommt!« murmelte Gottlieb
-und starrte in die Ferne, wo er ganz zart im Grau die vieltürmige Stadt
-liegen sah.
-
-Raoul atmete schwer, auch seine Gedanken kreisten in dieser Stunde um
-das Bäckerhaus, in dem es ihm so wohl gewesen war. »Wir müssen unsere
-Pflicht tun,« sagte er herb und sah den Freund an. Der nickte: »Wir
-müssen durch -- wenn ich nur wüßte, wie's drinnen aussieht!«
-
-Seit Wochen fehlte den beiden jede Nachricht von dort, und drinnen
-weinte um diese Stunde die Meisterin in nicht enden wollendem Leid.
-»Mein Gottlieb, mein Gottlieb, wie mag's ihm ergehen! Nun steht er wohl
-draußen als Feind.«
-
-Das kleine Minchen, das mit seinen fünf Jahren noch nicht den Ernst der
-Stunden erfaßte, hob plötzlich sein Fingerchen: »Mutter, das bummst so!
-Der liebe Gott donnert.«
-
-Dumpf dröhnte und hallte der Kanonendonner über Leipzig hin, und im
-weiten Kreis um die Stadt herum raste der Kampf. Am Mittag wurde es
-stiller, und dann plötzlich fingen von den Türmen die Glocken zu läuten
-an, Sieg, Sieg!
-
-»Herrgott,« schrie der Meister Käsmodel verzweifelt auf, »der Bonaparte
-hat wieder gesiegt! Verloren die gerechte Sache!«
-
-Doch das Siegesläuten verstummte; nur ein Scheinsieg war es gewesen,
-den die Franzosen allzu schnell verkündet hatten: der alte Löwe Blücher
-hatte Bonaparte seine Klauen gezeigt und ihm schwere Wunden beigebracht.
-
-Es waren fürchterliche Tage für Leipzig. Blutrot flammte der Himmel
-über der Stadt: es war der Widerschein der brennenden Dörfer ringsum.
-Die Straßen hallten wider vom Wehgeschrei der Verwundeten, die in
-Scharen in die Stadt hineinströmten, und Geschützwagen rasselten eilig
-dazwischen. Die öffentlichen Gebäude und Kirchen waren in Spitäler
-verwandelt worden. Am 17. Oktober, einem Sonntag, riefen die Glocken
-nicht wie sonst die Bewohner zur Kirche. In dumpfer Angst blieben alle
-in ihren Häusern. Wer nicht mußte, wagte sich nicht auf die Straße
-hinaus, viele verkrochen sich in die Keller und verrammelten Türen
-und Fenster ihrer Häuser. Am 18. Oktober stieg die Sonne in feuriger
-Glut über der Stadt und der weiten Ebene empor und bestrahlte den
-mörderischen Kampf dieses Tages. Zu Tausenden bedeckten Sterbende,
-Tote, Verwundete die Felder um Leipzig, wie Fackeln brannten die
-Dörfer, das Rollen und Donnern der Geschütze tönte unablässig fort, und
-die Bewohner von Leipzig sahen in dumpfer Verzweiflung ihrem völligen
-Untergang entgegen.
-
-»Die Stadt wird gestürmt, die Stadt wird geplündert! Nun müssen wir das
-Bündnis mit Frankreich büßen, an dem wir schon so viel gelitten haben,«
-klagten die Bürger.
-
-Dann flog plötzlich der Ruf durch die Stadt, wie ein Erlösungsschrei
-klang es: »Die Sachsen sind zu den verbündeten Heeren übergegangen.«
-Und als der Abend kam, drängten die fliehenden Franzosen in Scharen
-in die Stadt hinein und flohen in wilder Hast dem Ranstädter Tore
-zu, und Napoleon ließ die andern Tore noch verteidigen, um den Resten
-seiner Armee den Rückzug zu decken.
-
-[Illustration: Die Steinbergs. (Seite 164.)]
-
-Doch schon am nächsten Morgen drangen die Verbündeten von drei Seiten
-auf die Stadt ein. Laut brauste der Jubel der Einwohner ihnen entgegen.
-»Sieg, Sieg, Sieg!« hallte es durch die Straßen, jeder fühlte, daß
-der Sieg der Franzosen nur neues Leid, neue Schmerzen bedeutet hätte.
-»Sieg, Sieg, Sieg!« läuteten die Glocken und übertönten das Stöhnen und
-Ächzen der vielen Verwundeten, die, ein Obdach suchend, durch die Stadt
-irrten.
-
-An alle Türen klopften Hilfesuchende, und bald war alles überfüllt.
-Auf den Straßen, den Friedhöfen lagerten die Unglücklichen, frierend,
-hungernd in der rauhen Luft des Oktobertages. Die Bürger nahmen auf, so
-viele sie konnten, aber Mangel und Not waren so groß, daß selbst die
-wohlhabenden Leute nur knapp zu essen hatten. Auch Meister Käsmodel
-hatte das Backen einstellen müssen; er war ein Bäcker ohne Mehl, nur
-für das eigene Hans gab es noch einen kümmerlichen Vorrat. Dafür lagen
-in den Stuben Verwundete, und die braven Meistersleute sorgten, so gut
-sie es vermochten, für die Unglücklichen. Nur Gottliebs und Raouls
-Kammer war unbesetzt, die Betten standen bereit. »Wenn die Jungen
-heimkommen, sollen sie doch ihr Unterkommen haben,« hatte die Meisterin
-gesagt.
-
-Und bei jedem Klopfen an der Türe schraken Mann und Frau zusammen und
-liefen hinaus, und immer wieder kehrten sie enttäuscht zurück, -- die
-Erwarteten kamen nicht.
-
-Gegen Abend des 19. Oktober klopfte es wieder laut an die Haustüre, und
-als der Meister hinauseilte, sah er einen hochgewachsenen preußischen
-Offizier draußen stehen. Er leuchtete ihm mit seinem Laternchen
-forschend ins Gesicht, der Offizier fragte: »Bin ich hier recht bei
-Meister Käsmodel?«
-
-»Das stimmt,« sagte der Meister. »Wenn ich nur wüßte, wo ich das
-Gesicht schon sah!«
-
-»Steinberg ist mein Name,« erwiderte der Fremde, »ich --«
-
-»Daß mich das Mäuschen beißt, das ist doch alleweil der Oheim von
-unserm Raoul!«
-
-»Sie haben mich also doch erkannt?« fragte Herr von Steinberg, der war
-es wirklich.
-
-»Treten Sie ein, Herr Baron,« sagte der Meister. »Unsere Frau von
-Steinberg, Gott hab' sie selig, hatte ein Bild von ihrem Manne, dem
-gleichen Sie aufs Haar.« Er ließ den Gast vorangehen und schloß dann
-eilig wieder die Türe, denn schon drängten andere in den Lichtschimmer
-des Laternchens. Rasch prüfte des Meisters Blick den Freiherrn, der
-bleich und erschöpft aussah. »Mir scheint's, Sie brauchen Ruhe!«
-
-Herr von Steinberg nickte. »Die brauchen wir wohl alle. Ich bin auch
-verwundet an der Schulter, es ist nicht arg; doch darum kam ich nicht.
-Ihr Sohn Gottlieb liegt verwundet in einer Scheune bei Gohlis, ich
-komme, Sie zur Hilfe holen.«
-
-»Mein Junge,« schrie der Meister, »er ist verwundet, aber er lebt?
-Sagen Sie mir, daß er lebt!«
-
-»Ich hoffe, er lebt,« sagte der Freiherr ernst. »Ich sah ihn selbst
-nicht. Heute in der Frühe erhielt ich Botschaft: mein Neffe Raoul
-hatte gestern schon einen Ordonnanzoffizier gebeten, wenn er mich
-treffen sollte, mir diesen Zettel zu bringen.« Herr von Steinberg gab
-dem Meister einen Zettel, auf dem stand in eiliger Schrift: »Gottlieb
-Käsmodel liegt in einer Scheune links von Gohlis, drei Bäume stehen
-rechts, in der Nähe ist ein Wassertümpel. Wenn Sie nach Leipzig
-kommen, sagen Sie es, bitte, Meister Käsmodel, lieber Onkel. Raoul.«
-
-»Und Raoul?« fragte der Meister zurück.
