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| author | nfenwick <nfenwick@pglaf.org> | 2025-02-09 13:38:32 -0800 |
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Vor der nächststehenden waren zwei Pfähle aus +Ebenholz, einer immer etwas höher als der andere, so daß sie eine Treppe +bildeten, und indem er noch dachte, es müßten, da sie sich gegenseitig +stets überhöhten, doch wohl mehr als nur zwei Pfähle sein, war er schon +hinaufgestiegen, beugte sich über den rundwulstig nach innen gebogenen +Rand der Muschel und sah, daß eine Wendeltreppe hinunterführte. Er stieg +sie hinab, sie wand sich ins Bodenlose unter seinen Füßen fort, es ward +Abend und Finsternis, dieweil er stieg, aber dann wußte er, daß er +wieder die verbotene Treppe im Trassenberger Pallas beging. Diesmal aber +war die Tür doch offen, es wehte eisigkalt aus dem Gang, Georg wußte, +daß ein solcher da war, ohne ihn sehen zu können, und tastete sich +furchtsam, mit beiden Händen die ganz nahen Wände streifend, vorwärts. +Bald kam er an eine Biegung, an eine andere, es ging rechts, ging links, +Georg dachte: gleich muß die Falltür kommen, er schritt immer langsamer, +in großer Angst, auf einmal war eine schwarze Türöffnung da und hinter +ihr das Bodenlose. Die Angst verschlug ihm den Atem, er wußte, daß er +sterben, daß er hinunterstürzen und zerschellen sollte, nein, er wußte, +schon wenn er fiele, würde alles aus sein, und schon wich der Boden, er +fiel, er löste sich, rücklings sinkend, auf in den Tod, noch denkend, es +ist ja gar nicht so schlimm, das Sterben -- -- + +Da schlug er die Augen auf. + +Eine Weile unbegreifend, wo er sich befand, erkannte er langsam die +braune Tür gegenüber mit dem hellen Lichtspalt von nebenan, dann in der +Ecke rechts davon den kleinen Kamin mit dem Schattenriß des hängenden +Teekessels über der roten Glut -- langsam das ganze, kleine Zimmer, +gefüllt mit Schatten, den Schattenriß des Tisches zwischen Kamin und dem +Sofa, auf dem er saß, und er hörte die englischen, losen Schiebefenster +knacken und leise prasseln unter gelinden Stößen des Nachtwinds. Im +Nebenzimmer räusperte sich jemand, Benno ... Da saß er unsichtbar und +komponierte bei seiner Lampe ... + +Im selben Maß wie die Schlafbenommenheit entwich auch die Erscheinung +des Traumes, nur die Erinnerung an den finstern Gang blieb noch; ihn +schauderte leise im Gedanken des Sterbens, wie er sich auflöste, +angstvoll und doch schon beruhigt ... + +Da aber sah er wieder, wie immer, Renate, abgewandt von ihm, durch ein +Zimmer gehn, undeutlich, nur ihre Erscheinung, fast nur ihre Haltung, +als komme sie aus der Tür und ginge zu -- zu einem Tisch -- Georg sah +ihn nicht -- und legte etwas darauf, ein Buch, ein Schlüsselbund, worauf +sie sich auflöste ... Immer dieselbe Erscheinung ... + +Georg stand, trunken von Schlaf und Gefühl, vom Sofa auf, legte ein paar +Stücke Holz in die Glut, setzte sich daneben auf den Stuhl am Tisch, +klappte den daliegenden Briefblock auf, ergriff die Feder und stürzte +sich ins Schreiben. + +Serk, schrieb er, im Mai. + +Galatea, o Galatea! Ich sterbe, ich sterbe ja vor Heimweh nach Dir! Im +Traum eben litt ich einen leichten Tod, Du warst nicht in dem Traum, ich +verstehe es nicht, wie konnte der Tod leicht sein ohne Dich! An meinem +Leibe sind alle Adern geöffnet, das Blut strömt, auf jeder Welle +entschwimmt mir Dein Lächeln mit dem fortfließenden Leben ... + +Soll ich Dir Träume erzählen, süße Seele? Komm, höre einen Traum! + +Es war ein Garten und ein Gebüsch. Eine Stimme war im Gebüsch, sie +rauschte nur. Da kam ein Arm hervor, der die Zweige nach oben hob, ein +weißer Arm, dann stand eine Frau in der Aprilnacht, holte zwei Schwerter +hinter dem Rücken hervor, in jeder Hand eines, und stieß sie mir durch +Rücken und Brust ... + +In einer Nacht aber hatte ich diesen Traum: + +Ich ging am Strande des Ozeans, da sah ich das Meerweib von fern. Sie +stand, nahe von ihr war ein Felsenbogen, ein gewaltiger Grotteneingang, +und sie stand, als habe sie beim Auftauchen aus der dunklen See eine +Glocke von Gewässer mit hochgenommen, die wölbte sich nun als schwarzes +Kleid um ihre untere Hälfte, um die obre hing Wellenschaum als weißes, +dreieckiges Tuch mit langen, fließenden Fransen. So stand sie, die Hand +am Kinn, in der anderen den Ellenbogen, sinnend, aber sie sang, ich +hörte ihre Stimme: + + Einsamkeit -- -- + + Einsamkeit, du schöner Born + Stillgewordner Seelenklagen! + Rausche durch das Muschelhorn + Tönend in den langen Tagen. + + Wenn der Gott das Horn ergriff, + Rollt der Donner an den Küsten, + Und es dröhnt des Gottes Schiff, + Und es tönt -- -- + +Einsamkeit -- -- schrieb Georg noch, dann riß es ab, denn er hatte: >und +es tönt in meinen Brüsten< schreiben wollen, verdrängte es aber, da es +ihm frivol und unpassend vorkam, insgeheim derartig von ihr zu sprechen, +als ob er sie entkleidete, ohne daß sie's wußte; dann kam ihm auch der +Reim zu alltäglich und gemein -- heutzutage -- vor, er ergänzte noch +teilnahmslos die Lücke mit: >in Felsgerüsten<, hörte nervös das störende +Geklapper des Deckels auf dem Teekessel und hockte sinnlos. Vor seinen +Augen verging der rötlich durchschienene Dampfstrahl aus der Tülle, +nebenan wurde ein Stuhl gerückt, Benno ging behutsam durch das Zimmer, +dann klangen ein paar Griffe auf dem Klavier und plötzlich ein leiser +Akkord von solcher Süßigkeit, daß Georgs Herz sich zusammenzog. Angst, +Sehnsucht, Schwermut sogen gewaltsam an seiner Brust; warum sitze ich +hier? dachte er schwer. + +Gedankenlos, nur um etwas zu tun, zog er die Schieblade gegen seinen +Leib auf, holte eine Wachstuchkladde heraus und schlug sie auf. _La vita +nuova_ stand groß und einsam auf der ersten Seite. Georg machte +kritische Augen. Auf der nächsten stand ebenso vereinsamt: Galatea ... + +Georg schlug willkürlich einige Blätter um und las: + +»Die See war schwarz und eigentlich unsichtbar, aber über ihren Rand aus +dem Nichts stieg eine rote Scheibe, glühte und war ein großer, runder +Fisch, der über das schweigsame Meer herschwebte. Auf seinem Rücken +stand ein schwarzer Mann wie ausgeschnitten, mit einem abstehenden Kranz +von wildem Haar, hielt ein Muschelhorn an den Mund und blies unhörbar. +Da sagtest du: man muß die Einsamkeit in das Herz schießen. Ich hatte +aber nur eine kleine Gummizwille in der Hand, wie wir sie als Jungens +machten. Da zielte ich auf den Fisch, und wie ich ihn traf, blieb er +langsam stehn, wurde wieder ganz rund und wedelte einmal mit dem +Schwanz. Dann zauberte er ein glotzendes, grünes Auge in sich hinein, +sah mich boshaft damit an und versank in die Flut, wo er sichtbar blieb +im Tiefersinken, dieweil das Wasser in schwarzen Falten über ihn +hinging. Der Mann, sein Horn noch immer am Munde, sank mit, und da wußte +ich, daß das Ganze aus Pappe geschnitten und ein kleines Theater war +...« + +Georg hob die Augen vom Ende der Seite, griff eine Zigarette aus dem +Kasten, tastete, völlig aufgelöst in Bewußtlosigkeit, nach den +Streichhölzern und blieb hocken, die Zigarette im Munde, minutenlang. + +Der Teekannendeckel klapperte irrsinnig. Georg fuhr mit einem Ruck aus +sich auf, hob den Kessel aus den Haspen und setzte ihn auf die Erde, wo +er noch eine Weile ingrimmig vor sich hin kollerte und prustete, bis ihm +der Atem ausging und er verstummte. Die Blätter des Hefts hatten sich in +die Höhe gesträubt, Georg las irgendwo die Worte: + +»Es giebt nichts, wozu man die Natur nicht gebrauchen könnte; ich will +sie als Medikament gebrauchen. Es muß mir gelingen, einige Zeit ohne +Gedächtnis zu leben. Wenn es nicht geht, werde ich es Benno übergeben. +Es giebt nichts, was man ihm nicht anvertrauen könnte.« + +Ja, ja ... + +Die Nacht war totenstill, nichts zu hören vom Meer. Da saß man nun +mitten im riesigen Kanal, die ungeheure Brust des Atlantischen Ozeans +drängte gegen ihn heran, fern überall in ihrer Einsamkeit wanderten die +Schiffe ... + +Angst lag auf Georgs Brust. Hatte sich irgend etwas geändert? War irgend +etwas klarer geworden? Ach, wenn doch Benno Klavier spielen wollte, daß +er sich ins Dunkel daneben setzen könnte und wie als Knabe, wenn Onkel +Salomon einmal spielte, das Ohr gegen die tönende Wand legen und sich +vergessen im Staunen über das drinnen tosende musikalische Rumoren. Ach +nein, er hatte Benno sein Gedächtnis nicht anvertraut, immer standen +Dinge bevor, die er nicht begriff, als sollte er sich am nächsten Tag +zur Bedienung einer Maschine stellen, von deren Bau und Wirkung er keine +Ahnung hatte ... + +Georg blätterte weiter in seinem Heft, über Seiten voller Verse hin, +Sonette, Sonette, Sonette, und: welche Kunst, dachte er, seine Stimmung +vermittels plausibler Vergleichungen zum Ausdruck zu bringen! -- Dann +kamen wieder Briefe an sie, die er Galatea nannte -- indem es ja sein +höchster und heimlichster Traum war, daß sie, dieser wunderbarlichste +Marmor in Frauengestalt, durch ihn zum warmen Leben sich einführen +lasse, -- Ergüsse, Lobgesänge, Gebete, Beichten in blumenreicher Prosa +... + +Und wiederum sah er ihre ungewisse Gestalt, abgewandt von ihm, hingehn +und -- -- entschwinden in die Luft. + +Da stand geschrieben: + +»Ich reinige meinen inneren Menschen. Ich werde ein Stück Natur, +Erdboden, wenn mich der Sonnenschein, Baum, wenn mich der Wind, hohle +Muschel, wenn der unablässige Donner der See mich mit lärmendem Geläute +erfüllt. Luftiger, offener, ausgebreiteter wird mein Wesen, ich fühls, +ich leere, ich reinige mich. --« + +Haben wir uns gereinigt, Benno? Gute Seele, was stauntest du doch über +dies ossianische Eiland von grauem und rötlichem Fels, dies titanische +Gefüge, Grotten, Felsenbögen und Höhlen wie auf Odysseebildern von +Preller. Und ringsum der gewaltige Kanal. Da ließen wirs uns wohl sein, +rollten im Ufersand gegen die Brandung, stürmten über den Felsendamm +zwischen den beiden Inselhälften, hundert Meter über der Meeresfläche, +mit flatternden Hemdkragen gegen den offenen Himmel, gegen den wild +anrennenden Wind, schrien den englischen Möwen auf Deutsch +unverständliche Beschimpfungen zu -- dann --, dann schoß ich Kaninchen +auf dem Eilande Brechou, und du bewundertest mich dabei. Ach, immer hast +du mich bewundert! Als ichs allein nicht mehr ertragen konnte, als mir +eines Tages das Gedächtnis alles Gewesenen wie ein Baum aus dem Haupt +wuchs und riesige Früchte, die herunterstürzten, mich zu erschlagen +drohten, da -- ja, da vergingst du in Schaudern über das unerhörte +Begebnis und in Bewunderung meiner, der sicherlich das Richtige treffen +würde ... + +Und Georg erinnerte sich, wie sie nächtelang miteinander sich +besprochen, den Zweikampf wie mit beweglichen Puppen gefochten hatten, +des Ideales hier, ein Fürst zu werden, wie die Welt einen verlangte, der +Wahrheit dort, die Selbsterniedrigung von ihm forderte. Aber die Fehde +blieb immer unentschieden, sie verstummten, schlichen trübe umher -- +nun, Benno freilich tat das nicht lange, er hatte ja unendlichen Mut +geschöpft, und nachdem er früher kaum gewagt hatte, eine Zeile zu +schreiben, aus Furcht, Beethoven könnte es ihm verargen, so getraute er +sichs nun, es mit allen Stimmen des Ozeans und der Winde aufzunehmen ... + +Und dann lagen wir auf einer der grünen, windüberstrichenen Inseln im +Innern, gaben uns kummerlos der Sonne preis, träumten Buntes und +Phantastisches, für Benno Unerhörtes, Gloria und Kränze, Frauen und +Wettrennen, Yachten unter Riesensegeln und weiße, nackte Frauenleiber in +einer azurenen See und in paradiesischem Durcheinander mit gestreiften, +gelben Tigern und schwarzen Leoparden. + +Bennos Schritte näherten sich der Tür, Georg hörte ihn fragen hinter +seinem Rücken: »Schreibst du?« + +»Nein, ich lese bloß! Du willst wohl schlafen gehn?« + +Sich wendend sah er Benno, so lang er war, noch dünn- und langhalsiger +in dem aufgeschlagenen Hemdkragen, Gesicht und Augen durchglüht und +beschämt von Visionen, durchs Zimmer gehn und sich aufs Sofa setzen, +gleich die Beine übereinanderlegend und sich schmal machend vor +angeborener Demut. Der rötliche Schnurrbart hing zerzaust und wie +bestraft, die Augen gingen -- wie immer -- nach oben. + +»Sieh mal, was ich da geschrieben habe«, sagte Georg, nachdem Benno +etwas wie »gar nicht müde« gemurmelt hatte, und las: + +»Widersetze dich niemals einer Erkenntnis. Jede seelische Geste, +festgehalten in der Anmut gereimter Zeilen, strömt eine bestrickende +Glaubwürdigkeit aus. Je leichter dir das Versemachen fällt, um so +schöner werden deine Empfindungen. Es ist doch nur ein papierener +Frühling. Wind und Sterne, Mond und Sonne, Wogen und Möwen, das alles +treibt dich rundum, und am Ende liegst du da. Du bist nur ein +Naturkreisel. -- Horch, Benno, es giebt noch einen Zusatz. Zusatz: +Wirbelt die Oberfläche eines buntbemalten Kreisels herum, so schwinden +die Farben in belangloses Grau. So ist es auch mit der Seele. Wenn sie +aber daliegt und stille wird, zeigt sie lieblich ihre reinen, farbigen +Kreise ...« + +Benno saß und lächelte freundlich. + +»Benno, was denkst du?« + +»Ich? Ach! Ich dachte«, sagte er schamvoll mit seiner gebrochenen +Stimme, »an den Kiwi in Unterprima und --« + +»Ach, weil ich von physikalischen Dingen rede, denkst du an +Physikprofessoren! Ach du mein Gott, diese Physikstunden waren das +Gräßlichste auf der Welt! Und wenn er mal ein Experiment machte, ging +alles kaputt. Ja, da sitzen wir nun im Kanal ...« + +Benno erhob sich mit einem Ruck zu seiner Länge und trat an das Fenster, +stützte die Hände auf und sah in die Nacht. -- Ich glaube, dachte Georg, +er hat Heimweh. + +Nach einer Weile, da weiter nichts geschah, sagte er: + +»Ja, wie ist es, Benno, wenn du nicht zu müde bist, könnten wir ja noch +einen Schritt vor die Tür und das Meer besehn ...« + +Benno drehte sich still um; sie gingen hinaus und durch den engen, +warmen Flur voller Schränke ins Freie. Die Nacht war dunkel, von den +erloschenen Häusern kaum hier und da eine weiße Wand im Finstern zu +erkennen; oben segelte der kleine Mond hastig durch silbergraues, +bewegtes Gewölk. Da! -- sagte die Kälte, indem sie auf die Stelle mitten +auf Georgs Kopf, wo die Kompresse endlich entfernt war, aber noch das +Haar fehlte, ihren kalten Finger setzte. -- Als sie um die Hausecke +bogen, warf sich der Seewind ihnen straff entgegen; Georg wars, als +legte er ihm miteins ein glattes Kleid von Kühle um den ganzen Leib. Vor +ihnen lag die schwarze Fläche von Haidekraut, die sich ins Nichts +verlor; da und dort, über der unsichtbaren See in der Tiefe, war ein +vereinsamtes Sternlicht. Langsam, während sie auf dem schmalen Pfad von +Klinkern dahingingen, wurde die Brandung hörbar und lauter. + +Eine leise Melodie, von Benno gepfiffen, ein kleines, getragenes Stück +in Moll, zärtlich, feierlich, plötzlich abbrechend, wehte an Georgs Ohr, +einmal und noch einmal. Er fragte: »Was ist das, Benno?« + +Ja ... es sei das Thema des ersten Satzes: Sehnsucht nach der Ebene. Und +übrigens hätten sich ihm, als er es fand, von selber die Worte +unterlegt: Denk ich an Deutschland in der Nacht ... + +»Ach, denkst du an Deutschland in der Nacht, Benno?« + +Benno schwang einen Arm, warf den Kopf zurück -- Georg konnte die Haare +im Dunkel flattern sehn -- und war ein wenig entrüstet. Ob es nun +vielleicht eine Schande sei, Heimweh zu haben! + +»Ach,« sagte er, »ihr seid ja nun Alle Europäer! Aber wenn du dichtest, +Georg, dichtest du dann vielleicht europäisch? Dichtest du +international?« + +»Aber die Musik, Benno? Überhaupt alles Geistige, Kunst, Wissenschaft, +sind sie nicht allgemein?« + +»Der Stoff, Georg, ach natürlich doch, der Stoff! Sind wir nicht Alle +Menschen? Der Gedanke der Verbrüderung ist natürlich herrlich! Aber im +Geist war sie doch immer schon da, und dem Bauern und dem Handwerker, +wenn er einen Schrank macht oder Rüben baut -- was soll dem +Verbrüderung? Keine Feindschaft soll sein, keine gegenseitige +Verachtung, alle sollen sich gelten lassen und ertragen, jawohl, aber -- +das ist doch weiter nichts als Menschenpflicht, da ist doch der nächste +Nachbar der nächste Anlaß, dergleichen zu üben, und wozu brauchts da +fremde Völker und Erdteile? Das Gute kommt doch immer von selbst.« + +Benno mußte schreien, so laut war nun der Donner der Brandung. Georg sah +im Finstern vor sich die Zaunpfähle am Rande des Abgrunds; jetzt bog ihr +Weg ab und begann langsam anzusteigen; alsbald erschien auch der +Schattenriß des kleinen Pavillons über ihnen in der Nacht. Georg sah +Helenenruh, das weiße Haus, Wiesen und Park, eine sonnige Insel; dann +erschien die Goethestraße in Altenrepen, sein Schulweg, das rote, +vielfenstrige Haus mit der Sonne überm Türmchen. Ja, er hatte wohl auch +ein wenig Heimweh ... + +Sie betraten den Bretterboden des Pavillons, traten an die hölzerne +Brüstung und stützten sich darauf. Alle Hörner der See stießen ihr +gewaltiges Gebrüll aus; sich überneigend sah Georg, schaudernd vor der +Tiefe, den weißen Gischt, wie er sich wütend aufwarf und zerflog. Da war +nun, unsichtbar, unermeßlich nach Westen hin die schwarze, bewegliche +Meeresebene, meilenweit kalte Wasser, Bergtiefen der Gewässer. Ein, zwei +rötliche Lichter in der Ferne schienen eine Küste zu bedeuten, aber es +waren Schiffe, in ungeheurer Einsamkeit verlassen durch die schwere See +hinstampfend, aber innen in ihnen war es doch wieder warm und hell, +waren Tische und Lampen, Keller und Lager voll Geruch von Teer und +Waren, Kabinen voll Schlaf ... Seltsam, diese winzigen, fahrenden Wohn- +und Kaufhäuser in der Meeresfinsternis ... + +Georg ließ sich auf die Bank nieder, leise betäubt vom Brausen der +Tiefen, Benno blieb am Pfeiler stehn. + +»Und die schönsten Dinge, Georg,« sagte er plötzlich mit Eifer, »die +schönsten Dinge der Welt giebt es doch nur in Deutschland.« + +»Zähle auf, Benno, zähl auf!« + +Benno schöpfte tief Atem. + +»Eine deutsche Sommernacht«, sagte er. + +»Ja, Benno, da hast du recht. >Wenn die Brunnen verschlafen rauschen<, +nicht wahr? Und Kornfelder im Mondschein und silberne Ritter von Thoma +auf allen Hügeln, die Wache halten. Oder -- nein so, Benno: Eine +Mondnacht ... Ein Stück weißer Straße -- und eine weiße Hauswand mit +dunklen Fensterscheiben, Gartenmauer, weiß, und darüber die dunklen, +schweren Baumwipfel, in denen der Nachtwind rieselt -- rieselt --, nun +hier -- nun da, nun rauschend, nun ganz leise nur -- knisternd, daß du +fast die einzelnen Blätter sehen kannst, die sich wenden ...« + +»Ja, Georg! ja!« + +»Und -- -- kennst du das von Rilke: + + Und dann ein Rauschen und ein Ruf der Ronde, + Und eine Weile bleibt das Schweigen leer, + Und eine Geige dann ... + ... und sagt ganz langsam: Eine Blonde ...« + +Benno war begeistert. »Eine Blonde!« hauchte er. »Ja, ein blondes +deutsches Mädchen, das gehört auch zum Schönsten!« + +»Ich will sie dir nicht rauben, deine Blonden,« sagte Georg, »aber ich +bin nun mal mehr für Dunkel.« + +»Du für Dunkel, Georg? Aber Renate?« + +»Renate? Ach, erstens ist sie nicht blond! Sowas nennt sich nicht blond, +und zweitens: ist sie vielleicht ein Mädchen?« + +Benno sagte, das verstünde er nicht. Georg wußte es selber nicht zu +erklären. Nein, dachte er, sie ist weder Mädchen noch Frau, aber sie ist +-- -- als wäre sie drei Nächte lang die Geliebte eines Gottes gewesen, +und ist verzaubert von unsterblichen Küssen und überweltlicher Hoheit. +-- Aber wieso sagte ich nur eben, ich wäre für Dunkel? Magda ist doch +blond -- ja, deshalb liebte ich sie wohl auch nicht richtig! -- Iris +Runges elfenbeinernes Gesicht erschien ihm da und die türkisfarbenen +Augen im schwarzen Oval der Haare. + +»Zähle weiter, Benno, was giebt es noch?« + +»Ach, der Frühling, Georg, einen deutschen Frühling, giebt es den +vielleicht in Italien oder in Indien! Wenn die Ebenen noch ganz grau +sind und ferne Wälder durchsichtig und kahl, und die Wolken gehen so +niedrig und langsam übers Land. Der Wind ist feucht, man riecht die +Erde, und irgendwo stehen schon Primeln ...« + +»Ach, wohl, Benno, wohl, und ein deutsches Ährenfeld, du sagtest es +schon! Diese Gelbe, und das lange Schwanken der glatten Mauer und +Lerchen im Sommersonntag und ganz ferne Glocken!« + +»Und bist du einmal im Herbst über Land gegangen, Georg --« + +»Deutsche Herbstwälder, Benno, mein Gott ja, deutsche Herbstwälder +giebts auch in Griechenland nicht! Goldgelbes Birkenlaub in flammend +blauen Lüften ...« + +»Ja, und ich dachte eben an die Ebene. Im September, wenn die weißen +Morgennebel alles rings verschließen, und die Sonne bricht nun durch, +und auf einmal ist da eine glühende, weiße, beleuchtete Hauswand, dann +siehst du das Dach, und nun die Kronen von Obstbäumen, dunkelgrün, +triefend naß, nun die roten Flecke der Äpfel, und am Zaun, der auf +einmal aus den weißen Tüchern kommt, lehnt vielleicht ein ganz blaues +Waschfaß ...« + +»Herbstkräftig,« murmelte Georg und fuhr lauter, damit Benno ihn hören +könne, fort: »herbstkräftig die gedämpfte Welt -- In warmem Golde +fließen ...« + +»Ach, ja, Georg, und die Dichter, glaubst du denn, daß je irgendwo die +Dichter so ihr Land ausgesaugt hätten wie Eichendorff und Lenau, und wie +Claudius und George? Wie war doch das noch: >Im Morgentaun -- trittst du +hervor --<. Von George, ich weiß es nicht mehr, du lasest es vor ...« + +Georg fuhr leise und seltsam schmerzlich fort: + + »Den Kirschenflor + Mit mir zu schaun. + Duft einzuziehn + Des Rasenbeetes ... + Durch die Natur + Noch nichts gediehn + Von Frucht und Laub. + Rings Blüte nur ... + Von Süden weht es ...« + +Benno, zu seinem Munde herabgebeugt, wiederholte voll Inbrunst: »Von +Süden weht es ...« Dann warf er sich mit einem Ruck hoch, trat weg und +setzte sich auf die Bank. + +»Ja, da sitzen wir nun im atlantischen Kanal in der Nacht und haben +Heimweh nach Deutschland. Wenn wir jetzt Wiener wären und an Wien +dächten, so würden wir weinen«, murmelte Georg. Aber im selben +Augenblick brach alles immer Unterdrückte mit einer solchen Wucht in ihm +los, daß er aufsprang, den Holzpfeiler neben Benno mit beiden Fäusten +packte und, die Stirn darangepreßt, ächzte: + +»Verstehst du es denn, Benno, ja versteht es denn _ein_ Mensch, was das +heißt, nicht mehr zu wissen, woher man kommt? Und ich, Benno, ich, der +immer so stolz war auf Ahnen und alle Vergangenheit und Zusammenhänge, +und daß all das nun Lüge war, Unsinn, gemeine, scheußliche, stinkende +Lüge und Irrtum --« Er brach ab und schüttelte sich. + +Einen Augenblick später sich wieder aufrichtend und Haltung nehmend, +trat er von Benno fort und lehnte sich mit dem Leib gegen die Brüstung +und über das Meer. Hinter sich wußte er Benno, der so still in sich saß +vor Scheu und Ergriffenheit, daß sich keine Muskel und keine Faser an +ihm bewegte. Und wiederum erschien da, abgewandt, hingehend, die +unsichtbare Gestalt Renates ... + +Seltsam, seit wann ist das nur, daß ich sie so sehe? fragte sich Georg. +Und woher gerade diese Bewegung an ihr? Es giebt ja wohl keine Stellung +oder Lage, keine Tätigkeit und keine Bewegung, in der ich sie nicht +geträumt hätte -- woher nun diese? Als ob sie selber, indigniert, sich +von mir fortwendete, jedesmal, und davonginge. Habe ich sie totgeträumt? +fragte er sich erschrocken. Ja, ist mein Gefühl noch immer so stark wie +im Anfang? Ich glaube -- -- nicht ... Ach, Renate, Renate, warum stehe +ich denn hier über dem finstern Atlant, kalten Gewässern und landfremden +Schiffen? Du bist es doch, die gilt, einzig gilt! Dich zu krönen, aus +den Sternen den Thron, für dich, für dich, das ist doch -- nun, wenn +nicht das Ziel selber, doch der Leib, in dem es sich irdisch darstellen +muß, um möglich zu werden. Nein, nun ertrage ich es nicht mehr. Dies ist +ja eine dergestalt menschliche Angelegenheit, daß tatsächlich nichts +weniger helfen kann als Fels und Meereswoge. Ich muß unter Menschen. Die +Maske muß probiert werden, das Herz angestoßen werden auf reinen oder +unreinen Klang. + +»Wie ist es, Benno,« sagte er, sich umwendend, »wenn wir morgen fahren, +kann ich noch eben rechtzeitig zur Einschreibung ins Semester kommen.« + +Benno sprang auf. + +»Ja,« sagte er, lang dastehend, aus tiefster Seele, »ja, reisen wir!« + +Neben Georg tretend, legte er einen Arm um seine Schulter. Lange standen +sie so, der Raum füllte sich mit dem Brausen der Tiefen, schläfriger +dachte Georg an Deutschland, an Altenrepen und verlangend und +hoffnungsvoll an einen Garten, Orgel und Liebe. + + + Magda + +Renate saß spät am Abend an ihrem Schreibtisch, in ihrem Gedächtnisbuch +blätternd, um eine Eintragung zu machen; sie schlug, unschlüssig, wie +beginnen, einige Seiten zurück und las das zuletzt Geschriebene. + + Helenenruh, am 20. April + +Im Grunde bin ich doch froh, daß ich hierhergekommen bin. Zwar kann ich +so gut wie nichts tun, aber sooft ich denke, ich sei überflüssig, so muß +ich nur Magda ansehn und denke gleich, es kommt einmal der Augenblick, +wo sie zusammenbricht, und es ist niemand da, der sie bettet. Und nun, +wo auch Jason al Manach, der die ersten Tage nach meiner Ankunft nur +heiß und stumpf umhersaß, sich mit einer schweren Gehirnentzündung +hingelegt hat, so verbrennt sie ja in Mitleiden und Dienstbarkeit. +Seitdem herrscht tiefe Stille in Helenenruh, nur das Motorrad des +Doktors unterbricht das dumpfe Krankenzimmerschweigen, in dem wir +Frauen, die Domina und die Pflegerinnen, umhergleiten, und während +draußen der April grüne Seiden ausbreitet und die schönen Farben +hineinstickt, lagert im Hause die beständige Dämmerung verschlossener +Vorhänge oder des Nachtlichts und die schwere, dumpfe Luft. + +Was war das doch für ein anderes Helenenruh in Magdas Briefen! Soviel +Trauriges darin war, es war doch das Bogners und der kindlichen Magda, +die ich damals noch vor Augen hatte und nicht auslöschen konnte trotz +dieser fremden Briefe. Dies aber, das ich hier gefunden habe, das weiß +von alledem nichts; es sind nur Wege und Bäume, ein Teich, die Wiesen +und die See, ein schönes Haus mit Sälen und vielen Fenstern, und wenn +ich im Klaviersaal gespielt habe und am Fenster stehe und zum +Verwalterhause hinüberblicke, die Vorfrühlingswolken über dem Park sehe +und den Wind, der silbergraue Streifen über die frisch ergrünte +Wiesenfläche schleppt, so finde ich keine Spur von dem hier, was ich +hineingedacht habe, und ich sehe wohl ein, daß wir alles für uns allein +haben. Die Dinge bleiben sich gleich und lassen uns an sich vorüber. + + am 1. Mai + +Chalybäus hat sich langsam erholt und vor ein paar Tagen sein +Bett verlassen in Gestalt einer schiefen, vertrockneten und +zusammengekrümmten Steinzeitmumie. Gleich verlangte er Wein, und als der +ihm verweigert wurde, bekam er einen Tobsuchtsanfall. Es scheint nichts +anderes übrig zu bleiben, als ihm zu willfahren; der Arzt wenigstens +erklärt, es sei vorläufig nichts zu machen. Nun ist er bei einer +alltäglichen Menge von drei bis fünf Flaschen Rotwein und verhält sich +einigermaßen still. -- Du arme Magda! + +Jetzt beginnt nun auch Jason al Manach, dies fremde Wesen, auf der Bank +neben der Haustür zu sitzen, einer kümmerlichen, weißen Kellerpflanze +ähnlich und zuerst klagend, das Licht stürze sich wie brennende +Vogelschwärme in seine Augen; aber das Brennen hörte auf, nicht nur +seine Augen, sondern auch Lungen und alle Adern sogen still, er genas. + +Viel habe er überstanden, sagte er heut abend zu mir und Magda. Sie +stand in der Haustür nahe bei unserer Bank, über den drei Stufen, ach, +so gebrechlich aussehend von der übermäßigen Anstrengung der Pflege, in +ihrem schlecht und lose sitzenden Hängekleid von Nessel, das Haar in +einem hellen Tuch, unter dem ihre Züge wie ausgewischt erschienen. -- +Man könnte auch sagen, fügte er hinzu, er habe sich selbst überstanden, +und dann sagte er wieder einmal wie in seinen Delirien, aber mit ganz +verständigem Ausdruck etwas sehr Sonderbares. Er habe ihn wohl gesehen, +den großen Grauen am Fußende seines Bettes; freundlich habe er ihn, den +kranken Jason, eingeladen, doch mit ihm zu gehn, aber er habe ihm ruhig +geantwortet, daß er doch selber einsehn müßte, es sei durchaus keine +Kunst, das Leben vermittels des Todes zu überwinden, allenfalls mit +Hülfe des Sterbens, womit er sich ja auch eingehend beschäftige, aber +solange es nach ihm gehe, wolle er nicht völlig sterben, sondern +vielmehr so gesund wie möglich werden, und übrigens glaube er schon +längst nicht mehr überzeugt an die Existenz des vor ihm Stehenden, der +sich denn daraufhin auch achselzuckend entfernt habe. So gesund wie +möglich, wiederholte er bekräftigend -- er glaube, es würde ihm noch +gelingen. -- Magda, schwach und todmüde, begann leise zu weinen, es +dämmerte zwischen den Bäumen, aus dem Heckengang quoll die Nacht, Jason +blickte gegen den hellen, herniederleuchtenden Himmel oben, wir hörten +hinter uns das kleine Weinen rinnen und gedachten des ewigen Lebens. + + am 2. Mai + +O, das sind garstige Dinge, die sich da zugetragen haben! + +Schon längst schien mirs eine fixe Idee von Ch. zu sein, daß der Herzog +ihn tödlich beleidigt habe, daß es ein Verbrechen von ihm, dem Ch., +wäre, nur einen Pfennig vom Herzog anzunehmen -- eine eigentümliche +Veränderung der Sachlage --, und daß daher ihm und seiner Tochter nichts +anderes übrig bleibe, als mit einer Drehorgel auf den Märkten +umherzuziehn. -- Nun war er doch entlassen. Magda zeigte mir einen Brief +vom Herzog an Ch. vor einigen Tagen; darin änderte er einen ersten +Vorschlag an Ch., die Heilanstalt Frankenhöhe aufzusuchen -- da er +mittlerweile vom Arzt erfahren hatte, daß eine Kur vorderhand unmöglich +sei --, in eine Rente nebst freiem Aufenthalt in Helenenruh, Magda +zuliebe, die ja so an H. hängt. Der Brief hatte einen fürchterlichen +Wutausbruch ihres Vaters zur Folge, hinterdrein ein Schreiben an den +Herzog, das er insgeheim Jason diktierte, für den er noch immer eine +schöne Sympathie bewahrt. Darin standen Dinge, von deren Unwahrheit +Jason wohl überzeugt war, vielleicht auch ist sein Denkvermögen noch +immer etwas imaginär, jedenfalls gab er den Brief M., in meiner +Gegenwart. Magda las lange an dem Brief, schob ihn dann zu mir herüber, +ohne das Gesicht zu verziehen, und sah auf den Tisch vor sich. So las +ich denn, daß ihr Vater -- auf welche Weise war nicht zu erkennen -- +Kenntnis erlangt hatte von einem nächtlichen Besuch des Prinzen in +Magdas Zimmer (im vergangenen Juli). Ob ihr Vater nun mehr dazu neigte, +die Ehe zu verlangen, oder ob er nur einen Erpressungsversuch machen +wollte, das war infolge des Jammergeredes, in das er alles wickelte, +nicht deutlich zu erkennen. -- Als ich endlich aufsehn mußte vom Lesen, +fand ich Magdas Augen auf mich gerichtet, so erloschen und hart, daß ich +mehr darin lesen mußte als Abscheu vor ihrem Vater. + +Im ersten Augenblick war ich so erschrocken -- -- Ich sah sie aufstehn +und das Zimmer verlassen, endlich brachte ichs fertig, ihr nachzugehn, +und im Park fand ich sie denn, wie sie wie eine Verlorene schwankend an +den Fliederbüschen hinstreifte, und führte sie sanft ins Haus. Sie blieb +aber stumm -- und was ist auch zu sagen? + +Es ist, als sollt es kein Ende nehmen mit den Lasten, die ihr +aufgebürdet werden. Sogar bereits Überstandenes kommt nun wieder und +trifft sie von neuem und von einer anderen Seite. Gott mag wissen, was +er damit will. + + 6. Mai + +Nun, dies wenigstens hat ein Ende, so ekelhaft es bis zur Neige war. Ich +will auch dies aufschreiben, um mich später zu erinnern. + +Jason schickte Ch.s Diktat an den Herzog mit ein paar Zeilen von ihm +selber, in denen er ihm kühl vorlog, daß Ch.s Verdächtigung +selbstverständlich aus der Luft gegriffen sei. + +Diesen Brief hat der Herzog mit dem von Ch. an seinen Sohn geschickt und +ist nach empfangener Antwort gestern hier eingetroffen. Ich sprach eine +halbe Stunde mit ihm und hätt es gern länger getan. Ich hielt ihn für +einen ergrauten Mann in den Fünfzigern, aber nun ist er kaum +fünfundvierzig und sieht aus wie Ende Dreißig, ein wenig zu bärtig, aber +kühn, und ein Riese, wenn er sitzt. Ihn gehen zu sehn, ist freilich ein +Jammer. Georg also hat gelogen wie Jason, und somit hat der Herzog dem +Ch. einfach eine donnernde, ungeheure Standrede gehalten -- wir konnten +sie in allen Zimmern und bis in den Obstgarten hören -- und ihn +wahrhaftig damit niedergeschmettert. Das alte Vasallenempfinden hat +vielleicht auch mit geholfen, jedenfalls hat er sich geduckt und in +alles gewilligt. Der Herzog hat Magda sehr gestreichelt und gutherzig +bedauert, daß zwischen ihr und seinem Sohne alles aus sei, denn er hätte +sich gefreut und so weiter, und sie solle Helenenruh nur jetzt schon als +ihr Eigentum betrachten, erben würde sie es sicher einmal, und der neue +Verwalter sei unverheiratet und könne vorderhand im Gestüt wohnen. + +Übrigens ist der Herzog ein Filou, denn als der Sandschneider, den er +selber kutschierte, den Heckengang hinunterrollte, stand ich gerade am +Goldregen und schnitt Dolden herunter, und er rief: Danae! daß es +schallte, nickte, freute sich, hieb auf den Schimmel ein und jagte ums +Haus, daß die Funken stoben. + + 12. Mai. (Altenrepen) + +Nun hab ich mein Mädchen hier, zwar auch den Vater in Kauf nehmen +müssen, aber es ist gut so, und mich wird er nicht stören. Er hat nicht +in Helenenruh bleiben wollen, nun wohnen sie ganz in meiner Nähe. Leider +ist Jason al Manach auf der Reise hierher ihnen abhandengekommen. + + * * * * * + +Renate ergriff die Feder und schrieb: + + 18. Mai + +Wieder acht Tage nicht zum Schreiben gekommen. Am Tage nach ihrer +Ankunft legte Magda sich mit Lungenentzündung; von der Pflege der +Andern, von aller eigenen Pein entkräftet, lag sie auf das schwerste +danieder, dies arme Herz weigerte sich, weiterzugehn, und sie begehrte +innig, zu sterben. Diese Gefahr ist nun vorüber, gebe nur Gott, daß es +endlich die letzte war! + +So darf ich denn wieder anfangen, an mich selbst zu denken, denn der +gute Saint-Georges wartet schon lange ungeduldig mit seiner Geschichte +der Vereinigten Staaten, damit ich ihm die in englischer Sprache +geschriebenen Bücher deutsch vorlese; das wird eine schöne und keine +leichte Arbeit werden. + +Und Ulrika und Irene warten auf Musik. Josef, ob du merkst, daß du +vermißt wirst? Freilich mehr dein Cello als du, und dies ist leider +nicht unersetzlich wie du. Saint-Georges hat mir einen Cellisten +versprochen; er trägt den etwas verqueren Namen Sigurd Birnbaum und +studiert Medizin. + +Wohlan, der Tag scheint gefüllt! + + + Bei Saint-Georges + +Renate, zur ersten Arbeitsstunde mit Saint-Georges fahrend, wurde +einigermaßen verwirrt vom haushohen Anblick der roten Gefängnismauer an +der linken Seite der Freiherr-von-Stein-Straße, die sie sich freilich +anders vorgestellt hatte, als Georges ihr den Namen nannte, -- und +gleich darauf hielt der Wagen vor einem ihrer häßlichen Häuser aus rotem +oder gelbem Backstein -- trübe und schmutzig vom Ruß der Fabriken --, +und dieses war gelb obendrein. -- Welch ein Gedanke, dachte sie, +gegenüber vom Gefängnis zu wohnen! Aber paßt er nicht irgendwie zu +meinem stillen Georges? -- Noch fiel ihr sein gelähmter Bruder ein, als +sie den schmalen Hausflur betrat, gleich umhüllt von einem Schwaden von +Gerüchen -- Kartoffeln, Kaffee, Kinder, alte Kleider. Dafür waren die +Wände mit um so köstlicheren, freilich bereits abgeschabten und +zerbröckelten Malereien bedeckt -- eine Schneelandschaft mit Rehen sah +sie im Hindurchgehn. Die ausgetretene Treppe hinansteigend, fing ihr +denn doch einigermaßen zu bangen an vor der möglichen Ärmlichkeit seines +Zimmers, und indem las sie auf der rechten von zwei gelbbraunen, im +Winkel zusammenstoßenden Türen seinen Namen auf einer Besuchskarte, die +an einem Reißnagel hing -- auch das wenig versprechend --, und darunter +war eine Porzellanklingel mit gräßlich hart aussehendem schwarzen Knopf. +Das war er auch, als sie darauf drückte, wobei er mit zähem Widerstreben +einen Ton aufspringen ließ, klanglos wie eine Greisenstimme, dann aber, +beim Loslassen ihres Fingers, noch einen, als sagte er: Da! Bist du nun +zufrieden? -- Renate hatte während des Wartens das peinliche Gefühl, +einen leibhaftigen Adamsapfel mit dem Daumen eingedrückt zu haben, was +sie ein wenig wieder erheiterte. + +Nun kamen eilige Schritte auf weichen Socken oder Filzschuhen, und in +der Tür wurde -- zu ihrer neuen, aber ganz angenehmen Überraschung -- +statt des erwarteten Dienstmädchens der graue Kopf eines freundlichen +und listigen alten Mannes sichtbar, der auf ihr »Herr Saint-Georges +erwartet mich!« in den engen und dunklen Gang deutend, sagte: »Bitt +schön, die Glastür zum Herrn Doktor!« und lächelnd zur Seite trat. Sie +ging auf den Schimmer in der linken Wand zu, an einem Gaszähler, einem +Kleiderschrank und einer Kommode mit zwei Petroleumlampen vorüber und +zauderte vor dem Arabeskenwerk von Milchglas, das die Scheiben bedeckte, +weiter oben in klares verlaufend. Dann, mit Entschluß, hob sie sich ein +wenig auf den Zehen und spähte hindurch. + +Es war -- erfreulich zu bemerken -- ein sehr großer Raum, der sich +langhin quer vor ihr erstreckte; sie selber stand in der Mitte der +langen Wand, den vier Fenstern gegenüber, durch deren Gardinen sie noch +eben die Bekrönung der roten Mauer und weiter zurück die vergitterten +Quadrate einiger Gebäude mit flachen, grasbewachsenen Dächern gewahren +konnte. -- Kaum, dachte Renate, bin ich beim Gefängnis, benehme ich mich +wie ein Spitzbube, -- und brachte die Augen getrost näher ans Glas, sich +tröstend, das Zimmer sei leer. -- Im Gegenteil aber saß am Fenster ganz +links ein junger, blonder Mensch mit sehr zartem, rosigem Gesicht, ein +wenig spitzem Kinn und flachen, hellen Augen, die hinausblickten, in +einem Lehnstuhl, die Beine unter einer Decke. -- Das war sein Bruder; am +Gesicht wäre die Gelähmtheit zu sehen gewesen, wenn Stuhl und Decke +nicht von ihr gesprochen hätten. -- Da sah sie ziemlich in der Mitte des +Zimmers rechts, ihr den Rücken zuwendend, eine junge Dame sitzen, so +hübsch angezogen, daß sie näher zusah. Ei das war reizend: ein kleiner +grüner Strohhut mit langen dunkelgrünen Seidenbändern, die im Bogen tief +herunterhingen; der Kleidrock wie die halblangen, spitzdütig +auslaufenden Ärmel war weiß -- Piqueeleinen augenscheinlich --, die +Taille aber, die Brust, Rücken und noch die Hüften fest und schlicht +anliegend umschloß -- war aus einem buntgeblümten Stoff -- Rot, Gelb und +ein wenig Grün auf mattblauem Grunde. Sie hatte ein Bein über das andere +gelegt, die Hände im Schoß, weiße Schuhe und Strümpfe, -- und nun wandte +sie auch das Gesicht nach links hinüber, so daß ihr Profil, zart mit +vorgewölbter Oberlippe und dunklen Augen sichtbar wurde. Die Lippe +bewegte sich, sie sprach. Aber dorthin, wohin sie zu sprechen schien, +war für Renate nichts zu sehn, sondern nur noch eine braune Tür mit +Giebel an der linken Querwand. -- Wieder rechts hinüber schweifend, +schon die Hand auf der Klinke, sah Renate noch einen großen, +dunkelhaarigen Menschen, der sich quer über einen langen, +schreibtischartigen Tisch vor der rechten Wand beugte, um aus einer +Reihe von dastehenden Büchern eines herauszulösen. + +Renate wunderte sich, wer alles da zusammen war, und trat ein. + +Gleich sah sie in der Buchtung eines alten, braunen Flügels zur Linken +Saint-Georges selber stehen, der nun auf sie zukam. Die junge Dame stand +auf und hatte ganz runde braune Augen. Der Mensch am Schreibtisch drehte +sich um und zeigte ihr ein langes, schönes Gesicht mit dunklen, ein +wenig schwermütigen Augen. Alle Wände waren bis zur Decke, auch die +Zwischenräume der Fenster mit Bücherreihen bedeckt. + +»Guten Tag, Georges«, sagte sie. + +Er stellte ohne weitere Verlegenheit seine Gäste vor: »Fräulein Cornelia +Ring und der Student Sigurd --« + +Renate hörte vor Überraschung beim Namen der Cornelia den zweiten Namen +nicht mehr. Eilfertig im Unterbewußtsein suchend -- denn bewußt hatte +sie sich bestimmt keine Vorstellung von ihr gemacht -- fand sie irgend +etwas Bleiches, Stolzes, Einsames, -- nun diese muntere Bereitwilligkeit +der rundesten Augen von der Welt ...? + +»Aber wie mich das freut!« sagte sie, ihre Hand ergreifend. »Josefs +Freundin, nicht wahr?« + +Die errötete lächelnd und sagte nichts. Indessen war Renate inne +geworden, daß der schöne jüdische Mensch Saint-Georges' neuer +Cellospieler sein mußte, und reichte auch ihm die Hand, die er mit +linkischer Verbeugung ergriff. Mund und Kinn waren voll und weich, die +Stirn hoch und rein unter buschigem, schwarzem Haar, die Nase ein +langer, im oberen Stück heruntergebogener Haken, die geröteten +Backenknochen standen ein wenig vor. -- O, der gefiel ihr! Und wie fest +und warm seine Hand war! + +»Und hier ist mein kleiner Bruder«, sagte Saint-Georges. + +Rasch hinübergehend, beugte sie sich zu ihm und fand ihn so rührend in +seinem flammenden Rotwerden -- das, da er keine Hand bewegen konnte, +alles sagen und geben mußte --, daß sie ihn auf die Stirn küßte, worauf +er ganz erschreckt »O danke!« sagte. + +Der Schreibtisch war nichts als eine lange fichtene Platte auf Böcken +voller Papiere und Bücher. Daneben war noch eine braune Tür, und in der +Ecke dahinter stand ein altes, rotes Plüschsofa vor einem ovalen Tisch +und ähnlichen Sesseln; aber ein sehr schöner türkischer Schal, ein +Longschal mit schwarzer Mitte, ein Erbstück, hing über dem Tisch. + +Sie sei eben recht gekommen, um zu helfen, sagte Saint-Georges zu +Renate, nachdem sie abgelegt hatte und im Sofa saß, die Cornelia im +Stuhl neben sich, während Sigurd Birnbaum sich an dem Bücherstreifen +neben dem Schreibtisch zu schaffen machte. -- Ja, Fräulein Ring suche +eine Anstellung, erklärte Saint-Georges, vor den Beiden stehend, weiter, +aber bisher habe selbst Sigurd nichts gefunden. Sigurd nämlich wisse Rat +für alles. -- Sigurd hingegen verfinsterte sich und murmelte wegwerfend +nach den Fenstern zu, er wisse gar nichts. Gar nichts! + +»Sie tun immer so,« grollte er, »als ob Gottweißwas an mir wäre, und +dabei bin ich -- bin ich --« Er schloß, augenscheinlich keinen Grad der +Niedrigkeit findend, mit einer verächtlichen Handbewegung und stellte +sich an die Bücherwand, trotzig. + +»Wie man alten Schweinslederbänden neuen Glanz verleiht,« sagte +Saint-Georges lächelnd, »wie und wo man einen vor fünf Jahren in einer +völlig vergessenen Zeitschrift gelesenen Aufsatz über den Anteil des +rumänischen Bauern an der Weltwirtschaft wiederfindet, -- wie man für +einen aus Sibirien entsprungenen politischen Verbrecher Geld, Pässe und +Gönner in Amerika findet -- -- und so weiter, nicht wahr, Sigurd?« + +Der mußte wider Willen lachen, gebärdete sich aber ergrimmt. + +»Und Sie suchen eine Anstellung?« fragte Renate Cornelia. »Ja, was +können Sie denn Gutes?« + +»Gar nichts!« lachte sie munter, »das ists ja eben. Alles, was ich +gelernt habe, war Singen -- bis mein letzter Lehrer mir die Stimme +verdarb. Und da --« sie verstummte. + +-- kam Josef, ergänzte Renate im stillen, indem sie »Wie traurig!« +sagte. Wie gut, dachte sie, könnte sie zu uns ins Haus kommen und mir +helfen, allein -- das würde sie selber nicht wollen, das selbe Haus in +Josefs Abwesenheit betreten, das ihr, als er da war, nicht offen stand. +Aber, als habe etwas aus diesen Gedanken den Weg zu Cornelia gefunden, +sagte sie jetzt mit scherzender Betrübtheit: dann könnte sie ja Köchin +werden ... + +»Die Kochkunst«, sagte Saint-Georges, »darf niemand verachten. Wo haben +Sie gelernt?« + +»In Budapest.« + +»Glänzend! Die besten Mehlspeisen in Böhmen, die besten Fleischgerichte +in Ungarn. Wer mit Liebe und Ehrfurcht kocht, erhebt diese Verrichtung +zu einer wahren Kunst, wie auch alle anderen nur dadurch zu einer +werden.« + +»Aber für wen kocht man mit Liebe?« meinte sie kläglich. + +Sigurd bemerkte schlechtweg: + +»Für Bogner, nicht wahr? Der sucht doch eine Haushälterin.« + +Saint-Georges staunte. + +»Ich habe doch gesagt, Sigurd, du würdest es wissen. Bogner --« wandte +er sich an Renate, die eben dabei war, sich hastig den Kopf zu +zerbrechen mit der Frage, ob sie wohl auch mit Andacht und Liebe für ihn +kochen könnte, -- »Bogner hat ein einsames Haus an einem unbekannten +Waldrand gemietet und sucht eine Vertrauensperson, die ihn pflegt, denn +die es zuletzt tat, ist vor kurzem selig geworden. Abgemacht, +Verehrteste, Sie gehen zu Bogner. Sie wissen doch, wer das ist?« + +»O -- ob ich will?« sagte sie aufstehend heiß und wie es schien +ergriffen. »Ja -- o ich kenne ihn! Aber -- glauben Sie denn, daß er +will?« + +»Welche Frage! Wenn ich Sie bringe. Er hat mich doch beauftragt.« + +»Dann ists gut«, sagte sie fromm und bereit, nahm ein Paar langer +Schwedenhandschuhe von der Tischdecke und streckte Renate die Hand hin, +sich entschuldigend, daß sie gestört habe. Renate, innerlich schwach, +äußerlich mit Nachdruck »Auf Wiedersehn!« wünschend, bedauerte sehr, daß +sie ging. Wie leicht ihr Gang war! -- + +Saint-Georges, der sie hinausgeleitete, blieb eine Weile aus; so +benutzte sie die Gelegenheit, gleich auf ihren Quartettenplan zu stoßen +und Sigurd zu fragen, ob er in ihr Haus zum Spielen kommen wollte. +Allein Sigurd lehnte völlig ab. Das sei ganz ausgeschlossen, denn er +könne nicht das geringste. Er sei ein Stümper, behauptete er, den Kopf +gesenkt, mit den Füßen bemüht, den umgeschlagenen Rand eines grauen +Läufers mit roter Kante zu glätten, der seiner Länge nach am Boden durch +das Zimmer gespannt war. + +Ablenkend fragte Renate zu dem Gelähmten hinüber, sein Bruder laufe beim +Arbeiten wohl fleißig auf und ab, daß er diesen Läufer hergelegt habe? +-- Der Gelähmte lachte nur heiser zur Antwort, Sigurd aber bemerkte +lächelnd, der Läufer sei doch seine Erfindung! Der Fußboden wäre ganz +weiß abgelaufen darunter. + +»Sie studieren Medizin?« + +»Ja -- leider«, erwiderte er mit tiefem Ernst. + +»Warum sagen Sie leider?« + +Ganz düster versetzte er: »Weil mir als Juden doch die besten Wege +verlegt sind. Ich meine natürlich nicht,« fuhr er hochmütig fort, »daß +ich nicht ordentlicher Professor werden kann, sondern daß mir die +technischen Hülfsmittel verschlossen bleiben, die mit solchen Stellen +verbunden sind. Und ich bin solch ein kraftloser Mensch ...« + +Renate, ganz unwirsch von soviel Erniedrigung, war froh, Saint-Georges +wieder im Zimmer zu sehen, der lächelnd dastand, gegen Sigurd blickend, +die Finger in den Westentaschen. Ernst werdend, sagte er dann zu Renate: + +»Wir kamen früher schon überein, Sigurd und ich, daß alle Juden sollten +umgebracht werden.« Und schon rief Sigurd erzürnt: + +»Sogar die Russen sind vornehmer, tun wenigstens wie Herren, behandeln +den Juden als Sklaven und schlagen ihn tot zum Zeitvertreib. Dies aber, +dies ist das Verruchte, dies Geltenlassen und Verachten, daß wir +herumgehen wie in einem Labyrinth schmaler Mauergänge, abgeschlossen, +aber nicht ausgeschlossen, beklebt von oben bis unten mit Erlaubnissen +und Verboten, und die Türen stehen uns alle offen, aber kein einziges +Herz.« + +Renate hatte sich auf das Sofa gesetzt, aber er vermied ihren Blick. + +»Ja, Saint-Georges, was ist da zu sagen?« fragte sie. + +»Ich,« brach Sigurd los, nicht ohne Pathos: »ich will nichts sagen, ich +will was leisten, mich einsetzen, dazu ist mein Volk das nächste; ich +will kämpfen und mich ereifern, solange ich jung bin. Ich kann nicht die +Achseln zucken und mein Schicksal anerkennen, kann auch nicht jüdische +Witze reißen in christlicher Gesellschaft. Sie, gnädiges Fräulein, +kommen doch aus einem Pfarrhaus, und da können Sie mir vielleicht sagen, +ob Ihr Christus, den ich gewiß so gut zu lieben verstehe wie Sie, ob er +die Silbe anti gekannt hat? Und wenn er sie gekannt hat, ob nicht etwa +sein ganzes Leben und Sterben darin bestanden hat, sie auszurotten? Sie +haben doch recht behalten, die unten standen und schrien: Dein Blut +komme über uns!« + +»Sein Blut doch nicht«, sagte Renate begütigend und mit innerem Lächeln, +denn von seiner grad eben betonten Kraftlosigkeit schien in diesem +Augenblicke keine Spur vorhanden. + +Verächtlich erwiderte er: »Freilich, er hat ja vergeben -- was das schon +hilft!« und setzte sich auf den Stuhl, der hinter ihm stand. + +Jetzt sah Renate, da er den linken Arm auf die Tischplatte legte, diese +große, prachtvolle Hand, die wie ein sicherer Bergsteiger vom Halse des +Cellos zur Brust nieder und wieder aufwärts klettern mußte, und sie +winkte Saint-Georges mit den Augen zu ihr hin. Der sah sie an und sagte +langsam: + +»Ja, das ist Gideons Hand, die Hand der Makkabäer, Salomos Hand war +nicht anders, sie weiß noch von davidischen Harfengriffen, und es ist +eines Fischers Haus, und Saulus erhob sie bei Damaskus. Es ist eine gute +Hand, und warum sollte Christus eine andere gehabt haben?« + +Sigurd errötete und schnob grimmig, die wären Alle hin, und Christus am +längsten tot. Taten müßten geschehen, hätte er in einem neuen Buche +gelesen, und er zog ein Zeitungsblatt aus seinen mit Broschüren +vollgepfropften Taschen, warf es auf den Tisch und sagte: + +»Da hat wieder einer eine Umfrage losgelassen, woher es denn nun +eigentlich käme, daß kein Mensch uns leiden könnte, und er faßt alles +über uns gut und glatt und schonungslos zusammen, ich könnts nicht +besser, und meint ihr, wir wüßten selber nicht, wo's uns fehlt? Und das +natürlich steht auch drin, daß, wo ein Arier gemein handelt, er, wo ein +Jude gemein handelt, die ganze Rasse verdorben und schuld dran ist. Gott +im Himmel, was haben wir denn gegen euch, warum streuen wir denn Gift +aus, wie kommen wir denn dazu, will denn nicht jeder am liebsten in +Frieden leben, wenn man ihn nur läßt? Wir sind doch nur da und wollen +leben, nur die schmählichste Achtung haben, warum muß denn immer auf uns +herumgetreten werden, seid ihr denn besser? Freilich, ohne Sklaven gings +nirgends, der Amerikaner hat noch immer seinen Neger, und ihr habt euren +Juden.« + +Er sprang auf und stellte sich an seinen Bücherstreif, um daran zu +zerren. Das Buch, das er in die Hand bekam, schlug er auf, blätterte, +schlugs wieder zu und bohrte es vorsichtig, die unteren Ecken voran, +hinein. Überdem klopfte es. + +Renate hatte bereits vor Sekunden die Flurglocke gehört und wunderte +sich, wer nun erscheinen würde. Was hereinkam, war eine liebliche kleine +Chinesin -- Renate hätte es auf den ersten Blick geschworen -- in einem +schwarzweiß gestreiften Kleide von leichter Halbseide, einen großen, +flachen, schwarzen Strohhut in der Hand. Ja -- ganz eiförmig war das +kleine, dunkelhäutige Gesicht; die nach hinten gekämmten, +glattschwarzen, glänzenden Haare waren zu einem kunstvollen, +chinesischen Bau getürmt, in dem etwas Silbernes steckte; ganz klein und +lackrot war der Mund; die Augen, geschlitzt, funkelten schwarzbraun im +Lächeln, wie sie knickste und vorwärts getrippelt kam und, wieder +lächelnd, stehen blieb. Und doch lag wieder ein deutlicher Hauch von +Europa über dem Ganzen, der das Befremdliche lieblich vertuschte und +versüßte. -- Richtig: das waren die Brauen; sie schienen, so dünn und +fein sie gezogen waren, doch nicht chinesisch geführt. + +»Sieh da, Esther!« sagte Saint-Georges und zu Renate: »Das ist Sigurds +kleine Schwester.« + +Esther sah ein wenig schüchtern aus glitzernden Augen zu Renates Größe +auf, während sie ihr die Hand gab. + +»Ach, entschuldigen Sie nur,« sagte sie ganz deutsch, »ich wollte nur -- +ich dachte, du kämest mit spazieren. Bitte, entschuldigen Sie vielmals.« + +Sigurd, noch mit dem Hineinstecken seines Buches beschäftigt, nickte und +murmelte, er komme. + +»Du wirst doch noch mal Bibliothekar, Sigurd!« sagte sie träumerisch und +lachte. -- Saint-Georges, während Renate lächelnd bekräftigte, das wäre +ja ein Ausweg, meinte auch: gewiß, in eine Bibliothek vergraben brauchte +er sich um nichts zu bekümmern. + +»Und nun macht, daß ihr fortkommt! Jetzt müssen wir arbeiten!« rief er. + +Esther knickste gleich und ging zur Tür. Renate konnte es nicht lassen, +zu Sigurd, als er ihr die Hand gab, bittend zu sagen, er werde doch +einmal kommen, versuchsweise, -- und nun versicherte er errötend und +bereitwillig, ja, sehr gern, außerordentlich gern. Dann waren sie Beide +draußen. + +»Nein, woher kommt dieser Tapfere?« fragte Renate gleich. »Und diese +Chinesin? Ach, die ist ja zu reizend! Georges, die müssen Sie mir +bringen.« + +»Zuerst«, sagte Saint-Georges, »muß ich um Entschuldigung bitten wegen +der Besucher. Allerdings kam nur Cornelia unerwartet; Sigurd ließ ich +selber holen, einesteils damit er helfe, andernteils weil er Ihnen auf +diese Weise am einfachsten gegenübergestellt wurde, denn in Ihr Haus +hätte ich ihn schwerlich bekommen. Wie gefällt er Ihnen?« + +»Sehr gut, Georges! Aber wie ist er sonderbar! Und von Ihrem Läufer +sagte er, er hätte ihn hingelegt. Und warum holt er immer Bücher heraus +und --« + +»Das ist wieder ganz Sigurd«, lachte er. »Unseren alten Läufer, Jürgen,« +rief er zu seinem Bruder hinüber, »den schon mein Vater abzulaufen +angefangen hat, den hat er hingelegt!« + +»Ja, lügt er denn?« + +»O niemals, Renate! Er ist nur immer gleich so bei jeder Sache, daß es +ihm scheint, sie stamme von ihm her. Er ist ganz wundervoll. Wenn man +ein Mensch ist, der Pläne hat, Aussichten in die Zukunft, kann man keine +bessere Stütze finden als ihn. Was man ihm sagt -- Dinge, die einem +selber vielleicht noch unklar sind --, davon läßt er sich mit seinem +guten Herzen und hellem Geist augenblicks dergestalt durchflammen, als +wär es sein Eigentum, als habe er nichts getan, als eben diese Sache von +Grund aus zu treiben, und kommt man drei Tage später und sagt: Sigurd, +das war alles Unsinn, was ich neulich geredet habe, die Sache sieht +vielmehr so aus, dann ist er wieder völlig derselben Meinung, gänzlich +als habe er das erstemal keine andere als die zweite Meinung verfochten. +Ja, schlüpfrig ist er schon, fassen läßt er sich nirgend, aber welches +Juwel! Sein ganzes Dasein scheint nur darauf gestellt, Andern zu helfen. +-- Ja, was ist denn?« brach er ab, trat ans Fenster und öffnete, indem +er sagte: »Es hat gepfiffen.« + +Sich hinauslehnend, bemerkte er zurück: »Es ist Esther!« Renate hörte +ihn dann nach draußen sprechen und lachen, ohne die Worte zu verstehen. +Dann schloß er das Fenster wieder, lächelte hocherfreut und sagte: + +»Da haben wir ihn wieder. Esther sagt: vor ihrer Haustür -- sie wohnen +gleich hinter der Ecke -- habe Sigurd erklärt, er hätte noch eine +Postkarte zu schreiben. Sie habe dann gewartet, er aber kam nicht, und +wie sie endlich zu ihm ins Zimmer geht, sitzt er und liest, und dann +schmollt er und behauptet, wir hätten Alle gesagt, er wäre ein Trottel.« + +»Was?« + +»Nämlich, weil wir gesagt haben, er müßte Bibliothekar werden, denn alle +Bibliothekare wären Trottel und ergo -- -- ja, das ist Sigurd! Ein +eirundes Kind mit einem Goldfasan innen!« + +»Ich glaube, Georges, zum Arbeiten kommen wir heut doch nicht. Da +erzählen Sie lieber noch von ihm!« + +»Ja, beim erstenmal pflegt das so zu sein«, meinte Saint-Georges +gelassen und setzte sich vor den Schreibtisch, Renate zugewandt. + +»Er ist Balte,« begann er dann, »sein Vater ist tot, von seiner Mutter +läßt sich seit langen Jahren nur sagen, daß sie >noch lebt<. In ihrer +Jugend hat sie einen jungen Menschen geliebt, den sie wegen +beiderseitiger Armut nicht heiraten konnte. Dann besorgte sie ein paar +Jahre einem alten und sehr reichen, verwitweten Verwandten das Haus, bis +er starb, beerbte ihn und heiratete nun ihren Jugendgeliebten. Der Vater +war nach Sigurds Beschreibung der edelste, wahrhaftigste Mensch, aber er +verstand nichts vom Gelde, machte Konkurs und schoß sich leider tot. +Seitdem ist die Mutter so wunderlich. Aus der Masse kam dann doch noch +genug zum Vorschein, daß die Drei kümmerlich leben können, wenigstens +bis Sigurd selber verdient.« + +»Was mag aus ihm werden?« fragte Renate nachdenklich. + +»Ich hoffe, das, was er vor hat, ein Kinderarzt und ein guter. Er ist +ein Mensch mit natürlicher Anlage, sich aufzuopfern. Sie haben wohl auch +seine Sucht bemerkt, sich herabzusetzen.« + +»Freilich! und er sagte, alle Wege wären ihm verschlossen.« +Saint-Georges lachte herzlich. »Wegen seines Judentums, nicht wahr? -- +Aber das ist seine Jünglingsmelancholie, die sich bei Andern in +Weltschmerz oder in Weltwonne zu äußern pflegt, bei ihm in +Selbstverachtung. Seine Tüchtigkeit, sein praktischer Blick, seine +Arbeitskraft stehen außer Frage, und den Ausnahmen im Lande, wie er eine +ist, haben noch immer alle Wege offen gestanden, außer dem in den +Staatsdienst, den er sicher nicht gehen wird, -- um so besser. Sein Kopf +ist ebenso greisenalt wie sein Gemüt knabenjung. Da sieht er aus wie ein +verbannter Erzengel und kommt sich vermutlich so abstoßend vor wie +Beelzebub. Wer ihn drei Tage lang kennt, liebt ihn, er aber bejammert +seine Unbrauchbarkeit und Niedrigkeit. Eher erschrecken könnte man +schon, wenn er schwört -- in seinen trübsten Stunden tut ers --, er +würde irrsinnig, weil seine Mutter -- und so weiter. Nun, man muß ihn +reden lassen und warten, daß er älter wird. Gott erhalte ihm nur den +Knaben im Herzen. -- Heute ist der Zionismus seine Leidenschaft, weniger +aus Überzeugung, daß die Rückkehr nach Zion die einzige Rettung sei, als +um seiner selbst willen: um was tun zu können.« + +Renate schwieg in Gedanken, hörte ihn nach einer Weile fragen, ob es ihr +recht wäre, anzufangen, nickte und hatte gleich darauf ein englisches +Buch in der Hand, während sie Saint-Georges drüben am Schreibtisch sich +zurechtsetzen sah, um seine Notizen zu machen. + + + Balto-Borussia + +Georg, nicht unfroh unterm Absingen des schönen Liedes von der >_aura +academia_<, saß auf der Gartenterrasse des Baltenpreußenhauses bei +seinem Pflichtbesuch. + +Die vielen Verse des Liedes ließen ihm Muße, umher- und alles anzusehn. +Es dämmerte bereits; zum Erstaunen geschmackvolle, schön geformte und +zartfarbene Japanlampions schwebten in der dunklen Luft. Grüne Gärten in +allen Tiefen schauerten angenehm im Sommeratem, wenn es still war in den +Pausen des Gesangs; dahinter waren die roten, festungsartigen Mauern der +Papierfabrik dunkel zu gewahren. Georgs Blick kehrte zurück und +schweifte über die kleine Tafel mit ihren Gästen in kornblumenblauen +Alltagszerevisen von Mützenstoff und Pekeschen, deren Blau infolge der +Größe heller schien als das der Mützen, indem er bedachte: wie nett, daß +es so Wenige sind, und die Wenigen obendrein so nett, wie es scheint. +Besonders sein Gegenüber war ihm herzerfreuend, wie er dasaß, gut +mittelgroß, eingepreßt den rundlichen Leib in die zartgrüne +Einjährigenuniform der schweren Jäger mit hohem und engem, grünem +Kragen, voll- und rotbäckig, die linke Wange leider von Narben zerfetzt, +freundlich umherglänzenden Auges hinterm ungerandeten Kneifer, die Stirn +mächtig gewölbt und gebuckelt unterm geschorenen Schädel, -- im ganzen +nicht nur älter und gesetzter, sondern durchaus anders scheinend als die +Übrigen, fast fremdartig, aber nicht ohne Behagen in sich selbst +beschlossen und für sich allein bei aller Teilnahme. Beim Vorstellen +hatte er nur »Schwalbe« gesagt, doch gehörte er vermutlich zu den +kurländischen Freiherren, die mit den Keyserlings verwandt waren, von +denen wieder Georgs Fuchsmajor bei den Schwaben und -- vor allem -- der +Dichter abstammte; ein tröstlicher Gedanke. Der Präses neben Georg, +zufällig auch Korpssenior, Graf Ellerau, sah in seiner gewaltigen Größe +und Breite, dunkelhaarig und kleinäugig, gutmütig und ein wenig +schläfrig aus, dagegen unten am Fuchsmajorat der kleine, kaffeebraune +portugiesische Marquis, der aufs Haar einem seltenen Azteken glich, +mißfiel Georg. Beim Vorstellen hatte er bloß gegurgelt. Was kann er den +Füchsen beibringen, wenn er kein Deutsch redet? Ja, etwas schien er +ihnen beizubringen: er schenkte ihnen Allasch aus einer Kruke in jedes +Bierglas, -- was doch wohl nur dazu dienen konnte, daß sie sich übten, +bei früher Betrunkenheit sich lieblich aufzuführen, -- eine wahre +Hundsfötterei. -- Reizend, was so die Ausländer bei uns lernen! -- Georg +bedauerte die drei Füchse, besonders die übermäßig langen und dünnen +Zwillinge Rotenhahn -- seltsam vergoldet von literarischen Erinnerungen +-- mit ununterscheidbaren, eben handgroßen, blassen Gesichtern, über +denen die kleinen, blauen Mützendeckel schwebten. Der dritte Fuchs war +belanglos, klein und schwärzlich. -- Unangenehm waren die Gläser, aus +denen ein scheußliches dünnes Biergemisch getrunken wurde, weil wenig +über faustgroß: Georg, an seinen Münchener Maßkrug gewöhnt, glaubte +mindestens schon zehn verschluckt zu haben in kaum mehr Minuten, allein, +wie er bemerkte, war es Sitte, überhaupt nur Ganze zu trinken ... + +Indem hob Georgs Nachbar zur Rechten, der Nordeck hieß und bei +erstaunlich langer Nase und blassen, ein wenig idiotenhaften Zügen, +blondes, zierlich gekräuseltes Haar trug, sein Glas und trank Georg zu, +der, mitkommend, das seine gegen jenen, merkwürdigerweise +pockennarbigen, finster und vereinsamt wie ein Anarchist aussehenden +Grafen Tastozzi schwang: »Übers Kreuz vor, Graf, mit Ihrer Erlaubnis!« +Der errötete heftig, ergriff tastend sein Glas und trank mit. -- Der +Diener kam, beide Hände voll gefüllter Gläser, und Georg bemerkte, daß +er jedem immer gleich mehrere hinsetzte, praktisch unleugbar -- für ihn, +weniger für das ohnehin schale Bier; jedoch gehörte vielleicht auch dies +zur Erziehung. + +Ja, wenn nicht das Trinken wäre, seufzte Georg, könnte es ja reizend +sein. Ich bin doch überrascht ... + +Der Präsidenspeer knallte auf der Tischplatte. »Schönes Lied ist aus, +ein Schmollis den Sängern! Prost Markwis!« rief der Senior stehend, +schüttete den Inhalt seines Glases hinunter und setzte sich. Georg +beugte sich zu dem Freiherrn gegenüber: ob er nicht Balte sei ... + +»Ich bin Balte«, wiederholte der, schnell und fest, bereitwillig sich +zusammenraffend und die Arme auf den Tisch legend. »Nein, danke,« wehrte +er Georgs Zigarettendose ab, »ich rauche nur, wenn ich mich langweile.« +-- Recht behaglich klang sein nicht allzubreites Ostpreußisch mit leicht +zungengeschlagenem R-Laut. Er hatte die Gewohnheit, die Augen hinter dem +Kneifer niederzuschlagen, sobald er sprach. + +»Und sind mit den Keyserlings verwandt?« + +»Ich bin mit Keyserlings verwandt, allerdings, aber mit welchen meinen +Durchlaucht? Mit Ihrem Keyserling bin ich _nicht_ verwandt«, betonte er +lächelnd mit tippendem Zeigefinger. + +»Ich dachte an den Dichter.« + +»Mit dem Dichter bin ich verwandt, jawohl«, bekräftigte er, den Kopf +vorwärts drückend, während Graf Ellerau ihm die Hand auf die Schulter +legte und nicht unfreundlich sagte: + +»Unser Schwalbe ist selbst Dichter. Er macht schöne Verse. Ja, wir sind +solch ein Ästhetenklub. Die Zwillinge sollen auch dichten insgeheim; sie +schwärmen für alle schönen Künste, besonders Malerei, glaub ich. Wie +ists, Füchse, Erwin! Emil! Prost! Für welche Kunst schwärmt ihr grade?« + +Die verdonnerten Fuxen griffen nach ihren Gläsern und schwiegen. Georg +sagte, um die Aufmerksamkeit von ihnen abzulenken, in das Gelächter der +Andern: + +»Das ist ja aber erstaunlich! Sie machen Verse -- und Sie lesen sie +womöglich?« + +»Ab und zu«, gestand der Senior lächelnd ein. »Ein gutes Buch hin und +wieder ist man doch schon seiner Gesundheit schuldig.« Schwalbe ließ +seine Augen standhaft und freundlich in Georgs. »Es zuckt mir manchmal +geradezu in den Fingern nach Seitenblättern -- wie's einem im Herbst +drin zuckt, wenn die Krickente streicht, nach dem Abzug.« + +Der gekräuselte Nordeck, ein mächtiges, tiefes und hohles Gelächter +herausschüttend, sagte breit altenrepenisch: »Ja, man bodet ja auch alle +vierzehn Toge! Ihr Wohl, hohoho, Durchlaucht, ich gestatte mir.« + +Georg trank. »Unser Keyserling«, wandte er sich dann wieder zu Schwalbe +hinüber, »pflegte gern von zu Haus zu erzählen. Sagen Sie, ist das wahr: +er behauptete, er hätte, bevor er zu uns kam, nie einen Buchenwald +gesehen.« + +»Ja!« Schwalbe setzte sich wieder in Anteil und Bewegung, »das ist wahr. +Als ich selber zuerst einen Buchenwald sah, dachte ich, ich käme in +einen Palmenhain. Es jiebt ke--ine Buchen bäi uns.« + +»Was dann? Fichten? Nadelholz?« + +»Jawohl; Fichten. Vor allem aber -- Birken. Und die Birken wachsen nicht +wie hier, in Trupps und kaum mehr als armdick. Bei uns sind es janze +Wäldchen, aber die Stämme stehen janz ver--e--inzelt, doch wie die +E--ichen, und der Bo--den ist Wiese und daher janz mit Blumen bedäckt.« + +»Ah!« Georg sah lebhaft die einzelnen, weißen Säulenstämme mit grünem +Laubgeschleier vorm Himmelsblau und unterhalb einen Teppich buntfarbener +Anemonen. »Das muß ja beinah -- arkadisch aussehen.« + +»Stellen Sie sich Orkodien so vor, Durchlaucht?« schüttelte der blonde +Nordeck mit seinem unmäßigen Gelächter heraus. Der Tastozzi drüben +lächelte gezwungen mit; Georg entschloß sich, ihm »definitiv« zu kommen, +was ihn wieder sehr zu erschrecken schien, und Georg gewann ihn fast +gern dadurch. + +Ach, deine Sicherheit! durchzuckte es ihn beim Trinken jählings. Er +stellte mit innerlichem Achselzucken sein Glas hin. Ich bin, der ich je +war, stellte er fest und biß die Zähne zusammen. + +Da er nun den Präsiden mit dem Korpsdiener flüstern und die Worte +»telephoniert haben« sowie einige Namen, darunter Schley, zu verstehen +glaubte, wandte er sich an Ellerau mit der Frage, ob etwa seinetwegen +etwas vorgehe -- womöglich die Alten Herren behelligt würden --, und +Ellerau wehrte verlegen ab. In der Tat, die Nachricht von Georgs +Erscheinen sei erst so spät gekommen, -- da habe er sich bei dem ohnehin +geringen Bestand des Bundes erlaubt, einige alte Herren, die immer sonst +kämen, noch telephonisch herbeizurufen --, worauf er, abbiegend, die +Gelegenheit geschickt benutzte zu höflichem Keilen, indem er +Aufklärungen gab über die hiesigen Korpsverhältnisse, die durchweg +leider nur geringen Bestände an Aktiven, die Erwünschtheit des Zuwachses +-- wo dann eine kleine Schmeichelei über die Beziehungen zu den +Münchener Schwaben seit altersher einlief --, ferner über die +verhältnismäßig freie Auffassung vom Korpsleben in der norddeutschen +Großstadt, wo der Student nicht, wie an den kleinen Hochschulen, alles +gelte und jedem bekannt sei, -- was alles Georg mit schweigsam nickender +und lächelnder Höflichkeit über sich ergehn ließ, am Ende einen +Augenblick still war und, dem Grafen zutrinkend, nach dem gehörten Namen +Schley fragte. Ob er mit der Motorenfabrik zusammengehöre. + +»Jawohl. Sein Vater ist der Besitzer. Der Adel -- Schley-Schleyenburg -- +ist ein bißchen sehr -- jung; zu jung für manchen unter uns ... ich weiß +nicht, wie Durchlaucht ...« + +Georg äußerte, ihm wärs egal, wenn -- + +»Wenns Herz nur schwarz ist, hohoho, nicht wahr, Durchlaucht?« lachte +Nordeck an seiner Seite, sich vornüber kippend, »Ihr Wohl, Durchlaucht, +ich gestatte mir!« -- Also auch der zitierte was, wenn auch eben nur +Rosegger, -- aber Georg setzte eben sein Glas an die Lippen, als die +gesamte Fuchskorona von den Stühlen schnellte und ihr Major beinahe +verständlich gurgelte, das Fuchsmajorat nehme sich Freiheit -- vier +Ganze! -- -- »O, der Teufel hole eure Freiheit«, murmelte Georg, +hinunterwinkend, sein Glas an den Lippen, und trank, dem Nordeck nach +und, was seit langem nötig geworden war, Schwalbe vorkommend. Alsdann +stand er auf, um hinauszugehn. + +Durch den halb erleuchteten Kneipsaal auf die Flügeltür zugehend, +gewahrte er draußen in der ovalen und rahmenlosen Spiegelscheibe an der +Wand des Vorraums ein neues Gesicht, in dessen rechtem Auge ein Monokel +steckte; im übrigen war es blaß, die lange Nase verlief oben in die +schräge zurückfallende Stirn, deren Linie wieder weiterhin in den +nackten Schädel verging unter das spärliche blonde Haar; auch hier war +ganz wenig Aztekenerinnerung und nordecksche Geistesleere. -- Jetzt +aber, der Türe näher kommend, sah Georg eine überlange Gestalt darin +erscheinen und erkannte, freudig überrascht, an ihrem oberen Ende das +schmale rechteckige und rötliche Gesicht, die etwas vorquellenden blauen +Augen und die breit auf den breiten, von dünnen blonden Bartzipfeln +chinesenhaft umrahmten Mund gedrückte Nase von >Novalis<, altem Herrn +seines Schülerlesevereins, -- und sein Kinn fiel genau wie damals +zurück. Georg streckte heiter die Hand aus: + +»Graf Hardenberg! Wie reizend, Sie hier zu sehn! Aber Sie sind doch +nicht Baltenpreuße? Nun, was machen Sie? Ich habe lange nichts von Ihnen +gelesen. Sie haben doch nicht aufgehört? Und was macht Ihr Pollux oder +Kastor, Ihr Freund -- wie hieß er doch noch? Nun, das müssen Sie mir +alles drinnen erzählen, ich bin eben auf dem Weg nach draußen, ja, +vielleicht zeigen Sie mirs gleich ...« + +Hardenberg, verlegen, rot werdend und einsilbig wie stets zu Anfang, +begnügte sich mit Verbeugungen und Händedruck. Da kam Georg, der weiter +wollte, das Gesicht aus dem Spiegel entgegen, jetzt über sehr breiten +Schultern und -- bei etwas schlenkrig stolperndem Gang der schmalen Füße +unten -- so geradeswegs und mit so leerem Ausdruck auf ihn zu, daß er +einen Augenblick glaubte, von dem Andern nicht gesehen und überrannt zu +werden. Doch fiel jetzt, einem großen Wassertropfen gleich, das Einglas +herunter, die Figur blieb stehen, verneigte sich und sagte breit: + +»Schley.« + +Georg schüttelte ihm die Hand und versicherte, entzückt zu sein. Der +Freiherr fing an, überaus langsam und mit näselnder, nein nöliger Stimme +zu sprechen: + +»Durchlaucht -- wollten wohl nach -- draußen. Ich erlaube mir -- +mitzukommen.« + +Also gingen sie zusammen. + +Dieser hier war erstaunlich, dachte Georg über seiner Verrichtung vor +der marmornen Nische, aber Hardenberg -- das war wirklich eine neue +Freude. Dies Haus steckte ja voll Überraschungen. O, Hardenberg schrieb +die entzückendsten Dialoge, fast ein Geplapper, das sich aber zu einer +fast furchtbaren Verve steigern konnte, und in dem er auf die +allergeistvollste Weise meist die Daseinsberechtigung der geistlosesten +Dinge verfocht. Ja -- zudem war er allerdings homosexuell, allein er +machte -- wie es in der Schülersprache hieß -- keinen Gebrauch davon, +und angesichts seiner stillen Würde und unwandelbaren Vornehmheit +hätte niemand es gewagt, in seinem, wie kein anderes inniges +Freundschaftsverhältnis zu -- -- Georg konnte nicht auf den Namen kommen +-- etwas anderes als eben -- Freundschaft zu argwöhnen. Wie sich die +Kunde von seiner Anormalität verbreitet hatte, war unklar, doch die +Tatsache stand fest. + +Um etwas zu sagen, äußerte Georg beim gemeinsamen Händeabtrocknen zu +Schley, ob noch viele Balten das Korps aufsuchten, was der langsam +bejahte. + +»Mein Vater allerdings«, fuhr er in seiner Nöligkeit fort, »war -- +Kölner. Aber ich bin ei'nlich 'n halber Franzose. Ich seh bloß nich so +-- aus.« Dabei kratzte er sich ratlos den Kopf und ließ -- plötzlich -- +das Glas aus dem aufgerissenen Auge tropfen. Als sie den Vorraum wieder +betraten, machte er sich erbötig, Georg das Haus zu zeigen, und so +wandelten sie denn ziemlich schweigsam von Zimmer zu Zimmers, Schley die +Namen sagend, die sich ohnehin von selbst verstanden nach der +Einrichtung, Georg einen Lobspruch fallen lassend. In der Bibliothek +aber fand Georg ein wohlbekanntes stark violettes Buch liegen und sagte: + +»Da liegt ja der >siebente Ring<. Wem mag der denn gehören?« + +Schley sah näher hin. »Das wird wohl meiner sein«, bemerkte er zögernd, +nahm ihn langsam auf, betrachtete ihn ebenso langsam von allen Seiten +und erklärte, ja, es wäre seiner. + +»Ich hab'n Schwalbe geliehen, der seinen glaub ich auf seinem Gut +vergessen hatte. Meine Frau -- ich bin drei Tage verheiratet -- hat 'n +mir grad erst geschenkt.« + +»Haben Sie denn schon drin gelesen?« fragte Georg neugierig. + +»O freilich! Ich kenne ihn lange! Er ist ja sehr -- schwierig, aber wenn +man sich 'n büschen Mühe giebt, dann -- geht es. -- George -- -- ja, das +ist so 'n -- großer Saturn möcht ich sagen ... So ein ganzer riesiger +Weltkörper in einem goldenen Ring von Gesetzen. Nee, wissen Sie,« fuhr +er auf einmal ganz lebhaft fort, das Monokel schnell wegtropfen lassend, +»wissen Sie, da is ein Gedicht in einem früheren Buch, das fängt an: +>Die Herden trabten aus den Winterlagern ...< Kennen Sie das? -- Ja, ich +muß doch sa--gen,« sprach er wieder langsamer, »wie ich das zuerst las +-- da sind mir die Tränen in die Augen getreten.« + +Georg fühlte sich eigentümlich ergriffen, weil der Mensch so ernsthaft +und echt sprach. + +»Ja, nicht wahr,« erwiderte er eifrig dann, »so ists mir mit manchem +Gedicht ergangen, und --« + +»Und er hat so was Heiliges, muß ich sagen,« hörte er die gar nicht mehr +näselnde Stimme wieder, »so etwas Götternahes wie sonst nur Hölderlin. +Das ist alles wie so große eherne Platten ...« + +»Ja, eingegraben, nicht wahr? So unabänderlich und unerbittlich!« + +Georg ärgerte sich, daß ihm Worte und Geist versagten, wandte sich und +trat an das offene Fenster, das nicht eben hoch über der Straße lag. + +Plötzlich gab es einen Stillstand in Georg. + +Die Bogenlampe über dem Portal verbreitete ein stark flutendes rotes +Licht. Jenseits von dessen Grenze lagen die Anlagen im Dunkel, wo +wenige, grünlich weiße Laternen brannten. Eine Zeile von ihnen führte +unterhalb des hochübertürmten Schattenrisses der Universität vorüber; +eine andere zur Linken in die Ferne, unterm schwarzen Wall der +Alleebäume. Das Pflaster war schwarz, naß beregnet. In ein und dem +selben Augenblick spürte Georg einen sehnsuchterregenden Atemzug aus der +Mainacht und hörte er eine Stimme in seinem Innern sagen: + + >Im Spiel, im Fieber, im Gespräch mit Toren -- + In Liebesqual -- in leerem Zeitverprassen ...< + +O mein Himmel ja, >wer wüßte je das Leben ...? Wer hat die Hälfte nicht +davon verloren?< + +Schley hinter ihm im Zimmer sagte etwas; Georg konnte sich nicht +losmachen, blickend, ohne zu sehen, doch fing er willenlos an zu zählen, +als die Uhr im Turme der Universität schlug, und zählte zehn Schläge. -- +Im Spiel, im Fieber, im Gespräch mit Toren ... Nein, das ging ein wenig +zu weit ... Freilich, was kam auch heraus bei solchen Gesprächen? Nun, +wenns gut ging, eine angenehme Bekanntschaft -- man mußte doch Menschen +kennen lernen -- eine Freundschaft womöglich. Schade, daß Schwalbe, als +Soldat, selten zu haben sein würde ... Aber wenn ich öfter herkäme -- +Verkehrsgast würde ... Öfter herkäme ... öfter herkäme ... + +Ja: meine Maske ... Deshalb kam ich ja. -- Georg merkte den leisen Druck +der Angst auf der Brust und fuhr auf. Mit heftigem Schnarchen warf ein +gewaltig großes, offenes Automobil mit blendenden Scheinwerfern sich um +die nahe Hausecke zur Linken und rauschte heran; etwas Kleines, +Weißgekleidetes befand sich einsam im erhöhten Rücksitz, eine junge +Dame, die, gegen den Fahrtwind geneigt, mit der einen Hand, erhobenen +Armes, einen helmartigen kleinen Hut aus rosafarbenem Stroh auf den Kopf +drückte, und im nächsten Augenblick hielt der Wagen dicht vor Georg. Aus +einem kleinen, weißen, fast dreieckig geformten Antlitz richteten sich +übergroße schwarze Augen auf ihn. Dann öffnete sie den Mund und sagte: + +»Guten Abend. Ach bitte, ist mein Mann vielleicht hier? Baronin Schley.« + +Baronin Schley? Georg staunte. »Aber gewiß, Baronin!« rief er, +»Augenblick!« und zu Schley zurück: »Herr von Schley, freuen Sie sich, +Ihre Gemahlin ...« + +Schley kam ungläubig und mit Seelenruhe ans Fenster, hatte aber kaum +einen Blick hinausgeworfen, als er nur: »Virgo?« sagte und schnurstracks +hinausging. -- Virgo? dachte Georg. Mein Gott, das ist hinreißend! -- +Und ging flugs hinterher. + +Durch das offene Haustor, die Stufen hinunterblickend, sah er sie im +geöffneten Wagenschlag stehn, leicht mit dem einen Fuß hin und her +schlenkernd -- ganz rosenfarben war der von Strumpf und Seidenschuh -- +emsig auf ihren Mann herunter redend und lachend, und während Georg nun +hinzuging, rief sie ihm entgegen: + +»So, also Sie sind dieser Prinz, dessentwegen er mir durchgegangen ist! +Was gehn dich wohl fremde Prinzen an, wenn du gerade geheiratet hast! -- +Er telephonierte, ein Prinz wäre da und er müßte hierher.« Sie schöpfte +Atem. Ihr Mund mit gesenkten Winkeln war ein entzückendes kleines rotes +Dach. Die Nasenflügel blähten sich zitternd, und wie hoffärtig war die +kleine Biegung der Spitze! Tiefe, bläulich schwarze Ränder unter den +Lidern machten die Augen noch größer, als sie waren. + +»Und da wollten Sie ihn wegholen?« hatte Georg gefragt. + +»Nein,« sagte sie, »nun will ich hinein. Nun will ich die akademischen +Sitten kennen lernen.« + +Schley, während Georg nur »Ach weh!« äußerte, meinte, zu ihr aufsehend, +langsam und ruhig: »Ach, davon verstehst du ja -- gar nichts«; worauf +sie aus dem Wagen kletterte. + +»Los!« sagte sie, zwischen den Beiden stehend, »Ihren Arm, Durchlaucht! +und deinen, Wolf!« Sie warf auflachend den Kopf zurück und zog die +Beiden wie ein Kind mit sich; und wie bei einem Kinde -- Georg sahs, als +sie vor den Haustorstufen den Kopf senkte -- war unter der tiefen Krempe +von zartem, rosigem Stroh -- eine einzige goldene Rose saß daran -- das +Haar, braun, kurzgeschnitten, in lockeren Büscheln durcheinanderstehend. + +Augenblicke später fuhr die freudig überraschte Korona auf der Terrasse +von den Stühlen, wurde vorgestellt, der Senior legte seine Würde nieder +und -- die Fidelität eröffnend -- die des Vorsitzes zur ersten Attischen +in die Hände Georgs. + +Ja, nun würde es köstlich werden ... Georg drückte sich mit Behagen +gegen die hohe Rücklehne des Präsidenstuhls zurück, die Tafel +hinunterschauend, die kleine Fremde zur Rechten, ihren Mann zur Linken +und weiterhin all die erwartungsvollen, blitzenden Augen und roten, +vergnügten Gesichter, Schwalbes feste, bereitwillige Freundlichkeit und +des überragenden Hardenbergs Georg zugewandtes Lächeln, das merkwürdig +menschlich an dem, wie ein Zaunpfahl ungefüge zurechtgeschnittenen +Haupte angebracht war. + +»Entschuldigen Sie, Baronin,« sagte Georg, »nun giebts einen Knall!« und +sie fuhr zusammen, als das Schlägereisen über die Tischplatte prallte. +Dann sagte Georg schnell ein paar verehrungsvolle Begrüßungsworte auf +und befahl -- ihr zumurmelnd: »als erste Vorführung« -- den Salamander. + +»_Ad exercitium salamandri! Salamander incipitur_ eins, zwei, drei, +eins!« + +Georg spähte, während hörbar ringsum aus den angesetzten Gläsern das +Schlucken gluckste und sichtbar die gelbe Flüssigkeit abnahm, nach Virgo +-- denn so nannte er sie. Sie sah großäugig, den Mund halb offen vor +Staunen, zu ihrem Mann auf. + +»Zwei, drei. Eins -- -- zwei -- -- drei.« Die Gläserböden rumorten auf +dem Tisch. »Eins! -- zwei! -- drei!« Der Aufschlag sämtlicher Gläser +erdröhnte tadellos. »Füchse haben nachgeklappt, in die Kanne eins, eins, +Blume melden! _Salamander ex, silentium ex, colloquium!_« schnurrte +Georg zu Ende und setzte sich, nicht ohne Stolz. + +»Wolf, was für'n -- Unsinn!« sagte sie hörbar in das allgemeine +Schweigen, worauf ein Gelächterhallo folgte. Drei, viere begannen auf +sie einzureden, aber sie schnitt alles ohne weiteres ab und gebot +spöttisch: »Na denn weiter! nächste Nummer!« + +Georg schlug vor, ein Lied zu singen. »Von Scheffel,« sagte sie, »die +sollen ja so komisch sein,« und da mehrere Stimmen den >Enderle< +beantragten, befahl Georg diesen. Das Klavier ertönte, vier, fünf Hände +reichten ihr Liederbuch der Kleinen, Füchse kamen viel zu spät, +aufgeregt noch blätternd, zu dem selben Zwecke herangesegelt, Georg +erhob sich, das Lied begann. + +Leider verzog sie, wie Georg bemerkte, bei keinem der köstlichen Verse +eine Miene; selbst das >Jetzt weicht, jetzt flieht, jetzt weicht, jetzt +flieht, mit Zittern und Zähnegefletsch!< entlockte ihr kein Lächeln, und +das Lied war aus. + +»Aus«, sagte sie seufzend und sah umher. »War das komisch?« Sie zog ein +Gesicht, als argwöhnte sie, daß man sich über sie lustig machte. »Warum +singt ihr dann nicht lieber von Christian Morgenstern etwas; darin ist +doch wenigstens Sinn. Na, also dann weiter, was giebts noch zu sehen?« + +Also wurde ihr der Trinkkomment vorgeführt. Ein Feuerwerk von Zuprosten +nach allen Seiten sprühte. Vor-, mit-, nachkommen, übers Kreuz, unter +demselben, definitiv, bis keiner mehr wußte, was er wem schuldig war, +während die Füchse in die Kanne steigen mußten, daß sie verreckten, in +den Verruf flogen und sich verzweifelt herauspaukten, der aus dem +zweiten, der aus dem dritten, ein Tohuwabohu, in dem sie immer stiller +und immer blasser und immer schmaler an ihrer Stuhllehne wurde, selten +matt lächelnd, wenn jemand auf ihr Spezielles mit ausgeschlossener +Löfflung trank, -- als wovon ihr Georg erklärte, daß es keine +Beleidigung sei, sondern eine Ehre. + +»Nun ists genug,« raffte sie sich endlich auf, »ihr werdet ja alle +betrunken werden.« + +Schley und Georg betrachteten sich sardonisch während des +Höllengelächters der Übrigen, Beide augenscheinlich das gleiche Wort auf +den Lippen, das sie verschwiegen. Georg selber keuchte einigermaßen vom +quellenden Bier in seinem Innern. + +»Ich hab mal«, hörte er sie erst nach einer Weile leise sagen, »was von +Bier -- Bierjungen -- heißt es nicht so? gehört. Was ist denn das? Das +ist noch nicht vorgekommen«, meinte sie mit mühsamer Heiterkeit. Georg +seufzte. + +»Also los, Baron, zanken wir uns. Ein Bierjunge«, erklärte er ihr, »ist +ein Bierduell nach vorangegangener Beleidigung. Ich muß mich doch +wundern, Baron, Sie nach kaum angefangener Ehe in solcher Gesellschaft +zu sehn.« + +»Das geht Sie ja gar nichts an, Durchlaucht.« + +»Nichts angehen! Das ist Tusch!« schrien ein paar Stimmen. + +»Bierjunge!« sagte Georg finster. + +»Doppelt!« erwiderte Schley, »das ist hier so üblich,« setzte er hinzu, +»entschuldigen Sie.« + +»Dreifach!« versetzte Georg. »Na, nun ists aber genug. Herr von +Schwalbe, bitte wollen Sie Richter sein?« Schwalbe erhob sich +bereitwillig mit einem Ruck. + +Da es nun eine Pause gab, bis Schwalbe, zwischen Georg und Schley sich +setzend, die herangeschleiften sechs Gläser auf ihre genau gleichmäßige +Füllung verglichen hatte, meldete der Fuchsmajor gurgelnd von unten +einen Solokantus der Zwillinge, die sich wankend erhoben, dann mit +ungeheurer Anstrengung steif dastanden, die Mützen abnahmen und sich +langsam herdrehten. Ihre kleinen, todbleichen Gesichter mit schwimmenden +Augen sahen so entsetzlich aus, daß Georg Virgo kaum anzublicken wagte. +Sie sah vor sich nieder. Stumm standen die Zwillinge. Aus den Anderen +scholl Gelächter, aber auch Widerspruch. Dann schrie Ellerau, breit +dasitzend, grausam: »Also los, Füchse, wirds bald! Euren Kantus! +Baronin wartet.« Die schluckten. Hohl, um so hohler, weil ohne +Klavierbegleitung, fingen sie an zu singen: + + »Ach, unsre Ju--u--geend -- + Wird -- so -- ver--geu--eu--det -- + Ja -- uns--re -- Jugendzeit -- + Die -- wird -- ver--tan ...« + +»Nun ists aber genug«, bemerkte Schley. »Genug!« schrie Georg, +»geschenkt, Füchse, hinsetzen! Macht, daß ihr --«, er verstummte, für +sich allein ergänzend: »-- hinauskommt!« -- Und die Zwillinge setzten +sich verdutzt und eilig. Augenblicke später verschwanden sie. -- +Schwalbe erhob sich, verkündete das Bierduell mit dem Stichwort +»Baltoborussia sei's Panier!« und Schley und Georg standen auf. + +»Ergreift die Waffen, berührt die Waffen, los!« + +Die ersten Gläser verschwanden schnell. Als Georg, etwas langsamer am +zweiten schlang, sah er zu Virgo hinüber; die saß wie ein Steinbild mit +Augen wie schwarze Löcher. Als ihr Mann das letzte Glas ergriff, erhob +sie mechanisch die rechte Hand, wie um ihn zurückzuhalten. + +»Borussia sei's Panier!« sagte Georg mühsam, das Glas hinsetzend, und +Schwalbe kündigte an, daß Herr Baron von Schley als zweiter Sieger +hervorgegangen sein dürfte. + +Plötzlich war alles durcheinandergeraten. Georg saß irgendwo und redete +ununterbrochen auf die Allerholdeste ein, aber dann riß das ab, Georg +irrte umher zwischen Stehenden und Sitzenden, fühlte sich sehr +unglücklich und in seiner Sehkraft beeinträchtigt. Lichter verschwammen +blitzend in Qualm, Wänden und blauen Flecken; was er ansah, schwang sich +kreisend zur Seite; ganz hinten stand eine weibliche, kleine, weiße +Gestalt, die er auf keine Weise erreichen konnte, sie hatte ihn ja +weggeschickt, obwohl er sie so glühend liebte, nun stand sie mit einem +Andern dort und sprach Schlechtes von ihm, o, sie war ihm entsetzlich +böse, und unglücklich war sie, Georg brach das Herz, es war im Leben +nicht wieder gutzumachen, denn morgen -- nein übermorgen reiste sie nach +Japan. -- Da, jetzt saß er wieder, hatte einen andern -- Schwalbe -- +dicht neben sich und redete unaufhörlich auf ihn ein, steigende Rührung +im Herzen und das Gefühl unermeßlichen Genusses im Ausschütten seiner +geheimsten Gedanken. Hin und wieder hörte er auch den Andern sprechen, +verstand ihn auch, sah seine rundliche, rote Hand mit ausgestrecktem +Zeigefinger auf sein eigenes Knie zu tippen, fühlte sich bekräftigt und +verstanden und redete wieder. -- Dann wurde ihm furchtbar übel; er +bezwang sich noch, allein es ward schlimmer, der Raum, die Lampen, grüne +Wipfel, ein großer, geschweifter, grauer Lampion wankten auf ihn zu, er +stand auf und fand sich im selben Augenblick unter ungeheuren Qualen +seiner in Stücke brechenden Brust, keuchend mit rinnenden Augen und +quellendem Munde über ein Becken gehängt. Dann riß wieder alles ab, er +erwachte und hörte ein ohrenbetäubendes Geheul, fühlte sich in die Lüfte +erhoben, Hände tasteten an seinem Leib, er wurde getragen, hatte eine +blaue Mütze in der Hand, die er schwenkte, rief: »Baltoborussia _for +ever_!« Plötzlich glitt er zur Erde, stand wankend, umarmte jemand und +saß auf einem Stuhl, ein Glas in der Hand, während immerfort jemand kam, +um ihm die Hand zu schütteln, worauf er dann einen Schluck ekelhaft +bittern Zeugs in sich trank. + +Und wiederum eine Weile später kämpfte Georg mit den Ärmellöchern eines +Mantels, fluchte, weil jemand ihn hinten am Kragen in die Höhe reißen +wollte, und dann stand er vor einer Droschke, innen und außen beladen +mit Korpsbrüdern in Zivil, die sich auf Georg stürzten und ihn -- durch +das Fenster, wie es schien -- hineinzwängten. Sie führen nach einem +herrlich stinkenden Ort, sagten sie und sangen den schönen Choral: +Lasset uns noch einen verlöten! während einer unendlichen Fahrt durch +eine finstere Fabrikstadtgegend. Schließlich hielten sie den Wagen an +und hatten noch zwei Straßen zu gehn, vornüberschießend, Georg unter +jedem Arm einen Zwilling, von denen immer einer stehen bleiben wollte, +um eine Rede über Moses zu halten. Dann ging es irgendwo Treppen hinauf +in ein Haus, in einen kleinen Saal voller Mädchen, die in Jubelgeschrei +ausbrachen. Georg wußte noch: nach dem ersten Glase Sekt bin ich hin ... +Dann trank er es. + +Einige Zeit später hatte Georg das Gefühl, zu erwachen, jedenfalls +wurden allerhand Dinge deutlich um ihn, und er fand sich an der Wand +eines Saales mit unaussprechlich öden Wänden lehnen, ein Sektglas in der +Hand, das im selben Augenblick zu Boden fiel, und zum Umsinken +berauscht. Im Saal, unter den vom Tabaksqualm und Staub fast blinden +Glühbirnen war ein Hexentanz von einigen zwanzig Mann in Fräcken, Röcken +oder Hemdsärmeln und ebensovielen splitternackten Weibern, die Georg +unsäglich garstig und alle zu kurzbeinig erschienen. Einmal tat sich für +Sekunden der Schwarm auseinander und durch die Gasse sah Georg drüben +einen großen, hagern Menschen stehn, hektisch und ungesund, der mit +theatralischer Gebärde im ausgestreckten Arm ein nacktes Mädchen lehnen +hatte wie eine Harfe, auf deren Leib er mit der Rechten große Harpeggien +griff; dazu deklamierte er mit hohler Stimme, deutlich vernehmbar: Vom +Eise befreit sind Strom und Bäche ... Dies Bild schwand spurlos, etwas +Nacktes und Weiches taumelte gegen Georg, sank, während er, selber auf +einen Stuhl fallend, es schwach festhielt, in seinem Schoß zusammen und +schlief ein. Eine Zeitlang betrachtete er das fleischerne, magere Bündel +Schlaf und tote Freude auf seinen Knien, legte ihren Kopf behutsam an +seiner Schulter fest, ließ sein Gesicht weinend darüber fallen und +schlief auch. + +Schütteln erweckte ihn wieder; auch das Mädchen erwachte, klammerte sich +an ihn, schluchzte und wollte ihn nicht fortlassen. Georg entkam jedoch +irgendwie, fand sich bald darauf allein in einer morgengrauen, nebligen +Straße und ging mit dem stumpfen Entschluß, zu Fuße heimzugelangen, halb +im Schlaf so lange durch unbekannte Straßen, bis ihn ein Automobil fand, +in dem er sein Haus in der Morgensonne unter lebhaftem Vogelgezwitscher +erreichte. O Gott! dachte Georg, als er auf sein Bett fiel, o Gott! +Morgen ist Sonntag! + + + Kaddisch + +Georg, an sich selber verzweifelt festgebissen, mit Verwünschungen +beladen, entstellten Herzens voll Wut und Öde, hockte auf einer Bank im +Park am Sonntagnachmittag. Seltsam schwärzlich war die, schon wie später +Abend tiefe Dunkelheit in der Luft; tiefschwarz, nur durch den Fußweg +und schmalen Uferstreifen von Georgs Füßen getrennt, der Teich, in dem +große Stücke von kalt grauem Silber glommen. Der letzte, mehr schwere +als scharfe Atemzug des abgestorbenen Winters schien in den feuchten +Lüften abzustehn. + +Ich habe, sagte Georg zum hundertsten Male zu sich, wie eine Canaille an +mir selber gehandelt. Ich bin ein Pfuscher meines Lebens. O mein Gott, +flehte er elend, sollte es wahr sein, daß seit -- seit -- er tastete +nach einer Vorstellung und fand wieder nur, seltsam in der Luft hängend +wie ein Stück kalten Mondes, diese -- Maske --, seit dieser Maske also +die Dinge anfangen, mir zum Unheil auszuschlagen? Ja, warum ging ich +denn zu den Balten? Um die Maske zu versuchen. Dann war alles natürlich +und überraschend freundlich und nun -- -- ich weiß zwar nicht: ist +Schley wirklich auf dem Wege nach Japan? Und bilde ich mir nur ein, daß +er seinen Assessor abgelegt hat? -- Nun, es wird schon so sein, daß er +verschwindet. Schwalbe werde ich kaum haben können, höchstens für mich +allein, nicht an den Abenden, den -- o diese Abende, nun kommen sie +wieder, da kommen sie! Ich bin verwünscht! -- Er krümmte sich, die Stirn +zwischen den Fäusten. -- Selbst wenn es, wie Ellerau sagte, nur drei in +der Woche sein sollten und ich mich um die andern herumdrücken kann, für +mich allein esse ... dann ist noch der Paukboden, und der ganze Fechttag +am Sonnabend, da sind tausend Zwischenfälle, die mir Stücke aus meinem +Leben schneiden -- ach, es ist ja nicht auszudenken! -- Ihm brach der +Schweiß aus allen Poren; es war, als schwitzte er Fett aus Händen und +Gesicht, sein Hirn dröhnte und kochte, die Augen brannten, der Gaumen +lechzte, und im Magen polterten ekelhafte, moorige Massen. -- Wenn ich, +dachte er sich als letzte Rettung aus, in spätern Jahren einmal mein +Leben in der Hand halten werde und nachsehen, was dies und jenes für ein +Gewicht und Gesicht darin hatte -- was für ein Aussehn mag dann dies +Erlebnis haben? + +In der Grotte von Buschwerk hinter ihm raschelte es, ein Vogel oder eine +Ratte, sonst war kein Laut in der furchtsamen Abendstille. Die Stücke +bleichen Himmels glommen leidenschaftlich und zuckten im düstern Teich; +Gewölk rollte darüberhin, graues und schwarzes. Auf den Ufern umher +standen die kaum belaubten Bäume dunkel und regungslos; schwer hangend, +fahl, die Trauerweiden drüben an der kleinen Brücke, die ins Trostlose +zu führen schien. Oben huschte die lautlose, verfinsterte +Wolkenbewegung. Die Luft stand, nicht kalt, nicht warm, unfreundlich. + +Will es nun nicht endlich bald regnen? dachte Georg erbittert. -- Es +regnete nicht, aber es wurde unheimlicher, als stünde etwas bevor. Bäume +fingen an wie Gespenster auszusehn, wie entseelt, wie entsetzt. Aber all +dies ist in mir, dachte Georg; die gute Natur, sie weiß nichts, sie +nimmt die Gestalt von dieser oder jener Stunde an, wenn wir das Herz +danach haben, es zu sehn. Wir sagen dann: heiter, oder: trübe, weil uns +immer etwas peinigen muß oder freun. Du, Natur, schlichte, richtige, +bist ohne Entweder-oder, aber du giebst nach, wenn wir uns an dich +hängen, wir immer Beladenen; du hast nur dich selber zu ertragen, du +entwächsest dir nie, du bist dir immer leicht und schwer genug, derweil +wir stürzen oder steigen, hängen oder fliegen -- ich glaube, all das +Elend kommt doch allein von unsern Füßen her. Wenn wir fest stünden, +würden wir vor unendlichem Staunen über all die Bewegung um uns her +längst in diese milde Ergebenheit des duldenden Baumes versunken sein, +der allem nachgiebt und um nichts sich bemüht. Aber diese Stunde ist +wahrhaft schrecklich. Vielleicht war es doch sie allein, die sich den +Nachmittag über entfalten wollte, rang und nicht konnte. Ich stand am +Fenster, stundenlang, und sah, wie sichs wandelte. Nun ist es ja, als +lägen überall Tote begraben; unterm Rasen dort rechts, der wie mit +umdüsterten Augen herüberblickt, durch die Dunkelheit, die sich hebt und +bewegt; im Teich, unter allen Bäumen -- vielleicht liegen welche +überall, still, mit gefalteten Händen, ohne Bewegung, aber sie haben +begriffen, daß sie tot sind, und wissen nicht, was nun geschehen wird. + +Ach, stünden sie _auf_ einmal! alle, in irgendeiner Gestalt! gingen +umher, streiften mich, daß doch nur einmal etwas geschähe, das +entsetzte, das starr machte, das man nicht aus sich heraus erfinden +müßte wie jedes Staunen, jeden Schrecken, jedes Gefühl, das tausend +Jahre alte, tausend Male empfundene. Daß einmal etwas hereinbräche über +einen, von draußen, von weit draußen, ein Unmeßbares, für das man nicht +im Augenblick alles bereit hätte, um es festzustellen, um es zu +erkennen! Ich verstehe Raskolnikoff, ich verstehe, daß er etwas tun +mußte, von dem er nicht vorher wußte, was es sein würde; das sich vorher +berechnen ließ bis aufs Haar, und das doch ein völlig anderes sein +würde, wenn es geschehen war. Ich verstehe, wie er mit all seinen +Haaren, mit zehntausend schmerzlichen Knoten an seiner Umgebung hing, an +Steinen und Menschen, an Häusern und Geschäften, an Gefühlen und Plänen, +an Büchern und Maschinen, und wie er den einen, einzigen Ruck haben +wollte, wo alles das riß, und er so allein war im Raum, wie nur die +Seele eines Mörders allein ist, die zwischen Sternen sitzt und friert. + +Dummheit friert an mir. Aber ich schreibe ihnen, sie möchten +entschuldigen, ich wäre gestern betrunken gewesen, und sie möchten mich +gefälligst ... Heut noch schreib ichs, denn wenn ichs heut nicht tue, so +fällt mir morgen ein, mich an ihre edlen Regungen zu wenden und dem +Konvent eine freundliche Rede zu halten, und dann bin ich schon +ihresgleichen, und sie kriegen mich doch herum. Oder am Ende ists heute +doch nur der Alkohol im Leibe, und wenn morgen früh die Sonne scheint, +denk ich, es wird schon gehen, oder daß ich wieder acht Tage verreisen +kann, und daß sie mich auf vier Wochen hinaushängen, oder daß ich +einfach versuche, zu tun, was mir paßt, zu ihnen gehe, wann mirs +beliebt, und warte, was _sie_ tun. Warum soll ich auch handeln? Wär es +eine Gemeinheit, ein Verbrechen, das man bereuen könnte, Herrgott, so +hätte man doch was _getan_! Nun ists bloß eine Dummheit, und -- ist das +ein Mensch, der Schatten da? Ich bin ja ganz schreckhaft geworden! -- + +Hinter der nackten Esche, die vom rechten Ufer her ihren riesigen Ast +kahl und schweigsam über die fahle Fläche reckte, kam der Schatten +hervor, trat dicht ans Wasser und stand dort, seltsam, als ob er hinge, +dunkel vor der Undeutlichkeit des Parks und dem bleichen Scheinen im +Wasser. Nach einer Weile glitt er fort und verschwand zur Rechten hinter +Gebüsch. Georg nahm seinen Stock von der Bank, drehte sich seitwärts, +legte das linke Bein über das rechte, den rechten Ellenbogen auf die +Banklehne und den Kopf auf den Unterarm. + +Es ist ja nicht das, lief das Rad in ihm weiter, nicht diese Eselei, +wieder im Korps zu sein, und auch nicht der Alkohol. Es ist einfach die +Angst, weil du nicht weißt, was werden soll. Dies ist nun der dritte +Versuch. Erst sollte die Natur Klarheit schaffen; dachte natürlich nicht +daran. Außerdem Benno, -- nun das war wohl nur ein halbes Viertel von +einem Versuch. Nun die Menschen, auf die es ja schließlich ankommt, und +da merke ich nun die verfluchte Verzauberung der Relativität. Renate, +schönes Licht! dachte er seufzend, aber sein Feuerzeug war wohl naß +geworden, das Licht glomm nicht auf, es wurde nur dunkler umher. Woran +soll ich mich denn messen, wenn alles relativ ist und ich nicht aus mir +heraussteigen kann! Bin ich denn ein Lügner? Ich spiegle den Menschen +etwas vor, das ich nicht bin. Schade ich damit? Bin ich nicht bereit zu +allem Besten? Zahle ich nicht mit Qual? Irgend jemand sagt mir, ich sei +nicht der Sohn meines Vaters, und da soll ich miteins andere Gefühle +bekommen? Wie kann ich zwanzig Jahre auslöschen wie ein Talglicht? +Darauf aber kommt es an, auf das Innere, und alles andre -- -- ich weiß +nicht, sitzt da jetzt einer neben mir oder nicht? + +Er wandte langsam und vorsichtig den Kopf. Ja, neben ihm saß ein Mensch, +den Kopf in den Händen; schien übers Wasser hin zu sehn. Das war ja ... +Georg wandte sich, beugte sich vor, sah das Profil des Dasitzenden und +sagte erleichtert: »Guten Abend, Herr Birnbaum!« + +Der Angeredete wandte sich um und stand hastig auf. + +»Entschuldigen Sie, Prinz,« sagte er mit mehreren Verbeugungen, »ich +hatte Sie nicht erkannt. Und diese Bank«, setzte er hinzu, »ist +gewissermaßen mein Eigentum, meines und meiner Schwester, wir sitzen oft +darauf.« + +»Aber so setzen Sie sich doch, alter Freund, und erzählen Sie! Vor zwei +Jahren haben Sie Examen gemacht, oder erst vor einem? Habe ich Sie nicht +im Syndikatskolleg gesehn?« + +Birnbaum bejahte, sagte aber, daß er Mediziner sei. + +»Daß Sie's gleich hören, Georg: meine Mutter ist vergangene Nacht +gestorben«, sagte er kurz. »Nein, sagen Sie nichts, es ist nichts zu +sagen,« fuhr er heftig fort, »sie war ja kein richtiger Mensch mehr, +jahrelang schon, wir hatten uns, wenn ich so sagen darf, ihrer schon +längst entwöhnt.« + +Georg dachte an Bennos Mutter, fragte, ob sie denn krank gewesen sei, +und bekam zur Antwort: + +»Ja, geisteskrank, sechs, sieben Jahre.« + +Sie saßen still beieinander. Georg suchte den verwirrten schwarzen +Himmel ab -- war dort nicht ein Stern? -- Nacht stand um den Teich; +nichts regte sich darin. + +»Standen Sie vorhin dort am Wasser?« fragte Georg. »Sehen Sie, es ist +wieder jemand dort! Sehn Sie den Schatten?« + +Der Andere blickte hin und sagte: »Ich glaube fast, das ist meine +Schwester.« Er schüttelte den Kopf. »So ist sie nun; geht aufs +Geratewohl in die Nacht hinein und ist überzeugt, daß sie mich findet. +Dafür ist sie ja nun mein Geschöpf.« + +Die Gestalt kam langsam am Ufer den Weg herauf, zögerte, kam näher, +stand endlich vor ihnen, schmal und dunkel, einen Schal um den Kopf. + +»Bist du's, Sigurd?« fragte sie. Er stand auf, trat zu ihr und legte +einen Arm um ihre Schulter. »Bist du böse, daß ich mitten aus dem +Kaddisch weggelaufen bin?« + +Georg schiens, als bewegte sie leise den Kopf hin und her, dann hörte er +sie fragen -- eine huschende, verhaltene Stimme --: »Mit wem sitzt du +denn hier, Sigurd?« + +Sigurd sagte: »Es ist Prinz Georg, Esther, du weißt, daß er eine Klasse +unter mir war.« + +Georg, der inzwischen aufgestanden war, reichte ihr die Hand; die ihre, +in einem Zwirnhandschuh, fühlte sich hölzern an. Ihr Gesicht im Dunkel +war nur ein weißer Fleck mit zwei schwarzen darin, den Augen, die +allerdings absonderlich geschlitzt schienen. Sie setzte sich ans andere +Ende der Bank, ihr Bruder sich zwischen den Beiden. Nach einer Weile +hörte Georg ihn flüstern, dann sie, er schloß die Ohren, verstand auch +nichts, aber das Flüstern dauerte an ... Nun schloß er auch die Augen, +vernahm das seltsame Geräusch der Lippen in Pausen, dachte an die tote +Frau und geriet an Heines Vers: >Keine Messe wird man singen, keinen +Kaddosch wird man sagen ...< Kaddisch hatte Birnbaum gesagt, aber das +war wohl dasselbe. >Dunkler Hund im dunklen Grabe ...< kam das nicht im +selben Gedicht vor? Nein, das war ja: + + Nicht gedacht soll seiner werden. + Aus dem Mund der armen, alten + Esther Wolf ... + +Keine Messe wird man singen, keinen Kaddosch ... Es ließ ihn nicht +wieder los. Sieh, aber nun waren Sterne da! Lieber Gott, wie das nun +gleich erleichterte! Da standen sie, klein, schwach, bläulich, dort +einer, dort ganz oben, fast über ihm. -- Keinen Kaddosch wird man sagen +... + +»Verzeihen Sie, Birnbaum, was ist Kaddisch? Sie sagten es eben. Und mir +fiel ein Vers von Heine ein, da heißts --« + +»Kaddosch,« sagte Birnbaum, »es ist dasselbe. Kaddisch ist das +Totenbeten; die Verwandten verrichten es, oder auch -- wie bei uns, die +wir keine in der Stadt haben -- Freunde und angestellte Frauen. Ich bin +davongegangen. Ich konnte nicht ertragen, das Klagen zu hören, wo ein +Mensch endlich seine Seele wieder hat, denn das müssen die Andern doch +wenigstens glauben. Komm, Esther, siehst du die Sterne? Wollen wir +Mutter unsern Kaddisch sagen?« Sie antwortete nicht. Einige Minuten +später hörte Georg ihn sprechen, nicht mehr in seiner wegwerfenden, +schnell fertigen Art, sondern seltsam innig und sanft. -- + +»Mutter,« sagte er, »warst du denn noch ein Mensch? -- Kannst du uns +jetzt sagen, was du warst? Da warst du, warst so klein und noch ganz +schön, saßest immer bei uns und hattest keine Augen für uns, wenn wir +hinsahn. Aber wenn wir still saßen und lasen, wie oft merkten wir dann, +daß deine Augen auf uns waren, wie Kinderaugen, verschüchtert, wie ein +Bestraftes, das nicht sein darf wie die Andern ... + +»Und so seltsame Dinge mußtest du immer tun! Wenn du allein warst, da +bewegte sichs in dir, und du mußtest immer folgen, und wenn einer von +uns wieder hereinkam, so warst du nicht mehr da. Dann hocktest du +zwischen Sofa und Bücherschrank ganz klein, die Hände im Schoß, oder du +knietest unter der Tischdecke, als wolltest du Verstecken spielen, oder +du hattest ins Schlafzimmer gehn müssen, das Bett gesehn und dich halb +ausgezogen und hineingelegt. Und niemals durftest du im Bett sein +nachts, wenn Esther erwachte und nachsah: dann mußtest du mit kalten +Füßen beim Schrank stehn, oder im Fenstervorhang, aber du warst doch +immer willig, kleine Gestalt, und tatest, was man verlangte, legtest +dich gleich wieder hin und decktest dich zu. Manchmal freilich war dirs +verboten, mit uns zu essen, und dann mußtest du heimlich in die +Speisekammer gehen und finden, was Esther dir hingesetzt hatte ...« + +»Und wie war es denn, als du starbst?« fing er leise wieder an. »Auf +einmal fandest du die Korridortür nicht verschlossen und huschtest +hinaus. Und als dein Sohn im Dunkel mit dem Streichholz die Treppe +heraufkam, saßest du auf den Stufen, klein und weiß in deiner +Nachtjacke, die Stirn ans Geländer gelehnt, und da warst du tot ... + +»Ja, Esther, da war er nun wieder hinausgegangen, der törichte Geist, +der ihr all das Seltsame riet, über das sie so viel den Kopf schütteln +mußte. Und all das, weil eines Tages ein lieber Mensch auf der Erde lag +und nicht mehr antworten wollte auf ihr Schreien und Schütteln und +Schlagen, und all das, damit sie nun sein Gesicht wieder hat -- ein +wenig Wehmut am Mundwinkel, ein wenig Friede über Schläfen und Augen, +und das Unbegreifliche ...« + +Sigurd war verstummt. Georg sah nicht ohne Erleichterung viele Sterne +oben in der Nacht; auch in der Schwärze des Teichs waren sie sichtbar +geworden. + +»Und wir,« sagte Sigurd leise, aber wieder heftiger schon, »wir bewegen +uns, wir greifen dies und jenes an und nennens Verstand. Einmal merken +wir dann, daß wir immer das Verkehrte getan haben. Aber in uns saß doch +einer, der wollte es so. Es war so seltsam, Esther, wie Mutter nun dalag +unter der Hängelampe, und du standest neben ihrem Kopf, in deinem +schwarzen Haar, mit fließenden Augen, im langen, weißen Hemd und getötet +vom Schlaf. So sonderbar war das! Nun wirst du bald heiraten wollen und +über das große Wasser fortgehen. Ja, meine Lehre ist nun aus. Sehen +Sie,« wandte er sich zu Georg nicht ohne ein wenig Bombast, »es ist ja +nichts ohne eine gute Seite. Esther mußte die letzten vier Jahre aus der +Schule fortbleiben; da hat sie viel unnützes Zeug gespart und eine +Menge Gutes von mir gelernt, Buchführung und Philosophie, +Sozialwissenschaften, und einen ungeheuren Stoß gute Bücher gelesen. +Verloben konnte sie sich auch, und ich kann dann von dem kleinen zum +großen Mütterchen zurückgehen, Mütterchen Rußland, und sehen, ob man +mich dort brauchen kann.« + +»Sie sind doch Balte?« fragte Georg, um etwas zu sagen. Sigurd nickte. + +»Komm, Esther, wir wollen gehn«, sagte er, und sie stand auf. -- Georg +ging willenlos mit. + +Sie sprachen nicht mehr, bis sie am kleinen Palais anlangten. Als Georg +sich hier verabschieden wollte, hörte er Esther zum ersten Male nach den +wenigen Worten zu Anfang etwas sagen, indem sie erstaunt fragte, ob er +hier wohne? -- Leider, gab Georg zurück, sei die Einrichtung noch nicht +fertig, sonst würde er sie bitten, hereinzukommen. + +»Siehst du, Sigurd,« sagte sie da ganz heiter, »nun komme ich doch +hinein!« + +»Sie hat es sich als kleines Kind schon gewünscht,« erklärte ihr Bruder, +»einmal in den verschlossenen Garten zu kommen, da freut sie sich nun +freilich.« + +Georg meinte, das Stück hinter dem Schlößchen sei nur klein, aber es +würde ihn doch sehr freuen, -- was nicht aufrichtig war, denn er hatte +keinerlei Eindruck von ihr gehabt, und obendrein war sie verlobt. Er +haßte Verlobungen. -- Also schieden die Geschwister von ihm. + +Im Hausflur zauderte Georg, ob er in die unfertigen Zimmer gehen sollte +oder in die für die Zwischenzeit zurechtgemachten Prunkgemächer. Aber +nach einem Blick in den kahlen, vom schwarzen Abend verdüsterten Raum +voller Bücherkisten, Teppichballen und Möbeln in Lattenkäfigen, und +einem weiteren durch die Gartentür ins Freie, ob etwa aus Bennos +Fenstern Licht falle -- doch alles war dunkel dort --, wanderte er +schlaff und unfähig in der dunklen Zimmerflucht hin und her, bald nahe +am Weinen vor Schmerzwut im Gedanken an Benno, der natürlich bei Renate +war. Renate, die ihm ewig verschlossene! Denn dort war ja nun Magda im +Hause, und dies -- nein, dies brachte er nun doch nicht fertig, vor +ihren Augen zu Renate zu beten. + +Er stand wieder still, durch ein Fenster starrend auf den Rasenplatz, wo +aus der Eichengruppe die Nacht wie eine schwarze Fackel aufstieg. +>Keinen Kaddosch wird man sagen ...< Dieser Sigurd war gewiß ein +ungewöhnlicher Mensch, in der Schule wurde ja viel von ihm gesprochen, +seinen Kenntnissen, seiner Belesenheit und -- ja vor allem seiner +Hülfsbereitschaft. Nun, mich wird er schwerlich aus meinem Sumpf +herausziehen können. Also was bleibt mir übrig? + +Darauflos leben, lustig sein, wieder die Nächte durchsausen, saufen, +speien, johlen, Zoten hören. Ach, wenn nur die studentische +Ausgelassenheit heutzutage nicht so unendlich nichtswürdig wäre! Wenns +noch Freude wäre, Überschwang, Lebensüberfülle, wahre Ausgelassenheit +voll Geist und Witz. Ausgelassenheit? Ja, die Vernunft wird ausgelassen +und der Stumpfsinn herein, sie betäuben sich, anstatt sich zu befreien, +vernichten sich selber in Berauschung, sie sind so unfeurig, das ist es, +sie brennen ja von nichts und für nichts, ja sie brennen bloß von +Alkohol, von Spiritus, dünne, kraftlose Flämmchen, -- o Renate, Renate! + +Georg mußte sich niedersetzen vor Mattigkeit, hatte jedoch innerlich +etwas Haltung gewonnen. + +Was also muß ich tun? fragte er sich, so klar er konnte. Ihnen +abschreiben oder nicht abschreiben? -- Es durchzuckte ihn, daß er diese +Last auf sich nehmen müsse, wegen der -- Maske, die sich gerade im +ständigen Umgang mit seinesgleichen allein probieren lasse. Lieber -- +dachte er -- ein besonders schweres Stück Weges jetzt -- und dann +Freiheit so oder so, als die lange Ungewißheit, Ratlosigkeit, und so -- +Verschleppung. + +Wenn ich, dachte er, Herzog bin, werde ich das alles abschaffen. Und +damit ich das kann, fuhr er innerlich errötend fort, muß ich nun wohl +dafür bluten ... + +Die Augen fielen ihm zu; er öffnete sie schwer, sah die zwei grauen +Rechtecke der Fenster bleich und öde im Dunkel und tastete nach seinem +Herzen. Die Angst stieg darum wie Flut; er atmete mehrmals, so tief er +konnte. Entschließe dich, Georg, gebot er sich, schreibe, schreibe +gleich! -- und schon zum Aufstehen aus dem tiefen Sessel sich +vornüberbückend, die Hände auf den Knien, kam er nicht weiter aus dieser +Haltung. + +Wenn ichs nicht tue, fragte er sich besinnungslos, tue ich es dann aus +Tapferkeit nicht oder aus Feigheit? + + + Zweites Kapitel: Juni + + + Begegnung + +Georg, an einem glanzlosen Vormittage im Junianfang, ritt Unkas im +langsamsten Schritt die breite Mittelstraße zwischen den Alleen in der +Richtung auf Herrenhausen hinunter, vornüberhängend mit halb +geschlossenen Augen, im verschwommenen Blick nahe die leise schlagende +schwarze Mähne, tiefer das wechselnde Zum-Vorschein-Kommen der breiten +Hufe, unter denen die staubtrockenen Erdklumpen vorspritzten. So saß er, +in seiner schweren Müde, seiner Angstwut, seinem unendlichen Mißbehagen, +das Hirn in Bierdünsten, das Herz in Öde; zerpreßt. + +Ihm fiel ein, wie er in der Nacht zuvor halbtrunken in die Güntherstraße +gelaufen war; wie er -- auf ihm selber unbegreifliche Weise -- zur +Rückseite des Gartens gelangt war, halb bewußtlos vor Trunkenheit und +Qual am Zaun gehangen und hinüber gelechzt hatte nach dem grauen, ganz +dunklen Hause hinter den Bäumen. + +Renate ... Wann würde er sie je wieder sehn! Magda -- es geschah ihm +freilich recht, daß sie ihm den Eingang verschloß, denn das tat sie ... + +Dies war die Gegenwart: freudlos, dumpf, entstellt durch eigene Schuld. +Das war die Zukunft: dumpf, abgeschlossen, umflügelt von Gespenstern des +Grauens. Dennoch mußte er hinein, mußte, die Maske vor, versuchen, ob -- +-- erfahren, ob es erträglich, möglich ... + +Unkas stolperte träg; er riß ihn hoch und bemühte sich gewohnheitsmäßig, +ihn mit Schenkelschluß und kleinen Paraden zusammenzustellen. In seine +geöffneten Augen blendete das halb verhüllte Licht; Spatzenzank +schrillte und überlaut Finkenschlag, dicht zu seinen Häupten. +Emporblickend folgte er eine Zeitlang den fast auf ihn herunterhängenden +Zweigen, deren erste, dünne Belaubung -- Blätter und Blättchen, kaum +entrollt, noch zerknittert, weich, weißlich behaart, kaum geborenen +Tieren gleich -- Verlangen erregte, danach zu greifen, eins abzupflücken +und vorsichtig hineinzubeißen als in leise bitter Süßes. Aber er brachte +-- schon zwischen den Zähnen fühlend, wie das Trockene innen saftig sich +zusammendrückte und knisterte -- die Hand nicht hoch, und eine hülflose +Rührung, die ihn überkam, reizte fast zu Tränen. -- Nun schmerzte sein +nach oben gedrehtes Genick; er senkte den Kopf wieder gerade. + +Da sah er, ein paar hundert Schritte weit vor ihm, auf dem getretenen +Fußpfad neben dem Hufschotter zwei Gestalten kommen, eine weibliche und +eine kleinere männliche, und sofort erkannte er Magda in der weiblichen, +erkannte sie mit dem Instinkt, obwohl er sich sagte, daß er, wenn sie es +wirklich war, sie gar nicht erkennen konnte, so entfremdet wie sie +aussah. Allein im Näherkommen blieb es untrüglich Magda, -- und er +dachte: Magda -- warum nicht mehr Anna? Es kam so ... Magda in einem +hängenden, nein schlottrigen, mattblauen Kleide, das sie mit den Achseln +trug anstatt mit den Hüften. Wie weit ihr Gang war! und trug sie nicht +Sandalen oder wenigstens keine Absätze unter den Schuhen? Damenschuhe +ohne Absätze waren Georg unleidlich. Er konnte die Beine sich abzeichnen +sehen unter dem schrittweis hin und her schlagenden Stoff, jedoch -- wie +reizlos! Auf dem Kopf hatte sie einen großen Panamahut mit tief +gerundeter Krempe, und er sah nun schon ihr Gesicht darunter, blaß, mit +undeutlichen Zügen, wie verwischt. + +Und daneben, in schwarzem Anzug, den Strohhut aus der Stirn gerückt, die +Hände auf dem Rücken, in unbedenklicher Haltung etwas vornüber -- das +war ja al Manach! Richtig wieder unter den Lebenden ... + +Georg sah ihr Gesicht nun von innen sich erhitzen und ganz rosig werden; +sah den Blick der alten braunen Augen und lenkte Unkas hinüber. +Augenblicke später hielt er mit Herzklopfen vor ihr, sie lachte heiter, +nickte ihm zu, rief: »Tag, Georg!« und begann Unkas den Hals zu klopfen. + +»Grüß Gott, Herr al Manach,« sagte Georg, »na wie gehts denn?« + +Besten Dank, äußerte Jason, es ginge ja. -- Den Strohhut, den er höflich +abgenommen hatte, behielt er in der Hand. + +»Aber Georg, was ist das mit Unkas?« fragte sie, bevor er etwas vom +Zusammentreffen und Langenichtgesehenhaben vorbringen konnte. »Er klemmt +ja die Zunge zwischen die Zähne.« + +»Tut er das? So. -- Ja, er wird ja auch alt ...« + +»Na Georg, schon so alt? Wieviel Jahre hat er denn?« + +»Ich soll wissen! -- Neun oder zehn.« + +»Ach, Georg, du weißt gar nichts!« lachte sie. -- Wehmütig an ihrem +Gesicht vorüber auf die absatzlosen, staubgrauen Schuhe hinunterblickend +-- waren es nicht einmal kleine Lackschuhe gewesen, mit eingedrückter +Spitze? -- hörte er sie weitersprechen: ob er vergessen hätte, daß er +ihn gekriegt habe, als er elf Jahre alt wurde ... »Ich bekam Terpsichore +-- erinnerst du dich noch? -- den Schimmel, der gleich das linke +Vorderbein brach -- ich kriegte doch immer was mit an deinen +Geburtstagen -- und du Unkas, und damals war er noch nicht drei Jahre +alt. Also ist er nun --?« + +Georg brauchte eine Weile, bis er hinter den Zähnen hervorbrachte: +»Zehneinhalb!« mit alles vergessender Traurigkeit nun an ihren +brauenlosen Augen haftend und sehr zu fragen versucht: Hast du denn so +gelitten, daß du gar nicht mehr weißt, was Leid ist, und nichts +empfindest bei solchen Erinnerungen? -- + +Dann ermannte er sich, lachte, wiederholend: »Zehneinhalb! das muß Onkel +Salomons Handschuhnummer sein! Wie gehts denn dem Alten?« und sprang ab. +Er hängte die Trense hinter den Bügelriemen ein, gab Unkas einen Klaps +auf die fletschende Zunge, daß er unwillig zurückfuhr, und setzte sich +neben Magda in Bewegung, dem Wallach es, wie ers gewohnt war, +überlassend, ob er mitkommen oder stehen bleiben wollte. Er kam ja doch +immer ... + +Sie gingen still. Zehn Schritte weiter hörten sie Unkas, der nachgetrabt +kam, bis er mit dem Maul an Georgs Schulter stieß, zum Zeichen +getreulichen Vorhandenseins. Jason sagte: »Das gute Pferd.« + +Erst Augenblicke später fühlte Georg ein zartes Lächeln in sich +aufquellen, wie seltsam bestimmt, sanft und bedeutungsvoll es geklungen +hatte: Das gute Pferd ... Er spähte verstohlen an Magda vorüber auf +Jason, der vor sich hin ging. Alles war ein wenig krumm an ihm, Genick, +Rücken und Knie; die schwarzen Augen aber bewegten sich glanzvoll, +lebendig und mit Gelassenheit umher. + +Und währenddes hörte er sich Magda nach ihrem Vater fragen, hörte sie +irgend etwas Unbestimmtes antworten, dann weitersprechen, von Krankheit, +ihrem Gesangslehrer und einer Musikvorlesung, die sie in der Universität +hörte, und daß sie Georg einmal von weitem dort gesehen hatte. Wie es +ihm denn ginge ... Er sehe gar nicht gut aus ... + +»Ach mit mir ist nichts mehr los, Anna«, sagte er gedankenlos. + +»Ach Georg!« + +»Ich bin wieder aktiv geworden.« Er sah starr geradeaus. Sie blieb +stumm. + +Das dauerte eine Weile, bis Georg aus den Anlagen zur Rechten die Front +des Schlößchens schimmern sah, worauf er sich zusammennahm und fragte, +ob die Beiden nicht seine Wohnung anschauen möchten; sie sei eben fertig +geworden. Und dann könnten sie ja auch Benno besuchen und sehn, wie er +Glück strahlte. -- Magda nickte, sie bogen ab, durchschritten die Allee +und wanderten um das Rasenrund. + +Dann sagte Georg aus halber Besinnungslosigkeit, ohne die Worte +unterdrücken zu können: + +»Nun bist du ja wie eine Taube, Anna ...« + +Sie blieb stehen, so daß auch er halten mußte und sich zu ihr wenden, +sah ihn sanft an und sagte: + +»Anna nennst du mich? Ja, behalte nur den Namen.« + +Dann ging sie weiter, dem vorausgewanderten Jason nach, indem sie +anfing, von Renate zu erzählen, und daß sie nun zweimal allwöchentlich +einen Quartettabend hätten; Saint-Georges spiele die Bratsche oder +zweite Geige, Irene die erste, Sigurd Birnbaum Cello, »-- kennst du ihn +nicht von der Schule her?« -- und Georg nickte. -- Benno Prager, Ulrika +und Renate wechselten am Klavier. -- Auch Trios spielten sie, Mittwochs +würde geübt, Sonntags müßte gekonnt werden. + +»Und wenn du magst, Georg, kannst du gern zuhören kommen. Ich habe mit +Renate darüber gesprochen.« + +Georg zuckte stark. Aber das -- -- nein das -- -- Sie wußte ja nicht, +was sie tat. Aber er konnte es nicht hindern, daß ein Freudegefühl +mächtig und mächtiger seine Brust aufdehnte, die Angst daraus -- nein, +das Bittere der Angst vertrieb und Süßes hineinflößte. Er richtete sich +innerlich auf, straffte seine Haltung, und die Welt sah plötzlich +sonniger aus. + +Schon hatte er, den Türschlüssel in der Hand, das geheime Gefühl, eine +andere als die kleine grau gestrichene Tür hier aufzuschließen; +leichtfüßig, die vier Stufen überspringend, strich er voraus durch den +Flur und schlug die Tür zu seinem schönen Zimmer auf, -- zum blassen +Egon, der hübsch in der Gartentür lehnte, hinunterrufend, daß Unkas +draußen stehe. + +Ja, es war schön. Magda schlug die Hände zusammen und machte nur große +Augen. Zwischen den klarweißen Vorhängen der hohen Fenster, im Schatten +des dunkelgrünen Wandstücks hinter ihm, saß der ernste, dunkle +Pensieroso und sann nach über die Welt. Es war ganz feierlich. Von +überall her schimmerten oder funkelten die erlesenen Farben der Kleinode +auf den Bücherregalen, leuchteten die Farben der Frühjahrsblumen, rote +und hellgelbe Tulpen, ein tiefvioletter Busch Veilchen, Narzissen, gelbe +und weiße, hängende stark blaue und rote Petunien und ein riesiges +Gebüsch lichtgelber Mimosenblüten. Jason stand schon unten und +untersuchte aufmerksam die hölzernen braunen Apostel unter dem +Treppendach. + +»Nein, die Lilien!« sagte Magda mit Andacht. Steil aufrecht, edel und +großmütig erhoben sie sich über den dunklen Pensieroso. + +»Nein, meine Bucharas!« sagte Georg und sah zu seiner Freude zum +erstenmal wieder rasches Leben durch Magda fluten, die nun die Stufen +hinunterlief, sich auf die Teppiche bückte, ja sogar sich niederwarf, um +sie zu streicheln. + +»Himmlisch, Georg!« sagte sie, »ganz himmlisch!« + +Worauf er eifrig zu den Fenstern lief, ein neues Blendwerk versprach, +den gewaltigen samtgrauen Vorhang niederrauschen ließ und zugleich eine +Lichtkurbel drehte. Hoch oben im Raum, zwei Meter unter der Decke +entfaltete sich und schwebte eine milchweiße Sphäre, wie ein großer +Kürbis groß, die ein fremdes, fast beklemmendes Mondlicht durch den +dämmerig bleibenden Raum ergoß. + +»Nein, hier muß ich Renate herbringen!« gestand Magda noch langer +Atemlosigkeit. »Jason, was sagst du?« + +Allein kein Jason war vorhanden. Nachsehend fand Georg ihn im +Nebenzimmer, wo er, die Hände auf dem Rücken, den Kopf im Genick, +geduldig zu dem weißen Perserteppich aufstaunte, der das Wandstück neben +der gläsernen Apsis bedeckte. Auch dies Zimmer mit seiner großen +Helligkeit, den Vitrinen, schwarzem Stutzflügel und Peddigrohrsesseln in +der musselinverhangenen Fensternische fand Magda himmlisch; aber sie war +nun wieder stiller geworden und in sich zurückgekehrt. + +Wenige Minuten später geleitete Georg die Beiden den langen Flur +hinunter und durch den Saal vor Bennos Tür. Drinnen sahen sie ihn in der +Mitte stehen, so lang er war und aussehend, als sei er stundenlang, +glücksmatt und strahlend in seinen drei Zimmern vor seinen vielen Möbeln +auf und nieder geschritten, die er nun selig zeigte: vom Messingbett (es +mußte eines sein!) und dem fließenden Waschtisch, an den Bücherschränken +und Schreibtisch von Palisander vorüber bis zum Bösendorfer im schön +getäfelten Musiksaal, glücksmatt und strahlend, als ob er sie alle +geboren hätte. Auf vieles Zureden Georgs wagte er endlich, eine Taste +anzuschlagen, lauschte verzückt, saß augenblicks vor der Klaviatur und +ließ eine Fuge darüber hinrollen, daß die Wände bebten. Und er fing an, +Kunststücke zu machen, fegte den _Des-Dur_-Akkord über die ganze +Klaviatur und lustfunkelte beim Staunen der Andern, da sie den Akkord +drinnen nachbrausen hörten, als wärs eine Orgel. Und er sang einzelne, +besondere Noten in das offene Instrument und freute sich innig mit +Georg, wenn nach Augenblicken aus der Tiefe das Echo sang wie ein +gehorsamer Gott. -- Magda kannte diese Kunststücke schon. Und so +verließen sie den Beglückten. + +»Du bist auch ein guter Mensch«, sagte Magda, als sie den Korridor +zurückgingen, verstummte aber bei Georgs heftigem Auffahren. -- Und ich +betrüge sie ja doch schon wieder! dachte er wild, Renate vor brennenden +Augen. + +Als sie dann unter der Haustür standen, nahm Magda seine Hand und sagte, +indem sie Jason nicht mehr zu beachten schien als den lieben Gott im +Himmel oder vielleicht das Sims über der Tür: + +»Ich wußte wohl, Georg, daß ich dir heute begegnen würde.« Sie lächelte +kindlich: »Ja, was du da nun wieder mit dir angestellt hast, das mußt du +wohl ausessen. Ich, weißt du, kann mich um so etwas nicht mehr viel +kümmern.« -- Schon wieder ernst geworden bei den letzten Worten, fuhr +sie fort: »Ich bin sehr bös krank gewesen, Georg, aber ich habs +überstanden, alles, weißt du, und ich möchte dich nicht gerne ganz +verlieren. In unser Haus kannst du nicht kommen, deshalb sprach ich mit +Renate. Du mußt aber still sein wie ich, willst du?« + +Ganz nahe, während sie dies sagte, hatte Georg ihre Züge unter den +Augen, und während er diese fest in Magdas geheftet hatte, mußten seine +Blicke doch gleichzeitig in ihrem Antlitz umherwandern, mit immer +beklommenerem Staunen die, nur aus dieser Nähe erkennbare Veränderung +der Züge begreifend; denn diese nun blasse Haut, unter der jetzt ein +anderer Stoff als Fleisch zu sein schien, war einmal rosig gewesen, und +es lebten damals lebendige Gefühle lieblicher Art um die verwischten +Linien des farblosen Mundes, der freilich damals schon herabgezogen war +an den Winkeln, aber doch nicht so! Unter dieser glatteren Stirn lebten +jetzt andere Dinge, und es war eine ganz andere Stirn; Fältchen waren im +Begriff, sich an den Außenwinkeln der Augen zu bilden, und noch -- nein, +noch war da nichts Welkes unter den Lidern, nur etwas sehr +Durchsichtiges, und das Haar -- -- Indem glaubte er sich eines andern +Gesichts zu erinnern, das er auch in einem irgendwie bedeutenden +Augenblick so wie dieses gesehn hatte, allein nun hatte er ihr dankend +in die Augen zu sehn, ihre Hand zu drücken, Jason ebenfalls, und zu +gehn. Ohne es gewollt zu haben, wandte er bald den Kopf nach ihr um. Da +gingen sie nebeneinander die weiße, chaussierte Straße hinab, vorüber an +den kleinen Kugelakazien, aus denen die Sternwarte sich erhob, dunkelrot +und schwarzgrün im Efeubehang, Georgs Blicke für Sekunden emporlenkend, +daß er ihren Ernst, ihr Alter, ihre bedrohliche Würde empfand --: Jason, +die leeren Hände auf dem Rücken, schwarz und etwas vorgebeugt, den +Strohhut wieder im Genick. An Magda war nichts zu sehn; sie ging ihres +Wegs. + +Kein Reiz mehr hauchte aus ihr, das wars. + +Hatte sie allen Glanz der Welt von sich getan? Hatte er selber sie +gelöscht wie ein Licht? Aber ihre Augen glänzten anders innerlich, es +gab vielleicht Nonnen, deren Augen wie die ihren in einer sehr gewissen +Flamme brannten, in der sie alle äußeren Lichter reiner und edler +hatten. Dieser Jason hatte ja Augen wie ein Märchenerzähler, man müßte +-- aber schon, indem Jason ihm erschien, mit einem riesigen schwarzroten +Turban bekleidet, ein blaues, langärmeliges indisches Hemde am Leibe, +mit untergekreuzten Beinen auf einem Teppich, schob sich das Gesicht +seines Vaters in dieses Bild hinein, so als wäre es dicht über Georgs +Augen. Wann war --? Ach, an seinem Geburtstage wars, nicht am +Geburtstage, am Tage vorher, mittags, -- und schon flogen von allen +Seiten Bildstücke auf Georg zu, die hellen Fenster, und draußen die +Wipfel im Regen, Visionen des Trassenbergischen Landes, und schon der +Saal im kleinen Palais, Benno auf einem Stuhl an der Wand, der +Achattisch, Napoleons Weste, Stirn und Haar, und jählings wieder Magda +an der Erde, am Abend im dunklen Wiesengrün, ihr rötliches Kleid, ihr +ohnmächtiges Gesicht mit geschlossenen Augen und -- -- Georg merkte, daß +er vor seiner Haustür stand, die in ihr Schloß gefallen war, fing an, in +der rechten Hosentasche die Schlüssel zu suchen, vergaß dabei, was er +aus der Tasche holen wollte, wälzte Feuerzeug, Taschentuch, +Schlüsselbund durcheinander, brachte dies endlich hervor und schloß auf. +Sein Zimmer in geisterhafter Mondesdämmerung erschreckte ihn, er riß den +Vorhang hoch, öffnete die Glastür. Sonnenlos war draußen der Garten, er +lehnte sich gegen den Türrahmen, warf den Hut irgendwohin und hing nun +ganz und gar tief über dem Erinnerungsfeld jenes Tages, wo Jasons +schwarzer Körper aus dem Grün der Teichoberfläche erschien, an einem Arm +emporgezogen, und er sah die klebenden grünen Blattlinsen auf dem +bleichen Gesicht. Unkas stand da, verzerrt, der Maler ging neben ihm, +der Maler saß im Zimmer in der Fensterbank, am Tisch, schob seinen +Bleistift in der Blechhülse, und da war das weiße Zeug des Vorhangs an +Magdas Fenster in der Nacht, die kleinen Kronen der Obstbäume in der +Dämmerung, das Spalier an der Hauswand, und nun war er im Zimmer, legte +die weiße, fremde Gestalt auf das offene Bett, -- diese fremde Gestalt, +fremde, fremde, fremde -- wiederholte er immerfort, und die Kälte des +Augenblicks fühlte er, und fragte sich, ob das immer so sei, wenn man +eine Frau --, dies -- Sichentkleiden, dieser schaurige Stillstand in den +erst glühenden Empfindungen, und dies -- Sichzurechtlegen und Rücken und +-- Gepeinigt von diesen Empfindungen mußte er sie um so hartnäckiger +verfolgen, erinnerte sich des wilden kleinen Wesens in München, +Fliddridd -- ja, das war freilich ganz anders, viel natürlicher, denn +die war selber äußerst bei der Sache gewesen -- -- aber wenn eine Frau +selber nichts -- -- du mein Gott, ja -- das Blut schoß ihm siedendheiß +in den Kopf -- was ging denn während dieser Zeit in ihr vor, die da vor +ihm lag und still hielt, was dachte sie denn, was fühlte sie denn? und +war sie nicht weiter von ihm weg als der Sirius von der Sonne? Und was +war denn das, was er tat an ihr? Hatte er sie nicht einfach +vergewaltigt? + +Georg schüttelte aufgeregt diese Vorstellungen ab, seufzte, fühlte das +Metall seiner Zigarettendose glühend heiß und feucht in der linken Hand +in der Hosentasche, zog es hervor, zündete mit flackernden Händen eine +Zigarette an und zog mit heftigem Genießen den Rauch in die schwellende +Lunge hinunter. Das abgeglühte Streichholz in die Aschenschale auf dem +Schreibtisch legend, dachte er: Ich wußte es ja, man liebt eine Frau +niemals weniger als in dem Augenblick, wo man sie -- liebt, denn im +glühendsten Momente dann -- ist sie ja auch nicht mehr vorhanden, +sondern bloß -- das Feuer, in dem man selber schon vergeht, und ein +minuten-, ein sekundenlanger Blick Auge in Auge enthält ein +tausendfaches Mehr an Glut und Unauslöschlichkeit. Liebend besitzen kann +ich jede, liebend anschauen -- wie wenige! Aber Magda? -- Magda? -- + +Er merkte, daß er unbewußt nach seiner Brust getastet hatte, denn dort +hatte sich wieder der Druck gezeigt, das Angstgefühl, das lange +bekannte, das im Augenblick schon da war, wenn er allein war, und das +ihn lähmte, das Morgen verschleierte, das Gestern verhüllte, das Heute +entfärbte. Doch fand er, es sei leichter geworden, loser ... + +Es zuckte in ihm, aufzuspringen und in das geheime Zimmer +hinüberzulaufen, das Zimmer der Königin ... Allein in dem Sessel, in den +er gesunken war, saß er unbeweglich fest, bald nichts mehr spürend als +unerkennbare Gedanken und Vorstellungen, die an ihm zehrten. + + + Erasmus + +Renate vernahm, als die Quartettgesellschaft -- Irene, Ulrika, Benno +Prager, Saint-Georges, Sigurd nebst Schwester und Magda -- an einem +Sonntagnachmittag auf dem Rasenplatz im Montfortschen Garten +buntgestreifte Reifen warf, plötzlich aus dem Gang zur Straße neben dem +Haus einen hitzig prasselnden und knatternden Lärm, und kaum daß sie +hinsah, sauste mitten in die schreiend auseinander Stiebenden ein +rädriges Ungetüm, schnaubend und zischend, mit einem ganz ledernen Kerl +darauf. Da hielts stille, und da wars Bogner, von dessen Gesicht eine +Brille fiel, und der lautlos lachte auf seine Art, während sie +ringsherum wie angewachsene Daphnes, wenigstens was die Frauen anlangt, +in mehr oder minder zierlichen Posen verharrten. Aber nun umdrängten sie +ihn und beschimpften ihn wie die Sperlinge, wie die Krähen eine muntre +Eule, und er berichtete, daß er schon wochenlang auf diese Weise unter +die Dörfer über die Haide fliege, -- »jedoch«, sagte er, »nicht jede +vernichtete Gans wird ein Stilleben.« Nun habe er allerlei Dinge +gesammelt, wolle gleich anfangen, und zwar, mit Renates Erlaubnis, in +der Kapelle, die er mit sechs schönen Engeln schmücken wolle. + +»Was kostet ein Engel?« fragte Irene, fragten sie Alle. Alle wollten +möglichst einen Engel haben. Bogner sagte, er verkaufe nur an fremde +Leute und an Herzöge, und da waren sie tief niedergeschlagen, denn +keiner wollte ein fremder Mensch sein, und keiner war ein Herzog, und +schenken lassen konnten sie sich doch auch nichts, woran der Maler ja +nun auch keineswegs dachte. Sie sollten nicht böse sein, sagte er +begütigend, er wollte später jeden von ihnen in schwarzem Papier +ausschneiden, dann könnten sie sich gegenseitig mit ihren Konterfeis +beschenken und dann hätten sie jeder einen Engel. -- Dies, meinten sie, +wäre nicht ganz das Richtige. -- + +Bogner, der sein Rad gegen das Postament der Sonnenuhr gelehnt hatte, +fragte Renate, ob Erasmus im Hause sei, denn mit ihm müßte geredet +werden. Er wäre ein Sonderling und möchte am Ende nicht zugeben, daß er, +Bogner, Renate Bilder schenkte. -- + +Ja, ob er denn wirklich nichts dafür haben wollte? -- + +Nein, es wäre doch seine Angelegenheit und ein Geschenk für sie. -- + +»Bogner,« sagte sie, »das kann ich nicht annehmen.« + +»Schnickschnack,« sagte er, »Renate Montfort kann alles annehmen. Der +Bauer schenkt dem König Wurst, -- sind Bognersche Engel nicht ebensoviel +wert?« + +Renate war überwunden, mußte aber nun fragen, warum Erasmus gefragt +werden mußte. + +»Es ist höflicher«, sagte Bogner. + +»Bogner,« sagte sie, »Sie haben einen schönen Charakter.« + +Renate war plötzlich verstummt, während sie durch das Haus gingen. Warum +sagte ich das? grübelte sie nach, einen schönen Charakter? Woher sind +die Worte? Ein gutes Herz wollte ich sagen ... Da fiel ihr ein, daß es +Worte Bogners waren, aus einem seiner Briefe; ihr Herz zog sich +zusammen; als ob er alles wissen müßte, errötete sie langsam und fing +eilig an, über Erasmus zu klagen. Sie bekomme ihn kaum noch zu Gesicht, +er arbeite Tag und Nacht und komme nicht einmal zu den Mahlzeiten +heraus, sondern esse in der Stadt. Der Onkel sei so still geworden und +arbeite auch unaufhörlich, wenn nicht in der Fabrik, in seinem Zimmer. +Die Aktiengesellschaft war ja längst vollkommen, und nun waren Onkel und +Erasmus Angestellte im eigenen Betriebe, pekuniär war freilich alles +fast wie früher. -- Renate verstummte, da sie inzwischen im Obergeschoß +und vor Erasmus' Tür angelangt waren. Sie klopfte, hörte ihn laut Herein +rufen und öffnete. + +Sie hatte erwartet, daß er am Schreibtisch sitzen werde, aber er stand +mitten im Zimmer, halb den Rücken zur Tür, das Gesicht über die Achsel +hergewandt, die linke Hand auf dem Rücken. Süßlicher Qualm erfüllte den +Raum, und als er sich zur Türe umdrehte, wurde in seiner linken Hand +eine halblange Jägerpfeife mit Troddeln sichtbar. So schien er +umhergewandert zu sein, und die Schreibunterlage auf dem Schreibtisch +war leer. Dieweil er Bogner freundlich die Hand gab und mit seiner +tiefen Stimme ein paar Bemerkungen über seine Belederung machte, sah +Renate sich verstohlen um, da sie noch nie hier oben gewesen war. + +Es sah wie in einer Studentenbude aus; ein schiefes Bücherregal hing an +der Wand, Stapel und Stöße von wissenschaftlichen Zeitschriften lagen +auf Stühlen und Teppich, ein Schrank stand halb offen, ein Mantel hing +vom Sofa an den Boden, alle Bilder hingen schief. Unbewußt rieb sie die +Knöchel der rechten Hand in der Linken, als ob sie fröre. Erasmus' +»Wollt ihr euch nicht setzen?« klang steif genug zur übrigen +Unwohnlichkeit. Bogner, in seiner Lederjoppe breiter aussehend als +früher, lehnte sich gegen den Schreibtisch, sprach von seinen Malplänen; +Erasmus nickte dazu und sagte am Ende nur, wenn es ihm, Bogner, gerade +darauf ankäme, seine Engel in Renates Kapelle unterzubringen, so solle +ers gewiß tun, bezahlt kriegte er ebenso gewiß nichts dafür, und Renate +fragte sich mitleidig und unwillig, ob er Bogners Andeutung vom Schenken +nicht verstanden habe oder absichtlich alles ins Geschäftliche zöge. + +Sie hätten nichts übrig, sagte Erasmus, alles würde auf die hohe Kante +gelegt, »aber«, sagte er, nach seiner Art plötzlich in Wut ausbrechend, +»der Teufel soll mich holen, wenn ich nicht alle Lust verliere, wenn ich +dich jeden Tag in dieser weißen Fahne herumlaufen sehe! Meinst du, wir +sind Bettelleute geworden? Etwas mehr Takt, das möchte ich denn doch +bitten, meine Liebe!« + +Renate fing unwillkürlich an zu zittern, fand aber einen Ausweg. »Wo +hast du mich denn gehen sehn, Erasmus?« fragte sie. + +Er wandte sich weg und murrte, sie habe wohl vergessen, daß sein +Schlafzimmerfenster auf den Garten hinausgehe, und das schien Renate +eine so dumme Ausrede, daß sie lachte und sagte: »Es ist doch Sommer, +Erasmus, da trage ich nur Weiß und doch nicht immer dasselbe Kleid!« + +Auf einmal war sie mutig geworden und wagte die Bitte, ob er nicht auch +in den Garten kommen wolle, Herzbruch komme nachher, um seine Frau zu +holen, der sei doch ein alter Freund von ihm, was der denn denken solle. + +»Sag, daß ich arbeite!« schnob er, jedoch nicht unsanft. + +»Erasmus,« sagte sie, »das ist nicht wahr.« + +Er stand am Papierkorb, hatte den Pfeifendeckel aufgeklappt und rührte +mit Irgendetwas in der Asche, die herausfiel. So gut und dumm ist er, +dachte Renate, nun fällt ihm wahrhaftig nichts ein, seine Stirn ist ganz +runzlig vom Nachdenken, und die Augen quellen heraus. + +»Wo ist dein Onkel?« knurrte er endlich, ohne aufzusehen, blies in die +Pfeife und schüttete den Rest heraus. + +»Erasmus, müssen die Dinge denn mit Gewalt immer noch schärfer und +eckiger gemacht werden?« + +Er klappte die Pfeife zu, legte sie auf die Tischplatte, sah auf und +sagte ruhig: + +»Geht nur, geht, es nützt ja nichts.« + +»Erasmus!« -- bat sie, aber es war nichts mehr mit ihm anzufangen, er +schob Bogner zur Tür, und sie ging mit gesenktem Kopf und rasch an +Beiden vorüber hinaus. + +»Bogner, bin ich so ungeschickt gewesen?« klagte sie draußen. »Wenn ich +nur Saint-Georges gefragt hätte, der weiß immer alles. Sie zucken +natürlich die Achseln.« + +»Ich,« meinte der Maler, »wenn ich er wäre ...« + +Renate hob die Schultern, machte ein feindliches Gesicht und stieg +schnell und mit möglichster Ruhe vor ihm treppab. + +Unten aber zwang etwas sie, stehen zu bleiben, sich nach ihm umzuwenden +und zu fragen: »Wollten Sie mir nicht noch etwas erzählen? In Ihrem +letzten Brief ...« Der Maler nickte, meinte aber, es fände sich wohl +einmal eine Zeit, wenn er erst am Malen sei und nicht könnte. + +»Ach, ihr seid eine Horde von Egoisten!« lachte Renate, »wie soll das +überhaupt mit der Malerei werden, Sie malen womöglich den ganzen Tag?« + +Kohleaufrisse, sagte er, könne er auch nachts machen, aber die Musik +würde ihn gewiß nicht stören, nein, Musik sei sogar ein ganz ungemeines +Geräusch. + +»Himmel, Maler!« brach sie aus, »denken Sie denn nun wahrhaftig nicht +daran, daß Sie uns stören könnten?« + +Sie lachten Beide; nein, er hatte nicht daran gedacht, versicherte aber +nun, daß er ganz wenig Platz brauche, und versprach, immer nur an einem +Fenster zu malen. + +»Sie waren doch auf der Schule mit Erasmus,« sagte sie plötzlich, »wie +machten Sie es denn da, wenn er nicht wollte wie die Andern?« + +Sie standen in der Veranda. Der Rasenplatz war leer, von der Kapelle her +tönten Orgelklänge gedämpft, nur Irene stand neben Bogners Rad, +sanfthüftig und anmutig in ihrem, gegen die Füße leicht verjüngten +weißen Kleid, und drückte vergeblich an Bogners Huppe herum, ohne einen +Ton herauszubekommen. Die schöne Nachmittagsglut fiel in breiten +Streifen durch das Gartengrün, und darüber standen sie schweigend. Im +Rasen erglänzte hier und da ein Stück von einem bunten Reifen. Der Maler +sagte laut: »Beide Hände! Mit beiden Händen gehts!« + +Irene, hochrot im Gesicht, flog herum, blitzte ihn an und entfloh über +den Rasen nach der Kapelle hin. + +»Damals«, sagte der Maler, »blieb jeder sich selbst überlassen; wer sich +abgesondert hatte, mußte sich freiwillig wieder herzufinden. Oder es +wurde geboxt; das geht nun nicht mehr. Erasmus war immer ein Topf ohne +Henkel.« Er hob die Achseln. »Das sind wir Alle im Grunde. Ihr Frauen +solltet wohl eigentlich diejenigen sein, die immer noch eine Handhabe +entdecken. Leiden machen unbeweglich, ich weiß das. Wenn dann kein Gott +zugreift, steht solch einer ewig am Feuer und brennt.« + +»Und da soll man warten, bis sie ausgekocht haben?« fragte Renate, »o +Bogner!« + +»Wir reden in Gleichnissen«, sagte er beinah ungeduldig »Steht der Topf +denn an Ihrem Feuer?« + +Sie stand, ihre lange Kette von rosenroten Korallen in den Händen, und +zog die straffgespannte langsam an den Lippen hin und her. »Ja, in +meinem Hause jedenfalls,« sagte sie endlich leise, »und doch scheint +mir: es ist alles verzaubert, und ich kann den Spruch nicht finden. +Glauben Sie, Bogner,« fragte sie ratlos, »daß ich Josef schreiben soll, +daß er wiederkommt? Ach Gott, ich habe ja keine Ahnung, wo er ist!« +klagte sie mutlos und ließ den Kopf hängen. + +Sie sah Bogners Rechte, die er ihr reichte, legte die ihre hinein, sah +ihn gehn und blieb, wo sie stand, ohne zu denken, ohne sich zu bewegen, +bis wieder Schritte laut wurden und Herzbruchs breite Kaufmannsgestalt +und sein gelehrtes Gesicht hinter der runden Hornbrille in der Tür +erschienen. + + + Mensur + +Georg, am Leibe weiter nichts als das einärmelige Mensurhemd und die +oftgewaschene alte Leinenhose, setzte sich rittlings auf den alten +Bandagierstuhl, kreuzte die Arme auf der Lehne und ließ sich von +Tastozzi eine nach der andern die viele Meter langen, fast handbreiten +schwarzen Halsbinden umwickeln, die, glitschig vom Blut und Schweiß +vieler Wunden des Mensurtages, stanken wie der Teufel. Aber wundervoll +war wieder die unendliche Sorgsamkeit, mit der Tastozzi wickelte, sanft +legend die klebrigen Riemen wie Wundbinden von weicher Gaze, nachtastend +mit der Linken und immer wieder fragend: »Ists so recht, Georg? Drückts +auch nicht?« Nichts drückte, im Handumdrehn steckte der Hals in einer +weichumschließenden Wand, um die noch die handhohe wattierte Manchette +leicht umgeschnallt wurde. »Sitzts?« »Danke, glänzend!« O Tastozzi war +dunkel, aber eine Seele! Das wußte, wenn kein Andrer, Georg. Er sah +dankbar auf, allein Tastozzi hatte sich schon zur Fensterbank hinter ihm +abgewandt, wo die Armbinden aufgehäuft lagen. + +Von diesen sanfteren Empfindungen abgesehn, befand Georg sich nicht in +der bänglich freudigen Laune seiner früheren Waffengänge. Früh erwacht, +nach wenig Schlaf, endlos wachen Stunden übler Peinigungen des +Geschlechts, Halbtraumvisionen in endlos hartnäckiger Jagd, hatte gleich +der Gedanke an seine noch immer nicht restlos vernarbten Kopfwunden sich +festgesetzt: beim Betrachten der kaum behaarten Stelle im Spiegel zeigte +sichs, daß sie wieder geschwitzt hatten. -- Ekelhaft, so mit offenem +Kopf zu fechten! + +Georg blickte finster gegen die blaugetünchte Wand des kahlen kleinen +Raums, der leer war -- Tastozzi setzte seine Eigenart durch, beim +Anbandagieren keinen Zuschauer zu dulden -- leer, bis auf die Tische, +die drüben gehäuft voller Bandagen, Schurze, Drahtmasken und +Sekundantenspeere mit farbigen Körben, an den Wänden links und rechts +dagegen bedeckt waren mit dem ganzen Rüstzeug der Ärzte, auf Wattelagern +ausgebreiteten Scheren, Zangen und Nadeln, flachen Schalen voll rosiger +Sublimatlösung und Bergen von Watte. Georgs Blick schweifte abweisend +drüber hin und heftete sich auf den eigenen nackten Unterarm, den er +hochhielt, die Faust schon im gepolsterten Handschuh, während Tastozzi +die Handgelenkbinde von dünnem gelbgrünem Flanell zart und fest umlegte: +der Arm gefiel ihm, wie er war: glänzend weiß, kräftig und harmonisch +gebaut, und »Schöner Arm, nicht?« brummte er halbfragend. Der Andere +schwieg, die grauen Augen im gelblichen, dunklen und eckigen Gesicht mit +voller Aufmerksamkeit auf die Schleife gerichtet, die seine Finger +knüpften, worauf er, ohne hinzusehn, die erste Armbinde von der +Fensterbank griff und die zu Boden hängende geschickt aufrollte, dann +den Ballen um Georgs Arm abzuwickeln begann. Georg folgte gedankenlos +mit den Augen, immer wieder das leise: »Sitzts, Georg? Drückts auch +nicht?« hörend und die linke Hand Tastozzis sehend, deren Finger er auf +jede neue Lage prüfend aufsetzte; und er wickelte bereitwillig wieder +und wieder zurück, schon auf Georgs leisestes Antwortzaudern hin. Es war +eine Lust, von Tozzi bandagiert zu werden! + +Die beiden krassen Füchse, der jüngere Ellerau und von Germersheim, +kamen hereingeschlendert und fragten Georg zum siebenten Male, wie er +sich fühle. + +»Ich habs euch schon sechs Mal gesagt: glänzend! Macht bloß, daß ihr weg +kommt; nicht wahr!« schnob Georg und bewegte das Handgelenk noch einmal +prüfend, ehe er Tozzi den dünn wattierten schwarzen Seidenärmel über das +Ganze ziehen ließ. + +»Gib mal Speere her, Rudi!« befahl er dann. »Ellerau, geh mal fragen, +wer auf Gegenseite sekundiert. Hoffentlich nicht Everdingen, der fällt +immer -- was ist, Tozzi?« + +»Nichts. Du kannst aufstehn.« + +Georg erhob sich. »Die ekelhafte Hose klemmt immer so!« + +»Man sollte nackt fechten«, hörte er Tozzi hinter sich. -- Rudi, mit +zwei Mensurspeeren in den Händen vor ihn tretend, meinte lachend: »Baden +muß man ja sowieso hinterher.« + +»Hol einen Schurz, Rudi, und red nicht, eh du gefragt wirst.« Georg +führte abwechselnd mit jeder der beiden Klingen in den kürbisgroßen, +blauweißschwarzen Blechkörben ein paar Lufthiebe, und trat zurück, da +sein Gegner, fix und fertig gerüstet, den Arm auf der Schulter eines +Korpsbruders hereinkam und sich verbeugte, ein mittelgroßer, schwerer +Mensch mit gedunsenem Gesicht, aber friedlichen kleinen Augen. + +Während Tozzi ihm dann den von Germersheim gebrachten großen Lederschurz +vorhängte, der, steif wie ein Panzer, eine neue Wolke beißenden Schweiß- +und Blutgeruch ausströmte, fragte er, in Georgs Rücken festschnallend: +»Hast du noch irgendeinen Wunsch? Fürs Sekundieren mein' ich?« + +»Ich wüßte nicht ...« Da kam Ellerau zur Tür herein. »Also wer +sekundiert drüben?« fragte Georg halblaut. + +»Altenburg soll er heißen.« + +»Gott sei dank. Also dann, Tozzi,« fuhr Georg leise fort, »nur eins, +nicht wahr, was ich immer schon sagte: nie einfallen, wenns nicht +unbedingt notwendig ist, -- Abfuhr oder so. Ich -- ja um Gottes willen, +Rudi, bring mir bloß die Speere nicht durcheinander, nicht wahr! Ja, +welchen hab ich denn nun eigentlich ausgesucht? Gieb den noch mal her! +den, wo du grad -- -- nicht den! den andern! Sakrament noch mal, ihr +Füchse seid eine Gesellschaft, nicht wahr!« + +Bei dem Lufthieb aber, den er mit dem empfangenen Speer ausführte, hätte +er sich ums Haar das Handgelenk verrenkt; es schmerzte, und das war ein +Omen. Georg fluchte leise und sagte, er nähme den andern, Ellerau sollte +ihn in der Hand behalten. -- Der erklärte hochherzig, er testierte Georg +ja sowieso, worüber sein großer Bruder hereinkam und sich wunderte, daß +Georg noch nicht fertig war. + +»Die Brille, Tozzi«, sagte Georg beklommen. Der Augenblick, wo das +blindmachende, tränenerregende Eisengestell mit Drahtvergitterung um den +Schädel geschnallt wurde, war jedesmal der schlimmste. + +»Was wolltest du mir denn noch sagen?« hörte er Tozzi fragen, der +gleichzeitig sanft den Brillenbügel -- der Gute hatte ihn zuvor mit +Watte umwickelt -- auf Georgs Nasenwurzel legte. Es ward dämmrig vor +Georgs Augen, dann fühlte er, wie unendlich behutsam die Schnalle am +Hinterkopf zugezogen wurde und -- nicht ohne leise Rührung, daß Tozzis +Linke die kurzen Haare, um sie nicht einzuklemmen, nach oben strich. Die +Riemen zogen sich zusammen, langsam, weich, dann ein kleiner Ruck; die +Brille saß. Wundervoll! + +»Ja -- also du weißt ja, nicht wahr! Ich ziehe beim ersten Hiebe immer +nur an, nicht wahr, komme also erst beim dritten, nicht wahr, auf Terz +heraus und dann mit der Hakenquart. Von der Uhlenburg bolzt zwar sicher, +aber für alle Fälle, nicht wahr -- nicht einfallen! auch wenn du mal +Blut -- -- Also kanns losgehn?« + +Der Raum war jetzt gedrängt voll stehender Korpsleute aller Farben; +Georg wurde durch die Mauer geschoben und geführt, fand sich plötzlich +-- was ihm ein leichtes Leeregefühl in der Magengegend versetzte -- vor +der leeren Saalmitte voll blutfleckiger Sägespäne, fünf Schritt +gegenüber seinem Gegner, der puppensteif auf einem Stuhl hockte, das +Gesicht halb verdeckt von der eisernen Brille, an der noch ein +Nasenblech saß, den rechten Ellbogen auf dem hochgestützten Knie seines +Testanten, so daß die Schlägerklinge senkrecht emporstand. Und indem +Georg merkte, daß ihm von hinten ein Stuhl untergeschoben wurde, hörte +er durch das gedämpfte Stimmengemurmel ruhig und vernehmlich sagen: +»Silentium für die Mensur.« + +Mein Leder! dachte Georg und vernahm, sich nach links wendend, +gleichzeitig Tozzis tiefe Stimme: »Mein Paukant ist noch nicht fertig. +Das Leder fehlt. -- Ist es groß genug?« fragte er, Georg die +handtellergroße, lederbezogene Platte von Eisenblech an ihren schwarzen +Bändern vorhaltend. »Ich denke«, erwiderte er, aber nun gabs erst +Aufenthalt. Der Unparteiische trat herzu. Andere von beiden Seiten +steckten die Köpfe vor, alle wollten das »überlebensgroße Leder« sehen, +das »Geburtstagsleder«, wie eine Stimme sagte, bis der Arzt kam, Georg +den Kopf senken ließ, kaltfingrig auf der nackten Stelle tastete und das +Leder für ordentlich erklärte. Bis es über den noch unvernarbten Wunden +festgebunden war, verging noch eine Minute, und Georgs Arm mit der Waffe +auf der Schulter des Fuchsen war unterweil lahm geworden. + +Endlich trat gegenüber der Sekundant vor seinen Fechter und erklärte, +die Drahtmaske vom Gesicht lüftend, sein Paukant trete mit Nasenblech an +wegen Nasenoperation; worauf Tastozzi -- plötzlich überaus schlank und +kraftvoll erscheinend, die Drahtmaske ritterlich im Arm, die Klinge +schräg nach unten -- das Leder verkündete. + +Georg schöpfte tief Atem; gleichwohl haftete die Bedrängnis in seiner +Brust. + +»Silentium für die Mensur.« + +Georg trat zugleich mit seinem Gegner vor, so daß sie wenig mehr über +einen Meter voneinander entfernt standen. Dann erstarrte in ihm die +letzte Beängstigung, während die Sekundanten mit ihren Schlägern den +Abstand von Brust zu Brust maßen, und Georg, noch auf seine Münchener +Art die Faust im Korbe dicht überm Hinterkopf haltend, so daß die Klinge +hinten herunterhing wie ein Zopf, biß die Zähne zusammen. Das letzte, +was er deutlich hörte, war drüben das gellende: »Auf die Mensur!« Zwei +Sekunden später sah er die schräg vorragende Speerspitze des Gegners +sich bewegen und hieb selber zu. Dann kam eine längere Zeit blinden +verbissenen Dreinhauens, kurzes Pausieren, wieder Dreinhauen; er fühlte +-- gar nicht wie etwas Dazugehöriges -- keulenschwere Schläge auf seinen +Schlägerkorb und den Arm fallen und sah endlich aus der, vom +Brillenriemen eingeschnürten Stirn dadrüben einen Blutstropfen quellen, +dann einen kleinen roten Riß. Alsbald gab es eine Pause. Ein Mensch in +weißem Kittel, Arzt, erschien und verdeckte für Augenblicke den Gegner. + +Georg, keuchend und schwitzend, atmete erleichtert auf, augenblicks -- +wie immer -- ruhiger geworden beim ersten Blut, und konnte sogar +lächeln, da er mit einem Blick nach links unten Tozzi sich nach seiner +Gewohnheit auf beide Absätze hocken sah, statt nur sich über das +durchgedrückte linke Knie nach hinten zu beugen, -- um aus dieser +Stellung schneller hochfliegen zu können, wenns not war. + +»Silentium für den Fortgang der Mensur.« Durch die Drahtmaske Tozzis +glaubte Georg ein ganz kleines Augenlächeln aufblinken zu sehen. Als +zeige er eine kleine Blume dahinter, dachte Georg dankbar. + +Er hatte aber noch kaum zum ersten Hieb wieder ausgeholt, als er einen +schmetternden und so wütend schmerzhaften Keulenschlag langhin über den +Kopf erhielt, daß er zusammenzuckte und taumelte. Zum Hiebe kam er +nicht, seine Klinge wurde aufgefangen, er hörte Halt schrein, hörte +Tozzis Stimme, dann wieder den Gegensekundanten: »Auf Gegenseite wurde +zurückgegangen?« + +»Infolge der Wucht der Hiebe?« Tozzi. + +»Ich habe nichts bemerkt«, erklärte der kleine Unparteiische, auf seine +Notizkarte blickend. + +Georg, noch halbblind vor Schmerz, wollte »bitte Pause!« sagen, +verhinderte sich jedoch noch rechtzeitig, da das wie ein Zugeständnis +ausgesehen hätte, auch war da plötzlich, von der Maske verdunkelt, +Tozzis Gesicht mit blitzenden Augen vor ihm, aus dem es zischte: »Nimm +dich zusammen, Georg, du zuckst ja!« + +Georg schwieg. Einen Augenblick danach war er im heißen Kampf. Zweimal, +dreimal riß es wie Feuer über seinen Kopf hin, er schäumte vor Wut, +mußte warten, da es wieder Anfragen gab wegen seines Taumelns und +Zurücktretens, -- ich zucke nicht, dachte er weinend und hieb mit +blinden Augen auf eine kaum sichtbare rote Kugel los, dann hörte er ein +Geschrei: »Leder weg!« und wieder die Frage: »Wurde zurückgegangen?« Er +lauerte auf die Antwort nach Tozzis augenblicklichem: »Infolge der Wucht +der Hiebe?« und hörte erst nach Sekunden ein trockenes: »Nein.« + +Georg saß und fühlte Hände an seinem Kopf beschäftigt. Besorgt und mit +einem tiefen Ausdruck von Güte beugte Tozzis Gesicht ohne Maske zwischen +Andern sich über ihn; er fragte ängstlich: »Habe ich noch gezuckt, +Tozzi?« Der bewegte verneinend den Kopf und lächelte. Indem hörte Georg +die Stimme des Arztes über sich, der ruhig bemerkte, die alten Schmisse +seien aufgeplatzt, er verbürge sich nicht für weiteres ... Eine große +Hand umspannte Georgs Schädel, Elleraus gutherzige Augen erschienen über +ihm, bevor er den Kopf senkte. Als er wieder aufsah, stand Tozzi zwei +Schritte vor dem Unparteiischen, verbeugte sich genau wie zu Anfang und +sagte: »Herr Unparteiischer, wir führen ab«, worauf er sich schlank +umdrehte, seinen Speer wütend auf die Erde schleuderte, den Handschuh +von der Hand zerrte und hinterdrein schmiß und ganz bleich flammenden +Gesichts Ellerau mit halber Stimme anfuhr: »Ich habs euch vorher gesagt, +ich! Das war eine Roheit!« dann sich wegdrehte und hinausging. + +Wieder rittlings auf einem Stuhl, jetzt die Stirn auf den Armen, von der +heißen Bandagenrüstung erleichtert, den schrecklich schmerzenden Kopf +von kühlenden Wattebäuschen betupft, fragte Georg den Arzt, ob wieder +genäht werden müßte. -- Das sei leider unmöglich; man müßte es so zu +heilen versuchen. Eine böse Geschichte. -- Wie lange es denn dauern +könne? -- Nicht unter sechs Wochen. + +Georg sank das Herz. Daß die Mensur zu alledem schlecht gefochten war, +stand fest; er mußte Reinigung fechten, dazu kam es vielleicht nicht +einmal mehr in diesem Semester, so war er gezwungen, auch im nächsten +noch aktiv zu bleiben. Sein ganzer Kopf schwamm in Schweiß und Feuer; er +glaubte ohnmächtig zu werden, hob den Kopf schwankend und sah noch +Tastozzis Gesicht und Gestalt, der mit einem Glase Wasser zur Tür +hereinkam. Trinkend kam er rasch zu sich, fröstelte, nahm sich zusammen +und sagte, mühsam scherzend: »Bei der nächsten wetzen wirs aus, Tozzi, +was?« + +Der fragte unbeweglich blickend: »Wann?« + +»In sechs Wochen, sagt der Arzt.« + +Drei Sekunden lang sah Georg Tastozzis Augen fest und seltsam stille +gegen die seinen eingestellt, dann bewegte er stumm den Kopf auf und +nieder und wandte sich ab, sein Glas auf den Tisch zu setzen. Der Arzt +hob die rotgewaschenen Hände voll Watte über Georg, der den Kopf senkte +und sich verbinden ließ. + + + Esther + +Georg, den Kopf mit erhitzenden Binden umwickelt, dampfend von Angst, +Öde und Jammer, saß im tiefsten Sessel dicht vor der Glastür zum Garten +und sah den Regen in massig fallendem Strom durch den dämmernden Abend +niederstürzen, laut rauschend im Blätterwerk der Gebüsche, aus denen +überall weißliche Blüten, zerrissenen Nachtschmetterlingen gleich, +hervortrieben und umhertaumelten. Ein Türgeräusch weckte ihn aus halbem +Schlaf, er hörte Egons Stimme hinter sich und drehte sich langsam um. In +der Kaminecke schwebte, erleuchtet, der grüne Lampenumhang, zwei +Gestalten kamen den Flur herab auf die offene Tür zu, dann erkannte er +Esther und Sigurd und sprang erleichtert auf. + +Herr du meines Lebens, wie sie trieften! Das war ja unerhört! -- Sigurd +-- noch über den Stufen oben -- zog mit zwei Fingern den Stoff seiner +Hose vom Bein ab, um zu zeigen, wie er klebte, Esther schwenkte ihren +Hut, daß es spritzte, und schüttelte den Kopf. Da flogen alle Kämme und +Nadeln aus dem Haar, und der schwarze Schopf schlug ihr ums Gesicht; +vorn senkten sich die Bögen des Scheitels, und sie drückte die gewölbten +Hände dagegen, hob das Gesicht und lachte innig, während Georg +erstaunte, denn sie war ja unbeschreiblich kostbar und chinesisch +anzusehen! Diese feinen, halbkreisrunden Brauen unter dem weißen Dreieck +der Stirn -- wie ein marmorner Giebel --, die geschlitzten, glitzernden +Augen, und der Mund, ah, er war erstaunlich süß, denn er hatte einen +Bart, einen entzückenden, verführenden Flaum von Bart über den +Mundwinkeln! Esther hieß sie? Sie war ein wenig klein, Rebekka hätte +besser gepaßt, wie sie dem langen Jakob auf den Zehen den Krug zum Munde +reichte und alle Kamele mit himmlischem Wasser tränkte, -- aber was nun? +Kleider mußten herbeigeschafft werden, dies war ja ein gottvolles +Unwetter! + +Georg hob den Deckel der Truhe in der Kaminecke. + +»Dies«, sagte er, »ist ein völlig ungetragener Bademantel, dunkelrot mit +handbreiter blauer Kante, der steht Ihnen fabelhaft, Sigurd, ziehen Sie +ihn schleunig an! Und hier, aus diesen Seidenpapierhüllen schält sich -- +aha! aha! ein Morgenkleid der Weimarer Werkstätten in ungefährer Form +eines japanischen Kimonos!« Und er machte wollüstig verlockende Augen zu +Esther, welche die Hände zusammenschlug über der breit entfalteten +braungoldenen Seide, bestickt mit schwarzgestielten und kupferfarbenen +Mohnblumen, vom Saum nach oben steigend. Augenblicks öffnete Georg sein +Schlafzimmer, machte Licht, warf das Kleid über sein Bett, schob das +Mädchen hinein und machte die Tür zu. Dann half er Sigurd die klebenden +Hosen vom Leibe, wobei der erzählte, wie sie jählings im Park von dem +Unwetter überrascht und hergeflüchtet seien, natürlich Esthers wegen, +die behauptete, es wäre näher hierher als bis zur elektrischen Bahn, und +das freute Georg über die Maßen. Der blasse Egon half lächelnd bei den +Stiefeln und stürzte davon, um den Tee zu beschleunigen. Esther steckte +den Kopf aus der Tür und rief: »Schuhe! ich habe alles ausgezogen!« Aber +da war nur ein Paar japanischer Holzschuhe in der Truhe mit zwei Zoll +hohen Sohlen, die reichte Georg hinein, und nach einer Weile ging die +Tür auf, und sie kam herein, o wunderbar! auf ganz kleinen, vorsichtigen +Schritten, so daß sich kaum das Kleid bewegte, das sie weit und mächtig +umfloß, die Unterarme vor der Brust gekreuzt, das Haar hochaufgesteckt +und mit einer sehr lieblichen Königinnenhaltung des kleinen Hauptes. Ja, +da stand nun Sigurd und sah wie ein Hoherpriester aus mit seinem langen, +ernsten Gesicht, schweren Augen und dunklem Haarbusch in dem langen +roten Kleid. Egon räumte die Bücher vom niedrigen Tisch, setzte das +Teegeschirr auf, Georg zog die Lampe mit dem grünen Umhang tiefer und +konnte sich nicht satt sehn. Esther drehte sich um und um, und überdem +zirpte das Telephon vom Schreibtisch. Georg nahm den Hörer auf und +vernahm drüben Bennos Stimme, der mit unzählbaren Entschuldigungen +vortrug, Frau Tregiorni, Herr Bogner und Herr Saint-Georges seien schon +den halben Nachmittag bei ihm und säßen nun fest, und nun wollten sie +Tee trinken, -- worauf nach einem unverständlichen Gemurmel Ulrika +Tregiornis Stimme erschien, die Georg beglückwünschte, daß er da sei, +denn Jason al Manach fehle, um Geschichten zu erzählen, und er hätte +sicherlich was vorzulesen. Georg freute sich heftig, bat sie aber, zu +ihm herüberzukommen, da sie etwas Erstaunliches zu sehen bekommen +würden. Das versprach sie gerne. + +Unterweil hatte Esther Tee eingeschenkt und saß auf den Knien ihres +Bruders, der in einen Ledersessel versunken war und sie umschlungen +hielt, während sie vorsichtig die dünne Tasse an seine Lippen setzte, +aber er schüttelte heftig den Kopf, es sei viel zu heiß! worauf sie ihm +gut zuredete, und dann trank er wieder einen Schluck, und sie schwätzte +erstaunlich dummes Zeug dazu. Auf dem Flur draußen aber entstand ein +Getöse von schlürfenden Schritten und Stimmen und unmäßiges Gelächter, +und dann flog die Türe auf mit einem heftigen Ruck, und -- ja da standen +sie! + +Esther nämlich war entsetzt aufgesprungen und stand nun, mit den Füßen +heimlich ihre halbverlorenen Schuhe angelnd, etwas gekrümmt, die Hände +auf den Knien, mit den Armen ihr Kleid am Leibe festdrückend, lächelnd +und errötend --, ja so stand sie dicht neben dem großen grünen +Lampenumhang ihr zu Häupten. Georg stellte vor, aber darauf hörte +niemand; endlich fragte Ulrika: »Georg, was ist dies? Ein Märchenfisch?« + +»Es ist Esther«, sagte er. + +»Aus der Bibel?« + +»Freilich, freilich!« -- Und da gingen sie Alle herum um Esther und +verneigten sich, sogar Bogner, auch Benno, aber schrecklich verlegen. +Saint-Georges schlug vor, daß sie es vormachen sollte. Was? -- Nun, das +aus den Stücken in Esther, ob sie die Stelle nicht kennten? -- Nein! -- +Also mußte Georg eine Bibel herbeischaffen, und er hatte wirklich eine, +eine Kunstbibel, so groß wie der Tod. Saint-Georges schlug auf und las: + +»Und am dritten Tage legte sie ihre täglichen Kleider ab und zog ihren +königlichen Schmuck an. + +»Und war sehr schön, und rief Gott den Heiland an, der alles siehet, und +nahm zwo Mägde mit sich, und lehnete sich zierlich auf die eine, die +andre aber folgete ihr und trug ihr den Schwanz am Rocke. + +»Und ihr Angesicht war sehr schön, lieblich und fröhlich gestalt; aber +ihr Herz war voll Angst und Sorge. + +»Und da sie durch alle Türen hinein kam, trat sie gegen den König, da er +saß auf seinem königlichen Stuhl in seinen königlichen Kleidern, die von +Gold und Edelsteinen waren, und war schrecklich anzusehen. + +»Da er nun die Augen aufhub, und sahe sie zorniglich an, erblassete die +Königin und sank in eine Ohnmacht und legte das Haupt auf die Magd.« + +»Da wandelte Gott dem Könige sein Herz zur Güte ...« + +Ja, so wollten sie es machen! »Lieblich und fröhlich gestalt«, sagte +Georg, es paßte alles genau, und er wollte die eine Magd machen, Sigurd +sollte König sein, aber der wollte nicht, denn er wäre nicht schrecklich +anzusehen, was Esther auch fand, aber das tat sie nur, um davon zu +kommen, und sie protestierte auch gegen Georgs Magdtum, und Ulrika fand +wieder, daß sie zu schlecht angezogen sei als eine königliche Magd, aber +Georg hatte schon einen anderen Kimono aus seiner Truhe geschöpft, der +war so blaßgrün wie ein Morgenhimmel und war zu vielen Teilen bedeckt +mit einem Gewimmel von ganz rosa Wölkchen, silbergerandet, echt +japanische Stickerei, also verschwand sie mit ihm und Esther strahlend +im Speisezimmer, um sich anzuziehn, denn von dort wollten sie +hereinkommen, und sie wollte beide Mägde zusammen darstellen. + +Unterweil tranken sie ihren Tee, und Benno berichtete nachträglich sehr +errötend, daß er auf dem Wege von seiner Wohnung hierher nirgend die +Kurbeln für das Licht habe finden können, und so seien sie entsetzlich +furchtsam den Korridor herangetappt, denn Ulrika hätte geschworen, es +seien überall Schächte und Wolfsgruben in diesem alten Palais, +Saint-Georges aber hatte versichert -- Benno krümmte sich vor +Schamhaftigkeit und Gelächter --, die Wege zu den Dichtern wären immer +dunkel, und dann hatte er einen Schüttelreim gemacht zum Totlachen, und +Ulrika, die alles durch die offene Tür hörte, lachte schon und schrie: +»Nein, wie dumm! Aber herrlich war er! Sagen Sie ihn, Benno!« Und Benno +brachte wirklich den Schüttelreim heraus, und er hieß: + + Ein Dichter bei den Milben saß + Und lernte sie das Silbenmaß. + +Herr du meines Lebens! Georg wollte sterben vor Lachen. Er fiel auf +seinen Stuhl am Schreibtisch, spreizte die Beine von sich, hob den +linken Arm hoch und ließ die Hand wie eine Traube auf seinen Kopf +hängen. »Und lernte sie das Silbenmaß!« rief er, »das ist großartig! Das +ist ganz großartig! Das ist sogar keß!« + +Im nächsten Augenblick schrie Ulrika: »Fertig! Ist der König auch +fertig?« Flugs wurde der Schreibtisch beiseite geschoben, ein Sessel vor +die Treppe gerollt, der Vorhang vor die Fenster gelassen, -- die große +Mondkugel schwebte milchbleich in Lüften auf und verwandelte den Raum in +eine geheimnisvolle Palastgegend voll feenhafter Dämmerung, Sigurd +setzte sich majestätisch zurecht und rollte die Augen, und da kamen sie +nun herein, Esther wie zuvor, die Stirn süß gesenkt, ängstlich genug, +Stirn und Wangen überflogen von Erröten, hinter ihr Ulrika in fließenden +Himmelsmorgenfarben, weit zurückgelehnt, die Schleppe in ausgestreckten +Händen, die Augenlider tief gesenkt, das dunkelrote Haar in zwei dicken +langen Zöpfen neben den, im grünlichen Licht durchscheinenden zarten +Wangen herabhangend. Ja, das war ein bezaubernder Anblick, die Männer zu +beiden Seiten sanken mit flach zusammengelegten Händen auf die Knie und +sangen nach der schönen Melodie: >Reich mir deine Hand! deine weiße +Hand!< die Worte: »Schenk mir einen Kuß! schenk mir ei--nen Kuß!« Esther +aber sah den König angstvoll an, wankte zierlich und wurde auf das +anmutigste aufgefangen. Dann stand sie wieder, schleuderte aber +plötzlich wider alle Verabredung ihre Holzschuhe links und rechts den +Männern an die Köpfe und stürzte sich, dunkelgoldumwogt und nacktfüßig +in die Arme ihres königlichen Bruders. Georg sagte: »Das ist ein +duftender Abend!« + + + Drittes Kapitel: Juli + + + Die Friedliebende Gesellschaft + +Renate saß am Abend des ersten Juli, ihres Geburtstages, am Schreibtisch +und schrieb im letzten Licht des Sommerhimmels: + +»Mein lieber Josef: + +Hiermit schenke ich dir zu meinem Geburtstage eine Stunde von ihm. Eine +sehr kostbare Stunde, denn unten sitzen sie Alle um Jason in der +dämmerigen Veranda und hören ihn kleine Geschichten erzählen. Du kennst +Jason ein wenig durch meine Berichte. Wirklich ist er zu den Lebendigen +zurückgekehrt. Nun erzählt er Geschichten. Geschichten, die er +augenscheinlich selbst macht. Dann sitzen wir Alle um ihn herum, und er +erzählt, halblaut, leise plätschernd, den blassen Mund immer ganz leicht +gekräuselt, beinah möchte man sagen: kaustisch, aber das ists nicht, es +ist bloße Freundlichkeit, immer geruht er ganz leicht, und seine Langmut +ist ja nun unendlich. Die schwarzen Augen wandern unaufhörlich umher, +vom Einen zum Andern, und immer muß man sich freuen, wenn man angesehn +wird. Er weiß auch immer eine Antwort, nicht wie Georges, der Aufschluß +erteilt und Dinge klarlegt, sondern da ist irgendwie eine sanfte, ganz +sanfte Unabänderlichkeit in seinen Worten, sie sind so da wie eine +kleine Wiese, sie stehen da wie ein Büschel Blumen, -- was ließe sich +dagegen einwenden? Aber er spricht niemals von selber, man muß ihn immer +anreden, und dann weiß er immer etwas, ach, ich könnte stundenlang davon +schreiben! Niemals widersteht er; wenn einer spazieren gehen will, Jason +geht mit; wenn einer im Garten sitzen möchte, Jason sitzt mit im Garten; +wenn einer was erzählt haben will, Jason erzählt gleich was. +Aufschreiben wollte er nichts, sagte er, er wäre kein Literat, aber +nachdem ich ihn gebeten habe, hat er mir schon dies und das Stück Papier +gebracht, darauf war mit ganz kleiner, zierlicher Schrift eine seiner +Geschichten aufgeschrieben, und wenn der Bogen zu Ende war, war die +Geschichte auch aus; das nehme er sich so vor, sagte er. + +Aber weiter zu den übrigen >Allen<, die ich erwähnte. Da ist: + +Magda, die Du kennst, doch wurde sie freilich durch Krankheit und +Schicksal recht verändert. Wenn Du Dir eine sehr mädchenhafte und sehr +deutsche Madonna vorstellen kannst, eine Madonna, die nicht geboren hat +--, dann kannst Du sie sehn, wie sie jetzt ist. Siehe, es giebt +Menschen, die werden durch vieles Leiden -- wie der Stahl durch +Bestreichen mit dem Magnetstein -- magnetisch für anderes Leid, und wer +das seine mit ihr in Berührung bringt, dem weiß sie es sanft zu +entziehen. -- Glück, hörte ich Dich einmal sagen, ist eines der +häufigsten Fremdworte in der Erdensprache. Nun -- dann hat meine Magda +jene Sprache verstehen gelernt, aus der es stammen mag. + +Ulrika kennst Du, und sie ist dieselbe; mir nicht ganz nah wie bisher, +so sehr ich sie liebe. Sie muß einen seltsamen, mir unbekannten Geist +mit sich herumtragen, den vielleicht verstehen mag + +Bogner, doch will ichs nicht beschwören. Sie sind viel zusammen, soweit +er nicht, wie zurzeit, vor einem Wandstück in der Kapelle sitzt, die er +mit musizierenden Engeln auszuschmücken beschäftigt ist. Um es gleich zu +sagen: Was Bogner sich unter Engel vorstellt, ist nicht mehr und nicht +weniger als ein heroisches Wesen, dem er diesen Namen giebt. Er hat +einen Haufen Studien um sich herstehen und malt. Nein, mit ihm ist +nichts anzufangen, obwohl er nicht ohne Bereitwilligkeit ist; jedenfalls +wenn er nicht malt. + +Irene kennst Du. Mit ihr, Georges, dem gleichfalls Dir bekannten Benno +-- dessen Namen ich nur anzuschlagen brauche, um Dich den ganzen +rührenden Akkord mit allen Ober- und Unterstimmen seines Wesens hören zu +lassen -- und einem Dir Unbekannten, der das Cello spielt, haben Ulrika +und ich eine Quartett- und Triovereinigung an Mittwoch- und +Sonntagabenden. Was das Cello angeht, so bist Du vollkommen ersetzt. Er +heißt + +Sigurd Birnbaum, studiert Medizin und ist neunzehn Jahre alt. Menschen +beschreiben kann ich nicht gut, so mußt Du Dich mit der Versicherung +begnügen, daß ich ihn schön finde und so aussehend, daß ich ihn Unkas +getauft habe nach dem letzten Mohikaner. So sieht er aus; so geht er -- +schwer und mit den Füßen etwas einwärts, wie diese, noch ein wenig +tierhaften Menschen sich den Gang auf langen Wanderungen erleichtern +sollen; so einfältig ist sein Gemüt, kampfbereit sein Geist -- und im +übrigen habe ich einen Vers darauf gemacht, der später kommt. Seine +Schwester heißt + +Esther, ist das Lieblichste von der Welt, gleicht aufs Haar einer +kleinen Chinesin, wird von allen liebgehabt und kann sonst auch gar +nichts, obwohl sie sehr klug ist. Da sie aber etwas tun muß, so haben +wir einen Fond gegründet für Handarbeiten, denn darauf versteht sie +sich. Was kann das Mädchen himmlische Sachen sticken! Wie ich gestern in +Dein Zimmer komme, sitzt sie da mutterseelallein über einem großen Stück +schwarzer Seide und näht an einer handtellergroßen Scheibe in der Mitte +aus kleinen Rosen, von kunstvoll zusammengefalteten, lichten +Seidenläppchen; in handbreiter Entfernung soll ein dichter Doppelkranz +von gleichen Rosen herum, und das Ganze bekommt eine altgoldene +Spitzenborte, die ich hergeben werde. Leider ist sie ganz arm. Also hat +sich der wohlhabende Teil unserer Gesellschaft zusammengetan und einen +schönen Fond gegründet zum Einkauf von unermeßlichen Seidenstoffen, +Kanevas, Wolle, Seidenfäden und so weiter, und die gute Esther wird die +ganze Gesellschaft mit Kissen und Morgengewändern, Fenstervorhängen und +Tischdecken versorgen. Außerdem ists unendlich behaglich, wenn einer +vorliest und jemand dabei sitzt und stickt. Jason kann ihr Geschichten +erzählen, wenn sie allein ist. + +Prinz Georg wäre dann der letzte zu erwähnende, und Du kennst ihn. Nicht +wahr: immer freundlich, gutherzig, ehrlich, immer gern literarisch -- +oder muß es in diesem Fall literatisch heißen? -- und im übrigen so wie +der Vers, den ich auf ihn gemacht habe. (Kommt später!) Allzuhäufig +sieht man ihn nicht, denn er ist in einen >Geheimbund<, wie er das +nennt, eingetreten, wo er >sich in den Sitten wilder Völkerschaften +übt<. + +Ein Name -- sagte Josef einmal -- ist was der Henkel am Topf; also +nennen wir uns die Friedliebende Gesellschaft. Wir kommen und gehen in +diesem Hause, wie es uns beliebt, und unser einziges Statut ist, uns nur +einmal am Tage zu begrüßen. + +Ich -- ja was kann ich zurzeit andres tun, als gute Menschen zu +versammeln und zu denken, daß sie sich nichts zuleide tun und, solange +sie beisammen sind, sich des Lebens freun. Sie haben ein jeder ihre +Arbeit, draußen; also werden sie auch alle ihre Leidenschaften und ihre +Leiden, ihre Feindschaften, ihre Seufzer und ihre Plagen haben, so wie +ich die meinen, aber sobald sie hier sind, das weiß ich, herrscht +Wohlsein, und unsere Gemeinsamkeit ergeht sich auf dem Boden guter +Arbeit erholenderweise, wie der Bauerntanz auf der Tenne. Dazu ist +Sommer, alles blüht, die Farbe herrscht, in der Natur und an den +leichten Kleidern von uns Frauen. Nach der Hitze des Tages leben sie +Alle bei Dunkelwerden vollends auf, wandern umher, hören von fern +irgendeine Musik, gehen über die Wiesen hinaus, an den Fluß, singen +unter den Sternen und hinüber zu den Lebensbäumen des Friedhofs; wir +leben gegenwärtig, gedankenleicht, unbedacht, geschwisterlich. Kommt die +Nacht, steht Schlaf bevor, sind wir jeder wieder allein. Dann herrscht +das Unsrige, -- das Eigentliche wohl. Mag es. + +Und so ist es schön. Wer ins Haus kommt, der weiß als Gewissestes den +Maler in der Kapelle; der findet Esther, von buntem Zeug umgeben, im +gotischen Fenster, findet Jason im Hintergrund, findet Georg, eine +Seidensträhne durch die Finger ziehend neben Esther, findet Benno am +Klavier phantasierend, findet Irene, Arme voll Blumen zusammentragend, +die sie ihrem arbeitsamen Mann heimschleppt, damit er auch was hat, +findet Magda unter den sechs Linden, unserer >kleinen Allee< hinter der +Kapelle hin- und herschlendernd, als ob sie innen sänge, der armen Frau +Marie Grubbe gleich, als sie noch ein Mädchen war und sehnsüchtiger als +mein Kind Magda, und findet uns schließlich Alle beisammen in der +Kapelle unterm Gewölk von Klängen voller Sterne, Blumen, Blitze und +Engelsgesichter.« + +Renate merkte, daß es so dunkel geworden war, daß sie ihre eigenen +Schriftzüge kaum noch erkennen konnte. Sie streckte die Hand nach der +Lampe, die Glühbirne im kleinen gelben Schirm flammte auf, sie blickte +einen Augenblick geblendet nach oben, erkannte das weiße Gesicht +Ech-en-Atons über ihr, lächelte und schrieb weiter. + +»Zum Beschluß eine kleine Szene von der heutigen Geburtstagsfeier. Zu +diesem Zweck wurde Renate in ihrem allergrößten, dem glühroten Kleide +mit blauem Moireemuster, das Du kennst, nebst der grünen Halskette von +Dir, vor der Orgel aufgestellt, und die ganze Gesellschaft kam im langen +Zuge zur Kapellentür herein, indem sie nach der Melodie: >Mariechen +sitzt auf einem Stein, einem Stein, einem Stein< den schönen Choral +sangen: >Renate hat Geburtstag heut, -burtstag heut, -burtstag heut!< +Als sie, Georg als der Durchlauchtigste voran, am Podium angelangt +waren, setzte Benno sich an die Orgel und spielte ganz leise den +Jungfernkranz in Fis-Moll, während Einer nach dem Anderen das Podium +bestieg und seine Gabe überreichte. Herrliche Dinge gab es da. Georg +schleppte eine große, chinesische Göttin der Barmherzigkeit aus +mattgetöntem Porzellan, die wie eine Muttergottes aussieht und lieblich +lächelnd segnet. Hinter ihm kam Irene mit einem halben Dutzend +langhängender Seidenstrümpfe in allen Farben an jeder Hand. Ulrika trug +einen Stoß Noten auf dem Kopf wie ein Negersklave. Sigurd hatte alles +und Alle photographiert, Menschen, Haus und Garten, und trugs in einem +schönen Album unter dem Arm herbei. Magda hatte Spitzen geklöppelt, dünn +wie Spinnweb, der Himmel mag wissen, wo sie die Zeit hernahm, die immer +nur für Andere da ist! Saint-Georges brachte eine ererbte Kostbarkeit +herbei, einen grünen Porzellanmops, den ich schon immer hatte haben +wollen, und Esther kam, in ausgebreiteten Händen einen grauen Florschal, +den sie mit silbernen Vögeln bestickt hatte, ein Wunderwerk der Kunst. +Zuletzt kam Bogner und hatte Stiefel gekauft. Das war zum Totlachen! Das +heißt, Stiefel nannte es Irene, die vor Gelächter sterben wollte, aber +es waren ganz schlichte, kleine, gelbe Schuhe, und der Maler +versicherte, er hätte tagelang nachgedacht, bis ihm beim Anblick der +Schuhe in einem Schaufenster die Erleuchtung gekommen sei, und er hatte +es gut gemacht, denn als Renate ihren linken Schuh abstreifte, saß der +neue wie angegossen. Bogner hatte wirklich einen schönen Charakter, +obgleich Renate im Herzen zitterte und knirschte, nachdem sie eine Woche +lang sich vorgestellt hatte, was er ihr wohl malen würde. Darum, als +durch das Gedränge der Übrigen auf dem Podium, die gegenseitig ihre +Geschenke bewunderten und anpriesen, der gute Benno sich endlich +durchgewunden hatte und mit unzähligen Verbeugungen, Erröten und +Stammeln eine zierlich geschriebene Kantate auf den 133. Psalm +geschrieben: >Siehe, wie fein und lieblich ists, daß Brüder einträchtig +beieinander wohnen< überreichte, wäre sie mit Freuden in Tränen +ausgebrochen. -- Stiefel! jauchzte Irene, der Maler hat Stiefel gekauft! +-- Aber nun, wo war Jason al Manach? Siehe, da kam er herein, wie stets, +wenn er verlangt wurde, nickte Allen herzlich zu, gab Renate die Hand +und seinem Wohlgefallen Ausdruck, daß wieder einmal Alle da wären. Ja, +ob er nicht wisse, was heute sei? Richtig, da fiel ihm ein, daß +Geburtstag war. Er hatte es vollständig vergessen. O Jason, wie wurdest +du da verhöhnt! Sein berühmtes Gedächtnis! -- »Saint-Georges, was sagen +Sie dazu?« fragte ich geknickt. Er aber, der alles weiß, fand das +erlösende Wort: »Was hielte stand vor Renate?« sagte er. »Sogar Jasons +Gedächtnis versagt.« + +Renate aber ergriff eine perlgestickte Tasche, holte eine Handvoll +gekniffter Zettel hervor und verteilte sie, befahl darauf, daß jeder, in +der Folge, die sie bestimmte, den Inhalt laut und deutlich vorlese. -- +Renate hatte nämlich die ganze Gesellschaft mit Ritornellen beschenkt. +Sie selber begann, Magdas Hand, die neben ihr stand, ergreifend: + + Magda, -- vom Leide + Geführt, in unserm Kreis der kleinen Freuden, + Ist unser Aller Trost und Herzensweide. + +Georg mußte lesen: + + Georg, der Trasse, + Stürzt sich ins Leben wie ins Meer der Schwimmer, + Drum sieht er rings -- nur Masse, Masse, Masse. + +Ulrika las, nicht ohne Erröten: + + Ulrika, holde! + Gott segne deine immer klaren Augen + Und fülle sie mit immer tieferm Golde! + +Irene las und dankte mit Knicks und Lächeln: + + Irene, hell, + Beschwingt und tönend wie die schwarze Amsel, + Ist nur vergleichbar einem -- Ritornell. + +Maler Bogner las, nachdem er mit einem Blick auf seinen Zettel: Eiweih! +gemurmelt hatte: + + Der Maler Bogner + Ist unsres Hauses festgefügte Säule, + Ein Selbsterzeugter und ein Selbsterzogner. + +Esther Birnbaum las ganz leise und tief errötend: + + Die kleine Esther + Ist eine Königin ganz im geheimen. + Wie schön ist das! Nun nennen wir sie Schwester. + +Sigurd las ein wenig ernst und scheinbar betroffen: + + Sigurd. -- Ein Mahner + An Gideon, der Makkabäer Nachfahr, + Im Adlerschmuck vom -- letzten Mohikaner. + +Saint-Georges beschloß: + + Saint-Georges, der Stille + Im Hintergrund, ist regsam wie im Fachwerk + Die niemals ruhende, geschäftge Grille. + +Und nun hob Jason ein ganz furchtbares Lamentieren an, weil er keins +bekommen hatte. Die Anderen verhöhnten ihn maßlos, weil das die Strafe +für seine Vergeßlichkeit sei, Renate aber entschuldigte sich, sie hätte +wohl an ihn gedacht, aber keinen Reim weder auf Jason noch auf al Manach +gefunden, und davon habe sie nicht loskommen können. »Ach, du lieber +Gott,« sagte er, »es ist doch so leicht wie Wattepusten: + + Jason al Manach. + Zu nichts zu brauchen als zum Märchenplappern, + Vielleicht zu einem Reim auf Lukas --« + +Statt des letzten Wortes ließ er den Mund erschreckt und kindlich halb +offen stehen, als habe er nun auch das Reimwort vergessen. + +Eine Weile später fand Renate sich von Saint-Georges gefragt, warum sie +selber sich vergessen habe. »Ach, Georges,« sagte sie, »Sie können gern +noch eins haben, obwohl nur die Hälfte von mir selber ist und die andere +Hälfte von Mörike: + + Des Freundes Achtung + Ist vor Renates Versen sehr gesunken: + Sie stieg hinab >zum Abgrund der Betrachtung<.« + +»Warum so giftig?« sagte er freundlich. + +Von zwei Menschen, die zur Vervollständigung meines derzeitigen +Lebensbildes gehören würden, habe ich bislang geschwiegen und -- will es +nun bis ans Ende tun. + +Dein Auftrag ist ausgeführt. Cornelia Ring lernte ich schon vor längerer +Zeit durch einen Zufall kennen und denke seitdem nicht an sie, ohne zu +bedauern, daß sie nicht unter uns sein kann. Übrigens befindet sie sich +in meinem >Weichbild<, denn Maler Bogner hat sie zu sich genommen, und +sie hält ihm alles instand, von den Strümpfen bis zu den Pinseln. + +Ja, Josef, was fange ich mit dem Brief an, den Du mir da geschrieben +hast? Ein Feuilleton über >den Unfug der Vereinigten Staaten<. Du +hättest es an die Frankfurter Zeitung schicken sollen. Darf ichs +nachträglich für Dich tun? + +Gott befohlen, Josef! + + Renate.« + +Ohne das Geschriebene noch einmal zu überlesen, legte sie die Bogen +zusammen, faltete, kuvertierte sie und schrieb die Adresse. Danach +löschte sie das Licht, trat einen Augenblick ans Fenster, ließ sich von +der lauen Nachtluft an die Gesellschaft in der Veranda erinnern und ging +treppunter. + + * * * * * + +Als Renate die dunkle Halle betrat, war von der Veranda her so kein Laut +hörbar, daß sie glaubte, es sei niemand dort; doch gewahrte sie gleich +darauf im linken Fenster den Schatten eines Menschen, der wohl draußen +auf der Fensterbank saß, und nun auch im grauen Rechteck der Mitteltür +einen weiblichen Schattenriß, undeutlich, der draußen stand. Auf dem +weichen Teppich kam sie wider Willen unhörbar bis zur Tür und sah nun, +daß doch wohl Alle da waren, aber so still wie die Büsche im Garten und +kaum zu erkennen im Finstern. + +Der weibliche Schatten war Magda, die dicht an der Treppe zum Garten an +der Brüstung lehnte, halb verhangen von dem schwarzen Rankenwerk des +Weins und Jelängerjeliebers, das vom Verandadach herabhing. An der +andern Seite des Eingangs stand, fast wie sie, Ulrika. Ganz ferne links +in der äußersten Ecke war der weiße Schein von Jasons Gesicht tief unten +zu erkennen: er mußte auf einem Taburett, fast am Boden sitzen. In +seiner Nähe saß, kaum zu unterscheiden von der Brüstung und den Blumen +darauf hinter ihr, Esther; an der Wand Saint-Georges, am roten Glühpunkt +seiner Zigarette zu erraten. Der im Fenster hockte, war Sigurd, und +neben ihm, als Einziger bescheidentlich auf einem graden Stuhl aufrecht, +saß Benno, wie er pflegte: ein Knie überm andern, die Hände darauf, den +Rücken gebogen, das Gesicht ein wenig emporgerichtet. Und Irene? -- Sie +saß wohl verborgen hinter der Rückenlehne des Sessels, ganz in Renates +Nähe. So war nur Bogner abwesend, -- und Georg -- in seinem Geheimbund +vermutlich. + +»Erschreckt nicht,« sagte Renate behutsam, »ich bin es.« + +Ein Schimmer -- Irenes Auge -- erschien über dem Sesselrücken. Die +Übrigen bewegten sich Alle ein wenig, doch keiner sprach. + +»Ich habe,« bemerkte dann Jasons Stimme fein aus dem Hintergrund, »wie +man von feindlichen Batterien sagt, sie sämtlich zum Schweigen +gebracht.« + +»Wie denn?« fragte Renate. + +Für Jason antwortete Irene nach einer Weile tief: »Er erzählte so +seltsam ...« + +»Darf ich wissen was?« fragte Renate, in einen leeren Sessel gleitend. + +»Ach,« hörte sie Esther aufatmen, »wie kann man das sagen? Es sind ja +keine Geschichten. Nur ein Stück Leben, das er erscheinen läßt, wie -- +wie in einer _Laterna magica_, so farbig und so leise.« + +»Wenn Sie«, ertönte Saint-Georges' Stimme nach einer Zeit, »den Inhalt +wissen wollen: Da war ein Buchbinder. Der stand von früh sieben Uhr bis +abends zehn am Arbeitstisch. Er hatte einen sehr alten, weißbärtigen +Vater, der noch helfen konnte, eine große, üppige Frau, die an besonders +arbeitsreichen Tagen zugriff, und einen zehnjährigen Jungen, der ins +Realgymnasium ging, aber albern war, nur herumlief und lachte, nichts +lernen konnte; ein halber Idiot. Damit der einmal zu leben habe, mühte +sein Vater sich tagein tagaus, ohne Festtag, ohne Freude als eben diese. + +»Eines Tages fing er an, sonderbare Reden zu führen. Dann verschwand er. +Dann kam er wieder, redete irre, tobte. Dann kam er ins Irrenhaus, und +dort starb er bald darauf. Fast das ganze Guthaben des Sparkassenbuches +hatte er vergeudet. + +»Nun stellte die Frau sich an seinen Platz. Sie hatte alle Fertigkeit +gut begriffen, nur die feineren Einbände machte der Schwiegervater, aber +bald konnte sie das Vergolden der Titelschriften und dergleichen besser +als der Alte, ja mit Frauengewissenhaftigkeit machte sie's sogar +akkurater als der Tote, in freilich längerer Zeit. Und dann starb +plötzlich der Schwiegervater. Ja -- und dann fand man sie eines Morgens +am Bett des Knaben, sitzend, über ihn gebeugt, und das Zimmer war +gefüllt mit Leuchtgas.« + +»Ja,« setzte Saint-Georges nach einer Weile hinzu, »das wars.« + +»O nein, das wars nicht!« sagte Ulrikas Stimme hinter Renate. »Wir haben +es doch alles gesehen! Die lange Werkstatt mit den blinden, verklebten +Fensterscheiben voll rostiger Eisenquadrate, und den langen +Arbeitstisch, darunter das Werkzeug, -- und wie der Mann mit seinen +dunklen Augen und dem zurückfallenden schwarzen Kinn und den wehmütig +hängenden Mundwinkeln soviel plappert, immer seine kurzen: Ja, ja, -- +jawohl, jawohl, -- ja ... Und dann der Geruch ... der Leim auf dem Herd, +der Kleister, Druckerschwärze und gekleistertes Papier, und Leder, und +Kaliko, jedes ...« + +Benno räusperte sich. »Ach,« sagte er, »und draußen der schmale Hofraum, +das alte Pflaster voll Gras, und in der Ecke der alte Leierkasten, der +herrenlos war ...« + +»Und gegenüber den Fenstern«, redete Sigurd, »die vier braun +gestrichenen Türen der Klosette mit dem Herzloch oben, nicht wahr, und +dahinter die alten Fachwerkwände, die Fenster und Gardinen, und die +Geraniumstöcke im Sommer ...« + +Nun schwiegen sie wieder. Renate, schon -- wie den Geruch der Blumen, +des Rasens, des ganzen Atems der Sommernacht -- den Duft des Erzählten +aufsteigen fühlend, bat innerlich: nur weiter! so bekomm ich vielleicht +doch noch das Ganze ... + +Und überdem hörte sie Esther wieder: + +»Es war so traurig! Am traurigsten war, wie die große, dunkle Frau da am +Bett sitzt und nicht mehr lebt. Nein,« überbot sie sich, »das Traurigste +war wohl doch, wie der Mann da die Dirnenbekanntschaft gemacht hat, und +er nimmt seine Frau mit zum Stelldichein --« + +»Ich glaube,« fiel Magda leise ein, »am schrecklichsten fand ich, wie er +dann seine Frau auf den Rücken klopft und sagt, sie wäre aber doch die +Beste und --« + +»Nein, Magda,« raffte Esther sich erregter auf, »das wars doch nicht! +nicht das, sondern -- wie sie selber Jason das alles erzählte und dabei +Zeitschriften heftet und weint und alles zwei und dreimal wiederholt und +>du bist doch die Beste<, wie er das gesagt habe, und sie sagt, daß sie +das ja auch immer gewußt hätte, er wäre nur bloß eben ... Und wie sie +eigentlich gar nichts Besonderes drin fand und -- -- sags doch, Sigurd!« + +»Keinen Namen, keine Bezeichnung dafür, nicht wahr? Nur ein Unglück, ein +furchtbares Unglück; so furchtbar, daß es sich nur hinnehmen ließ ...« + +Sie waren verstummt. Renate konnte, da es heller vor ihren Augen +geworden war, nun von Allen die Helligkeit der Gesichtszüge und die +dunklen Flecken der Augen erkennen, in denen es glänzte. Plötzlich tat +sich neben ihr, fast laut, entrüstet und verwirrt, Irenes Stimme auf: + +»Und das Ganze kommt nur von der fehlenden Anzeigepflicht der +Geschlechtskrankheiten.« + +Ein Lächeln, kaum hörbar rauschend, wehte im Kreise umher. Und +Saint-Georges sagte: »Bravo! Die Frau ihres Mannes.« + +Bevor Irene auffahren konnte, wurde jetzt Jasons melodische Stimme +hörbar, der langsam sagte: + +»Ihr Kinder! ihr Kinder! Wie seid ihr doch sonderbar! Meint ihr denn nun +eigentlich, die Menschen in meinen >Geschichten< seien andre als ihr +selber, daß ihr von alledem sprecht, als ob ihr nie dergleichen gesehn +hättet? -- Und in meiner letzten Geschichte, von dem Buchbinder, da +waren sie wohl euch wieder nicht gütig genug bei all ihrem Unglück, denn +war die Mutter nicht öfters hart zu dem albernen Jungen, und es gab auch +wohl Schläge, und der Alte erst, der immer schlechter Laune war und +brummte, obwohl er tun und lassen konnte, was er wollte, um sechs Uhr +Feierabend machte und sein Bier trank, und als der Sohn tot war, sprach +er obendrein schlecht von ihm. Denn über ihnen Allen war das +Unsichtbare, das, was Irene andeutete, was sie alle Drei wußten und +nicht wissen wollten, das Verschulden, das doch keines war, sondern in +Wahrheit -- Verhängnis. Verhängnis? Sie waren es doch selber, in ihnen +wirkte es, ihr Leben wars, das, wonach sie sich eingerichtet hatten, und +sonst nichts.« + +»Ja,« fing Esther an, »ich weiß nicht, Jason, -- deine Menschen sind +doch sonderbar. Irgendwas -- glaub ich -- fehlt. Sie sind nicht gütig +und nicht schlecht, nicht tugendhaft und nicht edel, und auch nicht +gemein. Eigentlich sind sie gar nichts.« + +»Sind sie nicht vielleicht -- leidend?« + +»Oh freilich, Jason ...« + +»Und das, kleine Esther, ist zu wenig, wie? Außerdem, meint ihr, muß +jemand noch etwas _sein_, wie? Nicht nur so -- leben, das Leben +verrichten, sondern auch gewissermaßen eine Vorstellung davon haben. +Sage mal -- seid ihr denn wohl anders? Seid ihr auch so etwas +Bestimmtes, so ein Bild mit was Gutem oder was Schlechtem darauf?« + +»Nein, Jason! aber --« + +»Aber die Menschen in Geschichten, das habt ihr so gelernt aus den +Geschichten, die müssen außerdem noch etwas bedeuten, nicht wahr? +Nämlich: Charaktere; dann: Frömmigkeit, Festigkeit, Güte, Heimtücke, +Verwahrlosung, Verkommensein und dergleichen schöne Dinge mehr, die es +gar nicht giebt.« + +»Aber Jason!« + +»Weil es eben nur Menschen giebt, und jeder Mensch die Bewegungen, die +Handlungen und all das, was sein Leben ist, tut, wie sie aus ihm kommen, +weil er so ist, aus allen seinen bunten Eigenschaften, die über jeden in +Menge, ganz gleichmäßig von der verschiedensten Art und immer nur +teilweise freilich, niemals ganz, ganze Eigenschaften, abgewogen und +ausgeteilt sind, und bloß ihr, ihr habt daraus die Begriffe gemacht, und +wieder aus jedem Begriff einen ganzen Menschen, und darum verlangt ihr +dann, daß die Menschen -- die Andern! euch selber seht ihr ja niemals -- +sich nach den Begriffen richten, danach wachsen und nach ihnen sich +gebärden sollen, nicht nach sich selber. Dann fehlt euch an jedem etwas, +darum scheint euch alles so unzulänglich, es könnte noch so bitter und +zerlitten sein, darum kommt ihr immer höchstens zu eurem: er hat doch +auch so viele gute Seiten ... darum seid ihr nie zufrieden miteinander, +und Großmut und Wahrheit, Glaube, Liebe und Hoffnung, die gehen ihrer +Wege.« + +Da waren sie auf einmal Alle aufgestanden. Auch Renate erhob sich, +betroffen, und bewegte sich mit den Übrigen auf Jason zu, sie waren Alle +um ihn herum, und mehrere Stimmen fragten: Was ist es denn, Jason, du +weißt es doch, was fehlt uns Menschen, wie sollten wir sein, wie uns +halten, wie uns helfen? -- + +Er hatte aber die Augen geschlossen und sah fast unwillig aus und +kränklich, und sie wollten sich schon abwenden -- denn war er nicht +selber vor kurzem erst von den Toten auferstanden? -- als er die Augen +wieder aufschlug, und sie erschraken wohl Alle wie Renate vor diesen +schwarzen Augen, die plötzlich im Dunkel waren, viel schwärzer als alles +Schwarze, so glanzlos, als ginge es dort in die schwarze Ewigkeit +hinunter. Dennoch, obgleich er die Augen nun langsam von Einem zum +Andern bewegte, schien er durchaus keinen wirklich zu sehn, sondern +etwas ganz andres. Sie selber aber fühlten nicht ohne Schauder an seinen +Augen: da war es, wonach sie gefragt hatten. Nennen ließ es sich nicht, +aber -- es war da. Es glänzte aus dem Schwarzen herauf, es -- nein, +Jason lächelte, das war das Ganze. + +Sie gingen aber schweigsam auseinander danach, kaum mehr als stumm sich +die Hände reichend und zunickend beim Abschied; nicht Zwei blieben +beisammen. + + + Schatten + +Georg, am letzten Spielabend vor Semesterende in die Terrassentür +tretend, sah, daß er wieder, wenn auch gegen jede Absicht seinerseits, +zu spät gekommen war: um die kleine Tafel zur Rechten vor der Hauswand +saßen die wenigen Korpsbrüder, wie stets in zwei Gruppen am Kopf- und +Fußende; ein hellrot beschirmtes Windlicht in der Nähe jeder Gruppe +malte ihre Schatten beweglich an der Wand empor. Eigentümlich still +schienen sie Alle, -- die Füchse unten mit einer Bowle beschäftigt, +schweigsam, ganz ohne den gewöhnlichen Lärm bei dergleichen; oben die +Zwillinge, Nordeck, Sousa -- ah auch Schwalbe saß da und in Zivil! -- +Ellerau hatte die Uhr gezogen, sah jetzt Georg unbestimmt entgegen, dann +vor sich hin, indem er, ein Lächeln unterdrückend, mit vorgeschobenem +Kinn die Oberzähne auf die unteren setzte, einen Augenblick, -- worauf +er seine Haltung löste; und Georg wußte wohl, das hieß mit Worten: Auch +heute wieder verspätet; da es aber der letzte Abend vor Semesterschluß +ist -- Schwamm drüber! -- + +Georg, innerlich aufatmend, trat näher, in dem er »Guten Abend« sagte +und »Na, so still heut?« + +Ellerau sagte: »Ja.« Er griff mit der Hand in die innere Brusttasche und +zog einen Brief heraus, sah darauf, streckte dann die Hand mit ihm gegen +Georg und sprach: + +»Diesen Brief hat Tastozzi für dich hinterlassen. Er ist tot.« + +»Tot?« fragte Georg erschreckt. »Tozzi? Tastozzi?« verbesserte er sich +verwirrt. »Mein Gott ...« + +»Leider. Er hat sich heute nachmittag in seiner Wohnung erschossen. +Bisher weiß niemand warum. Er war uns ja immer völlig verschlossen. +Vielleicht giebt er dir Aufschluß.« + +Georg, den Brief mit winzig kleiner Aufschrift am oberen Rande in der +Hand hin und her drehend, ruckte sich zusammen, trat an die leere Stelle +des Tisches, riß den Umschlag auf und hielt die herausgezogene längliche +Karte in die Nähe des Lichts. -- Kleine, kaum leserliche, verschnörkelte +Schriftzeichen ... Er entzifferte mühsam allmählich: + +»Lieber Georg: + +Fremd allen Andern, hatte ich Deine Augen immer lieb. Nun, indem ich +fortzugehen bereit bin, sehe ich, daß niemand da ist, von dem zu +scheiden wäre, also auch niemand, den der Grund meines Fortgangs etwas +anginge, zumal ihn nennen, das teuer gehütete Geheimnis meines Daseins +preisgeben hieße. Da sehe ich Deine Augen vor mir in jener Sekunde, wo +man Dir mein Fortgehen berichtet, und mir scheint, daß sie verstehen +möchten -- und nicht so wie die Andern. So reiche ich Beides -- Grund +und Geheimnis -- Dir, schon abgewandt, ohne mehr wissen zu wollen, ob Du +trauern wirst oder richten. + +In beiden Fällen: Beklage mich nicht. Es ist gut so. + +Aber ich erhoffe ein wenig Trauer. + + Tastozzi.« + +Georg, nichts begreifend, bemerkte jetzt ein kleines Zeichen, einen +schrägen Strich zwischen zwei Punkten in der rechten Ecke unten, das +>wenden< zu bedeuten schien, und drehte scheu die Karte herum. + +»Es geschah aus Liebe zu einem Knaben«, las er. + +Er zuckte leise zusammen. Langsam erschienen hinter dem Licht die Köpfe +der Sitzendem von denen keiner ihn ansah. Schwalbe blickte nach oben; +die Andern sahen vor sich hin. Viele Sekunden lang blicklos dies vor +Augen, merkte Georg, daß er etwas in sich niederkämpfte, merkte, daß es +-- Widerwille war, und drückte es entschlossen hinunter. Sich +aufrichtend, sagte er leise: + +»Ja. Es steht hier. Er wünscht aber, daß ich es für mich behalte.« + +»So.« Ellerau streifte mit einem Blick über Georg hin; die Andern lösten +ihre Haltung und bewegten sich. Keiner sah Georg an. + +Da spürte er im Augenblick klar, daß er und der Tote für diese +zusammengehören. Keine Feindschaft -- doch auch nicht Freundschaft. Sie +hatten ihn -- außer vielleicht Schwalbe -- nie begriffen. Wie war er zu +ihnen geraten? + +In einem leichten Hochmutsgefühl neigte er den Kopf und ging stumm +hinaus. + +Die Haustür öffnend empfand er jählings eine so übermächtige Sehnsucht +nach Renate, daß er sich geblendet fühlte und blindlings die Richtung +nach ihr einschlug, bis er Schritte beharrlich neben sich bleiben merkte +und seitwärts blickend Schwalbe erkannte, der lächelte und sagte: »Ich +komme mit dir, wenn du erlaubst.« + +»Du weißt, weshalb er starb?« + +»Ich weiß es nicht,« sagte Schwalbe, »aber -- ich ahnte es immer.« + +War es zu ahnen? fragte Georg sich. War ich so arglos? + +»Und was denkst du davon?« + +»Was soll ich davon denken?« fragte Schwalbe frisch und fest. »Wenn sie +Jugendliche verführen, sind sie Verbrecher, und wenn sie das nicht tun, +sind sie zu beklagen. Und ich weiß nicht, ob man sie beklagen -- kann. +Es sind Menschen mit einem andern Weltbild. Ihre Leiden und ihre Freuden +-- abgesehn von der Verbanntheit -- sind keine andern als die unsern.« +Das klang sehr klar und schön in der singenden Mundart. + +Eine Weile, rasch vorwärtsgehend durch die sommerwarmen, dunstigen +Straßen im Licht der Bogenlampen, dann der Laternen in kleineren Gassen, +blieben sie still, bis Georg sich Hardenbergs erinnerte und halblaut +sagte: »Auch Hardenberg ...« + +»Hardenberg war homosexuell«, versetzte Schwalbe hurtig. + +»Man sollte«, fing Georg bald darauf wieder an, »eine Stadt für sie +gründen, wo sie leben könnten und zufrieden sein ...« + +»Ja! Das sollte man tun. Das erinnert mich daran, daß ich Hardenberg +einmal über das Mönchtum sprechen hörte -- du kennst ja seine Weise --, +und zwar kam er bald auf den Trappistenorden, der, wie er sagte, der +einzig mögliche sei. Und dann schilderte er uns das Schweigen dort. Er +machte es wunderbar. Er zog gleichsam mit vollen Händen das Schweigen +aus den Dingen dort, aus den Mauern, den Zellen, aus jedem Gerät, aus +Gießkanne und Gebetpult, aus Spaten und Egge, aus den Blumen im Garten, +den Bäumen. Wir waren ganz eingehüllt in das Schweigen, obwohl er selber +unausgesetzt sprach. Und ich muß sagen, ich war ganz erschrocken, als er +-- nach seinem wunderschönen -- Gesang auf dies Schweigen -- plötzlich +von den Vögeln sprach, die auch stumm geworden waren und nicht mehr +sangen im Klostergarten.« + +Ergriffen sagte Georg leise: »Wie schön!« -- und blieb stehn. + +Sie waren auf der kleinen Brücke zwischen alten Häusern, die zur Insel +hinüber führte. Rechts unten strömte der schnelle, dunkle Fluß zwischen +alten Mauern, am Ufer drüben blinkten Lichter aus winzigen Fenstern, aus +dem Grün und Blumenrot der Dachgärten, deren Silberkugeln und weiße +Geländer in der Dämmerung schimmerten. -- Still sahen sie eine Weile +dorthin, dann legte Georg die Arme auf die Brüstung, und in der dunklen +Wasserfläche unten erschien ihm das Gesicht des Toten mit jenem +besorgten Ausdruck, den es bei Georgs letzter Mensur gehabt hatte. + +Ach, wußte er nun, was hat denn auch er andres getan und gewollt als -- +Lieben. Seine Natur schrieb ihm diese furchtbare, angstvolle Stille vor, +aus der er niemals heraustrat, er, der mit keinem sprach, bevor er +gefragt oder angeredet wäre. Sich um Andre bemühn, dienen, gütig sein, +war sein Wunsch, und da fand er denn dies heraus ... Georg mußte +sprechen; er sagte, Schwalbe auf dem Geländer lehnen sehend wie er +selber, breitbrüstig und ruhig: + +»Es war doch schön, wie er um uns Alle besorgt war beim Fechten. Bist du +je von ihm anbandagiert worden? Erinnerst du dich, wie er die Brille +zuzog? Diese Sanftheit des Ziehens, bis mit einem kleinen Ruck die +Brille saß, wie sie nicht besser sitzen konnte?« + +»Jawohl. Wie du das sagst, scheint mir, es war doch etwas Hellenisches +um ihn. Nicht nur, daß er einen wundervollen Körper hatte --« + +»Ja, hast du ihn gesehn? Ich kam zufällig einmal dazu, wie er sich eben +ausgezogen hatte zur Mensur und dastand, ganz grade, das Mensurhemd in +erhobenen Armen überm Kopf, wie ein gelber Marmor.« + +»Hellenisch war, scheint mir, vor allem seine Art, uns zum Kampfe zu +rüsten. Der Kampf war ihm mehr als uns, war ihm eine schöne Sache, und +einmal -- ja einmal habe ich ihn richtig reden gehört. Da sprach er ein +paar Worte über italienisches Fechten, das so viel beweglicher sei als +unser stumpfes Dreinhaun und den ganzen Körper erziehe und durchbilde +...« + +Man sollte nackt fechten ... Tastozzis leise Worte, irgendwann gehört, +zogen durch Georgs Erinnerung. + +Sie schwiegen und sahn auf das endlose dunkle Fließen unter ihren Füßen. +Georg dachte: + +Aber warum hellenisch? Er wollte im Grunde doch nur dienen. Oh der arme +stumme Trappist mußte eine Leidenschaft haben, mit Handlung, mit der +sorgsamen Dienstleistung auszudrücken, was ihn beseelte. Aber ... Nun, +auch wenn es ein körperlicher Reiz und ein sinnliches Verlangen war, zu +den Gliedern der jungen, geschmeidigen Menschen eine Begierde: die +Begierde war es doch nicht, die seinen schönen stummen Händen diese +Sanftheit gab, diese Behutsamkeit, diese Freude am verständnisvollen +Behandeln; die kam aus seiner ganzen Natur, von der das andre nur ein +kleiner Teil war, und so fand er denn in seinem Leben diese vorsichtige +kleine Stelle, wo er ein wenig geben konnte und -- ein wenig nehmen ... + +Schwalbe richtete sich auf. + +»Ich muß leider nach Hause«, sagte er. »Es war schön hier, mit dir zu +stehn und an Tozzi zu denken.« Er streckte seine breite Hand aus. »Auf +Wiedersehn am Grabe, Georg. Übermorgen ist die Beerdigung. Gute Nacht.« + +Georg, der noch gern ein Wort gefunden hätte auf das zugetane »es war +schön hier, mit dir ...« fand nichts als stummes Zunicken und Lächeln +beim Händedruck, mit dem sie sich trennten. Gleich darauf befand er sich +außerhalb der Stadt, mitten in den dunklen Wiesen. + +Auf Wiedersehn am Grabe ... klang es ihm da im Ohr. Merkwürdig, sagte +man so? Das habe ich noch nie gehört, -- und es ist ja auch der erste +Tote, den ich kenne. Auf Wiedersehn im Grabe ... das klang fast genau +so. Armer Tozzi! -- Sonderbar, da war er uns Allen ganz fremd, und doch +nannten wir ihn mit der liebevollen kleinen Abkürzung. So muß doch bei +allem Abgekehrtsein von ihm in jedem geheim ein kleines Gefühl für ihn +gehaust haben, das sich, für Alle unhörbar, ganz laut mit diesem Namen +nannte ... + +Hineilend auf dem vor ihm dämmernden, hellen Streifen des Fußpfades am +Ufer über dem hastig mitkommenden, glucksend sich manchmal +überstürzenden Fluß, sah Georg jetzt wieder Renates einzig schöne +Gestalt in der Ferne, und heiß schwoll ihm die Brust. Nie noch fühlt ich +solche Sehnsucht nach ihr, dachte er, ja ist nicht dies das +allerseltsamste, daß sie mich betäubt, wenn ich vor ihr stehe, und daß +ich sie -- vergessen hatte, wenn ich allein war? Überseltsames Wesen, +Renate! -- Er lief und lief. Fast feurig aus den dunklen Gründen der +Wiesen strömte erdiger und grasiger Geruch und der Nachdampf von Regen. +Jenseits des Flusses fern zackten Schattenrisse von Türmen sich über +schwarzem Gewipfel in das glühende Nachtrot des Städtehimmels. -- +Seliger sich fühlend, befreiter, zuversichtlicher erklomm Georg den +Hügel der Bismarcksäule, überschritt langsam die Plattform, faßte mit +schweifendem Blick die schwarze Gegend in sich, ein Erglänzen in der +hochgewölbten Fläche des Stroms, eine lose Schar Sterne, leis blinkend +im Finstern, und stürzte sich mit einem schweren, beklommenen Lustgefühl +die Böschung hinunter in die Wiesen. + +Weißlich leuchteten von drüben die Grabhäuser zwischen den Lebensbäumen. +Jetzt dämmerte ein Lichtschein darüber, seltsam unwirklich und groß. +Langsam erschien eine fleckige Scheibe, der Mond, rot wie neues Kupfer +im grauen Himmel; eine schwarze Spitze reckte sich vor ihm, die er bald +mühelos überklomm. Georg stand und hatte das Gefühl, als ob er nicht +weitergehen könne, ehe es Tag wurde. Schon hing der Mond dort, mächtig +groß, voll und nun bernsteingelb, rauchig; schieferblau der Himmel, -- +und Georg ging langsam weiter im Finstern, vorsichtig die sumpfigen +Stellen umgehend, und das einzige Geräusch weit und breit war das +Rascheln der Halme und Blumen, die um seine Füße schlugen. Da bewegte +sich ein Schatten links vor ihm, ein weißer Fleck erschien im Dunkel, -- +ah, das waren die alten Omnibuspferde, die hier einen Sommer lang +Erholung genießen durften. Er kam ihnen näher, er kannte sie ja, da +stand das schwarze ganz nah als ein dickes Schattenpferd, er hörte, wie +es emsig Gras abrupfte, hörte es schnurpsen; und da war auch der Schecke +mit den großen weißen und dunklen Placken; der stand still, schnoberte +und trabte heran; er liebte die Menschen. Georg tastete mit der Hand +zwischen den Drähten der Einfriedigung hindurch und empfand mit +freundlichem Schauer das gewaltig Lebendige, die weiche, samtige +Tierschnauze, die aus der Nacht kam und sich befühlen ließ, empfand das +sonderbare Geström der Fremdheit aus diesem großen, stummen Wesen, das +mit Fell bekleidet war und ein großes, weiches Maul hatte. -- Armer +Tozzi! murmelte er leise. -- Still stand das alte Pferd und atmete tief +und laut. + +Im Weitergehen war es Georg, als schluchzte etwas in der Dunkelheit. War +ihm selber danach zumute? -- Auf einmal hörte er eine Melodie, ein paar +lange, süß hinzitternde Noten, eine Stimme, Worte dazu, aber all das war +in ihm selbst, die Nacht umher totenstill, doch erkannte er jene schöne +Kirchenarie von Stradella, die ihm Magda vorgespielt hatte, weil sie sie +singen wollte, und er hatte ihr auf ihre Bitte einen deutschen Text +dazugeschrieben, der sich in der Kirche singen ließ. Jetzt hörte er die +Worte deutlich, hörte die kleinen Tonreihen, die langen Pausen +dazwischen, hörte, niederschwebend von den Sternen, die sanfte, +melodische Frage: + + Wer weint in Finsternis? + +Und wieder, nach einer Pause: + + Wer schluchzt im Dunkel? + +Begütigend nun eine milde Stimme: + + O du, sei still! + +Chorstimmen, begütigend, hallten daher: + + Siehe doch funkeln + Sternenschein gewiß! + Siehe doch funkeln + Sternenschein gewiß! + +Holder, gesteigerter, entzückter schwoll die Melodie: + + Lasse das Weinen, + Gott hilft den Seinen, + Gott, der die Gepeinigten + Aufrichten will ... + +Jetzt? Im helleren Mondlicht deutlich sichtbar stand ein neuer Schatten +ferne auf Georgs Weg; ein menschlicher wars. Mystische Schauder +schweiften im Dunkel. Es konnte der Tod sein, der dort stand, zwischen +ihm und dem Friedhof, einen schwarzen Arm gegen die goldene Mondscheibe +emporstreckend. Hoch oben im Nachtwind verhallten die zarteren Stimmen +... + +Georg schritt weiter, behutsam, beklommen; gleichzeitig glitt der +Schatten vor ihm davon; war es eine Frau? trug er antikes Gewand? -- Nun +verschwand er vom Weg, und als Georg die Stelle erreichte, wo er +abgebogen sein mußte, wars dort, wo auch Georg abzubiegen hatte, wenn er +zum Montfortschen Hause gelangen wollte. -- Wie still es war! Wer ging +dort und führte ihn ungerufen? Da war schon das Gittertor, da der +Graben. Der Schatten, unhörbar, glitt zwischen den, von weitem +verschlossen scheinenden Stäben hindurch, erschien an etwas höher +gelegener Stelle im vollen Licht; es war Renate. + +Renates Haltung war es, obgleich sonst nichts an der Schattenfigur +Renate zu erkennen gab. Georg folgte ihr leise von fern, süßliche Angst +im Herzen, andächtig, sie nicht zu stören, zitternd, voll Melodien. Er +sah sie die schräge Ebene emporgleiten, unter den Bäumen schwinden, wo +Finsternis stand, eine Uhr schlug nicht fern zweimal hell und +zuversichtlich. Er hörte die Gartentür zufallen, trat leise hin und sah +Renates Schattenriß im Lichtschein zur Rechten, der die offene +Kapellentür ausfüllte. Es trieb ihn näher, er versuchte, lautlos durch +das Pförtchen zu kommen, es gelang, er schlich unterm Buschwerk über den +Rasen bis zur Tür, trat rechts neben die Stufen und hatte den Raum vor +sich, der von einer unsichtbaren Lichtquelle erleuchtet war. Renate +stand mitten darin; sie trug eine lose grüne Tunika mit kurzen Ärmeln, +die bis in die Nähe der Knie hinabreichte; die Farbe des am Boden +schleppenden Untergewandes war nicht zu erkennen, aber das Grün +leuchtete an ihrer Brust, wie sie sich jetzt zur Seite drehte, ihm halb +den Rücken wendend, auch der weiße Nacken, -- und nun erschien sie Georg +draußen im nächtlichen Wiesenland, hinter ihr der Mond, -- er ging auf +dem Grassteig auf sie zu, an ihr vorüber, sah ihr weißes Gesicht und die +Augen ohne Blick wie eines sinnenden Gottes, und das fremde Gewand. -- +Wo kommt sie her? wie kommt sie zu uns? in dies Land? dachte er. Sie ist +ja fremd hierzuland. + +Georg sah, daß sie mit leicht geneigter Stirn zu jemand sprach, den er +nicht gewahren konnte; das mußte wohl Bogner sein. Georg gab es einen +Stich, er wollte davon, blieb aber und sah hin. Ach, ihr gesenkter +Scheitel, der gewellte Bogen von der Stirn zum Ohr, ähnlich, doch nicht +ganz so tief wie bei Esther, und dies seltsame lichte Braun des Haars +... + +Sie sprach: »Noch nicht fertig, Bogner?« »Morgen früh«, hörte Georg die +Stimme des unsichtbaren Malers. »Will es nicht gehn?« Sie sprach ruhig, +mit verdunkelter Stimme. Die Antwort des Malers blieb unverständlich; +nach einer Weile kam wieder Renates Stimme: »Sie sollten schlafen.« Wie +schön verhallte das im leeren Raum! + +Nun wars still. Renate stieg auf das Podium, setzte das Windwerk in +Gang, öffnete das Manual und spielte bei geschlossenen Registern ganz +leise den Choral: >Nun ruhen alle Wälder< mehrere Male. + +Schweigen. Georg, im Dunkel an die Mauer gepreßt, durch die Zweige über +ihm emporblickend, sah einen und zwei kleine Sterne, zitternd im Ewigen. +Er vernahm das sanfte, melodische Brausen in der Nachtstille und +wünschte, nur Herz zu sein, in diesem beweglichen Rauschen ruhend, +atmend darin, wie der still im ziehenden Gewässer schwebende Fisch ... +Er zuckte leise; seitwärts in der Tür über ihm stand jemand, Renate; sie +stieg nieder, verschwand im Gebüsch und kam nicht wieder zum Vorschein; +nach langer Zeit hörte er unendlich leise das Geräusch ihrer Füße auf +dem Steinboden der Veranda. Sie war im Haus. Georg trat auf die Stufen +und ging in die Kapelle. + +Bogner nickte bloß, als er ihn begrüßte. Nein, der wunderte sich ja wohl +über nichts. Er saß da in der Nähe der Orgelempore, hatte die Fäuste auf +den Oberschenkeln und sah nach oben gegen sein Gemaltes. Da er nicht +rauchte, steckte Georg ihm eine Zigarette zwischen die Finger, zündete +sie ihm an und rauchte selbst eine. So, die Hände in den Hosentaschen, +ging er hin und her, die fertigen Gemälde betrachtend, drei an der Zahl, +zwischen den Fenstern gegenüber dem Eingang. Es war wohl geplant, daß +die Wand oben zwischen den gotischen Spitzbögen über den drei Meter +breiten und zwischen fünf und sechs Meter hohen Gemälden mit ihrem +Himmel bemalt werden sollte bis zum Beginn der Wölbung, denn die +Bemalung endete oben nicht rechteckig, sondern zerfloß in dünnes Gewölk +und Grau, ähnlich dem Stein. Georg stand vor dem äußersten Engel. + +Engel? freilich nur, weil er faltiges Gewand trug und ein Instrument in +Händen. Georg trat zurück und betrachtete sie alle drei. Oh, sie waren +groß! Obgleich sie alle in der Ferne sich durch ihre Landschaft +bewegten, erschienen sie riesenhaft und übermenschlich; die Haltung +ihres Schreitens war in Formen von Eisen gepreßt, die Luft mußte scharf +und bitter schmecken, mit solcher Schnelle wurde sie von diesem riesigen +Pilger durchschnitten. Es war keine Beleuchtung da, Licht lag in der +Luft. Ja, da schritt er, der engelhafte Bote, in grauviolettem, wehendem +Gewand, heroisch von Zügen, eine kleine Harfe in ausgestreckten Händen, +vor einem kleinen dunkelgrünen Föhrenwald mit grauen Stämmen; gelbe und +schwarze Haidelandschaft ringsum, aber unendliche Stille herrschte; nur +der Engel ging, ausgreifend vollen Vorderfußes wie ein Löwe, +emporfedernd den Hacken des andern. Oh, siehe daneben den andern in +Mattrot, wandelnd mit der Gitarre um einen kleinen grauen Teich unter +einigen Zedern! Und hier, der Schwefelgelbe blies die gegen Himmel +gerichtete lange Lure auf violettem Haidehügel mit kleinen +Wacholderstauden, schwarzgrün. Georg wanderte vom einen zum andern; sie +blieben, um sie herum schien sich die Landschaft zu wandeln im +Vorbeifliehn, es wehte von ihren Kleidern, sie bewegten sich und holten +aus, sie fegten dahin, -- nein, aber dies war nur der eine, der +Violettgraue mit der Harfe, der so hinjagte über die runde Welt; um die +andern wars still, sie standen. + +Georg wandte sich und trat hinter den Maler. Da saß er in seinem +buntgescheckten Kittel unter der tief hängenden, eigens für ihn +angebrachten Osramlampe, die scharf strahlte, umgeben von Töpfen und +Pinseln. -- Ah, das war unglaublich! Dolomitisches Geklüft, rosengrau, +Felswände, Terrassen, übereinander gesteigert, immer ferner, immer +tiefer, bis sie ganz ferne mit wagrechtem Kamm gegen den mattblauen +Himmel abschlossen, und dort, hoch oben, weit fern, saß der weiße Engel, +so groß und deutlich, daß er noch überm ungeheuerlichen Geklüfte ein +Riese schien, aber er war doch schmaler, doch zarter als die andern; es +war eine Frau, sie hatte kein Instrument, sie lauschte und zeigte die +zarten Züge und das dunkelrote Haar der Ulrika Tregiorni. + +Georg blickte näher hin, ob sie es wirklich sei, -- nun, die Ähnlichkeit +war schwach und bestand hauptsächlich im Haar, aber er bemerkte bei +dieser Gelegenheit nun, welch eine simple Malerei dies war, -- aber +welche Kunst! Was mußte das gekostet haben, bis die Sparsamkeit dieser +zarten Kontraste, dieser Flächen, dieser Linien herausgepreßt war aus +der Zahllosigkeit der Möglichkeiten. Was aber diesen Engel anging -- er +war kaum zwei Schuh groß und hielt das Kinn in der Hand des +aufgestützten linken Arms --, so hatte er keinen rechten Arm, und dieses +schien es zu sein, worüber Bogner sich den Kopf zerbrach, denn da +standen auf der Erde unterschiedliche Arme um ihn herum, die Hand nach +unten, als sollte der Engel seinen rechten Arm ein wenig hinter sich +aufstützen. + +Bogner sah auf zu ihm, hatte rote Flecken im grauen Gesicht und schien +verwirrt. + +»Ganz schön, nicht?« sagte er. -- Georg legte ihm eine Hand auf jede +Schulter und sagte feierlich: »Bogner, Sie sind ein edler Mensch.« + +Bogner ergriff einen der Kartons mit der Kohlezeichnung eines nackten +Frauenarms, Ulrikas Arm, wie es schien, nicht sonderlich schön, aber +durcharbeitet, durchseelt; auch eine Hand, locker ausgestreckt, war noch +auf dem Karton. Ja, das war diese seltsame Klavierhand, hager und mit +unzähligen Runzeln auf den Fingergelenken in der locker gewordenen Haut. +Da fiel Georg Renate ein, und es kam ihm, Bogner geradeswegs zu fragen: +»Warum lieben Sie nicht Renate Montfort?« + +»Ach, ich!« wehrte der Maler unbetroffen ab, wandte sich aber nach einer +Weile ein wenig um und fragte, ob Georg glaube, daß sie ihn lieben +könne. -- + +»Lieber Gott, Bogner,« sagte Georg, »danach sollte der Mensch doch +zuletzt fragen! Ich glaube, Maler, Sie sind ein Individuum gänzlich ohne +Leidenschaft.« + +»Muß denn bloß so heißen, was sich sexualiter äußert, Prinz?« fragte +Bogner, stand auf, setzte seine Kohlezeichnung an die Erde, reckte sich +und fing an, hin und her zu gehn. + +»Übrigens«, sagte er, »könnte ich auch wie der Tobias -- wie heißt er, +in der Komödie?« + +»Bleichenwang?« + +»Ja, wie der Tobias Bleichenwang sagen: Mich hat auch mal eine lieb +gehabt. Zärtlichkeit ist wunderschön, ja, das weiß man ja schließlich, +ja, man entbehrt sie sogar manchmal, -- nun, das kann ja alles noch +kommen. Warum fragen Sie überhaupt immer so aufdringlich?« + +Georg lachte: »Sie brauchen ja nicht zu antworten! Setzen Sie übrigens +Zärtlichkeit mit Liebe gleich?« + +»Das nicht«, meinte der Maler. + +»Zärtlichkeit, Wollust und Liebe, das sind die drei unterschiedlichen +Liebesempfindungen,« sagte Georg, »nur wo alle drei vorhanden sind, ist +das Gefühl vollkommen.« + +Ob er das meinte, fragte Bogner. Ja, also Liebe ... Nach einer Weile, +vor dem posaunenden Engel stehend, fuhr er fort, daß er auch die Liebe +ganz gut zu kennen glaube; er habe sich darin versucht gewissermaßen und +sie immer verschieden gefunden, auch sehr angenehm, besonders im Anfang: +März. Aber es sei ihm zuletzt doch immer nur vorgekommen wie ein Absud +von männlichem und weiblichem Geschlecht, im Tiegel so lange gemischt +und geschüttelt, bis er einfach erschien; in Ruhe gelassen sonderte sich +beides alsbald, männliches sank, weibliches schwamm oben, es habe wohl +irgendein wirklich bindendes Element gefehlt. Er sprach undeutlich, da +er abgewandt stand. Georg sagte, eben das wäre es, darauf käme es an, +das Element sei zu finden, sei zu suchen. + +Suchen? meinte der Maler. Wer denn dazu Zeit habe? Auch sei's wohl klar, +daß, wenn es dies Element wirklich gäbe, es einzig sei, wirkbar nur bei +einzigartigen Menschen, immer zwei auf zwanzigtausend. + +»Ja, ja!« rief Georg entzündet, »Sie bringen mich auf einen Gedanken! +Zum Beispiel Romeo und Julia. Was sind die Beiden? Ein liebender +Geliebter, eine liebende Geliebte; sonst nichts. Womit beschäftigten sie +sich? Mit ihrer Liebe. Hatte Romeo einen Beruf? Kümmerte ihn die +Geschlechterfehde? Er und sie hatten nicht Eltern, nicht Geschlecht, +nicht Volk, nicht Stadt noch Heimat; alles dieses war belanglos wie +Tisch, Bett und Gartenbank, von denen nichts vorhanden war, solange +nicht ihre Gemeinsamkeit ihrer bedurfte. Nichts gab es außer ihnen als +die Freunde, die ihrer Liebe beistanden, und den Tod, der das Gift in +Adeptengestalt verkaufte. Aufgelöst waren sie in jenes Element, in dem +sich alles mischen mußte zu einer einzigen Riesenempfindung. Ja --« +setzte er zögernd hinzu, denn Tozzis Gesicht erschien ihm: »vielleicht +ist es also -- der Tod?« + +Der Maler war von ihm fortgegangen und stand bei der Tür, einen +ausgestreckten Arm gegen den Rahmen gestemmt, in den Raum hereinblickend +zu seinen Engeln. + +»Wirklich,« fuhr Georg fort, »die allgemeine Liebe empfindet und wünscht +nichts als gesteigerte Freude, gesteigertes Dasein; jene Beiden aber +fühlten die letzte, höchste Steigerung, überlebensgroß, in den Tod, +unbewußt schon in der ersten Umschlingung, und so erreichten sie die +Dauer.« + +»Im Tod?« fragte der Maler von fern. »Nein, das ist vorläufig noch +nichts für mich.« + +Ja, wo aber die Leidenschaft bleibe? hielt Georg hartnäckig fest. Bogner +streckte die Hand aus und deutete auf seine Engel, einen und den andern, +den posaunenden, den wandelnden mit der Gitarre, den reisigen mit der +Harfe. Georg senkte niedergeschlagen den Kopf. + +»Unbewußt in der ersten Umschlingung?« fragte der Maler, gutgelaunt, wie +es schien. »Wie Sie das so wissen können! Ich will Ihnen aber etwas +erzählen. Nämlich, als ich siebzehn Jahre alt war, also mitten in der +schönsten Erstlingsglut, liebte ich ein Mädchen, etwas älter als ich, +für mich wunderschön, klüger, tapferer und sanfter als ihre Schwestern.« + +»Die Frauen,« sagte Georg, da der Maler innehielt, »die Frauen, das +glaube ich nun, sind an und für sich nichts; aber es kann alles aus +ihnen werden. Jeder, möchte ich sagen, jeder Mann findet zur Zeit +diejenige, aus der er machen kann, was er im Augenblick braucht. Sehr +gut sind sie. Und so unendlich geduldig!« + +Georg, Magdas arme Gestalt mit wehmütigem Gedenken umfassend, hörte den +Maler weitersprechen: + +»Zur selben Zeit geriet ich an den Scheideweg. Dort mein Vater und sein, +hier ich und mein Wille. Entschied ich gegen ihn, so wars auch gegen +sie, denn dann ging ich fort, und sie mußte bleiben. Sie half mir beim +Fortgehn, ja, das tat sie. Dafür bin ich ihr dann treu gewesen, so gut +ich es konnte, und habe auch jedes spätere Mal für mich und gegen die +Liebe entschieden, denn, sehen Sie, das wollte ich sagen: damals, ein +für allemal, entschied sich für mich diese Angelegenheit.« + +»Was ist aus ihr geworden?« fragte Georg. + +»Danke. Sie hat es gut überstanden. Sie war, wie gesagt, tapfer. Sie ist +mit einem Kaufmann verheiratet, hat vier Kinder, und alle sind gesund. +Ich sehe sie zuweilen. Stattlich sieht sie aus, gewiß nicht, als ob sie +jemals vor einem Menschen auf den Knien gelegen und gefleht hätte: Um +Gottes willen, geh! geh, ehe ich dich halte! --« + +»So sind Sie wohl Beide Ihrer Bestimmung treu geblieben«, mußte Georg, +wie ihm schien nicht sehr tiefsinnig, bemerken, und der Maler erwiderte +nur zerstreut, ja, ja, er habe ja auch gar nichts dagegen einzuwenden, +und griff nach seiner Pfeife. + +»Gehn wir schlafen«, sagte er, als er sie gestopft und angezündet hatte. +So verließen sie die Kapelle, der Maler schloß sorglich zu, und sie +gelangten durch den Garten, am dunklen, schlafenden Haus vorüber auf die +Straße. + +Viele und seltsame Pferde liefen durch Georgs Träume in dieser Nacht, +gelenkt und vorgeführt von Bogner mit langem Pinsel wie von einem +Zirkusdirektor, aber Renate erschien nicht darunter. Gesang schlug an, +engelstimmig und süß, Georg erwachte, und es war Morgengrauen. In +abgeklärten Pausen sang draußen die schwarze Amsel, laut und friedevoll +in der Morgenstille. + + + Drei Gespräche: Das erste + +Esther und Georg saßen am Wassergraben im Park auf der Bank, und sie +hatte den ganzen Schoß voll großer Zentifolien in allen schönen Farben. +Da kam Jason al Manach, setzte sich, ließ sich fragen, woher er komme, +und erzählte: + +»Gestern abend, als es schon dunkelte, trat ich irgendwo aus dem Walde. +Wiesen und Äcker waren voll Nebel, darin stand ein einsames, schlechtes +Haus mit einem Stockwerk, ich strich an einer fensterlosen Mauer +hinunter, und wie ich in eins der Fenster nahe über dem Erdboden an der, +auf die Felder hinaus gewandten Seite des Hauses hineinsehe, sitzt da +Maler Bogner in einem Liegestuhl und raucht eine Pfeife in Hemdärmeln, +denn der Abend war milde. Ich grüßte: Guten Abend! Ich störe gewiß. -- +Ja, sagte er, wenn Sie stehen bleiben und mir die Aussicht zudecken. +Kommen Sie herein. + +Ich wandte mich wieder, und sieh, da wars eine jener Stunden, wo einem +die Augen für das Wunderbare der Erde aufgehn. Als hätte der Maler +gewinkt, so sah ich nun in eine Landschaft von seltsam wilder +Feierlichkeit. Jenseits der braunen Äcker voll stehender weißer Nebel +blinkte ein Stück des abendklaren Flusses aus der unteren Dämmerung, +voll von gespiegeltem Licht und Baumsilhouetten; die wirklichen Wipfel +darüber hoben eine mächtige schwarze, von einigen scharfen Fabrikessen +überstiegene Mauer in das lohende Gelb und Rosa des Himmels. Darüber +flossen zerblasene, graue, schwärzliche und violette Wolken in trübes +Rot; zur Linken aber, hoch über dem graugrünen Dunkel der Wiesen +jenseits des Stromes stand im blaßblauen, leeren Äther ein einzelner +blitzender Stern; der war gleich einem silbergestählten Sankt Georg und +die schweigsame, blutende Landschaft wie ein verendendes wildes Untier +zu seinen Füßen. + +O, aber als ich mich zur Rechten wandte, drohte da die Stadt, schwarz, +eine ungefüge Masse von Dächern, Kuppeln, Türmen; ein stummes Meer, +brandete hinter ihr der Himmel, überwölbte sie mit durchsichtiger Woge +von offener Scharlachglut, in der sich ein Getümmel von zerrissenen +Wolken umhertrieb und verzehrte, glorreich und ungestüm, in einem Wirbel +triumphierender Farben, blutig, traurig, drohend und lechzend von Gelb +und ungesättigtem Purpur. Von allen Richtungen liefen Schnüre und Reihen +von Lichtern, opalenen, grünlichen und goldenen, in den schwarzen Berg +der Stadt hinein. + +Solche Dinge hatte dieser einfache Maler vor sich, wenn er abends in +Hemdärmeln seine Pfeife rauchte. Es war so viel, daß er manche gar nicht +beachten konnte, denn als ich nun um das Haus herumging, sah ich über +ein verdunkeltes, undeutliches Gelände von Feldern und Lichtern hinweg +den Mond, eine Scheibe von goldenem Kupfer, der sich mitten aus einer +stumpfen bleifarbenen Wand heraushob. + +Das Zimmer, in das mich der Maler führte, war folgendermaßen: Es hatte +tapezierte, zerfetzte Wände, einen von herausquellendem Pferdehaar wie +von Geschwüren strotzenden Diwan und zwei hölzerne Stühle, außerdem den +Liegestuhl und am Boden eine trübe Pfütze von einem alten Gebetsteppich. +In einer Ecke aber stand ein Bananenast, rundum mit gelben und +schwärzlichen Früchten besetzt, einem Bienenkorb ähnlich. Ja, und in +einer andern Ecke stand ein Spucknapf, der war mittendurch gesprungen. +Eigentlich war es kein Zimmer, es war ein Durchgang von Abend zu Morgen, +weil es nachts regnen könnte. + +Als aber nun der Maler aus einem Nebenzimmer zwei in Porzellanfüßen +stehende Paraffinkerzen holte, anzündete und auf den Gebetsteppich +stellte, so offenbarten sie dessen ganzes Elend. Mich ergriff wohl +Sympathie mit dem Spucknapf, denn in seine Nähe zog ich mir den +Liegestuhl. Mich rühren so die zersprungenen Dinge, die sich gar nicht +zu helfen wissen. Der Maler legte sich auf den Diwan und lag so still, +als ob er schlafe. Die Kerzen zuckten zuweilen und störten mich in der +Betrachtung meines Schattens ein wenig, der neben mir an der +zerlöcherten Mauer saß. Drüben, vom fast unsichtbaren Maler her, glimmte +zuweilen ein Manschettenknopf rot und golden.« + +Jason schwieg so lange, daß Esther fragte: »Nun, sprachet ihr gar nichts +miteinander?« + +»Doch,« erwiderte Jason, »aber wir schwiegen viel länger, als ich eben +geschwiegen habe. Dann fragte ich den Maler, ob wir uns nicht +unterhalten wollten, und er fragte wieder: Ja, wovon? -- Ich schlug vor, +wir wollten Aphorismen sagen, -- aber nun, er redete sich aus, er könnte +das nicht.« + +»Ja,« sagte Esther erstaunt, »kann man denn das so?« + +»Oh, gewiß. Falls du mich nicht mißverstanden und gemeint hast, ich +hätte gesagt, Aphorismen machen statt Aphorismen sagen. Ich bin +angefüllt mit Aphorismen.« + +»Zum Beispiel?« fragte Georg. + +»Dies«, erwiderte Jason, »ist eigentlich mehr ein Kalenderspruch: Nichts +ist so imaginär wie der beständig geküßte Hund einer jungen Dame.« + +Esther dachte angestrengt nach und brachte schließlich heraus, sie +verstünde das nicht. + +»Oh kleine Esther,« erklärte ihr Georg, »es befinden sich doch lauter +imaginäre Liebhaber in dem Hund.« + +»Nun ein andres«, sagte Esther. + +Jason, der schon längere Zeit mit einem von Esthers dänischen Handschuhn +spielte, die neben ihr auf der Bank lagen, hob ihn jetzt ans Gesicht, +roch daran und sagte, es wären gleich zwei auf einmal in dem Handschuh. +»Wißt ihr,« fragte er, »was die traurigste Freude ist? Das ist der +Parfümduft aus Frauenbriefen, die man spät in einer Schieblade findet. +-- Und nun, Esther, wenn ich dich liebte, würde ich zu dir sprechen: +Deine Hand im Handschuh ist nur ein Körper, aber der Duft aus dem leeren +ist Wesen.« + +»Ach,« sagte Georg, während Esther rot wurde und lachte, »Sie können mir +gewiß einen Unterschied formulieren, über den ich neulich nachdenken +mußte, nämlich den eigentlichen zwischen einem Dichter und einem +Schriftsteller.« + +Nein, Jason bedauerte. »Das würde auf etwas Moralisches hinauslaufen, +und moralisch kann ich nun einmal nicht sein.« + +»Ja,« sagte Esther, »das ist auch langweilig, erzähle mir lieber, +worüber du dich mit dem Maler unterhalten hast.« + +»Richtig,« sagte Jason, »du erinnerst mich an einige sehr gute Dinge, +über die der Maler mich belehrt hat. Ich sagte ihm nämlich, ich hätte +verschiedentlich von Menschen sagen hören, daß der Künstler oder +Dichter, um einer von Bedeutung zu werden, ganz außerordentlich viel +leiden müßte. Andre dagegen hätte ich wiederum sagen hören, daß es auf +der ganzen Welt nichts Grausameres gäbe als Künstler, und dies beides +schiene mir doch zu widersprechen. Da sagte der Maler, was die Menschen +anginge, so würden sie sich über derlei Dinge kaum aufklären lassen, +weil, so sagte er, sie diese Dinge nicht aus der richtigen Sehrichtung +betrachten könnten, nämlich aus der des Genius. Und das ist richtig, +denn mit dem Genius verhält es sich so wie mit dem, was der reiche Mann +zum armen Lazarus sagte, als der in Abrahams Schoße saß. Wenn Moses oder +einer der Propheten zu ihnen käme, so würden sie nicht hören, aber wenn +Lazarus von den Toten auferstünde, so würden sie. Denn immer unsichtbar +bleibt den Menschen der Genius, wahrnehmen können sie nur seine Kraft, +nämlich im Werk, -- und nun sagte der Maler, grausam sei allerdings der +Genius, mitleidlos, weil er vollkommen sachlich sei und alles +Menschliche und Natürliche einfach als Stoff ansehe. Hier mußte ich auch +wieder eine Wahrheit finden,« sagte Jason, »nämlich die, daß die +Menschen wohl imstande sind, einen Dichter grausam zu finden, der sich +einen Menschen mit all dessen Eigentum an Leiden und Lüsten zur +Darstellung nimmt, nicht aber, wenn er so mit einer Landschaft verfährt +oder einem Baum oder sonst einem Gegenstand, und dies bedenken sie +nicht, nur weil sie von solchen Dingen weniger wissen oder gar nichts, +wovon der Dichter vielleicht sehr viel weiß. -- Wenn der Genius nun«, +sagte der Maler weiter, »sich vollkommen sachlich verhält, so tut er das +doch auch gegen das Leiden des Menschen, in dem er wohnt, das heißt +also, daß ihn des Menschen Gefühl und Meinung von diesem Leiden gar +nichts angeht, sondern er würde lachen, wenn der Mensch sie ihm +vorhielte, und sagen: Da sorge du! Mach das mit dir allein ab! -- +Gefällt es ihm aber wiederum, so sagt er vielleicht: Zeig her! das da +scheint mir brauchbar, ein Funken, nicht viel wert, aber ich wills +versuchen und ihn anblasen. -- Ja, da bläst nun dieser Gott,« sagte +Jason, auf seine Knie herunterblickend, »und was ist nun wohl der +Mensch, dieser Wurm, in einer solchen Lohe, die ihm Knochen und Mark +verzehrt, freilich, Lohe einfach, schmerzlos wie lustlos, nur bloß +verzehrend, was dann andern Augen gemeinhin erst an der Asche sichtbar +wird, und dann staunen sie nun über Beethovens Totenmaske. Er aber, am +ganzen Leibe brennend, schaffte in der Himmelsglut das Werk, blinden +Auges, tauben Ohrs, denn der Genius sieht, der Genius hört; mit +flatternden Händen, denn der Genius lenkt, und dieses, dies ist das +Leiden und dies die Grausamkeit, dies darf Leiden und Grausamkeit +genannt werden, weil aus ihnen Leben entsteht, ewiges, so Gott will, +dieweil das andre nur zum Sterben gut ist; doch reinigt der Tod.« + +»Hat das der Maler gesagt?« fragte Esther nach einem Schweigen +leichthin. + +Georg sah, daß Jason, wenn das bei ihm möglich war, verlegen schien. + +»Es kommt ja nicht darauf an,« sagte er, »die Menschen sagen so vieles +nicht, das meiste sagen sie nicht, und du kennst ja mein Gedächtnis, es +muß sich an so vieles erinnern, und gedacht hat er es jedenfalls, davon +seid ihr doch wohl überzeugt. Übrigens«, fuhr er fort, »sind wir bald +auf das Meer und die Berge zu sprechen gekommen, und nachdem wir uns +darüber geeinigt hatten, daß das Meer groß sei, groß, sonst nichts, +indem nichts von seiner Größe sei, so fragte ich ihn, wie das wohl +zugehe, daß manche Menschen sagten, das Meer drücke sie nieder; es mache +sie melancholisch, sagen sie. Er vermutete, eben deshalb, weil es ihnen +zu groß erscheine, sie selber daher zu klein. Berge dagegen, ich +erinnere mich genau, daß er dieses sagte, weil darauf ich an zu sprechen +fing, Berge verhielten sich menschlich, und gewiß ist das so, was ihr +beurteilen könnt, wenn ihr euch solch ein einzelnes, weißes Schneehaupt +vorstellt. Denkt ihr euch nun daneben die Erhabenheit eines wunderbaren +Menschen, Dantes oder Bachs, Rembrandts oder Michelangelos oder Homers, +so habt ihr gleich eine Kette einsamer, strahlender Bergeshäupter. +Halbgötter sind die Berge, dem Himmel nah und doch furchtbar irdisch +verankert, und sie stimmen den Beschauer zur Andacht, unvermindert seine +eigene Person, eben wegen des göttlichen Eindrucks, der aus Kleinheit +hinaufziehend, nicht aber niederdrückend ist: Gott läßt immer viele +Möglichkeiten offen, um so strahlender, wenn er sich menschenhaft +offenbart. Blickt ihr aber von der Höhe über ganze Ketten und Felder +andrer Gipfel und Gebirgszüge hin, so habt ihr auch hier ein Meer von +Wellen, von erstarrten jedoch, von gebändigten, innerlich unfreien, ihre +Verdammung zur Schweigsamkeit mit Größe und Heldensinn ertragenden, +gleich einem Volk gefesselter Könige; ihr aber, ihnen gegenüber, von +Beweglichkeit, von eurer ganzen rühmlichen Freiheit ringsum strotzend, +ihr fühlt die Majestät solcher Versammlung mit Andacht und angenehmer +Demut. Dies alles«, sagte Jason lächelnd, »erklärte der Maler nicht wie +ich, sondern mit einem einzigen Worte, und danach fingen wir an, von den +Wolken zu reden. Von ihnen sagte Bogner gleich, daß er sie liebe, +nämlich die vereinzelten, geballten, weißen, mittäglichen, und er sagte, +daß sie wie Götter seien, schweigend und leuchtend, nur ihr Wesen +ausstrahlend unbeeinflußbar, -- und ich dachte wieder, wie richtig das +sei, da eben solche Wolken diejenigen Eigenschaften haben, die wir uns +wünschen, die uns fehlen: die Ruhe, die Unberührbarkeit, dies leuchtende +Dulden der Vereinsamung, das Schweigen, und so sind sie, wie alle +Gottheiten, vergottete Menschen, uns ähnlich, daher noch zu erfassen, +noch in uns, wie die übrige Natur, und indem ich dies bedachte, fiel mir +ein, ob der immer sonderbare und rätselhafte Eindruck des Ozeans wohl +darauf beruhe, daß er nicht in uns sei wie die übrige Natur, und dies +sagte ich dem Maler. Da erzählte er mir ein Erlebnis aus seiner +Kindheit. + +Er beschrieb mir, wie er an einem Sommerabend als Knabe in einem Kahn +gelegen habe. Wie er da mit sich allein war in der unsichtbaren +Dämmerung und eine Hand ins Wasser hängen ließ, da sei nun aus dem +Abgrund des Meeres der Mond heraufgestiegen, ganz wie ein schweigender +Gott. Das Herz habe ihm da zum Zerspringen geklopft; er habe gemeint, +der Mond komme aus seiner Brust. -- + +Dies ist nun freilich ein schöner Irrtum gewesen, denn das Unsichtbare +war es, das seine Brust so weit zu machen wußte, daß sie auch die Nacht, +das Dunkel, alles in sich aufnahm, das Meer spielte eigentlich keine +Rolle in seinem Erlebnis, und ich sagte ihm dies, indem ich ihm +nachwies, daß damals, als das einfachste Tier, unser Vorfahr, die +Noctiluca, aus dem Meere das Land erstieg, das Meer von uns abzufallen +begann, durch die Jahrmillionen, durch unzählbare Geschlechter von +Verwandlungen, und das Leben auf dem Trocknen ward anders als im +Gewässer, fremd ward uns das Meer, aber es war unsre älteste Heimat, und +darum, wenn wir darüber hinsehn, so meinen wir, daß dort drüben, an +einem andern Ufer, unsere Heimat liegen müsse; wie Odysseus sich +vorstellte, daß gleich drüben der Rauch aus seinem Dache steigen müßte; +aber die Heimat eigentlich ist in dem Meer, ist es selbst, und deshalb +macht es uns wehmütig, heimschmerzlich, und das drückt uns wohl nieder, +um so geringer unser Glaube, um so tiefer unser Verlangen nach Heimat +ist. Da kamen wir nun auf die Sterne zu reden, und ich glaubte schon, +davon würden wir die ganze Nacht nicht wegkommen. Aber die größten Dinge +sind auch wieder die einfachsten, und so verhält es sich auch mit den +Sternen, daß von ihnen schon alles gesagt ist, wenn man nur an sie +denkt. Dann genügt ein zufälliges Wort, und so fiel es dem Maler ein, zu +sagen, daß die Sterne jenseits wären. Wie wahr ist das, denn sind sie +nicht außerhalb unsrer Erde? Was aber reicht über unsre Erde hinaus? +Wir? Unser Gefühl? Gegen das unzerreißliche, metallene Gewebe des +Firmaments prallt unsre Seele an wie ein Federball; nichts dringt dort +ein, es sei denn -- das Gefühl, nicht eindringen zu können, das uns so +wunderbar anmutet. -- Übermenschlich, seht ihr, das sind Wolken und +Berge; überirdisch, das sind die Sterne. Mit ihnen ist uns nichts +gemeinsam, nicht einmal das Gefühl der Fremde. Das Meer jedoch, es ist +unmenschlich, eine Natur außer uns, eine Leidenschaft außer uns, eine +donnernde Unbegreiflichkeit. + +Ja, so sprachen wir miteinander,« sagte Jason nachdenklich, »und +inzwischen hatte der Maler seinen Bananenast aus der Ecke geholt, +stellte ihn auf den Teppich, setzte sich auf die Erde davor mit dem +Rücken gegen die Fenster und ermunterte mich zu essen, indem er eine +Frucht abriß, hurtig schälte und die Schale über seine rechte Achsel zum +Fenster hinauswarf. Wie das aber so geht mit mir, -- ich stand auf +einmal in der Tür, und da sehe ich ihn noch so sitzen in dem leeren Raum +bei seinen rötlichen Kerzen und seinem schattenwerfenden Bananenast, und +die Schalen zum Fenster hinauswerfen. Auf einmal stand ich dann und +blickte gegen den wunderbarsten Nachthimmel, und es war kühl und vieler +Atem im Finstern um mich her. Der Himmel aber, der vor mir niederhing, +war ein wundersamer Gobelin mit einem silbernen Wolkenmeer, in dem, +dicht aneinandergedrängt, andre, schwärzliche Wolken gleich riesenhaften +Delfinen und Seeungetümen sich bewegten, und dies alles durchglitt der +Mond, klar und sanft und sich schaukelnd, eine silberne Schale von einem +Götterboot.« + +Jason schwieg, rückte ein wenig und schien ans Fortgehn zu denken. + +»Sage, Jason,« fragte Esther, »hast du nun wirklich gar nicht daran +gedacht, dir von dem Maler Bilder zeigen zu lassen, da du einmal dawarst +und doch kein Mensch herausbekommt, wo er wohnt?« + +Nein, Jason hatte nicht daran gedacht. Er schien geistesabwesend. + +»Es waren so viele Bilder da,« sagte er, »ringsherum, der ganze Himmel +voll. Vielleicht«, sagte er aufstehend, »habe ich mir eingebildet, er +hätte sie alle selber gemalt.« + +Sprachs, nickte ihnen leutselig zu und ging davon. Sie mußten ihm +nachsehn, wie er an den Gebüschen hinstreifte, ein wenig geduckt, die +Knie leicht eingedrückt, den Strohhut im Nacken, die Hände auf dem +Rücken, schmal in seinem feinen Rock von schwarzem Tuch, und so schwand +er den Weg hinunter um die Ecke, und es war nicht ersichtlich, ob er +nicht nur das äußere Verschwinden abgewartet hatte, um gänzlich fort zu +sein, weg, nicht mehr vorhanden oder vielleicht schon in Südamerika. +Esther und Georg aber taten ihre Augen zusammen, nickten sich zu und +sagten, daß es ab und an gut sei, Jason zu hören. + + + Drei Gespräche: Das zweite + +Georg, Sigurd und Benno saßen spät abends beisammen; Georg, wie er es +gern tat, in seinem Armstuhl, den er mit der Rücklehne gegen den +Schreibtisch gedreht hatte, so daß er zur Kaminecke hinüber sah gegen +den grünen Lampenumhang, -- und rechts dort saß Benno, in seinem Sessel +so tief, daß er Georg unsichtbar war hinter den dunklen Figuren und dem +breiten Dach des Treppengeländers: nur sein obenliegendes Knie war zu +sehn, hell glänzend dicht unter der grünen Tischdecke im nach unten +fallenden Licht. An der anderen Seite hatte Sigurd sich in den breiten +Ledersessel zurückgelegt, das Gesicht nach oben gewandt, das linke Knie +so hoch gegen die Schulter gezogen, daß er die Hände dicht überm +Fußgelenk falten konnte, das auf dem rechten Knie lag. Georg hatte, da +sie eben damit beschäftigt waren, sich nach Kräften an- und +auszuschweigen, Muße genug, ihn zu betrachten, diesen erstaunlich +Schönen; sein dunkelhäutiges langes Gesicht glänzte leise aus der +Dämmerung wie etwas Gegossenes; ein Lichtfunke, in jedem Auge hängend, +machte sie starr in aller düstern Lebendigkeit. Schön im Schweigen +formte sich der volle Mund. + +Georg dachte in behaglicher Zufriedenheit über ihn nach. Sich erinnernd, +wie er in dem dunkelroten Mantel hohepriesterlich bei so viel +Jugendlichkeit erschienen war, dachte er, daß noch kaum ein Mensch -- +und am seltensten eine Frau -- so das Empfinden ihm bekräftigt habe, es +müsse im schönen Leibe auch eine schöne Seele wohnen. Renate -- ja -- +eigentümlich: ihr Glanz war so außerordentlich, so vollkommen, so nichts +mehr zu wünschen lassend, daß man nichts begehrte außer eben ihn, -- und +doch nein; war es nicht seelisches Feuer allein, das, ihre Züge und +Farben durchglühend, sie in solche Harmonie und solches Leuchten +versammelte? Also war vielmehr dies das Absonderliche, daß aus Renate +Einheit strahlte; hier, aus dem Manne dagegen nur Eines, das ein Zweites +ahnen und wünschen ließ, -- und so sehr, dachte er, ist also Schönheit +etwas Nebensächliches, etwas Störendes fast beim Manne, dessen Geist und +Seele allein es sein sollten, die Licht verbreiten. Ja, und Esther, wie +war es mit der? Hatte sie wohl eine Seele überhaupt, oder war da alles +-- nur süß; bis hinab in das Innerste? Ach, kleine Esther, kleine +Chinesin, bin ich nun eigentlich verliebt in dich? und wenn wirklich, +wie wäre das möglich in Anbetracht Renates? -- -- + +»Wie doch das Schweigen tönt!« hörte er da Benno träumerisch sagen. »Wir +sind ja ein Dreiklang.« + +»Dur oder Moll, Benno?« + +»Ich weiß nicht, Georg. Musik der Seelen -- und die ist es doch, die ich +höre -- weiß wohl von irdischen Tonarten nichts, und dort ist das +innerlich Selige von Dur und Moll ein unirdisches Gemisch.« + +»Ja -- dort, Benno, nicht wahr? Aber wir sind hier und müssen immer +heiter oder traurig sein. Es ist aber schön zu denken, was du sagst.« +Georg schwieg. + +Nach einer Weile zogen ihm sanfte Verszeilen durch die Erinnerung, und +er sagte langsam auf: + + »Die Linien des Lebens sind verschieden + Wie Wege sind und wie der Berge Grenzen. + Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen + Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.« + +Sie schwiegen lange. + +Benno sagte: »Ergänzen, ja. Zu Moll das Dur und zu Dur das Moll; und +doch wird es Ergänzung nicht allein sein, sondern das -- andre, das -- +von hier, wird mit darin sausen, und das wird die Vollkommenheit sein, +die weder Dur ist und weder Moll. Und das hat Bach gewußt.« + +Es war wieder still. Georg versank in ihm selber Unbewußtes. + +Plötzlich -- als sei es genug -- sah er undeutlich Sigurds Haltung sich +lösen; er setzte den Fuß an die Erde neben den andern, beugte sich vor, +legte die Hände um eines der Bücher auf dem Tisch und sagte in seiner +kurzen Weise: + +»Wissen Sie, Georg, -- ich wollte Ihnen immer schon etwas sagen. Wegen +Esther. Sie wissen ja: meine Schwester gehört mir, mir ganz allein. Ich +habe sie erzogen von Kind auf; sie ist -- mein Werk. Es gab eine Zeit, +wo sie den Leuten langweilig war, so sehr war sie ein Abguß von mir und +sprach mit meinen Worten. Und was wissen wir schließlich von solch einem +Wesen?« + +Er brach ab. Ja, was wissen wir, dachte Georg. Sie geht umher und sieht +süß aus. Alles, was wir wissen, sind Dinge, die sich auf uns beziehn. +Obendrein antwortet sie nur, schweigt, spricht selten von selber, oder +ganz Belangloses, Tatsächliches. Und dabei diese Wandelbarkeit, als +hätte sie gar keinen Kern! Mit jedem Kleid, in jedem Hut, ohne Hut, im +Mantel, in der Jacke ist sie ein andres Wesen; heut ein Kind, morgen +abwesend, eine kühle fremde, Verirrte, jetzt sanft und hülflos, morgen +sicher und verständig, ja scharfsinnig, heut altklug und morgen unbewußt +--, als ob sie immer und nur auf geheime Unterweisung sei und handle, -- +aber immer ist sie verführerisch und gefällig mit Miene und Lächeln. Ja, +wenn ich das Sexuelle auch so überschätzte, wie Alle es tun, so würde +ich denken, ich sei in sie verliebt, bloß weil ich ab und an den +zärtlichen Wunsch habe, sie auf den Arm zu nehmen und irgendwohin zu +tragen. -- Während er sich dies sagte, betrachtete er Sigurd, der, die +Zunge im Munde wälzend, das Buch hin und her drehte, und dachte, falls +er, wie es schien, ihm etwas mitteilen wollte, sei es das beste, zu +schweigen. Richtig fing Sigurd auch wieder an: + +»Was wissen wir von ihnen? Ihre Gedanken laufen doch immer wo anders +hin. Nun sind sie in Amerika. Sie giebt bekanntlich vor, einen jungen +Mann zu lieben, da drüben ...« + +»Warum: giebt vor?« fragte Georg. + +Sigurd blickte wegwerfend auf: »Ich sagte ja, daß sie mir gehört, also +liebt sie in Wirklichkeit mich, nur ist sie eben meine Schwester und +merkt es nicht. Und überhaupt nun diese sogenannte Liebe. Esther ist +immer von irgendwem geliebt worden und hat immer irgendwen geliebt. +Endlich kommt einer und sagt, er muß sie heiraten, und da muß sie nun +auch. So ists immer, Alle heiraten aus Zufall, und nachher ist das +Unglück da.« + +Georg glaubte sich zu erinnern, daß er das selbe schon einmal von einem +andern Menschen gehört hatte, -- war es nicht Ulrika? ... Aber Sigurd +war aufgestanden, lehnte sich mit der rechten Schulter gegen das +Bücherregal, den Kopf gesenkt, hier und da einzelne Bände tiefer ins +Fach klopfend, während er sprach: + +»Ich will sie nicht hergeben, ich brauche sie, wofür lebe ich denn?« Er +wandte sich zu Georg. »So etwas kennen Sie natürlich nicht,« sagte er +mit verächtlicher Traurigkeit in den schweren Augen, »Geschwisterliebe. +Nicht Frau, nicht Geliebte, nicht Freundin, aber von jeder ein Hauch, -- +und andrerseits, wenn ich denke, ich könnte eine andre Frau lieben, so +würde mir das Verwandtschaftliche bitter fehlen.« + +»Irgend etwas«, sagte Georg weise, »fehlt immer.« + +»Esther,« fuhr Sigurd fort, ohne hinzuhören, »Esther hat diese Macht +über die Menschen, dies Verlockende, das ihr eigentliches Wesen ist. Sie +kann nicht anders, sagen Sie selber: wenn sie mit Ihnen allein ist, ist +sie da nicht ganz eine andre, als wenn Andre dabei sind? Unter Vielen +ist sie überhaupt nichts, da steht sie wie ein kleiner Hund im Regen +...« Er lachte verlegen, Georg lachte gefällig mit. + +»Nun also der in Amerika«, fing Sigurd wieder an. »Ein außerordentlich +tüchtiger Mensch, müssen Sie wissen. Unglücklicherweise nahm er an einem +Monatsletzten -- als er noch hier war -- dreißig Mark aus der Kasse, um +sie am Ersten wieder hineinzulegen, da kam die Revision. Es gelang mir +natürlich,« sagte er mit innerlichem Stolz, »den Chef zu überzeugen, daß +er keine Anzeige machen durfte und ihm ein Zeugnis ausstellte auf +Tüchtigkeit und Fleiß mit dem Vermerk: verläßt seine Stelle nach +Übereinkunft. Ja, und trotzdem verfiel der arme Junge so in +Verzweiflung, daß er in die Staaten hinüberging. Oh auf ihn kann man +sich verlassen, aber auf Esther? Warum soll sie nun grade den immer und +ewig lieben, nachdem sie sich so oft geirrt hat? Aber ihr Gefühl für +mich, das ist immer das gleiche geblieben. Sie fängt nach einem halben +Jahr an, sich zu langweilen, immer mit dem selben Mann, wohin soll sie +sich noch entfalten?« + +»Ja, ja,« lachte Georg, »Sie haben recht: unter mehreren Männern ist sie +die bescheidene und kluge Lauscherin -- Leonore im Tasso --; mit einem +allein entfaltet sie sich zart -- Leonore mit Tasso.« + +»Achtzehn Jahre ist sie alt,« sagte Sigurd kopfschüttelnd, »und bildet +sich wahrhaftig ein, dieser Kaufmann drüben sei in Europa und Amerika +der einzige Mensch, mit dem sie das Leben zu Ende führen kann.« + +»Sie sind närrisch,« meinte Georg, »Liebe und Überlegung ...?« + +»Ja, soll sie ihn lieben!« brauste er auf, »aber warum denn um Himmels +willen heiraten? Wie schön ist die Liebe, wie ideal ist die Liebe! Sie +erregt alle heftigen Gefühle, Sehnsucht, alle Empfindungen nach -- +hinaus, nach oben, ins Offne, ins Unbegrenzte, -- und dann wird +geheiratet.« Er lief an Georg vorüber und hinter seinem Rücken im Zimmer +hin und her. + +Georg fiel Cora ein, die er seit Monaten einfach vergessen hatte, und +sagte: »Ideale, das wissen Sie doch, Sigurd, sind dazu da, daß man sie +hat, nicht daß man danach lebt. Zum Leben brauchen die Menschen Ziele.« + +»Na, und was machen Sie da wieder für einen psycho-philosophischen +Unterschied?« + +»Ein Ideal«, sagte Georg ernsthaft, »ist keines -- nicht wahr -- +innerhalb erreichbarer Grenzen; ein Ideal ist doch nichts Persönliches, +nichts, was man für sich allein hat, oder käme es nicht mehr von Idee +her? Ideal ist Religion. Wie ich schon sagte, nicht wahr: auch Religion +müssen die Menschen haben, aber wer lebt danach? Für ihr Leben haben sie +ihre Gesetze und sonst praktische Wegweiser, was ich Ziele nannte. +Wegmarken braucht der einfache Mensch, um zu sehn, woher er kommt und +worauf er zugeht, und daß er sich bewegt.« + +»Ach, Sie denken immer so artistisch! Dem Künstler freilich sind seine +Werke solche --« + +»Dem Künstler«, griff Georg mit Festigkeit ein, »sind seine Werke +niemals Ziele, sondern stets Ideal. Was er erreicht -- im Werk --, das +mag Andern, ja mag ihm selber ein Ziel scheinen, eine Wegmarke, eine +Stufe, um höher zu steigen: im Grunde bleibts ideal, weil unvollkommen +gegenüber seiner Idee. Ein vollendetes Kunstwerk, nicht wahr -- das kann +niemals mehr heißen als: ein fertiges. Selbst Gott hat nur gesagt, es +wäre sehr gut, und ich bin überzeugt, daß sein Ideal von Welt hoch, aber +höchst anders ausgesehn hat!« Georg, nachdem er seine Sätze auf das +eifrigste hervorgesprudelt hatte, stand auf, ging hin und lehnte sich +gegen die Bücherwand. In der Tiefe des dunklen Raumes sah er Sigurd +neben dem Pensieroso stehn, der vor ihm saß, unbekümmert wie je, den +Handrücken unterm Kinn, sinnend. + +»Es giebt so viele Worte«, sagte Sigurd. »Wie alt sind wir eigentlich? +Unsereins sieht immer über die rationalen Dinge hinweg, als ob Gott und +Welt und Ewigkeit das einzige wäre, was uns anginge, als ob wir sie im +Sack hätten, als ob sie nur so um uns herumstünden wie Schränke. +Übrigens haben Sie davon angefangen.« + +»Ja, Sie merken doch alles, Sigurd«, sagte Georg sardonisch. »Glauben +Sie wirklich nicht, daß das Alltägliche genügt, um es zu tun? Soll man +auch davon reden?« + +»Nicht vom Alltäglichen,« versetzte Sigurd kurz, »das ist eine +Unterschiebung. Ich sprach vom Realen oder Tatsächlichen und bin nicht +der Meinung, daß es so einfach ist, daß Tun genügt.« + +»Ich kenne eine Frau,« erwiderte Georg nachlässig, »deren Ideal wäre es, +die Geliebte eines Prinzen zu sein. Jawohl, Sie bemerken ganz recht: der +Prinz bin ich selber.« Sitzt mir die Maske? fuhr es durch ihn hin. Er +sammelte sich und fuhr fort. »Ich sage Ideal, Sie würden sagen Ziel.« + +»Weil Sie,« Sigurd lachte spöttisch, »weil Sie ihr dies Ziel nicht +erfüllen wollen? Also ein idealisches Ziel, wie Ihr Kunstwerk, wie der +Himmel für den primitiven Frommen, den Moslem oder so: solange man +danach strebt, Ideal, wenn mans hat, Ziel.« + +»Ach, Unsinn!« murrte Georg. »Der Himmel (und die Hölle genau so gut) +sind keine Ideale für den Frommen, sondern einfach Ziele, weil sie mit +zum Irdischen gehören, weil sie in seinem Dasein inbegriffen sind.« + +»Also leugnen Sie überhaupt Religion?« + +Es klopfte. Die Tür zum Flur wurde geöffnet, und Esther stand über der +Treppe in einem dicken bräunlichen Regenmantel, den Kragen +hochgeschlagen, kaum sichtbar das kleine Gesicht mit den funkelnden +Augen unter tiefen Scheiteln und der Kappe aus schwarzem Haar, die sie +heute trug. Sie hatte einen Brief in der Hand. + +»Ein realer Brief,« sagte Sigurd, indem er näher trat, »siehst du, +Esther, der Prinz leugnet alle Religion außer Buddhismus.« + +Ich dachte an Märtyrer, sagte Georg sich schweigend, indem er Esther die +Hand gab und fand, daß sie wie ein gutes, schwärzliches Tierchen aussah, +süß zum Wegtragen und Füttern. -- »Als wir anfingen, Esther,« sagte er, +»sprachen wir von Ihnen; nun sind wir glücklich beim Nirwana.« + +Sie lächelte. »Das ist eben das Gute an uns, daß ihr von uns überall +hingeraten könnt! Ihr müßt immer bei uns anfangen, ihr Männer.« + +»Und von überallher zu euch zurückkommen«, schloß Georg lachend. »Ihr +seid der Kreis und seid im Mittelpunkt.« + +»Ja, Kreis«, wiederholte Sigurd, am Schreibtisch stehend, Georgs +Malaiendolch in der Hand. »Was ist mit dem Brief?« schloß er kurz. + +Esther erklärte munter, wie sie, um den Brief in den Kasten zu werfen, +vor die Tür gegangen, wie die Nachtluft so herrlich nach dem Regen +gewesen sei und nach nassem Pflaster geduftet habe, daß sie hergelaufen +sei, um Sigurd abzuholen, -- und den Brief habe sie dabei in der +Manteltasche vergessen. Georg verschlang sie mit Augen dieweil und hörte +kaum ihre Worte. Sigurd nahm ihr den Brief wortlos fort, während Georg, +ihr aus dem Mantel helfend, freundschaftlich fragte: »Für wen ist denn +der dicke Brief, kleine Esther?« + +»An meinen Verlobten,« hörte er sie abgewandt sagen, und einen Stich im +Herzen, fiel ihm ein, daß Sigurd ihm ja etwas hatte mitteilen wollen, +Esther betreffend. Was konnte das wohl gewesen sein? -- -- + +Nun saßen sie schweigend alle Vier, bis Esther mahnte: »Sagt doch was, +Kinder, seid ihr immer so schweigsam?« + +»Ja, Benno!« -- Benno saß ganz grade auf dem Vorderteil seines Sitzes, +dieweil eine Dame zugegen. -- »Benno hat den ganzen Abend noch nichts +gesagt. Also Benno ...« + +Benno lachte erschütternd. Er habe alles, was ihm für heute zu reden +gegeben sei, schon vor Esthers Anwesenheit gesagt. »Nun müßt ihr reden!« + +Esther schlug vor, Georg möge etwas vorlesen. + +»Ja, Georg!« bat Benno schmelzend und glitt erwartungsvoll unbedacht +tiefer im Sessel, richtete sich aber gleich wieder auf. Georg wehrte +jedoch ab; er habe nichts Rechtes. Als Sigurd nun aus der Ecke am Kamin +fragte, ob und was Gutes Georg zurzeit lese, fühlte er einigen Ärger +über Sigurds schlankes Abbiegen und sagte nachlässig bloß: »Jean Paul.« + +Keiner von den Dreien erwiderte etwas. Der Name löste wohl zwiespältige +Empfindungen aus, die nicht zu Worte gelangten. + +»Natürlich,« sagte Georg, »wenn man Jean Paul sagt, sind Alle wie auf +den Mund geschlagen. Habt ihr Jean Paul gelesen? Haben Sie Jean Paul +gelesen, Esther?« -- Esther murmelte etwas vom Katzenberger. + +»Dieser ewige Katzenberger! Als ob das nun Jean Paul wäre, nicht wahr! +Katzenberger! Das ist wie -- wie so eine hornhäutige Ferse am Absatz +eines Engels; als solche ja ganz merkwürdig. Aber den Engel solltet ihr +reden hören! Wartet --« Sich im Stuhl drehend griff er den kleinen +schwarzen Band vom Schreibtisch hinter sich. »Flegeljahre,« sagte er, +»ich will euch nur eine Stelle vorlesen, nur eine, und ihr sollt --« Er +blätterte erregt. »Nein, wartet mal, wo war doch das! Richtig, ich hatte +doch ein Zeichen ... An der Stelle ging mir zum ersten Mal mit +blendender Klarheit der Unterschied zwischen Dichtersprache auf und -- +wie soll ich sagen? -- da ist die Stelle!« + +Georg hatte sein Zeichen gefunden, nahm es heraus, bog das Buch auf und +las: + + No. 16. Berguhr + Sonntag eines Dichters + +Walt setzte sich schon im Bette auf, als die Spitzen der Abendberge und +der Thürme dunkelroth vor der frühen Juli-Sonne standen, und verrichtete +sein Morgengebet, worin er Gott für seine Zukunft dankte. Die Welt war +noch leise, an den Gebirgen verlief das Nachtmeer still, ferne +Entzückungen oder Paradiesvögel flogen stumm auf den Sonntag zu ... + +»Das ist es!« rief Georg, »das ist es: ferne Entzückungen oder +Paradiesvögel flogen stumm auf den Sonntag zu. Ja, was denkt ihr euch +dabei? Ist das irgend etwas Vorstellbares? Ist das nicht unbeschreiblich +imaginär? Entzückungen, die fliegen? stumm? auf den Sonntag zu? Und da +quillt einem doch das Herz über von etwas geisterhaft Irdischem und +Unirdischem in wunderbarster Vermengung, und die Seele über von +unsagbaren Visionen des Morgenhimmels und der Dämmerstunde. Und deshalb +-- nicht wahr -- was liegt an den Worten? Das überwogende Empfinden des +Dichters schwemmt sie hervor, -- vom Rhythmus, der alles ist, ergriffen, +ankristallisiert, schwemmt es sie hinüber in uns, wo sie zergehend +wieder ausschäumen in Empfinden und in Vision. So spricht der Dichter.« + +Still waren die Andern. Wie, keine entzückte Bejahung? -- Endlich sagte +Sigurd: + +»Und wie, meinen Sie, sprechen wir?« + +»Wir? Wir machen uns verständlich. Wir wollen verstanden werden, wollen +wirken und suchen den passenden Ausdruck, den treffenden, nicht wahr, +Deutlichkeit. Der Dichter will sich niemand verständlich machen, nicht +wahr, sondern muß singen, nachsingen, was der Dämon vorschreibt, und +dies eben, nicht wahr, daß er vollkommen weiß: er kann sich auf unsre +Weise nicht ausdrücken, weil dann nur Deutlichkeit entstünde, aber nicht +-- Empfinden, Sichtbarkeit, Fühlbarkeit, das -- nicht wahr -- giebt ihm +die Gegensprache vom Ausdruck, das -- eigentlich ists ein Verhüllendes, +nicht wahr, das -- Bild, Gleichnis, die Gestalt, das heißt: er stellt +dar. Darstellung und Ausdruck, das sind die beiden.« + +»Dagegen«, sagte Sigurd nach einer Weile, »ließe sich wohl nichts +einwenden. Wie Sie aber -- in dem, was Sie zuerst sagten -- das Wort so +erniedrigen, zum Mittler des Gefühls erniedrigen können, das verstehe +ich nicht. Ich --« Georg, obwohl sprachlos vor Überraschung, daß er +erniedrigen sollte, er, dem wie keinem Andern die Einzigkeit, die +vollkommene Aristokratie des Wortes bewußt war, -- kam nicht zum +Einfallen. »Ich empfinde«, sprach Sigurd weiter, »da ganz anders. Ich +empfinde --« Vorgebeugt in seiner Ecke, die Ellenbogen auf den Knien, +legte er Gelenke und Fingerspitzen der gewölbten Hände mit kleinen +formenden Bewegungen gegeneinander -- »ich empfinde -- den Leib des +Wortes. Ein tiefes Erfülltsein, Umschlossensein; kein Überströmen.« + +Esther, die sich bislang unteilhaft verhalten hatte, nickte jetzt +beistimmend und schüttelte den Kopf. Auch Benno drehte sich. + +»Nein, da müssen Sie mich mißverstanden haben«, sagte Georg. »Das Wort +als Mittler? Auch ich --« die Zeile Jean Pauls wie auf einer langen +Fahne vor sich, ließ er sie auf sich wirken, und sagte, langsam seinem +Gefühl nachsprechend: »Ich empfinde das Wort, Leib und Seele. Die Seele +aber flutet über die Ränder und -- bildet, mich erfüllend, den Leib noch +einmal in mir. Und das geht -- hin und her, nicht wahr; immer ist eines +im andern. Die Seele freilich -- auf die kommt es doch allein an -- die +Seele des Worts ist die mächtigere, die immer wieder überflutet und mich +-- ahnen läßt, tausendmal mehr ahnen, als das Wort enthält.« + +»Sie lassen Ihre Phantasie spielen, Georg. Sie sind Romantiker,« sagte +Sigurd, »und --« + +»Ich bin kein Romantiker, was fällt Ihnen ein?« + +»Dann denken Sie eben an besonders romantische Gedichte, die es ja +giebt, die von dieser überfließenden Art sind.« + +Esther und Benno nickten lebhaft. + +»Aber ich bitte euch!« widerstritt Georg. »Nehmt doch etwas andres, +nehmt -- was ihr wollt! Nehmt >Der Wald steht schwarz und schweiget -- +Und aus den Wiesen steiget -- Ein weißer Nebel wunderbar ...< Was liegt +denn an den Worten? am schwarzen Wald und weißen Nebel? Aber eine golden +verschattete Welt steigt auf, und das ist die Kunst, wie ich sagte: mit +einem Wort hundert und tausend mal mehr zu geben, als es enthält.« + +»Und das ist romantisch«, beharrte Sigurd. + +»Ja, Georg,« wagte Benno sich hervor, »handelt es sich hier nicht um +etwas andres? Das ist doch -- Landschaft. Die soll gemalt sein, gesehen +werden, und da wirkt natürlich die Phantasie. Hier tut sie's auch bei +mir. Sonst aber -- verhüllt sie sich eher --« + +»Verhüllt sich!« sagte Sigurd. Esther nickte und lächelte. + +»Zum Beispiel, wenn du an das von George denkst, dies Wunderbare, du +lasest es neulich: >So war dein sanfter Sang der Sang des Jahres -- Und +alles kam, weil du es so bestimmt.<« Benno verhauchte beseligt. Sigurd +am Regal lehnend, die Finger in den Westentaschen, das Gesicht vornüber +gesenkt, sagte kurz, nach innen grübelnd: + +»Es muß etwas andres sein. Sie nehmen die Dinge ästhetisch. Es muß ein +ethischer Vorgang sein.« + +»Da komme ich nicht mit«, erklärte Georg. »Jeder Vorgang ist an sich +rein ästhetisch, nicht wahr? Ethisch wird er allein durch die Erkenntnis +-- Sie verstehen, Esther --, durch Erkenntnis von Werden und Entstehn, +von den Zusammenhängen, von der Form. Hier aber, hier handelt es sich ja +um Vorgang und nur um Vorgang. Das Ethische können Sie ja dazu haben, +aber -- was hat das mit Dichtung zu tun? Das ist doch -- abstrakt.« + +Benno war nicht einverstanden, und Sigurd bewegte stumm den gesenkten +Kopf. »Warum abstrakt?« fragte Benno und mit ihm Esther aus den Augen. + +»Warum? Also -- -- also wenn ich sage: Bauen, -- nicht wahr? Wer baut? +Einer schleppt Steine, einer legt sie aufeinander, einer macht Fenster, +Türen, Fußböden, einer das Dach. Wer baut denn nun? Der Architekt macht +Pläne, beaufsichtigt, das alles sind die Vorgänge. Was aber alle +zusammen tun, nicht wahr, und auch allein der Architekt durch Planen und +Beaufsichtigen, das sehen wir im Begriff >Bauen<. Begriff! der kann +ethisch sein, aber wie wollt ihr den empfinden, nicht wahr? Wo das Wort +so voll Vorgang ist, so voll Vorgang!« + +»Das können Sie nicht sagen, Georg!« Sigurd hob voll die heißen Wangen +und brennenden Augen gegen ihn. + +»Ich empfinde das eben.« + +»Ich auch, Georg!« rief Benno. + +»Du auch? Ich hatte sonst sagen wollen: Sie, als Jude, nicht wahr, -- +seien vielleicht eher begabt für das rein Gedankliche.« + +»Das sind wir. Herz und Intellekt wohnen bei uns näher zusammen als bei +euch.« + +»Und darum überschätzen Sie das Wort!« + +»Ach das Wort, Georg, doch nicht das Wort!« Benno lief aufgeregt mit +schwingenden Armen in den Raum. »Wie wäre es dann mit der Musik, die +wortlos ist? Wärens da Töne, Akkorde, Septimen, Quinten und Quarten? Ist +es nicht --« + +»Und die Musik,« rief Georg aufspringend und sich zu ihm drehend, »die +Musik, da du davon sprichst, wie läßt die erst überwogen, sich auflösen, +ins Namen-, ins Uferlose, ins --« + +»Bei dir, Georg, aber doch nicht bei mir!« schrie Benno vom bronzenen +Borgia her. »Die Musik ist eine so völlig klare, gesättigte Sprache wie +die der Dichter. Ja, das ists! Sprache, Georg, Sprache! Nicht das Wort, +das Ganze -- eben -- Musik!« + +»Das ist wieder was andres, Benno. Meinen Sie das?« + +Sigurd nickte. + +»Dann also -- meint ihr -- den Rhythmus, nicht wahr?« + +»Es ist mehr, Georg, es ist --« + +»Unter Rhythmus«, erklärte Georg, »meine ich die innerste Essenz, die +wieder Destillat ist aus dem allen: Worten und Takten, nicht wahr, Reim, +Bildern und ihrer Wahl und Ordnung, der Glut der Stunde vor allem -- was +man Stimmung nennt, nicht wahr? -- der Duft, die Seele -- und der Leib +-- all das, all das strömt zusammen zum Rhythmus, der die Seele des +Gedichts ist, die Seele der Form. Mit einem Wort, die Form meint ihr, +das ganze Gedicht. Ja, dann freilich, -- das ist bei mir natürlich auch +so. Das Gedicht tritt in mich ein und --« + +»Nun kommen wieder Ihre überquellenden Ränder«, sagte Sigurd, der ein +Buch aus der Reihe vor ihm gezogen hatte und es eben aufschlagen wollte. +Er ließ es aber in der Hand hängen und fuhr fort, zur Bekräftigung damit +Stöße gegen Georg führend: + +»Der wirkliche Vorgang ist: den Leib des Wortes, samt der Seele, die +ganze Form: noch einmal aufrichten, noch einmal baun. Er ist, wie alles +in Wahrheit Ethische -- ein Schaffen, Neuschaffen von Grund aus.« + +»Ja, Georg, ja, Sigurd!« jubelte Benno aus dem Hintergrund, kam hervor +gestürmt und stand nun im Licht so lang er war, hoch gerötet in großer +Gebärde mit flammenden Augen und fliegender Stirn. + +»Georg!« rief er mit ganz unterdrückter, inbrünstig eindringen wollender +Stimme, »hast du's denn nie gefühlt? Nie dies tiefe Glück empfunden im +Empfangen der Form, das -- den -- den Einklang, das Vollkommene, die +ewige Harmonie des Irdischen mit dem Unirdischen, vollzogen im +göttlichen Augenblick? Musik, seht ihr, sie ist nicht der Himmel selbst, +aber -- sie ist das Zwischengebiet, von uns erreicht, ja von uns erzeugt +mit unsern irdischen Kräften und unserm überirdischen Glauben, -- wo das +Himmlische irdisch ward und das Irdische himmlisch -- himmlisch im +Tönen, himmlisch in der geschaffenen Form, in der wir nun aufgehn, +aufgehn, Georg, in beiden -- und doch nur eins noch empfinden: Glück.« + +»Wundervoll, Benno, ja, aber das, was du da sagst, das habe ich im +Tiefsten immer empfunden. Das ist allerdings ethisch, und es ist dann +so, daß ich es unbewußt empfand. Ich kann ja -- wenn ich überhaupt ein +ethischer Mensch bin -- nur hierin das Wunder der Kunst erfahren, und -- +ja, es ist doch so, nicht wahr: die meisten Menschen -- nun, ethisch +sind sie natürlich alle, denn wenn einer es sein kann, müssen alle es +sein. Sie alle haben, nicht wahr, einen ethischen Grundstoff. Von dem +wissen die Meisten gar nichts und können deshalb nur moralisch +empfinden, das heißt: das Stoffliche. Die Nächsten gelangen bis zur +Anschauung, zum Empfinden der Form, also zum Ästhetischen, nicht wahr, +und das sind die, die wir gemeinhin Ästheten nennen. Die Dritten haben +nicht nur die Erkenntnis des Ethischen, sondern auch -- wie Sigurd, +nicht wahr -- das Empfinden davon. Und bei mir ist es nun so, nicht +wahr, daß ich, als selber Schaffender, zwar die Erkenntnis haben und für +sich allein auch empfinden kann, aber der Anschauung verhaftet bleibe. +Ich habe Phantasie, ich kann sie nicht unterdrücken; alles was sie, die +Anschauung mir zuführt, bewegt mich _vor_ allem andern, und das Ethische +-- Vischer meinte es wohl auch, wenn er das >Moralische< sagte -- +versteht sich von selbst.« + +»Ja, Georg, dann sind wir ja einig«, bekräftigte Benno mit gerührt sich +verbiegendem Körper, als wären sie nach langer Verfehdung wieder Freunde +geworden. + +»Ja, und Sie, kleine Esther,« sagte Georg, vor sie hintretend, »Sie +haben überhaupt nichts gesagt.« + +Ihre Augen glitzerten. »Oh ich,« lächelte sie errötend, »ich freue mich, +wenn kluge Männer sprechen, daß ich verstehen kann, wie sie es meinen.« +Sie lächelte mehr bei jedem beziehungsvollen Wort: + + »Ich folge gern, denn mir wird leicht zu folgen, + Ich höre gern dem Streit der Klagen zu -- + Wenn die feine Klugheit, + Von einem klugen Manne zart entwickelt, + Statt uns zu hintergehen, uns belehrt!« + +Georg, die ganze Zeit, während sie sprach, stark und stärker versucht, +ihr Gesicht in beide Hände zu nehmen und zu küssen, konnte es nun nicht +lassen, wenigstens ihre Schultern leicht zu berühren, indem er lachend +spottete: + +»Aber das war ja auch nicht von Ihnen, Esther, das war ja von Goethe!« + +»Wir müssen gehn«, sagte Sigurd. »Es ist höchste Zeit.« + + + Drei Gespräche: Das dritte + +Renate schrieb: + +»Tage und Nächte, Tage und Nächte! Da liegst du nun auf der Lauer über +deiner Arbeit wie ein Panther, und ich stehe dabei und weiß nichts. Wie +in der Ermattung dein Menschliches von dir abfällt, so tritt alltäglich, +daß ich ihn sehe, der Gott aus deiner Brust, sitzt da groß, durch Wind +und Wolkenriß hinunterspähend auf das Werdende; Länderflucht und +Wolkenschatten jagen durch seine unbewegten Augen. Warum muß ich +ausgeschlossen sein aus deiner Seele, in einer andern Welt, sprachlos +wie Echo in einem Walde, den niemand betritt? Will mir denn niemand dies +Geheimnis lösen, warum dir alles sichtbar ist, nur nicht ich? +Überstrahle ich sie nicht alle? Bringe ich nicht Glück hin, wo ich +eintrete? Ach, daß ich alle Spiegel der Welt zerschlagen könnte und kein +Bild mehr haben, damit du es merktest, wie ich dürste nach deinen +verhängten Augen! Ich ertrage es nicht, du! daß ich dastehn muß wie +unbekannt, unsichtbar vor dir in meiner Fülle, und dein Auge blinzelt +nicht einmal! An wen soll ich mich denn wegschenken, sag, damit du +endlich, endlich begreifst am Zerschlagenen, was dir aus den Händen +fiel!« + +Sie hielt ein, glühend über und über, fliegend, warf die Feder hin, +knüllte ihr Taschentuch in der Rechten, faßte mit der Linken in den +Ausschnitt ihres Kleides am Halse und zerrte. Sie schlug das Buch zu, +löschte die Lampe vor sich und stand auf; teilte den Vorhang und sah +hinaus. Da war nur Finsternis, undeutlich, aber nach Augenblicken wurde +der schwarze Schattenriß des Kapellendaches sichtbar über dem Gewipfel +gegen den gestirnten Himmel, dann auch darunter da und dort der +gelbliche Schein und die Form zweier Fenster. Dort saß er! dahinter saß +er! Saß, malte und sonst nichts. -- Sie preßte die Stirn gegen das kühle +Glas, atmete tief und wurde ruhiger. Es ist beschämend, dachte sie, ich +muß es jetzt vergessen; man könnte es mir ja vom Gesicht ablesen, was +ich in das Buch schrieb. -- Sie sah in die Tiefe ein wenig rechts und +gewahrte den Lichtschein, der aus dem Verandazimmer breit in den Garten +fiel, darin die Schlagschatten, über Weg und Rasen hin, der dünnen, +rankenumwundenen Pfeiler und der hangenden Reben voll Weinlaub; grau +schimmerte, wo die Helligkeit am Boden endete, der Sandsteinsockel der +Sonnenuhr. Nun sah sie auch, daß eine weiße Gestalt zwischen den Büschen +umherging, jenseit des Rasenplatzes; bald kam sie unten zum Vorschein +auf dem Wege, langsam dahinschlendernd, ging durch den Lichtschein -- es +war Magda -- die Unterarme hinter dem Rücken zusammengelegt, am Hause +vorüber und wieder in die Tiefe, wo sie schwand, aber nach einer Weile +wieder sichtbar wurde, stehen blieb und nach oben schaute. Einen +Augenblick glaubte Renate, sie spähe nach ihr, aber sie stand ja im +Dunkel und war dunkel gekleidet. So blickte sie wohl zu dem gotischen +Fenster empor, wo Georg und Esther unter der Lampe saßen; sie hatte ja +dort auf einmal weglaufen müssen, um zu schreiben. + +Magdas weiße Gestalt wendete sich wieder und ging zurück und kam +abermals wieder und verschwand auf dem Weg zum Gemüsegarten. Renate, all +ihr Eigenes kräftig niederdrückend, folgte ihr zärtlich mit Gedanken. +Sie öffnete leise das Fenster und beugte sich hinaus. Gleich drang mit +der schönen Nachtkühle und dem Geruch des vielerlei Blühenden eine +gedämpfte Musik undeutlich an ihr Ohr -- o, sie übten ja an ihrem +Brahmsquartett in der Kapelle --, und nun standen deutlich sichtbar alle +drei spitzbogigen Fensters, dunkelgelb leuchtend, im Finstern. Über den +blütenlosen Massen der Baumwipfel war das Heer der Sterne in reicher, +strahlender Stille aufgezogen. Ganz fern zur Linken schimmerte noch +Weißes, -- wohl Magdas Kleid. + +Renate dachte, daß sie das grüne Fenster von unten gesehen haben müsse, +wie sie selber immer wieder leise betroffen von seiner Stille im +Schweben, und es wurde ein alter Vers in ihr wach, -- vielleicht summte +auch Magda ihn im Gehen vor sich hin, sie kannte ihn ja: + + Gottesauge still und klar + Zwischen dem Gezweige! + Wandellos im Sternenjahr, + Dulde, daß ich wandelbar + Meine Seele vor dir neige, + Die verzweifelt war ... + +Bist du nun am Land, Kind? dachte Renate. Du bist es, ich weiß. Deine +Gedanken gehen kleine Wege, wie deine Füße im wohlbekannten Garten von +selber sich durch das Dunkel finden; gehen ein Stückchen neben Georg, +laufen zu Bogner, der unbekümmert um das musikalische Getöse hinter +seinem Rücken vor seinem Wandstück sitzt und mit Kohle Landschaft und +Gestalt in den großen Linien festhält. Du brauchst deine Gedanken, die +dir nicht mehr weh tun, wenn sie sich nur bewegen, nicht mehr zu hüten; +es giebt kein Hinaus mehr aus der wunderbaren, nur mit Gottes Hülfe zu +begreifenden Schmerzlosigkeit, die all deine Poren erfüllt ... + +Sie atmet leicht, sagte Renate, ich weiß es. Ihre Gedanken halten sich +ans Geschaute, rühren an die alltäglichen Vorgänge, an Menschen und +Dinge umher nun mit einem sicheren Gefühl und machen sie milde. Nein, es +gab nichts Hartes mehr für sie; ein wenig schattenhaft war alles +geworden, ein unveränderliches Abendrot von unirdischer Gläubigkeit +ruhte am Himmel aus, von dem die sehnsuchtslosen Schatten ein sanftes +Dasein bekamen; da mußten alle Stimmen leiser gehn, auf den Gesichtern +lag das starke, aber milde Leuchten des Sonnenscheidens, -- hatte sie +ihr selber nicht einmal gesagt, wie durchsichtig die Gesichter ihr +schienen, bis ins Innerste der Gedanken; von ihrem eignen, Renates, +Antlitz hatte sie es gesagt und hinzugefügt, was sie Saint-Georges +einmal von ihm hatte sagen hören: Niemals kann es welken ... + +Da war sie schon wieder bei sich. Ein halbes Jahr jünger war die +Freundin als sie und schien älter fast um zehn Jahre. Sie aber stand im +Anfang ihres Herzens und -- Renate richtete sich auf und ging durch das +dunkle Zimmer hinaus. + +Im Treppenhaus blendete sie das grelle Licht, und als sie durch das +erleuchtete Verandazimmer gehen wollte, erschrak sie plötzlich vor einer +schönen und großen Gestalt, die auf sie zuschritt in einem großen, +dunkelgrünen Kleide, -- bei Gott, sie selber wars, vor der sie +erstaunte, die aus dem Empirespiegel auf sie zugeschritten kam. Sie +blieb stehn, lächelte verzweifelt zu der drüben hin und spottete sie an: +Ist es wohl nun zu begreifen, daß du hier herumgehst so groß wie ein +Pferd, und kein Mensch sieht dich? -- Achselzuckend trat sie an den +Tisch; dort standen Früchte in Schalen, Brombeeren und Himbeeren, auch +Bananen und mächtige Trauben von schwarzblauen Beeren. Von denen nahm +sie eine in jede Hand, drückte sie zu beiden Seiten unterm Kinn gegen +den Hals, trat so vor den Spiegel, aber das half alles nichts, im +Gegenteil dachte sie, daß ihre Augen genau wie die Weinbeeren aussähen, +und das ärgerte sie irgendwie, sie warf eine der Trauben wieder auf den +Teller, erschrak aber und sagte: Nun mußt du sie auch essen, warum hast +du sie angefaßt! -- Warum nicht? Gerne! -- So schlenderte sie auf die +Veranda, nachdem sie der Verschwendung des elektrischen Lichts Einhalt +geboten, sah ins Dunkel, aber es war niemand zu sehn. Sie trat an die +Brüstung, legte eine der Trauben darauf, lehnte sich gegen den eisernen +Pfeiler ins Rebgewind und fing an, Beere um Beere sachtsam ablösend, zu +essen, und nach einer Weile, als ihre Hand sich mit den Schalen füllte, +die folgenden in den Garten zu spucken. In diese Aufgaben vertieft, +angenehm durchtränkt von dem süßen Saft, als ob sie Beeren aus +Nachtkühle äße, hörte sie Schritte unten auf dem Sande, blickte auf und +sah Jason al Manachs Schattengestalt und weißes Gesicht unverkennbar um +die Hausecke kommen. In der Nähe der Stufen zur Veranda blieb er stehn +und sagte: »Guten Abend.« + +In der Meinung, er habe sie erblickt, wollte sie gerade antworten, als +sie unter sich Magdas Stimme: »Guten Abend, Jason!« sagen hörte, und +sich überneigend gewahrte sie richtig Magda, die auf der Bank dicht +unter der Veranda saß. Jason ging zu ihr und setzte sich neben sie. + +Eine Weile blieb alles still. -- Ich habe Lust, dachte Renate, hier +stehen zu bleiben und zu hören, was sie reden. Vielleicht reden sie von +mir. Vielleicht reden sie von Bogner. Sicher reden sie irgend etwas +Gutes. Es muß angenehm sein, hier in der Nachtkühle zu stehn und gute +Dinge zu hören, die im Dunkel beredet werden. + +»Nun, Jason, woran denkst du wohl?« hörte sie Magdas Stimme. + +»Woran möchtest du denn, daß ich denke?« kam es freundlich zurück. + +»Wie ich vorhin im Garten herumging, mußte ich viel an Ulrika denken. +Sie kommt mir so verwandelt vor. Was mag mit ihr sein?« + +Minutenlang herrschte Stille. »Ulrika Tregiorni,« hörte Renate Jasons +Stimme ganz langsam, »Ulrika Tregiorni hatte bis zum Heimkehrtage +Benvenuto Bogners, des Malers, niemals nachgesonnen über das Leben, +seine Gewalt und Verhängnisse, vermochte also nicht zu wissen, daß es +Menschen giebt, die eines Tages aus weiter Ferne herkommen, vielleicht +um in ein Haus zu treten und zu jemand zu sagen: Tue dies! und wieder +fortgehn, keiner weiß wohin, und unbekümmert um Verwirrung oder +Zerstörung, die sie angerichtet haben mögen und hinter sich dort +zurücklassen, wo Ordnung und gelassene Zufriedenheit das Gesetz aller +Tage gewesen war.« + +»Wie sonderbar du sprichst, Jason!« klang Magdas Stimme. »Als ob du eine +Geschichte anfangen wolltest.« + +»Sind wir nicht Alle Geschichten?« sagte er leise und sprach weiter: +»Dies wußte sie nicht. Ihre kühlen, beschränkten Mädchenaugen hatten nie +mehr als den Glanz gerader und gefälliger Oberflächen erfaßt; und sie +hatte es nicht anders gekannt, als daß alle Dinge, zwischen denen sie +aufgewachsen war, ihr dienten und ihr weiterdienen und mit ihr gehn und +sich nie verändern würden, so wie sie selber einfach und geraden Weges +aus einem Kinde ein Mädchen und Weib geworden war, das den natürlichen +Gang des Geschehens auch darin erblickte -- -- nun, Ulrika, du kannst +fortfahren, auch darin erblickte ...« Richtig, da stand ja Ulrika +Tregiorni, weiß gekleidet, im Dunkel vor den Beiden. »Spracht ihr von +mir?« fragte sie. »Worin soll ich was erblicken, Jason?« Damit wurde sie +für Renate unsichtbar; sie setzte sich wohl auf die Bank, zwischen die +Beiden, kam es Renate vor. + +»Ich sagte,« wurde Jason wieder hörbar, »es sei außerordentlich +natürlich für dich gewesen, eines Tages zu heiraten.« + +»Ach, Jason, ist heiraten natürlich oder unnatürlich vielleicht?« + +»Unnatürlich, Ulrika, ganz gewiß, denn man spricht von natürlichen +Kindern.« + +Renate, während die unten herzhaft lachten, biß sich auf die Lippen, um +nicht laut zu werden. + +»Ist Bogner in der Kapelle?« fragte Ulrika. Einer von den beiden Andern +mußte wohl genickt haben, denn sie sagte gleich darauf: »Er muß morgen +wieder in die Haide, ich weiß nur noch nicht, wie ichs anstelle, er +sieht ja schauerlich aus. Ich werde ihm alle Pinsel in Ölfarbe stecken.« + +»Du bist doch ein glücklicher Mensch, Ulrika«, sagte Jasons Stimme. + +»Hünde,« sagte Ulrika, »Hünde, hörte ich einmal ein kleines Mädchen +sagen, sind doch glückliche Menschen!« + +Es gab wieder ein kleines Gelächter. »Glücklich?« kam nach einer Weile +Ulrikas Stimme. »Ja, da fand ich Hölderlins Gedichte oben auf dem Tische +und darin die Worte, -- er sagt vom Menschen: »Daß er verstehe ...« Wie +heißt es genau, Jason?« + + »Alles lerne der Mensch, sagen die Himmlischen, + Daß er, kräftig genährt, danken für alles lern' + Und verstehe die Freiheit, + Aufzubrechen, wohin er will.« + +Wieder war es still unten. Ulrika sagte, ein wenig leiser als zuvor: +»Wie sonderbar du das betonst: daß er _verstehe_ die Freiheit! Ganz so +sagte mirs Bogner, als ich mit ihm darüber sprach. Und ich begreife noch +nicht recht, daß Freiheit etwas so Sichtliches --, wie soll ich sagen, +so einfach Vorhandenes sein soll, daß auf das Verstehen das meiste +ankommt. Aber es wird schon so sein.« + +Jason sagte: »Die Freiheit ist das Natürliche, mein Kind, das weißt du +doch auch, denn die Natur ist frei, auch du, wie du da geboren bist und +mit sämtlichen Gedanken. Wenn du dich einmal unterworfen haben wirst, +wirst du auch verstehen, was Freiheit ist.« + +Lange Zeit herrschte Schweigen; Renate hörte den Nachtwind in den Bäumen +oben, dann tiefer unten. Es rauschte, bald hier, bald dort; es kam +kühler aus der Tiefe. Eine leise Frauenstimme sagte dort gedankenvoll: +»Ja, so meinte er es wohl«, ohne daß Renate erraten konnte, ob die +Stimme den Dichter meinte oder Bogner. Jetzt war alles still, ein +kleines Gelächter Ulrikas ward hörbar, und sie sagte: + +»Eben fällt mir etwas so Nettes von ihm ein.« (>Ihm< sagt sie, dachte +Renate betrübt, als ob es nur den Einen gäbe.) »Als wir neulich in ein +Dorf marschierten und der Maler gerade mit seinem ungeheuren Baß eine +schauerliche Musik machte, kam uns ein winziges kleines Mädchen +entgegen, blieb bei unserm Anblick, andachtsvoll den Finger im Munde, +stehn, rannte plötzlich aus Leibeskräften auf den Maler zu, der es +anguckte, und hatte ihn schon bei der Hand erwischt, was er aber, immer +herrlich singend, gar nicht recht zu merken schien; er schleppte es so +am Zeigefinger mit sich, es trabte eifrig, da stolpert' es, fiel hin und +erhob ein so jämmerliches Geschrei, daß er es schleunig auf die Arme +nahm. Was nun kommen sollte, wußte er augenscheinlich nicht, aber das +Gesicht des Kindes -- es war kränklich und schmutzig mit übergroßen +braunen Augen -- blieb mitten im Weinen stehn, und als er sich nun mit +einem beruhigenden Gemurr darüber beugte, wurde es ganz still und sah +ihn an. -- Ich weiß nicht, was er da gesehen haben mag, aber später +zeichnete er das Gesicht des Kindes in sein Buch aus dem Gedächtnis, und +es war sonderbar, während er zeichnete, hatte sein Gesicht denselben +Ausdruck wie vorher, als er das Kind anblickte, so daß es ruhig wurde +und ihn ernsthaft ansah. Es läßt sich nicht sagen ... Er lächelte ein +wenig, und von Güte, von Beruhigung, von Väterlichkeit, von Verständnis, +von all dem war etwas darin.« + +Einen Augenblick, nachdem sie geendet hatte, setzte die Musik in der +Kapelle wieder ein mit einem schwunghaften Angriff aller Instrumente, +deren jedes deutlich zu unterscheiden war, Klavier, die Geigen zusammen +und die knarrende Stimme des Cellos. Renate hörte zwar wieder Sprechen +nach einer Weile, doch war nichts zu verstehn. Sie wollte schon hinunter +gehn, aber die Musik brach plötzlich ab, und Ulrikas Stimme wurde +hörbar. -- + +»Nein, nie! Davon spricht er scheinbar höchst ungern, und ich habe ihn +beinah im Verdacht, daß er mit seinem Schweigen bloß seine Dummheit +bemänteln will, aber ...« Sie lachte und fuhr fort: »Ich versuche es ja +immer wieder, auf den verzwicktesten Umwegen ihn dazu zu bringen, aber +kaum daß ich ihn habe, wo ich will, beweist er mir einen gräßlichen +Irrtum und sagt: Da denken Sie nun mal schön darüber nach!« + +Renate riet noch, um welch geheimnisvolle Sache es sich wohl handeln +möge, als derselbe Angriff der Musik wieder aufbrach, so daß sie nichts +mehr verstand. Nun wartete sie nicht ohne Ungeduld auf das Ende des +Satzes; er war nicht lang, wie sie wußte. + +Endlich war es still, aber auch im Garten herrschte Schweigen. Ein wenig +übergebeugt, sah Renate alle Drei unten sitzen, Ulrika in der Mitte, die +Hände um das übergeschlagene rechte Knie gefaltet. Gleich darauf sagte +sie: + +»Aber wie ich schon sagte: Nachdem ich ihm die schwierigsten Sachen +vorgeführt, Technisches und Handwerkliches, den Orgelpunkt und auch +Kontrapunktisches, soviel ich davon weiß, meinte er, es bestehe nicht +der geringste Zusammenhang.« Womit denn nun? dachte Renate verzweifelt, +ich muß doch hinuntergehn, -- während Ulrika weitersprach: »Alle Künste, +sagte er am Ende, sind so völlig voneinander getrennte Gebiete wie die +fünf Sinne, wenn sie auch alle an derselben Stelle verankert sind. Und +seht ihr, so macht er's nun! Mir fiel nämlich ein, daß es ja auch fünf +Künste giebt, wie fünf Sinne, und ganz geschwind setzte ich ihm +auseinander, wie das sich auch entspräche, denn Gehör und Gesicht haben +ihre Kunst, auch der Geschmack, sicherlich, denn die Kochkunst und ihr +Genuß, wenn ihr's euch richtig vorstellt, ist eine wahrhafte Kunst, wie +das Dichten und Gedichtegenießen; für das Gefühl steht die Dichtkunst, +innerlich und äußerlich, denn unsre Sprache ist doch die Vermittlerin +unseres Fühlens; nur der Geruch habe keine Kunst entwickelt, sagte ich, +und das entspricht nun genau der Architektur, die auch keine Kunst an +sich ist, sondern im Zweck wurzelt, versteht ihr, wie ich es meine? Der +Geruch ist uns ganz Mittel geblieben, während die andern Sinne sich doch +über ihre Zweckmäßigkeit zu reinem Empfinden, zum Genuß des Schauens und +Hörens entwickelt -- ist es nicht so?« + +»Was für ein kluges Mädchen du doch bist, Ulrika!« sagte Jason. + +»Das hat er auch gesagt,« versetzte sie gleichmütig, »und dann meinte +er, es wäre alles Unsinn, und nun sollte ich mal drüber nachdenken, -- +ich sagte ja, so macht er's.« + +»Hast du schon?« fragte Jason. + +»Was?« + +»Nachgedacht?« + +»Noch nicht, aber vielleicht hilfst du mir!« + +»Gerne,« sagte Jason, »aber nun fängt die Musik wieder an, und Renate +versteht kein Wort mehr.« + +»Renate?« fragte nach einer Weile Ulrika verdutzt. -- + +Renate lehnte sich über die Brüstung. + +»Jason, du schmählicher Verräter!« sagte sie leise. + +Die beiden Frauen wandten die Gesichter herauf, auch Jason langsam. +»Hast du uns wahrhaftig belauscht?« rief Ulrika. + +»Wahrhaftig. Es war so schön, hier oben zu stehn und euch sprechen zu +hören. Der Wind rauschte, aber die Musik war vorhin wirklich zu laut. +Nun sind sie ja am Adagio, und Jason kann ruhig weitersprechen. Auf +eurer Bank ist ja sowieso kein Platz mehr. Los, Jason, was wolltest du +sagen?« + +Ulrika flüsterte Magda etwas zu, dann flüsterte Magda, dann waren sie +still, und Jason fing an. + +»Was denkst du eigentlich vom Tanzen, Ulrika?« fragte er, »ist das keine +Kunst?« + +Ulrika schien betroffen. »Wenn man will ...« sagte sie endlich zögernd. + +»Nun, wolle nur!« redete Jason ihr zu, »und denke auch gleich einmal an +die Mathematik. Nicht an die angewandte, die du so kennst, sondern die +reine. Und Reiten, wie steht es damit? Ist es keine Kunst, mit einem +Tier so zu verwachsen, daß es keinen Willen mehr hat als dessen, der es +lenkt? Und bedenke, was nötig war! Es muß doch Jahrhunderte gedauert +haben, bis das Pferd so weit gebracht war, und gleichzeitig wurde +obendrein das ganze Pferd umgewandelt und aus einem kleinen, bösen Vieh +ein großes, seelengutes Tier. Für Gefühl hast du die Dichtkunst einfach +eingesetzt, aber mir scheint, die Tanzkunst entspricht dem noch viel +einfacher, da sie die empfangenden Nerven an die bewegenden anschließt, +innere Wollust in erleichtertes Bewegen auflöst und wieder auf die Sinne +zurückwirkt, betäubt und befreit, -- und was meinst du, wäre ein +tieferer Zauber aller Künste als eben der, zu betäuben und zu befreien, +im Wechsel auf und nieder?« + +»Mit dem Reiten«, sagte Renate von oben, »scheinst du mir zu +übertreiben, aber das tat nach meinem Gefühl auch Ulrika, ich konnte es +bloß nicht sagen vorhin, mit ihrer Kochkunst. Nur mit der Mathematik +magst du recht haben, ich weiß nur nicht ganz, wie.« + +»Ich will es erklären«, sagte Jason. + +Ringsum war alles still. Jason sagte: »Was, meint ihr, ist denn nun +Kunst? Ja, nun müßt ihr meine Worte recht verstehn, denn nun will ich +vom Allerfeinsten reden, vom Gefühl, vom Empfinden, und das ist, als ob +ich Seifenblasen mit Handschuhen anfassen wollte. Aber doch scheint mir +>Heilen< das beste Wort. Kunst ist Heilkunst. In Heilkunst liegt +Heilkunde zuerst, nicht wahr? Und Mathematik ist Zahlenkunde, da habt +ihr schon einen kleinen Zusammenhang. Und nun denkt euch einmal ein +Kunstwerk, eine Dichtung oder eine marmorne Figur, wie sie dasteht, wie +sie einfach ist, wie sie klar ist, so leicht zu begreifen, so +unweigerlich, so sichtlich und mit den zehntausend unsichtbaren +Verknüpfungen in ganz unbekannten Schächten eurer Seelen verankert, euer +Dunkel erhellend im Augenblick und tiefer vertiefend, -- und nehmt +dagegen eure Welt, alle Verworrenheit, alle Irrtümer, alle Unkunde, +alles ewig Schmerzliche, den Tod und die Wege der Liebe, Trübsinn und +Weisheit, Erraten und Verfehlen, Schwinden und Funkeln, Erstehn und +Verfallen, die ungeheure Gesetzlosigkeit, die unzählbaren Ahnungen, -- +und wieder blickt nun zurück! Da stehen mitten in dieser traurigen, +zerrissenen, unbekannten Welt zwei Dinge: die Zahl -- und das Werk. +Beide innig verbunden durch eins: Harmonie. Gott machte die Sterne, wir +aber machen schöne Werke immerhin, die uns erfreuen, die, wie sie auch +sein mögen, heiter und tragisch, bitter und schwer und voll Elend +geschilderten Jammers, doch den tiefen Glanz der Ordnung haben, des +Selbstgewollten, des Geregelten, der Harmonie. Den Schein immerhin von +etwas Absolutem, das tiefe Feuer der Notwendigkeit, denn mußte nicht +Kunst kommen? Mußte sie nicht, wie eines Tages die Zahl entdeckt wurde, +daß sie sei und gelte allgegenwärtig? Heilkunde trägt die Kunst; unsre +immerwunde, betrübte, seelenkranke Herzenswelt heilen wir mit dem +schönen Werk, ja den Tod heilen wir und heben ihn auf mit dem +unvergänglichen, dem unsterblichen, dem ewigen Werk. Und Heilkunde, +Heilkunst ist auch die Mathematik, weil sie nach dem Reinen strebt, weil +sie Gesetze erkennt, und so ein jedes Betreiben, ein jedes irdische +Geschäft, das über irgendeinen alltäglichen Zweck hinausgeht gegen das +Ewige; das mehr will als Menschliches, mehr als sich selbst, das +Unabhängigkeit will, eignes Wirken, Freiwilligkeit, Freude, denn am Ende +ist dies doch wohl das gute, einfache Wort.« + +Jason schwieg, still blieb es im Garten, in der Nacht, bis mit so +erschreckender Plötzlichkeit aus der Tiefe der Büsche die Stimme des +Cellos, tief und inbrünstig, einen stürmischen Seufzer aushauchte, daß +alles umher zusammenzuschaudern schien. Renate fühlte im Augenblick die +Erinnerung an die Stunde vor dieser, oben in ihrem Zimmer, in sich +heraufschießen mit einem so unermeßlichen Schmerz um Bogner, daß sie +glaubte, es nicht ertragen zu können. Aber der Schmerz ebbte langsam und +schwand später. Renate fühlte ihr Haar wehn auf der Stirn, kühle +Atemzüge strichen über ihre Wange, ihre Stirn, den Hals, es rauschte +allenthalben in der Nacht, es bewegte sich, Ulrika stand groß und weiß +unten, die Hände im Nacken gefaltet, das Antlitz emporgerichtet. Die +andern Instrumente hatten den Seufzer längst mit Beruhigung und +Verschleierung in ihre sanftere Gemeinschaft zurückgezogen, gleich +darauf verstummten sie nacheinander, der Garten lag schweigend. + +Hinter Renate im Saal flammte das Licht auf, nach Augenblicken wurde +Esther sichtbar, hinter ihr Georg, aber sie sahen Beide Renate nicht. +Esther lief die Stufen hinunter, Georg folgte langsamer quer über den +Rasen. So verließ Renate ihren Platz, schritt die Stufen abwärts, fand +unten aber nur noch Magda, die ihr entgegensah. Jason war verschwunden. +Ulrikas Gestalt entfernte sich zwischen dem Buschwerk nach der Kapelle +hin. Renate, in unbestimmte Gefühle verloren, hörte Magda fragen, ob +Obst im Zimmer stünde, nickte nur freundlich und ging weiter. + +In der Kapelle herrschte Vergnügtheit. Esther stand da, drehte sich, als +sie Renate hörte, zu ihr, rief »Fertig!« und schwenkte einen herrlich +glitzernden Kissenbezug. Ganz rechts in der Ecke hockte der Maler vor +seinem Wandstück und rauchte. Über den Pulten und am Klavier, wo Benno +glücklich saß, brannten rötlich die vielen Kerzen, Ulrika und Irene +haschten nach Esthers Kissen. Ja, und der Prinz und Saint-Georges und +Sigurd waren ja auch da. Gleich darauf erschien Magda mit den beiden +Schalen voll Obst, und alles stürzte sich auf sie. Renate sah Ulrika +eine Handvoll roter Himbeeren greifen und damit hinter den Maler +schleichen. Über seinem Kopf hob sie die Hand empor und ließ die Beeren +fallen; eine blieb in seinem Haar hängen, er faßte, völlig +geistesabwesend das Gesicht herumdrehend, mit einer Hand danach und +zerquetschte sie grausam. Was er zwischen den Fingern behielt, +betrachtete er nachdenklich, bis Ulrika kam und ihm unter vielen +Entschuldigungen mit ihrem Taschentuch die Finger putzte. + +Erst als Esthers Kissen ihr an den Kopf flog, endete Renates Verwirrung. + + + Viertes Kapitel: August + + + Hora + +Georg dachte: Sommer, o Sommer! Wie das alles hängt! Die heiße Luft in +den grünen Wipfeln, in diesen schwer schlagenden Massen, und herein +hängen die Wolken, weiße Ungeheuer, und das Blau hängt herein in all die +glühende Enge. Wie glüht der graue Stein am Haus! Oben, die kleinen +Barockfiguren auf dem Dach sehn aus, als wollten sie schmelzen in der +blauen Glut, und sie schmachten nach dem eiskalten Schnee der Wolken, +die über ihnen hinsegeln, -- arme, kleine Tantalusse! O Sommer, o +Sommer, o -- -- Sommer -- -- Som-- -- + +Georgs Verstand blieb hier stehn. Durch seinen Traum gingen leichte +Schritte, Schritte im Gras, Schritte aus Sonnenschein, aus Baumschatten, +und etwas sah ihn an, Wesenloses, dann war's weg, und in Meilenferne +brüllten langgezogen die Helenenruher Kühe. Dann sprengte ein Schimmel +über den Deich herauf, wiehernd und stampfend, Georg bestieg ihn und +flog mit ihm davon, wunderbar leicht, nicht mehr als ein paar Fuß hoch +über der Erde, und es wiegte wie ein Karussellpferd, es ging den Deich +hinunter und über das Wasser, in dem eine kleine Insel schwamm, auf der +sein Vater, Onkel Salomon und Professor Prager Skat spielten in +Hemdärmeln, und Georg sah seinem Vater über die Schulter; der aber hatte +keine Karten in der Hand, sondern lauter Photographien von Georgs +Korpsbrüdern, sagte aber ganz richtig Solo an und spielte aus. Es war +aber gar nicht Georgs Vater, sondern der Wachtmeister aus Wallensteins +Lager, und sang in einem fort: Und ist die Nase noch so groß, das macht +nichts für das Kinn! Esther aber saß derweil still zu seinen Füßen, war +zehn Jahre alt und stickte ungeheure kupferrote und lavendelblaue Blumen +auf einen eisengrauen Vorhang, vor dem sie saß, und -- + +Wo bin ich denn? dachte Georg, sich aufrichtend. Bin ich denn nicht in +Helenenruh? Nein, da steht ja das Montfortsche Haus in der Sonne, heiß +und grau, und hier ... + +Im Grase sitzend, sah er neben seiner linken Seite das Postament der +Sonnenuhr. Auf den Stufen zur Veranda vor ihm hüpften die Spatzen. +Drinnen war es dunkel und schattig; die weiß und grün gestreiften +Leinenvorhänge bauschten sich leicht gegen die Pfeiler und +Glyzinienreben. Georg besann sich, daß er aus der Universität +fortgelaufen und hergefahren war, nachdem er Esther nicht im Schlößchen +gefunden hatte, aber hier ... Er rutschte etwas vorwärts und beugte sich +vor, um an der Sonnenuhr vorüber zu sehn, und richtig, da saß, als hätte +sie immer da gesessen, die Chinesin im Schatten des weiß und grün +gestreiften großen Leinenschirms und arbeitete an etwas Winzigem in +ihrem Schoß. + +Ach, wie kühl sah sie aus! Weißgelblich war ihr Kleid und ihr Gesicht +wie Marmor in dem grünlichen Licht. Aber als er kam, hatte doch nur ihr +Stuhl dagestanden und Nähsachen auf dem Sockel der Uhr? -- Esther sah +auf, schien ihn aber nicht zu sehn, griff über sich auf die Platte der +Uhr, nahm ein dickes Buch herunter, schlug's auf und blickte längere +Zeit hinein. Dann legte sie's vor ihre Füße ins Gras, und flugs machte +sich ein kleiner Sommerwind damit zu schaffen wie ein Meerschweinchen, +drehte sich darin herum und schlug die Blätter hin und her, als ob was +darunter zu finden wäre. Georg aber fand auf einmal Esthers dunkle Augen +auf sich gerichtet, und sie lächelte paradiesisch. + +»Habe ich geschlafen?« sagte Georg. »Wo waren Sie denn? Warum sind Sie +nicht in unserm Park?« + +Esther sagte, sie hätte Brehms Tierleben gebraucht, und Renate hatte ihr +gesagt, daß es in der Bibliothek ihres Onkels sei. -- Georg rutschte +noch etwas weiter nach vorn. + +»Eben träumte mir,« sagte er, »ich wäre in Helenenruh und ritte auf dem +alten Trompeterschimmel von Magdas Vater, immer einen halben Meter über +der Erde, o, es war wunderbar, und Sie saßen -- wo saßen Sie doch? Ich +weiß nicht mehr, aber sie stickten feurige Lilien ins Montfortsche Haus. +-- _Vulnerant omnia_ --« las er vom Sockel der Uhr ab. + +»Was murmeln Sie da?« fragte Esther. + +Georg legte sich lang auf den Rücken und gähnte: »_Vulnerant omnia, +ultima necat_ sagte ich. Was auf der Sonnenuhr steht.« + +Esther antwortete nicht. Es zwitscherte überall, es rauschte leise. Oben +schoben sich die Wolken, lautlos, riesig, unaufhörlich. + +»Helenenruh,« sagte Georg, »da müssen wir einmal hinreisen.« + +»Ist es so schön?« + +»Helenenruh ist der ewige Sommer. Immer ist Sommer in Helenenruh und +Ferien. Weiß der liebe Himmel, wann die Menschen da arbeiten. Es wird +nur auf Schimmeln geritten. Gott, was rede ich für'n Unsinn.« Ihm fiel +Unkas ein, der See und Jason al Manach, -- welch ein Tag, welch ein +sonderbarer Tag! -- Ach, heute war ihm wohl, endlich, endlich einmal +wohl ... + +»Helenenruh -- -- wissen Sie, wie das ist?« sagte Georg. »Das ist bloß +Wiese. Wiese nach allen Himmelsrichtungen, und da liegt man und brennt +in der Sonne. Mit vier Jahren habe ich da gebrannt, mit fünfen, mit +sieben, und immer so weiter. Die Grillen zirpen, weit weg brüllt eine +Kuh, und manchmal kann man das Meer hören. Blau ist die Luft, man kann +sie aus Tassen trinken. Oh, Helenenruh ist schön, Helenenruh ist ein +Inbegriff.« + +Esther sagte nichts. Georg richtete sich wieder auf, rote Flecken +schwammen vor seinen Augen, die tränten. »_Vulnerant omnia_ --« las er +wieder. »Wissen Sie was von Jason?« + +»Ja, was ist das eigentlich für ein Mensch?« fragte Esther, ohne von +ihrer Arbeit aufzusehn. Sie hatte einen kleinen Pappdeckel im Schoß und +stocherte mit einer Nadel drin herum. + +»Was machen Sie denn da eigentlich?« fragte er. »Sind das Perlen?« + +»Richtig,« sagte sie, »und er geht eigentlich immer nur herum und sagt +gar nichts. Und -- wissen Sie -- einmal, nein, schon mehrmals, wenn ich +so seine stillen Augen ansah, kam mir's vor, als ob er wirklich alles +wüßte, auch von mir, wenn er mich ansieht, und sogar, was einmal aus mir +werden wird, aus mir und uns Allen.« + +»Das ist ja unheimlich,« sagte Georg, »nun, wenn ich einmal nicht weiter +weiß, werde ich ihn fragen.« Er stützte sich auf die Hände und sprang +auf. »Jetzt will ich aber sehn, was Sie machen. Schmetterlinge?« fragte +er, eine Abbildung in dem offnen Buch erblickend. + +Sie hielt ihm hin, was sie in der Hand hatte, einen fingerbreiten Streif +aus lichtgrünen Perlen, aus dessen einer Breitseite ein halber +Falterflügel herauswuchs, dunkelrot von Perlen mit hellgelbem Auge. -- +Esther erklärte: + +»Dies wird ein schmaler Streifen, lichtgrüner Grund und lauter ganz +bunte Schmetterlinge, so schräg hin und her nebeneinander, als ob sie +flögen. Die Farben kann ich wohl selbst erfinden, aber die Formen nehm +ich aus dem Buche.« + +»Und wenn's fertig ist?« + +»Kommt's um eine Lampe mit einer flachen grünen Kuppel.« + +»Wie die auf meinem Schreibtisch?« + +Esther lachte. »Sagen Sie mir nun, wie die Inschrift auf deutsch heißt!« + +Georg stierte gegen die Inschrift. Er reckte sich, stöhnte, knickte +zusammen und fühlte sich wunderbar sommerschlaff. + +»Alle verwunden, heißt es, die letzte tötet. Es sind die Stunden +gemeint.« Ja, -- _ultima necat_. Sollte das wahr sein? Gott sei gelobt, +für die erste Hälfte stimmte es im Augenblick nicht. Danach kroch er vor +Esthers Füße und legte sich zufrieden nieder. Durch halbgeschlossene +Augen sah er den Saum ihres Kleides und die Spitzen leise in Wellen +gehn, sah die weiße Haut durch den dünnen Strumpf schimmern und die +kleinen Eindrücke um die Spitze des bronzenen Schuhs. Dies nicht zu +küssen, ist schwer, dachte Georg. + +Indem bemerkte er das kostbare gelbe Haupt einer Nelke an Esthers +Kleidausschnitt und fragte eifersüchtig: »Esther, woher kommt die +Blume?« + +»Von Sigurd«, sagte sie gleichmütig. + +»Das«, schrie Georg, »ist zum Tollwerden! Er hat mir vor drei Tagen, als +ich mit Blumen zu Renate kam, den längsten sozial-ethischen Vortrag +gehalten, was für ästhetische Albernheiten das wären!« + +Esther zuckte die Achseln »Gott, Georg, Sie kennen doch Sigurd.« + +»Jawohl kenne ich ihn!« tobte Georg, »und wenn ich ihn jetzt darauf +festnagelte, so würde er entweder schlank leugnen, oder er würde lächeln +wie ein Waisenknabe und sagen: Ja, da habe ich wohl gelogen ...« + +Esther nickte strahlend. »Ich liebe ihn,« sagte sie, »er ist +entzückend.« + +»Merkwürdig ist er jedenfalls. In allen geistigen Dingen zuverlässig wie +-- Ajax, aber im Persönlichen wie eine berauschte Wetterfahne.« + +»Er ist doch so reich, Georg!« verteidigte Esther, »können Sie das nicht +verstehn? Sehen Sie doch: er war immer Zionist; jetzt kam einer und +zeigte ihm, wie kostbar, wie einzig gerade die nicht nationale, die +kosmopolitische Seite des Judentums wäre, und --« + +»Wetterwendisch und vaterländisch, wie er ist --« + +»Und feurig, wie er ist, sah er nur das Große, Seltene, Tiefe drin und +entbrannte dafür.« + +Es ist ja schrecklich, dachte Georg, wie sie ihn liebt! -- Er schwieg +gekränkt. + +»Und weiter, Georg. Kommen Sie ihm heute mit Psychoanalyse, so glaubt er +sich dafür geboren, und morgen mit Chirurgie, so will er Chirurg werden. +Haben Sie gesehn, wie er zeichnen kann? Bogner war sogar erstaunt, und +--« + +»Nun will er Maler werden?« + +»Glauben Sie nicht, daß er's sein könnte? Und wie spielt er Cello! -- +Ach, Georg,« sagte sie plötzlich mit einer Wehmut, »glauben Sie, es ist +schwer, so zu sein. Da hat er Stunden, daß man meint, die Sonne säße ihm +in der Brust, und er könnte, und er möchte die ganze Welt hell machen. +Ja, und dann liest er vielleicht über -- über _dementia_, und denkt an +seine Mutter und sagt, er wird wahnsinnig. Georg, man kann nicht lachen +dabei, denn Sie kennen seine Bestimmtheit, und man sieht, wie er's in +sich frißt.« + +»Aber Esther, Estherchen!« Georg benutzte die Möglichkeit, ihr die Hand +auf den Kopf zu legen, »es hält doch nichts vor bei ihm, es ist ja -- +alles nur Jugend, nicht wahr?« + +»Aber kann so einer je alt werden? Stellen Sie sich vor!« + +Georg tröstete mit Bestimmtheit, Sigurd würde sich ändern und ein Greis +werden. Sie seufzte und wandte sich wieder zu ihren Perlen. Georg +lagerte sich geschmackvoll zu ihren Füßen, tröstete sich selber mit dem +Anblick seiner schön abgestimmten Kleidung, nämlich zur Flanellhose +pfirsichgrüne Socken, gleichfarbiges Hemde und etwas dunkler getönter +Schlips, ließ dessen kühle Seide durch die Finger gleiten und dachte +nach, worüber er ablenkend reden könne. + +»Wissen Sie, Esther,« fing er träge zu sprechen an, »es ist ärgerlich +mit den Träumen. Vor ein paar Monaten, da hat Renates Vetter Josef -- +Sie kennen ihn nicht? -- mir so erstaunliche Dinge vom Träumen erzählt, +daß ich alle Bücher darüber gewälzt habe. Sie haben sie wohl gelesen?« +Esther nickte und sagte: »Freud.« -- »Natürlich! Und nun -- sehen Sie, +was kommt heraus, nicht wahr? Gar nichts am Ende -- abgesehen von dem +Wert fürs Heilverfahren, der ja unschätzbar sein mag --, gar nichts, als +daß der Zustand des Träumens ein fortgesetztes Wachen ist, bloß daß +unsere logischen Verknüpfungen fehlen. Manchmal, so nach Tische, wenn +ich nicht geschlafen, sondern nur so gedämmert habe, nicht wahr, -- +konnte ich genau beobachten, wie meine Vorstellungen allmählich in +Bilder übergingen, traumhaft leibhaftig wurden, nicht wahr, wie die +Zeitrechnung verschwand und -- auf einmal alles ein Wirrwarr war und +solche Albernheit, wie ich da eben geträumt habe, -- nun weiß ichs nicht +mehr ...