-
-Der Freiherr zuckte die Achseln. »Ich habe nichts mehr von ihm gehört,
-der Zettel kam nur durch einen glücklichen Zufall in meine Hände. Sein
-Regiment soll große Verluste gehabt haben. Wer kann in diesem Wirrsal
-wissen, wo der ist und jener! Ich weiß auch nichts von meinem Sohn.«
-
-»Einen Wagen kann ich wohl beschaffen,« sagte der Meister hastig, »aber
-werde ich hinauskommen?«
-
-»Ich werde Sie begleiten, vielleicht gelingt es mir, uns Durchfahrt zu
-verschaffen.«
-
-»Aber Sie sind verwundet, Herr Baron!«
-
-»Was schadet das! Ein Streifschuß nur. Es war eine böse Sache heute am
-Grimmaischen Tor, nur« -- der Freiherr stockte -- »Hunger habe ich!«
-
-»Hunger? Kommen Sie herein, schnell, schnell,« drängte der Meister,
-»meine Frau soll für Sie sorgen, und allweil schaffe ich einen Wagen
-herbei.«
-
-Nach wenigen Minuten saß der Freiherr in der Backstube, in dem Raum, in
-dem seine Schwägerin so oft mit ihrem Sohn sich an kalten Winterabenden
-erwärmt hatte, und die Meisterin gab ihrem Gast, was sie nur hatte.
-Ihr flossen die Tränen im Leid um ihren Sohn, und die gemeinsame Sorge
-knüpfte rasch ein festes Band um die einfache Frau und ihren vornehmen
-Gast. Der sagte: »Ich kann's Raoul nicht verdenken, daß es ihm hier
-wohl war,« und die Meisterin gab schlicht zur Antwort: »Wir haben ihn
-alle lieb.«
-
-»Is Raoul totgeschoßt?« fragte Minchen weinerlich am Knie der Mutter,
-und die seufzte schwer: »Wo mag er sein? Und wird mein Gottlieb noch
-leben?«
-
-Nach einer Stunde kehrte der Meister zurück, es war ihm nicht leicht
-geworden, einen Wagen aufzutreiben, und als er ihn hatte, wäre er ihm
-noch beinahe auf der Straße von preußischen Soldaten fortgenommen
-worden; nur der Hinweis, der Wagen solle Verwundete holen, hatte
-geholfen.
-
-Ein mühsames Fahren war es durch die überfüllten, schlecht beleuchteten
-Straßen. Am Halleschen Tor staute sich wieder die Menge, und wäre
-Herr von Steinberg nicht mit gewesen, dann hätte der Meister nie das
-Ziel erreicht. Endlich, die Nacht war schon hereingebrochen, gelang
-es den beiden, mit ihrem Wäglein hinauszukommen, und der Meister,
-der wegkundig war, fuhr in einem Bogen nach Gohlis hin. Es war eine
-schauervolle Fahrt. Noch glühte der Himmel rot, da und dort brannte
-es noch in weitem Umkreis in den Dörfern. Überall lagen Verwundete,
-Sterbende, Tote, Jammerrufe durchhallten die Nacht, und dann huschten
-Lichtlein hin und her, Wagen rasselten dumpf über die Felder, die
-Verwundeten wurden geborgen. Es war auch schwer, die Scheune nach
-Raouls Angaben zu finden in der Nacht: da war eine und da drei und da
-ein Trümmerhaufen, auch Bäume standen da und dort, und Verwundete lagen
-unter jedem Dach, und alle flehten um Wasser, baten mitgenommen zu
-werden.
-
-Der Meister hatte vorsorglich die letzten zwei Flaschen Wein, die er
-besaß, und Brot mitgenommen, und er teilte aus bis auf einen Rest. »Der
-muß für meinen Jungen bleiben, aber die da jammern, haben's allweil so
-nötig,« meinte er.
-
-Schon graute leise der Morgen, als die beiden endlich die Scheune
-entdeckten, die drei Bäume daneben und ein paar Schritte weiter
-einen schmutzigen, kleinen Tümpel. »Dort ist's,« riefen beide zu
-gleicher Zeit, lenkten den Wagen darauf zu und sprangen ab. Seltsame
-Töne klangen ihnen entgegen, als sie die Scheune erreicht hatten, und
-unwillkürlich blieben beide stehen. Drinnen sangen zwei, eine helle,
-durchdringende Stimme war es und eine, die tiefer klang, und in den
-grauenden Tag hinaus tönte es:
-
- »Doch Brüder sind wir allzusamm',
- Und das schwellt unsern Mut,
- Uns knüpft der Sprache heilig Band,
- Uns knüpft ein Gott, ein Vaterland,
- Ein treues deutsches Blut!«
-
-»Das ist allweil mein Gottlieb, der singt,« schrie der Meister und
-stürzte voran. »Gottlieb, Junge, bist du's?« rief er in die dunkle
-Scheune hinein, und jubelnd klang es zurück: »Vater, Vater, hier!« Dann
-brach die Stimme jäh, und viel matter tönte es nach: »Wir versingen uns
-Schmerzen und Hunger!«
-
-Mit seinem Laternchen leuchtete der Meister voran. Da kauerten zwei im
-Winkel, und einer lag stöhnend daneben. »Ist Raoul dabei?« rief Meister
-Käsmodel.
-
-»Nein!« antwortete Gottlieb und richtete sich etwas auf, »der hat
-mich nur herausgehauen, aber feste! Vater, wär' ich der König,
-dreimal kriegte er das eiserne Kreuz. Am Abend hat er mich dann
-hierhergeschleppt, aber wo er jetzt ist, das weiß ich nicht,« fügte er
-leiser hinzu.
-
-»Die Unseren sind weiter gezogen,« sagte der zweite, der im Winkel
-kauerte, und als der Meister ihm ins Gesicht leuchtete, erkannte er in
-ihm den einen der Hallenser Studenten. »Ich bin's, Herr Meister, und
-mein Bein ist zerschossen, aber Viktoria, wir haben gesiegt!«
-
-»Das stimmt allweil,« brummte der Meister und hob sacht seinen Sohn
-auf, »aber jetzt gilt's die Glieder zusammenflicken. Komm, Junge, ich
-trag dich, Mutter wartet schon auf dich.«
-
-»Aber meine Kameraden müssen mit,« bat Gottlieb ächzend, dem das
-Aufheben bittere Schmerzen bereitete, »zwei Tage und Nächte liegen wir
-schon zusammen, wir müssen zusammen bleiben.«
-
-»Allweil, das versteht sich, Junge,« sagte der Meister und biß die
-Zähne zusammen, um seinem Sohn nicht zu zeigen, wie sehr der ihn
-jammerte.
-
-Herr von Steinberg half, und bald lagen die drei im Wagen, und die
-beiden Männer schritten nebenher; das magere Pferdchen hatte schwer
-genug an den Verwundeten zu ziehen.
-
-Der Rückweg über das Schlachtfeld und durch das erstürmte Tor war
-im Morgengrauen noch fürchterlicher, aber es ging nun schneller
-vorwärts, und ernst und schweigsam langte der Zug noch am Vormittag
-am Bäckerhause an. Die Mutter unterdrückte tapfer jede Klage, als sie
-ihren Sohn wiedersah. Der lachte sie aber trotz aller Schmerzen an:
-»Mutter, wir haben gesiegt, und das da heilt schon. Wenn ich nur wüßte,
-wo Raoul wäre!«
-
-Vorläufig kam der lange Student in die Kammer und in Raouls Bett, der
-dritte wurde noch unten untergebracht; es war auch ein junger Bursch,
-doch ihn hatten die feindlichen Kugeln zu schwer getroffen, er war nur
-in das Haus gekommen zu einem friedlichen Sterben.
-
-Herr von Steinberg mußte, so voll das Haus schon war, im Bäckerhause
-im Quartier bleiben, bis seine leichte Wunde geheilt war. Er war froh
-darüber, denn alles war überfüllt, und es war schwer, nur ein Bett
-zu finden. Er benutzte die Zeit, um nach seinem Sohn und nach Raoul
-zu forschen. Joachim sei gefallen, sagten ihm seine Kameraden; das
-Regiment aber, bei dem Raoul stand, war wirklich, wie der Student
-gesagt hatte, weitergezogen. Jemand in den Lazaretten während dieser
-schlimmen Tage zu suchen, war fast unmöglich, Meister Käsmodel aber
-wußte einen guten Führer. Karl Wagner, der um seines Gebrechens willen
-nicht hatte mitziehen können, hatte sich als Pfleger gemeldet. Der
-kleine Schreiber war auch einer von jenen, deren stilles Heldentum
-unbemerkt bleibt; ihm dankte nur mancher erlöste Blick der Verwundeten,
-deren Leiden er nach Kräften milderte. Mit Hilfe dieses treuen Freundes
-von Raoul gelang es dem Freiherrn wirklich, seinen Sohn zu finden. Er
-lag mit vielen andern in der Kirche von St. Nikolai, er hatte eine
-schwere Wunde im Rücken erhalten. Mit einer kleinen Abteilung war er
-bereits am Morgen des 16. Oktober in einen Hinterhalt gefallen und von
-rücklings niedergeschossen worden, die große Schlacht war dann an ihm
-vorübergerauscht, er war gar nicht zum Kampf gekommen.
-
-»Ich habe nicht einmal meinen Säbel gezogen, Vater,« klagte er
-bitter, als der Freiherr ihn fand, »so mußte ich fallen, so, ich, ein
-Steinberg, so ruhmlos untergehen.«
-
-»Es kann in dieser Zeit nicht jeder sich als Held hervortun, mein
-Junge,« tröstete ihn der Vater, »du hast deine Pflicht getan, was
-willst du mehr? Bist du ausgezogen um des Ruhmes willen, oder weil des
-Vaterlandes Not dich bewegte?«
-
-Da schwieg Joachim, nur sein schweres Stöhnen verriet dem Vater, wie
-sehr doch das heiße, junge, ehrgeizige Herz litt.
-
-Im Bäckerhause war inzwischen Platz geworden, und Meister Käsmodel
-holte sich eines Tages selbst Joachim aus dem Spital, und Herr von
-Steinberg dankte es ihm warm, denn in den Spitälern rafften Fieber und
-andere ansteckende Krankheiten viele hinweg, und Joachims Wunde war
-schwer, sie bedurfte langer, sorgsamer Pflege. Joachim sträubte sich
-nicht, er fühlte wohl, wie gut es ihm war, daß er aus der kalten, von
-Fieberdünsten erfüllten Kirche herauskam, aber als er dann in Raouls
-Kammer, in des Vetters Bett lag, Gottlieb Käsmodel als Stubengenossen,
-da brach er in ein wildes Weinen aus. Er kam sich auf einmal tief, tief
-gedemütigt vor: er, der von Heldentaten geträumt hatte, mußte hier in
-dem Hause liegen, über dessen Bewohner er oft so hochmütig gespottet
-hatte, und die ihm nun so viel Liebe und Güte erwiesen.
-
-Die Meisterin wollte mitleidig trösten, der Freiherr bat sie aber:
-»Lassen Sie ihn jetzt allein, er wird schon zu sich kommen.« Das klang
-schmerzlich, und Joachim hörte es wohl, und er schämte sich seiner
-kleinlichen Empfindungen, er wurde aber wieder einmal nicht Herr über
-sich selbst.
-
-Man ließ ihn allein, nur Gottlieb schaute von seinem Bett aus
-unverwandt zu dem neuen Kameraden hinüber. Also das war der Joachim,
-auf den er aus lauter Freundschaft für Raoul oft heftig gescholten
-hatte! Jetzt fühlte er aber gar keinen Groll gegen ihn, und so sagte er
-aus tiefstem Herzen heraus: »Heul' nur feste weiter! Als Raoul mich in
-die Scheune geschleppt hatte, und ich von drinnen das Geknatter hörte,
-da habe ich auch geheult vor lauter Wut, weil ich nicht mehr dabei sein
-konnte, nachher habe ich aber gesungen!«
-
-Joachim hob ein wenig den Kopf, ganz jäh überkam ihn plötzlich das
-Bewußtsein, daß er nur einer unter vielen war, daß Tausende litten wie
-er. »Du bist Gottlieb,« murmelte er und fand das brüderliche Du, das
-Gottlieb angeschlagen hatte, selbstverständlich. »Wie bist du verwundet
-worden?«
-
-Gottlieb stützte sich ein wenig auf seinen Arm und erzählte. »Ich hatte
-ja gedacht, mich würde der Blücher mindestens selbst loben; aber weißt
-du, ich hab's schon in Breslau gemerkt, daß man auch nicht mehr ist wie
--- wie 'n einzelnes Brot im vollen Backofen.«
-
-Ein Lächeln ging über Joachims bleiches Gesicht, dann schloß er
-aufseufzend die Augen: der andere hatte recht, aber ja, er hatte auch
-gedacht, Blücher selbst oder York der Eiserne müßten seinen Heldenmut
-anerkennen.
-
-Da klang wieder Gottliebs Stimme zu ihm herüber: »Erzähl' doch, wie
-war's bei dir, oder bist du zu schwach?«
-
-»Nein,« murmelte Joachim sich zusammennehmend, »aber ich habe nicht
-viel zu erzählen. Immer habe ich einen Posten auf verlorener Stelle
-gehabt, habe Wache stehen müssen und dergleichen, habe alles nur von
-ferne gesehen. Nun sollten wir drankommen, hier bei Leipzig, sollten
-einen gefährlichen Ritt machen und einen wichtigen Punkt besetzen. Kaum
-sind wir ausgeritten, da fühle ich ein Sausen, einen heftigen Schmerz
--- und schon lag ich am Boden; ich hörte nur Schreien, Schießen, dann
-verlor ich die Besinnung, auf einem Karren erwachte ich wieder. Das war
-alles!«
-
-»Na, ich danke,« rief Gottlieb, »Wache stehen während einer Schlacht
-ist kein Zuckerbrot, und fallen muß jemand; wärst du's nicht gewesen,
-hätte es einen andern getroffen. Weißt du, als ich so fuchswild
-und wütend in der Scheune lag und mich nicht rühren konnte, da
-habe ich gedacht: Na, all die Wut, all die langen, langen Stunden,
--- schließlich einer muß es leiden, da war ich es eben, und fürs
-Vaterland war es auch. Gesiegt haben wir doch, und dabei waren wir!«
-
-»Erzähl mir von Raoul,« bat Joachim plötzlich, und dann lag er still
-mit geschlossenen Augen und ließ sich von dem Vetter erzählen, wie sich
-der so tapfer durchgeschlagen hatte als Schreiberlein und dann nicht
-nach Paris gewollt hatte. Wenn Gottlieb auf Raoul kam, dann fand er so
-leicht kein Ende, und er hätte wohl noch lange erzählt, wenn die Mutter
-nicht gekommen wäre und Ruhe geboten hätte.
-
-»Kranke brauchen Schlaf,« sagte sie. Und Gottlieb schloß auch gehorsam
-die Augen. Er fand trotz der Wunde bald Ruhe; es lag sich so gut nach
-all den harten Kriegslagern in der stillen Kammer des Vaterhauses. Aber
-Joachim lag lange, lange noch wach; Fieber und Schmerzen peinigten ihn
-qualvoll, und doch dachte er zum erstenmal nicht an sein Leid, sondern
-an den großen errungenen Sieg, und eine tiefe, heilige Freude kam über
-ihn, und Gottliebs Wort klang in ihm nach: »Fürs Vaterland war es auch!«
-
-[Illustration: Dekoration Ende 11. Kapitel]
-
-
-
-
-[Illustration: Dekoration Titel 12. Kapitel]
-
-
-
-
-Zwölftes Kapitel.
-
-Ausklang.