« + +»Ein Schimmel«, half Esther. + +»Ja, gleichviel, und mein Vater war Wachtmeister und spielte Karten. Und +das, sehen Sie, ist, was mich ärgert. Diese -- Unfruchtbarkeit. Anstatt +daß gerade unsere Verworrenheit, die im wachen Leben doch groß genug +ist, -- anstatt daß die sich auflöste, Klarheit, Ordnung, Erfahrung -- +nicht wahr -- entstünde, -- anstatt dessen die völlige Sinnlosigkeit, +hinterdrein Vergessen, und das Ganze ist abgelaufen wie Wasser vom +Stein. Es kann mich ganz unwirsch machen, wenn ich denke, was da +vergeudet wird!« + +»Aber nun giebts doch die Traumdeutung, Georg.« + +»Ach, das ist ja viel zu umständlich! Und was kommt auch mehr dabei +heraus, als was ich aus meinem wachen Zustand ebenso gut, vielleicht +besser erfahren könnte, wenn ich mich nur gehörig beobachten würde. Eben +das ist's! Alles denken und Alles fühlen, unaufhörlich, nicht wahr, an +diesen zehntausend Fäden unsers verworrenen Daseins hängen, -- und dann +noch beobachten, raten und knacken -- das ist zuviel. Und wie wäre es da +nicht einfach und schön und heilsam, wenn der Schlaf, der die Glieder +und Sinne so liebevoll löst --« Georg war träumerisch stolz, so gut +sprechen zu können -- »wenn er auch die Seele und das Schicksal nur ein +wenig befreite, und wir kämen klarer hervor, als wir hineingingen.« + +»Jason,« sagte er nach einer Weile, da Esther schwieg, gedankenvoll, +»Jason kann es vielleicht. Irgendeine Medizin muß er haben. Jason«, +schloß er bescheiden, »ist ein guter Mensch. So sollten wir Alle sein.« + +»Haben Sie,« fragte Esther nach einer Weile, »haben Sie eigentlich auch +dies merkwürdige Gefühl, wenn er fortgegangen ist, -- als ob er +überhaupt verschwunden wäre?« + +»Gar nicht mehr vorhanden?« fragte Georg. »Freilich, wenn ich mir ihn +jetzt vorstellen soll, bringe ich es nur fertig, indem ich ihn mir +irgendwo bei andern Leuten denke. Können Sie sich denken, daß er +irgendwo allein ist, zu Hause bei sich, allein in einem Zimmer, lesend? +oder schreibend? Oder wie er sich wäscht? Oder wie er im Bett liegt und +schläft? Ich glaube, Esther,« sagte er, sich überbeugend, ganz leise +neben ihrem Ohr, »er ist ein Geist. Er braucht nicht zu essen und zu +schlafen und sich zu waschen, er ist immer so, wie er uns erscheint, und +nur in unsrer Gegenwart ist er wirklich. Sonst unsichtbar, ein Geist, +nimmt er Gestalt an, wenn er zu uns tritt, es ist schauerlich, finden +Sie nicht?« + +Esther hatte zuhörend ihr Gesicht langsam zu ihm nach oben gedreht. Sie +sahen sich in die Augen, und Georg dachte angstvoll: Erwartet sie jetzt, +daß ich sie küsse? Oder macht das unsre Haltung bloß zufällig? Nein, sie +erwartete es scheinbar nicht, denn sie sagte ganz nachdenklich: + +»Es giebt soviel Seltsames. Da Sie von Träumen sprachen ... Hören Sie +einmal zu.« + +Georg setzte sich wieder vor ihre Füße, nahm eine Zigarette hervor und +rauchte. Esther begann, ein wenig stockend und unbehülflich: + +»Es hat aber eine Vorgeschichte. Ich kannte längere Zeit einen jungen +Menschen, der war lungenkrank. Er liebte mich sehr. Um Weihnachten zogen +seine Eltern von hier fort. Er schrieb mir öfters, ich hab ihm aber nie +geantwortet, er verlangte das auch nicht. Lange Zeit kam kein Brief, und +ich dachte niemals an ihn. Nun, -- in der Nacht von Oster-- +Gründonnerstag nennen Sie's, nicht wahr? -- auf Karfreitag -- übrigens +war er Christ -- träumte ich, -- ja, wie soll ich das beschreiben? -- Es +war ein Kreuz, und daran ein Gesicht mit sterbenden Augen. Ich wußte, es +war ein Sterbender, er schien mir auch bekannt, als ich aufwachte, aber +ich konnte mich nicht besinnen. Ich war aber ganz verstört von dem +Traum, Sigurd merkte es mir noch an, als ich zum Frühstück kam, und ich +erzählte ihm, was mir geträumt hatte. Dann erfuhr ich eine Woche später +durch Bekannte, der junge Mensch, der lungenkranke, sei gestorben, und +da wußt ich im Augenblick, daß ich ihn im Traum gesehen hatte. Nun +schrieb ich an seine Schwester, die ich kannte, sie möchte mir sagen, +wann er gestorben sei, und sie schrieb --, aber ich muß erst sagen, daß +sie etwas sonderlich war, altjüngferlich und pathetisch -- und so war +auch ihr Brief, nur drei Zeilen, ohne Anrede: Er starb in der Nacht von +Gründonnerstag auf Karfreitag um ein Uhr morgens mit Ihrem Namen auf den +Lippen.« + +Esther schwieg. »Wie sonderbar!« sagte Georg nach einer Weile halblaut. +Er dachte noch nach, als er auf einmal Bogner bei der Sonnenuhr stehn +sah, in seinem Malkittel, mit wüstem Haar, rotem Gesicht und +verschwimmenden Augen. So starrte er auf das Zifferblatt der Uhr. + +»Grüß Gott, Maler!« rief Georg, »wollen Sie wissen, was die Uhr ist?« + +Bogner sah ihn zerstreut und unwirsch an. »Ich wollte was,« -- sagte er, +»aber nun hab ichs -- vergessen. Ich wollte ins Haus und -- -- ah +Streichhölzer!« sagte er erleichtert. -- »Ich hatte mir eine Pfeife --« +Er sah verwundert seine leeren Hände an, suchte in allen Taschen. »Nun +habe ich die Pfeife liegen lassen!« schrie er grimmig, machte kehrt und +lief davon. Georg rief ihm nach, er sollte doch warten und sein +Feuerzeug mitnehmen, aber er hörte nicht. + +Georg wartete noch eine Weile, ehe er zu sprechen anfing, aber der Maler +kam nicht wieder. »Nun hat er das Rauchen vergessen,« sagte Georg, »der +arme Kerl! Warten Sie einen Augenblick!« stand auf und ging in die +Kapelle. Ja, da saß er und hatte eine kalte Pfeife im Mund, malte aber +tüchtig an etwas Schwefelgelbem. Georg entzündete ein Streichholz und +hielt es auf den Tabak. Der Maler merkte, daß es brannte, sog kräftig, +sah verworren auf und murmelte: »Danke! danke!« Georg gab ihm den Rat, +zu heiraten, aber er hörte nicht darauf, und Georg ging zu Esther +zurück. + +Die Arme auf der Sonnenuhr, den Zeiger in Händen, sagte er: + +»Wissen Sie auch, Esther, was an Ihrem Traum das Seltsamste ist? Viel +seltsamer als der Traum selbst?« Sie hielt inne mit Arbeiten und sah ins +Gras zu ihren Füßen. Er sagte: »Da war doch ein Sterbender, Esther, +nicht wahr, einer, der Sie liebte, ein immer Kranker, der seine ganze, +trostlose Liebe zu Ihnen in einen ungeheuren Augenblick zusammenpreßte +und angesichts des Todes die Geliebte _dachte_! dachte, und es gelang, +nicht wahr, und einen Augenblick _zwischen_ Tod und Leben schwebte seine +glühende Seele, einen Augenblick lang vollbrachte sie dies Riesenhafte, +daß sie sich über die Natur erhob und eindrang in ein fremdes Dasein. +Freilich war es wehrlos in dem Augenblick, es schlief, und vielleicht +gelang es ihr nur deshalb, daß sie eindrang und Traum ward in Ihnen. Sie +aber, Esther, Sie, der diese gewaltige Anstrengung galt, diese +furchtbare Liebe zuströmte, -- Sie hatten davon nichts als den leisesten +Schauder. Furchtbar, wissen Sie, furchtbar finde ich diese Einrichtung. +Liebe gilt nichts, so gewaltig sie sich ereifert; gilt nichts, gilt +nichts, denn Sie schliefen, und ein dünnes Traumbild wurde aus der +Verzweiflung. Ja, so können wir uns bemühn mit heißester Glut, wir +können Blut und Tränen vergießen, alle Ängste um etwas leiden, unser +ganzes Dasein zum Opfer bringen: all das, alle Anspannung, alles Säen +nützt nichts, wenn keine Erwiderung da ist, keine Willigkeit im Boden. +Liebe allein gilt nicht, nur Doppelliebe. Und -- ja, was gilt nun hier +der Traum, den Sie davon hatten!« + +Georg nahm sein Taschentuch heraus und trocknete sich die Stirn. Es +regnete Glut über ihn, und er sah betroffen, als wär es das erstemal, +daß der schräge Weiser vor ihm einen Schattenstreifen über das +abgeschliffne Erz zog. Esther saß still da, bewegte einmal die Lippen, +zog die untre ein wenig in den Mund, sagte aber nichts. + +Es war Mittag, der Vogellärm schwieg. Vor Georgs Augen lag der +geheimnisvolle Schatten des Sonnenzeigers, der in unendlicher Wandrung +um seine Wurzel unzählbare Stunden anzeigte, spurlos auf der metallenen +Fläche von Ewigkeit. Aber es bewegte sich etwas über Georg, irgend etwas +wurde in seinem Augenfelde sichtbar, und über den Verandastufen stand +Renate, schön wie Elysium, winkte mit ihrem Lächeln, und Georgs doppelt +ergriffenes Herz riß in zwei Stücke mit lautem Stöhnen. + + + Fünftes Kapitel: September + + + Vergangenheit + +Renate, an einem Abend im späten September ihr Gedächtnisbuch +schließend, in das sie eine Eintragung gemacht hatte, hörte jemand an +die Tür klopfen; sie antwortete nicht, in dem Glauben, es sei ihre Zofe, +welche die Eigenart hatte, ihr Eintreten durch ein leises Pochen +anzumelden, legte das Buch in eine Schieblade, schloß zu und erhob sich. +Indem klopfte es wiederum, sie ging zur Tür, öffnete und sah ihren Onkel +draußen stehn, gebückt und wartend. + +»Oh du bists,« sagte sie erschreckt, »aber bitte, komm doch herein.« + +Etwas übermannte sie so, daß sie an das Fenster treten mußte und +hinaussehn; freilich sah sie nichts in der Nacht. + +Oh so war er nun! Stand geduldig draußen und wartete, und so ging er ja +immer im Hause herum, als ob er nur geduldet würde und jedes Recht +verloren hätte. Tränen zurückdrängend wandte sie sich und sah ihn im +Zimmer stehn, das rötliche Gesicht ein wenig schief haltend; die +Ellbogen angezogen, rieb er die Knöchel der Linken mit der rechten Hand. +Wie waren seine Schläfen doch eingefallen und grau geworden. Das +Lampenlicht funkelte in den stark geschliffenen Gläsern des goldenen +Kneifers, hinter dem die hellen Augen kaum zu sehn waren. Schnell trat +sie auf ihn zu und legte den Arm um seine Schulter. Er sah flüchtig zu +ihr auf, sagte leise, wie schön sie es hier hätte, das freute ihn, ja, +es sei doch alles in der Ordnung. -- Sie führte ihn zum Sofa, aber er +setzte sich auf einen Stuhl, wobei er plötzlich mit beiden Händen eine +geschwinde Bewegung nach den Schläfen machte, ohne sie zu berühren, +worauf er nach seinem Halskragen tastete und am Schlips schob, eine +erschreckend hülflose Gebärde, die Renate wohl kannte. Er machte sie, +ohne es zu wissen, manchmal auch wenn er die Zeitung las, am Abend, und +Renate von fern nach ihm sah in Besorgnis, da es schien, als habe er das +Zeitungsblatt nur vor sich, ohne es zu sehn. Da stand sie wieder auf, +trat zu ihm, faßte seinen Kopf, lehnte ihn zart gegen ihren Leib und +streichelte leise seine Wange. Er nahm den Kneifer ab, sah zärtlich und +dankbar auf. + +»Wolltest du mir etwas sagen?« fragte sie. Er nickte, ergriff ihre linke +Hand, drückte sie und schob sie von sich. Da setzte sie sich in die +Sofaecke. Er sagte nichts, setzte den Kneifer wieder auf und sah nach +den Bildern umher, die Lippen bewegend und ein-, zweimal nickend. +Endlich nahm er den Kneifer wieder ab, legte ihn auf den Tisch, senkte +den Kopf und sagte, den Kneifer in den Fingern drehend: + +»Ich möchte mich nun doch zurückziehn, weißt du, aus dem Geschäft. Ich +habe ja«, sprach er eilig weiter, »seit -- seit dem Tag damals die +technischen Angelegenheiten fast ganz Erasmus überlassen, der es ja auch +alles unübertrefflich besorgt, viel besser als ich, großzügiger, und die +Gesellschaft steht ja prachtvoll. Dafür habe ich mich mehr mit unsern +Wohlfahrtseinrichtungen beschäftigt, an die ich früher viel zu wenig +gedacht habe, und die, ich kann wohl sagen, jetzt gleichfalls in einem +recht guten Stande sind, so daß ich --, jedenfalls --« er stockte. + +Lange Zeit drehte er an den dünnen Enden des weißrötlichen Schnurrbarts +und schien sich anstrengend zu besinnen. Das vorher fleischige, feste +Gesicht war schrecklich locker geworden, das Haar weit zurückgetreten +über der breiten, runden Stirn, locker auch das geringfügige Kinn. +Renate beugte sich vor, legte die Hand über seine auf dem Tisch und bat: +»Wir reisen, Onkel, nicht wahr? Diesmal giebst du nach! Nach Italien +oder Spanien, gelt? Hast du mir nicht lange schon den Prado +versprochen?« + +Er sah sie unsicher an. »Versprochen, -- so? Ja, ich glaube, -- +freilich! aber --« Er zog die Hand weg, schob beide ineinander, rieb sie +verlegen und brachte endlich hervor, er wollte allein reisen. + +Renate fröstelte seltsam. Was war nur mit seinem Gesicht? War es nicht +eine Maske, hinter der es dämmerte wie -- wie das Skelett des Kopfes? +Als sollte Haut und Fleisch auf einmal abfallen und -- Sie schüttelte +den Gedanken ab und begann leise zu widersprechen, alles mögliche zu +reden, was sie selber kaum vernahm; er ließ das sanftmütig über sich +ergehn, er hatte sich wohl so in seine Bescheidenheitsrolle gewöhnt, daß +er nicht zu widersprechen wagte, und machte schon dieser Gedanke sie +verstummen, so bewirkte das obendrein die Bewegung nach den Schläfen, +die jetzt wieder kam. -- Die Arme an den Leib gepreßt, faltete sie die +Hände mit heftigem Druck und hielt den Atem an vor plötzlicher Angst. + +Ja, nun war es zu spät! Nun war es wahrscheinlich zu spät. Warum hatte +sie sich so wenig um ihn bekümmert, ihn nicht zu stören gewagt, wenn sie +ihn lesend fand, sich immer beruhigt, wenn sie es doch einmal versuchte +und er bescheiden und verlegen abwehrte. Nie hatte sie erfahren, was in +ihm vorging, nun hatte sich wohl alles angesammelt und brach seines +Weges auf, und sie saß dabei. + +»Ich reise in einer großen Unruhe fort,« hörte sie ihn nun reden, »ja, +in einer großen Unruhe, mein Kind, oder ich kann fast sagen, es ist +Angst, es ist etwas furchtbar Bedrückendes, Abscheuliches --« er suchte +nach seinem Tuch in den Taschen -- »nein, nein, bleib sitzen, mein Kind, +ich befehle dir, -- das heißt, das muß jetzt alles ausgesprochen werden, +ich habe soviel gegrübelt und gedacht die ganze Zeit, daß ich schon +nicht mehr weiß, ob das, was ich sagen wollte, will, nicht vielleicht +ganz unsinnige Gedanken sind, die mir nun« -- er suchte lange nach einem +Wort -- »erwägungswert scheinen. Ja, es betrifft meinen Sohn Erasmus.« + +Er hielt inne und atmete auf. Nach einer Weile sagte er geistesabwesend, +an sich selbst gewendet, seufzend: »Er ist ein harter Mensch, mein Sohn +Erasmus.« Plötzlich drehte er sich nach ihr herum, versuchte, sie +anzusehn, senkte die Augen und fragte: »Du -- wie ist es, ich meine --, +du könntest ihn nicht heiraten?« Wieder flogen seine Hände zu den +Schleifen und endeten hülflos in der Luft. + +Renate fand lange kein Wort. Dann hörte sie auch schon wieder seine +Stimme aus der Ferne in ihre wirren Gedanken, sie solle ihm nicht +antworten, es habe ja Zeit, vielleicht später, und anderes mehr, das sie +nicht verstand. Sie fühlte nur nach einer Weile, daß sie ihn vergessen +hatte über sich selber, weckte sich auf und sah ihn dasitzen, tief im +Schatten des Zimmers, nach der gelben Schirmlampe auf dem Schreibtisch +blickend. + +Er sagte: »Du entsinnst dich Ruths -- Josefs Mutter? Ach Gott, verzeih +nur, du warst ja damals noch gar nicht geboren. Ja,« fuhr er in tiefer +Verlegenheit fort, »ich habe leider kein Bild von ihr, ich habe sie +damals alle verbrannt, und übrigens, was ich sagen wollte ...« Er hielt +inne, fragte dann plötzlich ganz lauernd: »Denkst du viel an Josef?« +Renate verneinte einfach, und er seufzte auf. + +»Damit du mich verstehst,« begann er jetzt beruhigter, »ja, ich möchte +wohl, daß du mich ein wenig verstehst, und möchte dir deshalb etwas von +mir sagen. Sieh mal, zwischen deinem Vater und mir war ein sehr großer +Unterschied. Kinder wurden ja zu meiner Zeit noch anders erzogen als +heute, strenger und mehr in Furcht vor ihren Eltern, oder wenigstens +ihrem Vater, und du weißt vielleicht, ein wie strenger und -- ja, +trockner, einsamer Mensch mein Vater war. Da er mich früh von der Schule +nahm und ins Geschäft steckte, so blieb ich immer in seiner Zucht. + +»Von meiner Jugendzeit ist sehr wenig zu sagen. Ich tat eigentlich nur +nichtsnutzige Dinge, war wohl ganz fleißig, führte ein geselliges Leben, +ja, na, -- damit brauche ich dich nicht aufzuhalten. Eines Tages ließ +ich mich dann auch verheiraten. Mein Vater beschloß es und führte es +aus. Von meiner ersten Frau hast du wohl ein Bild gesehn? Schön war sie +ja nicht, aber doch ganz anmutig, ein wenig dürftig, ja, das war sie, +aber meinem Vater genügte ja der Reichtum und der gute Name. Ich +willigte wohl um so leichter ein, als ich hoffte, dadurch selbständiger +zu werden. Damals war es ja so, daß eine Heirat den jungen Menschen +plötzlich veränderte in den Augen der Umwelt; vorher war er Kind, und +nun wurde er gewissermaßen Vater und damit selbständig.« Er lächelte, +und Renate war ganz glücklich, doch einen Hauch seines Geistes wieder +wahrzunehmen. + +»Ich veränderte mich auch; ich versuchte erst, mich mit unsern +technischen Betrieben besser zu beschäftigen, aber -- abgesehn davon, +daß mein Vater meine Bemühungen mit Kühle abwies -- konnte ich auch für +dies Verfahren, das damals gerade aufkam, die Benutzung der Photographie +zur Vervielfältigung von Bildern, -- bis dahin gabs nur die +Heliogravüre, ein Wort, das du vielleicht schon gar nicht mehr kennst, +also, was wollte ich sagen? Ja, ich hatte meinen Umgang meist unter +Künstlern, Landschaftern, die damals zuerst von unsrer Haide verlockt +wurden, und ihnen, und mir deshalb auch, entsprach diese Popularisierung +von Kunst -- aber was rede ich davon? Jedenfalls, ich zog mich zurück, +ich gewann auch meine Frau sehr lieb, wir zogen damals in dies Haus, das +ich nun so schön gestaltete, wie ich nur konnte, aber dann kam schon +diese -- ja, diese Entfremdung.« + +Renate, ein kleines, mattes Aquarell der lange Verstorbenen vor Augen, +geriet, ihr selber unerklärlich, in um so kältere Erregung, je +geordneter und sicherer, auch eiliger ihr Onkel sprach. Mit Anspannung +hörte sie weiter: + +»Es muß wohl eine, -- ja, ich weiß nicht, welche Störung in ihr diese +Entfremdung bewirkte, die im Augenblick von Erasmus' Geburt begann. +Kaum, daß sie mich das Kind sehen ließ. Sie richtete sich ein +Schlafzimmer allein ein, und dahinter lag das Kinderzimmer, das ich nur +durch das ihre betreten konnte. Und so weiter ... In so einer Art Trotz +verkapselte ich mich nun selber, fing an zu sammeln damals, auch den +Rosengarten legte ich an, -- nun, für meinen Charakter war das alles ja +sehr gut; ich fing an, Bücher zu lesen, die Philosophen, glaubte schöne +und reiche Quellen in mir zu entdecken, und wurde recht eigentlich +damals erst der, den du kennst. Ja, und plötzlich war sie dann tot. Von +jenen Jahren weiß ich sehr wenig. Und nun war dieser verschlossene, +rätselhafte Junge da, der alles tat, was man ihm sagte, der nie etwas +gab, keine Widerrede, keine Bitte und keinen Dank, der nie eine Miene +verzog, so -- das dachte ich damals -- so als ob ihm im Verborgenen von +seiner Mutter ein böser Geist eingeflößt, -- nein, nicht böse, was sage +ich denn! nur diese Verstocktheit, dies furchtbar einsame Wesen. Ich +ließ ihn gehn, -- ja -- ich -- ließ -- ihn -- --« + +Er hielt inne und schien sich zu verlieren; sein Kinn fiel ab, er +starrte vor sich hin. Aber er ermannte sich, richtete sich grade, atmete +und sprach weiter. + +»Als ich Ruth zuerst sah, war ich zwanzig Jahr. Du weißt, daß sie von +der Mutter her Jüdin war, und auch, daß sie schön war, fast so schön wie +du, ja, ja.« Er lächelte vor sich hin. »Freilich ganz anders als du, +eher so wie deine kleine Freundin, Esther heißt sie ja wohl, nur viel +größer, eher stattlich und wie aus Marmor. Damals heiratete sie einen +Kaufmann, und der starb nun einige Jahre nach dem Tode von Gabriele, und +da ich sie immer von fern sehr verehrt hatte, und auch weil ich glaubte, +daß mein Sohn eine Mutter haben müsse, bewegte ich sie, mich zu +heiraten. Sie sagte, bevor sie mir ihr Wort gab, in der ihr +eigentümlichen, entfernten Weise -- übrigens war sie nach der Meinung +der Leute ohne Herz -- also sagte sie, es gebe in ihrem Leben etwas, +danach dürfe ich nicht fragen, und das sei es, warum sie so sei, wie +Alle sie kennten, -- nun -- ich habe es nie erfahren, ich liebte sie +auch nicht mit solcher Leidenschaft, daß es mich beunruhigt hätte, ich +war zufrieden, sie mein zu nennen, was man so mein heißt.« Immer +fließender, aber auch mit immer mehr Hast und oft unter sonderbarem +Zucken der Schulter oder eines Arms sprach er weiter: + +»In Wahrheit weiß ich nicht, ob sie imstande war, eine Wärme für irgend +etwas zu empfinden. Davon wüßte Erasmus vielleicht etwas zu sagen, denn +mit ihm war sie gewissermaßen -- befreundet. Er hielt sich in ihrer +Nähe, ließ sich auch bei seinen kleinen Arbeiten von ihr helfen, er +lernte unsagbar schwer, ja, ich glaube -- das ganze Leben war für ihn +von Anfang an eine ungeheure Aufgabe, die er jeden Tag vom frischen +angreifen mußte, und ich weiß nicht, ob er jemals richtig aufgeatmet hat +... Nun, aber ich wollte --« + +Da stockte er wieder völlig, die Hände gingen empor, er fuhr zusammen, +warf einen scheuen Blick nach Renate, schloß die Hände, beugte sich vor +und saß nun so, die Ellbogen auf den Knien, die Hände hart gefaltet, mit +den Augen drüberhin auf den Boden starrend, während er redete. + +»Er war nicht imstande, das Pensum einer Klasse anders als in zwei +Jahren zu erledigen, hatte keine Spur von Gedächtniskraft, aber einen +fürchterlichen Pflichteifer, so daß er sich auf das härteste Tag und +Nacht mit Dingen peinigte, die Andre im Vorbeigehn erledigten. Freunde +hatte er nicht, er war unbeliebt bei Lehrern und Schülern, ich glaube, +wenn er nicht aus so guter Familie gewesen wäre, -- das spielt ja immer +eine Rolle, aber so wurde sein Fleiß doch anerkannt, und all das wurde +auch besser in den Jahren, wo der Unterricht in Mathematik, +Naturwissenschaften und Physik begann, wo er sich denn gleich auf +wahrhaft erstaunliche Weise hervortat. Seiner Stiefmutter aber diente er +auf so eine verborgene Art, wie ein kleiner Sklave, geriet aber in +grausame Wut, wenn irgend jemand einen seiner kleinen Liebesdienste +entdeckte. Vielleicht war sie für ihn die Königin eines Feenreiches und +er ein dienstbarer Gnom, -- ich habe freilich nie bemerkt, daß er sich +mit Büchern und Märchen abgegeben hätte; er war immer ein Bastler und +Ingenieur, der Dinge zusammentrug, verglich und zusammenstellte, als er +noch klein war, und der aus allen ein Werkzeug oder Kasten +hervorbrachte, als er größer wurde. Eines Tages stand dann wohl im +Zimmer seiner Mutter oder auch in meinem ein Segelboot, oder etwas +Gepapptes oder eine kleine Maschine; aber davon durfte man nichts sagen +... Seine Mutter duldete all dies ohne Aufhebens, und so vertrugen sie +sich.« + +Ohne daß er seine Haltung veränderte, richtete er jetzt seine Augen +gerade auf die Renatens, seine Blicke aber gingen durch sie hindurch, +weich wie Spätsonnenstrahlen, in die Erinnerung, während er sagte: + +»Ich habe sie unendlich geliebt von dem Augenblick an, wo sie mir sagte, +daß sie Mutter --, nein, sie hat es mir nie gesagt, ich sah es, und in +diesem Augenblick fing ich auch schon an, um ihr Leben zu zittern. Sie +war ja nicht mehr jung. Ich habe damals an Liebe nachzuholen versucht, +was ich im Leben vorher versäumt hatte, habe sie in einen Garten +kostbarer Dinge gesetzt, sie durfte nur Schönheit sehn, nur Reinheit +atmen, nur Stille trinken, und der Sohn, den ich mir erhoffte -- --, ja, +er ist ja auch wohl so geworden, so schön und ...« Die Augen wieder auf +die Hände senkend, sagte er leise: »Es giebt im Talmud eine Anekdote, +die erzählte sie mir damals, in ihrer sparsamen Art, in dem sie nach +einem langen Schweigen plötzlich anfing, -- eine Anekdote von einem +Rabbi, der sich am Frauenbade aufzustellen pflegte, damit die +Schwangeren ihn sähen und sich versähen an seiner Schönheit. Von ihm +wird auch erzählt, so sagte sie langsam vor sich hin, daß, als Rabbi +Elieser im Sterben lag, dieser Jochanaan bei ihm eintrat, und, da es +dunkel im Gemache war, so erhob er einen Arm, streifte den Ärmel zurück, +hielt ihn hoch und erleuchtete die Finsternis mit der Weiße seines Arms. +Elieser aber weinte, und nachdem er drei Fragen Jochanaans nach dem +Grunde seiner Tränen verneint hatte, sagte er endlich: Ich weine, weil +auch deine Schönheit einmal im Grabe faulen wird ...« + +Renate schauderte leise, aber nach einer kleinen Stille fuhr er eilig +fort: + +»Bald danach hatte ich den zweiten Sohn, und sie war tot. Wie sie +gestorben ist, weiß ich nicht; es drang nichts nach außen. Einmal sah +sie mich an und sagte: Danke. -- Sie lag mit offnen Augen und schwieg. +Später waren ihre Augen geschlossen; noch später war sie kalt. Ihren +Sohn hat sie nicht gesehn. + +»Es muß ungefähr ein Jahr später gewesen sein, da fand ich Erasmus -- er +war neunjährig -- über das Bett seines Bruders gebeugt. Du weißt nicht, +wie -- ja, wie abstoßend sein finstres Gesicht anzusehn war, denn es war +fast nur Stirn und Augen, -- die untere Hälfte war verkümmert und wuchs +sich erst spät und spärlich aus. Dies Gesicht hob er zu mir und sagte in +seiner furchtbaren, kindlichen Ruhe und mit seiner tiefen Stimme: »Die +Leute sagen, meine Mutter starb, weil mein Bruder auf die Welt kam. Also +hat er sie umgebracht?« Ich vergesse das nie. Damals schrie ich wohl: er +nicht, er nicht! Ich, ich selber habe es getan! -- Ob er es verstanden +hat, weiß ich nicht, er war von den sonderbarsten und entsetzlich +schweren Begriffen, die er sich in seiner Einsamkeit selbst anfertigte +von dem, was ihm zuflog, und die er dann so behielt, unveränderlich, +nicht daran zu rütteln.« + +Jetzt war es sie selber, Renate, gegen die seine Augen andrangen aus +einer grausamen inneren Verhärtung, da er sagte: + +»Nun weißt du,« ganz langsam setzte er die Worte hin, »nun weißt du, was +meine Söhne wurden. Nun weißt du, was an ungeheuerlicher Schuld in jenen +Jahren von mir angehäuft wurde. Nun weißt du, daß der eine Sohn mir +alles, alles, und der andre mir nichts, nichts war. Nun weißt du, welche +Gerechtigkeit mich jetzt heimgesucht hat, da ich zwei Söhne habe und +doch keinen, denn der eine ist nicht da, und der andre rührt mich nicht. +Dieser aber wuchs auf wie eine schöne Blume, zart, süß, kräftig, +blühend. Der hatte alle Leichtigkeit, alle Anmut, der war ein Windspiel, +ein -- ein Herrscher, so trat er von Anfang an auf, nur sein Wort, sein +Blick galt im Haus, alles war ihm untertan, aber -- die Leute sagten, er +habe kein Herz. Wenn seine Mutter keins hatte, ja, wie sollte dann er +...« Er hielt den Kopf in den Händen, er schüttelte sich plötzlich und +streckte die Hände nach ihr aus. Auf den Knien vor ihm liegend, sein +Gesicht an ihre Brust drückend, hörte Renate ihn stammeln: »Ich kann +doch nicht fort, ich kann doch nicht! Wenn er wieder kommt, und ich bin +nicht da ...! Und Erasmus wird ihn töten, er hat ja schon als Knabe +einmal mit dem Messer ...« + +Laut aufschluchzend weinte er wie ein Kind jämmerliche, erstickte, +zerbrochene Worte heraus, er fürchte sich namenlos vor Erasmus, er müsse +doch fort, er könne nicht, Renate solle ihm verzeihn, er wäre elend, er +habe mit ihr den Erasmus bestechen wollen, und er wisse ja, daß Beide +sie liebten. + +»Warum willst du ihn denn nicht?« rief er, sich losmachend und ihre +Augen mit seinen heißgeweinten suchend. »Ist er denn nicht gut, mein +Sohn Erasmus?« bat er mit ausgestreckten Händen, »ist er nicht adlig und +tüchtig und gehorsam und -- ach, du mein Gott, was für ein Engel ist er +gegen seinen Vater und seinen Bruder. Und der Herr sah gnädiglich an +Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. +Kannst du denn, kannst du denn nicht diese entsetzliche Angst von mir +nehmen, ehe ich fortgehe, und ich will fortgehn, und will nicht +wiederkommen, und unstät und flüchtig werden ...« + +Er verstummte, weil sie seinen Mund mit ihrer Wange verschloß, sein +nasses Gesicht in den Händen an der Brust, selber am ganzen Leibe +zitternd, frierend, entsetzt. Danach machte er sich los, keuchte ein +paar Mal heftig, umklammerte ihre Handgelenke und flehte mit den Augen. +Da raffte sie sich auf, küßte flüchtig seine Stirn und sagte: »Ich will +versuchen ...« + +Sie stand auf. + +Ein welkes Versprechen. Hatte sie ihn wirklich damit beruhigt? Sie stand +abgewandt, die Hände unter dem Kinn gefaltet, auf ihre Lampe blickend; +hinter ihr sagte er halblaut, er sei von Sinnen; dreißig Jahre habe er +ein Leben in Gedanken- und Planlosigkeit geführt, und das solle nun sie +ihm bezahlen. Nun, sie solle nur ruhig sein, er sei es auch, er habe es +ja nun vom Herzen herunter, und nur die Nerven wären wohl schuld, eine +Reise würde ihn bald wieder aufrappeln ... + +Sie hörte ihn kaum. So war es nun mit Allen. So trug Erasmus das Seine, +jahrelang wortlos, so hatte Bogner jahrelang schweigsam unerschütterlich +sein Leben vollführt, bis sie ihn einmal zum Reden brachte; so flammte +mancher wohl einmal auf, aber hinterdrein -- so waren sie Alle -- zogen +sie schon wieder den Mantel knapp um sich und wollten nichts mehr wahr +haben. Dann waren die Nerven schuld. Was sagte der Onkel jetzt? Er fuhr +fort, alles so hinzustellen, als ob es auch ebensogut ganz anders sein +könne, als er es eben dargelegt. -- War das nun wieder ihretwegen, die +für Alle so eine schöne Sache war, unter einer unsichtbaren Glasglocke? +Nein, nein, woher nur diese grausame Eifersucht auf unsre Leiden, auf +unsre Schmerzen? Die sind freilich unser einziges und letztes Eigentum, +so eins, das man wohl einmal zeigt, aber an dem keiner teilhaben darf, +und sie --, ja, würde sie vielleicht anders sein? Wie angewachsene +Hermen, dachte sie, so stehen wir da an den Lebensstraßen, unsre Füße +bleiben immer im Stein, einmal schreien wir zum Nachbarn hinüber. Josefs +Mutter, wie sie schwieg ... Keiner konnte helfen, keiner. Was? Konnte, +sollte sie denn nicht? Ja, um Gottes willen, war denn das etwas +Denkbares, dies mit Erasmus? Sie verstand nicht mehr. Hier saß der Onkel +und tat, als wäre alles nichts, und hier stand sie vor einem Wirbel, aus +dem es toste. -- + +»Verzeih!« hörte sie ihren Onkel hinter sich sagen, wandte sich um und +sah, daß er eine Zigarette in der Hand hielt und Streichhölzer. Verloren +in sich selbst, ging sie zum Schreibtisch, nahm eine kleine blutrote +Steinschale und setzte sie vor ihn. Er rauchte und sah miteins ruhig, +gefaßt, beinahe jovial aus. So ging sie auf ihn zu, legte die Hände auf +seine Schultern, zauderte und sagte: + +»Also laß uns reisen. Oder -- möchtest du lieber, daß ich bleibe, falls +-- falls Josef kommt?« + +Er lächelte trüb, meinte, der komme ja nicht, und stand auf. + +»Ja, falls ich reisen sollte, möchte ich dich wirklich bitten, zu +bleiben,« sagte er bescheiden wie im Anfang, »wirklich. Ich möchte auch +allein sein, ich -- nun --« Er brach ab, küßte sie freundlich auf die +Stirn und ging hinaus. + +Lange stand sie mit hängenden Armen, ermüdet und kraftlos; dann ging sie +zur Wand, rückte die kleine Genellizeichnung, die dort hing, gerade, +warf sich, die Arme vor dem Gesicht, gegen die kalte Tapete, schluchzte +ein paarmal tränenlos, schlich matt zu einem Sessel und fiel darauf +nieder. Ein wenig Tabaksrauch schwebte süßlich im Raum, und das war der +Rest. Sie warf den Kopf auf den Tisch und seufzte: Ach! -- Bogner kam +doch niemals. Ob sie Saint-Georges fragen sollte? -- Sieh, sagte sie +spöttisch zu sich selbst, du bist doch nicht so und schleppst deinen +Kummer gleich zu jemand anders. Er ist freilich auch danach, dieser +Kummer. -- Überdem stand sie auf und begann gedankenlos ihr Kleid zu +öffnen, ließ es zu Boden fallen, öffnete die Untertaille, merkte, was +sie tat, raffte das Kleid auf, ging müde ins Schlafzimmer, kleidete sich +aus, legte sich und löschte das Licht. -- -- + +Hatte sie schon geschlafen? Sie setzte sich auf im Finstern, rieb die +Augen. Was für eine wunderliche Trunkenheit? Aber da war ja Licht -- sie +erschrak -- im Nebenzimmer; die Tür war angelehnt. Bleich um sie her war +der Raum, die weißen Schränke still, dunkler der dreifache Spiegel dort +hinten, voll Geheimnis, wie ein Schrein, der sich geöffnet hatte, +während sie schlief. Hatte er etwas entlassen? Wollte er empfangen? -- +Sie versuchte, sich zu ermuntern, doch gelang es nicht, und so, seltsam +trunken und gefangen stand sie auf, ging nacktfüßig zur Tür und blickte +mit leiser Furcht in den Raum. Still war es drin, o so still! Was war +hier doch vorgegangen, am Abend? Still, nur ihr sanftes Wesen +verbreitend, stand die gelbe Schirmlampe auf dem Schreibtisch, geduldig +weiter brennend, ohne Vorwurf, daß sie vergessen war, -- ach, und wie +blühte darüber die geisterhafte Blume, das Angesicht des ägyptischen +Königs mit dem küssend gewölbten Mund, einsam auf seinem Pfeiler! Still +war alles, und lebte doch. Gespräche, die sie unterbrochen, schienen +überall gestockt zu sein; es knackte im Sofa; in seiner kornblumenblauen +glänzenden Seidenbespannung schien es ganz eine himmlische Höhle; nur +die einzelnen Bücher auf dem Tisch davor schienen in sich gekehrt und zu +schlafen. Mächtig, aufrecht, geziert ragte das Lilienbüschel hoch empor. +Leise funkelte es aus der Vitrine, im Schliff der Scheiben glänzte es +gelb und rötlich. Welch fremdes Reich, das sie hier überraschte! Oh all +dies gehörte sich selber an, jeder Stuhl, der Teppich, der Schreibtisch, +die Vasen, die Bilder, jedes gehörte sich selber allein in einem +stummen, aber starken Leben, und nicht ihr. -- Eilig ging sie zum +Fenster, öffnete es und bog sich hinaus, fast zurückgestoßen jedoch von +einem graden, kalten Wind, der sie gewaltsam umschloß. Da erinnerte sie +sich: er war das Rauschen gewesen, das sie, während der Onkel sprach, +unablässig fernher gehört und -- auch das wußte sie jetzt -- längere +Zeit für das ferne Wehr im Fluß gehalten hatte. Die Nacht war völlig +schwarz; in den unsichtbaren Wipfeln sauste und tobte es, -- ach, es war +ja September, längst ... Morgen früh würde sie den noch verschonten +Garten zerrissen finden wie von einer sinnlosen Hand, und sicherlich war +der gestrige der letzte der weißen und goldenen Nebelmorgen gewesen. -- +Hastig, nicht weiter zu denken, schloß sie das Fenster, löschte die +Lampe und tastete sich in das Schlafzimmer. + +Aber nun war sie doch wacher geworden. Und, verlockt von der dunklen +Höhle des Spiegels, ging sie hin, wiederum leise erschreckend, da ihre +weiße Gestalt ihr von fern entgegenschwebte und gegenüber stillhielt. +Eine Fremde, murmelte sie, eine Fremde ... und griff, ohne zu denken, +nach der Kurbel. Starkes weißes Licht senkte sich von oben, sie schloß +die Augen, öffnete sie wieder, und da gingen in dem Spiegelantlitz die +beiden dunklen, blauen Feuer auf, tief leuchtend, beseelt, aber ganz so +fremd wie die eines zweiten Menschen, in dessen Innres kein Eingang war. +Als sie zu lächeln versuchte, sich lächeln sah und von der Bewegung der +Lippen im Spiegel die Bewegung der eigenen Lippen empfand, erkannte sie +wohl, daß sie selber es war, aber hinter diesen Augen, dieser Stirn war +Unbekanntes, blieb Fremde. Sie sah das Heben und Sinken ihrer Brust +unter dem Hemd, streifte es von den Schultern, ließ es zu Boden rinnen, +und nun, wie in einem weißen Ring von Wellenschaum nackt dastehend, die +Hände, sich vorbeugend, links und rechts gegen die andern beiden +Glasflächen der Flügelspiegel gestützt, sah sie sich schaudernd an, +fühlte schaudernd verdoppelt die schöne Lebendigkeit des weißen Leibes, +dahinter, tief im Grunde, sonderbar in das Gegenüberzimmer +hineingestellt, das Fußende des weißen Bettes, ein Stück der +zusammengeschobenen Decke und die Dämmerhelle der nächtigen Stunde. An +ihrem rechten Knie zitterte leise das Ende der einen, nach vorn +herabgefallenen, lichtbraunen Flechte. Sie grüßte sich, sie murmelte +unbedacht: »Nein, Erasmus, nein, nein« ... Darüber sanken ihr die Augen +zu, mit geschlossenen Lidern ertastete sie die Kurbel, drehte sie, +raffte ihr Nachtkleid auf, streifte es über, erreichte ihr Bett, +verhüllte sich fröstelnd, atmete tief und schlief ein. + + + Sechstes Kapitel: Oktober + + + Abschied + +Georg, mit Sigurd aus der Universität herübergekommen, der ihm an diesem +Wochentage eine Stunde lang zwischen zwei Vorlesungen Gesellschaft zu +leisten pflegte, fand sein schönes Zimmer hell im vollen Licht der +Sonne, obgleich sie, noch die Fenster nicht erreichend, nur über den +Herbstgarten sich ausgoß. Aus den Nischen zwischen den Bücherregalen +flammten die mächtigen Farben der Oktoberblumen: gelbe Dahlien und +weinschwarze, schneeweiße Lockenhäupter der Chrysanthemen, violette +Asternsträuße, und stämmige Büschel rotgeflammten und gelben Laubes. + +»Sie haben,« fragte Georg schläfrig und etwas verdrossen, da Sigurd, +ohne von alledem etwas zu sehn, seine Mappe in einen Sessel gleiten ließ +und zu den Büchern ging, »Sie haben wohl nie bemerkt, daß das Jahr mit +denselben Farben beginnt und schließt.« + +»Davon versteh ich nichts, Georg«, bemerkte er nur, seitwärts den Kopf +tief hinunter beugend, um einen Titel im untersten Fach längs des +Buchrückens zu lesen. + +»Nämlich gelb und violett. Gelbe und violette Krokus, Primeln, Veilchen +und Narzissen, und Astern und Sonnenblumen im Herbst.« + +»Schön. Wills mir merken«, murmelte Sigurd und schob die Unterlippe vor, +zog plötzlich ein schmales Buch heraus, blies über den Schnitt und +klappte es auf. »Kassner,« sagte er. »Von den Elementen der menschlichen +Größe. Das kenn ich noch nicht. Würden Sie mirs leihen?« + +»Gern.« Georg rollte stöhnend einen Sessel über die Teppiche, gab ihm +einen Schwung, daß er vor die offene Gartentür flog, rückte ihn zurecht +und ließ sich hineinfallen. Seine Zigarettendose und Feuerzeug +hervorziehend, murrte er: »Was haben Sie bloß von all den Philosophen! +Von Kassner verstehe ich nicht ein einziges Wort. Sie sollten Verse +lesen. In drei Zeilen von Rilke steckt mehr Wissen von den Dingen als in +-- ich weiß nicht was.« Den ersten, tiefen Zug aus der Zigarette in die +Lungen schlürfend, dehnte er die Brust empor und sprach mit tiefem +Aufatmen: + + »Als wäre die Gebärde + einer Mädchenhand + auf einmal nicht wieder vergangen ... + +Ja das! Und das von dem Panther: + + Dann geht ein Bild hinein, + geht durch der Glieder angespannte Stille + und hört im Herzen auf zu sein ... + +Und so tausend andre! Merken Sie denn, wie einen da die Seele der Dinge +anhaucht, durch Mark und Bein? Wie sie alle menschlich werden, und in +der Vermenschlichung schon halbgöttlich?« + +»Die Seele der Dinge?« hörte er Sigurd hinter sich. »Nun, das ist in +diesem Falle wohl nicht viel mehr als das Empfinden des Dichters von +ihnen.« + +»Ich fürchte, Sigurd, unsre ganze Seele ist nichts andres als unser +Empfinden von unserm Leben. Sehen Sie mal ...« Die Lider halb +schließend, blinzelte Georg in die Sonne, »ich meine so: zur Zeit als +der Mensch -- nämlich der, der er anfangs gewesen sein mag -- den +Unterschied zwischen seiner Zeitlichkeit bemerkte und dem, -- was er +damals Ewigkeit nannte; Ewigkeit, nämlich die länger als sein Ablauf +scheinende Dauer seiner Umwelt, bis zu Sternen hinauf, -- da -- nicht +wahr -- hielt er sie für ewig und gab diese Ewigkeit einem Gott oder +mehreren zur Wohnung, wie er selber in der Zeit wohnte. Da stand also +der Mensch -- gleich Zeit -- gegen Gott -- gleich Ewigkeit.« + +»Schöne Spekulationen«, hörte er Sigurd kurz hinter sich murmeln. +»Vorher, meinen Sie, stand bloß Mensch gegen Mensch?« + +»Vorher«, sagte Georg, »nahm der Mensch den andern Menschen als Teil +seiner Umgebung, -- das heißt, ich meine so: daß Mensch gegen Mensch, +gegen seinesgleichen stehe, das konnte er erst als Schicksal empfinden, +als er seine Einsamkeit und Kleinheit gegenüber der Ewigkeit spürte, so +daß dies Gefühl erst wuchs durch jenes.« + +»Die Seele also«, fragte Sigurd, »wäre ein -- eine Wunde des Daseins?« + +Georg versetzte: »Ja, sehen Sie, ich dachte folgendermaßen: der Körper +atmet durch Poren, der Geist -- durch Wunden. Die Seele ist eine Wunde; +die Wunde des Geistes. Ich kam auf andre --« + +»Freilich,« hörte er Sigurd erwidern, »die Lust am Dasein, jedes +Wollustempfinden ist denkbar, ohne Seele. Erst die feindlichen +Empfindungen, das Bewußtsein ... Sie wissen ja: ein Hund fürchtet sich +beim Gewitter, ohne zu wissen warum ... also: das Bewußtsein +übernatürlicher Mächte, unverständlicher Gewalten und Peinigungen, das +Bewußtsein von allem Schmerzlichen und Zerstörenden, das macht erst den +Menschen.« + +»Natürlich! das Feindliche!« sagte Georg. »Die freundlichen Naturmächte +nahm er einfach und unbedenklich hin, erst die feindlichen rüttelten ihn +auf, mit ganz physischen Mitteln: er mußte sich wehren. Lust bringt +nichts hervor, Schmerz macht erfinderisch, Schmerz ist zeugend allein. +Lust zweifelt nicht, Lust will bekanntlich Ewigkeit, das heißt Dauer -- +ihr erster Schmerz ist die Ahnung, daß sie enden muß --, Schmerz will +Erkenntnis.« Er verstummte, nicht unerfreut über diese Leistung. -- +Dann, da Sigurd still blieb, bog er sich um die Rückenlehne seines +Sessels, entdeckte aber erst nach einer Weile Suchens ganz hinten nur +seinen hohen Kopf zur Rechten der Treppe vor den Büchern; das Übrige +seiner hockenden Gestalt war hinterm Schreibtisch verborgen. + +»Hören Sie mir eigentlich zu?« fragte Georg unzufrieden. Da schnellte er +plötzlich zu seiner Länge empor, und Georg mußte lachen, weil er richtig +ein Buch aus der Tiefe heraufgetaucht hatte. + +»Ja, jetzt weiß ich, wie Sie's machen«, sagte er. »Sie ziehen in jeder +Bibliothek die Bücher heraus, lesen Titel und Verfasser, dazu einen +Abschnitt auf Seite siebenundvierzig, und dann kennen Sie's.« + +Sigurd schmunzelte geringfügig, ohne übrigens so auszusehn, als ob er +gehört hätte, ging zum Schreibtisch und setzte sich davor, worauf Georg +die Beine über die Sessellehne warf, um ihn im Auge zu haben. + +»Wovon sprachen Sie denn eben?« fragte Sigurd, sein Buch aufschlagend. + +»Von den ersten Menschen«, erwiderte Georg zweideutig. + +»Die im Paradiese,« äußerte Sigurd aufblickend, »wenn Sie die meinen, +kannten freilich Gott. Ob sie aber deshalb schon Menschen waren?« + +»Gott?« fragte Georg. »Nein. Gott war wohl mehr ihresgleichen. Und sie +wußten doch nichts von Zeit, und daß alles einmal enden könnte.« + +»Ach, Georg, Sie glauben ja nicht an Gott. Haben Sie übrigens je +bemerkt, daß jenes Verbot im Garten Eden, wegen des Apfels, nur an Adam +erlassen ist? Neulich fiel mirs auf, als ich zufällig den Text nachlas; +Eva war noch gar nicht erschaffen. Wie sollte sie also nachher +begreifen? Sie mußte sich einfach auf den Mann verlassen, der es ihr +mitteilte, und das gefiel ihr natürlich nicht.« + +»Von da an, bis jetzt,« sagte Georg lächelnd, »hat sie sich immer auf +den Mann verlassen sollen, aber sie ist immer dagegen angegangen und hat +ihn immer zum Essen verlockt.« + +Sigurd schien zu lesen. Ich habe doch einmal an Gott geglaubt, dachte +Georg angestrengt. An Gott? Ja, an einen einfachen guten Menschengott, +-- wann war das? Und auf einmal war er fort. Ich wurde konfirmiert, -- +nein, damals schon, -- aber ich entsinne mich doch genau, was für Kämpfe +ich seinetwegen gehabt habe, und wie wir Jungens uns stritten halbe +Nächte lang -- aber, es kommt mir doch vor, als ob schon alles über ihn +entschieden war, ehe die Kämpfe begannen. Sie waren mehr der Form wegen, +und aus Angst, aber damals fürchtete man sich ja nicht vor der Welt, so +getraute man sich schon, es allein, ohne Gott, mit ihr aufzunehmen. Da +wars um Gott geschehn. Wann aber glaubte ich wirklich an ihn? -- Als ich +noch rot werden konnte, durchfuhrs ihn, und er fühlte, wie ihm das Blut +ins Gesicht stieg. Ich erröte ja noch! dachte er -- nein, nein, dies ist +ein andres Erröten, ich erröte vor mir selber; ich meinte aber das +Erröten vor der Welt, in der Gott war, das Erröten, das von Gott kam, +nicht dies aus mir selber. -- Jetzt klappte Sigurd sein Buch zu, legte +es auf den Tisch und sagte: + +»Außerdem, fällt mir ein, steht auch von einer Strafe nichts im Buche. +In der Bibel, mein' ich. Er sagte nur: ihr dürft nicht. Hätte er gleich +zu Anfang gesagt: dann werdet ihr ausgetrieben --« + +»Dann«, sagte Georg, »würden sie sich wohl auf den Apfel gestürzt +haben!« + +»Wie?« fragte Sigurd zerstreut und sprach weiter: »Er verbot nur, wie +sollten sie das verstehn? Adam sagte es Eva, worauf sie vermutlich +gedacht haben wird: Verboten hat er es zwar, -- aber wenn ichs doch tue? +-- er hat doch gesagt, er wäre ein lieber Gott ... Und Adam dachte: Was +wohl geschehn wird, wenn ... Sehn Sie, er konnte ja nicht anders, er +mußte zweifeln, ihm konnte nichts genügen, ihn hungerte nach Erkenntnis, +nach dem Apfel, nach Schmerz ... Sie sehn, es kommt auf das selbe +hinaus.« + +Georg, mitgerissen, sagte nachdenklich: »Und schon kam die Angst -- Gott +hatte noch nichts gesagt! -- sie versteckten sich.« Plötzlich wieder in +seinen eignen Gedanken, sagte er langsam: »Er muß ganz rot geworden +sein, als er aß.« + +»Wie meinen Sie?« fragte Sigurd. Georg besann sich; Sigurd, das Gesicht +in den Händen, sah auf den Teppich. + +»Das Verstecken«, sagte er, »war eine Dummheit. Schuldgefühl verdammt +von vornherein. Die Frauen, wie Sie schon sagten, glauben an einen +liebenden, verzeihenden Gott -- nämlich deshalb, weil sie ihre Schuld +gern für geringer halten, als sie ist, denn sie können nicht abwägen --, +der Mann an einen gerechten Gott.« + +»Nach dem Talmud«, versetzte Georg. + +Sigurd schwieg. Nach einer Weile, sich aufrichtend, ohne Georg anzusehn, +bemerkte er, das wären so deutsche Unterhaltungen ... + +»Wieso?« + +»Der Deutsche redet am liebsten von Dingen, von denen er zwar nichts +versteht, an denen sich aber sehr viel raten läßt, herumraten.« + +»In Rußland allerdings«, biß Georg zu, »wird nur von Rußland geredet. +Und wissen Sie,« lachte er, »was das Deutscheste an unserm Gespräch +ist?« + +»Nun, sagen Sie's schon.« + +Das Telephon zirpte, Georg erhob sich. »Daß wirs hinterher kritisieren; +oder wenigstens feststellen, wovon es gehandelt hat. Nun können wir ja +noch --« Das Telephon zirpte abermals -- »feststellen,« sagte Georg, +indem er hinging, »daß wir festgestellt haben, daß der Deutsche gern +feststellt --« Lächelnd den Hörer abnehmend, über den Tisch gebeugt, +sagte er: »Georg Trassenberg.« + +»Grüß Gott, Georg,« hörte er Esthers Stimme, wie es schien ein wenig +matt. »Ist Sigurd da?« + +»Grüß Gott, Esther! Ja, er ist hier. Wie gehts Ihnen denn?« + +»Danke ...« Das kam zögernd; danach nichts mehr. + +»Augenblick, Esther!« Georg reichte den Hörer an Sigurd, der noch am +Tische saß. + +»Ja, Esther. -- -- Nein, ich wollte heute erst später kommen. Was ist +denn?« -- -- Georg wanderte langsam bis vor den Pensieroso, Sigurd +weiter hörend in Pausen: »Du sollst kommen? -- Ja, dann fahr doch.« + +Georg -- sonderbar härtlich hatte das Letzte geklungen -- wagte es, den +Kopf ein wenig zu drehn, allein Sigurd -- er war aufgestanden -- drehte +sich fort. + +»Natürlich mußt du fahren.« Das klang wieder wie immer, kurz angebunden, +-- doch so war er. »Nach Hamburg erst? Ja, natürlich, sie warten ja +darauf. Wie? Sie warten darauf, sag ich. Wann geht denn das Schiff?« +Georg zuckte zusammen. Schiff? -- Er lauschte mit wildem Herzklopfen +plötzlich, doch kam nun endlose Zeit nichts, und er stand, flimmernd +Buntes und Grünes vor den Augen, gemartert von der unhörbaren Stimme in +der Ferne, die alles sagte. Endlich hörte er Sigurds Stimme wieder. + +»Ja, dann wirds am besten -- wie? -- am besten wirds übermorgen -- ja, +Fräulein, ich spreche noch!« + +Wieder alles still. Also nach Amerika. Fort. Einfach fort. Esther. Das +war unmöglich. -- Georg hörte seinen Namen, dann deutlich Sigurd, der +ihn ans Telephon bat. + +»Ja, was ist denn, Esther?« + +»Mein Verlobter hat geschrieben, Georg. Er wartet ja schon seit einem, +seit dreiviertel Jahr bald. Und er schreibt von einem Schiff, das ich +benützen soll, -- es fährt Mitte nächster Woche, und --« Georg glaubte, +sie Atem schöpfen zu hören. »Und nun erwarten Verwandte von uns in +Hamburg, daß ich sie erst noch besuche. Also --« Ihre Stimme erlosch, +raffte sich dann wieder auf. »Also werde ich wohl übermorgen fahren. +Dann hab ich noch morgen den ganzen Tag zum Packen und --« Es kam nichts +mehr. + +»Ja, Esther, wenns sein muß. Was kann man da machen?« Böse, einen Stich +im Herzen, fuhr er gleisnerisch fort: »Es tut mir nur leid, daß ich Sie +dann nicht zur Bahn werde bringen können. Morgen muß ich fechten, und +das wird ziemlich schlimm werden, ich -- ja, ich kann Ihnen das so nicht +gleich erklären, warum. Dann --« seine Brust zog sich zusammen -- »dann +sehn wir uns wohl gar nicht mehr.« + +Keine Antwort. -- »Sind Sie noch dort, Esther?« + +»Ich -- ich könnte ja heute noch -- -- wenns Ihnen recht wäre ... Ich +habe jetzt Zeit.« + +»Aber natürlich, Esther, herrlich! Also kommen Sie? Auf Wiedersehn! +Wollen Sie Ihrem Bruder noch -- -- Sind Sie noch dort?« + +Georg legte, schwer atmend, den Hörer auf, sammelte sich und sah sich +nach Sigurd um. Er saß auf der Lehne von einem der Sessel in der +Kaminecke, den Kopf gesenkt; das Gesicht war heiß, die Augen finstrer +als je. Langsam, die Lippen vor und hin und her schiebend, fing er an zu +sprechen. + +»Einmal mußt's ja sein. Nun ist's zu spät.« + +Georgs Zunge bewegte sich schwer. »Wieso: zu spät?« + +Sigurd bückte sich tief, den einen Fuß anhebend, zupfte an einem Faden +im Hosenaufschlag und riß. »Um sie zu halten«, stieß er dabei undeutlich +hervor. + +»Ja, wer kann sie halten, wenn sie heiraten wollen«, witzelte Georg +unglücklich. + +»Halten kann man sie schon«, äußerte Sigurd verdrossen und sah in die +Luft. -- Sonderbar! Das war ja fast wie ein -- ein Wink? -- Indem fiel +Georg ein, daß Sigurd ihm doch einmal etwas hatte sagen wollen, in bezug +auf Esther. War es das gewesen? -- Er? Konnte er sie, hätte er sie +halten können? + +Sigurd war aufgestanden. »Also auf Wiedersehn, Georg«, sagte er, ihm die +Hand hinhaltend, während er mit der andern seine Mappe aus dem Sessel +nahm. »Sie kommt ja wohl her. Dann will ich nicht stören.« + +»Adieu, Sigurd.« Sigurd stieg die Stufen hinan. »Vielleicht versuchen +Sie's doch noch mal selber!« rief Georg ihm nach. -- Sigurd öffnete die +Tür, schwieg, sagte dann: »Ach was!« und ging hinaus. + +Georg stand verstört. Vor sich niederblickend, entdeckte er plötzlich +die farbigen Bänder auf seiner Brust, faßte wütend nach dem +Porzellanknopf im Rücken unterm Rock, der sie zusammenhielt, zerrte +wütender daran, bis er die Bänder endlich losgerissen hatte, schnellte +sie hervor, ballte sie zusammen und schmiß sie auf den Tisch. + +Wenn morgen, fluchte er, die Mensur nicht wäre, würde ich mit ihr in die +Gegend fahren, und niemals käme sie fort, niemals! -- O, wie verstört +sie war! Warum? Warum? -- Er hockte sich in einen Sessel, tat die Stirn +in die Hände und fühlte Angst vor der Abschiedstunde. Ja, soll ich, will +ich, kann ich sie denn halten? O Gott, liebe ich sie denn nun oder +nicht? -- + +Da war Esther, da Renate. Da waren Renates Schultern, an dem +verwünschten Festabend, -- das Herz zog sich ihm zusammen. Und da war +Esther, wenn sie frühmorgens aus dem Garten kam, kaum sichtbar hinter +einer Garbe frohlockender Blumen, und er im Stuhl mit seinem +verstauchten Fuß, und die langen, langen Tage. Und dann dies, -- war es +denn nun eine Dummheit gewesen? Sie kam herein, und er dachte: ich habe +sie auf eine ebenso eigenartige wie ganz unschädliche Weise lieb und +werde es ihr jetzt sagen. Da stand sie in der Tür zum Garten, lächelte +zu ihm hin, und er nickte und lachte aus seiner Ecke, und wie sie die +ganze Last von -- Päonien oder Stockrosen, oder was es nun war, auf den +Schreibtisch niederwarf, sagte er, nein, da rief er sie zu sich, nahm +ihre Hände und sagte, nicht ohne starkes Herzklopfen und das deutliche +Gefühl, er solle es lieber unterlassen: Eben, kleines Wesen, ist mir was +Prächtiges eingefallen. Ich habe Sie so lieb, wie ich nie einen Menschen +gehabt habe, auf eine ganz besondre Weise, was sagen Sie dazu? Ist's +Ihnen recht? -- Auf ihrem Gesicht flog ein sonderlicher Schatten auf, +ein -- ja ein Lächeln gleichsam auf Stelzen. Sie ließ seine Hände los +und sagte: O ja ... Sie ging zu den Blumen, nahm eine auf, warf sie +wieder hin, nahm eine andre und roch daran, raffte den ganzen Haufen +zusammen und trug ihn ins Speisezimmer. + +Und danach, eine lange, endlose, atemlose, schreckliche Zeit, während +der er sie nebenan gehen und hantieren hörte, Vasen zusammentragen, +Stiele abschneiden, vor die Tür und an die Wasserleitung treten, und +hörte, wie das Wasser rauschte, dunkel erst, dann heller, aufsteigend in +den Gefäßen, saß er und rang mit sich um Unerkennbares im Herzen und +sagte sich schließlich nur, damit die Zeit verginge, auf: Sie also auch, +sie also auch, -- ganz sinnlos, und dann: Da bin ich ja grauenhaft +ungeschlacht gewesen. Sie wußte es nicht, und nun weiß sie's. + +Also liebte sie ihn? Und wollte doch nach Amerika. Sigurd wollte sie +behalten, und er sollte das besorgen. Ja, wie hatte er doch gesagt? Sie +hat immer irgendwen geliebt. Er hielt das also für einen Übergang, auch +hier bei Georg, und im Grunde liebte sie eben ihn, ihren Bruder, und +fand immer wieder zu ihm. Ja, konnten sie vielleicht einander noch in +die Augen sehn, nachdem er damals dies zu ihr gesagt? Nein, sondern da +war zwischen ihm und ihr eine Wand von Angst, Gefahr und Süße, durch die +ihre Blicke nicht zueinander gelangen konnten, außer wenn sie lachten +oder viele Menschen zugegen waren. + +Eines Tags aber, würgte er weiter, sah ich Renate in einem goldnen +Kleid. Das Unterkleid war erdbeerfarben, darüber das Oberkleid vorn +offen und nach rückwärts geschweift, so daß es leicht wehte beim Gehn; +es war wie Flügeldecken aus goldener, bräunlicher Seide, ach, und ihr +Hals, ihr Hals! -- Aber dennoch, -- wenn ich es formulieren wollte, so +wäre es so: Wäre Renate weniger schön, so würde ich sie lieben; wäre +aber Esther weniger schön, so würde ich sie nicht lieben. Das soll +heißen, daß ich Renate liebe wie einen schönen Gegenstand (zum Beispiel +die Venus von Milo), und nur das Zufällige ihrer weiblichen Gestalt und +der sexuelle Reiz spiegelt mir ein wahres Liebesempfinden vor. Esther +dagegen, -- ja, wie kann man nur zwischen Beiden schwanken? Esther war, +-- o sie war ja klug und alles mögliche, aber eigentlich war sie doch +nur ein süßes Wesen, ja ein so süßes Wesen, daß ich eben unwiderstehlich +davon verlockt werde, von den braunen Streifen im schwarzen Haar, von +der Stelle der Stirn, an der das Haar ansetzt und das krause die kaum +sichtbaren Schatten wirft, von ihrem Hals, und der Biegung zum Kinn, und +-- und was sollte denn daraus werden? schloß er langsam und stand auf. + +Er öffnete die Gartentür, trat ins Freie ein paar Schritt vor und ging +ins Zimmer zurück, erregter, angstvoller, wartend, daß sie komme. + +Renate, schlechterdings, sie war zu einer fürstlichen Stellung +geschaffen und gehörte ihm. Er nahm den kleinen Band der Odyssee vom +Tisch unter der Lampe, blätterte, suchte und fand die Stelle: + + _Kai tote dä Kronidäs afiei psoloenta keraunon,_ + _Ka d'epese prosthe glaukoopidos obrimopatras;_ + _Dä tot' Odysäa prosefä glaukoopis Athänä ..._ + +Halblaut übersetzte er: + +Nieder warf der Kronide den funkelnden Blitz, daß er hinschoß vor der +strahlengeäugten, der Tochter des obersten Vaters. Und zu Odysseus +sprach die strahlengeäugte Athene ... + +Das war sie. Eine Göttin in Menschengestalt, Fürstin, Herrscherin, kluge +Beraterin, ein Kunstwerk. -- Er schloß das Buch, legte es hin, und nun +erschien ihm Renate in ihrem weißen, sommerlichen Faltenkleid mit +viereckigem Ausschnitt, eine Kette von rosigweißen Korallen, die tief +herunterhing, um den Hals, ohne Gürtel und mit weit offenen Ärmeln. So +stand sie in der Kapellentür wie ein Legendenwesen, so saß sie an der +Orgel, ausgebreitet, schwebende und gewaltige Stimmen entfesselnd, so +war sie, stets würdig, stets Anmut, stets Kühle, eine schöne Weisheit in +Frauengestalt. An wen erinnerte sie nur? Lange grübelte er in Büchern +herum, endlich begann es ihm zu dämmern, seine Kinderstube erschien, und +ein altes Buch, quadratisch, braun, abgegriffen, mit Vignetten, -- von +Richter? Richilde -- stand in verschnörkelter Schrift auf einer Seite, +ein Ritter ritt durch eine Landschaft, ein spitzbärtiger Ritter kniete +vor einem Walfisch, aus der Kelchblüte einer großblättrigen, +stilisierten Pflanze winkte ein elfenartiges Wesen mit einem Schleier +nach einem Jüngling, der hinter einem Paar schöner, weißer Stiere +schritt, -- Libussa. -- Flugs stieß Georg einen Sessel zur Seite und +langte das Buch tief unten aus einem Regal, wiedererkannte es freudig, +schlug es auf und fand nach einigem Blättern und Verweilen die +Geschichte Libussas, der Elfentochter, der späteren Herzogin von Böhmen, +welche die drei höchsten Güter in sich vereinte, nämlich Weisheit, +Schönheit und Reichtum; und Libussa hatte in ihm als Knaben jenes Gefühl +erweckt, das ihm jetzt von Renate auszugehn schien: sie war ihm zu +makellos und wandellos, zu hoheitsvoll, zu leidenschaftslos erschienen, +zumal gegenüber den kriegerischen Werbern, -- ja, wollte Esther denn +noch immer nicht kommen? Wenn ich lese, dachte er, wird sie gleich hier +sein, setzte sich und las, und es stellte sich heraus, daß jenes +Knabengefühl ganz ungerechtfertigt gewesen war, denn liebte Libussa +nicht den Primislav, sieben Jahre getreu, und sandte ihm endlich ihr +weißes Leibroß, um ihn zu holen und zu ihrem Herzog zu machen? -- Ein +rechtes Märchen, aber bei Renate und mir ists ja umgekehrt. -- Folgende +Stelle las er mit Vergnügen: + +>Libussa hatte nicht den stolzen, eiteln Sinn ihrer Schwestern. Ob sie +gleich die nämlichen Fähigkeiten besaß, in die Geheimnisse der Natur +einzudringen und sich ihrer verborgenen Kräfte zu bedienen: so genügte +ihr dennoch an dem Anteil der wunderbaren Gaben aus der mütterlichen +Erbschaft, ohne solche höher zu treiben, um damit zu wuchern. Ihre +Eitelkeit erstreckte sich nicht weiter, als auf das Bewußtsein ihrer +Wohlgestalt, sie geizte nicht nach Reichtum, wollte weder geehrt noch +gefürchtet sein wie ihre Schwestern. Wenn diese auf ihren Landhäusern +herumtoseten, von einer rauschenden Freude zur andern eilten und den +Kern der böhmischen Ritterschaft an ihren Triumphwagen fesselten, blieb +sie daheim in der väterlichen Wohnung, führte das Hausregiment, erteilte +den Ratfragenden Bescheid, leistete den Bedrückten und Preßhaften +freundlichen Beistand, und das alles aus gutem Willen ohne Entgelt. Ihre +Gemütsart war sanft und bescheiden und ihr Wandel tugendsam und züchtig, +wie es einer edeln Jungfrau ziemt.< + +Auch dieser Satz gefiel ihm sonderlich: >Sie nahm mit bescheidenem +Erröten die Herrschaft über das Volk an, und der Zauber ihres +wonniglichen Anblicks machte jedes Herz ihr untertan.< + +O Himmel! dachte er aufseufzend, wenn ich Herzog bin, wird dann alles +anders sein? Wer ist denn zur Herzogin hier geeignet, sie oder Esther? +-- Er lachte fast, hielt kaum rechtzeitig inne. + +Das Licht hatte sich verändert draußen, die Schatten waren tiefer und +länger geworden, Esther kam nicht. Georg, immer angstbeklommener vor +dem, was kommen sollte oder könnte, trat wieder in die Tür zum Garten, +der windstill, tief beschattet bei sinkender Sonne, tiefgrün mit schönen +großen Farbflecken, gelben, roten, glattbraunen, von Birke, Platane und +Roteiche, unter dem reinen, erlösten Himmel ruhte. Darin sollte sie nun +nicht mehr umhergehn mit ihren kleinen, ein wenig breiten Füßen, +kleinschrittig, von denen der rechte bei jedem vierten oder fünften +Schritt leicht nach innen schlug. + +Indem hörte er hinter sich die Tür, Esther stand drin, sehr blaß, in dem +Kleid, das er liebte, von rotvioletter Seide mit Goldborte an Hals und +Ärmeln. Sie kam auf ihn zu und gab ihm die Hand, wie sie pflegte, mit +ein wenig vorgeschobenem Leib ganz nah herankommend, und murmelte etwas +wie: Sigurd hätte ihm wohl alles gesagt. + +»Wann geht dann das Schiff?« fragte Georg. + +»Mittwoch.« + +»Und Sie bleiben erst ein paar Tage in Hamburg?« + +»Ja, ich fahre am Sonntag.« »Und morgen«, sagte Georg trübe, »muß ich +wieder auf Mensur.« + +»Schon wieder?« + +Sie hatten sich unterweil in Bewegung gesetzt und schritten langsam den +Weg hinunter. Georg hob eine in den Weg hängende Hopfenranke über +Esthers Kopf, dachte: Wenn Sigurd gesagt hat, daß sie immer irgend +jemand liebte, so heißt das wohl auch, daß sie mich alsbald vergessen +wird, -- und verstrickte sich derweil in umständliche Erklärungen: daß +er seine letzte Mensur im vergangenen Semester schlecht gefochten habe +-- + +»Ach, als Sie so lange mit dem Kopfkissen herumliefen?« fragte sie +lächelnd. Sie meinte das schwarze Stück über der Gazekompresse, das er +zum heimlichen Gespött aller Freunde wochenlang nicht vom Mittelkopf los +geworden war. Er bejahte und fuhr fort: daß die Mensur ungenügend +beurteilt worden sei; daß er Reinigung fechten müsse, und nun habe es +sich über die Ferien hingezogen, während er doch für dies Semester +seinen Austritt geplant hatte, und schließlich würde er morgen einen so +scharfen Gegner bekommen, daß -- ja also daß sie sich heute wohl zum +letzten Male sähen ... Dies schien sie gewußt zu haben, denn sie +antwortete nichts. + +Sie standen jetzt am dunklen Wassergraben; ringsum loderte der Herbst, +das unbeschreiblichste Grün, mit Gelb gemischt, lohendes Rot, prangendes +Kaisergelb flatterte hoch oben vor der vergoldeten Bläue der Luft; noch +höher wehten weißliche Geister aufgelöst durch den Oktoberhimmel. Ach, +wie lieblich war ihre verschleierte, huschende Stimme! -- Sie sagte, es +würde ihr wohl sehr schwer fallen, nicht mehr des Morgens in diesen +Garten gehen zu können, und Georg murmelte etwas Unklares von +Kalifornien, Palmen und: auch sehr schön ... Dann setzten sie sich auf +die Bank, die hinter ihnen stand. Esthers Hände lagen im Schoß. + +Georg dachte daran, wie er ihre Hand zuerst im Handschuh gefühlt, halb +leblos, und wie sie hier mit Jason gesessen hatten, der ihren Handschuh +von der Bank nahm und davon sprach. Sie schwiegen. Kein Blatt fiel. +Etwas simmte an Georgs Ohr, und eine verspätete Mücke setzte sich auf +seine Hand, aber sie sog nicht. Da vertrieb Esthers Linke sie mit einer +flatternden Bewegung, die an ihrem Haar endete, und Georg sagte mit +einem Versuch zu scherzen: + +»Und nun will so ein kleines Mädchen ganz allein über das große Wasser +fahren?« + +»Der gute Jason«, sagte sie -- dies war ihr letztes Lächeln! -- »wird +mich bringen. Merkwürdig, nicht: Eben traf ich ihn, und er brachte mich +hierher. Als ich ihn scherzend fragte, war er gleich bereit, und im +vollsten Ernst. Er hätte längst mal nach Amerika gewollt, sagte er.« + +Jetzt wird sie in Tränen ausbrechen, dachte Georg und vermied den +Anblick ihres Gesichts, sah aber doch, geradeaus blickend, neben sich +ihr Profil, ein wenig vorgeneigt, unterm straff zurückgespannten Haar, +die Stirn glatt, ganz wenig gerunzelt, das fremdgeschnittene, +bewegungslose Auge, den unbeweglichen Mund. -- Um nur etwas zu sagen, +fragte er: »Warum der _gute_ Jason?« + +»Ich weiß nicht«, meinte sie nach einer Weile. »Einmal, das fällt mir +ein, wollte er ein Buch auf den Tisch legen, und es fiel daneben. Da +sagte er ganz erschrocken: O entschuldige, Buch! -- Ich mußte so +lachen.« + +»Ja, er ist mit allen Dingen, die sich nicht selber helfen können, wie +mit kleinen Kindern. Wissen Sie eigentlich etwas aus seinem Leben?« + +»Nein, gar nichts.« + +»Ich war dabei,« sagte Georg leiser, »als er sich das Leben nehmen +wollte, zweimal, und doch glaube ich, daß dies nicht das Schlimmste in +seinem Leben war. So wie er jetzt ist, ist er noch gar nicht sehr +lange.« + +Hörte sie eigentlich, was er sagte? + +»Wissen Sie,« begann sie nach einer Weile, -- »aber Sie dürfen nicht +lachen, -- nein, ich meine -- -- Sie dürfens nicht zu ernst nehmen -- +--« + +»Immer was Sie gern wollen, Esther.« + +Sie schwieg. + +»Wollen Sie es für sich behalten, dann --« er zögerte -- »nehmen Sie es +mit nach Amerika.« + +»Oh!« stieß sie schmerzlich hervor, beugte sich vor und sah nach oben. + +»Schön ist doch der Herbst,« sagte sie dann wie beruhigt, »das sanfte +Scheiden.« + +»Ja, es wird gut mit uns gemeint.« + +Auf einmal schnürte sich ihm das Herz zusammen, er suchte nach +gleichgültigen Dingen, fand nichts und bat: + +»Was wollten Sie denn eben sagen?« Sich vorneigend wie sie, sah er sie +nun an und merkte, daß ihr Gesicht von innen kalt und bleich geworden +war. + +»Ich wollte sagen,« sprach sie sehr langsam und ohne Betonung, »es muß +gut sein, zur rechten Zeit sterben zu können. Ich glaube, der Tod --, +ich meine: das Sterben, der letzte Augenblick giebt dem Menschen eine +Klarheit, eine Kenntnis, ganz sichere, über Leben und Tod. Gut kann die +sein oder sehr schmerzlich. Und die gute wäre, daß man zur rechten Zeit +stirbt.« + +Sie hatte nun ganz leise und mit rauher, verhauchender Stimme +gesprochen, und Georg, obgleich er kämpfte, konnte es nicht lassen, +tiefer zu gehn und zu fragen: »Esther, sind wir denn so traurig, daß wir +statt vom Scheiden vom Sterben reden müssen?« + +Sie stand auf, zuckte mit den Schultern, wie um etwas abzuwerfen, und +sagte: »Ich muß gehn.« + +Jenseit des Grabens stand eine junge Roteiche, reich mit großen, heftig +gezackten Blättern überhangen, rot wie neues Kupfer und so einzeln, daß +sie sich zählen ließen; im bläulichen dunklen Wasser unten hing ihr +Spiegelbild, umgekehrt, verdunkelt. Uns, dachte Georg mit seltsamer +Empfindung, uns und unsre Spiegelbilder sieht von drüben der stille +Baum, und nun war ihm, als sähe er selber sich und sie -- in dem schön +violetten Kleide mit goldenen Borten sie und sich in dem dunkelgrünen +Anzug -- wie zwei geschmückte Geister in einer elysischen Gegend, +weltferne Zwiesprache haltend. Aber, sich umwendend, fand er Esther +nicht mehr neben sich und sah sie schon fern zwischen den grünen Büschen +den Weg hinunter auf einen Trupp hoher, verdorrter Sonnenblumen und +schwarzroter Dahlien zugehn; ihr Gang war nichts als ein notwendiges +Bewegen der Füße, aber daran, daß der rechte nicht nach innen --, doch, +da schlug er nach innen, und nachdem Georg eben gedacht hatte, er müsse +sie so weiter und weiter und fortgehen lassen, eilte er ihr jetzt nach, +holte sie aber erst im Zimmer ein, wo sie stand und sich umsah. + +Eiskalt war ihm am ganzen Leibe, er zitterte, wußte aber gleichwohl, daß +er imstande sei, die simpelsten Höflichkeiten zu sagen, redete auch ganz +bedeutungslos draufzu, indem er sie bat, sich doch etwas zum Andenken +mitzunehmen. Sie bewegte den Kopf langsam hin und her. Gleich darauf +sank er tief herunter, ihre Brauen zogen sich wie grüblerisch fest +zusammen, doch war es wohl etwas andres, und er konnte es nicht mit +ansehn und trat an den Schreibtisch. Mit dem Rücken gegen die Platte +gelehnt, sah er, wie sich ihr Kopf langsam wieder hob; sie stand +aufrecht und sah ihn an, ohne zu lächeln. Jetzt kommt es! dachte er im +Frost, was soll ich jetzt tun? was fragt sie jetzt hinter ihrer Stirn? + +Indem fiel ihm ein: Wenn aber nun alles Einbildung ist? Ja, wie, wenn +sie nicht meinetwegen so verzagt ist, sondern Sigurds wegen? Sollt' ich +so närrisch sein? -- Fast ward ihm da leichter; er dachte: also muß es +geschehn ... + +»Esther«, sagte er, nur um nicht zu schweigen, um nicht -- -- + +Und sie kam. Er nahm ihre erfrorenen Hände und legte sie auf seine +Brust. Sie blieb, sie würde bleiben, sie mußte, er konnte sie nicht +entbehren. -- So blickte er in ihre Augen, sah ganz nah die schönen +Brauen, sah winzig sein eigenes Gesicht, ganz wenig verschwollen in +dieser, in jener schwärzlichen Pupille, und die Reflexe vom Licht, sah +die kleinen schwärzlichen Härchen neben den Mundwinkeln und mußte die +Lippen darauf drücken. Seine Augen schlossen sich. O, wie süß war dieser +Mund! O nicht fremd wie -- wie -- -- + +Da öffneten seine Augen sich wieder, sie war zurückgetreten, er sah sie +zum Stuhl gehn, ein flacher, grauer Hut lag darauf mit grünen Blättern +und schwarzen Rosen, den hob sie auf. Ja, mußte denn noch etwas -- --, +mußte er noch etwas -- --? -- Er sah sie den Hut aufsetzen, die Nadeln +festmachen, und da lag auch eine Jacke, die sie nun anziehen wollte, und +er hätte fast vergessen, ihr zu helfen. Noch einmal, während er den +Kragen ihres Kleides in die Jacke hineinglättete, ihren Hals berührte, +sah er ihren Haarknoten, weich geschlungen, ganz nah, aber dies galt +schon nicht mehr, und sie wandte sich und gab ihm die Hand, und er +sagte: »Leb wohl!« + +Das Schluchzen stieg ihm in die Kehle, sie sagte nichts, ging zur +Treppe, der Raum kreiste, etwas klang hart, Esther war nicht mehr im +Zimmer. + +An einem Eisenbahnfenster über vorbeisausender Felderlandschaft erschien +Esthers Gesicht; darauf stand geschrieben: Trostlos. -- Georg näherte +die Hände dem Gesicht, ermannte sich, schüttelte den Kopf, nahm eine +Zigarette vom Rauchtisch, zerbrach ein Streichholz, noch eines, noch +eines, tat endlich den ersten Zug und setzte sich. + +Ja, sagte er, ja, ja ... + + * * * * * + +Nicht mit Absicht berauschte Georg sich an diesem Abend sinnlos, das +heißt, er setzte sich nicht in der Absicht, sich zu betrinken, zum +Trinken nieder, sondern es kam so. Quid quod, sagte er in der letzten +hellen Minute, das ist eine lateinische Redensart und heißt ungefähr: +Was soll man dazu sagen? -- Einige Zeit später weinte er sehr am Halse +seines Leibfuchsen, der auch weinte, und abermals eine Zeit später +wachte er mit riesigem Schädel und ohne Denkvermögen in seinem Bette +auf, tat unbewußt das am Morgen Nötige des Badens und Ankleidens, saß +ein paar Stunden, bloß eine kahle Bouillon im Magen, bei den Mensuren +herum, übrigens ein wenig voll Ekel, ein wenig voll Wut und ein wenig +voll Beschämung, worauf er sich anbandagieren ließ, heftig angewidert +von den nassen, warmen, nach Blut, Schweiß und Äther stinkenden Binden +am Halse. Armer Tozzi, heut gehts mir schlecht, dachte er, die Zähne +zusammenbeißend, als die eiserne Brille auf seine Nase gepreßt wurde, +und nieste. Dann stand er da und arbeitete schwerfällig mit dem +Schläger, fühlte bald, wie ihm das Blut vom Kopf rieselte, es gab Pause, +er saß, stand wieder, es gab endlose Pausen, um ihn schwirrte und rannte +es, er hörte ein Flüstern: laß dich lieber abführen! -- aber das wollte +er nicht. Der Speer ward ihm fortgeschlagen, noch einmal fortgeschlagen, +er wankte und taumelte bei jedem Hiebe und stand dann, den Kopf gesenkt, +von dem das Blut herunterlief, wie Spülwasser so dünn vom Alkohol. +Dumpfe Wut hielt ihn aufrecht, aber er ermattete immer mehr, nach jedem +Gang schien eine Pause zu kommen, er trank Wasser, trank Kognak, ihm +ward zum Erbrechen elend, und dann merkte er noch, auf dem Stuhl +sitzend, daß sein Blut nicht mehr lief. Und was war das mit seinem +Herzen? Das machte ja Sprünge! Von allen Seiten beugten sich höfliche, +neugierige, ein wenig mitleidige Gesichter, er hörte wieder die Stimme +des Sekundanten von weit fern her: Also noch einen Gang, weiter! Stand +auf, schwankte, hörte hoch über sich die Worte verhallen: Baltoborussia +führt ab nach dreizehn Minuten, und verlor die Besinnung. + + + Sonnenblume + +Renate, in der Hand die Gartenschere, trat am frühen Morgen auf die +Terrasse hinaus und blieb über den Stufen stehn. Warm schien die Sonne, +aber es wehte so heftig, daß sie mit den Händen in den Falten ihres +dunkelgrünen Kleides hinunterfuhr, um sie gegen den Leib zu drücken; sie +bauschten sich schwer hinter ihr, und die langen Enden der dicken, +silbernen Kordel, die sie unter der Brust um den Leib geschlungen hatte, +flatterten wie ihr Haar. Der Garten, schon sehr entblößt, war ein +flatterndes Gewimmel von Blättern und kleinen Zweigen, gelb und lockrig +ließen die Wipfel überall den hellen, dunstigen Himmel durchscheinen, +aufgelöst ins Trinken des reichen goldenen Lichts. Vollhängende +Fuchsiensträucher schwankten unter der Veranda. Wege und Rasen waren mit +Blütenblättern bestreut; der Gärtner hatte den mit Laub verschütteten +Rasenplatz zur Hälfte gekehrt und war zum Frühstücken gegangen; nun +rollte der Wind die braungelbe Masse von einer Seite auf die andre mit +einem kindischen Vergnügen. -- Renate kämpfte sich gegen den Wind die +Stufen hinab, ging auf dem Wege zur Linken weiter, durch die Büsche und +rechtsum unter den sechs Linden am Gemüsegarten hin auf die Rückseite +der Kapelle zu. Dort flammte, gegen den Wind geschützt, die ganze Schar +farbiger Georginen und Dahlien, schwarze, rote, scharlachne, weiße und +gelbe. Renate schnitt von ihnen, langsam auswählend, einen Arm voll. Da +hörte sie ihren Namen, fern von Magdas Stimme gerufen, antwortete: Hier! +und sah bald darauf, sich wendend, Magda den Weg unter den Linden +herbeieilen, ein Zeitungsblatt in der Hand, heftig atmend und mit +schreckerfüllten Augen. + +»Du weißt noch nichts?« fragte sie atemlos. »Das Schiff --« + +»Was für ein Schiff?« + +»Mit Esther! Es ist untergegangen.« + +Renate schrie: »Magda!« ließ die Schere fallen, preßte die Blumen an +sich, griff nach der Zeitung und las unter strömenden Tränen +entsetzliche Dinge von einem Eisberg, bei Nacht, und Hunderten von +Toten. + +»Vielleicht ist sie doch gerettet«, weinte sie. Der Wind riß an dem +großen Zeitungsblatt, sie kämpfte, um es zusammenzulegen, packte dann +ihr Blumenbündel hinein und suchte nach ihrem Taschentuch im Gürtel. Da +sah sie es nicht weit von ihr auf dem Wege liegen und eilte daraufzu, +damit es nicht wegfliege. + +»Weiß Sigurd es denn?« rief sie Magda zu, die mit zusammengelegten +Händen dastand. Die fuhr aus ihrer Versunkenheit auf, sagte, ja, sie sei +ja gekommen, um mit Sigurd zu telephonieren, und eilte eifrig an Renate +vorüber nach dem Hause. + +Mit ihrem großen, bunten Blumenbündel im Arm, heftig weinend und an Nase +und Augen wischend, schwankte Renate den Weg zurück, über den Rasen und +bis zur Sonnenuhr, blickte lange darauf, als wollte sie die Zeit +enträtseln, und legte dann, heftiger aufschluchzend, mit einer wilden +Gebärde die Last auf das Zifferblatt; das Zeitungsblatt öffnete sich und +flatterte. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen das Postament, wurde +langsam ruhiger, blickte wartend in die Veranda. Schritte wurden hörbar, +Sigurds lange Gestalt erschien, er kam herunter, rote Flecken im +Gesicht, die Augen geschwollen. Er blieb dicht vor ihr stehn und ließ +den Kopf hängen. + +»Ja, hier ist es immer schön«, sagte er nach einer Weile, umhersehend. + +»Sigurd,« bat sie leise, »ich --, ist es denn -- ist es -- ist es denn +gewiß?« + +Er zuckte die Achseln. + +»Für mich ist sie tot«, sagte er nach einer Weile abweisend. + +Renate wußte nichts zu sagen, legte ihm nach einer Weile eine Hand auf +die Schulter, in der sie ihr kleines Taschentuch zusammengedrückt hatte. +Sigurd, den Kopf senkend, blickte darauf und sagte: »Ganz naß ...« + +Seine Lippen zuckten, er begann: »Esther --« Dann: »Was war sie nur? Ja, +was hat sie euch viel bedeutet! Ein kleines Gartenland, -- ausgerauft.« +Er stockte. »Esther, mein Gott!« sagte er, faltete die Hände, blickte +irr und schrie auf einmal: »Ich dachte, sie wäre hier! Ich dachte, sie +wäre hier, und nun ist sie ja nicht da!« + +Über den Stufen der Veranda erschien Magda in ihrem mattblauen Kleid und +blieb da stehn, an einer Weinranke zupfend. Sigurd wand sich +verzweifelter. + +»Helfen Sie mir doch,« sagte er, »wie soll ich denn das verstehn, daß +sie auf einmal tausend Meter tief im Wasser liegt, und die Fische +schwimmen drüber weg, und man kann sie nicht heraufholen. O ich Mensch! +o ich Mensch!« stöhnte er, die Finger in den Haaren, »daß ich sie habe +allein fahren lassen! Aus Trotz ließ ich sie weg und hetzte diesen +Prinzen, diesen Literaten, diesen Hanswurst --« + +Magda blickte langsam nach ihm hin; Renate sagte leise: »Sigurd! Wir +können uns doch beherrschen.« + +Er hielt mitten in seiner Wutgebärde inne, blickte sie erstaunt an, +schien ihr Gesicht zu erkennen und stürzte zu ihren Füßen hin, laut +schluchzend, röchelnd und sich schüttelnd. Das Gesicht auf ihren Schuhn, +umschlang er ihre Knie und riß daran, -- Renate schwankte und griff nach +dem Zeiger der Sonnenuhr hinter sich, um sich daran zu halten. »O, ich +liebe dich doch,« jammerte er laut, »ich liebe dich, und nun ist alles +aus!« + +O das war schrecklich. Da er wieder ruhiger wurde, gelang es Renate, +seinen Kopf zu fassen, zu heben und an ihre Knie zu drücken. Da stand er +schwerfällig auf, zog sein Taschentuch und brachte Gesicht und Haar in +Ordnung. + +»Eins zieht das andre nach sich«, sagte er trocken. »Daß man sich in Sie +verliebt, ist freilich natürlich. Ich wußte ja, wenn sie den Prinzen +näher kennen lernte, so konnte sie nicht widerstehn, niemals konnte +sie's. Dann ging alles seinen Gang. Eines Tages war die heillose +Verwirrung da, und sie wußte nicht mehr, wohin sie sollte, nach Amerika, +zum Prinzen, oder zu mir. Da dachte ich, wir müßten es probieren, und +wenn wirklich ich die Hauptperson in ihrem Leben war, so würde sie sich +ja auch aus Amerika zurückfinden. Nein, Gott, nein, wie hätte ich allein +bleiben können! Mein Dasein hatte seinen Glanz und seine Freude doch +bloß von ihr, und ohne das ist man doch in einer steinernen Öde und +friert. Aber da hatte ich mich ja selbst von ihr abgewandt und zu Ihnen. +Nun, freilich, was das schon hieß, aber mein Gefühl, ja, mein Gefühl war +doch dadurch schwächer geworden gegen sie, und dafür bin ich nun +gestraft. Ihm aber, bei Gott, Renate, ihm aber werde ichs einmal +heimzahlen, daß er sie zu sich herüberbog so weit und dann wieder fahren +ließ, dieser Bastard von einem Literaten! Konfus hat er sie gemacht,« +schrie er aufgebracht, »und da zeigte der Tod ihr einen Mittelweg, und +sie folgte natürlich wie immer. Meinen Sie denn etwa,« fragte er mit +zornigen Augen, »ich wüßte nicht, wie sie gestorben ist! Meinen Sie, ich +hätte --, ja, glauben Sie etwa, Jason wäre auch ertrunken?« + +Da er einen Augenblick schwieg, um Atem zu schöpfen, murmelte Renate: +»Der gute Jason ...« Auch sie konnte sich nicht denken, daß er tot sei. + +»O Gott,« stöhnte er nun wieder vor sich hin, »ich seh ihn ja immer und +immer herumlaufen, über alle Verdecke, durchs ganze Schiff, oben, unten, +in alle dümmsten Winkel spähn, und die Angst ... Und ich bin mit ihm +herumgerast und hab geschrien: Esther! Esther! Esther! -- Aber sie«, +schloß er leise und verwirrt, »lag wohl schon lange unten und war auch +-- wohl ganz froh ...« + +Nach diesen Worten drehte er sich langsam und vergrämt um und ging fort, +die Stufen empor, wo Magda einen Arm um ihn legte und mit ihm +weiterging. Sie waren verschwunden, aber nach einer Weile erschien er +wieder allein, blieb über den Stufen stehn, hob die Hand winkend und +rief: »Machen Sie sich keine Sorge um mich!« + +Renate lief auf ihn zu, wollte ihn fragen, was er denn vorhabe, da kam +er herunter zu ihr und erklärte ihr ruhig und zurückhaltend, er könne +natürlich nicht hier bleiben, wo an jeder Straßenecke und in jedem +Zimmerwinkel Esthers Schatten stünde, sondern ginge nach Berlin, wo er +noch gerade rechtzeitig zur Immatrikulation kommen würde. + +»Geld,« sagte er, »habe ich ja nun mehr als früher. Dann, wenn ich die +Examina gemacht habe, -- das muß schnell gehn, höchstens in einem Jahr +geh ich nach Rußland zurück. Da können sie mich vielleicht brauchen. +Jedenfalls bewegt sich das Leben dort in den Kreisen, die mir nahe sind, +so, daß ich hineinpacken kann; ich muß mich ja nun wohl an das +Allerreellste halten, was man so >Taten< nennt, und -- und vielleicht +kann man die Dinge doch fühlen; ich will versuchen, sie wieder +anzuwärmen; der Tod pflegt ja alles erst mal kalt zu machen. Sie werden +wohl zuweilen an den letzten Mohikaner denken.« + +Renate nickte nur und sah ihm liebevoll in die Augen; er ergriff ihre +Hand, küßte sie ungeschickt, ging ruhig und kehrte nicht zurück. + +Renate, noch hinter ihm her sehend, erinnerte sich, daß Josef der letzte +war, der ihr die Hand geküßt hatte. Dem einen war alles genommen, der +andre wollte nichts mehr haben. Sie sah über das Dach des Hauses hinauf, +wo die kleinen grauen Steinfiguren sich vor dem leichten Gewebe von +Wolkenweiß und Himmelsblau zu bewegen schienen; die Sonne brach +kräftiger hervor. Seltsam war mit dem Ende von Sigurds heftigem Ausbruch +auch der Wind stiller geworden; es wehte nur leise durch den Garten hin. +Sie zog die silberne Schnur, deren Knoten sich gelockert hatte, fester +zusammen, nahm ein zusammengerolltes Blatt von ihrem Kleid, glättete die +grüne Seide, in der schwarze Linien von oben nach dem Saum hin liefen, +und sah die Blumen auf ihrer Zeitung auf dem Postament liegen; der Wind +zauste darin wie ein Kakadu; einige lagen am Boden. Die sammelte sie +gedankenlos auf und legte sie zu den andern. Ja, nun mußte sie wohl zu +Saint-Georges --, nein, es war ja Sonntag. Sie dachte an ihre Orgel, +irgend etwas aber trieb sie, den Weg, den sie vorhin gekommen, +zurückzugehn. Vor einem Trupp halb welker Sonnenblumen stand eine sehr +hohe mit nicht sehr großem Antlitz, das sich mit einem geringen Ausdruck +von Ernst und Hoffart herabneigte. »Wie stolz du bist, Schwester +Sonnenblume,« sagte sie, »laß dich küssen.« Sie bog das gelb und +schwarze Sonnengesicht zu sich hinunter, küßte es leicht in die Mitte, +knickte den Stiel dicht unterm Kopf ab, hielt einen Augenblick die +weiche Blätterschale in den Händen, hängte sie dann vorn in den spitzen +Ausschnitt ihres Kleides. Dann ging sie weiter, langsam an einer Linde +nach der andern vorüber, die den Weg mit welken Blättern bestreuten, +blieb endlich am letzten Stamm stehn, die Hände auf dem Rücken +zusammengelegt, den Blick durch die fast entlaubten Wipfel +emporgerichtet. Ununterbrochen trieb und flatterte es von oben durch das +Licht. Sie spürte, in Gedanken verloren, wie ihr Kleid unten zuweilen +seine Falten regte, sich bauschte und wieder hinsank. + +Saint-Georges kam die Allee herunter und blieb bei ihr stehn; sie sah +ihn durch den dünnen Schleier an, den eine vom Wind gelockerte +Haarsträhne über ihre linke Wange breitete, und las in seinen ernsten +Augen, daß er alles wußte. Er sagte nichts weiter als seinen Gruß; nach +einer Weile begann sie leise: + +»Ach, Georges, hören Sie die Glocken?« + +Lauschend vernahmen sie Beide das ferne, dunkle Getöse, das in der hohen +Weite gegen den Wind ankämpfend umher wanderte und nach Gläubigen +hinunter rief. + +»Eben war mir,« fuhr sie fort, »als hätte ich schon ein Jahr hier +gestanden und die rufenden Glocken im Winde gehört. Alles war mir so +fern, -- daß Josef ging, und der Zorn des Erasmus, und Sigurds Schmerz +und Empörung. Hier bleibt es immer still.« + +Ihr fielen bei diesen Worten Sigurds ganz ähnliche ein, die er beim +Kommen gesagt hatte, allein sie vermochte nicht zu begreifen, wie das +zusammenhing. »Entblätterte Linden,« sagte sie wie zu sich selbst, +»entblätterte Linden ... Am Boden wirbeln gelbe Blätter ruhlos, -- wer +weiß, wer weiß, wohin einst wir verschwinden!« + +Getrieben vom Verlangen, ihre eigne Stimme zu hören, um die Stille und +die ferne Stimme Sigurds abzuwehren, sprach sie weiter: »Sie sind nun +bald alle fort. Wissen Sie, daß auch Magda geht? Ihr Lehrer ist an die +Berliner Oper gekommen, sie will ihn nicht aufgeben, ein Wechsel wäre ja +auch ungesund für die Stimme. Bogner ist irgendwohin; Ulrika ist mit +ihrer Mutter nach Süden; wo ist Jason? Jason ist verschwunden. Sigurd +geht, Georg ist fort, und Esther ... Ach, mir gellt immer noch das +Todesgeschrei all der Menschen in den Ohren, das ich hörte, als Sigurd: +Esther! schrie. -- Ich bin geblieben, -- wie kommt das? Was wird aus +ihnen, dort, wo ich sie nicht mehr kenne? was wird aus mir?« Sie faltete +die Hände und sah ihn ängstlich an. + +Saint-Georges' ruhige, lichte Augen umfaßten ihre Gestalt, berührten die +Sonnenblume, sie hörte ihn sagen: »Ich sah Ihre Blumen auf der Sonnenuhr +liegen, -- hatten Sie die schöne Last in die Zeit fortgelegt? Da dachte +ich, daß --« er sprach sehr langsam -- »daß Ihnen nichts geschehen wird, +solange Sie in diesem Hause sind. Hier können Sie leben und sterben +unwandelbar; verlassen Sie es nie.« + +»Josef«, entgegnete sie nachdenklich, »muß vor langer Zeit einmal etwas +gesagt haben, worin das Gegenteil von Ihren Worten stand.« + +Er lächelte nun abwehrend, berührte mit einer Hand leicht die +Sonnenblume und sagte nach einer Weile versonnen: »Wissen Sie, woher das +Wort Heiland kommt?« + +Renate meinte, es bedeute doch wohl heilend. Ja, das lege man dem Wort +wohl jetzt unter, versetzte er, »aber,« fuhr er aufblickend fort, »die +Sonnenblume heißt griechisch Helianthos, und daraus wurde Helianth, +Heliand, wie es noch im Frühmittelalter hieß, dann Heiland.« + +Renate schauderte leise unter einem unkenntlichen Gefühl und hörte ihn +weiter sprechen: + +»Carossa sagt: >Wenn uns gegeben wäre, immerfort ein Wesen zu schauen +und zu denken, so würden wir uns langsam in dasselbe verwandeln.< So +glaubten Heilige, und so verbürgt es die Form der Sonnenblume.« + +»Und wissen Sie,« fuhr er fort, »wer dasselbe geglaubt hat, und wessen +Antlitz es uns verbürgt?« + +Sie lächelte und sagte glücklich: »Ech-en-Aton.« + +Und, kaum wissend, was sie tat, griff sie nach der Blume, löste sie vom +Kleide und reichte sie ihm, ließ aber ihre Hand noch am Stiel, den er +faßte. Den Kopf hielt sie tief gesenkt, und, in blinde Wonne versinkend, +sah sie mit unbeschreiblichem Staunen eine kleine Gestalt in weißem +Gewande vor sich stehn, den König, der an ihr vorüber sah mit dem +fortschwebenden Blick, den er immer hatte, und sie reichte ihm die +Blume, demütig, die er nicht sah. -- -- + +Plötzlich schrak sie leise schaudernd auf, blickte auf die Blume und +rief: »Aber --, sie ist ja schwarz, die Blume, mit goldenem Rand, +umgekehrt wie die Sonne.« + +Nun standen sie Beide, die Blume zwischen sich haltend, und +Saint-Georges schien nicht minder betroffen als sie. + +»Ja,« sagte er endlich, »so weit ist sie gekommen, diese große, eifrige +Blume. Da sie keine Augen hat wie wir, so ist es wahrscheinlich, daß sie +die Sonne als scharfe Lichtscheibe wahrnimmt, und herum ist es schwarz; +davon ward sie das Negativ, und so auch wir: Denn der Gott ist das +gewaltige Strahlen in der Finsternis; wir aber, finster von Leiden, wir +können einmal strahlen, -- schön, Renate.« + +Langsam ließ sie ihren Blick aus seinen Augen gleiten, ließ auch die +Blume los, nickte, sich fassend, und ging an ihm vorüber den Weg hinab. + +Saint-Georges sah: Es flatterte und rieselte gelb und grünlich über ihre +große, grüne Gestalt; das Kleid wehte nach links in schwerem, gebogenem +Bausch, vom Hacken bis zur Hüfte zeigte sich in Festigkeit die Linie des +rechten Beines, das sich gegen den Stoff preßte, seltsam lebendig, +geheimnisvoll anzusehn, als wäre es der Leib der Dryade, an den Stamm, +ins Gezweige geschmiegt. Etwas vorgeneigt ging sie, langsam Fuß vor Fuß, +ihr Haar wehte, ein bräunlicher Schleier, die Arme hatten ab und an eine +leichte, anmutsvolle Bewegung. Da blieb sie stehn, wandte sich, hob mit +sanfter Gebärde das Haar aus der Stirn, so daß es wie ein Winken schien, +und Saint-Georges folgte ihr nach. + + + Siebentes Kapitel: November + + + Renate an Saint-Georges + + Flor am Rhein, 9. Nov. + +Mein Lieber! + +So bin ich doch vom Fenster fort zum Papier geflüchtet. Es ist offen -- +mein kleines Zimmer liegt im Oberstock des Lehrerhauses --, und lange +saß ich davor über dem langsam verdämmernden Garten. Der Tag, den ich +ins matte Braun und Grün der Baumwipfel versickern sah, war +wolkenverhangen und warm; und wenig anders im Herzen, empfand ich wieder +das wolkenverhangene weite Land, durch das ich bis zum Nachmittag +gereist war, den achtlos hinjagenden Himmel von grauer und weißer +Gestaltlosigkeit und die Einsamkeit alles kleinen Lebens an seinem +Grunde, ähnlich dem im dunklen Wasser abgeschlossenen, langsamen mit +sich selber Beschäftigtsein von Schnecken, Käfern, Pflanzen, das man am +Grunde von Teichen beobachten kann. Und so, wenn ich mich einsam +empfand, empfand ich mich doch nicht allein einsam, sondern innerhalb +der einen großen Verlassenheit unter dem Himmel, von der ich wußte, daß +sie heilbar sei. Mein Auge derweil hielt dem mählichen Dunkelwerden +stand, worin sich hier und dort die Gegenwart eines geheimnisvollen +Wesens verriet -- an dem Blätterwerk eines kleinen Strauches in der +Tiefe, am schon entblätterten Ast einer Kastanie, an Blumen ganz unten, +die schon nicht mehr zu erkennen waren, und die alle von Zeit zu Zeit +sich bewegten, ganz lautlos, so als habe etwas sie verlassen, und sie +verneigten sich und murmelten unhörbare Abschiedsworte. Da wars +beruhigend, sich ein stilles und unsichtbares Geistwesen zu denken, das +hier beschäftigt war, Zuspruch und Beruhigung auszuteilen vor Nacht. + +Aber dann kam das Dunkel, und die Einsamkeit überlief mich. Mir schien, +ich bin meinem lieben Freund doch eine Erklärung schuldig, warum ich ihm +mitten aus der Arbeit fort und hierher in die Heimat gelaufen bin, aber +leider -- das muß ein bißchen Geheimnis bleiben. Daß man es aus einer +rechten Verwirrung heraus getan hat, wird er ja verständig geahnt haben. +Sagen aber läßt sich, was man hier suchte -- und auch fand --, und um so +lieber, weil ich mich erinnere, daß Sie schon mehr als einmal nach +meinem Papa gefragt haben und ich damals noch nicht erzählen konnte, +will ich es heute tun und nun gleich damit anfangen ohne weitere +Vorrede. + +Einmal fragten Sie, ob es kein Bild von ihm gebe, und ich sagte: Nur in +meinem Herzen. -- Photographien mochte er nicht leiden, und an Malern +fehlte es wohl. Aber er ist nicht schwer zu beschreiben. Ein kaum mehr +als mittelgroßer, etwas gebeugter Mann, an dem Ihnen zuerst seine Nase +aufgefallen wäre, die nicht eben schön war und etwa so krumm und +mißgestalt wie die von Allmers. Sein Haar, ursprünglich von rötlichem +Blond, begann früh weiß zu werden und auszufallen, und ich sehe ihn nun +immer so weiß wie in den letzten zehn Jahren seines Lebens. Nur fünfzig +ist er alt geworden. Seine Stirn war an Reinheit und edler Wölbe das +Schönste, was ich mir vorstellen konnte als Kind. An seinen Augen wuchs +ich auf. Sein Geist war feurig, er erregte sich leicht, und dann waren +sie blaue Flammen. Wie der Sommerhimmel, wenn ich ihn in die weiße +Obstblüte glühen sah, so waren sie und ihr Blick nur schwer zu ertragen. +Durchdringend war er, fast durchbohrend, eine unbeschreibliche Mischung +von Güte und Strenge. Was aber Strenge schien, das kam allein aus der +starken Wahrhaftigkeit seines Willens und Geistes, und sein Herz machte +es milde, wie die Strenge des Marmors mild wird in der Seele des Bildes. +Sehen Sie, Georges, er liebte die Welt, und er und ich, wir liebten uns +so, daß wir uns nie verließen, und was mich betrifft, ich bin krank +geworden, wenn ich mehr als eine Stunde Weges von ihm getrennt war. Ich +konnte nicht atmen mehr, und das war wirklich. Meine Mutter habe ich +nicht gekannt und sie doch niemals vermißt. Er war mein Lehrer; in eine +Schule bin ich nie gegangen, auch mit Kindern habe ich selten gespielt, +aber ach die unendlichen Spiele mit ihm! Wie wurde da alles lebendig +unter seiner Hand, und er bevölkerte meine kleine Welt mit unzählbaren +süßen Seelen. Er hatte so viele Gewalt, er konnte Krankheiten heilen +durch Handauflegen. Gewiß -- nicht Lungenschwindsucht und dergleichen -- +Sie verstehn. Mir fällt ein: Als Magda krank war, sagte ich es zu Jason, +der trübsinnig an ihrem Bett saß, und er sagte in seiner furchtbaren +Zerstreutheit: Freilich, freilich, ich kann es ja auch! Es sei gar nicht +so schwer, meinte er, man müsse die Geister beschwören. -- Die Geister, +Jason? -- Nun, sagt er, oder die Nerven, ich habe keine Vorliebe für das +Wort. Das sei auch so eine Erfindung wie die mit dem Telephon; ein jeder +brauchts, aber keiner weiß, wie es zugeht. + +Wie aber kann ich Ihnen begreiflich machen, was er lehrte? Er flößte mir +sein Wesen ein. An jedem Tage, in jedem Augenblick gab er mir seine +strahlende Liebe zu erkennen, und daß sie ein Licht war im größern +Licht. Er lehrte nicht Gott. Bedenken Sie, daß ich sieben und acht Jahre +alt wurde, ohne das Wort Gott zu hören, und daß ich noch älter geworden +bin, ohne mehr und andres davon zu wissen, als daß es der Name aller +Völker für ein Wesen sei, das ich lange kannte, also daß es einen Gott +der Juden gab, der Griechen oder der Christen. Sehen Sie, Georges, er +wollte, daß mir das Wort ganz heilig sei, daß ich mir nicht angewöhnte, +es diesem und jenem beizulegen, oder es im Munde zu führen. Er wollte, +daß ich es selber erzeugen sollte aus meinem tiefsten Gefühl, und so ist +es gekommen. Als ich fünfzehn Jahre alt war, mußte er eine Reise machen +und ließ mich zurück, weil ich einmal zu erfahren hatte, wie es ohne ihn +sei. Es waren zwei grausige Tage. Ich lag krank am zweiten an Leib und +Seele, mir war zum Ersticken in meiner Not, am Abend konnte ich nicht +mehr liegen, konnte auch kaum gehen, und halb auf dem Weg ihm entgegen, +fiel ich um und lag an einer Hecke, als er kam. Da schrie, da weinte +ich: Gott! -- unwissend, ob ich den Vater meinte, der wiederkam, oder +das väterliche Wesen, das ihn mir wieder gab. + +Aber nein, so geht es nicht weiter, ich sehe, man muß sein Leben erst +kennen, um verstehen zu können, was er lehrte, denn auch Christus war +ihm Gottes Sohn nicht anders, als wir alle seine Kinder sind. Wo fang +ich an? + +Flor ist nur ein kleines Dorf, abseits vom Rhein, aber die Kirche, die +für das ganze Kirchspiel erbaut ist, ist ziemlich groß und sehr hübsch, +ein einfaches und leichtes Barock, graue Pfeiler und Bogen und Kanten, +dazwischen die Flächen von neuer, schön gelber Tünche. Der Turm ist +zierlich, mit einem Kranz kleiner Säulen unter dem Helm, durch die man +die Glocken sehen kann, die ein und aus fliegenden Schwalben und den +Himmel. Im selben Stil war unser Haus gebaut, das nun nicht mehr steht. +Wenige Tage nach seinem Tode schon brannte es ab mit allem, was darin +war, in einer Nacht. Damals war manches geheimnisvoll, und auch dies. +Das ist nun zwei Jahre her. Die Menschen im Dorf, in der ganzen Gegend +haben ihn sehr geliebt. Sie haben nur den Schutt fortgeräumt, einen +Rasenhügel aufgeworfen und ihn darunter begraben, denn sein Grab war +noch kaum geschlossen. Auf den Hügel haben sie eine alte steinerne +Sonnenuhr gestellt, von der er selber einmal gesagt hatte, daß er unter +ihr liegen möchte. Unter ihrem Spruch: _Demit una, dat altera_ war Platz +für seinen Namen. -- Übrigens waren die zwei ersten Lettern der Schrift +immer ausgelöscht, und Papa sagte, man könnte also das Wort sowohl als +_Demit_ ergänzen wie als _Sumit_, je nachdem, wie man den Spruch +wünsche: die eine Stunde nimmt fort, die andere giebt wieder, oder: die +eine empfängt, und die andre giebt hin. -- + +Dort stand ich nun heut, und im Anfang war es doch schmerzlich, so im +Leeren zu stehn. Von der Haustür, an deren Stelle ich mich versetzen +konnte, führt eine Allee kleiner Kuppellinden auf die Gittertür des +Friedhofes zu; zwischen ihren Stämmen sind mannshohe dichte Hecken, so +hoch, daß die Baumkuppeln nahe darüber schweben, im Sommer ein ganz +grüner Gang, ganz voll Schatten, Sonnensprenkeln und Lindenduft und +tönend vom Summen der Bienen. An jedem Abend gingen wir lange darin auf +und nieder. Das Land umher müssen Sie sich vorstellen wie einen einzigen +Obstgarten. Nur nach dem Rheine zu sind es Rebengärten, etwas kahl, und +der glatte Strom, der sich biegt, scheint öde zwischen den grünen +Uferhängen. Aber ich war dort geboren, und er war mir vertraut und sehr +lieb. + +Ach, Georges, aber das ist auch kein Anfang geworden, und meine tickende +kleine Uhr sagt, es ist schon zwölf. Nun, ich bin gar nicht müde und +will nun ganz von vorn anfangen und bei meinem Großvater. + +Papa sprach selten von ihm, aber Onkel Augustin sagte, er sei +unwidersprechlich der härteste Mensch gewesen, den man sich einbilden +könne. Stellen Sie sich Onkel Augustin vor, seine Gestalt und Gesicht, +ein bißchen kleiner, aber in den rosigen und ewig freundlich scheinenden +Zügen eine nicht zu beschreibende Verhärtung. Seine Mutter ist eine +Wuppertalerin gewesen, und er sah recht aus wie so ein alter Wuppertaler +Fabrikmensch, glatt, freundlich, geistlich und hart. Diese Härte ist +aber so innerlich gewesen, daß sie sich niemals unmittelbar äußerte. +Gegen alle Menschen, auch die er quälte und zugrunde richtete, war er +höflich und scheinbar herzlich; in Gesellschaft verstand er zu plaudern +wie ein Franzose, aber sein Witz soll Tränen in die Augen gebissen +haben. Er war so, daß er zum Beispiel sagte, er pflege zum Aufschneiden +der Bücher, die er lese, ein silbernes Obstmesser zu benützen; davon +bekämen selbst die trockensten eine Erinnerung an Früchte. + +Onkel Augustin ist ganz in seiner Gewalt gewesen -- das waren Kinder +auch damals noch mehr als heut --, aber mit meinem Papa traf er es +schlecht, der war unbändig. Er war kein gutes Kind, war über die Maßen +hitzig, kannte im Zorn keine Ehrfurcht noch andere Grenzen und hatte -- +ja, er litt unter einem unbezähmbaren Zwang, seinen Gelüsten zu folgen. +Zwischen seinem Vater und ihm kam es, als er kaum laufen und sprechen +konnte, zu solcher Feindschaft, daß es ihn, Papa, wie er mir erzählt +hat, noch als er schon lange erwachsen war, schüttelte in der Erinnerung +an manche Szene, und er hatte die qualvollsten Träume. Man muß freilich +wissen, daß Vaters Wesen damals, als er Kind war, nicht sein wirkliches +war, und die Feindschaft kam aus einer höllischen Gegensätzlichkeit +ihres Wesens. Der eine war eben warm, der andre ganz kalt. + +Kalt, ja, und hat doch seine Zeit einer Wärme gehabt. -- Papas Mutter +war ein sanftes, ganz weiches Wesen. An ihr hätte, so sagte Papa, ein +Engel nichts auszusetzen gefunden, und sein Vater hatte keine +Gelegenheit, seine Härte gegen sie anzuwenden. Zärtlichkeit kannte er +zwar nicht, aber -- sie war katholisch, und um sie heiraten zu können, +ist er es geworden. + +Als Papa sieben oder acht Jahre alt war, gab Großvater den Kampf mit ihm +auf und steckte ihn in eine von Jesuiten geleitete Erziehungsanstalt. +Sie wären, meinte Papa, seinem Vater alle ähnlich gewesen in der äußeren +Höflichkeit und Glätte des Betragens und der inneren Verhärtung, und es +waren für ihn furchtbare Jahre. Nicht ohne sein Verschulden, gewiß, er +verübte tausend Tollheiten, er bemühte sich, ihnen entsetzlich und +unerträglich zu werden, als er sah, daß Davonlaufen nichts half, da er +stets eingefangen wurde, und wie er es anstellte, ihnen schrecklich zu +werden, können Sie sich denken. Er höhnte und lästerte die Religion, er +verdarb seine Mitschüler, er kämpfte einen jahrelangen Berserkerkampf +gegen das Göttliche, die heiligen Einrichtungen und Symbole bis zu den +schmählichsten und ausgesuchten Lästerungen. Dies war in ihm wie ein +wüstes Feuer, und er war klug und erfinderisch, und als er im Unterricht +auch die heidnische Götterwelt kennen gelernt hatte, stellte er sich als +Heide, behauptete, das Blut oder die Seele irgendeines Griechen oder +Römers in sich zu spüren, und statt zur Mutter Gottes oder einem +Heiligen zu beten, sprach er mit lauter Stimme Anrufungen an Isis oder +Dionysos. Denen errichtete er insgeheim Altäre in der Absicht, daß sie +entdeckt würden, feierte mit selbsterfundenen oder gar den kirchlichen +Riten ihre Kulte, ja, und dann endete es, glaub ich, damit, daß er eine +Katze umbrachte, um sie dem Poseidon oder Ares Opfer darzubringen. Da +haben denn auch die frommen Väter den Kampf aufgegeben und ihn +heimgeschickt. Drei Tage später saß er im Kadettenkorps. + +Das war wenige Jahre vor dem Krieg 1864, den er als Junker mitgemacht +hat. Im Korps tat er zwar kaum besser als bei den Vätern Jesuiten, aber +jenes schwarze Feuer der Gottlosigkeit fand dort keinen Stoff, um zu +brennen, und alt genug war er auch geworden, um einzusehen, daß er den +Erwachsenen ausgeliefert war, und daß er nichts Klügeres tun konnte, als +sich zu beeilen, gleichfalls erwachsen zu werden; so nahm er sich mit +seinen Tollheiten, nächtlichen Gelagen und Kartenspielen und was es nun +war, einigermaßen in acht. Obschon er nicht aufhörte, alles Religiöse, +vor allem die frommen oder frömmelnden Äußerungen der Mitschüler zu +verspotten, sagte er mir, daß mit dem Abfallen jenes schaurigen Zwanges +der Gotteslästerung eine wahrhafte Erleichterung über ihn gekommen sei. + +Trotz allem diesem hat er nicht so wenig gearbeitet und gelernt, nur +eben aus Trotzigkeit nicht im Unterricht; für sich allein aber trieb er +beispielsweise Italienisch und Spanisch. Wenn aber in der Klasse +Thukydides gelesen wurde oder Cicero, so las er im Gegenteil Pindar und +den verbotenen Catull oder die Begebenheiten des Enkolp -- ach, er war +schrecklich! + +Das Schlimmste daran, jedenfalls für ihn, war, daß er sich zwar weder +kannte, noch anders konnte, daß es aber im Grunde eine unaufhörliche +Qual gewesen; daß ihm immer bewußt gewesen ist, falsch zu handeln, zu +denken, zu fühlen, so als sei er einmal vergiftet worden und müßte Gift +ausschwitzen bei jeder Erregung. Onkel Augustin hat mir erzählt, als wir +über dies alles sprachen, daß Papa als ganz kleines Kind beim ersten +Sehen seines Vaters in ein heftiges Schreien und Weinen ausgebrochen und +noch lange Zeit später seinem Anblick niemals begegnet sei ohne +Geschrei, ohne Tränen, dergestalt daß er späterhin -- Onkel -- sich des +Gedankens nicht habe erwehren können von einem schaurigen Spiel der +Natur, und daß Papas Dasein von Anfang an auf ein falsches Geleise +gesetzt worden sei, von dem frei zu kommen die gefangene törichte Seele +kein Mittel gefunden habe. -- In der Jesuitenschule hat er einen Freund +gehabt, einen sehr alten Mann, der keinen Unterricht mehr erteilte, +seine eigenen Wege ging und sich -- freilich immer in dem vom Glauben +gezogenen Rahmen -- mit naturwissenschaftlichen Forschungen +beschäftigte, auch mit Sternkunde und Astrologie. Der habe, erzählte +Papa, ihm wie jedem neuen Schüler das Horoskop gestellt, und was er +erfuhr -- er verriet es nicht --, muß ihn bewogen haben, den Knaben in +seine Nähe zu ziehen. Nun war sein Äußeres so ehrfurchtgebietend, daß +Papa ihm gegenüber sich hat beherrschen müssen. Sicherlich erfuhr der +alte Mann -- Bruder Jucundus, so hieß er -- von den Lehrern der Anstalt +alles über den Jungen, was ihm selber verborgen blieb. Er hat aber nie +etwas andres getan, als ihm beim Betreten und Verlassen seiner Zelle die +Hand auf den Kopf zu legen und in sein Auge einen Blick zu senken, dem +der Knabe vergeblich standzuhalten versuchte. Er ließ ihn teilnehmen, +auch mit den jungen geschickten Händen helfen bei seinen Untersuchungen +mit dem Mikroskop und den chemischen Experimenten, wies ihm an klaren +Abenden die großen Himmelskörper im Fernrohr, abgesondert vom Firmament, +und ohne eine Erwiderung je zu verlangen, lehrte er ihn nicht nur die +Kenntnisse, sondern das Walten der göttlichen Vernunft in alldem, und +daß Stern und Tier und Pflanze und Menschenherz nur Äußerungen seien +eines ewigen Willens. Seltsam sei es gewesen, sagte Papa, daß er die +Stunden mit dem Greis allzeit als schön, als rein, als wundervoll +empfand, und daß doch mit dem Augenblick, wo die Tür hinter ihm zufiel, +wo noch der unwiderstehliche Abschiedsblick in ihm brannte, die Luft des +Flurs, des übrigen Hauses als dumpfe Wolke sich über ihn gesenkt habe. +Im Augenblick habe er vergessen müssen, krampfhaft und doppelt gereizt +zum alten Treiben. + +Beim Verlassen der Anstalt hat Pater Jucundus ihm dann ein einziges Wort +gesagt. Er sagte: Ich weiß alles von dir, mein Sohn, habe es immer +gewußt, und Damaskus ist nun nicht mehr fern. Gehe mit Frieden! -- Dies, +und mehr noch der gütevolle, ja vertrauensvolle Ausdruck, mit dem es +gesagt wurde, hat Papa noch lange bewegt, ehe er es vergaß. + +Es vergingen aber seit seinem Abschied von dort noch vier Jahre. Dann, +wie ich schon sagte, machte er den Feldzug gegen Dänemark mit, und da +traf er sein Schicksal. + +Lieber Georges, nun ists aus, und ich kann nicht mehr. Halb drei ist, +mein Licht ganz heruntergebrannt, ich bin todmüde, so schön die Nacht +eben ist. Aus der Tiefe des Gartens steigt so ein feines Duften, das +Schlafende atmet stärker, auch reiner als am Tag, und immer wieder hör +ich ein ganz leises Knistern -- Regentropfen auf Zweigen --, und da fühl +ich so schön: die Natur schläft und trinkt zugleich wie ein ganz kleines +Kind. Die gute Natur! Sie ist geduldig und voll, und wir sind schlaflos +und rastlos und verstehen uns nicht in ihrer Fülle. + + Am 10. (vormittags) + +Gestern kam ich vor Schläfrigkeit nicht mehr dazu, Ihnen zu sagen, daß +ich den ganzen Tag noch hierbleiben muß. Der Lehrer hat nicht reinen +Mund gehalten über mein Hiersein, nun weiß es die ganze Gegend, und alle +wollen mich sehn. Aber es gießt vom Himmel in Strömen, ich kann nicht +aus dem Haus, und keiner kann zu mir. Da sitzt sichs schön in der +Verschleierung und Regenkühle dicht am offenen Fenster, mitunter spritzt +was herein, also was da Flecken sind in der Schrift, das ist aus den +Augen des Himmels gefallen und nicht aus meinen. + +Und nun gehts weiter. + +Sie wissen von dem Übergang der preußischen Truppen über den Sund und +der Erstürmung der Insel Alsen am 29. Juni. Er war dabei, in großen +Kähnen setzten sie über, und als der Morgen graute, wagten sie die +Landung. + +So hat er mirs zwanzig- und hundertmal beschrieben. Die lange +Nachtfahrt, lautlos, ohne Licht, mit umwickelten Rudern, dann das +schaurige Ergrauen der Welt im Osten, das Schwinden der Sterne im kalten +Nachtraum. Ihm war schon schauerlich um das Herz; obwohl er seine +Erregung nur für Abenteuerlust hielt, schien es ihm mehr, als führen sie +alle zu einem Fest der Sonne über das dunkel Unsichtbare, dessen Dasein +seltsam plätscherte an den tastenden Rudern, als zum Sterben und Töten. +Als einer der Ersten sprang er dann in das flache Wasser. Es ward +bereits hell; die Umrisse der Insel erschienen deutlich im Morgengrau, +und das Letzte, was mein Vater sah, war am bleichen Osthimmel der eisige +Morgenstern und seine schreckliche Verwandlung. Denn da fiel ein Schuß, +er spürte einen allmächtigen Schlag auf die Brust, nein, mitten auf das +Herz, und in einem ungeheuren Erdonnern fand er sich angedroht von dem +gewaltigen Stern wie vom Auge der Welt. + +Ihm schwanden die Sinne; er lag, als er erwachte, am Ufer; und da war er +ein anderer Mensch. + +Und wie ging es zu, Georges? Er hatte in seinem Besitz eine alte große +Münze, die er bei einem seiner ersten Besuche in der Zelle seines alten +Freundes an sich genommen und später nicht zurückzugeben gewagt hatte. +Die war ihm eigentümlicherweise in die Hand geraten am Tage, wo er +seinen Koffer für den Feldzug packte, und in einem unbegreiflichen +Gefühl, wie unter einem unwiderstehlichen Zwang hatte er, da ein Loch +darin war, eine Schnur durchgezogen und sie um den Hals gehängt auf die +nackte Brust. Er zog sie hervor, als er am Ufer der Insel in der +Morgensonne lag; ein Geschoß steckte darin, und sie war blutig, da es +noch in seine Brust eingedrungen war. + +Nicht wahr, Georges, das scheint nicht eben viel, ein glücklicher +Zufall, nichts weiter, und ich glaube wohl, man müßte es alles erlebt +haben, um es zu begreifen: die nächtliche Fahrt, die Waffen, die +morgendliche See und den Feind im Verborgenen, den bleichen gewaltigen +Himmel und den Stern und vorher das ganze gequälte Leben: um zu fühlen, +daß eine Hand ausfahren kann aus dem Unendlichen, um ihren Finger auf +eine Brust zu setzen, während das Auge des Ewigen dich bedroht. + +Ja, so war sein Damaskus. Er hat dann den Feldzug noch mitgemacht, ohne +freilich mehr an den Feind zu kommen, hat danach sein Abschiedsgesuch +geschrieben und ist mit bewilligtem Urlaub ins Riesengebirge gefahren. +Er fand dort eine Stelle, wo er in fast völliger Unabhängigkeit von +Menschen und in Einsamkeit leben konnte, und dort ist er länger als ein +Jahr geblieben, indem er gewann, was er gewinnen sollte: die Einsicht in +die vollkommene Ordnung der Welt. + +Verstehen Sie, Georges? Die Weisheit Kaiser Mark Aurels, >die von Ende +zu Ende reicht und stark und sanft alle Dinge ordnet<. Ganz gewiß, diese +wars, die er einsehen lernte, und die ward sein Glaube. Aber welcher Art +war diese Einsicht? Sie hat ihn erfüllt wie ein Odem, so war sie +überall, und jedes Ding von ihr lebend, sie, die ewige Weisheit, deren +Walten die Liebe ist. Aus Neigung und Abneigung der gewaltige Einklang, +und daß alles Beseelte beseelt ist vom Streben nach Neigung und nach dem +Einklang. + +Ich weiß nicht, ob Sie ganz verstehen, oder ob Sie vielleicht fragen, +wie mancher fragen wird: Warum, wenn eine Vollkommenheit ist, warum ist +sie so, daß ich sie nicht zu sehen bekomme, indem es mir elend geht? + +Nun, auf diese Frage hatte er allerlei Antworten, und eine sehr einfache +ist mir im Gedächtnis geblieben. Er sagte: Wenn einem Menschen, der +niemals ein Bauwerk gesehn hat, ein einzelner Stein gezeigt wird, so +wird es ihm auf keine Weise gelingen, sich eine Vorstellung zu machen +von der Vollkommenheit des Gebäudes, das sich aus einer Anzahl solcher +Steine errichten läßt. Und, die Vernunft des betrachtenden Menschen in +jenen Stein übertragen, so wird auch der Stein keine Vorstellung haben +können. Darum, wie hoch auch die Vernunft eines Teiles sein kann, so +wird er doch niemals eine Vorstellung gewinnen können von der Ordnung +des Ganzen, dem er zugeteilt ist, ja das durch ihn besteht. Daß aber der +Mensch nur ein Teil ist, kein Ganzes, wie jedes Ding, das braucht nicht +bewiesen werden. + +Nein, höre ich meinen klugen Freund sagen, denn sonst würde er nicht +zeugen, -- immerhin aber ein sehr schwerer Glaube für Menschen, und gab +es keine Erleichterung? + +Freilich wohl, und eine vor allem. Er hatte doch in einem Augenblick +seines Lebens diese Vollkommenheit wirklich gesehen. Ja, Georges, er +hatte ihren Finger gefühlt leibhaft, mitten im Herzen -- das heißt, er +hatte Allmacht gefühlt, sie, die ihm dann in seinem einsamen Jahr wieder +erschien in anderer, nicht mehr bedrohlicher Gestalt, eben als die +Vollkommenheit. Also konnte sie offenbar werden. Und so war dies sein +Erkennen und sein Glaube, daß sie beherrscht war von einer süßen +Neigung, offenbar zu werden. Liebe, das war die Kraft, die all die +Myriaden Teile dieses Ganzen zusammenhält, und so war es ihm durchzogen +von einem schimmernden Netzwerk von Offenbarungen. Lassen Sie es mich +noch einmal sagen: als er Einsicht gewann in die ewige Weisheit, da ward +sie ihm so feurig leibhaftig, so odemvoll lebendig, so schnaubend regsam +in ihm und reich an unendlichen Sinnen und Kräften, daß sie sich von +einem persönlichen Gotteswesen, wie Andere es für wahr halten, nur durch +die Eigenschaften unterschieden haben mag, die eben die Andern ihm +beilegen. Sie hatte ja fast Züge, und mir, Georges, mir sah sie schon +ganz aus wie mein Vater. Sehen Sie, Freund, Gott ist immer ein und +derselbe, und verschieden sind nur die Wege. + +Ein wundervolles Gewebe von Offenbarungen, das erfüllte ihm die Welt, +und überall konnte dessen Feuer hervorleuchten, aus einer Blume, aus +einem Stern, aus Kindesmund, aus der Bibel. Der Einfältigste konnte es +empfinden, und der Weise es auslegen. Ja, so stark sei der Wunsch +Gottes, offenbar zu werden, daß die Offenbarung nicht wahr zu sein +brauche an sich, sondern allein wahr durch den Glauben des Herzens, und +Spiritismus und Okkultismus, Bibelauslegung und Zungenreden der Sekten +-- all das galt ihm so lange für ernst, wie er den Ernst zu sehen +glaubte in der Seele des Menschen. Er selbst glaubte fest an die Sterne, +und das war der Grund, weshalb ich geboren wurde. + +Das ist nun aber mal furchtbar komisch gewesen. Er glaubte an die +Sterne, ihren Zusammenhang untereinander und unseren mit ihnen, wie +schon sein alter Lehrer, Pater Jucundus, ihn unterwiesen hatte. Und so +-- nachdem er gründliche Kenntnisse in der Sterndeutekunst erworben +hatte -- glaubte er auch, daß ein Mensch, zu einer bestimmten Stunde +gezeugt, zu einer bestimmten Stunde geboren, gewisse, in den Sternen +ausgedrückte und erkennbare Eigenschaften auf die Welt bringen würde. +Und nun sehen Sie, Georges: es ist alles eingetroffen, Zeugung und +Geburt zu den vorgesetzten Stunden, und gewisse Eigenschaften auch, bloß +-- er hatte alles berechnet auf einen Sohn, und es kam eine Tochter, +nämlich ich. + +Papa, als er es mir erzählte, sagte, er sei im Leben nicht so verblüfft +gewesen. Er hatte die Möglichkeit, daß es kein Sohn werden könne, +überhaupt nicht im entferntesten geahnt und wollte nicht glauben, was er +sah. Nachher freilich habe er auch lachen müssen wie nie im Leben. Er +sah nun ein, daß die Vorsehung sich zwar erkennen läßt, aber in keiner +Weise beeinflussen. Im übrigen stimmte, wie gesagt, die +Sternenberechnung durchaus, und auch ich hatte gewisse Eigenschaften +bekommen, die jene Stunde der Geburt einem weiblichen Kinde verleihen +sollte, und weiter noch hat es sich in meinem Leben gezeigt, daß von +drei >Schicksalstagen<, als welche auch in der Sternauslegung eine große +Rolle spielen, der erste eingetroffen ist -- die andern verriet er mir +nicht --, sein Todestag. + +Aber davon später; wir verließen ihn ja im Riesengebirge, und ich will +weiter erzählen. + + Nun wieder nachts + +Es ist doch Besuch gekommen, und ich hab abbrechen müssen. Gegen Mittag +hat das Wetter sich dann aufgeklärt, ich konnte meine Besuche machen, +und um ja zu recht Vielen zu kommen, hab ich einen Wagen anspannen +lassen. Das war eine Fahrt! Der Himmel so blau, die Erde dampfte ganz +wild in der Sonne, und über das lächelnd Blaue flog immerfort Weißes, +als würden lauter Tücher emporgeworfen, immer dahinten, wo man nicht +sein kann. Die Obstblüte, dahier das Schönste, ist ja leider zu andrer +Jahreszeit, aber dies Grün, o dies nasse, schwere Grün der Bäume und +Wiesen, und noch Blumenfarben in den kleinen Gärten und die blitzenden +vielen Silberkugeln und die blauen, die sie lustig hineingestellt haben, +und in denen man den Himmel sehn kann und alles, mitten zwischen den +Blumen. Vor jedem Dorf auf der Landstraße kamen die Kinder mir +entgegengelaufen, alle kleinen Hände voll Sträuße, mein Wagen ist so +voll geworden, daß sie an den Seiten wieder herausfielen, und aus den +Haustüren traten die alten Leute, lachten und weinten -- sicher hab ich +zwanzigmal Kaffee getrunken, na und Kuchen so viel, daß ich kein' Atem +mehr kriegen konnt, und geredet! Das sind ja dahier rheinische Menschen, +nicht so plump wie der Bayer und so derb, auch nicht so verschlossen wie +der Bauer im Norden, sondern treu- und offenherzig und redselig, und o +fein sind wir und gebildet, und wie war ich froh, daß ich ihr Schwäbisch +noch hab verstehen können! Ach, daß sie mich Alle gern mögen, weiß ich +ja auch, aber eigentlich hat es alles doch ihm gegolten, und ich bin ja +auch sein Geschöpf, und ich hab wohl gesehen, daß ihnen Allen so lustige +kleine Spruchbänder vom Mund wegflogen, wie auf den Bildern im +Mittelalter; wo aber auf denen jedesmal der Name der Person aufgemalt +ist, da hat immer sein Name gestanden --, ach lieber Freund, ganz satt +und trunken haben sie mich gemacht mit ihrer Liebe zu ihm! + +Und ich muß nun, wenn ich weiter erzählen will, im Gegenteil von +Lieblosigkeit reden, aber es wird ein Übergang sein, und halt läßt es +sich nicht ändern. + +Er hatte, bevor er in seine Einsamkeit ging, dies Vorhaben und seine +Notwendigkeit seinem Vater nur schriftlich mitgeteilt und keine Antwort +empfangen. Ins Haus zurückkehrend, mußte er von der Dienerschaft +erfahren, daß seine Mutter gestorben war, und daß sie den Auftrag +hätten, ihn am Eintritt zu verhindern. Er kehrte um, eine Adresse +zurücklassend, um die er gebeten wurde. Der Großvater schrieb ihm, daß +er nunmehr satt sei der Unbotmäßigkeit. Er möge sehn, was er treibe, ihm +jedoch nicht früher vor Augen kommen, als bis er im Besitz eines Berufes +sei, der ihn ernähre. Die Unterstützung hierzu könne er alljährlich bei +einer Bank beheben. -- + +Papa hatte nun das Glück, einen wundervollen Aufschwung all seiner +Kräfte und Fähigkeiten zu erleben. Die Offenheit der Welt war in ihm, +und was in ihn stürzte, war Reichtum der Welt und kostbare Nahrung. In +der Einsamkeit hatte er zu der großen ersten Erkenntnis eine zweite, für +sein tätiges, sein gleichsam persönliches Leben gültige gewonnen -- die +seiner Berufung zum Priester. Zum Priester ja, und weniger zum +Verkünder, zum Apostel, sosehr er glaubte, damals, im mächtigen Feuer +seines Gottesgefühls glaubte, den Schatz einer neuen Religiosität +gefunden zu haben. Jedoch hatte er bei aller Leidenschaftlichkeit +keinerlei Anlage zum Revolutionär, ja, er verabscheute das +Revolutionäre, das Zerstörerische daran und auch die Gewaltsamkeit neuer +Formung. Da allezeit kaum der hundertste Teil von dem, was der +revolutionäre Geist erstrebt, seine Verwirklichung in der menschlichen +Gemeinschaft findet, so schien es ihm ersprießlicher und seinem Wesen +gemäß, die Verwirklichung des von ihm Erkannten zu erstreben und +versuchen im einfachen Wirken. Bilden, sagte er, im menschlichen Stoff, +ist Umbilden; ist, den guten, den brauchbaren Keim zu erkennen und, ihn +entfaltend, die alte Form zu durchwirken und umzuschaffen. + +So ging er fürs erste daran, die menschlichen Wissenschaften vom +Göttlichen sich zu eigen zu machen, indem er zunächst Theologie +studierte, später auch Philosophie, Natur- und Sozialwissenschaften. +Dazu erwarb er reiche Kenntnis in den lebenden und toten Sprachen, sogar +im Sanskrit und der Bilderschrift der Ägypter, überall aus den Quellen +selber zu schöpfen geneigt. Erst fünf von den zehn Jahren, die er daran +setzte, waren vorüber, als sein Vater die Zahlung der Unterstützung +einstellte mit der Begründung, es sei ihm zu Ohren gekommen, daß er mit +einer Weibsperson zusammen lebe. Er möge sie aufgeben oder ihn. Papa +mußte dies Ansinnen leider abweisen. Durch seine Verheiratung mit jener +Weibsperson, meiner Mutter, einige Jahre später, und seinen +gleichzeitigen Übertritt zum Protestantismus, zog er sich die väterliche +Verfluchung zu. (Seltsam, nicht wahr, daß der Großvater am Sohn nicht +anerkennen wollte -- ja, vielleicht nicht einmal erkannte --, was er +selber im gleichen Alter getan hatte!) Er ließ ihn wissen, daß er fortan +nur noch einen Sohn habe, und er hielt dies Wort so, daß er auch die +Beziehung zwischen Papas Bruder und ihm gewaltsam verhinderte und ihn +nicht rufen ließ, als er starb. Papa hat ihn nur als Leiche +wiedergesehen. -- Lassen Sie mich aber nun erst von meiner Mutter +erzählen. + +Nachdem jener Schuß auf Alsen Papa getroffen hatte, lag er noch zwei +Tage an der Küste von Schleswig in einer seltsamen Gelähmtheit, die er +erst am folgenden Morgen verspürte, fast weniger der Glieder als des +Willens, bei dänischen Bauersleuten, die ihn pflegten. Besonders nahm +sich ein Mädchen seiner an, noch halb ein Kind, das in jenem Haus +aufgewachsen war, aber ihm nicht entstammte. Sie war eine Deutsche und +dies alles, was man von ihr wußte. Eines Morgens war das Kind auf dem +trocknen Strand in einem Korbe gefunden worden, ohne Zweifel in einem +Boot hergebracht. Ein Zettel von männlicher Hand mit der Bitte, sich des +Kindes um Gottes willen anzunehmen und es zu taufen, verriet so viel, +daß es nicht von bäurischer Herkunft war, was sich denn auch erwies, als +es heranwuchs und von übergroßer Zartheit des Leibes ward. Nicht eben +schön, von sehr schmächtigem Wuchs und auch schmächtigen, länglichen +Zügen, blond und helläugig mit jenen starken Augäpfeln, wie man sie +nicht selten sieht bei so zarten und schmächtigen Geschöpfen, so kenne +ich sie nach ihrem einzigen Bild. Sie war so still wie ein Licht, und +wie das Licht nur Flamme ist, so verzehrte sich in ihr eine goldene +Seele von lauter Feuer. Seit dem Augenblick, wo sie meinen Vater +erblickte, hing ihre reine Jungfräulichkeit ihm an, und er wurde der +Leuchter, der die allzuglühende Flamme noch so lange dem zarten Körper +erhielt. Muß ich sagen, daß und wie sehr er sie liebte? Sie wich nicht +von ihm. In die Einsamkeit zog sie mit, freilich nur bis zu einem Dorf +in der Nähe seines Aufenthalts, von wo sie ihm alltäglich Speisen +brachte. Später lebten sie dann ehelich zusammen, merkwürdigerweise +lange Jahre, ohne Kinder zu bekommen. Denn auf jenen Einfall der +Sternengeburt ist Papa erst viel später gekommen, und obschon sie dann +eine Pause eintreten ließen im ehelichen Umgang, bis sich die Stunde +erfüllte, schien ihm die anfängliche Kinderlosigkeit grade ein Zeichen, +daß alles sich so vollziehn sollte, wie es dann geschah. Aber ach, sie +hat mit dieser Geburt ihre Kraft erschöpft! Fast nur noch Seele, glühte +sie in grausamer Schnelle nieder, und sie erlosch ganz, anderthalb Jahr +nach meiner Geburt, freilich in der inbrünstigen Gewißheit, nunmehr erst +zu reiner Flamme aufzublühn in der Vollkommenheit und überall zu sein +wie das Licht. + +Ich habe, soviel ich vom Vater bekam, doch manches von ihr ererbt. Sie +muß eine Norddeutsche gewesen sein, nach ihrem Charakter und allem, was +man von ihr weiß, und übertrug so auf mich, was schon von Voreltern her +Nördliches im Blut des Geschlechtes war und was mein Vater entbehrte, +dessen Ungebärdigkeit und plötzliches Wesen erst in späteren Jahren zur +Ruhe kam, zu einer mehr gleichmäßigen Glut sich verdichtete. + +Was aber nun ihn angeht und seinen Beruf, so hatte er inzwischen einsehn +gelernt, was ich schon sagte: daß Gott der Eine ist, verschieden nur die +Wege. Er wollte Neues bringen, einen neuen Weg, aber nicht mit Schrecken +und Übermaß, sondern allein durch das Wirken von innen. Er hatte auch +die Menschen kennen gelernt und sah, daß sie des Priesters bedurften, +die Einfältigen wie die Klugen, des Hülfreichen, Heilenden, so gut wie +ihr Körper des Arztes, und dies wollte er sein. Ja, wenn er einen neuen +Weg zu finden gemeint hatte, so war er ersichtlich doch neu nur in +seinen Augen und uralt in Wirklichkeit, daher es seinem Wesen +widerstrebte, als neu auszurufen, was es in Wahrheit nicht war. Längst +erkannt hatte er auch Jesus von Nazareth und sein ewig Gültiges, obschon +er ihm mehr durch sein Leben als durch sein Sterben jene >stark und +sanft alle Dinge ordnende Weisheit< zu vertreten schien. Und wenn sie +ihn nicht gekreuzigt hätten, sagte er, würde er _nicht_ gen Himmel +gefahren sein nach solchem Leben? Also kann ich mit Recht den Kreuzestod +überschlagen, aus dem sich doch, wenn man die Summe zieht, zwar die +Kraft seines Wesens und Glaubens, aber mehr noch die Unvernunft der +Menschen ergiebt, und die, sagte er und lachte, ist schon anderweitig +bekannt geworden. Er unterließ nicht, auch das Blutzeugnis Christi +anzurufen, wenn er an die Kraft der Gläubigkeit im Menschen gemahnen +wollte, aber seine Abendmahlspredigten -- nun, ich werde sie Ihnen +daheim zu lesen geben. + +Er hatte ferner erkannt, daß der einfache Mensch der Satzung bedürftig +sei und des Dogmas, aber daß es Beruf und Aufgabe eben des Priesters +sei, diese auszulegen auf den rechten Gebrauch, damit sie würden, was +sie sein sollen: Mittel des Lebens, Hülfen, Ordnungen, nicht aber was +die Menschen allzeit aus ihnen gemacht haben: Ketten, Hindernisse und +Kerker und Fallen, die sie unaufhörlich einander stellen. Er erkannte +endlich, wie schwer es sei, sie zu seiner Einsicht zu führen, die für +ihre Augen zu blendend war, und daß sie der lindernden Spiegel +bedurften, um den ewigen Strahl zu ertragen, um ihn zu lernen, bevor sie +ihn ungeschützten Auges empfingen, -- aber auch daß es überall die +Wenigen gebe, die der Wahrheit ins Antlitz zu schauen vermögen; daß es +seine Aufgabe sei, vor allem diese zu finden, zu bilden, zu einer +Gemeinschaft zu gestalten, die weiterhin sich auswirke. + +Priester des katholischen Bekenntnisses zu werden, war ihm solchermaßen +unmöglich, da er keinen Stellvertreter des Ewigen auf Erden anerkennen +konnte. Im Kern der protestantischen Lehre dagegen, dem: so halten wir +es nun, daß der Mensch gerecht werde nicht durch des Gesetzes Werk, +sondern allein durch den Glauben, fand er den Quell seiner Lehre wieder, +die mit der Einsicht in das Wesen der Vollkommenheit beginnt, die eine +Religiosität und Lehre freilich sein soll für das Leben und das Handeln, +in der aber jegliche Handlung erst möglich wird durch den Glauben. -- So +ist er Protestant geworden und verknüpfte mit dem Übertritt die +äußerliche Form der Ehe mit Mama, die zuvor nur vor Gottes unsichtbarem +Altar geschlossen war. + +Sehen Sie, lieber Freund, welch schwerer Glaube es war, den er seinem +Kinde von Anbeginn lehrte, nur mit dem einen lindernden Spiegel, dem +Augenpaar ewiger Liebe unter seiner eigenen Stirn. Denn eines war für +den Menschen in dieser Lehre nicht enthalten; eines, dessen mit allen +Religionen auch das Luthertum, das er auf der Kanzel vertrat, nicht zu +entraten wußte; die eine gewaltige Hülfe Gottes im Leben: das Gebet. Ja, +die Wenigen, die er ganz für sich gewann, des Gebets zu entwöhnen, war +die schwerste, war ja die eine, eigentliche Aufgabe. Denn sie ist, die +Vollkommenheit, ist, und sonst nichts. Erflehen läßt sie sich nicht, +sondern allein empfinden, und dies ist die Aufgabe, die sie auferlegt, +so ganz von ihr erfüllt zu sein an Seele und Gliedern, sie so aufgesogen +zu haben in das Sein, ins Fühlen und Denken und Handeln, daß sich in ihr +leben läßt, und daß Leben heißt, sie ausstrahlen. Und davon die Folge? +Daß in jeder Lebensnot, jeder Gefahr, in aller Ungeduld und Verwirrung +und Trübsal der Mensch allein angewiesen ist auf sich selbst. Nichts +ist, was sich erbitten und beschwören, was um Halt, um Erleuchtung, um +Linderung sich anrufen ließe. Man muß glauben. So viel gab er wohl zu, +daß ein Streben in der ewigen Weisheit walte, eine Neigung, +zurückzugewinnen, was aus ihr gefallen sei, entgegenkommend dem Streben +des Gefallenen selbst. Verwirrung dagegen ließe sie kaum noch gelten, +sagte er, und was überhaupt die große Mehrzahl der Daseinsnöte angehe, +alltägliche Kümmernisse und dergleichen, so möge sich keiner einbilden, +daß sie, die Weisheit, eine Ahnung davon habe, und möge sich für sich +allein damit abfinden. Wohl habe das Göttliche eine Sehnsucht danach, +ausgestrahlt zu werden vom letzten Punkt der Erde, und eine Freude +daran, sich zu ergießen in jede willfährige Stelle; sie bemühe sich aber +so wenig um das Taube wie um das Blinde, und das hingegen möge der +Mensch selber besorgen. + +Man muß glauben; und ich, ach ich habe es bald erfahren, denn hier bin +ich ja, heute wieder geheilt, aber die Verwirrung, in der ich kam -- ach +wie klein seh ich sie nun! --, war doch so stark, daß sie alles umwarf +in mir und mich hertrieb zu der ganz irdischen Stelle, wo ich einst +alles hatte, Gott und Glauben und Vater und Heimat und Seelenruhe, alles +in ihm, der zu frühe ging und als ich noch lange nicht fertig war. + +Als er starb, da glaubte ich es zu sein. Das war so: + +Er legte sich nieder in seinem fünfzigsten Jahr mit Lungenentzündung und +sagte gleich, er wisse, daß es das Ende sei. Er sagte das mit einem +furchtbaren Gram der Sorge um sein Kind, und bald, als er das Bewußtsein +verlor und delirierte, war aus den Worten, die er hervorstieß, zu +erkennen, daß er von nichts anderem gequält wurde als einer maßlosen +Angst, mich schutzlos, unfertig zu verlassen, und ins Ungemessene stieg +auch die meine. Plötzlich war dann für mich alles aus. Was geschehen +ist, weiß ich kaum. Von Papas Bruder, den ich gerufen hatte, dessen +Kommen ich aber schon nicht mehr wahrnahm, erfuhr ich später, daß ich +bewußtlos dagelegen habe und wie von Stein. Und dies sieben Tage. Er hat +mir nicht sagen wollen, was unterweil mit meinem Vater geschah; sein +Grab war, als ich aus einem tiefen und reinen Schlummer erwachte, eben +geschlossen. Vorher, vor dem Schlummer, so viel nur weiß ich, war das +Entsetzliche. Es hatte keinerlei Gestalt, doch ich weiß, daß es Kampf +gewesen ist. Ein Kampf um Leben wurde ausgefochten, ich weiß nicht von +wem, aber mein Vater hat teil daran gehabt wie ich selbst. Wer gesiegt +hat in dem Kampf, auch das ist mir unbekannt geblieben, aber mein Vater +starb. Später sagten sie mir, die Vögel der ganzen Gegend hätten nicht +gesungen noch gezwitschert in jenen sieben Tagen, -- und was es +bedeutet, werden Sie verstehen, wenn Vetter Josef sagte -- er war mit +seinem Bruder zum Begräbnis gekommen --, daß er niemals eine so +vollkommene Reinheit der Luft eingeatmet hätte wie während jener Tage im +Haus. + +Es war früher Morgen, als ich zu mir kam aus dem schönen Schlaf, -- Ende +des März wars, und in mein Fenster zu ebener Erde herein blühten die +Kirschbäume des Gartens. Am Fenster stehend, so erquickt, als sei ich in +Himmel gebadet, sah ich ihn über den Wolken der Blüte, erwacht wie ich +selbst, seiner wieder froh, vollkommen rein und leicht wie das Licht. +Daß Papa nicht mehr war, wußte ich auf einmal; aber kein Schmerz! So wie +damals in seine Brust der Stern, aber liebend traf mich von oben sein +wieder ewiges Auge. Es machte mir zum Hause die Welt; es legte mich mit +Blumen und Sternen und Häusern und für immer an seine Brust. + +Damals, ach damals war ich stark in seinem Glauben wie nicht vorher, +nicht nachher. Ja, noch so stark, daß, als ich eine Woche später das +Haus verschloß, um in die Schweiz zu fahren, so schmerzlich mich das +Scheiden von allem bewegte, was sein, was doch leiblich an ihm gewesen +war, süß und haltbar, -- daß ich als ganz leicht die Ahnung empfand, ich +würde das Haus nicht wiedersehn. Und selbst als ich, wieder eine Woche +danach, die Nachricht bekam, daß es niedergebrannt sei, weinte ich wohl, +aber ich hielt es für gut und schön, daß auch die weitere Hülle seines +irdischen Daseins nicht mehr sein sollte. + +Seitdem bin ich schwächer geworden und so schwach, daß ich nun hier +sitze. Er war gut zu mir wie je, ließ mich die Schwäche nicht entgelten, +sondern blickte mich an aus allem, aus seinem Hügel und der stillen Uhr, +aus Bäumen und Wolken, und es fiel mir bald leicht, ihm zu versprechen, +daß es das erste und das letzte Mal gewesen sein sollte. + +Sein Blick nämlich erinnerte mich an eine kleine besondere Lehre, ein +privates Haben von ihm, das er mir mitteilte, und dem freilich viel in +meiner Natur entgegenkam -- die Lehre vom Warten. Wie er sein Damaskus +gehabt hatte zur festgesetzten Frist, so glaubte er -- jawohl, ein +bißchen abergläubisch! -- an bestimmte Stunden, in denen lange Gereiftes +zur Vollendung komme, an Tage, in die das Schicksal sich sammle, und -- +wieweit er recht hat, weiß ich zwar nicht, aber in mir kam immer alles +ihm entgegen, wenn er von der Pflicht sprach, geduldig zu sein, ohne +Unrast, nicht bitter zu werden vor der Reife, nicht kränklich im Sehnen, +sich nicht zu vergeuden, nicht zuzugreifen nach allem, was _scheine_, +nicht den edlen Hunger zu speisen mit nichtigen Happen, stark und eifrig +nur in jedem Streben nach einem Guten, dem Glück, da es doch niemals +nütze, die vorbestimmte Frist durch Übereifer und trabende Füße zu +quälen, so wenig es im Eisenbahnwagen helfe zu laufen. Ja, schön, nun +weiß ich das alles wieder recht gut, und doch wäre ich gern den Gang auf +und nieder gerannt im Eisenbahnwagen, um schneller hier zu sein und die +Stillung zu empfangen für das innre Gerenn meiner letzten Wochen. + +Sie aber wissen nun auch, lieber Freund, weshalb ich Ihnen so dankbar +bin für das Geschenk des ägyptischen Königs, und weshalb ich ihn so sehr +liebe, Ech-en-Aton, unseren Freund! Daß ich sein Antlitz erkannte als +reinen Spiegel der Weisheit; daß ich an seinem Auge sehe, wie es blind +und selig ins Herz des ewigen Wesens blickt und sein Strahl es nicht +blendet; daß er nur immer dasteht seit Ewigkeit und sich müht, die +Vollkommenheit aufzufangen mit Leib und Seele. O möchte ich ihn einst +brüderlich empfinden können, wie heute noch tief unterlegen! + +Gute Nacht, Freund, morgen komm ich zurück. Den Brief werden Sie zwar +später zu sehen bekommen als mich selbst, aber deshalb stecke ich ihn +morgen doch in den Kasten, weil ich weiß, daß übermorgen Ihr Geburtstag +ist, und allein zu diesem Zweck hab ich ihn geschrieben. -- Auf +Wiedersehn! + + Renate + + + Erschöpfung + +Es waren wohl Wochen vergangen. Georg vermutete so, -- und auch, sehr +krank gewesen zu sein. Nun war da Helenenruh, und irgendwie war alles +gut. Er merkte, daß er sehr allein war, daß er nicht denken konnte, daß +ganze Tage durch ihn hingingen wie Schatten durch Wasser, daß sein Vater +da war -- und nicht mehr da. -- Daß er zittrig umherging, daß es einmal +Nachmittag war, einmal Abend, und daß viele Fenster waren, hinter denen +es regnete. + +Plötzlich war Bogner zugegen. Er legte eine Mappe vor ihn hin mit +Radierungen, und Georg konnte sehn, was es war, konnte sich freilich +nicht recht entscheiden, ob diese Dinge da wirklich vor sich gingen oder +nur gezeichnet waren. Es sei ein Zyklus >Hades<, hörte er eine Stimme +mehrmals sagen, und jetzt kam er zu sich, Bogners Gesicht dicht über +sich gewahrend, da er neben ihm stand, um die Blätter umzuwenden. Jetzt +hätte er ihn fragen können, wie er denn hierher komme, mochte das aber +nun nicht mehr, sondern beugte sich tiefer über die Blätter, die ihm +ungeheuerlich erschienen wie manche Dinge im Traum. Da waren die +Danaiden, ein unbeschreibliches Gewimmel von Frauenkörpern, die sich +über drei aneinandergereihte Blätter hin an den Gestaden eines Flusses +bewegten; etliche lagen an der Quelle, blumenflechtend, etliche beugten +sich mit ihren Krügen von bekränzten Flößen, Gruppen und Scharen, und +einzelne Wallerinnen schritten in schöner Bewegung von Hügeln zur vollen +Stromesbreite, alle in einer unwahrscheinlichen Helligkeit, alle nur in +Umrißlinien gehalten, und alle ohne Gesichtszüge, leere Ovale statt der +Antlitze zeigend, grauenhaft seelenlos anzusehn. Da war Tantalos, eine +kaum sichtbare Gestalt in einem schwarzen Geklüft, am Boden ausgestreckt +wie ein Frosch, wo ein Wasser verrann, und hier noch einmal, +emporfliegend wie ein Schatten zu den über ihm fortwirbelnden Zweigen +und Früchten. Sisyphos war da, der Akt eines Athleten, der mit Händen, +Kinn und Schultern zusammengekrümmt den riesigen Würfel bergan trieb; +und hier starrte er vom Hügel dem rutschenden Felsen nach, ein Riese, +hülflos, mit ungeheuerlich nach vorn hängenden Schultern und vergreistem +Antlitz; und da war der zu Tal jagende Block in Qualm und Geröll, +dahinter der Mensch, nachstürmend, mit flatternden Haaren, springend, +schreiend, aufgerissen, sinnlos. Persephoneias Antlitz blickte gerade +aus dem Blatt, bleich und ergraut; durch kerzenschlanke Stämme hinter +ihr, unter wagrecht abgeschnittener Masse schwarzer Wipfel schimmerten +elysische Gefilde und Gestalten. -- Georg gingen die Augen über; Bogner +war nicht mehr da. + +Nun kam viel Schlaf. Dann konnte er wieder grade umhergehn und erkennen, +daß es November war. Hin und wieder schlief er, in Decken gewickelt +unter freundlich wärmender Sonne auf der Terrasse. Milch gab es zu +trinken, sehr schöne, in kleinen, kostbaren Schlucken. Stundenlang +hockte sichs angenehm schläfrig an einem Fenster im Klaviersaal, während +es draußen hagelte und stürmte, oder während die Nebel heranwogten und +alles verhüllten. + +Dann trat eines Tages Jason al Manach bei ihm ein, setzte sich nach der +Begrüßung -- es war im Klaviersaal --, erhob sich wieder, ging zu +Bogners Gemälde und stand lange darunter. Georg folgte ihm mit den Augen +und wunderte sich, daß er in kleinen Pausen immerfort den Kopf hin und +her bewegte oder schüttelte. Dann sah er ihn einen Stoß Briefe vom +Harmonium nehmen, damit zum Fenster gehn und sie langsam durchsehn; +schließlich behielt er ein Telegramm in Händen und drehte es um; es war +verschlossen. Al Manach öffnete es, schüttelte, schüttelte, schüttelte +den Kopf, las für sich, schnaubte eine Art Lachen und sah Georg an. + +»Sie haben seit drei Wochen keine Post gelesen?« fragte er. + +Georg bejahte, auf einmal ganz wenig geängstigt. »Ist denn was?« fragte +er. + +Jason blickte wieder in das Telegramm und las vor: »New York, 28. +Oktober. Gerettet. Esther verloren. Jason.« + +Georg zuckte leicht zusammen, hörte das laute Rauschen des Regens auf +den Steinplatten der Terrasse, besann sich, was die Worte bedeuteten, +sah al Manach ans Fenster treten, hinausblicken, den Kopf schütteln, sah +ihn sich setzen, den Kopf senken, ängstlicher nun jeder Bewegung dieses +Menschen anhangend, und hörte ihn reden. + +»Also: Zusammenstoß mit einem Eisberg. Nachts. Ich saß im Café. Die +Rettungsboote kamen meist nicht ins Wasser, zerschellten. Die See war +glatt. Es herrschte eine sogenannte Panik. Ich benahm mich verständig. +Ich suchte Esther. Ich habe sie nicht gefunden. Ich half Leuten in die +Boote. Ich suchte, wie man so im Traume was sucht. Ich sah einen, der +vor Angst ins Wasser sprang. Da wurde ich über Bord geworfen. Ich hatte +eine Schwimmweste an. Ich wurde von einem Boot aufgefischt. Ich sah +etwas, das Sie eine Halluzination nennen werden. Nämlich, ich kenne den +Tod sehr gut. Ich habe ihn seit meiner Kindheit vor mir her gehen sehn, +zuweilen stehn bleiben und mich anschaun und mich vorüberlassen. Auch +unterhielten wir uns oft über das menschliche Leben. In bedeutender +Weise erschien er mir mehrmals, diesmal wars das achte. Wo ich geboren +wurde, stand er dabei, und meine Mutter starb. Als ich acht Jahre alt +war, fiel ich drei Stock hoch herunter und blieb lebendig. Als ich +sechzehn alt war, stand er vor meinem Bett, wo mich die Diphtheritis am +Hals hatte. Als ich vierundzwanzig alt war, stand er zu Füßen des +Bettes, in dem Angelika starb in ihrem Blut. Als ich zweiunddreißig alt +war, sah ich ihn an einem brennenden Eisenbahnzug entlang gehn, und dann +gab er die Genauigkeit auf, und ich sah ihn gleich darauf an einem +Teich, und bei einer Windmühle, und jetzt sah ich ihn mitten im Wasser +stehn, grau und verschleiert wie immer. Ich sah noch etwas. In der Nacht +hoch über mir -- denn so ein Ozeandampfer hat eine schöne Höhe -- war +eine Gesichterreihe überm Bordgeländer, und darin das Gesicht von +Esther, sehr deutlich. Das war still, und die Augen sahen starr nach +einem, der neben mir im Boot saß. Sie warens, Prinz. Da gingen ihre +Augen zur Seite, sie sah wie ich den großen Grauen im Wasser, der den +Arm hob und nickte. Dann lächelte sie. Ich bin gekommen, um Ihnen zu +sagen, daß Esther Sie angesehn hat, als das Schiff unterging. Dies war +sehr feierlich. Sie spielten einen Choral. Ich habe den Tod so großartig +noch nicht erlebt.« + +Nachdem er eine Weile aufrecht gestanden hatte, setzte er sich nun +wieder, als müsse er sich da durch zum Aufhören seines Redens nötigen. +Georg fühlte, daß ihm etwas Schmerzliches in Kehle und Augen aufstieg, +daß etwas ihm heiß über die Wange lief, und dachte: Ich glaube, ich +weine. Darüber aber rannten die Gedanken fort ins erste Kapitel von Jean +Pauls Flegeljahren, wo die Erben um den Tisch sitzen und sich in einer +halben Stunde zum Weinen zu bringen suchen, um das Haus zu gewinnen, und +einer erhebt sich feierlich und sagt, grade wie ein Andrer die Tränen in +sich steigen fühlt: Ich glaube, -- ich weine ... Georg fing leise an zu +lachen, wollte das Lachen halten, es gelang ihm nicht, endlich +schluchzte er auf und wurde still. + +Tot war die kleine Esther. Schon lange war sie fortgefahren, schon lange +war sie tot. Darum hatte sie ihm so traurig zugenickt aus dem +Eisenbahnfenster. Vom >zur rechten Zeit sterben< hatte sie etwas gesagt. +War das nun eingetroffen? -- Einmal hatte er ihr ein Veilchensträußchen +gekauft; eines war herausgefallen, das hatte sie ihm gegeben, eine +winzig kleine, embryonische, dunkle Blume, die er innen in seinen +Handschuh geschoben hatte. Beim Ausziehn dieses Handschuhs fiel es auf +die Erde, und er hob es in einer leeren Zigarettenschachtel auf, er +hatte soviel Anhänglichkeit an so was. Als er sie nach ein paar Tagen +wieder öffnete, war die Blume schwarz und trocken, aber die Schachtel +war ganz voll von Duft gewesen. So breitet die süßere Seele sich über -- +über ... Wie berauschend brauste der Regen! welch ein Getöse! Es ward +dämmrig, es ward dunkel. Jasons bleiches Gesicht war noch dort, aber +nach einiger Zeit verschwand es auch, löste sich auf. -- + +Ob der rote Baum noch am Wasser stand? -- Ein sterbendes Gesicht an +einem Kreuz, erzählte Esther, das mich ansah. -- Georg fing heftig an zu +weinen. Draußen rauschte das unendliche Wasser. Ganz unten lag die eine +Tote, rotviolett gekleidet; eine Muschel lag vor ihrer Stirn, sie +schlief sich aus. -- Warum so ernst, Esther? -- Georg weinte heftiger +und unaufhaltsam, weinte wieder leiser und verlor Schmerz und sich im +Schlaf. + + + Achtes Kapitel: Dezember + + + Renate an Magda + + Altenrepen, am 23. Dezember + +Mein liebes Herz: + +Du sollst nun hören, weshalb ich Dir einen ganzen Monat fast nicht +geschrieben habe. Onkel ist am 2. zurückgekommen; er war nicht zu +erkennen. Im Treppenhaus sah ich einen alten Mann; er war weißhaarig, +mit weißen Bartsprossen am Kinn, gebückt und schlottrig, und verzog sein +Gesicht zu einem abwesenden Höflichkeitslächeln. Dann ging er an mir +vorüber zu seinem Zimmer. Ja, da hing ich am Treppengeländer, mir wars, +als wär ich aus Kalk. Ich weiß nicht, wie lange Zeit verging, bis ich +wagte, ihm nachzugehn. Er saß in einem Sessel und schien aus dem Fenster +zu sehn, antwortete auf nichts. Wie er hergefunden hat, -- ich weiß es +nicht. Ich umschlang ihn und weinte, aber er schien es nicht so recht zu +begreifen; schien nur ungeduldig, mich los zu sein. So ist er seitdem. +Die Speisen kommen meist unberührt zurück. Milch trank er gern; soviel +er bekam, trank er immer aus, und nachdem die Köchin ihn einmal aus der +Speisekammer hat kommen sehn und hinterdrein eine Verminderung der Milch +bemerkte, lasse ich immer eine größere Menge auf seinem Zimmer sein; das +bildet nun, mit etwas weißem Brot, seine Nahrung. Im Anfang, wenn ich +ihn auf meinem Weg zur Kapelle oder zurück am Fenster stehn sah, +lächelte er noch und grüßte mich, aber auf eine so fremde und +unterwürfige Art, -- mich schaudert noch; aber später verlor er mich +scheinbar aus dem Gedächtnis. Jeden Mittag, gleichviel wie das Wetter +ist, geht er in den Garten und fängt an, den Rasenplatz zu umkreisen, +die Hände auf dem Rücken, eine Stunde und länger. Nun laure ich jedesmal +auf seinen Schritt im Treppenhaus, um ihm einen Mantel umzuhängen. Der +Bart ist ihm lang gewachsen, er sieht nun ganz würdig aus, sein Gesicht +ist sonderbar rosig geblieben, die Augen scheinen nun viel dunkler, und +der Bart fängt dicht darunter an. Natürlich habe ich ihn von Doktor Pahl +beobachten lassen; der meinte, er müsse einen Schlaganfall erlitten +haben; ich erzählte ihm alles, von Josef und auch das andre, was er vor +seiner Reise mit mir sprach, und der Doktor sagte etwas von fixer Idee, +und was hilft uns das? + +Einmal sprach ich mit Erasmus. Der sagte wenig. Um seinetwillen, sagte +er, wäre sein Vater nicht so geworden. + +Ich klage nicht, Magda. Ich weiß nicht, wieviel hiervon mein Verschulden +ist. Ich habe ihn allein reisen lassen, ich habe mich früher viel zu +wenig um ihn gesorgt, o wenn es doch mehr wäre, hundertmal mehr, daß ich +etwas _hätte_, daß ich leiden müßte, leiden! Nun ist alles so unbestimmt +und macht nur müde. + +Denkst Du auch wohl an heute vor einem Jahr? Ja, da war ich groß und +stolz und voll guter Lehren. + +Wie ich sonst lebe? Das Haus verlasse ich kaum. Saint-Georges kommt, und +wir arbeiten hier zusammen. Damit der Gelähmte seinen Bruder nicht +entbehrt, habe ich ihm ein Zimmer zurechtmachen lassen, und er wohnt +hier. Das ist er recht zufrieden, sitzt behaglich am Fenster und liest +in sieben Büchern auf einmal. Nun hab ich zwei Gelähmte im Haus. + +Irene kommt sehr oft, hat Dir auch wohl geschrieben. Ihr Mann hat so +viel Arbeit, daß sie viel allein ist: vorläufig trägt sie's mit +Munterkeit. Ulrika gab ein schönes Konzert; sie ist viel in andern +Städten. Sie behauptet, jedesmal den kopfschüttelnden Jason zu treffen, +ich weiß nicht, wie sie das macht, da ich ihn auch mindestens in jeder +Woche zu sehn bekomme, aber er hat ja wohl übernatürliche Fähigkeiten. + +Ich lese viel. Philosophie ist kein Trost, aber haltbar; ich kam durch +Zufall dazu, da ich Schopenhauer aufschlug und in der Vorrede ein so +nachdrückliches Verbot der Lektüre seines Werkes fand, es sei denn, man +hätte die sämtlichen Philosophen vor ihm gelesen, daß ich -- unter +Saint-Georges' Anleitung -- von vorn angefangen habe. + +Dies ist ein schlechter Brief. Mir stehn die Tränen im Halse, und die +Feder in der Hand will nach jedem Wort stillstehn. + +Eben öffne ich in Gedanken den letzten Brief von Ulrika. Folgendes steht +drin: »Mir fällt gerade ein, wie ich Dich neulich dasitzen sah und +lesen, in Deinem grünen Kleid neben der Schirmlampe, das Buch im Schoß, +ein Bild der Nachdenklichkeit. Jetzt weiß ich, wem ich Dich damals +bewußt verglich; ich dachte, Du seist Pallas Athene, der man das erste +gedruckte Buch in die Hände legte, und sie kann es gleich lesen, die +Allwissende, und freut sich, wie klug die Menschen mit der Zeit geworden +sind. Man kann sich kaum denken, daß Du wirklich liesest, was Du in der +Hand hältst, Du bist so schön, was kannst Du auch lernen, es ist, als +hättest Du alle Weisheit, und Dein Lesen ist nur ein Wiedererkennen von +Dingen, die Du vor tausend Jahren selber erdachtest.« Mir zur Strafe hab +ich das aufgeschrieben. Das denken, das wissen die Menschen von Einem, +so können wir erscheinen, ach, das Mißverhältnis, zwischen dem, was man +ist, und dem, wofür unser nächster Nachbar uns hält, wird mir vor Tragik +bald komisch erscheinen. -- Übrigens ist mir Ulrika eigentlich auch so +fremd wie -- -- ach, was wissen wir voneinander! + +Manchmal, weißt Du, ist es so still, daß ich meine, ich müßte es hören, +wenn nur ein Zug in meinem Gesicht sich bewegt. Es ist ja alles in +dieser furchtbaren Stille vor sich gegangen. Alles? Sigurd schrie doch +einmal auf, Erasmus tobte; aber mir scheint, dies war nicht das +Eigentliche. Stillschweigend ging Jason, still Esther, stillschweigend +der Onkel, und in diesem Schweigen vollzog sich das Eigentliche, und +dennoch, dies, was wir nicht lärmen und platzen hörten, es schickt doch +seine gefährlicheren Wellen in den Raum, und diese verschlingen und +vergiften uns schrecklicher und boshafter als die lauten Gefahren und +die erschütternde Verzweiflung. + +Nun läuft die Feder. Ich fragte Saint-Georges: Wie nennt man doch diese +Zeit der Windstille im Jahr, -- ich vergaß das Wort. Er, gleich +verstehend wie stets -- ja, wenn ich ihn nicht hätte! -- sagte: Wenn der +Eisvogel, Halkyon, brütet, herrscht Windstille, wie man sagt. -- Dann, +sagte ich, haben wir wohl die halkyonischen Jahre. Der große Eisvogel +Schicksal brütet. Er hoffe, meinte er freundlich, es werde kein +Basiliskenei sein, das man ihm untergeschoben habe. -- Ja, wer weiß +denn, ob nicht alles erst kommt ... Ich bin ja auch vollkommen +unberührt. Eigenes Schicksal blieb aus; ich warte. + +Ein Paket mit ein paar Kleinigkeiten ging schon vor drei Tagen an Dich +ab. Jede mußt Du Dir eingepackt denken in eine Hülle guter, frommer +Wünsche. Sag, sind das nicht Verse von Georg, die er Dir einmal +schickte: + + Sie hält ihr Herz nun offen in der Hand + Wie eine Lampe, liebreich im Verspenden, + Dieweil sie weiß: durchstochen und verbrannt, + Ihm kann nichts mehr geschehn von fremden Händen ... + +Ich vergaß das Übrige; damals mochte ich es nicht sehr, eben traf es +mich seltsam. Hirten und Himmlischen ein Wohlgefallen, -- schloß es +nicht so? Genug. Leb innig wohl! + + Renate + + + Heiliger Abend + +Renate stand, den Rücken in eine Fensternische der Halle gelehnt, und +blickte in die gelben Lichtflammen des kleinen Baums auf dem +reichbeladenen Tisch, den sie für Saint-Georges' Bruder aufgebaut hatte. +Saint-Georges saß auf einem Stuhl daneben, ein Buch in der Hand, in dem +er blätterte. Sie schwiegen. + +Renate dachte: Gleich werde ich anfangen zu weinen. Die Lichter +verschwammen vor ihren feuchtwerdenden Augen, unsägliche +Kindheitsstunden lösten sich aus dem Geruch von brennendem Wachs, Harz +und Nadeln. Ihre Stimme war heiser, als sie fragte: »Wie feiertest du, +-- wie feierten Sie eigentlich Weihnachten?« + +Er sah nachdenklich auf und antwortete: »Gar nicht. Da wir keine Eltern +hatten, hatten wir auch kein Weihnachten.« + +»Richtig,« sagte sie, sich ermannend, »es ist ja ein Familienfest. +Wollen Sie nun Ihren Bruder holen?« + +Überdem wurden viele Schritte draußen hörbar, es klopfte, Köchin, die +Hausmädchen, Zofe, Diener, Gärtner, Chauffeur kamen verlegen herein, +knicksten und dienerten und wollten sich bedanken. Der Diener hielt eine +kleine Rede, in der er dem Hause »auch wieder frohe Tage wünschte, da +sie es alle so gut gehabt hätten«. Renate gab allen die Hand, dankte +ihnen für ihre Dienste und fragte, ob der junge Herr auch bei ihnen +gewesen sei. Ja, und er hätte sogar Punsch mit ihnen getrunken. Immerhin +schienen sie Alle froh, wieder verschwinden zu können. Eins der +Hausmädchen, verschmitzt, wünschte Renate persönlich beim Händedruck, +daß auch der junge Herr Josef bald wiederkommen möchte. -- Gleich darauf +rollte Saint-Georges seinen Bruder im Stuhl herein, schon hochrot im +Gesicht. + +Und nun bekam er Gottfried Kellers sämtliche Werke, die er sich +gewünscht hatte, und Conrad Ferdinand Meyers sämtliche, von denen er +einmal zart wie von etwas unerreichbar Kostbarem gesprochen hatte, und +den schönen Till Eulenspiegel von de Coster, und den ganzen Strindberg, +und den ganzen Jakobsen und die Gedichte von Rilke und die Geschichten +vom lieben Gott und alle Novellen von Storm, o Gott, es schien überhaupt +nicht aufzuhören. Es kam dazu, daß er ganz laut krähte. Aber dann saß er +glühend still neben seinem Tisch und dem eichenen Regal, das diese +Herrlichkeiten enthielt, und versank darin. Renate, vor unsäglicher +Gerührtheit zitternd, wäre Saint-Georges gerne um den Hals gefallen, gab +ihm eine goldene Uhr im Armriemen und stammelte verzagt, er möchte auch +an sie denken. Bei seinem Gelächter fand sie sich wieder, konnte mit +Fassung sein Geschenk, nämlich eine Photographie von sich selber +entgegennehmen, die sie sich ausbedungen hatte, und als es jetzt wieder +klopfte und Bogner mit einer großen Kiste auf der Schulter erschien, in +der Tür stehn blieb und erstaunt sagte: »Guten Abend, Frau von Bernus!« +hatte sie sich so weit wieder, daß sie triumphierend die bloßen Arme +ausstrecken konnte und rufen: »Er hats gleich gesehn, und du hast nichts +gesehn!« (Aber mein Gott, dachte sie, ich verspreche mich bald +fortwährend!) + +»Was denn?« fragte Saint-Georges. -- Bogner setzte geschickt seine Kiste +ab wie ein Dienstmann. -- Sie trat vor Saint-Georges, ließ den breiten +Umhang von Blaufuchs von den nackten Schultern gleiten, zeigte ihm die +spitze Schneppe der Taille vorn, strich die grauen Falten ihres +mächtigen Seidenrocks weit auseinander und schüttelte den Kopf, um ihm +die Frisur von Zöpfen zu zeigen, die vorn vor den Ohren in Schleifen +herunterhingen. + +Ja, aber er kennte Frau von Bernus doch gar nicht. + +Bogner erklärte, es sei ein Porträt von ihr von dem Maler Veit in der +Jahrhundertausstellung gewesen, und Renate sei ihr tatsächlich ein wenig +ähnlich, wenn auch im Entferntesten nicht so süß. + +»Und meine Hakennase!« schrie Renate. »Nein, denkt euch, nun muß ich +euch was erzählen. Die Kiste mach ich nachher auf, Bogner, ich darf +doch? Also ich wollte doch Erasmus etwas zu Weihnachten schenken. Da +ging ich in sein Zimmer, um nachzusehn, was er wohl brauchen könnte. +Aber da sahs aus! Ein Wust von Sachen, alle Stühle waren hochauf beladen +mit Stapeln von technischen Zeitschriften, aber dann hab ich eine +merkwürdige Entdeckung gemacht. Über seinem Bett an der Wand hing an +einem eisernen Krampen und Schnüren ein ganz windschiefes Bücherbrett, +drei Stockwerke, und darauf standen die sämtlichen Werke von Jean Paul, +Balzac, Dickens und Dostojewsky, diesen ausgenommen in der Ursprache. +Und auf dem Nachtkasten, offen mit dem Rücken nach oben, lag der Komet +von Jean Paul. Hättet ihr das von ihm gedacht? Nun hab ich ihm ein +festes Gestell machen lassen, und da die Bücher alle grausam +zerfleddert, auch die Ausgaben sehr gewöhnlich waren, hab ich ihm alle +neu gekauft, und schließlich die ganzen Zeitschriften in das große Regal +nach Nummern geordnet, ja, das war eine Arbeit!« + +Bogner sagte nachdenklich, den Erasmus kenne keiner, worauf er sich +verabschiedete. In der Tür begegnete ihm der Diener, durch den Erasmus +das gnädige Fräulein und die Herren Saint-Georges bitten ließ, mit ihm +zu speisen. Renate staunte. + +Das Speisezimmer war leer, als sie es betraten. Auf Renates Teller lag +ein Strauß samtschwarzer Rosen, darunter ein Lederetui, in dem sie unter +einer Karte mit einem Glückwunsch von Erasmus' Hand eine mehr als +talergroße Scheibe von dunkelbraunem, stumpfem und rauhem Bernstein +fand, die an einer dünnen Goldkette hing, eingefaßt in einen Kranz +kleiner Perlen. Darüber entstand eine kleine Wirrnis in ihr. Welche +Anstrengung der Phantasie für seinen mühseligen Geist! So also +beschäftigte er sich mit ihr? + +»Georges,« sagte sie -- denn sie mußte sich herauswinden -- »haben Sie +ihm dabei geholfen?« Er gestand es. + +Da sie nun den Schmuck um den Hals hängen wollte, erwies sich die Kette +nicht lang genug, daß die Scheibe auf ihrer Brust aufliegen konnte. +Saint-Georges nahm sie aus ihrer Hand und legte sie um ihr Haar, so daß +die Bernsteinplatte vor ihrer Stirne hing. Sie trat vor den Spiegel. Ja, +sie war ein Wunder an Schönheit. Überdem liefen ihr die Tränen aus den +Augen, sie stürzte aus dem Zimmer, an Erasmus vorüber, ohne ihm mehr als +einen furchtsamen und hastig versüßten Blick zuzuwerfen, die Treppe +hinunter und hielt vor der Tür ihres Onkels inne. Sie öffnete lautlos, +glitt hinein. Im Dunkel waren Kopf und Oberkörper des alten Mannes, hell +genug beleuchtet vom einfallenden Schein der entfernten Straßenlaterne +draußen; so saß er am Fenster; an der Decke über ihm hing der +Schlagschatten des Fensterkreuzes, verzerrt. Als sie die Hand leise auf +seine im Schoß gefalteten Hände legte, blickte er auf und lächelte +gütig, ließ es sich auch gefallen, daß sie seinen Kopf an ihre Brust +legte, aber nach einer Weile merkte sie das Widerstreben seiner +Kopfhaltung, ließ die Hände fallen, trat von ihm fort, zerrte an ihrem +Taschentuch, raffte den Pelzumhang zusammen, faßte und hob ihr Kleid +überm Knie und glitt leise hinaus. + +Wie lange Zeit vergangen war, wußte sie nicht, da sie sich am Fenster +der dunklen Halle fand, hinter sich die Stimme des Dieners vorwurfsvoll +vernehmend, es sei doch aber schon lange angerichtet. Auch was sie +gedacht und empfunden in diesen Minuten, suchte sie vergebens in sich, +als sie, wieder im Speisezimmer, verdunkelten Auges auf Erasmus zuging, +der vor seinem Teller stand, ihm die Hände auf die Schultern legte und +ihn zwang, mit den Augen den ihren standzuhalten. + +»Ich danke dir auch«, sagte sie heftig atmend. Ihre Brust wogte. Da +merkte sie, daß sie nicht seinetwegen zu ihm gegangen war, sondern um +jemand zu haben, an dessen Schulter sie einmal diesen nie gebeugten Hals +ausruhen könne, und nun erschrak sie: Was tu ich denn! was mach ich aus +ihm? ich werde ihn verrückt machen. Sie glitt hastig mit den Händen an +seinen Armen herunter, drückte ihm die Hände und sagte irgend etwas +Muntres. Später bemerkte sie die ungemeine, fast gewandte Gesprächigkeit +des Erasmus, redete ihn auf ihr Geschenk an und hörte seine beinah +launischen Vorwürfe, daß ihr Erscheinen vorhin ihn nicht zum Danken habe +kommen lassen. Als sie nun ihre Verwunderung über seine schöne +Autorensammlung äußerte, meinte er kurz -- es war deutlich, daß er +sofort alles Verdienst ablehnen wollte --, Josef habe er das zu danken. +Er, Erasmus, sei der Meinung gewesen, daß ein gebildeter Mensch eine +gewisse geistige Nahrung brauche, und habe Josef gefragt, ob es nicht in +jedem Lande ein Dichtergewächs gebe, das so quasi die besten +Möglichkeiten seines Bodens und Klimas in sich entfaltete, so daß man +also mit dreien oder vieren der Art alle gute Nahrung beisammen hätte, +und er habe sich denn auf Rußland, das ein schönes, breites Land sei, +England, Frankreich und Deutschland beschränken wollen, was Josef einen +sehr ordentlichen Gedanken genannt habe, nur schien er gemeint zu haben, +daß Deutschland noch um ein Stück breiter sei als Rußland, und da sei +die Auswahl schwer. »Da ich nun Goethe ablehnte, denn den hatten wir ja +auf der Schule, so nannte er mir Jean Paul.« + +Denn den hatten wir auf der Schule, dachte Renate, wie ist das nun +wieder kümmerlich und traurig. + +»Also will ich den nehmen, sagte ich«, fuhr Erasmus fort. »Der wird dir +aber zu schaffen machen, sagte Josef.« + +Renate, die den Namen seit einer Ewigkeit nicht gehört zu haben glaubte, +staunte noch mehr darüber, daß er sich so leicht hinsagen ließ wie +Hamburg oder Wettrennen. + +Erasmus sagte weiter, er könnte ja nur abends vor dem Schlafengehn +zwanzig oder dreißig Seiten lesen, aber er hoffte doch, vor seinem Tode +noch fertig zu werden. -- Welch eine tiefe, dröhnende Stimme er doch +hatte! -- Wer ihm denn der liebste von den Vieren sei, fragte sie, um +noch einen kleinen Schlüssel zu ihm zu erlangen. + +»Chuzzlewitt,« sagte er mit grausiger Aussprache, und Renate hörte ihn +wieder »Schang Pol« sagen; Jean Paul freilich, dachte sie, würde sich +noch im Grabe freuen, wenn er sich ausgesprochen hörte, wie er wollte. +-- + +Unterweil verbesserte sich der Erasmus und nannte Dickens. Der sei so +komisch. -- Er lachte gleich: »Ha ha, ha!« Ja, manchmal nachts im Bette +könnte er sich totlachen über Sam Weller, und wenn Mister Micawber +sagte: ... kurz! -- »Dabei«, setzte er mit einem Anflug von Ehrfurcht +hinzu, »ist der Chuzzlewitt für mich viel grausiger als der ganze +Dostojewsky.« Saint-Georges könne ihm vielleicht sagen warum. + +»Weil«, sagte Saint-Georges, »die Menschen des Dostojewsky, wie auch die +Balzacs, sich noch gebärden. Weil sie Leidenschaften haben, die immer +noch den Schein einer wenn auch dämonischen Freiwilligkeit erzeugen, und +weil sie diesen Leidenschaften nachgeben, weil sie sich peitschen lassen +und selber peitschen, sich beugen und zerbrechen, rasen, stammeln, +schluchzen und klagen. Vor allem klagen. Wir sehn dann die Gebärde, aus +der die seelische Glut wie Rauch und Flammen hervorschlägt, und das +empfinden dann Sie wohl wie -- Erleichterung. Bei Dickens aber ist das +Leid, wie soll ich sagen -- krötenhaft; hockt da, funkelt bösäugig, und +es ist ja alles komisch. Drinnen aber hockt die sich quälende Kreatur, +stumm, boshaft, verhärtet. Denken Sie mal an Peckskniff. Ein furchtbarer +Schurke, der sich für einen Engel hält, aufrichtig. Es läßt sich gar +nicht ausdrücken, diese Art, nur Gemeinheiten zu begehn im Schein, in +der Form edelsinniger Taten. So kreuzen sich fortwährend die Gebärden, +die boshafte der inneren Gemeinheit und die sich in die Brust werfende +der scheinbaren Hochherzigkeit.« + +»Chuzzlewitt«, sagte Erasmus langsam, mit der Fingerspitze auf dem +leeren Salatteller kreisend, »kommt mir vor, als müsse er sich immer +heimlich die Hände an den Hosen wischen, damit nicht das Gift aus den +Fingerspitzen herunterläuft.« + +»Und Raskolnikoff und der Jüngling lecken ihre Fingerspitzen mit +Wollust«, schloß Saint-Georges. Sie schwiegen nun. + +Renate hörte die Männer sprechen, ohne etwas zu verstehn. Sie sah den +Erasmus, wie er im Bett lag, das ihr viel zu schmal und kurz für ihn +erschienen war, unter den Bücherreihn an der Wand, das Haar gesträubt um +den schweren Schädel, lesend und laut vor sich hinlachend. An seiner +Statt erschien ihr der Onkel, in seinem dunklen Zimmer, im +Laternenlicht, von Einsamkeit überwölbt dieser wie jener, und hier saßen +sie zusammen, nanntens Gemeinsamkeit. Sie begriff nicht, wie all dies in +einem Hause sein konnte. Nun wurde wieder der Tisch vor ihr sichtbar, +rund, blumengeschmückt, mit silbernen Armleuchtern und stillen +Kerzenflammen; ringsum die Gesichter, Saint-Georges gegenüber, gut, +ernst und still, das rosige Knabenantlitz seines Bruders mit dem spitzen +Kinn, den großen, flachen Augen, und links das überhängende des Erasmus, +mit gesenkten Augenlidern unter der gebuckelten Stirn, und dann sah sie +diese und sich selbst, die ganze, stille Gesellschaft fern drüben im +Spiegel, die Lichter, die Dämmerung umher. Eine tiefe Stimme sagte +etwas, sie schrak auf, da eine Hand von rückwärts an ihr vorüber nach +ihrem Teller griff, der darin fortschwebte; alsbald versank wieder +alles, und ein wenig später sah sie sich im Spiegel drüben aufstehn; sie +hob die Tafel auf. Nachdem sie den Gelähmten selbst ins Rauchzimmer +geschoben hatte, ging sie in die Halle hinunter und machte Licht. + +Die flache Kiste war mit Drahtstiften so leicht verschlossen, daß sich +der Deckel mit kleiner Mühe hochbiegen ließ. Sie holte ein Bild in einem +dunkelsilbernen Rahmen heraus, lehnte es gegen den Tisch und sah, daß +sie selber es war: auf einem Grunde von dunklem Rot, im unteren, linken +Viertel des Bildes ihr Gesicht, nach links blickend, im Profil, sehr +zart, vergehend, scheinbar in einer Dämmerung schwebend wie eine +Erscheinung; rechts oben in einer fensterartigen Öffnung war eine ferne +Landschaft, sonnig, ein Birkenweg zwischen Wiesen, bräunlich, rötlich, +und ganz wenig tiefblauer Himmel; die Farben ihrer Augen, ihres Haars, +ihres Mundes, die in dem gemalten Gesicht kaum angedeutet waren, +leuchteten deutlich dort oben. + +Ja, dies war doch ein Traum von ihr, von ferne gesehn und geträumt, und +vielleicht, wenn es früher gekommen wäre -- -- ja, was dann? Es waren +doch wohl nur Vorstellungen malerischer Art, die sie ihm erregt hatte. +Seltsam fröstelnd stand sie vor dem Bild. Wie alt bin ich eigentlich? +schoß es plötzlich durch sie hin, aber sie konnte die Zahl nicht finden, +war es achtzehn, neunzehn oder zwanzig? Ungeduldig machte sie sich von +alldem los, legte das Bild in seine Kiste, den Deckel darauf und ging +nach oben. + +Durch die offene Tür zum Rauchzimmer fiel Licht in die vordere Hälfte +des Speisezimmers; im hohen Spiegel konnte sie ein Stück des +Ledersessels sehn, in dem Saint-Georges saß, seine Unterschenkel und den +Kopf, den er in die Hand gestützt hatte; den Erasmus hörte sie reden; +Tabaksschwaden zogen in der Luft unter der elektrischen Krone. + +Auf einmal brannten vor ihren Augen alle Lichterbäume der Stadt, sie +hörte Gejubel, Klavierspiel und Kinderlieder, dann das wirkliche Getön +ferner Glocken. Und da war der letzte Christabend mit ihrem Vater, mit +bescheidenen alten Männerchen und Weiberchen, Kinderchorgesang im +Schlackerschnee und der väterlichen Stimme, die den Weihnachtstext +auslegte. Da war der erste Weihnachtsabend in diesem Haus, mit einem +Berg glitzernder Geschenke, mit dem Gelächter des Onkels, des Erasmus +Gefräßigkeit in Marzipan und Spekulatius, mit Josefs Eleganz, mit den +Gedanken an Magda und mit Bogners Brief im Kleid auf der Brust. Sie +machte eine unwillkürliche Bewegung nach dem Halse und merkte ihren +Irrtum: Bogners Brief war erst am zweiten Feiertage gekommen. Die +absonderlichen Weihnachtstage, die er beschrieben hatte ... Seltsam, daß +sein Weg doch in diesem Hause begonnen hatte ... + +Sie fing an, die Hände auf dem Rücken im Zimmer hin und her zu gehn, +lautlos auf dem Teppich, nur ihr Kleid knisterte und rauschte, wenn sie +sich drehte. Wenn, dachte sie stillstehend, einmal nach mir das +Schicksal die Hand ausstrecken wird, so werde ich erkennen, daß seine +Füße -- vielleicht in dieser Stunde stehn, vielleicht in der +glücklichsten früher. Furchtbar finster war es umher. Wo mochte Sigurd +nun sein? Käme doch Jason! Alle waren fortgegangen. Saint-Georges wußte +jede ihrer Fragen zu beantworten, aber er stand ihr nicht bei. Nicht +bei? Ja, bei was denn? Was quält mich? Wie alt bin ich? Wen erwarte ich? +Was fehlt mir? Tue ich zu wenig? Oh was sagte doch Saint-Georges einmal +von der Sonnenblume? Nein, war es das? Vor ihren Augen brannte wohl kein +Licht, in das sich zu verwandeln ihr Herz sich verzehrte. Wie lebten +denn Andre? Schiffe gingen unter, es gab Hunderte von Toten, +Bergwerkszechen explodierten, und es gab Hunderte Toter, Eisenbahnzüge +stürzten um, -- ja, verlange ich nach solchem Geschehn? Wie leben Andre? +In Armut, in Lastern, in Qual jahraus, jahrein, hülflos verstrickt in +Unrettbarkeit, unerbittlich erniedrigt. Aber -- Frauen hatten doch +Männer und Männer Frauen, auch Kinder; Bogner hatte sein Werk, sie hatte +nichts als sich, und Josefs Stimme sagte grandios, wie am Abschiedstage +vor einem halben Jahr: Was brauchst du eine Seele? Niemand sieht sie. +Und er sagte noch etwas von einer goldenen Bluse, die sie trug. -- Sie +schritt aufgeregter auf und nieder. -- Es ist so still! klagte sie +furchtsam. Lebe ich? träume ich? Weihnachten ist, -- wem schenke ich +was? Wen liebe ich? Alle und keinen. Warum ist niemand da? Oh -- +Zärtlichkeit! -- So geriet sie in die Tür zum Nebenzimmer. Erasmus stand +am Schreibtisch und sagte, er habe ihr gerade Gute Nacht sagen wollen; +es sei noch zu arbeiten, die Neujahrsabschlüsse ... + +Wiederum war sie vor ihn hingestellt. Ganz laut -- obgleich sie schwieg +-- hörte sie sich sagen: Wie wäre es, Erasmus, wenn du mich heiratetest? +und sah ihn zurücktaumeln. Jetzt war etwas geschehn. Sie stand gerade +und aufrecht, dachte noch: Einen Stoß, -- so! -- einen Stoß habe ich +versetzt! -- und währenddem war nichts geschehn; sie sagte währenddem +irgendwelche freundliche Worte, die nichts galten. Sie fühlte seine +Hand, ließ ihn, tiefer ins Zimmer tretend, an sich vorüber, wandte sich +dann und sagte: »Erasmus ...« + +»Ja, -- ist noch etwas?« fragte er stehen bleibend. + +Er liebt mich ja viel zu sehr, dachte sie klar, und muß allein bleiben. + +»Hab auch Dank für den Abend«, sagte sie und ließ den Kopf sinken. Er +murmelte etwas und ging. + +Am Kamin saßen Saint-Georges und sein Bruder, sahn in die Flammen. Da +faßte sie hundert verworrener Fragen in eine zusammen, trat zu dem +Gelähmten und fragte, seinen Kopf fassend, schlicht zu seinem Bruder +hinüber: »Georges, lieber Freund, was fehlt mir?« + +»Kinder,« sagte er, ohne sich zu bedenken, »es ist Weihnachten.« + +»Ach so, deswegen ... Ja, da kannst du recht haben.« + +Schon wieder versprochen! Oh ich will ihm eine Freude machen, dachte sie +mit Heftigkeit, streckte die Hand aus und fragte bestrickend: »Möchtest +du nicht du zu mir sagen?« + +Er stand langsam auf, ergriff ihre Hand, küßte sie und sagte +schlechtweg: »Wie du befiehlst.« + +Jetzt aber fiel alles von ihr ab, sie stampfte mit dem Fuß auf und +schrie: »Georges!« Aber dann, in plötzlicher Sanftmut zerschmelzend, +legte sie die Hände zusammen, trat dicht vor ihn und flehte: »Georges, +lieber Freund, bitte, was ist mir?« + +Er erfaßte ihr linkes Handgelenk, blickte mit tiefer Freundlichkeit in +ihre Augen und sagte langsam und sicher: »Nichts ist dir, Renate, gar +nichts.« + +»Ja, ja,« nickte sie seltsam erleichtert, »es ist ein Übergang, nicht +wahr?« + +»Jawohl, ein Übergang«, bestätigte er lächelnd. -- Sie seufzte: »Dann +ist es gut. Kommt, dann wollen wir noch etwas Schönes lesen, die Leiden +eines Knaben, von Conrad Ferdinand, nicht?« + +Sie nickte dem Gelähmten zu und ging in die Halle hinunter, das Buch zu +holen. + + + Neuntes Kapitel: Januar + + + Georg an Benno + + Trassenberg, am 15. 1. + +Danke, teuerster Benno, danke Dir tausendmal für Deine Karte! -- Ich, +siehst Du, ich kann nicht schreiben. Wenn Du mein Tagewerk kenntest, +würdest Du versteinern. Seit ich hier bin, also seit bald zwei Monaten, +kenne ich nur noch ein Ding: die Zentrale. Papas Zentrale, das große +rote Verwaltungsgebäude -- Du erinnerst Dich -- unten am Waldrand, das +kaum zu sehn ist und zu dem kein Weg zu führen scheint, gegen das aber +eine elektrische Zentrale mit ihren hunderttausend Anschlüssen, +Krafteinnahmen und Kraftverteilungen in einer deutschen Großstadt gar +nichts ist. Gar nichts, Benno! Dort verbringe ich nun fast den ganzen +Tag. Onkel Salm führt mich in alles ein. Verwaltung, Verwaltung, +Verwaltung! Hast Du eine Vorstellung, Benno? Nein! So kann ich Dir auch +keine erwecken. Stelle Dir nur vor, daß unser ganzes Land mit allen +Anhängseln in Übersee, und mit allem, was darin hervorgebracht wird +jeder Art -- Landwirtschaft, Viehzucht, Heilanstalten, Wissenschaft, +Kunst, Industrie und so weiter, so weiter -- hier zusammenströmt und von +hier wieder aus. Genug! Mir schwindelt der Schädel, wenn ichs denke, die +einzige Möglichkeit, die ich habe, ist, mich blind hineinzufressen, wie +in den berühmten Berg der köstlichen Hirse. Dann ists in Augenblicken +doch, als fräße ich weder, noch grübe mich in dampfende Finsternis, +sondern ich stiege, stiege einen gewaltigen Berg hinan, darf nur weder +hinaufblicken -- um mir nicht den Mut -- noch hinunter -- um mir nicht +die ganze Größe des Ausblicks von oben zu verderben. Zahlen, Zahlen, +Zahlen. Um eine elementare Grundlage zu bekommen, lerne ich doppelte +Buchführung; dazu Lombardieren, alle Arten des Wechselgeschäfts. Hast Du +in Deinem ganzen Leben je einen Kurs gelesen, Benno? Weißt Du, was das +ist? Tröste Dich, Benno, ich weiß es auch erst seit kurzem. Im übrigen +sorge Dich nicht um mein Herz, es arbeitet wieder vortrefflich. Noch was +über Tageseinteilung: weißt Du, daß ich trotz alledem beinah zehn +Stunden am Tage schlafe? Folgendermaßen: aufgestanden wird -- um fünf +Uhr morgens. Siehe da, was ist der Erfolg? Vormittags um zehn, wenn Du +träge Deinen Tag anschlürfst, habe ich beinah schon einen Arbeitstag +hinter mir, um elf sinds, mit kleinem Imbiß dazwischen, ganz gut sechs +Stunden. Dann wird geschlafen, fünf Stunden, im Bett, fest, und wenn Du +Dich dann, wie ich, um vier Uhr zum Essen erhöbest, würdest Du jauchzen +vor Kraft, Frische und Arbeitswonne, welche drei bis Mitternacht mit +Abendbrotpause freudig vorhalten. Also -- machs nach, Benno, machs nach +und lebe jetzt wohl, es ist Mittag, ich geh schlafen. Wie gesagt: keine +Sorgen, guter Engel, und im zweiten Monat nach diesem befinde ich mich +wieder im gesegneten Altenrepen. Was macht der Flügel, die Wohnung, die +Vögeleins? Grüße alles, was lebt und mir freundlich gesinnt ist, und sei +umarmt von Deinem bis in den Tod getreuen + + Georg + + am 16. + +Der Brief blieb versehentlich liegen. + +Ein letztes Wort, Benno, über mich selbst. + +Nämlich, läge die Sache einfach; wäre er, den ich Vater nenne -- heut +wahrer als jemals! -- wäre er ein Privatmann, und handelte es sich +sonach für mich um nichts weiter als Namen, gesellschaftliche Stellung +usw.: dann wäre die Sache einfach. Ja, dann wäre sie derartig einfach, +daß ich fast denke: in solchem Fall würde ich bleiben, der ich -- +scheine, sein Sohn. Es wäre nicht der Rede wert, Änderungen zu schaffen, +die rein moralisch sein und bleiben würden, die keine praktischen Folgen +hätten. + +Die Sache liegt aber nicht einfach, sondern verdoppelt durch die +Möglichkeit, das ich in Deutschland regierender Landesherr werde; daß +ich -- die Worte klingen großartiger als die Sache -- vor einen Teil der +Menschheit mit Ansprüchen hintreten kann, die sie nach den in ihr +bestehenden Gesetzen mir nicht zubilligen würde, wenn sie mein Geheimnis +kennte. + +Dies die negative Seite der Sache; und die positive? + +Nicht eitel genug, mir vorzuspiegeln, daß dieses Land, das ich innig +liebe, Trassenberg, meiner bedürftig ist und keines Andern; und zu klug, +um nicht einzusehn, daß ich nur selbstsüchtig, nur aus -- Ehrgeiz +handle, weiter nichts: kann und darf ich mich doch der Einsicht in das +nicht verschließen, was werden würde, wenn ich -- abtrete. Trassenberg +ist, dank der Einflüsse meines Vaters, ein blühendes Land. Beuglenburg +ist ein Sumpf mit einigen Kaligruben, und aus dem Beuglenburger +Geschlecht kann nichts Gutes mehr kommen. (Der Alte ist krank und +stumpf, der Sohn ein kränklicher Knabe, eine Tochter zählt nicht, weil +nicht erbberechtigt.) Muß mir nicht Vieles schicksalsvoll vorkommen? +Warum liegen die Dinge eben so? Warum gehörte dies Land einmal den +Trassenbergern? Warum war und ist mein Vater, warum grade ich? Hier ich +-- und da die todkranke Beuglenburger Sippe? + +Darum nunmehr zum Kern. + +>Von des Lebens Gütern allen ist der Ruhm das höchste doch< ... Wie, +Benno, ich sollte verzichten mit dieser Aussicht? Solche Mittel in +Händen -- zu meiner gottseidank noch unerschütterten Gesundheit, meiner +geistigen Freiheit und Beweglichkeit, meiner Lernkraft, meiner Kultur +und meiner Tatenlust die äußeren Machtmittel meines Vaters, deren Ausmaß +Dir bekannt ist: sollte ich ein hundertfaches Gutes ungetan lassen, das +ich auf mich warten sehe? Ich kann Ruhm gewinnen, wahrhaftigen Ruhm, +nicht einer vereinzelten Tat oder Eigenschaft, nicht den Ruhm des +Entdeckers, Eroberers, Erfinders, des Feldherrn, des Dichters, +Volksmanns; Ruhm, der vom Dämonium abhängt, von Begabung und vom Glück, +-- sondern einen Ruhm, den ich herzustellen, den ich anzufertigen habe +mit meiner Hände lebenslanger, unverdrossener Arbeit; den nur mein +ganzes Wesen, mein ganzes Sein mir verschaffen kann, weil nur Arbeit +eines ganzen Lebens, und das heißt jedes Tages, jeder Stunde seine +Grundlage sein wird. Verstehst Du den Unterschied, den ich meine? Nicht +Taten, Werke, Gedanken -- obwohl diese im einzelnen Verkörperungen sein +können, sondern: _sein_ muß ich, leben, von A bis Z meinen Platz +ausfüllen, nicht sternhaft erstrahlend, wie Dichtung und Kunstgebild +plötzlich blitzend hervortreten aus langem Gewölk, sondern still im +Schatten meiner vier Wände, da doch die Wenigsten und niemals die Masse +bemerken werden, was hinter dieser und jener offenbaren Erscheinung an +unvermerkter Anstrengung und Mühsal liegt. Zu schweigen davon, daß, wenn +mir überhaupt etwas zu leisten gelingt, das Dauer hat und Würde vor +späteren Geschlechtern, es bei den Zeitgenossen kaum Anerkennung, ja +eher Verkennung, Verachtung, wo nicht Feindschaft erregen wird. Wer ein +Dauerndes zu schaffen gewillt ist, der muß im Morgen leben, nicht im +Heut, darf also nicht verlangen, daß das Heute ihm Kränze flicht. Ich +bins gewillt. + +Wie ich denkt mein Vater, und was wäre ich freilich ohne diese Stütze? +Der wundervolle Mensch! Mit keinem Blick, mit keiner Miene hat er sich +mir als Beistand gezeigt. Ohne Blick, ohne Miene hat er mich +verständigt, daß ich seines Beistandes gewiß sein werde, wenn die +Entscheidung erst gefallen ist. Sie ist schon gefallen, in meinem Herzen +ist sie's. Ach, mein Benno, wie ist der glückselig, der im Wünschen und +Schwanken, im Zweifeln und Vertrauen sicher ist eines Unwandelbaren, und +wenn er Vater nennen kann, was mit Leib und Seele, mit Haut und Haar, +mit allen Kräften der Liebe ihm väterlich ist! + +Und dies giebt mir Kraft, dies wird mir Heil geben. Ja, ich weiß, +Freund, ich weiß: wäre er mir nur um ein Gran minder väterlich, so würde +ichs spüren, würde meine Kraft sinken, mein Recht bleichen, -- ich wäre +entblättert, ehe ein Monat um wäre. Aber ich stehe auf ihm, und so sei's +drum. + +Ich bin entschlossen. Und somit -- Gott befohlen! + + Georg + + + Hier enden des vierten Buches neun Kapitel oder ebenso viele + Monate. + + + + + Fünftes Buch. + Fragmente aus den halkyonischen Jahren II + oder + Cordelia + + + Erstes Kapitel: Februar + + + Ulrika + +Renate und Ulrika saßen des Abends an den beiden ineinander geschobenen +Flügeln unterm Orgelpodium und übten an Johannes Brahms' deutschen +Tänzen, als Renate, der Orgel gegenübersitzend, eine dunkle Gestalt +hinter Ulrika vorübergehn und die Stufen zur Empore hinansteigen sah. +Schreckhaft, wie sie diesen Winter war, nahm sie die Hände von den +Tasten, blickte, während Ulrika noch einige Takte weiterspielte, +angestrengt durch den rötlichen Nebelglanz der Lichter und sah nun, daß +es Saint-Georges war, der sich grade leise in den Drehsessel oben +niederließ. Vor drei Tagen war er verreist, um seinen plötzlich +verstorbenen Vater zu beerdigen, -- ihn, von dessen Dasein Renate +niemals etwas geahnt hatte. + +Da auch Ulrika jetzt auf und zu ihr herüber sah, sagte sie: + +»Georges ist gekommen.« Und zu ihm hin leise: »Schon zurück?« + +Er nickte. Sein Gesicht in der dunstigen, rötlichen Beleuchtung der +wächsernen Kerzen schien ihr nicht blasser oder trauriger als immer, -- +doch wars vielleicht eben dies, was sie bewog, aufzustehn, zu ihm hinauf +zu gehen und eine Hand auf seine Schulter zu legen. + +»Bleib sitzen,« sagte sie, da er eine Bewegung machte, -- »ist es gut +hier?« + +»Das wollte ich sagen, Renate. Ja, wieviel Kerzen habt ihr denn da +angezündet?« Er zählte über die dicken gelben Kerzen in graden +Silberfüßen hin, die sich in der schwarzen Politur der Klaviere +spiegelten, und sprach weiter: »Acht Stück. Eine schöne Zahl, die mir +immer angenehm war. Sie enthält so viel und ist so ordentlich und glatt, +auch der Laut: acht, -- zwei mal zwei mal zwei. Schade übrigens, daß ihr +selber das gar nicht sehn konntet, wie ich, als ich hereinkam von +weitem, euch dasitzen sah in dem rötlichen Nebel der Lichter an den +großen schwarzen Instrumenten, und dazu deinen großen schwarzen +Kleidrock, dein farbiges Gesicht, und Ulrikas rotes Haar und braunes +Kleid; dazu die graue Orgelwand über euch, und umher --« er machte eine +umschreibende Handbewegung -- »die sechs gemalten Unsterblichen an den +Wänden. Es war nicht ganz düster -- und auch nicht sehr froh, -- ja, +eigentlich wars ganz so, wie wenn man von Begräbnissen kommt und wieder +ins Leben will. Dank für den schönen Übergang, Renate,« sagte er zu ihr +empor und, ehe sie etwas sagen konnte, »bist du mir zuliebe so schwarz +heut? Ja, du bist ein guter Mensch.« + +»Möchtest du mir nicht ein wenig von deinem Vater sprechen?« bat sie. + +»Ja,« sagte er, »es gäbe wohl allerlei zu er--zählen. Aber das ist nun +immer so: wenn ich nur die Klinke an der Vorgartentür anfasse, so weiß +ich schon: hier ist alles anders. Jetzt bleibt vieles draußen, denn hier +ist die Grenze. Hier endet eine Welt, hier fängt eine andre an. Hin und +her zwischen beiden gehen nur die Körper; die Seelen aber sind andre, +ganz andre. Ich stand vorhin schon eine Weile bei der Tür und bewunderte +die Engel.« Er lächelte zu Ulrika hinunter. »Die gemalten, meine ich. +Sie sind jedesmal gewachsen, wenn ich komme; tiefer ist ihre Einsamkeit, +mächtiger ihr Schritt, -- und da sitzt ihr nun zwischen ewigen Wänden +und ertragt es so mühelos. Freilich euch Frauen sind Dinge +selbstverständlich, die wir nie begreifen. Es braucht fast nur etwas +recht groß zu sein, so seid ihr zuhause darin, als wäre es für euch +gemacht. Als wäret ihr darin aufgewachsen. Ja, ihr wachst; unsereiner +muß immer Stufen steigen und sie obendrein selber haun. Ich habe dir da +ein Paket auf den Stuhl gelegt. Es sind Briefe meines Vaters, die du +lesen sollst. Mein Vater lebte fünfundzwanzig Jahr in einer +Irrenanstalt, und nun ist er endlich tot.« + +Renate wagte nicht, sich zu bewegen. Nur ihre Hand schob sie ein wenig +höher, so daß sie seinen Nacken berührte. Sie sah die Kerzenflammen +leise sinkend sich zusammenziehn, während andre flatternd in sich +standen, sich aufrichten wieder und haardünne Strahlen aussenden. Dann +hörte sie von Georges' Stimme leise die Verse Hölderlins: + + »Es haben ihn die Götter sehr geliebt, + Doch nicht ist er der erste, den sie drauf + Hinab in sinnenlose Nacht verstoßen + Vom Gipfel ihres giftigen Vertrauns.« + +Eine Weile danach löste sie ihre Hand, stieg die Stufen hinunter und +setzte sich vor ihren Flügel. Während sie ihr Notenheft lautlos +zuklappte und zur Seite legte, hörte sie ihn reden. + +»Hölderlins Schicksal hatte er wohl, ein Dichter war er auch, aber +niemand wird von ihm sprechen. Es lohnt sich allerdings nicht. In den +achtziger Jahren erschien ein Epos >Elias<, später auch noch Gedichte, +-- ihr könnt euch eine Vorstellung machen, wenn ihr an Enoch Arden +denkt; ein weiches, mattes Gedicht, in dem viel von Elias' furchtbarer +Leidenschaftlichkeit die Rede ist. Sonderbar, daß davon nichts Gestalt +wurde. Er selber, der das dichtete, war ein so leidenschaftlich atmender +Mensch. Du wirst es sehn in den Briefen. Ich kenne ihn nur als grau-, +dann weißhaarigen Mann mit gutherzigen braunen Augen und einer +wundervollen Stirn, wie ein Stück Himmel gewölbt. Und drinnen das Chaos. + +»Die Briefe sind an eine Frau gerichtet, mit der er befreundet war, -- +damals. Dann liebten sie sich. Sie war verheiratet und hatte Kinder. Ein +Jahr rissen sie Beide an der Kette, aber der sie festgelegt hatte, ließ +nicht los. Zwei Jahre danach heiratete mein Vater ein sanftes Mädchen, +und ich bin ihr Sohn. Sie liegt nun auch schon so lange in der Erde, wie +mein lahmer Bruder lebt, und das ist ihr gut.« + +Renate, betrübt, fragte nach einer Weile zaghaft: + +»Sage mir, Georges ... Giebt es denn das, daß jemand einen Menschen +gegen seinen Willen zwingen -- --« + +Er lächelte mitleidsvoll. »Ich sagte es ja, Renate: hier ist die eine +Welt, und draußen die andre, die man auch die moralische nennen könnte. +Die Menschen, Renate,« fuhr er aufatmend mit leichterer Stimme fort, +»haben Einrichtungen geschaffen, die sind für unsereinen -- nicht +schlecht, oder sinnlos, oder falsch, sondern sind: unglaublich +schlechterdings, nicht zu glauben, auf keine Weise zu begreifen, weil +dir dazu Organe fehlen, -- so wie der Fisch nicht atmen kann in der +Luft. Etwa folgendermaßen: Gesetzt, du bist ein halbes Kind von einem +Mädchen, in einer geldarmen aber zahlreichen Familie. Und ein Mann setzt +dir zu, mit Jammer und mit Tränen, mit Flehen und mit Drohungen, er +stürbe, wenn du ihn nicht heiratest. Und aus reinem Mitleid giebst du +nach und giebst dir nun auch Mühe, jahrelang, ihm gut zu sein, und +schenkst ihm Kinder --« + +Renate schauderte unbewußt. »Was ist, Georges?« fragte sie, da er +innehielt. Er lächelte sanftmütig. + +»Ja, wenn du schon jetzt schauderst, Renate, was willst du denn später +tun?« + +»Habe ich geschaudert? Ach -- bei den Kindern, -- von der Frau, die +ihren Mann nicht liebt. Nur weiter«, sagte sie kühl. + +»Gern, Renate. Immerhin wollen wir uns einen Augenblick lang darauf +besinnen, daß -- _wir_ zwar da sind zu dem, was wir wollen, also auch um +zu lieben, was und wen wir wollen. Daß aber die Welt nicht da ist, um zu +lieben, sondern um zu bestehn, also sich fortzupflanzen, wozu sie Frauen +braucht, die Kinder gebären. Das tun sie auch. Und auch das ist Liebe.« + +Er schwieg. Renate erwiderte nichts. Er fuhr fort. + +»Gesetzt also, du tatest alles dies, und eines Tages siehst du nun, es +geht nicht, er ist ein trauriges, stumpfes Wesen, mit dem sich nicht +leben läßt, er streut Bitterkeit umher, er macht dich zu Alltag, er +verstaubt dich mit Nörgelei und Gejammer, und du siehst und kennst dich +nun selbst, da du in die Jahre dazu kamst, merkst tausend schöne Kräfte +in dir, Flügel deines Geistes, Taster, zarte, innige, deiner Seele, +Lust, in dein Weltgetriebe hunderthändig hineinzugreifen, so hilft dir +doch alles nichts, und du mußt dir die Seele besudeln und dir eine Hölle +machen lassen aus deinem, zum Segen dir geschenkten Dasein, solange -- +solange er deinen Leib nicht schlägt, denn so lange gehört ihm nach dem +Gesetze dein Leib, und alles andre sind Fisematenten. Wenn du aber am +Ende einen Andern findest, einen Menschen, einen Edlen, Gütigen, Zarten, +Wissenden, und Worte der Ewigkeit klingen an dein Ohr und erinnern dich +an dein Herz und was du schuldig bist, dir und den Menschen und deinen +Kindern zumeist: nämlich einen so vollkommenen Menschen du aus dir zu +machen weißt, und dazu: Freiheit, dein Himmelslehen, die dich rüstig +macht, deine Seele zu reifen, deine Kinder blühen und schön zu machen, +-- und erinnern, was du verschuldet hast, weil du nicht warten konntest, +warten Jahre und aber Jahre, bis das kam, was du träumtest, und nicht +lieber mit allen Träumen wie eine triumphierende Meereswoge in dein Grab +gestiegen bist, so hilft dir all das doch nichts, denn du bist kein +Mensch, du bist eine Sünderin bloß, auf die jeder den ersten Stein zu +werfen bereit ist, am ehesten aber ihr Mann, und bist nicht würdig, +Kinder zu haben, denn du bist gemein. Denn mit einer Ehe verhält es sich +so, daß du sie nur nicht zerbrechen darfst, brechen darfst du sie in +Hirn und Herzen wohl tausendmal bei Tag und Nacht; aber wenn du nur +deinen Leib im alten Bette läßt, so bist du edel und würdig, Kinder zu +haben.« + +Renate war so heftig aufgesprungen, das der Deckel des Klaviers, auf dem +ihre Hände lagen, zuschlug und alle Saiten nachdröhnten. + +»Es ist Wahnsinn,« sagte sie, »es ist mir unerträglich zu hören.« + +In ihrem großen, schwarzen Kleide rauschte sie in der Kapelle hin und +her, blieb stehn, faltete die Hände vor der Brust und rief zu ihm +hinauf: + +»Ich will nicht, daß es wahr ist, Georges, ich will es nicht! Es macht +mich unrein in allen Frauen, die so etwas dulden können. Sage, daß es -- +vergieb mir, Georges,« bat sie leise, »ich habe dich über mir +vergessen.« + +Sie wogte, ihr war, als müßte sie in Tränen ausbrechen. »Ulrika, was +sind wir für Wesen,« klagte sie, »es ist ja nicht zu sagen!« + +»Dies, Renate,« hörte sie Saint-Georges von oben, derweil Ulrika +gesenkten Hauptes verblieb wie vorher, »dies ist ja alles nichts. Auch +das ist nichts, daß ein Mann, weil er zu schwach ist, daran zugrunde +geht. Aber daß eine Frau, eine solche Frau, die ich beschrieb, es nicht +nur leidet, sondern sich daran gewöhnt, das ist -- sagen wir -- +erstaunlich. Erinnerst du dich«, fragte er, »Dora Vehms, der Schwägerin +Irenens?« Renate nickte. »Ich denke,« fuhr er fort, »die muß dir +gefallen haben. Ich weiß Einiges von ihr, sie soll an Lebenskräftigkeit, +an sachlicher Tüchtigkeit ein Wunder sein; ihr sah das Bild jener Frau, +das ich bei den Briefen meines Vaters fand, etwas ähnlich, und ich +glaube, sie wars auch im Wesen. Nun denke dir solch eine Frau, und +weiter denke dir folgendes. + +»Bei den Briefen meines Vaters -- die er also scheinbar von ihr +zurückerhielt, wie er ihr die ihren zurückgab, denn ich fand keine -- +lagen zwei mit einem Jahre späteren Datum; der eine von seiner, der +andre von ihrer Hand. In dem ihren stand etwa folgendes. Er möge ihr +doch nicht schreiben; er wisse, daß sie versprochen habe, jede +Gemeinschaft mit ihm abzubrechen, und sie wolle das halten. Nun wolle +sie ihm aber noch mitteilen, daß sie sich sehr über die Nachricht von +der Geburt eines Sohnes gefreut habe; ja, so sehr, daß sie gedacht habe, +nun dürfe sie auch noch einmal eine Freude haben, und die sei ihr denn +auch erfüllt, und sie habe vor einiger Zeit einen Sohn bekommen.« + +Renate sagte: »Au!« ohne es gewollt zu haben. + +»Wunderst du dich«, hörte sie Georges, »über die Logik? -- Das also +schrieb sie und setzte noch hinzu: alles was je zwischen ihnen Beiden +gewesen wäre, das sei unvergänglich, oder so ähnlich. Und zum Schluß +wiederholte sie: er möge ihr, wie gesagt, nicht schreiben. Wenn er ihr +aber doch schreiben wolle, so möge ers gleich tun, denn ihr Mann sei +eben verreist. -- Sagtest du was, Renate? Sag au, Renate, immer sag au, +aber bitte: denke dir keine alberne Gans als Schreiberin jenes Briefes, +denke dir Dora Vehm, die du kennst, ja denke eine so verständige Frau, +wie du selbst bist, und wundere dich nur, wie -- Erniedrigung die +Menschen erniedrigen kann! -- Sie bekam also einen Sohn von -- dem Mann. + +»Und der andre Brief,« redete er mit einer grausamen Leichtigkeit +weiter, »den ich fand, der von meinem Vater, der war augenscheinlich +nicht abgeschickt worden. Es stand nur darin, daß er auf ihre Nachricht +hin nichts weiter sagen könne, als daß sie durch die fortgesetzten +Keulenschläge auf ihn, und damit auf sie selbst, sich gleichsam immun +gehämmert habe. Er empfinde deshalb weiter keinen Haß gegen sie, müsse +aber doch sagen, daß, wenn er hören würde, jemand habe sie durch ein +rasches Gift oder durch einen Messerstich aus der Welt geschafft, daß es +ihm nicht leid sein würde.« + +Er schwieg. Renate saß so völlig leer von Gedanken und Gefühlen, daß sie +mit einem seltsamen Schauder die Flammen der Lichter, die Gestalt von +Georges, Ulrikas Kopf, die Wände, alles in sich hereinschweben spürte, +als ob sie Luft geworden wäre und alles umfassen könnte. Dann schmerzte +ihr Kopf; sie kam zu sich. Saint-Georges sagte: + +»Was haben wir denn, wir -- Andern? Wenn es denn schon Niedriggeborene +giebt, und wenn sie uns zwingen können, was haben wir denn für uns, als: +besser zu sein und immer besser zu werden? Wenn sie niedrig sind, so ist +doch ihre schlimmste Niedrigkeit die, daß sie uns nicht verstehn, und +daß sie uns verurteilen, wir aber, wir können sie verstehn und ihnen die +Niedrigkeit nachsehn. Dieser Mensch da, dieser Andre, ihr Mann, der +hatte nie etwas andres als sich selbst und seine Begierden. Die aber +sind es, die nichts haben als sich und ihre Begierden, die sich zum +Schutze jene Gesetze ausgedacht haben, nach denen nun alles geregelt +wird. Wenn du nach Jahren des Jammers und des Ekels, der Ohnmacht und +der Verzweiflung dich eines Tages vergißt und in deinem armen, unseligen +Mädchenhunger nach >Glück< den Rest der Süße, die dir noch verblieben +ist, mit einem andern Mann teilst, als deinem Ehegatten, so bist du nur +gemein und wert, davongejagt zu werden. Giebst du aber nach, weil du +Kinder hast und weißt, man stirbt an vernichteter Liebe vielleicht, aber +niemals an Mutterliebe, und bleibst und läßt dir Leib und Seele +vergewaltigen, so bist du edel und gut, und ob du gemein bist oder edel, +das hängt nicht von dir ab, sondern von dem, was du zu tun scheinst. Die +Kinder aber, die du geboren hast, mit deinen Schmerzen, mit deiner +Todesnot, mit deiner unbeschreiblichen Gutwilligkeit, etwas +herauszuschenken aus deiner Fülle, und wenn es dich das Leben kostet, +die du ernährt hast und erzogen, jahrelang allein, während sie deinem +Mann ein unverständliches Spielzeug waren, und späterhin, wo er nicht +viel mehr Zeit für sie hatte, als sie Sonntags zu prügeln für die +Wochensumme ihrer Unarten, -- diese Kinder legt er dir als Kette um dein +Herz und erdrosselt dich mit deiner eignen --« Er verstummte und fuhr +gleich darauf leiser fort: »Das Gesetz, so heißt es nämlich, ist für +Alle da und muß deshalb schematisch sein. Verfolgst du nun aber einen +Scheidungsprozeß, so findest du Monate und Jahre womöglich an Zeit und +Mühseligkeit aufgewandt, um jeden Schmutzfleck, jedes Staubkorn +aufzudecken, um alles und aber alles aufzuhäufen, was mit dieser +Angelegenheit nur von fern einen Zusammenhang haben könnte, aber +geurteilt wird am Ende nach dem Schema. Ist das nicht ein ekelhafter +Widersinn? Dies aber ist möglich, denn _hier_ liegt das Gesetz mit +seinen angestellten Richtern und _hier_ die Einrichtung der Anwälte. +Denn das Gesetz, heißt es, muß da sein, danach kann es verdreht und +gedeutet werden. Wem aber kommt dies zugute? Den Findigen, den Hurtigen, +den Geschickten, und allemal sind auch dies die Untiefen, die Leichten, +die Liederlichen, die zur Ehe zusammenlaufen und wieder auseinander, die +ihre Kinder verwahrlosen lassen oder zerdrücken, die gar nicht wissen, +was ein Kind ist, dies heilige Geschöpf, die finden im Gesetz ihre +Möglichkeiten, ihre Erlaubnisse, ihre Freiheiten. Aber der Edle, der +Schwere, der Wahrhaftige, der Zarte, der Scheue, der Liebende, der +Fromme, wenn der sich fürchtet, vor allen Augen den Unrat zu offenbaren, +mit dem er beschmutzt wurde, so kann er von jeder Bestie vergewaltigt +werden, deren Eigentum er zufällig ist wegen einer jahrealten +Unbedachtheit. Bei Gott hat dein Vetter Josef recht, als er sagte, daß +der Mensch vielleicht gut sei, alle zusammen aber eine Gemeinschaft von +Bestien.« + +Nachdem seine Worte stets eisiger und härter geworden waren, hörte +Renate ihn nun mit Gelassenheit sagen: »Merke dir für alle Fälle, was +ein Gesetz ist. Ein Gesetz ist keine Einrichtung, um zu nützen, zu +schützen, zu erleichtern, den Guten zu helfen und die Schlechten zu +unterbinden, das Gute zu fördern und das Böse auszutilgen, sondern ein +Gesetz ist dazu da, daß die Menschen nach ihm gemessen und beschnitten +werden, daß sie mit ihm sich gegenseitig verurteilen und mißhandeln, +Gewalt antun und verkröpfen.« + +Er war, noch während er den letzten Satz hinwarf, aufgestanden, kam vom +Podium herunter und reichte Ulrika die Hand. Neben Renate stehend, sagte +er: + +»Lies die Briefe. Sie sind schön, sie sind leidlos. Die übrigen hab ich +verbrannt. Es steht nirgend der volle Name der Frau drin, an die sie +gerichtet sind, und das ist ganz gut.« Renate sah trübe zu ihm auf, aber +er lächelte nun und schien alles für erledigt zu halten. Sie faßte seine +Hand und fragte ängstlich: + +»Sag mir noch --, ist die Krankheit deines Vaters -- --, hängt sie +zusammen mit --« + +Er schüttelte nachdenklich den Kopf und erwiderte: »Laß das Fragen. Es +weiß keiner genau. Krankheiten des Gehirns kommen wohl niemals von +außen, sie können höchstens beeinflußt und -- vielleicht -- verfrüht +werden. Also vielleicht ein Unterschied von fünf Jahren, um die ich +länger einen Vater gehabt hätte. Er ist nun tot und hat Frieden. -- +Draußen ist Februar. Da zieht ein Winter nach dem andern herauf. Er und +die Gestorbenen bleiben sich unveränderlich gleich, und dazwischen leben +wir und geben uns keine Mühe. -- Gute Nacht, Kinder, gute Nacht!« + +Es war lange Zeit still in der Kapelle. Ulrika stand auf, ergriff die +Lichtschere und beschnitt alle Dochte vorsichtig und säuberlich. Renate +ging in der Kapelle hin und her, stieg zur Orgel hinauf, setzte sich. +Sie schauderte leise, bedenkend, daß der Freund nun wieder durch die +Winternacht ging, allein, zu dem gelähmten Bruder und der Aussicht auf +die Gefängnismauer, die sie plötzlich begriff. Tief aus ihrer +Versonnenheit fragte sie endlich Ulrika, die wieder vor ihren Noten saß: +»Und was sagst du zu alledem?« + +Ulrika hob langsam den Kopf. Gegen die Dunkelheit hinter ihr zeigte +sich, von den Kerzenflammen hell beschienen, ihr Profil, streng Nase und +Brauen, wie wenn sie spielte, und in dem für Renate sichtbaren Auge +glänzte es feucht und rötlich auf vom Lichterschein. Sie sagte nichts, +sondern klappte das Heft vor sich zu, stand auf, ging um den Flügel, +legte es hin, legte, in der Einbuchtung des Flügels stehend, beide +Unterarme auf die Platte, senkte schließlich den Kopf tief darüber und +sagte: + +»Ich bin auch verheiratet.« + +Renate zuckte zusammen und regte sich nicht. Aber da richtete Ulrika +sich schon wieder auf, strich eine Haarsträhne aus der Stirn, machte sie +fest, wandte sich und sagte: + +»Du mußt nichts Falsches denken. Mein Mann ist sehr gut. Ja, er ist wohl +noch viel besser, als ich bisher gedacht habe, nach dem, was ich heute +höre. Aber die Menschen werden wohl allerlei reden, weil er niemals hier +ist.« + +Sie legte die Arme wieder auf die Platte, ließ die Augen umherwandern +und sprach leise weiter: + +»Du mußt wissen, daß ich niemals etwas andres gekannt und gewußt habe +als mein Klavier. Ich verlobte mich, weil es so kam und wir uns sehr +gern hatten, und am Ende heirateten wir auch, aber ich dachte nicht, daß +das etwas Besondres wäre. Ich wußte ja nichts. Gar nichts. Und so -- +nun, so war ich am andern Tage wieder bei meiner Mutter. Ich bin dann +wieder zurückgegangen, aber -- seine Frau bin ich nie gewesen. Ich weiß +nicht,« sprach sie schnell weiter, »all das hat mir immer ganz einfach +geschienen, nur dies eine, das er von mir verlangte, als etwas +Ungeheures, und jetzt ist es plötzlich umgekehrt, und es scheint, als +wäre es ungeheuerlich, daß er sich in alles fügte, aber das eine hätte +ganz einfach sein sollen. Oder doch nicht? Wer sagt mir das nun? Da ich +nichts wußte, so wußte ich doch auch von mir selber nichts. Ich brauchte +mich selber ja nicht, ich hatte ja mein Klavier, wozu mußte ich das eine +für mich behalten? Wem hab ich damit gedient? Mir doch nicht. Wie er +leben mag, das weiß ich freilich nicht, er ist in seinem +Auslandgeschwader, und wir reisen jedes Jahr ein paar Wochen zusammen. +Das ist freilich keine Ehe.« Sie brach ab und legte das Gesicht in die +Hände. + +»Wenn es dich beruhigen kann,« sagte Renate sanft, »ich würde so +gehandelt haben wie du.« + +»Ach,« sagte sie nun, aufschauend erhitzt und rot, »das ists ja wohl gar +nicht, was mich plötzlich beschwert. Ich habe ja auch meine Freiheit und +kann --« Sie brach wieder ab, legte jählings den Kopf in die Arme und +auf das Instrument und weinte. + +Renate glaubte, alles zu wissen. Sie stand leise auf, ging hinunter und +zog die Weinende in ihre Arme. Dort wurde sie bald ruhiger, trocknete +ihr Gesicht, lachte leise und sagte: + +»Du meinst nun, ich dachte, es könnte mir so ergehn wie der Frau, von +der er erzählte, aber findest du nicht, daß ich einen Vorsprung habe? +Oswald ist doch gut, ich weiß, er ist gut«, sie faltete die Hände, +drückte die Unterarme gegen die Brust und die rechte Wange gegen den +Handrücken und fragte ängstlicher: »Glaubst du nicht, daß er gut ist? +Nach allem, was wir hörten --, aber --« sie warf Hände und Arme +auseinander, ließ den Kopf sinken und sagte: »Da hab ich zeitlebens in +die Noten gestarrt, und wenn was passiert, werde ich selber schuld sein. +Endlich kam Bogner und machte ein Fenster auf; das war er selbst, und +vor lauter Wundern und Gegenständen draußen sah ich ihn selber nicht. Da +kommt nun dieser Saint-Georges und macht das Fenster einfach zu, und da +steh ich nun, und da seh ich ihn nun, und es ist finster, und draußen +mögen die schrecklichsten Dinge bevorstehn --« Sie verstummte und +starrte verloren an den Boden. -- + +»Komm,« sagte sie plötzlich, »ich muß heim.« + +Sie fing an, die Lichter auszublasen. Renate ging willenlos zur Kurbel +für die elektrische Lampe, die häßliche Helle bedrückte sie, und Beide +verließen eilig und schweigsam den plötzlich ungastlich gewordenen Raum. + +Renate, in ihrem Zimmer später, glaubte beide zu spüren: von Ulrika her +Schatten einer Zukunft, von Saint-Georges her die Schatten des +Vergangenen, und ihr Herz zog sich schauriger als je zusammen. Dann aber +ließ dies ab, und statt dessen brachen von innen die Schauder der +Gegenwart, da sie sich mit deutlichen Worten sagen mußte: Da stehst du +unversehrt und freust dich dennoch nicht, sondern du ängstigst dich vor +Kommendem, und gleichfalls wäre dir alles andre lieber als diese deine +schöne Leere. -- Da -- plötzlich -- erschien die immer fremde Freundin +ihr, wie sie zuvor neben dem Flügel stand im Lichterschein, seidenbraun, +rot im Haar, und bleich neben dem schwarzen Ungetüm, und die Arme +auseinanderwarf und etwas sagte, das Renate nicht mehr wußte und +verstand, in den schmerzlichen Brauen aber, in den Winkeln des Mundes +und in den Augen so viel jäh ausbrechende Inbrunst und innerstes +Leuchten, daß Renate erschrak. -- Sie ging auf und ab im Zimmer. + +Ihre Brauen --, an denen hing sie jetzt fest. Was ist denn, Ulrika, du +fremde Seele, nun habe ich Jahre schon, sooft du saßest und spieltest, +deine Brauen geliebt -- fast -- ja fast wie ein sehr schönes, adliges +Tier, einen Aar, einen Sperber -- so ernsthaft ausgebreitet schwebten +sie dunkel überm großen Strom der Musik, -- und immer doch habe ich sie +vergessen müssen, wenn der Strom endete und -- du selber da warst. Dann +blieb da ein feines, zartes, unendlich gescheites, ernstes und +liebenswertes Geschöpf, aber zwischen ihm und mir -- war Zwischenraum, +und ging er nicht von dir aus? eine Zauberluft, in der du dich +abschlossest? Und warest du erst abwesend, so vergaß ich dich fast, und +du warst nicht viel mehr als ein farbiger Schatten. + +Und das wars natürlich auch -- ja, das wars vor allem: Wann hätte sie je +von sich selber gesprochen? Oder so sie's tat, wars -- Musik; ihr +Lernen, ihr Vorwärtskommen, Konzerte ... Warum aber das? Ach, sie war +doch verheiratet, hatte einen Mann --, wovon zu sprechen natürlich +gewesen wäre, aber dies -- hatte ja kein Dasein in ihr, es sei denn ein +so verfehltes, daß es verdeckt werden mußte vor ihr selber. Und er -- +mein Gott, ja -- er, der Einzige, der ihr der Nächste sein sollte -- ihn +mußte sie immer fernhalten von allen Gedanken, vom ganzen Leben, -- und +davon blieb die Haltung dann wohl, die innerlich abweisende Gebärde, die +Einsamkeit, in der dem dunklen Göttervogel an ihrer Stirn die Flügel +hingen, bis er sie wieder ausbreiten durfte im pfeilgraden Flug über +Strömen. + +Sie blieb stehn und sah den Ech-en-Aton, der aus seiner Ecke über sie +hinweg blickte, wie seit ewig. Ja, staunte sie, du ja auch! In Ulrikas +Haltung nicht, nicht in den Zügen, -- im Wesen war dieser Blick -- über +alles hinweg, der mir manchmal -- wie Hochmut schien, trotz deines +warmen und glühenden Herzens, für alles was edel, rein und wahrhaftig +ist. Doch verurteiltest du manchmal, und wo du nicht verstandest, da +wolltest du auch nicht verstehn. Oh gleichviel, bin ich vielleicht +besser? -- Diese Frau -- Renate wandte sich ab --, wie Georges sie +erklärte, war sie unsäglich liebenswert und traurig, allein -- -- Sie +blickte wieder das kleine Königsantlitz an. >So glaubten Heilige, und so +verbürgt es die Form der Sonnenblume<, murmelte sie. Sich verwandeln, +wie? Ja -- Ulrika, -- sie war Musik und nichts andres. Wie sagte sie +selber? »... daß ich nie etwas andres gekannt habe als mein Klavier.« +Das wars wohl. Und du, Bogner -- ah, wars das, was dich zu ihr zog: +Glut, unstillbar, wie die deine, zum einen Ziel, und die Verwandlung? Du +aber bist doch nicht einsam, nicht verschlossen, obgleich ... Sie brach +seufzend den Gedanken ab. + +Nicht einsam? nicht verschlossen? nicht mir ewig fremd? + +Und doch, fing sie nach einer Weile wieder an, kaum bemerkend, daß sie +auf einem Stuhl saß, -- Ulrika war -- mehr als -- beschlossen. Sie war +-- -- Angestrengt nach einer Vorstellung suchend, fand sie schließlich: +befangen. Das ungefähr, dachte sie, gefangen in sich selber, unfrei +irgendwie in der einen Aufgabe. Georges -- Renate lächelte --, was +würdest du nun sagen? -- Jedoch fiel ihr ein Wort Josefs ein: +Tennisspielende Frauen werden schief; tennisspielende Männer niemals. +Und -- hatte er hinzugefügt -- jeder Frau, die alles an eine Sache setzt +wie ein Mann, es sei denn an die natürliche, ergeht es wie den +Tennisspielerinnen. + +Ist uns denn -- mein Gott! -- murmelte Renate verzagt, wirklich nur die +eine Stelle im Dasein gegeben, um zu lieben und ganz wir selber zu sein +und schön? + +Wieder war über ihr das Königsgesicht, fortblickend ins Ewige. -- Er +lächelt ja! durchzuckte es sie leise. Sie senkte den Kopf: Und was steht +vor deiner Seele, Renate, und fordert die Verwandlung? + +Lange Zeit blieb alles leer in ihr und dunkel. Dann fiel ihr ein, daß +sie das Paket mit den Briefen in der Kapelle hatte liegen lassen. Also +ging sie fröstelnd und traurig, -- von Treppe zu Treppe, von Zimmer zu +Zimmer von dem auflohenden und verlöschenden Licht begleitet, durch das +dunkle Haus, den zerstörten Frostgarten und in die Kapelle, wo sie noch +die halbe Nacht, da Streichhölzer fehlten, unter der hochhängenden +Glühbirne saß und schaudernd in der Nachtkälte mit heißem Gesicht las, +als wäre sie es Saint-Georges schuldig, was sein toter Vater einst +schrieb. + + + Zweites Kapitel: März + + + Leda + +Georg, abgespannt von überhitzten Arbeitswochen in Mozarts Figaro +sitzend, merkte schon während des ersten Aktes, daß es ihm wie immer +erging: nach dem ersten wunderbaren Durchspültsein von der göttlichen +Musik, dasitzend mit geschlossenen Augen, um die Bühnengeschehnisse +unbekümmert, entfaltete in ihm sich Phantasie; Bilder, von den Klängen +tiefer gefärbt und bewegt, schwirrten auf, schwanden, wiederholten sich +und vergingen unter neuen Erinnerungen an dies und jenes, Gedanken an +die Zukunft, die er erleichtert sah, plötzlich ein Stück Traumes aus der +letzten Nacht, ein Mädchen, eine Frau -- deren Gestalt und Züge ihm kaum +noch erinnerlich waren, die er geliebkost hatte, wie sie ihn, bis zur +höchsten, letzten Wollust liebkost, in einem Garten ... worauf er, +erwachend, dann merken konnte, daß nur seine Seele geträumt hatte, nicht +aber sein Leib. Und wieder, wie in der Nacht, fühlte er das Peinliche +der Erleichterung, -- und Erleichterung doch. Diese Weise war immer noch +besser als -- -- er zerdrückte das Übrige, sah, die Augen öffnend, ein +wenig geblendet von der Helligkeit der Bühne, eben den Grafen, ohne daß +ers gleich merkte, den silbernen und blauen Cherubim aus der Decke +hüllen, lächelte zerstreut und ließ sich untergehn im harmonischen +Wirrwarr der Instrumente und Stimmen, bis der Vorhang fiel. + +Benno hinter ihm seufzte tief auf, und sein heißes, gerötetes Gesicht +kam zum Vorschein mit ersterbenden Augen. Allein, wie deren Blick jetzt +in das Logenhaus hinunter geriet, zeigte sich Erschrockenheit darin. Er +faßte Georg am Arm und flüsterte: + +»Sieh nur! das Gespenst unten! Drüben auf der Seite, in der dritten -- +vierten -- fünften Parkettloge, wo all die Schauspielerinnen sitzen!« + +Georg suchte dort, über die Brüstung der Proszeniumsloge geneigt, und +gewahrte in der Tat bald ein seltsam gespenstisches Gesicht, das, als +gehörte es zu einem Kinde, dicht über dem grünen Plüschwulst der +Brüstung war: gelbes, in die Stirn gekämmtes Haar, unter dem hervor aus +dem ganz weißen, altkindischen Gesicht mit spitzer Nase, unbestimmt +helle Augen umherspähten, sich verdrehend, so daß darin das Weiße +glänzte, äugend in einem abstoßenden Gemisch von Munterkeit und Bosheit. +Ein Gespensterwesen ohne Jugend und ohne Alter, fast Knabe und fast +Mädchen ... + +»Siehst du?« raunte Benno. »Ein Vampir!« + +Allein Georgs abirrender Blick hing an dem Gesicht daneben fest, aus dem +zwei schöne und traurige, dunkle Augen ihn anblickten; ihn? -- ja -- +gewiß -- ihn, -- und zwar senkte sie wohl gleich die Lider -- sehr +schwarz und lang mußten die Wimpern auch am untern Lide sein, denn die +Augensterne waren rundum verschattet --, aber im nächsten Augenblick kam +der Blick wieder empor und hing an ihm fest, viele Sekunden lang. Dann +wagte Georg es, zu lächeln; sie blieb ernst. Nein, nun lächelte auch +sie, traurig, und schlug die Augen nieder. + +Georg streckte die Hand nach dem Opernglas, das Benno haben mußte, +murmelte, er müßte das Gespenst sich näher ansehn, erhielt es und konnte +nun die Gesichter beide nahe vor sich sehn und in fast natürlicher +Größe. Das des Gespenstes war weiß geschminkt und abscheulich; auch das +der Andern war -- ein sehr weiches, fast rundes Oval -- weiß, eher ein +wenig grau, wie von vielem Schminken. Auch diese -- waren es wirklich +Schwestern? -- trug das Haar in die Stirn gekämmt, aber es war +tiefbraun, sehr altem Mahagoni oder polierter Eiche gleich, ja, es +schien fast einen grünlichen Hauch zu haben wie Bronze, -- aber das kam +wohl von dem nahen Samtgrün der Brüstung und -- ja, auch ihr Kleid war +von ähnlich grünem Samt. -- Befremdend war der Mund, von dem nur in +seiner Mitte ein hagebuttengroßer, tiefroter Fleck der Oberlippe +sichtbar war; die Mundwinkel, tief ins weiche Wangenfleisch eingebettet, +waren darin wie ausgewischt, ähnlich wie die Augen vom Schwarz der +Lider. + +Indem sah er sie ein kleines Opernglas heben, aber gleich wieder sinken +lassen, -- wohl da sie das seine auf sich gerichtet sah. + +Und dann, nachdem er das seine fortgetan, blickten sie einander wieder +in die Augen, in Pausen, wieder und wieder. Es war süß, melodisch, -- +fast wie Drosselgesang, dachte Georg. -- Dann begann der nächste Akt. + +Wer ist sie? dachte Georg, wieder im Dunkel geschlossener Augen und +wirrer Harmonien. Hat sie mich erkannt? Ach, wahrscheinlich doch! +Überall haben sie ja Photographien von mir aufgehängt. Freilich, wenn +die Menschen einen vor sich sehen -- im Laden zum Beispiel --, denken +sie doch nicht, daß mans sein könnte. Er lächelte, da ihm einfiel, was +der berühmte Gaffron, der Mime, ihm einmal erzählt hatte, wie er eine +Ansichtskarte von der Wiener Burg gekauft und die Verkäuferin ihm eine +empfohlen hatte mit den Worten: Da habens auch den Gaffron gleich mit +drauf ... + +Er wandte sich und suchte im Dunkel der Menschen unten ihr Gesicht, fand +es auch, mattweiß leuchtend, und sah, daß sie zu ihm emporblickte. +Obwohl er ihren Blick nicht wahrnehmen konnte, fuhr er fort, hin und +wieder sekundenlange Blicke mit ihr zu tauschen, dieweil er dachte: + +Will sie etwas? Sie sah so ernst aus; das muß echt sein. Nein, +dirnenhaft war sie doch gar nicht! Empfand sie wirklich etwas für ihn? +Ach, ja so wars immer mit ihm gewesen: die er hätte haben mögen, +pflegten ihn nicht zu sehn, solange sie nicht wußten, wer er war, und +die Unbekannten, die ihm ihre Geneigtheit zeigten, stießen ihn ab eben +dadurch. Auch diese -- -- sie ging fast zu weit ... Und was nun? Nun das +Anknüpfen, das unleidlich war. Sie mußte ihm erst doch mehr +entgegenkommen, damit er sicher würde, dann wars ja einfach, allein -- +-- um so mehr würde dann wieder die Zudringlichkeit ihn abstoßen ... Und +natürlich grade heute mußte ihm dies begegnen, wo er nach Wochen und +Wochen des Schmachtens und Leidens -- nun einmal sich bedürfnislos +fühlte! Dieses Leben hier war von allen Bestien die heimtückischeste. + +Schweren Herzens, als der Vorhang fiel, erhob er sich doch langsam und +sah sie aufstehn. Bennos Arm nehmend, schlenderte er durch das heiße +Gedränge auf den Treppen und Gängen, behelligt und unwirsch vom vielen +Ansehn derer, die ihn erkannten, in den Wandelgang hinter den +Proszeniumslogen hinunter, der fast leer war. Sie stand in der Tür ihrer +Loge und sah ihn kommen, bewegte sich vor, ging an ihm vorüber, ihn +ansehend, ohne zu lächeln. + +Und dann begegneten sie sich, Beide umwendend -- Benno, aufgelöst in +Musik, wanderte blindlings und schweigsam mit --, begegneten sich noch +einmal -- und lächelte sie jetzt nicht wieder? -- und ein drittes Mal, +worauf sie verschwand. Das grüne Samtkleid, das schlecht und lose saß, +wunderte Georg, ohne seine wachsende Zuneigung viel zu stören. + +Oh er würde sie lieb haben können! Wenn sie nur nicht törichten Geistes +war, -- aber das schien nicht so. Also mußte es sein. Mußte, mußte! +Nicht wieder aus Feigheit die Gelegenheit versäumen! Nun -- aber wie? -- +Es mußte sich finden ... + +Der dritte Akt war noch nicht halb vorüber, als Georg sie mit dem +Gespenst flüstern sah. Dann stand sie auf, stand noch einen Augenblick +aufrecht, zu ihm aufblickend, und verschwand. + +Georgs Herz tat einen Sprung und begann zu rennen. Festgebannt noch für +Sekunden, erhob er sich dann doch und sagte zu Benno, er müsse ihn +entschuldigen, und, verlegen lächelnd: ein Abenteuer verlangte ihn ... + +»Aber wie denn, Georg?« fragte Benno fassungslos. »Ich hab doch gar +nichts gesehn!« + +Georg drückte ihm die Hand, verließ eilig die Loge, ließ sich Hut und +Mantel geben und lief mit angstpochendem Herzen hinunter. Noch auf der +Freitreppe sah er sie unten in der Halle stehn, -- ja was für einen +abscheulichen, vergilbten alten graden Strohhut hatte sie denn auf dem +Kopf! -- Georg fand sie so entstellt, daß er fast dies als letzten +Ausweg benutzt hätte, um davonzukommen, allein was sollte Benno denken? +-- Sie stand -- er sah sie von der Seite --, langsam einen schmutzigen +weißen Glaceehandschuh anziehend --, und nun wandte sie sich herüber, +sah ihn und ging schnell hinaus. Er folgte. Sehr langsam; so langsam er +konnte. + +Die dunkle, enge Straße war voll von wartenden Automobilen und +Equipagen. Die Nachtluft atmete lau. Und dort links bewegte ihr Schatten +sich davon, auf das rote Leuchten der breiten Goethestraße zu. Langsam +folgte Georg, mit Entschlußlosigkeit kämpfend, mit: Soll ich? und: Soll +ich nicht? wechselnd fast bei jedem Schritt. An der Ecke angelangt, +gewahrte er sie erst nach einigem Suchen schon fern drüben auf der +andern Seite, wo das steinerne Brückengeländer die Häuserzeile +fortsetzte, und etwas rascher nachgehend, sah er sie über die Brücke, am +Gitter der Molkerei hinabgehn, dann um die Ecke biegend entschwinden. +Selber dort -- auf einmal ganz verwirrt vom Erinnerungsgeruch der +Gegend, durch die ihn jahrelang sein Schulweg geführt, -- sah er sie +wieder auf der andern Seite der zweiten Brücke über der Flußbiegung, und +sie stand still an der Brüstung, flußabwärts blickend, -- dorthin, wo am +linken Ufer sein alter Schulhof lag und dahinter das rote Haus mit der +Sonne auf dem Türmchen ... + +Ja, nun mußte es geschehn. Unaufhaltsam kam er näher. Was war zu sagen? +Abscheulich war das ja! Und dies Wesen war womöglich ihre Schwester mit +dem Gespenstergesicht! -- Und dann ballte er sein Innres zusammen wie +ein Papierknäuel, trat neben sie und sagte -- eben zwei näherkommende +Männer gewahrend -- im Ton alter Bekanntschaft, wenn auch heiser: + +»Es ist angenehm kühl hier, nicht wahr?« + +Nun erst wandte sie das Gesicht herum, lächelte ein wenig krampfhaft, +bewegte die Lippen und sagte endlich, dieweil Georg plötzlich in +schönster Sicherheit dachte: sie hat ja mehr Angst als ich! --: + +»Ja.« + +Und nun gingen sie zusammen weiter, Georg besinnungslos dies und jenes +redend, von der Musik, von den Darstellern, ohne zu wissen, was er +sagte, -- gingen die dunklen, laternenerhellten, gewundenen Straßen, wo +Georg jeden Stein kannte, an seiner alten Öltzenstraße, ganz nahe am +Pragerschen Hause, am Kolonialwarenhändler Kiffe, am Bäcker Engelhardt +vorüber, an den alten Schildern mit Anpreisungen von Malzkaffee, +Kindermehl, Leibnizkakes, -- wo Georg dann merkte, daß er vor +Erinnerungen wieder verstummt war -- einerseits, und daß sie ja in der +Richtung seiner Wohnung gingen -- andrerseits. + +»Wohin gehen wir eigentlich?« fragte er da kameradschaftlich. + +Sie lachte leise. »Halt in die Allee.« + +Und so kamen sie über den Platz und waren bald im Dunkel der noch kahlen +Lindenwölbungen. Da schob Georg seinen Arm in den ihren, und siehe da, +sie faßte mit der Hand, an der kein Handschuh war, die seine, und er +mußte nach einer Weile wieder loslassen, um gleichfalls den Handschuh +auszuziehn. + +»Und nun,« sagte Georg in völliger Sicherheit, »nun erzählen Sie mir, +nicht wahr! Wie heißen Sie? Nur den Vornamen, -- Nachnamen interessieren +mich nicht.« + +»Cornelia«, hörte er sie sagen. + +»Cornelia?« fragte er überrascht. Wer hieß denn Cor--? Ach, Cornelia +Ring! + +»Nicht Cornelia,« sagte sie lachend, »Cordelia mit d, von _cor_, +_cordis_.« + +»Oh Sie können ja Latein!« + +»A bissel!« + +»Und Bayrisch?« + +»Na freilich! Oberbayrisch, mei Muttersprache!« + +»Am Ende auch Griechisch?« + +»Auch. A weng!« + +»Das glaab i nimmer!« versuchte Georg sich Münchnerisch. »Sagen Sie mal +was auf!« + +Sie sah gradeaus. Er merkte beseligt, daß ihre Finger mit den seinen +spielten. + +»Na, fällt Ihnen nichts ein? Dann übersetzen Sie mal: _Anär tis +athänaios -- uk ebuleto fotografizestai!_« + +Leicht auflachend stutzte sie. Hatte sie gelogen? + +»Was heißt denn das?« fragte sie dann. »Ein griechischer Mann, der nicht +photographiert werden wollte? Wo kommt denn das vor?« + +»Also wahrhaftig, Sie könnens! Das ist so ein alter Schülerscherz. Dann +können wir ja griechisch weiter reden.« + +»Awo!« sagte sie, seine Hand drückend. »Sagens mir lieber, wie Sie +heißen?« + +»Wissen Sie das nicht?« fragte er unbedacht. -- Sekunden vergingen, bis +sie ihn ansah und fragte: »Nein, -- woher soll ich das wissen?« Und +Georg atmete auf. + +»Ich heiße Georg.« + +»Georg? Ach, das ist schön!« + +»Und auch griechisch.« + +»Ja: ge--vor--gós,« sagte sie mit genauer Betonung schulmäßig, »der +Landmann. Sans an Landmann, gell?« + +Oh dies >gell< war entzückend! Georg schüttelte nur lachend den Kopf, +und sie wanderten langsam weiter, schweigsam, während Georgs Herz immer +zärtlicher, sein Geschlecht immer begehrlicher empfand. Sie nahm jetzt +den Hut ab, schüttelte den Kopf, und Georg sah, daß ihr Haar kurz +geschnitten rund um den Nacken fiel. Darüber erlag er plötzlich, blieb, +sie festhaltend stehn, umschlang sie und drückte sie an sich, während +ihr Kopf schon hintenüber sank, ihr Mund emporkam, doch traf er, sie +küssend, erst die Wange. Dann, als er ihren Mund gewann, brauste sein +Blut siedend auf, durchflammt von der erschreckenden Süßigkeit dieses +Mundes. Er stolperte, sie schwankten, ließen sich dann los und gingen +hastig weiter, Georg trunken und beglückt. Bald nahm er ihre Hand, dann +zog er sie davon, durch die Bäume der Allee und in einen der Wege in den +Anlagen. Und dann saßen sie auf einer Bank, er hielt sie fast auf den +Knien, ihre Brust lag an ihm, sie ließ sich küssen, Gesicht und Hals, +küßte wieder und atmete tief und wild. + +Wieder stille geworden nach dem Ausbruch, fragte Georg, ganz froh vor +glücklicher Überraschung: + +»Nun sag, was möchtest du? Hast du Wünsche? Wollen wir nach Ägyptenland +reisen? Oder nach Stockholm? Na?« + +Sie schwieg; ihre Augen blieben geschlossen an seiner Schulter. + +»Aber erst muß ich wissen, wer du bist, nicht wahr?« sagte er leise +scherzend. Da schlug sie die Augen auf und sah ihn lange an. Endlich +sagte sie ganz ernst und mit tiefer Stimme: + +»Ich bin nur eine arme Seele!« + +Und eine Weile später hörte er, übermannt von Mitleid, Zärtlichkeit und +Staunen, sie sagen: + +»Bist du denn so reich? -- I moan,« setzte sie hinzu, »weils du von +Reisen redst.« + +»Möchtest du denn reisen?« + +»Ich will, was du willst«, sagte sie leise. + +Ihn überliefs. Was war das hier? Was hielt er denn hier im Arm? + +Lange wars still. Ob ihr nicht kalt sei, fragte er. + +Oh nein, sie sei ja ganz glühend. + +»Aber schad, daß nicht Mai ist«, meinte sie dann träumerisch vor sich +hin. + +»Die Nachtigall ...« fing er an. + +»-- müßt halt schlagen«, ergänzte sie wohlgemut, halblaut wie aus dem +Schlaf. + +»Also gehn wir doch hin, wo sie schlägt, Cordelia. Du wolltest dir doch +was wünschen. Wünsch doch mal! Na, was möchtest du wohl jetzt?« + +»Was i möcht?« Sie lächelte geschlossenen Auges und fuhr sachte mit +lieblichem, innerm Humor fort: + +»Ich sollt in eim Schloß sein dürfen ... im Garten von dem Schloß --, +und in an -- Teich. Ja, in dem Wasser, dem kühlen, -- da sollt ich stehn +dürfen, bis zun Knien. Und auf meinen Armen -- so ausgestreckten Armen +weißt und am Kopf und den Schultern -- da sollt alles voll sein dürfen +von -- Papagoyen. Naa! ich mein' ja nicht Papagoyen, ich mein' -- +Lerchen. So a kloans Gsindl, weißt! Aber -- -- das bräucht halt a net! +Bloß das kühls Wasser bis zun Knien, das sollt schon dürfen«, schloß sie +bescheiden. + +»Und das Schloß?« + +»Und das Schloß halt«, wiederholte sie befriedigt. + +»Dann also los, gehn wir hin!« entschied Georg, sprang, sie abgleiten +lassend, auf und zog sie mit sich den Weg hinunter auf die chaussierte +Straße zum Schlößchen. Sie sagte lange Zeit nichts, wohl im Glauben, er +scherze. Plötzlich aber hielt sie an, faßte ihn mit beiden Händen bei +den Schultern und fragte, ihre Augen fest und ganz nah unter die seinen +haltend: + +»Georg! bist du wirklich reich?« + +Er bejahte verwundert. Langsam irrte ihr Blick ab, fiel, sie senkte die +Stirn gegen seine Brust. + +»Ach, das ist schade!« seufzte sie tief auf. »Ich dachte, du wärest auch +arm ... Aber gut bist du, nicht wahr?« sprach sie, ihn wieder +anblickend, hastig weiter, »bist du nicht? Ja, du bist gut! Oh sag doch, +daß du gut bist, bitte sags, bitte, bitte sag mirs doch!« wiederholte +sie bettelnd gequält, bis er Ja sagte. + +»Danke«, seufzte sie leise. »Dank dir viele Male. -- -- Gehn wir nun zum +Schloß?« fragte sie kindlich zum Spaß. Er nickte nur, verwirrt von all +dem sonderbaren Hin und Her, aber sehr gerührt, dankbar und voll +Vorfreude über die kommende Überraschung. + +»Ists das?« fragte sie, als zur Linken die Hausecke im Dunkel sichtbar +wurde. Er nickte nur und zog sie weiter an der Hand, die Rampe empor vor +das Portal, wo er sein Schlüsselbund hervorholte und mit den Worten +»Wolln mal sehn, ob einer paßt!« einen nach dem andern versuchte, bis er +den richtigen nahm und aufschloß. + +»Es geht ja auf!« schrie sie ganz entsetzt. Er aber war schon im Saal, +drehte die Lichtkurbel, nahm den Hörer des Haustelephons von der Wand, +hörte nach Sekunden -- dieweil er sie dastehn sah, ihren alten Hut in +der Hand, fassungsloses Staunen überm ganzen Gesicht -- des blassen Egon +verschlafene Stimme und trug ihm auf, Limonade und zwei Gläser ins +Arbeitszimmer zu bringen. + +»Oder magst du lieber Wein? Ich trinke keinen«, fragte er sie, die mit +runden feuchten Augen immer noch langsam umhersah. Dann schien sie ihn +zu erkennen, ihre Augen verdunkelten sich schwer, auf einmal war sie vor +seine Füße hin an den Boden geglitten, legte die Stirn an seine Knie und +sagte: + +»Habe Dank, Herr!« + +Und nach einer ganzen, für Georg fast verzweifelten Minute in der Scham +seines Nichtseins und Scheinens: + +»Ich bin dein eigen.« -- + +Dann gelang es ihm endlich, sie hochzuziehn. Sie ließ sich geduldig +küssen wie ein erschöpftes Kind, lachte dann leise und verlangte, wieder +in ihrem kindlichen Spaßton, »das Übrige.« + +Georg schloß aus alledem mit Bestimmtheit, daß sie Schauspielerin war; +zwar hatte er nie eine gesehn, die so fortwährend agierte; aber die Art, +wie sie's tat, war ihm bezaubernd. + +Als aber bald darauf im Arbeitszimmer die Mondsphäre aufleuchtete, war +sie vor Andacht kaum zu bewegen, daß sie die Stufen herunterkam, und +dann ging sie umher und bewunderte und berührte ein jedes, die +Kostbarkeiten, die Blumen, die Möbel, mit einer kleinen, scheuen, +bittenden und vertraulichen Bewegung der Hand, bis sie vor dem +Penserioso in vollkommenes Schweigen versank. Unterweil brachte Egon +Limonade, Georg mischte ein Glas, brachte es ihr, und sie nahm es, ohne +es zu bemerken, trank und gab es ihm wieder. + +»Man möcht ihn immer anschaun«, sagte sie endlich. Und, die Hände +faltend vor der Brust: + +»So möcht man auch einmal können sitzen -- immer so -- und nachdenken, +immerfort nachdenken, wie das alles kommt ...« + +»Ja, nun bin ich im Schloß!« stellte sie erwachend fest. »Und du bist +also der Prinz. Schad, wie a Prinzessin schau ich net aus da herum!« +sagte sie, den Fuß vorstreckend, um ihn auf ihr altes Kleid aufmerksam +zu machen. + +Georg lief zur Truhe neben dem Kamin. Darüber gebückt, in den seidenen +Zeugen wühlend, erinnerte er sich mit Macht, aber er wollte sich nicht +Esthers erinnern, wühlte stumpf weiter, den roten und blauen Bademantel +hervor, den Sigurd, den Kimono, den Ulrika getragen. Es mußte etwas +Dunkles sein für Cordelia, -- nein, es war nichts, das gepaßt hätte, +außer Esthers Gewand. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, als er es +Cordelia brachte und sie, ganz wie Esther dazumal, ins schnell +erleuchtete Schlafzimmer damit drängte. Dann kühlte er sich mit Limonade +und versuchte, zu glauben, daß Esther das Kleid gerne hergab. + +Ihre Stimme hinter sich hörend, drehte er sich um. Oh sie sah nun +köstlich aus in dem düstern Kleid mit feurigen Blumen, das sie, +nacktfüßig, mit beiden Armen an den Leib drückte, schmitzäugig +flüsternd; sie habe nichts drunter an; so weich sei's, so ... + +Er glaubte, alles zu begreifen, sprang auf sie zu, ergriff ihre Hand, +lief mit ihr zur Gartentür, öffnete und zog sie ins Freie, den Weg +hinunter durchs Gebüsch bis an den Wassergraben. -- Das sei der Teich, +den er hätte. Aber ob es ihr denn wirklich nicht zu kühl sei ... + +Sie stand, den Kopf im Nacken, lange nach oben blickend. Endlich +flüsterte sie melodisch und auch theatralisch: + +»Nicht Mond noch Sterne in der Nacht. Dann will ich leuchten!« und ließ +das Kleid an den Boden fallen. + +Georg zitterte in den Knien. Er wagte fast nicht, sie anzusehn, sah die +dunkle Wasserfläche, das schwarze Strauchwerk drüben, auch -- einen +grauen Fleck im Schwarzen der Flut -- den jungen Schwan, der sich +bewegte, und endlich sie selber, die wieder erhobenen Hauptes aufwuchs +aus der Erde, völlig wie Marmor so bleich weiß, so weich und schmal, +aber mit vollen, schönen, breit aufgesetzten Brüsten. Sein Blut lief +über, er lag an der Erde und küßte ihre Knie, ihre Füße, sprang wieder +auf, wollte sie an sich ziehn, erschrak, ihre Brust berührend, weil sie +kühl war, nein kalt, wie Marmor, jedoch weich, -- allein sie wies ihn +leicht ausweichend von sich und ging schnellfüßig die schräge +Uferböschung hinab bis ans Wasser. Er sah, daß sie strahlte mit ganzem +Leib. Nun rauschte die Flut, in die sie watete. Stehen bleibend, drehte +sie sich nach ihm um; er hörte durch das Brausen in seinen Schläfen ihre +Frage, ob der Schwan gefährlich sei, und sah, leise verneinend, sie +tiefer in die schwarze Flut gehn. Der Schwan kam jetzt mit leichten +Stößen heran, -- er war jung und zutraulich --, bewegte voll Anmut den +Hals auf und nieder, drehte den Kopf, beschrieb einen Kreisbogen, sie +streckte die Hände nach ihm aus und lockte, da kam er näher, ganz nahe +zu ihr, richtete sich auf, spreizte sich und schlug mit den Flügeln. +Stillehaltend danach, ließ er sie sich zu ihm bücken und ihn liebkosen, +schmiegte den Hals an ihr empor und legte den Schnabel auf ihre Brust. + +Fast kühl ward es Georg im Hinsehn. Die Nacht war unbewegt, windlos, +geräuschlos, wie ohne Jahreszeit, nur Nacht, und, ins Vorjahrgras der +Uferböschung niedergleitend, fühlte er das Rieseln über Rücken und Armen +vom unbegreiflichen Schauder einer Furcht, bis er jetzt ganz überronnen, +schamhaft wie ein Knabe das Gesicht in den Händen verbarg, dann völlig +verwirrt, glücklich, schwellend von tausend Gefühlen, sich auf dem +Rücken ausstreckte. + +Leise rauschte es wieder in der Flut. Er sah sie heraufkommen, nicht +dort, wo er lag, ein wenig links von ihm, und hingleiten. Lange Sekunden +mußte er ohne Bewegung bleiben, nach oben blickend, trunkenen Auges. Als +er sich dann zu ihr wandte, lag sie abgekehrt, ganz still, und wie er +nun die Hand ausstreckte nach ihrer Schulter und sich hinüberbog, +erkannte er, daß sie den Kopf auf den Arm gelegt hatte und weinte. -- +Erschrocken zog er die Hand zurück, streckte sie wieder aus, wollte +etwas sagen, blieb stumm, ratlose Bestürzung im Herzen und Mitleid, so +wenig er begriff. + +Plötzlich lag sie auf den Knien, das Haupt tief hintenüber zum Rücken +gesenkt, die Arme schlaff. Trotz des Dunkels konnte er sehn, wie ihre +Brust sich hochwölbte und spannte, bis ihr Mund mit einem haschenden +Wehlaut aufbrach, und sie seufzte ein sterbend tiefes, erschütterndes: +Ach! + +Im nächsten Augenblick war sie aufgestanden und ging langsam, ohne nach +ihm zu sehn, das Ufer hinauf, den Kopf gesenkt, schlaff hangender Arme, +und weiter und zwischen dem schwarzen Strauchwerk fort, wo das Weiß +ihrer Glieder noch lange schimmerte. Endlich klang leise die Tür zum +Haus. + +Georg wartete, still in sich hinein lächelnd. Sie schämt sich nun, +dachte er, oh wie werde ich sie lieben können! + +Als aber sein Blut anfing, heftiger zu sausen, das Zittern der +Begehrlichkeitsangst über der Herzgrube wütender pochte, spiegelte er +sich vor, sie erwarte ihn drinnen, im Schlafzimmer womöglich -- und +ging, jedoch langsam. + +Das Arbeitszimmer war leer. Die Tür zum Schlafzimmer stand halb offen, +und drinnen war Licht. Er trat leise näher und spähte hinein. Niemand +war darin. + +Georg fühlte sich einen Augenblick versucht, die Schränke zu prüfen, ob +sie sich in einem versteckt halte, doch brachte ers nicht fertig, ging +ratlos ins Zimmer zurück, und als er absichtslos über den Schreibtisch +hinblickte, schien ihm dort irgend etwas verändert. Nähertretend sah er +auf dem weißen Löschblatt der Schreibunterlage große Schriftzüge, mit +dem Blaustift geschrieben, der noch darüber lag. + +»Dank! Dank! Dank!« las er; und darunter: »die arme Seele.« + +Haß und Enttäuschung, die aufquellen wollten, kamen doch nicht hoch vor +dem Schauder der Ratlosigkeit und des Staunens. Seine Stirn sank langsam +vorüber, indem er in den Stuhl hinabglitt. Er hätte weinen mögen vor +Bitterkeit. Dann verging auch diese in offenbares Nichtverstehn. Sie +wieder im Wasser unter sich sehend, beneidete er den Schwan. Bald fühlte +er sich müde, stand kopfschüttelnd auf, lächelte mit Anstrengung und +begab sich ins Schlafzimmer. + + + Renate + +Renate erwachte beim Frühgeläut aus der nahen katholischen Kirche, +dehnte sich, machte die Augen versuchsweise ein paar Mal auf und wieder +zu und stellte fest, daß sie friedlicher und behaglicher Laune war. +Vielleicht, dachte sie, kommt ein Brief, oder Besuch, und sie streckte +sich gerade aus, faltete die Hände unterm Nacken, sagte sich, wie +wunderbar breit ihre Muschel von Bett sei, heftete die Augen auf die bei +der Dämmerung kaum kenntlichen Züge der dunklen Madonna Feuerbachs +drüben an der lichten Wand, schnurrte schließlich gähnend wie eine +Spirale in sich zusammen und sprang aus dem Bett. Im Schlürfen ihre +bastenen Badeschuh an die Füße bringend, ging sie ans Fenster, das weit +offen stand, schlug den Vorhang zurück und fand den kaum ergrünten +Garten angenehm verschleiert von einem lautlos fallenden Regen, worauf +sie mit schönem Schaudern wieder unter die Decke kroch, um sich zu +erinnern, was sie geträumt hatte. -- Allein unvermutet entglitt sie sich +selber, und langsam, nicht wissend, ob sie wache oder träume, sah sie es +vor ihren Augen sich entfalten ... + +Sie glaubte, daß sie auf der Veranda stehe und über die Stufen in den +Garten schaue, in dem es nicht dunkel, nicht hell war; schattenloses +Traumlicht herrschte, es war alles grün, Bäume und Büsche standen +dichter und stiller als sonst. Da begann etwas Weißes sich im Garten +umher zu bewegen, und sie erkannte sich selber, die auf dem um den +Rasenplatz führenden Wege plötzlich deutlich sichtbar ward und sich in +das enge Grün hinein entfernte. Darin taten sich immer neue Wege auf, +und ihr Gehen war schön und friedlich anzusehn, und jetzt war sie es +auch wirklich selber, die ging, und sie sah sich nicht mehr. Hinter ihr +sagte die Stimme Bogners: Jetzt kommen die großen Verneigungen. Da war +wieder die weiße Gestalt, sie selber, und hatte auch schon angefangen, +sich zu verneigen, mehrere Male, im Gehen, und aus Verneigung und +Sichaufrichten wurde ein sehr ernster Tanz, der endete, indem all dieses +verschwand in einem grenzenlosen, leidenschaftlichen Schluchzen, das aus +allen Tiefen und Höhen zugleich herauszuquellen schien, zusammenschlug +und sie verschlang. -- Renate ging suchend im Garten umher, Magda wars, +die sie hinter allen Gebüschen suchte, immer ängstlicher und +aufgeregter, allein immer, wenn ein Weg und ein Blick frei zu werden +schien, verstellte etwas die Aussicht, ein Mensch, den sie umgehn, ein +Busch, ein Zaun, ein kleines Haus, um die sie laufen mußte, und auf +einmal befand sie sich vor ihrer Orgel, die mitten in einem Walde stand. +Es war dämmrig geworden, und oben auf den matt glänzenden Pfeifen saßen +regungslos viele dunkle Vögel ohne Augen, und sie sagte: Das sind die +Eulen. Sie mußte die Bälge wohl angetrieben haben und dachte, wenn ich +ganz leise spiele, werden die Eulen es vielleicht nicht merken, sonst +würden sie gewiß aufgeplustert und in die Luft geworfen werden, und sie +zog _Vox humana_ und das Flötenmanual auf, aber indem sie nach ihren +Füßen blickte, die sie auf die Pedale setzen wollte, hörte sie hoch über +sich die _Vox humana_ ganz fern _Agnus dei_ singen, vor ihren Füßen aber +rauschte Wasser klar hervor, die Orgelpfeifen standen darin, und in der +hellen Flut wurden erst Hände, dann Bogners Züge sichtbar, die langsam +nach oben schwebten, anzusehn wie ein grüner Wassergott ... + +Renate fuhr zusammen und spürte, daß sie lag. Und jetzt, da das +Glockengeläut schwieg, hörte sie die kleinen Takte und Pausen der +schwarzen Amsel und wußte, daß die es gewesen war, die im Traum _Agnus +dei_ sang. + +Eine Weile noch lag sie still; die Amsel sang nicht mehr; sie hörte das +Hausmädchen, das die Treppe fegte und mit dem Schmutzblech klapperte, +und auf einmal -- fühlbar -- merkte sie den Stillstand in sich und +fragte: Wie kommst du hierher, Renate? -- Sie lag und mußte still +liegen, und es war Unveränderlichkeit, das wußte sie, solange sie diese +Lage festhielt. Nichts konnte geschehen, zuvor war alles ein beständiges +Fließen, Gleiten, Nachfolgen gewesen, nun aber war sie hier angelangt, +aus gelinder Flut den Kopf an ein schlichtes Gestade hebend, +rückschauend über Strom, Brücken fern, Stadt und Türme, -- wie fremd sah +alles aus! Wer denn hatte sie hierher getragen? Es schien ihr nun, als +ob einmal viele Arme und Hände sie umschlungen hatten, worauf ihr Leben +sich zerstreut, immer zur Hälfte, zu Dritteln, zu Fünfteln sich +weggegeben hatte, und jedesmal entstellte und beraubte der fortgegebene +auch den gebliebenen Teil. Wann hatte das angefangen? Als sie in dies +Zimmer kam, in dies Haus. Ja, hatte sie vordem nicht allein auf sich +gestellt hingelebt? Zugleich freilich ihrem Vater, aber wie war der ihr +gewohnt gewesen! Der war nun schon so lange tot, daß sie, seiner +gedenkend, nichts empfand als sein gütiges Gewesensein in ihrem Leben, +nichts sah, als sein immer freundliches altes Gesicht. -- Dann, ja, dann +war dies hier gekommen, Erasmus, Josef, der Onkel, und bald alle die +Andern, die Friedliebende Gesellschaft, Saint-Georges und -- Bogner. Und +lange schon waren Viele von ihnen wieder fort. Herbst, Winter, Frühling, +-- das waren Namen, -- für was? Orgel- und Klavierspiel, Arbeit mit dem +Freunde, ein Konzert, ein Besuch, ein Mensch, der von der Reise kam, +Gespräche, viel Bücher, immer Beschäftigung, und alldas -- wozu? Wellen +durchs Herz, spurenlose. Sie mühte sich eine Zeitlang, deutliche +Erinnerungen zu finden, aber im Augenblick hatte alles ins Unsichtbare +sich hinweggezogen, es war leer, Windstille, Eisvogelbrüten. Siedendheiß +ward ihr plötzlich. Liebte ich nicht jemand? fragte sie lautlos, aber +beinah grimmig in die Stille hinein, richtete sich auf und heftete die +Augen angstvoll ratlos in die regenumschleierten Wipfel draußen. Wie +weiß das Zimmer ist! dachte sie plötzlich, und, mit Heftigkeit die Knie +an sich ziehend, die Hände neben sich aufstützend, zur Tür blickend, +sagte sie laut: Hier kommt niemand herein. -- + +Da mußte sie lächeln über diese Versicherung an sich selbst. Und was +habe ich schon davon, murmelte sie und ließ den Kopf hängen. Eine +Flechte fiel an ihrer Wange herab, sie ergriff das Ende davon und strich +damit über die Decke wie mit einem Pinsel. + +Ich bin wohl, sagte sie sich kühl, zu Manchem hingegangen; wer kam zu +mir? Niemand. Wie? Kam nicht Josef, nicht Erasmus? Georg vielleicht, war +der nicht auch auf dem Wege gewesen, und wie war das mit Sigurd? Aber +du, du, du, eiferte sie böse, du kamst nicht, und was sollten mir also +die Andern! -- Sie schleuderte ihr Haar hinter sich zurück, packte es +mit beiden Händen am Hinterkopf und warf sich so ins Kopfkissen. -- Mein +ganzes, unverbrauchtes Herz habe ich so in der Hand, knirschte sie +wutentbrannt, wie dies Haar, meines Weges bin ich dahergeglitten, und +nun kommen die tiefen Verneigungen. -- Da mußte sie nun lächeln, ihres +Traumes gedenkend, und jetzt gedachte sie einen schönen Namen zu +flüstern, einen selbstgesprochenen Namen zärtlich zu hören, aber statt +dessen schleuderte sie die Füße unter der Decke hervor und saß nun +aufrecht auf dem Bettrand, vorgebeugt, die Hände aufgestemmt, und +horchte. Alles blieb still, aber ihr Herz schlug laut und langsam. +Plötzlich schlug es dreimal schnell hintereinander, setzte aus und ging +wieder ruhig. War sie erschrocken? Sie lächelte über sich selbst. War +jemand ins Haus gekommen? Die Klingel konnte sie hier nicht hören. Sie +blickte auf die Uhr, es war acht. Gleich darauf klopfte es an der Tür, +und das Mädchen meldete Frau Tregiorni. + +Als Renate nach beschleunigtem Bad und Ankleiden herunterkam, wurde ihr +gesagt, Ulrika sei in der Kapelle. Es regnete heftiger, sie mußte unterm +Schirm hinübergehn. Ulrika, in einem nassen Lodenmantel und Kapuze, +frisch und lebendig aussehend, stand vor einem von Bogners Engeln. Ja, +nun mußte Renate erst ihr Kleid von allen Seiten in Augenschein nehmen +lassen und erzählen, daß sie sich für den Winter als Haustracht drei +solcher einfacher Röcke habe machen lassen, einen russischgrünen, einen +violetten und einen eisengrauen; die Blusen hatten die Form eines +russischen Kittels mit ledernem Gürtel, an dem der Hals frei blieb und +der Verschluß von der rechten Seite des Ausschnittes schräg über die +Brust hinunter zur linken Hüfte lief. Ja, und der graue Kittel war +orangefarben gepaspelt, und man konnte jeden Kittel zu jedem Rock +tragen, und so trug sie heute Grau und Grün zusammen. Alle Farben könnte +sie tragen, jammerte Ulrika, sie mit ihrem roten Haar hätte bloß ihr +ewiges Blau oder Grün, und an Festtagen Lila. »Braun hab ich dir doch +offenbart«, lachte Renate und umarmte sie. -- Warum sie aber wohl in +aller Herrgottsfrühe herausgelaufen sei? -- Dies wußte Ulrika +keineswegs; es hätte so schön geregnet. Und sie hätte so seltsam +geträumt, sagte sie nachdenklich. + +Während Ulrika ihren Traum erzählte, frei in der leeren Kapelle stehend, +den Blick im offenen Fenster, wogten so seltsame und wirre Empfindungen +durch Renate, daß sie plötzlich erschrak, da sie allein, als habe sie +Ulrika geträumt, vor ihrer Orgel saß. Nachträglich begann jetzt Ulrikas +Erzählung sonderbar in ihr zu klingen, in einem langsam schreitenden +Takt, der die Worte allmählich ordnete, und sie begann in das erste +beste Notenbuch vorn auf die leere Seite den Traum aufzuschreiben, +folgendermaßen: + + Mir träumte: In der nächtigen Allee + Entgegen kam ich ihm; ich sah: er war es, + Jedoch ein Fremder schien er, und er ging + Vorüber mir wie ich an ihm, jedoch + Nach wenig Schritten mußte ich mich wenden. + Da stand er hergewandt nach mir, und Beide + Entgegen kamen wir uns nun und sahn + Uns lange ernsthaft, ernsthaft in die Augen. + Ich kann nicht sagen, was ich da empfand. + Wir gingen nun zusammen, er und ich, + Hinab die finstere Allee ganz schweigsam. + Am Ende blieb er stehn, ich aber bog + Zur Seite in den Park, und um den Teich + Ging ich und sah nicht um, doch als im Bogen + Ich weit herumgekommen war, da sah + Ich ihn, wie er mir langsam nachging. Endlich + Fand ich die Bank, wo wir einmal die Drossel + Am Abend hörten und gesprächig wurden. + Dort setzt ich mich. Da kam er, und er sah + Nicht mich und ging vorüber als ein Fremder. + Verschwunden war er, aber ich stand auf + Als eine andre; als ein andrer Mensch; + Neu war ich, reif, vollkommen, ganz in Frieden, + Mit mir, mit euch, mit Gott; nicht klug, nicht reich, + Jedoch gehalten, aufrecht, und von innen. -- + Sag, warum weint ich so, als ich erwachte? + +Sag, warum weint ich so, als ich erwachte, wiederholte Renate noch +willenlos, auf die geschriebenen Bleistiftzeilen starrend. Dann errötete +sie langsam, während sie sich fragte: Habe denn nun ich das geträumt, +oder wer? -- Sie sah Gegend und Menschen dieses Traumes dergestalt +leibhaft, daß ihre Vernunft ihr in Verwirrung zu geraten drohte. Auch +die Amsel sang in diesem Traum, bloß hatte Ulrika gesagt: Drossel. Nein, +>entgegen kam ich _ihm_<, das hatte sie nicht gesagt, sondern: >Bogner<. + +Renates Augen, die gedankenleer langsam nach oben gingen, trafen sie +selbst in dem kleinen Spiegel über ihr. -- Ja, so schreckhaft bin ich +geworden, sagte sie vor sich hin, daß ich den Spiegel da habe machen +lassen. Manchmal kam Onkel ja herein, während ich spielte. Wie oft saß +ich schon hier, sagte sie, sich immer ansehend, entfremdet hinter dem +Spiegelglas, seltsam zusehend, wie in den Zügen Bewegungen entstanden, +eine Wendung des Halses, ein Senken der Lider, die doch sie selbst +machte, die aber da drinnen von selber vor sich zu gehn schienen, -- wie +oft saß ich hier, spielte nicht, hatte die Hände im Schoß und hatte in +ihnen so wenig wie im Herzen. -- So saß sie nun wieder, müde an sich +selber, ratlos, tatlos, sah durch das in ihrer Nähe offene Fenster das +matte Regengrün des Gartens, hörte die Spatzen und die ersten Töne der +Grasmücken. Verging nun Zeit? Ja, es regnete nicht mehr; ganz fern, kaum +hörbar sang die Amsel. Verging Zeit? Sie schloß die Augen, sie hörte +wieder das spitze Picken von Regentropfen auf Blättern, und nun strömte +es schwer herunter, es wurde dunkler, es rauschte ganz um sie her, +schließlich spritzte es naß zu ihr herein, und sie stand widerwillig +auf, ging die Stufen hinunter und schloß das Fenster, hinter dem die +Sträucher sich unwillig im Regenstrom hin und her warfen. Ihr fiel ein, +daß es Zeit sein müsse, zu Saint-Georges zu fahren, aber sie brachte es +nicht fertig, die Uhr hervorzuziehn, sie stand vor dem großen Engel, der +mit der kleinen Harfe in ausgestreckten Händen durch die Landschaft über +die Wand hineilte, dachte: So läuft er an mir auch vorüber! und ärgerte +sich ungemein, daß sie immer und immer an ihn dachte. Da schüttelte sie +sich, ging zur Tür, sah nichts mehr, fühlte nur das große Rauschen der +Wasser, das alles in sich hinabschlang, fühlte sich ergebungsvoll und +nachlässig gefangen gehalten. Durch diesen Regen komme ich ja nicht, +sagte sie. Wozu hinaus? Ich schlafe langsam vor meiner Orgel ein, die +Eulen setzen sich lautlos auf die Pfeifen, damit kein Staub hineinfällt, +und ich werde hundert Jahre so sitzen. Nicht Jahre, nein, Jahr--en! sagt +man hierzuland. Die Orgel schläft über mir, der Regen braust, wir wachen +niemals auf. + +Auf einmal war sie dabei, nachzurechnen. Jeden Vormittag vier Stunden +Arbeit mit Georges; jeden Tag wenigstens zwei bis drei Stunden Klavier +und Orgel; jeden Tag mindestens ein Besuch bei Kranken oder Bedürftigen; +dazu Küche, Haushalt und all die Rechnungen, nur Abends Erholung, ein +Buch, ein Konzert, ein stilles Gespräch mit Georges. Es ist so viel, daß +ich mitunter nicht zum Nachdenken komme. Warum genügts mir denn nicht? +Ist mein Herz nicht dabei? + +Sie verlor sich, lange gedankenlos, mußte sich mühsam besinnen, +schreckte zusammen und flüsterte: Nein, so ists aber nicht! Mein Herz +ist immer dabei, und ein jedes ist mir Freude, solange ich dabei bin ... +Aber eben: solang ich dabei bin nur, und wenn ich jetzt daran denke, so +meine ich -- so mein' ich ... + +Wieder sich verlierend, ertappte sie sich, daß sie schief auf dem Stuhl +saß, den rechten Ellbogen auf dem Knie, die Hände gefaltet, +vornüberhängend, aber sie war minutenlang unfähig, die Haltung +aufzulösen, saß nur gelähmt und vermochte sich nicht zu helfen, bis ein +Gezwitscher draußen vorm Fenster sie aufzuschauen bewog und sich grade +zu setzen. + +>Die rechte Freude am Leben<, träumte sie dann, >kann nur von einer +tiefen liebenden Erregtheit kommen, gleichviel auf was sie sich richtet, +Gott oder Mensch oder Sache; denn dann findet sie ihre Erfüllung in +jedwedem Tun, jedem Geschäft und Gedanken, und alles wird liebevoll. +Dann formt sich das ganze Wesen in Tätigkeit aus, nichts wird gespart, +nichts unterdrückt, und die Belohnung ist guter heilsamer traumloser +Schlaf.< + +Das war Papas Rede, dachte sie, Wort so für Wort. Ja, so war er selber +erfüllt von Gott, und ich wars von ihm, aber heut bin ich leer. + +Plötzlich schrak sie zusammen. Ihr Herz schlug laut, sie atmete schwer. +Was ist das, mein Gott, dachte sie angstvoll, ich war doch so leicht und +bewußt beim Erwachen? Was geht denn vor? Was geschieht jetzt? -- Und +einen Augenblick lang war sie völlig wie verzaubert, gelähmt, nicht +imstande, ein Glied zu bewegen. Aber dann wußte sie: Mein mattes Herz, +meine schwache Seele, mein müder Geist, die lähmen mich so. +Nutzlosigkeit, sagte sie langsam vor sich hin. Und danach, mit +Anstrengung, sich selber verlockend: + +Es ist nicht die Stille. Es ist nicht das Unglück dieses Hauses, nicht +das finstre Wesen des Erasmus, nicht die Angst vor dem Onkel, nicht mein +Schuldgefühl, was mich so lähmt, mich so ungefüge, so nutzlos, so +kleinmütig, so beklommen, so elend macht. Vielleicht, ja, es wird auch +all dieses mit sein, aber seit wann bin ich denn so, daß Fremdes mich +hindert, anstatt mich gut und hülfreich zu machen? + +Tief in ihr schrie eine gellende Stimme: Was ich bin und habe, Leib und +Seele, Leib und Seele, alles, alles, Herz und Schoß, Brust und Knie, +Haar und Augen und Lippen will ich -- will ich -- -- + +Auf einmal lief sie gepeitscht durch den Raum, aufs Podium, drückte sich +mit dem Rücken, die Hände ringend, in die Nische der Tabulatur zu den +Registern hinein, warf den Kopf in den Nacken, als biete sie den Hals +einer Kralle, einem Gebiß, das hineinschlagen solle, wehrte sich, +kämpfte, überwand sich, senkte das Haupt wieder, blickte starr, schloß +die Hände, rang die Hände. Sie demütigte, zerknirschte, öffnete sich, +wollte, versuchte zu sprechen, flüsterte, gestand und sprach: Ich will +bekennen. + +Wieder warf sie sich herum. Ich will, ich kann nicht, hilf mir, mein +Gott! Und sie umklammerte mit den Augen ein Bündel Pfeifen und sagte +laut und deutlich empor: + +Auf dich warte ich jeden Tag. Um deinetwillen leide ich, durch dich bin +ich so müde, so lahm, so nichtswürdig, so arm. Ich liebe dich, du! Ich +liebe dich, ich liebe dich! Von mir und dir rührt all dies Elend her, an +deinem Leben hänge ich, an deinen Lippen schlafe ich, von deinen Augen +träume ich, du machst mich so schwer. Für dich singt die Drossel, +zwitschern die Vögel, grünen die Bäume und blühen die Sträucher, aber +ich habe meine Augen abgewandt, und all das ist mir nichts. Vergieb mir, +du, meinen Stolz, höre mich an, erhöre mich, sei gut zu mir, tröste +mich, richte mich auf, mache mich wieder gut, komm zu mir, komm zu mir! +Ich vergesse die Welt, wenn du da bist, ich vergesse mich, wenn du da +bist, ich bin leicht, ich bin gut, ich bin schön, wenn du da bist. O +vergieb mir, du bist ja langmütig! vergieb, du bist freundlich, vergieb, +ich war so klein! Sage mir, daß du bist, so will ich alles Elend der +Erde tragen. Sage mir, daß du an mich denkst, so will ich tapfer sein +und nicht sorgen. Sage mir, daß du morgen kommen willst, so will ich +mich ver--wan--deln ... + +Sie brach ab, denn sie hatte unweigerlich einen Schritt auf den +Steinfliesen der Veranda gehört, und doch war das unmöglich, denn die +war viel zu fern. Sie schwankte todbleich. Was habe ich getan? Hat er +mich gehört? Rief ich ihn her? Und indem wurde sie ganz kühl. Jetzt +kommt Ulrikas Freund, dachte sie friedlich, und siehe da, in der Tür +stand Bogner, schwenkte einen triefenden Hut, lachte und rief, ob Ulrika +nicht da wäre. Renate lachte gleichfalls und erwiderte, sie sei eben +gegangen. Der Maler kam einen Schritt vor, drehte und besah seinen Hut, +schien unschlüssig und murmelte endlich verlegen, ja, dann könnte er +wohl wieder gehn. Scheinbar war er in Ulrikas Wohnung gewesen, aber er +vergaß natürlich, das zu sagen. Einen Augenblick später war er +verschwunden. Renate aber hörte, eigentümlich melodiös und schmeichelnd +die Worte auf sie zuschweben: Ja, wenn du lebtest, wäre vieles nicht. +Der Tag nicht blaß, es glänzte dein Gesicht. Die Nacht nicht schwarz, du +leuchtetest mir gern, ach, du bist fern, bist fern, bist fern, -- ich +weine nicht. -- + +Freilich nein, gütiger Himmel, sie weinte nicht. Ja wenn -- du -- +leb--test! sagte sie mit listiger Betonung vor sich hin. Bogner? Das war +ja ein gänzlich fremder Mensch gewesen! Sie mußte sich umdrehn und an +den Orgelpfeifen emporsehn, ob da vielleicht noch von ihrem Bekenntnis +etwas hafte und ihr beweise, daß es ihm, Bogner gegolten habe. Nein, da +war nichts. Dieser Bogner aber war nur ein Bild, eine Heiligenfigur +gewesen, und sie hatte an ganz jemand Andern gedacht. An wen? An +irgendwen! Und was war nun? Erlösung? Freiheit, Guterdingesein, +Hoffnung, Sicherheit, Zukunft, Irmelin Rose, nämlich: alles was schön +ist? -- Nichts davon, nein, sondern eine furchtbare Traurigkeit senkte +sich in schwarzen Schauern über sie, Schritte waren im weichen Sand des +Gartens hörbar, langsam, unbekannte, -- nein, war das -- --? + +Und langsam, wie ein Geist in ihren Augen anzusehn, dem sie entsetzt +entgegenstarrte, stieg die schwere Gestalt des Erasmus die Stufen in der +Tür herauf, den Kopf gesenkt, und nun sah er sie erst, zuckte ein wenig +die Stirn empor, stand still, murmelte: »Verzeih, ich dachte --« Dann +ganz heiser: »-- bei dem Regen ...« + +Dann warf er die Schultern auf und nieder, als wende er sich im Rock +angewidert hin und her, wütend, daß er gekommen war. Renate glaubte, sie +würde im Augenblick zu ihm hinfliegen, ihm zu Füßen, ihn anzuflehn, er +solle gut sein, anders sein, -- ja, was denn? -- -- Aber sie stand, +ganzen Leibes in die Tabulatur hineingedrückt, die Augen im Schrecken +weit offen, und danach, als er wieder verschwunden war, sank ihr der +Kopf langsam wie abgeschlagen vornüber auf die Brust. + +Viel später fand sie sich, durchnäßt vom Regen, mitten im Garten, wie +sie zu den Fenstern aufsah. Ohne Willen machte sie sich dann zurecht und +fuhr zu Saint-Georges wie alltäglich. + + + Drittes Kapitel: April + + + Tandem + +Georg stand vor dem großen Spiegel im Schlafzimmer und betrachtete sein +Abbild auf einem schönen Hintergrunde offener Fenster voll Gartengrün, +Sonnenlichter, Goldregen und windiger Bewegung. Ein Ladenknabe, so +dachte er, könnte sich leicht eleganter anziehn als ich. Zum Beispiel +würde er doppelt so weite Hosen tragen, um zart anzudeuten, daß er die +Mode kenne; aber ihm würde nicht einfallen, dunkelblauen Marengo zum +Cutaway zu nehmen wie ich -- hier lachte er und freute sich --, denn das +ist eine Kunst. -- Er atmete auf. Ich glaube, heut bin ich glücklich. +Plötzlich, nahe an sein Spiegelbild herantretend, faßte er mit Gewalt +sein Antlitz ins Auge, und so, Auge in Auge mit sich selber, mit +festgebissenen Zähnen, murmelte er sich zu: Sage! Sag, bist du ein +Prinz, oder nicht? Schurke! sagte er besinnungslos, gesteh! -- +Irgendetwas im Gegenüber schien zu bejahen. Das Blut stieg ihm in die +Schläfen, er schüttelte den Kopf, lächelte und wandte sich ab. Am +Fenster stehend, empfand er die überschwängliche Güte des Tages. Der +Garten vor ihm lag im Schatten, still die Wege, ins Buschwerk +entschwindend; über den schillernd grünen Wipfeln flammte der feuerblaue +Himmel und im tiefen Blau große, gewaltige, schneeweiße Wolkenballen mit +majestätischen Schatten. O göttlicher Tag, dachte er. Und außerdem +Korso! und ein fabelhaftes Tandemgespann! Und Renate! Und mein Plan. +Mein Plan. Langsam, langsam -- aber näher werde ich ihr kommen. Und in +den Sommerferien dann Helenenruh. Da werde ich sie ganz ... + +Augenblicks meldete hinter ihm der blasse Egon: Fräulein von Montfort. +-- Georgs Herz erschrak wunderbar angstvoll. Mit der Pünktlichkeit der +Könige ... murmelte er und eilte hinaus. + +Drüben, mit ausgestreckter Hand auf Renate zueilend, umfaßte er ihre +Gestalt mit Blicken und sah alles: das graue Schneiderkleid, den +flachen, grauen Hut und die schwarze, hangende Feder. Er strahlte. + +»Ach, Sie sehen ja wie eine Prinzessin aus!« sagte er glücklich. »Ja, +jetzt wollen wir Tee trinken. Oder lieber Kaffee?« + +Da Renate um Kaffee bat, schrie er zur Tür hinaus: Kaffee! -- + +»Ach, Sie haben ein Bild von Esther,« sagte sie, am Schreibtisch +stehend, »darf ich es sehen?« Sie nahm es in die Hand, ihr Gesicht ward +wehmütig, sie stellte es wieder fort. »Heut vor einem Jahr war es +anders«, sagte sie leise. + +Es ist eine ganze Rinde um sie, dachte Georg und erinnerte sich, wie sie +im Vorjahr um diese Zeit hinter Irene durch die Büsche gejagt war, oder +auf dem Rasen gelegen hatte. + +»Wir sind ein ganzes Jahr älter geworden«, bemerkte er nichtssagend. + +»Zwanzig Jahr werd ich«, meinte sie ruhig. + +»Ein Monat mehr als ich. So, hier kommt Kaffee.« -- + +Sie zog die Handschuh aus, goß sich Kaffee ein, dann für Georg Tee aus +der andern Kanne, tat Zucker, Sahne hinein und gab ihm die Tasse. -- Wie +es denn mit seinem Herzen stehe, fragte sie, in den Sessel gleitend. + +Er lehnte sich an den Schreibtisch und versicherte: »Glänzend! Die +Wochen im Taunus haben mich völlig wiederhergestellt. Ich habe in +Trassenberg schon wieder fest gearbeitet. Übrigens haben Sie dort einen +großen Verehrer. Das heißt, eigentlich sinds zwei, denn mein Vater +fragte gleich nach Ihnen. Der andre ist Onkel Birnbaum. Sie kennen doch +Onkel Salm? Sie haben einmal in Helenenruh drei Worte mit ihm +gesprochen, davon ist er noch beseligt. Als ich anfing, sprechen zu +lernen, soll Onkel Salm mein erstes Wort gewesen sein. Ach, was haben +wir ihn geliebt, Magda und ich! Er war zu allem gut, er hatte in +Helenenruh immer Zeit für uns, schleppte uns herum, ließ sich +malträtieren, kam für jeden Schaden auf, vertuschte alles, oh eine Seele +von einem Menschen.« + +»Weiter, Georg, Sie erzählen so nett.« + +Er setzte die Tasse fort, faltete die Hände ums übergeschlagene Knie und +dachte an seine Kindheit. + +»Haben Sie je gemerkt, wie sonderbar das mit uns ist, Renate? In meinem +Leben hat es -- Gott, ich bin ja noch so jung! -- viele goldene, schöne, +glückliche, erhebende Augenblicke gegeben. Wenn ich mich aber jetzt +erinnern soll: wann war ich glücklich? was fällt mir dann ein? Dann muß +ich an die Stille denken im Pragerschen Hause, nach dem Essen, wenn +alles schlief, wenn ich in meinem Zimmer saß und Karl May las oder +Käpten Marryat und dabei von fern, aus der Küche, die Geräusche des +abwaschenden Mädchens hörte, und hier und da ein Stück ihres Gesangs: Es +war ein Sonntag hell und klar ... so eintönig, so -- öde und -- ach, so +unbeschreiblich sonderbar in der Stimmung, -- und dazwischen das +Klappern der Teller, die sie in die Aufwaschbütte stellte. Ja, da muß +ich glücklich gewesen sein. Oder ich sehe die Dämmerung, und in der +Dämmerung die Tapete im Trassenberger Kinderzimmer, und das dicke +Federbett vor mir, unter dem ich mit ein bißchen Mandelentzündung oder +Masern, oder was es nun war, lag, und mit diesem wunderbar dumpfen +Gefühl angenehmen Krankseins im Kopf sehe ich den hängenden Schnurrbart +von Onkel Salm, und seine immer noch ein bißchen abstehenden Ohren, und +seine dicklichen, und doch so geschickten Finger, mit denen er mir eine +Festung pappt, oder Figuren ausschneidet, oder die Steine auf dem +Damebrett zieht. Oder ich sehe ihn auf den Zehenspitzen hereinkommen, +von weitem spähend, ob ich wach sei oder nicht. So sonderbar ist das! +Wenn meine Mama einmal kam -- Georgs Gedanken irrten flatternd ab --, +das war immer eine erstaunliche Freude, und auch ein Schauder, obwohl +ich den damals wohl noch kaum spürte, aber glücklich war ich, wenn Onkel +Salm kam, den ich am Schnurrbart zerren konnte ... Haben Sie je etwas +Ähnliches ...« fragte er hastig, seine Gedanken abbrechend. + +»Oh ja --« sagte sie gedehnt, »es ist wohl ähnlich bei allen Menschen +...« + +»Ja,« sagte er wissend, »denn was aufregend war, vergeht, alles +Plötzliche verliert seine Kraft, da es ja niemals wieder plötzlich sein +kann, aber was sich von selber einstellte, kaum bemerkt, ja ganz +unbewußt, -- was namenlos in uns war, aber innerst tief und stark, das +taucht wieder auf, das sind stille Schätze, die sich immer wieder +hervorholen lassen ... Was vom Menschen nicht gewußt, oder nicht bedacht +... Durch das Labyrinth der Brust ... Ja, nun wollen wir fahren, ists +Ihnen recht?« + +Sie gingen hinaus, traten aus der Tür und -- halloh, da standen sie! +»Ja, was sagen Sie nun?« fragte Georg triumphierend. + +»Es ist ein Staat«, sagte sie und ging schnell zum Vordersten der beiden +großen, stämmigen Belgier, die unbeweglich hintereinander standen, weiß +und rot gesprenkelt, mit weißem Lederzeug. Auch der Gärtner hatte seine +Sache brav gemacht und den Dogcart sehr leicht in die schwarzen Iris +gepackt; die Räder waren durchsichtige Scheiben davon. + +»Graue Iris,« sagte Renate, »Georg, das ist wirklich schön!« + +»Raffiniert, heißt es,« lachte er, »sehen Sie wohl: Schwarz, das nicht +Schwarz, Weiß, das nicht Weiß, und Rot, das nicht Rot ist! Steigen wir +ein.« + +Ja, dieses war ein wahrhaft königlicher Tag. Leicht klangen die Schellen +vor der Brust der locker vorwärts stelzenden Pferde, leicht und locker +wippte das Wagengestell. »Schade,« meinte Georg, »daß Sie nicht spüren +können, wie die Pferde im Zügel gehn, als wären sie blind; nur von Zügel +und Peitsche hängen sie ab, geben Sie acht, ich lasse einen Augenblick +locker! jetzt!« Der Wagen rollte langsamer, die Pferde standen still. +Georg schnalzte, warf die lange Peitschenschnur wie eine Angel aus, und +es ging leicht und locker um den Rasenplatz weiter. + +Die Alleen waren ein Gewimmel schwarzer und weißer Menschen unter einer +goldenen Schicht von Staub; Blumengestelle, fahrende Ungetüme, die +Kutscher, Reiter ragten drüber hinweg. Vorsichtig tastete er sich mit +den Pferden durch das Getümmel den Fahrdamm hinunter zum Ende der Alleen +und bog um ins Innere der Lindenreihn, den vor ihm rollenden Wagen +folgend. Ah, ja die Rotschimmel erregten mächtiges Aufsehn, wie sie fast +nackt in dem dünnen Riemengeschirr das schwärzliche Gefährt dahinrollen +ließen. Georgs Sinne fingen heftig an zu glühn. Das ist diese herbe +Rinde um ihre Gestalt, dachte er, um Gottes willen, ihr Mund ist ja zum +Tollwerden! Und dies Profil, und dies Lächeln! + +»Ha,« sagte er, »sehen Sie, die Leute fangen an zu grüßen. Ich hoffe, +sie denken, ich fahre meine Braut. Welch ein Jammer, daß ich nicht +regierend bin, dann würden sie Hurra schrein.« Dies scheint mir wirklich +haarsträubend natürlich, dachte er innerlich. Die Militärmusik rauschte +auf, Staub wölkte, Wagen um Wagen rollte vorbei. »Aufgedonnerte +Gemüsekähne«, murrte Georg. »So, da wären wir am Ende.« + +Langsam drehten die Pferde sich um ihre Mitte und liefen den Weg zurück. +Georg, Renates Profil unverrückbar in den Augenwinkeln, hing am +unaufhörlichen Spiel der braunroten Ohren, er wehrte traumverloren die +Fliegen von den blanken Rücken, -- ununterbrochen gingen die +Stummelschwänze hin und her. Die Menschen drängten unter den Bäumen +heran, Mädchen knicksten scharenweise, Renate neigte das entzückt +scheinende Gesicht, und Georg nannte sie die Königin des Tages. + +Da waren sie wieder am Ende. Renate meinte, noch einmal hinauf, dann sei +es wohl genug. -- An diese Augenblicke, dachte Georg, werde ich mich +niemals erinnern, aber sie sind doch kostbar. Ach, da steht ja Benno! +»Sehen Sie, Renate, da steht Benno und strahlt!« + +Sie nickte und winkte, Benno, hochrot, warf den Kopf zurück, lächelte +beseligt und verbeugte sich tausendmal. + +»Unter diesem Getümmel das reinste Herz«, sagte Georg anerkennend. Da +waren sie wieder am Ende, und Renate bat, sie noch um den See zu fahren. + +Während sie auf dem hohen Ufer um den tiefliegenden Teich voll +Himmelsblau und Wolkenballen hinrollten, biß Georg die Zähne zusammen +und verschwor sich, daß er an Renate und alles andre seine Seele setzen +wolle. Ich habe sie doch immer geliebt, sagte er sich zornig, ich kann +ja nicht los von ihr. Bin ich nicht etwa der Einzige, zu dem sie paßt? +-- Er fand keine Worte mehr, still schweigend fuhren sie dahin, +ununterbrochen klangen die kleinen Schellen, trabten die acht Hufe. +Georgs Sinne verlangten nach einer verdreifachten Schnelligkeit und +zuckten zugleich vor Schreck, wenn ihm einfiel, daß alles gleich ein +Ende nehmen würde. Der See lag schon hinter ihnen, da glühten die +Sportswiesen zur Rechten weithin dunstig in der Sonne, rot- und +weißgestreifte Hockeyspieler sprangen in wilden Zuckungen hin und her, +nun rollten sie in den Schatten der großen Bäume, da stand der Obelisk +am Wassergraben, der Weg bog zur Rechten aus, sie waren wieder im +Freien, neben der Hecke, an den Wiesen, dumpf polterten die Hufe auf der +kleinen Holzbrücke, Baumschatten nahm sie auf, rechts dunkelte der +Graben, hinten erschien der gelbe Mauerputz des Schlößchens im bewegten +Grün. -- Ob ich ihr nicht eine Andeutung -- ein ...? Aber er wagte kein +Wort. Seine Hände glühten in den Handschuhn, er ließ die Zügel locker, +die Pferde fielen zum erstenmal in Schritt, er sah, wie sie gleichmütig +dahinschritten, wie Kühe mit schaukelndem Rücken. Die Hälse gingen tief +nieder und empor, das Vorderpferd hob den Kopf, schüttelte ihn und +grunzte. Wie still es war! Es ist Wahnsinn, dachte Georg, aber wie kann +ich sie ungeküßt lassen? + +»Nun, wars schön?« fragte er freundschaftlich. Sie nickte und meinte, es +führe sich sehr angenehm und leicht. Duft ging unbeschreiblich von ihr +aus. Es flimmerte vor Georgs Augen. Blaue Stürze von Himmel brachen +durch das Gewimmel der Wipfelzweige, laut schlugen Buchfinken. Drei +Spatzen tummelten sich im weißen Staub der Straße, schimpften und +flatterten schwärzlich auf vor den Hufen. Da standen die Kandelaber vor +der Rampe, da der große schwarze Kasten von Automobil am Rande des +Rasenplatzes, und der Kutscher ging schon um den Wagen und bückte sich +und warf den Motor an. Die Pferde standen still. + +Georg, kalt vor Erregung, Bitterkeit im Munde, schleuderte die Zügel +unbekümmert über die Pferde hin, daß sie erschraken, vortraten und der +Wagen anruckte, während er absprang und nach der andern Seite herumlief, +um Renate selbst herunterzuheben. Das Herz schlug ihm süßlich, als er +ihre Hand, ihre Last auf der Schulter spürte. Sie wechselten noch +irgendwelche Worte, sagten: »Auf Wiedersehn!« Dann sank sie in die Tiefe +des dämmrigen Wageninnerns zurück, der Motor murrte und rasselte, und +alles rollte mit langsam knurrender Schwenkung auf die Wegmitte und +davon. Georg las noch lange ohne Gedanken die Nummer auf dem Schilde +unterm After der Karosse, stand und wußte auf einmal nichts mit sich +anzufangen. Ja, was nun? dachte er. -- + +Danach stand er beim Vorderpferde, das den Kopf auf seine Schulter +legte, tätschelte ihm den festen Hals, atmete den Geruch von Roßhaar am +Gesicht und sagte sich: Was war nun das? Eine halbe Stunde Pferdelenken. +Die Gäule verkauf ich morgen mit Gewinn an Prinz Taxis, was soll ich mit +einem Tandem? Unkas genügt mir. Da bin ich mit einer schönen Frau über +den Korso gefahren, und wir haben geplaudert. -- + +Der Groom sagte etwas, Georg antwortete etwas, wandte sich um und sah am +Rande des Rasens eine Dame stehn, in einem fliederblauen Kleid, +verschleiert, die mit der Spitze des Sonnenschirms zwischen den Halmen +stocherte, und es war Cora. Hatte sie ihn gesehn? Aber natürlich! Er +bewegte sich, sie sah auf und tat, als sähe sie in diesem Augenblick, +daß er es sei. Nun ging er auf sie zu, unwissend, was kommen würde, aber +entschlossen, daß nichts ihn bekümmern sollte. Sie blickte ihm gerade in +die Augen und sagte: + +»Bereits außer Dienst gestellt, Prinz, oder nur _à la suite_?« Über sein +langes Fernbleiben also glitt sie stillschweigend hinweg ... + +Er fragte, ob sie einsteigen wolle, aber sie antwortete gar nicht. +Abgewandt stand sie da, Georg stumm neben ihr und verbissen. + +»Zeigen Sie mir lieber Ihre Wohnung,« sagte sie spitz, »wo waren Sie so +lange?« + +Ich will nicht antworten, dachte er und bemerkte obenhin, es sei ein +schöner Tag, und er wäre viel unterwegs gewesen; übrigens schien sie +keine Antwort zu erwarten, entspannte einen apfelgrünen Sonnenschirm und +setzte sich in Bewegung. + +Auf dem Flur, im Zimmer sah sie sich mit leichten Bewegungen des Kopfes +im langsamen Vorbeigehn alles an, ließ sich den Schirm abnehmen, blieb +dann vor einem kleinen Ölbild stehen, das am Boden stand, an den +Schreibtisch gelehnt, eine Bulldogge, von Bogner gemalt. + +»Ach,« sagte sie entzückt, »das muß von Benvenuto sein! Es ist herrlich, +der Mann ist ein Genie, finden Sie nicht? Schade, daß er so selten hier +ist, haben Sie von dem Riesenauftrag gehört? Ich habe ihn kaum zu sehn +gekriegt, ich bin jetzt viel allein, mein Mann ist verreist, -- ja, er +hat sich überarbeitet, -- nein, dieser Hund! Wie er dasteht! Aber +möchten Sie so einen Hund haben? Er ist doch zu häßlich! Ich kann +Bulldoggs nicht ausstehn, Herbert wollte immer einen haben, -- Gott, +wenn man keine Kinder hat! wir hatten auch mal einen Terrier, aber er +roch so ... Sie sehen gut aus«, sagte sie, vor ihn hintretend. + +Sie hatte den Schleier hochgeschoben, er sah ihre matten Augen, das +blasse Band von Sommersprossen darüber, den verwischten Mund, die in der +Mitte breiten Lippen, dann wichen ihre Augen aus, sie ging an ihm +vorüber und mit ihren weichen Seitwärtsbewegungen im Zimmer umher. Georg +trat an ein Bücherregal zurück, stützte, die Hand am Hinterkopf, den +Ellenbogen dagegen, sah ihren Hals von hinten und den goldbraunen, +flachen Strohhut, wie sie sich über den Schreibtisch beugte und Esthers +Photographie in die Hand nahm. Doch war sie eigenartig, und ihm ward +lüsterner zumut, er spürte ein hitzig glühendes Schwellen am Leibe, +dachte, er wollte hinter sie treten, ihren Kopf zurückbiegen und -- bloß +sie haben, ja so bloß ... Da sah er Esthers kleines, photographiertes +Gesicht in ihrer Hand, ihm fiel ein, wie er hier zum erstenmal +eingetreten war nach ihrem Tode, wie er sie dann überall verspürt hatte, +immer hinter sich; wenn er am Klavier saß: im Nebenzimmer, wenn er am +Fenster stand: am Klavier, -- aber empfinden ließ sich das nicht mehr. +Dann war er in den Taunus gefahren ... Esther war lange tot. -- + +Cora hatte das Bild stillschweigend wieder hingesetzt, bewegte sich +wieder, stand in der Tür zum Nebenzimmer. Er glühte auf, ging auf sie +zu, trat hinter sie, faßte ihre Ellbogen, sie wehrte sich, gleich darauf +fiel ihr Kopf nach hinten zurück, ihr Gesicht lag an seiner Schulter, +sie atmete heftig, die Augen geschlossen, den Mund zugepreßt. Er legte +den seinen darauf, preßte, so stark er konnte, ihre Lippen teilten sich, +er fühlte ihre Zähne und schob seine Zunge dazwischen. Nun warf sie sich +herum, gegen seinen Leib, warf ihre Arme um ihn, er fühlte ihre Hände +auf seinem Rücken zucken und fliegen, ihr Leib ging stoßweise auf und +nieder, während ihre Lippen, ihre Zungen, ihre Atemstöße sich +vermischten, er riß ihr Kleid auf, tastete nach ihrer Brust, und sie +griff zu und riß die Bänder an der Untertaille auf, und er hatte ihre +linke Brust in der Hand, schlaff, warm und weich, aber doch ... Da +wankten sie, -- oh Teufel, nun war kein Diwan da! Wohin mit ihr? Sein +Bett war greulich schmal. In den Garten? am lichten Tag? Wütend jagte es +ihm durch den Schädel: das verschlossene Zimmer! Er ließ sie los, griff +die Schlüssel aus der Tasche, lief, die Türen aufstoßend, durch Bade- +und Schlafzimmer zur Tür, schloß auf und öffnete, ohne umzusehn. Er +zauderte, kehrte langsam zurück, da stand sie abgewandt, vorn an ihrer +Taille hakend, aber sie hatte den Hut abgenommen, und er umschlang sie +wiederum, hob sie auf und trug sie davon. Sie war schwer, aber er zwang +sich bis zur Tür des Zimmers, wo er sie niederlassen mußte. Sie, +ungeschickt sich aufrichtend, machte erstaunte Augen in den Raum, +während ihm die seinen überquollen vor Gram über die Schändung des +Heiligen, so daß er sekundenlang nichts sah, als die schwarzen, über die +Fenstervorhänge von Cremeweiß fliegenden Reiher. Dann erschien, schräg +im Raum mit dem korngelben Teppich am Fußboden, der dunkelviolett +überspannte Diwan mit einigen Kissen in Lichtgrün, Fleischfarbe und +Weiß, dahinter das alte indische Tempelpaukenbecken auf einem +Ebenholzschemel gefüllt mit imaginären Blumen. Und endlich mußte er +gegenüber der Tür das Himmelbett sehn, meergrünes Gewoge von Falten und +Bäuschen, aus dem das wenige Mattgold der schlanken Säulen blitzte und +-- unter seinem wilden Fingerdrucke entflammte eine geheimnisvolle +Leuchte -- der zarte Perlmutterschimmer in den Kassetten des +Betthimmels. Indem sah er Cora vorwärts gehn und das ovale, in rosene +Marmorwülste gefaßte Becken in Augenschein nehmen, aus dem ein +silberner, fadendünner Strahl steigen und Wohlgeruch aus Ophir +zerstäuben sollte, wenn -- -- Georg verließen die Sinne. Aus den großen +farbigen Flecken schmolz die eine Farbe, die Un-Farbe, die nicht +auszudrückende, nicht zu beschreibende, -- nicht weiß, nicht rosen, +nicht elfenbeinen, nicht marmorn, und doch Farbe von allem, vom Schnee, +und vom Mandelbaum, vom Kirschbaum und der Narzisse, und nicht Farbe, +Äußeres, sondern Hauch von innen, Leuchten, Atem, Blut, Süße von innen, +-- Renate! -- Georg zuckte. + +Mit geschlossenen Augen saß sie da. Dann warf sie sich, das Gesicht in +den Händen verbergend, in die Kissen. Einen Augenblick dachte er, davon +zu laufen. Da war wieder diese entsetzliche Pause! Er spreizte die Hände +von sich, die kalt und schweißig waren. Sie rührte sich nicht. Da kniete +er mit dem rechten Knie neben sie auf den Diwan und fing an sie +auszuziehn, die Taille, den Rock, den Unterrock, graue Halbseide, das +Korsett, violett, abscheulich, -- wie dick ihre Beine waren! Er hörte +sich schnaufen, zerdrückte das beständige Gefühl vieler +Scheußlichkeiten, sah ihre gelbliche, sehr glatte Haut zum Vorschein +kommen, streifte Hose, Strümpfe, Schuhe herunter, sie fühlte sich kalt +an, das Hemd ließ er ihr noch, während er sich auszog, nichts denkend, +gar nichts denkend. Sie hatte ihr Gesicht wieder versteckt, warum wohl? +aber jetzt sah sie auf und sah das Himmelbett, richtete sich auf, wollte +aufstehn und hingehn, aber da schrie er wütend: Bleib! riß das steife +und verwickelte Manschettenhemd über den Kopf und stürzte sich über sie, +fühlte sie und sich kalt und unbehülflich, dann bäumte sie sich und +umschlang ihn mit allen Gliedern. Einen Augenblick, über ihren Kopf, ihr +verschlossenes Gesicht, die Kissen hin, zu Boden starrend, ging es durch +ihn hin: Esther -- -- Renate -- -- Welche war es? Süß quoll es in ihm +auf: Cordelia! -- Da erschien ihm Renates Gesicht, schwebte und entwich, +er fühlte Cora, eine fremde Frau, auf der er lag, die ihn schwer +umschlang. Einen Pulsschlag lang schauderte ihn, und er gefror; eine +Schlange lag um ihn mit kalten Ringen; die aber wurden warm und +schmolzen, und er würgte sich in sie hinein. + + + Cora + +Georg wachte auf in der Nacht; der Regen spritzte ins offene Fenster, es +donnerte in der Ferne, -- ihm war heiß, das Federkissen lag an der Erde, +die Schlafbeinkleider waren ihm bis zu den Hüften heraufgerutscht, +scheußlich! Schlaftrunken tastete er nach der Wasserkaraffe, setzte sie +an den Mund, trank lange, ließ die Hand mit ihr zu Boden hängen, den +Kopf vornüberfallen und dachte: Aus der Karaffe trinken ist die größte +Wollust des Lebens. -- In allen Gliedern merkwürdig leicht und +gelockert, wollte er sich umdrehn und weiter schlafen, aber der Regen +plantschte jetzt heftiger auf das Fensterbrett, und er stand unwirsch +auf, ging ans Fenster und machte es zu. Am Riegel hangend, wand er sich +im ungeheuren Gähnkrampf und dachte: Ach, ich möchte auch ein Gewitter +sein! -- Dann legte er sich wieder hin, schwacher Blitzschein glomm vor +seinen Augen auf, es donnerte lauter. Ah, wie der Regen rauschte! + +Ich wollte, sagte er vor sich hin, es schlüge ein und Cora ginge dabei +tot. Ich denke unchristlich. Man kann nicht für Gedanken. -- Er sah sie +an der Erde liegen, maustot, er sandte einen Kranz zu ihrem Begräbnis, +munterte sich dann auf, setzte sich im Bett hin, ein krachender Donner +rollte wütend im finstern Mauerhof der Nacht umher, dann ging die Tür +auf, und Cora stand darin, bleich, sichtbar im Blitzschein. Er verstand +nicht, was sie sagte, da ein neuer Donner herunterknallte, rollend +dahinbrüllte, polterte, aufgrollte und sich murrend zusammenrollte. Cora +hatte Licht gemacht, er fragte, ob sie sich fürchte. + +»Fürchten nicht,« sagte sie matt, »aber man regt sich doch auf.« + +Sie glitt durchs Zimmer zur Tür gegenüber, öffnete, glitt hindurch, +Georg sah auch dort drinnen das Licht aufflammen. Ihr nachsehend dachte +er kümmerlich: Sollte dieses Weib es darauf angelegt haben, mich +zugrunde zu richten? Wie werde ich sie bloß wieder los? -- Er rollte +sich im Bett zusammen, indem flammte das Zimmer blauhell auf, und mit +ungeheurem Prasseln knatterte der Donnerschlag hinterdrein, daß alles +knallte und krachte, sprang in wüsten Sprüngen, tobend, lärmend, um sich +hauend mit Keulen, Wagenlasten voll metallener Schilde umstürzend, Züge +voll Porzellan zusammenschiebend und schlagend, weit hinweg, ermattete +endlich in langen röchelnd rollenden Stößen und ward still, während Cora +erschreckt im Türrahmen erschien. Ganz leise fiel nun der Regen. + +Das Licht brannte in George Augenwinkeln; er sah sie dastehn, +mädchenhafter aussehend mit dem gelösten Haarschopf. Sie sagte +theatralisch, sie möchte nackend draußen im Regen liegen und mit Blitzen +spielen. Georg lachte kurz, der Donner knatterte wiederum auf, jedoch +entfernter, er sagte, sie solle schlafen gehn. Wirklich ging sie gleich +darauf hinaus, ohne das Licht abzudrehn. + +Georg sah sie nebenan in dem königlichen Bett liegen und würgte an +trocknen Verwünschungen. Herr des Himmels, dachte er, man tut so was +wohl einmal, man umschlingt sich und genießt sich, aber einmal doch +bloß, einmal! Ach, daß zur Verrichtung der sexuellen Notdurft eigentlich +alle Frauen zu schade sind! Wie kann ich denn eine Frau acht Tage lang, +acht Jahre lang immerzu lieben? Das ist doch eine Unmöglichkeit! Ich +schwöre, daß man eine Frau, die man liebt, ein einziges Mal umarmen +darf, nicht mehr! Oder es müssen Wochen und Monate vergehn, bis man das +erste Mal vergessen hat. Ich hasse dies Weib. Ich habe sie von Anfang an +gehaßt, ich erinnere mich nicht, mich jemals mit solcher Wut in eine +Frau gebohrt zu haben, -- aber, dachte er, wenn ich schlaff -- +zusammengekrüllt wie ein welkes Blatt oder -- wie so eine aufgestochne +Raupe neben ihr lag, so war das doch geradezu eigenartig. Wenn ich nun +bloß wüßte, was sie von mir will! Bloß so: nicht wieder weg? Geld? nein, +das glaube ich nicht. Sie verdarb sich ihr Dasein, indem sie heiratete, +und nun kann sie den neuen Weg nur nicht finden, hat wohl auch noch +Scheu davor. -- Hier fingen seine Gedanken an, undeutlich zu werden, +bald darauf schlief er ein. + +Beim Erwachen fiel ihm ein, daß -- wie eigenartig! -- Himmelfahrt sei. +Er mußte schlecht geschlafen haben, fühlte sich dumpf und unklar, kam +erst einigermaßen zur Besinnung, als er mit der ersten Zigarette vor der +Gartentür im Sessel saß, angesichts des gewaltig herunterströmenden +Regens, in dessen grauer, kalter Masse die Gartenbäume erschüttert und +duldend hin und her wankten. Cora kam dann und ging zu ihrem Frühstück +hinter ihm vorüber nach nebenan. Er gähnte krampfhaft, legte sich mit +geschlossenen Augen zurück und genoß die Wohltat des großen Rauschens +und der fallenden Gewässer, spürte aber alsbald den Angstdruck in der +Magengegend, ruckte wieder empor, saß fröstelnd, die Handknöchel +reibend, und begann zu überlegen. Wenn er abreiste, -- ja, wohin? Und +wie stand er dann vor seinem Vater? Von England war er eben rechtzeitig +ins Semester gekommen, an dem Herzfehler war er freilich gewissermaßen +unschuldig, aber dies Hin und Her war doch abscheulich! Und Renate? Er +fühlte den Druck in der Magengegend stärker, die Gedanken zerstreuten +sich. Da sprang er auf, ging ins Schlafzimmer, zog feste Stiefel und den +Gummimantel an und lief in den Regen hinein. Das tat wohl, er konnte +über sich selbst hinwegsehn, Wipfelwanken und Regensturz groß und +stürmisch empfinden, und als er wieder die Tür des Schlößchens öffnete, +hatte er das Gefühl, daß etwas sich inzwischen ereignet habe. Ja, der +Diener sagte, Fräulein Chalybäus habe aus Berlin angerufen; sie würde +nach einer Stunde noch einmal telephonieren. Magda? Was war da geschehn? +Sie hatte kein Telephon in der Wohnung, er mußte warten. + +Als er ins Zimmer kam, saß Cora am Flügel und klimperte aus +irgendwelchen Noten, die sie gefunden hatte. Er setzte sich wieder in +den Sessel und begann alte Gedichte durchzulesen, um zu sehn, was sie +wert waren. -- >An E.< stand da. + + Träumerische Stunden lang + Senk ich mich in deine Ferne + Wie in einen Glockenklang, + Den ich zärtlich lieben lerne ... + +Lieben lernen? Einen Glockenklang? + + Der aus unbekanntem Tal ... + +Georg überflog zwei Strophen und kam zur letzten: + + Und indes die Nacht anbricht, + Sprech ich seufzend zu den Winden: + War ich heimgerufen nicht? + Aber sagt, wie soll ich finden! + +Georg fluchte. Vor einem Jahr schrieb ich das? Und wann hätte ich jemals +zu den Winden gesprochen? -- Da fing er das nächste Gedicht an: + + Aber du, Geliebte, deine Augen + Hat noch nie ein falscher Hauch getrübt ... + +-- übersprang eine Zeile --: In der seligen Geduld geübt ... Wen meinte +ich damit? Er nahm ein anderes Stück vor und las: + + Sonett + + O Herbst, du schwankend Abbild meiner Seele! + Wo jähe Klarheit schnellt aus Dämmernissen, + Vom Himmel flutend, überall zerrissen, + Und oft durchbrüllt von einer rauhen Kehle. + + Und Bäume, Felder und der Büsche Hügel + Wälzen sich hart, ganz wankend ist die Welt, + Und nirgends etwas, das nicht nächstens fällt, + Doch noch im Sturz sich hebt auf kargem Flügel. + + Und wie das Blatt, das golden, schöngebräunt + Zum Falter wird in buntem Taumelfluge, + So spür ich tiefer fröstelnd, armer Freund: + + Was in mir zuckt, sich wirft, lebt, schwankt und siedet, + Sich selber jagt wie eine irre Fuge: + Alltod umfängts, Allsterben stillt und friedet. + +Dies gefiel ihm ganz gut, obgleich es schwächlich klang und an hohe +Vorbilder gemahnte. >Lied des Sehers< stand über dem nächsten. Was ist +das? fragte er sich, wann schrieb ich das? Er las: + + Du Herrlichkeit! Weißt du denn nicht dies Glück: + In blinden Spiegeln, Scherben, blankem Tand, + Falschen Juwelen oder trüben Wassern + Der großen Sonne einen Strahl zu fangen? + +(Weiterlesend dachte er an Cora, und an wen er wohl damals gedacht haben +mochte ...) + + Jubeltest niemals du, wenn nach des langen + Schwermütigen Regens Dämmernis am Abend + In ferner Häuser grauer, öder Mauer + Ein Glas aufquoll, lebendiges Blut und Feuer? + + Du Herrlichkeit! (Georg schüttelte den Kopf) gebückt, wenn du mir + fern, + Schleif ich die Blicke über dumpfem Boden; + Dann zuckt ein Glanz, dann regt vielleicht ein süßes, + Mitleidiges Leuchten ... + +Heftig schrillte das Telephon. Georg legte das Buch aus der Hand, ging +hin und hob den Hörer. Magdas Stimme fragte, ob er es sei; er bejahte, +und sie bat um Verzeihung, daß sie störe, aber ihr Vater sei in der +Nacht gestorben. Ja, als sie am Morgen ins Zimmer gekommen sei, habe er +tot im Bett gelegen. + +»Es ist ja wohl gut, Georg,« hörte er sie sagen, »er hat ein sanftes, +unbemerktes Ende gehabt. Und nun wollte ich dich bitten ... Wie ist es, +hast du nicht Pfingstferien?« Georg bejahte. »Dann, -- könntest du +vielleicht ein paar Tage kommen und mir helfen? Ich habe hier eigentlich +niemand und --« Georg unterbrach sie mit heftigen Versicherungen, daß er +sofort komme, und sie endeten das Gespräch. + +Eine Weile ohne feste Gedanken stand Georg hinter dem Sessel, in dem das +aufgeschlagne Buch lag, nahm es dann auf und las willenlos das Gedicht +zu Ende: + + Mitleidiges Leuchten sich und singt von dir: + Nichts das von dir nicht lebte, selige Sonne! + Da ist nichts so gering: ich liebe es doch + Und dränge mich daran mit Auge und Lippe. + Auch im Verworfenen fand ich den Spiegel, + Darin die Gottheit gerne sich vergißt. + +Nun lächelte er trüber, fragte sich, ob Cora der trübe Spiegel von +Renate sein solle, und ob er davon wirklich entzückt sei, wenns der Fall +wäre, legte das Buch in die Schieblade, stand davor, die Schlüssel in +der Hand, und konnte sich auf nichts besinnen. Endlich fiel ihm ein: +Kursbuch! -- Er fand es auf dem Schreibtisch, sah, daß es zum +Zwölfuhrzug schon zu spät war, daß es bis zum Dreiuhrzug ihm zu lange +dauerte, ging hinaus und befahl dem Hausmeister, den Reitknecht zu den +Adlerwerken an der Goseriede zu schicken und einen Wagen zu mieten. Er +selber half dem Diener den Koffer packen. Danach ging er zu Cora und +sagte, er verreise, was sie zu tun gedenke. Oh, sie würde warten, meinte +sie leichthin. + +Sie lag in dem selben Sessel ausgestreckt, in dem er eben gesessen +hatte. Ihn schauderte vor ihrem ganzen körperlichen Dasein, an dem keine +Stelle nicht abgenützt war durch Liebkosung und nicht nur durch seine. +Ob sie tatsächlich nicht zu ihrem Mann zurückwolle, fragte er. + +Sie habe es ihm ja gesagt; ihre Ehe sei längst keine mehr, sie hätten +sich bloß noch körperlich gebraucht, sie sei das müde, ihr Mann +vermutlich auch, aber man könne ja nicht wissen, vielleicht liebte er +sie noch immer, sie aber könne nicht mehr. + +»Du hast eignes Vermögen?« fragte Georg in Gedanken. Sie zuckte die +Achseln und meinte: »Genug für mich!« + +»Ich werde«, sagte Georg langsam, »nicht zurückkommen. Dies Haus ist zu +deiner Verfügung, nur mußt du die Güte haben, in der Stadt zu essen.« + +»Das heißt also, ich bin entlassen?« fragte sie spitzig. + +Georg senkte den Kopf und meinte, wenn sie es so ausdrücken wolle ... + +Er setzte sich auf die Lehne des Schreibsessels, griff nach dem +Schildpattmesser zum Briefaufschneiden und sah, daß es schwächer +regnete; am Himmel, über den Bäumen, brach silbrige Helligkeit auf. Daß +es grade Magda sein muß, die mich frei macht! dachte er gebeugten +Sinnes, und vor ihm schwebte seltsam das Gesicht ihres Vaters. + +Die Gedanken verliefen sich; er sah ungeduldig auf die Standuhr, indem +trat der Reitknecht ein und sagte, der Wagen stünde draußen. Er hörte +Cora etwas sagen, verstand es aber nicht, da er nun den Telephonhörer +aufhob, den antwortenden Hausmeister bat, ihn mit Benno zu verbinden, +dann Bennos Stimme hörte und ihm sagte, daß Magdas Vater gestorben sei +und daß er hinfahre, um ihr zu helfen. Benno fragte nichts weiter, trug +ihm Grüße auf, und jetzt war der Diener da mit dem Mantel. Er zog ihn +an, schickte den Diener weg und ging auf Cora zu. Auf einmal hob sie die +Hände wie Krallen, Lenuschs Gesicht erschien ihm in dem ihren, da sie +die Lippen öffnete bei zusammengebissenen Zähnen. »Hüte dich!« keuchte +sie und warf sich herum, ihr Taschentuch in den Mund steckend. Da mußte +er lächeln und sagen, sie werde ihm hoffentlich nichts kaputt machen in +der Wohnung. Sie warf die Schultern hin und her, fiel in den Sessel und +weinte. Sie tat ihm leid. + +Cora, sagte er leise, legte ihr die Hand auf die Schulter und fragte, +was denn aus ihnen Beiden werden solle. + +Sie unterdrückte ihr Schluchzen, murmelte, er sei's ja nicht wert, sie +wollte nicht weinen. -- Ach, sie hatte ihn doch wohl sehr lieb. -- + +Nun sprang sie auf und meinte kühl und hoffärtig, er hätte wohl recht, +sie wolle fort. Da legte er den Hut wieder aus der Hand und sagte, er +wolle ihr helfen, ihre Sachen zu packen. Sie ging, und er folgte. Das +schöne Zimmer, kaum entstellt, machte ihn traurig, sie packten wortlos +Coras Koffer und Handtasche, der Diener trug alles hinaus, Georg half +Cora in den Mantel, sie gingen. + +Im Wagen starrte sie abgewandt aus dem Fenster. Als sie in die +Eichstraße einbogen, sah er, daß sie weinte. Aber sie übersah seine +Hand, nickte nur, stieg aus und ging ins Haus. Der Diener folgte ihr mit +den Koffern. Georg atmete auf und bedauerte sie erleichterten Herzens. + +Was wird nun kommen? dachte er, als der Wagen sich wieder in Bewegung +setzte. + + + Überraschungen + +Georg, aus Berlin zurückgekehrt, hatte sich umgekleidet und trat eben +aus dem Schlafzimmer hervor, als die Tür zum Flur von draußen geöffnet +und -- vom überragenden Benno vorwärtsgeschoben -- etwas anscheinend +sehr Liebliches über der kleinen Treppe sichtbar wurde, ein Mädchen in +gesticktem weißen Kleide und gelben Schuhn, das Gesicht noch +zurückgewandt unter einem großen und flachen, gelblichen Strohhut von +ländlicher Form, einen leichten Feldblumenkranz um den Kopf und mit +langen, nach hinten hängenden breiten Bändern von schwarzem Samt. Das +Gesicht, das nun erschien -- errötet und mit schüchternem Lächeln -- war +ganz und gar mädchenhaft, jung, zart, gerundet, großäugig, ja überaus +lieblich wie das Ganze. -- Benno aber kam jetzt die Stufen herunter +gestürmt, fliegend über und über, fliegender langer Beine und Rockschöße +und Arme, fliegender Stirne und Haare, fliegender Augen, ja selbst die +rot angelaufene Nase im heißen Gesicht schien, sich krümmend und mit den +Flügeln zitternd, entfliegen zu wollen, und so hatte er Georgs Hände +gepackt, zerrte sie nach unten, riß sie nach oben und schleuderte sie +wieder nach unten, stotterte und war glückselig. + +»Das ist sie, Georg!« Seine Stimme war ganz ins Tiefe umgebrochen. »Ich +habe sie errungen! Nun nimm sie!« Und die Stimme verhauchte ihm. Die +Augen verkehrt in Scham und Wonne, ließ er Georg fahren, stürzte wieder +zu dem oben noch zögernden und lachenden Mädchen, ergriff ihre Hand und +rief, sie ritterlich zu ihm geleitend: + +»Das ist Georg! Nun -- sieht er fürchterlich aus? -- Sie hat gedacht,« +kicherte er, und das eigene Lachen verschlug ihm die Stimme, »du müßtest +schrecklich sein wie Artaxerxes!« Und lachte unmäßig über den Witz. + +Georg, bei allem Gerührtsein über Benno, fand sich wider Erwarten mehr +überrascht als entzückt, dieweil er dem Mädchen entgegenging, lachte und +fragte: + +»Bennos Braut, das solls doch bedeuten, nicht wahr?« Und er beteuerte +seine Freude, klopfte Benno die Schultern, alle Drei lachten, das +Mädchen eine erstaunlich melodische, fast romanhafte -- dachte Georg -- +Silberlache, die Tonleiter hinauf und hinunter. + +Rötlich blond war sie; die Scheitel, von der Stirnmitte über die Brauen +zu den Ohren gesenkt, bauschten sich locker und zausig, und weißliche +Streifen zeigten sich im Roten und Goldenen. Die Augen schienen gemischt +Grau mit Braunem und Grünlichem. Oh, sie war hübsch. + +»Aber wie heißen Sie denn, bitte? Benno, wie heißt sie? Denken Sie, ich +weiß Ihren Namen so wenig, wie ich bislang von Ihrem Dasein etwas ahnen +durfte. Wie kommt das, Benno, gesteh!« + +Benno war tödlich verlegen. Doch -- einmal -- ganz im Anfang hätte er +Georg von ihr erzählt, -- von Begegnungen ... + +Tausenden sei er begegnet, Tausenden! -- Und wieder ertönte das gurrende +Lachen hinauf und hinunter, während sie sich mit geschmeidiger Bewegung +vor und zurück bog. Georg gestand, mit halbem Bewußtsein lügend: »Ja, +Benno, wenn sie lacht, ist sie unwiderstehlich. Und nun bitte den +Namen!« + +Aber Benno ereiferte sich noch über die tausend Begegnungen, war selig +gekränkt, eitel und beschämt und beteuerte, seit einem Jahr, wo er sie +das erste Mal gesehn, habe er nicht eine einzige Begegnung gehabt. »Und +sie heißt Elfriede!« brachte er endlich, wieder verzückt, hervor. + +»Elfriede Krumm«, sagte sie fröhlich und bewußtlos. + +»Aber ich habe sie -- Elfe getauft!« + +»Wunderbar, Benno! das ist recht!« lobte Georg, in diesem Augenblick +seiner erst unbewußten Enttäuschung ganz inne. Der schändliche Zuname +hatte sie ans Licht gefördert. -- Ja, was ist denn? fragte er sich +besorgt. Hatte ich etwas andres erwartet von Benno? Warum gefällt sie +mir denn nicht? -- Überdem sah er den blassen, stets lächelnden Egon +dastehn zum Zeichen des Abendessens. + +»Geh hin, Egon, gratuliere Herrn Prager, das ist sein Fräulein Braut.« +Während Benno des blassen Egon Arm auszureißen suchte, drängte Georg die +Elfriede -- Elfe gelang ihm zu denken nicht -- zum Mitessen und bewegte +sie, obwohl sie sich zierte -- ihre Mama erwarte sie doch --, allmählich +durch das Zimmers, dann zum Annehmen seines Arms und führte sie durch +die Tür. + +Er konnte sie von der Seite betrachten im Gehn. Ihre Nase war grade, +kurz, schlecht und recht, -- wie auch der Mund, der undeutlich und blaß +war, >als Mund gemacht<, wie Georg einfiel, der sich nicht von ihm +verlockt fühlte. Und nun sah er etwas --, etwas Winziges nur, doch -- es +war etwas ... Am äußeren Augenwinkel nämlich zwei kleine Fältchen in der +Haut, kaum bräunliche Fältchen, die sich bewegten, wenn sie, wie sie +beständig tat, die Augen zusammenzog im Lächeln und Lachen. -- Die +sinds, stellte Georg unerbittlich fest; ich werde dahinterkommen, was +sie bedeuten. + +Und während das Mädchen nun am Kopfende der ovalen Tafel in der Apsis +zwischen den Freunden saß, mehr lachte als sprach, Georg ihr von der +Omelette und ihrer Füllung von kleinen Frühjahrserbsen mit der Bemerkung +vorlegte, das sei »die einzig mögliche Speise für zarte Bräute« und, so +weiterhin scherzend, mehr albern war als heiter -- was jedoch allein er +selber zu bemerken schien --, prüfte er sie auf das genaueste. + +Die Bewegungen beim Essen waren zierlich. Aber die Hände waren nichts. +Rötlich, ausdruckslos, nicht groß, nicht klein; die Zeigefinger waren +schief gebogen, die Gelenke verdickt, und der Daumen hier -- oh der +Daumen war ein leibhafter Altjungferndaumen, und augenblicks erkannte +Georg, daß ihre Augen -- hart waren, im Schnitt und Eingefügtsein in die +Lider, nein hart sogar, wenn sie sich ernst verhielt, im Blick. Und da +waren die zwei Fältchen links und rechts. Diese Fältchen, dachte Georg, +werden dafür sorgen, daß ihr Gesicht lange so bleiben wird wie jetzt, +rundlich, weich, die Züge unverändert, nur die Frische, die wird eines +Tages verschwunden sein -- ich sehe ja das reizlose Fleisch schon jetzt +unter der zarten Haut. Und dann auf einmal wird sie -- hart geworden +sein, oh hart ist sie jetzt schon ganz innen! -- und alt ... + +Es half Georg nichts, sich zu wundern und zu schelten wegen seiner +Richterlichkeit. Sie war reizend -- und er mochte sie nicht. Und ihn +bangte wegen Bennos. -- Habe ich nicht immer für ihn sorgen müssen? +fragte er sich gerührt, ihn sitzen sehend in seiner Übergossenheit von +Seele und Seligkeit. + +Egon trug, wie Georg befohlen, Sekt im Kühler herein und stellte +Spitzgläser auf, zu Bennos tiefstem Entsetzen auch eins vor Georg, der +doch keinen Wein mehr trank seit seiner Krankheit. + +»Ich dulde es nicht, Georg!« empörte er sich, »es ist unerhört von dir!« +und ging so weit, ihn am Arm festzuhalten, daß der Wein das Tischtuch +überschäumte. Das schaffte denn Aufschub, und Georg gelang es, seinen +Trinkspruch auszubringen, anzustoßen und einen Schluck zu nippen. + +»Aber was wird nun Renate sagen?« spottete er, das Glas niedersetzend. +»Ich denke, Benno, du verzehrst dich in Anbetung, nicht wahr --, und nun +...« + +Oh dies ewige, mühelose Lachgeklingel sollte der Teufel holen! -- Georg, +dem nach der langen Entbehrung der Schluck Weins doch den Kopf erhitzte, +sah und hörte nichts mehr, dieweil er innerlich scharrte: Da ist nun +Renate, da ist doch auch Ulrika, Irene, Magda erst! -- Da war Esther, da +war die ganze Stadt voll schöner, sanfter Frauen, -- und er nahm diese +endlose Heiterkeit. Ist das nun seine Ergänzung? Hatte er denn je ein +Verlangen nach Leichte und Fröhlichkeit bezeigt? Ach, sie ist ja +gewöhnlich, Benno, siehst du's denn nicht? Ihre Mutter möcht ich gesehn +haben, dann wüßte ich alles. -- Und nun hatte Georg auch ein ungefähres +Bild von dem stillen und ernsten, vielleicht sanften und rührenden, +jedenfalls aber ernsten Wesen und jedenfalls ganz zarten und feinen, in +Heiterkeit vielleicht liebevollen Geschöpf, das er unbewußt irgendwie +als Bennos Ideal in der Zukunft zu gewahren geglaubt hatte. Nun diese +kleine Tänzerin oder Sängerin meinetwegen, Elfriede Krumm, -- na, für +den Namen konnte sie freilich nichts, obwohl besser noch grotesk als +gemein -- aber immerhin hatte sie es nicht weiter gebracht, als an +diesem holzigen Stamm eine kleine Windenblüte aufzutun. Eine seltene +Aloe am Stamme des Gemeinen war sie nicht, und Georg fing an, sich den +Kopf zu zerbrechen, ob nur Benno sich von ihrem Liebreiz hatte blenden +und irren lassen, oder ob also doch ein Stück vom Bürger in ihm steckte, +den es zu seinesgleichen zog. Schubert, dachte er, Schubert war auch so +ein Halbgott in Stiefeln, unsterblich wenn er sang, im Dasein ein +kleiner Spießbürger. -- Ganz heiß ward ihm da im Gedanken, dieser süße +versilberte Engel könnte den armen, schwachen Benno aus seinem wahren +Paradies vertreiben. Denn was tut sie, und was ist an ihr, wenn sie +nicht lacht? -- Heiraten, mein Gott! Wenn er sie doch zur Hetäre nähme! +Oh Benno, es wird ein Unglück geben! + +»Wißt ihr, fahren wir doch gleich zu Renate,« mischte er sich mit +Bewußtsein wieder ins Gespräch. (Oh wie zog es ihn zu Renate!) + +»Aber meine Mama ...« + +»Bei der fahren wir vor. Oder sie kommt mit.« + +»Im Dogcart, Georg?« Benno, sein Glas in der Hand, mußte es schnell +niedersetzen, um in eine schallende Lache ausbrechen zu können, die ihn +unwiderstehlich schüttelte, während das Mädchen errötete, unwillig +schien, ja sichtlich einen bösen Blick unterdrückte, -- und Benno +unterbrach sich jählings im Gelächter, nun furchtbar verlegen. + +»Ja, was lachst du denn so?« stach Georg -- in einer Ahnung -- auf ihn +ein. + +»Mama --« sagte die Elfriede überernst in Bennos Gestammel, »paßt +allerdings kaum in einen Dogcart. Mama ist ein wenig stark.« + +Dick ist sie! Unglaublich dick! eine Maschine! ein Elefant! jauchzte und +fluchte Georg innerlich. Nun ist mir alles klar. Eine Bürgersfrau aus +der Markthalle. Rentiere im Adreßbuch! -- Und um so dringlicher fuhr er +fort, der Tochter sein Schimmelgespann zu preisen, das schon halb +verkauft sei; so sei's vielleicht das letzte Mal ... Ich muß die Alte +sehn, dachte er. Und dann zu Renate! + +Egon, sich zu ihm beugend, flüsterte: die Dame sei wieder da ... + +»Was für eine Dame?« fragte Georg laut. + +»Die gestern schon da war, wie ich Durchlaucht ...« + +»Ach, die sich nicht offenbaren wollte? Bitte entschuldige mich, Benno, +-- gnädiges Fräulein ... Es wird wohl ein Bittgesuch ...« Georg legte +die Serviette hin, ging zur Türe, öffnete und schloß hinter sich, das +Zimmer zuerst leer findend. Dann sah er Cordelia. + +Sie war noch keinen Schritt in den Raum gekommen; oben vor der Tür, die +Hand am Geländerdach stand sie, ihren alten Strohhut in der Hand, ein +welkes weißes Kleid, mit moosgrünem Seidenband unter der Brust, um den +Leib gezogen. Aber -- -- oh -- das ist ein Mensch! war Georgs erstes, +voll aufseufzendes Empfinden in der Erinnerung an Bennos Elfe. + +Erstaunt, entzündet von Freude sie wiederzusehn, sagte er leise nur +»Cordelia --«, nun erschüttert von einem unendlichen und schweren Ernst, +einer Wehmut, einer Demut und -- diese durchglühend -- einer fast +mystischen Süße im Dunkel ihrer fernen Augen, im ganzen bleichen, +atmenden, sehnsüchtig bewegten Gesicht. + +Der Hut, ihr entfallend, rollte die Stufen hinunter. Sie folgte ihm, +schrittweis, die Hände gefaltet, die Blicke unveränderlich auf ihn +geheftet mit einem für Georg kaum noch erträglichen, sprachlosen Flehen. +Einmal lächelte sie hülflos. Ein paar Schritte noch von ihm entfernt, +hielt sie an, schauderte heftig zusammen, bezwang sich furchtbar, +lächelte mit Anstrengung und fragte kaum hörbar: »Muß ich -- ganz -- +hin?« + +Ihm brach das Herz. Sich losreißend, durchzuckt: Sie stirbt ja vor +Angst! -- sprang er zu, riß sie an sich, legte ihren Kopf an seiner +Schulter fest, hielt ihn, der herabsinken wollte, streichelte ihn +unaufhörlich, flüsternd: »Was ist denn, mein Gott, was ist denn? Es ist +ja gut! ist ja gut! Ich bin ja glücklich!« + +Leise schluchzend hörte er sie etwas stammeln wie: Gott sei Dank! und: +ja, nun ist es gut ... Langsam kam ihr Gesicht wieder hoch, naß +überströmt, fließender Augen, aber er lächelte wie ein Engel durch den +glänzenden Strom. Sie bewegte stumm den Kopf hin und her. Ihre Augen +fielen zu. + +»Willst du mich denn noch?« fragte sie zwischen den Zähnen, »wirklich?« + +»Ob ich will, Cordelia? Ja doch, ja! Ich bin ja nur glücklich, wenn du +kommst! Ach,« fuhr er, erschüttert von Mitleiden, fort: »sag mir doch, +was dir fehlt, was dich quält, alles, alles! ich will dir doch helfen!« + +Aber sie schwieg. + +Im Nebenzimmer ward ganz leise ein Akkord des Flügels hörbar, nur der +eine, süß aufschwirrende Schlag, als habe ein Vogel die Tasten +gestreift, für Georg ein lieblich erstaunendes Zeichen des Augenblicks. +Dann, abgelenkt, sah er durch die Wand Bennos lange Schattenfigur, wie +sie sich auf die Tasten bückte: er mußte sie wohl doch einmal berühren, +einen Ton hören, die Musik ein Wort sagen lassen zu seiner Inbrunst. + +Cordelia aber hatte aufhorchend die Augen geöffnet. + +»Was war das?« flüsterte sie, und Georg gestand, es sei Besuch nebenan, +ein Freund mit seiner Verlobten; ob sie erlaube, daß er ihnen eben +Bescheid sage, sie seien eben schon im Begriffe zu gehn. Cordelia nickte +nur stumm und machte sich los von ihm. + +Die Tür öffnend scheuchte er das Brautpaar aus der Buchtung des Flügels +und aus einer ganz ähnlichen Stellung wie die, in der Georg selber sich +eben befand, was seine Betäubtheit rasch in angenehme Heiterkeit löste, +also daß er, da das Mädchen ohnehin heimwärts drängte, mit leichtem +Bedauern der verhinderten Fahrt sich entschuldigen konnte. Er brachte +sie noch durch das gangartig lange und halbdunkle Billardzimmer auf den +Flur und bis vor die Tür, winkte ihnen nach und dachte, mit den Augen an +Bennos Rücken haftend: Seltsam doch, daß grade er so aus unsern Kreisen +fallen mußte. Gedichte mach ich ja auch, aber der einzige Unsterbliche +war doch immer er. Ach so, erinnerte er sich im Abwenden, die Götter +trugen ja immer nach besonders irdischen Frauen Verlangen. Ja, sie war +eine kleine Rubensschönheit, Danaë ... und -- + +Georg richtete sich lächelnd straff. Und Benno muß heiraten, muß -- weil +er das nicht fertigbringt was ich. Ah sie war wieder da! Gott sei +gelobt, murmelte er vor sich hin, nun kommt die Erlösung erst von Cora! +-- Er schloß die Tür hinter sich. + +Wie er aber leichtfüßig den Flur zurückeilte, wurde die Tür am Ende +geöffnet, mit Vorsicht. Cordelias Antlitz erschien im Spalt, groß +offenen, furchtsam spähenden Auges, und erschrocken bei seinem Anblick +schlug sie den Türflügel wieder vor ihm zu, den er gleich darauf +erreichte. + +Als er dann drinnen stand, war sie an das Geländer zurückgewichen, hielt +es mit den Händen neben sich gefaßt und ließ wie eine Schuldige den Kopf +sinken. Sich überwindend, sie nicht feindlich anzusehn, versuchte er zu +scherzen, ob sie ihm doch wieder habe entwischen wollen ... + +Sie lächelte traurig und sah auf. »Es soll also wohl doch sein«, sagte +sie leise. »Nein!« sie drängte sich an ihn, »sieh mich nicht so an! +frage nicht! ja, versprich mir das, schwören mußt du's, Georg, hörst du, +du mußt es schwören!« + +»Ja, gewiß! gewiß doch! was denn?« + +»Nie fragen, Georg! Nie, nie, niemals und nach nichts fragen! Ach,« +weinte sie plötzlich laut auf, »was willst du denn von mir? Ich weiß +doch, daß du mich nicht liebst.« Sie brach ab, ihn hart und verschlossen +anblickend. + +Georg vermochte nicht auszuweichen. Nicht lügen! dachte er nur, und +seinen Augen es überlassend, sie zu bezwingen, sagte er klar und +verständlich, wie er es meinte. + +»Ich brauche dich.« + +»Den Leib«, hauchte sie elend. + +Was nun sagen? -- Er küßte behutsam ihre Stirn, und damit schien er +Glück gehabt zu haben, denn mit aufblühendem Lächeln unter seinem Kuß +flüsterte sie: + +»Und die arme Seele mit ... Meinst du, daß ich eine habe? -- Ach laß +nur«, wehrte sie matt und drückte die Augen an seine Schulter. + +»Du kennst mich doch nun ein wenig,« redete er, ihr Haar streichelnd, +auf sie herab, »du weißt doch, wer ich bin!