-
-
-Nach der großen, blutigen Schlacht auf Leipzigs Feldern kam der
-ersehnte Friede immer noch nicht über die Lande, nur zog sich der
-Krieg nach Frankreich hin. Der Marschall Vorwärts überschritt in der
-Neujahrsnacht den Rhein, und am 31. März zogen, nach mancher blutigen
-Schlacht auf Frankreichs Boden, die verbündeten Heere in Paris ein,
-und auch dort begrüßte das Volk den Kaiser von Rußland und den König
-von Preußen als seinen Befreier. Napoleon wurde seines Thrones für
-verlustig erklärt, nach Elba gebracht, und am 30. Mai kam der erste
-Friede von Paris zum Abschluß. Die Völker atmeten auf; für eine Weile
-war Ruhe eingekehrt, und niemand ahnte, daß noch ein schweres Ringen
-bevorstand, ehe sich für viele Jahre der Friede über die Lande breiten
-konnte.
-
-Von den Steinbergs kam nur Raoul nach Paris. Sein Oheim blieb bei den
-Truppen im Lande, und Joachim konnte nicht mehr mitziehen. Raoul hatte
-sich tapfer geschlagen, hatte einige leichte Wunden davongetragen und
-war auf dem Schlachtfeld zum Leutnant befördert worden. Trotz allem
-Siegesjubel ringsum war ihm das Herz aber doch schwer, als er an einem
-der ersten Apriltage durch die Straßen von Paris ritt. Ihm fehlte jede
-Nachricht von den Freunden daheim, er wußte nicht, was aus Gottlieb
-geworden war, nichts von allem, was nach den heißen Tagen bei Leipzig
-geschehen war. Er hatte sich nach dem Palais des Grafen Turaillon,
-seines Oheims, erkundigt, denn auf einmal sehnte er sich darnach, das
-Haus zu sehen, in dem seine Mutter ein paar Kinderjahre verbracht
-hatte. Vor dem zierlichen, im Rokokostil erbauten Schlößchen, das
-inmitten eines weiten Gartens lag, dessen Wege von hohen Taxuswänden
-begrenzt wurden, stand ein preußischer Soldat Wache; ein paar hohe
-Offiziere bewohnten jetzt das Haus. Als Raoul einen vorbeieilenden
-Diener nach dem Besitzer fragte, erhielt er zur Antwort, daß der Graf
-schon lange auf dem Lande weile, er sei im Groll vom Hofe Napoleons
-geschieden.
-
-Träumerisch schaute Raoul durch das offenstehende Tor in den Garten
-hinein und dachte: Ich könnte jetzt der Erbe von allem sein! Aber kein
-Bedauern überkam ihn, daß er es nicht war, und seine Armut dünkte ihn
-nicht schwer zu tragen. Er freute sich aber über des Onkels Scheiden
-von Napoleons Hof, und fast bedauerte er, daß er ihn nun nicht sehen
-konnte: er war doch der geliebten Mutter Bruder. Wie er so in Sinnen
-verloren stand, kamen zwei junge Offiziere aus dem Haus heraus. Sie
-schauten ihn prüfend an, und der eine rief überrascht: »Da ist er doch,
-wir haben hier doch recht gesucht!«
-
-Erstaunt sah Raoul auf, und er mußte erst ein paar Sekunden
-nachsinnen, ehe er in dem langen, blonden Menschen Arnold von Berkow
-wiedererkannte. Er wich unwillkürlich zurück, ihm kam der Gedanke an
-die erlittenen Kränkungen, und sein Gesicht wurde finster. Doch der
-andere kümmerte sich nicht darum, er streckte ihm freimütig die Hand
-hin: »Wir haben dich gesucht, Raoul, wie eine Stecknadel, den ganzen
-Feldzug durch. Vor ein paar Tagen hatte ich von Achim einen --«
-
-»Lebt er?« rief Raoul rasch.
-
-»Ja, er lebt,« sagte Arnold von Berkow und schob seinen Arm in
-den Raouls. »Komm mit, ich erzähle dir alles. Laß die alte, dumme
-Feindschaft ruhen, wir Tugendbündler waren damals recht dumme Jungen,
-und Gottliebe hatte recht: du warst der Verständigste von uns allen, du
-wärst der beste Tugendbündler gewesen. Übrigens, ich trage seit Wochen
-einen Brief von Gottliebe an dich in der Tasche; die Mariellen denken,
-im Krieg trifft man sich wie auf den Gassen von Langenstein.«
-
-»Und mich kennst du wohl gar nicht mehr?« fragte der andere, »war doch
-auch ein Tugendbündler!«
-
-»Oswald Hippel,« rief Raoul, »doch wo ist Fritz --?«
-
-»Der blieb bei Leipzig,« sagte Arnold trübe, »da sind so viele
-geblieben. Es ist fast ein Wunder, wenn man noch jemand wiederfindet.
-Aber dein Gottlieb lebt!«
-
-»Er lebt?« Raouls Augen leuchteten. »Sag, woher du es weißt!«
-
-»Kommt alles nach und nach, und Gottliebes Brief bekommst du auch. Die
-hat geschrieben, sie ist mir ewig böse, wenn ich dich nicht ausfindig
-mache. Aber was will der Kerl da?«
-
-Ein hagerer, verkommen aussehender, zerlumpter Mensch drängte sich
-an die jungen Leute heran und flehte: »Ein armer Landsmann bin ich,
-halbverhungert.«
-
-»Neumann,« rief Raoul von Steinberg und starrte dem Bettler ins
-Gesicht. Eine fliegende Röte huschte über dessen Wangen, scheu sah er
-den fremden Offizier an, es war ihm wohl nicht angenehm, bei seinem
-Namen genannt zu werden. »Paul Neumann,« sagte Raoul noch einmal, der
-seinen einstigen Peiniger gleich erkannt hatte.
-
-Auch der hatte nun Raoul erkannt. Erschrocken taumelte er zurück, und
-ganz plötzlich kehrte er sich um und rannte mit schnellen Schritten
-wie gejagt davon, die Straße entlang, um eine Ecke herum, und noch
-ehe die drei die Sache recht erfaßt hatten, war er verschwunden. »Ich
-erzähl' euch auch nachher von ihm,« sagte Raoul, »ihn trieb wohl sein
-schlechtes Gewissen weg. Er war einer von Napoleons Bewunderern, das
-scheint ihm aber nicht gut bekommen zu sein.«
-
-»Nein,« meinte Oswald Hippel, »jämmerlich genug sah er aus!«
-
-Die drei sprachen aber nicht weiter von der Begegnung, sie hatten sich
-Wichtigeres zu erzählen, und bald saßen sie so einträchtig wie nie
-vorher in Arnolds Quartier, und der berichtete, daß sie das Palais des
-Grafen bereits zum drittenmal aufgesucht hätten, weil sie hofften,
-Raoul würde sich dort nach seinem Oheim erkundigen. »So wunderbar ist
-unser Zusammentreffen also nicht,« sagte Arnold, »viel wunderbarer
-ist's, daß die Steinbergs und Käsmodels sich zusammengefunden haben,
-und daß Joachim in deinem Bett gesund geworden ist.«
-
-»Joachim?« fragte Raoul überrascht, »ist er bei Leipzig verwundet
-worden?«
-
-Arnold erzählte, in dem großen Wirrsal nach der Schlacht habe er
-Joachim nicht gesehen, aber später in Frankfurt Herrn von Steinberg
-getroffen und von diesem alles erfahren. Er habe auch vor kurzem erst
-Briefe aus der Heimat erhalten. Joachim war wieder in Hohensteinberg
-und Gottlieb mit ihm, sie mußten sich beide noch von einem sehr
-langen, schweren Siechtum erholen und hatten beide nicht mehr zu ihren
-Regimentern zurückkehren können.
-
-Gottlieb in Hohensteinberg! Es kam Raoul fast wie ein Traum vor, und
-dann ergriff ihn eine solche Sehnsucht, alles zu wissen, von allem
-einzeln zu hören, daß er Arnold mit einer förmlichen Flut von Fragen
-überschüttete. Der rief in heller Verwunderung: »O Raoul, so hast du
-früher nie reden können!«
-
-»Habt ihr mich denn reden lassen?« antwortete der halb lachend, halb
-traurig, »aber nun laß mich dafür nicht warten, erzähle, erzähle!«
-
-»Ich glaube, du sagst wie Gottliebe, du platzt vor Neugier,« erwiderte
-Arnold und begann ausführlich zu erzählen, was er von den Steinbergs
-wußte, von Joachims Verwundung, auch wie Gottlieb aufgefunden wurde.
-
-»Armer Joachim,« sagte Raoul ernst, »er ersehnte den Ruhm und ist nun
-nie so recht dabei gewesen! Doch was schreibt Gottliebe? Du sagtest
-doch, es wäre ein Brief von ihr für mich da?«
-
-»Da, du Nimmersatt!« Arnold reichte ihm den Brief, und Raoul erbrach
-ihn rasch und las: »Lieber, böser Raoul, das ist nun der dritte Brief,
-den ich an dich schreibe, immer denke ich, einen mußt du doch erhalten,
-und einmal mußt du mir antworten. Wir haben alle viel Sorge um dich,
-und Großmutter sagte oft, als sie jetzt krank war: Könnte ich Raoul
-nur einmal noch sehen! Jetzt reden wir noch mehr von dir, seit Joachim
-wieder da ist und Gottlieb mitgebracht hat. Achim sagte gestern zu mir:
-Ich wollte jetzt, Raoul wäre mein Freund. Es war sehr schlimm bei uns,
-weil alle Leute so arm sind und wir so viele, viele Sorgen hatten, aber
-als wir von den Siegen hörten, da wurden wir alle froh. Ich wollte
-aber doch, der Krieg wäre bald zu Ende und der Vater käme heim und
-du, Raoul, und es würde nie, nie mehr Krieg. Wenn Achim und Gottlieb
-davon erzählen, muß ich immer weinen, und weißt du, ich war einmal so
-dumm und wollte mitziehen, das hätte ich doch nicht fertig gebracht.
-Hier sind alle gesund, nur die Großmutter ist viel krank gewesen. Sie
-lassen dich alle grüßen, sie sehnen sich alle nach dir. Ich bete jeden
-Abend für dich. Ach Raoul, möchtest du doch gesund bleiben und bald
-wiederkommen!
-
- Deine Base Gottliebe.«
-
-Raoul war beim Lesen an das Fenster getreten, nun ließ er den Brief
-sinken und starrte auf die belebte Straße von Paris hinab. Er sah aber
-nichts von all dem bunten, fremdartigen Leben da unten, er war mit
-seinen Gedanken weit, weit weg, und eine große Sehnsucht überkam ihn
-nach dem Vaterland, nach den Menschen, die er lieb hatte. Er reckte
-sich und breitete die Arme aus: »Ach ja, es wäre gut, wenn es erst
-Frieden würde!«
-
-»Und wir daheim,« rief Arnold von Berkow, und Oswald nickte: »Ich wär's
-zufrieden, bei Gott, es wäre gut.«
-
-Die drei verlebten als gute Kameraden in Paris viele Stunden
-miteinander, bis endlich der Tag kam, da auch sie heimwärts ziehen
-konnten, zurück in das befreite Vaterland.
-
- * * * * *
-
-In Hohensteinberg war mit der Nachricht, daß endlich Friede geschlossen
-war, die rechte Sommerfreude eingekehrt. Endlich hatten sie alle wieder
-einmal Zeit, sich an dem Blühen, Wachsen und Reifen ringsum zu freuen,
-und auf den Feldern, über die vor zwei Jahren die Heere gestampft
-waren, wogte jetzt das Korn, und an den Rändern blühten rot und blau
-friedlich die Sommerblumen.
-
-»Die Ernte steht gut,« sagte Herr von Steinberg froh, als er an einem
-sonnenhellen Junitag vom Felde heimkam, »es wird hoffentlich ein gutes
-Jahr werden.«
-
-Die Seinen saßen alle vor dem Schloß und schauten, wie so oft in diesen
-Tagen, die schattige Allee entlang, und Gottliebe, die auf den Stufen
-vor dem Hause saß und mit nimmermüden Händen die ersten Frühbohnen
-schnitzte, sagte einmal wieder: »Ich könnte platzen vor Ungeduld. Warum
-Raoul nur noch immer nicht kommt!«
-
-Arnold von Berkow und Oswald Hippel waren bereits heimgekehrt, Raoul
-aber war noch in Leipzig geblieben, und wurde nun jeden Tag auf
-Hohensteinberg erwartet. Des Posthalters Wäglein stand immer bereit,
-ihn gleich nach dem Gute hinauszufahren.
-
-Gottlieb Käsmodel lachte. »Ja, mein Leipzig, das zieht halt den Raoul
-an sich!«
-
-»Du mit deinem Leipzig,« rief Gottliebe schmollend, »sag es doch
-endlich einmal, daß es in Hohensteinberg schöner ist.«
-
-»Nun geht der Streit schon wieder los. Ihr seid ja schlimmer als
-Bonaparte,« rief Joachim lachend. Der saß neben der Großmutter auf der
-Bank. Er war noch immer bleich, war noch immer nicht im Vollbesitz
-seiner Jugendkraft, aber seine Augen schauten viel heiterer drein, und
-nicht mehr wie einst überschattete so oft finstrer Trotz sein hübsches
-Gesicht.
-
-Die andern lachten auch; der Streit zwischen Gottliebe und Gottlieb
-über die Vorzüge von Stadt und Land wollte nie ruhen, es gab immer
-wieder ein lustiges, neckendes Wortgeplänkel zwischen den beiden, das
-ihrer Freundschaft aber nie Abbruch tat.
-
-»Ich bleib' dabei,« rief Liebe schelmisch und warf ihrem guten
-Kameraden und Namensvetter eine Bohne an die Nase, »daß es auf dem
-Lande am schönsten ist. Puh, gräßlich muß es sein, in einer dunklen
-Stadt zu wohnen. Da rennt man immer an die Häuser an, sieht nie Feld
-und Wald, und wenn man Brot essen will, muß man erst zu Herrn Meister
-Käsmodel gehen und eins kaufen; wir backen es uns allein!«
-
-»Das ist gerade fein,« rief Gottlobe, »da kann man nicht unversehens
-einen Scheffel Mehl über den Kopf bekommen, wie ihn mir neulich Jungfer
-Rosalie übergestülpt hatte. Ich möchte gleich in einer Stadt wohnen.«
-
-»Der Herr Pfarrer soll entscheiden, ob es in der Stadt besser ist
-als auf dem Lande,« rief Gottliebe und wandte sich bittend dem alten
-Freunde und Lehrer zu, der just zu ihnen trat. Ihm war das Haar völlig
-gebleicht in den letzten Jahren, wie Silber lag es aus seinem Haupt,
-seine Augen blickten mild und gütig wie immer auf die Jugend, die so
-heiter, den blühenden Blumen gleich, im Sommersonnenglanz dreinsah.
-»Ich werde nichts vom Lande und nichts von der Stadt sagen,« antwortete
-der Pfarrer fröhlich, »denn in einer Minute würdet ihr mir doch alle
-nicht mehr zuhören. Wollt ihr nicht sehen, wer dort kommt?«
-
-Aller Blicke wandten sich der Allee zu. »Raoul!« schrie Gottliebe auf,
-und die Bohnenschüssel fiel krachend zu Boden, und »Raoul!« tönte
-es vielstimmig nach. Gottliebe aber raste dem jungen Offizier, der
-mit raschen Schritten den schattigen Weg entlang kam, entgegen. Doch
-plötzlich blieb sie betroffen stehen und fragte fast zaghaft: »Bist du
-das wirklich, Raoul?«
-
-[Illustration: Die Steinbergs. (Seite 182.)]