« und hörte sie aufsagen +leise, ohne den Kopf zu heben: »Prinz -- Georg -- Trassenberg.« + +Dann, sehr liebevoll: »Mein Prinz!« und Georg fuhr zurück wie gestochen. +Er strauchelte auf den Stufen, erreichte mit Mühe aufrecht den Boden, +seine Knie versagten, er tat noch zwei Schritte und stand, entsetzt, die +Hände an den Schläfen. + +Jetzt -- da wars! Jetzt wars gekommen. Jetzt mußte -- -- mußte -- was? +-- was? -- Die Wahrheit gesagt werden oder -- oder gelogen. Warum +gelogen? Um die letzte Probe ... um zu sehn, ob es erträglich, möglich +... + +»Was ist dir denn?« hörte er sie aus weiter Ferne fragen, sah aber in +der selben Sekunde dicht vor sich ihre besorgten Augen, die flackerten; +ihr Gesicht, ihre weiße Gestalt, die dunklen Wände des Raums, der große, +grüne Lampenumhang -- alles flackerte auf und nieder wie aus gasigen +Flammen, während er sie nur anstarren konnte und merkte, wie sie seine +Hände ergriff und herabzog. Durch das Sausen in seinen Ohren hörte er +sie etwas sagen, ohne zu verstehn. + +Du Feigling! sagte dann eine Stimme, du willst es ja nur aufschieben! + +»Nichts, Kind, nichts!« brachte er endlich hervor. »Es war wohl mein +Herz, -- es ist nicht ganz in Ordnung. Laß nur, es geht schon wieder. +Ja, wovon sprachen wir doch eben? Richtig, meinen Namen sagtest du ...« +Er irrte wieder ab. »Ja, und wie ist der deine?« hörte er seine eigene +Stimme fernher, erwachte dann und setzte beherrscht hinzu: »Oder darf +ich das auch nicht fragen?« + +»Cordelia Severin«, sagte sie leise. »Aber ist dir auch wirklich wieder +gut? Komm, setz dich hin!« + +Sie führten sich gegenseitig zu einem der Sessel in der Kaminecke, Georg +fiel ermattet hinein und zog sie auf seine Knie. Sein Herz jagte in der +Tat haltlos. Vielleicht war doch der Schluck Sekt schuld. + +»Und was wird nun aus uns?« konnte er indessen wieder scherzen. »Bleiben +wir zusammen? Möchtest du hier wohnen? In einem Schloß?« -- Es stach +wieder in seinem Herzen. Er verstand nicht recht, weshalb ihm so +unendlich sanft und weich zumute war, und fuhr fort, ihr weiches Gesicht +unablässig zu streicheln und zu glätten. Da sie nur nachdenklich vor +sich hin lächelte, fragte er weiter: »Oder soll ich zu dir kommen?« + +Nun schauderte sie leicht zusammen. »Nein! oh nein!« stieß sie hervor. + +»Also was denn? Soll ich ein Haus kaufen?« + +Wieder ruhiger blickte sie in seine Augen, küßte ihn leise auf den Mund +und sagte liebreich: + +»Ich will, was du willst. Aber ich möchte nicht gern in -- dein andres +Leben. Möcht ganz für mich sein -- und für dich. In mein Leben sollst du +auch nicht. Wir wollen zusammen ein drittes haben, ganz für uns, gell?« + +»Ja, das wollen wir. Also dann willst du wohl Geld haben, was?« + +»Ja, bitte!« sagte sie ganz ernst. + +»Ich hab aber selber keins da«, meinte er lustig. »Nun, warte, es findet +sich schon ein Weg. Willst du mich mal aufstehn lassen?« + +Während er eine Schreibtischlade aufzog, ein Checkbuch hervorholte, sich +setzte und mit eiliger Hand in ein Dutzend und mehr Seiten seinen Namen +eintrug, fragte er zurück, ob sie vielleicht auch schon ein Haus wisse? +-- Leise auflachend bejahte sie und sagte plötzlich wieder im Dialekt +und in ihrem verträumten Ton: + +»I hab ans aangschaut vor a paar Tag. In der Alleestraße heroben, ganz +heroben am End, auf an Hügel liegts. I tu alsfort Häuser anschaun, wanns +fein ausschaun und Mietzettel ham.« + +»Na, das ist ja schön! Da muß ich dir wohl einrichten helfen?« + +»Nimmer nötig! 's steckt ganz voll von Möbeln bis ans Dach, schöne +Möbel, olte, ach du mein!« + +Georg, sich umdrehend beim Schreiben, sah sie auf der weichen +Sessellehne sitzen und mit runden Augen nach allen Seiten spähn. + +»Nicht so schön halt wie die«, plapperte sie weiter, nach der Bücherwand +nickend. »Aber ein Schlafzimmer hats, das wird dich freun. Da stehts +Bett im Alkoven, der hat -- so ein Fuß grad überm Bett -- ein ganz +schönes, breites, großes Fenster. Wenn man da naus schaut, -- ja, das +glaubst net, Gorch, da hast vor dir das ganze Land, alle Wiesen und +Weiden und die blauen Wälder hinten und Dörfeln -- ah -- viele! Schlafen +kannst da mitten im Frein, und unterm Fenster -- da ist der Garten, und +der Teich, und eine ganze Wüstn von floribus«, schloß sie plötzlich mit +hörbarem Punkt. Georg sprang auf, warf sie fast in den Sessel hinunter +und erstickte sie mit Küssen. + +»Und Hesekiel! Georg, laß los, ich ersticke ja!« keuchte sie, »und +Hesekiel, darf ich den aach kaufn?« + +»Was du willst, Liebling, was du willst! Aber wer ist denn Hesekiel?« -- +Er hielt sie wieder auf den Knien und ließ sich kleine Küsse von ihr +geben, während sie erzählte: + +»Hesekiel -- das ist ein -- orms Luder. Ein bißchen dumm ist er schon, +weißt! so ein -- Idiot oder -- -- wie? Er vergißt halt alles. Nur eins, +ein einziges, das kann er grad behalten. Und er hat ein' Buckel und ein +ganz spitzes, altes Gesicht und einen wehmütigen kleinen Mund. Oh +Hesekiel ist ein lieber Kerl, der wird dir gfalln. Nun ist er -- was die +Bälle aufklaubt bei die Tennisleut. A so a olter Mensch und klaubt Bäll +auf. Verheirat is er net. Gell, den nehm mir? Den nehm mir zu uns?« + +Georgs Herz jubelte vor Entzücken. Oh Benno, was habe ich und was du! -- +Sogar die Erscheinung Renates ging schmerzlos vorüber. Ich werde +lebendig sein, ganz lebendig, arbeiten können, gesund sein, und das +andre -- alles andre wird sich finden, sich finden. + + + Viertes Kapitel: Mai + + + Haus Herzbruch + +Renate schrieb in ihrem Zimmer am späten Abend: + +»Hellwach wie ich bin, will ich gleich suchen, Einiges von diesem Abend +festzuhalten. + +Nachmittags gegen sechs Uhr fuhr ich zu Irene hinaus (ich mußte es +einmal wagen; Saint-Georges versprach, auf Onkel achtzugeben, und es ist +nichts geschehn). Es war so warm, daß ich unterwegs das Verdeck +zurückschlagen ließ, und so war es schön, durch den weiten Frühling zu +fahren, zwischen den unendlichen, tiefgrünen, saatgrünen Flächen, auf +den Himmel zu, den weit fernen, bläulich weißen, goldgestreiften von der +tiefen Sonne, an den kleinen Gehöften vorüber, die stets schräg mit der +Stirnseite zur Straße stehn, unter Bäumen, kaum ergrünten. Einzelne +Primeln waren auf den Wiesen zu sehn, und alle Rinder waren schon +draußen, grasten fromm der untergehenden Sonne nach, oder standen still +an einer Planke, einem Graben, den sie im Vorsichhinweiden erreichten, +hörten mit Käuen auf und sahen nach dem schwarzen Ungetüm, in dem ich, +hoch sitzend, dahinrollte; lange Schatten warfen sie, wie alles umher. + +Unterwegs griff ich noch Jason auf; mit einmal sah ich ihn ein paar +hundert Meter vor mir am Rande der weißen Straße dahinwandern, ein wenig +krumm und die Hände auf dem Rücken. So läuft er, dacht ich, um die ganze +Welt fürbaß in seinem schwarzen Anzug, da hielt auch schon der Wagen +neben ihm still, es war wie Zauberei, als ob er es befohlen und ihn mit +dem Rücken gesehn hätte, -- aber Reinhold, der ihn kannte, hielt +natürlich von selber. Dann saß er zufrieden in seiner Wagenecke, blickte +stolz umher und sagte: Der gute Mensch trifft immer Wagen, die ihn zu +schönen Orten tragen. + +Wo er so lange gewesen sei, fragte ich ihn, denn ich hatte ihn beinah +drei Wochen nicht gesehn. In Schleswig, sagte er, bei der Familie des +Kreisphysikus Liegel, Odysseus Liegel, ja, so heiße er richtig. Eine +zahlreiche Familie sei das, vier Söhne, drei Töchter, Eltern, Großmutter +und Urgroßmutter, in einem kleinen Hause Alle beisammen, und sie +fürchteten sich samt und sonders vor spitzen Gegenständen, besonders die +Urgroßmutter, die könnte überhaupt nichts Spitzes sehn, ohne furchtbare +Zustände zu kriegen, bei den Andern sei es verschieden, der eine +reagiere nur auf Taschenmesser, ein andrer auf Nähnadeln, wieder eine +habe Angst vor Löffelstielen oder Hutnadeln, und sie ärgerten sich Alle +fortwährend gegenseitig damit, das heißt zum Spaß, sie meinten es nicht +böse, und nur der Vater freilich, der sei immun, auf den würde überhaupt +nicht geachtet. Eigentlich sei er wohl immer leise betrunken von +holländischem Likör, das dufte gar nicht so unangenehm, und meist sitze +er ja in seinem Zimmer oder machte Krankenbesuche, wo er dann immer +zwei, drei kleine Schnäpse trinke, das mache schon ein paar Dutzend am +Tag. Die Söhne aber seien große Kerle, blond und bärtig, der eine +Lloydoffizier, einer Kaufmann, und zwei Studenten; die hätten die ganze +Kraft der Familie an sich gerissen, gingen schallend umher und schubsten +alles beiseite; Gott sei Dank seien selten mehr als einer oder zwei +anwesend. Die Töchter seien alle Drei ein bischen welk und kümmerlich, +mit viel Heiratsplänen behangen und sehr arbeitsam. Ja, die Mutter sei +das Tüchtigste dieser Familie. Ganz klein sei sie, habe ein Gesicht wie +eine Backbirne und eine lahme Hüfte, oder eigentlich seien es zwei; kein +Mensch wisse, wie sie es eigentlich fertigbringe, zu gehn, sie gehe +aber, und zwar immer ganz schnell. Als sie alt genug gewesen war, zu +heiraten, hatte sie es darauf angelegt, diesen Odysseus Liegel zu +heiraten, und es gelang ihr auch. Darauf gründete sie ihm eine Praxis, +in der sie viele Jahre immer am Hungertuche her lebten; auch jetzt hänge +es noch immer in einer Ecke und verstaubte niemals gänzlich. Eines Tages +hatte sie von einer Freundin gehört, daß es in gewissen kleinen Städten +Stipendien, Legate gäbe, ausgesetzt von verstorbenen Wohltätern für +Knaben, in der Stadt geborene, um ihnen ein Studium zu ermöglichen, und +die brave Frau soll es fertigbekommen haben, durch Herumreisen in diesen +Städten zur Zeit, wenn sie ein Kind erwartete, dreien ihrer Söhne je ein +Legat zuzuschieben. Oh es sei eine ganz herrliche Familie, sagte Jason. +Die Mutter würde verherrlicht von Allen, sie wäre ganz ungeheuer geizig, +sie hatte immer nur einen einzigen Groschen auf der Tischkante liegen +sehn, und wenn man ihr etwas mitbrächte, dürfe man nie unterlassen, zu +sagen, was es koste, denn erst wenn sie das wisse, könnte sie sich +freun. Aber nur Kleinigkeiten dürften es sein. Was ist das? sagte sie +dann wohl, mit braunen Fingern und kurzsichtigen Augen zugreifend, eine +Banane? Oh herrlich! Was kost die? Zehn Pfennig. Nun sieh mal einer, +zehn Pfennig für solch eine herrliche Frucht. Und dann wollte jedes von +ihren zehn Kindern die Banane haben ... Zehn, Jason? -- Sie machten noch +für viel mehr Lärm, sagte er vergnüglich, du solltest sie einmal hören. +-- + +Auf dem Weg durch den Gemüsegarten kam uns die kleine Nora entgegen, +Dora Vehms Tochter, langsam und ernsthaft wie immer, nur mit den +vergrößerten Augen sich freuend, nicht im geringsten mich, sondern ganz +allein Jason unerschütterlich anblickend. Als der aber fragte: Wo ist +denn dein Vater? -- sagte sie mit ihrer tiefen, langsamen Stimme: Der +sitzt auf dem Klosett. -- Wie peinlich für ihn! sagte Jason, nun wollen +wir bloß nicht nach ihrer Mutter fragen. Da kam Irene, blond und +lieblich wie immer, uns auf dem Gartensteig entgegen, so entzückend +anzusehn, daß mir das Herz lachte: wie eine versehrte Blume, nämlich in +einer engen grünen Taille, Filetguipure am Halsausschnitt und den halben +Ärmeln, kleine Falten quer über der Brust und mit vier spitzen Schößen, +vorn, hinten und über den Hüften, gleich den grünen Kelchblättern einer +Blume, aus denen die große schwarze Tulpenglocke des seidenen Rockes +nach unten schwoll und abstand, -- und während so ihr Kleid und Körper +eine Blume darstellte, war es ihr ganz glühend rosiges und von Haar +goldenes Gesicht, das blühte. Sie erzählte, es sei gerade ein Freund +ihrer Schwägerin gekommen, ein Dr. Ägidi aus Stuttgart, Journalist, den +ihr Mann durch Doras Vermittelung für seine neue Zeitschrift gewonnen +habe. Da die Beiden sich jahrelang nicht gesehen hatten und jetzt in der +Halle saßen, gingen wir in die >Hecke< und trafen dort Georg, der im +Grase lag und mit Doras Pallu spielte. Eigentlich heißt er Paul, aber +das konnte er nicht sagen und taufte sich Pallu. + +Wir aßen dann oben in Irenens Zimmer zu Abend, ein wenig eng in der Ecke +neben dem Kamin, zu eng vor allem, wie mir schien, für die Stimmung +unter uns. Irene war völlig geistesabwesend; sie hat es sich ja nun so +angewöhnt, sich zu erlauben, was ihr gefällt. Ich merkte aber, daß diese +Abgekehrtheit irgendwie mit ihrer Schwägerin und mit Dr. Ägidi +zusammenhängen mußte, die mir auch wieder heißer und röter schienen, als +selbst ein Wiedersehn nach zwei Jahren -- -- doch was geht das +eigentlich mich an? Ja, insofern wohl, als eben diese Stimmung auch mich +ergriff und mich, ängstlich, unsicher und sonderbar, wie ich Onkels +wegen an sich schon bin, mit dunklen Empfindungen bewegte. Es wäre +vielleicht noch sonderbarer gewesen ohne Jason, der wohl alles haargenau +wußte, freilich keine Miene verzog und keine Geste zeigte, sondern nur +viel sprach, in dieser unendlich hinfließenden Art, und so sehr jeden, +den er anblickt, mit Augen fesselnd, daß man selber zu reden glaubt, -- +nun, ich werde das nie beschreiben können. Übrigens war Doras Mann nicht +anwesend; er hat ein Darmleiden, und zudem ist er noch lungenkrank und +schon halb auf dem Wege nach Arosa. + +Schön, dunkel und funkelnd sah diese Dora aus (und übrigens in einer +prächtigen Tunika, die ich mir merken muß, aus einem dunkelblauen, +lockern Seidenstoff mit eingewebtem, gleichfarbigem Blumen- und +Rankenmuster, die sie über den Kopf gezogen hatte; braune Pelzstreifen +an den offenen Ärmeln und am Halsausschnitt). Ihre tägliche +Arbeitsleistung, von der Georg mir erzählte, ist ja erstaunlich. Ich +glaube wohl, sie möchte noch viel mehr Kinder haben. Ihr Mann sah auf +einer Photographie still, fremd, abgeschlossen aus; ein sehr zartes +Gesicht mit tiefen Augen, sehr spitzem Kinn und einem seltsam +übertriebenen dunklen Schnurrbart wie der Nietzsches, doch tiefer +hängend. -- Wenn ich sie ansehe, muß ich sie für eine schlechterdings +glückliche Frau halten. Aber ob sie nicht mich ebenfalls -- --? Was +wissen wir? + +Ich wollte mir doch einiges von dem merken, was gesprochen wurde? Ach, +nein, die Geschichte, die Jason der kleinen Nora erzählte, als sie im +Bett lag, muß ich doch wieder zusammenbringen. Sie hieß, glaube ich: Der +liebe Gott und das kümmerliche Telephon, oder so ähnlich und fing an: + +Prrrrr! machte das Telephon. Kruzitürken, sagte der liebe Gott und nahm +den Hörer auf, was ist denn das schon wieder! Hat man denn keinen +Augenblick Ruhe? -- Du, Onkel Jason, sagte Pallu von gegenüber her, der +liebe Gott flucht aber wüst. -- Türken, versicherte Jason, wären Heiden +und darum würden sie geflucht. Da hörte der liebe Gott ein kleines +Mädchen ganz unten auf der Erde ins Telephon piepen: Hier ist das +Knasterlein und hat so furchtbare Bauchschmerzen. (Das Knasterlein soll +zu allem gut sein in Jasons sämtlichen Geschichten.) Ha, da hat sie +Zwetschenkuchen gegessen, dachte der liebe Gott und sagte: Aber liebes +Kind, du mußt doch nun nicht bei jeder Kleinigkeit ... Sprechen Sie +noch? sagte das Fräulein am Amt. Pallu stellte sich auf den Kopf und +sagte: Kruzitürken, die kommt ümmer dazwischen, ümmer. -- Jawohl, +Fräulein, ich spreche noch, sagte der liebe Gott, -- ja, da hast du wohl +zu viel Zwetschenkuchen gegessen? -- Ja, sagte das Knasterlein. -- Ist +denn der Doktor schon dagewesen? -- Och, lieber Gott, mein Papa ist doch +selber Doktor! -- Hier entspann sich, glaube ich, ein großer Streit +zwischen Nora, ihrer Mutter und Jason wegen der ungenauen Kenntnis des +lieben Gottes, wobei er sich, fürcht ich, damit ausredete, der liebe +Gott habe das verwechselt. Also der Doktor war jedenfalls dagewesen, und +der liebe Gott war sehr erstaunt, was Knasterlein denn nun noch von ihm +wollte. Was zum Einschlafen, sagte es, es könnte doch nicht schlafen. +Das wollen wir gleich haben, sagte der liebe Gott und murmelte: Abadra, +kadrabra, maleborus, maleborus, widdewiddewitt fi--na--le! -- Sprechen +Sie noch? fragte das Amt. Scht! machte der liebe Gott und legte ganz +leise den Hörer hin, worauf sich denn Knasterlein in Nora verwandelte, +die sich mit tief ernstem Gehorsam umdrehte, die Decke bis an die Augen +zog und nach einem großen Seufzer und unerschütterlich auf Jason +gerichtetem Blick sich augenblicks einzuschlafen bemühte. -- -- + +Wovon sprachen wir noch beim Essen? Richtig, Jason, -- da er alle +Menschen kennt, so kannte er auch Ägidi, von irgendeiner Universität her +--, nein, zuerst war ja von Herzbruchs' Zeitschrift die Rede, von der +Sozialdemokratie und -- ich weiß nicht mehr, wie das so kam, -- +jedenfalls äußerte Jason gleich eine Meinung, die dann zu einer ganzen +Rede wurde. Die Sozialdemokratie, sagte er, hätte zwei Fehler, und der +eine sei die mangelnde Schulbildung. Wenn ich zum Beispiel, fuhr er +munter fort, einen Reichstagsbericht lese, was fällt mir auf? Ein großer +Mangel an Lebensart, nicht etwa bei der Sozialdemokratie allein, nein, +bei den Angehörigen sämtlicher Parteien ganz gleichmäßig. Nun aber ist +die sozialdemokratische Partei die einzige, bei deren Vertretern dieser +Mangel sich auf den genannten, nämlich die fehlende Schulbildung +zurückschieben läßt, was denn jedenfalls fleißig von allen andern Seiten +geübt wird, und hinwieder kann man den andern Parteien bei gutem +Gewissen diesen Vorwurf nicht machen, da sie ja alle über eine ganz +vortreffliche Schulbildung verfügen. Also, sagte er, die +Sozialdemokraten hätten somit nichts Besseres und Eiligeres zu tun, als +sich diese Schulbildung zu erwerben, womit sie ja gleichzeitig alle +übrigen Parteien auch an Lebensart übertreffen müßten, oder das +Gegenteil würde der eben aufgestellten und bewiesenen Behauptung vor den +Kopf stoßen, daß eben in der mangelnden Schulbildung ... Hier legte ihm +wohl Herzbruch die Hand auf den Arm und veranlaßte ihn wohlwollend, zu +dem zweiten Mangel überzugehn. Ja, das sei nun wieder ein Überfluß, fing +er frisch an, nämlich ein nicht hoch genug zu veranschlagender Überfluß +an Sanftmut. Drei Mittel nämlich, erklärte er, hätte die Internationale +an der Hand, um ihre Ziele durchzusetzen, ohne doch nur ein einziges zur +Anwendung zu bringen, nämlich erstens das ein wenig veraltete des +allgemeinen und gleichen Revolutionierens, mit Barrikaden, Kopfab und +allen Schikanen, aber, was ihn angehe, so schalte bei seiner angeborenen +Abneigung gegen alles Blutvergießen dieses Mittel für ihn aus. Das +nächste sei der Generalstreik natürlich, wogegen er wenig mehr +einzuwenden habe, als daß ihm das dritte Mittel besser gefalle, zudem +auch dem angedeuteten sanftmütigen Charakter dieses Menschenschlages am +meisten zu entsprechen scheine ... nämlich die passive Sabotage. -- + +Denkt euch, sagte er, einen nach dem andern von uns mit überredenden +Blicken ins Auge fassend, denkt, welche Zeit anbrechen würde. Passive +Sabotage ohne Generalstreik. Alle Arbeiter würden in der Arbeit bleiben, +und vielleicht sogar ein wenig Überstunden machen. Alsbald würden sich +die Erzeugnisse der Industrie und Waren aller Art in den Speichern, den +Fabriken und Silos häufen, sie bis zum Rande füllen und überquellen, und +die Lebensmittel würden zu erstaunlichen Preisen herabsteigen, ja +womöglich verschenkt werden, und man könnte sich wohl denken, daß +jemand, der ein Ei kaufen wolle, eine Dreschmaschine oder ein Karussell +als Zugabe erhielte. Und nun aber, bei allgemeiner Einigkeit und +Zufriedenheit, welche Stille in Stadt und Land! Vom festgesetzten +Uhrenschlage an verließ kein Schiff die Rheede, kein Brief den Kasten, +kein Telegramm den Drahtkorb des Beamten, kein Postwagen die Remise, +kein Eisenbahnzug den Bahnhof. Auf den von Automobilen, Geschäftsrädern, +Autobussen und Trambahnen herrlich leeren, breiten, befreiten Straßen +ergösse sich eine festlich gekleidete Menge, von deren heiteren +Antlitzen jede Spur des alten Hastens und Jagens miteins verschwunden +sei. Fröhliche Scharen von Post- und Telegraphenbeamten mit ihren +munteren, rotgestreiften Mützen veranstalteten singende Umzüge unter +Entfaltung ihrer schön gestickten Innungsfahnen, und die Straßenkehrer +hingen unter Absingung fröhlicher und patriotischer Lieder ihre Besen +und Gummirechen an den Kreuzen längst erloschener Laternen auf. Was sei +aber all dies gegen die wunderbare Stille draußen im ländlichen Land. Da +wandre sichs leicht, die mitgenommenen Butterstullen in die letzte +Zeitung eingeschlagen, auf der unverlierbaren Linie der mit sanftem +Grase überwachsenen Bahndämme, wo die Wärter vor ihren Häuschen mit Frau +und Tabakspfeife behaglich feierten, wo die Weichengestelle bald unter +üppig wucherndem Ginster verschwanden, die Schlagbäume und Signalmaste +schon vom weiten den munteren Wallern ihre bunten Fahnen von +Hopfenranken und blühenden Glyzinien entgegenschwenkten, während zu +beiden Seiten aller Straßen Eppich, Crimsonrosen, Bohnenblüte und +rankende Winde aus den Telegraphenstangen und ihren Drähten farbige +Triumphgirlanden, gleichsam über Nacht, geschaffen hätten; an den +Straßen übrigens, auf den die wieder hervorgeholten schönen alten +Planwagen, mit welchen die bäurische Bevölkerung die mühelosen +Erzeugnisse ihres Bodens zur Stadt führten, um sie gegen geringes +Entgelt einzutauschen, -- auf ihnen erzähle nur selten die bereits +überrankte und moosbewachsene Ruine eines Opel- oder Horchwagens vom +bestraften Frevelmut seines Besitzers, der ohne Mechaniker eine +verzweifelte Geschäftsreise zu unternehmen gewagt habe. Und schließlich, +da inzwischen auch die Arbeit aus Überfluß an allen Dingen eingestellt +sei, so hetze sich nunmehr niemand ab, als einzig an ihren +Schreibtischen die nimmermüden Erfinder, emsig bemüht, Ideen zu +entwickeln zur Ausnützung des Überflüssigen, also zum Beispiel ein +Verfahren, aus schlecht gewordenem Schweinefleisch gut sitzende Anzüge +zu verfertigen ...« + +Mitternacht. Leichtfüßig erschreckte Renate der silberne Schlag der +kleinen Uhr hinter ihr im stillen Zimmer. Sie wandte sich halb, warf +einen Blick über ihre Schulter in die dämmrige Tiefe der Wände und +verhaltenen Möbel und schrieb weiter: + +»Ich mußte mich umsehn, die Stille gewahren in diesem sanften Raum, in +diesem ganzen, schlafenden Hause. Ach, es tat wohl, einmal draußen, +einmal weit weg gewesen zu sein, im immer wieder zauberhaften +Menschenwald, wo auf den stillsten Lichtungen -- große Spinnen in den +Silberrädern ihrer Netze -- die Geschicke weben, ach, zum Heil oder +Unheil, ich wills nicht wissen, denn jedes, jedes, das weiß ich, ist +besser als nichts. Aber weiß ich denn, ob nicht das meine schon längst +über mir schwebt, mich zu umschlingen und zu binden, ob ich nicht längst +schon ergriffen vielleicht, gehalten und -- abgetan bin? Denn vom Himmel +-- wir wissen es doch -- vom Himmel stürzt kein jählichster Blitz, der +nicht in einem kleinen Korn auf Erden gesät und draus aufgegangen wäre, +und der Schlag, der heute das Haupt trifft, zu ihm war ausgeholt, als +noch unsre Mutter nicht von uns träumte. + +Wacher und wacher sehe ich in die vergangenen Stunden zurück. Wieder um +den runden Tisch sehe ich uns sitzen, enge beisammen in der Ecke am +Kamin, sehe an der Hängelampe vorüber das tief und tiefere, seltsame +Blau der Dämmerung draußen, die nur im Vorfrühling so leuchtet, sehe die +bleichen Vorhänge sacht auffliegen und empfinde die leichten Atemstöße +des hereingeneigten Windes. Unsre beleuchteten Gesichter kann ich sehn, +das hübsche, schmale, blasse des Doktor Ägidi mit kleinem, kurzem und +schwarzem Schnurrbart, das selten aufsieht zu dem unaufhaltsam +plätschernden Jason; rechts von ihm das Doras, bräunlich, gerötet, mit +starken Brauen und feurigem Auge, und Herzbruchs Hornbrille daneben, +hinter der hervor er ab und an auf Irene oder sonst jemand einen +unbestimmt und halb abwesenden Blick schießt, und sein massives +Gelehrtengesicht kraust sich häufig und häufiger im verhohlenen Gähnen +zusammen; und dort Irenens ganz rosiges Gesicht, und dort das schlanke, +überaus ehrliche Georgs, der von Allen allein ganz bei der Sache +scheint, lacht und auf Jason schaut, während die Augen aller Übrigen +meist auf den Teller gesenkt sind. Herzbruch nur aus Müdigkeit, aber +Alle waren sie froh über Jasons Phantasmagorien, und als er schwieg, +lachten sie wohl ein wenig, waren aber dann sämtlich still. Auch mir +fiel nicht gleich etwas ein, ich vergaß die Übrigen, glaubte wohl im +weiten Lande draußen Fragmente von Jasons bunter Vision unterm Hauche +des Abends dahingleiten und entleuchten zu sehn, und ich weiß nicht +mehr, ob ich selber es war, die ihn nun fragte, er habe vorhin auch die +Ziele der Sozialdemokratie erwähnt, ob er nicht auch davon eine ähnliche +Rede halten möchte, aber er winkte ab. Nein, das will ich nicht, sagte +er, ich habe so schon Ägidis Neigung verscherzt, freilich aus +Mißverstand, da ich doch nicht seine Partei, sondern im Gegenteil die +Anwesenden ganz sanft verspottet habe. -- Wieso denn das? fragte Irene +laut und verständnislos, aber er sagte erst nach einer Weile, und +nachdem er eine ganze Sprotte gehäutet und zerlegt hatte, und mit einem +fast kalten Ernst auf einmal: Taucht nur immer euer allabendliches +Butterbrot in Tränenwasser vom Tartaros; es kommt einmal der Tag, wo die +es euch nicht gedenken werden, die unter Brückenbogen der Themse +schlafen, die in verfaulten Speichern ihre Kinder zur Welt bringen, die +zwischen Betten der Liebeskrankheit aufwachsen, und die, Stück für Stück +ihres ausgemergelten Leibes, zwischen den Zähnen der Maschine aufgezehrt +werden. Nicht gedenken werden sie es euch, daß ihre Seele zersprang wie +ein schlechter Topf, derweil ihr plaudertet von ihren Zielen. -- + +Irene fuhr rot, zornig und verlegen auf mit einem zerdrückten: Man kann +doch reden ... Wir andern schwiegen, Herzbruch brummte zustimmend, und +Dora und Ägidi -- -- sahen nach den Fenstern, als sähen sie sich an. + +Es gebe ja aber andre Sachen in Hülle und Fülle, von denen zu reden +wäre, fing Jason wieder an, und wie wäre es zum Beispiel mit einem +Vortrag von Irene über den Vorzug des Einzelschlafzimmers vor dem +gemeinsamen? Statt des Tellers, wie sie gern gemocht hätte, warf sie ihm +nun ihre Serviette an den Kopf, sprang auf und stammelte, wir wären wohl +fertig mit Essen. -- -- + +Nun werde ich doch ein wenig müde. -- Aber ich will nun nicht aufhören, +ehe ich auch das Letzte von diesem Abend geschrieben habe, denn solange +ich schreibe, glänzen mir seine Farben noch reich; dann wird es wieder +für lange still und eintönig werden ... + +Später war Jason auf einmal verschwunden, Herzbruch mit Ägidi im +Rauchzimmer nebenan, um sich geschäftlich mit ihm zu besprechen, Dora +hinunter zu ihrem Mann. Ich hatte am großen Vogelbauer der armen Esther +das übergehängte Tuch gelüftet, um darunter zu schaun, und sah, wieder +fortblickend, Irene unter den Blumenstöcken des breiten Fensters auf dem +schwarzen Roßhaarsofa sitzen. In ihrem ausgebreiteten schwarzen +Faltenrock, das heiße, rote Gesicht in die Hand gestützt, den Ellbogen +auf dem Knie, sah sie wieder so fein und lieblich aus, daß ich zu ihr +ging, ihr Gesicht in die Hände nahm und sagte: Du bist heut so unwirsch, +Irene! Sie sah mich verloren an, streifte meine Hände weg, ihren Rock +glatt und sagte endlich -- es klang recht komisch bei ihrer +Ernsthaftigkeit --: Es ist alles so symbolisch ... Ich antwortete +nichts, dachte, sie würde schon von selber anfangen, und setzte mich in +die Sofaecke. Richtig fing sie nach einer Weile an. + +Am Nachmittag sei Ägidi gekommen. Eine halbe Stunde vorher, da sie +selber gerade auf der Treppe gewesen sei, habe sie ihre Schwägerin aus +der Stadt kommen hören und sei, um sie zu erschrecken, mit einem Schrei +ins Zimmer gesprungen, Dora sei aber ganz ruhig geblieben, denn sie habe +sie im Spiegel kommen sehn. -- Das fand ich schon so symbolisch, -- +weißt du -- ich sagte es auch Dora --. Man sollte immer solch einen +Spiegel bei sich haben, -- alles trifft einen immer so schrecklich +unvorbereitet, -- ja, ich dachte das nun mal, und eine Zeit später, als +wir schon von ganz andern Sachen geredet hatten, sagte Dora, es sei viel +tüchtiger, unvorbereitet und doch beschirmt zu sein, den Panzer +zusammenzureißen im Augenblick, sagte sie, glaub ich. Ja, und nun -- -- +gerade bevor du kamst -- Ägidi war ja nun da -- war ich so beim +Herumschlendern im Garten halb die Treppe der kleinen Vorhalle +hinaufgeraten, von wo man durchs Fenster in die große Halle sehn kann, +und da sah ich die Beiden. Dora saß, und er auf der Lehne ihres Stuhls +hielt ihre Hand, und so sprachen sie, und -- nun jedenfalls: es _war_ +etwas in ihrer Haltung, das andere als -- ja. Du weißt wohl gar nicht, +-- sie waren Freunde, sonst nichts, ich weiß es bestimmt von Dora, die +nicht lügt, -- sie haben sich kaum einmal im Leben gesehn, aber +jahrelang in fast täglichen Briefen zusammen gelebt, und ob nun das +Wiedersehn, -- jedenfalls -- -- Irene brach hier ab, stand auf und +sagte: Einen Augenblick, bevor wir Alle zum Essen hinaufgingen, war ich +allein mit ihr. Ich hielts für aufrichtig, ihr zu sagen, daß ich sie +gesehn hatte, und: Was war denn das? fragte ich. Sie schwieg eine ganze +Weile, sagte dann sehr ernst: Ich glaube, -- das war unvorbereitet. +Sonst nichts, und das -- genügt ja wohl auch. -- + +Wie sie nun im Zimmer stand, die Hände gefaltet, nachdenklich und so +anmutig, war es wieder die alte Irene, die draußen am Zaun stand und +meine Orgel hörte und symbolische Träume träumte. -- Sie setzte sich +dann zu mir und fing an, von ihrer Schwägerin zu erzählen, was sie von +Otto Herzbruch gehört hatte, über ihre Verheiratung: daß niemand +begriffen habe, warum das reiche, kräftige, schöne Mädchen den +kränklichen, seltsamen, ein wenig kümmerlich scheinenden Mann genommen +habe, was er nun freilich nicht sei, vielmehr erfülle ihn eine ganz +unsägliche Güte, er sei der zarteste Arzt, und sicher beklagten es +Viele, daß er sich an den Tuberkulosebetten seiner Kassenpraxis +infiziert hatte. Doch durch mehrere Jahre hatte sie seine wiederholten +Anträge abgelehnt, schließlich mußte sie wohl doch einmal heiraten, es +war Zeit, das Mitleid mit ihm kam hinzu, und dann hatte sie ihn mit der +Zeit gewiß sehr liebgewonnen. + +Warum aber, fragte Irene nun, warum glaubst du, ist ihr Leben so +angefüllt mit hundert guten, fleißigen, wertvollen Dingen, hundert +Dingen, die sie für sich allein, an denen ihr Mann keinen Teil hat! -- +Irene nannte den Namen einer bekannten Arztfrau, die ihren Mann zuerst +mit Handreichungen, bei Narkosen, bei Mandeloperationen der Kinder und +dergleichen unterstützt, und die mit der Zeit so viel bei ihm gelernt +habe, daß sie nun selber ihr Examen gemacht und eine Frauenpraxis +ausübe. Keine Frau, sagte sie heftig, die Verstand hat und sich bemüht, +braucht eine Beschäftigung außerm Hause zu suchen, und jeder Mann +braucht und hat gern eine Hülfe, zumal an einer Frau, und zumal wenn sie +klug ist ... + +Ich sagte kein Wort, wartete stillschweigend, daß sie selber stutzen und +sich sagen würde, wie sehr sie, _anti domum_, wie man wohl sagen kann, +gesprochen hatte, aber siehe da, mein Herz Irene merkte nicht das +geringste -- ja, wie sehr befangen in sich selber muß sie sein! -- +sondern war zu Doras Kindern übergegangen, die in Wahrheit, trotz +Volksspeisungen und Gesang und Frauenverein, ihr tiefes und einziges +Glück seien. -- + +Nun fallen mir die Augen zu. Ein wenig später kam auch Dora, dann wurde +Irene schläfrig, und ich fuhr heim. Ägidi nahm ich mit in die Stadt, +doch sprachen wir nur über Literatur und dergleichen. Ein Zug in seinem +Gesicht schien mir -- nun was soll das? -- -- -- --« + +Die Augen schließend und wieder öffnend, nahm Renate in diesem +Augenblick das kleine, auf seinem schmalen Halse wie eine zarte Blüte +vorgestreckte Antlitz von weißem Gips, über ihr auf seinem Pfeiler im +Winkel, wahr. Verzaubert, als sähe sie es zum ersten Mal, liebenden +Auges, fast schmerzlich geöffneten Mundes, nahm sie, ohne hinzusehn, die +Feder auf und schrieb, ohne hinzusehn, regellos über das Blatt, die +Lippen bewegend, weit offnen Herzens: + +»Da aber gehst du wiederum über mir auf, schönes, ewiges weißes Antlitz +des Sonnenkönigs; da meines müde ruhen will, Ech-en-Aton, mein weiser +Freund, zeigst du mir das deine, emporgewendet unermüdlich zu dem +unermüdlichen Gestirn, das nur fortging zu fremden Völkern, nicht +unterging, um zu ruhn. Deine Tempel und deine Stadt, die du zum Dienst +der Sonne errichtest, sind lange, lange in ungestalteten Staub +zerfallen, du aber lebst immer, immer! Unerschöpflich deine unsterbliche +Seele glüht in unendlichen Verwandlungen, immer sehnsuchtsvoller nur, +immer eifriger nur, der einen, unaufhörlichen Flamme des Himmels zu, die +Ewigkeit kostet dein sehnsüchtig immer küssend gewölbter Mund, meine +Augen hängen an ihm, von selber findet die Feder ihren Weg, dein Antlitz +wandelt sich magisch in der tiefen Nacht, atmet nicht schon die samtige +Haut, rötet sie sich nicht unter der Berührung der gelben Strahlen? +Unbeweglich steht dein Auge, steht das Auge deiner Seele, ganz in +Flammen, ganz in Inbrunst, durch Jahrtausend um Jahrtausend, +unverrückbar, unverbrüchlich, selig, seliger, vor dem Ziel.« + + + Fünftes Kapitel: Juni + + + Emmaus + +Georg, geblendet, schwer schlaftrunken, riß die Augen auf und kniff sie +heftig wieder zu. Große rote Flecken sausten heran, schwebten, hielten +still, dazwischen flackerte brennend Grünes, grüne Blätter, Baumwipfel, +und Himmelblaues. Er rieb die Augen, merkte, daß er in der Hängematte +lag, die Lider fielen ihm schwer wieder zu, in allen Gliedern knackte, +sauste und prickelte der jählings abgebrochene Schlaf, der verdampfte. +Ringsum brodelte der Juni, und da, seltsam fern, mitten im Sommer, +schönem Schatten, Baumstämmen und Sonnenlichtern und herein leuchtendem +Himmelsblau stand Egon mit seinem schwarzen Haarwisch in der Stirn und +lächelte. Georg gähnte wie ein Löwe und kaute hervor, wie spät es sei? +Durch eine Wand von Schlaftrunkenheit hörte er Egons Stimme: Gleich fünf +Uhr. Und Herr Bogner sei eben gekommen, und auch ein Telegramm. -- Georg +brachte die Augen nicht auf im Gähnen, streckte die Hand aus und dachte: +Ach, Bogner, -- richtig, er brachte das Bild, für Helene ... Er zerrte +die Füße aus den Maschen der Hängematte, saß da, krümmte die Arme +gewaltig, dann den Rücken, reckte und dehnte sich, daß es krachte. +Schließlich hockte er im Netz, den Kopf schwer vornüber hangend, in dem +es kribbelte und summte; die Schläfen brannten, die linke Wange war wie +Feuer von Jucken, und er kratzte sich wütend; eine Mücke mußte ihn im +Schlaf gestochen haben. Was träumte ich nur? dachte er. Das war ja sehr +sonderbar! Ich ging mit Bogner im Walde, und auf einmal war noch jemand +da, ein großer, blasser Fremder, mit dem Bogner eifrig sprach, und ich +blieb zurück, es war dämmrig im Walde und sehr grün, und dann, -- dann +war da, glaub ich, Saint-Georges, den fragte ich: Wer ist denn das +eigentlich? und er sagte erstaunt: Das wissen Sie nicht? Es ist doch +Christus. -- Ja, das war, weil Bogners Bild den Gang nach Emmaus +darstellen soll. Und dann gingen wir weiter, und ich dachte, wenn wir +jetzt aus dem Walde kommen, muß gleich links Helenenruh sein, aber +Helenenruh kam nicht, sondern ein fremdes dunkles Tal, und Bogner und -- +der Andre entwichen schon fern drüben zwischen den Stämmen, und gleich +rechts stieg Renate ganz einsam den steilen Hang hinauf. Aber als ich +ganz froh und zitternd zu ihr kam, wandte sie das Gesicht her, und da +war es -- Helene, -- ja, und sie hatte das seltsame Antlitz wie auf +Bogners Bild ... Sonderbar, wie so alles durcheinanderging, Bogners Bild +und Helenenruh, wohin ich -- ach, bald -- bald fahre, zu Renate, die +dort ist ... + +Immer noch sehr dumpf, und schwer imstande, die Augen ganz zu öffnen, +brach er nun das Telegramm auf und las mühsam die Maschinenschrift von +dem sonneflimmernden Blatt: Lieber Georg, Ihre Mutter ist eben sehr +schwer erkrankt, Sie müssen sofort kommen und auf alles gefaßt sein. In +Liebe Renate. + +Gott im Himmel, Gott im Himmel, Gott im Himmel ... Das Blatt wurde +blutrot vor Georgs Augen, die Schriftbänder verbogen sich und zerfielen. +Braun und leuchtend stand da der Kiefernstamm, schwarzfleckig; hoch oben +breiteten die grünbehangenen Äste sich ins flammende Blau. Schwer +erkrankt ... auf alles gefaßt sein ... In Liebe ... Das hieß? In Liebe +... Tot, dachte er, tot, -- -- sie ist tot. In Liebe hätte sie nicht in +ein Telegramm geschrieben, sondern es hieß: in Mitleid. Georg bewegte +schwer im Mund die klebrige Zunge; die Augenwinkel schmerzten, langsam +ward es um ihn klar, er stand auf und ging auf schwachen Füßen, wankend +davon, auf das Haus zu. Da war die weiße Tür, Bogners Gesicht. Georg +blieb stehn, schnob ein verächtliches Lachen durch die Nase und dachte +unter furchtbar aufsteigender Angst: Das Bild, das Mutter zum Geburtstag +haben ... Sein Kinn zitterte, im Halse würgt' es, seine Augen wurden +feucht, beizend. -- Da stand er vor Bogner, streckte ihm wortlos das +Telegramm hin, fiel auf einen Stuhl und schluchzte zwei, dreimal trocken +und würgend. + +Aber wenn sie doch noch lebte?! Besinnungslos sprang er auf, taumelte +erst, denn es war alles rot umher, und vom Schreibtisch, den Fenstern, +der Lampe gab es nur fliegende Bruchstücke. Dann entdeckte er den +Telephonapparat, stürzte darauf zu, nahm den Hörer ans Ohr, hörte die +weibliche Stimme, wußte im Augenblick die Nummer nicht, erhaschte sie +dann, sagte heiser: Achtundneunzig -- achtundneunzig bitte! und wartete. +Eine schnarrende Stimme schrie ihn an: Hier Adlerwerke! -- Nun stammelte +er zusammen, er habe neulich schon ein Automobil gehabt, ob er wieder +einen solchen Wagen ... oder besser einen schnelleren, einen Rennwagen, +jedenfalls den schnellsten, der da wäre ... Dazwischen nannte er seinen +Namen, hörte dann, daß ein Wagen geschickt würde, er bat noch um einen +guten Fahrer und um Benzin für sieben, acht Stunden. -- + +Sieben, acht Stunden, dachte er stumpf, am Schreibtisch hockend. Ohne zu +denken, öffnete er die Schieblade und nahm einen Plan auf Leinwand +heraus. Da fahr ich wieder zu einem Toten, murmelte er hülflos. Wenn sie +nur noch lebte, nur noch ... Auf ein Räuspern hinter seinem Rücken +wandte er sich um und sah Bogner dasitzen, das Telegramm in der Hand, +das er nun langsam zusammenlegte. Dann blickte er auf, sah ihn ruhig an +und sagte: + +»Sie können trotzdem mein Bild ansehn. Ich will es hereinholen.« + +Er sah Bogner aufstehn, zur Tür und auf den Flur treten, wo an der Wand +das Bild lehnte, mit einem Tuch verhangen, so hoch wie Bogners Schulter. +Er trug es herein, löste die Tücher ab, -- es hatte noch keinen Rahmen, +-- und lehnte es schräg gegen den Pfosten der Schlafzimmertür. + +Georg schauderte leise. Da war Nacht, tiefes Dunkel, braun, grünlich, +das herunterhing; ganz tief unten zur Linken war Helle und ganz kleine +Gestalten. Die Höhe des Raumes schien ungeheuer, er stieg oben in die +Nacht auf, undeutlich waren Pfeiler sichtbar, ganz fern, aber kein +Gewölbe, nur Nacht und ein, zwei weißliche, gelbliche Flecken von +Sternen. Unten links war eine Fensteröffnung, durch die breit ein +Lichtstrom hereinschwoll und zerstäubte an einer stehenden Gestalt in +der Mitte des Bildes, die einen Arm, vom Schreck betroffen, nach links +von sich streckte. Unterm Fenster, im vollen Licht war ein Tisch +gedeckt, dahinter, geduckt vor Schrecken, ein Mensch. Und links daneben, +hochangelehnt, die Arme leicht ausgebreitet, die flachen Hände auf der +Tischplatte, ganz golden von Licht, -- der Christ. + +Emmaus ... zog es fern durch Georgs Staunen. Oh diese ungeheure Nacht! +Und Nachtstille und Geschehn. Das Göttliche blühte schweigend aus dem +Lichtstrahl auf und sah sich um. In der Nacht draußen war die ganze +Welt, Sterne, Raum, Ebene, Getier, das Meer, die Finsternis, in +unendlicher Stille. + +Von der Gartentür her sagte der Maler: + +»Ich sah dies in einer Kirche in Venedig. Die Wölbungen waren nicht so +hoch, es war dunkel, nur in einem fernen Seitenschiff ein Lichtschein. +Als ich hinging, saßen dort ein paar Priester und spielten Karten. Das +alles hat sich im Laufe der Jahre sehr verändert.« + +Nach einer Weile hörte Georg des Malers Stimme wieder: + +»Und als ich eines Tages zufällig Conrad Ferdinand Meyers Gedicht zu +lesen bekam, >die tote Liebe< heißt es, glaube ich, Sie werden es kennen +...« Georg hörte die Eingangsverse: Entgegen wandeln wir -- Dem Dorf im +Sonnenkuß -- Fast wie das Jüngerpaar -- Nach Emmaus ... Und den Schluß: +Da ward die Weggesellin -- Von uns erkannt -- Da hat uns wie den Jüngern +-- Das Herz gebrannt ... und dazwischen die Stimme des Malers weiter: +»Da traf mich dies einmal: Da hat uns wie den Jüngern -- Das Herz +gebrannt ... Denn -- -- es ist so, daß wir wie die Blinden daherwandern, +und die Augen gehen uns auf, wenn es zu spät ist, immer hinterdrein, und +-- wir wissen es nie gut; wir wissen es immer nur besser.« + +Da hat uns wie den Jüngern das Herz gebrannt ... Immer wieder schlugen +die Worte an. Wir wissen es nie gut, -- wir wissen es immer nur besser +... Und nun war Helene tot, die -- Mutter tot, -- Mutter, -- nicht +meine, dachte Georg ratlos und konnte nichts anfangen mit dem Gedanken. +Gott sei Dank, sie hat es nie gewußt! mußte er aufatmen. Aber wenn sie +doch noch lebte? -- In Liebe Renate. Ach, aus diesem Grunde schrieb sie: +in Liebe! Georg biß sich auf die Lippen, jagte den Gedanken davon und +fragte sich: Warum hat Magda nicht telegraphiert? Warum hat sie nicht +telephoniert? Weil sie mich neulich schon zu einem Toten rief. -- + +Und -- ach du mein Gott -- nun schon wieder fort von Cordelia! Sein Herz +verbitterte sich! Ist man einmal glücklich, so kommt was dazwischen! Ja, +dann muß ich alles verschieben, jetzt länger in Helenenruh bleiben und +mit Renate, -- aber wie kann ich es recht anfangen mit ihr, wenn +Trauerzeit ist? Schöne Gedanken, mein Georg, schöne Gedanken! -- Er biß +sich auf die Lippen. -- + +Sieben Stunden dauerte die Fahrt wenigstens, -- oh diese Ungewißheit! -- +Georg schwankte, ob er nicht in Helenenruh anrufen sollte, -- oder in +Trassenberg, aber bis die Verbindung hergestellt war, konnte eine Stunde +vergehn. Nein, nein, lieber die Ungewißheit! -- Er erhob sich und +klingelte. Zu Egon, der alsbald eintrat, sagte er, er müsse gleich nach +Helenenruh, er habe schon einen Wagen bestellt, seine Mutter ... Egon +sollte mit den Koffern im nächsten Zuge fahren. -- + +Unterdes hatte Bogner die grüne Stoffhülle vom Boden aufgenommen. Georg +trat auf ihn zu, faßte seine Hand und brachte heiser hervor, der Maler +möchte das Bild dalassen, er wisse nicht, was er ihm dafür geben könne, +-- und da der Maler freundlich und abwesend lächelte, so lächelte auch +Georg und meinte: + +»Ich hoffe, Sie schenken es mir, -- ich werde sehn, -- ich finde schon, +was ich Ihnen als Gegengeschenk -- -- wenn erst alles ...« + +Der Maler nickte und sagte: »Ich weiß ja ...« + +Georg blickte noch einmal auf das Bild. Ja, -- Christus war tot und +mußte wieder kommen, damit sie alle glaubten. Eine hielt ihn für den +Gärtner, die andern gingen, sprachen, aßen mit ihm, -- dann erkannten +sie ihn, und -- ihnen brannte das Herz. -- Er fühlte sein Gesicht +glühend, schüttelte sich frierend und wandte sich ab. + +Minuten später stand er vor einem flachen grauen Wagen, mit Radreifen +und Benzintanks beladen, und hörte zu, wie ein Mensch ihm dies und jenes +erklärte. Dann saß er am Steuer, riß den Hebel an, der Wagen stieß von +unten, brauste auf, rollte, er drehte das Steuer, der Wagen, gehorsam, +wandte sich mit ihm um und rollte die weiße Straße hinab in den grünen +Sommer. Bald lag schon das heftig durchkreuzte Getümmel der Stadt, +Plätze, Lärm und Getöse, Menschen, Automobile und Pferde hinter ihm, vor +ihm, schnurgerade, die Chaussee, zwei Baumreihen, in der Ferne +zusammenschmelzend, unterm glühenden Himmel, und der Wagen schnurrte +darüberhin, daß Georgs Körper und sein Herz erzitterten. Verschwommen +kreisten die Flächen der Haide, braun, dann Moore, wieder Haide, die +Straße senkte sich und stieg so schnell, daß es kaum zu sehn war, +wundervoll ruhig tuckte der Motor im Innern, Georg sah in der Glasröhre +neben seinem linken Fuß das schwärzliche Öl langsam tropfen und +undeutlich den beweglichen Zeiger des Manometers; sein Gesicht kühlte +sich wohlig im eisigen Wind, ihn packte die Lust, hinzustürmen über die +sich drehende Erdkugel, schnarrend wie ein Uhrwerk. Automatisch, wenn +ein Pferd, ein Wagen fern sichtbar wurde, sah er die Hand des +Mechanikers nach unten greifen und den Auspuff schließen. In der Ferne +dröhnte hin und wieder die eigene Hupe. Ehern, rein blau, feurig blieb +das Gewölbe des Himmels. Gehöfte unter Eichen, beschnittene Hecken, +Hoftore, Eggen, Dämmerblicke in Kuhställe, Geranien vor Fenstern, +heranlaufende Kinder, mitflüchtende, endlich querüber jagende +schneeweiße Gänse, flatternde Hühnerscharen, locker vorbeischwebende, +riesige fahrende Heuberge, der fliegende blaue Schleier einer vermummten +Frau in einem Automobil, das überholt wurde, -- all das flackte und +spritzte in Fetzen auf und herum, und verflüchtigte sich in Augenblicken +immer wieder in den stabgraden weißen Strich der Chaussee, die niemals +endete, im Endlosen immer wieder aufgebrochen wurde, soviel sie in der +Ferne zusammenzulaufen schien. Als die Flächen umher sich abendlich +beschatteten, überließ Georg das Steuer dem Mechaniker, setzte sich in +den Wagen und schloß die Augen. + +Er verfiel alsbald in einen unruhigen Halbschlaf. Der Mückenstich auf +seiner Wange brannte und juckte wiederum, er rieb und kratzte ihn und +träumte dazwischen, so leicht, daß er selber wußte, er träumte. Er +träumte, daß er im Automobil fuhr und in Helenenruh ankam, aber es kam +nicht ganz dazu, er wachte wieder auf, schlief wieder ein und fuhr +wieder, gelangte auch nach Helenenruh, aber es war alles dunkel, kein +Mensch zeigte sich, und das Haus war ein ungeheurer, niedriger Langbau, +an dessen Fenstern zu ebener Erde er hinunterging; hinter einem von +ihnen sah er Menschen in einem Zimmer, die ihm etwas Liegendes +verdeckten, und er dachte: Sie wollen es mir nur verbergen ... Seine +Wange juckte wieder, er war wach, scheuerte sich und sah, daß es dunkel +war, und daß die Chausseebäume, von den Scheinwerfern weithin +beleuchtet, vorauseilten, kalkbleiche Gestalten zu Hunderten; dann +tauchten drei Radfahrer auf und glitten dicht an ihm vorbei, zuletzt +eine Frau in roter Bluse, die halbumgedreht einem kleinen weißen Hunde +etwas zuschrie, der kläffend gegen den Wagen ansprang. + +Georg ging nun an einer langen Mauer hinunter, er wollte zum Begräbnis +seiner Mutter, es war schon spät, und er konnte den Eingang zum Friedhof +nicht finden, der hinter der Mauer lag. Auf einmal kamen dunkel +gekleidete, ernste Leute von allen Seiten, die sonderbare Gegenstände, +unenträtselbare, in den Händen hielten, und er dachte bei sich: es sind +die Leid Tragenden. Dabei merkte er, daß er selber nichts hatte, er +mußte seines zu Hause vergessen haben, suchte vergebens und mit großer +Verzweiflung an sich, aber es war nicht zu finden, -- es zu holen, war +es viel zu spät, er war auch schon mitten unter den Leuten und hielt +sich beschämt dicht hinter den vor ihm Gehenden, immer besorgt und +beklommen, daß es gemerkt würde. Nun sah er aber, daß sie gar nicht Alle +etwas hatten, -- nein, es hatte überhaupt niemand etwas, er atmete auf +und schalt sich, daß er sich eingebildet hatte, man müsse etwas haben, +und indem verschwanden die Letzten durch ein kleines Mauerpförtchen. Als +er dort anlangte, kam gerade Benno von der andern Seite, unbegreiflich +gekleidet, und fragte ernst: Willst du auch zum Grabe? -- Ganz +erleichtert wußte Georg nun, daß nicht seine Mutter tot war, sondern +Christus, aber das war schon lange her, und hier war sein Grab zu sehn, +es war in Jerusalem. Als sie nun durch einen großen Garten gingen, wo +unter weitstehenden, mächtigen Bäumen hohe, gelbe Narzissen, einzeln und +in Gruppen, aus dem niedrigen Grase ragten, sagte er zu Benno: +Sonderbar! so hatte ich mir Palästina gar nicht vorgestellt. -- Ja, so +ist es in Okrodia, sagte Benno, und Georg verstand nun alles, nur war es +jetzt nicht Benno, mit dem er ging, sondern einer der beiden Jünger von +Emmaus, und er selber war der andre. -- Nun war da vom weiten ein +Gebüsch zu sehn, große, dichte Hügel von blühendem Rhododendron, rot und +auch etwas weiß, und daneben kniete Maria Magdalena, Menschen in langen +Kleidern standen um sie herum, auch andre in Gruppen anderwärts, und +durch diese hindurch sah Georg die Tür des Grabes an einer Felswand +offen, und Benno sagte: Das Begräbnis ist doch schon vorüber, wir können +aber hineinsehn. -- Georg geriet im Weitergehn an eine Gruppe von +Menschen, die sich unterhielten, er dachte: sie beratschlagen wegen +Pilatus, aber als er zuhören wollte, sprachen sie gar nicht, sondern +standen bloß da, und keiner sah ihn an, er stand bei ihnen und schwieg +und dachte: Das dauert ja endlos ... Zwischen den Beinen der Leute wurde +Maria sichtbar, es war Cordelia, sie kniete und suchte auf der Erde, +weinte heftig und sagte: sie haben ihn fortgetragen ... Ja, weiß sie +denn nicht, daß er auferstanden ist? dachte Georg verwundert und wollte +es ihr sagen, aber nun war er am Grabe und sah hinein. Stufen führten +hinunter, ein großer, fremder Mann lehnte halb sitzend unten an einem +Tisch, vor ihm stand Bogner und sprach unaufhörlich, und der Fremde war +Josef von Montfort. Georg dachte enttäuscht: so habe ich es mir nicht +vorgestellt! und ging an der andern Seite zur Tür hinaus, wo er Magda +und Renate ganz eilig in ein kleines, dunkles Tal hinuntergehn sah; er +folgte ihnen, indem er dachte: Sie wissen den Weg ja gar nicht, nach +Emmaus geht es doch auf der andern Seite! aber er konnte sie nicht +einholen, da seine Knie sich nicht bewegen ließen, er blieb immer auf +der selben Stelle, stöhnte und ächzte verzweifelt, konnte endlich die +Füße einen um den andern sehr langsam vorbringen, aber nun waren die +Beiden verschwunden, ihm war sehr beklommen, daß er sie hatte falsch +gehen lassen, er bewegte sich mit qualvoller Anstrengung weiter, wußte, +daß er viel zu spät kommen würde, sah aber nun ein helles Licht aus der +Ferne nahn, einen Menschen, der einen strahlenden Silberkelch vor sich +trug. Das Gesicht war das seines Vaters, aber der Mensch war sein Vater +nicht, es war Christus, und Georg brach in Tränen aus vor unsäglichem +Glück, daß er ihm hier entgegenkam, er legte den Kopf an jene Brust und +weinte endlos lange, in namenloser Wonne, zu weinen. + +Als Georg erwachte, war ihm die ganze Brust noch so voll von Tränen und +Schmerzensglück, daß er die Trockenheit seiner Augen nicht begriff. Es +war Nacht, der Fahrtwind umsauste kalt sein Gesicht, im mächtigen Licht +der Scheinwerfer bog sich die Doppelreihe schimmernder Stämme vor ihm +auseinander und gleichfalls die Doppelreihe von hohen und aufrechten, +kalkweißen Steinen, ähnlich Leichensteinen, die zwischen den Bäumen am +Grabenrand standen; dahinter war die erst dämmrige, dann dunkle Grotte +der Wipfel, auf die der Wagen zuschoß, ohne sie je zu erreichen. + +Georg suchte nach seinem Traum, aber es zerstob alles vor ihm, nur das +sonderbare Wort, das Benno gesagt hatte, schwebte noch eine Weile vor +ihm, hieß aber dann richtig Arkadien, worauf ihm einfiel, daß sein +Korpsbruder Schwalbe ihm einmal die Birken seiner Heimat so beschrieben +hatte. Seltsam, daß auch Montfort, dieser Träumedeuter, hineingeraten +war ... Und so blieb ihm schließlich nur sein Weinen unvergeßlich. Ach, +dachte er, wo gäbe es eine Brust, an der sich so weinen ließe! -- +Renates gedachte er, nun würde er sie sehn, aber wie war alles anders! +Er würde wohl für eine Weile mit seinem Vater nach Trassenberg gehn +müssen, wenn der nicht etwa in Helenenruh blieb, aber seine Mutter würde +doch jedenfalls in Trassenberg beigesetzt. -- Da merkte er, wohin seine +Gedanken voraufgeeilt waren, schalt sich erbittert, der Vers fiel ihm +ein: Da hat uns wie den Jüngern das Herz gebrannt ... aber das seine +brannte nicht, ihm war kalt vom Winde und heftiger Erregung vor dem +Kommenden. Frierend zog er seinen Mantel an, hockte vorgebeugt und trieb +innerlich mit wilder Ungeduld Fahrer und Motor an, schalt halblaut, wenn +immer wieder gebremst wurde, da ein Dorf durchkreuzt werden oder der +Fahrer eine Wegtafel lesen mußte. Gottseidank! er erhaschte von einem +Wegweiser das Wort Böhne und die Buchstaben km, aber die Zahl entging +ihm. Nun wartete er in immer kälterer Erregtheit, endlich tauchten die +ersten Häuser von Böhne auf; der Wagen rauschte laut und langsam durch +dunkle Straßen mit wenig Laternen, an erleuchteten, großen und +gardinenverhangenen Scheiben der Restaurants vorüber, über den schräg +ansteigenden Marktplatz, wo innerhalb der Lorbeerbäume und Efeuhecken in +Kästen vor dem erleuchteten Ratskeller noch Menschen saßen, dann in enge +Gassen hinein, um eine Ecke, wo Georg durch eine offene Tür mit +geriffelten Gläsern über drei Stufen die Ecke eines Holztisches sah, +einen Kutscher in blauem Fuhrhemd vor der Theke, dahinter die blanken +Messingkrahnen und unter einem bunten Öldruck der Kaiserin den Wirt, ein +rotes Gesicht, der von drei Gläsern mit hellem Bier mit einem kleinen +Brett den Schaum niederstreifte. Nun über die Brücke, das Wasser war von +schwarzen Bäumen und Zweigen verhangen, der Wagen warf sich hin und her +auf dem Kopfsteinpflaster der Gartenstraße, wo in der Tiefe der Gärten, +hinter Bäumen und Gebüschen die weißen Landhäuser schliefen, und nun +endlos die Eisenbahnstraße neben dem Plankenzaun hinunter; eine +Rangiermaschine schnaufte roten Funkenregen, da flog der gelbe, häßliche +Bahnhof mit erleuchtetem Zifferblatt links vorbei, sie waren auf der +Landstraße, der Wagen ruckte an und schoß davon wieder in die Nacht, +zwischen den Stämmen der schwertragenden Apfelbäume auf die dunkle +Laubgrotte der Ferne zu. + +Noch fünf Minuten, sagte Georg. Eigentlich mußte es eine schöne Fahrt +sein durch die Nacht, aber er empfand es nicht, saß eiskalt und +zitternd, die Uhr, deren Zeiger er nicht sehn konnte, in der Hand, an +der Aufziehkurbel drehend, ganz heiß war die Uhr. Plötzlich tauchten +Rampe und Fensterreihen und der vorderste weiße Turm von Helenenruh aus +der Nacht, hell sichtbar im Scheinwerferlicht, es ging die Rampe empor, +der Wagen stand vor dem erleuchteten Portal, aus dem ein Diener eilte, +der den Schlag aufriß, und Georg sah Magda im Innern über der +Stufenreihe, blaß und viel verweinter, als nach dem Tode ihres Vaters. +Sie kam herunter, Georg verwickelte sich mit den Füßen im Aussteigen in +die Reisedecke, strauchelte und fiel Magda in die Arme; er atmete den +wohlbekannten Duft ihres Haares, als sie die Stirn an seine Schulter +drückte, stammelnd unter heftigem Schluchzen: »Alle -- -- Alle -- gehn +fort! Esther, -- und Papa, und nun --« + +Also tot ... tot ... + +Ja, es war furchtbar für sie, furchtbar ... Georg streichelte ihren +Rücken, sie machte sich los, trocknete ihr Gesicht, nahm seine Hand und +führte ihn über die Treppen in den Klaviersaal, wo ihm Renate +entgegenkam, schwarz gekleidet und mit verweinten Augen. Er warf den +hellen Mantel ab und ging in seiner kalten, schrecklichen Beklemmung +durch all die hellerleuchteten, fremd anmutenden Zimmer, voll steifer +Möbel und großer, reicher Schränke mit Schnitzwerk oder Einlegearbeit, +bis zum Zimmer seiner Mutter. In der Tür blieb er stehn. + +Es roch stark nach Rosen. Der große und hohe Raum war mit Nacht gefüllt, +in der Tiefe brannten zwei silberne Armleuchter mit vielen, rötlich +strahlenden Kerzen; unter ihnen war ein weißes Lager, davor Rücken und +Hinterkopf von Georgs Vater, der gebückt saß. Im Schatten hinter den +Lichtern sah Georg die runden Wipfel von Lorbeerbäumen. Zu seiner +Rechten sah er an einem, vor langer Zeit einmal erblickten, dunklen +Empireschreibtisch unten die vergoldeten Löwenfüße schimmern, aus denen +die Säulen wuchsen, dann auch das Gold an Eckenbeschlägen und den +Knäufen kleiner Schiebladen; rötlich glänzte die Politur. -- Georg stand +furchtsam, hülflos, traurig und gelähmt. Endlich zwang er sich vorwärts +zu gehn. + +Sein Vater bewegte sich nicht. Georg blieb hinter ihm stehn, -- es ist +ja nicht meine Mutter, dachte er verstört und sah über einer goldenen +Decke zwei steife, gelbliche Hände mit den Fingerspitzen gegeneinander +gelegt; darunter kam ein Lilienkelch hervor. Dann steifes Leinen und +Spitzen, eine Halskrause, und nun ein Gesicht, ganz klein, gelblich mit +sehr hagrer und gebogner Nase, -- mein Gott, wer ist das? -- fragte +Georg sich tief erschreckt und gewahrte nun die große, dunkle Locke, die +unter der Ohrmuschel hervorquellend vorn auf den Spitzen am Halse lag, +und sie erinnerte ihn an seine Mutter. Aber das Haar war in der Mitte +gescheitelt, -- nein, es war ein ganz fremdes Gesicht! und wie war +dieser Mundwinkel seltsam gebogen! wie -- hülflos ... + +Georg sah und konnte es nicht verstehn. Es ist, sagte er sich, es ist -- +ja, -- es ist ein Gebilde, was ist es nur? Es lebt ja nicht, Gott, es +ist ein Mensch, aber sie lebt ja nicht! Es kann sich nicht bewegen, und +wie gelb es ist, -- es ist ja gar nicht wie -- wie von Natur, es ist -- +-- erstarrt, aber -- -- das giebt es doch nicht ... Ein Leichnam ... +dachte er schwer und fühlte sich fast erleichtert, da die Tote nichts +wahrnehmen konnte. Oh Gott, dachte er zerknirscht, dies ist ja nur zum +Begraben, was soll man damit, wo ist denn die Seele? -- + +»Vater --« sagte er leise. + +Der Herzog bewegte sich, nahm das Gesicht aus den Händen und wandte es. +Undeutlich sah Georg die vom Licht abgekehrten Züge, Augen, einen +starrenden Bart und darüber, vom Licht durchsickert, das zerrüttete +Haar. Eine Hand ergriff seine Linke und preßte sie schmerzhaft, dann +stand er dicht vor der Toten, hörte eine rauhe Kehle etwas hervorstoßen +und sich räuspern, dann die Worte: »Wohl ist ihr -- -- wohl -- -- und +--« + +Es brach ab; Georg sah, wie sein Vater den Kopf in die Hände stieß und +sich schüttelte und so maßlos schluchzte, daß ihm selber die Tränen in +die Augen stiegen, und er legte zaghaft eine Hand auf die Schulter unter +ihm. + +Wie sie Alle weinen, dachte er bekümmert und fremd. -- Ach, sie weinten +über das, was sie verloren hatten, -- ja, freilich, -- ich habe nichts +verloren, dachte er bitter und vorwurfsvoll gegen sich selber. -- Irgend +etwas ward ihm plötzlich zuviel, er drehte sich um und ging leise wieder +hinaus. + +Im Klaviersaal fand er Renate und Magda am Harmonium. Renate saß, Magda +lehnte müde, halb sitzend am Deckel. Sie sahen sich schweigend an, dann +fragte Renate etwas leise, das er nicht verstand. Unfähig gegenzufragen, +sagte er: + +»Wie, wie kam es denn?« + +»Gestern«, sagte Renate, zu Magda aufsehend, »ging es ihr so viel +besser, nicht wahr? sie sagte noch, sie fühlte sich ordentlich jung. Den +ganzen Nachmittag und Abend war sie mit uns zusammen. Heut morgen kam +sie auf einmal zum Frühstück herein, -- ich sehe sie noch, in ihrem +gelblichen Morgenkleid, ich stand am Fenster, du warst noch nicht im +Zimmer. Dann -- dann frühstückten wir zudritt, und auf einmal -- sah sie +uns groß an und sagte -- ihr würde so sonderbar ...« Renate schwieg. +Ganz leise sagte sie dann: »Plötzlich -- -- plötzlich sagte sie: Ich +glaube, ich --, senkte den Kopf und legte die Stirn auf den Tisch. Und +dann -- -- dann fiel der eine Arm herunter.« + +Renate schluchzte plötzlich auf und stammelte, das Gesicht im +Taschentuch. + +Georg hätte gern den Arm um sie gelegt, verbot es sich heftig und +dachte: Darüber weint sie nun? Seltsam, worüber Frauen weinen. + +Er ging wieder durch die Zimmer zurück zu seinem Vater und fragte ihn +leise, ob er sich nicht niederlegen wolle, er selber würde wach bleiben +die Nacht. -- Eine Zeitlang blieb sein Vater unbeweglich, erhob sich +dann, Georg reichte ihm seine Stöcke und fühlte sich plötzlich von ihm +an die Brust gerissen und heftig geküßt. -- Nun hat er nur noch mich, +dachte er beschämt und angstvoll. -- Er sah seinen Vater hinaushumpeln, +stand noch eine Weile, ging dann durch die Zimmer zum Klaviersaal, +löschte dort und zurückkehrend überall das Licht und setzte sich auf den +Stuhl neben die Tote; aber bald schon stand er behutsam auf, fühlte +Müdigkeit und ging zum Schreibtisch seiner Mutter. Im Stehen zog er +diese und jene kleine Lade auf, sah Briefbündel darin, ein Medaillon, +kleine Stöße alter Photographien, und öffnete endlich die breite +Schieblade unter der Platte. Sie war unordentlich gefüllt mit +hineingeschobenen Briefen, mit und ohne Umschlag, zusammengefalteten und +ausgebreiteten Blättern. Obenauf lag eine Mappe, mit einem alten +Brokatstoff überzogen. Georg nahm sie heraus, die Bänder hingen offen, +er schlug die Deckel auseinander und sah, daß es die Verse waren, die er +seiner Mutter zu Weihnachten abgeschrieben hatte, mehrere große Bogen +ineinander. Auf der Titelseite stand in gemalter Lateinschrift der alte +Sonnenuhrspruch: _Vulnerant omnes, ultima necat._ -- Alle verwunden, die +letzte tötet. Georg übersetzte es sich, an den Anfang eines Gedichts +erinnert, das er nach dem Uhrspruch gemacht hatte. -- Darunter stand: +einige Gedichte für meine Mutter zu Weihnachten von Georg. -- + +Er setzte sich nun traurigen Herzens und dachte, die Gedichte zu lesen, +warf einen Blick, halb andächtig, halb bittend auf die Tote zurück und +las das erste Gedicht: + + Jetzt bin ich jung, und es läßt mir der sanftere Abend + Oft die Beruhigung schmeichelnder Lieder zurück. + Sonst die Gedanken in alternder Schwermut begrabend, + Find ich in ihnen ein seltsam befremdendes Glück. + + Werde ich alt sein, so möcht ich das Wunder am Morgen + Gerne erfahren, wenn Rosen das Zwielicht durchsprühn. + Daß mir doch einmal aus Feldern der kindlichen Sorgen + Lächelnd durch Tränen die Blumen der Freude erblühn. + +Er sah noch eine Weile auf die stark geschwungenen, sehr ornamental +gezogenen Buchstabenreihen und wagte nicht recht, eine Meinung von dem +Gedicht zu haben, da er es gleichsam wie ein Totenopfer las. Er schlug +die Seite um, -- da sah er auf der, von ihm leer gelassenen Rückseite +des Blattes Schriftzeilen von der Hand seiner Mutter, ein Gedicht, und +es war dasselbe, das er eben gelesen hatte. Er schlug die nächste Seite +um und hatte denselben Anblick, nur daß dort: Elegie stand, die +Überschrift des zweiten Gedichts, und so fort durch die Blätter bis ans +Ende, alle die Gedichte hatte sie sich abgeschrieben, sie hatte ja +zuweilen über die Schwierigkeit geklagt, seine Handschrift zu lesen, -- +jetzt krampfte Georgs Herz sich zusammen, er dachte noch, welche Mühe +das Abschreiben sie gekostet hatte, -- sie, die überhaupt nur eine +Stunde am Tage zu solcher Arbeit fähig war -- denn sie hatte die +Abschrift immer auf die Rückseite des Gedichts geschrieben, hatte also +fortwährend hin und her blättern müssen ... Georg fühlte seine Kehle +zugeschnürt, es jagte ihm glühendheiß in die Augen, -- so hat sie mich +geliebt! dachte er noch, schlug die Hände vor das Gesicht, und im +Bemühen, nicht laut zu sein vor der Toten, erstickte er fast vor +Schluchzen in seinen Händen, rang mit sich, warf Kopf und Arme über die +Schreibtischplatte, schluchzte laut, stand auf, wankte blindlings zu der +Toten hin und fiel bei ihr nieder, stammelte, verbrennend in Scham: +»Vergieb mir, o vergieb mir doch, Mutter, daß ich so schlecht --« und +fand kein Ende mit Weinen, immer wieder von innen sich mit Anklagen und +Vorstellungen ihrer Liebe, ihrer Einsamkeit, ihrer unsäglichen +Verlassenheit und Armut emporstoßend, bis er erschöpft, heiß überströmt +und aufgelöst in Schmerz sich im Stuhl wieder fand, am Schreibtisch, und +begann weiter zu lesen. Er las die Schrift seiner Mutter, zuerst die +Elegie und in ihr zuerst die mit Bleistift unterstrichenen Worte: +Heiliges Kindheitsland, wo bist du? -- und tiefer die ebenfalls +unterstrichenen: + + Aber es ist uns gegeben kein Raum uns zu ruhn, als zu Füßen + Hinzubetten uns dort, wohin wir abends gelangt ... + +-- die ihn wieder zittern machten vor Mitleid, da sie ihm wie für sie +geschrieben schienen. -- Einige Zeilen unterhalb dieser Worte hatte sie +eines nicht lesen können und eine Lücke gelassen; >sicher< mußte es +heißen; er wäre fast wieder in Tränen ausgebrochen bei dem Gedanken, daß +sie immer eine Lücke hatte lesen müssen ... Dann sammelte er sich und +las: + + Einer vergänglichen Welt entsproßt und seit alters leibeigen, + Seh ich entgleiten die Zeit, Sand in verrieselnden Sand. + Was ich empfange als Gold in die mühsamen Hände, es rinnt als + Staub, unfruchtbarer Staub auf den entfliehenden Weg. + Vor mir leuchtet der Pfad und erreichbar himmlische Landschaft, + Städte und Wälder, der Strom, Berge zum Äther getürmt, + Berge, beladen mit Wolken gleich Ballen voll göttlicher Schätze, + Hinter mir dämmert aus Nacht trostlos zerfallende Welt. + Finster im Zwielicht der Sterne, der ruhigen, kühlen, erheben + Sich die Ruinen, einsam, Mauern, ein Baum oder Turm. + Heiliges Kindheitsland, wo bist du? -- ach, und mich fröstelt! + Stets auf der Wandrung, wie gern möchte zurück man, das Haupt + In dem Vergangenen ruhn, in bekannte, erleuchtete Räume + Treten, wo Wand auch und Bild grüßt und ist freundlich gesinnt. + Wo vor dem Schlafengehn man sicher sich fühlt und erleichtert + Nickt zu den Sternen hinauf, gütiger Müdigkeit froh. + Aber es ist uns gegeben kein Raum uns zu ruhn, als zu Füßen + Hinzubetten uns dort, wohin wir abends gelangt. + Ja, auch das Fremde ist gut; das Weib auf eigener Schwelle + Schenkt von dem Überfluß liebreicher Mienen auch uns. + Freundliches Wort gedeiht ja auf Erden, -- die Züge auch Fremder + Scheinen nicht achtlos, und nur innen ist jeder für sich. + Innen tönt immer die Mühle, die eherne, welche die Körner + Mahlt der stürzenden Zeit: Immer gefüllt von dem Schwall, + Stehen wir tönend und rauschend im Ewigen, mahlende Mühlen, + Schwarz auf den dämmrigen Kreis der Horizonte gestellt. + +An Lornsens Mühle dachte ich dabei, erinnerte Georg sich dumpf und +drehte langsam das Blatt um. >Klage< las er; in diesem Gedicht war +nichts angestrichen. + + Wir sind heimatlos, wie sind heimatlos, + Unsre Welt ist viel zu groß. + Unsere Lampen brennen viel zu grell, + Alle Wege enden schnell. + + Dunkel schäumt in uns das Blut und läuft, + Sehnsucht, die nach innen träuft, + Hebt mit Geisterhänden aus der Bucht + Schwer empor des Lebens Frucht. + + Oft -- verfinstert sich ein Nachmittag -- + Harren wir gewitterzag, + Schwüle drückt an unsrer Stirnen Rand, + Heiß und hastig seufzt das Land. + +Doch, hier waren zwei kleine Striche seitwärts neben >Rand<. Seine +Mutter hatte das Gedicht zuweit rechts angefangen, nun kam sie mit dem +Raum nicht aus, -- Georg betrachtete wehmütig ihre ein wenig englisch +aussehende, sehr vorwärts flüchtende Schrift, mit langen, darüber +fliegenden t-Balken, d-Haken und u-Strichen, die sehr weit und flach +hingezogenen Verbindungsstriche zwischen den kleinen Buchstaben, die dem +Ganzen einen Schein von straffer Flüchtigkeit gaben, und diese Art, die +letzten Worte der Zeile, wenn der Raum nicht reichte, umzubiegen nach +unten, so daß in diesem Gedicht fast alle Zeilen wie mit Haken am +Seitenrand festgekrallt hingen. -- Nun las er weiter: + + Doch es wird nur Nacht und tot und dicht, + Fortgezogner Wetter Licht + Zeigt die Flur, ein bleiches Nachtgesicht, + Das umdunkelt und verweint + Fremd wie eine ferne Heimat scheint. + +Neben den ersten beiden Strophen des folgenden Gedichts waren starke und +lange Bleistiftstriche; Georg las: + + O schwarzer Himmel in mir! und giebt es nichts + Denn, nichts, zu schmelzen mich? keine funkelnden + Azure glühender Sommer? und die + Bäume und Quellen und Vogelstimmen + + Sind ganz umsonst? nur tiefer im feurigen + Gewoge voller Strahlen bewahrst du die + Furchtbare Starrheit und die Schwere + Schwärzer und drohender mir im Herzen ... + +-- und erschrak, so sehr brannte sich jedes Wort, als sei es für sie +geschrieben, in sein Herz, aber er hatte an sie nicht gedacht, nicht +einmal, als er dies abschrieb für sie, hatte den Gram seiner so leichten +Seele dahingesungen, und sie fühlte, ja, sie fühlte den schwarzen +Schmerz im eigenen Kopf und die Blindheit und -- -- Verzweifelt und mit +umdunkelten Augen las Georg weiter, fast aufschreiend, als er eine +zitternde Linie, voraufeilend mit dem Blick unter den Worten: gekühlten +Windes Balsam -- fand: + + O Gott der süßen Früchte und Amselschlags, + Der sanften Regen träufelt und schmelzenden, + Gekühlten Windes Balsam schüttet + In die geduldigen Völker der Ähren: + + O senke einen kühlenden Strahl, nur ein + Aufküssend Säuseln über mein Heimatland. + Und tausend Ernten duften, tausend + Lerchen entschwirren, geblähten, feuchten + + Gefieders, Tau und Schimmer und Blütenstaub + Dir auszuteilen, singendes Blau der Welt, + Und an die ewige Erde preß ich + Schluchzend den Mund und die Brust und weine. + +Georg eilte hastig zur nächsten Seite, oh es war grausam, hier fand er +die Worte unterstrichen: der Kranke seufzt, und seiner Stirn Gewicht +drückt ihn zurück, -- zu meiner Strafe! knirschte er sich an und las: + + Aus dumpfen Wolken taucht der trübe Mond + Wie eines Kranken Antlitz aus den Kissen, + Die er schon viele Jahre lang gewohnt, + + Mit müdem Blick, der nur begehrt zu wissen, + Ob noch im Nachbarhaus der Kranke wohnt, + Der näher schon als er den Finsternissen, + Daß ihn sein Anblick tröstet und belohnt. + + Im Hause drüben glimmt herauf ein Licht, + Das wie mit Fingern, fahlen, leichenblassen, + Zitternd durch dunkle Fensterscheiben bricht. + + Der Kranke seufzt, und seiner Stirn Gewicht + Drückt ihn zurück. Er seufzt und weiß es nicht, + Daß dort der Schimmer in der Nacht der Gassen + Nur Widerschein vom eigenen Gesicht. + +Angstvoll schlug Georg die letzte Seite um. Nur noch ein Gedicht, -- +nein, hier war nichts unterstrichen, und er las, immer noch argwöhnisch: + + Tod und Zweifel + + Aus dem Haus der Freude ausgeschlossen + Jag ich mit den beiden schwarzen Rossen + Durch die finster schweigenden Alleen + Tief hinunter, wo kein Ende dämmert. + + Auf den beiden nassen Rossensrücken + Stehend wie auf schwanken Nachenbrücken, + Hör ich ihren Atem schnaufend gehn + Und den Hufschlag, welcher dröhnt und hämmert. + + Niemals kommt ein Ruf aus meinem Munde, + Bleich und stumm und traurig ist die Stunde, + Wo kein Stern und keine Lampe flämmert, + Nur die Ebnen seh ich, die sich drehn. + + Plötzlich stehn sie keuchend still und zittern, + Und statt ihrer rauscht der nächtige Regen. + Einem Morgenrot, das sie nur wittern, + Schreien ihre Häupter dumpf entgegen. + +Georg starrte auf die letzten Zeilen. Freilich --, etwas, das sie damals +auf sich passend finden konnte, stand nicht darin, aber wie hörte er den +dumpfen Schrei in dieser Nacht, aus der ganzen langen Lebensnacht seiner +Mutter! -- -- Aber da standen ja noch Gedichtzeilen mit Bleistift auf +einem Blatt, das unter die langen Heftfäden geschoben war, mit denen der +Stoff des Umschlags innen zusammengehalten war, eine rohe und hülflose +Arbeit, die sie selbst gemacht zu haben schien. Georg zog das Blatt +hervor, es waren auch Verse, er las: + + Mein Sohn war klein, + Mit schwacher Hand, + Warf alles um + Und nichts verstand. + + Nun ist er groß + Und weiß genau. + Ich blieb im Haus, + Ich lahme Frau ... + +Ja, so sprach sie von sich, so sprach sie ... + + Doch weiß er wohl, + Wie's um mich steht! + Er giebt mirs zart, + Macht zu -- + +Vor Georgs Augen verschwamm alles, es würgte ihn im Halse, er ließ das +Buch fallen, sagte stumpf das letzte Wort der Zeile »-- und geht«, stand +auf und ging durch die finstern Zimmer hinaus, trat an ein Fenster im +dämmerhellen Klaviersaal, sah die Mondsichel glimmend und undeutlich +über den Parkbäumen, glitt langsam auf die Erde nieder, schlug die Stirn +gegen die Wand und stöhnte: Emmaus! -- Er lag stundenlang am Boden bis +zum Morgengrauen, aufbrennend in entsetzlicher Scham, in Verzweiflung, +in Ohnmacht, bis er todmüde wurde, sich erhob, in das Sterbezimmer ging +und, ohne einen Blick auf die lächelnde Tote zu wagen, sich auf ein +Ruhebett ausstreckte und entschlief. + + + Rubinglas + +Georg, als wäre brennendes Feuer hinter ihm, jagte aus Helenenruh +zurück, wie er hingekommen. Langausgestreckt im Fahrsitz, das Steuerrad +auf der Brust, die verengten Augen hinter den Brillengläsern stur +gradaus gerichtet, vor sich her einschlingend das stabgerade oder eifrig +sich windende Band der weißen Straße, konnte er doch keine Minute lang +in dieser Lage aushalten, mußte sich aufsetzen, die Füße heranziehn, sie +wieder von sich strecken, wieder liegen, -- lag und ächzte leise vor +sich hin, den Chauffeur neben sich vergessend, auf unerträgliche Weise +gefoltert von dem einen Wort Renate, das in ihm herumrannte wie eine +Quecksilberkugel im Spielzeug. + +»Oh lieber sterben, lieber sterben, als noch einen Tag, eine Stunde +länger den Wahnsinn ihrer Gegenwart ertragen! Was das ist mit meinem +Blut, weiß ich nicht, aber es muß wohl vergiftet sein, oder habe ich sie +nicht vor einem Jahr fast täglich gesehn und sie ertragen? War ich blind +damals? Geblendet von Esther? Warum ists denn jetzt, als wäre sie eine +lohe Fackel von Wollust und Würde -- oh satanisches Gemisch! -- und ich +griffe beständig hinein und brennte? Renate, ah -- oh Renate! -- In +ihrem weißen Kleid, die lange schwarze Kette um den Hals, aber an Hals +und Wangen, den schon bräunlich sich dunkelnden, in den blauen +Lebensfeuern ihrer Augen, in dem unsterblichen Haar von zaubrischem +Braun, in ihrer ganzen, von Süße, von Anmut, von Seligkeit, von +hundertfach ausschmelzendem Dasein leuchtenden Gestalt -- nichts von +Trauer, -- so war sie überall, erscheinend, im Grün der Wiesen, im +Dämmergrün des Parks, als doppele Phryne gespiegelt im Teich, auf der +Terrasse, im Saal, bei Tafel, gegenüber zum -- oh zum Sterben, zum +Sterben! -- Und dazu Magda, blaß, schwarz, ganz Jammer und Stille, und +dazu Tod und Begräbnis und die Erinnerung an die Stunde der Scham, die +Nacht und die hülflose Tote mit dem verzogenen Mundwinkel, jener Stelle, +wo alles, was ohnmächtig, verzweifelt und ratlos in ihr gewesen sein +mochte, entwichen war und seine Spur hinterlassen hatte ... Es war mehr, +als ein Mensch ertragen kann. + +Cordelia, süße, gute, nun hilf mir du, ja, nun mußt du helfen! Ich +verspreche dir, an keine andere will ich denken bei deinem Leib, -- oh +verdammt will ich sein, wenn ichs tu! -- Sein Fleisch zuckte wütend nach +Umarmung. Das runde, bleiche Antlitz im düster braunen Haar -- wie einer +elfenbeinenen Nonne in Eichenholz -- die dunkelbraunen Augen in süßen +Verwandlungen, die sie spielte mit ihrer zierlichen Kunst, lockten ihn +unleugbar trotz des Feuers hinter ihm dieses -- ah, dieses Dämons. -- +Nein, Georg, stöhnte er, nein, so wäre das nicht gegangen, wie du's +dachtest. Dein Plan war ganz unsinnig. Giebs zu, Georg: was stelltest du +denn vor -- in ihren Augen? Ein halbes Nichts von einem jungen Mann, mit +dem sich geistreich plaudern ließ. Eh du nicht mindestens etwas +vorstellst, das innere Leistung zu verbürgen scheint -- ist nicht an sie +zu denken. Ja, aber nun bin ich fest. So gehärtet bin ich in diesem +Glutofen immerhin, daß mich nun nichts mehr anbröckeln kann, und -- +innen umschließ ich mein Ziel. Das erreicht, dann -- Platz da, der +Heuwagen! Oh Teufel, diese Bauern sitzen auf ihren Ohren! Wollt ihr euch +zum Henker scheren auf die andere Seite, ihr Sch--« + +Der Wagen jedoch, haushoch beladen mit Heu unter Leinwand, wich und +wankte nicht. Die Hupe brüllte, Georg schäumte vor Wut, aber sein +eigener Wagen kam fast zum Stillstand, eh der Berg vor ihm sich zur +rechten Seite der schmalen Straße hinüber bewegte. Aufschnarchend nahm +der Motor die frühere Geschwindigkeit wieder auf, die Landstraße krümmte +sich wie getreten, Fahrtwind brauste eiskalt, und zu beiden Seiten +fächerte sich gelassen die schöne Weite des grünen Landes aus, sich +ziehend und dehnend unter der großen Schattenbewegung des wolkengrauen +Himmels, im kühlen Licht, von Sonnenbalken selten zu überraschender +Lieblichkeit unterbrochen. Die Obstbäume an den Grabenrändern, vom +seitlichen Windesansturm getroffen, taumelten und überbrausten sich, +allmählich ward Georg ergriffen von der gierigen Lust des +Vorwärtsstürmens, dem herzlichen Beben im Zwerchfell beim Lauschen auf +die so innerlich ruhige, ehrenfeste Arbeit der vernünftigen Maschine, +und dem geschmeidigen Freudegefühl am Mitwinden der Straßenbeugen im +unmerklichen Drehen des Lenkrads. Sein Herz begann wieder ruhigen +Schlag, er atmete eben und tief, schwermutvoller ward sein Empfinden +zurück, zärtlicher, häufiger das Zucken voraus in der Vorstellung der +Liebenden, im immer hastiger zerdrückten Gedanken der kommenden Lüste, +denen er sich vergrößert zustürzen sah wie einen rädrigen Riesen von +Metall. Wenn sie bloß im Hause ist! dachte er bänglich. Und also stob er +dahin, vom Magneten schienenglatt hingezogen, gewaltig im Wagen, als +wälze er selber sich den Weg, Dörfer spaltend, daß es krachte, Wälder +zerfurchend, Dörfer wieder, und wieder hinknatternd über das endlose +Band, das unter ihm hervorfliehend sich windende, aufseufzende Band der +Straßen. Da sprangen Takte in ihm auf. Worte alsbald. + + Stürme an den Wäldern hin, + Donnre übers Brückenjoch ... + +Was war das? Ihm erschien, entgegenkommend auf hohem Damm, die Maschine +eines Schnellzugs, vornübergeneigt in kolossaler Rüstigkeit, stämmig, +ein Kentaur: + + Eisenroß, das Morgen roch, + Mitten schon im Morgen drin ... + +Morgen? woher der Morgen? Ah, es war nicht der Anfang des Gedichts. +Weiter: + + Eisenhengst im Radgestampf ... + +Nein, so: Rase ... Ja, mit hellem a-Aufklang: + + Rase durch das Morgenland, + Eisenhengst im Radgestampf, + Glutgefüllt und lustentbrannt ... + +Ich vergesse den ersten Vers! Also -- wie wars? Donnre -- nein: + + Stürme an den Wäldern hin, + Donnre übers Brückenjoch, + Eisenroß, das Morgen roch, + Mitten schon im Morgen drin. + +Nun der Anfang ... Doch indem klangen andre Worte: + + Feld und Wiesen farbig lohn, + Hügel wandern -- Hügel spenden blauen Rauch ... + Hügel wandern blau im Rauch, + Silberblitzend winkt dir schon + Weißdorn und ...strauch. + +Ja, aber der Anfang, wie war ...? + + Rase durch den ... + +Und richtig: nach der zweiten Strophe umarmte der äußere Reim den +innern, also: + + Rase durch das Morgenland, + Jage durch den Nebeldampf, + Eisenhengst im Radgestampf, + Glutgefüllt und lustentbrannt. + + Stürme ... + +Georg befand sich mitten in einer kleinen Stadt, die er für Altwedel +hielt, bei langsamer Fahrt über Kopfsteinen. Vorübergehende, die sich +umdrehend stehen blieben, Kinder, sah er noch glasig und verständnislos +durch die inneren Gesichte, dann deutlicher düstere Läden, eine enge, +aber augenscheinlich die Hauptstraße, jetzt zur Rechten ein Ungetüm von +alter, gotischer Backsteinkirche, nur plumpes Schiff mit Dachreiter, -- +und indem gab es hinter ihm einen scharfen Knall. Ein Reifen war +geplatzt. + +Georg lenkte den Wagen an den Gossenrand und hielt, der Chauffeur sprang +ab. Also Mittagspause, die ohnehin einmal hätte gemacht werden müssen. +Daß ich bloß meine Verse nicht vergesse! -- Eisenhengst im ... »Welcher +ists, Dietrich? Der Linke? Also eine halbe Stunde dauerts wohl?« + +Kalt und ein wenig zittrig kletterte Georg aus dem Verschlag in einen +Haufen schon vorhandener Kinder, löste den Halsschal und ging auf der +Suche nach Speisegelegenheit, aber bei innerer Beschäftigtheit ohne +etwas zu sehn, die Straße hinunter. Vor einem Schaufenster stehen +bleibend, dachte er, abirrend plötzlich: + +Es ist doch wundersam: alles ist nur Rhythmus. Wie mußte ich bei meinen +Gedanken und Gefühlen vorher auf diese Verse verfallen? Der Rhythmus +stanzte die Worte heraus. Und vor allem dies: daß man, ob das Gedicht +nun schwermütig sei oder heiter, solange es sich hervorarbeitet, weder +das eine sein kann noch das andere, denn da ist für kein eigenes +Empfinden mehr Raum, nur die Form wirkt sich, dehnt sich und glüht und +bewirkt in dem Stoff, in meinem Dasein, meinem ganzen Ich -- dies +absonderliche Gefühl von Angst -- ob ich es richtig mache --, von +Quälerei und etwas Lust, Angstlustquälerei ... absonderlich ... + +Ratskeller, las Georg, den Kopf auf die linke Schulter geneigt, in +schräger Schrift von unten nach oben jenseits eines rechteckigen, von +Kugellinden umsäumten Platzes, auf dem Türpfeiler eines Kellereingangs. +Ja, das getünchte Haus mit Säulen war vermutlich das Rathaus. Also +wanderte er zum Wagen zurück, wies den Chauffeur an, ihn nach getaner +Arbeit dort aufzusuchen, wo er Essen bekommen würde, und fand sich +gleich darauf, nach zerstreuter Bestellung von irgendetwas an einen +Kellner, wieder bei seiner Arbeit an einem runden Tisch, jetzt +schreibend auf einem Blatt aus seinem Checkbuch, weiter hastend, +zitternd im Schwung: + + Immer riesiger flammt der Tag, + Tobend, jauchzend, hingerafft, + Spaltest du mit Götterkraft + Eichenwald und Tannenschlag. + + Wirfst die Dörfer hart zur Seit, + Und die Ebne staunt und schwillt, + Wie dein Atem heiser schreit + Und du lärmst durch das Gefild. + +Worauf er unverzüglich anfing, das Ganze von vorn durchzuarbeiten, jedes +Wort aufzuheben, umzudrehn und wieder hinein zu prüfen, andre +einzuwechseln, streichend, wieder streichend, hineinklammernd, endlich +das Ganze noch einmal schreibend und nach mehrmaligem Streichen ein +drittes Mal, worauf er, zum ersten Entwurf zurückkehrend, lauter +Unwählbarkeiten fand und, erschöpft ins Leere aufschauend, nach einer +Weile bemerkte, daß Schüsseln mit Essen vor ihm standen. Er aß, aber die +Versworte, freiwillig gegeneinander weiter hadernd und sich verfitzend, +ließen nicht ab, ihn zu peinigen, er stand endlich auf, während eben der +Chauffeur hereinkam, bestellte eine Mahlzeit für ihn und trat wieder ins +Freie. + +Ein leichter Regen wehte nieder. Die Kirche war protestantisch und daher +geschlossen. Um sie herumgehend, fand er eine gebogene kleine Gasse, in +deren Hintergrund er etwas wie die Auslage eines Antiquitätenhändlers zu +entdecken glaubte und hinzuging. + +In der Tat -- es sollte etwas dergleichen sein, jedoch enthielt ein, das +Schaufenster füllendes Regal fast nur Sachen von heute. + +Ja -- fiel ihm ein -- und gesetzt, es wäre so, das einzige Empfinden +eines Dichters beim Bilden des Gedichts wäre ein solches Mischgefühl von +gequälter Lust und verzückter Qual -- was wäre die Folge für das +Gedicht, seine Farbe, die sogenannte Stimmung? Ein wahrhaft reines +Gedicht könnte, das wärs, weder die Farbe der Trauer noch der Freude +haben, sondern -- sondern? Ein Mittel zwischen beiden, oder -- mit einem +Worte: Ernst. Und das würde -- klassisch sein, weil harmonisch; das +andre, das Zwiespältige dagegen wäre romantisch, -- haben wir nicht +einmal darüber gesprochen, Benno und Sigurd? -- Ja, wo ist wohl Sigurd? + +Ältliche Stehlampen sah Georg, schlechte Gipsvasen mit herausragenden +Italienerköpfen, blindes Silberzeug in verstaubten Kästen -- dick mit +Staub überzogen voll Fingerabdrücke war alles --, ein paar Zinnteller, +Steinkrüge, die übliche Perlentasche, ein Bündel Pfeifen mit +Porzellanköpfen und schlechte Figürchen, ausgestopfte, ruppige Vögel, +Pistolen und derlei Zeug, -- und als er ins dunkle Innre spähte, ließ +sich zwischen Tischen, Schränken und Kommoden aus den achtziger und +neunziger Jahren noch eine hübsche Kirschvitrine bemerken, die +unerkennbare Dinge enthielt. + +Georg trat unter einem wimmernden Glockenlaut der Türe ein und erhielt +Muße, sich umzusehn, bis aus dem hinteren Düster weiche Schritte hörbar +wurden und aus einer niedrigen Tür eine bleiche und dunkeläugige Frau +trat, ein Tuch um den Kopf, die Hände in der Schürze trocknend. Ein +kleiner Junge, der an ihr hing, hatte das ganze Gesicht mit einem +ekelhaften roten Schorf voll gelber Eiterränder bedeckt und wurde hart +fortgejagt. + +Einen Anfall von Ekel unterdrückend, fragte Georg nach der Perltasche, +entdeckte, während die Frau dorthin ging, hinter dem Porzellangeschirr +und den Tafelgläsern der Vitrine im untersten Fach etwas Dunkelrotes, +öffnete und holte, freudig erstaunt, ein rotes Glas hervor, das ein +wahrhaftig echtes Rubinglas war, ein grader Becher mit Fuß, ohne +Verzierung, dick, hart und schwer wie Stein, nur wenig angeschrammt am +Fuß, -- ein Fund. Ja, war nicht etwa ein echtes Rubinglas das Kostbarste +von der Welt? Und wie er nun ans Licht vortrat, den Becher hochhielt und +das helle Blutrot im dunkleren, schwärzlichen aufglühte, inbrünstig, +mächtig, wie der düsterrote Blick der ewigen Lampe im schwarzen +Kircheninnern -- er atmete den Weihrauch --, hatte er sonderbarerweise +die starke Empfindung, so und nicht anders müsse Cordelias Blut sein. + +Ich nehme es ihr mit, -- oh -- ah ja! aus diesem Kelch will ich dein +süßes Blut trinken, dachte er begierig und überlegte, an den kranken +Knaben erinnert, vor sich die ärmliche und verbitterte Frau, die ihr +Kopftuch vor der Brust kreuzte, was ein Rubinglas für Cordelia wohl wert +sein dürfte. Auf seine hingeworfene Frage, wie denn ein solches Geschäft +ginge an diesem Ort, fing die Frau heftig an zu klagen, -- er hätte ja +wohl gesehn, was mit dem Jungen sei, der Vater sei seiner Wege gegangen +und nicht aufzutreiben, das Geschäft habe sie geerbt, im Sommer ginge es +ja wohl -- Altwedel wäre doch Kurort --, aber im Winter komme fast +niemand, sie verstehe auch nicht viel von den Sachen, und mehr +dergleichen, was Georg zu peinlichem Mitgefühl und der Erwägung bewog, +daß hundert oder tausend Mark für ihn dasselbe, tausend jedenfalls für +ein Rubinglas Cordelias ein Preis sei. + +Mantel und Rock aufknöpfend, um sein Checkbuch und den Füllhalter +hervorzuziehn, murmelte er etwas beschämt, er habe zwar kaum so viel bei +sich, wie er für das Glas zahlen möchte, aber sie würde ja wohl ... und +begann ein Blatt auszufüllen, was die Frau stumm abwartend geschehen +ließ. Als sie dann den Zettel in Empfang genommen und gelesen hatte, +fuhr sie los: »Ja, das wäre sowas! Sone Checks, da ist schon mancher +drauf reingefallen! Und denn gleich Prinz, nee, da bilden Sie sich bei +mir man nichts ein! Nee, mein Herr --« Sie nahm ihm das Glas aus der +Hand und stellte es hin -- »das Glas kost fuffzehn Mark, wenn Sie nich +zahlen können, denn lassen Se's ebent, denn bleibt das Glas hier.« + +»Aber -- aber mein --« Georg stand verdonnert, kümmerlich, und fing vor +Aufregung wunderlich an zu zittern, während die Frau ihm seinen Schein +in die Hand drückte. Nein, sie war gar nicht nett, die Frau, sondern sie +war gemein. -- Georg holte zitternd das Gold, das er bei sich zu tragen +pflegte, aus der Hosentasche, legte ein Stück davon neben das Glas, nahm +das an sich und ging hastig zur Tür, dieweil die Frau, die sein Gold in +der Hand wohl bemerkt hatte, sich nun auf ihren Irrtum verbiß, erst +murmelnd, dann lauter hinter ihm her schimpfte: »Wolln Se Ihre fünf +Groschen denn nich raus haben? Son Schwindel! Erst wolln se einen +beschuppen, un denn haben se'n ganzen Sack voll. Na wenn Se nich wollen +...« Die Tür fiel wimmernd zu. + +Schade! dachte Georg und erreichte, alles weitere Denken, aber nicht +dies sonderbare Zittern unterdrückend, seinen Wagen. Alles war in +Ordnung, er stieg ein und fuhr ab. + +Ach so, dachte er dann, ich bin ja auch kein Prinz! + +Und dann: Komisch! wie sie das gleich gemerkt hat! + +Aber er kam nicht los von der Szene, sah sie immer wieder von vorn, und +es fiel ihm auch ein, daß es vielleicht besser gewesen wäre, er hätte +sie nicht beschämt mit seinem Gold, sondern ganz im ersten Glauben +gelassen, indem er sie nun sah, wie sie sich zwar keine Vorwürfe machte, +wie aber ihr Gemüt noch verbitterter wurde, und der Junge --, Georg sah +ihn gegen eine Schrankecke fliegen und ... + +Mit dem Gedanken an den Becher in seiner Tasche tröstete Georg sich +langsam, der kalte Fahrtwind kühlte sein erhitztes Gesicht. Es wird mich +doch ewig verfolgen! seufzte er höhnisch. Aber Cordelia -- ihr sage ichs +heute. Es muß einmal sein. + +Sogleich sah er mit angeregter Phantasie sich im Wohnzimmer auf dem +Roßhaarsofa sitzen, sie am Fenster, wie sie gern saß, den Ellenbogen +zwischen den Blumenstöcken auf der weißen Bank. Er hörte sich: Ich +wollte dir schon immer etwas sagen, Cordelia, höre einmal zu ... Ihre +Antwort blieb undeutlich, etwas zu erfinden gelang ihm nicht gleich, -- +sie lachte wohl und sagte: Ich höre, mein Prinz. -- Ja, und nun sagte +er: Eben das ists, Cordelia, du sagst und du glaubst: Prinz, aber -- du +mußt wissen -- ich bin das gar nicht. Ich bin ... + +Wie ungläubig war ihr Gesicht! Natürlich hielt sie es für einen Scherz, +lächelte und -- aber da, auf einmal, sah er ihr Gesicht deutlich, auf +dem das Lächeln erlosch! Sie wollte das verhindern, allein -- wieder sah +ers: das Erlöschen der Freude, das Schwinden des Besitzes, den sie mit +solcher Andacht umfaßt hatte, die Armut, die Traurigkeit ... Sollte er +sie wirklich berauben dürfen, sie, die an Glück doch wohl -- was wußte +er? -- sehr arm gewesen war? + +Aus den innern Gesichten aufblickend, fand Georg die Breiten der +Viehweiden, ein nahes Gehöft, gelbe Haferstreifen und entfernte Wäldchen +sonnevergoldet unter wimmelnden Schatten des Nachmittags. Der weite +Himmel war ein leicht durchbrochenes Getümmel von Blau und weißem und +grauem Gewölk. Wie schön! der Abend würde klar sein ... + +Ach, nun wieder das! Nun will wieder Mitleid mich stören und hindern, +und schon weiß ich nicht mehr: Soll ich -- soll ich nicht? Und: wenn +ichs lasse, lasse ichs wirklich aus Gefühl für sie oder aus Furcht für +mich? + +Man müßte es auf die Gelegenheit ankommen lassen, vielmehr auf eine +Gelegenheit passen. Warum so plötzlich erschrecken? Es kam eine ernste +Stunde, ein Gespräch der bekümmerten Seelen, wo die schmerzlichen, aber +auch die schönen Tiefen des Daseins sich öffneten und zur natürlichen +Form des Lebens wurden, -- wie wog dieses dann leicht, Geständnis und +Sache selbst ging auf im großen Strome der Leiden, auf im schwesterlich +natürlichen Verstehn, und ließ ein solches Gespräch sich nicht +herbeiführen, leichter als leicht, mit ihr, der Bereitwilligsten, der so +unsäglich Wandelbaren? + +Ach, wenn ich sie nur erst habe! -- Sein Mund sank ein in den weichen +Marmor ihrer immer kühlen Brüste, seine Hand tastete nach dem Süßesten, +seine Augen ... Er riß sie krampfhaft auf, starrte durch Schleier auf +ferne Punkte von Menschen oder Wagen zwischen den Baumzeilen, hörte den +Motor donnern, setzte sich auf und schnob: Glutgefüllt und wutentbrannt! +muß es natürlich heißen, nicht lustentbrannt ... + +Und es erschienen die Türme und der dunstige Häuserberg von Altenrepen +... + + * * * * * + +Als Georg, eiskalt am ganzen Leibe, steif und zittrig dem Wagen +entstiegen, durch das Gittertor spähte, gewahrte er gleich Hesekiel; +Hesekiel mit seinem Höcker in einer wunderschönen, glänzend rot- und +schwarzgestreiften Dienerweste, der sicherlich wieder etwas Merkwürdiges +vorhatte. Er stand im gelben Kies oben auf dem Hügel vor dem Hause, +einen langen roten Wasserschlauch zwischen den Beinen, und bemühte sich, +die Betunien, die über der halbkreisförmigen kleinen Vorhalle vom Balkon +hingen, von unten zu sprengen, was sehr schwierig war, denn der +verfluchte Strahl ging immer darüber hinaus gegen die Wand und die +oberen Hälften von Glastür und Fenster, und die Blumen selber, wenn sie +getroffen wurden, warfen sich so gewaltig und wild nach oben, daß es +schrecklich anzusehn war. Georg, der mittlerweile den Hügel mit seinem +schönen, grünsamtenen Rasenbelag, mit Rosenstöcken, Gebüschgruppen und +einer prachtvollen Blutbuche zur Hälfte erstiegen hatte, blieb stehn und +rief: »Hesekiel, was machst du denn da?« + +Ach Gott, das hätte ich nun wieder nicht tun sollen, dachte er dann, +denn nun geriet Hesekiel, sein verkümmertes, spitzes und heißes Gesicht +mit der wehmütigen Mundschnirre herwendend, in abscheuliche Verwirrung. +»Ach, der Herr Doktor!« -- es war unbekannt, ob Hesekiel sich diesen +Titel ersonnen hatte oder vielleicht überhaupt nur Doktoren kannte -- +lächelte er freudig -- allein was nun? Die Spritze hinlegen, deren +Strahl sich triumphierend über ihm in die Lüfte bohrte, und zur +Begrüßung hergerannt kommen, wie's ihm gelehrt worden war? Oder den +Strahl erst abdrehn? oder zur Meldung ins Haus davonlaufen? -- Das war +zuviel für ihn, und so tat er von jedem den Anfang in wirrem +Durcheinander; tastete nach der Schraube, lief ein paar Schritte gegen +Georg vor, streckte die Hand mit der Messingtrompete gegen die Erde aus, +wollte davonlaufen, ehe sie lag, und blieb endlich zwischen allem, +geduckt, erschöpft und ratlos sich selber verlächelnd stehn. + +»Na komm, Hesekiel,« sagte Georg, dem der Strahl jetzt knatternd +entgegensprang, »leg mal die Spritze hin.« Hesekiel tats gehorsam und +erleichtert. »So ists schön! Und nun kommst du und giebst mir die Hand.« +Hesekiel kam glücklich und verklärt. »Ist die gnädige Frau denn zu +Hause?« Hesekiel nickte und deutete mit dem Daumen. »Ja, sag mal, wie +kommst du denn auf die Idee, die Blumen da oben zu sprengen?« + +»I wollt halt so gern der gnä Frau -- gnä Frau bissl Arbeit +erleichtern.« + +»Das ist brav, Hesekiel, denn man weiter!« Georg verließ den eifrigen +Bediener der Natur und ging leise, nach den Fenstern spähend, zur +Rückseite des Hauses, dessen grauer Stein und rotes Dach heiß glühte im +starken Abendlicht, dieweil er dachte: Ach, Hesekiel! du hast eine +schöne, dienende Seele im Höcker, -- kannst du mir vielleicht sagen, +warum die Frau so gemein war? Ach ja -- ach! -- du kennst nur Doktoren +und weder Prinzen noch Nichtprinzen ... + +Georg blickte zu dem breiten Schiebefenster empor, hinter dem drinnen +sein Bett stand, und siehe da, zwischen den weißen Geranien, die im +grünen Gitterwerk drunter hingen, erschien die lange Tülle einer kleinen +grünen Gießkanne mit gelben Reifen, und gleich darauf Cordelias Hand, +Stirn und die beschäftigten Augen, die nach den Blumen spähten, und -- + +»Na?« sagte Georg + +Sie warf vor Schreck die Gießkanne herunter. Dann war sie verschwunden. +Georg hörte ihre Absätze drinnen auf der Treppe und wartete glückselig, +bis sie ums Haus gelaufen kam, aber zehn Schritte vor ihm anhielt, die +Hand gegen die Hausecke stützte und ihn tief und inbrünstig anblickte. + +Wie schön sie ist! dachte er stumm in diesem Blick. Das Kleid, das sie +trug, von dunkelvioletter Seide, war auf unkenntliche Weise ihrem Körper +umgewunden; es war eine Art Empire, jedoch fast geschlossen um die Füße, +und eine ganz kurze Schleppe lag am Boden. Der schöne Busen atmete +sichtbar mit beiden Wölbungen und hob auf der bloßen Brust das goldne +Medaillon, in dem sein Bild und Haar war. + +Im nächsten Augenblick hielt er sie umschlungen, ihr Gesicht an sich +pressend, den Mund in ihrem Haar, flüsternd in flutender Erlöstheit: »Da +bin ich wieder! Ach, ich konnte nicht mehr!« + +»Ja, bist denn meinetwillen gekommen, Georg, wirklich meinetwillen?« + +»Ja doch, Cordelia, warum denn sonst?« + +»Aber -- dein Vater?« + +Sie sah ihn an durch Tränen unsäglicher Liebe und konnte nur die Lippen +bewegen. Endlich fragte sie dann nach seinem Befinden; ob er nicht Ruhe +brauche. + +»Ja, ich würde mich gern etwas hinlegen. Und -- sag mal -- hast du was +zu essen?« + +»Ich werd schaun. Eier sind da. Und Salat. I werd halt schaun.« + +Also wanderten sie umschlungen ums Haus, Cordelia verschwand in die +Küche, Georg stieg ins obere Stockwerk hinauf. -- + +Die weiße Türe öffnend, mußte er den Atem anhalten, so erschreckend +trafen ihn Glanz und Feierlichkeit, die der niedrige, kleine Raum vor +ihm auftat. + +Die tiefstehende Sonne flutete in vollem, glühendem Strom zu den +Fenstern herein; Georg konnte zwischen den lodernden Gardinen und grünen +Fuchsienstöcken -- diese waren wie aus grünem Golde gehämmert -- ihre +brennend goldene Scheibe sehn. Der Raum, von güldener Woge erfüllt, +glitzerte, funkelte und glänzte überall, die tiefe Lebendigkeit seines +Alters, seine vielgenützte Würde und den Stolz der kunstvollen Erzeugung +hier leise, hier vernehmlicher ansagend. An der rechten Wand, in den +sehr dunklen Spiegelscheiben des holländischen Kastenschranks, der bis +an die schweren Balken der weißgetünchten Decke reichte -- Messinggriffe +und Schlösser an den Schubladen blitzten wie reines Gold -- dort war +alles noch einmal, vertieft und dunkler zu sehn, geheimnisvoller: Sofa +und Sofatisch gegenüber unter den Silhouetten in glänzenden Goldrähmchen +und verblichenen Kreideporträten, von denen die dunkelblaugemusterte +Tapete fast zugedeckt war, und daneben am Fenster -- Georg wandte den +Blick vom Gespiegelten hin und folgte dann selber hinüber -- dieser +Glanz war erstaunlich! Das flüssige Feuer lief in den vergoldeten +Blätterleisten des hohen Spiegels, aus dessen Oberstück die arkadische +Landschaft bläulich schimmerte, und, ein wenig vorgeneigt in der +verschleierten Spiegelung des alten Glases wiederholte sich stiller, was +auf der kleinen, goldhellen Platte des dünnbeinigen Birkentisches davor +stand: der Abendmahlskelch, eiförmig aus dunkelblauem Glase, in silberne +Rispen gefaßt, nach oben verlaufend vom Fuß wie die langöhrig +ausgezogenen Henkel, zwischen denen der flache Deckel ruhte; dazu links +und rechts von ihm starke, dunkelgelbe Kerzen in Messingleuchtern, -- +was alles flammte in seiner Ruhe und Heiligkeit. + +Georg drehte sich um. Da überragte in seiner Ecke drüben der schmale +weiße Ofen -- stiller als alles übrige, weil vom vollen Leuchten nicht +mehr erreicht -- den Ofenschirm, dessen quadratischen Grund eine satte +Schicht von grünem Feuer überzog um die roten und blauen Flügel seiner +flatternden Papageien. + +Georg blieb auf der Sofalehne hocken, fast schwermütig gestimmt; wovon? +Von soviel Anmut, Lauterkeit und feurigem Leben? Womit habe ich das doch +verdient? fragte er sich still. + +Der Saum weißer Stifte, von dem die schwarze Roßhaarbespannung des Sofas +gehalten wurde, war ebenso vergilbt wie an den breiten Stühlen, die den +Tisch umgaben. Am kleinen Sekretär mit schräger, eingelegter Platte +zwischen den Fenstern war die Fournierung hier und da gesprungen, eine +Kante gesplittert, das Schloß war locker, ein Griff fehlte an einer der +unteren Laden. All das gehörte sich so; es waren ehrsame Narben. Hatte +Jason al Manach nicht einmal von den ererbten Dingen gesprochen? Georg +wußte die Worte nicht mehr, allein hier redeten sie ja selber ihre +gedämpfte, aber wie vernehmliche Sprache: daß sie hervorgegangen waren, +einzeln wie die Könige aus einzelner Hand, die einsam von Grund aus sie +gefertigt, liebevoll, verständnisvoll für ihr Ganzes, für unendliche +Zeiten bestimmt zu dauern; und da waren sie wie damals, gealtert, viel +genützt und unverbraucht, nur stattlicher in ihrer alten Erinnerung, +ihrem Bewahrtsein, in der schlichten Gebärde, mit der sie um sich den +Hintergrund schrieben, der zerfallen war: Menschen und Geschicke. + +Ja, -- und ich? dachte Georg. + +Glänzend mit mächtigem Antlitz von Messing in ihrem die Decke +berührenden Haupte stand die Älteste neben der weißen Tür, die +standfeste Riesin, die englische Dielenuhr, die auch die Monate zu +zeigen verstand; sie schlug langsam, wie im Geburtsjahr 1757, den selben +gemessenen Pendelschlag, auf den hinhorchend Georg für lange Sekunden +sich verlor. Sie tickt den Schritt der Sekunde, sagte er sich dann; das +macht es so geruhig und wohltuend. Und wie vornehm, wie zurückhaltend +war das gedämpfte Rücken im Gehäus! Ja sie war die Älteste. + +Georg lächelte bitter. -- Eigentlich sollte ja ich es sein. Ich, der +sich einmal einbildete, mit Friedrich Barbarossa vor Akkon gelegen, bei +Benevent für deutsche Sehnsucht gefochten und vielleicht das Leben +verloren zu haben ... Ihm zogen Georges Verse aus den Romfahrern durch +den Sinn: + +>Freut euch, daß nie euch fremdes Land geworden ... + + ... Wie einst die Ahnen, denen dürftig schien + Die kalte Treue vor dem Fürstenstuhle: + Wunder der Welt und Sänger Konradin! + + Durch euer Sehnen nehmt ihr ewig teil + An froher Flucht der silbernen Galeeren, + Und selig zitternd werfet ihr das Seil + Vor Königshallen an den Azurmeeren.< + +Durch euer Sehnen ... Georg zitterte, er glühte von der triumphierenden +Schönheit der Strophen. Durch euer Sehnen nehmt ihr ewig teil ... + +Ja, sein Teil war das. Sehnen -- nach was? Nach oben doch, nach -- nach +sich selber zu immer höherer Geburt, besser zu werden, reiner zu werden, +edler, tüchtiger, wissender ... Was wollte er denn auf einem Thron? + +Bin ich nicht glücklich hier? Hilfst du mir nicht, süße, teure Seele, +mein Auge immer wieder nach innen zu lenken? Wohnt nicht vielleicht doch +ein Gott dort innen und pocht ein ewiges Werk, pocht bei mir und wirkt +bei dir in immer strahlenderen Farben das Gewebe unsäglicher Liebe? Habe +ich nicht genug, ernst zu sein, unruhig zu sein im unaufhörlichen +Verlangen nach Besserem? Wenn es denn schon keinen Gott giebt, das Ahnen +des Göttlichen, den Zwang des Göttlichen, den Hauch von Jenseits in der +Brust? Habe -- ja, habe ich nicht etwas Neues für mich allein, dachte er +erleichtert in der Erinnerung an seine eigenen Verse, Neues -- nein, +sondern Uraltes, Anfängliches, älter und edler und reicher sogar an +Ahnen, abertausend Ahnen in unablässig geistiger Beugung? Und mag mein +eigenes Handeln als Bürgschaft solchen Ahnentums noch so bescheiden +sein: der alte Geist hat doch Leben in mir und Bewußtsein. -- Da stieg +strahlende Heerschar vor seinen sinkenden Augen auf, Heroe gereiht an +Heroe, Erzengel an Erzengel, unübersehbar, von George hinab zu Dante, zu +Pindar, zu Homer, und wieder herauf im gewaltigen Schwung über +unsterbliche Häupterschar zu Hölderlin, zu Novalis, zu George. + +Georg legte nicht ohne Demut in der gedämpften Bewegung seinen Mantel +ab, denn es trieb ihn, bei aller Abgespanntheit, seine Verse jetzt nicht +unvollkommen zu lassen. Dabei schlug ein schwerer Gegenstand in einer +Tasche gegen die Stuhllehne, er faßte, im Innern schon murmelnd und sich +erinnernd: Hügel wandern blau im Rauch, -- danach und holte +geistesabwesend das Rubinglas hervor, lächelte flüchtig und wußte vor +geistiger Abwesenheit, gleichzeitig nach Schreibpapier ausblickend, +längere Zeit nicht, wohin er damit sollte. Endlich hatte er die Platte +des Sekretärs herunter und auf die ausgezogenen Leisten gelegt, stellte +das Glas nun ins Innere vor die kleinen Laden, öffnete Cordelias +Schreibmappe, fand zum Glück einen Briefbogen, holte seine Niederschrift +hervor und begann, das Ganze sorgfältig durchprüfend noch einmal zu +bilden. Im Schreiben der letzten Zeile hörte er hinter sich die Tür gehn +und sah im zerstreuten Sichwenden Cordelia, die ganz erschrocken schien, +ihn nicht schlafend zu sehn. + +»Komm nur, ich lese dir was vor«, sagte er. -- »Wie du nur aussiehst!« +erwiderte sie näher kommend, »ganz überwacht!« + +»Schadt nichts, setz dich nur!« Sie blieb stehn, an den Kastenschrank +zurücktretend, und er las, kräftig Takte herausfördernd und Reime: + + »An den Schnellzug + + Rase durch das Morgenland, + Durch den weißen Nebeldampf, + Eisenhengst im Radgestampf, + Glutgefüllt und wutentbrannt. + + Stürme an den Wäldern hin, + Donnre übers Brückenjoch, + Eisenroß, das Morgen roch, + Mitten schon im Morgen drin. + + Feld und Wiesen golden lohn, + Hügel opfern blau im Rauch, + Silberblitzend winkt dir schon + Hagedorn und Holderstrauch. + + Immer voller flammt der Tag, + Tobend, wiehernd, fortgerafft, + Spaltest du mit Riesenkraft + Eichenhain und Fichtenschlag. + + Schleuderst Dörfer hart beiseit, + Wo die Ebne staunend schwillt: + Wie dein Atem eisern schreit, + Wie du rasselst im Gefild.« + +»Das ist ja großartig, Georg!« Beschämt ließ er sie ihm um den Hals +fallen. »Wirklich, Georg, das gefällt mir! Das ist wieder gesund und +beflügelt, nicht so wie die letzten, die warn auch schön, aber so wie +kranke Blumen, weißt. Ja, nun mußt du schlafen, pascholl! -- Aber was +ist denn das hier?« -- Sie sah das Glas. + +»Ach, dein Glas, Cordelia, da hab ichs hingestellt! Hier, das hab ich +dir mitgebracht.« + +Still, während er sich entzog und zwischen Stuhl und Tisch hindurch sich +ins Sofa zwängte, nahm sie das Glas an, trat zum Fenster und hielt es +empor, so daß es augenblicks aufloderte wie ein Juwel, blutrot. + +»Ach, Georg ist das schön!« + +»Dein Herz, Cordelia,« sagte er, plötzlich taumelnd von Schlafverlangen, +»dein Herz -- mußt ich denken ...« + +Er hörte nicht mehr, was sie sagte. Noch vernahm er Schritte, leise, +dann das Niederrollen der Rulos, Schritte, das leise Zudrücken einer +Tür. Die Augen noch einmal öffnend, sah er, daß es dunkler im Zimmer +war, goldbraune Luft, und daß vor ihm das rote Glas stand. Eine +zärtliche Wallung verging, kaum sich regend, im schweren Rieseln der +Umnachtung. + + + Sechstes Kapitel: Juli + + + Requiem + +Renate, an einem offenen Flurfenster im ersten Stockwerk des Nordflügels +von Helenenruh stehend, als es eben Nacht geworden war, hörte Magdas +singende Stimme, die im Klaviersaal die Gruppe aus dem Tartarus begann. +Ein Fenster war dort offen und matt erleuchtet. Renates Augen ruhten +halbgeschlossen im ungewissen Dunkel, das leise vom fallenden Regen +rauschte und sich zu bewegen schien. Ein Tropfen spritzte hier und da +herein, ihre Hand treffend, ihre Stirn; es war kühl. Am Himmel oben über +den beweglichen, finsteren Massen der Baumwipfel war ein wenig Licht +hinter gelblichem, dahinflüchtendem Gewölk. Bleich gegenüber schimmerte +die Wand des Südflügels. Ohne hinzusehn konnte sie in dem erhellten +Saalfenster zur Linken den Lichtschein der unsichtbaren Lampe gewahren, +die in der Mitte auf einem Tisch stehen mußte, und, schräg durch den +Raum hin, die hohe weiße Mitteltür samt ihrem flachen Giebeldreieck und +dem fast schwarzen Porträt im Goldrahmen darüber, dicht unter der +Zimmerdecke. Zu sehn war niemand. + +Die Musik des Harmoniums kam sanft und wehend, -- schön, klar und +kräftig kamen die dunklen Töne der singenden Stimme durch den Regenfall. +Ein heftiges Aufschaudern der windgetroffenen Baumkronen überrauschte +jetzt alles, es ward still, leiser der Gesang, in einer Dachrenne +plätscherte hörbar die Regenflut, es klapperte, -- oder wars auf der +Terrasse? -- Da stürzte mit mächtigem Aufbruch, ja wie ein großes, +schwarzes Panthertier stürzte die große, tiefe Stimme mit »Ewigkeit! +Ewigkeit! Bricht die Sense des Saturns entzwei!« in das Finstre, warf +sich durch den Nachtstrom empor, triumphierte, senkte sich, stieß ein +zweites Mal siegreich vor und schwand im Allgemeinen der Musik, +untertauchend wie ein Schwan, und in den verworrenen Stimmen der +Regennacht. + +Renate bebte leise, frierend von Nachtkühle und dem Gesang. Lauter toste +der Regen. Oh dies gewaltig gebliebene Herz in der singenden Brust! Aber +oh, wie waren die Toten einsam und ganz im Freien, ausgesetzt aller +windigen Geschäftigkeit der Nacht und der wimmelnden Erde! -- Da sah sie +den Katafalk der Herzogin mitten in der Nacht stehn, schwarz, die großen +Kandelaber, flatternd im Winde Flöre und Kerzen, das große, +starkriechende Gepränge der Blumen, Schleifen, Palmwedel, umher die +Schauer gedrängter Menschen, und inmitten das seltsam kleine, kaum +wahrnehmbare tote Antlitz der aufgebahrten Gestalt, in weißen Kissen, +gerader und viel steifer, als sonst ein Mensch liegt. Daneben war der +Rücken des Herzogs, gebeugt, sein Hinterkopf, der kein Auge von der +Schläferin wandte. + +Aber dies verschwand, und im lichten Morgenkleide kam die Herzogin zu +einer Tür herein, zu ihr, die an einem Fenster stand, einen Morgengruß +hinnickend, und setzte sich an den Frühstückstisch. Sie sagte mit +leichter Stimme etwas, aber Renate konnte es nun nicht mehr hören, +besann sich vergeblich auf Worte, fühlte, daß sie traurig war und das +schreckliche Entgleiten eines Toten, der uns nicht sehr nahe stand, ins +Ungewisse. Da war das Gesicht des Herzogs, wie es langsam aus dem +Wagenschlag kam, die heißen Augen, die herumfuhren, zu ihr empor, und +sie wollte die Stufen hinunter; sein ganzes Gesicht war gesträubt von +Bart, dann kamen unten die Stöcke zum Vorschein, er zwängte sich heraus, +stand, und an Renate vorüber eilte Magdas schwarzgekleidete Gestalt zu +ihm, und dann schien etwas ihn zu durchbrausen, und er hing über ... + +Wollte Magda nicht wieder anfangen? Das Harmonium war sehr gedämpft +hörbar, lange Zeit. Renate setzte sich auf die Fensterbank, den Rücken +gegen den Rahmen gelehnt, vom Schlosse weg ins Dunkel der Parkwiese +blickend. Gleich darauf ward es am Ende des Flurs hell; die +Wendeltreppe, aus der Tiefe beleuchtet, ward weißgetüncht sichtbar, und +von unten heraufsteigend erschien ein Diener in Frack und Kniehosen; er +griff nach der Wand, die Lampe unter der Decke glühte hell auf, kam auf +sie zu und bat sie, in den Saal zu kommen. Sie fragte, ob auch die +Fürstin Schwester dort sei, und er bejahte. + +Wenig später stand Renate vor der Saaltür und hörte von drinnen das +Harmonium im sachten Vorspiel zu >Du bist die Ruh<. Sie zauderte, +wartete dann einen Augenblick ab, wo der Gesang schwoll, öffnete +behutsam und trat ein. An der Tür blieb sie stehn. + +Auf dem ovalen Tisch in der Saalmitte stand eine Petroleumlampe von +glänzendem Messing mit geradem, grünem Schirm. Aha, die selbe Lampe, +welche die alte Fürstin stets auf Reisen mit sich zu führen pflegte, +ergrimmt auf das elektrische Licht. Da saß sie, rechts am Tisch, und +strickte, sah nicht auf, denn sie zählte gerade, die Maschen mit dem +linken Daumennagel zusammenschiebend; das in Falten hängende Kinn -- +Festons hatte Georg gesagt, und einen Augenblick kam Renate sein Gesicht +dazwischen, verdunkelt von der schwarzen Kleidung und verlegen, weil er +gescherzt hatte mitten in seiner Trauer -- gegen die Brust gedrückt, sah +sie von oben schräg auf ihre Hände; eine kleine eiserne Brille hing ganz +vorn auf der Nasenspitze wie ein windiges Geländer. Diese sparsame Alte +trug eine gestrickte schwarze Mantille um die Schultern, aber die Hände, +die aus schwarzen Pulswärmern kamen, waren über und über beladen mit +funkelnden Ringen. Jetzt sah sie gegen Renate auf, dunkeläugig, rückte +an ihrer Brille, musterte sie scharf, fuhr mit flacher Nadel über die +aufgesträubten Blätter eines vor ihr liegenden Buches -- sie dehnten +sich gleich wieder empor --, blickte hinein, blickte wieder auf und +verneigte sich mit dem Oberkörper, freundlich lächelnd und nickend, +während Renate zu Boden sank. Dann hielt sie ihr Strickzeug weit von +sich ab, fuhr mit gewaltigem Stoß der linken Nadel hinein und rasselte +darauflos, nicht ohne schräg von oben gegen die emporstehende Buchseite +zu blicken. -- Renate lächelte in sich hinein, denn da die Fürstin außer +ihren beiden Beschäftigungen auch wohl noch auf den Gesang hörte, so +schien ihr dies eine gewinnsüchtige, aber geschickte Alte. + +Links am Tisch sah Renate nun den breiten roten Rücken eines Sessels mit +vergoldeter Umrahmung auf ganz kurzen Beinen. Darüber war der Hinterkopf +des Herzogs, wie ein Strudel: eine tonsurhafte kahle Stelle mitten im +Wirbel des großen, runden Haarschädels im Schatten der Lampe. Renates +Eintreten hatte er scheinbar nicht gehört. + +Und da rechts in der Ecke, halb im weißen Vorhang des offenen Fensters, +war noch etwas Lebendiges, nämlich ein kleiner Greis mit glattem, +rosigem Gesicht, aus dem zwei freundliche kleine Augen Renate unbeirrt +anstarrten, während ihm ein rosenroter Papagei über die Hände im Schoß +an der Weste hinaufkletterte, sehr mühselig, mit Schnabel und Krallen +sich abwechselnd einhakend und festkrallend. + +Daneben war die dunkle Türöffnung zu den Zimmern der Toten. Stand sie +vielleicht darin, auch zuhörend, die Augen im sanften Licht, +erleichtert? -- Aber Magda blickte vom Harmonium herüber, nickte und +lächelte während des Zwischenspiels. Renate lehnte sich gegen die Tür, +folgte den langsamen und kunstlosen Griffen und Veränderungen der +schmalen Hände auf der Klaviatur, selber fern in unbewußten Gedanken, +kaum hörend, daß jemand sang. Dann war es still im Raum. + +Der kleine Greis, augenscheinlich der Mann der Fürstin, klopfte seinem +Papagei auf den Kopf und erhob sich. Die Fürstin sah auf, räusperte sich +stark zum Herzog hinüber, zog, da er sich nicht bewegte, eine Nadel aus +dem Strumpf, zeigte damit auf Renate und sagte: »Nun sie!« + +Magda erhob sich. Jetzt bewegte sich der Kopf des Herzogs, einen +Augenblick wurden seine Stirn und Augen über der Sesselwand sichtbar, +dann stand er schwer auf und sagte heiser: »Guten Abend.« Und zu den +Andern: »Bitte, dies ist Fräulein von Montfort.« + +Der kleine Fürst kam zierlich und ein wenig schlotternd im Gehrock +herbei, den Papagei an die Brust gedrückt, und verneigte sich sehr tief. + +»Setz dich nur!« schrie die Fürstin. Er machte mit der rechten Hand eine +Muschel am Ohr und hielt es ihr hin, aber sie sah es nicht, und während +er sich, Renate zulächelnd und kopfschüttelnd, zurückzog, sagte sie zum +Herzog, kaltblütig auf französisch, dies wäre ein sublimer Mensch, +worauf sie in derselben Sprache zu Renate fortfuhr, sie habe das auf +französisch gesagt, um die Schmeichelei nicht so geradezu +herauszuschmettern. Freundlich und auf deutsch bat sie dann etwas zu +spielen. »Aber nichts Modernes!« sagte sie. + +Renate setzte sich, aber nun fiel ihr nicht das geringste ein. Endlich +fand sie die kleine Ballettmusik zu den Gluckschen Gefilden der Seligen +und fing damit an, gleich darauf sich erschreckt fragend, ob wohl außer +Magda jemand den unpassenden Titel der Musik kannte; die war freilich +sanft und lieblich genug. Als sie geendet hatte, sagte die Fürstin, das +wäre Kleinkindermusik. So begann sie denn das Orgelkonzert von +Friedemann Bach, indem sie dachte: ich will dirs heimzahlen. Bald aber +erschrak sie heftiger, denn sie fühlte plötzlich eine Hand auf ihrer +Schulter. Die Fürstin neben sich gewahrend, wollte sie schon die Hände +von den Tasten nehmen, weil aber weiter nichts erfolgte, spielte sie +fort, die Fürstin blieb so neben ihr, und nun jagte sie die achttaktige +Fuge in ihr großes Rasen hinein, daß es in den Fugen des Instrumentes +krachte. Am Ende des ersten Satzes sagte die Fürstin nur: »Weiter! +Zweiten Satz!« Sie schien mächtig aufgeregt, und so ging auch dies +endlos scheinende Gigantengehämmer des nächsten Satzes ohrbetäubend +vorüber, ohne daß die alte Dame ihre Stellung verändert hätte. Am Ende +atmete sie gewaltig auf, packte Renates Gesicht, küßte sie unter +plötzlich strömenden Tränen und rief: »Heldenhaft! Heldenhaft!« Dann +erklärte sie, daß sie gern so neben einem Spielenden stünde; das ginge +ihr dann gewaltig durch Mark und Bein. -- Als Renate sich im Sessel +umdrehte, blickte sie gerade gegen die geröteten Augen des Herzogs, die +sie starr anschauten. Seine Schwester trocknete sich die Augen und das +Kinn, über das ihr vor Eifer ein wenig Mundfeuchte heruntergelaufen war. +Dann riß sie ihren großen Pompadur auf, fuhr tief hinein und brachte +einen Kake zum Vorschein; den schenkte sie Renate; er war nicht mehr +ganz heil. Es war eine kriegrische alte Frau. + +Am Tische sitzend nahm sie ihren Strumpf wieder auf, setzte die Brille +auf, kratzte sich dann nachdenklich mit einer Nadel den Kopf und sagte: + +»Weißt du, Woldemar, an wen dies Spiel mich erinnert? An meinen +Kardinal. Kardinal Massi. Er war nur ein dürrer Mensch,« erklärte sie +Renate, »aber er hatte allmächtige Pranken und eine höllische Seele. Er +war ein gottloser alter Heide, aber vor jeder Musik, die er machte, +sagte er die Worte: >Im Namen des allbarmherzigen Gottes ...<« + +Der Herzog lächelte und meinte, so fingen die Koransuren an. + +»Die was?« fragte seine Schwester. + +»Die Gebete im Türkenkoran.« + +»Er wird sich den Teufel um Suren kümmern, wenn ihm einer auf goldenen +Wolken zufliegt, der Herrgott«, versetzte sie stramm, nahm ihr Buch vor +und fing trotzig zu lesen an. + +Es war nun still. Renate sah zu Magda empor, die hinter ihr an der Wand +lehnte; sie blickte mit weit offenen Augen ins Leere. Renate sah die +Gestalt der Toten in diesem Blick und wandte ihr Gesicht vorsichtig dem +Herzog zu. Der saß tief vornübergebeugt im Stuhl. Jetzt löste sich fern +drüben zwischen den Klavieren eine Gestalt aus dem Dunkel, Dr. Birnbaum, +der auf den Zehen herkam, eine dicke Zigarre vorsichtig in der +ausgestreckten Hand, von der er ein großes weißes Aschenstück in eine +Bronzeschale auf dem Tisch legte. Er entfernte sich ebenso leise und +ohne die Augen zu erheben. Ganz hinten auf einem Stuhl an der Wand +zwischen zwei Klavieren setzte er sich nieder. Aber dem Herzog mußte der +Vorgang doch bewußt geworden sein, denn nun richtete er sich auf, zog +ein Zigarrenetui aus der Brusttasche, nahm eine heraus, die Augen mit +ungewissem Blick gegen die Lampe gerichtet, biß die Spitze ab, nahm sie +von den Lippen, legte sie auf die Aschenschale, ergriff die +Streichhölzer und schien dann all dies zu vergessen. Er bewegte sich +nicht mehr. Endlich kam Magda zum Tisch vor, nahm die Schachtel aus +seiner Hand, strich ein Hölzchen an und hielt es ihm hin. Aufblickend +nahm er es aus ihren Fingern, nickte sehr eifrig dankend, rauchte an und +sagte: »Ihr macht eine schöne Musik ...« Dann blies er das Streichholz +aus und legte es hin. + +Indem sagte eine ganz ferne, lippenlose, vernöckerte Stimme, leise +warnend: »Heinrich, der Wagen bricht!« -- + +Magda, der Herzog, Renate, alle Drei sahen nach dem Papagei in der Ecke, +der sorglos vom Fußboden am Vorhang hinaufstieg. Der Herzog blies eine +starke Qualmwolke, lehnte sich grade zurück und sagte mit Gleichmut vor +sich hin: »Nein, Herr, der Wagen nicht!« Und schwieg. Die Fürstin hatte +nicht aufgesehn. + +Da erst fühlte Renate die Beängstigung des Raumes und der Stille. Die +Tote war überall zugegen; jede Bewegung bog um sie aus, jedes Wort hielt +sich vor ihr zurück, jeder Blick glitt erst von ihr ab, ehe er zu +jemandem hinging. Oh, gegenwärtiger war sie nun als jemals, da sie ja +kaum sichtbar gewesen war am langen Tag; oder war es gerade dies, daß +Alle, die sie gekannt hatten, immer nur eine Abwesende in ihr besaßen? +Und wenn sie jetzt erschiene, -- würden sie erschrecken? Sie war doch +immer so selten gekommen! -- Dumpf polternd fiel der Papagei zu Boden, +der Vorhang bauschte sich, hörbar war der Regen, und Renate zerbrach +sich den Kopf um etwas, das sie sagen könnte, aber die unsichtbare tote +Seele hatte auf alle Dinge umher die Hand gelegt und Schweigen geboten. +Dazu quälte es Renate, daß sie sich inständig mit dem Herzog +beschäftigen mußte, ohne im geringsten wissen zu können, welcherlei Art +das war, das in ihm vorging, und so folgte sie stumm und wie gebannt den +Bewegungen seiner Schwester, die jetzt ihr Buch zuklappte, die Brille +abnahm, ins Futteral steckte, dann Brille und Buch in ihren Pompadur, +und aufstand. Gleichzeitig erhob sich ihr Mann in der Ecke. Sie ging um +den Tisch, blieb vor ihrem Bruder stehn, der in die Lampe sah, und +fragte ihn in versöhnlichem Ton und schonend: »Glaubst du vielleicht ans +Jenseits, Woldemar?« + +Er blickte sie kurz an, sah wieder fort, schien lange zu zaudern mit der +Antwort und sagte endlich: »Ich weiß nicht ...« + +»Nein, Woldemar,« sagte sie entschieden, »nein, das verstehe ich nicht. +Denn erstens wirst du sehn, daß es unrecht ist, später, denn dann hast +du sie fortgeschickt, nach da oben hin --« Sie trat eilig an den Tisch, +strich mit beiden Händen die Falten der Decke glatt und fuhr fort: »-- +und dann wirst du sehn, wie schrecklich es ist, wenn ihre Seele in allem +abstirbt, was sie hier unten hatte, und auch in dir. Zweitens aber --« +Sie, klein und zierlich, kreuzte die Arme unter ihrer Mantille und +sprach über die Lampe hinweg zu Renate hinüber -- »-- zweitens sind wir +allerdings von Natur ungenügsam, und sollens auch sein; das mit dem +Jenseits aber, das sollten wir doch wohl den Armen lassen. Es sind schon +so viel, daß das ganze Jenseits davon voll wird. Sollen sie gar nichts +für sich allein haben?« + +Der Herzog sah zu ihr auf, aber Renate konnte sein Gesicht nicht sehn. +Nach einer Weile fuhr die Fürstin fort, das Gesicht wieder auf die Lampe +senkend, und als rede sie mit sich selber: »Mehr als dreitausend Mark im +Jahr für sich haben und dann noch an ein Jenseits glauben, -- das ist +ruchlos.« + +»Sie leben«, unterbrach der Herzog mit rauher Stimme, »auch mit +dreitausend Mark wie in einem irdenen Topf.« + +»Die meine ich nicht,« versetzte sie fest, »du weißt wohl, wie ich es +meine. Ihr habt,« sprach sie nun leiser fort, »ihr habt eine Seele, mit +der ihr die ganze Erde bedecken könnt; ihr habt eine Phantasie, mit der +ihr die ganze Welt mit Göttern, Christussen, Heiligen und Helden +bevölkern könnt; ihr habt eine Liebe, die euch das Fernste so nah machen +kann wie Kleid und Haar, -- was habt ihr nicht? Und ihr wollt doch noch +ein Jenseits, damit es gar niemals aufhört? Seid froh, wenn ihr endlich +schlafen könnt.« + +»Du warst immer eine harte Frau«, sagte der Herzog. + +»Ich dachte, du wolltest sagen, eine harte alte Frau,« erwiderte sie +nicht ungütig, »aber das würde nicht gestimmt haben, wenn ich auch +zwanzig Jahre älter bin als du.« + +»Zwanzig Jahre«, sagte der Herzog ruhig, »ist sie da im Dunkeln auf +ihrem Teppichstreifen hin und her gegangen, und du sagst: >daß es nur +niemals aufhört<.« + +Renate, die das selbe gedacht hatte, sah auf einmal Magdas Augen, die +noch am Tische stand, die Hände auf der Platte, sehr dunkel im +erbleichten Gesicht auf sich gerichtet. Sie schien etwas sagen zu +wollen, die Fürstin ebenfalls, aber dann sahen Beide sich an und +schwiegen. Dann kam etwas Weinerliches in die verwelkten Züge der alten +Frau, sie machte ein paar heftige Kaubewegungen, nickte irgendwohin und +sagte: »Also, gute Nacht!« -- Ihr Mann folgte ihr nach tiefer Verbeugung +vor Renate mit leicht verwirrtem Gesicht hinaus. + +Jetzt fegten die Sommerstürme durch den Park hin, warfen sich gegen das +Haus und schütteten Regen, daß es rauschte. Die Läden krachten und +klapperten, am offenen Fenster wehte der Vorhang, Magda ging hin und +schloß die Flügel. Der Herzog warf sich plötzlich im Stuhl herum und +fragte hastig: »Sie bleiben doch noch?« + +Renate nickte erregt und hülflos, fragte sich, ob sie noch spielen +sollte, wandte sich dann zu Magda hinüber, aber die war nicht mehr am +Fenster. Noch zauderte Renate, erhob sich dann aber leise, schritt bis +zur Türöffnung und ging dann, da sie fern einen leisen Lichtschein +bemerkte, durch die dunklen Zimmer Magda nach. + +In dem großen, düstern Gemach saß Magda am kleinen Rokokoschreibtisch +der Herzogin bei einem Licht vor den matt glänzenden +Goldbronzebeschlägen der vielen kleinen Schubkästen des Aufsatzes, unter +dem Bilde des Herzogs, die Unterarme auf der Tischplatte. Renate legte, +zu ihr tretend, die Hand auf ihre Schulter, und sie sagte: + +»Ich kann nicht mehr; ich möchte zu Bett gehn. Laß ihn noch nicht +allein. Starke Männer wie er sind so hülflos. Es wäre gut, wenn er +weinen könnte. Was schenkst du mir vorm Schlafengehn?« fragte sie, zu +ihr aufblickend. + +Sie schwiegen Beide, Beide an die Genfer Zeit denkend, wo Renate Magda +allabendlich einen Spruch schenken mußte, und Renate schauderte vorm +Schwinden der Zeit. Lange fiel ihr nichts ein, doch dann kamen die Worte +Hölderlins zum Vorschein, die sie leise über Magdas Scheitel vor sich +nieder sagte: + + »Gleich dem Gewölke dort geh ich dahin, und du + Ruhst und glänzest in deiner + Schöne wieder, du süßes Licht.« + +Als sie zusammen in den Saal zurückkehrten, stand der Doktor Birnbaum +neben dem Herzog, an seiner Zigarre wickelnd, den Kopf gesenkt; der +Herzog hielt den seinen in der linken Hand, die er auf das Knie gestützt +hatte. Plötzlich machte der Doktor einen kleinen Ruck von Verbeugung und +schlich leise hinaus. Magda hatte sich von Renate losgelöst, stand einen +Augenblick frei im Raum, schien zu schwanken, aber dann ließ sie die +Hände fallen und ging eilig zur Tür und verschwand. Renate blieb stehn, +schaudernd vor Ratlosigkeit. Der Sturm wühlte heftiger um das Gebäude; +am ganzen Haus schienen klappernde Dinge locker zu sein, die sich +losreißen wollten. Auf einmal schlug irgendwo in der Tiefe eine ferne +Tür laut hallend zu. Der Herzog ließ die Hand sinken, richtete sich auf +und sah Renate in seiner Nähe. Augenblicks mußte er lächeln, und sie sah +deutlich den Ausdruck eines Menschen, der leidet und dem ein Andrer eine +schöne Sache hingeschoben hat, über die er sich freuen muß, -- aber dies +erlosch, er senkte langsam den Kopf und sagte, scheinbar aus früheren +Gedanken und sehr verzweifelt: »Wissen Sie denn vielleicht einen +Spruch?« -- Sie erschrak. + +Aber sie dachte nicht weiter, suchte umher, aber nun war sie durch die +Verse vorhin an Hölderlin gefesselt, ihr fiel ein: >Wie so selig doch +auch mitten im Leide mir ist<, und das sinnlose Wort ließ sich lange +nicht abschütteln, bis sie endlich wieder jenes erste erhaschen konnte, +und im dunklen Gefühl, daß es irgendeinen Sinn habe, sagte sie leise das +Ganze auf: + + »Heilig Wesen! gestört hab ich die goldene + Götterruhe dir oft, und der geheimeren + Tieferen Schmerzen des Lebens + Hast du manche gelernt von mir. + + O vergiß es, vergieb! gleich dem Gewölke dort + Vor dem friedlichen Mond, geh ich dahin, und du + Ruhst und glänzest in deiner + Schöne wieder, du süßes Licht!« + +Sie hatte nach der Lampe gesehen, solange sie sprach, und nun, ohne erst +mit Augen zu fragen, wußte sie, daß sie zu ihm hinzugehn hatte, aber +jetzt war es der Erasmus, dem sie die Hand auf die Schulter legte. +Während vor ihren verdunkelten Augen die Wände der Kapelle sichtbar +wurden, die Pfeifen der Orgel, die Fensters, hörte sie das aufsteigende +Schluchzen in der Brust des Mannes, das er noch bezwingen wollte, dann +fühlte sie ihre linke, herabhängende Hand heftig ergriffen, und diese an +seine Schläfe pressend, daß es sie schmerzte, weinte er, und sie hielt +still, bis er genug hatte. Einmal, wie ein Knabe, der glaubt, sich +entschuldigen zu müssen, brachte er hervor, ungeschickt und kläglich: +»Sie war doch nie da, und nun ist sie ganz fort.« Renate biß die Zähne +zusammen; langsam hörte er auf. Um ihn ja nicht zu beschämen, ging sie +eilfertig hinaus. + +In ihrem Zimmer saß Renate lange auf einem Stuhl, biß ins Taschentuch +und dachte, es sei nicht anders, und sie müsse dem Erasmus nun +schreiben, daß er sie haben könne. Sie fühlte mit furchtbarem Reiz den +Zwang, irgend etwas zu tun, als sei da ein Strom des Leidens, über den +ein einzig Mal und in diesem Augenblick der Damm einer Tat geworfen +werden müsse, und wenns eine Untat war. Der Erasmus hatte niemand, und +ihm stand sie doch nah, und der reiche Mann hier, der Herzog, der hatte +gleich jemanden bei der Hand. Ihr quoll das Herz von Elend, die Zunge +ward ihr bitter im Mund, sie sprang auf, lief zur Tür, auf den dunklen +Flur und an ein Fenster. Aber es war kein Licht mehr im Saal. Im Dunkel +gesträubte Gestalten von Bäumen schüttelten sich, wankten, schlugen mit +Ästen; schwer goß der Regen, und die Dachpfannen lärmten. Einmal, dachte +Renate sinnlos, sind wir ja alle tot. -- Als aber jetzt ein +Geisterscheinen durch die Nacht ging, hielt sie es für die abgeschiedene +Seele, die in Sturm und Nächtelärm auch noch nicht wußte wohin, +herumwehend, nach Seufzern der Lebenden haschend und langsam, langsam +sich verlierend in das Allgemeine der dämmrigen Welt. + +Sie trat zurück vom Fenster, ging in ihr Zimmer, entkleidete sich müde, +legte sich und verlor in Bälde Sinne und Herz in dem öden Dämmerland der +zerfließenden Träume. + + + Sommer + +Renate saß auf dem Rand des Deiches im Schatten des hinter ihr stehenden +Sonnenschirmes, ließ die Füße nach unten hängen, hielt die Hände über +Buch, Briefblock und Bleistift im Schoß gefaltet und betrachtete die +hellblaue, sonnenglitzernde Wasserfläche vor ihr mit tiefem Behagen. Als +sie sich satt gesehen zu haben glaubte, legte sie das Buch neben sich +ins Gras, klappte den Löschblattdeckel des Briefblocks um, setzte die +Feder an und schrieb: + +»Lieber Josef!« + +An meinem Geburtstage kam ich diesmal leider nicht --, wollte sie +fortfahren, allein das war nicht möglich. Es gab nichts zu schreiben. +Sie wollte sich besinnen, weshalb das so war, fand aber keinen Grund, +worauf sie das Blatt lostrennte, es erst zusammenfalten wollte, dann +aber wie es war aus der Hand fliegen ließ. Es stolperte mühselig, vom +Luftzug unbeholfen gestützt, die grüne Deichwand hinunter bis unten, wo +es groß und weiß haften blieb. Wenn ich nun wüßte, ob Flut oder Ebbe +ist, dachte Renate geringschätzig, könnte ich ja noch warten, bis es in +See sticht. Ein schönes weißes Blatt mit Wasserlinien und Lieber Josef! +darauf dürfte genügen. Sie wartete wirklich ein Weilchen, sah eine, zwei +Wellenzungen -- träge, als ob es die Mühe nicht lohnte, nach dem Blatt +emporlecken, dann hatte sie genug, sah auf das neue Blatt auf ihren +Knien, setzte wieder an und schrieb in einem Zuge: + +»Ach, Georges ... + +»Ein ganz kleiner Wind möchte gar zu gern den unteren Rand des Blattes +hochheben, auf dem ich schreibe, immer wieder versucht ers, seine +unsichtbare, kleine weiche Hand drunter zu schieben, bis ich ihm einen +Klaps gebe, dann ist er für Augenblicke still. Auf dem Papier liegt +Schatten, und links unter mir liegt ein unförmliches Ungetüm von +Schatten die Grasböschung hinunter, das bin ich mit dem hinter mir +stehenden Sonnenschirm; rundum aber ist alles Licht, schwellendes, +singendes, funkelndes, flimmerndes, tanzendes Sommerlicht, aber was mir +im Ohre, im Blute rauscht, leise rauscht, anschlagend immerfort, immer +wieder, ununterbrochen, das ist die See, die See dicht mir zu Füßen am +Deich, auf dem ich im Grase sitze, die See, die, wie mir scheint, in die +höchste Flut gestiegen ist, die beim Landwind nicht brandet, sondern nur +anschlägt, immer wieder, ein kleiner Schlag, und wieder -- ein leichter +Schlag, und so fernhin zur Linken, und fernhin zur Rechten am Ufer die +leise Bewegung des weißen Bandes, das zurückgezogen wird und wieder +angeworfen, so leicht, so leicht ... Aber wenn ich die Augen hebe, liegt +sie still und gewaltig da, nicht eben unermeßlich, der Horizont ist ganz +nah, es ist nur ein kurzes Stück Wasser, das ich sehe, aber es ist doch +unermeßlich, denn es endet nirgends, und es bewegt sich so +geheimnisvoll, es ist wie eine ungeheure Masse von Wesen, Tierwesen, +Götterwesen, gestaltlos aufgelöst und doch wesenhaft, als könnte jeden +Augenblick Gebärde und Blick und Leib deutlich herausspringen und sich +zeigen, aber schon versinkt es wieder und ist so beklemmend allgemein, +Heerscharen, nur Heerscharen heranströmender Seelen, die niemals +näherkommen. Und kühl ist es dabei, wonnig kühl und glitzernd und wäßrig +dunkelblau und unsagbar ruhig unter der großen Sonne am Himmel. + +»Ich hab die burgunderrote Seidenjacke an, Georges, es wäre mir aber +nicht unlieb, wenn Du Dir den hinter mir stehenden gelblichen +Leinenschirm weg dächtest und an seiner statt -- Septentrio, sanftesten +Seewind, einen kiefernbraunen Götterjüngling, der mit ebenhölzernem +Kamme -- -- soweit. -- + +»Lieber guter Georges, als ich zuerst eben Deinen Namen schreiben +wollte, hätte ich fast mit einem S angefangen und Schorsch geschrieben +oder auch Schorschl. Siehst Du, so wohl ist mir! Nicht ganz christlich +wohl, denn wir haben ja vor kaum acht Tagen die arme Helene zur Ruhe +gelegt auf der kleinen Insel im Süßwasserteich. Am Rande einer kleinen +Lichtung liegt sie, wie sie es gewünscht hatte, unter einer Blutbuche. +Kein Grashügel ist zu sehn, nur flacher, grüner Rasen, und am Baumstamm +ist eine eherne Tafel, von weitem kaum sichtbar, auf der steht nur + + _Helene_ + Herzogin + +»Der Herzog war fast drei Wochen fort; ich sehe ihn nun zuweilen von +weitem im Park sitzen. Georg ist wieder fort ins Semester. + +»Lieber Freund, es ist ein Wintertag gewesen, und an diesem Wintertage +verlor sich diese Renate Montfort und sagte zu Georges, weil er etwas +gesagt hatte, das ihr nicht gefiel: Geh hinaus. Da ist er aufgestanden +und hinausgegangen, und sie saß böse da und zerriß ihr Taschentüchlein +wie so eine Hysterische, bis er wieder hereinkam und sagte, es hätte +aufgehört mit Regnen. Da ist sie aufgestanden und vor ihn hingetreten, +hat aber nur ihr rechtes Handgelenk auf seine linke Schulter gelegt und +ist so einen Augenblick dagestanden und hat den Kopf gesenkt gehalten +und ist hinausgegangen. Ich habe eben versucht herauszubekommen, was ich +gedacht haben mag in jenen Augenblicken, aber es muß feststehn, daß ich +wirklich nichts gedacht habe, nur etwas empfunden. Ich glaube, bei +Männern ist das unmöglich, und ich sage gleich, daß sie es deshalb +besser haben, denn sie wissen sich immer zu helfen mit einem obstinaten +Gedanken, wir aber sind uns selber preisgegeben, müssen aus solchen +Pausen des Nichtseins nachher handeln, und alles wird verkehrt. Sonst +habe ich ja diesen ganzen, traurigen Winter lang nichts getan als +herumgegrübelt, es war entsetzlich, ich weiß nun erst, wie meiner armen +Magda ums Herz gewesen sein muß in dem Winter vor zwei Jahren. + +»Sage, Georges, ist es wahr, daß in der Güntherstraße die Sonne nicht +mehr scheint? Oft, so oft, wenn ich mittags am Fenster stand und den +alten Mann in seinem schwarzen Mantel, gebückt und schneeweiß auf dem +Weg um die Sonnenuhr wandern sah, so dachte ich, daß er den Schatten von +der Uhr fortgenommen habe und selber der Schatten sei, der in +furchtbarer Schnelle herumkreise und die ganzen Sonnenstunden des Tages +abwirble, und wenn er plötzlich fort war, war auch keine Zeit mehr im +Garten und im Hause, und alles stand still. + +»Es war immer Schlackerschnee und Regen, solange ich diesen Winter +zurückdenken kann, nur einmal erinnere ich mich eines Vorfrühlingstages, +da fuhr ich zu Irene, und die Sonne schien, aber siehst Du: in der +Güntherstraße war das nicht. Und ich kränkelte immerfort -- wann wäre +ich früher krank gewesen! -- und oh wie mir am ganzen Leibe zumute war, +das kannst Du ja gar nicht ahnen, und ich kanns nicht beschreiben.« + +Aufblickend dachte Renate, daß aus den zwei Tagen, die sie allmonatlich +zu ruhen pflegte, mit der Zeit fünf geworden waren, wo sie sich kaum zu +regen vermochte, wo sie kaum ein Stück Kleidung am Körper ertragen +konnte und immer nur auf dem blauen Sofa lag, halb oder ganz entkleidet, +stundenlang manchmal vor sich hin weinend vor Gram und Hülflosigkeit +über sich selbst, aber das konnte sie ihm nicht gut schreiben, und sie +fuhr fort: + +»Tagelang, wochenlang drückte mich jedes Band, jede Falte auf der Haut, +ich kam mir neidlos vor wie die berüchtigte Prinzessin auf der Erbse, +und wieder tagelang und wochenlang war ich so schlampig, daß ich vor +reiner, oder vielmehr unreiner Trägheit manchmal des Morgens nicht +gebadet habe, sondern bloß abends. Ich weiß nicht, woher ich so war, +denn das kann ich doch nicht auf mein Herzeleid wegen Onkel Augustins +schieben. -- Was es auch gewesen sein mag, so bitte ich Dich jedenfalls +heute herzlich um Verzeihung wegen jeder Laune und Unwirschheit, wobei +mir albernerweise einfällt, daß ich noch nie einen Menschen habe sagen +hören, er sei wirsch, aber nun bin ich wirsch. + +»Da ist der Bleistift abgeschrieben, und ich habe kein Messer, um ihn +anzuspitzen, und Georges ist nicht da, der ein Messer haben würde, und +ich denke, wenn mans wagen könnte, so würde ich mich jetzt +splinterfaselnackt ausziehn und von oben ins Wasser springen, da wo es +am tiefsten ist. Leider konnten wir noch nicht in der See baden, es ist +noch zu kalt. Ich hole das letzte Bißchen Graphit aus dem Bleistift +heraus, sende Dir viele schöne Grüße und anbefehle, daß Du spätestens am +fünfzehnten Juli in Helenenruh zu erscheinen hast. Helenenruh gehört +nämlich jetzt Magda, und da sogar der Herzog sich als ihr Gast +betrachtet, so wirst Du kaum herzoglicher als der Herzog sein wollen. +Grüß Gott, Georges, und mach, daß Du kommst! Stets Deine alte Renate.« + +Renate legte die Blätter zusammen und in das Buch, auf dem sie +geschrieben hatte, legte es ins Gras und streckte sich lang aus. So lag +sie eine halbe Stunde, oder eine ganze, sie wußte es nicht, die Hände +unterm Kopf, friedlich aufgelöst in Sonnenschein, Himmel und Geräusch +der See. Dann stand sie auf, klappte den leinenen Sonnenschirm zu, +klemmte ihr Buch unter den Arm und schlenderte langsam über die Wiesen +hin, im Gehen einen lockern Strauß von gelben Sternblumen und Gräsern +sammelnd. So geriet sie in den Schatten des Parks, wanderte hindurch und +geriet an den Teich, ging zur Bank, die dort stand, und setzte sich, +machte ihr Buch auf und las ein Stück im Großen Kriege der Ricarda Huch, +merkte aber, daß es sich nicht gut las im Freien und in der Sonne. Ja, +dachte sie aufsehend, wie kann man im Sonnenschein lesen: Graues Gewölke +bedeckte den Novemberhimmel, oder dergleichen? Aber sonderbar, daß nur +das künstliche Licht abprallt -- denn dabei gehts doch! -- aber die +Sonne läßt ihrer nicht spotten ... + +Das Stück des Weihers vor ihr war glatt und schwarz, Himmelsblau und +Wolken erfüllten die Tiefe, vielmals tiefer als der Weiher selber war, +zur Rechten war alles grün, eine rasenhafte Fläche von Entenflott, ja +dort war wohl Magda hineingeritten und hatte Jason herausgeholt. Wie war +das zu verstehn? Jason, der herumging wie eine sonderbare Abart des +lieben Gottes, der sollte hier -- --? Magda freilich, -- ihre Tat war +eher zu verstehn heute. Nur dunkel tauchte in Renate eine sonderbare +Prophezeiung auf, -- ach längst erledigt und abgetan! -- Renate sah nach +links hinüber zu den Baumkronen der Insel in einiger Entfernung. +Sonderbar, die kleine Brücke, die dort hinüberführte, stand ja schräg +empor? Richtig, sie erinnerte sich, daß ein Gewinde daran war, um sie +durch einen Knopfdruck, wenn man auf der Insel war, steigen zu lassen, +so daß niemand herüber konnte, denn es war ja einmal ein Liebespavillon +auf der Insel gewesen, die Trümmer waren erst jetzt fortgeräumt, denn +nun war es ein Friedhof; und nun hatte der Herzog wohl auch das +durchgerostete Hebewerk erneuern lassen. Renate dachte an Stöckelschuh +unter breiten Seidenröcken, an zierliche Krummstäbe, Bänder und +schäferliche Hüte, die einmal über diese Brücke geglitten waren. +Schwerer trug sich ein Sarg von Ebenholz mit silbernen Beschlägen an dem +traurigen Tag der Fackeln und Flöre, seltsam flatternd in kräftigem +Seewind und hellem Sonnenschein. + +Indem bewegte sich etwas auf der Insel, ein Mensch, schwarzgekleidet, +kam auf die Brücke zu, von einem andern, kleineren begleitet, der Herzog +auf seinen Stöcken. An der Brücke blieb er stehn und schien +herüberzublicken. Dann ging er über den Steg, blieb stehn, und nun +entfernte sich der Andre, Dr. Birnbaum wars, nach dem Schloß hin. Der +Herzog kam auf dem Uferwege auf ihre Bank zu, langsam, Stock um Stock +und Fuß um Fuß vorwärtssetzend, vornübergebeugt, -- Renate blickte fort, +um es nicht mit anzusehn. Als sie seine Schritte nahe hörte, stand sie +auf, er versuchte eiliger zu gehn und bat sie schon, sitzen zu bleiben. +Bald darauf saß er neben ihr, erhitzt von der Anstrengung, sein Keuchen +unterdrückend, die Stöcke zwischen den Schenkeln, barhaupt. Renate fand +ihn stiller, die Augen freilich hatten sich noch nicht gänzlich wieder +in der Gewalt, und ein Blick von sonderbarer Ängstlichkeit kam dann und +wann zum Vorschein. Verquer dazwischen fuhr dann ein gewaltsamer +Ausdruck von Verächtlichkeit, am Munde im Bart verzuckend. So saß er +eine Weile still, über den See hinblickend, sah dann zur Seite, sah +Renates Buch auf der Bank, rührte mit der Hand daran und sagte, er habe +sie hoffentlich nicht gestört. Renate, schon zufrieden, daß er sich +wieder an einen Menschen gemacht hatte, dachte, daß er nun einen Anfang +gefunden habe, und lächelte nur verneinend; da er aber wieder schwieg, +sagte sie ihm, was sie eben gedacht hatte vom Lesen im Sonnenschein. Er +hörte zu und schwieg weiter, sagte dann, einen Schweißtropfen mit der +Hand von der Stirn wischend: »Ein hübscher Gedanke, ja, sehr hübscher +Gedanke. Meine Frau las viel, auch die letzten Jahre wieder konnte sie +sich doch vorlesen lassen, ja, sehen Sie, das muß man doch sagen, ja, +das muß man doch sagen, daß es, solange ein Mensch lebt, solange er +leben muß, nichts Unerträgliches gibt. Ihr Kopfschmerz war so, immer +durch Tage, ja durch Wochen hin so, daß sie in den ersten Jahren mit +Gewalt am Leben gehalten werden mußte. Ja, und dann hat es sich doch +gegeben, oder vielmehr sie ist es gewohnt geworden. Mitunter waren ja +auch Tage, zwei Tage, drei Tage, wo der Schmerz nur ganz leicht war. An +den schweren Tagen soll es so gewesen sein, als ob -- also wie diese +mittelalterlichen Mundbirnen -- als ob ihr die Knochen des Kopfes von +einer ungeheuer langsamen Gewalt auseinandergetrieben würden, aber das +waren nur die Nerven, ja nur die Nerven. Sehen Sie, und das dauerte nun +bald zwanzig Jahr.« + +Er hatte langsam, aber doch leicht und ruhig, beinah trocken vor sich +hingesprochen. Jetzt drehte er sich zu Renate herum, legte die Hand auf +das Buch und sagte: + +»Die Weisheit des Herrn ist unvergänglich, und seine Güte währet +ewiglich. Dies Wort ging so in mir herum, und sehen Sie, ich finde es +doch erstaunlich, wie die Menschen solche Worte aufgestellt haben. Man +kann fast nicht daran rütteln, es steht so da wie ein Turm, und wenn es +sich auch nicht denken läßt, so läßt es sich doch sehn, nicht einsehn, +aber sehn, jawohl ...« + +Nun schwieg er wieder und sah vor sich hin. Renate dachte, daß dieser +Mensch wahrscheinlich niemals geschwiegen habe. Er konnte alles sagen; +was er wollte und wie ers wollte. Immer waren Menschen da, die es +anhören mußten und darauf eingehn. Und vielleicht gerade, weil er gegen +seine Frau zum Schweigen verurteilt war, hatte dies ihn um so +leichtherziger gemacht im Aussprechen seiner Gedanken gegen die Andern, +gegen seinen Sekretär vor allem, der ihm durch den Tag hin anhing wie +ein Schatten. Denn das Eigentliche war es doch nie, was er sagen konnte, +oder wenn es schon das Eigentliche war, so konnte ers doch nicht auf die +rechte und innerst gewünschte Weise hervorbringen, und es war -- aber in +diesem Augenblick hörte Renate ihn wieder sprechen und merkte betroffen, +daß er eben das, was sie zu denken im Begriff war, aussprach, indem er +anfing: + +»Ich will Ihnen sagen -- es ist nun schon so, daß ich den Mund nicht +halten kann,« unterbrach er sich lächelnd -- »ich will Ihnen sagen, daß +ich eigentlich jahrelang, zwanzig Jahre lang in einer fremden Sprache +geredet habe. Ich habe nicht wenig geredet, es war ja immer wer zum +Zuhören da, aber immer habe ich meine Gedanken erst so übersetzen +müssen; in die Fremdsprache. In der eigentlichen schwieg ich mich aus, +in der hätte ich mit Helene reden können, aber nun war das ja +zugeschüttet. Haben Sie«, fragte er, sich unterbrechend, »meine +Schwester kennen gelernt? Richtig, Sie spielten uns ja vor neulich +abend! Ja, mit der Fürstin habe ich wohl auch hier und da ein Wort in +unsrer Muttersprache gesprochen, aber es war doch nicht die richtige, +nein, es war nicht die richtige.« + +Er faßte sich mit der Hand nach den Augen, als gebe es etwas +wegzustreifen, und sagte: + +»Es ist mir doch fortwährend, als wäre sie selber wie ein Schleier vor +mir weggenommen, und ich kann sie nun erst sehn, wie sie wirklich war, +und was ich -- nie besaß, und was ich nun endgültig verloren habe.« + +Er hielt inne, und Renate merkte wohl, daß dies auch nicht die rechte +Sprache war, und wie er herumtastete, hülflos genug, und nach um so +gemeineren, allgemeineren Worten griff, je heftiger ihn nach +eigentümlichen verlangte. Hastig sprach er schon weiter, auf einmal von +seinem Malheur, an das er nun immer denken müsse, dies merkwürdige +Zusammentreffen mit dem Krankheitsbeginn seiner Frau, und er erzählte, +wie das gewesen sei: zwei Stockwerke hoch sei die Planke des Baugerüstes +gebrochen, und er habe schwankend und um sich greifend sich noch gesagt: +springen und -- vornüberfallen, sonst ist das Rückgrat zum -- da lag er +unten, die beiden Füße waren einfach ab. Anfänglich habe er, als es mit +dem Gehen nichts wurde, geheult wie ein Dorfköter an der Kette, -- er +lachte gutmütig und zeigte Renate eine Narbe am Handgelenk, die sei vom +Einschlagen der Glasscheibe am Gewehrschrank, den sie zugeschlossen +hatten, ja, damals sei er ganz außer Rand und Band gewesen. Wie sich +denn aber das Leiden seiner Frau so hartnäckig erwiesen habe wie seine +Gehunfähigkeit, da habe er nachgegeben und um so leichter verzichtet. +Vielleicht, meinte er, hätte ich sogar gehen gelernt, der Arzt sagte +sowas von ein paar Jahren, dann würde alles wieder zurechtgewachsen sein +... + +»Aber sehen Sie,« hörte Renate ihn wieder deutlicher reden, da sie sich +aus den Vorstellungen und Bildern, die seine Worte erzeugten, losmachte, +»da wollte ichs denn auch nicht mehr, wenn Sie vielleicht eine Ahnung +haben, was Warten ist, Warten, wie sie und ich auf ihre Heilung, auf +Linderung gewartet haben, erst Wochen, sechs Wochen, neun Wochen, zwölf +Wochen, und auf einmal warens Monate, drei Monate, fünf Monate, acht +Monate, und nun -- Jahre, ein Jahr, drei Jahre, vier Jahre, fünf Jahre, +sechs Jahre und am Ende -- alles umsonst.« + +Er schlug die Handballen gegen die Stirn, krümmte und wand sich +innerlich. Gleich aber ermannte er sich wieder, setzte sich gerade, +faßte seine Stöcke und sagte: + +»Ja, sehen Sie, dabei bin ich nun das hier geworden. Sie glauben +vielleicht, ich wäre als Junge so was gewesen wie Georg. Ha, der Junge +denkt in einer halben Stunde soviel wie sein Vater nicht im halben +Jahr!« Er lachte. »Ich sage nicht, daß ich mit ihm zufrieden wäre, man +muß ihn schon lassen, da läßt sich nichts ändern, übrigens ist er die +Monate jetzt in Trassenberg stramm hinter der Arbeit gewesen, mein +Sekretär bezeugts, also ist es wahr. Ein komischer Bursch. Ja, hören Sie +mal, wir machten eine kleine Reise zusammen, gehen in einen Laden, und +ich kaufe was für Helene, da habe ich kein Geld bei mir und sage ihm, er +solls auslegen. Ja, er hätte kein Geld bei sich, sagt er. Nun, das kann +vorkommen, aber ein paar Tage später passiert dieselbe Geschichte, und +da erzählt er mir denn, er hätte überhaupt niemals Geld und zeigt mir so +zwei, drei Goldstücke, das sei alles, die brauche er hin und wieder zum +Verschenken, und zeigt mir ein Scheckbuch und sagt: >Ich schreibe +immerzu meinen Namen.< Unbegrenzten Kredit _haben_, ist groß, sagt er, +ihn benützen kann nur kleiner sein, -- oder so ähnlich. Nein, da war ich +ein Windhund gegen ihn. >Höchstes Glück der Erde,< wie der Dichter +singt, >heißt der Adelsspruch, liegt auf dem Rücken der Pferde< und so +weiter. Ja, das waren auch Zeiten!« Er sah an Renate vorüber weit weg in +die Erinnerung. + +»Eines Tages,« begann er wieder mit leiserer Stimme, »eines Tages sagte +eine junge Dame zu mir, weil ich irgendwas nicht gewußt hatte: >Wie kann +man so dumm sein!< Das hatte ich noch nie gehört, und nun von solch +einem Wesen mit großen Augen und braunen Haaren! Die Sache war schon +abgekartet, sie war Hofdame und würde nicht viel haben, aber doch gerade +so ein Stück Land, das meinem Vater zur Abrundung fehlte, sie war +reichsunmittelbar, und so paßte alles, bloß ich habe ihr ganz und gar +nicht gepaßt. Wir verlobten uns allerdings, und ich war heftig verliebt, +sie aber schickte mich auf Reisen. Mein Vater hatte nichts dagegen, und +so reiste ich, ja, ich reiste nicht allein, ich hatte eine Geliebte, die +nahm ich mit, ich war trotzig auf meine Braut, so fuhr ich um die halbe +Welt, aber ich kam wohl nicht viel anders wieder, als ich ausgefahren +war. Ja, nun hören Sie, wie es mir erging. Ich hatte doch gedacht, meine +Braut würde das nicht merken mit meiner Reisebegleiterin, aber weit +gefehlt, denn sie hatte mich auf der ganzen Reise von einem Freund +beobachten lassen -- dies gestand sie mir erst Jahre später --; und +also, wie ich wieder vor sie hin trete, sagt sie: Wo bist du gewesen? -- +Es ging mir durch und durch, wie sie mich ansah, dermaßen kaltblütige +Augen machte sie, und ich fing an zu stottern. Bisher, sagte sie da, ich +höre es noch heute, bisher habe ich dir wenig genützt; nun kannst du +noch mal andersherum um die Welt fahren, dann werden wir weiter sehn. -- +Diesmal aber gab sie mir einen Freund mit, einen kleinen Juden, den ihr +Vater als Bocherknaben aufgegriffen und erzogen hatte. Er hatte alles +gelernt, was es in der Welt zu lernen giebt, sprach viele Sprachen, war +so unauffällig wie eine Katze, so bescheiden wie ein wohlerzogener Hund +und so klug wie Rabbi Löw, nun, Sie kennen ihn, er hat sich seitdem +verändert, es ist mein Doktor Birnbaum, der ging also mit, und da gingen +mir die Augen auf. Als ich dann wieder kam, -- nun, was mich selber +angeht, ich hatte einen Eckstein zu mir gelegt, und sie fiel mir damals +um den Hals und sagte, sie wäre gestorben, wenn sie mich nicht gekriegt +hätte. Sie hätte mich ja nicht gewollt, grollte ich da. Dummes Zeug, +sagte sie, ich --« + +Überdem gingen ihm die Worte aus, seine Augen verdunkelten sich, es +rauschte im See, er drehte sich heftig um, der schwarze Artaxerxes +kletterte von der Insel ins Wasser, schlug mit dem lebendigen Flügel und +glitt schaukelnd davon. + +»Ein Jahr«, sagte der Herzog vor sich hin, »neun Monate lang war sie +jung und schön und zierlich; ihre Hände griffen kräftig zu, und so +packte sie mein Herz, sie ließ ihrer nicht spotten, ja, und nun ist sie +ja tot ...« + +Der Schwan hatte einen Bogen geschlagen, kam nun in schnurgerader Bahn +auf die beiden Sitzenden zugeschwommen, hin und wieder den Kopf drehend, +ein wenig emporfahrend bei jedem Stoß des ruhig treibenden Fußes. +Gleichzeitig wurden Schritte hörbar, Doktor Birnbaum erschien, langsam +am Ufer hergehend. Der Herzog wandte sich nach ihm um, nickte und sagte, +wieder zu Renate gedreht, trübherzig spottend: »Der Arzt mit der +mahnenden Arzneiflasche Arbeit.« + +Der Doktor nahm ein Stück Brot aus der Tasche, brach Brocken ab und +streckte die Hand aus; der Schwan schwamm ans Ufer, stieg herauf, der +lahme Flügel hing kahl und ergraut zu Boden, er streckte den Hals, nahm +den Brocken und verschluckte ihn; dabei sah er mit dem roten, +stirnartigen Wulst über dem Schnabel und den rotgeränderten Augen nicht +klüger und nicht stolzer aus als ein häuslicher Hühnervogel. Der Herzog +seufzte leicht und stand auf. + +»Doktor Birnbaum, sehen Sie, hat auch den Schwan repariert,« sagte er, +»schon benimmt er sich wieder zahm und manierlich.« + +Er nahm die Stöcke in die linke Hand, streckte Renate die rechte hin und +bat, ihm nicht zu zürnen ... Sie konnte ihn nur herzlich ansehen und ihm +die Hand drücken. Er drehte sich weg, reichte dem Doktor einen Stock und +faßte seinen Arm. Renate wandte sich ab. + +Auf dem grünen Uferstreif hockte der Schwan und putzte mit dem Schnabel +an dem vertrockneten Flügel. Lange blickte sie gedankenvoll auf ihn +herunter, dann kam Magda, um sie zum Frühstück zu holen, aber sie schien +dem Schwan nicht zu gefallen, er fauchte, machte sich auf, stieg ins +Wasser und zog mit unwilligen Kopfbewegungen davon. Magda lächelte und +meinte, er habe es ihr nicht vergessen, daß sie ihn überflog, -- fragte +dann, ob Renate mit dem Herzog gesprochen habe. Renate versuchte, +während sie auf das Haus zugingen, einiges von dem, was er gesprochen +hatte, wiederzugeben, gewahrte aber jetzt, als habe Gewölk sie bisher +verdunkelt, die Sonne wieder, den juligrünen Garten, atmete auf, brach +einen Satz inmitten ab, legte einen Arm um die Freundin und sagte: + +»Ich möchte dich an der Hand fassen, wie meinen Vater als Kind, wenn ich +>blind< mit ihm spielte, und so mit geschlossenen Augen durch den Wind +und den Sommer hingehn.« + +Sie blieb stehn, schloß die Augen, streckte die Arme ein wenig rechts +und links und rief leidenschaftlich: »Ach, ein Unsichtbarer hat uns ja +doch immer an der Hand und führt uns durch Winter und Sommer, wohin er +will.« + + + Siebentes Kapitel: August + + + Frühe + +Georg erwachte im Finstern und hörte den Donner rollen, blieb aber so +sehr in der Verschüttung des Schlafs, daß er sich einbildete, er träume, +nur aufseufzte und sich streckte. Dann war aber ein Mensch im Zimmer, +und mit gelindem Erschrecken erschien ihm in einem schwachen +Blitzleuchten Cordelias weißes Gesicht und das glänzende Schwarz ihres +Mantels. Indem er noch murmelte, was sie denn wolle, fühlte er ihre Hand +auf seinen Augen, die sie zudrückte, und am Einsinken der Matratze, daß +sie neben ihm kniete. Dann hörte er sie den festen Laden, über ihn +hingebeugt, zart umlegen und verriegeln, endlich auch das Schiebefenster +langsam, fast geräuschlos herabziehn. Im Begriff, etwas Dankbares zu +murmeln, schlief er wieder ein. + +Als er dann wieder zu sich kam, war es dämmrig, fast noch dunkel im +Raum, doch hingen unmittelbar über ihm an seiner Linken Lichtfäden im +Laden, und schon hellwach und frisch sich zurücklegend, sah er die +beiden ausgeschnittenen Herzen im Holz oben matt leuchtend schweben. -- +Es regnet wohl, dachte er, schade! in schwacher Erinnerung an ein +Gewitter bei Nacht. Ach, sieh an, wie wundervoll ich jetzt schlafe, +selbst bei Donner und Blitz! -- Und die Arme mit geballten Fäusten +ausstoßend und beugend, fühlte er sich krachen und strotzen von grüner +Gesundheit. + +Aber ich hab mir doch über etwas klar werden sollen über Nacht, fiel ihm +ein, und im Augenblick auch schon der homerische Vers: [Griechisch: +Polla d'ho g'en] ... der dritte der Odyssee, über den sie gehadert +hatten miteinander, bis ihnen die Augen zufielen, weil Cordelia gesagt +hatte, es sei der prachtvollste Vers aller Dichter und Völker, worauf +aber er sich anheischig gemacht hatte, ihn nichtsdestoweniger in sein +geliebtes Deutsch zu übertragen, aber war sie vielleicht +zufriedenzustellen? Nun, er selber wars auch nicht, aber nun wollte er +es gleich noch einmal versuchen .. + +_Polla d'ho g'en ponto pathen algea hon kata thymon ..._ + +Ah nein, was waren es auch für Worte, was war es für ein Rollen und +Knattern, eine strotzende Vollheit im Wohlklang der wechselnden O- und +A-Laute, und hinter dem köstlich geschmeidigen _algea_ das schroff +gesetzte _hon_, dann das kalt schmetternde _kata_ und endlich -- ihre +ganze Wonne -- nach all den dunkelklaren und großoffenen Lauten das +tiefe, hinziehend glühende: _thymon_ ... + +Voll des Grames da ward vom Meere die Seele des Kühnen ... + +Nein, sie hatte recht, es war nichts. Kühnen hatte sie freilich als +schön erfunden zugeben müssen, da _thymos_ ja nicht nur Seele hieß +sondern auch Mut, -- aber wo waren die vielen O und A? Den Ersatz durch +die zwei prachtvollen E-en konnte Georg jetzt auch nicht mehr +aufrechterhalten und begann, nach As und Os zu suchen, wälzte sich umher +und bekam endlich nach vieler Mühe zusammen: + +Zornvoll, gramesvoll ward vom Donner der Wogen der Kühne. + +Freilich zu wenig A-en waren es immer noch, aber es klang doch sehr +schön: Zornvoll, gramesvoll ward ... Wie spät war es eigentlich? schon +fünf und Zeit zum Aufstehn? -- Aber die Uhr vom Nachttisch ertastend, +erkannte er, daß es noch nicht halb fünf war. Ah dann konnte er einmal +die Sonne aufgehn sehen! + +Das kaum fußhoch über seiner Matratze eingesetzte Fenster hochgeschoben, +den Laden auseinandergeschlagen, empfing Georg den erstaunlichen Anblick +einer dunklen Welt, in der es schon Tag war. Nicht Tag, -- es war +seltsam verhangen, aber schon hell, die Sonne noch nicht aufgegangen. +Kein Vogellaut ließ sich hören, Totenstille war umher, der Himmel oben +grau, aber siehe da -- gerade drüben überm unermeßlich dämmernden Land, +blitzend in güldener Weiße, stand der Morgenstern in klarem Raum, einsam +in unendlicher Kühle. Nun begriff Georg auch den Schauer der Stille im +eigenen Herzen, die von dem großen Stern ausging. Heilig stand er, ein +silberner Erzengel, gebieterisch, ein Herold des Ewigen, nicht fürstlich +bei aller Hoheit, ein Diener des Fürstlichen, und hinter ihm -- das +undurchdringliche Fernengrau der Leere, die dämmernd bläuliche +Unendlichkeit voller Straßen, die sich, alle zusammenlaufend, ins +Unermeßliche verloren: Alle diese bleiben euch unzugänglich, sagte er +ernst. -- Georg konnte die Augen nicht wegwenden von der strahlenden +Hoheit, und als er es endlich wagte und in den Garten hinabsah, war es +ihm, als brenne der Stern seinen Blick durchdringend auf seine Stirne +ein. + +Stille unter ihm lag die halbkreisförmige kleine Plattform aus gelbem +Kies, von der, unter der Rosenhecke hinweg, der grüne Rasen nach allen +Seiten abfloß; still in der Mitte die roh gefügte Steintreppe, von +Moosen und Staudengewächsen und schönen Gläsern bedrängt, ruhig +hinabsteigend zum großen, rechteckigen Becken gründurchwachsenen +Wassers, das kaum glänzte, die gemauerten Ränder überwuchert von Binsen, +Schilf und _Iris sibirica_. Seitlich stiegen die Böschungen sacht an zum +wagrechten Wiesenboden, der sich unter Buschwerk und Bäume verlor, an +unzählbaren Stellen besetzt mit den großen weißen und farbigen Flecken +der Blumen und Staudengewächse, die, jetzt matt scheinend, alle +überleuchtet wurden von den mannshohen Pfeilern des Edelrittersporns, +bekleidet rundum mit dem kalten und tiefen Blau der großen Blüten. Wie +aber war die ganze Senke eingeschlossen in regungslose, betrachtende +Erwartung des kommenden Lichts! Wie unsäglich stille verhielten sich die +beblätterten Ranken der Crimsonrose mit schweren Blütenbüscheln, die +jenseits des Wasservierecks vom pfeilergetragenen Balken hingen! und +ringsumher wagte kein Hauch sich zu regen in den Sträuchern, den Hügeln +der großen Aspiräen, den umschließenden alten Bäumen, durch deren breite +Lücke und über die hinweg Georgs Blick nun mit Andacht hinauswanderte in +das stille Morgenland, über die Weideflächen seiner Ebene im farblosen +Licht, bis hin zu den Schatten der Wälder. + +Wieder ausgestreckt, auf den linken Ellenbogen gestützt, erwartete auch +Georg den Tag. + +Langsam erst jetzt, unmerklich vorquellend, drang die Morgenfrische zu +ihm herein, so unbeweglich war die Luft. Georg schloß die Augen und ließ +es rieseln um sein Gesicht. -- Sie schlief wohl noch unter ihm, die arme +Seele. Arme Seele -- wie sie sich in ihren Briefen, auch im kindlichen +Geplauder mitunter nannte -- und die reicher war, tausendmal reicher als +er. War sie nicht wieder im Zimmer gewesen diese Nacht? Freilich -- das +Gewitter -- sie hatte es nahen hören und war gekommen, sein Fenster zu +schließen. Aber schon früher einmal hatte er, erwachend, sie neben sich +kniend gefunden, dem Fenster zugewandt. Was sagte sie noch? Ich gab mir +doch Mühe, es zu bewahren, aber wer behält all ihre Einfälle? man müßte +Jasons Gedächtnis haben. -- Richtig: was machst du denn da? fragte ich, +und sie sagte, den Finger hebend, andächtig: Da zähl ich die Sterne. Ja, +da zähl ich und zähl ich, und immer verzähl ich mich. Sprachs und legte +sich enge zu ihm, und das war wohl ihr Nachtgebet, die Sterne über ihm +zu zählen ... Aber dann erzählte sie noch etwas, ja, er hörte sie leise +lachen und sagen: Rübezahl, das war aber ein dummer Geist, der wo die +Rübsen hat zählen sollen und net können. Na, so eine Dummheit, die ollen +Rübsen zählen und sich verzählen. Nein, weißt, einer war -- der hat +>Sternezahl< geheißen, auch so ein dumms Luder von an himmlischen Engel, +der wo gsagt hat zum Herrgott: die Stern, und die zählt er ihm schon +lang auf, so vüll sans denn do net! Hats aber net können. Sondern hat +dagstanden eine ganze Ewigkeit lang und gezählt und gezählt und hat sich +verzähln müssen olleweil. Weils halt -- zu -- viel san. Da is er trauri +geworn, schloß sie kleinlaut. -- + +Aber weißt -- sie freute sich wieder -- den lob i mir, i! Net den dummen +... Sprachs, sagte: schlaf wohl! und war verschwunden. + +Georg atmete dankbarlich auf und öffnete die Augen. Der helle Stern war +tiefer gesunken und verblaßt, der Himmel sanft bläulich geworden und +weiß, ein Wolkenrand, ein Hauch kleiner, silberweißer Bogen war lieblich +hingemalt auf die kühle, schon leuchtende Wand. Da krähte ferne ein +Hahn. Es wurde immer feierlicher umher; Georg schlug das Herz. Nichts, +das sich regte, -- doch -- im Wasser unten gluckste es, ein Ring zeigte +sich und dehnte sich blinkend aus; es ward heller. Auf einmal wehte ein +kühler Atem so lebendig Georg an, so menschenhaft, daß es ihn überlief. +Plötzlich hatten die Blätter der großen Akazie dort hinten sich bewegt, +erwachend, nur an einem großen Ast, und überall knisterte es nun leise, +Häupter bewegten sich, Schläfer, die ihre Lage wechseln wollten, wachten +auf, Zweige rauschten sanft, die hohen Königskerzen bewegten sich +gemessen, Binsen beugten sich und rauschten, unbeweglich standen die +Irisstauden am Wasserrand scharenweis. Und nun wartete alles in +Ergebenheit. + +Georg erschrak. Was war das? Etwas Fremdes war über die Erde gekommen! +Lautlos wie ein Geist war der rote Rand einer gewaltigen Kuppel in der +Nebelferne erschienen. + +Georg kniete im Bett. Die Hände willenlos zusammenlegend, sah er, ganz +nah, die Gewaltige heraufsteigen, die rote, göttliche Riesin, +unleuchtend, stumm, ungeheuerlich, unnahbar einsam, so erhob sie das +mächtige Haupt und sah in die erschrockene Welt. -- Er mußte die Stirn +auf den Rahmen des Fensters vor ihm legen, sprachlos, quellenden +Herzens. + +Als er wieder aufzusehn wagte, war es Tag. Die Ebene hatte sich mit +ziehenden Schwaden von Nebel bedeckt, die sichtbar über die glühende +rote Scheibe wogten, die jetzt an einzelnen Stellen golden zu brennen +begann. Von hundert Orten umher zwitscherte es nun und zirpte, in den +Lüften flog Gold, ah und wie schwer hing alles Laubwerk und blitzte vom +Guß des Gewitters! Schon entstieg zarter Dampf, kleine, weiße +Rauchsäulen erhoben sich schwebend über der Wasserfläche, alles +leuchtete und ließ sich besonnen. + +Georg sprang aus dem Bett, öffnete die merkwürdige Luke am Boden, die +Cordelia für ihn hatte machen lassen, und stieg die Leitertreppe +hinunter ins Badezimmer. + +Von dort erfrischt und sauber zurückgekehrt, kleidete er sich eilig in +ein wunderbares Hemd von gelber Rohseide mit offenem Halskragen, weiche, +vom Ledergurt gehaltene Flanellbeinkleider, Strümpfe von der Hemdfarbe, +und schlich, die braunen Schuh in der Hand, die noch dunkle Treppe +hinunter ins Freie, dann an der Hinterseite des Hauses, so leise er +konnte, an Cordelias offenen Fenstern vorbei über den Kies -- ah wie die +Rosen dufteten am Rande! -- setzte sich auf die Treppe oben und zog +seine Schuhe an. Langsam schlenderte er darauf von Stufe zu Stufe, +tauchte die Hand in den tropfenbesäten Hügel der weißen Aspiräen und +lächelte, den ganzen Blumenflor überschauend, von dessen tausend Namen +er jeden Tag ein paar hatte lernen müssen, -- nun war alles längst +unrettbar durcheinander in ihm. Das da hinten an der Böschung war +Schleierkraut, aber wie hieß es lateinisch? Und daneben die brennende +Liebe? _Lychnis_ -- ja, _Lychnis chalzedonia_ und mit _robusta_ noch +etwas ... Volksversammlungen der handtellergroßen Margueriten blickten +nach ihm hin, merkwürdig, wie die Menschen auf alten Bildern. +_Leucanthemum maximum_ -- das war der Name. Georg balancierte behutsam +auf dem Mauerstreifen um das Becken zwischen Trollius und Schwertlilien. +Die ansteigende Wiesenböschung zu seiner Rechten war mit prangenden +gelben und blauen Farben bedeckt, große Beete des Phlox, blaue, rote, +weiße Blüten flammten oben, und dort standen, regungslos, die kostbaren, +die Königskerzen, ganze Bäume mit aufstrebenden Ästen, mit den +scheibenartigen Blüten, isabellengelb, zartlila und goldenblaß, -- wie +hießen sie? _Delfinum_ -- ah nein, das war ja der erstaunliche +Edelrittersporn, drüben von der andern Seite flammten die großen +schwarzblauen Blüten, _Delfinum hybridum_ -- ists richtig, Cordelia? Die +Königskerze aber hieß -- hieß -- _Verbascum_, jawohl, _Verbascum +vernale_, ein glänzender Name! -- Es war ein Paradiesgarten und sie der +Gärtnerengel darin! + +Georg rauschte im Vorjahrlaub die kleine Böschung durch das +Birkenwäldchen hinunter und glitt unten ins schon trockne und +sonnenwarme Gras, wo er die Aussicht über die ganze grüne Ebene frei +hatte, über die Landstraße, Haidestreifen, kleine Birken- und +Tannenschläge -- ins Unendliche hinein, über dem die goldene, brennend +brodelnde Sonne kochte im Wolkenlosen. + +Sanft ist sie, dachte er, auf den Rücken gestreckt, ins Blaue nach oben +schauend, sanft wie die Sonne am Morgen und doch feurig. Das ist das +Wundervolle an ihr. Alle schönen Frauen müßten so sein, so -- sanft; +nicht weich, hülflos, ohne Feste, sondern im Gegenteil -- fest, aber +zart, glühend innen, seelenvoll ... + +Sanft halt, würde sie selber gesagt haben. + +Georg setzte sich auf. Die Grashalme neben ihm verschwammen vor seinen +Augen, so bedrängte, fast angstvoll, ihn ein unsinniges Glücksempfinden. +Nun bist du ja gesund, Georg, murmelte er, und glücklich. Sag dirs, +Georg, daß du's weißt, daß du's behältst und nicht vergißt: glücklich, +ganz glücklich, und wenn du dich fragst, wem dankst du all dies, +Gesundheit, Freude, Arbeitskraft, Unermüdlichkeit --, alles, alles, dem +seltsamen, dem erstaunlichen Wesen, das dich in Liebe hüllt, wie -- wie +... + +Sich zurückwerfend wieder, die Augen schließend, fühlte er sich +umschlossen von ihr mit einer noch nie so lauteren, so klaren Lust, die +ihn von ihr träumen ließ. Er sah sich am Spätnachmittag den Hügel zum +Hause hinansteigen, und dann erschien sie schon unter der kleinen +Vorhalle, entweder in köstlich phantastischen Kleidern oder meist ruhte +nur ihr dunkler, brauner Kopf über der mächtigen Glocke des ärmellosen +Mantels von schwarzer schwerer Seide, in dessen weitem Faltenwurf es +grünlich und bräunlich glänzte. Dann warf sie ihn auseinander, dann +stand sie darunter, eine schlanke, gerundete Leibesform in türkisblauem +Trikot, oder in feuerfarbenem, oder an den heißen Tagen in gar keinem +marmorweiß, -- ach, die Erstaunliche! Und es begann der Abend! begannen +die langen Stunden stiller Wanderung im Garten umher, in den +zierlichsten oder tiefsinnigsten Gesprächen, denn -- oh sie war +wandelbar wie die Natur selber durch Tages- und Jahreszeiten, sie blühte +morgendlich heiter, sie verschattete sich ernst, sie rauschte, leicht +windbewegt, sie konnte gewitterhaft flammen, und lächeln, lächeln immer +wieder, und nie erlosch am Grund ihres Wesens die reine Farbe, der tiefe +Glanz der Heiterkeit, aus der Zaubervögel ihres Lächelns in immer neuen +Flügen, einzeln und scharenweis, Süße und Himmelsinnigkeit herüber +trugen. Kam das Abendbrot, so fand es immer wo anders statt, nur bei +schlechtem oder kaltem Wetter im kleinen Eßzimmer, sonst auf dem +winzigen Viertelkreis des Balkons, auf der Plattform hinterm Hause oder +in irgendeinem Dickicht, an der Erde, und Hesekiel mußte rennen und +verlor zwanzigmal die Stelle aus dem Gedächtnis. Sie essen zu sehn, war +allein die Mahlzeit wert. Sie liebte es, mit aufgestützten Ellenbogen zu +sitzen, irgend etwas zwischen den Fingern, Brot, das sie zerbröckelte +und das nachher säuberlich aufgescharrt wurde für die Spatzen, plaudernd +unaufhörlich, zwischenhinein irgend etwas vertilgend, was kaum gesehen +verschwunden war. Oh sie war eine Schauspielerin, natürlich, das wußte +er ja, -- ach, von denen vielleicht eine, die im Leben alles und doch +nichts Rechtes können auf der Bühne, weil es ihrem Können -- vielleicht +am Letzten -- vielleicht nur an einem Tropfen richtigen Theaterbluts +fehlt, an der Wonne zu verkörpern, Fremdes darzustellen vor fremden +Augen; sie haben die Gabe, sich zu steigern, alles aus sich zutage zu +fördern, aber sie können sich nicht zu anderm vervielfältigen und +bleiben stets sie selber. Immer spielte sie ja, aber es war doch so, daß +diese Kunst ihr nur dienen durfte, Vorhandenes vollkommen zu gestalten, +ohne leeres Spiel zu sein, sondern Feuer nur und Schwung im treibenden +Rade des Herzens. Ihre Einfälle waren unzählbar, sie schien sich geladen +zu haben tagsüber mit Schnurren und Geschichten wie der vom Sternezahl, +sie holte eine Anekdote aus der Gießkanne und Legenden aus Bäumen und +Sternen. Dann kamen die Abende, in denen langsam die Liebesstunde sich +vorbereitete, in denen, je dunkler die Stunde, ihr Herz und ihr +befeuerter Geist um so höheres Leuchten begannen, und sie schöpfte das +Füllhorn ihrer Brust aus nach Weisheit und Gedichten aller Zeiten und +Sprachen, bis es stiller und stiller wurde, bis zuletzt immer der +gleiche Augenblick da war, in dem sie, dastehend allein, den Mantel von +sich gleiten ließ, ernst wie ein Gebilde ... + +Die Nächte, oh diese Nächte! Den seltsamen Marmor ihrer Brust mit +tausend Küssen immer wieder zum Glühen zu bringen -- welch +unerschöpfliche Wonne! Dann war sie miteins zur lohen Fackel geworden, +und sie -- oh sie umtanzte seinen Leib mit flammendem Reigen ihrer +Liebkosungen und Umschlingungen, bis -- + +Georg setzte sich trunken auf, blinzelte geblendet, von innen und außen +glühend erhitzt, in das sprühende Gold und versuchte, inständig zu +denken: Hab ich nicht einmal behauptet, man liebte nicht im Augenblick +der Liebe? -- Ist das wahr? Sie -- ich liebe sie vielleicht nicht +einmal, nicht mit ganzem Dasein jedenfalls, oh -- es ist ja +gleichgültig, aber doch -- ich fühlte Liebe zu ihr auch in der äußersten +Verzückung; und wenn ich nun wahrhaftig liebte, müßte es nicht geschehn, +daß es aus der seelischen Glut auch in die leibliche Flamme überströmte +zu tieferem Lodern? + +Er sank wieder zurück und lächelte. Arme Seele, ich liebe dich +wahrhaftig, so sehr ich kann, und ich bin dir dankbar, oh dankbar! Du +Verzaubernde! -- Die Abendfahrten über Land fielen ihm ein, im +Automobil, wo es immer paradiesische Entdeckungen gab, Stücke +Landschaft, Haidhügel mit Wacholder, ein namenloses Dorf, zu dem sie +Geschichten erfand, und wars nur eine trübsinnige Henne in einer +schmutzigen Kate, -- und wie sie mit den Menschen hantierte, mit einer +Herzlichkeit und Frische, die den härtesten Bauernschädel knackte, jeden +Augenblick Miene und Sprache wechselnd, aus dem Hochdeutschen ins +Oberbayrische fallend oder in ihren Mischmasch aus beidem ... Ihm lachte +das Herz, als ihm der blinde Leierkastenmann mit seiner schwarzen +Brille, der Orgel auf dem Rücken, ins Gedächtnis kam, der sich am +Straßengraben hinstocherte mit seinem schmierigen Spitz und nun +aufgeladen wurde in den königlichen Rücksitz allein, und wie sich dann +weiß Gott wie herausstellte, daß der Kerl sah! Herr du meines Lebens, +das Ungewitter! Wie sie im Sitz neben mir kniete, im flatternden Haar +wie ein Windgott, und über die Brüstung mit geballten Fäusten auf die +Kanaille im Rücksitz loswetterte, und ich davonraste und plötzlich +anhielt, und sie über die Lehne weg wie ein Pardel, und der Kerl aus dem +Wagen wie der exorzisierte Satan. -- Gott im Himmel, Georg, wann wirst +du jemals wieder so glücklich sein! + +Er sprang auf und blickte auf die Uhr. Es war schon dreiviertel sechs, +Zeit zum Frühstück. Um sechs saß er doch sonst immer an der Arbeit. +Wieviel Stunden Ferienkurs waren heut? Zwei wie meist, dann noch zwei +Stunden Arbeit von zehn bis zwölf, dann Schlaf, Essen und wieder Arbeit +bis Zwölf oder Elf. Jeden Tag beisammen zu sein, verbot das Gesetz der +Liebe ... + +Noch ein mal sich reckend, die Arme mit geballten Fäusten ausstoßend und +sich dehnend, daß es krachte, klomm er die Böschung wieder hinan, ein +wenig beschwert in der Brust, denn -- sagte er sich -- kann man ein +solches Kleinod jemals aus den Händen lassen? Eine Prinzessin von +solcher Art wie diese halbe Kroatin aus Oberbayern gab es freilich +nicht, welch ein Jammer! + +Aber Renate. Renate mußte -- bei aller Hoheit gegen Fremde -- ihr doch +ähnlich sein, wenn -- wenn sie liebte. Nun, Renate -- es machte +Schwierigkeit, an sie zu denken in dieser glorreichen Epoche seines +Lebens. Jedenfalls aber -- -- noch ein halbes Jahr vielleicht, dann kam +-- der Vertrag, kamen tausend, kam die eine Pflicht; kam auch Renate, +das stand fest. + +Auf der Plattform hinter dem Hause angelangt, hörte Georg bereits das +Badewasser im Innern rauschen und entglitt freudig dem geistigen +Labyrinth. Hesekiel erschien, den Frühstückstisch vor den Leib geklemmt, +und Georg half ihm, ihn zur Plattform zu tragen, was den Guten äußerst +verwirrte und zu tausend Segnungen bewog, worauf Georg die kleine Diele +im Innern betrat, an der Tür des Badezimmers klopfte und den Kopf durch +den Spalt steckte. Natürlich, der Raum war undurchsichtig von +Wasserdampf, Cordelias Kopf war kaum zu sehn über der eingelassenen +Wanne im Boden, und Georg unterließ nicht, ihr zum hundertsten Male +bedeutende Vorhaltungen zu machen. + +»Ja, was willst denn überhaupt? Zu seiner Zeit a jeds, hörst, das ist +überhaupt unschicklich, da herein zu kommen! Geh, Georg, sei stad, ich +komm gleich!« + +»Ja, ich geh ja schon! Übrigens, was ich sagen wollte: ich hab den Vers +jetzt!« + +»Na?« + +»Es heißt: Gramvoll -- nein! Zornvoll, gramesvoll ward vom Donner der +Wogen der Kühne.« + +Sie schlug die Hände überm Kopf zusammen. »Ach, Georg, was bist du für +ein Klabautermann! Zornvoll, gramesvoll ward --« sie bauschte die Worte +im Munde -- »ja, und wie heißt es im Griechischen? -- Viel -- im Meer -- +litt er Schmerzen im Gemüt -- die allersimpelsten Worte, -- geh, mach, +daß d' weiter kimmst mit dein' Bombast, mit dein' Donner der Wogen!« + +Georg klappte die Tür zu vor einem triefend nassen Badeschwamm, der +herüberflog, und stieg in äußerster Kümmernis über seine Dummheit ins +kleine Wohnzimmer hinauf, wo ihm in der Ecke des Sofas alsbald +glückselig die Augen zufielen. + + + Achtes Kapitel: September + + + Regen + +Georg verlor an einem Regennachmittag im September die Lust an der +Arbeit so gänzlich über dem Verlangen, in den Regen hineinzugehn, daß +er, kaum gedacht, in festen Schuhen, Gummimantel und Mütze vor der Türe +stand, mit weitoffenen Nüstern die kalte, frische Feuchte der Luft in +die Lungen ziehend. + +Wundervoll war die Leere des verschleierten Parks. Georg ging; der Regen +fiel mit fast lieblicher, mit liebkosender Leichte, hinwehend über die +Lichtungen der Wiesen, hingebungsvoll sich mitunter ganz in Seele, in +nebelnde Feuchte auflösend, in Schleiern sich einsenkend in die ruhig +duldenden Wipfel. Die aufgeweichten Wege schienen noch nie betreten. +Noch war alles Laub tiefgrün, hier und da zart gelb gesprenkelt; nur wo +Nußbäume standen, leuchtete das nasse Gelb. Die Gruppen der Bäume und +Gebüsche, von der Regenumschlingung zusammengeschlossen, schienen +schöner aufgeteilt. Gleichmäßig rieselte die Stille mit dem Säuseln der +Feuchte; alles bewahrte Ruh im Empfangen der Erquickung. + +In linden Gedanken sich selber umschweifend, gelangte Georg an den +grauen, dampfenden Spiegel des Teichs, an die Bank, wo vor langem Sigurd +den Kaddosch gesprochen. Esther, kleine Esther -- was war aus ihr +geworden am Grunde der großen Wasser? -- Ein Regentag, gewaltsamer als +dieser, wars, da kamen die Beiden herein, triefend und lustig, und es +gab Verkleidungen und Gelächter. + +Matt, sehr verblaßt glänzten die Farben der Erinnerung durch den +Nebelregen der Jahre. + +Ist es nicht doch besser geworden? dachte Georg; und ernster? >Ein guter +Geist hält über mir die Wage ...< Ich weiß noch: hier saß ich, wie ich +Balto-Borusse geworden war, und fragte mich, welches Gewicht einmal dies +Erlebnis haben würde. Um richtig wägen zu können, dürfte wohl noch nicht +genügend Zeit verstrichen sein, aber ich denke doch: über die letzten +Folgen bin ich hinaus. Ein leichter Herzfehler, Meidung alkoholischer +Getränke, die Erinnerung an Tozzi, an Schwalbe --, das ist wohl alles, +soweit ich sehe, und nicht eben viel. + +Georg wanderte weiter in einer plötzlichen Sehnsucht nach seinem Vater. +-- Ich könnte doch eigentlich viel mehr von ihm haben, stellte er fest, +und deshalb ist es doch schade, daß er nie schreibt. Nein, für +Gedankenaustausch ist er nicht zu haben -- gesetzt, ich hätte was zu +tauschen --; sein Leben beschränkt sich auf Leistung. -- Überdem fiel +ihm eine Andeutung aus Magdas letztem Brief ein, als ob sein Vater es +wieder mit dem Gehen versuchte; er hielt das wohl geheim oder ließ +merken, daß es unbeachtet bleiben sollte, solange kein Erfolg sich +zeigte. Sonderbarer Mensch, der er doch war! Sollte er wirklich der +kranken Frau wegen sich freiwillig diese Fessel an den Fuß gelegt haben? +Und weshalb wollte er nun los? Freilich war er jünger, als man seine +Väter sich so denkt, drei-, vierundvierzig, und konnte noch bald +ebensoviel vor sich haben ... + +Georg war im weiten Bogen zum Ende der Lindenalleen gelangt und ertappte +sich in der Richtung zu Cordelias Hause. Auf die Uhr blickend, fand er, +daß sieben nahe bevorstand. Vielleicht war sie da, -- sie pflegte ja +allabendlich die Blumenstöcke zu gießen und den Vasenblumen frisches +Wasser zu geben. Und wenn sie nicht kam, -- konnte es nicht einmal ganz +schön sein, ohne sie in ihrem Duftkreis zu weilen? + +Alsbald, die stille Alleestraße zwischen Gärten und Landhäusern bergan +geschlendert, öffnete Georg das Gittertor und stieg den gewundenen Weg +hinan zum Hause, das nun ganz in einen Kranz von Dahlien eingefaßt war, +schwarzroten, eigelben, weißen und feuerfarbenen, alle Häupter übersät +mit metallblanken Tropfen. Unter der Vorhalle aber saß, ganz still und +so vertieft, daß er nichts umher sah noch hörte, ein kleines Buch vor +den Augen, Hesekiel. Auf Georgs Anruf kehrte er erschrocken in sich +selbst zurück, dienerte heftig und lief herbei, wehmutvollen Mundes, +aber heiterer Augen. Georg fragte, was er denn lese; er brachte das +Buch, ein Neues Testament. + +Ob er denn auch verstünde, was er lese. + +»Gnä Frau hat mirs angestrichen, was i lesen derf. Sehr schön is, sehr +schöne Sprüch.« + +Richtig fand Georg hier und da ein paar Zeilen, einen Absatz dick mit +Bleistift eingerahmt. »I solls auswendig lernen,« erklärte Hesekiel +diensteifrig, »sie hört mirs dann ab.« + +»Na dann sag mir doch auch mal einen Vers! Einen, den du gern hast, -- +oder vielleicht die gnädige Frau ...« + +Hesekiel zog die Stirn in Falten, schwer sich besinnend. »Es sind halt +so viele«, äußerte er bedenklich, fing aber im nächsten Augenblick an zu +sprechen und brachte stotternd, aber ganz richtig zusammen: + +»Unser keiner lebt ihm selber, und unser keiner stirbt ihm selber. Leben +wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn, +darum wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn, den Spruch hat gnä +Frau so schön gefunden.« + +»Sehr schön, Hesekiel!« Er lächelte mühselig. »Verstehst du's denn +auch?« + +»I woaß net so gnau. I denk mir schon was. Mir san katholisch, mir zwa«, +erklärte er plötzlich. + +»Ah, du und die gnädige Frau?« + +»Ja, mir san katholisch.« + +Georg wußte nun nichts mehr, gab dem armen Teufel sein Buch wieder und +ging ins Haus. + +Sanft grüßend empfing ihn das kleine Wohnzimmer, dämmrig, enger als +sonst. Georg trat ans Fenster, und ihm kam, da er jenseit des ums Haus +führenden Kiesweges große Sonnenblumen stehen sah, die Häupter gesenkt, +schwer von Regenperlen, -- wieder Magdas Brief ins Gedächtnis: er hatte +so in Tränen gestanden, so gebeugt in Wehmut um die Gestorbene. -- Georg +hatte ihr gesagt, unfähig falscher Gefühle zu scheinen vor ihr, daß ihm +keine Mutter gestorben war, und dies hatte ihren Schmerz fast vertieft. + +Unser keiner lebt ihm selber, und unser keiner stirbt ihm selber ... +Georg fand, daß er die ganze Stelle im Gedächtnis behalten hatte, so +hing eines im andern. -- Leben wir, so leben wir dem Herrn ... Auch in +diesen Worten war eine Erinnerung an Magdas sanfte Gestalt. -- Darum wir +leben oder sterben, so sind wir des Herrn. -- Es klang sehr tröstlich; +klang nach Händen, die nichts entgleiten lassen. + +Georg hatte Lust, ihren Brief zu beantworten; nicht zu beantworten, -- +was gäbe es zu antworten auf Schmerz? -- aber zu schreiben. Allein wie +anfangen? + +Jetzt, vor dem Sekretär sitzend, gewahrte Georg sich selber zur Linken +hinter dem bläulichen Glasschleier des Spiegels, ein wenig sonderbar +nicht nur durch die prunkvolle Umrahmung von Leisten und Gespiegeltem, +den Kerzen und der mattblauen Vase, die heute dort stand, den Rand +überhängt von gelben Rosenköpfen, sondern durch die Verschleierung vor +allem, die ihn sich selber wie in einem andern Zimmer erscheinen ließ, +dasitzend einsam, ohne Stunde, ohne Zeit, nicht vergehend. So einsam +also sieht man immer aus, wenn man allein ist, dachte er. Es war +beklemmend hinzusehn, er wollte sich schon wegwenden, entdeckte jedoch +nun in seinen, übrigens wie immer scheinenden Zügen etwas Neues, eine +kleine, neben dem linken Mundwinkel eingegrabene Falte, deren Herkunft +er nicht begriff, bis er, unbemerkt den Mund verziehend, spürte, daß +diese Mundbewegung etwas wie -- Verachtung ausdrückte. -- Dazu, sagte +er, entschlossen sich abwendend, scheint mir denn doch wenig Ursache. -- +Es sei denn Verachtung deiner selbst, fuhr eine andre Stimme in ihm +fort, die er indes überhörte, in Cordelias Schreibmappe nach Briefpapier +suchend. + +Er fand aber zuerst einen Brief mit seiner Adresse von ihrer Hand +darauf, schön, groß, rund, klar in Lateinschrift geschrieben, drehte ihn +herum -- er war offen --, dachte, es sei vermutlich solch einer, wie er +ab und zu bekommen hatte, sei's weil sie ihm einmal absagen mußte, sei's +aus keinem triftigeren Grunde als dem, ein Zeichen zu senden, einen +zärtlichen Gedanken, einen kleinen Vers, -- und richtig, als er den +Bogen erwartungsvoll herauszog und entfaltete, las er Verse: + + O komme, Geliebter, es freun sich die Fluren, + Der Storch und der Star und verwandte Naturen. + Weiß schimmern die Birken auf grünender Trift, + Da ich schreib in die Rinde mit brennendem Stift: + O komme, Geliebter, zu festlichen Stunden, + Wir wollen uns tränken, wir wollen uns munden! + + Die arme Seele. + +Nun da bin ich ja! freute sich Georg, aber wo bleibst du? -- Wie +lieblich sie das wieder zusammengeleimt hatte, gar nicht empfindsam, +klein und frisch wie ein Veilchenstrauß! Sie war ein Juwel. + +Aber er wollte doch an Magda schreiben, und damit ließ sich nicht +anfangen. Indem geriet ihm, als er mit einem verlorenen Blick hinter +sich die Bücherregale streifte, die im Eck neben dem Sofa +zusammenstießen, Irene in den Sinn, nach der Magda gefragt und die er +gestern wieder einmal mit einem Detektivroman im Arbeitskorb gefunden +hatte. Und im selben Augenblick hatte er eine so schöne Hohnrede über +sie, mit soviel aparten und glatten Wendungen im Kopf, daß er hastig ein +paar frische Bogen aus der Mappe fingerte, seinen Halter zog und zu +schreiben begann. + +Liebe Magda: + +Dies also, dies ist Irene Herzbruch! Dein Wunsch, von ihr zu hören, +umarmt den meinen, von ihr zu reden. Gut, fangen wir an, liefern wir +eine Beschreibung. + +Daß sie mit ihrem Mann vor ein paar Monaten ihre Langenhagener +Sommerwohnung bezogen hat, weißt Du, vermutlich auch, daß sie diese +Wohnung -- eine Photographie bekommst Du -- mit Herzbruchs Schwester, +Dora Vehm und deren Mann teilen. Nachdem ich dreimal ganze und halbe +Tage draußen gewesen bin, habe ich die Männer übrigens noch kaum zu +Gesicht bekommen. Dr. V. hat seine Praxis und Sprechstunden in der +Stadt, H. dito seinen Verlag. Dora Vehms erinnerst Du Dich vielleicht +von Irenens Hochzeit: prachtvoll anzusehn, mit dunkler Haut, schwarzem +Haar, schwarzen, glänzenden Augen und einer schönen, sicheren und freien +Haltung. Die Stimme manchmal etwas schrill, zum Beispiel, wenn sie sagt: +Nein, das ist ja rasend komisch! -- (N. b. daß sich doch alle Frauen im +gesellschaftlichen Umgang solche Übertriebenheitsworte angewöhnen +müssen, wie rasend, oder himmlisch oder reizend.) Diese tüchtige Frau +ist Urheberin einer Volksspeiseanstalt, wo Arbeiter und Frauen für 40 +oder 50 Pfennige ein nahrhaftes Mittagbrot bekommen, und diese Anstalt +leitet sie ganz allein, teilt sogar nicht unhäufig selber das Essen aus; +ferner ist sie Vorsitzende irgendeines Frauenvereins; ferner leitet sie +ihren Haushalt; ferner hat sie Freunde, denen sie lange Briefe schreibt; +ferner singt sie, und gar nicht schlecht; ferner geht sie in viele +Konzerte, Theater, Vorträge, Vorlesungen; ferner ist sie in der schönen +Literatur verblüffend bewandert, und auf ihrem Tisch liegen Knoop, +Kierkegaard, Hamsun und die Geschichte des Dr. Bürgers von Hans Carossa; +und schließlich hat sie zwei entzückende Kinder von drei und fünf +Jahren, Knaben und Mädchen, mit denen sie, ungelogen, niemals weniger +als eine volle Hälfte des Tages zusammen ist. Da soll einer sich ein +Beispiel nehmen. Und nicht etwa, daß dieses Ganze ein verfitzter +Rattenkönig oder Schlangenballen wäre, aus dem all diese +unterschiedlichen Verrichtungen mal dieses mal jenes Haupt züngelten, um +was zu verschlucken, sondern ohne Unrast, ohne Fahrigkeit, auf einer +einzigen, sanft und ebenen Linie rollt ein solcher Tageslauf einer +solchen Frau ab, sie ist heiter, gelassen und fröhlich, und hat immer, +immer noch für ein Dreizehntes Zeit in der zwölften Stunde. + +Ach so, ich wollte von Irene schreiben. Du merkst, daß ich diese Frau +anbete und verehre. Von dem Denkmal, das ich ihr in meinem Herzen +gesetzt habe, war dies eben ein freilich sehr kümmerlicher Abdruck. Ein +Hurra allen wackeren Frauen, würde Bernhard Kellermann sagen. Also nun +Irene. + +Als ich das erstemal zu ihr kam, -- ja, also das Haus siehst du sehr +schön auf einem Hügel liegen, der von der Chaussee langsam flach +ansteigt: zu unterst sind Gemüsefelder, dann kommt ein Blumengarten -- +alles noch neu und sehr spärlich, zumal um diese Jahreszeit, dann Wiesen +mit dem Haus in der Mitte; die rückwärtige Seite ist mit der >Hecke< +bewachsen, wie man das hier nennt, das heißt also Buschwerk und +Unterholz, Haselstauden, Eschen, Weiden, auch Tannengestrüpp, ein wahres +Dickicht, Wassertümpel und zuletzt ein kleiner, abgenutzter Steinbruch. +Ja, also da fand ich Irene, ihrer Stimme folgend, die von weither +gellend hörbar war: Sie! Sie haben ja ihren Fusel noch dick in den +Augen! Was Sie sind? Sie sind weiter gar nichts als ein besoffenes +Schwein, wissen Sie das? Gehn Sie mal nach Hause und schlafen Ihren +Rausch aus -- und so weiter. Ja, da stand sie breitbeinig im Bohnenbeet, +einen Spaten schwingend, aber der so beschimpfte Gärtner war wirklich +äußerst betrunken und gerade dabei, tätlich zu werden. Ein andermal fand +ich sie mittags auf dem Rasen im Dickicht mit einem Roman von +Skowronnek. Und das drittemal trug sie mit der Forke von einem kleinen +Handwagen den Kompost und verteilte ihn über die Melonenbeete. + +Dies wäre Irene? Freilich, freilich! Und was wäre viel dagegen zu sagen, +wenn nicht -- ja, wie soll ich das beschreiben? + +Sieh mal, wenn die Frau eines Rittergutspächters, dessen Dasein reineweg +von seinen Äckern, Beeten und Ställen abhängt, sich so gehabte, da wäre +das trefflich, obzwar auch dann noch zu fragen wäre, ob hierzu der Weg +über ein Kloster vonnöten gewesen wäre. Was ist alte, älteste männliche +Forderung an eine Frau? Daß sie das Notwendige mit Anmut tue. Was heißt +Anmut? Eben jene Leichtigkeit und Gelassenheit der Gebärde, jene +Unscheinbarkeit, ja Unsichtbarkeit des Tuns, jenes Darüberschwebende des +Ganges, so daß von allem Kräfteaufwand nichts eigentlich vor andern +Augen erscheint, als der Überschuß und die Freiheit zu andern Dingen, +eben jene Anmut Dora Vehms, welche genau die des Trapezkünstlers ist, +der nach jeder Vorführung, ein Lächeln auf den Lippen und mit +ausgebreiteten Armen vortänzelnd, dem Zuschauer vorzuspiegeln hat, daß +seine Leistung Kinderspiel sei, abgetan zwischen zwei kleinen Atemzügen. +Sie aber geht in diesen Dingen bis zur Selbstvernichtung auf. Wenn sie +morgens früh um fünfe ihre Hühner füttern muß, so schläft sie natürlich +Glock neune ein. All dies, um im Winter selbst eingeweckten Spargel und +selber eingekochtes Pflaumenmus essen zu können. »Und das Ganze«, hören +wir meinen Vater sagen, »ist denn wie an die Wand --, usw.« Langsam +umnachtet sich ihr Geist. Bücher liest sie keine, außer den oben +angezeigten. Für derbe Worte und Redensarten hatte sie immer eine +Vorliebe; Rhinozeros ist ihr Lieblingswort, das sie ja freilich am +fröhlichsten an sich selber verschwendet. Siehe sie dastehn: in einem +lachsfarbenen Morgenrock, Rüschen an Hals und Ärmeln wie immer, mit +ihren sanft und länglich gerundeten Hüften -- noch sind sie's -- tausend +goldne Lockenwirbel ums krebsrote Gesicht, indem sie sich mit dem +Zeigefinger vor die Stirn tippt und sagt: Ich Rhinozeros! + +Schließlich weiß man ja nicht, wie lange sie's treiben wird. Ferner ist +auch die Abwesenheit ihres Mannes in Erwägung zu ziehn, aber wiederum -- +die sozialwissenschaftliche Hauptabteilung seines Verlags, und die neue +Zeitschrift gleichen Charakters, die er jetzt zu gründen im Begriff ist, +könnten ihr genug Gelegenheit bieten, mit ihm zusammen ein gemeinsames +Leben ernster und würdiger, wirkender und fortwirkender Tätigkeit zu +führen, anstatt daß sie sich Sommers abrackert, um Winters essen zu +können. Sauwohl fühlte sie sich, sagt sie, und überhaupt sei dies die +wahre Bestimmung des Menschen, zu essen und zu trinken und dafür zu +sorgen, daß man zu essen und zu trinken habe. Ihre Geige, wenn du danach +fragen solltest, ist seit Monaten vergessen. Gewiß: Bau und Einrichtung +von Haus und Garten mußte sie so ziemlich allein bewerkstelligen, und es +ist ja auch reizend geworden, aber wozu? Sie wohnt ja nicht, sie hat ja +immer bloß zu tun. Ihre Kleider sind entzückend, sie macht sie selbst, +Renate auch, aber ich habe Renate nie am Schneidertisch gesehn. + +Ja, wären nicht die Kinder -- du weißt, ich liebe Kinder -- und Dora +Vehm, so würde ich diesen Verkehr vermutlich aufgeben. Manchmal ist ja +auch H. abends anwesend, und auch der Doktor ist ein feiner, freilich +sehr stiller, in sich gekehrter Mensch, aber da braucht man nur +irgendeine Sache unterm Himmel zu berühren, so giebt es ein schönes, +ernstes Gespräch, man fühlt einen feinen Keim in die Brust fallen, und +die Stunde war nicht umsonst. + +Ehrlich, Magda: Im Gastbuch unseres Korps fand ich die folgenden, +sonderbaren Verse meines Papas, soviel ich weiß die einzigen, die er je +gemacht hat, frei nach Storm: + + Habe niemals eine Meinung! + Innerstes bleibt stets verborgen. + Was am Nachbarn du bedauerst, + Tust du heute, tust du morgen. + +So würde ich mir auch nicht diese Meinungsäußerung über die gute Irene +erlaubt haben, wenn ich nicht selber während der Trassenberger Monate +ernstlich an mir selber gefeilt und mich besonnen hätte, was ich war, +und wer ich sein soll. Ich habe auch ganz tüchtig gearbeitet, denn das +abgebrochene Altenrepener Semester drückte kräftig genug, und wenn auch +Greifbares nur wenig dabei herausgekommen sein mag -- ein Überblick, +flüchtig genug, über das gesamte, über dies ungeheuerlich horrende +Besitz- und Arbeitsfeld Papas -- so habe ich doch Arbeitslust und +Zukunftseifer in reichlichem Maße davongetragen. Froh bin ich dabei -- +darf ich das einmal sagen? -- daß Du, immer Gütige und Verstehende, +meinem Wege treu geblieben bist, und mit mir hoffst, und mit mir +vertraust. Denn das tust Du doch, nicht wahr? Deine Briefe taten mir so +wohl! Wirst Du nicht bald einmal wieder nach A. kommen, damit ich Dich +singen hören kann? Oder ist die Stimme noch immer nicht so weit? Nein, +nein, rede mir Du in deiner Bescheidenheit das nicht aus: Dein Gesang +ist besser als Irenens Einmachegläser. Weiland Josef Montfort schenkte +mir einmal -- der Großmütige! -- ein Wort; es ist von Salomo und lautet: +Erhalte dir dein Herz, denn aus ihm kommt das Leben. Aus dem Herzen +kommt Deine Stimme, aus einem allwissenden Herzen, Magda, ich muß es +sagen, und ist Leben und muß Leben wirken. + +Irene hat ihr Herz eingeweckt; möge sie sich im Winter ihres +Mißvergnügens daran laben. -- + +Georg hielt inne. Der Nachsatz, fand er, hatte den Abschluß verdorben; +nun konnte er so nicht enden, und ein Übergang war schwer zu finden. +Auch schien ihm noch etwas zu fehlen, ja, die Hauptsache war mit den +wenigen Worten gegen Ende doch noch nicht ausgesagt, sein dankbares +Gefühl für sie und ... + +Er stand auf, trat ans Fenster, merkte, daß der Regen stärker +niederrauschte, und schloß es. Sogleich dämpfte sich der Lärm, aber +Georg gewahrte auch, daß es dunkler geworden war mittlerweil, er mußte +zum Ende kommen. Da verschleierte sich der Raum langsam vor seinen +Augen, er sah noch vom Sofatisch her etwas Rotes dunkel glimmen, das +Rubinglas, das er einmal mitgebracht hatte. Es quoll undeutlich in ihm, +er sah wieder den für Magda bestimmten Brief liegen, setzte sich davor +und schrieb: + +Ich mußte eben die Feder hinlegen und lange am Fenster stehn. Es ist +dämmrig, der Regen schlägt an die Scheiben. Esthers Volière fand ich bei +Irene, wo ist Esther? -- Wie sind wir Alle auseinander gewirbelt! Daß +wir immer wohl dies und jenes unternehmen können, aber halten läßt sich +nichts davon. Wer hielte sein eigenes Herz, geschweige denn fremde? +Unwiderstehlich angezogen treiben wir zu immer neuen Wirbeln hin, und +schaurig ist, daß, was am wildesten glühte, am eiligsten erkaltet. +Ferne, liebe Freundin, ich weiß nichts von Dir, aber wie den guten, +immer gleichen Benno hier -- natürlich vergaß ich den Allzubescheidenen +zu nennen, als ich eben die Hiergebliebenen zählte -- so sehe ich Dich +dort: ein Bleibendes im Getümmel, eine sanfte Säule im Kreisen, einen +immer steten, leisen, aber in jeder Stille um so geheimnisvoller +vernehmbaren Ton, und ich denke: tausend Saiten des aufgeregten Daseins +schwirren und rasseln ihr verworrenes und bezauberndes Spiel: eine Saite +ruht immer und tönt tagein, tagaus, jahrein, jahraus immer den gleichen, +himmlisch einfachen, und o so tröstlichen Klang! + + In Dankbarkeit der Deine + +Im Begriffe, seinen Namen zu schreiben, hielt Georg ein. -- Was ist denn +das? sagt er schwer aufatmend, was hast du denn da gemacht? Du hast ja +gelogen. An sie hast du nicht gedacht, sondern hast Cordelia empfunden, +und das Gefühl nur ein wenig umgewandelt, daß es paßte ... + +Aber wenn es paßt, mußte er sich widerlegen, so hats doch seine +Gültigkeit irgendwie. Eben war es so, daß ich nicht an Magda denken +konnte, wenn ich es aber wirklich tue, ernstlich, so empfinde ich auch, +wie ich schrieb, und -- ja, und das vor allem wars, was ich empfand: sie +wird immer bleiben, immer -- + +Und Cordelia? Ist es denkbar, je ohne sie zu sein? + +Jetzt höre ich auf zu denken für mindestens drei Stunden, dachte er +ärgerlich lachend, unterschrieb, faltete und schloß den Brief in einen +Umschlag, den er adressierte, worauf er sich erhob, um in der Sofaecke +nun ganz die Dämmerung zu genießen und die Erinnerung an die +Zärtlichste, die Einzige ... + +Im Niederlassen jedoch merkte er, daß er sich auf etwas Hartes, +Buchartiges setzte, und zog unter sich ein großes Heft im Aktenformat +mit blauen Pappdeckeln hervor, schlug es auf und las im Zwielicht das +groß und geschwungen -- als Titel -- von Cordelias Hand geschriebene +Wort: Theodosis; darunter, kleiner: Tragödie. + +War das eine Rolle? Er hatte noch nie den Namen gehört. Auch schien ihm +jetzt, als er das Blatt umschlug und Verse fand, die Handschrift +Cordelias anders als jetzt, nicht so ausgeschrieben, jugendlicher; und +schon im Begriffe, das oben stehende Personenverzeichnis zu lesen -- +Pelagios, Thespesios hatte er schon erhascht -- hielt er sich zurück, +von einer Art Duft oder Hauch berührt, der ihm Einhalt bot; schlug das +Heft wieder zu und legte es auf den Tisch. + +Und dann hörte er deutlich durch das Regengeräusch das Nahen eines +Automobils; es ward lauter, kam ganz nahe und verstummte dann. Das mußte +sie sein. Georg war im Nu durchs Zimmers, die Treppe hinunter, trat +unter die Säulen vor der Tür, als sie eben den Weg heraufkam, ohne Hut, +im grünen Regenmantel, und hielt sie im nächsten Augenblick in den +Armen. + +Im Zimmer oben zog er sie eifrig zum Sofa, als sie das Heft bemerkte und +-- zum erstenmal glaubte er diese Bewegung zu sehn -- die Augen +feindlich zusammenzog. -- »Hast des gfunden?« fragte sie. + +»Es lag in der Sofaecke. Sollt ichs nicht sehn?« + +»Warum net gar? Die alte Sach.« Damit hatte sie's aufgenommen, ging zum +Kastenschrank, zog unten eine Lade auf und legte es hinein. Im +Zuschieben mit Händen und Knien schien sie sich zu verlieren, richtete +sich langsam wieder auf und trat an das Fenster. + +Erinnerungen, dachte Georg; sie ist traurig geworden. -- Nein, diesmal +will ich nicht, wie man immer tut, Zartgefühl nur durch Schweigen +beweisen. Erinnerung will gelöst sein, nicht zerdrückt -- und er ging +leise zu ihr, zog sie an sich und fragte behutsam, über ihr Haar +streichelnd: »Warum hast du's fortgelegt?« -- Sie schwieg. Wie ihr Haar +duftete! Sie atmete stark. + +»Möchtest du mirs nicht vorlesen?« fragte er wieder, da er ein leises +Nachgeben in ihren Schultern zu spüren meinte. »Oder spielen?« setzte +er, noch leiser, hinzu. + +Eine lange Weile blieb sie still. Dann, heftiger atmend, fragte sie +weich: »Woher weißt denn, daß ich spielen kann?« + +Nun hielt ers für das beste, zu schweigen. Immer tiefer und schwerer +wogte ihre Brust. + +»Möchtest du's denn gern?« flüsterte sie kaum hörbar und räusperte sich. +-- Er drückte sie an sich. »Wart ein Weilchen«, sagte sie schnell, +drückte sich um ihn herum, lief durchs Zimmer und verschwand. + +Es war ganz dunkel geworden. Georg, am Fenster stehend, dachte: Ich +sollte nie fragen! sagte sie im Anfang -- und nun kommt es doch, ganz +von selber. So ist es im Leben. Eine wirkliche Elsa hätte auch nicht +geradezu gefragt: Wer bist du? Wo kommst du her? -- Eines Tages hätte es +sich von selber ergeben, und dann wäre es auch vermutlich nicht halb so +schlimm gewesen, wie der Lohengrin ankündigte ... + +Er mußte jedoch lange warten, bis sie wieder kam. Still und ernst, auf +unhörbaren Füßen erschien sie im dunklen Raum, dunkel selber im Haar und +dem schweren, schwarzen Mantel; nur ihr Gesicht schimmerte sehr weiß. + +»Setz dich ins Sofa«, bat sie, und er tats. Sie blieb vor dem +Kastenschrank stehn, legte still eine Hand in die andre und sprach, das +Gesicht zum Fenster gewandt, erst nach langer Zeit: + +»Theodosis war eine arme Seele. Sie war stumm geboren und blind. Dennoch +fand sich ein Mensch, der sie liebte, dem sie vermählt wurde, und der +von einem Nebenbuhler erschlagen ward in der selben Nacht. Nun kommt ihr +alter Lehrer Thespesios, der sie als Kind lehrte, den Druck seiner +Finger in ihrer Hand zu verstehn und zu erwidern, und sagt ihr, was +geschehn ist. Der Schrecken durchbrennt sie, sie lodert auf, sie kann +sprechen.« + +Cordelia schwieg. Georg, in seltsam tiefer Erregung, da er ihre Stimme +noch nie so gehört hatte, so tief und tönend, so voll aufkeimender +Musik, sah ihre Augen durch den Raum wandern, mit fernem Blick, +unsäglich ernst, bis zu ihm, doch sah sie ihn nicht an. + +Auf einmal glitt von ihren Schultern der Mantel -- ihr Leib glänzte fast +metallisch auf in der Dunkelheit --, glitt bis zu den Hüften, wo ihre +linke Hand ihn hielt; die Rechte streckte sich ein wenig vor, steif, als +würde sie von einer andern gefaßt. Sie hielt den Kopf lauschend +vorgesenkt; dann entflog irgendwo ein gurgelnder Laut: »Weh über mich!« + +Die Rechte noch in derselben Haltung, fuhr die Linke zum Munde, in ihrem +Blick war Entsetzen, der Mantel war am Boden, aber jetzt -- kaum daß +Georg noch Worte vernahm, so flutete eine maßlose Stimme durch den Raum, +wie ein Engel in tosenden Flügeln -- + + »Mein Mund! was ist mit meinem Mund? er brennt! + Wehe, ich brenne! eine Flamme schlug + Aus meinem Mund, und alles steht in Brand. + Was ist? ich höre eine schreckliche + Entstellte Stimme. Meine Stimme ists! + Ich konnte sie nicht halten ...« + +Sie war still: sie stand noch immer wie zuerst. Georg bebte am ganzen +Leib. Diese nie gekannte Stimme! Diese singende Kraft, diese +schwelgrische, üppige Musik, und Verse, die sie schwang wie Fackeln und +Dolche, lodernd, triumphierend, in seine Brust. Und nun -- nur die Arme +ein wenig zu einer hülflosen Gebärde des Umarmens ausgestreckt, tiefer +gebeugten Leibes -- sang sie weiter: + + »O Stein an meinem Mund, o kalte Säule! + O Mund, ich schließe dich an diesen Stein, + So stumm warst du, so eisig diese Nacht, + Da über dir ein andrer Mund verglühte, + In dich hineindrang, aber du warst Stein ...« + +Sie warf die Hände empor und rückwärts zum Genick, empor das Gesicht: + + »Nun schrei, zerborstner Stein, nun gell es aus, + Daß ich nur höre diese grauenvolle, + Verworfne Stimme, die nur ward zum Schrei + Erschaffen, nur zum Schrei!« + +Wieder vornüber sinkend, faltete sie die Hände in der Höhe der Brust, +sie wand sich zart, Georg sah jetzt ihr Gesicht, entfremdet, die Augen +geschlossen, schmal geworden; sie lächelte Gram: + + »O meine Kindheit! + O meine Sehnsucht, süß und schmerzenvoll! + Da alle Welt voll Lieder war und klang, + Wie tönte jedes Ding, wie sprach von Liebe + Das kleinste auch, dran meine Hände rührten, + Du Becher, draus ich trank, du Ring, du Vase, + Glücklich beredt, und lächelte mich an, + Daß ich euch liebte tief aus meinen Schmerzen. + Dann manchmal schiens, als sei doch einmal alles + Verstummt, und kein Geräusch als in den letzten, + Versteinerten Tiefen, dunkel in mir murmelnd, + Die Stimme, meine Stimme, die vergrabne, + Arbeitende ... Ich konnte ihr nicht helfen.« + +War das denn Spiel? Übermannte sie jetzt wirklicher Schmerz? Aber da +wich schon die Qual, sie lächelte wieder, doch fielen die Hände +auseinander, fielen ab, unwissend geschlossen bis zu ihren Schenkeln, wo +sie haften blieben, und sie stand nun, eine hülflos gekrümmte Figur ... + + »Wie sollte sie + Einst süßer tönen! ach, wie sollte sie + Liebkosen! all die stummen Herzen sollten + Von ihr gestillt und fröhlich sein. Es würden + Die alten, göttlichen, unsichtbaren Flügel + An ihren Schultern wieder sichtbar werden, + In Himmel tragen, die entgegenschweben ...« + +Ihre Stimme, zu innigster Innigkeit versüßt, verhauchte im Geflüster der +brünstigsten Sehnsucht: + + »Ich wollte ihnen dienen. O in Schauern + Sollten sie stehn und horchen: Hört, es klingt + Die Erde, ja die Erde klingt, die alte. + Alles wird klingen, alles ist voll Liebe, + Wir Menschen sind geliebt, wir sind geliebt, + Denn eine Blinde baut uns goldne Brücken, + Denn eine Stimme kam, um uns zu dienen ...« + +Mein Gott, sie sprach ja von sich selbst! Das war ja sie, sie, und +stockte nun, besann sich, sagte stumpf: »Nun schreit sie bloß!« und flog +plötzlich in ihren Armen empor in den Raum, stand langausgestreckt nach +oben, schmerzausjauchzend wie eine knatternde Flamme: + + »Ach, was aus mir + Jetzt Worte schleudert, nennt ihr Sprache, ach, + Nur meine Stummheit ists, die reden lernte + Und alles überschreit! O daß ich sänge! + Eindränge in die Seelen mit Gefühl, + Die Namen stammelnd, Namen, blühend, Kinder, + Im Welken Himmlische, und Worte, Worte ...« + +War es denn zu Ende? Georg wagte nicht, sich zu bewegen. Sie stand immer +noch wie zuletzt, die Augen geschlossen. Dann schien sie zu wanken. +Georg sprang auf und kam eben rechtzeitig, sie aufzufangen. Sie fiel +abgebrochen gegen ihn wie eine Säule. Er fühlte sie schweißbedeckt und +eiskalt am ganzen Leib, aber sie war nicht ohnmächtig, sie zitterte, er +raffte den Mantel vom Boden, selber zitternd, und hüllte sie hinein, +während Gedanken in ihm schwirrten wie Funken. Sie an sich drückend, +flüsterte er stumm: »Ich weiß ja, ich weiß ja nun alles. Ärmste, du hast +nie spielen dürfen, was du konntest, du hattest -- ach, was weiß ich, +wie es war, aber nun ... Komm,« sagte er sanft, »komm, leg dich hin, +komm, es ist ja nun gut! ich weiß ja nun ...« + +Da horchte sie auf. »Was weißt du nun?« hauchte sie. + +»Ach -- alles; was dir fehlt, wer du bist. Aber das hat nun ein Ende. +Ich kann ja alles für dich tun, ich --« + +»Was willst du tun?« fragte sie, seltsam schmelzend und ergeben. + +»Ach ... Du weißt doch: das Theater ist doch nichts ohne meinen Vater, +und ich selber ... man hat doch alles für Geld. O die Schurken, nun weiß +ich alles! Was soll ich tun, Herz? Soll ich morgen zum Intendanten gehn? +Willst du hier bleiben? Willst du nach Berlin? Sag doch, Herz, du +bekommst ja!« + +»Zum -- -- In--ten--danten?« sagte sie vergehend. Ihm schmolz das Herz +in der Brust. Mein Gott, warum hatte sie denn nur geschwiegen, immer +geschwiegen! + +Da merkte er, daß sie weinte. Und dann war sie auch schon in ein +Schluchzen ausgebrochen, daß ihm das Herz stillstand vor Grauen. Sie +schüttelte sich minutenlang wie ein rasendes Tier, dann brüllte es aus +ihr heraus, sie fiel vornüber so schwer, daß sie ihn mitriß, er mußte +knien, um sie zu halten, sie lag halb am Boden, er richtete sie auf, sie +wimmerte, er sah ihr Gesicht, aus den geschlossenen Lidern schossen +stromweis die Tränen, während der Mund sich verzerrte, und sie fiel +wieder um, er richtete sie mit Mühe auf, sie fiel ihm über den andern +Arm, lag am Boden, schluchzte, schluchzte, schluchzte, sie schüttete +Schmerz aus, wimmernd aus keuchender Brust, als würden eiserne Stücke in +ihr zerbrochen, und es nahm kein Ende. + +Georg konnte nur noch neben ihr sitzen und ihre Hand festhalten, selber +wie erfroren vor Mitgefühl, bis der Ausbruch langsam zu erlöschen +begann, das Weinen leiser wurde, das furchtbare Zittern aufhörte; bis er +es dann wagte, sie aufzurichten und zum Sofa zu führen, wo sie sich +hinbetten ließ und dann still wurde. Er trocknete ihr geschwollenes +Gesicht, die immer noch fließenden Augen mit seinem Tuch, doch nahm sie +es nun fort, schob sich ein wenig höher in den Kissen, öffnete die Augen +und sah ihn an. Ihren Blick -- dunkel, kaum sichtbar im Dunkeln, da sein +Schatten noch über ihr lag -- verstand er nicht, auch schloß sie die +Lider bald, lag still und sagte leise: + +»Weißt du, Georg -- wir wollen noch ein wenig warten ...« + +»Ach, nun wieder warten!« + +»Ja, Georg. Sieh mal: -- -- es ist doch nun alles anders geworden, als +ich dachte. Ich muß mich ja nun ganz -- herumdrehn. Ich -- ich möchte +aber nicht, daß du in -- in dies hineingerätst, was ich jetzt bin.« Sie +sah ihn nun wieder an und schien zu lächeln. »Sein Stolz hat halt a +jeds. Ich möcht auch schon net hier bleiben, wenns einmal anders werden +soll. Da mach ich erst hier ein End, und dann -- in Berlin -- da bin ich +ganz frei, da hast mich dann ganz für dich und kannst mit mir machen. +Möchtst das net? Georg?« + +Georg wand sich und war gar nicht einverstanden. + +»Na, Georg, du mußt das doch einsehn! I kann doch net so auf einmal! +Sagn mir halt: Berlin. Is recht, Georg?« + +Georg gab nach für den Augenblick. Es ist ja noch ein Monat Zeit, +einerseits -- und vielleicht hat sie ja auch recht. Wenn schon überhaupt +anfangen, dann ganz oben, dachte er, küßte sie dann zärtlich und ließ +sich von ihr das Haar glätten. + +»Aber Cordelia,« mußte er nun gestehn, »was kannst du alles! Es ist ja +unerhört!« + +»Ich kann schon was«, meinte sie mütterlich. »Und dann für dich ...« + +»Wie du nur dastandest! Hast du wirklich die ganze Zeit mit +geschlossenen Füßen gestanden? Alles mit den Armen gemacht und mit der +Stimme? Kind, was hast du für eine Stimme!« + +Sie lächelte sanft, schloß die Augen, seufzte und streckte sich aus. + +»So ist gut, Georg. So liegen ist gut. Und nimmer viel reden, weißt! Ich +ruh mich ein wenig. Wir haben ja noch die ganze Nacht.« + +Die ganze Nacht ... Er deckte sie sorgfältig mit dem Mantel zu bis ans +Kinn, tastete nach ihrer Hand darunter und hielt sie. Ein wenig wandte +sich ihr Gesicht herüber. Sie lag still. Und so saß er bei ihr, +glücklich, dankbar, gut sein zu dürfen, hülfreich. Der Herbstregen +schlug schwer gegen die Scheiben. Er hörte den Gang der Pendeluhr durch +das Geräusch der Wassers, langsam, seelenruhig, und sein Innres ebnete +sich, hinschwellend durch die immer sanftere Stunde, der verhangenen +Ebene gleich, zu den zaubrischen Wäldern der Zukunft. + + + Wiederkunft + +Renate, mit Saint-Georges und Magda, die vor ihrer Rückkehr nach Berlin +noch einige Zeit bei ihr bleiben wollte, aus Helenenruh heimgekehrt, +suchte ihr Zimmer auf, um sich umzukleiden. + +Die Fenster im Wohnzimmer standen weit offen; es war wie im Freien, der +Septembernachmittag drinnen wie draußen leicht, bläulich und +durchgoldet. Auf ihrem Schreibtisch fand Renate eine kleine Druckschrift +-- Feruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst -- aus der +ein kleiner Zettel fiel; von Ulrikas Hand stand darauf gekritzelt: Ich +bin in der Kapelle. Bogner sitzt im Garten. + +Das Mädchen trug mit dem Chauffeur Koffer und Hutschachteln herein. +Renate legte Jacke und Hut ab, auf einmal ein wenig wehmütig, ohne +erkennen zu können, weshalb. Ob es schon die Luft des Hauses war, die +sie wieder bedrängte? -- Sie trat ans Fenster und vergaß für Augenblicke +die trübe Wallung über dem Anblick weißer, goldiger Wolkenstreifen im +Blau über den noch schweren und dichtgrünen Massen der Gartenbäume. + +Und siehe da: Bogner saß -- natürlich drehte er ihr den Rücken zu! -- +auf einem Feldstühlchen vor einem roten Busch, ein großes Skizzenbuch +auf den Knien, aber die rechte Hand, die Renate sichtbar war, lag völlig +still; er betrachtete nur. + +Und dort zur Linken -- ja, da saß der Onkel, nicht anders scheinend als +ein friedlicher Patriarch, kahlhäuptig und weißbärtig, auf der weißen +Bank in der Grotte von Buschwerk, neben der ein Birkenbaum, goldgelb im +Laub, leichte Wache hielt, vor sich den Rasenplatz. Gedämpft aus der +Kapelle ward die Orgel hörbar -- alles war wie zuvor, nicht leichter, +nicht schwerer, aber -- da es wieder neu war -- schwerer ließ es sich +auch wieder an. + +Renate ging ins Schlafzimmer, zog eilig Rock und Bluse aus, wusch sich +im Badezimmer, legte dunkelblaue Seidenstrümpfe, die ihr grad in die +Finger gerieten, an, kleine blaue Schuh und irgendein weißes Kleid, +locker und schlicht von oben bis unten, beim Zuhaken bemerkend, daß es +einen hohen, anschließenden Kragen hatte, mit kleiner Rüsche, in +Wellenform geschweift unter Kinn und Ohren. Als sie ihre Schatztruhe +öffnete, überkam sie Erinnerung. Der freie Raum darin, den die +aufgeschichteten Lederkästen ließen, war angefüllt mit dem bunten, +glitzernden Gewirr des Alltagschmucks; sie griff hinein und zog ein +Bündel langer Ketten heraus in allen Farben, blaugrün, rosenfarben, +weiß, gelb und gelbgrün; ein mattgoldner Armreif fiel zurück, und sie +ließ das Ganze wieder sinken, legte die Hand auf einen der Kästen und +dachte an ihr erstes Halbjahr im Hause, wo der Onkel und Josef +allwöchentlich gewetteifert hatten in Geschenken, die dann sie, immer +eines bis zum nächsten, tragen mußte, abwechselnd einen Tag um den +andern. Kleine Verse hatten sie dazu gemacht -- + + Eine Chatelaine -- + Perlen nennt man Tränen. + Tränen sind aus Salz -- + Schling sie um den Hals. + +Ihre Augen verschleierten sich; sie löste eine lange Kette von +fingernagelgroßen, länglichen Perlen aus Lapislazuli, hartblau mit +goldenen Spuren, aus den übrigen, legte sie über den Nacken und ließ sie +vorn bis zum Schoß herunter fallen. So ging sie, Ulrikas Heft an sich +nehmend, hinunter. + +In der Halle jedoch hielt ihr lebensgroßes Spiegelbild sie auf. -- Wie +seh ich denn aus? fragte sie sich erstaunt, ich bin ja ganz fremd +geworden! -- Aus dem weißen Kleidhals mit der blauen Kette stieg ihr +Gesicht, fast so braun wie ihr Haar; die Wangen glühten röter als sonst, +auch der Mund, und die Augen, tiefer liegend, schienen in dunklerem +Feuer zu stehn. Plötzlich fühlte sie sich so angeprahlt von den eigenen +Farben und Gluten, daß ihr das Blut in die Wangen schoß und sie sich +abwandte. -- Wofür denn nun all das, wofür? Was soll denn ich damit, und +ich brauchte es ebensowenig mehr zu tragen wie den Schmuckberg da oben, +der bald zwei Jahre im Finstern liegt. -- + +Überdem fiel ein Schatten von draußen herein, der Onkel erschien in der +Tür. Auch seine Stirn, die kahle, schöngewölbte, war gebräunt, die +heitern Augen hatten keinen Blick, fast verhangen vom Weiß des Bartes. +Seltsam hoch und spitz -- fast wie bei einem heiligen Antonius eines +alten Bildes -- war sein kahler Kopf. -- So ging er vorüber und hinaus. +Die Hände gefaltet sah Renate ihm nach. + +Eine Weile später stand sie ein paar Schritt hinter Bogner. Auf dem +Blatt war ein Durcheinander, von allen vier Rändern ins Weiße +gezeichnet, Blätter, Zweige, ganze Stücke des Busches, einzelne Blätter +haargenau, ihre Drehung, Schattung, Glanz und Zahnung, Ansatz am +Stengel, Verknotung im Ast, alles hundertmal lebendiger geworden im +Durchgang durch seine Augen, als die Augen Renates es am wirklichen +Gewächs wahrnehmen konnten. -- Ach, hier war Leben, hier wars! -- + +Leise ging sie wieder davon, setzte sich auf die Bank, auf der sie zuvor +ihren Onkel gesehn hatte, und versuchte, sich in die Zeit der +Friedliebenden Gesellschaft zurückzuversetzen, indem sie nicht zu Ulrika +ging, da die Zeit zur Begrüßung von selber herankommen würde. Sie +öffnete die Druckschrift, sah zu Bogner hinüber, sah empor und erblickte +das Gesicht von Saint-Georges' Bruder zart und rosig an seinem Fenster, +nickte ihm zu und winkte. Er, tief errötend wie stets, sprach ins Zimmer +hinein, und gleich darauf erschienen Magdas Gesicht und +schwarzbekleidete Schultern, die nickte und lächelte, dann auch +Saint-Georges. -- Sie zogen sich wieder zurück. Renate blätterte zum +Anfang des Buches, hier und da einen Blick hinein stechend, blieb haften +mit einem und las: + +>Und was kann schließlich die Darstellung eines kleinen Vorgangs auf +Erden, der Bericht über einen ärgerlichen Nachbar -- gleichviel ob in +der angrenzenden Stube oder im angrenzenden Weltteile -- mit jener +Musik, die durch das Weltall zieht, gemeinsam haben?< + +Hineinsinnend in das königliche Wort hob Renate die Augen. Auf der +Veranda stand Magda, schmal, im hängenden schwarzen Kleid, aber schön +bräunlich von Antlitz. Bogner hatte wohl ein Geräusch gehört, drehte +sich um, sah Magda, winkte ihr zu und erhob sich. Bogner war braun wie +ein Affe, an den seine Augenhöhlen jetzt mehr als früher erinnerten; +hier war Einer immer brauner als der Andre. Jetzt entdeckte er auch +Renate, lächelte, warf sein Buch zu einigen andern in den Rasen, kam und +streckte ihr die Hand hin. Sie möchte nur entschuldigen, er säße schon +ein paar Wochen jeden Tag hier und studierte, ja, er wollte nun die +ganze Friedliebende Gesellschaft malen, ein bei ein, sechs Meter lang, +fünf Meter hoch. Nein, sitzen brauche ihm niemand, antwortete er auf +Renates Frage, wäre alles schon fertig von damals her. + +Indem kam Ulrika von der Kapelle her, gelbweiß gekleidet, und war +richtig auch so braun wie ein Mulatte, nein, eher kupfern, und sie sagte +gleich tief beschämt, ihr Haar sei nun glücklich übergeflossen. Das Heft +auf der Bank neben Renate entdeckend, raffte sie's auf und sagte, sie +müßte Renate eine Stelle vorlesen. Während sie noch suchte, kamen Magda +und Saint-Georges, es gab ein langes Händegeschüttel, dann hatte Ulrika +gefunden und las: + +»>Wohl ist es der Musik gegeben, die menschlichen Gemütszustände +schwingen zu lassen: Angst, Beklemmung, Erstarkung, Weichheit, +Aufregung, das Überraschende< und so weiter --« sagte Ulrika -- »>ebenso +den inneren Widerklang äußerer Ereignisse, die in jenen Gemütsstimmungen +enthalten sind. Nicht aber den Beweggrund jener Seelenregungen< -- und +so weiter! Nun: >Ebenso vergeblich ist es, moralische Eigenschaften, +Eitelkeit, Klugheit in Töne umzusetzen, oder gar abstrakte Begriffe wie +Wahrheit und Gerechtigkeit ... Könnte man denken, wie ein armer, doch +zufriedener Mensch in Musik wiederzugeben wäre? Die Zufriedenheit, der +seelische Teil, kann zu Musik werden; wo bleibt aber die Armut, das +ethische Problem, das hier wichtig war: zwar arm, jedoch zufrieden. Das +kommt daher, daß »arm« eine Form irdischer und gesellschaftlicher +Zustände ausdrückt, die in der ewigen Harmonie nicht zu finden ist.<« + +Ulrika sah sich triumphierend um. Renate aber hörte weder ihre Worte, +noch was die Andern sagten, ganz gefangen in ihren Blick, der von ihr, +die allein saß, über die vor ihr Beisammenstehenden glitt, gefesselt von +den Gesichtern, Ulrikas lebhaftem, Magdas im Zuhören äußerlich +abwesendem, und Georges' gelassenem, leicht ein wenig sarkastischem. +Länger haftend an seinem, dem ägyptischen König in diesem Augenblick, wo +es sich glättete und der Blick aus lichten Augen nach oben ging, +ähnlicher als jemals scheinenden Gesicht -- hörte sie auch ein paar +seiner Worte -- vom verräterischen Glanz des Bestrickenden an der +schönen Form -- und wußte auf einmal, weshalb sie wehmütig geworden war +beim Anblick von Ulrikas Zettel oben, den sie wieder vor sich sah. Ja, +damals, als es die Friedliebende Gesellschaft gab, lag in der Halle +wohl, oder auf der Sonnenuhr, oder sonst irgendwo, solch ein +Papierschnitz mit einem Namen, dem er galt, und einem Ort in Haus oder +Garten, und nur die Handschrift zeigte an, wer ihn hingelegt hatte. In +ihrer Schreibmappe mußten noch ein paar zu finden sein. + +Aber wir sind ja Alle wieder da! Magda, Bogner, Ulrika, Georges! Irene, +Jason, Georg, Benno sind irgendwo in der Stadt -- ja, warum ist es nicht +wie früher? wer fehlt denn? Ach Gott, Esther, hab ich dich wirklich so +vergessen? Und Sigurd ... wo mochte der sein? -- Könnte es nicht doch +werden wie damals? + +Da sah sie die Andern wieder vor sich stehn, schweigsam jetzt, jeder +nachsinnend über etwas, wie es schien, sonderbar still, jeder für sich +mit seiner inneren Welt, umgeben vom Grün, von der warmen, herbstlichen +Luft -- und doch alle von Nachdenklichkeit eigentümlich vereint. Es war +so traumhaft ... + +Nein, das war gewesen! Und das hier -- das waren die Schatten davon, die +zusammen kamen, um den alten Ort anzusehn. Es war -- + +Renate stand auf, die Andern lösten sich, und Ulrika legte den Arm um +sie, fragte dies und das, erzählte, doch kam der Maler alsbald, seine +Bücher unterm Arm, und nahm sie mit fort, denn er wollte durch den Wald +laufen, und sie wollte mit. Ulrika immerhin schien froher und offner als +jemals. + +Auf einmal war Renate allein mit Saint-Georges; auch Magda war gegangen. + +»Ach Georges,« sagte sie, »ich muß mich ins Gras legen, glaubst du, daß +es was schadet?« + +Nein, er glaubte es nicht. Also streckte sie sich längelangs in den +hohen Halmen und verdorrten Blumenstauden auf dem Rücken aus, blinzelte +gegen den immer goldeneren Himmel und fühlte wonnig an Schultern und +Rücken, Füßen, Waden und Kniekehlen überall die andrängende, mächtig +tragende Feste der Erde, auf der sie -- die Augen schließend, fühlte sie +es mit Macht -- in ungeheurer Sicherheit, vom riesigsten Rücken +getragen, durch Helles und Dunkles, Tage und Nächte, jahrlang durch +gewaltige Räume umrollend dahingetragen wurde. Ja, einen Augenblick +glaubte sie zu spüren, wie es hinter ihr, im Westen stieg, wie sie +selber nicht lag, sondern stand, ausgebreiteter Arme, wie angenagelt an +die immer sonnenaufgangwärts umrollende Kugel, selig gekreuzigt, +schmerzlos im Herbsttag, gefüllt mit goldenen Adern von himmlischer +Luft, nur ein leichtes Gewebe selbst, im Gras ausgebreitet, von +purpurnen und goldenen Fäden und Maschen, in dem das wunschlos pochende +Kleinod schwebte, liebevoll, ihr Herz. + +So lag sie lange Zeit, still, die Augen zu, vor dem verschlossenen Blick +das leise Brennen der unsichtbaren Helle; hoch über ihr rauschte es +selten einmal und ward wieder still, schauderte etwas leicht auf und +beruhigte sich wieder, eine kühle Welle lief über ihr Gesicht, ein Haar +oder zwei wehten kitzelnd über Nase und Wange, ein Tier kroch juckend +über ihre Hand, rings wehte kaum vernehmbar das Gras, die gedämpfte +Natur krachte unhörbar leise im Saft, sie ruhte, Renate ruhte. + +Aber jetzt mußte sie den Kopf heben, die Lider halb öffnen und +Saint-Georges ansehn, über ihre Füße hinaus spähend; er saß in der +Bankecke, einen Arm auf der Rückenlehne, ein Bein auf dem Sitz, und +schaute schräg in die Höhe; seinem Blick folgend, sah Renate zwischen +den Steinfiguren auf dem Dach, die hell besonnt im Lichten standen, zwei +farbige Tauben laufen; es blitzte Weiß in der fernen Bläue auf, eine +dritte schwang sich zu den andern. + +»Georges,« sagte sie, sich wieder legend, »seit langem ist es mir dann +und wann, als ob ich warte; oder ungeduldig bin; oder -- -- ist Warten +gut, Georges, oder nicht?« + +Einige Zeit verging, bis sie ihn sprechen hörte. »Jeder Mensch,« sagte +er, »dessen Geist Augen hat, zu sehen, bekommt von Anbeginn die Richtung +zuerteilt, in der sie sein Leben lang stehn: ins Heute, ins Gestern, ins +Morgen gerichtet. Das sind die drei Temperamente; vier giebt es nicht. +Wer allzutief ins Gestern blickt, dem verfärbt es das Morgen, wie Rot +das Weiße grün färbt; wer allzuscharf nach Morgen späht, der erblindet +fürs Heut, der wird unruhig, vielleicht unselig. Wer nur aufs Heute +schaut, wird leicht bodenlos -- ohne Gestern -- und erbarmungslos -- +ohne Morgen. Die Menge blickt halben Auges verschwommen -- nach allen +drei Seiten. Der große Einsame blickt ganzen Auges tief und klar -- nach +allen drei Seiten.« + +»Ach,« sagte Renate dankbar, »eine Antwort hast du mir glaub ich nicht +gegeben, aber es ist wunderbar, auf dem Rücken zu liegen und nach +Schmetterlingen zu gucken.« + +»Herbstschmetterlinge, Renate,« hörte sie ihn antworten, »die Flügel +grau, von Weisheit verstaubt.« -- + +»Sage mir, Georges,« fing sie nach einer Weile wieder an, »wenn ich denn +schon unruhig bin, warum rühre ich mich nicht mehr?« + +»Wir lesen«, sagte er langsam, »im Leben der Bienen von Maeterlinck über +die Bienenkönigin: sie bleibt gleichgültig, regt sich nie auf und nimmt +sich Zeit.« + +Alsbald riß Renate die Staude aus, die sie gerade in der rechten Hand +hielt, und warf sie nach ihm hin, jedoch mehr zum Schein, denn sie +machte die Augen deshalb nicht auf. Auf einmal kam ihr auf dem Weg über +Bogner Cornelia Ring ins Gedächtnis, sie fragte nach ihr, hörte Georges +etwas antworten und sagte, verloren in Gedanken: »Josef wurde ihretwegen +in vielen Häusern nicht eingeladen ...« + +»Ja, das geht auch nicht«, meinte Saint-Georges. Die Augen geöffnet, sah +sie das Skurrile in seinem Gesicht. + +»Hätte ers heimlich tun sollen?« + +»Heimlich, Renate? Was ist heimlich? Alle tun, was er tat, nur meist in +mehr sporadischer und ebenfalls mehr widerwärtiger Form. Aber sie tun es +mit allerhöchster Erlaubnis ihrer Frauen, Mütter und Schwestern -- ich +nehme die Bräute aus, denn sonderbarer- oder auch rührenderweise gilt +Brautzeit gemeinhin als Schonzeit, und dann ist es natürlich auch so, +daß jede Mutter, jede Frau immer im eignen Sohn oder Mann eine Ausnahme +sieht. Also sie tun es, mit der Erlaubnis, es heimlich zu tun; z. B. +nachts, wenn die Gesellschaften zu Ende sind, in die Bars und Bordelle +zu fahren, wie das hier und wohl in allen Städten üblich ist. Die +Gesellschaft -- aber ich weiß nicht, ob du --« + +»Nur zu, Georges,« sagte Renate, »ich sagte es ja schon: es ist +wunderbar, im Grase zu liegen und von der Gesellschaft reden zu hören. +Sprich von der Gesellschaft, wir haben ja schon davon angefangen, vorhin +bei Busonis Wort.« + +»Die Gesellschaft«, redete Saint-Georges, »hat durchaus nichts gegen +Unmoralität, sondern braucht sie im Gegenteil notwendig als Würze und +als Hintergrund, wie gewisse Dinge nur weiß aussehn, wenn man sie auf +was Schwarzes legt. Die Gesellschaft, wenn du das etwa glauben solltest, +hat -- wovon das Wort herkommt: von _mores_ und _mos_ gleich Gewohnheit +-- kaum Moral, sondern sie hat Sitten, und giebt danach Gesetze, +bestraft daher nicht die Sittenlosigkeit, sondern allein die +Sittenwidrigkeit. Sie wird daher ferner immer das Geheime dulden; was +sie nicht duldet, ist die Ausnahme. Zum Beispiel Bogner. Sie kennt +keine Dirnen -- als Dame -- aber uneheliche Mütter -- als +Fürsorgevereinsmitglied. Sie hat Verbote nötig, um sich Grenzen zu +ziehn, nicht Gesetze, um das Übel zu tilgen. Sie überwacht nicht +tuberkulöse Väter _in spe_, sondern versucht, tuberkulöse Kinder zu +heilen. _Dito_ Geschlechtskranke, Trunksüchtige und dergleichen. Sie +verurteilt die Prostitution -- als Gatte -- und unterhält Bordelle -- +als Gemeinderatsmitglied. In diesen wieder überwacht sie die Insassen, +aber nicht die Gäste. Sie ist gegen die Trunksucht, weil sie die +Gesundheit untergräbt, und verachtet den Abstinenten, weil er ihre +Gesundheiten nicht ausbringen will. Sie erlaubt einer Dienstmagd von +vier Sonntagen zweie zum Ausgang, um sich zu vergnügen, und jagt sie zum +Teufel, wenn sie guter Hoffnung ist. Sie hat den Frauen nacheinander das +Tanzen, Reiten, Schlittschuhlaufen, Schwimmen, Radfahren, Studieren +verboten und wieder erlaubt. Sie erlaubt dem Ehebrecher, den Ehemann zu +töten, und sie tötet den Ehemann, der sich ans Gesetz wendet. Sie +erlaubt, die Ehe zu brechen, aber sie erlaubt nicht, sie zu zerbrechen. +Sie verabscheut das Laster, aber sie füllt die Gerichtsverhandlungen. +Die Gesellschaft weiß nichts von Logik, sondern nur von Gewohnheit, hält +für schädlich nicht das Zerstörende, sondern das Neue, will nicht +verbessern, sondern verdecken, will nicht bestrafen, sondern sich +schützen, sie verbannt nicht, sondern läßt verhungern. Sie hat ein +Gutes: gar kein Gedächtnis. Sie gleicht der Fliege vollkommen. Sie setzt +sich auf alles; sie ist völlig geschmacklos.« + +Ach, wie angenehm das plätschert, dachte Renate und fragte, warum er +Bogner erwähnt habe. Saint-Georges lachte mit Behagen. + +»Bogner?« sagte er. »Bogner lief als Knabe weg und kam wieder als Mann. +Er machte Besuche, in einen sehr schönen Schoßrock gekleidet, mit einer +lichten Weste, anstatt in Samtjacke und Schlapphut daher zu kommen, oder +wie es jetzt Mode ist, in Wickelgamaschen und Joppe. Das war schon +gefährlich. Er zeigte sich weder geistreich noch boshaft, weder +unmanierlich noch blödsinnig, er war artig. Das war schon sehr +gefährlich. Er ließ aber seine Augen im Zimmer umherwandern, und siehe +da, alle Schande ward ihm offenbar. Weder die unmoderne Einrichtung mit +Sofaumbau, die längst hatte ersetzt werden sollen, noch die Sofaschoner +-- Antimakassars, sagte man früher dazu --; weder das Loch im Teppich, +noch der zerbrochene Glühstrumpf, weder die schmutzigen Gardinen, noch +die ungewaschenen Fenster, nichts sahen sie seinen Augen entgehn. Ich +kenne Leute, die Leute kennen, die ... und die sagten es mir. Natürlich +sah er gar nichts dergleichen, aber die ihn sahn, mußten es glauben, +denn was kann man denn anders sehn, wenn man so sieht wie er, als +Schäden, Flecke, Löcher. Furcht voreinander ist der erste Eckstein der +Gesellschaft, Renate. Aber weiter. Er übersah das Ölstilleben von der +Tochter des Hauses und fragte nach der Miniature eines längst begrabenen +Urgroßvaters, der nichts hatte erben lassen. Er legte die Photographie +des Schwiegersohns wortlos fort und nahm einen alten, grünen +Porzellanmops in die Hand, unter dessen Hinterteil er zwei gekreuzte +blaue Schwerter entdeckte, die noch nie ein Mensch gesehn hatte. Er +machte auf einen schief hängenden Starenkasten aufmerksam, der sein +Dasein verfehlte, aber seit Jahren schon so hing und das Bild des +Gartens vervollständigte. Er nannte eine gemeine weiße Rose: welch +schöne Clara Watson! und verachtete das verblüffende Wachstum der +Araukarie. Er bat um die Erlaubnis, eine Skizze vom Kohlenkeller machen +zu dürfen, in dem doch alle leeren Boonekampkrüge der Hausfrau +aufgestapelt waren, und er malte keineswegs das Porträt der Braut in +Pastell. Er schickte kein Bild zur Ausstellung der heimischen +Kunstgenossenschaftler, und als er einmal daselbst betroffen wurde, bat +er gerade den Kustos um ein Glas Wasser, weil er vor einer Landschaft +des Stadtmalermeisters an einem Lachkrampf erstickte. Er --« + +»Ach, Georges, das ist doch nicht wahr!« + +»Nein, natürlich ist es nicht wahr,« rief er aus einem Gelächter, »aber +ist es nicht glänzend erfunden? Hätte er doch von der Musik der +Farbgebung, dem Rhythmus der Flächen und der seelischen Dynamik des +Pinselstrichs geredet, so wäre es gegangen. Er aber sagte überhaupt gar +nichts. Welch ungeheure Boshaftigkeiten also mußte er verschweigen. Er +hätte auch die fürchterlichsten Lästerungen, Frivolitäten und +Frevelmeinungen äußern dürfen, denn mit dergleichen verhält es sich seit +alters so, daß der Bourgeois sie verdammt und verabscheut, wenn sie in +Büchern stehn, wenn aber jemand sie äußert, so heißt es: das sagt er nur +so! Der Bourgeois glaubt nicht nur nicht, was ein Andrer sagt, wenn es +fremd und erschreckend klingt, sondern glaubt nicht einmal, daß der +Andre selber es glaubt. Wäre er aufrichtig, für welch schaurige Lügner +müßte er alle Sonderlinge und Eigengänger halten. Früher wurde von einem +Manne verlangt, daß er tut, was er denkt. Milder Denkende rieten +späterhin, es genüge, zu sagen, was man denkt. Heute giebts schon +niemand mehr, der denkt, was er denkt. Und von Bogner sagen sie ja nun: +er hat süffisante Augen.« + +»Ach,« rief Renate, sich aufrichtend, »nun weiß ich, daß du die Wahrheit +sagst! Da auf der Bank habe ich gesessen und dies Wort in einem Briefe +von Magda gelesen; ihr Vater brauchte es gegen Bogner. Ach, wie lange, +wie lange ist das her!« + +Sie wollte eben das Gesicht gegen die Knie senken, als sie zu ihrer +Rechten hinter den Büschen etwas Menschliches zu sehn glaubte, eine +Bewegung, ein Gesicht. -- Vielleicht war jemand am Zaun draußen +vorübergegangen. Sie wollte sich wieder legen, sah aber nun, daß der +Garten schon tief im Abendschatten lag; nur zu ihren Häupten, hoch in +den Wipfeln, hing noch das scheidende Licht, und noch flossen warme +Spuren und goldne Hauche über den weitoffnen Himmel. Sie sprang auf, +schüttelte ihr Kleid und rief Saint-Georges zu, er solle schnell seinen +Bruder herunterholen, damit er noch an die Luft komme, -- und da stand +auch schon Magda wieder in der Veranda und fragte herüber, ob es nicht +Zeit sei, den Gelähmten zu holen. Saint-Georges folgte, Renate rief ihm +noch zu, sie ginge in die Kapelle. Der Lahme liebte es sehr, die Orgel +am Abend zu hören, wenn er umhergefahren wurde. + +Den Weg zwischen den Gebüschen hinunter, gegen den Zaun zu gehend, +gewahrte Renate jetzt deutlich ein Gesicht draußen hinter dem Gezweige. +Näherkommend sah sie die Blätter sich bewegen, eine Hand teilte sie; +Josefs Gesicht war draußen, seitwärts gedreht; er sah sie nicht an. + +»Josef!« stieß sie hervor. Ihr Herz tanzte. War sie erschrocken? Ihr +Herz kümmerte sich um gar nichts und war außer sich. -- Nun drehte er +langsam das Gesicht her. Seltsam ... wie starr das Auge war! und die +ganze Hälfte des Gesichts, die rechte, war -- ja, sie war nicht da, +etwas Schwarzes war da, aber die Dämmerung ... Nun lief sie hin, trat +ins Buschwerk auf den Rasen, da war der Zaun, da stand er, schwarz, fein +gekleidet, unbeschreiblich duftend, wie immer. + +»Wirklich, ich bins, Renate,« sagte sein halber Mund, das halbe, +lächelnde Gesicht, »willst du herauskommen?« + +Nun stand sie ganz dicht vor ihm, hörte, daß er atmete, sah das schwarze +Tuch, das vor der rechten Gesichtshälfte war, nein -- der ganze Kopf war +damit verhüllt, nur vom linken Ohr bis zur Nase, in senkrechter Linie +über die Stirn, neben der Nase, über den Mund und das Kinn herunter +abgegrenzt war sein Gesicht zu sehn, wie ein Viertelmond, bräunlich +bleich und schön wie je, nur das Auge starrer, doch verging auch dies, +nun sie tiefer hineinsah. + +»Josef, was ist mit deinem Gesicht?« + +»Komm heraus, komm heraus, o du schöne Braut!« lockte er, »dann sollst +du alles erfahren!« ging zwei Schritte am Zaun hin und öffnete die Tür; +sie schob sich unter dem Strauchwerk her dorthin, ging durch die Tür, +wollte fragen, warum er denn nicht hereinkomme, ließ es aber, stand vor +ihm, furchtsam vor seinem Aussehn, aber doch innig froh im Herzen. Sie +legte die Hände auf seine Schultern und ließ zu, daß er die seinen auf +ihre Hüften legte. »Daß du nur da bist!« sagte sie glücklich. »Ich merke +nun, wie oft am Tage ich dich in meinem Herzen unterschlagen habe. Ich +kann ja nicht sagen, wie ich mich freue. Ja, ich bin sehr erstaunt +darüber.« + +Er lächelte fortwährend, zuckend mit Mund und Augenwinkel. »Wenn du mir +einen Kuß gäbest,« sagte er, »wie wäre das?« + +Sie hob sich ein wenig auf den Zehen und küßte ihn unter das linke Auge. +Danach mußte sie freilich mit dem Fuß aufstampfen, mit der Faust in die +Handfläche schlagen und sich verschwören, daß es ein Elend sei, daß die +Ungeratenen, was sie nur wollten, erhielten, während die Guten ohne Ende +darben müßten. + +»Ich fürchte,« sagte Josef, »es liegt nicht an den Bösen und an den +Guten, sondern allein an dem menschlichen Herzen. Du goldnes Mädchen!« +sagte er plötzlich erschüttert und schien gewillt, auf die Knie zu +sinken. Er bückte sich bis tief auf ihre herunterhängende Hand, faßte +und küßte sie gewaltsam. Sie legte die Hand auf seinen Kopf, merkte, daß +sie fast standen wie damals beim Scheiden, Josefs Vater wanderte fremd, +sinnlos heiter vorüber, es war dämmrig, feuchte Schleier hingen vor +einer fremden Mauer, ein Dach darüber ... ihre Kapelle wars. Sie fühlte +seltsam das schwarze Zeug unter ihrer Hand, faßte jählings, von +unverständlichem Zorn ergriffen, zu, zerrte und riß es herab. Er +richtete sich auf, so hoch er war, der Lappen hing schwarz an seinem +Hals, Renate prallte zurück und schauderte vor seinem rechten Gesicht, +das fehlte, das nur dunkelrote Haut war, nach innen gedrückt, ohne Spur +von Zügen, kein Kinn, keine Augenwölbung, nur ein Loch, zugekniffen, +kein Backenknochen, der Mundwinkel hineingewischt. -- Sie schlug die +Hände vors Gesicht. Als sie wieder aufsah -- ach, es war wohl doch ein +Traum, das Ganze! Denn nun war sein schönes Gesicht wieder da, eine +Hälfte davon, unverstellt und unverändert wie vor zwei und einem halben +Jahr, ja, so edel und bedeutend, daß schon das Spukbild eben ausgetilgt +war und nichts mehr galt als dies. Dies Gesicht lächelte nun, sie folgte +mit Mund und Augen und sagte: »Verzeih, ich war ungeschickt! Ich habe +nichts gesehn. Und nun komm ins Haus.« + +Josef bückte sich, hob einen Stock, einen leichten grauen Hut mit +schwarzem Band und ein kleines Paket vom Boden, setzte den Hut auf und +sagte: »Ins Haus nicht. Wir gehn zu der Schaukel dort unter den Bäumen, +da kannst du sitzen.« + +Damit ging er vorauf. Sie folgte zögernd. + +Es war eine große, wohl zwei Meter lange Schaukel mit eisernem Geländer, +die in einem Eisengestänge an vier starken Pfosten hing. Josef bot ihr +die Hand, sie stieg auf das Bohlenbrett und setzte sich auf das +Geländer. Sie sah sich um. Seit den Tagen der Friedliebenden +Gesellschaft war sie nicht hierhergekommen. Damals hatten sie einmal +Alle in der Schaukel gestanden, Irene, Ulrika, Esther, Georg, Benno, und +hatten sich geschaukelt und gesungen dazu im Kanon: »Oh wie wohl ist mir +am Abend ...« Die Schaukel knarrte. Josef, am andern Ende stehend, +setzte sie leise in Bewegung; das sanfte Wiegen tat Renate wohl. »Wo +warst du?« fragte sie. + +An das Geländer der Schaukel gelehnt, den Kopf gesenkt, stand er und +schwieg. Einmal zuckte sein Mundwinkel. Renate sah eine feurigrosige +Wolke sehr langsam über das Dach der Kapelle hinfahren; leicht sitzend +auf dem friedlich schwankenden Boden, erinnerte sie sich, wie sie im +Rasen lag eben zuvor, Saint-Georges plauderte, die Welt war eng und +angenehm und still, -- da stieg dieser Mensch aus dem Rasen herauf, im +glitzernden Behang eines riesigen Hintergrunds, der Fremde, der -- nie +war sie so davon durchdrungen wie jetzt! -- im Leben nichts gewußt hatte +von Gesellschaft und Gewohnheit; der in ihr so gut war wie ein Jaguar, +der sich zahm stellt, in einem Geflügelhof. Ja, so stand er, wieder +zahm, strömend aber wilden, atemraubenden Dunst; und hinter sich, +pompös, das Porta der Welt. + +»Zu fragen, woher einer komme,« hörte sie ihn sagen, »das liegt freilich +nahe für den Weilenden, aber dem Kommenden, das kannst du mir glauben, +liegt es wirklich reichlich fern. Guter Gott, wie schön du doch bist! +Ist denn all die Zeit hier einer gewesen, der dir das gesagt hat?« Ja, +sieh da, er traf den Nagel, wie immer, auf den Kopf. »Setze mich wie ein +Siegel auf deinen Arm und wie ein Siegel auf dein Herz«, sagte er. »Denn +Liebe ist stark wie der Tod, und ihr Eifer ist fest wie die Hölle. Ihre +Glut ist feurig, eine Flamme des Herrn, daß auch viele Wasser nicht +mögen die Liebe auslöschen, noch die Ströme sie ertränken. Wenn einer +alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte, so gälte es alles +nichts.« + +Ihr Gesicht stand in Flammen, sie genoß das Funkeln seines Auges, atmete +tiefer und dachte mühsam: Einmal wird einer noch andre Worte haben, er +braucht sie nicht von Salomo borgen, und sie werden mich doch +verbrennen, wo ich diese nur brennen sehn kann. + +»Du hast mich angehört«, fuhr er kühler fort, »in der letzten Stunde, du +hörst mich wieder an in dieser, ich muß reden, es nützt mir nichts, und +wenn ich alle sechzig Minuten dieser Stunde zusammenpressen könnte in +eine, sie würde doch nicht so glühen, um dich zu durchbrennen. Ich weiß, +es liegt nicht an dir, wie es nicht an mir liegt, es liegt an der +Einrichtung allein. Ich sehe dir an, daß niemand zu dir kam, seit ich +fort bin, dein Hals ist der alte Turm von Elfenbein --« + +Sie zuckte, er hob die Hand gegen sie, lächelte kurz und sagte: »Hab +keine Angst, ich fahre nicht fort in der salomonischen Beschreibung. +Wahrhaftig: häufig habe ich nicht an dich gedacht, aber eines Tages hats +mich doch übermannt, da kam ich gleich. Wie braun du bist! Das Feuer +deiner Augen brennt kalt wie der Edelstein in meiner Tasche, aber dein +Mund ist hundert und tausendmal süßer geworden.« + +Renates Augenlider wankten, sie fühlte, daß ihr Kopf hintenüber wollte, +und dachte sekundenlang: ... ich würde mich nicht wehren ... Heute +nacht, dachte sie, wird es mich zerreißen vor Pein nach -- nach wem +denn? Sie öffnete die Augen und freute sich, daß er viel zu hoffärtig +war, um mehr zu nehmen als ihr Weichwerden und ihr Dämmern. + +»Sage nun,« bat sie mit verschleierter Stimme, »wo du warst, und wo +blieb -- dein Gesicht!« + +Er setzte sich auf das Schaukelbrett vor ihre Füße; in der tieferen +Dämmerung unter den Bäumen sah sie jetzt nur seinen schwarzverhüllten +Kopf, seine Nase und ab und an den Schein seines Gesichts und das +auffunkelnde Auge; er hielt den Hut in den Händen, die Ellenbogen auf +den Knien. + +»Drei Viertelstunden hast du noch,« sagte sie, »dann ist Abendbrotzeit, +und wir müssen hinein.« Er schwieg noch ein Weilchen, dann hörte sie +seine Stimme. + +»Zu sagen, wo ich war, lohnt sich nicht, aber du bist ja nun neugierig. +Übrigens ist die Welt viel kleiner, als man gemeinhin denkt, wenn man +die wilden Erdteile ausnimmt: dort war ich nicht, auf Forschungsreisen +zu gehn, hab ich für später vorbehalten, ich wollte ja erst Menschen +sehn. Ich bin ja nun einmal Idealist und ging daher aus, einen zweiten +zu suchen.« + +»Was ist ein Idealist?« fragte Renate. + +»Ach, unterbrich mich lieber nicht, sonst muß ich zuviel nachdenken, ob +du auch verstehst, was ich sage; ein Idealist ist ein Mensch, der sich +in einen Kochtopf voll Wasser setzt, denselben ans Feuer rückt und nicht +heraus steigt, ehe er ganz und gar drin verkocht und verbrannt ist. Der +Kochtopf kann ja denn Liebe, Tibet, Goldmachen, Verseschreiben, +Marxismus oder sonstwie heißen.« + +»Fandest du solch einen?« + +»Zwei!« sagte er, »in Amerika. Den einen traf ich im Polizeigefängnis in +Ohio --« + +»Im Poli--?« + +»Ich sage ja, du sollst mich nicht unterbrechen, denn sonst geraten wir +ins Uferlose, ja, ich saß darin wegen einer großen Minensache, es war +eine so große Schiebung, daß während des Verfahrens die halbe Welt +hineinverstrickt wurde, und da mußte es niedergeschlagen werden. Der +Idealist war ein vielfach rückfälliger und bestrafter schwerer +Tresoreinbrecher, der mir durch Klopfsprache seine Entrüstung mitteilte, +daß er immer wieder bestraft würde, während er doch von einem kleinen +Kapital ein bescheidenes und ordentliches Leben und die Einbrüche nur +ausführte, um das erlangte Geld sofort an Bedürftige auszuteilen, das +heißt, in Wahrheit war er nicht hierüber so entrüstet, sondern weil es +nicht gelingen wollte, den Richtern zu beweisen, daß er überhaupt nicht +stahl; denn was er stahl, sei ja nicht fort, sondern sei da, er hatte +immer die Belege bei der Hand, Reverse der Banken über Einzahlungen auf +diesen und jenen Namen -- frage nicht, das Geld war den Leuten absolut +sicher -- also sei es durchaus nicht gestohlen, sondern habe nur den +Liegeort gewechselt. Dies war ein Amerikaner. -- Den andren Idealisten +fand ich auf einem englischen Leuchtturm eines winzigen Eilands, ich +darf nicht sagen, wo, irgendwo an der Küste. Er war kein Engländer, galt +aber für einen, war ein deutscher, verabschiedeter Offizier und hatte +bereits an die dreißig Jahre seines Lebens in dieser Einöde damit +verbracht, auf den Augenblick zu warten, wo zwischen Deutschland und +England der Krieg ausbrechen würde, um alsdann seine Lichter auszupusten +und gehängt zu werden. Nun möchtest du wohl wissen, was ich und wo ich +noch war. Die Vereinigten Staaten sind das Grauenhafteste auf der ganzen +Welt, ich war auch im Westen, war Minengräber, Goldwäscher und Viehhirt, +es war für eine Weile ganz lustig, aber ich konnte es auf die Dauer +nicht ertragen, wie sie ihre Pferde mißhandeln.« + +Da er eine Pause machte, fragte Renate, nichts als zuhörend: »Aber das +Mißhandeln von Menschen, das konntest du --?« + +»Denn der Mensch«, sagte er, »kann sich wehren, das Tier nicht. Das Tier +kann beißen und ausschlagen, aber das hilft ihm nichts, denn es muß +dableiben; der Mensch kann weggehn. Er geht in ein andres Land oder geht +aus dem Leben. Das Tier kann nicht aus dem Leben, wie es nicht aus +seiner Haut kann. Ferner war ich Agent. Agenturen giebt es für alles, +zumal in Amerika. Agenturen für Politik, für Minen, für Geldgeschäfte, +für Doktordiplome, für Mädchenhandel, für Bestechung, Spionage, An- und +Verkauf deutschen Adels an reiche Mädchen, für Schmuggel, Gründungen und +für Mord. Einige werde ich wohl ausgelassen haben. In Colorado Springs +war ich auch Falschspieler, du weißt, ich kann die Karten nicht leiden, +aber Falschspiel ist reizend, solange man sich einbilden kann, der +einzige am Tisch zu sein, der betrügt, und das gelingt ja wohl eine +Weile. Dort wars, wo ich mein Gesicht verlor, es stahl natürlich eine +Frau, beschreiben möchte ich es dir lieber nicht. Ich habe ja auf Frauen +immer eine gewisse Anziehungskraft ausgeübt; dort, wo man weniger +empfindet und denkt, sondern gemeinhin tut, was man empfindet oder +denkt, war es fast unerträglich, und so war ich nicht sehr böse über den +Verlust; leider stellte sich dann heraus, daß die Halbierung die +Anziehungskraft nicht unbedeutend gesteigert hatte. Ach, Kind,« +unterbrach er sich, »ist es nicht genug? Ich könnte niemals fort gewesen +sein und das gleiche erzählen, du würdest nicht besser wissen, ob du mir +trauen darfst oder nicht.« + +Er sah trübe zu ihr auf. Renate dachte gelähmten Herzens nur: Josef -- +und lügen, um sich einen Hintergrund zu geben? -- »Aber ich habe dir +Grüße auszurichten«, sagte er nun. »Ein gewisser Sigurd Birnbaum, +weiland Cellospieler Renates, trug sie mir auf, mit dem ich gewisse +Operationen auszuführen hatte, um einen gewissen Geheimbundsfreund in +Tscheliabinsk aus der Katorga zu befrein.« + +»Mein Gott, Sigurd,« sagte Renate, »was ist aus ihm geworden?« + +»Dort,« erklärte Josef sehr ernst, indem er sich langsam erhob, »dort +giebt es Idealisten. Aus Frankreich -- es lebt sich dort angenehm, wenn +man es versteht, für einen Franzosen gehalten zu werden, jedoch -- aber +das führt zu weit -- jedenfalls kam ich von dort nach Russland und +schloß mich der revolutionären Bewegung an. Dort verbrodeln die Menschen +freiwillig und mit Gesang. Ich will dir etwas erzählen.« + +Er setzte sich wieder hin. Was wird nur Onkel sagen? dachte Renate. Wird +er ihn erkennen? Sie merkte, daß sie zitterte. Sie begann sich zu +fürchten und hörte Josefs Stimme aus der Ferne, die langsam Satz um Satz +hinsagte. + +»Ein jüdischer Knabe war vierzehn Jahre alt, als er seine Eltern und +deren ganzes, sehr großes Vermögen durch ein Pogrom verlor. Er ernährte +sich selber, besuchte das Gymnasium weiter und wollte Apotheker +studieren. Mit sechzehn Jahren wurde er bei einer Massendemonstration +verhaftet, in Bausch und Bogen mit verurteilt und kam ins Gefängnis. +Dort wurde er mit den sozialistischen Ideen bekannt, eignete sich das +theoretische Wissen an und verließ das Gefängnis als Sozialist. Er +verdiente Geld durch Unterricht, studierte, erreichte in der Bewegung +bald eine führende Stellung, las viel und hungerte mehr. Als Redner bei +einer Demonstration wurde er wieder verhaftet und kam für zwei Monate +ins Gefängnis. Er und seine Arbeit waren für die Bewegung wichtig; daher +ließ eine Studentin, mit der er zusammen gelebt hatte, sich jede Nacht +in einem, dem Gefängnis benachbarten Holzlager einschließen, kletterte, +obgleich auf sie geschossen wurde, zu seinem Fenster an der Mauer hinauf +und tauschte Zeitungen und Berichte mit ihm aus. Er saß in Einzelhaft, +durfte weder rauchen, noch lesen, noch irgend etwas tun. Er durfte eine +einzige Stunde am Tage spazieren gehn und erhielt so Verbindung mit den +sogenannten Kriminellen, das sind die wirklichen Verbrecher, unter denen +er sozialistische Propaganda betrieb durch Reden und Broschüren, ihnen +Verteidigungsreden anfertigte und sie vorbereitete. All dies durch die +Klopfsprache, deren System ich dir ein andermal erkläre; man kann nach +vier Seiten, oben, unten, links und rechts klopfen. Er organisierte +unter anderm einen Hungerstreik wegen der Verurteilung von Leuten, die +nichts mit der Bewegung zu tun hatten. Er war ein Idealist. Als er das +Gefängnis wieder verlassen hatte, half er bei der Vorbereitung einer +Revolution, reiste als Provisor, arbeitete in kleinen Orten, benutzte +die Nächte zur Propaganda, zur Verbreitung gefährlicher Druckschriften, +übernahm selbst deren Ausarbeitung und Druck, arbeitete zum Beispiel +vier Wochen in einem Keller, um halb im Dunkeln eine Anzahl Broschüren +mit der Handpresse zu drucken. Die Revolution brach aus, die Regierung +organisierte eine Gegenrevolution, wie das da üblich ist, der Pöbel +machte Pogrome, die Soldaten beteiligten sich an der Plünderung, die +Sozialisten organisierten eine Miliz zum Schutz der Unbeschützten, und +er wurde Hauptführer des Bundes jüdischer Sozialisten. Die Juden sind +dort, wo er war, Fabrikarbeiter. Er wurde verhaftet und für lebenslang +nach Sibirien verschickt. Nun ist in Rußland alles organisiert, auch die +Bestechung; die Sozialisten haben eine eigne Gesellschaft gewissermaßen, +auch eine Kasse, zur Befreiung der Militanten oder politischen +Verbrecher. Er entkam während des Transportes mit einem Andern, sie +fuhren sechzehn Tage auf der sibirischen Bahn als blinde Passagiere +unter den Bänken der Waggons, verließen wenige Tagereisen vor Petersburg +den Zug, hängten sich unter einen Wagen, um bei Nacht abzuspringen, aber +der Freund hatte Angst, er mußte mit dem Revolver auf ihn schießen, sie +sprangen ab und schürften sich die Haut. Die Organisation beförderte sie +an die Grenze, er bekam einen falschen Paß, einen Verkehrspaß für +Galizien, den dort jeder haben muß, darin stand leider, er sei ein alter +Mann mit grauem Bart. Er wurde wieder verhaftet, brach allein aus, +verschaffte sich Bauernkleidung, wanderte als Landarbeiter von Ort zu +Ort, kam über die Grenze und durch Rumänien, Ungarn, Österreich, die +Schweiz nach Frankreich. Als Ausländer wurde er an der Sorbonne nicht +zugelassen, er arbeitete in einer kleinen Maschinenfabrik und +organisierte dort einen Streik wegen schlechter Löhne. Seine letzte +Kraftleistung war, den Fabrikbesitzer aus dem Fenster zu werfen; er +arbeitete weiter in seinen Betrieben, als Buchbinder, lebte von dreißig +Franken monatlich, aber seine Energie war zu Ende. Da kam aus Rußland +jenes Mädchen, das ich erwähnte, die Studentin, sie brachte ihn in eine +Apotheke als Laufburschen, wo er sich die französischen Namen der +Medizinen aneignete. Er studierte wieder, es gelang ihm später, an der +Sorbonne zugelassen zu werden, er studiert nun weiter. Die Examina sind +dort in Pharmazie zahlreich und sehr schwer, er ist jetzt Provisor, um +Geld zu verdienen, muß noch das Abiturientenexamen und Staatsexamen +machen, um die Erlaubnis zum Besitz einer Apotheke zu bekommen. Ich +lernte ihn kennen, da ich jenen Sozialisten, dem ich mit Sigurd zur +Flucht verhalf, nach Frankreich brachte, wo er in Paris unter den +Sozialisten eine bedeutende Stellung einnimmt.« + +»Nun hast du wohl«, sagte Josef, »einen Begriff, wie andernorts Menschen +leben. Im Vergleich zu ihnen -- ich nannte eben absichtlich seinen +Namen, denn es giebt mehr als einen solchen -- lohnt es sich natürlich +nicht, von mir zu reden. Ich nahm ja an alledem auch nur teil wegen der +Bewegtheit, nicht wegen der Ziele. Sigurd Birnbaum übrigens studiert in +Odessa, ist Assistent in einem Krankenhaus und der gute Heiland aller +kranken Kindlein; übrigens -- war er immer so finster? Er soll an +Schwermut leiden und -- ja, nun mußt du wohl zum Essen hinein.« Er holte +einen Zettel aus der Tasche. »Hier ist eine Adresse,« sagte er, »wenn du +Verlangen nach mir haben solltest, bin ich durch sie immer zu +erreichen.« + +Renate nahm das Blatt nicht, das er ihr hinstreckte, sah ihn nur an und +sagte: »Josef!« + +»Nein!« versetzte er gebieterisch. »Bitte nicht, fordre nicht, es ist +unmöglich. Du brauchst mir nichts zu sagen. Ich bin nicht erst seit +heute in dieser Stadt, ich weiß alles, was sich während meiner +Abwesenheit in diesem Hause zugetragen hat, ich weiß auch alles von dir, +was sich durch dritte Hand wissen läßt. Vorläufig bleibe ich, ich bedarf +etwas Ruhe.« Er erfaßte ihre Hand, drückte den Zettel hinein und schloß +sie darüber. »Willst du Gründe? Ein andermal wird Zeit dafür sein. +Immerhin: ein Wort!« Sein eines Auge starrte bedeutsam, während er +schloß: »Erasmus; ich gedenke noch zu leben.« + +Er zog die Uhr, hielt sie empor, um das Zifferblatt zu erkennen, und +sagte: »Es ist hohe Zeit für dich. Daß du von mir schweigst, halte ich +für selbstverständlich; es könnte sonst Unheil geben. Nun genug. Lebe +wohl! auf Wiedersehn.« Er bot ihr die Hand. + +Renate erhob sich, legte die Hand auf seine Schulter und sprang von der +Schaukel auf die Erde. Nun versuchte sie es noch einmal, richtete durch +die Dunkelheit ihre Augen auf das seine und bewegte die Lippen. +Angezogen, kam er ganz nahe, legte den Arm um ihre Schulter und, den +Mund dicht vor ihrem, sagte er: »Was -- --?« + +Renate fühlte ihr Blut gerinnen. »Alles --« sagte sie lautlos; und nach +einem Augenblick: »-- für deinen Vater.« + +Er fuhr zurück, sein Auge starrte wütend, er stieß hervor: »Bist du denn +wahnsinnig geworden?« Drehte sich um und ging in Eile unter den Bäumen +weg. Sie sah ihm fassungslos nach. Weiter unterhalb, wo es heller war +über den Wiesen, kam noch einmal sein Schatten zum Vorschein. Sie fühlte +den Zettel in der Hand, öffnete ihn und las trotz der Dunkelheit leicht +das einsame Wort: Jason. -- Sie sah etwas Weißes auf der Erde, bückte +sich und fand das Paket, das er bei sich gehabt hatte; sein Stock lag +darüber. Sie nahm beides und ging langsam in den Garten zurück, in die +Kapelle, legte die Sachen auf einen Stuhl, ging hinaus, verschloß die +Tür und ging durch den Garten ins Haus. + +Vor der Tür des Eßzimmers hörte Renate von drinnen lautes +Durcheinandersprechen und Gelächter; sie glaubte Ulrikas Stimme zu +hören, legte die Handrücken gegen die Wangen und fühlte, daß sie +glühten; die Hände waren eiskalt. Sie trat ein; ja, Ulrika war da, auch +Bogner; Alle, Erasmus, Saint-Georges, sein Bruder und Magda saßen +bereits essend um den Tisch. Renate blieb an der Tür stehn, klatschte, +ihr Zuspätkommen und ihre Erregung zu verbergen, in die Hände und rief +lustig: »Ach, sieh, der Maler mit den süffisanten Augen ist wieder da!« +Die Andern lachten, Ulrika rief, sie sollte sich schnell hinsetzen, sie +kriegte sonst nichts mehr zu essen, fragte, was das heißen sollte: +süffisante Augen, erklärte dann aber erst, daß sie und Bogner im Walde +im Kreis gelaufen und wieder hergekommen seien. Nun bestand Bogner auf +Erklärung seiner süffisanten Augen, aber Renate, in plötzlicher +Mattigkeit, verwies ihn an Saint-Georges. Sie sah eine Tomate auf ihrem +Teller, die dampfte, nahm die Gabel, löste den Deckel ab und zwang sich +zu essen. Wie dröhnten denn die Stimmen? Selbst die ruhige von +Saint-Georges summte bohrend in ihr Gehör. + +»Dieser berühmte Maler«, sagte Saint-Georges, »pflegt die Dinge +vereinfacht zu sehn, um nicht zu sagen, abstrahierend; er scheidet das +Gewohnte aus und sieht, was fehlt, oder aber was da sein könnte, oder +was zuviel ist, und was den Andern mißfällt, das gefällt ihm gerade, +weil es krumm ist.« + +»Ach,« sagte Bogner heiter, »nun fällt mir ein, daß einmal jemand zu mir +sagte, wenn ich ihn ansähe --« + +»Bitte,« unterbrach ihn Saint-Georges, »das hat er sicher nicht gesagt. +Er hat gesagt: Wenn Sie einen ansehn -- nicht >mich<, nicht wahr? Die +Gesellschaft ist >man<, Renate, nicht >ich<, das ist auch ein Eckstein +davon.« + +Renate sah seine Augen von drüben auf sich gerichtet; es kam ihr vor, +als ob er alles wüßte. Sie nickte und senkte das Gesicht. Der Maler fuhr +fort: + +»Also, wenn ich einen ansähe, sagte er, hätte man immer das Gefühl, ein +Westenknopf wäre offen, oder der Schlips säße schief, oder es wäre ein +Fleck am Kragen, und man müßte immer an sich herumfummeln.« + +»Siehst du,« sagte Ulrika, »warum willst du auch niemals lachen! Du +machst immer bloß so krumme Mundwinkel, und das sieht denn so +heimtückisch aus.« + +»Und dann vor allem,« begann wieder Saint-Georges, »diese raffiniert +sokratische Methode, alle Augenblicke zu sagen: Davon verstehe ich +nichts.« + +Renate zuckte zusammen; mein Gott, wie laut lachten sie denn, das +prasselte ja nur so auf ihren Kopf herunter! + +»Meinen Sie, daß Ihnen das einer glaubt, wirklich? Deshalb hält man Sie +doch bloß für -- entweder teilnahmslos -- um nicht zu sagen: +interesselos, oder hochfahrend, oder faul, oder für einen verkappten +Anarchisten, Atheisten oder so.« + +Plötzlich dröhnte Erasmus' tiefe Stimme in das Gelächter, -- aber nein, +er saß ja ganz still da und sagte ruhig: »Wäre die Welt so undankbar, +wie es nach Ihnen scheinen sollte?« + +Ach, Erasmus war ein guter Mensch, und sein Bruder stob wie ein Windhund +durch die Welt ... Renate griff nach der Tasse, um die aufsteigenden +Tränen mit dem Tee herunterschlucken zu können, aber nun war der Tee so +heiß, daß sie mit einem kleinen Schrei die Tasse wieder hinsetzte; sie +lachte verlegen, die Andern verlachten sie, sie kühlte die Zungenspitze +an der Serviette und war froh über ihr Ungeschick. -- Magdas Stimme +klang wohltuend leise: + +»Ja, Erasmus, wenn man jemand so sprechen hört wie Saint-Georges, klingt +alles so fremd, sieht so zerbrochen, so zerstückt aus, hoffnungslos, und +die Menschen so ungütig. Ich kenne ja eine Menge Menschen, in Berlin, +meinen Lehrer und ähnliche. Ja, sie lügen viel und beschwatzen sich, sie +können ja niemals, wie sie wollen, sie hängen Alle voneinander ab, sie +möchten gerne anders, ein jeder, aber --« Sie stockte. + +Ulrika hob die Achseln und meinte, die Künstler seien freilich die +schlimmsten, nicht die Schaffenden, sondern die Darstellenden, die +Virtuosen, denn da herrsche über alles der Agent. + +Renate schlug nur das letzte Wort mit wildem Sinn ins Ohr, sie fuhr +erschrocken auf und stieß hervor: »_Was_ sagst du?« + +Ulrika lachte. »Warum erschrickst du denn so?« Renate wußte nichts zu +antworten, hörte nichts mehr, nur Stimmengewirr, raffte sich endlich auf +und sah, daß es Zeit sei, von Tische aufzustehn. Jähliche Todesangst im +Herzen, zog sie Magda einen Augenblick an sich, strich ihr übers Haar, +ging hinaus und trat über den Flur vor das Zimmer ihres Onkels. Sie +glaubte, ihn nicht ansehn zu können, fühlte sich gleichwohl gezwungen, +dies sofort zu versuchen, hinter ihr wurde die Tür geöffnet, sie drückte +eilig die Klinke nieder und trat ein. + +Der Schattenriß des alten Mannes war vor dem einen Fenster; er schien +auf die Straße zu blicken; in den Fenstern stand das blaue Zwielicht. +Gleich darauf fiel heller gelber Schein von unten herauf durchs Zimmer; +die Laterne war draußen angezündet. Schritte waren hörbar und entfernten +sich. + +»Onkel!« flüsterte sie. Er drehte sich langsam um, sie sah im +Lichtschein seine Augen, einen Augenblick fast gedankenvoll. Schnell +ging sie auf ihn zu, legte die Stirn an seine Schulter, umfaßte ihn an +den Armen, hoffte inbrünstig, er möchte ihrem Leib anfühlen, was sie +wußte. Sie zitterte, als sie seine Hand auf ihrem Rücken fühlte; Gott +sei gelobt, dachte sie, er ist ruhiger geworden, er muß etwas empfunden +haben, ja vielleicht wußte er es schon eher als ich! -- Leise versuchend +hob sie das Gesicht. Er sah wieder auf die Straße. + +Aber nun schob er sie sanft von sich, sie trat zurück, er ging an ihr +vorüber, legte die Hände auf den Rücken und begann im Zimmer auf und +nieder zu gehn. Da fiel ihr ein, daß sie schon seit einigen Tagen seinen +Schritt im Zimmer gehört hatte -- ach, es war sicher, er -- nein, +ruhiger war er nicht geworden, das war ja Unsinn, er war ja immer die +Ruhe selbst gewesen! Unruhig war er geworden, er ging umher, er sah auf +die Straße, wartete, lauschte, suchte. + +Im Augenblick überfiel sie gewaltig die Ahnung, die Gewißheit, daß Josef +nicht fortgegangen oder daß er inzwischen wiedergekommen war, daß sie +ihn finden konnte ... Aufgeregt schritt sie zur Tür und hinaus, lief die +Treppe hinunter -- seltsam, es war alles leer! wo waren denn die Andern? +-- Nun durch den Garten, den Weg hinab durch die Büsche; am Pförtchen +lehnte ein Mensch, es war Georges. Ihr Herz sprang verzweifelt auf und +stürzte. »Georges!« rief sie halb weinend, »bist du allein?« Sie mußte +sich von ihm halten lassen, bebte an allen Gliedern und weinte. »Ich +habe ihm alles versprochen,« schluchzte sie, »was soll ich denn tun, +mein Gott, was soll ich denn?« + +Langsam fühlte sie sich wieder geborgen, ermannte sich, trat zurück und +trocknete ihr Gesicht. + +»War Josef da?« fragte er leise. Sie nickte. + +»Wenn er zurückgekommen ist,« fuhr er begütigend fort, »wird er auch +eines Tages ins Haus treten. Ich kenne ihn nicht, aber -- er hat wohl +kein Verbrechen begangen, aber das verwirrte Herz seines Vaters wird ihn +doch herumtreiben und anziehn.« + +»Ach, Georges,« klagte Renate, »was hat er denn getan? Du weißt ja, was +ich dir von seinem Vater erzählte, und da siehst du wieder: was ein +Mensch tut, das allein macht das Unheil nicht aus; das Unheil, weißt du +nicht mehr, damals sagtest du es selber, ja, Georges, du hast es mir +erklärt: das Unheil bildet sich im Herzen. Josef ging nur fort, was war +auch dabei? aber sein Vater nahm es als Strafe vom Himmel für eigenes +Verschulden.« + +Saint-Georges antwortete nicht. Sie standen schon wieder auf dem +Gartenweg, Renate ging langsam zum Haus zurück. Beim Anblick der +Kapellentür fielen Josefs Paket und Stock ihr ein, sie sagte +Saint-Georges davon und bat ihn, die Sachen an sich zu nehmen, +vielleicht in seines Bruders Zimmer zu bringen. + +Sie gingen in die Kapelle, er machte Licht, Renate nahm das Paket auf. + +»Vielleicht braucht er es aber«, sagte sie, streifte nach kurzem Zaudern +die Hülle ab und hielt einen Lederkasten in der Hand, wie eine flache +Zigarrenkiste groß. Am Ende ists etwas für mich! dachte sie und öffnete +den Deckel, hatte aber kaum hineingesehn, als sie entsetzt alles fallen +ließ, und was da am Boden lag, war Josefs halbes Gesicht; es sprang und +rollte wie aus Kautschuk und lag still, eine halbe Maske. Saint-Georges +hob sie auf. + +»Sei ganz ruhig,« sagte er, »es ist nichts Schreckliches, eine Maske.« + +Sie trat voll Furcht und Abscheu näher, er drehte das Ding in den +Händen, ja, es war ein halbes Gesicht, dem Josefs so ähnlich in der +Tönung, Kinn, Wange, Stirnansatz und ein furchtbar blickendes schwarzes +Auge, daß es sie durchschauderte. Sie stammelte ein paar erklärende +Worte von Josefs Aussehn. + +»Elfenbein«, sagte Saint-Georges, zwei Bänder durch die Hand gleiten +lassend, die an der Stirn hingen; am Halsstück war eine, fast zum Kreis +gebogene Spange aus Elfenbein, die wohl den Hals umschließen sollte. +Saint-Georges entdeckte und wies ihr chinesische Schriftzeichen an der +Innenseite und meinte, wenn es mit Josefs Gesicht so sei, wie sie sagte, +so könnte die Halbmaske wohl in der Dämmrung oder bei halber Beleuchtung +ein ganzes Gesicht vortäuschen; es sei kostbare Arbeit, nur ein Chinese +könnte dergleichen anfertigen, ohne Zweifel würde sie ausgezeichnet +schmiegsam passen. Seine Erklärung beruhigte Renate nicht; die Maske ihm +aus der Hand nehmend, wieder schaudernd, dachte sie: die andre +Gesichtshälfte von ihm habe ich nun in der Hand -- und kann kein Ganzes +daraus zusammensetzen. -- Dann überließ sie Saint-Georges die Maske, der +sie wieder verpackte. + +Aber danach, zur Ausgangstür vorgehend, glättete sich ihr Empfinden. +Fast, fühlte sie, hätte er mich hineingerissen in seine Fremde. Wie +toste es schon, Meerflut, Inseln und fliegende Sterne, allein -- wie +hatte doch Georges gesagt? >Sie bleibt gleichgültig, regt sich nie auf +und nimmt sich Zeit.< + +Indem sah sie ihn selber neben sich in der Türe stehn, die Blicke durch +das Dunkel ruhig in die ihren senkend, und sie lächelte, die Augen +schließend, ohne zu wissen warum. + +Als sie dann ins Freie traten, fühlte Renate erquickend den vollen Strom +der herbstlichen Nachtluft, und siehe da, über den Bäumen -- ach, wie +lange hatte sie es nicht gesehn! -- schwebte Josefs Fenster in der +Nacht, schöne, sanfte, grüne, gotische Fläche. Magda, oder auch Ulrika +und Bogner mußten dort oben sein. Sie konnte die Augen nicht abwenden +von dem tröstlichen Schein, folgte endlich Saint-Georges, der +voraufgegangen war, minder verzagt und hoffenden Herzens. + + + Neuntes Kapitel: Oktober + + + Cordelia + +Georg, aus seinem Schlafzimmer am Abend hervortretend, wo er die Koffer +für Berlin geschlossen hatte, erschreckte sich vor einer geduckten +kleinen Gestalt, die im Geisterlicht der Sphäre am Treppenfuß stand: +Hesekiel. Ärgerlich auf Egon, der trotz häufigen Tadels wieder einmal zu +faul gewesen war, nur die Stufen hinunter zu gehn, um die Kurbel der +Hängelampe zu drehn, fragte er: »Nun, was ist denn, Hesekiel? noch ein +Brief?« indem er die Schreibtischlampe aufflammen ließ. Ja, Hesekiel +hatte einen Brief, einen großen, sonderbar dicken Brief. Als Georg, im +Stuhl sitzend, ihn aufschnitt, kam ein ganzer Pack beschriebener Blätter +zum Vorschein, um den ein gleichfalls beschriebener Briefbogen +geschlagen war; alles Cordelias Schrift. Georg klappte den Briefbogen +auseinander und las: + + »Die arme Seele sendet ihrem Gebieter diesen letzten Gruß. + + Glück und Segen! Es ist alles gekommen, wie es beschlossen ward + in dem himmlischen Rat, so wird auch das letzte bald geschehen + sein. Glück und Segen! das Bett ist gemacht, bereit steht der + Becher, bereit ist die arme Seele. Glück und Segen über das + heilige Leben dessen, der dies liest.« + +Georg flimmerten die Augen. Esthers dunkelfarbiger Schmetterlingskranz +um die Kuppel der Lampe zuckte leuchtend und tanzte. Das Herz vom +Angstkrampf zusammengezogen, starrte Georg. Das Ende, sagte er, das Ende +... Cordelia war ... war ... + +Er nahm das Blatt wieder vor, seine Hände flackerten, er mußte es auf +die Tischplatte legen, er las: + + »Glück und Segen, die arme Seele ist nun nicht mehr da. Wo bist + Du, Geliebter? Glück und Segen, ich bin schon den kleinen Fluß + hinuntergeschwommen, schon rauscht der ewige Strom, ich hebe noch + einmal die wieder verarmte Hand, es rauscht -- horch, es + rauscht ... + + Glück und Segen, Glück und Segen! + + Im großen, dunklen Meerstrom sind alle Wellen einander gleich. + Was macht so dunkel den Strom, so groß, und die Wellen so gleich? + Das ist die ewige Liebe. -- Doch einmal, wenn Abend ist über der + schweren See, die Rose, die himmlische, entfaltet ist an der + unsterblichen Brust, so blinkt eine Welle auf ganz fern, die + Du kennst, eine lächelnde Welle, die Dich erinnert an: Einmal ... + Und Du sinnst: arme Seele, bist du's? + + Und so gehn die Jahre, so wandert die Zeit. Ist auch Dein Herz + nun alt geworden, geliebte Jugend, Dein Haar ergraut, faltig Dein + Mund? Die Berge stehn dunkel, so ernst sind die Sterne, nicht + mehr lang ist der Weg, schon hörst Du den Strom. + + Glück und Segen, das Leben war schön! Sang es der Wind, klang es + der dunkelnde Baum? O mein sinkender Freund, es war die arme + Seele! -- + + Viele Menschen kommen herein und stehn um einen Schläfer in + friedlichem Schlaf. Da kommt auch die arme Seele mit ihrer Blume + und ihrem Dank. Sie hatte einmal die Hände voll Gold -- es ist + alle geworden. Nun legt sie die kleine Blume auf die erstorbene + Brust, ihr Amt ist nun aus, sie wandert ins Meer und vergeht. + Wo bist Du, Geliebter? + + Gute Nacht, schlafe wohl! Es muß wohl sein. In meiner Brust sitzt + eine goldene Schlange, die will seit ewig hinaus, aus der + himmlischen Schale zu trinken. Gott ist allzeit gut. + + Ich liebe Dich, Geliebter, auch dort, wo Du mich nicht mehr + siehst. Das Blatt ist aus, aus ist das Licht, aus ist das Leben. + Geküßt tausendmal! Abschied -- ich kann nicht mehr -- alles gut. + + Cordelia.« + +Georgs Kopf sank langsam vornüber auf das Blatt und lag fest. Als die +Umnachtung wieder gewichen war, sprang er auf, riß alle Kraft, die zu +erreichen war, zusammen in das Jagen seines Herzens, sah Hesekiel stehn +und sagte: »Weißt du, was geschehen ist, Hesekiel?« + +»Is ein Unglück geschehn, Herr Doktor?« + +»Es -- es scheint so, Hesekiel. Sage mir jetzt -- kannst du mirs genau +sagen: warst du allein im Haus, als du gingst?« + +»War ganz allein, Herr Doktor, sell kann i --« + +»Wann bekamst du diesen Brief?« + +»Gestern abend, Herr Doktor. Gnä Frau gab ihn mir. Gestern abend wars, +so um halber acht herum.« + +»Und was sagte sie?« + +»Sehr lieb und gut war s', wie halt immer. Gab mir den Brief und sagte, +daß ich ihn bringen soll, heint, wenn dunkel wär. Ach, Herr Doktor, is +am End gar g'storm, gnä Frau?« Hesekiel fing an zu weinen. + +Georg legte ihm bewußtlos die Hand auf die Schulter. -- »Ich muß sie +sehn,« fuhr er dann auf, »ich muß wissen, muß -- Hesekiel, sage mir -- +besinne dich, sage mir: weißt du die -- die andre Wohnung von gnä Frau?« + +»Sell weiß i net, Herr Doktor.« Georg sah es wieder dunkel werden. »Man +könnt am End -- am End könnt ma nachschlagen im Adreßbuch ...« + +Natürlich, mein Gott! das gabs ja, Adreßbuch ... Georg lief ins +Ankleidezimmer, wühlte Mütze und Mantel hervor, dann stand er wieder vor +Hesekiel, sah gleichzeitig den Stoß Blätter noch ungelesen auf dem Tisch +liegen, raffte ihn samt dem Brief auf und steckte ihn in die Tasche. +Hesekiel nahm er mit sich ins Freie und schickte ihn mit irgendwelchen +Worten nach Haus. + +Cordelia nicht mehr da! Nicht mehr da, mehr da, mehr da ... Das Ende ... +das Ende ... Georg jagte die Allee hinab, über den Platz, auf ein +erleuchtetes Schild >Schloßwende< zu, stand dann vor einer Theke, eine +Frau gab ihm ein Adreßbuch, er blätterte, suchte, er fand endlich: +Severin, Karl, Tischler; Severin, Doktor; Severin -- plötzlich, +furchtbar deutlich: Severin, V., Privatiere, und C., Schauspielerin, +Inselbrückstraße 9, Hinterhaus 2 Treppen. + +Georg lief wieder durch schwarze, nasse Straßen mit Laternen. +Inselbrückstraße -- ganz in der Nähe -- Gerberstraße -- Inselbrücke -- +da war die Hartwigstraße, er bog ein ... Severin, V., Privatiere ... O, +sie hatte eine Schwester! -- Georg mußte an einer Laterne stehen bleiben +und den Schweiß von der Stirn trocknen. Er merkte plötzlich, daß er sich +fürchtete. Inselbrückstraße, eine verrufene Gegend ... Er schüttelte den +Kopf und ging weiter mit lahmen Füßen, dann wieder schneller durch die +enge Buchbinderstraße, wo es fast finster war. Er hörte Schritte hinter +sich, längere Zeit, plötzlich eine Stimme, die seinen Namen sagte, blieb +stehn und drehte sich um. Ein großer, breitschultriger Mensch zog den +Hut, es war -- war? -- Josef von Montfort. Merkwürdig sah sein Gesicht +aus ... + +»Aufs höchste entzückt, lieber Prinz! Sie erinnern sich doch meiner?« +Der fast schmerzhafte Händedruck brachte Georg zu sich. »Ja, da streift +man so herum durch abenteuerliche Gegend, und da findet man die +Erlauchten. Aber -- mein Gott, Prinz, wie sehen Sie aus? Was ist Ihnen?« + +Georg fühlte, daß sich ein Arm um seine Schulter legte, daß er +weitergeführt wurde, und vergaß sein Erstaunen über die Begegnung vor +großer Erleichterung. + +»Ich verstehe, ich verstehe schon«, hörte er begütigend hinter sich +sprechen. »Ein Unglück, ein Schmerz, eine Tote vielleicht? Kopf hoch, +mein Junge, nur ruhig, nur ruhig! Wohin geht der Weg?« + +Georg sagte: »Zur Inselbrückstraße. Ich bekam einen Brief. Ich -- jemand +wohnt dort, der ... Ich war nie dort ... Ich wäre dankbar ...« + +»Gewiß, aber gewiß! Nun nur ruhig! Wir werden alles an uns herankommen +lassen. Inselbrückstraße -- eine böse Gegend. Und die Nummer? Sehen Sie, +da ist die Brücke schon!« + +Die Brücke, überragt von eisernen Trägern und Balken, lag schwarz im +Schein ferner Laternen, umrieselt von leuchtendem Nebel. Georg nannte +die Hausnummer. Als sie fast hinüber waren, sah er zu seiner Linken, am +gemauerten Flußufer hinunter die Inselbrückstraße, Laternen, dampfend, +dunkle Häuser und helle Fenster. Montfort, der die Hand unter seinen Arm +geschoben hatte, schwieg. Gestalten kamen, nicht als ob sie gingen, +sondern wehten, weibliche, in Pelzen und riesigen Hüten, ein Mann +schlich an der Hauswand, zwei weibliche blieben stehen, Georg sah ihre +gefärbten Gesichter deutlich im Vorbeigehn. Er hörte Montfort etwas +murmeln, fühlte sich angehalten und blieb stehn. Nun bekam er sich +wieder fest, las von einem, viereckig um eine Lichtkugel gebogenen +Glasstreifen >Unionkino< in roten Lettern und sah eine transparente +Glaswand darunter leuchten von Schrift und gemalten Indianern. Daneben +war ein schmaler Hausflur und daneben eine große, dunkle Torfahrt mit +geschnitzter Tür, über der in einem kleinen blauen Oval deutlich eine +goldene Neun erschien. Montfort erfaßte den Drücker und bewegte ihn, die +Tür war zu. + +»Das war zu denken«, sagte er. »Und dies Haus --« + +Indem lehnte sich zu einem offenen Parterrefenster neben der Torfahrt +ein fettes Weib heraus, rief: »Man Geduld, meine Herren, ich komme +sofort!« und verschwand. + +»Um Gottes willen, das ist ein Bordell!« + +»Ja, da wollen wir nicht hinein. Kommen Sie, es wird sich anders machen +lassen.« Montfort zog ihn zu dem Hausflur, in dem Georg jetzt einen +Billettschalter entdeckte. Montfort bezahlte, empfing zwei rote +Billetts, sie traten auf einen Vorhang zu, der den Flur versperrte, doch +wurde er im selben Augenblick von drinnen zurückgeschlagen. »Erster +Platz!« rief eine weibliche Stimme, ein Mann ließ sie eintreten, Georg +sah Finsternis, dann einen Lichtkegel, der aus dem Hintergrund breit +nach vorn flutete, darunter eine Menge beleuchteter Gesichter, +ebensolche gerade vor sich, etwas höher, Stehende, die nun vor ihnen +bereitwillig auseinander wichen, da der Mann sie den Gang hinunter +führte. Sein Gesicht war Georg plötzlich ganz nahe, indem er sagte: +»Einen Augenblick, meine Herren, es wird gleich hell.« Dann ging er +wieder nach vorn. + +Eine Weile standen sie, und Georg sah das Flimmern und Zucken der +schwärzlichen Bildfetzen auf der Leinwand. Dann fühlte er sich an der +Hand ergriffen, Montfort zog ihn zu einer Tür, über der ein Licht war +und auf einem Pappdeckel >Erfrischungsraum< zu lesen stand. Nun war da +ein kleiner Flur mit Türen links und rechts und schräg gegenüber. Auf +der linken stand wieder >Erfrischungsraum<, über der rechten >Toilette<, +Montfort trat zu der gegenüberliegenden -- ein rotes Licht neben der +Aufschrift >Notausgang< brannte darüber --, öffnete sie, sie standen in +einem dunklen Hof. In der Nachthöhe hier und da schwebte ein leuchtendes +Fenster. In der Rückseite des Vorderhauses waren viele große Fenster +hell, und Georg konnte durch ein offenes in einem erleuchteten Raum +einen Mann sehn, der sich ein wollenes Hemd über den Kopf streifte, +worauf ein gelber Vorhang davorfiel. + +Und nun fiel ihm ein, daß er hier Cordelia suchte ... + +Im Finstern hinten waren zwei wandgroße Öffnungen, in denen es gräulich +dämmerte. Montfort murmelte etwas von Speichern und dem Fluß, während +Georg hinter ihm über das glitschige Pflaster ging. Eine Türöffnung war +da, ein Flur, ein Treppenhaus, und auf einmal ein kleiner Lichtkegel, +der umher tastete. »Wieviel Treppen?« fragte Montfort; Georg erwiderte: +»Zwei!« Sie tasteten sich vorwärts, stolperten über Stufen, dann sah +Georg im Lichtschein der kleinen Taschenlaterne das Geländer und die +Stufen der Treppe und folgte Montfort hinan, krampfhaft bemüht, zu +vergessen, was bevorstand. Das Steigen dauerte endlos, die Hand am +Geländer. Endlich stand Montfort vor einer Türe still und sagte: »Wir +sind oben.« + +Sie mußten unter dem Dach sein. Der Lichtkegel schöpfte aus der Tür ein +Porzellanschild heraus, auf dem klar und leserlich der Name >Severin< +stand. An der glatt braun gestrichenen Türfläche war nur ein metallener +Knopf. Indem erlosch das Licht. + +Das dauerte wieder endlos ... Anklopfen -- Warten -- Anklopfen, lauter. +Die Schläge dröhnten durch das Haus. -- »Wir müssen öffnen«, sagte +Montfort. Das Licht blitzte wieder auf und erlosch, Georg hörte rütteln; +gleich darauf flog die Tür gegen seine Stirn, daß er zurückfuhr. + +»Nun bitte ruhig sein,« flüsterte Montfort, »ich werde vorangehn. Aber +da ist ja Licht!« Er zauderte. + +Undeutlich quoll das rötliche Leuchten aus dem Hintergrund, wie es +schien, über eine Wand empor, die halbhoch war. Im wiederaufleuchtenden +Laternenschein gewahrte Georg Schränke, einen Stuhl, ein Sofa an den +Wänden eines kleinen Korridors, dann erlosch das Licht wieder, und +Montfort sagte leise: »Ich habe etwas gesehn, warten Sie«, worauf Georg +ihn nach links hinüber gehn sah. + +Dort -- er zuckte zusammen -- stand ein Mensch, stand ganz gerade und +still; nur den Kopf hielt er tief gesenkt. Darüber war das bleiche +Quadrat eines schrägen Fensters im Dach. + +»Nein,« hörte er Montfort laut und langsam sagen, »das kann sie nicht +sein«, und trat zitternd näher. »Machen Sie doch Licht«, sagte er. + +»Man muß nicht alles beleuchten.« + +Und nun sah Georg, da das Dunkel sich aufhellte, einen Kopf mit +weißlichem Haar, das Genick und eine Schnur, die nach oben verlief. Arme +standen seitlich ab. Alle Kraft zusammennehmend, zischte er wütend: +»Machen Sie doch Licht!« -- Aber er fuhr doch gepeitscht zurück, als er +die kleine, in Kleidern schlottrige Figur mit abstehenden Armen und +hängendem Kopf dastehen sah, die zwischen Zahnreihen hervorstehende +Zungenspitze, das Zahnfleisch, zurückgeraffte Lippen, die lange spitze +Nase im weißen Gesicht und nun auch das Weiße in halboffenen Augen, aus +denen ein schiefer, listiger Blick zu ihm sprang. Dennoch fiel eine +Berglast von seiner Brust. »Das Gespenst«, flüsterte er heiser. Und +dann, erklärend: »Ihre Schwester.« + +»So, so. Aber was hat sie denn da?« Indem machte der Arm des Leichnams +einen Ruck und hielt Georg einen langen Papierstreifen hin. Montfort +lenkte den Lichtkegel darauf, faßte das Handgelenk und drehte es herum, +fing dann an zu lesen: + +»Unser keiner lebt ihm selber, und unser keiner stirbt ihm selber. Leben +wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn, +darum wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.« + +Er hatte schön und ruhig gelesen, und als Georg jetzt hinzutrat, konnte +er sehn, daß es Cordelias Schrift war. In plötzlicher Kälte und +Gelassenheit drehte er sich darauf um, öffnete eine lose kleine +Tapetentür und fand sich in einem großen Raum mit zur Hälfte schrägem +Dach, in dessen Hintergrund auf einem Tisch ein schöner messingner +Tempelleuchter mit einigen halb herabgeschmolzenen Kerzen brannte. +Darunter funkelte etwas Blutrotes, ein Glas, und dahinter, an der Wand, +stand ein Bett, über das Cordelias schwarzer Seidenmantel gebreitet war, +weit, bis auf den Fußboden herab. + +Lange Zeit kam Georg nun nicht weiter. In seine Augen brannte der rote +Becher, und dahinter zeigten sich unbekannte Erscheinungen: eine Frau in +einem dunklen Laden mit einem Kopftuch, ein Schaufenster voller Lampen +und Geschirr auf Regalen, ein altes, plumpes Kirchenschiff, -- bis er +plötzlich, weit rechts von dem Glase, am Ende des Bettes, zwei weiße +Füße gewahrte, die gegeneinander gewinkelt emporstanden. Und jetzt zog +Cordelias Antlitz wehend vorüber in einem schmerzlichen Gefühl. Er trat +näher an das Bett, es waren Umrisse eines Körpers unter den schwarzen +Seidenfalten zu erkennen, die stark glänzten. Hier sollte Cordelia +liegen ... Und dies waren ihre Füße ... + +Und nun sollte der Mantel von oben aufgehoben werden, dann würde etwas +-- da -- sein ... + +Georg wußte nicht, wie, doch nun hatte er den Mantel aufgeschlagen, und +dort lag ein Gesicht und -- es schien Cordelias Gesicht. + +Er beugte sich darüber und sah von oben auf zwei festgeschlossene +Augenlider unter einer fremden, sehr reinen Stirn, von der das braune +Haar zur Seite gestrichen war. Aber dann -- ein Schauder, nie gekannt, +rieselte durch seinen ganzen Leib -- sah er das Lächeln eines Mundes, +das ausströmte, mit einem namenlosen Triumph, gegen sein Herz. + +Plötzlich war alles in ihm ausgelöscht und vernichtet. Nur das Lächeln +noch strömte sich unaufhörlich aus. Das ganze, weiße, weiche, sanft +gerundete Antlitz unter ihm schwieg in tiefem Schlaf; schwieg sich in +Ewigkeit aus, schwieg, leuchtete ihn an mit grenzenlosem Schweigen. Und +auch das Lächeln schwieg, schwieg und gebot Schweigen. Da war nur dieser +Mund, der sein Lächeln festhielt; festhielt mit beiden hochgebogenen +Winkeln, um nicht aufzuhören mit Lächeln, nicht auf-, nicht aufzuhören +mit Lächeln. + +Und dies war jenseits; jenseits von allem, von jedem Ahnen und jedem +Wort. Sie lag und wußte; wußte, daß sie schlief; lächelte, lag, +lächelte, weil sie wußte, alles wußte, alles, alles ... + +Georg wandte sich langsam fort. Hier war nichts mehr. Kein Tod, kein +Schmerz, kein Verlust. Nur -- Ende. Sie war drüben. + +Aber, unwollend die Hände in die Manteltaschen senkend, fühlte er +Papiere in der einen und erkannte beim Herausziehn Cordelias Schrift. +Längere Zeit verging, während es ihm einfach schien, die Blätter in eine +der Kerzenflammen zu halten, allein das Gefühl: Cordelia, jene, die +Andre, habe sie geschrieben und für ihn bestimmt, hielt ihn zurück. Nach +einem Stuhl umherblickend, hörte er ein leises Geräusch; in der +rötlichen Lichterdämmerung des Raumes stand die hohe und dunkle Gestalt +Josef von Montforts, der zum Bett hinsah -- seltsam, mit einem +lebendigen und einem starren Auge, und wie der Länge nach mittwärts +gespalten schien sein Gesicht. Georg winkte ihm, näherzukommen, sah ihn +herzutreten und vor das Bett, worauf er nach einem Blick auf das Antlitz +überrascht zurückfuhr, dann wieder sich überbeugte und in dieser Haltung +verblieb, so lange, daß Georg, einen Stuhl entdeckend, ihn herbeitrug. +Nun stand Montfort wieder aufrecht, den Blick in die Leuchterflammen +geheftet, und sagte nach einer Weile wie zu sich selber langsam: »Das +war ja fast zum Fürchten ...« Dann wandte er sich zu Georg. + +»Sie wollen etwas lesen?« fragte er mit Zartgefühl gedämpft. »Ich werde +nicht stören. Sie werden mir aber erlauben, daß ich Sie nicht allein +lasse in diesem Hause.« + +Er neigte ernst den Kopf, und Georg sah ihn auf den Fußspitzen durch den +Raum zurückgehn und hinter der kleinen Tür verschwinden, -- wobei er +sich nun des abscheulichen Leichnams erinnern mußte, der dort hing, doch +hinderte ein Streifblick auf den unwandelbar lächelnden Mund alle +weiteren Gedanken. Er stellte den Stuhl neben das Bett, setzte sich so, +daß er das schlafende Antlitz mit jedem Blick über den Rand des Papiers +erreichen konnte, faltete die Bogen auf und las. + +»In der Haide; im April + +Ein ganzer Monat fast ist vergangen, seit ich Dich zum erstenmal sah, +und zu einem Entschluß bin ich nicht gekommen. So bin ich hierher +gefahren in den kleinen Haideort, dessen wunderlicher Name Cananoë +lieblich an Kindheit und die geheimnisvollen Kähne der Indianer +erinnert, die man Kanoee nannte. Es ist kühl, windig, der Himmel bewegt +-- zum Abschied, zum Willkommen? -- er selber weiß es kaum, wie es +scheint, ob es Herbst ist oder April hier unten in der Welt. Meine +Fenster zu ebener Erde im kleinen Bauernhaus gehen auf den Obstgarten +hinaus, der noch ganz kahl ist, und ich kann beim Schreiben durch den +Raum hinten die braune, kahle Haide zu Hügeln mit schwarzen +Wacholderstauden ansteigen sehn, und dahinter den blauen Himmel, in den +kleine und größere Wolkenballen lichtweiß unaufhörlich hineinquellen ... +Und unaufhörlich wechseln Sonnenschein und Beschattung. Zu hören ist +nichts als der Wind und fernes Schnattern von Enten. + +Und so will ich denn einmal mein ganzen Leben ausbreiten vor mir und vor +Dir, denn ich ahne wohl, daß Du einmal diese Zeilen lesen wirst. +Ausbreiten wie ein elendes Gewand, an dem alles und alles zerrissen ist. +Und muß wohl anfangen mit dem Anfang. Wie soll der Anfang heißen? -- Es +war eine arme Seele. + +(Denn sie war ein paar Jahre im Paradiese der Kindheit und dann immer im +Fegefeuer.) + +Das Haus, in dem sie geboren wurde, hätte seinem Namen nach das +allerheiterste sein müssen, und für die arme Seele, die sieben +Kinderjahre darin verlebte, war es das auch. Viele schöne, blondhaarige +und schwarzhaarige Wesen in himmelblauen und rosenfarbenen Gewändern +waren im Wachen und Träumen um sie her, pflegten sie, badeten und +liebkosten sie und lachten beständig, und als sie erst so alt war, daß +sie Märchenbücher lesen konnte, wußte sie ganz genau, daß es Feen waren, +und sie ein Königskind, alldieweil nur solch eines Feen und Elfen zu +Dienerinnen haben konnte, alle Tage Schokolade trinken und Zuckerwerk +essen, soviel sie mochte. Dazu gab es allezeit, besonders aber am Abend, +eine himmlische, geheimnisvolle Musik zu hören, auch des Nachts, wenn +sie einmal aufwachte, Musik und Gesang, Gelächter und Gläserklirren aus +den schönen Zimmern und Sälen voller Spiegel und Lampen und kostbarer +Teppiche. Und von Allen wurde sie liebgehabt, wurde geküßt und gedrückt, +war immer die einzige ihrer Art und führte das wunderbarste Leben. Du +verstehst wohl, daß es ein Freudenhaus war. -- Ihre Mama, eine große, +dunkle Frau mit blitzenden Steinen in den Ohren, war die Herrin, der all +die Schönen dienten und zuweilen böse von ihr gescholten wurden. Dann +legte die arme Seele sich ins Mittel, es gab Gelächter, und alles war in +Ordnung. + +Diese herrlichen Tage dauerten, bis die arme Seele sieben Jahre alt war. +Da kam auf einmal ein großer Jammer und Aufruhr, die Mama lag ganz +bleich zwischen Kerzen und grünen Bäumen, Alle weinten, obschon es sehr +feierlich war und nicht traurig, also weinte sie auch. Dann kam ein +großer, starker Mann mit einem schwarzen Schnurrbart, der schon manchmal +die arme Seele auf seine Knie genommen hatte, wenn er einmal da war, und +gesagt, er wäre ihr Papa. Er gefiel ihr nicht besonders; böse schien er +nicht zu sein, aber er roch häßlich und nahm die arme Seele mit fort. + +Nun wurde es beinahe noch herrlicher. Die Feen waren zwar weg, aber +dafür kamen die Tiere. Alle Tiere aus den Bilderbüchern kamen, waren +ganz zahm und fraßen aus der Hand, Pferde, ganze Reihen und in allen +Farben, schwarze, braune und weiße, die buntesten Katzen, Hunde aller +Arten, vom kleinsten Rehpinscher bis zum riesigen Neufundländer, Affen +in bunten Soldatenjacken, ein großes Schwein, eine Menge Gänse, Ziegen +und Esel und die ernsten Kamele, und vor allem zwei ungeheure, graue +Elefanten. O und auch wilde gab es, die einen durchdringenden, ganz +betäubenden Geruch ausströmten und nur durch Eisenstangen gesehen werden +konnten, Löwen, Tiger, Jaguare und Leoparden, und das war mit das +herrlichste, ganz klein im Dunkel zu stehn und in dem wilden, starken +Geruch und sie hinter den Gittern am Boden liegen zu sehn, ganz schlaff +wie Häute, aber sie atmeten heftig, und auf einmal, wenn sie den Kopf +hoben, erschienen ihre gelben Augen, die eine Weile Ausschau hielten in +weite Ferne ... + +Die Menschen dahier waren mit der armen Seele stets lustig und +freundlich, jedenfalls die Männer, die fürchterlich stark waren oder +fürchterlich gelenkig; sie meinten es gewiß gut, wenn sie die arme Seele +mit einer Hand an die Decke schwangen, aber ihr Geruch war schwer zu +ertragen. Die Frauen hier kümmerten sich weniger um die arme Seele, +gingen bei Tage grau und mürrisch umher und strahlten erst am Abend, +wenn die Vorstellung kam und alles anfing zu glänzen. + +Und alle paar Tage gabs eine andre Stadt zu sehn und dazwischen +wundersame Reisen in der langen Wagenkolonne. Sind denn alle Wandertage +durch das flache Land Sommer- und Sonnentage gewesen? Die wenigsten +waren es wohl, aber nun ist da nur ein unendliches Lerchengetriller, +unendliches Himmelsblau, sind die gelben Wände der Kornfelder, aus denen +man mit vorsichtigen Armen große rote Mohnblumen und blaue Cyanen +herausholen durfte, sind die weißen Landstraßen mit den vielen Schatten +der grünen Wagen und der Pferde, die kurzen, wunderlichen Schatten, die +unter einem fortzogen, wenn man sich abmühte, darauf zu treten, und sind +die schmalen grünen Streifen zwischen Straße und Grabenrand, auf denen +man sich immer wieder lange, lange bis zum Schreien und Winken der ganz +klein gewordenen Kolonne vergessen konnte, im Suchen nach einem +Vierblatt unter den aberhundert kleinen grünen Blättern des Klees. + +Ein komischer alter Mann war da, der immer kaute, ganz vertrocknet im +Gesicht, schief, mit einem Holzbein, ein gewesener Clown, dem einer von +den Löwen das fleischerne zerrissen haben sollte, der war ihr Lehrer. Er +muß viel mehr Kenntnisse gehabt haben, als die arme Seele damals ahnte; +viel später merkte sie erst, was alles sie gelernt hatte, ohne je in +eine Schule gegangen zu sein. + +Im Zirkus zu arbeiten brauchte sie nicht. Sie hatte sich gleich beim +ersten Versuch etwas gebrochen, wobei sich herausstellte, daß ihre +Knöchlein zu zart waren für diese gefährliche Arbeit. So wars ein +glückliches Leben, und das >Schönste< darin ist noch nicht einmal +beschrieben. + +Später aber wurde alles immer blasser und farbloser, sie wuchs heran, +und eines Tages starb auch ihr Vater. Sie und ihre Schwester kamen +damals zu einem Onkel ins Haus, der sie ungern nahm, sich aber später +mit der armen Seele ganz gut vertrug, ein strenger, trockner Mann, +knochig und wortkarg, der einen kleinen Weißwarenladen hatte in einer +süddeutschen Stadt und Guttempler war. Hier ging die arme Seele auch +eine Zeitlang in eine richtige Schule, aber dann kam eine böse Zeit +endloser Kämpfe und Schmerzen, denn sie wollte nun Schauspielerin +werden. Sie hatte schon im Zirkus alle möglichen Dichter und Stücke +gelesen, und schon als sie noch klein war, angefangen, die Leute dadurch +zu belustigen, daß sie ihnen vormachte, wie sie waren, worin sie es mit +den Jahren zu großer Fertigkeit brachte. Und die Kämpfe gingen vorüber, +die arme Seele bekam einen Lehrer, und einen andern Lehrer, sie kam in +eine andre Stadt, lernte und lernte, und das Leben bestand nur noch aus +Lernen und Theater und Theaterleuten, und eines Tages hatte sie +ausgelernt, und jeder prophezeite ihr eine glänzende Zukunft. Sie hatte +auch schon einen schönen großen Vertrag mit einer guten Bühne in der +Tasche, und die lange, lange Qual fing an. + +Ja, wie ist das? Man meint, man hat eine feurige Sonne in der Brust, und +nun wird nur der Vorhang hochgezogen, und die Sonne strahlt, daß alle +Bühnenlampen erblinden müssen. Und wie ist das? Ein Theater ist da, da +soll man spielen. Aber da sind Viele, die spielen wollen, für jede Rolle +bald zwei und drei, man muß warten, o man hat ja Geduld, die Sonne +brennt, es tut weh, aber sie brennt, und man wartet. So spielt man die +kleinen Rollen, kommt in ein Zimmer, verneigt sich, giebt die Hand, wie +mans gelernt hat, und man wartet und hat viel Zeit, weiter zu lernen und +-- da sind nun die Männer. Man mag sie nicht, sie riechen schlecht und +haben böse Augen und -- man wartet vielleicht auf einen, denn -- man ist +eine arme Seele, die nicht viel weiß von der Welt. + +Da geht man zum Feind, der der Direktor ist, und bittet um eine Rolle. +O, ja, gewiß, die Rolle ist da, sie wartet schon, der Direktor ist +einfach und kühl, und man möchte sterben vor Schreck und Beseligung: die +große Rolle! + +Da kommen nun die Proben, und es geht ja nicht? Was ist nur, warum es +nicht geht? Es ist alles schlecht und verkehrt, was man sich in den +langen, langen Nächten ausgedacht und geprobt hat und so sicher wußte, +und es sind ja nun auf einmal lauter Feinde da, die lachen und kaum noch +antworten, und kaum noch nicken, wenn man grüßt. Der Regisseur ist da, +ein Feind, der gerät ganz außer sich über das unmögliche Spiel. Wo ist +denn die Kraft geblieben? Wartet nur bis zum Abend, Geduld, es wird +besser werden, die Sonne brennt, -- aber sie ist so klein geworden, +täglich wird sie kleiner und schwächer, sie sieht einer Sonne gar nicht +mehr ähnlich, vielleicht war es gar keine? Alle lachten und sehen, wie +klein sie ist, Alles und Alle sind kalt, und die Sonne erlischt, man hat +die Rolle nicht mehr, man steht auf der Straße. + +Oder war es vielleicht nicht so? Vielleicht war es ganz anders? Es ist +lange her ... + +Da ist eine andre Bühne. Da ist ein Freund, ein guter Mensch, nun wird +alles gut werden. Eine Rolle ist da, nicht so groß, aber gut genug, um +zu zeigen, wieviel heller die Sonne brennt, und es geht ja vorzüglich, +der Freund hilft, Alle staunen. Ein Tag kommt, da ist der gute Freund +nicht mehr der Freund, er riecht, er ist ein Feind geworden, aber was +schadets? Die Sonne ist da, die Sonne genügt. + +Der Abend ist da, die Sonne kann nicht ihre ganze Kraft brauchen, aber +man sieht sie hell genug, und daß sie heller sein könnte. Man ist +zufrieden, man schläft wieder einmal, man hofft -- aber was steht denn +in den Zeitungen? Es war nichts, es war alles so übertrieben, kein +Verständnis für den Umfang der Rolle, in ganz verkehrten Händen, eine +Anfängerin, die bescheidener sein sollte ... + +Sinds denn schon Jahre geworden? War es denn so? War es nicht ganz +anders? viel mehr? Wie gingen denn die Jahre? Ging man denn immer +spazieren im Park, im Feld, in den Straßen? Nähte man die alten Kleider +immer noch einmal um? -- sie lachen schon lange im Salonstück, so geht +es nicht weiter, mein Fräulein! -- Aber meine Gage ... + +Gage liegt auf den Straßen reichlich genug zum Aufheben. Die arme Seele +will die Gage von der Straße nicht, sie wartet, sie hat ja Geduld, sie +steht Tag für Tag im häßlichen Zimmer und lernt, für später, die Sonne +brennt, sie vertausendfacht ihre Kraft in tausend Gestalten, Alle haben +die Sonne in der Brust, sie sehnt sich, sie lernt, sie lernt, sie +hungert, sie weint längst nicht mehr ... + +Ach, kann man das schreiben? Es war ja nicht so, es war ja alles ganz +anders. War die Welt etwa schlecht? Warfen sie sich Alle über die eine +arme Seele her und wollten sie zerdrücken? Die Welt ist nicht schlecht, +die Menschen sinds nicht, es will, sagt der kluge Georg, ein jeder nur +das Seine und will sich nicht hindern lassen dabei, aber -- die arme +Seele hatte kein Glück. + +Kein Glück? Es sind Jahre geworden, aber nun ist das Glück da, der Tag +ist da, der -- Tag ist. Eine Rolle ist da, und alles geht sehr schnell, +eine Aushilfe, der Direktor zuckt die Achseln, aber man kann ja die +Rolle, im Schlaf kann man sie, und man spielt, und die Sonne brennt und +strömt aus Augen und Kehle, aus den Gliedern und dann -- am Morgen nach +dem glückseligen Abend, wo sie Alle ihr um den Hals fielen, der armen +Seele, und sie küßten und weinten, und sie kaum schlief vor Trunkenheit +-- was steht in den Zeitungen der kleinen Stadt? O welche Empörung! War +das nicht Babel? War das nicht abscheuliche Realistik? (Und war doch nur +Stil gewesen, nur Stil, so dumm ist die kleine Stadt!) Die Welt war +nicht gut am Morgen, die Menschen hatten alles vergessen, was die arme +Seele für unvergeßlich gehalten, in den Zeitungen stand, daß man es +vergessen müßte, der Direktor war ja nicht unfreundlich, es tat ihm +leid, aber -- Sie sehen, Severin, Sie sind nicht für hier ... + +Aber die Sonne, ein Widerglanz ganz klein saß er doch in einer +Zeitungsspalte, ein Keim, der aufging, und da war man in einer andern +Stadt und spielte sich aus, das Glück war da, die Sonne brannte, brannte +sehr schön im klassischen Stück. Aber im klassischen Stück war das +Parkett leer, im Salonstück saßen die Offiziere und Damen, -- die +Toiletten der Severin waren unmöglich, und waren doch so schön, wie die +größere Gage erlaubte, die Sonne brannte ... + +Warens schon viele Jahre? + +O der wahn--witzige Durst! O die wütende Sehnsucht! O die Verzweiflung! +All die vergebene Arbeit und Müh! Man ging wieder spazieren. O brennende +Nächte, Fleiß, Fleiß, Fleiß, und Darben, die arme Seele wurde mager und +häßlich, was schadete das, sie wartete auf den Tag, sie hatte keine +Sorge mehr um Hunger, um Scham und Verzweiflung, wenn eine Rolle kam und +ihr wurde ein Hemd angezogen, das reichte kaum zu den Knien, und die +Stimme des alten Feindes sagte: Sie müssen wohl selber sagen, Severin, +mit den Beinen ... Tage und Nächte. Alle Bücher gelesen, alle Rollen +studiert, alle Werke, Geschichte, Kostümkunde, Biographien, die Sonne +brannte, ein Morgen kam, grau, grau, sie war allein, kein Licht mehr. + +Schon viele Jahre ... + +Da kam ein Mensch. O zart, o schön und ganz sanft wie ein Engel. Sein +Blick durchbohrte die arme Seele, er war rein. Verkündigung, dachte sie, +o Engel, bist du's? Ein Dichter, er hatte ein Stück geschrieben, +Theodosis, das wurde aufgeführt, die arme Seele sollte spielen, sollte +sagen: + + Ich wollte ihnen dienen. O in Schauern + Sollten sie stehn und horchen: Hört, es klingt + Die Erde, ja die Erde klingt, die alte. + Wir sind geliebt, wir Menschen sind geliebt, + Denn eine Blinde baut uns goldne Brücken, + Denn eine Stimme kam, um uns zu dienen ... + +Und da -- gnädiger Gott! -- war die Erwartung zu groß? Wars schon +zuviel? Da erkannte die arme Seele, daß sie all die Zeit noch ein andres +Leben mit sich getragen hatte, geheim, von dem niemand wissen durfte, +aber Er, Er mußte es wissen, er würde nicht richten, sie dachte: du bist +rein, alles ist rein vor dir, auch dies Leben. Er war rein, aber er war +zart. Er ertrug nicht den Anblick, er ging fort. Keiner erfuhr, wohin. +Als Jahre dahin waren, konnte die arme Seele in einem Zeitungsblatt +lesen, daß im Walde eine Leiche gefunden war. + +So furchtbar war ihr andres Leben ... Ich zeige es auch Dir. + +Erlosch die Sonne? Das Stück ward nicht gespielt, die arme Seele brach +durch. + +Nein, es kam ja das Glück. Wie hatte der große Mann von ihr gehört, in +der königlichen Stadt, vor dem die Könige spielten und in Gold und Seide +gingen? Wie konnte denn das Firmament sich neigen wollen? Die arme Seele +sollte dort hinauf, die Sonne sollte vor Allen brennen, der große Mann +wollte es. Die Seele war nicht gebrochen. + +Die Sonne brannte, es war ein alter Vertrag, in dem stand: noch ein +halbes Jahr, die arme Seele wollte ihn halten. Weshalb? Sie hatte zuviel +Geduld gehabt. Der große Mann würde warten, noch ein halbes Jahr, die +Sonne brannte, der große Mann wartete nicht. + +Aus wars mit der armen Seele. Abend und Nacht und Morgen, die Sonne war +aus, aus war das Leben. + +Nun, wie war es denn? Warum saß die arme Seele im Theater wieder wie +jeden Abend? Freilich, sie war nun zufrieden mit allem, sie wußte, lange +dauerte es nicht, die Menschen waren ganz fern, der armen Seele war +leicht, die Menschen hatten sie glücklich gequält. + +Sie hatten mich glücklich gequält, Georg, und an diesem Abend kamst Du. + +Deine Augen sagten: bist du's? Deine Augen sagten: steh auf! Deine Augen +sagten: geh voran, ich komme. + +Eine Brücke. Wo warst Du, Georg? Glück und Segen, dachte die arme Seele, +er kommt, etwas soll noch sein. Und kommt er nicht, so ist hier die +Brücke, das Wasser ist unten, es geht ja schnell. + +Glück und Segen, geliebter Herr, und höre nun von dem anderen Leben!« + + * * * * * + +Georg -- sein ganzes Blut lag ihm im Innern, zu einem glühend kochenden +Klumpen geballt -- sah sich jetzt aufstehn, zur Wand gehn, die Arme +dagegen legen und den Kopf auf die Arme und -- -- nein. Nahe vor ihm lag +ein schlafendes Gesicht, die Augen fest geschlossen, aber der Mund +lächelte vor sich hin, hatte nicht aufgehört zu lächeln, schwelgte im +Lächeln und wußte, wußte ... + +Er sah auf das Blatt. Da war wieder der siedende Katarakt, an dem er +eben gestanden hatte, war diese Feuersbrunst von Leiden, die in seinen +Ohren leiblich getost hatte, dies Gigantengehämmer der Qual. All dies in +Cordelias Brust, seiner Cordelia, der immer heitern, immer kindlichen, +seligen, immer -- nein, einmal war der Schmerz ausgebrochen, das Untier, +aufbrüllend, alles zerfetzend mit dem Hieb seiner Pranken, einmal ... +Einmal ist nichts, und hier war das Lächeln. + +Georg nahm die Blätter wieder vor und las weiter. + +»Du hast gesehen, Georg, daß die arme Seele eine Schwester hatte, und +hast sie wohl abstoßend gefunden. Da die arme Seele selber sie kannte +vom ersten Blick des Lebens, war sie die Häßliche immer gewohnt. Und +diese Häßliche hatte ja auch das >Schönste<. Das >Schönste< war vom +ersten Bewußtsein des Lebens an, später erst lernte sie, daß die +Schwester es hatte, daß es sich von ihr immer bekommen ließ, und noch +später, daß es sich nur von ihr bekommen ließ, und daß niemand sonst +davon wissen durfte; und noch viel später endlich, daß es kein +>Schönstes< war, sondern ... + +Wenn die arme Seele kaum in ihrem Bett lag am Abend, das Licht gelöscht +war und Alle gegangen, die beim Auskleiden und Waschen geholfen, +gescherzt und gelacht hatten, dann ging leise die Tür, die viel ältere +Schwester kam herein und stieg zu ihr ins Gitterbett, und dann ... + +Laß, Georg, laß! laß doch los, Georg, ich kann ja nicht! + + * * * * * + +Seltsam! Als ich die letzten Worte schrieb, wars Nacht, es ging schon +auf Morgen, ich legte mich und schlief bald. Nun ist auch Morgen und +Mittag gewesen, ich habe wieder eine Stunde geschlafen, und plötzlich +ist alles verwandelt. Ich weiß so viel, alles glaube ich zu wissen, ich +glaube, ich darf ... + +Es ist fast, als hätte ich Dirs gesagt. Du hast ja verstanden, Georg, Du +bist ein Mann -- Männer verstehen ja solche Dinge, auch wenn man sie gar +nicht meinte, also hast Du verstanden.« + +Georg sah die Tote an. Ja, sagte er, ich habe verstanden. Aber --, -- er +wußte nicht weiter. Er las. + +»Nein, nichts habe ich Dir gesagt, ich weiß es, und doch -- ich glaube, +ich darf. Auf einmal ist auch das Gewebe fertig, an dem ich so lange +gesponnen habe, ohne es zusammen zu bringen, das ich meiner Schwester +überwerfen kann, damit sie mir ein halbes Jahr läßt. Ein halbes Jahr, +das genügt, und mehr ist unmöglich. + +Ein halbes Jahr Glück. Mir ist eingefallen, daß ich ja die Sonne habe. +Zwar ist sie eigentlich so beschaffen, daß sie nur vor Vielen brennt, +aber ich denke, sie wird sich nicht versagen. + +Ich will kommen und will spielen, Georg. Wundersam, nicht? daß man sagt: +spielen. Ein halbes Jahr, ich bin glücklich, bins schon, ich brauche +nichts zu erfinden, nur die Lüge muß ich verbergen, nur dazu ein wenig +Spiel; und ein wenig, wenn es -- wenn es einmal schwer ist, zu spielen. +Oh ja, nun werde ich spielen!« + +Georg fühlte die Glut auf der eigenen Stirn. -- Also das wars? Sie hat +gespielt und gelogen, und ich habe gelogen, wir Beide. Oh Gott sei +gelobt, daß ichs getan habe! durchfuhrs ihn, ich hätte ihr am Ende noch +das Letzte zerstört. + +Er suchte die Zeile, wo er aufgehört hatte, wieder und las: + +»Ein halbes Jahr -- und dann der Tod. Ein halbes Jahr lügen und dann die +Wahrheit. Ich sehe das halbe Jahr, es glänzt; und ich sehe die Stunde, +wo Du dies liest. Weißt Du nun alles, Georg? Richtest Du, wie der Arme, +Zarte nicht richten konnte und doch zerbrach und hinging; tragen wollte +und doch nicht konnte und vielleicht anfing, die Sterne abzuzählen auf +das Rechte, und steht noch heute und findet es nicht heraus ... Weißt Du +noch den Anfang, vor einem Monat, weißt Du nun, warum Du mich gar nicht +verstehen konntest? Weißt Du, wie ich in Deine Tür kam und vor Staunen +verging?« + +Georg sah und wußte alles. Ihre Andacht, ihre grenzenlose Beklommenheit, +und wie sie am Boden kniete und sagte: »Ich bin dein eigen« ... Und +dann, in der Finsternis, am Wasser, wie sie heraufgestiegen war, auf den +Knien lag und aufseufzte den einen tiefen Seufzer, und dann lag und +weinte und aufstand, fortging und nicht mehr kam ... Dann hatte sie +einen Monat gerungen, dann kam das halbe Jahr, -- und er hatte nichts +gewußt. Sie hatte die Hölle unter ihre Füße gestampft und stieg herauf, +wie ein Engel rein, sie ... Georg faßte behutsam den Mantel und zog ihn +über ihren Gliedern fort, bis zu den Knien, sah leise schaudernd die +weiße, im Kerzenschein nicht abgestorbene Haut ohne Makel, wie er sie +gekannt, legte den Mantel wieder darüber, das Lächeln ihres Mundes +scheuchte ihn ganz zurück, er gewahrte die Blätter in seiner Hand und +las, entschlossen, zu Ende zu kommen. + +»Genug, Georg, genug. Ich weiß nicht, was Du denkst. Vielleicht denkst +Du jetzt, ich hätte sprechen sollen. Vielleicht verstehst Du es gar +nicht, denkst, ich hätte es versuchen sollen, hätte den Tag herankommen +lassen sollen, wo mein Vampir vor Dich hingetreten wäre und ausgeschrien +hätte, was ... Vielleicht verstehst Du auch mich nicht, daß ich dem +Vampir so habe erliegen können, so in seiner Gewalt blieb ... Ach, +fünfzehn Jahre unwissender, solcher Gewohnheit -- und nichts ist mehr zu +retten. Tausend Versuche, und kein Erfolg; aus seinen Krallen gab es ... +wozu? Töten -- nicht wahr, Georg? das denkt sich so einfach und nah für +den Fernen, aber ich weiß, daß man dazu geboren wird oder anders nicht +dazu kommt -- vor dem eigenen Tod. + +Ich komme, Georg. + +So war das Ende der armen Seele doch beschlossen auf der Brücke, als sie +auf Dich wartete und dachte: entweder -- oder. Nur ein wenig +hinausgerückt wars, weit genug, um es ganz vergessen zu können für ein +halbes Jahr. + +Ach, und eine kleine Hoffnung ist noch. Soll ichs noch sagen, Georg? + +Ein Kind, Georg, ein Kind. Dann, oh dann, weiß ich, ist alles gut, ist +alles andre wie abgerissen, dann ist nur das eine, nur es, das Kind, Tod +und Leben ganz gleich, nur nötig das Leben, weil es lebt. -- + +Ich bin müde, die Welt wird dunkel, ich werde wieder schlafen. Diese +Blätter hebe ich auf bis zu dem Tag, wo Du alles wissen mußt. Ich sehe +die Zukunft nicht, alles was ich sehe, ist die Sonne in meiner Brust, +und daß sie brennt, alles was ich will. Gute Nacht! Ich komme. + + * * * * * + +Heut war der Abend, an dem ich vor Dir Theodosis spielte, zum erstenmal +ganz: spielte. Das Halbjahr ist um, das Zeichen war da, es soll nicht +mehr sein. Wie es kommen wird, mag sich zeigen, von heute an ist +Abschied. + +Glück und Segen, geliebtes Haupt, es war wunderbar! Glück und Segen, die +arme Seele ist nicht sehr betrübt, obgleich es schwer ist, von Dir zu +gehn. Das Ziel ist erreicht, mir ist nicht bange, ich werde gar nicht +mehr spielen brauchen die letzte Zeit. Alles hat sich so geglättet, all +das viele Leid ... + +Es ist doch alles nur Liebe gewesen. -- + +Und vielleicht -- auch wenn ich aus dem roten Becher getrunken habe -- +nimmt es noch kein Ende mit ihr. + +Dann werd ichs wissen. + +Erhalte mir Dein Herz, denn aus ihm kommt das Leben! + + bittet + die arme Seele + Cordelia.« + +Georg legte die Blätter leise zusammen und erhob sich. Es war still. Er +suchte in sich, die tiefgebrannten Flammen der Kerzen im Blick. Er +versuchte, zu begreifen, daß hier Tod war, und was das war: Tod? Aber er +fand nur eine unerkennbare Fremdheit. Nicht Angst, nicht Grausen, nicht +Schmerz, -- nur eine feierliche Schwere, die nicht drückte. Er heftete +noch einmal die Augen auf das Lächeln der Toten, zog schnell den Mantel +darüber hoch, nahm das rote Glas an sich, löschte dann eine nach der +andern die Flammen und ging leise durch den Raum auf den Lichtspalt der +Türe zu, jetzt merkend, daß von dorther der Geruch des brennenden Tabaks +kam, den er schon längere Zeit unbewußt wahrgenommen hatte. + +Josef Montfort wandte sich im Stuhl um, in dem er, den Rücken der Tür +zugewandt, in der Nähe eines Sofas saß, das an der Wand stand. Er +rauchte, an der Erde stand eine Kerze im Blechleuchter, ein Wasserglas +mit rötlichem Bodensatz und eine Flasche Wein. Es hätte behaglich +ausgesehn, wenn nicht auf dem Sofa der weibliche Körper gelegen hätte; +allein als Georg, Ekel und Schauder, die heftig in ihm aufstiegen, +überwindend, hinzutrat, war auch hier nichts Abscheuliches mehr. +Montfort hatte der Toten die Hände zusammengelegt, sie lag grade, die +Augenlider waren geschlossen, die Zungenspitze verschwunden, der Mund +geschlossen, sie sah müde, friedfertig und gut aus. Montfort zeigte ihm +alles deutlich, indem er die Kerze hochhielt und leuchtete. Dann gab er +ihm auch den Zettel in die Hand, den die Tote gehalten hatte, und Georg +steckte ihn in die Tasche zu dem übrigen. -- + +Leben wir, so leben wir dem Herrn ... Dem Herrn? dem Herrn? Nun gleich, +das Wort enthielt ja wohl alles, und wenn Cordelia es für die Schwester +geschrieben hatte, so war auch hier alles geschehn. + +»Wollen wir gehn?« fragte er Montfort. Der nickte, ließ ihn voran bis +zur Tür und löschte das Licht. + +Die Taschenlaterne leuchtete ihnen nach unten. Im Hof fiel es Georg ein, +daß sie kaum würden aus dem Hause kommen können, doch zeigte Montfort, +ehe er etwas sagen konnte, einen Schlüssel, lächelte ein wenig mit einem +Auge und sagte: »Ich sorge für alles.« + +Auf der Straße, überm Fluß brauten Nebel und nächtliche Dämmerung. Die +Laternen waren erloschen. Montfort warf das Ende seiner Zigarre über das +Geländer, die rote Flugbahn erlosch, er sagte, Georg unter den Arm +nehmend: + +»Ich muß Sie um einiges bitten, lieber Freund. Erstlich, zu vergessen, +daß Sie mich hier sahn, jedenfalls vor jedem, der mich kennt. Ich weile +unbekannt hier. Zweitens sich nicht weiter zu wundern, daß Sie mich +trafen. Es dürfte Ihnen ja kaum unangenehm gewesen sein. Mich selbst +wundert es durchaus nicht, da ich seit Kindesbeinen, möchte ich sagen, +die Gewohnheit habe, an Stellen aufzutauchen, wo sich das Fürchten +lernen läßt. Gelernt habe ich es leider nie. Das Unglück meines Lebens. +Nun -- ich hoffe, wir plaudern ein ander Mal darüber. Sehen Sie, da sind +wir über die Brücke. Übrigens -- mit Ihrer Erlaubnis würde ich nichts +dagegen einzuwenden haben, wenn Sie mir ein Bett anböten für die Nacht; +bis zu dem meinen wäre es verteufelt weit in Anbetracht der Stunde. -- +Ja, noch etwas: mein Gesicht. Sie haben vermutlich bemerkt, daß etwas +damit nicht in Ordnung ist. Nun -- auch darüber werden wir plaudern, +wenn uns das Leben wieder zusammenführen sollte, was, wie ich hoffe, in +für Sie weniger schwerer Stunde der Fall sein wird.« + +Georg, willenlos übergossen von der plätschernden Suada, blieb nun +stehn, da sie bei der ersten Laterne angelangt waren, blickte Montfort +an, blickte zu dem Glaskäfig auf, in dem der Glühstrumpf atmete, und +dachte: Habe ich denn nun alldas geträumt? Wann stand ich denn schon +einmal neben einer solchen Laterne? War das nicht -- als ich Renate zum +ersten Mal sah? -- Er zuckte zusammen. Seine linke Hand fühlte die +Papiere in der Tasche, seine rechte das warme Glas. Kein Traum. Cordelia +war tot. Aber auch kein Schmerz kam hoch in seiner Brust; im Dunkel +wehte es auf, lächelte tief, und entschwand. Georg ging weiter. + +Allein! sagte jemand tonlos in seiner Nähe; allein, allein, allein. + + + Hier enden des fünften Buches neun Kapitel oder ebenso viele + Monate. + + + + + Sechstes Buch. + Fragmente aus den halkyonischen Jahren III + oder + Die Schleuse + + + Erstes Kapitel: November + + + Berlin + +Georg sah, als er eines Nachmittags den dunklen Gang in seiner Berliner +Wohnung hinunterging, einen Brief hinter der Korridortür liegen, +augenscheinlich durch den Postschlitz geworfen, und erkannte im Aufheben +mit Verwunderung und Verdruß nicht nur seinen Berliner Pseudonymen, +sondern auch Bennos Handschrift: die Universität, an die adressiert war, +hatte den Brief nachgeschickt. Äußerst mißgestimmt gegen Benno, der sein +nachdrückliches Verbot des Schreibens übertreten hatte, stopfte er ihn +in seine Manteltasche, und erst, als er im vollbesetzten Stadtbahnabteil +an der Türe lehnte, gab er der Reizung des Verschlossenen in seiner +Tasche nach -- dazu dem Verlangen nach einer Beschäftigung, das von dem +stumpfen, gerüttelten Beisammensein mit den ereignislosen Gesichtern der +Mitfahrenden hervorgerufen wurde -- und öffnete, sehr widerstrebend, den +Brief. Nur mit den Augen zu überfliegen und wieder fortzustecken +willens, las er: + + Altenrepen, den 26. 11. + +Ja, mein Georg, so siehst Du mich Dein strenges Gebot übertreten. Aber +Du kannst, nein, Du kannst nicht verlangen, daß ich es halte, daß ich +weiter in dieser alltäglichen und -- ach mehr noch! -- allnächtlichen +Sorge und Ungewißheit um Dein Ergehen hinlebe. Ich bitte Dich, gieb mir +ein Lebenszeichen! Wenn ich an Dich denke, sehe ich Dich in diesem +entsetzlichen Berlin wie in einem Mahlstrom umgetrieben, es flimmert mir +vor den Augen, Dich, allem Schönen, Reinen, Edlen so hingegeben und nun +so zu Boden gedrückt durch das furchtbare Erlebnis, in der Einöde zu +denken, die der Name Berlin vor meinen Augen entstehen läßt. Georg, die +Nacht, wo Du mir von Cordelia sprachest, die Tote selbst, ihr Lächeln, +der schauerliche öde Raum unter dem Dach -- unzählige Bilder, die nicht +vor meinen Augen weichen, werde ich im ganzen Leben nicht vergessen. Ich +träume davon, es läßt mir keine Ruhe, auch ist ja niemand da, mit dem +ich darüber sprechen könnte. Elfriede -- ich versucht' es, aber -- was +kann sie davon verstehn, die nichts sah, noch mein Empfinden für Dich +teilen kann; ihr muß es ein fremdes schauerliches Märchen bleiben, und +von vielem darin hätte ich kaum einmal gewußt, wie es ihr sagen. Ich bin +manchmal recht allein, Du fehlst mir täglich, ich spreche mit Hesekiel +von Dir, aber -- der Sprachschatz des Armen ist recht beschränkt, -- +ach, unsre schönen Gespräche! Wird all das jemals wieder kommen? Auch +Magda ist fort, -- willst Du sie wirklich nicht aufsuchen? Sie würde +doch sicherlich ein gutes heilsames Wort, ein linderndes Mitschweigen +für Dich haben. Genug, ich sehe längst Deine Unzufriedenheit, und +vielleicht -- ich hoffe es ja -- sind all das auch nur Einbildungen von +mir. + +Ich bin fleißig, Elfriede ist heiter und engelhaft wie je, und mein +Leben könnte das glücklichste von der Welt sein, ohne -- Du weißt, wie +ichs meine. + + In Treue Dein alter + Benno + +Kümmerlich, dachte Georg, sehr kümmerlich ist das! indem er den Bogen +faltete und in das widerspenstige gelbe Seidenpapierfutter des +Umschlages pfropfte. Guter Benno, deine Sorge ist ebenso rührend schön +-- für dich, wie herzbeleidigend für mich. Außerdem geht mirs glänzend, +und alles was du schreibst, ist Unsinn. Du -- -- Überdem wurde die Tür +hinter Georg aufgerissen, drei und mehr Menschen drängten herein und ihn +bis zur gegenüberliegenden Tür -- sehr ärgerlich! denn was hatten sie +auf diesem winzigen Tiergartenbahnhof, wo überhaupt niemand einzusteigen +pflegte und deshalb auch niemand einzusteigen hatte, obendrein in seinem +Abteil zu wollen? giftete er sich. -- Eingezwängt stehend, eine Hand am +Gepäcknetz, ließ er seine Verstimmtheit gegen den Freund weitertosen. +Wie er mich bloß so falsch verstehen konnte! Als ob nicht mein ganzer +Jammer eben darin bestanden hätte und bestünde, daß sie -- daß sie tot +ist, nichts als das, fort mit allem, jenseits, zugedeckt mit diesem +Lächeln, das mich verfolgt ... + +Georg verlor seine Gedanken über dem Anblick der Leute in seiner Nähe, +die ihn zu nichtswürdiger Beschäftigung mit ihren gebündelten Zügen, +häßlichen Händen, Hüten und dergleichen zwangen; die Fahrt des langsam +dahin trabenden Zuges schien in alle Ewigkeit währen zu sollen, er +geriet am Ende wieder an den Brief. Ich bin sehr allein ... hatte er das +nicht geschrieben? Und überhaupt die ganze Stelle mit Elfriede klang +doch sehr merkwürdig und -- ah natürlich! das war der wahre Grund des +Schreibens! Armer Benno, fängt es nun an? Der erste Argwohn, das +gescheuerte Gold sei -- am Ende doch Messing? -- Georg wurde, so sehr er +Benno bemitleiden mußte, warm und wohler ums Herz, er verließ im Bahnhof +der Friedrichstraße aufatmend den Zug, eilte durch die schon dämmernden, +nebelgrauen Straßen und saß alsbald in seiner abgelegenen Ecke der +Seminarbibliothek an seinem Tischplatz, unsichtbar außer für den, der +ein Buch in der Bücherwand hinter seinem Rücken suchte, eine andre +Bücherwand vor sich, zur Linken das Fenster. Allein kaum, daß er die +dritte Seite in Gerlachs Abhandlung über die deutsch-dänischen +Handelsbeziehungen gelesen hatte, empfand er, daß er gestört war, mußte +sich anders setzen, das Buch anders legen, erst einen, dann mehrere +Sätze doppelt lesen und lehnte sich plötzlich aufseufzend im Stuhl +zurück. Gedankenleer zum Fenster hinausgewandt, sah er drüben die +kahlschwarzen Kastanien des Wäldchens, flatternd von letzten braunen +Blattfetzen, die Baracke für Vorträge über Kunst darin, kahl, nüchtern +und unfreundlich, dahinter die Rückfront der Universität. Ein paar +Gestalten, frostig anzusehn, wandelten im Garten. Auf der Straße davor +flammte grünbleich die erste Laterne auf. + +Ja, da ist es wieder, das Alte, dachte Georg im Empfinden des Drucks, +der Beklommenheit, der Angst in der Brust. Nun ist alles wieder drohend +und ungewiß. Sie schläft, sie lächelt, sie ist drüben. Ich bin allein. +Wie lang ist es her? Fünf Wochen! + +Mein Gott! -- ihm ward heiß -- wie ist es denn möglich? Hin, alles hin, +ganz und gar wie ein Traum, wie ein Sonntag, alles, alles fort! -- Er +zwang sich, er sah sie, ihren glänzenden Leib, in der Nachthelle, in +einem Gartendickicht, auf dem Schwarz des Mantels -- Sterne bewegten +sich im Laub. Auf dem Bett unterm Fenster, über ihre strömenden Glieder +hinaus, tauchte sein Auge in die helle Nacht, die dunklere Ferne, die +Ebene endlos -- und darüber die zahllosen Augen der Sterne. -- Dies +erlosch, im rötlichen Schein der Kerzen funkelte das rote Glas, das +schlafende Antlitz lächelte vor sich hin, -- im Schwinden sah er noch +Montfort, den Hut aus der Stirn gerückt, vor der verschlossenen Türe +stehn, eine Hand über sich aufgestützt, die Füße gekreuzt, in der +herabhängenden Linken die kleine Taschenlampe, aus der er von Sekunde zu +Sekunde den Lichtkegel zu Boden fallen ließ, in dessen Schein er selber +vor Georg erschien, ein Bild, das sich wie kaum ein andres ihm +eingebrannt. -- Georg versuchte es wieder, er sah sie unter der Vorhalle +des Hauses, ihm entgegenschmelzenden Gesichts ... Was sich jetzt regte +in ihm, war sein Geschlecht, die Entbehrung, er rückte unruhig im Stuhl, +fühlte sein Sitzfleisch zerdrückt von Beinkleidfalten, -- die alte +Quälerei war wieder da, der ewige Durst, der sich so wenig überwinden +noch betrügen ließ wie das Bedürfnis des Leibes nach Feuchte, nach +Kohle, nach Eiweiß, -- ach armer Benno, das Leben ist so schauerlich +anders, als du meinst! + +Überdem empfand Georg eine fast unlustähnliche Lust, ihm zu schreiben. +Er trennte nach einigem Widerstreben ein paar Bogen aus seinem Heft, +setzte an und brachte es plötzlich nicht fertig, die gewohnte Schrift zu +schreiben, worauf er aus dem Punkt des angesetzten L den kleinen Bogen +des stenographischen Zeichens dafür zog und langsam zu malen begann. + +Lieber Benno: Ich hoffe, Du kannst dies noch lesen. Vergieb schon, aber +es scheint mir das von Cordelias Brief zurückgeblieben, daß ich -- nun, +es ist wie ein Grauen vor offener Schrift. So eine Art Hysterie +vermutlich. Und die weich geschwungenen Zeichen malen sich so angenehm +aus der Hand. + +Habe Dank für Deinen rührend liebevollen Brief. Scheinbar weißt Du, +Halunke, daß ich es liebe, gerührt zu werden, und wenn nicht alle +Empfindungen des Vermissens in dieser Beziehung von Dir beschlagnahmt +wären, so könnte ich wohl Hesekiel vermissen, seine immerrührende Figur +und rührenden Sprüche. + +Was mich angeht aber keinerlei Sorge! Wenn ich mich auch nicht eben +wohlbefinde, so ist das aus keinem der Gründe der Fall, die Deine +Einbildungskraft Dir vorspiegelt. Berlin ist freilich der Mahlstrom, als +den Du es Dir vorstellst, allein -- einerseits war es ja meine volle +Absicht, mich hineinzustürzen -- ich hoffe, Du hast beim wohlwollenden +Übertreten meines Schreibverbots das nicht gleich mitvergessen --, und +andrerseits stehe ich vorläufig noch ganz am Rande und lasse michs +schwindeln. Im Vertrauen: mir schwant, daß ich trotz aller Absperrung +vom bisher Gewohnten, trotz scheinbaren Untertauchens durch Pseudonym, +Inkognito und die vorgebliche Lebensführung eines von hunderttausend +Studenten, Bureauschreibern, Literaten, Referendaren _et cetera_ -- +gleichwohl nicht in den Strom gelangen werde, aber -- vielleicht ist der +Schwindel am Rande, wenn dauernd, das fürchterlichere. + +Die Stadt ist furchtbar. Ich meine damit nicht Berlin im Gegensatz zu +andern Großstädten des Erdballs. Ich meine die Großstadt an sich, als +Lebensform, als Weltteil, als Schicksal; meine den Fluch der Anhäufung +von Dasein und Geschick. Ah genug, wir werden sehn, übrigens wie singt +der Poet? + + Allein die Städte wollen nur das Ihre + Und brauchen viele Völker brennend auf, + Wie hohles Holz zerbrechen sie die Tiere ... + +und so weiter, im Stundenbuch nachzulesen. Dennoch giebt es die +merkwürdigsten Oasen mitten in der Meereswüste, deren Nötigkeit sich +kaum begreifen läßt, wie etwa jene Schächte in farbige Jahrhunderte und +Jahrtausende hinunter, die sich Nationalgalerie, Völkermuseum nennen. +Nein, da bin ich gestern unvermutet an einem der seltsamsten Eilande +gelandet und will Dir davon erzählen. -- + +Georg hielt inne. Wozu das eigentlich? dachte er unwirsch. Aber die +wieder aufgetauchten Bilder des gestrigen Abends, Hardenberg, der stille +Plauderer, Dachgarten, die kranke Frau, die Bilder -- bewegten sich in +ihm, wie die Samentierchen zum Eileiter, zur Gestaltung, und er fuhr +fort: + +Im Tiergarten traf ich unlängst auf Hardenberg. Du erinnerst Dich seiner +vom Leseverein in Prima. Wir sprachen uns an, gingen zusammen, wir kamen +ins Gespräch, ich machte meinem Ärger Luft über das Gemisch von Stangen +und Statuen, das in meinen Augen der Tiergarten war, und hörte bald +herzlich erfreut das wohlbekannte, leicht altenrepensch gefärbte: »Ich +muß doch sä--gen ...« mit dem er die Absicht einer kleinen Abhandlung +anzukündigen pflegt, und siehe da -- wie ein Mandelbaum aus den Fingern +des zaubrischen Chinesen entfaltete sich alsbald ein Sommertiergarten, +ein grünes Idyll der Behaglichkeit und des Friedens. Und aus dem einen, +dem Tiergartenpark entfächerte er die Parke der Stadt, wie sie alle +heißen: Kleistpark, Preußenpark, Schöneberger Stadtpark, Steglitzer, +Dahlemer, beschrieb die Findigkeit ihrer Anlage in der Ausnützung der +Bodenverhältnisse, beschrieb ihre Sommerabende nach dem Regen, ihre +Verschwiegenheit, ihre erfrischten, leuchtenden Wege, die umdampften, +schweren Gruppen der Bäume, auf dem Hügel den weißen Pavillon, den +Goldregenbaum, die Fliedersträuche und plötzlich lächelnd am Wege das +zarte Wunder der lila Akazie, ihre bebenden Trauben haltend wie eine +Tänzerin mit zierlichsten Fingern, -- das Herz lachte im Hören und +Sehen! -- Es ward ein ganzes Lob auf Berlin, die Stadt der Blumen und +Parke, wie er sie nannte. Wahrhaftig hat er recht. Ich selber weiß von +früher, daß in keiner andern Stadt Europas fast alle, auch die +steinernsten Riesenstraßen im Sommer Alleen sind, in keiner so viel +Vorgartenstreifen vor den Häusern liegen, in keiner die Straßenfronten +so liniiert sind mit den buntfarbigen Zeilen der blumengeschmückten +Balkons, und daß in kaum einer Blumenläden zu finden sind -- von den +erlesenen der vornehmen Viertel ganz zu schweigen --, wie man sie hier +noch in den finstersten Stadtteilen finden kann. Und von dieser >Kultur +der Blume< kamen wir dann bald auf den Begriff der Kultur im +allgemeinen, den er schlechtweg als deutsch bezeichnete, da für die +Begriffe andrer Nationen Zivilisation genüge. Kultur, sagte er, könne +nicht sein, was man in Frankreich sehe einerseits -- als Blüte einer +einzigen kleinen Oberschicht, Geschmack, Esprit und Eleganz von Louis +XIV. bis Louis XVI. --, noch was in England andrerseits als Steigerung +der gesellschaftlichen Formen. Dergleichen Dinge seien nichts als +Schöpfungen eines Volkes, wie ein andres vielleicht geistige Genies, ein +andres Erfindungen, ein andres Strategen hervorbringen könnte. Sondern +der Begriff der Kultur müsse mitumfassen ein vollkommenes Durchdringen +des gesamten Volksstoffes, eine Essenz, die an hundert der +verschiedenartigsten Stellen anzutreffen sei, und die höchste Vollendung +in Kunstdingen etwa ebenso mit einschließe wie soziale Pflege der +Ärmsten, Leibl und Ehrlich, George und Bodelschwingh. Kultur nicht +denkbar ohne Geist, nicht denkbar ohne Liebe. Nicht denkbar ohne +Gewissen, ohne Verantwortlichkeitsgefühl des Einzelnen für das Ganze. +Die >Kultur< also des Franzosen ist ein Erzeugnis von Eitelkeit und +innerhalb dieser von Ruhmsucht und einem ganz körperlich innesitzenden +Verlangen nach und Gefühl für das Anmutige, Schmückende und -- in diesem +Betracht -- dann auch Schöne. Kultur jedoch verlangt nicht nach +Schönheit; aber in ihr begriffen sein wird auch das Schöne, und sie wird +es wirken, weil sie für jeden Würde des Daseins, für jeden ein Bestes +verlangt. -- Aber übrigens: in welchem Volk giebts das eigentlich? + +Georg stockte mit der Feder vorm nächsten Absatz. Ja, wohin gerate ich +denn? Nachsehend fand er bereits drei Seiten mit den stenographischen +Zeichen gefüllt, aber, erregt von der Geistesarbeit und Phantasie, +dachte er: Nun, um so mehr freut sich Benno, es wird ja auch das einzige +Mal sein, und nun werd ich mich kurz fassen. -- Er fuhr fort: + +Bezaubert wie ich war von der überaus zierlich und leicht wachsenden Art +seines Plauderns und in meiner angeborenen Höflichkeit konnte ich dann +nicht widerstehn, als er mich einlud, und bin gestern nachmittag +hinausgefahren. Beim Abschied erschreckte er mich noch durch zweierlei, +nämlich erstens seine Adresse: Hasenheide und eine dreistellige +Hausnummer, die ich nun vergaß (ich sah in der Hasenheide bisher eine +Einöde und Exerzierplätze wie Tempelhoferfeld, kein Ding mit +Hausnummern), sodann durch die Mitteilung, er sei verheiratet, seine +Frau allerdings schwer leidend. -- Nun, Du weißt, daß Hardenberg +homosexuell ist. -- Sollte die Anlage -- stark war sie wohl nie, dacht +ich -- geschwunden sein? Dann, muß ich zu meiner Schande gestehn, wurde +mir einen Augenblick schwül um die Brust, und ich geriet von meinem +lieben, sanften, allgütigen Hardenberg auf -- Stawrogin! Stawrogin, Du +erinnerst Dich, in den Dämonen, der vor Entartung aller Gefühle zur +Erlebnisform einer Heirat mit einer Schwachsinnigen greifen mußte, der +Marja Timofejewna, -- doch befinden wir uns ja in Norddeutschland, +Hasenheide usw. Ich fuhr mit der elektrischen Bahn hinaus. + +Unsäglich! Unsagbar! Straßen, Straßen, Straßen! Prachtstraßen gegen +London, Paläste gegen Paris, riesige Offenheit und Breite gegen die +Steinschluchten Wiens, allein -- das Getümmel, das Hinundwiederströmen, +der Anblick der tausend und tausend Fenster, Zimmer, Wohnungen, +Schicksale ohne Ende -- -- es hätte mich umgestürzt vor Schwindel, hätte +nicht das Staunen noch die Wage gehalten. Wie leben die Menschen hier? +wie können sie leben? warum leben sie hier und so? Es ist ja sinnlos, +aber: aus dem heftigen Gefühl, daß mir selber Alles und Alle fremd, in +Weg und Hantierung, Ziel, Seele, Beschäftigung, Beruf, in allem völlig +fremd und unbegreiflich waren, mußte mir die Vorstellung entstehn, daß +von ihnen auch jeder dem Andern, dem Nächsten ebenso fremd und +unbegreiflich sei, daß es nur zehntausend Wege waren, die sich kreuzten, +jeder ganz in sich abgeschlossen und vom nächsten, von all den +durchkreuzenden nicht mehr wissend als nötig war, Zusammenstöße zu +vermeiden, und so wards um mich ein eisernes Geklirr, Metallstücke, +leblos, gegen Metall, ohrenbetäubend, herzlähmend. + +Die Hasenheide enttäuschte freilich angenehm als eine Riesenstraße alter +Bäume, fast durchweg eingebettet in Biergärten, ein bei ein, richtige +Gärten mit schönen, mächtigen Bäumen, jetzt kahl und Durchsicht lassend +weithin. In Hardenbergs Hause dann schwenkte mich der Lift bis unter das +Dach, ich wurde in ein geräumiges helles Zimmer -- denke Dir ein +sogenanntes >Gelehrtenzimmer< -- geführt, dessen breites Fenster und +Glastür einen jetzt leider kahlen, aber wunderschönen Dachgarten mit +Pergola und Aussicht über das Dächermeer vermutlich in die Tiefe der +Gärten boten. Die Stille war fast vollkommen. + +Hardenberg erschien und bald auch seine Frau. + +Du wirst nun mein Entsetzen mitfühlen können, mit dem ich in der +aufgehenden Türe erscheinen sah -- das Gespenst. (Ja, Gespenster +begegnen uns gern und verdoppeln sich gar!) Ich fürchte, ich vergaß vor +Betäubtheit aufzustehn, -- bis ich denn sah, daß hier das Haar nicht +fischweiß war wie bei Cordelias Schwester, sondern brandig rot, -- doch +wars auf die nämliche Weise in die Stirne gekämmt; die Augen darunter +waren so blaßblau mit viel sichtbarem Weiß -- wie dort --, das Gesicht +so milchhaft, die Nase schien ebenso spitz ... ich erholte mich wohl am +Mund, der wundervoll war, groß, tiefrot und von der köstlichen, tief +geschwungenen Bogenform, worauf ich dann von neuem erschrak, denn der +bloße Hals -- stark, von vorne gesehen so breit wie das Gesicht -- war +-- + +Georg stockte mit der Feder. Ein Klumpen ballte sich oben in seiner +Brust und zwängte sich zur Kehle; er sah gradaus, seine Augen brannten, +dann zitterte sein Kinn; er schüttelte den Kopf, versuchte zu lächeln, +sah wieder auf das Papier, mußte plötzlich die Stirn auf die Tischkante +legen und schluchzte zweimal, dreimal tränenlos. Als er aber bemerkte, +daß er da um sich selber weinte wie ein Knabe, setzte er sich wieder +grade, erkannte dabei, daß es dunkel geworden war, ließ die grüne +Schirmlampe aufleuchten und schrieb weiter: -- Cordelias Hals. + +Hardenberg hatte mich schon auf den Anblick vorbereitet, den ich bekam, +als das arme Wesen jetzt vorwärts ging. Sie hat seit ihrer Kindheit ein +Leiden (d. h. als Hauptleiden von etlichen andern, an denen sie alle +paar Monate schwer darnieder liegt), infolgedessen ihr das Gleichgewicht +fehlt im Stehn und Gehn. So kam sie hastig tastend, bevor er +aufspringend zu ihr gelangt war, um sie zu geleiten, und ihre Beine und +Arme schlotterten und zuckten dabei völlig unbeherrscht in den Gelenken. +Auch ihre Sprache, als sie nun saß und die Hände -- wundersam lang und +geschmeidig, gesalbt von Schmerzen -- im Schoße still lagen, kam +stoßweise, rauh, manchmal hart wie gestoßene Steine; ihr Gelächter -- +sie lachte viel und gern -- war ein Gebell. Kostbar war ihr Profil, das +ich lange sah, dazu der Hals von der Seite, nicht senkrecht aufgesetzt, +sondern schräge nach vorn, geschwungen ... + +Ja, dies. Und als wir dann eine Weile später ins Atelier hinübergingen +(denn dies Wesen ist Malerin und hat studiert wie eine jede, z. B. +Aktstudien gemacht, stundenlang stehend mit einer Stuhllehne als +Stütze), so entfaltete sich aus Mappe um Mappe ein Zaubernebel von +Farben und weichem Geleucht. Ihre Kunst ist beschränkt, aber in der +Beschränkung reich und reizvoll. Wasserfarbe, Linoleumschnitt und der +Buntstift. Aber sie zaubert mit dem Buntstift. Sieh ein Straßenstück -- +zu Dutzenden gabs --, Regendämmrung, Nässe, Abend, in der Tiefe +abschließend ein graugrünliches Gebäude, rechts ein rotes, eine rote +Mauer, ein Baum darüber, novemberschwarz gespenstisch, auf der Straße +Undeutliches, ein Wagen, ein Mensch -- und all das aufgelöst in tausend +farbige Striche, das mattglitzernde Pflaster in Wirklichkeit so bunt wie +ein Kolibri, desgleichen der quellende Himmel, und nirgends die Farbe -- +das rote, das graue Haus --, die Du zu sehen meinst, sondern jede zur +Hälfte bewirkt durch die andre. Oder -- von der Brücke gesehn -- ein +Stück Isarbach im Englischen Garten in München, milchiges Grün, bewegt, +bewegt, kristallenes Blau, Schneeufer, Bäume, gesträubt im Nebel, die +Tiefe Schneedunst, und alles scheint weiß, und alles Weiße kam aus dem +blauen Stift, und welch ein Duft von Lüften, von Ferne, von Ahnungen! + +Du warst nie im Berliner Aquarium, Benno. Denke Dir, daß Du in dunkle +Korridore trittst mit vielen und großen Rechtecken, starkleuchtenden in +gelblichem, grünlichem Licht: die Glasscheiben der Wasserbehälter in der +Wand, hinter denen sich das Leben der Tiefe bewegt, sprachlos, in +leuchtenden Farben. Fische, durchsichtig aus Perlmutter gemacht, die +Augen wie leuchtende Kugeln, die sich drehn, die Leiber dünn scheinend +wie Pappe durch die Brechung des Wassers. Fische, gemacht wie aus weißem +und gelblichem Sandgekörn, flach wie ausgeschnittene Papiere, die sich +wellenförmig im weißen Sandboden fortbewegen, wo sie schwinden, wenn sie +liegen. Fische, feuerfarben, Leiber wie senkrecht flach gedrückte Eier, +an die seitlich und hinten lange, schlagende, faltige Schleier angesetzt +sind, und dieselben in Schwarz wie in Trauer. Fische, blaugrau wie aus +frischgefallenem Samt, Scharen, stille, die eine Handbreit über dem +Grundsande hinweidend sich bewegen wie die Weidetiere unserer Ebenen ... + +Und von diesem zog sie den farbigen Abglanz in kostbar stilisierten +Umrissen, ins Geschwungene gelöst, in die Faltenregung der Wasser, zog +sie das Unheimliche der Tiefe, die ewige Sprachlosigkeit, die Dämmerung +und die unendliche Stille. -- + +Beim Zurückfahren am Abend nahm ich eine Bahn zum Potsdamer Platz -- das +abendlich reißend geschwollene schwarze Getümmel nur wahrnehmend wie +einen donnernden Strom, über den ich hinglitt in der Muschel meines +Herzens --, von wo ich mich zu Fuß zum Schachte der Untergrundbahn vor +der Wertheimarkade durchzwängte. + +Ja, da ragte es, ernst, mit umdunkelter Stirn, das Heim der +Wertlosigkeiten, mit dem Aussehn eines ehrfurchtgebietenden Heiligtums. +O, ihr Deutschen! Da wolltet ihr ein Kaufhaus bauen, eine Gelegenheit, +wo euch das Kaufen, das Geldvergeuden ein glitzerndes Vergnügen sein +soll, und anstatt eine lustige Menagerie hinzustellen, errichtet ihr +eine düstre, alle Eitelkeit des Irdischen verneinende Kathedrale: Ziehe +deine Schuhe aus ... und nennts den neuen Warenhausstil. Die einzige +Kirche des zwanzigsten Jahrhunderts ... + +Wie ich mich aber dann umdrehte, unter die Pfeiler mich rettend, drüben +aus der Nachthöhe rings um den Platz die bunten, feurigen Räder +umliefen, gigantische Schriftbänder vorstießen, Pfeile, Sonnen sich +ausstrahlten, und am Grunde dieses Nachtgewässers der Strom sich ergoß, +in den tausendfachen Skandal verdonnernd, eiserne Wagen an Wagen, +erleuchtet, bis zum Rande voll stehender, sitzender Schicksale ohne +Häupter, und die Kanäle der Fußgänger, unerschöpflich; wie ichs +hervorquellen sah aus den tausend sich schwingenden, umwirbelnden Türen, +und dahinter wimmelnde Treppenhäuser, senkrecht stürzende, senkrecht +entfliegende Förderkörbe voll von Wimmelndem, und wimmelnde Säle, +wimmelnde Zimmer bis unters Dach, zehntausend Fußpaare, zehntausend +Schicksale sich hinabstürzend zum Grunde und im Ebenen hingerissen in +eisernen Gleisen ihres Lebens, ein wieherndes Toben der Mühseligkeit, +der Beladenheit, des Genusses, zum Schaudern ameisenhaft ganz und gar -- +-- sieh, da wars wieder dasselbe Bild, das ich sah: ein einziger Strom +des Lebens, der wahrhaften, göttlichen Lebensessenz um den Erdball +ergossen, aus dem ein jeder schöpfen mag für sein Dasein, wo er steht. +Und an solchen Stellen wie dieser, wo Hunderttausende trinken wollen -- +wieviel kommen da Tropfen in jeden der schnappenden Fischmunde? Sie +ersetzen durch Luft, was fehlt an Essenz, durch Betriebsamkeit den +Lebenstrieb, und das giebt dann -- Sekt --, was Wein sein sollte --, das +Göttliche versetzt mit Kohlensäure, Schaum für Kristall. + +Dann aber, mein Benno, erschienen sie mir dort oben, im Dunkel der +Berge, am Ursprung des heiligen Quells, die Beiden, die Geächteten so +oder so, die Ausgeschlossenen von dem, was man >das Leben< nennt: an den +Händen sich haltend mit Zartheit, die stillen, beredsamen Augen in +Eintracht hinabgeneigt zum dunklen Kristalle des ewig Reinen, und +herausholend vom Grund -- wie der Tiefseeforscher im Perlkranz der +Wassertropfen den farbig leuchtenden Schleier der Infusorien, der +Zauberformen, der Rätselkristalle, der Rädertierchen und mikroskopischen +Algen -- so heraufholend diesen zartesten Schleier ihrer Künste, sie +auszubreiten über Gebrechlichkeit und den unendlichen Schmerz. -- -- + +Georg schob die Blätter zusammen. Ich schließe ein andermal, dachte er +matt, jetzt finde ich weder zu mir noch zu ihm den Übergang, und -- ich +schrieb es ja wohl auch nur für mich. + +Die Hände lasch auf den Blättern, vor den Augen noch Tumult und Vision, +entkräftet im Herzen, lehnte er sich zurück, die Blicke aufwärts +richtend in das Dunkel, wo die schweigsamen Fronten der Bücher sich in +Stockwerken reihten. + +Und du, Cordelia, dachte er vereinsamt, was tatest du? Fünfunddreißig +Jahre Nacht, Nacht, Qual, Qual. Endlich die farbige Wonne, der kleine +Schleier eines Halbjahrs. Und endlich -- die Stille -- der Triumph -- +das Lächeln für immer. Das war ein Leben? + +Ist das das Leben? Ist dies der Strom: Leiden? Giebts keine andre +Essenz, die das Leben verleiht? -- Dann, dachte Georg, den alten +Angstdruck aufkeimen fühlend in der Brust, dann komme ich wohl langsam +näher ... + +Nahm seine Sachen zusammen, löschte die Lampe und ging. + + + Zweites Kapitel: Dezember + + + Sylvester + +Georg, zerdrückt, zersetzt und mißgefärbt, wie er sich aus Berlin +mitgebracht hatte, wanderte gegen halb zwölf Uhr in der Neujahrsnacht +vor der Reihe der sechs vom Erdboden aufsteigenden Fenster des langen +Saales in Trassenberg auf und nieder. Dabei hatte er außerhalb der +Fenster das schwarze Nichts, die Nacht mit einem oder zwei roten +Lichtern im unsichtbaren Grunde des Landes; innerhalb den +langgestreckten Saal, aus dessen drei Wänden, aus den drei Steinkaminen +der Flammenschein herausschlug. Die Kamindächer hingen steil und düster +wie gewaltige Brauen über den Feueraugen, deren Flackerblick die beiden +mannsdicken, in der Höhe verästeten Holzpfeiler im Schatten ließen, +welche, ein paar Schritt weit voneinander entfernt, die Saaldecke +trugen. In der Dunkelheit der Wände oben ließ sich von Georgs irrendem +Blick hier und dort aus den verblichenen und verrußten Wandmalereien +eine Gestalt ergreifen, steif in Umrißlinien und Falten des zwölften +Jahrhunderts, ein Schwert, ein verhangenes Roß oder die seltsam +verschobene Figur einer Frau, hintenübergezogen vom spitzen Kopfputz und +hangenden Schleier. + +Georg blickte auf die Uhr, ohne die Zeit zu sehn, und erwartete seinen +Vater. Ihn fröstelte; deutlicher empfand er die beiden Toten in der +Nähe, Cordelias ewig triumphierendes Lächeln und die Gestalt seiner +Mutter; diese manchmal hinter sich, an einem der Fenster, vereinsamt +dastehend wie eine Verbannte, -- und dann verspürte er wieder ihren +Kopfschmerz, als könne der noch immer nicht vergangen sein ... + +Diese Mutter ... Er zwang sich, zu vergessen, daß sie nicht die seine +war, sich zu erinnern, wie es hier früher in dieser Nacht gewesen. Dann +saßen erst er und sein Vater dort beim Punsch vor dem mittleren Kamin. +Zehn Minuten vor Mitternacht erschien die Helene, Diener mit +Windlichtern, die ein paar Fenster und die Glastür zum kleinen Altan +öffneten -- dem Einzug des neuen Jahrs. Sie sagte ein paar heitere +Worte. Dann gingen sie zusammen zur Altantür und standen dort im kalten +Atem der Winternacht und erwarteten den Glockenschlag. Er kam, +feierlicher als jeder Stundenschlag im ganzen Jahr. Dann wurde in der +Tiefe, vor der Kirche im Dorf der Holzstoß entzündet; sie sahen von hoch +oben den roten Flammenschein, Gestalten, Portal und weiße Wand des +Kirchturms im Schein, und im Kreis um das Feuer die Bläser mit ihren +Messinginstrumenten. Nun läuteten die Glocken, der Choral stieg +vernehmlich zu ihnen empor: Bis hierher hat mich Gott gebracht ... Beim +zweiten Vers traten sie in den Saal zurück und ... + +Jahrein -- jahraus -- zehn, elf Male hatte er das erlebt. Immer eine +feierlich leichte, schöne Stunde ... Mein Gott, ist es anders geworden! +Sie ist nicht mehr dabei, und ich selber bin --, nein, ich soll ... +soll? Hier ein Fremder sein, ein Eindringling ... + +Ratlos auf den nächsten Pfeiler zutretend, wie im Verlangen nach einer +Stütze, fühlte Georg unter der tastenden Hand die Hunderte der Kerben, +die den Stamm bedeckten. Hier hatten sie sich eingeschnitten, die einmal +die Seinen waren, bei jedem Bankett, jeder Jagdtafel, sie und ihre +Gäste, burggeseßne, erb- und schloßgeseßne Herren, später Grafen, +Markgrafen, Herzöge ... Auf einem der Böden mußten noch mehr solche +Stämme liegen, nachdem die ersten vollgeschrieben waren bis obenhin, -- +es war wohl mehr als ein Arm gebrochen, wenn sie Stühle auf Tische +setzten in ihrer Berauschtheit, um höher hinaufzulangen, und an einem +Pfeiler oben stand: Heint hab ich, Hugo Remmele, den -- soundso -- fast +zu Tode gestochen, sintmal ich b'soffen von oben stürzte mit dem Säufang +... Oder so ähnlich ... Als Junge, sann Georg, konnte ich stundenlang um +die Stämme rutschen, um die Namen zu entziffern, die Wahlsprüche und das +Lateinische. Drei Kreuze, dacht ich, bedeuteten Tote ... Merkwürdig viel +Kreuze ... + +Georg sah aus Knabenkleinheit, in die er sich versetzt, geisterhaft +umher. Die drei Kyklopenaugen glotzten, die Flammen züngelten in +Buchenkloben, es war still ... Nein! nein! er nicht dazu gehören? Nein, +davon empfand nie und nimmer etwas sein Herz! Nur unsäglich traurig war +alles geworden. Traurig? Warum nur, warum? Nun hatte die Zeit auch +Cordelias Lächeln fast getilgt, dies allzutriumphierende Lächeln ... + +Georg, längst wieder am Fenster stehend, die erst kalte Scheibe warm +geworden an seiner Stirn, hörte ein Geräusch und wandte sich. Ein Flügel +der Tür zur Linken in der langen Wand war aufgeschlagen, und daneben +stand im Schein des Armleuchters, den er selber hochhielt, Egloffstein, +schwarz in Frack und Kniehosen, das faltige Gesicht unterm weißen Haar +schief geneigt wie immer. Die Schritte und die Stöcke des Herzogs wurden +hörbar, er kam zum Vorschein, im Frack, -- ja, das war nun auch anders, +denn er ging, er ging ganz gut, schon ziemlich grade, machte richtige +Schritte, -- erstaunlich, was sein Wille in ein paar Monaten zustande +gebracht hatte! -- Georg ging ihm entgegen, nur mit einem ernsten, +schnellen Blick von ihm ins Auge gefaßt. Hinter ihm Leopold und Egbert +in ihren blauen Livreen trugen, der eine das Brett mit dem Bowlengefäß +und Gläsern, der andre eine kleine Truhe, und setzten beides auf den +alten Holztisch vor dem Mittelkamin. Georg hörte Egloffstein seinen +Vater etwas fragen und »Halb eins« aus der Antwort, während er Egbert +zusah, der den Fuß eines Baumstamms zum Feuer trug und hineinlegte; die +Flammen duckten sich, leckten mit körperlosen Zungen daran empor, +unterhalb knisterten dunkelrote Funken in der schneller anglimmenden +Rinde. Georg gingen die Augen über im Hinsehn, bis ein leises Klirren +ihn veranlaßte, sich umzudrehn. Sein Vater, jetzt allein, stellte eben +den Löffel in die Bowle zurück, reichte dann Georg sein Glas. »Ach, du +trinkst ja wohl nicht ...« sagte er, sich erinnernd, und lächelte. Georg +antwortete mit einem Lächeln und setzte sich am andern Ende des Tisches +den Fenstern gegenüber. In dem Glase dampfte der goldenbraune Punsch, +Schwaden zogen sich um die Flammen des Leuchters. Ja -- dies war wie +immer ... Auch dies, wie sein Vater das Glas gegen die Lichter hob, dann +kostete. Auch Georg nahm einen Schluck; die flüssige Glut verschlug ihm +den Atem, er mußte hüsteln. + +Und dann folgte er mit den Augen den langsamen Bewegungen seines Vaters, +mit denen er seine Zigarrentasche hervorholte, eine herausnahm, nachdem +er mehrere hinter den Klappen gelüpft und gedreht, sie auf den Tisch +legte, die Tasche schloß, dann wieder aufklappte und Georg mit einem +Lächeln hinhielt. »Dir zu Gefallen«, sagte Georg, eine nehmend, biß wie +sein Vater die Spitze ab, aber das mißlang natürlich, er mußte das +Deckblatt festlecken und vergaß darüber, seinem Vater den Leuchter zu +reichen. Plötzlich sah er ihn aufrecht dasitzen, eine Hand auf der +Tischplatte, die Zigarre im Munde, den Leuchter erwartend ... + +Er hatte sich aber noch kaum nach den ersten Zügen zurückgelehnt, als +die kleine, stets Minuten vorgehende Uhr auf dem Kaminsims zum Schlag +aushob. Sie nickten sich zu, der Herzog hob seine Stöcke, sie gingen zur +Glastür, Georg öffnete, eisig schlug die Nachtluft über sie hinweg. Da +-- in der Tiefe rechts brannte schon der Holzstoß, Schatten bewegten +sich umher, die Bläser stellten sich im Kreis, Messing blitzte, die +Dörfler drängten sich herum, beleuchtete Gesichter waren zu sehn. Dann +klang der erste Glockenschlag, die Mitternacht schwebte vernehmlich in +klaren Tönen herauf, der Choral setzte ein. Georg spürte auf seiner +Schulter eine schwere Last, die Hand seines Vaters. + +Zudritt mit der Unsichtbaren standen sie in der nächtigen Höhe. Georgs +Herz schlug schwer, -- er sah das Vorjahr, die Vorjahre ... sah sie und +ihn und sich selber wieder in den Saal zurückgekehrt ... Doktor Birnbaum +war schon da mit seiner großen Truhe auf einem Stuhl und Fräulein von +Rabenau mit ihrem Arm voll weißer Narzissen. Die Saaltüren standen weit +offen. Sie waren lustig. Draußen war der Rücken des Kantors sichtbar, +taktschlagend mit beiden Armen, und der Kinderchor klang. Dann kamen sie +herein, der Kantor, die Kinder, dahinter das ganze Gesinde, von +Egloffstein geführt, bis hinunter zum letzten Stallknecht und +Hütejungen, Knechte, Mägde und die Dienerschaft. Zogen vorbei, und jeder +bekam dreierlei: vom Herzog einen goldenen Händedruck aus der Truhe, von +Georg einen einfachen, von Helene eine Narzisse. Und hundert Stimmen, +tief und hoch, heiser und hell -- der Neujahrswunsch. Seit er stehen +konnte, im weißen Kleidchen, hatte er seine kleine Hand hinhalten +müssen, seinen Diener gemacht und in die großen fremden Züge über ihm +gesehn ... Die Mägde machten heilige Gesichter, wenn sie ihre Narzisse +hatten, trugen sie hinaus wie ein Altarlicht, und manche weinten trotz +strengen Verbots. Und Mama ... Manchmal war sie am Umsinken vor +Schmerzen. Dann stand sie, die Augen fielen ihr zu, die Finger der +Linken preßten die Schläfenader, nahm eine Blume nach der andern aus der +Hand des alten Fräuleins, reichte sie hin und lächelte dazu. Jeder bekam +seine Blume und sein Lächeln. Dann hauchte sie Gutenacht und lief +hinaus. + +Georg brannte der Kopf. War dies nicht schon der dritte Vers des +Chorals? -- Da wußte er, daß sein Vater sich fürchtete -- wie er selber +-- vor dem Sichumdrehn und dem, was hinter ihnen war ... Aber im +nächsten Augenblick fühlte er sich von der Hand auf seiner Schulter +herumgedreht, sein Blick streifte dabei über das angespannte, +entgeisterte Gesicht seines Vaters. Da war der leere Saal ... + +Heiser hörte Georg ihn fragen: + +»Und nun, Georg, wie ist es: fühlst du dich -- zu Hause?« + +Georg verstand, senkte den Kopf, hob ihn wieder und sagte in den Saal +hinein: »Es ist nicht wie früher. Es -- -- mir ist glaub ich so wie +einem, der sich jahrelang herumgetrieben hat und -- als hätte er nun +kein Recht mehr ... so ungefähr.« + +»Armer Junge«, hörte er murmeln. Sein Vater drückte ihn liebevoll an +sich; er blickte in seine Augen und murmelte, seine Hand suchend, +schamvoll: »Wenn ich nur dich habe ...« Sein Vater drückte die seine +kurz und hart, ging dann durch den Saal zum Tisch, öffnete den Deckel +der Truhe und nahm ein zusammengefaltetes Papier hervor, aus dem an +seiner Schnur ein großes Wachssiegel herausfiel. -- Georg wußte, was es +war, und begann im Augenblick heftig zu zittern. + +»Dies,« sagte sein Vater, den Bogen langsam aufschlagend und +hineinsehend, »dies ist der Vertrag.« + +Er legte ihn wieder zusammen und in den Kasten zurück, den er schloß. + +»Du kannst ihn an dich nehmen und Gebrauch davon machen. Später -- wenn +du meiner Hülfe bedürfen solltest ...« + +Er brach ab, nickte ein paar Male vor sich hin, setzte sich dann. + +Georg spürte die hinter ihm hereinströmende Kälte, wandte sich, warf das +bitter schmeckende Ende seiner Zigarre hinaus und schloß die Tür. Dann +zündete er sich eine Zigarette an und begann, alles umher vergessend, +wieder vor den Fenstern auf und ab zu gehn. + +Jetzt, während alle Gedanken in ihm, dem Kommenden zustrebend, doch +angstvoll vor unsichtbaren Widerständen zurückprallten, tastete seine +angereizte Phantasie nach der Schmerzgestalt der Mutter; die aber entzog +sich, schwand, und statt ihrer sah er zum ersten Male Cordelia. + +Alles sah er. Ein Zimmer. Auf einem ovalen Tisch eine brennende +Petroleumlampe; davor einen Berg Wäsche; und daneben -- sie, an einem +glänzenden Kleide nähend, das über ihren Schoß hin lag, und sie trug ein +niegesehenes, loses, morgenrockartiges Kleid, unordentlich; und vor dem +Wäscheberg lag ein aufgeschlagenes, vom Zusammenrollen verbogenes Heft, +aus dem sie lernte, -- ja, er sahs, alles, und nur eins sah er nicht, +obgleich er sich bemühte: ihr Gesicht, -- nur das Braun vom Haar, +undeutlich. Aus der Erscheinung aber glühte es ihn an, daß ihm heiß +wurde und heißer: ihr Leben, ihre Tage und Nächte, der endlose Kampf, +die brennende Sehnsucht, die Hülflosigkeit am Abend, immer wieder +Unverzagtheit am Morgen, immer Hoffnung, Hoffnung, Erwartung, heute, +wieder heute, hundert, tausend Heute der gleichen Mühsal, und immer +Enttäuschung, immer Entsagung, Verzweiflung, Ratlosigkeit, neue Kraft, +neuer Wille, und wieder umsonst, und Arbeit, Arbeit, nächtelanger Fleiß, +die ganze unselige Inbrunst, die rasende Erwartung, das +Nichtmehrwartenkönnen, das verzweifelte Weinen, der Jammer grenzenlos. +Er sah ihre zerbrochene Seele, daliegend entstellt wie eine ausgerissene +Pflanze. Alles einst Strahlende, innerst immer noch mit wütender Glut +sich Wehrende, in trostlosen Zimmern zerstampft, verschüttet, -- ein +ewig währender Schmerz in der Brust, wie die Andre ihn im Kopfe trug, +wandelnd Beide mit feuergefüllten Becken im lebendigen Fleisch ... Und +wieder sah er sie eintreten in das schöne Tor, in das leuchtende Schloß, +betäubt von Ehrfurcht, zum Kinde geworden vor unsäglichem Staunen, -- +doch schob sich selbstwillig ein andres Bild dazwischen, das sich nicht +verdrängen ließ: die erste Nacht, ihre fast unheimliche Scheu, die dann +jählings umschlug in überschwängliche Wonne, Tränen der Wonne -- +weshalb? Er wußte es nun, verstand nun die Verzweiflung der jahrelang +verfälschten Lust, die zum ersten Mal doch endlich sie selber sein +durfte, hinströmend in der Umarmung des Geliebten. -- Der Brief, ihr +Brief mit ihrem Leben brannte auf seiner Brust, und plötzlich, alles +Denken fortkrampfend, riß er ihn heraus, ging auf seinen Vater zu, sah +ihn ihm entgegenblicken und blieb zaudernd stehn. + +»Nun, mein Junge, was hast du?« fragte er weich. + +»Ich? -- Ich, Vater, ich hatte -- zwei Tote in diesem Jahr. Und -- -- +wenn du dies vielleicht lesen möchtest ...« Er gab ihm die Briefe, den +kurzen und den lebenslangen, setzte den Leuchter näher herzu, warf sich +dann selber in den Sessel am Ende des Tisches, legte den Kopf in die +Hand und schloß die Augen. + +Er wollte nicht denken. Er ließ Wortgebilde, Begriffe, Sätze, Bildstücke +in sich herumlaufen, sinnlos und leer, immer wieder zurückprallend mit +der inneren Woge von den Briefblättern, die er hin und wieder leise +knistern hörte, immer wieder hineingezogen, zu dieser Stelle, zu jener, +an welcher sein Vater jetzt halten mochte ... + +Sie war glücklich das Halbjahr, dachte er, und doch hatte sie noch eine +Hoffnung über das Glück hinaus, mußte noch immer hoffen -- hoffte, +fruchtbar zu sein -- ein Kind ... War es diese Sehnsucht, die sie +dermaßen befeuerte, die Nächte so glühend machte, Nächte -- jede wie +eine Traube, und jede Beere eine Zelle von Rubin, in der sich Götter +umarmten, daß die ganze Traube erdröhnte ... Ach, nein, ihre Hoffnung +war leise, blühte auf in den stillsten Stunden des Einsamseins, war ein +Duft, ein Glück über dem Glück, denn nur _das_ Glück ist ganz süß durch +und durch, über dem noch ein andres Glück schwebt ... + +Georg wartete noch, wartete, wieder leer, ertrug es endlich nicht mehr +und sah nach seinem Vater. Der saß groß, aufrecht zurückgelehnt. Die +Blätter lagen auf dem Tisch. Nun kam sein Blick herüber, Georg sah die +nahstehenden Augen, verschleiert, sehr weich, und der Blick durchschmolz +seine Brust, so daß er sich plötzlich schämte und die Augen abwandte. + +»Sie ist tot?« hörte er fragen. + +Georg nickte. »Ich habe sie gesehn«, sagte er dann. »Sie lächelte. Es +läßt sich nicht sagen. Aber -- sie war ganz drüben -- und wußte -- +alles.« + +Es war still. + +»So ist es überall das gleiche«, sagte der Herzog langsam. »Abgrund. +Dich dachte ich nicht so nahe daran. Aber -- du hast es überstanden?« + +Georg konnte nur den Kopf neigen, wieder und tiefer beschämt, als werde +er belohnt für eine Leistung, die ein Andrer ihm abgenommen hatte ... +Ich habe ja nichts getan! dachte er. + +Indem vernahm er wieder die Stimme seines Vaters. + +»Siehst du, -- einmal ... du warst noch ganz klein -- standen wir dort, +zu Zweien, in der Neujahrsnacht. Und da --« Er stockte, räusperte sich, +hustete und fuhr fort: »Hast du je empfinden können, was sie gelitten +hat? Später wurde es ja wohl besser, das Dunkel tat wohl, die Gewohnheit +... Aber dies Dasein! Ihr Geist, ihre vielen Gaben -- so verurteilt! +Aber -- der Anfang! Sie schloß sich ein des Nachts. Ich konnte nicht zu +ihr. Da habe ich -- nächtelang -- vor ihrer Tür gelegen und gehorcht. +Und sie wimmerte, sie -- kannst du dir das -- denken? Ich glaubte, ich +könnte ihre Zähne aufeinander schlagen hören. Ich hörte sie hin und her +irren und leise jammern, minutenlang, Worte stammeln, schnell, immer +schneller, bis es immer lauter wurde und sie aufweinte. Dann wurde es +wieder leiser, hörte ganz auf. Und dann fing es wieder an. Und endlos. +Heulen hab ich sie gehört. Sie, diese --, sie ... + +»Und dann -- einmal -- standen wir dort. Der Vorbeizug war vorüber, sie +taumelte auf mich zu, wir waren allein, sie bohrte ihre Stirn gegen mich +und schrie: Ich kann nicht mehr! -- Dann riß sie sich los und lief auf +den Altan. Ich weiß nicht, wie ich sie noch einholen konnte, und dann, +-- dann wollten wir Beide hinunter. Ich -- ich war jung, und gelähmt, +und dazu sie ... Ich wollte auch nicht mehr können. Plötzlich sah sie +mich an, ihr verzerrtes Gesicht glättete sich sonderbar. Sie sagte: +Merkwürdig ... nun ist es weg. -- So stand sie lange, lauschte und +wartete, schüttelte den Kopf und wiederholte: der Schmerz sei weg. Wir +weinten wohl zusammen und dachten eine Weile, er sei wirklich und für +immer verschwunden. Ich weiß noch: sie lächelte wieder und meinte, es +wäre wohl wie beim Zahnarzt: wenn man die Treppe zu ihm hinaufstiege, +sei der Schmerz fort. Ich hielt sie noch, und dann merkte ich auf +einmal, daß sie schlief. Ich hab bei ihr gesessen, sie schlief bis zum +Morgen. Da war der Schmerz wieder da ...« + +Georg hatte zugehört, in Siedehitze getaucht vom Kopf zu den Füßen; +seine Hand war feucht, als er sie von der Stirn löste, doch hörte er nun +ein Geräusch, wandte sich und sah Egloffstein gedämpft hereinkommen und +sich dem Herzog zeigen, worauf er wieder verschwand. Sie erhoben sich +Beide, der Herzog murmelte, es sei Zeit für ihn, -- ob er noch sitzen +bleiben wolle ... drückte Georg nur heftig die Hand und ging hinaus. + +Als Georg dann wieder im Stuhle saß, sah er die Zukunft vor sich stehn, +unentrinnbar. Er fühlte, daß nichts sich hatte ändern lassen, er hatte +weiter und weiter gehen müssen auf diesem Weg, nun nur noch wenig +Schritte, und das Ziel war da. Trotz der Angst aber, die es ihm +einflößte -- oder war das nicht es? -- schien ihm alles sehr leer, oder +leicht, oder -- sinnlos. Das Wirkliche, dachte er, ist doch ganz wo +anders. Dies gehört zum Dasein, jenem, in dem man sich kleidet und ißt, +arbeitet, einen Beruf hat, Umgang mit Andern, Pflichten. Es ist nicht +das Leben. + +Und da war es ihm, als befände er selber sich weder hier noch dort. Er +lächelte; saß er nicht in der einsamen Nacht zwischen dem ersten Tag des +neuen und dem letzten des alten Jahrs? -- Er mußte eine Bewegung mit den +Händen machen, wie um nach rechts zu tasten und links, das Dasein zu +fühlen, dort, und hier das Leben. Da war aber nirgend etwas. Nur die +Luft. Es ward totenstill. Und in der Leere konnte er sein Herz sehn wie +einen schwarzen Klöppel, der ohne Glocke hing, sinnlos, im Schwarzen der +Nacht. + + + Drittes Kapitel: Januar + + + Neujahr + +Renate, beide Handflächen gegen die plötzlich entflammenden Wangen +pressend, im Sessel vorgeneigt, rief: »Das möchte ich nun einmal wissen, +warum du und ich am Neujahrssonntag hier sitzen!« + +Saint-Georges, tief im Sessel ihr gegenüber, die Ellbogen in den weichen +Lehnen, die Hände flach unterm Kinn gefaltet, blinzelte in die losen +Flammen im Kamin; dann sah sie langsam ein immer freudigeres Lächeln um +seine Lippen und in den Augen aufquellen, bis es den Mund öffnete und er +sagte: + +»Nun, das ließe sich am Ende noch beantworten. Was meinst du: stünden +wir Beide in einer Geschichte, so würde die Antwort vermutlich lauten: +weil es der Autor so will. Übersetze das lateinische Wort, und was kommt +heraus? der Willen des göttlichen Urhebers.« + +Renate, unwirsch über und über, warf sich zurück, strich mit der Rechten +die dunkelblauen Falten aus ihrem Schoß, blickte unter gesenkten Lidern +böse zu ihm hin und mußte noch einmal ausbrechen: + +»Georges! Ich frage! ich will deutlicher fragen: Warum mußte -- ich muß +es wissen! -- warum mußte das Weltgeschehen diesen Verlauf nehmen, zu +dieser Stelle, an der wir nun als diese Menschen in dieser Weise sitzen +und miteinander reden und schweigen!« + +»Eine Frau«, erwiderte Saint-Georges freundlich, »fragt mehr, als zehn +Männer beantworten können.« + +Renate lachte verdrossen. »Ist dir denn nie dieser Gedanke gekommen? und +wie ungeheuerlich er ist? Daß man hervorging, hervorgehen mußte aus +dieser riesenhaften Weltgewalt?« + +»Du denkst viel«, sagte er leise. + +Renate erhob sich, machte sich einen Augenblick an Teekessel, Tassen und +Dosen auf dem Rolltisch neben ihr zu schaffen, ging dann ins Zimmer +hinein und, erst langsam, dann rascher auf und ab. Ihre Erregung, ihr +selber unfaßbar, begreiflich nur so weit, daß sie entstanden sein mußte +vor Jahren schon und gewachsen war seither und wachsen würde -- machte +sie schwindlig im Sitzen. Plötzlich sah sie Josef. Seit sie ihn in der +Stadt wußte, fühlte sie sich umkreist von ihm, wo sie ging und stand, +und wohin ihr Gesicht gerichtet stand, da stand er. + +»Mir wäre besser,« sagte sie bewußtlos vor sich hin, »ich säße in einer +Dachkammer an der Nähmaschine. Armut, find ich, paßt soviel besser zum +Leben.« + +»Gut, Renate. Gehe hin und tue desgleichen.« + +Sie blieb stehn. »Was heißt das, Georges, warum kann ich nicht fort, +warum kann man nicht heraus?« + +»Richtig,« versetzte er, »daß du >man< sagst, nicht: ich. Im übrigen +könnte man ja den Vetter Josef kommen lassen, um zu erfahren, ob er +herausgekommen ist.« + +Da kam er auch mit Josef! -- »Das wäre eine Antwort?« + +»Also einfach,« erklärte er, »Fahnenflucht ist keine Kunst. Jeder +verbleibe an seinem Platze. Einmal stellt sich doch immer heraus, daß es +ein Posten war, auf den uns die Zukunft stellte. Wollen die Vögel auch +schwimmen können?« + +»Haus, Garten, gut Essen und schöne Kleider«, sagte sie, »sind freilich +kein Verdienst.« + +Er ließ die Hände fallen und suchte in der Rocktasche. »Sie sind der +Einzige«, sagte er dann glatt. »Alle Menschen verdienten dergleichen.« + +»Und wenn die Vögel nicht schwimmen wollen,« fuhr sie heftig fort, »will +der Mensch doch fliegen.« + +»Und dann?« fragte er bloß. Sie murmelte, den Kopf hängend: »Fortschritt +...« + +»Daran zu glauben, halte ich nun für ganz verfehlt«, meinte er sorglos. + +»Und was glaubst du?« Sie stellte sich hinter dem Tisch gegen ihn auf. + +»An das Rad«, sagte er aufblickend. Dann, da sie weiter fragte, mit den +Augen ergriffen von der Festigkeit seines Blicks, fuhr er, leis +lächelnd, fort: »Das Rad weder des guten Lamas im Kim, noch den Roman +von Jensen meine ich damit, sondern --« + +Renate, mühsam sich zu Ruhigkeit zwingend, glitt wieder in ihren Sessel +und hörte zu, anfänglich gefesselt von dem Wohlklang seiner Stimme. + +»Stelle dir«, fing er an, »ein Rad vor, wie Homer es malte, einen +Radreifen mit vier Speichen, erzbeschlagen, und ein Rad, wie ein +Heutiger es malt, eine flimmernde Scheibe von konzentrischen Kreisen; +darin haben wir den Unterschied. Weiter: lege eine glühende Kohle auf +die Erde, das ist der Anfang: ein glühender Kern, der Strahlen +versandte, erst einen, mehr, immer mehr, die sich an unserm Horizont der +kreisförmig andrängenden Ewigkeit umbiegen und ihren Stoff dort ablagern +zu -- Geschichte, dem Radband um unsere Zeit. Die Strahlen, immer +dichter sich drängend, füllen schon den Kreis; nun wird abgespalten. Zum +Beispiel: Malerei. Sie begann mit dem Bildnis, ging über zum Zimmer, zur +Kleidung, zum Nackten, zog die Landschaft hinein, ging zur Landschaft +hinaus, und es begannen die Techniken, Helldunkel, begannen die +Charaktere, die Italiener, Holländer, kamen Holzschnitt, Radierung, +Kreide, kamen Impressionismus, Expressionismus, Futurismus. Zehntausend +Mannigfaltigkeiten und doch von Giotto bis Kokoschka ein einziger +Glutkern: das Genie, die wahre Kunst, die Techniken und Programme und +Richtungen nur benutzt, aber nicht von ihnen abhängt. Oder: +Wissenschaft. Zuerst gab es die sieben freien Künste, die in einer +einzigen Hand liegen konnten zu Anfang, die anschwollen, daß für jede +eine besondere Hand notwendig wurde, ein besonderer Kopf, und wieder +jede allein anschwollen, daß sie gespaltet werden mußten, und wieder +gespaltet und aber wieder, bis wir heute zum Beispiel unzählbare Fächer +der Naturwissenschaften, und so viele Spezialärzte haben wie Organe oder +gar Krankheiten. Und siehst du die Abspaltung hier, so sieh die +Zusammenfassung auf der andern Seite: Columbus, Luther, Giordano Bruno, +Spinoza, Kant, Goethe, Bismarck, Darwin, die Bündel von Strahlen zur +Garbe banden. Und immer die Ablagerung auf dem Kreisring, die Erfahrung, +die Geschichte. Es wird immer anders, -- das ist der >Fortschritt<. +Kannst du glauben, daß, wenn es je ein >Schön< gegeben hat, es heute ein +>Schöner< geben könne? Oder ein >gut< oder >wahr< oder >edel<, das heut +besser wäre, wahrer, edler? Ja, einen Gott, der heute göttlicher wäre +oder minder göttlich? -- Kannst du glauben, daß du dich an einem +Zeitpunkt befindest, tausendsiebenhundert Zeitmeilen entfernt von einem +>Anfang<? Kannst du dir vorstellen, daß du dich an einem Rande +befindest? Muß nicht jedes, all und jedes, was ist, seinen Ursprung in +der Mitte des Alls haben, in der Mitte sein? Alles, was ist, ist im +Kern. Pascal -- falls du nach einem Kronzeugen verlangen solltest -- +nannte das Weltall eine Kugel, deren Mittelpunkt überall, deren Umfang +nirgend sei. -- Wir strahlen ein jeder noch immer aus dem ersten und +einzigen Kern, haben um uns den Rand, sind selber das Rad.« + +Renate, die schlecht und kaum willig zugehört hatte, murmelte vor sich +hin: »Nichts ist, was dich bewegt, du selbsten bist das Rad, das aus +sich selber läuft und keine Ruhe hat ...« Das war Bogners Zeichen unter +seinen Bildern. Und keine Ruhe hat ... und keine Ruhe hat ... + +Sie merkte, daß es schon lange still im Raum geworden war. Saint-Georges +bückte sich, nahm den Blasebalg von der Erde und begann langsam die +Flammen anzublasen, so lange, daß sie das anhaltende Gleichmaß der +Lustseufzer kaum noch zu ertragen glaubte und ihm eben Einhalt tun +wollte, als das Stubenmädchen erschien und meldete: »Frau Tregiorni.« + +Als ob sie gesagt hätte: ein Engel! dachte Renate, erlöst aufspringend +und zur Tür eilend, die sie öffnete. Sie umarmten sich und +beglückwünschten sich zum Fest, -- aber Ulrika sah keineswegs gut aus, +blaß, das Haar schien die Stirn zu bedrücken und saß nicht vorteilhaft, +die Nase trat scharf hervor, die Augen lagen tief. Nachdem sie auch +Saint-Georges begrüßt, sagte sie, in einen Stuhl gleitend, die Augen +niedergeschlagen und mit tonloser Stimme, wie sie beides mitunter an +sich hatte: sie sei eigentlich gekommen, Renate um Vinzent van Goghs +Briefe aus Josefs Besitz zu bitten, um -- Renate verstand den Grund +nicht, indem sie schon zur Tür ging, um das Buch zu holen, woran wieder +Georges sie hindern wollte. Dann bemerkte Ulrika gleichgültig, sie könne +ja mitkommen, sie sei ohnehin lange nicht oben gewesen, und er merkte +wie auch Renate, daß Ulrika mit ihr allein sein wollte, worauf sie sich +bei ihm entschuldigten und gingen. + +Aber es war kalt im Zimmer oben, die Heizung nicht angestellt. Renate +tats, suchte dann das Buch im Halblicht des violetten Lampenumhangs und +trug es zum Tisch. Ulrika schien verschwunden in der dunklen Nische des +großen Fensters, sie wechselten ein paar Worte wegen der Kälte, -- dann +setzte sich Renate doch, da die Freundin bleiben zu wollen schien. Das +weiße Buch leuchtete still auf der leeren grünen Tischdecke. Und wieder +erschien Josefs Gestalt, die Straße heraufkommend, auf eine Laterne zu +... Renate fröstelte und wünschte sich einen Schal. Ob sie das Buch +kenne, fragte sie Ulrika. Die schien zu verneinen in ihrem Dunkel und zu +fragen, wie es sei, worauf Renate allerlei hinsprach, daß es fast +langweilig zu lesen, nur vom Malen die Rede sei, von Bildern, an denen +er male, oder die er malen möchte, oder gemalt habe, und daß man doch +nicht loskommen könne vom Anfang bis zum Ende ... Ulrika war derweil +herangekommen, stand, den linken Arm hinterm Rücken gefaßt mit der +andern Hand, nieder blickend auf das Buch. + +Was mag ihr sein? fragte sich Renate. Da war die Freundin wieder die +Fremde, die Umschlossene, die alles verschwieg. Wollte sie sprechen? + +»Glut und Eifer«, sagte Ulrika ohne Ton, »ersetzen ja manches. Und wenn +eine Lebendigkeit tief und gewaltig erscheint, so glaubt man wohl, an +die ganze offene Welt angeschlossen zu sein, alle Stimmen zu hören, +alles Weben zu sehn, denn man sieht --« Sie hob den Blick schweifend +über Renate weg, die bei sich dachte: Nun ist sie ja schon dort, wohin +sie wohl kommen wollte ... + +Immer noch gesenkter Lider glitt sie nun in den Sessel, der hinter ihr +stand, legte ein Knie über das andre, zog den Kleidrock nach unten und +faltete die Hände darüber. + +»Hast du«, fragte sie aufblickend an Renate vorüber, »dich je gefragt, +wie man im Traume sieht? Man sieht durch die schlafgeschlossenen Lider, +deshalb ist immer alles so -- unklar, wie durch Wasser gesehn. So wars +all die Monate mit mir, und nun --« Sie schwieg. + +»Ist es anders geworden?« wagte Renate leise zu fragen. + +»Eifer und Glut, Wollen und Glauben,« sagte Ulrika wie zu sich selber, +»die genügen ja nicht.« + +»Weil sonst jeder etwas Großes werden könnte, meinst du, der es sich nur +ernstlich vornähme, und eben das nur diejenigen können, die auch -- die +Gabe haben?« + +»Auch nicht die Gabe«, versetzte Ulrika ernst. »Auch die läßt sich +haben, so mancher hat sie; aber deshalb hat er noch nicht -- -- das +Leben«, schloß sie unsicher. + +Renate mußte das Wort Liebe denken und sagte es leise, doch nun fielen +Ulrikas Hände auseinander. »Auch nicht,« sagte sie emporblickend, »nein. +Das genügt alles nicht. So jedenfalls nicht, wie man das Wort versteht. +Was tut er denn, dieser Maler,« lächelte sie flüchtig auf, »glaubst du +vielleicht, er liebt die Kunst, so wie wir, du, ich sie lieben?« Sie +sprach eilig weiter. »Nein, was tut er, was tat dieser van Gogh? Sie +atmen Kunst ein, und sie atmen sie aus. Sie leben -- weiter nichts. Ihr +Leben ist Kunst, sie haben das Leben. Sie denken ja nicht nach, oder +wenn sie nachdenken, ists doch wieder etwas für sich, ist kein Malen, +kein Leben. Ach, all das ist so schwer zu denken und zu sagen!« Sie +stand mutlos auf. + +Renate, nun ganz ruhig und sanft, fragte liebevoll hinüber: »Muß mans +denn denken und sagen?« + +Ulrika blickte wieder auf das Buch und gab ihm, das Ende des +heraushängenden Lesezeichens fassend, eine kleine Drehung. »Man muß +wohl«, sagte sie schwach lächelnd. + +»Sie sind eben die Seltenen, diese«, fuhr sie wieder fort. »Man kann +ihnen in keiner Weise gleichen. Was tun sie denn nur?« Sie grübelte +angestrengt nach. »Ich glaube, sie tun nichts, als daß -- ja, daß sie +sich selber schaffen jeden Tag. Und dadurch schaffen sie Welt. Ja, wie? +Ihr Schaffen ist -- ist --, die Welt sichtbar zu machen, Sichtbares und +Unsichtbares erst sichtbar zu machen. Denke dir Kunst fort aus der Welt +-- es ist ja nichts mehr vorhanden. Keiner wüßte, wo er stünde, keiner« +-- sie lächelte hell, zum Zeichen, daß sie Bogner zitierte -- »wüßte, +wie Baum und Sonne und er selber aussähe, wenn nicht eines Tages einer +angefangen hätte zu malen. Hier sind doch neue Gesetze, begreifst du? +Nicht unsre, gar nicht die Naturgesetze, ganz eigne.« + +Wie leuchtete nun ihr erhitztes Gesicht! »Ja -- -- du bist ja aber +glücklich, Ulrika!« sagte Renate ergriffen. Die hellen Augen erloschen +augenblicks hinter fallenden Lidern. + +»Ich sollte es ja sein«, erwiderte sie dann ruhig. Plötzlich trat sie +zurück in den Raum, blickte funkelnd und heiß und sagte: »Ich war es ja, +war es ja bis heut! Sie war ja schon Lebenskraft geworden -- meine +Musik. Kannst du's denn verstehn? Wie soll ichs nur erklären? Das Leben +haben, sagt' ich, nun -- und was ist das? Allwissend sein, wissend um +alles Werden, alle Entfaltung, alle Geschichte, die Leiden kranker +Kinder, die Not geplagter Eltern, die Trübsal der Gebrochenen, das Elend +der unentrinnbar Verstrickten, und die Wonne des Sommerabends, die Augen +der Sterne -- dies alles wissen und -- hochheben im Werk, zeigen im +Werk, sich als dessen Durchgang, dessen Werkstätte fühlen, wo es +umgeschmolzen, umgewirkt wird zu Ordnung, zu Klarheit, zu Gesetz, aus +dem es dann alles wieder strömt --: verwandelt, so daß wirs empfinden. +Nun, und ich -- ich war wohl noch weit davon, aber -- ja, wie sage ich +es denn nur?« + +Verzweifelt umherblickend, trat sie an das nächste Bücherregal, legte +die gefalteten Hände gegen seine Kante, die Stirne darauf und sagte wie +herausbetend: »Daß es eben nicht Musik war, was ich spielte! nicht +Noten, Quinten, Synkopen und Fugen, Sonaten, Konzerte, sondern -- +Menschenwerk, Menschenleben, Weltleben, Weltwerke. Formen allen Seins +und allen Leidens, Erzeugnisse einer unendlichen Liebeskraft und einer +unendlichen Daseinsnot, nicht Musik -- nein, Liebe und Leiden, und nicht +Allegro, nicht Andante, sondern -- Kindheit und Wachstum und +Älterwerden, Schmerzen eines Knaben, Zweifel eines Mannes, Hoffnung auf +weiche Hände, Enttäuschung, ach -- und das Aufstehn frühmorgens, die +Schwermut am Abend -- alles all, was ist, was wir Alle sind.« + +»Und nun nicht mehr?« fragte Renate, ganz heiß durchströmt von dem +Brand. + +Ulrika richtete sich auf, und wie sie nun wieder zu ihrem Sitz ging und +sich hinließ, war sie wieder die Abwesende, die wohl preisgeben wollte +und es doch nicht vermochte, in sich gefangen. Sie sagte bedrückt: + +»Die Worte machen ja alles so anders. Nichts war ja so, wie ich sagte, +ich lebte ja nur, ich fühlte mich auf die eine Weise, bis er kam, und +nun auf andre Weise. Aber die erste ist doch nun nicht mehr, also ist es +auch nicht anders, -- kannst du denn herabsehn auf dein Leben? Man steht +doch immer darin, man fließt mit, und alles ist unentrinnbar. Ach, wenn +man nur fühlen könnte! Dann wäre kein Mord eine Untat. Sage das Wort +nicht -- was ist dann?« + +Renate verlor die Worte im Hören, ohne sie begriffen zu haben. Eine +Weile danach kam sie zu sich, unwissend woher, und erkannte, daß Ulrika +von einem Bilde sprach -- ja, einem Bilde, an dem Bogner malte, wieder +malte, nachdem er es schon als Knabe geplant: der Kampf um Troja, +Achilleus auf dem Wall, wie er um Patroklos schreit so gewaltig, daß die +ganze Schlacht zurückrollt gegen die Stadt ... »Ja, kann man denn +Schreien malen?« fragte sie ungewollt. + +»Ich sagt' es ja eben,« erwiderte Ulrika, »er selber behauptete, es sei +unmöglich, ganz sinnlos, und doch muß er an diesem Bild schon bald +zwanzig Jahre sitzen ...« Wieder vergeßlich, versunken ins Anschaun +dessen, wovon Ulrika sprach, der hundert Studien, Leiber, verrenkter +Gliedmaßen, Verwundeter, Sterbender, Arme, Beine, schreiender Münder, +dann auch eines Eisenbahnunglücks, das Bogner mitgemacht habe, und +dessen Schmerzensausdrücke bei den Verletzten er später bei den +Aktstudien aus der Erinnerung noch habe übertragen können, hörte sie +langsam die etwas klagende Stimme der Freundin wieder deutlich werden: + +»Und wie ich dastand in dem öden Raum, der ganz voll war von diesem +wilden Leben, Rossen und Wagen, Kampf und Verzerrung, immer wieder +dieselbe Gebärde des Grauens sah, dazwischen Entwürfe zu einem schwarzen +Sonnenuntergang, in dem der Heros ganz klein stehen sollte, während +vorne die zurückflutende Schlacht sich bäumt, -- o Gott, all dies +Stückwerk zu sehn, Rüstungen, Schienen, Fäuste, immer wieder Fäuste mit +abgebrochenen Schwertstücken, Beine, nackt, verdreht, Rippen, von Armen +herausgepreßt -- und zwischen all dem er, so unbekümmert, bei aller +Zweifelei so im Triumph seiner Ganzheit, in der die tausend Stücke +einmal aufgehen würden, -- da -- ja, da trat ich glaub ich ans Fenster, +ganz mutlos und hoffte nichts, als daß -- nun was? Aber ich sagte etwas +wie: >Wenn ich dir helfen könnte ...< Da legte er seine Hände auf meine +Schultern, zwang mich ihn anzusehn und sagte ganz leicht, ich hülfe ihm +ja -- nun, noch dies und jenes, was ich nicht mehr weiß, was lag auch an +den Worten! -- Mir ward leicht, ganz leicht.« + +»Und nun?« mußte Renate endlich fragen, da sie vor sich niederblickend +schwieg. + +»Nun siehst du's ja: ich bin hier. Ich kam heim, ich saß bei Mama, dann +legte sie sich bald, sie kränkelt ja immer mehr, dann kam eine Schwester +von ihr -- da wurde ich auf einmal unruhig und ging hierher. Unterwegs +--« + +Renate horchte auf, da sie Schritte im Treppenhaus hörte; auch Ulrika +schien sie zu hören, denn sie brach ab, erhob sich, nahm das Buch und +sagte: »Es ist ja auch nichts weiter zu sagen.« Sie trat auf Renate zu, +die sich erhob, schloß sie in die Arme und meinte, es würde wohl alles +wieder anders werden, wer könne wissen ... und dergleichen, während +schon Saint-Georges den Kopf ins Zimmer steckte und erklärte, dies gehe +zu weit! Dreiviertel Stunden sitze er allein, am Neujahrsabend! + +Wie er doch den rechten Augenblick abgepaßt hat -- für Ulrika, dachte +Renate, obschon selber ratlos, was das Ganze nun bedeuten sollte. -- Als +sie einen Augenblick später hinter den Beiden, die miteinander sprachen +und lachten, die Treppe hinabstieg, empfand sie bekümmert die Linderung, +die aus Ulrikas Unruhe ihre eigene durchflossen hatte. + +Es ist am Ende nur, daß ich zuviel allein bin, dachte sie dann; man +hängt sich selber zu sehr nach, und -- die Andern sind immer warm und +wärmen; ist man dann allein, muß man sich doppelt kleiden und einspinnen +ins eigene Fühlen und Grübeln, aber ... aber ... + +Renate wußte nicht weiter. Sie waren unten angelangt. + + + Viertes Kapitel: Februar + + + Wirrnis + +Georg saß und schrieb: + +Ein junger Mensch kam an einem Oktobertage mit dem Eilzuge von A. auf +dem Bahnhof Zoologischer Garten in Berlin an, ohne Koffer noch Tasche, +gut gekleidet, in einem schwarzen Herbstmantel und kleinem grauen Hut, +stieg die Treppen hinunter und ging wie ein Müßiggänger die +Joachimsthalerstraße hinunter, aber er suchte sich eine Wohnung. Er bog +in die Kantstraße ein und ging sie hinunter bis über den Savignyplatz +hinaus, währenddem er wohl achtmal, von dem Schilde: >Möbliertes +Zimmer!< angerufen, in einem Hause verschwand, um jedoch ... + +Georg strich die letzten zwei Worte unwirsch aus und schrieb statt +dessen: + +... kam aber alsbald, jedesmal ein wenig erschöpfter, wieder heraus, und +zwar bald auf der linken, bald auf der rechten Seite der breiten Straße. +Schließlich strandete er vor einem Damenhutladen auf der linken Seite, +in dessen Fenster das >Möbliertes Zimmer!< wiederum auf einer Papptafel +zu sehn war. Während er noch zögerte, wurde drinnen im Schaufenster eine +Milchglasscheibe geöffnet, es kam ein Frauenarm mit einem Hut auf der +Hand hervor, dann auch ein Gesicht, dunkeläugig, dunkelhaarig, ältlich, +versorgt und gutherzig. Gleich trat er in den Laden, die Frau zog sich +gerade wieder nach innen aus dem Fenster zurück, war ziemlich groß und +sah wirklich sehr freundlich aus, ohne etwa ein besonders freundliches +Gesicht zu machen. Er sagte: »Hier ist ein Zimmer zu vermieten?« Die +Frau antwortete in einem ihm unbekannten Dialekt (statt müssen sagte sie +»missen«), zurückhaltend, es sei aber nur klein, bat ihn dann, +mitzukommen, und er folgte durch ein großes Zimmer, in dem vor einem +breiten Fenster zur Rechten zwei junge Mädchen saßen, mit dem Garnieren +von Hüten beschäftigt. Die Frau stieg drüben ein paar Stufen zu einer +Tür empor -- sie ging schlürfend in Filzschuhn, schwerfällig; ebenso +schwerfällig schlich ein alter schwarzer Pudel, der von einem +verschossenen, grüngelbbraunen Samtsofa sprang, auf den jungen Menschen +zu und berührte ihn vorsichtig mit der Schnauze -- öffnete sie und ging +weiter -- der Mensch ihr nach -- in einen schmalen, dämmrigen Gang +hinein, mit Türen auf der rechten Seite, durch deren Milchglasscheiben +in der oberen Hälfte spärliches Licht hereinsickerte, und von denen die +zweite -- die erste war nach dem Briefschlitz darin die Korridortür -- +halb angelehnt in die Küche hineinsehn ließ. Vor der dritten blieb die +Frau stehn, stieß sie auf und ließ den Mieter ins Zimmer sehn. + +Es sei gleich gesagt, daß dies Zimmer gemietet wurde. Es war keine vier +Meter lang und kaum zwei breit; an der Tür gleich rechts stand ein +gewöhnlicher, rotbrauner Kleiderschrank, daran stieß das Fußende des +Bettes, und dahinter stand dasjenige Möbel, dem das Zimmer seinen neuen +Bewohner verdankte, nämlich ein alter Bücherschrank -- wie sein neuer +Besitzer ihn nannte -- aus braungelber Birke, unten Kommode, darüber +Schrank mit sechs Fensterscheiben, von grünem Taft innen verhangen, +bedeckt mit flachem Giebeldreieck; gutes Biedermeier. Gleich hinter ihm +-- er stand halb davor -- war das Fenster mit sehr breiter Bank, die +Heizung war drunter. Gegenüber dem Bücherschrank war eine kleine braune +Tür, die in einen winzigen Verschlag führte; drin stand ein alter, +hölzerner Waschtisch mit einem blechernen Becken, einer blauen Karaffe +und einem weißen Seifennapf; ein Bort aus zwei Brettern, die an +rotbraunen Kordeln hingen, schwebte schief an einem Krampen darüber. Dem +Bett gegenüber an der andern Wand -- keinen Meter breit war der +Zwischenraum, den ein kleiner Tisch unter einer lang herunterhängenden, +bräunlichgelb gemusterten, mehrfach gestopften Decke ausfüllte -- stand +ein altes, gemeines Sofa, das gleichwohl Vertrauen erweckte. Zwischen +seinem Kopfende und der Tür zum Verschlage hing ein kleiner, alter +Spiegel mit ungeschliffnem, in der Mitte geteiltem Glase, ebenfalls aus +gelber Kirsche und ebenfalls mit einem Giebeldreieck. -- Über dem Bett +hing eine schmutzigdunkelrote Steppdecke, und auf dem Schrank stand eine +Lampe aus weißem Glase, in deren Bassin gelb das Petroleum schimmerte. +Vor dem Fenster waren alte, aber sehr saubere gelbweiße und geraffte +Gardinen. Dies alles zusammen kostete den jungen Menschen achtundzwanzig +Mark im Monat, wofür er auch die Heizung, die Lampe und noch eine Tasse +Kaffee des Morgens nebst einer gestrichenen Schrippe haben sollte. + +Georg, der während des Schreibens unablässig Zigaretten geraucht hatte, +sah auf, murmelte: Es wird zu lang, aber die Beschreibung genügt ja nun, +und er sah sich um, ob auch nichts vergessen war. Richtig, die Tapete! +-- Indem empfand er, daß er zu tief im Sofa saß, stand auf, faßte den +Tisch an beiden Schmalseiten und trug ihn vor den Bücherschrank. Es war +glühendheiß im Zimmer, er tastete nach der Kurbel im Heizkörper, fand +sie und drehte sie herum. Dann blickte er durch die Gardinen auf den +Hof, und gerade kam langsamen Schrittes aus dem Portal zur Rechten der +Briefträger und ging vorüber. Georg fluchte leise: Wieder nicht! +beruhigte sich, zog sich zurück, nahm eine neue Zigarette aus der +Schachtel, schob die Blätter auf dem Löschblatt zusammen und schrieb +weiter: + +Der junge Mensch hieß Topf, und so sei er genannt. Diesen Namen hatte er +der Zimmervermieterin mitgeteilt, und sie zweifelte nicht an ihm; auch +die Polizei nahm ihn gutgläubig hin. Herr Topf also besuchte an +Vormittagen die Universität in verschiedenen Hörsälen, und zwar genau +bis zum siebenzehnten Dezember des Jahres. Längst von einem allgemeinen +Widerwillen gegen die Nähe vieler -- und so zusammenhangloser -- +menschlicher Gesichter erfüllt, wurde ihm insbesondere die Ausdünstung +des studentischen Proletariats, welches die Publika besuchte, vermischt +mit der fast unleidlicheren, aus Schweißgeruch und Parfüm +zusammengesetzten der weiblichen Studierenden unerträglich, aber erst am +genannten Tage ward ihm klar, daß er Stunden um Stunden versaß, um nicht +mehr als Fingerzeige für eigene Wege zu erhalten, daß er besser tue, +sich auf die Schriften selber, die großen Arsenale zu beschränken, und +schließlich und vor allem, daß sein Mitschreiben und Ausarbeiten des +Gehörten zwar Fleiß sei, jedoch nur um der Fleißigkeit willen von ihm +betrieben wurde, nicht wegen des Stoffes und der Kenntnisse. + +Herr Topf -- dies war der einzige, wahre und echte Grund, den wir heute +aufzudecken in der Lage sind -- begann am Winter, an der Stadt Berlin, +an sich selber zu kränkeln. Er erhob sich ziemlich spät am Morgen, +kleidete sich in immer den gleichen, nämlich einzigen Anzug, bloß daß er +lederne Reiseschuh an die Füße tat, und begab sich nach vorne in das +große Zimmer, wo bereits an ihrem langen Tisch am breiten Fenster die +beiden Mädchen saßen, die große, magere, bleiche, blonde, und die +kleine, dicke, rote, braune, mit bunten Bändern, Zeugen, Hutmodellen aus +Draht und Gaze, ganzen und fertigen Kapottehüten und andern Dingen +beschäftigt. Dort sank er in einen tiefen alten Sessel, bekam alsbald +seine Schrippe, seine Butter und seine große Tasse voll heißen, aber +dünnen Kaffees vorgesetzt, sah in die Zeitung, gestattete dem alten, +halbblinden und sehr ruppigen Pudel Valentin, sich an seinen +Schienbeinen zu scheuern, sprach ein paar Worte mit den Mädchen oder mit +der Wirtin, Frau Wisch, die mit versorgter Stimme und in magdeburgischem +Dialekt, wie inzwischen offenbar geworden war, von ihrer Tochter +erzählte, als welche in Stolberg am Harz mit einem Gärtner verheiratet +war und ein Kind erwartete. Später saß Herr Topf in seinem Zimmer und +las in einem Buche, oder er schrieb einen Brief, oder er saß in der +Sofaecke und rauchte, oder er lag auf dem Sofa und starrte auf die weiße +Glaslampe auf der Schrankecke, oder wenn er anders herumlag, durch die +Gardinen, über den Hof gegen die Brandmauer eines Schuppens, oder eines +Bildhauerateliers ... + +Georg sah aufblickend hin, murmelte: Ich weiß es nicht -- und schrieb +weiter: + +... durch die kahlen, meist nassen Wipfel eines Baumes nach dem meist +bewölkten grauen Himmel. Mittags ging er in ein kleines Restaurant in +der Nähe zum Essen, legte, zurückgekehrt, sich auf das Sofa und schlief +eine Stunde oder schlief auch nicht. Meist aber blieb er liegen, bis es +dunkel wurde und länger, denn mit fortschreitendem Winter wurde es +früher und früher dunkel, zu schweigen von den Tagen, an denen es gar +nicht hell wurde. Er empfand in diesen Stunden wenig, außer der Wärme +der Heizung, aber er dachte viel, und nicht selten dachte er ein +Gedicht, das er dann beim guten Licht der herabgeholten weißen Lampe +aufschrieb. Um die Zeit des Dunkelwerdens jedenfalls, heute früher, +morgen später, zog er Stiefel und Mantel an und ging auf die Straße. Nun +konnte er verschiedenes unternehmen. + +Er konnte sich in den Grunewald hinausbegeben -- von dem er beiläufig +nie mehr kennen lernte als den Teil vom Bahnhof Grunewald bis zum +Restaurant Hubertus mit den beiden Seen, dem Jagdschloß und den zählbar +scheinenden, gleichmäßig kahlstämmigen Kiefern -- und dort konnte sich +wohl die öde Kahlheit des winterlichen Gehölzes, das vielfältige +Schweigen und das unsichtbare Auge der Einsamkeit zwischen den tausend +nackten Stämmen hervor, konnten die grauen Flächen der schlecht +überfrorenen Seen, der seltsam beklemmende Hauch des dunkelgrauen +Winterhimmels, und später, im Dunkeln, die Spiegelungen der +Laternenlichter im Eis und ihr Durchscheinen des schwarzen Zaunes von +Baumstämmen auf dem gegenüberliegenden Ufer --, all dies konnte sich zu +einem schauerlichen Schwellen und Tönen in seinem Innern vereinen. + +An gewöhnlichen Abenden aber war sein Weg, der Weg des Herrn Studenten +Topf, fast immer der gleiche, wenigstens anfänglich: die lange, graue +Zeile der Kantstraße, unter der schwebenden Schnur der fleischroten +Bogenlampen, zwischen den Wandungen spiegelnder Läden voll feurig +beleuchteter und funkelnder Gegenstände -- + +Georg, sich erinnernd, schweifte mit dem Auge die Straße hinab und sah: +Margarinefässer, Pfirsiche, Melonen in gefächerten Kästen, Tomatenhügel, +Schaufenster voll stehender Spazierstöcke und Schirme, Buchläden voller +gelber, roter, grüner, blauer Rücken von ungebundenen Broschüren, +rotblutige, zerteilte Tierstücke auf Marmorplatten, dazwischen grüne +Blattpflanzen, Herrenmodenauslagen, Kragen, Hemden, Krawatten, alles +herrlich beleuchtet, kostbar und erfreulich, aber er schrieb es nicht +auf -- + +... hinunter (fuhr er fort) bis zur Gedächtniskirche. Kurz vor ihr +konnte er zum Zoologischen Garten abschwenken und durch den Tiergarten, +die Charlottenburger Chaussee, die Linden, die Friedrichstraße hinab zum +Bahnhof gelangen, im blauweißkarierten Aschinger zu Abend essen und mit +der Stadtbahn heimfahren. Manchmal gefiel es ihm auch wohl, am +Zoologischen Garten im Schacht der Untergrundbahn zu verschwinden, einem +Lächeln, dem Schein einer verschleierten Wange, auch einem ganz +deutlichen Augenwink nachfolgend, denn die unablässig lauernde Begierde +seines Geschlechts ließ ihn immer wieder hoffen, dasjenige weibliche +Geschöpf doch eines Tages zu treffen, dem er sich gesellen könne, -- +doch wagte er es nie, aus Furcht vor Krankheit bei jener Art von +deutlich winkenden Geschöpfen, aus Scheu vor der Anknüpfung dort, und +manchmal noch im letzten Augenblick aus Furcht vor der Langeweile, die +jedes von diesen Wesen bei längerem Zusammensein ihm bereiten würde. +Vornehmlich ergötzte ihn der Reiz, das Gefühl, nicht völlig ziellos, +einer schmeichelnden, süßen, ach, immer wieder kostbaren, seltenen, +verführerischen Sache anzuhangen, die in seiner Nähe ihm gegenüber saß, +in ihrer nie zu begreifenden weiblichen Sicherheit, ausgesetzt nach +allen Seiten hin, sich besessen fühlend von Blicken in jeder Bewegung, +dem Ausstrecken des Fußes, Drehen des Absatzes und Blick danach, dem +Dehnen des Schleiers mit dem Kinn, Rücken am Hutrand, plötzlichem Öffnen +der großen Ledertasche, aus dem ein Täschchen von Silbermaschen, ein +Spiegel, Bleistift, mehrere Trambahnbilletts und endlich ein Brief +hervorkommt, -- an allem diesem teilzunehmen, immer tastend, hebend mit +dem Blick an den Augenlidern, drehend an dem zarten Kopf, bis endlich +die erwünschte Wendung, der erhitzende Blick herüberflog, -- und +währenddem war er vielleicht angelangt auf der Hochbahnstrecke über den +Eisenbahngleisen, wo die erleuchtete Wagenreihe wie eine Raupe von +glänzendem Meteor über dem untern Sternhimmel der weißen, grünen und +roten Signallichter auf dem schwarzen Tuch des weitausgebreiteten +Bahnkörpers dahinzog, -- und manchmal fuhr er bis zum Warschauer Tor, +freilich selten, denn alle holden Geschöpfe hatten die gleiche +Gewohnheit, schon bei der zweiten oder dritten Haltestelle zu +entschweben, alte, dicke, geschwätzige Weiber dagegen, denen die +Korsettstäbe vorn unter der Bluse abstanden, die erfüllten den Wagen mit +ihrem, beim Lärm des Wagens unverständlichem Gerede und stiegen niemals +aus, bevor er selber sich rührte. Schön und befriedigend war es dann -- +wenn er bis zum Warschauer Tor fuhr --, die leer gewordenen Wagen bis +zum letzten durchschauen zu können, wo auf den befreiten, teilnahmlos +hölzernen Bänken oder roten Ledersofas nur hier und da ein einsamer +Zeitungsleser hinter seinem papiernen Schild saß oder ein Ladenfräulein +(welches dann plötzlich seine Handtasche öffnete, um darin zu kramen, +als sei dies gerade jetzt unumgänglich nötig geworden) ... + +Georg dachte: Hier habe ich mich wiederholt, aber diese letzte Wendung +mußte ich doch noch anbringen. + +... Von einer leisen und melancholischen Art Romantik angefeuchtet, +fühlte er sich in dieser Verlassenheit behaglich, ihren leisesten +Schauern im Aufziehn und Entschwinden nachlauschend, zumal jenem: Wenn +es bei aller Menschenfülle im Wagen völlig still ward, im Wagen, der mit +tastender Vorsicht, immer langsamer, die Höhe des schwarzen Bahngerüstes +erklomm, bis fast zum Stillstand, wo nur das emsige Tucken des Motors +hörbar war, unendlich langsam die kleinen Lampen draußen heran- und +vorüberglitten, indes der Zug vor der abenteuerlichen Kurve wartete oder +sie mit sorgfältigster Langsamkeit umkroch, und der Blick unterweil fiel +tief hinunter in die Höfe der Kohlenlager oder Stapelplätze, in denen +verlassen aussehende Laternen Teile von Schuppen, stille Geschäftswagen, +Plakate und Wandinschriften beleuchteten, eine Menge Dinge, die zu +betrachten gerade genug Muße war, wenn auch nicht kenntlich wurde, was +dem alten, braun und weißen Pferde fehlte, um das ein paar Menschen +standen, und das den einen Vorderfuß hob und zuckte. + +Georg unterbrach sich, da er merken mußte, daß es ganz dunkel im Zimmer +war; das bleiche Viereck des Papiers leuchtete bläulich weiß; jetzt +konnte er auch das eben Geschriebene nicht mehr entziffern, holte eilig +die Lampe und zündete sie an. Vor Aufregung des Weiterschreibens irrte +er Augenblicke lang zwischen der Absicht, eine Zigarette, Streichhölzer, +den Aschenbecher, die Feder zu ergreifen und nach der Kurbel der Heizung +zu fassen, da es wieder kalt geworden war; endlich gelang es ihm, alles, +was er wollte, der Reihe nach zu tun, er schrieb weiter: + +Und wie sonderbar traf m-- (dies m strich Georg durch, suchte +Augenblicke und schrieb nicht ganz zufrieden, hastig, weiterzukommen --) +einen dann die schweifende Stille der großen Hinterfronten mit +Riesenfenstern von geriffeltem Glas, hinter denen in hellen Riesenräumen +die Schatten von unverständlichen Wesen herankamen oder sich handelnd +entfernten; oder auch die Fenster waren klar und zeigten mächtige Säle, +gefüllt mit eilig, aber lautlos sich bewegendem Personal, Packern, +Schreibern. Und nun die Verschwiegenheit der kleinen Stationen der +Hochbahn, wo er wartete mit andern Wartenden, die mantelumhüllt in der +Kälte den Rücken in den Wind hielten, den Kopf schief und die Gesichter +verkniffen, oder vor Plakatwänden standen, angeschrien, ohne es +scheinbar zu beachten, von gemalten Grotesken; vielmehr gähnten sie +häufig und spuckten verächtlich aus. Zu warten auf solch einem Bahnhof, +mit der schaurigen Aussicht nach links und rechts auf die schnurgerade +in die Nacht enteilenden, matt glimmenden Geleise, zwischen denen, wie +im Nichts gehend, aus der Ferne ein Mann im Mantel mit einer unterhalb +schwingenden Laterne, der sich zuweilen bückt, so langsam heranwandert, +als hätte er Jahre Zeit; oder mit dem Blick in die Tiefe, wo über die +traurigen, schwarzen, nassen, spiegelnden Plätze und Nebenstraßen ein +trüber Omnibus voll stiller, sitzender Menschen hergezottelt kommt und +mit lauterem Rasseln, an Geleisen ruckend und geschüttelt, unter der +Überführung schwindet, -- und wie totenstill kann es dann sein! -- Oh, +und das Auftauchen aus dem unterirdischen Schlund jählings zu mächtig +strahlenden Lampen, in große Freiheit und Aussicht, zu Spiegelscheiben, +Litfaßsäulen und der erstaunlichen Majestät einer Theaterfront +emporgerissen, vor deren umnachtetem Giebeldreieck Bronzewagenlenker +Panthergespanne sorglos in die Luft hineinzügeln. + +Am trostlosesten aber war es in der windigsten der Dezembernächte auf +einem der kleinen Vorortbahnhöfe, Wilmersdorf, Zehlendorf, Friedenau. +Dort schien dem Wartenden die Zeit still zu stehn und niemand sich darum +zu bekümmern, ob sie weiterging, aber auf einmal trat ein Mantelträger +aus einer Tür an ein Eisengerüst, und dort war oben auf einem weißen +Schild das Wort >Südring< in großen Lettern starrblickend zu sehn, ward +aber im selben Augenblick mitten in seiner Bedeutung abgeknickt, und +statt dessen erschien, groß und bedeutungsvoll, >auf allen Seiten +Hintergrund<: >Potsdam< in der Nacht. Dort dem endlosen, unaufhörlichen +Vorüberrollen eines Güterzuges zuzuschauen, Wagen, Wagen und Wagen, +dunkel alle, flache, kistenartige und solche mit Gerüsten, eine Menge +voll langer, hinten überstehender Baumstämme, und solche, auf denen +Möbelwagen mit riesigen Namenszügen standen, und geheimnisvoll +verschlossene gleich fahrbaren Folterkammern, und andre, aus deren +Innern das vertraute Stampfen und Klirren eingesperrter Pferde an +Kindheit und Abende in warmen, dämmrigen Ställen erinnerte -- in den +Boxen die Hinterbeine, deckenverhangen, treten hin und her vor den +schlagenden Schweifen --, -- und ganze Städte zogen vorüber in den +Wageninschriften: Bromberg, Hannover, Kattowitz, Posen, Danzig, Bochum, +Löhne, Altenbeken, Stettin und Stralsund, und immer noch Wagen und +Wagen, dahingerissen, unsichtbar von wem, aber zusammengekettet und +fortgerissen, schon springend, dahin tanzend, und wieder beruhigt, +verrollend, in einem eisernen Strombett von Getöse, das in jeder Minute +den Takt wechselte, bis der letzte der dahingeschleppten Sträflinge +unvorhergesehn plötzlich dem versunkenen Betrachter das dunkle Antlitz +eines schweigsamen Geistes zuwandte, der ohne rechte Begriffe seines +Daseins, stumm, nächtig, gehorsam der dunklen Nachtferne rückwärts +zuschwebte, winkend mit einer grünen Laterne. Und wie er dann in die +grauen Kissen seines Abteils versank, das ein schönes, behagliches +Zimmer war, voller Luft von Menschen! Und noch zu genießen war vom +Bahndamm im Entgleiten die hell erleuchtete Ferne des Bahnkörpers, wo +lichte Häuserfronten, Balkone und hoch oben beschattete Giebel und +Dächer in weiter Runde eine rötlich umrauchte Bogenlampe umstanden, und +darunter arbeitete eine kleine Rangiermaschine sich, als ob sie +festsäße, unaufhörlich den weißen, durchröteten, fortfliegenden Qualm +ausstoßend, hin und her. + +O Anschaun, o gedankenlose Empfindung, o Vergeßlichkeit! o kleiner +Wartesaal dritter Klasse, mit dem glühenden Kanonenofen, dem Plakatbilde +von Freienwalde, das seine Fichtenwälder anpreist, oder von einer +Hygieneausstellung, oder von einer Gewerbeausstellung; mit der Tafel: +Nicht auf den Boden spucken! mit dem zärtlichen Liebespaar im Winkel, +ewig wie Bahnhof und Wartesaal ... Und nun wieder das Getöse, der große +Wasserfall, das tausendfältig brandende Geräusch der breit aufklaffenden +Straßen, das gewundene Gewirr, und das Gefunkel, und die Lichter, die +hunderttausend Schilder, die alle schreien, etwas wollen, die Rufe, die +Trompetenstöße, das vielstimmige Klingeln, die Geräusche der Sohlen, +Pferdehufe, schreienden Geleise, Motoren, Achsen, die strahlenden +Schaufenster wieder, die verheißungsvollen Korsettgeschäfte, das fromm +aussehende, tiefernste, niemals bewegte Ungetüm des kirchenhaften +Warenhauses, die Schlachterläden, die Gossenränder, die Blumenfrauen +hinter Körben und Ständen mit kleinen Spritzen am Mund, die +Zeitungsrufer, und hinter den Glasscheiben Aschingers der Tresen mit +Messinghähnen, der Glaskäfig mit Stockwerken voll leckerer Brötchen, mit +der ganzen, eiligen, schlingenden Gefräßigkeit der Menschen, die im +Stehen kauen, mit rückwärts gedrehten Augen wie die Hunde, -- und hoch +über all dem, hoch in der braunen Nacht -- der Tausendfuß, der +brontosaurische Gigant, der blinde, der am ganzen Leibe unaufhörlich +zitternd seinen elektrisch geladenen Leib an den Türmen, an den Essen, +an Schloten, Firsten, Giebeln, Balkonen, Fenstern und Drähten der +brüllenden, rasenden, taumelnden, kreisenden, winselnden Stadt scheuert +... + +Georg, glühend im Gesicht, obwohl innerlich kalt und verhärtet von +Anspannung, legte den Federhalter hin, faßte langsam mit der linken das +Gelenk der rechten Hand und spreizte deren verkrampfte Finger mehrere +Male, indem er sich mit dem Gesicht auf das Geschriebene neigte. Er +überlas ein paar Zeilen, da widerstand ihm das Schreiben, er dachte: Das +ist wieder so ein lyrischer Anlauf! -- Aber es müßte einem doch +gelingen, erwiderte er sich, in hundert Druckseiten diese ganze Stadt +nach Eindrücken abzuwandeln ... Er stand auf, ging zum Sofa und streckte +sich aus, aber die darstellende Tätigkeit hatte sich verkrampft, er +schrieb in Gedanken liegend weiter: + +Begab er sich nun nicht in eines der vierhundert Kinematographentheater, +für die er eine herzliche und kindliche Zuneigung gefaßt hatte, so +pflegte er noch einige Nachtstunden ... sich unterbrechend fiel Georg +ein: Töpfer! und Tante Henriette, aber er setzte den begonnenen Satz +fort: -- ähnlich zu verbringen wie schon die meisten des Tages, lesend, +rauchend, oder mit Träumen, Grübeln und Melancholie auf dem Sofa, +gewöhnlich so lange, bis die angesammelte geistige Atmosphäre ihren +Niederschlag in irgendeiner Erinnerung an eine Beobachtung; ein Erlebnis +-- wie er es nannte -- des Tages fand, dessen Schilderung nebst daran +geknüpfter oder daraus erwachsender Betrachtung über gewisse, sich +wiederholende und trübe Seelenzustände einen melodischen Ausdruck im +Umfange von vierzehn Verszeilen fand. -- Richtig, es ist erstaunlich, +dachte Georg, wie genau ausreichend das Maß des Sonetts zur Aufnahme von +seelischen Entladungen ist. -- Jetzt packte ihn wiederum der +Schreibezwang, er sprang auf, ergriff eine Zigarette, entzündete sie +über der Lampe, nahm die Feder auf und schrieb: + +So mußte ihm jeder Tag schließlich zum Erlebnis werden; es quälte ihn +automatisch, blieb einer ohne Gedicht; ein Gedicht war Frucht, war +greifbar, bleibend, behielt seine Nahrung und würde ihm nach Jahren ... +Vorwärtshastend bildete Georg den Rest des Satzes aus Strichen und fuhr +fort: Und was etwa konnte nicht zum Erlebnis werden? Nur halbwach mußte +man gehn, in sich selber locker schaukelnd, schwingend ständig gewärtig, +Schwung aufzunehmen. Dann, in die Finsternis der ödesten Gassen des +Nordens verloren, dann konnte er wohl, von einer Dirne aufgescheucht, +mit jählings erwachendem, verwandtschaftlichem Grauen vor einem +Laternenarm erschrecken, Arm, den tief im Verließ der toten Sackgasse +ein Eingemauerter aus der Wand streckte, verurteilt, dies traurige, ihm +selber unsichtbare, bleich grüne Licht zu halten, das sich fürchtet, +allein seit hundert Jahren mit dem Eingemauerten und mit seinem +Spiegelbild in der Pfütze auf dem Pflaster. Und -- so schloß das Sonett: +Darunter steht das Weib, das nach dir winkt. -- Andermals: welch +sonderbares Empfinden, von der Eisenbahnbrücke herab auf dem schwarzen +Sumpf das Gewimmel von Lichtern zu durchforschen und zu verfolgen, +Rubingehänge, dazwischen bleiche Türkise, gelbe Lichter wie Totenkerzen +und runde, grüne, erfrischende, regungslos allesamt: dazwischen aber, +aus einer schnell geöffneten Türe der Nachtferne, kriechen Ketten und +funkelnde Bänder und leuchtende Schlangen, und auf einmal ist nahe +darüber ein schwächlicheres Licht zu gewahren, der Mond, der nichts zu +sagen weiß, als daß wohl auch dem Oben Beleuchtung gebühre. Zärtlicher, +wehmutsvoller, verwandter berührte freilich die Begegnung mit jener +Birke, die im abgestorbnen Garten vorm Haus plötzlich als bleicher +Nebelstreif erschien, als ob sie zu sich her winkte, und dann, als sei +es nun so weit, ihr letztes Blatt fallen ließ. + +Georg stockte; er sah sich in Zwielicht und Düster unbekannter +Straßenstollen herumgehn, ohne Ausblick, im undurchdringlichen Nebel; wo +er die Kirche vermutete, da war nichts, nur Nebelqualm rollte wie -- +also wie aus einem Faß, und Lichter schwammen darin, farbige, blasse, +opalene, schwer und aufgequollen, hochoben größere Lampen, prahlend, +dicht unterm festen Verschluß von braunem Rauch, aber dann barst die +Mauer, er atmete auf, starrte jählings und geblendet in das breite +Blenden einer Riesenstraße von Läden und leuchtenden Schildern. Überdem +fiel ihm der umgestürzte Koloß von Zementscherben ein, verklebt mit +buntem Papier, der ihm den trostlosen Aphorismus zuseufzte: Hier liege +ich, die Säule eurer Kultur, die Litfaßsäule! -- Und er erinnerte sich +erbittert, an ihrer einer den seraphischen Namen Jean Pauls in +halbmeterlangen Lettern gelesen zu haben, aber als er neugierig näher +trat, so wars die Ankündigung eines Coupletsängers im Apollotheater ... + +Die Kultur, dachte Georg, im Stuhl zurückgelehnt, kommt bald ab, und das +Gefühl, glaube ich, wird auch bald abkommen. Man sieht es ja an der +Kunst, die kommt schon ab, ihre Züge haben sich bereits erschreckend +gewandelt wie die von einem, der in den letzten Zügen liegt, bloß +burlesker. Aus dem Drama ward das Theater und zuletzt der Kientopf, aus +dem Gedicht das Couplet, aus dem Maler der Futurist, aus der Musik das +Grammophon. Und wie ist es mit dem Kunstgewerbe? Da soll nun auf einmal +alles geschmackvoll sein, und was kostet das für Mühe! Der Grieche, wenn +er etwas machte, das ihm wohlgefiel, siehe da, so wurde es schön; wir +aber wollen immerzu etwas Schönes machen, und dann gefällts keinem. Wenn +ich aber gar einen individuellen Türklopfer sehe, so wird mir vor meiner +Gottähnlichkeit bange. Georg raffte sich auf, tauchte die Feder ein und +schrieb: + +Zuweilen verbrachte Herr Topf die Abende in einem behaglichen Zimmer von +schwerfälligem Reichtum; auf dem Sofatisch brannte eine verstellbare +Lampe aus Messing mit grünem Schirm, und daneben saß die Tante von Herrn +Topf, die er Tante Henriette nannte, und strickte oder häkelte, während +sie sich von ihrem Neffen ein modernes Buch vorlesen ließ, Strindberg +oder Sternheim, über den sie sich wütend ärgerte, aber das mochte sie +gern. Die kleine Eisenbrille mit dicken Gläsern saß ihr vorn auf der +Nasenspitze, zuweilen blickte sie darüber hinweg in die dunkle +Zimmerecke, wo ein kleiner weißhaariger Mann in hellgrauen Beinkleidern, +sehr soigniert, mit einem rosenfarbenen Papageien im Schoß saß oder auch +am Kanarienvogelbauer herumbusselte und seinen grüngelben Bewohner mit +dem Taschentuch leise quälte. Oder aber er ging zum Ende seines +Korridors, klopfte an die Tür und wurde von einem ganz hellen: Herein! +in das große, kahle Zimmer, dämmrig im Schein der Petroleumlampe auf dem +Schreibtisch am Fenster, gerufen, wo (unter den riesigen Bildern Kaiser +Wilhelms und seiner Gemahlin auf der roten Tapete) der Komparativus von +Herrn Topf saß oder vielmehr eilig aufsprang, ganz klein und zierlich, +aber mit schönem, dichtem Vollbart um das rötliche Gesicht, hocherfreut +und lächelnd: Herr Töpfer, Schriftsteller und radikaler Sozialist ... +Georg schrak auf; eine Tür ging fern, langsam kamen weiche Schritte +Stufen herauf, schlürften auf dem Gang. War der Briefträger gekommen? +Nein, die Schritte endeten in der Küche, ein Topf auf dem Herde wurde +hörbar gerückt. Georg legte die Feder hin und begab sich auf das Sofa. + +Wozu schreibe ich das? dachte er mißmutig. + +Denn immer und immer wieder, fuhr die Kette von Worten und +Gedankenbildern in seinem Gehirn hartnäckig fort, kehrte er aus alledem +zur ewig gleichen trüben Tiefe des eigenen Daseins zurück. Dort suchte +er am Grunde, aber das Gewesene, das er fand, machte ihn hülflos, er +hielts und konnte es nicht verstehn, er hatte kein Gedächtnis, keine +Erinnerung, die Vergangenheit rührte nicht mehr, das Bewußtsein, daß es +einmal gewesen, Bedeutung, Lebendigkeit, Glanz, Farben gehabt hatte, +oder daß am Ende er zu schwächlich war, sein Leben nur eine genietete +Kette von Augenblicken -- deren einzelne unsinnig und monströs in ihrer +übertriebenen Verzerrung des Stillstandes aussahen wie losgetrennte, +sekundenkurze Bilder eines Films, und von der im Zusammenhang stets nur +drei oder vier Glieder sichtbar waren, indem das letzte schon +wegschmolz, während das neueste kaum erst keimte --, daß da nur ein +Zusammenhängen war, kein Wachstum, ein Gleiten, kein Aufbau, daß er +dergestalt, auf einen winzigen Raum von Gegenwart angewiesen und +zusammengedrückt, sich erhalten sollte, Jahrtausende, ungeheuer und +drohend, hinter sich, eine nachtfinstre Zukunft, drohend und ungeheuer +vor sich: das erfüllte ihn mit einer großen Verdrießlichkeit, die, das +wußte er wohl, kein Leiden war, kein Schmerzerdulden, die zuzeiten aber +doch zu lebhaften Angstzuständen, ja manchmal in ein Schrankenloses der +Beklemmung wuchs. + +Georg schüttelte den Krampf der sich schreibenden Sätze erbittert von +sich, setzte sich auf, legte die Ellbogen auf die Knie, starrte in die +Lampe und dachte, er habe wohl den Teufel zitiert, denn nun stieg die +Angst wie Spinnen von allen Wänden herunter. Ich habe mich, dachte er +verkniffen, vor mir selbst ins Papier gerettet, da liegt nun mein +Abklatsch, nichts als ekelhaftes, absurdes, vor sich hinlallendes: Ich! +ich! ich! Wozu sitze ich denn hier? Wozu hab ich seit drei Monaten ein +und denselben Anzug am Leibe und nenne mich Topf? Was habe ich in diesen +Topf gefüllt? Die schwarze Regentraufe von den Dächern ist +hineingelaufen, aber von keiner Menschenseele ein Tropfen. Kommt es +nicht auf die Menschen an? Ich kenne sie nicht. Töpfer kenne ich, der +ist eine kleine Welt für sich, Frau Wisch, nun ja. Alle andern sind mir +eklig. Wenn ich sie in der Elektrischen sitzen sehe, zusammengepfercht, +viertelstundenlang still, vor sich hinblickend jeder in sein eignes, +verrammeltes Ich aus ihren Bündeln von Gesichtszügen, die so notdürftig +von da und dort her zusammengerupft und verknotet sind, daß man es kaum +begreift, so schüttelt mich der Abscheu. Jeder ist jedes Feind. Mein +Feind ist der Kellner, der nicht im Augenblick fliegt, wenn ich +eintrete, mein Feind der Schaffner, der geflissentlich meine Hand mit +dem Groschen übersieht und zu andern Fahrgästen geht, mein Feind der +Beamte am Postschalter, der sein Geld zählt, sortiert und Päckchen +häuft, oder Zahlen addiert, anstatt mir meine Fünfpfennigmarke zu geben, +mein Feind die Verkäuferin, die mich warten läßt, und die fünf oder drei +Frauen und Männer im Laden, die mich zwingen, Minuten meines Lebens +wegzuwerfen, die nicht so viel wert sind wie das Einwickelpapier um die +Butter, -- die ich mir aber um keinen Preis entreißen lasse. Alle hassen +Alle, was soll daraus werden? Und nur um der Ungeduld willen. Ungeduld +schreit aus jeder Bewegung, aus den Augen des Chauffeurs, dem ich nicht +rechtzeitig ausweiche, aus -- aus jedem Auge! Ich aber, nur ich, ich +hänge überm chaotischen Abgrund einer Seele, meiner Seele, und weiß, daß +ich einsam bin, und daß Alle es sind wie ich. Das ist meine Angst, das +ist die Angst, das ist die Angst der Stadt. + +Nein, du lügst ja, sagte etwas in ihm. Er horchte hin, legte das Gesicht +in die Hände und gab es zu. Aber gleichviel, woher die Angst! Sie ist +da, und Angst ist Angst. Ich fürchte mich vor der Zukunft. Ich +unternehme Dinge, die -- deren Ablauf mir unbekannt ist, ich klage einen +Vertrag ein, der mich auf einen Thron bringen soll, und ich weiß nicht, +was das heißt, was all damit verbunden ist, und wie ich die nötige +Sicherheit in mir selber erlangen soll, da ich, da ich -- auf diesen +Thron nicht gehöre. Und über all das hin braust das unendliche +Hunnengeschwader meiner Gedanken, die ich nur fliegen lassen kann, nicht +halten. + +Georg empfand, daß ihn hungerte; auf die Uhr blickend, fand er, daß es +kurz vor halb acht war. Er räumte die Blätter flüchtig auf das Bett, +öffnete dann die Tür des Verschlages und holte nacheinander von der +Fensterbank eine gläserne Dose mit Butter und einen Teller mit einem +Stück Holländer Käse, von dem Bort überm Waschtisch einen Viertellaib +Brot, einen Teller, ein Messer, zwei Eier aus einem Kasten, eine Tüte +mit Zucker und sein blaues Wasserglas, brachte alles auf dem kleinen +Tisch unter, schlug die Eier ins Glas, tat Zucker dazu, rührte um und +trank, dann erst setzte er sich, strich zwei starke Scheiben, belegte +sie mit Käse, schnitt sie in Würfel und fing an zu essen. Appetitlos +kauend und schluckend, folgte er Gedanken, die sich rastlos erneuerten. + +Ein Übelstand der Zeit ist es vermutlich, daß wir uns Kenntnisse -- +nicht Wissen -- mit so ungeheuerlicher, hexenhafter Geschwindigkeit +aneignen; und mit dieser, durch Jahrhunderte entwickelten Leichtigkeit, +Selbstverständlichkeit der Erfahrung kennen wir, was wir nie erfuhren. +Was wir kaum sahen, dessen erinnern wir uns schon wie an hundertmal +Erlebtes; mit der gesammelten Erfahrung unsrer Vorfahren geboren, ohne +sie erworben zu haben, sind wir bloß Erben, -- ja, wir, sage ich da +recht literarisch, aber wäre ich wirklich allein so? Ich kenne ja +niemand, aber ich glaube es nicht. Nichts pflegt einmalig zu sein. Wir +leben zu schnell, wahnwitzig schnell, und da heißt es denn -- er +lächelte kränklich --: In den Ozean schifft mit tausend Masten der +Jüngling. Bald auf gerettetem Boot treibt er zum Hafen als Greis. + +Aber mir, nein, mir blieb keine andre Wahl, in dieser Zeit nicht. Ich +war bislang ein Kind, ein Erzeugnis meines Vaters; der überrumpelte +mich; und ich war ein Kind, ein Erzeugnis meiner Zeit. Ich allein hätte +mich damals in Altenrepen vielleicht anders entschlossen, wenn ich nicht +-- wie wir eben Alle -- mit den alltäglichen Dingen des Straßenlebens, +des Lebens überhaupt so verwachsen wäre, daß ich mich ihrer +Beeinflussung nicht entziehen konnte. Wie sollte ich mich zurechtfinden, +damals? Zwischen elektrischen Bahnen, am Telephon, zwischen Läden, +Kellnern, den Gesichtern, Anzügen, Hüten von heute, die doch nicht nur +außen um mich herum sind, sondern organisch wesenhaft in mir, Formen +meines Denkens, Empfindens, meines Seins, -- ja zwischen all dem, was +sollte ich anfangen mit diesem unzeitgemäßen Erlebnis? Es ist +Kolportage, auf Hintertreppen war ich nicht eingestellt. Vor zwei, +dreihundert Jahren, da hätte es gepaßt, zwischen Butzenscheiben und alte +Sprüche an den Hausbalken, verschnörkelte Giebel, seidene Schärpen und +nächtliche Straßengefechte, Serenaden und Entführungen. Das Schicksal +drückte mirs in die Hand, -- ich ließ es fallen. + +Helene, dachte er. Der Bissen quoll ihm im Munde, er schluckte heftig, +stand auf, griff hinter sich nach der Karaffe auf dem Waschtisch, setzte +sie an den Mund, trank einen tiefen Schluck und stellte sie fort. -- Sie +war mir so fremd, immer so fremd, ich wußte nicht, weshalb, -- von +welcher Mutter bin ich nun geboren? Vielleicht hat sie vor Jahrhunderten +schon gelebt. + +Gedankenlos und müde aß er die letzten Brocken und dachte: Was nun? + +Plötzlich ekelte es ihn vor dem Sofa. Ich will zu Töpfer gehn, sagte er +sich trübe, vielleicht -- --. Also löschte er die Lampe, trat auf den +Korridor, hörte aber, als er auf die erleuchtete Milchglasscheibe am +Flurende zuschritt, Stimmen drinnen, und nun fiel ihm ein, daß er am +Nachmittag jemand zu Töpfer hatte gehen hören. Nun gleich, dachte er +nachlässig, ich habe nichts gehört, klopfte an, hörte das helle: Herein! +und trat ein. + +Die Gaslampe am verbogenen Arm unter der Decke strahlte kalte Helle. Ja, +da sprang der zierliche, kleine Mensch vom Stuhl am Sofatisch auf -- er +und ein andrer Mensch saßen essend daran --, stellte sich mit +geschlossenen Füßen hinter seinen Stuhl, die Lehne fassend und sang in +seinen hellsten Tönen, den Kopf tief zurücklegend: »Ah, der Herr Positiv +tritt herein! wie überaus angenehm!« und dergleichen mehr, während +Georg, den Fremden ins Auge fassend, der sich hinter dem Tisch vom Sofa +erhob, auf ihn zuging. Teller mit Wurst, Butter, Käse, Milchgläser +standen auf der ungedeckten Platte. Der Fremde blickte Georg aus einem +zartbräunlich und rosigen Gesicht mit weichem, schwarzem Spitzbart aus +herzgewinnend liebenswürdigen, großen Augen an und bot Georg die Hand, +während Herr Töpfer weiter sang, dies sei der Herr Topf, der den +Berliner Roman schreibe, und das sei der Herr Levite aus Warschau. + +Ein Nihilist, dachte Georg, indem er wegen der Störung des Speisens um +Entschuldigung bat, aber Herr Levite versicherte mit angenehm weicher +und tiefer Stimme, sie seien schon fertig, setzte eine offene Holzdose +mit russischen Zigaretten über den Tisch vor Georg und zündete, da Georg +eine nahm, gleich ein Streichholz an und reichte es ihm. Georg setzte +sich, ungemein angezogen, und versicherte, mit dem Roman sei es nichts. +Herr Töpfer, der wieder Platz genommen hatte, wiegte herzlich bedauernd +den Kopf und meinte, gleich begütigend, er mache ja auch so wunderschöne +Gedichte ... Hellaufsingend schraubte die Stimme sich empor. Die dunkle +und weiche fragte sehr ruhig: »Glauben Sie damit der Menschheit zu +nützen?« + +Georg, erschreckt von der geraden Anrede, wehrte hastig ab: »Nein, nein, +Gott bewahre, ich finde mich selber --, ich bin froh, wenn ich mir +selber keinen Schaden zufüge!« + +»Unser alter Streit«, klagte Herr Töpfer bedauernd und herzlich. »Sollen +denn nun die armen Dichter wirklich aus dem Staat heraus? Lieben Sie +nicht Ihren Dostojewski über alles? Und -- da wir guten Deutschen --« +jubelte er hoch hinaus -- »wenn wir von uns selber reden, stets Goethe +als Beispiel heranziehn, so sagte Goethe --« + +Allein der Pole schlug ihn sanftäugig nieder, während er noch an dem +Zitat sammelte: »Goe--the sagt alles.« + +Bestrickend war diese Stimme und die Aussprache des Deutschen! Die +Silben kamen einzeln, rein und weich umhüllt, die S- und auch die +Z-laute summten zart, die Vokale wurden um einen Hauch gedehnt, die +Konsonanten um einen Hauch gedrängt, -- es klang entzückend, kein +Deutscher konnte die Sprache so zierlich handhaben wie dieser Pole. + +»Ich liebe ihn,« sagte die ruhige, nachdenkliche Stimme nun, »und ich +verstehe ihn su lesen; für andre ist er -- das Gift. Ich muß sugebben,« +fuhr er langsam fort, die Augen zu Georg aufschlagend -- während er mit +der Zigarette im Aschbecher rührte --, so daß Georg das Herz zitterte +vor Hingezogenheit und liebevoller Umfangenheit von diesen guten Augen +-- »ich muß sugebben, daß die deutschen Dichter etwas voraushaben. Denn +sie sind niemals reine Dichter. Wie andere als die grosen Vertreter +Englands un Frankreichs, als Dickens und Flaubert oder Balzac gehen die +Ihren vor. Jene wollen das Leben darstellen, sie wollen weiter nichts +als das: Sie lieben -- der Mensch, da steht -- der Mensch, Sie sehen +ihn, Sie fühlen ihn, er iist so warm, Sie verstehen -- sein Leid, und er +iist so, Sie heben an ihm, und Sie heben alle Fäden der Wurzeln, er iist +fest in seinen Zusammenhängen, das ist so grose Kunst. Wenn dies die +Menschen lesen, so vergessen sie sich, es ist -- Su--ro--gat, aber es +macht sie nicht froh an ihrem Teil, sie schmähen es, sie schmecken es +nicht mehr so, sie gehen ihre Treppe nicht gern, ihr graues Haus macht +sie Angst, ihre Frau ist schlecht un häßlich, der Hauswirt ist sehr +böse, all dies ist nicht in Dickens, dort ist alles schön, der Schmutz +ist schön, die Menschen sind schön un böse; sie haben Gewalt, sie +scheinen anders lebbend, und dies ist, was ich sage: Gift. Ich kenne +nicht viele deutschen Schrift--stellers, aber ich kenne Goethe, ich +kenne auch ein wenig Keller und mit dem französischen Namen -- -- er ist +sehr schwer! -- Jean Paul, und sie sinnd sehr nachdenklich. Sie wollen +nicht darstellen: der Mensch, sie wollen immer sagen: das Lebben, die +Welt, der Gott. Ihre Menschen, sie fragen immer: Warum? Sie kümmern sich +so viel um sich selber und um der Welt ...« + +Da er innehielt, nach Worten suchend, sagte Georg: »Ja, gewiß, aber ist +das nicht noch stärker der Fall bei den Russen? Ich meine --« + +Der schöne, rote Mund im schwarzen Bart nahm ihm freundlich lächelnd die +Rede ab: + +»Sie saggen, was ich wollte. Auch der Rus--se, er denkt; er denkt an +Rusland. Alles ist Rusland, nur ist Rusland, und ist Rusenwesen, +Rusenleben. Nicht aber der Deutsche! Der Deutsche, er rechfertik sich, +daß er ist. Er sieht die Welt: Wie kam er herein? Was tut er? Was fängt +er an mit sich? Und er fragt: bin ich gut? Er hat viel Sennsuch nach +sich selber, der deutsche Mensch. Immer denkt er auf Besserung. Und er +muß immer vorher viel denken, ehe etwas kann geschehn. Sehen Sie,« fuhr +er eifriger und gütiger fort, »ich glaube an der deutsche Land,« -- er +lächelte, »was nicht heißen soll, ich glaube an der deutsche Staat. Sie +gennen Ihre Geschichte. Es hat gegebben ein Reich, Römisches Reich +deutscher Nation, das haben gemacht -- die Kaiser, gemacht hat es: die +Person. Nunn es gieb wieder ein Deutsches Reich seit viersig Jahr, das +hat gemacht der Gedanke, es hat selber gemacht: das Land. Fünfhundert +Jahre der Gedanke hat gedacht: Deutschland, und es mußte kommen Napoleon +und ihm sagen: Endlich fange an! und so fing es an, ein wenik, und es +dachte wieder nach, das Land, sechsig Jahr, da gab es ein kleines +Deutsches Reich. Ich hoffe sehr,« lächelte er erst Georg, dann Herrn +Töpfer an, »es wird immer denken lang--sam weiter bis in ein deutsches +Reich europäischer Nation, wenn es dann giebt nich mehr Sar, un Gaiser, +un Gönig.« + +Georg, die Arme untergeschlagen, saß still da, so sehr untertauchend in +das warme, schmeichelnde, dunkle Wallen dieser Stimme und die +Lieblichkeit, mit der die Gedanken darin zum Vorschein kamen, daß lange +Zeit verstrichen war, ehe er die Stille im Zimmer bemerkte. Er wußte +nichts zu sagen. Ein leises Gefühl -- wie Scham -- bohrte in seiner +Herzensgrube. Töpfer hatte sich mit heftig um einander gewundenen Beinen +seitwärts im Stuhl gedreht und hielt, die Stuhllehne unter der Achsel, +das Gesicht nahe darüber in den Schatten. Georg hörte den Levite wieder +und sah ihn auf dem Sofa sitzen, das Gesicht tief gesenkt, die Arme +unter dem Tisch, anmutig lächelnd: + +»Mir fällt ein: ein Freund von mir machte dies Gleichnis: Legen Sie hin +vor einen Engländer, einen Deutschen, einen Russen, einen Franzosen, +geschrieben das Wort Ich, und er soll dahinterschreiben ein -- wie heißt +es? -- ein Verb, was werden diese schreiben? Der Engländer, -- er wird +schreiben, serr einfach: Ich bin. Der Franzose, gleich -- schreibt: Ich +lie--be! Der Russe, er schreibt, -- er besinnt sich, er schreibt: Ich +sün--di--ge ... Der Deutsche, -- nun, Sie wissen serr genau, was er +schreibt, wenn er nicht sagt: Ich werde gehen und denken, was ich werde +schreiben ...« + +Sie lachten sich an und freuten sich miteinander. In das Gelächter +scholl ein leises Pochen an der Tür, Georg drehte sich im Stuhl und sah +Frau Wisch mit einem Brief in der Hand, den sie ihm hinstreckte: »Sie +missen unterschreiben, Herr Topf, -- ein Brief für Sie!« + +Georgs Herz schlug wild, er nahm das Papier und einen Tintenstift, den +sie ihm reichte, unterschrieb auf dem Tisch, bat dann die Herren, ihn zu +entschuldigen, und ging hinter Frau Wisch her, in sein Zimmer. Lange +mußte er nach den Streichhölzern tasten, bis er sie auf dem Absatz des +Bücherschranks fand. Endlich brannte die Lampe, er riß den Brief auf, +ein Schreiben fiel heraus, er entfaltete den großen Aktenbogen, sah +schön geschwungene Schriftzüge, Unterschrift -- das Hofmarschallamt, ein +unleserlicher Name, er klaubte eilfertig Worte heraus: + + »... gnädigstes Schreiben ... ehrerbietigst zu beantworten ... + Kenntnis genommen ... Nachsuchen in den Archiven so lange + verzögert ... allerdings gefunden ... dürfte aber von einer Art + scheinen, daß die Verwirklichung sich nicht ohne Bruch der + Reichsverfassung durchführen ließe ... und infolgedessen rätlich + sein, daß Euer Durchlaucht sich vielleicht gleich an die hierfür + zuständige Stelle ...« + +Was war das für ein Unsinn? -- War das Hohn? Was hieß das? + +Er legte den Bogen zusammen, entfaltete ihn wieder, las, fand keinen +Rat. Sollte der Vertrag ungültig sein? Aber sein Vater ...! Nun versteh +ich die Welt nicht mehr, murmelte er und sah sich dastehen wie Meister +Anton bei Hebbel ... + +Nicht ohne Bruch der Reichsverfassung ...? Er dachte an Töpfer. Aber wie +sage ichs ihm? Sein Herz klopfte heftiger. Sagen wir ihnen, wer wir +sind, dachte er hochfahrend und ging zur Tür. Er mußte plötzlich die +Stirn daran lehnen. Er suchte nach Gedanken, dabei fiel ihm ein, daß es +besser sei, ihm den Vertrag selbst zu zeigen, ging wieder zum +Bücherschrank, öffnete und fuhr zusammen, da Cordelias Rubinglas ihm +entgegenfunkelte -- -- drohend. Sich zusammennehmend, griff er in die +Tiefe hinter dem noch verschlossenen Türflügel, öffnete den Truhendeckel +und holte den Vertrag heraus, schloß die Tür -- mit dem Gefühl, er +schlösse eine Tür vor einem Menschen -- das Glas noch dahinter sehend +--, richtete sich auf, ging hinaus und klopfte bei Töpfer. + +Drinnen gab er ihm den Vertrag und bat ihn: sich das mal anzusehn. Kalt +und zitternd setzte er sich, nahm eine Zigarette und steckte sie an. +Töpfer las stillschweigend, es dauerte endlos. Aber er sah doch einmal +auf, lächelte hocherfreut zu Georg, dann auch zu dem Levite hin und +sang: + +»Ein sehr interessantes Dokument, das Sie da haben! Ist es echt? Aber +fabelhaft interessant! Also -- oder muß ich schweigen?« + +Da Georg nickte, fuhr er zu dem Polen fort: »Herr Topf, denken Sie, +giebt mir hier einen Vertrag zwischen dem ehemaligen Herzogtum +Trassenberg und dem jetzigen Großherzogtum Beuglenburg, aus dem Anfange +des vorigen Jahrhunderts. Damals wurde Trassenberg wie so viele andre +kleine Staaten mediatisiert und kam an Beuglenburg. In einem +Geheimvertrag aber, diesem, den Sie hier sahen, wurde beschlossen, daß +dies nur für hundert Jahre der Fall sein, daß danach Trassenberg wieder +selbständig ...« + +Er brach ab, während in seinen Zügen das gleiche Lächeln aufbrach wie im +Gesicht des Polen. Der streckte die Hand mit einer kleinen Verneigung +gegen Georg, nahm den Vertrag, sagte auch, immer lächelnd und den Kopf +wiegend: »Sehr interessant!« las da und dort und gab Georg das Papier +zurück. + +»Ich habe gehört,« sagte er, »von diesem Herzog Traßberg. Man nennt ihn: +der Genosse, es ist ein Scherz, aber er ist ein kluger Mensch, ein guter +Mensch. Wenn wären alle Fürsten ihm gleich, wir hätten längst -- der +soziale Staat.« + +»Ja, und nun,« sagte Georg ungeduldig, »was meinen Sie eigentlich von so +einem Vertrag?« Sich verwirrend, da es ihm widerstrebte, noch von seinem +Vater wie von einem Fremden zu sprechen, fuhr er fort: »Ich meine: gilt +er heutzutage oder ...?« + +Die Beiden lächelten wieder, und Töpfer sang hoch auf: + +»Da Sie, verehrter Herr Topf, dies Papier in den Händen haben, so sehen +Sie ja, was es wert sein mag!« Georg, zornig, als könnte er ihm doch das +Gegenteil beweisen, nahm das Schreiben des Hofmarschallamtes aus der +Tasche und gabs hin. Töpfer entfaltete es achtsam, las die Überschrift, +stutzte, las weiter, blickte auf und fragte mit den Augen. Georg, +lächelnd wider Willen: »Na ja, also ich bin der da!« + +Töpfer sprang auf, schlug die Hände zusammen, merkte aber alsbald die +Unordnung seiner radikalen Gefühle, ward hochrot und krähte: + +»Ja, da sage man nun gar nichts mehr! Herr Levite, der Herr Topf hier +ist der Prinz Trassenberg!« + +Der Pole lächelte hocherfreut, streckte Georg die Hand hin und +versicherte ihm seine Freude, ihn kennen gelernt zu haben. + +»Also Sie haben diesen Vertrag eingeklagt?« verwunderte Herr Töpfer sich +höchlich. »Aber da wundert es mich doch sehr, daß Ihr Herr Vater Ihnen +nicht abgeraten hat! Ja, nun sehen Sie mal an! Ein neuer Staat in +Deutschland -- bedeutet das nicht ein neues Mitglied des Bundesrats? O +lieber Herr Top-- verzeihen Sie nur! -- Herr -- glauben Sie, daß +Preußen, daß irgendein anderer Staat einwilligen würde, daß eine +Gegenstimme in den Bundesrat gerät? Da müßten denn doch schon sehr +schwerwiegende Gründe, sehr schwerwiegende, das heißt im Sinne der +Fürstenversammlung schwerwiegende Gründe vorliegen, wenn etwas +Derartiges ...« Die Stimme überschlug sich und zwang ihn, still zu +schweigen. + +Georg sagte: »So!« Er sprang auf und lief im Zimmer hin und her. + +»Ja, nun sagen Sie aber bloß,« sang hinter ihm Herr Töpfer, »warum +wollen Sie denn nun gerade Herzog werden? Nun, nun, Sie sind ja noch +jung und denken sich das so.« + +Da Georg keine Antwort fand, lange Erklärungen scheute, so begütigte +Töpfer sich selber, indem er meinte, es gebe ja viele gute Dinge im +Leben zu verrichten ... Er schien nun doch verlegen, der Levite schwieg +gänzlich, so raffte denn Georg seine Papiere wieder zusammen und bat, +leutseliger, als er sein wollte, erbittert auf sich selber, die Herren, +ihn zu entschuldigen, reichte jedem die Hand und wollte gehn. Der Pole +aber hielt seine Hand fest, legte auch die linke darauf und sagte, Georg +ganz einhüllend in die tiefe Wärme und Gutherzigkeit seiner Augen: + +»Ich sehe, Sie sind ein Aris--tograt, ich habe gern Aristograten des +Herzens, aber das will sein sehr gelernt. Gehen Sie su Ihrem Herrn +Vater, junger Prinz, grüsen Sie ihn, er gennt meinen Namen wohl, er ist +nicht su stolz bei meinem Gruß, sagen Sie ihm, daß er Sie soll lernen zu +sein gans Aristograt, so werden Sie gutt lebben, und es wird geben Glück +und Segen für eine Menge Volk. Leben Sie wohl!« Er drückte ihm innig die +Hand, und Georg ging. -- + +Ein breites, dunkelrotes Band schlug qualmend aus dem Lampenzylinder +nach oben; voll von schwarzem weichem Flockenfall war die Luft, so daß +Georg mit der Hand danach schlug. Er schraubte die Lampe tiefer und riß +das Fenster auf, atmete mit Heftigkeit die hereindringende Kälte, aber +der Rußflockenregen war unerträglich, er löschte die Lampe, ging hinaus, +nahm den Überzieher, den Hut vom Haken und ging auf die Straße. + +>... als nicht existent im Eigensinn -- bürgerlicher Konvention -- in +und aus ...< Was war das? Von Morgenstern. >An die Bezirksbehörde in +...< Es ging ihm schon lange im Kopf herum. Er glitt im Gehen aus, sah +den Bürgersteig mit einer pelzigen Schicht von Regenschnee bedeckt, von +Fußspuren zersetzt. Regentropfen wehten ihm kalt gegen das erhitzte +Gesicht. Oben schaukelten die Bogenlampen an den Drähten. >Untig +angefertigte Person -- -- als nicht existent im Eigensinn ...< Georg sah +den Polen und den Radikalen unter der Gaslampe sitzen, die Rede vom +Aristokraten klang ihm im Ohr, die weichgesummten S-laute, die reinen +Vokale und Konsonanten, die langsame Sprechart und wieder das Wort +Aristokrat, bei dem der Nihilist in seiner fremden Sprache wohl etwas +ganz anderes empfand als ... >als nicht existent im Eigensinn ...< Georg +kam nicht los von dem Unsinn ... >bürgerlicher Konvention<, redete es in +ihm fort. >Untig angefertigte Person, tief bedauernd nebigen Betreff +...< Er wollte nun die Teile zusammensuchen, aber es gelang ihm nicht, +immer wieder kam nur: als nicht existent im Eigensinn, Eigensinn, +Eigensinn! Endlich machte er einen Strich, strengte sich an, den +Vertrag, die Herren im Zimmer zu sehn, und hörte Töpfer sagen: -- daß +Ihr Herr Vater Ihnen nicht abgeraten. -- >Untig angefertigte ...< Ein +Rätsel, ein reines Rätsel. Das Gegenteil hatte sein Vater getan! -- +Georg glitt wieder aus, fand sich vor einer Querstraße, fand sich +unfähig, hinüberzugehn, fröstelte, drehte sich im Winde und machte +kehrt. Schwer mit dem Winde kämpfend, ging er zurück. + +Der dunkle Korridor lag warm und still; an seinem Ende die Mattscheibe +in der Tür leuchtete nicht unbehaglich. Die da saßen, waren gute +Menschen, ihre Herzen waren die weichsten, und sie waren doch Radikale +und Nihilisten. Ja, weshalb auch nicht? dachte Georg ermattet, indem er +sein Zimmer betrat. Kalt wars drin, aber in der Gegend der Heizung +glühte noch immer die Luft. Er schloß das Fenster, machte Licht, fand, +daß Tisch, Bett, Papier, alles mit Ruß bedeckt war, und streckte sich +auf dem Sofa aus. + +Also es war nichts mit den Sternen ... + +>Korff erhielt vom Polizeibüro< --, fuhr es hell durch ihn hin. Er gab +nach und fuhr fort: >-- ein geharnischt Formular -- Wer er sei, und wie, +und wo.< -- Da riß es wieder ab; er tastete ... >Ob ihm überhaupt +erlaubt, hier zu wohnen ...< + +>Wieviel Geld er hat, und was er glaubt.< -- + +Wieder zu Ende. + + >... und + Drunter stand: Borwosky, Heck. + Korff erwidert schlicht und rund ... + ... meldet laut persönlichem Befund + Untig angefertigte Person + Als nicht existent im Eigensinn + Bürgerlicher Konvention ... + + ... vor und aus und zeichnet, wennschonhin + Tief bedauernd nebigen Betreff ...< + +Nein, jetzt kam: + + >... vor und aus. An die Bezirksbehörde in --. + Staunend liests der anbetroffne Chef.< + +Georg schnaubte ein Lachen durch die Nase, das er nicht empfand. >Als +nicht exist-- --< na, nun wars schon genug! -- Plötzlich fuhr er hoch +und rieb sich die Augen. Er war am Einschlafen gewesen. -- Ich verstehe +Vater nicht, dachte er kopfschüttelnd. Was hat er dabei gedacht? Er hat +ihn mir doch selber gegeben? -- Ach, gleichviel, gleichviel, es war aus, +und damit gut, gut, gut! + +Georg glaubte zu verkommen an Überdruß über sich selbst. Zum Weinen +verbittert gedachte er Renates. Erst vernachlässigte ich sie über +Esther. (Ach, ich glaube, ich hätte Esther heiraten sollen!) Dann +bildete ich mir ein, ich weiß nicht mehr, weshalb, ich dürfte erst +wagen, Renate in meine Kreise zu ziehn, wenn alles gesichert sei. Ich +wollte ihr ja das Herzogtum zu Füßen legen. So gehörte sichs. Ah, dazu +führten nun meine nationalökonomischen Studien! Keine Ahnung, daß ein +Vertrag nach hundert Jahren noch einer ist. Ach, ich bin müde und will +schlafen, dachte er, sich ergebend, knöpfte die Weste auf und trat an +den Tisch, um den Inhalt seiner Taschen darauf zu legen, Uhr und Kette, +Feuerzeug, Brieftasche, Schlüsselbund, Taschentuch. Da lagen die Blätter +über die Zustände von Herrn Topf auf dem Bett. Er nahm sie, stopfte sie +in die Lade. Da mußte er sich im Zimmer umsehn. Ja, hier lebte er seit +ein paar Monaten und hatte sich, von allem Tiefsten abgesehn, ganz wohl +darin befunden. Gegen früher war nichts verändert. Er gähnte, dachte an +Helenenruh, an grüne Wiesen, an gackernde Hennen. Ach, die ersten +Ferientage der Kindheit, das fremde Erwachen in Helenenruh, Sonne im +Zimmer, draußen das ganz sonnige Gackern der Hennen, der krähende Hahn, +ganz fern die jungen Hähne im Dorf, und dann der erste Blick aus dem +Fenster, damals, als ich noch im Nordflügel wohnte, auf die Felder +hinaus, die leise wogten, und mitten drin die Dächer vom Dorf, der +Kirchturm, und unten vorm Fenster schritten die gesprenkelten Hennen, +scharrten mit dem Fuß, sahen links und rechts und gingen weiter ... + +Und daß alles dies eigentlich gar nicht mir gehört ... + +Er hielt die ausgezogenen Hosen in der Hand, ging nun zum Schrank und +hängte sie hinein, nahm Rock und Weste vom Sofa und hängte sie fort, +setzte sich und begann, die Stiefel auszuziehn. Den ersten +niedersetzend, erinnerte er sich Magdas, ganz sehnsüchtig. Vielleicht +liebte ich doch sie am meisten, besann er sich trübe. Er zog den zweiten +Stiefel vom Fuß, setzte beide unters Bett, zog die Steppdecke zurück und +holte das Nachthemd hervor. Nun kann ich ja also zu meinen rohseidenen +Schlafanzügen zurückkehren, dachte er verloren. Ich glaube, morgen fahre +ich nach Altenrepen. Vielleicht kommt auch morgen ein Brief vom Vater. +Da durchkreuzte sich dies Wort mit dem Gedanken, daß sein Vater nicht +sein Vater sei, die Galle stieg ihm hoch, er schleuderte das Taghemd von +sich, streifte das Nachthemd über, blies hastig die Lampe aus, merkte, +daß er noch in Unterhosen und Strümpfen war, streifte sie ab, warf sie +aufs Sofa, legte sich ins Bett und schlief gleich darauf ein. + + + Fünftes Kapitel: März + + + Wiedersehn + +Georg, in einem dumpfen, verbitterten Traumzustand seit Tagen, jetzt +durchbohrt von Ungeduld, in andre Kleider und zu Renate zu kommen, +verließ den Berliner Schnellzug und schob sich durch vielerlei +Reisemenschen die Treppe hinunter und durch den Tunnel in die große +Halle, doch heimatlich berührt vom Altenrepener Gesicht. Er trat in +eines der Portale, sah nachmittäglichen Sonnenschein auf dem alten +Platz, es war warm und roch nach März. Da! Esther! durchfuhrs ihn, -- +aber sie war ja tot ... Aber die da vor ihm im Wagen saß, nein, Esther +war es ganz und gar nicht, nur ihr Mund wars mit dem süßen, +schwärzlichen Flaum an den Winkeln; das Gesicht war ähnlich blaß und +zart, wie es häufig das Esthers gewesen war. Diese saß im Rücksitz des +weiten Kaleschwagens -- ein großes schwarzes Pferd stand stämmig und +ruhig davor -- tief hineingelehnt, in schwarzem glatten Pelzwerk; die +Spitze ihrer Nase war zarter und hochmütiger gekrümmt als Esthers Nase; +sie trug einen schwarzen Hut aus Filz mit hochgebogener Krempe, +postillionartig, und vor ihr, einen Fuß auf dem Wagentritt, stand ein +Herr im Pelz und sprach mit ihr. Nun bewegte sie das Gesicht her, und +Georg sah in dem kleinen Dreieck erschreckend groß die Augen mit sehr +langen Wimpern von --? -- Gott, wie hieß sie denn noch? -- Schley, Virgo +Schley! -- Ein Träger, Taschen unter dem Arm, einen Koffer auf der +Schulter, schob sich dazwischen, aber ihre Augen kamen unverändert +hervor, unverändert in der Richtung auf die seinen, ohne Erkennung +darin, -- und nun er selber, er dachte nichts mehr, fühlte nur und +erwiderte ein wunderbares, tiefes Anschaun, das dauerte -- -- dauerte -- +--. Jetzt wandte der Herr sich um -- war er ihrem Blick gefolgt? -- +Georg sah undeutlich sein Gesicht, es schien ihm bekannt, es war Schley. +-- Der nahm den Zylinder ab, trat auf ihn zu und sagte: »Georg, lieber +Junge, seh ich dich wieder?« + +Überrascht und erfreut sah Georg das Einglas aus dem langnasigen Gesicht +tropfen. Sie schüttelten sich die Hände. Die Frau im Wagen hatte sich +aufgerichtet und sah herüber. + +»Ja, wie ist es denn mit dir?« fragte Georg, »du mußt entschuldigen, ich +weiß nichts Rechtes, ich habe so für mich gelebt ...« + +Der Adel sei dahin, sagte der Freiherr, sonst nichts; er habe ihn seinem +guten alten Papa mit in den Sarg gegeben. + +»Ja, und nun bist du Abgeordneter, nicht wahr?« + +»Jawohl, jawohl, für den Fortschritt, vorläufig, jetzt will ich eben +nach Berlin, es ist noch Zeit, komm, ich stelle dich -- ah, du kennst ja +meine Frau!« + +Er zog Georg zum Wagen und sagte: »Hier ist der Prinz Trassenberg, du +erinnerst dich wohl? Ja, hör mal, Georg --« + +Sie reichte ihm die Hand. Lachte leicht und sagte: + +»Damals sahen Sie aber hübscher aus, -- was haben Sie denn für Falten +bekommen? Daß wir Brüderschaft getrunken haben, hab ich aber vergessen!« + +Hatten sie Brüderschaft getrunken? -- »Schade,« meinte Georg, »aber ich +verdiene es wohl nicht -- für damals.« + +Georg hörte Schley lachen und von jenem Abend reden. -- Wie seltsam +ängstlich ihre Augen waren. -- Ihr Mann blickte auf die Uhr, meinte, es +würde Zeit für ihn, und küßte seiner Frau die Hand, ermahnte sie, guten +Mutes zu sein, drückte Georg die Hand und ging. Nun stand Georg näher +vor ihr, sah auf sie herab, aber sie sah ihn nicht an, sondern nach +drüben hinaus. Endlich blickte sie auf: ob es ihm recht wäre, sie habe +ein Stück die Allee hinunterfahren wollen. Oh, das sei reizend, meinte +Georg, da wohne er ja. Er setzte sich in die andre Ecke des Rücksitzes, +der Kutscher sah sich um, der Wagen setzte sich langsam in Bewegung. + +Georg vermied es, sie anzusehn: sie hielt das kleine Gesicht gesenkt, +drückte zuweilen den kleinen schwarzen Muff dagegen, sprach kein Wort. +Auch wars allzu lärmend herum, der Verkehr drängte fast in den weit +offnen flachen Wagen, vorüber- oder mitfahrende Radler sahen zu ihnen +herein, eine lange Zeit blickte vom Hinterperron einer Trambahn ein +Halbdutzend Augenpaare auf sie herunter, nun waren sie über den Platz am +Café und rollten leichter die breite Straße hinab, plötzlich blendend +überflutet vom Untergang der Sonne, in die sie gerade hineinfuhren, die +alles umher glühend färbte und Georg zwang, sich im Wagen auf und +vornüber in den Schatten des Vordersitzes zu setzen. + +Virgo Schley, dachte Georg. Eine Waise, hatte er gehört, die +Adoptivmutter eine sondre, alte Frau, -- der Vater des Freiherrn hatte +sich vor kaum drei Jahren erst den Adel gekauft, der war freilich nicht +viel wert. Langsam kehrte ihr erster Blick in ihm wieder, wie war der +doch geschwisterlich gewesen, heimatlich ... Da lenkte der Wagen auf die +andre Straßenseite und hielt gleich darauf. + +»Ach,« hörte er sie leise sagen, »hier ist ja der Obstladen ... ich +wollte ... bitte, helfen Sie mir heraus.« + +Georg sprang eilfertig auf den Bürgersteig und hielt ihr die Hand hin, +sie streifte, als koste es sie die schwerste Anstrengung, die Decke von +den Knien, erhob sich, -- und Georg konnte nun die leichte Schwellung +ihres Leibes sehn, wie der Kleidrock sich, von der Decke unten gehalten, +straffte: sie war guter Hoffnung. Schwer auf seinen Arm sich stützend, +stieg sie mit unendlich langsamer Vorsicht aus. Im Laden kaufte sie +unter hundert Zweifeln, Zurücknahmen und Änderungen eine Menge Trauben, +Ananas und Birnen, so schöne, gelbe, daß Georg, auch aus Mitleid mit der +Verkäuferin, für sich einige von ihnen kaufte. Als sie wieder im Wagen +saßen, war sie völlig erschöpft, lachte aber nun ein wenig über sich +selbst und fing an zu plaudern, fragte, ob Georg noch studiere, ob er +Berlin nicht hasse, und Georg wurde redseliger und versuchte, ihr diese +und jene absonderliche Schönheit von Berlin zu beschreiben, so einen +Frühlingsabend, wie er ihn eben noch gesehn, wenn in den Körben der +Verkäuferinnen in den schon grauen Straßen die Blumenberge leuchteten, +gelb von Primeln und Narzissen, feuergolden von Tulpen und blaurot von +Rivieraveilchen, und dann die gewaltigen Schattenmassen der Häuserblocks +mit ihren Schloten und Türmen in einer brandigen, schwärzlichen Röte, +die ins sanft Klare rauschte, in durchsichtig weißes Gold, und über +allem der grüne Himmel, locker bemalt mit vergehenden silbernen Rändern +von unsichtbaren Wolken, höher hinauf so blau wie das Meer auf +japanischen Holzschnitten. + +Sie rollten schon auf dem Fahrweg neben der kahlen Allee; angenehm +trabten durch die Stille die großen, ebenmäßigen Hufschritte. -- Da bist +du nun ... hatten ihre Augen gesagt -- da bist du nun -- da bist du nun +... Ein süß beklemmendes Mitleid bedrängte sein Herz. Bereitete sich +hier der Frühling vor, den er eben beschrieb? Nacktschwarz und wie +hineingesteckt standen die Gesträuche auf dem graugrünen Rasen, der +Himmel war rein und leer; Georgs Gesicht wurde im Fahren durch +entgegenschwimmende laue und kühlere Wellen gezogen. Schwere Krähen, wie +aus Metall gemacht, schritten im weichen Grasboden, spreizten die +Fittiche auf, grün schillernd im Schwarzen, sprangen ab, schwebten zwei +Schritte überm Boden ein Stück, landeten hart und in kurzen Sprüngen. +Ach, nicht denken, stammelte Georg innerlich, nichts denken! Einfach +hinnehmen! Wie entsetzlich war dieser Winter! -- Ich will sie in mein +Haus tragen, sie ist ja wie ein verkümmerter Vogel. -- Er sah sie wieder +an und sagte sich: Ich werde sie lieben -- so wie Esther --, ich kann +nicht anders, mein Herz folgt einmal jedem Stern, um so lieber, je +zarter und hülfloser er scheint, ich muß immer brüderlich sein und +beschützen. Nun, der Wagen rollte von selber den Weg durch die Anlagen +hinunter, schräg auf die Sternwarte zu. Georgs Herz fing an zu pochen, +sie kamen näher, das Schlößchen wurde sichtbar, da standen die +Kandelaber, Gott sei Dank, er war wieder zu Hause. + +»Bitte, halten Sie«, sagte er zum Kutscher, als sie in der Nähe der +kleinen Tür waren, und faßte sich ein Herz. »Ach, bitte, kommen Sie nun +mit, ich zeige Ihnen meinen Garten ...« + +»O, wie gerne!« sagte sie gleich, kindlich erfreut, und siehe da, es +ging durchaus leichter diesmal mit dem Aussteigen, und sie lief mit +kleinen, leichten Schritten neben ihm her. -- + +Lächelnd erschien der blasse Egon. -- Das Zimmer war vorbereitet, Blumen +in allen Vasen -- alles war wie einst. -- Sie sah sich neugierig um, den +Kopf drehend. »Wie hübsch ist es hier!« meinte sie; sonderbar, das hatte +doch noch niemand gesagt! -- »Die Menge Bücher! Lesen Sie so viel? -- +Später werden Sie mir vorlesen, mögen Sie gern Verse? Ich mag nur +Verse.« + +Ach, da war nun ein Mensch, der nicht das geringste von ihm wußte, und +er von ihr -- -- ja, was war da wohl viel zu wissen. Sie war ganz dicht +zu ihm getreten und sah zutraulich zu ihm auf; ganz rasend überfiel ihn +das Verlangen, sie in die Arme zu schließen, er sah, daß sie einen +Handschuh ausgezogen hatte, ergriff ihre Hand und zog sie zum Munde +empor. Da sie nicht wieder fortgezogen wurde, küßte er sie langsam von +allen Seiten -- o wie war sie glatt und warm und weich und lebendig, +ohne Ring, ohne alles! -- küßte den Rücken, das Gelenk, die Finger +einzeln, den kleinen, weichgekrümmten Daumen, der ein kleines, runzliges +Gesicht hatte. + +»Ja, was machen Sie denn?« hörte er sie nach einer Weile fragen. Klein +stand sie vor ihm, den Arm hochhaltend, die Brauen ein wenig gerunzelt, +aber der Mund lächelte -- lächelte atemberaubend. + +»Soll ich nicht?« fragte er. + +»Ach, warum nicht,« meinte sie achselzuckend, »wenn es Freude macht. +Aber nun muß ich sitzen.« + +Georg mußte ihr einen Sessel vor die Gartentür schieben, dort versank +sie, zog auch den andern Handschuh aus, aus dem ein locker sitzender +Reifen von Gold zum Vorschein kam, den sie gleich abzog und ihm gab. Er +sollte ihn auf den Tisch legen, er sei ihr immer zu schwer. »Aber nicht +vergessen nachher, daß ich ihn mitnehme!« rief sie leicht und lachte in +sich hinein. + +Georg war ratlos. Sie war ja ein Kind -- und Mutter -- -- und hieß +Virgo? -- Sie legte die Handflächen gegeneinander über dem Muff im +Schoß, neigte das Gesicht und sah nach oben, gegen den verblaßten +Himmel, großen, gläubigen Auges. Bald darauf nestelte sie den Hut los -- +es sei ihr alles zu schwer --, fuhr mit den Händen ins braune Haar, das +kurzgeschnitten war und lockig um das kleine dreieckige Gesicht stand; +im Nacken war sie völlig ein Knabe. Sie sah wieder gradaus; Georg, nicht +weit hinter ihr an der Schreibtischkante lehnend, konnte die Augen nun +nicht mehr wegwenden von ihrem Gesicht, und bald kamen die ihren langsam +herbei. Die Nasenflügel blähten sich ganz leise auf, Georg sah es +deutlich, -- es erinnerte ihn an -- an ein Kind, das sich im Schlaf +bewegt, aufatmet und tiefer schläft. + +»Heißen Sie wirklich Virgo?« fragte er. Sie nickte lächelnd. + +»Komisch, nicht?« Ernster dann, und mit seltsam tiefer Stimme, und doch +nicht ohne -- ohne etwas Verlockendes in Blick und Stimme, sagte sie: +»Denken Sie nur! Ich hatte keinen Vater und keine Mutter, eine alte Frau +nahm mich zu sich, die nannte mich Virgo.« + +»Pflegt sie nicht in Hosen zu gehn?« fragte Georg, sich dunkel +erinnernd, »und Pfeife zu rauchen?« + +Virgo lachte. Sie wäre selber immer in Hosen gegangen, es sei herrlich, +und ihre Stiefmutter sei um die Wette mit ihr geritten und habe Hurra +geschrien, Georg sollte sie kennen lernen. Nach einem Schweigen sagte +sie süß und ganz langsam: »Georg ist ein schöner Name!« -- + +Georgs Herz fiel in Stücken auseinander. Cordelias Worte ... Himmel, +diese Wiederholungen! -- Schwer sich bewegend, nahm er einen Stuhl, er +glaubte, sie nicht mehr ansehn zu können, setzte ihn neben ihren Sessel +und ließ sich nieder. Ein Weilchen später legte er seinen Arm auf das +weiche Lederpolster der Lehne ihres Sessels, und es dauerte nicht lange, +so glitt eine leichte, warme Flocke darauf, ihre Hand; ihre Finger +schoben sich in die seinen, sie sagte ganz leise wieder: + +»Ich habe mich immer« -- jetzt ward ihre Stimme ganz tief -- »so +namenlos gefürchtet vor -- dem Kind. Am meisten vor Wolfgang --« Die +Stimme wechselte wieder und tönte hell: »-- nun bei Ihnen ist es gut, +und ich kann alles vergessen.« + +Georg rührte sich nicht. Ihm war sonderbar zufrieden zumut, ja, +glücklich. Dies Kind eine Weile zu schützen, das war sehr gut. Er +glaubte, getrost den Arm um ihre Schulter legen zu können, obwohl er es +seinetwegen tun mußte, nicht ihretwegen, aber kam es nicht allein darauf +an, wie sie es empfand? -- So löste er die Hand aus der ihren, legte +dafür die andre hinein und den Arm um ihre Schulter. Als sie sich gleich +tiefer hineinlehnte, mußte er sich sagen: Sie trägt ja ein Kind -- wie +kann sie mich empfinden? -- So saßen sie schweigsam zusammen, sahen die +Schar der qualmenden Fabrikessen in der Ferne langsam undeutlicher +werden in der sinkenden Dämmerung, fühlten warm ihre Hände und waren +jeder -- Georg sprach es sich aus -- in einem Reich für sich -- aber +doch hielten sie einander und spürten Wohltat. -- Als es fast dunkel im +Zimmer war, machte sie ihre Hand frei und flüsterte, sie müsse gehn, sie +würde erwartet. Sie erhob sich dann, Georg reichte ihr den Hut, sie +setzte ihn auf, nahm Handschuh und Muff aus seiner Hand, stand noch ein +Weilchen und sah sich um. Dann ging sie leicht hinaus. + +Aus dem Wagen die Hand streckend, sagte sie nur: »Ich komme bald +wieder.« + +»Morgen?« fragte Georg. + +Sie lachte hell und kindlich: »Morgen früh! Los, Krischan!« rief sie dem +Kutscher zu. Hinter dem davonrollenden Wagen erschien im Dunkel der +Bäume langsam das kleine, bläßliche Dreieck ihres Gesichts fast wie ein +leerer Wappenschild, in dem dann langsam die beiden Augen aufgingen. +Georg suchte schwereren, aber nur von süßer Ratlosigkeit und Hoffnung +schweren Herzens sein Zimmer wieder auf, setzte sich an den +Schreibtisch, und etwas fiel zu Boden, rollte und blieb klirrend liegen. +So --! Ihr Ring -- natürlich hatten sie ihn vergessen. Er suchte, fand +ihn nicht, machte Licht und sah ihn vor der Bücherwand liegen, +glänzenden Auges wie ein erwischter Igel. Er hob ihn auf, trat zur +Lampe, ließ sie aufflammen und suchte nach einer Schrift im Innern des +Reifens. Wolfgang Theodor stand darin, 24. Mai. -- Georg wog den Ring in +der Hand, schob ihn dann in die Westentasche, dachte: Ich will ihn ihr +bringen, dann seh ich sie gleich -- --, aber er entschlug sich des +Wunsches. Da lag die Tüte mit Birnen auf dem Tisch. Ja, Birnen! dachte +er erfreut, drehte den Sessel, in dem sie gesessen hatte, gegen das +Licht, holte eine Birne hervor, riß durstig den Stiel aus und biß von +oben hinein wie als Junge. Der Saft tropfte, er verschlang sie mit +Stumpf und Stiel atemlos und griff nach einer zweiten. Indem er sie in +der Hand wog, hörte er sagen: Das sind so Sexualitäten. -- Er lachte +schnaufend durch die Nase. Wo hatte er das --? Richtig, in jenem +Tanzsaal in Halensee, zwei solche Handlungsgehülfen standen zusammen, +und als zwei Mädchen vorbeitanzten, fragte der Eine: Was sind das für +welche? Ach, das sind so Sexualitäten, sagte der Andre. -- Georg zertrat +den Gedanken ergrimmt. Sie ist Mutter, dachte er, ja, wie ist das zu +glauben? Da war ihr knabenhafter Nacken, ja, so mußte Marias Nacken +gewesen sein und so geneigt, als der Engel eintrat und die Lilie gegen +sie neigte, und sie konnte nichts begreifen ... + +Nein, keine Birne mehr! sagte er. Die erste war unübertrefflich, eine +Birne ist besser als zwei Birnen, das ist klar, Wiederholung wirkt +tödlich. Oh, und nun wird es womöglich eine Wiederholung Esthers geben. +-- Die Frucht in der Hand, die langsam warm wurde, sah er ins Licht und +dachte: Liebe Esther! Es war ihm, als hielte er eine Hand umschlossen, +langsam begann es in ihm zu wogen, auf einmal hielt er die Worte: Wer +noch so jung ist wie du ... Weiter ... Wie weiter? -- Wer noch so jung +ist wie du -- Fühlt noch der Schmerzen Gewalt ... Behutsam stand er auf, +legte die Birne fort, setzte sich vor den Schreibtisch, nahm Bleistift +und den Notizblock und schrieb: + + Wer noch so jung ist wie du, + Fühlt noch der Schmerzen Gewalt; + Später wird alles gelinde, + Gram und die Lust und der Tod. + + Geh auf die Flamme nur zu ... + +Wie nun? Sollte auf die ersten Zeilen gereimt werden? Er fand: + + Blasse, geliebte Gestalt. + Flamme verzehrt nur ... + +Er suchte ... Not, Rot, blinde, Binde, Gewinde, umloht, bedroht ... Ja! +Und er schrieb: + + Flamme verzehrt nur die Rinde, + Aber du bleibst unbedroht. + +Damit war es aus. Laß ihr die goldenen Schuh ... fing er noch wieder an, +aber er merkte, es war nichts mehr, und dann warf er wütend den Stift +hin und hätte sich mit Entzücken selber auf den Kopf gespien. Das +verfluchte Sieb ist es ja nur! verschwor er sich, das verfluchte +Berliner Sieb, durch das man seine Empfindungen rührt; unten tropfen die +Verse heraus, und in der Brust bleibt nichts zurück als Schale und Satz, +und man ist so kalt, so schlaff und so traurig wie nach dem +Liebeskrampf. Herrgott, Herrgott im Himmel, was soll bloß aus mir +werden! -- + +Aus seiner verzweifelten Erstarrung weckte ihn das Geräusch des blassen +Egon im Eßzimmer, der den Tisch für den Abend deckte. Er sprang auf, +trat zur Gartentür, öffnete sie und tat zwei Schritte in den Garten. In +der kalten Stille stand das Gesträuch und das Geäst der Bäume +regungslos, kaum sichtbar; sichtbar nur oben, wo weiße Sterne waren. + +Kommt nun wieder das Frühjahr, wieder die alte, seltene Lust, die immer +neue, die nie bekannte? Kommen wieder die Schwalben und wecken das Herz, +lieblich tönend im leichten Raum, und kommt das große Sprießen über die +Erde und das Buschwerk, in dem Vogelstimmen laut werden, als wären sie +gewachsen im Gezweig? Kommt wieder über das empfindungslose Herz der +allgemeine Schauder, kommen wieder Winde und Gewölk, die Musik der +Halmefelder, und kommt auch wieder, wieder das alte Hoffen? + +>Und so verbürgt es die Form der Sonnenblume<, hörte er tonlos sagen. +Ihn fror leicht. Er ging ins Zimmer zurück, trat an die Bücherwand und +suchte Carossas Doktor Bürger. >Und so verbürgt es die Form der +Sonnenblume<, das war der Ausgang des Satzes, aber wie hieß es ganz? Das +Buch war nicht zu finden, vielleicht hatte Benno es genommen. Da stand +Egon in der Tür. + +»Weiß Herr Prager, daß ich zurück bin?« Egon zuckte die Achseln. Er habe +für ihn gedeckt. -- Georg ging nach nebenan, hörte aber jetzt das +Telephon anwecken, ging wieder zurück, hob den Hörer auf und sagte: +»Georg Trassenberg.« + +Eine kleine, fremde Stimme fragte: »Georg?« + +Wer war denn das? Ach, um Gottes willen ... »Virgo?« fragte er. + +Er hörte sie leise lachen. »Wie gehts Ihnen denn?« fragte sie. + +»Ach, wunderbar!« versicherte er, »wunderbar!« + +Eine Weile wars still, er wollte eben fragen, ob er nicht kommen dürfe, +da hörte er sie sagen: »Lieber guter Georg, ich konnte es eben gar nicht +sagen, ich wollte ...« Sie verstummte. + +»Was denn?« fragte er liebevoll. + +»Ich habe die ganze Zeit denken müssen, wir haben doch Brüderschaft ...« + +»Ja, Est--,« brach es aus seiner Brust auf, »-- ja, Schwesterchen, ja, +ich habe es auch immer gedacht.« + +»Wie schön!« sagte sie aufatmend. »Da werd ich einmal gut schlafen +heut.« + +»Ja, das mußt du auch«, bekräftigte er sänftlich. + +»Dann, gute Nacht!« + +»Gute Nacht, kleine Schwester!« + +Georg legte den Hörer hin, stützte die Knöchel auf die +Schreibtischplatte, starrte vor sich hin. + +So ist es gut, murmelte er tonlos, so ist es gut -- so -- ist -- es -- +gut -- -- + + + Neuigkeiten + +Georg sah beim Betreten des Arbeitszimmers, links nahe der Treppe, zu +seiner Begrüßung zurechtgestellt, einen langen Gehrock, davor eine Hand, +die einen umflorten Zylinder hielt, und darüber eine goldene Brille, +streckte die Hand aus und sagte: »Herr Hofkammerrat?« + +Der verbeugte sich, nicht eben sonderlich tief. Unterhalb der Brille +erschien jetzt das nach unten zurückfallende Kinn; kein Bart, ein +ältliches Gesicht mit rötlichen, kleinen, scharfen Augen ohne Brauen und +Wimpern, vielleicht -- jesuitisch. Im Zimmer klang es trocken: + +»Durchlaucht -- --, ich komme vom Beuglenburger Hofe, -- mit einer +Trauernachricht.« + +Georg zuckte zusammen. Beuglenburg ... Trauer ...? Er war am +Hofkammerrat vorüber zum Schreibtisch gegangen, drehte sich nun langsam +herum, hörte: + +»Ich bin Überbringer der traurigen Nachricht vom Ableben Seiner Hoheit +des Erbprinzen Adolf Emil; er verschied gestern abend gegen sieben Uhr +nach langem schwerem und mit unsäglicher Geduld ertragenem Leiden.« + +Die ruhige und trockne Stimme erlosch. Georg glühte auf am ganzen Leibe +und zitterte über und über, -- warum bloß? Was war -- --? Da hörte er +sich schon sagen: »Mein tiefempfundenes Beileid, Herr Hofkammerrat, das +ich auch Seiner königlichen Hoheit auszusprechen bitte.« Er setzte sich, +machte eine Handbewegung und drehte den Schreibstuhl herum gegen seinen +Besuch. -- Der Hofkammerrat setzte den Zylinder fort, sank in den tiefen +Sessel, lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und fing an, +die Handschuhe auszuziehn. Es sauste Georg in den Ohren, er wußte, daß +er etwas sagen mußte, er dachte, ohne es zu verstehn: Erbprinz, +Großherzog, Sigune. Eine dünne englische Stimme rief ganz fern durch +einen Garten: »Gunny! Gun--ny!« -- Mit aller Gewalt nahm Georg sich +zusammen, setzte sich grade, da verließen ihn alle Gedanken, er sah den +Grafen gelassen, tiefer als er, im Sessel sitzen; nun hob er die linke +Hand, weiß und flach, klopfte mit den Fingerspitzen gegen den Mund und +räusperte sich. Eine Redewendung schoß Georg auf, die er gleich +hersagte: er zweifle gleichwohl nicht, daß die Übermittelung dieser +Nachricht nicht der Grund sei für das persönliche Kommen ... Und nun +hatte er sich einigermaßen wieder. + +Die Stimme des Hofkammerrats war wieder hörbar, trocken und leicht +hinbewegt, fast herablassend. Er erklärte, es sei dem Prinzen +voraussichtlich bekannt, daß nunmehr von drei Kindern dem verwitweten +Großherzog noch eine Tochter Sigune, nunmehr im neunzehnten Lebensjahre +stehend, verblieben sei; als bekannt dürfe er wohl auch voraussetzen, +daß nach Zinnaschem Hausgesetz die Regierung erblich sei im Mannesstamm +des Hauses Siegen-Zinna nach dem Rechte der Erstgeburt bis zum letzten +Grade nachweisbarer Verwandtschaft mit der Linie, und daß die weibliche +Linie auch nach dem Erlöschen des Mannesstammes von der Erbfolge +ausgeschlossen bleibe. + +Georg hatte kein Wort verstanden. Er dachte verzweifelt nach. Der +Erbprinz ... Tuberkeln -- -- immer krank, richtig. Mein Vertrag, mein +Vertrag -- mein Vertrag -- -- Ihm war eiskalt. Wie bin ich denn verwandt +mit ...? Er glaubte, dunkel zu wissen, daß außer ihm noch ein Verwandter +... Derweilen fuhr der Hofkammerrat fort, vom Großherzog zu reden und +ihn einen armen, kranken, gequälten, der Geschäfte und des Lebens müden +Mann zu nennen, durch den Tod des Sohnes völlig gebrochen und gewillt, +schon jetzt zugunsten eines Verwandten auf die Regierung zu verzichten. +-- Nun komme ich, nun komme ich! schrie da etwas in Georg. Ja, -- der +Großherzog, -- magenleidend, von Kind an grämlich, trübsinnig, -- +sexuelle Anormalität ... verheimlicht ... Seine Frau machte einen +Fluchtversuch vor der Heirat ... armes Geschöpf! -- -- Erster Sohn kam +tot ... Sie starb ... Herzschlag -- -- oder -- freiwillig? -- + +Auf einmal hatte Georg das Gefühl, als ob ihn dieser Mensch unablässig +beobachte. Er zog sich im Stuhl zurück, kreuzte die Beine, ließ die +Mundwinkel fallen und sagte, da der Graf schwieg: »Bitte, reden Sie +weiter.« Der setzte die Ellbogen leicht auf, lehnte die Fingerspitzen +beider Hände zu einem Dach gegeneinander und sprach; seine Augen blieben +Georg unsichtbar hinter den zwei scharfen, weißen Ovalen der +Brillengläser; die Spiegelung der Fenster, auch Geäst waren darin +erkennbar. + +Er sprach nun von dem Vertrage, bedauerte obenhin die Unerfüllbarkeit, +meinte aber, es würde sich vielleicht ein andrer Weg finden zur +Verwirklichung von Georgs Hoffnungen. Dann sprach er von der +Verwandtschaft des Zinnaschen Hauses, nannte Georgs Vater, -- der habe +bereits früher aus einem gewissen Anlaß seine bekannten Grundsätze +offiziell betont, die ihm die Übernahme der Regierung unmöglich machten +... Ferner den regierenden Grafen Beuglenburg-Lipsch, Georg Egon, -- und +schließlich Georg selbst; der Grad der Verwandtschaft Beider mit dem +Hause Zinna sei genau der gleiche; immerhin sei der Graf bereits in +höheren Jahren, sei zudem zwar verwitwet, aber katholischen +Bekenntnisses und katholisch getraut gewesen, so daß eine neue Ehe +folglich ausgeschlossen sein dürfte ... Georg dachte noch, daß auch die +Zinnas katholisch seien, da schlug ihm das Satzende erst aufs Herz. -- +Ich soll Sigune heiraten! dachte er, bewegte gleichzeitig die Lippen und +hörte sich fremdartig sagen: »Ich bitte Sie nun, Herr Hofkammerrat, sich +Ihres vollkommenen Auftrages zu entledigen.« + +Nun ließ der seine Hände fallen, setzte sich im Sessel vor, faßte +flüchtig nach den Brillenstäben, entschloß sich dann, die Brille ganz +abzunehmen, kniff mit zwei Fingern den rotgesattelten Nasenrücken und +sagte, die goldene Brille ganz leise in der Linken hin und her bewegend, +-- er hat ganz gute Augen, dachte Georg, nun, wo er mich grade ansieht +--: + +»Mein königlicher Herr, der Großherzog, hat den innigen Wunsch, seine +Tochter als Ihre Gemahlin, Durchlaucht, zu sehn und damit Sie selber, +Durchlaucht, unter der Krone, -- unter einer Krone, welche die beiden +Lande, Beuglenburg und Trassenberg, vereinigen würde. Sollte Ihnen, +Durchlaucht, wie ich wohl annehmen darf, besonders an dem Titel eines +Herzogs von Trassenberg liegen, so --« schloß er ganz schnell und +oberflächlich, »würde sich das ja leicht ermöglichen lassen.« + +Georg mußte sich zusammennehmen, nicht durch die Nase zu blasen, und +glaubte, vor Wut zu explodieren. So. Nun kam es. Erst verzichtete man, +fand sich ab, fand sich hinein, ging seiner Wege, -- ja, erst hatte man +den schönsten Plan, arbeitete dran Jahre lang, rüstete sich, freute +sich, kam näher, und dann -- wars nichts. Dann -- fand man sich ab, war +schon ganz wo anders, und jetzt -- -- fing es wieder an, aber: zum +Nichtwiedererkennen abscheulich entstellt! Und -- und warum hat Papa nur +geschwiegen? Fast zehn Tage geschwiegen? -- Dumpf, hinter unbeweglichem +Gesicht die Zähne zusammenbeißend, hob er die linke Hand gegen das +Gesicht, betrachtete sie aufmerksam, konnte endlich fragen: + +»Bitte, -- ehe wir weitergehn, haben Sie vielleicht die Güte, mir zu +sagen, wie Prinzeß Sigune selber sich zu dem Wunsche ihres Vaters +verhält.« Mn -- dachte er, das war ein _Faux pas_, daß ich auf den +väterlichen Wunsch gar nicht eingegangen bin, aber das ist mir -- Wurst! + +Der Hofkammerrat lächelte. Ja, er lächelte ganz freundlich und sagte: +»Die Prinzessin hat selbstverständlich keine andern Wünsche als ihr +Vater.« + +Georg sah dies Mädchen, mager, eckig, unschön, allzublond, schrecklich +schüchtern, -- neun Jahre war sie damals. O lieber Gott, nein, diese +ganze kranke Familie! Sicher war sie mondsüchtig. -- Der Kammerrat +derweil sprach ganz freundlich weiter: + +»Die Prinzessin ist leider ein körperlich nicht besonders starkes Kind; +was aber die Natur hier versagte, das, kann ich wohl sagen, hat sie +durch eine reiche, innere Fülle, an geistigen, ganz besonders aber an +seelischen, an Herzensgaben ausgeglichen. Dies weiß vielleicht, ja ich +möchte ruhig sagen: dies weiß sicherlich niemand so gut wie ich, da sie +mir in langen Jahren ihrer -- leider -- allzueinsamen Jugend fast wie +ein eignes Kind geworden ist. Ich bin freilich eine -- ich möchte sagen, +philologische Natur, andre würden es auch nennen: lehrhaft, -- immerhin +-- die Prinzessin, --« er bog plötzlich ab und fuhr fort: »Ich selber +habe die Prinzessin von diesem sie betreffenden Ereignis in Kenntnis +gesetzt. Die Antwort, -- obwohl, wie ich der Wahrheit halber gestehen +muß, nicht leicht zu erlangen, war derart, wie ich -- nun, wie ich sie +erwarten durfte. Und meinen Standpunkt in dieser Angelegenheit werden +Durchlaucht bereits erraten haben.« Er hatte seine Brille wieder +aufgesetzt, stand auf, griff nach seinem Zylinder und sagte: »Ich habe +den Auftrag, Euer Durchlaucht eine Bedenkzeit von einigen Tagen zu +überlassen. Der Tod des Erbprinzen, so sehr er die Entschließungen +meines königlichen Herrn beschleunigte, bedingt einigen Aufschub. +Immerhin, sollten Euer Durchlaucht willig sein, auf die Ideen des +Großherzogs einzugehn, so möchte ich mir gleich erlauben, einen Besuch +Euer Durchlaucht in Zinna etwa nach Ablauf von drei oder vier Wochen in +Vorschlag zu bringen.« + +Georg hatte sich erhoben, stützte die Hände auf die Schreibtischplatte +und blickte angestrengt aus dem Fenster. Er fühlte die Wut verraucht und +sich kraftlos und müde. Ich könnte ihn gleich wegschicken, dachte er +gleichgültig. Ohne seine Stellung zu verändern, drehte er Schultern und +Gesicht nach dem Dastehenden herum und sagte möglichst ruhig und nicht +unfreundlich: + +»Ich möchte Ihnen keine allzugroßen Hoffnungen machen. Sie kennen mich +nicht, Graf, Sie haben vielleicht von mir gehört, jedenfalls -- ich bin +kein Mensch --« hier fiel ihm ein, daß gewiß schon Viele, in der selben +Lage wie er, die gleichen Worte gebraucht hatten -- »der sich --« er +wollte sagen: auf den Befehl eines alten Trottels, sagte jedoch kurz +abschließend: »auf Wunsch verheiratet.« + +Danach wandte er das Gesicht nach dem Fenster. Der Graf räusperte sich +hinter ihm. Er möchte nicht denken, hörte Georg ihn sagen, daß er eine +von dieser sehr verschiedene Antwort erwartet habe. Immerhin gebe es ja +noch andre Wege für den Großherzog, und Georg dürfe glauben, daß dieser +Weg kaum beschritten worden wäre, ohne Georgs eigne, vorangegangene +Initiative, die seine Absichten, zur Regierung zu gelangen, offenbart +hätten. -- Ja, also nun bin ich noch selber schuld! -- dachte Georg +gekränkt. + +»Also bitte,« sagte er, sich umdrehend und locker die Hand hinhaltend, +»kommen Sie morgen wieder.« + +Er fühlte seine Hand kurz ergriffen und wieder losgelassen. Der Graf +wich zur Treppe zurück, Georg folgte mit zwei Schritten empor und +öffnete, draußen stand Egon und öffnete die Haustür, Georg sagte Adieu, +schloß die Tür und blieb stehn. Das Gefühl, niesen zu müssen, ließ ihn +das Taschentuch ziehn, er schneuzte sich, nieste dann ein paar Mal +heftig, die Augen tränten ihm, er dachte: ich habe mich im Saal +erkältet. Nun fühlte er auch Schmerzen im Rücken, wünschte, sich +auszustrecken, aber es war kein Sofa da. Langsam ging er in sein +Schlafzimmer und legte sich auf das Bett. Im Fenster war der traurige +Märzhimmel und Geäst; er lag fast wie in Berlin. + +Sie kann ja einen Andern heiraten, und der kann Regent werden. Oder der +Beuglenburger Lipsch kriegt einen Konsens und heiratet sie. Ach, was +geht das mich an! Nein, ich bin diese Sache nun müde. Merkwürdig! fuhr +es durch ihn hin, habe ich eben wohl nur einen Augenblick bedacht, daß +ich der gar nicht bin, für den er mich hielt? Genug, genug mit dem +Ganzen! -- Er warf sich herum, fühlte seine Nase dumpf und verschlossen, +legte sich auf die Seite, das Gesicht nach der Wand und zog heftig Atem. +Langsam erleichterte sich das rechte Nasenloch und wurde frei. Ob Papa +dies alles wohl gewußt hat? -- fragte er sich plötzlich. Der Erbprinz +war ja immer krank gewesen. Oder weiß er vielleicht einen andern Weg? +Und wenn ich nein sage, was dann? -- Sein Kopf glühte, er stützte sich +auf den Ellbogen, die Nase war wieder fest verschlossen, die Mundhöhle +klebrig, und er drehte sich herum und sah nach dem Fenster; das +blendete, ah, kam doch die Sonne? Aufspringend, lief er zum Fenster und +sah nach oben. Ja, eine silberne, weißliche Quelle bewegte sich da oben +im Grau, Gewölk wurde sichtbar, die Bäume regten sich, nun fiel ein +blasser, gelber Streifen. Ach, wie sah auf einmal alles anders aus! -- +Ich bin so gräßlich nervös geworden, dachte Georg, so wie die Sonne +wechselt, fühle ich mich froh oder trübe. -- + +Er ging nun wieder ins Nebenzimmer und setzte sich an den Schreibtisch, +nieste heftig, schneuzte sich, -- die Sonne war wieder fort. Man könnte +es als ein Opfer ansehn, dachte er schwer. Renate, -- das war noch eine +Versüßung; und -- es war zuviel, ein Doppeltes an Gewinst, -- es soll +aber das eine sein, das reine Ziel. Ach, wie schön, wie schön hätte es +werden können! Beuglenburg obendrein -- was gab es da nicht alles zu +tun! Sigune -- --? Wer weiß, was sie heute für ein Wesen ist? Zart, +gutherzig würde sie jedenfalls sein, lenksam, willenlos. Freiheit genug +würde ihm bleiben. Und Renate -- sie konnte ja auch nicht wollen. -- +Vielleicht sehe ich sie mir einmal an; wenn sie gar zu schlimm ist, bin +ich stark genug, auch rücksichtslos zu sein. Möglich auch, -- ich sage +ihnen dann, wer ich in Wahrheit bin! -- Da sah er schon die ganze Szene, +Minister, Hofkammerrat, denen er schlichte aber klirrende Worte hinwarf. + +Aufstehend setzte er sich auf den Schreibtisch, streckte absichtslos die +Hand nach dem Telephon aus, und da er dies getan, nahm er auch den Hörer +auf und bat den Hausmeister, ihn mit Benno zu verbinden. Gleich darauf +hörte er Bennos Klavier, es brach ab, Schritte kamen, er sagte: »Benno?« +-- + +»Ja, hier bin ich«, antwortete Bennos Stimme. Georg sprach matt und +langsam weiter: + +»Ich soll heiraten, Benno, die Beuglenburgsche Prinzessin, ja. Und +Großherzog werden, -- ja. Na, was meinst du?« + +Benno, mit unterdrückter Stimme vor Erregung, sagte: »Ich bin außer mir! +Georg! das kannst du nicht! Das ist Gewalt!« + +Ach, der gute Benno, dachte Georg und wiegte sich, so ist die Sache denn +doch nicht in Fürstenhäusern. + +»Ja, lieber Benno, du drückst das ein bißchen stark aus. Wer was +erreichen will, muß Opfer bringen. Neigungsheiraten, weißt du, sind an +Fürstenhöfen sowieso verpönt. Denke, ich könnte König von Holland werden +oder dergleichen, -- und die Prinzessin ist vielleicht sehr nett.« + +»Ist sie schön?« fragte Benno. + +»Ich weiß nicht, ich glaube nicht; aber sie soll sehr gut sein. Ich kann +sie ja denn wenden lassen.« + +»Du bist ja gar nicht so zynisch, wie du tust, Georg!« + +»Ach, der Teufel«, schrie Georg, »soll da nicht zynisch werden! Na, +danke schön, Benno, ich wollte bloß mal hören ... Also du rätst ab?« + +Benno stammelte etwas, Georg lachte, er sollts schon gut sein lassen, +und legte den Hörer hin. Die Nase juckte ihm wüst, er bearbeitete sie +mit dem Taschentuch, indem er spöttisch dachte: Alles ist immer so +einfach für die Unwissenden. Ich glaube, ich werde doch mal hinfahren. +Ach, wenn man bloß nicht so allein wäre! Wer hilft einem denn? Aber +nein, nein, nein, gut so, dies muß ich allein ausführen. Ich will schon +fertig werden! + +Er dehnte sich, und jetzt schwoll ihm die Brust vor unbestimmtem +Verlangen nach Thronen und Fürstendasein. Er sah sich in stiller Arbeit, +stiller, freundschaftlicher Gemeinschaft mit einem stillen weiblichen +Wesen, das ihn liebte, das er gern sah und das er beschützte. Es könnte +doch recht -- schön -- werden --, sagte er sich leise. Ach, man fühlt +doch wieder, daß man lebt! Ziele sind da, Wege, Kreuzungen, Widerstände! +-- Er faßte nach seinem schmerzenden Rücken, dachte: Vorläufig werde ich +wohl Influenza kriegen, und wünschte sich zu Virgo. Er ging auf den +Flur, klingelte nach Egon, ließ sich den Mantel anziehn und verließ das +Haus. + + + Flut und Ebbe + +Renate trat aus der Kapelle, schloß die Tür, zog den grünen Schal fester +um die Schultern und blickte eine Weile in den kahlen Garten. Es +dunkelte schon; hinter den schwärzlichen Maschen des Buschwerks und der +Bäume lag das Haus, stumm und lichtlos, grau, kalt. Frierend lief sie +durch den Garten, die Stufen zur Veranda empor und schlüpfte in die +angelehnte Tür. Während sie zuriegelte, wurde hinter ihr die Tür zum +Flur geöffnet; dann kam vornübergebeugt, auf einen Stock gestützt, ein +großer Mann herein, den sie im Halbdunkel nicht erkennen konnte. Drei +Schritte kam er vor, die Füße absonderlich hochhebend, die Augen im +großen, rasierten Gesicht fest auf sie gerichtet, lachte leicht auf, und +-- »Herzog!« rief Renate und schlug die Hände zusammen. Er richtete sich +auf und hob den Stock hoch. + +»Was sagen Sie nu?« rief er stolz. + +»Ist es die Möglichkeit!« sagte Renate und ging eilig auf ihn zu. Er +nahm ihre Hand in seine Linke, sie merkte, daß sie selber es war, die +ihre Hand fast gegen seinen Mund drückte. + +»Es ist zwar«, sagte er, sie küssend, »unschicklich in Norddeutschland, +einer unverheirateten Frau die Hand zu küssen, aber das macht nichts.« + +»Sie gehen! Sie können gehen! Nein, wie mich das freut!« Renate legte +die Hände wieder zusammen und meinte, sie könnte schon ihre Freude recht +deutlich werden lassen. »Und so verschönt, so verschönt! Welche Ehre mir +da widerfährt!« + +Sie ging zu einem der Sessel in der Nähe des Kamins und zeigte ihm einen +andern. Nicht unbeholfen ging er draufzu und setzte sich. Zwischen +Beiden kniete das Hausmädchen und machte Feuer unter den Holzscheiten. +»Recht so,« sagte der Herzog, »mich friert ausdermaßen. Setzen Sie sich +schnell zu mir, ich habe genau zwanzig Minuten Zeit, dann geht mein Zug, +ich muß nach Beuglenburg, es giebt die größten Umwälzungen, unterwegs +hat mein Chauffeur mich umgeworfen, vielmehr gegen einen Baum gefahren, +weil der Bauer nicht so wollte wie er, da bin ich mit dem Zuge +gekommen.« + +Das Mädchen ging, Renate setzte sich. Er reichte ihr noch einmal die +Hand. Sie mußte sich Mühe geben, sein ihr bekanntes Gesicht +wiederzufinden. Die Oberlippe war sehr schmal, der Mund schien größer +und kräftiger, das Kinn war erstaunlich groß und stämmig. -- Sehr ernst +sagte er: + +»Ich wollte Ihnen vor allem danken. Wenn mir etwas geholfen hat, waren +es Ihre Briefe. Sie sind ein guter Kamerad, ich will dafür sorgen, daß +Sie's bleiben. Ja, da habe ich gehen gelernt. So wie's gewesen ist, +wirds ja nicht wieder werden, nicht einmal so, wie es hätte werden +können, wenn ich gleich damals angefangen hätte, sagt der Arzt, aber --« +er setzte sich fest, »man muß zufrieden sein. Nun sagen Sie -- wie geht +es Ihnen denn? Ich fürchte, Sie sahen besser aus im Sommer.« + +Renate lächelte nur und war froh. »Wollen Sie mir nun nicht erzählen, +was das für Umwälzungen sind?« + +Der Herzog sah auf die Uhr. »Bloß noch sechzehn Minuten,« sagte er, +»vielleicht könnt ich doch einen andern Wagen mieten, ich bin im +allgemeinen kein Verschwender.« + +»Ja, so nehmen Sie doch meinen!« rief Renate und sprang auf. + +»Augenblicklich!« sagte der Herzog, »wenn Sie mit mir kommen. Sie können +in zwei guten Stunden zurück sein!« + +Renate, schon an der Tür, klingelte, versicherte, sie komme gerne mit, +trug dem Mädchen auf, dem Chauffeur Bescheid zu sagen, und setzte sich +wieder. Die Scheite im Kamin glommen langsam und widerwillig auf. Renate +kreuzte behaglich die Arme und sah den Herzog erwartend an. + +»Also,« sagte er, »mein Sohn will Großherzog werden. Es ist eine +hundsföttische Angelegenheit, mit Erlaubnis! Vor drei Tagen ist der +Beuglenburger Erbprinz gestorben. Er hatte Tuberkeln, seit Jahren schon +wurde sein Ende erwartet, ja, vor drei Jahren gaben sie ihn schon auf, +aber er erholte sich wieder. Sein Vater ist -- also -- nur noch eine +Masse. Erbschaftsberechtigt sind: erstens ich hier, mein Sohn und ein +schon bejahrter Graf Beuglenburg-Lipsch, der gerne möchte. Ich falle +aus, für mich ist das nichts. Mein Sohn -- ja, was meinen Sie +eigentlich? Sie kennen ihn doch ...« + +Renate sagte: »Ich schrieb Ihnen ja ... Kenne ich Georg? Ich mag ihn +gern, er ist klug, sehr fein und bescheiden. Freilich, was heißt das +...!« + +»Nun, lassen Sie mich erst weiter erklären«, unterbrach er. »Außer dem +verstorbenen Sohn ist da noch eine Tochter Sigune, neunzehnjährig, eine +gute Seele, glaub ich, sehr fromm vermutlich, die Beuglenburgs sind +katholisch, die Kleine war und ist -- was ich leider nicht wußte -- ganz +in den Händen ihres Erziehers, der Hofkammerrat am Hof ist und nicht nur +sie, sondern den ganzen Hof beherrscht. Jesuitisch erzogen übrigens. Die +Entwicklung wäre daher die, daß die Beiden heiraten, mein Sohn und die +Sigune. Und das scheint mir bedenklich. Georg hat Spätlingsnerven, hat +gar kein Talent zur Brutalität, denkt von außen nach innen und ist noch +sehr jung. Der Gedanke, daß er erbt, hat ja nun für mich alles +Bestrickende. Trassenberg war bis über Achtzehnhundert hinaus +selbständig, kam dann zu Beuglenburg. Aber Trassenberg gehört mir. +Solange der alte Großherzog regierte, hatte ich keinerlei +Schwierigkeiten. Alle Beamtenstellen in Trassenberg besetzte ich. Kommt +der Beuglenburger Graf zur Regierung, so habe ich die Jesuiten im Land, +und es giebt den ungeheuerlichsten Schlamassel; in jeder Beziehung. Das +brauche ich nicht zu erklären. Ich könnte freilich selber regieren, ich +bin der nächste, aber -- ich will einmal nicht. Doktor Birnbaum ist zwar +dagegen, stabiliert nach wie vor sein heiligstes Menschenrecht, nämlich +das, jeden Augenblick seine Meinung ändern zu können, aber -- ich habe +mich an diese Meinung zu sehr gewöhnt, bin auch zu alt zu Neuerungen.« +Er lachte kurz und griff nach einem imaginären Bart. + +Indem trat der Chauffeur ein und meldete, der Wagen sei bereit. Der +Herzog stand auf. »Fahren wir nur,« sagte er, »ich bin so schon +ungeduldig genug.« + +Eine Weile später saß Renate unterm schwarzen Pelz in der Wagenecke, der +Herzog in der andern, der rechten, die er sich ausbedungen hatte, da er +auf dem rechten Ohre taub sei. Wie Bogner! fiel es Renate ein, wo war +Bogner? Oh dies war auch ein Mensch, dieser nicht regierende Herzog! Das +Automobil bog gleich in den Wald ein, die Lampe unter der Decke glühte +auf, das Gesicht des Herzogs erschien rötlich; eng und warm war der Raum +um sie, die Scheiben beschlugen schnell. + +Der Herzog war plötzlich verstummt. Renate mochte ihn nicht stören, da +er sicherlich viel im Kopfe hatte, auch genügte ihr vollkommen die +Wohltat der Fahrt und das Dasein des fremden, immerhin doch -- kaum +bekannten Menschen. Sie glaubte, in sich versunken, wohl eine +Viertelstunde bereits im Fahren zu sein, als sie ihn sprechen hörte, +ohne daß er sie ansah. + +»Sehen Sie,« sagte er, »man tut doch immer zu wenig. Oder man ist immer +nach einer Seite hin geblendet, und aus den wunderlichsten Ursachen. +Jahrelang, jahrzehntelang lag diese Sache nun vor mir, ward sie geplant, +beleuchtet -- und -- den Gedanken an diese Heirat habe ich ebensowenig +mit kalkuliert, wie ich einen starken Einfluß des Hofkammerrats, an +dieser Stelle, ahnte. Es ist bei Gott, als ob er sich versteckt hätte. +Denn nun hat der Gedanke: Georg und Sigune, die verteufeltste +Ähnlichkeit mit dem Kolumbusei: solange ungedacht -- ists eben nichts -- +und sobald gedacht das einzig Naheliegende und Natürliche ...« + +Nun wars wieder still, lange Minuten, bis auf das Rauschen der Fahrt. + +»Ich habe das eben so obenhin gesagt,« fing der Herzog wieder an, »das +mit dem Altsein, aber ich meinte es nicht. Nein, ich bin nicht alt.« Er +beugte sich mit einem Ruck vor, faßte seinen Stock und schlug damit auf +seine Stiefelspitzen unter der Decke. »Absichtlich habe ich diese +Kraftanstrengung gemacht mit dem Gehenlernen. Ich -- ich glaube, es war +die Ungeduld von zwei Jahrzehnten, die auf einmal losbrach, und da habe +ich denn nachzuholen versucht, was meine Frau in denselben zwanzig +Jahren in ihrem Käfig hat abwandern müssen. Nun denke ich mir alles sehr +schön. Mein Sohn und ich waren immer gute Kameraden, Birnbaum ist auch +da und liebt Georg wie der ihn, es könnte ein Triumvirat, es könnte +sehr, sehr gut werden.« + +Er schien Renate noch erregter, als sie nach seinen Worten allein +erkennen konnte. Sie sagte, es sei sicher viel Gutes in Georg, er +beobachte vielleicht ein wenig zuviel sich selbst, aber -- »Nun ja,« +murmelte der Herzog, »in diesen Jahren, da ist sich ja jeder ein +Labyrinth und sieht an jeder Straßenecke den Minotaurus das Bein +hochheben. Ja, entschuldigen Sie nur, ich denke immer noch, ich rede mit +Birnbaum wie in all den Jahren. Nun, sehen Sie, so ist Georg. Ich sagte +Ihnen, glaub ich, schon einmal, daß ich ihm unbegrenzten Kredit gab. Sie +wissen, was das ist.« Renate schüttelte den Kopf. »Nun, das schadet +nichts, es heißt jedenfalls so viel, daß er Geld verbrauchen konnte, +soviel er wollte. Es war ein Risiko von mir, eine Probe, bankerott +machen konnte er mich ja nicht, und so dachte ich: versuchs lieber auf +die Weise, als daß er dich hintergeht, Schulden macht und den Namen +versaut. Schulden kann ich auf den Tod nicht leiden. Was tut Georg? +Braucht -- im Verhältnis -- überhaupt nichts. Nun würde das an sich +nichts heißen, wenn er ein -- also von Natur ein Asket wäre, ein +Einsiedler, ein zarter, scheuer Mensch, dem das Bunte der Welt nichts +bedeutet. Er aber ging ganz frisch in die Welt hinein, machte +Dummheiten, ruinierte ums Haar seine Gesundheit. Aber -- --! Was hätte +er nicht -- --? er hätte einen Rennstall halten können, drei Rennställe, +unermeßlich pokern, Mätressen, Automobile, Paläste, Jachten, was weiß +ich, halten können. Nichts davon. Was er am Grunde seines Lebens sucht, +ist ihm wahrscheinlich so geheim wie mir selber, und wenn er heute +Großherzog sein will, so will er vielleicht morgen Dichter sein -- nun, +es giebt schlimmere Schwankungen. Einmal, das will ich gestehn, war ich +mißtrauisch. Ich hatte ihm eines Tages eine -- ja, eine schwierige +Eröffnung zu machen; er hatte sich zu entschließen. Ich schickte ihn ins +Freie, saß und wartete auf ihn. Es ward dunkel; da kam er. Ich dachte: +Er braucht sich nicht entschlossen haben, es eilt nicht, aber, dacht +ich: Was wird sein erstes Wort sein? Man hat seine abergläubischen +Momente, und ich lag selber im Graben. Soll ich Licht machen? fragte er. +Ich weiß nicht, das schien mir nicht sehr vielversprechend. Er hätte +Licht machen sollen -- nun -- aber -- ich bin wieder davon abgekommen. +-- Und nun möcht ich rauchen«, bat er, seine Zigarrentasche schon in der +Hand. Renate nickte, freute sich, die große Zigarre von Helenenruh +wieder zu erkennen, und atmete nicht unbehaglich den zarten Geruch der +ersten Wolke. Man muß ihn reden lassen, dachte sie weich. + +Der Herzog saß weit vorgebeugt, wischte zuweilen mit der Hand an der +Scheibe und sah hinaus, während er sprach. Jetzt blickte er wieder eine +lange Zeit schweigsam hinaus, setzte sich dann zurück, drückte den +Rücken fest, sah Renate kräftig forschend an, dann wurden seine Züge +weicher, er sagte: + +»Gute Freundin! Ich habe nie Gelegenheit gehabt im Leben, unaufrichtig +gegen einen Menschen zu sein, diesen und jenen Halsabschneider +ausgenommen, gegen einen nahen Menschen also, deshalb möchte ich es auch +gegen Sie nicht sein. Da ich Sie also einmal mit dieser Angelegenheit +behelligt habe -- und es tut mir aufrichtig wohl, daß ichs durfte --, so +sollen Sie auch den Rest wissen. Georg ist nicht mein Sohn. Er ist -- +aber das ist gleich, das würde viel zu weit führen, und es genügt ja, +wenn Sie die Tatsache wissen. Nun -- was sagen Sie dazu?« + +Renate wollte heftig erschrocken abwehren: Nein, nein, lassen Sie mich +nichts dazu sagen! besann sich aber rechtzeitig mit der Erinnerung an +sein Vertrauen, schlug die Augen gegen ihn auf und sah ihn dasitzen, das +Kinn auf die Brust gedrückt, die Oberlippe zwischen den Zähnen, unter +der geneigten Stirn aufblickend, nun doch zweiflerisch vor ihrer +Antwort. Sie machte ihren Blick herzlich, murmelte für sich: Einen +Menschen sollst du messen ... und sagte leise: + +»Von meinem Freund schrieb ich Ihnen hier und da, Saint-Georges, den ich +immer zu fragen pflege, wenn ich etwas nicht weiß. Der schenkte mir +einmal den Spruch: Einen Menschen sollst du messen -- Wenn du in seiner +Haut gesessen. -- Und«, fuhr sie, die Hände faltend und mit wärmerem +Lächeln in seine Augen blickend, fort: »Wenn Sie geglaubt haben, daß +trotz dieser Tatsache er als Ihr Sohn gelten solle, dann habe ich kein +Recht, anders zu urteilen.« + +»Danke schön«, sagte er und nickte. »Ich muß noch hinzufügen,« erklärte +er dann, »daß erst vor zwei Jahren auch mir dies mitgeteilt wurde, ja, +übrigens spielte der Vater unsrer Magda dabei eine verfluchte Rolle, na, +der ist nun auch tot. Und dies war die Eröffnung, von der ich eben +sprach, die ich ihm zu machen hatte. Mein Sohn und ich -- wir haben also +alles beim alten gelassen. Sie haben nicht in meiner Haut gesessen, +nein, und ich nicht in der seinen, denn schließlich ist er hier ja +derjenige, auf den es allein ankommt, aber -- ich glaube doch: wir haben +alle drei recht.« + +Renate sann hin und her, aber das Ganze war ihr allzu fremd, als daß sie +sich in solcher Schnelle, wenn überhaupt je, hätte hineinfinden können +... + +»Und nun«, hörte sie den Herzog sagen, »können Sie sich immerhin denken, +wie dies Geschehnis auf mich wirken mußte. Nicht wahr: Ich hatte ihn +verloren, als Sohn, -- Sohn meiner Helene; ich behielt ihn aber, ich +hatte also -- gesetzt, dies sei möglich -- noch einmal so väterlich um +ihn zu sorgen, als ob er mein echter Sohn sei. Ob möglich oder nicht: +dies war mein Gefühl, dies hatte es zu sein. + +»Und nun diese Heirat,« fuhr der Herzog nach einer Pause fort, »wie? was +ist?« unterbrach er sich. Renate, die bemerkt hatte, daß der Wagen, wie +bereits mehrere Male, ganz langsam fuhr, reinigte die beschlagene +Fensterscheibe mit dem Handschuh und blickte hinaus. Schwarze Nacht +wars; der Wagen stand still. Sie ließ das Fenster ein Stück weit nieder, +eiskalt drang die Luft ein. Sich hinausneigend sah sie vorn den +mächtigen Schattenriß des wulstigen Rades, drohend überwölbt vom +Schutzblech, die metallene Halbkugel der Wagenlampe dicht darüber, aus +der ein Strahlenkegel weit in die Nacht fiel, schwarz den sargartigen +Kühler und blinkende Tropfen an der Glasscheibe vor dem Fahrer. Kalkweiß +stand ein gesträubter Chausseebaum im Licht. Gleich darauf tauchte ein +zottiger Hund neben einer Weibsgestalt auf, ein Handwagen dahinter; sie +hörte den Chauffeur etwas fragen, der Handwagen zog weiter, ein großer +Kerl, hinterdrein stolpernd, wandte sich halb im Gehen, schwang die Arme +und rief etwas in unverständlichem Plattdeutsch; der Wagen ruckte an, +der Motor rauschte, sie rollten. + +»Noch zehn Minuten höchstens,« sagte der Herzog, »aber nun müssen Sie +das Ganze hören. Sie haben sich wahrscheinlich bereits gefragt, wie +Georg zu der ganzen Sache steht. Ich wills Ihnen sagen. Es fängt mit +meinem Urgroßvater an. Der war sehr sonderbar; Astrolog; nicht Astronom, +sondern Astrolog. Anfang des achtzehnten Jahrhunderts wurde Trassenberg +mediatisiert, aber mein Urgroßvater schloß mit Beuglenburg einen +Geheimvertrag, nach dem Trassenberg zwar an Beuglenburg kam, jedoch nur +auf hundert Jahre, kündbar. Warum dies, ist unbekannt. Er hatte die +merkwürdigsten mystischen Neigungen! In seinem Nachlaß fand sich unter +vielen andern Seltsamkeiten, Horoskopen, Prophezeiungen eine +Vorhersagung: Im Anfange des zwanzigsten Jahrhunderts würden beide +Häuser, Trassenberg und Beuglenburg, oder Zinna, auf zwei Augen stehn; +von diesen Augen würde es abhängen, ob die Stimmen beider Gewalt im Rate +der deutschen Völker erlangen oder für immer verstummen würden, -- die +Weissagung besteht aus lateinischen Distichen, astrologische Wendungen, +die Gestirne, Venus, Jupiter spielen eine unverständliche Rolle darin. +Weissagung und Vertrag haben beide sich in unserm Geschlecht +vererbt, und zwar wars üblich, daß diese Erbschaft am Tage der +Mündigkeitserklärung vom Erstgeborenen angetreten wurde. Nun konnte es +sich nur noch um Georg handeln, aber jetzt lag die Sache folgendermaßen +... + +»Der Zinnasche Erbprinz, Bruder eines Totgeborenen und einer +schwächlichen Schwester, selber nur mit Mühe und aller Kunst von Geburt +an am Leben gehalten, war für mich allezeit -- nicht dasjenige +Augenpaar, auf dem die Schicksale der beiden Länder ruhen sollten -- das +heißt: ich füge meine Ausdrucksweise nach der Prophezeiung, die für mich +keinen bedenklichen Wert hat noch hatte. Nun: im Sommer werden es drei +Jahre sein, Georg zog zur Universität, trat ins Leben, ich hielt es für +an der Zeit, ihn wissen zu lassen, was ihn in Zukunft erwartete, um so +mehr -- bei seinem Hange zur Dichterei und dergleichen schönen, aber +wenig weltlichen Dingen. Nun griff eins ins andre. Nämlich: ihn +spekulieren zu machen auf den Tod eines noch Lebenden, das widerstrebte +mir. Ich hatte aber den Vertrag, der heutzutage -- das vergaß ich zu +erwähnen -- ich will zwar nicht sagen: keine, aber doch keine +nennenswerte Gültigkeit -- an sich -- hat, wenn der Andre nicht will. +Wollt ich ihn durchsetzen, so handelte es sich schließlich nur um die +Geneigtheit des Bundesrats, und da von den drei Stimmen, die Beuglenburg +und Trassenberg gemeinsam drin haben, zwei schon immer in meiner Hand +waren, so -- nun, Sie verstehn. Also war zu kalkulieren: ist der +Erbprinz einmal tot, soll dann weiter geerbt werden im Mannesstamm, so +kommt zuerst Georg in Frage, und der Vertrag liegt da als Fundament, als +Stütze, wie man will. Also ... wo blieb ich stehn? -- So -- ich benutzte +also Georgs politische Unkenntnisse (sie hielten länger vor, als ich +damals ahnte) und sprach ihm damals schon, drei Jahre früher als üblich, +von dem Vertrage und seinen Möglichkeiten in bezug auf ihn. Er war +daher, bis vor zehn Tagen etwa, war er in dem Glauben, in der +Zuversicht: Herzog von Trassenberg werden zu können. Nun vor allem: das +Ganze wäre ums Haar schon vor zwei Jahren zum Klappen gekommen, da der +arme Junge Adolf Emil sich bereits zum Sterben anschickte, aber wieder +-- ich argwöhne sehr -- gegen seinen Willen daran verhindert wurde, für +mich ein Beweis, wie richtig ich gegen Georg verfahren war. Hopla!« +sagte der Herzog, denn der Wagen war aufs Pflaster gerollt und +schüttelte erbärmlich. Durch das trübe Glas der Wagenfenster fiel gelbes +Licht herein zu dem rötlichen Inneren, Laternen, Schaufenster, +Menschenschatten, ein Wagen zogen vorüber. Gleich darauf stand der Wagen +still. + +»Ja, nun muß ich doch abbrechen,« bedauerte der Herzog, »oder bringen +Sie mich noch bis oben, eine kleine Viertelstunde«, sagte er verlockend. + +Renate nickte, der Herzog ergriff das Sprachrohr und befahl dem +Chauffeur sich nach dem Schloß hinauf weiter zu fragen. Bald darauf +rollte der Wagen weiter, durch Straßen, Pflaster und Asphalt, hin und +her, währenddem sie schwiegen, Renate gespannt, als läse sie Balzac. +Kaum rollte der Wagen wieder sanfter dahin, begann auch der Herzog: + +»Also weiter. Zu Neujahr gab ich Georg den Vertrag; zwei Tage vorher +nämlich schreibt mein Agent, aus Zinna: der Erbprinz liegt im Sterben, +diesmal ists sicher! (War aber wieder gelogen, er hat noch zehn Wochen +gelebt, es war ein Jammer!) Georg geht hin und klagt den Vertrag ein, +und -- nun kam die Enttäuschung für uns Beide: bekam eine schlichte, ja +schnöde Abweisung. Nun, was weiter -- + +»Er schreibt mir, er steht vor einem Rätsel ... Ich tu's selber, ich +schreibe nach Zinna, es giebt ein unverständliches Hin und Her, endlich +kommts denn zu Tage: Georg heiratet Sigune. + +»Ich fahre selber nach Beuglenburg. Der Großherzog, wie ich immer wußte, +ist eine Null, vor der dieser oder jener seiner Umgebung, am häufigsten +sein Hofkammerrat, ein halber oder ganzer Jesuit, zusammenleg- und +entfaltbar, jede beliebige Ziffer von zehn bis neunzig formiert. Mit ihm +selber ist nichts anzufangen, seine Umgebung schwört: er reagiert nur +auf Fremde nicht, beinah hätten sie gesagt: in ihren Händen sei er +Wachs, denn das ist er. Ihrer Aussage nach also besteht er auf seinem +Willen, das Erlöschen seines Namens um jeden Preis zu verhindern. Na, +nun giebt es ja allerlei Möglichkeiten. Der alte Beuglenburger Lipsch +kann päpstlichen Konsens erhalten, um wieder zu heiraten. Immerhin -- +dies ist des Hofkammerrats Vorzugswort -- immerhin scheint er -- der +Hofkammerrat -- für seine Sigune -- er hat sie erzogen, und da sie aufs +äußerste an ihm hängt, muß er wohl auch seine guten Seiten haben; wem +fehlen die schließlich nicht? -- er scheint also dem jüngeren Georg doch +den Vorzug vor dem alten Lipsch zu geben, sagt sich vielleicht auch, daß +aus Alter und Krankheit kein brauchbarer Nachwuchs zu hoffen ist und das +Erlöschen Zinnas bloß aufgeschoben, nicht -gehoben. Schließlich sind +auch Erbschaftsgesetze nichts Unabänderliches, das heißt: die Sigune +kann irgendeinen andern von fünfzig gut katholischen Prinzen heiraten, +dessen Sohn erbschaftsberechtigt wird. Wir müssen gleich da sein, der +Wagen steigt schon mächtig, merken Sie die Serpentinen? Sehen Sie, da +liegt das alte Nest!« + +Hinausblickend sah Renate das rötliche, qualmende Lichtertal der Stadt +unter sich, ein altes Stadttor, den schwarzen, rötlichen Fluß, dahinter +Nacht und den braunen Himmel. + +»Ich bin ja auch nun am Ende«, sagte der Herzog. »Georg hat man +inzwischen Mitteilung von seiner Heirat gemacht, hinter meinem Rücken, +die Schurken! Bei alledem ist das Unglück, daß der Großherzog darauf +besteht, noch morgen, am liebsten schon heute abzudanken, also seine +Tochter so stracks wie möglich zu verheiraten, wobei ich ahnungslos bin, +wiederum, ob das sein Wille oder der seines Hofkammerrats ist. Georg +schreibt mir einen verzweifelten Brief nach dem andern: Was denn das +heiße, er begriffe nicht -- er hüte sich natürlich vor jeder Kritik -- +aber er begriffe nicht, was ich mir je gedacht hätte, er könnte doch das +kranke Mädchen nicht heiraten und so weiter.« + +»Und was schrieben Sie?« fragte Renate, da er schwieg. Er sah sie mit +ein wenig verqueren Augen an und zuckte die Achseln. Er hätte +geschrieben, Georg dürfe schon vertrauen, daß alles mit rechten Dingen +zugegangen sei, es sei jetzt keine Zeit zu Erklärungen, die er jeden +Augenblick später erhalten könne, er selber stehe ihm sofort zur +Aussprache, zur Beratung zur Verfügung, vielleicht jedoch ziehe er es +vor, allein seinen Weg zu finden. »Glauben Sie nicht, daß er alt genug +ist, um zu wissen, wie er zu handeln hat? Ich selber, schrieb ich ihm +noch, würde eigenhändig einen Versuch machen ... Und dabei bin ich ja +nun. Ich will --« + +Er unterbrach sich; der Wagen rollte über eine Brücke, durch ein Tor, +machte eine Schwenkung und stand still. + +»Zinna,« murmelte der Herzog verdutzt, »aber nun will ich ausreden.« + +Renate sah durch die klaren Fingerstreifen im Belag des Fensters neben +dem Herzog ein erleuchtetes Tor über Stufen, Schatten und bunte Stücke +von Hin- und Hereilenden. + +»Ich will«, sagte der Herzog, »doch meine Meinung ändern; ich bin der +nächste Erbe und --« + +Indem wurde der Wagenschlag aufgerissen. »Wollt ihr zulassen!« schrie +der Herzog, zog die Tür am Riemen zurück, klappte und riegelte sie zu. +»Hundsfötter!« murmelte er und setzte seinen Hut auf, einen großen alten +Schlapphut, aber er sprach nicht weiter. Nach einer Weile sagte er +leise: + +»Helene -- ja, nun fehlt uns Helene. Wenn ich die Regierung übernehme, +so ist die Heirat damit ja immer nur aufgeschoben; der Hofkammerrat +weiß, daß ich nur Fisematenten mache und in einem halben oder ganzen +Jahr zu Georgs Gunsten verzichte. Also muß ich Sigune ... sie hat die +harte Stirn der Zinnas; wenn ich sie herumkriege, so bleibt sie mir +sicher, aber wie ich das mache ...?« Er seufzte. + +»Lieber Freund,« sagte Renate, »und wie wäre es denn nun eigentlich, +wenn Sie alle Beide verzichteten?« + +»Wer?« + +»Sie und Georg.« + +»Nicht um die Welt«, sagte der Herzog. »Die Jesuiten kommen ins Land.« + +»Können Sie sich nicht wehren?« + +»Erstens gegen Jesuiten!« murrte er unwirsch, »und außerdem habe ich +Besseres zu tun. In einem Kriege kann Wunderbares an Kraft und Taten +geleistet werden, aber ich wäre ja ein Hundsfott, wenn ich nicht den +Krieg vermiede, um eben dies Wunderbare für meinen Frieden zu +gebrauchen.« + +Renate, hartnäckig zu ihrem eignen Erstaunen, bohrte tiefer: »Sie denken +an Ihr Land und vergessen Ihren Sohn. Wie sehr väterlich glauben Sie, +daß dies gedacht ist?« + +Der Herzog blickte sie grade und schwer an. »Mir,« sagte Renate beinah +spöttisch, »-- mir scheint es nun doch, als ob die beiden Augen Ihrer +Weissagung -- mich jetzt ansehn.« + +Er machte eine abwehrende Handbewegung und schlug die Decke von den +Füßen zurück. »Sie stören mich ja, mein Kind, anstatt mir zu helfen.« + +Renate sah auf die Uhr im Armband: »Nachdem ich Ihnen anderthalb Stunden +zugehört habe, ohne das geringste Widerwort.« + +Der Herzog lachte und murmelte, um so gefährlicher sei sie, habe nun +alles angesammelt, destilliert und spritze das feinste Gift. Übrigens +könne sie ja nicht wissen, was für ihn auf dem Spiel stehe. Er tastete +mit der Rechten nach dem Türgriff, drehte ihn, drehte ihn zurück und +sagte kurz lachend: »Nun denken Sie, ich will ausreißen.« + +»Es ist wirklich Zeit«, warnte sie lächelnd. + +»Gut,« sagte er und bot ihr die Hand, »ich werde die Nacht zum Überlegen +verwenden.« Er küßte ihre Hand. »Haben Sie Dank, vielen Dank! Ich bin +morgen wieder in Trassenberg. Wenn Ihnen etwas Gutes einfällt, +unterlassen Sie nicht, mirs zu schreiben. Gute Heimfahrt! Auf +Wiedersehn! Leben Sie wohl! Adieu!« + +Er hatte sich nach außen gezwängt, stand, von rückwärts beleuchtet und +nahm den Hut ab; stämmig und wacker stand er da, Haar und Oberkopf +schimmerten im Licht, die Züge waren von Renate nicht zu erkennen, da +sie gegen das Licht sah, auch wurde die Tür nun geschlossen, der Motor +brauste auf, der Wagen drehte langsam, rollte über den Hof, durch die +Einfahrt und über die Brücke in die Nacht zurück. + +Renate setzte sich tiefer in den Polstern, lehnte sich an, hüllte die +Decke fester um sich und zog sie gegen die Brust; sie nahm die große +Muffe, die sie neben sich gelegt hatte, wieder und senkte die Arme bis +an die Ellenbogen hinein; es schien ihr kälter im Wagen geworden. Sie +lächelte. Da hatte sie ihn nun ratlos gemacht, das tat ihm gut. Wieder +lächelnd, empfand sie, daß dies Lächeln schon lange in ihrem Gesicht +feststand. Sie glaubte, den Abdruck zu spüren, dieser Mensch mußte es +mitgebracht und festgeschraubt haben, sie konnte es nicht loswerden, da +war es schon wieder, sie fuhr mit der Hand über Augen, Nase und Mund, +aber es kam unverwischbar drunter wie neu hervor, oder lächelte sie +diesmal nur, weil sie es hatte fortwischen wollen? Da habe ich die ganze +Zeit über gelächelt, dachte sie nun unwillig, und es ging um die +ernstesten Dinge. -- Wie, schon wieder die Stadt? Vom Schütteln der +Fahrt in ihren Gedanken unterbrochen, sah sie durchs Fenster in die +erleuchteten oder dämmrigen und finsteren Straßen voller Menschen und +elektrischer Bahnen, solange bis die Chaussee wieder erreicht war. +Unterweil war sie nachdenklich geworden, beugte sich vor, stützte das +Kinn auf die Fingerknöchel und blickte durch die graue Scheibe in die +Finsternis. + +Das war ja ein Wassersturz von klirrenden, schillernden und fremden +Dingen gewesen. Sie versuchte, sich zu besinnen. Immer sah sie ein +kaltes, bleiches, augenloses Gesicht unter einem Jesuitenhut, wie +unsinnig! Sigune -- Schionatulanders Geliebte, ein schöner, trauriger +Name. Kränklich war sie, blond, mit einer harten Stirn, und dieser +Jesuit war ihr Lehrer und einziger Freund. Der kranke Bruder -- und +dieser Vater ... Plötzlich erschien der Herzog wie ein Riese dazwischen +und fegte alles über Seite. Renate lächelte wieder, verfinsterte aber +dann ihr Gesicht und sagte: Bogner -- so hätte er einmal kommen sollen! +Aber damals -- wie würde ich mich vielleicht gewehrt haben! Heut mittag +noch war mein Dasein ein blauer Teich mit kümmerlichen Wasserrosen; da +warf sich dieser unbekümmerte Schratt hinein, bloß um drin zu +plätschern. + +Im kalten Wagen empfand sie sich auf einmal heiß. Diesen Gedanken, sagte +sie, an der Lippe nagend, hätte ich noch vor Jahren den Zutritt nicht +erlaubt. Bloß um zu plätschern? Aber es giebt mehr Teiche. Aber er +fackelt nicht und greift zu, wenn es ihm paßt, erwiderte jemand aus der +Wagenecke. Sie sah flüchtig dorthin, wo der Herzog gesessen hatte. Auf +einmal kann er wieder gehn, es ist wie im Märchen, freilich, es war bald +ein Jahr her, daß die Herzogin starb und er ... Wieder kam die tote +Herzogin zur Türe herein, lebend, bewegte sich leicht zum Tisch, +lächelte und neigte den Kopf, indem sie sich setzte. Seltsam, welch +belanglose Erscheinungen am sichersten in uns haften bleiben! Ihr +Gesicht, so entstellt, als ihr die Augen brachen, war nicht mehr zu +sehn. Hatte er sie schon ganz vergessen? Sie hörte ihn seufzen: Helene +-- ja, nun fehlt sie uns! Uns ... Freilich: er mußte seines Weges +weiter. + +Fünfundzwanzig Jahr ist er älter als ich, dachte Renate und herrschte +sich an: Genug jetzt! ein für allemal! + +Und nun das -- mit Georg! -- Man kann es nicht einmal nennen, wie soll +ichs begreifen? Georg? Wer war denn Georg? -- Georg saß mit Esther oben +in Josefs Fenster, oder mit Esther im Garten bei der Sonnenuhr. Wenn er +kein Prinz ist, so sieht er doch einem solchen zum Verwechseln ähnlich. +Nun wundert michs doch, daß -- eigentlich er mich auch nie beachtet hat. +Aber das war wohl Scheu wegen Magdas. Zwischen ihm und Esther -- was war +da gewesen? -- Sie hörte Sigurds Stimme, wütend im Schmerz, aber sie +fand die Worte nicht mehr. + +Bogner und der Herzog, welch ein Gegensatz! Wars wirklich einer? Schien +ihr die Kalt-- ja, die Kaltherzigkeit des Herzogs nicht nur deshalb so +viel heftiger als Bogners stillere Kräftigkeit, weil eben Bogner keine +Kraftäußerung kannte als gegen sich selbst und in seinem Werk? Der +Herzog war das Hantieren mit Menschen gewohnt, das war sein Leben und +sein Werk. + +Renate schloß die Augen und schauerte seltsam angenehm zusammen. Indem +fielen zwei starke peitschenartige Knalle schnell hintereinander, sie +fuhr empor, horchte erschreckt, gleich darauf rollte der Wagen +langsamer, auch anders, wie ihr schien, und stand still. Ach, ein Reifen +war geplatzt oder gar zwei! Nun kam schon der Schatten Reinholds von +vorn am Fenster vorüber, sie öffnete es, fröstelte im Luftzug und sah, +daß die Straße weiß war; es hatte geschneit. Reinhold kam zurück: die +beiden Hinterreifen wären geplatzt. -- Renate öffnete die Tür und stieg +aus. Reinhold bemerkte in seiner Berliner Mundart: »Das ha 'k mir jleich +jedacht, wo der Wagen so lange in der Garage gestanden hat.« Er ging in +seinem großen Pelz unwirsch um den Wagen, stellte den gehorsam +stampfenden Motor ab, klappte einen Kasten auf, nahm Werkzeuge heraus, +öffnete einen andern Kasten unterm Sitz und wühlte darin. Die beiden +grellen Lichtkegel aus den Laternen fielen weithin über die weiße +Chaussee und breiteten sich über die nächtigen Felder aus; grellweiß +angeschienen standen die Chausseebäume wie gesträubte Zuschauer da, +andre weiterhin, schattenhafter. Weiß wehte Renate der Atem vom Munde, +sie trat in den dünnen Schuhen langsam hin und her, fühlte die +hartgefrorenen Rillen des Schlammbodens unter der Schneedecke, fror und +wollte wieder in ihren Wagen kriechen. »Wie lange dauert es denn?« +fragte sie. + +Der Chauffeur, die Riemen an einem der festgeschnallten Räder mit +aufmontierten Reifen lockernd, murrte kaum verständlich und mit der +Abgeneigtheit seines Menschenschlags gegen Zeitangaben, es könnte auch +'ne Stunde dauern, -- bei die Kälte! -- + +»Armer Reinhold!« sagte Renate und war unglücklich, so lange im Wagen +still sitzen zu müssen. Wo sie denn eigentlich wären, fragte sie. Da wo +die Herzbruchsche Villa stände, da müßten sie dicht bei sein. Renate +zuckte. Sie ging zum Chausseerand und suchte in der Nacht. Richtig, +links über den Feldern war ein roter Punkt in der Nacht. -- »Wenn man +wüßte, wie weit es ist ...« sagte sie zögernd. Nun stellte Reinhold sich +neben sie und meinte, nach dem Licht spähend, es könnte keine zehn +Minuten sein. -- Und der Weg? -- Die Chaussee hinunter, dann müßte +gleich nach ein paar Minuten eine kleinere Chaussee links abbiegen, an +der läge das Haus; die große Chaussee mache einen Bogen weit rechts und +treffe nachher die schmale wieder. Ob Renate sich nicht erinnere, damals +bei der Hinfahrt zum Herzbruchschen Hause, daß sie auf eine kleine +Chaussee rechts abgebogen seien »da, wo wir doch den Herrn Almanach +getroffen haben.« Renate zögerte kaum noch. + +Irene erwartete sie ja längst. Wie lange hatten sie sich nicht gesehn? +Lieber Gott, war das schon seit -- Mai -- oder Juni? Ja, im Mai war ich +einmal draußen, und noch zweimal im Juni. Dann ging ich nach Helenenruh, +und eh ich wieder hier war, kam >die große Verjüngung< über sie, Masern +und Scharlach hintereinander, -- wie ein Kind so dünn und weiß wie eine +Kellerpflanze sollte sie ja wieder zum Vorschein gekommen sein, -- +Renate seufzte noch einmal, sagte Reinhold etwas Ermutigendes, bat ihn, +wenn er fertig wäre, zur Herzbruchschen Villa zu fahren, und machte sich +auf den Weg, nun schon ganz in freudiger Neugier, wie Irene aus Italien +zurückgekehrt sein mochte ... Auch die Fahrt mit dem Herzog war in ihrer +Erinnerung jetzt eitel Freude, die ihren Gang beschwingte. -- Auf die +Uhr blickend, fand sie, daß es eben halb acht Uhr gewesen war, und sie +ging am Rande der Chaussee unter den Bäumen fort, dankbar für die +Wohltat der Stille in der Frostnacht nach dem langen Getose des Motors +und dem Hinschnarren der Gummiräder über den harten Boden. + +Stehen bleibend dort, wo die Lichtkegel der Laternen zerstäubten, +vergrub sie die Unterarme tief in die Muffe, behaglich, denn sie fror +nicht, nur an der Kopfhaut merkte sie, da sie keinen Hut trug, ein wenig +Kälte. Die Chausseebäume, bleiche Stauden, wurden im Finstern kenntlich +und neben ihnen in der Grabenböschung die weißen Steine. Eilfüßig lief +sie den Weg hinunter, aber die kleine Chaussee ließ auf sich warten, +dafür machte aber die große einen immer stärkeren Bogen nach rechts. +Sieh, aber da waren ja Sterne in der Nacht, unendlich fern, winzige, +weißliche Punkte, und kaum daß sie diese gesehn, zogen mehr, rechts oben +von den ersten, ihr Auge an, das an neuen Sternen nun die unsichtbare +Wölbung emporglitt und den großen Wagen erkannte; undeutlich, matt +blinzelnd, war jeder Stern nur sichtbar, wenn sie ihn einzeln ins Auge +faßte, aber er war es doch! Sie sah sich um im Gehn und gewahrte fern +die Laternenkegel, strahlend mitten im Felde der Nacht, dahinter den +ungetümen Schattenriß des schwarzen Wagens, ganz ein glotzendes Tier. +Sie ging weiter und hatte sich bald so ans Gehen und unbestimmte vor +sich hin Sinnen gewöhnt, daß sie plötzlich die Nebenchaussee merkte, die +sie halb überlaufen hatte. Abbiegend und aufsehend, sah sie auch schon +deutlich zur Linken ein erleuchtetes Fensterviereck, wenn auch klein, +aber da kam plötzlich der Schatten eines Menschen von rechts aus der +Nacht auf die Landstraße zu, und leicht erschreckt eilte sie weiter, +während der Mann näher kam; wenige Schritte hinter ihr mußte er die +Straße betreten haben, dann hörte sie ihn ihr nachgehn, ging eiliger, +ihr Herz klopfte heftig, die Schritte hörten nicht auf, jetzt kamen sie +vielmehr näher, sie blieb Atem holend stehen, der Fremde auch. + +Sie sah ihn an; seine Züge waren nicht zu unterscheiden, er hatte eine +dunkle, englische Mütze auf dem Kopf und trug einen dunklen Havelock. +Schon wandte sie sich entsetzt, um zu fliehn, als der Fremde -- nun +erkannte sie auch den glimmenden Blick seiner Augen -- die Mütze abnahm +und mit anständiger, leiser Stimme sagte, er bäte um Entschuldigung, er +habe sie verwechselt. Sie atmete ein wenig auf und sagte rasch und +munter, es befände sich wohl selten um diese Zeit eine Dame in dieser +Gegend, noch dazu ohne Hut. Sein Gesicht veränderte sich nicht, während +er erwiderte: sie möchte nochmals entschuldigen, zumal er wohl richtig +vermute, daß sie zu dem Landhaus -- dort -- wolle. Sie bejahte, bereits +im Weitergehn, er ging schweigend mit, ein wenig voraus. Das Fenster +ward langsam größer, sie erkannte die Umrisse des Hauses, des Daches und +des Hügels. Der Fremde machte eine Bewegung zurück und fragte leise: »Zu +wem gehn Sie denn? zu Herzbruchs oder --?« + +»Zu Herzbruchs.« + +»So«, sagte er und war wieder voraus. Drei Schritte weiter wandte er +sich abermal und fragte, wieder ganz leise: »Aber -- Sie kennen -- +vermutlich auch die -- andre Dame?« + +Verwundert sagte sie: »Frau Vehm, meinen Sie, ja, ich kenne sie.« + +»Und die Kinder, -- nicht wahr? die Kinder kennen Sie auch.« + +Die Kinder --, -- nun erst fiel Renate ein, daß jetzt Doras Kinder beide +an den Masern krank lagen. »Sie haben die Masern«, murmelte sie vor sich +hin; ihre Schritte wurden langsamer, denn sie fürchtete sich nun vor der +Krankheit; bei ihrem Alter war sie gefährlich. Der Fremde war +zurückgeblieben, holte jetzt aber wieder auf und ging eilfertig weiter. +Nun sah sie auch an der Rückseite des Hauses einen Lichtschein; dort lag +die Diele, daneben war der Eingang ins Haus. Sehr unentschlossen hin und +her überlegend, ging sie doch weiter, sah die Gartenbäume, jetzt wurde +das dünne Geflecht des Drahtzauns neben der Chaussee sichtbar, und da +war die Tür; der Fremde stand dort. Plötzlich war ihr sehr unheimlich +und beklommen zu Sinne. Fuß für Fuß ging sie bis zur Tür, immer noch +schwankend, ob sie nicht lieber umkehrte, aber sie fror nun auch, die +dünnen Sohlen der Hausschuh ließen allzusehr die Kälte durch, hastig +entschlossen drückte sie die Klinke der Drahttür nieder und sagte: +»Guten Abend!« + +Der Fremde, die Augen, wie es schien, gegen das helle Fenster gerichtet, +blieb stumm. Renate ging langsam durch den Garten hinauf, am Hause +vorüber; erfreulich war das Licht in der kleinen Vorhalle, sie ging die +Stufen empor, stampfte den Schnee von den Füßen und betrat die Diele. + +Gleich vorn zur Linken, mit dem Rücken nach ihr hin, stand ein Herr, ein +Buch, in dem er las, in die Nähe der Stehlampe haltend, die auf Dora +Vehms Schreibtisch brannte. Erst jetzt drehte er sich schnell herum, +klappte das Buch zu und legte es hin; es sah wie ein Tagebuch aus, und +der Herr war jener Doktor Ägidi, den sie vor einem Jahr hier kennen +gelernt hatte. Sie gab ihm die Hand, fragte nach Irene, die Luft kam ihr +schon peinlich dumpf vor, nebenan wohnten die Kinder; so ging sie hastig +durch den Raum und traf im Flur mit Irene zusammen, die sie mit +leidenschaftlichem Entzücken begrüßte. Trotzdem schien Renate die +Wallung rascher vorüberzugehen, als ihr verständlich war. -- Noch im +Treppensteigen erklärte sie ihr Kommen, der Herzog schien auch Irene +einige Teilnahme zu entlocken, sie ging in ihrem Zimmer, während Renate +sich unter dem Fenster auf das Sofa setzte, hin und her, in ein großes, +schöngesticktes weißes Tuch mit langen Fransen gewickelt. Die Heizung +funktioniere wieder einmal nicht, klagte sie, Renate solle nur ihre +Pelzsachen sämtlich am Leibe behalten. Das Mädchen kam herein und fuhr +fort den Tisch zu decken, sagte dann im Hinausgehn, Herr Almanach -- sie +betonte den Namen wie alle Dienstleute auf der ersten Silbe -- sei +gekommen. + +»Der Tisch wird überlaufen!« rief Irene und erklärte, daß sie Besuch +erwarteten, einen Freund ihres Mannes, sie laure schon den ganzen +Nachmittag auf ihn, nun würde ihr Mann ihn wohl aus der Stadt +mitbringen. + +»Er wird doch nicht draußen am Zaun stehn?« fragte Renate mit halbem +Lachen. + +»Hat denn wer am Zaun gestanden?« + +Renate fragte, gleichzeitig mit Irene, wie ihr Besuch denn aussehe. »Du +kennst ihn ja selber,« antwortete Irene, »er heißt Klemens, er war auf +meiner Hochzeit, seitdem kann er sich allerdings verändert haben.« + +»Dann war ers glaub ich nicht,« sagte Renate, »dieser hatte keinen Bart +oder einen ganz blonden, soviel ich sah, und Klemens war doch --« + +»Einen blonden?« fragte Irene erschreckt und blieb stehn, »dann war es +wohl ... Wie sah er denn aus, was hatte er an?« + +»Einen Havelock und eine englische --« + +»Albert!« schrie Irene, »mein Schwager wars! Er ist verschwunden vor +acht Tagen! Aber das ist ja --! Entschuldige, bitte, ich muß sofort zu +-- Am Zaun blieb er stehn, sagtest du? Ach, das ist ja --« damit war sie +fliegend hinaus. + +Also das wars, dachte Renate. Und Ägidi ist unten im Zimmer. Albert Vehm +war doch erst vor kurzem aus Arosa zurückgekommen. Wie er nach den +Kindern fragte ... Ich will doch lieber gehn! dachte sie und stand auf. +Überdem wurde die Tür geöffnet und Herzbruch trat ein, trotz des Winters +in seinem hellen Anzug, breit und stämmig und fröhlich, mit funkelnden +Brillengläsern. Wo denn Irene sei, fragte er gleich, und ob Klemens -- +sie kenne ja wohl seinen Freund Klemens, nicht da sei. Renate verneinte +und erzählte noch einmal ihre Begegnung mit seinem Schwager, während +jetzt Herzbruch im Zimmer auf und nieder ging, die Hände auf dem Rücken, +zuweilen am Tisch stehen bleibend und drauf nieder blickend, als zähle +er die Gedecke; als das Mädchen wieder eintrat, fragte er, welche Herde +denn da zur Krippe gehn solle, und da das Mädchen Almanach stammelte, +legte er ihr vernichtend die Hand auf die Schulter und sagte, es heiße +Manach, Manach, und sie könnte ruhig noch mal so laut reden. Das Mädchen +wurde glühend rot und entlief, -- zu Renate sagte er nur: »Das sind +alles schwere Sachen, aber auf meine Schwester kann ich mich verlassen; +was sie tut, unterschreib ich.« + +Im Augenblick danach trat sie zur Tür herein, Irene hinter ihr, dann +Ägidi. Es ist ja genau wie damals, dachte Renate, nur alles viel +deutlicher und noch bänger. Dora Vehm freilich schien, wohl durch +stärkeren Zwang als damals, gelassener, warnte mit ihrer hellen Stimme +Renate vor den Masern; Alle setzten sich wie von selber wie damals um +den Tisch; nur Georg fehlte; auch damals war Jason später gekommen. +Irene war still, auch Ägidi. Dora berichtete Renate einiges von den +Kindern, es gehe schon besser, sie seien munter, Jason sei noch bei +ihnen. -- Renate tat eine Frage nach Klemens, und Herzbruch antwortete +unbedenklich, ja, der habe seine eignen Methoden, komme oder komme +nicht, vielleicht sei er erst bei seiner Schwester, er komme aus Irland. +-- Renate erinnerte sich der kleinen Virgo, die jetzt ein Kind erwarten +sollte ... + +Nun sagte niemand mehr etwas, die Schüsseln gingen umher, dann öffnete +sich die Tür, Herzbruch sah auf und sagte: »Da ist der Kalender.« + +Jason kam herein, gab Allen leise kopfschüttelnd die Hand, setzte sich +und fing an zu essen. Nach einer Weile blickte Herzbruch auf. + +»Also, Kalender,« sagte er, »können Sie nicht etwas anregend wirken? +Stellen Sie doch einmal einen Satz auf.« + +Jason erwiderte höflich: »Gewiß, gern. Indem ich den Anblick zweier +essender Ehepaare genieße, muß ich den Satz aufstellen ...« + +»Zweie?« Herzbruch ließ den Mund still stehn und sah ihn mißtrauisch von +der Seite durch die Brille an. »Sie haben ja 'n Vogel!« + +»Das sagen Sie so,« erwiderte Jason, derweil Renate den Blick auf Dora +vermeiden mußte, »aber mein Satz beruht eben darauf. Ich gedachte +nämlich zu behaupten, daß man zwischen hundert Ehepaaren beliebig viel +Vertauschungen vornehmen kann, und kein einziger der Betroffenen vermag +es zu bemerken.« + +Ägidi fragte: »Sag mal, -- bist du immer so?« + +Nicht immer. Er sei verschieden, meinte Jason. + +Früher sei er weniger nervös gewesen, bemerkte Ägidi. + +Oh, er sei nicht nervös. Ägidi meine das Kopfschütteln. Das sei +pathologisch. + +Irene erklärte, er habe damals den Schiffsuntergang mitgemacht, blieb +aber stecken und rief heftig tränenden Auges: »Wir haben Alle Esther +schon vergessen!« so daß Renate erschrak. + +»Die Zeit vergeht,« sagte Jason ruhig, »die Zeit ist sehr gut. Es giebt +nicht annähernd so Gutes. Sie wird mir auch mein Kopfschütteln wieder +nehmen. Ja, das Schiff war sehr groß und ging doch unter. Andre wurden +wahnsinnig, ich habe das Kopfschütteln.« + +Die Stille saß unheimlich und sich blähend vor Klemens' leerem Teller. +Renate war weit fort, sah Esther in ihrem Garten, in Josefs Zimmer, +immer blaß, gern lächelnd, arbeitsam, still. Sie hörte Jason durch +Schleier sprechen, dann Irene, die zu erzählen schien, wie sie ihren +Mann bekommen hatte. Herzbruchs Stimme ertönte schwer und gewichtig +dazwischen, nun sah sie wieder den Herzog im Schloßhof stehn, barhaupt, +mit einem Heiligenschein, und -- -- sieh, da war ihr Lächeln wieder da! +Renate stand auf, da die Andern aufstanden, Dora ging gleich darauf aus +dem Zimmer, das Mädchen deckte den Tisch ab, Renate fing an, auf und ab +zu wandern, nahm ihre Muffe vom Sofa und wärmte sich. Jason hatte sich +vor Irenes Vitrine gesetzt, öffnete sie, nahm dies und jenes hervor und +betrachtete es; Renate blieb hinter ihm stehn und sah zu, ohne etwas zu +sehn. Noch eben war Wageninneres, und der Herzog und hundert bewegte +Gestalten, auftretend und schwindend, -- dann nur Stille der +Winternacht, ihre Schritte, und im Dunkel, am Gartenzaun, der dunkle, +wartende, einsame Mensch ... Wie war doch alles wirr! Nun Dora Vehm, und +jemand ward erwartet, Ägidi kam und ging, Alle trugen etwas, und jeder +sagte: Nichts ... ich trage nichts ... + +Renate schreckte auf, da sie sich auf dem Sofa fand; mitten im Zimmer +stand Irene, wieder in ihrem weißen Tuch, und sagte: »Aber Jason, was +machst du denn da?« + +Renate folgte ihrem Blick, sah links in ihrer Nähe das Ende des Flügels, +sah ihn schräg ins Zimmer ragen, aus der Ecke, wo unter der hohen Figur +des delphischen Wagenlenkers, die tief im Schatten stand, Jason saß, die +Lider gesenkt, die Arme hin und her bewegend, als ob er spiele, aber er +brachte keinen Ton her. Renate sah ihn schweigend an, nichts erfolgte, +Jason bewegte hin und wieder das Gesicht, als folge er seinen Händen in +Baß und Diskant, dann hoben sich langsam seine Lider, Renate fand seine +Augen leise glänzend auf sich gerichtet, er sagte -- und im selben +Augenblick hörte Renate deutlich -- und doch gab es keinen Laut im +Zimmer als Jasons Stimme -- die Töne, die langsam sich hinzählenden, +unendlich beruhigenden Sechszehntel des ersten Präludiums aus dem +Wohltemperierten Klavier, und Jasons Stimme sagte darüber: »Ich weiß, +was du denkst.« + +Und nach einer Weile, während die Sextolen ruhig weiter perlten: + +»Das Leben ist nicht wie in Schriften und Büchern der großen und kleinen +Autoren. Es ist wie auf Triften dort klar und erkoren, wie Springen der +Lämmer, wie Singen von fern, wie des Hirten Schalmei, nicht im Dämmer +der Unzahl verloren. Es löst sich ein Schicksal wie Duft aus den Poren +der Blumen, du atmest und riechst es dabei, und da glüht es und scheint +dir, und Lippe, die redet, und Lippe, die weint, ist dir alles vertraut +und benennbar und gar nicht unsäglich, auch jenes, das dumpf und +ergraut, -- denn es waltet nur eines zur Zeit, und das Leid und das +Licht, und die Nacht des Geweines, der Tag voll Verzicht und die Treue +des Steines, sie wechseln und ruhn, sie verwechseln sich nicht, und hat +jedes sein Wort und Gesicht und besonderes Tun, und du siehst es sich +klären. -- -- Du aber gehst mit gebundenen Händen und kannst dich nicht +wehren, du wanderst und stehst, und bist niemals allein, und hast keine +Erfahrung. Wie Farben im Staube der Wasser sich bilden, ohne Gewicht, +ohne Odem und irdische Nahrung, so siehst du die wilden, die niemals +erkannten, verwandten Geschicke sich wölben am Weg, und wanderst vorüber +mit gänzlich verzaubertem Blicke, dir selber in Farben und Lichtern wie +seltsame Städte mit vielen Gebäuden und Angesichtern unkenntlich +erscheinend; und nichts ist bestimmt, und wo etwas beginnt erst, da +scheint dir ein Ende, und wo es verschwimmt, scheint dir alles +versteint, und lautere Rufe und bunteres Leuchten verschlingen dein +Eigentum, -- dunkel die Stufe, so dunkel das Zimmer und dunkel dein Auge +ins Dunkel hinein, und nur von deinem Blut der rote Schimmer, wenn die +Stunde kam, die eine, deine Stunde, -- und du bist allein.« + +Es tropfte heiß auf Renates Hand. Sie bat Jason mit einem Blick, ihre +Augen loszulassen, und gleich senkte er die Lider über die seinen. +Seltsam groß und schön, aber wie in weiter Ferne, schwebte der +mattleuchtende violette Umhang der Lampe über dem Eßtisch; davor stand +Irene unter ihrem Tuch, Renate den Rücken wendend. Mein Gott, sie weinte +ja, -- was war denn zu weinen? Leise klappte der Klavierdeckel, Jason +stand auf, ging zu Irene, legte die rechte Hand auf ihre Schulter, und +hielt seine Hand gegen das Licht, so daß Renate ihren Schattenriß sah, +und sagte: + +»Siehst du wohl, da drinnen sitzt die ganze Musik, Bach, Berlioz und +alles. Manchmal, wenn ich so in der Dämmerung sitze, kann ich die +kleinen Notenfunken herausspritzen sehn, und wenn ich sie bloß auf einer +Tischplatte die Griffe machen lasse, höre ich die herrlichste Musik. +Kein Mensch weiß, wieviel zu hören wäre, wenn es nur einmal ordentlich +still sein dürfte. Aber ihr habt euch ja nun einmal das Lärmen +angewöhnt. Wie ist es, Renate,« fragte er, sich umwendend, »ich kann +Reinhold wohl sagen, daß er noch etwas warten soll?« sprachs, nickte +winkend und ging hinaus. + +Vor Renates Augen senkten sich Schleier um Schleier; immer ferner +schwebte das sanfte Licht, das nun Jasons Stimme seltsam verschwistert +war. Auch Irene war nicht mehr da, es war nichts mehr, die Zeit war +hinausgegangen, nur noch die Stille webte im Raum, fast konnte sie die +Fäden sausen und Maschen fallen hören, und langsam schwebte der +schattiggrüne delphische Lenker herab; starr, wie die Kannelüren einer +Säule flossen die Falten seines Rockes zu Boden, er hielt die Zügel ganz +leicht, matt glänzte das Gold seiner Stirnbinde, ruhig blickte das Auge +gradaus, der volle, wie zum Pfeifen gespitzte Mund blieb stumm, und +unsichtbar in den Zügelriemen bäumten sich die Geschicke. + +Es war wieder heller; eine Stimme, Irenes Stimme sagte von drüben, vom +Kamin her, -- ihr Tuch schimmerte dort: + +»Dieser Mensch geht nun ein und aus bei dir und mir und trägt das +Jenseits in der Hand wie einen kleinen Vogel. Kannst du denn noch +wissen, wenn du ihn recht ansiehst, was Gut und Böse ist? Ist er denn +gestorben? Und nimmt er an uns und allem nur Anteil, weil er noch mit +unsrer Gestalt bekleidet ist und nicht ganz zur Ruhe kommen kann? + +»Ich glaube, er hat, noch eh wir ihn kannten, so viel menschlichen +Jammer mitgelitten, daß er sich hat dran gewöhnen müssen, und das +Schrecklichste ist ihm nun das Einfache; wie gutartig und leicht müssen +da wir ihm --« + +Sie brach ab. Tief und deutlich fragte Herzbruchs Stimme durch den +Vorhang aus dem Nebenzimmer: »Bitte, wie spät ists?« + +Irene antwortete nach einer Weile: »Dreiviertel zehn«, und im Augenblick +danach schlug die schwere Pranke der Standuhrglocke in Herzbruchs Zimmer +dreimal summend auf. Als sei nun alles wieder in Bewegung -- so schien +es Renate --, fiel neben ihr Irenens weiß und gelber Angorakater von der +Fensterlehne auf das Sofa, duckte sich, kroch dann auf ihren Schoß. +Lazarus hieß er, weil er so gern in Schößen saß. Da trat auch Jason +wieder ein. Renate hatte das Gefühl, gehen zu müssen, aber nun hatte +Jason ja gerade dem Chauffeur aufgetragen, zu warten. Einige Minuten +lang sprach niemand ein Wort im Zimmer; nebenan wurde ein Stuhlrücken +hörbar, Herzbruchs Schritte machten den Boden leise beben, er setzte +sich wieder. Jason sagte: + +»Ich hab vergessen: Ägidi läßt sich entschuldigen, er ist fort. Dafür +kommt ja nun Klemens.« + +»Heut abend noch?« fragte Irene. »Das ist ja Unsinn!« + +Jason erwiderte nichts. Renate dachte an das, was er eben vom Klavier +aus gesprochen hatte, konnte sich aber nur auf den Anfang besinnen: Das +Leben ist nicht wie in Büchern und Schriften der großen ... Nun schien +es noch stiller zu werden. Jason saß am Eßtisch, ganz grade, die +Unterarme auf der Decke. Einmal griff er nach dem Umhang, hob ihn und +blickte, die Augen halb schließend, nach den Glühbirnen; ein Lichtstreif +fiel dabei ins Zimmer. Ganz hell schrillte die Hausglocke. Renate zuckte +zusammen, Irene richtete sich im Sessel auf und saß still und grade. +Wieder gingen Minuten, Schritte wurden auf der Treppe, auf dem Flur +hörbar, das Mädchen trat ein und meldete: Ein Herr wünsche Herrn Doktor +zu sprechen. Irene stand auf, murmelte etwas Unverständliches, rief: +»Otto!« kaum laut genug, daß er es hören konnte. + +Das Mädchen wich zurück, wieder kamen Schritte, in der offenen Tür +erschien eine untersetzte kräftige Gestalt in dunklem Anzug, den +Rockkragen hochgeschlagen, und Renate erkannte Klemens' schwarze +Bartfräse, die dicken Brauen und die schwere Nase. Er verbeugte sich mit +dem Rücken statt mit dem Nacken und sagte: »Guten Abend.« + +Jason stand auf und gab ihm die Hand, Irene lief plötzlich zur +Vorhangtür und rief hindurch: »Otto! kannst du denn nicht hören?« + +Der erschien gleich darauf in der Tür, blieb stehn, sah, wie er pflegte, +durch die obere Hälfte der Brillengläser umher, sah Klemens und war mit +zwei gewaltigen Schritten bei ihm, schüttelte ihm die Hand und sagte +weiter nichts als: »Na, da bist du ja!« Klemens lächelte nur. + +»Hier ist meine Frau, du kennst sie ja noch,« sagte Herzbruch, »und das +ist Fräulein von Montfort.« + +Nun ging er zu Irene und gab ihr die Hand, ebenso Renate. + +»Jetzt essen!« meinte Herzbruch, »Irene, er will essen.« + +Klemens dankte, er habe ... + +»Keine Widerworte,« sagte Herzbruch, »du --« + +»Nein, wenn ich doch sage,« versicherte Klemens, »ich hab anderthalb +Pfund Bananen ge--« + +Bananen? Ob das Essen wäre! »Nichts da«, sagte Herzbruch, Klemens aber +beharrte: »Na, Höllenelement, ich will aber nichts fressen!« + +»Oh la la --« sagte Irene wie zu einem Kutschpferd, »schreit er immer +so, Otto?« + +Herzbruch drehte sich halb nach ihr um, sagte dann: »Ja.« Darauf zu +Klemens: »Sag mal, hast du eigentlich keinen Mantel? Hör mal, du bist ja +klatschnaß! es schneit wohl wieder?« + +Klemens lachte und erklärte, seinen Mantel hätten sie ihm unterwegs +weggenommen. »Da war so ein Knabe, weißt du,« sagte er, »kam aus Kiew, +war ausgewiesen, wollte nach England und ließ sich so von einer +jüdischen Gemeinde zur andern bugsieren, war aber leider das Frieren +nicht gewohnt wie ich.« + +Irene, die den Männern den Rücken zudrehte, sagte halblaut zu Renate, +die vor ihr stand: »Der ganze heilige Martin auf Ottos Kosten«, und +drehte sich weg. Herzbruch zog seinen Freund in einen der Sessel am +Kamin und setzte sich zu ihm. »Ja, nun also schlafen,« riet er, »Irene +--« + +Das würde kaum gehn, sagte sie obenhin, Jason bliebe doch natürlich hier +bei dem Wetter, wie immer, und im andern Zimmer hinge Doras Kinderwäsche +zum Trocknen. Herzbruch sagte, dann würde die eben abgenommen. + +Das Mädchen sei schon schlafen gegangen, es wäre zehn Uhr. + +Klemens lehnte sich derweil hintenüber und wollte sich lautlos +ausschütten vor Lachen, als ginge der Streit gar nicht ihn an. Herzbruch +schwieg eine Weile, sah seine Frau mißtrauisch an, bemerkte dann kurz: +»Also sorge bitte für eine Decke für mich, er schläft in meinem Bett. +Bring auch was zum Trinken mit.« + +»Wein oder Bier?« sagte Irene. + +»Danke, keins von beiden, ich --« + +»Denn nicht«, sagte Irene und ging hinaus. Klemens sprang auf, lief zur +Tür, machte sie auf und rief: »Ich trinke nur Wasser, Rebekka, klares, +biblisches Brunnenwasser!« und lachte. + +Herzbruch, wider Willen mitlachend, sagte: »Sie heißt nicht Rebekka«, +worauf Klemens meinte, sie schiene ihn jedenfalls für ein Dromedar zu +halten. Dabei sah er den Wagenlenker in der Ecke, ging daraufzu, faßte +ihn ins Auge und sagte: »Ah! -- Das ist schön! Wer ist das?« + +Jason, in der Vorhangtür neben ihm, erklärte, es sei der sogenannte +delphische Wagenlenker. Klemens ließ ihn nicht ausreden und beklagte den +fehlenden Arm. Aber man könnte doch sehn, wie die Zügelriemen aus den +Händen flössen! Und dieser achtsame, unbeeinflußbare Blick, dieser +pfeifende Mund! Über das Klavier gebeugt, spähte er nach den Füßen und +pfiff durch die Zähne. + +»Wetter noch mal,« sagte er, »wie die Füße dastehn! aufgesetzt, +festgesaugt, und der Faltenfall des Rocks, dieser Reichtum, wie das +niedergießt! Er hat ja Lorbeern im Gehirn. Ja, der weiß, was es heißt, +dastehn im Tumult der Begeisterten, im Toben, im Gelächter, das sich +überschlägt, und tausend winkende Hände, Kopftücher, Zweige, Tumult ... +In Marseille,« sagte er zu Herzbruch hinüber, »weißt du noch? Jean +Jaurès, der hatte sie so an den Händen, mehr als zwei glatte Gäule, +zehntausend, zehntausend Köpfe, zehntausend Herzen, aus seinem Herzen +gelenkt, daß sie schreien mußten, atemlos und lachend vor Erschöpftheit +...« + +Renate hatte schon vor einer Weile Dora Vehm in der Tür erscheinen sehn +und hörte nun ihre helle Stimme -- wie heiß und schwarz doch ihre Augen +waren und das ganze dunkle Gesicht leuchtend durch und durch von Leben +und Seele! --: »Aber Klemens, das können Sie doch auch! Wissen Sie nicht +mehr: Jena ...?« + +Klemens drehte sich um, streckte die Hand nach ihr aus und freute sich: +»Dora Vehm,« sagte er, »alter Kamrad, was macht denn die Küche?« + +Jason trat leise neben ihn, klopfte ihn auf die Schulter und sagte: +»Sie! Ich bin auch ein Redner. Ich könnte auch eine Rede halten, aber +Irene hat heut abend keinen Sinn mehr dafür.« + +Irene stand mit einem Glas Wasser auf einem Teller, das sie +augenscheinlich Jason an den Kopf werfen wollte. Der fuhr indessen fort: + +»Sehen Sie, da hat der Delphier nun jahrelang in seinem Winkel +gestanden, kein Mensch weiß wozu, und nun kommen endlich Sie und +benutzen ihn, um Ihre schöne Seele zu offenbaren. Sehen Sie nicht auch, +Dora, daß es kein Wagenlenker, sondern ein Redner ist? Wenn Naumann den +Rock anhätte --« + +»Gut, Herr Adreßbuch,« sagte Klemens, »Sie haben es vortrefflich +ausgedrückt.« + +Jason schien darauf gekränkt und meinte, er drücke alles vortrefflich +aus, und ob das vielleicht jemand für ein Vergnügen halte, worauf er +sich abwandte. + +Irene stand steif wie aus Gips mit ihrem Teller. Eben noch versunken in +Jasons >schöne Seele<, dachte Renate, und nun ist sie zur Spinne +geworden. -- Da sah Klemens das Glas, ging hin, ergriff, tranks aus, +setzte es wieder auf den Teller und bedankte sich. + +Renate war froh, daß Herzbruch ihn nun mit sich in sein Arbeitszimmer +zog; sie saß auf dem Sofa, ungeduldig fortzukommen. Klemens gefiel ihr, +aber wie laut war es auf einmal geworden! All die hellen und dunklen +Stimmen, Irenes, Herzbruchs, Doras, Klemens', dröhnten durcheinander; +sie sehnte sich wieder nach dem Schweigen ihres Zimmers, ja fast nach +dem Schweigen des ganzen Hauses. Da flog auf einmal Irenes Teller neben +ihr aufs Sofa, sie gewahrte nachträglich die schlenkernde Handbewegung, +mit der Irene, jetzt mitten im Zimmer stehend, den Teller geworfen +hatte. Jetzt raffte sie mit zwei flügelhaften Bewegungen der Ellbogen +ihr Tuch, das über den Rücken herabgesunken war, wieder um die +Schultern, warf den Kopf nach hinten gegen das Nebenzimmer zurück und +sagte nachdrücklich: »Pfui Deubel!« + +Dora trat neben sie und mahnte: »Na, na, Kind!« + +»Mich friert«, sagte Irene tief und hart. »Ich glaube, vor dem fürcht +ich mich. Man kann seine Augen nicht sehn. Hat er Augen, Dora? Renate! +Dann müssen sie durchsichtig sein, und nichts ist dahinter.« + +»Richtig! Sehr gut!« lobte Jason. »Er hat Seefahreraugen. Auf allen +Seiten das Meer.« + +»Und sein Mund,« fuhr Dora fort, »daß du's weißt, ist wie der des +Delphiers.« + +»Auch das noch«, murrte Irene. »Wenn er auch sein Kinn hätte, wär mir +der Delphier ganz verekelt.« + +Renate stand auf; sie hatte genug. Auch Doras Gesicht schien ihr jetzt +verfallen und welk. Sie ginge mit ihr hinunter, sagte sie zu Renate; zu +Irene dann: »Laß uns schlafen gehn, Kind, der Tag war voll genug. Laß +uns schlafen und geduldig sein.« + +Sie umarmten sich, gingen zum Vorhang, winkten hinein und riefen: »Gute +Nacht, ihr Männer!« Irene küßte Renate flüchtig, die mit Dora zur Tür +ging, aber sie waren noch nicht hinaus, als Renate Irene fast ängstlich +rufen hörte: »Dora! -- -- Dora! was wird aus uns werden?« + +Dora wandte sich nach ihr um. Mit tieferer Stimme sagte sie ruhig: »Was +fragst du mich? Ich will standhalten. Das andre findet sich. Sei nicht +töricht, Irene! Und mach dir keine Sorge um mich. Ich habe meine Kinder. +Solange ich die habe --« + +Sie verstummte, strich hastig mit der Hand übers Gesicht, lächelte +Renate fremd zu und führte sie hinaus. + +Auf den Treppen und dem Weg zum Automobil sprach weder Renate noch Dora +ein Wort, -- aber als sie öffnete, saß bereits Jason darin, pfiffig im +Dunkeln. Sie fuhren, ohne Licht gemacht zu haben. Bald überfiel Renate +von neuem die Unrast, sie kam nicht schnell genug vorwärts und in ihr +Zimmer, und sie preßte unter der Pelzdecke die Finger ineinander, bis +sie Jasons Hand fühlte, die er auf die ihren legte, die sich nun +leichter zusammenschlossen. Und es dauerte keine Minute, so ward sie +ruhig und ruhiger, ihr war, als ob ihr ganzes Wesen schmelze ins +Allgemeine und Sanfte, und da zogen langsam von links nach rechts die +Gesichter des Tages vorüber, das des Herzogs, Doras, Ägidis, Irenes und +ihres Mannes, und das von Klemens, und nicht nur diese, sondern auch die +nicht gesehenen Georgs, der fremden Sigune und ihres Lehrers, zwar diese +kaum sichtbar, aber sie wußte, daß sie es waren, und das Schwinden eines +jeden fügte eine neue Erleichterung zu der alten. Wie leicht rollte der +Wagen durch die Nacht! Sie freute sich auf ihr Zimmer, dachte, daß von +allen verworrenen und unkenntlichen Schicksalen keines zu ihm Zutritt +habe als das ihre, ja vielleicht nicht einmal das, und überdem fielen +Jasons Worte ihr wieder tropfend ins Herz: Das Leben ist nicht wie in +Schriften und Büchern ... Sie suchte den Weitergang, aber die rechten +Worte fand sie nicht, glaubte jedoch nun erst zu verstehn, was sie erst +nur als Musik und Wohltat empfunden hatte. Vielleicht, dachte sie, ist +wirklich das viele und frühe Lesen schuld an so mancher Wirrnis, mancher +Ungeduld, und wieder hörte sie's tönen: Das Leben ist nicht ... + +»Wie hieß es doch,« fragte sie leise nach dem unsichtbaren Jason +hinüber: »Das Leben ist nicht wie in Büchern und Schriften, denn dort +... Ich verstehe es nicht mehr ...« + +»Dort,« hörte sie seine Stimme gedämpft, »dort scheint es dir, als +sähest und hörtest du alles zum ersten Mal, was geschieht, was sie +sagen, dieser und diese, jener und jene, was sie denken, was sie tun und +erleben. Dir aber ist alles angefüllt mit der Erinnerung, weißt du es +nicht? Überall tönts dir entgegen: Erinnerung ... Erinnre dich nur! +erinnre, erinnre dich! Und: Erinnerung! denkst du versunken und siehst +von allem nichts, wie es ist, sondern immer in allem nur das, woran es +dich erinnert ...« + +»Und dies auch,« sagte sie fragend, »daß dort immer Gestalt um Gestalt +so sichtlich und klar sich erhebt; und so kenntlich und gesondert in +Farbe und Erscheinung bildet sich aus Schicksal und Anteil ein leichtes +Geflecht, -- ist es nicht so, Jason?« + +»Und eines hat soviel Gewicht wie ein andres,« vollendete er, »alles ist +abgewogen und schwer befunden. Wenn aber ein Mensch erscheint, und nur +einer ist vor ihm da, so glaubst du schon viel zu wissen, und was auch +sich ergiebt und ereignet, es scheint, als hättest du es geahnt.« + +»Am Ende aber,« begann Renate von neuem, »am Ende löst sich alles doch +irgendwie, ob im Guten oder im Bösen; wie ein längst erwarteter Gast so +einfach kommt der häufige Tod, und wenn es denn aus ist, so ist auch +immer alles gänzlich und ein für allemal zu Ende.« + +»Ja,« sagte Jason, »ja, da erwartest du denn auch in deiner eignen Welt +dergleichen und bist erbittert womöglich, gekränkt und schon ungeduldig, +wenn jenes nicht kommt, und dieses ganz andere erscheint, und --« + +»So brüchig, Jason, nicht wahr, ohne Weiche, nüchtern, ohne Absicht, +ohne Übergang, ohne alle Musik, ohne Klang und Gesang --« + +»Da in Büchern«, fuhr er ruhig fort, »doch alles gesungen scheint ...« + +»Ach, aber in Wirklichkeit, Jason, ist nichts unterschieden vom andern, +nichts ist zu ahnen, nichts wird kenntlich, es wirbelt alles und +versitzt sich, Stimmen schallen fern und nah, überschallen, bekriegen +sich fassungslos --« + +»-- und jedes«, bekräftigte er geduldig, »_scheint_, es scheint so oder +so und ist doch anders, ganz anders in Wahrheit, tiefer das Flache, +schwerer das Leichte, unerträglich das Schwere, unendlich das +Unerträgliche, und du siehst: es trägt sich doch. Nichts wird dir +zugewogen, es stürzt über dich herein, Fremdes, Verwandtes, Bittres, +Unbekanntes, Lustiges, Trübes, Buntes, Klagendes, Weinendes, alles ist +dir ein Unsal von Gewalt, und zu jedem kommst du viel zu spät, denn es +ist längst bei dir, wenn du dich aufmachst nach ihm ...« + +»-- und nichts nimmt nirgends ein Ende ...« + +»Aber dennoch, Kind,« sagte er beschließend, »wenn du allein bist mit +deinem Bett, deiner Wand, deiner Lampe, so hat dich auch alles +verlassen, denn da Bild und Erscheinung alle fern sind, woran kannst du +dich erinnern, um dein eigenes Schicksal zu erkennen? -- Du siehst dich +selber kaum, die Nacht steht fremd dabei, und vor dem Fenster rauscht +der alte Baum, und dich umrauschts, und jemand sagt: Verzeih ...« + +Renate erkannte im Dunkel die Laternen und Vorgärten der Güntherstraße. +Jasons Hand löste sich, sie schlang hastig die Arme um seine Schulter +und küßte seine Wange. -- Zu Reinhold sagte sie, er möchte Jason nach +seiner Wohnung fahren. + +Dann schien sie sich aus dem Wagen ohne Übergang in ihr Zimmer geraten, +unsichtbare Hände nahmen ihr die Kleider ab, sanfte Müdigkeit nahm ihr +auch die Glieder, rauschte es in der Nacht? Zweige oder Flügel? In +weiter Ferne zeigte sich ein ernstes Gesicht. -- Ich warte! sagte sie. + +Dann schlief sie ein. + + + Sechstes Kapitel: April + + + Zinna + (Georg an Benno) + + xten April, im Fahren + +Mein guter Benno: + +Fahrt durch Land Beuglenburg. Das Wagenverdeck ist hoch, es hat eben +aufgehört zu regnen, oder vielmehr ist Nebel aus dem Regen geworden. +Links, rechts, vor mir, hinter mir: Moorlandschaft, öde Ebenen, auf +denen die Nebel eines ewigen Februars zu stehn scheinen. Schwarze +Bohrtürme auf dem Horizont machen keinen ermutigenden Eindruck. Ich +rolle dahin, ich flüchte über diese rollende Kugel Erde, auf der wir ein +kleines, flach scheinendes Stück kennen. O Polykrates, o Schiller, o +idealische Gefühle! Ich sage nicht, daß alles käuflich sei, ich bin +milde gelaunt, obschon trostlos, und sage, daß alles gekauft sein will. +Erzählte ich Dir nicht einmal von einem sonderbaren Traum, von einem +Filmfestzug, in den ich nicht hineingelangte? Weiland Josef Montfort +prophezeite: so erginge es mir im Leben. Meine Gedanken, die es an sich +haben, immer merkwürdig leichtfüßig zu bleiben, tragen mich eben in +Hauffs Geschichte des jungen Said. Er mußte in Balsora Teppiche und +Schleier feilbieten, obgleich er das Patenkind einer Fee und im Besitze +ihrer Gabe, einer kleinen Pfeife war, die ihre Hülfe in jeder Mißlage +seines Lebens herbeizaubern würde, -- nicht jedoch --: vor seinem +einundzwanzigsten Lebensjahre. Vielleicht hab ich auch eine Flöte, eine +Fee, einen Ablauftag des Unschicksals, und dies vielleicht, dies +Mädchen, diese Heirat -- ich kehre ins obere Gleichnis zurück -- ist der +letzte, endgültige Preis, mit dem ich mich zum Handelnden in den Film +einkaufe, so daß ich mein eigen Bildnis im Schwarm der Schreitenden, +Triumphierenden irdischen Göttern gleich werde dahinfliegen sehn. -- + +Aus der Ebene, über den Nebel steigt ein schwarzer Kegel, Türme einer +kleinen Stadt werden an seinem Fuße sichtbar, jetzt auch Türme auf dem +Kegel: Schloß Zinna. Dort oben haust das andre Opfer, die arme Braut, +und macht sich von dem Kommenden die sonderbarsten Vorstellungen. -- +Herrgott, ist dies ein Land! Um diesen Morast auszubessern, werde ich +ganz Trassenberg hineinschütten müssen. Hinter der Grenze war mit einem +Schlage alles anders. Dieser Tag ist so trostlos, daß er Einöden und +Paradiese einander ähnlich machen könnte, aber bei Beuglenburg und +Trassenberg brachte ers nicht zustande. Ich kam durch Landstädte, so +langweilig wie Speisekammern, in denen alles aufs Geratewohl irgendwo +hingestellt ist. Die Dörfer armselig, verfallen, schmutzig, an keinem +Fenster mehr eine Blume, die Kinder schmierig, dickschädlig, dünnbeinig, +ekelhaft selbst die keifenden Hunde. Dann die Moorkanäle, schwarze +Lineale, entseelte Gräben; auf den breiteren, über die ich hinjagte, -- +da kommt wieder einer! diesmal läßt sich sogar ein Segel drauf sehn, ein +braunes, welkes Blatt -- diese langen Kähne, die vorwärtsgestakt werden. +Nun, wozu schreib ich das? Schloß Zinna wird sichtbar, es scheint ein +getünchtes Kloster, lange Fronten mit unzählbaren, kleinen Fenstern, +stumpfe, runde und eckige Türme. Meine Hupe wird ihnen wie ein +Gjallarhorn dröhnen, wenn ich in die eremitischen Höfe fahre. + +Guter Benno, Du bist einer der wenigen, die meine Geschichte von Anfang +kennen, ich glaube sogar der Einzige, der sie überhaupt kennt. Erinnerst +Du Dich noch der ersten Stunde im Schlößchen, wo ich von Napoleon +erzählte? Ob ich gegen Sterne kämpfe oder mit ihnen, -- wer weiß es? Ich +bin den Weg weitergegangen, der -- hoppla, das war ein Sprung auf die +Brücke! Dies muß der Styx gewesen sein, so sah er aus, trotz eines +Motorbootes, das an der Brücke lag. Vor mir liegt ein Stadttor, ganz +mittelalterlich. Später weiter. + + Nachts + +Ich fahre einfach fort: + +Durch schaurige Straßen von Kopfsteinen, über einen ganz netten +Marktplatz mit Kugellinden, wieder zur Stadt hinaus, durch eine alte +Allee zerfallender Kastanien -- braune Vorjahrsblätter an schwarzen +Ästen und auf dem schwarzen Boden -- brauchte der Wagen auf endlosen +Schlangenwegen fast eine Stunde hinauf; oben zeigte sich wenigstens +schöner Fichten- und Birkenbestand, aber die Hecken im französischen +Park -- durch die Gittertore sah ich hinein -- schienen seit hundert +Jahren nicht beschnitten, die Einfassungen der Teiche zerfielen an der +Luft, die Sandsteinfiguren fehlten auf den Postamenten -- wie enthauptet +standen sie da --, die Becken lagen voll modernden Laubes. Dann der +Schloßhof, himmelhohe Mauern im Rhombus mit violetten blassen Fenstern, +die drei Fische im Wappen überm Tor nicht mehr zu erkennen, im +Jahrhundertregen, der hier fällt, davongeschwommen, die Helmzier mit +Taubendreck besudelt, -- ja, es gab Tauben; da sie liefen und nicht +sprangen, können es keine Dohlen gewesen sein. Drinnen stand Eiseskälte, +standen erfrorene Menschen mit einem steifen Spruchband vorm Mund, -- +eine Kälte übrigens, die in meinem Blut die letzte Wärme prickeln ließ, +so daß ich mich vermutlich mit jovialer Munterkeit benommen habe ... + +Ich sitze nun an einem von diesen hundert Fenstern im längsten Bau; es +ist Nacht, aber der Mond ist da, eine kümmerliche Sichel, die sich +schwermütig durch unablässig flutendes Gewölk dahinwühlt, und wenn ich +mich hinausbeuge, kann ich diese hundert Fenster leise blitzen sehn, +flach auf die Mauer geklebt, als wäre nichts dahinter. Die Nacht ist +kühl, aber ich glühe, von Wein, Rührung und Mißmut, habe so viel +geschwiegen, daß ich mich nun sehr geschwätzig fühle, die drei Kerzen im +silbernen Leuchter schneuze und von der Schreibeschrift in die +Stenographie übergehe -- ach, Benno, wann war das, als wir Primaner, +Sekundaner waren und unsre Ferienbriefe stenographierten, teils wegen +Lernens, teils wegen überschwänglich viel zu sagender Dinge! Kannst Du +denn immer noch lesen, guter Benno? Also lies: + +Bei den erfrornen Menschen blieb ich stehn -- vielmehr wurde ich von +ihrer einem, seines Zeichens persönlicher Adjutant, zur Disposition +gestellter Jägermajor, über Treppen und Galerien in ein stockdustres +Gemach geführt, in dem jemand zu sitzen schien. Nach einer Weile +erkannte ich einen Kopf, der einem riesigen, gekochten weißen +Fischaugapfel glich (wir polkten sie als Kinder aus den Augen der +Schellfische!). Ich hörte ein Gemurmel, murmelte ebenfalls, der Adjutant +murmelte, noch ein Mensch -- der Hofkammerrat -- murmelte, wir +verbeugten uns Alle, ich stand wieder draußen. Das war der Großherzog, +königliche Hoheit. + +Ich folgte von neuem beiden Erfrorenen und kam in einen Saal; große +dunkle Gemälde an den Wänden, ein Tisch und fünf Sessel, drei um den +Tisch konstelliert, zwei an den Türen. Durch deren eine erschienen zwei +so völlig schwarze Gestalten, wie ich sie nicht für möglich gehalten +hätte, eine große, hagre, alte mit einem schauderhaft törichten Gesicht; +die kleinere, andre, zitterte am ganzen Leib, war todblaß, hatte jedoch +wider meine Erinnrung nicht gar so blasse, ein wenig vorquellende Augen; +der Mund war nur angedeutet, ein blasser Streif, die Nase anmutig, ja, +das Ganze -- im Augenblick nichts als Angst -- war nicht ohne +Lieblichkeit, nur entstellt durch Magerkeit und unglaublich sitzende +Kleidung. Dazu war das ganz hellblonde Haar so ungünstig angeordnet, daß +die breite Stirn mit zwei leichten Buckeln wie ein Felsen aussah. Dies +war Sigune, und drei Minuten war ich mit ihr allein. + +Lieber Freund Benno, Du kannst mir glauben, ich dachte nicht daran, daß +dies meine Frau werden sollte. Ihre Hülflosigkeit war unsäglich rührend, +ihre bebenden Hände wollten sich in den schwarzen Kleidfalten +verstecken, -- nie im Leben bin ich mir so robust vorgekommen. Ja, was +machte ich mit ihr? Ich holte die Hände beide hervor, nahm sie in die +Linke, klopfte mit der Rechten väterlich darauf und sprach ihr zu, so +gut ich konnte: Aber man muß doch nicht bange sein! Aber man muß sich +doch nicht vor mir fürchten ... und dergleichen mehr, und da -- ach, +dies Geschöpf! -- nachdem seine erst flehenden Augen sich gleichsam +aufseufzend an den meinen beruhigt hatten, machte sie eine Hand aus der +meinen los, legte sie um meine Hand und küßte sie ganz schnell. So +demütig war sie -- lieber Gott! Sie sagte nichts, ihr Haar duftete ganz +leise. Ich brauchte wohl eine Weile, um mich zu sammeln, fragte dann -- +und ahnte nicht, wie gut ich fragte --: »Ruft man dich denn noch Gunny +wie vor acht Jahren?« »Das wissen Sie noch?« fragte sie hastig, errötete +leidenschaftlich, brach dann aber in einen gequälten Husten aus. Ich +mußte zurücktreten, Hofdame, Kammerherr und Adjutant erschienen, gleich +hinter ihnen der Majordomus mit umflortem Stabe, der auf französisch +verkündete, daß angerichtet sei. Es waren noch einige stumme Personen +bei Tisch. Ich trank Sigune zweimal zu, was wahrscheinlich ein +Etikettefehler, sicher aber ein schönes Mittel war, sie zum Erröten und +Lächeln zu bringen. Am Nachmittag gab es bei verbesserter Witterung +einen Spaziergang, bei dem ich Sigune mit sanfter Gewalt nötigte, +englisch mit mir zu sprechen, nachdem ich herausbekam, daß die Hofdame +es nicht verstand. Ich warf ein paar Angeln nach ihrer Bildung aus. +Schiller, Uhland, Körner, Rückert, Geibel, Freytags Ahnen und -- +Hölderlin. Bei diesem Namen ging sie auf eine wunderbare Weise leicht in +Flammen auf -- wie eine weiße Papierrose. Ob sie den auch im Unterricht +kennen gelernt habe? -- Nicht im Unterricht selbst, aber doch von ihrem +Lehrer. Wer denn das sei? -- Sie zögerte eine Weile, versuchte einen +Blick zurück nach der hinter uns verbliebenen Hofdame, errötete und +sagte ganz leise, und als spräche sie das kostbarste Geheimnis aus, das +Wort: Tröstherzeleid. -- Oh, Benno, wenn Du es gehört hättest! ich +glaube, Du hättest geweint. Ja, und nun -- -- ich erschrak im Herzen, +und als ich fragte, wer denn das sei, was kam heraus? Der Hofkammerrat +war es, eben jener Graf Leunstein von Badenbach, Exzellenz, der als +erster dieser Beuglenburgschen Zunft vor mir in Erscheinung trat. Der +Name, mit dem sie ihn nannte, erzählt wohl genug. Ich fragte auch nicht +mehr. Es stellte sich noch heraus, daß sie mir in Philosophie weit +überlegen ist, Kant und Leibniz, Spinoza und Stirner, Platons Staat und +Ciceros philosophische Schriften im Urtext gelesen hatte -- armer Kopf, +armer Kopf! Dies Mädchen kennt nur zwei Menschen: ihre Hofdame und ihren +Lehrer, -- und dann war noch eine armselige Erinnerung an eine +liebevolle junge Engländerin, die Gunny gerufen hatte und früh an der +Schwindsucht gestorben war. Wie schlecht der kleine Trauerhut mit den +Kreppschleifen saß! Und diese Jacke, und dieser Rock und diese Schuh! +Alles vom Bazar in Stadt Zinna. Aber die Füße waren schmal und traten +zierlich auf. + +Die Kerzen weinen Ströme von Tränen -- Benno, sollt ich nicht weinen? +Ich stand am Fenster, beugte mich in die Nacht, suchte den Mond, er war +fort, nur noch eine rinnende Quelle von feuchtem Glanz in der Nacht, +über die es sich faltig verschob; in der Tiefe -- Nachttiefe allein, +unsichtbares Land, aus dem es dampfte, kalt und feucht, ein rotes +Bahnlicht fern, mir zu Füßen nur schwarze Leere, denn hier ist die +Rückseite des Bergs, Felsen fallen steil ab. Ein Gefühl, als könnte -- +denk nicht, ich meinte es komisch, obwohl es so klingen mag -- als +könnte die kleine Sigune jetzt an einem offenen Fenster sitzen und +Okarina blasen. Ich habe sie Augenblicke lang deutlich gehört, simple, +klagende Noten, wie Fischmunde winzig im willkürlichen Strome der Nacht +hinschwimmend, -- und da sitze ich, male langsam die sonderbaren +Schnörkel auf das Papier, und meine eignen Gedanken scheinen mir wie die +Siegel einer Geheimschrift, die zu schnell vorübergleitet, als daß ich +sie lesen könnte. Hinter den Wolken sind die Sterne, steht, wie +allnächtlich, ihre feierlich glühende Schrift, die großen Siegel +leuchten, wir dürfen sie berühren mit der Stirn, wir erbrechen sie +nicht, sie schweigen uns an. + +Und so will ich nicht weiter denken und das Kommende nur erwägen, wenn +es sich stellt. + +Ein letzter Funke im Gehirn glüht auf, und ich schreibe, schreibe in +offener Schrift: Wenn ich denn lüge, eine Abkunft heuchelnd, die nicht +besteht, so ist dies doch ein Opfer. Ein sinnloses -- wohl! denn hier +zwingen die Alten und Kranken, die Furchtsamen und Beharrenden, sie +zwingen die Jungen und in Ängstlichkeit Tapferen in ihren Willen. Wer +aber weiß, welchen Sinn all dies hat? Haben diese Kerzen sich +ausgeweint, so wird auch eine offene Sonne wieder scheinen über dies +traurige Land, das ich wieder zu ermuntern gedenke. + +Lebe wohl, Benno! auch ich beabsichtige, wohl zu leben. + + Stets treulich Dein + Georg. + + + Siebentes Kapitel: Mai + + + Klemens + +Renate hatte mit Saint-Georges in der Kapelle musiziert; während sie die +Noten zusammenlegte, Saint-Georges seine Geige verpackte, meldete das +Mädchen Doktor Klemens; Renate dachte, ihm Bogners Engel zu zeigen, und +bat, ihn herzuführen. -- Saint-Georges putzte bedächtig die Kerzen vor +der Orgel und an seinem Notenpult eine nach der andern, damit es hell +genug sei. Dann erschien Klemens, blickte sich um, noch dicht an der +Tür, verneigte sich, so tief er konnte, und sprach sie an: »Holder +Geist! Welch unschätzbare Gnade für mich, Sie in Ihrem eigensten Reich +begrüßen zu dürfen!« + +»Bitte, reden Sie weiter,« lud Renate ihn munter ein, »Sie sind ja ein +Redner!« + +Klemens fuhr heiter fort: »Was ich sehe, erstaunt mich ungemein, und ich +wähne mich im Traum oder verzaubert. Streitbare Engel sehen mich an oder +schreiten auf mich zu, Musikinstrumente wie himmlische Waffen in den +Händen. Kerzen! Rötliche Dämmrung! Und vor einer auserwählten Schar +Gepanzerter in goldnen Harnischen erscheint mir die himmlische Peri +selber, in dunkelrote Seide gekleidet wie in eine runde Glocke aus +Abendhimmel. Alles ist äußerst erstaunlich!« + +»Bloß von mir«, bemerkte Saint-Georges, »weiß er gar nichts zu sagen und +unterschlägt mich schlechtweg. Guten Abend, Meister, was macht die +Internationale, schläft sie oder wacht sie?« + +Klemens kam nun herbei, reichte Renate und Saint-Georges die Hand, sagte +drohend: »_Noli turbare ...!_« stellte sich vor den nächsten Engel und +versank in Schweigen. + +»Nun hab ich so oft von der berühmten Internationale gehört und gelesen +und sehe zum erstenmal ein lebendiges Stück von ihr«, sagte Renate, aber +er schien es nicht zu hören. Nach einer Weile sagte er, tief Atem +holend: + +»Sechs sind es, wie ich sehe, und schon einer überwältigt. Ja, wer hätte +das gedacht, als es eines Tages im Lyzeum hieß: Bob Bogner kommt nicht +wieder, der ist weggelaufen. Internationale, sagten Sie? Ach,« meinte er +abwehrend, »es giebt so viele, in diesem Augenblick weiß ich wirklich +nicht, welche Sie meinen.« + +Renate verlangte eine Erklärung, allein, in langen Pausen von einem der +Engel zum andern gehend, schwieg er sich nach Kräften aus; beim vierten +sagte er, die letzten zwei müsse er sich auf das nächste Mal versparen, +setzte sich auf einen der Klaviersessel und fing halblaut an zu +sprechen: + +»Die Internationalen ... Eine Vielzahl konzentrischer Kreise, und hier +sehen Sie den äußersten. Die Internationale der großen, rasenden Kunst, +ungeheuren Einmuts auf der Spur des alleinigen Gottes in aller Herren +Länder, wetteifernd seit ewig im geheiligten Kriege, Engelscharen, +Geniescharen, Heroenscharen, friedlich sich bekämpfend zum Ruhme Gottes, +den zu mehren, den jährlich tiefer zu entflammen die einzig fruchtbare +Schlacht seit tausend und tausend Jahren ohne Ende über die Erde +dröhnt.« + +Er stand auf. »Die Internationale der menschlichen Hoheit, deren Namen +ich nicht wage auszusprechen vor ihrem erlauchten Antlitz, das ich +sehe.« Sein Blick stand in so gerader Flamme gegen Renate, daß es sie +mit seltsamem Schauder durchbohrte, und sie errötete noch tiefer, als +schon seine Worte sie erröten machten. Dann nahm er ihr Lächeln auf, +wandte sich zu Saint-Georges und fuhr fort: + +»Damit er sich nicht wieder beklagt, begrüße ich in diesem schlichten +Manne die herrliche Internationale des Geistes, der Wissenschaft, die +Internationale der wundervoll friedlichen Eroberer in allen Räumen +dieser Welt, zu Lande, zu Wasser, im Feuer und im Sturm, im Vogel und im +Fisch und im ruhlos schweifenden Atom, Anfüller der unerschöpflichen +Arsenale, Herolde, Propheten und Poeten, einmütig heiligen Zornes im +unablässigen Grübeln über den Rätseln der unbekannten und der bekannten +Welt, Ärzte, Heilmacher des wunden Geistes, der kranken Seele vom +Weltgift. -- Ich grüße«, sagte er mit einer kreisenden Handbewegung nach +oben, »im unbekannten Erbauer dieses Raumes die nächste Internationale, +vom Präsidenten Plutus regiert, auf deutsch: das Kapital, eine +Internationale von ganz besonderer Einmütigkeit, also daß zum Beispiel, +gesetzt es gäbe Krieg, sämtliche Angehörigen dieser Internationale in +allen beteiligten Ländern wie ein Mann, Agrarier, Schwerindustrie und +Banken, Dampf in allen Kesseln, sich abmühen würden zur Überwältigung +des -- Friedens.« + +Er lachte lautlos. Renate dachte an ihren Onkel, kniff leicht die Augen +zu und hörte ihn weiter reden, nachdem er zu der weißen Säule des Ofens +in der Ecke gegangen war, dem er die Hand auflegte, während er sprach: + +»Und ich begrüße Mittelkreis und Kern aller Internationalen in diesem +Ofen und seiner Glut. Ich grüße die Kohle. Ich grüße den Mann im nassen +Stollen, den Mann im sausenden Förderstuhl, den Mann in der +explodierenden Nacht. Alle Mann grüß ich am bezwungenen Feuer, den Mann +am Amboß, den Mann am Schalter, den Mann am offenen Feuerrachen mitten +im ruhig fahrenden Schiff, mitten im Ozean, den Mann an der +Setzmaschine, den Mann am Gebläse, den Mann am Webstuhl, am Strickstuhl, +am Spinnstuhl, den Mann an der Nähmaschine, den ein und tausend Mann, +der, schmorend als Kohle im feurigen Ofen, das Lied von der einen, +meinen singt: Die Internationale! --« + +Er schwieg. »Das war schön«, sagte Renate langsam. »Vielleicht denken +Sie, ich sollte nun etwas andres sagen, aber« -- sie wandte sich +unschlüssig zu Saint-Georges um und schloß: »-- ich weiß nichts andres +als das. -- Ich weiß,« fuhr sie, da Klemens den Mund öffnete, fort, »daß +viele Tausend Mangel leiden, damit ich --« sie strich mit den Händen +über die Falten ihres Kleidrockes. + +»Nein, um Gottes willen, welche Verwechselung«, sagte Saint-Georges. Er +ließ die Vorderbeine des Stuhles, auf dessen Lehne er im Stehen die Arme +gekreuzt hatte, sich zu Boden senken, drehte ihn um seine Achse und +setzte sich reitend darauf. + +»Niemand, Renate,« sagte er, das Kinn auf die Lehne legend, »niemand +will, daß du nicht bist, weil Andre in Not sind, sondern im Gegenteil +bist du und dein Haus die Erfüllung all ihrer zartesten und tiefsten +Träume und Wünsche, und sie wollen nichts weiter, als daß sie, wenn ein +Haus voller Engel an ihrem Wege steht, hineingehn können, wann der +Wunsch sie dazu treibt, und daß, wenn es Gott gefiel, eine Schale voll +Musik über die Erde auszuleeren, der irdene Topf so geeignet sei, um sie +aufzufangen wie der goldene Becher.« + +»Ich glaube,« sagte Renate unbedenklich widersprechend, »Doktor Klemens +sprach doch von denen, die Not leiden und --« + +»Nein,« sagte Klemens, »ihr Freund hat recht. Ich fragte einmal einen +Bierfahrer in Camberwell, ob er schon die Sterne gesehn habe, und dieser +Bierfahrer sagte, er wollte verdammt sein, wenn ers getan hätte seit +Sarah Pedgewoods Tode, denn er hätte keinen Tropfen Ale gesehn seitdem. +Aber sehn Sie, doch geht dieser Bierfahrer auf nur zwei Gliedmaßen +aufrecht, und daß er es tut, das ist der Beweis, daß er die Sterne sehn +möchte, wenn er nur einen Sinn damit zu verbinden wüßte. Die +Notleidenden? Nein, verehrtes Fräulein, die gehen mich nichts an. Not +wird gelitten zu Lande und zu Wasser, zu Leibe und zu Seele, und wegen +Essens, Trinkens und der Liebe brauchten wir keine Internationale zu +gründen, sondern das bringt die Welt ganz von selber in Ordnung. Sie +leiden nicht Not, sie, die ich meine«, sagte er hart und schlug leicht +mit der Faust gegen den Ofen. + +»Was dann, Georges?« fragte Renate. + +»Ungerechtigkeit leiden sie«, sagte Klemens. »Knechtschaft, das ists, +was sie leiden. Sie leiden, daß sie verbraucht werden in den guten +Jahren, so daß sie darben müssen im Alter. Sie leiden, weil zehn +Menschen in der Welt je tausend Äcker haben, und ihrer zehntausend haben +zusammen einen. Sie leiden nicht, weil jener sich Gemälde kauft und +dieser jeden Tag eine Frau, weil jener die Zigarre mit drei Mark bezahlt +und dieser im Sommer nach Japan reist, sondern sie leiden, sie leiden +unauslöschlichen Gram, weil sie keine Zeit haben, um Gemälde zu sehn und +um an einem Sommertag im Grase zu liegen, denn weiter wollen sie nichts. +Sie wollen und sollen nicht zehn Stunden am Tage arbeiten, auch nicht +neun oder sieben, sondern allerhöchstens sechs, und ich sage, daß es +dazu kommen wird, wenn nicht heute, dann morgen.« + +Renate hatte, da er schwieg, Zeit über seine Worte nachzudenken und +sagte nach einer Weile: »Mein Vetter, Erasmus, den Sie kennen, und Ihr +Freund Herzbruch und Bogner, Ihr Schulkamerad, wie lange glauben Sie +arbeiten die am Tage?« + +Klemens lachte, kam bis dicht zu ihr, schüttelte den Kopf und sagte: +»Der Geist, Verehrungswürdige, hörten Sie nie vom Geist? Nie, daß er es +eben ist, der frei ist allein, und daß ich eben sagte: sie leiden +Knechtschaft, sie wollen freien Geistes sein? Und übrigens: wenn ein +Fabrikant sich durch seine geistige Arbeit zugrunde richtet, so ist das +seine Schuld und geht niemanden etwas an. Sonst hat geistige Arbeit mit +der schwersten körperlichen das Erhaltende gemein. Der Arm des Pflügers, +des Holzfällers, das Auge des Bergsteigers, der Fuß des Matrosen sind +mit siebenzig Jahren noch so scharf und sicher und kräftig wie mit +zwanzig, und das Hirn des Forschers, des Erfinders ist es nicht minder. +Was zermürbt, ist nicht die Anstrengung; was zermürbt, ist allein die +Maschine. Das ist mein Gesetz: Wer eine Maschine bedient, soll dies +sechs Stunden im Tag tun und nicht länger, soll es vierzig Jahre seines +Lebens tun und nicht länger! Nur der Geist ist frei, und sobald ein +Dichter nicht mehr das Recht haben soll, freiwillig zu verhungern oder +wahnsinnig zu werden, und sie Gewerkschaften gründen zum Schutz ihres +Geistes, sobald kann denn das Ganze zum Teufel gehn. Sie sagen +vielleicht, ein Dichter, ein Weiser muß deshalb hungern, weil er zu früh +geboren wurde, weil die Welt noch nicht reif sei für seine Werke, seine +Erfindungen, seine Lehren. Ach, wie sähe es denn aus in der Welt, wenn +jeder käme zur rechten Zeit, wenn alles grade sich einpaßte, wo ein Loch +wäre, auch der Pfropfen, wo ein Geber, auch der Nehmer, das wäre so +langweilig erstens wie Schwarzer Peter spielen, und zweitens möchte man +dann ja wohl anfangen zu verlangen, daß auch Sonnenschein und Regen +gleichzeitig auf den Acker fallen, und doch würde das dem Acker gar +nichts nützen, sondern es ist wohlweise eingerichtet, daß der Nil nur +einmal im Jahre steigt -- wenn auch auf Kosten von einem Jahr unter +zehnen, wo er gar nicht steigt, und einem, wo er zu hoch geht. Glauben +Sie, daß ich die Welt verändern will? Glauben Sie es, Saint-Georges?« +Sie lachten Beide, und Klemens lachte mit. Er war aber sehr erregt und +fing gleich wieder an, hin und her gehend im Raum: + +Ȇbrigens -- Ihnen kann ichs sagen -- bin ich nicht in dem Ausmaß +international, wie Sie denken, bin ein Deutscher am Ende und sehe, daß +die Not hierzulande nicht im entferntesten die Ausmessungen hat wie in +andern, in England, in Frankreich. Und was heißt denn Not? Es giebt doch +nur Ausbeutung und Arbeitslosigkeit. Arbeitsscheu ist eine Krankheit, +oder Anormalität, was Sie wollen, wie Trunksucht. Ausbeutung und +Arbeitsmangel bleiben bestehn. Arbeitsscheu und Trunksucht gehören mit +Mördern und dergleichen in die Heilhäuser und Arbeitsanstalten; niemand +gehört ins Zuchthaus noch aufs Schafott. All das wird nicht heute +geändert, aber es wird geändert werden, dafür bürge ich. Tun Sie mir die +Liebe und denken einen Augenblick nach. Wann fing das Unheil an? Im +Mittelalter gab es keine Armen; es gab Sieche, alte Weiber, Krüppel und +Soldaten, in denen sich die gesetzmäßig geregelte Arbeitsscheu +verkörperte. Wer arbeiten wollte, hatte immer zu essen. Das Unheil +begann mit der Übervölkerung und mit der Maschine. Wie alt ist die +Maschine? Knapp hundert Jahr. Nun sehen Sie bloß mal an, seit einem +halben Hundert Jahren fing man an, diese Not zu erkennen und zu +studieren, seitdem sich alles mit reißender Zeit doch nur verbösert hat, +und dabei können wir fröhlich und getrost sein, wenn in tausend Jahren +das Blatt sich gewendet hat, dann, wenn man auch im Rächer seiner Ehre, +im Totschläger, im Wüstling so wenig mehr einen Verbrecher sieht wie +heute im Geschlechtskranken, der Frau und Generationen vergiftet, und im +Säufer, der dasselbe tut. Ein Glied faßt ins andre, und keines von den +kranken läßt sich für sich allein heilen, sie müssen alle schon im einen +ihre Gesundung beginnen.« + +Er hörte auf und stand wieder bei seinem Ofen still. Renate, +hocherfreut, ihn reden zu hören, fragte, ihn weiter zu stoßen, was er +aber damit habe sagen wollen, daß er ein Deutscher sei. + +»Ganz einfach,« sagte Klemens, »ganz einfach!« + +»In Frankreich, sehen Sie, wenn ich da eine Rede halten will, muß ich +anfangen: _La gloire!_ -- In Deutschland, wie muß ich da anfangen? Ich +muß mit der Faust aufs Pult haun.« Er lachte: »Ha, ha, ha!« und freute +sich königlich. »Was ich dann sage, ist schon gleich, ich muß erst mit +der Faust aufs Pult haun. Deshalb nun,« sagte er verschmitzt, »deshalb +wäre es nun doch ein Fehler, anzunehmen, daß in Frankreich der Geist +herrsche und in Deutschland nicht. Sondern das Gegenteil ist der Fall. +In keinem Lande der Welt ist noch der schäbigste Bierfahrer so +durchdrungen vom Geist wie in diesem sonderbaren Land. Er hat die +fremdartigsten Formen. Er geht in Potsdamer Grenadierstiefeln sehr +häufig, übertrieben häufig. Aber er waltet, unsichtbar, jedoch er +waltet. Vielleicht nicht die Kultur, aber der Geist ist tiefer +hierzuland als anderswo. Deshalb, sehen Sie, beschränke ich mich auf +dies Land. Wer schaffen will, kann seine Kreise nicht eng genug ziehen. +Mißtrauen Sie meiner Behauptung? Soll ich Ihnen den Geist der +Gewerkschaften nennen, noch einmal nennen? Die Internationale, das ist +ihr Geist. Der Geist der Geistlosen. Der Geist der Geistigarmen. Und +dies ist ihr ganzer, strahlender Reichtum; die Internationale ist ihr +Reichtum. Ausgeschlossen vom Nabob, von den Betten der Reichen, träumt +jeder sich weich im Arme einer Heerschar von Brüdern, sich reich im +Bewußtsein seiner ungeheuren Kraft, im Gefühle, im Glauben, in der +Erwartung der Stunde, wo der Riesenarm aus hunderttausend Armen zum +Schlage ausholt. Die Internationale ist die große Romantische, die +Cherubsarmee, der selbsteigene Trost, die dauernde Zuflucht, das große +Asyl aller Obdachlosen, strahlend und gewaltig wie das Junifirmament +über eine nackte Erde gewölbt.« + +Eine Weile blieb es still im Raum; Klemens stand, die Hand gegen den +Ofen gestützt, den Kopf gesenkt. »Ja,« sagte er aufschreckend, »ich muß +nun aber fort, es wird höchste Zeit, ich muß noch zu meiner Schwester, +heut abend geht mein Zug.« + +Renate wollte eben verwundert fragen, ob er sie denn wirklich nur, um +sich zu verabschieden, besucht habe, als Irene in Pelzjacke und Barett +in der Tür erschien, während Klemens durch die Kapelle zum Podium kam, +wo sie sich vom Stuhl erhoben hatte. + +Irene verwurzelte sich im Eingang mit einem solchen Blick auf Klemens, +daß Renate den Ausruf ihres Namens unterschlug. Klemens schüttelte ihr +kräftig die Hand, indem er umherdeutend sagte: »Sonderbare Reden, die +wir hier gehalten haben.« + +Indem drehte er sich zu Saint-Georges um, sah Irene und fuhr mit den +Schultern zurück. Dann biß er sich auf die Lippen, sagte: »Guten Abend, +Frau Herzbruch!« und gab Saint-Georges die Hand. + +Er ging zur Tür, Irene wich nun zur Seite und neigte den Kopf grüßend. +Er blieb stehn. »Sie wußten vielleicht nicht, daß ich Otto bat, mich bei +meiner Schwester zu treffen?« fragte er. + +»Doch, ich wußte es«, sagte sie. + +»Entschuldigen Sie nur,« rief er leicht, »ich dachte, Sie wären aus +Zartgefühl hergekommen.« Und ging hinaus. + +Irene nahm eine Hand aus dem Muff und schob den Schleier hoch, ohne +etwas zu sagen. + +»Guten Abend, Irene!« rief Renate, während Saint-Georges zu ihr ging. Da +stampfte sie plötzlich mit dem Fuß auf und schrie: »Gott sei Dank! Gott +sei Dank, daß er weg ist! Lange genug hats ja gedauert!« + +Unter der dreieckigen, fest um den Kopf gezogenen Mütze sahen ihre Augen +diamantschwarz unter den Schleierfalten hervor. Sie ging mit harten +Schritten zum nächsten der beiden Flügel, warf ihren Muff darauf, zerrte +den Knoten ihres Schleiers am Hinterkopf auseinander, warf den Schleier +auf den Flügel, riß die Pelzkappe ab und warf sie dazu und fuhr sich mit +den Händen in die festgedrückten Locken, um sie aufzurichten; danach +ließ sie die Arme fallen, machte einen Schritt, stützte die Hände auf +die Hüften und blieb so stehn, mit hängendem Kopf, an der Unterlippe +nagend. Renate sah alles mit an. Irene warf den Kopf zurück, trat +rückwärts an den Flügel, legte eine Hand auf die Platte, trommelte mit +den Fingern, sagte endlich: + +»Ja, Renate, jetzt ists also aus. Nun hats eine Ende mit Schrecken +genommen, das soll nicht schaden. Gott sei Dank, ich habe durchgekämpft +und brauche mir keine Vorwürfe zu machen.« + +Was aus sei, fragte Renate unzufrieden. + +»Na was! das mit Klemens!« Oh, Renate sollte schon wissen, wie sie +gekämpft und sich erniedrigt habe! »Erst sollte es eine Probezeit auf +acht Tage sein, damals --« + +»Was sollte?« fragte Renate kurz, gestört von dem unverständlichen Hin +und Her. + +»Daß er im Hause blieb! Dann ist ein Monat draus geworden, aber hassen +habe ich ihn gelernt, ach gehaßt habe ich ihn vom ersten Augenblick an, +diesen Zerstörer, diesen Schönredner, diesen -- Tanzenden! Herrgott, wie +er mich verwundet hat, wie ich hab frieren müssen! Ich möchte wohl +wissen, wie er gegen dich gewesen ist, eben! Auch so höhnisch und so +metallen? Hat er das wohl gewagt?« + +»Georges hat Hunger,« sagte Renate, »komm, wir wollen zum Essen gehn.« + +Irene nahm wortlos ihre Pelzsachen auf, während Renate die Kerzen +löschte, brauchte eine halbe Minute, um ihren Schleier zusammen zu +raffen, folgte dann Renate, während Saint-Georges schon an der Kurbel +der kleinen Glühlampe stand, die den Raum jetzt erhellte. + + * * * * * + +Während des Abendessens verhielt Renate sich schweigsam, innerlich +unfriedlich, da der gestörte Nachhall von Klemens sich in ihr kreuzte +mit Irenens drohender Entladung. Irene verhielt sich schweigsam, +innerlich vermutlich bemüht, der vollen Schale ihrer Verdrießlichkeit, +oder was es nun sein mochte, jeden Tropfen zu erhalten. Saint-Georges +und sein Bruder schwiegen aus Zartgefühl; Erasmus schwieg wie immer. +Jasons Kommen unterbrach die Stille nicht weiter, als daß die +Begrüßungsworte laut wurden; er kannte ja kein eigentlich selbständiges +Verhalten, stets entsprach nur das seine dem der Andern, und auch wenn +er etwas Mitgebrachtes allsogleich hervorzog und dartat, schien es wie +etwas Erwartetes so natürlich. Nur als Renate eben den Mund auftun +wollte, um die Tafel aufzuheben, öffnete er den seinen, schüttelte +unmerklich den Kopf und sagte, die stillen, glänzenden Augen auf Renate +gerichtet: + +»Weißt du, Irene, was Cervantes sagt?« Und nach einem flüchtig und +leidend fragenden Blick Irenens, fuhr er fort: »Cervantes in seinem +berühmten Buche Don Quichote de la Mancha, gemeinhin der Donkischott +genannt, sagt: Ein Mensch ist nicht mehr wie ein andrer, wenn er nicht +mehr tut wie ein andrer. -- Es fiel mir grade so ein, als ich euch Alle +so schön um den Tisch sitzen sah.« + +Erasmus sah ihn an, wie Renate bemerkte, mit dem sonderbar heftig +nachdenklichen Blick, den Jason ihm öfters entlockte. Sie hatten, soviel +Renate sich erinnerte, noch nie miteinander gesprochen, doch schien +Erasmus eine gewisse Ehrfurcht vor ihm zu haben. Jetzt blieb er an der +Tür stehn, die Stirn wie immer leicht gesenkt und fragte zurück: »Wie +sagten Sie? Ein Mensch ist nicht mehr --« + +»-- wie ein andrer,« fuhr Jason fort, »wenn er nicht mehr tut wie ein +andrer. Sie sagen aber besser >als< statt >wie<, ich habe die +Übersetzung zitiert, und dann sagte ich es eigentlich nicht zu Ihnen.« + +Erasmus nickte und ging hinaus. Die Andern standen still hinter ihren +Stühlen, lösten sich nun, Saint-Georges sagte, er brächte seinen Bruder +auf sein Zimmer und ginge dann nach Hause. Sie verabschiedeten sich, und +Irene, Renate und Jason gingen in die Halle hinunter. + +Der Kamin brannte hell, niemand machte Licht. Renate setzte sich ans +Feuer und wartete ab; auch Jason setzte sich, nahm den Blasebalg, hielt +ihn gegen die Flammen und ließ ab und an einen kleinen Seufzer in die +Glut stöhnen. Irene, die hinter seinem Stuhl stehn geblieben war, schien +nach einigen Minuten von der Wiederholung dieses Verfahrens nervös zu +werden und sagte: »Aber Jason, was machst du denn?« + +Jason versetzte still: »Ich unterhalte das Feuer.« + +Renate lachte leise. Irene drehte sich um und fing an, im Dunkel des +Hintergrundes auf und nieder zu gehn. Endlich trat sie hinter Renates +Stuhl und sagte halblaut: + +»Weißt du noch, wie ich früher zu dir gekommen bin und mein Herz +verglichen hab an deinem? Meins war Angst und Sorge und deines Fülle und +Sicherheit. Nun ja, wenn man so schön ist wie du ... Seitdem bin ich +lange ausgeblieben, und nun bin ich wieder da.« + +»Ein Mensch«, sagte Jason, »ist nicht mehr wie ein andrer, wenn er nicht +mehr tut wie ein andrer.« + +Renate sah zu Irene auf; ihr rötliches Gesicht, eben noch vom +Feuerschein erreicht, blickte mit durchsichtigen Augen ratlos gegen die +Flammen. Renate sagte: + +»Kind! Ich finde es ja sehr lieb von dir, daß du wieder zu mir kommst +--« + +»Jag mich nur wieder weg«, murmelte Irene. + +»Ich dächte aber eigentlich: du hast doch nun einen Mann; oder kommst du +vielleicht seinetwegen?« + +Nach einer Weile wurde Irenes Stimme wieder aus dem Hintergrunde hörbar, +tonlos: »Auch.« + +Dann wars wieder still. Renate war des ziellosen Herumredens und Stehens +schon ziemlich müde, aber Irene fing nun zu sprechen an, so daß Renate +schon am ersten Wort merkte, sie würde so bald nicht wieder aufhören. + +»Er nimmt mir meinen Mann weg«, sagte sie. »Ja das ist nun so.« Hastig +redete sie weiter. »Erst sollte es eine Probezeit auf acht Tage sein, +denn -- ich sagte Otto gleich noch am ersten Abend, -- ach, es war alles +so sonderbar! --« Sie schwieg, fing aber nach Sekunden von neuem an. +»Ich lag noch nicht im Bett, am ersten Abend, da hörte ich, wie die +Beiden sich an den Kamin setzten und dann an zu reden fingen. Und nun +dauerte das Stunden. Immer in Pausen. Viertelstundenlang sprachen sie +unaufhörlich, am meisten Klemens. Dann wurde es still, ich wollte +einschlafen, -- da fings wieder an. Schließlich redeten sie immer +weniger, Minuten und Minuten konnte ich sie förmlich schweigen hören und +lag und wartete und wartete, und richtig: da fingen sie wieder an. Es +war zum Verrücktwerden. Endlich macht ich Licht und saß mit der Uhr in +der Hand, eine geschlagene halbe Stunde war kein Laut zu hören, ich +dachte, am Ende sind sie doch leise weggegangen. Da zog ich meinen +Kimono an, ging zur Tür und öffnete leise. Richtig waren sie noch da. +Das Feuer brannte kaum noch, aber ich sah Ottos hellen Anzug, er lag +längelangs im Sessel, hörte mich nicht, und auf dem Sofa lag Klemens. +Nun fragt ich denn, was sie bloß machten, und warum sie nicht schlafen +gingen, und Otto, halb im Schlaf, sagte glaub ich, er hörte zu, wie +Klemens sein Bart wüchse, oder so was. -- Aber nun ging Klemens doch, +und -- ja, dann stellte Otto mich zur Rede. Es war herrlich, er stellte +mich --! Er hätte ihn doch jahrelang nicht gesehn --« + +Renate dachte: Was erzählt sie mir da? Sie hat eine Nacht nicht schlafen +können und -- Irene hastete weiter, klagend und eintönig: + +»-- und -- ja, ich weiß heut auch nicht mehr, was er sagte, und ich +entschuldigte mich auch, denn ich weiß ja, ich bin im Unrecht, er ist +sein Freund, und sie kennen sich lange, und sie sind Männer, und ich bin +nur eine Frau, und ich kann nur sagen: ich mag ihn nicht!« + +»Ein Mensch ist nicht mehr als ein andrer,« sagte Jason ruhig, »wenn er +nicht mehr tut als ein andrer.« + +»Hab ich denn nicht mehr ein Recht zu sein, wie ich will?« begehrte +Irene auf. »Hab ich kein Recht als deine Frau? sag ich zu Otto. Und da, +-- ich sprach grade noch von seinem rodomontierenden Wesen, seinem +breiten Bart, und wie er die Worte setzt, alles, was mir so -- so -- ich +weiß nicht! -- und seine unsichtbaren Augen ... Auf einmal steht er +wieder in der Tür und muß wohl gehorcht haben, es war ja auch nur der +Vorhang dazwischen und sagt, -- ja, was sagte er doch noch ...« + +»Ein Mensch,« sagte Jason, »ist nicht mehr wie ein andrer.« + +»Jason! -- Er sagte: weil ich von Rechten geredet hätte ... Er wollte +auch von Rechten reden. Meine Ehe, die wäre eine Jammerleistung, ich +hätte nicht mal Kinder, und sie wären zwanzig Jahre Freunde, und ich +bloß zwei Jahr verheiratet. Ja, und es wäre zum Tollwerden, sagte er, +und ich sollte doch erst mal lernen, was eine Ehe ist, ehe ich mich an +einen Mann hängte. Oh, es ist uner--, unerhört ist es!« + +Renate hörte sie aufgeregt hin und her laufen. Jason hatte es sich im +Sessel bequem gemacht, die Hände vor dem Magen gefaltet und schien jetzt +aufmerksam zu lauschen. + +»Wie gings nun weiter, Irene?« fragte er, »du erzählst sehr anschaulich. +Was hat Otto denn nun wohl gesagt? Sagte er nicht, daß Klemens weder +Vater noch Mutter gehabt habe und nicht einmal wüßte, wer sein Vater +ist, ein Student zum Beispiel, oder ein Großherzog? Sicher hat er etwas +Ähnliches gesagt und wahrscheinlich auch, daß Klemens gehungert hätte +für drei und gearbeitet für zehn. Nun, ein Mensch ist nicht mehr als ein +andrer.« + +Renate sah Irene hinten auf einer Sessellehne sitzen und die Achseln +zucken. Jason wüßte ja alles, sagte sie, es sei schon so gewesen. Ja, +sie hätte auch gesagt, daß sie ihn, Otto, nicht so lieben könnte, wenn +Klemens daneben stünde, aber sie sei schon müde gewesen, und da habe er +denn diese Probezeit von acht Tagen verlangt, aus denen dann Wochen +geworden wären, und sie hätte ihn ja auch wenig gesehn, nur bei den +Mahlzeiten, da er sonst im Zimmer ihres Schwagers gearbeitet hätte ... + +»Ja, Albert Vehm,« sagte Jason, sich aufrichtend, »gut, daß du den Namen +nennst. Ein Mensch ist nicht mehr als ein andrer, aber was ist mit ihm?« + +»Er ist weg. Wir wissen jetzt, wo er haust; bei einem Bauern aus seiner +Praxis, aber niemand bekommt ihn zu sehn.« + +Da sah Renate ihn wieder am Zaun stehn und hörte ihn fragen: Und die +Kinder ...? Renate schreckte leicht auf, da Irenes Stimme auf einmal +dicht über ihr fragte: »Bist du abergläubisch?« + +»Nun ja, wie man so ist,« gestand sie halb lachend, »Katzen und +Sternschnuppen und Spinnen, und wenn das Streichholz nicht anbrennen +will, daß man sich sagt: das und das wird geschehn, wenn ... aber --« + +»Ja, so ähnlich,« sagte Irene, »jedenfalls hab ich mir ausgedacht, daß +in diesen acht Tagen irgend etwas geschehn sollte, das mich bestärkte +oder veränderte gegen ihn, aber natürlich ist nichts geschehn, bloß daß +er mir immer unangenehmer geworden ist, und dann hab ichs eben langsam +immer weiter ertragen, und --« + +»Was war denn nun zu ertragen?« fragte Renate kühl. + +»Gott, Renate, daß _ihr_ Beide gegen mich seid, das weiß ich ja längst, +und wie soll man denn das auch beschreiben? Die Worte machens doch +nicht, das macht doch das Gesicht und die Haltung und die Tonart und +alles, oder meinst du, man kann sich da irren, und ich hätte mir bloß +eingebildet, daß er es förmlich drauf anlegte, mich aufzubringen und zu +empören und --« + +»Oh das kann ich mir sehr gut vorstellen«, sagte Jason. »Wenn einer so +in die allgemeinsten Dinge eine Spitze hineinsteckt, und man kann nichts +sagen, denn da ist gar nichts zu sehn, aber innerlich möchte man +aufschrein, nicht wahr, Irene? Und dann so dies: obenhin ... Wenn man +sich grade so schön vorgenommen hat, geduldig und artig zu sein, und tut +eine bescheidene Frage und kriegt auch eine Antwort, aber was für eine! +-- So nach einer Weile, als ob sie erst abgeleckt wäre von allen Seiten, +so aus dem Mund geholt wie ein Matrosenpriem und auf die Tischkante +gelegt zum Trocknen, ja, das kenne ich ausgezeichnet. Wirklich, ein +Mensch tut nichts andres als ein andrer.« + +Irene antwortete nicht, aber Renate fing an, sich ernstlich zu sorgen, +da sie immer geschwinder und wilder durch den Raum hin und her fuhr, die +Hände geballt und mit verwirrten, weggeschleuderten Blicken. + +»Wenn Otto mir sagte,« rief sie hart anhaltend, »Klemens könnte keinen +Widerspruch vertragen, es sei überhaupt alles Beherrschung an ihm, außer +man wäre sachlich oder sächlich, -- was weiß ich, ich bin weiblich! -- +-- was blieb mir denn übrig als stille zu schweigen?« + +»Gut, Irene, ausgezeichnet!« lobte Jason, »damit trafst du das +Richtige.« + +»Schweig, Jason! Und immer hackte er auf meiner Kinderlosigkeit herum! +Nein, höre, da fällt mir etwas andres ein, was er sagte. Einmal konnt +ichs nicht lassen und fragte, was das denn eigentlich für eine +Freundschaft wäre, wo einer sich um den andern jahrelang nicht kümmerte. +-- Das wäre das Feine dran, sagte er. So, sage ich zu Otto, und wenn ich +mich jetzt zwei Jahre Gott weiß wo herumtreibe, dann ists dir +wahrscheinlich auch egal. -- Darüber habe ich noch nicht nachgedacht, +sagt er. Ist das nun vielleicht eine Antwort?« + +Glühäugig stand sie da und blickte Renate an. Jason machte erstaunte +Augen. + +»Ich hatte gedacht,« sagte er, während Renate ein Lächeln verbiß, »du +wolltest von Klemens reden? Nun,« sagte er und zog sich befriedigt +zurück, »du hast ja recht: ein Mensch ist nicht mehr wie --« + +»Ja, nun verwechsle ich sie schon«, murmelte Irene, kniff den Mund zu +und sagte böse: »Einer ist mir so fremd wie der andre.« + +»Höre mal übrigens,« fing Jason an, »du hast das wohl auch verwechselt. +Klemens redete von Freundschaft, und du von Ehe.« + +»Ah, sieh, Jason!« höhnte Irene spitzig, »du hast wohl auch seine +Meinungen über Liebe und Ehe und so.« + +»Wenn du mir die seinen vielleicht sagen möchtest ...« meinte Jason. + +»Also, einmal frage ich ihn ganz bescheiden, ich hätte eigentlich noch +immer etwas Zeit übrig, namentlich im Winter, ob er nicht auch meinte, +daß ich mich fürsorgerisch betätigen sollte. In meinem Staat, sagt er, +gewiß nicht. Er bemühe sich seit zehn Jahren, das Recht auf Kindersegen +für jede Frau durchzusetzen, und ich prätendierte das Recht auf +Kinderlosigkeit. In seinem Staat, und so weiter, und ob ich eigentlich +wüßte, wieviel Frauen ich die eigentliche Vollendung ihres Daseins +wegnähme. Ja, weißt du, warum? Weil ich einen Mann für mich beanspruche, +von dem andre Kinder haben könnten. Und damit --« ihre Stimme wurde +heiser und überschlug sich, »kletterte er im Handumdrehn zu der +Behaup--« Ihre Stimme versagte, sie mußte husten und hörte lange Zeit +nicht auf. + +Das sei aber mal nichts Besondres, meinte Jason enttäuscht; nein, das +fände er nun äußerst natürlich und wahrheitsgemäß geredet. Ob er denn +sonst nichts gesagt hätte? + +Sie hätte es wohl vergessen, murmelte Irene matt, es sei ja auch gleich. + +Renate sagte, damit könnte sie wohl recht haben, denn sie hätte wohl +gleich gemerkt, daß es sich hier wie immer nicht um das Was handle, +sondern um das Wie, und Irene habe sich ja auf unbegreifliche Weise +haßerfüllt und abgeneigt von vornherein gegen Klemens gezeigt ... Sie +brach ab, da sie Irene in ihrem Sessel hinten, ohne hinzuhören, sich nur +angestrengt besinnen sah. Gleich darauf fing sie auch an: Lieben, hätte +er einmal gesagt, lieben könnte man doch nur, was einem fremd sei. »Wie? +frage ich. -- Zum Beispiel: Gott, sagt er. -- Gott? frage ich erstaunt, +und da fällt mir natürlich Otto ein, und ich frage, ob er vielleicht +behaupten wollte, daß Otto mir fremd wäre. -- Er wäre überzeugt, +unterbricht er mich, daß es nichts gäbe, was einander fremder wäre als +zwei Menschen, Mann und Weib.« Jason spitzte die Ohren. »Mein Mann ist +mir lieb, nicht fremd, sage ich. -- Abgesehn, sagt er, von der Logik, +was meine Ehe denn für eine Kunst wäre. -- Liebe, sage ich, nicht Ehe. +-- Ah, sagt er da und tut hocherstaunt, Sie wissen also doch sehr gut, +daß Liebe und Ehe nicht das geringste miteinander zu tun haben. -- Ich +falle aus allen Wolken und sage: Was? -- Denn Liebe, doziert er so recht +pedantisch, Liebe ist ein Gefühl, und Ehe ist eine Einrichtung.« + +»Nun, da haben wirs«, sagte Jason entzückt. »Ein Mensch kann nicht mehr +tun als ein andrer, aber dies war ja nun sehr ausgezeichnet, ein ganz +ausgezeichnet wahres Wort! Ich möchte fast glauben, daß er es mir +abgelauscht hat. Immer und immer habe ich das gesagt: Liebe und Ehe, die +beiden haben miteinander genau so viel und so wenig gemein wie das Leben +und der Tod. In der Ehe nämlich herrscht das Gesetz, ja bis in die +allerkleinste Wallung und Verrichtung des alltäglichen Ehelebens hinein +waltet der Geist der Verträglichkeit auf Grund des Vertrages. Was aber +tut das Gesetz? Es tötet. Es tötet ab, es erstarrt. Die Ehe ist recht +eigentlich die Idee aller starren Systeme, aber nun, wie es im Liede +heißt: Media in vita -- mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen. +Mitten im Leben der Liebe vom Tode der Ehe umfangen und dennoch höchst +lebendig, wohlwollend, verträglich, hülfreich und gut zueinander sein, +-- das wäre die Kunst der Ehe.« Sprachs und glitt zufrieden wieder in +seinen Sessel zurück. Irene sagte nichts. + +Wie rauh und schwächlich, aber auch wie traurig hatte Irenes Stimme doch +geklungen; Renate hörte es nun erst, wo sie erloschen war. Sie hätte +gern etwas Tröstliches geäußert, aber alles, was sie hörte, brachte +keine Begriffe in ihr hervor; es war wie das Plätschern eines Wassers, +dem Wehmut und Abgeschiedenheit anzuhören ist, doch bleibt es die +betrübte Stimme eines Bachs, eine fremde, nicht zu unterbrechen oder zu +enden mit Zusprache oder Streicheln. + +»Und nun hat er ja recht behalten«, kam ihre Stimme wieder zum +Vorschein, erloschen und trostlos. »Otto ist mir fremd geworden. +Vielleicht ist ers immer gewesen, ich weiß ja nun gar nichts mehr. +Früher glaubt ich all seine Gedanken zu sehn, jetzt muß ich oft seine +Stirn ansehn und denken: Was ist dahinter? habe ich etwas damit zu tun? +-- -- Wie einfach, wie natürlich war nicht alles! Es war nicht groß, du +lieber Gott, es war keine _Kunst_! aber es paßte doch zu uns, und ich +wars zufrieden. Nun heißts: es ist keine Kunst, und ich muß über die +schwierigsten Sachen nachgrübeln. Manchmal ist mirs schon gewesen, als +sei es ganz gleichgültig, ob Otto und ich zusammenleben oder irgend zwei +Andre.« + +Jason lächelte hier still und friedlich vor sich hin. Renate mußte +denken: Er scheint es ja recht leicht zu nehmen ... Irene stand auf, +hielt den Kopf gesenkt und zerrte an ihrem Taschentuch. + +»Ich weiß ja, ihr wollt mir nicht helfen«, sagte sie, Tränen dick in der +Stimme. + +Jason erhob sich. »Ich gewiß nicht, Irene,« sagte er aufrichtig, +»obgleich ich nicht weiß, was dir eigentlich fehlt. Nein, ich freue mich +im Gegenteil, dich in einer derartigen Verwirrung zu sehn. Verwirrungen +erhöhen die Lebhaftigkeit des Daseins und machen die Ruhe angenehm. +Nichts ist süßer, als auf dem Sofa liegen nach einem schönen +Schwindelanfall. Dir kann ich noch nicht helfen.« + +Noch? was das heißen solle, noch? + +»Oh nichts so Bestimmtes«, meinte Jason. »Ich wollte bloß zum Ausdruck +bringen, daß ich nichts anzufangen weiß mit Leuten, die dastehn und +schreien, sie fielen um. Wenn einer an der Erde liegt, so will ich ihn +aufrichten; ja, dazu mache ich mich anheischig.« + +Plötzlich stampfte Irene mit dem Absatz auf und schrie: »Herrgott, warum +muß denn nur alles so verkehrt kommen! Warum liebt ihr euch denn nicht, +Klemens und du, statt daß --« Sie brach verwirrt ab. »Nein, wir hassen +uns ja ...« Sie schien völlig den Faden verloren zu haben, schüttelte +sich auf einmal, kam auf Renate zugeflogen, warf sich vor ihr an den +Boden, umschlang sie und schluchzte jammervoll: + +»Ach, ach, ich muß dirs ja gestehn, ich hab mich nur so herumgeredet, es +ist ja so eine furchtbare Schande, aber ich muß --« sie schüttelte sich +krampfhaft -- »ich muß es dir sagen, er hat -- er hat mich -- er hat +mich ja so wahnsinnig gedemütigt! Ach, angeschrien hat er mich wie ein +Sinnloser, niedergedonnert hat er mich -- ach, Otto! Otto!« + +»Wie, Otto hat ...« fragte Jason. + +Irene sprang auf und flammte ihn an. »Otto, bist du ganz rasend? Er, er, +er, Klemens! Auf einmal ist er ganz blau im Gesicht geworden, ich weiß +nicht, ich muß ihn wohl gereizt haben, und dann hat er gelärmt ...! Was +das für eine Schande mit mir wäre, dies kindische Wesen, und alles Alte +hat er wieder aufs Tapet gebracht, und ich gönnte ihm seinen Freund +nicht, und den Mund sollte ich halten und --« + +Ihre Stimme erstickte wieder. Renate konnte es nicht mit ansehn, wie sie +dastand und sich erniedrigte, schüttelte den Kopf, mußte sich aber nun +doch sagen, daß an allem schließlich etwas Wahres sein müsse, nicht +alles allein Irenens Schuld sein könne; sie konnte sich aber in der +Erinnerung an den Nachmittag mit Klemens ihn in keiner ungebührlichen +Haltung vorstellen. + +»Wie du dich erniedrigst, Irene!« entfuhrs ihr unbedacht. Irene zischte +wieder empor. + +»Ich will mich erniedrigen!« schrie sie wütend. »Und was er schaffte, +das sei mehr wert ... brüllte er, und eine Stimme hat er gehabt, daß +alles Glas nur so klirrte, und die Wände haben gezittert, und ich saß da +wie versteinert. Das in meinem Haus!« Fliegend, jauchzend, zitternd, +frohlockte sie: »Wahnsinnig hasse ich ihn, wahnsinnig! o ich hasse ihn, +ich hasse, ich hasse ihn. Käme er nur, käme er nur noch einmal und ... +ach, ich wollte, er täte es noch einmal!« + +Das könnte sie haben, meinte Jason gefällig, er hörte Klemens eben +draußen klingeln. + +Renate vernahm seine Worte nur halb, mit den Augen an Irene hängend, die +wie eine Eumenide vor ihr wogte, die Arme schleudernd, als stäken Dolche +in den Händen, und alle Locken hatten sich aufgerichtet um ihren Kopf +und bebten und zürnten mit. + +»Wißt ihr, was er getan hat?« zischte sie. Mit funkelnden Augen von +Renate zu Jason und zurück, hob und krümmte sie den rechten Arm, hob die +Hand und machte eine klappende Bewegung damit. »Verstehst du, Renate?« +Renate verstand und reckte sich innerlich. »Verstehst du, Jason? Ja, +nicht wahr, das habt ihr doch nicht gedacht, das habt ihr --« Ihre +Stimme und sie selber schwankte. + +In der Tür stand das Hausmädchen und sagte: »Gnädiges Fräulein -- Herr +Doktor Klemens.« + +Renate geriet in Schrecken. Was wollte das werden? Irene war nicht +anzusehn, ob sie die Meldung gehört hatte oder nicht, sie spähte mit +einem sonderbar wirren Blick im Zimmer umher, entdeckte plötzlich +zwischen Korridortür und Kamin das Telephon und stürzte darauf zu. -- +Renate hörte das Mädchen etwas fragen, nickte nur, und gleich darauf +flammte das Licht in der Krone blendend auf und übergoß alles. Irene +schrie: »Otto!« dann »Einundsiebzig einundsechzig!« + +Klemens erschien in der Tür, verbeugte sich gegen Renate, blickte dann +scheinbar abwartend auf Irene, die ihm den Rücken wandte, über das +Tischchen mit dem Fernsprecher gebeugt. + +»Bitte, schalten Sie um!« sagte Irene. Gleich darauf: »Ja, umschalten +sollen Sie, zum Oberstock, Himmeldonnerwetter, verstehn Sie denn nicht? +Um -- -- Ach, der Teufel soll dich holen!« schluchzte sie, warf den +Hörer hin und fiel in den Sessel, aus dem Jason eben aufgestanden war. + +Der ergriff nun den Hörer, fragte: »Bitte, sind Sie noch dort?« horchte +und sagte: »Ach, Sie sind selber am Telephon! Bitte, einen Augenblick! +-- Dein Mann ist am Telephon, Irene,« sagte er zu ihr, »es war bereits +umgeschaltet. Soll ich ihm was sagen, oder willst du --« + +Irene unterbrach ihr Weinen und schluchzte mühsam, sie wolle ihn nicht +sprechen, er -- sie habe nur hören wollen, ob er zu Hause sei, und sie +käme auch gleich. + +Jason führte das aus und legte den Hörer hin, dann drehte er sich um und +sagte zu Klemens: + +»Das ist schön, daß Sie grade kommen. Wir sprachen von Ihnen, und da +möchte ich Sie gleich fragen: Haben Sie meiner Freundin Irene wirklich +eine Ohrfeige gegeben?« + +Irene zuckte nur, als sie merkte, daß er mit Klemens sprach, behielt +aber das Gesicht im Taschentuch, richtete sich langsam auf und trocknete +ihre Augen. Klemens sagte leutselig zu Jason: + +»Junger Mann ... Das heißt,« unterbrach er sich, »hat Frau Herzbruch +dies vielleicht behauptet?« + +»Also nicht?« rief Renate erleichtert. + +»Keine Idee! Ich habe bloß so getan«, verteidigte er sich. + +»So getan?« sagte Jason. »Das ist glänzend.« Zufriedengestellt, wie es +schien, drehte er sich ab, ging in den Hintergrund und sagte wie zur +Erklärung: »Ein Mensch ist nicht mehr als der andre, wenn er nicht mehr +tut als der andre.« + +Klemens sah ihm mißtrauisch nach, äußerte dann zu Renate: »Ich kann +Ihnen das leider nicht vormachen.« Nun wandte er sich zu Irene, die +langsam aufgestanden war und zu schwanken schien, ob sie ihn ansehn +sollte, und sagte: + +»Ja, also Frau Irene, ich bin noch einmal gekommen, -- es wird mir nicht +leicht, und ich habe wohl auch eigentlich --« + +Er wollte auf sie zugehn, aber Irene, einen Augenblick geduckt, ging ihm +plötzlich entgegen, streckte ihm die Hand hin und murmelte: + +»Ich bitte Sie um Verzeihung, Klemens, ich hatte Sie wohl zu sehr +gereizt, und -- ich bitte Sie um Gottes willen ...« + +Klemens ergriff tief erstaunt ihre Hand und brachte kaum den Mund zu. +Irene ließ wieder los, ging wie geistesabwesend zur Flurtür, murmelte: +»Wohin will ... wohin soll ich denn nun? Ach so, nach -- nach Hause ...« +Dann schluchzte sie tief und furchtbar auf. + +Renate lief hastig um die Sessel und zu ihr hin, erreichte sie in der +Tür, legte den Arm um ihre Schulter und ging mit ihr hinaus. Sie wagte +jetzt kein Wort, Irene raffte sich auch wieder zusammen, ging gefaßt in +die Kleiderablage, ließ sich von Renate in die Jacke helfen, setzte die +Mütze auf, knüllte den Schleier zusammen und steckte ihn ein. Nach einem +Blick in den Spiegel holte sie ihn wieder hervor und band ihn mit +zitternden Fingern um; Renate half ihr. + +»Gute Nacht«, sagte sie leise. Renate wollte sie an sich ziehn, aber sie +schüttelte trübe den Kopf und ging hinaus. Renate blieb ratlos zurück. + +Wieder ins Zimmer kommend, hörte sie Jason eben sagen: »Seelische +Fallsucht ist ein vortrefflicher Ausdruck!« worauf er sich zu Renate +umdrehte, mitten im Zimmer, schmal und kleiner als sonst neben Klemens +scheinend, den Kopf ein wenig schräg haltend, und erfreut zu Renate +erklärte: + +»Herr Klemens sagt, er hätte die seelische Fallsucht. Jahrelang ginge es +ihm sehr gut, und dann, auf einmal, wäre die Fallsucht wieder da; es +geht ihm also genau wie mir. Ich habe ja mehr die Zitatenfallsucht, aber +sie ist ja nun auch im Schwinden, unberufen, und eine Zeitlang hatte ich +das Kopfschütteln, aber das ist, glaube ich, auch schon wieder im +Schwinden.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, da ist es wieder,« sagte er +enttäuscht, »ich habe es berufen, nun will ich lieber gehn und Irene +noch an der Haltestelle treffen. Gute Nacht, Herr Klemens.« Er reichte +ihm die Hand. »Gute Nacht, Renate.« Er reichte ihr die Hand, lächelte +und ging sacht hinaus. + +Renate setzte sich schweigsam in einen Sessel, hielt sich grade, rieb +die Hände leicht im Schoß und blickte ins niedergebrannte Feuer. Aber +beim Anblick des Blasebalges fiel ihr Jasons Bemerkung ein: er +unterhalte das Feuer; sie mußte lächeln, sah zu Klemens auf, sah ihn in +sich gekehrt im Schatten stehn und sagte: »Ein großer Wirrwarr, wie es +scheint! Wollen Sie so gut sein und den Blasebalg etwas in Tätigkeit +setzen?« + +Klemens fuhr auf. »Blasebalg?« rief er, »meinen Sie mich oder den da?« +Er lachte, setzte sich, ergriff das Instrument, drehte eins der +Holzscheite mit ihm um, setzte ihn dann bedächtig in Tätigkeit. Als das +Feuer wieder hell brannte, legte er den Blasebalg fort, setzte sich +zurück und sagte: + +»Kluge Jungfrau! auch Ihnen wird, nehme ich an, bekannt sein, was +gemeinhin nicht viele wissen, ich aber weiß es: Nichts fängt da an, wo +es anzufangen scheint. Auch diese armen Tränen, welche Sie sahen, auch +die -- ich schwöre es! -- nicht nur Ihnen imaginär gebliebene Ohrfeige +haben ihre Wurzel nicht im heutigen, sondern in Frau Irenens +Hochzeitstage. Ich kam nicht zur Trauung, damit fing es an. Ich habe nun +eine Abneigung gegen Schwurformeln im allgemeinen, und im besondern, +wenn der, welcher sie aufsagt, nicht daran glaubt, und erschien deshalb +erst bei der Tafel. Das Ehepaar brach, wie Sie sich erinnern werden, +früh auf, so bekam ich Ottos Frau kaum zu sehn, aber was ich bekam zu +sehn, das war nicht hoffnungsvoll. Ich dagegen war so hoffnungsvoll, zu +glauben, dies werde in zwei Jahren vergessen sein, aber weit gefehlt! +Ja, ich dachte es mir ganz schön, ich hatte vor, ein Buch zu schreiben +--« + +»Ein Buch?« fragte Renate, aber er winkte großmütig ab: + +»O bloß so ein Buch! wie halt a jeder! Und da dachte ich, dies bei mehr +Behaglichkeit und Ruhe in Herzbruchs Hause als in so einem möblierten +Zimmer tun zu können, denn meine eigne Wohnung hab ich vor ein paar +Jahren aufgegeben, und meine Schwester hatte keinen Platz bisher. +Natürlich, ich hätte nach der ersten Nacht verschwinden sollen, aber -- +ja, was ist da zu sagen? Otto bat mich, ich hoffte weiter, ja, Otto, das +muß ich sagen, zwang mich gewissermaßen, indem er meine Stiefel +versteckte, und als moralischen Grund gab er vor, seine Frau müßte +aufgemuntert werden, sie würde zu dick. Alles gut und schön, aber -- na, +ich blieb doch, und Herzbruch, der hetzte ja denn nach Kräften, er fand +es herrlich, wenn wir uns die geschliffenen Partisanen gegen den Kopf +rannten, und sagte, sie wäre nicht wiederzuerkennen, und ich wäre ein +General-Stabsarzt.« + +Renate sprang auf und lief ins Zimmer hinein. »Ach, hören Sie lieber +auf,« bat sie zwischen Lachen und Weinen, »das ist ja nicht auszuhalten! +Erst kommen Sie am Nachmittag, und ich freue mich, denke, ich kenne Sie, +und wie Irene mir stundenlang etwas vorjammert, bleibe ich bei meiner +Auffassung von der Sache, bis es mir denn doch zu ernst wird, und ich +denke: was Wahres muß doch dran sein, und dieser Klemens ist kein +solcher Cherub, als welcher er sich gehabt.« »Danke!« nickte Klemens. +»Ach, nichts zu danken, denn nun kommen wieder Sie, und nun sieht die +Sache wieder noch ganz anders aus, und nun ist Otto eigentlich derjenige +welcher. Was ist denn nun das Richtige?« + +Klemens kratzte sich mit schief offnem Munde den Kinnrand im Bart und +meinte: er wüßt es nicht, er reiste ja nun ab. Daß der Zweck seines +Daseins im Hause Herzbruch vollkommen erreicht sei, das wollte er +schwören. Nun ginge er acht Tage auf Reisen, dann würde er bei seiner +Schwester wohnen und -- + +»Ach, papperlapapp,« unterbrach Renate ihn lachend und ärgerlich, »was +ist das mit der Ohrfeige gewesen?« + +Klemens wiegte verdrießlich den Kopf. »Die Ohrfeige«, sagte er, »hat +nicht stattgefunden.« + +Plötzlich wurde er dunkelrot, Renate erschrak und dachte: nun kommts! +aber die Fallsucht schien auszubleiben, er ergriff den Blasebalg, warf +ihn auf die andre Seite des Kamins, machte böse Augen, schob das Kinn +vor und sagte endlich: + +»Daß man von unechter Abkunft sei, braucht man sich nicht sagen zu +lassen, meine Teuerste. Ich habe in Zeitungen geschrieben und mich mit +mehr als einem Preßbengel herumgeschlagen, und daß ich weiß, wie und wo +die giftigsten Spitzen anzubringen und abzuschleudern sind, das kann +Frau Herzbruch freilich bezeugen. Meine Abkunft jedoch hat der +schmutzigste Schmock, obgleich ich nie ein Hehl daraus gemacht habe, nie +angetastet, denn auch so einer hat Kenntnis von gewissen Usancen. Ich +bin, wenn Sie es wissen wollen,« sagte er aufstehend, »ich bin darauf +auf sie zugegangen, so!« Er trat dicht vor Renate, »und hab die Hand +gehoben, so! Und da hat sie sich geduckt, hat kein Wort gesagt und ist +zur Tür geschlichen. Ottos Schwester, auch dies mögen Sie erfahren, war +die erste und einzige bisher, der ich es mitgeteilt habe.« + +»Genug,« sagte Renate reuevoll, »verzeihen Sie nur! genug!« + +»Ich habe ja nichts gegen Sie,« lachte er nun, »aber«, schloß er wieder +ernst und mit Würde: »wenn ich auch Proletarier bin, bin ich deshalb +kein Prolet, sondern reiner Geist; ich stabiliere mich als solchen. +Nein, sehen Sie,« fuhr er leichter fort, »zu Irene sagte ich, nachdem +ich -- Sie wissen schon! --: ja, da könnte sie nun sehen, wie verdorben +sie wäre, daß sie wahrhaftig glaubte, ich wollte sie ohrfeigen, und weiß +Gott, es ist etwas daran, und was soll dieser Otto mit einer Frau +machen, die glaubt, ihre Ehe geht in Stücke, bloß weil einer zusieht, +den sie nicht leiden kann? Ja, bitte, was sagen denn Sie dazu? Sie sind +doch ihre Freundin, Sie kennen auch Frau Vehm -- ja, du lieber Gott, ist +das ein Unterschied zwischen den Beiden!« Er atmete auf. + +Ein Mensch, dachte Renate, ist nicht mehr wie der andre, wenn er nicht +mehr tut wie der andre. Es war nicht gerade viel, was Irene zu tun +pflegte, zumal im Schatten ihrer Schwägerin betrachtet. + +»Der Mann ist ein Sonderling und verkriecht sich,« hörte sie Klemens +wieder sagen, »die Frau ist oft stundenlang, tages und nächtens, bei +Wind und Wetter unterwegs, um ihn zu finden, und was sie selber im +Herzen zu schleppen hat, das wird ja wohl auch Ihnen nicht unbekannt +geblieben sein; aber deshalb weicht sie doch keinen Schritt von ihrem +Wege und neigt das dunkle Haupt auch keinen Nagelbreit unter ihrer +aufgetürmten Last, sondern steht da, lächelnden Mundes, heller Stimme, +sichrer Hand und kräftigen Herzens, schöne, edle Karyatide unter dem +stöhnenden Gebälk ihres Daseins. Ach, man möchte singen und verzweifeln +um solch eine Frau, und Irene daneben, was tut sie? Sie glauben +vielleicht, sie sei Ottos Frau gewesen, aber weit gefehlt! Bis vor drei +oder vier Wochen war sie's nicht, sie wollte ja keine Kinder haben, +quält einen Mann zu Tode mit ihrer -- Daseinsunwissenheit und wirft sich +ihm endlich in die Arme an dem Tage, wo ein Mensch ins Haus kommt mit +unsichtbaren Augen.« + +Er lief mit großen Schritten zornig im Zimmer hin und her, warf die +Ellenbogen vor und schlug die Hände zusammen. Ob denn das zum Blasen +sei? fragte er. »Na, aber nun hat er sie ja wenigstens, und so wird denn +wohl alles in der Ordnung sein«, murrte er, kam auf Renate zu, hielt ihr +die Hand hin und bat, gehen zu dürfen. + +Renate sah ihn durch Schleier an. Seltsam erinnerte sie sich Ulrikas. +Ohne sie wüßte sie heute kaum, was das bedeutete, was Klemens ihr eben +verraten hatte, bedeuten mußte für einen Mann wie Herzbruch. + +»Ich fürchte, lieber Herr Klemens,« sagte sie leise, »so einfach wird es +nicht sein, wie Sie denken, aber -- wir können ja hoffen. Sie vergessen +doch nicht dies Haus, wenn Sie wieder in der Stadt sind, nicht wahr? Ich +würde gern noch mehr mit Ihnen sprechen, aber ich bin nun auch recht +müde geworden von allem. Also auf Wiedersehn!« + +»Ja,« sagte er, als fiele etwas ihm ein, »und wissen Sie denn +eigentlich, warum ich noch einmal zurückgekommen bin?« + +Renate schüttelte den Kopf. + +»Weil ... Ich verstehe es nicht«, murmelte er, den Kopf senkend. -- +»Weil«, fuhr der dann erklärend fort, »mich unterwegs die Reue ergriff; +weil ich dachte, ich wäre vielleicht doch im Unrecht, und -- da man +gleich tun soll, was man tun will und kann, so drehte ich wieder um, und +-- -- was geschieht? Sie sahns ja, sie tat, was ich tun wollte, sie bat +mich am Verzeihung!« + +Auf dies hin wußte Renate nichts. Sie standen noch eine Weile +schweigend, dann verbeugte er sich und ging. + +Renate nickte ihm noch lächelnd zu, als er aus der Tür grüßte, dann +fielen die Schleier wieder über alles, langsam erlahmte ihr Denken, rot +glimmte die sinkende Glut vor ihren verdunkelten Augen, sie ging zur +Tür, löschte das Licht und ging schläfrig und abgespannt auf ihr Zimmer. + + + Schrecken + +Renate hob den Kopf aus dem Schlaf, weil sie jemand an die Tür klopfen +hörte; sie glaubte, nur wenige Stunden geschlafen zu haben, aber es war +schon Tag. In der Tür erschien die Köchin, ängstlich, und sagte: Frau +Herzbruch habe angerufen, das gnädige Fräulein möchte doch gleich ans +Telephon kommen, es sei etwas ganz Schreckliches passiert. Renate war +schon mit den Füßen aus dem Bett. -- Es betreffe aber nicht Frau +Herzbruch selbst, sollte sie sagen. -- Renate war schon in den +Pantoffeln, rannte durch die Zimmer hinaus und treppab in die Halle. Es +mußte mit Vehm ... Sie nahm den Hörer auf, atemlos, und sagte: »Irene?« + +Eine Weile war nichts zu hören als das Sausen und Knistern im Apparat, +dann kam Irenes Stimme leise und mühsam aus der Ferne: »Renate ...? du +wirst -- sehr erschrecken. Es ist --« Wieder war alles still. »Mein +Schwager Vehm«, hörte Renate, »ist -- -- tot. Und -- und --« + +»Dora!« schrie Renate entsetzt. + +»Nein, nicht Dora,« hörte sie nach Sekunden. »Die Kinder.