-
-Der ergriff lachend des Bäsleins beide Hände. »Ich bin's, aber fast
-möchte ich fragen, bist du's, Gottliebe? Du siehst ja beinahe wie --
-eine junge Dame aus.«
-
-Da hing sich Gottliebe lachend an seinen Arm. »Damit hat's noch gute
-Wege, aber weißt du, ich freue mich zum Platzen, daß du da bist.«
-
-Raoul kam nicht dazu, ihr eine Antwort zu geben, die andern umdrängten
-ihn. Der Onkel zog ihn in seine Arme, Frau Maria küßte ihn liebevoll
-wie einen Sohn, Pfarrer Buschmann schüttelte ihm die Hand, Gottlobe
-wollte es auch tun, und Gottlieb schrie jauchzend: »Viktoria, Viktoria,
-er ist da, der Sieger ist da!«
-
-Die Großmutter war still auf der Bank sitzen geblieben. Joachim stand
-neben ihr, und beide dachten unwillkürlich: Er muß erst die anderen
-begrüßen. Doch Raoul hatte die Großmutter schon von weitem gesehen, sie
-zuerst; sie war viel älter geworden und saß nicht mehr so aufrecht wie
-früher da, und es trieb ihn zu ihr hin. »Großmutter,« sagte er rasch
-und kniete neben ihr nieder, »verzeihen Sie mir!«
-
-»Raoul, mein Kind, mein liebes, liebes Kind!« Die alte Frau zog des
-Enkels Kopf an sich. »O, daß ich dich wiedersehen kann, daß mir Gott
-diese Freude noch gab!« Und ganz leise, nur dem Jüngling verständlich,
-flüsterte sie: »Verzeih du mir, ich tat unrecht.«
-
-»Das ist ja wie in der Kirche,« brummte Gottlieb vor sich hin. Er
-schnitt ein wütendes Gesicht vor lauter Rührung und wäre am liebsten
-davongelaufen, doch etwas hielt ihn, eine Art von Bangigkeit war's: Wie
-wird er Joachim begrüßen? Er hatte den einstigen Feind seines Freundes
-so lieb gewonnen, daß er den Gedanken schon unerträglich fand, die
-beiden könnten sich nicht verstehen.
-
-Es war, als hätte die Großmutter seine Sehnsucht geahnt, sie ergriff
-Joachims Hand und legte die Hände der Enkelsöhne ineinander. »Ihr habt
-als Brüder für das Vaterland gekämpft, seid nun auch Brüder im Frieden!«
-
-Raoul sprang auf, und sekundenlang standen die Jünglinge sich Auge in
-Auge gegenüber. Nur ein kurzes, stummes Zögern und Fragen war's nach
-alter Feindschaft, altem Haß, dann lagen sie sich in den Armen, und
-jeder rief froh des andern Namen, daß beide zusammenklangen wie ein
-Wort.
-
-»Viktoria!« schrie Gottlieb wieder, und Liebe und Lobe fielen jauchzend
-ein. Aber trotz des Freudenrufes war Gottlieb das Herz auf einmal
-zentnerschwer geworden: nun gehörte Raoul, sein Raoul, ganz den
-Steinbergs an, und er hatte ihn verloren. Er wollte sich heimlich
-davonschleichen, aber Gottliebe sah es und hielt ihn fest. »Lauf doch
-nicht fort, du gehörst doch jetzt hierher. Was soll denn Raoul denken,
-wenn du nicht dabei bist?«
-
-Da blieb Gottlieb und merkte es dann bald, daß er den Freund nicht
-verloren hatte, und daß der mit alter Liebe und Treue an ihm hing. Er
-brachte ihm Grüße von seinen Eltern und der kleinen Schwester, von Karl
-Wagner und etlichen Schulgenossen. Meister Käsmodel hatte es schwer in
-dieser Zeit. Auch ihn hatte der Krieg fast zum armen Manne gemacht,
-aber er sah darum doch unverzagt und froh der Zukunft entgegen. »Die
-Hauptsache ist, daß wir frei sind von all der Fremdherrschaft,« hatte
-er gesagt.
-
-Das sagten viele mit dem braven Meister, wenn auch die fröhlichen,
-heiteren Friedenspläne, die an dem Tage von Raouls Heimkehr in
-Hohensteinberg geschmiedet wurden, nicht so bald in Erfüllung gingen.
-An diesem Tage wollte das Erzählen, Fragen, das Erinnern an vergangene
-Tage, das Pläneschmieden für künftige Zeiten kein Ende nehmen. Manchmal
-mahnten die Älteren: »Nun ist's genug! Alles muß nicht an einem Tage
-erzählt sein,« aber die Jugend fing immer wieder von neuem an mit
-»Weißt du noch?« und »Wie war dies und das?« So jubelnd, so herzenswarm
-hatte sich Raoul die Freude über seine Heimkehr nicht vorgestellt. Das
-Gefühl, so willkommen zu sein, tilgte an diesem Tage auch noch das
-letzte Restchen Bitterkeit aus seinem Herzen, und zuletzt erzählte er
-selbst mit lachendem Munde und strahlenden Augen die Geschichte seiner
-Flucht.
-
-»Aber nun ist alles gut,« sagte Gottliebe leise, froh, »und nun ist
-Friede, und hoffentlich kommt nie, nie mehr Krieg!«
-
-Doch Gottliebe mußte es erleben, daß noch einmal die Sturmglocken
-läuteten, daß noch einmal die Völker gegen Napoleon ziehen mußten.
-Wieder waren zwei Steinbergs dabei und kämpften tapfer. Raoul kehrte
-bald zurück, da er schon im ersten Gefecht verwundet wurde, Joachim
-aber konnte diesmal im siegreichen Heere mit in Paris einziehen und als
-Sieger heimkommen.
-
-Raoul blieb nicht Offizier, wie es sein Oheim gedacht hatte. In dem
-harten, schweren Krieg, dem furchtbaren Ringen war er zur Erkenntnis
-gekommen, daß er besser für ein stilles Studium geeignet sei, daß es
-seiner Neigung mehr entsprach, Wunden zu heilen als Wunden zu schlagen.
-Er wurde Arzt, der erste der Steinbergs, der diesen Beruf erwählte,
-und obgleich des Neffen Studium ihm neue Sorgen aufbürdete, ließ ihn
-der Oheim gewähren. Die Steinbergs gehörten auch zu denen, die um
-vieles ärmer geworden waren in den langen Kriegsjahren, aber das
-störte nicht den fröhlichen Mut, mit dem alle schafften. Joachim blieb
-dem Lande treu. Ein Jahr nur studierte er in Berlin, und die beiden
-Vettern verlebten eine arbeitsfrohe, freudenreiche Zeit zusammen.
-Dann kehrte Joachim nach Hohensteinberg zurück. Raoul aber zog wieder
-einmal in das trauliche Bäckerhaus als willkommener Pflegesohn, um ein
-paar Semester an der Leipziger Universität zu studieren. Sein Freund
-Gottlieb schaffte schon tüchtig in der Backstube, und der rastlosen
-Arbeit von Vater und Sohn gelang es wieder zu erwerben, was der
-Krieg ihnen genommen hatte. Die verschiedenen Berufe trübten nicht
-die Freundschaft der beiden, sie blieben Zeit ihres Lebens in treuer
-Zuneigung verbunden, und als dritter im Bunde gesellte sich immer Karl
-Wagner zu ihnen, der neidlos sah, daß sein einstiger Schreibgenosse den
-Beruf erwählen konnte, auf den ^er^ hatte verzichten müssen.
-
-Die Ferien verbrachte Raoul dann immer in Hohensteinberg, »zu Hause,«
-wie er oft dankbar sagte, wenn er wieder mit der Postkutsche über den
-Langensteiner Markt rollte und mit rüstigem Schritt den wohlbekannten
-Weg entlang lief.
-
-Dann gab es auch einmal eine Hochzeit auf Hohensteinberg: Lobe
-wurde Oswald Hippels Frau und eine tüchtige, tätige Landwirtin. Sie
-behauptete nun kühnlich, auf dem Lande sei es doch am schönsten, sie
-hatte alle Stadtsehnsucht verloren. Liebe flocht der jüngeren Schwester
-frohgemut den Brautkranz, sie sah Helene von Berkow Joachims Braut
-werden und las voll Freude, daß der junge Meister Käsmodel in Leipzig
-sich eine junge Meisterin gesucht hatte.