« + +Renate zitterten die Knie. Sie glaubte, einen ungeheuren Schlag gegen +die Brust erhalten zu haben, rang nach Atem, fühlte lange Zeit nichts, +tastete endlich hinter sich nach dem Stuhl und sank auf ihn hin. Dann +hörte sie ihr Herz schlagen -- es mußte Sekunden ausgesetzt haben. + +Irene fragte aus der Ferne: »Bist du noch dort?« + +Sie würgte einen Laut hervor, brachte dann heraus, was das bedeute? + +Lange Zeit antwortete Irene nicht, endlich sagte sie langsam: »Er war +gestern wieder da -- als ich aus der Stadt kam. -- Und -- auch Ägidi. -- +Sie waren Alle in der Diele. Albert sah ganz -- verwirrt aus, aber -- +nachher kam Dora und sagte, er habe ziemlich ruhig gesprochen und gesagt +-- er -- er könnte es nicht ändern, die Kinder wären sein, und deshalb +müßte auch die Mutter bei ihnen bleiben, oder -- so ähnlich, und -- er +ist dann gegangen, aber wiedergekommen nach einer Weile und hat gesagt, +er hätte sich besonnen -- ja, ich kann das alles nicht so sagen -- -- -- +jedenfalls, er wollte gehn, und sie sollte die Kinder behalten. Dann ist +er fortgegangen, er hat sich nicht halten lassen.« Irene schwieg wieder. + +»Laß es genug sein, Renate«, bat sie dann. »Er muß nachts ins Haus +gekommen sein, ohne daß wer von uns es hörte. Dann hat er im +Kinderzimmer erst den beiden --« Irenes Stimme brach schluchzend ab. + +Renate legte den Hörer hin und sah, noch die Hand daran haltend, das +schwarze und metallene Ding, seltsam fremd und erschreckend, als wäre es +ein gefährliches Instrument. Durch es hatte Irene gesprochen, sie hatte +Irene nicht gesehn, Irene war vielleicht gar nicht auf der Welt, es war +nur ihre Stimme gewesen, Renate glaubte plötzlich zu sehn, wie eine +finstre Gewalt Irene vom Telephon in die Nacht hineinriß, schwarze +Flocken regneten vor ihren Augen, aber dann sah sie in einem hellen +Sonnenschein einen kleinen Jungen im Kreise herumgehn, derweil er eine +Blumentopfscherbe und einen alten Kochtopfdeckel zusammenschlug und, die +großen Augen immerfort auf sie gerichtet, sang: Wenn ein Vorrat geht zu +Ende, zieh den Schieber mit die Hände! -- Immer dieselben zwei +verdrehten Zeilen, von denen später Dora sagte -- was? -- Ja, Renate sah +in der Montfortschen Küche so eine blauweiße Tafel hängen, um die +fehlenden Vorräte anzuzeigen, und darunter stand: Zieh den Schieber vor +behende ... + +Warum bin ich denn so wahnsinnig erschrocken? dachte sie und war +sekundenlang ganz ruhig. Langsam stand sie auf, konnte aber zuerst kaum +die Füße aufsetzen. Danach ging es besser, sie schlich die Treppen +hinauf und in ihr Zimmer, wo sie langsam ein paar Schlucke Wasser trank. +Sie fröstelte davon, legte sich wieder ins Bett, war auf einmal ganz +schwach und deckte sich zu. Die Gedanken verschwammen, sie wollte sich +besinnen, was denn eigentlich gewesen sei, und dämmerte ein. Da befand +sie sich plötzlich in einem großen Saal mit hohen grauen Wänden aus +Quadern und ohne Fenster. Nach oben blickend, gewahrte sie an Stelle des +Dachs einen rein blauen Sommerhimmel, den eine einzige Wolke von +schimmernder Weiße sehnsüchtig verschönte. Wieder die Augen senkend, +entdeckte sie, daß der Boden ein Wasser war, das sich in kleinen +Windungen und Strudeln emsig bewegte wie eine Menge Getier, und +zugleich, daß sie in der Spitze eines Nachens stand. Und jetzt sah sie +die Schmalwand des Raumes vor sich geöffnet; ein Tor wars, und durch den +Spalt schoß strudelnd ein dunkles Gewässer herein. Der Nachen bewegte +sich unter ihr, schwankte, stieg mit den lautlos steigenden Fluten, und +nun wußte sie, daß sie in einer Schleuse war. + +Darüber mußte sie tief aufatmen, ja seufzen aus einem von Erleichterung +und Beklommenheit angsthaft gemischten Gefühl. -- Nun wird die Fahrt +frei werden! murmelte sie, sich beruhigend, und erkannte, wieder nach +oben schauend, in der Wolke einen weit fernen Engel, der von ihr +abgewandt und in einer seltsamen Verkürzung hinter sich tretend, +stürmisch in die Bläue hineinjagte. Bleibe! schrie sie in plötzlicher +Fassungslosigkeit, o bleibe! -- Aber er war schon verschwunden, und sie +erwachte mit heftig klopfendem Herzen. + +Jählings und mit furchtbarem Erschrecken fuhr sie dann hoch, da sie eine +unhörbare Stimme traurig sagen hörte: Schöpfe, schöpfe, müde Danaide ... +Aber nicht das hatte sie hören wollen, sondern ein Wort von Klemens -- +wie hieß es? ja, wie hieß es denn? -- Schöne edle Karyatide ... + +Kaum gedacht, brach ein Strom von Tränen aus Renates Augen, ihr Herz +flatterte entsetzt auf mit tausend gestaltlosen Ahnungen, Befürchtungen, +Ängsten eigenen Schicksals, sie wühlte das Antlitz in die Kissen und +weinte, wie sie noch nie im Leben geweint hatte. + + + Achtes Kapitel: Juni + + + Krank + +Georg wachte des Morgens auf und dachte: Ach, nun bin ich auch krank! -- +Stirn und Schläfen schmerzten, er fror; er schluckte, und es tat ihm +weh. Auf den Ellenbogen sich aufrichtend, fühlte er sich zerschlagen und +müde, blinzelte gegen den Fenstervorhang, die Sonne schien draußen zu +sein, aber dies Draußen, der Garten und alles war merkwürdig weit weg +und als ob er nicht dazugehörte, sein Gehör schien dumpf und legte etwas +Entfremdendes zwischen ihn und die Welt. Ich kann nicht nach Zinna +fahren, murmelte er bitter, vielleicht gehts mit ihr heut zu Ende, aber +ich kann nicht. Und er dachte, wie glücklich er sein würde, wenn es +wirklich zu Ende ... Glücklich, -- ja, er ertappte sich, aber es war so, +und wider Willen fügte er schon hinzu: Wenn sie nur stürbe! Wenn sie nur +stürbe! -- Er zog die Decke über die Ohren, glühte und schauderte +frostig ineins, wälzte sich herum, lag minutenlang halb dämmernd. Dann +rief ein Geräusch ihn zu sich, der Diener mußte eingetreten sein, er +drehte sich um und sah einen menschlichen Schatten in der Dämmrung zum +Fenster gehn. + +»Lassen Sie zu, Egon!« sagte er, »ich stehe nicht auf, ich bin krank.« + +Der Diener kam leise ans Bett, Georg richtete sich auf. Die dunklen +Augen, das blasse Gesicht des jungen Burschen sahen ängstlich auf ihn +herunter. + +»Keine Angst, Egon,« sagte er lächelnd, »es ist nur ein bißchen +Halsentzündung, oder Influenza,« er räusperte sich, es tat scheußlich +weh, »aber ich will einen Doktor haben. Kranksein ist gemein, Egon, ich +will sofort wieder gesund werden, wissen Sie einen Doktor?« Egon wußte +keinen. »Ich auch nicht, dann fragen Sie, -- rufen Sie bei --« Er besann +sich. Es braucht ja keiner zu wissen, daß ich krank bin, -- »also rufen +Sie gegen neun bei Dr. Herzbruch an, im Verlag, und wenn er einen Doktor +weiß, -- der wird ja Telephon haben, -- dann rufen Sie auch gleich an +und bitten ihn herzukommen. So, gehn Sie aber erst ins Badezimmer und +lassen Warmwasser in die Wanne, und wenn ich drin bin, machen Sie hier +Durchzug.« + +Der Diener ging. Bald darauf zog Georg die Füße unter der Decke hervor, +saß einen Augenblick frierend auf dem Bettrand und fühlte sich aus der +Welt herausgenommen und in Krankheit gekleidet. Draußen war alles leicht +und natürlich, aber sein Wesen entstellt, verfremdet und peinlich. Er +schlürfte hinüber, spülte sich Körper und Mund und war froh, im Zimmer +wieder unter was Warmes kriechen zu können. Ach, dachte er, so war es +damals genau, als ich die Masern kriegte! Mitten im Tag fings an, ich +wurde ins Bett geschickt, und wie ich da auf dem Bettrand saß und fror +und alles so weit weg war und Altelinda mir die Stiefel auszog und ich +so schwer war am ganzen Leib und unbeschreiblich sehnsüchtig, ins Bett +zu kommen und den dumpfen Kopf ganz tief ins Kissen zu stecken, -- ja +all das war genau wie jetzt; eigentlich war es herrlich. Ach, wie +geborgen war man in seinem Bett als Kind! »Ist noch was, Egon? +Frühstück? Nein, ich mag nichts, aber die Post, nein, keine Post, aber +die Zeitung, ja, und dann -- rufen Sie auch gleich, oder -- wie spät ist +es denn? Halb acht? Also rufen Sie in einer Stunde bei Frau Dr. Schley +an: ich hätte, -- ach, warten Sie damit, bis der Doktor dagewesen ist!« +Egon entfernte sich, Georg rief ihm nach, er sollte die Tür halb offen +lassen. + +Nun lag er still auf der linken Seite und blinzelte durch die Türöffnung +ins Nebenzimmer. Da war ein Stück vom Schreibtisch, mit Aktenstößen, und +das Fenster, und die Falten der Vorhänge, und draußen die Sonne und das +Sommerliche, ein Stück Teppich unten, und all das so anders als sonst, +so ganz für sich und ohne ihn. Er hörte Schritte auf dem Flur, Türen, im +Eßzimmer eine Schranktür, deutlich alles und doch ganz dumpf und immer +vermischt mit seinem Frostschaudern und Fiebern und dem Herben in der +Nase und der Stirnhöhle, und das Ganze wiederum doch nicht unbehaglich. +Die Tür ging leise, eine schwere Frauenfigur kam ans Bett und stand +still, er öffnete die Augen und lächelte. »Oltsche,« sagte er, »ich +sterbe, mit mir hats nun ein Ende, Sie stehen im Testament.« + +Die Hausmeisterin schlug die Hände zusammen und sagte: »Nein, sowas! Und +wo unsre Prinzessin auch schon --« Georgs Husten übertönte das Übrige, +die aufgeregte Alte klopfte ihm die Kissen zurecht, er streckte sich aus +und bat sie, ihm die Zeitung zu geben. Sie ging und kam wieder mit +dumpfen, weichen Schritten, fragte noch, ob er denn gar nichts essen +wollte, und war leise hinaus. Georg setzte sich auf und riß die Zeitung +auseinander. Es war fast zu dunkel zum Lesen, er hielt die gedruckte +Seite zum Licht hin, fand die fettgedruckte Zeile: Das Befinden der +Prinzessin Sigune, -- die Buchstabenketten fielen auseinander, er raffte +sie herzklopfend zusammen und las: + +»Im Befinden der Prinzessin ist seit gestern keine Änderung eingetreten. +Eine persönliche Anfrage unsrer Redaktion bei Herrn Professor Dr. Bosse +bestätigte uns die traurige Gewißheit, daß es sich nicht um die +häufigere Art Meningitis, sondern um tuberkulöse Gehirnhautentzündung +handelt. Das Bewußtsein ist seit fünf Tagen nicht wiedergekehrt, die +Nackensteife ...« Georg konnte nicht weiterlesen. -- Sie muß sterben, +sie muß sterben, vielleicht ist sie schon tot, sagte er unaufhörlich, +krampfhaft bemüht, dabei nichts zu empfinden und Mitleid hervorkommen zu +lassen, und er erzwang das Mitleid durch den Gedanken, daß sie +fürchterliche Kopfschmerzen gelitten hatte und nun aus irrem Dunkel ins +tiefere hinüberschlafen würde. Er sah sie im Bett liegen, steif, das +Gesicht hintenübergebogen, bleich und ohne die Augen schon gar nicht +mehr kenntlich für ihn, der sie kaum kannte. -- Nun ließ er die Zeitung +an die Erde gleiten, wickelte sich bis an die Ohren in die Decke, fühlte +die glatte Trockenheit und Hitze seiner Beine und zwang sich, nichts zu +denken. + +Stand jemand am Bett? Egon sagte, er habe im Herzbruchschen Büro +angefragt --. »Ja, wie spät ists denn schon?« -- Es sei gleich zehn Uhr. +-- Ach, er hatte geschlafen. -- Der Arzt heiße Dr. Birnbaum, am +Theaterplatz, er würde gegen Mittag kommen. -- Birnbaum? Aber Onkel Salm +-- Sigurd --, sie hatten doch keine Verwandten in der Stadt ... »Haben +Sie Herrn Prager Bescheid gesagt?« Ja, und er ließe fragen, ob er +herüberkommen sollte. Ja, Georg ließe bitten. -- Egon nahm die Zeitung +und trug sie weg. + +Benno kam und benahm sich genau wie die Menschen an Krankenbetten, +lächelte, tat hoch erstaunt und sagte, was Georg für Geschichten machte; +er war fremd und irgendwie kalt und frisch. Georg bat ihn, sich mit +Zinna verbinden zu lassen und anzufragen, wie es stünde. Er hörte ihn +nebenan sich mit dem Telephon beschäftigen, ohne Worte zu verstehn, +durch das ferne Klingen und Summen in seinem Gehör. Dann setzte Benno +sich still neben Georgs Bett und schwieg sich teilnahmsvoll aus. Als er +gerade etwas zu sagen anfing, schrillte das Telephon laut auf, Benno +ging hin, Georg wollte nichts Unverständliches hören und verschloß die +Ohren. Wenn sie schon tot ist, -- wenn sie schon tot ist ... dachte er. +Endlich kam Benno. Es stünde sehr schlimm, sagte er bekümmert, sonst sei +nichts zu sagen. + +»Ach, Benno,« fing Georg nach einer Weile an, »wie war es doch schön, +wenn man krank war als Junge!« + +»Ja,« sagte Benno begeistert, »wie gut sie gleich Alle waren! Jeder kam +herein und machte einen Scherz, mittags kam Vater, legte einem seine +große, kalte Hand um die Wange, faßte mit sonderbar harten Fingern nach +dem Puls und sagte, es würde schon werden.« + +»Hattest du je Masern, Benno?« + +»Masern?« Bennos Stimme überschlug sich, »es war herrlich, ganz +herrlich! Man war ganz gesund, bloß im Bett mußte man sitzen, und ich +lag mit meiner Schwester in einem Zimmer, die hatte sie natürlich auch, +und es war herrlich. Kleine, gebratene Tauben bekamen wir zu essen und +alle Tage Apfelmus, so ganz seimig, und eine herrliche Bouillonsuppe, +die war aus Sago und ganz goldklar, das war die Krankensuppe, Gott, den +Geschmack kann ich jetzt noch spüren und den winzigen Knochensplitter, +der drin war.« + +»Und die Stille, Benno, weißt du noch? und wie es sang in der Stille, +und wie man stundenlang lag und das Muster der Tapete verfolgte, und die +alltäglichen Geräusche draußen, die so anders klangen und so weit +entfernt, auf der Treppe und nebenan, und man kannte sie doch nicht ...« + +»Und dann bekam man die herrlichsten Spiele mitgebracht, oh Georg, +Geduldspiele aus ganz blanken Klötzen, unbeschreiblich neu und glänzend, +grüne Würfel und rote und -- nein, das war ja alles gar nichts gegen die +Flechtarbeiten! Hast du nie Flechtarbeiten gemacht? Ich will es dir +erklären: Erst kam Glanzpapier, das mußte auf der Rückseite liniiert +werden und in schmale Streifen geschnitten, aus denen wurde das Muster +geflochten, aber dies Glanzpapier, das vergesse ich nie! Es gab +silbernes und goldnes, aber das war nicht das Schönste. Das Schönste war +tiefdunkelrot, wie Samt, aber dabei war es so himmlisch glatt und +knitternd, obgleich es ganz dick aussah; das Hellgelbe war auch schön, +aber eigentlich unangenehm; es gab hellblaues und dunkelblaues, das rosa +war so beißend, herrlich war auch das Dunkelgrüne; das war wie ein +ganzer Tannenwald ...« Bennos Stimme verhauchte hingebungsvoll. + +»Nein, das hatte ich nicht,« sagte Georg, »aber ich hatte ein Reißbrett +...« + +»Ein Reißbrett?« jauchzte Benno, »ich hatte auch ein Reißbrett, weißt du +noch --« + +»Wie es ganz hart war, Benno, und eckig, wenn es in die weichen Kissen +gedrückt wurde, über den Schenkeln und gegen den Unterleib, fühlst du +das noch?« + +»Und wie man nicht dran dachte, und es ganz schief wurde, wenn man die +Knie anzog, und alles rutschte herunter!« + +»Und der Suppenteller, die Suppe floß über, und das war so klebrig und +warm ... Oh mein Reißbrett hatte Onkel Salm erfunden, der schleppte es +an, es war in Trassenberg, er saß immer bei mir und baute Zinnsoldaten +auf, mein Vater hat eine riesige Sammlung, zwanzigtausend sind es, glaub +ich, die Schlacht bei Lützen konnte man machen, und die Schlacht bei St. +Privat und bei Waterloo.« + +Benno lächelte beseligt mit Georg. »Ich hatte auch Zinnsoldaten,« +flüsterte er, »jede Weihnachten bekam ich eine Schachtel, sie waren oval +und aus Span, auf dem Deckel war ein weißblaues, rechteckiges Etikett, +und beim Auf- und Zumachen schnurpste der Deckel wundervoll!« + +»Und drinnen, Benno, drinnen lagen sie ganz still und blank, die +Fußbretter am Rand, die Gewehre und Fahnen nach innen, ganz kostbar, +immer nur drei oder vier in einer Schicht und dazwischen ovale Blättchen +aus so einem Papier ... einem Papier ...« + +»Ein herrliches Papier!« hauchte Benno, »es war wie Löschblatt, aber +dünner und fester und ganz weich ...« + +»Ja, ganz weich,« sagte Georg vor sich hin und sah die blitzenden, +unbemalten Säbel und Bajonette und die glänzenden braunen, schwarzen und +weißen Pferde, die blauen, roten und grünen Lackfarben der Monturen zum +Vorschein kommen. Trommler gingen voran und Fahnenträger, schräg nach +vorn geneigt, die Fahne hoch in der Hand, die reitenden Trompeter +bliesen immer nach rückwärts, sie bliesen das Signal zum Vorgehn, ja, +Onkel Salm machte es mit dem Munde, es war völlig natürlich, und es +klang so aufreizend: Tötötötö, tötötötö, tötötötö ... Und dann wurden +sie aufgestellt nach dem Lineal, in der vordersten Reihe die Knieenden, +dann die Chargierenden, damals sagte man noch chargieren, genau >auf +Luke<, und im dritten Gliede die stehend Schießenden. Bei jedem Regiment +war ein Gefallener und einer, der grade hintenüberfiel. Oh es gab +Schotten in roten Röcken und mit schottischen Unterröcken, mit +Dudelsackbläsern, -- die Artillerie war immer etwas unangenehm, weil sie +im Schritt ritt, die Kavallerie galoppierte mit geschwungenen Säbeln, +die Ulanen mit eingelegten Lanzen, und wie war nur alles kostbar und +selten, und wenn sie alle aufgestellt waren, mußte man von der Seite +gegen die festgeschlossenen Formierungen sehn, und Beine und Gewehre und +Arme und Köpfe waren in einer Linie ... + +Sie sprachen nicht mehr, sie träumten ... Abends kam die Lampe, wie sah +man sie zum ersten Mal, ihr stilles Licht, sie stand anders im Zimmer +als sonst, weit fort von einem, und alles lag im Schatten; das Muster +der Tapeten sah wieder anders aus, dann kam die Abendsuppe, die mußte +der gute Doktor immer selber machen, Wassersuppe von Sago wars, ganz +klar und schön sanft grau. Dann entkorkte er feierlich die Weinflasche, +hielt einen silbernen Löffel über den Teller und goß den roten Wein +darauf, bis er überfloß in die Suppe, und dann lief das dunkle Rot im +Grau aus, es gab einen wunderbaren purpurnen Fleck, dann wurde gerührt, +und die Suppe war herrlich rot. Der Löffel war kleiner als ein +Erwachsenenlöffel, hatte eine punktierte Linie am Rande des Stiels und +hieß: der Kinderlöffel. Georgs Kinderlöffel. Jeden Tag kam Mama für zehn +Minuten und erzählte etwas Lustiges ... + +Die lange schwere Locke an ihrem Hals, -- ich durfte sie ganz vorsichtig +anfassen. Ich wunderte mich im stillen, wie kühl ihr Hals war, aber die +Locke war doch das Schönste auf der ganzen Welt. Magda hatte Puppen, +deren Locken faßte ich auch an, aber es war nichts damit. Ja, diese +Locke war lebendig; sie ringelte sich um den Finger, und man mußte +unendlich vorsichtig sein, daß man ja nicht daran zog, und doch durfte +man es. Mama erzählte vom Hühnchen und Hähnchen, vom Ei und der +Stecknadel. Wie schön war Mama! -- -- + +Georg fühlte, daß sein Kinn zitterte, und daß es ihm dick im Halse +wurde. Damals war ich glücklich, dachte er, und seitdem nie wieder. +Damals wußte ich nicht, und heute weiß ich alles, alles. + +Da saß Bennos Schattenriß, nah, dunkel und hoch vor der gelblichen Helle +des Fenstervorhangs. Georg schob sich tiefer im Bett, steckte die kalt +gewordenen Arme unter die Decke, zog sie fröstelnd hoch; sein Kopf +schmerzte heftig, er wollte sich einwickeln und eindämmern wie als Kind. +-- Als er nach einer Weile die Augen öffnete, sah er Benno auf den Zehen +an der Tür, ihm fiel ein, seinem Vater Bescheid sagen zu lassen, daß er +heute nichts ... »Sei so gut, Benno, und sage in Trassenberg Bescheid. +Du kannst dich ja vom Hausmeister verbinden lassen. Dr. Birnbaum sollte +heut nicht kommen. Ich könnte heut nichts Geschäftliches besprechen, +wenn Unterschriften wären, könnten sie vielleicht mit einem Kurier +geschickt werden, und sonst auch was Wichtiges ...« + +Nun war alles still. Vom Schreibtisch her tickte die Uhr sachtsam vor +sich hin. Gunny, sagte die Uhr, Gunny, Gunny ... Jetzt starb sie +vielleicht. Kein Mensch wußte mehr, was in ihr war. + +Ein helles Klingen sprang in seinem Ohr auf, er fühlte, daß er +geschlafen hatte, dann merkte er, daß nebenan die Korridortür geöffnet +und jemand die Stufen herabkam, der aber nicht sichtbar wurde. Dort +waren jetzt die Vorhänge geschlossen, eine Wand von Sonnenstäubchen +stand golden vor dem Schreibtisch, darin erschien Egon und meldete: +»Herr Doktor Birnbaum.« + +Georg setzte sich auf, ließ sich Kamm und Bürste geben, ordnete sein +Haar und ließ den Doktor hereinbitten. Da fühlte er wieder dies Andre: +im Bett zu liegen am hellen Tage und jemand von draußen hereinkommen zu +sehn, frisch und lustig und kalt, den Doktor, der ein kleiner zierlicher +Mann war mit rundlichem Kopf. Als er vor Georg stand, zeigte er ihm ein +rechtes Arztgesicht mit einem kleinen borstigen Schnurrbart, etwas +quellenden, gelblichen Augen hinter einem goldenen Kneifer und dünnem, +gescheiteltem Haar, an der gebogenen Nase als Jude kenntlich, und wenn +er sprach und lachte, wurde sein Gesicht ein wenig eulenhaft. Hin und +wieder kniff er nervös die Augen zusammen, freundlich sprechend, ein +bißchen witzelnd, er freue sich ja sehr über Georgs Krankheit, nun würde +seine Praxis noch mal so groß aufblühn, denn sterben würde er ihm ja +wohl nicht. Georg lachte, er hätte nicht die Absicht. »Na, denn wolln +wir mal sehn«, sagte der Doktor, Egon mußte den Fenstervorhang öffnen +und einen Löffel besorgen. Der Doktor fühlte den Puls, sagte: »Zwischen +acht- und neununddreißig«, ließ sich von Georg sagen, wo er Schmerzen +habe, dann kam der Löffel, Georg mußte den Mund aufsperren, der +Löffelstiel fuhr kalt und bitter schmeckend hinein, Georg krächzte: Oh +oder Ah! Der Doktor kratzte mit dem Löffel im Hals, Georg konnte sich +wieder hinlegen und zudecken. + +Ja, es wäre eine kleine Mandelentzündung, ganz ungefährlich, +Diphtheritis sei nicht zu erwarten, der Belag sei leicht zu entfernen, +in ein paar Tagen könnte es schon vorbei sein. Ob das Herz in Ordnung +sei? -- Da Georg verneinte, verlangte der gründliche Doktor, daß er die +Jacke auszöge, und klopfte ihn mit größter Sorgfalt ab. Es wäre alles +halb so schlimm, meinte er dann, aber er sollte doch lieber nur eine +Aspirintablette nehmen, dreimal täglich. Tscha, und einen Strumpf um den +Hals, wenigstens nachts und mit Wasserstoffsuperoxyd gurgeln. Da Georg +betonte, daß er so schnell wie möglich gesund werden müßte, meinte er, +das hinge ganz von ihm ab; Ruhe, wenig essen, leichte Sachen -- +Sagosuppe mit Wein, sagte Georg -- ja, auch Gebratenes -- kleine Tauben, +dachte Georg -- und solange er sich krank fühlte, sei er eben krank, und +wenn er sich gesund fühle, sei er wieder gesund. Egon stand all die Zeit +daneben, seine dunkle widerspenstige Haarwelle in der Stirn, und sah +alles besorgt und genau mit an. + +Das war erledigt. Um noch etwas zu sagen, fragte Georg den Doktor, ob er +vielleicht mit dem Studenten Sigurd Birnbaum verwandt sei. Der Doktor +lachte, daß sein Schnurrbart zitterte, kniff die Augen zusammen und +sagte: + +»Pirnbaum, Durchlaucht, Pirn, mit hartem P, nein, mit Sigurd bin ich +nicht verwandt, aber ich kannte die Beiden schon als kleine Kinder. -- +Ja, die arme Esther, das war ein böses Ende!« Ob er von Sigurd noch +hörte. -- Jetzt seit langem nicht; er sei in Rußland, in Odessa. + +Der Doktor schien zum Gehn bereit, sagte dann aber: »Darf ich noch was +fragen?« »Ja, aber bitte!« »Ach, Sie haben so eine wunderschöne, so eine +wunderschöne Miniatüre auf dem Schreibtisch, wenn ich die einmal sehn +dürfte?« + +Georg winkte Egon. -- Aber gerne! ob er sich dafür interessierte? -- Der +Doktor rückte an seinem Kneifer und lächelte, -- Georg dachte: als hätte +ich ihn gefragt, ob er was von Diphtheritis versteht. -- Egon brachte +die Miniatüre von Georgs Mutter. Der Doktor nahm den Kneifer ab, rieb +die etwas geschwollenen Lider, brachte die runden Augäpfel ganz dicht an +das kleine Bildnis und betrachtete es ungemein sorgfältig. + +»Es ist meine Mutter,« sagte Georg, »als junges Mädchen.« + +Das sei wunderschön, ausgezeichnet gemalt, wie man es gar nicht mehr zu +sehn bekomme. Er habe eine kleine Sammlung von Miniatüren, so +hundertundfünfzig Stück, ja, er sei ein Kenner davon, lachte er. + +»Miniatüren«, sagte Georg, »könnte ich auch sammeln, es ist eine +wundervolle Art Kunst und wieviel schöner, im Grunde doch wieviel +lebensvoller als unsre farblose Photographie trotz des Reizes des +Augenblicks. Aber so ein Bild kann ich immer ansehn, es hält den Blick +so ruhig aus, und sehen Sie nur die feine, durchsichtige Spitze auf der +Brust, und die Locke, wie sie gemalt ist!« + +Der Doktor sagte, er habe eine ganz ähnliche aus dem Anfang des +neunzehnten Jahrhunderts, deshalb sei ihm diese auch aufgefallen. -- +Georg hörte ihn noch einiges sagen, jedoch von fern, ohne zu verstehn; +sein Traum regte sich in ihm, er fühlte sich wieder weinen mit Cordelia +-- oder war es Esther gewesen? --, sah die sonderbaren dunklen Zimmer +voller Menschen und dann Renate, nein, Dora Vehm, aber auch deren +Gesicht war nicht ganz das Doras, sondern fremde Züge waren darin ... Da +sah er den Doktor sich vom Stuhl erheben, reichte ihm die Hand, bedankte +sich und bat ihn zu erlauben, daß er sich einmal seine Sammlung ansehe, +später, jetzt sei ja ... + +Ach, ja der Prinzessin gehe es ja so schlecht, aber es sei wohl noch +nicht alle Hoffnung verloren ... Georg murmelte irgend etwas, der Arzt +ging. + +Hatte sie nicht diese Locke gehabt im Traum? Aber wie seltsam sein Herz +erregt war von dieser Frau! Ich muß sie geliebt haben im Traum, ich +empfinde noch ganz diese Süße ... Die Träume machen aus uns, was sie +wollen, murmelte er und verkroch sich frierend. + +Egon erschien mit Fragen wegen des Essens. Er sagte ihm Bescheid, trug +ihm dann auf, bei Frau Dr. Schley anzurufen, zu sagen, daß er mit einer +leichten Mandelentzündung zu Bett liege, und zu fragen, ob sie nicht +kommen könnte. + +Die Augen fielen ihm wieder zu, aber im Eindämmern störte ihn Egon mit +der Meldung, es täte der gnädigen Frau ganz schrecklich leid, aber Herr +Doktor käme am Nachmittag aus Berlin, und sie würde nicht vor fünf, halb +sechs da sein können. -- Ach, das war elend! Schlafen, dachte Georg, +schlafen! Seine Schläfen glühten, die Gedanken fingen an, rasend zu +arbeiten, er träumte oder phantasierte, er war an hundert Orten, sah +Menschen über Menschen, Gesichter, die er nie gesehn, schwebten auf ihn +zu, bewegten, verzerrten sich, manchmal nur Gebärden, Begriffe von +Gebärden, ein wüstes Wirrsal, aus dem er in ein andres von Versen, +Versstücken und Gedichten stürzte, erhitzten Gehirns, stumpf daliegend, +aber aus diesem erlöste ihn plötzlich Jason al Manachs freundliche +Gestalt. Wie er ihn einmal am Abend im Park getroffen hatte, sah er ihn +wieder: er saß, einsamer anzusehn als andre Menschen und doch nicht so +verschlossen in sich, nicht so belastet mit Einsamkeit, sondern ganz +leicht, auf der Bank auf der kleinen Anhöhe, über die niedre Böschung +und die Hecke zu seinen Füßen in die Wiesengegend hinüber schauend, aus +denen Abend dunkel und Nebel weißlich aufstiegen. Und auf Georgs +gedankenlose Frage, was er tue, hatte er wieder gefragt, ob er Libussa +von Grillparzer kenne, und da Georg verneinte, fing er gleich den +wundervollen Eingang des Stückes an, -- Georg entsann sich wieder: + + Ihr Götter! ist es denn wahr und wirklich so? + Daß ich im Walde ging ... am Gießbach ... + Und nun ein Schrei in meine Ohren fällt, + Und eines Weibes leuchtende Gewande, + Vom Strudel fortgerafft, die Nacht durchblinken. + Ich eile ... und trage ... + Die Beute, kalte Tropfen regnend, + ... und ich löse + Von ihren Füßen selbst die goldnen Schuhe, + Und breite aus den schwergesognen Schleier, + Und ... + +Ach! Jason! sieh! da saß er ja auf dem Stuhl am Bett und sah kühl und +angenehm aus. »Eben dachte ich noch an Sie,« sagte Georg erfreut -- +»erinnern Sie sich noch, wie Sie mir einmal Libussa vorgesprochen haben? +Wir haben uns lange nicht gesehn, wo kommen Sie her?« + +Jason, die schwarzen Augen mit großer Ruhe auf ihn gerichtet, sagte: + + »Man sage nicht, das Schwerste sei die Tat, + Da hilft der Mut, der Augenblick, die Regung; + Das Schwerste dieser Welt ist der Entschluß. + Mit eins die tausend Fäden zu zerreißen, + An denen Zufall und Gewohnheit führt, + Und, aus dem Kreise dunkler Fügung tretend, + Sein eigner Schöpfer zeichnen sich sein Los.« + +Im nächsten Augenblick war er völlig verschwunden. + + * * * * * + +Georg erwachte. Der warmen, sonnigen Dämmerung nach mußte es schon +Nachmittag sein; er fühlte sich leichter und freier und sah zu seiner +Verwunderung auf dem Nachtschrank eine Medizinflasche und eine Glasröhre +mit Aspirintabletten liegen, in der beim Nachsehn eine fehlte; da auch +die wasserhelle Flüssigkeit in der Flasche angebrochen war, mußte er +gegurgelt und Aspirin genommen haben, konnte sich aber durchaus nicht +entsinnen. Auf sein Klingeln erschien statt Egons Frau Vögelein, +mütterlich verhaltenes Zufriedenheitslächeln in den Augenwinkeln, weil +er so gut geschlafen habe; es sei schon drei Uhr durch, ob er denn nun +etwas essen möchte. -- Georg mochte, und richtig bekam er zwar seine +ganze Taube, aber die fein zerlegten Bestandteile davon, Keulen, Flügel +und zarte, weiße Brustschnitzel; er hätte viel um ein Reißbrett gegeben, +-- der Stuhl, von dem er essen mußte, war recht kümmerlich. + +Danach ließ er von Egon und dem Hausmeister sein Bett ins Arbeitszimmer +stellen, an die Wand des Schlafzimmers, das Fußende an dessen Tür +entlang, die ausgehängt werden mußte. Das war nun sehr angenehm. Der +große Vorhang konnte ein wenig gerafft werden, er sah den sinnenden +Borgia dunkel sitzen, sah die nachmittägliche, sonnige Juniwärme im +Garten, hörte die Spatzen lärmen und fühlte sich äußerst behaglich in +der leichten Dumpfheit seines Gehirns. + + Das Schwerste dieser Welt ist der Entschluß ... + +Woher stammte das? Hatte das Jason gesagt? -- Sie hatten von Libussa +gesprochen, richtig -- vielleicht war die Zeile aus Libussa. Da fiel ihm +ein, wie er vor langer Zeit einmal in Musäus' Volksmärchen Libussa +nachgelesen hatte, Renates wegen, und -- jetzt hab ichs! frohlockte er, +jetzt hab ich meinen Festzug und das Spiel! Er dachte, wie er sich den +Kopf zerbrochen hatte, um für den üblichen historischen Festzug am Tage +der Regierungsübernahme etwas Andres zu erfinden; Renate mußte dabei, +mußte Glanz und Zentralsonne des Ganzen sein. Also Libussa! Nun schossen +Szenen und Ideen von allen Seiten herbei. Libussas Wahl zur Herzogin von +Böhmen, dann die Aussendung des weißen Rosses, ich werde Primislaw -- +nein, das wird nicht gut gehn, ein Schauspieler muß ihn in meiner Maske +darstellen, zuletzt werde ich an seine Stelle treten und mit Renate +zusammen die Huldigung des Volkes an uns vorüberziehn lassen, Gilden, +Zünfte, Wagen, Söldner, oder Ritter -- ja, welche Zeit war denn das +eigentlich? Um tausend oder so -- und wo sollten die Szenen gespielt +werden? Ein altes Schloß konnte auf dem Gehrdener oder Benter Berge +leicht gebaut werden, -- herrlich, wenn das weiße Pferd über die +Sommerwiesen bergauf kommt, zwei Reiter müssen es an langen purpurnen +Riemen unmerklich lenken, -- dann Renate, auf hohem Festwagen, an der +Spitze des Zuges in die Stadt hineinrollend, und die Huldigung -- vom +Schloß aus -- unmöglich, es hat keine Terrassen, das Theater hat eine +schöne, aber die Anlagen davor -- --, die werden beseitigt -- und es +sieht ja wie ein griechischer Tempel aus -- dorische Säulen -- ah, die +werden mit Rabitzmauern verbaut und in ein Schloß verwandelt, und Renate +-- -- und Sigune? + +Sigune lag im Sterben. Sie mußte sterben, jeder sagte es ja, wenn auch +nicht mit Worten. Ließ sich denn leugnen, daß es gut sei, für sie und +für ihn? Konnte sie je glücklich, je zufrieden werden neben ihm? Mußte +sie ihn nicht täglich ... ach, wozu, wozu das denken? Sie blieb leben, +dann mußte es ertragen werden, oder sie starb -- sie starb ... + +Und recht behielten die Sterne ... + +Georg fuhr zusammen, dicht über ihm, noch ihm ungewohnt, wurde die Tür +geöffnet, Egon kam eilig die Stufen herab und flüsterte: »Seine +Durchlaucht ...« Georg warf sich im Bett herum und schrie: »Halloh!« + +Wahrhaftig, da kam sein Vater den Gang herauf, er ging ja immer +aufrechter und leichter! -- stand gleich darauf riesengroß und hoch über +Georg in der Tür, lachte und sagte: »Was sind denn das für Geschichten?« +Er war auch schön frisch und kühl und hatte pikfeine, hellgelbe +Schwedenhandschuhe angezogen. Georg schimpfte nun aus Leibeskräften, der +Herzog wurde ganz verlegen und entschuldigte sich vielmals. Es sei ja +aber ein Katzensprung im Automobil herüber ... Georg versicherte, wie +glänzend es ihm schon wieder ginge, bloß das Schlucken täte noch weh, +und überdies sei es köstlich im Bett zu liegen. »Heute morgen«, sagte +er, »habe ich mir mit Benno erzählt, wie es war, wenn wir als Jungens +krank waren, er hatte Flechtpapier, und ich hatte Zinnsoldaten, aber ein +Reißbrett hatten wir Beide, und das war das Schönste. Nein, das +Schönste« -- Georg stockte innerlich -- »war Helenes Locke, nein, die +werde ich nie, nie vergessen ...« + +»Die arme Helene ...« sagte der Herzog. + +Sie schwiegen und sahen aneinander vorüber. Aber Georg wußte, sie +brauchten sich nicht anzusehn, ihrer beider Hände lagen wie an einem +dehnbaren, festen Reifen an dem gleichen unnennbaren Gedanken, und -- so +war alles gut. + +»Und Sigune?« fragte der Herzog. Georg, innerlich die Zähne +zusammenbeißend, sah seinem Vater in die Augen und sagte: »Ich fürchte +-- es geht zu Ende.« + +Der Vater antwortete nicht; aber was sie dachten, war wohl wieder das +gleiche ... + +»Und wie ist es ... giebts etwas Neues, Papa?« begann Georg nach einer +Weile. + +Von Wichtigkeit nichts Besonderes, meinte sein Vater. Von der guten +alten Beuglenburgschen Sippe habe nun auch der Letzte sich entfernt, der +gute, uralte Amtshauptmann Wahrendorff; er habe ihm selber, da sie sich +ja lange konnten, geschrieben, daß er sein Entlassungsgesuch eingereicht +habe. Im ganzen handle es sich nun also um fünf neue Männer, die zu +beschaffen wären, denn Kultus und Landwirtschaft müßten ja nun vom alten +Ministerium des Innern abgespalten werden. + +»Birnbaum übernimmt die Finanzen, ich will es so,« sagte der Herzog, +»ein Strohmann, der den Titel und die Orden umherträgt, findet sich +überall.« + +Ob er schon für den Amtshauptmann jemand in Aussicht habe? Sein Vater +meinte, er hätte genug, immerhin sei die Auswahl schwierig. Georg lachte +plötzlich und meinte: + +»Wer wird denn nun eigentlich hier der Großherzog und wer der Strohmann +mit Orden und Titel und so? Ich sehe mich schon in den Krankenhäusern +und bei Grundsteinlegungen umherfahren und verbindlich lächeln, während +im Hintergrunde der Papa >am sichern Schreibtisch sitzend Opus hinter +Opus aufs Papier wirft<, wie unser Morgenstern so herrlich sagt.« + +»Ich verbürge mich dir,« schwor der Herzog, »nach spätestens einem Jahr +ziehe ich mich nach Lesum zurück und veredle Schafe und Hühner.« Georg +lachte, bis er heiser wurde. -- Jawohl, Georg würde schon sehn, wie ihm +im Beuglenburgschen Saustall Nase und Atem vergingen. Ob er schon irgend +etwas von Kalibohrung verstünde! Ob er eine Ahnung hätte, wie die +Kaliförderung in Wiedehopf und Zainhammer sich wieder hochbringen ließe? +Wie viele neue Eisenbahnlinien er -- etwa -- im Auge habe. Und was er +von Eisen-, Kopfstein- oder Holzpflasterung denke für Beuglenburg? Wie +viele und welche Kanäle er zu ziehen gedenke? Und die Deiche, die alten, +hundertmal geflickten Deiche? Und Raschwege, das Gestüt, das einmal +berühmt war? + +Georg ließ alles fröhlich über sich ergehn und sagte, er wüßte einen +Amtshauptmann. »Schley heißt er, das heißt seit gestern; vorgestern hieß +er Freiherr von Schley-Schleyenburg, sein Vater hatte eine Wagen- und +Pumpenfabrik und kaufte den Adel von Beuglenburg für eine +Kleinkinderbewahranstalt oder dergleichen. Es ist ein Korpsbruder von +mir, hat den Adel fortgelegt, war Assessor und ist jetzt +fortschrittlicher Abgeordneter. Wir haben uns seit einiger Zeit sehr +angefreundet, das heißt, eigentlich bin ich mit seiner Frau befreundet, +aber wir haben uns in endlosen Nachtgesprächen ungemein schätzen und +kennen gelernt. Ich war auch einmal auf die Dörfer mit ihm zu einer +Wahlversammlung, und da habe ich das gesehn, weshalb ich ihn dir +vorschlage, nämlich die wundervolle Art, wie er mit den Leuten umzugehn +weiß; weder leutselig, noch so grob auf du und du, sondern fein +teilnehmend und -- nun, das läßt sich eben nicht beschreiben; er hat die +Gabe -- du hast sie ja auch --, aus jedem Menschen gleich das Beste +herauszuholen, und ist überhaupt unwiderstehlich. Genügt das? Den +Reichstag hat er satt, also --?« Sein Vater stand auf und setzte sich an +den Schreibtisch, um Namen und Daten aufzuschreiben. + +Georg blickte verträumt ins Freie hinaus. Dort, in greifbarer Ferne, lag +sein Großherzogtum, so fest, so schwer und massig wie hier der Rücken +und Kopf seines Vaters am Schreibtisch, und es würde eine herrliche Zeit +anbrechen. Keine Träume brauchte es mehr zu geben, zwischen allen +Fingern spürte er schon das Gewimmel der tausend großen beweglichen +Gegenstände, -- wie der Odem eines Tieres, heiß und wild, schnob ihn der +neue Atem gesammelter Handlungen an, Land brodelte, im unterirdischen +Raum stampfte die geheizte Maschine, durch ihren unsichtbaren Dampf +blickten die gesicherten Sterne, einverstanden und wohlgefällig ... + +Wenn aber Virgo kommt, muß Papa fort sein, durchfuhrs Georg. Ich will +ihn zu Renate schicken, er scheint sie ja sehr zu lieben und kann dort +eine schöne Rede auf mich halten. »Ja, wie ist es nun, Papa,« sagte er, +als sein Vater sich mit dem Stuhl herumsetzte, »glaubst du nicht an die +Möglichkeit, daß du mir jetzt im Wege sein könntest?« + +Der Herzog kniff das linke Auge zu. »Eine Dame«, sagte er und nickte +langsam und voll Verständnis mit dem Kopfe. »Ich verschwinde«, sagte er, +»und gehe zu Fräulein von Montfort.« + +Georg sagte, das hätte er sich im stillen schon gedacht, er würde dort +vermutlich eine schöne Rede auf ihn halten. -- Sein Vater stand eilig +auf, humpelte zum Bett und ergriff seine Handschuh. »Ich komme nachher +noch einmal herein. Leb wohl, mein Junge«, sagte er plötzlich sehr warm +und legte ihm die Hand auf den Kopf. Georg, die Augen schließend, fühlte +die warme Schwere, fühlte sich kindlicher als in allen Erinnerungen des +Morgens, wohl beschützt und recht frohen Mutes ... + +Als sein Vater hinaus war, rief er Egon und ließ den Vorhang wieder +schließen, legte sich auf die Seite, schloß die Augen und verirrte sich +liebevoll in bunte Szenen und farbige Trachten. Daß Virgo nicht würde +dabei sein können, betrübte ihn, aber um jene Zeit erwartete sie ihr +Kind. Virgo, meine liebe, kleine Schwester, dachte er zärtlich, und ohne +sein Zutun schlossen sich die Worte an: Weißt du noch, wie wir uns +Blumen brachten? Und die lieben, kleinen Vogelnester, die das Herz so +zittern machten, und ... und im Park der Teich im runden Rahmen gelber +Iris, blank wie ... Mond ... Und ... und wie klangen, wenn wir riefen, +unsre Namen, durch die Stille ungewohnt? ... Er fing an, die +Unregelmäßigkeiten in den Zeilen auszufüllen, neue kamen hinzu, er +sammelte und legte fort, langsam schloß Strophe sich an Strophe, um +nichts zu vergessen, sagte er sie sich unaufhörlich wieder vor und +schlief allmählich darüber ein. + +Die Augen öffnend, wußte er, daß jemand vor ihm stand; er fühlte sich +wieder heißer, es war tiefe Dämmrung und nahe über ihm etwas Großes, +Weißes; auf seiner Stirn lag etwas Kühles, eine Hand, er schloß die +Augen wieder und dachte, noch halb im Schlaf: Sie ist da ... Ganz leise +lief hoch über ihm ihr Lachen silberflüssig durch dunkle Luft. Er schlug +die Augen auf und sah die ihren, groß und schwarz unter den dicken +Brauen, ihr kleines Gesicht, ganz weiß auf dem kleinen, leichten Hals; +sie hielt einen riesigen Armvoll weißer Narzissen an die Brust gedrückt +und ließ sie nun, sich überbeugend, auf sein Bett, auf sein Gesicht +fallen, naß, kühl, feierlich duftend. + +»Ja, was machst denn du für Geschichten, Schorse?« fragte sie. Sie +liebte ja nun diese jungenhaften Ausdrücke. + +»Jeder einzelne,« sagte Georg, »der hereinkommt, fragt, was ich für +Geschichten mache. Nun setz dich aber!« Er drückte auf die Klingel. Sie +raffte ihre Blumen vorsichtig wieder zusammen, Egon kam und holte eine +Vase, die allergrößte, einen dunkelgrünen Topf; er wurde auf den +Schreibtisch gestellt, das war kostbar anzusehn. + +»Wolfgang läßt vielmals grüßen«, berichtete sie. Halbtot sei er +angekommen und habe gebrüllt, daß die Wände gezittert und der +Kanarienvogel gezetert hätte. Er wollte lieber sterben, als sich noch +ein einziges Mal mit einem Agrarier boxen. Daß der Teufel ein Agrarier +sei, das stehe felsenfest. + +»Er soll nun Amtshauptmann in Beuglenburg werden,« sagte Georg, »Papa +war da, wir haben es schon abgemacht.« + +Virgo war hochentzückt, aber nun mußte Georg auf das genaueste erzählen, +was und wo es ihm fehle, wie er den Tag verbracht habe, was er haben +wollte, -- wobei Georg das Gedicht einfiel, das er vor dem Einschlafen +zustande gebracht hatte, und sie mußte sich auf den Bettrand nahe zu ihm +setzen, er nahm ihre Hände und sagte leise und langsam, den dichten, +weißen Strauß der zarten Sterne mit rötlichem Herzen vor Augen: + + »Virgo, meine liebe kleine Schwester! + Weißt du noch, wie wir uns Blumen brachten, + Und die lieben, kleinen Vogelnester, + Die etwas in uns so zittern machten, + Süß und gar so ängstlich, daß sich fester + Unsre Hände schlossen im Betrachten? + + Und im Park den Teich im starren Rahmen + Gelber Iris, rund, ein blanker Mond, + Wenn wir durch den stillen Mittag kamen + In den Kleidern, die wir sehr geschont ... + Und wie klangen rufend unsre Namen + Durch die Stille fremd und ungewohnt ... + + Kleines Schwesterlein, es ging so bald ... + Ach, wie kam es, Süße, Traute, sage, + Daß so früh sein Stimmlein ist verhallt? + Und wie kommt es, daß ich um es klage, + Da es doch -- o Armut meiner Tage! -- + Niemals Odem hatte und Gestalt.« + +Sie strich leise mit der Hand über seine Stirn. »Nun haben wir uns ja +doch gefunden ...« sagte sie mit ihrer tiefen Stimme. + +»Und denken, wie es hätte gewesen sein können ...« + +»Ich war so sehr allein«, sagte sie ganz wenig klagend. »Meine Mutter +ließ mich so herumlaufen, das war nicht bös gemeint, im Gegenteil, sie +sagte es mir auch später, ich hätte vor allem Freiheit haben sollen, und +sie war doch damals schon eine alte Frau ...« + +»Wenn ich an deine Kindheit denke,« sagte Georg, »sehe ich immer dein +kleines blasses Gesicht mit den übergroßen Augen an eine Fensterscheibe +gedrückt, eben dicht über dem Rahmen, und du standest vielleicht auf den +Zehen an einer Verandatür, drücktest die kleine Nase platt am Glas und +sahst ganz still auf der Terrasse die Spatzen sich um ein paar Krumen +zanken.« + +»Ja, das mag wohl gewesen sein,« lächelte sie, »wie schön du das +beschreiben kannst! nun seh ich es auch, und es sieht gar nicht so +traurig aus.« + +»Erzähl mir doch, wie warst du als Kind!« bat Georg. »Benno Prager und +ich haben uns heute morgen vorerzählt, wie es war, wenn wir krank waren +als Jungens.« Da Georg von Flechtpapier und Zinnsoldaten schon seinem +Vater erzählt hatte, fuhr er fort: »Er bekam eine Bouillonsuppe, und ich +Sagosuppe mit Rotwein: herrlich war das, wenn der rote Wein im grauen +Sago zerfloß!« + +Sie lächelte und sagte, unaufhörlich mit den Fingern durch sein +Stirnhaar streifend: + +»Wenn ich krank war, wurde mein Bett in das Zimmer meiner Mutter +gestellt, das war ziemlich beängstigend. Sie schlief in einem Saal mit +vielen Fenstern und in einem riesigen, uralten Himmelbett mit +geschnitzten und so gewundenen Säulen, an denen kleine Tiere liefen, +Eidechsen oder Molche, und ganz unten, als Fuß, hockte ein Igel und +machte listige Augen. Wenn ich fieberte, liefen die Tiere auf meinem +Bette herum, und meine Mutter mußte immer hinter ihnen her sein. Wenn +mirs wieder besser ging, setzte sie eine Brille auf, und wir spielten +Leben und Tod zusammen mit ganz alten deutschen Karten, so groß wie +Postkarten. Dabei hatte sie so putzige Ausdrücke, die mich begeisterten, +und ich machte sie kräftig nach. Spielte sie Coeur aus, sagte sie: Coeur +du dir an gar nichts! Pikaß war ein Kettenhund, hieß es, und: Trefflich +schön singt unser Küster! Wenn aber eine Neun kam, unterließ sie nie, zu +murmeln: Neun mal neun sind einundachtzig ... Kannst du dir vorstellen, +wie ich so ganz klein im Bett saß mit meinen großen Karten und die alte +Frau betrachtete?« + +»Ach, erzähl mehr,« bat Georg, »wie bist du sonst gewesen, was hast du +gespielt?« + +»Ein Spiel,« sagte sie nachdenklich, »das weiß ich noch, spielte ich, +wenn ich schon im Bett lag. Dann stieg ich wieder heraus, zog mein Hemd +aus, faltete es schön zusammen und kniete ganz nackt und klein auf dem +Bettvorleger hin. Dann war ich ein ganz armes Kind, das gar nichts mehr +hatte, aber nach einer Weile kam eine mitleidige Person, die schenkte +mir ein Kleid, das war das Hemd, das durft ich nun wieder anziehn, da +war mir schon wärmer, und dann kam meine Mutter in einer goldenen +Kutsche vorbeigefahren und nahm mich mit auf ihr Schloß, da durft ich +wieder ins Bett steigen und mich ganz warm einmummen, o das war +herrlich! Ja, da hatt ich nun ein ganzes Zimmer voll Spielsachen, aber +diese selbsterfundenen waren die schönsten. Und einmal weiß ich, da +hatte ich mir das Schaukeln verboten. Ich hatte irgend etwas Strafbares +getan, keiner wußte es aber, und da bestrafte ich mich selbst und sagte: +nun darfst du einen ganzen Tag lang nicht schaukeln. Was das für Qualen +waren, kannst du dir gar nicht vorstellen! Alle halbe Stunde ging ich +ganz langsam zur Schaukel und faßte sie an, oder ich strich mit der Hand +über das Sitzbrett und stand und sah nach dem Balken oben -- ja, und +dann, als ich am andern Tag wieder schaukeln wollte, da mocht ich nicht +mehr. Weißt du, es ging einfach nicht! ich hab nie mehr geschaukelt +seitdem.« + +Sie schwiegen Beide. Es war dunkler geworden, Georg fühlte sich wieder +fiebrischer, die Dinge entfremdeten sich von neuem, Virgos Dasein +verschwamm und wurde traumhaft, er warf sich hin und her, fühlte bald +ihre Hand auf seiner Stirn, aber alles verwirrte sich, sein Vater war +wieder da und auch nicht da, Virgo war fort, Dora Vehm, Benno, Magda und +Andre gesellten sich zusammen und führten unvorstellbare Dinge aus, er +ermannte sich am Ende, richtete sich im Bett auf und sah wie in weiter +Ferne den Schattenriß von Virgos Schultern, Hals und Profil im Dunkel. +Von ihrer tief tönenden Stimme hörte er seinen Namen, dann deutlicher: +»Georg ist solch ein schöner Name ...« Ihr Profil verschwand, er sah die +dunklen Flecke ihrer Augen, wollte etwas sagen, räusperte sich und +schluckte und spürte heftige Schmerzen im Hals. »Du bist so gut, Georg«, +flüsterte Virgo. + +Er erschrak, lachte rauh und krächzte: »Um Gottes willen!« was für ein +Unsinn, wollte er sagen, mußte aber husten, fühlte, wie sie seine Hand +ergriff und an die Wange drückte, und hörte sie sagen: »Du hast ja +wieder Fieber!« + +»Nun, das kommt so abends«, meinte er, aber sie erregte sich, schalt +über sich selbst und über ihn, er habe weder gegurgelt, noch Aspirin +genommen, klingelte nach Egon und drückte ihn in die Kissen zurück. +Georg schloß die Augen, verlor plötzlich den Zusammenhang mit sich und +Allem, fühlte eine Berührung und sah vor sich einen Eßlöffel, dann +Virgo, die ihn hielt und seinem Mund näherte; er schluckte den Inhalt +hinunter, trank Wasser und setzte sich auf. Nun mußte er auch gurgeln, +Egon stand mit einem Waschbecken, Virgo hielt das Glas, und er gurgelte +ein paarmal. Er sah eine Platte mit Weißbrotschnitten und einem Ei +dastehn, mochte aber nichts essen. Geräusche und Stimmen waren schon +unendlich fern und unhaltbar; ihm schien, als sei Virgo jetzt in seinem +Schlafzimmer, jedenfalls hörte er sie fragen, wo seine Strümpfe seien, +und nach einer Weile aus ferner Tiefe seltsam sagen: Seide! alles Seide! +-- so daß er lächeln mußte. Einen Augenblick später fühlte er ihre Hände +an seinem Hals, fröstelte, als sie den Halskragen öffnete, -- und wie +kalt waren ihre Fingerspitzen! -- sein Kopf schmerzte wüst, etwas Warmes +wurde um seinen Hals geschlungen. + +Schmetterlinge ... bunte ... Georg hörte sich laut sagen: »Sieh doch mal +die Schmetterlinge!« -- Sie schwebten durch das Zimmer, leuchtende, +dunkle Farben, einer nach dem andern; plötzlich verkleinerten sie sich +und hingen still im Kreis, ein leuchtender Ring wars, wunderbar +anzusehn. Sieh, da saßen Esther und sein Vater in einer dunklen +Zimmerecke zusammen und sprachen, er wollte zu ihnen gehn, konnte es +aber nicht, und merkte, daß er, an allen Gliedern gelähmt, auf einem +Bett lag, sonderbar verkrümmt und verzerrt, die Arme ausgebreitet, das +linke Knie hochgezogen, es war qualvoll, sein Vater lachte und scherzte +mit Esther, von nebenan tönte Gläserklirren, Stimmengewirr und Lachen, +es war auf einem Dampfer, sie fuhren, er hörte das Rauschen der +Schaufelräder, nun trat sein Vater zu ihm, Georg beklagte sich heftig, +daß man ihn festgebunden hätte, aber sein Vater sagte, ob er denn nicht +wüßte, das sei doch Mamas wegen, sie dürfe nicht so viel gehn. Georg +murmelte etwas Ärgerliches, und dies hörte er plötzlich, merkte auch +seinen Mund, den er bewegte, wie etwas Fremdes und sonderbar groß, und +öffnete die Augen. Fern im Dunkel schimmerte die flache grüne Kuppel der +Schreibtischlampe, darunter hängend leuchtete tief Esthers +Schmetterlingskranz, den sie ihm gearbeitet hatte, auf lichtem, grünem +Streifen ein dunkelroter, ein gelber und ein ganz bunter Falter. An +seinem Bett standen zwei Gestalten, eine sehr große, sein Vater, und +eine kleine, Esther; nein, Virgo wars. Er versuchte zu lächeln und +setzte sich auf, fragte: »Bist du schon lange da, Papa? Entschuldige, +daß ich dich nicht vorgestellt habe ...« + +Sein Vater lachte und beugte sich zu ihm; indem sah Georg und sah auch +sein Vater, scheinbar erst jetzt, die mütterliche Rundung von Virgos +Leib. Seinen Vater schien das zu verwundern; sie senkte unter seinem +Blick langsam die Stirn und sagte unsicher: »Ich bin eine Mutter ...« + +Georg rührte das sehr, und es schien ihm natürlich, daß sein Vater auf +einmal ihr Gesicht vorsichtig in die Hände nahm und sie auf die Stirn +küßte. + +Nun war eine sehr lange Zeit alles fort. Plötzlich fuhr Georg empor; +sein Vater saß, ein breiter Schatten, im Stuhl, den Rücken am +Schreibtisch; es war undeutliche Bewegung im Zimmer, dann stand da ein +Mensch, Georg erkannte den Grafen Badenbach, dachte: Ach, richtig, er +kommt wegen der Verlobung! -- und fühlte fröstelnd die beruhigende +Anwesenheit seines Vaters. -- Aber wie still es war! + +Georg setzte sich mit einem Ruck auf und starrte den Kammerherrn an. Der +stand da in seiner Nähe, die Hände zusammengelegt, wie -- wie an einer +Bahre; sein Gesicht war sehr bleich mit roten Flecken, aber er sah sehr +würdig aus. + +»Ist sie tot?« fragte Georg entsetzt. + +Der Kammerrat neigte zweimal langsam das Haupt. Georg nahm alle Kraft +zusammen und setzte sich grade aufrecht. Sein Kopf wollte schwer nach +vorn überhangen, er bezwang sich, dachte: Gott sei Dank! Gott sei Dank! +und ein leises Mitleid mischte sich flüchtig in die Erleichterung, die +er aber nicht nur für sich, sondern auch für die Tote mit empfinden +konnte. Eine hauchende Stimme sagte: Tröstherzeleid ... Er hörte den +Grafen sprechen. + +»Sie ist erlöst, ihr ist wohl. Aber sie litt unsägliche Qualen zuvor. +Die Schuld daran trifft zunächst mich. Ich werde --« + +»Und wen außerdem?« fragte der Herzog mit gedämpfter Stimme. + +»Außerdem den Fragenden«, versetzte der Kammerrat ruhig. »Den Eingriff +in die zarteste, verletzlichste aller Seelen Ihnen, durchlauchtiger +Fürst, zum Vorwurf zu machen, habe ich kein Recht. Die Folge liegt +sichtbar vor Augen. Die Sonnenblume dreht sich zur Sonne unabänderlich, +so stand ihre Seele zu mir gerichtet, und Sie griffen zu, um sie +herumzudrehn. Sie blieb bei der Richtung, die ihr gelehrt, die ihr +innerster Sinn und eigentliches Leben war, aber sie litt unsagbar, sie +verzehrte sich, sie ward schwach, und eine Ohnmacht verursachte dem +armen Hirn die Erschütterung, der sie nun erlag. Die ganze Größe der +Schuld ist aber mein.« + +Die Worte dröhnten und rauschten stromhaft durch Georgs kranken Kopf, +und jeder Satz brannte in lichter Flamme hoch, ehe er einem neuen wich. + +»Zu meiner Verteidigung«, fuhr er fort, »habe ich nichts für mich selbst +und vor Gott als die Vasallenpflicht, die mir gebot, das Geschlecht +meines königlichen Herrn zu erhalten. Nun es erlosch, bin ich frei, +diese dumpfe und traurige Welt mit einer stilleren zu vertauschen, wo +sich meine sündige Seele unter unablässigen Kasteiungen und inniger Reue +...« + +Wenn er noch etwas sagte, so vernahm Georg es doch nicht mehr. Er +fühlte, daß irgend jemand zu ihm trat, er wurde aufgehoben, fortgetragen +und sehr tief niedergelegt. Dann war dichte Finsternis, in die er +verlöschend hineinglitt. + + * * * * * + +Im Finstern wachte Georg auf und fühlte sich schwach, jedoch klar im +Kopf. Ganz fern schien ein winziges Lämpchen zu brennen. Er lag wohl in +seinem Bett, konnte es jedoch nicht mit Sicherheit feststellen. Er faßte +nach seinem Puls, bekam ein glühend heißes Handgelenk von ungeheurer +Größe zu fassen und wußte gleich darauf schon nicht mehr, ob er träume +oder schlafe. Er hatte Angst, der Kammerrat könnte kommen, und auf +einmal wußte er, daß Sigune tot sei. Ja, sie war tot, und er selber +konnte sterben. Sterben war schrecklich. Er sah, ohne deutliche +Vorstellung, aber er fühlte sich irgendwo unter der Erde liegen, und die +ganze Welt ging ihren Gang weiter. Das war das Schreckliche, das war +unerträglich. Da war der Platz am Café, Trambahnen fuhren, Menschen +eilten hin und her, aus dem Gewühl kam Renate und ging an den Läden +hinunter, blickte seitwärts gegen eine Spiegelscheibe und faßte nach +ihrem Hut. Er aber lag begraben, und alles dies hörte keinen Augenblick +auf, oh, es war entsetzlich! -- Da fühlte er, wie das Fieber in ihm +schwoll, er wehrte sich, er wollte es nicht, lag, glühendheiß +übergossen, und stöhnte schnaufend: O dies entsetzlich Pausenlose! -- An +dieses schlossen sich deutlich die Worte an: Könnte man doch, könnte man +einmal nur, für keinen Tag, für keine Stunde, ach, für Augenblicke nur +befreit von diesem Dasein sein! Nichts sein als Aufatmen! Und daß man +hinziehn könnte einmal nur, Betrachtung nur und Geist und Seelenfriede! +Erleichterung der Brust, Bewußtsein nur des unzerteilten Seins, leicht +wie ein sommerliches Rauschen in den Bäumen, wie Blumen leicht, wie +Wiesenhalme, die im Winde stehn, jedoch es wissen, wunschlos wissen, +reuelos es wissen, -- ach, sodann verlöre wohl der Tod den Stachel, mit +welchem Ernst, mit welcher Ruhe würden wir von neuem alles Dasein auf +uns nehmen, wieviel würden wir geübter, williger und tapferer sein! O +dies entsetzlich Pausenlose! Marter, Kette dieser Tage, dieser Stunden, +dieser Atemzüge, wo nicht eine, eine Lücke, keine Leere, keine Leere, +kein Sichausruhn uns begütigt, Schlaf selbst Unrast nur und Traum und +Fieber, nirgend Aufenthalt, kein kleinster Stillstand, Neues immer, +Neues immer, hingerissen, fortgeschoben, ohne Ende, -- sondern ewig, +ewiglich, schon vor uns längst im Gang, und durch uns weiter, weiter +dröhnt das pausenlose Pochen der Sekunden ... + +Ihm stand der Angstschweiß auf der Stirn. Die Worte fingen von vorn an, +wickelten sich wie Stricke umeinander, schallten stets von neuem auf, +nicht niederzudrücken, so schnellten sie empor, nicht abzuschneiden, sie +wuchsen geradewegs weiter, -- er röchelte, sein Hals glühte, er faßte +danach und ritzte sich an einer Nadel. Nachfühlend, glaubte er eine +Brosche zu fassen, die er unter unsäglicher Mühe aufmachte, dann faßte +er das Heiße, das um seinen Hals lag, zerrte daran, es war lang, -- ein +Strumpf, ein langer Strumpf, -- endlich war sein Hals frei, er ließ ihn +wonnig die Kühle atmen und fühlte sich erleichtert. Jetzt den Strumpf +abtastend, wußte er plötzlich, daß es ein Strumpf von Virgo war. Er +lächelte erst, -- dann hob er ihn an den Mund, fühlte den weichen Flor, +preßte ihn wütend an die Lippen, grub sie und Stirn und Augen in das +glühende Kissen, schluchzte herzbrechend auf und stammelte weinend und +unaufhörlich: Ich liebe dich doch! ich liebe dich, ich liebe dich! -- + +Danach kam Dunkel, kam Schlaf, kamen andre Träume. + + + Neuntes Kapitel: Juli + + + Legende + +Renate bekam an ihrem Geburtstage ein großes Schreiben mit Jasons ganz +kleiner, schwarzer und überaus zierlicher Schrift, aus dem ein kleiner +Brief und mehrere beschriebene Bogen herausfielen. Der Brief lautete: + + Liebe Renate: + + Den Menschen Jason bekümmert es, nicht an Deinem diesjährigen + Geburtstagsfeste, sich beglückwünschend, erscheinen zu können, + also muß er schreiben. Auf der Suche nach einer Gabe erinnerte er + sich eines Wunsches von Renate, eine der Geschichten, die er in + den Zeiten der Friedliebenden Gesellschaft erzählte -- + insbesondere eine von ihr nicht gehörte -- aufgeschrieben zu + bekommen. Dies tut er gerne. Es freute ihn dabei, auch einiges + von den Menschenwesen, die sich an der Erzählung gewissermaßen + beteiligten -- wie Du sehen wirst -- mit festhalten zu können: + sein Gedächtnis erwies sich noch jugendfrisch und in Anbetracht + des guten Zweckes also einmal erfreulich. Einiges ist wohl + trotzdem erfunden worden, und es wird dann nicht das Schlechtere + sein, sintemal nur in sehr wenig Menschen das nicht zu sein + pflegt, was man in ihnen vermutet, auch wenn sie es nicht äußern. + + Herzliche Grüße sendet + Jason + +Renate, die noch am Frühstückstisch dies gelesen hatte, nahm den Brief +zusammen, wollte in ihr Zimmer hinauf, stieg aber versehentlich höher +und betrat das Josefs. Dort im Sessel sitzend und die Blätter mit Jasons +Geschichte aufschlagend, merkte sie dann freilich gleich, aus welchem +Grunde sie hier zu lesen hatte und nirgend anders. Sie las: + + Orest und die Eumenide + (eine Legende im Rahmen) + +Sie saßen zusammen im Erker des gotischen Fensters, während es Abend +wurde, Esther, Magda, der Maler Bogner und Jason, der zuletzt kam. +Zuerst war es Esther allein gewesen, die dicht neben der großen, fast +bis zur Erde reichenden, grünlichen Glaswand saß, hoch über sich die +schöne Wölbung des spitzen Bogens, das kleine, schwarze Chinahaupt, die +reine Stirn, die dunkel brennenden Augen unter den runden Brauen über +ihre buntfarbene Stickerei gebeugt, in der Faden um Faden unter den +hurtigen Schritten der Stiche aufging, während hin und wieder ein Hauch +der Sommerabendluft die kleine, lose Haarsträhne über ihrer Stirn aufhob +und sanft zauste, hereinwehend aus einem der kleinen Vierecke, die +wahllos über die Fläche der Scheibe verteilt, alle offen standen, so daß +jedes ein Quadratstück der Landschaft in der Tiefe enthielt, dieses nur +Wiesengrün, jenes einen Ausschnitt vom Bahndamm, jenes ein paar Türme +der Stadt weit hinten, und dieses die still und geruhig rauchenden +Schlote der Zuckerfabrik ganz rechts. Magda, die dann herausgekommen +war, hatte sich nach ein paar freundlichen Worten ans Fenster gestellt, +groß, schmal und blaß von Antlitz und Haar, hinausblickend durch das +Viereck, das sie gerade vor Augen hatte, in dem nur der Abendhimmel war, +licht und von jenseit zart golden durchleuchtet, aber sie hatte nun die +ganze Abendgegend unter sich, die Weiden, die dunstige Stadt mit Kuppeln +und Türmen, das Wehr und den Fluß zur Linken, und dahinter das Blau der +Hügelrücken; und so fand sie der Maler. Aber sein immer graues und +bartloses Gesicht hatte sich nur eine Minute, während er seine kurze +Pfeife stopfte, über Esther und ihre Arbeit geneigt, und er war in +seiner sachten Art wieder im schon dämmerigen Hintergrund verschwunden, +wo er vor den Bücherregalen saß; daß er nicht hinausgegangen war, +merkten sie im Fenster nur an dem süßlichen Geruch des Qualms, der ab +und zu vorüber wehte und ins Freie zog. Schließlich erschien dann Jason +al Manachs Gestalt, der, in den Sessel Esther gegenüber versinkend, +gleich sagte, er wäre im Museum gewesen. Danach machte er eine Pause, +aber der Maler schwieg natürlich, Esther hatte gerade ein paar +Seidensträhnen von ähnlichem Grün über ein halb gesticktes Blatt gelegt +und betrachtete das mit kleinen, prüfenden Grimassen der Brauen und der +Zungenspitze und so versuchte die immer Gütige, Magda, ein wenig sich +hinüberwendend, ein leises: »Nun, und?« + +»Da traf ich den jungen Stupitzka, den Archäologen, und er erklärte mir +alles. Die Archäologen sind doch die freundlichsten Menschen«, sagte +Jason. Esther blickte ihn schnell an, ein bißchen ungläubig, um nicht zu +sagen spöttisch, und was sie meinen mochte, drückte dann Magda aus: es +gäbe wohl keine Menschenart, von der er, Jason, nicht, wenn die Rede +darauf käme, versicherte, daß sie die freundlichsten seien. »Und nun, -- +was gab es Besonderes zu sehen?« -- + +Jason, zu ihr, die wieder hinausblickte, aufsehend, indem er still für +sich die Spuren der langen Krankheit, der Schlaflosigkeit und der +Schmerzen auf ihrem in sich vergehenden Gesicht zählte, sagte: + +»Etwas Einziges. Den Kopf eines schlafenden Mädchens, das unserer Ulrika +ähnlich sah, -- wißt ihr, wenn sie anfangen will zu spielen, die Brauen +sich heben, steiler scheinen und ein ernster Schatten über ihr zartes +Gesicht fällt. -- Sie war nun freilich überlebensgroß, graugelb getönter +Gips, aber dennoch ...« + +Er fuhr fort, eine Abbildung müsse in einer der Mappen auf dem Schrank +sein, und gleich ging Magda, bereit, jederzeit einen Auftrag zu hören +und ihn auf sich zu beziehn, hinüber und schleppte die Mappen her, legte +sie neben Jason auf die Erde, und der hatte bald gefunden. + +»Seht ihr, das ist sie!« sagte er erfreut. (Esther entschloß sich, einen +Augenblick aufzuhören mit Sticheln und Fadenabschneiden.) »Sie schläft. +Seht ihr hier das Ohr unter den Wellen des Haares, wie einen Eingang in +geheimnisvolle Tiefen? Sie schläft, was mag hier eindringen? Es ist +recht ernst, dies Profil, -- die Brauen ... Wie schön es im Schlaf auf +die Seite gesunken ist!« Er sah zu Magdas und Bogners -- der war +hinzugetreten -- Gesichtern auf, lächelte und fragte: »Was meint ihr, +wer ist es?« + +»Muß es jemand sein?« fragte der Maler. + +»Ja,« erwiderte Jason, »diese Griechen machten immer etwas, das etwas +war.« + +»Also vielleicht die Gorgo«, schlug Bogner vor. -- Esther, die den Kopf +nur umgekehrt, von oben, gesehen hatte, sagte, wieder zu ihrer Arbeit +zurückkehrend, die Gorgo wäre doch wohl wild und häßlich. + +»Nun, nun,« meinte Jason, »du vergißt ja die Rondanische. Denke auch an +das schöne Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer. Ja, es könnte die Meduse +sein; sie war ein geheimnisvolles Wesen, sie war nicht häßlich, ihr +Anblick versteinte, das war ein Fluch, sie konnte nichts dafür; wenn sie +schlief, war sie unschuldig, dann könnte sie so ausgesehen haben. Ich +will es euch sagen,« fuhr er fort, »denn ich selber hielt sie für die +Gorgo, aber der junge Stupitzka hat mir gesagt, daß es eine Eumenide +ist. Sie verfolgten den Orest, der seine Mutter erschlagen hatte, das +wißt ihr ja, und als er sich eines Nachts in einen Tempel geflüchtet +hatte, wohin ihm die Dämonen nicht folgen durften, lagerten sie sich +draußen auf den Stufen und schliefen auch. Dies ist eine von ihnen.« + +Es war nun eine Weile still, nachdem die dunkle und melodische Stimme +verhallt war. Sie hörten den kleinen Schrei einer Lokomotive fern, und +Magda, die wieder an ihrem Ausguck stand, und auch der Maler, der an +ihrem Kopf vorüber hinaussah, bemerkten den kleinen Zug, wie er sich +über die schnurgerade Linie des Bahndammes bewegte, und die weißen +Rauchballen, die über die Weideflächen leicht davonsprangen, sich +auflösend in die goldene Luft. + +»Das finde ich nun schön,« sagte Jason leiser: »auch die Erinnye schläft +einmal. Was uns verfolgt und quält, einmal läßt es uns ruhen; auch das +Quälende bedarf des Schlafs.« + +Esther hatte einen lichtblauen Faden zwischen den Zähnen, zog ihn mit +beiden Händen langsam hin und her, während sie irgendwohin blickte, in +das verschwommene Grün der Wipfel hinter dem Grün des Glases, bis der +Faden mit einem kleinen Ruck zerriß, und sie sagte eilfertig, von oben +auf die Abbildung herunterblickend, wie ein Schwan auf sein Spiegelbild: + +»Das ist -- --, wenn ich so deine Worte höre: Auch die Erinnye schläft +... und dies Gesicht dabei sehe, dann steigt etwas daraus auf wie --« +Sie stockte und blickte erst zu Bogner auf, der noch immer betrachtete +aus seiner Höhe, dann in Jasons Gesicht. Während ein Lächeln und das +Erröten zugleich auf ihren Wangen langsam aufschwebte, war es ihr, als +ob er magisch aus ihr herauszöge, was er sagte: + +»Wie Legende, nicht wahr? Als gäbe es etwas zu erzählen.« Da nickte sie +zufriedengestellt, als würde er flugs anfangen, und begann einzufädeln. + +»Das sagst du so,« meinte Jason, »daß ich nun erzählen soll. Freilich +ist da etwas, aber nun ist es bloß ein Anfang, und alles Übrige fehlt. +Nun, vielleicht findet ihr selber es nachher, also setzt euch.« + +Er winkte zu Magda und Bogner, und während dieser sich wieder in sein +Dunkel zurückzog, setzte sie sich auf die weiche Lehne von Esthers +Ledersessel. Jason, aus den vielfarbigen Seidendocken auf dem Tischchen +neben Esther eine dunkelrote ergreifend, die er langsam durch die Finger +gleiten ließ, fing an. + + * * * * * + +»Am siebenten Abend nach dem Beginn der Verfolgung, nachdem er ohne +Unterlaß bei Tage hinter sich die Schritte und das Rauschen der Kleider, +das Zischen der Nattern und die halblauten, höhnischen und gehässigen +Gespräche der drei Schwestern gehört -- er hörte sie nur, sie waren +fort, wenn er sich wandte --, bei Nacht aber, wenn er sich wie ein +Bündel irgendwo hingeworfen, ihre Dolche in seiner Brust, ihre Vipern um +seinen Hals, ihren giftigen Atem über seinem Gesicht gespürt hatte, +schlaflos bis zum Morgengraun, wo sie schwanden, -- am siebenten Abend +taumelte Orest eine Treppe hinauf und brach oben an etwas Kaltem und +Steinernem zusammen. Als er nach langer Zeit wieder zu sich kam, +gewahrte er, daß er im Eingange eines Tempels lag, eines großen, +dämmrigen Raums hinter einer Säulenreihe, der wie eine leere Höhle, wie +eine Lichtung in Wäldern von unzählbaren, grauweißen Säulen lag, +zwischen denen Gänge erschienen; Säulen, riesige, breite, stumme, +bedrohliche, ernste überall, aber in der Mitte der hohen Halle, auf +einem schlichten Postament, stand einsam die kleine Statue des Gottes +aus dunklem Silber, der ein junger Mann in einer knappen Tunika war. +Sein Antlitz war im Dunkel dort nicht mehr zu erkennen, deutlich jedoch +die beiden kleinen Vogelflügel an seinen Schläfen. Es war der Gott des +Schlafs. + +»Orest, Atem schöpfend, sah jetzt nach draußen aus dem breiten Tor, an +dessen Pfeiler er lag. Dreimal vier lang hingestreckte und flache Stufen +führten hinunter; drunten aber war nichts als die Ebene, die kahl war, +baumlos, hügellos, glatt und grau bis zum Rauch des düstern, geröteten +Abendhimmels. Aus dem Dunst der traurigen Ferne aber löste sich alsbald +eine graue Gestalt, gerötet, wie in Blut getaucht, und schien zu kommen. +Sie kam, und hinter ihr ein grauroter Schatten, der ersten gleich, und +ein dritter hinter der zweiten. Es waren die Schwestern, die so durch +die schweigsame Abendebene heranzogen, die an diesem Nachmittage der +Wirbel seiner rasenden Füße hinter sich gelassen hatte, und er stöhnte +leise, stand auf, und ihm fiel ein, daß hier eine Zuflucht sei, wie er +es wußte aus den Legenden von Übeltätern, die er in seiner Kindheit +gehört, -- nun war er selber solch einer. Er sah, daß seine Füße blutig +waren, und schlich mühselig bis zur Statue des Gottes, sah die blauen +Augen aus Edelstein in dem dunklen, freundlichen, kleinen Silbergesicht, +legte die Hände zusammen und bewegte die Lippen. Darauf schlürfte er +eilig zur Türe zurück, und es gelang ihm mit seiner letzten Kraft, die +großen Bronzeflügel einen nach dem andern zu bewegen und +zusammenzuschlagen. + +»Nun stand er im Finstern, schwankend auf unerträglich brennenden Füßen, +todmüde, lechzend, sich irgendwo niederzulegen zwischen den Säulen. Im +selben Augenblick jedoch, als er die schon zugefallenen Lider noch +einmal öffnete, gewahrte er zu seiner Linken ganz fern einen Lichtschein +im Dunkel. Wie es langsam heller wurde, sah er den Lichtkreis eines +Lämpchens, den Schatten einer gehenden Gestalt, sah die ersten, dunkel +droben aus dem Schatten der Wölbung auftauchenden Häupter der Säulen und +sah bei aller Müdigkeit doch, wie schön und feierlich das war, da links +und rechts Säulenpaar um Säulenpaar aus der Nacht sichtbar wurde und +hervortrat, dunkle Riesen erst, die alsbald rein und leuchtend wurden +wie in weißen Gewändern, während schon neue Säulen dunkelten, bereit, +hervorzutreten, und auch diese erglühten und strahlten, alle ernsthaft +von droben herunterblickend auf die kleine weiße, daherwandelnde +Gestalt, die zierliche Silberlampe in der linken, eine Schale von +gleichem Metall leise blitzend in der rechten Hand. + +»Jetzt, nahe dem letzten Säulenpaar drüben, blieb sie stehn, erhob die +Hand mit der Leuchte, blickte zu ihm herüber und fragte -- es war ein +Mädchen -- mit sanfter Stimme: Ist jemand hier? -- + +»Er machte ein paar Schritte, fast schreiend vor Schmerz, da die Sohlen +am Boden klebten, und stieß ein paar rauhe Worte hervor. Das Mädchen +zauderte, glitt dann herbei, hielt, da sie kleiner war als er, die Lampe +gegen sein Gesicht empor, und er sah, welch mitleidige Augen sie machte. +Du suchtest wohl Obdach? -- fragte sie freundlich. -- Er bemerkte seine +aus dem zerrissenen Mantel vorgestreckten Hände, die sie gerade +betrachtete, die grau und gelb waren und schrecklich anzusehn, +habgierig, und: Was für Hände! sagte sie ergriffen, und dein Gesicht ist +auch so! und das schwarze Haar, wie verwirrt und zottig! Du mußt +entsetzlich müde sein, und es ist noch so weit zur Stadt, fuhr sie fort, +aber hier bist du ja recht im Hause des Schlafs. Ich bin eine Dienerin +von ihm, erklärte sie errötend, hier hab ich die Milch für die +Schlangen. Es sauste ihm in den Ohren, er hörte nichts und stürzte zu +Boden. Gleich kauerte sie neben ihm, setzte das Licht auf den +spiegelnden Estrich, riß Streifen von seinem Mantel, löste die Riemen +der zerfetzten Sandalen, wusch die Füße nach kurzem Zögern mit der +heiligen Milch und verband sie. Schließlich nahm sie den Mantel unter +ihm fort, rollte ihn zusammen und schob ihn unter seinen Nacken. + +»Er richtete sich nun auf, starrte mit blöden Augen in das Licht, lachte +ein wenig und fing an, sie zu sehn. Weißt du, wer ich bin? -- fragte er +plötzlich. -- Nun, gleich, sagte sie, wenn ich dir nur helfen kann; du +bist ein Armer jedenfalls, sagte sie. Er mußte in ihr ernstes, ruhiges +Gesicht blicken, bemerkte, daß die Augen schön braun waren und auch das +Haar, wollte sich wieder legen und hörte im gleichen Augenblick draußen +Geräusch von Füßen und Stimmengewirr. Er sprang auf. + +»Auch sie war aufgestanden und sah erschreckt, wie er dastand, +gespannten Nackens, wütend, mit geballten Fäusten, wartend, lauschend +mit Augen, Ohren, mit dem ganzen Leib. Dumpfe Schläge fielen gegen das +Erz des Tors, er keuchte, Blut stieg ins Weiße seiner Augen, das Mädchen +wich langsam, an seine Augen gefesselt, gegen die Tür zurück mit von +sich gestreckten Armen und wiederholte mehrmals, angstvoll und eifrig +versichernd: Niemand kommt herein! Niemand kommt herein! -- Ist das +gewiß? schrie er laut. Wie willst du's denn wissen? Weißt du denn, wer +ich bin? Ich bin Orest! Weißt du, wer die draußen sind? Weißt du, was +sie halten, sahst du ihre Dolche, ihre Fackeln, ihre Vipern? -- Er +brüllte. Herein! Kommt doch herein, ihr, wenn ihr könnt! Hört doch, ich +bin drin! Ich, Orest, ich, der seine Mutter erschlug, ich! -- Draußen +erscholl Geschrei, die ehernen Flügel zitterten und bewegten sich, es +krachte im Gebälk. Vor der im Lichtschein glühenden Erzwand stand das +Mädchen, bleich, hinter sich ihren Schatten hochaufgereckt bis ins +Dunkel, da die Lampe noch dicht neben den Füßen des Flüchtlings auf den +Fließen stand. Auf einmal kam er mit stampfenden Schritten gegen die Tür +vor, knirschend: Geh! sie sollen herein! ich bin das satt! ich will sie +jetzt packen, ich will hier mit ihnen die Treppe hinunterkollern wie ein +Knäuel von Panthern und Schlangen! -- Das Mädchen packte seine Hände und +rang mit ihm, er schleuderte sie weg, doch sie kam wieder, warf sich an +ihn, umschlang ihn, sie keuchten, schließlich erlahmte der Mann und fiel +langsam zusammen, während sie mit fliegenden Gliedern zur Tür +zurückjagte, sich gegen die Fuge in der Mitte preßte, schlank wie ein +Baum, als wollte sie hinein, sie zu verstopfen. So glitt sie langsam +auch zu Boden und hockte dort, großäugig. + +»Nur die Stöße seines Atems waren hörbar, auch draußen war es still. +Ruhig stieg die vorher hin und her gescheuchte Flamme der silbernen +Leuchte. Plötzlich aber sank sie in sich zusammen, wie auf Befehl, zu +einem roten, glimmenden Funken, und während ein unendlich leises +Flügelrauschen durch die Finsternis hinzuschweben schien, sank von hoch +oben eine ernste, klare, langmütige Stimme hernieder und verhallte in +alle Fernen des Hauses: + + Schlaf, Mensch, so schlaf! Auch die Verfolgerin, + Auch die Erinnye schläft. + +»Wieder war alles still. Orestes lag ausgestreckt, so lang er war, die +Arme überm Kopf fortgeworfen. Da schien das Tor sich zu bewegen, das +Mädchen sprang auf und eilte zu ihrer Lampe, die einige Pulsschläge lang +wieder in ihrer früheren Größe aufgerichtet stand, aber nun langsam +erblaßte, denn die Torflügel falteten sich langsam auseinander, und +draußen war das Mondlicht. Da war die Treppe, breit und schneeweiß, die +Ebene, schattenlos, dunkel und doch erhellt vom unsichtbaren Mond in der +Höhe, und jetzt sah Orest, das Haupt erhebend, daß neben der ersten +Säule der Vorhalle über den Stufen eine dunkle Gestalt im Schatten +hockte, ganz still; und als er hinunterblickte, entdeckte er eine zweite +mitten auf der Treppe, ruhend wie eine Schlafende, ganz unten aber die +dritte, hell im vollen Licht, in sich gesunken, im Schlaf. + +»Orest stützte sich auf die Arme und stand auf. Sein Gesicht zuckte, als +ob es in Weinen zerbrechen sollte, sein Haupt schwankte, er ging mit +schweren Schritten zur Statue des Gottes und sank dort hin, den Rücken +gegen das Postament gelehnt. Stracks durchdrang unbeschreibliche +Müdigkeit magisch seine Glieder; sie lösten sich auf in Wonne der +Schlaftrunkenheit, ein sanftes Prickeln bedeckte seine Seele wie ein +vergehender Schaum, -- so verging sein Leib. Er schluchzte tief, er sank +tiefer in sich, er öffnete noch einmal die Lider, als müsse irgendwo +etwas sein, nach dem noch hinzublicken sei, doch sah er nichts mehr als +einen nächtigen Lichtschein, dann -- ging ein Schritt, rauschte Gewand? +-- nur noch Finsternis, aus der eine Schattengestalt von fernher +zwischen dunklen Wänden nahte und stillhielt. Er erkannte zwei +dunkelsilberne Fittiche, zwischen ihnen den Schatten eines braunen +Antlitzes und ein bläuliches Lächeln von Augen. Da fielen ihm die seinen +zu, und er schlief.« + + * * * * * + +Jason schwieg. Im Zimmer stand jetzt die Dunkelheit, nur im höchsten der +offenen Vierecke war der noch helle Himmel zu sehn; die Bäume rauschten +im Dunkel unsichtbar; vor dem Fenster waren die lichten Gesichter der +Drei, ganz weiß das Jasons mit den schwarzen Flecken der Augen, ein +wenig dunkler das Esthers, Magdas ganz matt, kaum sichtbar über den +andern. Wie Jasons Hände im Schoß ausruhten, so auch Esthers linke, +während ihre rechte die Hand der Freundin gefaßt hielt, die über ihre +Schulter herabhing. -- + +»Soll ich Licht machen?« fragte Magda nach langer Zeit. Niemand +antwortete. Aus dem Hintergrund scholl ein leichtes Pochen; der Maler +klopfte seine Pfeife aus. -- + +»Es ist doch nicht zu Ende?« fragte Esther. + +»Ich weiß nicht.« Jasons Schultern bewegten sich. »Das Antlitz der +Eumenide erzählt eigentlich nicht mehr. Oder doch?« + +»Und wie kam das Mädchen in deine Geschichte?« + +Der Maler sagte aus dem Dunkel: »Sie haben von Schlangen gesprochen. +Verwechseln Sie das nicht mit Asklepios?« + +»Vielleicht,« erwiderte Jason leicht, »obgleich ich persönlich überzeugt +bin, daß die Schlange auch dem Schlaf heilig ist wegen seiner heilenden +Kraft. Überdies ist die Schlange dasjenige Tier, das fast immer schläft, +und schließlich dachte ich mir auch etwas Besondres dabei. Wie geht es +aber weiter?« + +»Ich sehe noch etwas«, fuhr er leise fort. »Ich sehe dies Marmorhaupt +der Schläferin. Wer hat es gesehn? Der es gemacht hat, muß es gesehn +haben, oder einer hat es ihm beschrieben. Orest vielleicht? Wann sah +denn er es?« Esther schlug vor: »Morgens früh, als er weiterging.« + +»Sieh, Esther, was für richtige Sachen du denkst! Ja, da muß er es +gesehen haben. Er erwachte vor Sonnenaufgang, erquickt und gestärkt. Die +Ebene lag unter weißen Nebeln wie eine stille See, und --« »Und das +Mädchen, die Priesterin?« fragte Magda. »Sie ist fortgegangen. Orest +will nun gehn, spricht sein Gebet, da sieht er beim Hinaustreten, daß +die Erinnyen noch dort sind und schlafen. Eilig will er +vorüberschleichen und tuts, an der ersten, der zweiten, aber wie er +unten bei der dritten angelangt ist, da ging inzwischen die Sonne auf, +und er sieht ihr Gesicht, und daß sie braunes Haar hat, das ihn an +andres Haar erinnert. Da bleibt er nun stehn und sieht ihr leise +glänzendes Gesicht, wie ernst es ist, kaum lieblich und doch schön, die +Brauen streng und groß, und daß sie unschuldig ist, wenn sie schläft, +trotz der erloschenen Fackel neben ihrem Fuß, trotz des Dolches, den sie +an die Brust drückt, und er kann sich nicht abwenden und redet leise +Worte in die Höhlung ihres Ohrs, in den seltsamen Eingang zu der +schlafenden, inneren Welt, indem er sich fragt, ob sein Flüstern wohl +eindringe und drinnen zur Gestalt eines Traumes wird, die leuchtet, so +daß die Wände der dunkelgoldenen Seelenhalle davon glänzen, oder +vielleicht wie die freundliche Silberfigur des Gottes auf der Lichtung +inmitten des dämmerweißen Säulenhains. Plötzlich -- was erschrickst du?« + +Esther, die leicht zusammengeschaudert war, schüttelte abwehrend den +Kopf und sagte: »Nur die Fledermaus ... nur weiter!« + +»Plötzlich«, fuhr Jason fort, »erblickt er den kleinen Kopf einer Viper, +die, ins Haar versteckt, auch dort schlief die Nacht und nun hervorkommt +bei der Wärme des Tages. Er wendet sich eilig und flieht.« + +»Und dann?« fragte Esther. + +»Dann bleibt er nach ein paar Schritten noch einmal stehn und dreht sich +zurück und sieht, daß sie sich aufgesetzt hat. Sie hebt die Arme und +lächelt zu ihm; ihre Augen, erst noch geschlossen, öffnen sich +schlaftrunken, sie stammelt, ihr Gesicht glüht über und über vom +Sonnenaufgang, er starrt hin, da sinkt sie wieder zusammen, fröstelt, +tastet nach einem Gewandzipfel und entschläft.« + +Es schien nun still bleiben zu wollen im Raum. Magda erhob sich, trat an +ihren Ausguck und sah im Dunkel den Horizont besteckt mit den Lichtern +der Stadt, darüber die ersten, weißlichen Sterne im Raum. Vernehmlich +rauschte das Wehr in der Ferne. + +Esther hatte ihre zusammengefaltete Stickerei wieder auseinander +genommen, die Farben leuchteten noch matt im Finstern, sie strich +glättend mit dieser und jener Hand darüber und sagte endlich: + +»Ich sehe noch etwas. Da ist solch ein Wiesental, so bunt wie dies hier +am Tage ist, und -- ich kann das nicht beschreiben, es ist etwa so wie +auf Böcklins Bild, eine kleine blaue Quelle, die sich durch die +Blumenböschungen schlängelt, herab von einem Hügel unter großen, +schattigen Bäumen. Und dort liegt Orest und --« sie stockte. + +»Nun?« mahnte Jason in guter Langmut, »was tut er dort? Ja, das weißt du +nicht? Vielleicht meinst du, er wartet. Ja, am Ende wartet er.« + +»Oder auch nur, weil es so schön dort ist ...« sagte Esther mit einem +kleinen Seufzer. + +Über ihnen klang Magdas immer noch ein wenig matte Stimme, doch sehr +gütig: »Als ich von den Toten wiederkam, die ich doch schon so nahe +gesehn, durfte ich auch wieder in den Garten, nach all den schlaflosen +Nächten, und das war gut. Freilich,« setzte sie mit dunklerer Stimme +hinzu, »sie stehn immer hinter uns.« Und fast hart: »Sie sind ja die +Unentrinnbaren.« + +Eine Weile wars wiederum still, dann begann Jason: + +»Ich glaube, daß er wartet. Er hat sich des Lächelns der Einen erinnert +und beschlossen, sie zu erwarten. Er will sich zu ihren Füßen hinwerfen +und bitten, daß sie ihn manchmal schlafen lassen. Er denkt, daß sie das +nicht werden abschlagen können. Er fühlt sich so neu, kräftig und zu +allem bereit, wenn nur etwas Hoffnung da ist. + +»Und dann kommen sie nun. Ihm gegenüber ist der Tannenwald, aus dem der +Weg hervorkommt, dem sie nahen, und die Jüngste geht voran. Er hält sich +hinter einem Felsblock verborgen und sieht, wie sie nacheinander +hervortreten und erfreut scheinen von der anmutigen Gegend. Zwei von +ihnen legen sich im Tannenschatten ins Gras, aber die eine kommt bis zum +Bach, kniet hin, legt Fackel und Dolch neben sich, bespiegelt sich und +lächelt sich an. Da übermannt es ihn, und er tritt hervor. + +»Wie er herabkommt, sieht sie auf und erschrickt. Sie greift nach ihren +Waffen und erhascht den Dolch und springt auf, sieht ihn an, und da +erkennt sie ihn nun; ihn, den sie ja zuvor nie, nur in jenem Augenblick +des halben Wachens oder im Traum gesehn hat. Er sieht wohl schrecklich +aus, in seinem grauen, zerfetzten Mantel, mit dem wirren, schwarzen Haar +und dem gelben, eingeschrumpften Gesicht, aber seine Augen strahlen +seltsam, und sie muß lächeln und streckt wieder die Arme aus, seufzt und +stammelt etwas, und -- was geschieht nun? + +»Jetzt sieht er auf einmal alles schwarz umher werden. Schwarz jede +Blume, schwarz das Gras, schwarz die Tannenwand, schwarz wie Marmor den +Quell und schwarz den Himmel. Aus der Erde schauert es eisigkalt, und es +durchschaudert sie. Sie windet sich seltsam, als werde sie unsichtbar +ergriffen und nach unten gezerrt, ihr Lächeln, wie etwas Erdrosseltes, +stirbt, sie öffnet die Lippen, will schreien, da fühlt sie, daß sie +hinunter muß, sie verzweifelt, sie zuckt, da erblickt sie ihren Dolch, +sie ringt sich noch ein Lächeln ab, erfaßt eine Strähne ihres braunen +Haares, sie schneidet zu, sie trennt die Locke, sie wirft sie gegen sein +Gesicht hin, das ihr noch glänzt. Langsam nun, blaß und blässer, wie ein +farbloser Regenschauer, gleitet sie hinunter in den schwarzen Quell; +ihre Füße, ihre Hüften, ihre Schultern verschwinden, noch schwebt ihr +schmerzliches Gesicht, lächelnd mit einer späten Qual über dem +Schwarzen, und erlischt darin. + +»Hades rief sie hinunter. Sie hatte vergessen, wer sie war, vergessen +den Haß und Tartaros, ihren Ursprung; da zog er sie zu sich herab. Und +er -- + +»Er warf sich über die Stelle hin, wo sie versunken war, griff in die +Flut und -- nun, Esther?« + +»Er faßte -- er erfaßte die großen Büschel schwarzer Iris, die rund +herum aufgeschossen waren, und --« + +»Und es ward langsam wieder hell um ihn, alles ward wie vorher, dort +aber, wo der Weg in die Tannenwand schwindet, haben sich die beiden +Schwestern aufgestellt, gleichmütig, gegürtet, abwartend. + +»Er aber, schwer aufstehend, gewahrt einen braunen Falter, rostrot +glänzend im Sonnenlicht, der gegen ihn fliegt, seinen Mund berührt und +zurückbebt und davon und wieder heran und über seine Stirn hin und +wieder fort und noch einmal heran, einen Kreis windend um seine +ausgestreckte Hand und jetzt fort, auf und nieder, hierhin und dorthin +schaukelnd, den Weg hinab und zwischen den Tannen fort. Er aber, wie an +einem goldenen Faden nachgezogen, folgt, ein wenig staunend, ein wenig +lächelnd, sich vergessend. Er sieht die Schwestern dastehn, er will +zwischen ihnen hindurch, er erschrickt, es stehen da zwei schweigsame +Fichten links und rechts vom Wege, ernsthaft, auf ihn heruntersehend, +dieweil vor ihm das rostrote Blatt in der Sonne im Tannengang leuchtet, +und er folgt.« + +Obwohl Jason schwieg, schien es den Andern, als halte er nur inne und +bedenke die kommenden Worte. Schließlich fragte die Stimme des Malers +aus dem Finstern: »Ist das alles?« + +»Die Erinnyen sind ja fort«, sagte Jason, während gleichzeitig Esther +ein tief ungläubiges »Oh nein!« hervorstieß. + +Jason schwieg und sagte nach einer Weile leise: »Kinder! Was denkt ihr +denn nun?« + +Esthers Gesicht, der weiße Schein davon, war verschwunden; an ihrer +Stimme konnten die Andern hören, daß ihre Hände davor waren; sie bat: + +»Mach ihn heil, Jason! Die Wunden von ihren Dolchen werden wieder +aufbrechen, und das Gift ... Mach ihn ganz heil!« + +Und auch Magda erklärte mitleidvoll: »Er war doch unschuldig. Daß er die +Mörderin seines Vaters erschlug, das war fromm, und die Götter wollten +es. Ich meine --« sie rang mit den Worten, »es giebt Sünde und Sühne, +Bös und Gut, aber es ist nichts einzeln davon, Eines wohnt immer im +Andern, und Orestes büßte lange und wurde schließlich befreit -- wenn +ich mich recht erinnere ...« schloß sie zaudernd. + +»Es kommt vor,« hörten sie den Maler von fern, »wenn ich ein Bild machen +will, daß ich meine, es müßten zwei gemalt werden. Nicht wegen der +Stimmung in der Natur oder so, sondern --, etwa, wenn ich einen Kranken +malen wollte, so müßte ich auch einen Gesunden machen, damit man sieht, +was all das heißt. Allerdings,« setzte er, sich räuspernd, hinzu, »das +darf nicht sein, obgleich ich mich einmal nur schwer entschließen +konnte, denn«, schloß er bedachtsam, »Kunst ist für sich und giebt +Gesetze.« + +»Orest kam nun,« fuhr Jason fort, nachdem er Bescheid erhalten, »Orest +kam nun, dem Schmetterling folgend, am neuen Abend wieder zu einer +Treppe und zu einem Tempel. Schön leuchteten sie beide von weit, Stufen, +Säulenreihn und farbiges Dach, aber der Weg war nicht gut gewesen, alle +Wunden brannten wieder, auch die Füße, und oft mußte er stehen bleiben, +wenn er hinter sich das alte Zischeln und Raunen zu hören glaubte, auch +begriff er nicht, weshalb er hinter diesem schaukelnden Blatt +einherging. Nun aber sah er die Treppe und erkannte sie gleich, auch das +Mädchen, das auf der untersten Stufe saß, gebückt, als betrachte sie +etwas in ihrem Schoße. Wie er näher kam, schaute sie auf, und da sah er +den Falter mit Heftigkeit gegen ihre Lippen fliegen, worauf er +augenblicklich in ihrem Haar verschwand. So ging er auf sie zu, die +still saß und ganz wenig lächelte. + +»Was tust du hier?« fragte er, indem er bemerkte, daß sie ihre +Silberschale voll Milch mit beiden Händen im Schoß hielt. »Still!« sagte +sie, »bleib ruhig stehn! Sie müssen gleich kommen.« Und sie pfiff ganz +leise zwischen den Zähnen. Alsbald raschelte es im Gebüsch neben dem +linken Treppenkopf, und zwei Schlangen, so lang wie ein Arm jede, die +eine dunkelbraun, die andre dunkelblau schillernd, kamen hervor, glitten +herbei, kletterten links und rechts von der Sitzenden die Stufen empor +und begannen von der Milch zu schlürfen. »Erkläre mir dieses!« sagte +Orest. + +»Dies«, erklärte das Mädchen, »sind die heiligen Schlangen. Zwei +Schlangen trägt der Gott des Schlafs, eine giftige und eine gute. Die +giftige träufelt bösen Seim auf das Herz der Bösen, die gute aber +ringelt sich über dem Herzen der Guten zusammen und macht es kühl.« + +»Oh,« sagte er enttäuscht, »so giebt es doch Böse und Gute!« + +»Jeder,« sagte sie leise, »jeder ist jedes zu dieser und jener Zeit.« + +»Und eine von diesen ist also giftig?« fragte er. + +»Diese nicht,« sagte sie lächelnd, »sie stellt ja nur eine giftige vor.« +Orestes beugte sich, um die braune zu streicheln, da zückte ihr Kopf +empor, und schon hing sie an seiner Hand. Schnell packte er mit der +Linken in das Haar des Mädchens, bog ihren Kopf zurück und schrie: +»Jetzt erkenne ich dich! Du bist --« Da er einhielt, sagte sie leise, +den Kopf zurückbiegend, um seinen Griff zu erleichtern: »Wer soll ich +denn sein?« Und während er noch, heftig atmend, die Zähne in der Lippe, +in dies Antlitz starrte, das ihm gar zu ähnlich dem andern schien, das +versank, hörte er sie, auf die Schlange deutend, flüstern: »Sieh doch, +sie saugt ja!« Plötzlich fühlte er eine rieselnde Erleichterung durch +seine Glieder strömen; wonnig aufgelöst stand er und blickte auf das +Tier herab, das von seiner Hand hing wie ein brauner Riemen, glaubte zu +sehn, wie die Wunden seiner Füße sich schlossen, seine Brust sich +schloß, und stammelte endlich, halb lachend, halb schluchzend, seine +Worte von vorhin: »Erkläre mir dieses, Kind!« + +Sie nahm seine Hand aus ihrem Haar, gab sie ihm zurück und sprach: + +»Zwei Schlangen, Gastfreund, eine giftige, eine gute. Hast du nie +gehört, daß alle Dinge verschwistert sind? Vielleicht war ich selbst +eine Schwester und habs nicht gewußt. Ja, vielleicht bin ich eine +Schwester von der, die du -- sieh!« unterbrach sie sich. + +Die Schlange, auf die ihre Augen wiesen, war heruntergefallen, lag einen +Augenblick still, ringelte sich ein paar Schritte hinweg, rollte sich +zusammen und lag in der Sonne, blinzelnd. Die andre aber schlich herbei +und legte sich schön darüber, so lang wie sie war. + +»Ich glaube,« schloß Jason mit Bedacht, »Orest konnte jetzt zu der +Gottheit hineingehn, um zu zeigen, daß er rein war.« + + * * * * * + +Lange Zeit saßen sie schweigsam. Dann hörten sie, daß der Maler aufstand +und gegen etwas im Dunkel stieß. Und dann hörten wohl nur Magda und +Esther Jason sprechen, kaum vernehmbar leise: + +»Wenn wir jetzt Licht machen, und jemand, der vielleicht unten steht, so +ein Orest, sieht den sanften grünen Schein unseres Fensters hier oben, +der weiß nichts von den drei Gesichtern und von den Leben und den +Schicksalen, die wir sind. Der denkt nur: Dort oben muß es schön sein +...« + +Seine Stimme erlosch, und als sie ihn gleich darauf wieder sprechen +hörten, schienen es ihnen Verse zu sein, doch vernahmen sie, ein jeder +in sich selber versunken, nicht mehr davon als eine ferne Musik ohne +Worte. Bald darauf stand Magda auf, ging zwischen Esther und Jason +hindurch zur Wand und drehte die Kurbel für das Licht; als es +aufflammte, kniffen sie Alle geblendet die Augen zu, und Esther sagte, +die Handrücken gegen die Lider drückend: »Aber Jason, nun sind es doch +vier Schwestern gewesen, davon drei böse und nur eine gut!« Indem ging +Magda schon durch das Zimmer, öffnete die Tür, wandte sich noch einmal, +grüßte müde und gütig und verschwand. Auch Jason schien zu lächeln, +sagte aber nichts, und so trat denn Maler Bogner, der älter war als sie +Alle, auf das Mädchen zu, legte eine Hand auf ihren Kopf und sagte +freundlich: + +»Das Gute, Esther, ist doch immer in der Minderzahl.« + +Sprachs, nickte und ging hinaus. Esther folgte still, als letzter Jason, +der das Licht wieder löschte. + + * * * * * + +Die Verse aber, die er gesprochen hatte, lauteten folgendermaßen: + + O Nacht! O Tiefe! Drunten auf den Stufen, + Du weißt es, schläft die Eumenide nun ... + Noch ist die Gottheit leise anzurufen, + So wird dir, was du sehntest: du wirst ruhn. + + Die Säule klingt; die dunkle Wölbung schwindet; + Gestirne wandern über Wäldern fort. -- + Blick hin: Er steht schon längst im Dunkel dort, + Schlaf deiner Kindheit, der dich wiederfindet. + +Renate, die Augen hebend vom letzten Wort, verwunderte sich, keine +Dunkelheit, sondern nur die Dämmerung um sich her zu finden, die vom +ohnehin trüben Tage durch das verschleierte Glas bewirkt wurde. Während +ihre Lider sich zusammenzogen, sah sie immer größer den fernen gotischen +Bogen ragen, und nun war es ein Tor; es schien ausgefüllt vom +unendlichen Grün einer Ebene, und winzig klein auf ihr erschien eine +schwarze Gestalt -- Josef --, die mit rasender Geschwindigkeit +daherfuhr, ohne jedoch größer zu werden, und Renate empfand, daß die +Gestalt nicht mehr an die Zeit gebunden war, sondern außerhalb ihrer +dahinjagte wie ein Gestirn. Alsbald aber spürte sie, daß sie an ihrem +eigenen Blick hing, daß der an ihr zog, und sie zwang ihn zu Kraft und +Willen, zog mit ganzem Dasein, -- allein die Gestalt blieb so klein, wie +sie war, und auf einmal war da das Fenster. + +War es wieder da? fragte Renate sich betäubt. Aber so war es doch nie? +War doch immer nur -- Erscheinung? Wann hätte ich je selber +hineingegriffen? -- Der Gedanke aber, Josef stehe unten und warte, daß +sie ihn einlasse, überfiel sie mit solcher Gewalt, daß sie sich kaum +halten konnte im Stuhl, gequält vom Reiz, das Fenster zu öffnen, was ja +nicht möglich war, da nur die kleinen Quadrate sich auftun ließen. + +Warum denn nur, mein Gott, warum kann ich ihn nicht rufen? + +Nein, fuhr sie auf, nein! Er soll nicht meinetwegen kommen! Wenn er denn +kein Herz hat für den Vater, -- was könnte dann auch sein Kommen +auswirken? -- Und sich zur Ruhe zwingend, lenkte sie die Augen wieder +auf den Schluß der Legende, über den sie schon, ganz im Gedanken an +Josef, nur hingeglitten war, und las noch einmal: >Das Gute ist doch +stets in der Minderzahl< und dann die Verszeilen: + + >Gestirne wandern über Wäldern fort. -- + Blick hin: Er steht schon längst im Dunkel dort ...< + +Mit einem gellenden Schrei fuhr sie zur Tür herum, zitterte und +strauchelte im Stehn. Da war nichts. Ihr Herz jagte. Nach endlosem +Warten hörte sie Schritte im Treppenhaus, trat, unfähig länger +auszuhalten, zur Tür und öffnete. Unten, wo die Treppe sich wendete, +erschien die weiße Tolle des Hausmädchens, dann sie selber ganz im rosa +Waschkleid und weißer Schürze, blieb Renate erkennend stehn, lächelte +und sagte: »Frau Tregiorni ist gekommen. Und Herr Saint-Georges ist +schon lange da.« + +»Ich komme«, erwiderte Renate heiser und zog die Tür zu, nur um zu +verbergen, daß sie nicht aufrecht bleiben konnte. Minuten später hatte +sie sich wieder gewonnen und verließ den Raum. + + + Hier enden des sechsten Buches neun Kapitel oder ebenso viele + Monate. + + + + + Inhalt + + + + Viertes Buch + + Erstes Kapitel: Mai + Heimweh 7 + Magda 23 + Bei Saint-Georges 30 + Balto-Borussia 44 + Kaddisch 64 + + Zweites Kapitel: Juni + Begegnung 77 + Erasmus 89 + Mensur 96 + Esther 105 + + Drittes Kapitel: Juli + Die Friedliebende Gesellschaft 112 + Schatten 129 + Drei Gespräche: Das erste 147 + Drei Gespräche: Das zweite 158 + Drei Gespräche: Das dritte 176 + + Viertes Kapitel: August + Hora 192 + + Fünftes Kapitel: September + Vergangenheit 205 + + Sechstes Kapitel: Oktober + Abschied 222 + Sonnenblume 244 + + Siebentes Kapitel: November + Renate an Saint-Georges 255 + Erschöpfung 282 + + Achtes Kapitel: Dezember + Renate an Magda 288 + Heiliger Abend 292 + + Neuntes Kapitel: Januar + Georg an Benno 305 + + Fünftes Buch + + Erstes Kapitel: Februar + Ulrika 313 + + Zweites Kapitel: März + Leda 331 + Renate 347 + + Drittes Kapitel: April + Tandem 361 + Cora 374 + Überraschungen 383 + + Viertes Kapitel: Mai + Haus Herzbruch 397 + + Fünftes Kapitel: Juni + Emmaus 414 + Rubinglas 440 + + Sechstes Kapitel: Juli + Requiem 462 + Sommer 476 + + Siebentes Kapitel: August + Frühe 492 + + Achtes Kapitel: September + Regen 506 + Wiederkunft 528 + + Neuntes Kapitel: Oktober + Cordelia 563 + + Sechstes Buch + + Erstes Kapitel: November + Berlin 597 + + Zweites Kapitel: Dezember + Sylvester 614 + + Drittes Kapitel: Januar + Neujahr 627 + + Viertes Kapitel: Februar + Wirrnis 639 + + Fünftes Kapitel: März + Wiedersehn 675 + Neuigkeiten 688 + Flut und Ebbe 698 + + Sechstes Kapitel: April + Zinna 741 + + Siebentes Kapitel: Mai + Klemens 749 + Schrecken 782 + + Achtes Kapitel: Juni + Krank 787 + + Neuntes Kapitel: Juli + Legende 820 + + + Druck der Spamerschen + Buchdruckerei in Leipzig + + + Anmerkungen zur Transkription + +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere +Korrekturen (vorher/nachher): + + [S. 171]: + ... »Es muß etwas anders sein. Sie nehmen die Dinge ... + ... »Es muß etwas andres sein. Sie nehmen die Dinge ... + + [S. 253]: + ... langsam in dasselbe verwandeln. So glaubten Heilige, ... + ... langsam in dasselbe verwandeln.< So glaubten Heilige, ... + + [S. 305]: + ... im Waldrand, das kaum zu sehn ist und zu dem kein Weg ... + ... am Waldrand, das kaum zu sehn ist und zu dem kein Weg ... + + [S. 491]: + ... Lange blinkte sie gedankenvoll auf ihn herunter, dann ... + ... Lange blickte sie gedankenvoll auf ihn herunter, dann ... + + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Helianth. Band 2, by Albrecht Schaeffer + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 59187 *** diff --git a/59187-8.txt b/59187-8.txt deleted file mode 100644 index 67d879e..0000000 --- a/59187-8.txt +++ /dev/null @@ -1,23764 +0,0 @@ -The Project Gutenberg EBook of Helianth. Band 2, by Albrecht Schaeffer - -This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with -almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or -re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included -with this eBook or online at www.gutenberg.org/license - - -Title: Helianth. Band 2 - Bilder aus dem Leben zweier Menschen von heute und aus der - norddeutschen Tiefebene - -Author: Albrecht Schaeffer - -Release Date: April 1, 2019 [EBook #59187] - -Language: German - -Character set encoding: ISO-8859-1 - -*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HELIANTH. BAND 2 *** - - - - -Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed -Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was -produced from images made available by the HathiTrust -Digital Library. - - - - - - - - - - HELIANTH - - - Bilder - aus dem Leben - zweier Menschen von heute - und aus der norddeutschen Tiefebene - in neun Büchern dargestellt - - von - Albrecht Schaeffer - - - Der drei Bände zweiter - - - Im Insel-Verlag zu Leipzig - 1920 - - - - - Viertes Buch. - Fragmente aus den halkyonischen Jahren I - oder - Die Friedliebende Gesellschaft - - - Erstes Kapitel: Mai - - - Heimweh - -Georg ging eine schräge, braungoldene Fläche hinunter. In der Tiefe war -ein lichter, weißer Wald; die Bäume standen weit voneinander und sahen -wie große, schneeweiße Tüten aus, die auf der Spitze standen. Im -Näherkommen gewahrte er, daß es riesige, schön gewundene -Muschelschnecken waren; ihre Windungen glühten rosig, und in ihnen -rieselte es goldig. Vor der nächststehenden waren zwei Pfähle aus -Ebenholz, einer immer etwas höher als der andere, so daß sie eine Treppe -bildeten, und indem er noch dachte, es müßten, da sie sich gegenseitig -stets überhöhten, doch wohl mehr als nur zwei Pfähle sein, war er schon -hinaufgestiegen, beugte sich über den rundwulstig nach innen gebogenen -Rand der Muschel und sah, daß eine Wendeltreppe hinunterführte. Er stieg -sie hinab, sie wand sich ins Bodenlose unter seinen Füßen fort, es ward -Abend und Finsternis, dieweil er stieg, aber dann wußte er, daß er -wieder die verbotene Treppe im Trassenberger Pallas beging. Diesmal aber -war die Tür doch offen, es wehte eisigkalt aus dem Gang, Georg wußte, -daß ein solcher da war, ohne ihn sehen zu können, und tastete sich -furchtsam, mit beiden Händen die ganz nahen Wände streifend, vorwärts. -Bald kam er an eine Biegung, an eine andere, es ging rechts, ging links, -Georg dachte: gleich muß die Falltür kommen, er schritt immer langsamer, -in großer Angst, auf einmal war eine schwarze Türöffnung da und hinter -ihr das Bodenlose. Die Angst verschlug ihm den Atem, er wußte, daß er -sterben, daß er hinunterstürzen und zerschellen sollte, nein, er wußte, -schon wenn er fiele, würde alles aus sein, und schon wich der Boden, er -fiel, er löste sich, rücklings sinkend, auf in den Tod, noch denkend, es -ist ja gar nicht so schlimm, das Sterben -- -- - -Da schlug er die Augen auf. - -Eine Weile unbegreifend, wo er sich befand, erkannte er langsam die -braune Tür gegenüber mit dem hellen Lichtspalt von nebenan, dann in der -Ecke rechts davon den kleinen Kamin mit dem Schattenriß des hängenden -Teekessels über der roten Glut -- langsam das ganze, kleine Zimmer, -gefüllt mit Schatten, den Schattenriß des Tisches zwischen Kamin und dem -Sofa, auf dem er saß, und er hörte die englischen, losen Schiebefenster -knacken und leise prasseln unter gelinden Stößen des Nachtwinds. Im -Nebenzimmer räusperte sich jemand, Benno ... Da saß er unsichtbar und -komponierte bei seiner Lampe ... - -Im selben Maß wie die Schlafbenommenheit entwich auch die Erscheinung -des Traumes, nur die Erinnerung an den finstern Gang blieb noch; ihn -schauderte leise im Gedanken des Sterbens, wie er sich auflöste, -angstvoll und doch schon beruhigt ... - -Da aber sah er wieder, wie immer, Renate, abgewandt von ihm, durch ein -Zimmer gehn, undeutlich, nur ihre Erscheinung, fast nur ihre Haltung, -als komme sie aus der Tür und ginge zu -- zu einem Tisch -- Georg sah -ihn nicht -- und legte etwas darauf, ein Buch, ein Schlüsselbund, worauf -sie sich auflöste ... Immer dieselbe Erscheinung ... - -Georg stand, trunken von Schlaf und Gefühl, vom Sofa auf, legte ein paar -Stücke Holz in die Glut, setzte sich daneben auf den Stuhl am Tisch, -klappte den daliegenden Briefblock auf, ergriff die Feder und stürzte -sich ins Schreiben. - -Serk, schrieb er, im Mai. - -Galatea, o Galatea! Ich sterbe, ich sterbe ja vor Heimweh nach Dir! Im -Traum eben litt ich einen leichten Tod, Du warst nicht in dem Traum, ich -verstehe es nicht, wie konnte der Tod leicht sein ohne Dich! An meinem -Leibe sind alle Adern geöffnet, das Blut strömt, auf jeder Welle -entschwimmt mir Dein Lächeln mit dem fortfließenden Leben ... - -Soll ich Dir Träume erzählen, süße Seele? Komm, höre einen Traum! - -Es war ein Garten und ein Gebüsch. Eine Stimme war im Gebüsch, sie -rauschte nur. Da kam ein Arm hervor, der die Zweige nach oben hob, ein -weißer Arm, dann stand eine Frau in der Aprilnacht, holte zwei Schwerter -hinter dem Rücken hervor, in jeder Hand eines, und stieß sie mir durch -Rücken und Brust ... - -In einer Nacht aber hatte ich diesen Traum: - -Ich ging am Strande des Ozeans, da sah ich das Meerweib von fern. Sie -stand, nahe von ihr war ein Felsenbogen, ein gewaltiger Grotteneingang, -und sie stand, als habe sie beim Auftauchen aus der dunklen See eine -Glocke von Gewässer mit hochgenommen, die wölbte sich nun als schwarzes -Kleid um ihre untere Hälfte, um die obre hing Wellenschaum als weißes, -dreieckiges Tuch mit langen, fließenden Fransen. So stand sie, die Hand -am Kinn, in der anderen den Ellenbogen, sinnend, aber sie sang, ich -hörte ihre Stimme: - - Einsamkeit -- -- - - Einsamkeit, du schöner Born - Stillgewordner Seelenklagen! - Rausche durch das Muschelhorn - Tönend in den langen Tagen. - - Wenn der Gott das Horn ergriff, - Rollt der Donner an den Küsten, - Und es dröhnt des Gottes Schiff, - Und es tönt -- -- - -Einsamkeit -- -- schrieb Georg noch, dann riß es ab, denn er hatte: >und -es tönt in meinen Brüsten< schreiben wollen, verdrängte es aber, da es -ihm frivol und unpassend vorkam, insgeheim derartig von ihr zu sprechen, -als ob er sie entkleidete, ohne daß sie's wußte; dann kam ihm auch der -Reim zu alltäglich und gemein -- heutzutage -- vor, er ergänzte noch -teilnahmslos die Lücke mit: >in Felsgerüsten<, hörte nervös das störende -Geklapper des Deckels auf dem Teekessel und hockte sinnlos. Vor seinen -Augen verging der rötlich durchschienene Dampfstrahl aus der Tülle, -nebenan wurde ein Stuhl gerückt, Benno ging behutsam durch das Zimmer, -dann klangen ein paar Griffe auf dem Klavier und plötzlich ein leiser -Akkord von solcher Süßigkeit, daß Georgs Herz sich zusammenzog. Angst, -Sehnsucht, Schwermut sogen gewaltsam an seiner Brust; warum sitze ich -hier? dachte er schwer. - -Gedankenlos, nur um etwas zu tun, zog er die Schieblade gegen seinen -Leib auf, holte eine Wachstuchkladde heraus und schlug sie auf. _La vita -nuova_ stand groß und einsam auf der ersten Seite. Georg machte -kritische Augen. Auf der nächsten stand ebenso vereinsamt: Galatea ... - -Georg schlug willkürlich einige Blätter um und las: - -»Die See war schwarz und eigentlich unsichtbar, aber über ihren Rand aus -dem Nichts stieg eine rote Scheibe, glühte und war ein großer, runder -Fisch, der über das schweigsame Meer herschwebte. Auf seinem Rücken -stand ein schwarzer Mann wie ausgeschnitten, mit einem abstehenden Kranz -von wildem Haar, hielt ein Muschelhorn an den Mund und blies unhörbar. -Da sagtest du: man muß die Einsamkeit in das Herz schießen. Ich hatte -aber nur eine kleine Gummizwille in der Hand, wie wir sie als Jungens -machten. Da zielte ich auf den Fisch, und wie ich ihn traf, blieb er -langsam stehn, wurde wieder ganz rund und wedelte einmal mit dem -Schwanz. Dann zauberte er ein glotzendes, grünes Auge in sich hinein, -sah mich boshaft damit an und versank in die Flut, wo er sichtbar blieb -im Tiefersinken, dieweil das Wasser in schwarzen Falten über ihn -hinging. Der Mann, sein Horn noch immer am Munde, sank mit, und da wußte -ich, daß das Ganze aus Pappe geschnitten und ein kleines Theater war -...« - -Georg hob die Augen vom Ende der Seite, griff eine Zigarette aus dem -Kasten, tastete, völlig aufgelöst in Bewußtlosigkeit, nach den -Streichhölzern und blieb hocken, die Zigarette im Munde, minutenlang. - -Der Teekannendeckel klapperte irrsinnig. Georg fuhr mit einem Ruck aus -sich auf, hob den Kessel aus den Haspen und setzte ihn auf die Erde, wo -er noch eine Weile ingrimmig vor sich hin kollerte und prustete, bis ihm -der Atem ausging und er verstummte. Die Blätter des Hefts hatten sich in -die Höhe gesträubt, Georg las irgendwo die Worte: - -»Es giebt nichts, wozu man die Natur nicht gebrauchen könnte; ich will -sie als Medikament gebrauchen. Es muß mir gelingen, einige Zeit ohne -Gedächtnis zu leben. Wenn es nicht geht, werde ich es Benno übergeben. -Es giebt nichts, was man ihm nicht anvertrauen könnte.« - -Ja, ja ... - -Die Nacht war totenstill, nichts zu hören vom Meer. Da saß man nun -mitten im riesigen Kanal, die ungeheure Brust des Atlantischen Ozeans -drängte gegen ihn heran, fern überall in ihrer Einsamkeit wanderten die -Schiffe ... - -Angst lag auf Georgs Brust. Hatte sich irgend etwas geändert? War irgend -etwas klarer geworden? Ach, wenn doch Benno Klavier spielen wollte, daß -er sich ins Dunkel daneben setzen könnte und wie als Knabe, wenn Onkel -Salomon einmal spielte, das Ohr gegen die tönende Wand legen und sich -vergessen im Staunen über das drinnen tosende musikalische Rumoren. Ach -nein, er hatte Benno sein Gedächtnis nicht anvertraut, immer standen -Dinge bevor, die er nicht begriff, als sollte er sich am nächsten Tag -zur Bedienung einer Maschine stellen, von deren Bau und Wirkung er keine -Ahnung hatte ... - -Georg blätterte weiter in seinem Heft, über Seiten voller Verse hin, -Sonette, Sonette, Sonette, und: welche Kunst, dachte er, seine Stimmung -vermittels plausibler Vergleichungen zum Ausdruck zu bringen! -- Dann -kamen wieder Briefe an sie, die er Galatea nannte -- indem es ja sein -höchster und heimlichster Traum war, daß sie, dieser wunderbarlichste -Marmor in Frauengestalt, durch ihn zum warmen Leben sich einführen -lasse, -- Ergüsse, Lobgesänge, Gebete, Beichten in blumenreicher Prosa -... - -Und wiederum sah er ihre ungewisse Gestalt, abgewandt von ihm, hingehn -und -- -- entschwinden in die Luft. - -Da stand geschrieben: - -»Ich reinige meinen inneren Menschen. Ich werde ein Stück Natur, -Erdboden, wenn mich der Sonnenschein, Baum, wenn mich der Wind, hohle -Muschel, wenn der unablässige Donner der See mich mit lärmendem Geläute -erfüllt. Luftiger, offener, ausgebreiteter wird mein Wesen, ich fühls, -ich leere, ich reinige mich. --« - -Haben wir uns gereinigt, Benno? Gute Seele, was stauntest du doch über -dies ossianische Eiland von grauem und rötlichem Fels, dies titanische -Gefüge, Grotten, Felsenbögen und Höhlen wie auf Odysseebildern von -Preller. Und ringsum der gewaltige Kanal. Da ließen wirs uns wohl sein, -rollten im Ufersand gegen die Brandung, stürmten über den Felsendamm -zwischen den beiden Inselhälften, hundert Meter über der Meeresfläche, -mit flatternden Hemdkragen gegen den offenen Himmel, gegen den wild -anrennenden Wind, schrien den englischen Möwen auf Deutsch -unverständliche Beschimpfungen zu -- dann --, dann schoß ich Kaninchen -auf dem Eilande Brechou, und du bewundertest mich dabei. Ach, immer hast -du mich bewundert! Als ichs allein nicht mehr ertragen konnte, als mir -eines Tages das Gedächtnis alles Gewesenen wie ein Baum aus dem Haupt -wuchs und riesige Früchte, die herunterstürzten, mich zu erschlagen -drohten, da -- ja, da vergingst du in Schaudern über das unerhörte -Begebnis und in Bewunderung meiner, der sicherlich das Richtige treffen -würde ... - -Und Georg erinnerte sich, wie sie nächtelang miteinander sich -besprochen, den Zweikampf wie mit beweglichen Puppen gefochten hatten, -des Ideales hier, ein Fürst zu werden, wie die Welt einen verlangte, der -Wahrheit dort, die Selbsterniedrigung von ihm forderte. Aber die Fehde -blieb immer unentschieden, sie verstummten, schlichen trübe umher -- -nun, Benno freilich tat das nicht lange, er hatte ja unendlichen Mut -geschöpft, und nachdem er früher kaum gewagt hatte, eine Zeile zu -schreiben, aus Furcht, Beethoven könnte es ihm verargen, so getraute er -sichs nun, es mit allen Stimmen des Ozeans und der Winde aufzunehmen ... - -Und dann lagen wir auf einer der grünen, windüberstrichenen Inseln im -Innern, gaben uns kummerlos der Sonne preis, träumten Buntes und -Phantastisches, für Benno Unerhörtes, Gloria und Kränze, Frauen und -Wettrennen, Yachten unter Riesensegeln und weiße, nackte Frauenleiber in -einer azurenen See und in paradiesischem Durcheinander mit gestreiften, -gelben Tigern und schwarzen Leoparden. - -Bennos Schritte näherten sich der Tür, Georg hörte ihn fragen hinter -seinem Rücken: »Schreibst du?« - -»Nein, ich lese bloß! Du willst wohl schlafen gehn?« - -Sich wendend sah er Benno, so lang er war, noch dünn- und langhalsiger -in dem aufgeschlagenen Hemdkragen, Gesicht und Augen durchglüht und -beschämt von Visionen, durchs Zimmer gehn und sich aufs Sofa setzen, -gleich die Beine übereinanderlegend und sich schmal machend vor -angeborener Demut. Der rötliche Schnurrbart hing zerzaust und wie -bestraft, die Augen gingen -- wie immer -- nach oben. - -»Sieh mal, was ich da geschrieben habe«, sagte Georg, nachdem Benno -etwas wie »gar nicht müde« gemurmelt hatte, und las: - -»Widersetze dich niemals einer Erkenntnis. Jede seelische Geste, -festgehalten in der Anmut gereimter Zeilen, strömt eine bestrickende -Glaubwürdigkeit aus. Je leichter dir das Versemachen fällt, um so -schöner werden deine Empfindungen. Es ist doch nur ein papierener -Frühling. Wind und Sterne, Mond und Sonne, Wogen und Möwen, das alles -treibt dich rundum, und am Ende liegst du da. Du bist nur ein -Naturkreisel. -- Horch, Benno, es giebt noch einen Zusatz. Zusatz: -Wirbelt die Oberfläche eines buntbemalten Kreisels herum, so schwinden -die Farben in belangloses Grau. So ist es auch mit der Seele. Wenn sie -aber daliegt und stille wird, zeigt sie lieblich ihre reinen, farbigen -Kreise ...« - -Benno saß und lächelte freundlich. - -»Benno, was denkst du?« - -»Ich? Ach! Ich dachte«, sagte er schamvoll mit seiner gebrochenen -Stimme, »an den Kiwi in Unterprima und --« - -»Ach, weil ich von physikalischen Dingen rede, denkst du an -Physikprofessoren! Ach du mein Gott, diese Physikstunden waren das -Gräßlichste auf der Welt! Und wenn er mal ein Experiment machte, ging -alles kaputt. Ja, da sitzen wir nun im Kanal ...« - -Benno erhob sich mit einem Ruck zu seiner Länge und trat an das Fenster, -stützte die Hände auf und sah in die Nacht. -- Ich glaube, dachte Georg, -er hat Heimweh. - -Nach einer Weile, da weiter nichts geschah, sagte er: - -»Ja, wie ist es, Benno, wenn du nicht zu müde bist, könnten wir ja noch -einen Schritt vor die Tür und das Meer besehn ...« - -Benno drehte sich still um; sie gingen hinaus und durch den engen, -warmen Flur voller Schränke ins Freie. Die Nacht war dunkel, von den -erloschenen Häusern kaum hier und da eine weiße Wand im Finstern zu -erkennen; oben segelte der kleine Mond hastig durch silbergraues, -bewegtes Gewölk. Da! -- sagte die Kälte, indem sie auf die Stelle mitten -auf Georgs Kopf, wo die Kompresse endlich entfernt war, aber noch das -Haar fehlte, ihren kalten Finger setzte. -- Als sie um die Hausecke -bogen, warf sich der Seewind ihnen straff entgegen; Georg wars, als -legte er ihm miteins ein glattes Kleid von Kühle um den ganzen Leib. Vor -ihnen lag die schwarze Fläche von Haidekraut, die sich ins Nichts -verlor; da und dort, über der unsichtbaren See in der Tiefe, war ein -vereinsamtes Sternlicht. Langsam, während sie auf dem schmalen Pfad von -Klinkern dahingingen, wurde die Brandung hörbar und lauter. - -Eine leise Melodie, von Benno gepfiffen, ein kleines, getragenes Stück -in Moll, zärtlich, feierlich, plötzlich abbrechend, wehte an Georgs Ohr, -einmal und noch einmal. Er fragte: »Was ist das, Benno?« - -Ja ... es sei das Thema des ersten Satzes: Sehnsucht nach der Ebene. Und -übrigens hätten sich ihm, als er es fand, von selber die Worte -unterlegt: Denk ich an Deutschland in der Nacht ... - -»Ach, denkst du an Deutschland in der Nacht, Benno?« - -Benno schwang einen Arm, warf den Kopf zurück -- Georg konnte die Haare -im Dunkel flattern sehn -- und war ein wenig entrüstet. Ob es nun -vielleicht eine Schande sei, Heimweh zu haben! - -»Ach,« sagte er, »ihr seid ja nun Alle Europäer! Aber wenn du dichtest, -Georg, dichtest du dann vielleicht europäisch? Dichtest du -international?« - -»Aber die Musik, Benno? Überhaupt alles Geistige, Kunst, Wissenschaft, -sind sie nicht allgemein?« - -»Der Stoff, Georg, ach natürlich doch, der Stoff! Sind wir nicht Alle -Menschen? Der Gedanke der Verbrüderung ist natürlich herrlich! Aber im -Geist war sie doch immer schon da, und dem Bauern und dem Handwerker, -wenn er einen Schrank macht oder Rüben baut -- was soll dem -Verbrüderung? Keine Feindschaft soll sein, keine gegenseitige -Verachtung, alle sollen sich gelten lassen und ertragen, jawohl, aber -- -das ist doch weiter nichts als Menschenpflicht, da ist doch der nächste -Nachbar der nächste Anlaß, dergleichen zu üben, und wozu brauchts da -fremde Völker und Erdteile? Das Gute kommt doch immer von selbst.« - -Benno mußte schreien, so laut war nun der Donner der Brandung. Georg sah -im Finstern vor sich die Zaunpfähle am Rande des Abgrunds; jetzt bog ihr -Weg ab und begann langsam anzusteigen; alsbald erschien auch der -Schattenriß des kleinen Pavillons über ihnen in der Nacht. Georg sah -Helenenruh, das weiße Haus, Wiesen und Park, eine sonnige Insel; dann -erschien die Goethestraße in Altenrepen, sein Schulweg, das rote, -vielfenstrige Haus mit der Sonne überm Türmchen. Ja, er hatte wohl auch -ein wenig Heimweh ... - -Sie betraten den Bretterboden des Pavillons, traten an die hölzerne -Brüstung und stützten sich darauf. Alle Hörner der See stießen ihr -gewaltiges Gebrüll aus; sich überneigend sah Georg, schaudernd vor der -Tiefe, den weißen Gischt, wie er sich wütend aufwarf und zerflog. Da war -nun, unsichtbar, unermeßlich nach Westen hin die schwarze, bewegliche -Meeresebene, meilenweit kalte Wasser, Bergtiefen der Gewässer. Ein, zwei -rötliche Lichter in der Ferne schienen eine Küste zu bedeuten, aber es -waren Schiffe, in ungeheurer Einsamkeit verlassen durch die schwere See -hinstampfend, aber innen in ihnen war es doch wieder warm und hell, -waren Tische und Lampen, Keller und Lager voll Geruch von Teer und -Waren, Kabinen voll Schlaf ... Seltsam, diese winzigen, fahrenden Wohn- -und Kaufhäuser in der Meeresfinsternis ... - -Georg ließ sich auf die Bank nieder, leise betäubt vom Brausen der -Tiefen, Benno blieb am Pfeiler stehn. - -»Und die schönsten Dinge, Georg,« sagte er plötzlich mit Eifer, »die -schönsten Dinge der Welt giebt es doch nur in Deutschland.« - -»Zähle auf, Benno, zähl auf!« - -Benno schöpfte tief Atem. - -»Eine deutsche Sommernacht«, sagte er. - -»Ja, Benno, da hast du recht. >Wenn die Brunnen verschlafen rauschen<, -nicht wahr? Und Kornfelder im Mondschein und silberne Ritter von Thoma -auf allen Hügeln, die Wache halten. Oder -- nein so, Benno: Eine -Mondnacht ... Ein Stück weißer Straße -- und eine weiße Hauswand mit -dunklen Fensterscheiben, Gartenmauer, weiß, und darüber die dunklen, -schweren Baumwipfel, in denen der Nachtwind rieselt -- rieselt --, nun -hier -- nun da, nun rauschend, nun ganz leise nur -- knisternd, daß du -fast die einzelnen Blätter sehen kannst, die sich wenden ...« - -»Ja, Georg! ja!« - -»Und -- -- kennst du das von Rilke: - - Und dann ein Rauschen und ein Ruf der Ronde, - Und eine Weile bleibt das Schweigen leer, - Und eine Geige dann ... - ... und sagt ganz langsam: Eine Blonde ...« - -Benno war begeistert. »Eine Blonde!« hauchte er. »Ja, ein blondes -deutsches Mädchen, das gehört auch zum Schönsten!« - -»Ich will sie dir nicht rauben, deine Blonden,« sagte Georg, »aber ich -bin nun mal mehr für Dunkel.« - -»Du für Dunkel, Georg? Aber Renate?« - -»Renate? Ach, erstens ist sie nicht blond! Sowas nennt sich nicht blond, -und zweitens: ist sie vielleicht ein Mädchen?« - -Benno sagte, das verstünde er nicht. Georg wußte es selber nicht zu -erklären. Nein, dachte er, sie ist weder Mädchen noch Frau, aber sie ist --- -- als wäre sie drei Nächte lang die Geliebte eines Gottes gewesen, -und ist verzaubert von unsterblichen Küssen und überweltlicher Hoheit. --- Aber wieso sagte ich nur eben, ich wäre für Dunkel? Magda ist doch -blond -- ja, deshalb liebte ich sie wohl auch nicht richtig! -- Iris -Runges elfenbeinernes Gesicht erschien ihm da und die türkisfarbenen -Augen im schwarzen Oval der Haare. - -»Zähle weiter, Benno, was giebt es noch?« - -»Ach, der Frühling, Georg, einen deutschen Frühling, giebt es den -vielleicht in Italien oder in Indien! Wenn die Ebenen noch ganz grau -sind und ferne Wälder durchsichtig und kahl, und die Wolken gehen so -niedrig und langsam übers Land. Der Wind ist feucht, man riecht die -Erde, und irgendwo stehen schon Primeln ...« - -»Ach, wohl, Benno, wohl, und ein deutsches Ährenfeld, du sagtest es -schon! Diese Gelbe, und das lange Schwanken der glatten Mauer und -Lerchen im Sommersonntag und ganz ferne Glocken!« - -»Und bist du einmal im Herbst über Land gegangen, Georg --« - -»Deutsche Herbstwälder, Benno, mein Gott ja, deutsche Herbstwälder -giebts auch in Griechenland nicht! Goldgelbes Birkenlaub in flammend -blauen Lüften ...« - -»Ja, und ich dachte eben an die Ebene. Im September, wenn die weißen -Morgennebel alles rings verschließen, und die Sonne bricht nun durch, -und auf einmal ist da eine glühende, weiße, beleuchtete Hauswand, dann -siehst du das Dach, und nun die Kronen von Obstbäumen, dunkelgrün, -triefend naß, nun die roten Flecke der Äpfel, und am Zaun, der auf -einmal aus den weißen Tüchern kommt, lehnt vielleicht ein ganz blaues -Waschfaß ...« - -»Herbstkräftig,« murmelte Georg und fuhr lauter, damit Benno ihn hören -könne, fort: »herbstkräftig die gedämpfte Welt -- In warmem Golde -fließen ...« - -»Ach, ja, Georg, und die Dichter, glaubst du denn, daß je irgendwo die -Dichter so ihr Land ausgesaugt hätten wie Eichendorff und Lenau, und wie -Claudius und George? Wie war doch das noch: >Im Morgentaun -- trittst du -hervor --<. Von George, ich weiß es nicht mehr, du lasest es vor ...« - -Georg fuhr leise und seltsam schmerzlich fort: - - »Den Kirschenflor - Mit mir zu schaun. - Duft einzuziehn - Des Rasenbeetes ... - Durch die Natur - Noch nichts gediehn - Von Frucht und Laub. - Rings Blüte nur ... - Von Süden weht es ...« - -Benno, zu seinem Munde herabgebeugt, wiederholte voll Inbrunst: »Von -Süden weht es ...« Dann warf er sich mit einem Ruck hoch, trat weg und -setzte sich auf die Bank. - -»Ja, da sitzen wir nun im atlantischen Kanal in der Nacht und haben -Heimweh nach Deutschland. Wenn wir jetzt Wiener wären und an Wien -dächten, so würden wir weinen«, murmelte Georg. Aber im selben -Augenblick brach alles immer Unterdrückte mit einer solchen Wucht in ihm -los, daß er aufsprang, den Holzpfeiler neben Benno mit beiden Fäusten -packte und, die Stirn darangepreßt, ächzte: - -»Verstehst du es denn, Benno, ja versteht es denn _ein_ Mensch, was das -heißt, nicht mehr zu wissen, woher man kommt? Und ich, Benno, ich, der -immer so stolz war auf Ahnen und alle Vergangenheit und Zusammenhänge, -und daß all das nun Lüge war, Unsinn, gemeine, scheußliche, stinkende -Lüge und Irrtum --« Er brach ab und schüttelte sich. - -Einen Augenblick später sich wieder aufrichtend und Haltung nehmend, -trat er von Benno fort und lehnte sich mit dem Leib gegen die Brüstung -und über das Meer. Hinter sich wußte er Benno, der so still in sich saß -vor Scheu und Ergriffenheit, daß sich keine Muskel und keine Faser an -ihm bewegte. Und wiederum erschien da, abgewandt, hingehend, die -unsichtbare Gestalt Renates ... - -Seltsam, seit wann ist das nur, daß ich sie so sehe? fragte sich Georg. -Und woher gerade diese Bewegung an ihr? Es giebt ja wohl keine Stellung -oder Lage, keine Tätigkeit und keine Bewegung, in der ich sie nicht -geträumt hätte -- woher nun diese? Als ob sie selber, indigniert, sich -von mir fortwendete, jedesmal, und davonginge. Habe ich sie totgeträumt? -fragte er sich erschrocken. Ja, ist mein Gefühl noch immer so stark wie -im Anfang? Ich glaube -- -- nicht ... Ach, Renate, Renate, warum stehe -ich denn hier über dem finstern Atlant, kalten Gewässern und landfremden -Schiffen? Du bist es doch, die gilt, einzig gilt! Dich zu krönen, aus -den Sternen den Thron, für dich, für dich, das ist doch -- nun, wenn -nicht das Ziel selber, doch der Leib, in dem es sich irdisch darstellen -muß, um möglich zu werden. Nein, nun ertrage ich es nicht mehr. Dies ist -ja eine dergestalt menschliche Angelegenheit, daß tatsächlich nichts -weniger helfen kann als Fels und Meereswoge. Ich muß unter Menschen. Die -Maske muß probiert werden, das Herz angestoßen werden auf reinen oder -unreinen Klang. - -»Wie ist es, Benno,« sagte er, sich umwendend, »wenn wir morgen fahren, -kann ich noch eben rechtzeitig zur Einschreibung ins Semester kommen.« - -Benno sprang auf. - -»Ja,« sagte er, lang dastehend, aus tiefster Seele, »ja, reisen wir!« - -Neben Georg tretend, legte er einen Arm um seine Schulter. Lange standen -sie so, der Raum füllte sich mit dem Brausen der Tiefen, schläfriger -dachte Georg an Deutschland, an Altenrepen und verlangend und -hoffnungsvoll an einen Garten, Orgel und Liebe. - - - Magda - -Renate saß spät am Abend an ihrem Schreibtisch, in ihrem Gedächtnisbuch -blätternd, um eine Eintragung zu machen; sie schlug, unschlüssig, wie -beginnen, einige Seiten zurück und las das zuletzt Geschriebene. - - Helenenruh, am 20. April - -Im Grunde bin ich doch froh, daß ich hierhergekommen bin. Zwar kann ich -so gut wie nichts tun, aber sooft ich denke, ich sei überflüssig, so muß -ich nur Magda ansehn und denke gleich, es kommt einmal der Augenblick, -wo sie zusammenbricht, und es ist niemand da, der sie bettet. Und nun, -wo auch Jason al Manach, der die ersten Tage nach meiner Ankunft nur -heiß und stumpf umhersaß, sich mit einer schweren Gehirnentzündung -hingelegt hat, so verbrennt sie ja in Mitleiden und Dienstbarkeit. -Seitdem herrscht tiefe Stille in Helenenruh, nur das Motorrad des -Doktors unterbricht das dumpfe Krankenzimmerschweigen, in dem wir -Frauen, die Domina und die Pflegerinnen, umhergleiten, und während -draußen der April grüne Seiden ausbreitet und die schönen Farben -hineinstickt, lagert im Hause die beständige Dämmerung verschlossener -Vorhänge oder des Nachtlichts und die schwere, dumpfe Luft. - -Was war das doch für ein anderes Helenenruh in Magdas Briefen! Soviel -Trauriges darin war, es war doch das Bogners und der kindlichen Magda, -die ich damals noch vor Augen hatte und nicht auslöschen konnte trotz -dieser fremden Briefe. Dies aber, das ich hier gefunden habe, das weiß -von alledem nichts; es sind nur Wege und Bäume, ein Teich, die Wiesen -und die See, ein schönes Haus mit Sälen und vielen Fenstern, und wenn -ich im Klaviersaal gespielt habe und am Fenster stehe und zum -Verwalterhause hinüberblicke, die Vorfrühlingswolken über dem Park sehe -und den Wind, der silbergraue Streifen über die frisch ergrünte -Wiesenfläche schleppt, so finde ich keine Spur von dem hier, was ich -hineingedacht habe, und ich sehe wohl ein, daß wir alles für uns allein -haben. Die Dinge bleiben sich gleich und lassen uns an sich vorüber. - - am 1. Mai - -Chalybäus hat sich langsam erholt und vor ein paar Tagen sein -Bett verlassen in Gestalt einer schiefen, vertrockneten und -zusammengekrümmten Steinzeitmumie. Gleich verlangte er Wein, und als der -ihm verweigert wurde, bekam er einen Tobsuchtsanfall. Es scheint nichts -anderes übrig zu bleiben, als ihm zu willfahren; der Arzt wenigstens -erklärt, es sei vorläufig nichts zu machen. Nun ist er bei einer -alltäglichen Menge von drei bis fünf Flaschen Rotwein und verhält sich -einigermaßen still. -- Du arme Magda! - -Jetzt beginnt nun auch Jason al Manach, dies fremde Wesen, auf der Bank -neben der Haustür zu sitzen, einer kümmerlichen, weißen Kellerpflanze -ähnlich und zuerst klagend, das Licht stürze sich wie brennende -Vogelschwärme in seine Augen; aber das Brennen hörte auf, nicht nur -seine Augen, sondern auch Lungen und alle Adern sogen still, er genas. - -Viel habe er überstanden, sagte er heut abend zu mir und Magda. Sie -stand in der Haustür nahe bei unserer Bank, über den drei Stufen, ach, -so gebrechlich aussehend von der übermäßigen Anstrengung der Pflege, in -ihrem schlecht und lose sitzenden Hängekleid von Nessel, das Haar in -einem hellen Tuch, unter dem ihre Züge wie ausgewischt erschienen. -- -Man könnte auch sagen, fügte er hinzu, er habe sich selbst überstanden, -und dann sagte er wieder einmal wie in seinen Delirien, aber mit ganz -verständigem Ausdruck etwas sehr Sonderbares. Er habe ihn wohl gesehen, -den großen Grauen am Fußende seines Bettes; freundlich habe er ihn, den -kranken Jason, eingeladen, doch mit ihm zu gehn, aber er habe ihm ruhig -geantwortet, daß er doch selber einsehn müßte, es sei durchaus keine -Kunst, das Leben vermittels des Todes zu überwinden, allenfalls mit -Hülfe des Sterbens, womit er sich ja auch eingehend beschäftige, aber -solange es nach ihm gehe, wolle er nicht völlig sterben, sondern -vielmehr so gesund wie möglich werden, und übrigens glaube er schon -längst nicht mehr überzeugt an die Existenz des vor ihm Stehenden, der -sich denn daraufhin auch achselzuckend entfernt habe. So gesund wie -möglich, wiederholte er bekräftigend -- er glaube, es würde ihm noch -gelingen. -- Magda, schwach und todmüde, begann leise zu weinen, es -dämmerte zwischen den Bäumen, aus dem Heckengang quoll die Nacht, Jason -blickte gegen den hellen, herniederleuchtenden Himmel oben, wir hörten -hinter uns das kleine Weinen rinnen und gedachten des ewigen Lebens. - - am 2. Mai - -O, das sind garstige Dinge, die sich da zugetragen haben! - -Schon längst schien mirs eine fixe Idee von Ch. zu sein, daß der Herzog -ihn tödlich beleidigt habe, daß es ein Verbrechen von ihm, dem Ch., -wäre, nur einen Pfennig vom Herzog anzunehmen -- eine eigentümliche -Veränderung der Sachlage --, und daß daher ihm und seiner Tochter nichts -anderes übrig bleibe, als mit einer Drehorgel auf den Märkten -umherzuziehn. -- Nun war er doch entlassen. Magda zeigte mir einen Brief -vom Herzog an Ch. vor einigen Tagen; darin änderte er einen ersten -Vorschlag an Ch., die Heilanstalt Frankenhöhe aufzusuchen -- da er -mittlerweile vom Arzt erfahren hatte, daß eine Kur vorderhand unmöglich -sei --, in eine Rente nebst freiem Aufenthalt in Helenenruh, Magda -zuliebe, die ja so an H. hängt. Der Brief hatte einen fürchterlichen -Wutausbruch ihres Vaters zur Folge, hinterdrein ein Schreiben an den -Herzog, das er insgeheim Jason diktierte, für den er noch immer eine -schöne Sympathie bewahrt. Darin standen Dinge, von deren Unwahrheit -Jason wohl überzeugt war, vielleicht auch ist sein Denkvermögen noch -immer etwas imaginär, jedenfalls gab er den Brief M., in meiner -Gegenwart. Magda las lange an dem Brief, schob ihn dann zu mir herüber, -ohne das Gesicht zu verziehen, und sah auf den Tisch vor sich. So las -ich denn, daß ihr Vater -- auf welche Weise war nicht zu erkennen -- -Kenntnis erlangt hatte von einem nächtlichen Besuch des Prinzen in -Magdas Zimmer (im vergangenen Juli). Ob ihr Vater nun mehr dazu neigte, -die Ehe zu verlangen, oder ob er nur einen Erpressungsversuch machen -wollte, das war infolge des Jammergeredes, in das er alles wickelte, -nicht deutlich zu erkennen. -- Als ich endlich aufsehn mußte vom Lesen, -fand ich Magdas Augen auf mich gerichtet, so erloschen und hart, daß ich -mehr darin lesen mußte als Abscheu vor ihrem Vater. - -Im ersten Augenblick war ich so erschrocken -- -- Ich sah sie aufstehn -und das Zimmer verlassen, endlich brachte ichs fertig, ihr nachzugehn, -und im Park fand ich sie denn, wie sie wie eine Verlorene schwankend an -den Fliederbüschen hinstreifte, und führte sie sanft ins Haus. Sie blieb -aber stumm -- und was ist auch zu sagen? - -Es ist, als sollt es kein Ende nehmen mit den Lasten, die ihr -aufgebürdet werden. Sogar bereits Überstandenes kommt nun wieder und -trifft sie von neuem und von einer anderen Seite. Gott mag wissen, was -er damit will. - - 6. Mai - -Nun, dies wenigstens hat ein Ende, so ekelhaft es bis zur Neige war. Ich -will auch dies aufschreiben, um mich später zu erinnern. - -Jason schickte Ch.s Diktat an den Herzog mit ein paar Zeilen von ihm -selber, in denen er ihm kühl vorlog, daß Ch.s Verdächtigung -selbstverständlich aus der Luft gegriffen sei. - -Diesen Brief hat der Herzog mit dem von Ch. an seinen Sohn geschickt und -ist nach empfangener Antwort gestern hier eingetroffen. Ich sprach eine -halbe Stunde mit ihm und hätt es gern länger getan. Ich hielt ihn für -einen ergrauten Mann in den Fünfzigern, aber nun ist er kaum -fünfundvierzig und sieht aus wie Ende Dreißig, ein wenig zu bärtig, aber -kühn, und ein Riese, wenn er sitzt. Ihn gehen zu sehn, ist freilich ein -Jammer. Georg also hat gelogen wie Jason, und somit hat der Herzog dem -Ch. einfach eine donnernde, ungeheure Standrede gehalten -- wir konnten -sie in allen Zimmern und bis in den Obstgarten hören -- und ihn -wahrhaftig damit niedergeschmettert. Das alte Vasallenempfinden hat -vielleicht auch mit geholfen, jedenfalls hat er sich geduckt und in -alles gewilligt. Der Herzog hat Magda sehr gestreichelt und gutherzig -bedauert, daß zwischen ihr und seinem Sohne alles aus sei, denn er hätte -sich gefreut und so weiter, und sie solle Helenenruh nur jetzt schon als -ihr Eigentum betrachten, erben würde sie es sicher einmal, und der neue -Verwalter sei unverheiratet und könne vorderhand im Gestüt wohnen. - -Übrigens ist der Herzog ein Filou, denn als der Sandschneider, den er -selber kutschierte, den Heckengang hinunterrollte, stand ich gerade am -Goldregen und schnitt Dolden herunter, und er rief: Danae! daß es -schallte, nickte, freute sich, hieb auf den Schimmel ein und jagte ums -Haus, daß die Funken stoben. - - 12. Mai. (Altenrepen) - -Nun hab ich mein Mädchen hier, zwar auch den Vater in Kauf nehmen -müssen, aber es ist gut so, und mich wird er nicht stören. Er hat nicht -in Helenenruh bleiben wollen, nun wohnen sie ganz in meiner Nähe. Leider -ist Jason al Manach auf der Reise hierher ihnen abhandengekommen. - - * * * * * - -Renate ergriff die Feder und schrieb: - - 18. Mai - -Wieder acht Tage nicht zum Schreiben gekommen. Am Tage nach ihrer -Ankunft legte Magda sich mit Lungenentzündung; von der Pflege der -Andern, von aller eigenen Pein entkräftet, lag sie auf das schwerste -danieder, dies arme Herz weigerte sich, weiterzugehn, und sie begehrte -innig, zu sterben. Diese Gefahr ist nun vorüber, gebe nur Gott, daß es -endlich die letzte war! - -So darf ich denn wieder anfangen, an mich selbst zu denken, denn der -gute Saint-Georges wartet schon lange ungeduldig mit seiner Geschichte -der Vereinigten Staaten, damit ich ihm die in englischer Sprache -geschriebenen Bücher deutsch vorlese; das wird eine schöne und keine -leichte Arbeit werden. - -Und Ulrika und Irene warten auf Musik. Josef, ob du merkst, daß du -vermißt wirst? Freilich mehr dein Cello als du, und dies ist leider -nicht unersetzlich wie du. Saint-Georges hat mir einen Cellisten -versprochen; er trägt den etwas verqueren Namen Sigurd Birnbaum und -studiert Medizin. - -Wohlan, der Tag scheint gefüllt! - - - Bei Saint-Georges - -Renate, zur ersten Arbeitsstunde mit Saint-Georges fahrend, wurde -einigermaßen verwirrt vom haushohen Anblick der roten Gefängnismauer an -der linken Seite der Freiherr-von-Stein-Straße, die sie sich freilich -anders vorgestellt hatte, als Georges ihr den Namen nannte, -- und -gleich darauf hielt der Wagen vor einem ihrer häßlichen Häuser aus rotem -oder gelbem Backstein -- trübe und schmutzig vom Ruß der Fabriken --, -und dieses war gelb obendrein. -- Welch ein Gedanke, dachte sie, -gegenüber vom Gefängnis zu wohnen! Aber paßt er nicht irgendwie zu -meinem stillen Georges? -- Noch fiel ihr sein gelähmter Bruder ein, als -sie den schmalen Hausflur betrat, gleich umhüllt von einem Schwaden von -Gerüchen -- Kartoffeln, Kaffee, Kinder, alte Kleider. Dafür waren die -Wände mit um so köstlicheren, freilich bereits abgeschabten und -zerbröckelten Malereien bedeckt -- eine Schneelandschaft mit Rehen sah -sie im Hindurchgehn. Die ausgetretene Treppe hinansteigend, fing ihr -denn doch einigermaßen zu bangen an vor der möglichen Ärmlichkeit seines -Zimmers, und indem las sie auf der rechten von zwei gelbbraunen, im -Winkel zusammenstoßenden Türen seinen Namen auf einer Besuchskarte, die -an einem Reißnagel hing -- auch das wenig versprechend --, und darunter -war eine Porzellanklingel mit gräßlich hart aussehendem schwarzen Knopf. -Das war er auch, als sie darauf drückte, wobei er mit zähem Widerstreben -einen Ton aufspringen ließ, klanglos wie eine Greisenstimme, dann aber, -beim Loslassen ihres Fingers, noch einen, als sagte er: Da! Bist du nun -zufrieden? -- Renate hatte während des Wartens das peinliche Gefühl, -einen leibhaftigen Adamsapfel mit dem Daumen eingedrückt zu haben, was -sie ein wenig wieder erheiterte. - -Nun kamen eilige Schritte auf weichen Socken oder Filzschuhen, und in -der Tür wurde -- zu ihrer neuen, aber ganz angenehmen Überraschung -- -statt des erwarteten Dienstmädchens der graue Kopf eines freundlichen -und listigen alten Mannes sichtbar, der auf ihr »Herr Saint-Georges -erwartet mich!« in den engen und dunklen Gang deutend, sagte: »Bitt -schön, die Glastür zum Herrn Doktor!« und lächelnd zur Seite trat. Sie -ging auf den Schimmer in der linken Wand zu, an einem Gaszähler, einem -Kleiderschrank und einer Kommode mit zwei Petroleumlampen vorüber und -zauderte vor dem Arabeskenwerk von Milchglas, das die Scheiben bedeckte, -weiter oben in klares verlaufend. Dann, mit Entschluß, hob sie sich ein -wenig auf den Zehen und spähte hindurch. - -Es war -- erfreulich zu bemerken -- ein sehr großer Raum, der sich -langhin quer vor ihr erstreckte; sie selber stand in der Mitte der -langen Wand, den vier Fenstern gegenüber, durch deren Gardinen sie noch -eben die Bekrönung der roten Mauer und weiter zurück die vergitterten -Quadrate einiger Gebäude mit flachen, grasbewachsenen Dächern gewahren -konnte. -- Kaum, dachte Renate, bin ich beim Gefängnis, benehme ich mich -wie ein Spitzbube, -- und brachte die Augen getrost näher ans Glas, sich -tröstend, das Zimmer sei leer. -- Im Gegenteil aber saß am Fenster ganz -links ein junger, blonder Mensch mit sehr zartem, rosigem Gesicht, ein -wenig spitzem Kinn und flachen, hellen Augen, die hinausblickten, in -einem Lehnstuhl, die Beine unter einer Decke. -- Das war sein Bruder; am -Gesicht wäre die Gelähmtheit zu sehen gewesen, wenn Stuhl und Decke -nicht von ihr gesprochen hätten. -- Da sah sie ziemlich in der Mitte des -Zimmers rechts, ihr den Rücken zuwendend, eine junge Dame sitzen, so -hübsch angezogen, daß sie näher zusah. Ei das war reizend: ein kleiner -grüner Strohhut mit langen dunkelgrünen Seidenbändern, die im Bogen tief -herunterhingen; der Kleidrock wie die halblangen, spitzdütig -auslaufenden Ärmel war weiß -- Piqueeleinen augenscheinlich --, die -Taille aber, die Brust, Rücken und noch die Hüften fest und schlicht -anliegend umschloß -- war aus einem buntgeblümten Stoff -- Rot, Gelb und -ein wenig Grün auf mattblauem Grunde. Sie hatte ein Bein über das andere -gelegt, die Hände im Schoß, weiße Schuhe und Strümpfe, -- und nun wandte -sie auch das Gesicht nach links hinüber, so daß ihr Profil, zart mit -vorgewölbter Oberlippe und dunklen Augen sichtbar wurde. Die Lippe -bewegte sich, sie sprach. Aber dorthin, wohin sie zu sprechen schien, -war für Renate nichts zu sehn, sondern nur noch eine braune Tür mit -Giebel an der linken Querwand. -- Wieder rechts hinüber schweifend, -schon die Hand auf der Klinke, sah Renate noch einen großen, -dunkelhaarigen Menschen, der sich quer über einen langen, -schreibtischartigen Tisch vor der rechten Wand beugte, um aus einer -Reihe von dastehenden Büchern eines herauszulösen. - -Renate wunderte sich, wer alles da zusammen war, und trat ein. - -Gleich sah sie in der Buchtung eines alten, braunen Flügels zur Linken -Saint-Georges selber stehen, der nun auf sie zukam. Die junge Dame stand -auf und hatte ganz runde braune Augen. Der Mensch am Schreibtisch drehte -sich um und zeigte ihr ein langes, schönes Gesicht mit dunklen, ein -wenig schwermütigen Augen. Alle Wände waren bis zur Decke, auch die -Zwischenräume der Fenster mit Bücherreihen bedeckt. - -»Guten Tag, Georges«, sagte sie. - -Er stellte ohne weitere Verlegenheit seine Gäste vor: »Fräulein Cornelia -Ring und der Student Sigurd --« - -Renate hörte vor Überraschung beim Namen der Cornelia den zweiten Namen -nicht mehr. Eilfertig im Unterbewußtsein suchend -- denn bewußt hatte -sie sich bestimmt keine Vorstellung von ihr gemacht -- fand sie irgend -etwas Bleiches, Stolzes, Einsames, -- nun diese muntere Bereitwilligkeit -der rundesten Augen von der Welt ...? - -»Aber wie mich das freut!« sagte sie, ihre Hand ergreifend. »Josefs -Freundin, nicht wahr?« - -Die errötete lächelnd und sagte nichts. Indessen war Renate inne -geworden, daß der schöne jüdische Mensch Saint-Georges' neuer -Cellospieler sein mußte, und reichte auch ihm die Hand, die er mit -linkischer Verbeugung ergriff. Mund und Kinn waren voll und weich, die -Stirn hoch und rein unter buschigem, schwarzem Haar, die Nase ein -langer, im oberen Stück heruntergebogener Haken, die geröteten -Backenknochen standen ein wenig vor. -- O, der gefiel ihr! Und wie fest -und warm seine Hand war! - -»Und hier ist mein kleiner Bruder«, sagte Saint-Georges. - -Rasch hinübergehend, beugte sie sich zu ihm und fand ihn so rührend in -seinem flammenden Rotwerden -- das, da er keine Hand bewegen konnte, -alles sagen und geben mußte --, daß sie ihn auf die Stirn küßte, worauf -er ganz erschreckt »O danke!« sagte. - -Der Schreibtisch war nichts als eine lange fichtene Platte auf Böcken -voller Papiere und Bücher. Daneben war noch eine braune Tür, und in der -Ecke dahinter stand ein altes, rotes Plüschsofa vor einem ovalen Tisch -und ähnlichen Sesseln; aber ein sehr schöner türkischer Schal, ein -Longschal mit schwarzer Mitte, ein Erbstück, hing über dem Tisch. - -Sie sei eben recht gekommen, um zu helfen, sagte Saint-Georges zu -Renate, nachdem sie abgelegt hatte und im Sofa saß, die Cornelia im -Stuhl neben sich, während Sigurd Birnbaum sich an dem Bücherstreifen -neben dem Schreibtisch zu schaffen machte. -- Ja, Fräulein Ring suche -eine Anstellung, erklärte Saint-Georges, vor den Beiden stehend, weiter, -aber bisher habe selbst Sigurd nichts gefunden. Sigurd nämlich wisse Rat -für alles. -- Sigurd hingegen verfinsterte sich und murmelte wegwerfend -nach den Fenstern zu, er wisse gar nichts. Gar nichts! - -»Sie tun immer so,« grollte er, »als ob Gottweißwas an mir wäre, und -dabei bin ich -- bin ich --« Er schloß, augenscheinlich keinen Grad der -Niedrigkeit findend, mit einer verächtlichen Handbewegung und stellte -sich an die Bücherwand, trotzig. - -»Wie man alten Schweinslederbänden neuen Glanz verleiht,« sagte -Saint-Georges lächelnd, »wie und wo man einen vor fünf Jahren in einer -völlig vergessenen Zeitschrift gelesenen Aufsatz über den Anteil des -rumänischen Bauern an der Weltwirtschaft wiederfindet, -- wie man für -einen aus Sibirien entsprungenen politischen Verbrecher Geld, Pässe und -Gönner in Amerika findet -- -- und so weiter, nicht wahr, Sigurd?« - -Der mußte wider Willen lachen, gebärdete sich aber ergrimmt. - -»Und Sie suchen eine Anstellung?« fragte Renate Cornelia. »Ja, was -können Sie denn Gutes?« - -»Gar nichts!« lachte sie munter, »das ists ja eben. Alles, was ich -gelernt habe, war Singen -- bis mein letzter Lehrer mir die Stimme -verdarb. Und da --« sie verstummte. - --- kam Josef, ergänzte Renate im stillen, indem sie »Wie traurig!« -sagte. Wie gut, dachte sie, könnte sie zu uns ins Haus kommen und mir -helfen, allein -- das würde sie selber nicht wollen, das selbe Haus in -Josefs Abwesenheit betreten, das ihr, als er da war, nicht offen stand. -Aber, als habe etwas aus diesen Gedanken den Weg zu Cornelia gefunden, -sagte sie jetzt mit scherzender Betrübtheit: dann könnte sie ja Köchin -werden ... - -»Die Kochkunst«, sagte Saint-Georges, »darf niemand verachten. Wo haben -Sie gelernt?« - -»In Budapest.« - -»Glänzend! Die besten Mehlspeisen in Böhmen, die besten Fleischgerichte -in Ungarn. Wer mit Liebe und Ehrfurcht kocht, erhebt diese Verrichtung -zu einer wahren Kunst, wie auch alle anderen nur dadurch zu einer -werden.« - -»Aber für wen kocht man mit Liebe?« meinte sie kläglich. - -Sigurd bemerkte schlechtweg: - -»Für Bogner, nicht wahr? Der sucht doch eine Haushälterin.« - -Saint-Georges staunte. - -»Ich habe doch gesagt, Sigurd, du würdest es wissen. Bogner --« wandte -er sich an Renate, die eben dabei war, sich hastig den Kopf zu -zerbrechen mit der Frage, ob sie wohl auch mit Andacht und Liebe für ihn -kochen könnte, -- »Bogner hat ein einsames Haus an einem unbekannten -Waldrand gemietet und sucht eine Vertrauensperson, die ihn pflegt, denn -die es zuletzt tat, ist vor kurzem selig geworden. Abgemacht, -Verehrteste, Sie gehen zu Bogner. Sie wissen doch, wer das ist?« - -»O -- ob ich will?« sagte sie aufstehend heiß und wie es schien -ergriffen. »Ja -- o ich kenne ihn! Aber -- glauben Sie denn, daß er -will?« - -»Welche Frage! Wenn ich Sie bringe. Er hat mich doch beauftragt.« - -»Dann ists gut«, sagte sie fromm und bereit, nahm ein Paar langer -Schwedenhandschuhe von der Tischdecke und streckte Renate die Hand hin, -sich entschuldigend, daß sie gestört habe. Renate, innerlich schwach, -äußerlich mit Nachdruck »Auf Wiedersehn!« wünschend, bedauerte sehr, daß -sie ging. Wie leicht ihr Gang war! -- - -Saint-Georges, der sie hinausgeleitete, blieb eine Weile aus; so -benutzte sie die Gelegenheit, gleich auf ihren Quartettenplan zu stoßen -und Sigurd zu fragen, ob er in ihr Haus zum Spielen kommen wollte. -Allein Sigurd lehnte völlig ab. Das sei ganz ausgeschlossen, denn er -könne nicht das geringste. Er sei ein Stümper, behauptete er, den Kopf -gesenkt, mit den Füßen bemüht, den umgeschlagenen Rand eines grauen -Läufers mit roter Kante zu glätten, der seiner Länge nach am Boden durch -das Zimmer gespannt war. - -Ablenkend fragte Renate zu dem Gelähmten hinüber, sein Bruder laufe beim -Arbeiten wohl fleißig auf und ab, daß er diesen Läufer hergelegt habe? --- Der Gelähmte lachte nur heiser zur Antwort, Sigurd aber bemerkte -lächelnd, der Läufer sei doch seine Erfindung! Der Fußboden wäre ganz -weiß abgelaufen darunter. - -»Sie studieren Medizin?« - -»Ja -- leider«, erwiderte er mit tiefem Ernst. - -»Warum sagen Sie leider?« - -Ganz düster versetzte er: »Weil mir als Juden doch die besten Wege -verlegt sind. Ich meine natürlich nicht,« fuhr er hochmütig fort, »daß -ich nicht ordentlicher Professor werden kann, sondern daß mir die -technischen Hülfsmittel verschlossen bleiben, die mit solchen Stellen -verbunden sind. Und ich bin solch ein kraftloser Mensch ...« - -Renate, ganz unwirsch von soviel Erniedrigung, war froh, Saint-Georges -wieder im Zimmer zu sehen, der lächelnd dastand, gegen Sigurd blickend, -die Finger in den Westentaschen. Ernst werdend, sagte er dann zu Renate: - -»Wir kamen früher schon überein, Sigurd und ich, daß alle Juden sollten -umgebracht werden.« Und schon rief Sigurd erzürnt: - -»Sogar die Russen sind vornehmer, tun wenigstens wie Herren, behandeln -den Juden als Sklaven und schlagen ihn tot zum Zeitvertreib. Dies aber, -dies ist das Verruchte, dies Geltenlassen und Verachten, daß wir -herumgehen wie in einem Labyrinth schmaler Mauergänge, abgeschlossen, -aber nicht ausgeschlossen, beklebt von oben bis unten mit Erlaubnissen -und Verboten, und die Türen stehen uns alle offen, aber kein einziges -Herz.« - -Renate hatte sich auf das Sofa gesetzt, aber er vermied ihren Blick. - -»Ja, Saint-Georges, was ist da zu sagen?« fragte sie. - -»Ich,« brach Sigurd los, nicht ohne Pathos: »ich will nichts sagen, ich -will was leisten, mich einsetzen, dazu ist mein Volk das nächste; ich -will kämpfen und mich ereifern, solange ich jung bin. Ich kann nicht die -Achseln zucken und mein Schicksal anerkennen, kann auch nicht jüdische -Witze reißen in christlicher Gesellschaft. Sie, gnädiges Fräulein, -kommen doch aus einem Pfarrhaus, und da können Sie mir vielleicht sagen, -ob Ihr Christus, den ich gewiß so gut zu lieben verstehe wie Sie, ob er -die Silbe anti gekannt hat? Und wenn er sie gekannt hat, ob nicht etwa -sein ganzes Leben und Sterben darin bestanden hat, sie auszurotten? Sie -haben doch recht behalten, die unten standen und schrien: Dein Blut -komme über uns!« - -»Sein Blut doch nicht«, sagte Renate begütigend und mit innerem Lächeln, -denn von seiner grad eben betonten Kraftlosigkeit schien in diesem -Augenblicke keine Spur vorhanden. - -Verächtlich erwiderte er: »Freilich, er hat ja vergeben -- was das schon -hilft!« und setzte sich auf den Stuhl, der hinter ihm stand. - -Jetzt sah Renate, da er den linken Arm auf die Tischplatte legte, diese -große, prachtvolle Hand, die wie ein sicherer Bergsteiger vom Halse des -Cellos zur Brust nieder und wieder aufwärts klettern mußte, und sie -winkte Saint-Georges mit den Augen zu ihr hin. Der sah sie an und sagte -langsam: - -»Ja, das ist Gideons Hand, die Hand der Makkabäer, Salomos Hand war -nicht anders, sie weiß noch von davidischen Harfengriffen, und es ist -eines Fischers Haus, und Saulus erhob sie bei Damaskus. Es ist eine gute -Hand, und warum sollte Christus eine andere gehabt haben?« - -Sigurd errötete und schnob grimmig, die wären Alle hin, und Christus am -längsten tot. Taten müßten geschehen, hätte er in einem neuen Buche -gelesen, und er zog ein Zeitungsblatt aus seinen mit Broschüren -vollgepfropften Taschen, warf es auf den Tisch und sagte: - -»Da hat wieder einer eine Umfrage losgelassen, woher es denn nun -eigentlich käme, daß kein Mensch uns leiden könnte, und er faßt alles -über uns gut und glatt und schonungslos zusammen, ich könnts nicht -besser, und meint ihr, wir wüßten selber nicht, wo's uns fehlt? Und das -natürlich steht auch drin, daß, wo ein Arier gemein handelt, er, wo ein -Jude gemein handelt, die ganze Rasse verdorben und schuld dran ist. Gott -im Himmel, was haben wir denn gegen euch, warum streuen wir denn Gift -aus, wie kommen wir denn dazu, will denn nicht jeder am liebsten in -Frieden leben, wenn man ihn nur läßt? Wir sind doch nur da und wollen -leben, nur die schmählichste Achtung haben, warum muß denn immer auf uns -herumgetreten werden, seid ihr denn besser? Freilich, ohne Sklaven gings -nirgends, der Amerikaner hat noch immer seinen Neger, und ihr habt euren -Juden.« - -Er sprang auf und stellte sich an seinen Bücherstreif, um daran zu -zerren. Das Buch, das er in die Hand bekam, schlug er auf, blätterte, -schlugs wieder zu und bohrte es vorsichtig, die unteren Ecken voran, -hinein. Überdem klopfte es. - -Renate hatte bereits vor Sekunden die Flurglocke gehört und wunderte -sich, wer nun erscheinen würde. Was hereinkam, war eine liebliche kleine -Chinesin -- Renate hätte es auf den ersten Blick geschworen -- in einem -schwarzweiß gestreiften Kleide von leichter Halbseide, einen großen, -flachen, schwarzen Strohhut in der Hand. Ja -- ganz eiförmig war das -kleine, dunkelhäutige Gesicht; die nach hinten gekämmten, -glattschwarzen, glänzenden Haare waren zu einem kunstvollen, -chinesischen Bau getürmt, in dem etwas Silbernes steckte; ganz klein und -lackrot war der Mund; die Augen, geschlitzt, funkelten schwarzbraun im -Lächeln, wie sie knickste und vorwärts getrippelt kam und, wieder -lächelnd, stehen blieb. Und doch lag wieder ein deutlicher Hauch von -Europa über dem Ganzen, der das Befremdliche lieblich vertuschte und -versüßte. -- Richtig: das waren die Brauen; sie schienen, so dünn und -fein sie gezogen waren, doch nicht chinesisch geführt. - -»Sieh da, Esther!« sagte Saint-Georges und zu Renate: »Das ist Sigurds -kleine Schwester.« - -Esther sah ein wenig schüchtern aus glitzernden Augen zu Renates Größe -auf, während sie ihr die Hand gab. - -»Ach, entschuldigen Sie nur,« sagte sie ganz deutsch, »ich wollte nur -- -ich dachte, du kämest mit spazieren. Bitte, entschuldigen Sie vielmals.« - -Sigurd, noch mit dem Hineinstecken seines Buches beschäftigt, nickte und -murmelte, er komme. - -»Du wirst doch noch mal Bibliothekar, Sigurd!« sagte sie träumerisch und -lachte. -- Saint-Georges, während Renate lächelnd bekräftigte, das wäre -ja ein Ausweg, meinte auch: gewiß, in eine Bibliothek vergraben brauchte -er sich um nichts zu bekümmern. - -»Und nun macht, daß ihr fortkommt! Jetzt müssen wir arbeiten!« rief er. - -Esther knickste gleich und ging zur Tür. Renate konnte es nicht lassen, -zu Sigurd, als er ihr die Hand gab, bittend zu sagen, er werde doch -einmal kommen, versuchsweise, -- und nun versicherte er errötend und -bereitwillig, ja, sehr gern, außerordentlich gern. Dann waren sie Beide -draußen. - -»Nein, woher kommt dieser Tapfere?« fragte Renate gleich. »Und diese -Chinesin? Ach, die ist ja zu reizend! Georges, die müssen Sie mir -bringen.« - -»Zuerst«, sagte Saint-Georges, »muß ich um Entschuldigung bitten wegen -der Besucher. Allerdings kam nur Cornelia unerwartet; Sigurd ließ ich -selber holen, einesteils damit er helfe, andernteils weil er Ihnen auf -diese Weise am einfachsten gegenübergestellt wurde, denn in Ihr Haus -hätte ich ihn schwerlich bekommen. Wie gefällt er Ihnen?« - -»Sehr gut, Georges! Aber wie ist er sonderbar! Und von Ihrem Läufer -sagte er, er hätte ihn hingelegt. Und warum holt er immer Bücher heraus -und --« - -»Das ist wieder ganz Sigurd«, lachte er. »Unseren alten Läufer, Jürgen,« -rief er zu seinem Bruder hinüber, »den schon mein Vater abzulaufen -angefangen hat, den hat er hingelegt!« - -»Ja, lügt er denn?« - -»O niemals, Renate! Er ist nur immer gleich so bei jeder Sache, daß es -ihm scheint, sie stamme von ihm her. Er ist ganz wundervoll. Wenn man -ein Mensch ist, der Pläne hat, Aussichten in die Zukunft, kann man keine -bessere Stütze finden als ihn. Was man ihm sagt -- Dinge, die einem -selber vielleicht noch unklar sind --, davon läßt er sich mit seinem -guten Herzen und hellem Geist augenblicks dergestalt durchflammen, als -wär es sein Eigentum, als habe er nichts getan, als eben diese Sache von -Grund aus zu treiben, und kommt man drei Tage später und sagt: Sigurd, -das war alles Unsinn, was ich neulich geredet habe, die Sache sieht -vielmehr so aus, dann ist er wieder völlig derselben Meinung, gänzlich -als habe er das erstemal keine andere als die zweite Meinung verfochten. -Ja, schlüpfrig ist er schon, fassen läßt er sich nirgend, aber welches -Juwel! Sein ganzes Dasein scheint nur darauf gestellt, Andern zu helfen. --- Ja, was ist denn?« brach er ab, trat ans Fenster und öffnete, indem -er sagte: »Es hat gepfiffen.« - -Sich hinauslehnend, bemerkte er zurück: »Es ist Esther!« Renate hörte -ihn dann nach draußen sprechen und lachen, ohne die Worte zu verstehen. -Dann schloß er das Fenster wieder, lächelte hocherfreut und sagte: - -»Da haben wir ihn wieder. Esther sagt: vor ihrer Haustür -- sie wohnen -gleich hinter der Ecke -- habe Sigurd erklärt, er hätte noch eine -Postkarte zu schreiben. Sie habe dann gewartet, er aber kam nicht, und -wie sie endlich zu ihm ins Zimmer geht, sitzt er und liest, und dann -schmollt er und behauptet, wir hätten Alle gesagt, er wäre ein Trottel.« - -»Was?« - -»Nämlich, weil wir gesagt haben, er müßte Bibliothekar werden, denn alle -Bibliothekare wären Trottel und ergo -- -- ja, das ist Sigurd! Ein -eirundes Kind mit einem Goldfasan innen!« - -»Ich glaube, Georges, zum Arbeiten kommen wir heut doch nicht. Da -erzählen Sie lieber noch von ihm!« - -»Ja, beim erstenmal pflegt das so zu sein«, meinte Saint-Georges -gelassen und setzte sich vor den Schreibtisch, Renate zugewandt. - -»Er ist Balte,« begann er dann, »sein Vater ist tot, von seiner Mutter -läßt sich seit langen Jahren nur sagen, daß sie >noch lebt<. In ihrer -Jugend hat sie einen jungen Menschen geliebt, den sie wegen -beiderseitiger Armut nicht heiraten konnte. Dann besorgte sie ein paar -Jahre einem alten und sehr reichen, verwitweten Verwandten das Haus, bis -er starb, beerbte ihn und heiratete nun ihren Jugendgeliebten. Der Vater -war nach Sigurds Beschreibung der edelste, wahrhaftigste Mensch, aber er -verstand nichts vom Gelde, machte Konkurs und schoß sich leider tot. -Seitdem ist die Mutter so wunderlich. Aus der Masse kam dann doch noch -genug zum Vorschein, daß die Drei kümmerlich leben können, wenigstens -bis Sigurd selber verdient.« - -»Was mag aus ihm werden?« fragte Renate nachdenklich. - -»Ich hoffe, das, was er vor hat, ein Kinderarzt und ein guter. Er ist -ein Mensch mit natürlicher Anlage, sich aufzuopfern. Sie haben wohl auch -seine Sucht bemerkt, sich herabzusetzen.« - -»Freilich! und er sagte, alle Wege wären ihm verschlossen.« -Saint-Georges lachte herzlich. »Wegen seines Judentums, nicht wahr? -- -Aber das ist seine Jünglingsmelancholie, die sich bei Andern in -Weltschmerz oder in Weltwonne zu äußern pflegt, bei ihm in -Selbstverachtung. Seine Tüchtigkeit, sein praktischer Blick, seine -Arbeitskraft stehen außer Frage, und den Ausnahmen im Lande, wie er eine -ist, haben noch immer alle Wege offen gestanden, außer dem in den -Staatsdienst, den er sicher nicht gehen wird, -- um so besser. Sein Kopf -ist ebenso greisenalt wie sein Gemüt knabenjung. Da sieht er aus wie ein -verbannter Erzengel und kommt sich vermutlich so abstoßend vor wie -Beelzebub. Wer ihn drei Tage lang kennt, liebt ihn, er aber bejammert -seine Unbrauchbarkeit und Niedrigkeit. Eher erschrecken könnte man -schon, wenn er schwört -- in seinen trübsten Stunden tut ers --, er -würde irrsinnig, weil seine Mutter -- und so weiter. Nun, man muß ihn -reden lassen und warten, daß er älter wird. Gott erhalte ihm nur den -Knaben im Herzen. -- Heute ist der Zionismus seine Leidenschaft, weniger -aus Überzeugung, daß die Rückkehr nach Zion die einzige Rettung sei, als -um seiner selbst willen: um was tun zu können.« - -Renate schwieg in Gedanken, hörte ihn nach einer Weile fragen, ob es ihr -recht wäre, anzufangen, nickte und hatte gleich darauf ein englisches -Buch in der Hand, während sie Saint-Georges drüben am Schreibtisch sich -zurechtsetzen sah, um seine Notizen zu machen. - - - Balto-Borussia - -Georg, nicht unfroh unterm Absingen des schönen Liedes von der >_aura -academia_<, saß auf der Gartenterrasse des Baltenpreußenhauses bei -seinem Pflichtbesuch. - -Die vielen Verse des Liedes ließen ihm Muße, umher- und alles anzusehn. -Es dämmerte bereits; zum Erstaunen geschmackvolle, schön geformte und -zartfarbene Japanlampions schwebten in der dunklen Luft. Grüne Gärten in -allen Tiefen schauerten angenehm im Sommeratem, wenn es still war in den -Pausen des Gesangs; dahinter waren die roten, festungsartigen Mauern der -Papierfabrik dunkel zu gewahren. Georgs Blick kehrte zurück und -schweifte über die kleine Tafel mit ihren Gästen in kornblumenblauen -Alltagszerevisen von Mützenstoff und Pekeschen, deren Blau infolge der -Größe heller schien als das der Mützen, indem er bedachte: wie nett, daß -es so Wenige sind, und die Wenigen obendrein so nett, wie es scheint. -Besonders sein Gegenüber war ihm herzerfreuend, wie er dasaß, gut -mittelgroß, eingepreßt den rundlichen Leib in die zartgrüne -Einjährigenuniform der schweren Jäger mit hohem und engem, grünem -Kragen, voll- und rotbäckig, die linke Wange leider von Narben zerfetzt, -freundlich umherglänzenden Auges hinterm ungerandeten Kneifer, die Stirn -mächtig gewölbt und gebuckelt unterm geschorenen Schädel, -- im ganzen -nicht nur älter und gesetzter, sondern durchaus anders scheinend als die -Übrigen, fast fremdartig, aber nicht ohne Behagen in sich selbst -beschlossen und für sich allein bei aller Teilnahme. Beim Vorstellen -hatte er nur »Schwalbe« gesagt, doch gehörte er vermutlich zu den -kurländischen Freiherren, die mit den Keyserlings verwandt waren, von -denen wieder Georgs Fuchsmajor bei den Schwaben und -- vor allem -- der -Dichter abstammte; ein tröstlicher Gedanke. Der Präses neben Georg, -zufällig auch Korpssenior, Graf Ellerau, sah in seiner gewaltigen Größe -und Breite, dunkelhaarig und kleinäugig, gutmütig und ein wenig -schläfrig aus, dagegen unten am Fuchsmajorat der kleine, kaffeebraune -portugiesische Marquis, der aufs Haar einem seltenen Azteken glich, -mißfiel Georg. Beim Vorstellen hatte er bloß gegurgelt. Was kann er den -Füchsen beibringen, wenn er kein Deutsch redet? Ja, etwas schien er -ihnen beizubringen: er schenkte ihnen Allasch aus einer Kruke in jedes -Bierglas, -- was doch wohl nur dazu dienen konnte, daß sie sich übten, -bei früher Betrunkenheit sich lieblich aufzuführen, -- eine wahre -Hundsfötterei. -- Reizend, was so die Ausländer bei uns lernen! -- Georg -bedauerte die drei Füchse, besonders die übermäßig langen und dünnen -Zwillinge Rotenhahn -- seltsam vergoldet von literarischen Erinnerungen --- mit ununterscheidbaren, eben handgroßen, blassen Gesichtern, über -denen die kleinen, blauen Mützendeckel schwebten. Der dritte Fuchs war -belanglos, klein und schwärzlich. -- Unangenehm waren die Gläser, aus -denen ein scheußliches dünnes Biergemisch getrunken wurde, weil wenig -über faustgroß: Georg, an seinen Münchener Maßkrug gewöhnt, glaubte -mindestens schon zehn verschluckt zu haben in kaum mehr Minuten, allein, -wie er bemerkte, war es Sitte, überhaupt nur Ganze zu trinken ... - -Indem hob Georgs Nachbar zur Rechten, der Nordeck hieß und bei -erstaunlich langer Nase und blassen, ein wenig idiotenhaften Zügen, -blondes, zierlich gekräuseltes Haar trug, sein Glas und trank Georg zu, -der, mitkommend, das seine gegen jenen, merkwürdigerweise -pockennarbigen, finster und vereinsamt wie ein Anarchist aussehenden -Grafen Tastozzi schwang: »Übers Kreuz vor, Graf, mit Ihrer Erlaubnis!« -Der errötete heftig, ergriff tastend sein Glas und trank mit. -- Der -Diener kam, beide Hände voll gefüllter Gläser, und Georg bemerkte, daß -er jedem immer gleich mehrere hinsetzte, praktisch unleugbar -- für ihn, -weniger für das ohnehin schale Bier; jedoch gehörte vielleicht auch dies -zur Erziehung. - -Ja, wenn nicht das Trinken wäre, seufzte Georg, könnte es ja reizend -sein. Ich bin doch überrascht ... - -Der Präsidenspeer knallte auf der Tischplatte. »Schönes Lied ist aus, -ein Schmollis den Sängern! Prost Markwis!« rief der Senior stehend, -schüttete den Inhalt seines Glases hinunter und setzte sich. Georg -beugte sich zu dem Freiherrn gegenüber: ob er nicht Balte sei ... - -»Ich bin Balte«, wiederholte der, schnell und fest, bereitwillig sich -zusammenraffend und die Arme auf den Tisch legend. »Nein, danke,« wehrte -er Georgs Zigarettendose ab, »ich rauche nur, wenn ich mich langweile.« --- Recht behaglich klang sein nicht allzubreites Ostpreußisch mit leicht -zungengeschlagenem R-Laut. Er hatte die Gewohnheit, die Augen hinter dem -Kneifer niederzuschlagen, sobald er sprach. - -»Und sind mit den Keyserlings verwandt?« - -»Ich bin mit Keyserlings verwandt, allerdings, aber mit welchen meinen -Durchlaucht? Mit Ihrem Keyserling bin ich _nicht_ verwandt«, betonte er -lächelnd mit tippendem Zeigefinger. - -»Ich dachte an den Dichter.« - -»Mit dem Dichter bin ich verwandt, jawohl«, bekräftigte er, den Kopf -vorwärts drückend, während Graf Ellerau ihm die Hand auf die Schulter -legte und nicht unfreundlich sagte: - -»Unser Schwalbe ist selbst Dichter. Er macht schöne Verse. Ja, wir sind -solch ein Ästhetenklub. Die Zwillinge sollen auch dichten insgeheim; sie -schwärmen für alle schönen Künste, besonders Malerei, glaub ich. Wie -ists, Füchse, Erwin! Emil! Prost! Für welche Kunst schwärmt ihr grade?« - -Die verdonnerten Fuxen griffen nach ihren Gläsern und schwiegen. Georg -sagte, um die Aufmerksamkeit von ihnen abzulenken, in das Gelächter der -Andern: - -»Das ist ja aber erstaunlich! Sie machen Verse -- und Sie lesen sie -womöglich?« - -»Ab und zu«, gestand der Senior lächelnd ein. »Ein gutes Buch hin und -wieder ist man doch schon seiner Gesundheit schuldig.« Schwalbe ließ -seine Augen standhaft und freundlich in Georgs. »Es zuckt mir manchmal -geradezu in den Fingern nach Seitenblättern -- wie's einem im Herbst -drin zuckt, wenn die Krickente streicht, nach dem Abzug.« - -Der gekräuselte Nordeck, ein mächtiges, tiefes und hohles Gelächter -herausschüttend, sagte breit altenrepenisch: »Ja, man bodet ja auch alle -vierzehn Toge! Ihr Wohl, hohoho, Durchlaucht, ich gestatte mir.« - -Georg trank. »Unser Keyserling«, wandte er sich dann wieder zu Schwalbe -hinüber, »pflegte gern von zu Haus zu erzählen. Sagen Sie, ist das wahr: -er behauptete, er hätte, bevor er zu uns kam, nie einen Buchenwald -gesehen.« - -»Ja!« Schwalbe setzte sich wieder in Anteil und Bewegung, »das ist wahr. -Als ich selber zuerst einen Buchenwald sah, dachte ich, ich käme in -einen Palmenhain. Es jiebt ke--ine Buchen bäi uns.« - -»Was dann? Fichten? Nadelholz?« - -»Jawohl; Fichten. Vor allem aber -- Birken. Und die Birken wachsen nicht -wie hier, in Trupps und kaum mehr als armdick. Bei uns sind es janze -Wäldchen, aber die Stämme stehen janz ver--e--inzelt, doch wie die -E--ichen, und der Bo--den ist Wiese und daher janz mit Blumen bedäckt.« - -»Ah!« Georg sah lebhaft die einzelnen, weißen Säulenstämme mit grünem -Laubgeschleier vorm Himmelsblau und unterhalb einen Teppich buntfarbener -Anemonen. »Das muß ja beinah -- arkadisch aussehen.« - -»Stellen Sie sich Orkodien so vor, Durchlaucht?« schüttelte der blonde -Nordeck mit seinem unmäßigen Gelächter heraus. Der Tastozzi drüben -lächelte gezwungen mit; Georg entschloß sich, ihm »definitiv« zu kommen, -was ihn wieder sehr zu erschrecken schien, und Georg gewann ihn fast -gern dadurch. - -Ach, deine Sicherheit! durchzuckte es ihn beim Trinken jählings. Er -stellte mit innerlichem Achselzucken sein Glas hin. Ich bin, der ich je -war, stellte er fest und biß die Zähne zusammen. - -Da er nun den Präsiden mit dem Korpsdiener flüstern und die Worte -»telephoniert haben« sowie einige Namen, darunter Schley, zu verstehen -glaubte, wandte er sich an Ellerau mit der Frage, ob etwa seinetwegen -etwas vorgehe -- womöglich die Alten Herren behelligt würden --, und -Ellerau wehrte verlegen ab. In der Tat, die Nachricht von Georgs -Erscheinen sei erst so spät gekommen, -- da habe er sich bei dem ohnehin -geringen Bestand des Bundes erlaubt, einige alte Herren, die immer sonst -kämen, noch telephonisch herbeizurufen --, worauf er, abbiegend, die -Gelegenheit geschickt benutzte zu höflichem Keilen, indem er -Aufklärungen gab über die hiesigen Korpsverhältnisse, die durchweg -leider nur geringen Bestände an Aktiven, die Erwünschtheit des Zuwachses --- wo dann eine kleine Schmeichelei über die Beziehungen zu den -Münchener Schwaben seit altersher einlief --, ferner über die -verhältnismäßig freie Auffassung vom Korpsleben in der norddeutschen -Großstadt, wo der Student nicht, wie an den kleinen Hochschulen, alles -gelte und jedem bekannt sei, -- was alles Georg mit schweigsam nickender -und lächelnder Höflichkeit über sich ergehn ließ, am Ende einen -Augenblick still war und, dem Grafen zutrinkend, nach dem gehörten Namen -Schley fragte. Ob er mit der Motorenfabrik zusammengehöre. - -»Jawohl. Sein Vater ist der Besitzer. Der Adel -- Schley-Schleyenburg -- -ist ein bißchen sehr -- jung; zu jung für manchen unter uns ... ich weiß -nicht, wie Durchlaucht ...« - -Georg äußerte, ihm wärs egal, wenn -- - -»Wenns Herz nur schwarz ist, hohoho, nicht wahr, Durchlaucht?« lachte -Nordeck an seiner Seite, sich vornüber kippend, »Ihr Wohl, Durchlaucht, -ich gestatte mir!« -- Also auch der zitierte was, wenn auch eben nur -Rosegger, -- aber Georg setzte eben sein Glas an die Lippen, als die -gesamte Fuchskorona von den Stühlen schnellte und ihr Major beinahe -verständlich gurgelte, das Fuchsmajorat nehme sich Freiheit -- vier -Ganze! -- -- »O, der Teufel hole eure Freiheit«, murmelte Georg, -hinunterwinkend, sein Glas an den Lippen, und trank, dem Nordeck nach -und, was seit langem nötig geworden war, Schwalbe vorkommend. Alsdann -stand er auf, um hinauszugehn. - -Durch den halb erleuchteten Kneipsaal auf die Flügeltür zugehend, -gewahrte er draußen in der ovalen und rahmenlosen Spiegelscheibe an der -Wand des Vorraums ein neues Gesicht, in dessen rechtem Auge ein Monokel -steckte; im übrigen war es blaß, die lange Nase verlief oben in die -schräge zurückfallende Stirn, deren Linie wieder weiterhin in den -nackten Schädel verging unter das spärliche blonde Haar; auch hier war -ganz wenig Aztekenerinnerung und nordecksche Geistesleere. -- Jetzt -aber, der Türe näher kommend, sah Georg eine überlange Gestalt darin -erscheinen und erkannte, freudig überrascht, an ihrem oberen Ende das -schmale rechteckige und rötliche Gesicht, die etwas vorquellenden blauen -Augen und die breit auf den breiten, von dünnen blonden Bartzipfeln -chinesenhaft umrahmten Mund gedrückte Nase von >Novalis<, altem Herrn -seines Schülerlesevereins, -- und sein Kinn fiel genau wie damals -zurück. Georg streckte heiter die Hand aus: - -»Graf Hardenberg! Wie reizend, Sie hier zu sehn! Aber Sie sind doch -nicht Baltenpreuße? Nun, was machen Sie? Ich habe lange nichts von Ihnen -gelesen. Sie haben doch nicht aufgehört? Und was macht Ihr Pollux oder -Kastor, Ihr Freund -- wie hieß er doch noch? Nun, das müssen Sie mir -alles drinnen erzählen, ich bin eben auf dem Weg nach draußen, ja, -vielleicht zeigen Sie mirs gleich ...« - -Hardenberg, verlegen, rot werdend und einsilbig wie stets zu Anfang, -begnügte sich mit Verbeugungen und Händedruck. Da kam Georg, der weiter -wollte, das Gesicht aus dem Spiegel entgegen, jetzt über sehr breiten -Schultern und -- bei etwas schlenkrig stolperndem Gang der schmalen Füße -unten -- so geradeswegs und mit so leerem Ausdruck auf ihn zu, daß er -einen Augenblick glaubte, von dem Andern nicht gesehen und überrannt zu -werden. Doch fiel jetzt, einem großen Wassertropfen gleich, das Einglas -herunter, die Figur blieb stehen, verneigte sich und sagte breit: - -»Schley.« - -Georg schüttelte ihm die Hand und versicherte, entzückt zu sein. Der -Freiherr fing an, überaus langsam und mit näselnder, nein nöliger Stimme -zu sprechen: - -»Durchlaucht -- wollten wohl nach -- draußen. Ich erlaube mir -- -mitzukommen.« - -Also gingen sie zusammen. - -Dieser hier war erstaunlich, dachte Georg über seiner Verrichtung vor -der marmornen Nische, aber Hardenberg -- das war wirklich eine neue -Freude. Dies Haus steckte ja voll Überraschungen. O, Hardenberg schrieb -die entzückendsten Dialoge, fast ein Geplapper, das sich aber zu einer -fast furchtbaren Verve steigern konnte, und in dem er auf die -allergeistvollste Weise meist die Daseinsberechtigung der geistlosesten -Dinge verfocht. Ja -- zudem war er allerdings homosexuell, allein er -machte -- wie es in der Schülersprache hieß -- keinen Gebrauch davon, -und angesichts seiner stillen Würde und unwandelbaren Vornehmheit -hätte niemand es gewagt, in seinem, wie kein anderes inniges -Freundschaftsverhältnis zu -- -- Georg konnte nicht auf den Namen kommen --- etwas anderes als eben -- Freundschaft zu argwöhnen. Wie sich die -Kunde von seiner Anormalität verbreitet hatte, war unklar, doch die -Tatsache stand fest. - -Um etwas zu sagen, äußerte Georg beim gemeinsamen Händeabtrocknen zu -Schley, ob noch viele Balten das Korps aufsuchten, was der langsam -bejahte. - -»Mein Vater allerdings«, fuhr er in seiner Nöligkeit fort, »war -- -Kölner. Aber ich bin ei'nlich 'n halber Franzose. Ich seh bloß nich so --- aus.« Dabei kratzte er sich ratlos den Kopf und ließ -- plötzlich -- -das Glas aus dem aufgerissenen Auge tropfen. Als sie den Vorraum wieder -betraten, machte er sich erbötig, Georg das Haus zu zeigen, und so -wandelten sie denn ziemlich schweigsam von Zimmer zu Zimmers, Schley die -Namen sagend, die sich ohnehin von selbst verstanden nach der -Einrichtung, Georg einen Lobspruch fallen lassend. In der Bibliothek -aber fand Georg ein wohlbekanntes stark violettes Buch liegen und sagte: - -»Da liegt ja der >siebente Ring<. Wem mag der denn gehören?« - -Schley sah näher hin. »Das wird wohl meiner sein«, bemerkte er zögernd, -nahm ihn langsam auf, betrachtete ihn ebenso langsam von allen Seiten -und erklärte, ja, es wäre seiner. - -»Ich hab'n Schwalbe geliehen, der seinen glaub ich auf seinem Gut -vergessen hatte. Meine Frau -- ich bin drei Tage verheiratet -- hat 'n -mir grad erst geschenkt.« - -»Haben Sie denn schon drin gelesen?« fragte Georg neugierig. - -»O freilich! Ich kenne ihn lange! Er ist ja sehr -- schwierig, aber wenn -man sich 'n büschen Mühe giebt, dann -- geht es. -- George -- -- ja, das -ist so 'n -- großer Saturn möcht ich sagen ... So ein ganzer riesiger -Weltkörper in einem goldenen Ring von Gesetzen. Nee, wissen Sie,« fuhr -er auf einmal ganz lebhaft fort, das Monokel schnell wegtropfen lassend, -»wissen Sie, da is ein Gedicht in einem früheren Buch, das fängt an: ->Die Herden trabten aus den Winterlagern ...< Kennen Sie das? -- Ja, ich -muß doch sa--gen,« sprach er wieder langsamer, »wie ich das zuerst las --- da sind mir die Tränen in die Augen getreten.« - -Georg fühlte sich eigentümlich ergriffen, weil der Mensch so ernsthaft -und echt sprach. - -»Ja, nicht wahr,« erwiderte er eifrig dann, »so ists mir mit manchem -Gedicht ergangen, und --« - -»Und er hat so was Heiliges, muß ich sagen,« hörte er die gar nicht mehr -näselnde Stimme wieder, »so etwas Götternahes wie sonst nur Hölderlin. -Das ist alles wie so große eherne Platten ...« - -»Ja, eingegraben, nicht wahr? So unabänderlich und unerbittlich!« - -Georg ärgerte sich, daß ihm Worte und Geist versagten, wandte sich und -trat an das offene Fenster, das nicht eben hoch über der Straße lag. - -Plötzlich gab es einen Stillstand in Georg. - -Die Bogenlampe über dem Portal verbreitete ein stark flutendes rotes -Licht. Jenseits von dessen Grenze lagen die Anlagen im Dunkel, wo -wenige, grünlich weiße Laternen brannten. Eine Zeile von ihnen führte -unterhalb des hochübertürmten Schattenrisses der Universität vorüber; -eine andere zur Linken in die Ferne, unterm schwarzen Wall der -Alleebäume. Das Pflaster war schwarz, naß beregnet. In ein und dem -selben Augenblick spürte Georg einen sehnsuchterregenden Atemzug aus der -Mainacht und hörte er eine Stimme in seinem Innern sagen: - - >Im Spiel, im Fieber, im Gespräch mit Toren -- - In Liebesqual -- in leerem Zeitverprassen ...< - -O mein Himmel ja, >wer wüßte je das Leben ...? Wer hat die Hälfte nicht -davon verloren?< - -Schley hinter ihm im Zimmer sagte etwas; Georg konnte sich nicht -losmachen, blickend, ohne zu sehen, doch fing er willenlos an zu zählen, -als die Uhr im Turme der Universität schlug, und zählte zehn Schläge. -- -Im Spiel, im Fieber, im Gespräch mit Toren ... Nein, das ging ein wenig -zu weit ... Freilich, was kam auch heraus bei solchen Gesprächen? Nun, -wenns gut ging, eine angenehme Bekanntschaft -- man mußte doch Menschen -kennen lernen -- eine Freundschaft womöglich. Schade, daß Schwalbe, als -Soldat, selten zu haben sein würde ... Aber wenn ich öfter herkäme -- -Verkehrsgast würde ... Öfter herkäme ... öfter herkäme ... - -Ja: meine Maske ... Deshalb kam ich ja. -- Georg merkte den leisen Druck -der Angst auf der Brust und fuhr auf. Mit heftigem Schnarchen warf ein -gewaltig großes, offenes Automobil mit blendenden Scheinwerfern sich um -die nahe Hausecke zur Linken und rauschte heran; etwas Kleines, -Weißgekleidetes befand sich einsam im erhöhten Rücksitz, eine junge -Dame, die, gegen den Fahrtwind geneigt, mit der einen Hand, erhobenen -Armes, einen helmartigen kleinen Hut aus rosafarbenem Stroh auf den Kopf -drückte, und im nächsten Augenblick hielt der Wagen dicht vor Georg. Aus -einem kleinen, weißen, fast dreieckig geformten Antlitz richteten sich -übergroße schwarze Augen auf ihn. Dann öffnete sie den Mund und sagte: - -»Guten Abend. Ach bitte, ist mein Mann vielleicht hier? Baronin Schley.« - -Baronin Schley? Georg staunte. »Aber gewiß, Baronin!« rief er, -»Augenblick!« und zu Schley zurück: »Herr von Schley, freuen Sie sich, -Ihre Gemahlin ...« - -Schley kam ungläubig und mit Seelenruhe ans Fenster, hatte aber kaum -einen Blick hinausgeworfen, als er nur: »Virgo?« sagte und schnurstracks -hinausging. -- Virgo? dachte Georg. Mein Gott, das ist hinreißend! -- -Und ging flugs hinterher. - -Durch das offene Haustor, die Stufen hinunterblickend, sah er sie im -geöffneten Wagenschlag stehn, leicht mit dem einen Fuß hin und her -schlenkernd -- ganz rosenfarben war der von Strumpf und Seidenschuh -- -emsig auf ihren Mann herunter redend und lachend, und während Georg nun -hinzuging, rief sie ihm entgegen: - -»So, also Sie sind dieser Prinz, dessentwegen er mir durchgegangen ist! -Was gehn dich wohl fremde Prinzen an, wenn du gerade geheiratet hast! -- -Er telephonierte, ein Prinz wäre da und er müßte hierher.« Sie schöpfte -Atem. Ihr Mund mit gesenkten Winkeln war ein entzückendes kleines rotes -Dach. Die Nasenflügel blähten sich zitternd, und wie hoffärtig war die -kleine Biegung der Spitze! Tiefe, bläulich schwarze Ränder unter den -Lidern machten die Augen noch größer, als sie waren. - -»Und da wollten Sie ihn wegholen?« hatte Georg gefragt. - -»Nein,« sagte sie, »nun will ich hinein. Nun will ich die akademischen -Sitten kennen lernen.« - -Schley, während Georg nur »Ach weh!« äußerte, meinte, zu ihr aufsehend, -langsam und ruhig: »Ach, davon verstehst du ja -- gar nichts«; worauf -sie aus dem Wagen kletterte. - -»Los!« sagte sie, zwischen den Beiden stehend, »Ihren Arm, Durchlaucht! -und deinen, Wolf!« Sie warf auflachend den Kopf zurück und zog die -Beiden wie ein Kind mit sich; und wie bei einem Kinde -- Georg sahs, als -sie vor den Haustorstufen den Kopf senkte -- war unter der tiefen Krempe -von zartem, rosigem Stroh -- eine einzige goldene Rose saß daran -- das -Haar, braun, kurzgeschnitten, in lockeren Büscheln durcheinanderstehend. - -Augenblicke später fuhr die freudig überraschte Korona auf der Terrasse -von den Stühlen, wurde vorgestellt, der Senior legte seine Würde nieder -und -- die Fidelität eröffnend -- die des Vorsitzes zur ersten Attischen -in die Hände Georgs. - -Ja, nun würde es köstlich werden ... Georg drückte sich mit Behagen -gegen die hohe Rücklehne des Präsidenstuhls zurück, die Tafel -hinunterschauend, die kleine Fremde zur Rechten, ihren Mann zur Linken -und weiterhin all die erwartungsvollen, blitzenden Augen und roten, -vergnügten Gesichter, Schwalbes feste, bereitwillige Freundlichkeit und -des überragenden Hardenbergs Georg zugewandtes Lächeln, das merkwürdig -menschlich an dem, wie ein Zaunpfahl ungefüge zurechtgeschnittenen -Haupte angebracht war. - -»Entschuldigen Sie, Baronin,« sagte Georg, »nun giebts einen Knall!« und -sie fuhr zusammen, als das Schlägereisen über die Tischplatte prallte. -Dann sagte Georg schnell ein paar verehrungsvolle Begrüßungsworte auf -und befahl -- ihr zumurmelnd: »als erste Vorführung« -- den Salamander. - -»_Ad exercitium salamandri! Salamander incipitur_ eins, zwei, drei, -eins!« - -Georg spähte, während hörbar ringsum aus den angesetzten Gläsern das -Schlucken gluckste und sichtbar die gelbe Flüssigkeit abnahm, nach Virgo --- denn so nannte er sie. Sie sah großäugig, den Mund halb offen vor -Staunen, zu ihrem Mann auf. - -»Zwei, drei. Eins -- -- zwei -- -- drei.« Die Gläserböden rumorten auf -dem Tisch. »Eins! -- zwei! -- drei!« Der Aufschlag sämtlicher Gläser -erdröhnte tadellos. »Füchse haben nachgeklappt, in die Kanne eins, eins, -Blume melden! _Salamander ex, silentium ex, colloquium!_« schnurrte -Georg zu Ende und setzte sich, nicht ohne Stolz. - -»Wolf, was für'n -- Unsinn!« sagte sie hörbar in das allgemeine -Schweigen, worauf ein Gelächterhallo folgte. Drei, viere begannen auf -sie einzureden, aber sie schnitt alles ohne weiteres ab und gebot -spöttisch: »Na denn weiter! nächste Nummer!« - -Georg schlug vor, ein Lied zu singen. »Von Scheffel,« sagte sie, »die -sollen ja so komisch sein,« und da mehrere Stimmen den >Enderle< -beantragten, befahl Georg diesen. Das Klavier ertönte, vier, fünf Hände -reichten ihr Liederbuch der Kleinen, Füchse kamen viel zu spät, -aufgeregt noch blätternd, zu dem selben Zwecke herangesegelt, Georg -erhob sich, das Lied begann. - -Leider verzog sie, wie Georg bemerkte, bei keinem der köstlichen Verse -eine Miene; selbst das >Jetzt weicht, jetzt flieht, jetzt weicht, jetzt -flieht, mit Zittern und Zähnegefletsch!< entlockte ihr kein Lächeln, und -das Lied war aus. - -»Aus«, sagte sie seufzend und sah umher. »War das komisch?« Sie zog ein -Gesicht, als argwöhnte sie, daß man sich über sie lustig machte. »Warum -singt ihr dann nicht lieber von Christian Morgenstern etwas; darin ist -doch wenigstens Sinn. Na, also dann weiter, was giebts noch zu sehen?« - -Also wurde ihr der Trinkkomment vorgeführt. Ein Feuerwerk von Zuprosten -nach allen Seiten sprühte. Vor-, mit-, nachkommen, übers Kreuz, unter -demselben, definitiv, bis keiner mehr wußte, was er wem schuldig war, -während die Füchse in die Kanne steigen mußten, daß sie verreckten, in -den Verruf flogen und sich verzweifelt herauspaukten, der aus dem -zweiten, der aus dem dritten, ein Tohuwabohu, in dem sie immer stiller -und immer blasser und immer schmaler an ihrer Stuhllehne wurde, selten -matt lächelnd, wenn jemand auf ihr Spezielles mit ausgeschlossener -Löfflung trank, -- als wovon ihr Georg erklärte, daß es keine -Beleidigung sei, sondern eine Ehre. - -»Nun ists genug,« raffte sie sich endlich auf, »ihr werdet ja alle -betrunken werden.« - -Schley und Georg betrachteten sich sardonisch während des -Höllengelächters der Übrigen, Beide augenscheinlich das gleiche Wort auf -den Lippen, das sie verschwiegen. Georg selber keuchte einigermaßen vom -quellenden Bier in seinem Innern. - -»Ich hab mal«, hörte er sie erst nach einer Weile leise sagen, »was von -Bier -- Bierjungen -- heißt es nicht so? gehört. Was ist denn das? Das -ist noch nicht vorgekommen«, meinte sie mit mühsamer Heiterkeit. Georg -seufzte. - -»Also los, Baron, zanken wir uns. Ein Bierjunge«, erklärte er ihr, »ist -ein Bierduell nach vorangegangener Beleidigung. Ich muß mich doch -wundern, Baron, Sie nach kaum angefangener Ehe in solcher Gesellschaft -zu sehn.« - -»Das geht Sie ja gar nichts an, Durchlaucht.« - -»Nichts angehen! Das ist Tusch!« schrien ein paar Stimmen. - -»Bierjunge!« sagte Georg finster. - -»Doppelt!« erwiderte Schley, »das ist hier so üblich,« setzte er hinzu, -»entschuldigen Sie.« - -»Dreifach!« versetzte Georg. »Na, nun ists aber genug. Herr von -Schwalbe, bitte wollen Sie Richter sein?« Schwalbe erhob sich -bereitwillig mit einem Ruck. - -Da es nun eine Pause gab, bis Schwalbe, zwischen Georg und Schley sich -setzend, die herangeschleiften sechs Gläser auf ihre genau gleichmäßige -Füllung verglichen hatte, meldete der Fuchsmajor gurgelnd von unten -einen Solokantus der Zwillinge, die sich wankend erhoben, dann mit -ungeheurer Anstrengung steif dastanden, die Mützen abnahmen und sich -langsam herdrehten. Ihre kleinen, todbleichen Gesichter mit schwimmenden -Augen sahen so entsetzlich aus, daß Georg Virgo kaum anzublicken wagte. -Sie sah vor sich nieder. Stumm standen die Zwillinge. Aus den Anderen -scholl Gelächter, aber auch Widerspruch. Dann schrie Ellerau, breit -dasitzend, grausam: »Also los, Füchse, wirds bald! Euren Kantus! -Baronin wartet.« Die schluckten. Hohl, um so hohler, weil ohne -Klavierbegleitung, fingen sie an zu singen: - - »Ach, unsre Ju--u--geend -- - Wird -- so -- ver--geu--eu--det -- - Ja -- uns--re -- Jugendzeit -- - Die -- wird -- ver--tan ...« - -»Nun ists aber genug«, bemerkte Schley. »Genug!« schrie Georg, -»geschenkt, Füchse, hinsetzen! Macht, daß ihr --«, er verstummte, für -sich allein ergänzend: »-- hinauskommt!« -- Und die Zwillinge setzten -sich verdutzt und eilig. Augenblicke später verschwanden sie. -- -Schwalbe erhob sich, verkündete das Bierduell mit dem Stichwort -»Baltoborussia sei's Panier!« und Schley und Georg standen auf. - -»Ergreift die Waffen, berührt die Waffen, los!« - -Die ersten Gläser verschwanden schnell. Als Georg, etwas langsamer am -zweiten schlang, sah er zu Virgo hinüber; die saß wie ein Steinbild mit -Augen wie schwarze Löcher. Als ihr Mann das letzte Glas ergriff, erhob -sie mechanisch die rechte Hand, wie um ihn zurückzuhalten. - -»Borussia sei's Panier!« sagte Georg mühsam, das Glas hinsetzend, und -Schwalbe kündigte an, daß Herr Baron von Schley als zweiter Sieger -hervorgegangen sein dürfte. - -Plötzlich war alles durcheinandergeraten. Georg saß irgendwo und redete -ununterbrochen auf die Allerholdeste ein, aber dann riß das ab, Georg -irrte umher zwischen Stehenden und Sitzenden, fühlte sich sehr -unglücklich und in seiner Sehkraft beeinträchtigt. Lichter verschwammen -blitzend in Qualm, Wänden und blauen Flecken; was er ansah, schwang sich -kreisend zur Seite; ganz hinten stand eine weibliche, kleine, weiße -Gestalt, die er auf keine Weise erreichen konnte, sie hatte ihn ja -weggeschickt, obwohl er sie so glühend liebte, nun stand sie mit einem -Andern dort und sprach Schlechtes von ihm, o, sie war ihm entsetzlich -böse, und unglücklich war sie, Georg brach das Herz, es war im Leben -nicht wieder gutzumachen, denn morgen -- nein übermorgen reiste sie nach -Japan. -- Da, jetzt saß er wieder, hatte einen andern -- Schwalbe -- -dicht neben sich und redete unaufhörlich auf ihn ein, steigende Rührung -im Herzen und das Gefühl unermeßlichen Genusses im Ausschütten seiner -geheimsten Gedanken. Hin und wieder hörte er auch den Andern sprechen, -verstand ihn auch, sah seine rundliche, rote Hand mit ausgestrecktem -Zeigefinger auf sein eigenes Knie zu tippen, fühlte sich bekräftigt und -verstanden und redete wieder. -- Dann wurde ihm furchtbar übel; er -bezwang sich noch, allein es ward schlimmer, der Raum, die Lampen, grüne -Wipfel, ein großer, geschweifter, grauer Lampion wankten auf ihn zu, er -stand auf und fand sich im selben Augenblick unter ungeheuren Qualen -seiner in Stücke brechenden Brust, keuchend mit rinnenden Augen und -quellendem Munde über ein Becken gehängt. Dann riß wieder alles ab, er -erwachte und hörte ein ohrenbetäubendes Geheul, fühlte sich in die Lüfte -erhoben, Hände tasteten an seinem Leib, er wurde getragen, hatte eine -blaue Mütze in der Hand, die er schwenkte, rief: »Baltoborussia _for -ever_!« Plötzlich glitt er zur Erde, stand wankend, umarmte jemand und -saß auf einem Stuhl, ein Glas in der Hand, während immerfort jemand kam, -um ihm die Hand zu schütteln, worauf er dann einen Schluck ekelhaft -bittern Zeugs in sich trank. - -Und wiederum eine Weile später kämpfte Georg mit den Ärmellöchern eines -Mantels, fluchte, weil jemand ihn hinten am Kragen in die Höhe reißen -wollte, und dann stand er vor einer Droschke, innen und außen beladen -mit Korpsbrüdern in Zivil, die sich auf Georg stürzten und ihn -- durch -das Fenster, wie es schien -- hineinzwängten. Sie führen nach einem -herrlich stinkenden Ort, sagten sie und sangen den schönen Choral: -Lasset uns noch einen verlöten! während einer unendlichen Fahrt durch -eine finstere Fabrikstadtgegend. Schließlich hielten sie den Wagen an -und hatten noch zwei Straßen zu gehn, vornüberschießend, Georg unter -jedem Arm einen Zwilling, von denen immer einer stehen bleiben wollte, -um eine Rede über Moses zu halten. Dann ging es irgendwo Treppen hinauf -in ein Haus, in einen kleinen Saal voller Mädchen, die in Jubelgeschrei -ausbrachen. Georg wußte noch: nach dem ersten Glase Sekt bin ich hin ... -Dann trank er es. - -Einige Zeit später hatte Georg das Gefühl, zu erwachen, jedenfalls -wurden allerhand Dinge deutlich um ihn, und er fand sich an der Wand -eines Saales mit unaussprechlich öden Wänden lehnen, ein Sektglas in der -Hand, das im selben Augenblick zu Boden fiel, und zum Umsinken -berauscht. Im Saal, unter den vom Tabaksqualm und Staub fast blinden -Glühbirnen war ein Hexentanz von einigen zwanzig Mann in Fräcken, Röcken -oder Hemdsärmeln und ebensovielen splitternackten Weibern, die Georg -unsäglich garstig und alle zu kurzbeinig erschienen. Einmal tat sich für -Sekunden der Schwarm auseinander und durch die Gasse sah Georg drüben -einen großen, hagern Menschen stehn, hektisch und ungesund, der mit -theatralischer Gebärde im ausgestreckten Arm ein nacktes Mädchen lehnen -hatte wie eine Harfe, auf deren Leib er mit der Rechten große Harpeggien -griff; dazu deklamierte er mit hohler Stimme, deutlich vernehmbar: Vom -Eise befreit sind Strom und Bäche ... Dies Bild schwand spurlos, etwas -Nacktes und Weiches taumelte gegen Georg, sank, während er, selber auf -einen Stuhl fallend, es schwach festhielt, in seinem Schoß zusammen und -schlief ein. Eine Zeitlang betrachtete er das fleischerne, magere Bündel -Schlaf und tote Freude auf seinen Knien, legte ihren Kopf behutsam an -seiner Schulter fest, ließ sein Gesicht weinend darüber fallen und -schlief auch. - -Schütteln erweckte ihn wieder; auch das Mädchen erwachte, klammerte sich -an ihn, schluchzte und wollte ihn nicht fortlassen. Georg entkam jedoch -irgendwie, fand sich bald darauf allein in einer morgengrauen, nebligen -Straße und ging mit dem stumpfen Entschluß, zu Fuße heimzugelangen, halb -im Schlaf so lange durch unbekannte Straßen, bis ihn ein Automobil fand, -in dem er sein Haus in der Morgensonne unter lebhaftem Vogelgezwitscher -erreichte. O Gott! dachte Georg, als er auf sein Bett fiel, o Gott! -Morgen ist Sonntag! - - - Kaddisch - -Georg, an sich selber verzweifelt festgebissen, mit Verwünschungen -beladen, entstellten Herzens voll Wut und Öde, hockte auf einer Bank im -Park am Sonntagnachmittag. Seltsam schwärzlich war die, schon wie später -Abend tiefe Dunkelheit in der Luft; tiefschwarz, nur durch den Fußweg -und schmalen Uferstreifen von Georgs Füßen getrennt, der Teich, in dem -große Stücke von kalt grauem Silber glommen. Der letzte, mehr schwere -als scharfe Atemzug des abgestorbenen Winters schien in den feuchten -Lüften abzustehn. - -Ich habe, sagte Georg zum hundertsten Male zu sich, wie eine Canaille an -mir selber gehandelt. Ich bin ein Pfuscher meines Lebens. O mein Gott, -flehte er elend, sollte es wahr sein, daß seit -- seit -- er tastete -nach einer Vorstellung und fand wieder nur, seltsam in der Luft hängend -wie ein Stück kalten Mondes, diese -- Maske --, seit dieser Maske also -die Dinge anfangen, mir zum Unheil auszuschlagen? Ja, warum ging ich -denn zu den Balten? Um die Maske zu versuchen. Dann war alles natürlich -und überraschend freundlich und nun -- -- ich weiß zwar nicht: ist -Schley wirklich auf dem Wege nach Japan? Und bilde ich mir nur ein, daß -er seinen Assessor abgelegt hat? -- Nun, es wird schon so sein, daß er -verschwindet. Schwalbe werde ich kaum haben können, höchstens für mich -allein, nicht an den Abenden, den -- o diese Abende, nun kommen sie -wieder, da kommen sie! Ich bin verwünscht! -- Er krümmte sich, die Stirn -zwischen den Fäusten. -- Selbst wenn es, wie Ellerau sagte, nur drei in -der Woche sein sollten und ich mich um die andern herumdrücken kann, für -mich allein esse ... dann ist noch der Paukboden, und der ganze Fechttag -am Sonnabend, da sind tausend Zwischenfälle, die mir Stücke aus meinem -Leben schneiden -- ach, es ist ja nicht auszudenken! -- Ihm brach der -Schweiß aus allen Poren; es war, als schwitzte er Fett aus Händen und -Gesicht, sein Hirn dröhnte und kochte, die Augen brannten, der Gaumen -lechzte, und im Magen polterten ekelhafte, moorige Massen. -- Wenn ich, -dachte er sich als letzte Rettung aus, in spätern Jahren einmal mein -Leben in der Hand halten werde und nachsehen, was dies und jenes für ein -Gewicht und Gesicht darin hatte -- was für ein Aussehn mag dann dies -Erlebnis haben? - -In der Grotte von Buschwerk hinter ihm raschelte es, ein Vogel oder eine -Ratte, sonst war kein Laut in der furchtsamen Abendstille. Die Stücke -bleichen Himmels glommen leidenschaftlich und zuckten im düstern Teich; -Gewölk rollte darüberhin, graues und schwarzes. Auf den Ufern umher -standen die kaum belaubten Bäume dunkel und regungslos; schwer hangend, -fahl, die Trauerweiden drüben an der kleinen Brücke, die ins Trostlose -zu führen schien. Oben huschte die lautlose, verfinsterte -Wolkenbewegung. Die Luft stand, nicht kalt, nicht warm, unfreundlich. - -Will es nun nicht endlich bald regnen? dachte Georg erbittert. -- Es -regnete nicht, aber es wurde unheimlicher, als stünde etwas bevor. Bäume -fingen an wie Gespenster auszusehn, wie entseelt, wie entsetzt. Aber all -dies ist in mir, dachte Georg; die gute Natur, sie weiß nichts, sie -nimmt die Gestalt von dieser oder jener Stunde an, wenn wir das Herz -danach haben, es zu sehn. Wir sagen dann: heiter, oder: trübe, weil uns -immer etwas peinigen muß oder freun. Du, Natur, schlichte, richtige, -bist ohne Entweder-oder, aber du giebst nach, wenn wir uns an dich -hängen, wir immer Beladenen; du hast nur dich selber zu ertragen, du -entwächsest dir nie, du bist dir immer leicht und schwer genug, derweil -wir stürzen oder steigen, hängen oder fliegen -- ich glaube, all das -Elend kommt doch allein von unsern Füßen her. Wenn wir fest stünden, -würden wir vor unendlichem Staunen über all die Bewegung um uns her -längst in diese milde Ergebenheit des duldenden Baumes versunken sein, -der allem nachgiebt und um nichts sich bemüht. Aber diese Stunde ist -wahrhaft schrecklich. Vielleicht war es doch sie allein, die sich den -Nachmittag über entfalten wollte, rang und nicht konnte. Ich stand am -Fenster, stundenlang, und sah, wie sichs wandelte. Nun ist es ja, als -lägen überall Tote begraben; unterm Rasen dort rechts, der wie mit -umdüsterten Augen herüberblickt, durch die Dunkelheit, die sich hebt und -bewegt; im Teich, unter allen Bäumen -- vielleicht liegen welche -überall, still, mit gefalteten Händen, ohne Bewegung, aber sie haben -begriffen, daß sie tot sind, und wissen nicht, was nun geschehen wird. - -Ach, stünden sie _auf_ einmal! alle, in irgendeiner Gestalt! gingen -umher, streiften mich, daß doch nur einmal etwas geschähe, das -entsetzte, das starr machte, das man nicht aus sich heraus erfinden -müßte wie jedes Staunen, jeden Schrecken, jedes Gefühl, das tausend -Jahre alte, tausend Male empfundene. Daß einmal etwas hereinbräche über -einen, von draußen, von weit draußen, ein Unmeßbares, für das man nicht -im Augenblick alles bereit hätte, um es festzustellen, um es zu -erkennen! Ich verstehe Raskolnikoff, ich verstehe, daß er etwas tun -mußte, von dem er nicht vorher wußte, was es sein würde; das sich vorher -berechnen ließ bis aufs Haar, und das doch ein völlig anderes sein -würde, wenn es geschehen war. Ich verstehe, wie er mit all seinen -Haaren, mit zehntausend schmerzlichen Knoten an seiner Umgebung hing, an -Steinen und Menschen, an Häusern und Geschäften, an Gefühlen und Plänen, -an Büchern und Maschinen, und wie er den einen, einzigen Ruck haben -wollte, wo alles das riß, und er so allein war im Raum, wie nur die -Seele eines Mörders allein ist, die zwischen Sternen sitzt und friert. - -Dummheit friert an mir. Aber ich schreibe ihnen, sie möchten -entschuldigen, ich wäre gestern betrunken gewesen, und sie möchten mich -gefälligst ... Heut noch schreib ichs, denn wenn ichs heut nicht tue, so -fällt mir morgen ein, mich an ihre edlen Regungen zu wenden und dem -Konvent eine freundliche Rede zu halten, und dann bin ich schon -ihresgleichen, und sie kriegen mich doch herum. Oder am Ende ists heute -doch nur der Alkohol im Leibe, und wenn morgen früh die Sonne scheint, -denk ich, es wird schon gehen, oder daß ich wieder acht Tage verreisen -kann, und daß sie mich auf vier Wochen hinaushängen, oder daß ich -einfach versuche, zu tun, was mir paßt, zu ihnen gehe, wann mirs -beliebt, und warte, was _sie_ tun. Warum soll ich auch handeln? Wär es -eine Gemeinheit, ein Verbrechen, das man bereuen könnte, Herrgott, so -hätte man doch was _getan_! Nun ists bloß eine Dummheit, und -- ist das -ein Mensch, der Schatten da? Ich bin ja ganz schreckhaft geworden! -- - -Hinter der nackten Esche, die vom rechten Ufer her ihren riesigen Ast -kahl und schweigsam über die fahle Fläche reckte, kam der Schatten -hervor, trat dicht ans Wasser und stand dort, seltsam, als ob er hinge, -dunkel vor der Undeutlichkeit des Parks und dem bleichen Scheinen im -Wasser. Nach einer Weile glitt er fort und verschwand zur Rechten hinter -Gebüsch. Georg nahm seinen Stock von der Bank, drehte sich seitwärts, -legte das linke Bein über das rechte, den rechten Ellenbogen auf die -Banklehne und den Kopf auf den Unterarm. - -Es ist ja nicht das, lief das Rad in ihm weiter, nicht diese Eselei, -wieder im Korps zu sein, und auch nicht der Alkohol. Es ist einfach die -Angst, weil du nicht weißt, was werden soll. Dies ist nun der dritte -Versuch. Erst sollte die Natur Klarheit schaffen; dachte natürlich nicht -daran. Außerdem Benno, -- nun das war wohl nur ein halbes Viertel von -einem Versuch. Nun die Menschen, auf die es ja schließlich ankommt, und -da merke ich nun die verfluchte Verzauberung der Relativität. Renate, -schönes Licht! dachte er seufzend, aber sein Feuerzeug war wohl naß -geworden, das Licht glomm nicht auf, es wurde nur dunkler umher. Woran -soll ich mich denn messen, wenn alles relativ ist und ich nicht aus mir -heraussteigen kann! Bin ich denn ein Lügner? Ich spiegle den Menschen -etwas vor, das ich nicht bin. Schade ich damit? Bin ich nicht bereit zu -allem Besten? Zahle ich nicht mit Qual? Irgend jemand sagt mir, ich sei -nicht der Sohn meines Vaters, und da soll ich miteins andere Gefühle -bekommen? Wie kann ich zwanzig Jahre auslöschen wie ein Talglicht? -Darauf aber kommt es an, auf das Innere, und alles andre -- -- ich weiß -nicht, sitzt da jetzt einer neben mir oder nicht? - -Er wandte langsam und vorsichtig den Kopf. Ja, neben ihm saß ein Mensch, -den Kopf in den Händen; schien übers Wasser hin zu sehn. Das war ja ... -Georg wandte sich, beugte sich vor, sah das Profil des Dasitzenden und -sagte erleichtert: »Guten Abend, Herr Birnbaum!« - -Der Angeredete wandte sich um und stand hastig auf. - -»Entschuldigen Sie, Prinz,« sagte er mit mehreren Verbeugungen, »ich -hatte Sie nicht erkannt. Und diese Bank«, setzte er hinzu, »ist -gewissermaßen mein Eigentum, meines und meiner Schwester, wir sitzen oft -darauf.« - -»Aber so setzen Sie sich doch, alter Freund, und erzählen Sie! Vor zwei -Jahren haben Sie Examen gemacht, oder erst vor einem? Habe ich Sie nicht -im Syndikatskolleg gesehn?« - -Birnbaum bejahte, sagte aber, daß er Mediziner sei. - -»Daß Sie's gleich hören, Georg: meine Mutter ist vergangene Nacht -gestorben«, sagte er kurz. »Nein, sagen Sie nichts, es ist nichts zu -sagen,« fuhr er heftig fort, »sie war ja kein richtiger Mensch mehr, -jahrelang schon, wir hatten uns, wenn ich so sagen darf, ihrer schon -längst entwöhnt.« - -Georg dachte an Bennos Mutter, fragte, ob sie denn krank gewesen sei, -und bekam zur Antwort: - -»Ja, geisteskrank, sechs, sieben Jahre.« - -Sie saßen still beieinander. Georg suchte den verwirrten schwarzen -Himmel ab -- war dort nicht ein Stern? -- Nacht stand um den Teich; -nichts regte sich darin. - -»Standen Sie vorhin dort am Wasser?« fragte Georg. »Sehen Sie, es ist -wieder jemand dort! Sehn Sie den Schatten?« - -Der Andere blickte hin und sagte: »Ich glaube fast, das ist meine -Schwester.« Er schüttelte den Kopf. »So ist sie nun; geht aufs -Geratewohl in die Nacht hinein und ist überzeugt, daß sie mich findet. -Dafür ist sie ja nun mein Geschöpf.« - -Die Gestalt kam langsam am Ufer den Weg herauf, zögerte, kam näher, -stand endlich vor ihnen, schmal und dunkel, einen Schal um den Kopf. - -»Bist du's, Sigurd?« fragte sie. Er stand auf, trat zu ihr und legte -einen Arm um ihre Schulter. »Bist du böse, daß ich mitten aus dem -Kaddisch weggelaufen bin?« - -Georg schiens, als bewegte sie leise den Kopf hin und her, dann hörte er -sie fragen -- eine huschende, verhaltene Stimme --: »Mit wem sitzt du -denn hier, Sigurd?« - -Sigurd sagte: »Es ist Prinz Georg, Esther, du weißt, daß er eine Klasse -unter mir war.« - -Georg, der inzwischen aufgestanden war, reichte ihr die Hand; die ihre, -in einem Zwirnhandschuh, fühlte sich hölzern an. Ihr Gesicht im Dunkel -war nur ein weißer Fleck mit zwei schwarzen darin, den Augen, die -allerdings absonderlich geschlitzt schienen. Sie setzte sich ans andere -Ende der Bank, ihr Bruder sich zwischen den Beiden. Nach einer Weile -hörte Georg ihn flüstern, dann sie, er schloß die Ohren, verstand auch -nichts, aber das Flüstern dauerte an ... Nun schloß er auch die Augen, -vernahm das seltsame Geräusch der Lippen in Pausen, dachte an die tote -Frau und geriet an Heines Vers: >Keine Messe wird man singen, keinen -Kaddosch wird man sagen ...< Kaddisch hatte Birnbaum gesagt, aber das -war wohl dasselbe. >Dunkler Hund im dunklen Grabe ...< kam das nicht im -selben Gedicht vor? Nein, das war ja: - - Nicht gedacht soll seiner werden. - Aus dem Mund der armen, alten - Esther Wolf ... - -Keine Messe wird man singen, keinen Kaddosch ... Es ließ ihn nicht -wieder los. Sieh, aber nun waren Sterne da! Lieber Gott, wie das nun -gleich erleichterte! Da standen sie, klein, schwach, bläulich, dort -einer, dort ganz oben, fast über ihm. -- Keinen Kaddosch wird man sagen -... - -»Verzeihen Sie, Birnbaum, was ist Kaddisch? Sie sagten es eben. Und mir -fiel ein Vers von Heine ein, da heißts --« - -»Kaddosch,« sagte Birnbaum, »es ist dasselbe. Kaddisch ist das -Totenbeten; die Verwandten verrichten es, oder auch -- wie bei uns, die -wir keine in der Stadt haben -- Freunde und angestellte Frauen. Ich bin -davongegangen. Ich konnte nicht ertragen, das Klagen zu hören, wo ein -Mensch endlich seine Seele wieder hat, denn das müssen die Andern doch -wenigstens glauben. Komm, Esther, siehst du die Sterne? Wollen wir -Mutter unsern Kaddisch sagen?« Sie antwortete nicht. Einige Minuten -später hörte Georg ihn sprechen, nicht mehr in seiner wegwerfenden, -schnell fertigen Art, sondern seltsam innig und sanft. -- - -»Mutter,« sagte er, »warst du denn noch ein Mensch? -- Kannst du uns -jetzt sagen, was du warst? Da warst du, warst so klein und noch ganz -schön, saßest immer bei uns und hattest keine Augen für uns, wenn wir -hinsahn. Aber wenn wir still saßen und lasen, wie oft merkten wir dann, -daß deine Augen auf uns waren, wie Kinderaugen, verschüchtert, wie ein -Bestraftes, das nicht sein darf wie die Andern ... - -»Und so seltsame Dinge mußtest du immer tun! Wenn du allein warst, da -bewegte sichs in dir, und du mußtest immer folgen, und wenn einer von -uns wieder hereinkam, so warst du nicht mehr da. Dann hocktest du -zwischen Sofa und Bücherschrank ganz klein, die Hände im Schoß, oder du -knietest unter der Tischdecke, als wolltest du Verstecken spielen, oder -du hattest ins Schlafzimmer gehn müssen, das Bett gesehn und dich halb -ausgezogen und hineingelegt. Und niemals durftest du im Bett sein -nachts, wenn Esther erwachte und nachsah: dann mußtest du mit kalten -Füßen beim Schrank stehn, oder im Fenstervorhang, aber du warst doch -immer willig, kleine Gestalt, und tatest, was man verlangte, legtest -dich gleich wieder hin und decktest dich zu. Manchmal freilich war dirs -verboten, mit uns zu essen, und dann mußtest du heimlich in die -Speisekammer gehen und finden, was Esther dir hingesetzt hatte ...« - -»Und wie war es denn, als du starbst?« fing er leise wieder an. »Auf -einmal fandest du die Korridortür nicht verschlossen und huschtest -hinaus. Und als dein Sohn im Dunkel mit dem Streichholz die Treppe -heraufkam, saßest du auf den Stufen, klein und weiß in deiner -Nachtjacke, die Stirn ans Geländer gelehnt, und da warst du tot ... - -»Ja, Esther, da war er nun wieder hinausgegangen, der törichte Geist, -der ihr all das Seltsame riet, über das sie so viel den Kopf schütteln -mußte. Und all das, weil eines Tages ein lieber Mensch auf der Erde lag -und nicht mehr antworten wollte auf ihr Schreien und Schütteln und -Schlagen, und all das, damit sie nun sein Gesicht wieder hat -- ein -wenig Wehmut am Mundwinkel, ein wenig Friede über Schläfen und Augen, -und das Unbegreifliche ...« - -Sigurd war verstummt. Georg sah nicht ohne Erleichterung viele Sterne -oben in der Nacht; auch in der Schwärze des Teichs waren sie sichtbar -geworden. - -»Und wir,« sagte Sigurd leise, aber wieder heftiger schon, »wir bewegen -uns, wir greifen dies und jenes an und nennens Verstand. Einmal merken -wir dann, daß wir immer das Verkehrte getan haben. Aber in uns saß doch -einer, der wollte es so. Es war so seltsam, Esther, wie Mutter nun dalag -unter der Hängelampe, und du standest neben ihrem Kopf, in deinem -schwarzen Haar, mit fließenden Augen, im langen, weißen Hemd und getötet -vom Schlaf. So sonderbar war das! Nun wirst du bald heiraten wollen und -über das große Wasser fortgehen. Ja, meine Lehre ist nun aus. Sehen -Sie,« wandte er sich zu Georg nicht ohne ein wenig Bombast, »es ist ja -nichts ohne eine gute Seite. Esther mußte die letzten vier Jahre aus der -Schule fortbleiben; da hat sie viel unnützes Zeug gespart und eine -Menge Gutes von mir gelernt, Buchführung und Philosophie, -Sozialwissenschaften, und einen ungeheuren Stoß gute Bücher gelesen. -Verloben konnte sie sich auch, und ich kann dann von dem kleinen zum -großen Mütterchen zurückgehen, Mütterchen Rußland, und sehen, ob man -mich dort brauchen kann.« - -»Sie sind doch Balte?« fragte Georg, um etwas zu sagen. Sigurd nickte. - -»Komm, Esther, wir wollen gehn«, sagte er, und sie stand auf. -- Georg -ging willenlos mit. - -Sie sprachen nicht mehr, bis sie am kleinen Palais anlangten. Als Georg -sich hier verabschieden wollte, hörte er Esther zum ersten Male nach den -wenigen Worten zu Anfang etwas sagen, indem sie erstaunt fragte, ob er -hier wohne? -- Leider, gab Georg zurück, sei die Einrichtung noch nicht -fertig, sonst würde er sie bitten, hereinzukommen. - -»Siehst du, Sigurd,« sagte sie da ganz heiter, »nun komme ich doch -hinein!« - -»Sie hat es sich als kleines Kind schon gewünscht,« erklärte ihr Bruder, -»einmal in den verschlossenen Garten zu kommen, da freut sie sich nun -freilich.« - -Georg meinte, das Stück hinter dem Schlößchen sei nur klein, aber es -würde ihn doch sehr freuen, -- was nicht aufrichtig war, denn er hatte -keinerlei Eindruck von ihr gehabt, und obendrein war sie verlobt. Er -haßte Verlobungen. -- Also schieden die Geschwister von ihm. - -Im Hausflur zauderte Georg, ob er in die unfertigen Zimmer gehen sollte -oder in die für die Zwischenzeit zurechtgemachten Prunkgemächer. Aber -nach einem Blick in den kahlen, vom schwarzen Abend verdüsterten Raum -voller Bücherkisten, Teppichballen und Möbeln in Lattenkäfigen, und -einem weiteren durch die Gartentür ins Freie, ob etwa aus Bennos -Fenstern Licht falle -- doch alles war dunkel dort --, wanderte er -schlaff und unfähig in der dunklen Zimmerflucht hin und her, bald nahe -am Weinen vor Schmerzwut im Gedanken an Benno, der natürlich bei Renate -war. Renate, die ihm ewig verschlossene! Denn dort war ja nun Magda im -Hause, und dies -- nein, dies brachte er nun doch nicht fertig, vor -ihren Augen zu Renate zu beten. - -Er stand wieder still, durch ein Fenster starrend auf den Rasenplatz, wo -aus der Eichengruppe die Nacht wie eine schwarze Fackel aufstieg. ->Keinen Kaddosch wird man sagen ...< Dieser Sigurd war gewiß ein -ungewöhnlicher Mensch, in der Schule wurde ja viel von ihm gesprochen, -seinen Kenntnissen, seiner Belesenheit und -- ja vor allem seiner -Hülfsbereitschaft. Nun, mich wird er schwerlich aus meinem Sumpf -herausziehen können. Also was bleibt mir übrig? - -Darauflos leben, lustig sein, wieder die Nächte durchsausen, saufen, -speien, johlen, Zoten hören. Ach, wenn nur die studentische -Ausgelassenheit heutzutage nicht so unendlich nichtswürdig wäre! Wenns -noch Freude wäre, Überschwang, Lebensüberfülle, wahre Ausgelassenheit -voll Geist und Witz. Ausgelassenheit? Ja, die Vernunft wird ausgelassen -und der Stumpfsinn herein, sie betäuben sich, anstatt sich zu befreien, -vernichten sich selber in Berauschung, sie sind so unfeurig, das ist es, -sie brennen ja von nichts und für nichts, ja sie brennen bloß von -Alkohol, von Spiritus, dünne, kraftlose Flämmchen, -- o Renate, Renate! - -Georg mußte sich niedersetzen vor Mattigkeit, hatte jedoch innerlich -etwas Haltung gewonnen. - -Was also muß ich tun? fragte er sich, so klar er konnte. Ihnen -abschreiben oder nicht abschreiben? -- Es durchzuckte ihn, daß er diese -Last auf sich nehmen müsse, wegen der -- Maske, die sich gerade im -ständigen Umgang mit seinesgleichen allein probieren lasse. Lieber -- -dachte er -- ein besonders schweres Stück Weges jetzt -- und dann -Freiheit so oder so, als die lange Ungewißheit, Ratlosigkeit, und so -- -Verschleppung. - -Wenn ich, dachte er, Herzog bin, werde ich das alles abschaffen. Und -damit ich das kann, fuhr er innerlich errötend fort, muß ich nun wohl -dafür bluten ... - -Die Augen fielen ihm zu; er öffnete sie schwer, sah die zwei grauen -Rechtecke der Fenster bleich und öde im Dunkel und tastete nach seinem -Herzen. Die Angst stieg darum wie Flut; er atmete mehrmals, so tief er -konnte. Entschließe dich, Georg, gebot er sich, schreibe, schreibe -gleich! -- und schon zum Aufstehen aus dem tiefen Sessel sich -vornüberbückend, die Hände auf den Knien, kam er nicht weiter aus dieser -Haltung. - -Wenn ichs nicht tue, fragte er sich besinnungslos, tue ich es dann aus -Tapferkeit nicht oder aus Feigheit? - - - Zweites Kapitel: Juni - - - Begegnung - -Georg, an einem glanzlosen Vormittage im Junianfang, ritt Unkas im -langsamsten Schritt die breite Mittelstraße zwischen den Alleen in der -Richtung auf Herrenhausen hinunter, vornüberhängend mit halb -geschlossenen Augen, im verschwommenen Blick nahe die leise schlagende -schwarze Mähne, tiefer das wechselnde Zum-Vorschein-Kommen der breiten -Hufe, unter denen die staubtrockenen Erdklumpen vorspritzten. So saß er, -in seiner schweren Müde, seiner Angstwut, seinem unendlichen Mißbehagen, -das Hirn in Bierdünsten, das Herz in Öde; zerpreßt. - -Ihm fiel ein, wie er in der Nacht zuvor halbtrunken in die Güntherstraße -gelaufen war; wie er -- auf ihm selber unbegreifliche Weise -- zur -Rückseite des Gartens gelangt war, halb bewußtlos vor Trunkenheit und -Qual am Zaun gehangen und hinüber gelechzt hatte nach dem grauen, ganz -dunklen Hause hinter den Bäumen. - -Renate ... Wann würde er sie je wieder sehn! Magda -- es geschah ihm -freilich recht, daß sie ihm den Eingang verschloß, denn das tat sie ... - -Dies war die Gegenwart: freudlos, dumpf, entstellt durch eigene Schuld. -Das war die Zukunft: dumpf, abgeschlossen, umflügelt von Gespenstern des -Grauens. Dennoch mußte er hinein, mußte, die Maske vor, versuchen, ob -- --- erfahren, ob es erträglich, möglich ... - -Unkas stolperte träg; er riß ihn hoch und bemühte sich gewohnheitsmäßig, -ihn mit Schenkelschluß und kleinen Paraden zusammenzustellen. In seine -geöffneten Augen blendete das halb verhüllte Licht; Spatzenzank -schrillte und überlaut Finkenschlag, dicht zu seinen Häupten. -Emporblickend folgte er eine Zeitlang den fast auf ihn herunterhängenden -Zweigen, deren erste, dünne Belaubung -- Blätter und Blättchen, kaum -entrollt, noch zerknittert, weich, weißlich behaart, kaum geborenen -Tieren gleich -- Verlangen erregte, danach zu greifen, eins abzupflücken -und vorsichtig hineinzubeißen als in leise bitter Süßes. Aber er brachte --- schon zwischen den Zähnen fühlend, wie das Trockene innen saftig sich -zusammendrückte und knisterte -- die Hand nicht hoch, und eine hülflose -Rührung, die ihn überkam, reizte fast zu Tränen. -- Nun schmerzte sein -nach oben gedrehtes Genick; er senkte den Kopf wieder gerade. - -Da sah er, ein paar hundert Schritte weit vor ihm, auf dem getretenen -Fußpfad neben dem Hufschotter zwei Gestalten kommen, eine weibliche und -eine kleinere männliche, und sofort erkannte er Magda in der weiblichen, -erkannte sie mit dem Instinkt, obwohl er sich sagte, daß er, wenn sie es -wirklich war, sie gar nicht erkennen konnte, so entfremdet wie sie -aussah. Allein im Näherkommen blieb es untrüglich Magda, -- und er -dachte: Magda -- warum nicht mehr Anna? Es kam so ... Magda in einem -hängenden, nein schlottrigen, mattblauen Kleide, das sie mit den Achseln -trug anstatt mit den Hüften. Wie weit ihr Gang war! und trug sie nicht -Sandalen oder wenigstens keine Absätze unter den Schuhen? Damenschuhe -ohne Absätze waren Georg unleidlich. Er konnte die Beine sich abzeichnen -sehen unter dem schrittweis hin und her schlagenden Stoff, jedoch -- wie -reizlos! Auf dem Kopf hatte sie einen großen Panamahut mit tief -gerundeter Krempe, und er sah nun schon ihr Gesicht darunter, blaß, mit -undeutlichen Zügen, wie verwischt. - -Und daneben, in schwarzem Anzug, den Strohhut aus der Stirn gerückt, die -Hände auf dem Rücken, in unbedenklicher Haltung etwas vornüber -- das -war ja al Manach! Richtig wieder unter den Lebenden ... - -Georg sah ihr Gesicht nun von innen sich erhitzen und ganz rosig werden; -sah den Blick der alten braunen Augen und lenkte Unkas hinüber. -Augenblicke später hielt er mit Herzklopfen vor ihr, sie lachte heiter, -nickte ihm zu, rief: »Tag, Georg!« und begann Unkas den Hals zu klopfen. - -»Grüß Gott, Herr al Manach,« sagte Georg, »na wie gehts denn?« - -Besten Dank, äußerte Jason, es ginge ja. -- Den Strohhut, den er höflich -abgenommen hatte, behielt er in der Hand. - -»Aber Georg, was ist das mit Unkas?« fragte sie, bevor er etwas vom -Zusammentreffen und Langenichtgesehenhaben vorbringen konnte. »Er klemmt -ja die Zunge zwischen die Zähne.« - -»Tut er das? So. -- Ja, er wird ja auch alt ...« - -»Na Georg, schon so alt? Wieviel Jahre hat er denn?« - -»Ich soll wissen! -- Neun oder zehn.« - -»Ach, Georg, du weißt gar nichts!« lachte sie. -- Wehmütig an ihrem -Gesicht vorüber auf die absatzlosen, staubgrauen Schuhe hinunterblickend --- waren es nicht einmal kleine Lackschuhe gewesen, mit eingedrückter -Spitze? -- hörte er sie weitersprechen: ob er vergessen hätte, daß er -ihn gekriegt habe, als er elf Jahre alt wurde ... »Ich bekam Terpsichore --- erinnerst du dich noch? -- den Schimmel, der gleich das linke -Vorderbein brach -- ich kriegte doch immer was mit an deinen -Geburtstagen -- und du Unkas, und damals war er noch nicht drei Jahre -alt. Also ist er nun --?« - -Georg brauchte eine Weile, bis er hinter den Zähnen hervorbrachte: -»Zehneinhalb!« mit alles vergessender Traurigkeit nun an ihren -brauenlosen Augen haftend und sehr zu fragen versucht: Hast du denn so -gelitten, daß du gar nicht mehr weißt, was Leid ist, und nichts -empfindest bei solchen Erinnerungen? -- - -Dann ermannte er sich, lachte, wiederholend: »Zehneinhalb! das muß Onkel -Salomons Handschuhnummer sein! Wie gehts denn dem Alten?« und sprang ab. -Er hängte die Trense hinter den Bügelriemen ein, gab Unkas einen Klaps -auf die fletschende Zunge, daß er unwillig zurückfuhr, und setzte sich -neben Magda in Bewegung, dem Wallach es, wie ers gewohnt war, -überlassend, ob er mitkommen oder stehen bleiben wollte. Er kam ja doch -immer ... - -Sie gingen still. Zehn Schritte weiter hörten sie Unkas, der nachgetrabt -kam, bis er mit dem Maul an Georgs Schulter stieß, zum Zeichen -getreulichen Vorhandenseins. Jason sagte: »Das gute Pferd.« - -Erst Augenblicke später fühlte Georg ein zartes Lächeln in sich -aufquellen, wie seltsam bestimmt, sanft und bedeutungsvoll es geklungen -hatte: Das gute Pferd ... Er spähte verstohlen an Magda vorüber auf -Jason, der vor sich hin ging. Alles war ein wenig krumm an ihm, Genick, -Rücken und Knie; die schwarzen Augen aber bewegten sich glanzvoll, -lebendig und mit Gelassenheit umher. - -Und währenddes hörte er sich Magda nach ihrem Vater fragen, hörte sie -irgend etwas Unbestimmtes antworten, dann weitersprechen, von Krankheit, -ihrem Gesangslehrer und einer Musikvorlesung, die sie in der Universität -hörte, und daß sie Georg einmal von weitem dort gesehen hatte. Wie es -ihm denn ginge ... Er sehe gar nicht gut aus ... - -»Ach mit mir ist nichts mehr los, Anna«, sagte er gedankenlos. - -»Ach Georg!« - -»Ich bin wieder aktiv geworden.« Er sah starr geradeaus. Sie blieb -stumm. - -Das dauerte eine Weile, bis Georg aus den Anlagen zur Rechten die Front -des Schlößchens schimmern sah, worauf er sich zusammennahm und fragte, -ob die Beiden nicht seine Wohnung anschauen möchten; sie sei eben fertig -geworden. Und dann könnten sie ja auch Benno besuchen und sehn, wie er -Glück strahlte. -- Magda nickte, sie bogen ab, durchschritten die Allee -und wanderten um das Rasenrund. - -Dann sagte Georg aus halber Besinnungslosigkeit, ohne die Worte -unterdrücken zu können: - -»Nun bist du ja wie eine Taube, Anna ...« - -Sie blieb stehen, so daß auch er halten mußte und sich zu ihr wenden, -sah ihn sanft an und sagte: - -»Anna nennst du mich? Ja, behalte nur den Namen.« - -Dann ging sie weiter, dem vorausgewanderten Jason nach, indem sie -anfing, von Renate zu erzählen, und daß sie nun zweimal allwöchentlich -einen Quartettabend hätten; Saint-Georges spiele die Bratsche oder -zweite Geige, Irene die erste, Sigurd Birnbaum Cello, »-- kennst du ihn -nicht von der Schule her?« -- und Georg nickte. -- Benno Prager, Ulrika -und Renate wechselten am Klavier. -- Auch Trios spielten sie, Mittwochs -würde geübt, Sonntags müßte gekonnt werden. - -»Und wenn du magst, Georg, kannst du gern zuhören kommen. Ich habe mit -Renate darüber gesprochen.« - -Georg zuckte stark. Aber das -- -- nein das -- -- Sie wußte ja nicht, -was sie tat. Aber er konnte es nicht hindern, daß ein Freudegefühl -mächtig und mächtiger seine Brust aufdehnte, die Angst daraus -- nein, -das Bittere der Angst vertrieb und Süßes hineinflößte. Er richtete sich -innerlich auf, straffte seine Haltung, und die Welt sah plötzlich -sonniger aus. - -Schon hatte er, den Türschlüssel in der Hand, das geheime Gefühl, eine -andere als die kleine grau gestrichene Tür hier aufzuschließen; -leichtfüßig, die vier Stufen überspringend, strich er voraus durch den -Flur und schlug die Tür zu seinem schönen Zimmer auf, -- zum blassen -Egon, der hübsch in der Gartentür lehnte, hinunterrufend, daß Unkas -draußen stehe. - -Ja, es war schön. Magda schlug die Hände zusammen und machte nur große -Augen. Zwischen den klarweißen Vorhängen der hohen Fenster, im Schatten -des dunkelgrünen Wandstücks hinter ihm, saß der ernste, dunkle -Pensieroso und sann nach über die Welt. Es war ganz feierlich. Von -überall her schimmerten oder funkelten die erlesenen Farben der Kleinode -auf den Bücherregalen, leuchteten die Farben der Frühjahrsblumen, rote -und hellgelbe Tulpen, ein tiefvioletter Busch Veilchen, Narzissen, gelbe -und weiße, hängende stark blaue und rote Petunien und ein riesiges -Gebüsch lichtgelber Mimosenblüten. Jason stand schon unten und -untersuchte aufmerksam die hölzernen braunen Apostel unter dem -Treppendach. - -»Nein, die Lilien!« sagte Magda mit Andacht. Steil aufrecht, edel und -großmütig erhoben sie sich über den dunklen Pensieroso. - -»Nein, meine Bucharas!« sagte Georg und sah zu seiner Freude zum -erstenmal wieder rasches Leben durch Magda fluten, die nun die Stufen -hinunterlief, sich auf die Teppiche bückte, ja sogar sich niederwarf, um -sie zu streicheln. - -»Himmlisch, Georg!« sagte sie, »ganz himmlisch!« - -Worauf er eifrig zu den Fenstern lief, ein neues Blendwerk versprach, -den gewaltigen samtgrauen Vorhang niederrauschen ließ und zugleich eine -Lichtkurbel drehte. Hoch oben im Raum, zwei Meter unter der Decke -entfaltete sich und schwebte eine milchweiße Sphäre, wie ein großer -Kürbis groß, die ein fremdes, fast beklemmendes Mondlicht durch den -dämmerig bleibenden Raum ergoß. - -»Nein, hier muß ich Renate herbringen!« gestand Magda noch langer -Atemlosigkeit. »Jason, was sagst du?« - -Allein kein Jason war vorhanden. Nachsehend fand Georg ihn im -Nebenzimmer, wo er, die Hände auf dem Rücken, den Kopf im Genick, -geduldig zu dem weißen Perserteppich aufstaunte, der das Wandstück neben -der gläsernen Apsis bedeckte. Auch dies Zimmer mit seiner großen -Helligkeit, den Vitrinen, schwarzem Stutzflügel und Peddigrohrsesseln in -der musselinverhangenen Fensternische fand Magda himmlisch; aber sie war -nun wieder stiller geworden und in sich zurückgekehrt. - -Wenige Minuten später geleitete Georg die Beiden den langen Flur -hinunter und durch den Saal vor Bennos Tür. Drinnen sahen sie ihn in der -Mitte stehen, so lang er war und aussehend, als sei er stundenlang, -glücksmatt und strahlend in seinen drei Zimmern vor seinen vielen Möbeln -auf und nieder geschritten, die er nun selig zeigte: vom Messingbett (es -mußte eines sein!) und dem fließenden Waschtisch, an den Bücherschränken -und Schreibtisch von Palisander vorüber bis zum Bösendorfer im schön -getäfelten Musiksaal, glücksmatt und strahlend, als ob er sie alle -geboren hätte. Auf vieles Zureden Georgs wagte er endlich, eine Taste -anzuschlagen, lauschte verzückt, saß augenblicks vor der Klaviatur und -ließ eine Fuge darüber hinrollen, daß die Wände bebten. Und er fing an, -Kunststücke zu machen, fegte den _Des-Dur_-Akkord über die ganze -Klaviatur und lustfunkelte beim Staunen der Andern, da sie den Akkord -drinnen nachbrausen hörten, als wärs eine Orgel. Und er sang einzelne, -besondere Noten in das offene Instrument und freute sich innig mit -Georg, wenn nach Augenblicken aus der Tiefe das Echo sang wie ein -gehorsamer Gott. -- Magda kannte diese Kunststücke schon. Und so -verließen sie den Beglückten. - -»Du bist auch ein guter Mensch«, sagte Magda, als sie den Korridor -zurückgingen, verstummte aber bei Georgs heftigem Auffahren. -- Und ich -betrüge sie ja doch schon wieder! dachte er wild, Renate vor brennenden -Augen. - -Als sie dann unter der Haustür standen, nahm Magda seine Hand und sagte, -indem sie Jason nicht mehr zu beachten schien als den lieben Gott im -Himmel oder vielleicht das Sims über der Tür: - -»Ich wußte wohl, Georg, daß ich dir heute begegnen würde.« Sie lächelte -kindlich: »Ja, was du da nun wieder mit dir angestellt hast, das mußt du -wohl ausessen. Ich, weißt du, kann mich um so etwas nicht mehr viel -kümmern.« -- Schon wieder ernst geworden bei den letzten Worten, fuhr -sie fort: »Ich bin sehr bös krank gewesen, Georg, aber ich habs -überstanden, alles, weißt du, und ich möchte dich nicht gerne ganz -verlieren. In unser Haus kannst du nicht kommen, deshalb sprach ich mit -Renate. Du mußt aber still sein wie ich, willst du?« - -Ganz nahe, während sie dies sagte, hatte Georg ihre Züge unter den -Augen, und während er diese fest in Magdas geheftet hatte, mußten seine -Blicke doch gleichzeitig in ihrem Antlitz umherwandern, mit immer -beklommenerem Staunen die, nur aus dieser Nähe erkennbare Veränderung -der Züge begreifend; denn diese nun blasse Haut, unter der jetzt ein -anderer Stoff als Fleisch zu sein schien, war einmal rosig gewesen, und -es lebten damals lebendige Gefühle lieblicher Art um die verwischten -Linien des farblosen Mundes, der freilich damals schon herabgezogen war -an den Winkeln, aber doch nicht so! Unter dieser glatteren Stirn lebten -jetzt andere Dinge, und es war eine ganz andere Stirn; Fältchen waren im -Begriff, sich an den Außenwinkeln der Augen zu bilden, und noch -- nein, -noch war da nichts Welkes unter den Lidern, nur etwas sehr -Durchsichtiges, und das Haar -- -- Indem glaubte er sich eines andern -Gesichts zu erinnern, das er auch in einem irgendwie bedeutenden -Augenblick so wie dieses gesehn hatte, allein nun hatte er ihr dankend -in die Augen zu sehn, ihre Hand zu drücken, Jason ebenfalls, und zu -gehn. Ohne es gewollt zu haben, wandte er bald den Kopf nach ihr um. Da -gingen sie nebeneinander die weiße, chaussierte Straße hinab, vorüber an -den kleinen Kugelakazien, aus denen die Sternwarte sich erhob, dunkelrot -und schwarzgrün im Efeubehang, Georgs Blicke für Sekunden emporlenkend, -daß er ihren Ernst, ihr Alter, ihre bedrohliche Würde empfand --: Jason, -die leeren Hände auf dem Rücken, schwarz und etwas vorgebeugt, den -Strohhut wieder im Genick. An Magda war nichts zu sehn; sie ging ihres -Wegs. - -Kein Reiz mehr hauchte aus ihr, das wars. - -Hatte sie allen Glanz der Welt von sich getan? Hatte er selber sie -gelöscht wie ein Licht? Aber ihre Augen glänzten anders innerlich, es -gab vielleicht Nonnen, deren Augen wie die ihren in einer sehr gewissen -Flamme brannten, in der sie alle äußeren Lichter reiner und edler -hatten. Dieser Jason hatte ja Augen wie ein Märchenerzähler, man müßte --- aber schon, indem Jason ihm erschien, mit einem riesigen schwarzroten -Turban bekleidet, ein blaues, langärmeliges indisches Hemde am Leibe, -mit untergekreuzten Beinen auf einem Teppich, schob sich das Gesicht -seines Vaters in dieses Bild hinein, so als wäre es dicht über Georgs -Augen. Wann war --? Ach, an seinem Geburtstage wars, nicht am -Geburtstage, am Tage vorher, mittags, -- und schon flogen von allen -Seiten Bildstücke auf Georg zu, die hellen Fenster, und draußen die -Wipfel im Regen, Visionen des Trassenbergischen Landes, und schon der -Saal im kleinen Palais, Benno auf einem Stuhl an der Wand, der -Achattisch, Napoleons Weste, Stirn und Haar, und jählings wieder Magda -an der Erde, am Abend im dunklen Wiesengrün, ihr rötliches Kleid, ihr -ohnmächtiges Gesicht mit geschlossenen Augen und -- -- Georg merkte, daß -er vor seiner Haustür stand, die in ihr Schloß gefallen war, fing an, in -der rechten Hosentasche die Schlüssel zu suchen, vergaß dabei, was er -aus der Tasche holen wollte, wälzte Feuerzeug, Taschentuch, -Schlüsselbund durcheinander, brachte dies endlich hervor und schloß auf. -Sein Zimmer in geisterhafter Mondesdämmerung erschreckte ihn, er riß den -Vorhang hoch, öffnete die Glastür. Sonnenlos war draußen der Garten, er -lehnte sich gegen den Türrahmen, warf den Hut irgendwohin und hing nun -ganz und gar tief über dem Erinnerungsfeld jenes Tages, wo Jasons -schwarzer Körper aus dem Grün der Teichoberfläche erschien, an einem Arm -emporgezogen, und er sah die klebenden grünen Blattlinsen auf dem -bleichen Gesicht. Unkas stand da, verzerrt, der Maler ging neben ihm, -der Maler saß im Zimmer in der Fensterbank, am Tisch, schob seinen -Bleistift in der Blechhülse, und da war das weiße Zeug des Vorhangs an -Magdas Fenster in der Nacht, die kleinen Kronen der Obstbäume in der -Dämmerung, das Spalier an der Hauswand, und nun war er im Zimmer, legte -die weiße, fremde Gestalt auf das offene Bett, -- diese fremde Gestalt, -fremde, fremde, fremde -- wiederholte er immerfort, und die Kälte des -Augenblicks fühlte er, und fragte sich, ob das immer so sei, wenn man -eine Frau --, dies -- Sichentkleiden, dieser schaurige Stillstand in den -erst glühenden Empfindungen, und dies -- Sichzurechtlegen und Rücken und --- Gepeinigt von diesen Empfindungen mußte er sie um so hartnäckiger -verfolgen, erinnerte sich des wilden kleinen Wesens in München, -Fliddridd -- ja, das war freilich ganz anders, viel natürlicher, denn -die war selber äußerst bei der Sache gewesen -- -- aber wenn eine Frau -selber nichts -- -- du mein Gott, ja -- das Blut schoß ihm siedendheiß -in den Kopf -- was ging denn während dieser Zeit in ihr vor, die da vor -ihm lag und still hielt, was dachte sie denn, was fühlte sie denn? und -war sie nicht weiter von ihm weg als der Sirius von der Sonne? Und was -war denn das, was er tat an ihr? Hatte er sie nicht einfach -vergewaltigt? - -Georg schüttelte aufgeregt diese Vorstellungen ab, seufzte, fühlte das -Metall seiner Zigarettendose glühend heiß und feucht in der linken Hand -in der Hosentasche, zog es hervor, zündete mit flackernden Händen eine -Zigarette an und zog mit heftigem Genießen den Rauch in die schwellende -Lunge hinunter. Das abgeglühte Streichholz in die Aschenschale auf dem -Schreibtisch legend, dachte er: Ich wußte es ja, man liebt eine Frau -niemals weniger als in dem Augenblick, wo man sie -- liebt, denn im -glühendsten Momente dann -- ist sie ja auch nicht mehr vorhanden, -sondern bloß -- das Feuer, in dem man selber schon vergeht, und ein -minuten-, ein sekundenlanger Blick Auge in Auge enthält ein -tausendfaches Mehr an Glut und Unauslöschlichkeit. Liebend besitzen kann -ich jede, liebend anschauen -- wie wenige! Aber Magda? -- Magda? -- - -Er merkte, daß er unbewußt nach seiner Brust getastet hatte, denn dort -hatte sich wieder der Druck gezeigt, das Angstgefühl, das lange -bekannte, das im Augenblick schon da war, wenn er allein war, und das -ihn lähmte, das Morgen verschleierte, das Gestern verhüllte, das Heute -entfärbte. Doch fand er, es sei leichter geworden, loser ... - -Es zuckte in ihm, aufzuspringen und in das geheime Zimmer -hinüberzulaufen, das Zimmer der Königin ... Allein in dem Sessel, in den -er gesunken war, saß er unbeweglich fest, bald nichts mehr spürend als -unerkennbare Gedanken und Vorstellungen, die an ihm zehrten. - - - Erasmus - -Renate vernahm, als die Quartettgesellschaft -- Irene, Ulrika, Benno -Prager, Saint-Georges, Sigurd nebst Schwester und Magda -- an einem -Sonntagnachmittag auf dem Rasenplatz im Montfortschen Garten -buntgestreifte Reifen warf, plötzlich aus dem Gang zur Straße neben dem -Haus einen hitzig prasselnden und knatternden Lärm, und kaum daß sie -hinsah, sauste mitten in die schreiend auseinander Stiebenden ein -rädriges Ungetüm, schnaubend und zischend, mit einem ganz ledernen Kerl -darauf. Da hielts stille, und da wars Bogner, von dessen Gesicht eine -Brille fiel, und der lautlos lachte auf seine Art, während sie -ringsherum wie angewachsene Daphnes, wenigstens was die Frauen anlangt, -in mehr oder minder zierlichen Posen verharrten. Aber nun umdrängten sie -ihn und beschimpften ihn wie die Sperlinge, wie die Krähen eine muntre -Eule, und er berichtete, daß er schon wochenlang auf diese Weise unter -die Dörfer über die Haide fliege, -- »jedoch«, sagte er, »nicht jede -vernichtete Gans wird ein Stilleben.« Nun habe er allerlei Dinge -gesammelt, wolle gleich anfangen, und zwar, mit Renates Erlaubnis, in -der Kapelle, die er mit sechs schönen Engeln schmücken wolle. - -»Was kostet ein Engel?« fragte Irene, fragten sie Alle. Alle wollten -möglichst einen Engel haben. Bogner sagte, er verkaufe nur an fremde -Leute und an Herzöge, und da waren sie tief niedergeschlagen, denn -keiner wollte ein fremder Mensch sein, und keiner war ein Herzog, und -schenken lassen konnten sie sich doch auch nichts, woran der Maler ja -nun auch keineswegs dachte. Sie sollten nicht böse sein, sagte er -begütigend, er wollte später jeden von ihnen in schwarzem Papier -ausschneiden, dann könnten sie sich gegenseitig mit ihren Konterfeis -beschenken und dann hätten sie jeder einen Engel. -- Dies, meinten sie, -wäre nicht ganz das Richtige. -- - -Bogner, der sein Rad gegen das Postament der Sonnenuhr gelehnt hatte, -fragte Renate, ob Erasmus im Hause sei, denn mit ihm müßte geredet -werden. Er wäre ein Sonderling und möchte am Ende nicht zugeben, daß er, -Bogner, Renate Bilder schenkte. -- - -Ja, ob er denn wirklich nichts dafür haben wollte? -- - -Nein, es wäre doch seine Angelegenheit und ein Geschenk für sie. -- - -»Bogner,« sagte sie, »das kann ich nicht annehmen.« - -»Schnickschnack,« sagte er, »Renate Montfort kann alles annehmen. Der -Bauer schenkt dem König Wurst, -- sind Bognersche Engel nicht ebensoviel -wert?« - -Renate war überwunden, mußte aber nun fragen, warum Erasmus gefragt -werden mußte. - -»Es ist höflicher«, sagte Bogner. - -»Bogner,« sagte sie, »Sie haben einen schönen Charakter.« - -Renate war plötzlich verstummt, während sie durch das Haus gingen. Warum -sagte ich das? grübelte sie nach, einen schönen Charakter? Woher sind -die Worte? Ein gutes Herz wollte ich sagen ... Da fiel ihr ein, daß es -Worte Bogners waren, aus einem seiner Briefe; ihr Herz zog sich -zusammen; als ob er alles wissen müßte, errötete sie langsam und fing -eilig an, über Erasmus zu klagen. Sie bekomme ihn kaum noch zu Gesicht, -er arbeite Tag und Nacht und komme nicht einmal zu den Mahlzeiten -heraus, sondern esse in der Stadt. Der Onkel sei so still geworden und -arbeite auch unaufhörlich, wenn nicht in der Fabrik, in seinem Zimmer. -Die Aktiengesellschaft war ja längst vollkommen, und nun waren Onkel und -Erasmus Angestellte im eigenen Betriebe, pekuniär war freilich alles -fast wie früher. -- Renate verstummte, da sie inzwischen im Obergeschoß -und vor Erasmus' Tür angelangt waren. Sie klopfte, hörte ihn laut Herein -rufen und öffnete. - -Sie hatte erwartet, daß er am Schreibtisch sitzen werde, aber er stand -mitten im Zimmer, halb den Rücken zur Tür, das Gesicht über die Achsel -hergewandt, die linke Hand auf dem Rücken. Süßlicher Qualm erfüllte den -Raum, und als er sich zur Türe umdrehte, wurde in seiner linken Hand -eine halblange Jägerpfeife mit Troddeln sichtbar. So schien er -umhergewandert zu sein, und die Schreibunterlage auf dem Schreibtisch -war leer. Dieweil er Bogner freundlich die Hand gab und mit seiner -tiefen Stimme ein paar Bemerkungen über seine Belederung machte, sah -Renate sich verstohlen um, da sie noch nie hier oben gewesen war. - -Es sah wie in einer Studentenbude aus; ein schiefes Bücherregal hing an -der Wand, Stapel und Stöße von wissenschaftlichen Zeitschriften lagen -auf Stühlen und Teppich, ein Schrank stand halb offen, ein Mantel hing -vom Sofa an den Boden, alle Bilder hingen schief. Unbewußt rieb sie die -Knöchel der rechten Hand in der Linken, als ob sie fröre. Erasmus' -»Wollt ihr euch nicht setzen?« klang steif genug zur übrigen -Unwohnlichkeit. Bogner, in seiner Lederjoppe breiter aussehend als -früher, lehnte sich gegen den Schreibtisch, sprach von seinen Malplänen; -Erasmus nickte dazu und sagte am Ende nur, wenn es ihm, Bogner, gerade -darauf ankäme, seine Engel in Renates Kapelle unterzubringen, so solle -ers gewiß tun, bezahlt kriegte er ebenso gewiß nichts dafür, und Renate -fragte sich mitleidig und unwillig, ob er Bogners Andeutung vom Schenken -nicht verstanden habe oder absichtlich alles ins Geschäftliche zöge. - -Sie hätten nichts übrig, sagte Erasmus, alles würde auf die hohe Kante -gelegt, »aber«, sagte er, nach seiner Art plötzlich in Wut ausbrechend, -»der Teufel soll mich holen, wenn ich nicht alle Lust verliere, wenn ich -dich jeden Tag in dieser weißen Fahne herumlaufen sehe! Meinst du, wir -sind Bettelleute geworden? Etwas mehr Takt, das möchte ich denn doch -bitten, meine Liebe!« - -Renate fing unwillkürlich an zu zittern, fand aber einen Ausweg. »Wo -hast du mich denn gehen sehn, Erasmus?« fragte sie. - -Er wandte sich weg und murrte, sie habe wohl vergessen, daß sein -Schlafzimmerfenster auf den Garten hinausgehe, und das schien Renate -eine so dumme Ausrede, daß sie lachte und sagte: »Es ist doch Sommer, -Erasmus, da trage ich nur Weiß und doch nicht immer dasselbe Kleid!« - -Auf einmal war sie mutig geworden und wagte die Bitte, ob er nicht auch -in den Garten kommen wolle, Herzbruch komme nachher, um seine Frau zu -holen, der sei doch ein alter Freund von ihm, was der denn denken solle. - -»Sag, daß ich arbeite!« schnob er, jedoch nicht unsanft. - -»Erasmus,« sagte sie, »das ist nicht wahr.« - -Er stand am Papierkorb, hatte den Pfeifendeckel aufgeklappt und rührte -mit Irgendetwas in der Asche, die herausfiel. So gut und dumm ist er, -dachte Renate, nun fällt ihm wahrhaftig nichts ein, seine Stirn ist ganz -runzlig vom Nachdenken, und die Augen quellen heraus. - -»Wo ist dein Onkel?« knurrte er endlich, ohne aufzusehen, blies in die -Pfeife und schüttete den Rest heraus. - -»Erasmus, müssen die Dinge denn mit Gewalt immer noch schärfer und -eckiger gemacht werden?« - -Er klappte die Pfeife zu, legte sie auf die Tischplatte, sah auf und -sagte ruhig: - -»Geht nur, geht, es nützt ja nichts.« - -»Erasmus!« -- bat sie, aber es war nichts mehr mit ihm anzufangen, er -schob Bogner zur Tür, und sie ging mit gesenktem Kopf und rasch an -Beiden vorüber hinaus. - -»Bogner, bin ich so ungeschickt gewesen?« klagte sie draußen. »Wenn ich -nur Saint-Georges gefragt hätte, der weiß immer alles. Sie zucken -natürlich die Achseln.« - -»Ich,« meinte der Maler, »wenn ich er wäre ...« - -Renate hob die Schultern, machte ein feindliches Gesicht und stieg -schnell und mit möglichster Ruhe vor ihm treppab. - -Unten aber zwang etwas sie, stehen zu bleiben, sich nach ihm umzuwenden -und zu fragen: »Wollten Sie mir nicht noch etwas erzählen? In Ihrem -letzten Brief ...« Der Maler nickte, meinte aber, es fände sich wohl -einmal eine Zeit, wenn er erst am Malen sei und nicht könnte. - -»Ach, ihr seid eine Horde von Egoisten!« lachte Renate, »wie soll das -überhaupt mit der Malerei werden, Sie malen womöglich den ganzen Tag?« - -Kohleaufrisse, sagte er, könne er auch nachts machen, aber die Musik -würde ihn gewiß nicht stören, nein, Musik sei sogar ein ganz ungemeines -Geräusch. - -»Himmel, Maler!« brach sie aus, »denken Sie denn nun wahrhaftig nicht -daran, daß Sie uns stören könnten?« - -Sie lachten Beide; nein, er hatte nicht daran gedacht, versicherte aber -nun, daß er ganz wenig Platz brauche, und versprach, immer nur an einem -Fenster zu malen. - -»Sie waren doch auf der Schule mit Erasmus,« sagte sie plötzlich, »wie -machten Sie es denn da, wenn er nicht wollte wie die Andern?« - -Sie standen in der Veranda. Der Rasenplatz war leer, von der Kapelle her -tönten Orgelklänge gedämpft, nur Irene stand neben Bogners Rad, -sanfthüftig und anmutig in ihrem, gegen die Füße leicht verjüngten -weißen Kleid, und drückte vergeblich an Bogners Huppe herum, ohne einen -Ton herauszubekommen. Die schöne Nachmittagsglut fiel in breiten -Streifen durch das Gartengrün, und darüber standen sie schweigend. Im -Rasen erglänzte hier und da ein Stück von einem bunten Reifen. Der Maler -sagte laut: »Beide Hände! Mit beiden Händen gehts!« - -Irene, hochrot im Gesicht, flog herum, blitzte ihn an und entfloh über -den Rasen nach der Kapelle hin. - -»Damals«, sagte der Maler, »blieb jeder sich selbst überlassen; wer sich -abgesondert hatte, mußte sich freiwillig wieder herzufinden. Oder es -wurde geboxt; das geht nun nicht mehr. Erasmus war immer ein Topf ohne -Henkel.« Er hob die Achseln. »Das sind wir Alle im Grunde. Ihr Frauen -solltet wohl eigentlich diejenigen sein, die immer noch eine Handhabe -entdecken. Leiden machen unbeweglich, ich weiß das. Wenn dann kein Gott -zugreift, steht solch einer ewig am Feuer und brennt.« - -»Und da soll man warten, bis sie ausgekocht haben?« fragte Renate, »o -Bogner!« - -»Wir reden in Gleichnissen«, sagte er beinah ungeduldig »Steht der Topf -denn an Ihrem Feuer?« - -Sie stand, ihre lange Kette von rosenroten Korallen in den Händen, und -zog die straffgespannte langsam an den Lippen hin und her. »Ja, in -meinem Hause jedenfalls,« sagte sie endlich leise, »und doch scheint -mir: es ist alles verzaubert, und ich kann den Spruch nicht finden. -Glauben Sie, Bogner,« fragte sie ratlos, »daß ich Josef schreiben soll, -daß er wiederkommt? Ach Gott, ich habe ja keine Ahnung, wo er ist!« -klagte sie mutlos und ließ den Kopf hängen. - -Sie sah Bogners Rechte, die er ihr reichte, legte die ihre hinein, sah -ihn gehn und blieb, wo sie stand, ohne zu denken, ohne sich zu bewegen, -bis wieder Schritte laut wurden und Herzbruchs breite Kaufmannsgestalt -und sein gelehrtes Gesicht hinter der runden Hornbrille in der Tür -erschienen. - - - Mensur - -Georg, am Leibe weiter nichts als das einärmelige Mensurhemd und die -oftgewaschene alte Leinenhose, setzte sich rittlings auf den alten -Bandagierstuhl, kreuzte die Arme auf der Lehne und ließ sich von -Tastozzi eine nach der andern die viele Meter langen, fast handbreiten -schwarzen Halsbinden umwickeln, die, glitschig vom Blut und Schweiß -vieler Wunden des Mensurtages, stanken wie der Teufel. Aber wundervoll -war wieder die unendliche Sorgsamkeit, mit der Tastozzi wickelte, sanft -legend die klebrigen Riemen wie Wundbinden von weicher Gaze, nachtastend -mit der Linken und immer wieder fragend: »Ists so recht, Georg? Drückts -auch nicht?« Nichts drückte, im Handumdrehn steckte der Hals in einer -weichumschließenden Wand, um die noch die handhohe wattierte Manchette -leicht umgeschnallt wurde. »Sitzts?« »Danke, glänzend!« O Tastozzi war -dunkel, aber eine Seele! Das wußte, wenn kein Andrer, Georg. Er sah -dankbar auf, allein Tastozzi hatte sich schon zur Fensterbank hinter ihm -abgewandt, wo die Armbinden aufgehäuft lagen. - -Von diesen sanfteren Empfindungen abgesehn, befand Georg sich nicht in -der bänglich freudigen Laune seiner früheren Waffengänge. Früh erwacht, -nach wenig Schlaf, endlos wachen Stunden übler Peinigungen des -Geschlechts, Halbtraumvisionen in endlos hartnäckiger Jagd, hatte gleich -der Gedanke an seine noch immer nicht restlos vernarbten Kopfwunden sich -festgesetzt: beim Betrachten der kaum behaarten Stelle im Spiegel zeigte -sichs, daß sie wieder geschwitzt hatten. -- Ekelhaft, so mit offenem -Kopf zu fechten! - -Georg blickte finster gegen die blaugetünchte Wand des kahlen kleinen -Raums, der leer war -- Tastozzi setzte seine Eigenart durch, beim -Anbandagieren keinen Zuschauer zu dulden -- leer, bis auf die Tische, -die drüben gehäuft voller Bandagen, Schurze, Drahtmasken und -Sekundantenspeere mit farbigen Körben, an den Wänden links und rechts -dagegen bedeckt waren mit dem ganzen Rüstzeug der Ärzte, auf Wattelagern -ausgebreiteten Scheren, Zangen und Nadeln, flachen Schalen voll rosiger -Sublimatlösung und Bergen von Watte. Georgs Blick schweifte abweisend -drüber hin und heftete sich auf den eigenen nackten Unterarm, den er -hochhielt, die Faust schon im gepolsterten Handschuh, während Tastozzi -die Handgelenkbinde von dünnem gelbgrünem Flanell zart und fest umlegte: -der Arm gefiel ihm, wie er war: glänzend weiß, kräftig und harmonisch -gebaut, und »Schöner Arm, nicht?« brummte er halbfragend. Der Andere -schwieg, die grauen Augen im gelblichen, dunklen und eckigen Gesicht mit -voller Aufmerksamkeit auf die Schleife gerichtet, die seine Finger -knüpften, worauf er, ohne hinzusehn, die erste Armbinde von der -Fensterbank griff und die zu Boden hängende geschickt aufrollte, dann -den Ballen um Georgs Arm abzuwickeln begann. Georg folgte gedankenlos -mit den Augen, immer wieder das leise: »Sitzts, Georg? Drückts auch -nicht?« hörend und die linke Hand Tastozzis sehend, deren Finger er auf -jede neue Lage prüfend aufsetzte; und er wickelte bereitwillig wieder -und wieder zurück, schon auf Georgs leisestes Antwortzaudern hin. Es war -eine Lust, von Tozzi bandagiert zu werden! - -Die beiden krassen Füchse, der jüngere Ellerau und von Germersheim, -kamen hereingeschlendert und fragten Georg zum siebenten Male, wie er -sich fühle. - -»Ich habs euch schon sechs Mal gesagt: glänzend! Macht bloß, daß ihr weg -kommt; nicht wahr!« schnob Georg und bewegte das Handgelenk noch einmal -prüfend, ehe er Tozzi den dünn wattierten schwarzen Seidenärmel über das -Ganze ziehen ließ. - -»Gib mal Speere her, Rudi!« befahl er dann. »Ellerau, geh mal fragen, -wer auf Gegenseite sekundiert. Hoffentlich nicht Everdingen, der fällt -immer -- was ist, Tozzi?« - -»Nichts. Du kannst aufstehn.« - -Georg erhob sich. »Die ekelhafte Hose klemmt immer so!« - -»Man sollte nackt fechten«, hörte er Tozzi hinter sich. -- Rudi, mit -zwei Mensurspeeren in den Händen vor ihn tretend, meinte lachend: »Baden -muß man ja sowieso hinterher.« - -»Hol einen Schurz, Rudi, und red nicht, eh du gefragt wirst.« Georg -führte abwechselnd mit jeder der beiden Klingen in den kürbisgroßen, -blauweißschwarzen Blechkörben ein paar Lufthiebe, und trat zurück, da -sein Gegner, fix und fertig gerüstet, den Arm auf der Schulter eines -Korpsbruders hereinkam und sich verbeugte, ein mittelgroßer, schwerer -Mensch mit gedunsenem Gesicht, aber friedlichen kleinen Augen. - -Während Tozzi ihm dann den von Germersheim gebrachten großen Lederschurz -vorhängte, der, steif wie ein Panzer, eine neue Wolke beißenden Schweiß- -und Blutgeruch ausströmte, fragte er, in Georgs Rücken festschnallend: -»Hast du noch irgendeinen Wunsch? Fürs Sekundieren mein' ich?« - -»Ich wüßte nicht ...« Da kam Ellerau zur Tür herein. »Also wer -sekundiert drüben?« fragte Georg halblaut. - -»Altenburg soll er heißen.« - -»Gott sei dank. Also dann, Tozzi,« fuhr Georg leise fort, »nur eins, -nicht wahr, was ich immer schon sagte: nie einfallen, wenns nicht -unbedingt notwendig ist, -- Abfuhr oder so. Ich -- ja um Gottes willen, -Rudi, bring mir bloß die Speere nicht durcheinander, nicht wahr! Ja, -welchen hab ich denn nun eigentlich ausgesucht? Gieb den noch mal her! -den, wo du grad -- -- nicht den! den andern! Sakrament noch mal, ihr -Füchse seid eine Gesellschaft, nicht wahr!« - -Bei dem Lufthieb aber, den er mit dem empfangenen Speer ausführte, hätte -er sich ums Haar das Handgelenk verrenkt; es schmerzte, und das war ein -Omen. Georg fluchte leise und sagte, er nähme den andern, Ellerau sollte -ihn in der Hand behalten. -- Der erklärte hochherzig, er testierte Georg -ja sowieso, worüber sein großer Bruder hereinkam und sich wunderte, daß -Georg noch nicht fertig war. - -»Die Brille, Tozzi«, sagte Georg beklommen. Der Augenblick, wo das -blindmachende, tränenerregende Eisengestell mit Drahtvergitterung um den -Schädel geschnallt wurde, war jedesmal der schlimmste. - -»Was wolltest du mir denn noch sagen?« hörte er Tozzi fragen, der -gleichzeitig sanft den Brillenbügel -- der Gute hatte ihn zuvor mit -Watte umwickelt -- auf Georgs Nasenwurzel legte. Es ward dämmrig vor -Georgs Augen, dann fühlte er, wie unendlich behutsam die Schnalle am -Hinterkopf zugezogen wurde und -- nicht ohne leise Rührung, daß Tozzis -Linke die kurzen Haare, um sie nicht einzuklemmen, nach oben strich. Die -Riemen zogen sich zusammen, langsam, weich, dann ein kleiner Ruck; die -Brille saß. Wundervoll! - -»Ja -- also du weißt ja, nicht wahr! Ich ziehe beim ersten Hiebe immer -nur an, nicht wahr, komme also erst beim dritten, nicht wahr, auf Terz -heraus und dann mit der Hakenquart. Von der Uhlenburg bolzt zwar sicher, -aber für alle Fälle, nicht wahr -- nicht einfallen! auch wenn du mal -Blut -- -- Also kanns losgehn?« - -Der Raum war jetzt gedrängt voll stehender Korpsleute aller Farben; -Georg wurde durch die Mauer geschoben und geführt, fand sich plötzlich --- was ihm ein leichtes Leeregefühl in der Magengegend versetzte -- vor -der leeren Saalmitte voll blutfleckiger Sägespäne, fünf Schritt -gegenüber seinem Gegner, der puppensteif auf einem Stuhl hockte, das -Gesicht halb verdeckt von der eisernen Brille, an der noch ein -Nasenblech saß, den rechten Ellbogen auf dem hochgestützten Knie seines -Testanten, so daß die Schlägerklinge senkrecht emporstand. Und indem -Georg merkte, daß ihm von hinten ein Stuhl untergeschoben wurde, hörte -er durch das gedämpfte Stimmengemurmel ruhig und vernehmlich sagen: -»Silentium für die Mensur.« - -Mein Leder! dachte Georg und vernahm, sich nach links wendend, -gleichzeitig Tozzis tiefe Stimme: »Mein Paukant ist noch nicht fertig. -Das Leder fehlt. -- Ist es groß genug?« fragte er, Georg die -handtellergroße, lederbezogene Platte von Eisenblech an ihren schwarzen -Bändern vorhaltend. »Ich denke«, erwiderte er, aber nun gabs erst -Aufenthalt. Der Unparteiische trat herzu. Andere von beiden Seiten -steckten die Köpfe vor, alle wollten das »überlebensgroße Leder« sehen, -das »Geburtstagsleder«, wie eine Stimme sagte, bis der Arzt kam, Georg -den Kopf senken ließ, kaltfingrig auf der nackten Stelle tastete und das -Leder für ordentlich erklärte. Bis es über den noch unvernarbten Wunden -festgebunden war, verging noch eine Minute, und Georgs Arm mit der Waffe -auf der Schulter des Fuchsen war unterweil lahm geworden. - -Endlich trat gegenüber der Sekundant vor seinen Fechter und erklärte, -die Drahtmaske vom Gesicht lüftend, sein Paukant trete mit Nasenblech an -wegen Nasenoperation; worauf Tastozzi -- plötzlich überaus schlank und -kraftvoll erscheinend, die Drahtmaske ritterlich im Arm, die Klinge -schräg nach unten -- das Leder verkündete. - -Georg schöpfte tief Atem; gleichwohl haftete die Bedrängnis in seiner -Brust. - -»Silentium für die Mensur.« - -Georg trat zugleich mit seinem Gegner vor, so daß sie wenig mehr über -einen Meter voneinander entfernt standen. Dann erstarrte in ihm die -letzte Beängstigung, während die Sekundanten mit ihren Schlägern den -Abstand von Brust zu Brust maßen, und Georg, noch auf seine Münchener -Art die Faust im Korbe dicht überm Hinterkopf haltend, so daß die Klinge -hinten herunterhing wie ein Zopf, biß die Zähne zusammen. Das letzte, -was er deutlich hörte, war drüben das gellende: »Auf die Mensur!« Zwei -Sekunden später sah er die schräg vorragende Speerspitze des Gegners -sich bewegen und hieb selber zu. Dann kam eine längere Zeit blinden -verbissenen Dreinhauens, kurzes Pausieren, wieder Dreinhauen; er fühlte --- gar nicht wie etwas Dazugehöriges -- keulenschwere Schläge auf seinen -Schlägerkorb und den Arm fallen und sah endlich aus der, vom -Brillenriemen eingeschnürten Stirn dadrüben einen Blutstropfen quellen, -dann einen kleinen roten Riß. Alsbald gab es eine Pause. Ein Mensch in -weißem Kittel, Arzt, erschien und verdeckte für Augenblicke den Gegner. - -Georg, keuchend und schwitzend, atmete erleichtert auf, augenblicks -- -wie immer -- ruhiger geworden beim ersten Blut, und konnte sogar -lächeln, da er mit einem Blick nach links unten Tozzi sich nach seiner -Gewohnheit auf beide Absätze hocken sah, statt nur sich über das -durchgedrückte linke Knie nach hinten zu beugen, -- um aus dieser -Stellung schneller hochfliegen zu können, wenns not war. - -»Silentium für den Fortgang der Mensur.« Durch die Drahtmaske Tozzis -glaubte Georg ein ganz kleines Augenlächeln aufblinken zu sehen. Als -zeige er eine kleine Blume dahinter, dachte Georg dankbar. - -Er hatte aber noch kaum zum ersten Hieb wieder ausgeholt, als er einen -schmetternden und so wütend schmerzhaften Keulenschlag langhin über den -Kopf erhielt, daß er zusammenzuckte und taumelte. Zum Hiebe kam er -nicht, seine Klinge wurde aufgefangen, er hörte Halt schrein, hörte -Tozzis Stimme, dann wieder den Gegensekundanten: »Auf Gegenseite wurde -zurückgegangen?« - -»Infolge der Wucht der Hiebe?« Tozzi. - -»Ich habe nichts bemerkt«, erklärte der kleine Unparteiische, auf seine -Notizkarte blickend. - -Georg, noch halbblind vor Schmerz, wollte »bitte Pause!« sagen, -verhinderte sich jedoch noch rechtzeitig, da das wie ein Zugeständnis -ausgesehen hätte, auch war da plötzlich, von der Maske verdunkelt, -Tozzis Gesicht mit blitzenden Augen vor ihm, aus dem es zischte: »Nimm -dich zusammen, Georg, du zuckst ja!« - -Georg schwieg. Einen Augenblick danach war er im heißen Kampf. Zweimal, -dreimal riß es wie Feuer über seinen Kopf hin, er schäumte vor Wut, -mußte warten, da es wieder Anfragen gab wegen seines Taumelns und -Zurücktretens, -- ich zucke nicht, dachte er weinend und hieb mit -blinden Augen auf eine kaum sichtbare rote Kugel los, dann hörte er ein -Geschrei: »Leder weg!« und wieder die Frage: »Wurde zurückgegangen?« Er -lauerte auf die Antwort nach Tozzis augenblicklichem: »Infolge der Wucht -der Hiebe?« und hörte erst nach Sekunden ein trockenes: »Nein.« - -Georg saß und fühlte Hände an seinem Kopf beschäftigt. Besorgt und mit -einem tiefen Ausdruck von Güte beugte Tozzis Gesicht ohne Maske zwischen -Andern sich über ihn; er fragte ängstlich: »Habe ich noch gezuckt, -Tozzi?« Der bewegte verneinend den Kopf und lächelte. Indem hörte Georg -die Stimme des Arztes über sich, der ruhig bemerkte, die alten Schmisse -seien aufgeplatzt, er verbürge sich nicht für weiteres ... Eine große -Hand umspannte Georgs Schädel, Elleraus gutherzige Augen erschienen über -ihm, bevor er den Kopf senkte. Als er wieder aufsah, stand Tozzi zwei -Schritte vor dem Unparteiischen, verbeugte sich genau wie zu Anfang und -sagte: »Herr Unparteiischer, wir führen ab«, worauf er sich schlank -umdrehte, seinen Speer wütend auf die Erde schleuderte, den Handschuh -von der Hand zerrte und hinterdrein schmiß und ganz bleich flammenden -Gesichts Ellerau mit halber Stimme anfuhr: »Ich habs euch vorher gesagt, -ich! Das war eine Roheit!« dann sich wegdrehte und hinausging. - -Wieder rittlings auf einem Stuhl, jetzt die Stirn auf den Armen, von der -heißen Bandagenrüstung erleichtert, den schrecklich schmerzenden Kopf -von kühlenden Wattebäuschen betupft, fragte Georg den Arzt, ob wieder -genäht werden müßte. -- Das sei leider unmöglich; man müßte es so zu -heilen versuchen. Eine böse Geschichte. -- Wie lange es denn dauern -könne? -- Nicht unter sechs Wochen. - -Georg sank das Herz. Daß die Mensur zu alledem schlecht gefochten war, -stand fest; er mußte Reinigung fechten, dazu kam es vielleicht nicht -einmal mehr in diesem Semester, so war er gezwungen, auch im nächsten -noch aktiv zu bleiben. Sein ganzer Kopf schwamm in Schweiß und Feuer; er -glaubte ohnmächtig zu werden, hob den Kopf schwankend und sah noch -Tastozzis Gesicht und Gestalt, der mit einem Glase Wasser zur Tür -hereinkam. Trinkend kam er rasch zu sich, fröstelte, nahm sich zusammen -und sagte, mühsam scherzend: »Bei der nächsten wetzen wirs aus, Tozzi, -was?« - -Der fragte unbeweglich blickend: »Wann?« - -»In sechs Wochen, sagt der Arzt.« - -Drei Sekunden lang sah Georg Tastozzis Augen fest und seltsam stille -gegen die seinen eingestellt, dann bewegte er stumm den Kopf auf und -nieder und wandte sich ab, sein Glas auf den Tisch zu setzen. Der Arzt -hob die rotgewaschenen Hände voll Watte über Georg, der den Kopf senkte -und sich verbinden ließ. - - - Esther - -Georg, den Kopf mit erhitzenden Binden umwickelt, dampfend von Angst, -Öde und Jammer, saß im tiefsten Sessel dicht vor der Glastür zum Garten -und sah den Regen in massig fallendem Strom durch den dämmernden Abend -niederstürzen, laut rauschend im Blätterwerk der Gebüsche, aus denen -überall weißliche Blüten, zerrissenen Nachtschmetterlingen gleich, -hervortrieben und umhertaumelten. Ein Türgeräusch weckte ihn aus halbem -Schlaf, er hörte Egons Stimme hinter sich und drehte sich langsam um. In -der Kaminecke schwebte, erleuchtet, der grüne Lampenumhang, zwei -Gestalten kamen den Flur herab auf die offene Tür zu, dann erkannte er -Esther und Sigurd und sprang erleichtert auf. - -Herr du meines Lebens, wie sie trieften! Das war ja unerhört! -- Sigurd --- noch über den Stufen oben -- zog mit zwei Fingern den Stoff seiner -Hose vom Bein ab, um zu zeigen, wie er klebte, Esther schwenkte ihren -Hut, daß es spritzte, und schüttelte den Kopf. Da flogen alle Kämme und -Nadeln aus dem Haar, und der schwarze Schopf schlug ihr ums Gesicht; -vorn senkten sich die Bögen des Scheitels, und sie drückte die gewölbten -Hände dagegen, hob das Gesicht und lachte innig, während Georg -erstaunte, denn sie war ja unbeschreiblich kostbar und chinesisch -anzusehen! Diese feinen, halbkreisrunden Brauen unter dem weißen Dreieck -der Stirn -- wie ein marmorner Giebel --, die geschlitzten, glitzernden -Augen, und der Mund, ah, er war erstaunlich süß, denn er hatte einen -Bart, einen entzückenden, verführenden Flaum von Bart über den -Mundwinkeln! Esther hieß sie? Sie war ein wenig klein, Rebekka hätte -besser gepaßt, wie sie dem langen Jakob auf den Zehen den Krug zum Munde -reichte und alle Kamele mit himmlischem Wasser tränkte, -- aber was nun? -Kleider mußten herbeigeschafft werden, dies war ja ein gottvolles -Unwetter! - -Georg hob den Deckel der Truhe in der Kaminecke. - -»Dies«, sagte er, »ist ein völlig ungetragener Bademantel, dunkelrot mit -handbreiter blauer Kante, der steht Ihnen fabelhaft, Sigurd, ziehen Sie -ihn schleunig an! Und hier, aus diesen Seidenpapierhüllen schält sich -- -aha! aha! ein Morgenkleid der Weimarer Werkstätten in ungefährer Form -eines japanischen Kimonos!« Und er machte wollüstig verlockende Augen zu -Esther, welche die Hände zusammenschlug über der breit entfalteten -braungoldenen Seide, bestickt mit schwarzgestielten und kupferfarbenen -Mohnblumen, vom Saum nach oben steigend. Augenblicks öffnete Georg sein -Schlafzimmer, machte Licht, warf das Kleid über sein Bett, schob das -Mädchen hinein und machte die Tür zu. Dann half er Sigurd die klebenden -Hosen vom Leibe, wobei der erzählte, wie sie jählings im Park von dem -Unwetter überrascht und hergeflüchtet seien, natürlich Esthers wegen, -die behauptete, es wäre näher hierher als bis zur elektrischen Bahn, und -das freute Georg über die Maßen. Der blasse Egon half lächelnd bei den -Stiefeln und stürzte davon, um den Tee zu beschleunigen. Esther steckte -den Kopf aus der Tür und rief: »Schuhe! ich habe alles ausgezogen!« Aber -da war nur ein Paar japanischer Holzschuhe in der Truhe mit zwei Zoll -hohen Sohlen, die reichte Georg hinein, und nach einer Weile ging die -Tür auf, und sie kam herein, o wunderbar! auf ganz kleinen, vorsichtigen -Schritten, so daß sich kaum das Kleid bewegte, das sie weit und mächtig -umfloß, die Unterarme vor der Brust gekreuzt, das Haar hochaufgesteckt -und mit einer sehr lieblichen Königinnenhaltung des kleinen Hauptes. Ja, -da stand nun Sigurd und sah wie ein Hoherpriester aus mit seinem langen, -ernsten Gesicht, schweren Augen und dunklem Haarbusch in dem langen -roten Kleid. Egon räumte die Bücher vom niedrigen Tisch, setzte das -Teegeschirr auf, Georg zog die Lampe mit dem grünen Umhang tiefer und -konnte sich nicht satt sehn. Esther drehte sich um und um, und überdem -zirpte das Telephon vom Schreibtisch. Georg nahm den Hörer auf und -vernahm drüben Bennos Stimme, der mit unzählbaren Entschuldigungen -vortrug, Frau Tregiorni, Herr Bogner und Herr Saint-Georges seien schon -den halben Nachmittag bei ihm und säßen nun fest, und nun wollten sie -Tee trinken, -- worauf nach einem unverständlichen Gemurmel Ulrika -Tregiornis Stimme erschien, die Georg beglückwünschte, daß er da sei, -denn Jason al Manach fehle, um Geschichten zu erzählen, und er hätte -sicherlich was vorzulesen. Georg freute sich heftig, bat sie aber, zu -ihm herüberzukommen, da sie etwas Erstaunliches zu sehen bekommen -würden. Das versprach sie gerne. - -Unterweil hatte Esther Tee eingeschenkt und saß auf den Knien ihres -Bruders, der in einen Ledersessel versunken war und sie umschlungen -hielt, während sie vorsichtig die dünne Tasse an seine Lippen setzte, -aber er schüttelte heftig den Kopf, es sei viel zu heiß! worauf sie ihm -gut zuredete, und dann trank er wieder einen Schluck, und sie schwätzte -erstaunlich dummes Zeug dazu. Auf dem Flur draußen aber entstand ein -Getöse von schlürfenden Schritten und Stimmen und unmäßiges Gelächter, -und dann flog die Türe auf mit einem heftigen Ruck, und -- ja da standen -sie! - -Esther nämlich war entsetzt aufgesprungen und stand nun, mit den Füßen -heimlich ihre halbverlorenen Schuhe angelnd, etwas gekrümmt, die Hände -auf den Knien, mit den Armen ihr Kleid am Leibe festdrückend, lächelnd -und errötend --, ja so stand sie dicht neben dem großen grünen -Lampenumhang ihr zu Häupten. Georg stellte vor, aber darauf hörte -niemand; endlich fragte Ulrika: »Georg, was ist dies? Ein Märchenfisch?« - -»Es ist Esther«, sagte er. - -»Aus der Bibel?« - -»Freilich, freilich!« -- Und da gingen sie Alle herum um Esther und -verneigten sich, sogar Bogner, auch Benno, aber schrecklich verlegen. -Saint-Georges schlug vor, daß sie es vormachen sollte. Was? -- Nun, das -aus den Stücken in Esther, ob sie die Stelle nicht kennten? -- Nein! -- -Also mußte Georg eine Bibel herbeischaffen, und er hatte wirklich eine, -eine Kunstbibel, so groß wie der Tod. Saint-Georges schlug auf und las: - -»Und am dritten Tage legte sie ihre täglichen Kleider ab und zog ihren -königlichen Schmuck an. - -»Und war sehr schön, und rief Gott den Heiland an, der alles siehet, und -nahm zwo Mägde mit sich, und lehnete sich zierlich auf die eine, die -andre aber folgete ihr und trug ihr den Schwanz am Rocke. - -»Und ihr Angesicht war sehr schön, lieblich und fröhlich gestalt; aber -ihr Herz war voll Angst und Sorge. - -»Und da sie durch alle Türen hinein kam, trat sie gegen den König, da er -saß auf seinem königlichen Stuhl in seinen königlichen Kleidern, die von -Gold und Edelsteinen waren, und war schrecklich anzusehen. - -»Da er nun die Augen aufhub, und sahe sie zorniglich an, erblassete die -Königin und sank in eine Ohnmacht und legte das Haupt auf die Magd.« - -»Da wandelte Gott dem Könige sein Herz zur Güte ...« - -Ja, so wollten sie es machen! »Lieblich und fröhlich gestalt«, sagte -Georg, es paßte alles genau, und er wollte die eine Magd machen, Sigurd -sollte König sein, aber der wollte nicht, denn er wäre nicht schrecklich -anzusehen, was Esther auch fand, aber das tat sie nur, um davon zu -kommen, und sie protestierte auch gegen Georgs Magdtum, und Ulrika fand -wieder, daß sie zu schlecht angezogen sei als eine königliche Magd, aber -Georg hatte schon einen anderen Kimono aus seiner Truhe geschöpft, der -war so blaßgrün wie ein Morgenhimmel und war zu vielen Teilen bedeckt -mit einem Gewimmel von ganz rosa Wölkchen, silbergerandet, echt -japanische Stickerei, also verschwand sie mit ihm und Esther strahlend -im Speisezimmer, um sich anzuziehn, denn von dort wollten sie -hereinkommen, und sie wollte beide Mägde zusammen darstellen. - -Unterweil tranken sie ihren Tee, und Benno berichtete nachträglich sehr -errötend, daß er auf dem Wege von seiner Wohnung hierher nirgend die -Kurbeln für das Licht habe finden können, und so seien sie entsetzlich -furchtsam den Korridor herangetappt, denn Ulrika hätte geschworen, es -seien überall Schächte und Wolfsgruben in diesem alten Palais, -Saint-Georges aber hatte versichert -- Benno krümmte sich vor -Schamhaftigkeit und Gelächter --, die Wege zu den Dichtern wären immer -dunkel, und dann hatte er einen Schüttelreim gemacht zum Totlachen, und -Ulrika, die alles durch die offene Tür hörte, lachte schon und schrie: -»Nein, wie dumm! Aber herrlich war er! Sagen Sie ihn, Benno!« Und Benno -brachte wirklich den Schüttelreim heraus, und er hieß: - - Ein Dichter bei den Milben saß - Und lernte sie das Silbenmaß. - -Herr du meines Lebens! Georg wollte sterben vor Lachen. Er fiel auf -seinen Stuhl am Schreibtisch, spreizte die Beine von sich, hob den -linken Arm hoch und ließ die Hand wie eine Traube auf seinen Kopf -hängen. »Und lernte sie das Silbenmaß!« rief er, »das ist großartig! Das -ist ganz großartig! Das ist sogar keß!« - -Im nächsten Augenblick schrie Ulrika: »Fertig! Ist der König auch -fertig?« Flugs wurde der Schreibtisch beiseite geschoben, ein Sessel vor -die Treppe gerollt, der Vorhang vor die Fenster gelassen, -- die große -Mondkugel schwebte milchbleich in Lüften auf und verwandelte den Raum in -eine geheimnisvolle Palastgegend voll feenhafter Dämmerung, Sigurd -setzte sich majestätisch zurecht und rollte die Augen, und da kamen sie -nun herein, Esther wie zuvor, die Stirn süß gesenkt, ängstlich genug, -Stirn und Wangen überflogen von Erröten, hinter ihr Ulrika in fließenden -Himmelsmorgenfarben, weit zurückgelehnt, die Schleppe in ausgestreckten -Händen, die Augenlider tief gesenkt, das dunkelrote Haar in zwei dicken -langen Zöpfen neben den, im grünlichen Licht durchscheinenden zarten -Wangen herabhangend. Ja, das war ein bezaubernder Anblick, die Männer zu -beiden Seiten sanken mit flach zusammengelegten Händen auf die Knie und -sangen nach der schönen Melodie: >Reich mir deine Hand! deine weiße -Hand!< die Worte: »Schenk mir einen Kuß! schenk mir ei--nen Kuß!« Esther -aber sah den König angstvoll an, wankte zierlich und wurde auf das -anmutigste aufgefangen. Dann stand sie wieder, schleuderte aber -plötzlich wider alle Verabredung ihre Holzschuhe links und rechts den -Männern an die Köpfe und stürzte sich, dunkelgoldumwogt und nacktfüßig -in die Arme ihres königlichen Bruders. Georg sagte: »Das ist ein -duftender Abend!« - - - Drittes Kapitel: Juli - - - Die Friedliebende Gesellschaft - -Renate saß am Abend des ersten Juli, ihres Geburtstages, am Schreibtisch -und schrieb im letzten Licht des Sommerhimmels: - -»Mein lieber Josef: - -Hiermit schenke ich dir zu meinem Geburtstage eine Stunde von ihm. Eine -sehr kostbare Stunde, denn unten sitzen sie Alle um Jason in der -dämmerigen Veranda und hören ihn kleine Geschichten erzählen. Du kennst -Jason ein wenig durch meine Berichte. Wirklich ist er zu den Lebendigen -zurückgekehrt. Nun erzählt er Geschichten. Geschichten, die er -augenscheinlich selbst macht. Dann sitzen wir Alle um ihn herum, und er -erzählt, halblaut, leise plätschernd, den blassen Mund immer ganz leicht -gekräuselt, beinah möchte man sagen: kaustisch, aber das ists nicht, es -ist bloße Freundlichkeit, immer geruht er ganz leicht, und seine Langmut -ist ja nun unendlich. Die schwarzen Augen wandern unaufhörlich umher, -vom Einen zum Andern, und immer muß man sich freuen, wenn man angesehn -wird. Er weiß auch immer eine Antwort, nicht wie Georges, der Aufschluß -erteilt und Dinge klarlegt, sondern da ist irgendwie eine sanfte, ganz -sanfte Unabänderlichkeit in seinen Worten, sie sind so da wie eine -kleine Wiese, sie stehen da wie ein Büschel Blumen, -- was ließe sich -dagegen einwenden? Aber er spricht niemals von selber, man muß ihn immer -anreden, und dann weiß er immer etwas, ach, ich könnte stundenlang davon -schreiben! Niemals widersteht er; wenn einer spazieren gehen will, Jason -geht mit; wenn einer im Garten sitzen möchte, Jason sitzt mit im Garten; -wenn einer was erzählt haben will, Jason erzählt gleich was. -Aufschreiben wollte er nichts, sagte er, er wäre kein Literat, aber -nachdem ich ihn gebeten habe, hat er mir schon dies und das Stück Papier -gebracht, darauf war mit ganz kleiner, zierlicher Schrift eine seiner -Geschichten aufgeschrieben, und wenn der Bogen zu Ende war, war die -Geschichte auch aus; das nehme er sich so vor, sagte er. - -Aber weiter zu den übrigen >Allen<, die ich erwähnte. Da ist: - -Magda, die Du kennst, doch wurde sie freilich durch Krankheit und -Schicksal recht verändert. Wenn Du Dir eine sehr mädchenhafte und sehr -deutsche Madonna vorstellen kannst, eine Madonna, die nicht geboren hat ---, dann kannst Du sie sehn, wie sie jetzt ist. Siehe, es giebt -Menschen, die werden durch vieles Leiden -- wie der Stahl durch -Bestreichen mit dem Magnetstein -- magnetisch für anderes Leid, und wer -das seine mit ihr in Berührung bringt, dem weiß sie es sanft zu -entziehen. -- Glück, hörte ich Dich einmal sagen, ist eines der -häufigsten Fremdworte in der Erdensprache. Nun -- dann hat meine Magda -jene Sprache verstehen gelernt, aus der es stammen mag. - -Ulrika kennst Du, und sie ist dieselbe; mir nicht ganz nah wie bisher, -so sehr ich sie liebe. Sie muß einen seltsamen, mir unbekannten Geist -mit sich herumtragen, den vielleicht verstehen mag - -Bogner, doch will ichs nicht beschwören. Sie sind viel zusammen, soweit -er nicht, wie zurzeit, vor einem Wandstück in der Kapelle sitzt, die er -mit musizierenden Engeln auszuschmücken beschäftigt ist. Um es gleich zu -sagen: Was Bogner sich unter Engel vorstellt, ist nicht mehr und nicht -weniger als ein heroisches Wesen, dem er diesen Namen giebt. Er hat -einen Haufen Studien um sich herstehen und malt. Nein, mit ihm ist -nichts anzufangen, obwohl er nicht ohne Bereitwilligkeit ist; jedenfalls -wenn er nicht malt. - -Irene kennst Du. Mit ihr, Georges, dem gleichfalls Dir bekannten Benno --- dessen Namen ich nur anzuschlagen brauche, um Dich den ganzen -rührenden Akkord mit allen Ober- und Unterstimmen seines Wesens hören zu -lassen -- und einem Dir Unbekannten, der das Cello spielt, haben Ulrika -und ich eine Quartett- und Triovereinigung an Mittwoch- und -Sonntagabenden. Was das Cello angeht, so bist Du vollkommen ersetzt. Er -heißt - -Sigurd Birnbaum, studiert Medizin und ist neunzehn Jahre alt. Menschen -beschreiben kann ich nicht gut, so mußt Du Dich mit der Versicherung -begnügen, daß ich ihn schön finde und so aussehend, daß ich ihn Unkas -getauft habe nach dem letzten Mohikaner. So sieht er aus; so geht er -- -schwer und mit den Füßen etwas einwärts, wie diese, noch ein wenig -tierhaften Menschen sich den Gang auf langen Wanderungen erleichtern -sollen; so einfältig ist sein Gemüt, kampfbereit sein Geist -- und im -übrigen habe ich einen Vers darauf gemacht, der später kommt. Seine -Schwester heißt - -Esther, ist das Lieblichste von der Welt, gleicht aufs Haar einer -kleinen Chinesin, wird von allen liebgehabt und kann sonst auch gar -nichts, obwohl sie sehr klug ist. Da sie aber etwas tun muß, so haben -wir einen Fond gegründet für Handarbeiten, denn darauf versteht sie -sich. Was kann das Mädchen himmlische Sachen sticken! Wie ich gestern in -Dein Zimmer komme, sitzt sie da mutterseelallein über einem großen Stück -schwarzer Seide und näht an einer handtellergroßen Scheibe in der Mitte -aus kleinen Rosen, von kunstvoll zusammengefalteten, lichten -Seidenläppchen; in handbreiter Entfernung soll ein dichter Doppelkranz -von gleichen Rosen herum, und das Ganze bekommt eine altgoldene -Spitzenborte, die ich hergeben werde. Leider ist sie ganz arm. Also hat -sich der wohlhabende Teil unserer Gesellschaft zusammengetan und einen -schönen Fond gegründet zum Einkauf von unermeßlichen Seidenstoffen, -Kanevas, Wolle, Seidenfäden und so weiter, und die gute Esther wird die -ganze Gesellschaft mit Kissen und Morgengewändern, Fenstervorhängen und -Tischdecken versorgen. Außerdem ists unendlich behaglich, wenn einer -vorliest und jemand dabei sitzt und stickt. Jason kann ihr Geschichten -erzählen, wenn sie allein ist. - -Prinz Georg wäre dann der letzte zu erwähnende, und Du kennst ihn. Nicht -wahr: immer freundlich, gutherzig, ehrlich, immer gern literarisch -- -oder muß es in diesem Fall literatisch heißen? -- und im übrigen so wie -der Vers, den ich auf ihn gemacht habe. (Kommt später!) Allzuhäufig -sieht man ihn nicht, denn er ist in einen >Geheimbund<, wie er das -nennt, eingetreten, wo er >sich in den Sitten wilder Völkerschaften -übt<. - -Ein Name -- sagte Josef einmal -- ist was der Henkel am Topf; also -nennen wir uns die Friedliebende Gesellschaft. Wir kommen und gehen in -diesem Hause, wie es uns beliebt, und unser einziges Statut ist, uns nur -einmal am Tage zu begrüßen. - -Ich -- ja was kann ich zurzeit andres tun, als gute Menschen zu -versammeln und zu denken, daß sie sich nichts zuleide tun und, solange -sie beisammen sind, sich des Lebens freun. Sie haben ein jeder ihre -Arbeit, draußen; also werden sie auch alle ihre Leidenschaften und ihre -Leiden, ihre Feindschaften, ihre Seufzer und ihre Plagen haben, so wie -ich die meinen, aber sobald sie hier sind, das weiß ich, herrscht -Wohlsein, und unsere Gemeinsamkeit ergeht sich auf dem Boden guter -Arbeit erholenderweise, wie der Bauerntanz auf der Tenne. Dazu ist -Sommer, alles blüht, die Farbe herrscht, in der Natur und an den -leichten Kleidern von uns Frauen. Nach der Hitze des Tages leben sie -Alle bei Dunkelwerden vollends auf, wandern umher, hören von fern -irgendeine Musik, gehen über die Wiesen hinaus, an den Fluß, singen -unter den Sternen und hinüber zu den Lebensbäumen des Friedhofs; wir -leben gegenwärtig, gedankenleicht, unbedacht, geschwisterlich. Kommt die -Nacht, steht Schlaf bevor, sind wir jeder wieder allein. Dann herrscht -das Unsrige, -- das Eigentliche wohl. Mag es. - -Und so ist es schön. Wer ins Haus kommt, der weiß als Gewissestes den -Maler in der Kapelle; der findet Esther, von buntem Zeug umgeben, im -gotischen Fenster, findet Jason im Hintergrund, findet Georg, eine -Seidensträhne durch die Finger ziehend neben Esther, findet Benno am -Klavier phantasierend, findet Irene, Arme voll Blumen zusammentragend, -die sie ihrem arbeitsamen Mann heimschleppt, damit er auch was hat, -findet Magda unter den sechs Linden, unserer >kleinen Allee< hinter der -Kapelle hin- und herschlendernd, als ob sie innen sänge, der armen Frau -Marie Grubbe gleich, als sie noch ein Mädchen war und sehnsüchtiger als -mein Kind Magda, und findet uns schließlich Alle beisammen in der -Kapelle unterm Gewölk von Klängen voller Sterne, Blumen, Blitze und -Engelsgesichter.« - -Renate merkte, daß es so dunkel geworden war, daß sie ihre eigenen -Schriftzüge kaum noch erkennen konnte. Sie streckte die Hand nach der -Lampe, die Glühbirne im kleinen gelben Schirm flammte auf, sie blickte -einen Augenblick geblendet nach oben, erkannte das weiße Gesicht -Ech-en-Atons über ihr, lächelte und schrieb weiter. - -»Zum Beschluß eine kleine Szene von der heutigen Geburtstagsfeier. Zu -diesem Zweck wurde Renate in ihrem allergrößten, dem glühroten Kleide -mit blauem Moireemuster, das Du kennst, nebst der grünen Halskette von -Dir, vor der Orgel aufgestellt, und die ganze Gesellschaft kam im langen -Zuge zur Kapellentür herein, indem sie nach der Melodie: >Mariechen -sitzt auf einem Stein, einem Stein, einem Stein< den schönen Choral -sangen: >Renate hat Geburtstag heut, -burtstag heut, -burtstag heut!< -Als sie, Georg als der Durchlauchtigste voran, am Podium angelangt -waren, setzte Benno sich an die Orgel und spielte ganz leise den -Jungfernkranz in Fis-Moll, während Einer nach dem Anderen das Podium -bestieg und seine Gabe überreichte. Herrliche Dinge gab es da. Georg -schleppte eine große, chinesische Göttin der Barmherzigkeit aus -mattgetöntem Porzellan, die wie eine Muttergottes aussieht und lieblich -lächelnd segnet. Hinter ihm kam Irene mit einem halben Dutzend -langhängender Seidenstrümpfe in allen Farben an jeder Hand. Ulrika trug -einen Stoß Noten auf dem Kopf wie ein Negersklave. Sigurd hatte alles -und Alle photographiert, Menschen, Haus und Garten, und trugs in einem -schönen Album unter dem Arm herbei. Magda hatte Spitzen geklöppelt, dünn -wie Spinnweb, der Himmel mag wissen, wo sie die Zeit hernahm, die immer -nur für Andere da ist! Saint-Georges brachte eine ererbte Kostbarkeit -herbei, einen grünen Porzellanmops, den ich schon immer hatte haben -wollen, und Esther kam, in ausgebreiteten Händen einen grauen Florschal, -den sie mit silbernen Vögeln bestickt hatte, ein Wunderwerk der Kunst. -Zuletzt kam Bogner und hatte Stiefel gekauft. Das war zum Totlachen! Das -heißt, Stiefel nannte es Irene, die vor Gelächter sterben wollte, aber -es waren ganz schlichte, kleine, gelbe Schuhe, und der Maler -versicherte, er hätte tagelang nachgedacht, bis ihm beim Anblick der -Schuhe in einem Schaufenster die Erleuchtung gekommen sei, und er hatte -es gut gemacht, denn als Renate ihren linken Schuh abstreifte, saß der -neue wie angegossen. Bogner hatte wirklich einen schönen Charakter, -obgleich Renate im Herzen zitterte und knirschte, nachdem sie eine Woche -lang sich vorgestellt hatte, was er ihr wohl malen würde. Darum, als -durch das Gedränge der Übrigen auf dem Podium, die gegenseitig ihre -Geschenke bewunderten und anpriesen, der gute Benno sich endlich -durchgewunden hatte und mit unzähligen Verbeugungen, Erröten und -Stammeln eine zierlich geschriebene Kantate auf den 133. Psalm -geschrieben: >Siehe, wie fein und lieblich ists, daß Brüder einträchtig -beieinander wohnen< überreichte, wäre sie mit Freuden in Tränen -ausgebrochen. -- Stiefel! jauchzte Irene, der Maler hat Stiefel gekauft! --- Aber nun, wo war Jason al Manach? Siehe, da kam er herein, wie stets, -wenn er verlangt wurde, nickte Allen herzlich zu, gab Renate die Hand -und seinem Wohlgefallen Ausdruck, daß wieder einmal Alle da wären. Ja, -ob er nicht wisse, was heute sei? Richtig, da fiel ihm ein, daß -Geburtstag war. Er hatte es vollständig vergessen. O Jason, wie wurdest -du da verhöhnt! Sein berühmtes Gedächtnis! -- »Saint-Georges, was sagen -Sie dazu?« fragte ich geknickt. Er aber, der alles weiß, fand das -erlösende Wort: »Was hielte stand vor Renate?« sagte er. »Sogar Jasons -Gedächtnis versagt.« - -Renate aber ergriff eine perlgestickte Tasche, holte eine Handvoll -gekniffter Zettel hervor und verteilte sie, befahl darauf, daß jeder, in -der Folge, die sie bestimmte, den Inhalt laut und deutlich vorlese. -- -Renate hatte nämlich die ganze Gesellschaft mit Ritornellen beschenkt. -Sie selber begann, Magdas Hand, die neben ihr stand, ergreifend: - - Magda, -- vom Leide - Geführt, in unserm Kreis der kleinen Freuden, - Ist unser Aller Trost und Herzensweide. - -Georg mußte lesen: - - Georg, der Trasse, - Stürzt sich ins Leben wie ins Meer der Schwimmer, - Drum sieht er rings -- nur Masse, Masse, Masse. - -Ulrika las, nicht ohne Erröten: - - Ulrika, holde! - Gott segne deine immer klaren Augen - Und fülle sie mit immer tieferm Golde! - -Irene las und dankte mit Knicks und Lächeln: - - Irene, hell, - Beschwingt und tönend wie die schwarze Amsel, - Ist nur vergleichbar einem -- Ritornell. - -Maler Bogner las, nachdem er mit einem Blick auf seinen Zettel: Eiweih! -gemurmelt hatte: - - Der Maler Bogner - Ist unsres Hauses festgefügte Säule, - Ein Selbsterzeugter und ein Selbsterzogner. - -Esther Birnbaum las ganz leise und tief errötend: - - Die kleine Esther - Ist eine Königin ganz im geheimen. - Wie schön ist das! Nun nennen wir sie Schwester. - -Sigurd las ein wenig ernst und scheinbar betroffen: - - Sigurd. -- Ein Mahner - An Gideon, der Makkabäer Nachfahr, - Im Adlerschmuck vom -- letzten Mohikaner. - -Saint-Georges beschloß: - - Saint-Georges, der Stille - Im Hintergrund, ist regsam wie im Fachwerk - Die niemals ruhende, geschäftge Grille. - -Und nun hob Jason ein ganz furchtbares Lamentieren an, weil er keins -bekommen hatte. Die Anderen verhöhnten ihn maßlos, weil das die Strafe -für seine Vergeßlichkeit sei, Renate aber entschuldigte sich, sie hätte -wohl an ihn gedacht, aber keinen Reim weder auf Jason noch auf al Manach -gefunden, und davon habe sie nicht loskommen können. »Ach, du lieber -Gott,« sagte er, »es ist doch so leicht wie Wattepusten: - - Jason al Manach. - Zu nichts zu brauchen als zum Märchenplappern, - Vielleicht zu einem Reim auf Lukas --« - -Statt des letzten Wortes ließ er den Mund erschreckt und kindlich halb -offen stehen, als habe er nun auch das Reimwort vergessen. - -Eine Weile später fand Renate sich von Saint-Georges gefragt, warum sie -selber sich vergessen habe. »Ach, Georges,« sagte sie, »Sie können gern -noch eins haben, obwohl nur die Hälfte von mir selber ist und die andere -Hälfte von Mörike: - - Des Freundes Achtung - Ist vor Renates Versen sehr gesunken: - Sie stieg hinab >zum Abgrund der Betrachtung<.« - -»Warum so giftig?« sagte er freundlich. - -Von zwei Menschen, die zur Vervollständigung meines derzeitigen -Lebensbildes gehören würden, habe ich bislang geschwiegen und -- will es -nun bis ans Ende tun. - -Dein Auftrag ist ausgeführt. Cornelia Ring lernte ich schon vor längerer -Zeit durch einen Zufall kennen und denke seitdem nicht an sie, ohne zu -bedauern, daß sie nicht unter uns sein kann. Übrigens befindet sie sich -in meinem >Weichbild<, denn Maler Bogner hat sie zu sich genommen, und -sie hält ihm alles instand, von den Strümpfen bis zu den Pinseln. - -Ja, Josef, was fange ich mit dem Brief an, den Du mir da geschrieben -hast? Ein Feuilleton über >den Unfug der Vereinigten Staaten<. Du -hättest es an die Frankfurter Zeitung schicken sollen. Darf ichs -nachträglich für Dich tun? - -Gott befohlen, Josef! - - Renate.« - -Ohne das Geschriebene noch einmal zu überlesen, legte sie die Bogen -zusammen, faltete, kuvertierte sie und schrieb die Adresse. Danach -löschte sie das Licht, trat einen Augenblick ans Fenster, ließ sich von -der lauen Nachtluft an die Gesellschaft in der Veranda erinnern und ging -treppunter. - - * * * * * - -Als Renate die dunkle Halle betrat, war von der Veranda her so kein Laut -hörbar, daß sie glaubte, es sei niemand dort; doch gewahrte sie gleich -darauf im linken Fenster den Schatten eines Menschen, der wohl draußen -auf der Fensterbank saß, und nun auch im grauen Rechteck der Mitteltür -einen weiblichen Schattenriß, undeutlich, der draußen stand. Auf dem -weichen Teppich kam sie wider Willen unhörbar bis zur Tür und sah nun, -daß doch wohl Alle da waren, aber so still wie die Büsche im Garten und -kaum zu erkennen im Finstern. - -Der weibliche Schatten war Magda, die dicht an der Treppe zum Garten an -der Brüstung lehnte, halb verhangen von dem schwarzen Rankenwerk des -Weins und Jelängerjeliebers, das vom Verandadach herabhing. An der -andern Seite des Eingangs stand, fast wie sie, Ulrika. Ganz ferne links -in der äußersten Ecke war der weiße Schein von Jasons Gesicht tief unten -zu erkennen: er mußte auf einem Taburett, fast am Boden sitzen. In -seiner Nähe saß, kaum zu unterscheiden von der Brüstung und den Blumen -darauf hinter ihr, Esther; an der Wand Saint-Georges, am roten Glühpunkt -seiner Zigarette zu erraten. Der im Fenster hockte, war Sigurd, und -neben ihm, als Einziger bescheidentlich auf einem graden Stuhl aufrecht, -saß Benno, wie er pflegte: ein Knie überm andern, die Hände darauf, den -Rücken gebogen, das Gesicht ein wenig emporgerichtet. Und Irene? -- Sie -saß wohl verborgen hinter der Rückenlehne des Sessels, ganz in Renates -Nähe. So war nur Bogner abwesend, -- und Georg -- in seinem Geheimbund -vermutlich. - -»Erschreckt nicht,« sagte Renate behutsam, »ich bin es.« - -Ein Schimmer -- Irenes Auge -- erschien über dem Sesselrücken. Die -Übrigen bewegten sich Alle ein wenig, doch keiner sprach. - -»Ich habe,« bemerkte dann Jasons Stimme fein aus dem Hintergrund, »wie -man von feindlichen Batterien sagt, sie sämtlich zum Schweigen -gebracht.« - -»Wie denn?« fragte Renate. - -Für Jason antwortete Irene nach einer Weile tief: »Er erzählte so -seltsam ...« - -»Darf ich wissen was?« fragte Renate, in einen leeren Sessel gleitend. - -»Ach,« hörte sie Esther aufatmen, »wie kann man das sagen? Es sind ja -keine Geschichten. Nur ein Stück Leben, das er erscheinen läßt, wie -- -wie in einer _Laterna magica_, so farbig und so leise.« - -»Wenn Sie«, ertönte Saint-Georges' Stimme nach einer Zeit, »den Inhalt -wissen wollen: Da war ein Buchbinder. Der stand von früh sieben Uhr bis -abends zehn am Arbeitstisch. Er hatte einen sehr alten, weißbärtigen -Vater, der noch helfen konnte, eine große, üppige Frau, die an besonders -arbeitsreichen Tagen zugriff, und einen zehnjährigen Jungen, der ins -Realgymnasium ging, aber albern war, nur herumlief und lachte, nichts -lernen konnte; ein halber Idiot. Damit der einmal zu leben habe, mühte -sein Vater sich tagein tagaus, ohne Festtag, ohne Freude als eben diese. - -»Eines Tages fing er an, sonderbare Reden zu führen. Dann verschwand er. -Dann kam er wieder, redete irre, tobte. Dann kam er ins Irrenhaus, und -dort starb er bald darauf. Fast das ganze Guthaben des Sparkassenbuches -hatte er vergeudet. - -»Nun stellte die Frau sich an seinen Platz. Sie hatte alle Fertigkeit -gut begriffen, nur die feineren Einbände machte der Schwiegervater, aber -bald konnte sie das Vergolden der Titelschriften und dergleichen besser -als der Alte, ja mit Frauengewissenhaftigkeit machte sie's sogar -akkurater als der Tote, in freilich längerer Zeit. Und dann starb -plötzlich der Schwiegervater. Ja -- und dann fand man sie eines Morgens -am Bett des Knaben, sitzend, über ihn gebeugt, und das Zimmer war -gefüllt mit Leuchtgas.« - -»Ja,« setzte Saint-Georges nach einer Weile hinzu, »das wars.« - -»O nein, das wars nicht!« sagte Ulrikas Stimme hinter Renate. »Wir haben -es doch alles gesehen! Die lange Werkstatt mit den blinden, verklebten -Fensterscheiben voll rostiger Eisenquadrate, und den langen -Arbeitstisch, darunter das Werkzeug, -- und wie der Mann mit seinen -dunklen Augen und dem zurückfallenden schwarzen Kinn und den wehmütig -hängenden Mundwinkeln soviel plappert, immer seine kurzen: Ja, ja, -- -jawohl, jawohl, -- ja ... Und dann der Geruch ... der Leim auf dem Herd, -der Kleister, Druckerschwärze und gekleistertes Papier, und Leder, und -Kaliko, jedes ...« - -Benno räusperte sich. »Ach,« sagte er, »und draußen der schmale Hofraum, -das alte Pflaster voll Gras, und in der Ecke der alte Leierkasten, der -herrenlos war ...« - -»Und gegenüber den Fenstern«, redete Sigurd, »die vier braun -gestrichenen Türen der Klosette mit dem Herzloch oben, nicht wahr, und -dahinter die alten Fachwerkwände, die Fenster und Gardinen, und die -Geraniumstöcke im Sommer ...« - -Nun schwiegen sie wieder. Renate, schon -- wie den Geruch der Blumen, -des Rasens, des ganzen Atems der Sommernacht -- den Duft des Erzählten -aufsteigen fühlend, bat innerlich: nur weiter! so bekomm ich vielleicht -doch noch das Ganze ... - -Und überdem hörte sie Esther wieder: - -»Es war so traurig! Am traurigsten war, wie die große, dunkle Frau da am -Bett sitzt und nicht mehr lebt. Nein,« überbot sie sich, »das Traurigste -war wohl doch, wie der Mann da die Dirnenbekanntschaft gemacht hat, und -er nimmt seine Frau mit zum Stelldichein --« - -»Ich glaube,« fiel Magda leise ein, »am schrecklichsten fand ich, wie er -dann seine Frau auf den Rücken klopft und sagt, sie wäre aber doch die -Beste und --« - -»Nein, Magda,« raffte Esther sich erregter auf, »das wars doch nicht! -nicht das, sondern -- wie sie selber Jason das alles erzählte und dabei -Zeitschriften heftet und weint und alles zwei und dreimal wiederholt und ->du bist doch die Beste<, wie er das gesagt habe, und sie sagt, daß sie -das ja auch immer gewußt hätte, er wäre nur bloß eben ... Und wie sie -eigentlich gar nichts Besonderes drin fand und -- -- sags doch, Sigurd!« - -»Keinen Namen, keine Bezeichnung dafür, nicht wahr? Nur ein Unglück, ein -furchtbares Unglück; so furchtbar, daß es sich nur hinnehmen ließ ...« - -Sie waren verstummt. Renate konnte, da es heller vor ihren Augen -geworden war, nun von Allen die Helligkeit der Gesichtszüge und die -dunklen Flecken der Augen erkennen, in denen es glänzte. Plötzlich tat -sich neben ihr, fast laut, entrüstet und verwirrt, Irenes Stimme auf: - -»Und das Ganze kommt nur von der fehlenden Anzeigepflicht der -Geschlechtskrankheiten.« - -Ein Lächeln, kaum hörbar rauschend, wehte im Kreise umher. Und -Saint-Georges sagte: »Bravo! Die Frau ihres Mannes.« - -Bevor Irene auffahren konnte, wurde jetzt Jasons melodische Stimme -hörbar, der langsam sagte: - -»Ihr Kinder! ihr Kinder! Wie seid ihr doch sonderbar! Meint ihr denn nun -eigentlich, die Menschen in meinen >Geschichten< seien andre als ihr -selber, daß ihr von alledem sprecht, als ob ihr nie dergleichen gesehn -hättet? -- Und in meiner letzten Geschichte, von dem Buchbinder, da -waren sie wohl euch wieder nicht gütig genug bei all ihrem Unglück, denn -war die Mutter nicht öfters hart zu dem albernen Jungen, und es gab auch -wohl Schläge, und der Alte erst, der immer schlechter Laune war und -brummte, obwohl er tun und lassen konnte, was er wollte, um sechs Uhr -Feierabend machte und sein Bier trank, und als der Sohn tot war, sprach -er obendrein schlecht von ihm. Denn über ihnen Allen war das -Unsichtbare, das, was Irene andeutete, was sie alle Drei wußten und -nicht wissen wollten, das Verschulden, das doch keines war, sondern in -Wahrheit -- Verhängnis. Verhängnis? Sie waren es doch selber, in ihnen -wirkte es, ihr Leben wars, das, wonach sie sich eingerichtet hatten, und -sonst nichts.« - -»Ja,« fing Esther an, »ich weiß nicht, Jason, -- deine Menschen sind -doch sonderbar. Irgendwas -- glaub ich -- fehlt. Sie sind nicht gütig -und nicht schlecht, nicht tugendhaft und nicht edel, und auch nicht -gemein. Eigentlich sind sie gar nichts.« - -»Sind sie nicht vielleicht -- leidend?« - -»Oh freilich, Jason ...« - -»Und das, kleine Esther, ist zu wenig, wie? Außerdem, meint ihr, muß -jemand noch etwas _sein_, wie? Nicht nur so -- leben, das Leben -verrichten, sondern auch gewissermaßen eine Vorstellung davon haben. -Sage mal -- seid ihr denn wohl anders? Seid ihr auch so etwas -Bestimmtes, so ein Bild mit was Gutem oder was Schlechtem darauf?« - -»Nein, Jason! aber --« - -»Aber die Menschen in Geschichten, das habt ihr so gelernt aus den -Geschichten, die müssen außerdem noch etwas bedeuten, nicht wahr? -Nämlich: Charaktere; dann: Frömmigkeit, Festigkeit, Güte, Heimtücke, -Verwahrlosung, Verkommensein und dergleichen schöne Dinge mehr, die es -gar nicht giebt.« - -»Aber Jason!« - -»Weil es eben nur Menschen giebt, und jeder Mensch die Bewegungen, die -Handlungen und all das, was sein Leben ist, tut, wie sie aus ihm kommen, -weil er so ist, aus allen seinen bunten Eigenschaften, die über jeden in -Menge, ganz gleichmäßig von der verschiedensten Art und immer nur -teilweise freilich, niemals ganz, ganze Eigenschaften, abgewogen und -ausgeteilt sind, und bloß ihr, ihr habt daraus die Begriffe gemacht, und -wieder aus jedem Begriff einen ganzen Menschen, und darum verlangt ihr -dann, daß die Menschen -- die Andern! euch selber seht ihr ja niemals -- -sich nach den Begriffen richten, danach wachsen und nach ihnen sich -gebärden sollen, nicht nach sich selber. Dann fehlt euch an jedem etwas, -darum scheint euch alles so unzulänglich, es könnte noch so bitter und -zerlitten sein, darum kommt ihr immer höchstens zu eurem: er hat doch -auch so viele gute Seiten ... darum seid ihr nie zufrieden miteinander, -und Großmut und Wahrheit, Glaube, Liebe und Hoffnung, die gehen ihrer -Wege.« - -Da waren sie auf einmal Alle aufgestanden. Auch Renate erhob sich, -betroffen, und bewegte sich mit den Übrigen auf Jason zu, sie waren Alle -um ihn herum, und mehrere Stimmen fragten: Was ist es denn, Jason, du -weißt es doch, was fehlt uns Menschen, wie sollten wir sein, wie uns -halten, wie uns helfen? -- - -Er hatte aber die Augen geschlossen und sah fast unwillig aus und -kränklich, und sie wollten sich schon abwenden -- denn war er nicht -selber vor kurzem erst von den Toten auferstanden? -- als er die Augen -wieder aufschlug, und sie erschraken wohl Alle wie Renate vor diesen -schwarzen Augen, die plötzlich im Dunkel waren, viel schwärzer als alles -Schwarze, so glanzlos, als ginge es dort in die schwarze Ewigkeit -hinunter. Dennoch, obgleich er die Augen nun langsam von Einem zum -Andern bewegte, schien er durchaus keinen wirklich zu sehn, sondern -etwas ganz andres. Sie selber aber fühlten nicht ohne Schauder an seinen -Augen: da war es, wonach sie gefragt hatten. Nennen ließ es sich nicht, -aber -- es war da. Es glänzte aus dem Schwarzen herauf, es -- nein, -Jason lächelte, das war das Ganze. - -Sie gingen aber schweigsam auseinander danach, kaum mehr als stumm sich -die Hände reichend und zunickend beim Abschied; nicht Zwei blieben -beisammen. - - - Schatten - -Georg, am letzten Spielabend vor Semesterende in die Terrassentür -tretend, sah, daß er wieder, wenn auch gegen jede Absicht seinerseits, -zu spät gekommen war: um die kleine Tafel zur Rechten vor der Hauswand -saßen die wenigen Korpsbrüder, wie stets in zwei Gruppen am Kopf- und -Fußende; ein hellrot beschirmtes Windlicht in der Nähe jeder Gruppe -malte ihre Schatten beweglich an der Wand empor. Eigentümlich still -schienen sie Alle, -- die Füchse unten mit einer Bowle beschäftigt, -schweigsam, ganz ohne den gewöhnlichen Lärm bei dergleichen; oben die -Zwillinge, Nordeck, Sousa -- ah auch Schwalbe saß da und in Zivil! -- -Ellerau hatte die Uhr gezogen, sah jetzt Georg unbestimmt entgegen, dann -vor sich hin, indem er, ein Lächeln unterdrückend, mit vorgeschobenem -Kinn die Oberzähne auf die unteren setzte, einen Augenblick, -- worauf -er seine Haltung löste; und Georg wußte wohl, das hieß mit Worten: Auch -heute wieder verspätet; da es aber der letzte Abend vor Semesterschluß -ist -- Schwamm drüber! -- - -Georg, innerlich aufatmend, trat näher, in dem er »Guten Abend« sagte -und »Na, so still heut?« - -Ellerau sagte: »Ja.« Er griff mit der Hand in die innere Brusttasche und -zog einen Brief heraus, sah darauf, streckte dann die Hand mit ihm gegen -Georg und sprach: - -»Diesen Brief hat Tastozzi für dich hinterlassen. Er ist tot.« - -»Tot?« fragte Georg erschreckt. »Tozzi? Tastozzi?« verbesserte er sich -verwirrt. »Mein Gott ...« - -»Leider. Er hat sich heute nachmittag in seiner Wohnung erschossen. -Bisher weiß niemand warum. Er war uns ja immer völlig verschlossen. -Vielleicht giebt er dir Aufschluß.« - -Georg, den Brief mit winzig kleiner Aufschrift am oberen Rande in der -Hand hin und her drehend, ruckte sich zusammen, trat an die leere Stelle -des Tisches, riß den Umschlag auf und hielt die herausgezogene längliche -Karte in die Nähe des Lichts. -- Kleine, kaum leserliche, verschnörkelte -Schriftzeichen ... Er entzifferte mühsam allmählich: - -»Lieber Georg: - -Fremd allen Andern, hatte ich Deine Augen immer lieb. Nun, indem ich -fortzugehen bereit bin, sehe ich, daß niemand da ist, von dem zu -scheiden wäre, also auch niemand, den der Grund meines Fortgangs etwas -anginge, zumal ihn nennen, das teuer gehütete Geheimnis meines Daseins -preisgeben hieße. Da sehe ich Deine Augen vor mir in jener Sekunde, wo -man Dir mein Fortgehen berichtet, und mir scheint, daß sie verstehen -möchten -- und nicht so wie die Andern. So reiche ich Beides -- Grund -und Geheimnis -- Dir, schon abgewandt, ohne mehr wissen zu wollen, ob Du -trauern wirst oder richten. - -In beiden Fällen: Beklage mich nicht. Es ist gut so. - -Aber ich erhoffe ein wenig Trauer. - - Tastozzi.« - -Georg, nichts begreifend, bemerkte jetzt ein kleines Zeichen, einen -schrägen Strich zwischen zwei Punkten in der rechten Ecke unten, das ->wenden< zu bedeuten schien, und drehte scheu die Karte herum. - -»Es geschah aus Liebe zu einem Knaben«, las er. - -Er zuckte leise zusammen. Langsam erschienen hinter dem Licht die Köpfe -der Sitzendem von denen keiner ihn ansah. Schwalbe blickte nach oben; -die Andern sahen vor sich hin. Viele Sekunden lang blicklos dies vor -Augen, merkte Georg, daß er etwas in sich niederkämpfte, merkte, daß es --- Widerwille war, und drückte es entschlossen hinunter. Sich -aufrichtend, sagte er leise: - -»Ja. Es steht hier. Er wünscht aber, daß ich es für mich behalte.« - -»So.« Ellerau streifte mit einem Blick über Georg hin; die Andern lösten -ihre Haltung und bewegten sich. Keiner sah Georg an. - -Da spürte er im Augenblick klar, daß er und der Tote für diese -zusammengehören. Keine Feindschaft -- doch auch nicht Freundschaft. Sie -hatten ihn -- außer vielleicht Schwalbe -- nie begriffen. Wie war er zu -ihnen geraten? - -In einem leichten Hochmutsgefühl neigte er den Kopf und ging stumm -hinaus. - -Die Haustür öffnend empfand er jählings eine so übermächtige Sehnsucht -nach Renate, daß er sich geblendet fühlte und blindlings die Richtung -nach ihr einschlug, bis er Schritte beharrlich neben sich bleiben merkte -und seitwärts blickend Schwalbe erkannte, der lächelte und sagte: »Ich -komme mit dir, wenn du erlaubst.« - -»Du weißt, weshalb er starb?« - -»Ich weiß es nicht,« sagte Schwalbe, »aber -- ich ahnte es immer.« - -War es zu ahnen? fragte Georg sich. War ich so arglos? - -»Und was denkst du davon?« - -»Was soll ich davon denken?« fragte Schwalbe frisch und fest. »Wenn sie -Jugendliche verführen, sind sie Verbrecher, und wenn sie das nicht tun, -sind sie zu beklagen. Und ich weiß nicht, ob man sie beklagen -- kann. -Es sind Menschen mit einem andern Weltbild. Ihre Leiden und ihre Freuden --- abgesehn von der Verbanntheit -- sind keine andern als die unsern.« -Das klang sehr klar und schön in der singenden Mundart. - -Eine Weile, rasch vorwärtsgehend durch die sommerwarmen, dunstigen -Straßen im Licht der Bogenlampen, dann der Laternen in kleineren Gassen, -blieben sie still, bis Georg sich Hardenbergs erinnerte und halblaut -sagte: »Auch Hardenberg ...« - -»Hardenberg war homosexuell«, versetzte Schwalbe hurtig. - -»Man sollte«, fing Georg bald darauf wieder an, »eine Stadt für sie -gründen, wo sie leben könnten und zufrieden sein ...« - -»Ja! Das sollte man tun. Das erinnert mich daran, daß ich Hardenberg -einmal über das Mönchtum sprechen hörte -- du kennst ja seine Weise --, -und zwar kam er bald auf den Trappistenorden, der, wie er sagte, der -einzig mögliche sei. Und dann schilderte er uns das Schweigen dort. Er -machte es wunderbar. Er zog gleichsam mit vollen Händen das Schweigen -aus den Dingen dort, aus den Mauern, den Zellen, aus jedem Gerät, aus -Gießkanne und Gebetpult, aus Spaten und Egge, aus den Blumen im Garten, -den Bäumen. Wir waren ganz eingehüllt in das Schweigen, obwohl er selber -unausgesetzt sprach. Und ich muß sagen, ich war ganz erschrocken, als er --- nach seinem wunderschönen -- Gesang auf dies Schweigen -- plötzlich -von den Vögeln sprach, die auch stumm geworden waren und nicht mehr -sangen im Klostergarten.« - -Ergriffen sagte Georg leise: »Wie schön!« -- und blieb stehn. - -Sie waren auf der kleinen Brücke zwischen alten Häusern, die zur Insel -hinüber führte. Rechts unten strömte der schnelle, dunkle Fluß zwischen -alten Mauern, am Ufer drüben blinkten Lichter aus winzigen Fenstern, aus -dem Grün und Blumenrot der Dachgärten, deren Silberkugeln und weiße -Geländer in der Dämmerung schimmerten. -- Still sahen sie eine Weile -dorthin, dann legte Georg die Arme auf die Brüstung, und in der dunklen -Wasserfläche unten erschien ihm das Gesicht des Toten mit jenem -besorgten Ausdruck, den es bei Georgs letzter Mensur gehabt hatte. - -Ach, wußte er nun, was hat denn auch er andres getan und gewollt als -- -Lieben. Seine Natur schrieb ihm diese furchtbare, angstvolle Stille vor, -aus der er niemals heraustrat, er, der mit keinem sprach, bevor er -gefragt oder angeredet wäre. Sich um Andre bemühn, dienen, gütig sein, -war sein Wunsch, und da fand er denn dies heraus ... Georg mußte -sprechen; er sagte, Schwalbe auf dem Geländer lehnen sehend wie er -selber, breitbrüstig und ruhig: - -»Es war doch schön, wie er um uns Alle besorgt war beim Fechten. Bist du -je von ihm anbandagiert worden? Erinnerst du dich, wie er die Brille -zuzog? Diese Sanftheit des Ziehens, bis mit einem kleinen Ruck die -Brille saß, wie sie nicht besser sitzen konnte?« - -»Jawohl. Wie du das sagst, scheint mir, es war doch etwas Hellenisches -um ihn. Nicht nur, daß er einen wundervollen Körper hatte --« - -»Ja, hast du ihn gesehn? Ich kam zufällig einmal dazu, wie er sich eben -ausgezogen hatte zur Mensur und dastand, ganz grade, das Mensurhemd in -erhobenen Armen überm Kopf, wie ein gelber Marmor.« - -»Hellenisch war, scheint mir, vor allem seine Art, uns zum Kampfe zu -rüsten. Der Kampf war ihm mehr als uns, war ihm eine schöne Sache, und -einmal -- ja einmal habe ich ihn richtig reden gehört. Da sprach er ein -paar Worte über italienisches Fechten, das so viel beweglicher sei als -unser stumpfes Dreinhaun und den ganzen Körper erziehe und durchbilde -...« - -Man sollte nackt fechten ... Tastozzis leise Worte, irgendwann gehört, -zogen durch Georgs Erinnerung. - -Sie schwiegen und sahn auf das endlose dunkle Fließen unter ihren Füßen. -Georg dachte: - -Aber warum hellenisch? Er wollte im Grunde doch nur dienen. Oh der arme -stumme Trappist mußte eine Leidenschaft haben, mit Handlung, mit der -sorgsamen Dienstleistung auszudrücken, was ihn beseelte. Aber ... Nun, -auch wenn es ein körperlicher Reiz und ein sinnliches Verlangen war, zu -den Gliedern der jungen, geschmeidigen Menschen eine Begierde: die -Begierde war es doch nicht, die seinen schönen stummen Händen diese -Sanftheit gab, diese Behutsamkeit, diese Freude am verständnisvollen -Behandeln; die kam aus seiner ganzen Natur, von der das andre nur ein -kleiner Teil war, und so fand er denn in seinem Leben diese vorsichtige -kleine Stelle, wo er ein wenig geben konnte und -- ein wenig nehmen ... - -Schwalbe richtete sich auf. - -»Ich muß leider nach Hause«, sagte er. »Es war schön hier, mit dir zu -stehn und an Tozzi zu denken.« Er streckte seine breite Hand aus. »Auf -Wiedersehn am Grabe, Georg. Übermorgen ist die Beerdigung. Gute Nacht.« - -Georg, der noch gern ein Wort gefunden hätte auf das zugetane »es war -schön hier, mit dir ...« fand nichts als stummes Zunicken und Lächeln -beim Händedruck, mit dem sie sich trennten. Gleich darauf befand er sich -außerhalb der Stadt, mitten in den dunklen Wiesen. - -Auf Wiedersehn am Grabe ... klang es ihm da im Ohr. Merkwürdig, sagte -man so? Das habe ich noch nie gehört, -- und es ist ja auch der erste -Tote, den ich kenne. Auf Wiedersehn im Grabe ... das klang fast genau -so. Armer Tozzi! -- Sonderbar, da war er uns Allen ganz fremd, und doch -nannten wir ihn mit der liebevollen kleinen Abkürzung. So muß doch bei -allem Abgekehrtsein von ihm in jedem geheim ein kleines Gefühl für ihn -gehaust haben, das sich, für Alle unhörbar, ganz laut mit diesem Namen -nannte ... - -Hineilend auf dem vor ihm dämmernden, hellen Streifen des Fußpfades am -Ufer über dem hastig mitkommenden, glucksend sich manchmal -überstürzenden Fluß, sah Georg jetzt wieder Renates einzig schöne -Gestalt in der Ferne, und heiß schwoll ihm die Brust. Nie noch fühlt ich -solche Sehnsucht nach ihr, dachte er, ja ist nicht dies das -allerseltsamste, daß sie mich betäubt, wenn ich vor ihr stehe, und daß -ich sie -- vergessen hatte, wenn ich allein war? Überseltsames Wesen, -Renate! -- Er lief und lief. Fast feurig aus den dunklen Gründen der -Wiesen strömte erdiger und grasiger Geruch und der Nachdampf von Regen. -Jenseits des Flusses fern zackten Schattenrisse von Türmen sich über -schwarzem Gewipfel in das glühende Nachtrot des Städtehimmels. -- -Seliger sich fühlend, befreiter, zuversichtlicher erklomm Georg den -Hügel der Bismarcksäule, überschritt langsam die Plattform, faßte mit -schweifendem Blick die schwarze Gegend in sich, ein Erglänzen in der -hochgewölbten Fläche des Stroms, eine lose Schar Sterne, leis blinkend -im Finstern, und stürzte sich mit einem schweren, beklommenen Lustgefühl -die Böschung hinunter in die Wiesen. - -Weißlich leuchteten von drüben die Grabhäuser zwischen den Lebensbäumen. -Jetzt dämmerte ein Lichtschein darüber, seltsam unwirklich und groß. -Langsam erschien eine fleckige Scheibe, der Mond, rot wie neues Kupfer -im grauen Himmel; eine schwarze Spitze reckte sich vor ihm, die er bald -mühelos überklomm. Georg stand und hatte das Gefühl, als ob er nicht -weitergehen könne, ehe es Tag wurde. Schon hing der Mond dort, mächtig -groß, voll und nun bernsteingelb, rauchig; schieferblau der Himmel, -- -und Georg ging langsam weiter im Finstern, vorsichtig die sumpfigen -Stellen umgehend, und das einzige Geräusch weit und breit war das -Rascheln der Halme und Blumen, die um seine Füße schlugen. Da bewegte -sich ein Schatten links vor ihm, ein weißer Fleck erschien im Dunkel, -- -ah, das waren die alten Omnibuspferde, die hier einen Sommer lang -Erholung genießen durften. Er kam ihnen näher, er kannte sie ja, da -stand das schwarze ganz nah als ein dickes Schattenpferd, er hörte, wie -es emsig Gras abrupfte, hörte es schnurpsen; und da war auch der Schecke -mit den großen weißen und dunklen Placken; der stand still, schnoberte -und trabte heran; er liebte die Menschen. Georg tastete mit der Hand -zwischen den Drähten der Einfriedigung hindurch und empfand mit -freundlichem Schauer das gewaltig Lebendige, die weiche, samtige -Tierschnauze, die aus der Nacht kam und sich befühlen ließ, empfand das -sonderbare Geström der Fremdheit aus diesem großen, stummen Wesen, das -mit Fell bekleidet war und ein großes, weiches Maul hatte. -- Armer -Tozzi! murmelte er leise. -- Still stand das alte Pferd und atmete tief -und laut. - -Im Weitergehen war es Georg, als schluchzte etwas in der Dunkelheit. War -ihm selber danach zumute? -- Auf einmal hörte er eine Melodie, ein paar -lange, süß hinzitternde Noten, eine Stimme, Worte dazu, aber all das war -in ihm selbst, die Nacht umher totenstill, doch erkannte er jene schöne -Kirchenarie von Stradella, die ihm Magda vorgespielt hatte, weil sie sie -singen wollte, und er hatte ihr auf ihre Bitte einen deutschen Text -dazugeschrieben, der sich in der Kirche singen ließ. Jetzt hörte er die -Worte deutlich, hörte die kleinen Tonreihen, die langen Pausen -dazwischen, hörte, niederschwebend von den Sternen, die sanfte, -melodische Frage: - - Wer weint in Finsternis? - -Und wieder, nach einer Pause: - - Wer schluchzt im Dunkel? - -Begütigend nun eine milde Stimme: - - O du, sei still! - -Chorstimmen, begütigend, hallten daher: - - Siehe doch funkeln - Sternenschein gewiß! - Siehe doch funkeln - Sternenschein gewiß! - -Holder, gesteigerter, entzückter schwoll die Melodie: - - Lasse das Weinen, - Gott hilft den Seinen, - Gott, der die Gepeinigten - Aufrichten will ... - -Jetzt? Im helleren Mondlicht deutlich sichtbar stand ein neuer Schatten -ferne auf Georgs Weg; ein menschlicher wars. Mystische Schauder -schweiften im Dunkel. Es konnte der Tod sein, der dort stand, zwischen -ihm und dem Friedhof, einen schwarzen Arm gegen die goldene Mondscheibe -emporstreckend. Hoch oben im Nachtwind verhallten die zarteren Stimmen -... - -Georg schritt weiter, behutsam, beklommen; gleichzeitig glitt der -Schatten vor ihm davon; war es eine Frau? trug er antikes Gewand? -- Nun -verschwand er vom Weg, und als Georg die Stelle erreichte, wo er -abgebogen sein mußte, wars dort, wo auch Georg abzubiegen hatte, wenn er -zum Montfortschen Hause gelangen wollte. -- Wie still es war! Wer ging -dort und führte ihn ungerufen? Da war schon das Gittertor, da der -Graben. Der Schatten, unhörbar, glitt zwischen den, von weitem -verschlossen scheinenden Stäben hindurch, erschien an etwas höher -gelegener Stelle im vollen Licht; es war Renate. - -Renates Haltung war es, obgleich sonst nichts an der Schattenfigur -Renate zu erkennen gab. Georg folgte ihr leise von fern, süßliche Angst -im Herzen, andächtig, sie nicht zu stören, zitternd, voll Melodien. Er -sah sie die schräge Ebene emporgleiten, unter den Bäumen schwinden, wo -Finsternis stand, eine Uhr schlug nicht fern zweimal hell und -zuversichtlich. Er hörte die Gartentür zufallen, trat leise hin und sah -Renates Schattenriß im Lichtschein zur Rechten, der die offene -Kapellentür ausfüllte. Es trieb ihn näher, er versuchte, lautlos durch -das Pförtchen zu kommen, es gelang, er schlich unterm Buschwerk über den -Rasen bis zur Tür, trat rechts neben die Stufen und hatte den Raum vor -sich, der von einer unsichtbaren Lichtquelle erleuchtet war. Renate -stand mitten darin; sie trug eine lose grüne Tunika mit kurzen Ärmeln, -die bis in die Nähe der Knie hinabreichte; die Farbe des am Boden -schleppenden Untergewandes war nicht zu erkennen, aber das Grün -leuchtete an ihrer Brust, wie sie sich jetzt zur Seite drehte, ihm halb -den Rücken wendend, auch der weiße Nacken, -- und nun erschien sie Georg -draußen im nächtlichen Wiesenland, hinter ihr der Mond, -- er ging auf -dem Grassteig auf sie zu, an ihr vorüber, sah ihr weißes Gesicht und die -Augen ohne Blick wie eines sinnenden Gottes, und das fremde Gewand. -- -Wo kommt sie her? wie kommt sie zu uns? in dies Land? dachte er. Sie ist -ja fremd hierzuland. - -Georg sah, daß sie mit leicht geneigter Stirn zu jemand sprach, den er -nicht gewahren konnte; das mußte wohl Bogner sein. Georg gab es einen -Stich, er wollte davon, blieb aber und sah hin. Ach, ihr gesenkter -Scheitel, der gewellte Bogen von der Stirn zum Ohr, ähnlich, doch nicht -ganz so tief wie bei Esther, und dies seltsame lichte Braun des Haars -... - -Sie sprach: »Noch nicht fertig, Bogner?« »Morgen früh«, hörte Georg die -Stimme des unsichtbaren Malers. »Will es nicht gehn?« Sie sprach ruhig, -mit verdunkelter Stimme. Die Antwort des Malers blieb unverständlich; -nach einer Weile kam wieder Renates Stimme: »Sie sollten schlafen.« Wie -schön verhallte das im leeren Raum! - -Nun wars still. Renate stieg auf das Podium, setzte das Windwerk in -Gang, öffnete das Manual und spielte bei geschlossenen Registern ganz -leise den Choral: >Nun ruhen alle Wälder< mehrere Male. - -Schweigen. Georg, im Dunkel an die Mauer gepreßt, durch die Zweige über -ihm emporblickend, sah einen und zwei kleine Sterne, zitternd im Ewigen. -Er vernahm das sanfte, melodische Brausen in der Nachtstille und -wünschte, nur Herz zu sein, in diesem beweglichen Rauschen ruhend, -atmend darin, wie der still im ziehenden Gewässer schwebende Fisch ... -Er zuckte leise; seitwärts in der Tür über ihm stand jemand, Renate; sie -stieg nieder, verschwand im Gebüsch und kam nicht wieder zum Vorschein; -nach langer Zeit hörte er unendlich leise das Geräusch ihrer Füße auf -dem Steinboden der Veranda. Sie war im Haus. Georg trat auf die Stufen -und ging in die Kapelle. - -Bogner nickte bloß, als er ihn begrüßte. Nein, der wunderte sich ja wohl -über nichts. Er saß da in der Nähe der Orgelempore, hatte die Fäuste auf -den Oberschenkeln und sah nach oben gegen sein Gemaltes. Da er nicht -rauchte, steckte Georg ihm eine Zigarette zwischen die Finger, zündete -sie ihm an und rauchte selbst eine. So, die Hände in den Hosentaschen, -ging er hin und her, die fertigen Gemälde betrachtend, drei an der Zahl, -zwischen den Fenstern gegenüber dem Eingang. Es war wohl geplant, daß -die Wand oben zwischen den gotischen Spitzbögen über den drei Meter -breiten und zwischen fünf und sechs Meter hohen Gemälden mit ihrem -Himmel bemalt werden sollte bis zum Beginn der Wölbung, denn die -Bemalung endete oben nicht rechteckig, sondern zerfloß in dünnes Gewölk -und Grau, ähnlich dem Stein. Georg stand vor dem äußersten Engel. - -Engel? freilich nur, weil er faltiges Gewand trug und ein Instrument in -Händen. Georg trat zurück und betrachtete sie alle drei. Oh, sie waren -groß! Obgleich sie alle in der Ferne sich durch ihre Landschaft -bewegten, erschienen sie riesenhaft und übermenschlich; die Haltung -ihres Schreitens war in Formen von Eisen gepreßt, die Luft mußte scharf -und bitter schmecken, mit solcher Schnelle wurde sie von diesem riesigen -Pilger durchschnitten. Es war keine Beleuchtung da, Licht lag in der -Luft. Ja, da schritt er, der engelhafte Bote, in grauviolettem, wehendem -Gewand, heroisch von Zügen, eine kleine Harfe in ausgestreckten Händen, -vor einem kleinen dunkelgrünen Föhrenwald mit grauen Stämmen; gelbe und -schwarze Haidelandschaft ringsum, aber unendliche Stille herrschte; nur -der Engel ging, ausgreifend vollen Vorderfußes wie ein Löwe, -emporfedernd den Hacken des andern. Oh, siehe daneben den andern in -Mattrot, wandelnd mit der Gitarre um einen kleinen grauen Teich unter -einigen Zedern! Und hier, der Schwefelgelbe blies die gegen Himmel -gerichtete lange Lure auf violettem Haidehügel mit kleinen -Wacholderstauden, schwarzgrün. Georg wanderte vom einen zum andern; sie -blieben, um sie herum schien sich die Landschaft zu wandeln im -Vorbeifliehn, es wehte von ihren Kleidern, sie bewegten sich und holten -aus, sie fegten dahin, -- nein, aber dies war nur der eine, der -Violettgraue mit der Harfe, der so hinjagte über die runde Welt; um die -andern wars still, sie standen. - -Georg wandte sich und trat hinter den Maler. Da saß er in seinem -buntgescheckten Kittel unter der tief hängenden, eigens für ihn -angebrachten Osramlampe, die scharf strahlte, umgeben von Töpfen und -Pinseln. -- Ah, das war unglaublich! Dolomitisches Geklüft, rosengrau, -Felswände, Terrassen, übereinander gesteigert, immer ferner, immer -tiefer, bis sie ganz ferne mit wagrechtem Kamm gegen den mattblauen -Himmel abschlossen, und dort, hoch oben, weit fern, saß der weiße Engel, -so groß und deutlich, daß er noch überm ungeheuerlichen Geklüfte ein -Riese schien, aber er war doch schmaler, doch zarter als die andern; es -war eine Frau, sie hatte kein Instrument, sie lauschte und zeigte die -zarten Züge und das dunkelrote Haar der Ulrika Tregiorni. - -Georg blickte näher hin, ob sie es wirklich sei, -- nun, die Ähnlichkeit -war schwach und bestand hauptsächlich im Haar, aber er bemerkte bei -dieser Gelegenheit nun, welch eine simple Malerei dies war, -- aber -welche Kunst! Was mußte das gekostet haben, bis die Sparsamkeit dieser -zarten Kontraste, dieser Flächen, dieser Linien herausgepreßt war aus -der Zahllosigkeit der Möglichkeiten. Was aber diesen Engel anging -- er -war kaum zwei Schuh groß und hielt das Kinn in der Hand des -aufgestützten linken Arms --, so hatte er keinen rechten Arm, und dieses -schien es zu sein, worüber Bogner sich den Kopf zerbrach, denn da -standen auf der Erde unterschiedliche Arme um ihn herum, die Hand nach -unten, als sollte der Engel seinen rechten Arm ein wenig hinter sich -aufstützen. - -Bogner sah auf zu ihm, hatte rote Flecken im grauen Gesicht und schien -verwirrt. - -»Ganz schön, nicht?« sagte er. -- Georg legte ihm eine Hand auf jede -Schulter und sagte feierlich: »Bogner, Sie sind ein edler Mensch.« - -Bogner ergriff einen der Kartons mit der Kohlezeichnung eines nackten -Frauenarms, Ulrikas Arm, wie es schien, nicht sonderlich schön, aber -durcharbeitet, durchseelt; auch eine Hand, locker ausgestreckt, war noch -auf dem Karton. Ja, das war diese seltsame Klavierhand, hager und mit -unzähligen Runzeln auf den Fingergelenken in der locker gewordenen Haut. -Da fiel Georg Renate ein, und es kam ihm, Bogner geradeswegs zu fragen: -»Warum lieben Sie nicht Renate Montfort?« - -»Ach, ich!« wehrte der Maler unbetroffen ab, wandte sich aber nach einer -Weile ein wenig um und fragte, ob Georg glaube, daß sie ihn lieben -könne. -- - -»Lieber Gott, Bogner,« sagte Georg, »danach sollte der Mensch doch -zuletzt fragen! Ich glaube, Maler, Sie sind ein Individuum gänzlich ohne -Leidenschaft.« - -»Muß denn bloß so heißen, was sich sexualiter äußert, Prinz?« fragte -Bogner, stand auf, setzte seine Kohlezeichnung an die Erde, reckte sich -und fing an, hin und her zu gehn. - -»Übrigens«, sagte er, »könnte ich auch wie der Tobias -- wie heißt er, -in der Komödie?« - -»Bleichenwang?« - -»Ja, wie der Tobias Bleichenwang sagen: Mich hat auch mal eine lieb -gehabt. Zärtlichkeit ist wunderschön, ja, das weiß man ja schließlich, -ja, man entbehrt sie sogar manchmal, -- nun, das kann ja alles noch -kommen. Warum fragen Sie überhaupt immer so aufdringlich?« - -Georg lachte: »Sie brauchen ja nicht zu antworten! Setzen Sie übrigens -Zärtlichkeit mit Liebe gleich?« - -»Das nicht«, meinte der Maler. - -»Zärtlichkeit, Wollust und Liebe, das sind die drei unterschiedlichen -Liebesempfindungen,« sagte Georg, »nur wo alle drei vorhanden sind, ist -das Gefühl vollkommen.« - -Ob er das meinte, fragte Bogner. Ja, also Liebe ... Nach einer Weile, -vor dem posaunenden Engel stehend, fuhr er fort, daß er auch die Liebe -ganz gut zu kennen glaube; er habe sich darin versucht gewissermaßen und -sie immer verschieden gefunden, auch sehr angenehm, besonders im Anfang: -März. Aber es sei ihm zuletzt doch immer nur vorgekommen wie ein Absud -von männlichem und weiblichem Geschlecht, im Tiegel so lange gemischt -und geschüttelt, bis er einfach erschien; in Ruhe gelassen sonderte sich -beides alsbald, männliches sank, weibliches schwamm oben, es habe wohl -irgendein wirklich bindendes Element gefehlt. Er sprach undeutlich, da -er abgewandt stand. Georg sagte, eben das wäre es, darauf käme es an, -das Element sei zu finden, sei zu suchen. - -Suchen? meinte der Maler. Wer denn dazu Zeit habe? Auch sei's wohl klar, -daß, wenn es dies Element wirklich gäbe, es einzig sei, wirkbar nur bei -einzigartigen Menschen, immer zwei auf zwanzigtausend. - -»Ja, ja!« rief Georg entzündet, »Sie bringen mich auf einen Gedanken! -Zum Beispiel Romeo und Julia. Was sind die Beiden? Ein liebender -Geliebter, eine liebende Geliebte; sonst nichts. Womit beschäftigten sie -sich? Mit ihrer Liebe. Hatte Romeo einen Beruf? Kümmerte ihn die -Geschlechterfehde? Er und sie hatten nicht Eltern, nicht Geschlecht, -nicht Volk, nicht Stadt noch Heimat; alles dieses war belanglos wie -Tisch, Bett und Gartenbank, von denen nichts vorhanden war, solange -nicht ihre Gemeinsamkeit ihrer bedurfte. Nichts gab es außer ihnen als -die Freunde, die ihrer Liebe beistanden, und den Tod, der das Gift in -Adeptengestalt verkaufte. Aufgelöst waren sie in jenes Element, in dem -sich alles mischen mußte zu einer einzigen Riesenempfindung. Ja --« -setzte er zögernd hinzu, denn Tozzis Gesicht erschien ihm: »vielleicht -ist es also -- der Tod?« - -Der Maler war von ihm fortgegangen und stand bei der Tür, einen -ausgestreckten Arm gegen den Rahmen gestemmt, in den Raum hereinblickend -zu seinen Engeln. - -»Wirklich,« fuhr Georg fort, »die allgemeine Liebe empfindet und wünscht -nichts als gesteigerte Freude, gesteigertes Dasein; jene Beiden aber -fühlten die letzte, höchste Steigerung, überlebensgroß, in den Tod, -unbewußt schon in der ersten Umschlingung, und so erreichten sie die -Dauer.« - -»Im Tod?« fragte der Maler von fern. »Nein, das ist vorläufig noch -nichts für mich.« - -Ja, wo aber die Leidenschaft bleibe? hielt Georg hartnäckig fest. Bogner -streckte die Hand aus und deutete auf seine Engel, einen und den andern, -den posaunenden, den wandelnden mit der Gitarre, den reisigen mit der -Harfe. Georg senkte niedergeschlagen den Kopf. - -»Unbewußt in der ersten Umschlingung?« fragte der Maler, gutgelaunt, wie -es schien. »Wie Sie das so wissen können! Ich will Ihnen aber etwas -erzählen. Nämlich, als ich siebzehn Jahre alt war, also mitten in der -schönsten Erstlingsglut, liebte ich ein Mädchen, etwas älter als ich, -für mich wunderschön, klüger, tapferer und sanfter als ihre Schwestern.« - -»Die Frauen,« sagte Georg, da der Maler innehielt, »die Frauen, das -glaube ich nun, sind an und für sich nichts; aber es kann alles aus -ihnen werden. Jeder, möchte ich sagen, jeder Mann findet zur Zeit -diejenige, aus der er machen kann, was er im Augenblick braucht. Sehr -gut sind sie. Und so unendlich geduldig!« - -Georg, Magdas arme Gestalt mit wehmütigem Gedenken umfassend, hörte den -Maler weitersprechen: - -»Zur selben Zeit geriet ich an den Scheideweg. Dort mein Vater und sein, -hier ich und mein Wille. Entschied ich gegen ihn, so wars auch gegen -sie, denn dann ging ich fort, und sie mußte bleiben. Sie half mir beim -Fortgehn, ja, das tat sie. Dafür bin ich ihr dann treu gewesen, so gut -ich es konnte, und habe auch jedes spätere Mal für mich und gegen die -Liebe entschieden, denn, sehen Sie, das wollte ich sagen: damals, ein -für allemal, entschied sich für mich diese Angelegenheit.« - -»Was ist aus ihr geworden?« fragte Georg. - -»Danke. Sie hat es gut überstanden. Sie war, wie gesagt, tapfer. Sie ist -mit einem Kaufmann verheiratet, hat vier Kinder, und alle sind gesund. -Ich sehe sie zuweilen. Stattlich sieht sie aus, gewiß nicht, als ob sie -jemals vor einem Menschen auf den Knien gelegen und gefleht hätte: Um -Gottes willen, geh! geh, ehe ich dich halte! --« - -»So sind Sie wohl Beide Ihrer Bestimmung treu geblieben«, mußte Georg, -wie ihm schien nicht sehr tiefsinnig, bemerken, und der Maler erwiderte -nur zerstreut, ja, ja, er habe ja auch gar nichts dagegen einzuwenden, -und griff nach seiner Pfeife. - -»Gehn wir schlafen«, sagte er, als er sie gestopft und angezündet hatte. -So verließen sie die Kapelle, der Maler schloß sorglich zu, und sie -gelangten durch den Garten, am dunklen, schlafenden Haus vorüber auf die -Straße. - -Viele und seltsame Pferde liefen durch Georgs Träume in dieser Nacht, -gelenkt und vorgeführt von Bogner mit langem Pinsel wie von einem -Zirkusdirektor, aber Renate erschien nicht darunter. Gesang schlug an, -engelstimmig und süß, Georg erwachte, und es war Morgengrauen. In -abgeklärten Pausen sang draußen die schwarze Amsel, laut und friedevoll -in der Morgenstille. - - - Drei Gespräche: Das erste - -Esther und Georg saßen am Wassergraben im Park auf der Bank, und sie -hatte den ganzen Schoß voll großer Zentifolien in allen schönen Farben. -Da kam Jason al Manach, setzte sich, ließ sich fragen, woher er komme, -und erzählte: - -»Gestern abend, als es schon dunkelte, trat ich irgendwo aus dem Walde. -Wiesen und Äcker waren voll Nebel, darin stand ein einsames, schlechtes -Haus mit einem Stockwerk, ich strich an einer fensterlosen Mauer -hinunter, und wie ich in eins der Fenster nahe über dem Erdboden an der, -auf die Felder hinaus gewandten Seite des Hauses hineinsehe, sitzt da -Maler Bogner in einem Liegestuhl und raucht eine Pfeife in Hemdärmeln, -denn der Abend war milde. Ich grüßte: Guten Abend! Ich störe gewiß. -- -Ja, sagte er, wenn Sie stehen bleiben und mir die Aussicht zudecken. -Kommen Sie herein. - -Ich wandte mich wieder, und sieh, da wars eine jener Stunden, wo einem -die Augen für das Wunderbare der Erde aufgehn. Als hätte der Maler -gewinkt, so sah ich nun in eine Landschaft von seltsam wilder -Feierlichkeit. Jenseits der braunen Äcker voll stehender weißer Nebel -blinkte ein Stück des abendklaren Flusses aus der unteren Dämmerung, -voll von gespiegeltem Licht und Baumsilhouetten; die wirklichen Wipfel -darüber hoben eine mächtige schwarze, von einigen scharfen Fabrikessen -überstiegene Mauer in das lohende Gelb und Rosa des Himmels. Darüber -flossen zerblasene, graue, schwärzliche und violette Wolken in trübes -Rot; zur Linken aber, hoch über dem graugrünen Dunkel der Wiesen -jenseits des Stromes stand im blaßblauen, leeren Äther ein einzelner -blitzender Stern; der war gleich einem silbergestählten Sankt Georg und -die schweigsame, blutende Landschaft wie ein verendendes wildes Untier -zu seinen Füßen. - -O, aber als ich mich zur Rechten wandte, drohte da die Stadt, schwarz, -eine ungefüge Masse von Dächern, Kuppeln, Türmen; ein stummes Meer, -brandete hinter ihr der Himmel, überwölbte sie mit durchsichtiger Woge -von offener Scharlachglut, in der sich ein Getümmel von zerrissenen -Wolken umhertrieb und verzehrte, glorreich und ungestüm, in einem Wirbel -triumphierender Farben, blutig, traurig, drohend und lechzend von Gelb -und ungesättigtem Purpur. Von allen Richtungen liefen Schnüre und Reihen -von Lichtern, opalenen, grünlichen und goldenen, in den schwarzen Berg -der Stadt hinein. - -Solche Dinge hatte dieser einfache Maler vor sich, wenn er abends in -Hemdärmeln seine Pfeife rauchte. Es war so viel, daß er manche gar nicht -beachten konnte, denn als ich nun um das Haus herumging, sah ich über -ein verdunkeltes, undeutliches Gelände von Feldern und Lichtern hinweg -den Mond, eine Scheibe von goldenem Kupfer, der sich mitten aus einer -stumpfen bleifarbenen Wand heraushob. - -Das Zimmer, in das mich der Maler führte, war folgendermaßen: Es hatte -tapezierte, zerfetzte Wände, einen von herausquellendem Pferdehaar wie -von Geschwüren strotzenden Diwan und zwei hölzerne Stühle, außerdem den -Liegestuhl und am Boden eine trübe Pfütze von einem alten Gebetsteppich. -In einer Ecke aber stand ein Bananenast, rundum mit gelben und -schwärzlichen Früchten besetzt, einem Bienenkorb ähnlich. Ja, und in -einer andern Ecke stand ein Spucknapf, der war mittendurch gesprungen. -Eigentlich war es kein Zimmer, es war ein Durchgang von Abend zu Morgen, -weil es nachts regnen könnte. - -Als aber nun der Maler aus einem Nebenzimmer zwei in Porzellanfüßen -stehende Paraffinkerzen holte, anzündete und auf den Gebetsteppich -stellte, so offenbarten sie dessen ganzes Elend. Mich ergriff wohl -Sympathie mit dem Spucknapf, denn in seine Nähe zog ich mir den -Liegestuhl. Mich rühren so die zersprungenen Dinge, die sich gar nicht -zu helfen wissen. Der Maler legte sich auf den Diwan und lag so still, -als ob er schlafe. Die Kerzen zuckten zuweilen und störten mich in der -Betrachtung meines Schattens ein wenig, der neben mir an der -zerlöcherten Mauer saß. Drüben, vom fast unsichtbaren Maler her, glimmte -zuweilen ein Manschettenknopf rot und golden.« - -Jason schwieg so lange, daß Esther fragte: »Nun, sprachet ihr gar nichts -miteinander?« - -»Doch,« erwiderte Jason, »aber wir schwiegen viel länger, als ich eben -geschwiegen habe. Dann fragte ich den Maler, ob wir uns nicht -unterhalten wollten, und er fragte wieder: Ja, wovon? -- Ich schlug vor, -wir wollten Aphorismen sagen, -- aber nun, er redete sich aus, er könnte -das nicht.« - -»Ja,« sagte Esther erstaunt, »kann man denn das so?« - -»Oh, gewiß. Falls du mich nicht mißverstanden und gemeint hast, ich -hätte gesagt, Aphorismen machen statt Aphorismen sagen. Ich bin -angefüllt mit Aphorismen.« - -»Zum Beispiel?« fragte Georg. - -»Dies«, erwiderte Jason, »ist eigentlich mehr ein Kalenderspruch: Nichts -ist so imaginär wie der beständig geküßte Hund einer jungen Dame.« - -Esther dachte angestrengt nach und brachte schließlich heraus, sie -verstünde das nicht. - -»Oh kleine Esther,« erklärte ihr Georg, »es befinden sich doch lauter -imaginäre Liebhaber in dem Hund.« - -»Nun ein andres«, sagte Esther. - -Jason, der schon längere Zeit mit einem von Esthers dänischen Handschuhn -spielte, die neben ihr auf der Bank lagen, hob ihn jetzt ans Gesicht, -roch daran und sagte, es wären gleich zwei auf einmal in dem Handschuh. -»Wißt ihr,« fragte er, »was die traurigste Freude ist? Das ist der -Parfümduft aus Frauenbriefen, die man spät in einer Schieblade findet. --- Und nun, Esther, wenn ich dich liebte, würde ich zu dir sprechen: -Deine Hand im Handschuh ist nur ein Körper, aber der Duft aus dem leeren -ist Wesen.« - -»Ach,« sagte Georg, während Esther rot wurde und lachte, »Sie können mir -gewiß einen Unterschied formulieren, über den ich neulich nachdenken -mußte, nämlich den eigentlichen zwischen einem Dichter und einem -Schriftsteller.« - -Nein, Jason bedauerte. »Das würde auf etwas Moralisches hinauslaufen, -und moralisch kann ich nun einmal nicht sein.« - -»Ja,« sagte Esther, »das ist auch langweilig, erzähle mir lieber, -worüber du dich mit dem Maler unterhalten hast.« - -»Richtig,« sagte Jason, »du erinnerst mich an einige sehr gute Dinge, -über die der Maler mich belehrt hat. Ich sagte ihm nämlich, ich hätte -verschiedentlich von Menschen sagen hören, daß der Künstler oder -Dichter, um einer von Bedeutung zu werden, ganz außerordentlich viel -leiden müßte. Andre dagegen hätte ich wiederum sagen hören, daß es auf -der ganzen Welt nichts Grausameres gäbe als Künstler, und dies beides -schiene mir doch zu widersprechen. Da sagte der Maler, was die Menschen -anginge, so würden sie sich über derlei Dinge kaum aufklären lassen, -weil, so sagte er, sie diese Dinge nicht aus der richtigen Sehrichtung -betrachten könnten, nämlich aus der des Genius. Und das ist richtig, -denn mit dem Genius verhält es sich so wie mit dem, was der reiche Mann -zum armen Lazarus sagte, als der in Abrahams Schoße saß. Wenn Moses oder -einer der Propheten zu ihnen käme, so würden sie nicht hören, aber wenn -Lazarus von den Toten auferstünde, so würden sie. Denn immer unsichtbar -bleibt den Menschen der Genius, wahrnehmen können sie nur seine Kraft, -nämlich im Werk, -- und nun sagte der Maler, grausam sei allerdings der -Genius, mitleidlos, weil er vollkommen sachlich sei und alles -Menschliche und Natürliche einfach als Stoff ansehe. Hier mußte ich auch -wieder eine Wahrheit finden,« sagte Jason, »nämlich die, daß die -Menschen wohl imstande sind, einen Dichter grausam zu finden, der sich -einen Menschen mit all dessen Eigentum an Leiden und Lüsten zur -Darstellung nimmt, nicht aber, wenn er so mit einer Landschaft verfährt -oder einem Baum oder sonst einem Gegenstand, und dies bedenken sie -nicht, nur weil sie von solchen Dingen weniger wissen oder gar nichts, -wovon der Dichter vielleicht sehr viel weiß. -- Wenn der Genius nun«, -sagte der Maler weiter, »sich vollkommen sachlich verhält, so tut er das -doch auch gegen das Leiden des Menschen, in dem er wohnt, das heißt -also, daß ihn des Menschen Gefühl und Meinung von diesem Leiden gar -nichts angeht, sondern er würde lachen, wenn der Mensch sie ihm -vorhielte, und sagen: Da sorge du! Mach das mit dir allein ab! -- -Gefällt es ihm aber wiederum, so sagt er vielleicht: Zeig her! das da -scheint mir brauchbar, ein Funken, nicht viel wert, aber ich wills -versuchen und ihn anblasen. -- Ja, da bläst nun dieser Gott,« sagte -Jason, auf seine Knie herunterblickend, »und was ist nun wohl der -Mensch, dieser Wurm, in einer solchen Lohe, die ihm Knochen und Mark -verzehrt, freilich, Lohe einfach, schmerzlos wie lustlos, nur bloß -verzehrend, was dann andern Augen gemeinhin erst an der Asche sichtbar -wird, und dann staunen sie nun über Beethovens Totenmaske. Er aber, am -ganzen Leibe brennend, schaffte in der Himmelsglut das Werk, blinden -Auges, tauben Ohrs, denn der Genius sieht, der Genius hört; mit -flatternden Händen, denn der Genius lenkt, und dieses, dies ist das -Leiden und dies die Grausamkeit, dies darf Leiden und Grausamkeit -genannt werden, weil aus ihnen Leben entsteht, ewiges, so Gott will, -dieweil das andre nur zum Sterben gut ist; doch reinigt der Tod.« - -»Hat das der Maler gesagt?« fragte Esther nach einem Schweigen -leichthin. - -Georg sah, daß Jason, wenn das bei ihm möglich war, verlegen schien. - -»Es kommt ja nicht darauf an,« sagte er, »die Menschen sagen so vieles -nicht, das meiste sagen sie nicht, und du kennst ja mein Gedächtnis, es -muß sich an so vieles erinnern, und gedacht hat er es jedenfalls, davon -seid ihr doch wohl überzeugt. Übrigens«, fuhr er fort, »sind wir bald -auf das Meer und die Berge zu sprechen gekommen, und nachdem wir uns -darüber geeinigt hatten, daß das Meer groß sei, groß, sonst nichts, -indem nichts von seiner Größe sei, so fragte ich ihn, wie das wohl -zugehe, daß manche Menschen sagten, das Meer drücke sie nieder; es mache -sie melancholisch, sagen sie. Er vermutete, eben deshalb, weil es ihnen -zu groß erscheine, sie selber daher zu klein. Berge dagegen, ich -erinnere mich genau, daß er dieses sagte, weil darauf ich an zu sprechen -fing, Berge verhielten sich menschlich, und gewiß ist das so, was ihr -beurteilen könnt, wenn ihr euch solch ein einzelnes, weißes Schneehaupt -vorstellt. Denkt ihr euch nun daneben die Erhabenheit eines wunderbaren -Menschen, Dantes oder Bachs, Rembrandts oder Michelangelos oder Homers, -so habt ihr gleich eine Kette einsamer, strahlender Bergeshäupter. -Halbgötter sind die Berge, dem Himmel nah und doch furchtbar irdisch -verankert, und sie stimmen den Beschauer zur Andacht, unvermindert seine -eigene Person, eben wegen des göttlichen Eindrucks, der aus Kleinheit -hinaufziehend, nicht aber niederdrückend ist: Gott läßt immer viele -Möglichkeiten offen, um so strahlender, wenn er sich menschenhaft -offenbart. Blickt ihr aber von der Höhe über ganze Ketten und Felder -andrer Gipfel und Gebirgszüge hin, so habt ihr auch hier ein Meer von -Wellen, von erstarrten jedoch, von gebändigten, innerlich unfreien, ihre -Verdammung zur Schweigsamkeit mit Größe und Heldensinn ertragenden, -gleich einem Volk gefesselter Könige; ihr aber, ihnen gegenüber, von -Beweglichkeit, von eurer ganzen rühmlichen Freiheit ringsum strotzend, -ihr fühlt die Majestät solcher Versammlung mit Andacht und angenehmer -Demut. Dies alles«, sagte Jason lächelnd, »erklärte der Maler nicht wie -ich, sondern mit einem einzigen Worte, und danach fingen wir an, von den -Wolken zu reden. Von ihnen sagte Bogner gleich, daß er sie liebe, -nämlich die vereinzelten, geballten, weißen, mittäglichen, und er sagte, -daß sie wie Götter seien, schweigend und leuchtend, nur ihr Wesen -ausstrahlend unbeeinflußbar, -- und ich dachte wieder, wie richtig das -sei, da eben solche Wolken diejenigen Eigenschaften haben, die wir uns -wünschen, die uns fehlen: die Ruhe, die Unberührbarkeit, dies leuchtende -Dulden der Vereinsamung, das Schweigen, und so sind sie, wie alle -Gottheiten, vergottete Menschen, uns ähnlich, daher noch zu erfassen, -noch in uns, wie die übrige Natur, und indem ich dies bedachte, fiel mir -ein, ob der immer sonderbare und rätselhafte Eindruck des Ozeans wohl -darauf beruhe, daß er nicht in uns sei wie die übrige Natur, und dies -sagte ich dem Maler. Da erzählte er mir ein Erlebnis aus seiner -Kindheit. - -Er beschrieb mir, wie er an einem Sommerabend als Knabe in einem Kahn -gelegen habe. Wie er da mit sich allein war in der unsichtbaren -Dämmerung und eine Hand ins Wasser hängen ließ, da sei nun aus dem -Abgrund des Meeres der Mond heraufgestiegen, ganz wie ein schweigender -Gott. Das Herz habe ihm da zum Zerspringen geklopft; er habe gemeint, -der Mond komme aus seiner Brust. -- - -Dies ist nun freilich ein schöner Irrtum gewesen, denn das Unsichtbare -war es, das seine Brust so weit zu machen wußte, daß sie auch die Nacht, -das Dunkel, alles in sich aufnahm, das Meer spielte eigentlich keine -Rolle in seinem Erlebnis, und ich sagte ihm dies, indem ich ihm -nachwies, daß damals, als das einfachste Tier, unser Vorfahr, die -Noctiluca, aus dem Meere das Land erstieg, das Meer von uns abzufallen -begann, durch die Jahrmillionen, durch unzählbare Geschlechter von -Verwandlungen, und das Leben auf dem Trocknen ward anders als im -Gewässer, fremd ward uns das Meer, aber es war unsre älteste Heimat, und -darum, wenn wir darüber hinsehn, so meinen wir, daß dort drüben, an -einem andern Ufer, unsere Heimat liegen müsse; wie Odysseus sich -vorstellte, daß gleich drüben der Rauch aus seinem Dache steigen müßte; -aber die Heimat eigentlich ist in dem Meer, ist es selbst, und deshalb -macht es uns wehmütig, heimschmerzlich, und das drückt uns wohl nieder, -um so geringer unser Glaube, um so tiefer unser Verlangen nach Heimat -ist. Da kamen wir nun auf die Sterne zu reden, und ich glaubte schon, -davon würden wir die ganze Nacht nicht wegkommen. Aber die größten Dinge -sind auch wieder die einfachsten, und so verhält es sich auch mit den -Sternen, daß von ihnen schon alles gesagt ist, wenn man nur an sie -denkt. Dann genügt ein zufälliges Wort, und so fiel es dem Maler ein, zu -sagen, daß die Sterne jenseits wären. Wie wahr ist das, denn sind sie -nicht außerhalb unsrer Erde? Was aber reicht über unsre Erde hinaus? -Wir? Unser Gefühl? Gegen das unzerreißliche, metallene Gewebe des -Firmaments prallt unsre Seele an wie ein Federball; nichts dringt dort -ein, es sei denn -- das Gefühl, nicht eindringen zu können, das uns so -wunderbar anmutet. -- Übermenschlich, seht ihr, das sind Wolken und -Berge; überirdisch, das sind die Sterne. Mit ihnen ist uns nichts -gemeinsam, nicht einmal das Gefühl der Fremde. Das Meer jedoch, es ist -unmenschlich, eine Natur außer uns, eine Leidenschaft außer uns, eine -donnernde Unbegreiflichkeit. - -Ja, so sprachen wir miteinander,« sagte Jason nachdenklich, »und -inzwischen hatte der Maler seinen Bananenast aus der Ecke geholt, -stellte ihn auf den Teppich, setzte sich auf die Erde davor mit dem -Rücken gegen die Fenster und ermunterte mich zu essen, indem er eine -Frucht abriß, hurtig schälte und die Schale über seine rechte Achsel zum -Fenster hinauswarf. Wie das aber so geht mit mir, -- ich stand auf -einmal in der Tür, und da sehe ich ihn noch so sitzen in dem leeren Raum -bei seinen rötlichen Kerzen und seinem schattenwerfenden Bananenast, und -die Schalen zum Fenster hinauswerfen. Auf einmal stand ich dann und -blickte gegen den wunderbarsten Nachthimmel, und es war kühl und vieler -Atem im Finstern um mich her. Der Himmel aber, der vor mir niederhing, -war ein wundersamer Gobelin mit einem silbernen Wolkenmeer, in dem, -dicht aneinandergedrängt, andre, schwärzliche Wolken gleich riesenhaften -Delfinen und Seeungetümen sich bewegten, und dies alles durchglitt der -Mond, klar und sanft und sich schaukelnd, eine silberne Schale von einem -Götterboot.« - -Jason schwieg, rückte ein wenig und schien ans Fortgehn zu denken. - -»Sage, Jason,« fragte Esther, »hast du nun wirklich gar nicht daran -gedacht, dir von dem Maler Bilder zeigen zu lassen, da du einmal dawarst -und doch kein Mensch herausbekommt, wo er wohnt?« - -Nein, Jason hatte nicht daran gedacht. Er schien geistesabwesend. - -»Es waren so viele Bilder da,« sagte er, »ringsherum, der ganze Himmel -voll. Vielleicht«, sagte er aufstehend, »habe ich mir eingebildet, er -hätte sie alle selber gemalt.« - -Sprachs, nickte ihnen leutselig zu und ging davon. Sie mußten ihm -nachsehn, wie er an den Gebüschen hinstreifte, ein wenig geduckt, die -Knie leicht eingedrückt, den Strohhut im Nacken, die Hände auf dem -Rücken, schmal in seinem feinen Rock von schwarzem Tuch, und so schwand -er den Weg hinunter um die Ecke, und es war nicht ersichtlich, ob er -nicht nur das äußere Verschwinden abgewartet hatte, um gänzlich fort zu -sein, weg, nicht mehr vorhanden oder vielleicht schon in Südamerika. -Esther und Georg aber taten ihre Augen zusammen, nickten sich zu und -sagten, daß es ab und an gut sei, Jason zu hören. - - - Drei Gespräche: Das zweite - -Georg, Sigurd und Benno saßen spät abends beisammen; Georg, wie er es -gern tat, in seinem Armstuhl, den er mit der Rücklehne gegen den -Schreibtisch gedreht hatte, so daß er zur Kaminecke hinüber sah gegen -den grünen Lampenumhang, -- und rechts dort saß Benno, in seinem Sessel -so tief, daß er Georg unsichtbar war hinter den dunklen Figuren und dem -breiten Dach des Treppengeländers: nur sein obenliegendes Knie war zu -sehn, hell glänzend dicht unter der grünen Tischdecke im nach unten -fallenden Licht. An der anderen Seite hatte Sigurd sich in den breiten -Ledersessel zurückgelegt, das Gesicht nach oben gewandt, das linke Knie -so hoch gegen die Schulter gezogen, daß er die Hände dicht überm -Fußgelenk falten konnte, das auf dem rechten Knie lag. Georg hatte, da -sie eben damit beschäftigt waren, sich nach Kräften an- und -auszuschweigen, Muße genug, ihn zu betrachten, diesen erstaunlich -Schönen; sein dunkelhäutiges langes Gesicht glänzte leise aus der -Dämmerung wie etwas Gegossenes; ein Lichtfunke, in jedem Auge hängend, -machte sie starr in aller düstern Lebendigkeit. Schön im Schweigen -formte sich der volle Mund. - -Georg dachte in behaglicher Zufriedenheit über ihn nach. Sich erinnernd, -wie er in dem dunkelroten Mantel hohepriesterlich bei so viel -Jugendlichkeit erschienen war, dachte er, daß noch kaum ein Mensch -- -und am seltensten eine Frau -- so das Empfinden ihm bekräftigt habe, es -müsse im schönen Leibe auch eine schöne Seele wohnen. Renate -- ja -- -eigentümlich: ihr Glanz war so außerordentlich, so vollkommen, so nichts -mehr zu wünschen lassend, daß man nichts begehrte außer eben ihn, -- und -doch nein; war es nicht seelisches Feuer allein, das, ihre Züge und -Farben durchglühend, sie in solche Harmonie und solches Leuchten -versammelte? Also war vielmehr dies das Absonderliche, daß aus Renate -Einheit strahlte; hier, aus dem Manne dagegen nur Eines, das ein Zweites -ahnen und wünschen ließ, -- und so sehr, dachte er, ist also Schönheit -etwas Nebensächliches, etwas Störendes fast beim Manne, dessen Geist und -Seele allein es sein sollten, die Licht verbreiten. Ja, und Esther, wie -war es mit der? Hatte sie wohl eine Seele überhaupt, oder war da alles --- nur süß; bis hinab in das Innerste? Ach, kleine Esther, kleine -Chinesin, bin ich nun eigentlich verliebt in dich? und wenn wirklich, -wie wäre das möglich in Anbetracht Renates? -- -- - -»Wie doch das Schweigen tönt!« hörte er da Benno träumerisch sagen. »Wir -sind ja ein Dreiklang.« - -»Dur oder Moll, Benno?« - -»Ich weiß nicht, Georg. Musik der Seelen -- und die ist es doch, die ich -höre -- weiß wohl von irdischen Tonarten nichts, und dort ist das -innerlich Selige von Dur und Moll ein unirdisches Gemisch.« - -»Ja -- dort, Benno, nicht wahr? Aber wir sind hier und müssen immer -heiter oder traurig sein. Es ist aber schön zu denken, was du sagst.« -Georg schwieg. - -Nach einer Weile zogen ihm sanfte Verszeilen durch die Erinnerung, und -er sagte langsam auf: - - »Die Linien des Lebens sind verschieden - Wie Wege sind und wie der Berge Grenzen. - Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen - Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.« - -Sie schwiegen lange. - -Benno sagte: »Ergänzen, ja. Zu Moll das Dur und zu Dur das Moll; und -doch wird es Ergänzung nicht allein sein, sondern das -- andre, das -- -von hier, wird mit darin sausen, und das wird die Vollkommenheit sein, -die weder Dur ist und weder Moll. Und das hat Bach gewußt.« - -Es war wieder still. Georg versank in ihm selber Unbewußtes. - -Plötzlich -- als sei es genug -- sah er undeutlich Sigurds Haltung sich -lösen; er setzte den Fuß an die Erde neben den andern, beugte sich vor, -legte die Hände um eines der Bücher auf dem Tisch und sagte in seiner -kurzen Weise: - -»Wissen Sie, Georg, -- ich wollte Ihnen immer schon etwas sagen. Wegen -Esther. Sie wissen ja: meine Schwester gehört mir, mir ganz allein. Ich -habe sie erzogen von Kind auf; sie ist -- mein Werk. Es gab eine Zeit, -wo sie den Leuten langweilig war, so sehr war sie ein Abguß von mir und -sprach mit meinen Worten. Und was wissen wir schließlich von solch einem -Wesen?« - -Er brach ab. Ja, was wissen wir, dachte Georg. Sie geht umher und sieht -süß aus. Alles, was wir wissen, sind Dinge, die sich auf uns beziehn. -Obendrein antwortet sie nur, schweigt, spricht selten von selber, oder -ganz Belangloses, Tatsächliches. Und dabei diese Wandelbarkeit, als -hätte sie gar keinen Kern! Mit jedem Kleid, in jedem Hut, ohne Hut, im -Mantel, in der Jacke ist sie ein andres Wesen; heut ein Kind, morgen -abwesend, eine kühle fremde, Verirrte, jetzt sanft und hülflos, morgen -sicher und verständig, ja scharfsinnig, heut altklug und morgen unbewußt ---, als ob sie immer und nur auf geheime Unterweisung sei und handle, -- -aber immer ist sie verführerisch und gefällig mit Miene und Lächeln. Ja, -wenn ich das Sexuelle auch so überschätzte, wie Alle es tun, so würde -ich denken, ich sei in sie verliebt, bloß weil ich ab und an den -zärtlichen Wunsch habe, sie auf den Arm zu nehmen und irgendwohin zu -tragen. -- Während er sich dies sagte, betrachtete er Sigurd, der, die -Zunge im Munde wälzend, das Buch hin und her drehte, und dachte, falls -er, wie es schien, ihm etwas mitteilen wollte, sei es das beste, zu -schweigen. Richtig fing Sigurd auch wieder an: - -»Was wissen wir von ihnen? Ihre Gedanken laufen doch immer wo anders -hin. Nun sind sie in Amerika. Sie giebt bekanntlich vor, einen jungen -Mann zu lieben, da drüben ...« - -»Warum: giebt vor?« fragte Georg. - -Sigurd blickte wegwerfend auf: »Ich sagte ja, daß sie mir gehört, also -liebt sie in Wirklichkeit mich, nur ist sie eben meine Schwester und -merkt es nicht. Und überhaupt nun diese sogenannte Liebe. Esther ist -immer von irgendwem geliebt worden und hat immer irgendwen geliebt. -Endlich kommt einer und sagt, er muß sie heiraten, und da muß sie nun -auch. So ists immer, Alle heiraten aus Zufall, und nachher ist das -Unglück da.« - -Georg glaubte sich zu erinnern, daß er das selbe schon einmal von einem -andern Menschen gehört hatte, -- war es nicht Ulrika? ... Aber Sigurd -war aufgestanden, lehnte sich mit der rechten Schulter gegen das -Bücherregal, den Kopf gesenkt, hier und da einzelne Bände tiefer ins -Fach klopfend, während er sprach: - -»Ich will sie nicht hergeben, ich brauche sie, wofür lebe ich denn?« Er -wandte sich zu Georg. »So etwas kennen Sie natürlich nicht,« sagte er -mit verächtlicher Traurigkeit in den schweren Augen, »Geschwisterliebe. -Nicht Frau, nicht Geliebte, nicht Freundin, aber von jeder ein Hauch, -- -und andrerseits, wenn ich denke, ich könnte eine andre Frau lieben, so -würde mir das Verwandtschaftliche bitter fehlen.« - -»Irgend etwas«, sagte Georg weise, »fehlt immer.« - -»Esther,« fuhr Sigurd fort, ohne hinzuhören, »Esther hat diese Macht -über die Menschen, dies Verlockende, das ihr eigentliches Wesen ist. Sie -kann nicht anders, sagen Sie selber: wenn sie mit Ihnen allein ist, ist -sie da nicht ganz eine andre, als wenn Andre dabei sind? Unter Vielen -ist sie überhaupt nichts, da steht sie wie ein kleiner Hund im Regen -...« Er lachte verlegen, Georg lachte gefällig mit. - -»Nun also der in Amerika«, fing Sigurd wieder an. »Ein außerordentlich -tüchtiger Mensch, müssen Sie wissen. Unglücklicherweise nahm er an einem -Monatsletzten -- als er noch hier war -- dreißig Mark aus der Kasse, um -sie am Ersten wieder hineinzulegen, da kam die Revision. Es gelang mir -natürlich,« sagte er mit innerlichem Stolz, »den Chef zu überzeugen, daß -er keine Anzeige machen durfte und ihm ein Zeugnis ausstellte auf -Tüchtigkeit und Fleiß mit dem Vermerk: verläßt seine Stelle nach -Übereinkunft. Ja, und trotzdem verfiel der arme Junge so in -Verzweiflung, daß er in die Staaten hinüberging. Oh auf ihn kann man -sich verlassen, aber auf Esther? Warum soll sie nun grade den immer und -ewig lieben, nachdem sie sich so oft geirrt hat? Aber ihr Gefühl für -mich, das ist immer das gleiche geblieben. Sie fängt nach einem halben -Jahr an, sich zu langweilen, immer mit dem selben Mann, wohin soll sie -sich noch entfalten?« - -»Ja, ja,« lachte Georg, »Sie haben recht: unter mehreren Männern ist sie -die bescheidene und kluge Lauscherin -- Leonore im Tasso --; mit einem -allein entfaltet sie sich zart -- Leonore mit Tasso.« - -»Achtzehn Jahre ist sie alt,« sagte Sigurd kopfschüttelnd, »und bildet -sich wahrhaftig ein, dieser Kaufmann drüben sei in Europa und Amerika -der einzige Mensch, mit dem sie das Leben zu Ende führen kann.« - -»Sie sind närrisch,« meinte Georg, »Liebe und Überlegung ...?« - -»Ja, soll sie ihn lieben!« brauste er auf, »aber warum denn um Himmels -willen heiraten? Wie schön ist die Liebe, wie ideal ist die Liebe! Sie -erregt alle heftigen Gefühle, Sehnsucht, alle Empfindungen nach -- -hinaus, nach oben, ins Offne, ins Unbegrenzte, -- und dann wird -geheiratet.« Er lief an Georg vorüber und hinter seinem Rücken im Zimmer -hin und her. - -Georg fiel Cora ein, die er seit Monaten einfach vergessen hatte, und -sagte: »Ideale, das wissen Sie doch, Sigurd, sind dazu da, daß man sie -hat, nicht daß man danach lebt. Zum Leben brauchen die Menschen Ziele.« - -»Na, und was machen Sie da wieder für einen psycho-philosophischen -Unterschied?« - -»Ein Ideal«, sagte Georg ernsthaft, »ist keines -- nicht wahr -- -innerhalb erreichbarer Grenzen; ein Ideal ist doch nichts Persönliches, -nichts, was man für sich allein hat, oder käme es nicht mehr von Idee -her? Ideal ist Religion. Wie ich schon sagte, nicht wahr: auch Religion -müssen die Menschen haben, aber wer lebt danach? Für ihr Leben haben sie -ihre Gesetze und sonst praktische Wegweiser, was ich Ziele nannte. -Wegmarken braucht der einfache Mensch, um zu sehn, woher er kommt und -worauf er zugeht, und daß er sich bewegt.« - -»Ach, Sie denken immer so artistisch! Dem Künstler freilich sind seine -Werke solche --« - -»Dem Künstler«, griff Georg mit Festigkeit ein, »sind seine Werke -niemals Ziele, sondern stets Ideal. Was er erreicht -- im Werk --, das -mag Andern, ja mag ihm selber ein Ziel scheinen, eine Wegmarke, eine -Stufe, um höher zu steigen: im Grunde bleibts ideal, weil unvollkommen -gegenüber seiner Idee. Ein vollendetes Kunstwerk, nicht wahr -- das kann -niemals mehr heißen als: ein fertiges. Selbst Gott hat nur gesagt, es -wäre sehr gut, und ich bin überzeugt, daß sein Ideal von Welt hoch, aber -höchst anders ausgesehn hat!« Georg, nachdem er seine Sätze auf das -eifrigste hervorgesprudelt hatte, stand auf, ging hin und lehnte sich -gegen die Bücherwand. In der Tiefe des dunklen Raumes sah er Sigurd -neben dem Pensieroso stehn, der vor ihm saß, unbekümmert wie je, den -Handrücken unterm Kinn, sinnend. - -»Es giebt so viele Worte«, sagte Sigurd. »Wie alt sind wir eigentlich? -Unsereins sieht immer über die rationalen Dinge hinweg, als ob Gott und -Welt und Ewigkeit das einzige wäre, was uns anginge, als ob wir sie im -Sack hätten, als ob sie nur so um uns herumstünden wie Schränke. -Übrigens haben Sie davon angefangen.« - -»Ja, Sie merken doch alles, Sigurd«, sagte Georg sardonisch. »Glauben -Sie wirklich nicht, daß das Alltägliche genügt, um es zu tun? Soll man -auch davon reden?« - -»Nicht vom Alltäglichen,« versetzte Sigurd kurz, »das ist eine -Unterschiebung. Ich sprach vom Realen oder Tatsächlichen und bin nicht -der Meinung, daß es so einfach ist, daß Tun genügt.« - -»Ich kenne eine Frau,« erwiderte Georg nachlässig, »deren Ideal wäre es, -die Geliebte eines Prinzen zu sein. Jawohl, Sie bemerken ganz recht: der -Prinz bin ich selber.« Sitzt mir die Maske? fuhr es durch ihn hin. Er -sammelte sich und fuhr fort. »Ich sage Ideal, Sie würden sagen Ziel.« - -»Weil Sie,« Sigurd lachte spöttisch, »weil Sie ihr dies Ziel nicht -erfüllen wollen? Also ein idealisches Ziel, wie Ihr Kunstwerk, wie der -Himmel für den primitiven Frommen, den Moslem oder so: solange man -danach strebt, Ideal, wenn mans hat, Ziel.« - -»Ach, Unsinn!« murrte Georg. »Der Himmel (und die Hölle genau so gut) -sind keine Ideale für den Frommen, sondern einfach Ziele, weil sie mit -zum Irdischen gehören, weil sie in seinem Dasein inbegriffen sind.« - -»Also leugnen Sie überhaupt Religion?« - -Es klopfte. Die Tür zum Flur wurde geöffnet, und Esther stand über der -Treppe in einem dicken bräunlichen Regenmantel, den Kragen -hochgeschlagen, kaum sichtbar das kleine Gesicht mit den funkelnden -Augen unter tiefen Scheiteln und der Kappe aus schwarzem Haar, die sie -heute trug. Sie hatte einen Brief in der Hand. - -»Ein realer Brief,« sagte Sigurd, indem er näher trat, »siehst du, -Esther, der Prinz leugnet alle Religion außer Buddhismus.« - -Ich dachte an Märtyrer, sagte Georg sich schweigend, indem er Esther die -Hand gab und fand, daß sie wie ein gutes, schwärzliches Tierchen aussah, -süß zum Wegtragen und Füttern. -- »Als wir anfingen, Esther,« sagte er, -»sprachen wir von Ihnen; nun sind wir glücklich beim Nirwana.« - -Sie lächelte. »Das ist eben das Gute an uns, daß ihr von uns überall -hingeraten könnt! Ihr müßt immer bei uns anfangen, ihr Männer.« - -»Und von überallher zu euch zurückkommen«, schloß Georg lachend. »Ihr -seid der Kreis und seid im Mittelpunkt.« - -»Ja, Kreis«, wiederholte Sigurd, am Schreibtisch stehend, Georgs -Malaiendolch in der Hand. »Was ist mit dem Brief?« schloß er kurz. - -Esther erklärte munter, wie sie, um den Brief in den Kasten zu werfen, -vor die Tür gegangen, wie die Nachtluft so herrlich nach dem Regen -gewesen sei und nach nassem Pflaster geduftet habe, daß sie hergelaufen -sei, um Sigurd abzuholen, -- und den Brief habe sie dabei in der -Manteltasche vergessen. Georg verschlang sie mit Augen dieweil und hörte -kaum ihre Worte. Sigurd nahm ihr den Brief wortlos fort, während Georg, -ihr aus dem Mantel helfend, freundschaftlich fragte: »Für wen ist denn -der dicke Brief, kleine Esther?« - -»An meinen Verlobten,« hörte er sie abgewandt sagen, und einen Stich im -Herzen, fiel ihm ein, daß Sigurd ihm ja etwas hatte mitteilen wollen, -Esther betreffend. Was konnte das wohl gewesen sein? -- -- - -Nun saßen sie schweigend alle Vier, bis Esther mahnte: »Sagt doch was, -Kinder, seid ihr immer so schweigsam?« - -»Ja, Benno!« -- Benno saß ganz grade auf dem Vorderteil seines Sitzes, -dieweil eine Dame zugegen. -- »Benno hat den ganzen Abend noch nichts -gesagt. Also Benno ...« - -Benno lachte erschütternd. Er habe alles, was ihm für heute zu reden -gegeben sei, schon vor Esthers Anwesenheit gesagt. »Nun müßt ihr reden!« - -Esther schlug vor, Georg möge etwas vorlesen. - -»Ja, Georg!« bat Benno schmelzend und glitt erwartungsvoll unbedacht -tiefer im Sessel, richtete sich aber gleich wieder auf. Georg wehrte -jedoch ab; er habe nichts Rechtes. Als Sigurd nun aus der Ecke am Kamin -fragte, ob und was Gutes Georg zurzeit lese, fühlte er einigen Ärger -über Sigurds schlankes Abbiegen und sagte nachlässig bloß: »Jean Paul.« - -Keiner von den Dreien erwiderte etwas. Der Name löste wohl zwiespältige -Empfindungen aus, die nicht zu Worte gelangten. - -»Natürlich,« sagte Georg, »wenn man Jean Paul sagt, sind Alle wie auf -den Mund geschlagen. Habt ihr Jean Paul gelesen? Haben Sie Jean Paul -gelesen, Esther?« -- Esther murmelte etwas vom Katzenberger. - -»Dieser ewige Katzenberger! Als ob das nun Jean Paul wäre, nicht wahr! -Katzenberger! Das ist wie -- wie so eine hornhäutige Ferse am Absatz -eines Engels; als solche ja ganz merkwürdig. Aber den Engel solltet ihr -reden hören! Wartet --« Sich im Stuhl drehend griff er den kleinen -schwarzen Band vom Schreibtisch hinter sich. »Flegeljahre,« sagte er, -»ich will euch nur eine Stelle vorlesen, nur eine, und ihr sollt --« Er -blätterte erregt. »Nein, wartet mal, wo war doch das! Richtig, ich hatte -doch ein Zeichen ... An der Stelle ging mir zum ersten Mal mit -blendender Klarheit der Unterschied zwischen Dichtersprache auf und -- -wie soll ich sagen? -- da ist die Stelle!« - -Georg hatte sein Zeichen gefunden, nahm es heraus, bog das Buch auf und -las: - - No. 16. Berguhr - Sonntag eines Dichters - -Walt setzte sich schon im Bette auf, als die Spitzen der Abendberge und -der Thürme dunkelroth vor der frühen Juli-Sonne standen, und verrichtete -sein Morgengebet, worin er Gott für seine Zukunft dankte. Die Welt war -noch leise, an den Gebirgen verlief das Nachtmeer still, ferne -Entzückungen oder Paradiesvögel flogen stumm auf den Sonntag zu ... - -»Das ist es!« rief Georg, »das ist es: ferne Entzückungen oder -Paradiesvögel flogen stumm auf den Sonntag zu. Ja, was denkt ihr euch -dabei? Ist das irgend etwas Vorstellbares? Ist das nicht unbeschreiblich -imaginär? Entzückungen, die fliegen? stumm? auf den Sonntag zu? Und da -quillt einem doch das Herz über von etwas geisterhaft Irdischem und -Unirdischem in wunderbarster Vermengung, und die Seele über von -unsagbaren Visionen des Morgenhimmels und der Dämmerstunde. Und deshalb --- nicht wahr -- was liegt an den Worten? Das überwogende Empfinden des -Dichters schwemmt sie hervor, -- vom Rhythmus, der alles ist, ergriffen, -ankristallisiert, schwemmt es sie hinüber in uns, wo sie zergehend -wieder ausschäumen in Empfinden und in Vision. So spricht der Dichter.« - -Still waren die Andern. Wie, keine entzückte Bejahung? -- Endlich sagte -Sigurd: - -»Und wie, meinen Sie, sprechen wir?« - -»Wir? Wir machen uns verständlich. Wir wollen verstanden werden, wollen -wirken und suchen den passenden Ausdruck, den treffenden, nicht wahr, -Deutlichkeit. Der Dichter will sich niemand verständlich machen, nicht -wahr, sondern muß singen, nachsingen, was der Dämon vorschreibt, und -dies eben, nicht wahr, daß er vollkommen weiß: er kann sich auf unsre -Weise nicht ausdrücken, weil dann nur Deutlichkeit entstünde, aber nicht --- Empfinden, Sichtbarkeit, Fühlbarkeit, das -- nicht wahr -- giebt ihm -die Gegensprache vom Ausdruck, das -- eigentlich ists ein Verhüllendes, -nicht wahr, das -- Bild, Gleichnis, die Gestalt, das heißt: er stellt -dar. Darstellung und Ausdruck, das sind die beiden.« - -»Dagegen«, sagte Sigurd nach einer Weile, »ließe sich wohl nichts -einwenden. Wie Sie aber -- in dem, was Sie zuerst sagten -- das Wort so -erniedrigen, zum Mittler des Gefühls erniedrigen können, das verstehe -ich nicht. Ich --« Georg, obwohl sprachlos vor Überraschung, daß er -erniedrigen sollte, er, dem wie keinem Andern die Einzigkeit, die -vollkommene Aristokratie des Wortes bewußt war, -- kam nicht zum -Einfallen. »Ich empfinde«, sprach Sigurd weiter, »da ganz anders. Ich -empfinde --« Vorgebeugt in seiner Ecke, die Ellenbogen auf den Knien, -legte er Gelenke und Fingerspitzen der gewölbten Hände mit kleinen -formenden Bewegungen gegeneinander -- »ich empfinde -- den Leib des -Wortes. Ein tiefes Erfülltsein, Umschlossensein; kein Überströmen.« - -Esther, die sich bislang unteilhaft verhalten hatte, nickte jetzt -beistimmend und schüttelte den Kopf. Auch Benno drehte sich. - -»Nein, da müssen Sie mich mißverstanden haben«, sagte Georg. »Das Wort -als Mittler? Auch ich --« die Zeile Jean Pauls wie auf einer langen -Fahne vor sich, ließ er sie auf sich wirken, und sagte, langsam seinem -Gefühl nachsprechend: »Ich empfinde das Wort, Leib und Seele. Die Seele -aber flutet über die Ränder und -- bildet, mich erfüllend, den Leib noch -einmal in mir. Und das geht -- hin und her, nicht wahr; immer ist eines -im andern. Die Seele freilich -- auf die kommt es doch allein an -- die -Seele des Worts ist die mächtigere, die immer wieder überflutet und mich --- ahnen läßt, tausendmal mehr ahnen, als das Wort enthält.« - -»Sie lassen Ihre Phantasie spielen, Georg. Sie sind Romantiker,« sagte -Sigurd, »und --« - -»Ich bin kein Romantiker, was fällt Ihnen ein?« - -»Dann denken Sie eben an besonders romantische Gedichte, die es ja -giebt, die von dieser überfließenden Art sind.« - -Esther und Benno nickten lebhaft. - -»Aber ich bitte euch!« widerstritt Georg. »Nehmt doch etwas andres, -nehmt -- was ihr wollt! Nehmt >Der Wald steht schwarz und schweiget -- -Und aus den Wiesen steiget -- Ein weißer Nebel wunderbar ...< Was liegt -denn an den Worten? am schwarzen Wald und weißen Nebel? Aber eine golden -verschattete Welt steigt auf, und das ist die Kunst, wie ich sagte: mit -einem Wort hundert und tausend mal mehr zu geben, als es enthält.« - -»Und das ist romantisch«, beharrte Sigurd. - -»Ja, Georg,« wagte Benno sich hervor, »handelt es sich hier nicht um -etwas andres? Das ist doch -- Landschaft. Die soll gemalt sein, gesehen -werden, und da wirkt natürlich die Phantasie. Hier tut sie's auch bei -mir. Sonst aber -- verhüllt sie sich eher --« - -»Verhüllt sich!« sagte Sigurd. Esther nickte und lächelte. - -»Zum Beispiel, wenn du an das von George denkst, dies Wunderbare, du -lasest es neulich: >So war dein sanfter Sang der Sang des Jahres -- Und -alles kam, weil du es so bestimmt.<« Benno verhauchte beseligt. Sigurd -am Regal lehnend, die Finger in den Westentaschen, das Gesicht vornüber -gesenkt, sagte kurz, nach innen grübelnd: - -»Es muß etwas andres sein. Sie nehmen die Dinge ästhetisch. Es muß ein -ethischer Vorgang sein.« - -»Da komme ich nicht mit«, erklärte Georg. »Jeder Vorgang ist an sich -rein ästhetisch, nicht wahr? Ethisch wird er allein durch die Erkenntnis --- Sie verstehen, Esther --, durch Erkenntnis von Werden und Entstehn, -von den Zusammenhängen, von der Form. Hier aber, hier handelt es sich ja -um Vorgang und nur um Vorgang. Das Ethische können Sie ja dazu haben, -aber -- was hat das mit Dichtung zu tun? Das ist doch -- abstrakt.« - -Benno war nicht einverstanden, und Sigurd bewegte stumm den gesenkten -Kopf. »Warum abstrakt?« fragte Benno und mit ihm Esther aus den Augen. - -»Warum? Also -- -- also wenn ich sage: Bauen, -- nicht wahr? Wer baut? -Einer schleppt Steine, einer legt sie aufeinander, einer macht Fenster, -Türen, Fußböden, einer das Dach. Wer baut denn nun? Der Architekt macht -Pläne, beaufsichtigt, das alles sind die Vorgänge. Was aber alle -zusammen tun, nicht wahr, und auch allein der Architekt durch Planen und -Beaufsichtigen, das sehen wir im Begriff >Bauen<. Begriff! der kann -ethisch sein, aber wie wollt ihr den empfinden, nicht wahr? Wo das Wort -so voll Vorgang ist, so voll Vorgang!« - -»Das können Sie nicht sagen, Georg!« Sigurd hob voll die heißen Wangen -und brennenden Augen gegen ihn. - -»Ich empfinde das eben.« - -»Ich auch, Georg!« rief Benno. - -»Du auch? Ich hatte sonst sagen wollen: Sie, als Jude, nicht wahr, -- -seien vielleicht eher begabt für das rein Gedankliche.« - -»Das sind wir. Herz und Intellekt wohnen bei uns näher zusammen als bei -euch.« - -»Und darum überschätzen Sie das Wort!« - -»Ach das Wort, Georg, doch nicht das Wort!« Benno lief aufgeregt mit -schwingenden Armen in den Raum. »Wie wäre es dann mit der Musik, die -wortlos ist? Wärens da Töne, Akkorde, Septimen, Quinten und Quarten? Ist -es nicht --« - -»Und die Musik,« rief Georg aufspringend und sich zu ihm drehend, »die -Musik, da du davon sprichst, wie läßt die erst überwogen, sich auflösen, -ins Namen-, ins Uferlose, ins --« - -»Bei dir, Georg, aber doch nicht bei mir!« schrie Benno vom bronzenen -Borgia her. »Die Musik ist eine so völlig klare, gesättigte Sprache wie -die der Dichter. Ja, das ists! Sprache, Georg, Sprache! Nicht das Wort, -das Ganze -- eben -- Musik!« - -»Das ist wieder was andres, Benno. Meinen Sie das?« - -Sigurd nickte. - -»Dann also -- meint ihr -- den Rhythmus, nicht wahr?« - -»Es ist mehr, Georg, es ist --« - -»Unter Rhythmus«, erklärte Georg, »meine ich die innerste Essenz, die -wieder Destillat ist aus dem allen: Worten und Takten, nicht wahr, Reim, -Bildern und ihrer Wahl und Ordnung, der Glut der Stunde vor allem -- was -man Stimmung nennt, nicht wahr? -- der Duft, die Seele -- und der Leib --- all das, all das strömt zusammen zum Rhythmus, der die Seele des -Gedichts ist, die Seele der Form. Mit einem Wort, die Form meint ihr, -das ganze Gedicht. Ja, dann freilich, -- das ist bei mir natürlich auch -so. Das Gedicht tritt in mich ein und --« - -»Nun kommen wieder Ihre überquellenden Ränder«, sagte Sigurd, der ein -Buch aus der Reihe vor ihm gezogen hatte und es eben aufschlagen wollte. -Er ließ es aber in der Hand hängen und fuhr fort, zur Bekräftigung damit -Stöße gegen Georg führend: - -»Der wirkliche Vorgang ist: den Leib des Wortes, samt der Seele, die -ganze Form: noch einmal aufrichten, noch einmal baun. Er ist, wie alles -in Wahrheit Ethische -- ein Schaffen, Neuschaffen von Grund aus.« - -»Ja, Georg, ja, Sigurd!« jubelte Benno aus dem Hintergrund, kam hervor -gestürmt und stand nun im Licht so lang er war, hoch gerötet in großer -Gebärde mit flammenden Augen und fliegender Stirn. - -»Georg!« rief er mit ganz unterdrückter, inbrünstig eindringen wollender -Stimme, »hast du's denn nie gefühlt? Nie dies tiefe Glück empfunden im -Empfangen der Form, das -- den -- den Einklang, das Vollkommene, die -ewige Harmonie des Irdischen mit dem Unirdischen, vollzogen im -göttlichen Augenblick? Musik, seht ihr, sie ist nicht der Himmel selbst, -aber -- sie ist das Zwischengebiet, von uns erreicht, ja von uns erzeugt -mit unsern irdischen Kräften und unserm überirdischen Glauben, -- wo das -Himmlische irdisch ward und das Irdische himmlisch -- himmlisch im -Tönen, himmlisch in der geschaffenen Form, in der wir nun aufgehn, -aufgehn, Georg, in beiden -- und doch nur eins noch empfinden: Glück.« - -»Wundervoll, Benno, ja, aber das, was du da sagst, das habe ich im -Tiefsten immer empfunden. Das ist allerdings ethisch, und es ist dann -so, daß ich es unbewußt empfand. Ich kann ja -- wenn ich überhaupt ein -ethischer Mensch bin -- nur hierin das Wunder der Kunst erfahren, und -- -ja, es ist doch so, nicht wahr: die meisten Menschen -- nun, ethisch -sind sie natürlich alle, denn wenn einer es sein kann, müssen alle es -sein. Sie alle haben, nicht wahr, einen ethischen Grundstoff. Von dem -wissen die Meisten gar nichts und können deshalb nur moralisch -empfinden, das heißt: das Stoffliche. Die Nächsten gelangen bis zur -Anschauung, zum Empfinden der Form, also zum Ästhetischen, nicht wahr, -und das sind die, die wir gemeinhin Ästheten nennen. Die Dritten haben -nicht nur die Erkenntnis des Ethischen, sondern auch -- wie Sigurd, -nicht wahr -- das Empfinden davon. Und bei mir ist es nun so, nicht -wahr, daß ich, als selber Schaffender, zwar die Erkenntnis haben und für -sich allein auch empfinden kann, aber der Anschauung verhaftet bleibe. -Ich habe Phantasie, ich kann sie nicht unterdrücken; alles was sie, die -Anschauung mir zuführt, bewegt mich _vor_ allem andern, und das Ethische --- Vischer meinte es wohl auch, wenn er das >Moralische< sagte -- -versteht sich von selbst.« - -»Ja, Georg, dann sind wir ja einig«, bekräftigte Benno mit gerührt sich -verbiegendem Körper, als wären sie nach langer Verfehdung wieder Freunde -geworden. - -»Ja, und Sie, kleine Esther,« sagte Georg, vor sie hintretend, »Sie -haben überhaupt nichts gesagt.« - -Ihre Augen glitzerten. »Oh ich,« lächelte sie errötend, »ich freue mich, -wenn kluge Männer sprechen, daß ich verstehen kann, wie sie es meinen.« -Sie lächelte mehr bei jedem beziehungsvollen Wort: - - »Ich folge gern, denn mir wird leicht zu folgen, - Ich höre gern dem Streit der Klagen zu -- - Wenn die feine Klugheit, - Von einem klugen Manne zart entwickelt, - Statt uns zu hintergehen, uns belehrt!« - -Georg, die ganze Zeit, während sie sprach, stark und stärker versucht, -ihr Gesicht in beide Hände zu nehmen und zu küssen, konnte es nun nicht -lassen, wenigstens ihre Schultern leicht zu berühren, indem er lachend -spottete: - -»Aber das war ja auch nicht von Ihnen, Esther, das war ja von Goethe!« - -»Wir müssen gehn«, sagte Sigurd. »Es ist höchste Zeit.« - - - Drei Gespräche: Das dritte - -Renate schrieb: - -»Tage und Nächte, Tage und Nächte! Da liegst du nun auf der Lauer über -deiner Arbeit wie ein Panther, und ich stehe dabei und weiß nichts. Wie -in der Ermattung dein Menschliches von dir abfällt, so tritt alltäglich, -daß ich ihn sehe, der Gott aus deiner Brust, sitzt da groß, durch Wind -und Wolkenriß hinunterspähend auf das Werdende; Länderflucht und -Wolkenschatten jagen durch seine unbewegten Augen. Warum muß ich -ausgeschlossen sein aus deiner Seele, in einer andern Welt, sprachlos -wie Echo in einem Walde, den niemand betritt? Will mir denn niemand dies -Geheimnis lösen, warum dir alles sichtbar ist, nur nicht ich? -Überstrahle ich sie nicht alle? Bringe ich nicht Glück hin, wo ich -eintrete? Ach, daß ich alle Spiegel der Welt zerschlagen könnte und kein -Bild mehr haben, damit du es merktest, wie ich dürste nach deinen -verhängten Augen! Ich ertrage es nicht, du! daß ich dastehn muß wie -unbekannt, unsichtbar vor dir in meiner Fülle, und dein Auge blinzelt -nicht einmal! An wen soll ich mich denn wegschenken, sag, damit du -endlich, endlich begreifst am Zerschlagenen, was dir aus den Händen -fiel!« - -Sie hielt ein, glühend über und über, fliegend, warf die Feder hin, -knüllte ihr Taschentuch in der Rechten, faßte mit der Linken in den -Ausschnitt ihres Kleides am Halse und zerrte. Sie schlug das Buch zu, -löschte die Lampe vor sich und stand auf; teilte den Vorhang und sah -hinaus. Da war nur Finsternis, undeutlich, aber nach Augenblicken wurde -der schwarze Schattenriß des Kapellendaches sichtbar über dem Gewipfel -gegen den gestirnten Himmel, dann auch darunter da und dort der -gelbliche Schein und die Form zweier Fenster. Dort saß er! dahinter saß -er! Saß, malte und sonst nichts. -- Sie preßte die Stirn gegen das kühle -Glas, atmete tief und wurde ruhiger. Es ist beschämend, dachte sie, ich -muß es jetzt vergessen; man könnte es mir ja vom Gesicht ablesen, was -ich in das Buch schrieb. -- Sie sah in die Tiefe ein wenig rechts und -gewahrte den Lichtschein, der aus dem Verandazimmer breit in den Garten -fiel, darin die Schlagschatten, über Weg und Rasen hin, der dünnen, -rankenumwundenen Pfeiler und der hangenden Reben voll Weinlaub; grau -schimmerte, wo die Helligkeit am Boden endete, der Sandsteinsockel der -Sonnenuhr. Nun sah sie auch, daß eine weiße Gestalt zwischen den Büschen -umherging, jenseit des Rasenplatzes; bald kam sie unten zum Vorschein -auf dem Wege, langsam dahinschlendernd, ging durch den Lichtschein -- es -war Magda -- die Unterarme hinter dem Rücken zusammengelegt, am Hause -vorüber und wieder in die Tiefe, wo sie schwand, aber nach einer Weile -wieder sichtbar wurde, stehen blieb und nach oben schaute. Einen -Augenblick glaubte Renate, sie spähe nach ihr, aber sie stand ja im -Dunkel und war dunkel gekleidet. So blickte sie wohl zu dem gotischen -Fenster empor, wo Georg und Esther unter der Lampe saßen; sie hatte ja -dort auf einmal weglaufen müssen, um zu schreiben. - -Magdas weiße Gestalt wendete sich wieder und ging zurück und kam -abermals wieder und verschwand auf dem Weg zum Gemüsegarten. Renate, all -ihr Eigenes kräftig niederdrückend, folgte ihr zärtlich mit Gedanken. -Sie öffnete leise das Fenster und beugte sich hinaus. Gleich drang mit -der schönen Nachtkühle und dem Geruch des vielerlei Blühenden eine -gedämpfte Musik undeutlich an ihr Ohr -- o, sie übten ja an ihrem -Brahmsquartett in der Kapelle --, und nun standen deutlich sichtbar alle -drei spitzbogigen Fensters, dunkelgelb leuchtend, im Finstern. Über den -blütenlosen Massen der Baumwipfel war das Heer der Sterne in reicher, -strahlender Stille aufgezogen. Ganz fern zur Linken schimmerte noch -Weißes, -- wohl Magdas Kleid. - -Renate dachte, daß sie das grüne Fenster von unten gesehen haben müsse, -wie sie selber immer wieder leise betroffen von seiner Stille im -Schweben, und es wurde ein alter Vers in ihr wach, -- vielleicht summte -auch Magda ihn im Gehen vor sich hin, sie kannte ihn ja: - - Gottesauge still und klar - Zwischen dem Gezweige! - Wandellos im Sternenjahr, - Dulde, daß ich wandelbar - Meine Seele vor dir neige, - Die verzweifelt war ... - -Bist du nun am Land, Kind? dachte Renate. Du bist es, ich weiß. Deine -Gedanken gehen kleine Wege, wie deine Füße im wohlbekannten Garten von -selber sich durch das Dunkel finden; gehen ein Stückchen neben Georg, -laufen zu Bogner, der unbekümmert um das musikalische Getöse hinter -seinem Rücken vor seinem Wandstück sitzt und mit Kohle Landschaft und -Gestalt in den großen Linien festhält. Du brauchst deine Gedanken, die -dir nicht mehr weh tun, wenn sie sich nur bewegen, nicht mehr zu hüten; -es giebt kein Hinaus mehr aus der wunderbaren, nur mit Gottes Hülfe zu -begreifenden Schmerzlosigkeit, die all deine Poren erfüllt ... - -Sie atmet leicht, sagte Renate, ich weiß es. Ihre Gedanken halten sich -ans Geschaute, rühren an die alltäglichen Vorgänge, an Menschen und -Dinge umher nun mit einem sicheren Gefühl und machen sie milde. Nein, es -gab nichts Hartes mehr für sie; ein wenig schattenhaft war alles -geworden, ein unveränderliches Abendrot von unirdischer Gläubigkeit -ruhte am Himmel aus, von dem die sehnsuchtslosen Schatten ein sanftes -Dasein bekamen; da mußten alle Stimmen leiser gehn, auf den Gesichtern -lag das starke, aber milde Leuchten des Sonnenscheidens, -- hatte sie -ihr selber nicht einmal gesagt, wie durchsichtig die Gesichter ihr -schienen, bis ins Innerste der Gedanken; von ihrem eignen, Renates, -Antlitz hatte sie es gesagt und hinzugefügt, was sie Saint-Georges -einmal von ihm hatte sagen hören: Niemals kann es welken ... - -Da war sie schon wieder bei sich. Ein halbes Jahr jünger war die -Freundin als sie und schien älter fast um zehn Jahre. Sie aber stand im -Anfang ihres Herzens und -- Renate richtete sich auf und ging durch das -dunkle Zimmer hinaus. - -Im Treppenhaus blendete sie das grelle Licht, und als sie durch das -erleuchtete Verandazimmer gehen wollte, erschrak sie plötzlich vor einer -schönen und großen Gestalt, die auf sie zuschritt in einem großen, -dunkelgrünen Kleide, -- bei Gott, sie selber wars, vor der sie -erstaunte, die aus dem Empirespiegel auf sie zugeschritten kam. Sie -blieb stehn, lächelte verzweifelt zu der drüben hin und spottete sie an: -Ist es wohl nun zu begreifen, daß du hier herumgehst so groß wie ein -Pferd, und kein Mensch sieht dich? -- Achselzuckend trat sie an den -Tisch; dort standen Früchte in Schalen, Brombeeren und Himbeeren, auch -Bananen und mächtige Trauben von schwarzblauen Beeren. Von denen nahm -sie eine in jede Hand, drückte sie zu beiden Seiten unterm Kinn gegen -den Hals, trat so vor den Spiegel, aber das half alles nichts, im -Gegenteil dachte sie, daß ihre Augen genau wie die Weinbeeren aussähen, -und das ärgerte sie irgendwie, sie warf eine der Trauben wieder auf den -Teller, erschrak aber und sagte: Nun mußt du sie auch essen, warum hast -du sie angefaßt! -- Warum nicht? Gerne! -- So schlenderte sie auf die -Veranda, nachdem sie der Verschwendung des elektrischen Lichts Einhalt -geboten, sah ins Dunkel, aber es war niemand zu sehn. Sie trat an die -Brüstung, legte eine der Trauben darauf, lehnte sich gegen den eisernen -Pfeiler ins Rebgewind und fing an, Beere um Beere sachtsam ablösend, zu -essen, und nach einer Weile, als ihre Hand sich mit den Schalen füllte, -die folgenden in den Garten zu spucken. In diese Aufgaben vertieft, -angenehm durchtränkt von dem süßen Saft, als ob sie Beeren aus -Nachtkühle äße, hörte sie Schritte unten auf dem Sande, blickte auf und -sah Jason al Manachs Schattengestalt und weißes Gesicht unverkennbar um -die Hausecke kommen. In der Nähe der Stufen zur Veranda blieb er stehn -und sagte: »Guten Abend.« - -In der Meinung, er habe sie erblickt, wollte sie gerade antworten, als -sie unter sich Magdas Stimme: »Guten Abend, Jason!« sagen hörte, und -sich überneigend gewahrte sie richtig Magda, die auf der Bank dicht -unter der Veranda saß. Jason ging zu ihr und setzte sich neben sie. - -Eine Weile blieb alles still. -- Ich habe Lust, dachte Renate, hier -stehen zu bleiben und zu hören, was sie reden. Vielleicht reden sie von -mir. Vielleicht reden sie von Bogner. Sicher reden sie irgend etwas -Gutes. Es muß angenehm sein, hier in der Nachtkühle zu stehn und gute -Dinge zu hören, die im Dunkel beredet werden. - -»Nun, Jason, woran denkst du wohl?« hörte sie Magdas Stimme. - -»Woran möchtest du denn, daß ich denke?« kam es freundlich zurück. - -»Wie ich vorhin im Garten herumging, mußte ich viel an Ulrika denken. -Sie kommt mir so verwandelt vor. Was mag mit ihr sein?« - -Minutenlang herrschte Stille. »Ulrika Tregiorni,« hörte Renate Jasons -Stimme ganz langsam, »Ulrika Tregiorni hatte bis zum Heimkehrtage -Benvenuto Bogners, des Malers, niemals nachgesonnen über das Leben, -seine Gewalt und Verhängnisse, vermochte also nicht zu wissen, daß es -Menschen giebt, die eines Tages aus weiter Ferne herkommen, vielleicht -um in ein Haus zu treten und zu jemand zu sagen: Tue dies! und wieder -fortgehn, keiner weiß wohin, und unbekümmert um Verwirrung oder -Zerstörung, die sie angerichtet haben mögen und hinter sich dort -zurücklassen, wo Ordnung und gelassene Zufriedenheit das Gesetz aller -Tage gewesen war.« - -»Wie sonderbar du sprichst, Jason!« klang Magdas Stimme. »Als ob du eine -Geschichte anfangen wolltest.« - -»Sind wir nicht Alle Geschichten?« sagte er leise und sprach weiter: -»Dies wußte sie nicht. Ihre kühlen, beschränkten Mädchenaugen hatten nie -mehr als den Glanz gerader und gefälliger Oberflächen erfaßt; und sie -hatte es nicht anders gekannt, als daß alle Dinge, zwischen denen sie -aufgewachsen war, ihr dienten und ihr weiterdienen und mit ihr gehn und -sich nie verändern würden, so wie sie selber einfach und geraden Weges -aus einem Kinde ein Mädchen und Weib geworden war, das den natürlichen -Gang des Geschehens auch darin erblickte -- -- nun, Ulrika, du kannst -fortfahren, auch darin erblickte ...« Richtig, da stand ja Ulrika -Tregiorni, weiß gekleidet, im Dunkel vor den Beiden. »Spracht ihr von -mir?« fragte sie. »Worin soll ich was erblicken, Jason?« Damit wurde sie -für Renate unsichtbar; sie setzte sich wohl auf die Bank, zwischen die -Beiden, kam es Renate vor. - -»Ich sagte,« wurde Jason wieder hörbar, »es sei außerordentlich -natürlich für dich gewesen, eines Tages zu heiraten.« - -»Ach, Jason, ist heiraten natürlich oder unnatürlich vielleicht?« - -»Unnatürlich, Ulrika, ganz gewiß, denn man spricht von natürlichen -Kindern.« - -Renate, während die unten herzhaft lachten, biß sich auf die Lippen, um -nicht laut zu werden. - -»Ist Bogner in der Kapelle?« fragte Ulrika. Einer von den beiden Andern -mußte wohl genickt haben, denn sie sagte gleich darauf: »Er muß morgen -wieder in die Haide, ich weiß nur noch nicht, wie ichs anstelle, er -sieht ja schauerlich aus. Ich werde ihm alle Pinsel in Ölfarbe stecken.« - -»Du bist doch ein glücklicher Mensch, Ulrika«, sagte Jasons Stimme. - -»Hünde,« sagte Ulrika, »Hünde, hörte ich einmal ein kleines Mädchen -sagen, sind doch glückliche Menschen!« - -Es gab wieder ein kleines Gelächter. »Glücklich?« kam nach einer Weile -Ulrikas Stimme. »Ja, da fand ich Hölderlins Gedichte oben auf dem Tische -und darin die Worte, -- er sagt vom Menschen: »Daß er verstehe ...« Wie -heißt es genau, Jason?« - - »Alles lerne der Mensch, sagen die Himmlischen, - Daß er, kräftig genährt, danken für alles lern' - Und verstehe die Freiheit, - Aufzubrechen, wohin er will.« - -Wieder war es still unten. Ulrika sagte, ein wenig leiser als zuvor: -»Wie sonderbar du das betonst: daß er _verstehe_ die Freiheit! Ganz so -sagte mirs Bogner, als ich mit ihm darüber sprach. Und ich begreife noch -nicht recht, daß Freiheit etwas so Sichtliches --, wie soll ich sagen, -so einfach Vorhandenes sein soll, daß auf das Verstehen das meiste -ankommt. Aber es wird schon so sein.« - -Jason sagte: »Die Freiheit ist das Natürliche, mein Kind, das weißt du -doch auch, denn die Natur ist frei, auch du, wie du da geboren bist und -mit sämtlichen Gedanken. Wenn du dich einmal unterworfen haben wirst, -wirst du auch verstehen, was Freiheit ist.« - -Lange Zeit herrschte Schweigen; Renate hörte den Nachtwind in den Bäumen -oben, dann tiefer unten. Es rauschte, bald hier, bald dort; es kam -kühler aus der Tiefe. Eine leise Frauenstimme sagte dort gedankenvoll: -»Ja, so meinte er es wohl«, ohne daß Renate erraten konnte, ob die -Stimme den Dichter meinte oder Bogner. Jetzt war alles still, ein -kleines Gelächter Ulrikas ward hörbar, und sie sagte: - -»Eben fällt mir etwas so Nettes von ihm ein.« (>Ihm< sagt sie, dachte -Renate betrübt, als ob es nur den Einen gäbe.) »Als wir neulich in ein -Dorf marschierten und der Maler gerade mit seinem ungeheuren Baß eine -schauerliche Musik machte, kam uns ein winziges kleines Mädchen -entgegen, blieb bei unserm Anblick, andachtsvoll den Finger im Munde, -stehn, rannte plötzlich aus Leibeskräften auf den Maler zu, der es -anguckte, und hatte ihn schon bei der Hand erwischt, was er aber, immer -herrlich singend, gar nicht recht zu merken schien; er schleppte es so -am Zeigefinger mit sich, es trabte eifrig, da stolpert' es, fiel hin und -erhob ein so jämmerliches Geschrei, daß er es schleunig auf die Arme -nahm. Was nun kommen sollte, wußte er augenscheinlich nicht, aber das -Gesicht des Kindes -- es war kränklich und schmutzig mit übergroßen -braunen Augen -- blieb mitten im Weinen stehn, und als er sich nun mit -einem beruhigenden Gemurr darüber beugte, wurde es ganz still und sah -ihn an. -- Ich weiß nicht, was er da gesehen haben mag, aber später -zeichnete er das Gesicht des Kindes in sein Buch aus dem Gedächtnis, und -es war sonderbar, während er zeichnete, hatte sein Gesicht denselben -Ausdruck wie vorher, als er das Kind anblickte, so daß es ruhig wurde -und ihn ernsthaft ansah. Es läßt sich nicht sagen ... Er lächelte ein -wenig, und von Güte, von Beruhigung, von Väterlichkeit, von Verständnis, -von all dem war etwas darin.« - -Einen Augenblick, nachdem sie geendet hatte, setzte die Musik in der -Kapelle wieder ein mit einem schwunghaften Angriff aller Instrumente, -deren jedes deutlich zu unterscheiden war, Klavier, die Geigen zusammen -und die knarrende Stimme des Cellos. Renate hörte zwar wieder Sprechen -nach einer Weile, doch war nichts zu verstehn. Sie wollte schon hinunter -gehn, aber die Musik brach plötzlich ab, und Ulrikas Stimme wurde -hörbar. -- - -»Nein, nie! Davon spricht er scheinbar höchst ungern, und ich habe ihn -beinah im Verdacht, daß er mit seinem Schweigen bloß seine Dummheit -bemänteln will, aber ...« Sie lachte und fuhr fort: »Ich versuche es ja -immer wieder, auf den verzwicktesten Umwegen ihn dazu zu bringen, aber -kaum daß ich ihn habe, wo ich will, beweist er mir einen gräßlichen -Irrtum und sagt: Da denken Sie nun mal schön darüber nach!« - -Renate riet noch, um welch geheimnisvolle Sache es sich wohl handeln -möge, als derselbe Angriff der Musik wieder aufbrach, so daß sie nichts -mehr verstand. Nun wartete sie nicht ohne Ungeduld auf das Ende des -Satzes; er war nicht lang, wie sie wußte. - -Endlich war es still, aber auch im Garten herrschte Schweigen. Ein wenig -übergebeugt, sah Renate alle Drei unten sitzen, Ulrika in der Mitte, die -Hände um das übergeschlagene rechte Knie gefaltet. Gleich darauf sagte -sie: - -»Aber wie ich schon sagte: Nachdem ich ihm die schwierigsten Sachen -vorgeführt, Technisches und Handwerkliches, den Orgelpunkt und auch -Kontrapunktisches, soviel ich davon weiß, meinte er, es bestehe nicht -der geringste Zusammenhang.« Womit denn nun? dachte Renate verzweifelt, -ich muß doch hinuntergehn, -- während Ulrika weitersprach: »Alle Künste, -sagte er am Ende, sind so völlig voneinander getrennte Gebiete wie die -fünf Sinne, wenn sie auch alle an derselben Stelle verankert sind. Und -seht ihr, so macht er's nun! Mir fiel nämlich ein, daß es ja auch fünf -Künste giebt, wie fünf Sinne, und ganz geschwind setzte ich ihm -auseinander, wie das sich auch entspräche, denn Gehör und Gesicht haben -ihre Kunst, auch der Geschmack, sicherlich, denn die Kochkunst und ihr -Genuß, wenn ihr's euch richtig vorstellt, ist eine wahrhafte Kunst, wie -das Dichten und Gedichtegenießen; für das Gefühl steht die Dichtkunst, -innerlich und äußerlich, denn unsre Sprache ist doch die Vermittlerin -unseres Fühlens; nur der Geruch habe keine Kunst entwickelt, sagte ich, -und das entspricht nun genau der Architektur, die auch keine Kunst an -sich ist, sondern im Zweck wurzelt, versteht ihr, wie ich es meine? Der -Geruch ist uns ganz Mittel geblieben, während die andern Sinne sich doch -über ihre Zweckmäßigkeit zu reinem Empfinden, zum Genuß des Schauens und -Hörens entwickelt -- ist es nicht so?« - -»Was für ein kluges Mädchen du doch bist, Ulrika!« sagte Jason. - -»Das hat er auch gesagt,« versetzte sie gleichmütig, »und dann meinte -er, es wäre alles Unsinn, und nun sollte ich mal drüber nachdenken, -- -ich sagte ja, so macht er's.« - -»Hast du schon?« fragte Jason. - -»Was?« - -»Nachgedacht?« - -»Noch nicht, aber vielleicht hilfst du mir!« - -»Gerne,« sagte Jason, »aber nun fängt die Musik wieder an, und Renate -versteht kein Wort mehr.« - -»Renate?« fragte nach einer Weile Ulrika verdutzt. -- - -Renate lehnte sich über die Brüstung. - -»Jason, du schmählicher Verräter!« sagte sie leise. - -Die beiden Frauen wandten die Gesichter herauf, auch Jason langsam. -»Hast du uns wahrhaftig belauscht?« rief Ulrika. - -»Wahrhaftig. Es war so schön, hier oben zu stehn und euch sprechen zu -hören. Der Wind rauschte, aber die Musik war vorhin wirklich zu laut. -Nun sind sie ja am Adagio, und Jason kann ruhig weitersprechen. Auf -eurer Bank ist ja sowieso kein Platz mehr. Los, Jason, was wolltest du -sagen?« - -Ulrika flüsterte Magda etwas zu, dann flüsterte Magda, dann waren sie -still, und Jason fing an. - -»Was denkst du eigentlich vom Tanzen, Ulrika?« fragte er, »ist das keine -Kunst?« - -Ulrika schien betroffen. »Wenn man will ...« sagte sie endlich zögernd. - -»Nun, wolle nur!« redete Jason ihr zu, »und denke auch gleich einmal an -die Mathematik. Nicht an die angewandte, die du so kennst, sondern die -reine. Und Reiten, wie steht es damit? Ist es keine Kunst, mit einem -Tier so zu verwachsen, daß es keinen Willen mehr hat als dessen, der es -lenkt? Und bedenke, was nötig war! Es muß doch Jahrhunderte gedauert -haben, bis das Pferd so weit gebracht war, und gleichzeitig wurde -obendrein das ganze Pferd umgewandelt und aus einem kleinen, bösen Vieh -ein großes, seelengutes Tier. Für Gefühl hast du die Dichtkunst einfach -eingesetzt, aber mir scheint, die Tanzkunst entspricht dem noch viel -einfacher, da sie die empfangenden Nerven an die bewegenden anschließt, -innere Wollust in erleichtertes Bewegen auflöst und wieder auf die Sinne -zurückwirkt, betäubt und befreit, -- und was meinst du, wäre ein -tieferer Zauber aller Künste als eben der, zu betäuben und zu befreien, -im Wechsel auf und nieder?« - -»Mit dem Reiten«, sagte Renate von oben, »scheinst du mir zu -übertreiben, aber das tat nach meinem Gefühl auch Ulrika, ich konnte es -bloß nicht sagen vorhin, mit ihrer Kochkunst. Nur mit der Mathematik -magst du recht haben, ich weiß nur nicht ganz, wie.« - -»Ich will es erklären«, sagte Jason. - -Ringsum war alles still. Jason sagte: »Was, meint ihr, ist denn nun -Kunst? Ja, nun müßt ihr meine Worte recht verstehn, denn nun will ich -vom Allerfeinsten reden, vom Gefühl, vom Empfinden, und das ist, als ob -ich Seifenblasen mit Handschuhen anfassen wollte. Aber doch scheint mir ->Heilen< das beste Wort. Kunst ist Heilkunst. In Heilkunst liegt -Heilkunde zuerst, nicht wahr? Und Mathematik ist Zahlenkunde, da habt -ihr schon einen kleinen Zusammenhang. Und nun denkt euch einmal ein -Kunstwerk, eine Dichtung oder eine marmorne Figur, wie sie dasteht, wie -sie einfach ist, wie sie klar ist, so leicht zu begreifen, so -unweigerlich, so sichtlich und mit den zehntausend unsichtbaren -Verknüpfungen in ganz unbekannten Schächten eurer Seelen verankert, euer -Dunkel erhellend im Augenblick und tiefer vertiefend, -- und nehmt -dagegen eure Welt, alle Verworrenheit, alle Irrtümer, alle Unkunde, -alles ewig Schmerzliche, den Tod und die Wege der Liebe, Trübsinn und -Weisheit, Erraten und Verfehlen, Schwinden und Funkeln, Erstehn und -Verfallen, die ungeheure Gesetzlosigkeit, die unzählbaren Ahnungen, -- -und wieder blickt nun zurück! Da stehen mitten in dieser traurigen, -zerrissenen, unbekannten Welt zwei Dinge: die Zahl -- und das Werk. -Beide innig verbunden durch eins: Harmonie. Gott machte die Sterne, wir -aber machen schöne Werke immerhin, die uns erfreuen, die, wie sie auch -sein mögen, heiter und tragisch, bitter und schwer und voll Elend -geschilderten Jammers, doch den tiefen Glanz der Ordnung haben, des -Selbstgewollten, des Geregelten, der Harmonie. Den Schein immerhin von -etwas Absolutem, das tiefe Feuer der Notwendigkeit, denn mußte nicht -Kunst kommen? Mußte sie nicht, wie eines Tages die Zahl entdeckt wurde, -daß sie sei und gelte allgegenwärtig? Heilkunde trägt die Kunst; unsre -immerwunde, betrübte, seelenkranke Herzenswelt heilen wir mit dem -schönen Werk, ja den Tod heilen wir und heben ihn auf mit dem -unvergänglichen, dem unsterblichen, dem ewigen Werk. Und Heilkunde, -Heilkunst ist auch die Mathematik, weil sie nach dem Reinen strebt, weil -sie Gesetze erkennt, und so ein jedes Betreiben, ein jedes irdische -Geschäft, das über irgendeinen alltäglichen Zweck hinausgeht gegen das -Ewige; das mehr will als Menschliches, mehr als sich selbst, das -Unabhängigkeit will, eignes Wirken, Freiwilligkeit, Freude, denn am Ende -ist dies doch wohl das gute, einfache Wort.« - -Jason schwieg, still blieb es im Garten, in der Nacht, bis mit so -erschreckender Plötzlichkeit aus der Tiefe der Büsche die Stimme des -Cellos, tief und inbrünstig, einen stürmischen Seufzer aushauchte, daß -alles umher zusammenzuschaudern schien. Renate fühlte im Augenblick die -Erinnerung an die Stunde vor dieser, oben in ihrem Zimmer, in sich -heraufschießen mit einem so unermeßlichen Schmerz um Bogner, daß sie -glaubte, es nicht ertragen zu können. Aber der Schmerz ebbte langsam und -schwand später. Renate fühlte ihr Haar wehn auf der Stirn, kühle -Atemzüge strichen über ihre Wange, ihre Stirn, den Hals, es rauschte -allenthalben in der Nacht, es bewegte sich, Ulrika stand groß und weiß -unten, die Hände im Nacken gefaltet, das Antlitz emporgerichtet. Die -andern Instrumente hatten den Seufzer längst mit Beruhigung und -Verschleierung in ihre sanftere Gemeinschaft zurückgezogen, gleich -darauf verstummten sie nacheinander, der Garten lag schweigend. - -Hinter Renate im Saal flammte das Licht auf, nach Augenblicken wurde -Esther sichtbar, hinter ihr Georg, aber sie sahen Beide Renate nicht. -Esther lief die Stufen hinunter, Georg folgte langsamer quer über den -Rasen. So verließ Renate ihren Platz, schritt die Stufen abwärts, fand -unten aber nur noch Magda, die ihr entgegensah. Jason war verschwunden. -Ulrikas Gestalt entfernte sich zwischen dem Buschwerk nach der Kapelle -hin. Renate, in unbestimmte Gefühle verloren, hörte Magda fragen, ob -Obst im Zimmer stünde, nickte nur freundlich und ging weiter. - -In der Kapelle herrschte Vergnügtheit. Esther stand da, drehte sich, als -sie Renate hörte, zu ihr, rief »Fertig!« und schwenkte einen herrlich -glitzernden Kissenbezug. Ganz rechts in der Ecke hockte der Maler vor -seinem Wandstück und rauchte. Über den Pulten und am Klavier, wo Benno -glücklich saß, brannten rötlich die vielen Kerzen, Ulrika und Irene -haschten nach Esthers Kissen. Ja, und der Prinz und Saint-Georges und -Sigurd waren ja auch da. Gleich darauf erschien Magda mit den beiden -Schalen voll Obst, und alles stürzte sich auf sie. Renate sah Ulrika -eine Handvoll roter Himbeeren greifen und damit hinter den Maler -schleichen. Über seinem Kopf hob sie die Hand empor und ließ die Beeren -fallen; eine blieb in seinem Haar hängen, er faßte, völlig -geistesabwesend das Gesicht herumdrehend, mit einer Hand danach und -zerquetschte sie grausam. Was er zwischen den Fingern behielt, -betrachtete er nachdenklich, bis Ulrika kam und ihm unter vielen -Entschuldigungen mit ihrem Taschentuch die Finger putzte. - -Erst als Esthers Kissen ihr an den Kopf flog, endete Renates Verwirrung. - - - Viertes Kapitel: August - - - Hora - -Georg dachte: Sommer, o Sommer! Wie das alles hängt! Die heiße Luft in -den grünen Wipfeln, in diesen schwer schlagenden Massen, und herein -hängen die Wolken, weiße Ungeheuer, und das Blau hängt herein in all die -glühende Enge. Wie glüht der graue Stein am Haus! Oben, die kleinen -Barockfiguren auf dem Dach sehn aus, als wollten sie schmelzen in der -blauen Glut, und sie schmachten nach dem eiskalten Schnee der Wolken, -die über ihnen hinsegeln, -- arme, kleine Tantalusse! O Sommer, o -Sommer, o -- -- Sommer -- -- Som-- -- - -Georgs Verstand blieb hier stehn. Durch seinen Traum gingen leichte -Schritte, Schritte im Gras, Schritte aus Sonnenschein, aus Baumschatten, -und etwas sah ihn an, Wesenloses, dann war's weg, und in Meilenferne -brüllten langgezogen die Helenenruher Kühe. Dann sprengte ein Schimmel -über den Deich herauf, wiehernd und stampfend, Georg bestieg ihn und -flog mit ihm davon, wunderbar leicht, nicht mehr als ein paar Fuß hoch -über der Erde, und es wiegte wie ein Karussellpferd, es ging den Deich -hinunter und über das Wasser, in dem eine kleine Insel schwamm, auf der -sein Vater, Onkel Salomon und Professor Prager Skat spielten in -Hemdärmeln, und Georg sah seinem Vater über die Schulter; der aber hatte -keine Karten in der Hand, sondern lauter Photographien von Georgs -Korpsbrüdern, sagte aber ganz richtig Solo an und spielte aus. Es war -aber gar nicht Georgs Vater, sondern der Wachtmeister aus Wallensteins -Lager, und sang in einem fort: Und ist die Nase noch so groß, das macht -nichts für das Kinn! Esther aber saß derweil still zu seinen Füßen, war -zehn Jahre alt und stickte ungeheure kupferrote und lavendelblaue Blumen -auf einen eisengrauen Vorhang, vor dem sie saß, und -- - -Wo bin ich denn? dachte Georg, sich aufrichtend. Bin ich denn nicht in -Helenenruh? Nein, da steht ja das Montfortsche Haus in der Sonne, heiß -und grau, und hier ... - -Im Grase sitzend, sah er neben seiner linken Seite das Postament der -Sonnenuhr. Auf den Stufen zur Veranda vor ihm hüpften die Spatzen. -Drinnen war es dunkel und schattig; die weiß und grün gestreiften -Leinenvorhänge bauschten sich leicht gegen die Pfeiler und -Glyzinienreben. Georg besann sich, daß er aus der Universität -fortgelaufen und hergefahren war, nachdem er Esther nicht im Schlößchen -gefunden hatte, aber hier ... Er rutschte etwas vorwärts und beugte sich -vor, um an der Sonnenuhr vorüber zu sehn, und richtig, da saß, als hätte -sie immer da gesessen, die Chinesin im Schatten des weiß und grün -gestreiften großen Leinenschirms und arbeitete an etwas Winzigem in -ihrem Schoß. - -Ach, wie kühl sah sie aus! Weißgelblich war ihr Kleid und ihr Gesicht -wie Marmor in dem grünlichen Licht. Aber als er kam, hatte doch nur ihr -Stuhl dagestanden und Nähsachen auf dem Sockel der Uhr? -- Esther sah -auf, schien ihn aber nicht zu sehn, griff über sich auf die Platte der -Uhr, nahm ein dickes Buch herunter, schlug's auf und blickte längere -Zeit hinein. Dann legte sie's vor ihre Füße ins Gras, und flugs machte -sich ein kleiner Sommerwind damit zu schaffen wie ein Meerschweinchen, -drehte sich darin herum und schlug die Blätter hin und her, als ob was -darunter zu finden wäre. Georg aber fand auf einmal Esthers dunkle Augen -auf sich gerichtet, und sie lächelte paradiesisch. - -»Habe ich geschlafen?« sagte Georg. »Wo waren Sie denn? Warum sind Sie -nicht in unserm Park?« - -Esther sagte, sie hätte Brehms Tierleben gebraucht, und Renate hatte ihr -gesagt, daß es in der Bibliothek ihres Onkels sei. -- Georg rutschte -noch etwas weiter nach vorn. - -»Eben träumte mir,« sagte er, »ich wäre in Helenenruh und ritte auf dem -alten Trompeterschimmel von Magdas Vater, immer einen halben Meter über -der Erde, o, es war wunderbar, und Sie saßen -- wo saßen Sie doch? Ich -weiß nicht mehr, aber sie stickten feurige Lilien ins Montfortsche Haus. --- _Vulnerant omnia_ --« las er vom Sockel der Uhr ab. - -»Was murmeln Sie da?« fragte Esther. - -Georg legte sich lang auf den Rücken und gähnte: »_Vulnerant omnia, -ultima necat_ sagte ich. Was auf der Sonnenuhr steht.« - -Esther antwortete nicht. Es zwitscherte überall, es rauschte leise. Oben -schoben sich die Wolken, lautlos, riesig, unaufhörlich. - -»Helenenruh,« sagte Georg, »da müssen wir einmal hinreisen.« - -»Ist es so schön?« - -»Helenenruh ist der ewige Sommer. Immer ist Sommer in Helenenruh und -Ferien. Weiß der liebe Himmel, wann die Menschen da arbeiten. Es wird -nur auf Schimmeln geritten. Gott, was rede ich für'n Unsinn.« Ihm fiel -Unkas ein, der See und Jason al Manach, -- welch ein Tag, welch ein -sonderbarer Tag! -- Ach, heute war ihm wohl, endlich, endlich einmal -wohl ... - -»Helenenruh -- -- wissen Sie, wie das ist?« sagte Georg. »Das ist bloß -Wiese. Wiese nach allen Himmelsrichtungen, und da liegt man und brennt -in der Sonne. Mit vier Jahren habe ich da gebrannt, mit fünfen, mit -sieben, und immer so weiter. Die Grillen zirpen, weit weg brüllt eine -Kuh, und manchmal kann man das Meer hören. Blau ist die Luft, man kann -sie aus Tassen trinken. Oh, Helenenruh ist schön, Helenenruh ist ein -Inbegriff.« - -Esther sagte nichts. Georg richtete sich wieder auf, rote Flecken -schwammen vor seinen Augen, die tränten. »_Vulnerant omnia_ --« las er -wieder. »Wissen Sie was von Jason?« - -»Ja, was ist das eigentlich für ein Mensch?« fragte Esther, ohne von -ihrer Arbeit aufzusehn. Sie hatte einen kleinen Pappdeckel im Schoß und -stocherte mit einer Nadel drin herum. - -»Was machen Sie denn da eigentlich?« fragte er. »Sind das Perlen?« - -»Richtig,« sagte sie, »und er geht eigentlich immer nur herum und sagt -gar nichts. Und -- wissen Sie -- einmal, nein, schon mehrmals, wenn ich -so seine stillen Augen ansah, kam mir's vor, als ob er wirklich alles -wüßte, auch von mir, wenn er mich ansieht, und sogar, was einmal aus mir -werden wird, aus mir und uns Allen.« - -»Das ist ja unheimlich,« sagte Georg, »nun, wenn ich einmal nicht weiter -weiß, werde ich ihn fragen.« Er stützte sich auf die Hände und sprang -auf. »Jetzt will ich aber sehn, was Sie machen. Schmetterlinge?« fragte -er, eine Abbildung in dem offnen Buch erblickend. - -Sie hielt ihm hin, was sie in der Hand hatte, einen fingerbreiten Streif -aus lichtgrünen Perlen, aus dessen einer Breitseite ein halber -Falterflügel herauswuchs, dunkelrot von Perlen mit hellgelbem Auge. -- -Esther erklärte: - -»Dies wird ein schmaler Streifen, lichtgrüner Grund und lauter ganz -bunte Schmetterlinge, so schräg hin und her nebeneinander, als ob sie -flögen. Die Farben kann ich wohl selbst erfinden, aber die Formen nehm -ich aus dem Buche.« - -»Und wenn's fertig ist?« - -»Kommt's um eine Lampe mit einer flachen grünen Kuppel.« - -»Wie die auf meinem Schreibtisch?« - -Esther lachte. »Sagen Sie mir nun, wie die Inschrift auf deutsch heißt!« - -Georg stierte gegen die Inschrift. Er reckte sich, stöhnte, knickte -zusammen und fühlte sich wunderbar sommerschlaff. - -»Alle verwunden, heißt es, die letzte tötet. Es sind die Stunden -gemeint.« Ja, -- _ultima necat_. Sollte das wahr sein? Gott sei gelobt, -für die erste Hälfte stimmte es im Augenblick nicht. Danach kroch er vor -Esthers Füße und legte sich zufrieden nieder. Durch halbgeschlossene -Augen sah er den Saum ihres Kleides und die Spitzen leise in Wellen -gehn, sah die weiße Haut durch den dünnen Strumpf schimmern und die -kleinen Eindrücke um die Spitze des bronzenen Schuhs. Dies nicht zu -küssen, ist schwer, dachte Georg. - -Indem bemerkte er das kostbare gelbe Haupt einer Nelke an Esthers -Kleidausschnitt und fragte eifersüchtig: »Esther, woher kommt die -Blume?« - -»Von Sigurd«, sagte sie gleichmütig. - -»Das«, schrie Georg, »ist zum Tollwerden! Er hat mir vor drei Tagen, als -ich mit Blumen zu Renate kam, den längsten sozial-ethischen Vortrag -gehalten, was für ästhetische Albernheiten das wären!« - -Esther zuckte die Achseln »Gott, Georg, Sie kennen doch Sigurd.« - -»Jawohl kenne ich ihn!« tobte Georg, »und wenn ich ihn jetzt darauf -festnagelte, so würde er entweder schlank leugnen, oder er würde lächeln -wie ein Waisenknabe und sagen: Ja, da habe ich wohl gelogen ...« - -Esther nickte strahlend. »Ich liebe ihn,« sagte sie, »er ist -entzückend.« - -»Merkwürdig ist er jedenfalls. In allen geistigen Dingen zuverlässig wie --- Ajax, aber im Persönlichen wie eine berauschte Wetterfahne.« - -»Er ist doch so reich, Georg!« verteidigte Esther, »können Sie das nicht -verstehn? Sehen Sie doch: er war immer Zionist; jetzt kam einer und -zeigte ihm, wie kostbar, wie einzig gerade die nicht nationale, die -kosmopolitische Seite des Judentums wäre, und --« - -»Wetterwendisch und vaterländisch, wie er ist --« - -»Und feurig, wie er ist, sah er nur das Große, Seltene, Tiefe drin und -entbrannte dafür.« - -Es ist ja schrecklich, dachte Georg, wie sie ihn liebt! -- Er schwieg -gekränkt. - -»Und weiter, Georg. Kommen Sie ihm heute mit Psychoanalyse, so glaubt er -sich dafür geboren, und morgen mit Chirurgie, so will er Chirurg werden. -Haben Sie gesehn, wie er zeichnen kann? Bogner war sogar erstaunt, und ---« - -»Nun will er Maler werden?« - -»Glauben Sie nicht, daß er's sein könnte? Und wie spielt er Cello! -- -Ach, Georg,« sagte sie plötzlich mit einer Wehmut, »glauben Sie, es ist -schwer, so zu sein. Da hat er Stunden, daß man meint, die Sonne säße ihm -in der Brust, und er könnte, und er möchte die ganze Welt hell machen. -Ja, und dann liest er vielleicht über -- über _dementia_, und denkt an -seine Mutter und sagt, er wird wahnsinnig. Georg, man kann nicht lachen -dabei, denn Sie kennen seine Bestimmtheit, und man sieht, wie er's in -sich frißt.« - -»Aber Esther, Estherchen!« Georg benutzte die Möglichkeit, ihr die Hand -auf den Kopf zu legen, »es hält doch nichts vor bei ihm, es ist ja -- -alles nur Jugend, nicht wahr?« - -»Aber kann so einer je alt werden? Stellen Sie sich vor!« - -Georg tröstete mit Bestimmtheit, Sigurd würde sich ändern und ein Greis -werden. Sie seufzte und wandte sich wieder zu ihren Perlen. Georg -lagerte sich geschmackvoll zu ihren Füßen, tröstete sich selber mit dem -Anblick seiner schön abgestimmten Kleidung, nämlich zur Flanellhose -pfirsichgrüne Socken, gleichfarbiges Hemde und etwas dunkler getönter -Schlips, ließ dessen kühle Seide durch die Finger gleiten und dachte -nach, worüber er ablenkend reden könne. - -»Wissen Sie, Esther,« fing er träge zu sprechen an, »es ist ärgerlich -mit den Träumen. Vor ein paar Monaten, da hat Renates Vetter Josef -- -Sie kennen ihn nicht? -- mir so erstaunliche Dinge vom Träumen erzählt, -daß ich alle Bücher darüber gewälzt habe. Sie haben sie wohl gelesen?« -Esther nickte und sagte: »Freud.« -- »Natürlich! Und nun -- sehen Sie, -was kommt heraus, nicht wahr? Gar nichts am Ende -- abgesehen von dem -Wert fürs Heilverfahren, der ja unschätzbar sein mag --, gar nichts, als -daß der Zustand des Träumens ein fortgesetztes Wachen ist, bloß daß -unsere logischen Verknüpfungen fehlen. Manchmal, so nach Tische, wenn -ich nicht geschlafen, sondern nur so gedämmert habe, nicht wahr, -- -konnte ich genau beobachten, wie meine Vorstellungen allmählich in -Bilder übergingen, traumhaft leibhaftig wurden, nicht wahr, wie die -Zeitrechnung verschwand und -- auf einmal alles ein Wirrwarr war und -solche Albernheit, wie ich da eben geträumt habe, -- nun weiß ichs nicht -mehr ...« - -»Ein Schimmel«, half Esther. - -»Ja, gleichviel, und mein Vater war Wachtmeister und spielte Karten. Und -das, sehen Sie, ist, was mich ärgert. Diese -- Unfruchtbarkeit. Anstatt -daß gerade unsere Verworrenheit, die im wachen Leben doch groß genug -ist, -- anstatt daß die sich auflöste, Klarheit, Ordnung, Erfahrung -- -nicht wahr -- entstünde, -- anstatt dessen die völlige Sinnlosigkeit, -hinterdrein Vergessen, und das Ganze ist abgelaufen wie Wasser vom -Stein. Es kann mich ganz unwirsch machen, wenn ich denke, was da -vergeudet wird!« - -»Aber nun giebts doch die Traumdeutung, Georg.« - -»Ach, das ist ja viel zu umständlich! Und was kommt auch mehr dabei -heraus, als was ich aus meinem wachen Zustand ebenso gut, vielleicht -besser erfahren könnte, wenn ich mich nur gehörig beobachten würde. Eben -das ist's! Alles denken und Alles fühlen, unaufhörlich, nicht wahr, an -diesen zehntausend Fäden unsers verworrenen Daseins hängen, -- und dann -noch beobachten, raten und knacken -- das ist zuviel. Und wie wäre es da -nicht einfach und schön und heilsam, wenn der Schlaf, der die Glieder -und Sinne so liebevoll löst --« Georg war träumerisch stolz, so gut -sprechen zu können -- »wenn er auch die Seele und das Schicksal nur ein -wenig befreite, und wir kämen klarer hervor, als wir hineingingen.« - -»Jason,« sagte er nach einer Weile, da Esther schwieg, gedankenvoll, -»Jason kann es vielleicht. Irgendeine Medizin muß er haben. Jason«, -schloß er bescheiden, »ist ein guter Mensch. So sollten wir Alle sein.« - -»Haben Sie,« fragte Esther nach einer Weile, »haben Sie eigentlich auch -dies merkwürdige Gefühl, wenn er fortgegangen ist, -- als ob er -überhaupt verschwunden wäre?« - -»Gar nicht mehr vorhanden?« fragte Georg. »Freilich, wenn ich mir ihn -jetzt vorstellen soll, bringe ich es nur fertig, indem ich ihn mir -irgendwo bei andern Leuten denke. Können Sie sich denken, daß er -irgendwo allein ist, zu Hause bei sich, allein in einem Zimmer, lesend? -oder schreibend? Oder wie er sich wäscht? Oder wie er im Bett liegt und -schläft? Ich glaube, Esther,« sagte er, sich überbeugend, ganz leise -neben ihrem Ohr, »er ist ein Geist. Er braucht nicht zu essen und zu -schlafen und sich zu waschen, er ist immer so, wie er uns erscheint, und -nur in unsrer Gegenwart ist er wirklich. Sonst unsichtbar, ein Geist, -nimmt er Gestalt an, wenn er zu uns tritt, es ist schauerlich, finden -Sie nicht?« - -Esther hatte zuhörend ihr Gesicht langsam zu ihm nach oben gedreht. Sie -sahen sich in die Augen, und Georg dachte angstvoll: Erwartet sie jetzt, -daß ich sie küsse? Oder macht das unsre Haltung bloß zufällig? Nein, sie -erwartete es scheinbar nicht, denn sie sagte ganz nachdenklich: - -»Es giebt soviel Seltsames. Da Sie von Träumen sprachen ... Hören Sie -einmal zu.« - -Georg setzte sich wieder vor ihre Füße, nahm eine Zigarette hervor und -rauchte. Esther begann, ein wenig stockend und unbehülflich: - -»Es hat aber eine Vorgeschichte. Ich kannte längere Zeit einen jungen -Menschen, der war lungenkrank. Er liebte mich sehr. Um Weihnachten zogen -seine Eltern von hier fort. Er schrieb mir öfters, ich hab ihm aber nie -geantwortet, er verlangte das auch nicht. Lange Zeit kam kein Brief, und -ich dachte niemals an ihn. Nun, -- in der Nacht von Oster-- -Gründonnerstag nennen Sie's, nicht wahr? -- auf Karfreitag -- übrigens -war er Christ -- träumte ich, -- ja, wie soll ich das beschreiben? -- Es -war ein Kreuz, und daran ein Gesicht mit sterbenden Augen. Ich wußte, es -war ein Sterbender, er schien mir auch bekannt, als ich aufwachte, aber -ich konnte mich nicht besinnen. Ich war aber ganz verstört von dem -Traum, Sigurd merkte es mir noch an, als ich zum Frühstück kam, und ich -erzählte ihm, was mir geträumt hatte. Dann erfuhr ich eine Woche später -durch Bekannte, der junge Mensch, der lungenkranke, sei gestorben, und -da wußt ich im Augenblick, daß ich ihn im Traum gesehen hatte. Nun -schrieb ich an seine Schwester, die ich kannte, sie möchte mir sagen, -wann er gestorben sei, und sie schrieb --, aber ich muß erst sagen, daß -sie etwas sonderlich war, altjüngferlich und pathetisch -- und so war -auch ihr Brief, nur drei Zeilen, ohne Anrede: Er starb in der Nacht von -Gründonnerstag auf Karfreitag um ein Uhr morgens mit Ihrem Namen auf den -Lippen.« - -Esther schwieg. »Wie sonderbar!« sagte Georg nach einer Weile halblaut. -Er dachte noch nach, als er auf einmal Bogner bei der Sonnenuhr stehn -sah, in seinem Malkittel, mit wüstem Haar, rotem Gesicht und -verschwimmenden Augen. So starrte er auf das Zifferblatt der Uhr. - -»Grüß Gott, Maler!« rief Georg, »wollen Sie wissen, was die Uhr ist?« - -Bogner sah ihn zerstreut und unwirsch an. »Ich wollte was,« -- sagte er, -»aber nun hab ichs -- vergessen. Ich wollte ins Haus und -- -- ah -Streichhölzer!« sagte er erleichtert. -- »Ich hatte mir eine Pfeife --« -Er sah verwundert seine leeren Hände an, suchte in allen Taschen. »Nun -habe ich die Pfeife liegen lassen!« schrie er grimmig, machte kehrt und -lief davon. Georg rief ihm nach, er sollte doch warten und sein -Feuerzeug mitnehmen, aber er hörte nicht. - -Georg wartete noch eine Weile, ehe er zu sprechen anfing, aber der Maler -kam nicht wieder. »Nun hat er das Rauchen vergessen,« sagte Georg, »der -arme Kerl! Warten Sie einen Augenblick!« stand auf und ging in die -Kapelle. Ja, da saß er und hatte eine kalte Pfeife im Mund, malte aber -tüchtig an etwas Schwefelgelbem. Georg entzündete ein Streichholz und -hielt es auf den Tabak. Der Maler merkte, daß es brannte, sog kräftig, -sah verworren auf und murmelte: »Danke! danke!« Georg gab ihm den Rat, -zu heiraten, aber er hörte nicht darauf, und Georg ging zu Esther -zurück. - -Die Arme auf der Sonnenuhr, den Zeiger in Händen, sagte er: - -»Wissen Sie auch, Esther, was an Ihrem Traum das Seltsamste ist? Viel -seltsamer als der Traum selbst?« Sie hielt inne mit Arbeiten und sah ins -Gras zu ihren Füßen. Er sagte: »Da war doch ein Sterbender, Esther, -nicht wahr, einer, der Sie liebte, ein immer Kranker, der seine ganze, -trostlose Liebe zu Ihnen in einen ungeheuren Augenblick zusammenpreßte -und angesichts des Todes die Geliebte _dachte_! dachte, und es gelang, -nicht wahr, und einen Augenblick _zwischen_ Tod und Leben schwebte seine -glühende Seele, einen Augenblick lang vollbrachte sie dies Riesenhafte, -daß sie sich über die Natur erhob und eindrang in ein fremdes Dasein. -Freilich war es wehrlos in dem Augenblick, es schlief, und vielleicht -gelang es ihr nur deshalb, daß sie eindrang und Traum ward in Ihnen. Sie -aber, Esther, Sie, der diese gewaltige Anstrengung galt, diese -furchtbare Liebe zuströmte, -- Sie hatten davon nichts als den leisesten -Schauder. Furchtbar, wissen Sie, furchtbar finde ich diese Einrichtung. -Liebe gilt nichts, so gewaltig sie sich ereifert; gilt nichts, gilt -nichts, denn Sie schliefen, und ein dünnes Traumbild wurde aus der -Verzweiflung. Ja, so können wir uns bemühn mit heißester Glut, wir -können Blut und Tränen vergießen, alle Ängste um etwas leiden, unser -ganzes Dasein zum Opfer bringen: all das, alle Anspannung, alles Säen -nützt nichts, wenn keine Erwiderung da ist, keine Willigkeit im Boden. -Liebe allein gilt nicht, nur Doppelliebe. Und -- ja, was gilt nun hier -der Traum, den Sie davon hatten!« - -Georg nahm sein Taschentuch heraus und trocknete sich die Stirn. Es -regnete Glut über ihn, und er sah betroffen, als wär es das erstemal, -daß der schräge Weiser vor ihm einen Schattenstreifen über das -abgeschliffne Erz zog. Esther saß still da, bewegte einmal die Lippen, -zog die untre ein wenig in den Mund, sagte aber nichts. - -Es war Mittag, der Vogellärm schwieg. Vor Georgs Augen lag der -geheimnisvolle Schatten des Sonnenzeigers, der in unendlicher Wandrung -um seine Wurzel unzählbare Stunden anzeigte, spurlos auf der metallenen -Fläche von Ewigkeit. Aber es bewegte sich etwas über Georg, irgend etwas -wurde in seinem Augenfelde sichtbar, und über den Verandastufen stand -Renate, schön wie Elysium, winkte mit ihrem Lächeln, und Georgs doppelt -ergriffenes Herz riß in zwei Stücke mit lautem Stöhnen. - - - Fünftes Kapitel: September - - - Vergangenheit - -Renate, an einem Abend im späten September ihr Gedächtnisbuch -schließend, in das sie eine Eintragung gemacht hatte, hörte jemand an -die Tür klopfen; sie antwortete nicht, in dem Glauben, es sei ihre Zofe, -welche die Eigenart hatte, ihr Eintreten durch ein leises Pochen -anzumelden, legte das Buch in eine Schieblade, schloß zu und erhob sich. -Indem klopfte es wiederum, sie ging zur Tür, öffnete und sah ihren Onkel -draußen stehn, gebückt und wartend. - -»Oh du bists,« sagte sie erschreckt, »aber bitte, komm doch herein.« - -Etwas übermannte sie so, daß sie an das Fenster treten mußte und -hinaussehn; freilich sah sie nichts in der Nacht. - -Oh so war er nun! Stand geduldig draußen und wartete, und so ging er ja -immer im Hause herum, als ob er nur geduldet würde und jedes Recht -verloren hätte. Tränen zurückdrängend wandte sie sich und sah ihn im -Zimmer stehn, das rötliche Gesicht ein wenig schief haltend; die -Ellbogen angezogen, rieb er die Knöchel der Linken mit der rechten Hand. -Wie waren seine Schläfen doch eingefallen und grau geworden. Das -Lampenlicht funkelte in den stark geschliffenen Gläsern des goldenen -Kneifers, hinter dem die hellen Augen kaum zu sehn waren. Schnell trat -sie auf ihn zu und legte den Arm um seine Schulter. Er sah flüchtig zu -ihr auf, sagte leise, wie schön sie es hier hätte, das freute ihn, ja, -es sei doch alles in der Ordnung. -- Sie führte ihn zum Sofa, aber er -setzte sich auf einen Stuhl, wobei er plötzlich mit beiden Händen eine -geschwinde Bewegung nach den Schläfen machte, ohne sie zu berühren, -worauf er nach seinem Halskragen tastete und am Schlips schob, eine -erschreckend hülflose Gebärde, die Renate wohl kannte. Er machte sie, -ohne es zu wissen, manchmal auch wenn er die Zeitung las, am Abend, und -Renate von fern nach ihm sah in Besorgnis, da es schien, als habe er das -Zeitungsblatt nur vor sich, ohne es zu sehn. Da stand sie wieder auf, -trat zu ihm, faßte seinen Kopf, lehnte ihn zart gegen ihren Leib und -streichelte leise seine Wange. Er nahm den Kneifer ab, sah zärtlich und -dankbar auf. - -»Wolltest du mir etwas sagen?« fragte sie. Er nickte, ergriff ihre linke -Hand, drückte sie und schob sie von sich. Da setzte sie sich in die -Sofaecke. Er sagte nichts, setzte den Kneifer wieder auf und sah nach -den Bildern umher, die Lippen bewegend und ein-, zweimal nickend. -Endlich nahm er den Kneifer wieder ab, legte ihn auf den Tisch, senkte -den Kopf und sagte, den Kneifer in den Fingern drehend: - -»Ich möchte mich nun doch zurückziehn, weißt du, aus dem Geschäft. Ich -habe ja«, sprach er eilig weiter, »seit -- seit dem Tag damals die -technischen Angelegenheiten fast ganz Erasmus überlassen, der es ja auch -alles unübertrefflich besorgt, viel besser als ich, großzügiger, und die -Gesellschaft steht ja prachtvoll. Dafür habe ich mich mehr mit unsern -Wohlfahrtseinrichtungen beschäftigt, an die ich früher viel zu wenig -gedacht habe, und die, ich kann wohl sagen, jetzt gleichfalls in einem -recht guten Stande sind, so daß ich --, jedenfalls --« er stockte. - -Lange Zeit drehte er an den dünnen Enden des weißrötlichen Schnurrbarts -und schien sich anstrengend zu besinnen. Das vorher fleischige, feste -Gesicht war schrecklich locker geworden, das Haar weit zurückgetreten -über der breiten, runden Stirn, locker auch das geringfügige Kinn. -Renate beugte sich vor, legte die Hand über seine auf dem Tisch und bat: -»Wir reisen, Onkel, nicht wahr? Diesmal giebst du nach! Nach Italien -oder Spanien, gelt? Hast du mir nicht lange schon den Prado -versprochen?« - -Er sah sie unsicher an. »Versprochen, -- so? Ja, ich glaube, -- -freilich! aber --« Er zog die Hand weg, schob beide ineinander, rieb sie -verlegen und brachte endlich hervor, er wollte allein reisen. - -Renate fröstelte seltsam. Was war nur mit seinem Gesicht? War es nicht -eine Maske, hinter der es dämmerte wie -- wie das Skelett des Kopfes? -Als sollte Haut und Fleisch auf einmal abfallen und -- Sie schüttelte -den Gedanken ab und begann leise zu widersprechen, alles mögliche zu -reden, was sie selber kaum vernahm; er ließ das sanftmütig über sich -ergehn, er hatte sich wohl so in seine Bescheidenheitsrolle gewöhnt, daß -er nicht zu widersprechen wagte, und machte schon dieser Gedanke sie -verstummen, so bewirkte das obendrein die Bewegung nach den Schläfen, -die jetzt wieder kam. -- Die Arme an den Leib gepreßt, faltete sie die -Hände mit heftigem Druck und hielt den Atem an vor plötzlicher Angst. - -Ja, nun war es zu spät! Nun war es wahrscheinlich zu spät. Warum hatte -sie sich so wenig um ihn bekümmert, ihn nicht zu stören gewagt, wenn sie -ihn lesend fand, sich immer beruhigt, wenn sie es doch einmal versuchte -und er bescheiden und verlegen abwehrte. Nie hatte sie erfahren, was in -ihm vorging, nun hatte sich wohl alles angesammelt und brach seines -Weges auf, und sie saß dabei. - -»Ich reise in einer großen Unruhe fort,« hörte sie ihn nun reden, »ja, -in einer großen Unruhe, mein Kind, oder ich kann fast sagen, es ist -Angst, es ist etwas furchtbar Bedrückendes, Abscheuliches --« er suchte -nach seinem Tuch in den Taschen -- »nein, nein, bleib sitzen, mein Kind, -ich befehle dir, -- das heißt, das muß jetzt alles ausgesprochen werden, -ich habe soviel gegrübelt und gedacht die ganze Zeit, daß ich schon -nicht mehr weiß, ob das, was ich sagen wollte, will, nicht vielleicht -ganz unsinnige Gedanken sind, die mir nun« -- er suchte lange nach einem -Wort -- »erwägungswert scheinen. Ja, es betrifft meinen Sohn Erasmus.« - -Er hielt inne und atmete auf. Nach einer Weile sagte er geistesabwesend, -an sich selbst gewendet, seufzend: »Er ist ein harter Mensch, mein Sohn -Erasmus.« Plötzlich drehte er sich nach ihr herum, versuchte, sie -anzusehn, senkte die Augen und fragte: »Du -- wie ist es, ich meine --, -du könntest ihn nicht heiraten?« Wieder flogen seine Hände zu den -Schleifen und endeten hülflos in der Luft. - -Renate fand lange kein Wort. Dann hörte sie auch schon wieder seine -Stimme aus der Ferne in ihre wirren Gedanken, sie solle ihm nicht -antworten, es habe ja Zeit, vielleicht später, und anderes mehr, das sie -nicht verstand. Sie fühlte nur nach einer Weile, daß sie ihn vergessen -hatte über sich selber, weckte sich auf und sah ihn dasitzen, tief im -Schatten des Zimmers, nach der gelben Schirmlampe auf dem Schreibtisch -blickend. - -Er sagte: »Du entsinnst dich Ruths -- Josefs Mutter? Ach Gott, verzeih -nur, du warst ja damals noch gar nicht geboren. Ja,« fuhr er in tiefer -Verlegenheit fort, »ich habe leider kein Bild von ihr, ich habe sie -damals alle verbrannt, und übrigens, was ich sagen wollte ...« Er hielt -inne, fragte dann plötzlich ganz lauernd: »Denkst du viel an Josef?« -Renate verneinte einfach, und er seufzte auf. - -»Damit du mich verstehst,« begann er jetzt beruhigter, »ja, ich möchte -wohl, daß du mich ein wenig verstehst, und möchte dir deshalb etwas von -mir sagen. Sieh mal, zwischen deinem Vater und mir war ein sehr großer -Unterschied. Kinder wurden ja zu meiner Zeit noch anders erzogen als -heute, strenger und mehr in Furcht vor ihren Eltern, oder wenigstens -ihrem Vater, und du weißt vielleicht, ein wie strenger und -- ja, -trockner, einsamer Mensch mein Vater war. Da er mich früh von der Schule -nahm und ins Geschäft steckte, so blieb ich immer in seiner Zucht. - -»Von meiner Jugendzeit ist sehr wenig zu sagen. Ich tat eigentlich nur -nichtsnutzige Dinge, war wohl ganz fleißig, führte ein geselliges Leben, -ja, na, -- damit brauche ich dich nicht aufzuhalten. Eines Tages ließ -ich mich dann auch verheiraten. Mein Vater beschloß es und führte es -aus. Von meiner ersten Frau hast du wohl ein Bild gesehn? Schön war sie -ja nicht, aber doch ganz anmutig, ein wenig dürftig, ja, das war sie, -aber meinem Vater genügte ja der Reichtum und der gute Name. Ich -willigte wohl um so leichter ein, als ich hoffte, dadurch selbständiger -zu werden. Damals war es ja so, daß eine Heirat den jungen Menschen -plötzlich veränderte in den Augen der Umwelt; vorher war er Kind, und -nun wurde er gewissermaßen Vater und damit selbständig.« Er lächelte, -und Renate war ganz glücklich, doch einen Hauch seines Geistes wieder -wahrzunehmen. - -»Ich veränderte mich auch; ich versuchte erst, mich mit unsern -technischen Betrieben besser zu beschäftigen, aber -- abgesehn davon, -daß mein Vater meine Bemühungen mit Kühle abwies -- konnte ich auch für -dies Verfahren, das damals gerade aufkam, die Benutzung der Photographie -zur Vervielfältigung von Bildern, -- bis dahin gabs nur die -Heliogravüre, ein Wort, das du vielleicht schon gar nicht mehr kennst, -also, was wollte ich sagen? Ja, ich hatte meinen Umgang meist unter -Künstlern, Landschaftern, die damals zuerst von unsrer Haide verlockt -wurden, und ihnen, und mir deshalb auch, entsprach diese Popularisierung -von Kunst -- aber was rede ich davon? Jedenfalls, ich zog mich zurück, -ich gewann auch meine Frau sehr lieb, wir zogen damals in dies Haus, das -ich nun so schön gestaltete, wie ich nur konnte, aber dann kam schon -diese -- ja, diese Entfremdung.« - -Renate, ein kleines, mattes Aquarell der lange Verstorbenen vor Augen, -geriet, ihr selber unerklärlich, in um so kältere Erregung, je -geordneter und sicherer, auch eiliger ihr Onkel sprach. Mit Anspannung -hörte sie weiter: - -»Es muß wohl eine, -- ja, ich weiß nicht, welche Störung in ihr diese -Entfremdung bewirkte, die im Augenblick von Erasmus' Geburt begann. -Kaum, daß sie mich das Kind sehen ließ. Sie richtete sich ein -Schlafzimmer allein ein, und dahinter lag das Kinderzimmer, das ich nur -durch das ihre betreten konnte. Und so weiter ... In so einer Art Trotz -verkapselte ich mich nun selber, fing an zu sammeln damals, auch den -Rosengarten legte ich an, -- nun, für meinen Charakter war das alles ja -sehr gut; ich fing an, Bücher zu lesen, die Philosophen, glaubte schöne -und reiche Quellen in mir zu entdecken, und wurde recht eigentlich -damals erst der, den du kennst. Ja, und plötzlich war sie dann tot. Von -jenen Jahren weiß ich sehr wenig. Und nun war dieser verschlossene, -rätselhafte Junge da, der alles tat, was man ihm sagte, der nie etwas -gab, keine Widerrede, keine Bitte und keinen Dank, der nie eine Miene -verzog, so -- das dachte ich damals -- so als ob ihm im Verborgenen von -seiner Mutter ein böser Geist eingeflößt, -- nein, nicht böse, was sage -ich denn! nur diese Verstocktheit, dies furchtbar einsame Wesen. Ich -ließ ihn gehn, -- ja -- ich -- ließ -- ihn -- --« - -Er hielt inne und schien sich zu verlieren; sein Kinn fiel ab, er -starrte vor sich hin. Aber er ermannte sich, richtete sich grade, atmete -und sprach weiter. - -»Als ich Ruth zuerst sah, war ich zwanzig Jahr. Du weißt, daß sie von -der Mutter her Jüdin war, und auch, daß sie schön war, fast so schön wie -du, ja, ja.« Er lächelte vor sich hin. »Freilich ganz anders als du, -eher so wie deine kleine Freundin, Esther heißt sie ja wohl, nur viel -größer, eher stattlich und wie aus Marmor. Damals heiratete sie einen -Kaufmann, und der starb nun einige Jahre nach dem Tode von Gabriele, und -da ich sie immer von fern sehr verehrt hatte, und auch weil ich glaubte, -daß mein Sohn eine Mutter haben müsse, bewegte ich sie, mich zu -heiraten. Sie sagte, bevor sie mir ihr Wort gab, in der ihr -eigentümlichen, entfernten Weise -- übrigens war sie nach der Meinung -der Leute ohne Herz -- also sagte sie, es gebe in ihrem Leben etwas, -danach dürfe ich nicht fragen, und das sei es, warum sie so sei, wie -Alle sie kennten, -- nun -- ich habe es nie erfahren, ich liebte sie -auch nicht mit solcher Leidenschaft, daß es mich beunruhigt hätte, ich -war zufrieden, sie mein zu nennen, was man so mein heißt.« Immer -fließender, aber auch mit immer mehr Hast und oft unter sonderbarem -Zucken der Schulter oder eines Arms sprach er weiter: - -»In Wahrheit weiß ich nicht, ob sie imstande war, eine Wärme für irgend -etwas zu empfinden. Davon wüßte Erasmus vielleicht etwas zu sagen, denn -mit ihm war sie gewissermaßen -- befreundet. Er hielt sich in ihrer -Nähe, ließ sich auch bei seinen kleinen Arbeiten von ihr helfen, er -lernte unsagbar schwer, ja, ich glaube -- das ganze Leben war für ihn -von Anfang an eine ungeheure Aufgabe, die er jeden Tag vom frischen -angreifen mußte, und ich weiß nicht, ob er jemals richtig aufgeatmet hat -... Nun, aber ich wollte --« - -Da stockte er wieder völlig, die Hände gingen empor, er fuhr zusammen, -warf einen scheuen Blick nach Renate, schloß die Hände, beugte sich vor -und saß nun so, die Ellbogen auf den Knien, die Hände hart gefaltet, mit -den Augen drüberhin auf den Boden starrend, während er redete. - -»Er war nicht imstande, das Pensum einer Klasse anders als in zwei -Jahren zu erledigen, hatte keine Spur von Gedächtniskraft, aber einen -fürchterlichen Pflichteifer, so daß er sich auf das härteste Tag und -Nacht mit Dingen peinigte, die Andre im Vorbeigehn erledigten. Freunde -hatte er nicht, er war unbeliebt bei Lehrern und Schülern, ich glaube, -wenn er nicht aus so guter Familie gewesen wäre, -- das spielt ja immer -eine Rolle, aber so wurde sein Fleiß doch anerkannt, und all das wurde -auch besser in den Jahren, wo der Unterricht in Mathematik, -Naturwissenschaften und Physik begann, wo er sich denn gleich auf -wahrhaft erstaunliche Weise hervortat. Seiner Stiefmutter aber diente er -auf so eine verborgene Art, wie ein kleiner Sklave, geriet aber in -grausame Wut, wenn irgend jemand einen seiner kleinen Liebesdienste -entdeckte. Vielleicht war sie für ihn die Königin eines Feenreiches und -er ein dienstbarer Gnom, -- ich habe freilich nie bemerkt, daß er sich -mit Büchern und Märchen abgegeben hätte; er war immer ein Bastler und -Ingenieur, der Dinge zusammentrug, verglich und zusammenstellte, als er -noch klein war, und der aus allen ein Werkzeug oder Kasten -hervorbrachte, als er größer wurde. Eines Tages stand dann wohl im -Zimmer seiner Mutter oder auch in meinem ein Segelboot, oder etwas -Gepapptes oder eine kleine Maschine; aber davon durfte man nichts sagen -... Seine Mutter duldete all dies ohne Aufhebens, und so vertrugen sie -sich.« - -Ohne daß er seine Haltung veränderte, richtete er jetzt seine Augen -gerade auf die Renatens, seine Blicke aber gingen durch sie hindurch, -weich wie Spätsonnenstrahlen, in die Erinnerung, während er sagte: - -»Ich habe sie unendlich geliebt von dem Augenblick an, wo sie mir sagte, -daß sie Mutter --, nein, sie hat es mir nie gesagt, ich sah es, und in -diesem Augenblick fing ich auch schon an, um ihr Leben zu zittern. Sie -war ja nicht mehr jung. Ich habe damals an Liebe nachzuholen versucht, -was ich im Leben vorher versäumt hatte, habe sie in einen Garten -kostbarer Dinge gesetzt, sie durfte nur Schönheit sehn, nur Reinheit -atmen, nur Stille trinken, und der Sohn, den ich mir erhoffte -- --, ja, -er ist ja auch wohl so geworden, so schön und ...« Die Augen wieder auf -die Hände senkend, sagte er leise: »Es giebt im Talmud eine Anekdote, -die erzählte sie mir damals, in ihrer sparsamen Art, in dem sie nach -einem langen Schweigen plötzlich anfing, -- eine Anekdote von einem -Rabbi, der sich am Frauenbade aufzustellen pflegte, damit die -Schwangeren ihn sähen und sich versähen an seiner Schönheit. Von ihm -wird auch erzählt, so sagte sie langsam vor sich hin, daß, als Rabbi -Elieser im Sterben lag, dieser Jochanaan bei ihm eintrat, und, da es -dunkel im Gemache war, so erhob er einen Arm, streifte den Ärmel zurück, -hielt ihn hoch und erleuchtete die Finsternis mit der Weiße seines Arms. -Elieser aber weinte, und nachdem er drei Fragen Jochanaans nach dem -Grunde seiner Tränen verneint hatte, sagte er endlich: Ich weine, weil -auch deine Schönheit einmal im Grabe faulen wird ...« - -Renate schauderte leise, aber nach einer kleinen Stille fuhr er eilig -fort: - -»Bald danach hatte ich den zweiten Sohn, und sie war tot. Wie sie -gestorben ist, weiß ich nicht; es drang nichts nach außen. Einmal sah -sie mich an und sagte: Danke. -- Sie lag mit offnen Augen und schwieg. -Später waren ihre Augen geschlossen; noch später war sie kalt. Ihren -Sohn hat sie nicht gesehn. - -»Es muß ungefähr ein Jahr später gewesen sein, da fand ich Erasmus -- er -war neunjährig -- über das Bett seines Bruders gebeugt. Du weißt nicht, -wie -- ja, wie abstoßend sein finstres Gesicht anzusehn war, denn es war -fast nur Stirn und Augen, -- die untere Hälfte war verkümmert und wuchs -sich erst spät und spärlich aus. Dies Gesicht hob er zu mir und sagte in -seiner furchtbaren, kindlichen Ruhe und mit seiner tiefen Stimme: »Die -Leute sagen, meine Mutter starb, weil mein Bruder auf die Welt kam. Also -hat er sie umgebracht?« Ich vergesse das nie. Damals schrie ich wohl: er -nicht, er nicht! Ich, ich selber habe es getan! -- Ob er es verstanden -hat, weiß ich nicht, er war von den sonderbarsten und entsetzlich -schweren Begriffen, die er sich in seiner Einsamkeit selbst anfertigte -von dem, was ihm zuflog, und die er dann so behielt, unveränderlich, -nicht daran zu rütteln.« - -Jetzt war es sie selber, Renate, gegen die seine Augen andrangen aus -einer grausamen inneren Verhärtung, da er sagte: - -»Nun weißt du,« ganz langsam setzte er die Worte hin, »nun weißt du, was -meine Söhne wurden. Nun weißt du, was an ungeheuerlicher Schuld in jenen -Jahren von mir angehäuft wurde. Nun weißt du, daß der eine Sohn mir -alles, alles, und der andre mir nichts, nichts war. Nun weißt du, welche -Gerechtigkeit mich jetzt heimgesucht hat, da ich zwei Söhne habe und -doch keinen, denn der eine ist nicht da, und der andre rührt mich nicht. -Dieser aber wuchs auf wie eine schöne Blume, zart, süß, kräftig, -blühend. Der hatte alle Leichtigkeit, alle Anmut, der war ein Windspiel, -ein -- ein Herrscher, so trat er von Anfang an auf, nur sein Wort, sein -Blick galt im Haus, alles war ihm untertan, aber -- die Leute sagten, er -habe kein Herz. Wenn seine Mutter keins hatte, ja, wie sollte dann er -...« Er hielt den Kopf in den Händen, er schüttelte sich plötzlich und -streckte die Hände nach ihr aus. Auf den Knien vor ihm liegend, sein -Gesicht an ihre Brust drückend, hörte Renate ihn stammeln: »Ich kann -doch nicht fort, ich kann doch nicht! Wenn er wieder kommt, und ich bin -nicht da ...! Und Erasmus wird ihn töten, er hat ja schon als Knabe -einmal mit dem Messer ...« - -Laut aufschluchzend weinte er wie ein Kind jämmerliche, erstickte, -zerbrochene Worte heraus, er fürchte sich namenlos vor Erasmus, er müsse -doch fort, er könne nicht, Renate solle ihm verzeihn, er wäre elend, er -habe mit ihr den Erasmus bestechen wollen, und er wisse ja, daß Beide -sie liebten. - -»Warum willst du ihn denn nicht?« rief er, sich losmachend und ihre -Augen mit seinen heißgeweinten suchend. »Ist er denn nicht gut, mein -Sohn Erasmus?« bat er mit ausgestreckten Händen, »ist er nicht adlig und -tüchtig und gehorsam und -- ach, du mein Gott, was für ein Engel ist er -gegen seinen Vater und seinen Bruder. Und der Herr sah gnädiglich an -Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. -Kannst du denn, kannst du denn nicht diese entsetzliche Angst von mir -nehmen, ehe ich fortgehe, und ich will fortgehn, und will nicht -wiederkommen, und unstät und flüchtig werden ...« - -Er verstummte, weil sie seinen Mund mit ihrer Wange verschloß, sein -nasses Gesicht in den Händen an der Brust, selber am ganzen Leibe -zitternd, frierend, entsetzt. Danach machte er sich los, keuchte ein -paar Mal heftig, umklammerte ihre Handgelenke und flehte mit den Augen. -Da raffte sie sich auf, küßte flüchtig seine Stirn und sagte: »Ich will -versuchen ...« - -Sie stand auf. - -Ein welkes Versprechen. Hatte sie ihn wirklich damit beruhigt? Sie stand -abgewandt, die Hände unter dem Kinn gefaltet, auf ihre Lampe blickend; -hinter ihr sagte er halblaut, er sei von Sinnen; dreißig Jahre habe er -ein Leben in Gedanken- und Planlosigkeit geführt, und das solle nun sie -ihm bezahlen. Nun, sie solle nur ruhig sein, er sei es auch, er habe es -ja nun vom Herzen herunter, und nur die Nerven wären wohl schuld, eine -Reise würde ihn bald wieder aufrappeln ... - -Sie hörte ihn kaum. So war es nun mit Allen. So trug Erasmus das Seine, -jahrelang wortlos, so hatte Bogner jahrelang schweigsam unerschütterlich -sein Leben vollführt, bis sie ihn einmal zum Reden brachte; so flammte -mancher wohl einmal auf, aber hinterdrein -- so waren sie Alle -- zogen -sie schon wieder den Mantel knapp um sich und wollten nichts mehr wahr -haben. Dann waren die Nerven schuld. Was sagte der Onkel jetzt? Er fuhr -fort, alles so hinzustellen, als ob es auch ebensogut ganz anders sein -könne, als er es eben dargelegt. -- War das nun wieder ihretwegen, die -für Alle so eine schöne Sache war, unter einer unsichtbaren Glasglocke? -Nein, nein, woher nur diese grausame Eifersucht auf unsre Leiden, auf -unsre Schmerzen? Die sind freilich unser einziges und letztes Eigentum, -so eins, das man wohl einmal zeigt, aber an dem keiner teilhaben darf, -und sie --, ja, würde sie vielleicht anders sein? Wie angewachsene -Hermen, dachte sie, so stehen wir da an den Lebensstraßen, unsre Füße -bleiben immer im Stein, einmal schreien wir zum Nachbarn hinüber. Josefs -Mutter, wie sie schwieg ... Keiner konnte helfen, keiner. Was? Konnte, -sollte sie denn nicht? Ja, um Gottes willen, war denn das etwas -Denkbares, dies mit Erasmus? Sie verstand nicht mehr. Hier saß der Onkel -und tat, als wäre alles nichts, und hier stand sie vor einem Wirbel, aus -dem es toste. -- - -»Verzeih!« hörte sie ihren Onkel hinter sich sagen, wandte sich um und -sah, daß er eine Zigarette in der Hand hielt und Streichhölzer. Verloren -in sich selbst, ging sie zum Schreibtisch, nahm eine kleine blutrote -Steinschale und setzte sie vor ihn. Er rauchte und sah miteins ruhig, -gefaßt, beinahe jovial aus. So ging sie auf ihn zu, legte die Hände auf -seine Schultern, zauderte und sagte: - -»Also laß uns reisen. Oder -- möchtest du lieber, daß ich bleibe, falls --- falls Josef kommt?« - -Er lächelte trüb, meinte, der komme ja nicht, und stand auf. - -»Ja, falls ich reisen sollte, möchte ich dich wirklich bitten, zu -bleiben,« sagte er bescheiden wie im Anfang, »wirklich. Ich möchte auch -allein sein, ich -- nun --« Er brach ab, küßte sie freundlich auf die -Stirn und ging hinaus. - -Lange stand sie mit hängenden Armen, ermüdet und kraftlos; dann ging sie -zur Wand, rückte die kleine Genellizeichnung, die dort hing, gerade, -warf sich, die Arme vor dem Gesicht, gegen die kalte Tapete, schluchzte -ein paarmal tränenlos, schlich matt zu einem Sessel und fiel darauf -nieder. Ein wenig Tabaksrauch schwebte süßlich im Raum, und das war der -Rest. Sie warf den Kopf auf den Tisch und seufzte: Ach! -- Bogner kam -doch niemals. Ob sie Saint-Georges fragen sollte? -- Sieh, sagte sie -spöttisch zu sich selbst, du bist doch nicht so und schleppst deinen -Kummer gleich zu jemand anders. Er ist freilich auch danach, dieser -Kummer. -- Überdem stand sie auf und begann gedankenlos ihr Kleid zu -öffnen, ließ es zu Boden fallen, öffnete die Untertaille, merkte, was -sie tat, raffte das Kleid auf, ging müde ins Schlafzimmer, kleidete sich -aus, legte sich und löschte das Licht. -- -- - -Hatte sie schon geschlafen? Sie setzte sich auf im Finstern, rieb die -Augen. Was für eine wunderliche Trunkenheit? Aber da war ja Licht -- sie -erschrak -- im Nebenzimmer; die Tür war angelehnt. Bleich um sie her war -der Raum, die weißen Schränke still, dunkler der dreifache Spiegel dort -hinten, voll Geheimnis, wie ein Schrein, der sich geöffnet hatte, -während sie schlief. Hatte er etwas entlassen? Wollte er empfangen? -- -Sie versuchte, sich zu ermuntern, doch gelang es nicht, und so, seltsam -trunken und gefangen stand sie auf, ging nacktfüßig zur Tür und blickte -mit leiser Furcht in den Raum. Still war es drin, o so still! Was war -hier doch vorgegangen, am Abend? Still, nur ihr sanftes Wesen -verbreitend, stand die gelbe Schirmlampe auf dem Schreibtisch, geduldig -weiter brennend, ohne Vorwurf, daß sie vergessen war, -- ach, und wie -blühte darüber die geisterhafte Blume, das Angesicht des ägyptischen -Königs mit dem küssend gewölbten Mund, einsam auf seinem Pfeiler! Still -war alles, und lebte doch. Gespräche, die sie unterbrochen, schienen -überall gestockt zu sein; es knackte im Sofa; in seiner kornblumenblauen -glänzenden Seidenbespannung schien es ganz eine himmlische Höhle; nur -die einzelnen Bücher auf dem Tisch davor schienen in sich gekehrt und zu -schlafen. Mächtig, aufrecht, geziert ragte das Lilienbüschel hoch empor. -Leise funkelte es aus der Vitrine, im Schliff der Scheiben glänzte es -gelb und rötlich. Welch fremdes Reich, das sie hier überraschte! Oh all -dies gehörte sich selber an, jeder Stuhl, der Teppich, der Schreibtisch, -die Vasen, die Bilder, jedes gehörte sich selber allein in einem -stummen, aber starken Leben, und nicht ihr. -- Eilig ging sie zum -Fenster, öffnete es und bog sich hinaus, fast zurückgestoßen jedoch von -einem graden, kalten Wind, der sie gewaltsam umschloß. Da erinnerte sie -sich: er war das Rauschen gewesen, das sie, während der Onkel sprach, -unablässig fernher gehört und -- auch das wußte sie jetzt -- längere -Zeit für das ferne Wehr im Fluß gehalten hatte. Die Nacht war völlig -schwarz; in den unsichtbaren Wipfeln sauste und tobte es, -- ach, es war -ja September, längst ... Morgen früh würde sie den noch verschonten -Garten zerrissen finden wie von einer sinnlosen Hand, und sicherlich war -der gestrige der letzte der weißen und goldenen Nebelmorgen gewesen. -- -Hastig, nicht weiter zu denken, schloß sie das Fenster, löschte die -Lampe und tastete sich in das Schlafzimmer. - -Aber nun war sie doch wacher geworden. Und, verlockt von der dunklen -Höhle des Spiegels, ging sie hin, wiederum leise erschreckend, da ihre -weiße Gestalt ihr von fern entgegenschwebte und gegenüber stillhielt. -Eine Fremde, murmelte sie, eine Fremde ... und griff, ohne zu denken, -nach der Kurbel. Starkes weißes Licht senkte sich von oben, sie schloß -die Augen, öffnete sie wieder, und da gingen in dem Spiegelantlitz die -beiden dunklen, blauen Feuer auf, tief leuchtend, beseelt, aber ganz so -fremd wie die eines zweiten Menschen, in dessen Innres kein Eingang war. -Als sie zu lächeln versuchte, sich lächeln sah und von der Bewegung der -Lippen im Spiegel die Bewegung der eigenen Lippen empfand, erkannte sie -wohl, daß sie selber es war, aber hinter diesen Augen, dieser Stirn war -Unbekanntes, blieb Fremde. Sie sah das Heben und Sinken ihrer Brust -unter dem Hemd, streifte es von den Schultern, ließ es zu Boden rinnen, -und nun, wie in einem weißen Ring von Wellenschaum nackt dastehend, die -Hände, sich vorbeugend, links und rechts gegen die andern beiden -Glasflächen der Flügelspiegel gestützt, sah sie sich schaudernd an, -fühlte schaudernd verdoppelt die schöne Lebendigkeit des weißen Leibes, -dahinter, tief im Grunde, sonderbar in das Gegenüberzimmer -hineingestellt, das Fußende des weißen Bettes, ein Stück der -zusammengeschobenen Decke und die Dämmerhelle der nächtigen Stunde. An -ihrem rechten Knie zitterte leise das Ende der einen, nach vorn -herabgefallenen, lichtbraunen Flechte. Sie grüßte sich, sie murmelte -unbedacht: »Nein, Erasmus, nein, nein« ... Darüber sanken ihr die Augen -zu, mit geschlossenen Lidern ertastete sie die Kurbel, drehte sie, -raffte ihr Nachtkleid auf, streifte es über, erreichte ihr Bett, -verhüllte sich fröstelnd, atmete tief und schlief ein. - - - Sechstes Kapitel: Oktober - - - Abschied - -Georg, mit Sigurd aus der Universität herübergekommen, der ihm an diesem -Wochentage eine Stunde lang zwischen zwei Vorlesungen Gesellschaft zu -leisten pflegte, fand sein schönes Zimmer hell im vollen Licht der -Sonne, obgleich sie, noch die Fenster nicht erreichend, nur über den -Herbstgarten sich ausgoß. Aus den Nischen zwischen den Bücherregalen -flammten die mächtigen Farben der Oktoberblumen: gelbe Dahlien und -weinschwarze, schneeweiße Lockenhäupter der Chrysanthemen, violette -Asternsträuße, und stämmige Büschel rotgeflammten und gelben Laubes. - -»Sie haben,« fragte Georg schläfrig und etwas verdrossen, da Sigurd, -ohne von alledem etwas zu sehn, seine Mappe in einen Sessel gleiten ließ -und zu den Büchern ging, »Sie haben wohl nie bemerkt, daß das Jahr mit -denselben Farben beginnt und schließt.« - -»Davon versteh ich nichts, Georg«, bemerkte er nur, seitwärts den Kopf -tief hinunter beugend, um einen Titel im untersten Fach längs des -Buchrückens zu lesen. - -»Nämlich gelb und violett. Gelbe und violette Krokus, Primeln, Veilchen -und Narzissen, und Astern und Sonnenblumen im Herbst.« - -»Schön. Wills mir merken«, murmelte Sigurd und schob die Unterlippe vor, -zog plötzlich ein schmales Buch heraus, blies über den Schnitt und -klappte es auf. »Kassner,« sagte er. »Von den Elementen der menschlichen -Größe. Das kenn ich noch nicht. Würden Sie mirs leihen?« - -»Gern.« Georg rollte stöhnend einen Sessel über die Teppiche, gab ihm -einen Schwung, daß er vor die offene Gartentür flog, rückte ihn zurecht -und ließ sich hineinfallen. Seine Zigarettendose und Feuerzeug -hervorziehend, murrte er: »Was haben Sie bloß von all den Philosophen! -Von Kassner verstehe ich nicht ein einziges Wort. Sie sollten Verse -lesen. In drei Zeilen von Rilke steckt mehr Wissen von den Dingen als in --- ich weiß nicht was.« Den ersten, tiefen Zug aus der Zigarette in die -Lungen schlürfend, dehnte er die Brust empor und sprach mit tiefem -Aufatmen: - - »Als wäre die Gebärde - einer Mädchenhand - auf einmal nicht wieder vergangen ... - -Ja das! Und das von dem Panther: - - Dann geht ein Bild hinein, - geht durch der Glieder angespannte Stille - und hört im Herzen auf zu sein ... - -Und so tausend andre! Merken Sie denn, wie einen da die Seele der Dinge -anhaucht, durch Mark und Bein? Wie sie alle menschlich werden, und in -der Vermenschlichung schon halbgöttlich?« - -»Die Seele der Dinge?« hörte er Sigurd hinter sich. »Nun, das ist in -diesem Falle wohl nicht viel mehr als das Empfinden des Dichters von -ihnen.« - -»Ich fürchte, Sigurd, unsre ganze Seele ist nichts andres als unser -Empfinden von unserm Leben. Sehen Sie mal ...« Die Lider halb -schließend, blinzelte Georg in die Sonne, »ich meine so: zur Zeit als -der Mensch -- nämlich der, der er anfangs gewesen sein mag -- den -Unterschied zwischen seiner Zeitlichkeit bemerkte und dem, -- was er -damals Ewigkeit nannte; Ewigkeit, nämlich die länger als sein Ablauf -scheinende Dauer seiner Umwelt, bis zu Sternen hinauf, -- da -- nicht -wahr -- hielt er sie für ewig und gab diese Ewigkeit einem Gott oder -mehreren zur Wohnung, wie er selber in der Zeit wohnte. Da stand also -der Mensch -- gleich Zeit -- gegen Gott -- gleich Ewigkeit.« - -»Schöne Spekulationen«, hörte er Sigurd kurz hinter sich murmeln. -»Vorher, meinen Sie, stand bloß Mensch gegen Mensch?« - -»Vorher«, sagte Georg, »nahm der Mensch den andern Menschen als Teil -seiner Umgebung, -- das heißt, ich meine so: daß Mensch gegen Mensch, -gegen seinesgleichen stehe, das konnte er erst als Schicksal empfinden, -als er seine Einsamkeit und Kleinheit gegenüber der Ewigkeit spürte, so -daß dies Gefühl erst wuchs durch jenes.« - -»Die Seele also«, fragte Sigurd, »wäre ein -- eine Wunde des Daseins?« - -Georg versetzte: »Ja, sehen Sie, ich dachte folgendermaßen: der Körper -atmet durch Poren, der Geist -- durch Wunden. Die Seele ist eine Wunde; -die Wunde des Geistes. Ich kam auf andre --« - -»Freilich,« hörte er Sigurd erwidern, »die Lust am Dasein, jedes -Wollustempfinden ist denkbar, ohne Seele. Erst die feindlichen -Empfindungen, das Bewußtsein ... Sie wissen ja: ein Hund fürchtet sich -beim Gewitter, ohne zu wissen warum ... also: das Bewußtsein -übernatürlicher Mächte, unverständlicher Gewalten und Peinigungen, das -Bewußtsein von allem Schmerzlichen und Zerstörenden, das macht erst den -Menschen.« - -»Natürlich! das Feindliche!« sagte Georg. »Die freundlichen Naturmächte -nahm er einfach und unbedenklich hin, erst die feindlichen rüttelten ihn -auf, mit ganz physischen Mitteln: er mußte sich wehren. Lust bringt -nichts hervor, Schmerz macht erfinderisch, Schmerz ist zeugend allein. -Lust zweifelt nicht, Lust will bekanntlich Ewigkeit, das heißt Dauer -- -ihr erster Schmerz ist die Ahnung, daß sie enden muß --, Schmerz will -Erkenntnis.« Er verstummte, nicht unerfreut über diese Leistung. -- -Dann, da Sigurd still blieb, bog er sich um die Rückenlehne seines -Sessels, entdeckte aber erst nach einer Weile Suchens ganz hinten nur -seinen hohen Kopf zur Rechten der Treppe vor den Büchern; das Übrige -seiner hockenden Gestalt war hinterm Schreibtisch verborgen. - -»Hören Sie mir eigentlich zu?« fragte Georg unzufrieden. Da schnellte er -plötzlich zu seiner Länge empor, und Georg mußte lachen, weil er richtig -ein Buch aus der Tiefe heraufgetaucht hatte. - -»Ja, jetzt weiß ich, wie Sie's machen«, sagte er. »Sie ziehen in jeder -Bibliothek die Bücher heraus, lesen Titel und Verfasser, dazu einen -Abschnitt auf Seite siebenundvierzig, und dann kennen Sie's.« - -Sigurd schmunzelte geringfügig, ohne übrigens so auszusehn, als ob er -gehört hätte, ging zum Schreibtisch und setzte sich davor, worauf Georg -die Beine über die Sessellehne warf, um ihn im Auge zu haben. - -»Wovon sprachen Sie denn eben?« fragte Sigurd, sein Buch aufschlagend. - -»Von den ersten Menschen«, erwiderte Georg zweideutig. - -»Die im Paradiese,« äußerte Sigurd aufblickend, »wenn Sie die meinen, -kannten freilich Gott. Ob sie aber deshalb schon Menschen waren?« - -»Gott?« fragte Georg. »Nein. Gott war wohl mehr ihresgleichen. Und sie -wußten doch nichts von Zeit, und daß alles einmal enden könnte.« - -»Ach, Georg, Sie glauben ja nicht an Gott. Haben Sie übrigens je -bemerkt, daß jenes Verbot im Garten Eden, wegen des Apfels, nur an Adam -erlassen ist? Neulich fiel mirs auf, als ich zufällig den Text nachlas; -Eva war noch gar nicht erschaffen. Wie sollte sie also nachher -begreifen? Sie mußte sich einfach auf den Mann verlassen, der es ihr -mitteilte, und das gefiel ihr natürlich nicht.« - -»Von da an, bis jetzt,« sagte Georg lächelnd, »hat sie sich immer auf -den Mann verlassen sollen, aber sie ist immer dagegen angegangen und hat -ihn immer zum Essen verlockt.« - -Sigurd schien zu lesen. Ich habe doch einmal an Gott geglaubt, dachte -Georg angestrengt. An Gott? Ja, an einen einfachen guten Menschengott, --- wann war das? Und auf einmal war er fort. Ich wurde konfirmiert, -- -nein, damals schon, -- aber ich entsinne mich doch genau, was für Kämpfe -ich seinetwegen gehabt habe, und wie wir Jungens uns stritten halbe -Nächte lang -- aber, es kommt mir doch vor, als ob schon alles über ihn -entschieden war, ehe die Kämpfe begannen. Sie waren mehr der Form wegen, -und aus Angst, aber damals fürchtete man sich ja nicht vor der Welt, so -getraute man sich schon, es allein, ohne Gott, mit ihr aufzunehmen. Da -wars um Gott geschehn. Wann aber glaubte ich wirklich an ihn? -- Als ich -noch rot werden konnte, durchfuhrs ihn, und er fühlte, wie ihm das Blut -ins Gesicht stieg. Ich erröte ja noch! dachte er -- nein, nein, dies ist -ein andres Erröten, ich erröte vor mir selber; ich meinte aber das -Erröten vor der Welt, in der Gott war, das Erröten, das von Gott kam, -nicht dies aus mir selber. -- Jetzt klappte Sigurd sein Buch zu, legte -es auf den Tisch und sagte: - -»Außerdem, fällt mir ein, steht auch von einer Strafe nichts im Buche. -In der Bibel, mein' ich. Er sagte nur: ihr dürft nicht. Hätte er gleich -zu Anfang gesagt: dann werdet ihr ausgetrieben --« - -»Dann«, sagte Georg, »würden sie sich wohl auf den Apfel gestürzt -haben!« - -»Wie?« fragte Sigurd zerstreut und sprach weiter: »Er verbot nur, wie -sollten sie das verstehn? Adam sagte es Eva, worauf sie vermutlich -gedacht haben wird: Verboten hat er es zwar, -- aber wenn ichs doch tue? --- er hat doch gesagt, er wäre ein lieber Gott ... Und Adam dachte: Was -wohl geschehn wird, wenn ... Sehn Sie, er konnte ja nicht anders, er -mußte zweifeln, ihm konnte nichts genügen, ihn hungerte nach Erkenntnis, -nach dem Apfel, nach Schmerz ... Sie sehn, es kommt auf das selbe -hinaus.« - -Georg, mitgerissen, sagte nachdenklich: »Und schon kam die Angst -- Gott -hatte noch nichts gesagt! -- sie versteckten sich.« Plötzlich wieder in -seinen eignen Gedanken, sagte er langsam: »Er muß ganz rot geworden -sein, als er aß.« - -»Wie meinen Sie?« fragte Sigurd. Georg besann sich; Sigurd, das Gesicht -in den Händen, sah auf den Teppich. - -»Das Verstecken«, sagte er, »war eine Dummheit. Schuldgefühl verdammt -von vornherein. Die Frauen, wie Sie schon sagten, glauben an einen -liebenden, verzeihenden Gott -- nämlich deshalb, weil sie ihre Schuld -gern für geringer halten, als sie ist, denn sie können nicht abwägen --, -der Mann an einen gerechten Gott.« - -»Nach dem Talmud«, versetzte Georg. - -Sigurd schwieg. Nach einer Weile, sich aufrichtend, ohne Georg anzusehn, -bemerkte er, das wären so deutsche Unterhaltungen ... - -»Wieso?« - -»Der Deutsche redet am liebsten von Dingen, von denen er zwar nichts -versteht, an denen sich aber sehr viel raten läßt, herumraten.« - -»In Rußland allerdings«, biß Georg zu, »wird nur von Rußland geredet. -Und wissen Sie,« lachte er, »was das Deutscheste an unserm Gespräch -ist?« - -»Nun, sagen Sie's schon.« - -Das Telephon zirpte, Georg erhob sich. »Daß wirs hinterher kritisieren; -oder wenigstens feststellen, wovon es gehandelt hat. Nun können wir ja -noch --« Das Telephon zirpte abermals -- »feststellen,« sagte Georg, -indem er hinging, »daß wir festgestellt haben, daß der Deutsche gern -feststellt --« Lächelnd den Hörer abnehmend, über den Tisch gebeugt, -sagte er: »Georg Trassenberg.« - -»Grüß Gott, Georg,« hörte er Esthers Stimme, wie es schien ein wenig -matt. »Ist Sigurd da?« - -»Grüß Gott, Esther! Ja, er ist hier. Wie gehts Ihnen denn?« - -»Danke ...« Das kam zögernd; danach nichts mehr. - -»Augenblick, Esther!« Georg reichte den Hörer an Sigurd, der noch am -Tische saß. - -»Ja, Esther. -- -- Nein, ich wollte heute erst später kommen. Was ist -denn?« -- -- Georg wanderte langsam bis vor den Pensieroso, Sigurd -weiter hörend in Pausen: »Du sollst kommen? -- Ja, dann fahr doch.« - -Georg -- sonderbar härtlich hatte das Letzte geklungen -- wagte es, den -Kopf ein wenig zu drehn, allein Sigurd -- er war aufgestanden -- drehte -sich fort. - -»Natürlich mußt du fahren.« Das klang wieder wie immer, kurz angebunden, --- doch so war er. »Nach Hamburg erst? Ja, natürlich, sie warten ja -darauf. Wie? Sie warten darauf, sag ich. Wann geht denn das Schiff?« -Georg zuckte zusammen. Schiff? -- Er lauschte mit wildem Herzklopfen -plötzlich, doch kam nun endlose Zeit nichts, und er stand, flimmernd -Buntes und Grünes vor den Augen, gemartert von der unhörbaren Stimme in -der Ferne, die alles sagte. Endlich hörte er Sigurds Stimme wieder. - -»Ja, dann wirds am besten -- wie? -- am besten wirds übermorgen -- ja, -Fräulein, ich spreche noch!« - -Wieder alles still. Also nach Amerika. Fort. Einfach fort. Esther. Das -war unmöglich. -- Georg hörte seinen Namen, dann deutlich Sigurd, der -ihn ans Telephon bat. - -»Ja, was ist denn, Esther?« - -»Mein Verlobter hat geschrieben, Georg. Er wartet ja schon seit einem, -seit dreiviertel Jahr bald. Und er schreibt von einem Schiff, das ich -benützen soll, -- es fährt Mitte nächster Woche, und --« Georg glaubte, -sie Atem schöpfen zu hören. »Und nun erwarten Verwandte von uns in -Hamburg, daß ich sie erst noch besuche. Also --« Ihre Stimme erlosch, -raffte sich dann wieder auf. »Also werde ich wohl übermorgen fahren. -Dann hab ich noch morgen den ganzen Tag zum Packen und --« Es kam nichts -mehr. - -»Ja, Esther, wenns sein muß. Was kann man da machen?« Böse, einen Stich -im Herzen, fuhr er gleisnerisch fort: »Es tut mir nur leid, daß ich Sie -dann nicht zur Bahn werde bringen können. Morgen muß ich fechten, und -das wird ziemlich schlimm werden, ich -- ja, ich kann Ihnen das so nicht -gleich erklären, warum. Dann --« seine Brust zog sich zusammen -- »dann -sehn wir uns wohl gar nicht mehr.« - -Keine Antwort. -- »Sind Sie noch dort, Esther?« - -»Ich -- ich könnte ja heute noch -- -- wenns Ihnen recht wäre ... Ich -habe jetzt Zeit.« - -»Aber natürlich, Esther, herrlich! Also kommen Sie? Auf Wiedersehn! -Wollen Sie Ihrem Bruder noch -- -- Sind Sie noch dort?« - -Georg legte, schwer atmend, den Hörer auf, sammelte sich und sah sich -nach Sigurd um. Er saß auf der Lehne von einem der Sessel in der -Kaminecke, den Kopf gesenkt; das Gesicht war heiß, die Augen finstrer -als je. Langsam, die Lippen vor und hin und her schiebend, fing er an zu -sprechen. - -»Einmal mußt's ja sein. Nun ist's zu spät.« - -Georgs Zunge bewegte sich schwer. »Wieso: zu spät?« - -Sigurd bückte sich tief, den einen Fuß anhebend, zupfte an einem Faden -im Hosenaufschlag und riß. »Um sie zu halten«, stieß er dabei undeutlich -hervor. - -»Ja, wer kann sie halten, wenn sie heiraten wollen«, witzelte Georg -unglücklich. - -»Halten kann man sie schon«, äußerte Sigurd verdrossen und sah in die -Luft. -- Sonderbar! Das war ja fast wie ein -- ein Wink? -- Indem fiel -Georg ein, daß Sigurd ihm doch einmal etwas hatte sagen wollen, in bezug -auf Esther. War es das gewesen? -- Er? Konnte er sie, hätte er sie -halten können? - -Sigurd war aufgestanden. »Also auf Wiedersehn, Georg«, sagte er, ihm die -Hand hinhaltend, während er mit der andern seine Mappe aus dem Sessel -nahm. »Sie kommt ja wohl her. Dann will ich nicht stören.« - -»Adieu, Sigurd.« Sigurd stieg die Stufen hinan. »Vielleicht versuchen -Sie's doch noch mal selber!« rief Georg ihm nach. -- Sigurd öffnete die -Tür, schwieg, sagte dann: »Ach was!« und ging hinaus. - -Georg stand verstört. Vor sich niederblickend, entdeckte er plötzlich -die farbigen Bänder auf seiner Brust, faßte wütend nach dem -Porzellanknopf im Rücken unterm Rock, der sie zusammenhielt, zerrte -wütender daran, bis er die Bänder endlich losgerissen hatte, schnellte -sie hervor, ballte sie zusammen und schmiß sie auf den Tisch. - -Wenn morgen, fluchte er, die Mensur nicht wäre, würde ich mit ihr in die -Gegend fahren, und niemals käme sie fort, niemals! -- O, wie verstört -sie war! Warum? Warum? -- Er hockte sich in einen Sessel, tat die Stirn -in die Hände und fühlte Angst vor der Abschiedstunde. Ja, soll ich, will -ich, kann ich sie denn halten? O Gott, liebe ich sie denn nun oder -nicht? -- - -Da war Esther, da Renate. Da waren Renates Schultern, an dem -verwünschten Festabend, -- das Herz zog sich ihm zusammen. Und da war -Esther, wenn sie frühmorgens aus dem Garten kam, kaum sichtbar hinter -einer Garbe frohlockender Blumen, und er im Stuhl mit seinem -verstauchten Fuß, und die langen, langen Tage. Und dann dies, -- war es -denn nun eine Dummheit gewesen? Sie kam herein, und er dachte: ich habe -sie auf eine ebenso eigenartige wie ganz unschädliche Weise lieb und -werde es ihr jetzt sagen. Da stand sie in der Tür zum Garten, lächelte -zu ihm hin, und er nickte und lachte aus seiner Ecke, und wie sie die -ganze Last von -- Päonien oder Stockrosen, oder was es nun war, auf den -Schreibtisch niederwarf, sagte er, nein, da rief er sie zu sich, nahm -ihre Hände und sagte, nicht ohne starkes Herzklopfen und das deutliche -Gefühl, er solle es lieber unterlassen: Eben, kleines Wesen, ist mir was -Prächtiges eingefallen. Ich habe Sie so lieb, wie ich nie einen Menschen -gehabt habe, auf eine ganz besondre Weise, was sagen Sie dazu? Ist's -Ihnen recht? -- Auf ihrem Gesicht flog ein sonderlicher Schatten auf, -ein -- ja ein Lächeln gleichsam auf Stelzen. Sie ließ seine Hände los -und sagte: O ja ... Sie ging zu den Blumen, nahm eine auf, warf sie -wieder hin, nahm eine andre und roch daran, raffte den ganzen Haufen -zusammen und trug ihn ins Speisezimmer. - -Und danach, eine lange, endlose, atemlose, schreckliche Zeit, während -der er sie nebenan gehen und hantieren hörte, Vasen zusammentragen, -Stiele abschneiden, vor die Tür und an die Wasserleitung treten, und -hörte, wie das Wasser rauschte, dunkel erst, dann heller, aufsteigend in -den Gefäßen, saß er und rang mit sich um Unerkennbares im Herzen und -sagte sich schließlich nur, damit die Zeit verginge, auf: Sie also auch, -sie also auch, -- ganz sinnlos, und dann: Da bin ich ja grauenhaft -ungeschlacht gewesen. Sie wußte es nicht, und nun weiß sie's. - -Also liebte sie ihn? Und wollte doch nach Amerika. Sigurd wollte sie -behalten, und er sollte das besorgen. Ja, wie hatte er doch gesagt? Sie -hat immer irgendwen geliebt. Er hielt das also für einen Übergang, auch -hier bei Georg, und im Grunde liebte sie eben ihn, ihren Bruder, und -fand immer wieder zu ihm. Ja, konnten sie vielleicht einander noch in -die Augen sehn, nachdem er damals dies zu ihr gesagt? Nein, sondern da -war zwischen ihm und ihr eine Wand von Angst, Gefahr und Süße, durch die -ihre Blicke nicht zueinander gelangen konnten, außer wenn sie lachten -oder viele Menschen zugegen waren. - -Eines Tags aber, würgte er weiter, sah ich Renate in einem goldnen -Kleid. Das Unterkleid war erdbeerfarben, darüber das Oberkleid vorn -offen und nach rückwärts geschweift, so daß es leicht wehte beim Gehn; -es war wie Flügeldecken aus goldener, bräunlicher Seide, ach, und ihr -Hals, ihr Hals! -- Aber dennoch, -- wenn ich es formulieren wollte, so -wäre es so: Wäre Renate weniger schön, so würde ich sie lieben; wäre -aber Esther weniger schön, so würde ich sie nicht lieben. Das soll -heißen, daß ich Renate liebe wie einen schönen Gegenstand (zum Beispiel -die Venus von Milo), und nur das Zufällige ihrer weiblichen Gestalt und -der sexuelle Reiz spiegelt mir ein wahres Liebesempfinden vor. Esther -dagegen, -- ja, wie kann man nur zwischen Beiden schwanken? Esther war, --- o sie war ja klug und alles mögliche, aber eigentlich war sie doch -nur ein süßes Wesen, ja ein so süßes Wesen, daß ich eben unwiderstehlich -davon verlockt werde, von den braunen Streifen im schwarzen Haar, von -der Stelle der Stirn, an der das Haar ansetzt und das krause die kaum -sichtbaren Schatten wirft, von ihrem Hals, und der Biegung zum Kinn, und --- und was sollte denn daraus werden? schloß er langsam und stand auf. - -Er öffnete die Gartentür, trat ins Freie ein paar Schritt vor und ging -ins Zimmer zurück, erregter, angstvoller, wartend, daß sie komme. - -Renate, schlechterdings, sie war zu einer fürstlichen Stellung -geschaffen und gehörte ihm. Er nahm den kleinen Band der Odyssee vom -Tisch unter der Lampe, blätterte, suchte und fand die Stelle: - - _Kai tote dä Kronidäs afiei psoloenta keraunon,_ - _Ka d'epese prosthe glaukoopidos obrimopatras;_ - _Dä tot' Odysäa prosefä glaukoopis Athänä ..._ - -Halblaut übersetzte er: - -Nieder warf der Kronide den funkelnden Blitz, daß er hinschoß vor der -strahlengeäugten, der Tochter des obersten Vaters. Und zu Odysseus -sprach die strahlengeäugte Athene ... - -Das war sie. Eine Göttin in Menschengestalt, Fürstin, Herrscherin, kluge -Beraterin, ein Kunstwerk. -- Er schloß das Buch, legte es hin, und nun -erschien ihm Renate in ihrem weißen, sommerlichen Faltenkleid mit -viereckigem Ausschnitt, eine Kette von rosigweißen Korallen, die tief -herunterhing, um den Hals, ohne Gürtel und mit weit offenen Ärmeln. So -stand sie in der Kapellentür wie ein Legendenwesen, so saß sie an der -Orgel, ausgebreitet, schwebende und gewaltige Stimmen entfesselnd, so -war sie, stets würdig, stets Anmut, stets Kühle, eine schöne Weisheit in -Frauengestalt. An wen erinnerte sie nur? Lange grübelte er in Büchern -herum, endlich begann es ihm zu dämmern, seine Kinderstube erschien, und -ein altes Buch, quadratisch, braun, abgegriffen, mit Vignetten, -- von -Richter? Richilde -- stand in verschnörkelter Schrift auf einer Seite, -ein Ritter ritt durch eine Landschaft, ein spitzbärtiger Ritter kniete -vor einem Walfisch, aus der Kelchblüte einer großblättrigen, -stilisierten Pflanze winkte ein elfenartiges Wesen mit einem Schleier -nach einem Jüngling, der hinter einem Paar schöner, weißer Stiere -schritt, -- Libussa. -- Flugs stieß Georg einen Sessel zur Seite und -langte das Buch tief unten aus einem Regal, wiedererkannte es freudig, -schlug es auf und fand nach einigem Blättern und Verweilen die -Geschichte Libussas, der Elfentochter, der späteren Herzogin von Böhmen, -welche die drei höchsten Güter in sich vereinte, nämlich Weisheit, -Schönheit und Reichtum; und Libussa hatte in ihm als Knaben jenes Gefühl -erweckt, das ihm jetzt von Renate auszugehn schien: sie war ihm zu -makellos und wandellos, zu hoheitsvoll, zu leidenschaftslos erschienen, -zumal gegenüber den kriegerischen Werbern, -- ja, wollte Esther denn -noch immer nicht kommen? Wenn ich lese, dachte er, wird sie gleich hier -sein, setzte sich und las, und es stellte sich heraus, daß jenes -Knabengefühl ganz ungerechtfertigt gewesen war, denn liebte Libussa -nicht den Primislav, sieben Jahre getreu, und sandte ihm endlich ihr -weißes Leibroß, um ihn zu holen und zu ihrem Herzog zu machen? -- Ein -rechtes Märchen, aber bei Renate und mir ists ja umgekehrt. -- Folgende -Stelle las er mit Vergnügen: - ->Libussa hatte nicht den stolzen, eiteln Sinn ihrer Schwestern. Ob sie -gleich die nämlichen Fähigkeiten besaß, in die Geheimnisse der Natur -einzudringen und sich ihrer verborgenen Kräfte zu bedienen: so genügte -ihr dennoch an dem Anteil der wunderbaren Gaben aus der mütterlichen -Erbschaft, ohne solche höher zu treiben, um damit zu wuchern. Ihre -Eitelkeit erstreckte sich nicht weiter, als auf das Bewußtsein ihrer -Wohlgestalt, sie geizte nicht nach Reichtum, wollte weder geehrt noch -gefürchtet sein wie ihre Schwestern. Wenn diese auf ihren Landhäusern -herumtoseten, von einer rauschenden Freude zur andern eilten und den -Kern der böhmischen Ritterschaft an ihren Triumphwagen fesselten, blieb -sie daheim in der väterlichen Wohnung, führte das Hausregiment, erteilte -den Ratfragenden Bescheid, leistete den Bedrückten und Preßhaften -freundlichen Beistand, und das alles aus gutem Willen ohne Entgelt. Ihre -Gemütsart war sanft und bescheiden und ihr Wandel tugendsam und züchtig, -wie es einer edeln Jungfrau ziemt.< - -Auch dieser Satz gefiel ihm sonderlich: >Sie nahm mit bescheidenem -Erröten die Herrschaft über das Volk an, und der Zauber ihres -wonniglichen Anblicks machte jedes Herz ihr untertan.< - -O Himmel! dachte er aufseufzend, wenn ich Herzog bin, wird dann alles -anders sein? Wer ist denn zur Herzogin hier geeignet, sie oder Esther? --- Er lachte fast, hielt kaum rechtzeitig inne. - -Das Licht hatte sich verändert draußen, die Schatten waren tiefer und -länger geworden, Esther kam nicht. Georg, immer angstbeklommener vor -dem, was kommen sollte oder könnte, trat wieder in die Tür zum Garten, -der windstill, tief beschattet bei sinkender Sonne, tiefgrün mit schönen -großen Farbflecken, gelben, roten, glattbraunen, von Birke, Platane und -Roteiche, unter dem reinen, erlösten Himmel ruhte. Darin sollte sie nun -nicht mehr umhergehn mit ihren kleinen, ein wenig breiten Füßen, -kleinschrittig, von denen der rechte bei jedem vierten oder fünften -Schritt leicht nach innen schlug. - -Indem hörte er hinter sich die Tür, Esther stand drin, sehr blaß, in dem -Kleid, das er liebte, von rotvioletter Seide mit Goldborte an Hals und -Ärmeln. Sie kam auf ihn zu und gab ihm die Hand, wie sie pflegte, mit -ein wenig vorgeschobenem Leib ganz nah herankommend, und murmelte etwas -wie: Sigurd hätte ihm wohl alles gesagt. - -»Wann geht dann das Schiff?« fragte Georg. - -»Mittwoch.« - -»Und Sie bleiben erst ein paar Tage in Hamburg?« - -»Ja, ich fahre am Sonntag.« »Und morgen«, sagte Georg trübe, »muß ich -wieder auf Mensur.« - -»Schon wieder?« - -Sie hatten sich unterweil in Bewegung gesetzt und schritten langsam den -Weg hinunter. Georg hob eine in den Weg hängende Hopfenranke über -Esthers Kopf, dachte: Wenn Sigurd gesagt hat, daß sie immer irgend -jemand liebte, so heißt das wohl auch, daß sie mich alsbald vergessen -wird, -- und verstrickte sich derweil in umständliche Erklärungen: daß -er seine letzte Mensur im vergangenen Semester schlecht gefochten habe --- - -»Ach, als Sie so lange mit dem Kopfkissen herumliefen?« fragte sie -lächelnd. Sie meinte das schwarze Stück über der Gazekompresse, das er -zum heimlichen Gespött aller Freunde wochenlang nicht vom Mittelkopf los -geworden war. Er bejahte und fuhr fort: daß die Mensur ungenügend -beurteilt worden sei; daß er Reinigung fechten müsse, und nun habe es -sich über die Ferien hingezogen, während er doch für dies Semester -seinen Austritt geplant hatte, und schließlich würde er morgen einen so -scharfen Gegner bekommen, daß -- ja also daß sie sich heute wohl zum -letzten Male sähen ... Dies schien sie gewußt zu haben, denn sie -antwortete nichts. - -Sie standen jetzt am dunklen Wassergraben; ringsum loderte der Herbst, -das unbeschreiblichste Grün, mit Gelb gemischt, lohendes Rot, prangendes -Kaisergelb flatterte hoch oben vor der vergoldeten Bläue der Luft; noch -höher wehten weißliche Geister aufgelöst durch den Oktoberhimmel. Ach, -wie lieblich war ihre verschleierte, huschende Stimme! -- Sie sagte, es -würde ihr wohl sehr schwer fallen, nicht mehr des Morgens in diesen -Garten gehen zu können, und Georg murmelte etwas Unklares von -Kalifornien, Palmen und: auch sehr schön ... Dann setzten sie sich auf -die Bank, die hinter ihnen stand. Esthers Hände lagen im Schoß. - -Georg dachte daran, wie er ihre Hand zuerst im Handschuh gefühlt, halb -leblos, und wie sie hier mit Jason gesessen hatten, der ihren Handschuh -von der Bank nahm und davon sprach. Sie schwiegen. Kein Blatt fiel. -Etwas simmte an Georgs Ohr, und eine verspätete Mücke setzte sich auf -seine Hand, aber sie sog nicht. Da vertrieb Esthers Linke sie mit einer -flatternden Bewegung, die an ihrem Haar endete, und Georg sagte mit -einem Versuch zu scherzen: - -»Und nun will so ein kleines Mädchen ganz allein über das große Wasser -fahren?« - -»Der gute Jason«, sagte sie -- dies war ihr letztes Lächeln! -- »wird -mich bringen. Merkwürdig, nicht: Eben traf ich ihn, und er brachte mich -hierher. Als ich ihn scherzend fragte, war er gleich bereit, und im -vollsten Ernst. Er hätte längst mal nach Amerika gewollt, sagte er.« - -Jetzt wird sie in Tränen ausbrechen, dachte Georg und vermied den -Anblick ihres Gesichts, sah aber doch, geradeaus blickend, neben sich -ihr Profil, ein wenig vorgeneigt, unterm straff zurückgespannten Haar, -die Stirn glatt, ganz wenig gerunzelt, das fremdgeschnittene, -bewegungslose Auge, den unbeweglichen Mund. -- Um nur etwas zu sagen, -fragte er: »Warum der _gute_ Jason?« - -»Ich weiß nicht«, meinte sie nach einer Weile. »Einmal, das fällt mir -ein, wollte er ein Buch auf den Tisch legen, und es fiel daneben. Da -sagte er ganz erschrocken: O entschuldige, Buch! -- Ich mußte so -lachen.« - -»Ja, er ist mit allen Dingen, die sich nicht selber helfen können, wie -mit kleinen Kindern. Wissen Sie eigentlich etwas aus seinem Leben?« - -»Nein, gar nichts.« - -»Ich war dabei,« sagte Georg leiser, »als er sich das Leben nehmen -wollte, zweimal, und doch glaube ich, daß dies nicht das Schlimmste in -seinem Leben war. So wie er jetzt ist, ist er noch gar nicht sehr -lange.« - -Hörte sie eigentlich, was er sagte? - -»Wissen Sie,« begann sie nach einer Weile, -- »aber Sie dürfen nicht -lachen, -- nein, ich meine -- -- Sie dürfens nicht zu ernst nehmen -- ---« - -»Immer was Sie gern wollen, Esther.« - -Sie schwieg. - -»Wollen Sie es für sich behalten, dann --« er zögerte -- »nehmen Sie es -mit nach Amerika.« - -»Oh!« stieß sie schmerzlich hervor, beugte sich vor und sah nach oben. - -»Schön ist doch der Herbst,« sagte sie dann wie beruhigt, »das sanfte -Scheiden.« - -»Ja, es wird gut mit uns gemeint.« - -Auf einmal schnürte sich ihm das Herz zusammen, er suchte nach -gleichgültigen Dingen, fand nichts und bat: - -»Was wollten Sie denn eben sagen?« Sich vorneigend wie sie, sah er sie -nun an und merkte, daß ihr Gesicht von innen kalt und bleich geworden -war. - -»Ich wollte sagen,« sprach sie sehr langsam und ohne Betonung, »es muß -gut sein, zur rechten Zeit sterben zu können. Ich glaube, der Tod --, -ich meine: das Sterben, der letzte Augenblick giebt dem Menschen eine -Klarheit, eine Kenntnis, ganz sichere, über Leben und Tod. Gut kann die -sein oder sehr schmerzlich. Und die gute wäre, daß man zur rechten Zeit -stirbt.« - -Sie hatte nun ganz leise und mit rauher, verhauchender Stimme -gesprochen, und Georg, obgleich er kämpfte, konnte es nicht lassen, -tiefer zu gehn und zu fragen: »Esther, sind wir denn so traurig, daß wir -statt vom Scheiden vom Sterben reden müssen?« - -Sie stand auf, zuckte mit den Schultern, wie um etwas abzuwerfen, und -sagte: »Ich muß gehn.« - -Jenseit des Grabens stand eine junge Roteiche, reich mit großen, heftig -gezackten Blättern überhangen, rot wie neues Kupfer und so einzeln, daß -sie sich zählen ließen; im bläulichen dunklen Wasser unten hing ihr -Spiegelbild, umgekehrt, verdunkelt. Uns, dachte Georg mit seltsamer -Empfindung, uns und unsre Spiegelbilder sieht von drüben der stille -Baum, und nun war ihm, als sähe er selber sich und sie -- in dem schön -violetten Kleide mit goldenen Borten sie und sich in dem dunkelgrünen -Anzug -- wie zwei geschmückte Geister in einer elysischen Gegend, -weltferne Zwiesprache haltend. Aber, sich umwendend, fand er Esther -nicht mehr neben sich und sah sie schon fern zwischen den grünen Büschen -den Weg hinunter auf einen Trupp hoher, verdorrter Sonnenblumen und -schwarzroter Dahlien zugehn; ihr Gang war nichts als ein notwendiges -Bewegen der Füße, aber daran, daß der rechte nicht nach innen --, doch, -da schlug er nach innen, und nachdem Georg eben gedacht hatte, er müsse -sie so weiter und weiter und fortgehen lassen, eilte er ihr jetzt nach, -holte sie aber erst im Zimmer ein, wo sie stand und sich umsah. - -Eiskalt war ihm am ganzen Leibe, er zitterte, wußte aber gleichwohl, daß -er imstande sei, die simpelsten Höflichkeiten zu sagen, redete auch ganz -bedeutungslos draufzu, indem er sie bat, sich doch etwas zum Andenken -mitzunehmen. Sie bewegte den Kopf langsam hin und her. Gleich darauf -sank er tief herunter, ihre Brauen zogen sich wie grüblerisch fest -zusammen, doch war es wohl etwas andres, und er konnte es nicht mit -ansehn und trat an den Schreibtisch. Mit dem Rücken gegen die Platte -gelehnt, sah er, wie sich ihr Kopf langsam wieder hob; sie stand -aufrecht und sah ihn an, ohne zu lächeln. Jetzt kommt es! dachte er im -Frost, was soll ich jetzt tun? was fragt sie jetzt hinter ihrer Stirn? - -Indem fiel ihm ein: Wenn aber nun alles Einbildung ist? Ja, wie, wenn -sie nicht meinetwegen so verzagt ist, sondern Sigurds wegen? Sollt' ich -so närrisch sein? -- Fast ward ihm da leichter; er dachte: also muß es -geschehn ... - -»Esther«, sagte er, nur um nicht zu schweigen, um nicht -- -- - -Und sie kam. Er nahm ihre erfrorenen Hände und legte sie auf seine -Brust. Sie blieb, sie würde bleiben, sie mußte, er konnte sie nicht -entbehren. -- So blickte er in ihre Augen, sah ganz nah die schönen -Brauen, sah winzig sein eigenes Gesicht, ganz wenig verschwollen in -dieser, in jener schwärzlichen Pupille, und die Reflexe vom Licht, sah -die kleinen schwärzlichen Härchen neben den Mundwinkeln und mußte die -Lippen darauf drücken. Seine Augen schlossen sich. O, wie süß war dieser -Mund! O nicht fremd wie -- wie -- -- - -Da öffneten seine Augen sich wieder, sie war zurückgetreten, er sah sie -zum Stuhl gehn, ein flacher, grauer Hut lag darauf mit grünen Blättern -und schwarzen Rosen, den hob sie auf. Ja, mußte denn noch etwas -- --, -mußte er noch etwas -- --? -- Er sah sie den Hut aufsetzen, die Nadeln -festmachen, und da lag auch eine Jacke, die sie nun anziehen wollte, und -er hätte fast vergessen, ihr zu helfen. Noch einmal, während er den -Kragen ihres Kleides in die Jacke hineinglättete, ihren Hals berührte, -sah er ihren Haarknoten, weich geschlungen, ganz nah, aber dies galt -schon nicht mehr, und sie wandte sich und gab ihm die Hand, und er -sagte: »Leb wohl!« - -Das Schluchzen stieg ihm in die Kehle, sie sagte nichts, ging zur -Treppe, der Raum kreiste, etwas klang hart, Esther war nicht mehr im -Zimmer. - -An einem Eisenbahnfenster über vorbeisausender Felderlandschaft erschien -Esthers Gesicht; darauf stand geschrieben: Trostlos. -- Georg näherte -die Hände dem Gesicht, ermannte sich, schüttelte den Kopf, nahm eine -Zigarette vom Rauchtisch, zerbrach ein Streichholz, noch eines, noch -eines, tat endlich den ersten Zug und setzte sich. - -Ja, sagte er, ja, ja ... - - * * * * * - -Nicht mit Absicht berauschte Georg sich an diesem Abend sinnlos, das -heißt, er setzte sich nicht in der Absicht, sich zu betrinken, zum -Trinken nieder, sondern es kam so. Quid quod, sagte er in der letzten -hellen Minute, das ist eine lateinische Redensart und heißt ungefähr: -Was soll man dazu sagen? -- Einige Zeit später weinte er sehr am Halse -seines Leibfuchsen, der auch weinte, und abermals eine Zeit später -wachte er mit riesigem Schädel und ohne Denkvermögen in seinem Bette -auf, tat unbewußt das am Morgen Nötige des Badens und Ankleidens, saß -ein paar Stunden, bloß eine kahle Bouillon im Magen, bei den Mensuren -herum, übrigens ein wenig voll Ekel, ein wenig voll Wut und ein wenig -voll Beschämung, worauf er sich anbandagieren ließ, heftig angewidert -von den nassen, warmen, nach Blut, Schweiß und Äther stinkenden Binden -am Halse. Armer Tozzi, heut gehts mir schlecht, dachte er, die Zähne -zusammenbeißend, als die eiserne Brille auf seine Nase gepreßt wurde, -und nieste. Dann stand er da und arbeitete schwerfällig mit dem -Schläger, fühlte bald, wie ihm das Blut vom Kopf rieselte, es gab Pause, -er saß, stand wieder, es gab endlose Pausen, um ihn schwirrte und rannte -es, er hörte ein Flüstern: laß dich lieber abführen! -- aber das wollte -er nicht. Der Speer ward ihm fortgeschlagen, noch einmal fortgeschlagen, -er wankte und taumelte bei jedem Hiebe und stand dann, den Kopf gesenkt, -von dem das Blut herunterlief, wie Spülwasser so dünn vom Alkohol. -Dumpfe Wut hielt ihn aufrecht, aber er ermattete immer mehr, nach jedem -Gang schien eine Pause zu kommen, er trank Wasser, trank Kognak, ihm -ward zum Erbrechen elend, und dann merkte er noch, auf dem Stuhl -sitzend, daß sein Blut nicht mehr lief. Und was war das mit seinem -Herzen? Das machte ja Sprünge! Von allen Seiten beugten sich höfliche, -neugierige, ein wenig mitleidige Gesichter, er hörte wieder die Stimme -des Sekundanten von weit fern her: Also noch einen Gang, weiter! Stand -auf, schwankte, hörte hoch über sich die Worte verhallen: Baltoborussia -führt ab nach dreizehn Minuten, und verlor die Besinnung. - - - Sonnenblume - -Renate, in der Hand die Gartenschere, trat am frühen Morgen auf die -Terrasse hinaus und blieb über den Stufen stehn. Warm schien die Sonne, -aber es wehte so heftig, daß sie mit den Händen in den Falten ihres -dunkelgrünen Kleides hinunterfuhr, um sie gegen den Leib zu drücken; sie -bauschten sich schwer hinter ihr, und die langen Enden der dicken, -silbernen Kordel, die sie unter der Brust um den Leib geschlungen hatte, -flatterten wie ihr Haar. Der Garten, schon sehr entblößt, war ein -flatterndes Gewimmel von Blättern und kleinen Zweigen, gelb und lockrig -ließen die Wipfel überall den hellen, dunstigen Himmel durchscheinen, -aufgelöst ins Trinken des reichen goldenen Lichts. Vollhängende -Fuchsiensträucher schwankten unter der Veranda. Wege und Rasen waren mit -Blütenblättern bestreut; der Gärtner hatte den mit Laub verschütteten -Rasenplatz zur Hälfte gekehrt und war zum Frühstücken gegangen; nun -rollte der Wind die braungelbe Masse von einer Seite auf die andre mit -einem kindischen Vergnügen. -- Renate kämpfte sich gegen den Wind die -Stufen hinab, ging auf dem Wege zur Linken weiter, durch die Büsche und -rechtsum unter den sechs Linden am Gemüsegarten hin auf die Rückseite -der Kapelle zu. Dort flammte, gegen den Wind geschützt, die ganze Schar -farbiger Georginen und Dahlien, schwarze, rote, scharlachne, weiße und -gelbe. Renate schnitt von ihnen, langsam auswählend, einen Arm voll. Da -hörte sie ihren Namen, fern von Magdas Stimme gerufen, antwortete: Hier! -und sah bald darauf, sich wendend, Magda den Weg unter den Linden -herbeieilen, ein Zeitungsblatt in der Hand, heftig atmend und mit -schreckerfüllten Augen. - -»Du weißt noch nichts?« fragte sie atemlos. »Das Schiff --« - -»Was für ein Schiff?« - -»Mit Esther! Es ist untergegangen.« - -Renate schrie: »Magda!« ließ die Schere fallen, preßte die Blumen an -sich, griff nach der Zeitung und las unter strömenden Tränen -entsetzliche Dinge von einem Eisberg, bei Nacht, und Hunderten von -Toten. - -»Vielleicht ist sie doch gerettet«, weinte sie. Der Wind riß an dem -großen Zeitungsblatt, sie kämpfte, um es zusammenzulegen, packte dann -ihr Blumenbündel hinein und suchte nach ihrem Taschentuch im Gürtel. Da -sah sie es nicht weit von ihr auf dem Wege liegen und eilte daraufzu, -damit es nicht wegfliege. - -»Weiß Sigurd es denn?« rief sie Magda zu, die mit zusammengelegten -Händen dastand. Die fuhr aus ihrer Versunkenheit auf, sagte, ja, sie sei -ja gekommen, um mit Sigurd zu telephonieren, und eilte eifrig an Renate -vorüber nach dem Hause. - -Mit ihrem großen, bunten Blumenbündel im Arm, heftig weinend und an Nase -und Augen wischend, schwankte Renate den Weg zurück, über den Rasen und -bis zur Sonnenuhr, blickte lange darauf, als wollte sie die Zeit -enträtseln, und legte dann, heftiger aufschluchzend, mit einer wilden -Gebärde die Last auf das Zifferblatt; das Zeitungsblatt öffnete sich und -flatterte. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen das Postament, wurde -langsam ruhiger, blickte wartend in die Veranda. Schritte wurden hörbar, -Sigurds lange Gestalt erschien, er kam herunter, rote Flecken im -Gesicht, die Augen geschwollen. Er blieb dicht vor ihr stehn und ließ -den Kopf hängen. - -»Ja, hier ist es immer schön«, sagte er nach einer Weile, umhersehend. - -»Sigurd,« bat sie leise, »ich --, ist es denn -- ist es -- ist es denn -gewiß?« - -Er zuckte die Achseln. - -»Für mich ist sie tot«, sagte er nach einer Weile abweisend. - -Renate wußte nichts zu sagen, legte ihm nach einer Weile eine Hand auf -die Schulter, in der sie ihr kleines Taschentuch zusammengedrückt hatte. -Sigurd, den Kopf senkend, blickte darauf und sagte: »Ganz naß ...« - -Seine Lippen zuckten, er begann: »Esther --« Dann: »Was war sie nur? Ja, -was hat sie euch viel bedeutet! Ein kleines Gartenland, -- ausgerauft.« -Er stockte. »Esther, mein Gott!« sagte er, faltete die Hände, blickte -irr und schrie auf einmal: »Ich dachte, sie wäre hier! Ich dachte, sie -wäre hier, und nun ist sie ja nicht da!« - -Über den Stufen der Veranda erschien Magda in ihrem mattblauen Kleid und -blieb da stehn, an einer Weinranke zupfend. Sigurd wand sich -verzweifelter. - -»Helfen Sie mir doch,« sagte er, »wie soll ich denn das verstehn, daß -sie auf einmal tausend Meter tief im Wasser liegt, und die Fische -schwimmen drüber weg, und man kann sie nicht heraufholen. O ich Mensch! -o ich Mensch!« stöhnte er, die Finger in den Haaren, »daß ich sie habe -allein fahren lassen! Aus Trotz ließ ich sie weg und hetzte diesen -Prinzen, diesen Literaten, diesen Hanswurst --« - -Magda blickte langsam nach ihm hin; Renate sagte leise: »Sigurd! Wir -können uns doch beherrschen.« - -Er hielt mitten in seiner Wutgebärde inne, blickte sie erstaunt an, -schien ihr Gesicht zu erkennen und stürzte zu ihren Füßen hin, laut -schluchzend, röchelnd und sich schüttelnd. Das Gesicht auf ihren Schuhn, -umschlang er ihre Knie und riß daran, -- Renate schwankte und griff nach -dem Zeiger der Sonnenuhr hinter sich, um sich daran zu halten. »O, ich -liebe dich doch,« jammerte er laut, »ich liebe dich, und nun ist alles -aus!« - -O das war schrecklich. Da er wieder ruhiger wurde, gelang es Renate, -seinen Kopf zu fassen, zu heben und an ihre Knie zu drücken. Da stand er -schwerfällig auf, zog sein Taschentuch und brachte Gesicht und Haar in -Ordnung. - -»Eins zieht das andre nach sich«, sagte er trocken. »Daß man sich in Sie -verliebt, ist freilich natürlich. Ich wußte ja, wenn sie den Prinzen -näher kennen lernte, so konnte sie nicht widerstehn, niemals konnte -sie's. Dann ging alles seinen Gang. Eines Tages war die heillose -Verwirrung da, und sie wußte nicht mehr, wohin sie sollte, nach Amerika, -zum Prinzen, oder zu mir. Da dachte ich, wir müßten es probieren, und -wenn wirklich ich die Hauptperson in ihrem Leben war, so würde sie sich -ja auch aus Amerika zurückfinden. Nein, Gott, nein, wie hätte ich allein -bleiben können! Mein Dasein hatte seinen Glanz und seine Freude doch -bloß von ihr, und ohne das ist man doch in einer steinernen Öde und -friert. Aber da hatte ich mich ja selbst von ihr abgewandt und zu Ihnen. -Nun, freilich, was das schon hieß, aber mein Gefühl, ja, mein Gefühl war -doch dadurch schwächer geworden gegen sie, und dafür bin ich nun -gestraft. Ihm aber, bei Gott, Renate, ihm aber werde ichs einmal -heimzahlen, daß er sie zu sich herüberbog so weit und dann wieder fahren -ließ, dieser Bastard von einem Literaten! Konfus hat er sie gemacht,« -schrie er aufgebracht, »und da zeigte der Tod ihr einen Mittelweg, und -sie folgte natürlich wie immer. Meinen Sie denn etwa,« fragte er mit -zornigen Augen, »ich wüßte nicht, wie sie gestorben ist! Meinen Sie, ich -hätte --, ja, glauben Sie etwa, Jason wäre auch ertrunken?« - -Da er einen Augenblick schwieg, um Atem zu schöpfen, murmelte Renate: -»Der gute Jason ...« Auch sie konnte sich nicht denken, daß er tot sei. - -»O Gott,« stöhnte er nun wieder vor sich hin, »ich seh ihn ja immer und -immer herumlaufen, über alle Verdecke, durchs ganze Schiff, oben, unten, -in alle dümmsten Winkel spähn, und die Angst ... Und ich bin mit ihm -herumgerast und hab geschrien: Esther! Esther! Esther! -- Aber sie«, -schloß er leise und verwirrt, »lag wohl schon lange unten und war auch --- wohl ganz froh ...« - -Nach diesen Worten drehte er sich langsam und vergrämt um und ging fort, -die Stufen empor, wo Magda einen Arm um ihn legte und mit ihm -weiterging. Sie waren verschwunden, aber nach einer Weile erschien er -wieder allein, blieb über den Stufen stehn, hob die Hand winkend und -rief: »Machen Sie sich keine Sorge um mich!« - -Renate lief auf ihn zu, wollte ihn fragen, was er denn vorhabe, da kam -er herunter zu ihr und erklärte ihr ruhig und zurückhaltend, er könne -natürlich nicht hier bleiben, wo an jeder Straßenecke und in jedem -Zimmerwinkel Esthers Schatten stünde, sondern ginge nach Berlin, wo er -noch gerade rechtzeitig zur Immatrikulation kommen würde. - -»Geld,« sagte er, »habe ich ja nun mehr als früher. Dann, wenn ich die -Examina gemacht habe, -- das muß schnell gehn, höchstens in einem Jahr -geh ich nach Rußland zurück. Da können sie mich vielleicht brauchen. -Jedenfalls bewegt sich das Leben dort in den Kreisen, die mir nahe sind, -so, daß ich hineinpacken kann; ich muß mich ja nun wohl an das -Allerreellste halten, was man so >Taten< nennt, und -- und vielleicht -kann man die Dinge doch fühlen; ich will versuchen, sie wieder -anzuwärmen; der Tod pflegt ja alles erst mal kalt zu machen. Sie werden -wohl zuweilen an den letzten Mohikaner denken.« - -Renate nickte nur und sah ihm liebevoll in die Augen; er ergriff ihre -Hand, küßte sie ungeschickt, ging ruhig und kehrte nicht zurück. - -Renate, noch hinter ihm her sehend, erinnerte sich, daß Josef der letzte -war, der ihr die Hand geküßt hatte. Dem einen war alles genommen, der -andre wollte nichts mehr haben. Sie sah über das Dach des Hauses hinauf, -wo die kleinen grauen Steinfiguren sich vor dem leichten Gewebe von -Wolkenweiß und Himmelsblau zu bewegen schienen; die Sonne brach -kräftiger hervor. Seltsam war mit dem Ende von Sigurds heftigem Ausbruch -auch der Wind stiller geworden; es wehte nur leise durch den Garten hin. -Sie zog die silberne Schnur, deren Knoten sich gelockert hatte, fester -zusammen, nahm ein zusammengerolltes Blatt von ihrem Kleid, glättete die -grüne Seide, in der schwarze Linien von oben nach dem Saum hin liefen, -und sah die Blumen auf ihrer Zeitung auf dem Postament liegen; der Wind -zauste darin wie ein Kakadu; einige lagen am Boden. Die sammelte sie -gedankenlos auf und legte sie zu den andern. Ja, nun mußte sie wohl zu -Saint-Georges --, nein, es war ja Sonntag. Sie dachte an ihre Orgel, -irgend etwas aber trieb sie, den Weg, den sie vorhin gekommen, -zurückzugehn. Vor einem Trupp halb welker Sonnenblumen stand eine sehr -hohe mit nicht sehr großem Antlitz, das sich mit einem geringen Ausdruck -von Ernst und Hoffart herabneigte. »Wie stolz du bist, Schwester -Sonnenblume,« sagte sie, »laß dich küssen.« Sie bog das gelb und -schwarze Sonnengesicht zu sich hinunter, küßte es leicht in die Mitte, -knickte den Stiel dicht unterm Kopf ab, hielt einen Augenblick die -weiche Blätterschale in den Händen, hängte sie dann vorn in den spitzen -Ausschnitt ihres Kleides. Dann ging sie weiter, langsam an einer Linde -nach der andern vorüber, die den Weg mit welken Blättern bestreuten, -blieb endlich am letzten Stamm stehn, die Hände auf dem Rücken -zusammengelegt, den Blick durch die fast entlaubten Wipfel -emporgerichtet. Ununterbrochen trieb und flatterte es von oben durch das -Licht. Sie spürte, in Gedanken verloren, wie ihr Kleid unten zuweilen -seine Falten regte, sich bauschte und wieder hinsank. - -Saint-Georges kam die Allee herunter und blieb bei ihr stehn; sie sah -ihn durch den dünnen Schleier an, den eine vom Wind gelockerte -Haarsträhne über ihre linke Wange breitete, und las in seinen ernsten -Augen, daß er alles wußte. Er sagte nichts weiter als seinen Gruß; nach -einer Weile begann sie leise: - -»Ach, Georges, hören Sie die Glocken?« - -Lauschend vernahmen sie Beide das ferne, dunkle Getöse, das in der hohen -Weite gegen den Wind ankämpfend umher wanderte und nach Gläubigen -hinunter rief. - -»Eben war mir,« fuhr sie fort, »als hätte ich schon ein Jahr hier -gestanden und die rufenden Glocken im Winde gehört. Alles war mir so -fern, -- daß Josef ging, und der Zorn des Erasmus, und Sigurds Schmerz -und Empörung. Hier bleibt es immer still.« - -Ihr fielen bei diesen Worten Sigurds ganz ähnliche ein, die er beim -Kommen gesagt hatte, allein sie vermochte nicht zu begreifen, wie das -zusammenhing. »Entblätterte Linden,« sagte sie wie zu sich selbst, -»entblätterte Linden ... Am Boden wirbeln gelbe Blätter ruhlos, -- wer -weiß, wer weiß, wohin einst wir verschwinden!« - -Getrieben vom Verlangen, ihre eigne Stimme zu hören, um die Stille und -die ferne Stimme Sigurds abzuwehren, sprach sie weiter: »Sie sind nun -bald alle fort. Wissen Sie, daß auch Magda geht? Ihr Lehrer ist an die -Berliner Oper gekommen, sie will ihn nicht aufgeben, ein Wechsel wäre ja -auch ungesund für die Stimme. Bogner ist irgendwohin; Ulrika ist mit -ihrer Mutter nach Süden; wo ist Jason? Jason ist verschwunden. Sigurd -geht, Georg ist fort, und Esther ... Ach, mir gellt immer noch das -Todesgeschrei all der Menschen in den Ohren, das ich hörte, als Sigurd: -Esther! schrie. -- Ich bin geblieben, -- wie kommt das? Was wird aus -ihnen, dort, wo ich sie nicht mehr kenne? was wird aus mir?« Sie faltete -die Hände und sah ihn ängstlich an. - -Saint-Georges' ruhige, lichte Augen umfaßten ihre Gestalt, berührten die -Sonnenblume, sie hörte ihn sagen: »Ich sah Ihre Blumen auf der Sonnenuhr -liegen, -- hatten Sie die schöne Last in die Zeit fortgelegt? Da dachte -ich, daß --« er sprach sehr langsam -- »daß Ihnen nichts geschehen wird, -solange Sie in diesem Hause sind. Hier können Sie leben und sterben -unwandelbar; verlassen Sie es nie.« - -»Josef«, entgegnete sie nachdenklich, »muß vor langer Zeit einmal etwas -gesagt haben, worin das Gegenteil von Ihren Worten stand.« - -Er lächelte nun abwehrend, berührte mit einer Hand leicht die -Sonnenblume und sagte nach einer Weile versonnen: »Wissen Sie, woher das -Wort Heiland kommt?« - -Renate meinte, es bedeute doch wohl heilend. Ja, das lege man dem Wort -wohl jetzt unter, versetzte er, »aber,« fuhr er aufblickend fort, »die -Sonnenblume heißt griechisch Helianthos, und daraus wurde Helianth, -Heliand, wie es noch im Frühmittelalter hieß, dann Heiland.« - -Renate schauderte leise unter einem unkenntlichen Gefühl und hörte ihn -weiter sprechen: - -»Carossa sagt: >Wenn uns gegeben wäre, immerfort ein Wesen zu schauen -und zu denken, so würden wir uns langsam in dasselbe verwandeln.< So -glaubten Heilige, und so verbürgt es die Form der Sonnenblume.« - -»Und wissen Sie,« fuhr er fort, »wer dasselbe geglaubt hat, und wessen -Antlitz es uns verbürgt?« - -Sie lächelte und sagte glücklich: »Ech-en-Aton.« - -Und, kaum wissend, was sie tat, griff sie nach der Blume, löste sie vom -Kleide und reichte sie ihm, ließ aber ihre Hand noch am Stiel, den er -faßte. Den Kopf hielt sie tief gesenkt, und, in blinde Wonne versinkend, -sah sie mit unbeschreiblichem Staunen eine kleine Gestalt in weißem -Gewande vor sich stehn, den König, der an ihr vorüber sah mit dem -fortschwebenden Blick, den er immer hatte, und sie reichte ihm die -Blume, demütig, die er nicht sah. -- -- - -Plötzlich schrak sie leise schaudernd auf, blickte auf die Blume und -rief: »Aber --, sie ist ja schwarz, die Blume, mit goldenem Rand, -umgekehrt wie die Sonne.« - -Nun standen sie Beide, die Blume zwischen sich haltend, und -Saint-Georges schien nicht minder betroffen als sie. - -»Ja,« sagte er endlich, »so weit ist sie gekommen, diese große, eifrige -Blume. Da sie keine Augen hat wie wir, so ist es wahrscheinlich, daß sie -die Sonne als scharfe Lichtscheibe wahrnimmt, und herum ist es schwarz; -davon ward sie das Negativ, und so auch wir: Denn der Gott ist das -gewaltige Strahlen in der Finsternis; wir aber, finster von Leiden, wir -können einmal strahlen, -- schön, Renate.« - -Langsam ließ sie ihren Blick aus seinen Augen gleiten, ließ auch die -Blume los, nickte, sich fassend, und ging an ihm vorüber den Weg hinab. - -Saint-Georges sah: Es flatterte und rieselte gelb und grünlich über ihre -große, grüne Gestalt; das Kleid wehte nach links in schwerem, gebogenem -Bausch, vom Hacken bis zur Hüfte zeigte sich in Festigkeit die Linie des -rechten Beines, das sich gegen den Stoff preßte, seltsam lebendig, -geheimnisvoll anzusehn, als wäre es der Leib der Dryade, an den Stamm, -ins Gezweige geschmiegt. Etwas vorgeneigt ging sie, langsam Fuß vor Fuß, -ihr Haar wehte, ein bräunlicher Schleier, die Arme hatten ab und an eine -leichte, anmutsvolle Bewegung. Da blieb sie stehn, wandte sich, hob mit -sanfter Gebärde das Haar aus der Stirn, so daß es wie ein Winken schien, -und Saint-Georges folgte ihr nach. - - - Siebentes Kapitel: November - - - Renate an Saint-Georges - - Flor am Rhein, 9. Nov. - -Mein Lieber! - -So bin ich doch vom Fenster fort zum Papier geflüchtet. Es ist offen -- -mein kleines Zimmer liegt im Oberstock des Lehrerhauses --, und lange -saß ich davor über dem langsam verdämmernden Garten. Der Tag, den ich -ins matte Braun und Grün der Baumwipfel versickern sah, war -wolkenverhangen und warm; und wenig anders im Herzen, empfand ich wieder -das wolkenverhangene weite Land, durch das ich bis zum Nachmittag -gereist war, den achtlos hinjagenden Himmel von grauer und weißer -Gestaltlosigkeit und die Einsamkeit alles kleinen Lebens an seinem -Grunde, ähnlich dem im dunklen Wasser abgeschlossenen, langsamen mit -sich selber Beschäftigtsein von Schnecken, Käfern, Pflanzen, das man am -Grunde von Teichen beobachten kann. Und so, wenn ich mich einsam -empfand, empfand ich mich doch nicht allein einsam, sondern innerhalb -der einen großen Verlassenheit unter dem Himmel, von der ich wußte, daß -sie heilbar sei. Mein Auge derweil hielt dem mählichen Dunkelwerden -stand, worin sich hier und dort die Gegenwart eines geheimnisvollen -Wesens verriet -- an dem Blätterwerk eines kleinen Strauches in der -Tiefe, am schon entblätterten Ast einer Kastanie, an Blumen ganz unten, -die schon nicht mehr zu erkennen waren, und die alle von Zeit zu Zeit -sich bewegten, ganz lautlos, so als habe etwas sie verlassen, und sie -verneigten sich und murmelten unhörbare Abschiedsworte. Da wars -beruhigend, sich ein stilles und unsichtbares Geistwesen zu denken, das -hier beschäftigt war, Zuspruch und Beruhigung auszuteilen vor Nacht. - -Aber dann kam das Dunkel, und die Einsamkeit überlief mich. Mir schien, -ich bin meinem lieben Freund doch eine Erklärung schuldig, warum ich ihm -mitten aus der Arbeit fort und hierher in die Heimat gelaufen bin, aber -leider -- das muß ein bißchen Geheimnis bleiben. Daß man es aus einer -rechten Verwirrung heraus getan hat, wird er ja verständig geahnt haben. -Sagen aber läßt sich, was man hier suchte -- und auch fand --, und um so -lieber, weil ich mich erinnere, daß Sie schon mehr als einmal nach -meinem Papa gefragt haben und ich damals noch nicht erzählen konnte, -will ich es heute tun und nun gleich damit anfangen ohne weitere -Vorrede. - -Einmal fragten Sie, ob es kein Bild von ihm gebe, und ich sagte: Nur in -meinem Herzen. -- Photographien mochte er nicht leiden, und an Malern -fehlte es wohl. Aber er ist nicht schwer zu beschreiben. Ein kaum mehr -als mittelgroßer, etwas gebeugter Mann, an dem Ihnen zuerst seine Nase -aufgefallen wäre, die nicht eben schön war und etwa so krumm und -mißgestalt wie die von Allmers. Sein Haar, ursprünglich von rötlichem -Blond, begann früh weiß zu werden und auszufallen, und ich sehe ihn nun -immer so weiß wie in den letzten zehn Jahren seines Lebens. Nur fünfzig -ist er alt geworden. Seine Stirn war an Reinheit und edler Wölbe das -Schönste, was ich mir vorstellen konnte als Kind. An seinen Augen wuchs -ich auf. Sein Geist war feurig, er erregte sich leicht, und dann waren -sie blaue Flammen. Wie der Sommerhimmel, wenn ich ihn in die weiße -Obstblüte glühen sah, so waren sie und ihr Blick nur schwer zu ertragen. -Durchdringend war er, fast durchbohrend, eine unbeschreibliche Mischung -von Güte und Strenge. Was aber Strenge schien, das kam allein aus der -starken Wahrhaftigkeit seines Willens und Geistes, und sein Herz machte -es milde, wie die Strenge des Marmors mild wird in der Seele des Bildes. -Sehen Sie, Georges, er liebte die Welt, und er und ich, wir liebten uns -so, daß wir uns nie verließen, und was mich betrifft, ich bin krank -geworden, wenn ich mehr als eine Stunde Weges von ihm getrennt war. Ich -konnte nicht atmen mehr, und das war wirklich. Meine Mutter habe ich -nicht gekannt und sie doch niemals vermißt. Er war mein Lehrer; in eine -Schule bin ich nie gegangen, auch mit Kindern habe ich selten gespielt, -aber ach die unendlichen Spiele mit ihm! Wie wurde da alles lebendig -unter seiner Hand, und er bevölkerte meine kleine Welt mit unzählbaren -süßen Seelen. Er hatte so viele Gewalt, er konnte Krankheiten heilen -durch Handauflegen. Gewiß -- nicht Lungenschwindsucht und dergleichen -- -Sie verstehn. Mir fällt ein: Als Magda krank war, sagte ich es zu Jason, -der trübsinnig an ihrem Bett saß, und er sagte in seiner furchtbaren -Zerstreutheit: Freilich, freilich, ich kann es ja auch! Es sei gar nicht -so schwer, meinte er, man müsse die Geister beschwören. -- Die Geister, -Jason? -- Nun, sagt er, oder die Nerven, ich habe keine Vorliebe für das -Wort. Das sei auch so eine Erfindung wie die mit dem Telephon; ein jeder -brauchts, aber keiner weiß, wie es zugeht. - -Wie aber kann ich Ihnen begreiflich machen, was er lehrte? Er flößte mir -sein Wesen ein. An jedem Tage, in jedem Augenblick gab er mir seine -strahlende Liebe zu erkennen, und daß sie ein Licht war im größern -Licht. Er lehrte nicht Gott. Bedenken Sie, daß ich sieben und acht Jahre -alt wurde, ohne das Wort Gott zu hören, und daß ich noch älter geworden -bin, ohne mehr und andres davon zu wissen, als daß es der Name aller -Völker für ein Wesen sei, das ich lange kannte, also daß es einen Gott -der Juden gab, der Griechen oder der Christen. Sehen Sie, Georges, er -wollte, daß mir das Wort ganz heilig sei, daß ich mir nicht angewöhnte, -es diesem und jenem beizulegen, oder es im Munde zu führen. Er wollte, -daß ich es selber erzeugen sollte aus meinem tiefsten Gefühl, und so ist -es gekommen. Als ich fünfzehn Jahre alt war, mußte er eine Reise machen -und ließ mich zurück, weil ich einmal zu erfahren hatte, wie es ohne ihn -sei. Es waren zwei grausige Tage. Ich lag krank am zweiten an Leib und -Seele, mir war zum Ersticken in meiner Not, am Abend konnte ich nicht -mehr liegen, konnte auch kaum gehen, und halb auf dem Weg ihm entgegen, -fiel ich um und lag an einer Hecke, als er kam. Da schrie, da weinte -ich: Gott! -- unwissend, ob ich den Vater meinte, der wiederkam, oder -das väterliche Wesen, das ihn mir wieder gab. - -Aber nein, so geht es nicht weiter, ich sehe, man muß sein Leben erst -kennen, um verstehen zu können, was er lehrte, denn auch Christus war -ihm Gottes Sohn nicht anders, als wir alle seine Kinder sind. Wo fang -ich an? - -Flor ist nur ein kleines Dorf, abseits vom Rhein, aber die Kirche, die -für das ganze Kirchspiel erbaut ist, ist ziemlich groß und sehr hübsch, -ein einfaches und leichtes Barock, graue Pfeiler und Bogen und Kanten, -dazwischen die Flächen von neuer, schön gelber Tünche. Der Turm ist -zierlich, mit einem Kranz kleiner Säulen unter dem Helm, durch die man -die Glocken sehen kann, die ein und aus fliegenden Schwalben und den -Himmel. Im selben Stil war unser Haus gebaut, das nun nicht mehr steht. -Wenige Tage nach seinem Tode schon brannte es ab mit allem, was darin -war, in einer Nacht. Damals war manches geheimnisvoll, und auch dies. -Das ist nun zwei Jahre her. Die Menschen im Dorf, in der ganzen Gegend -haben ihn sehr geliebt. Sie haben nur den Schutt fortgeräumt, einen -Rasenhügel aufgeworfen und ihn darunter begraben, denn sein Grab war -noch kaum geschlossen. Auf den Hügel haben sie eine alte steinerne -Sonnenuhr gestellt, von der er selber einmal gesagt hatte, daß er unter -ihr liegen möchte. Unter ihrem Spruch: _Demit una, dat altera_ war Platz -für seinen Namen. -- Übrigens waren die zwei ersten Lettern der Schrift -immer ausgelöscht, und Papa sagte, man könnte also das Wort sowohl als -_Demit_ ergänzen wie als _Sumit_, je nachdem, wie man den Spruch -wünsche: die eine Stunde nimmt fort, die andere giebt wieder, oder: die -eine empfängt, und die andre giebt hin. -- - -Dort stand ich nun heut, und im Anfang war es doch schmerzlich, so im -Leeren zu stehn. Von der Haustür, an deren Stelle ich mich versetzen -konnte, führt eine Allee kleiner Kuppellinden auf die Gittertür des -Friedhofes zu; zwischen ihren Stämmen sind mannshohe dichte Hecken, so -hoch, daß die Baumkuppeln nahe darüber schweben, im Sommer ein ganz -grüner Gang, ganz voll Schatten, Sonnensprenkeln und Lindenduft und -tönend vom Summen der Bienen. An jedem Abend gingen wir lange darin auf -und nieder. Das Land umher müssen Sie sich vorstellen wie einen einzigen -Obstgarten. Nur nach dem Rheine zu sind es Rebengärten, etwas kahl, und -der glatte Strom, der sich biegt, scheint öde zwischen den grünen -Uferhängen. Aber ich war dort geboren, und er war mir vertraut und sehr -lieb. - -Ach, Georges, aber das ist auch kein Anfang geworden, und meine tickende -kleine Uhr sagt, es ist schon zwölf. Nun, ich bin gar nicht müde und -will nun ganz von vorn anfangen und bei meinem Großvater. - -Papa sprach selten von ihm, aber Onkel Augustin sagte, er sei -unwidersprechlich der härteste Mensch gewesen, den man sich einbilden -könne. Stellen Sie sich Onkel Augustin vor, seine Gestalt und Gesicht, -ein bißchen kleiner, aber in den rosigen und ewig freundlich scheinenden -Zügen eine nicht zu beschreibende Verhärtung. Seine Mutter ist eine -Wuppertalerin gewesen, und er sah recht aus wie so ein alter Wuppertaler -Fabrikmensch, glatt, freundlich, geistlich und hart. Diese Härte ist -aber so innerlich gewesen, daß sie sich niemals unmittelbar äußerte. -Gegen alle Menschen, auch die er quälte und zugrunde richtete, war er -höflich und scheinbar herzlich; in Gesellschaft verstand er zu plaudern -wie ein Franzose, aber sein Witz soll Tränen in die Augen gebissen -haben. Er war so, daß er zum Beispiel sagte, er pflege zum Aufschneiden -der Bücher, die er lese, ein silbernes Obstmesser zu benützen; davon -bekämen selbst die trockensten eine Erinnerung an Früchte. - -Onkel Augustin ist ganz in seiner Gewalt gewesen -- das waren Kinder -auch damals noch mehr als heut --, aber mit meinem Papa traf er es -schlecht, der war unbändig. Er war kein gutes Kind, war über die Maßen -hitzig, kannte im Zorn keine Ehrfurcht noch andere Grenzen und hatte -- -ja, er litt unter einem unbezähmbaren Zwang, seinen Gelüsten zu folgen. -Zwischen seinem Vater und ihm kam es, als er kaum laufen und sprechen -konnte, zu solcher Feindschaft, daß es ihn, Papa, wie er mir erzählt -hat, noch als er schon lange erwachsen war, schüttelte in der Erinnerung -an manche Szene, und er hatte die qualvollsten Träume. Man muß freilich -wissen, daß Vaters Wesen damals, als er Kind war, nicht sein wirkliches -war, und die Feindschaft kam aus einer höllischen Gegensätzlichkeit -ihres Wesens. Der eine war eben warm, der andre ganz kalt. - -Kalt, ja, und hat doch seine Zeit einer Wärme gehabt. -- Papas Mutter -war ein sanftes, ganz weiches Wesen. An ihr hätte, so sagte Papa, ein -Engel nichts auszusetzen gefunden, und sein Vater hatte keine -Gelegenheit, seine Härte gegen sie anzuwenden. Zärtlichkeit kannte er -zwar nicht, aber -- sie war katholisch, und um sie heiraten zu können, -ist er es geworden. - -Als Papa sieben oder acht Jahre alt war, gab Großvater den Kampf mit ihm -auf und steckte ihn in eine von Jesuiten geleitete Erziehungsanstalt. -Sie wären, meinte Papa, seinem Vater alle ähnlich gewesen in der äußeren -Höflichkeit und Glätte des Betragens und der inneren Verhärtung, und es -waren für ihn furchtbare Jahre. Nicht ohne sein Verschulden, gewiß, er -verübte tausend Tollheiten, er bemühte sich, ihnen entsetzlich und -unerträglich zu werden, als er sah, daß Davonlaufen nichts half, da er -stets eingefangen wurde, und wie er es anstellte, ihnen schrecklich zu -werden, können Sie sich denken. Er höhnte und lästerte die Religion, er -verdarb seine Mitschüler, er kämpfte einen jahrelangen Berserkerkampf -gegen das Göttliche, die heiligen Einrichtungen und Symbole bis zu den -schmählichsten und ausgesuchten Lästerungen. Dies war in ihm wie ein -wüstes Feuer, und er war klug und erfinderisch, und als er im Unterricht -auch die heidnische Götterwelt kennen gelernt hatte, stellte er sich als -Heide, behauptete, das Blut oder die Seele irgendeines Griechen oder -Römers in sich zu spüren, und statt zur Mutter Gottes oder einem -Heiligen zu beten, sprach er mit lauter Stimme Anrufungen an Isis oder -Dionysos. Denen errichtete er insgeheim Altäre in der Absicht, daß sie -entdeckt würden, feierte mit selbsterfundenen oder gar den kirchlichen -Riten ihre Kulte, ja, und dann endete es, glaub ich, damit, daß er eine -Katze umbrachte, um sie dem Poseidon oder Ares Opfer darzubringen. Da -haben denn auch die frommen Väter den Kampf aufgegeben und ihn -heimgeschickt. Drei Tage später saß er im Kadettenkorps. - -Das war wenige Jahre vor dem Krieg 1864, den er als Junker mitgemacht -hat. Im Korps tat er zwar kaum besser als bei den Vätern Jesuiten, aber -jenes schwarze Feuer der Gottlosigkeit fand dort keinen Stoff, um zu -brennen, und alt genug war er auch geworden, um einzusehen, daß er den -Erwachsenen ausgeliefert war, und daß er nichts Klügeres tun konnte, als -sich zu beeilen, gleichfalls erwachsen zu werden; so nahm er sich mit -seinen Tollheiten, nächtlichen Gelagen und Kartenspielen und was es nun -war, einigermaßen in acht. Obschon er nicht aufhörte, alles Religiöse, -vor allem die frommen oder frömmelnden Äußerungen der Mitschüler zu -verspotten, sagte er mir, daß mit dem Abfallen jenes schaurigen Zwanges -der Gotteslästerung eine wahrhafte Erleichterung über ihn gekommen sei. - -Trotz allem diesem hat er nicht so wenig gearbeitet und gelernt, nur -eben aus Trotzigkeit nicht im Unterricht; für sich allein aber trieb er -beispielsweise Italienisch und Spanisch. Wenn aber in der Klasse -Thukydides gelesen wurde oder Cicero, so las er im Gegenteil Pindar und -den verbotenen Catull oder die Begebenheiten des Enkolp -- ach, er war -schrecklich! - -Das Schlimmste daran, jedenfalls für ihn, war, daß er sich zwar weder -kannte, noch anders konnte, daß es aber im Grunde eine unaufhörliche -Qual gewesen; daß ihm immer bewußt gewesen ist, falsch zu handeln, zu -denken, zu fühlen, so als sei er einmal vergiftet worden und müßte Gift -ausschwitzen bei jeder Erregung. Onkel Augustin hat mir erzählt, als wir -über dies alles sprachen, daß Papa als ganz kleines Kind beim ersten -Sehen seines Vaters in ein heftiges Schreien und Weinen ausgebrochen und -noch lange Zeit später seinem Anblick niemals begegnet sei ohne -Geschrei, ohne Tränen, dergestalt daß er späterhin -- Onkel -- sich des -Gedankens nicht habe erwehren können von einem schaurigen Spiel der -Natur, und daß Papas Dasein von Anfang an auf ein falsches Geleise -gesetzt worden sei, von dem frei zu kommen die gefangene törichte Seele -kein Mittel gefunden habe. -- In der Jesuitenschule hat er einen Freund -gehabt, einen sehr alten Mann, der keinen Unterricht mehr erteilte, -seine eigenen Wege ging und sich -- freilich immer in dem vom Glauben -gezogenen Rahmen -- mit naturwissenschaftlichen Forschungen -beschäftigte, auch mit Sternkunde und Astrologie. Der habe, erzählte -Papa, ihm wie jedem neuen Schüler das Horoskop gestellt, und was er -erfuhr -- er verriet es nicht --, muß ihn bewogen haben, den Knaben in -seine Nähe zu ziehen. Nun war sein Äußeres so ehrfurchtgebietend, daß -Papa ihm gegenüber sich hat beherrschen müssen. Sicherlich erfuhr der -alte Mann -- Bruder Jucundus, so hieß er -- von den Lehrern der Anstalt -alles über den Jungen, was ihm selber verborgen blieb. Er hat aber nie -etwas andres getan, als ihm beim Betreten und Verlassen seiner Zelle die -Hand auf den Kopf zu legen und in sein Auge einen Blick zu senken, dem -der Knabe vergeblich standzuhalten versuchte. Er ließ ihn teilnehmen, -auch mit den jungen geschickten Händen helfen bei seinen Untersuchungen -mit dem Mikroskop und den chemischen Experimenten, wies ihm an klaren -Abenden die großen Himmelskörper im Fernrohr, abgesondert vom Firmament, -und ohne eine Erwiderung je zu verlangen, lehrte er ihn nicht nur die -Kenntnisse, sondern das Walten der göttlichen Vernunft in alldem, und -daß Stern und Tier und Pflanze und Menschenherz nur Äußerungen seien -eines ewigen Willens. Seltsam sei es gewesen, sagte Papa, daß er die -Stunden mit dem Greis allzeit als schön, als rein, als wundervoll -empfand, und daß doch mit dem Augenblick, wo die Tür hinter ihm zufiel, -wo noch der unwiderstehliche Abschiedsblick in ihm brannte, die Luft des -Flurs, des übrigen Hauses als dumpfe Wolke sich über ihn gesenkt habe. -Im Augenblick habe er vergessen müssen, krampfhaft und doppelt gereizt -zum alten Treiben. - -Beim Verlassen der Anstalt hat Pater Jucundus ihm dann ein einziges Wort -gesagt. Er sagte: Ich weiß alles von dir, mein Sohn, habe es immer -gewußt, und Damaskus ist nun nicht mehr fern. Gehe mit Frieden! -- Dies, -und mehr noch der gütevolle, ja vertrauensvolle Ausdruck, mit dem es -gesagt wurde, hat Papa noch lange bewegt, ehe er es vergaß. - -Es vergingen aber seit seinem Abschied von dort noch vier Jahre. Dann, -wie ich schon sagte, machte er den Feldzug gegen Dänemark mit, und da -traf er sein Schicksal. - -Lieber Georges, nun ists aus, und ich kann nicht mehr. Halb drei ist, -mein Licht ganz heruntergebrannt, ich bin todmüde, so schön die Nacht -eben ist. Aus der Tiefe des Gartens steigt so ein feines Duften, das -Schlafende atmet stärker, auch reiner als am Tag, und immer wieder hör -ich ein ganz leises Knistern -- Regentropfen auf Zweigen --, und da fühl -ich so schön: die Natur schläft und trinkt zugleich wie ein ganz kleines -Kind. Die gute Natur! Sie ist geduldig und voll, und wir sind schlaflos -und rastlos und verstehen uns nicht in ihrer Fülle. - - Am 10. (vormittags) - -Gestern kam ich vor Schläfrigkeit nicht mehr dazu, Ihnen zu sagen, daß -ich den ganzen Tag noch hierbleiben muß. Der Lehrer hat nicht reinen -Mund gehalten über mein Hiersein, nun weiß es die ganze Gegend, und alle -wollen mich sehn. Aber es gießt vom Himmel in Strömen, ich kann nicht -aus dem Haus, und keiner kann zu mir. Da sitzt sichs schön in der -Verschleierung und Regenkühle dicht am offenen Fenster, mitunter spritzt -was herein, also was da Flecken sind in der Schrift, das ist aus den -Augen des Himmels gefallen und nicht aus meinen. - -Und nun gehts weiter. - -Sie wissen von dem Übergang der preußischen Truppen über den Sund und -der Erstürmung der Insel Alsen am 29. Juni. Er war dabei, in großen -Kähnen setzten sie über, und als der Morgen graute, wagten sie die -Landung. - -So hat er mirs zwanzig- und hundertmal beschrieben. Die lange -Nachtfahrt, lautlos, ohne Licht, mit umwickelten Rudern, dann das -schaurige Ergrauen der Welt im Osten, das Schwinden der Sterne im kalten -Nachtraum. Ihm war schon schauerlich um das Herz; obwohl er seine -Erregung nur für Abenteuerlust hielt, schien es ihm mehr, als führen sie -alle zu einem Fest der Sonne über das dunkel Unsichtbare, dessen Dasein -seltsam plätscherte an den tastenden Rudern, als zum Sterben und Töten. -Als einer der Ersten sprang er dann in das flache Wasser. Es ward -bereits hell; die Umrisse der Insel erschienen deutlich im Morgengrau, -und das Letzte, was mein Vater sah, war am bleichen Osthimmel der eisige -Morgenstern und seine schreckliche Verwandlung. Denn da fiel ein Schuß, -er spürte einen allmächtigen Schlag auf die Brust, nein, mitten auf das -Herz, und in einem ungeheuren Erdonnern fand er sich angedroht von dem -gewaltigen Stern wie vom Auge der Welt. - -Ihm schwanden die Sinne; er lag, als er erwachte, am Ufer; und da war er -ein anderer Mensch. - -Und wie ging es zu, Georges? Er hatte in seinem Besitz eine alte große -Münze, die er bei einem seiner ersten Besuche in der Zelle seines alten -Freundes an sich genommen und später nicht zurückzugeben gewagt hatte. -Die war ihm eigentümlicherweise in die Hand geraten am Tage, wo er -seinen Koffer für den Feldzug packte, und in einem unbegreiflichen -Gefühl, wie unter einem unwiderstehlichen Zwang hatte er, da ein Loch -darin war, eine Schnur durchgezogen und sie um den Hals gehängt auf die -nackte Brust. Er zog sie hervor, als er am Ufer der Insel in der -Morgensonne lag; ein Geschoß steckte darin, und sie war blutig, da es -noch in seine Brust eingedrungen war. - -Nicht wahr, Georges, das scheint nicht eben viel, ein glücklicher -Zufall, nichts weiter, und ich glaube wohl, man müßte es alles erlebt -haben, um es zu begreifen: die nächtliche Fahrt, die Waffen, die -morgendliche See und den Feind im Verborgenen, den bleichen gewaltigen -Himmel und den Stern und vorher das ganze gequälte Leben: um zu fühlen, -daß eine Hand ausfahren kann aus dem Unendlichen, um ihren Finger auf -eine Brust zu setzen, während das Auge des Ewigen dich bedroht. - -Ja, so war sein Damaskus. Er hat dann den Feldzug noch mitgemacht, ohne -freilich mehr an den Feind zu kommen, hat danach sein Abschiedsgesuch -geschrieben und ist mit bewilligtem Urlaub ins Riesengebirge gefahren. -Er fand dort eine Stelle, wo er in fast völliger Unabhängigkeit von -Menschen und in Einsamkeit leben konnte, und dort ist er länger als ein -Jahr geblieben, indem er gewann, was er gewinnen sollte: die Einsicht in -die vollkommene Ordnung der Welt. - -Verstehen Sie, Georges? Die Weisheit Kaiser Mark Aurels, >die von Ende -zu Ende reicht und stark und sanft alle Dinge ordnet<. Ganz gewiß, diese -wars, die er einsehen lernte, und die ward sein Glaube. Aber welcher Art -war diese Einsicht? Sie hat ihn erfüllt wie ein Odem, so war sie -überall, und jedes Ding von ihr lebend, sie, die ewige Weisheit, deren -Walten die Liebe ist. Aus Neigung und Abneigung der gewaltige Einklang, -und daß alles Beseelte beseelt ist vom Streben nach Neigung und nach dem -Einklang. - -Ich weiß nicht, ob Sie ganz verstehen, oder ob Sie vielleicht fragen, -wie mancher fragen wird: Warum, wenn eine Vollkommenheit ist, warum ist -sie so, daß ich sie nicht zu sehen bekomme, indem es mir elend geht? - -Nun, auf diese Frage hatte er allerlei Antworten, und eine sehr einfache -ist mir im Gedächtnis geblieben. Er sagte: Wenn einem Menschen, der -niemals ein Bauwerk gesehn hat, ein einzelner Stein gezeigt wird, so -wird es ihm auf keine Weise gelingen, sich eine Vorstellung zu machen -von der Vollkommenheit des Gebäudes, das sich aus einer Anzahl solcher -Steine errichten läßt. Und, die Vernunft des betrachtenden Menschen in -jenen Stein übertragen, so wird auch der Stein keine Vorstellung haben -können. Darum, wie hoch auch die Vernunft eines Teiles sein kann, so -wird er doch niemals eine Vorstellung gewinnen können von der Ordnung -des Ganzen, dem er zugeteilt ist, ja das durch ihn besteht. Daß aber der -Mensch nur ein Teil ist, kein Ganzes, wie jedes Ding, das braucht nicht -bewiesen werden. - -Nein, höre ich meinen klugen Freund sagen, denn sonst würde er nicht -zeugen, -- immerhin aber ein sehr schwerer Glaube für Menschen, und gab -es keine Erleichterung? - -Freilich wohl, und eine vor allem. Er hatte doch in einem Augenblick -seines Lebens diese Vollkommenheit wirklich gesehen. Ja, Georges, er -hatte ihren Finger gefühlt leibhaft, mitten im Herzen -- das heißt, er -hatte Allmacht gefühlt, sie, die ihm dann in seinem einsamen Jahr wieder -erschien in anderer, nicht mehr bedrohlicher Gestalt, eben als die -Vollkommenheit. Also konnte sie offenbar werden. Und so war dies sein -Erkennen und sein Glaube, daß sie beherrscht war von einer süßen -Neigung, offenbar zu werden. Liebe, das war die Kraft, die all die -Myriaden Teile dieses Ganzen zusammenhält, und so war es ihm durchzogen -von einem schimmernden Netzwerk von Offenbarungen. Lassen Sie es mich -noch einmal sagen: als er Einsicht gewann in die ewige Weisheit, da ward -sie ihm so feurig leibhaftig, so odemvoll lebendig, so schnaubend regsam -in ihm und reich an unendlichen Sinnen und Kräften, daß sie sich von -einem persönlichen Gotteswesen, wie Andere es für wahr halten, nur durch -die Eigenschaften unterschieden haben mag, die eben die Andern ihm -beilegen. Sie hatte ja fast Züge, und mir, Georges, mir sah sie schon -ganz aus wie mein Vater. Sehen Sie, Freund, Gott ist immer ein und -derselbe, und verschieden sind nur die Wege. - -Ein wundervolles Gewebe von Offenbarungen, das erfüllte ihm die Welt, -und überall konnte dessen Feuer hervorleuchten, aus einer Blume, aus -einem Stern, aus Kindesmund, aus der Bibel. Der Einfältigste konnte es -empfinden, und der Weise es auslegen. Ja, so stark sei der Wunsch -Gottes, offenbar zu werden, daß die Offenbarung nicht wahr zu sein -brauche an sich, sondern allein wahr durch den Glauben des Herzens, und -Spiritismus und Okkultismus, Bibelauslegung und Zungenreden der Sekten --- all das galt ihm so lange für ernst, wie er den Ernst zu sehen -glaubte in der Seele des Menschen. Er selbst glaubte fest an die Sterne, -und das war der Grund, weshalb ich geboren wurde. - -Das ist nun aber mal furchtbar komisch gewesen. Er glaubte an die -Sterne, ihren Zusammenhang untereinander und unseren mit ihnen, wie -schon sein alter Lehrer, Pater Jucundus, ihn unterwiesen hatte. Und so --- nachdem er gründliche Kenntnisse in der Sterndeutekunst erworben -hatte -- glaubte er auch, daß ein Mensch, zu einer bestimmten Stunde -gezeugt, zu einer bestimmten Stunde geboren, gewisse, in den Sternen -ausgedrückte und erkennbare Eigenschaften auf die Welt bringen würde. -Und nun sehen Sie, Georges: es ist alles eingetroffen, Zeugung und -Geburt zu den vorgesetzten Stunden, und gewisse Eigenschaften auch, bloß --- er hatte alles berechnet auf einen Sohn, und es kam eine Tochter, -nämlich ich. - -Papa, als er es mir erzählte, sagte, er sei im Leben nicht so verblüfft -gewesen. Er hatte die Möglichkeit, daß es kein Sohn werden könne, -überhaupt nicht im entferntesten geahnt und wollte nicht glauben, was er -sah. Nachher freilich habe er auch lachen müssen wie nie im Leben. Er -sah nun ein, daß die Vorsehung sich zwar erkennen läßt, aber in keiner -Weise beeinflussen. Im übrigen stimmte, wie gesagt, die -Sternenberechnung durchaus, und auch ich hatte gewisse Eigenschaften -bekommen, die jene Stunde der Geburt einem weiblichen Kinde verleihen -sollte, und weiter noch hat es sich in meinem Leben gezeigt, daß von -drei >Schicksalstagen<, als welche auch in der Sternauslegung eine große -Rolle spielen, der erste eingetroffen ist -- die andern verriet er mir -nicht --, sein Todestag. - -Aber davon später; wir verließen ihn ja im Riesengebirge, und ich will -weiter erzählen. - - Nun wieder nachts - -Es ist doch Besuch gekommen, und ich hab abbrechen müssen. Gegen Mittag -hat das Wetter sich dann aufgeklärt, ich konnte meine Besuche machen, -und um ja zu recht Vielen zu kommen, hab ich einen Wagen anspannen -lassen. Das war eine Fahrt! Der Himmel so blau, die Erde dampfte ganz -wild in der Sonne, und über das lächelnd Blaue flog immerfort Weißes, -als würden lauter Tücher emporgeworfen, immer dahinten, wo man nicht -sein kann. Die Obstblüte, dahier das Schönste, ist ja leider zu andrer -Jahreszeit, aber dies Grün, o dies nasse, schwere Grün der Bäume und -Wiesen, und noch Blumenfarben in den kleinen Gärten und die blitzenden -vielen Silberkugeln und die blauen, die sie lustig hineingestellt haben, -und in denen man den Himmel sehn kann und alles, mitten zwischen den -Blumen. Vor jedem Dorf auf der Landstraße kamen die Kinder mir -entgegengelaufen, alle kleinen Hände voll Sträuße, mein Wagen ist so -voll geworden, daß sie an den Seiten wieder herausfielen, und aus den -Haustüren traten die alten Leute, lachten und weinten -- sicher hab ich -zwanzigmal Kaffee getrunken, na und Kuchen so viel, daß ich kein' Atem -mehr kriegen konnt, und geredet! Das sind ja dahier rheinische Menschen, -nicht so plump wie der Bayer und so derb, auch nicht so verschlossen wie -der Bauer im Norden, sondern treu- und offenherzig und redselig, und o -fein sind wir und gebildet, und wie war ich froh, daß ich ihr Schwäbisch -noch hab verstehen können! Ach, daß sie mich Alle gern mögen, weiß ich -ja auch, aber eigentlich hat es alles doch ihm gegolten, und ich bin ja -auch sein Geschöpf, und ich hab wohl gesehen, daß ihnen Allen so lustige -kleine Spruchbänder vom Mund wegflogen, wie auf den Bildern im -Mittelalter; wo aber auf denen jedesmal der Name der Person aufgemalt -ist, da hat immer sein Name gestanden --, ach lieber Freund, ganz satt -und trunken haben sie mich gemacht mit ihrer Liebe zu ihm! - -Und ich muß nun, wenn ich weiter erzählen will, im Gegenteil von -Lieblosigkeit reden, aber es wird ein Übergang sein, und halt läßt es -sich nicht ändern. - -Er hatte, bevor er in seine Einsamkeit ging, dies Vorhaben und seine -Notwendigkeit seinem Vater nur schriftlich mitgeteilt und keine Antwort -empfangen. Ins Haus zurückkehrend, mußte er von der Dienerschaft -erfahren, daß seine Mutter gestorben war, und daß sie den Auftrag -hätten, ihn am Eintritt zu verhindern. Er kehrte um, eine Adresse -zurücklassend, um die er gebeten wurde. Der Großvater schrieb ihm, daß -er nunmehr satt sei der Unbotmäßigkeit. Er möge sehn, was er treibe, ihm -jedoch nicht früher vor Augen kommen, als bis er im Besitz eines Berufes -sei, der ihn ernähre. Die Unterstützung hierzu könne er alljährlich bei -einer Bank beheben. -- - -Papa hatte nun das Glück, einen wundervollen Aufschwung all seiner -Kräfte und Fähigkeiten zu erleben. Die Offenheit der Welt war in ihm, -und was in ihn stürzte, war Reichtum der Welt und kostbare Nahrung. In -der Einsamkeit hatte er zu der großen ersten Erkenntnis eine zweite, für -sein tätiges, sein gleichsam persönliches Leben gültige gewonnen -- die -seiner Berufung zum Priester. Zum Priester ja, und weniger zum -Verkünder, zum Apostel, sosehr er glaubte, damals, im mächtigen Feuer -seines Gottesgefühls glaubte, den Schatz einer neuen Religiosität -gefunden zu haben. Jedoch hatte er bei aller Leidenschaftlichkeit -keinerlei Anlage zum Revolutionär, ja, er verabscheute das -Revolutionäre, das Zerstörerische daran und auch die Gewaltsamkeit neuer -Formung. Da allezeit kaum der hundertste Teil von dem, was der -revolutionäre Geist erstrebt, seine Verwirklichung in der menschlichen -Gemeinschaft findet, so schien es ihm ersprießlicher und seinem Wesen -gemäß, die Verwirklichung des von ihm Erkannten zu erstreben und -versuchen im einfachen Wirken. Bilden, sagte er, im menschlichen Stoff, -ist Umbilden; ist, den guten, den brauchbaren Keim zu erkennen und, ihn -entfaltend, die alte Form zu durchwirken und umzuschaffen. - -So ging er fürs erste daran, die menschlichen Wissenschaften vom -Göttlichen sich zu eigen zu machen, indem er zunächst Theologie -studierte, später auch Philosophie, Natur- und Sozialwissenschaften. -Dazu erwarb er reiche Kenntnis in den lebenden und toten Sprachen, sogar -im Sanskrit und der Bilderschrift der Ägypter, überall aus den Quellen -selber zu schöpfen geneigt. Erst fünf von den zehn Jahren, die er daran -setzte, waren vorüber, als sein Vater die Zahlung der Unterstützung -einstellte mit der Begründung, es sei ihm zu Ohren gekommen, daß er mit -einer Weibsperson zusammen lebe. Er möge sie aufgeben oder ihn. Papa -mußte dies Ansinnen leider abweisen. Durch seine Verheiratung mit jener -Weibsperson, meiner Mutter, einige Jahre später, und seinen -gleichzeitigen Übertritt zum Protestantismus, zog er sich die väterliche -Verfluchung zu. (Seltsam, nicht wahr, daß der Großvater am Sohn nicht -anerkennen wollte -- ja, vielleicht nicht einmal erkannte --, was er -selber im gleichen Alter getan hatte!) Er ließ ihn wissen, daß er fortan -nur noch einen Sohn habe, und er hielt dies Wort so, daß er auch die -Beziehung zwischen Papas Bruder und ihm gewaltsam verhinderte und ihn -nicht rufen ließ, als er starb. Papa hat ihn nur als Leiche -wiedergesehen. -- Lassen Sie mich aber nun erst von meiner Mutter -erzählen. - -Nachdem jener Schuß auf Alsen Papa getroffen hatte, lag er noch zwei -Tage an der Küste von Schleswig in einer seltsamen Gelähmtheit, die er -erst am folgenden Morgen verspürte, fast weniger der Glieder als des -Willens, bei dänischen Bauersleuten, die ihn pflegten. Besonders nahm -sich ein Mädchen seiner an, noch halb ein Kind, das in jenem Haus -aufgewachsen war, aber ihm nicht entstammte. Sie war eine Deutsche und -dies alles, was man von ihr wußte. Eines Morgens war das Kind auf dem -trocknen Strand in einem Korbe gefunden worden, ohne Zweifel in einem -Boot hergebracht. Ein Zettel von männlicher Hand mit der Bitte, sich des -Kindes um Gottes willen anzunehmen und es zu taufen, verriet so viel, -daß es nicht von bäurischer Herkunft war, was sich denn auch erwies, als -es heranwuchs und von übergroßer Zartheit des Leibes ward. Nicht eben -schön, von sehr schmächtigem Wuchs und auch schmächtigen, länglichen -Zügen, blond und helläugig mit jenen starken Augäpfeln, wie man sie -nicht selten sieht bei so zarten und schmächtigen Geschöpfen, so kenne -ich sie nach ihrem einzigen Bild. Sie war so still wie ein Licht, und -wie das Licht nur Flamme ist, so verzehrte sich in ihr eine goldene -Seele von lauter Feuer. Seit dem Augenblick, wo sie meinen Vater -erblickte, hing ihre reine Jungfräulichkeit ihm an, und er wurde der -Leuchter, der die allzuglühende Flamme noch so lange dem zarten Körper -erhielt. Muß ich sagen, daß und wie sehr er sie liebte? Sie wich nicht -von ihm. In die Einsamkeit zog sie mit, freilich nur bis zu einem Dorf -in der Nähe seines Aufenthalts, von wo sie ihm alltäglich Speisen -brachte. Später lebten sie dann ehelich zusammen, merkwürdigerweise -lange Jahre, ohne Kinder zu bekommen. Denn auf jenen Einfall der -Sternengeburt ist Papa erst viel später gekommen, und obschon sie dann -eine Pause eintreten ließen im ehelichen Umgang, bis sich die Stunde -erfüllte, schien ihm die anfängliche Kinderlosigkeit grade ein Zeichen, -daß alles sich so vollziehn sollte, wie es dann geschah. Aber ach, sie -hat mit dieser Geburt ihre Kraft erschöpft! Fast nur noch Seele, glühte -sie in grausamer Schnelle nieder, und sie erlosch ganz, anderthalb Jahr -nach meiner Geburt, freilich in der inbrünstigen Gewißheit, nunmehr erst -zu reiner Flamme aufzublühn in der Vollkommenheit und überall zu sein -wie das Licht. - -Ich habe, soviel ich vom Vater bekam, doch manches von ihr ererbt. Sie -muß eine Norddeutsche gewesen sein, nach ihrem Charakter und allem, was -man von ihr weiß, und übertrug so auf mich, was schon von Voreltern her -Nördliches im Blut des Geschlechtes war und was mein Vater entbehrte, -dessen Ungebärdigkeit und plötzliches Wesen erst in späteren Jahren zur -Ruhe kam, zu einer mehr gleichmäßigen Glut sich verdichtete. - -Was aber nun ihn angeht und seinen Beruf, so hatte er inzwischen einsehn -gelernt, was ich schon sagte: daß Gott der Eine ist, verschieden nur die -Wege. Er wollte Neues bringen, einen neuen Weg, aber nicht mit Schrecken -und Übermaß, sondern allein durch das Wirken von innen. Er hatte auch -die Menschen kennen gelernt und sah, daß sie des Priesters bedurften, -die Einfältigen wie die Klugen, des Hülfreichen, Heilenden, so gut wie -ihr Körper des Arztes, und dies wollte er sein. Ja, wenn er einen neuen -Weg zu finden gemeint hatte, so war er ersichtlich doch neu nur in -seinen Augen und uralt in Wirklichkeit, daher es seinem Wesen -widerstrebte, als neu auszurufen, was es in Wahrheit nicht war. Längst -erkannt hatte er auch Jesus von Nazareth und sein ewig Gültiges, obschon -er ihm mehr durch sein Leben als durch sein Sterben jene >stark und -sanft alle Dinge ordnende Weisheit< zu vertreten schien. Und wenn sie -ihn nicht gekreuzigt hätten, sagte er, würde er _nicht_ gen Himmel -gefahren sein nach solchem Leben? Also kann ich mit Recht den Kreuzestod -überschlagen, aus dem sich doch, wenn man die Summe zieht, zwar die -Kraft seines Wesens und Glaubens, aber mehr noch die Unvernunft der -Menschen ergiebt, und die, sagte er und lachte, ist schon anderweitig -bekannt geworden. Er unterließ nicht, auch das Blutzeugnis Christi -anzurufen, wenn er an die Kraft der Gläubigkeit im Menschen gemahnen -wollte, aber seine Abendmahlspredigten -- nun, ich werde sie Ihnen -daheim zu lesen geben. - -Er hatte ferner erkannt, daß der einfache Mensch der Satzung bedürftig -sei und des Dogmas, aber daß es Beruf und Aufgabe eben des Priesters -sei, diese auszulegen auf den rechten Gebrauch, damit sie würden, was -sie sein sollen: Mittel des Lebens, Hülfen, Ordnungen, nicht aber was -die Menschen allzeit aus ihnen gemacht haben: Ketten, Hindernisse und -Kerker und Fallen, die sie unaufhörlich einander stellen. Er erkannte -endlich, wie schwer es sei, sie zu seiner Einsicht zu führen, die für -ihre Augen zu blendend war, und daß sie der lindernden Spiegel -bedurften, um den ewigen Strahl zu ertragen, um ihn zu lernen, bevor sie -ihn ungeschützten Auges empfingen, -- aber auch daß es überall die -Wenigen gebe, die der Wahrheit ins Antlitz zu schauen vermögen; daß es -seine Aufgabe sei, vor allem diese zu finden, zu bilden, zu einer -Gemeinschaft zu gestalten, die weiterhin sich auswirke. - -Priester des katholischen Bekenntnisses zu werden, war ihm solchermaßen -unmöglich, da er keinen Stellvertreter des Ewigen auf Erden anerkennen -konnte. Im Kern der protestantischen Lehre dagegen, dem: so halten wir -es nun, daß der Mensch gerecht werde nicht durch des Gesetzes Werk, -sondern allein durch den Glauben, fand er den Quell seiner Lehre wieder, -die mit der Einsicht in das Wesen der Vollkommenheit beginnt, die eine -Religiosität und Lehre freilich sein soll für das Leben und das Handeln, -in der aber jegliche Handlung erst möglich wird durch den Glauben. -- So -ist er Protestant geworden und verknüpfte mit dem Übertritt die -äußerliche Form der Ehe mit Mama, die zuvor nur vor Gottes unsichtbarem -Altar geschlossen war. - -Sehen Sie, lieber Freund, welch schwerer Glaube es war, den er seinem -Kinde von Anbeginn lehrte, nur mit dem einen lindernden Spiegel, dem -Augenpaar ewiger Liebe unter seiner eigenen Stirn. Denn eines war für -den Menschen in dieser Lehre nicht enthalten; eines, dessen mit allen -Religionen auch das Luthertum, das er auf der Kanzel vertrat, nicht zu -entraten wußte; die eine gewaltige Hülfe Gottes im Leben: das Gebet. Ja, -die Wenigen, die er ganz für sich gewann, des Gebets zu entwöhnen, war -die schwerste, war ja die eine, eigentliche Aufgabe. Denn sie ist, die -Vollkommenheit, ist, und sonst nichts. Erflehen läßt sie sich nicht, -sondern allein empfinden, und dies ist die Aufgabe, die sie auferlegt, -so ganz von ihr erfüllt zu sein an Seele und Gliedern, sie so aufgesogen -zu haben in das Sein, ins Fühlen und Denken und Handeln, daß sich in ihr -leben läßt, und daß Leben heißt, sie ausstrahlen. Und davon die Folge? -Daß in jeder Lebensnot, jeder Gefahr, in aller Ungeduld und Verwirrung -und Trübsal der Mensch allein angewiesen ist auf sich selbst. Nichts -ist, was sich erbitten und beschwören, was um Halt, um Erleuchtung, um -Linderung sich anrufen ließe. Man muß glauben. So viel gab er wohl zu, -daß ein Streben in der ewigen Weisheit walte, eine Neigung, -zurückzugewinnen, was aus ihr gefallen sei, entgegenkommend dem Streben -des Gefallenen selbst. Verwirrung dagegen ließe sie kaum noch gelten, -sagte er, und was überhaupt die große Mehrzahl der Daseinsnöte angehe, -alltägliche Kümmernisse und dergleichen, so möge sich keiner einbilden, -daß sie, die Weisheit, eine Ahnung davon habe, und möge sich für sich -allein damit abfinden. Wohl habe das Göttliche eine Sehnsucht danach, -ausgestrahlt zu werden vom letzten Punkt der Erde, und eine Freude -daran, sich zu ergießen in jede willfährige Stelle; sie bemühe sich aber -so wenig um das Taube wie um das Blinde, und das hingegen möge der -Mensch selber besorgen. - -Man muß glauben; und ich, ach ich habe es bald erfahren, denn hier bin -ich ja, heute wieder geheilt, aber die Verwirrung, in der ich kam -- ach -wie klein seh ich sie nun! --, war doch so stark, daß sie alles umwarf -in mir und mich hertrieb zu der ganz irdischen Stelle, wo ich einst -alles hatte, Gott und Glauben und Vater und Heimat und Seelenruhe, alles -in ihm, der zu frühe ging und als ich noch lange nicht fertig war. - -Als er starb, da glaubte ich es zu sein. Das war so: - -Er legte sich nieder in seinem fünfzigsten Jahr mit Lungenentzündung und -sagte gleich, er wisse, daß es das Ende sei. Er sagte das mit einem -furchtbaren Gram der Sorge um sein Kind, und bald, als er das Bewußtsein -verlor und delirierte, war aus den Worten, die er hervorstieß, zu -erkennen, daß er von nichts anderem gequält wurde als einer maßlosen -Angst, mich schutzlos, unfertig zu verlassen, und ins Ungemessene stieg -auch die meine. Plötzlich war dann für mich alles aus. Was geschehen -ist, weiß ich kaum. Von Papas Bruder, den ich gerufen hatte, dessen -Kommen ich aber schon nicht mehr wahrnahm, erfuhr ich später, daß ich -bewußtlos dagelegen habe und wie von Stein. Und dies sieben Tage. Er hat -mir nicht sagen wollen, was unterweil mit meinem Vater geschah; sein -Grab war, als ich aus einem tiefen und reinen Schlummer erwachte, eben -geschlossen. Vorher, vor dem Schlummer, so viel nur weiß ich, war das -Entsetzliche. Es hatte keinerlei Gestalt, doch ich weiß, daß es Kampf -gewesen ist. Ein Kampf um Leben wurde ausgefochten, ich weiß nicht von -wem, aber mein Vater hat teil daran gehabt wie ich selbst. Wer gesiegt -hat in dem Kampf, auch das ist mir unbekannt geblieben, aber mein Vater -starb. Später sagten sie mir, die Vögel der ganzen Gegend hätten nicht -gesungen noch gezwitschert in jenen sieben Tagen, -- und was es -bedeutet, werden Sie verstehen, wenn Vetter Josef sagte -- er war mit -seinem Bruder zum Begräbnis gekommen --, daß er niemals eine so -vollkommene Reinheit der Luft eingeatmet hätte wie während jener Tage im -Haus. - -Es war früher Morgen, als ich zu mir kam aus dem schönen Schlaf, -- Ende -des März wars, und in mein Fenster zu ebener Erde herein blühten die -Kirschbäume des Gartens. Am Fenster stehend, so erquickt, als sei ich in -Himmel gebadet, sah ich ihn über den Wolken der Blüte, erwacht wie ich -selbst, seiner wieder froh, vollkommen rein und leicht wie das Licht. -Daß Papa nicht mehr war, wußte ich auf einmal; aber kein Schmerz! So wie -damals in seine Brust der Stern, aber liebend traf mich von oben sein -wieder ewiges Auge. Es machte mir zum Hause die Welt; es legte mich mit -Blumen und Sternen und Häusern und für immer an seine Brust. - -Damals, ach damals war ich stark in seinem Glauben wie nicht vorher, -nicht nachher. Ja, noch so stark, daß, als ich eine Woche später das -Haus verschloß, um in die Schweiz zu fahren, so schmerzlich mich das -Scheiden von allem bewegte, was sein, was doch leiblich an ihm gewesen -war, süß und haltbar, -- daß ich als ganz leicht die Ahnung empfand, ich -würde das Haus nicht wiedersehn. Und selbst als ich, wieder eine Woche -danach, die Nachricht bekam, daß es niedergebrannt sei, weinte ich wohl, -aber ich hielt es für gut und schön, daß auch die weitere Hülle seines -irdischen Daseins nicht mehr sein sollte. - -Seitdem bin ich schwächer geworden und so schwach, daß ich nun hier -sitze. Er war gut zu mir wie je, ließ mich die Schwäche nicht entgelten, -sondern blickte mich an aus allem, aus seinem Hügel und der stillen Uhr, -aus Bäumen und Wolken, und es fiel mir bald leicht, ihm zu versprechen, -daß es das erste und das letzte Mal gewesen sein sollte. - -Sein Blick nämlich erinnerte mich an eine kleine besondere Lehre, ein -privates Haben von ihm, das er mir mitteilte, und dem freilich viel in -meiner Natur entgegenkam -- die Lehre vom Warten. Wie er sein Damaskus -gehabt hatte zur festgesetzten Frist, so glaubte er -- jawohl, ein -bißchen abergläubisch! -- an bestimmte Stunden, in denen lange Gereiftes -zur Vollendung komme, an Tage, in die das Schicksal sich sammle, und -- -wieweit er recht hat, weiß ich zwar nicht, aber in mir kam immer alles -ihm entgegen, wenn er von der Pflicht sprach, geduldig zu sein, ohne -Unrast, nicht bitter zu werden vor der Reife, nicht kränklich im Sehnen, -sich nicht zu vergeuden, nicht zuzugreifen nach allem, was _scheine_, -nicht den edlen Hunger zu speisen mit nichtigen Happen, stark und eifrig -nur in jedem Streben nach einem Guten, dem Glück, da es doch niemals -nütze, die vorbestimmte Frist durch Übereifer und trabende Füße zu -quälen, so wenig es im Eisenbahnwagen helfe zu laufen. Ja, schön, nun -weiß ich das alles wieder recht gut, und doch wäre ich gern den Gang auf -und nieder gerannt im Eisenbahnwagen, um schneller hier zu sein und die -Stillung zu empfangen für das innre Gerenn meiner letzten Wochen. - -Sie aber wissen nun auch, lieber Freund, weshalb ich Ihnen so dankbar -bin für das Geschenk des ägyptischen Königs, und weshalb ich ihn so sehr -liebe, Ech-en-Aton, unseren Freund! Daß ich sein Antlitz erkannte als -reinen Spiegel der Weisheit; daß ich an seinem Auge sehe, wie es blind -und selig ins Herz des ewigen Wesens blickt und sein Strahl es nicht -blendet; daß er nur immer dasteht seit Ewigkeit und sich müht, die -Vollkommenheit aufzufangen mit Leib und Seele. O möchte ich ihn einst -brüderlich empfinden können, wie heute noch tief unterlegen! - -Gute Nacht, Freund, morgen komm ich zurück. Den Brief werden Sie zwar -später zu sehen bekommen als mich selbst, aber deshalb stecke ich ihn -morgen doch in den Kasten, weil ich weiß, daß übermorgen Ihr Geburtstag -ist, und allein zu diesem Zweck hab ich ihn geschrieben. -- Auf -Wiedersehn! - - Renate - - - Erschöpfung - -Es waren wohl Wochen vergangen. Georg vermutete so, -- und auch, sehr -krank gewesen zu sein. Nun war da Helenenruh, und irgendwie war alles -gut. Er merkte, daß er sehr allein war, daß er nicht denken konnte, daß -ganze Tage durch ihn hingingen wie Schatten durch Wasser, daß sein Vater -da war -- und nicht mehr da. -- Daß er zittrig umherging, daß es einmal -Nachmittag war, einmal Abend, und daß viele Fenster waren, hinter denen -es regnete. - -Plötzlich war Bogner zugegen. Er legte eine Mappe vor ihn hin mit -Radierungen, und Georg konnte sehn, was es war, konnte sich freilich -nicht recht entscheiden, ob diese Dinge da wirklich vor sich gingen oder -nur gezeichnet waren. Es sei ein Zyklus >Hades<, hörte er eine Stimme -mehrmals sagen, und jetzt kam er zu sich, Bogners Gesicht dicht über -sich gewahrend, da er neben ihm stand, um die Blätter umzuwenden. Jetzt -hätte er ihn fragen können, wie er denn hierher komme, mochte das aber -nun nicht mehr, sondern beugte sich tiefer über die Blätter, die ihm -ungeheuerlich erschienen wie manche Dinge im Traum. Da waren die -Danaiden, ein unbeschreibliches Gewimmel von Frauenkörpern, die sich -über drei aneinandergereihte Blätter hin an den Gestaden eines Flusses -bewegten; etliche lagen an der Quelle, blumenflechtend, etliche beugten -sich mit ihren Krügen von bekränzten Flößen, Gruppen und Scharen, und -einzelne Wallerinnen schritten in schöner Bewegung von Hügeln zur vollen -Stromesbreite, alle in einer unwahrscheinlichen Helligkeit, alle nur in -Umrißlinien gehalten, und alle ohne Gesichtszüge, leere Ovale statt der -Antlitze zeigend, grauenhaft seelenlos anzusehn. Da war Tantalos, eine -kaum sichtbare Gestalt in einem schwarzen Geklüft, am Boden ausgestreckt -wie ein Frosch, wo ein Wasser verrann, und hier noch einmal, -emporfliegend wie ein Schatten zu den über ihm fortwirbelnden Zweigen -und Früchten. Sisyphos war da, der Akt eines Athleten, der mit Händen, -Kinn und Schultern zusammengekrümmt den riesigen Würfel bergan trieb; -und hier starrte er vom Hügel dem rutschenden Felsen nach, ein Riese, -hülflos, mit ungeheuerlich nach vorn hängenden Schultern und vergreistem -Antlitz; und da war der zu Tal jagende Block in Qualm und Geröll, -dahinter der Mensch, nachstürmend, mit flatternden Haaren, springend, -schreiend, aufgerissen, sinnlos. Persephoneias Antlitz blickte gerade -aus dem Blatt, bleich und ergraut; durch kerzenschlanke Stämme hinter -ihr, unter wagrecht abgeschnittener Masse schwarzer Wipfel schimmerten -elysische Gefilde und Gestalten. -- Georg gingen die Augen über; Bogner -war nicht mehr da. - -Nun kam viel Schlaf. Dann konnte er wieder grade umhergehn und erkennen, -daß es November war. Hin und wieder schlief er, in Decken gewickelt -unter freundlich wärmender Sonne auf der Terrasse. Milch gab es zu -trinken, sehr schöne, in kleinen, kostbaren Schlucken. Stundenlang -hockte sichs angenehm schläfrig an einem Fenster im Klaviersaal, während -es draußen hagelte und stürmte, oder während die Nebel heranwogten und -alles verhüllten. - -Dann trat eines Tages Jason al Manach bei ihm ein, setzte sich nach der -Begrüßung -- es war im Klaviersaal --, erhob sich wieder, ging zu -Bogners Gemälde und stand lange darunter. Georg folgte ihm mit den Augen -und wunderte sich, daß er in kleinen Pausen immerfort den Kopf hin und -her bewegte oder schüttelte. Dann sah er ihn einen Stoß Briefe vom -Harmonium nehmen, damit zum Fenster gehn und sie langsam durchsehn; -schließlich behielt er ein Telegramm in Händen und drehte es um; es war -verschlossen. Al Manach öffnete es, schüttelte, schüttelte, schüttelte -den Kopf, las für sich, schnaubte eine Art Lachen und sah Georg an. - -»Sie haben seit drei Wochen keine Post gelesen?« fragte er. - -Georg bejahte, auf einmal ganz wenig geängstigt. »Ist denn was?« fragte -er. - -Jason blickte wieder in das Telegramm und las vor: »New York, 28. -Oktober. Gerettet. Esther verloren. Jason.« - -Georg zuckte leicht zusammen, hörte das laute Rauschen des Regens auf -den Steinplatten der Terrasse, besann sich, was die Worte bedeuteten, -sah al Manach ans Fenster treten, hinausblicken, den Kopf schütteln, sah -ihn sich setzen, den Kopf senken, ängstlicher nun jeder Bewegung dieses -Menschen anhangend, und hörte ihn reden. - -»Also: Zusammenstoß mit einem Eisberg. Nachts. Ich saß im Café. Die -Rettungsboote kamen meist nicht ins Wasser, zerschellten. Die See war -glatt. Es herrschte eine sogenannte Panik. Ich benahm mich verständig. -Ich suchte Esther. Ich habe sie nicht gefunden. Ich half Leuten in die -Boote. Ich suchte, wie man so im Traume was sucht. Ich sah einen, der -vor Angst ins Wasser sprang. Da wurde ich über Bord geworfen. Ich hatte -eine Schwimmweste an. Ich wurde von einem Boot aufgefischt. Ich sah -etwas, das Sie eine Halluzination nennen werden. Nämlich, ich kenne den -Tod sehr gut. Ich habe ihn seit meiner Kindheit vor mir her gehen sehn, -zuweilen stehn bleiben und mich anschaun und mich vorüberlassen. Auch -unterhielten wir uns oft über das menschliche Leben. In bedeutender -Weise erschien er mir mehrmals, diesmal wars das achte. Wo ich geboren -wurde, stand er dabei, und meine Mutter starb. Als ich acht Jahre alt -war, fiel ich drei Stock hoch herunter und blieb lebendig. Als ich -sechzehn alt war, stand er vor meinem Bett, wo mich die Diphtheritis am -Hals hatte. Als ich vierundzwanzig alt war, stand er zu Füßen des -Bettes, in dem Angelika starb in ihrem Blut. Als ich zweiunddreißig alt -war, sah ich ihn an einem brennenden Eisenbahnzug entlang gehn, und dann -gab er die Genauigkeit auf, und ich sah ihn gleich darauf an einem -Teich, und bei einer Windmühle, und jetzt sah ich ihn mitten im Wasser -stehn, grau und verschleiert wie immer. Ich sah noch etwas. In der Nacht -hoch über mir -- denn so ein Ozeandampfer hat eine schöne Höhe -- war -eine Gesichterreihe überm Bordgeländer, und darin das Gesicht von -Esther, sehr deutlich. Das war still, und die Augen sahen starr nach -einem, der neben mir im Boot saß. Sie warens, Prinz. Da gingen ihre -Augen zur Seite, sie sah wie ich den großen Grauen im Wasser, der den -Arm hob und nickte. Dann lächelte sie. Ich bin gekommen, um Ihnen zu -sagen, daß Esther Sie angesehn hat, als das Schiff unterging. Dies war -sehr feierlich. Sie spielten einen Choral. Ich habe den Tod so großartig -noch nicht erlebt.« - -Nachdem er eine Weile aufrecht gestanden hatte, setzte er sich nun -wieder, als müsse er sich da durch zum Aufhören seines Redens nötigen. -Georg fühlte, daß ihm etwas Schmerzliches in Kehle und Augen aufstieg, -daß etwas ihm heiß über die Wange lief, und dachte: Ich glaube, ich -weine. Darüber aber rannten die Gedanken fort ins erste Kapitel von Jean -Pauls Flegeljahren, wo die Erben um den Tisch sitzen und sich in einer -halben Stunde zum Weinen zu bringen suchen, um das Haus zu gewinnen, und -einer erhebt sich feierlich und sagt, grade wie ein Andrer die Tränen in -sich steigen fühlt: Ich glaube, -- ich weine ... Georg fing leise an zu -lachen, wollte das Lachen halten, es gelang ihm nicht, endlich -schluchzte er auf und wurde still. - -Tot war die kleine Esther. Schon lange war sie fortgefahren, schon lange -war sie tot. Darum hatte sie ihm so traurig zugenickt aus dem -Eisenbahnfenster. Vom >zur rechten Zeit sterben< hatte sie etwas gesagt. -War das nun eingetroffen? -- Einmal hatte er ihr ein Veilchensträußchen -gekauft; eines war herausgefallen, das hatte sie ihm gegeben, eine -winzig kleine, embryonische, dunkle Blume, die er innen in seinen -Handschuh geschoben hatte. Beim Ausziehn dieses Handschuhs fiel es auf -die Erde, und er hob es in einer leeren Zigarettenschachtel auf, er -hatte soviel Anhänglichkeit an so was. Als er sie nach ein paar Tagen -wieder öffnete, war die Blume schwarz und trocken, aber die Schachtel -war ganz voll von Duft gewesen. So breitet die süßere Seele sich über -- -über ... Wie berauschend brauste der Regen! welch ein Getöse! Es ward -dämmrig, es ward dunkel. Jasons bleiches Gesicht war noch dort, aber -nach einiger Zeit verschwand es auch, löste sich auf. -- - -Ob der rote Baum noch am Wasser stand? -- Ein sterbendes Gesicht an -einem Kreuz, erzählte Esther, das mich ansah. -- Georg fing heftig an zu -weinen. Draußen rauschte das unendliche Wasser. Ganz unten lag die eine -Tote, rotviolett gekleidet; eine Muschel lag vor ihrer Stirn, sie -schlief sich aus. -- Warum so ernst, Esther? -- Georg weinte heftiger -und unaufhaltsam, weinte wieder leiser und verlor Schmerz und sich im -Schlaf. - - - Achtes Kapitel: Dezember - - - Renate an Magda - - Altenrepen, am 23. Dezember - -Mein liebes Herz: - -Du sollst nun hören, weshalb ich Dir einen ganzen Monat fast nicht -geschrieben habe. Onkel ist am 2. zurückgekommen; er war nicht zu -erkennen. Im Treppenhaus sah ich einen alten Mann; er war weißhaarig, -mit weißen Bartsprossen am Kinn, gebückt und schlottrig, und verzog sein -Gesicht zu einem abwesenden Höflichkeitslächeln. Dann ging er an mir -vorüber zu seinem Zimmer. Ja, da hing ich am Treppengeländer, mir wars, -als wär ich aus Kalk. Ich weiß nicht, wie lange Zeit verging, bis ich -wagte, ihm nachzugehn. Er saß in einem Sessel und schien aus dem Fenster -zu sehn, antwortete auf nichts. Wie er hergefunden hat, -- ich weiß es -nicht. Ich umschlang ihn und weinte, aber er schien es nicht so recht zu -begreifen; schien nur ungeduldig, mich los zu sein. So ist er seitdem. -Die Speisen kommen meist unberührt zurück. Milch trank er gern; soviel -er bekam, trank er immer aus, und nachdem die Köchin ihn einmal aus der -Speisekammer hat kommen sehn und hinterdrein eine Verminderung der Milch -bemerkte, lasse ich immer eine größere Menge auf seinem Zimmer sein; das -bildet nun, mit etwas weißem Brot, seine Nahrung. Im Anfang, wenn ich -ihn auf meinem Weg zur Kapelle oder zurück am Fenster stehn sah, -lächelte er noch und grüßte mich, aber auf eine so fremde und -unterwürfige Art, -- mich schaudert noch; aber später verlor er mich -scheinbar aus dem Gedächtnis. Jeden Mittag, gleichviel wie das Wetter -ist, geht er in den Garten und fängt an, den Rasenplatz zu umkreisen, -die Hände auf dem Rücken, eine Stunde und länger. Nun laure ich jedesmal -auf seinen Schritt im Treppenhaus, um ihm einen Mantel umzuhängen. Der -Bart ist ihm lang gewachsen, er sieht nun ganz würdig aus, sein Gesicht -ist sonderbar rosig geblieben, die Augen scheinen nun viel dunkler, und -der Bart fängt dicht darunter an. Natürlich habe ich ihn von Doktor Pahl -beobachten lassen; der meinte, er müsse einen Schlaganfall erlitten -haben; ich erzählte ihm alles, von Josef und auch das andre, was er vor -seiner Reise mit mir sprach, und der Doktor sagte etwas von fixer Idee, -und was hilft uns das? - -Einmal sprach ich mit Erasmus. Der sagte wenig. Um seinetwillen, sagte -er, wäre sein Vater nicht so geworden. - -Ich klage nicht, Magda. Ich weiß nicht, wieviel hiervon mein Verschulden -ist. Ich habe ihn allein reisen lassen, ich habe mich früher viel zu -wenig um ihn gesorgt, o wenn es doch mehr wäre, hundertmal mehr, daß ich -etwas _hätte_, daß ich leiden müßte, leiden! Nun ist alles so unbestimmt -und macht nur müde. - -Denkst Du auch wohl an heute vor einem Jahr? Ja, da war ich groß und -stolz und voll guter Lehren. - -Wie ich sonst lebe? Das Haus verlasse ich kaum. Saint-Georges kommt, und -wir arbeiten hier zusammen. Damit der Gelähmte seinen Bruder nicht -entbehrt, habe ich ihm ein Zimmer zurechtmachen lassen, und er wohnt -hier. Das ist er recht zufrieden, sitzt behaglich am Fenster und liest -in sieben Büchern auf einmal. Nun hab ich zwei Gelähmte im Haus. - -Irene kommt sehr oft, hat Dir auch wohl geschrieben. Ihr Mann hat so -viel Arbeit, daß sie viel allein ist: vorläufig trägt sie's mit -Munterkeit. Ulrika gab ein schönes Konzert; sie ist viel in andern -Städten. Sie behauptet, jedesmal den kopfschüttelnden Jason zu treffen, -ich weiß nicht, wie sie das macht, da ich ihn auch mindestens in jeder -Woche zu sehn bekomme, aber er hat ja wohl übernatürliche Fähigkeiten. - -Ich lese viel. Philosophie ist kein Trost, aber haltbar; ich kam durch -Zufall dazu, da ich Schopenhauer aufschlug und in der Vorrede ein so -nachdrückliches Verbot der Lektüre seines Werkes fand, es sei denn, man -hätte die sämtlichen Philosophen vor ihm gelesen, daß ich -- unter -Saint-Georges' Anleitung -- von vorn angefangen habe. - -Dies ist ein schlechter Brief. Mir stehn die Tränen im Halse, und die -Feder in der Hand will nach jedem Wort stillstehn. - -Eben öffne ich in Gedanken den letzten Brief von Ulrika. Folgendes steht -drin: »Mir fällt gerade ein, wie ich Dich neulich dasitzen sah und -lesen, in Deinem grünen Kleid neben der Schirmlampe, das Buch im Schoß, -ein Bild der Nachdenklichkeit. Jetzt weiß ich, wem ich Dich damals -bewußt verglich; ich dachte, Du seist Pallas Athene, der man das erste -gedruckte Buch in die Hände legte, und sie kann es gleich lesen, die -Allwissende, und freut sich, wie klug die Menschen mit der Zeit geworden -sind. Man kann sich kaum denken, daß Du wirklich liesest, was Du in der -Hand hältst, Du bist so schön, was kannst Du auch lernen, es ist, als -hättest Du alle Weisheit, und Dein Lesen ist nur ein Wiedererkennen von -Dingen, die Du vor tausend Jahren selber erdachtest.« Mir zur Strafe hab -ich das aufgeschrieben. Das denken, das wissen die Menschen von Einem, -so können wir erscheinen, ach, das Mißverhältnis, zwischen dem, was man -ist, und dem, wofür unser nächster Nachbar uns hält, wird mir vor Tragik -bald komisch erscheinen. -- Übrigens ist mir Ulrika eigentlich auch so -fremd wie -- -- ach, was wissen wir voneinander! - -Manchmal, weißt Du, ist es so still, daß ich meine, ich müßte es hören, -wenn nur ein Zug in meinem Gesicht sich bewegt. Es ist ja alles in -dieser furchtbaren Stille vor sich gegangen. Alles? Sigurd schrie doch -einmal auf, Erasmus tobte; aber mir scheint, dies war nicht das -Eigentliche. Stillschweigend ging Jason, still Esther, stillschweigend -der Onkel, und in diesem Schweigen vollzog sich das Eigentliche, und -dennoch, dies, was wir nicht lärmen und platzen hörten, es schickt doch -seine gefährlicheren Wellen in den Raum, und diese verschlingen und -vergiften uns schrecklicher und boshafter als die lauten Gefahren und -die erschütternde Verzweiflung. - -Nun läuft die Feder. Ich fragte Saint-Georges: Wie nennt man doch diese -Zeit der Windstille im Jahr, -- ich vergaß das Wort. Er, gleich -verstehend wie stets -- ja, wenn ich ihn nicht hätte! -- sagte: Wenn der -Eisvogel, Halkyon, brütet, herrscht Windstille, wie man sagt. -- Dann, -sagte ich, haben wir wohl die halkyonischen Jahre. Der große Eisvogel -Schicksal brütet. Er hoffe, meinte er freundlich, es werde kein -Basiliskenei sein, das man ihm untergeschoben habe. -- Ja, wer weiß -denn, ob nicht alles erst kommt ... Ich bin ja auch vollkommen -unberührt. Eigenes Schicksal blieb aus; ich warte. - -Ein Paket mit ein paar Kleinigkeiten ging schon vor drei Tagen an Dich -ab. Jede mußt Du Dir eingepackt denken in eine Hülle guter, frommer -Wünsche. Sag, sind das nicht Verse von Georg, die er Dir einmal -schickte: - - Sie hält ihr Herz nun offen in der Hand - Wie eine Lampe, liebreich im Verspenden, - Dieweil sie weiß: durchstochen und verbrannt, - Ihm kann nichts mehr geschehn von fremden Händen ... - -Ich vergaß das Übrige; damals mochte ich es nicht sehr, eben traf es -mich seltsam. Hirten und Himmlischen ein Wohlgefallen, -- schloß es -nicht so? Genug. Leb innig wohl! - - Renate - - - Heiliger Abend - -Renate stand, den Rücken in eine Fensternische der Halle gelehnt, und -blickte in die gelben Lichtflammen des kleinen Baums auf dem -reichbeladenen Tisch, den sie für Saint-Georges' Bruder aufgebaut hatte. -Saint-Georges saß auf einem Stuhl daneben, ein Buch in der Hand, in dem -er blätterte. Sie schwiegen. - -Renate dachte: Gleich werde ich anfangen zu weinen. Die Lichter -verschwammen vor ihren feuchtwerdenden Augen, unsägliche -Kindheitsstunden lösten sich aus dem Geruch von brennendem Wachs, Harz -und Nadeln. Ihre Stimme war heiser, als sie fragte: »Wie feiertest du, --- wie feierten Sie eigentlich Weihnachten?« - -Er sah nachdenklich auf und antwortete: »Gar nicht. Da wir keine Eltern -hatten, hatten wir auch kein Weihnachten.« - -»Richtig,« sagte sie, sich ermannend, »es ist ja ein Familienfest. -Wollen Sie nun Ihren Bruder holen?« - -Überdem wurden viele Schritte draußen hörbar, es klopfte, Köchin, die -Hausmädchen, Zofe, Diener, Gärtner, Chauffeur kamen verlegen herein, -knicksten und dienerten und wollten sich bedanken. Der Diener hielt eine -kleine Rede, in der er dem Hause »auch wieder frohe Tage wünschte, da -sie es alle so gut gehabt hätten«. Renate gab allen die Hand, dankte -ihnen für ihre Dienste und fragte, ob der junge Herr auch bei ihnen -gewesen sei. Ja, und er hätte sogar Punsch mit ihnen getrunken. Immerhin -schienen sie Alle froh, wieder verschwinden zu können. Eins der -Hausmädchen, verschmitzt, wünschte Renate persönlich beim Händedruck, -daß auch der junge Herr Josef bald wiederkommen möchte. -- Gleich darauf -rollte Saint-Georges seinen Bruder im Stuhl herein, schon hochrot im -Gesicht. - -Und nun bekam er Gottfried Kellers sämtliche Werke, die er sich -gewünscht hatte, und Conrad Ferdinand Meyers sämtliche, von denen er -einmal zart wie von etwas unerreichbar Kostbarem gesprochen hatte, und -den schönen Till Eulenspiegel von de Coster, und den ganzen Strindberg, -und den ganzen Jakobsen und die Gedichte von Rilke und die Geschichten -vom lieben Gott und alle Novellen von Storm, o Gott, es schien überhaupt -nicht aufzuhören. Es kam dazu, daß er ganz laut krähte. Aber dann saß er -glühend still neben seinem Tisch und dem eichenen Regal, das diese -Herrlichkeiten enthielt, und versank darin. Renate, vor unsäglicher -Gerührtheit zitternd, wäre Saint-Georges gerne um den Hals gefallen, gab -ihm eine goldene Uhr im Armriemen und stammelte verzagt, er möchte auch -an sie denken. Bei seinem Gelächter fand sie sich wieder, konnte mit -Fassung sein Geschenk, nämlich eine Photographie von sich selber -entgegennehmen, die sie sich ausbedungen hatte, und als es jetzt wieder -klopfte und Bogner mit einer großen Kiste auf der Schulter erschien, in -der Tür stehn blieb und erstaunt sagte: »Guten Abend, Frau von Bernus!« -hatte sie sich so weit wieder, daß sie triumphierend die bloßen Arme -ausstrecken konnte und rufen: »Er hats gleich gesehn, und du hast nichts -gesehn!« (Aber mein Gott, dachte sie, ich verspreche mich bald -fortwährend!) - -»Was denn?« fragte Saint-Georges. -- Bogner setzte geschickt seine Kiste -ab wie ein Dienstmann. -- Sie trat vor Saint-Georges, ließ den breiten -Umhang von Blaufuchs von den nackten Schultern gleiten, zeigte ihm die -spitze Schneppe der Taille vorn, strich die grauen Falten ihres -mächtigen Seidenrocks weit auseinander und schüttelte den Kopf, um ihm -die Frisur von Zöpfen zu zeigen, die vorn vor den Ohren in Schleifen -herunterhingen. - -Ja, aber er kennte Frau von Bernus doch gar nicht. - -Bogner erklärte, es sei ein Porträt von ihr von dem Maler Veit in der -Jahrhundertausstellung gewesen, und Renate sei ihr tatsächlich ein wenig -ähnlich, wenn auch im Entferntesten nicht so süß. - -»Und meine Hakennase!« schrie Renate. »Nein, denkt euch, nun muß ich -euch was erzählen. Die Kiste mach ich nachher auf, Bogner, ich darf -doch? Also ich wollte doch Erasmus etwas zu Weihnachten schenken. Da -ging ich in sein Zimmer, um nachzusehn, was er wohl brauchen könnte. -Aber da sahs aus! Ein Wust von Sachen, alle Stühle waren hochauf beladen -mit Stapeln von technischen Zeitschriften, aber dann hab ich eine -merkwürdige Entdeckung gemacht. Über seinem Bett an der Wand hing an -einem eisernen Krampen und Schnüren ein ganz windschiefes Bücherbrett, -drei Stockwerke, und darauf standen die sämtlichen Werke von Jean Paul, -Balzac, Dickens und Dostojewsky, diesen ausgenommen in der Ursprache. -Und auf dem Nachtkasten, offen mit dem Rücken nach oben, lag der Komet -von Jean Paul. Hättet ihr das von ihm gedacht? Nun hab ich ihm ein -festes Gestell machen lassen, und da die Bücher alle grausam -zerfleddert, auch die Ausgaben sehr gewöhnlich waren, hab ich ihm alle -neu gekauft, und schließlich die ganzen Zeitschriften in das große Regal -nach Nummern geordnet, ja, das war eine Arbeit!« - -Bogner sagte nachdenklich, den Erasmus kenne keiner, worauf er sich -verabschiedete. In der Tür begegnete ihm der Diener, durch den Erasmus -das gnädige Fräulein und die Herren Saint-Georges bitten ließ, mit ihm -zu speisen. Renate staunte. - -Das Speisezimmer war leer, als sie es betraten. Auf Renates Teller lag -ein Strauß samtschwarzer Rosen, darunter ein Lederetui, in dem sie unter -einer Karte mit einem Glückwunsch von Erasmus' Hand eine mehr als -talergroße Scheibe von dunkelbraunem, stumpfem und rauhem Bernstein -fand, die an einer dünnen Goldkette hing, eingefaßt in einen Kranz -kleiner Perlen. Darüber entstand eine kleine Wirrnis in ihr. Welche -Anstrengung der Phantasie für seinen mühseligen Geist! So also -beschäftigte er sich mit ihr? - -»Georges,« sagte sie -- denn sie mußte sich herauswinden -- »haben Sie -ihm dabei geholfen?« Er gestand es. - -Da sie nun den Schmuck um den Hals hängen wollte, erwies sich die Kette -nicht lang genug, daß die Scheibe auf ihrer Brust aufliegen konnte. -Saint-Georges nahm sie aus ihrer Hand und legte sie um ihr Haar, so daß -die Bernsteinplatte vor ihrer Stirne hing. Sie trat vor den Spiegel. Ja, -sie war ein Wunder an Schönheit. Überdem liefen ihr die Tränen aus den -Augen, sie stürzte aus dem Zimmer, an Erasmus vorüber, ohne ihm mehr als -einen furchtsamen und hastig versüßten Blick zuzuwerfen, die Treppe -hinunter und hielt vor der Tür ihres Onkels inne. Sie öffnete lautlos, -glitt hinein. Im Dunkel waren Kopf und Oberkörper des alten Mannes, hell -genug beleuchtet vom einfallenden Schein der entfernten Straßenlaterne -draußen; so saß er am Fenster; an der Decke über ihm hing der -Schlagschatten des Fensterkreuzes, verzerrt. Als sie die Hand leise auf -seine im Schoß gefalteten Hände legte, blickte er auf und lächelte -gütig, ließ es sich auch gefallen, daß sie seinen Kopf an ihre Brust -legte, aber nach einer Weile merkte sie das Widerstreben seiner -Kopfhaltung, ließ die Hände fallen, trat von ihm fort, zerrte an ihrem -Taschentuch, raffte den Pelzumhang zusammen, faßte und hob ihr Kleid -überm Knie und glitt leise hinaus. - -Wie lange Zeit vergangen war, wußte sie nicht, da sie sich am Fenster -der dunklen Halle fand, hinter sich die Stimme des Dieners vorwurfsvoll -vernehmend, es sei doch aber schon lange angerichtet. Auch was sie -gedacht und empfunden in diesen Minuten, suchte sie vergebens in sich, -als sie, wieder im Speisezimmer, verdunkelten Auges auf Erasmus zuging, -der vor seinem Teller stand, ihm die Hände auf die Schultern legte und -ihn zwang, mit den Augen den ihren standzuhalten. - -»Ich danke dir auch«, sagte sie heftig atmend. Ihre Brust wogte. Da -merkte sie, daß sie nicht seinetwegen zu ihm gegangen war, sondern um -jemand zu haben, an dessen Schulter sie einmal diesen nie gebeugten Hals -ausruhen könne, und nun erschrak sie: Was tu ich denn! was mach ich aus -ihm? ich werde ihn verrückt machen. Sie glitt hastig mit den Händen an -seinen Armen herunter, drückte ihm die Hände und sagte irgend etwas -Muntres. Später bemerkte sie die ungemeine, fast gewandte Gesprächigkeit -des Erasmus, redete ihn auf ihr Geschenk an und hörte seine beinah -launischen Vorwürfe, daß ihr Erscheinen vorhin ihn nicht zum Danken habe -kommen lassen. Als sie nun ihre Verwunderung über seine schöne -Autorensammlung äußerte, meinte er kurz -- es war deutlich, daß er -sofort alles Verdienst ablehnen wollte --, Josef habe er das zu danken. -Er, Erasmus, sei der Meinung gewesen, daß ein gebildeter Mensch eine -gewisse geistige Nahrung brauche, und habe Josef gefragt, ob es nicht in -jedem Lande ein Dichtergewächs gebe, das so quasi die besten -Möglichkeiten seines Bodens und Klimas in sich entfaltete, so daß man -also mit dreien oder vieren der Art alle gute Nahrung beisammen hätte, -und er habe sich denn auf Rußland, das ein schönes, breites Land sei, -England, Frankreich und Deutschland beschränken wollen, was Josef einen -sehr ordentlichen Gedanken genannt habe, nur schien er gemeint zu haben, -daß Deutschland noch um ein Stück breiter sei als Rußland, und da sei -die Auswahl schwer. »Da ich nun Goethe ablehnte, denn den hatten wir ja -auf der Schule, so nannte er mir Jean Paul.« - -Denn den hatten wir auf der Schule, dachte Renate, wie ist das nun -wieder kümmerlich und traurig. - -»Also will ich den nehmen, sagte ich«, fuhr Erasmus fort. »Der wird dir -aber zu schaffen machen, sagte Josef.« - -Renate, die den Namen seit einer Ewigkeit nicht gehört zu haben glaubte, -staunte noch mehr darüber, daß er sich so leicht hinsagen ließ wie -Hamburg oder Wettrennen. - -Erasmus sagte weiter, er könnte ja nur abends vor dem Schlafengehn -zwanzig oder dreißig Seiten lesen, aber er hoffte doch, vor seinem Tode -noch fertig zu werden. -- Welch eine tiefe, dröhnende Stimme er doch -hatte! -- Wer ihm denn der liebste von den Vieren sei, fragte sie, um -noch einen kleinen Schlüssel zu ihm zu erlangen. - -»Chuzzlewitt,« sagte er mit grausiger Aussprache, und Renate hörte ihn -wieder »Schang Pol« sagen; Jean Paul freilich, dachte sie, würde sich -noch im Grabe freuen, wenn er sich ausgesprochen hörte, wie er wollte. --- - -Unterweil verbesserte sich der Erasmus und nannte Dickens. Der sei so -komisch. -- Er lachte gleich: »Ha ha, ha!« Ja, manchmal nachts im Bette -könnte er sich totlachen über Sam Weller, und wenn Mister Micawber -sagte: ... kurz! -- »Dabei«, setzte er mit einem Anflug von Ehrfurcht -hinzu, »ist der Chuzzlewitt für mich viel grausiger als der ganze -Dostojewsky.« Saint-Georges könne ihm vielleicht sagen warum. - -»Weil«, sagte Saint-Georges, »die Menschen des Dostojewsky, wie auch die -Balzacs, sich noch gebärden. Weil sie Leidenschaften haben, die immer -noch den Schein einer wenn auch dämonischen Freiwilligkeit erzeugen, und -weil sie diesen Leidenschaften nachgeben, weil sie sich peitschen lassen -und selber peitschen, sich beugen und zerbrechen, rasen, stammeln, -schluchzen und klagen. Vor allem klagen. Wir sehn dann die Gebärde, aus -der die seelische Glut wie Rauch und Flammen hervorschlägt, und das -empfinden dann Sie wohl wie -- Erleichterung. Bei Dickens aber ist das -Leid, wie soll ich sagen -- krötenhaft; hockt da, funkelt bösäugig, und -es ist ja alles komisch. Drinnen aber hockt die sich quälende Kreatur, -stumm, boshaft, verhärtet. Denken Sie mal an Peckskniff. Ein furchtbarer -Schurke, der sich für einen Engel hält, aufrichtig. Es läßt sich gar -nicht ausdrücken, diese Art, nur Gemeinheiten zu begehn im Schein, in -der Form edelsinniger Taten. So kreuzen sich fortwährend die Gebärden, -die boshafte der inneren Gemeinheit und die sich in die Brust werfende -der scheinbaren Hochherzigkeit.« - -»Chuzzlewitt«, sagte Erasmus langsam, mit der Fingerspitze auf dem -leeren Salatteller kreisend, »kommt mir vor, als müsse er sich immer -heimlich die Hände an den Hosen wischen, damit nicht das Gift aus den -Fingerspitzen herunterläuft.« - -»Und Raskolnikoff und der Jüngling lecken ihre Fingerspitzen mit -Wollust«, schloß Saint-Georges. Sie schwiegen nun. - -Renate hörte die Männer sprechen, ohne etwas zu verstehn. Sie sah den -Erasmus, wie er im Bett lag, das ihr viel zu schmal und kurz für ihn -erschienen war, unter den Bücherreihn an der Wand, das Haar gesträubt um -den schweren Schädel, lesend und laut vor sich hinlachend. An seiner -Statt erschien ihr der Onkel, in seinem dunklen Zimmer, im -Laternenlicht, von Einsamkeit überwölbt dieser wie jener, und hier saßen -sie zusammen, nanntens Gemeinsamkeit. Sie begriff nicht, wie all dies in -einem Hause sein konnte. Nun wurde wieder der Tisch vor ihr sichtbar, -rund, blumengeschmückt, mit silbernen Armleuchtern und stillen -Kerzenflammen; ringsum die Gesichter, Saint-Georges gegenüber, gut, -ernst und still, das rosige Knabenantlitz seines Bruders mit dem spitzen -Kinn, den großen, flachen Augen, und links das überhängende des Erasmus, -mit gesenkten Augenlidern unter der gebuckelten Stirn, und dann sah sie -diese und sich selbst, die ganze, stille Gesellschaft fern drüben im -Spiegel, die Lichter, die Dämmerung umher. Eine tiefe Stimme sagte -etwas, sie schrak auf, da eine Hand von rückwärts an ihr vorüber nach -ihrem Teller griff, der darin fortschwebte; alsbald versank wieder -alles, und ein wenig später sah sie sich im Spiegel drüben aufstehn; sie -hob die Tafel auf. Nachdem sie den Gelähmten selbst ins Rauchzimmer -geschoben hatte, ging sie in die Halle hinunter und machte Licht. - -Die flache Kiste war mit Drahtstiften so leicht verschlossen, daß sich -der Deckel mit kleiner Mühe hochbiegen ließ. Sie holte ein Bild in einem -dunkelsilbernen Rahmen heraus, lehnte es gegen den Tisch und sah, daß -sie selber es war: auf einem Grunde von dunklem Rot, im unteren, linken -Viertel des Bildes ihr Gesicht, nach links blickend, im Profil, sehr -zart, vergehend, scheinbar in einer Dämmerung schwebend wie eine -Erscheinung; rechts oben in einer fensterartigen Öffnung war eine ferne -Landschaft, sonnig, ein Birkenweg zwischen Wiesen, bräunlich, rötlich, -und ganz wenig tiefblauer Himmel; die Farben ihrer Augen, ihres Haars, -ihres Mundes, die in dem gemalten Gesicht kaum angedeutet waren, -leuchteten deutlich dort oben. - -Ja, dies war doch ein Traum von ihr, von ferne gesehn und geträumt, und -vielleicht, wenn es früher gekommen wäre -- -- ja, was dann? Es waren -doch wohl nur Vorstellungen malerischer Art, die sie ihm erregt hatte. -Seltsam fröstelnd stand sie vor dem Bild. Wie alt bin ich eigentlich? -schoß es plötzlich durch sie hin, aber sie konnte die Zahl nicht finden, -war es achtzehn, neunzehn oder zwanzig? Ungeduldig machte sie sich von -alldem los, legte das Bild in seine Kiste, den Deckel darauf und ging -nach oben. - -Durch die offene Tür zum Rauchzimmer fiel Licht in die vordere Hälfte -des Speisezimmers; im hohen Spiegel konnte sie ein Stück des -Ledersessels sehn, in dem Saint-Georges saß, seine Unterschenkel und den -Kopf, den er in die Hand gestützt hatte; den Erasmus hörte sie reden; -Tabaksschwaden zogen in der Luft unter der elektrischen Krone. - -Auf einmal brannten vor ihren Augen alle Lichterbäume der Stadt, sie -hörte Gejubel, Klavierspiel und Kinderlieder, dann das wirkliche Getön -ferner Glocken. Und da war der letzte Christabend mit ihrem Vater, mit -bescheidenen alten Männerchen und Weiberchen, Kinderchorgesang im -Schlackerschnee und der väterlichen Stimme, die den Weihnachtstext -auslegte. Da war der erste Weihnachtsabend in diesem Haus, mit einem -Berg glitzernder Geschenke, mit dem Gelächter des Onkels, des Erasmus -Gefräßigkeit in Marzipan und Spekulatius, mit Josefs Eleganz, mit den -Gedanken an Magda und mit Bogners Brief im Kleid auf der Brust. Sie -machte eine unwillkürliche Bewegung nach dem Halse und merkte ihren -Irrtum: Bogners Brief war erst am zweiten Feiertage gekommen. Die -absonderlichen Weihnachtstage, die er beschrieben hatte ... Seltsam, daß -sein Weg doch in diesem Hause begonnen hatte ... - -Sie fing an, die Hände auf dem Rücken im Zimmer hin und her zu gehn, -lautlos auf dem Teppich, nur ihr Kleid knisterte und rauschte, wenn sie -sich drehte. Wenn, dachte sie stillstehend, einmal nach mir das -Schicksal die Hand ausstrecken wird, so werde ich erkennen, daß seine -Füße -- vielleicht in dieser Stunde stehn, vielleicht in der -glücklichsten früher. Furchtbar finster war es umher. Wo mochte Sigurd -nun sein? Käme doch Jason! Alle waren fortgegangen. Saint-Georges wußte -jede ihrer Fragen zu beantworten, aber er stand ihr nicht bei. Nicht -bei? Ja, bei was denn? Was quält mich? Wie alt bin ich? Wen erwarte ich? -Was fehlt mir? Tue ich zu wenig? Oh was sagte doch Saint-Georges einmal -von der Sonnenblume? Nein, war es das? Vor ihren Augen brannte wohl kein -Licht, in das sich zu verwandeln ihr Herz sich verzehrte. Wie lebten -denn Andre? Schiffe gingen unter, es gab Hunderte von Toten, -Bergwerkszechen explodierten, und es gab Hunderte Toter, Eisenbahnzüge -stürzten um, -- ja, verlange ich nach solchem Geschehn? Wie leben Andre? -In Armut, in Lastern, in Qual jahraus, jahrein, hülflos verstrickt in -Unrettbarkeit, unerbittlich erniedrigt. Aber -- Frauen hatten doch -Männer und Männer Frauen, auch Kinder; Bogner hatte sein Werk, sie hatte -nichts als sich, und Josefs Stimme sagte grandios, wie am Abschiedstage -vor einem halben Jahr: Was brauchst du eine Seele? Niemand sieht sie. -Und er sagte noch etwas von einer goldenen Bluse, die sie trug. -- Sie -schritt aufgeregter auf und nieder. -- Es ist so still! klagte sie -furchtsam. Lebe ich? träume ich? Weihnachten ist, -- wem schenke ich -was? Wen liebe ich? Alle und keinen. Warum ist niemand da? Oh -- -Zärtlichkeit! -- So geriet sie in die Tür zum Nebenzimmer. Erasmus stand -am Schreibtisch und sagte, er habe ihr gerade Gute Nacht sagen wollen; -es sei noch zu arbeiten, die Neujahrsabschlüsse ... - -Wiederum war sie vor ihn hingestellt. Ganz laut -- obgleich sie schwieg --- hörte sie sich sagen: Wie wäre es, Erasmus, wenn du mich heiratetest? -und sah ihn zurücktaumeln. Jetzt war etwas geschehn. Sie stand gerade -und aufrecht, dachte noch: Einen Stoß, -- so! -- einen Stoß habe ich -versetzt! -- und währenddem war nichts geschehn; sie sagte währenddem -irgendwelche freundliche Worte, die nichts galten. Sie fühlte seine -Hand, ließ ihn, tiefer ins Zimmer tretend, an sich vorüber, wandte sich -dann und sagte: »Erasmus ...« - -»Ja, -- ist noch etwas?« fragte er stehen bleibend. - -Er liebt mich ja viel zu sehr, dachte sie klar, und muß allein bleiben. - -»Hab auch Dank für den Abend«, sagte sie und ließ den Kopf sinken. Er -murmelte etwas und ging. - -Am Kamin saßen Saint-Georges und sein Bruder, sahn in die Flammen. Da -faßte sie hundert verworrener Fragen in eine zusammen, trat zu dem -Gelähmten und fragte, seinen Kopf fassend, schlicht zu seinem Bruder -hinüber: »Georges, lieber Freund, was fehlt mir?« - -»Kinder,« sagte er, ohne sich zu bedenken, »es ist Weihnachten.« - -»Ach so, deswegen ... Ja, da kannst du recht haben.« - -Schon wieder versprochen! Oh ich will ihm eine Freude machen, dachte sie -mit Heftigkeit, streckte die Hand aus und fragte bestrickend: »Möchtest -du nicht du zu mir sagen?« - -Er stand langsam auf, ergriff ihre Hand, küßte sie und sagte -schlechtweg: »Wie du befiehlst.« - -Jetzt aber fiel alles von ihr ab, sie stampfte mit dem Fuß auf und -schrie: »Georges!« Aber dann, in plötzlicher Sanftmut zerschmelzend, -legte sie die Hände zusammen, trat dicht vor ihn und flehte: »Georges, -lieber Freund, bitte, was ist mir?« - -Er erfaßte ihr linkes Handgelenk, blickte mit tiefer Freundlichkeit in -ihre Augen und sagte langsam und sicher: »Nichts ist dir, Renate, gar -nichts.« - -»Ja, ja,« nickte sie seltsam erleichtert, »es ist ein Übergang, nicht -wahr?« - -»Jawohl, ein Übergang«, bestätigte er lächelnd. -- Sie seufzte: »Dann -ist es gut. Kommt, dann wollen wir noch etwas Schönes lesen, die Leiden -eines Knaben, von Conrad Ferdinand, nicht?« - -Sie nickte dem Gelähmten zu und ging in die Halle hinunter, das Buch zu -holen. - - - Neuntes Kapitel: Januar - - - Georg an Benno - - Trassenberg, am 15. 1. - -Danke, teuerster Benno, danke Dir tausendmal für Deine Karte! -- Ich, -siehst Du, ich kann nicht schreiben. Wenn Du mein Tagewerk kenntest, -würdest Du versteinern. Seit ich hier bin, also seit bald zwei Monaten, -kenne ich nur noch ein Ding: die Zentrale. Papas Zentrale, das große -rote Verwaltungsgebäude -- Du erinnerst Dich -- unten am Waldrand, das -kaum zu sehn ist und zu dem kein Weg zu führen scheint, gegen das aber -eine elektrische Zentrale mit ihren hunderttausend Anschlüssen, -Krafteinnahmen und Kraftverteilungen in einer deutschen Großstadt gar -nichts ist. Gar nichts, Benno! Dort verbringe ich nun fast den ganzen -Tag. Onkel Salm führt mich in alles ein. Verwaltung, Verwaltung, -Verwaltung! Hast Du eine Vorstellung, Benno? Nein! So kann ich Dir auch -keine erwecken. Stelle Dir nur vor, daß unser ganzes Land mit allen -Anhängseln in Übersee, und mit allem, was darin hervorgebracht wird -jeder Art -- Landwirtschaft, Viehzucht, Heilanstalten, Wissenschaft, -Kunst, Industrie und so weiter, so weiter -- hier zusammenströmt und von -hier wieder aus. Genug! Mir schwindelt der Schädel, wenn ichs denke, die -einzige Möglichkeit, die ich habe, ist, mich blind hineinzufressen, wie -in den berühmten Berg der köstlichen Hirse. Dann ists in Augenblicken -doch, als fräße ich weder, noch grübe mich in dampfende Finsternis, -sondern ich stiege, stiege einen gewaltigen Berg hinan, darf nur weder -hinaufblicken -- um mir nicht den Mut -- noch hinunter -- um mir nicht -die ganze Größe des Ausblicks von oben zu verderben. Zahlen, Zahlen, -Zahlen. Um eine elementare Grundlage zu bekommen, lerne ich doppelte -Buchführung; dazu Lombardieren, alle Arten des Wechselgeschäfts. Hast Du -in Deinem ganzen Leben je einen Kurs gelesen, Benno? Weißt Du, was das -ist? Tröste Dich, Benno, ich weiß es auch erst seit kurzem. Im übrigen -sorge Dich nicht um mein Herz, es arbeitet wieder vortrefflich. Noch was -über Tageseinteilung: weißt Du, daß ich trotz alledem beinah zehn -Stunden am Tage schlafe? Folgendermaßen: aufgestanden wird -- um fünf -Uhr morgens. Siehe da, was ist der Erfolg? Vormittags um zehn, wenn Du -träge Deinen Tag anschlürfst, habe ich beinah schon einen Arbeitstag -hinter mir, um elf sinds, mit kleinem Imbiß dazwischen, ganz gut sechs -Stunden. Dann wird geschlafen, fünf Stunden, im Bett, fest, und wenn Du -Dich dann, wie ich, um vier Uhr zum Essen erhöbest, würdest Du jauchzen -vor Kraft, Frische und Arbeitswonne, welche drei bis Mitternacht mit -Abendbrotpause freudig vorhalten. Also -- machs nach, Benno, machs nach -und lebe jetzt wohl, es ist Mittag, ich geh schlafen. Wie gesagt: keine -Sorgen, guter Engel, und im zweiten Monat nach diesem befinde ich mich -wieder im gesegneten Altenrepen. Was macht der Flügel, die Wohnung, die -Vögeleins? Grüße alles, was lebt und mir freundlich gesinnt ist, und sei -umarmt von Deinem bis in den Tod getreuen - - Georg - - am 16. - -Der Brief blieb versehentlich liegen. - -Ein letztes Wort, Benno, über mich selbst. - -Nämlich, läge die Sache einfach; wäre er, den ich Vater nenne -- heut -wahrer als jemals! -- wäre er ein Privatmann, und handelte es sich -sonach für mich um nichts weiter als Namen, gesellschaftliche Stellung -usw.: dann wäre die Sache einfach. Ja, dann wäre sie derartig einfach, -daß ich fast denke: in solchem Fall würde ich bleiben, der ich -- -scheine, sein Sohn. Es wäre nicht der Rede wert, Änderungen zu schaffen, -die rein moralisch sein und bleiben würden, die keine praktischen Folgen -hätten. - -Die Sache liegt aber nicht einfach, sondern verdoppelt durch die -Möglichkeit, das ich in Deutschland regierender Landesherr werde; daß -ich -- die Worte klingen großartiger als die Sache -- vor einen Teil der -Menschheit mit Ansprüchen hintreten kann, die sie nach den in ihr -bestehenden Gesetzen mir nicht zubilligen würde, wenn sie mein Geheimnis -kennte. - -Dies die negative Seite der Sache; und die positive? - -Nicht eitel genug, mir vorzuspiegeln, daß dieses Land, das ich innig -liebe, Trassenberg, meiner bedürftig ist und keines Andern; und zu klug, -um nicht einzusehn, daß ich nur selbstsüchtig, nur aus -- Ehrgeiz -handle, weiter nichts: kann und darf ich mich doch der Einsicht in das -nicht verschließen, was werden würde, wenn ich -- abtrete. Trassenberg -ist, dank der Einflüsse meines Vaters, ein blühendes Land. Beuglenburg -ist ein Sumpf mit einigen Kaligruben, und aus dem Beuglenburger -Geschlecht kann nichts Gutes mehr kommen. (Der Alte ist krank und -stumpf, der Sohn ein kränklicher Knabe, eine Tochter zählt nicht, weil -nicht erbberechtigt.) Muß mir nicht Vieles schicksalsvoll vorkommen? -Warum liegen die Dinge eben so? Warum gehörte dies Land einmal den -Trassenbergern? Warum war und ist mein Vater, warum grade ich? Hier ich --- und da die todkranke Beuglenburger Sippe? - -Darum nunmehr zum Kern. - ->Von des Lebens Gütern allen ist der Ruhm das höchste doch< ... Wie, -Benno, ich sollte verzichten mit dieser Aussicht? Solche Mittel in -Händen -- zu meiner gottseidank noch unerschütterten Gesundheit, meiner -geistigen Freiheit und Beweglichkeit, meiner Lernkraft, meiner Kultur -und meiner Tatenlust die äußeren Machtmittel meines Vaters, deren Ausmaß -Dir bekannt ist: sollte ich ein hundertfaches Gutes ungetan lassen, das -ich auf mich warten sehe? Ich kann Ruhm gewinnen, wahrhaftigen Ruhm, -nicht einer vereinzelten Tat oder Eigenschaft, nicht den Ruhm des -Entdeckers, Eroberers, Erfinders, des Feldherrn, des Dichters, -Volksmanns; Ruhm, der vom Dämonium abhängt, von Begabung und vom Glück, --- sondern einen Ruhm, den ich herzustellen, den ich anzufertigen habe -mit meiner Hände lebenslanger, unverdrossener Arbeit; den nur mein -ganzes Wesen, mein ganzes Sein mir verschaffen kann, weil nur Arbeit -eines ganzen Lebens, und das heißt jedes Tages, jeder Stunde seine -Grundlage sein wird. Verstehst Du den Unterschied, den ich meine? Nicht -Taten, Werke, Gedanken -- obwohl diese im einzelnen Verkörperungen sein -können, sondern: _sein_ muß ich, leben, von A bis Z meinen Platz -ausfüllen, nicht sternhaft erstrahlend, wie Dichtung und Kunstgebild -plötzlich blitzend hervortreten aus langem Gewölk, sondern still im -Schatten meiner vier Wände, da doch die Wenigsten und niemals die Masse -bemerken werden, was hinter dieser und jener offenbaren Erscheinung an -unvermerkter Anstrengung und Mühsal liegt. Zu schweigen davon, daß, wenn -mir überhaupt etwas zu leisten gelingt, das Dauer hat und Würde vor -späteren Geschlechtern, es bei den Zeitgenossen kaum Anerkennung, ja -eher Verkennung, Verachtung, wo nicht Feindschaft erregen wird. Wer ein -Dauerndes zu schaffen gewillt ist, der muß im Morgen leben, nicht im -Heut, darf also nicht verlangen, daß das Heute ihm Kränze flicht. Ich -bins gewillt. - -Wie ich denkt mein Vater, und was wäre ich freilich ohne diese Stütze? -Der wundervolle Mensch! Mit keinem Blick, mit keiner Miene hat er sich -mir als Beistand gezeigt. Ohne Blick, ohne Miene hat er mich -verständigt, daß ich seines Beistandes gewiß sein werde, wenn die -Entscheidung erst gefallen ist. Sie ist schon gefallen, in meinem Herzen -ist sie's. Ach, mein Benno, wie ist der glückselig, der im Wünschen und -Schwanken, im Zweifeln und Vertrauen sicher ist eines Unwandelbaren, und -wenn er Vater nennen kann, was mit Leib und Seele, mit Haut und Haar, -mit allen Kräften der Liebe ihm väterlich ist! - -Und dies giebt mir Kraft, dies wird mir Heil geben. Ja, ich weiß, -Freund, ich weiß: wäre er mir nur um ein Gran minder väterlich, so würde -ichs spüren, würde meine Kraft sinken, mein Recht bleichen, -- ich wäre -entblättert, ehe ein Monat um wäre. Aber ich stehe auf ihm, und so sei's -drum. - -Ich bin entschlossen. Und somit -- Gott befohlen! - - Georg - - - Hier enden des vierten Buches neun Kapitel oder ebenso viele - Monate. - - - - - Fünftes Buch. - Fragmente aus den halkyonischen Jahren II - oder - Cordelia - - - Erstes Kapitel: Februar - - - Ulrika - -Renate und Ulrika saßen des Abends an den beiden ineinander geschobenen -Flügeln unterm Orgelpodium und übten an Johannes Brahms' deutschen -Tänzen, als Renate, der Orgel gegenübersitzend, eine dunkle Gestalt -hinter Ulrika vorübergehn und die Stufen zur Empore hinansteigen sah. -Schreckhaft, wie sie diesen Winter war, nahm sie die Hände von den -Tasten, blickte, während Ulrika noch einige Takte weiterspielte, -angestrengt durch den rötlichen Nebelglanz der Lichter und sah nun, daß -es Saint-Georges war, der sich grade leise in den Drehsessel oben -niederließ. Vor drei Tagen war er verreist, um seinen plötzlich -verstorbenen Vater zu beerdigen, -- ihn, von dessen Dasein Renate -niemals etwas geahnt hatte. - -Da auch Ulrika jetzt auf und zu ihr herüber sah, sagte sie: - -»Georges ist gekommen.« Und zu ihm hin leise: »Schon zurück?« - -Er nickte. Sein Gesicht in der dunstigen, rötlichen Beleuchtung der -wächsernen Kerzen schien ihr nicht blasser oder trauriger als immer, -- -doch wars vielleicht eben dies, was sie bewog, aufzustehn, zu ihm hinauf -zu gehen und eine Hand auf seine Schulter zu legen. - -»Bleib sitzen,« sagte sie, da er eine Bewegung machte, -- »ist es gut -hier?« - -»Das wollte ich sagen, Renate. Ja, wieviel Kerzen habt ihr denn da -angezündet?« Er zählte über die dicken gelben Kerzen in graden -Silberfüßen hin, die sich in der schwarzen Politur der Klaviere -spiegelten, und sprach weiter: »Acht Stück. Eine schöne Zahl, die mir -immer angenehm war. Sie enthält so viel und ist so ordentlich und glatt, -auch der Laut: acht, -- zwei mal zwei mal zwei. Schade übrigens, daß ihr -selber das gar nicht sehn konntet, wie ich, als ich hereinkam von -weitem, euch dasitzen sah in dem rötlichen Nebel der Lichter an den -großen schwarzen Instrumenten, und dazu deinen großen schwarzen -Kleidrock, dein farbiges Gesicht, und Ulrikas rotes Haar und braunes -Kleid; dazu die graue Orgelwand über euch, und umher --« er machte eine -umschreibende Handbewegung -- »die sechs gemalten Unsterblichen an den -Wänden. Es war nicht ganz düster -- und auch nicht sehr froh, -- ja, -eigentlich wars ganz so, wie wenn man von Begräbnissen kommt und wieder -ins Leben will. Dank für den schönen Übergang, Renate,« sagte er zu ihr -empor und, ehe sie etwas sagen konnte, »bist du mir zuliebe so schwarz -heut? Ja, du bist ein guter Mensch.« - -»Möchtest du mir nicht ein wenig von deinem Vater sprechen?« bat sie. - -»Ja,« sagte er, »es gäbe wohl allerlei zu er--zählen. Aber das ist nun -immer so: wenn ich nur die Klinke an der Vorgartentür anfasse, so weiß -ich schon: hier ist alles anders. Jetzt bleibt vieles draußen, denn hier -ist die Grenze. Hier endet eine Welt, hier fängt eine andre an. Hin und -her zwischen beiden gehen nur die Körper; die Seelen aber sind andre, -ganz andre. Ich stand vorhin schon eine Weile bei der Tür und bewunderte -die Engel.« Er lächelte zu Ulrika hinunter. »Die gemalten, meine ich. -Sie sind jedesmal gewachsen, wenn ich komme; tiefer ist ihre Einsamkeit, -mächtiger ihr Schritt, -- und da sitzt ihr nun zwischen ewigen Wänden -und ertragt es so mühelos. Freilich euch Frauen sind Dinge -selbstverständlich, die wir nie begreifen. Es braucht fast nur etwas -recht groß zu sein, so seid ihr zuhause darin, als wäre es für euch -gemacht. Als wäret ihr darin aufgewachsen. Ja, ihr wachst; unsereiner -muß immer Stufen steigen und sie obendrein selber haun. Ich habe dir da -ein Paket auf den Stuhl gelegt. Es sind Briefe meines Vaters, die du -lesen sollst. Mein Vater lebte fünfundzwanzig Jahr in einer -Irrenanstalt, und nun ist er endlich tot.« - -Renate wagte nicht, sich zu bewegen. Nur ihre Hand schob sie ein wenig -höher, so daß sie seinen Nacken berührte. Sie sah die Kerzenflammen -leise sinkend sich zusammenziehn, während andre flatternd in sich -standen, sich aufrichten wieder und haardünne Strahlen aussenden. Dann -hörte sie von Georges' Stimme leise die Verse Hölderlins: - - »Es haben ihn die Götter sehr geliebt, - Doch nicht ist er der erste, den sie drauf - Hinab in sinnenlose Nacht verstoßen - Vom Gipfel ihres giftigen Vertrauns.« - -Eine Weile danach löste sie ihre Hand, stieg die Stufen hinunter und -setzte sich vor ihren Flügel. Während sie ihr Notenheft lautlos -zuklappte und zur Seite legte, hörte sie ihn reden. - -»Hölderlins Schicksal hatte er wohl, ein Dichter war er auch, aber -niemand wird von ihm sprechen. Es lohnt sich allerdings nicht. In den -achtziger Jahren erschien ein Epos >Elias<, später auch noch Gedichte, --- ihr könnt euch eine Vorstellung machen, wenn ihr an Enoch Arden -denkt; ein weiches, mattes Gedicht, in dem viel von Elias' furchtbarer -Leidenschaftlichkeit die Rede ist. Sonderbar, daß davon nichts Gestalt -wurde. Er selber, der das dichtete, war ein so leidenschaftlich atmender -Mensch. Du wirst es sehn in den Briefen. Ich kenne ihn nur als grau-, -dann weißhaarigen Mann mit gutherzigen braunen Augen und einer -wundervollen Stirn, wie ein Stück Himmel gewölbt. Und drinnen das Chaos. - -»Die Briefe sind an eine Frau gerichtet, mit der er befreundet war, -- -damals. Dann liebten sie sich. Sie war verheiratet und hatte Kinder. Ein -Jahr rissen sie Beide an der Kette, aber der sie festgelegt hatte, ließ -nicht los. Zwei Jahre danach heiratete mein Vater ein sanftes Mädchen, -und ich bin ihr Sohn. Sie liegt nun auch schon so lange in der Erde, wie -mein lahmer Bruder lebt, und das ist ihr gut.« - -Renate, betrübt, fragte nach einer Weile zaghaft: - -»Sage mir, Georges ... Giebt es denn das, daß jemand einen Menschen -gegen seinen Willen zwingen -- --« - -Er lächelte mitleidsvoll. »Ich sagte es ja, Renate: hier ist die eine -Welt, und draußen die andre, die man auch die moralische nennen könnte. -Die Menschen, Renate,« fuhr er aufatmend mit leichterer Stimme fort, -»haben Einrichtungen geschaffen, die sind für unsereinen -- nicht -schlecht, oder sinnlos, oder falsch, sondern sind: unglaublich -schlechterdings, nicht zu glauben, auf keine Weise zu begreifen, weil -dir dazu Organe fehlen, -- so wie der Fisch nicht atmen kann in der -Luft. Etwa folgendermaßen: Gesetzt, du bist ein halbes Kind von einem -Mädchen, in einer geldarmen aber zahlreichen Familie. Und ein Mann setzt -dir zu, mit Jammer und mit Tränen, mit Flehen und mit Drohungen, er -stürbe, wenn du ihn nicht heiratest. Und aus reinem Mitleid giebst du -nach und giebst dir nun auch Mühe, jahrelang, ihm gut zu sein, und -schenkst ihm Kinder --« - -Renate schauderte unbewußt. »Was ist, Georges?« fragte sie, da er -innehielt. Er lächelte sanftmütig. - -»Ja, wenn du schon jetzt schauderst, Renate, was willst du denn später -tun?« - -»Habe ich geschaudert? Ach -- bei den Kindern, -- von der Frau, die -ihren Mann nicht liebt. Nur weiter«, sagte sie kühl. - -»Gern, Renate. Immerhin wollen wir uns einen Augenblick lang darauf -besinnen, daß -- _wir_ zwar da sind zu dem, was wir wollen, also auch um -zu lieben, was und wen wir wollen. Daß aber die Welt nicht da ist, um zu -lieben, sondern um zu bestehn, also sich fortzupflanzen, wozu sie Frauen -braucht, die Kinder gebären. Das tun sie auch. Und auch das ist Liebe.« - -Er schwieg. Renate erwiderte nichts. Er fuhr fort. - -»Gesetzt also, du tatest alles dies, und eines Tages siehst du nun, es -geht nicht, er ist ein trauriges, stumpfes Wesen, mit dem sich nicht -leben läßt, er streut Bitterkeit umher, er macht dich zu Alltag, er -verstaubt dich mit Nörgelei und Gejammer, und du siehst und kennst dich -nun selbst, da du in die Jahre dazu kamst, merkst tausend schöne Kräfte -in dir, Flügel deines Geistes, Taster, zarte, innige, deiner Seele, -Lust, in dein Weltgetriebe hunderthändig hineinzugreifen, so hilft dir -doch alles nichts, und du mußt dir die Seele besudeln und dir eine Hölle -machen lassen aus deinem, zum Segen dir geschenkten Dasein, solange -- -solange er deinen Leib nicht schlägt, denn so lange gehört ihm nach dem -Gesetze dein Leib, und alles andre sind Fisematenten. Wenn du aber am -Ende einen Andern findest, einen Menschen, einen Edlen, Gütigen, Zarten, -Wissenden, und Worte der Ewigkeit klingen an dein Ohr und erinnern dich -an dein Herz und was du schuldig bist, dir und den Menschen und deinen -Kindern zumeist: nämlich einen so vollkommenen Menschen du aus dir zu -machen weißt, und dazu: Freiheit, dein Himmelslehen, die dich rüstig -macht, deine Seele zu reifen, deine Kinder blühen und schön zu machen, --- und erinnern, was du verschuldet hast, weil du nicht warten konntest, -warten Jahre und aber Jahre, bis das kam, was du träumtest, und nicht -lieber mit allen Träumen wie eine triumphierende Meereswoge in dein Grab -gestiegen bist, so hilft dir all das doch nichts, denn du bist kein -Mensch, du bist eine Sünderin bloß, auf die jeder den ersten Stein zu -werfen bereit ist, am ehesten aber ihr Mann, und bist nicht würdig, -Kinder zu haben, denn du bist gemein. Denn mit einer Ehe verhält es sich -so, daß du sie nur nicht zerbrechen darfst, brechen darfst du sie in -Hirn und Herzen wohl tausendmal bei Tag und Nacht; aber wenn du nur -deinen Leib im alten Bette läßt, so bist du edel und würdig, Kinder zu -haben.« - -Renate war so heftig aufgesprungen, das der Deckel des Klaviers, auf dem -ihre Hände lagen, zuschlug und alle Saiten nachdröhnten. - -»Es ist Wahnsinn,« sagte sie, »es ist mir unerträglich zu hören.« - -In ihrem großen, schwarzen Kleide rauschte sie in der Kapelle hin und -her, blieb stehn, faltete die Hände vor der Brust und rief zu ihm -hinauf: - -»Ich will nicht, daß es wahr ist, Georges, ich will es nicht! Es macht -mich unrein in allen Frauen, die so etwas dulden können. Sage, daß es -- -vergieb mir, Georges,« bat sie leise, »ich habe dich über mir -vergessen.« - -Sie wogte, ihr war, als müßte sie in Tränen ausbrechen. »Ulrika, was -sind wir für Wesen,« klagte sie, »es ist ja nicht zu sagen!« - -»Dies, Renate,« hörte sie Saint-Georges von oben, derweil Ulrika -gesenkten Hauptes verblieb wie vorher, »dies ist ja alles nichts. Auch -das ist nichts, daß ein Mann, weil er zu schwach ist, daran zugrunde -geht. Aber daß eine Frau, eine solche Frau, die ich beschrieb, es nicht -nur leidet, sondern sich daran gewöhnt, das ist -- sagen wir -- -erstaunlich. Erinnerst du dich«, fragte er, »Dora Vehms, der Schwägerin -Irenens?« Renate nickte. »Ich denke,« fuhr er fort, »die muß dir -gefallen haben. Ich weiß Einiges von ihr, sie soll an Lebenskräftigkeit, -an sachlicher Tüchtigkeit ein Wunder sein; ihr sah das Bild jener Frau, -das ich bei den Briefen meines Vaters fand, etwas ähnlich, und ich -glaube, sie wars auch im Wesen. Nun denke dir solch eine Frau, und -weiter denke dir folgendes. - -»Bei den Briefen meines Vaters -- die er also scheinbar von ihr -zurückerhielt, wie er ihr die ihren zurückgab, denn ich fand keine -- -lagen zwei mit einem Jahre späteren Datum; der eine von seiner, der -andre von ihrer Hand. In dem ihren stand etwa folgendes. Er möge ihr -doch nicht schreiben; er wisse, daß sie versprochen habe, jede -Gemeinschaft mit ihm abzubrechen, und sie wolle das halten. Nun wolle -sie ihm aber noch mitteilen, daß sie sich sehr über die Nachricht von -der Geburt eines Sohnes gefreut habe; ja, so sehr, daß sie gedacht habe, -nun dürfe sie auch noch einmal eine Freude haben, und die sei ihr denn -auch erfüllt, und sie habe vor einiger Zeit einen Sohn bekommen.« - -Renate sagte: »Au!« ohne es gewollt zu haben. - -»Wunderst du dich«, hörte sie Georges, »über die Logik? -- Das also -schrieb sie und setzte noch hinzu: alles was je zwischen ihnen Beiden -gewesen wäre, das sei unvergänglich, oder so ähnlich. Und zum Schluß -wiederholte sie: er möge ihr, wie gesagt, nicht schreiben. Wenn er ihr -aber doch schreiben wolle, so möge ers gleich tun, denn ihr Mann sei -eben verreist. -- Sagtest du was, Renate? Sag au, Renate, immer sag au, -aber bitte: denke dir keine alberne Gans als Schreiberin jenes Briefes, -denke dir Dora Vehm, die du kennst, ja denke eine so verständige Frau, -wie du selbst bist, und wundere dich nur, wie -- Erniedrigung die -Menschen erniedrigen kann! -- Sie bekam also einen Sohn von -- dem Mann. - -»Und der andre Brief,« redete er mit einer grausamen Leichtigkeit -weiter, »den ich fand, der von meinem Vater, der war augenscheinlich -nicht abgeschickt worden. Es stand nur darin, daß er auf ihre Nachricht -hin nichts weiter sagen könne, als daß sie durch die fortgesetzten -Keulenschläge auf ihn, und damit auf sie selbst, sich gleichsam immun -gehämmert habe. Er empfinde deshalb weiter keinen Haß gegen sie, müsse -aber doch sagen, daß, wenn er hören würde, jemand habe sie durch ein -rasches Gift oder durch einen Messerstich aus der Welt geschafft, daß es -ihm nicht leid sein würde.« - -Er schwieg. Renate saß so völlig leer von Gedanken und Gefühlen, daß sie -mit einem seltsamen Schauder die Flammen der Lichter, die Gestalt von -Georges, Ulrikas Kopf, die Wände, alles in sich hereinschweben spürte, -als ob sie Luft geworden wäre und alles umfassen könnte. Dann schmerzte -ihr Kopf; sie kam zu sich. Saint-Georges sagte: - -»Was haben wir denn, wir -- Andern? Wenn es denn schon Niedriggeborene -giebt, und wenn sie uns zwingen können, was haben wir denn für uns, als: -besser zu sein und immer besser zu werden? Wenn sie niedrig sind, so ist -doch ihre schlimmste Niedrigkeit die, daß sie uns nicht verstehn, und -daß sie uns verurteilen, wir aber, wir können sie verstehn und ihnen die -Niedrigkeit nachsehn. Dieser Mensch da, dieser Andre, ihr Mann, der -hatte nie etwas andres als sich selbst und seine Begierden. Die aber -sind es, die nichts haben als sich und ihre Begierden, die sich zum -Schutze jene Gesetze ausgedacht haben, nach denen nun alles geregelt -wird. Wenn du nach Jahren des Jammers und des Ekels, der Ohnmacht und -der Verzweiflung dich eines Tages vergißt und in deinem armen, unseligen -Mädchenhunger nach >Glück< den Rest der Süße, die dir noch verblieben -ist, mit einem andern Mann teilst, als deinem Ehegatten, so bist du nur -gemein und wert, davongejagt zu werden. Giebst du aber nach, weil du -Kinder hast und weißt, man stirbt an vernichteter Liebe vielleicht, aber -niemals an Mutterliebe, und bleibst und läßt dir Leib und Seele -vergewaltigen, so bist du edel und gut, und ob du gemein bist oder edel, -das hängt nicht von dir ab, sondern von dem, was du zu tun scheinst. Die -Kinder aber, die du geboren hast, mit deinen Schmerzen, mit deiner -Todesnot, mit deiner unbeschreiblichen Gutwilligkeit, etwas -herauszuschenken aus deiner Fülle, und wenn es dich das Leben kostet, -die du ernährt hast und erzogen, jahrelang allein, während sie deinem -Mann ein unverständliches Spielzeug waren, und späterhin, wo er nicht -viel mehr Zeit für sie hatte, als sie Sonntags zu prügeln für die -Wochensumme ihrer Unarten, -- diese Kinder legt er dir als Kette um dein -Herz und erdrosselt dich mit deiner eignen --« Er verstummte und fuhr -gleich darauf leiser fort: »Das Gesetz, so heißt es nämlich, ist für -Alle da und muß deshalb schematisch sein. Verfolgst du nun aber einen -Scheidungsprozeß, so findest du Monate und Jahre womöglich an Zeit und -Mühseligkeit aufgewandt, um jeden Schmutzfleck, jedes Staubkorn -aufzudecken, um alles und aber alles aufzuhäufen, was mit dieser -Angelegenheit nur von fern einen Zusammenhang haben könnte, aber -geurteilt wird am Ende nach dem Schema. Ist das nicht ein ekelhafter -Widersinn? Dies aber ist möglich, denn _hier_ liegt das Gesetz mit -seinen angestellten Richtern und _hier_ die Einrichtung der Anwälte. -Denn das Gesetz, heißt es, muß da sein, danach kann es verdreht und -gedeutet werden. Wem aber kommt dies zugute? Den Findigen, den Hurtigen, -den Geschickten, und allemal sind auch dies die Untiefen, die Leichten, -die Liederlichen, die zur Ehe zusammenlaufen und wieder auseinander, die -ihre Kinder verwahrlosen lassen oder zerdrücken, die gar nicht wissen, -was ein Kind ist, dies heilige Geschöpf, die finden im Gesetz ihre -Möglichkeiten, ihre Erlaubnisse, ihre Freiheiten. Aber der Edle, der -Schwere, der Wahrhaftige, der Zarte, der Scheue, der Liebende, der -Fromme, wenn der sich fürchtet, vor allen Augen den Unrat zu offenbaren, -mit dem er beschmutzt wurde, so kann er von jeder Bestie vergewaltigt -werden, deren Eigentum er zufällig ist wegen einer jahrealten -Unbedachtheit. Bei Gott hat dein Vetter Josef recht, als er sagte, daß -der Mensch vielleicht gut sei, alle zusammen aber eine Gemeinschaft von -Bestien.« - -Nachdem seine Worte stets eisiger und härter geworden waren, hörte -Renate ihn nun mit Gelassenheit sagen: »Merke dir für alle Fälle, was -ein Gesetz ist. Ein Gesetz ist keine Einrichtung, um zu nützen, zu -schützen, zu erleichtern, den Guten zu helfen und die Schlechten zu -unterbinden, das Gute zu fördern und das Böse auszutilgen, sondern ein -Gesetz ist dazu da, daß die Menschen nach ihm gemessen und beschnitten -werden, daß sie mit ihm sich gegenseitig verurteilen und mißhandeln, -Gewalt antun und verkröpfen.« - -Er war, noch während er den letzten Satz hinwarf, aufgestanden, kam vom -Podium herunter und reichte Ulrika die Hand. Neben Renate stehend, sagte -er: - -»Lies die Briefe. Sie sind schön, sie sind leidlos. Die übrigen hab ich -verbrannt. Es steht nirgend der volle Name der Frau drin, an die sie -gerichtet sind, und das ist ganz gut.« Renate sah trübe zu ihm auf, aber -er lächelte nun und schien alles für erledigt zu halten. Sie faßte seine -Hand und fragte ängstlich: - -»Sag mir noch --, ist die Krankheit deines Vaters -- --, hängt sie -zusammen mit --« - -Er schüttelte nachdenklich den Kopf und erwiderte: »Laß das Fragen. Es -weiß keiner genau. Krankheiten des Gehirns kommen wohl niemals von -außen, sie können höchstens beeinflußt und -- vielleicht -- verfrüht -werden. Also vielleicht ein Unterschied von fünf Jahren, um die ich -länger einen Vater gehabt hätte. Er ist nun tot und hat Frieden. -- -Draußen ist Februar. Da zieht ein Winter nach dem andern herauf. Er und -die Gestorbenen bleiben sich unveränderlich gleich, und dazwischen leben -wir und geben uns keine Mühe. -- Gute Nacht, Kinder, gute Nacht!« - -Es war lange Zeit still in der Kapelle. Ulrika stand auf, ergriff die -Lichtschere und beschnitt alle Dochte vorsichtig und säuberlich. Renate -ging in der Kapelle hin und her, stieg zur Orgel hinauf, setzte sich. -Sie schauderte leise, bedenkend, daß der Freund nun wieder durch die -Winternacht ging, allein, zu dem gelähmten Bruder und der Aussicht auf -die Gefängnismauer, die sie plötzlich begriff. Tief aus ihrer -Versonnenheit fragte sie endlich Ulrika, die wieder vor ihren Noten saß: -»Und was sagst du zu alledem?« - -Ulrika hob langsam den Kopf. Gegen die Dunkelheit hinter ihr zeigte -sich, von den Kerzenflammen hell beschienen, ihr Profil, streng Nase und -Brauen, wie wenn sie spielte, und in dem für Renate sichtbaren Auge -glänzte es feucht und rötlich auf vom Lichterschein. Sie sagte nichts, -sondern klappte das Heft vor sich zu, stand auf, ging um den Flügel, -legte es hin, legte, in der Einbuchtung des Flügels stehend, beide -Unterarme auf die Platte, senkte schließlich den Kopf tief darüber und -sagte: - -»Ich bin auch verheiratet.« - -Renate zuckte zusammen und regte sich nicht. Aber da richtete Ulrika -sich schon wieder auf, strich eine Haarsträhne aus der Stirn, machte sie -fest, wandte sich und sagte: - -»Du mußt nichts Falsches denken. Mein Mann ist sehr gut. Ja, er ist wohl -noch viel besser, als ich bisher gedacht habe, nach dem, was ich heute -höre. Aber die Menschen werden wohl allerlei reden, weil er niemals hier -ist.« - -Sie legte die Arme wieder auf die Platte, ließ die Augen umherwandern -und sprach leise weiter: - -»Du mußt wissen, daß ich niemals etwas andres gekannt und gewußt habe -als mein Klavier. Ich verlobte mich, weil es so kam und wir uns sehr -gern hatten, und am Ende heirateten wir auch, aber ich dachte nicht, daß -das etwas Besondres wäre. Ich wußte ja nichts. Gar nichts. Und so -- -nun, so war ich am andern Tage wieder bei meiner Mutter. Ich bin dann -wieder zurückgegangen, aber -- seine Frau bin ich nie gewesen. Ich weiß -nicht,« sprach sie schnell weiter, »all das hat mir immer ganz einfach -geschienen, nur dies eine, das er von mir verlangte, als etwas -Ungeheures, und jetzt ist es plötzlich umgekehrt, und es scheint, als -wäre es ungeheuerlich, daß er sich in alles fügte, aber das eine hätte -ganz einfach sein sollen. Oder doch nicht? Wer sagt mir das nun? Da ich -nichts wußte, so wußte ich doch auch von mir selber nichts. Ich brauchte -mich selber ja nicht, ich hatte ja mein Klavier, wozu mußte ich das eine -für mich behalten? Wem hab ich damit gedient? Mir doch nicht. Wie er -leben mag, das weiß ich freilich nicht, er ist in seinem -Auslandgeschwader, und wir reisen jedes Jahr ein paar Wochen zusammen. -Das ist freilich keine Ehe.« Sie brach ab und legte das Gesicht in die -Hände. - -»Wenn es dich beruhigen kann,« sagte Renate sanft, »ich würde so -gehandelt haben wie du.« - -»Ach,« sagte sie nun, aufschauend erhitzt und rot, »das ists ja wohl gar -nicht, was mich plötzlich beschwert. Ich habe ja auch meine Freiheit und -kann --« Sie brach wieder ab, legte jählings den Kopf in die Arme und -auf das Instrument und weinte. - -Renate glaubte, alles zu wissen. Sie stand leise auf, ging hinunter und -zog die Weinende in ihre Arme. Dort wurde sie bald ruhiger, trocknete -ihr Gesicht, lachte leise und sagte: - -»Du meinst nun, ich dachte, es könnte mir so ergehn wie der Frau, von -der er erzählte, aber findest du nicht, daß ich einen Vorsprung habe? -Oswald ist doch gut, ich weiß, er ist gut«, sie faltete die Hände, -drückte die Unterarme gegen die Brust und die rechte Wange gegen den -Handrücken und fragte ängstlicher: »Glaubst du nicht, daß er gut ist? -Nach allem, was wir hörten --, aber --« sie warf Hände und Arme -auseinander, ließ den Kopf sinken und sagte: »Da hab ich zeitlebens in -die Noten gestarrt, und wenn was passiert, werde ich selber schuld sein. -Endlich kam Bogner und machte ein Fenster auf; das war er selbst, und -vor lauter Wundern und Gegenständen draußen sah ich ihn selber nicht. Da -kommt nun dieser Saint-Georges und macht das Fenster einfach zu, und da -steh ich nun, und da seh ich ihn nun, und es ist finster, und draußen -mögen die schrecklichsten Dinge bevorstehn --« Sie verstummte und -starrte verloren an den Boden. -- - -»Komm,« sagte sie plötzlich, »ich muß heim.« - -Sie fing an, die Lichter auszublasen. Renate ging willenlos zur Kurbel -für die elektrische Lampe, die häßliche Helle bedrückte sie, und Beide -verließen eilig und schweigsam den plötzlich ungastlich gewordenen Raum. - -Renate, in ihrem Zimmer später, glaubte beide zu spüren: von Ulrika her -Schatten einer Zukunft, von Saint-Georges her die Schatten des -Vergangenen, und ihr Herz zog sich schauriger als je zusammen. Dann aber -ließ dies ab, und statt dessen brachen von innen die Schauder der -Gegenwart, da sie sich mit deutlichen Worten sagen mußte: Da stehst du -unversehrt und freust dich dennoch nicht, sondern du ängstigst dich vor -Kommendem, und gleichfalls wäre dir alles andre lieber als diese deine -schöne Leere. -- Da -- plötzlich -- erschien die immer fremde Freundin -ihr, wie sie zuvor neben dem Flügel stand im Lichterschein, seidenbraun, -rot im Haar, und bleich neben dem schwarzen Ungetüm, und die Arme -auseinanderwarf und etwas sagte, das Renate nicht mehr wußte und -verstand, in den schmerzlichen Brauen aber, in den Winkeln des Mundes -und in den Augen so viel jäh ausbrechende Inbrunst und innerstes -Leuchten, daß Renate erschrak. -- Sie ging auf und ab im Zimmer. - -Ihre Brauen --, an denen hing sie jetzt fest. Was ist denn, Ulrika, du -fremde Seele, nun habe ich Jahre schon, sooft du saßest und spieltest, -deine Brauen geliebt -- fast -- ja fast wie ein sehr schönes, adliges -Tier, einen Aar, einen Sperber -- so ernsthaft ausgebreitet schwebten -sie dunkel überm großen Strom der Musik, -- und immer doch habe ich sie -vergessen müssen, wenn der Strom endete und -- du selber da warst. Dann -blieb da ein feines, zartes, unendlich gescheites, ernstes und -liebenswertes Geschöpf, aber zwischen ihm und mir -- war Zwischenraum, -und ging er nicht von dir aus? eine Zauberluft, in der du dich -abschlossest? Und warest du erst abwesend, so vergaß ich dich fast, und -du warst nicht viel mehr als ein farbiger Schatten. - -Und das wars natürlich auch -- ja, das wars vor allem: Wann hätte sie je -von sich selber gesprochen? Oder so sie's tat, wars -- Musik; ihr -Lernen, ihr Vorwärtskommen, Konzerte ... Warum aber das? Ach, sie war -doch verheiratet, hatte einen Mann --, wovon zu sprechen natürlich -gewesen wäre, aber dies -- hatte ja kein Dasein in ihr, es sei denn ein -so verfehltes, daß es verdeckt werden mußte vor ihr selber. Und er -- -mein Gott, ja -- er, der Einzige, der ihr der Nächste sein sollte -- ihn -mußte sie immer fernhalten von allen Gedanken, vom ganzen Leben, -- und -davon blieb die Haltung dann wohl, die innerlich abweisende Gebärde, die -Einsamkeit, in der dem dunklen Göttervogel an ihrer Stirn die Flügel -hingen, bis er sie wieder ausbreiten durfte im pfeilgraden Flug über -Strömen. - -Sie blieb stehn und sah den Ech-en-Aton, der aus seiner Ecke über sie -hinweg blickte, wie seit ewig. Ja, staunte sie, du ja auch! In Ulrikas -Haltung nicht, nicht in den Zügen, -- im Wesen war dieser Blick -- über -alles hinweg, der mir manchmal -- wie Hochmut schien, trotz deines -warmen und glühenden Herzens, für alles was edel, rein und wahrhaftig -ist. Doch verurteiltest du manchmal, und wo du nicht verstandest, da -wolltest du auch nicht verstehn. Oh gleichviel, bin ich vielleicht -besser? -- Diese Frau -- Renate wandte sich ab --, wie Georges sie -erklärte, war sie unsäglich liebenswert und traurig, allein -- -- Sie -blickte wieder das kleine Königsantlitz an. >So glaubten Heilige, und so -verbürgt es die Form der Sonnenblume<, murmelte sie. Sich verwandeln, -wie? Ja -- Ulrika, -- sie war Musik und nichts andres. Wie sagte sie -selber? »... daß ich nie etwas andres gekannt habe als mein Klavier.