-
-Sie selbst blieb noch manches Jahr daheim, war des Hauses
-Sonnenstrahl, der Mutter erster Minister, des Vaters kluger kleiner Rat
-und der Geschwister treueste Freundin. Aber dann kam eines Tages Raoul
-und holte sich Gottliebe zur Frau, holte sie fort von Hohensteinberg
-gleich in die allergrößte Stadt Deutschlands, nach Berlin. Er hatte es
-mit unermüdlichem Eifer und Fleiß zu einem tüchtigen Arzt gebracht,
-sein Name wurde später weit über den Kreis seines Vaterlandes hinaus
-in hohen Ehren genannt. Doch weil Raoul sie holte, weil sie an Raouls
-Seite ging, erschien Gottliebe auch die fremde, große Stadt wie eine
-Heimat.
-
-»Eine rechte Tugendbündlerin fürchtet sich auch nicht vor der Fremde,«
-sagte sie heiter. Und als Eltern und Geschwister sie fragten: »Wirst du
-denn wo anders als in Hohensteinberg glücklich sein?« erwiderte sie:
-»Mit Raoul immer und überall!«
-
-»Raoul ist auch der einzige, dem ich dich gönne,« sagte Joachim am
-Hochzeitstag, und die Großmutter legte segnend die Hände auf der
-Enkelin blonden Scheitel: »Einen Besseren konntest du nicht finden!«
-
-[Illustration: Dekoration ENDE des Buches]
-
-
-
-
-Notizen des Bearbeiters
-
-Eingefügt: Hinweise auf Illustrationen am Ende des jew. Kapitels
-und am Anfang jeden Kapitels.
-
-Gesperrter Text markiert durch: ^gesperrt^
-
-Antiqua-Text markiert durch: _Antiqua_
-
-Fett gedruckter Text markiert durch: =fett=
-
-Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Die Steinbergs, by Josephine Siebe
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE STEINBERGS ***
-
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-Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
-and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
-works. See paragraph 1.E below.
-
-1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
-or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
-Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
-collection are in the public domain in the United States. If an
-individual work is in the public domain in the United States and you are
-located in the United States, we do not claim a right to prevent you from
-copying, distributing, performing, displaying or creating derivative
-works based on the work as long as all references to Project Gutenberg
-are removed. Of course, we hope that you will support the Project
-Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by
-freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of
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-the work. You can easily comply with the terms of this agreement by
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-Gutenberg-tm License when you share it without charge with others.
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-1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
-what you can do with this work. Copyright laws in most countries are in
-a constant state of change. If you are outside the United States, check
-the laws of your country in addition to the terms of this agreement
-before downloading, copying, displaying, performing, distributing or
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-Gutenberg-tm work. The Foundation makes no representations concerning
-the copyright status of any work in any country outside the United
-States.
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-1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:
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-access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear prominently
-whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work on which the
-phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the phrase "Project
-Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed,
-copied or distributed:
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-This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
-almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
-re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
-with this eBook or online at www.gutenberg.org/license
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-from the public domain (does not contain a notice indicating that it is
-posted with permission of the copyright holder), the work can be copied
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-or charges. If you are redistributing or providing access to a work
-with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the
-work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1
-through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the
-Project Gutenberg-tm trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or
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-with the permission of the copyright holder, your use and distribution
-must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional
-terms imposed by the copyright holder. Additional terms will be linked
-to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the
-permission of the copyright holder found at the beginning of this work.
-
-1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
-License terms from this work, or any files containing a part of this
-work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.
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-1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
-electronic work, or any part of this electronic work, without
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-active links or immediate access to the full terms of the Project
-Gutenberg-tm License.
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-1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
-compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any
-word processing or hypertext form. However, if you provide access to or
-distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format other than
-"Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official version
-posted on the official Project Gutenberg-tm web site (www.gutenberg.org),
-you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a
-copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon
-request, of the work in its original "Plain Vanilla ASCII" or other
-form. Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm
-License as specified in paragraph 1.E.1.
-
-1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
-performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
-unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.
-
-1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
-access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works provided
-that
-
-- You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
- the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
- you already use to calculate your applicable taxes. The fee is
- owed to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he
- has agreed to donate royalties under this paragraph to the
- Project Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments
- must be paid within 60 days following each date on which you
- prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax
- returns. Royalty payments should be clearly marked as such and
- sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the
- address specified in Section 4, "Information about donations to
- the Project Gutenberg Literary Archive Foundation."
-
-- You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
- you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
- does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
- License. You must require such a user to return or
- destroy all copies of the works possessed in a physical medium
- and discontinue all use of and all access to other copies of
- Project Gutenberg-tm works.
-
-- You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of any
- money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
- electronic work is discovered and reported to you within 90 days
- of receipt of the work.
-
-- You comply with all other terms of this agreement for free
- distribution of Project Gutenberg-tm works.
-
-1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm
-electronic work or group of works on different terms than are set
-forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
-both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
-Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark. Contact the
-Foundation as set forth in Section 3 below.
-
-1.F.
-
-1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
-effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
-public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
-collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic
-works, and the medium on which they may be stored, may contain
-"Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or
-corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual
-property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a
-computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by
-your equipment.
-
-1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
-of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
-Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
-Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
-Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
-liability to you for damages, costs and expenses, including legal
-fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
-LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
-PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
-TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
-LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
-INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
-DAMAGE.
-
-1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
-defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
-receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
-written explanation to the person you received the work from. If you
-received the work on a physical medium, you must return the medium with
-your written explanation. The person or entity that provided you with
-the defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a
-refund. If you received the work electronically, the person or entity
-providing it to you may choose to give you a second opportunity to
-receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy
-is also defective, you may demand a refund in writing without further
-opportunities to fix the problem.
-
-1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
-in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
-WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
-WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
-
-1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
-warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
-If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
-law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
-interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
-the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any
-provision of this agreement shall not void the remaining provisions.
-
-1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
-trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
-providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
-with this agreement, and any volunteers associated with the production,
-promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
-harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
-that arise directly or indirectly from any of the following which you do
-or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
-work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
-Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
-
-
-Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
-
-Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
-electronic works in formats readable by the widest variety of computers
-including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
-because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
-people in all walks of life.
-
-Volunteers and financial support to provide volunteers with the
-assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
-goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
-remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
-Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
-and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
-To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
-and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.
-
-
-Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
-Foundation
-
-The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
-501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
-state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
-Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
-number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
-http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
-Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
-permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
-
-The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
-Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
-throughout numerous locations. Its business office is located at
-809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
-business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
-information can be found at the Foundation's web site and official
-page at http://pglaf.org
-
-For additional contact information:
- Dr. Gregory B. Newby
- Chief Executive and Director
- gbnewby@pglaf.org
-
-
-Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
-Literary Archive Foundation
-
-Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
-spread public support and donations to carry out its mission of
-increasing the number of public domain and licensed works that can be
-freely distributed in machine readable form accessible by the widest
-array of equipment including outdated equipment. Many small donations
-($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
-status with the IRS.
-
-The Foundation is committed to complying with the laws regulating
-charities and charitable donations in all 50 states of the United
-States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
-considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
-with these requirements. We do not solicit donations in locations
-where we have not received written confirmation of compliance. To
-SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
-particular state visit http://pglaf.org
-
-While we cannot and do not solicit contributions from states where we
-have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
-against accepting unsolicited donations from donors in such states who
-approach us with offers to donate.
-
-International donations are gratefully accepted, but we cannot make
-any statements concerning tax treatment of donations received from
-outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
-
-Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
-methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
-ways including checks, online payments and credit card donations.
-To donate, please visit: http://pglaf.org/donate
-
-
-Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
-works.
-
-Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
-concept of a library of electronic works that could be freely shared
-with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
-Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
-
-
-Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
-editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
-unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
-keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
-
-
-Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
-
- http://www.gutenberg.org
-
-This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
-including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
-subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
diff --git a/59374-h/59374-h.htm b/59374-h/59374-h.htm
index 61553e3..ffca9c4 100644
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<body>
-<pre>
-
-The Project Gutenberg EBook of Die Steinbergs, by Josephine Siebe
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
-almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
-re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
-with this eBook or online at www.gutenberg.org/license
-
-
-Title: Die Steinbergs
- Eine Erzählung aus der Zeit der Befreiungskriege
-
-Author: Josephine Siebe
-
-Illustrator: Wilhelm Roegge
-
-Release Date: April 27, 2019 [EBook #59374]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE STEINBERGS ***
-
-
-
-
-Produced by Norbert H. Langkau, Matthias Grammel and the
-Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
-
-
-
-
-
-
-</pre>
+<div>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 59374 ***</div>
@@ -6879,378 +6843,7 @@ konntest du nicht finden!«</p>
-<pre>
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Die Steinbergs, by Josephine Siebe
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE STEINBERGS ***
-
-***** This file should be named 59374-h.htm or 59374-h.zip *****
-This and all associated files of various formats will be found in:
- http://www.gutenberg.org/5/9/3/7/59374/
-
-Produced by Norbert H. Langkau, Matthias Grammel and the
-Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
-
-
-Updated editions will replace the previous one--the old editions
-will be renamed.
-
-Creating the works from public domain print editions means that no
-one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
-(and you!) can copy and distribute it in the United States without
-permission and without paying copyright royalties. Special rules,
-set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to
-copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to
-protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project
-Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
-charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you
-do not charge anything for copies of this eBook, complying with the
-rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose
-such as creation of derivative works, reports, performances and
-research. They may be modified and printed and given away--you may do
-practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is
-subject to the trademark license, especially commercial
-redistribution.
-
-
-
-*** START: FULL LICENSE ***
-
-THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
-PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK
-
-To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free
-distribution of electronic works, by using or distributing this work
-(or any other work associated in any way with the phrase "Project
-Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project
-Gutenberg-tm License (available with this file or online at
-http://gutenberg.org/license).
-
-
-Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm
-electronic works
-
-1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
-electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
-and accept all the terms of this license and intellectual property
-(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
-the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy
-all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession.
-If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project
-Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the
-terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or
-entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8.
-
-1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be
-used on or associated in any way with an electronic work by people who
-agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
-things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
-even without complying with the full terms of this agreement. See
-paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
-Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
-and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
-works. See paragraph 1.E below.
-
-1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
-or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
-Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
-collection are in the public domain in the United States. If an
-individual work is in the public domain in the United States and you are
-located in the United States, we do not claim a right to prevent you from
-copying, distributing, performing, displaying or creating derivative
-works based on the work as long as all references to Project Gutenberg
-are removed. Of course, we hope that you will support the Project
-Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by
-freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of
-this agreement for keeping the Project Gutenberg-tm name associated with
-the work. You can easily comply with the terms of this agreement by
-keeping this work in the same format with its attached full Project
-Gutenberg-tm License when you share it without charge with others.
-
-1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
-what you can do with this work. Copyright laws in most countries are in
-a constant state of change. If you are outside the United States, check
-the laws of your country in addition to the terms of this agreement
-before downloading, copying, displaying, performing, distributing or
-creating derivative works based on this work or any other Project
-Gutenberg-tm work. The Foundation makes no representations concerning
-the copyright status of any work in any country outside the United
-States.
-
-1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:
-
-1.E.1. The following sentence, with active links to, or other immediate
-access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear prominently
-whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work on which the
-phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the phrase "Project
-Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed,
-copied or distributed:
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
-almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
-re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
-with this eBook or online at www.gutenberg.org/license
-
-1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is derived
-from the public domain (does not contain a notice indicating that it is
-posted with permission of the copyright holder), the work can be copied
-and distributed to anyone in the United States without paying any fees
-or charges. If you are redistributing or providing access to a work
-with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the
-work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1
-through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the
-Project Gutenberg-tm trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or
-1.E.9.
-
-1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
-with the permission of the copyright holder, your use and distribution
-must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional
-terms imposed by the copyright holder. Additional terms will be linked
-to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the
-permission of the copyright holder found at the beginning of this work.
-
-1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
-License terms from this work, or any files containing a part of this
-work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.
-
-1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
-electronic work, or any part of this electronic work, without
-prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
-active links or immediate access to the full terms of the Project
-Gutenberg-tm License.
-
-1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
-compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any
-word processing or hypertext form. However, if you provide access to or
-distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format other than
-"Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official version
-posted on the official Project Gutenberg-tm web site (www.gutenberg.org),
-you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a
-copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon
-request, of the work in its original "Plain Vanilla ASCII" or other
-form. Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm
-License as specified in paragraph 1.E.1.
-
-1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
-performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
-unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.
-
-1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
-access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works provided
-that
-
-- You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
- the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
- you already use to calculate your applicable taxes. The fee is
- owed to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he
- has agreed to donate royalties under this paragraph to the
- Project Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments
- must be paid within 60 days following each date on which you
- prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax
- returns. Royalty payments should be clearly marked as such and
- sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the
- address specified in Section 4, "Information about donations to
- the Project Gutenberg Literary Archive Foundation."
-
-- You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
- you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
- does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
- License. You must require such a user to return or
- destroy all copies of the works possessed in a physical medium
- and discontinue all use of and all access to other copies of
- Project Gutenberg-tm works.
-
-- You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of any
- money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
- electronic work is discovered and reported to you within 90 days
- of receipt of the work.
-
-- You comply with all other terms of this agreement for free
- distribution of Project Gutenberg-tm works.
-
-1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm
-electronic work or group of works on different terms than are set
-forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
-both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
-Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark. Contact the
-Foundation as set forth in Section 3 below.
-
-1.F.
-
-1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
-effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
-public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
-collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic
-works, and the medium on which they may be stored, may contain
-"Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or
-corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual
-property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a
-computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by
-your equipment.
-
-1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
-of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
-Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
-Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
-Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
-liability to you for damages, costs and expenses, including legal
-fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
-LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
-PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
-TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
-LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
-INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
-DAMAGE.
-
-1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
-defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
-receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
-written explanation to the person you received the work from. If you
-received the work on a physical medium, you must return the medium with
-your written explanation. The person or entity that provided you with
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-refund. If you received the work electronically, the person or entity
-providing it to you may choose to give you a second opportunity to
-receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy
-is also defective, you may demand a refund in writing without further
-opportunities to fix the problem.
-
-1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
-in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
-WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
-WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
-
-1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
-warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
-If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
-law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
-interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
-the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any
-provision of this agreement shall not void the remaining provisions.
-
-1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
-trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
-providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
-with this agreement, and any volunteers associated with the production,
-promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
-harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
-that arise directly or indirectly from any of the following which you do
-or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
-work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
-Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
-
-
-Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
-
-Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
-electronic works in formats readable by the widest variety of computers
-including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
-because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
-people in all walks of life.
-
-Volunteers and financial support to provide volunteers with the
-assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
-goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
-remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
-Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
-and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
-To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
-and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.
-
-
-Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
-Foundation
-
-The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
-501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
-state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
-Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
-number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
-http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
-Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
-permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
-
-The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
-Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
-throughout numerous locations. Its business office is located at
-809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
-business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
-information can be found at the Foundation's web site and official
-page at http://pglaf.org
-
-For additional contact information:
- Dr. Gregory B. Newby
- Chief Executive and Director
- gbnewby@pglaf.org
-
-
-Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
-Literary Archive Foundation
-
-Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
-spread public support and donations to carry out its mission of
-increasing the number of public domain and licensed works that can be
-freely distributed in machine readable form accessible by the widest
-array of equipment including outdated equipment. Many small donations
-($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
-status with the IRS.
-
-The Foundation is committed to complying with the laws regulating
-charities and charitable donations in all 50 states of the United
-States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
-considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
-with these requirements. We do not solicit donations in locations
-where we have not received written confirmation of compliance. To
-SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
-particular state visit http://pglaf.org
-
-While we cannot and do not solicit contributions from states where we
-have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
-against accepting unsolicited donations from donors in such states who
-approach us with offers to donate.
-
-International donations are gratefully accepted, but we cannot make
-any statements concerning tax treatment of donations received from
-outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
-
-Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
-methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
-ways including checks, online payments and credit card donations.
-To donate, please visit: http://pglaf.org/donate
-
-
-Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
-works.
-
-Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
-concept of a library of electronic works that could be freely shared
-with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
-Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
-
-
-Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
-editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
-unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
-keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
-
-
-Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
-
- http://www.gutenberg.org
-
-This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
-including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
-subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
-
-
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+<div>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 59374 ***</div>
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