« -Das wars wohl. Und du, Bogner -- ah, wars das, was dich zu ihr zog: -Glut, unstillbar, wie die deine, zum einen Ziel, und die Verwandlung? Du -aber bist doch nicht einsam, nicht verschlossen, obgleich ... Sie brach -seufzend den Gedanken ab. - -Nicht einsam? nicht verschlossen? nicht mir ewig fremd? - -Und doch, fing sie nach einer Weile wieder an, kaum bemerkend, daß sie -auf einem Stuhl saß, -- Ulrika war -- mehr als -- beschlossen. Sie war --- -- Angestrengt nach einer Vorstellung suchend, fand sie schließlich: -befangen. Das ungefähr, dachte sie, gefangen in sich selber, unfrei -irgendwie in der einen Aufgabe. Georges -- Renate lächelte --, was -würdest du nun sagen? -- Jedoch fiel ihr ein Wort Josefs ein: -Tennisspielende Frauen werden schief; tennisspielende Männer niemals. -Und -- hatte er hinzugefügt -- jeder Frau, die alles an eine Sache setzt -wie ein Mann, es sei denn an die natürliche, ergeht es wie den -Tennisspielerinnen. - -Ist uns denn -- mein Gott! -- murmelte Renate verzagt, wirklich nur die -eine Stelle im Dasein gegeben, um zu lieben und ganz wir selber zu sein -und schön? - -Wieder war über ihr das Königsgesicht, fortblickend ins Ewige. -- Er -lächelt ja! durchzuckte es sie leise. Sie senkte den Kopf: Und was steht -vor deiner Seele, Renate, und fordert die Verwandlung? - -Lange Zeit blieb alles leer in ihr und dunkel. Dann fiel ihr ein, daß -sie das Paket mit den Briefen in der Kapelle hatte liegen lassen. Also -ging sie fröstelnd und traurig, -- von Treppe zu Treppe, von Zimmer zu -Zimmer von dem auflohenden und verlöschenden Licht begleitet, durch das -dunkle Haus, den zerstörten Frostgarten und in die Kapelle, wo sie noch -die halbe Nacht, da Streichhölzer fehlten, unter der hochhängenden -Glühbirne saß und schaudernd in der Nachtkälte mit heißem Gesicht las, -als wäre sie es Saint-Georges schuldig, was sein toter Vater einst -schrieb. - - - Zweites Kapitel: März - - - Leda - -Georg, abgespannt von überhitzten Arbeitswochen in Mozarts Figaro -sitzend, merkte schon während des ersten Aktes, daß es ihm wie immer -erging: nach dem ersten wunderbaren Durchspültsein von der göttlichen -Musik, dasitzend mit geschlossenen Augen, um die Bühnengeschehnisse -unbekümmert, entfaltete in ihm sich Phantasie; Bilder, von den Klängen -tiefer gefärbt und bewegt, schwirrten auf, schwanden, wiederholten sich -und vergingen unter neuen Erinnerungen an dies und jenes, Gedanken an -die Zukunft, die er erleichtert sah, plötzlich ein Stück Traumes aus der -letzten Nacht, ein Mädchen, eine Frau -- deren Gestalt und Züge ihm kaum -noch erinnerlich waren, die er geliebkost hatte, wie sie ihn, bis zur -höchsten, letzten Wollust liebkost, in einem Garten ... worauf er, -erwachend, dann merken konnte, daß nur seine Seele geträumt hatte, nicht -aber sein Leib. Und wieder, wie in der Nacht, fühlte er das Peinliche -der Erleichterung, -- und Erleichterung doch. Diese Weise war immer noch -besser als -- -- er zerdrückte das Übrige, sah, die Augen öffnend, ein -wenig geblendet von der Helligkeit der Bühne, eben den Grafen, ohne daß -ers gleich merkte, den silbernen und blauen Cherubim aus der Decke -hüllen, lächelte zerstreut und ließ sich untergehn im harmonischen -Wirrwarr der Instrumente und Stimmen, bis der Vorhang fiel. - -Benno hinter ihm seufzte tief auf, und sein heißes, gerötetes Gesicht -kam zum Vorschein mit ersterbenden Augen. Allein, wie deren Blick jetzt -in das Logenhaus hinunter geriet, zeigte sich Erschrockenheit darin. Er -faßte Georg am Arm und flüsterte: - -»Sieh nur! das Gespenst unten! Drüben auf der Seite, in der dritten -- -vierten -- fünften Parkettloge, wo all die Schauspielerinnen sitzen!« - -Georg suchte dort, über die Brüstung der Proszeniumsloge geneigt, und -gewahrte in der Tat bald ein seltsam gespenstisches Gesicht, das, als -gehörte es zu einem Kinde, dicht über dem grünen Plüschwulst der -Brüstung war: gelbes, in die Stirn gekämmtes Haar, unter dem hervor aus -dem ganz weißen, altkindischen Gesicht mit spitzer Nase, unbestimmt -helle Augen umherspähten, sich verdrehend, so daß darin das Weiße -glänzte, äugend in einem abstoßenden Gemisch von Munterkeit und Bosheit. -Ein Gespensterwesen ohne Jugend und ohne Alter, fast Knabe und fast -Mädchen ... - -»Siehst du?« raunte Benno. »Ein Vampir!« - -Allein Georgs abirrender Blick hing an dem Gesicht daneben fest, aus dem -zwei schöne und traurige, dunkle Augen ihn anblickten; ihn? -- ja -- -gewiß -- ihn, -- und zwar senkte sie wohl gleich die Lider -- sehr -schwarz und lang mußten die Wimpern auch am untern Lide sein, denn die -Augensterne waren rundum verschattet --, aber im nächsten Augenblick kam -der Blick wieder empor und hing an ihm fest, viele Sekunden lang. Dann -wagte Georg es, zu lächeln; sie blieb ernst. Nein, nun lächelte auch -sie, traurig, und schlug die Augen nieder. - -Georg streckte die Hand nach dem Opernglas, das Benno haben mußte, -murmelte, er müßte das Gespenst sich näher ansehn, erhielt es und konnte -nun die Gesichter beide nahe vor sich sehn und in fast natürlicher -Größe. Das des Gespenstes war weiß geschminkt und abscheulich; auch das -der Andern war -- ein sehr weiches, fast rundes Oval -- weiß, eher ein -wenig grau, wie von vielem Schminken. Auch diese -- waren es wirklich -Schwestern? -- trug das Haar in die Stirn gekämmt, aber es war -tiefbraun, sehr altem Mahagoni oder polierter Eiche gleich, ja, es -schien fast einen grünlichen Hauch zu haben wie Bronze, -- aber das kam -wohl von dem nahen Samtgrün der Brüstung und -- ja, auch ihr Kleid war -von ähnlich grünem Samt. -- Befremdend war der Mund, von dem nur in -seiner Mitte ein hagebuttengroßer, tiefroter Fleck der Oberlippe -sichtbar war; die Mundwinkel, tief ins weiche Wangenfleisch eingebettet, -waren darin wie ausgewischt, ähnlich wie die Augen vom Schwarz der -Lider. - -Indem sah er sie ein kleines Opernglas heben, aber gleich wieder sinken -lassen, -- wohl da sie das seine auf sich gerichtet sah. - -Und dann, nachdem er das seine fortgetan, blickten sie einander wieder -in die Augen, in Pausen, wieder und wieder. Es war süß, melodisch, -- -fast wie Drosselgesang, dachte Georg. -- Dann begann der nächste Akt. - -Wer ist sie? dachte Georg, wieder im Dunkel geschlossener Augen und -wirrer Harmonien. Hat sie mich erkannt? Ach, wahrscheinlich doch! -Überall haben sie ja Photographien von mir aufgehängt. Freilich, wenn -die Menschen einen vor sich sehen -- im Laden zum Beispiel --, denken -sie doch nicht, daß mans sein könnte. Er lächelte, da ihm einfiel, was -der berühmte Gaffron, der Mime, ihm einmal erzählt hatte, wie er eine -Ansichtskarte von der Wiener Burg gekauft und die Verkäuferin ihm eine -empfohlen hatte mit den Worten: Da habens auch den Gaffron gleich mit -drauf ... - -Er wandte sich und suchte im Dunkel der Menschen unten ihr Gesicht, fand -es auch, mattweiß leuchtend, und sah, daß sie zu ihm emporblickte. -Obwohl er ihren Blick nicht wahrnehmen konnte, fuhr er fort, hin und -wieder sekundenlange Blicke mit ihr zu tauschen, dieweil er dachte: - -Will sie etwas? Sie sah so ernst aus; das muß echt sein. Nein, -dirnenhaft war sie doch gar nicht! Empfand sie wirklich etwas für ihn? -Ach, ja so wars immer mit ihm gewesen: die er hätte haben mögen, -pflegten ihn nicht zu sehn, solange sie nicht wußten, wer er war, und -die Unbekannten, die ihm ihre Geneigtheit zeigten, stießen ihn ab eben -dadurch. Auch diese -- -- sie ging fast zu weit ... Und was nun? Nun das -Anknüpfen, das unleidlich war. Sie mußte ihm erst doch mehr -entgegenkommen, damit er sicher würde, dann wars ja einfach, allein -- --- um so mehr würde dann wieder die Zudringlichkeit ihn abstoßen ... Und -natürlich grade heute mußte ihm dies begegnen, wo er nach Wochen und -Wochen des Schmachtens und Leidens -- nun einmal sich bedürfnislos -fühlte! Dieses Leben hier war von allen Bestien die heimtückischeste. - -Schweren Herzens, als der Vorhang fiel, erhob er sich doch langsam und -sah sie aufstehn. Bennos Arm nehmend, schlenderte er durch das heiße -Gedränge auf den Treppen und Gängen, behelligt und unwirsch vom vielen -Ansehn derer, die ihn erkannten, in den Wandelgang hinter den -Proszeniumslogen hinunter, der fast leer war. Sie stand in der Tür ihrer -Loge und sah ihn kommen, bewegte sich vor, ging an ihm vorüber, ihn -ansehend, ohne zu lächeln. - -Und dann begegneten sie sich, Beide umwendend -- Benno, aufgelöst in -Musik, wanderte blindlings und schweigsam mit --, begegneten sich noch -einmal -- und lächelte sie jetzt nicht wieder? -- und ein drittes Mal, -worauf sie verschwand. Das grüne Samtkleid, das schlecht und lose saß, -wunderte Georg, ohne seine wachsende Zuneigung viel zu stören. - -Oh er würde sie lieb haben können! Wenn sie nur nicht törichten Geistes -war, -- aber das schien nicht so. Also mußte es sein. Mußte, mußte! -Nicht wieder aus Feigheit die Gelegenheit versäumen! Nun -- aber wie? -- -Es mußte sich finden ... - -Der dritte Akt war noch nicht halb vorüber, als Georg sie mit dem -Gespenst flüstern sah. Dann stand sie auf, stand noch einen Augenblick -aufrecht, zu ihm aufblickend, und verschwand. - -Georgs Herz tat einen Sprung und begann zu rennen. Festgebannt noch für -Sekunden, erhob er sich dann doch und sagte zu Benno, er müsse ihn -entschuldigen, und, verlegen lächelnd: ein Abenteuer verlangte ihn ... - -»Aber wie denn, Georg?« fragte Benno fassungslos. »Ich hab doch gar -nichts gesehn!« - -Georg drückte ihm die Hand, verließ eilig die Loge, ließ sich Hut und -Mantel geben und lief mit angstpochendem Herzen hinunter. Noch auf der -Freitreppe sah er sie unten in der Halle stehn, -- ja was für einen -abscheulichen, vergilbten alten graden Strohhut hatte sie denn auf dem -Kopf! -- Georg fand sie so entstellt, daß er fast dies als letzten -Ausweg benutzt hätte, um davonzukommen, allein was sollte Benno denken? --- Sie stand -- er sah sie von der Seite --, langsam einen schmutzigen -weißen Glaceehandschuh anziehend --, und nun wandte sie sich herüber, -sah ihn und ging schnell hinaus. Er folgte. Sehr langsam; so langsam er -konnte. - -Die dunkle, enge Straße war voll von wartenden Automobilen und -Equipagen. Die Nachtluft atmete lau. Und dort links bewegte ihr Schatten -sich davon, auf das rote Leuchten der breiten Goethestraße zu. Langsam -folgte Georg, mit Entschlußlosigkeit kämpfend, mit: Soll ich? und: Soll -ich nicht? wechselnd fast bei jedem Schritt. An der Ecke angelangt, -gewahrte er sie erst nach einigem Suchen schon fern drüben auf der -andern Seite, wo das steinerne Brückengeländer die Häuserzeile -fortsetzte, und etwas rascher nachgehend, sah er sie über die Brücke, am -Gitter der Molkerei hinabgehn, dann um die Ecke biegend entschwinden. -Selber dort -- auf einmal ganz verwirrt vom Erinnerungsgeruch der -Gegend, durch die ihn jahrelang sein Schulweg geführt, -- sah er sie -wieder auf der andern Seite der zweiten Brücke über der Flußbiegung, und -sie stand still an der Brüstung, flußabwärts blickend, -- dorthin, wo am -linken Ufer sein alter Schulhof lag und dahinter das rote Haus mit der -Sonne auf dem Türmchen ... - -Ja, nun mußte es geschehn. Unaufhaltsam kam er näher. Was war zu sagen? -Abscheulich war das ja! Und dies Wesen war womöglich ihre Schwester mit -dem Gespenstergesicht! -- Und dann ballte er sein Innres zusammen wie -ein Papierknäuel, trat neben sie und sagte -- eben zwei näherkommende -Männer gewahrend -- im Ton alter Bekanntschaft, wenn auch heiser: - -»Es ist angenehm kühl hier, nicht wahr?« - -Nun erst wandte sie das Gesicht herum, lächelte ein wenig krampfhaft, -bewegte die Lippen und sagte endlich, dieweil Georg plötzlich in -schönster Sicherheit dachte: sie hat ja mehr Angst als ich! --: - -»Ja.« - -Und nun gingen sie zusammen weiter, Georg besinnungslos dies und jenes -redend, von der Musik, von den Darstellern, ohne zu wissen, was er -sagte, -- gingen die dunklen, laternenerhellten, gewundenen Straßen, wo -Georg jeden Stein kannte, an seiner alten Öltzenstraße, ganz nahe am -Pragerschen Hause, am Kolonialwarenhändler Kiffe, am Bäcker Engelhardt -vorüber, an den alten Schildern mit Anpreisungen von Malzkaffee, -Kindermehl, Leibnizkakes, -- wo Georg dann merkte, daß er vor -Erinnerungen wieder verstummt war -- einerseits, und daß sie ja in der -Richtung seiner Wohnung gingen -- andrerseits. - -»Wohin gehen wir eigentlich?« fragte er da kameradschaftlich. - -Sie lachte leise. »Halt in die Allee.« - -Und so kamen sie über den Platz und waren bald im Dunkel der noch kahlen -Lindenwölbungen. Da schob Georg seinen Arm in den ihren, und siehe da, -sie faßte mit der Hand, an der kein Handschuh war, die seine, und er -mußte nach einer Weile wieder loslassen, um gleichfalls den Handschuh -auszuziehn. - -»Und nun,« sagte Georg in völliger Sicherheit, »nun erzählen Sie mir, -nicht wahr! Wie heißen Sie? Nur den Vornamen, -- Nachnamen interessieren -mich nicht.« - -»Cornelia«, hörte er sie sagen. - -»Cornelia?« fragte er überrascht. Wer hieß denn Cor--? Ach, Cornelia -Ring! - -»Nicht Cornelia,« sagte sie lachend, »Cordelia mit d, von _cor_, -_cordis_.« - -»Oh Sie können ja Latein!« - -»A bissel!« - -»Und Bayrisch?« - -»Na freilich! Oberbayrisch, mei Muttersprache!« - -»Am Ende auch Griechisch?« - -»Auch. A weng!« - -»Das glaab i nimmer!« versuchte Georg sich Münchnerisch. »Sagen Sie mal -was auf!« - -Sie sah gradeaus. Er merkte beseligt, daß ihre Finger mit den seinen -spielten. - -»Na, fällt Ihnen nichts ein? Dann übersetzen Sie mal: _Anär tis -athänaios -- uk ebuleto fotografizestai!_« - -Leicht auflachend stutzte sie. Hatte sie gelogen? - -»Was heißt denn das?« fragte sie dann. »Ein griechischer Mann, der nicht -photographiert werden wollte? Wo kommt denn das vor?« - -»Also wahrhaftig, Sie könnens! Das ist so ein alter Schülerscherz. Dann -können wir ja griechisch weiter reden.« - -»Awo!« sagte sie, seine Hand drückend. »Sagens mir lieber, wie Sie -heißen?« - -»Wissen Sie das nicht?« fragte er unbedacht. -- Sekunden vergingen, bis -sie ihn ansah und fragte: »Nein, -- woher soll ich das wissen?« Und -Georg atmete auf. - -»Ich heiße Georg.« - -»Georg? Ach, das ist schön!« - -»Und auch griechisch.« - -»Ja: ge--vor--gós,« sagte sie mit genauer Betonung schulmäßig, »der -Landmann. Sans an Landmann, gell?« - -Oh dies >gell< war entzückend! Georg schüttelte nur lachend den Kopf, -und sie wanderten langsam weiter, schweigsam, während Georgs Herz immer -zärtlicher, sein Geschlecht immer begehrlicher empfand. Sie nahm jetzt -den Hut ab, schüttelte den Kopf, und Georg sah, daß ihr Haar kurz -geschnitten rund um den Nacken fiel. Darüber erlag er plötzlich, blieb, -sie festhaltend stehn, umschlang sie und drückte sie an sich, während -ihr Kopf schon hintenüber sank, ihr Mund emporkam, doch traf er, sie -küssend, erst die Wange. Dann, als er ihren Mund gewann, brauste sein -Blut siedend auf, durchflammt von der erschreckenden Süßigkeit dieses -Mundes. Er stolperte, sie schwankten, ließen sich dann los und gingen -hastig weiter, Georg trunken und beglückt. Bald nahm er ihre Hand, dann -zog er sie davon, durch die Bäume der Allee und in einen der Wege in den -Anlagen. Und dann saßen sie auf einer Bank, er hielt sie fast auf den -Knien, ihre Brust lag an ihm, sie ließ sich küssen, Gesicht und Hals, -küßte wieder und atmete tief und wild. - -Wieder stille geworden nach dem Ausbruch, fragte Georg, ganz froh vor -glücklicher Überraschung: - -»Nun sag, was möchtest du? Hast du Wünsche? Wollen wir nach Ägyptenland -reisen? Oder nach Stockholm? Na?« - -Sie schwieg; ihre Augen blieben geschlossen an seiner Schulter. - -»Aber erst muß ich wissen, wer du bist, nicht wahr?« sagte er leise -scherzend. Da schlug sie die Augen auf und sah ihn lange an. Endlich -sagte sie ganz ernst und mit tiefer Stimme: - -»Ich bin nur eine arme Seele!« - -Und eine Weile später hörte er, übermannt von Mitleid, Zärtlichkeit und -Staunen, sie sagen: - -»Bist du denn so reich? -- I moan,« setzte sie hinzu, »weils du von -Reisen redst.« - -»Möchtest du denn reisen?« - -»Ich will, was du willst«, sagte sie leise. - -Ihn überliefs. Was war das hier? Was hielt er denn hier im Arm? - -Lange wars still. Ob ihr nicht kalt sei, fragte er. - -Oh nein, sie sei ja ganz glühend. - -»Aber schad, daß nicht Mai ist«, meinte sie dann träumerisch vor sich -hin. - -»Die Nachtigall ...« fing er an. - -»-- müßt halt schlagen«, ergänzte sie wohlgemut, halblaut wie aus dem -Schlaf. - -»Also gehn wir doch hin, wo sie schlägt, Cordelia. Du wolltest dir doch -was wünschen. Wünsch doch mal! Na, was möchtest du wohl jetzt?« - -»Was i möcht?« Sie lächelte geschlossenen Auges und fuhr sachte mit -lieblichem, innerm Humor fort: - -»Ich sollt in eim Schloß sein dürfen ... im Garten von dem Schloß --, -und in an -- Teich. Ja, in dem Wasser, dem kühlen, -- da sollt ich stehn -dürfen, bis zun Knien. Und auf meinen Armen -- so ausgestreckten Armen -weißt und am Kopf und den Schultern -- da sollt alles voll sein dürfen -von -- Papagoyen. Naa! ich mein' ja nicht Papagoyen, ich mein' -- -Lerchen. So a kloans Gsindl, weißt! Aber -- -- das bräucht halt a net! -Bloß das kühls Wasser bis zun Knien, das sollt schon dürfen«, schloß sie -bescheiden. - -»Und das Schloß?« - -»Und das Schloß halt«, wiederholte sie befriedigt. - -»Dann also los, gehn wir hin!« entschied Georg, sprang, sie abgleiten -lassend, auf und zog sie mit sich den Weg hinunter auf die chaussierte -Straße zum Schlößchen. Sie sagte lange Zeit nichts, wohl im Glauben, er -scherze. Plötzlich aber hielt sie an, faßte ihn mit beiden Händen bei -den Schultern und fragte, ihre Augen fest und ganz nah unter die seinen -haltend: - -»Georg! bist du wirklich reich?« - -Er bejahte verwundert. Langsam irrte ihr Blick ab, fiel, sie senkte die -Stirn gegen seine Brust. - -»Ach, das ist schade!« seufzte sie tief auf. »Ich dachte, du wärest auch -arm ... Aber gut bist du, nicht wahr?« sprach sie, ihn wieder -anblickend, hastig weiter, »bist du nicht? Ja, du bist gut! Oh sag doch, -daß du gut bist, bitte sags, bitte, bitte sag mirs doch!« wiederholte -sie bettelnd gequält, bis er Ja sagte. - -»Danke«, seufzte sie leise. »Dank dir viele Male. -- -- Gehn wir nun zum -Schloß?« fragte sie kindlich zum Spaß. Er nickte nur, verwirrt von all -dem sonderbaren Hin und Her, aber sehr gerührt, dankbar und voll -Vorfreude über die kommende Überraschung. - -»Ists das?« fragte sie, als zur Linken die Hausecke im Dunkel sichtbar -wurde. Er nickte nur und zog sie weiter an der Hand, die Rampe empor vor -das Portal, wo er sein Schlüsselbund hervorholte und mit den Worten -»Wolln mal sehn, ob einer paßt!« einen nach dem andern versuchte, bis er -den richtigen nahm und aufschloß. - -»Es geht ja auf!« schrie sie ganz entsetzt. Er aber war schon im Saal, -drehte die Lichtkurbel, nahm den Hörer des Haustelephons von der Wand, -hörte nach Sekunden -- dieweil er sie dastehn sah, ihren alten Hut in -der Hand, fassungsloses Staunen überm ganzen Gesicht -- des blassen Egon -verschlafene Stimme und trug ihm auf, Limonade und zwei Gläser ins -Arbeitszimmer zu bringen. - -»Oder magst du lieber Wein? Ich trinke keinen«, fragte er sie, die mit -runden feuchten Augen immer noch langsam umhersah. Dann schien sie ihn -zu erkennen, ihre Augen verdunkelten sich schwer, auf einmal war sie vor -seine Füße hin an den Boden geglitten, legte die Stirn an seine Knie und -sagte: - -»Habe Dank, Herr!« - -Und nach einer ganzen, für Georg fast verzweifelten Minute in der Scham -seines Nichtseins und Scheinens: - -»Ich bin dein eigen.« -- - -Dann gelang es ihm endlich, sie hochzuziehn. Sie ließ sich geduldig -küssen wie ein erschöpftes Kind, lachte dann leise und verlangte, wieder -in ihrem kindlichen Spaßton, »das Übrige.« - -Georg schloß aus alledem mit Bestimmtheit, daß sie Schauspielerin war; -zwar hatte er nie eine gesehn, die so fortwährend agierte; aber die Art, -wie sie's tat, war ihm bezaubernd. - -Als aber bald darauf im Arbeitszimmer die Mondsphäre aufleuchtete, war -sie vor Andacht kaum zu bewegen, daß sie die Stufen herunterkam, und -dann ging sie umher und bewunderte und berührte ein jedes, die -Kostbarkeiten, die Blumen, die Möbel, mit einer kleinen, scheuen, -bittenden und vertraulichen Bewegung der Hand, bis sie vor dem -Penserioso in vollkommenes Schweigen versank. Unterweil brachte Egon -Limonade, Georg mischte ein Glas, brachte es ihr, und sie nahm es, ohne -es zu bemerken, trank und gab es ihm wieder. - -»Man möcht ihn immer anschaun«, sagte sie endlich. Und, die Hände -faltend vor der Brust: - -»So möcht man auch einmal können sitzen -- immer so -- und nachdenken, -immerfort nachdenken, wie das alles kommt ...« - -»Ja, nun bin ich im Schloß!« stellte sie erwachend fest. »Und du bist -also der Prinz. Schad, wie a Prinzessin schau ich net aus da herum!« -sagte sie, den Fuß vorstreckend, um ihn auf ihr altes Kleid aufmerksam -zu machen. - -Georg lief zur Truhe neben dem Kamin. Darüber gebückt, in den seidenen -Zeugen wühlend, erinnerte er sich mit Macht, aber er wollte sich nicht -Esthers erinnern, wühlte stumpf weiter, den roten und blauen Bademantel -hervor, den Sigurd, den Kimono, den Ulrika getragen. Es mußte etwas -Dunkles sein für Cordelia, -- nein, es war nichts, das gepaßt hätte, -außer Esthers Gewand. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, als er es -Cordelia brachte und sie, ganz wie Esther dazumal, ins schnell -erleuchtete Schlafzimmer damit drängte. Dann kühlte er sich mit Limonade -und versuchte, zu glauben, daß Esther das Kleid gerne hergab. - -Ihre Stimme hinter sich hörend, drehte er sich um. Oh sie sah nun -köstlich aus in dem düstern Kleid mit feurigen Blumen, das sie, -nacktfüßig, mit beiden Armen an den Leib drückte, schmitzäugig -flüsternd; sie habe nichts drunter an; so weich sei's, so ... - -Er glaubte, alles zu begreifen, sprang auf sie zu, ergriff ihre Hand, -lief mit ihr zur Gartentür, öffnete und zog sie ins Freie, den Weg -hinunter durchs Gebüsch bis an den Wassergraben. -- Das sei der Teich, -den er hätte. Aber ob es ihr denn wirklich nicht zu kühl sei ... - -Sie stand, den Kopf im Nacken, lange nach oben blickend. Endlich -flüsterte sie melodisch und auch theatralisch: - -»Nicht Mond noch Sterne in der Nacht. Dann will ich leuchten!« und ließ -das Kleid an den Boden fallen. - -Georg zitterte in den Knien. Er wagte fast nicht, sie anzusehn, sah die -dunkle Wasserfläche, das schwarze Strauchwerk drüben, auch -- einen -grauen Fleck im Schwarzen der Flut -- den jungen Schwan, der sich -bewegte, und endlich sie selber, die wieder erhobenen Hauptes aufwuchs -aus der Erde, völlig wie Marmor so bleich weiß, so weich und schmal, -aber mit vollen, schönen, breit aufgesetzten Brüsten. Sein Blut lief -über, er lag an der Erde und küßte ihre Knie, ihre Füße, sprang wieder -auf, wollte sie an sich ziehn, erschrak, ihre Brust berührend, weil sie -kühl war, nein kalt, wie Marmor, jedoch weich, -- allein sie wies ihn -leicht ausweichend von sich und ging schnellfüßig die schräge -Uferböschung hinab bis ans Wasser. Er sah, daß sie strahlte mit ganzem -Leib. Nun rauschte die Flut, in die sie watete. Stehen bleibend, drehte -sie sich nach ihm um; er hörte durch das Brausen in seinen Schläfen ihre -Frage, ob der Schwan gefährlich sei, und sah, leise verneinend, sie -tiefer in die schwarze Flut gehn. Der Schwan kam jetzt mit leichten -Stößen heran, -- er war jung und zutraulich --, bewegte voll Anmut den -Hals auf und nieder, drehte den Kopf, beschrieb einen Kreisbogen, sie -streckte die Hände nach ihm aus und lockte, da kam er näher, ganz nahe -zu ihr, richtete sich auf, spreizte sich und schlug mit den Flügeln. -Stillehaltend danach, ließ er sie sich zu ihm bücken und ihn liebkosen, -schmiegte den Hals an ihr empor und legte den Schnabel auf ihre Brust. - -Fast kühl ward es Georg im Hinsehn. Die Nacht war unbewegt, windlos, -geräuschlos, wie ohne Jahreszeit, nur Nacht, und, ins Vorjahrgras der -Uferböschung niedergleitend, fühlte er das Rieseln über Rücken und Armen -vom unbegreiflichen Schauder einer Furcht, bis er jetzt ganz überronnen, -schamhaft wie ein Knabe das Gesicht in den Händen verbarg, dann völlig -verwirrt, glücklich, schwellend von tausend Gefühlen, sich auf dem -Rücken ausstreckte. - -Leise rauschte es wieder in der Flut. Er sah sie heraufkommen, nicht -dort, wo er lag, ein wenig links von ihm, und hingleiten. Lange Sekunden -mußte er ohne Bewegung bleiben, nach oben blickend, trunkenen Auges. Als -er sich dann zu ihr wandte, lag sie abgekehrt, ganz still, und wie er -nun die Hand ausstreckte nach ihrer Schulter und sich hinüberbog, -erkannte er, daß sie den Kopf auf den Arm gelegt hatte und weinte. -- -Erschrocken zog er die Hand zurück, streckte sie wieder aus, wollte -etwas sagen, blieb stumm, ratlose Bestürzung im Herzen und Mitleid, so -wenig er begriff. - -Plötzlich lag sie auf den Knien, das Haupt tief hintenüber zum Rücken -gesenkt, die Arme schlaff. Trotz des Dunkels konnte er sehn, wie ihre -Brust sich hochwölbte und spannte, bis ihr Mund mit einem haschenden -Wehlaut aufbrach, und sie seufzte ein sterbend tiefes, erschütterndes: -Ach! - -Im nächsten Augenblick war sie aufgestanden und ging langsam, ohne nach -ihm zu sehn, das Ufer hinauf, den Kopf gesenkt, schlaff hangender Arme, -und weiter und zwischen dem schwarzen Strauchwerk fort, wo das Weiß -ihrer Glieder noch lange schimmerte. Endlich klang leise die Tür zum -Haus. - -Georg wartete, still in sich hinein lächelnd. Sie schämt sich nun, -dachte er, oh wie werde ich sie lieben können! - -Als aber sein Blut anfing, heftiger zu sausen, das Zittern der -Begehrlichkeitsangst über der Herzgrube wütender pochte, spiegelte er -sich vor, sie erwarte ihn drinnen, im Schlafzimmer womöglich -- und -ging, jedoch langsam. - -Das Arbeitszimmer war leer. Die Tür zum Schlafzimmer stand halb offen, -und drinnen war Licht. Er trat leise näher und spähte hinein. Niemand -war darin. - -Georg fühlte sich einen Augenblick versucht, die Schränke zu prüfen, ob -sie sich in einem versteckt halte, doch brachte ers nicht fertig, ging -ratlos ins Zimmer zurück, und als er absichtslos über den Schreibtisch -hinblickte, schien ihm dort irgend etwas verändert. Nähertretend sah er -auf dem weißen Löschblatt der Schreibunterlage große Schriftzüge, mit -dem Blaustift geschrieben, der noch darüber lag. - -»Dank! Dank! Dank!« las er; und darunter: »die arme Seele.« - -Haß und Enttäuschung, die aufquellen wollten, kamen doch nicht hoch vor -dem Schauder der Ratlosigkeit und des Staunens. Seine Stirn sank langsam -vorüber, indem er in den Stuhl hinabglitt. Er hätte weinen mögen vor -Bitterkeit. Dann verging auch diese in offenbares Nichtverstehn. Sie -wieder im Wasser unter sich sehend, beneidete er den Schwan. Bald fühlte -er sich müde, stand kopfschüttelnd auf, lächelte mit Anstrengung und -begab sich ins Schlafzimmer. - - - Renate - -Renate erwachte beim Frühgeläut aus der nahen katholischen Kirche, -dehnte sich, machte die Augen versuchsweise ein paar Mal auf und wieder -zu und stellte fest, daß sie friedlicher und behaglicher Laune war. -Vielleicht, dachte sie, kommt ein Brief, oder Besuch, und sie streckte -sich gerade aus, faltete die Hände unterm Nacken, sagte sich, wie -wunderbar breit ihre Muschel von Bett sei, heftete die Augen auf die bei -der Dämmerung kaum kenntlichen Züge der dunklen Madonna Feuerbachs -drüben an der lichten Wand, schnurrte schließlich gähnend wie eine -Spirale in sich zusammen und sprang aus dem Bett. Im Schlürfen ihre -bastenen Badeschuh an die Füße bringend, ging sie ans Fenster, das weit -offen stand, schlug den Vorhang zurück und fand den kaum ergrünten -Garten angenehm verschleiert von einem lautlos fallenden Regen, worauf -sie mit schönem Schaudern wieder unter die Decke kroch, um sich zu -erinnern, was sie geträumt hatte. -- Allein unvermutet entglitt sie sich -selber, und langsam, nicht wissend, ob sie wache oder träume, sah sie es -vor ihren Augen sich entfalten ... - -Sie glaubte, daß sie auf der Veranda stehe und über die Stufen in den -Garten schaue, in dem es nicht dunkel, nicht hell war; schattenloses -Traumlicht herrschte, es war alles grün, Bäume und Büsche standen -dichter und stiller als sonst. Da begann etwas Weißes sich im Garten -umher zu bewegen, und sie erkannte sich selber, die auf dem um den -Rasenplatz führenden Wege plötzlich deutlich sichtbar ward und sich in -das enge Grün hinein entfernte. Darin taten sich immer neue Wege auf, -und ihr Gehen war schön und friedlich anzusehn, und jetzt war sie es -auch wirklich selber, die ging, und sie sah sich nicht mehr. Hinter ihr -sagte die Stimme Bogners: Jetzt kommen die großen Verneigungen. Da war -wieder die weiße Gestalt, sie selber, und hatte auch schon angefangen, -sich zu verneigen, mehrere Male, im Gehen, und aus Verneigung und -Sichaufrichten wurde ein sehr ernster Tanz, der endete, indem all dieses -verschwand in einem grenzenlosen, leidenschaftlichen Schluchzen, das aus -allen Tiefen und Höhen zugleich herauszuquellen schien, zusammenschlug -und sie verschlang. -- Renate ging suchend im Garten umher, Magda wars, -die sie hinter allen Gebüschen suchte, immer ängstlicher und -aufgeregter, allein immer, wenn ein Weg und ein Blick frei zu werden -schien, verstellte etwas die Aussicht, ein Mensch, den sie umgehn, ein -Busch, ein Zaun, ein kleines Haus, um die sie laufen mußte, und auf -einmal befand sie sich vor ihrer Orgel, die mitten in einem Walde stand. -Es war dämmrig geworden, und oben auf den matt glänzenden Pfeifen saßen -regungslos viele dunkle Vögel ohne Augen, und sie sagte: Das sind die -Eulen. Sie mußte die Bälge wohl angetrieben haben und dachte, wenn ich -ganz leise spiele, werden die Eulen es vielleicht nicht merken, sonst -würden sie gewiß aufgeplustert und in die Luft geworfen werden, und sie -zog _Vox humana_ und das Flötenmanual auf, aber indem sie nach ihren -Füßen blickte, die sie auf die Pedale setzen wollte, hörte sie hoch über -sich die _Vox humana_ ganz fern _Agnus dei_ singen, vor ihren Füßen aber -rauschte Wasser klar hervor, die Orgelpfeifen standen darin, und in der -hellen Flut wurden erst Hände, dann Bogners Züge sichtbar, die langsam -nach oben schwebten, anzusehn wie ein grüner Wassergott ... - -Renate fuhr zusammen und spürte, daß sie lag. Und jetzt, da das -Glockengeläut schwieg, hörte sie die kleinen Takte und Pausen der -schwarzen Amsel und wußte, daß die es gewesen war, die im Traum _Agnus -dei_ sang. - -Eine Weile noch lag sie still; die Amsel sang nicht mehr; sie hörte das -Hausmädchen, das die Treppe fegte und mit dem Schmutzblech klapperte, -und auf einmal -- fühlbar -- merkte sie den Stillstand in sich und -fragte: Wie kommst du hierher, Renate? -- Sie lag und mußte still -liegen, und es war Unveränderlichkeit, das wußte sie, solange sie diese -Lage festhielt. Nichts konnte geschehen, zuvor war alles ein beständiges -Fließen, Gleiten, Nachfolgen gewesen, nun aber war sie hier angelangt, -aus gelinder Flut den Kopf an ein schlichtes Gestade hebend, -rückschauend über Strom, Brücken fern, Stadt und Türme, -- wie fremd sah -alles aus! Wer denn hatte sie hierher getragen? Es schien ihr nun, als -ob einmal viele Arme und Hände sie umschlungen hatten, worauf ihr Leben -sich zerstreut, immer zur Hälfte, zu Dritteln, zu Fünfteln sich -weggegeben hatte, und jedesmal entstellte und beraubte der fortgegebene -auch den gebliebenen Teil. Wann hatte das angefangen? Als sie in dies -Zimmer kam, in dies Haus. Ja, hatte sie vordem nicht allein auf sich -gestellt hingelebt? Zugleich freilich ihrem Vater, aber wie war der ihr -gewohnt gewesen! Der war nun schon so lange tot, daß sie, seiner -gedenkend, nichts empfand als sein gütiges Gewesensein in ihrem Leben, -nichts sah, als sein immer freundliches altes Gesicht. -- Dann, ja, dann -war dies hier gekommen, Erasmus, Josef, der Onkel, und bald alle die -Andern, die Friedliebende Gesellschaft, Saint-Georges und -- Bogner. Und -lange schon waren Viele von ihnen wieder fort. Herbst, Winter, Frühling, --- das waren Namen, -- für was? Orgel- und Klavierspiel, Arbeit mit dem -Freunde, ein Konzert, ein Besuch, ein Mensch, der von der Reise kam, -Gespräche, viel Bücher, immer Beschäftigung, und alldas -- wozu? Wellen -durchs Herz, spurenlose. Sie mühte sich eine Zeitlang, deutliche -Erinnerungen zu finden, aber im Augenblick hatte alles ins Unsichtbare -sich hinweggezogen, es war leer, Windstille, Eisvogelbrüten. Siedendheiß -ward ihr plötzlich. Liebte ich nicht jemand? fragte sie lautlos, aber -beinah grimmig in die Stille hinein, richtete sich auf und heftete die -Augen angstvoll ratlos in die regenumschleierten Wipfel draußen. Wie -weiß das Zimmer ist! dachte sie plötzlich, und, mit Heftigkeit die Knie -an sich ziehend, die Hände neben sich aufstützend, zur Tür blickend, -sagte sie laut: Hier kommt niemand herein. -- - -Da mußte sie lächeln über diese Versicherung an sich selbst. Und was -habe ich schon davon, murmelte sie und ließ den Kopf hängen. Eine -Flechte fiel an ihrer Wange herab, sie ergriff das Ende davon und strich -damit über die Decke wie mit einem Pinsel. - -Ich bin wohl, sagte sie sich kühl, zu Manchem hingegangen; wer kam zu -mir? Niemand. Wie? Kam nicht Josef, nicht Erasmus? Georg vielleicht, war -der nicht auch auf dem Wege gewesen, und wie war das mit Sigurd? Aber -du, du, du, eiferte sie böse, du kamst nicht, und was sollten mir also -die Andern! -- Sie schleuderte ihr Haar hinter sich zurück, packte es -mit beiden Händen am Hinterkopf und warf sich so ins Kopfkissen. -- Mein -ganzes, unverbrauchtes Herz habe ich so in der Hand, knirschte sie -wutentbrannt, wie dies Haar, meines Weges bin ich dahergeglitten, und -nun kommen die tiefen Verneigungen. -- Da mußte sie nun lächeln, ihres -Traumes gedenkend, und jetzt gedachte sie einen schönen Namen zu -flüstern, einen selbstgesprochenen Namen zärtlich zu hören, aber statt -dessen schleuderte sie die Füße unter der Decke hervor und saß nun -aufrecht auf dem Bettrand, vorgebeugt, die Hände aufgestemmt, und -horchte. Alles blieb still, aber ihr Herz schlug laut und langsam. -Plötzlich schlug es dreimal schnell hintereinander, setzte aus und ging -wieder ruhig. War sie erschrocken? Sie lächelte über sich selbst. War -jemand ins Haus gekommen? Die Klingel konnte sie hier nicht hören. Sie -blickte auf die Uhr, es war acht. Gleich darauf klopfte es an der Tür, -und das Mädchen meldete Frau Tregiorni. - -Als Renate nach beschleunigtem Bad und Ankleiden herunterkam, wurde ihr -gesagt, Ulrika sei in der Kapelle. Es regnete heftiger, sie mußte unterm -Schirm hinübergehn. Ulrika, in einem nassen Lodenmantel und Kapuze, -frisch und lebendig aussehend, stand vor einem von Bogners Engeln. Ja, -nun mußte Renate erst ihr Kleid von allen Seiten in Augenschein nehmen -lassen und erzählen, daß sie sich für den Winter als Haustracht drei -solcher einfacher Röcke habe machen lassen, einen russischgrünen, einen -violetten und einen eisengrauen; die Blusen hatten die Form eines -russischen Kittels mit ledernem Gürtel, an dem der Hals frei blieb und -der Verschluß von der rechten Seite des Ausschnittes schräg über die -Brust hinunter zur linken Hüfte lief. Ja, und der graue Kittel war -orangefarben gepaspelt, und man konnte jeden Kittel zu jedem Rock -tragen, und so trug sie heute Grau und Grün zusammen. Alle Farben könnte -sie tragen, jammerte Ulrika, sie mit ihrem roten Haar hätte bloß ihr -ewiges Blau oder Grün, und an Festtagen Lila. »Braun hab ich dir doch -offenbart«, lachte Renate und umarmte sie. -- Warum sie aber wohl in -aller Herrgottsfrühe herausgelaufen sei? -- Dies wußte Ulrika -keineswegs; es hätte so schön geregnet. Und sie hätte so seltsam -geträumt, sagte sie nachdenklich. - -Während Ulrika ihren Traum erzählte, frei in der leeren Kapelle stehend, -den Blick im offenen Fenster, wogten so seltsame und wirre Empfindungen -durch Renate, daß sie plötzlich erschrak, da sie allein, als habe sie -Ulrika geträumt, vor ihrer Orgel saß. Nachträglich begann jetzt Ulrikas -Erzählung sonderbar in ihr zu klingen, in einem langsam schreitenden -Takt, der die Worte allmählich ordnete, und sie begann in das erste -beste Notenbuch vorn auf die leere Seite den Traum aufzuschreiben, -folgendermaßen: - - Mir träumte: In der nächtigen Allee - Entgegen kam ich ihm; ich sah: er war es, - Jedoch ein Fremder schien er, und er ging - Vorüber mir wie ich an ihm, jedoch - Nach wenig Schritten mußte ich mich wenden. - Da stand er hergewandt nach mir, und Beide - Entgegen kamen wir uns nun und sahn - Uns lange ernsthaft, ernsthaft in die Augen. - Ich kann nicht sagen, was ich da empfand. - Wir gingen nun zusammen, er und ich, - Hinab die finstere Allee ganz schweigsam. - Am Ende blieb er stehn, ich aber bog - Zur Seite in den Park, und um den Teich - Ging ich und sah nicht um, doch als im Bogen - Ich weit herumgekommen war, da sah - Ich ihn, wie er mir langsam nachging. Endlich - Fand ich die Bank, wo wir einmal die Drossel - Am Abend hörten und gesprächig wurden. - Dort setzt ich mich. Da kam er, und er sah - Nicht mich und ging vorüber als ein Fremder. - Verschwunden war er, aber ich stand auf - Als eine andre; als ein andrer Mensch; - Neu war ich, reif, vollkommen, ganz in Frieden, - Mit mir, mit euch, mit Gott; nicht klug, nicht reich, - Jedoch gehalten, aufrecht, und von innen. -- - Sag, warum weint ich so, als ich erwachte? - -Sag, warum weint ich so, als ich erwachte, wiederholte Renate noch -willenlos, auf die geschriebenen Bleistiftzeilen starrend. Dann errötete -sie langsam, während sie sich fragte: Habe denn nun ich das geträumt, -oder wer? -- Sie sah Gegend und Menschen dieses Traumes dergestalt -leibhaft, daß ihre Vernunft ihr in Verwirrung zu geraten drohte. Auch -die Amsel sang in diesem Traum, bloß hatte Ulrika gesagt: Drossel. Nein, ->entgegen kam ich _ihm_<, das hatte sie nicht gesagt, sondern: >Bogner<. - -Renates Augen, die gedankenleer langsam nach oben gingen, trafen sie -selbst in dem kleinen Spiegel über ihr. -- Ja, so schreckhaft bin ich -geworden, sagte sie vor sich hin, daß ich den Spiegel da habe machen -lassen. Manchmal kam Onkel ja herein, während ich spielte. Wie oft saß -ich schon hier, sagte sie, sich immer ansehend, entfremdet hinter dem -Spiegelglas, seltsam zusehend, wie in den Zügen Bewegungen entstanden, -eine Wendung des Halses, ein Senken der Lider, die doch sie selbst -machte, die aber da drinnen von selber vor sich zu gehn schienen, -- wie -oft saß ich hier, spielte nicht, hatte die Hände im Schoß und hatte in -ihnen so wenig wie im Herzen. -- So saß sie nun wieder, müde an sich -selber, ratlos, tatlos, sah durch das in ihrer Nähe offene Fenster das -matte Regengrün des Gartens, hörte die Spatzen und die ersten Töne der -Grasmücken. Verging nun Zeit? Ja, es regnete nicht mehr; ganz fern, kaum -hörbar sang die Amsel. Verging Zeit? Sie schloß die Augen, sie hörte -wieder das spitze Picken von Regentropfen auf Blättern, und nun strömte -es schwer herunter, es wurde dunkler, es rauschte ganz um sie her, -schließlich spritzte es naß zu ihr herein, und sie stand widerwillig -auf, ging die Stufen hinunter und schloß das Fenster, hinter dem die -Sträucher sich unwillig im Regenstrom hin und her warfen. Ihr fiel ein, -daß es Zeit sein müsse, zu Saint-Georges zu fahren, aber sie brachte es -nicht fertig, die Uhr hervorzuziehn, sie stand vor dem großen Engel, der -mit der kleinen Harfe in ausgestreckten Händen durch die Landschaft über -die Wand hineilte, dachte: So läuft er an mir auch vorüber! und ärgerte -sich ungemein, daß sie immer und immer an ihn dachte. Da schüttelte sie -sich, ging zur Tür, sah nichts mehr, fühlte nur das große Rauschen der -Wasser, das alles in sich hinabschlang, fühlte sich ergebungsvoll und -nachlässig gefangen gehalten. Durch diesen Regen komme ich ja nicht, -sagte sie. Wozu hinaus? Ich schlafe langsam vor meiner Orgel ein, die -Eulen setzen sich lautlos auf die Pfeifen, damit kein Staub hineinfällt, -und ich werde hundert Jahre so sitzen. Nicht Jahre, nein, Jahr--en! sagt -man hierzuland. Die Orgel schläft über mir, der Regen braust, wir wachen -niemals auf. - -Auf einmal war sie dabei, nachzurechnen. Jeden Vormittag vier Stunden -Arbeit mit Georges; jeden Tag wenigstens zwei bis drei Stunden Klavier -und Orgel; jeden Tag mindestens ein Besuch bei Kranken oder Bedürftigen; -dazu Küche, Haushalt und all die Rechnungen, nur Abends Erholung, ein -Buch, ein Konzert, ein stilles Gespräch mit Georges. Es ist so viel, daß -ich mitunter nicht zum Nachdenken komme. Warum genügts mir denn nicht? -Ist mein Herz nicht dabei? - -Sie verlor sich, lange gedankenlos, mußte sich mühsam besinnen, -schreckte zusammen und flüsterte: Nein, so ists aber nicht! Mein Herz -ist immer dabei, und ein jedes ist mir Freude, solange ich dabei bin ... -Aber eben: solang ich dabei bin nur, und wenn ich jetzt daran denke, so -meine ich -- so mein' ich ... - -Wieder sich verlierend, ertappte sie sich, daß sie schief auf dem Stuhl -saß, den rechten Ellbogen auf dem Knie, die Hände gefaltet, -vornüberhängend, aber sie war minutenlang unfähig, die Haltung -aufzulösen, saß nur gelähmt und vermochte sich nicht zu helfen, bis ein -Gezwitscher draußen vorm Fenster sie aufzuschauen bewog und sich grade -zu setzen. - ->Die rechte Freude am Leben<, träumte sie dann, >kann nur von einer -tiefen liebenden Erregtheit kommen, gleichviel auf was sie sich richtet, -Gott oder Mensch oder Sache; denn dann findet sie ihre Erfüllung in -jedwedem Tun, jedem Geschäft und Gedanken, und alles wird liebevoll. -Dann formt sich das ganze Wesen in Tätigkeit aus, nichts wird gespart, -nichts unterdrückt, und die Belohnung ist guter heilsamer traumloser -Schlaf.< - -Das war Papas Rede, dachte sie, Wort so für Wort. Ja, so war er selber -erfüllt von Gott, und ich wars von ihm, aber heut bin ich leer. - -Plötzlich schrak sie zusammen. Ihr Herz schlug laut, sie atmete schwer. -Was ist das, mein Gott, dachte sie angstvoll, ich war doch so leicht und -bewußt beim Erwachen? Was geht denn vor? Was geschieht jetzt? -- Und -einen Augenblick lang war sie völlig wie verzaubert, gelähmt, nicht -imstande, ein Glied zu bewegen. Aber dann wußte sie: Mein mattes Herz, -meine schwache Seele, mein müder Geist, die lähmen mich so. -Nutzlosigkeit, sagte sie langsam vor sich hin. Und danach, mit -Anstrengung, sich selber verlockend: - -Es ist nicht die Stille. Es ist nicht das Unglück dieses Hauses, nicht -das finstre Wesen des Erasmus, nicht die Angst vor dem Onkel, nicht mein -Schuldgefühl, was mich so lähmt, mich so ungefüge, so nutzlos, so -kleinmütig, so beklommen, so elend macht. Vielleicht, ja, es wird auch -all dieses mit sein, aber seit wann bin ich denn so, daß Fremdes mich -hindert, anstatt mich gut und hülfreich zu machen? - -Tief in ihr schrie eine gellende Stimme: Was ich bin und habe, Leib und -Seele, Leib und Seele, alles, alles, Herz und Schoß, Brust und Knie, -Haar und Augen und Lippen will ich -- will ich -- -- - -Auf einmal lief sie gepeitscht durch den Raum, aufs Podium, drückte sich -mit dem Rücken, die Hände ringend, in die Nische der Tabulatur zu den -Registern hinein, warf den Kopf in den Nacken, als biete sie den Hals -einer Kralle, einem Gebiß, das hineinschlagen solle, wehrte sich, -kämpfte, überwand sich, senkte das Haupt wieder, blickte starr, schloß -die Hände, rang die Hände. Sie demütigte, zerknirschte, öffnete sich, -wollte, versuchte zu sprechen, flüsterte, gestand und sprach: Ich will -bekennen. - -Wieder warf sie sich herum. Ich will, ich kann nicht, hilf mir, mein -Gott! Und sie umklammerte mit den Augen ein Bündel Pfeifen und sagte -laut und deutlich empor: - -Auf dich warte ich jeden Tag. Um deinetwillen leide ich, durch dich bin -ich so müde, so lahm, so nichtswürdig, so arm. Ich liebe dich, du! Ich -liebe dich, ich liebe dich! Von mir und dir rührt all dies Elend her, an -deinem Leben hänge ich, an deinen Lippen schlafe ich, von deinen Augen -träume ich, du machst mich so schwer. Für dich singt die Drossel, -zwitschern die Vögel, grünen die Bäume und blühen die Sträucher, aber -ich habe meine Augen abgewandt, und all das ist mir nichts. Vergieb mir, -du, meinen Stolz, höre mich an, erhöre mich, sei gut zu mir, tröste -mich, richte mich auf, mache mich wieder gut, komm zu mir, komm zu mir! -Ich vergesse die Welt, wenn du da bist, ich vergesse mich, wenn du da -bist, ich bin leicht, ich bin gut, ich bin schön, wenn du da bist. O -vergieb mir, du bist ja langmütig! vergieb, du bist freundlich, vergieb, -ich war so klein! Sage mir, daß du bist, so will ich alles Elend der -Erde tragen. Sage mir, daß du an mich denkst, so will ich tapfer sein -und nicht sorgen. Sage mir, daß du morgen kommen willst, so will ich -mich ver--wan--deln ... - -Sie brach ab, denn sie hatte unweigerlich einen Schritt auf den -Steinfliesen der Veranda gehört, und doch war das unmöglich, denn die -war viel zu fern. Sie schwankte todbleich. Was habe ich getan? Hat er -mich gehört? Rief ich ihn her? Und indem wurde sie ganz kühl. Jetzt -kommt Ulrikas Freund, dachte sie friedlich, und siehe da, in der Tür -stand Bogner, schwenkte einen triefenden Hut, lachte und rief, ob Ulrika -nicht da wäre. Renate lachte gleichfalls und erwiderte, sie sei eben -gegangen. Der Maler kam einen Schritt vor, drehte und besah seinen Hut, -schien unschlüssig und murmelte endlich verlegen, ja, dann könnte er -wohl wieder gehn. Scheinbar war er in Ulrikas Wohnung gewesen, aber er -vergaß natürlich, das zu sagen. Einen Augenblick später war er -verschwunden. Renate aber hörte, eigentümlich melodiös und schmeichelnd -die Worte auf sie zuschweben: Ja, wenn du lebtest, wäre vieles nicht. -Der Tag nicht blaß, es glänzte dein Gesicht. Die Nacht nicht schwarz, du -leuchtetest mir gern, ach, du bist fern, bist fern, bist fern, -- ich -weine nicht. -- - -Freilich nein, gütiger Himmel, sie weinte nicht. Ja wenn -- du -- -leb--test! sagte sie mit listiger Betonung vor sich hin. Bogner? Das war -ja ein gänzlich fremder Mensch gewesen! Sie mußte sich umdrehn und an -den Orgelpfeifen emporsehn, ob da vielleicht noch von ihrem Bekenntnis -etwas hafte und ihr beweise, daß es ihm, Bogner gegolten habe. Nein, da -war nichts. Dieser Bogner aber war nur ein Bild, eine Heiligenfigur -gewesen, und sie hatte an ganz jemand Andern gedacht. An wen? An -irgendwen! Und was war nun? Erlösung? Freiheit, Guterdingesein, -Hoffnung, Sicherheit, Zukunft, Irmelin Rose, nämlich: alles was schön -ist? -- Nichts davon, nein, sondern eine furchtbare Traurigkeit senkte -sich in schwarzen Schauern über sie, Schritte waren im weichen Sand des -Gartens hörbar, langsam, unbekannte, -- nein, war das -- --? - -Und langsam, wie ein Geist in ihren Augen anzusehn, dem sie entsetzt -entgegenstarrte, stieg die schwere Gestalt des Erasmus die Stufen in der -Tür herauf, den Kopf gesenkt, und nun sah er sie erst, zuckte ein wenig -die Stirn empor, stand still, murmelte: »Verzeih, ich dachte --« Dann -ganz heiser: »-- bei dem Regen ...« - -Dann warf er die Schultern auf und nieder, als wende er sich im Rock -angewidert hin und her, wütend, daß er gekommen war. Renate glaubte, sie -würde im Augenblick zu ihm hinfliegen, ihm zu Füßen, ihn anzuflehn, er -solle gut sein, anders sein, -- ja, was denn? -- -- Aber sie stand, -ganzen Leibes in die Tabulatur hineingedrückt, die Augen im Schrecken -weit offen, und danach, als er wieder verschwunden war, sank ihr der -Kopf langsam wie abgeschlagen vornüber auf die Brust. - -Viel später fand sie sich, durchnäßt vom Regen, mitten im Garten, wie -sie zu den Fenstern aufsah. Ohne Willen machte sie sich dann zurecht und -fuhr zu Saint-Georges wie alltäglich. - - - Drittes Kapitel: April - - - Tandem - -Georg stand vor dem großen Spiegel im Schlafzimmer und betrachtete sein -Abbild auf einem schönen Hintergrunde offener Fenster voll Gartengrün, -Sonnenlichter, Goldregen und windiger Bewegung. Ein Ladenknabe, so -dachte er, könnte sich leicht eleganter anziehn als ich. Zum Beispiel -würde er doppelt so weite Hosen tragen, um zart anzudeuten, daß er die -Mode kenne; aber ihm würde nicht einfallen, dunkelblauen Marengo zum -Cutaway zu nehmen wie ich -- hier lachte er und freute sich --, denn das -ist eine Kunst. -- Er atmete auf. Ich glaube, heut bin ich glücklich. -Plötzlich, nahe an sein Spiegelbild herantretend, faßte er mit Gewalt -sein Antlitz ins Auge, und so, Auge in Auge mit sich selber, mit -festgebissenen Zähnen, murmelte er sich zu: Sage! Sag, bist du ein -Prinz, oder nicht? Schurke! sagte er besinnungslos, gesteh! -- -Irgendetwas im Gegenüber schien zu bejahen. Das Blut stieg ihm in die -Schläfen, er schüttelte den Kopf, lächelte und wandte sich ab. Am -Fenster stehend, empfand er die überschwängliche Güte des Tages. Der -Garten vor ihm lag im Schatten, still die Wege, ins Buschwerk -entschwindend; über den schillernd grünen Wipfeln flammte der feuerblaue -Himmel und im tiefen Blau große, gewaltige, schneeweiße Wolkenballen mit -majestätischen Schatten. O göttlicher Tag, dachte er. Und außerdem -Korso! und ein fabelhaftes Tandemgespann! Und Renate! Und mein Plan. -Mein Plan. Langsam, langsam -- aber näher werde ich ihr kommen. Und in -den Sommerferien dann Helenenruh. Da werde ich sie ganz ... - -Augenblicks meldete hinter ihm der blasse Egon: Fräulein von Montfort. --- Georgs Herz erschrak wunderbar angstvoll. Mit der Pünktlichkeit der -Könige ... murmelte er und eilte hinaus. - -Drüben, mit ausgestreckter Hand auf Renate zueilend, umfaßte er ihre -Gestalt mit Blicken und sah alles: das graue Schneiderkleid, den -flachen, grauen Hut und die schwarze, hangende Feder. Er strahlte. - -»Ach, Sie sehen ja wie eine Prinzessin aus!« sagte er glücklich. »Ja, -jetzt wollen wir Tee trinken. Oder lieber Kaffee?« - -Da Renate um Kaffee bat, schrie er zur Tür hinaus: Kaffee! -- - -»Ach, Sie haben ein Bild von Esther,« sagte sie, am Schreibtisch -stehend, »darf ich es sehen?« Sie nahm es in die Hand, ihr Gesicht ward -wehmütig, sie stellte es wieder fort. »Heut vor einem Jahr war es -anders«, sagte sie leise. - -Es ist eine ganze Rinde um sie, dachte Georg und erinnerte sich, wie sie -im Vorjahr um diese Zeit hinter Irene durch die Büsche gejagt war, oder -auf dem Rasen gelegen hatte. - -»Wir sind ein ganzes Jahr älter geworden«, bemerkte er nichtssagend. - -»Zwanzig Jahr werd ich«, meinte sie ruhig. - -»Ein Monat mehr als ich. So, hier kommt Kaffee.« -- - -Sie zog die Handschuh aus, goß sich Kaffee ein, dann für Georg Tee aus -der andern Kanne, tat Zucker, Sahne hinein und gab ihm die Tasse. -- Wie -es denn mit seinem Herzen stehe, fragte sie, in den Sessel gleitend. - -Er lehnte sich an den Schreibtisch und versicherte: »Glänzend! Die -Wochen im Taunus haben mich völlig wiederhergestellt. Ich habe in -Trassenberg schon wieder fest gearbeitet. Übrigens haben Sie dort einen -großen Verehrer. Das heißt, eigentlich sinds zwei, denn mein Vater -fragte gleich nach Ihnen. Der andre ist Onkel Birnbaum. Sie kennen doch -Onkel Salm? Sie haben einmal in Helenenruh drei Worte mit ihm -gesprochen, davon ist er noch beseligt. Als ich anfing, sprechen zu -lernen, soll Onkel Salm mein erstes Wort gewesen sein. Ach, was haben -wir ihn geliebt, Magda und ich! Er war zu allem gut, er hatte in -Helenenruh immer Zeit für uns, schleppte uns herum, ließ sich -malträtieren, kam für jeden Schaden auf, vertuschte alles, oh eine Seele -von einem Menschen.« - -»Weiter, Georg, Sie erzählen so nett.« - -Er setzte die Tasse fort, faltete die Hände ums übergeschlagene Knie und -dachte an seine Kindheit. - -»Haben Sie je gemerkt, wie sonderbar das mit uns ist, Renate? In meinem -Leben hat es -- Gott, ich bin ja noch so jung! -- viele goldene, schöne, -glückliche, erhebende Augenblicke gegeben. Wenn ich mich aber jetzt -erinnern soll: wann war ich glücklich? was fällt mir dann ein? Dann muß -ich an die Stille denken im Pragerschen Hause, nach dem Essen, wenn -alles schlief, wenn ich in meinem Zimmer saß und Karl May las oder -Käpten Marryat und dabei von fern, aus der Küche, die Geräusche des -abwaschenden Mädchens hörte, und hier und da ein Stück ihres Gesangs: Es -war ein Sonntag hell und klar ... so eintönig, so -- öde und -- ach, so -unbeschreiblich sonderbar in der Stimmung, -- und dazwischen das -Klappern der Teller, die sie in die Aufwaschbütte stellte. Ja, da muß -ich glücklich gewesen sein. Oder ich sehe die Dämmerung, und in der -Dämmerung die Tapete im Trassenberger Kinderzimmer, und das dicke -Federbett vor mir, unter dem ich mit ein bißchen Mandelentzündung oder -Masern, oder was es nun war, lag, und mit diesem wunderbar dumpfen -Gefühl angenehmen Krankseins im Kopf sehe ich den hängenden Schnurrbart -von Onkel Salm, und seine immer noch ein bißchen abstehenden Ohren, und -seine dicklichen, und doch so geschickten Finger, mit denen er mir eine -Festung pappt, oder Figuren ausschneidet, oder die Steine auf dem -Damebrett zieht. Oder ich sehe ihn auf den Zehenspitzen hereinkommen, -von weitem spähend, ob ich wach sei oder nicht. So sonderbar ist das! -Wenn meine Mama einmal kam -- Georgs Gedanken irrten flatternd ab --, -das war immer eine erstaunliche Freude, und auch ein Schauder, obwohl -ich den damals wohl noch kaum spürte, aber glücklich war ich, wenn Onkel -Salm kam, den ich am Schnurrbart zerren konnte ... Haben Sie je etwas -Ähnliches ...« fragte er hastig, seine Gedanken abbrechend. - -»Oh ja --« sagte sie gedehnt, »es ist wohl ähnlich bei allen Menschen -...« - -»Ja,« sagte er wissend, »denn was aufregend war, vergeht, alles -Plötzliche verliert seine Kraft, da es ja niemals wieder plötzlich sein -kann, aber was sich von selber einstellte, kaum bemerkt, ja ganz -unbewußt, -- was namenlos in uns war, aber innerst tief und stark, das -taucht wieder auf, das sind stille Schätze, die sich immer wieder -hervorholen lassen ... Was vom Menschen nicht gewußt, oder nicht bedacht -... Durch das Labyrinth der Brust ... Ja, nun wollen wir fahren, ists -Ihnen recht?« - -Sie gingen hinaus, traten aus der Tür und -- halloh, da standen sie! -»Ja, was sagen Sie nun?« fragte Georg triumphierend. - -»Es ist ein Staat«, sagte sie und ging schnell zum Vordersten der beiden -großen, stämmigen Belgier, die unbeweglich hintereinander standen, weiß -und rot gesprenkelt, mit weißem Lederzeug. Auch der Gärtner hatte seine -Sache brav gemacht und den Dogcart sehr leicht in die schwarzen Iris -gepackt; die Räder waren durchsichtige Scheiben davon. - -»Graue Iris,« sagte Renate, »Georg, das ist wirklich schön!« - -»Raffiniert, heißt es,« lachte er, »sehen Sie wohl: Schwarz, das nicht -Schwarz, Weiß, das nicht Weiß, und Rot, das nicht Rot ist! Steigen wir -ein.« - -Ja, dieses war ein wahrhaft königlicher Tag. Leicht klangen die Schellen -vor der Brust der locker vorwärts stelzenden Pferde, leicht und locker -wippte das Wagengestell. »Schade,« meinte Georg, »daß Sie nicht spüren -können, wie die Pferde im Zügel gehn, als wären sie blind; nur von Zügel -und Peitsche hängen sie ab, geben Sie acht, ich lasse einen Augenblick -locker! jetzt!« Der Wagen rollte langsamer, die Pferde standen still. -Georg schnalzte, warf die lange Peitschenschnur wie eine Angel aus, und -es ging leicht und locker um den Rasenplatz weiter. - -Die Alleen waren ein Gewimmel schwarzer und weißer Menschen unter einer -goldenen Schicht von Staub; Blumengestelle, fahrende Ungetüme, die -Kutscher, Reiter ragten drüber hinweg. Vorsichtig tastete er sich mit -den Pferden durch das Getümmel den Fahrdamm hinunter zum Ende der Alleen -und bog um ins Innere der Lindenreihn, den vor ihm rollenden Wagen -folgend. Ah, ja die Rotschimmel erregten mächtiges Aufsehn, wie sie fast -nackt in dem dünnen Riemengeschirr das schwärzliche Gefährt dahinrollen -ließen. Georgs Sinne fingen heftig an zu glühn. Das ist diese herbe -Rinde um ihre Gestalt, dachte er, um Gottes willen, ihr Mund ist ja zum -Tollwerden! Und dies Profil, und dies Lächeln! - -»Ha,« sagte er, »sehen Sie, die Leute fangen an zu grüßen. Ich hoffe, -sie denken, ich fahre meine Braut. Welch ein Jammer, daß ich nicht -regierend bin, dann würden sie Hurra schrein.« Dies scheint mir wirklich -haarsträubend natürlich, dachte er innerlich. Die Militärmusik rauschte -auf, Staub wölkte, Wagen um Wagen rollte vorbei. »Aufgedonnerte -Gemüsekähne«, murrte Georg. »So, da wären wir am Ende.« - -Langsam drehten die Pferde sich um ihre Mitte und liefen den Weg zurück. -Georg, Renates Profil unverrückbar in den Augenwinkeln, hing am -unaufhörlichen Spiel der braunroten Ohren, er wehrte traumverloren die -Fliegen von den blanken Rücken, -- ununterbrochen gingen die -Stummelschwänze hin und her. Die Menschen drängten unter den Bäumen -heran, Mädchen knicksten scharenweise, Renate neigte das entzückt -scheinende Gesicht, und Georg nannte sie die Königin des Tages. - -Da waren sie wieder am Ende. Renate meinte, noch einmal hinauf, dann sei -es wohl genug. -- An diese Augenblicke, dachte Georg, werde ich mich -niemals erinnern, aber sie sind doch kostbar. Ach, da steht ja Benno! -»Sehen Sie, Renate, da steht Benno und strahlt!« - -Sie nickte und winkte, Benno, hochrot, warf den Kopf zurück, lächelte -beseligt und verbeugte sich tausendmal. - -»Unter diesem Getümmel das reinste Herz«, sagte Georg anerkennend. Da -waren sie wieder am Ende, und Renate bat, sie noch um den See zu fahren. - -Während sie auf dem hohen Ufer um den tiefliegenden Teich voll -Himmelsblau und Wolkenballen hinrollten, biß Georg die Zähne zusammen -und verschwor sich, daß er an Renate und alles andre seine Seele setzen -wolle. Ich habe sie doch immer geliebt, sagte er sich zornig, ich kann -ja nicht los von ihr. Bin ich nicht etwa der Einzige, zu dem sie paßt? --- Er fand keine Worte mehr, still schweigend fuhren sie dahin, -ununterbrochen klangen die kleinen Schellen, trabten die acht Hufe. -Georgs Sinne verlangten nach einer verdreifachten Schnelligkeit und -zuckten zugleich vor Schreck, wenn ihm einfiel, daß alles gleich ein -Ende nehmen würde. Der See lag schon hinter ihnen, da glühten die -Sportswiesen zur Rechten weithin dunstig in der Sonne, rot- und -weißgestreifte Hockeyspieler sprangen in wilden Zuckungen hin und her, -nun rollten sie in den Schatten der großen Bäume, da stand der Obelisk -am Wassergraben, der Weg bog zur Rechten aus, sie waren wieder im -Freien, neben der Hecke, an den Wiesen, dumpf polterten die Hufe auf der -kleinen Holzbrücke, Baumschatten nahm sie auf, rechts dunkelte der -Graben, hinten erschien der gelbe Mauerputz des Schlößchens im bewegten -Grün. -- Ob ich ihr nicht eine Andeutung -- ein ...? Aber er wagte kein -Wort. Seine Hände glühten in den Handschuhn, er ließ die Zügel locker, -die Pferde fielen zum erstenmal in Schritt, er sah, wie sie gleichmütig -dahinschritten, wie Kühe mit schaukelndem Rücken. Die Hälse gingen tief -nieder und empor, das Vorderpferd hob den Kopf, schüttelte ihn und -grunzte. Wie still es war! Es ist Wahnsinn, dachte Georg, aber wie kann -ich sie ungeküßt lassen? - -»Nun, wars schön?« fragte er freundschaftlich. Sie nickte und meinte, es -führe sich sehr angenehm und leicht. Duft ging unbeschreiblich von ihr -aus. Es flimmerte vor Georgs Augen. Blaue Stürze von Himmel brachen -durch das Gewimmel der Wipfelzweige, laut schlugen Buchfinken. Drei -Spatzen tummelten sich im weißen Staub der Straße, schimpften und -flatterten schwärzlich auf vor den Hufen. Da standen die Kandelaber vor -der Rampe, da der große schwarze Kasten von Automobil am Rande des -Rasenplatzes, und der Kutscher ging schon um den Wagen und bückte sich -und warf den Motor an. Die Pferde standen still. - -Georg, kalt vor Erregung, Bitterkeit im Munde, schleuderte die Zügel -unbekümmert über die Pferde hin, daß sie erschraken, vortraten und der -Wagen anruckte, während er absprang und nach der andern Seite herumlief, -um Renate selbst herunterzuheben. Das Herz schlug ihm süßlich, als er -ihre Hand, ihre Last auf der Schulter spürte. Sie wechselten noch -irgendwelche Worte, sagten: »Auf Wiedersehn!« Dann sank sie in die Tiefe -des dämmrigen Wageninnerns zurück, der Motor murrte und rasselte, und -alles rollte mit langsam knurrender Schwenkung auf die Wegmitte und -davon. Georg las noch lange ohne Gedanken die Nummer auf dem Schilde -unterm After der Karosse, stand und wußte auf einmal nichts mit sich -anzufangen. Ja, was nun? dachte er. -- - -Danach stand er beim Vorderpferde, das den Kopf auf seine Schulter -legte, tätschelte ihm den festen Hals, atmete den Geruch von Roßhaar am -Gesicht und sagte sich: Was war nun das? Eine halbe Stunde Pferdelenken. -Die Gäule verkauf ich morgen mit Gewinn an Prinz Taxis, was soll ich mit -einem Tandem? Unkas genügt mir. Da bin ich mit einer schönen Frau über -den Korso gefahren, und wir haben geplaudert. -- - -Der Groom sagte etwas, Georg antwortete etwas, wandte sich um und sah am -Rande des Rasens eine Dame stehn, in einem fliederblauen Kleid, -verschleiert, die mit der Spitze des Sonnenschirms zwischen den Halmen -stocherte, und es war Cora. Hatte sie ihn gesehn? Aber natürlich! Er -bewegte sich, sie sah auf und tat, als sähe sie in diesem Augenblick, -daß er es sei. Nun ging er auf sie zu, unwissend, was kommen würde, aber -entschlossen, daß nichts ihn bekümmern sollte. Sie blickte ihm gerade in -die Augen und sagte: - -»Bereits außer Dienst gestellt, Prinz, oder nur _à la suite_?« Über sein -langes Fernbleiben also glitt sie stillschweigend hinweg ... - -Er fragte, ob sie einsteigen wolle, aber sie antwortete gar nicht. -Abgewandt stand sie da, Georg stumm neben ihr und verbissen. - -»Zeigen Sie mir lieber Ihre Wohnung,« sagte sie spitz, »wo waren Sie so -lange?« - -Ich will nicht antworten, dachte er und bemerkte obenhin, es sei ein -schöner Tag, und er wäre viel unterwegs gewesen; übrigens schien sie -keine Antwort zu erwarten, entspannte einen apfelgrünen Sonnenschirm und -setzte sich in Bewegung. - -Auf dem Flur, im Zimmer sah sie sich mit leichten Bewegungen des Kopfes -im langsamen Vorbeigehn alles an, ließ sich den Schirm abnehmen, blieb -dann vor einem kleinen Ölbild stehen, das am Boden stand, an den -Schreibtisch gelehnt, eine Bulldogge, von Bogner gemalt. - -»Ach,« sagte sie entzückt, »das muß von Benvenuto sein! Es ist herrlich, -der Mann ist ein Genie, finden Sie nicht? Schade, daß er so selten hier -ist, haben Sie von dem Riesenauftrag gehört? Ich habe ihn kaum zu sehn -gekriegt, ich bin jetzt viel allein, mein Mann ist verreist, -- ja, er -hat sich überarbeitet, -- nein, dieser Hund! Wie er dasteht! Aber -möchten Sie so einen Hund haben? Er ist doch zu häßlich! Ich kann -Bulldoggs nicht ausstehn, Herbert wollte immer einen haben, -- Gott, -wenn man keine Kinder hat! wir hatten auch mal einen Terrier, aber er -roch so ... Sie sehen gut aus«, sagte sie, vor ihn hintretend. - -Sie hatte den Schleier hochgeschoben, er sah ihre matten Augen, das -blasse Band von Sommersprossen darüber, den verwischten Mund, die in der -Mitte breiten Lippen, dann wichen ihre Augen aus, sie ging an ihm -vorüber und mit ihren weichen Seitwärtsbewegungen im Zimmer umher. Georg -trat an ein Bücherregal zurück, stützte, die Hand am Hinterkopf, den -Ellenbogen dagegen, sah ihren Hals von hinten und den goldbraunen, -flachen Strohhut, wie sie sich über den Schreibtisch beugte und Esthers -Photographie in die Hand nahm. Doch war sie eigenartig, und ihm ward -lüsterner zumut, er spürte ein hitzig glühendes Schwellen am Leibe, -dachte, er wollte hinter sie treten, ihren Kopf zurückbiegen und -- bloß -sie haben, ja so bloß ... Da sah er Esthers kleines, photographiertes -Gesicht in ihrer Hand, ihm fiel ein, wie er hier zum erstenmal -eingetreten war nach ihrem Tode, wie er sie dann überall verspürt hatte, -immer hinter sich; wenn er am Klavier saß: im Nebenzimmer, wenn er am -Fenster stand: am Klavier, -- aber empfinden ließ sich das nicht mehr. -Dann war er in den Taunus gefahren ... Esther war lange tot. -- - -Cora hatte das Bild stillschweigend wieder hingesetzt, bewegte sich -wieder, stand in der Tür zum Nebenzimmer. Er glühte auf, ging auf sie -zu, trat hinter sie, faßte ihre Ellbogen, sie wehrte sich, gleich darauf -fiel ihr Kopf nach hinten zurück, ihr Gesicht lag an seiner Schulter, -sie atmete heftig, die Augen geschlossen, den Mund zugepreßt. Er legte -den seinen darauf, preßte, so stark er konnte, ihre Lippen teilten sich, -er fühlte ihre Zähne und schob seine Zunge dazwischen. Nun warf sie sich -herum, gegen seinen Leib, warf ihre Arme um ihn, er fühlte ihre Hände -auf seinem Rücken zucken und fliegen, ihr Leib ging stoßweise auf und -nieder, während ihre Lippen, ihre Zungen, ihre Atemstöße sich -vermischten, er riß ihr Kleid auf, tastete nach ihrer Brust, und sie -griff zu und riß die Bänder an der Untertaille auf, und er hatte ihre -linke Brust in der Hand, schlaff, warm und weich, aber doch ... Da -wankten sie, -- oh Teufel, nun war kein Diwan da! Wohin mit ihr? Sein -Bett war greulich schmal. In den Garten? am lichten Tag? Wütend jagte es -ihm durch den Schädel: das verschlossene Zimmer! Er ließ sie los, griff -die Schlüssel aus der Tasche, lief, die Türen aufstoßend, durch Bade- -und Schlafzimmer zur Tür, schloß auf und öffnete, ohne umzusehn. Er -zauderte, kehrte langsam zurück, da stand sie abgewandt, vorn an ihrer -Taille hakend, aber sie hatte den Hut abgenommen, und er umschlang sie -wiederum, hob sie auf und trug sie davon. Sie war schwer, aber er zwang -sich bis zur Tür des Zimmers, wo er sie niederlassen mußte. Sie, -ungeschickt sich aufrichtend, machte erstaunte Augen in den Raum, -während ihm die seinen überquollen vor Gram über die Schändung des -Heiligen, so daß er sekundenlang nichts sah, als die schwarzen, über die -Fenstervorhänge von Cremeweiß fliegenden Reiher. Dann erschien, schräg -im Raum mit dem korngelben Teppich am Fußboden, der dunkelviolett -überspannte Diwan mit einigen Kissen in Lichtgrün, Fleischfarbe und -Weiß, dahinter das alte indische Tempelpaukenbecken auf einem -Ebenholzschemel gefüllt mit imaginären Blumen. Und endlich mußte er -gegenüber der Tür das Himmelbett sehn, meergrünes Gewoge von Falten und -Bäuschen, aus dem das wenige Mattgold der schlanken Säulen blitzte und --- unter seinem wilden Fingerdrucke entflammte eine geheimnisvolle -Leuchte -- der zarte Perlmutterschimmer in den Kassetten des -Betthimmels. Indem sah er Cora vorwärts gehn und das ovale, in rosene -Marmorwülste gefaßte Becken in Augenschein nehmen, aus dem ein -silberner, fadendünner Strahl steigen und Wohlgeruch aus Ophir -zerstäuben sollte, wenn -- -- Georg verließen die Sinne. Aus den großen -farbigen Flecken schmolz die eine Farbe, die Un-Farbe, die nicht -auszudrückende, nicht zu beschreibende, -- nicht weiß, nicht rosen, -nicht elfenbeinen, nicht marmorn, und doch Farbe von allem, vom Schnee, -und vom Mandelbaum, vom Kirschbaum und der Narzisse, und nicht Farbe, -Äußeres, sondern Hauch von innen, Leuchten, Atem, Blut, Süße von innen, --- Renate! -- Georg zuckte. - -Mit geschlossenen Augen saß sie da. Dann warf sie sich, das Gesicht in -den Händen verbergend, in die Kissen. Einen Augenblick dachte er, davon -zu laufen. Da war wieder diese entsetzliche Pause! Er spreizte die Hände -von sich, die kalt und schweißig waren. Sie rührte sich nicht. Da kniete -er mit dem rechten Knie neben sie auf den Diwan und fing an sie -auszuziehn, die Taille, den Rock, den Unterrock, graue Halbseide, das -Korsett, violett, abscheulich, -- wie dick ihre Beine waren! Er hörte -sich schnaufen, zerdrückte das beständige Gefühl vieler -Scheußlichkeiten, sah ihre gelbliche, sehr glatte Haut zum Vorschein -kommen, streifte Hose, Strümpfe, Schuhe herunter, sie fühlte sich kalt -an, das Hemd ließ er ihr noch, während er sich auszog, nichts denkend, -gar nichts denkend. Sie hatte ihr Gesicht wieder versteckt, warum wohl? -aber jetzt sah sie auf und sah das Himmelbett, richtete sich auf, wollte -aufstehn und hingehn, aber da schrie er wütend: Bleib! riß das steife -und verwickelte Manschettenhemd über den Kopf und stürzte sich über sie, -fühlte sie und sich kalt und unbehülflich, dann bäumte sie sich und -umschlang ihn mit allen Gliedern. Einen Augenblick, über ihren Kopf, ihr -verschlossenes Gesicht, die Kissen hin, zu Boden starrend, ging es durch -ihn hin: Esther -- -- Renate -- -- Welche war es? Süß quoll es in ihm -auf: Cordelia! -- Da erschien ihm Renates Gesicht, schwebte und entwich, -er fühlte Cora, eine fremde Frau, auf der er lag, die ihn schwer -umschlang. Einen Pulsschlag lang schauderte ihn, und er gefror; eine -Schlange lag um ihn mit kalten Ringen; die aber wurden warm und -schmolzen, und er würgte sich in sie hinein. - - - Cora - -Georg wachte auf in der Nacht; der Regen spritzte ins offene Fenster, es -donnerte in der Ferne, -- ihm war heiß, das Federkissen lag an der Erde, -die Schlafbeinkleider waren ihm bis zu den Hüften heraufgerutscht, -scheußlich! Schlaftrunken tastete er nach der Wasserkaraffe, setzte sie -an den Mund, trank lange, ließ die Hand mit ihr zu Boden hängen, den -Kopf vornüberfallen und dachte: Aus der Karaffe trinken ist die größte -Wollust des Lebens. -- In allen Gliedern merkwürdig leicht und -gelockert, wollte er sich umdrehn und weiter schlafen, aber der Regen -plantschte jetzt heftiger auf das Fensterbrett, und er stand unwirsch -auf, ging ans Fenster und machte es zu. Am Riegel hangend, wand er sich -im ungeheuren Gähnkrampf und dachte: Ach, ich möchte auch ein Gewitter -sein! -- Dann legte er sich wieder hin, schwacher Blitzschein glomm vor -seinen Augen auf, es donnerte lauter. Ah, wie der Regen rauschte! - -Ich wollte, sagte er vor sich hin, es schlüge ein und Cora ginge dabei -tot. Ich denke unchristlich. Man kann nicht für Gedanken. -- Er sah sie -an der Erde liegen, maustot, er sandte einen Kranz zu ihrem Begräbnis, -munterte sich dann auf, setzte sich im Bett hin, ein krachender Donner -rollte wütend im finstern Mauerhof der Nacht umher, dann ging die Tür -auf, und Cora stand darin, bleich, sichtbar im Blitzschein. Er verstand -nicht, was sie sagte, da ein neuer Donner herunterknallte, rollend -dahinbrüllte, polterte, aufgrollte und sich murrend zusammenrollte. Cora -hatte Licht gemacht, er fragte, ob sie sich fürchte. - -»Fürchten nicht,« sagte sie matt, »aber man regt sich doch auf.« - -Sie glitt durchs Zimmer zur Tür gegenüber, öffnete, glitt hindurch, -Georg sah auch dort drinnen das Licht aufflammen. Ihr nachsehend dachte -er kümmerlich: Sollte dieses Weib es darauf angelegt haben, mich -zugrunde zu richten? Wie werde ich sie bloß wieder los? -- Er rollte -sich im Bett zusammen, indem flammte das Zimmer blauhell auf, und mit -ungeheurem Prasseln knatterte der Donnerschlag hinterdrein, daß alles -knallte und krachte, sprang in wüsten Sprüngen, tobend, lärmend, um sich -hauend mit Keulen, Wagenlasten voll metallener Schilde umstürzend, Züge -voll Porzellan zusammenschiebend und schlagend, weit hinweg, ermattete -endlich in langen röchelnd rollenden Stößen und ward still, während Cora -erschreckt im Türrahmen erschien. Ganz leise fiel nun der Regen. - -Das Licht brannte in George Augenwinkeln; er sah sie dastehn, -mädchenhafter aussehend mit dem gelösten Haarschopf. Sie sagte -theatralisch, sie möchte nackend draußen im Regen liegen und mit Blitzen -spielen. Georg lachte kurz, der Donner knatterte wiederum auf, jedoch -entfernter, er sagte, sie solle schlafen gehn. Wirklich ging sie gleich -darauf hinaus, ohne das Licht abzudrehn. - -Georg sah sie nebenan in dem königlichen Bett liegen und würgte an -trocknen Verwünschungen. Herr des Himmels, dachte er, man tut so was -wohl einmal, man umschlingt sich und genießt sich, aber einmal doch -bloß, einmal! Ach, daß zur Verrichtung der sexuellen Notdurft eigentlich -alle Frauen zu schade sind! Wie kann ich denn eine Frau acht Tage lang, -acht Jahre lang immerzu lieben? Das ist doch eine Unmöglichkeit! Ich -schwöre, daß man eine Frau, die man liebt, ein einziges Mal umarmen -darf, nicht mehr! Oder es müssen Wochen und Monate vergehn, bis man das -erste Mal vergessen hat. Ich hasse dies Weib. Ich habe sie von Anfang an -gehaßt, ich erinnere mich nicht, mich jemals mit solcher Wut in eine -Frau gebohrt zu haben, -- aber, dachte er, wenn ich schlaff -- -zusammengekrüllt wie ein welkes Blatt oder -- wie so eine aufgestochne -Raupe neben ihr lag, so war das doch geradezu eigenartig. Wenn ich nun -bloß wüßte, was sie von mir will! Bloß so: nicht wieder weg? Geld? nein, -das glaube ich nicht. Sie verdarb sich ihr Dasein, indem sie heiratete, -und nun kann sie den neuen Weg nur nicht finden, hat wohl auch noch -Scheu davor. -- Hier fingen seine Gedanken an, undeutlich zu werden, -bald darauf schlief er ein. - -Beim Erwachen fiel ihm ein, daß -- wie eigenartig! -- Himmelfahrt sei. -Er mußte schlecht geschlafen haben, fühlte sich dumpf und unklar, kam -erst einigermaßen zur Besinnung, als er mit der ersten Zigarette vor der -Gartentür im Sessel saß, angesichts des gewaltig herunterströmenden -Regens, in dessen grauer, kalter Masse die Gartenbäume erschüttert und -duldend hin und her wankten. Cora kam dann und ging zu ihrem Frühstück -hinter ihm vorüber nach nebenan. Er gähnte krampfhaft, legte sich mit -geschlossenen Augen zurück und genoß die Wohltat des großen Rauschens -und der fallenden Gewässer, spürte aber alsbald den Angstdruck in der -Magengegend, ruckte wieder empor, saß fröstelnd, die Handknöchel -reibend, und begann zu überlegen. Wenn er abreiste, -- ja, wohin? Und -wie stand er dann vor seinem Vater? Von England war er eben rechtzeitig -ins Semester gekommen, an dem Herzfehler war er freilich gewissermaßen -unschuldig, aber dies Hin und Her war doch abscheulich! Und Renate? Er -fühlte den Druck in der Magengegend stärker, die Gedanken zerstreuten -sich. Da sprang er auf, ging ins Schlafzimmer, zog feste Stiefel und den -Gummimantel an und lief in den Regen hinein. Das tat wohl, er konnte -über sich selbst hinwegsehn, Wipfelwanken und Regensturz groß und -stürmisch empfinden, und als er wieder die Tür des Schlößchens öffnete, -hatte er das Gefühl, daß etwas sich inzwischen ereignet habe. Ja, der -Diener sagte, Fräulein Chalybäus habe aus Berlin angerufen; sie würde -nach einer Stunde noch einmal telephonieren. Magda? Was war da geschehn? -Sie hatte kein Telephon in der Wohnung, er mußte warten. - -Als er ins Zimmer kam, saß Cora am Flügel und klimperte aus -irgendwelchen Noten, die sie gefunden hatte. Er setzte sich wieder in -den Sessel und begann alte Gedichte durchzulesen, um zu sehn, was sie -wert waren. -- >An E.< stand da. - - Träumerische Stunden lang - Senk ich mich in deine Ferne - Wie in einen Glockenklang, - Den ich zärtlich lieben lerne ... - -Lieben lernen? Einen Glockenklang? - - Der aus unbekanntem Tal ... - -Georg überflog zwei Strophen und kam zur letzten: - - Und indes die Nacht anbricht, - Sprech ich seufzend zu den Winden: - War ich heimgerufen nicht? - Aber sagt, wie soll ich finden! - -Georg fluchte. Vor einem Jahr schrieb ich das? Und wann hätte ich jemals -zu den Winden gesprochen? -- Da fing er das nächste Gedicht an: - - Aber du, Geliebte, deine Augen - Hat noch nie ein falscher Hauch getrübt ... - --- übersprang eine Zeile --: In der seligen Geduld geübt ... Wen meinte -ich damit? Er nahm ein anderes Stück vor und las: - - Sonett - - O Herbst, du schwankend Abbild meiner Seele! - Wo jähe Klarheit schnellt aus Dämmernissen, - Vom Himmel flutend, überall zerrissen, - Und oft durchbrüllt von einer rauhen Kehle. - - Und Bäume, Felder und der Büsche Hügel - Wälzen sich hart, ganz wankend ist die Welt, - Und nirgends etwas, das nicht nächstens fällt, - Doch noch im Sturz sich hebt auf kargem Flügel. - - Und wie das Blatt, das golden, schöngebräunt - Zum Falter wird in buntem Taumelfluge, - So spür ich tiefer fröstelnd, armer Freund: - - Was in mir zuckt, sich wirft, lebt, schwankt und siedet, - Sich selber jagt wie eine irre Fuge: - Alltod umfängts, Allsterben stillt und friedet. - -Dies gefiel ihm ganz gut, obgleich es schwächlich klang und an hohe -Vorbilder gemahnte. >Lied des Sehers< stand über dem nächsten. Was ist -das? fragte er sich, wann schrieb ich das? Er las: - - Du Herrlichkeit! Weißt du denn nicht dies Glück: - In blinden Spiegeln, Scherben, blankem Tand, - Falschen Juwelen oder trüben Wassern - Der großen Sonne einen Strahl zu fangen? - -(Weiterlesend dachte er an Cora, und an wen er wohl damals gedacht haben -mochte ...) - - Jubeltest niemals du, wenn nach des langen - Schwermütigen Regens Dämmernis am Abend - In ferner Häuser grauer, öder Mauer - Ein Glas aufquoll, lebendiges Blut und Feuer? - - Du Herrlichkeit! (Georg schüttelte den Kopf) gebückt, wenn du mir - fern, - Schleif ich die Blicke über dumpfem Boden; - Dann zuckt ein Glanz, dann regt vielleicht ein süßes, - Mitleidiges Leuchten ... - -Heftig schrillte das Telephon. Georg legte das Buch aus der Hand, ging -hin und hob den Hörer. Magdas Stimme fragte, ob er es sei; er bejahte, -und sie bat um Verzeihung, daß sie störe, aber ihr Vater sei in der -Nacht gestorben. Ja, als sie am Morgen ins Zimmer gekommen sei, habe er -tot im Bett gelegen. - -»Es ist ja wohl gut, Georg,« hörte er sie sagen, »er hat ein sanftes, -unbemerktes Ende gehabt. Und nun wollte ich dich bitten ... Wie ist es, -hast du nicht Pfingstferien?« Georg bejahte. »Dann, -- könntest du -vielleicht ein paar Tage kommen und mir helfen? Ich habe hier eigentlich -niemand und --« Georg unterbrach sie mit heftigen Versicherungen, daß er -sofort komme, und sie endeten das Gespräch. - -Eine Weile ohne feste Gedanken stand Georg hinter dem Sessel, in dem das -aufgeschlagne Buch lag, nahm es dann auf und las willenlos das Gedicht -zu Ende: - - Mitleidiges Leuchten sich und singt von dir: - Nichts das von dir nicht lebte, selige Sonne! - Da ist nichts so gering: ich liebe es doch - Und dränge mich daran mit Auge und Lippe. - Auch im Verworfenen fand ich den Spiegel, - Darin die Gottheit gerne sich vergißt. - -Nun lächelte er trüber, fragte sich, ob Cora der trübe Spiegel von -Renate sein solle, und ob er davon wirklich entzückt sei, wenns der Fall -wäre, legte das Buch in die Schieblade, stand davor, die Schlüssel in -der Hand, und konnte sich auf nichts besinnen. Endlich fiel ihm ein: -Kursbuch! -- Er fand es auf dem Schreibtisch, sah, daß es zum -Zwölfuhrzug schon zu spät war, daß es bis zum Dreiuhrzug ihm zu lange -dauerte, ging hinaus und befahl dem Hausmeister, den Reitknecht zu den -Adlerwerken an der Goseriede zu schicken und einen Wagen zu mieten. Er -selber half dem Diener den Koffer packen. Danach ging er zu Cora und -sagte, er verreise, was sie zu tun gedenke. Oh, sie würde warten, meinte -sie leichthin. - -Sie lag in dem selben Sessel ausgestreckt, in dem er eben gesessen -hatte. Ihn schauderte vor ihrem ganzen körperlichen Dasein, an dem keine -Stelle nicht abgenützt war durch Liebkosung und nicht nur durch seine. -Ob sie tatsächlich nicht zu ihrem Mann zurückwolle, fragte er. - -Sie habe es ihm ja gesagt; ihre Ehe sei längst keine mehr, sie hätten -sich bloß noch körperlich gebraucht, sie sei das müde, ihr Mann -vermutlich auch, aber man könne ja nicht wissen, vielleicht liebte er -sie noch immer, sie aber könne nicht mehr. - -»Du hast eignes Vermögen?« fragte Georg in Gedanken. Sie zuckte die -Achseln und meinte: »Genug für mich!« - -»Ich werde«, sagte Georg langsam, »nicht zurückkommen. Dies Haus ist zu -deiner Verfügung, nur mußt du die Güte haben, in der Stadt zu essen.« - -»Das heißt also, ich bin entlassen?« fragte sie spitzig. - -Georg senkte den Kopf und meinte, wenn sie es so ausdrücken wolle ... - -Er setzte sich auf die Lehne des Schreibsessels, griff nach dem -Schildpattmesser zum Briefaufschneiden und sah, daß es schwächer -regnete; am Himmel, über den Bäumen, brach silbrige Helligkeit auf. Daß -es grade Magda sein muß, die mich frei macht! dachte er gebeugten -Sinnes, und vor ihm schwebte seltsam das Gesicht ihres Vaters. - -Die Gedanken verliefen sich; er sah ungeduldig auf die Standuhr, indem -trat der Reitknecht ein und sagte, der Wagen stünde draußen. Er hörte -Cora etwas sagen, verstand es aber nicht, da er nun den Telephonhörer -aufhob, den antwortenden Hausmeister bat, ihn mit Benno zu verbinden, -dann Bennos Stimme hörte und ihm sagte, daß Magdas Vater gestorben sei -und daß er hinfahre, um ihr zu helfen. Benno fragte nichts weiter, trug -ihm Grüße auf, und jetzt war der Diener da mit dem Mantel. Er zog ihn -an, schickte den Diener weg und ging auf Cora zu. Auf einmal hob sie die -Hände wie Krallen, Lenuschs Gesicht erschien ihm in dem ihren, da sie -die Lippen öffnete bei zusammengebissenen Zähnen. »Hüte dich!« keuchte -sie und warf sich herum, ihr Taschentuch in den Mund steckend. Da mußte -er lächeln und sagen, sie werde ihm hoffentlich nichts kaputt machen in -der Wohnung. Sie warf die Schultern hin und her, fiel in den Sessel und -weinte. Sie tat ihm leid. - -Cora, sagte er leise, legte ihr die Hand auf die Schulter und fragte, -was denn aus ihnen Beiden werden solle. - -Sie unterdrückte ihr Schluchzen, murmelte, er sei's ja nicht wert, sie -wollte nicht weinen. -- Ach, sie hatte ihn doch wohl sehr lieb. -- - -Nun sprang sie auf und meinte kühl und hoffärtig, er hätte wohl recht, -sie wolle fort. Da legte er den Hut wieder aus der Hand und sagte, er -wolle ihr helfen, ihre Sachen zu packen. Sie ging, und er folgte. Das -schöne Zimmer, kaum entstellt, machte ihn traurig, sie packten wortlos -Coras Koffer und Handtasche, der Diener trug alles hinaus, Georg half -Cora in den Mantel, sie gingen. - -Im Wagen starrte sie abgewandt aus dem Fenster. Als sie in die -Eichstraße einbogen, sah er, daß sie weinte. Aber sie übersah seine -Hand, nickte nur, stieg aus und ging ins Haus. Der Diener folgte ihr mit -den Koffern. Georg atmete auf und bedauerte sie erleichterten Herzens. - -Was wird nun kommen? dachte er, als der Wagen sich wieder in Bewegung -setzte. - - - Überraschungen - -Georg, aus Berlin zurückgekehrt, hatte sich umgekleidet und trat eben -aus dem Schlafzimmer hervor, als die Tür zum Flur von draußen geöffnet -und -- vom überragenden Benno vorwärtsgeschoben -- etwas anscheinend -sehr Liebliches über der kleinen Treppe sichtbar wurde, ein Mädchen in -gesticktem weißen Kleide und gelben Schuhn, das Gesicht noch -zurückgewandt unter einem großen und flachen, gelblichen Strohhut von -ländlicher Form, einen leichten Feldblumenkranz um den Kopf und mit -langen, nach hinten hängenden breiten Bändern von schwarzem Samt. Das -Gesicht, das nun erschien -- errötet und mit schüchternem Lächeln -- war -ganz und gar mädchenhaft, jung, zart, gerundet, großäugig, ja überaus -lieblich wie das Ganze. -- Benno aber kam jetzt die Stufen herunter -gestürmt, fliegend über und über, fliegender langer Beine und Rockschöße -und Arme, fliegender Stirne und Haare, fliegender Augen, ja selbst die -rot angelaufene Nase im heißen Gesicht schien, sich krümmend und mit den -Flügeln zitternd, entfliegen zu wollen, und so hatte er Georgs Hände -gepackt, zerrte sie nach unten, riß sie nach oben und schleuderte sie -wieder nach unten, stotterte und war glückselig. - -»Das ist sie, Georg!« Seine Stimme war ganz ins Tiefe umgebrochen. »Ich -habe sie errungen! Nun nimm sie!« Und die Stimme verhauchte ihm. Die -Augen verkehrt in Scham und Wonne, ließ er Georg fahren, stürzte wieder -zu dem oben noch zögernden und lachenden Mädchen, ergriff ihre Hand und -rief, sie ritterlich zu ihm geleitend: - -»Das ist Georg! Nun -- sieht er fürchterlich aus? -- Sie hat gedacht,« -kicherte er, und das eigene Lachen verschlug ihm die Stimme, »du müßtest -schrecklich sein wie Artaxerxes!« Und lachte unmäßig über den Witz. - -Georg, bei allem Gerührtsein über Benno, fand sich wider Erwarten mehr -überrascht als entzückt, dieweil er dem Mädchen entgegenging, lachte und -fragte: - -»Bennos Braut, das solls doch bedeuten, nicht wahr?« Und er beteuerte -seine Freude, klopfte Benno die Schultern, alle Drei lachten, das -Mädchen eine erstaunlich melodische, fast romanhafte -- dachte Georg -- -Silberlache, die Tonleiter hinauf und hinunter. - -Rötlich blond war sie; die Scheitel, von der Stirnmitte über die Brauen -zu den Ohren gesenkt, bauschten sich locker und zausig, und weißliche -Streifen zeigten sich im Roten und Goldenen. Die Augen schienen gemischt -Grau mit Braunem und Grünlichem. Oh, sie war hübsch. - -»Aber wie heißen Sie denn, bitte? Benno, wie heißt sie? Denken Sie, ich -weiß Ihren Namen so wenig, wie ich bislang von Ihrem Dasein etwas ahnen -durfte. Wie kommt das, Benno, gesteh!« - -Benno war tödlich verlegen. Doch -- einmal -- ganz im Anfang hätte er -Georg von ihr erzählt, -- von Begegnungen ... - -Tausenden sei er begegnet, Tausenden! -- Und wieder ertönte das gurrende -Lachen hinauf und hinunter, während sie sich mit geschmeidiger Bewegung -vor und zurück bog. Georg gestand, mit halbem Bewußtsein lügend: »Ja, -Benno, wenn sie lacht, ist sie unwiderstehlich. Und nun bitte den -Namen!« - -Aber Benno ereiferte sich noch über die tausend Begegnungen, war selig -gekränkt, eitel und beschämt und beteuerte, seit einem Jahr, wo er sie -das erste Mal gesehn, habe er nicht eine einzige Begegnung gehabt. »Und -sie heißt Elfriede!« brachte er endlich, wieder verzückt, hervor. - -»Elfriede Krumm«, sagte sie fröhlich und bewußtlos. - -»Aber ich habe sie -- Elfe getauft!« - -»Wunderbar, Benno! das ist recht!« lobte Georg, in diesem Augenblick -seiner erst unbewußten Enttäuschung ganz inne. Der schändliche Zuname -hatte sie ans Licht gefördert. -- Ja, was ist denn? fragte er sich -besorgt. Hatte ich etwas andres erwartet von Benno? Warum gefällt sie -mir denn nicht? -- Überdem sah er den blassen, stets lächelnden Egon -dastehn zum Zeichen des Abendessens. - -»Geh hin, Egon, gratuliere Herrn Prager, das ist sein Fräulein Braut.« -Während Benno des blassen Egon Arm auszureißen suchte, drängte Georg die -Elfriede -- Elfe gelang ihm zu denken nicht -- zum Mitessen und bewegte -sie, obwohl sie sich zierte -- ihre Mama erwarte sie doch --, allmählich -durch das Zimmers, dann zum Annehmen seines Arms und führte sie durch -die Tür. - -Er konnte sie von der Seite betrachten im Gehn. Ihre Nase war grade, -kurz, schlecht und recht, -- wie auch der Mund, der undeutlich und blaß -war, >als Mund gemacht<, wie Georg einfiel, der sich nicht von ihm -verlockt fühlte. Und nun sah er etwas --, etwas Winziges nur, doch -- es -war etwas ... Am äußeren Augenwinkel nämlich zwei kleine Fältchen in der -Haut, kaum bräunliche Fältchen, die sich bewegten, wenn sie, wie sie -beständig tat, die Augen zusammenzog im Lächeln und Lachen. -- Die -sinds, stellte Georg unerbittlich fest; ich werde dahinterkommen, was -sie bedeuten. - -Und während das Mädchen nun am Kopfende der ovalen Tafel in der Apsis -zwischen den Freunden saß, mehr lachte als sprach, Georg ihr von der -Omelette und ihrer Füllung von kleinen Frühjahrserbsen mit der Bemerkung -vorlegte, das sei »die einzig mögliche Speise für zarte Bräute« und, so -weiterhin scherzend, mehr albern war als heiter -- was jedoch allein er -selber zu bemerken schien --, prüfte er sie auf das genaueste. - -Die Bewegungen beim Essen waren zierlich. Aber die Hände waren nichts. -Rötlich, ausdruckslos, nicht groß, nicht klein; die Zeigefinger waren -schief gebogen, die Gelenke verdickt, und der Daumen hier -- oh der -Daumen war ein leibhafter Altjungferndaumen, und augenblicks erkannte -Georg, daß ihre Augen -- hart waren, im Schnitt und Eingefügtsein in die -Lider, nein hart sogar, wenn sie sich ernst verhielt, im Blick. Und da -waren die zwei Fältchen links und rechts. Diese Fältchen, dachte Georg, -werden dafür sorgen, daß ihr Gesicht lange so bleiben wird wie jetzt, -rundlich, weich, die Züge unverändert, nur die Frische, die wird eines -Tages verschwunden sein -- ich sehe ja das reizlose Fleisch schon jetzt -unter der zarten Haut. Und dann auf einmal wird sie -- hart geworden -sein, oh hart ist sie jetzt schon ganz innen! -- und alt ... - -Es half Georg nichts, sich zu wundern und zu schelten wegen seiner -Richterlichkeit. Sie war reizend -- und er mochte sie nicht. Und ihn -bangte wegen Bennos. -- Habe ich nicht immer für ihn sorgen müssen? -fragte er sich gerührt, ihn sitzen sehend in seiner Übergossenheit von -Seele und Seligkeit. - -Egon trug, wie Georg befohlen, Sekt im Kühler herein und stellte -Spitzgläser auf, zu Bennos tiefstem Entsetzen auch eins vor Georg, der -doch keinen Wein mehr trank seit seiner Krankheit. - -»Ich dulde es nicht, Georg!« empörte er sich, »es ist unerhört von dir!« -und ging so weit, ihn am Arm festzuhalten, daß der Wein das Tischtuch -überschäumte. Das schaffte denn Aufschub, und Georg gelang es, seinen -Trinkspruch auszubringen, anzustoßen und einen Schluck zu nippen. - -»Aber was wird nun Renate sagen?« spottete er, das Glas niedersetzend. -»Ich denke, Benno, du verzehrst dich in Anbetung, nicht wahr --, und nun -...« - -Oh dies ewige, mühelose Lachgeklingel sollte der Teufel holen! -- Georg, -dem nach der langen Entbehrung der Schluck Weins doch den Kopf erhitzte, -sah und hörte nichts mehr, dieweil er innerlich scharrte: Da ist nun -Renate, da ist doch auch Ulrika, Irene, Magda erst! -- Da war Esther, da -war die ganze Stadt voll schöner, sanfter Frauen, -- und er nahm diese -endlose Heiterkeit. Ist das nun seine Ergänzung? Hatte er denn je ein -Verlangen nach Leichte und Fröhlichkeit bezeigt? Ach, sie ist ja -gewöhnlich, Benno, siehst du's denn nicht? Ihre Mutter möcht ich gesehn -haben, dann wüßte ich alles. -- Und nun hatte Georg auch ein ungefähres -Bild von dem stillen und ernsten, vielleicht sanften und rührenden, -jedenfalls aber ernsten Wesen und jedenfalls ganz zarten und feinen, in -Heiterkeit vielleicht liebevollen Geschöpf, das er unbewußt irgendwie -als Bennos Ideal in der Zukunft zu gewahren geglaubt hatte. Nun diese -kleine Tänzerin oder Sängerin meinetwegen, Elfriede Krumm, -- na, für -den Namen konnte sie freilich nichts, obwohl besser noch grotesk als -gemein -- aber immerhin hatte sie es nicht weiter gebracht, als an -diesem holzigen Stamm eine kleine Windenblüte aufzutun. Eine seltene -Aloe am Stamme des Gemeinen war sie nicht, und Georg fing an, sich den -Kopf zu zerbrechen, ob nur Benno sich von ihrem Liebreiz hatte blenden -und irren lassen, oder ob also doch ein Stück vom Bürger in ihm steckte, -den es zu seinesgleichen zog. Schubert, dachte er, Schubert war auch so -ein Halbgott in Stiefeln, unsterblich wenn er sang, im Dasein ein -kleiner Spießbürger. -- Ganz heiß ward ihm da im Gedanken, dieser süße -versilberte Engel könnte den armen, schwachen Benno aus seinem wahren -Paradies vertreiben. Denn was tut sie, und was ist an ihr, wenn sie -nicht lacht? -- Heiraten, mein Gott! Wenn er sie doch zur Hetäre nähme! -Oh Benno, es wird ein Unglück geben! - -»Wißt ihr, fahren wir doch gleich zu Renate,« mischte er sich mit -Bewußtsein wieder ins Gespräch. (Oh wie zog es ihn zu Renate!) - -»Aber meine Mama ...« - -»Bei der fahren wir vor. Oder sie kommt mit.« - -»Im Dogcart, Georg?« Benno, sein Glas in der Hand, mußte es schnell -niedersetzen, um in eine schallende Lache ausbrechen zu können, die ihn -unwiderstehlich schüttelte, während das Mädchen errötete, unwillig -schien, ja sichtlich einen bösen Blick unterdrückte, -- und Benno -unterbrach sich jählings im Gelächter, nun furchtbar verlegen. - -»Ja, was lachst du denn so?« stach Georg -- in einer Ahnung -- auf ihn -ein. - -»Mama --« sagte die Elfriede überernst in Bennos Gestammel, »paßt -allerdings kaum in einen Dogcart. Mama ist ein wenig stark.« - -Dick ist sie! Unglaublich dick! eine Maschine! ein Elefant! jauchzte und -fluchte Georg innerlich. Nun ist mir alles klar. Eine Bürgersfrau aus -der Markthalle. Rentiere im Adreßbuch! -- Und um so dringlicher fuhr er -fort, der Tochter sein Schimmelgespann zu preisen, das schon halb -verkauft sei; so sei's vielleicht das letzte Mal ... Ich muß die Alte -sehn, dachte er. Und dann zu Renate! - -Egon, sich zu ihm beugend, flüsterte: die Dame sei wieder da ... - -»Was für eine Dame?« fragte Georg laut. - -»Die gestern schon da war, wie ich Durchlaucht ...« - -»Ach, die sich nicht offenbaren wollte? Bitte entschuldige mich, Benno, --- gnädiges Fräulein ... Es wird wohl ein Bittgesuch ...« Georg legte -die Serviette hin, ging zur Türe, öffnete und schloß hinter sich, das -Zimmer zuerst leer findend. Dann sah er Cordelia. - -Sie war noch keinen Schritt in den Raum gekommen; oben vor der Tür, die -Hand am Geländerdach stand sie, ihren alten Strohhut in der Hand, ein -welkes weißes Kleid, mit moosgrünem Seidenband unter der Brust, um den -Leib gezogen. Aber -- -- oh -- das ist ein Mensch! war Georgs erstes, -voll aufseufzendes Empfinden in der Erinnerung an Bennos Elfe. - -Erstaunt, entzündet von Freude sie wiederzusehn, sagte er leise nur -»Cordelia --«, nun erschüttert von einem unendlichen und schweren Ernst, -einer Wehmut, einer Demut und -- diese durchglühend -- einer fast -mystischen Süße im Dunkel ihrer fernen Augen, im ganzen bleichen, -atmenden, sehnsüchtig bewegten Gesicht. - -Der Hut, ihr entfallend, rollte die Stufen hinunter. Sie folgte ihm, -schrittweis, die Hände gefaltet, die Blicke unveränderlich auf ihn -geheftet mit einem für Georg kaum noch erträglichen, sprachlosen Flehen. -Einmal lächelte sie hülflos. Ein paar Schritte noch von ihm entfernt, -hielt sie an, schauderte heftig zusammen, bezwang sich furchtbar, -lächelte mit Anstrengung und fragte kaum hörbar: »Muß ich -- ganz -- -hin?« - -Ihm brach das Herz. Sich losreißend, durchzuckt: Sie stirbt ja vor -Angst! -- sprang er zu, riß sie an sich, legte ihren Kopf an seiner -Schulter fest, hielt ihn, der herabsinken wollte, streichelte ihn -unaufhörlich, flüsternd: »Was ist denn, mein Gott, was ist denn? Es ist -ja gut! ist ja gut! Ich bin ja glücklich!« - -Leise schluchzend hörte er sie etwas stammeln wie: Gott sei Dank! und: -ja, nun ist es gut ... Langsam kam ihr Gesicht wieder hoch, naß -überströmt, fließender Augen, aber er lächelte wie ein Engel durch den -glänzenden Strom. Sie bewegte stumm den Kopf hin und her. Ihre Augen -fielen zu. - -»Willst du mich denn noch?« fragte sie zwischen den Zähnen, »wirklich?« - -»Ob ich will, Cordelia? Ja doch, ja! Ich bin ja nur glücklich, wenn du -kommst! Ach,« fuhr er, erschüttert von Mitleiden, fort: »sag mir doch, -was dir fehlt, was dich quält, alles, alles! ich will dir doch helfen!« - -Aber sie schwieg. - -Im Nebenzimmer ward ganz leise ein Akkord des Flügels hörbar, nur der -eine, süß aufschwirrende Schlag, als habe ein Vogel die Tasten -gestreift, für Georg ein lieblich erstaunendes Zeichen des Augenblicks. -Dann, abgelenkt, sah er durch die Wand Bennos lange Schattenfigur, wie -sie sich auf die Tasten bückte: er mußte sie wohl doch einmal berühren, -einen Ton hören, die Musik ein Wort sagen lassen zu seiner Inbrunst. - -Cordelia aber hatte aufhorchend die Augen geöffnet. - -»Was war das?« flüsterte sie, und Georg gestand, es sei Besuch nebenan, -ein Freund mit seiner Verlobten; ob sie erlaube, daß er ihnen eben -Bescheid sage, sie seien eben schon im Begriffe zu gehn. Cordelia nickte -nur stumm und machte sich los von ihm. - -Die Tür öffnend scheuchte er das Brautpaar aus der Buchtung des Flügels -und aus einer ganz ähnlichen Stellung wie die, in der Georg selber sich -eben befand, was seine Betäubtheit rasch in angenehme Heiterkeit löste, -also daß er, da das Mädchen ohnehin heimwärts drängte, mit leichtem -Bedauern der verhinderten Fahrt sich entschuldigen konnte. Er brachte -sie noch durch das gangartig lange und halbdunkle Billardzimmer auf den -Flur und bis vor die Tür, winkte ihnen nach und dachte, mit den Augen an -Bennos Rücken haftend: Seltsam doch, daß grade er so aus unsern Kreisen -fallen mußte. Gedichte mach ich ja auch, aber der einzige Unsterbliche -war doch immer er. Ach so, erinnerte er sich im Abwenden, die Götter -trugen ja immer nach besonders irdischen Frauen Verlangen. Ja, sie war -eine kleine Rubensschönheit, Danaë ... und -- - -Georg richtete sich lächelnd straff. Und Benno muß heiraten, muß -- weil -er das nicht fertigbringt was ich. Ah sie war wieder da! Gott sei -gelobt, murmelte er vor sich hin, nun kommt die Erlösung erst von Cora! --- Er schloß die Tür hinter sich. - -Wie er aber leichtfüßig den Flur zurückeilte, wurde die Tür am Ende -geöffnet, mit Vorsicht. Cordelias Antlitz erschien im Spalt, groß -offenen, furchtsam spähenden Auges, und erschrocken bei seinem Anblick -schlug sie den Türflügel wieder vor ihm zu, den er gleich darauf -erreichte. - -Als er dann drinnen stand, war sie an das Geländer zurückgewichen, hielt -es mit den Händen neben sich gefaßt und ließ wie eine Schuldige den Kopf -sinken. Sich überwindend, sie nicht feindlich anzusehn, versuchte er zu -scherzen, ob sie ihm doch wieder habe entwischen wollen ... - -Sie lächelte traurig und sah auf. »Es soll also wohl doch sein«, sagte -sie leise. »Nein!« sie drängte sich an ihn, »sieh mich nicht so an! -frage nicht! ja, versprich mir das, schwören mußt du's, Georg, hörst du, -du mußt es schwören!« - -»Ja, gewiß! gewiß doch! was denn?« - -»Nie fragen, Georg! Nie, nie, niemals und nach nichts fragen! Ach,« -weinte sie plötzlich laut auf, »was willst du denn von mir? Ich weiß -doch, daß du mich nicht liebst.« Sie brach ab, ihn hart und verschlossen -anblickend. - -Georg vermochte nicht auszuweichen. Nicht lügen! dachte er nur, und -seinen Augen es überlassend, sie zu bezwingen, sagte er klar und -verständlich, wie er es meinte. - -»Ich brauche dich.« - -»Den Leib«, hauchte sie elend. - -Was nun sagen? -- Er küßte behutsam ihre Stirn, und damit schien er -Glück gehabt zu haben, denn mit aufblühendem Lächeln unter seinem Kuß -flüsterte sie: - -»Und die arme Seele mit ... Meinst du, daß ich eine habe? -- Ach laß -nur«, wehrte sie matt und drückte die Augen an seine Schulter. - -»Du kennst mich doch nun ein wenig,« redete er, ihr Haar streichelnd, -auf sie herab, »du weißt doch, wer ich bin!« und hörte sie aufsagen -leise, ohne den Kopf zu heben: »Prinz -- Georg -- Trassenberg.« - -Dann, sehr liebevoll: »Mein Prinz!« und Georg fuhr zurück wie gestochen. -Er strauchelte auf den Stufen, erreichte mit Mühe aufrecht den Boden, -seine Knie versagten, er tat noch zwei Schritte und stand, entsetzt, die -Hände an den Schläfen. - -Jetzt -- da wars! Jetzt wars gekommen. Jetzt mußte -- -- mußte -- was? --- was? -- Die Wahrheit gesagt werden oder -- oder gelogen. Warum -gelogen? Um die letzte Probe ... um zu sehn, ob es erträglich, möglich -... - -»Was ist dir denn?« hörte er sie aus weiter Ferne fragen, sah aber in -der selben Sekunde dicht vor sich ihre besorgten Augen, die flackerten; -ihr Gesicht, ihre weiße Gestalt, die dunklen Wände des Raums, der große, -grüne Lampenumhang -- alles flackerte auf und nieder wie aus gasigen -Flammen, während er sie nur anstarren konnte und merkte, wie sie seine -Hände ergriff und herabzog. Durch das Sausen in seinen Ohren hörte er -sie etwas sagen, ohne zu verstehn. - -Du Feigling! sagte dann eine Stimme, du willst es ja nur aufschieben! - -»Nichts, Kind, nichts!« brachte er endlich hervor. »Es war wohl mein -Herz, -- es ist nicht ganz in Ordnung. Laß nur, es geht schon wieder. -Ja, wovon sprachen wir doch eben? Richtig, meinen Namen sagtest du ...« -Er irrte wieder ab. »Ja, und wie ist der deine?« hörte er seine eigene -Stimme fernher, erwachte dann und setzte beherrscht hinzu: »Oder darf -ich das auch nicht fragen?« - -»Cordelia Severin«, sagte sie leise. »Aber ist dir auch wirklich wieder -gut? Komm, setz dich hin!« - -Sie führten sich gegenseitig zu einem der Sessel in der Kaminecke, Georg -fiel ermattet hinein und zog sie auf seine Knie. Sein Herz jagte in der -Tat haltlos. Vielleicht war doch der Schluck Sekt schuld. - -»Und was wird nun aus uns?« konnte er indessen wieder scherzen. »Bleiben -wir zusammen? Möchtest du hier wohnen? In einem Schloß?« -- Es stach -wieder in seinem Herzen. Er verstand nicht recht, weshalb ihm so -unendlich sanft und weich zumute war, und fuhr fort, ihr weiches Gesicht -unablässig zu streicheln und zu glätten. Da sie nur nachdenklich vor -sich hin lächelte, fragte er weiter: »Oder soll ich zu dir kommen?« - -Nun schauderte sie leicht zusammen. »Nein! oh nein!« stieß sie hervor. - -»Also was denn? Soll ich ein Haus kaufen?« - -Wieder ruhiger blickte sie in seine Augen, küßte ihn leise auf den Mund -und sagte liebreich: - -»Ich will, was du willst. Aber ich möchte nicht gern in -- dein andres -Leben. Möcht ganz für mich sein -- und für dich. In mein Leben sollst du -auch nicht. Wir wollen zusammen ein drittes haben, ganz für uns, gell?« - -»Ja, das wollen wir. Also dann willst du wohl Geld haben, was?« - -»Ja, bitte!« sagte sie ganz ernst. - -»Ich hab aber selber keins da«, meinte er lustig. »Nun, warte, es findet -sich schon ein Weg. Willst du mich mal aufstehn lassen?« - -Während er eine Schreibtischlade aufzog, ein Checkbuch hervorholte, sich -setzte und mit eiliger Hand in ein Dutzend und mehr Seiten seinen Namen -eintrug, fragte er zurück, ob sie vielleicht auch schon ein Haus wisse? --- Leise auflachend bejahte sie und sagte plötzlich wieder im Dialekt -und in ihrem verträumten Ton: - -»I hab ans aangschaut vor a paar Tag. In der Alleestraße heroben, ganz -heroben am End, auf an Hügel liegts. I tu alsfort Häuser anschaun, wanns -fein ausschaun und Mietzettel ham.« - -»Na, das ist ja schön! Da muß ich dir wohl einrichten helfen?« - -»Nimmer nötig! 's steckt ganz voll von Möbeln bis ans Dach, schöne -Möbel, olte, ach du mein!« - -Georg, sich umdrehend beim Schreiben, sah sie auf der weichen -Sessellehne sitzen und mit runden Augen nach allen Seiten spähn. - -»Nicht so schön halt wie die«, plapperte sie weiter, nach der Bücherwand -nickend. »Aber ein Schlafzimmer hats, das wird dich freun. Da stehts -Bett im Alkoven, der hat -- so ein Fuß grad überm Bett -- ein ganz -schönes, breites, großes Fenster. Wenn man da naus schaut, -- ja, das -glaubst net, Gorch, da hast vor dir das ganze Land, alle Wiesen und -Weiden und die blauen Wälder hinten und Dörfeln -- ah -- viele! Schlafen -kannst da mitten im Frein, und unterm Fenster -- da ist der Garten, und -der Teich, und eine ganze Wüstn von floribus«, schloß sie plötzlich mit -hörbarem Punkt. Georg sprang auf, warf sie fast in den Sessel hinunter -und erstickte sie mit Küssen. - -»Und Hesekiel! Georg, laß los, ich ersticke ja!« keuchte sie, »und -Hesekiel, darf ich den aach kaufn?« - -»Was du willst, Liebling, was du willst! Aber wer ist denn Hesekiel?« -- -Er hielt sie wieder auf den Knien und ließ sich kleine Küsse von ihr -geben, während sie erzählte: - -»Hesekiel -- das ist ein -- orms Luder. Ein bißchen dumm ist er schon, -weißt! so ein -- Idiot oder -- -- wie? Er vergißt halt alles. Nur eins, -ein einziges, das kann er grad behalten. Und er hat ein' Buckel und ein -ganz spitzes, altes Gesicht und einen wehmütigen kleinen Mund. Oh -Hesekiel ist ein lieber Kerl, der wird dir gfalln. Nun ist er -- was die -Bälle aufklaubt bei die Tennisleut. A so a olter Mensch und klaubt Bäll -auf. Verheirat is er net. Gell, den nehm mir? Den nehm mir zu uns?« - -Georgs Herz jubelte vor Entzücken. Oh Benno, was habe ich und was du! -- -Sogar die Erscheinung Renates ging schmerzlos vorüber. Ich werde -lebendig sein, ganz lebendig, arbeiten können, gesund sein, und das -andre -- alles andre wird sich finden, sich finden. - - - Viertes Kapitel: Mai - - - Haus Herzbruch - -Renate schrieb in ihrem Zimmer am späten Abend: - -»Hellwach wie ich bin, will ich gleich suchen, Einiges von diesem Abend -festzuhalten. - -Nachmittags gegen sechs Uhr fuhr ich zu Irene hinaus (ich mußte es -einmal wagen; Saint-Georges versprach, auf Onkel achtzugeben, und es ist -nichts geschehn). Es war so warm, daß ich unterwegs das Verdeck -zurückschlagen ließ, und so war es schön, durch den weiten Frühling zu -fahren, zwischen den unendlichen, tiefgrünen, saatgrünen Flächen, auf -den Himmel zu, den weit fernen, bläulich weißen, goldgestreiften von der -tiefen Sonne, an den kleinen Gehöften vorüber, die stets schräg mit der -Stirnseite zur Straße stehn, unter Bäumen, kaum ergrünten. Einzelne -Primeln waren auf den Wiesen zu sehn, und alle Rinder waren schon -draußen, grasten fromm der untergehenden Sonne nach, oder standen still -an einer Planke, einem Graben, den sie im Vorsichhinweiden erreichten, -hörten mit Käuen auf und sahen nach dem schwarzen Ungetüm, in dem ich, -hoch sitzend, dahinrollte; lange Schatten warfen sie, wie alles umher. - -Unterwegs griff ich noch Jason auf; mit einmal sah ich ihn ein paar -hundert Meter vor mir am Rande der weißen Straße dahinwandern, ein wenig -krumm und die Hände auf dem Rücken. So läuft er, dacht ich, um die ganze -Welt fürbaß in seinem schwarzen Anzug, da hielt auch schon der Wagen -neben ihm still, es war wie Zauberei, als ob er es befohlen und ihn mit -dem Rücken gesehn hätte, -- aber Reinhold, der ihn kannte, hielt -natürlich von selber. Dann saß er zufrieden in seiner Wagenecke, blickte -stolz umher und sagte: Der gute Mensch trifft immer Wagen, die ihn zu -schönen Orten tragen. - -Wo er so lange gewesen sei, fragte ich ihn, denn ich hatte ihn beinah -drei Wochen nicht gesehn. In Schleswig, sagte er, bei der Familie des -Kreisphysikus Liegel, Odysseus Liegel, ja, so heiße er richtig. Eine -zahlreiche Familie sei das, vier Söhne, drei Töchter, Eltern, Großmutter -und Urgroßmutter, in einem kleinen Hause Alle beisammen, und sie -fürchteten sich samt und sonders vor spitzen Gegenständen, besonders die -Urgroßmutter, die könnte überhaupt nichts Spitzes sehn, ohne furchtbare -Zustände zu kriegen, bei den Andern sei es verschieden, der eine -reagiere nur auf Taschenmesser, ein andrer auf Nähnadeln, wieder eine -habe Angst vor Löffelstielen oder Hutnadeln, und sie ärgerten sich Alle -fortwährend gegenseitig damit, das heißt zum Spaß, sie meinten es nicht -böse, und nur der Vater freilich, der sei immun, auf den würde überhaupt -nicht geachtet. Eigentlich sei er wohl immer leise betrunken von -holländischem Likör, das dufte gar nicht so unangenehm, und meist sitze -er ja in seinem Zimmer oder machte Krankenbesuche, wo er dann immer -zwei, drei kleine Schnäpse trinke, das mache schon ein paar Dutzend am -Tag. Die Söhne aber seien große Kerle, blond und bärtig, der eine -Lloydoffizier, einer Kaufmann, und zwei Studenten; die hätten die ganze -Kraft der Familie an sich gerissen, gingen schallend umher und schubsten -alles beiseite; Gott sei Dank seien selten mehr als einer oder zwei -anwesend. Die Töchter seien alle Drei ein bischen welk und kümmerlich, -mit viel Heiratsplänen behangen und sehr arbeitsam. Ja, die Mutter sei -das Tüchtigste dieser Familie. Ganz klein sei sie, habe ein Gesicht wie -eine Backbirne und eine lahme Hüfte, oder eigentlich seien es zwei; kein -Mensch wisse, wie sie es eigentlich fertigbringe, zu gehn, sie gehe -aber, und zwar immer ganz schnell. Als sie alt genug gewesen war, zu -heiraten, hatte sie es darauf angelegt, diesen Odysseus Liegel zu -heiraten, und es gelang ihr auch. Darauf gründete sie ihm eine Praxis, -in der sie viele Jahre immer am Hungertuche her lebten; auch jetzt hänge -es noch immer in einer Ecke und verstaubte niemals gänzlich. Eines Tages -hatte sie von einer Freundin gehört, daß es in gewissen kleinen Städten -Stipendien, Legate gäbe, ausgesetzt von verstorbenen Wohltätern für -Knaben, in der Stadt geborene, um ihnen ein Studium zu ermöglichen, und -die brave Frau soll es fertigbekommen haben, durch Herumreisen in diesen -Städten zur Zeit, wenn sie ein Kind erwartete, dreien ihrer Söhne je ein -Legat zuzuschieben. Oh es sei eine ganz herrliche Familie, sagte Jason. -Die Mutter würde verherrlicht von Allen, sie wäre ganz ungeheuer geizig, -sie hatte immer nur einen einzigen Groschen auf der Tischkante liegen -sehn, und wenn man ihr etwas mitbrächte, dürfe man nie unterlassen, zu -sagen, was es koste, denn erst wenn sie das wisse, könnte sie sich -freun. Aber nur Kleinigkeiten dürften es sein. Was ist das? sagte sie -dann wohl, mit braunen Fingern und kurzsichtigen Augen zugreifend, eine -Banane? Oh herrlich! Was kost die? Zehn Pfennig. Nun sieh mal einer, -zehn Pfennig für solch eine herrliche Frucht. Und dann wollte jedes von -ihren zehn Kindern die Banane haben ... Zehn, Jason? -- Sie machten noch -für viel mehr Lärm, sagte er vergnüglich, du solltest sie einmal hören. --- - -Auf dem Weg durch den Gemüsegarten kam uns die kleine Nora entgegen, -Dora Vehms Tochter, langsam und ernsthaft wie immer, nur mit den -vergrößerten Augen sich freuend, nicht im geringsten mich, sondern ganz -allein Jason unerschütterlich anblickend. Als der aber fragte: Wo ist -denn dein Vater? -- sagte sie mit ihrer tiefen, langsamen Stimme: Der -sitzt auf dem Klosett. -- Wie peinlich für ihn! sagte Jason, nun wollen -wir bloß nicht nach ihrer Mutter fragen. Da kam Irene, blond und -lieblich wie immer, uns auf dem Gartensteig entgegen, so entzückend -anzusehn, daß mir das Herz lachte: wie eine versehrte Blume, nämlich in -einer engen grünen Taille, Filetguipure am Halsausschnitt und den halben -Ärmeln, kleine Falten quer über der Brust und mit vier spitzen Schößen, -vorn, hinten und über den Hüften, gleich den grünen Kelchblättern einer -Blume, aus denen die große schwarze Tulpenglocke des seidenen Rockes -nach unten schwoll und abstand, -- und während so ihr Kleid und Körper -eine Blume darstellte, war es ihr ganz glühend rosiges und von Haar -goldenes Gesicht, das blühte. Sie erzählte, es sei gerade ein Freund -ihrer Schwägerin gekommen, ein Dr. Ägidi aus Stuttgart, Journalist, den -ihr Mann durch Doras Vermittelung für seine neue Zeitschrift gewonnen -habe. Da die Beiden sich jahrelang nicht gesehen hatten und jetzt in der -Halle saßen, gingen wir in die >Hecke< und trafen dort Georg, der im -Grase lag und mit Doras Pallu spielte. Eigentlich heißt er Paul, aber -das konnte er nicht sagen und taufte sich Pallu. - -Wir aßen dann oben in Irenens Zimmer zu Abend, ein wenig eng in der Ecke -neben dem Kamin, zu eng vor allem, wie mir schien, für die Stimmung -unter uns. Irene war völlig geistesabwesend; sie hat es sich ja nun so -angewöhnt, sich zu erlauben, was ihr gefällt. Ich merkte aber, daß diese -Abgekehrtheit irgendwie mit ihrer Schwägerin und mit Dr. Ägidi -zusammenhängen mußte, die mir auch wieder heißer und röter schienen, als -selbst ein Wiedersehn nach zwei Jahren -- -- doch was geht das -eigentlich mich an? Ja, insofern wohl, als eben diese Stimmung auch mich -ergriff und mich, ängstlich, unsicher und sonderbar, wie ich Onkels -wegen an sich schon bin, mit dunklen Empfindungen bewegte. Es wäre -vielleicht noch sonderbarer gewesen ohne Jason, der wohl alles haargenau -wußte, freilich keine Miene verzog und keine Geste zeigte, sondern nur -viel sprach, in dieser unendlich hinfließenden Art, und so sehr jeden, -den er anblickt, mit Augen fesselnd, daß man selber zu reden glaubt, -- -nun, ich werde das nie beschreiben können. Übrigens war Doras Mann nicht -anwesend; er hat ein Darmleiden, und zudem ist er noch lungenkrank und -schon halb auf dem Wege nach Arosa. - -Schön, dunkel und funkelnd sah diese Dora aus (und übrigens in einer -prächtigen Tunika, die ich mir merken muß, aus einem dunkelblauen, -lockern Seidenstoff mit eingewebtem, gleichfarbigem Blumen- und -Rankenmuster, die sie über den Kopf gezogen hatte; braune Pelzstreifen -an den offenen Ärmeln und am Halsausschnitt). Ihre tägliche -Arbeitsleistung, von der Georg mir erzählte, ist ja erstaunlich. Ich -glaube wohl, sie möchte noch viel mehr Kinder haben. Ihr Mann sah auf -einer Photographie still, fremd, abgeschlossen aus; ein sehr zartes -Gesicht mit tiefen Augen, sehr spitzem Kinn und einem seltsam -übertriebenen dunklen Schnurrbart wie der Nietzsches, doch tiefer -hängend. -- Wenn ich sie ansehe, muß ich sie für eine schlechterdings -glückliche Frau halten. Aber ob sie nicht mich ebenfalls -- --? Was -wissen wir? - -Ich wollte mir doch einiges von dem merken, was gesprochen wurde? Ach, -nein, die Geschichte, die Jason der kleinen Nora erzählte, als sie im -Bett lag, muß ich doch wieder zusammenbringen. Sie hieß, glaube ich: Der -liebe Gott und das kümmerliche Telephon, oder so ähnlich und fing an: - -Prrrrr! machte das Telephon. Kruzitürken, sagte der liebe Gott und nahm -den Hörer auf, was ist denn das schon wieder! Hat man denn keinen -Augenblick Ruhe? -- Du, Onkel Jason, sagte Pallu von gegenüber her, der -liebe Gott flucht aber wüst. -- Türken, versicherte Jason, wären Heiden -und darum würden sie geflucht. Da hörte der liebe Gott ein kleines -Mädchen ganz unten auf der Erde ins Telephon piepen: Hier ist das -Knasterlein und hat so furchtbare Bauchschmerzen. (Das Knasterlein soll -zu allem gut sein in Jasons sämtlichen Geschichten.) Ha, da hat sie -Zwetschenkuchen gegessen, dachte der liebe Gott und sagte: Aber liebes -Kind, du mußt doch nun nicht bei jeder Kleinigkeit ... Sprechen Sie -noch? sagte das Fräulein am Amt. Pallu stellte sich auf den Kopf und -sagte: Kruzitürken, die kommt ümmer dazwischen, ümmer. -- Jawohl, -Fräulein, ich spreche noch, sagte der liebe Gott, -- ja, da hast du wohl -zu viel Zwetschenkuchen gegessen? -- Ja, sagte das Knasterlein. -- Ist -denn der Doktor schon dagewesen? -- Och, lieber Gott, mein Papa ist doch -selber Doktor! -- Hier entspann sich, glaube ich, ein großer Streit -zwischen Nora, ihrer Mutter und Jason wegen der ungenauen Kenntnis des -lieben Gottes, wobei er sich, fürcht ich, damit ausredete, der liebe -Gott habe das verwechselt. Also der Doktor war jedenfalls dagewesen, und -der liebe Gott war sehr erstaunt, was Knasterlein denn nun noch von ihm -wollte. Was zum Einschlafen, sagte es, es könnte doch nicht schlafen. -Das wollen wir gleich haben, sagte der liebe Gott und murmelte: Abadra, -kadrabra, maleborus, maleborus, widdewiddewitt fi--na--le! -- Sprechen -Sie noch? fragte das Amt. Scht! machte der liebe Gott und legte ganz -leise den Hörer hin, worauf sich denn Knasterlein in Nora verwandelte, -die sich mit tief ernstem Gehorsam umdrehte, die Decke bis an die Augen -zog und nach einem großen Seufzer und unerschütterlich auf Jason -gerichtetem Blick sich augenblicks einzuschlafen bemühte. -- -- - -Wovon sprachen wir noch beim Essen? Richtig, Jason, -- da er alle -Menschen kennt, so kannte er auch Ägidi, von irgendeiner Universität her ---, nein, zuerst war ja von Herzbruchs' Zeitschrift die Rede, von der -Sozialdemokratie und -- ich weiß nicht mehr, wie das so kam, -- -jedenfalls äußerte Jason gleich eine Meinung, die dann zu einer ganzen -Rede wurde. Die Sozialdemokratie, sagte er, hätte zwei Fehler, und der -eine sei die mangelnde Schulbildung. Wenn ich zum Beispiel, fuhr er -munter fort, einen Reichstagsbericht lese, was fällt mir auf? Ein großer -Mangel an Lebensart, nicht etwa bei der Sozialdemokratie allein, nein, -bei den Angehörigen sämtlicher Parteien ganz gleichmäßig. Nun aber ist -die sozialdemokratische Partei die einzige, bei deren Vertretern dieser -Mangel sich auf den genannten, nämlich die fehlende Schulbildung -zurückschieben läßt, was denn jedenfalls fleißig von allen andern Seiten -geübt wird, und hinwieder kann man den andern Parteien bei gutem -Gewissen diesen Vorwurf nicht machen, da sie ja alle über eine ganz -vortreffliche Schulbildung verfügen. Also, sagte er, die -Sozialdemokraten hätten somit nichts Besseres und Eiligeres zu tun, als -sich diese Schulbildung zu erwerben, womit sie ja gleichzeitig alle -übrigen Parteien auch an Lebensart übertreffen müßten, oder das -Gegenteil würde der eben aufgestellten und bewiesenen Behauptung vor den -Kopf stoßen, daß eben in der mangelnden Schulbildung ... Hier legte ihm -wohl Herzbruch die Hand auf den Arm und veranlaßte ihn wohlwollend, zu -dem zweiten Mangel überzugehn. Ja, das sei nun wieder ein Überfluß, fing -er frisch an, nämlich ein nicht hoch genug zu veranschlagender Überfluß -an Sanftmut. Drei Mittel nämlich, erklärte er, hätte die Internationale -an der Hand, um ihre Ziele durchzusetzen, ohne doch nur ein einziges zur -Anwendung zu bringen, nämlich erstens das ein wenig veraltete des -allgemeinen und gleichen Revolutionierens, mit Barrikaden, Kopfab und -allen Schikanen, aber, was ihn angehe, so schalte bei seiner angeborenen -Abneigung gegen alles Blutvergießen dieses Mittel für ihn aus. Das -nächste sei der Generalstreik natürlich, wogegen er wenig mehr -einzuwenden habe, als daß ihm das dritte Mittel besser gefalle, zudem -auch dem angedeuteten sanftmütigen Charakter dieses Menschenschlages am -meisten zu entsprechen scheine ... nämlich die passive Sabotage. -- - -Denkt euch, sagte er, einen nach dem andern von uns mit überredenden -Blicken ins Auge fassend, denkt, welche Zeit anbrechen würde. Passive -Sabotage ohne Generalstreik. Alle Arbeiter würden in der Arbeit bleiben, -und vielleicht sogar ein wenig Überstunden machen. Alsbald würden sich -die Erzeugnisse der Industrie und Waren aller Art in den Speichern, den -Fabriken und Silos häufen, sie bis zum Rande füllen und überquellen, und -die Lebensmittel würden zu erstaunlichen Preisen herabsteigen, ja -womöglich verschenkt werden, und man könnte sich wohl denken, daß -jemand, der ein Ei kaufen wolle, eine Dreschmaschine oder ein Karussell -als Zugabe erhielte. Und nun aber, bei allgemeiner Einigkeit und -Zufriedenheit, welche Stille in Stadt und Land! Vom festgesetzten -Uhrenschlage an verließ kein Schiff die Rheede, kein Brief den Kasten, -kein Telegramm den Drahtkorb des Beamten, kein Postwagen die Remise, -kein Eisenbahnzug den Bahnhof. Auf den von Automobilen, Geschäftsrädern, -Autobussen und Trambahnen herrlich leeren, breiten, befreiten Straßen -ergösse sich eine festlich gekleidete Menge, von deren heiteren -Antlitzen jede Spur des alten Hastens und Jagens miteins verschwunden -sei. Fröhliche Scharen von Post- und Telegraphenbeamten mit ihren -munteren, rotgestreiften Mützen veranstalteten singende Umzüge unter -Entfaltung ihrer schön gestickten Innungsfahnen, und die Straßenkehrer -hingen unter Absingung fröhlicher und patriotischer Lieder ihre Besen -und Gummirechen an den Kreuzen längst erloschener Laternen auf. Was sei -aber all dies gegen die wunderbare Stille draußen im ländlichen Land. Da -wandre sichs leicht, die mitgenommenen Butterstullen in die letzte -Zeitung eingeschlagen, auf der unverlierbaren Linie der mit sanftem -Grase überwachsenen Bahndämme, wo die Wärter vor ihren Häuschen mit Frau -und Tabakspfeife behaglich feierten, wo die Weichengestelle bald unter -üppig wucherndem Ginster verschwanden, die Schlagbäume und Signalmaste -schon vom weiten den munteren Wallern ihre bunten Fahnen von -Hopfenranken und blühenden Glyzinien entgegenschwenkten, während zu -beiden Seiten aller Straßen Eppich, Crimsonrosen, Bohnenblüte und -rankende Winde aus den Telegraphenstangen und ihren Drähten farbige -Triumphgirlanden, gleichsam über Nacht, geschaffen hätten; an den -Straßen übrigens, auf den die wieder hervorgeholten schönen alten -Planwagen, mit welchen die bäurische Bevölkerung die mühelosen -Erzeugnisse ihres Bodens zur Stadt führten, um sie gegen geringes -Entgelt einzutauschen, -- auf ihnen erzähle nur selten die bereits -überrankte und moosbewachsene Ruine eines Opel- oder Horchwagens vom -bestraften Frevelmut seines Besitzers, der ohne Mechaniker eine -verzweifelte Geschäftsreise zu unternehmen gewagt habe. Und schließlich, -da inzwischen auch die Arbeit aus Überfluß an allen Dingen eingestellt -sei, so hetze sich nunmehr niemand ab, als einzig an ihren -Schreibtischen die nimmermüden Erfinder, emsig bemüht, Ideen zu -entwickeln zur Ausnützung des Überflüssigen, also zum Beispiel ein -Verfahren, aus schlecht gewordenem Schweinefleisch gut sitzende Anzüge -zu verfertigen ...« - -Mitternacht. Leichtfüßig erschreckte Renate der silberne Schlag der -kleinen Uhr hinter ihr im stillen Zimmer. Sie wandte sich halb, warf -einen Blick über ihre Schulter in die dämmrige Tiefe der Wände und -verhaltenen Möbel und schrieb weiter: - -»Ich mußte mich umsehn, die Stille gewahren in diesem sanften Raum, in -diesem ganzen, schlafenden Hause. Ach, es tat wohl, einmal draußen, -einmal weit weg gewesen zu sein, im immer wieder zauberhaften -Menschenwald, wo auf den stillsten Lichtungen -- große Spinnen in den -Silberrädern ihrer Netze -- die Geschicke weben, ach, zum Heil oder -Unheil, ich wills nicht wissen, denn jedes, jedes, das weiß ich, ist -besser als nichts. Aber weiß ich denn, ob nicht das meine schon längst -über mir schwebt, mich zu umschlingen und zu binden, ob ich nicht längst -schon ergriffen vielleicht, gehalten und -- abgetan bin? Denn vom Himmel --- wir wissen es doch -- vom Himmel stürzt kein jählichster Blitz, der -nicht in einem kleinen Korn auf Erden gesät und draus aufgegangen wäre, -und der Schlag, der heute das Haupt trifft, zu ihm war ausgeholt, als -noch unsre Mutter nicht von uns träumte. - -Wacher und wacher sehe ich in die vergangenen Stunden zurück. Wieder um -den runden Tisch sehe ich uns sitzen, enge beisammen in der Ecke am -Kamin, sehe an der Hängelampe vorüber das tief und tiefere, seltsame -Blau der Dämmerung draußen, die nur im Vorfrühling so leuchtet, sehe die -bleichen Vorhänge sacht auffliegen und empfinde die leichten Atemstöße -des hereingeneigten Windes. Unsre beleuchteten Gesichter kann ich sehn, -das hübsche, schmale, blasse des Doktor Ägidi mit kleinem, kurzem und -schwarzem Schnurrbart, das selten aufsieht zu dem unaufhaltsam -plätschernden Jason; rechts von ihm das Doras, bräunlich, gerötet, mit -starken Brauen und feurigem Auge, und Herzbruchs Hornbrille daneben, -hinter der hervor er ab und an auf Irene oder sonst jemand einen -unbestimmt und halb abwesenden Blick schießt, und sein massives -Gelehrtengesicht kraust sich häufig und häufiger im verhohlenen Gähnen -zusammen; und dort Irenens ganz rosiges Gesicht, und dort das schlanke, -überaus ehrliche Georgs, der von Allen allein ganz bei der Sache -scheint, lacht und auf Jason schaut, während die Augen aller Übrigen -meist auf den Teller gesenkt sind. Herzbruch nur aus Müdigkeit, aber -Alle waren sie froh über Jasons Phantasmagorien, und als er schwieg, -lachten sie wohl ein wenig, waren aber dann sämtlich still. Auch mir -fiel nicht gleich etwas ein, ich vergaß die Übrigen, glaubte wohl im -weiten Lande draußen Fragmente von Jasons bunter Vision unterm Hauche -des Abends dahingleiten und entleuchten zu sehn, und ich weiß nicht -mehr, ob ich selber es war, die ihn nun fragte, er habe vorhin auch die -Ziele der Sozialdemokratie erwähnt, ob er nicht auch davon eine ähnliche -Rede halten möchte, aber er winkte ab. Nein, das will ich nicht, sagte -er, ich habe so schon Ägidis Neigung verscherzt, freilich aus -Mißverstand, da ich doch nicht seine Partei, sondern im Gegenteil die -Anwesenden ganz sanft verspottet habe. -- Wieso denn das? fragte Irene -laut und verständnislos, aber er sagte erst nach einer Weile, und -nachdem er eine ganze Sprotte gehäutet und zerlegt hatte, und mit einem -fast kalten Ernst auf einmal: Taucht nur immer euer allabendliches -Butterbrot in Tränenwasser vom Tartaros; es kommt einmal der Tag, wo die -es euch nicht gedenken werden, die unter Brückenbogen der Themse -schlafen, die in verfaulten Speichern ihre Kinder zur Welt bringen, die -zwischen Betten der Liebeskrankheit aufwachsen, und die, Stück für Stück -ihres ausgemergelten Leibes, zwischen den Zähnen der Maschine aufgezehrt -werden. Nicht gedenken werden sie es euch, daß ihre Seele zersprang wie -ein schlechter Topf, derweil ihr plaudertet von ihren Zielen. -- - -Irene fuhr rot, zornig und verlegen auf mit einem zerdrückten: Man kann -doch reden ... Wir andern schwiegen, Herzbruch brummte zustimmend, und -Dora und Ägidi -- -- sahen nach den Fenstern, als sähen sie sich an. - -Es gebe ja aber andre Sachen in Hülle und Fülle, von denen zu reden -wäre, fing Jason wieder an, und wie wäre es zum Beispiel mit einem -Vortrag von Irene über den Vorzug des Einzelschlafzimmers vor dem -gemeinsamen? Statt des Tellers, wie sie gern gemocht hätte, warf sie ihm -nun ihre Serviette an den Kopf, sprang auf und stammelte, wir wären wohl -fertig mit Essen. -- -- - -Nun werde ich doch ein wenig müde. -- Aber ich will nun nicht aufhören, -ehe ich auch das Letzte von diesem Abend geschrieben habe, denn solange -ich schreibe, glänzen mir seine Farben noch reich; dann wird es wieder -für lange still und eintönig werden ... - -Später war Jason auf einmal verschwunden, Herzbruch mit Ägidi im -Rauchzimmer nebenan, um sich geschäftlich mit ihm zu besprechen, Dora -hinunter zu ihrem Mann. Ich hatte am großen Vogelbauer der armen Esther -das übergehängte Tuch gelüftet, um darunter zu schaun, und sah, wieder -fortblickend, Irene unter den Blumenstöcken des breiten Fensters auf dem -schwarzen Roßhaarsofa sitzen. In ihrem ausgebreiteten schwarzen -Faltenrock, das heiße, rote Gesicht in die Hand gestützt, den Ellbogen -auf dem Knie, sah sie wieder so fein und lieblich aus, daß ich zu ihr -ging, ihr Gesicht in die Hände nahm und sagte: Du bist heut so unwirsch, -Irene! Sie sah mich verloren an, streifte meine Hände weg, ihren Rock -glatt und sagte endlich -- es klang recht komisch bei ihrer -Ernsthaftigkeit --: Es ist alles so symbolisch ... Ich antwortete -nichts, dachte, sie würde schon von selber anfangen, und setzte mich in -die Sofaecke. Richtig fing sie nach einer Weile an. - -Am Nachmittag sei Ägidi gekommen. Eine halbe Stunde vorher, da sie -selber gerade auf der Treppe gewesen sei, habe sie ihre Schwägerin aus -der Stadt kommen hören und sei, um sie zu erschrecken, mit einem Schrei -ins Zimmer gesprungen, Dora sei aber ganz ruhig geblieben, denn sie habe -sie im Spiegel kommen sehn. -- Das fand ich schon so symbolisch, -- -weißt du -- ich sagte es auch Dora --. Man sollte immer solch einen -Spiegel bei sich haben, -- alles trifft einen immer so schrecklich -unvorbereitet, -- ja, ich dachte das nun mal, und eine Zeit später, als -wir schon von ganz andern Sachen geredet hatten, sagte Dora, es sei viel -tüchtiger, unvorbereitet und doch beschirmt zu sein, den Panzer -zusammenzureißen im Augenblick, sagte sie, glaub ich. Ja, und nun -- -- -gerade bevor du kamst -- Ägidi war ja nun da -- war ich so beim -Herumschlendern im Garten halb die Treppe der kleinen Vorhalle -hinaufgeraten, von wo man durchs Fenster in die große Halle sehn kann, -und da sah ich die Beiden. Dora saß, und er auf der Lehne ihres Stuhls -hielt ihre Hand, und so sprachen sie, und -- nun jedenfalls: es _war_ -etwas in ihrer Haltung, das andere als -- ja. Du weißt wohl gar nicht, --- sie waren Freunde, sonst nichts, ich weiß es bestimmt von Dora, die -nicht lügt, -- sie haben sich kaum einmal im Leben gesehn, aber -jahrelang in fast täglichen Briefen zusammen gelebt, und ob nun das -Wiedersehn, -- jedenfalls -- -- Irene brach hier ab, stand auf und -sagte: Einen Augenblick, bevor wir Alle zum Essen hinaufgingen, war ich -allein mit ihr. Ich hielts für aufrichtig, ihr zu sagen, daß ich sie -gesehn hatte, und: Was war denn das? fragte ich. Sie schwieg eine ganze -Weile, sagte dann sehr ernst: Ich glaube, -- das war unvorbereitet. -Sonst nichts, und das -- genügt ja wohl auch. -- - -Wie sie nun im Zimmer stand, die Hände gefaltet, nachdenklich und so -anmutig, war es wieder die alte Irene, die draußen am Zaun stand und -meine Orgel hörte und symbolische Träume träumte. -- Sie setzte sich -dann zu mir und fing an, von ihrer Schwägerin zu erzählen, was sie von -Otto Herzbruch gehört hatte, über ihre Verheiratung: daß niemand -begriffen habe, warum das reiche, kräftige, schöne Mädchen den -kränklichen, seltsamen, ein wenig kümmerlich scheinenden Mann genommen -habe, was er nun freilich nicht sei, vielmehr erfülle ihn eine ganz -unsägliche Güte, er sei der zarteste Arzt, und sicher beklagten es -Viele, daß er sich an den Tuberkulosebetten seiner Kassenpraxis -infiziert hatte. Doch durch mehrere Jahre hatte sie seine wiederholten -Anträge abgelehnt, schließlich mußte sie wohl doch einmal heiraten, es -war Zeit, das Mitleid mit ihm kam hinzu, und dann hatte sie ihn mit der -Zeit gewiß sehr liebgewonnen. - -Warum aber, fragte Irene nun, warum glaubst du, ist ihr Leben so -angefüllt mit hundert guten, fleißigen, wertvollen Dingen, hundert -Dingen, die sie für sich allein, an denen ihr Mann keinen Teil hat! -- -Irene nannte den Namen einer bekannten Arztfrau, die ihren Mann zuerst -mit Handreichungen, bei Narkosen, bei Mandeloperationen der Kinder und -dergleichen unterstützt, und die mit der Zeit so viel bei ihm gelernt -habe, daß sie nun selber ihr Examen gemacht und eine Frauenpraxis -ausübe. Keine Frau, sagte sie heftig, die Verstand hat und sich bemüht, -braucht eine Beschäftigung außerm Hause zu suchen, und jeder Mann -braucht und hat gern eine Hülfe, zumal an einer Frau, und zumal wenn sie -klug ist ... - -Ich sagte kein Wort, wartete stillschweigend, daß sie selber stutzen und -sich sagen würde, wie sehr sie, _anti domum_, wie man wohl sagen kann, -gesprochen hatte, aber siehe da, mein Herz Irene merkte nicht das -geringste -- ja, wie sehr befangen in sich selber muß sie sein! -- -sondern war zu Doras Kindern übergegangen, die in Wahrheit, trotz -Volksspeisungen und Gesang und Frauenverein, ihr tiefes und einziges -Glück seien. -- - -Nun fallen mir die Augen zu. Ein wenig später kam auch Dora, dann wurde -Irene schläfrig, und ich fuhr heim. Ägidi nahm ich mit in die Stadt, -doch sprachen wir nur über Literatur und dergleichen. Ein Zug in seinem -Gesicht schien mir -- nun was soll das? -- -- -- --« - -Die Augen schließend und wieder öffnend, nahm Renate in diesem -Augenblick das kleine, auf seinem schmalen Halse wie eine zarte Blüte -vorgestreckte Antlitz von weißem Gips, über ihr auf seinem Pfeiler im -Winkel, wahr. Verzaubert, als sähe sie es zum ersten Mal, liebenden -Auges, fast schmerzlich geöffneten Mundes, nahm sie, ohne hinzusehn, die -Feder auf und schrieb, ohne hinzusehn, regellos über das Blatt, die -Lippen bewegend, weit offnen Herzens: - -»Da aber gehst du wiederum über mir auf, schönes, ewiges weißes Antlitz -des Sonnenkönigs; da meines müde ruhen will, Ech-en-Aton, mein weiser -Freund, zeigst du mir das deine, emporgewendet unermüdlich zu dem -unermüdlichen Gestirn, das nur fortging zu fremden Völkern, nicht -unterging, um zu ruhn. Deine Tempel und deine Stadt, die du zum Dienst -der Sonne errichtest, sind lange, lange in ungestalteten Staub -zerfallen, du aber lebst immer, immer! Unerschöpflich deine unsterbliche -Seele glüht in unendlichen Verwandlungen, immer sehnsuchtsvoller nur, -immer eifriger nur, der einen, unaufhörlichen Flamme des Himmels zu, die -Ewigkeit kostet dein sehnsüchtig immer küssend gewölbter Mund, meine -Augen hängen an ihm, von selber findet die Feder ihren Weg, dein Antlitz -wandelt sich magisch in der tiefen Nacht, atmet nicht schon die samtige -Haut, rötet sie sich nicht unter der Berührung der gelben Strahlen? -Unbeweglich steht dein Auge, steht das Auge deiner Seele, ganz in -Flammen, ganz in Inbrunst, durch Jahrtausend um Jahrtausend, -unverrückbar, unverbrüchlich, selig, seliger, vor dem Ziel.« - - - Fünftes Kapitel: Juni - - - Emmaus - -Georg, geblendet, schwer schlaftrunken, riß die Augen auf und kniff sie -heftig wieder zu. Große rote Flecken sausten heran, schwebten, hielten -still, dazwischen flackerte brennend Grünes, grüne Blätter, Baumwipfel, -und Himmelblaues. Er rieb die Augen, merkte, daß er in der Hängematte -lag, die Lider fielen ihm schwer wieder zu, in allen Gliedern knackte, -sauste und prickelte der jählings abgebrochene Schlaf, der verdampfte. -Ringsum brodelte der Juni, und da, seltsam fern, mitten im Sommer, -schönem Schatten, Baumstämmen und Sonnenlichtern und herein leuchtendem -Himmelsblau stand Egon mit seinem schwarzen Haarwisch in der Stirn und -lächelte. Georg gähnte wie ein Löwe und kaute hervor, wie spät es sei? -Durch eine Wand von Schlaftrunkenheit hörte er Egons Stimme: Gleich fünf -Uhr. Und Herr Bogner sei eben gekommen, und auch ein Telegramm. -- Georg -brachte die Augen nicht auf im Gähnen, streckte die Hand aus und dachte: -Ach, Bogner, -- richtig, er brachte das Bild, für Helene ... Er zerrte -die Füße aus den Maschen der Hängematte, saß da, krümmte die Arme -gewaltig, dann den Rücken, reckte und dehnte sich, daß es krachte. -Schließlich hockte er im Netz, den Kopf schwer vornüber hangend, in dem -es kribbelte und summte; die Schläfen brannten, die linke Wange war wie -Feuer von Jucken, und er kratzte sich wütend; eine Mücke mußte ihn im -Schlaf gestochen haben. Was träumte ich nur? dachte er. Das war ja sehr -sonderbar! Ich ging mit Bogner im Walde, und auf einmal war noch jemand -da, ein großer, blasser Fremder, mit dem Bogner eifrig sprach, und ich -blieb zurück, es war dämmrig im Walde und sehr grün, und dann, -- dann -war da, glaub ich, Saint-Georges, den fragte ich: Wer ist denn das -eigentlich? und er sagte erstaunt: Das wissen Sie nicht? Es ist doch -Christus. -- Ja, das war, weil Bogners Bild den Gang nach Emmaus -darstellen soll. Und dann gingen wir weiter, und ich dachte, wenn wir -jetzt aus dem Walde kommen, muß gleich links Helenenruh sein, aber -Helenenruh kam nicht, sondern ein fremdes dunkles Tal, und Bogner und -- -der Andre entwichen schon fern drüben zwischen den Stämmen, und gleich -rechts stieg Renate ganz einsam den steilen Hang hinauf. Aber als ich -ganz froh und zitternd zu ihr kam, wandte sie das Gesicht her, und da -war es -- Helene, -- ja, und sie hatte das seltsame Antlitz wie auf -Bogners Bild ... Sonderbar, wie so alles durcheinanderging, Bogners Bild -und Helenenruh, wohin ich -- ach, bald -- bald fahre, zu Renate, die -dort ist ... - -Immer noch sehr dumpf, und schwer imstande, die Augen ganz zu öffnen, -brach er nun das Telegramm auf und las mühsam die Maschinenschrift von -dem sonneflimmernden Blatt: Lieber Georg, Ihre Mutter ist eben sehr -schwer erkrankt, Sie müssen sofort kommen und auf alles gefaßt sein. In -Liebe Renate. - -Gott im Himmel, Gott im Himmel, Gott im Himmel ... Das Blatt wurde -blutrot vor Georgs Augen, die Schriftbänder verbogen sich und zerfielen. -Braun und leuchtend stand da der Kiefernstamm, schwarzfleckig; hoch oben -breiteten die grünbehangenen Äste sich ins flammende Blau. Schwer -erkrankt ... auf alles gefaßt sein ... In Liebe ... Das hieß? In Liebe -... Tot, dachte er, tot, -- -- sie ist tot. In Liebe hätte sie nicht in -ein Telegramm geschrieben, sondern es hieß: in Mitleid. Georg bewegte -schwer im Mund die klebrige Zunge; die Augenwinkel schmerzten, langsam -ward es um ihn klar, er stand auf und ging auf schwachen Füßen, wankend -davon, auf das Haus zu. Da war die weiße Tür, Bogners Gesicht. Georg -blieb stehn, schnob ein verächtliches Lachen durch die Nase und dachte -unter furchtbar aufsteigender Angst: Das Bild, das Mutter zum Geburtstag -haben ... Sein Kinn zitterte, im Halse würgt' es, seine Augen wurden -feucht, beizend. -- Da stand er vor Bogner, streckte ihm wortlos das -Telegramm hin, fiel auf einen Stuhl und schluchzte zwei, dreimal trocken -und würgend. - -Aber wenn sie doch noch lebte?! Besinnungslos sprang er auf, taumelte -erst, denn es war alles rot umher, und vom Schreibtisch, den Fenstern, -der Lampe gab es nur fliegende Bruchstücke. Dann entdeckte er den -Telephonapparat, stürzte darauf zu, nahm den Hörer ans Ohr, hörte die -weibliche Stimme, wußte im Augenblick die Nummer nicht, erhaschte sie -dann, sagte heiser: Achtundneunzig -- achtundneunzig bitte! und wartete. -Eine schnarrende Stimme schrie ihn an: Hier Adlerwerke! -- Nun stammelte -er zusammen, er habe neulich schon ein Automobil gehabt, ob er wieder -einen solchen Wagen ... oder besser einen schnelleren, einen Rennwagen, -jedenfalls den schnellsten, der da wäre ... Dazwischen nannte er seinen -Namen, hörte dann, daß ein Wagen geschickt würde, er bat noch um einen -guten Fahrer und um Benzin für sieben, acht Stunden. -- - -Sieben, acht Stunden, dachte er stumpf, am Schreibtisch hockend. Ohne zu -denken, öffnete er die Schieblade und nahm einen Plan auf Leinwand -heraus. Da fahr ich wieder zu einem Toten, murmelte er hülflos. Wenn sie -nur noch lebte, nur noch ... Auf ein Räuspern hinter seinem Rücken -wandte er sich um und sah Bogner dasitzen, das Telegramm in der Hand, -das er nun langsam zusammenlegte. Dann blickte er auf, sah ihn ruhig an -und sagte: - -»Sie können trotzdem mein Bild ansehn. Ich will es hereinholen.« - -Er sah Bogner aufstehn, zur Tür und auf den Flur treten, wo an der Wand -das Bild lehnte, mit einem Tuch verhangen, so hoch wie Bogners Schulter. -Er trug es herein, löste die Tücher ab, -- es hatte noch keinen Rahmen, --- und lehnte es schräg gegen den Pfosten der Schlafzimmertür. - -Georg schauderte leise. Da war Nacht, tiefes Dunkel, braun, grünlich, -das herunterhing; ganz tief unten zur Linken war Helle und ganz kleine -Gestalten. Die Höhe des Raumes schien ungeheuer, er stieg oben in die -Nacht auf, undeutlich waren Pfeiler sichtbar, ganz fern, aber kein -Gewölbe, nur Nacht und ein, zwei weißliche, gelbliche Flecken von -Sternen. Unten links war eine Fensteröffnung, durch die breit ein -Lichtstrom hereinschwoll und zerstäubte an einer stehenden Gestalt in -der Mitte des Bildes, die einen Arm, vom Schreck betroffen, nach links -von sich streckte. Unterm Fenster, im vollen Licht war ein Tisch -gedeckt, dahinter, geduckt vor Schrecken, ein Mensch. Und links daneben, -hochangelehnt, die Arme leicht ausgebreitet, die flachen Hände auf der -Tischplatte, ganz golden von Licht, -- der Christ. - -Emmaus ... zog es fern durch Georgs Staunen. Oh diese ungeheure Nacht! -Und Nachtstille und Geschehn. Das Göttliche blühte schweigend aus dem -Lichtstrahl auf und sah sich um. In der Nacht draußen war die ganze -Welt, Sterne, Raum, Ebene, Getier, das Meer, die Finsternis, in -unendlicher Stille. - -Von der Gartentür her sagte der Maler: - -»Ich sah dies in einer Kirche in Venedig. Die Wölbungen waren nicht so -hoch, es war dunkel, nur in einem fernen Seitenschiff ein Lichtschein. -Als ich hinging, saßen dort ein paar Priester und spielten Karten. Das -alles hat sich im Laufe der Jahre sehr verändert.« - -Nach einer Weile hörte Georg des Malers Stimme wieder: - -»Und als ich eines Tages zufällig Conrad Ferdinand Meyers Gedicht zu -lesen bekam, >die tote Liebe< heißt es, glaube ich, Sie werden es kennen -...« Georg hörte die Eingangsverse: Entgegen wandeln wir -- Dem Dorf im -Sonnenkuß -- Fast wie das Jüngerpaar -- Nach Emmaus ... Und den Schluß: -Da ward die Weggesellin -- Von uns erkannt -- Da hat uns wie den Jüngern --- Das Herz gebrannt ... und dazwischen die Stimme des Malers weiter: -»Da traf mich dies einmal: Da hat uns wie den Jüngern -- Das Herz -gebrannt ... Denn -- -- es ist so, daß wir wie die Blinden daherwandern, -und die Augen gehen uns auf, wenn es zu spät ist, immer hinterdrein, und --- wir wissen es nie gut; wir wissen es immer nur besser.« - -Da hat uns wie den Jüngern das Herz gebrannt ... Immer wieder schlugen -die Worte an. Wir wissen es nie gut, -- wir wissen es immer nur besser -... Und nun war Helene tot, die -- Mutter tot, -- Mutter, -- nicht -meine, dachte Georg ratlos und konnte nichts anfangen mit dem Gedanken. -Gott sei Dank, sie hat es nie gewußt! mußte er aufatmen. Aber wenn sie -doch noch lebte? -- In Liebe Renate. Ach, aus diesem Grunde schrieb sie: -in Liebe! Georg biß sich auf die Lippen, jagte den Gedanken davon und -fragte sich: Warum hat Magda nicht telegraphiert? Warum hat sie nicht -telephoniert? Weil sie mich neulich schon zu einem Toten rief. -- - -Und -- ach du mein Gott -- nun schon wieder fort von Cordelia! Sein Herz -verbitterte sich! Ist man einmal glücklich, so kommt was dazwischen! Ja, -dann muß ich alles verschieben, jetzt länger in Helenenruh bleiben und -mit Renate, -- aber wie kann ich es recht anfangen mit ihr, wenn -Trauerzeit ist? Schöne Gedanken, mein Georg, schöne Gedanken! -- Er biß -sich auf die Lippen. -- - -Sieben Stunden dauerte die Fahrt wenigstens, -- oh diese Ungewißheit! -- -Georg schwankte, ob er nicht in Helenenruh anrufen sollte, -- oder in -Trassenberg, aber bis die Verbindung hergestellt war, konnte eine Stunde -vergehn. Nein, nein, lieber die Ungewißheit! -- Er erhob sich und -klingelte. Zu Egon, der alsbald eintrat, sagte er, er müsse gleich nach -Helenenruh, er habe schon einen Wagen bestellt, seine Mutter ... Egon -sollte mit den Koffern im nächsten Zuge fahren. -- - -Unterdes hatte Bogner die grüne Stoffhülle vom Boden aufgenommen. Georg -trat auf ihn zu, faßte seine Hand und brachte heiser hervor, der Maler -möchte das Bild dalassen, er wisse nicht, was er ihm dafür geben könne, --- und da der Maler freundlich und abwesend lächelte, so lächelte auch -Georg und meinte: - -»Ich hoffe, Sie schenken es mir, -- ich werde sehn, -- ich finde schon, -was ich Ihnen als Gegengeschenk -- -- wenn erst alles ...« - -Der Maler nickte und sagte: »Ich weiß ja ...« - -Georg blickte noch einmal auf das Bild. Ja, -- Christus war tot und -mußte wieder kommen, damit sie alle glaubten. Eine hielt ihn für den -Gärtner, die andern gingen, sprachen, aßen mit ihm, -- dann erkannten -sie ihn, und -- ihnen brannte das Herz. -- Er fühlte sein Gesicht -glühend, schüttelte sich frierend und wandte sich ab. - -Minuten später stand er vor einem flachen grauen Wagen, mit Radreifen -und Benzintanks beladen, und hörte zu, wie ein Mensch ihm dies und jenes -erklärte. Dann saß er am Steuer, riß den Hebel an, der Wagen stieß von -unten, brauste auf, rollte, er drehte das Steuer, der Wagen, gehorsam, -wandte sich mit ihm um und rollte die weiße Straße hinab in den grünen -Sommer. Bald lag schon das heftig durchkreuzte Getümmel der Stadt, -Plätze, Lärm und Getöse, Menschen, Automobile und Pferde hinter ihm, vor -ihm, schnurgerade, die Chaussee, zwei Baumreihen, in der Ferne -zusammenschmelzend, unterm glühenden Himmel, und der Wagen schnurrte -darüberhin, daß Georgs Körper und sein Herz erzitterten. Verschwommen -kreisten die Flächen der Haide, braun, dann Moore, wieder Haide, die -Straße senkte sich und stieg so schnell, daß es kaum zu sehn war, -wundervoll ruhig tuckte der Motor im Innern, Georg sah in der Glasröhre -neben seinem linken Fuß das schwärzliche Öl langsam tropfen und -undeutlich den beweglichen Zeiger des Manometers; sein Gesicht kühlte -sich wohlig im eisigen Wind, ihn packte die Lust, hinzustürmen über die -sich drehende Erdkugel, schnarrend wie ein Uhrwerk. Automatisch, wenn -ein Pferd, ein Wagen fern sichtbar wurde, sah er die Hand des -Mechanikers nach unten greifen und den Auspuff schließen. In der Ferne -dröhnte hin und wieder die eigene Hupe. Ehern, rein blau, feurig blieb -das Gewölbe des Himmels. Gehöfte unter Eichen, beschnittene Hecken, -Hoftore, Eggen, Dämmerblicke in Kuhställe, Geranien vor Fenstern, -heranlaufende Kinder, mitflüchtende, endlich querüber jagende -schneeweiße Gänse, flatternde Hühnerscharen, locker vorbeischwebende, -riesige fahrende Heuberge, der fliegende blaue Schleier einer vermummten -Frau in einem Automobil, das überholt wurde, -- all das flackte und -spritzte in Fetzen auf und herum, und verflüchtigte sich in Augenblicken -immer wieder in den stabgraden weißen Strich der Chaussee, die niemals -endete, im Endlosen immer wieder aufgebrochen wurde, soviel sie in der -Ferne zusammenzulaufen schien. Als die Flächen umher sich abendlich -beschatteten, überließ Georg das Steuer dem Mechaniker, setzte sich in -den Wagen und schloß die Augen. - -Er verfiel alsbald in einen unruhigen Halbschlaf. Der Mückenstich auf -seiner Wange brannte und juckte wiederum, er rieb und kratzte ihn und -träumte dazwischen, so leicht, daß er selber wußte, er träumte. Er -träumte, daß er im Automobil fuhr und in Helenenruh ankam, aber es kam -nicht ganz dazu, er wachte wieder auf, schlief wieder ein und fuhr -wieder, gelangte auch nach Helenenruh, aber es war alles dunkel, kein -Mensch zeigte sich, und das Haus war ein ungeheurer, niedriger Langbau, -an dessen Fenstern zu ebener Erde er hinunterging; hinter einem von -ihnen sah er Menschen in einem Zimmer, die ihm etwas Liegendes -verdeckten, und er dachte: Sie wollen es mir nur verbergen ... Seine -Wange juckte wieder, er war wach, scheuerte sich und sah, daß es dunkel -war, und daß die Chausseebäume, von den Scheinwerfern weithin -beleuchtet, vorauseilten, kalkbleiche Gestalten zu Hunderten; dann -tauchten drei Radfahrer auf und glitten dicht an ihm vorbei, zuletzt -eine Frau in roter Bluse, die halbumgedreht einem kleinen weißen Hunde -etwas zuschrie, der kläffend gegen den Wagen ansprang. - -Georg ging nun an einer langen Mauer hinunter, er wollte zum Begräbnis -seiner Mutter, es war schon spät, und er konnte den Eingang zum Friedhof -nicht finden, der hinter der Mauer lag. Auf einmal kamen dunkel -gekleidete, ernste Leute von allen Seiten, die sonderbare Gegenstände, -unenträtselbare, in den Händen hielten, und er dachte bei sich: es sind -die Leid Tragenden. Dabei merkte er, daß er selber nichts hatte, er -mußte seines zu Hause vergessen haben, suchte vergebens und mit großer -Verzweiflung an sich, aber es war nicht zu finden, -- es zu holen, war -es viel zu spät, er war auch schon mitten unter den Leuten und hielt -sich beschämt dicht hinter den vor ihm Gehenden, immer besorgt und -beklommen, daß es gemerkt würde. Nun sah er aber, daß sie gar nicht Alle -etwas hatten, -- nein, es hatte überhaupt niemand etwas, er atmete auf -und schalt sich, daß er sich eingebildet hatte, man müsse etwas haben, -und indem verschwanden die Letzten durch ein kleines Mauerpförtchen. Als -er dort anlangte, kam gerade Benno von der andern Seite, unbegreiflich -gekleidet, und fragte ernst: Willst du auch zum Grabe? -- Ganz -erleichtert wußte Georg nun, daß nicht seine Mutter tot war, sondern -Christus, aber das war schon lange her, und hier war sein Grab zu sehn, -es war in Jerusalem. Als sie nun durch einen großen Garten gingen, wo -unter weitstehenden, mächtigen Bäumen hohe, gelbe Narzissen, einzeln und -in Gruppen, aus dem niedrigen Grase ragten, sagte er zu Benno: -Sonderbar! so hatte ich mir Palästina gar nicht vorgestellt. -- Ja, so -ist es in Okrodia, sagte Benno, und Georg verstand nun alles, nur war es -jetzt nicht Benno, mit dem er ging, sondern einer der beiden Jünger von -Emmaus, und er selber war der andre. -- Nun war da vom weiten ein -Gebüsch zu sehn, große, dichte Hügel von blühendem Rhododendron, rot und -auch etwas weiß, und daneben kniete Maria Magdalena, Menschen in langen -Kleidern standen um sie herum, auch andre in Gruppen anderwärts, und -durch diese hindurch sah Georg die Tür des Grabes an einer Felswand -offen, und Benno sagte: Das Begräbnis ist doch schon vorüber, wir können -aber hineinsehn. -- Georg geriet im Weitergehn an eine Gruppe von -Menschen, die sich unterhielten, er dachte: sie beratschlagen wegen -Pilatus, aber als er zuhören wollte, sprachen sie gar nicht, sondern -standen bloß da, und keiner sah ihn an, er stand bei ihnen und schwieg -und dachte: Das dauert ja endlos ... Zwischen den Beinen der Leute wurde -Maria sichtbar, es war Cordelia, sie kniete und suchte auf der Erde, -weinte heftig und sagte: sie haben ihn fortgetragen ... Ja, weiß sie -denn nicht, daß er auferstanden ist? dachte Georg verwundert und wollte -es ihr sagen, aber nun war er am Grabe und sah hinein. Stufen führten -hinunter, ein großer, fremder Mann lehnte halb sitzend unten an einem -Tisch, vor ihm stand Bogner und sprach unaufhörlich, und der Fremde war -Josef von Montfort. Georg dachte enttäuscht: so habe ich es mir nicht -vorgestellt! und ging an der andern Seite zur Tür hinaus, wo er Magda -und Renate ganz eilig in ein kleines, dunkles Tal hinuntergehn sah; er -folgte ihnen, indem er dachte: Sie wissen den Weg ja gar nicht, nach -Emmaus geht es doch auf der andern Seite! aber er konnte sie nicht -einholen, da seine Knie sich nicht bewegen ließen, er blieb immer auf -der selben Stelle, stöhnte und ächzte verzweifelt, konnte endlich die -Füße einen um den andern sehr langsam vorbringen, aber nun waren die -Beiden verschwunden, ihm war sehr beklommen, daß er sie hatte falsch -gehen lassen, er bewegte sich mit qualvoller Anstrengung weiter, wußte, -daß er viel zu spät kommen würde, sah aber nun ein helles Licht aus der -Ferne nahn, einen Menschen, der einen strahlenden Silberkelch vor sich -trug. Das Gesicht war das seines Vaters, aber der Mensch war sein Vater -nicht, es war Christus, und Georg brach in Tränen aus vor unsäglichem -Glück, daß er ihm hier entgegenkam, er legte den Kopf an jene Brust und -weinte endlos lange, in namenloser Wonne, zu weinen. - -Als Georg erwachte, war ihm die ganze Brust noch so voll von Tränen und -Schmerzensglück, daß er die Trockenheit seiner Augen nicht begriff. Es -war Nacht, der Fahrtwind umsauste kalt sein Gesicht, im mächtigen Licht -der Scheinwerfer bog sich die Doppelreihe schimmernder Stämme vor ihm -auseinander und gleichfalls die Doppelreihe von hohen und aufrechten, -kalkweißen Steinen, ähnlich Leichensteinen, die zwischen den Bäumen am -Grabenrand standen; dahinter war die erst dämmrige, dann dunkle Grotte -der Wipfel, auf die der Wagen zuschoß, ohne sie je zu erreichen. - -Georg suchte nach seinem Traum, aber es zerstob alles vor ihm, nur das -sonderbare Wort, das Benno gesagt hatte, schwebte noch eine Weile vor -ihm, hieß aber dann richtig Arkadien, worauf ihm einfiel, daß sein -Korpsbruder Schwalbe ihm einmal die Birken seiner Heimat so beschrieben -hatte. Seltsam, daß auch Montfort, dieser Träumedeuter, hineingeraten -war ... Und so blieb ihm schließlich nur sein Weinen unvergeßlich. Ach, -dachte er, wo gäbe es eine Brust, an der sich so weinen ließe! -- -Renates gedachte er, nun würde er sie sehn, aber wie war alles anders! -Er würde wohl für eine Weile mit seinem Vater nach Trassenberg gehn -müssen, wenn der nicht etwa in Helenenruh blieb, aber seine Mutter würde -doch jedenfalls in Trassenberg beigesetzt. -- Da merkte er, wohin seine -Gedanken voraufgeeilt waren, schalt sich erbittert, der Vers fiel ihm -ein: Da hat uns wie den Jüngern das Herz gebrannt ... aber das seine -brannte nicht, ihm war kalt vom Winde und heftiger Erregung vor dem -Kommenden. Frierend zog er seinen Mantel an, hockte vorgebeugt und trieb -innerlich mit wilder Ungeduld Fahrer und Motor an, schalt halblaut, wenn -immer wieder gebremst wurde, da ein Dorf durchkreuzt werden oder der -Fahrer eine Wegtafel lesen mußte. Gottseidank! er erhaschte von einem -Wegweiser das Wort Böhne und die Buchstaben km, aber die Zahl entging -ihm. Nun wartete er in immer kälterer Erregtheit, endlich tauchten die -ersten Häuser von Böhne auf; der Wagen rauschte laut und langsam durch -dunkle Straßen mit wenig Laternen, an erleuchteten, großen und -gardinenverhangenen Scheiben der Restaurants vorüber, über den schräg -ansteigenden Marktplatz, wo innerhalb der Lorbeerbäume und Efeuhecken in -Kästen vor dem erleuchteten Ratskeller noch Menschen saßen, dann in enge -Gassen hinein, um eine Ecke, wo Georg durch eine offene Tür mit -geriffelten Gläsern über drei Stufen die Ecke eines Holztisches sah, -einen Kutscher in blauem Fuhrhemd vor der Theke, dahinter die blanken -Messingkrahnen und unter einem bunten Öldruck der Kaiserin den Wirt, ein -rotes Gesicht, der von drei Gläsern mit hellem Bier mit einem kleinen -Brett den Schaum niederstreifte. Nun über die Brücke, das Wasser war von -schwarzen Bäumen und Zweigen verhangen, der Wagen warf sich hin und her -auf dem Kopfsteinpflaster der Gartenstraße, wo in der Tiefe der Gärten, -hinter Bäumen und Gebüschen die weißen Landhäuser schliefen, und nun -endlos die Eisenbahnstraße neben dem Plankenzaun hinunter; eine -Rangiermaschine schnaufte roten Funkenregen, da flog der gelbe, häßliche -Bahnhof mit erleuchtetem Zifferblatt links vorbei, sie waren auf der -Landstraße, der Wagen ruckte an und schoß davon wieder in die Nacht, -zwischen den Stämmen der schwertragenden Apfelbäume auf die dunkle -Laubgrotte der Ferne zu. - -Noch fünf Minuten, sagte Georg. Eigentlich mußte es eine schöne Fahrt -sein durch die Nacht, aber er empfand es nicht, saß eiskalt und -zitternd, die Uhr, deren Zeiger er nicht sehn konnte, in der Hand, an -der Aufziehkurbel drehend, ganz heiß war die Uhr. Plötzlich tauchten -Rampe und Fensterreihen und der vorderste weiße Turm von Helenenruh aus -der Nacht, hell sichtbar im Scheinwerferlicht, es ging die Rampe empor, -der Wagen stand vor dem erleuchteten Portal, aus dem ein Diener eilte, -der den Schlag aufriß, und Georg sah Magda im Innern über der -Stufenreihe, blaß und viel verweinter, als nach dem Tode ihres Vaters. -Sie kam herunter, Georg verwickelte sich mit den Füßen im Aussteigen in -die Reisedecke, strauchelte und fiel Magda in die Arme; er atmete den -wohlbekannten Duft ihres Haares, als sie die Stirn an seine Schulter -drückte, stammelnd unter heftigem Schluchzen: »Alle -- -- Alle -- gehn -fort! Esther, -- und Papa, und nun --« - -Also tot ... tot ... - -Ja, es war furchtbar für sie, furchtbar ... Georg streichelte ihren -Rücken, sie machte sich los, trocknete ihr Gesicht, nahm seine Hand und -führte ihn über die Treppen in den Klaviersaal, wo ihm Renate -entgegenkam, schwarz gekleidet und mit verweinten Augen. Er warf den -hellen Mantel ab und ging in seiner kalten, schrecklichen Beklemmung -durch all die hellerleuchteten, fremd anmutenden Zimmer, voll steifer -Möbel und großer, reicher Schränke mit Schnitzwerk oder Einlegearbeit, -bis zum Zimmer seiner Mutter. In der Tür blieb er stehn. - -Es roch stark nach Rosen. Der große und hohe Raum war mit Nacht gefüllt, -in der Tiefe brannten zwei silberne Armleuchter mit vielen, rötlich -strahlenden Kerzen; unter ihnen war ein weißes Lager, davor Rücken und -Hinterkopf von Georgs Vater, der gebückt saß. Im Schatten hinter den -Lichtern sah Georg die runden Wipfel von Lorbeerbäumen. Zu seiner -Rechten sah er an einem, vor langer Zeit einmal erblickten, dunklen -Empireschreibtisch unten die vergoldeten Löwenfüße schimmern, aus denen -die Säulen wuchsen, dann auch das Gold an Eckenbeschlägen und den -Knäufen kleiner Schiebladen; rötlich glänzte die Politur. -- Georg stand -furchtsam, hülflos, traurig und gelähmt. Endlich zwang er sich vorwärts -zu gehn. - -Sein Vater bewegte sich nicht. Georg blieb hinter ihm stehn, -- es ist -ja nicht meine Mutter, dachte er verstört und sah über einer goldenen -Decke zwei steife, gelbliche Hände mit den Fingerspitzen gegeneinander -gelegt; darunter kam ein Lilienkelch hervor. Dann steifes Leinen und -Spitzen, eine Halskrause, und nun ein Gesicht, ganz klein, gelblich mit -sehr hagrer und gebogner Nase, -- mein Gott, wer ist das? -- fragte -Georg sich tief erschreckt und gewahrte nun die große, dunkle Locke, die -unter der Ohrmuschel hervorquellend vorn auf den Spitzen am Halse lag, -und sie erinnerte ihn an seine Mutter. Aber das Haar war in der Mitte -gescheitelt, -- nein, es war ein ganz fremdes Gesicht! und wie war -dieser Mundwinkel seltsam gebogen! wie -- hülflos ... - -Georg sah und konnte es nicht verstehn. Es ist, sagte er sich, es ist -- -ja, -- es ist ein Gebilde, was ist es nur? Es lebt ja nicht, Gott, es -ist ein Mensch, aber sie lebt ja nicht! Es kann sich nicht bewegen, und -wie gelb es ist, -- es ist ja gar nicht wie -- wie von Natur, es ist -- --- erstarrt, aber -- -- das giebt es doch nicht ... Ein Leichnam ... -dachte er schwer und fühlte sich fast erleichtert, da die Tote nichts -wahrnehmen konnte. Oh Gott, dachte er zerknirscht, dies ist ja nur zum -Begraben, was soll man damit, wo ist denn die Seele? -- - -»Vater --« sagte er leise. - -Der Herzog bewegte sich, nahm das Gesicht aus den Händen und wandte es. -Undeutlich sah Georg die vom Licht abgekehrten Züge, Augen, einen -starrenden Bart und darüber, vom Licht durchsickert, das zerrüttete -Haar. Eine Hand ergriff seine Linke und preßte sie schmerzhaft, dann -stand er dicht vor der Toten, hörte eine rauhe Kehle etwas hervorstoßen -und sich räuspern, dann die Worte: »Wohl ist ihr -- -- wohl -- -- und ---« - -Es brach ab; Georg sah, wie sein Vater den Kopf in die Hände stieß und -sich schüttelte und so maßlos schluchzte, daß ihm selber die Tränen in -die Augen stiegen, und er legte zaghaft eine Hand auf die Schulter unter -ihm. - -Wie sie Alle weinen, dachte er bekümmert und fremd. -- Ach, sie weinten -über das, was sie verloren hatten, -- ja, freilich, -- ich habe nichts -verloren, dachte er bitter und vorwurfsvoll gegen sich selber. -- Irgend -etwas ward ihm plötzlich zuviel, er drehte sich um und ging leise wieder -hinaus. - -Im Klaviersaal fand er Renate und Magda am Harmonium. Renate saß, Magda -lehnte müde, halb sitzend am Deckel. Sie sahen sich schweigend an, dann -fragte Renate etwas leise, das er nicht verstand. Unfähig gegenzufragen, -sagte er: - -»Wie, wie kam es denn?« - -»Gestern«, sagte Renate, zu Magda aufsehend, »ging es ihr so viel -besser, nicht wahr? sie sagte noch, sie fühlte sich ordentlich jung. Den -ganzen Nachmittag und Abend war sie mit uns zusammen. Heut morgen kam -sie auf einmal zum Frühstück herein, -- ich sehe sie noch, in ihrem -gelblichen Morgenkleid, ich stand am Fenster, du warst noch nicht im -Zimmer. Dann -- dann frühstückten wir zudritt, und auf einmal -- sah sie -uns groß an und sagte -- ihr würde so sonderbar ...« Renate schwieg. -Ganz leise sagte sie dann: »Plötzlich -- -- plötzlich sagte sie: Ich -glaube, ich --, senkte den Kopf und legte die Stirn auf den Tisch. Und -dann -- -- dann fiel der eine Arm herunter.« - -Renate schluchzte plötzlich auf und stammelte, das Gesicht im -Taschentuch. - -Georg hätte gern den Arm um sie gelegt, verbot es sich heftig und -dachte: Darüber weint sie nun? Seltsam, worüber Frauen weinen. - -Er ging wieder durch die Zimmer zurück zu seinem Vater und fragte ihn -leise, ob er sich nicht niederlegen wolle, er selber würde wach bleiben -die Nacht. -- Eine Zeitlang blieb sein Vater unbeweglich, erhob sich -dann, Georg reichte ihm seine Stöcke und fühlte sich plötzlich von ihm -an die Brust gerissen und heftig geküßt. -- Nun hat er nur noch mich, -dachte er beschämt und angstvoll. -- Er sah seinen Vater hinaushumpeln, -stand noch eine Weile, ging dann durch die Zimmer zum Klaviersaal, -löschte dort und zurückkehrend überall das Licht und setzte sich auf den -Stuhl neben die Tote; aber bald schon stand er behutsam auf, fühlte -Müdigkeit und ging zum Schreibtisch seiner Mutter. Im Stehen zog er -diese und jene kleine Lade auf, sah Briefbündel darin, ein Medaillon, -kleine Stöße alter Photographien, und öffnete endlich die breite -Schieblade unter der Platte. Sie war unordentlich gefüllt mit -hineingeschobenen Briefen, mit und ohne Umschlag, zusammengefalteten und -ausgebreiteten Blättern. Obenauf lag eine Mappe, mit einem alten -Brokatstoff überzogen. Georg nahm sie heraus, die Bänder hingen offen, -er schlug die Deckel auseinander und sah, daß es die Verse waren, die er -seiner Mutter zu Weihnachten abgeschrieben hatte, mehrere große Bogen -ineinander. Auf der Titelseite stand in gemalter Lateinschrift der alte -Sonnenuhrspruch: _Vulnerant omnes, ultima necat._ -- Alle verwunden, die -letzte tötet. Georg übersetzte es sich, an den Anfang eines Gedichts -erinnert, das er nach dem Uhrspruch gemacht hatte. -- Darunter stand: -einige Gedichte für meine Mutter zu Weihnachten von Georg. -- - -Er setzte sich nun traurigen Herzens und dachte, die Gedichte zu lesen, -warf einen Blick, halb andächtig, halb bittend auf die Tote zurück und -las das erste Gedicht: - - Jetzt bin ich jung, und es läßt mir der sanftere Abend - Oft die Beruhigung schmeichelnder Lieder zurück. - Sonst die Gedanken in alternder Schwermut begrabend, - Find ich in ihnen ein seltsam befremdendes Glück. - - Werde ich alt sein, so möcht ich das Wunder am Morgen - Gerne erfahren, wenn Rosen das Zwielicht durchsprühn. - Daß mir doch einmal aus Feldern der kindlichen Sorgen - Lächelnd durch Tränen die Blumen der Freude erblühn. - -Er sah noch eine Weile auf die stark geschwungenen, sehr ornamental -gezogenen Buchstabenreihen und wagte nicht recht, eine Meinung von dem -Gedicht zu haben, da er es gleichsam wie ein Totenopfer las. Er schlug -die Seite um, -- da sah er auf der, von ihm leer gelassenen Rückseite -des Blattes Schriftzeilen von der Hand seiner Mutter, ein Gedicht, und -es war dasselbe, das er eben gelesen hatte. Er schlug die nächste Seite -um und hatte denselben Anblick, nur daß dort: Elegie stand, die -Überschrift des zweiten Gedichts, und so fort durch die Blätter bis ans -Ende, alle die Gedichte hatte sie sich abgeschrieben, sie hatte ja -zuweilen über die Schwierigkeit geklagt, seine Handschrift zu lesen, -- -jetzt krampfte Georgs Herz sich zusammen, er dachte noch, welche Mühe -das Abschreiben sie gekostet hatte, -- sie, die überhaupt nur eine -Stunde am Tage zu solcher Arbeit fähig war -- denn sie hatte die -Abschrift immer auf die Rückseite des Gedichts geschrieben, hatte also -fortwährend hin und her blättern müssen ... Georg fühlte seine Kehle -zugeschnürt, es jagte ihm glühendheiß in die Augen, -- so hat sie mich -geliebt! dachte er noch, schlug die Hände vor das Gesicht, und im -Bemühen, nicht laut zu sein vor der Toten, erstickte er fast vor -Schluchzen in seinen Händen, rang mit sich, warf Kopf und Arme über die -Schreibtischplatte, schluchzte laut, stand auf, wankte blindlings zu der -Toten hin und fiel bei ihr nieder, stammelte, verbrennend in Scham: -»Vergieb mir, o vergieb mir doch, Mutter, daß ich so schlecht --« und -fand kein Ende mit Weinen, immer wieder von innen sich mit Anklagen und -Vorstellungen ihrer Liebe, ihrer Einsamkeit, ihrer unsäglichen -Verlassenheit und Armut emporstoßend, bis er erschöpft, heiß überströmt -und aufgelöst in Schmerz sich im Stuhl wieder fand, am Schreibtisch, und -begann weiter zu lesen. Er las die Schrift seiner Mutter, zuerst die -Elegie und in ihr zuerst die mit Bleistift unterstrichenen Worte: -Heiliges Kindheitsland, wo bist du? -- und tiefer die ebenfalls -unterstrichenen: - - Aber es ist uns gegeben kein Raum uns zu ruhn, als zu Füßen - Hinzubetten uns dort, wohin wir abends gelangt ... - --- die ihn wieder zittern machten vor Mitleid, da sie ihm wie für sie -geschrieben schienen. -- Einige Zeilen unterhalb dieser Worte hatte sie -eines nicht lesen können und eine Lücke gelassen; >sicher< mußte es -heißen; er wäre fast wieder in Tränen ausgebrochen bei dem Gedanken, daß -sie immer eine Lücke hatte lesen müssen ... Dann sammelte er sich und -las: - - Einer vergänglichen Welt entsproßt und seit alters leibeigen, - Seh ich entgleiten die Zeit, Sand in verrieselnden Sand. - Was ich empfange als Gold in die mühsamen Hände, es rinnt als - Staub, unfruchtbarer Staub auf den entfliehenden Weg. - Vor mir leuchtet der Pfad und erreichbar himmlische Landschaft, - Städte und Wälder, der Strom, Berge zum Äther getürmt, - Berge, beladen mit Wolken gleich Ballen voll göttlicher Schätze, - Hinter mir dämmert aus Nacht trostlos zerfallende Welt. - Finster im Zwielicht der Sterne, der ruhigen, kühlen, erheben - Sich die Ruinen, einsam, Mauern, ein Baum oder Turm. - Heiliges Kindheitsland, wo bist du? -- ach, und mich fröstelt! - Stets auf der Wandrung, wie gern möchte zurück man, das Haupt - In dem Vergangenen ruhn, in bekannte, erleuchtete Räume - Treten, wo Wand auch und Bild grüßt und ist freundlich gesinnt. - Wo vor dem Schlafengehn man sicher sich fühlt und erleichtert - Nickt zu den Sternen hinauf, gütiger Müdigkeit froh. - Aber es ist uns gegeben kein Raum uns zu ruhn, als zu Füßen - Hinzubetten uns dort, wohin wir abends gelangt. - Ja, auch das Fremde ist gut; das Weib auf eigener Schwelle - Schenkt von dem Überfluß liebreicher Mienen auch uns. - Freundliches Wort gedeiht ja auf Erden, -- die Züge auch Fremder - Scheinen nicht achtlos, und nur innen ist jeder für sich. - Innen tönt immer die Mühle, die eherne, welche die Körner - Mahlt der stürzenden Zeit: Immer gefüllt von dem Schwall, - Stehen wir tönend und rauschend im Ewigen, mahlende Mühlen, - Schwarz auf den dämmrigen Kreis der Horizonte gestellt. - -An Lornsens Mühle dachte ich dabei, erinnerte Georg sich dumpf und -drehte langsam das Blatt um. >Klage< las er; in diesem Gedicht war -nichts angestrichen. - - Wir sind heimatlos, wie sind heimatlos, - Unsre Welt ist viel zu groß. - Unsere Lampen brennen viel zu grell, - Alle Wege enden schnell. - - Dunkel schäumt in uns das Blut und läuft, - Sehnsucht, die nach innen träuft, - Hebt mit Geisterhänden aus der Bucht - Schwer empor des Lebens Frucht. - - Oft -- verfinstert sich ein Nachmittag -- - Harren wir gewitterzag, - Schwüle drückt an unsrer Stirnen Rand, - Heiß und hastig seufzt das Land. - -Doch, hier waren zwei kleine Striche seitwärts neben >Rand<. Seine -Mutter hatte das Gedicht zuweit rechts angefangen, nun kam sie mit dem -Raum nicht aus, -- Georg betrachtete wehmütig ihre ein wenig englisch -aussehende, sehr vorwärts flüchtende Schrift, mit langen, darüber -fliegenden t-Balken, d-Haken und u-Strichen, die sehr weit und flach -hingezogenen Verbindungsstriche zwischen den kleinen Buchstaben, die dem -Ganzen einen Schein von straffer Flüchtigkeit gaben, und diese Art, die -letzten Worte der Zeile, wenn der Raum nicht reichte, umzubiegen nach -unten, so daß in diesem Gedicht fast alle Zeilen wie mit Haken am -Seitenrand festgekrallt hingen. -- Nun las er weiter: - - Doch es wird nur Nacht und tot und dicht, - Fortgezogner Wetter Licht - Zeigt die Flur, ein bleiches Nachtgesicht, - Das umdunkelt und verweint - Fremd wie eine ferne Heimat scheint. - -Neben den ersten beiden Strophen des folgenden Gedichts waren starke und -lange Bleistiftstriche; Georg las: - - O schwarzer Himmel in mir! und giebt es nichts - Denn, nichts, zu schmelzen mich? keine funkelnden - Azure glühender Sommer? und die - Bäume und Quellen und Vogelstimmen - - Sind ganz umsonst? nur tiefer im feurigen - Gewoge voller Strahlen bewahrst du die - Furchtbare Starrheit und die Schwere - Schwärzer und drohender mir im Herzen ... - --- und erschrak, so sehr brannte sich jedes Wort, als sei es für sie -geschrieben, in sein Herz, aber er hatte an sie nicht gedacht, nicht -einmal, als er dies abschrieb für sie, hatte den Gram seiner so leichten -Seele dahingesungen, und sie fühlte, ja, sie fühlte den schwarzen -Schmerz im eigenen Kopf und die Blindheit und -- -- Verzweifelt und mit -umdunkelten Augen las Georg weiter, fast aufschreiend, als er eine -zitternde Linie, voraufeilend mit dem Blick unter den Worten: gekühlten -Windes Balsam -- fand: - - O Gott der süßen Früchte und Amselschlags, - Der sanften Regen träufelt und schmelzenden, - Gekühlten Windes Balsam schüttet - In die geduldigen Völker der Ähren: - - O senke einen kühlenden Strahl, nur ein - Aufküssend Säuseln über mein Heimatland. - Und tausend Ernten duften, tausend - Lerchen entschwirren, geblähten, feuchten - - Gefieders, Tau und Schimmer und Blütenstaub - Dir auszuteilen, singendes Blau der Welt, - Und an die ewige Erde preß ich - Schluchzend den Mund und die Brust und weine. - -Georg eilte hastig zur nächsten Seite, oh es war grausam, hier fand er -die Worte unterstrichen: der Kranke seufzt, und seiner Stirn Gewicht -drückt ihn zurück, -- zu meiner Strafe! knirschte er sich an und las: - - Aus dumpfen Wolken taucht der trübe Mond - Wie eines Kranken Antlitz aus den Kissen, - Die er schon viele Jahre lang gewohnt, - - Mit müdem Blick, der nur begehrt zu wissen, - Ob noch im Nachbarhaus der Kranke wohnt, - Der näher schon als er den Finsternissen, - Daß ihn sein Anblick tröstet und belohnt. - - Im Hause drüben glimmt herauf ein Licht, - Das wie mit Fingern, fahlen, leichenblassen, - Zitternd durch dunkle Fensterscheiben bricht. - - Der Kranke seufzt, und seiner Stirn Gewicht - Drückt ihn zurück. Er seufzt und weiß es nicht, - Daß dort der Schimmer in der Nacht der Gassen - Nur Widerschein vom eigenen Gesicht. - -Angstvoll schlug Georg die letzte Seite um. Nur noch ein Gedicht, -- -nein, hier war nichts unterstrichen, und er las, immer noch argwöhnisch: - - Tod und Zweifel - - Aus dem Haus der Freude ausgeschlossen - Jag ich mit den beiden schwarzen Rossen - Durch die finster schweigenden Alleen - Tief hinunter, wo kein Ende dämmert. - - Auf den beiden nassen Rossensrücken - Stehend wie auf schwanken Nachenbrücken, - Hör ich ihren Atem schnaufend gehn - Und den Hufschlag, welcher dröhnt und hämmert. - - Niemals kommt ein Ruf aus meinem Munde, - Bleich und stumm und traurig ist die Stunde, - Wo kein Stern und keine Lampe flämmert, - Nur die Ebnen seh ich, die sich drehn. - - Plötzlich stehn sie keuchend still und zittern, - Und statt ihrer rauscht der nächtige Regen. - Einem Morgenrot, das sie nur wittern, - Schreien ihre Häupter dumpf entgegen. - -Georg starrte auf die letzten Zeilen. Freilich --, etwas, das sie damals -auf sich passend finden konnte, stand nicht darin, aber wie hörte er den -dumpfen Schrei in dieser Nacht, aus der ganzen langen Lebensnacht seiner -Mutter! -- -- Aber da standen ja noch Gedichtzeilen mit Bleistift auf -einem Blatt, das unter die langen Heftfäden geschoben war, mit denen der -Stoff des Umschlags innen zusammengehalten war, eine rohe und hülflose -Arbeit, die sie selbst gemacht zu haben schien. Georg zog das Blatt -hervor, es waren auch Verse, er las: - - Mein Sohn war klein, - Mit schwacher Hand, - Warf alles um - Und nichts verstand. - - Nun ist er groß - Und weiß genau. - Ich blieb im Haus, - Ich lahme Frau ... - -Ja, so sprach sie von sich, so sprach sie ... - - Doch weiß er wohl, - Wie's um mich steht! - Er giebt mirs zart, - Macht zu -- - -Vor Georgs Augen verschwamm alles, es würgte ihn im Halse, er ließ das -Buch fallen, sagte stumpf das letzte Wort der Zeile »-- und geht«, stand -auf und ging durch die finstern Zimmer hinaus, trat an ein Fenster im -dämmerhellen Klaviersaal, sah die Mondsichel glimmend und undeutlich -über den Parkbäumen, glitt langsam auf die Erde nieder, schlug die Stirn -gegen die Wand und stöhnte: Emmaus! -- Er lag stundenlang am Boden bis -zum Morgengrauen, aufbrennend in entsetzlicher Scham, in Verzweiflung, -in Ohnmacht, bis er todmüde wurde, sich erhob, in das Sterbezimmer ging -und, ohne einen Blick auf die lächelnde Tote zu wagen, sich auf ein -Ruhebett ausstreckte und entschlief. - - - Rubinglas - -Georg, als wäre brennendes Feuer hinter ihm, jagte aus Helenenruh -zurück, wie er hingekommen. Langausgestreckt im Fahrsitz, das Steuerrad -auf der Brust, die verengten Augen hinter den Brillengläsern stur -gradaus gerichtet, vor sich her einschlingend das stabgerade oder eifrig -sich windende Band der weißen Straße, konnte er doch keine Minute lang -in dieser Lage aushalten, mußte sich aufsetzen, die Füße heranziehn, sie -wieder von sich strecken, wieder liegen, -- lag und ächzte leise vor -sich hin, den Chauffeur neben sich vergessend, auf unerträgliche Weise -gefoltert von dem einen Wort Renate, das in ihm herumrannte wie eine -Quecksilberkugel im Spielzeug. - -»Oh lieber sterben, lieber sterben, als noch einen Tag, eine Stunde -länger den Wahnsinn ihrer Gegenwart ertragen! Was das ist mit meinem -Blut, weiß ich nicht, aber es muß wohl vergiftet sein, oder habe ich sie -nicht vor einem Jahr fast täglich gesehn und sie ertragen? War ich blind -damals? Geblendet von Esther? Warum ists denn jetzt, als wäre sie eine -lohe Fackel von Wollust und Würde -- oh satanisches Gemisch! -- und ich -griffe beständig hinein und brennte? Renate, ah -- oh Renate! -- In -ihrem weißen Kleid, die lange schwarze Kette um den Hals, aber an Hals -und Wangen, den schon bräunlich sich dunkelnden, in den blauen -Lebensfeuern ihrer Augen, in dem unsterblichen Haar von zaubrischem -Braun, in ihrer ganzen, von Süße, von Anmut, von Seligkeit, von -hundertfach ausschmelzendem Dasein leuchtenden Gestalt -- nichts von -Trauer, -- so war sie überall, erscheinend, im Grün der Wiesen, im -Dämmergrün des Parks, als doppele Phryne gespiegelt im Teich, auf der -Terrasse, im Saal, bei Tafel, gegenüber zum -- oh zum Sterben, zum -Sterben! -- Und dazu Magda, blaß, schwarz, ganz Jammer und Stille, und -dazu Tod und Begräbnis und die Erinnerung an die Stunde der Scham, die -Nacht und die hülflose Tote mit dem verzogenen Mundwinkel, jener Stelle, -wo alles, was ohnmächtig, verzweifelt und ratlos in ihr gewesen sein -mochte, entwichen war und seine Spur hinterlassen hatte ... Es war mehr, -als ein Mensch ertragen kann. - -Cordelia, süße, gute, nun hilf mir du, ja, nun mußt du helfen! Ich -verspreche dir, an keine andere will ich denken bei deinem Leib, -- oh -verdammt will ich sein, wenn ichs tu! -- Sein Fleisch zuckte wütend nach -Umarmung. Das runde, bleiche Antlitz im düster braunen Haar -- wie einer -elfenbeinenen Nonne in Eichenholz -- die dunkelbraunen Augen in süßen -Verwandlungen, die sie spielte mit ihrer zierlichen Kunst, lockten ihn -unleugbar trotz des Feuers hinter ihm dieses -- ah, dieses Dämons. -- -Nein, Georg, stöhnte er, nein, so wäre das nicht gegangen, wie du's -dachtest. Dein Plan war ganz unsinnig. Giebs zu, Georg: was stelltest du -denn vor -- in ihren Augen? Ein halbes Nichts von einem jungen Mann, mit -dem sich geistreich plaudern ließ. Eh du nicht mindestens etwas -vorstellst, das innere Leistung zu verbürgen scheint -- ist nicht an sie -zu denken. Ja, aber nun bin ich fest. So gehärtet bin ich in diesem -Glutofen immerhin, daß mich nun nichts mehr anbröckeln kann, und -- -innen umschließ ich mein Ziel. Das erreicht, dann -- Platz da, der -Heuwagen! Oh Teufel, diese Bauern sitzen auf ihren Ohren! Wollt ihr euch -zum Henker scheren auf die andere Seite, ihr Sch--« - -Der Wagen jedoch, haushoch beladen mit Heu unter Leinwand, wich und -wankte nicht. Die Hupe brüllte, Georg schäumte vor Wut, aber sein -eigener Wagen kam fast zum Stillstand, eh der Berg vor ihm sich zur -rechten Seite der schmalen Straße hinüber bewegte. Aufschnarchend nahm -der Motor die frühere Geschwindigkeit wieder auf, die Landstraße krümmte -sich wie getreten, Fahrtwind brauste eiskalt, und zu beiden Seiten -fächerte sich gelassen die schöne Weite des grünen Landes aus, sich -ziehend und dehnend unter der großen Schattenbewegung des wolkengrauen -Himmels, im kühlen Licht, von Sonnenbalken selten zu überraschender -Lieblichkeit unterbrochen. Die Obstbäume an den Grabenrändern, vom -seitlichen Windesansturm getroffen, taumelten und überbrausten sich, -allmählich ward Georg ergriffen von der gierigen Lust des -Vorwärtsstürmens, dem herzlichen Beben im Zwerchfell beim Lauschen auf -die so innerlich ruhige, ehrenfeste Arbeit der vernünftigen Maschine, -und dem geschmeidigen Freudegefühl am Mitwinden der Straßenbeugen im -unmerklichen Drehen des Lenkrads. Sein Herz begann wieder ruhigen -Schlag, er atmete eben und tief, schwermutvoller ward sein Empfinden -zurück, zärtlicher, häufiger das Zucken voraus in der Vorstellung der -Liebenden, im immer hastiger zerdrückten Gedanken der kommenden Lüste, -denen er sich vergrößert zustürzen sah wie einen rädrigen Riesen von -Metall. Wenn sie bloß im Hause ist! dachte er bänglich. Und also stob er -dahin, vom Magneten schienenglatt hingezogen, gewaltig im Wagen, als -wälze er selber sich den Weg, Dörfer spaltend, daß es krachte, Wälder -zerfurchend, Dörfer wieder, und wieder hinknatternd über das endlose -Band, das unter ihm hervorfliehend sich windende, aufseufzende Band der -Straßen. Da sprangen Takte in ihm auf. Worte alsbald. - - Stürme an den Wäldern hin, - Donnre übers Brückenjoch ... - -Was war das? Ihm erschien, entgegenkommend auf hohem Damm, die Maschine -eines Schnellzugs, vornübergeneigt in kolossaler Rüstigkeit, stämmig, -ein Kentaur: - - Eisenroß, das Morgen roch, - Mitten schon im Morgen drin ... - -Morgen? woher der Morgen? Ah, es war nicht der Anfang des Gedichts. -Weiter: - - Eisenhengst im Radgestampf ... - -Nein, so: Rase ... Ja, mit hellem a-Aufklang: - - Rase durch das Morgenland, - Eisenhengst im Radgestampf, - Glutgefüllt und lustentbrannt ... - -Ich vergesse den ersten Vers! Also -- wie wars? Donnre -- nein: - - Stürme an den Wäldern hin, - Donnre übers Brückenjoch, - Eisenroß, das Morgen roch, - Mitten schon im Morgen drin. - -Nun der Anfang ... Doch indem klangen andre Worte: - - Feld und Wiesen farbig lohn, - Hügel wandern -- Hügel spenden blauen Rauch ... - Hügel wandern blau im Rauch, - Silberblitzend winkt dir schon - Weißdorn und ...strauch. - -Ja, aber der Anfang, wie war ...? - - Rase durch den ... - -Und richtig: nach der zweiten Strophe umarmte der äußere Reim den -innern, also: - - Rase durch das Morgenland, - Jage durch den Nebeldampf, - Eisenhengst im Radgestampf, - Glutgefüllt und lustentbrannt. - - Stürme ... - -Georg befand sich mitten in einer kleinen Stadt, die er für Altwedel -hielt, bei langsamer Fahrt über Kopfsteinen. Vorübergehende, die sich -umdrehend stehen blieben, Kinder, sah er noch glasig und verständnislos -durch die inneren Gesichte, dann deutlicher düstere Läden, eine enge, -aber augenscheinlich die Hauptstraße, jetzt zur Rechten ein Ungetüm von -alter, gotischer Backsteinkirche, nur plumpes Schiff mit Dachreiter, -- -und indem gab es hinter ihm einen scharfen Knall. Ein Reifen war -geplatzt. - -Georg lenkte den Wagen an den Gossenrand und hielt, der Chauffeur sprang -ab. Also Mittagspause, die ohnehin einmal hätte gemacht werden müssen. -Daß ich bloß meine Verse nicht vergesse! -- Eisenhengst im ... »Welcher -ists, Dietrich? Der Linke? Also eine halbe Stunde dauerts wohl?« - -Kalt und ein wenig zittrig kletterte Georg aus dem Verschlag in einen -Haufen schon vorhandener Kinder, löste den Halsschal und ging auf der -Suche nach Speisegelegenheit, aber bei innerer Beschäftigtheit ohne -etwas zu sehn, die Straße hinunter. Vor einem Schaufenster stehen -bleibend, dachte er, abirrend plötzlich: - -Es ist doch wundersam: alles ist nur Rhythmus. Wie mußte ich bei meinen -Gedanken und Gefühlen vorher auf diese Verse verfallen? Der Rhythmus -stanzte die Worte heraus. Und vor allem dies: daß man, ob das Gedicht -nun schwermütig sei oder heiter, solange es sich hervorarbeitet, weder -das eine sein kann noch das andere, denn da ist für kein eigenes -Empfinden mehr Raum, nur die Form wirkt sich, dehnt sich und glüht und -bewirkt in dem Stoff, in meinem Dasein, meinem ganzen Ich -- dies -absonderliche Gefühl von Angst -- ob ich es richtig mache --, von -Quälerei und etwas Lust, Angstlustquälerei ... absonderlich ... - -Ratskeller, las Georg, den Kopf auf die linke Schulter geneigt, in -schräger Schrift von unten nach oben jenseits eines rechteckigen, von -Kugellinden umsäumten Platzes, auf dem Türpfeiler eines Kellereingangs. -Ja, das getünchte Haus mit Säulen war vermutlich das Rathaus. Also -wanderte er zum Wagen zurück, wies den Chauffeur an, ihn nach getaner -Arbeit dort aufzusuchen, wo er Essen bekommen würde, und fand sich -gleich darauf, nach zerstreuter Bestellung von irgendetwas an einen -Kellner, wieder bei seiner Arbeit an einem runden Tisch, jetzt -schreibend auf einem Blatt aus seinem Checkbuch, weiter hastend, -zitternd im Schwung: - - Immer riesiger flammt der Tag, - Tobend, jauchzend, hingerafft, - Spaltest du mit Götterkraft - Eichenwald und Tannenschlag. - - Wirfst die Dörfer hart zur Seit, - Und die Ebne staunt und schwillt, - Wie dein Atem heiser schreit - Und du lärmst durch das Gefild. - -Worauf er unverzüglich anfing, das Ganze von vorn durchzuarbeiten, jedes -Wort aufzuheben, umzudrehn und wieder hinein zu prüfen, andre -einzuwechseln, streichend, wieder streichend, hineinklammernd, endlich -das Ganze noch einmal schreibend und nach mehrmaligem Streichen ein -drittes Mal, worauf er, zum ersten Entwurf zurückkehrend, lauter -Unwählbarkeiten fand und, erschöpft ins Leere aufschauend, nach einer -Weile bemerkte, daß Schüsseln mit Essen vor ihm standen. Er aß, aber die -Versworte, freiwillig gegeneinander weiter hadernd und sich verfitzend, -ließen nicht ab, ihn zu peinigen, er stand endlich auf, während eben der -Chauffeur hereinkam, bestellte eine Mahlzeit für ihn und trat wieder ins -Freie. - -Ein leichter Regen wehte nieder. Die Kirche war protestantisch und daher -geschlossen. Um sie herumgehend, fand er eine gebogene kleine Gasse, in -deren Hintergrund er etwas wie die Auslage eines Antiquitätenhändlers zu -entdecken glaubte und hinzuging. - -In der Tat -- es sollte etwas dergleichen sein, jedoch enthielt ein, das -Schaufenster füllendes Regal fast nur Sachen von heute. - -Ja -- fiel ihm ein -- und gesetzt, es wäre so, das einzige Empfinden -eines Dichters beim Bilden des Gedichts wäre ein solches Mischgefühl von -gequälter Lust und verzückter Qual -- was wäre die Folge für das -Gedicht, seine Farbe, die sogenannte Stimmung? Ein wahrhaft reines -Gedicht könnte, das wärs, weder die Farbe der Trauer noch der Freude -haben, sondern -- sondern? Ein Mittel zwischen beiden, oder -- mit einem -Worte: Ernst. Und das würde -- klassisch sein, weil harmonisch; das -andre, das Zwiespältige dagegen wäre romantisch, -- haben wir nicht -einmal darüber gesprochen, Benno und Sigurd? -- Ja, wo ist wohl Sigurd? - -Ältliche Stehlampen sah Georg, schlechte Gipsvasen mit herausragenden -Italienerköpfen, blindes Silberzeug in verstaubten Kästen -- dick mit -Staub überzogen voll Fingerabdrücke war alles --, ein paar Zinnteller, -Steinkrüge, die übliche Perlentasche, ein Bündel Pfeifen mit -Porzellanköpfen und schlechte Figürchen, ausgestopfte, ruppige Vögel, -Pistolen und derlei Zeug, -- und als er ins dunkle Innre spähte, ließ -sich zwischen Tischen, Schränken und Kommoden aus den achtziger und -neunziger Jahren noch eine hübsche Kirschvitrine bemerken, die -unerkennbare Dinge enthielt. - -Georg trat unter einem wimmernden Glockenlaut der Türe ein und erhielt -Muße, sich umzusehn, bis aus dem hinteren Düster weiche Schritte hörbar -wurden und aus einer niedrigen Tür eine bleiche und dunkeläugige Frau -trat, ein Tuch um den Kopf, die Hände in der Schürze trocknend. Ein -kleiner Junge, der an ihr hing, hatte das ganze Gesicht mit einem -ekelhaften roten Schorf voll gelber Eiterränder bedeckt und wurde hart -fortgejagt. - -Einen Anfall von Ekel unterdrückend, fragte Georg nach der Perltasche, -entdeckte, während die Frau dorthin ging, hinter dem Porzellangeschirr -und den Tafelgläsern der Vitrine im untersten Fach etwas Dunkelrotes, -öffnete und holte, freudig erstaunt, ein rotes Glas hervor, das ein -wahrhaftig echtes Rubinglas war, ein grader Becher mit Fuß, ohne -Verzierung, dick, hart und schwer wie Stein, nur wenig angeschrammt am -Fuß, -- ein Fund. Ja, war nicht etwa ein echtes Rubinglas das Kostbarste -von der Welt? Und wie er nun ans Licht vortrat, den Becher hochhielt und -das helle Blutrot im dunkleren, schwärzlichen aufglühte, inbrünstig, -mächtig, wie der düsterrote Blick der ewigen Lampe im schwarzen -Kircheninnern -- er atmete den Weihrauch --, hatte er sonderbarerweise -die starke Empfindung, so und nicht anders müsse Cordelias Blut sein. - -Ich nehme es ihr mit, -- oh -- ah ja! aus diesem Kelch will ich dein -süßes Blut trinken, dachte er begierig und überlegte, an den kranken -Knaben erinnert, vor sich die ärmliche und verbitterte Frau, die ihr -Kopftuch vor der Brust kreuzte, was ein Rubinglas für Cordelia wohl wert -sein dürfte. Auf seine hingeworfene Frage, wie denn ein solches Geschäft -ginge an diesem Ort, fing die Frau heftig an zu klagen, -- er hätte ja -wohl gesehn, was mit dem Jungen sei, der Vater sei seiner Wege gegangen -und nicht aufzutreiben, das Geschäft habe sie geerbt, im Sommer ginge es -ja wohl -- Altwedel wäre doch Kurort --, aber im Winter komme fast -niemand, sie verstehe auch nicht viel von den Sachen, und mehr -dergleichen, was Georg zu peinlichem Mitgefühl und der Erwägung bewog, -daß hundert oder tausend Mark für ihn dasselbe, tausend jedenfalls für -ein Rubinglas Cordelias ein Preis sei. - -Mantel und Rock aufknöpfend, um sein Checkbuch und den Füllhalter -hervorzuziehn, murmelte er etwas beschämt, er habe zwar kaum so viel bei -sich, wie er für das Glas zahlen möchte, aber sie würde ja wohl ... und -begann ein Blatt auszufüllen, was die Frau stumm abwartend geschehen -ließ. Als sie dann den Zettel in Empfang genommen und gelesen hatte, -fuhr sie los: »Ja, das wäre sowas! Sone Checks, da ist schon mancher -drauf reingefallen! Und denn gleich Prinz, nee, da bilden Sie sich bei -mir man nichts ein! Nee, mein Herr --« Sie nahm ihm das Glas aus der -Hand und stellte es hin -- »das Glas kost fuffzehn Mark, wenn Sie nich -zahlen können, denn lassen Se's ebent, denn bleibt das Glas hier.« - -»Aber -- aber mein --« Georg stand verdonnert, kümmerlich, und fing vor -Aufregung wunderlich an zu zittern, während die Frau ihm seinen Schein -in die Hand drückte. Nein, sie war gar nicht nett, die Frau, sondern sie -war gemein. -- Georg holte zitternd das Gold, das er bei sich zu tragen -pflegte, aus der Hosentasche, legte ein Stück davon neben das Glas, nahm -das an sich und ging hastig zur Tür, dieweil die Frau, die sein Gold in -der Hand wohl bemerkt hatte, sich nun auf ihren Irrtum verbiß, erst -murmelnd, dann lauter hinter ihm her schimpfte: »Wolln Se Ihre fünf -Groschen denn nich raus haben? Son Schwindel! Erst wolln se einen -beschuppen, un denn haben se'n ganzen Sack voll. Na wenn Se nich wollen -...« Die Tür fiel wimmernd zu. - -Schade! dachte Georg und erreichte, alles weitere Denken, aber nicht -dies sonderbare Zittern unterdrückend, seinen Wagen. Alles war in -Ordnung, er stieg ein und fuhr ab. - -Ach so, dachte er dann, ich bin ja auch kein Prinz! - -Und dann: Komisch! wie sie das gleich gemerkt hat! - -Aber er kam nicht los von der Szene, sah sie immer wieder von vorn, und -es fiel ihm auch ein, daß es vielleicht besser gewesen wäre, er hätte -sie nicht beschämt mit seinem Gold, sondern ganz im ersten Glauben -gelassen, indem er sie nun sah, wie sie sich zwar keine Vorwürfe machte, -wie aber ihr Gemüt noch verbitterter wurde, und der Junge --, Georg sah -ihn gegen eine Schrankecke fliegen und ... - -Mit dem Gedanken an den Becher in seiner Tasche tröstete Georg sich -langsam, der kalte Fahrtwind kühlte sein erhitztes Gesicht. Es wird mich -doch ewig verfolgen! seufzte er höhnisch. Aber Cordelia -- ihr sage ichs -heute. Es muß einmal sein. - -Sogleich sah er mit angeregter Phantasie sich im Wohnzimmer auf dem -Roßhaarsofa sitzen, sie am Fenster, wie sie gern saß, den Ellenbogen -zwischen den Blumenstöcken auf der weißen Bank. Er hörte sich: Ich -wollte dir schon immer etwas sagen, Cordelia, höre einmal zu ... Ihre -Antwort blieb undeutlich, etwas zu erfinden gelang ihm nicht gleich, -- -sie lachte wohl und sagte: Ich höre, mein Prinz. -- Ja, und nun sagte -er: Eben das ists, Cordelia, du sagst und du glaubst: Prinz, aber -- du -mußt wissen -- ich bin das gar nicht. Ich bin ... - -Wie ungläubig war ihr Gesicht! Natürlich hielt sie es für einen Scherz, -lächelte und -- aber da, auf einmal, sah er ihr Gesicht deutlich, auf -dem das Lächeln erlosch! Sie wollte das verhindern, allein -- wieder sah -ers: das Erlöschen der Freude, das Schwinden des Besitzes, den sie mit -solcher Andacht umfaßt hatte, die Armut, die Traurigkeit ... Sollte er -sie wirklich berauben dürfen, sie, die an Glück doch wohl -- was wußte -er? -- sehr arm gewesen war? - -Aus den innern Gesichten aufblickend, fand Georg die Breiten der -Viehweiden, ein nahes Gehöft, gelbe Haferstreifen und entfernte Wäldchen -sonnevergoldet unter wimmelnden Schatten des Nachmittags. Der weite -Himmel war ein leicht durchbrochenes Getümmel von Blau und weißem und -grauem Gewölk. Wie schön! der Abend würde klar sein ... - -Ach, nun wieder das! Nun will wieder Mitleid mich stören und hindern, -und schon weiß ich nicht mehr: Soll ich -- soll ich nicht? Und: wenn -ichs lasse, lasse ichs wirklich aus Gefühl für sie oder aus Furcht für -mich? - -Man müßte es auf die Gelegenheit ankommen lassen, vielmehr auf eine -Gelegenheit passen. Warum so plötzlich erschrecken? Es kam eine ernste -Stunde, ein Gespräch der bekümmerten Seelen, wo die schmerzlichen, aber -auch die schönen Tiefen des Daseins sich öffneten und zur natürlichen -Form des Lebens wurden, -- wie wog dieses dann leicht, Geständnis und -Sache selbst ging auf im großen Strome der Leiden, auf im schwesterlich -natürlichen Verstehn, und ließ ein solches Gespräch sich nicht -herbeiführen, leichter als leicht, mit ihr, der Bereitwilligsten, der so -unsäglich Wandelbaren? - -Ach, wenn ich sie nur erst habe! -- Sein Mund sank ein in den weichen -Marmor ihrer immer kühlen Brüste, seine Hand tastete nach dem Süßesten, -seine Augen ... Er riß sie krampfhaft auf, starrte durch Schleier auf -ferne Punkte von Menschen oder Wagen zwischen den Baumzeilen, hörte den -Motor donnern, setzte sich auf und schnob: Glutgefüllt und wutentbrannt! -muß es natürlich heißen, nicht lustentbrannt ... - -Und es erschienen die Türme und der dunstige Häuserberg von Altenrepen -... - - * * * * * - -Als Georg, eiskalt am ganzen Leibe, steif und zittrig dem Wagen -entstiegen, durch das Gittertor spähte, gewahrte er gleich Hesekiel; -Hesekiel mit seinem Höcker in einer wunderschönen, glänzend rot- und -schwarzgestreiften Dienerweste, der sicherlich wieder etwas Merkwürdiges -vorhatte. Er stand im gelben Kies oben auf dem Hügel vor dem Hause, -einen langen roten Wasserschlauch zwischen den Beinen, und bemühte sich, -die Betunien, die über der halbkreisförmigen kleinen Vorhalle vom Balkon -hingen, von unten zu sprengen, was sehr schwierig war, denn der -verfluchte Strahl ging immer darüber hinaus gegen die Wand und die -oberen Hälften von Glastür und Fenster, und die Blumen selber, wenn sie -getroffen wurden, warfen sich so gewaltig und wild nach oben, daß es -schrecklich anzusehn war. Georg, der mittlerweile den Hügel mit seinem -schönen, grünsamtenen Rasenbelag, mit Rosenstöcken, Gebüschgruppen und -einer prachtvollen Blutbuche zur Hälfte erstiegen hatte, blieb stehn und -rief: »Hesekiel, was machst du denn da?« - -Ach Gott, das hätte ich nun wieder nicht tun sollen, dachte er dann, -denn nun geriet Hesekiel, sein verkümmertes, spitzes und heißes Gesicht -mit der wehmütigen Mundschnirre herwendend, in abscheuliche Verwirrung. -»Ach, der Herr Doktor!« -- es war unbekannt, ob Hesekiel sich diesen -Titel ersonnen hatte oder vielleicht überhaupt nur Doktoren kannte -- -lächelte er freudig -- allein was nun? Die Spritze hinlegen, deren -Strahl sich triumphierend über ihm in die Lüfte bohrte, und zur -Begrüßung hergerannt kommen, wie's ihm gelehrt worden war? Oder den -Strahl erst abdrehn? oder zur Meldung ins Haus davonlaufen? -- Das war -zuviel für ihn, und so tat er von jedem den Anfang in wirrem -Durcheinander; tastete nach der Schraube, lief ein paar Schritte gegen -Georg vor, streckte die Hand mit der Messingtrompete gegen die Erde aus, -wollte davonlaufen, ehe sie lag, und blieb endlich zwischen allem, -geduckt, erschöpft und ratlos sich selber verlächelnd stehn. - -»Na komm, Hesekiel,« sagte Georg, dem der Strahl jetzt knatternd -entgegensprang, »leg mal die Spritze hin.« Hesekiel tats gehorsam und -erleichtert. »So ists schön! Und nun kommst du und giebst mir die Hand.« -Hesekiel kam glücklich und verklärt. »Ist die gnädige Frau denn zu -Hause?« Hesekiel nickte und deutete mit dem Daumen. »Ja, sag mal, wie -kommst du denn auf die Idee, die Blumen da oben zu sprengen?« - -»I wollt halt so gern der gnä Frau -- gnä Frau bissl Arbeit -erleichtern.« - -»Das ist brav, Hesekiel, denn man weiter!« Georg verließ den eifrigen -Bediener der Natur und ging leise, nach den Fenstern spähend, zur -Rückseite des Hauses, dessen grauer Stein und rotes Dach heiß glühte im -starken Abendlicht, dieweil er dachte: Ach, Hesekiel! du hast eine -schöne, dienende Seele im Höcker, -- kannst du mir vielleicht sagen, -warum die Frau so gemein war? Ach ja -- ach! -- du kennst nur Doktoren -und weder Prinzen noch Nichtprinzen ... - -Georg blickte zu dem breiten Schiebefenster empor, hinter dem drinnen -sein Bett stand, und siehe da, zwischen den weißen Geranien, die im -grünen Gitterwerk drunter hingen, erschien die lange Tülle einer kleinen -grünen Gießkanne mit gelben Reifen, und gleich darauf Cordelias Hand, -Stirn und die beschäftigten Augen, die nach den Blumen spähten, und -- - -»Na?« sagte Georg - -Sie warf vor Schreck die Gießkanne herunter. Dann war sie verschwunden. -Georg hörte ihre Absätze drinnen auf der Treppe und wartete glückselig, -bis sie ums Haus gelaufen kam, aber zehn Schritte vor ihm anhielt, die -Hand gegen die Hausecke stützte und ihn tief und inbrünstig anblickte. - -Wie schön sie ist! dachte er stumm in diesem Blick. Das Kleid, das sie -trug, von dunkelvioletter Seide, war auf unkenntliche Weise ihrem Körper -umgewunden; es war eine Art Empire, jedoch fast geschlossen um die Füße, -und eine ganz kurze Schleppe lag am Boden. Der schöne Busen atmete -sichtbar mit beiden Wölbungen und hob auf der bloßen Brust das goldne -Medaillon, in dem sein Bild und Haar war. - -Im nächsten Augenblick hielt er sie umschlungen, ihr Gesicht an sich -pressend, den Mund in ihrem Haar, flüsternd in flutender Erlöstheit: »Da -bin ich wieder! Ach, ich konnte nicht mehr!« - -»Ja, bist denn meinetwillen gekommen, Georg, wirklich meinetwillen?« - -»Ja doch, Cordelia, warum denn sonst?« - -»Aber -- dein Vater?« - -Sie sah ihn an durch Tränen unsäglicher Liebe und konnte nur die Lippen -bewegen. Endlich fragte sie dann nach seinem Befinden; ob er nicht Ruhe -brauche. - -»Ja, ich würde mich gern etwas hinlegen. Und -- sag mal -- hast du was -zu essen?« - -»Ich werd schaun. Eier sind da. Und Salat. I werd halt schaun.« - -Also wanderten sie umschlungen ums Haus, Cordelia verschwand in die -Küche, Georg stieg ins obere Stockwerk hinauf. -- - -Die weiße Türe öffnend, mußte er den Atem anhalten, so erschreckend -trafen ihn Glanz und Feierlichkeit, die der niedrige, kleine Raum vor -ihm auftat. - -Die tiefstehende Sonne flutete in vollem, glühendem Strom zu den -Fenstern herein; Georg konnte zwischen den lodernden Gardinen und grünen -Fuchsienstöcken -- diese waren wie aus grünem Golde gehämmert -- ihre -brennend goldene Scheibe sehn. Der Raum, von güldener Woge erfüllt, -glitzerte, funkelte und glänzte überall, die tiefe Lebendigkeit seines -Alters, seine vielgenützte Würde und den Stolz der kunstvollen Erzeugung -hier leise, hier vernehmlicher ansagend. An der rechten Wand, in den -sehr dunklen Spiegelscheiben des holländischen Kastenschranks, der bis -an die schweren Balken der weißgetünchten Decke reichte -- Messinggriffe -und Schlösser an den Schubladen blitzten wie reines Gold -- dort war -alles noch einmal, vertieft und dunkler zu sehn, geheimnisvoller: Sofa -und Sofatisch gegenüber unter den Silhouetten in glänzenden Goldrähmchen -und verblichenen Kreideporträten, von denen die dunkelblaugemusterte -Tapete fast zugedeckt war, und daneben am Fenster -- Georg wandte den -Blick vom Gespiegelten hin und folgte dann selber hinüber -- dieser -Glanz war erstaunlich! Das flüssige Feuer lief in den vergoldeten -Blätterleisten des hohen Spiegels, aus dessen Oberstück die arkadische -Landschaft bläulich schimmerte, und, ein wenig vorgeneigt in der -verschleierten Spiegelung des alten Glases wiederholte sich stiller, was -auf der kleinen, goldhellen Platte des dünnbeinigen Birkentisches davor -stand: der Abendmahlskelch, eiförmig aus dunkelblauem Glase, in silberne -Rispen gefaßt, nach oben verlaufend vom Fuß wie die langöhrig -ausgezogenen Henkel, zwischen denen der flache Deckel ruhte; dazu links -und rechts von ihm starke, dunkelgelbe Kerzen in Messingleuchtern, -- -was alles flammte in seiner Ruhe und Heiligkeit. - -Georg drehte sich um. Da überragte in seiner Ecke drüben der schmale -weiße Ofen -- stiller als alles übrige, weil vom vollen Leuchten nicht -mehr erreicht -- den Ofenschirm, dessen quadratischen Grund eine satte -Schicht von grünem Feuer überzog um die roten und blauen Flügel seiner -flatternden Papageien. - -Georg blieb auf der Sofalehne hocken, fast schwermütig gestimmt; wovon? -Von soviel Anmut, Lauterkeit und feurigem Leben? Womit habe ich das doch -verdient? fragte er sich still. - -Der Saum weißer Stifte, von dem die schwarze Roßhaarbespannung des Sofas -gehalten wurde, war ebenso vergilbt wie an den breiten Stühlen, die den -Tisch umgaben. Am kleinen Sekretär mit schräger, eingelegter Platte -zwischen den Fenstern war die Fournierung hier und da gesprungen, eine -Kante gesplittert, das Schloß war locker, ein Griff fehlte an einer der -unteren Laden. All das gehörte sich so; es waren ehrsame Narben. Hatte -Jason al Manach nicht einmal von den ererbten Dingen gesprochen? Georg -wußte die Worte nicht mehr, allein hier redeten sie ja selber ihre -gedämpfte, aber wie vernehmliche Sprache: daß sie hervorgegangen waren, -einzeln wie die Könige aus einzelner Hand, die einsam von Grund aus sie -gefertigt, liebevoll, verständnisvoll für ihr Ganzes, für unendliche -Zeiten bestimmt zu dauern; und da waren sie wie damals, gealtert, viel -genützt und unverbraucht, nur stattlicher in ihrer alten Erinnerung, -ihrem Bewahrtsein, in der schlichten Gebärde, mit der sie um sich den -Hintergrund schrieben, der zerfallen war: Menschen und Geschicke. - -Ja, -- und ich? dachte Georg. - -Glänzend mit mächtigem Antlitz von Messing in ihrem die Decke -berührenden Haupte stand die Älteste neben der weißen Tür, die -standfeste Riesin, die englische Dielenuhr, die auch die Monate zu -zeigen verstand; sie schlug langsam, wie im Geburtsjahr 1757, den selben -gemessenen Pendelschlag, auf den hinhorchend Georg für lange Sekunden -sich verlor. Sie tickt den Schritt der Sekunde, sagte er sich dann; das -macht es so geruhig und wohltuend. Und wie vornehm, wie zurückhaltend -war das gedämpfte Rücken im Gehäus! Ja sie war die Älteste. - -Georg lächelte bitter. -- Eigentlich sollte ja ich es sein. Ich, der -sich einmal einbildete, mit Friedrich Barbarossa vor Akkon gelegen, bei -Benevent für deutsche Sehnsucht gefochten und vielleicht das Leben -verloren zu haben ... Ihm zogen Georges Verse aus den Romfahrern durch -den Sinn: - ->Freut euch, daß nie euch fremdes Land geworden ... - - ... Wie einst die Ahnen, denen dürftig schien - Die kalte Treue vor dem Fürstenstuhle: - Wunder der Welt und Sänger Konradin! - - Durch euer Sehnen nehmt ihr ewig teil - An froher Flucht der silbernen Galeeren, - Und selig zitternd werfet ihr das Seil - Vor Königshallen an den Azurmeeren.< - -Durch euer Sehnen ... Georg zitterte, er glühte von der triumphierenden -Schönheit der Strophen. Durch euer Sehnen nehmt ihr ewig teil ... - -Ja, sein Teil war das. Sehnen -- nach was? Nach oben doch, nach -- nach -sich selber zu immer höherer Geburt, besser zu werden, reiner zu werden, -edler, tüchtiger, wissender ... Was wollte er denn auf einem Thron? - -Bin ich nicht glücklich hier? Hilfst du mir nicht, süße, teure Seele, -mein Auge immer wieder nach innen zu lenken? Wohnt nicht vielleicht doch -ein Gott dort innen und pocht ein ewiges Werk, pocht bei mir und wirkt -bei dir in immer strahlenderen Farben das Gewebe unsäglicher Liebe? Habe -ich nicht genug, ernst zu sein, unruhig zu sein im unaufhörlichen -Verlangen nach Besserem? Wenn es denn schon keinen Gott giebt, das Ahnen -des Göttlichen, den Zwang des Göttlichen, den Hauch von Jenseits in der -Brust? Habe -- ja, habe ich nicht etwas Neues für mich allein, dachte er -erleichtert in der Erinnerung an seine eigenen Verse, Neues -- nein, -sondern Uraltes, Anfängliches, älter und edler und reicher sogar an -Ahnen, abertausend Ahnen in unablässig geistiger Beugung? Und mag mein -eigenes Handeln als Bürgschaft solchen Ahnentums noch so bescheiden -sein: der alte Geist hat doch Leben in mir und Bewußtsein. -- Da stieg -strahlende Heerschar vor seinen sinkenden Augen auf, Heroe gereiht an -Heroe, Erzengel an Erzengel, unübersehbar, von George hinab zu Dante, zu -Pindar, zu Homer, und wieder herauf im gewaltigen Schwung über -unsterbliche Häupterschar zu Hölderlin, zu Novalis, zu George. - -Georg legte nicht ohne Demut in der gedämpften Bewegung seinen Mantel -ab, denn es trieb ihn, bei aller Abgespanntheit, seine Verse jetzt nicht -unvollkommen zu lassen. Dabei schlug ein schwerer Gegenstand in einer -Tasche gegen die Stuhllehne, er faßte, im Innern schon murmelnd und sich -erinnernd: Hügel wandern blau im Rauch, -- danach und holte -geistesabwesend das Rubinglas hervor, lächelte flüchtig und wußte vor -geistiger Abwesenheit, gleichzeitig nach Schreibpapier ausblickend, -längere Zeit nicht, wohin er damit sollte. Endlich hatte er die Platte -des Sekretärs herunter und auf die ausgezogenen Leisten gelegt, stellte -das Glas nun ins Innere vor die kleinen Laden, öffnete Cordelias -Schreibmappe, fand zum Glück einen Briefbogen, holte seine Niederschrift -hervor und begann, das Ganze sorgfältig durchprüfend noch einmal zu -bilden. Im Schreiben der letzten Zeile hörte er hinter sich die Tür gehn -und sah im zerstreuten Sichwenden Cordelia, die ganz erschrocken schien, -ihn nicht schlafend zu sehn. - -»Komm nur, ich lese dir was vor«, sagte er. -- »Wie du nur aussiehst!« -erwiderte sie näher kommend, »ganz überwacht!« - -»Schadt nichts, setz dich nur!« Sie blieb stehn, an den Kastenschrank -zurücktretend, und er las, kräftig Takte herausfördernd und Reime: - - »An den Schnellzug - - Rase durch das Morgenland, - Durch den weißen Nebeldampf, - Eisenhengst im Radgestampf, - Glutgefüllt und wutentbrannt. - - Stürme an den Wäldern hin, - Donnre übers Brückenjoch, - Eisenroß, das Morgen roch, - Mitten schon im Morgen drin. - - Feld und Wiesen golden lohn, - Hügel opfern blau im Rauch, - Silberblitzend winkt dir schon - Hagedorn und Holderstrauch. - - Immer voller flammt der Tag, - Tobend, wiehernd, fortgerafft, - Spaltest du mit Riesenkraft - Eichenhain und Fichtenschlag. - - Schleuderst Dörfer hart beiseit, - Wo die Ebne staunend schwillt: - Wie dein Atem eisern schreit, - Wie du rasselst im Gefild.« - -»Das ist ja großartig, Georg!« Beschämt ließ er sie ihm um den Hals -fallen. »Wirklich, Georg, das gefällt mir! Das ist wieder gesund und -beflügelt, nicht so wie die letzten, die warn auch schön, aber so wie -kranke Blumen, weißt. Ja, nun mußt du schlafen, pascholl! -- Aber was -ist denn das hier?« -- Sie sah das Glas. - -»Ach, dein Glas, Cordelia, da hab ichs hingestellt! Hier, das hab ich -dir mitgebracht.« - -Still, während er sich entzog und zwischen Stuhl und Tisch hindurch sich -ins Sofa zwängte, nahm sie das Glas an, trat zum Fenster und hielt es -empor, so daß es augenblicks aufloderte wie ein Juwel, blutrot. - -»Ach, Georg ist das schön!« - -»Dein Herz, Cordelia,« sagte er, plötzlich taumelnd von Schlafverlangen, -»dein Herz -- mußt ich denken ...« - -Er hörte nicht mehr, was sie sagte. Noch vernahm er Schritte, leise, -dann das Niederrollen der Rulos, Schritte, das leise Zudrücken einer -Tür. Die Augen noch einmal öffnend, sah er, daß es dunkler im Zimmer -war, goldbraune Luft, und daß vor ihm das rote Glas stand. Eine -zärtliche Wallung verging, kaum sich regend, im schweren Rieseln der -Umnachtung. - - - Sechstes Kapitel: Juli - - - Requiem - -Renate, an einem offenen Flurfenster im ersten Stockwerk des Nordflügels -von Helenenruh stehend, als es eben Nacht geworden war, hörte Magdas -singende Stimme, die im Klaviersaal die Gruppe aus dem Tartarus begann. -Ein Fenster war dort offen und matt erleuchtet. Renates Augen ruhten -halbgeschlossen im ungewissen Dunkel, das leise vom fallenden Regen -rauschte und sich zu bewegen schien. Ein Tropfen spritzte hier und da -herein, ihre Hand treffend, ihre Stirn; es war kühl. Am Himmel oben über -den beweglichen, finsteren Massen der Baumwipfel war ein wenig Licht -hinter gelblichem, dahinflüchtendem Gewölk. Bleich gegenüber schimmerte -die Wand des Südflügels. Ohne hinzusehn konnte sie in dem erhellten -Saalfenster zur Linken den Lichtschein der unsichtbaren Lampe gewahren, -die in der Mitte auf einem Tisch stehen mußte, und, schräg durch den -Raum hin, die hohe weiße Mitteltür samt ihrem flachen Giebeldreieck und -dem fast schwarzen Porträt im Goldrahmen darüber, dicht unter der -Zimmerdecke. Zu sehn war niemand. - -Die Musik des Harmoniums kam sanft und wehend, -- schön, klar und -kräftig kamen die dunklen Töne der singenden Stimme durch den Regenfall. -Ein heftiges Aufschaudern der windgetroffenen Baumkronen überrauschte -jetzt alles, es ward still, leiser der Gesang, in einer Dachrenne -plätscherte hörbar die Regenflut, es klapperte, -- oder wars auf der -Terrasse? -- Da stürzte mit mächtigem Aufbruch, ja wie ein großes, -schwarzes Panthertier stürzte die große, tiefe Stimme mit »Ewigkeit! -Ewigkeit! Bricht die Sense des Saturns entzwei!« in das Finstre, warf -sich durch den Nachtstrom empor, triumphierte, senkte sich, stieß ein -zweites Mal siegreich vor und schwand im Allgemeinen der Musik, -untertauchend wie ein Schwan, und in den verworrenen Stimmen der -Regennacht. - -Renate bebte leise, frierend von Nachtkühle und dem Gesang. Lauter toste -der Regen. Oh dies gewaltig gebliebene Herz in der singenden Brust! Aber -oh, wie waren die Toten einsam und ganz im Freien, ausgesetzt aller -windigen Geschäftigkeit der Nacht und der wimmelnden Erde! -- Da sah sie -den Katafalk der Herzogin mitten in der Nacht stehn, schwarz, die großen -Kandelaber, flatternd im Winde Flöre und Kerzen, das große, -starkriechende Gepränge der Blumen, Schleifen, Palmwedel, umher die -Schauer gedrängter Menschen, und inmitten das seltsam kleine, kaum -wahrnehmbare tote Antlitz der aufgebahrten Gestalt, in weißen Kissen, -gerader und viel steifer, als sonst ein Mensch liegt. Daneben war der -Rücken des Herzogs, gebeugt, sein Hinterkopf, der kein Auge von der -Schläferin wandte. - -Aber dies verschwand, und im lichten Morgenkleide kam die Herzogin zu -einer Tür herein, zu ihr, die an einem Fenster stand, einen Morgengruß -hinnickend, und setzte sich an den Frühstückstisch. Sie sagte mit -leichter Stimme etwas, aber Renate konnte es nun nicht mehr hören, -besann sich vergeblich auf Worte, fühlte, daß sie traurig war und das -schreckliche Entgleiten eines Toten, der uns nicht sehr nahe stand, ins -Ungewisse. Da war das Gesicht des Herzogs, wie es langsam aus dem -Wagenschlag kam, die heißen Augen, die herumfuhren, zu ihr empor, und -sie wollte die Stufen hinunter; sein ganzes Gesicht war gesträubt von -Bart, dann kamen unten die Stöcke zum Vorschein, er zwängte sich heraus, -stand, und an Renate vorüber eilte Magdas schwarzgekleidete Gestalt zu -ihm, und dann schien etwas ihn zu durchbrausen, und er hing über ... - -Wollte Magda nicht wieder anfangen? Das Harmonium war sehr gedämpft -hörbar, lange Zeit. Renate setzte sich auf die Fensterbank, den Rücken -gegen den Rahmen gelehnt, vom Schlosse weg ins Dunkel der Parkwiese -blickend. Gleich darauf ward es am Ende des Flurs hell; die -Wendeltreppe, aus der Tiefe beleuchtet, ward weißgetüncht sichtbar, und -von unten heraufsteigend erschien ein Diener in Frack und Kniehosen; er -griff nach der Wand, die Lampe unter der Decke glühte hell auf, kam auf -sie zu und bat sie, in den Saal zu kommen. Sie fragte, ob auch die -Fürstin Schwester dort sei, und er bejahte. - -Wenig später stand Renate vor der Saaltür und hörte von drinnen das -Harmonium im sachten Vorspiel zu >Du bist die Ruh<. Sie zauderte, -wartete dann einen Augenblick ab, wo der Gesang schwoll, öffnete -behutsam und trat ein. An der Tür blieb sie stehn. - -Auf dem ovalen Tisch in der Saalmitte stand eine Petroleumlampe von -glänzendem Messing mit geradem, grünem Schirm. Aha, die selbe Lampe, -welche die alte Fürstin stets auf Reisen mit sich zu führen pflegte, -ergrimmt auf das elektrische Licht. Da saß sie, rechts am Tisch, und -strickte, sah nicht auf, denn sie zählte gerade, die Maschen mit dem -linken Daumennagel zusammenschiebend; das in Falten hängende Kinn -- -Festons hatte Georg gesagt, und einen Augenblick kam Renate sein Gesicht -dazwischen, verdunkelt von der schwarzen Kleidung und verlegen, weil er -gescherzt hatte mitten in seiner Trauer -- gegen die Brust gedrückt, sah -sie von oben schräg auf ihre Hände; eine kleine eiserne Brille hing ganz -vorn auf der Nasenspitze wie ein windiges Geländer. Diese sparsame Alte -trug eine gestrickte schwarze Mantille um die Schultern, aber die Hände, -die aus schwarzen Pulswärmern kamen, waren über und über beladen mit -funkelnden Ringen. Jetzt sah sie gegen Renate auf, dunkeläugig, rückte -an ihrer Brille, musterte sie scharf, fuhr mit flacher Nadel über die -aufgesträubten Blätter eines vor ihr liegenden Buches -- sie dehnten -sich gleich wieder empor --, blickte hinein, blickte wieder auf und -verneigte sich mit dem Oberkörper, freundlich lächelnd und nickend, -während Renate zu Boden sank. Dann hielt sie ihr Strickzeug weit von -sich ab, fuhr mit gewaltigem Stoß der linken Nadel hinein und rasselte -darauflos, nicht ohne schräg von oben gegen die emporstehende Buchseite -zu blicken. -- Renate lächelte in sich hinein, denn da die Fürstin außer -ihren beiden Beschäftigungen auch wohl noch auf den Gesang hörte, so -schien ihr dies eine gewinnsüchtige, aber geschickte Alte. - -Links am Tisch sah Renate nun den breiten roten Rücken eines Sessels mit -vergoldeter Umrahmung auf ganz kurzen Beinen. Darüber war der Hinterkopf -des Herzogs, wie ein Strudel: eine tonsurhafte kahle Stelle mitten im -Wirbel des großen, runden Haarschädels im Schatten der Lampe. Renates -Eintreten hatte er scheinbar nicht gehört. - -Und da rechts in der Ecke, halb im weißen Vorhang des offenen Fensters, -war noch etwas Lebendiges, nämlich ein kleiner Greis mit glattem, -rosigem Gesicht, aus dem zwei freundliche kleine Augen Renate unbeirrt -anstarrten, während ihm ein rosenroter Papagei über die Hände im Schoß -an der Weste hinaufkletterte, sehr mühselig, mit Schnabel und Krallen -sich abwechselnd einhakend und festkrallend. - -Daneben war die dunkle Türöffnung zu den Zimmern der Toten. Stand sie -vielleicht darin, auch zuhörend, die Augen im sanften Licht, -erleichtert? -- Aber Magda blickte vom Harmonium herüber, nickte und -lächelte während des Zwischenspiels. Renate lehnte sich gegen die Tür, -folgte den langsamen und kunstlosen Griffen und Veränderungen der -schmalen Hände auf der Klaviatur, selber fern in unbewußten Gedanken, -kaum hörend, daß jemand sang. Dann war es still im Raum. - -Der kleine Greis, augenscheinlich der Mann der Fürstin, klopfte seinem -Papagei auf den Kopf und erhob sich. Die Fürstin sah auf, räusperte sich -stark zum Herzog hinüber, zog, da er sich nicht bewegte, eine Nadel aus -dem Strumpf, zeigte damit auf Renate und sagte: »Nun sie!« - -Magda erhob sich. Jetzt bewegte sich der Kopf des Herzogs, einen -Augenblick wurden seine Stirn und Augen über der Sesselwand sichtbar, -dann stand er schwer auf und sagte heiser: »Guten Abend.« Und zu den -Andern: »Bitte, dies ist Fräulein von Montfort.« - -Der kleine Fürst kam zierlich und ein wenig schlotternd im Gehrock -herbei, den Papagei an die Brust gedrückt, und verneigte sich sehr tief. - -»Setz dich nur!« schrie die Fürstin. Er machte mit der rechten Hand eine -Muschel am Ohr und hielt es ihr hin, aber sie sah es nicht, und während -er sich, Renate zulächelnd und kopfschüttelnd, zurückzog, sagte sie zum -Herzog, kaltblütig auf französisch, dies wäre ein sublimer Mensch, -worauf sie in derselben Sprache zu Renate fortfuhr, sie habe das auf -französisch gesagt, um die Schmeichelei nicht so geradezu -herauszuschmettern. Freundlich und auf deutsch bat sie dann etwas zu -spielen. »Aber nichts Modernes!« sagte sie. - -Renate setzte sich, aber nun fiel ihr nicht das geringste ein. Endlich -fand sie die kleine Ballettmusik zu den Gluckschen Gefilden der Seligen -und fing damit an, gleich darauf sich erschreckt fragend, ob wohl außer -Magda jemand den unpassenden Titel der Musik kannte; die war freilich -sanft und lieblich genug. Als sie geendet hatte, sagte die Fürstin, das -wäre Kleinkindermusik. So begann sie denn das Orgelkonzert von -Friedemann Bach, indem sie dachte: ich will dirs heimzahlen. Bald aber -erschrak sie heftiger, denn sie fühlte plötzlich eine Hand auf ihrer -Schulter. Die Fürstin neben sich gewahrend, wollte sie schon die Hände -von den Tasten nehmen, weil aber weiter nichts erfolgte, spielte sie -fort, die Fürstin blieb so neben ihr, und nun jagte sie die achttaktige -Fuge in ihr großes Rasen hinein, daß es in den Fugen des Instrumentes -krachte. Am Ende des ersten Satzes sagte die Fürstin nur: »Weiter! -Zweiten Satz!« Sie schien mächtig aufgeregt, und so ging auch dies -endlos scheinende Gigantengehämmer des nächsten Satzes ohrbetäubend -vorüber, ohne daß die alte Dame ihre Stellung verändert hätte. Am Ende -atmete sie gewaltig auf, packte Renates Gesicht, küßte sie unter -plötzlich strömenden Tränen und rief: »Heldenhaft! Heldenhaft!« Dann -erklärte sie, daß sie gern so neben einem Spielenden stünde; das ginge -ihr dann gewaltig durch Mark und Bein. -- Als Renate sich im Sessel -umdrehte, blickte sie gerade gegen die geröteten Augen des Herzogs, die -sie starr anschauten. Seine Schwester trocknete sich die Augen und das -Kinn, über das ihr vor Eifer ein wenig Mundfeuchte heruntergelaufen war. -Dann riß sie ihren großen Pompadur auf, fuhr tief hinein und brachte -einen Kake zum Vorschein; den schenkte sie Renate; er war nicht mehr -ganz heil. Es war eine kriegrische alte Frau. - -Am Tische sitzend nahm sie ihren Strumpf wieder auf, setzte die Brille -auf, kratzte sich dann nachdenklich mit einer Nadel den Kopf und sagte: - -»Weißt du, Woldemar, an wen dies Spiel mich erinnert? An meinen -Kardinal. Kardinal Massi. Er war nur ein dürrer Mensch,« erklärte sie -Renate, »aber er hatte allmächtige Pranken und eine höllische Seele. Er -war ein gottloser alter Heide, aber vor jeder Musik, die er machte, -sagte er die Worte: >Im Namen des allbarmherzigen Gottes ...<« - -Der Herzog lächelte und meinte, so fingen die Koransuren an. - -»Die was?« fragte seine Schwester. - -»Die Gebete im Türkenkoran.« - -»Er wird sich den Teufel um Suren kümmern, wenn ihm einer auf goldenen -Wolken zufliegt, der Herrgott«, versetzte sie stramm, nahm ihr Buch vor -und fing trotzig zu lesen an. - -Es war nun still. Renate sah zu Magda empor, die hinter ihr an der Wand -lehnte; sie blickte mit weit offenen Augen ins Leere. Renate sah die -Gestalt der Toten in diesem Blick und wandte ihr Gesicht vorsichtig dem -Herzog zu. Der saß tief vornübergebeugt im Stuhl. Jetzt löste sich fern -drüben zwischen den Klavieren eine Gestalt aus dem Dunkel, Dr. Birnbaum, -der auf den Zehen herkam, eine dicke Zigarre vorsichtig in der -ausgestreckten Hand, von der er ein großes weißes Aschenstück in eine -Bronzeschale auf dem Tisch legte. Er entfernte sich ebenso leise und -ohne die Augen zu erheben. Ganz hinten auf einem Stuhl an der Wand -zwischen zwei Klavieren setzte er sich nieder. Aber dem Herzog mußte der -Vorgang doch bewußt geworden sein, denn nun richtete er sich auf, zog -ein Zigarrenetui aus der Brusttasche, nahm eine heraus, die Augen mit -ungewissem Blick gegen die Lampe gerichtet, biß die Spitze ab, nahm sie -von den Lippen, legte sie auf die Aschenschale, ergriff die -Streichhölzer und schien dann all dies zu vergessen. Er bewegte sich -nicht mehr. Endlich kam Magda zum Tisch vor, nahm die Schachtel aus -seiner Hand, strich ein Hölzchen an und hielt es ihm hin. Aufblickend -nahm er es aus ihren Fingern, nickte sehr eifrig dankend, rauchte an und -sagte: »Ihr macht eine schöne Musik ...« Dann blies er das Streichholz -aus und legte es hin. - -Indem sagte eine ganz ferne, lippenlose, vernöckerte Stimme, leise -warnend: »Heinrich, der Wagen bricht!« -- - -Magda, der Herzog, Renate, alle Drei sahen nach dem Papagei in der Ecke, -der sorglos vom Fußboden am Vorhang hinaufstieg. Der Herzog blies eine -starke Qualmwolke, lehnte sich grade zurück und sagte mit Gleichmut vor -sich hin: »Nein, Herr, der Wagen nicht!« Und schwieg. Die Fürstin hatte -nicht aufgesehn. - -Da erst fühlte Renate die Beängstigung des Raumes und der Stille. Die -Tote war überall zugegen; jede Bewegung bog um sie aus, jedes Wort hielt -sich vor ihr zurück, jeder Blick glitt erst von ihr ab, ehe er zu -jemandem hinging. Oh, gegenwärtiger war sie nun als jemals, da sie ja -kaum sichtbar gewesen war am langen Tag; oder war es gerade dies, daß -Alle, die sie gekannt hatten, immer nur eine Abwesende in ihr besaßen? -Und wenn sie jetzt erschiene, -- würden sie erschrecken? Sie war doch -immer so selten gekommen! -- Dumpf polternd fiel der Papagei zu Boden, -der Vorhang bauschte sich, hörbar war der Regen, und Renate zerbrach -sich den Kopf um etwas, das sie sagen könnte, aber die unsichtbare tote -Seele hatte auf alle Dinge umher die Hand gelegt und Schweigen geboten. -Dazu quälte es Renate, daß sie sich inständig mit dem Herzog -beschäftigen mußte, ohne im geringsten wissen zu können, welcherlei Art -das war, das in ihm vorging, und so folgte sie stumm und wie gebannt den -Bewegungen seiner Schwester, die jetzt ihr Buch zuklappte, die Brille -abnahm, ins Futteral steckte, dann Brille und Buch in ihren Pompadur, -und aufstand. Gleichzeitig erhob sich ihr Mann in der Ecke. Sie ging um -den Tisch, blieb vor ihrem Bruder stehn, der in die Lampe sah, und -fragte ihn in versöhnlichem Ton und schonend: »Glaubst du vielleicht ans -Jenseits, Woldemar?« - -Er blickte sie kurz an, sah wieder fort, schien lange zu zaudern mit der -Antwort und sagte endlich: »Ich weiß nicht ...« - -»Nein, Woldemar,« sagte sie entschieden, »nein, das verstehe ich nicht. -Denn erstens wirst du sehn, daß es unrecht ist, später, denn dann hast -du sie fortgeschickt, nach da oben hin --« Sie trat eilig an den Tisch, -strich mit beiden Händen die Falten der Decke glatt und fuhr fort: »-- -und dann wirst du sehn, wie schrecklich es ist, wenn ihre Seele in allem -abstirbt, was sie hier unten hatte, und auch in dir. Zweitens aber --« -Sie, klein und zierlich, kreuzte die Arme unter ihrer Mantille und -sprach über die Lampe hinweg zu Renate hinüber -- »-- zweitens sind wir -allerdings von Natur ungenügsam, und sollens auch sein; das mit dem -Jenseits aber, das sollten wir doch wohl den Armen lassen. Es sind schon -so viel, daß das ganze Jenseits davon voll wird. Sollen sie gar nichts -für sich allein haben?« - -Der Herzog sah zu ihr auf, aber Renate konnte sein Gesicht nicht sehn. -Nach einer Weile fuhr die Fürstin fort, das Gesicht wieder auf die Lampe -senkend, und als rede sie mit sich selber: »Mehr als dreitausend Mark im -Jahr für sich haben und dann noch an ein Jenseits glauben, -- das ist -ruchlos.« - -»Sie leben«, unterbrach der Herzog mit rauher Stimme, »auch mit -dreitausend Mark wie in einem irdenen Topf.« - -»Die meine ich nicht,« versetzte sie fest, »du weißt wohl, wie ich es -meine. Ihr habt,« sprach sie nun leiser fort, »ihr habt eine Seele, mit -der ihr die ganze Erde bedecken könnt; ihr habt eine Phantasie, mit der -ihr die ganze Welt mit Göttern, Christussen, Heiligen und Helden -bevölkern könnt; ihr habt eine Liebe, die euch das Fernste so nah machen -kann wie Kleid und Haar, -- was habt ihr nicht? Und ihr wollt doch noch -ein Jenseits, damit es gar niemals aufhört? Seid froh, wenn ihr endlich -schlafen könnt.« - -»Du warst immer eine harte Frau«, sagte der Herzog. - -»Ich dachte, du wolltest sagen, eine harte alte Frau,« erwiderte sie -nicht ungütig, »aber das würde nicht gestimmt haben, wenn ich auch -zwanzig Jahre älter bin als du.« - -»Zwanzig Jahre«, sagte der Herzog ruhig, »ist sie da im Dunkeln auf -ihrem Teppichstreifen hin und her gegangen, und du sagst: >daß es nur -niemals aufhört<.« - -Renate, die das selbe gedacht hatte, sah auf einmal Magdas Augen, die -noch am Tische stand, die Hände auf der Platte, sehr dunkel im -erbleichten Gesicht auf sich gerichtet. Sie schien etwas sagen zu -wollen, die Fürstin ebenfalls, aber dann sahen Beide sich an und -schwiegen. Dann kam etwas Weinerliches in die verwelkten Züge der alten -Frau, sie machte ein paar heftige Kaubewegungen, nickte irgendwohin und -sagte: »Also, gute Nacht!« -- Ihr Mann folgte ihr nach tiefer Verbeugung -vor Renate mit leicht verwirrtem Gesicht hinaus. - -Jetzt fegten die Sommerstürme durch den Park hin, warfen sich gegen das -Haus und schütteten Regen, daß es rauschte. Die Läden krachten und -klapperten, am offenen Fenster wehte der Vorhang, Magda ging hin und -schloß die Flügel. Der Herzog warf sich plötzlich im Stuhl herum und -fragte hastig: »Sie bleiben doch noch?« - -Renate nickte erregt und hülflos, fragte sich, ob sie noch spielen -sollte, wandte sich dann zu Magda hinüber, aber die war nicht mehr am -Fenster. Noch zauderte Renate, erhob sich dann aber leise, schritt bis -zur Türöffnung und ging dann, da sie fern einen leisen Lichtschein -bemerkte, durch die dunklen Zimmer Magda nach. - -In dem großen, düstern Gemach saß Magda am kleinen Rokokoschreibtisch -der Herzogin bei einem Licht vor den matt glänzenden -Goldbronzebeschlägen der vielen kleinen Schubkästen des Aufsatzes, unter -dem Bilde des Herzogs, die Unterarme auf der Tischplatte. Renate legte, -zu ihr tretend, die Hand auf ihre Schulter, und sie sagte: - -»Ich kann nicht mehr; ich möchte zu Bett gehn. Laß ihn noch nicht -allein. Starke Männer wie er sind so hülflos. Es wäre gut, wenn er -weinen könnte. Was schenkst du mir vorm Schlafengehn?« fragte sie, zu -ihr aufblickend. - -Sie schwiegen Beide, Beide an die Genfer Zeit denkend, wo Renate Magda -allabendlich einen Spruch schenken mußte, und Renate schauderte vorm -Schwinden der Zeit. Lange fiel ihr nichts ein, doch dann kamen die Worte -Hölderlins zum Vorschein, die sie leise über Magdas Scheitel vor sich -nieder sagte: - - »Gleich dem Gewölke dort geh ich dahin, und du - Ruhst und glänzest in deiner - Schöne wieder, du süßes Licht.« - -Als sie zusammen in den Saal zurückkehrten, stand der Doktor Birnbaum -neben dem Herzog, an seiner Zigarre wickelnd, den Kopf gesenkt; der -Herzog hielt den seinen in der linken Hand, die er auf das Knie gestützt -hatte. Plötzlich machte der Doktor einen kleinen Ruck von Verbeugung und -schlich leise hinaus. Magda hatte sich von Renate losgelöst, stand einen -Augenblick frei im Raum, schien zu schwanken, aber dann ließ sie die -Hände fallen und ging eilig zur Tür und verschwand. Renate blieb stehn, -schaudernd vor Ratlosigkeit. Der Sturm wühlte heftiger um das Gebäude; -am ganzen Haus schienen klappernde Dinge locker zu sein, die sich -losreißen wollten. Auf einmal schlug irgendwo in der Tiefe eine ferne -Tür laut hallend zu. Der Herzog ließ die Hand sinken, richtete sich auf -und sah Renate in seiner Nähe. Augenblicks mußte er lächeln, und sie sah -deutlich den Ausdruck eines Menschen, der leidet und dem ein Andrer eine -schöne Sache hingeschoben hat, über die er sich freuen muß, -- aber dies -erlosch, er senkte langsam den Kopf und sagte, scheinbar aus früheren -Gedanken und sehr verzweifelt: »Wissen Sie denn vielleicht einen -Spruch?« -- Sie erschrak. - -Aber sie dachte nicht weiter, suchte umher, aber nun war sie durch die -Verse vorhin an Hölderlin gefesselt, ihr fiel ein: >Wie so selig doch -auch mitten im Leide mir ist<, und das sinnlose Wort ließ sich lange -nicht abschütteln, bis sie endlich wieder jenes erste erhaschen konnte, -und im dunklen Gefühl, daß es irgendeinen Sinn habe, sagte sie leise das -Ganze auf: - - »Heilig Wesen! gestört hab ich die goldene - Götterruhe dir oft, und der geheimeren - Tieferen Schmerzen des Lebens - Hast du manche gelernt von mir. - - O vergiß es, vergieb! gleich dem Gewölke dort - Vor dem friedlichen Mond, geh ich dahin, und du - Ruhst und glänzest in deiner - Schöne wieder, du süßes Licht!« - -Sie hatte nach der Lampe gesehen, solange sie sprach, und nun, ohne erst -mit Augen zu fragen, wußte sie, daß sie zu ihm hinzugehn hatte, aber -jetzt war es der Erasmus, dem sie die Hand auf die Schulter legte. -Während vor ihren verdunkelten Augen die Wände der Kapelle sichtbar -wurden, die Pfeifen der Orgel, die Fensters, hörte sie das aufsteigende -Schluchzen in der Brust des Mannes, das er noch bezwingen wollte, dann -fühlte sie ihre linke, herabhängende Hand heftig ergriffen, und diese an -seine Schläfe pressend, daß es sie schmerzte, weinte er, und sie hielt -still, bis er genug hatte. Einmal, wie ein Knabe, der glaubt, sich -entschuldigen zu müssen, brachte er hervor, ungeschickt und kläglich: -»Sie war doch nie da, und nun ist sie ganz fort.« Renate biß die Zähne -zusammen; langsam hörte er auf. Um ihn ja nicht zu beschämen, ging sie -eilfertig hinaus. - -In ihrem Zimmer saß Renate lange auf einem Stuhl, biß ins Taschentuch -und dachte, es sei nicht anders, und sie müsse dem Erasmus nun -schreiben, daß er sie haben könne. Sie fühlte mit furchtbarem Reiz den -Zwang, irgend etwas zu tun, als sei da ein Strom des Leidens, über den -ein einzig Mal und in diesem Augenblick der Damm einer Tat geworfen -werden müsse, und wenns eine Untat war. Der Erasmus hatte niemand, und -ihm stand sie doch nah, und der reiche Mann hier, der Herzog, der hatte -gleich jemanden bei der Hand. Ihr quoll das Herz von Elend, die Zunge -ward ihr bitter im Mund, sie sprang auf, lief zur Tür, auf den dunklen -Flur und an ein Fenster. Aber es war kein Licht mehr im Saal. Im Dunkel -gesträubte Gestalten von Bäumen schüttelten sich, wankten, schlugen mit -Ästen; schwer goß der Regen, und die Dachpfannen lärmten. Einmal, dachte -Renate sinnlos, sind wir ja alle tot. -- Als aber jetzt ein -Geisterscheinen durch die Nacht ging, hielt sie es für die abgeschiedene -Seele, die in Sturm und Nächtelärm auch noch nicht wußte wohin, -herumwehend, nach Seufzern der Lebenden haschend und langsam, langsam -sich verlierend in das Allgemeine der dämmrigen Welt. - -Sie trat zurück vom Fenster, ging in ihr Zimmer, entkleidete sich müde, -legte sich und verlor in Bälde Sinne und Herz in dem öden Dämmerland der -zerfließenden Träume. - - - Sommer - -Renate saß auf dem Rand des Deiches im Schatten des hinter ihr stehenden -Sonnenschirmes, ließ die Füße nach unten hängen, hielt die Hände über -Buch, Briefblock und Bleistift im Schoß gefaltet und betrachtete die -hellblaue, sonnenglitzernde Wasserfläche vor ihr mit tiefem Behagen. Als -sie sich satt gesehen zu haben glaubte, legte sie das Buch neben sich -ins Gras, klappte den Löschblattdeckel des Briefblocks um, setzte die -Feder an und schrieb: - -»Lieber Josef!« - -An meinem Geburtstage kam ich diesmal leider nicht --, wollte sie -fortfahren, allein das war nicht möglich. Es gab nichts zu schreiben. -Sie wollte sich besinnen, weshalb das so war, fand aber keinen Grund, -worauf sie das Blatt lostrennte, es erst zusammenfalten wollte, dann -aber wie es war aus der Hand fliegen ließ. Es stolperte mühselig, vom -Luftzug unbeholfen gestützt, die grüne Deichwand hinunter bis unten, wo -es groß und weiß haften blieb. Wenn ich nun wüßte, ob Flut oder Ebbe -ist, dachte Renate geringschätzig, könnte ich ja noch warten, bis es in -See sticht. Ein schönes weißes Blatt mit Wasserlinien und Lieber Josef! -darauf dürfte genügen. Sie wartete wirklich ein Weilchen, sah eine, zwei -Wellenzungen -- träge, als ob es die Mühe nicht lohnte, nach dem Blatt -emporlecken, dann hatte sie genug, sah auf das neue Blatt auf ihren -Knien, setzte wieder an und schrieb in einem Zuge: - -»Ach, Georges ... - -»Ein ganz kleiner Wind möchte gar zu gern den unteren Rand des Blattes -hochheben, auf dem ich schreibe, immer wieder versucht ers, seine -unsichtbare, kleine weiche Hand drunter zu schieben, bis ich ihm einen -Klaps gebe, dann ist er für Augenblicke still. Auf dem Papier liegt -Schatten, und links unter mir liegt ein unförmliches Ungetüm von -Schatten die Grasböschung hinunter, das bin ich mit dem hinter mir -stehenden Sonnenschirm; rundum aber ist alles Licht, schwellendes, -singendes, funkelndes, flimmerndes, tanzendes Sommerlicht, aber was mir -im Ohre, im Blute rauscht, leise rauscht, anschlagend immerfort, immer -wieder, ununterbrochen, das ist die See, die See dicht mir zu Füßen am -Deich, auf dem ich im Grase sitze, die See, die, wie mir scheint, in die -höchste Flut gestiegen ist, die beim Landwind nicht brandet, sondern nur -anschlägt, immer wieder, ein kleiner Schlag, und wieder -- ein leichter -Schlag, und so fernhin zur Linken, und fernhin zur Rechten am Ufer die -leise Bewegung des weißen Bandes, das zurückgezogen wird und wieder -angeworfen, so leicht, so leicht ... Aber wenn ich die Augen hebe, liegt -sie still und gewaltig da, nicht eben unermeßlich, der Horizont ist ganz -nah, es ist nur ein kurzes Stück Wasser, das ich sehe, aber es ist doch -unermeßlich, denn es endet nirgends, und es bewegt sich so -geheimnisvoll, es ist wie eine ungeheure Masse von Wesen, Tierwesen, -Götterwesen, gestaltlos aufgelöst und doch wesenhaft, als könnte jeden -Augenblick Gebärde und Blick und Leib deutlich herausspringen und sich -zeigen, aber schon versinkt es wieder und ist so beklemmend allgemein, -Heerscharen, nur Heerscharen heranströmender Seelen, die niemals -näherkommen. Und kühl ist es dabei, wonnig kühl und glitzernd und wäßrig -dunkelblau und unsagbar ruhig unter der großen Sonne am Himmel. - -»Ich hab die burgunderrote Seidenjacke an, Georges, es wäre mir aber -nicht unlieb, wenn Du Dir den hinter mir stehenden gelblichen -Leinenschirm weg dächtest und an seiner statt -- Septentrio, sanftesten -Seewind, einen kiefernbraunen Götterjüngling, der mit ebenhölzernem -Kamme -- -- soweit. -- - -»Lieber guter Georges, als ich zuerst eben Deinen Namen schreiben -wollte, hätte ich fast mit einem S angefangen und Schorsch geschrieben -oder auch Schorschl. Siehst Du, so wohl ist mir! Nicht ganz christlich -wohl, denn wir haben ja vor kaum acht Tagen die arme Helene zur Ruhe -gelegt auf der kleinen Insel im Süßwasserteich. Am Rande einer kleinen -Lichtung liegt sie, wie sie es gewünscht hatte, unter einer Blutbuche. -Kein Grashügel ist zu sehn, nur flacher, grüner Rasen, und am Baumstamm -ist eine eherne Tafel, von weitem kaum sichtbar, auf der steht nur - - _Helene_ - Herzogin - -»Der Herzog war fast drei Wochen fort; ich sehe ihn nun zuweilen von -weitem im Park sitzen. Georg ist wieder fort ins Semester. - -»Lieber Freund, es ist ein Wintertag gewesen, und an diesem Wintertage -verlor sich diese Renate Montfort und sagte zu Georges, weil er etwas -gesagt hatte, das ihr nicht gefiel: Geh hinaus. Da ist er aufgestanden -und hinausgegangen, und sie saß böse da und zerriß ihr Taschentüchlein -wie so eine Hysterische, bis er wieder hereinkam und sagte, es hätte -aufgehört mit Regnen. Da ist sie aufgestanden und vor ihn hingetreten, -hat aber nur ihr rechtes Handgelenk auf seine linke Schulter gelegt und -ist so einen Augenblick dagestanden und hat den Kopf gesenkt gehalten -und ist hinausgegangen. Ich habe eben versucht herauszubekommen, was ich -gedacht haben mag in jenen Augenblicken, aber es muß feststehn, daß ich -wirklich nichts gedacht habe, nur etwas empfunden. Ich glaube, bei -Männern ist das unmöglich, und ich sage gleich, daß sie es deshalb -besser haben, denn sie wissen sich immer zu helfen mit einem obstinaten -Gedanken, wir aber sind uns selber preisgegeben, müssen aus solchen -Pausen des Nichtseins nachher handeln, und alles wird verkehrt. Sonst -habe ich ja diesen ganzen, traurigen Winter lang nichts getan als -herumgegrübelt, es war entsetzlich, ich weiß nun erst, wie meiner armen -Magda ums Herz gewesen sein muß in dem Winter vor zwei Jahren. - -»Sage, Georges, ist es wahr, daß in der Güntherstraße die Sonne nicht -mehr scheint? Oft, so oft, wenn ich mittags am Fenster stand und den -alten Mann in seinem schwarzen Mantel, gebückt und schneeweiß auf dem -Weg um die Sonnenuhr wandern sah, so dachte ich, daß er den Schatten von -der Uhr fortgenommen habe und selber der Schatten sei, der in -furchtbarer Schnelle herumkreise und die ganzen Sonnenstunden des Tages -abwirble, und wenn er plötzlich fort war, war auch keine Zeit mehr im -Garten und im Hause, und alles stand still. - -»Es war immer Schlackerschnee und Regen, solange ich diesen Winter -zurückdenken kann, nur einmal erinnere ich mich eines Vorfrühlingstages, -da fuhr ich zu Irene, und die Sonne schien, aber siehst Du: in der -Güntherstraße war das nicht. Und ich kränkelte immerfort -- wann wäre -ich früher krank gewesen! -- und oh wie mir am ganzen Leibe zumute war, -das kannst Du ja gar nicht ahnen, und ich kanns nicht beschreiben.« - -Aufblickend dachte Renate, daß aus den zwei Tagen, die sie allmonatlich -zu ruhen pflegte, mit der Zeit fünf geworden waren, wo sie sich kaum zu -regen vermochte, wo sie kaum ein Stück Kleidung am Körper ertragen -konnte und immer nur auf dem blauen Sofa lag, halb oder ganz entkleidet, -stundenlang manchmal vor sich hin weinend vor Gram und Hülflosigkeit -über sich selbst, aber das konnte sie ihm nicht gut schreiben, und sie -fuhr fort: - -»Tagelang, wochenlang drückte mich jedes Band, jede Falte auf der Haut, -ich kam mir neidlos vor wie die berüchtigte Prinzessin auf der Erbse, -und wieder tagelang und wochenlang war ich so schlampig, daß ich vor -reiner, oder vielmehr unreiner Trägheit manchmal des Morgens nicht -gebadet habe, sondern bloß abends. Ich weiß nicht, woher ich so war, -denn das kann ich doch nicht auf mein Herzeleid wegen Onkel Augustins -schieben. -- Was es auch gewesen sein mag, so bitte ich Dich jedenfalls -heute herzlich um Verzeihung wegen jeder Laune und Unwirschheit, wobei -mir albernerweise einfällt, daß ich noch nie einen Menschen habe sagen -hören, er sei wirsch, aber nun bin ich wirsch. - -»Da ist der Bleistift abgeschrieben, und ich habe kein Messer, um ihn -anzuspitzen, und Georges ist nicht da, der ein Messer haben würde, und -ich denke, wenn mans wagen könnte, so würde ich mich jetzt -splinterfaselnackt ausziehn und von oben ins Wasser springen, da wo es -am tiefsten ist. Leider konnten wir noch nicht in der See baden, es ist -noch zu kalt. Ich hole das letzte Bißchen Graphit aus dem Bleistift -heraus, sende Dir viele schöne Grüße und anbefehle, daß Du spätestens am -fünfzehnten Juli in Helenenruh zu erscheinen hast. Helenenruh gehört -nämlich jetzt Magda, und da sogar der Herzog sich als ihr Gast -betrachtet, so wirst Du kaum herzoglicher als der Herzog sein wollen. -Grüß Gott, Georges, und mach, daß Du kommst! Stets Deine alte Renate.« - -Renate legte die Blätter zusammen und in das Buch, auf dem sie -geschrieben hatte, legte es ins Gras und streckte sich lang aus. So lag -sie eine halbe Stunde, oder eine ganze, sie wußte es nicht, die Hände -unterm Kopf, friedlich aufgelöst in Sonnenschein, Himmel und Geräusch -der See. Dann stand sie auf, klappte den leinenen Sonnenschirm zu, -klemmte ihr Buch unter den Arm und schlenderte langsam über die Wiesen -hin, im Gehen einen lockern Strauß von gelben Sternblumen und Gräsern -sammelnd. So geriet sie in den Schatten des Parks, wanderte hindurch und -geriet an den Teich, ging zur Bank, die dort stand, und setzte sich, -machte ihr Buch auf und las ein Stück im Großen Kriege der Ricarda Huch, -merkte aber, daß es sich nicht gut las im Freien und in der Sonne. Ja, -dachte sie aufsehend, wie kann man im Sonnenschein lesen: Graues Gewölke -bedeckte den Novemberhimmel, oder dergleichen? Aber sonderbar, daß nur -das künstliche Licht abprallt -- denn dabei gehts doch! -- aber die -Sonne läßt ihrer nicht spotten ... - -Das Stück des Weihers vor ihr war glatt und schwarz, Himmelsblau und -Wolken erfüllten die Tiefe, vielmals tiefer als der Weiher selber war, -zur Rechten war alles grün, eine rasenhafte Fläche von Entenflott, ja -dort war wohl Magda hineingeritten und hatte Jason herausgeholt. Wie war -das zu verstehn? Jason, der herumging wie eine sonderbare Abart des -lieben Gottes, der sollte hier -- --? Magda freilich, -- ihre Tat war -eher zu verstehn heute. Nur dunkel tauchte in Renate eine sonderbare -Prophezeiung auf, -- ach längst erledigt und abgetan! -- Renate sah nach -links hinüber zu den Baumkronen der Insel in einiger Entfernung. -Sonderbar, die kleine Brücke, die dort hinüberführte, stand ja schräg -empor? Richtig, sie erinnerte sich, daß ein Gewinde daran war, um sie -durch einen Knopfdruck, wenn man auf der Insel war, steigen zu lassen, -so daß niemand herüber konnte, denn es war ja einmal ein Liebespavillon -auf der Insel gewesen, die Trümmer waren erst jetzt fortgeräumt, denn -nun war es ein Friedhof; und nun hatte der Herzog wohl auch das -durchgerostete Hebewerk erneuern lassen. Renate dachte an Stöckelschuh -unter breiten Seidenröcken, an zierliche Krummstäbe, Bänder und -schäferliche Hüte, die einmal über diese Brücke geglitten waren. -Schwerer trug sich ein Sarg von Ebenholz mit silbernen Beschlägen an dem -traurigen Tag der Fackeln und Flöre, seltsam flatternd in kräftigem -Seewind und hellem Sonnenschein. - -Indem bewegte sich etwas auf der Insel, ein Mensch, schwarzgekleidet, -kam auf die Brücke zu, von einem andern, kleineren begleitet, der Herzog -auf seinen Stöcken. An der Brücke blieb er stehn und schien -herüberzublicken. Dann ging er über den Steg, blieb stehn, und nun -entfernte sich der Andre, Dr. Birnbaum wars, nach dem Schloß hin. Der -Herzog kam auf dem Uferwege auf ihre Bank zu, langsam, Stock um Stock -und Fuß um Fuß vorwärtssetzend, vornübergebeugt, -- Renate blickte fort, -um es nicht mit anzusehn. Als sie seine Schritte nahe hörte, stand sie -auf, er versuchte eiliger zu gehn und bat sie schon, sitzen zu bleiben. -Bald darauf saß er neben ihr, erhitzt von der Anstrengung, sein Keuchen -unterdrückend, die Stöcke zwischen den Schenkeln, barhaupt. Renate fand -ihn stiller, die Augen freilich hatten sich noch nicht gänzlich wieder -in der Gewalt, und ein Blick von sonderbarer Ängstlichkeit kam dann und -wann zum Vorschein. Verquer dazwischen fuhr dann ein gewaltsamer -Ausdruck von Verächtlichkeit, am Munde im Bart verzuckend. So saß er -eine Weile still, über den See hinblickend, sah dann zur Seite, sah -Renates Buch auf der Bank, rührte mit der Hand daran und sagte, er habe -sie hoffentlich nicht gestört. Renate, schon zufrieden, daß er sich -wieder an einen Menschen gemacht hatte, dachte, daß er nun einen Anfang -gefunden habe, und lächelte nur verneinend; da er aber wieder schwieg, -sagte sie ihm, was sie eben gedacht hatte vom Lesen im Sonnenschein. Er -hörte zu und schwieg weiter, sagte dann, einen Schweißtropfen mit der -Hand von der Stirn wischend: »Ein hübscher Gedanke, ja, sehr hübscher -Gedanke. Meine Frau las viel, auch die letzten Jahre wieder konnte sie -sich doch vorlesen lassen, ja, sehen Sie, das muß man doch sagen, ja, -das muß man doch sagen, daß es, solange ein Mensch lebt, solange er -leben muß, nichts Unerträgliches gibt. Ihr Kopfschmerz war so, immer -durch Tage, ja durch Wochen hin so, daß sie in den ersten Jahren mit -Gewalt am Leben gehalten werden mußte. Ja, und dann hat es sich doch -gegeben, oder vielmehr sie ist es gewohnt geworden. Mitunter waren ja -auch Tage, zwei Tage, drei Tage, wo der Schmerz nur ganz leicht war. An -den schweren Tagen soll es so gewesen sein, als ob -- also wie diese -mittelalterlichen Mundbirnen -- als ob ihr die Knochen des Kopfes von -einer ungeheuer langsamen Gewalt auseinandergetrieben würden, aber das -waren nur die Nerven, ja nur die Nerven. Sehen Sie, und das dauerte nun -bald zwanzig Jahr.« - -Er hatte langsam, aber doch leicht und ruhig, beinah trocken vor sich -hingesprochen. Jetzt drehte er sich zu Renate herum, legte die Hand auf -das Buch und sagte: - -»Die Weisheit des Herrn ist unvergänglich, und seine Güte währet -ewiglich. Dies Wort ging so in mir herum, und sehen Sie, ich finde es -doch erstaunlich, wie die Menschen solche Worte aufgestellt haben. Man -kann fast nicht daran rütteln, es steht so da wie ein Turm, und wenn es -sich auch nicht denken läßt, so läßt es sich doch sehn, nicht einsehn, -aber sehn, jawohl ...« - -Nun schwieg er wieder und sah vor sich hin. Renate dachte, daß dieser -Mensch wahrscheinlich niemals geschwiegen habe. Er konnte alles sagen; -was er wollte und wie ers wollte. Immer waren Menschen da, die es -anhören mußten und darauf eingehn. Und vielleicht gerade, weil er gegen -seine Frau zum Schweigen verurteilt war, hatte dies ihn um so -leichtherziger gemacht im Aussprechen seiner Gedanken gegen die Andern, -gegen seinen Sekretär vor allem, der ihm durch den Tag hin anhing wie -ein Schatten. Denn das Eigentliche war es doch nie, was er sagen konnte, -oder wenn es schon das Eigentliche war, so konnte ers doch nicht auf die -rechte und innerst gewünschte Weise hervorbringen, und es war -- aber in -diesem Augenblick hörte Renate ihn wieder sprechen und merkte betroffen, -daß er eben das, was sie zu denken im Begriff war, aussprach, indem er -anfing: - -»Ich will Ihnen sagen -- es ist nun schon so, daß ich den Mund nicht -halten kann,« unterbrach er sich lächelnd -- »ich will Ihnen sagen, daß -ich eigentlich jahrelang, zwanzig Jahre lang in einer fremden Sprache -geredet habe. Ich habe nicht wenig geredet, es war ja immer wer zum -Zuhören da, aber immer habe ich meine Gedanken erst so übersetzen -müssen; in die Fremdsprache. In der eigentlichen schwieg ich mich aus, -in der hätte ich mit Helene reden können, aber nun war das ja -zugeschüttet. Haben Sie«, fragte er, sich unterbrechend, »meine -Schwester kennen gelernt? Richtig, Sie spielten uns ja vor neulich -abend! Ja, mit der Fürstin habe ich wohl auch hier und da ein Wort in -unsrer Muttersprache gesprochen, aber es war doch nicht die richtige, -nein, es war nicht die richtige.« - -Er faßte sich mit der Hand nach den Augen, als gebe es etwas -wegzustreifen, und sagte: - -»Es ist mir doch fortwährend, als wäre sie selber wie ein Schleier vor -mir weggenommen, und ich kann sie nun erst sehn, wie sie wirklich war, -und was ich -- nie besaß, und was ich nun endgültig verloren habe.« - -Er hielt inne, und Renate merkte wohl, daß dies auch nicht die rechte -Sprache war, und wie er herumtastete, hülflos genug, und nach um so -gemeineren, allgemeineren Worten griff, je heftiger ihn nach -eigentümlichen verlangte. Hastig sprach er schon weiter, auf einmal von -seinem Malheur, an das er nun immer denken müsse, dies merkwürdige -Zusammentreffen mit dem Krankheitsbeginn seiner Frau, und er erzählte, -wie das gewesen sei: zwei Stockwerke hoch sei die Planke des Baugerüstes -gebrochen, und er habe schwankend und um sich greifend sich noch gesagt: -springen und -- vornüberfallen, sonst ist das Rückgrat zum -- da lag er -unten, die beiden Füße waren einfach ab. Anfänglich habe er, als es mit -dem Gehen nichts wurde, geheult wie ein Dorfköter an der Kette, -- er -lachte gutmütig und zeigte Renate eine Narbe am Handgelenk, die sei vom -Einschlagen der Glasscheibe am Gewehrschrank, den sie zugeschlossen -hatten, ja, damals sei er ganz außer Rand und Band gewesen. Wie sich -denn aber das Leiden seiner Frau so hartnäckig erwiesen habe wie seine -Gehunfähigkeit, da habe er nachgegeben und um so leichter verzichtet. -Vielleicht, meinte er, hätte ich sogar gehen gelernt, der Arzt sagte -sowas von ein paar Jahren, dann würde alles wieder zurechtgewachsen sein -... - -»Aber sehen Sie,« hörte Renate ihn wieder deutlicher reden, da sie sich -aus den Vorstellungen und Bildern, die seine Worte erzeugten, losmachte, -»da wollte ichs denn auch nicht mehr, wenn Sie vielleicht eine Ahnung -haben, was Warten ist, Warten, wie sie und ich auf ihre Heilung, auf -Linderung gewartet haben, erst Wochen, sechs Wochen, neun Wochen, zwölf -Wochen, und auf einmal warens Monate, drei Monate, fünf Monate, acht -Monate, und nun -- Jahre, ein Jahr, drei Jahre, vier Jahre, fünf Jahre, -sechs Jahre und am Ende -- alles umsonst.« - -Er schlug die Handballen gegen die Stirn, krümmte und wand sich -innerlich. Gleich aber ermannte er sich wieder, setzte sich gerade, -faßte seine Stöcke und sagte: - -»Ja, sehen Sie, dabei bin ich nun das hier geworden. Sie glauben -vielleicht, ich wäre als Junge so was gewesen wie Georg. Ha, der Junge -denkt in einer halben Stunde soviel wie sein Vater nicht im halben -Jahr!« Er lachte. »Ich sage nicht, daß ich mit ihm zufrieden wäre, man -muß ihn schon lassen, da läßt sich nichts ändern, übrigens ist er die -Monate jetzt in Trassenberg stramm hinter der Arbeit gewesen, mein -Sekretär bezeugts, also ist es wahr. Ein komischer Bursch. Ja, hören Sie -mal, wir machten eine kleine Reise zusammen, gehen in einen Laden, und -ich kaufe was für Helene, da habe ich kein Geld bei mir und sage ihm, er -solls auslegen. Ja, er hätte kein Geld bei sich, sagt er. Nun, das kann -vorkommen, aber ein paar Tage später passiert dieselbe Geschichte, und -da erzählt er mir denn, er hätte überhaupt niemals Geld und zeigt mir so -zwei, drei Goldstücke, das sei alles, die brauche er hin und wieder zum -Verschenken, und zeigt mir ein Scheckbuch und sagt: >Ich schreibe -immerzu meinen Namen.< Unbegrenzten Kredit _haben_, ist groß, sagt er, -ihn benützen kann nur kleiner sein, -- oder so ähnlich. Nein, da war ich -ein Windhund gegen ihn. >Höchstes Glück der Erde,< wie der Dichter -singt, >heißt der Adelsspruch, liegt auf dem Rücken der Pferde< und so -weiter. Ja, das waren auch Zeiten!« Er sah an Renate vorüber weit weg in -die Erinnerung. - -»Eines Tages,« begann er wieder mit leiserer Stimme, »eines Tages sagte -eine junge Dame zu mir, weil ich irgendwas nicht gewußt hatte: >Wie kann -man so dumm sein!< Das hatte ich noch nie gehört, und nun von solch -einem Wesen mit großen Augen und braunen Haaren! Die Sache war schon -abgekartet, sie war Hofdame und würde nicht viel haben, aber doch gerade -so ein Stück Land, das meinem Vater zur Abrundung fehlte, sie war -reichsunmittelbar, und so paßte alles, bloß ich habe ihr ganz und gar -nicht gepaßt. Wir verlobten uns allerdings, und ich war heftig verliebt, -sie aber schickte mich auf Reisen. Mein Vater hatte nichts dagegen, und -so reiste ich, ja, ich reiste nicht allein, ich hatte eine Geliebte, die -nahm ich mit, ich war trotzig auf meine Braut, so fuhr ich um die halbe -Welt, aber ich kam wohl nicht viel anders wieder, als ich ausgefahren -war. Ja, nun hören Sie, wie es mir erging. Ich hatte doch gedacht, meine -Braut würde das nicht merken mit meiner Reisebegleiterin, aber weit -gefehlt, denn sie hatte mich auf der ganzen Reise von einem Freund -beobachten lassen -- dies gestand sie mir erst Jahre später --; und -also, wie ich wieder vor sie hin trete, sagt sie: Wo bist du gewesen? -- -Es ging mir durch und durch, wie sie mich ansah, dermaßen kaltblütige -Augen machte sie, und ich fing an zu stottern. Bisher, sagte sie da, ich -höre es noch heute, bisher habe ich dir wenig genützt; nun kannst du -noch mal andersherum um die Welt fahren, dann werden wir weiter sehn. -- -Diesmal aber gab sie mir einen Freund mit, einen kleinen Juden, den ihr -Vater als Bocherknaben aufgegriffen und erzogen hatte. Er hatte alles -gelernt, was es in der Welt zu lernen giebt, sprach viele Sprachen, war -so unauffällig wie eine Katze, so bescheiden wie ein wohlerzogener Hund -und so klug wie Rabbi Löw, nun, Sie kennen ihn, er hat sich seitdem -verändert, es ist mein Doktor Birnbaum, der ging also mit, und da gingen -mir die Augen auf. Als ich dann wieder kam, -- nun, was mich selber -angeht, ich hatte einen Eckstein zu mir gelegt, und sie fiel mir damals -um den Hals und sagte, sie wäre gestorben, wenn sie mich nicht gekriegt -hätte. Sie hätte mich ja nicht gewollt, grollte ich da. Dummes Zeug, -sagte sie, ich --« - -Überdem gingen ihm die Worte aus, seine Augen verdunkelten sich, es -rauschte im See, er drehte sich heftig um, der schwarze Artaxerxes -kletterte von der Insel ins Wasser, schlug mit dem lebendigen Flügel und -glitt schaukelnd davon. - -»Ein Jahr«, sagte der Herzog vor sich hin, »neun Monate lang war sie -jung und schön und zierlich; ihre Hände griffen kräftig zu, und so -packte sie mein Herz, sie ließ ihrer nicht spotten, ja, und nun ist sie -ja tot ...« - -Der Schwan hatte einen Bogen geschlagen, kam nun in schnurgerader Bahn -auf die beiden Sitzenden zugeschwommen, hin und wieder den Kopf drehend, -ein wenig emporfahrend bei jedem Stoß des ruhig treibenden Fußes. -Gleichzeitig wurden Schritte hörbar, Doktor Birnbaum erschien, langsam -am Ufer hergehend. Der Herzog wandte sich nach ihm um, nickte und sagte, -wieder zu Renate gedreht, trübherzig spottend: »Der Arzt mit der -mahnenden Arzneiflasche Arbeit.« - -Der Doktor nahm ein Stück Brot aus der Tasche, brach Brocken ab und -streckte die Hand aus; der Schwan schwamm ans Ufer, stieg herauf, der -lahme Flügel hing kahl und ergraut zu Boden, er streckte den Hals, nahm -den Brocken und verschluckte ihn; dabei sah er mit dem roten, -stirnartigen Wulst über dem Schnabel und den rotgeränderten Augen nicht -klüger und nicht stolzer aus als ein häuslicher Hühnervogel. Der Herzog -seufzte leicht und stand auf. - -»Doktor Birnbaum, sehen Sie, hat auch den Schwan repariert,« sagte er, -»schon benimmt er sich wieder zahm und manierlich.« - -Er nahm die Stöcke in die linke Hand, streckte Renate die rechte hin und -bat, ihm nicht zu zürnen ... Sie konnte ihn nur herzlich ansehen und ihm -die Hand drücken. Er drehte sich weg, reichte dem Doktor einen Stock und -faßte seinen Arm. Renate wandte sich ab. - -Auf dem grünen Uferstreif hockte der Schwan und putzte mit dem Schnabel -an dem vertrockneten Flügel. Lange blickte sie gedankenvoll auf ihn -herunter, dann kam Magda, um sie zum Frühstück zu holen, aber sie schien -dem Schwan nicht zu gefallen, er fauchte, machte sich auf, stieg ins -Wasser und zog mit unwilligen Kopfbewegungen davon. Magda lächelte und -meinte, er habe es ihr nicht vergessen, daß sie ihn überflog, -- fragte -dann, ob Renate mit dem Herzog gesprochen habe. Renate versuchte, -während sie auf das Haus zugingen, einiges von dem, was er gesprochen -hatte, wiederzugeben, gewahrte aber jetzt, als habe Gewölk sie bisher -verdunkelt, die Sonne wieder, den juligrünen Garten, atmete auf, brach -einen Satz inmitten ab, legte einen Arm um die Freundin und sagte: - -»Ich möchte dich an der Hand fassen, wie meinen Vater als Kind, wenn ich ->blind< mit ihm spielte, und so mit geschlossenen Augen durch den Wind -und den Sommer hingehn.« - -Sie blieb stehn, schloß die Augen, streckte die Arme ein wenig rechts -und links und rief leidenschaftlich: »Ach, ein Unsichtbarer hat uns ja -doch immer an der Hand und führt uns durch Winter und Sommer, wohin er -will.« - - - Siebentes Kapitel: August - - - Frühe - -Georg erwachte im Finstern und hörte den Donner rollen, blieb aber so -sehr in der Verschüttung des Schlafs, daß er sich einbildete, er träume, -nur aufseufzte und sich streckte. Dann war aber ein Mensch im Zimmer, -und mit gelindem Erschrecken erschien ihm in einem schwachen -Blitzleuchten Cordelias weißes Gesicht und das glänzende Schwarz ihres -Mantels. Indem er noch murmelte, was sie denn wolle, fühlte er ihre Hand -auf seinen Augen, die sie zudrückte, und am Einsinken der Matratze, daß -sie neben ihm kniete. Dann hörte er sie den festen Laden, über ihn -hingebeugt, zart umlegen und verriegeln, endlich auch das Schiebefenster -langsam, fast geräuschlos herabziehn. Im Begriff, etwas Dankbares zu -murmeln, schlief er wieder ein. - -Als er dann wieder zu sich kam, war es dämmrig, fast noch dunkel im -Raum, doch hingen unmittelbar über ihm an seiner Linken Lichtfäden im -Laden, und schon hellwach und frisch sich zurücklegend, sah er die -beiden ausgeschnittenen Herzen im Holz oben matt leuchtend schweben. -- -Es regnet wohl, dachte er, schade! in schwacher Erinnerung an ein -Gewitter bei Nacht. Ach, sieh an, wie wundervoll ich jetzt schlafe, -selbst bei Donner und Blitz! -- Und die Arme mit geballten Fäusten -ausstoßend und beugend, fühlte er sich krachen und strotzen von grüner -Gesundheit. - -Aber ich hab mir doch über etwas klar werden sollen über Nacht, fiel ihm -ein, und im Augenblick auch schon der homerische Vers: [Griechisch: -Polla d'ho g'en] ... der dritte der Odyssee, über den sie gehadert -hatten miteinander, bis ihnen die Augen zufielen, weil Cordelia gesagt -hatte, es sei der prachtvollste Vers aller Dichter und Völker, worauf -aber er sich anheischig gemacht hatte, ihn nichtsdestoweniger in sein -geliebtes Deutsch zu übertragen, aber war sie vielleicht -zufriedenzustellen? Nun, er selber wars auch nicht, aber nun wollte er -es gleich noch einmal versuchen .. - -_Polla d'ho g'en ponto pathen algea hon kata thymon ..._ - -Ah nein, was waren es auch für Worte, was war es für ein Rollen und -Knattern, eine strotzende Vollheit im Wohlklang der wechselnden O- und -A-Laute, und hinter dem köstlich geschmeidigen _algea_ das schroff -gesetzte _hon_, dann das kalt schmetternde _kata_ und endlich -- ihre -ganze Wonne -- nach all den dunkelklaren und großoffenen Lauten das -tiefe, hinziehend glühende: _thymon_ ... - -Voll des Grames da ward vom Meere die Seele des Kühnen ... - -Nein, sie hatte recht, es war nichts. Kühnen hatte sie freilich als -schön erfunden zugeben müssen, da _thymos_ ja nicht nur Seele hieß -sondern auch Mut, -- aber wo waren die vielen O und A? Den Ersatz durch -die zwei prachtvollen E-en konnte Georg jetzt auch nicht mehr -aufrechterhalten und begann, nach As und Os zu suchen, wälzte sich umher -und bekam endlich nach vieler Mühe zusammen: - -Zornvoll, gramesvoll ward vom Donner der Wogen der Kühne. - -Freilich zu wenig A-en waren es immer noch, aber es klang doch sehr -schön: Zornvoll, gramesvoll ward ... Wie spät war es eigentlich? schon -fünf und Zeit zum Aufstehn? -- Aber die Uhr vom Nachttisch ertastend, -erkannte er, daß es noch nicht halb fünf war. Ah dann konnte er einmal -die Sonne aufgehn sehen! - -Das kaum fußhoch über seiner Matratze eingesetzte Fenster hochgeschoben, -den Laden auseinandergeschlagen, empfing Georg den erstaunlichen Anblick -einer dunklen Welt, in der es schon Tag war. Nicht Tag, -- es war -seltsam verhangen, aber schon hell, die Sonne noch nicht aufgegangen. -Kein Vogellaut ließ sich hören, Totenstille war umher, der Himmel oben -grau, aber siehe da -- gerade drüben überm unermeßlich dämmernden Land, -blitzend in güldener Weiße, stand der Morgenstern in klarem Raum, einsam -in unendlicher Kühle. Nun begriff Georg auch den Schauer der Stille im -eigenen Herzen, die von dem großen Stern ausging. Heilig stand er, ein -silberner Erzengel, gebieterisch, ein Herold des Ewigen, nicht fürstlich -bei aller Hoheit, ein Diener des Fürstlichen, und hinter ihm -- das -undurchdringliche Fernengrau der Leere, die dämmernd bläuliche -Unendlichkeit voller Straßen, die sich, alle zusammenlaufend, ins -Unermeßliche verloren: Alle diese bleiben euch unzugänglich, sagte er -ernst. -- Georg konnte die Augen nicht wegwenden von der strahlenden -Hoheit, und als er es endlich wagte und in den Garten hinabsah, war es -ihm, als brenne der Stern seinen Blick durchdringend auf seine Stirne -ein. - -Stille unter ihm lag die halbkreisförmige kleine Plattform aus gelbem -Kies, von der, unter der Rosenhecke hinweg, der grüne Rasen nach allen -Seiten abfloß; still in der Mitte die roh gefügte Steintreppe, von -Moosen und Staudengewächsen und schönen Gläsern bedrängt, ruhig -hinabsteigend zum großen, rechteckigen Becken gründurchwachsenen -Wassers, das kaum glänzte, die gemauerten Ränder überwuchert von Binsen, -Schilf und _Iris sibirica_. Seitlich stiegen die Böschungen sacht an zum -wagrechten Wiesenboden, der sich unter Buschwerk und Bäume verlor, an -unzählbaren Stellen besetzt mit den großen weißen und farbigen Flecken -der Blumen und Staudengewächse, die, jetzt matt scheinend, alle -überleuchtet wurden von den mannshohen Pfeilern des Edelrittersporns, -bekleidet rundum mit dem kalten und tiefen Blau der großen Blüten. Wie -aber war die ganze Senke eingeschlossen in regungslose, betrachtende -Erwartung des kommenden Lichts! Wie unsäglich stille verhielten sich die -beblätterten Ranken der Crimsonrose mit schweren Blütenbüscheln, die -jenseits des Wasservierecks vom pfeilergetragenen Balken hingen! und -ringsumher wagte kein Hauch sich zu regen in den Sträuchern, den Hügeln -der großen Aspiräen, den umschließenden alten Bäumen, durch deren breite -Lücke und über die hinweg Georgs Blick nun mit Andacht hinauswanderte in -das stille Morgenland, über die Weideflächen seiner Ebene im farblosen -Licht, bis hin zu den Schatten der Wälder. - -Wieder ausgestreckt, auf den linken Ellenbogen gestützt, erwartete auch -Georg den Tag. - -Langsam erst jetzt, unmerklich vorquellend, drang die Morgenfrische zu -ihm herein, so unbeweglich war die Luft. Georg schloß die Augen und ließ -es rieseln um sein Gesicht. -- Sie schlief wohl noch unter ihm, die arme -Seele. Arme Seele -- wie sie sich in ihren Briefen, auch im kindlichen -Geplauder mitunter nannte -- und die reicher war, tausendmal reicher als -er. War sie nicht wieder im Zimmer gewesen diese Nacht? Freilich -- das -Gewitter -- sie hatte es nahen hören und war gekommen, sein Fenster zu -schließen. Aber schon früher einmal hatte er, erwachend, sie neben sich -kniend gefunden, dem Fenster zugewandt. Was sagte sie noch? Ich gab mir -doch Mühe, es zu bewahren, aber wer behält all ihre Einfälle? man müßte -Jasons Gedächtnis haben. -- Richtig: was machst du denn da? fragte ich, -und sie sagte, den Finger hebend, andächtig: Da zähl ich die Sterne. Ja, -da zähl ich und zähl ich, und immer verzähl ich mich. Sprachs und legte -sich enge zu ihm, und das war wohl ihr Nachtgebet, die Sterne über ihm -zu zählen ... Aber dann erzählte sie noch etwas, ja, er hörte sie leise -lachen und sagen: Rübezahl, das war aber ein dummer Geist, der wo die -Rübsen hat zählen sollen und net können. Na, so eine Dummheit, die ollen -Rübsen zählen und sich verzählen. Nein, weißt, einer war -- der hat ->Sternezahl< geheißen, auch so ein dumms Luder von an himmlischen Engel, -der wo gsagt hat zum Herrgott: die Stern, und die zählt er ihm schon -lang auf, so vüll sans denn do net! Hats aber net können. Sondern hat -dagstanden eine ganze Ewigkeit lang und gezählt und gezählt und hat sich -verzähln müssen olleweil. Weils halt -- zu -- viel san. Da is er trauri -geworn, schloß sie kleinlaut. -- - -Aber weißt -- sie freute sich wieder -- den lob i mir, i! Net den dummen -... Sprachs, sagte: schlaf wohl! und war verschwunden. - -Georg atmete dankbarlich auf und öffnete die Augen. Der helle Stern war -tiefer gesunken und verblaßt, der Himmel sanft bläulich geworden und -weiß, ein Wolkenrand, ein Hauch kleiner, silberweißer Bogen war lieblich -hingemalt auf die kühle, schon leuchtende Wand. Da krähte ferne ein -Hahn. Es wurde immer feierlicher umher; Georg schlug das Herz. Nichts, -das sich regte, -- doch -- im Wasser unten gluckste es, ein Ring zeigte -sich und dehnte sich blinkend aus; es ward heller. Auf einmal wehte ein -kühler Atem so lebendig Georg an, so menschenhaft, daß es ihn überlief. -Plötzlich hatten die Blätter der großen Akazie dort hinten sich bewegt, -erwachend, nur an einem großen Ast, und überall knisterte es nun leise, -Häupter bewegten sich, Schläfer, die ihre Lage wechseln wollten, wachten -auf, Zweige rauschten sanft, die hohen Königskerzen bewegten sich -gemessen, Binsen beugten sich und rauschten, unbeweglich standen die -Irisstauden am Wasserrand scharenweis. Und nun wartete alles in -Ergebenheit. - -Georg erschrak. Was war das? Etwas Fremdes war über die Erde gekommen! -Lautlos wie ein Geist war der rote Rand einer gewaltigen Kuppel in der -Nebelferne erschienen. - -Georg kniete im Bett. Die Hände willenlos zusammenlegend, sah er, ganz -nah, die Gewaltige heraufsteigen, die rote, göttliche Riesin, -unleuchtend, stumm, ungeheuerlich, unnahbar einsam, so erhob sie das -mächtige Haupt und sah in die erschrockene Welt. -- Er mußte die Stirn -auf den Rahmen des Fensters vor ihm legen, sprachlos, quellenden -Herzens. - -Als er wieder aufzusehn wagte, war es Tag. Die Ebene hatte sich mit -ziehenden Schwaden von Nebel bedeckt, die sichtbar über die glühende -rote Scheibe wogten, die jetzt an einzelnen Stellen golden zu brennen -begann. Von hundert Orten umher zwitscherte es nun und zirpte, in den -Lüften flog Gold, ah und wie schwer hing alles Laubwerk und blitzte vom -Guß des Gewitters! Schon entstieg zarter Dampf, kleine, weiße -Rauchsäulen erhoben sich schwebend über der Wasserfläche, alles -leuchtete und ließ sich besonnen. - -Georg sprang aus dem Bett, öffnete die merkwürdige Luke am Boden, die -Cordelia für ihn hatte machen lassen, und stieg die Leitertreppe -hinunter ins Badezimmer. - -Von dort erfrischt und sauber zurückgekehrt, kleidete er sich eilig in -ein wunderbares Hemd von gelber Rohseide mit offenem Halskragen, weiche, -vom Ledergurt gehaltene Flanellbeinkleider, Strümpfe von der Hemdfarbe, -und schlich, die braunen Schuh in der Hand, die noch dunkle Treppe -hinunter ins Freie, dann an der Hinterseite des Hauses, so leise er -konnte, an Cordelias offenen Fenstern vorbei über den Kies -- ah wie die -Rosen dufteten am Rande! -- setzte sich auf die Treppe oben und zog -seine Schuhe an. Langsam schlenderte er darauf von Stufe zu Stufe, -tauchte die Hand in den tropfenbesäten Hügel der weißen Aspiräen und -lächelte, den ganzen Blumenflor überschauend, von dessen tausend Namen -er jeden Tag ein paar hatte lernen müssen, -- nun war alles längst -unrettbar durcheinander in ihm. Das da hinten an der Böschung war -Schleierkraut, aber wie hieß es lateinisch? Und daneben die brennende -Liebe? _Lychnis_ -- ja, _Lychnis chalzedonia_ und mit _robusta_ noch -etwas ... Volksversammlungen der handtellergroßen Margueriten blickten -nach ihm hin, merkwürdig, wie die Menschen auf alten Bildern. -_Leucanthemum maximum_ -- das war der Name. Georg balancierte behutsam -auf dem Mauerstreifen um das Becken zwischen Trollius und Schwertlilien. -Die ansteigende Wiesenböschung zu seiner Rechten war mit prangenden -gelben und blauen Farben bedeckt, große Beete des Phlox, blaue, rote, -weiße Blüten flammten oben, und dort standen, regungslos, die kostbaren, -die Königskerzen, ganze Bäume mit aufstrebenden Ästen, mit den -scheibenartigen Blüten, isabellengelb, zartlila und goldenblaß, -- wie -hießen sie? _Delfinum_ -- ah nein, das war ja der erstaunliche -Edelrittersporn, drüben von der andern Seite flammten die großen -schwarzblauen Blüten, _Delfinum hybridum_ -- ists richtig, Cordelia? Die -Königskerze aber hieß -- hieß -- _Verbascum_, jawohl, _Verbascum -vernale_, ein glänzender Name! -- Es war ein Paradiesgarten und sie der -Gärtnerengel darin! - -Georg rauschte im Vorjahrlaub die kleine Böschung durch das -Birkenwäldchen hinunter und glitt unten ins schon trockne und -sonnenwarme Gras, wo er die Aussicht über die ganze grüne Ebene frei -hatte, über die Landstraße, Haidestreifen, kleine Birken- und -Tannenschläge -- ins Unendliche hinein, über dem die goldene, brennend -brodelnde Sonne kochte im Wolkenlosen. - -Sanft ist sie, dachte er, auf den Rücken gestreckt, ins Blaue nach oben -schauend, sanft wie die Sonne am Morgen und doch feurig. Das ist das -Wundervolle an ihr. Alle schönen Frauen müßten so sein, so -- sanft; -nicht weich, hülflos, ohne Feste, sondern im Gegenteil -- fest, aber -zart, glühend innen, seelenvoll ... - -Sanft halt, würde sie selber gesagt haben. - -Georg setzte sich auf. Die Grashalme neben ihm verschwammen vor seinen -Augen, so bedrängte, fast angstvoll, ihn ein unsinniges Glücksempfinden. -Nun bist du ja gesund, Georg, murmelte er, und glücklich. Sag dirs, -Georg, daß du's weißt, daß du's behältst und nicht vergißt: glücklich, -ganz glücklich, und wenn du dich fragst, wem dankst du all dies, -Gesundheit, Freude, Arbeitskraft, Unermüdlichkeit --, alles, alles, dem -seltsamen, dem erstaunlichen Wesen, das dich in Liebe hüllt, wie -- wie -... - -Sich zurückwerfend wieder, die Augen schließend, fühlte er sich -umschlossen von ihr mit einer noch nie so lauteren, so klaren Lust, die -ihn von ihr träumen ließ. Er sah sich am Spätnachmittag den Hügel zum -Hause hinansteigen, und dann erschien sie schon unter der kleinen -Vorhalle, entweder in köstlich phantastischen Kleidern oder meist ruhte -nur ihr dunkler, brauner Kopf über der mächtigen Glocke des ärmellosen -Mantels von schwarzer schwerer Seide, in dessen weitem Faltenwurf es -grünlich und bräunlich glänzte. Dann warf sie ihn auseinander, dann -stand sie darunter, eine schlanke, gerundete Leibesform in türkisblauem -Trikot, oder in feuerfarbenem, oder an den heißen Tagen in gar keinem -marmorweiß, -- ach, die Erstaunliche! Und es begann der Abend! begannen -die langen Stunden stiller Wanderung im Garten umher, in den -zierlichsten oder tiefsinnigsten Gesprächen, denn -- oh sie war -wandelbar wie die Natur selber durch Tages- und Jahreszeiten, sie blühte -morgendlich heiter, sie verschattete sich ernst, sie rauschte, leicht -windbewegt, sie konnte gewitterhaft flammen, und lächeln, lächeln immer -wieder, und nie erlosch am Grund ihres Wesens die reine Farbe, der tiefe -Glanz der Heiterkeit, aus der Zaubervögel ihres Lächelns in immer neuen -Flügen, einzeln und scharenweis, Süße und Himmelsinnigkeit herüber -trugen. Kam das Abendbrot, so fand es immer wo anders statt, nur bei -schlechtem oder kaltem Wetter im kleinen Eßzimmer, sonst auf dem -winzigen Viertelkreis des Balkons, auf der Plattform hinterm Hause oder -in irgendeinem Dickicht, an der Erde, und Hesekiel mußte rennen und -verlor zwanzigmal die Stelle aus dem Gedächtnis. Sie essen zu sehn, war -allein die Mahlzeit wert. Sie liebte es, mit aufgestützten Ellenbogen zu -sitzen, irgend etwas zwischen den Fingern, Brot, das sie zerbröckelte -und das nachher säuberlich aufgescharrt wurde für die Spatzen, plaudernd -unaufhörlich, zwischenhinein irgend etwas vertilgend, was kaum gesehen -verschwunden war. Oh sie war eine Schauspielerin, natürlich, das wußte -er ja, -- ach, von denen vielleicht eine, die im Leben alles und doch -nichts Rechtes können auf der Bühne, weil es ihrem Können -- vielleicht -am Letzten -- vielleicht nur an einem Tropfen richtigen Theaterbluts -fehlt, an der Wonne zu verkörpern, Fremdes darzustellen vor fremden -Augen; sie haben die Gabe, sich zu steigern, alles aus sich zutage zu -fördern, aber sie können sich nicht zu anderm vervielfältigen und -bleiben stets sie selber. Immer spielte sie ja, aber es war doch so, daß -diese Kunst ihr nur dienen durfte, Vorhandenes vollkommen zu gestalten, -ohne leeres Spiel zu sein, sondern Feuer nur und Schwung im treibenden -Rade des Herzens. Ihre Einfälle waren unzählbar, sie schien sich geladen -zu haben tagsüber mit Schnurren und Geschichten wie der vom Sternezahl, -sie holte eine Anekdote aus der Gießkanne und Legenden aus Bäumen und -Sternen. Dann kamen die Abende, in denen langsam die Liebesstunde sich -vorbereitete, in denen, je dunkler die Stunde, ihr Herz und ihr -befeuerter Geist um so höheres Leuchten begannen, und sie schöpfte das -Füllhorn ihrer Brust aus nach Weisheit und Gedichten aller Zeiten und -Sprachen, bis es stiller und stiller wurde, bis zuletzt immer der -gleiche Augenblick da war, in dem sie, dastehend allein, den Mantel von -sich gleiten ließ, ernst wie ein Gebilde ... - -Die Nächte, oh diese Nächte! Den seltsamen Marmor ihrer Brust mit -tausend Küssen immer wieder zum Glühen zu bringen -- welch -unerschöpfliche Wonne! Dann war sie miteins zur lohen Fackel geworden, -und sie -- oh sie umtanzte seinen Leib mit flammendem Reigen ihrer -Liebkosungen und Umschlingungen, bis -- - -Georg setzte sich trunken auf, blinzelte geblendet, von innen und außen -glühend erhitzt, in das sprühende Gold und versuchte, inständig zu -denken: Hab ich nicht einmal behauptet, man liebte nicht im Augenblick -der Liebe? -- Ist das wahr? Sie -- ich liebe sie vielleicht nicht -einmal, nicht mit ganzem Dasein jedenfalls, oh -- es ist ja -gleichgültig, aber doch -- ich fühlte Liebe zu ihr auch in der äußersten -Verzückung; und wenn ich nun wahrhaftig liebte, müßte es nicht geschehn, -daß es aus der seelischen Glut auch in die leibliche Flamme überströmte -zu tieferem Lodern? - -Er sank wieder zurück und lächelte. Arme Seele, ich liebe dich -wahrhaftig, so sehr ich kann, und ich bin dir dankbar, oh dankbar! Du -Verzaubernde! -- Die Abendfahrten über Land fielen ihm ein, im -Automobil, wo es immer paradiesische Entdeckungen gab, Stücke -Landschaft, Haidhügel mit Wacholder, ein namenloses Dorf, zu dem sie -Geschichten erfand, und wars nur eine trübsinnige Henne in einer -schmutzigen Kate, -- und wie sie mit den Menschen hantierte, mit einer -Herzlichkeit und Frische, die den härtesten Bauernschädel knackte, jeden -Augenblick Miene und Sprache wechselnd, aus dem Hochdeutschen ins -Oberbayrische fallend oder in ihren Mischmasch aus beidem ... Ihm lachte -das Herz, als ihm der blinde Leierkastenmann mit seiner schwarzen -Brille, der Orgel auf dem Rücken, ins Gedächtnis kam, der sich am -Straßengraben hinstocherte mit seinem schmierigen Spitz und nun -aufgeladen wurde in den königlichen Rücksitz allein, und wie sich dann -weiß Gott wie herausstellte, daß der Kerl sah! Herr du meines Lebens, -das Ungewitter! Wie sie im Sitz neben mir kniete, im flatternden Haar -wie ein Windgott, und über die Brüstung mit geballten Fäusten auf die -Kanaille im Rücksitz loswetterte, und ich davonraste und plötzlich -anhielt, und sie über die Lehne weg wie ein Pardel, und der Kerl aus dem -Wagen wie der exorzisierte Satan. -- Gott im Himmel, Georg, wann wirst -du jemals wieder so glücklich sein! - -Er sprang auf und blickte auf die Uhr. Es war schon dreiviertel sechs, -Zeit zum Frühstück. Um sechs saß er doch sonst immer an der Arbeit. -Wieviel Stunden Ferienkurs waren heut? Zwei wie meist, dann noch zwei -Stunden Arbeit von zehn bis zwölf, dann Schlaf, Essen und wieder Arbeit -bis Zwölf oder Elf. Jeden Tag beisammen zu sein, verbot das Gesetz der -Liebe ... - -Noch ein mal sich reckend, die Arme mit geballten Fäusten ausstoßend und -sich dehnend, daß es krachte, klomm er die Böschung wieder hinan, ein -wenig beschwert in der Brust, denn -- sagte er sich -- kann man ein -solches Kleinod jemals aus den Händen lassen? Eine Prinzessin von -solcher Art wie diese halbe Kroatin aus Oberbayern gab es freilich -nicht, welch ein Jammer! - -Aber Renate. Renate mußte -- bei aller Hoheit gegen Fremde -- ihr doch -ähnlich sein, wenn -- wenn sie liebte. Nun, Renate -- es machte -Schwierigkeit, an sie zu denken in dieser glorreichen Epoche seines -Lebens. Jedenfalls aber -- -- noch ein halbes Jahr vielleicht, dann kam --- der Vertrag, kamen tausend, kam die eine Pflicht; kam auch Renate, -das stand fest. - -Auf der Plattform hinter dem Hause angelangt, hörte Georg bereits das -Badewasser im Innern rauschen und entglitt freudig dem geistigen -Labyrinth. Hesekiel erschien, den Frühstückstisch vor den Leib geklemmt, -und Georg half ihm, ihn zur Plattform zu tragen, was den Guten äußerst -verwirrte und zu tausend Segnungen bewog, worauf Georg die kleine Diele -im Innern betrat, an der Tür des Badezimmers klopfte und den Kopf durch -den Spalt steckte. Natürlich, der Raum war undurchsichtig von -Wasserdampf, Cordelias Kopf war kaum zu sehn über der eingelassenen -Wanne im Boden, und Georg unterließ nicht, ihr zum hundertsten Male -bedeutende Vorhaltungen zu machen. - -»Ja, was willst denn überhaupt? Zu seiner Zeit a jeds, hörst, das ist -überhaupt unschicklich, da herein zu kommen! Geh, Georg, sei stad, ich -komm gleich!« - -»Ja, ich geh ja schon! Übrigens, was ich sagen wollte: ich hab den Vers -jetzt!« - -»Na?« - -»Es heißt: Gramvoll -- nein! Zornvoll, gramesvoll ward vom Donner der -Wogen der Kühne.« - -Sie schlug die Hände überm Kopf zusammen. »Ach, Georg, was bist du für -ein Klabautermann! Zornvoll, gramesvoll ward --« sie bauschte die Worte -im Munde -- »ja, und wie heißt es im Griechischen? -- Viel -- im Meer -- -litt er Schmerzen im Gemüt -- die allersimpelsten Worte, -- geh, mach, -daß d' weiter kimmst mit dein' Bombast, mit dein' Donner der Wogen!« - -Georg klappte die Tür zu vor einem triefend nassen Badeschwamm, der -herüberflog, und stieg in äußerster Kümmernis über seine Dummheit ins -kleine Wohnzimmer hinauf, wo ihm in der Ecke des Sofas alsbald -glückselig die Augen zufielen. - - - Achtes Kapitel: September - - - Regen - -Georg verlor an einem Regennachmittag im September die Lust an der -Arbeit so gänzlich über dem Verlangen, in den Regen hineinzugehn, daß -er, kaum gedacht, in festen Schuhen, Gummimantel und Mütze vor der Türe -stand, mit weitoffenen Nüstern die kalte, frische Feuchte der Luft in -die Lungen ziehend. - -Wundervoll war die Leere des verschleierten Parks. Georg ging; der Regen -fiel mit fast lieblicher, mit liebkosender Leichte, hinwehend über die -Lichtungen der Wiesen, hingebungsvoll sich mitunter ganz in Seele, in -nebelnde Feuchte auflösend, in Schleiern sich einsenkend in die ruhig -duldenden Wipfel. Die aufgeweichten Wege schienen noch nie betreten. -Noch war alles Laub tiefgrün, hier und da zart gelb gesprenkelt; nur wo -Nußbäume standen, leuchtete das nasse Gelb. Die Gruppen der Bäume und -Gebüsche, von der Regenumschlingung zusammengeschlossen, schienen -schöner aufgeteilt. Gleichmäßig rieselte die Stille mit dem Säuseln der -Feuchte; alles bewahrte Ruh im Empfangen der Erquickung. - -In linden Gedanken sich selber umschweifend, gelangte Georg an den -grauen, dampfenden Spiegel des Teichs, an die Bank, wo vor langem Sigurd -den Kaddosch gesprochen. Esther, kleine Esther -- was war aus ihr -geworden am Grunde der großen Wasser? -- Ein Regentag, gewaltsamer als -dieser, wars, da kamen die Beiden herein, triefend und lustig, und es -gab Verkleidungen und Gelächter. - -Matt, sehr verblaßt glänzten die Farben der Erinnerung durch den -Nebelregen der Jahre. - -Ist es nicht doch besser geworden? dachte Georg; und ernster? >Ein guter -Geist hält über mir die Wage ...< Ich weiß noch: hier saß ich, wie ich -Balto-Borusse geworden war, und fragte mich, welches Gewicht einmal dies -Erlebnis haben würde. Um richtig wägen zu können, dürfte wohl noch nicht -genügend Zeit verstrichen sein, aber ich denke doch: über die letzten -Folgen bin ich hinaus. Ein leichter Herzfehler, Meidung alkoholischer -Getränke, die Erinnerung an Tozzi, an Schwalbe --, das ist wohl alles, -soweit ich sehe, und nicht eben viel. - -Georg wanderte weiter in einer plötzlichen Sehnsucht nach seinem Vater. --- Ich könnte doch eigentlich viel mehr von ihm haben, stellte er fest, -und deshalb ist es doch schade, daß er nie schreibt. Nein, für -Gedankenaustausch ist er nicht zu haben -- gesetzt, ich hätte was zu -tauschen --; sein Leben beschränkt sich auf Leistung. -- Überdem fiel -ihm eine Andeutung aus Magdas letztem Brief ein, als ob sein Vater es -wieder mit dem Gehen versuchte; er hielt das wohl geheim oder ließ -merken, daß es unbeachtet bleiben sollte, solange kein Erfolg sich -zeigte. Sonderbarer Mensch, der er doch war! Sollte er wirklich der -kranken Frau wegen sich freiwillig diese Fessel an den Fuß gelegt haben? -Und weshalb wollte er nun los? Freilich war er jünger, als man seine -Väter sich so denkt, drei-, vierundvierzig, und konnte noch bald -ebensoviel vor sich haben ... - -Georg war im weiten Bogen zum Ende der Lindenalleen gelangt und ertappte -sich in der Richtung zu Cordelias Hause. Auf die Uhr blickend, fand er, -daß sieben nahe bevorstand. Vielleicht war sie da, -- sie pflegte ja -allabendlich die Blumenstöcke zu gießen und den Vasenblumen frisches -Wasser zu geben. Und wenn sie nicht kam, -- konnte es nicht einmal ganz -schön sein, ohne sie in ihrem Duftkreis zu weilen? - -Alsbald, die stille Alleestraße zwischen Gärten und Landhäusern bergan -geschlendert, öffnete Georg das Gittertor und stieg den gewundenen Weg -hinan zum Hause, das nun ganz in einen Kranz von Dahlien eingefaßt war, -schwarzroten, eigelben, weißen und feuerfarbenen, alle Häupter übersät -mit metallblanken Tropfen. Unter der Vorhalle aber saß, ganz still und -so vertieft, daß er nichts umher sah noch hörte, ein kleines Buch vor -den Augen, Hesekiel. Auf Georgs Anruf kehrte er erschrocken in sich -selbst zurück, dienerte heftig und lief herbei, wehmutvollen Mundes, -aber heiterer Augen. Georg fragte, was er denn lese; er brachte das -Buch, ein Neues Testament. - -Ob er denn auch verstünde, was er lese. - -»Gnä Frau hat mirs angestrichen, was i lesen derf. Sehr schön is, sehr -schöne Sprüch.« - -Richtig fand Georg hier und da ein paar Zeilen, einen Absatz dick mit -Bleistift eingerahmt. »I solls auswendig lernen,« erklärte Hesekiel -diensteifrig, »sie hört mirs dann ab.« - -»Na dann sag mir doch auch mal einen Vers! Einen, den du gern hast, -- -oder vielleicht die gnädige Frau ...« - -Hesekiel zog die Stirn in Falten, schwer sich besinnend. »Es sind halt -so viele«, äußerte er bedenklich, fing aber im nächsten Augenblick an zu -sprechen und brachte stotternd, aber ganz richtig zusammen: - -»Unser keiner lebt ihm selber, und unser keiner stirbt ihm selber. Leben -wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn, -darum wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn, den Spruch hat gnä -Frau so schön gefunden.« - -»Sehr schön, Hesekiel!« Er lächelte mühselig. »Verstehst du's denn -auch?« - -»I woaß net so gnau. I denk mir schon was. Mir san katholisch, mir zwa«, -erklärte er plötzlich. - -»Ah, du und die gnädige Frau?« - -»Ja, mir san katholisch.« - -Georg wußte nun nichts mehr, gab dem armen Teufel sein Buch wieder und -ging ins Haus. - -Sanft grüßend empfing ihn das kleine Wohnzimmer, dämmrig, enger als -sonst. Georg trat ans Fenster, und ihm kam, da er jenseit des ums Haus -führenden Kiesweges große Sonnenblumen stehen sah, die Häupter gesenkt, -schwer von Regenperlen, -- wieder Magdas Brief ins Gedächtnis: er hatte -so in Tränen gestanden, so gebeugt in Wehmut um die Gestorbene. -- Georg -hatte ihr gesagt, unfähig falscher Gefühle zu scheinen vor ihr, daß ihm -keine Mutter gestorben war, und dies hatte ihren Schmerz fast vertieft. - -Unser keiner lebt ihm selber, und unser keiner stirbt ihm selber ... -Georg fand, daß er die ganze Stelle im Gedächtnis behalten hatte, so -hing eines im andern. -- Leben wir, so leben wir dem Herrn ... Auch in -diesen Worten war eine Erinnerung an Magdas sanfte Gestalt. -- Darum wir -leben oder sterben, so sind wir des Herrn. -- Es klang sehr tröstlich; -klang nach Händen, die nichts entgleiten lassen. - -Georg hatte Lust, ihren Brief zu beantworten; nicht zu beantworten, -- -was gäbe es zu antworten auf Schmerz? -- aber zu schreiben. Allein wie -anfangen? - -Jetzt, vor dem Sekretär sitzend, gewahrte Georg sich selber zur Linken -hinter dem bläulichen Glasschleier des Spiegels, ein wenig sonderbar -nicht nur durch die prunkvolle Umrahmung von Leisten und Gespiegeltem, -den Kerzen und der mattblauen Vase, die heute dort stand, den Rand -überhängt von gelben Rosenköpfen, sondern durch die Verschleierung vor -allem, die ihn sich selber wie in einem andern Zimmer erscheinen ließ, -dasitzend einsam, ohne Stunde, ohne Zeit, nicht vergehend. So einsam -also sieht man immer aus, wenn man allein ist, dachte er. Es war -beklemmend hinzusehn, er wollte sich schon wegwenden, entdeckte jedoch -nun in seinen, übrigens wie immer scheinenden Zügen etwas Neues, eine -kleine, neben dem linken Mundwinkel eingegrabene Falte, deren Herkunft -er nicht begriff, bis er, unbemerkt den Mund verziehend, spürte, daß -diese Mundbewegung etwas wie -- Verachtung ausdrückte. -- Dazu, sagte -er, entschlossen sich abwendend, scheint mir denn doch wenig Ursache. -- -Es sei denn Verachtung deiner selbst, fuhr eine andre Stimme in ihm -fort, die er indes überhörte, in Cordelias Schreibmappe nach Briefpapier -suchend. - -Er fand aber zuerst einen Brief mit seiner Adresse von ihrer Hand -darauf, schön, groß, rund, klar in Lateinschrift geschrieben, drehte ihn -herum -- er war offen --, dachte, es sei vermutlich solch einer, wie er -ab und zu bekommen hatte, sei's weil sie ihm einmal absagen mußte, sei's -aus keinem triftigeren Grunde als dem, ein Zeichen zu senden, einen -zärtlichen Gedanken, einen kleinen Vers, -- und richtig, als er den -Bogen erwartungsvoll herauszog und entfaltete, las er Verse: - - O komme, Geliebter, es freun sich die Fluren, - Der Storch und der Star und verwandte Naturen. - Weiß schimmern die Birken auf grünender Trift, - Da ich schreib in die Rinde mit brennendem Stift: - O komme, Geliebter, zu festlichen Stunden, - Wir wollen uns tränken, wir wollen uns munden! - - Die arme Seele. - -Nun da bin ich ja! freute sich Georg, aber wo bleibst du? -- Wie -lieblich sie das wieder zusammengeleimt hatte, gar nicht empfindsam, -klein und frisch wie ein Veilchenstrauß! Sie war ein Juwel. - -Aber er wollte doch an Magda schreiben, und damit ließ sich nicht -anfangen. Indem geriet ihm, als er mit einem verlorenen Blick hinter -sich die Bücherregale streifte, die im Eck neben dem Sofa -zusammenstießen, Irene in den Sinn, nach der Magda gefragt und die er -gestern wieder einmal mit einem Detektivroman im Arbeitskorb gefunden -hatte. Und im selben Augenblick hatte er eine so schöne Hohnrede über -sie, mit soviel aparten und glatten Wendungen im Kopf, daß er hastig ein -paar frische Bogen aus der Mappe fingerte, seinen Halter zog und zu -schreiben begann. - -Liebe Magda: - -Dies also, dies ist Irene Herzbruch! Dein Wunsch, von ihr zu hören, -umarmt den meinen, von ihr zu reden. Gut, fangen wir an, liefern wir -eine Beschreibung. - -Daß sie mit ihrem Mann vor ein paar Monaten ihre Langenhagener -Sommerwohnung bezogen hat, weißt Du, vermutlich auch, daß sie diese -Wohnung -- eine Photographie bekommst Du -- mit Herzbruchs Schwester, -Dora Vehm und deren Mann teilen. Nachdem ich dreimal ganze und halbe -Tage draußen gewesen bin, habe ich die Männer übrigens noch kaum zu -Gesicht bekommen. Dr. V. hat seine Praxis und Sprechstunden in der -Stadt, H. dito seinen Verlag. Dora Vehms erinnerst Du Dich vielleicht -von Irenens Hochzeit: prachtvoll anzusehn, mit dunkler Haut, schwarzem -Haar, schwarzen, glänzenden Augen und einer schönen, sicheren und freien -Haltung. Die Stimme manchmal etwas schrill, zum Beispiel, wenn sie sagt: -Nein, das ist ja rasend komisch! -- (N. b. daß sich doch alle Frauen im -gesellschaftlichen Umgang solche Übertriebenheitsworte angewöhnen -müssen, wie rasend, oder himmlisch oder reizend.) Diese tüchtige Frau -ist Urheberin einer Volksspeiseanstalt, wo Arbeiter und Frauen für 40 -oder 50 Pfennige ein nahrhaftes Mittagbrot bekommen, und diese Anstalt -leitet sie ganz allein, teilt sogar nicht unhäufig selber das Essen aus; -ferner ist sie Vorsitzende irgendeines Frauenvereins; ferner leitet sie -ihren Haushalt; ferner hat sie Freunde, denen sie lange Briefe schreibt; -ferner singt sie, und gar nicht schlecht; ferner geht sie in viele -Konzerte, Theater, Vorträge, Vorlesungen; ferner ist sie in der schönen -Literatur verblüffend bewandert, und auf ihrem Tisch liegen Knoop, -Kierkegaard, Hamsun und die Geschichte des Dr. Bürgers von Hans Carossa; -und schließlich hat sie zwei entzückende Kinder von drei und fünf -Jahren, Knaben und Mädchen, mit denen sie, ungelogen, niemals weniger -als eine volle Hälfte des Tages zusammen ist. Da soll einer sich ein -Beispiel nehmen. Und nicht etwa, daß dieses Ganze ein verfitzter -Rattenkönig oder Schlangenballen wäre, aus dem all diese -unterschiedlichen Verrichtungen mal dieses mal jenes Haupt züngelten, um -was zu verschlucken, sondern ohne Unrast, ohne Fahrigkeit, auf einer -einzigen, sanft und ebenen Linie rollt ein solcher Tageslauf einer -solchen Frau ab, sie ist heiter, gelassen und fröhlich, und hat immer, -immer noch für ein Dreizehntes Zeit in der zwölften Stunde. - -Ach so, ich wollte von Irene schreiben. Du merkst, daß ich diese Frau -anbete und verehre. Von dem Denkmal, das ich ihr in meinem Herzen -gesetzt habe, war dies eben ein freilich sehr kümmerlicher Abdruck. Ein -Hurra allen wackeren Frauen, würde Bernhard Kellermann sagen. Also nun -Irene. - -Als ich das erstemal zu ihr kam, -- ja, also das Haus siehst du sehr -schön auf einem Hügel liegen, der von der Chaussee langsam flach -ansteigt: zu unterst sind Gemüsefelder, dann kommt ein Blumengarten -- -alles noch neu und sehr spärlich, zumal um diese Jahreszeit, dann Wiesen -mit dem Haus in der Mitte; die rückwärtige Seite ist mit der >Hecke< -bewachsen, wie man das hier nennt, das heißt also Buschwerk und -Unterholz, Haselstauden, Eschen, Weiden, auch Tannengestrüpp, ein wahres -Dickicht, Wassertümpel und zuletzt ein kleiner, abgenutzter Steinbruch. -Ja, also da fand ich Irene, ihrer Stimme folgend, die von weither -gellend hörbar war: Sie! Sie haben ja ihren Fusel noch dick in den -Augen! Was Sie sind? Sie sind weiter gar nichts als ein besoffenes -Schwein, wissen Sie das? Gehn Sie mal nach Hause und schlafen Ihren -Rausch aus -- und so weiter. Ja, da stand sie breitbeinig im Bohnenbeet, -einen Spaten schwingend, aber der so beschimpfte Gärtner war wirklich -äußerst betrunken und gerade dabei, tätlich zu werden. Ein andermal fand -ich sie mittags auf dem Rasen im Dickicht mit einem Roman von -Skowronnek. Und das drittemal trug sie mit der Forke von einem kleinen -Handwagen den Kompost und verteilte ihn über die Melonenbeete. - -Dies wäre Irene? Freilich, freilich! Und was wäre viel dagegen zu sagen, -wenn nicht -- ja, wie soll ich das beschreiben? - -Sieh mal, wenn die Frau eines Rittergutspächters, dessen Dasein reineweg -von seinen Äckern, Beeten und Ställen abhängt, sich so gehabte, da wäre -das trefflich, obzwar auch dann noch zu fragen wäre, ob hierzu der Weg -über ein Kloster vonnöten gewesen wäre. Was ist alte, älteste männliche -Forderung an eine Frau? Daß sie das Notwendige mit Anmut tue. Was heißt -Anmut? Eben jene Leichtigkeit und Gelassenheit der Gebärde, jene -Unscheinbarkeit, ja Unsichtbarkeit des Tuns, jenes Darüberschwebende des -Ganges, so daß von allem Kräfteaufwand nichts eigentlich vor andern -Augen erscheint, als der Überschuß und die Freiheit zu andern Dingen, -eben jene Anmut Dora Vehms, welche genau die des Trapezkünstlers ist, -der nach jeder Vorführung, ein Lächeln auf den Lippen und mit -ausgebreiteten Armen vortänzelnd, dem Zuschauer vorzuspiegeln hat, daß -seine Leistung Kinderspiel sei, abgetan zwischen zwei kleinen Atemzügen. -Sie aber geht in diesen Dingen bis zur Selbstvernichtung auf. Wenn sie -morgens früh um fünfe ihre Hühner füttern muß, so schläft sie natürlich -Glock neune ein. All dies, um im Winter selbst eingeweckten Spargel und -selber eingekochtes Pflaumenmus essen zu können. »Und das Ganze«, hören -wir meinen Vater sagen, »ist denn wie an die Wand --, usw.« Langsam -umnachtet sich ihr Geist. Bücher liest sie keine, außer den oben -angezeigten. Für derbe Worte und Redensarten hatte sie immer eine -Vorliebe; Rhinozeros ist ihr Lieblingswort, das sie ja freilich am -fröhlichsten an sich selber verschwendet. Siehe sie dastehn: in einem -lachsfarbenen Morgenrock, Rüschen an Hals und Ärmeln wie immer, mit -ihren sanft und länglich gerundeten Hüften -- noch sind sie's -- tausend -goldne Lockenwirbel ums krebsrote Gesicht, indem sie sich mit dem -Zeigefinger vor die Stirn tippt und sagt: Ich Rhinozeros! - -Schließlich weiß man ja nicht, wie lange sie's treiben wird. Ferner ist -auch die Abwesenheit ihres Mannes in Erwägung zu ziehn, aber wiederum -- -die sozialwissenschaftliche Hauptabteilung seines Verlags, und die neue -Zeitschrift gleichen Charakters, die er jetzt zu gründen im Begriff ist, -könnten ihr genug Gelegenheit bieten, mit ihm zusammen ein gemeinsames -Leben ernster und würdiger, wirkender und fortwirkender Tätigkeit zu -führen, anstatt daß sie sich Sommers abrackert, um Winters essen zu -können. Sauwohl fühlte sie sich, sagt sie, und überhaupt sei dies die -wahre Bestimmung des Menschen, zu essen und zu trinken und dafür zu -sorgen, daß man zu essen und zu trinken habe. Ihre Geige, wenn du danach -fragen solltest, ist seit Monaten vergessen. Gewiß: Bau und Einrichtung -von Haus und Garten mußte sie so ziemlich allein bewerkstelligen, und es -ist ja auch reizend geworden, aber wozu? Sie wohnt ja nicht, sie hat ja -immer bloß zu tun. Ihre Kleider sind entzückend, sie macht sie selbst, -Renate auch, aber ich habe Renate nie am Schneidertisch gesehn. - -Ja, wären nicht die Kinder -- du weißt, ich liebe Kinder -- und Dora -Vehm, so würde ich diesen Verkehr vermutlich aufgeben. Manchmal ist ja -auch H. abends anwesend, und auch der Doktor ist ein feiner, freilich -sehr stiller, in sich gekehrter Mensch, aber da braucht man nur -irgendeine Sache unterm Himmel zu berühren, so giebt es ein schönes, -ernstes Gespräch, man fühlt einen feinen Keim in die Brust fallen, und -die Stunde war nicht umsonst. - -Ehrlich, Magda: Im Gastbuch unseres Korps fand ich die folgenden, -sonderbaren Verse meines Papas, soviel ich weiß die einzigen, die er je -gemacht hat, frei nach Storm: - - Habe niemals eine Meinung! - Innerstes bleibt stets verborgen. - Was am Nachbarn du bedauerst, - Tust du heute, tust du morgen. - -So würde ich mir auch nicht diese Meinungsäußerung über die gute Irene -erlaubt haben, wenn ich nicht selber während der Trassenberger Monate -ernstlich an mir selber gefeilt und mich besonnen hätte, was ich war, -und wer ich sein soll. Ich habe auch ganz tüchtig gearbeitet, denn das -abgebrochene Altenrepener Semester drückte kräftig genug, und wenn auch -Greifbares nur wenig dabei herausgekommen sein mag -- ein Überblick, -flüchtig genug, über das gesamte, über dies ungeheuerlich horrende -Besitz- und Arbeitsfeld Papas -- so habe ich doch Arbeitslust und -Zukunftseifer in reichlichem Maße davongetragen. Froh bin ich dabei -- -darf ich das einmal sagen? -- daß Du, immer Gütige und Verstehende, -meinem Wege treu geblieben bist, und mit mir hoffst, und mit mir -vertraust. Denn das tust Du doch, nicht wahr? Deine Briefe taten mir so -wohl! Wirst Du nicht bald einmal wieder nach A. kommen, damit ich Dich -singen hören kann? Oder ist die Stimme noch immer nicht so weit? Nein, -nein, rede mir Du in deiner Bescheidenheit das nicht aus: Dein Gesang -ist besser als Irenens Einmachegläser. Weiland Josef Montfort schenkte -mir einmal -- der Großmütige! -- ein Wort; es ist von Salomo und lautet: -Erhalte dir dein Herz, denn aus ihm kommt das Leben. Aus dem Herzen -kommt Deine Stimme, aus einem allwissenden Herzen, Magda, ich muß es -sagen, und ist Leben und muß Leben wirken. - -Irene hat ihr Herz eingeweckt; möge sie sich im Winter ihres -Mißvergnügens daran laben. -- - -Georg hielt inne. Der Nachsatz, fand er, hatte den Abschluß verdorben; -nun konnte er so nicht enden, und ein Übergang war schwer zu finden. -Auch schien ihm noch etwas zu fehlen, ja, die Hauptsache war mit den -wenigen Worten gegen Ende doch noch nicht ausgesagt, sein dankbares -Gefühl für sie und ... - -Er stand auf, trat ans Fenster, merkte, daß der Regen stärker -niederrauschte, und schloß es. Sogleich dämpfte sich der Lärm, aber -Georg gewahrte auch, daß es dunkler geworden war mittlerweil, er mußte -zum Ende kommen. Da verschleierte sich der Raum langsam vor seinen -Augen, er sah noch vom Sofatisch her etwas Rotes dunkel glimmen, das -Rubinglas, das er einmal mitgebracht hatte. Es quoll undeutlich in ihm, -er sah wieder den für Magda bestimmten Brief liegen, setzte sich davor -und schrieb: - -Ich mußte eben die Feder hinlegen und lange am Fenster stehn. Es ist -dämmrig, der Regen schlägt an die Scheiben. Esthers Volière fand ich bei -Irene, wo ist Esther? -- Wie sind wir Alle auseinander gewirbelt! Daß -wir immer wohl dies und jenes unternehmen können, aber halten läßt sich -nichts davon. Wer hielte sein eigenes Herz, geschweige denn fremde? -Unwiderstehlich angezogen treiben wir zu immer neuen Wirbeln hin, und -schaurig ist, daß, was am wildesten glühte, am eiligsten erkaltet. -Ferne, liebe Freundin, ich weiß nichts von Dir, aber wie den guten, -immer gleichen Benno hier -- natürlich vergaß ich den Allzubescheidenen -zu nennen, als ich eben die Hiergebliebenen zählte -- so sehe ich Dich -dort: ein Bleibendes im Getümmel, eine sanfte Säule im Kreisen, einen -immer steten, leisen, aber in jeder Stille um so geheimnisvoller -vernehmbaren Ton, und ich denke: tausend Saiten des aufgeregten Daseins -schwirren und rasseln ihr verworrenes und bezauberndes Spiel: eine Saite -ruht immer und tönt tagein, tagaus, jahrein, jahraus immer den gleichen, -himmlisch einfachen, und o so tröstlichen Klang! - - In Dankbarkeit der Deine - -Im Begriffe, seinen Namen zu schreiben, hielt Georg ein. -- Was ist denn -das? sagt er schwer aufatmend, was hast du denn da gemacht? Du hast ja -gelogen. An sie hast du nicht gedacht, sondern hast Cordelia empfunden, -und das Gefühl nur ein wenig umgewandelt, daß es paßte ... - -Aber wenn es paßt, mußte er sich widerlegen, so hats doch seine -Gültigkeit irgendwie. Eben war es so, daß ich nicht an Magda denken -konnte, wenn ich es aber wirklich tue, ernstlich, so empfinde ich auch, -wie ich schrieb, und -- ja, und das vor allem wars, was ich empfand: sie -wird immer bleiben, immer -- - -Und Cordelia? Ist es denkbar, je ohne sie zu sein? - -Jetzt höre ich auf zu denken für mindestens drei Stunden, dachte er -ärgerlich lachend, unterschrieb, faltete und schloß den Brief in einen -Umschlag, den er adressierte, worauf er sich erhob, um in der Sofaecke -nun ganz die Dämmerung zu genießen und die Erinnerung an die -Zärtlichste, die Einzige ... - -Im Niederlassen jedoch merkte er, daß er sich auf etwas Hartes, -Buchartiges setzte, und zog unter sich ein großes Heft im Aktenformat -mit blauen Pappdeckeln hervor, schlug es auf und las im Zwielicht das -groß und geschwungen -- als Titel -- von Cordelias Hand geschriebene -Wort: Theodosis; darunter, kleiner: Tragödie. - -War das eine Rolle? Er hatte noch nie den Namen gehört. Auch schien ihm -jetzt, als er das Blatt umschlug und Verse fand, die Handschrift -Cordelias anders als jetzt, nicht so ausgeschrieben, jugendlicher; und -schon im Begriffe, das oben stehende Personenverzeichnis zu lesen -- -Pelagios, Thespesios hatte er schon erhascht -- hielt er sich zurück, -von einer Art Duft oder Hauch berührt, der ihm Einhalt bot; schlug das -Heft wieder zu und legte es auf den Tisch. - -Und dann hörte er deutlich durch das Regengeräusch das Nahen eines -Automobils; es ward lauter, kam ganz nahe und verstummte dann. Das mußte -sie sein. Georg war im Nu durchs Zimmers, die Treppe hinunter, trat -unter die Säulen vor der Tür, als sie eben den Weg heraufkam, ohne Hut, -im grünen Regenmantel, und hielt sie im nächsten Augenblick in den -Armen. - -Im Zimmer oben zog er sie eifrig zum Sofa, als sie das Heft bemerkte und --- zum erstenmal glaubte er diese Bewegung zu sehn -- die Augen -feindlich zusammenzog. -- »Hast des gfunden?« fragte sie. - -»Es lag in der Sofaecke. Sollt ichs nicht sehn?« - -»Warum net gar? Die alte Sach.« Damit hatte sie's aufgenommen, ging zum -Kastenschrank, zog unten eine Lade auf und legte es hinein. Im -Zuschieben mit Händen und Knien schien sie sich zu verlieren, richtete -sich langsam wieder auf und trat an das Fenster. - -Erinnerungen, dachte Georg; sie ist traurig geworden. -- Nein, diesmal -will ich nicht, wie man immer tut, Zartgefühl nur durch Schweigen -beweisen. Erinnerung will gelöst sein, nicht zerdrückt -- und er ging -leise zu ihr, zog sie an sich und fragte behutsam, über ihr Haar -streichelnd: »Warum hast du's fortgelegt?« -- Sie schwieg. Wie ihr Haar -duftete! Sie atmete stark. - -»Möchtest du mirs nicht vorlesen?« fragte er wieder, da er ein leises -Nachgeben in ihren Schultern zu spüren meinte. »Oder spielen?« setzte -er, noch leiser, hinzu. - -Eine lange Weile blieb sie still. Dann, heftiger atmend, fragte sie -weich: »Woher weißt denn, daß ich spielen kann?« - -Nun hielt ers für das beste, zu schweigen. Immer tiefer und schwerer -wogte ihre Brust. - -»Möchtest du's denn gern?« flüsterte sie kaum hörbar und räusperte sich. --- Er drückte sie an sich. »Wart ein Weilchen«, sagte sie schnell, -drückte sich um ihn herum, lief durchs Zimmer und verschwand. - -Es war ganz dunkel geworden. Georg, am Fenster stehend, dachte: Ich -sollte nie fragen! sagte sie im Anfang -- und nun kommt es doch, ganz -von selber. So ist es im Leben. Eine wirkliche Elsa hätte auch nicht -geradezu gefragt: Wer bist du? Wo kommst du her? -- Eines Tages hätte es -sich von selber ergeben, und dann wäre es auch vermutlich nicht halb so -schlimm gewesen, wie der Lohengrin ankündigte ... - -Er mußte jedoch lange warten, bis sie wieder kam. Still und ernst, auf -unhörbaren Füßen erschien sie im dunklen Raum, dunkel selber im Haar und -dem schweren, schwarzen Mantel; nur ihr Gesicht schimmerte sehr weiß. - -»Setz dich ins Sofa«, bat sie, und er tats. Sie blieb vor dem -Kastenschrank stehn, legte still eine Hand in die andre und sprach, das -Gesicht zum Fenster gewandt, erst nach langer Zeit: - -»Theodosis war eine arme Seele. Sie war stumm geboren und blind. Dennoch -fand sich ein Mensch, der sie liebte, dem sie vermählt wurde, und der -von einem Nebenbuhler erschlagen ward in der selben Nacht. Nun kommt ihr -alter Lehrer Thespesios, der sie als Kind lehrte, den Druck seiner -Finger in ihrer Hand zu verstehn und zu erwidern, und sagt ihr, was -geschehn ist. Der Schrecken durchbrennt sie, sie lodert auf, sie kann -sprechen.« - -Cordelia schwieg. Georg, in seltsam tiefer Erregung, da er ihre Stimme -noch nie so gehört hatte, so tief und tönend, so voll aufkeimender -Musik, sah ihre Augen durch den Raum wandern, mit fernem Blick, -unsäglich ernst, bis zu ihm, doch sah sie ihn nicht an. - -Auf einmal glitt von ihren Schultern der Mantel -- ihr Leib glänzte fast -metallisch auf in der Dunkelheit --, glitt bis zu den Hüften, wo ihre -linke Hand ihn hielt; die Rechte streckte sich ein wenig vor, steif, als -würde sie von einer andern gefaßt. Sie hielt den Kopf lauschend -vorgesenkt; dann entflog irgendwo ein gurgelnder Laut: »Weh über mich!« - -Die Rechte noch in derselben Haltung, fuhr die Linke zum Munde, in ihrem -Blick war Entsetzen, der Mantel war am Boden, aber jetzt -- kaum daß -Georg noch Worte vernahm, so flutete eine maßlose Stimme durch den Raum, -wie ein Engel in tosenden Flügeln -- - - »Mein Mund! was ist mit meinem Mund? er brennt! - Wehe, ich brenne! eine Flamme schlug - Aus meinem Mund, und alles steht in Brand. - Was ist? ich höre eine schreckliche - Entstellte Stimme. Meine Stimme ists! - Ich konnte sie nicht halten ...« - -Sie war still: sie stand noch immer wie zuerst. Georg bebte am ganzen -Leib. Diese nie gekannte Stimme! Diese singende Kraft, diese -schwelgrische, üppige Musik, und Verse, die sie schwang wie Fackeln und -Dolche, lodernd, triumphierend, in seine Brust. Und nun -- nur die Arme -ein wenig zu einer hülflosen Gebärde des Umarmens ausgestreckt, tiefer -gebeugten Leibes -- sang sie weiter: - - »O Stein an meinem Mund, o kalte Säule! - O Mund, ich schließe dich an diesen Stein, - So stumm warst du, so eisig diese Nacht, - Da über dir ein andrer Mund verglühte, - In dich hineindrang, aber du warst Stein ...« - -Sie warf die Hände empor und rückwärts zum Genick, empor das Gesicht: - - »Nun schrei, zerborstner Stein, nun gell es aus, - Daß ich nur höre diese grauenvolle, - Verworfne Stimme, die nur ward zum Schrei - Erschaffen, nur zum Schrei!« - -Wieder vornüber sinkend, faltete sie die Hände in der Höhe der Brust, -sie wand sich zart, Georg sah jetzt ihr Gesicht, entfremdet, die Augen -geschlossen, schmal geworden; sie lächelte Gram: - - »O meine Kindheit! - O meine Sehnsucht, süß und schmerzenvoll! - Da alle Welt voll Lieder war und klang, - Wie tönte jedes Ding, wie sprach von Liebe - Das kleinste auch, dran meine Hände rührten, - Du Becher, draus ich trank, du Ring, du Vase, - Glücklich beredt, und lächelte mich an, - Daß ich euch liebte tief aus meinen Schmerzen. - Dann manchmal schiens, als sei doch einmal alles - Verstummt, und kein Geräusch als in den letzten, - Versteinerten Tiefen, dunkel in mir murmelnd, - Die Stimme, meine Stimme, die vergrabne, - Arbeitende ... Ich konnte ihr nicht helfen.« - -War das denn Spiel? Übermannte sie jetzt wirklicher Schmerz? Aber da -wich schon die Qual, sie lächelte wieder, doch fielen die Hände -auseinander, fielen ab, unwissend geschlossen bis zu ihren Schenkeln, wo -sie haften blieben, und sie stand nun, eine hülflos gekrümmte Figur ... - - »Wie sollte sie - Einst süßer tönen! ach, wie sollte sie - Liebkosen! all die stummen Herzen sollten - Von ihr gestillt und fröhlich sein. Es würden - Die alten, göttlichen, unsichtbaren Flügel - An ihren Schultern wieder sichtbar werden, - In Himmel tragen, die entgegenschweben ...« - -Ihre Stimme, zu innigster Innigkeit versüßt, verhauchte im Geflüster der -brünstigsten Sehnsucht: - - »Ich wollte ihnen dienen. O in Schauern - Sollten sie stehn und horchen: Hört, es klingt - Die Erde, ja die Erde klingt, die alte. - Alles wird klingen, alles ist voll Liebe, - Wir Menschen sind geliebt, wir sind geliebt, - Denn eine Blinde baut uns goldne Brücken, - Denn eine Stimme kam, um uns zu dienen ...« - -Mein Gott, sie sprach ja von sich selbst! Das war ja sie, sie, und -stockte nun, besann sich, sagte stumpf: »Nun schreit sie bloß!« und flog -plötzlich in ihren Armen empor in den Raum, stand langausgestreckt nach -oben, schmerzausjauchzend wie eine knatternde Flamme: - - »Ach, was aus mir - Jetzt Worte schleudert, nennt ihr Sprache, ach, - Nur meine Stummheit ists, die reden lernte - Und alles überschreit! O daß ich sänge! - Eindränge in die Seelen mit Gefühl, - Die Namen stammelnd, Namen, blühend, Kinder, - Im Welken Himmlische, und Worte, Worte ...« - -War es denn zu Ende? Georg wagte nicht, sich zu bewegen. Sie stand immer -noch wie zuletzt, die Augen geschlossen. Dann schien sie zu wanken. -Georg sprang auf und kam eben rechtzeitig, sie aufzufangen. Sie fiel -abgebrochen gegen ihn wie eine Säule. Er fühlte sie schweißbedeckt und -eiskalt am ganzen Leib, aber sie war nicht ohnmächtig, sie zitterte, er -raffte den Mantel vom Boden, selber zitternd, und hüllte sie hinein, -während Gedanken in ihm schwirrten wie Funken. Sie an sich drückend, -flüsterte er stumm: »Ich weiß ja, ich weiß ja nun alles. Ärmste, du hast -nie spielen dürfen, was du konntest, du hattest -- ach, was weiß ich, -wie es war, aber nun ... Komm,« sagte er sanft, »komm, leg dich hin, -komm, es ist ja nun gut! ich weiß ja nun ...« - -Da horchte sie auf. »Was weißt du nun?« hauchte sie. - -»Ach -- alles; was dir fehlt, wer du bist. Aber das hat nun ein Ende. -Ich kann ja alles für dich tun, ich --« - -»Was willst du tun?« fragte sie, seltsam schmelzend und ergeben. - -»Ach ... Du weißt doch: das Theater ist doch nichts ohne meinen Vater, -und ich selber ... man hat doch alles für Geld. O die Schurken, nun weiß -ich alles! Was soll ich tun, Herz? Soll ich morgen zum Intendanten gehn? -Willst du hier bleiben? Willst du nach Berlin? Sag doch, Herz, du -bekommst ja!« - -»Zum -- -- In--ten--danten?« sagte sie vergehend. Ihm schmolz das Herz -in der Brust. Mein Gott, warum hatte sie denn nur geschwiegen, immer -geschwiegen! - -Da merkte er, daß sie weinte. Und dann war sie auch schon in ein -Schluchzen ausgebrochen, daß ihm das Herz stillstand vor Grauen. Sie -schüttelte sich minutenlang wie ein rasendes Tier, dann brüllte es aus -ihr heraus, sie fiel vornüber so schwer, daß sie ihn mitriß, er mußte -knien, um sie zu halten, sie lag halb am Boden, er richtete sie auf, sie -wimmerte, er sah ihr Gesicht, aus den geschlossenen Lidern schossen -stromweis die Tränen, während der Mund sich verzerrte, und sie fiel -wieder um, er richtete sie mit Mühe auf, sie fiel ihm über den andern -Arm, lag am Boden, schluchzte, schluchzte, schluchzte, sie schüttete -Schmerz aus, wimmernd aus keuchender Brust, als würden eiserne Stücke in -ihr zerbrochen, und es nahm kein Ende. - -Georg konnte nur noch neben ihr sitzen und ihre Hand festhalten, selber -wie erfroren vor Mitgefühl, bis der Ausbruch langsam zu erlöschen -begann, das Weinen leiser wurde, das furchtbare Zittern aufhörte; bis er -es dann wagte, sie aufzurichten und zum Sofa zu führen, wo sie sich -hinbetten ließ und dann still wurde. Er trocknete ihr geschwollenes -Gesicht, die immer noch fließenden Augen mit seinem Tuch, doch nahm sie -es nun fort, schob sich ein wenig höher in den Kissen, öffnete die Augen -und sah ihn an. Ihren Blick -- dunkel, kaum sichtbar im Dunkeln, da sein -Schatten noch über ihr lag -- verstand er nicht, auch schloß sie die -Lider bald, lag still und sagte leise: - -»Weißt du, Georg -- wir wollen noch ein wenig warten ...« - -»Ach, nun wieder warten!« - -»Ja, Georg. Sieh mal: -- -- es ist doch nun alles anders geworden, als -ich dachte. Ich muß mich ja nun ganz -- herumdrehn. Ich -- ich möchte -aber nicht, daß du in -- in dies hineingerätst, was ich jetzt bin.« Sie -sah ihn nun wieder an und schien zu lächeln. »Sein Stolz hat halt a -jeds. Ich möcht auch schon net hier bleiben, wenns einmal anders werden -soll. Da mach ich erst hier ein End, und dann -- in Berlin -- da bin ich -ganz frei, da hast mich dann ganz für dich und kannst mit mir machen. -Möchtst das net? Georg?« - -Georg wand sich und war gar nicht einverstanden. - -»Na, Georg, du mußt das doch einsehn! I kann doch net so auf einmal! -Sagn mir halt: Berlin. Is recht, Georg?« - -Georg gab nach für den Augenblick. Es ist ja noch ein Monat Zeit, -einerseits -- und vielleicht hat sie ja auch recht. Wenn schon überhaupt -anfangen, dann ganz oben, dachte er, küßte sie dann zärtlich und ließ -sich von ihr das Haar glätten. - -»Aber Cordelia,« mußte er nun gestehn, »was kannst du alles! Es ist ja -unerhört!« - -»Ich kann schon was«, meinte sie mütterlich. »Und dann für dich ...« - -»Wie du nur dastandest! Hast du wirklich die ganze Zeit mit -geschlossenen Füßen gestanden? Alles mit den Armen gemacht und mit der -Stimme? Kind, was hast du für eine Stimme!« - -Sie lächelte sanft, schloß die Augen, seufzte und streckte sich aus. - -»So ist gut, Georg. So liegen ist gut. Und nimmer viel reden, weißt! Ich -ruh mich ein wenig. Wir haben ja noch die ganze Nacht.« - -Die ganze Nacht ... Er deckte sie sorgfältig mit dem Mantel zu bis ans -Kinn, tastete nach ihrer Hand darunter und hielt sie. Ein wenig wandte -sich ihr Gesicht herüber. Sie lag still. Und so saß er bei ihr, -glücklich, dankbar, gut sein zu dürfen, hülfreich. Der Herbstregen -schlug schwer gegen die Scheiben. Er hörte den Gang der Pendeluhr durch -das Geräusch der Wassers, langsam, seelenruhig, und sein Innres ebnete -sich, hinschwellend durch die immer sanftere Stunde, der verhangenen -Ebene gleich, zu den zaubrischen Wäldern der Zukunft. - - - Wiederkunft - -Renate, mit Saint-Georges und Magda, die vor ihrer Rückkehr nach Berlin -noch einige Zeit bei ihr bleiben wollte, aus Helenenruh heimgekehrt, -suchte ihr Zimmer auf, um sich umzukleiden. - -Die Fenster im Wohnzimmer standen weit offen; es war wie im Freien, der -Septembernachmittag drinnen wie draußen leicht, bläulich und -durchgoldet. Auf ihrem Schreibtisch fand Renate eine kleine Druckschrift --- Feruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst -- aus der -ein kleiner Zettel fiel; von Ulrikas Hand stand darauf gekritzelt: Ich -bin in der Kapelle. Bogner sitzt im Garten. - -Das Mädchen trug mit dem Chauffeur Koffer und Hutschachteln herein. -Renate legte Jacke und Hut ab, auf einmal ein wenig wehmütig, ohne -erkennen zu können, weshalb. Ob es schon die Luft des Hauses war, die -sie wieder bedrängte? -- Sie trat ans Fenster und vergaß für Augenblicke -die trübe Wallung über dem Anblick weißer, goldiger Wolkenstreifen im -Blau über den noch schweren und dichtgrünen Massen der Gartenbäume. - -Und siehe da: Bogner saß -- natürlich drehte er ihr den Rücken zu! -- -auf einem Feldstühlchen vor einem roten Busch, ein großes Skizzenbuch -auf den Knien, aber die rechte Hand, die Renate sichtbar war, lag völlig -still; er betrachtete nur. - -Und dort zur Linken -- ja, da saß der Onkel, nicht anders scheinend als -ein friedlicher Patriarch, kahlhäuptig und weißbärtig, auf der weißen -Bank in der Grotte von Buschwerk, neben der ein Birkenbaum, goldgelb im -Laub, leichte Wache hielt, vor sich den Rasenplatz. Gedämpft aus der -Kapelle ward die Orgel hörbar -- alles war wie zuvor, nicht leichter, -nicht schwerer, aber -- da es wieder neu war -- schwerer ließ es sich -auch wieder an. - -Renate ging ins Schlafzimmer, zog eilig Rock und Bluse aus, wusch sich -im Badezimmer, legte dunkelblaue Seidenstrümpfe, die ihr grad in die -Finger gerieten, an, kleine blaue Schuh und irgendein weißes Kleid, -locker und schlicht von oben bis unten, beim Zuhaken bemerkend, daß es -einen hohen, anschließenden Kragen hatte, mit kleiner Rüsche, in -Wellenform geschweift unter Kinn und Ohren. Als sie ihre Schatztruhe -öffnete, überkam sie Erinnerung. Der freie Raum darin, den die -aufgeschichteten Lederkästen ließen, war angefüllt mit dem bunten, -glitzernden Gewirr des Alltagschmucks; sie griff hinein und zog ein -Bündel langer Ketten heraus in allen Farben, blaugrün, rosenfarben, -weiß, gelb und gelbgrün; ein mattgoldner Armreif fiel zurück, und sie -ließ das Ganze wieder sinken, legte die Hand auf einen der Kästen und -dachte an ihr erstes Halbjahr im Hause, wo der Onkel und Josef -allwöchentlich gewetteifert hatten in Geschenken, die dann sie, immer -eines bis zum nächsten, tragen mußte, abwechselnd einen Tag um den -andern. Kleine Verse hatten sie dazu gemacht -- - - Eine Chatelaine -- - Perlen nennt man Tränen. - Tränen sind aus Salz -- - Schling sie um den Hals. - -Ihre Augen verschleierten sich; sie löste eine lange Kette von -fingernagelgroßen, länglichen Perlen aus Lapislazuli, hartblau mit -goldenen Spuren, aus den übrigen, legte sie über den Nacken und ließ sie -vorn bis zum Schoß herunter fallen. So ging sie, Ulrikas Heft an sich -nehmend, hinunter. - -In der Halle jedoch hielt ihr lebensgroßes Spiegelbild sie auf. -- Wie -seh ich denn aus? fragte sie sich erstaunt, ich bin ja ganz fremd -geworden! -- Aus dem weißen Kleidhals mit der blauen Kette stieg ihr -Gesicht, fast so braun wie ihr Haar; die Wangen glühten röter als sonst, -auch der Mund, und die Augen, tiefer liegend, schienen in dunklerem -Feuer zu stehn. Plötzlich fühlte sie sich so angeprahlt von den eigenen -Farben und Gluten, daß ihr das Blut in die Wangen schoß und sie sich -abwandte. -- Wofür denn nun all das, wofür? Was soll denn ich damit, und -ich brauchte es ebensowenig mehr zu tragen wie den Schmuckberg da oben, -der bald zwei Jahre im Finstern liegt. -- - -Überdem fiel ein Schatten von draußen herein, der Onkel erschien in der -Tür. Auch seine Stirn, die kahle, schöngewölbte, war gebräunt, die -heitern Augen hatten keinen Blick, fast verhangen vom Weiß des Bartes. -Seltsam hoch und spitz -- fast wie bei einem heiligen Antonius eines -alten Bildes -- war sein kahler Kopf. -- So ging er vorüber und hinaus. -Die Hände gefaltet sah Renate ihm nach. - -Eine Weile später stand sie ein paar Schritt hinter Bogner. Auf dem -Blatt war ein Durcheinander, von allen vier Rändern ins Weiße -gezeichnet, Blätter, Zweige, ganze Stücke des Busches, einzelne Blätter -haargenau, ihre Drehung, Schattung, Glanz und Zahnung, Ansatz am -Stengel, Verknotung im Ast, alles hundertmal lebendiger geworden im -Durchgang durch seine Augen, als die Augen Renates es am wirklichen -Gewächs wahrnehmen konnten. -- Ach, hier war Leben, hier wars! -- - -Leise ging sie wieder davon, setzte sich auf die Bank, auf der sie zuvor -ihren Onkel gesehn hatte, und versuchte, sich in die Zeit der -Friedliebenden Gesellschaft zurückzuversetzen, indem sie nicht zu Ulrika -ging, da die Zeit zur Begrüßung von selber herankommen würde. Sie -öffnete die Druckschrift, sah zu Bogner hinüber, sah empor und erblickte -das Gesicht von Saint-Georges' Bruder zart und rosig an seinem Fenster, -nickte ihm zu und winkte. Er, tief errötend wie stets, sprach ins Zimmer -hinein, und gleich darauf erschienen Magdas Gesicht und -schwarzbekleidete Schultern, die nickte und lächelte, dann auch -Saint-Georges. -- Sie zogen sich wieder zurück. Renate blätterte zum -Anfang des Buches, hier und da einen Blick hinein stechend, blieb haften -mit einem und las: - ->Und was kann schließlich die Darstellung eines kleinen Vorgangs auf -Erden, der Bericht über einen ärgerlichen Nachbar -- gleichviel ob in -der angrenzenden Stube oder im angrenzenden Weltteile -- mit jener -Musik, die durch das Weltall zieht, gemeinsam haben?< - -Hineinsinnend in das königliche Wort hob Renate die Augen. Auf der -Veranda stand Magda, schmal, im hängenden schwarzen Kleid, aber schön -bräunlich von Antlitz. Bogner hatte wohl ein Geräusch gehört, drehte -sich um, sah Magda, winkte ihr zu und erhob sich. Bogner war braun wie -ein Affe, an den seine Augenhöhlen jetzt mehr als früher erinnerten; -hier war Einer immer brauner als der Andre. Jetzt entdeckte er auch -Renate, lächelte, warf sein Buch zu einigen andern in den Rasen, kam und -streckte ihr die Hand hin. Sie möchte nur entschuldigen, er säße schon -ein paar Wochen jeden Tag hier und studierte, ja, er wollte nun die -ganze Friedliebende Gesellschaft malen, ein bei ein, sechs Meter lang, -fünf Meter hoch. Nein, sitzen brauche ihm niemand, antwortete er auf -Renates Frage, wäre alles schon fertig von damals her. - -Indem kam Ulrika von der Kapelle her, gelbweiß gekleidet, und war -richtig auch so braun wie ein Mulatte, nein, eher kupfern, und sie sagte -gleich tief beschämt, ihr Haar sei nun glücklich übergeflossen. Das Heft -auf der Bank neben Renate entdeckend, raffte sie's auf und sagte, sie -müßte Renate eine Stelle vorlesen. Während sie noch suchte, kamen Magda -und Saint-Georges, es gab ein langes Händegeschüttel, dann hatte Ulrika -gefunden und las: - -»>Wohl ist es der Musik gegeben, die menschlichen Gemütszustände -schwingen zu lassen: Angst, Beklemmung, Erstarkung, Weichheit, -Aufregung, das Überraschende< und so weiter --« sagte Ulrika -- »>ebenso -den inneren Widerklang äußerer Ereignisse, die in jenen Gemütsstimmungen -enthalten sind. Nicht aber den Beweggrund jener Seelenregungen< -- und -so weiter! Nun: >Ebenso vergeblich ist es, moralische Eigenschaften, -Eitelkeit, Klugheit in Töne umzusetzen, oder gar abstrakte Begriffe wie -Wahrheit und Gerechtigkeit ... Könnte man denken, wie ein armer, doch -zufriedener Mensch in Musik wiederzugeben wäre? Die Zufriedenheit, der -seelische Teil, kann zu Musik werden; wo bleibt aber die Armut, das -ethische Problem, das hier wichtig war: zwar arm, jedoch zufrieden. Das -kommt daher, daß »arm« eine Form irdischer und gesellschaftlicher -Zustände ausdrückt, die in der ewigen Harmonie nicht zu finden ist.<« - -Ulrika sah sich triumphierend um. Renate aber hörte weder ihre Worte, -noch was die Andern sagten, ganz gefangen in ihren Blick, der von ihr, -die allein saß, über die vor ihr Beisammenstehenden glitt, gefesselt von -den Gesichtern, Ulrikas lebhaftem, Magdas im Zuhören äußerlich -abwesendem, und Georges' gelassenem, leicht ein wenig sarkastischem. -Länger haftend an seinem, dem ägyptischen König in diesem Augenblick, wo -es sich glättete und der Blick aus lichten Augen nach oben ging, -ähnlicher als jemals scheinenden Gesicht -- hörte sie auch ein paar -seiner Worte -- vom verräterischen Glanz des Bestrickenden an der -schönen Form -- und wußte auf einmal, weshalb sie wehmütig geworden war -beim Anblick von Ulrikas Zettel oben, den sie wieder vor sich sah. Ja, -damals, als es die Friedliebende Gesellschaft gab, lag in der Halle -wohl, oder auf der Sonnenuhr, oder sonst irgendwo, solch ein -Papierschnitz mit einem Namen, dem er galt, und einem Ort in Haus oder -Garten, und nur die Handschrift zeigte an, wer ihn hingelegt hatte. In -ihrer Schreibmappe mußten noch ein paar zu finden sein. - -Aber wir sind ja Alle wieder da! Magda, Bogner, Ulrika, Georges! Irene, -Jason, Georg, Benno sind irgendwo in der Stadt -- ja, warum ist es nicht -wie früher? wer fehlt denn? Ach Gott, Esther, hab ich dich wirklich so -vergessen? Und Sigurd ... wo mochte der sein? -- Könnte es nicht doch -werden wie damals? - -Da sah sie die Andern wieder vor sich stehn, schweigsam jetzt, jeder -nachsinnend über etwas, wie es schien, sonderbar still, jeder für sich -mit seiner inneren Welt, umgeben vom Grün, von der warmen, herbstlichen -Luft -- und doch alle von Nachdenklichkeit eigentümlich vereint. Es war -so traumhaft ... - -Nein, das war gewesen! Und das hier -- das waren die Schatten davon, die -zusammen kamen, um den alten Ort anzusehn. Es war -- - -Renate stand auf, die Andern lösten sich, und Ulrika legte den Arm um -sie, fragte dies und das, erzählte, doch kam der Maler alsbald, seine -Bücher unterm Arm, und nahm sie mit fort, denn er wollte durch den Wald -laufen, und sie wollte mit. Ulrika immerhin schien froher und offner als -jemals. - -Auf einmal war Renate allein mit Saint-Georges; auch Magda war gegangen. - -»Ach Georges,« sagte sie, »ich muß mich ins Gras legen, glaubst du, daß -es was schadet?« - -Nein, er glaubte es nicht. Also streckte sie sich längelangs in den -hohen Halmen und verdorrten Blumenstauden auf dem Rücken aus, blinzelte -gegen den immer goldeneren Himmel und fühlte wonnig an Schultern und -Rücken, Füßen, Waden und Kniekehlen überall die andrängende, mächtig -tragende Feste der Erde, auf der sie -- die Augen schließend, fühlte sie -es mit Macht -- in ungeheurer Sicherheit, vom riesigsten Rücken -getragen, durch Helles und Dunkles, Tage und Nächte, jahrlang durch -gewaltige Räume umrollend dahingetragen wurde. Ja, einen Augenblick -glaubte sie zu spüren, wie es hinter ihr, im Westen stieg, wie sie -selber nicht lag, sondern stand, ausgebreiteter Arme, wie angenagelt an -die immer sonnenaufgangwärts umrollende Kugel, selig gekreuzigt, -schmerzlos im Herbsttag, gefüllt mit goldenen Adern von himmlischer -Luft, nur ein leichtes Gewebe selbst, im Gras ausgebreitet, von -purpurnen und goldenen Fäden und Maschen, in dem das wunschlos pochende -Kleinod schwebte, liebevoll, ihr Herz. - -So lag sie lange Zeit, still, die Augen zu, vor dem verschlossenen Blick -das leise Brennen der unsichtbaren Helle; hoch über ihr rauschte es -selten einmal und ward wieder still, schauderte etwas leicht auf und -beruhigte sich wieder, eine kühle Welle lief über ihr Gesicht, ein Haar -oder zwei wehten kitzelnd über Nase und Wange, ein Tier kroch juckend -über ihre Hand, rings wehte kaum vernehmbar das Gras, die gedämpfte -Natur krachte unhörbar leise im Saft, sie ruhte, Renate ruhte. - -Aber jetzt mußte sie den Kopf heben, die Lider halb öffnen und -Saint-Georges ansehn, über ihre Füße hinaus spähend; er saß in der -Bankecke, einen Arm auf der Rückenlehne, ein Bein auf dem Sitz, und -schaute schräg in die Höhe; seinem Blick folgend, sah Renate zwischen -den Steinfiguren auf dem Dach, die hell besonnt im Lichten standen, zwei -farbige Tauben laufen; es blitzte Weiß in der fernen Bläue auf, eine -dritte schwang sich zu den andern. - -»Georges,« sagte sie, sich wieder legend, »seit langem ist es mir dann -und wann, als ob ich warte; oder ungeduldig bin; oder -- -- ist Warten -gut, Georges, oder nicht?« - -Einige Zeit verging, bis sie ihn sprechen hörte. »Jeder Mensch,« sagte -er, »dessen Geist Augen hat, zu sehen, bekommt von Anbeginn die Richtung -zuerteilt, in der sie sein Leben lang stehn: ins Heute, ins Gestern, ins -Morgen gerichtet. Das sind die drei Temperamente; vier giebt es nicht. -Wer allzutief ins Gestern blickt, dem verfärbt es das Morgen, wie Rot -das Weiße grün färbt; wer allzuscharf nach Morgen späht, der erblindet -fürs Heut, der wird unruhig, vielleicht unselig. Wer nur aufs Heute -schaut, wird leicht bodenlos -- ohne Gestern -- und erbarmungslos -- -ohne Morgen. Die Menge blickt halben Auges verschwommen -- nach allen -drei Seiten. Der große Einsame blickt ganzen Auges tief und klar -- nach -allen drei Seiten.« - -»Ach,« sagte Renate dankbar, »eine Antwort hast du mir glaub ich nicht -gegeben, aber es ist wunderbar, auf dem Rücken zu liegen und nach -Schmetterlingen zu gucken.« - -»Herbstschmetterlinge, Renate,« hörte sie ihn antworten, »die Flügel -grau, von Weisheit verstaubt.« -- - -»Sage mir, Georges,« fing sie nach einer Weile wieder an, »wenn ich denn -schon unruhig bin, warum rühre ich mich nicht mehr?« - -»Wir lesen«, sagte er langsam, »im Leben der Bienen von Maeterlinck über -die Bienenkönigin: sie bleibt gleichgültig, regt sich nie auf und nimmt -sich Zeit.« - -Alsbald riß Renate die Staude aus, die sie gerade in der rechten Hand -hielt, und warf sie nach ihm hin, jedoch mehr zum Schein, denn sie -machte die Augen deshalb nicht auf. Auf einmal kam ihr auf dem Weg über -Bogner Cornelia Ring ins Gedächtnis, sie fragte nach ihr, hörte Georges -etwas antworten und sagte, verloren in Gedanken: »Josef wurde ihretwegen -in vielen Häusern nicht eingeladen ...« - -»Ja, das geht auch nicht«, meinte Saint-Georges. Die Augen geöffnet, sah -sie das Skurrile in seinem Gesicht. - -»Hätte ers heimlich tun sollen?« - -»Heimlich, Renate? Was ist heimlich? Alle tun, was er tat, nur meist in -mehr sporadischer und ebenfalls mehr widerwärtiger Form. Aber sie tun es -mit allerhöchster Erlaubnis ihrer Frauen, Mütter und Schwestern -- ich -nehme die Bräute aus, denn sonderbarer- oder auch rührenderweise gilt -Brautzeit gemeinhin als Schonzeit, und dann ist es natürlich auch so, -daß jede Mutter, jede Frau immer im eignen Sohn oder Mann eine Ausnahme -sieht. Also sie tun es, mit der Erlaubnis, es heimlich zu tun; z. B. -nachts, wenn die Gesellschaften zu Ende sind, in die Bars und Bordelle -zu fahren, wie das hier und wohl in allen Städten üblich ist. Die -Gesellschaft -- aber ich weiß nicht, ob du --« - -»Nur zu, Georges,« sagte Renate, »ich sagte es ja schon: es ist -wunderbar, im Grase zu liegen und von der Gesellschaft reden zu hören. -Sprich von der Gesellschaft, wir haben ja schon davon angefangen, vorhin -bei Busonis Wort.« - -»Die Gesellschaft«, redete Saint-Georges, »hat durchaus nichts gegen -Unmoralität, sondern braucht sie im Gegenteil notwendig als Würze und -als Hintergrund, wie gewisse Dinge nur weiß aussehn, wenn man sie auf -was Schwarzes legt. Die Gesellschaft, wenn du das etwa glauben solltest, -hat -- wovon das Wort herkommt: von _mores_ und _mos_ gleich Gewohnheit --- kaum Moral, sondern sie hat Sitten, und giebt danach Gesetze, -bestraft daher nicht die Sittenlosigkeit, sondern allein die -Sittenwidrigkeit. Sie wird daher ferner immer das Geheime dulden; was -sie nicht duldet, ist die Ausnahme. Zum Beispiel Bogner. Sie kennt -keine Dirnen -- als Dame -- aber uneheliche Mütter -- als -Fürsorgevereinsmitglied. Sie hat Verbote nötig, um sich Grenzen zu -ziehn, nicht Gesetze, um das Übel zu tilgen. Sie überwacht nicht -tuberkulöse Väter _in spe_, sondern versucht, tuberkulöse Kinder zu -heilen. _Dito_ Geschlechtskranke, Trunksüchtige und dergleichen. Sie -verurteilt die Prostitution -- als Gatte -- und unterhält Bordelle -- -als Gemeinderatsmitglied. In diesen wieder überwacht sie die Insassen, -aber nicht die Gäste. Sie ist gegen die Trunksucht, weil sie die -Gesundheit untergräbt, und verachtet den Abstinenten, weil er ihre -Gesundheiten nicht ausbringen will. Sie erlaubt einer Dienstmagd von -vier Sonntagen zweie zum Ausgang, um sich zu vergnügen, und jagt sie zum -Teufel, wenn sie guter Hoffnung ist. Sie hat den Frauen nacheinander das -Tanzen, Reiten, Schlittschuhlaufen, Schwimmen, Radfahren, Studieren -verboten und wieder erlaubt. Sie erlaubt dem Ehebrecher, den Ehemann zu -töten, und sie tötet den Ehemann, der sich ans Gesetz wendet. Sie -erlaubt, die Ehe zu brechen, aber sie erlaubt nicht, sie zu zerbrechen. -Sie verabscheut das Laster, aber sie füllt die Gerichtsverhandlungen. -Die Gesellschaft weiß nichts von Logik, sondern nur von Gewohnheit, hält -für schädlich nicht das Zerstörende, sondern das Neue, will nicht -verbessern, sondern verdecken, will nicht bestrafen, sondern sich -schützen, sie verbannt nicht, sondern läßt verhungern. Sie hat ein -Gutes: gar kein Gedächtnis. Sie gleicht der Fliege vollkommen. Sie setzt -sich auf alles; sie ist völlig geschmacklos.« - -Ach, wie angenehm das plätschert, dachte Renate und fragte, warum er -Bogner erwähnt habe. Saint-Georges lachte mit Behagen. - -»Bogner?« sagte er. »Bogner lief als Knabe weg und kam wieder als Mann. -Er machte Besuche, in einen sehr schönen Schoßrock gekleidet, mit einer -lichten Weste, anstatt in Samtjacke und Schlapphut daher zu kommen, oder -wie es jetzt Mode ist, in Wickelgamaschen und Joppe. Das war schon -gefährlich. Er zeigte sich weder geistreich noch boshaft, weder -unmanierlich noch blödsinnig, er war artig. Das war schon sehr -gefährlich. Er ließ aber seine Augen im Zimmer umherwandern, und siehe -da, alle Schande ward ihm offenbar. Weder die unmoderne Einrichtung mit -Sofaumbau, die längst hatte ersetzt werden sollen, noch die Sofaschoner --- Antimakassars, sagte man früher dazu --; weder das Loch im Teppich, -noch der zerbrochene Glühstrumpf, weder die schmutzigen Gardinen, noch -die ungewaschenen Fenster, nichts sahen sie seinen Augen entgehn. Ich -kenne Leute, die Leute kennen, die ... und die sagten es mir. Natürlich -sah er gar nichts dergleichen, aber die ihn sahn, mußten es glauben, -denn was kann man denn anders sehn, wenn man so sieht wie er, als -Schäden, Flecke, Löcher. Furcht voreinander ist der erste Eckstein der -Gesellschaft, Renate. Aber weiter. Er übersah das Ölstilleben von der -Tochter des Hauses und fragte nach der Miniature eines längst begrabenen -Urgroßvaters, der nichts hatte erben lassen. Er legte die Photographie -des Schwiegersohns wortlos fort und nahm einen alten, grünen -Porzellanmops in die Hand, unter dessen Hinterteil er zwei gekreuzte -blaue Schwerter entdeckte, die noch nie ein Mensch gesehn hatte. Er -machte auf einen schief hängenden Starenkasten aufmerksam, der sein -Dasein verfehlte, aber seit Jahren schon so hing und das Bild des -Gartens vervollständigte. Er nannte eine gemeine weiße Rose: welch -schöne Clara Watson! und verachtete das verblüffende Wachstum der -Araukarie. Er bat um die Erlaubnis, eine Skizze vom Kohlenkeller machen -zu dürfen, in dem doch alle leeren Boonekampkrüge der Hausfrau -aufgestapelt waren, und er malte keineswegs das Porträt der Braut in -Pastell. Er schickte kein Bild zur Ausstellung der heimischen -Kunstgenossenschaftler, und als er einmal daselbst betroffen wurde, bat -er gerade den Kustos um ein Glas Wasser, weil er vor einer Landschaft -des Stadtmalermeisters an einem Lachkrampf erstickte. Er --« - -»Ach, Georges, das ist doch nicht wahr!« - -»Nein, natürlich ist es nicht wahr,« rief er aus einem Gelächter, »aber -ist es nicht glänzend erfunden? Hätte er doch von der Musik der -Farbgebung, dem Rhythmus der Flächen und der seelischen Dynamik des -Pinselstrichs geredet, so wäre es gegangen. Er aber sagte überhaupt gar -nichts. Welch ungeheure Boshaftigkeiten also mußte er verschweigen. Er -hätte auch die fürchterlichsten Lästerungen, Frivolitäten und -Frevelmeinungen äußern dürfen, denn mit dergleichen verhält es sich seit -alters so, daß der Bourgeois sie verdammt und verabscheut, wenn sie in -Büchern stehn, wenn aber jemand sie äußert, so heißt es: das sagt er nur -so! Der Bourgeois glaubt nicht nur nicht, was ein Andrer sagt, wenn es -fremd und erschreckend klingt, sondern glaubt nicht einmal, daß der -Andre selber es glaubt. Wäre er aufrichtig, für welch schaurige Lügner -müßte er alle Sonderlinge und Eigengänger halten. Früher wurde von einem -Manne verlangt, daß er tut, was er denkt. Milder Denkende rieten -späterhin, es genüge, zu sagen, was man denkt. Heute giebts schon -niemand mehr, der denkt, was er denkt. Und von Bogner sagen sie ja nun: -er hat süffisante Augen.« - -»Ach,« rief Renate, sich aufrichtend, »nun weiß ich, daß du die Wahrheit -sagst! Da auf der Bank habe ich gesessen und dies Wort in einem Briefe -von Magda gelesen; ihr Vater brauchte es gegen Bogner. Ach, wie lange, -wie lange ist das her!« - -Sie wollte eben das Gesicht gegen die Knie senken, als sie zu ihrer -Rechten hinter den Büschen etwas Menschliches zu sehn glaubte, eine -Bewegung, ein Gesicht. -- Vielleicht war jemand am Zaun draußen -vorübergegangen. Sie wollte sich wieder legen, sah aber nun, daß der -Garten schon tief im Abendschatten lag; nur zu ihren Häupten, hoch in -den Wipfeln, hing noch das scheidende Licht, und noch flossen warme -Spuren und goldne Hauche über den weitoffnen Himmel. Sie sprang auf, -schüttelte ihr Kleid und rief Saint-Georges zu, er solle schnell seinen -Bruder herunterholen, damit er noch an die Luft komme, -- und da stand -auch schon Magda wieder in der Veranda und fragte herüber, ob es nicht -Zeit sei, den Gelähmten zu holen. Saint-Georges folgte, Renate rief ihm -noch zu, sie ginge in die Kapelle. Der Lahme liebte es sehr, die Orgel -am Abend zu hören, wenn er umhergefahren wurde. - -Den Weg zwischen den Gebüschen hinunter, gegen den Zaun zu gehend, -gewahrte Renate jetzt deutlich ein Gesicht draußen hinter dem Gezweige. -Näherkommend sah sie die Blätter sich bewegen, eine Hand teilte sie; -Josefs Gesicht war draußen, seitwärts gedreht; er sah sie nicht an. - -»Josef!« stieß sie hervor. Ihr Herz tanzte. War sie erschrocken? Ihr -Herz kümmerte sich um gar nichts und war außer sich. -- Nun drehte er -langsam das Gesicht her. Seltsam ... wie starr das Auge war! und die -ganze Hälfte des Gesichts, die rechte, war -- ja, sie war nicht da, -etwas Schwarzes war da, aber die Dämmerung ... Nun lief sie hin, trat -ins Buschwerk auf den Rasen, da war der Zaun, da stand er, schwarz, fein -gekleidet, unbeschreiblich duftend, wie immer. - -»Wirklich, ich bins, Renate,« sagte sein halber Mund, das halbe, -lächelnde Gesicht, »willst du herauskommen?« - -Nun stand sie ganz dicht vor ihm, hörte, daß er atmete, sah das schwarze -Tuch, das vor der rechten Gesichtshälfte war, nein -- der ganze Kopf war -damit verhüllt, nur vom linken Ohr bis zur Nase, in senkrechter Linie -über die Stirn, neben der Nase, über den Mund und das Kinn herunter -abgegrenzt war sein Gesicht zu sehn, wie ein Viertelmond, bräunlich -bleich und schön wie je, nur das Auge starrer, doch verging auch dies, -nun sie tiefer hineinsah. - -»Josef, was ist mit deinem Gesicht?« - -»Komm heraus, komm heraus, o du schöne Braut!« lockte er, »dann sollst -du alles erfahren!« ging zwei Schritte am Zaun hin und öffnete die Tür; -sie schob sich unter dem Strauchwerk her dorthin, ging durch die Tür, -wollte fragen, warum er denn nicht hereinkomme, ließ es aber, stand vor -ihm, furchtsam vor seinem Aussehn, aber doch innig froh im Herzen. Sie -legte die Hände auf seine Schultern und ließ zu, daß er die seinen auf -ihre Hüften legte. »Daß du nur da bist!« sagte sie glücklich. »Ich merke -nun, wie oft am Tage ich dich in meinem Herzen unterschlagen habe. Ich -kann ja nicht sagen, wie ich mich freue. Ja, ich bin sehr erstaunt -darüber.« - -Er lächelte fortwährend, zuckend mit Mund und Augenwinkel. »Wenn du mir -einen Kuß gäbest,« sagte er, »wie wäre das?« - -Sie hob sich ein wenig auf den Zehen und küßte ihn unter das linke Auge. -Danach mußte sie freilich mit dem Fuß aufstampfen, mit der Faust in die -Handfläche schlagen und sich verschwören, daß es ein Elend sei, daß die -Ungeratenen, was sie nur wollten, erhielten, während die Guten ohne Ende -darben müßten. - -»Ich fürchte,« sagte Josef, »es liegt nicht an den Bösen und an den -Guten, sondern allein an dem menschlichen Herzen. Du goldnes Mädchen!« -sagte er plötzlich erschüttert und schien gewillt, auf die Knie zu -sinken. Er bückte sich bis tief auf ihre herunterhängende Hand, faßte -und küßte sie gewaltsam. Sie legte die Hand auf seinen Kopf, merkte, daß -sie fast standen wie damals beim Scheiden, Josefs Vater wanderte fremd, -sinnlos heiter vorüber, es war dämmrig, feuchte Schleier hingen vor -einer fremden Mauer, ein Dach darüber ... ihre Kapelle wars. Sie fühlte -seltsam das schwarze Zeug unter ihrer Hand, faßte jählings, von -unverständlichem Zorn ergriffen, zu, zerrte und riß es herab. Er -richtete sich auf, so hoch er war, der Lappen hing schwarz an seinem -Hals, Renate prallte zurück und schauderte vor seinem rechten Gesicht, -das fehlte, das nur dunkelrote Haut war, nach innen gedrückt, ohne Spur -von Zügen, kein Kinn, keine Augenwölbung, nur ein Loch, zugekniffen, -kein Backenknochen, der Mundwinkel hineingewischt. -- Sie schlug die -Hände vors Gesicht. Als sie wieder aufsah -- ach, es war wohl doch ein -Traum, das Ganze! Denn nun war sein schönes Gesicht wieder da, eine -Hälfte davon, unverstellt und unverändert wie vor zwei und einem halben -Jahr, ja, so edel und bedeutend, daß schon das Spukbild eben ausgetilgt -war und nichts mehr galt als dies. Dies Gesicht lächelte nun, sie folgte -mit Mund und Augen und sagte: »Verzeih, ich war ungeschickt! Ich habe -nichts gesehn. Und nun komm ins Haus.« - -Josef bückte sich, hob einen Stock, einen leichten grauen Hut mit -schwarzem Band und ein kleines Paket vom Boden, setzte den Hut auf und -sagte: »Ins Haus nicht. Wir gehn zu der Schaukel dort unter den Bäumen, -da kannst du sitzen.« - -Damit ging er vorauf. Sie folgte zögernd. - -Es war eine große, wohl zwei Meter lange Schaukel mit eisernem Geländer, -die in einem Eisengestänge an vier starken Pfosten hing. Josef bot ihr -die Hand, sie stieg auf das Bohlenbrett und setzte sich auf das -Geländer. Sie sah sich um. Seit den Tagen der Friedliebenden -Gesellschaft war sie nicht hierhergekommen. Damals hatten sie einmal -Alle in der Schaukel gestanden, Irene, Ulrika, Esther, Georg, Benno, und -hatten sich geschaukelt und gesungen dazu im Kanon: »Oh wie wohl ist mir -am Abend ...« Die Schaukel knarrte. Josef, am andern Ende stehend, -setzte sie leise in Bewegung; das sanfte Wiegen tat Renate wohl. »Wo -warst du?« fragte sie. - -An das Geländer der Schaukel gelehnt, den Kopf gesenkt, stand er und -schwieg. Einmal zuckte sein Mundwinkel. Renate sah eine feurigrosige -Wolke sehr langsam über das Dach der Kapelle hinfahren; leicht sitzend -auf dem friedlich schwankenden Boden, erinnerte sie sich, wie sie im -Rasen lag eben zuvor, Saint-Georges plauderte, die Welt war eng und -angenehm und still, -- da stieg dieser Mensch aus dem Rasen herauf, im -glitzernden Behang eines riesigen Hintergrunds, der Fremde, der -- nie -war sie so davon durchdrungen wie jetzt! -- im Leben nichts gewußt hatte -von Gesellschaft und Gewohnheit; der in ihr so gut war wie ein Jaguar, -der sich zahm stellt, in einem Geflügelhof. Ja, so stand er, wieder -zahm, strömend aber wilden, atemraubenden Dunst; und hinter sich, -pompös, das Porta der Welt. - -»Zu fragen, woher einer komme,« hörte sie ihn sagen, »das liegt freilich -nahe für den Weilenden, aber dem Kommenden, das kannst du mir glauben, -liegt es wirklich reichlich fern. Guter Gott, wie schön du doch bist! -Ist denn all die Zeit hier einer gewesen, der dir das gesagt hat?« Ja, -sieh da, er traf den Nagel, wie immer, auf den Kopf. »Setze mich wie ein -Siegel auf deinen Arm und wie ein Siegel auf dein Herz«, sagte er. »Denn -Liebe ist stark wie der Tod, und ihr Eifer ist fest wie die Hölle. Ihre -Glut ist feurig, eine Flamme des Herrn, daß auch viele Wasser nicht -mögen die Liebe auslöschen, noch die Ströme sie ertränken. Wenn einer -alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte, so gälte es alles -nichts.« - -Ihr Gesicht stand in Flammen, sie genoß das Funkeln seines Auges, atmete -tiefer und dachte mühsam: Einmal wird einer noch andre Worte haben, er -braucht sie nicht von Salomo borgen, und sie werden mich doch -verbrennen, wo ich diese nur brennen sehn kann. - -»Du hast mich angehört«, fuhr er kühler fort, »in der letzten Stunde, du -hörst mich wieder an in dieser, ich muß reden, es nützt mir nichts, und -wenn ich alle sechzig Minuten dieser Stunde zusammenpressen könnte in -eine, sie würde doch nicht so glühen, um dich zu durchbrennen. Ich weiß, -es liegt nicht an dir, wie es nicht an mir liegt, es liegt an der -Einrichtung allein. Ich sehe dir an, daß niemand zu dir kam, seit ich -fort bin, dein Hals ist der alte Turm von Elfenbein --« - -Sie zuckte, er hob die Hand gegen sie, lächelte kurz und sagte: »Hab -keine Angst, ich fahre nicht fort in der salomonischen Beschreibung. -Wahrhaftig: häufig habe ich nicht an dich gedacht, aber eines Tages hats -mich doch übermannt, da kam ich gleich. Wie braun du bist! Das Feuer -deiner Augen brennt kalt wie der Edelstein in meiner Tasche, aber dein -Mund ist hundert und tausendmal süßer geworden.« - -Renates Augenlider wankten, sie fühlte, daß ihr Kopf hintenüber wollte, -und dachte sekundenlang: ... ich würde mich nicht wehren ... Heute -nacht, dachte sie, wird es mich zerreißen vor Pein nach -- nach wem -denn? Sie öffnete die Augen und freute sich, daß er viel zu hoffärtig -war, um mehr zu nehmen als ihr Weichwerden und ihr Dämmern. - -»Sage nun,« bat sie mit verschleierter Stimme, »wo du warst, und wo -blieb -- dein Gesicht!« - -Er setzte sich auf das Schaukelbrett vor ihre Füße; in der tieferen -Dämmerung unter den Bäumen sah sie jetzt nur seinen schwarzverhüllten -Kopf, seine Nase und ab und an den Schein seines Gesichts und das -auffunkelnde Auge; er hielt den Hut in den Händen, die Ellenbogen auf -den Knien. - -»Drei Viertelstunden hast du noch,« sagte sie, »dann ist Abendbrotzeit, -und wir müssen hinein.« Er schwieg noch ein Weilchen, dann hörte sie -seine Stimme. - -»Zu sagen, wo ich war, lohnt sich nicht, aber du bist ja nun neugierig. -Übrigens ist die Welt viel kleiner, als man gemeinhin denkt, wenn man -die wilden Erdteile ausnimmt: dort war ich nicht, auf Forschungsreisen -zu gehn, hab ich für später vorbehalten, ich wollte ja erst Menschen -sehn. Ich bin ja nun einmal Idealist und ging daher aus, einen zweiten -zu suchen.« - -»Was ist ein Idealist?« fragte Renate. - -»Ach, unterbrich mich lieber nicht, sonst muß ich zuviel nachdenken, ob -du auch verstehst, was ich sage; ein Idealist ist ein Mensch, der sich -in einen Kochtopf voll Wasser setzt, denselben ans Feuer rückt und nicht -heraus steigt, ehe er ganz und gar drin verkocht und verbrannt ist. Der -Kochtopf kann ja denn Liebe, Tibet, Goldmachen, Verseschreiben, -Marxismus oder sonstwie heißen.« - -»Fandest du solch einen?« - -»Zwei!« sagte er, »in Amerika. Den einen traf ich im Polizeigefängnis in -Ohio --« - -»Im Poli--?« - -»Ich sage ja, du sollst mich nicht unterbrechen, denn sonst geraten wir -ins Uferlose, ja, ich saß darin wegen einer großen Minensache, es war -eine so große Schiebung, daß während des Verfahrens die halbe Welt -hineinverstrickt wurde, und da mußte es niedergeschlagen werden. Der -Idealist war ein vielfach rückfälliger und bestrafter schwerer -Tresoreinbrecher, der mir durch Klopfsprache seine Entrüstung mitteilte, -daß er immer wieder bestraft würde, während er doch von einem kleinen -Kapital ein bescheidenes und ordentliches Leben und die Einbrüche nur -ausführte, um das erlangte Geld sofort an Bedürftige auszuteilen, das -heißt, in Wahrheit war er nicht hierüber so entrüstet, sondern weil es -nicht gelingen wollte, den Richtern zu beweisen, daß er überhaupt nicht -stahl; denn was er stahl, sei ja nicht fort, sondern sei da, er hatte -immer die Belege bei der Hand, Reverse der Banken über Einzahlungen auf -diesen und jenen Namen -- frage nicht, das Geld war den Leuten absolut -sicher -- also sei es durchaus nicht gestohlen, sondern habe nur den -Liegeort gewechselt. Dies war ein Amerikaner. -- Den andren Idealisten -fand ich auf einem englischen Leuchtturm eines winzigen Eilands, ich -darf nicht sagen, wo, irgendwo an der Küste. Er war kein Engländer, galt -aber für einen, war ein deutscher, verabschiedeter Offizier und hatte -bereits an die dreißig Jahre seines Lebens in dieser Einöde damit -verbracht, auf den Augenblick zu warten, wo zwischen Deutschland und -England der Krieg ausbrechen würde, um alsdann seine Lichter auszupusten -und gehängt zu werden. Nun möchtest du wohl wissen, was ich und wo ich -noch war. Die Vereinigten Staaten sind das Grauenhafteste auf der ganzen -Welt, ich war auch im Westen, war Minengräber, Goldwäscher und Viehhirt, -es war für eine Weile ganz lustig, aber ich konnte es auf die Dauer -nicht ertragen, wie sie ihre Pferde mißhandeln.« - -Da er eine Pause machte, fragte Renate, nichts als zuhörend: »Aber das -Mißhandeln von Menschen, das konntest du --?« - -»Denn der Mensch«, sagte er, »kann sich wehren, das Tier nicht. Das Tier -kann beißen und ausschlagen, aber das hilft ihm nichts, denn es muß -dableiben; der Mensch kann weggehn. Er geht in ein andres Land oder geht -aus dem Leben. Das Tier kann nicht aus dem Leben, wie es nicht aus -seiner Haut kann. Ferner war ich Agent. Agenturen giebt es für alles, -zumal in Amerika. Agenturen für Politik, für Minen, für Geldgeschäfte, -für Doktordiplome, für Mädchenhandel, für Bestechung, Spionage, An- und -Verkauf deutschen Adels an reiche Mädchen, für Schmuggel, Gründungen und -für Mord. Einige werde ich wohl ausgelassen haben. In Colorado Springs -war ich auch Falschspieler, du weißt, ich kann die Karten nicht leiden, -aber Falschspiel ist reizend, solange man sich einbilden kann, der -einzige am Tisch zu sein, der betrügt, und das gelingt ja wohl eine -Weile. Dort wars, wo ich mein Gesicht verlor, es stahl natürlich eine -Frau, beschreiben möchte ich es dir lieber nicht. Ich habe ja auf Frauen -immer eine gewisse Anziehungskraft ausgeübt; dort, wo man weniger -empfindet und denkt, sondern gemeinhin tut, was man empfindet oder -denkt, war es fast unerträglich, und so war ich nicht sehr böse über den -Verlust; leider stellte sich dann heraus, daß die Halbierung die -Anziehungskraft nicht unbedeutend gesteigert hatte. Ach, Kind,« -unterbrach er sich, »ist es nicht genug? Ich könnte niemals fort gewesen -sein und das gleiche erzählen, du würdest nicht besser wissen, ob du mir -trauen darfst oder nicht.« - -Er sah trübe zu ihr auf. Renate dachte gelähmten Herzens nur: Josef -- -und lügen, um sich einen Hintergrund zu geben? -- »Aber ich habe dir -Grüße auszurichten«, sagte er nun. »Ein gewisser Sigurd Birnbaum, -weiland Cellospieler Renates, trug sie mir auf, mit dem ich gewisse -Operationen auszuführen hatte, um einen gewissen Geheimbundsfreund in -Tscheliabinsk aus der Katorga zu befrein.« - -»Mein Gott, Sigurd,« sagte Renate, »was ist aus ihm geworden?« - -»Dort,« erklärte Josef sehr ernst, indem er sich langsam erhob, »dort -giebt es Idealisten. Aus Frankreich -- es lebt sich dort angenehm, wenn -man es versteht, für einen Franzosen gehalten zu werden, jedoch -- aber -das führt zu weit -- jedenfalls kam ich von dort nach Russland und -schloß mich der revolutionären Bewegung an. Dort verbrodeln die Menschen -freiwillig und mit Gesang. Ich will dir etwas erzählen.« - -Er setzte sich wieder hin. Was wird nur Onkel sagen? dachte Renate. Wird -er ihn erkennen? Sie merkte, daß sie zitterte. Sie begann sich zu -fürchten und hörte Josefs Stimme aus der Ferne, die langsam Satz um Satz -hinsagte. - -»Ein jüdischer Knabe war vierzehn Jahre alt, als er seine Eltern und -deren ganzes, sehr großes Vermögen durch ein Pogrom verlor. Er ernährte -sich selber, besuchte das Gymnasium weiter und wollte Apotheker -studieren. Mit sechzehn Jahren wurde er bei einer Massendemonstration -verhaftet, in Bausch und Bogen mit verurteilt und kam ins Gefängnis. -Dort wurde er mit den sozialistischen Ideen bekannt, eignete sich das -theoretische Wissen an und verließ das Gefängnis als Sozialist. Er -verdiente Geld durch Unterricht, studierte, erreichte in der Bewegung -bald eine führende Stellung, las viel und hungerte mehr. Als Redner bei -einer Demonstration wurde er wieder verhaftet und kam für zwei Monate -ins Gefängnis. Er und seine Arbeit waren für die Bewegung wichtig; daher -ließ eine Studentin, mit der er zusammen gelebt hatte, sich jede Nacht -in einem, dem Gefängnis benachbarten Holzlager einschließen, kletterte, -obgleich auf sie geschossen wurde, zu seinem Fenster an der Mauer hinauf -und tauschte Zeitungen und Berichte mit ihm aus. Er saß in Einzelhaft, -durfte weder rauchen, noch lesen, noch irgend etwas tun. Er durfte eine -einzige Stunde am Tage spazieren gehn und erhielt so Verbindung mit den -sogenannten Kriminellen, das sind die wirklichen Verbrecher, unter denen -er sozialistische Propaganda betrieb durch Reden und Broschüren, ihnen -Verteidigungsreden anfertigte und sie vorbereitete. All dies durch die -Klopfsprache, deren System ich dir ein andermal erkläre; man kann nach -vier Seiten, oben, unten, links und rechts klopfen. Er organisierte -unter anderm einen Hungerstreik wegen der Verurteilung von Leuten, die -nichts mit der Bewegung zu tun hatten. Er war ein Idealist. Als er das -Gefängnis wieder verlassen hatte, half er bei der Vorbereitung einer -Revolution, reiste als Provisor, arbeitete in kleinen Orten, benutzte -die Nächte zur Propaganda, zur Verbreitung gefährlicher Druckschriften, -übernahm selbst deren Ausarbeitung und Druck, arbeitete zum Beispiel -vier Wochen in einem Keller, um halb im Dunkeln eine Anzahl Broschüren -mit der Handpresse zu drucken. Die Revolution brach aus, die Regierung -organisierte eine Gegenrevolution, wie das da üblich ist, der Pöbel -machte Pogrome, die Soldaten beteiligten sich an der Plünderung, die -Sozialisten organisierten eine Miliz zum Schutz der Unbeschützten, und -er wurde Hauptführer des Bundes jüdischer Sozialisten. Die Juden sind -dort, wo er war, Fabrikarbeiter. Er wurde verhaftet und für lebenslang -nach Sibirien verschickt. Nun ist in Rußland alles organisiert, auch die -Bestechung; die Sozialisten haben eine eigne Gesellschaft gewissermaßen, -auch eine Kasse, zur Befreiung der Militanten oder politischen -Verbrecher. Er entkam während des Transportes mit einem Andern, sie -fuhren sechzehn Tage auf der sibirischen Bahn als blinde Passagiere -unter den Bänken der Waggons, verließen wenige Tagereisen vor Petersburg -den Zug, hängten sich unter einen Wagen, um bei Nacht abzuspringen, aber -der Freund hatte Angst, er mußte mit dem Revolver auf ihn schießen, sie -sprangen ab und schürften sich die Haut. Die Organisation beförderte sie -an die Grenze, er bekam einen falschen Paß, einen Verkehrspaß für -Galizien, den dort jeder haben muß, darin stand leider, er sei ein alter -Mann mit grauem Bart. Er wurde wieder verhaftet, brach allein aus, -verschaffte sich Bauernkleidung, wanderte als Landarbeiter von Ort zu -Ort, kam über die Grenze und durch Rumänien, Ungarn, Österreich, die -Schweiz nach Frankreich. Als Ausländer wurde er an der Sorbonne nicht -zugelassen, er arbeitete in einer kleinen Maschinenfabrik und -organisierte dort einen Streik wegen schlechter Löhne. Seine letzte -Kraftleistung war, den Fabrikbesitzer aus dem Fenster zu werfen; er -arbeitete weiter in seinen Betrieben, als Buchbinder, lebte von dreißig -Franken monatlich, aber seine Energie war zu Ende. Da kam aus Rußland -jenes Mädchen, das ich erwähnte, die Studentin, sie brachte ihn in eine -Apotheke als Laufburschen, wo er sich die französischen Namen der -Medizinen aneignete. Er studierte wieder, es gelang ihm später, an der -Sorbonne zugelassen zu werden, er studiert nun weiter. Die Examina sind -dort in Pharmazie zahlreich und sehr schwer, er ist jetzt Provisor, um -Geld zu verdienen, muß noch das Abiturientenexamen und Staatsexamen -machen, um die Erlaubnis zum Besitz einer Apotheke zu bekommen. Ich -lernte ihn kennen, da ich jenen Sozialisten, dem ich mit Sigurd zur -Flucht verhalf, nach Frankreich brachte, wo er in Paris unter den -Sozialisten eine bedeutende Stellung einnimmt.« - -»Nun hast du wohl«, sagte Josef, »einen Begriff, wie andernorts Menschen -leben. Im Vergleich zu ihnen -- ich nannte eben absichtlich seinen -Namen, denn es giebt mehr als einen solchen -- lohnt es sich natürlich -nicht, von mir zu reden. Ich nahm ja an alledem auch nur teil wegen der -Bewegtheit, nicht wegen der Ziele. Sigurd Birnbaum übrigens studiert in -Odessa, ist Assistent in einem Krankenhaus und der gute Heiland aller -kranken Kindlein; übrigens -- war er immer so finster? Er soll an -Schwermut leiden und -- ja, nun mußt du wohl zum Essen hinein.« Er holte -einen Zettel aus der Tasche. »Hier ist eine Adresse,« sagte er, »wenn du -Verlangen nach mir haben solltest, bin ich durch sie immer zu -erreichen.« - -Renate nahm das Blatt nicht, das er ihr hinstreckte, sah ihn nur an und -sagte: »Josef!« - -»Nein!« versetzte er gebieterisch. »Bitte nicht, fordre nicht, es ist -unmöglich. Du brauchst mir nichts zu sagen. Ich bin nicht erst seit -heute in dieser Stadt, ich weiß alles, was sich während meiner -Abwesenheit in diesem Hause zugetragen hat, ich weiß auch alles von dir, -was sich durch dritte Hand wissen läßt. Vorläufig bleibe ich, ich bedarf -etwas Ruhe.« Er erfaßte ihre Hand, drückte den Zettel hinein und schloß -sie darüber. »Willst du Gründe? Ein andermal wird Zeit dafür sein. -Immerhin: ein Wort!« Sein eines Auge starrte bedeutsam, während er -schloß: »Erasmus; ich gedenke noch zu leben.« - -Er zog die Uhr, hielt sie empor, um das Zifferblatt zu erkennen, und -sagte: »Es ist hohe Zeit für dich. Daß du von mir schweigst, halte ich -für selbstverständlich; es könnte sonst Unheil geben. Nun genug. Lebe -wohl! auf Wiedersehn.« Er bot ihr die Hand. - -Renate erhob sich, legte die Hand auf seine Schulter und sprang von der -Schaukel auf die Erde. Nun versuchte sie es noch einmal, richtete durch -die Dunkelheit ihre Augen auf das seine und bewegte die Lippen. -Angezogen, kam er ganz nahe, legte den Arm um ihre Schulter und, den -Mund dicht vor ihrem, sagte er: »Was -- --?« - -Renate fühlte ihr Blut gerinnen. »Alles --« sagte sie lautlos; und nach -einem Augenblick: »-- für deinen Vater.« - -Er fuhr zurück, sein Auge starrte wütend, er stieß hervor: »Bist du denn -wahnsinnig geworden?« Drehte sich um und ging in Eile unter den Bäumen -weg. Sie sah ihm fassungslos nach. Weiter unterhalb, wo es heller war -über den Wiesen, kam noch einmal sein Schatten zum Vorschein. Sie fühlte -den Zettel in der Hand, öffnete ihn und las trotz der Dunkelheit leicht -das einsame Wort: Jason. -- Sie sah etwas Weißes auf der Erde, bückte -sich und fand das Paket, das er bei sich gehabt hatte; sein Stock lag -darüber. Sie nahm beides und ging langsam in den Garten zurück, in die -Kapelle, legte die Sachen auf einen Stuhl, ging hinaus, verschloß die -Tür und ging durch den Garten ins Haus. - -Vor der Tür des Eßzimmers hörte Renate von drinnen lautes -Durcheinandersprechen und Gelächter; sie glaubte Ulrikas Stimme zu -hören, legte die Handrücken gegen die Wangen und fühlte, daß sie -glühten; die Hände waren eiskalt. Sie trat ein; ja, Ulrika war da, auch -Bogner; Alle, Erasmus, Saint-Georges, sein Bruder und Magda saßen -bereits essend um den Tisch. Renate blieb an der Tür stehn, klatschte, -ihr Zuspätkommen und ihre Erregung zu verbergen, in die Hände und rief -lustig: »Ach, sieh, der Maler mit den süffisanten Augen ist wieder da!« -Die Andern lachten, Ulrika rief, sie sollte sich schnell hinsetzen, sie -kriegte sonst nichts mehr zu essen, fragte, was das heißen sollte: -süffisante Augen, erklärte dann aber erst, daß sie und Bogner im Walde -im Kreis gelaufen und wieder hergekommen seien. Nun bestand Bogner auf -Erklärung seiner süffisanten Augen, aber Renate, in plötzlicher -Mattigkeit, verwies ihn an Saint-Georges. Sie sah eine Tomate auf ihrem -Teller, die dampfte, nahm die Gabel, löste den Deckel ab und zwang sich -zu essen. Wie dröhnten denn die Stimmen? Selbst die ruhige von -Saint-Georges summte bohrend in ihr Gehör. - -»Dieser berühmte Maler«, sagte Saint-Georges, »pflegt die Dinge -vereinfacht zu sehn, um nicht zu sagen, abstrahierend; er scheidet das -Gewohnte aus und sieht, was fehlt, oder aber was da sein könnte, oder -was zuviel ist, und was den Andern mißfällt, das gefällt ihm gerade, -weil es krumm ist.« - -»Ach,« sagte Bogner heiter, »nun fällt mir ein, daß einmal jemand zu mir -sagte, wenn ich ihn ansähe --« - -»Bitte,« unterbrach ihn Saint-Georges, »das hat er sicher nicht gesagt. -Er hat gesagt: Wenn Sie einen ansehn -- nicht >mich<, nicht wahr? Die -Gesellschaft ist >man<, Renate, nicht >ich<, das ist auch ein Eckstein -davon.« - -Renate sah seine Augen von drüben auf sich gerichtet; es kam ihr vor, -als ob er alles wüßte. Sie nickte und senkte das Gesicht. Der Maler fuhr -fort: - -»Also, wenn ich einen ansähe, sagte er, hätte man immer das Gefühl, ein -Westenknopf wäre offen, oder der Schlips säße schief, oder es wäre ein -Fleck am Kragen, und man müßte immer an sich herumfummeln.« - -»Siehst du,« sagte Ulrika, »warum willst du auch niemals lachen! Du -machst immer bloß so krumme Mundwinkel, und das sieht denn so -heimtückisch aus.« - -»Und dann vor allem,« begann wieder Saint-Georges, »diese raffiniert -sokratische Methode, alle Augenblicke zu sagen: Davon verstehe ich -nichts.« - -Renate zuckte zusammen; mein Gott, wie laut lachten sie denn, das -prasselte ja nur so auf ihren Kopf herunter! - -»Meinen Sie, daß Ihnen das einer glaubt, wirklich? Deshalb hält man Sie -doch bloß für -- entweder teilnahmslos -- um nicht zu sagen: -interesselos, oder hochfahrend, oder faul, oder für einen verkappten -Anarchisten, Atheisten oder so.« - -Plötzlich dröhnte Erasmus' tiefe Stimme in das Gelächter, -- aber nein, -er saß ja ganz still da und sagte ruhig: »Wäre die Welt so undankbar, -wie es nach Ihnen scheinen sollte?« - -Ach, Erasmus war ein guter Mensch, und sein Bruder stob wie ein Windhund -durch die Welt ... Renate griff nach der Tasse, um die aufsteigenden -Tränen mit dem Tee herunterschlucken zu können, aber nun war der Tee so -heiß, daß sie mit einem kleinen Schrei die Tasse wieder hinsetzte; sie -lachte verlegen, die Andern verlachten sie, sie kühlte die Zungenspitze -an der Serviette und war froh über ihr Ungeschick. -- Magdas Stimme -klang wohltuend leise: - -»Ja, Erasmus, wenn man jemand so sprechen hört wie Saint-Georges, klingt -alles so fremd, sieht so zerbrochen, so zerstückt aus, hoffnungslos, und -die Menschen so ungütig. Ich kenne ja eine Menge Menschen, in Berlin, -meinen Lehrer und ähnliche. Ja, sie lügen viel und beschwatzen sich, sie -können ja niemals, wie sie wollen, sie hängen Alle voneinander ab, sie -möchten gerne anders, ein jeder, aber --« Sie stockte. - -Ulrika hob die Achseln und meinte, die Künstler seien freilich die -schlimmsten, nicht die Schaffenden, sondern die Darstellenden, die -Virtuosen, denn da herrsche über alles der Agent. - -Renate schlug nur das letzte Wort mit wildem Sinn ins Ohr, sie fuhr -erschrocken auf und stieß hervor: »_Was_ sagst du?« - -Ulrika lachte. »Warum erschrickst du denn so?« Renate wußte nichts zu -antworten, hörte nichts mehr, nur Stimmengewirr, raffte sich endlich auf -und sah, daß es Zeit sei, von Tische aufzustehn. Jähliche Todesangst im -Herzen, zog sie Magda einen Augenblick an sich, strich ihr übers Haar, -ging hinaus und trat über den Flur vor das Zimmer ihres Onkels. Sie -glaubte, ihn nicht ansehn zu können, fühlte sich gleichwohl gezwungen, -dies sofort zu versuchen, hinter ihr wurde die Tür geöffnet, sie drückte -eilig die Klinke nieder und trat ein. - -Der Schattenriß des alten Mannes war vor dem einen Fenster; er schien -auf die Straße zu blicken; in den Fenstern stand das blaue Zwielicht. -Gleich darauf fiel heller gelber Schein von unten herauf durchs Zimmer; -die Laterne war draußen angezündet. Schritte waren hörbar und entfernten -sich. - -»Onkel!« flüsterte sie. Er drehte sich langsam um, sie sah im -Lichtschein seine Augen, einen Augenblick fast gedankenvoll. Schnell -ging sie auf ihn zu, legte die Stirn an seine Schulter, umfaßte ihn an -den Armen, hoffte inbrünstig, er möchte ihrem Leib anfühlen, was sie -wußte. Sie zitterte, als sie seine Hand auf ihrem Rücken fühlte; Gott -sei gelobt, dachte sie, er ist ruhiger geworden, er muß etwas empfunden -haben, ja vielleicht wußte er es schon eher als ich! -- Leise versuchend -hob sie das Gesicht. Er sah wieder auf die Straße. - -Aber nun schob er sie sanft von sich, sie trat zurück, er ging an ihr -vorüber, legte die Hände auf den Rücken und begann im Zimmer auf und -nieder zu gehn. Da fiel ihr ein, daß sie schon seit einigen Tagen seinen -Schritt im Zimmer gehört hatte -- ach, es war sicher, er -- nein, -ruhiger war er nicht geworden, das war ja Unsinn, er war ja immer die -Ruhe selbst gewesen! Unruhig war er geworden, er ging umher, er sah auf -die Straße, wartete, lauschte, suchte. - -Im Augenblick überfiel sie gewaltig die Ahnung, die Gewißheit, daß Josef -nicht fortgegangen oder daß er inzwischen wiedergekommen war, daß sie -ihn finden konnte ... Aufgeregt schritt sie zur Tür und hinaus, lief die -Treppe hinunter -- seltsam, es war alles leer! wo waren denn die Andern? --- Nun durch den Garten, den Weg hinab durch die Büsche; am Pförtchen -lehnte ein Mensch, es war Georges. Ihr Herz sprang verzweifelt auf und -stürzte. »Georges!« rief sie halb weinend, »bist du allein?« Sie mußte -sich von ihm halten lassen, bebte an allen Gliedern und weinte. »Ich -habe ihm alles versprochen,« schluchzte sie, »was soll ich denn tun, -mein Gott, was soll ich denn?« - -Langsam fühlte sie sich wieder geborgen, ermannte sich, trat zurück und -trocknete ihr Gesicht. - -»War Josef da?« fragte er leise. Sie nickte. - -»Wenn er zurückgekommen ist,« fuhr er begütigend fort, »wird er auch -eines Tages ins Haus treten. Ich kenne ihn nicht, aber -- er hat wohl -kein Verbrechen begangen, aber das verwirrte Herz seines Vaters wird ihn -doch herumtreiben und anziehn.« - -»Ach, Georges,« klagte Renate, »was hat er denn getan? Du weißt ja, was -ich dir von seinem Vater erzählte, und da siehst du wieder: was ein -Mensch tut, das allein macht das Unheil nicht aus; das Unheil, weißt du -nicht mehr, damals sagtest du es selber, ja, Georges, du hast es mir -erklärt: das Unheil bildet sich im Herzen. Josef ging nur fort, was war -auch dabei? aber sein Vater nahm es als Strafe vom Himmel für eigenes -Verschulden.« - -Saint-Georges antwortete nicht. Sie standen schon wieder auf dem -Gartenweg, Renate ging langsam zum Haus zurück. Beim Anblick der -Kapellentür fielen Josefs Paket und Stock ihr ein, sie sagte -Saint-Georges davon und bat ihn, die Sachen an sich zu nehmen, -vielleicht in seines Bruders Zimmer zu bringen. - -Sie gingen in die Kapelle, er machte Licht, Renate nahm das Paket auf. - -»Vielleicht braucht er es aber«, sagte sie, streifte nach kurzem Zaudern -die Hülle ab und hielt einen Lederkasten in der Hand, wie eine flache -Zigarrenkiste groß. Am Ende ists etwas für mich! dachte sie und öffnete -den Deckel, hatte aber kaum hineingesehn, als sie entsetzt alles fallen -ließ, und was da am Boden lag, war Josefs halbes Gesicht; es sprang und -rollte wie aus Kautschuk und lag still, eine halbe Maske. Saint-Georges -hob sie auf. - -»Sei ganz ruhig,« sagte er, »es ist nichts Schreckliches, eine Maske.« - -Sie trat voll Furcht und Abscheu näher, er drehte das Ding in den -Händen, ja, es war ein halbes Gesicht, dem Josefs so ähnlich in der -Tönung, Kinn, Wange, Stirnansatz und ein furchtbar blickendes schwarzes -Auge, daß es sie durchschauderte. Sie stammelte ein paar erklärende -Worte von Josefs Aussehn. - -»Elfenbein«, sagte Saint-Georges, zwei Bänder durch die Hand gleiten -lassend, die an der Stirn hingen; am Halsstück war eine, fast zum Kreis -gebogene Spange aus Elfenbein, die wohl den Hals umschließen sollte. -Saint-Georges entdeckte und wies ihr chinesische Schriftzeichen an der -Innenseite und meinte, wenn es mit Josefs Gesicht so sei, wie sie sagte, -so könnte die Halbmaske wohl in der Dämmrung oder bei halber Beleuchtung -ein ganzes Gesicht vortäuschen; es sei kostbare Arbeit, nur ein Chinese -könnte dergleichen anfertigen, ohne Zweifel würde sie ausgezeichnet -schmiegsam passen. Seine Erklärung beruhigte Renate nicht; die Maske ihm -aus der Hand nehmend, wieder schaudernd, dachte sie: die andre -Gesichtshälfte von ihm habe ich nun in der Hand -- und kann kein Ganzes -daraus zusammensetzen. -- Dann überließ sie Saint-Georges die Maske, der -sie wieder verpackte. - -Aber danach, zur Ausgangstür vorgehend, glättete sich ihr Empfinden. -Fast, fühlte sie, hätte er mich hineingerissen in seine Fremde. Wie -toste es schon, Meerflut, Inseln und fliegende Sterne, allein -- wie -hatte doch Georges gesagt? >Sie bleibt gleichgültig, regt sich nie auf -und nimmt sich Zeit.< - -Indem sah sie ihn selber neben sich in der Türe stehn, die Blicke durch -das Dunkel ruhig in die ihren senkend, und sie lächelte, die Augen -schließend, ohne zu wissen warum. - -Als sie dann ins Freie traten, fühlte Renate erquickend den vollen Strom -der herbstlichen Nachtluft, und siehe da, über den Bäumen -- ach, wie -lange hatte sie es nicht gesehn! -- schwebte Josefs Fenster in der -Nacht, schöne, sanfte, grüne, gotische Fläche. Magda, oder auch Ulrika -und Bogner mußten dort oben sein. Sie konnte die Augen nicht abwenden -von dem tröstlichen Schein, folgte endlich Saint-Georges, der -voraufgegangen war, minder verzagt und hoffenden Herzens. - - - Neuntes Kapitel: Oktober - - - Cordelia - -Georg, aus seinem Schlafzimmer am Abend hervortretend, wo er die Koffer -für Berlin geschlossen hatte, erschreckte sich vor einer geduckten -kleinen Gestalt, die im Geisterlicht der Sphäre am Treppenfuß stand: -Hesekiel. Ärgerlich auf Egon, der trotz häufigen Tadels wieder einmal zu -faul gewesen war, nur die Stufen hinunter zu gehn, um die Kurbel der -Hängelampe zu drehn, fragte er: »Nun, was ist denn, Hesekiel? noch ein -Brief?« indem er die Schreibtischlampe aufflammen ließ. Ja, Hesekiel -hatte einen Brief, einen großen, sonderbar dicken Brief. Als Georg, im -Stuhl sitzend, ihn aufschnitt, kam ein ganzer Pack beschriebener Blätter -zum Vorschein, um den ein gleichfalls beschriebener Briefbogen -geschlagen war; alles Cordelias Schrift. Georg klappte den Briefbogen -auseinander und las: - - »Die arme Seele sendet ihrem Gebieter diesen letzten Gruß. - - Glück und Segen! Es ist alles gekommen, wie es beschlossen ward - in dem himmlischen Rat, so wird auch das letzte bald geschehen - sein. Glück und Segen! das Bett ist gemacht, bereit steht der - Becher, bereit ist die arme Seele. Glück und Segen über das - heilige Leben dessen, der dies liest.« - -Georg flimmerten die Augen. Esthers dunkelfarbiger Schmetterlingskranz -um die Kuppel der Lampe zuckte leuchtend und tanzte. Das Herz vom -Angstkrampf zusammengezogen, starrte Georg. Das Ende, sagte er, das Ende -... Cordelia war ... war ... - -Er nahm das Blatt wieder vor, seine Hände flackerten, er mußte es auf -die Tischplatte legen, er las: - - »Glück und Segen, die arme Seele ist nun nicht mehr da. Wo bist - Du, Geliebter? Glück und Segen, ich bin schon den kleinen Fluß - hinuntergeschwommen, schon rauscht der ewige Strom, ich hebe noch - einmal die wieder verarmte Hand, es rauscht -- horch, es - rauscht ... - - Glück und Segen, Glück und Segen! - - Im großen, dunklen Meerstrom sind alle Wellen einander gleich. - Was macht so dunkel den Strom, so groß, und die Wellen so gleich? - Das ist die ewige Liebe. -- Doch einmal, wenn Abend ist über der - schweren See, die Rose, die himmlische, entfaltet ist an der - unsterblichen Brust, so blinkt eine Welle auf ganz fern, die - Du kennst, eine lächelnde Welle, die Dich erinnert an: Einmal ... - Und Du sinnst: arme Seele, bist du's? - - Und so gehn die Jahre, so wandert die Zeit. Ist auch Dein Herz - nun alt geworden, geliebte Jugend, Dein Haar ergraut, faltig Dein - Mund? Die Berge stehn dunkel, so ernst sind die Sterne, nicht - mehr lang ist der Weg, schon hörst Du den Strom. - - Glück und Segen, das Leben war schön! Sang es der Wind, klang es - der dunkelnde Baum? O mein sinkender Freund, es war die arme - Seele! -- - - Viele Menschen kommen herein und stehn um einen Schläfer in - friedlichem Schlaf. Da kommt auch die arme Seele mit ihrer Blume - und ihrem Dank. Sie hatte einmal die Hände voll Gold -- es ist - alle geworden. Nun legt sie die kleine Blume auf die erstorbene - Brust, ihr Amt ist nun aus, sie wandert ins Meer und vergeht. - Wo bist Du, Geliebter? - - Gute Nacht, schlafe wohl! Es muß wohl sein. In meiner Brust sitzt - eine goldene Schlange, die will seit ewig hinaus, aus der - himmlischen Schale zu trinken. Gott ist allzeit gut. - - Ich liebe Dich, Geliebter, auch dort, wo Du mich nicht mehr - siehst. Das Blatt ist aus, aus ist das Licht, aus ist das Leben. - Geküßt tausendmal! Abschied -- ich kann nicht mehr -- alles gut. - - Cordelia.« - -Georgs Kopf sank langsam vornüber auf das Blatt und lag fest. Als die -Umnachtung wieder gewichen war, sprang er auf, riß alle Kraft, die zu -erreichen war, zusammen in das Jagen seines Herzens, sah Hesekiel stehn -und sagte: »Weißt du, was geschehen ist, Hesekiel?« - -»Is ein Unglück geschehn, Herr Doktor?« - -»Es -- es scheint so, Hesekiel. Sage mir jetzt -- kannst du mirs genau -sagen: warst du allein im Haus, als du gingst?« - -»War ganz allein, Herr Doktor, sell kann i --« - -»Wann bekamst du diesen Brief?« - -»Gestern abend, Herr Doktor. Gnä Frau gab ihn mir. Gestern abend wars, -so um halber acht herum.« - -»Und was sagte sie?« - -»Sehr lieb und gut war s', wie halt immer. Gab mir den Brief und sagte, -daß ich ihn bringen soll, heint, wenn dunkel wär. Ach, Herr Doktor, is -am End gar g'storm, gnä Frau?« Hesekiel fing an zu weinen. - -Georg legte ihm bewußtlos die Hand auf die Schulter. -- »Ich muß sie -sehn,« fuhr er dann auf, »ich muß wissen, muß -- Hesekiel, sage mir -- -besinne dich, sage mir: weißt du die -- die andre Wohnung von gnä Frau?« - -»Sell weiß i net, Herr Doktor.« Georg sah es wieder dunkel werden. »Man -könnt am End -- am End könnt ma nachschlagen im Adreßbuch ...« - -Natürlich, mein Gott! das gabs ja, Adreßbuch ... Georg lief ins -Ankleidezimmer, wühlte Mütze und Mantel hervor, dann stand er wieder vor -Hesekiel, sah gleichzeitig den Stoß Blätter noch ungelesen auf dem Tisch -liegen, raffte ihn samt dem Brief auf und steckte ihn in die Tasche. -Hesekiel nahm er mit sich ins Freie und schickte ihn mit irgendwelchen -Worten nach Haus. - -Cordelia nicht mehr da! Nicht mehr da, mehr da, mehr da ... Das Ende ... -das Ende ... Georg jagte die Allee hinab, über den Platz, auf ein -erleuchtetes Schild >Schloßwende< zu, stand dann vor einer Theke, eine -Frau gab ihm ein Adreßbuch, er blätterte, suchte, er fand endlich: -Severin, Karl, Tischler; Severin, Doktor; Severin -- plötzlich, -furchtbar deutlich: Severin, V., Privatiere, und C., Schauspielerin, -Inselbrückstraße 9, Hinterhaus 2 Treppen. - -Georg lief wieder durch schwarze, nasse Straßen mit Laternen. -Inselbrückstraße -- ganz in der Nähe -- Gerberstraße -- Inselbrücke -- -da war die Hartwigstraße, er bog ein ... Severin, V., Privatiere ... O, -sie hatte eine Schwester! -- Georg mußte an einer Laterne stehen bleiben -und den Schweiß von der Stirn trocknen. Er merkte plötzlich, daß er sich -fürchtete. Inselbrückstraße, eine verrufene Gegend ... Er schüttelte den -Kopf und ging weiter mit lahmen Füßen, dann wieder schneller durch die -enge Buchbinderstraße, wo es fast finster war. Er hörte Schritte hinter -sich, längere Zeit, plötzlich eine Stimme, die seinen Namen sagte, blieb -stehn und drehte sich um. Ein großer, breitschultriger Mensch zog den -Hut, es war -- war? -- Josef von Montfort. Merkwürdig sah sein Gesicht -aus ... - -»Aufs höchste entzückt, lieber Prinz! Sie erinnern sich doch meiner?« -Der fast schmerzhafte Händedruck brachte Georg zu sich. »Ja, da streift -man so herum durch abenteuerliche Gegend, und da findet man die -Erlauchten. Aber -- mein Gott, Prinz, wie sehen Sie aus? Was ist Ihnen?« - -Georg fühlte, daß sich ein Arm um seine Schulter legte, daß er -weitergeführt wurde, und vergaß sein Erstaunen über die Begegnung vor -großer Erleichterung. - -»Ich verstehe, ich verstehe schon«, hörte er begütigend hinter sich -sprechen. »Ein Unglück, ein Schmerz, eine Tote vielleicht? Kopf hoch, -mein Junge, nur ruhig, nur ruhig! Wohin geht der Weg?« - -Georg sagte: »Zur Inselbrückstraße. Ich bekam einen Brief. Ich -- jemand -wohnt dort, der ... Ich war nie dort ... Ich wäre dankbar ...« - -»Gewiß, aber gewiß! Nun nur ruhig! Wir werden alles an uns herankommen -lassen. Inselbrückstraße -- eine böse Gegend. Und die Nummer? Sehen Sie, -da ist die Brücke schon!« - -Die Brücke, überragt von eisernen Trägern und Balken, lag schwarz im -Schein ferner Laternen, umrieselt von leuchtendem Nebel. Georg nannte -die Hausnummer. Als sie fast hinüber waren, sah er zu seiner Linken, am -gemauerten Flußufer hinunter die Inselbrückstraße, Laternen, dampfend, -dunkle Häuser und helle Fenster. Montfort, der die Hand unter seinen Arm -geschoben hatte, schwieg. Gestalten kamen, nicht als ob sie gingen, -sondern wehten, weibliche, in Pelzen und riesigen Hüten, ein Mann -schlich an der Hauswand, zwei weibliche blieben stehen, Georg sah ihre -gefärbten Gesichter deutlich im Vorbeigehn. Er hörte Montfort etwas -murmeln, fühlte sich angehalten und blieb stehn. Nun bekam er sich -wieder fest, las von einem, viereckig um eine Lichtkugel gebogenen -Glasstreifen >Unionkino< in roten Lettern und sah eine transparente -Glaswand darunter leuchten von Schrift und gemalten Indianern. Daneben -war ein schmaler Hausflur und daneben eine große, dunkle Torfahrt mit -geschnitzter Tür, über der in einem kleinen blauen Oval deutlich eine -goldene Neun erschien. Montfort erfaßte den Drücker und bewegte ihn, die -Tür war zu. - -»Das war zu denken«, sagte er. »Und dies Haus --« - -Indem lehnte sich zu einem offenen Parterrefenster neben der Torfahrt -ein fettes Weib heraus, rief: »Man Geduld, meine Herren, ich komme -sofort!« und verschwand. - -»Um Gottes willen, das ist ein Bordell!« - -»Ja, da wollen wir nicht hinein. Kommen Sie, es wird sich anders machen -lassen.« Montfort zog ihn zu dem Hausflur, in dem Georg jetzt einen -Billettschalter entdeckte. Montfort bezahlte, empfing zwei rote -Billetts, sie traten auf einen Vorhang zu, der den Flur versperrte, doch -wurde er im selben Augenblick von drinnen zurückgeschlagen. »Erster -Platz!« rief eine weibliche Stimme, ein Mann ließ sie eintreten, Georg -sah Finsternis, dann einen Lichtkegel, der aus dem Hintergrund breit -nach vorn flutete, darunter eine Menge beleuchteter Gesichter, -ebensolche gerade vor sich, etwas höher, Stehende, die nun vor ihnen -bereitwillig auseinander wichen, da der Mann sie den Gang hinunter -führte. Sein Gesicht war Georg plötzlich ganz nahe, indem er sagte: -»Einen Augenblick, meine Herren, es wird gleich hell.« Dann ging er -wieder nach vorn. - -Eine Weile standen sie, und Georg sah das Flimmern und Zucken der -schwärzlichen Bildfetzen auf der Leinwand. Dann fühlte er sich an der -Hand ergriffen, Montfort zog ihn zu einer Tür, über der ein Licht war -und auf einem Pappdeckel >Erfrischungsraum< zu lesen stand. Nun war da -ein kleiner Flur mit Türen links und rechts und schräg gegenüber. Auf -der linken stand wieder >Erfrischungsraum<, über der rechten >Toilette<, -Montfort trat zu der gegenüberliegenden -- ein rotes Licht neben der -Aufschrift >Notausgang< brannte darüber --, öffnete sie, sie standen in -einem dunklen Hof. In der Nachthöhe hier und da schwebte ein leuchtendes -Fenster. In der Rückseite des Vorderhauses waren viele große Fenster -hell, und Georg konnte durch ein offenes in einem erleuchteten Raum -einen Mann sehn, der sich ein wollenes Hemd über den Kopf streifte, -worauf ein gelber Vorhang davorfiel. - -Und nun fiel ihm ein, daß er hier Cordelia suchte ... - -Im Finstern hinten waren zwei wandgroße Öffnungen, in denen es gräulich -dämmerte. Montfort murmelte etwas von Speichern und dem Fluß, während -Georg hinter ihm über das glitschige Pflaster ging. Eine Türöffnung war -da, ein Flur, ein Treppenhaus, und auf einmal ein kleiner Lichtkegel, -der umher tastete. »Wieviel Treppen?« fragte Montfort; Georg erwiderte: -»Zwei!« Sie tasteten sich vorwärts, stolperten über Stufen, dann sah -Georg im Lichtschein der kleinen Taschenlaterne das Geländer und die -Stufen der Treppe und folgte Montfort hinan, krampfhaft bemüht, zu -vergessen, was bevorstand. Das Steigen dauerte endlos, die Hand am -Geländer. Endlich stand Montfort vor einer Türe still und sagte: »Wir -sind oben.« - -Sie mußten unter dem Dach sein. Der Lichtkegel schöpfte aus der Tür ein -Porzellanschild heraus, auf dem klar und leserlich der Name >Severin< -stand. An der glatt braun gestrichenen Türfläche war nur ein metallener -Knopf. Indem erlosch das Licht. - -Das dauerte wieder endlos ... Anklopfen -- Warten -- Anklopfen, lauter. -Die Schläge dröhnten durch das Haus. -- »Wir müssen öffnen«, sagte -Montfort. Das Licht blitzte wieder auf und erlosch, Georg hörte rütteln; -gleich darauf flog die Tür gegen seine Stirn, daß er zurückfuhr. - -»Nun bitte ruhig sein,« flüsterte Montfort, »ich werde vorangehn. Aber -da ist ja Licht!« Er zauderte. - -Undeutlich quoll das rötliche Leuchten aus dem Hintergrund, wie es -schien, über eine Wand empor, die halbhoch war. Im wiederaufleuchtenden -Laternenschein gewahrte Georg Schränke, einen Stuhl, ein Sofa an den -Wänden eines kleinen Korridors, dann erlosch das Licht wieder, und -Montfort sagte leise: »Ich habe etwas gesehn, warten Sie«, worauf Georg -ihn nach links hinüber gehn sah. - -Dort -- er zuckte zusammen -- stand ein Mensch, stand ganz gerade und -still; nur den Kopf hielt er tief gesenkt. Darüber war das bleiche -Quadrat eines schrägen Fensters im Dach. - -»Nein,« hörte er Montfort laut und langsam sagen, »das kann sie nicht -sein«, und trat zitternd näher. »Machen Sie doch Licht«, sagte er. - -»Man muß nicht alles beleuchten.« - -Und nun sah Georg, da das Dunkel sich aufhellte, einen Kopf mit -weißlichem Haar, das Genick und eine Schnur, die nach oben verlief. Arme -standen seitlich ab. Alle Kraft zusammennehmend, zischte er wütend: -»Machen Sie doch Licht!« -- Aber er fuhr doch gepeitscht zurück, als er -die kleine, in Kleidern schlottrige Figur mit abstehenden Armen und -hängendem Kopf dastehen sah, die zwischen Zahnreihen hervorstehende -Zungenspitze, das Zahnfleisch, zurückgeraffte Lippen, die lange spitze -Nase im weißen Gesicht und nun auch das Weiße in halboffenen Augen, aus -denen ein schiefer, listiger Blick zu ihm sprang. Dennoch fiel eine -Berglast von seiner Brust. »Das Gespenst«, flüsterte er heiser. Und -dann, erklärend: »Ihre Schwester.« - -»So, so. Aber was hat sie denn da?« Indem machte der Arm des Leichnams -einen Ruck und hielt Georg einen langen Papierstreifen hin. Montfort -lenkte den Lichtkegel darauf, faßte das Handgelenk und drehte es herum, -fing dann an zu lesen: - -»Unser keiner lebt ihm selber, und unser keiner stirbt ihm selber. Leben -wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn, -darum wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.« - -Er hatte schön und ruhig gelesen, und als Georg jetzt hinzutrat, konnte -er sehn, daß es Cordelias Schrift war. In plötzlicher Kälte und -Gelassenheit drehte er sich darauf um, öffnete eine lose kleine -Tapetentür und fand sich in einem großen Raum mit zur Hälfte schrägem -Dach, in dessen Hintergrund auf einem Tisch ein schöner messingner -Tempelleuchter mit einigen halb herabgeschmolzenen Kerzen brannte. -Darunter funkelte etwas Blutrotes, ein Glas, und dahinter, an der Wand, -stand ein Bett, über das Cordelias schwarzer Seidenmantel gebreitet war, -weit, bis auf den Fußboden herab. - -Lange Zeit kam Georg nun nicht weiter. In seine Augen brannte der rote -Becher, und dahinter zeigten sich unbekannte Erscheinungen: eine Frau in -einem dunklen Laden mit einem Kopftuch, ein Schaufenster voller Lampen -und Geschirr auf Regalen, ein altes, plumpes Kirchenschiff, -- bis er -plötzlich, weit rechts von dem Glase, am Ende des Bettes, zwei weiße -Füße gewahrte, die gegeneinander gewinkelt emporstanden. Und jetzt zog -Cordelias Antlitz wehend vorüber in einem schmerzlichen Gefühl. Er trat -näher an das Bett, es waren Umrisse eines Körpers unter den schwarzen -Seidenfalten zu erkennen, die stark glänzten. Hier sollte Cordelia -liegen ... Und dies waren ihre Füße ... - -Und nun sollte der Mantel von oben aufgehoben werden, dann würde etwas --- da -- sein ... - -Georg wußte nicht, wie, doch nun hatte er den Mantel aufgeschlagen, und -dort lag ein Gesicht und -- es schien Cordelias Gesicht. - -Er beugte sich darüber und sah von oben auf zwei festgeschlossene -Augenlider unter einer fremden, sehr reinen Stirn, von der das braune -Haar zur Seite gestrichen war. Aber dann -- ein Schauder, nie gekannt, -rieselte durch seinen ganzen Leib -- sah er das Lächeln eines Mundes, -das ausströmte, mit einem namenlosen Triumph, gegen sein Herz. - -Plötzlich war alles in ihm ausgelöscht und vernichtet. Nur das Lächeln -noch strömte sich unaufhörlich aus. Das ganze, weiße, weiche, sanft -gerundete Antlitz unter ihm schwieg in tiefem Schlaf; schwieg sich in -Ewigkeit aus, schwieg, leuchtete ihn an mit grenzenlosem Schweigen. Und -auch das Lächeln schwieg, schwieg und gebot Schweigen. Da war nur dieser -Mund, der sein Lächeln festhielt; festhielt mit beiden hochgebogenen -Winkeln, um nicht aufzuhören mit Lächeln, nicht auf-, nicht aufzuhören -mit Lächeln. - -Und dies war jenseits; jenseits von allem, von jedem Ahnen und jedem -Wort. Sie lag und wußte; wußte, daß sie schlief; lächelte, lag, -lächelte, weil sie wußte, alles wußte, alles, alles ... - -Georg wandte sich langsam fort. Hier war nichts mehr. Kein Tod, kein -Schmerz, kein Verlust. Nur -- Ende. Sie war drüben. - -Aber, unwollend die Hände in die Manteltaschen senkend, fühlte er -Papiere in der einen und erkannte beim Herausziehn Cordelias Schrift. -Längere Zeit verging, während es ihm einfach schien, die Blätter in eine -der Kerzenflammen zu halten, allein das Gefühl: Cordelia, jene, die -Andre, habe sie geschrieben und für ihn bestimmt, hielt ihn zurück. Nach -einem Stuhl umherblickend, hörte er ein leises Geräusch; in der -rötlichen Lichterdämmerung des Raumes stand die hohe und dunkle Gestalt -Josef von Montforts, der zum Bett hinsah -- seltsam, mit einem -lebendigen und einem starren Auge, und wie der Länge nach mittwärts -gespalten schien sein Gesicht. Georg winkte ihm, näherzukommen, sah ihn -herzutreten und vor das Bett, worauf er nach einem Blick auf das Antlitz -überrascht zurückfuhr, dann wieder sich überbeugte und in dieser Haltung -verblieb, so lange, daß Georg, einen Stuhl entdeckend, ihn herbeitrug. -Nun stand Montfort wieder aufrecht, den Blick in die Leuchterflammen -geheftet, und sagte nach einer Weile wie zu sich selber langsam: »Das -war ja fast zum Fürchten ...« Dann wandte er sich zu Georg. - -»Sie wollen etwas lesen?« fragte er mit Zartgefühl gedämpft. »Ich werde -nicht stören. Sie werden mir aber erlauben, daß ich Sie nicht allein -lasse in diesem Hause.« - -Er neigte ernst den Kopf, und Georg sah ihn auf den Fußspitzen durch den -Raum zurückgehn und hinter der kleinen Tür verschwinden, -- wobei er -sich nun des abscheulichen Leichnams erinnern mußte, der dort hing, doch -hinderte ein Streifblick auf den unwandelbar lächelnden Mund alle -weiteren Gedanken. Er stellte den Stuhl neben das Bett, setzte sich so, -daß er das schlafende Antlitz mit jedem Blick über den Rand des Papiers -erreichen konnte, faltete die Bogen auf und las. - -»In der Haide; im April - -Ein ganzer Monat fast ist vergangen, seit ich Dich zum erstenmal sah, -und zu einem Entschluß bin ich nicht gekommen. So bin ich hierher -gefahren in den kleinen Haideort, dessen wunderlicher Name Cananoë -lieblich an Kindheit und die geheimnisvollen Kähne der Indianer -erinnert, die man Kanoee nannte. Es ist kühl, windig, der Himmel bewegt --- zum Abschied, zum Willkommen? -- er selber weiß es kaum, wie es -scheint, ob es Herbst ist oder April hier unten in der Welt. Meine -Fenster zu ebener Erde im kleinen Bauernhaus gehen auf den Obstgarten -hinaus, der noch ganz kahl ist, und ich kann beim Schreiben durch den -Raum hinten die braune, kahle Haide zu Hügeln mit schwarzen -Wacholderstauden ansteigen sehn, und dahinter den blauen Himmel, in den -kleine und größere Wolkenballen lichtweiß unaufhörlich hineinquellen ... -Und unaufhörlich wechseln Sonnenschein und Beschattung. Zu hören ist -nichts als der Wind und fernes Schnattern von Enten. - -Und so will ich denn einmal mein ganzen Leben ausbreiten vor mir und vor -Dir, denn ich ahne wohl, daß Du einmal diese Zeilen lesen wirst. -Ausbreiten wie ein elendes Gewand, an dem alles und alles zerrissen ist. -Und muß wohl anfangen mit dem Anfang. Wie soll der Anfang heißen? -- Es -war eine arme Seele. - -(Denn sie war ein paar Jahre im Paradiese der Kindheit und dann immer im -Fegefeuer.) - -Das Haus, in dem sie geboren wurde, hätte seinem Namen nach das -allerheiterste sein müssen, und für die arme Seele, die sieben -Kinderjahre darin verlebte, war es das auch. Viele schöne, blondhaarige -und schwarzhaarige Wesen in himmelblauen und rosenfarbenen Gewändern -waren im Wachen und Träumen um sie her, pflegten sie, badeten und -liebkosten sie und lachten beständig, und als sie erst so alt war, daß -sie Märchenbücher lesen konnte, wußte sie ganz genau, daß es Feen waren, -und sie ein Königskind, alldieweil nur solch eines Feen und Elfen zu -Dienerinnen haben konnte, alle Tage Schokolade trinken und Zuckerwerk -essen, soviel sie mochte. Dazu gab es allezeit, besonders aber am Abend, -eine himmlische, geheimnisvolle Musik zu hören, auch des Nachts, wenn -sie einmal aufwachte, Musik und Gesang, Gelächter und Gläserklirren aus -den schönen Zimmern und Sälen voller Spiegel und Lampen und kostbarer -Teppiche. Und von Allen wurde sie liebgehabt, wurde geküßt und gedrückt, -war immer die einzige ihrer Art und führte das wunderbarste Leben. Du -verstehst wohl, daß es ein Freudenhaus war. -- Ihre Mama, eine große, -dunkle Frau mit blitzenden Steinen in den Ohren, war die Herrin, der all -die Schönen dienten und zuweilen böse von ihr gescholten wurden. Dann -legte die arme Seele sich ins Mittel, es gab Gelächter, und alles war in -Ordnung. - -Diese herrlichen Tage dauerten, bis die arme Seele sieben Jahre alt war. -Da kam auf einmal ein großer Jammer und Aufruhr, die Mama lag ganz -bleich zwischen Kerzen und grünen Bäumen, Alle weinten, obschon es sehr -feierlich war und nicht traurig, also weinte sie auch. Dann kam ein -großer, starker Mann mit einem schwarzen Schnurrbart, der schon manchmal -die arme Seele auf seine Knie genommen hatte, wenn er einmal da war, und -gesagt, er wäre ihr Papa. Er gefiel ihr nicht besonders; böse schien er -nicht zu sein, aber er roch häßlich und nahm die arme Seele mit fort. - -Nun wurde es beinahe noch herrlicher. Die Feen waren zwar weg, aber -dafür kamen die Tiere. Alle Tiere aus den Bilderbüchern kamen, waren -ganz zahm und fraßen aus der Hand, Pferde, ganze Reihen und in allen -Farben, schwarze, braune und weiße, die buntesten Katzen, Hunde aller -Arten, vom kleinsten Rehpinscher bis zum riesigen Neufundländer, Affen -in bunten Soldatenjacken, ein großes Schwein, eine Menge Gänse, Ziegen -und Esel und die ernsten Kamele, und vor allem zwei ungeheure, graue -Elefanten. O und auch wilde gab es, die einen durchdringenden, ganz -betäubenden Geruch ausströmten und nur durch Eisenstangen gesehen werden -konnten, Löwen, Tiger, Jaguare und Leoparden, und das war mit das -herrlichste, ganz klein im Dunkel zu stehn und in dem wilden, starken -Geruch und sie hinter den Gittern am Boden liegen zu sehn, ganz schlaff -wie Häute, aber sie atmeten heftig, und auf einmal, wenn sie den Kopf -hoben, erschienen ihre gelben Augen, die eine Weile Ausschau hielten in -weite Ferne ... - -Die Menschen dahier waren mit der armen Seele stets lustig und -freundlich, jedenfalls die Männer, die fürchterlich stark waren oder -fürchterlich gelenkig; sie meinten es gewiß gut, wenn sie die arme Seele -mit einer Hand an die Decke schwangen, aber ihr Geruch war schwer zu -ertragen. Die Frauen hier kümmerten sich weniger um die arme Seele, -gingen bei Tage grau und mürrisch umher und strahlten erst am Abend, -wenn die Vorstellung kam und alles anfing zu glänzen. - -Und alle paar Tage gabs eine andre Stadt zu sehn und dazwischen -wundersame Reisen in der langen Wagenkolonne. Sind denn alle Wandertage -durch das flache Land Sommer- und Sonnentage gewesen? Die wenigsten -waren es wohl, aber nun ist da nur ein unendliches Lerchengetriller, -unendliches Himmelsblau, sind die gelben Wände der Kornfelder, aus denen -man mit vorsichtigen Armen große rote Mohnblumen und blaue Cyanen -herausholen durfte, sind die weißen Landstraßen mit den vielen Schatten -der grünen Wagen und der Pferde, die kurzen, wunderlichen Schatten, die -unter einem fortzogen, wenn man sich abmühte, darauf zu treten, und sind -die schmalen grünen Streifen zwischen Straße und Grabenrand, auf denen -man sich immer wieder lange, lange bis zum Schreien und Winken der ganz -klein gewordenen Kolonne vergessen konnte, im Suchen nach einem -Vierblatt unter den aberhundert kleinen grünen Blättern des Klees. - -Ein komischer alter Mann war da, der immer kaute, ganz vertrocknet im -Gesicht, schief, mit einem Holzbein, ein gewesener Clown, dem einer von -den Löwen das fleischerne zerrissen haben sollte, der war ihr Lehrer. Er -muß viel mehr Kenntnisse gehabt haben, als die arme Seele damals ahnte; -viel später merkte sie erst, was alles sie gelernt hatte, ohne je in -eine Schule gegangen zu sein. - -Im Zirkus zu arbeiten brauchte sie nicht. Sie hatte sich gleich beim -ersten Versuch etwas gebrochen, wobei sich herausstellte, daß ihre -Knöchlein zu zart waren für diese gefährliche Arbeit. So wars ein -glückliches Leben, und das >Schönste< darin ist noch nicht einmal -beschrieben. - -Später aber wurde alles immer blasser und farbloser, sie wuchs heran, -und eines Tages starb auch ihr Vater. Sie und ihre Schwester kamen -damals zu einem Onkel ins Haus, der sie ungern nahm, sich aber später -mit der armen Seele ganz gut vertrug, ein strenger, trockner Mann, -knochig und wortkarg, der einen kleinen Weißwarenladen hatte in einer -süddeutschen Stadt und Guttempler war. Hier ging die arme Seele auch -eine Zeitlang in eine richtige Schule, aber dann kam eine böse Zeit -endloser Kämpfe und Schmerzen, denn sie wollte nun Schauspielerin -werden. Sie hatte schon im Zirkus alle möglichen Dichter und Stücke -gelesen, und schon als sie noch klein war, angefangen, die Leute dadurch -zu belustigen, daß sie ihnen vormachte, wie sie waren, worin sie es mit -den Jahren zu großer Fertigkeit brachte. Und die Kämpfe gingen vorüber, -die arme Seele bekam einen Lehrer, und einen andern Lehrer, sie kam in -eine andre Stadt, lernte und lernte, und das Leben bestand nur noch aus -Lernen und Theater und Theaterleuten, und eines Tages hatte sie -ausgelernt, und jeder prophezeite ihr eine glänzende Zukunft. Sie hatte -auch schon einen schönen großen Vertrag mit einer guten Bühne in der -Tasche, und die lange, lange Qual fing an. - -Ja, wie ist das? Man meint, man hat eine feurige Sonne in der Brust, und -nun wird nur der Vorhang hochgezogen, und die Sonne strahlt, daß alle -Bühnenlampen erblinden müssen. Und wie ist das? Ein Theater ist da, da -soll man spielen. Aber da sind Viele, die spielen wollen, für jede Rolle -bald zwei und drei, man muß warten, o man hat ja Geduld, die Sonne -brennt, es tut weh, aber sie brennt, und man wartet. So spielt man die -kleinen Rollen, kommt in ein Zimmer, verneigt sich, giebt die Hand, wie -mans gelernt hat, und man wartet und hat viel Zeit, weiter zu lernen und --- da sind nun die Männer. Man mag sie nicht, sie riechen schlecht und -haben böse Augen und -- man wartet vielleicht auf einen, denn -- man ist -eine arme Seele, die nicht viel weiß von der Welt. - -Da geht man zum Feind, der der Direktor ist, und bittet um eine Rolle. -O, ja, gewiß, die Rolle ist da, sie wartet schon, der Direktor ist -einfach und kühl, und man möchte sterben vor Schreck und Beseligung: die -große Rolle! - -Da kommen nun die Proben, und es geht ja nicht? Was ist nur, warum es -nicht geht? Es ist alles schlecht und verkehrt, was man sich in den -langen, langen Nächten ausgedacht und geprobt hat und so sicher wußte, -und es sind ja nun auf einmal lauter Feinde da, die lachen und kaum noch -antworten, und kaum noch nicken, wenn man grüßt. Der Regisseur ist da, -ein Feind, der gerät ganz außer sich über das unmögliche Spiel. Wo ist -denn die Kraft geblieben? Wartet nur bis zum Abend, Geduld, es wird -besser werden, die Sonne brennt, -- aber sie ist so klein geworden, -täglich wird sie kleiner und schwächer, sie sieht einer Sonne gar nicht -mehr ähnlich, vielleicht war es gar keine? Alle lachten und sehen, wie -klein sie ist, Alles und Alle sind kalt, und die Sonne erlischt, man hat -die Rolle nicht mehr, man steht auf der Straße. - -Oder war es vielleicht nicht so? Vielleicht war es ganz anders? Es ist -lange her ... - -Da ist eine andre Bühne. Da ist ein Freund, ein guter Mensch, nun wird -alles gut werden. Eine Rolle ist da, nicht so groß, aber gut genug, um -zu zeigen, wieviel heller die Sonne brennt, und es geht ja vorzüglich, -der Freund hilft, Alle staunen. Ein Tag kommt, da ist der gute Freund -nicht mehr der Freund, er riecht, er ist ein Feind geworden, aber was -schadets? Die Sonne ist da, die Sonne genügt. - -Der Abend ist da, die Sonne kann nicht ihre ganze Kraft brauchen, aber -man sieht sie hell genug, und daß sie heller sein könnte. Man ist -zufrieden, man schläft wieder einmal, man hofft -- aber was steht denn -in den Zeitungen? Es war nichts, es war alles so übertrieben, kein -Verständnis für den Umfang der Rolle, in ganz verkehrten Händen, eine -Anfängerin, die bescheidener sein sollte ... - -Sinds denn schon Jahre geworden? War es denn so? War es nicht ganz -anders? viel mehr? Wie gingen denn die Jahre? Ging man denn immer -spazieren im Park, im Feld, in den Straßen? Nähte man die alten Kleider -immer noch einmal um? -- sie lachen schon lange im Salonstück, so geht -es nicht weiter, mein Fräulein! -- Aber meine Gage ... - -Gage liegt auf den Straßen reichlich genug zum Aufheben. Die arme Seele -will die Gage von der Straße nicht, sie wartet, sie hat ja Geduld, sie -steht Tag für Tag im häßlichen Zimmer und lernt, für später, die Sonne -brennt, sie vertausendfacht ihre Kraft in tausend Gestalten, Alle haben -die Sonne in der Brust, sie sehnt sich, sie lernt, sie lernt, sie -hungert, sie weint längst nicht mehr ... - -Ach, kann man das schreiben? Es war ja nicht so, es war ja alles ganz -anders. War die Welt etwa schlecht? Warfen sie sich Alle über die eine -arme Seele her und wollten sie zerdrücken? Die Welt ist nicht schlecht, -die Menschen sinds nicht, es will, sagt der kluge Georg, ein jeder nur -das Seine und will sich nicht hindern lassen dabei, aber -- die arme -Seele hatte kein Glück. - -Kein Glück? Es sind Jahre geworden, aber nun ist das Glück da, der Tag -ist da, der -- Tag ist. Eine Rolle ist da, und alles geht sehr schnell, -eine Aushilfe, der Direktor zuckt die Achseln, aber man kann ja die -Rolle, im Schlaf kann man sie, und man spielt, und die Sonne brennt und -strömt aus Augen und Kehle, aus den Gliedern und dann -- am Morgen nach -dem glückseligen Abend, wo sie Alle ihr um den Hals fielen, der armen -Seele, und sie küßten und weinten, und sie kaum schlief vor Trunkenheit --- was steht in den Zeitungen der kleinen Stadt? O welche Empörung! War -das nicht Babel? War das nicht abscheuliche Realistik? (Und war doch nur -Stil gewesen, nur Stil, so dumm ist die kleine Stadt!) Die Welt war -nicht gut am Morgen, die Menschen hatten alles vergessen, was die arme -Seele für unvergeßlich gehalten, in den Zeitungen stand, daß man es -vergessen müßte, der Direktor war ja nicht unfreundlich, es tat ihm -leid, aber -- Sie sehen, Severin, Sie sind nicht für hier ... - -Aber die Sonne, ein Widerglanz ganz klein saß er doch in einer -Zeitungsspalte, ein Keim, der aufging, und da war man in einer andern -Stadt und spielte sich aus, das Glück war da, die Sonne brannte, brannte -sehr schön im klassischen Stück. Aber im klassischen Stück war das -Parkett leer, im Salonstück saßen die Offiziere und Damen, -- die -Toiletten der Severin waren unmöglich, und waren doch so schön, wie die -größere Gage erlaubte, die Sonne brannte ... - -Warens schon viele Jahre? - -O der wahn--witzige Durst! O die wütende Sehnsucht! O die Verzweiflung! -All die vergebene Arbeit und Müh! Man ging wieder spazieren. O brennende -Nächte, Fleiß, Fleiß, Fleiß, und Darben, die arme Seele wurde mager und -häßlich, was schadete das, sie wartete auf den Tag, sie hatte keine -Sorge mehr um Hunger, um Scham und Verzweiflung, wenn eine Rolle kam und -ihr wurde ein Hemd angezogen, das reichte kaum zu den Knien, und die -Stimme des alten Feindes sagte: Sie müssen wohl selber sagen, Severin, -mit den Beinen ... Tage und Nächte. Alle Bücher gelesen, alle Rollen -studiert, alle Werke, Geschichte, Kostümkunde, Biographien, die Sonne -brannte, ein Morgen kam, grau, grau, sie war allein, kein Licht mehr. - -Schon viele Jahre ... - -Da kam ein Mensch. O zart, o schön und ganz sanft wie ein Engel. Sein -Blick durchbohrte die arme Seele, er war rein. Verkündigung, dachte sie, -o Engel, bist du's? Ein Dichter, er hatte ein Stück geschrieben, -Theodosis, das wurde aufgeführt, die arme Seele sollte spielen, sollte -sagen: - - Ich wollte ihnen dienen. O in Schauern - Sollten sie stehn und horchen: Hört, es klingt - Die Erde, ja die Erde klingt, die alte. - Wir sind geliebt, wir Menschen sind geliebt, - Denn eine Blinde baut uns goldne Brücken, - Denn eine Stimme kam, um uns zu dienen ... - -Und da -- gnädiger Gott! -- war die Erwartung zu groß? Wars schon -zuviel? Da erkannte die arme Seele, daß sie all die Zeit noch ein andres -Leben mit sich getragen hatte, geheim, von dem niemand wissen durfte, -aber Er, Er mußte es wissen, er würde nicht richten, sie dachte: du bist -rein, alles ist rein vor dir, auch dies Leben. Er war rein, aber er war -zart. Er ertrug nicht den Anblick, er ging fort. Keiner erfuhr, wohin. -Als Jahre dahin waren, konnte die arme Seele in einem Zeitungsblatt -lesen, daß im Walde eine Leiche gefunden war. - -So furchtbar war ihr andres Leben ... Ich zeige es auch Dir. - -Erlosch die Sonne? Das Stück ward nicht gespielt, die arme Seele brach -durch. - -Nein, es kam ja das Glück. Wie hatte der große Mann von ihr gehört, in -der königlichen Stadt, vor dem die Könige spielten und in Gold und Seide -gingen? Wie konnte denn das Firmament sich neigen wollen? Die arme Seele -sollte dort hinauf, die Sonne sollte vor Allen brennen, der große Mann -wollte es. Die Seele war nicht gebrochen. - -Die Sonne brannte, es war ein alter Vertrag, in dem stand: noch ein -halbes Jahr, die arme Seele wollte ihn halten. Weshalb? Sie hatte zuviel -Geduld gehabt. Der große Mann würde warten, noch ein halbes Jahr, die -Sonne brannte, der große Mann wartete nicht. - -Aus wars mit der armen Seele. Abend und Nacht und Morgen, die Sonne war -aus, aus war das Leben. - -Nun, wie war es denn? Warum saß die arme Seele im Theater wieder wie -jeden Abend? Freilich, sie war nun zufrieden mit allem, sie wußte, lange -dauerte es nicht, die Menschen waren ganz fern, der armen Seele war -leicht, die Menschen hatten sie glücklich gequält. - -Sie hatten mich glücklich gequält, Georg, und an diesem Abend kamst Du. - -Deine Augen sagten: bist du's? Deine Augen sagten: steh auf! Deine Augen -sagten: geh voran, ich komme. - -Eine Brücke. Wo warst Du, Georg? Glück und Segen, dachte die arme Seele, -er kommt, etwas soll noch sein. Und kommt er nicht, so ist hier die -Brücke, das Wasser ist unten, es geht ja schnell. - -Glück und Segen, geliebter Herr, und höre nun von dem anderen Leben!« - - * * * * * - -Georg -- sein ganzes Blut lag ihm im Innern, zu einem glühend kochenden -Klumpen geballt -- sah sich jetzt aufstehn, zur Wand gehn, die Arme -dagegen legen und den Kopf auf die Arme und -- -- nein. Nahe vor ihm lag -ein schlafendes Gesicht, die Augen fest geschlossen, aber der Mund -lächelte vor sich hin, hatte nicht aufgehört zu lächeln, schwelgte im -Lächeln und wußte, wußte ... - -Er sah auf das Blatt. Da war wieder der siedende Katarakt, an dem er -eben gestanden hatte, war diese Feuersbrunst von Leiden, die in seinen -Ohren leiblich getost hatte, dies Gigantengehämmer der Qual. All dies in -Cordelias Brust, seiner Cordelia, der immer heitern, immer kindlichen, -seligen, immer -- nein, einmal war der Schmerz ausgebrochen, das Untier, -aufbrüllend, alles zerfetzend mit dem Hieb seiner Pranken, einmal ... -Einmal ist nichts, und hier war das Lächeln. - -Georg nahm die Blätter wieder vor und las weiter. - -»Du hast gesehen, Georg, daß die arme Seele eine Schwester hatte, und -hast sie wohl abstoßend gefunden. Da die arme Seele selber sie kannte -vom ersten Blick des Lebens, war sie die Häßliche immer gewohnt. Und -diese Häßliche hatte ja auch das >Schönste<. Das >Schönste< war vom -ersten Bewußtsein des Lebens an, später erst lernte sie, daß die -Schwester es hatte, daß es sich von ihr immer bekommen ließ, und noch -später, daß es sich nur von ihr bekommen ließ, und daß niemand sonst -davon wissen durfte; und noch viel später endlich, daß es kein ->Schönstes< war, sondern ... - -Wenn die arme Seele kaum in ihrem Bett lag am Abend, das Licht gelöscht -war und Alle gegangen, die beim Auskleiden und Waschen geholfen, -gescherzt und gelacht hatten, dann ging leise die Tür, die viel ältere -Schwester kam herein und stieg zu ihr ins Gitterbett, und dann ... - -Laß, Georg, laß! laß doch los, Georg, ich kann ja nicht! - - * * * * * - -Seltsam! Als ich die letzten Worte schrieb, wars Nacht, es ging schon -auf Morgen, ich legte mich und schlief bald. Nun ist auch Morgen und -Mittag gewesen, ich habe wieder eine Stunde geschlafen, und plötzlich -ist alles verwandelt. Ich weiß so viel, alles glaube ich zu wissen, ich -glaube, ich darf ... - -Es ist fast, als hätte ich Dirs gesagt. Du hast ja verstanden, Georg, Du -bist ein Mann -- Männer verstehen ja solche Dinge, auch wenn man sie gar -nicht meinte, also hast Du verstanden.« - -Georg sah die Tote an. Ja, sagte er, ich habe verstanden. Aber --, -- er -wußte nicht weiter. Er las. - -»Nein, nichts habe ich Dir gesagt, ich weiß es, und doch -- ich glaube, -ich darf. Auf einmal ist auch das Gewebe fertig, an dem ich so lange -gesponnen habe, ohne es zusammen zu bringen, das ich meiner Schwester -überwerfen kann, damit sie mir ein halbes Jahr läßt. Ein halbes Jahr, -das genügt, und mehr ist unmöglich. - -Ein halbes Jahr Glück. Mir ist eingefallen, daß ich ja die Sonne habe. -Zwar ist sie eigentlich so beschaffen, daß sie nur vor Vielen brennt, -aber ich denke, sie wird sich nicht versagen. - -Ich will kommen und will spielen, Georg. Wundersam, nicht? daß man sagt: -spielen. Ein halbes Jahr, ich bin glücklich, bins schon, ich brauche -nichts zu erfinden, nur die Lüge muß ich verbergen, nur dazu ein wenig -Spiel; und ein wenig, wenn es -- wenn es einmal schwer ist, zu spielen. -Oh ja, nun werde ich spielen!« - -Georg fühlte die Glut auf der eigenen Stirn. -- Also das wars? Sie hat -gespielt und gelogen, und ich habe gelogen, wir Beide. Oh Gott sei -gelobt, daß ichs getan habe! durchfuhrs ihn, ich hätte ihr am Ende noch -das Letzte zerstört. - -Er suchte die Zeile, wo er aufgehört hatte, wieder und las: - -»Ein halbes Jahr -- und dann der Tod. Ein halbes Jahr lügen und dann die -Wahrheit. Ich sehe das halbe Jahr, es glänzt; und ich sehe die Stunde, -wo Du dies liest. Weißt Du nun alles, Georg? Richtest Du, wie der Arme, -Zarte nicht richten konnte und doch zerbrach und hinging; tragen wollte -und doch nicht konnte und vielleicht anfing, die Sterne abzuzählen auf -das Rechte, und steht noch heute und findet es nicht heraus ... Weißt Du -noch den Anfang, vor einem Monat, weißt Du nun, warum Du mich gar nicht -verstehen konntest? Weißt Du, wie ich in Deine Tür kam und vor Staunen -verging?« - -Georg sah und wußte alles. Ihre Andacht, ihre grenzenlose Beklommenheit, -und wie sie am Boden kniete und sagte: »Ich bin dein eigen« ... Und -dann, in der Finsternis, am Wasser, wie sie heraufgestiegen war, auf den -Knien lag und aufseufzte den einen tiefen Seufzer, und dann lag und -weinte und aufstand, fortging und nicht mehr kam ... Dann hatte sie -einen Monat gerungen, dann kam das halbe Jahr, -- und er hatte nichts -gewußt. Sie hatte die Hölle unter ihre Füße gestampft und stieg herauf, -wie ein Engel rein, sie ... Georg faßte behutsam den Mantel und zog ihn -über ihren Gliedern fort, bis zu den Knien, sah leise schaudernd die -weiße, im Kerzenschein nicht abgestorbene Haut ohne Makel, wie er sie -gekannt, legte den Mantel wieder darüber, das Lächeln ihres Mundes -scheuchte ihn ganz zurück, er gewahrte die Blätter in seiner Hand und -las, entschlossen, zu Ende zu kommen. - -»Genug, Georg, genug. Ich weiß nicht, was Du denkst. Vielleicht denkst -Du jetzt, ich hätte sprechen sollen. Vielleicht verstehst Du es gar -nicht, denkst, ich hätte es versuchen sollen, hätte den Tag herankommen -lassen sollen, wo mein Vampir vor Dich hingetreten wäre und ausgeschrien -hätte, was ... Vielleicht verstehst Du auch mich nicht, daß ich dem -Vampir so habe erliegen können, so in seiner Gewalt blieb ... Ach, -fünfzehn Jahre unwissender, solcher Gewohnheit -- und nichts ist mehr zu -retten. Tausend Versuche, und kein Erfolg; aus seinen Krallen gab es ... -wozu? Töten -- nicht wahr, Georg? das denkt sich so einfach und nah für -den Fernen, aber ich weiß, daß man dazu geboren wird oder anders nicht -dazu kommt -- vor dem eigenen Tod. - -Ich komme, Georg. - -So war das Ende der armen Seele doch beschlossen auf der Brücke, als sie -auf Dich wartete und dachte: entweder -- oder. Nur ein wenig -hinausgerückt wars, weit genug, um es ganz vergessen zu können für ein -halbes Jahr. - -Ach, und eine kleine Hoffnung ist noch. Soll ichs noch sagen, Georg? - -Ein Kind, Georg, ein Kind. Dann, oh dann, weiß ich, ist alles gut, ist -alles andre wie abgerissen, dann ist nur das eine, nur es, das Kind, Tod -und Leben ganz gleich, nur nötig das Leben, weil es lebt. -- - -Ich bin müde, die Welt wird dunkel, ich werde wieder schlafen. Diese -Blätter hebe ich auf bis zu dem Tag, wo Du alles wissen mußt. Ich sehe -die Zukunft nicht, alles was ich sehe, ist die Sonne in meiner Brust, -und daß sie brennt, alles was ich will. Gute Nacht! Ich komme. - - * * * * * - -Heut war der Abend, an dem ich vor Dir Theodosis spielte, zum erstenmal -ganz: spielte. Das Halbjahr ist um, das Zeichen war da, es soll nicht -mehr sein. Wie es kommen wird, mag sich zeigen, von heute an ist -Abschied. - -Glück und Segen, geliebtes Haupt, es war wunderbar! Glück und Segen, die -arme Seele ist nicht sehr betrübt, obgleich es schwer ist, von Dir zu -gehn. Das Ziel ist erreicht, mir ist nicht bange, ich werde gar nicht -mehr spielen brauchen die letzte Zeit. Alles hat sich so geglättet, all -das viele Leid ... - -Es ist doch alles nur Liebe gewesen. -- - -Und vielleicht -- auch wenn ich aus dem roten Becher getrunken habe -- -nimmt es noch kein Ende mit ihr. - -Dann werd ichs wissen. - -Erhalte mir Dein Herz, denn aus ihm kommt das Leben! - - bittet - die arme Seele - Cordelia.« - -Georg legte die Blätter leise zusammen und erhob sich. Es war still. Er -suchte in sich, die tiefgebrannten Flammen der Kerzen im Blick. Er -versuchte, zu begreifen, daß hier Tod war, und was das war: Tod? Aber er -fand nur eine unerkennbare Fremdheit. Nicht Angst, nicht Grausen, nicht -Schmerz, -- nur eine feierliche Schwere, die nicht drückte. Er heftete -noch einmal die Augen auf das Lächeln der Toten, zog schnell den Mantel -darüber hoch, nahm das rote Glas an sich, löschte dann eine nach der -andern die Flammen und ging leise durch den Raum auf den Lichtspalt der -Türe zu, jetzt merkend, daß von dorther der Geruch des brennenden Tabaks -kam, den er schon längere Zeit unbewußt wahrgenommen hatte. - -Josef Montfort wandte sich im Stuhl um, in dem er, den Rücken der Tür -zugewandt, in der Nähe eines Sofas saß, das an der Wand stand. Er -rauchte, an der Erde stand eine Kerze im Blechleuchter, ein Wasserglas -mit rötlichem Bodensatz und eine Flasche Wein. Es hätte behaglich -ausgesehn, wenn nicht auf dem Sofa der weibliche Körper gelegen hätte; -allein als Georg, Ekel und Schauder, die heftig in ihm aufstiegen, -überwindend, hinzutrat, war auch hier nichts Abscheuliches mehr. -Montfort hatte der Toten die Hände zusammengelegt, sie lag grade, die -Augenlider waren geschlossen, die Zungenspitze verschwunden, der Mund -geschlossen, sie sah müde, friedfertig und gut aus. Montfort zeigte ihm -alles deutlich, indem er die Kerze hochhielt und leuchtete. Dann gab er -ihm auch den Zettel in die Hand, den die Tote gehalten hatte, und Georg -steckte ihn in die Tasche zu dem übrigen. -- - -Leben wir, so leben wir dem Herrn ... Dem Herrn? dem Herrn? Nun gleich, -das Wort enthielt ja wohl alles, und wenn Cordelia es für die Schwester -geschrieben hatte, so war auch hier alles geschehn. - -»Wollen wir gehn?« fragte er Montfort. Der nickte, ließ ihn voran bis -zur Tür und löschte das Licht. - -Die Taschenlaterne leuchtete ihnen nach unten. Im Hof fiel es Georg ein, -daß sie kaum würden aus dem Hause kommen können, doch zeigte Montfort, -ehe er etwas sagen konnte, einen Schlüssel, lächelte ein wenig mit einem -Auge und sagte: »Ich sorge für alles.« - -Auf der Straße, überm Fluß brauten Nebel und nächtliche Dämmerung. Die -Laternen waren erloschen. Montfort warf das Ende seiner Zigarre über das -Geländer, die rote Flugbahn erlosch, er sagte, Georg unter den Arm -nehmend: - -»Ich muß Sie um einiges bitten, lieber Freund. Erstlich, zu vergessen, -daß Sie mich hier sahn, jedenfalls vor jedem, der mich kennt. Ich weile -unbekannt hier. Zweitens sich nicht weiter zu wundern, daß Sie mich -trafen. Es dürfte Ihnen ja kaum unangenehm gewesen sein. Mich selbst -wundert es durchaus nicht, da ich seit Kindesbeinen, möchte ich sagen, -die Gewohnheit habe, an Stellen aufzutauchen, wo sich das Fürchten -lernen läßt. Gelernt habe ich es leider nie. Das Unglück meines Lebens. -Nun -- ich hoffe, wir plaudern ein ander Mal darüber. Sehen Sie, da sind -wir über die Brücke. Übrigens -- mit Ihrer Erlaubnis würde ich nichts -dagegen einzuwenden haben, wenn Sie mir ein Bett anböten für die Nacht; -bis zu dem meinen wäre es verteufelt weit in Anbetracht der Stunde. -- -Ja, noch etwas: mein Gesicht. Sie haben vermutlich bemerkt, daß etwas -damit nicht in Ordnung ist. Nun -- auch darüber werden wir plaudern, -wenn uns das Leben wieder zusammenführen sollte, was, wie ich hoffe, in -für Sie weniger schwerer Stunde der Fall sein wird.« - -Georg, willenlos übergossen von der plätschernden Suada, blieb nun -stehn, da sie bei der ersten Laterne angelangt waren, blickte Montfort -an, blickte zu dem Glaskäfig auf, in dem der Glühstrumpf atmete, und -dachte: Habe ich denn nun alldas geträumt? Wann stand ich denn schon -einmal neben einer solchen Laterne? War das nicht -- als ich Renate zum -ersten Mal sah? -- Er zuckte zusammen. Seine linke Hand fühlte die -Papiere in der Tasche, seine rechte das warme Glas. Kein Traum. Cordelia -war tot. Aber auch kein Schmerz kam hoch in seiner Brust; im Dunkel -wehte es auf, lächelte tief, und entschwand. Georg ging weiter. - -Allein! sagte jemand tonlos in seiner Nähe; allein, allein, allein. - - - Hier enden des fünften Buches neun Kapitel oder ebenso viele - Monate. - - - - - Sechstes Buch. - Fragmente aus den halkyonischen Jahren III - oder - Die Schleuse - - - Erstes Kapitel: November - - - Berlin - -Georg sah, als er eines Nachmittags den dunklen Gang in seiner Berliner -Wohnung hinunterging, einen Brief hinter der Korridortür liegen, -augenscheinlich durch den Postschlitz geworfen, und erkannte im Aufheben -mit Verwunderung und Verdruß nicht nur seinen Berliner Pseudonymen, -sondern auch Bennos Handschrift: die Universität, an die adressiert war, -hatte den Brief nachgeschickt. Äußerst mißgestimmt gegen Benno, der sein -nachdrückliches Verbot des Schreibens übertreten hatte, stopfte er ihn -in seine Manteltasche, und erst, als er im vollbesetzten Stadtbahnabteil -an der Türe lehnte, gab er der Reizung des Verschlossenen in seiner -Tasche nach -- dazu dem Verlangen nach einer Beschäftigung, das von dem -stumpfen, gerüttelten Beisammensein mit den ereignislosen Gesichtern der -Mitfahrenden hervorgerufen wurde -- und öffnete, sehr widerstrebend, den -Brief. Nur mit den Augen zu überfliegen und wieder fortzustecken -willens, las er: - - Altenrepen, den 26. 11. - -Ja, mein Georg, so siehst Du mich Dein strenges Gebot übertreten. Aber -Du kannst, nein, Du kannst nicht verlangen, daß ich es halte, daß ich -weiter in dieser alltäglichen und -- ach mehr noch! -- allnächtlichen -Sorge und Ungewißheit um Dein Ergehen hinlebe. Ich bitte Dich, gieb mir -ein Lebenszeichen! Wenn ich an Dich denke, sehe ich Dich in diesem -entsetzlichen Berlin wie in einem Mahlstrom umgetrieben, es flimmert mir -vor den Augen, Dich, allem Schönen, Reinen, Edlen so hingegeben und nun -so zu Boden gedrückt durch das furchtbare Erlebnis, in der Einöde zu -denken, die der Name Berlin vor meinen Augen entstehen läßt. Georg, die -Nacht, wo Du mir von Cordelia sprachest, die Tote selbst, ihr Lächeln, -der schauerliche öde Raum unter dem Dach -- unzählige Bilder, die nicht -vor meinen Augen weichen, werde ich im ganzen Leben nicht vergessen. Ich -träume davon, es läßt mir keine Ruhe, auch ist ja niemand da, mit dem -ich darüber sprechen könnte. Elfriede -- ich versucht' es, aber -- was -kann sie davon verstehn, die nichts sah, noch mein Empfinden für Dich -teilen kann; ihr muß es ein fremdes schauerliches Märchen bleiben, und -von vielem darin hätte ich kaum einmal gewußt, wie es ihr sagen. Ich bin -manchmal recht allein, Du fehlst mir täglich, ich spreche mit Hesekiel -von Dir, aber -- der Sprachschatz des Armen ist recht beschränkt, -- -ach, unsre schönen Gespräche! Wird all das jemals wieder kommen? Auch -Magda ist fort, -- willst Du sie wirklich nicht aufsuchen? Sie würde -doch sicherlich ein gutes heilsames Wort, ein linderndes Mitschweigen -für Dich haben. Genug, ich sehe längst Deine Unzufriedenheit, und -vielleicht -- ich hoffe es ja -- sind all das auch nur Einbildungen von -mir. - -Ich bin fleißig, Elfriede ist heiter und engelhaft wie je, und mein -Leben könnte das glücklichste von der Welt sein, ohne -- Du weißt, wie -ichs meine. - - In Treue Dein alter - Benno - -Kümmerlich, dachte Georg, sehr kümmerlich ist das! indem er den Bogen -faltete und in das widerspenstige gelbe Seidenpapierfutter des -Umschlages pfropfte. Guter Benno, deine Sorge ist ebenso rührend schön --- für dich, wie herzbeleidigend für mich. Außerdem geht mirs glänzend, -und alles was du schreibst, ist Unsinn. Du -- -- Überdem wurde die Tür -hinter Georg aufgerissen, drei und mehr Menschen drängten herein und ihn -bis zur gegenüberliegenden Tür -- sehr ärgerlich! denn was hatten sie -auf diesem winzigen Tiergartenbahnhof, wo überhaupt niemand einzusteigen -pflegte und deshalb auch niemand einzusteigen hatte, obendrein in seinem -Abteil zu wollen? giftete er sich. -- Eingezwängt stehend, eine Hand am -Gepäcknetz, ließ er seine Verstimmtheit gegen den Freund weitertosen. -Wie er mich bloß so falsch verstehen konnte! Als ob nicht mein ganzer -Jammer eben darin bestanden hätte und bestünde, daß sie -- daß sie tot -ist, nichts als das, fort mit allem, jenseits, zugedeckt mit diesem -Lächeln, das mich verfolgt ... - -Georg verlor seine Gedanken über dem Anblick der Leute in seiner Nähe, -die ihn zu nichtswürdiger Beschäftigung mit ihren gebündelten Zügen, -häßlichen Händen, Hüten und dergleichen zwangen; die Fahrt des langsam -dahin trabenden Zuges schien in alle Ewigkeit währen zu sollen, er -geriet am Ende wieder an den Brief. Ich bin sehr allein ... hatte er das -nicht geschrieben? Und überhaupt die ganze Stelle mit Elfriede klang -doch sehr merkwürdig und -- ah natürlich! das war der wahre Grund des -Schreibens! Armer Benno, fängt es nun an? Der erste Argwohn, das -gescheuerte Gold sei -- am Ende doch Messing? -- Georg wurde, so sehr er -Benno bemitleiden mußte, warm und wohler ums Herz, er verließ im Bahnhof -der Friedrichstraße aufatmend den Zug, eilte durch die schon dämmernden, -nebelgrauen Straßen und saß alsbald in seiner abgelegenen Ecke der -Seminarbibliothek an seinem Tischplatz, unsichtbar außer für den, der -ein Buch in der Bücherwand hinter seinem Rücken suchte, eine andre -Bücherwand vor sich, zur Linken das Fenster. Allein kaum, daß er die -dritte Seite in Gerlachs Abhandlung über die deutsch-dänischen -Handelsbeziehungen gelesen hatte, empfand er, daß er gestört war, mußte -sich anders setzen, das Buch anders legen, erst einen, dann mehrere -Sätze doppelt lesen und lehnte sich plötzlich aufseufzend im Stuhl -zurück. Gedankenleer zum Fenster hinausgewandt, sah er drüben die -kahlschwarzen Kastanien des Wäldchens, flatternd von letzten braunen -Blattfetzen, die Baracke für Vorträge über Kunst darin, kahl, nüchtern -und unfreundlich, dahinter die Rückfront der Universität. Ein paar -Gestalten, frostig anzusehn, wandelten im Garten. Auf der Straße davor -flammte grünbleich die erste Laterne auf. - -Ja, da ist es wieder, das Alte, dachte Georg im Empfinden des Drucks, -der Beklommenheit, der Angst in der Brust. Nun ist alles wieder drohend -und ungewiß. Sie schläft, sie lächelt, sie ist drüben. Ich bin allein. -Wie lang ist es her? Fünf Wochen! - -Mein Gott! -- ihm ward heiß -- wie ist es denn möglich? Hin, alles hin, -ganz und gar wie ein Traum, wie ein Sonntag, alles, alles fort! -- Er -zwang sich, er sah sie, ihren glänzenden Leib, in der Nachthelle, in -einem Gartendickicht, auf dem Schwarz des Mantels -- Sterne bewegten -sich im Laub. Auf dem Bett unterm Fenster, über ihre strömenden Glieder -hinaus, tauchte sein Auge in die helle Nacht, die dunklere Ferne, die -Ebene endlos -- und darüber die zahllosen Augen der Sterne. -- Dies -erlosch, im rötlichen Schein der Kerzen funkelte das rote Glas, das -schlafende Antlitz lächelte vor sich hin, -- im Schwinden sah er noch -Montfort, den Hut aus der Stirn gerückt, vor der verschlossenen Türe -stehn, eine Hand über sich aufgestützt, die Füße gekreuzt, in der -herabhängenden Linken die kleine Taschenlampe, aus der er von Sekunde zu -Sekunde den Lichtkegel zu Boden fallen ließ, in dessen Schein er selber -vor Georg erschien, ein Bild, das sich wie kaum ein andres ihm -eingebrannt. -- Georg versuchte es wieder, er sah sie unter der Vorhalle -des Hauses, ihm entgegenschmelzenden Gesichts ... Was sich jetzt regte -in ihm, war sein Geschlecht, die Entbehrung, er rückte unruhig im Stuhl, -fühlte sein Sitzfleisch zerdrückt von Beinkleidfalten, -- die alte -Quälerei war wieder da, der ewige Durst, der sich so wenig überwinden -noch betrügen ließ wie das Bedürfnis des Leibes nach Feuchte, nach -Kohle, nach Eiweiß, -- ach armer Benno, das Leben ist so schauerlich -anders, als du meinst! - -Überdem empfand Georg eine fast unlustähnliche Lust, ihm zu schreiben. -Er trennte nach einigem Widerstreben ein paar Bogen aus seinem Heft, -setzte an und brachte es plötzlich nicht fertig, die gewohnte Schrift zu -schreiben, worauf er aus dem Punkt des angesetzten L den kleinen Bogen -des stenographischen Zeichens dafür zog und langsam zu malen begann. - -Lieber Benno: Ich hoffe, Du kannst dies noch lesen. Vergieb schon, aber -es scheint mir das von Cordelias Brief zurückgeblieben, daß ich -- nun, -es ist wie ein Grauen vor offener Schrift. So eine Art Hysterie -vermutlich. Und die weich geschwungenen Zeichen malen sich so angenehm -aus der Hand. - -Habe Dank für Deinen rührend liebevollen Brief. Scheinbar weißt Du, -Halunke, daß ich es liebe, gerührt zu werden, und wenn nicht alle -Empfindungen des Vermissens in dieser Beziehung von Dir beschlagnahmt -wären, so könnte ich wohl Hesekiel vermissen, seine immerrührende Figur -und rührenden Sprüche. - -Was mich angeht aber keinerlei Sorge! Wenn ich mich auch nicht eben -wohlbefinde, so ist das aus keinem der Gründe der Fall, die Deine -Einbildungskraft Dir vorspiegelt. Berlin ist freilich der Mahlstrom, als -den Du es Dir vorstellst, allein -- einerseits war es ja meine volle -Absicht, mich hineinzustürzen -- ich hoffe, Du hast beim wohlwollenden -Übertreten meines Schreibverbots das nicht gleich mitvergessen --, und -andrerseits stehe ich vorläufig noch ganz am Rande und lasse michs -schwindeln. Im Vertrauen: mir schwant, daß ich trotz aller Absperrung -vom bisher Gewohnten, trotz scheinbaren Untertauchens durch Pseudonym, -Inkognito und die vorgebliche Lebensführung eines von hunderttausend -Studenten, Bureauschreibern, Literaten, Referendaren _et cetera_ -- -gleichwohl nicht in den Strom gelangen werde, aber -- vielleicht ist der -Schwindel am Rande, wenn dauernd, das fürchterlichere. - -Die Stadt ist furchtbar. Ich meine damit nicht Berlin im Gegensatz zu -andern Großstädten des Erdballs. Ich meine die Großstadt an sich, als -Lebensform, als Weltteil, als Schicksal; meine den Fluch der Anhäufung -von Dasein und Geschick. Ah genug, wir werden sehn, übrigens wie singt -der Poet? - - Allein die Städte wollen nur das Ihre - Und brauchen viele Völker brennend auf, - Wie hohles Holz zerbrechen sie die Tiere ... - -und so weiter, im Stundenbuch nachzulesen. Dennoch giebt es die -merkwürdigsten Oasen mitten in der Meereswüste, deren Nötigkeit sich -kaum begreifen läßt, wie etwa jene Schächte in farbige Jahrhunderte und -Jahrtausende hinunter, die sich Nationalgalerie, Völkermuseum nennen. -Nein, da bin ich gestern unvermutet an einem der seltsamsten Eilande -gelandet und will Dir davon erzählen. -- - -Georg hielt inne. Wozu das eigentlich? dachte er unwirsch. Aber die -wieder aufgetauchten Bilder des gestrigen Abends, Hardenberg, der stille -Plauderer, Dachgarten, die kranke Frau, die Bilder -- bewegten sich in -ihm, wie die Samentierchen zum Eileiter, zur Gestaltung, und er fuhr -fort: - -Im Tiergarten traf ich unlängst auf Hardenberg. Du erinnerst Dich seiner -vom Leseverein in Prima. Wir sprachen uns an, gingen zusammen, wir kamen -ins Gespräch, ich machte meinem Ärger Luft über das Gemisch von Stangen -und Statuen, das in meinen Augen der Tiergarten war, und hörte bald -herzlich erfreut das wohlbekannte, leicht altenrepensch gefärbte: »Ich -muß doch sä--gen ...« mit dem er die Absicht einer kleinen Abhandlung -anzukündigen pflegt, und siehe da -- wie ein Mandelbaum aus den Fingern -des zaubrischen Chinesen entfaltete sich alsbald ein Sommertiergarten, -ein grünes Idyll der Behaglichkeit und des Friedens. Und aus dem einen, -dem Tiergartenpark entfächerte er die Parke der Stadt, wie sie alle -heißen: Kleistpark, Preußenpark, Schöneberger Stadtpark, Steglitzer, -Dahlemer, beschrieb die Findigkeit ihrer Anlage in der Ausnützung der -Bodenverhältnisse, beschrieb ihre Sommerabende nach dem Regen, ihre -Verschwiegenheit, ihre erfrischten, leuchtenden Wege, die umdampften, -schweren Gruppen der Bäume, auf dem Hügel den weißen Pavillon, den -Goldregenbaum, die Fliedersträuche und plötzlich lächelnd am Wege das -zarte Wunder der lila Akazie, ihre bebenden Trauben haltend wie eine -Tänzerin mit zierlichsten Fingern, -- das Herz lachte im Hören und -Sehen! -- Es ward ein ganzes Lob auf Berlin, die Stadt der Blumen und -Parke, wie er sie nannte. Wahrhaftig hat er recht. Ich selber weiß von -früher, daß in keiner andern Stadt Europas fast alle, auch die -steinernsten Riesenstraßen im Sommer Alleen sind, in keiner so viel -Vorgartenstreifen vor den Häusern liegen, in keiner die Straßenfronten -so liniiert sind mit den buntfarbigen Zeilen der blumengeschmückten -Balkons, und daß in kaum einer Blumenläden zu finden sind -- von den -erlesenen der vornehmen Viertel ganz zu schweigen --, wie man sie hier -noch in den finstersten Stadtteilen finden kann. Und von dieser >Kultur -der Blume< kamen wir dann bald auf den Begriff der Kultur im -allgemeinen, den er schlechtweg als deutsch bezeichnete, da für die -Begriffe andrer Nationen Zivilisation genüge. Kultur, sagte er, könne -nicht sein, was man in Frankreich sehe einerseits -- als Blüte einer -einzigen kleinen Oberschicht, Geschmack, Esprit und Eleganz von Louis -XIV. bis Louis XVI. --, noch was in England andrerseits als Steigerung -der gesellschaftlichen Formen. Dergleichen Dinge seien nichts als -Schöpfungen eines Volkes, wie ein andres vielleicht geistige Genies, ein -andres Erfindungen, ein andres Strategen hervorbringen könnte. Sondern -der Begriff der Kultur müsse mitumfassen ein vollkommenes Durchdringen -des gesamten Volksstoffes, eine Essenz, die an hundert der -verschiedenartigsten Stellen anzutreffen sei, und die höchste Vollendung -in Kunstdingen etwa ebenso mit einschließe wie soziale Pflege der -Ärmsten, Leibl und Ehrlich, George und Bodelschwingh. Kultur nicht -denkbar ohne Geist, nicht denkbar ohne Liebe. Nicht denkbar ohne -Gewissen, ohne Verantwortlichkeitsgefühl des Einzelnen für das Ganze. -Die >Kultur< also des Franzosen ist ein Erzeugnis von Eitelkeit und -innerhalb dieser von Ruhmsucht und einem ganz körperlich innesitzenden -Verlangen nach und Gefühl für das Anmutige, Schmückende und -- in diesem -Betracht -- dann auch Schöne. Kultur jedoch verlangt nicht nach -Schönheit; aber in ihr begriffen sein wird auch das Schöne, und sie wird -es wirken, weil sie für jeden Würde des Daseins, für jeden ein Bestes -verlangt. -- Aber übrigens: in welchem Volk giebts das eigentlich? - -Georg stockte mit der Feder vorm nächsten Absatz. Ja, wohin gerate ich -denn? Nachsehend fand er bereits drei Seiten mit den stenographischen -Zeichen gefüllt, aber, erregt von der Geistesarbeit und Phantasie, -dachte er: Nun, um so mehr freut sich Benno, es wird ja auch das einzige -Mal sein, und nun werd ich mich kurz fassen. -- Er fuhr fort: - -Bezaubert wie ich war von der überaus zierlich und leicht wachsenden Art -seines Plauderns und in meiner angeborenen Höflichkeit konnte ich dann -nicht widerstehn, als er mich einlud, und bin gestern nachmittag -hinausgefahren. Beim Abschied erschreckte er mich noch durch zweierlei, -nämlich erstens seine Adresse: Hasenheide und eine dreistellige -Hausnummer, die ich nun vergaß (ich sah in der Hasenheide bisher eine -Einöde und Exerzierplätze wie Tempelhoferfeld, kein Ding mit -Hausnummern), sodann durch die Mitteilung, er sei verheiratet, seine -Frau allerdings schwer leidend. -- Nun, Du weißt, daß Hardenberg -homosexuell ist. -- Sollte die Anlage -- stark war sie wohl nie, dacht -ich -- geschwunden sein? Dann, muß ich zu meiner Schande gestehn, wurde -mir einen Augenblick schwül um die Brust, und ich geriet von meinem -lieben, sanften, allgütigen Hardenberg auf -- Stawrogin! Stawrogin, Du -erinnerst Dich, in den Dämonen, der vor Entartung aller Gefühle zur -Erlebnisform einer Heirat mit einer Schwachsinnigen greifen mußte, der -Marja Timofejewna, -- doch befinden wir uns ja in Norddeutschland, -Hasenheide usw. Ich fuhr mit der elektrischen Bahn hinaus. - -Unsäglich! Unsagbar! Straßen, Straßen, Straßen! Prachtstraßen gegen -London, Paläste gegen Paris, riesige Offenheit und Breite gegen die -Steinschluchten Wiens, allein -- das Getümmel, das Hinundwiederströmen, -der Anblick der tausend und tausend Fenster, Zimmer, Wohnungen, -Schicksale ohne Ende -- -- es hätte mich umgestürzt vor Schwindel, hätte -nicht das Staunen noch die Wage gehalten. Wie leben die Menschen hier? -wie können sie leben? warum leben sie hier und so? Es ist ja sinnlos, -aber: aus dem heftigen Gefühl, daß mir selber Alles und Alle fremd, in -Weg und Hantierung, Ziel, Seele, Beschäftigung, Beruf, in allem völlig -fremd und unbegreiflich waren, mußte mir die Vorstellung entstehn, daß -von ihnen auch jeder dem Andern, dem Nächsten ebenso fremd und -unbegreiflich sei, daß es nur zehntausend Wege waren, die sich kreuzten, -jeder ganz in sich abgeschlossen und vom nächsten, von all den -durchkreuzenden nicht mehr wissend als nötig war, Zusammenstöße zu -vermeiden, und so wards um mich ein eisernes Geklirr, Metallstücke, -leblos, gegen Metall, ohrenbetäubend, herzlähmend. - -Die Hasenheide enttäuschte freilich angenehm als eine Riesenstraße alter -Bäume, fast durchweg eingebettet in Biergärten, ein bei ein, richtige -Gärten mit schönen, mächtigen Bäumen, jetzt kahl und Durchsicht lassend -weithin. In Hardenbergs Hause dann schwenkte mich der Lift bis unter das -Dach, ich wurde in ein geräumiges helles Zimmer -- denke Dir ein -sogenanntes >Gelehrtenzimmer< -- geführt, dessen breites Fenster und -Glastür einen jetzt leider kahlen, aber wunderschönen Dachgarten mit -Pergola und Aussicht über das Dächermeer vermutlich in die Tiefe der -Gärten boten. Die Stille war fast vollkommen. - -Hardenberg erschien und bald auch seine Frau. - -Du wirst nun mein Entsetzen mitfühlen können, mit dem ich in der -aufgehenden Türe erscheinen sah -- das Gespenst. (Ja, Gespenster -begegnen uns gern und verdoppeln sich gar!) Ich fürchte, ich vergaß vor -Betäubtheit aufzustehn, -- bis ich denn sah, daß hier das Haar nicht -fischweiß war wie bei Cordelias Schwester, sondern brandig rot, -- doch -wars auf die nämliche Weise in die Stirne gekämmt; die Augen darunter -waren so blaßblau mit viel sichtbarem Weiß -- wie dort --, das Gesicht -so milchhaft, die Nase schien ebenso spitz ... ich erholte mich wohl am -Mund, der wundervoll war, groß, tiefrot und von der köstlichen, tief -geschwungenen Bogenform, worauf ich dann von neuem erschrak, denn der -bloße Hals -- stark, von vorne gesehen so breit wie das Gesicht -- war --- - -Georg stockte mit der Feder. Ein Klumpen ballte sich oben in seiner -Brust und zwängte sich zur Kehle; er sah gradaus, seine Augen brannten, -dann zitterte sein Kinn; er schüttelte den Kopf, versuchte zu lächeln, -sah wieder auf das Papier, mußte plötzlich die Stirn auf die Tischkante -legen und schluchzte zweimal, dreimal tränenlos. Als er aber bemerkte, -daß er da um sich selber weinte wie ein Knabe, setzte er sich wieder -grade, erkannte dabei, daß es dunkel geworden war, ließ die grüne -Schirmlampe aufleuchten und schrieb weiter: -- Cordelias Hals. - -Hardenberg hatte mich schon auf den Anblick vorbereitet, den ich bekam, -als das arme Wesen jetzt vorwärts ging. Sie hat seit ihrer Kindheit ein -Leiden (d. h. als Hauptleiden von etlichen andern, an denen sie alle -paar Monate schwer darnieder liegt), infolgedessen ihr das Gleichgewicht -fehlt im Stehn und Gehn. So kam sie hastig tastend, bevor er -aufspringend zu ihr gelangt war, um sie zu geleiten, und ihre Beine und -Arme schlotterten und zuckten dabei völlig unbeherrscht in den Gelenken. -Auch ihre Sprache, als sie nun saß und die Hände -- wundersam lang und -geschmeidig, gesalbt von Schmerzen -- im Schoße still lagen, kam -stoßweise, rauh, manchmal hart wie gestoßene Steine; ihr Gelächter -- -sie lachte viel und gern -- war ein Gebell. Kostbar war ihr Profil, das -ich lange sah, dazu der Hals von der Seite, nicht senkrecht aufgesetzt, -sondern schräge nach vorn, geschwungen ... - -Ja, dies. Und als wir dann eine Weile später ins Atelier hinübergingen -(denn dies Wesen ist Malerin und hat studiert wie eine jede, z. B. -Aktstudien gemacht, stundenlang stehend mit einer Stuhllehne als -Stütze), so entfaltete sich aus Mappe um Mappe ein Zaubernebel von -Farben und weichem Geleucht. Ihre Kunst ist beschränkt, aber in der -Beschränkung reich und reizvoll. Wasserfarbe, Linoleumschnitt und der -Buntstift. Aber sie zaubert mit dem Buntstift. Sieh ein Straßenstück -- -zu Dutzenden gabs --, Regendämmrung, Nässe, Abend, in der Tiefe -abschließend ein graugrünliches Gebäude, rechts ein rotes, eine rote -Mauer, ein Baum darüber, novemberschwarz gespenstisch, auf der Straße -Undeutliches, ein Wagen, ein Mensch -- und all das aufgelöst in tausend -farbige Striche, das mattglitzernde Pflaster in Wirklichkeit so bunt wie -ein Kolibri, desgleichen der quellende Himmel, und nirgends die Farbe -- -das rote, das graue Haus --, die Du zu sehen meinst, sondern jede zur -Hälfte bewirkt durch die andre. Oder -- von der Brücke gesehn -- ein -Stück Isarbach im Englischen Garten in München, milchiges Grün, bewegt, -bewegt, kristallenes Blau, Schneeufer, Bäume, gesträubt im Nebel, die -Tiefe Schneedunst, und alles scheint weiß, und alles Weiße kam aus dem -blauen Stift, und welch ein Duft von Lüften, von Ferne, von Ahnungen! - -Du warst nie im Berliner Aquarium, Benno. Denke Dir, daß Du in dunkle -Korridore trittst mit vielen und großen Rechtecken, starkleuchtenden in -gelblichem, grünlichem Licht: die Glasscheiben der Wasserbehälter in der -Wand, hinter denen sich das Leben der Tiefe bewegt, sprachlos, in -leuchtenden Farben. Fische, durchsichtig aus Perlmutter gemacht, die -Augen wie leuchtende Kugeln, die sich drehn, die Leiber dünn scheinend -wie Pappe durch die Brechung des Wassers. Fische, gemacht wie aus weißem -und gelblichem Sandgekörn, flach wie ausgeschnittene Papiere, die sich -wellenförmig im weißen Sandboden fortbewegen, wo sie schwinden, wenn sie -liegen. Fische, feuerfarben, Leiber wie senkrecht flach gedrückte Eier, -an die seitlich und hinten lange, schlagende, faltige Schleier angesetzt -sind, und dieselben in Schwarz wie in Trauer. Fische, blaugrau wie aus -frischgefallenem Samt, Scharen, stille, die eine Handbreit über dem -Grundsande hinweidend sich bewegen wie die Weidetiere unserer Ebenen ... - -Und von diesem zog sie den farbigen Abglanz in kostbar stilisierten -Umrissen, ins Geschwungene gelöst, in die Faltenregung der Wasser, zog -sie das Unheimliche der Tiefe, die ewige Sprachlosigkeit, die Dämmerung -und die unendliche Stille. -- - -Beim Zurückfahren am Abend nahm ich eine Bahn zum Potsdamer Platz -- das -abendlich reißend geschwollene schwarze Getümmel nur wahrnehmend wie -einen donnernden Strom, über den ich hinglitt in der Muschel meines -Herzens --, von wo ich mich zu Fuß zum Schachte der Untergrundbahn vor -der Wertheimarkade durchzwängte. - -Ja, da ragte es, ernst, mit umdunkelter Stirn, das Heim der -Wertlosigkeiten, mit dem Aussehn eines ehrfurchtgebietenden Heiligtums. -O, ihr Deutschen! Da wolltet ihr ein Kaufhaus bauen, eine Gelegenheit, -wo euch das Kaufen, das Geldvergeuden ein glitzerndes Vergnügen sein -soll, und anstatt eine lustige Menagerie hinzustellen, errichtet ihr -eine düstre, alle Eitelkeit des Irdischen verneinende Kathedrale: Ziehe -deine Schuhe aus ... und nennts den neuen Warenhausstil. Die einzige -Kirche des zwanzigsten Jahrhunderts ... - -Wie ich mich aber dann umdrehte, unter die Pfeiler mich rettend, drüben -aus der Nachthöhe rings um den Platz die bunten, feurigen Räder -umliefen, gigantische Schriftbänder vorstießen, Pfeile, Sonnen sich -ausstrahlten, und am Grunde dieses Nachtgewässers der Strom sich ergoß, -in den tausendfachen Skandal verdonnernd, eiserne Wagen an Wagen, -erleuchtet, bis zum Rande voll stehender, sitzender Schicksale ohne -Häupter, und die Kanäle der Fußgänger, unerschöpflich; wie ichs -hervorquellen sah aus den tausend sich schwingenden, umwirbelnden Türen, -und dahinter wimmelnde Treppenhäuser, senkrecht stürzende, senkrecht -entfliegende Förderkörbe voll von Wimmelndem, und wimmelnde Säle, -wimmelnde Zimmer bis unters Dach, zehntausend Fußpaare, zehntausend -Schicksale sich hinabstürzend zum Grunde und im Ebenen hingerissen in -eisernen Gleisen ihres Lebens, ein wieherndes Toben der Mühseligkeit, -der Beladenheit, des Genusses, zum Schaudern ameisenhaft ganz und gar -- --- sieh, da wars wieder dasselbe Bild, das ich sah: ein einziger Strom -des Lebens, der wahrhaften, göttlichen Lebensessenz um den Erdball -ergossen, aus dem ein jeder schöpfen mag für sein Dasein, wo er steht. -Und an solchen Stellen wie dieser, wo Hunderttausende trinken wollen -- -wieviel kommen da Tropfen in jeden der schnappenden Fischmunde? Sie -ersetzen durch Luft, was fehlt an Essenz, durch Betriebsamkeit den -Lebenstrieb, und das giebt dann -- Sekt --, was Wein sein sollte --, das -Göttliche versetzt mit Kohlensäure, Schaum für Kristall. - -Dann aber, mein Benno, erschienen sie mir dort oben, im Dunkel der -Berge, am Ursprung des heiligen Quells, die Beiden, die Geächteten so -oder so, die Ausgeschlossenen von dem, was man >das Leben< nennt: an den -Händen sich haltend mit Zartheit, die stillen, beredsamen Augen in -Eintracht hinabgeneigt zum dunklen Kristalle des ewig Reinen, und -herausholend vom Grund -- wie der Tiefseeforscher im Perlkranz der -Wassertropfen den farbig leuchtenden Schleier der Infusorien, der -Zauberformen, der Rätselkristalle, der Rädertierchen und mikroskopischen -Algen -- so heraufholend diesen zartesten Schleier ihrer Künste, sie -auszubreiten über Gebrechlichkeit und den unendlichen Schmerz. -- -- - -Georg schob die Blätter zusammen. Ich schließe ein andermal, dachte er -matt, jetzt finde ich weder zu mir noch zu ihm den Übergang, und -- ich -schrieb es ja wohl auch nur für mich. - -Die Hände lasch auf den Blättern, vor den Augen noch Tumult und Vision, -entkräftet im Herzen, lehnte er sich zurück, die Blicke aufwärts -richtend in das Dunkel, wo die schweigsamen Fronten der Bücher sich in -Stockwerken reihten. - -Und du, Cordelia, dachte er vereinsamt, was tatest du? Fünfunddreißig -Jahre Nacht, Nacht, Qual, Qual. Endlich die farbige Wonne, der kleine -Schleier eines Halbjahrs. Und endlich -- die Stille -- der Triumph -- -das Lächeln für immer. Das war ein Leben? - -Ist das das Leben? Ist dies der Strom: Leiden? Giebts keine andre -Essenz, die das Leben verleiht? -- Dann, dachte Georg, den alten -Angstdruck aufkeimen fühlend in der Brust, dann komme ich wohl langsam -näher ... - -Nahm seine Sachen zusammen, löschte die Lampe und ging. - - - Zweites Kapitel: Dezember - - - Sylvester - -Georg, zerdrückt, zersetzt und mißgefärbt, wie er sich aus Berlin -mitgebracht hatte, wanderte gegen halb zwölf Uhr in der Neujahrsnacht -vor der Reihe der sechs vom Erdboden aufsteigenden Fenster des langen -Saales in Trassenberg auf und nieder. Dabei hatte er außerhalb der -Fenster das schwarze Nichts, die Nacht mit einem oder zwei roten -Lichtern im unsichtbaren Grunde des Landes; innerhalb den -langgestreckten Saal, aus dessen drei Wänden, aus den drei Steinkaminen -der Flammenschein herausschlug. Die Kamindächer hingen steil und düster -wie gewaltige Brauen über den Feueraugen, deren Flackerblick die beiden -mannsdicken, in der Höhe verästeten Holzpfeiler im Schatten ließen, -welche, ein paar Schritt weit voneinander entfernt, die Saaldecke -trugen. In der Dunkelheit der Wände oben ließ sich von Georgs irrendem -Blick hier und dort aus den verblichenen und verrußten Wandmalereien -eine Gestalt ergreifen, steif in Umrißlinien und Falten des zwölften -Jahrhunderts, ein Schwert, ein verhangenes Roß oder die seltsam -verschobene Figur einer Frau, hintenübergezogen vom spitzen Kopfputz und -hangenden Schleier. - -Georg blickte auf die Uhr, ohne die Zeit zu sehn, und erwartete seinen -Vater. Ihn fröstelte; deutlicher empfand er die beiden Toten in der -Nähe, Cordelias ewig triumphierendes Lächeln und die Gestalt seiner -Mutter; diese manchmal hinter sich, an einem der Fenster, vereinsamt -dastehend wie eine Verbannte, -- und dann verspürte er wieder ihren -Kopfschmerz, als könne der noch immer nicht vergangen sein ... - -Diese Mutter ... Er zwang sich, zu vergessen, daß sie nicht die seine -war, sich zu erinnern, wie es hier früher in dieser Nacht gewesen. Dann -saßen erst er und sein Vater dort beim Punsch vor dem mittleren Kamin. -Zehn Minuten vor Mitternacht erschien die Helene, Diener mit -Windlichtern, die ein paar Fenster und die Glastür zum kleinen Altan -öffneten -- dem Einzug des neuen Jahrs. Sie sagte ein paar heitere -Worte. Dann gingen sie zusammen zur Altantür und standen dort im kalten -Atem der Winternacht und erwarteten den Glockenschlag. Er kam, -feierlicher als jeder Stundenschlag im ganzen Jahr. Dann wurde in der -Tiefe, vor der Kirche im Dorf der Holzstoß entzündet; sie sahen von hoch -oben den roten Flammenschein, Gestalten, Portal und weiße Wand des -Kirchturms im Schein, und im Kreis um das Feuer die Bläser mit ihren -Messinginstrumenten. Nun läuteten die Glocken, der Choral stieg -vernehmlich zu ihnen empor: Bis hierher hat mich Gott gebracht ... Beim -zweiten Vers traten sie in den Saal zurück und ... - -Jahrein -- jahraus -- zehn, elf Male hatte er das erlebt. Immer eine -feierlich leichte, schöne Stunde ... Mein Gott, ist es anders geworden! -Sie ist nicht mehr dabei, und ich selber bin --, nein, ich soll ... -soll? Hier ein Fremder sein, ein Eindringling ... - -Ratlos auf den nächsten Pfeiler zutretend, wie im Verlangen nach einer -Stütze, fühlte Georg unter der tastenden Hand die Hunderte der Kerben, -die den Stamm bedeckten. Hier hatten sie sich eingeschnitten, die einmal -die Seinen waren, bei jedem Bankett, jeder Jagdtafel, sie und ihre -Gäste, burggeseßne, erb- und schloßgeseßne Herren, später Grafen, -Markgrafen, Herzöge ... Auf einem der Böden mußten noch mehr solche -Stämme liegen, nachdem die ersten vollgeschrieben waren bis obenhin, -- -es war wohl mehr als ein Arm gebrochen, wenn sie Stühle auf Tische -setzten in ihrer Berauschtheit, um höher hinaufzulangen, und an einem -Pfeiler oben stand: Heint hab ich, Hugo Remmele, den -- soundso -- fast -zu Tode gestochen, sintmal ich b'soffen von oben stürzte mit dem Säufang -... Oder so ähnlich ... Als Junge, sann Georg, konnte ich stundenlang um -die Stämme rutschen, um die Namen zu entziffern, die Wahlsprüche und das -Lateinische. Drei Kreuze, dacht ich, bedeuteten Tote ... Merkwürdig viel -Kreuze ... - -Georg sah aus Knabenkleinheit, in die er sich versetzt, geisterhaft -umher. Die drei Kyklopenaugen glotzten, die Flammen züngelten in -Buchenkloben, es war still ... Nein! nein! er nicht dazu gehören? Nein, -davon empfand nie und nimmer etwas sein Herz! Nur unsäglich traurig war -alles geworden. Traurig? Warum nur, warum? Nun hatte die Zeit auch -Cordelias Lächeln fast getilgt, dies allzutriumphierende Lächeln ... - -Georg, längst wieder am Fenster stehend, die erst kalte Scheibe warm -geworden an seiner Stirn, hörte ein Geräusch und wandte sich. Ein Flügel -der Tür zur Linken in der langen Wand war aufgeschlagen, und daneben -stand im Schein des Armleuchters, den er selber hochhielt, Egloffstein, -schwarz in Frack und Kniehosen, das faltige Gesicht unterm weißen Haar -schief geneigt wie immer. Die Schritte und die Stöcke des Herzogs wurden -hörbar, er kam zum Vorschein, im Frack, -- ja, das war nun auch anders, -denn er ging, er ging ganz gut, schon ziemlich grade, machte richtige -Schritte, -- erstaunlich, was sein Wille in ein paar Monaten zustande -gebracht hatte! -- Georg ging ihm entgegen, nur mit einem ernsten, -schnellen Blick von ihm ins Auge gefaßt. Hinter ihm Leopold und Egbert -in ihren blauen Livreen trugen, der eine das Brett mit dem Bowlengefäß -und Gläsern, der andre eine kleine Truhe, und setzten beides auf den -alten Holztisch vor dem Mittelkamin. Georg hörte Egloffstein seinen -Vater etwas fragen und »Halb eins« aus der Antwort, während er Egbert -zusah, der den Fuß eines Baumstamms zum Feuer trug und hineinlegte; die -Flammen duckten sich, leckten mit körperlosen Zungen daran empor, -unterhalb knisterten dunkelrote Funken in der schneller anglimmenden -Rinde. Georg gingen die Augen über im Hinsehn, bis ein leises Klirren -ihn veranlaßte, sich umzudrehn. Sein Vater, jetzt allein, stellte eben -den Löffel in die Bowle zurück, reichte dann Georg sein Glas. »Ach, du -trinkst ja wohl nicht ...« sagte er, sich erinnernd, und lächelte. Georg -antwortete mit einem Lächeln und setzte sich am andern Ende des Tisches -den Fenstern gegenüber. In dem Glase dampfte der goldenbraune Punsch, -Schwaden zogen sich um die Flammen des Leuchters. Ja -- dies war wie -immer ... Auch dies, wie sein Vater das Glas gegen die Lichter hob, dann -kostete. Auch Georg nahm einen Schluck; die flüssige Glut verschlug ihm -den Atem, er mußte hüsteln. - -Und dann folgte er mit den Augen den langsamen Bewegungen seines Vaters, -mit denen er seine Zigarrentasche hervorholte, eine herausnahm, nachdem -er mehrere hinter den Klappen gelüpft und gedreht, sie auf den Tisch -legte, die Tasche schloß, dann wieder aufklappte und Georg mit einem -Lächeln hinhielt. »Dir zu Gefallen«, sagte Georg, eine nehmend, biß wie -sein Vater die Spitze ab, aber das mißlang natürlich, er mußte das -Deckblatt festlecken und vergaß darüber, seinem Vater den Leuchter zu -reichen. Plötzlich sah er ihn aufrecht dasitzen, eine Hand auf der -Tischplatte, die Zigarre im Munde, den Leuchter erwartend ... - -Er hatte sich aber noch kaum nach den ersten Zügen zurückgelehnt, als -die kleine, stets Minuten vorgehende Uhr auf dem Kaminsims zum Schlag -aushob. Sie nickten sich zu, der Herzog hob seine Stöcke, sie gingen zur -Glastür, Georg öffnete, eisig schlug die Nachtluft über sie hinweg. Da --- in der Tiefe rechts brannte schon der Holzstoß, Schatten bewegten -sich umher, die Bläser stellten sich im Kreis, Messing blitzte, die -Dörfler drängten sich herum, beleuchtete Gesichter waren zu sehn. Dann -klang der erste Glockenschlag, die Mitternacht schwebte vernehmlich in -klaren Tönen herauf, der Choral setzte ein. Georg spürte auf seiner -Schulter eine schwere Last, die Hand seines Vaters. - -Zudritt mit der Unsichtbaren standen sie in der nächtigen Höhe. Georgs -Herz schlug schwer, -- er sah das Vorjahr, die Vorjahre ... sah sie und -ihn und sich selber wieder in den Saal zurückgekehrt ... Doktor Birnbaum -war schon da mit seiner großen Truhe auf einem Stuhl und Fräulein von -Rabenau mit ihrem Arm voll weißer Narzissen. Die Saaltüren standen weit -offen. Sie waren lustig. Draußen war der Rücken des Kantors sichtbar, -taktschlagend mit beiden Armen, und der Kinderchor klang. Dann kamen sie -herein, der Kantor, die Kinder, dahinter das ganze Gesinde, von -Egloffstein geführt, bis hinunter zum letzten Stallknecht und -Hütejungen, Knechte, Mägde und die Dienerschaft. Zogen vorbei, und jeder -bekam dreierlei: vom Herzog einen goldenen Händedruck aus der Truhe, von -Georg einen einfachen, von Helene eine Narzisse. Und hundert Stimmen, -tief und hoch, heiser und hell -- der Neujahrswunsch. Seit er stehen -konnte, im weißen Kleidchen, hatte er seine kleine Hand hinhalten -müssen, seinen Diener gemacht und in die großen fremden Züge über ihm -gesehn ... Die Mägde machten heilige Gesichter, wenn sie ihre Narzisse -hatten, trugen sie hinaus wie ein Altarlicht, und manche weinten trotz -strengen Verbots. Und Mama ... Manchmal war sie am Umsinken vor -Schmerzen. Dann stand sie, die Augen fielen ihr zu, die Finger der -Linken preßten die Schläfenader, nahm eine Blume nach der andern aus der -Hand des alten Fräuleins, reichte sie hin und lächelte dazu. Jeder bekam -seine Blume und sein Lächeln. Dann hauchte sie Gutenacht und lief -hinaus. - -Georg brannte der Kopf. War dies nicht schon der dritte Vers des -Chorals? -- Da wußte er, daß sein Vater sich fürchtete -- wie er selber --- vor dem Sichumdrehn und dem, was hinter ihnen war ... Aber im -nächsten Augenblick fühlte er sich von der Hand auf seiner Schulter -herumgedreht, sein Blick streifte dabei über das angespannte, -entgeisterte Gesicht seines Vaters. Da war der leere Saal ... - -Heiser hörte Georg ihn fragen: - -»Und nun, Georg, wie ist es: fühlst du dich -- zu Hause?« - -Georg verstand, senkte den Kopf, hob ihn wieder und sagte in den Saal -hinein: »Es ist nicht wie früher. Es -- -- mir ist glaub ich so wie -einem, der sich jahrelang herumgetrieben hat und -- als hätte er nun -kein Recht mehr ... so ungefähr.« - -»Armer Junge«, hörte er murmeln. Sein Vater drückte ihn liebevoll an -sich; er blickte in seine Augen und murmelte, seine Hand suchend, -schamvoll: »Wenn ich nur dich habe ...« Sein Vater drückte die seine -kurz und hart, ging dann durch den Saal zum Tisch, öffnete den Deckel -der Truhe und nahm ein zusammengefaltetes Papier hervor, aus dem an -seiner Schnur ein großes Wachssiegel herausfiel. -- Georg wußte, was es -war, und begann im Augenblick heftig zu zittern. - -»Dies,« sagte sein Vater, den Bogen langsam aufschlagend und -hineinsehend, »dies ist der Vertrag.« - -Er legte ihn wieder zusammen und in den Kasten zurück, den er schloß. - -»Du kannst ihn an dich nehmen und Gebrauch davon machen. Später -- wenn -du meiner Hülfe bedürfen solltest ...« - -Er brach ab, nickte ein paar Male vor sich hin, setzte sich dann. - -Georg spürte die hinter ihm hereinströmende Kälte, wandte sich, warf das -bitter schmeckende Ende seiner Zigarre hinaus und schloß die Tür. Dann -zündete er sich eine Zigarette an und begann, alles umher vergessend, -wieder vor den Fenstern auf und ab zu gehn. - -Jetzt, während alle Gedanken in ihm, dem Kommenden zustrebend, doch -angstvoll vor unsichtbaren Widerständen zurückprallten, tastete seine -angereizte Phantasie nach der Schmerzgestalt der Mutter; die aber entzog -sich, schwand, und statt ihrer sah er zum ersten Male Cordelia. - -Alles sah er. Ein Zimmer. Auf einem ovalen Tisch eine brennende -Petroleumlampe; davor einen Berg Wäsche; und daneben -- sie, an einem -glänzenden Kleide nähend, das über ihren Schoß hin lag, und sie trug ein -niegesehenes, loses, morgenrockartiges Kleid, unordentlich; und vor dem -Wäscheberg lag ein aufgeschlagenes, vom Zusammenrollen verbogenes Heft, -aus dem sie lernte, -- ja, er sahs, alles, und nur eins sah er nicht, -obgleich er sich bemühte: ihr Gesicht, -- nur das Braun vom Haar, -undeutlich. Aus der Erscheinung aber glühte es ihn an, daß ihm heiß -wurde und heißer: ihr Leben, ihre Tage und Nächte, der endlose Kampf, -die brennende Sehnsucht, die Hülflosigkeit am Abend, immer wieder -Unverzagtheit am Morgen, immer Hoffnung, Hoffnung, Erwartung, heute, -wieder heute, hundert, tausend Heute der gleichen Mühsal, und immer -Enttäuschung, immer Entsagung, Verzweiflung, Ratlosigkeit, neue Kraft, -neuer Wille, und wieder umsonst, und Arbeit, Arbeit, nächtelanger Fleiß, -die ganze unselige Inbrunst, die rasende Erwartung, das -Nichtmehrwartenkönnen, das verzweifelte Weinen, der Jammer grenzenlos. -Er sah ihre zerbrochene Seele, daliegend entstellt wie eine ausgerissene -Pflanze. Alles einst Strahlende, innerst immer noch mit wütender Glut -sich Wehrende, in trostlosen Zimmern zerstampft, verschüttet, -- ein -ewig währender Schmerz in der Brust, wie die Andre ihn im Kopfe trug, -wandelnd Beide mit feuergefüllten Becken im lebendigen Fleisch ... Und -wieder sah er sie eintreten in das schöne Tor, in das leuchtende Schloß, -betäubt von Ehrfurcht, zum Kinde geworden vor unsäglichem Staunen, -- -doch schob sich selbstwillig ein andres Bild dazwischen, das sich nicht -verdrängen ließ: die erste Nacht, ihre fast unheimliche Scheu, die dann -jählings umschlug in überschwängliche Wonne, Tränen der Wonne -- -weshalb? Er wußte es nun, verstand nun die Verzweiflung der jahrelang -verfälschten Lust, die zum ersten Mal doch endlich sie selber sein -durfte, hinströmend in der Umarmung des Geliebten. -- Der Brief, ihr -Brief mit ihrem Leben brannte auf seiner Brust, und plötzlich, alles -Denken fortkrampfend, riß er ihn heraus, ging auf seinen Vater zu, sah -ihn ihm entgegenblicken und blieb zaudernd stehn. - -»Nun, mein Junge, was hast du?« fragte er weich. - -»Ich? -- Ich, Vater, ich hatte -- zwei Tote in diesem Jahr. Und -- -- -wenn du dies vielleicht lesen möchtest ...« Er gab ihm die Briefe, den -kurzen und den lebenslangen, setzte den Leuchter näher herzu, warf sich -dann selber in den Sessel am Ende des Tisches, legte den Kopf in die -Hand und schloß die Augen. - -Er wollte nicht denken. Er ließ Wortgebilde, Begriffe, Sätze, Bildstücke -in sich herumlaufen, sinnlos und leer, immer wieder zurückprallend mit -der inneren Woge von den Briefblättern, die er hin und wieder leise -knistern hörte, immer wieder hineingezogen, zu dieser Stelle, zu jener, -an welcher sein Vater jetzt halten mochte ... - -Sie war glücklich das Halbjahr, dachte er, und doch hatte sie noch eine -Hoffnung über das Glück hinaus, mußte noch immer hoffen -- hoffte, -fruchtbar zu sein -- ein Kind ... War es diese Sehnsucht, die sie -dermaßen befeuerte, die Nächte so glühend machte, Nächte -- jede wie -eine Traube, und jede Beere eine Zelle von Rubin, in der sich Götter -umarmten, daß die ganze Traube erdröhnte ... Ach, nein, ihre Hoffnung -war leise, blühte auf in den stillsten Stunden des Einsamseins, war ein -Duft, ein Glück über dem Glück, denn nur _das_ Glück ist ganz süß durch -und durch, über dem noch ein andres Glück schwebt ... - -Georg wartete noch, wartete, wieder leer, ertrug es endlich nicht mehr -und sah nach seinem Vater. Der saß groß, aufrecht zurückgelehnt. Die -Blätter lagen auf dem Tisch. Nun kam sein Blick herüber, Georg sah die -nahstehenden Augen, verschleiert, sehr weich, und der Blick durchschmolz -seine Brust, so daß er sich plötzlich schämte und die Augen abwandte. - -»Sie ist tot?« hörte er fragen. - -Georg nickte. »Ich habe sie gesehn«, sagte er dann. »Sie lächelte. Es -läßt sich nicht sagen. Aber -- sie war ganz drüben -- und wußte -- -alles.« - -Es war still. - -»So ist es überall das gleiche«, sagte der Herzog langsam. »Abgrund. -Dich dachte ich nicht so nahe daran. Aber -- du hast es überstanden?« - -Georg konnte nur den Kopf neigen, wieder und tiefer beschämt, als werde -er belohnt für eine Leistung, die ein Andrer ihm abgenommen hatte ... -Ich habe ja nichts getan! dachte er. - -Indem vernahm er wieder die Stimme seines Vaters. - -»Siehst du, -- einmal ... du warst noch ganz klein -- standen wir dort, -zu Zweien, in der Neujahrsnacht. Und da --« Er stockte, räusperte sich, -hustete und fuhr fort: »Hast du je empfinden können, was sie gelitten -hat? Später wurde es ja wohl besser, das Dunkel tat wohl, die Gewohnheit -... Aber dies Dasein! Ihr Geist, ihre vielen Gaben -- so verurteilt! -Aber -- der Anfang! Sie schloß sich ein des Nachts. Ich konnte nicht zu -ihr. Da habe ich -- nächtelang -- vor ihrer Tür gelegen und gehorcht. -Und sie wimmerte, sie -- kannst du dir das -- denken? Ich glaubte, ich -könnte ihre Zähne aufeinander schlagen hören. Ich hörte sie hin und her -irren und leise jammern, minutenlang, Worte stammeln, schnell, immer -schneller, bis es immer lauter wurde und sie aufweinte. Dann wurde es -wieder leiser, hörte ganz auf. Und dann fing es wieder an. Und endlos. -Heulen hab ich sie gehört. Sie, diese --, sie ... - -»Und dann -- einmal -- standen wir dort. Der Vorbeizug war vorüber, sie -taumelte auf mich zu, wir waren allein, sie bohrte ihre Stirn gegen mich -und schrie: Ich kann nicht mehr! -- Dann riß sie sich los und lief auf -den Altan. Ich weiß nicht, wie ich sie noch einholen konnte, und dann, --- dann wollten wir Beide hinunter. Ich -- ich war jung, und gelähmt, -und dazu sie ... Ich wollte auch nicht mehr können. Plötzlich sah sie -mich an, ihr verzerrtes Gesicht glättete sich sonderbar. Sie sagte: -Merkwürdig ... nun ist es weg. -- So stand sie lange, lauschte und -wartete, schüttelte den Kopf und wiederholte: der Schmerz sei weg. Wir -weinten wohl zusammen und dachten eine Weile, er sei wirklich und für -immer verschwunden. Ich weiß noch: sie lächelte wieder und meinte, es -wäre wohl wie beim Zahnarzt: wenn man die Treppe zu ihm hinaufstiege, -sei der Schmerz fort. Ich hielt sie noch, und dann merkte ich auf -einmal, daß sie schlief. Ich hab bei ihr gesessen, sie schlief bis zum -Morgen. Da war der Schmerz wieder da ...« - -Georg hatte zugehört, in Siedehitze getaucht vom Kopf zu den Füßen; -seine Hand war feucht, als er sie von der Stirn löste, doch hörte er nun -ein Geräusch, wandte sich und sah Egloffstein gedämpft hereinkommen und -sich dem Herzog zeigen, worauf er wieder verschwand. Sie erhoben sich -Beide, der Herzog murmelte, es sei Zeit für ihn, -- ob er noch sitzen -bleiben wolle ... drückte Georg nur heftig die Hand und ging hinaus. - -Als Georg dann wieder im Stuhle saß, sah er die Zukunft vor sich stehn, -unentrinnbar. Er fühlte, daß nichts sich hatte ändern lassen, er hatte -weiter und weiter gehen müssen auf diesem Weg, nun nur noch wenig -Schritte, und das Ziel war da. Trotz der Angst aber, die es ihm -einflößte -- oder war das nicht es? -- schien ihm alles sehr leer, oder -leicht, oder -- sinnlos. Das Wirkliche, dachte er, ist doch ganz wo -anders. Dies gehört zum Dasein, jenem, in dem man sich kleidet und ißt, -arbeitet, einen Beruf hat, Umgang mit Andern, Pflichten. Es ist nicht -das Leben. - -Und da war es ihm, als befände er selber sich weder hier noch dort. Er -lächelte; saß er nicht in der einsamen Nacht zwischen dem ersten Tag des -neuen und dem letzten des alten Jahrs? -- Er mußte eine Bewegung mit den -Händen machen, wie um nach rechts zu tasten und links, das Dasein zu -fühlen, dort, und hier das Leben. Da war aber nirgend etwas. Nur die -Luft. Es ward totenstill. Und in der Leere konnte er sein Herz sehn wie -einen schwarzen Klöppel, der ohne Glocke hing, sinnlos, im Schwarzen der -Nacht. - - - Drittes Kapitel: Januar - - - Neujahr - -Renate, beide Handflächen gegen die plötzlich entflammenden Wangen -pressend, im Sessel vorgeneigt, rief: »Das möchte ich nun einmal wissen, -warum du und ich am Neujahrssonntag hier sitzen!« - -Saint-Georges, tief im Sessel ihr gegenüber, die Ellbogen in den weichen -Lehnen, die Hände flach unterm Kinn gefaltet, blinzelte in die losen -Flammen im Kamin; dann sah sie langsam ein immer freudigeres Lächeln um -seine Lippen und in den Augen aufquellen, bis es den Mund öffnete und er -sagte: - -»Nun, das ließe sich am Ende noch beantworten. Was meinst du: stünden -wir Beide in einer Geschichte, so würde die Antwort vermutlich lauten: -weil es der Autor so will. Übersetze das lateinische Wort, und was kommt -heraus? der Willen des göttlichen Urhebers.« - -Renate, unwirsch über und über, warf sich zurück, strich mit der Rechten -die dunkelblauen Falten aus ihrem Schoß, blickte unter gesenkten Lidern -böse zu ihm hin und mußte noch einmal ausbrechen: - -»Georges! Ich frage! ich will deutlicher fragen: Warum mußte -- ich muß -es wissen! -- warum mußte das Weltgeschehen diesen Verlauf nehmen, zu -dieser Stelle, an der wir nun als diese Menschen in dieser Weise sitzen -und miteinander reden und schweigen!« - -»Eine Frau«, erwiderte Saint-Georges freundlich, »fragt mehr, als zehn -Männer beantworten können.« - -Renate lachte verdrossen. »Ist dir denn nie dieser Gedanke gekommen? und -wie ungeheuerlich er ist? Daß man hervorging, hervorgehen mußte aus -dieser riesenhaften Weltgewalt?« - -»Du denkst viel«, sagte er leise. - -Renate erhob sich, machte sich einen Augenblick an Teekessel, Tassen und -Dosen auf dem Rolltisch neben ihr zu schaffen, ging dann ins Zimmer -hinein und, erst langsam, dann rascher auf und ab. Ihre Erregung, ihr -selber unfaßbar, begreiflich nur so weit, daß sie entstanden sein mußte -vor Jahren schon und gewachsen war seither und wachsen würde -- machte -sie schwindlig im Sitzen. Plötzlich sah sie Josef. Seit sie ihn in der -Stadt wußte, fühlte sie sich umkreist von ihm, wo sie ging und stand, -und wohin ihr Gesicht gerichtet stand, da stand er. - -»Mir wäre besser,« sagte sie bewußtlos vor sich hin, »ich säße in einer -Dachkammer an der Nähmaschine. Armut, find ich, paßt soviel besser zum -Leben.« - -»Gut, Renate. Gehe hin und tue desgleichen.« - -Sie blieb stehn. »Was heißt das, Georges, warum kann ich nicht fort, -warum kann man nicht heraus?« - -»Richtig,« versetzte er, »daß du >man< sagst, nicht: ich. Im übrigen -könnte man ja den Vetter Josef kommen lassen, um zu erfahren, ob er -herausgekommen ist.« - -Da kam er auch mit Josef! -- »Das wäre eine Antwort?« - -»Also einfach,« erklärte er, »Fahnenflucht ist keine Kunst. Jeder -verbleibe an seinem Platze. Einmal stellt sich doch immer heraus, daß es -ein Posten war, auf den uns die Zukunft stellte. Wollen die Vögel auch -schwimmen können?« - -»Haus, Garten, gut Essen und schöne Kleider«, sagte sie, »sind freilich -kein Verdienst.« - -Er ließ die Hände fallen und suchte in der Rocktasche. »Sie sind der -Einzige«, sagte er dann glatt. »Alle Menschen verdienten dergleichen.« - -»Und wenn die Vögel nicht schwimmen wollen,« fuhr sie heftig fort, »will -der Mensch doch fliegen.« - -»Und dann?« fragte er bloß. Sie murmelte, den Kopf hängend: »Fortschritt -...« - -»Daran zu glauben, halte ich nun für ganz verfehlt«, meinte er sorglos. - -»Und was glaubst du?« Sie stellte sich hinter dem Tisch gegen ihn auf. - -»An das Rad«, sagte er aufblickend. Dann, da sie weiter fragte, mit den -Augen ergriffen von der Festigkeit seines Blicks, fuhr er, leis -lächelnd, fort: »Das Rad weder des guten Lamas im Kim, noch den Roman -von Jensen meine ich damit, sondern --« - -Renate, mühsam sich zu Ruhigkeit zwingend, glitt wieder in ihren Sessel -und hörte zu, anfänglich gefesselt von dem Wohlklang seiner Stimme. - -»Stelle dir«, fing er an, »ein Rad vor, wie Homer es malte, einen -Radreifen mit vier Speichen, erzbeschlagen, und ein Rad, wie ein -Heutiger es malt, eine flimmernde Scheibe von konzentrischen Kreisen; -darin haben wir den Unterschied. Weiter: lege eine glühende Kohle auf -die Erde, das ist der Anfang: ein glühender Kern, der Strahlen -versandte, erst einen, mehr, immer mehr, die sich an unserm Horizont der -kreisförmig andrängenden Ewigkeit umbiegen und ihren Stoff dort ablagern -zu -- Geschichte, dem Radband um unsere Zeit. Die Strahlen, immer -dichter sich drängend, füllen schon den Kreis; nun wird abgespalten. Zum -Beispiel: Malerei. Sie begann mit dem Bildnis, ging über zum Zimmer, zur -Kleidung, zum Nackten, zog die Landschaft hinein, ging zur Landschaft -hinaus, und es begannen die Techniken, Helldunkel, begannen die -Charaktere, die Italiener, Holländer, kamen Holzschnitt, Radierung, -Kreide, kamen Impressionismus, Expressionismus, Futurismus. Zehntausend -Mannigfaltigkeiten und doch von Giotto bis Kokoschka ein einziger -Glutkern: das Genie, die wahre Kunst, die Techniken und Programme und -Richtungen nur benutzt, aber nicht von ihnen abhängt. Oder: -Wissenschaft. Zuerst gab es die sieben freien Künste, die in einer -einzigen Hand liegen konnten zu Anfang, die anschwollen, daß für jede -eine besondere Hand notwendig wurde, ein besonderer Kopf, und wieder -jede allein anschwollen, daß sie gespaltet werden mußten, und wieder -gespaltet und aber wieder, bis wir heute zum Beispiel unzählbare Fächer -der Naturwissenschaften, und so viele Spezialärzte haben wie Organe oder -gar Krankheiten. Und siehst du die Abspaltung hier, so sieh die -Zusammenfassung auf der andern Seite: Columbus, Luther, Giordano Bruno, -Spinoza, Kant, Goethe, Bismarck, Darwin, die Bündel von Strahlen zur -Garbe banden. Und immer die Ablagerung auf dem Kreisring, die Erfahrung, -die Geschichte. Es wird immer anders, -- das ist der >Fortschritt<. -Kannst du glauben, daß, wenn es je ein >Schön< gegeben hat, es heute ein ->Schöner< geben könne? Oder ein >gut< oder >wahr< oder >edel<, das heut -besser wäre, wahrer, edler? Ja, einen Gott, der heute göttlicher wäre -oder minder göttlich? -- Kannst du glauben, daß du dich an einem -Zeitpunkt befindest, tausendsiebenhundert Zeitmeilen entfernt von einem ->Anfang<? Kannst du dir vorstellen, daß du dich an einem Rande -befindest? Muß nicht jedes, all und jedes, was ist, seinen Ursprung in -der Mitte des Alls haben, in der Mitte sein? Alles, was ist, ist im -Kern. Pascal -- falls du nach einem Kronzeugen verlangen solltest -- -nannte das Weltall eine Kugel, deren Mittelpunkt überall, deren Umfang -nirgend sei. -- Wir strahlen ein jeder noch immer aus dem ersten und -einzigen Kern, haben um uns den Rand, sind selber das Rad.« - -Renate, die schlecht und kaum willig zugehört hatte, murmelte vor sich -hin: »Nichts ist, was dich bewegt, du selbsten bist das Rad, das aus -sich selber läuft und keine Ruhe hat ...« Das war Bogners Zeichen unter -seinen Bildern. Und keine Ruhe hat ... und keine Ruhe hat ... - -Sie merkte, daß es schon lange still im Raum geworden war. Saint-Georges -bückte sich, nahm den Blasebalg von der Erde und begann langsam die -Flammen anzublasen, so lange, daß sie das anhaltende Gleichmaß der -Lustseufzer kaum noch zu ertragen glaubte und ihm eben Einhalt tun -wollte, als das Stubenmädchen erschien und meldete: »Frau Tregiorni.« - -Als ob sie gesagt hätte: ein Engel! dachte Renate, erlöst aufspringend -und zur Tür eilend, die sie öffnete. Sie umarmten sich und -beglückwünschten sich zum Fest, -- aber Ulrika sah keineswegs gut aus, -blaß, das Haar schien die Stirn zu bedrücken und saß nicht vorteilhaft, -die Nase trat scharf hervor, die Augen lagen tief. Nachdem sie auch -Saint-Georges begrüßt, sagte sie, in einen Stuhl gleitend, die Augen -niedergeschlagen und mit tonloser Stimme, wie sie beides mitunter an -sich hatte: sie sei eigentlich gekommen, Renate um Vinzent van Goghs -Briefe aus Josefs Besitz zu bitten, um -- Renate verstand den Grund -nicht, indem sie schon zur Tür ging, um das Buch zu holen, woran wieder -Georges sie hindern wollte. Dann bemerkte Ulrika gleichgültig, sie könne -ja mitkommen, sie sei ohnehin lange nicht oben gewesen, und er merkte -wie auch Renate, daß Ulrika mit ihr allein sein wollte, worauf sie sich -bei ihm entschuldigten und gingen. - -Aber es war kalt im Zimmer oben, die Heizung nicht angestellt. Renate -tats, suchte dann das Buch im Halblicht des violetten Lampenumhangs und -trug es zum Tisch. Ulrika schien verschwunden in der dunklen Nische des -großen Fensters, sie wechselten ein paar Worte wegen der Kälte, -- dann -setzte sich Renate doch, da die Freundin bleiben zu wollen schien. Das -weiße Buch leuchtete still auf der leeren grünen Tischdecke. Und wieder -erschien Josefs Gestalt, die Straße heraufkommend, auf eine Laterne zu -... Renate fröstelte und wünschte sich einen Schal. Ob sie das Buch -kenne, fragte sie Ulrika. Die schien zu verneinen in ihrem Dunkel und zu -fragen, wie es sei, worauf Renate allerlei hinsprach, daß es fast -langweilig zu lesen, nur vom Malen die Rede sei, von Bildern, an denen -er male, oder die er malen möchte, oder gemalt habe, und daß man doch -nicht loskommen könne vom Anfang bis zum Ende ... Ulrika war derweil -herangekommen, stand, den linken Arm hinterm Rücken gefaßt mit der -andern Hand, nieder blickend auf das Buch. - -Was mag ihr sein? fragte sich Renate. Da war die Freundin wieder die -Fremde, die Umschlossene, die alles verschwieg. Wollte sie sprechen? - -»Glut und Eifer«, sagte Ulrika ohne Ton, »ersetzen ja manches. Und wenn -eine Lebendigkeit tief und gewaltig erscheint, so glaubt man wohl, an -die ganze offene Welt angeschlossen zu sein, alle Stimmen zu hören, -alles Weben zu sehn, denn man sieht --« Sie hob den Blick schweifend -über Renate weg, die bei sich dachte: Nun ist sie ja schon dort, wohin -sie wohl kommen wollte ... - -Immer noch gesenkter Lider glitt sie nun in den Sessel, der hinter ihr -stand, legte ein Knie über das andre, zog den Kleidrock nach unten und -faltete die Hände darüber. - -»Hast du«, fragte sie aufblickend an Renate vorüber, »dich je gefragt, -wie man im Traume sieht? Man sieht durch die schlafgeschlossenen Lider, -deshalb ist immer alles so -- unklar, wie durch Wasser gesehn. So wars -all die Monate mit mir, und nun --« Sie schwieg. - -»Ist es anders geworden?« wagte Renate leise zu fragen. - -»Eifer und Glut, Wollen und Glauben,« sagte Ulrika wie zu sich selber, -»die genügen ja nicht.« - -»Weil sonst jeder etwas Großes werden könnte, meinst du, der es sich nur -ernstlich vornähme, und eben das nur diejenigen können, die auch -- die -Gabe haben?« - -»Auch nicht die Gabe«, versetzte Ulrika ernst. »Auch die läßt sich -haben, so mancher hat sie; aber deshalb hat er noch nicht -- -- das -Leben«, schloß sie unsicher. - -Renate mußte das Wort Liebe denken und sagte es leise, doch nun fielen -Ulrikas Hände auseinander. »Auch nicht,« sagte sie emporblickend, »nein. -Das genügt alles nicht. So jedenfalls nicht, wie man das Wort versteht. -Was tut er denn, dieser Maler,« lächelte sie flüchtig auf, »glaubst du -vielleicht, er liebt die Kunst, so wie wir, du, ich sie lieben?« Sie -sprach eilig weiter. »Nein, was tut er, was tat dieser van Gogh? Sie -atmen Kunst ein, und sie atmen sie aus. Sie leben -- weiter nichts. Ihr -Leben ist Kunst, sie haben das Leben. Sie denken ja nicht nach, oder -wenn sie nachdenken, ists doch wieder etwas für sich, ist kein Malen, -kein Leben. Ach, all das ist so schwer zu denken und zu sagen!« Sie -stand mutlos auf. - -Renate, nun ganz ruhig und sanft, fragte liebevoll hinüber: »Muß mans -denn denken und sagen?« - -Ulrika blickte wieder auf das Buch und gab ihm, das Ende des -heraushängenden Lesezeichens fassend, eine kleine Drehung. »Man muß -wohl«, sagte sie schwach lächelnd. - -»Sie sind eben die Seltenen, diese«, fuhr sie wieder fort. »Man kann -ihnen in keiner Weise gleichen. Was tun sie denn nur?« Sie grübelte -angestrengt nach. »Ich glaube, sie tun nichts, als daß -- ja, daß sie -sich selber schaffen jeden Tag. Und dadurch schaffen sie Welt. Ja, wie? -Ihr Schaffen ist -- ist --, die Welt sichtbar zu machen, Sichtbares und -Unsichtbares erst sichtbar zu machen. Denke dir Kunst fort aus der Welt --- es ist ja nichts mehr vorhanden. Keiner wüßte, wo er stünde, keiner« --- sie lächelte hell, zum Zeichen, daß sie Bogner zitierte -- »wüßte, -wie Baum und Sonne und er selber aussähe, wenn nicht eines Tages einer -angefangen hätte zu malen. Hier sind doch neue Gesetze, begreifst du? -Nicht unsre, gar nicht die Naturgesetze, ganz eigne.« - -Wie leuchtete nun ihr erhitztes Gesicht! »Ja -- -- du bist ja aber -glücklich, Ulrika!« sagte Renate ergriffen. Die hellen Augen erloschen -augenblicks hinter fallenden Lidern. - -»Ich sollte es ja sein«, erwiderte sie dann ruhig. Plötzlich trat sie -zurück in den Raum, blickte funkelnd und heiß und sagte: »Ich war es ja, -war es ja bis heut! Sie war ja schon Lebenskraft geworden -- meine -Musik. Kannst du's denn verstehn? Wie soll ichs nur erklären? Das Leben -haben, sagt' ich, nun -- und was ist das? Allwissend sein, wissend um -alles Werden, alle Entfaltung, alle Geschichte, die Leiden kranker -Kinder, die Not geplagter Eltern, die Trübsal der Gebrochenen, das Elend -der unentrinnbar Verstrickten, und die Wonne des Sommerabends, die Augen -der Sterne -- dies alles wissen und -- hochheben im Werk, zeigen im -Werk, sich als dessen Durchgang, dessen Werkstätte fühlen, wo es -umgeschmolzen, umgewirkt wird zu Ordnung, zu Klarheit, zu Gesetz, aus -dem es dann alles wieder strömt --: verwandelt, so daß wirs empfinden. -Nun, und ich -- ich war wohl noch weit davon, aber -- ja, wie sage ich -es denn nur?« - -Verzweifelt umherblickend, trat sie an das nächste Bücherregal, legte -die gefalteten Hände gegen seine Kante, die Stirne darauf und sagte wie -herausbetend: »Daß es eben nicht Musik war, was ich spielte! nicht -Noten, Quinten, Synkopen und Fugen, Sonaten, Konzerte, sondern -- -Menschenwerk, Menschenleben, Weltleben, Weltwerke. Formen allen Seins -und allen Leidens, Erzeugnisse einer unendlichen Liebeskraft und einer -unendlichen Daseinsnot, nicht Musik -- nein, Liebe und Leiden, und nicht -Allegro, nicht Andante, sondern -- Kindheit und Wachstum und -Älterwerden, Schmerzen eines Knaben, Zweifel eines Mannes, Hoffnung auf -weiche Hände, Enttäuschung, ach -- und das Aufstehn frühmorgens, die -Schwermut am Abend -- alles all, was ist, was wir Alle sind.« - -»Und nun nicht mehr?« fragte Renate, ganz heiß durchströmt von dem -Brand. - -Ulrika richtete sich auf, und wie sie nun wieder zu ihrem Sitz ging und -sich hinließ, war sie wieder die Abwesende, die wohl preisgeben wollte -und es doch nicht vermochte, in sich gefangen. Sie sagte bedrückt: - -»Die Worte machen ja alles so anders. Nichts war ja so, wie ich sagte, -ich lebte ja nur, ich fühlte mich auf die eine Weise, bis er kam, und -nun auf andre Weise. Aber die erste ist doch nun nicht mehr, also ist es -auch nicht anders, -- kannst du denn herabsehn auf dein Leben? Man steht -doch immer darin, man fließt mit, und alles ist unentrinnbar. Ach, wenn -man nur fühlen könnte! Dann wäre kein Mord eine Untat. Sage das Wort -nicht -- was ist dann?« - -Renate verlor die Worte im Hören, ohne sie begriffen zu haben. Eine -Weile danach kam sie zu sich, unwissend woher, und erkannte, daß Ulrika -von einem Bilde sprach -- ja, einem Bilde, an dem Bogner malte, wieder -malte, nachdem er es schon als Knabe geplant: der Kampf um Troja, -Achilleus auf dem Wall, wie er um Patroklos schreit so gewaltig, daß die -ganze Schlacht zurückrollt gegen die Stadt ... »Ja, kann man denn -Schreien malen?« fragte sie ungewollt. - -»Ich sagt' es ja eben,« erwiderte Ulrika, »er selber behauptete, es sei -unmöglich, ganz sinnlos, und doch muß er an diesem Bild schon bald -zwanzig Jahre sitzen ...« Wieder vergeßlich, versunken ins Anschaun -dessen, wovon Ulrika sprach, der hundert Studien, Leiber, verrenkter -Gliedmaßen, Verwundeter, Sterbender, Arme, Beine, schreiender Münder, -dann auch eines Eisenbahnunglücks, das Bogner mitgemacht habe, und -dessen Schmerzensausdrücke bei den Verletzten er später bei den -Aktstudien aus der Erinnerung noch habe übertragen können, hörte sie -langsam die etwas klagende Stimme der Freundin wieder deutlich werden: - -»Und wie ich dastand in dem öden Raum, der ganz voll war von diesem -wilden Leben, Rossen und Wagen, Kampf und Verzerrung, immer wieder -dieselbe Gebärde des Grauens sah, dazwischen Entwürfe zu einem schwarzen -Sonnenuntergang, in dem der Heros ganz klein stehen sollte, während -vorne die zurückflutende Schlacht sich bäumt, -- o Gott, all dies -Stückwerk zu sehn, Rüstungen, Schienen, Fäuste, immer wieder Fäuste mit -abgebrochenen Schwertstücken, Beine, nackt, verdreht, Rippen, von Armen -herausgepreßt -- und zwischen all dem er, so unbekümmert, bei aller -Zweifelei so im Triumph seiner Ganzheit, in der die tausend Stücke -einmal aufgehen würden, -- da -- ja, da trat ich glaub ich ans Fenster, -ganz mutlos und hoffte nichts, als daß -- nun was? Aber ich sagte etwas -wie: >Wenn ich dir helfen könnte ...< Da legte er seine Hände auf meine -Schultern, zwang mich ihn anzusehn und sagte ganz leicht, ich hülfe ihm -ja -- nun, noch dies und jenes, was ich nicht mehr weiß, was lag auch an -den Worten! -- Mir ward leicht, ganz leicht.« - -»Und nun?« mußte Renate endlich fragen, da sie vor sich niederblickend -schwieg. - -»Nun siehst du's ja: ich bin hier. Ich kam heim, ich saß bei Mama, dann -legte sie sich bald, sie kränkelt ja immer mehr, dann kam eine Schwester -von ihr -- da wurde ich auf einmal unruhig und ging hierher. Unterwegs ---« - -Renate horchte auf, da sie Schritte im Treppenhaus hörte; auch Ulrika -schien sie zu hören, denn sie brach ab, erhob sich, nahm das Buch und -sagte: »Es ist ja auch nichts weiter zu sagen.« Sie trat auf Renate zu, -die sich erhob, schloß sie in die Arme und meinte, es würde wohl alles -wieder anders werden, wer könne wissen ... und dergleichen, während -schon Saint-Georges den Kopf ins Zimmer steckte und erklärte, dies gehe -zu weit! Dreiviertel Stunden sitze er allein, am Neujahrsabend! - -Wie er doch den rechten Augenblick abgepaßt hat -- für Ulrika, dachte -Renate, obschon selber ratlos, was das Ganze nun bedeuten sollte. -- Als -sie einen Augenblick später hinter den Beiden, die miteinander sprachen -und lachten, die Treppe hinabstieg, empfand sie bekümmert die Linderung, -die aus Ulrikas Unruhe ihre eigene durchflossen hatte. - -Es ist am Ende nur, daß ich zuviel allein bin, dachte sie dann; man -hängt sich selber zu sehr nach, und -- die Andern sind immer warm und -wärmen; ist man dann allein, muß man sich doppelt kleiden und einspinnen -ins eigene Fühlen und Grübeln, aber ... aber ... - -Renate wußte nicht weiter. Sie waren unten angelangt. - - - Viertes Kapitel: Februar - - - Wirrnis - -Georg saß und schrieb: - -Ein junger Mensch kam an einem Oktobertage mit dem Eilzuge von A. auf -dem Bahnhof Zoologischer Garten in Berlin an, ohne Koffer noch Tasche, -gut gekleidet, in einem schwarzen Herbstmantel und kleinem grauen Hut, -stieg die Treppen hinunter und ging wie ein Müßiggänger die -Joachimsthalerstraße hinunter, aber er suchte sich eine Wohnung. Er bog -in die Kantstraße ein und ging sie hinunter bis über den Savignyplatz -hinaus, währenddem er wohl achtmal, von dem Schilde: >Möbliertes -Zimmer!< angerufen, in einem Hause verschwand, um jedoch ... - -Georg strich die letzten zwei Worte unwirsch aus und schrieb statt -dessen: - -... kam aber alsbald, jedesmal ein wenig erschöpfter, wieder heraus, und -zwar bald auf der linken, bald auf der rechten Seite der breiten Straße. -Schließlich strandete er vor einem Damenhutladen auf der linken Seite, -in dessen Fenster das >Möbliertes Zimmer!< wiederum auf einer Papptafel -zu sehn war. Während er noch zögerte, wurde drinnen im Schaufenster eine -Milchglasscheibe geöffnet, es kam ein Frauenarm mit einem Hut auf der -Hand hervor, dann auch ein Gesicht, dunkeläugig, dunkelhaarig, ältlich, -versorgt und gutherzig. Gleich trat er in den Laden, die Frau zog sich -gerade wieder nach innen aus dem Fenster zurück, war ziemlich groß und -sah wirklich sehr freundlich aus, ohne etwa ein besonders freundliches -Gesicht zu machen. Er sagte: »Hier ist ein Zimmer zu vermieten?« Die -Frau antwortete in einem ihm unbekannten Dialekt (statt müssen sagte sie -»missen«), zurückhaltend, es sei aber nur klein, bat ihn dann, -mitzukommen, und er folgte durch ein großes Zimmer, in dem vor einem -breiten Fenster zur Rechten zwei junge Mädchen saßen, mit dem Garnieren -von Hüten beschäftigt. Die Frau stieg drüben ein paar Stufen zu einer -Tür empor -- sie ging schlürfend in Filzschuhn, schwerfällig; ebenso -schwerfällig schlich ein alter schwarzer Pudel, der von einem -verschossenen, grüngelbbraunen Samtsofa sprang, auf den jungen Menschen -zu und berührte ihn vorsichtig mit der Schnauze -- öffnete sie und ging -weiter -- der Mensch ihr nach -- in einen schmalen, dämmrigen Gang -hinein, mit Türen auf der rechten Seite, durch deren Milchglasscheiben -in der oberen Hälfte spärliches Licht hereinsickerte, und von denen die -zweite -- die erste war nach dem Briefschlitz darin die Korridortür -- -halb angelehnt in die Küche hineinsehn ließ. Vor der dritten blieb die -Frau stehn, stieß sie auf und ließ den Mieter ins Zimmer sehn. - -Es sei gleich gesagt, daß dies Zimmer gemietet wurde. Es war keine vier -Meter lang und kaum zwei breit; an der Tür gleich rechts stand ein -gewöhnlicher, rotbrauner Kleiderschrank, daran stieß das Fußende des -Bettes, und dahinter stand dasjenige Möbel, dem das Zimmer seinen neuen -Bewohner verdankte, nämlich ein alter Bücherschrank -- wie sein neuer -Besitzer ihn nannte -- aus braungelber Birke, unten Kommode, darüber -Schrank mit sechs Fensterscheiben, von grünem Taft innen verhangen, -bedeckt mit flachem Giebeldreieck; gutes Biedermeier. Gleich hinter ihm --- er stand halb davor -- war das Fenster mit sehr breiter Bank, die -Heizung war drunter. Gegenüber dem Bücherschrank war eine kleine braune -Tür, die in einen winzigen Verschlag führte; drin stand ein alter, -hölzerner Waschtisch mit einem blechernen Becken, einer blauen Karaffe -und einem weißen Seifennapf; ein Bort aus zwei Brettern, die an -rotbraunen Kordeln hingen, schwebte schief an einem Krampen darüber. Dem -Bett gegenüber an der andern Wand -- keinen Meter breit war der -Zwischenraum, den ein kleiner Tisch unter einer lang herunterhängenden, -bräunlichgelb gemusterten, mehrfach gestopften Decke ausfüllte -- stand -ein altes, gemeines Sofa, das gleichwohl Vertrauen erweckte. Zwischen -seinem Kopfende und der Tür zum Verschlage hing ein kleiner, alter -Spiegel mit ungeschliffnem, in der Mitte geteiltem Glase, ebenfalls aus -gelber Kirsche und ebenfalls mit einem Giebeldreieck. -- Über dem Bett -hing eine schmutzigdunkelrote Steppdecke, und auf dem Schrank stand eine -Lampe aus weißem Glase, in deren Bassin gelb das Petroleum schimmerte. -Vor dem Fenster waren alte, aber sehr saubere gelbweiße und geraffte -Gardinen. Dies alles zusammen kostete den jungen Menschen achtundzwanzig -Mark im Monat, wofür er auch die Heizung, die Lampe und noch eine Tasse -Kaffee des Morgens nebst einer gestrichenen Schrippe haben sollte. - -Georg, der während des Schreibens unablässig Zigaretten geraucht hatte, -sah auf, murmelte: Es wird zu lang, aber die Beschreibung genügt ja nun, -und er sah sich um, ob auch nichts vergessen war. Richtig, die Tapete! --- Indem empfand er, daß er zu tief im Sofa saß, stand auf, faßte den -Tisch an beiden Schmalseiten und trug ihn vor den Bücherschrank. Es war -glühendheiß im Zimmer, er tastete nach der Kurbel im Heizkörper, fand -sie und drehte sie herum. Dann blickte er durch die Gardinen auf den -Hof, und gerade kam langsamen Schrittes aus dem Portal zur Rechten der -Briefträger und ging vorüber. Georg fluchte leise: Wieder nicht! -beruhigte sich, zog sich zurück, nahm eine neue Zigarette aus der -Schachtel, schob die Blätter auf dem Löschblatt zusammen und schrieb -weiter: - -Der junge Mensch hieß Topf, und so sei er genannt. Diesen Namen hatte er -der Zimmervermieterin mitgeteilt, und sie zweifelte nicht an ihm; auch -die Polizei nahm ihn gutgläubig hin. Herr Topf also besuchte an -Vormittagen die Universität in verschiedenen Hörsälen, und zwar genau -bis zum siebenzehnten Dezember des Jahres. Längst von einem allgemeinen -Widerwillen gegen die Nähe vieler -- und so zusammenhangloser -- -menschlicher Gesichter erfüllt, wurde ihm insbesondere die Ausdünstung -des studentischen Proletariats, welches die Publika besuchte, vermischt -mit der fast unleidlicheren, aus Schweißgeruch und Parfüm -zusammengesetzten der weiblichen Studierenden unerträglich, aber erst am -genannten Tage ward ihm klar, daß er Stunden um Stunden versaß, um nicht -mehr als Fingerzeige für eigene Wege zu erhalten, daß er besser tue, -sich auf die Schriften selber, die großen Arsenale zu beschränken, und -schließlich und vor allem, daß sein Mitschreiben und Ausarbeiten des -Gehörten zwar Fleiß sei, jedoch nur um der Fleißigkeit willen von ihm -betrieben wurde, nicht wegen des Stoffes und der Kenntnisse. - -Herr Topf -- dies war der einzige, wahre und echte Grund, den wir heute -aufzudecken in der Lage sind -- begann am Winter, an der Stadt Berlin, -an sich selber zu kränkeln. Er erhob sich ziemlich spät am Morgen, -kleidete sich in immer den gleichen, nämlich einzigen Anzug, bloß daß er -lederne Reiseschuh an die Füße tat, und begab sich nach vorne in das -große Zimmer, wo bereits an ihrem langen Tisch am breiten Fenster die -beiden Mädchen saßen, die große, magere, bleiche, blonde, und die -kleine, dicke, rote, braune, mit bunten Bändern, Zeugen, Hutmodellen aus -Draht und Gaze, ganzen und fertigen Kapottehüten und andern Dingen -beschäftigt. Dort sank er in einen tiefen alten Sessel, bekam alsbald -seine Schrippe, seine Butter und seine große Tasse voll heißen, aber -dünnen Kaffees vorgesetzt, sah in die Zeitung, gestattete dem alten, -halbblinden und sehr ruppigen Pudel Valentin, sich an seinen -Schienbeinen zu scheuern, sprach ein paar Worte mit den Mädchen oder mit -der Wirtin, Frau Wisch, die mit versorgter Stimme und in magdeburgischem -Dialekt, wie inzwischen offenbar geworden war, von ihrer Tochter -erzählte, als welche in Stolberg am Harz mit einem Gärtner verheiratet -war und ein Kind erwartete. Später saß Herr Topf in seinem Zimmer und -las in einem Buche, oder er schrieb einen Brief, oder er saß in der -Sofaecke und rauchte, oder er lag auf dem Sofa und starrte auf die weiße -Glaslampe auf der Schrankecke, oder wenn er anders herumlag, durch die -Gardinen, über den Hof gegen die Brandmauer eines Schuppens, oder eines -Bildhauerateliers ... - -Georg sah aufblickend hin, murmelte: Ich weiß es nicht -- und schrieb -weiter: - -... durch die kahlen, meist nassen Wipfel eines Baumes nach dem meist -bewölkten grauen Himmel. Mittags ging er in ein kleines Restaurant in -der Nähe zum Essen, legte, zurückgekehrt, sich auf das Sofa und schlief -eine Stunde oder schlief auch nicht. Meist aber blieb er liegen, bis es -dunkel wurde und länger, denn mit fortschreitendem Winter wurde es -früher und früher dunkel, zu schweigen von den Tagen, an denen es gar -nicht hell wurde. Er empfand in diesen Stunden wenig, außer der Wärme -der Heizung, aber er dachte viel, und nicht selten dachte er ein -Gedicht, das er dann beim guten Licht der herabgeholten weißen Lampe -aufschrieb. Um die Zeit des Dunkelwerdens jedenfalls, heute früher, -morgen später, zog er Stiefel und Mantel an und ging auf die Straße. Nun -konnte er verschiedenes unternehmen. - -Er konnte sich in den Grunewald hinausbegeben -- von dem er beiläufig -nie mehr kennen lernte als den Teil vom Bahnhof Grunewald bis zum -Restaurant Hubertus mit den beiden Seen, dem Jagdschloß und den zählbar -scheinenden, gleichmäßig kahlstämmigen Kiefern -- und dort konnte sich -wohl die öde Kahlheit des winterlichen Gehölzes, das vielfältige -Schweigen und das unsichtbare Auge der Einsamkeit zwischen den tausend -nackten Stämmen hervor, konnten die grauen Flächen der schlecht -überfrorenen Seen, der seltsam beklemmende Hauch des dunkelgrauen -Winterhimmels, und später, im Dunkeln, die Spiegelungen der -Laternenlichter im Eis und ihr Durchscheinen des schwarzen Zaunes von -Baumstämmen auf dem gegenüberliegenden Ufer --, all dies konnte sich zu -einem schauerlichen Schwellen und Tönen in seinem Innern vereinen. - -An gewöhnlichen Abenden aber war sein Weg, der Weg des Herrn Studenten -Topf, fast immer der gleiche, wenigstens anfänglich: die lange, graue -Zeile der Kantstraße, unter der schwebenden Schnur der fleischroten -Bogenlampen, zwischen den Wandungen spiegelnder Läden voll feurig -beleuchteter und funkelnder Gegenstände -- - -Georg, sich erinnernd, schweifte mit dem Auge die Straße hinab und sah: -Margarinefässer, Pfirsiche, Melonen in gefächerten Kästen, Tomatenhügel, -Schaufenster voll stehender Spazierstöcke und Schirme, Buchläden voller -gelber, roter, grüner, blauer Rücken von ungebundenen Broschüren, -rotblutige, zerteilte Tierstücke auf Marmorplatten, dazwischen grüne -Blattpflanzen, Herrenmodenauslagen, Kragen, Hemden, Krawatten, alles -herrlich beleuchtet, kostbar und erfreulich, aber er schrieb es nicht -auf -- - -... hinunter (fuhr er fort) bis zur Gedächtniskirche. Kurz vor ihr -konnte er zum Zoologischen Garten abschwenken und durch den Tiergarten, -die Charlottenburger Chaussee, die Linden, die Friedrichstraße hinab zum -Bahnhof gelangen, im blauweißkarierten Aschinger zu Abend essen und mit -der Stadtbahn heimfahren. Manchmal gefiel es ihm auch wohl, am -Zoologischen Garten im Schacht der Untergrundbahn zu verschwinden, einem -Lächeln, dem Schein einer verschleierten Wange, auch einem ganz -deutlichen Augenwink nachfolgend, denn die unablässig lauernde Begierde -seines Geschlechts ließ ihn immer wieder hoffen, dasjenige weibliche -Geschöpf doch eines Tages zu treffen, dem er sich gesellen könne, -- -doch wagte er es nie, aus Furcht vor Krankheit bei jener Art von -deutlich winkenden Geschöpfen, aus Scheu vor der Anknüpfung dort, und -manchmal noch im letzten Augenblick aus Furcht vor der Langeweile, die -jedes von diesen Wesen bei längerem Zusammensein ihm bereiten würde. -Vornehmlich ergötzte ihn der Reiz, das Gefühl, nicht völlig ziellos, -einer schmeichelnden, süßen, ach, immer wieder kostbaren, seltenen, -verführerischen Sache anzuhangen, die in seiner Nähe ihm gegenüber saß, -in ihrer nie zu begreifenden weiblichen Sicherheit, ausgesetzt nach -allen Seiten hin, sich besessen fühlend von Blicken in jeder Bewegung, -dem Ausstrecken des Fußes, Drehen des Absatzes und Blick danach, dem -Dehnen des Schleiers mit dem Kinn, Rücken am Hutrand, plötzlichem Öffnen -der großen Ledertasche, aus dem ein Täschchen von Silbermaschen, ein -Spiegel, Bleistift, mehrere Trambahnbilletts und endlich ein Brief -hervorkommt, -- an allem diesem teilzunehmen, immer tastend, hebend mit -dem Blick an den Augenlidern, drehend an dem zarten Kopf, bis endlich -die erwünschte Wendung, der erhitzende Blick herüberflog, -- und -währenddem war er vielleicht angelangt auf der Hochbahnstrecke über den -Eisenbahngleisen, wo die erleuchtete Wagenreihe wie eine Raupe von -glänzendem Meteor über dem untern Sternhimmel der weißen, grünen und -roten Signallichter auf dem schwarzen Tuch des weitausgebreiteten -Bahnkörpers dahinzog, -- und manchmal fuhr er bis zum Warschauer Tor, -freilich selten, denn alle holden Geschöpfe hatten die gleiche -Gewohnheit, schon bei der zweiten oder dritten Haltestelle zu -entschweben, alte, dicke, geschwätzige Weiber dagegen, denen die -Korsettstäbe vorn unter der Bluse abstanden, die erfüllten den Wagen mit -ihrem, beim Lärm des Wagens unverständlichem Gerede und stiegen niemals -aus, bevor er selber sich rührte. Schön und befriedigend war es dann -- -wenn er bis zum Warschauer Tor fuhr --, die leer gewordenen Wagen bis -zum letzten durchschauen zu können, wo auf den befreiten, teilnahmlos -hölzernen Bänken oder roten Ledersofas nur hier und da ein einsamer -Zeitungsleser hinter seinem papiernen Schild saß oder ein Ladenfräulein -(welches dann plötzlich seine Handtasche öffnete, um darin zu kramen, -als sei dies gerade jetzt unumgänglich nötig geworden) ... - -Georg dachte: Hier habe ich mich wiederholt, aber diese letzte Wendung -mußte ich doch noch anbringen. - -... Von einer leisen und melancholischen Art Romantik angefeuchtet, -fühlte er sich in dieser Verlassenheit behaglich, ihren leisesten -Schauern im Aufziehn und Entschwinden nachlauschend, zumal jenem: Wenn -es bei aller Menschenfülle im Wagen völlig still ward, im Wagen, der mit -tastender Vorsicht, immer langsamer, die Höhe des schwarzen Bahngerüstes -erklomm, bis fast zum Stillstand, wo nur das emsige Tucken des Motors -hörbar war, unendlich langsam die kleinen Lampen draußen heran- und -vorüberglitten, indes der Zug vor der abenteuerlichen Kurve wartete oder -sie mit sorgfältigster Langsamkeit umkroch, und der Blick unterweil fiel -tief hinunter in die Höfe der Kohlenlager oder Stapelplätze, in denen -verlassen aussehende Laternen Teile von Schuppen, stille Geschäftswagen, -Plakate und Wandinschriften beleuchteten, eine Menge Dinge, die zu -betrachten gerade genug Muße war, wenn auch nicht kenntlich wurde, was -dem alten, braun und weißen Pferde fehlte, um das ein paar Menschen -standen, und das den einen Vorderfuß hob und zuckte. - -Georg unterbrach sich, da er merken mußte, daß es ganz dunkel im Zimmer -war; das bleiche Viereck des Papiers leuchtete bläulich weiß; jetzt -konnte er auch das eben Geschriebene nicht mehr entziffern, holte eilig -die Lampe und zündete sie an. Vor Aufregung des Weiterschreibens irrte -er Augenblicke lang zwischen der Absicht, eine Zigarette, Streichhölzer, -den Aschenbecher, die Feder zu ergreifen und nach der Kurbel der Heizung -zu fassen, da es wieder kalt geworden war; endlich gelang es ihm, alles, -was er wollte, der Reihe nach zu tun, er schrieb weiter: - -Und wie sonderbar traf m-- (dies m strich Georg durch, suchte -Augenblicke und schrieb nicht ganz zufrieden, hastig, weiterzukommen --) -einen dann die schweifende Stille der großen Hinterfronten mit -Riesenfenstern von geriffeltem Glas, hinter denen in hellen Riesenräumen -die Schatten von unverständlichen Wesen herankamen oder sich handelnd -entfernten; oder auch die Fenster waren klar und zeigten mächtige Säle, -gefüllt mit eilig, aber lautlos sich bewegendem Personal, Packern, -Schreibern. Und nun die Verschwiegenheit der kleinen Stationen der -Hochbahn, wo er wartete mit andern Wartenden, die mantelumhüllt in der -Kälte den Rücken in den Wind hielten, den Kopf schief und die Gesichter -verkniffen, oder vor Plakatwänden standen, angeschrien, ohne es -scheinbar zu beachten, von gemalten Grotesken; vielmehr gähnten sie -häufig und spuckten verächtlich aus. Zu warten auf solch einem Bahnhof, -mit der schaurigen Aussicht nach links und rechts auf die schnurgerade -in die Nacht enteilenden, matt glimmenden Geleise, zwischen denen, wie -im Nichts gehend, aus der Ferne ein Mann im Mantel mit einer unterhalb -schwingenden Laterne, der sich zuweilen bückt, so langsam heranwandert, -als hätte er Jahre Zeit; oder mit dem Blick in die Tiefe, wo über die -traurigen, schwarzen, nassen, spiegelnden Plätze und Nebenstraßen ein -trüber Omnibus voll stiller, sitzender Menschen hergezottelt kommt und -mit lauterem Rasseln, an Geleisen ruckend und geschüttelt, unter der -Überführung schwindet, -- und wie totenstill kann es dann sein! -- Oh, -und das Auftauchen aus dem unterirdischen Schlund jählings zu mächtig -strahlenden Lampen, in große Freiheit und Aussicht, zu Spiegelscheiben, -Litfaßsäulen und der erstaunlichen Majestät einer Theaterfront -emporgerissen, vor deren umnachtetem Giebeldreieck Bronzewagenlenker -Panthergespanne sorglos in die Luft hineinzügeln. - -Am trostlosesten aber war es in der windigsten der Dezembernächte auf -einem der kleinen Vorortbahnhöfe, Wilmersdorf, Zehlendorf, Friedenau. -Dort schien dem Wartenden die Zeit still zu stehn und niemand sich darum -zu bekümmern, ob sie weiterging, aber auf einmal trat ein Mantelträger -aus einer Tür an ein Eisengerüst, und dort war oben auf einem weißen -Schild das Wort >Südring< in großen Lettern starrblickend zu sehn, ward -aber im selben Augenblick mitten in seiner Bedeutung abgeknickt, und -statt dessen erschien, groß und bedeutungsvoll, >auf allen Seiten -Hintergrund<: >Potsdam< in der Nacht. Dort dem endlosen, unaufhörlichen -Vorüberrollen eines Güterzuges zuzuschauen, Wagen, Wagen und Wagen, -dunkel alle, flache, kistenartige und solche mit Gerüsten, eine Menge -voll langer, hinten überstehender Baumstämme, und solche, auf denen -Möbelwagen mit riesigen Namenszügen standen, und geheimnisvoll -verschlossene gleich fahrbaren Folterkammern, und andre, aus deren -Innern das vertraute Stampfen und Klirren eingesperrter Pferde an -Kindheit und Abende in warmen, dämmrigen Ställen erinnerte -- in den -Boxen die Hinterbeine, deckenverhangen, treten hin und her vor den -schlagenden Schweifen --, -- und ganze Städte zogen vorüber in den -Wageninschriften: Bromberg, Hannover, Kattowitz, Posen, Danzig, Bochum, -Löhne, Altenbeken, Stettin und Stralsund, und immer noch Wagen und -Wagen, dahingerissen, unsichtbar von wem, aber zusammengekettet und -fortgerissen, schon springend, dahin tanzend, und wieder beruhigt, -verrollend, in einem eisernen Strombett von Getöse, das in jeder Minute -den Takt wechselte, bis der letzte der dahingeschleppten Sträflinge -unvorhergesehn plötzlich dem versunkenen Betrachter das dunkle Antlitz -eines schweigsamen Geistes zuwandte, der ohne rechte Begriffe seines -Daseins, stumm, nächtig, gehorsam der dunklen Nachtferne rückwärts -zuschwebte, winkend mit einer grünen Laterne. Und wie er dann in die -grauen Kissen seines Abteils versank, das ein schönes, behagliches -Zimmer war, voller Luft von Menschen! Und noch zu genießen war vom -Bahndamm im Entgleiten die hell erleuchtete Ferne des Bahnkörpers, wo -lichte Häuserfronten, Balkone und hoch oben beschattete Giebel und -Dächer in weiter Runde eine rötlich umrauchte Bogenlampe umstanden, und -darunter arbeitete eine kleine Rangiermaschine sich, als ob sie -festsäße, unaufhörlich den weißen, durchröteten, fortfliegenden Qualm -ausstoßend, hin und her. - -O Anschaun, o gedankenlose Empfindung, o Vergeßlichkeit! o kleiner -Wartesaal dritter Klasse, mit dem glühenden Kanonenofen, dem Plakatbilde -von Freienwalde, das seine Fichtenwälder anpreist, oder von einer -Hygieneausstellung, oder von einer Gewerbeausstellung; mit der Tafel: -Nicht auf den Boden spucken! mit dem zärtlichen Liebespaar im Winkel, -ewig wie Bahnhof und Wartesaal ... Und nun wieder das Getöse, der große -Wasserfall, das tausendfältig brandende Geräusch der breit aufklaffenden -Straßen, das gewundene Gewirr, und das Gefunkel, und die Lichter, die -hunderttausend Schilder, die alle schreien, etwas wollen, die Rufe, die -Trompetenstöße, das vielstimmige Klingeln, die Geräusche der Sohlen, -Pferdehufe, schreienden Geleise, Motoren, Achsen, die strahlenden -Schaufenster wieder, die verheißungsvollen Korsettgeschäfte, das fromm -aussehende, tiefernste, niemals bewegte Ungetüm des kirchenhaften -Warenhauses, die Schlachterläden, die Gossenränder, die Blumenfrauen -hinter Körben und Ständen mit kleinen Spritzen am Mund, die -Zeitungsrufer, und hinter den Glasscheiben Aschingers der Tresen mit -Messinghähnen, der Glaskäfig mit Stockwerken voll leckerer Brötchen, mit -der ganzen, eiligen, schlingenden Gefräßigkeit der Menschen, die im -Stehen kauen, mit rückwärts gedrehten Augen wie die Hunde, -- und hoch -über all dem, hoch in der braunen Nacht -- der Tausendfuß, der -brontosaurische Gigant, der blinde, der am ganzen Leibe unaufhörlich -zitternd seinen elektrisch geladenen Leib an den Türmen, an den Essen, -an Schloten, Firsten, Giebeln, Balkonen, Fenstern und Drähten der -brüllenden, rasenden, taumelnden, kreisenden, winselnden Stadt scheuert -... - -Georg, glühend im Gesicht, obwohl innerlich kalt und verhärtet von -Anspannung, legte den Federhalter hin, faßte langsam mit der linken das -Gelenk der rechten Hand und spreizte deren verkrampfte Finger mehrere -Male, indem er sich mit dem Gesicht auf das Geschriebene neigte. Er -überlas ein paar Zeilen, da widerstand ihm das Schreiben, er dachte: Das -ist wieder so ein lyrischer Anlauf! -- Aber es müßte einem doch -gelingen, erwiderte er sich, in hundert Druckseiten diese ganze Stadt -nach Eindrücken abzuwandeln ... Er stand auf, ging zum Sofa und streckte -sich aus, aber die darstellende Tätigkeit hatte sich verkrampft, er -schrieb in Gedanken liegend weiter: - -Begab er sich nun nicht in eines der vierhundert Kinematographentheater, -für die er eine herzliche und kindliche Zuneigung gefaßt hatte, so -pflegte er noch einige Nachtstunden ... sich unterbrechend fiel Georg -ein: Töpfer! und Tante Henriette, aber er setzte den begonnenen Satz -fort: -- ähnlich zu verbringen wie schon die meisten des Tages, lesend, -rauchend, oder mit Träumen, Grübeln und Melancholie auf dem Sofa, -gewöhnlich so lange, bis die angesammelte geistige Atmosphäre ihren -Niederschlag in irgendeiner Erinnerung an eine Beobachtung; ein Erlebnis --- wie er es nannte -- des Tages fand, dessen Schilderung nebst daran -geknüpfter oder daraus erwachsender Betrachtung über gewisse, sich -wiederholende und trübe Seelenzustände einen melodischen Ausdruck im -Umfange von vierzehn Verszeilen fand. -- Richtig, es ist erstaunlich, -dachte Georg, wie genau ausreichend das Maß des Sonetts zur Aufnahme von -seelischen Entladungen ist. -- Jetzt packte ihn wiederum der -Schreibezwang, er sprang auf, ergriff eine Zigarette, entzündete sie -über der Lampe, nahm die Feder auf und schrieb: - -So mußte ihm jeder Tag schließlich zum Erlebnis werden; es quälte ihn -automatisch, blieb einer ohne Gedicht; ein Gedicht war Frucht, war -greifbar, bleibend, behielt seine Nahrung und würde ihm nach Jahren ... -Vorwärtshastend bildete Georg den Rest des Satzes aus Strichen und fuhr -fort: Und was etwa konnte nicht zum Erlebnis werden? Nur halbwach mußte -man gehn, in sich selber locker schaukelnd, schwingend ständig gewärtig, -Schwung aufzunehmen. Dann, in die Finsternis der ödesten Gassen des -Nordens verloren, dann konnte er wohl, von einer Dirne aufgescheucht, -mit jählings erwachendem, verwandtschaftlichem Grauen vor einem -Laternenarm erschrecken, Arm, den tief im Verließ der toten Sackgasse -ein Eingemauerter aus der Wand streckte, verurteilt, dies traurige, ihm -selber unsichtbare, bleich grüne Licht zu halten, das sich fürchtet, -allein seit hundert Jahren mit dem Eingemauerten und mit seinem -Spiegelbild in der Pfütze auf dem Pflaster. Und -- so schloß das Sonett: -Darunter steht das Weib, das nach dir winkt. -- Andermals: welch -sonderbares Empfinden, von der Eisenbahnbrücke herab auf dem schwarzen -Sumpf das Gewimmel von Lichtern zu durchforschen und zu verfolgen, -Rubingehänge, dazwischen bleiche Türkise, gelbe Lichter wie Totenkerzen -und runde, grüne, erfrischende, regungslos allesamt: dazwischen aber, -aus einer schnell geöffneten Türe der Nachtferne, kriechen Ketten und -funkelnde Bänder und leuchtende Schlangen, und auf einmal ist nahe -darüber ein schwächlicheres Licht zu gewahren, der Mond, der nichts zu -sagen weiß, als daß wohl auch dem Oben Beleuchtung gebühre. Zärtlicher, -wehmutsvoller, verwandter berührte freilich die Begegnung mit jener -Birke, die im abgestorbnen Garten vorm Haus plötzlich als bleicher -Nebelstreif erschien, als ob sie zu sich her winkte, und dann, als sei -es nun so weit, ihr letztes Blatt fallen ließ. - -Georg stockte; er sah sich in Zwielicht und Düster unbekannter -Straßenstollen herumgehn, ohne Ausblick, im undurchdringlichen Nebel; wo -er die Kirche vermutete, da war nichts, nur Nebelqualm rollte wie -- -also wie aus einem Faß, und Lichter schwammen darin, farbige, blasse, -opalene, schwer und aufgequollen, hochoben größere Lampen, prahlend, -dicht unterm festen Verschluß von braunem Rauch, aber dann barst die -Mauer, er atmete auf, starrte jählings und geblendet in das breite -Blenden einer Riesenstraße von Läden und leuchtenden Schildern. Überdem -fiel ihm der umgestürzte Koloß von Zementscherben ein, verklebt mit -buntem Papier, der ihm den trostlosen Aphorismus zuseufzte: Hier liege -ich, die Säule eurer Kultur, die Litfaßsäule! -- Und er erinnerte sich -erbittert, an ihrer einer den seraphischen Namen Jean Pauls in -halbmeterlangen Lettern gelesen zu haben, aber als er neugierig näher -trat, so wars die Ankündigung eines Coupletsängers im Apollotheater ... - -Die Kultur, dachte Georg, im Stuhl zurückgelehnt, kommt bald ab, und das -Gefühl, glaube ich, wird auch bald abkommen. Man sieht es ja an der -Kunst, die kommt schon ab, ihre Züge haben sich bereits erschreckend -gewandelt wie die von einem, der in den letzten Zügen liegt, bloß -burlesker. Aus dem Drama ward das Theater und zuletzt der Kientopf, aus -dem Gedicht das Couplet, aus dem Maler der Futurist, aus der Musik das -Grammophon. Und wie ist es mit dem Kunstgewerbe? Da soll nun auf einmal -alles geschmackvoll sein, und was kostet das für Mühe! Der Grieche, wenn -er etwas machte, das ihm wohlgefiel, siehe da, so wurde es schön; wir -aber wollen immerzu etwas Schönes machen, und dann gefällts keinem. Wenn -ich aber gar einen individuellen Türklopfer sehe, so wird mir vor meiner -Gottähnlichkeit bange. Georg raffte sich auf, tauchte die Feder ein und -schrieb: - -Zuweilen verbrachte Herr Topf die Abende in einem behaglichen Zimmer von -schwerfälligem Reichtum; auf dem Sofatisch brannte eine verstellbare -Lampe aus Messing mit grünem Schirm, und daneben saß die Tante von Herrn -Topf, die er Tante Henriette nannte, und strickte oder häkelte, während -sie sich von ihrem Neffen ein modernes Buch vorlesen ließ, Strindberg -oder Sternheim, über den sie sich wütend ärgerte, aber das mochte sie -gern. Die kleine Eisenbrille mit dicken Gläsern saß ihr vorn auf der -Nasenspitze, zuweilen blickte sie darüber hinweg in die dunkle -Zimmerecke, wo ein kleiner weißhaariger Mann in hellgrauen Beinkleidern, -sehr soigniert, mit einem rosenfarbenen Papageien im Schoß saß oder auch -am Kanarienvogelbauer herumbusselte und seinen grüngelben Bewohner mit -dem Taschentuch leise quälte. Oder aber er ging zum Ende seines -Korridors, klopfte an die Tür und wurde von einem ganz hellen: Herein! -in das große, kahle Zimmer, dämmrig im Schein der Petroleumlampe auf dem -Schreibtisch am Fenster, gerufen, wo (unter den riesigen Bildern Kaiser -Wilhelms und seiner Gemahlin auf der roten Tapete) der Komparativus von -Herrn Topf saß oder vielmehr eilig aufsprang, ganz klein und zierlich, -aber mit schönem, dichtem Vollbart um das rötliche Gesicht, hocherfreut -und lächelnd: Herr Töpfer, Schriftsteller und radikaler Sozialist ... -Georg schrak auf; eine Tür ging fern, langsam kamen weiche Schritte -Stufen herauf, schlürften auf dem Gang. War der Briefträger gekommen? -Nein, die Schritte endeten in der Küche, ein Topf auf dem Herde wurde -hörbar gerückt. Georg legte die Feder hin und begab sich auf das Sofa. - -Wozu schreibe ich das? dachte er mißmutig. - -Denn immer und immer wieder, fuhr die Kette von Worten und -Gedankenbildern in seinem Gehirn hartnäckig fort, kehrte er aus alledem -zur ewig gleichen trüben Tiefe des eigenen Daseins zurück. Dort suchte -er am Grunde, aber das Gewesene, das er fand, machte ihn hülflos, er -hielts und konnte es nicht verstehn, er hatte kein Gedächtnis, keine -Erinnerung, die Vergangenheit rührte nicht mehr, das Bewußtsein, daß es -einmal gewesen, Bedeutung, Lebendigkeit, Glanz, Farben gehabt hatte, -oder daß am Ende er zu schwächlich war, sein Leben nur eine genietete -Kette von Augenblicken -- deren einzelne unsinnig und monströs in ihrer -übertriebenen Verzerrung des Stillstandes aussahen wie losgetrennte, -sekundenkurze Bilder eines Films, und von der im Zusammenhang stets nur -drei oder vier Glieder sichtbar waren, indem das letzte schon -wegschmolz, während das neueste kaum erst keimte --, daß da nur ein -Zusammenhängen war, kein Wachstum, ein Gleiten, kein Aufbau, daß er -dergestalt, auf einen winzigen Raum von Gegenwart angewiesen und -zusammengedrückt, sich erhalten sollte, Jahrtausende, ungeheuer und -drohend, hinter sich, eine nachtfinstre Zukunft, drohend und ungeheuer -vor sich: das erfüllte ihn mit einer großen Verdrießlichkeit, die, das -wußte er wohl, kein Leiden war, kein Schmerzerdulden, die zuzeiten aber -doch zu lebhaften Angstzuständen, ja manchmal in ein Schrankenloses der -Beklemmung wuchs. - -Georg schüttelte den Krampf der sich schreibenden Sätze erbittert von -sich, setzte sich auf, legte die Ellbogen auf die Knie, starrte in die -Lampe und dachte, er habe wohl den Teufel zitiert, denn nun stieg die -Angst wie Spinnen von allen Wänden herunter. Ich habe mich, dachte er -verkniffen, vor mir selbst ins Papier gerettet, da liegt nun mein -Abklatsch, nichts als ekelhaftes, absurdes, vor sich hinlallendes: Ich! -ich! ich! Wozu sitze ich denn hier? Wozu hab ich seit drei Monaten ein -und denselben Anzug am Leibe und nenne mich Topf? Was habe ich in diesen -Topf gefüllt? Die schwarze Regentraufe von den Dächern ist -hineingelaufen, aber von keiner Menschenseele ein Tropfen. Kommt es -nicht auf die Menschen an? Ich kenne sie nicht. Töpfer kenne ich, der -ist eine kleine Welt für sich, Frau Wisch, nun ja. Alle andern sind mir -eklig. Wenn ich sie in der Elektrischen sitzen sehe, zusammengepfercht, -viertelstundenlang still, vor sich hinblickend jeder in sein eignes, -verrammeltes Ich aus ihren Bündeln von Gesichtszügen, die so notdürftig -von da und dort her zusammengerupft und verknotet sind, daß man es kaum -begreift, so schüttelt mich der Abscheu. Jeder ist jedes Feind. Mein -Feind ist der Kellner, der nicht im Augenblick fliegt, wenn ich -eintrete, mein Feind der Schaffner, der geflissentlich meine Hand mit -dem Groschen übersieht und zu andern Fahrgästen geht, mein Feind der -Beamte am Postschalter, der sein Geld zählt, sortiert und Päckchen -häuft, oder Zahlen addiert, anstatt mir meine Fünfpfennigmarke zu geben, -mein Feind die Verkäuferin, die mich warten läßt, und die fünf oder drei -Frauen und Männer im Laden, die mich zwingen, Minuten meines Lebens -wegzuwerfen, die nicht so viel wert sind wie das Einwickelpapier um die -Butter, -- die ich mir aber um keinen Preis entreißen lasse. Alle hassen -Alle, was soll daraus werden? Und nur um der Ungeduld willen. Ungeduld -schreit aus jeder Bewegung, aus den Augen des Chauffeurs, dem ich nicht -rechtzeitig ausweiche, aus -- aus jedem Auge! Ich aber, nur ich, ich -hänge überm chaotischen Abgrund einer Seele, meiner Seele, und weiß, daß -ich einsam bin, und daß Alle es sind wie ich. Das ist meine Angst, das -ist die Angst, das ist die Angst der Stadt. - -Nein, du lügst ja, sagte etwas in ihm. Er horchte hin, legte das Gesicht -in die Hände und gab es zu. Aber gleichviel, woher die Angst! Sie ist -da, und Angst ist Angst. Ich fürchte mich vor der Zukunft. Ich -unternehme Dinge, die -- deren Ablauf mir unbekannt ist, ich klage einen -Vertrag ein, der mich auf einen Thron bringen soll, und ich weiß nicht, -was das heißt, was all damit verbunden ist, und wie ich die nötige -Sicherheit in mir selber erlangen soll, da ich, da ich -- auf diesen -Thron nicht gehöre. Und über all das hin braust das unendliche -Hunnengeschwader meiner Gedanken, die ich nur fliegen lassen kann, nicht -halten. - -Georg empfand, daß ihn hungerte; auf die Uhr blickend, fand er, daß es -kurz vor halb acht war. Er räumte die Blätter flüchtig auf das Bett, -öffnete dann die Tür des Verschlages und holte nacheinander von der -Fensterbank eine gläserne Dose mit Butter und einen Teller mit einem -Stück Holländer Käse, von dem Bort überm Waschtisch einen Viertellaib -Brot, einen Teller, ein Messer, zwei Eier aus einem Kasten, eine Tüte -mit Zucker und sein blaues Wasserglas, brachte alles auf dem kleinen -Tisch unter, schlug die Eier ins Glas, tat Zucker dazu, rührte um und -trank, dann erst setzte er sich, strich zwei starke Scheiben, belegte -sie mit Käse, schnitt sie in Würfel und fing an zu essen. Appetitlos -kauend und schluckend, folgte er Gedanken, die sich rastlos erneuerten. - -Ein Übelstand der Zeit ist es vermutlich, daß wir uns Kenntnisse -- -nicht Wissen -- mit so ungeheuerlicher, hexenhafter Geschwindigkeit -aneignen; und mit dieser, durch Jahrhunderte entwickelten Leichtigkeit, -Selbstverständlichkeit der Erfahrung kennen wir, was wir nie erfuhren. -Was wir kaum sahen, dessen erinnern wir uns schon wie an hundertmal -Erlebtes; mit der gesammelten Erfahrung unsrer Vorfahren geboren, ohne -sie erworben zu haben, sind wir bloß Erben, -- ja, wir, sage ich da -recht literarisch, aber wäre ich wirklich allein so? Ich kenne ja -niemand, aber ich glaube es nicht. Nichts pflegt einmalig zu sein. Wir -leben zu schnell, wahnwitzig schnell, und da heißt es denn -- er -lächelte kränklich --: In den Ozean schifft mit tausend Masten der -Jüngling. Bald auf gerettetem Boot treibt er zum Hafen als Greis. - -Aber mir, nein, mir blieb keine andre Wahl, in dieser Zeit nicht. Ich -war bislang ein Kind, ein Erzeugnis meines Vaters; der überrumpelte -mich; und ich war ein Kind, ein Erzeugnis meiner Zeit. Ich allein hätte -mich damals in Altenrepen vielleicht anders entschlossen, wenn ich nicht --- wie wir eben Alle -- mit den alltäglichen Dingen des Straßenlebens, -des Lebens überhaupt so verwachsen wäre, daß ich mich ihrer -Beeinflussung nicht entziehen konnte. Wie sollte ich mich zurechtfinden, -damals? Zwischen elektrischen Bahnen, am Telephon, zwischen Läden, -Kellnern, den Gesichtern, Anzügen, Hüten von heute, die doch nicht nur -außen um mich herum sind, sondern organisch wesenhaft in mir, Formen -meines Denkens, Empfindens, meines Seins, -- ja zwischen all dem, was -sollte ich anfangen mit diesem unzeitgemäßen Erlebnis? Es ist -Kolportage, auf Hintertreppen war ich nicht eingestellt. Vor zwei, -dreihundert Jahren, da hätte es gepaßt, zwischen Butzenscheiben und alte -Sprüche an den Hausbalken, verschnörkelte Giebel, seidene Schärpen und -nächtliche Straßengefechte, Serenaden und Entführungen. Das Schicksal -drückte mirs in die Hand, -- ich ließ es fallen. - -Helene, dachte er. Der Bissen quoll ihm im Munde, er schluckte heftig, -stand auf, griff hinter sich nach der Karaffe auf dem Waschtisch, setzte -sie an den Mund, trank einen tiefen Schluck und stellte sie fort. -- Sie -war mir so fremd, immer so fremd, ich wußte nicht, weshalb, -- von -welcher Mutter bin ich nun geboren? Vielleicht hat sie vor Jahrhunderten -schon gelebt. - -Gedankenlos und müde aß er die letzten Brocken und dachte: Was nun? - -Plötzlich ekelte es ihn vor dem Sofa. Ich will zu Töpfer gehn, sagte er -sich trübe, vielleicht -- --. Also löschte er die Lampe, trat auf den -Korridor, hörte aber, als er auf die erleuchtete Milchglasscheibe am -Flurende zuschritt, Stimmen drinnen, und nun fiel ihm ein, daß er am -Nachmittag jemand zu Töpfer hatte gehen hören. Nun gleich, dachte er -nachlässig, ich habe nichts gehört, klopfte an, hörte das helle: Herein! -und trat ein. - -Die Gaslampe am verbogenen Arm unter der Decke strahlte kalte Helle. Ja, -da sprang der zierliche, kleine Mensch vom Stuhl am Sofatisch auf -- er -und ein andrer Mensch saßen essend daran --, stellte sich mit -geschlossenen Füßen hinter seinen Stuhl, die Lehne fassend und sang in -seinen hellsten Tönen, den Kopf tief zurücklegend: »Ah, der Herr Positiv -tritt herein! wie überaus angenehm!« und dergleichen mehr, während -Georg, den Fremden ins Auge fassend, der sich hinter dem Tisch vom Sofa -erhob, auf ihn zuging. Teller mit Wurst, Butter, Käse, Milchgläser -standen auf der ungedeckten Platte. Der Fremde blickte Georg aus einem -zartbräunlich und rosigen Gesicht mit weichem, schwarzem Spitzbart aus -herzgewinnend liebenswürdigen, großen Augen an und bot Georg die Hand, -während Herr Töpfer weiter sang, dies sei der Herr Topf, der den -Berliner Roman schreibe, und das sei der Herr Levite aus Warschau. - -Ein Nihilist, dachte Georg, indem er wegen der Störung des Speisens um -Entschuldigung bat, aber Herr Levite versicherte mit angenehm weicher -und tiefer Stimme, sie seien schon fertig, setzte eine offene Holzdose -mit russischen Zigaretten über den Tisch vor Georg und zündete, da Georg -eine nahm, gleich ein Streichholz an und reichte es ihm. Georg setzte -sich, ungemein angezogen, und versicherte, mit dem Roman sei es nichts. -Herr Töpfer, der wieder Platz genommen hatte, wiegte herzlich bedauernd -den Kopf und meinte, gleich begütigend, er mache ja auch so wunderschöne -Gedichte ... Hellaufsingend schraubte die Stimme sich empor. Die dunkle -und weiche fragte sehr ruhig: »Glauben Sie damit der Menschheit zu -nützen?« - -Georg, erschreckt von der geraden Anrede, wehrte hastig ab: »Nein, nein, -Gott bewahre, ich finde mich selber --, ich bin froh, wenn ich mir -selber keinen Schaden zufüge!« - -»Unser alter Streit«, klagte Herr Töpfer bedauernd und herzlich. »Sollen -denn nun die armen Dichter wirklich aus dem Staat heraus? Lieben Sie -nicht Ihren Dostojewski über alles? Und -- da wir guten Deutschen --« -jubelte er hoch hinaus -- »wenn wir von uns selber reden, stets Goethe -als Beispiel heranziehn, so sagte Goethe --« - -Allein der Pole schlug ihn sanftäugig nieder, während er noch an dem -Zitat sammelte: »Goe--the sagt alles.« - -Bestrickend war diese Stimme und die Aussprache des Deutschen! Die -Silben kamen einzeln, rein und weich umhüllt, die S- und auch die -Z-laute summten zart, die Vokale wurden um einen Hauch gedehnt, die -Konsonanten um einen Hauch gedrängt, -- es klang entzückend, kein -Deutscher konnte die Sprache so zierlich handhaben wie dieser Pole. - -»Ich liebe ihn,« sagte die ruhige, nachdenkliche Stimme nun, »und ich -verstehe ihn su lesen; für andre ist er -- das Gift. Ich muß sugebben,« -fuhr er langsam fort, die Augen zu Georg aufschlagend -- während er mit -der Zigarette im Aschbecher rührte --, so daß Georg das Herz zitterte -vor Hingezogenheit und liebevoller Umfangenheit von diesen guten Augen --- »ich muß sugebben, daß die deutschen Dichter etwas voraushaben. Denn -sie sind niemals reine Dichter. Wie andere als die grosen Vertreter -Englands un Frankreichs, als Dickens und Flaubert oder Balzac gehen die -Ihren vor. Jene wollen das Leben darstellen, sie wollen weiter nichts -als das: Sie lieben -- der Mensch, da steht -- der Mensch, Sie sehen -ihn, Sie fühlen ihn, er iist so warm, Sie verstehen -- sein Leid, und er -iist so, Sie heben an ihm, und Sie heben alle Fäden der Wurzeln, er iist -fest in seinen Zusammenhängen, das ist so grose Kunst. Wenn dies die -Menschen lesen, so vergessen sie sich, es ist -- Su--ro--gat, aber es -macht sie nicht froh an ihrem Teil, sie schmähen es, sie schmecken es -nicht mehr so, sie gehen ihre Treppe nicht gern, ihr graues Haus macht -sie Angst, ihre Frau ist schlecht un häßlich, der Hauswirt ist sehr -böse, all dies ist nicht in Dickens, dort ist alles schön, der Schmutz -ist schön, die Menschen sind schön un böse; sie haben Gewalt, sie -scheinen anders lebbend, und dies ist, was ich sage: Gift. Ich kenne -nicht viele deutschen Schrift--stellers, aber ich kenne Goethe, ich -kenne auch ein wenig Keller und mit dem französischen Namen -- -- er ist -sehr schwer! -- Jean Paul, und sie sinnd sehr nachdenklich. Sie wollen -nicht darstellen: der Mensch, sie wollen immer sagen: das Lebben, die -Welt, der Gott. Ihre Menschen, sie fragen immer: Warum? Sie kümmern sich -so viel um sich selber und um der Welt ...« - -Da er innehielt, nach Worten suchend, sagte Georg: »Ja, gewiß, aber ist -das nicht noch stärker der Fall bei den Russen? Ich meine --« - -Der schöne, rote Mund im schwarzen Bart nahm ihm freundlich lächelnd die -Rede ab: - -»Sie saggen, was ich wollte. Auch der Rus--se, er denkt; er denkt an -Rusland. Alles ist Rusland, nur ist Rusland, und ist Rusenwesen, -Rusenleben. Nicht aber der Deutsche! Der Deutsche, er rechfertik sich, -daß er ist. Er sieht die Welt: Wie kam er herein? Was tut er? Was fängt -er an mit sich? Und er fragt: bin ich gut? Er hat viel Sennsuch nach -sich selber, der deutsche Mensch. Immer denkt er auf Besserung. Und er -muß immer vorher viel denken, ehe etwas kann geschehn. Sehen Sie,« fuhr -er eifriger und gütiger fort, »ich glaube an der deutsche Land,« -- er -lächelte, »was nicht heißen soll, ich glaube an der deutsche Staat. Sie -gennen Ihre Geschichte. Es hat gegebben ein Reich, Römisches Reich -deutscher Nation, das haben gemacht -- die Kaiser, gemacht hat es: die -Person. Nunn es gieb wieder ein Deutsches Reich seit viersig Jahr, das -hat gemacht der Gedanke, es hat selber gemacht: das Land. Fünfhundert -Jahre der Gedanke hat gedacht: Deutschland, und es mußte kommen Napoleon -und ihm sagen: Endlich fange an! und so fing es an, ein wenik, und es -dachte wieder nach, das Land, sechsig Jahr, da gab es ein kleines -Deutsches Reich. Ich hoffe sehr,« lächelte er erst Georg, dann Herrn -Töpfer an, »es wird immer denken lang--sam weiter bis in ein deutsches -Reich europäischer Nation, wenn es dann giebt nich mehr Sar, un Gaiser, -un Gönig.« - -Georg, die Arme untergeschlagen, saß still da, so sehr untertauchend in -das warme, schmeichelnde, dunkle Wallen dieser Stimme und die -Lieblichkeit, mit der die Gedanken darin zum Vorschein kamen, daß lange -Zeit verstrichen war, ehe er die Stille im Zimmer bemerkte. Er wußte -nichts zu sagen. Ein leises Gefühl -- wie Scham -- bohrte in seiner -Herzensgrube. Töpfer hatte sich mit heftig um einander gewundenen Beinen -seitwärts im Stuhl gedreht und hielt, die Stuhllehne unter der Achsel, -das Gesicht nahe darüber in den Schatten. Georg hörte den Levite wieder -und sah ihn auf dem Sofa sitzen, das Gesicht tief gesenkt, die Arme -unter dem Tisch, anmutig lächelnd: - -»Mir fällt ein: ein Freund von mir machte dies Gleichnis: Legen Sie hin -vor einen Engländer, einen Deutschen, einen Russen, einen Franzosen, -geschrieben das Wort Ich, und er soll dahinterschreiben ein -- wie heißt -es? -- ein Verb, was werden diese schreiben? Der Engländer, -- er wird -schreiben, serr einfach: Ich bin. Der Franzose, gleich -- schreibt: Ich -lie--be! Der Russe, er schreibt, -- er besinnt sich, er schreibt: Ich -sün--di--ge ... Der Deutsche, -- nun, Sie wissen serr genau, was er -schreibt, wenn er nicht sagt: Ich werde gehen und denken, was ich werde -schreiben ...« - -Sie lachten sich an und freuten sich miteinander. In das Gelächter -scholl ein leises Pochen an der Tür, Georg drehte sich im Stuhl und sah -Frau Wisch mit einem Brief in der Hand, den sie ihm hinstreckte: »Sie -missen unterschreiben, Herr Topf, -- ein Brief für Sie!« - -Georgs Herz schlug wild, er nahm das Papier und einen Tintenstift, den -sie ihm reichte, unterschrieb auf dem Tisch, bat dann die Herren, ihn zu -entschuldigen, und ging hinter Frau Wisch her, in sein Zimmer. Lange -mußte er nach den Streichhölzern tasten, bis er sie auf dem Absatz des -Bücherschranks fand. Endlich brannte die Lampe, er riß den Brief auf, -ein Schreiben fiel heraus, er entfaltete den großen Aktenbogen, sah -schön geschwungene Schriftzüge, Unterschrift -- das Hofmarschallamt, ein -unleserlicher Name, er klaubte eilfertig Worte heraus: - - »... gnädigstes Schreiben ... ehrerbietigst zu beantworten ... - Kenntnis genommen ... Nachsuchen in den Archiven so lange - verzögert ... allerdings gefunden ... dürfte aber von einer Art - scheinen, daß die Verwirklichung sich nicht ohne Bruch der - Reichsverfassung durchführen ließe ... und infolgedessen rätlich - sein, daß Euer Durchlaucht sich vielleicht gleich an die hierfür - zuständige Stelle ...« - -Was war das für ein Unsinn? -- War das Hohn? Was hieß das? - -Er legte den Bogen zusammen, entfaltete ihn wieder, las, fand keinen -Rat. Sollte der Vertrag ungültig sein? Aber sein Vater ...! Nun versteh -ich die Welt nicht mehr, murmelte er und sah sich dastehen wie Meister -Anton bei Hebbel ... - -Nicht ohne Bruch der Reichsverfassung ...? Er dachte an Töpfer. Aber wie -sage ichs ihm? Sein Herz klopfte heftiger. Sagen wir ihnen, wer wir -sind, dachte er hochfahrend und ging zur Tür. Er mußte plötzlich die -Stirn daran lehnen. Er suchte nach Gedanken, dabei fiel ihm ein, daß es -besser sei, ihm den Vertrag selbst zu zeigen, ging wieder zum -Bücherschrank, öffnete und fuhr zusammen, da Cordelias Rubinglas ihm -entgegenfunkelte -- -- drohend. Sich zusammennehmend, griff er in die -Tiefe hinter dem noch verschlossenen Türflügel, öffnete den Truhendeckel -und holte den Vertrag heraus, schloß die Tür -- mit dem Gefühl, er -schlösse eine Tür vor einem Menschen -- das Glas noch dahinter sehend ---, richtete sich auf, ging hinaus und klopfte bei Töpfer. - -Drinnen gab er ihm den Vertrag und bat ihn: sich das mal anzusehn. Kalt -und zitternd setzte er sich, nahm eine Zigarette und steckte sie an. -Töpfer las stillschweigend, es dauerte endlos. Aber er sah doch einmal -auf, lächelte hocherfreut zu Georg, dann auch zu dem Levite hin und -sang: - -»Ein sehr interessantes Dokument, das Sie da haben! Ist es echt? Aber -fabelhaft interessant! Also -- oder muß ich schweigen?« - -Da Georg nickte, fuhr er zu dem Polen fort: »Herr Topf, denken Sie, -giebt mir hier einen Vertrag zwischen dem ehemaligen Herzogtum -Trassenberg und dem jetzigen Großherzogtum Beuglenburg, aus dem Anfange -des vorigen Jahrhunderts. Damals wurde Trassenberg wie so viele andre -kleine Staaten mediatisiert und kam an Beuglenburg. In einem -Geheimvertrag aber, diesem, den Sie hier sahen, wurde beschlossen, daß -dies nur für hundert Jahre der Fall sein, daß danach Trassenberg wieder -selbständig ...« - -Er brach ab, während in seinen Zügen das gleiche Lächeln aufbrach wie im -Gesicht des Polen. Der streckte die Hand mit einer kleinen Verneigung -gegen Georg, nahm den Vertrag, sagte auch, immer lächelnd und den Kopf -wiegend: »Sehr interessant!« las da und dort und gab Georg das Papier -zurück. - -»Ich habe gehört,« sagte er, »von diesem Herzog Traßberg. Man nennt ihn: -der Genosse, es ist ein Scherz, aber er ist ein kluger Mensch, ein guter -Mensch. Wenn wären alle Fürsten ihm gleich, wir hätten längst -- der -soziale Staat.« - -»Ja, und nun,« sagte Georg ungeduldig, »was meinen Sie eigentlich von so -einem Vertrag?« Sich verwirrend, da es ihm widerstrebte, noch von seinem -Vater wie von einem Fremden zu sprechen, fuhr er fort: »Ich meine: gilt -er heutzutage oder ...?« - -Die Beiden lächelten wieder, und Töpfer sang hoch auf: - -»Da Sie, verehrter Herr Topf, dies Papier in den Händen haben, so sehen -Sie ja, was es wert sein mag!« Georg, zornig, als könnte er ihm doch das -Gegenteil beweisen, nahm das Schreiben des Hofmarschallamtes aus der -Tasche und gabs hin. Töpfer entfaltete es achtsam, las die Überschrift, -stutzte, las weiter, blickte auf und fragte mit den Augen. Georg, -lächelnd wider Willen: »Na ja, also ich bin der da!« - -Töpfer sprang auf, schlug die Hände zusammen, merkte aber alsbald die -Unordnung seiner radikalen Gefühle, ward hochrot und krähte: - -»Ja, da sage man nun gar nichts mehr! Herr Levite, der Herr Topf hier -ist der Prinz Trassenberg!« - -Der Pole lächelte hocherfreut, streckte Georg die Hand hin und -versicherte ihm seine Freude, ihn kennen gelernt zu haben. - -»Also Sie haben diesen Vertrag eingeklagt?« verwunderte Herr Töpfer sich -höchlich. »Aber da wundert es mich doch sehr, daß Ihr Herr Vater Ihnen -nicht abgeraten hat! Ja, nun sehen Sie mal an! Ein neuer Staat in -Deutschland -- bedeutet das nicht ein neues Mitglied des Bundesrats? O -lieber Herr Top-- verzeihen Sie nur! -- Herr -- glauben Sie, daß -Preußen, daß irgendein anderer Staat einwilligen würde, daß eine -Gegenstimme in den Bundesrat gerät? Da müßten denn doch schon sehr -schwerwiegende Gründe, sehr schwerwiegende, das heißt im Sinne der -Fürstenversammlung schwerwiegende Gründe vorliegen, wenn etwas -Derartiges ...« Die Stimme überschlug sich und zwang ihn, still zu -schweigen. - -Georg sagte: »So!« Er sprang auf und lief im Zimmer hin und her. - -»Ja, nun sagen Sie aber bloß,« sang hinter ihm Herr Töpfer, »warum -wollen Sie denn nun gerade Herzog werden? Nun, nun, Sie sind ja noch -jung und denken sich das so.« - -Da Georg keine Antwort fand, lange Erklärungen scheute, so begütigte -Töpfer sich selber, indem er meinte, es gebe ja viele gute Dinge im -Leben zu verrichten ... Er schien nun doch verlegen, der Levite schwieg -gänzlich, so raffte denn Georg seine Papiere wieder zusammen und bat, -leutseliger, als er sein wollte, erbittert auf sich selber, die Herren, -ihn zu entschuldigen, reichte jedem die Hand und wollte gehn. Der Pole -aber hielt seine Hand fest, legte auch die linke darauf und sagte, Georg -ganz einhüllend in die tiefe Wärme und Gutherzigkeit seiner Augen: - -»Ich sehe, Sie sind ein Aris--tograt, ich habe gern Aristograten des -Herzens, aber das will sein sehr gelernt. Gehen Sie su Ihrem Herrn -Vater, junger Prinz, grüsen Sie ihn, er gennt meinen Namen wohl, er ist -nicht su stolz bei meinem Gruß, sagen Sie ihm, daß er Sie soll lernen zu -sein gans Aristograt, so werden Sie gutt lebben, und es wird geben Glück -und Segen für eine Menge Volk. Leben Sie wohl!« Er drückte ihm innig die -Hand, und Georg ging. -- - -Ein breites, dunkelrotes Band schlug qualmend aus dem Lampenzylinder -nach oben; voll von schwarzem weichem Flockenfall war die Luft, so daß -Georg mit der Hand danach schlug. Er schraubte die Lampe tiefer und riß -das Fenster auf, atmete mit Heftigkeit die hereindringende Kälte, aber -der Rußflockenregen war unerträglich, er löschte die Lampe, ging hinaus, -nahm den Überzieher, den Hut vom Haken und ging auf die Straße. - ->... als nicht existent im Eigensinn -- bürgerlicher Konvention -- in -und aus ...< Was war das? Von Morgenstern. >An die Bezirksbehörde in -...< Es ging ihm schon lange im Kopf herum. Er glitt im Gehen aus, sah -den Bürgersteig mit einer pelzigen Schicht von Regenschnee bedeckt, von -Fußspuren zersetzt. Regentropfen wehten ihm kalt gegen das erhitzte -Gesicht. Oben schaukelten die Bogenlampen an den Drähten. >Untig -angefertigte Person -- -- als nicht existent im Eigensinn ...< Georg sah -den Polen und den Radikalen unter der Gaslampe sitzen, die Rede vom -Aristokraten klang ihm im Ohr, die weichgesummten S-laute, die reinen -Vokale und Konsonanten, die langsame Sprechart und wieder das Wort -Aristokrat, bei dem der Nihilist in seiner fremden Sprache wohl etwas -ganz anderes empfand als ... >als nicht existent im Eigensinn ...< Georg -kam nicht los von dem Unsinn ... >bürgerlicher Konvention<, redete es in -ihm fort. >Untig angefertigte Person, tief bedauernd nebigen Betreff -...< Er wollte nun die Teile zusammensuchen, aber es gelang ihm nicht, -immer wieder kam nur: als nicht existent im Eigensinn, Eigensinn, -Eigensinn! Endlich machte er einen Strich, strengte sich an, den -Vertrag, die Herren im Zimmer zu sehn, und hörte Töpfer sagen: -- daß -Ihr Herr Vater Ihnen nicht abgeraten. -- >Untig angefertigte ...< Ein -Rätsel, ein reines Rätsel. Das Gegenteil hatte sein Vater getan! -- -Georg glitt wieder aus, fand sich vor einer Querstraße, fand sich -unfähig, hinüberzugehn, fröstelte, drehte sich im Winde und machte -kehrt. Schwer mit dem Winde kämpfend, ging er zurück. - -Der dunkle Korridor lag warm und still; an seinem Ende die Mattscheibe -in der Tür leuchtete nicht unbehaglich. Die da saßen, waren gute -Menschen, ihre Herzen waren die weichsten, und sie waren doch Radikale -und Nihilisten. Ja, weshalb auch nicht? dachte Georg ermattet, indem er -sein Zimmer betrat. Kalt wars drin, aber in der Gegend der Heizung -glühte noch immer die Luft. Er schloß das Fenster, machte Licht, fand, -daß Tisch, Bett, Papier, alles mit Ruß bedeckt war, und streckte sich -auf dem Sofa aus. - -Also es war nichts mit den Sternen ... - ->Korff erhielt vom Polizeibüro< --, fuhr es hell durch ihn hin. Er gab -nach und fuhr fort: >-- ein geharnischt Formular -- Wer er sei, und wie, -und wo.< -- Da riß es wieder ab; er tastete ... >Ob ihm überhaupt -erlaubt, hier zu wohnen ...< - ->Wieviel Geld er hat, und was er glaubt.< -- - -Wieder zu Ende. - - >... und - Drunter stand: Borwosky, Heck. - Korff erwidert schlicht und rund ... - ... meldet laut persönlichem Befund - Untig angefertigte Person - Als nicht existent im Eigensinn - Bürgerlicher Konvention ... - - ... vor und aus und zeichnet, wennschonhin - Tief bedauernd nebigen Betreff ...< - -Nein, jetzt kam: - - >... vor und aus. An die Bezirksbehörde in --. - Staunend liests der anbetroffne Chef.< - -Georg schnaubte ein Lachen durch die Nase, das er nicht empfand. >Als -nicht exist-- --< na, nun wars schon genug! -- Plötzlich fuhr er hoch -und rieb sich die Augen. Er war am Einschlafen gewesen. -- Ich verstehe -Vater nicht, dachte er kopfschüttelnd. Was hat er dabei gedacht? Er hat -ihn mir doch selber gegeben? -- Ach, gleichviel, gleichviel, es war aus, -und damit gut, gut, gut! - -Georg glaubte zu verkommen an Überdruß über sich selbst. Zum Weinen -verbittert gedachte er Renates. Erst vernachlässigte ich sie über -Esther. (Ach, ich glaube, ich hätte Esther heiraten sollen!) Dann -bildete ich mir ein, ich weiß nicht mehr, weshalb, ich dürfte erst -wagen, Renate in meine Kreise zu ziehn, wenn alles gesichert sei. Ich -wollte ihr ja das Herzogtum zu Füßen legen. So gehörte sichs. Ah, dazu -führten nun meine nationalökonomischen Studien! Keine Ahnung, daß ein -Vertrag nach hundert Jahren noch einer ist. Ach, ich bin müde und will -schlafen, dachte er, sich ergebend, knöpfte die Weste auf und trat an -den Tisch, um den Inhalt seiner Taschen darauf zu legen, Uhr und Kette, -Feuerzeug, Brieftasche, Schlüsselbund, Taschentuch. Da lagen die Blätter -über die Zustände von Herrn Topf auf dem Bett. Er nahm sie, stopfte sie -in die Lade. Da mußte er sich im Zimmer umsehn. Ja, hier lebte er seit -ein paar Monaten und hatte sich, von allem Tiefsten abgesehn, ganz wohl -darin befunden. Gegen früher war nichts verändert. Er gähnte, dachte an -Helenenruh, an grüne Wiesen, an gackernde Hennen. Ach, die ersten -Ferientage der Kindheit, das fremde Erwachen in Helenenruh, Sonne im -Zimmer, draußen das ganz sonnige Gackern der Hennen, der krähende Hahn, -ganz fern die jungen Hähne im Dorf, und dann der erste Blick aus dem -Fenster, damals, als ich noch im Nordflügel wohnte, auf die Felder -hinaus, die leise wogten, und mitten drin die Dächer vom Dorf, der -Kirchturm, und unten vorm Fenster schritten die gesprenkelten Hennen, -scharrten mit dem Fuß, sahen links und rechts und gingen weiter ... - -Und daß alles dies eigentlich gar nicht mir gehört ... - -Er hielt die ausgezogenen Hosen in der Hand, ging nun zum Schrank und -hängte sie hinein, nahm Rock und Weste vom Sofa und hängte sie fort, -setzte sich und begann, die Stiefel auszuziehn. Den ersten -niedersetzend, erinnerte er sich Magdas, ganz sehnsüchtig. Vielleicht -liebte ich doch sie am meisten, besann er sich trübe. Er zog den zweiten -Stiefel vom Fuß, setzte beide unters Bett, zog die Steppdecke zurück und -holte das Nachthemd hervor. Nun kann ich ja also zu meinen rohseidenen -Schlafanzügen zurückkehren, dachte er verloren. Ich glaube, morgen fahre -ich nach Altenrepen. Vielleicht kommt auch morgen ein Brief vom Vater. -Da durchkreuzte sich dies Wort mit dem Gedanken, daß sein Vater nicht -sein Vater sei, die Galle stieg ihm hoch, er schleuderte das Taghemd von -sich, streifte das Nachthemd über, blies hastig die Lampe aus, merkte, -daß er noch in Unterhosen und Strümpfen war, streifte sie ab, warf sie -aufs Sofa, legte sich ins Bett und schlief gleich darauf ein. - - - Fünftes Kapitel: März - - - Wiedersehn - -Georg, in einem dumpfen, verbitterten Traumzustand seit Tagen, jetzt -durchbohrt von Ungeduld, in andre Kleider und zu Renate zu kommen, -verließ den Berliner Schnellzug und schob sich durch vielerlei -Reisemenschen die Treppe hinunter und durch den Tunnel in die große -Halle, doch heimatlich berührt vom Altenrepener Gesicht. Er trat in -eines der Portale, sah nachmittäglichen Sonnenschein auf dem alten -Platz, es war warm und roch nach März. Da! Esther! durchfuhrs ihn, -- -aber sie war ja tot ... Aber die da vor ihm im Wagen saß, nein, Esther -war es ganz und gar nicht, nur ihr Mund wars mit dem süßen, -schwärzlichen Flaum an den Winkeln; das Gesicht war ähnlich blaß und -zart, wie es häufig das Esthers gewesen war. Diese saß im Rücksitz des -weiten Kaleschwagens -- ein großes schwarzes Pferd stand stämmig und -ruhig davor -- tief hineingelehnt, in schwarzem glatten Pelzwerk; die -Spitze ihrer Nase war zarter und hochmütiger gekrümmt als Esthers Nase; -sie trug einen schwarzen Hut aus Filz mit hochgebogener Krempe, -postillionartig, und vor ihr, einen Fuß auf dem Wagentritt, stand ein -Herr im Pelz und sprach mit ihr. Nun bewegte sie das Gesicht her, und -Georg sah in dem kleinen Dreieck erschreckend groß die Augen mit sehr -langen Wimpern von --? -- Gott, wie hieß sie denn noch? -- Schley, Virgo -Schley! -- Ein Träger, Taschen unter dem Arm, einen Koffer auf der -Schulter, schob sich dazwischen, aber ihre Augen kamen unverändert -hervor, unverändert in der Richtung auf die seinen, ohne Erkennung -darin, -- und nun er selber, er dachte nichts mehr, fühlte nur und -erwiderte ein wunderbares, tiefes Anschaun, das dauerte -- -- dauerte -- ---. Jetzt wandte der Herr sich um -- war er ihrem Blick gefolgt? -- -Georg sah undeutlich sein Gesicht, es schien ihm bekannt, es war Schley. --- Der nahm den Zylinder ab, trat auf ihn zu und sagte: »Georg, lieber -Junge, seh ich dich wieder?« - -Überrascht und erfreut sah Georg das Einglas aus dem langnasigen Gesicht -tropfen. Sie schüttelten sich die Hände. Die Frau im Wagen hatte sich -aufgerichtet und sah herüber. - -»Ja, wie ist es denn mit dir?« fragte Georg, »du mußt entschuldigen, ich -weiß nichts Rechtes, ich habe so für mich gelebt ...« - -Der Adel sei dahin, sagte der Freiherr, sonst nichts; er habe ihn seinem -guten alten Papa mit in den Sarg gegeben. - -»Ja, und nun bist du Abgeordneter, nicht wahr?« - -»Jawohl, jawohl, für den Fortschritt, vorläufig, jetzt will ich eben -nach Berlin, es ist noch Zeit, komm, ich stelle dich -- ah, du kennst ja -meine Frau!« - -Er zog Georg zum Wagen und sagte: »Hier ist der Prinz Trassenberg, du -erinnerst dich wohl? Ja, hör mal, Georg --« - -Sie reichte ihm die Hand. Lachte leicht und sagte: - -»Damals sahen Sie aber hübscher aus, -- was haben Sie denn für Falten -bekommen? Daß wir Brüderschaft getrunken haben, hab ich aber vergessen!« - -Hatten sie Brüderschaft getrunken? -- »Schade,« meinte Georg, »aber ich -verdiene es wohl nicht -- für damals.« - -Georg hörte Schley lachen und von jenem Abend reden. -- Wie seltsam -ängstlich ihre Augen waren. -- Ihr Mann blickte auf die Uhr, meinte, es -würde Zeit für ihn, und küßte seiner Frau die Hand, ermahnte sie, guten -Mutes zu sein, drückte Georg die Hand und ging. Nun stand Georg näher -vor ihr, sah auf sie herab, aber sie sah ihn nicht an, sondern nach -drüben hinaus. Endlich blickte sie auf: ob es ihm recht wäre, sie habe -ein Stück die Allee hinunterfahren wollen. Oh, das sei reizend, meinte -Georg, da wohne er ja. Er setzte sich in die andre Ecke des Rücksitzes, -der Kutscher sah sich um, der Wagen setzte sich langsam in Bewegung. - -Georg vermied es, sie anzusehn: sie hielt das kleine Gesicht gesenkt, -drückte zuweilen den kleinen schwarzen Muff dagegen, sprach kein Wort. -Auch wars allzu lärmend herum, der Verkehr drängte fast in den weit -offnen flachen Wagen, vorüber- oder mitfahrende Radler sahen zu ihnen -herein, eine lange Zeit blickte vom Hinterperron einer Trambahn ein -Halbdutzend Augenpaare auf sie herunter, nun waren sie über den Platz am -Café und rollten leichter die breite Straße hinab, plötzlich blendend -überflutet vom Untergang der Sonne, in die sie gerade hineinfuhren, die -alles umher glühend färbte und Georg zwang, sich im Wagen auf und -vornüber in den Schatten des Vordersitzes zu setzen. - -Virgo Schley, dachte Georg. Eine Waise, hatte er gehört, die -Adoptivmutter eine sondre, alte Frau, -- der Vater des Freiherrn hatte -sich vor kaum drei Jahren erst den Adel gekauft, der war freilich nicht -viel wert. Langsam kehrte ihr erster Blick in ihm wieder, wie war der -doch geschwisterlich gewesen, heimatlich ... Da lenkte der Wagen auf die -andre Straßenseite und hielt gleich darauf. - -»Ach,« hörte er sie leise sagen, »hier ist ja der Obstladen ... ich -wollte ... bitte, helfen Sie mir heraus.« - -Georg sprang eilfertig auf den Bürgersteig und hielt ihr die Hand hin, -sie streifte, als koste es sie die schwerste Anstrengung, die Decke von -den Knien, erhob sich, -- und Georg konnte nun die leichte Schwellung -ihres Leibes sehn, wie der Kleidrock sich, von der Decke unten gehalten, -straffte: sie war guter Hoffnung. Schwer auf seinen Arm sich stützend, -stieg sie mit unendlich langsamer Vorsicht aus. Im Laden kaufte sie -unter hundert Zweifeln, Zurücknahmen und Änderungen eine Menge Trauben, -Ananas und Birnen, so schöne, gelbe, daß Georg, auch aus Mitleid mit der -Verkäuferin, für sich einige von ihnen kaufte. Als sie wieder im Wagen -saßen, war sie völlig erschöpft, lachte aber nun ein wenig über sich -selbst und fing an zu plaudern, fragte, ob Georg noch studiere, ob er -Berlin nicht hasse, und Georg wurde redseliger und versuchte, ihr diese -und jene absonderliche Schönheit von Berlin zu beschreiben, so einen -Frühlingsabend, wie er ihn eben noch gesehn, wenn in den Körben der -Verkäuferinnen in den schon grauen Straßen die Blumenberge leuchteten, -gelb von Primeln und Narzissen, feuergolden von Tulpen und blaurot von -Rivieraveilchen, und dann die gewaltigen Schattenmassen der Häuserblocks -mit ihren Schloten und Türmen in einer brandigen, schwärzlichen Röte, -die ins sanft Klare rauschte, in durchsichtig weißes Gold, und über -allem der grüne Himmel, locker bemalt mit vergehenden silbernen Rändern -von unsichtbaren Wolken, höher hinauf so blau wie das Meer auf -japanischen Holzschnitten. - -Sie rollten schon auf dem Fahrweg neben der kahlen Allee; angenehm -trabten durch die Stille die großen, ebenmäßigen Hufschritte. -- Da bist -du nun ... hatten ihre Augen gesagt -- da bist du nun -- da bist du nun -... Ein süß beklemmendes Mitleid bedrängte sein Herz. Bereitete sich -hier der Frühling vor, den er eben beschrieb? Nacktschwarz und wie -hineingesteckt standen die Gesträuche auf dem graugrünen Rasen, der -Himmel war rein und leer; Georgs Gesicht wurde im Fahren durch -entgegenschwimmende laue und kühlere Wellen gezogen. Schwere Krähen, wie -aus Metall gemacht, schritten im weichen Grasboden, spreizten die -Fittiche auf, grün schillernd im Schwarzen, sprangen ab, schwebten zwei -Schritte überm Boden ein Stück, landeten hart und in kurzen Sprüngen. -Ach, nicht denken, stammelte Georg innerlich, nichts denken! Einfach -hinnehmen! Wie entsetzlich war dieser Winter! -- Ich will sie in mein -Haus tragen, sie ist ja wie ein verkümmerter Vogel. -- Er sah sie wieder -an und sagte sich: Ich werde sie lieben -- so wie Esther --, ich kann -nicht anders, mein Herz folgt einmal jedem Stern, um so lieber, je -zarter und hülfloser er scheint, ich muß immer brüderlich sein und -beschützen. Nun, der Wagen rollte von selber den Weg durch die Anlagen -hinunter, schräg auf die Sternwarte zu. Georgs Herz fing an zu pochen, -sie kamen näher, das Schlößchen wurde sichtbar, da standen die -Kandelaber, Gott sei Dank, er war wieder zu Hause. - -»Bitte, halten Sie«, sagte er zum Kutscher, als sie in der Nähe der -kleinen Tür waren, und faßte sich ein Herz. »Ach, bitte, kommen Sie nun -mit, ich zeige Ihnen meinen Garten ...« - -»O, wie gerne!« sagte sie gleich, kindlich erfreut, und siehe da, es -ging durchaus leichter diesmal mit dem Aussteigen, und sie lief mit -kleinen, leichten Schritten neben ihm her. -- - -Lächelnd erschien der blasse Egon. -- Das Zimmer war vorbereitet, Blumen -in allen Vasen -- alles war wie einst. -- Sie sah sich neugierig um, den -Kopf drehend. »Wie hübsch ist es hier!« meinte sie; sonderbar, das hatte -doch noch niemand gesagt! -- »Die Menge Bücher! Lesen Sie so viel? -- -Später werden Sie mir vorlesen, mögen Sie gern Verse? Ich mag nur -Verse.« - -Ach, da war nun ein Mensch, der nicht das geringste von ihm wußte, und -er von ihr -- -- ja, was war da wohl viel zu wissen. Sie war ganz dicht -zu ihm getreten und sah zutraulich zu ihm auf; ganz rasend überfiel ihn -das Verlangen, sie in die Arme zu schließen, er sah, daß sie einen -Handschuh ausgezogen hatte, ergriff ihre Hand und zog sie zum Munde -empor. Da sie nicht wieder fortgezogen wurde, küßte er sie langsam von -allen Seiten -- o wie war sie glatt und warm und weich und lebendig, -ohne Ring, ohne alles! -- küßte den Rücken, das Gelenk, die Finger -einzeln, den kleinen, weichgekrümmten Daumen, der ein kleines, runzliges -Gesicht hatte. - -»Ja, was machen Sie denn?« hörte er sie nach einer Weile fragen. Klein -stand sie vor ihm, den Arm hochhaltend, die Brauen ein wenig gerunzelt, -aber der Mund lächelte -- lächelte atemberaubend. - -»Soll ich nicht?« fragte er. - -»Ach, warum nicht,« meinte sie achselzuckend, »wenn es Freude macht. -Aber nun muß ich sitzen.« - -Georg mußte ihr einen Sessel vor die Gartentür schieben, dort versank -sie, zog auch den andern Handschuh aus, aus dem ein locker sitzender -Reifen von Gold zum Vorschein kam, den sie gleich abzog und ihm gab. Er -sollte ihn auf den Tisch legen, er sei ihr immer zu schwer. »Aber nicht -vergessen nachher, daß ich ihn mitnehme!« rief sie leicht und lachte in -sich hinein. - -Georg war ratlos. Sie war ja ein Kind -- und Mutter -- -- und hieß -Virgo? -- Sie legte die Handflächen gegeneinander über dem Muff im -Schoß, neigte das Gesicht und sah nach oben, gegen den verblaßten -Himmel, großen, gläubigen Auges. Bald darauf nestelte sie den Hut los -- -es sei ihr alles zu schwer --, fuhr mit den Händen ins braune Haar, das -kurzgeschnitten war und lockig um das kleine dreieckige Gesicht stand; -im Nacken war sie völlig ein Knabe. Sie sah wieder gradaus; Georg, nicht -weit hinter ihr an der Schreibtischkante lehnend, konnte die Augen nun -nicht mehr wegwenden von ihrem Gesicht, und bald kamen die ihren langsam -herbei. Die Nasenflügel blähten sich ganz leise auf, Georg sah es -deutlich, -- es erinnerte ihn an -- an ein Kind, das sich im Schlaf -bewegt, aufatmet und tiefer schläft. - -»Heißen Sie wirklich Virgo?« fragte er. Sie nickte lächelnd. - -»Komisch, nicht?« Ernster dann, und mit seltsam tiefer Stimme, und doch -nicht ohne -- ohne etwas Verlockendes in Blick und Stimme, sagte sie: -»Denken Sie nur! Ich hatte keinen Vater und keine Mutter, eine alte Frau -nahm mich zu sich, die nannte mich Virgo.« - -»Pflegt sie nicht in Hosen zu gehn?« fragte Georg, sich dunkel -erinnernd, »und Pfeife zu rauchen?« - -Virgo lachte. Sie wäre selber immer in Hosen gegangen, es sei herrlich, -und ihre Stiefmutter sei um die Wette mit ihr geritten und habe Hurra -geschrien, Georg sollte sie kennen lernen. Nach einem Schweigen sagte -sie süß und ganz langsam: »Georg ist ein schöner Name!« -- - -Georgs Herz fiel in Stücken auseinander. Cordelias Worte ... Himmel, -diese Wiederholungen! -- Schwer sich bewegend, nahm er einen Stuhl, er -glaubte, sie nicht mehr ansehn zu können, setzte ihn neben ihren Sessel -und ließ sich nieder. Ein Weilchen später legte er seinen Arm auf das -weiche Lederpolster der Lehne ihres Sessels, und es dauerte nicht lange, -so glitt eine leichte, warme Flocke darauf, ihre Hand; ihre Finger -schoben sich in die seinen, sie sagte ganz leise wieder: - -»Ich habe mich immer« -- jetzt ward ihre Stimme ganz tief -- »so -namenlos gefürchtet vor -- dem Kind. Am meisten vor Wolfgang --« Die -Stimme wechselte wieder und tönte hell: »-- nun bei Ihnen ist es gut, -und ich kann alles vergessen.« - -Georg rührte sich nicht. Ihm war sonderbar zufrieden zumut, ja, -glücklich. Dies Kind eine Weile zu schützen, das war sehr gut. Er -glaubte, getrost den Arm um ihre Schulter legen zu können, obwohl er es -seinetwegen tun mußte, nicht ihretwegen, aber kam es nicht allein darauf -an, wie sie es empfand? -- So löste er die Hand aus der ihren, legte -dafür die andre hinein und den Arm um ihre Schulter. Als sie sich gleich -tiefer hineinlehnte, mußte er sich sagen: Sie trägt ja ein Kind -- wie -kann sie mich empfinden? -- So saßen sie schweigsam zusammen, sahen die -Schar der qualmenden Fabrikessen in der Ferne langsam undeutlicher -werden in der sinkenden Dämmerung, fühlten warm ihre Hände und waren -jeder -- Georg sprach es sich aus -- in einem Reich für sich -- aber -doch hielten sie einander und spürten Wohltat. -- Als es fast dunkel im -Zimmer war, machte sie ihre Hand frei und flüsterte, sie müsse gehn, sie -würde erwartet. Sie erhob sich dann, Georg reichte ihr den Hut, sie -setzte ihn auf, nahm Handschuh und Muff aus seiner Hand, stand noch ein -Weilchen und sah sich um. Dann ging sie leicht hinaus. - -Aus dem Wagen die Hand streckend, sagte sie nur: »Ich komme bald -wieder.« - -»Morgen?« fragte Georg. - -Sie lachte hell und kindlich: »Morgen früh! Los, Krischan!« rief sie dem -Kutscher zu. Hinter dem davonrollenden Wagen erschien im Dunkel der -Bäume langsam das kleine, bläßliche Dreieck ihres Gesichts fast wie ein -leerer Wappenschild, in dem dann langsam die beiden Augen aufgingen. -Georg suchte schwereren, aber nur von süßer Ratlosigkeit und Hoffnung -schweren Herzens sein Zimmer wieder auf, setzte sich an den -Schreibtisch, und etwas fiel zu Boden, rollte und blieb klirrend liegen. -So --! Ihr Ring -- natürlich hatten sie ihn vergessen. Er suchte, fand -ihn nicht, machte Licht und sah ihn vor der Bücherwand liegen, -glänzenden Auges wie ein erwischter Igel. Er hob ihn auf, trat zur -Lampe, ließ sie aufflammen und suchte nach einer Schrift im Innern des -Reifens. Wolfgang Theodor stand darin, 24. Mai. -- Georg wog den Ring in -der Hand, schob ihn dann in die Westentasche, dachte: Ich will ihn ihr -bringen, dann seh ich sie gleich -- --, aber er entschlug sich des -Wunsches. Da lag die Tüte mit Birnen auf dem Tisch. Ja, Birnen! dachte -er erfreut, drehte den Sessel, in dem sie gesessen hatte, gegen das -Licht, holte eine Birne hervor, riß durstig den Stiel aus und biß von -oben hinein wie als Junge. Der Saft tropfte, er verschlang sie mit -Stumpf und Stiel atemlos und griff nach einer zweiten. Indem er sie in -der Hand wog, hörte er sagen: Das sind so Sexualitäten. -- Er lachte -schnaufend durch die Nase. Wo hatte er das --? Richtig, in jenem -Tanzsaal in Halensee, zwei solche Handlungsgehülfen standen zusammen, -und als zwei Mädchen vorbeitanzten, fragte der Eine: Was sind das für -welche? Ach, das sind so Sexualitäten, sagte der Andre. -- Georg zertrat -den Gedanken ergrimmt. Sie ist Mutter, dachte er, ja, wie ist das zu -glauben? Da war ihr knabenhafter Nacken, ja, so mußte Marias Nacken -gewesen sein und so geneigt, als der Engel eintrat und die Lilie gegen -sie neigte, und sie konnte nichts begreifen ... - -Nein, keine Birne mehr! sagte er. Die erste war unübertrefflich, eine -Birne ist besser als zwei Birnen, das ist klar, Wiederholung wirkt -tödlich. Oh, und nun wird es womöglich eine Wiederholung Esthers geben. --- Die Frucht in der Hand, die langsam warm wurde, sah er ins Licht und -dachte: Liebe Esther! Es war ihm, als hielte er eine Hand umschlossen, -langsam begann es in ihm zu wogen, auf einmal hielt er die Worte: Wer -noch so jung ist wie du ... Weiter ... Wie weiter? -- Wer noch so jung -ist wie du -- Fühlt noch der Schmerzen Gewalt ... Behutsam stand er auf, -legte die Birne fort, setzte sich vor den Schreibtisch, nahm Bleistift -und den Notizblock und schrieb: - - Wer noch so jung ist wie du, - Fühlt noch der Schmerzen Gewalt; - Später wird alles gelinde, - Gram und die Lust und der Tod. - - Geh auf die Flamme nur zu ... - -Wie nun? Sollte auf die ersten Zeilen gereimt werden? Er fand: - - Blasse, geliebte Gestalt. - Flamme verzehrt nur ... - -Er suchte ... Not, Rot, blinde, Binde, Gewinde, umloht, bedroht ... Ja! -Und er schrieb: - - Flamme verzehrt nur die Rinde, - Aber du bleibst unbedroht. - -Damit war es aus. Laß ihr die goldenen Schuh ... fing er noch wieder an, -aber er merkte, es war nichts mehr, und dann warf er wütend den Stift -hin und hätte sich mit Entzücken selber auf den Kopf gespien. Das -verfluchte Sieb ist es ja nur! verschwor er sich, das verfluchte -Berliner Sieb, durch das man seine Empfindungen rührt; unten tropfen die -Verse heraus, und in der Brust bleibt nichts zurück als Schale und Satz, -und man ist so kalt, so schlaff und so traurig wie nach dem -Liebeskrampf. Herrgott, Herrgott im Himmel, was soll bloß aus mir -werden! -- - -Aus seiner verzweifelten Erstarrung weckte ihn das Geräusch des blassen -Egon im Eßzimmer, der den Tisch für den Abend deckte. Er sprang auf, -trat zur Gartentür, öffnete sie und tat zwei Schritte in den Garten. In -der kalten Stille stand das Gesträuch und das Geäst der Bäume -regungslos, kaum sichtbar; sichtbar nur oben, wo weiße Sterne waren. - -Kommt nun wieder das Frühjahr, wieder die alte, seltene Lust, die immer -neue, die nie bekannte? Kommen wieder die Schwalben und wecken das Herz, -lieblich tönend im leichten Raum, und kommt das große Sprießen über die -Erde und das Buschwerk, in dem Vogelstimmen laut werden, als wären sie -gewachsen im Gezweig? Kommt wieder über das empfindungslose Herz der -allgemeine Schauder, kommen wieder Winde und Gewölk, die Musik der -Halmefelder, und kommt auch wieder, wieder das alte Hoffen? - ->Und so verbürgt es die Form der Sonnenblume<, hörte er tonlos sagen. -Ihn fror leicht. Er ging ins Zimmer zurück, trat an die Bücherwand und -suchte Carossas Doktor Bürger. >Und so verbürgt es die Form der -Sonnenblume<, das war der Ausgang des Satzes, aber wie hieß es ganz? Das -Buch war nicht zu finden, vielleicht hatte Benno es genommen. Da stand -Egon in der Tür. - -»Weiß Herr Prager, daß ich zurück bin?« Egon zuckte die Achseln. Er habe -für ihn gedeckt. -- Georg ging nach nebenan, hörte aber jetzt das -Telephon anwecken, ging wieder zurück, hob den Hörer auf und sagte: -»Georg Trassenberg.« - -Eine kleine, fremde Stimme fragte: »Georg?« - -Wer war denn das? Ach, um Gottes willen ... »Virgo?« fragte er. - -Er hörte sie leise lachen. »Wie gehts Ihnen denn?« fragte sie. - -»Ach, wunderbar!« versicherte er, »wunderbar!« - -Eine Weile wars still, er wollte eben fragen, ob er nicht kommen dürfe, -da hörte er sie sagen: »Lieber guter Georg, ich konnte es eben gar nicht -sagen, ich wollte ...« Sie verstummte. - -»Was denn?« fragte er liebevoll. - -»Ich habe die ganze Zeit denken müssen, wir haben doch Brüderschaft ...« - -»Ja, Est--,« brach es aus seiner Brust auf, »-- ja, Schwesterchen, ja, -ich habe es auch immer gedacht.« - -»Wie schön!« sagte sie aufatmend. »Da werd ich einmal gut schlafen -heut.« - -»Ja, das mußt du auch«, bekräftigte er sänftlich. - -»Dann, gute Nacht!« - -»Gute Nacht, kleine Schwester!« - -Georg legte den Hörer hin, stützte die Knöchel auf die -Schreibtischplatte, starrte vor sich hin. - -So ist es gut, murmelte er tonlos, so ist es gut -- so -- ist -- es -- -gut -- -- - - - Neuigkeiten - -Georg sah beim Betreten des Arbeitszimmers, links nahe der Treppe, zu -seiner Begrüßung zurechtgestellt, einen langen Gehrock, davor eine Hand, -die einen umflorten Zylinder hielt, und darüber eine goldene Brille, -streckte die Hand aus und sagte: »Herr Hofkammerrat?« - -Der verbeugte sich, nicht eben sonderlich tief. Unterhalb der Brille -erschien jetzt das nach unten zurückfallende Kinn; kein Bart, ein -ältliches Gesicht mit rötlichen, kleinen, scharfen Augen ohne Brauen und -Wimpern, vielleicht -- jesuitisch. Im Zimmer klang es trocken: - -»Durchlaucht -- --, ich komme vom Beuglenburger Hofe, -- mit einer -Trauernachricht.« - -Georg zuckte zusammen. Beuglenburg ... Trauer ...? Er war am -Hofkammerrat vorüber zum Schreibtisch gegangen, drehte sich nun langsam -herum, hörte: - -»Ich bin Überbringer der traurigen Nachricht vom Ableben Seiner Hoheit -des Erbprinzen Adolf Emil; er verschied gestern abend gegen sieben Uhr -nach langem schwerem und mit unsäglicher Geduld ertragenem Leiden.« - -Die ruhige und trockne Stimme erlosch. Georg glühte auf am ganzen Leibe -und zitterte über und über, -- warum bloß? Was war -- --? Da hörte er -sich schon sagen: »Mein tiefempfundenes Beileid, Herr Hofkammerrat, das -ich auch Seiner königlichen Hoheit auszusprechen bitte.« Er setzte sich, -machte eine Handbewegung und drehte den Schreibstuhl herum gegen seinen -Besuch. -- Der Hofkammerrat setzte den Zylinder fort, sank in den tiefen -Sessel, lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und fing an, -die Handschuhe auszuziehn. Es sauste Georg in den Ohren, er wußte, daß -er etwas sagen mußte, er dachte, ohne es zu verstehn: Erbprinz, -Großherzog, Sigune. Eine dünne englische Stimme rief ganz fern durch -einen Garten: »Gunny! Gun--ny!« -- Mit aller Gewalt nahm Georg sich -zusammen, setzte sich grade, da verließen ihn alle Gedanken, er sah den -Grafen gelassen, tiefer als er, im Sessel sitzen; nun hob er die linke -Hand, weiß und flach, klopfte mit den Fingerspitzen gegen den Mund und -räusperte sich. Eine Redewendung schoß Georg auf, die er gleich -hersagte: er zweifle gleichwohl nicht, daß die Übermittelung dieser -Nachricht nicht der Grund sei für das persönliche Kommen ... Und nun -hatte er sich einigermaßen wieder. - -Die Stimme des Hofkammerrats war wieder hörbar, trocken und leicht -hinbewegt, fast herablassend. Er erklärte, es sei dem Prinzen -voraussichtlich bekannt, daß nunmehr von drei Kindern dem verwitweten -Großherzog noch eine Tochter Sigune, nunmehr im neunzehnten Lebensjahre -stehend, verblieben sei; als bekannt dürfe er wohl auch voraussetzen, -daß nach Zinnaschem Hausgesetz die Regierung erblich sei im Mannesstamm -des Hauses Siegen-Zinna nach dem Rechte der Erstgeburt bis zum letzten -Grade nachweisbarer Verwandtschaft mit der Linie, und daß die weibliche -Linie auch nach dem Erlöschen des Mannesstammes von der Erbfolge -ausgeschlossen bleibe. - -Georg hatte kein Wort verstanden. Er dachte verzweifelt nach. Der -Erbprinz ... Tuberkeln -- -- immer krank, richtig. Mein Vertrag, mein -Vertrag -- mein Vertrag -- -- Ihm war eiskalt. Wie bin ich denn verwandt -mit ...? Er glaubte, dunkel zu wissen, daß außer ihm noch ein Verwandter -... Derweilen fuhr der Hofkammerrat fort, vom Großherzog zu reden und -ihn einen armen, kranken, gequälten, der Geschäfte und des Lebens müden -Mann zu nennen, durch den Tod des Sohnes völlig gebrochen und gewillt, -schon jetzt zugunsten eines Verwandten auf die Regierung zu verzichten. --- Nun komme ich, nun komme ich! schrie da etwas in Georg. Ja, -- der -Großherzog, -- magenleidend, von Kind an grämlich, trübsinnig, -- -sexuelle Anormalität ... verheimlicht ... Seine Frau machte einen -Fluchtversuch vor der Heirat ... armes Geschöpf! -- -- Erster Sohn kam -tot ... Sie starb ... Herzschlag -- -- oder -- freiwillig? -- - -Auf einmal hatte Georg das Gefühl, als ob ihn dieser Mensch unablässig -beobachte. Er zog sich im Stuhl zurück, kreuzte die Beine, ließ die -Mundwinkel fallen und sagte, da der Graf schwieg: »Bitte, reden Sie -weiter.« Der setzte die Ellbogen leicht auf, lehnte die Fingerspitzen -beider Hände zu einem Dach gegeneinander und sprach; seine Augen blieben -Georg unsichtbar hinter den zwei scharfen, weißen Ovalen der -Brillengläser; die Spiegelung der Fenster, auch Geäst waren darin -erkennbar. - -Er sprach nun von dem Vertrage, bedauerte obenhin die Unerfüllbarkeit, -meinte aber, es würde sich vielleicht ein andrer Weg finden zur -Verwirklichung von Georgs Hoffnungen. Dann sprach er von der -Verwandtschaft des Zinnaschen Hauses, nannte Georgs Vater, -- der habe -bereits früher aus einem gewissen Anlaß seine bekannten Grundsätze -offiziell betont, die ihm die Übernahme der Regierung unmöglich machten -... Ferner den regierenden Grafen Beuglenburg-Lipsch, Georg Egon, -- und -schließlich Georg selbst; der Grad der Verwandtschaft Beider mit dem -Hause Zinna sei genau der gleiche; immerhin sei der Graf bereits in -höheren Jahren, sei zudem zwar verwitwet, aber katholischen -Bekenntnisses und katholisch getraut gewesen, so daß eine neue Ehe -folglich ausgeschlossen sein dürfte ... Georg dachte noch, daß auch die -Zinnas katholisch seien, da schlug ihm das Satzende erst aufs Herz. -- -Ich soll Sigune heiraten! dachte er, bewegte gleichzeitig die Lippen und -hörte sich fremdartig sagen: »Ich bitte Sie nun, Herr Hofkammerrat, sich -Ihres vollkommenen Auftrages zu entledigen.« - -Nun ließ der seine Hände fallen, setzte sich im Sessel vor, faßte -flüchtig nach den Brillenstäben, entschloß sich dann, die Brille ganz -abzunehmen, kniff mit zwei Fingern den rotgesattelten Nasenrücken und -sagte, die goldene Brille ganz leise in der Linken hin und her bewegend, --- er hat ganz gute Augen, dachte Georg, nun, wo er mich grade ansieht ---: - -»Mein königlicher Herr, der Großherzog, hat den innigen Wunsch, seine -Tochter als Ihre Gemahlin, Durchlaucht, zu sehn und damit Sie selber, -Durchlaucht, unter der Krone, -- unter einer Krone, welche die beiden -Lande, Beuglenburg und Trassenberg, vereinigen würde. Sollte Ihnen, -Durchlaucht, wie ich wohl annehmen darf, besonders an dem Titel eines -Herzogs von Trassenberg liegen, so --« schloß er ganz schnell und -oberflächlich, »würde sich das ja leicht ermöglichen lassen.« - -Georg mußte sich zusammennehmen, nicht durch die Nase zu blasen, und -glaubte, vor Wut zu explodieren. So. Nun kam es. Erst verzichtete man, -fand sich ab, fand sich hinein, ging seiner Wege, -- ja, erst hatte man -den schönsten Plan, arbeitete dran Jahre lang, rüstete sich, freute -sich, kam näher, und dann -- wars nichts. Dann -- fand man sich ab, war -schon ganz wo anders, und jetzt -- -- fing es wieder an, aber: zum -Nichtwiedererkennen abscheulich entstellt! Und -- und warum hat Papa nur -geschwiegen? Fast zehn Tage geschwiegen? -- Dumpf, hinter unbeweglichem -Gesicht die Zähne zusammenbeißend, hob er die linke Hand gegen das -Gesicht, betrachtete sie aufmerksam, konnte endlich fragen: - -»Bitte, -- ehe wir weitergehn, haben Sie vielleicht die Güte, mir zu -sagen, wie Prinzeß Sigune selber sich zu dem Wunsche ihres Vaters -verhält.« Mn -- dachte er, das war ein _Faux pas_, daß ich auf den -väterlichen Wunsch gar nicht eingegangen bin, aber das ist mir -- Wurst! - -Der Hofkammerrat lächelte. Ja, er lächelte ganz freundlich und sagte: -»Die Prinzessin hat selbstverständlich keine andern Wünsche als ihr -Vater.« - -Georg sah dies Mädchen, mager, eckig, unschön, allzublond, schrecklich -schüchtern, -- neun Jahre war sie damals. O lieber Gott, nein, diese -ganze kranke Familie! Sicher war sie mondsüchtig. -- Der Kammerrat -derweil sprach ganz freundlich weiter: - -»Die Prinzessin ist leider ein körperlich nicht besonders starkes Kind; -was aber die Natur hier versagte, das, kann ich wohl sagen, hat sie -durch eine reiche, innere Fülle, an geistigen, ganz besonders aber an -seelischen, an Herzensgaben ausgeglichen. Dies weiß vielleicht, ja ich -möchte ruhig sagen: dies weiß sicherlich niemand so gut wie ich, da sie -mir in langen Jahren ihrer -- leider -- allzueinsamen Jugend fast wie -ein eignes Kind geworden ist. Ich bin freilich eine -- ich möchte sagen, -philologische Natur, andre würden es auch nennen: lehrhaft, -- immerhin --- die Prinzessin, --« er bog plötzlich ab und fuhr fort: »Ich selber -habe die Prinzessin von diesem sie betreffenden Ereignis in Kenntnis -gesetzt. Die Antwort, -- obwohl, wie ich der Wahrheit halber gestehen -muß, nicht leicht zu erlangen, war derart, wie ich -- nun, wie ich sie -erwarten durfte. Und meinen Standpunkt in dieser Angelegenheit werden -Durchlaucht bereits erraten haben.« Er hatte seine Brille wieder -aufgesetzt, stand auf, griff nach seinem Zylinder und sagte: »Ich habe -den Auftrag, Euer Durchlaucht eine Bedenkzeit von einigen Tagen zu -überlassen. Der Tod des Erbprinzen, so sehr er die Entschließungen -meines königlichen Herrn beschleunigte, bedingt einigen Aufschub. -Immerhin, sollten Euer Durchlaucht willig sein, auf die Ideen des -Großherzogs einzugehn, so möchte ich mir gleich erlauben, einen Besuch -Euer Durchlaucht in Zinna etwa nach Ablauf von drei oder vier Wochen in -Vorschlag zu bringen.« - -Georg hatte sich erhoben, stützte die Hände auf die Schreibtischplatte -und blickte angestrengt aus dem Fenster. Er fühlte die Wut verraucht und -sich kraftlos und müde. Ich könnte ihn gleich wegschicken, dachte er -gleichgültig. Ohne seine Stellung zu verändern, drehte er Schultern und -Gesicht nach dem Dastehenden herum und sagte möglichst ruhig und nicht -unfreundlich: - -»Ich möchte Ihnen keine allzugroßen Hoffnungen machen. Sie kennen mich -nicht, Graf, Sie haben vielleicht von mir gehört, jedenfalls -- ich bin -kein Mensch --« hier fiel ihm ein, daß gewiß schon Viele, in der selben -Lage wie er, die gleichen Worte gebraucht hatten -- »der sich --« er -wollte sagen: auf den Befehl eines alten Trottels, sagte jedoch kurz -abschließend: »auf Wunsch verheiratet.« - -Danach wandte er das Gesicht nach dem Fenster. Der Graf räusperte sich -hinter ihm. Er möchte nicht denken, hörte Georg ihn sagen, daß er eine -von dieser sehr verschiedene Antwort erwartet habe. Immerhin gebe es ja -noch andre Wege für den Großherzog, und Georg dürfe glauben, daß dieser -Weg kaum beschritten worden wäre, ohne Georgs eigne, vorangegangene -Initiative, die seine Absichten, zur Regierung zu gelangen, offenbart -hätten. -- Ja, also nun bin ich noch selber schuld! -- dachte Georg -gekränkt. - -»Also bitte,« sagte er, sich umdrehend und locker die Hand hinhaltend, -»kommen Sie morgen wieder.« - -Er fühlte seine Hand kurz ergriffen und wieder losgelassen. Der Graf -wich zur Treppe zurück, Georg folgte mit zwei Schritten empor und -öffnete, draußen stand Egon und öffnete die Haustür, Georg sagte Adieu, -schloß die Tür und blieb stehn. Das Gefühl, niesen zu müssen, ließ ihn -das Taschentuch ziehn, er schneuzte sich, nieste dann ein paar Mal -heftig, die Augen tränten ihm, er dachte: ich habe mich im Saal -erkältet. Nun fühlte er auch Schmerzen im Rücken, wünschte, sich -auszustrecken, aber es war kein Sofa da. Langsam ging er in sein -Schlafzimmer und legte sich auf das Bett. Im Fenster war der traurige -Märzhimmel und Geäst; er lag fast wie in Berlin. - -Sie kann ja einen Andern heiraten, und der kann Regent werden. Oder der -Beuglenburger Lipsch kriegt einen Konsens und heiratet sie. Ach, was -geht das mich an! Nein, ich bin diese Sache nun müde. Merkwürdig! fuhr -es durch ihn hin, habe ich eben wohl nur einen Augenblick bedacht, daß -ich der gar nicht bin, für den er mich hielt? Genug, genug mit dem -Ganzen! -- Er warf sich herum, fühlte seine Nase dumpf und verschlossen, -legte sich auf die Seite, das Gesicht nach der Wand und zog heftig Atem. -Langsam erleichterte sich das rechte Nasenloch und wurde frei. Ob Papa -dies alles wohl gewußt hat? -- fragte er sich plötzlich. Der Erbprinz -war ja immer krank gewesen. Oder weiß er vielleicht einen andern Weg? -Und wenn ich nein sage, was dann? -- Sein Kopf glühte, er stützte sich -auf den Ellbogen, die Nase war wieder fest verschlossen, die Mundhöhle -klebrig, und er drehte sich herum und sah nach dem Fenster; das -blendete, ah, kam doch die Sonne? Aufspringend, lief er zum Fenster und -sah nach oben. Ja, eine silberne, weißliche Quelle bewegte sich da oben -im Grau, Gewölk wurde sichtbar, die Bäume regten sich, nun fiel ein -blasser, gelber Streifen. Ach, wie sah auf einmal alles anders aus! -- -Ich bin so gräßlich nervös geworden, dachte Georg, so wie die Sonne -wechselt, fühle ich mich froh oder trübe. -- - -Er ging nun wieder ins Nebenzimmer und setzte sich an den Schreibtisch, -nieste heftig, schneuzte sich, -- die Sonne war wieder fort. Man könnte -es als ein Opfer ansehn, dachte er schwer. Renate, -- das war noch eine -Versüßung; und -- es war zuviel, ein Doppeltes an Gewinst, -- es soll -aber das eine sein, das reine Ziel. Ach, wie schön, wie schön hätte es -werden können! Beuglenburg obendrein -- was gab es da nicht alles zu -tun! Sigune -- --? Wer weiß, was sie heute für ein Wesen ist? Zart, -gutherzig würde sie jedenfalls sein, lenksam, willenlos. Freiheit genug -würde ihm bleiben. Und Renate -- sie konnte ja auch nicht wollen. -- -Vielleicht sehe ich sie mir einmal an; wenn sie gar zu schlimm ist, bin -ich stark genug, auch rücksichtslos zu sein. Möglich auch, -- ich sage -ihnen dann, wer ich in Wahrheit bin! -- Da sah er schon die ganze Szene, -Minister, Hofkammerrat, denen er schlichte aber klirrende Worte hinwarf. - -Aufstehend setzte er sich auf den Schreibtisch, streckte absichtslos die -Hand nach dem Telephon aus, und da er dies getan, nahm er auch den Hörer -auf und bat den Hausmeister, ihn mit Benno zu verbinden. Gleich darauf -hörte er Bennos Klavier, es brach ab, Schritte kamen, er sagte: »Benno?« --- - -»Ja, hier bin ich«, antwortete Bennos Stimme. Georg sprach matt und -langsam weiter: - -»Ich soll heiraten, Benno, die Beuglenburgsche Prinzessin, ja. Und -Großherzog werden, -- ja. Na, was meinst du?« - -Benno, mit unterdrückter Stimme vor Erregung, sagte: »Ich bin außer mir! -Georg! das kannst du nicht! Das ist Gewalt!« - -Ach, der gute Benno, dachte Georg und wiegte sich, so ist die Sache denn -doch nicht in Fürstenhäusern. - -»Ja, lieber Benno, du drückst das ein bißchen stark aus. Wer was -erreichen will, muß Opfer bringen. Neigungsheiraten, weißt du, sind an -Fürstenhöfen sowieso verpönt. Denke, ich könnte König von Holland werden -oder dergleichen, -- und die Prinzessin ist vielleicht sehr nett.« - -»Ist sie schön?« fragte Benno. - -»Ich weiß nicht, ich glaube nicht; aber sie soll sehr gut sein. Ich kann -sie ja denn wenden lassen.« - -»Du bist ja gar nicht so zynisch, wie du tust, Georg!« - -»Ach, der Teufel«, schrie Georg, »soll da nicht zynisch werden! Na, -danke schön, Benno, ich wollte bloß mal hören ... Also du rätst ab?« - -Benno stammelte etwas, Georg lachte, er sollts schon gut sein lassen, -und legte den Hörer hin. Die Nase juckte ihm wüst, er bearbeitete sie -mit dem Taschentuch, indem er spöttisch dachte: Alles ist immer so -einfach für die Unwissenden. Ich glaube, ich werde doch mal hinfahren. -Ach, wenn man bloß nicht so allein wäre! Wer hilft einem denn? Aber -nein, nein, nein, gut so, dies muß ich allein ausführen. Ich will schon -fertig werden! - -Er dehnte sich, und jetzt schwoll ihm die Brust vor unbestimmtem -Verlangen nach Thronen und Fürstendasein. Er sah sich in stiller Arbeit, -stiller, freundschaftlicher Gemeinschaft mit einem stillen weiblichen -Wesen, das ihn liebte, das er gern sah und das er beschützte. Es könnte -doch recht -- schön -- werden --, sagte er sich leise. Ach, man fühlt -doch wieder, daß man lebt! Ziele sind da, Wege, Kreuzungen, Widerstände! --- Er faßte nach seinem schmerzenden Rücken, dachte: Vorläufig werde ich -wohl Influenza kriegen, und wünschte sich zu Virgo. Er ging auf den -Flur, klingelte nach Egon, ließ sich den Mantel anziehn und verließ das -Haus. - - - Flut und Ebbe - -Renate trat aus der Kapelle, schloß die Tür, zog den grünen Schal fester -um die Schultern und blickte eine Weile in den kahlen Garten. Es -dunkelte schon; hinter den schwärzlichen Maschen des Buschwerks und der -Bäume lag das Haus, stumm und lichtlos, grau, kalt. Frierend lief sie -durch den Garten, die Stufen zur Veranda empor und schlüpfte in die -angelehnte Tür. Während sie zuriegelte, wurde hinter ihr die Tür zum -Flur geöffnet; dann kam vornübergebeugt, auf einen Stock gestützt, ein -großer Mann herein, den sie im Halbdunkel nicht erkennen konnte. Drei -Schritte kam er vor, die Füße absonderlich hochhebend, die Augen im -großen, rasierten Gesicht fest auf sie gerichtet, lachte leicht auf, und --- »Herzog!« rief Renate und schlug die Hände zusammen. Er richtete sich -auf und hob den Stock hoch. - -»Was sagen Sie nu?« rief er stolz. - -»Ist es die Möglichkeit!« sagte Renate und ging eilig auf ihn zu. Er -nahm ihre Hand in seine Linke, sie merkte, daß sie selber es war, die -ihre Hand fast gegen seinen Mund drückte. - -»Es ist zwar«, sagte er, sie küssend, »unschicklich in Norddeutschland, -einer unverheirateten Frau die Hand zu küssen, aber das macht nichts.« - -»Sie gehen! Sie können gehen! Nein, wie mich das freut!« Renate legte -die Hände wieder zusammen und meinte, sie könnte schon ihre Freude recht -deutlich werden lassen. »Und so verschönt, so verschönt! Welche Ehre mir -da widerfährt!« - -Sie ging zu einem der Sessel in der Nähe des Kamins und zeigte ihm einen -andern. Nicht unbeholfen ging er draufzu und setzte sich. Zwischen -Beiden kniete das Hausmädchen und machte Feuer unter den Holzscheiten. -»Recht so,« sagte der Herzog, »mich friert ausdermaßen. Setzen Sie sich -schnell zu mir, ich habe genau zwanzig Minuten Zeit, dann geht mein Zug, -ich muß nach Beuglenburg, es giebt die größten Umwälzungen, unterwegs -hat mein Chauffeur mich umgeworfen, vielmehr gegen einen Baum gefahren, -weil der Bauer nicht so wollte wie er, da bin ich mit dem Zuge -gekommen.« - -Das Mädchen ging, Renate setzte sich. Er reichte ihr noch einmal die -Hand. Sie mußte sich Mühe geben, sein ihr bekanntes Gesicht -wiederzufinden. Die Oberlippe war sehr schmal, der Mund schien größer -und kräftiger, das Kinn war erstaunlich groß und stämmig. -- Sehr ernst -sagte er: - -»Ich wollte Ihnen vor allem danken. Wenn mir etwas geholfen hat, waren -es Ihre Briefe. Sie sind ein guter Kamerad, ich will dafür sorgen, daß -Sie's bleiben. Ja, da habe ich gehen gelernt. So wie's gewesen ist, -wirds ja nicht wieder werden, nicht einmal so, wie es hätte werden -können, wenn ich gleich damals angefangen hätte, sagt der Arzt, aber --« -er setzte sich fest, »man muß zufrieden sein. Nun sagen Sie -- wie geht -es Ihnen denn? Ich fürchte, Sie sahen besser aus im Sommer.« - -Renate lächelte nur und war froh. »Wollen Sie mir nun nicht erzählen, -was das für Umwälzungen sind?« - -Der Herzog sah auf die Uhr. »Bloß noch sechzehn Minuten,« sagte er, -»vielleicht könnt ich doch einen andern Wagen mieten, ich bin im -allgemeinen kein Verschwender.« - -»Ja, so nehmen Sie doch meinen!« rief Renate und sprang auf. - -»Augenblicklich!« sagte der Herzog, »wenn Sie mit mir kommen. Sie können -in zwei guten Stunden zurück sein!« - -Renate, schon an der Tür, klingelte, versicherte, sie komme gerne mit, -trug dem Mädchen auf, dem Chauffeur Bescheid zu sagen, und setzte sich -wieder. Die Scheite im Kamin glommen langsam und widerwillig auf. Renate -kreuzte behaglich die Arme und sah den Herzog erwartend an. - -»Also,« sagte er, »mein Sohn will Großherzog werden. Es ist eine -hundsföttische Angelegenheit, mit Erlaubnis! Vor drei Tagen ist der -Beuglenburger Erbprinz gestorben. Er hatte Tuberkeln, seit Jahren schon -wurde sein Ende erwartet, ja, vor drei Jahren gaben sie ihn schon auf, -aber er erholte sich wieder. Sein Vater ist -- also -- nur noch eine -Masse. Erbschaftsberechtigt sind: erstens ich hier, mein Sohn und ein -schon bejahrter Graf Beuglenburg-Lipsch, der gerne möchte. Ich falle -aus, für mich ist das nichts. Mein Sohn -- ja, was meinen Sie -eigentlich? Sie kennen ihn doch ...« - -Renate sagte: »Ich schrieb Ihnen ja ... Kenne ich Georg? Ich mag ihn -gern, er ist klug, sehr fein und bescheiden. Freilich, was heißt das -...!« - -»Nun, lassen Sie mich erst weiter erklären«, unterbrach er. »Außer dem -verstorbenen Sohn ist da noch eine Tochter Sigune, neunzehnjährig, eine -gute Seele, glaub ich, sehr fromm vermutlich, die Beuglenburgs sind -katholisch, die Kleine war und ist -- was ich leider nicht wußte -- ganz -in den Händen ihres Erziehers, der Hofkammerrat am Hof ist und nicht nur -sie, sondern den ganzen Hof beherrscht. Jesuitisch erzogen übrigens. Die -Entwicklung wäre daher die, daß die Beiden heiraten, mein Sohn und die -Sigune. Und das scheint mir bedenklich. Georg hat Spätlingsnerven, hat -gar kein Talent zur Brutalität, denkt von außen nach innen und ist noch -sehr jung. Der Gedanke, daß er erbt, hat ja nun für mich alles -Bestrickende. Trassenberg war bis über Achtzehnhundert hinaus -selbständig, kam dann zu Beuglenburg. Aber Trassenberg gehört mir. -Solange der alte Großherzog regierte, hatte ich keinerlei -Schwierigkeiten. Alle Beamtenstellen in Trassenberg besetzte ich. Kommt -der Beuglenburger Graf zur Regierung, so habe ich die Jesuiten im Land, -und es giebt den ungeheuerlichsten Schlamassel; in jeder Beziehung. Das -brauche ich nicht zu erklären. Ich könnte freilich selber regieren, ich -bin der nächste, aber -- ich will einmal nicht. Doktor Birnbaum ist zwar -dagegen, stabiliert nach wie vor sein heiligstes Menschenrecht, nämlich -das, jeden Augenblick seine Meinung ändern zu können, aber -- ich habe -mich an diese Meinung zu sehr gewöhnt, bin auch zu alt zu Neuerungen.« -Er lachte kurz und griff nach einem imaginären Bart. - -Indem trat der Chauffeur ein und meldete, der Wagen sei bereit. Der -Herzog stand auf. »Fahren wir nur,« sagte er, »ich bin so schon -ungeduldig genug.« - -Eine Weile später saß Renate unterm schwarzen Pelz in der Wagenecke, der -Herzog in der andern, der rechten, die er sich ausbedungen hatte, da er -auf dem rechten Ohre taub sei. Wie Bogner! fiel es Renate ein, wo war -Bogner? Oh dies war auch ein Mensch, dieser nicht regierende Herzog! Das -Automobil bog gleich in den Wald ein, die Lampe unter der Decke glühte -auf, das Gesicht des Herzogs erschien rötlich; eng und warm war der Raum -um sie, die Scheiben beschlugen schnell. - -Der Herzog war plötzlich verstummt. Renate mochte ihn nicht stören, da -er sicherlich viel im Kopfe hatte, auch genügte ihr vollkommen die -Wohltat der Fahrt und das Dasein des fremden, immerhin doch -- kaum -bekannten Menschen. Sie glaubte, in sich versunken, wohl eine -Viertelstunde bereits im Fahren zu sein, als sie ihn sprechen hörte, -ohne daß er sie ansah. - -»Sehen Sie,« sagte er, »man tut doch immer zu wenig. Oder man ist immer -nach einer Seite hin geblendet, und aus den wunderlichsten Ursachen. -Jahrelang, jahrzehntelang lag diese Sache nun vor mir, ward sie geplant, -beleuchtet -- und -- den Gedanken an diese Heirat habe ich ebensowenig -mit kalkuliert, wie ich einen starken Einfluß des Hofkammerrats, an -dieser Stelle, ahnte. Es ist bei Gott, als ob er sich versteckt hätte. -Denn nun hat der Gedanke: Georg und Sigune, die verteufeltste -Ähnlichkeit mit dem Kolumbusei: solange ungedacht -- ists eben nichts -- -und sobald gedacht das einzig Naheliegende und Natürliche ...« - -Nun wars wieder still, lange Minuten, bis auf das Rauschen der Fahrt. - -»Ich habe das eben so obenhin gesagt,« fing der Herzog wieder an, »das -mit dem Altsein, aber ich meinte es nicht. Nein, ich bin nicht alt.« Er -beugte sich mit einem Ruck vor, faßte seinen Stock und schlug damit auf -seine Stiefelspitzen unter der Decke. »Absichtlich habe ich diese -Kraftanstrengung gemacht mit dem Gehenlernen. Ich -- ich glaube, es war -die Ungeduld von zwei Jahrzehnten, die auf einmal losbrach, und da habe -ich denn nachzuholen versucht, was meine Frau in denselben zwanzig -Jahren in ihrem Käfig hat abwandern müssen. Nun denke ich mir alles sehr -schön. Mein Sohn und ich waren immer gute Kameraden, Birnbaum ist auch -da und liebt Georg wie der ihn, es könnte ein Triumvirat, es könnte -sehr, sehr gut werden.« - -Er schien Renate noch erregter, als sie nach seinen Worten allein -erkennen konnte. Sie sagte, es sei sicher viel Gutes in Georg, er -beobachte vielleicht ein wenig zuviel sich selbst, aber -- »Nun ja,« -murmelte der Herzog, »in diesen Jahren, da ist sich ja jeder ein -Labyrinth und sieht an jeder Straßenecke den Minotaurus das Bein -hochheben. Ja, entschuldigen Sie nur, ich denke immer noch, ich rede mit -Birnbaum wie in all den Jahren. Nun, sehen Sie, so ist Georg. Ich sagte -Ihnen, glaub ich, schon einmal, daß ich ihm unbegrenzten Kredit gab. Sie -wissen, was das ist.« Renate schüttelte den Kopf. »Nun, das schadet -nichts, es heißt jedenfalls so viel, daß er Geld verbrauchen konnte, -soviel er wollte. Es war ein Risiko von mir, eine Probe, bankerott -machen konnte er mich ja nicht, und so dachte ich: versuchs lieber auf -die Weise, als daß er dich hintergeht, Schulden macht und den Namen -versaut. Schulden kann ich auf den Tod nicht leiden. Was tut Georg? -Braucht -- im Verhältnis -- überhaupt nichts. Nun würde das an sich -nichts heißen, wenn er ein -- also von Natur ein Asket wäre, ein -Einsiedler, ein zarter, scheuer Mensch, dem das Bunte der Welt nichts -bedeutet. Er aber ging ganz frisch in die Welt hinein, machte -Dummheiten, ruinierte ums Haar seine Gesundheit. Aber -- --! Was hätte -er nicht -- --? er hätte einen Rennstall halten können, drei Rennställe, -unermeßlich pokern, Mätressen, Automobile, Paläste, Jachten, was weiß -ich, halten können. Nichts davon. Was er am Grunde seines Lebens sucht, -ist ihm wahrscheinlich so geheim wie mir selber, und wenn er heute -Großherzog sein will, so will er vielleicht morgen Dichter sein -- nun, -es giebt schlimmere Schwankungen. Einmal, das will ich gestehn, war ich -mißtrauisch. Ich hatte ihm eines Tages eine -- ja, eine schwierige -Eröffnung zu machen; er hatte sich zu entschließen. Ich schickte ihn ins -Freie, saß und wartete auf ihn. Es ward dunkel; da kam er. Ich dachte: -Er braucht sich nicht entschlossen haben, es eilt nicht, aber, dacht -ich: Was wird sein erstes Wort sein? Man hat seine abergläubischen -Momente, und ich lag selber im Graben. Soll ich Licht machen? fragte er. -Ich weiß nicht, das schien mir nicht sehr vielversprechend. Er hätte -Licht machen sollen -- nun -- aber -- ich bin wieder davon abgekommen. --- Und nun möcht ich rauchen«, bat er, seine Zigarrentasche schon in der -Hand. Renate nickte, freute sich, die große Zigarre von Helenenruh -wieder zu erkennen, und atmete nicht unbehaglich den zarten Geruch der -ersten Wolke. Man muß ihn reden lassen, dachte sie weich. - -Der Herzog saß weit vorgebeugt, wischte zuweilen mit der Hand an der -Scheibe und sah hinaus, während er sprach. Jetzt blickte er wieder eine -lange Zeit schweigsam hinaus, setzte sich dann zurück, drückte den -Rücken fest, sah Renate kräftig forschend an, dann wurden seine Züge -weicher, er sagte: - -»Gute Freundin! Ich habe nie Gelegenheit gehabt im Leben, unaufrichtig -gegen einen Menschen zu sein, diesen und jenen Halsabschneider -ausgenommen, gegen einen nahen Menschen also, deshalb möchte ich es auch -gegen Sie nicht sein. Da ich Sie also einmal mit dieser Angelegenheit -behelligt habe -- und es tut mir aufrichtig wohl, daß ichs durfte --, so -sollen Sie auch den Rest wissen. Georg ist nicht mein Sohn. Er ist -- -aber das ist gleich, das würde viel zu weit führen, und es genügt ja, -wenn Sie die Tatsache wissen. Nun -- was sagen Sie dazu?« - -Renate wollte heftig erschrocken abwehren: Nein, nein, lassen Sie mich -nichts dazu sagen! besann sich aber rechtzeitig mit der Erinnerung an -sein Vertrauen, schlug die Augen gegen ihn auf und sah ihn dasitzen, das -Kinn auf die Brust gedrückt, die Oberlippe zwischen den Zähnen, unter -der geneigten Stirn aufblickend, nun doch zweiflerisch vor ihrer -Antwort. Sie machte ihren Blick herzlich, murmelte für sich: Einen -Menschen sollst du messen ... und sagte leise: - -»Von meinem Freund schrieb ich Ihnen hier und da, Saint-Georges, den ich -immer zu fragen pflege, wenn ich etwas nicht weiß. Der schenkte mir -einmal den Spruch: Einen Menschen sollst du messen -- Wenn du in seiner -Haut gesessen. -- Und«, fuhr sie, die Hände faltend und mit wärmerem -Lächeln in seine Augen blickend, fort: »Wenn Sie geglaubt haben, daß -trotz dieser Tatsache er als Ihr Sohn gelten solle, dann habe ich kein -Recht, anders zu urteilen.« - -»Danke schön«, sagte er und nickte. »Ich muß noch hinzufügen,« erklärte -er dann, »daß erst vor zwei Jahren auch mir dies mitgeteilt wurde, ja, -übrigens spielte der Vater unsrer Magda dabei eine verfluchte Rolle, na, -der ist nun auch tot. Und dies war die Eröffnung, von der ich eben -sprach, die ich ihm zu machen hatte. Mein Sohn und ich -- wir haben also -alles beim alten gelassen. Sie haben nicht in meiner Haut gesessen, -nein, und ich nicht in der seinen, denn schließlich ist er hier ja -derjenige, auf den es allein ankommt, aber -- ich glaube doch: wir haben -alle drei recht.« - -Renate sann hin und her, aber das Ganze war ihr allzu fremd, als daß sie -sich in solcher Schnelle, wenn überhaupt je, hätte hineinfinden können -... - -»Und nun«, hörte sie den Herzog sagen, »können Sie sich immerhin denken, -wie dies Geschehnis auf mich wirken mußte. Nicht wahr: Ich hatte ihn -verloren, als Sohn, -- Sohn meiner Helene; ich behielt ihn aber, ich -hatte also -- gesetzt, dies sei möglich -- noch einmal so väterlich um -ihn zu sorgen, als ob er mein echter Sohn sei. Ob möglich oder nicht: -dies war mein Gefühl, dies hatte es zu sein. - -»Und nun diese Heirat,« fuhr der Herzog nach einer Pause fort, »wie? was -ist?« unterbrach er sich. Renate, die bemerkt hatte, daß der Wagen, wie -bereits mehrere Male, ganz langsam fuhr, reinigte die beschlagene -Fensterscheibe mit dem Handschuh und blickte hinaus. Schwarze Nacht -wars; der Wagen stand still. Sie ließ das Fenster ein Stück weit nieder, -eiskalt drang die Luft ein. Sich hinausneigend sah sie vorn den -mächtigen Schattenriß des wulstigen Rades, drohend überwölbt vom -Schutzblech, die metallene Halbkugel der Wagenlampe dicht darüber, aus -der ein Strahlenkegel weit in die Nacht fiel, schwarz den sargartigen -Kühler und blinkende Tropfen an der Glasscheibe vor dem Fahrer. Kalkweiß -stand ein gesträubter Chausseebaum im Licht. Gleich darauf tauchte ein -zottiger Hund neben einer Weibsgestalt auf, ein Handwagen dahinter; sie -hörte den Chauffeur etwas fragen, der Handwagen zog weiter, ein großer -Kerl, hinterdrein stolpernd, wandte sich halb im Gehen, schwang die Arme -und rief etwas in unverständlichem Plattdeutsch; der Wagen ruckte an, -der Motor rauschte, sie rollten. - -»Noch zehn Minuten höchstens,« sagte der Herzog, »aber nun müssen Sie -das Ganze hören. Sie haben sich wahrscheinlich bereits gefragt, wie -Georg zu der ganzen Sache steht. Ich wills Ihnen sagen. Es fängt mit -meinem Urgroßvater an. Der war sehr sonderbar; Astrolog; nicht Astronom, -sondern Astrolog. Anfang des achtzehnten Jahrhunderts wurde Trassenberg -mediatisiert, aber mein Urgroßvater schloß mit Beuglenburg einen -Geheimvertrag, nach dem Trassenberg zwar an Beuglenburg kam, jedoch nur -auf hundert Jahre, kündbar. Warum dies, ist unbekannt. Er hatte die -merkwürdigsten mystischen Neigungen! In seinem Nachlaß fand sich unter -vielen andern Seltsamkeiten, Horoskopen, Prophezeiungen eine -Vorhersagung: Im Anfange des zwanzigsten Jahrhunderts würden beide -Häuser, Trassenberg und Beuglenburg, oder Zinna, auf zwei Augen stehn; -von diesen Augen würde es abhängen, ob die Stimmen beider Gewalt im Rate -der deutschen Völker erlangen oder für immer verstummen würden, -- die -Weissagung besteht aus lateinischen Distichen, astrologische Wendungen, -die Gestirne, Venus, Jupiter spielen eine unverständliche Rolle darin. -Weissagung und Vertrag haben beide sich in unserm Geschlecht -vererbt, und zwar wars üblich, daß diese Erbschaft am Tage der -Mündigkeitserklärung vom Erstgeborenen angetreten wurde. Nun konnte es -sich nur noch um Georg handeln, aber jetzt lag die Sache folgendermaßen -... - -»Der Zinnasche Erbprinz, Bruder eines Totgeborenen und einer -schwächlichen Schwester, selber nur mit Mühe und aller Kunst von Geburt -an am Leben gehalten, war für mich allezeit -- nicht dasjenige -Augenpaar, auf dem die Schicksale der beiden Länder ruhen sollten -- das -heißt: ich füge meine Ausdrucksweise nach der Prophezeiung, die für mich -keinen bedenklichen Wert hat noch hatte. Nun: im Sommer werden es drei -Jahre sein, Georg zog zur Universität, trat ins Leben, ich hielt es für -an der Zeit, ihn wissen zu lassen, was ihn in Zukunft erwartete, um so -mehr -- bei seinem Hange zur Dichterei und dergleichen schönen, aber -wenig weltlichen Dingen. Nun griff eins ins andre. Nämlich: ihn -spekulieren zu machen auf den Tod eines noch Lebenden, das widerstrebte -mir. Ich hatte aber den Vertrag, der heutzutage -- das vergaß ich zu -erwähnen -- ich will zwar nicht sagen: keine, aber doch keine -nennenswerte Gültigkeit -- an sich -- hat, wenn der Andre nicht will. -Wollt ich ihn durchsetzen, so handelte es sich schließlich nur um die -Geneigtheit des Bundesrats, und da von den drei Stimmen, die Beuglenburg -und Trassenberg gemeinsam drin haben, zwei schon immer in meiner Hand -waren, so -- nun, Sie verstehn. Also war zu kalkulieren: ist der -Erbprinz einmal tot, soll dann weiter geerbt werden im Mannesstamm, so -kommt zuerst Georg in Frage, und der Vertrag liegt da als Fundament, als -Stütze, wie man will. Also ... wo blieb ich stehn? -- So -- ich benutzte -also Georgs politische Unkenntnisse (sie hielten länger vor, als ich -damals ahnte) und sprach ihm damals schon, drei Jahre früher als üblich, -von dem Vertrage und seinen Möglichkeiten in bezug auf ihn. Er war -daher, bis vor zehn Tagen etwa, war er in dem Glauben, in der -Zuversicht: Herzog von Trassenberg werden zu können. Nun vor allem: das -Ganze wäre ums Haar schon vor zwei Jahren zum Klappen gekommen, da der -arme Junge Adolf Emil sich bereits zum Sterben anschickte, aber wieder --- ich argwöhne sehr -- gegen seinen Willen daran verhindert wurde, für -mich ein Beweis, wie richtig ich gegen Georg verfahren war. Hopla!« -sagte der Herzog, denn der Wagen war aufs Pflaster gerollt und -schüttelte erbärmlich. Durch das trübe Glas der Wagenfenster fiel gelbes -Licht herein zu dem rötlichen Inneren, Laternen, Schaufenster, -Menschenschatten, ein Wagen zogen vorüber. Gleich darauf stand der Wagen -still. - -»Ja, nun muß ich doch abbrechen,« bedauerte der Herzog, »oder bringen -Sie mich noch bis oben, eine kleine Viertelstunde«, sagte er verlockend. - -Renate nickte, der Herzog ergriff das Sprachrohr und befahl dem -Chauffeur sich nach dem Schloß hinauf weiter zu fragen. Bald darauf -rollte der Wagen weiter, durch Straßen, Pflaster und Asphalt, hin und -her, währenddem sie schwiegen, Renate gespannt, als läse sie Balzac. -Kaum rollte der Wagen wieder sanfter dahin, begann auch der Herzog: - -»Also weiter. Zu Neujahr gab ich Georg den Vertrag; zwei Tage vorher -nämlich schreibt mein Agent, aus Zinna: der Erbprinz liegt im Sterben, -diesmal ists sicher! (War aber wieder gelogen, er hat noch zehn Wochen -gelebt, es war ein Jammer!) Georg geht hin und klagt den Vertrag ein, -und -- nun kam die Enttäuschung für uns Beide: bekam eine schlichte, ja -schnöde Abweisung. Nun, was weiter -- - -»Er schreibt mir, er steht vor einem Rätsel ... Ich tu's selber, ich -schreibe nach Zinna, es giebt ein unverständliches Hin und Her, endlich -kommts denn zu Tage: Georg heiratet Sigune. - -»Ich fahre selber nach Beuglenburg. Der Großherzog, wie ich immer wußte, -ist eine Null, vor der dieser oder jener seiner Umgebung, am häufigsten -sein Hofkammerrat, ein halber oder ganzer Jesuit, zusammenleg- und -entfaltbar, jede beliebige Ziffer von zehn bis neunzig formiert. Mit ihm -selber ist nichts anzufangen, seine Umgebung schwört: er reagiert nur -auf Fremde nicht, beinah hätten sie gesagt: in ihren Händen sei er -Wachs, denn das ist er. Ihrer Aussage nach also besteht er auf seinem -Willen, das Erlöschen seines Namens um jeden Preis zu verhindern. Na, -nun giebt es ja allerlei Möglichkeiten. Der alte Beuglenburger Lipsch -kann päpstlichen Konsens erhalten, um wieder zu heiraten. Immerhin -- -dies ist des Hofkammerrats Vorzugswort -- immerhin scheint er -- der -Hofkammerrat -- für seine Sigune -- er hat sie erzogen, und da sie aufs -äußerste an ihm hängt, muß er wohl auch seine guten Seiten haben; wem -fehlen die schließlich nicht? -- er scheint also dem jüngeren Georg doch -den Vorzug vor dem alten Lipsch zu geben, sagt sich vielleicht auch, daß -aus Alter und Krankheit kein brauchbarer Nachwuchs zu hoffen ist und das -Erlöschen Zinnas bloß aufgeschoben, nicht -gehoben. Schließlich sind -auch Erbschaftsgesetze nichts Unabänderliches, das heißt: die Sigune -kann irgendeinen andern von fünfzig gut katholischen Prinzen heiraten, -dessen Sohn erbschaftsberechtigt wird. Wir müssen gleich da sein, der -Wagen steigt schon mächtig, merken Sie die Serpentinen? Sehen Sie, da -liegt das alte Nest!« - -Hinausblickend sah Renate das rötliche, qualmende Lichtertal der Stadt -unter sich, ein altes Stadttor, den schwarzen, rötlichen Fluß, dahinter -Nacht und den braunen Himmel. - -»Ich bin ja auch nun am Ende«, sagte der Herzog. »Georg hat man -inzwischen Mitteilung von seiner Heirat gemacht, hinter meinem Rücken, -die Schurken! Bei alledem ist das Unglück, daß der Großherzog darauf -besteht, noch morgen, am liebsten schon heute abzudanken, also seine -Tochter so stracks wie möglich zu verheiraten, wobei ich ahnungslos bin, -wiederum, ob das sein Wille oder der seines Hofkammerrats ist. Georg -schreibt mir einen verzweifelten Brief nach dem andern: Was denn das -heiße, er begriffe nicht -- er hüte sich natürlich vor jeder Kritik -- -aber er begriffe nicht, was ich mir je gedacht hätte, er könnte doch das -kranke Mädchen nicht heiraten und so weiter.« - -»Und was schrieben Sie?« fragte Renate, da er schwieg. Er sah sie mit -ein wenig verqueren Augen an und zuckte die Achseln. Er hätte -geschrieben, Georg dürfe schon vertrauen, daß alles mit rechten Dingen -zugegangen sei, es sei jetzt keine Zeit zu Erklärungen, die er jeden -Augenblick später erhalten könne, er selber stehe ihm sofort zur -Aussprache, zur Beratung zur Verfügung, vielleicht jedoch ziehe er es -vor, allein seinen Weg zu finden. »Glauben Sie nicht, daß er alt genug -ist, um zu wissen, wie er zu handeln hat? Ich selber, schrieb ich ihm -noch, würde eigenhändig einen Versuch machen ... Und dabei bin ich ja -nun. Ich will --« - -Er unterbrach sich; der Wagen rollte über eine Brücke, durch ein Tor, -machte eine Schwenkung und stand still. - -»Zinna,« murmelte der Herzog verdutzt, »aber nun will ich ausreden.« - -Renate sah durch die klaren Fingerstreifen im Belag des Fensters neben -dem Herzog ein erleuchtetes Tor über Stufen, Schatten und bunte Stücke -von Hin- und Hereilenden. - -»Ich will«, sagte der Herzog, »doch meine Meinung ändern; ich bin der -nächste Erbe und --« - -Indem wurde der Wagenschlag aufgerissen. »Wollt ihr zulassen!« schrie -der Herzog, zog die Tür am Riemen zurück, klappte und riegelte sie zu. -»Hundsfötter!« murmelte er und setzte seinen Hut auf, einen großen alten -Schlapphut, aber er sprach nicht weiter. Nach einer Weile sagte er -leise: - -»Helene -- ja, nun fehlt uns Helene. Wenn ich die Regierung übernehme, -so ist die Heirat damit ja immer nur aufgeschoben; der Hofkammerrat -weiß, daß ich nur Fisematenten mache und in einem halben oder ganzen -Jahr zu Georgs Gunsten verzichte. Also muß ich Sigune ... sie hat die -harte Stirn der Zinnas; wenn ich sie herumkriege, so bleibt sie mir -sicher, aber wie ich das mache ...?« Er seufzte. - -»Lieber Freund,« sagte Renate, »und wie wäre es denn nun eigentlich, -wenn Sie alle Beide verzichteten?« - -»Wer?« - -»Sie und Georg.« - -»Nicht um die Welt«, sagte der Herzog. »Die Jesuiten kommen ins Land.« - -»Können Sie sich nicht wehren?« - -»Erstens gegen Jesuiten!« murrte er unwirsch, »und außerdem habe ich -Besseres zu tun. In einem Kriege kann Wunderbares an Kraft und Taten -geleistet werden, aber ich wäre ja ein Hundsfott, wenn ich nicht den -Krieg vermiede, um eben dies Wunderbare für meinen Frieden zu -gebrauchen.« - -Renate, hartnäckig zu ihrem eignen Erstaunen, bohrte tiefer: »Sie denken -an Ihr Land und vergessen Ihren Sohn. Wie sehr väterlich glauben Sie, -daß dies gedacht ist?« - -Der Herzog blickte sie grade und schwer an. »Mir,« sagte Renate beinah -spöttisch, »-- mir scheint es nun doch, als ob die beiden Augen Ihrer -Weissagung -- mich jetzt ansehn.« - -Er machte eine abwehrende Handbewegung und schlug die Decke von den -Füßen zurück. »Sie stören mich ja, mein Kind, anstatt mir zu helfen.« - -Renate sah auf die Uhr im Armband: »Nachdem ich Ihnen anderthalb Stunden -zugehört habe, ohne das geringste Widerwort.« - -Der Herzog lachte und murmelte, um so gefährlicher sei sie, habe nun -alles angesammelt, destilliert und spritze das feinste Gift. Übrigens -könne sie ja nicht wissen, was für ihn auf dem Spiel stehe. Er tastete -mit der Rechten nach dem Türgriff, drehte ihn, drehte ihn zurück und -sagte kurz lachend: »Nun denken Sie, ich will ausreißen.« - -»Es ist wirklich Zeit«, warnte sie lächelnd. - -»Gut,« sagte er und bot ihr die Hand, »ich werde die Nacht zum Überlegen -verwenden.« Er küßte ihre Hand. »Haben Sie Dank, vielen Dank! Ich bin -morgen wieder in Trassenberg. Wenn Ihnen etwas Gutes einfällt, -unterlassen Sie nicht, mirs zu schreiben. Gute Heimfahrt! Auf -Wiedersehn! Leben Sie wohl! Adieu!« - -Er hatte sich nach außen gezwängt, stand, von rückwärts beleuchtet und -nahm den Hut ab; stämmig und wacker stand er da, Haar und Oberkopf -schimmerten im Licht, die Züge waren von Renate nicht zu erkennen, da -sie gegen das Licht sah, auch wurde die Tür nun geschlossen, der Motor -brauste auf, der Wagen drehte langsam, rollte über den Hof, durch die -Einfahrt und über die Brücke in die Nacht zurück. - -Renate setzte sich tiefer in den Polstern, lehnte sich an, hüllte die -Decke fester um sich und zog sie gegen die Brust; sie nahm die große -Muffe, die sie neben sich gelegt hatte, wieder und senkte die Arme bis -an die Ellenbogen hinein; es schien ihr kälter im Wagen geworden. Sie -lächelte. Da hatte sie ihn nun ratlos gemacht, das tat ihm gut. Wieder -lächelnd, empfand sie, daß dies Lächeln schon lange in ihrem Gesicht -feststand. Sie glaubte, den Abdruck zu spüren, dieser Mensch mußte es -mitgebracht und festgeschraubt haben, sie konnte es nicht loswerden, da -war es schon wieder, sie fuhr mit der Hand über Augen, Nase und Mund, -aber es kam unverwischbar drunter wie neu hervor, oder lächelte sie -diesmal nur, weil sie es hatte fortwischen wollen? Da habe ich die ganze -Zeit über gelächelt, dachte sie nun unwillig, und es ging um die -ernstesten Dinge. -- Wie, schon wieder die Stadt? Vom Schütteln der -Fahrt in ihren Gedanken unterbrochen, sah sie durchs Fenster in die -erleuchteten oder dämmrigen und finsteren Straßen voller Menschen und -elektrischer Bahnen, solange bis die Chaussee wieder erreicht war. -Unterweil war sie nachdenklich geworden, beugte sich vor, stützte das -Kinn auf die Fingerknöchel und blickte durch die graue Scheibe in die -Finsternis. - -Das war ja ein Wassersturz von klirrenden, schillernden und fremden -Dingen gewesen. Sie versuchte, sich zu besinnen. Immer sah sie ein -kaltes, bleiches, augenloses Gesicht unter einem Jesuitenhut, wie -unsinnig! Sigune -- Schionatulanders Geliebte, ein schöner, trauriger -Name. Kränklich war sie, blond, mit einer harten Stirn, und dieser -Jesuit war ihr Lehrer und einziger Freund. Der kranke Bruder -- und -dieser Vater ... Plötzlich erschien der Herzog wie ein Riese dazwischen -und fegte alles über Seite. Renate lächelte wieder, verfinsterte aber -dann ihr Gesicht und sagte: Bogner -- so hätte er einmal kommen sollen! -Aber damals -- wie würde ich mich vielleicht gewehrt haben! Heut mittag -noch war mein Dasein ein blauer Teich mit kümmerlichen Wasserrosen; da -warf sich dieser unbekümmerte Schratt hinein, bloß um drin zu -plätschern. - -Im kalten Wagen empfand sie sich auf einmal heiß. Diesen Gedanken, sagte -sie, an der Lippe nagend, hätte ich noch vor Jahren den Zutritt nicht -erlaubt. Bloß um zu plätschern? Aber es giebt mehr Teiche. Aber er -fackelt nicht und greift zu, wenn es ihm paßt, erwiderte jemand aus der -Wagenecke. Sie sah flüchtig dorthin, wo der Herzog gesessen hatte. Auf -einmal kann er wieder gehn, es ist wie im Märchen, freilich, es war bald -ein Jahr her, daß die Herzogin starb und er ... Wieder kam die tote -Herzogin zur Türe herein, lebend, bewegte sich leicht zum Tisch, -lächelte und neigte den Kopf, indem sie sich setzte. Seltsam, welch -belanglose Erscheinungen am sichersten in uns haften bleiben! Ihr -Gesicht, so entstellt, als ihr die Augen brachen, war nicht mehr zu -sehn. Hatte er sie schon ganz vergessen? Sie hörte ihn seufzen: Helene --- ja, nun fehlt sie uns! Uns ... Freilich: er mußte seines Weges -weiter. - -Fünfundzwanzig Jahr ist er älter als ich, dachte Renate und herrschte -sich an: Genug jetzt! ein für allemal! - -Und nun das -- mit Georg! -- Man kann es nicht einmal nennen, wie soll -ichs begreifen? Georg? Wer war denn Georg? -- Georg saß mit Esther oben -in Josefs Fenster, oder mit Esther im Garten bei der Sonnenuhr. Wenn er -kein Prinz ist, so sieht er doch einem solchen zum Verwechseln ähnlich. -Nun wundert michs doch, daß -- eigentlich er mich auch nie beachtet hat. -Aber das war wohl Scheu wegen Magdas. Zwischen ihm und Esther -- was war -da gewesen? -- Sie hörte Sigurds Stimme, wütend im Schmerz, aber sie -fand die Worte nicht mehr. - -Bogner und der Herzog, welch ein Gegensatz! Wars wirklich einer? Schien -ihr die Kalt-- ja, die Kaltherzigkeit des Herzogs nicht nur deshalb so -viel heftiger als Bogners stillere Kräftigkeit, weil eben Bogner keine -Kraftäußerung kannte als gegen sich selbst und in seinem Werk? Der -Herzog war das Hantieren mit Menschen gewohnt, das war sein Leben und -sein Werk. - -Renate schloß die Augen und schauerte seltsam angenehm zusammen. Indem -fielen zwei starke peitschenartige Knalle schnell hintereinander, sie -fuhr empor, horchte erschreckt, gleich darauf rollte der Wagen -langsamer, auch anders, wie ihr schien, und stand still. Ach, ein Reifen -war geplatzt oder gar zwei! Nun kam schon der Schatten Reinholds von -vorn am Fenster vorüber, sie öffnete es, fröstelte im Luftzug und sah, -daß die Straße weiß war; es hatte geschneit. Reinhold kam zurück: die -beiden Hinterreifen wären geplatzt. -- Renate öffnete die Tür und stieg -aus. Reinhold bemerkte in seiner Berliner Mundart: »Das ha 'k mir jleich -jedacht, wo der Wagen so lange in der Garage gestanden hat.« Er ging in -seinem großen Pelz unwirsch um den Wagen, stellte den gehorsam -stampfenden Motor ab, klappte einen Kasten auf, nahm Werkzeuge heraus, -öffnete einen andern Kasten unterm Sitz und wühlte darin. Die beiden -grellen Lichtkegel aus den Laternen fielen weithin über die weiße -Chaussee und breiteten sich über die nächtigen Felder aus; grellweiß -angeschienen standen die Chausseebäume wie gesträubte Zuschauer da, -andre weiterhin, schattenhafter. Weiß wehte Renate der Atem vom Munde, -sie trat in den dünnen Schuhen langsam hin und her, fühlte die -hartgefrorenen Rillen des Schlammbodens unter der Schneedecke, fror und -wollte wieder in ihren Wagen kriechen. »Wie lange dauert es denn?« -fragte sie. - -Der Chauffeur, die Riemen an einem der festgeschnallten Räder mit -aufmontierten Reifen lockernd, murrte kaum verständlich und mit der -Abgeneigtheit seines Menschenschlags gegen Zeitangaben, es könnte auch -'ne Stunde dauern, -- bei die Kälte! -- - -»Armer Reinhold!« sagte Renate und war unglücklich, so lange im Wagen -still sitzen zu müssen. Wo sie denn eigentlich wären, fragte sie. Da wo -die Herzbruchsche Villa stände, da müßten sie dicht bei sein. Renate -zuckte. Sie ging zum Chausseerand und suchte in der Nacht. Richtig, -links über den Feldern war ein roter Punkt in der Nacht. -- »Wenn man -wüßte, wie weit es ist ...« sagte sie zögernd. Nun stellte Reinhold sich -neben sie und meinte, nach dem Licht spähend, es könnte keine zehn -Minuten sein. -- Und der Weg? -- Die Chaussee hinunter, dann müßte -gleich nach ein paar Minuten eine kleinere Chaussee links abbiegen, an -der läge das Haus; die große Chaussee mache einen Bogen weit rechts und -treffe nachher die schmale wieder. Ob Renate sich nicht erinnere, damals -bei der Hinfahrt zum Herzbruchschen Hause, daß sie auf eine kleine -Chaussee rechts abgebogen seien »da, wo wir doch den Herrn Almanach -getroffen haben.« Renate zögerte kaum noch. - -Irene erwartete sie ja längst. Wie lange hatten sie sich nicht gesehn? -Lieber Gott, war das schon seit -- Mai -- oder Juni? Ja, im Mai war ich -einmal draußen, und noch zweimal im Juni. Dann ging ich nach Helenenruh, -und eh ich wieder hier war, kam >die große Verjüngung< über sie, Masern -und Scharlach hintereinander, -- wie ein Kind so dünn und weiß wie eine -Kellerpflanze sollte sie ja wieder zum Vorschein gekommen sein, -- -Renate seufzte noch einmal, sagte Reinhold etwas Ermutigendes, bat ihn, -wenn er fertig wäre, zur Herzbruchschen Villa zu fahren, und machte sich -auf den Weg, nun schon ganz in freudiger Neugier, wie Irene aus Italien -zurückgekehrt sein mochte ... Auch die Fahrt mit dem Herzog war in ihrer -Erinnerung jetzt eitel Freude, die ihren Gang beschwingte. -- Auf die -Uhr blickend, fand sie, daß es eben halb acht Uhr gewesen war, und sie -ging am Rande der Chaussee unter den Bäumen fort, dankbar für die -Wohltat der Stille in der Frostnacht nach dem langen Getose des Motors -und dem Hinschnarren der Gummiräder über den harten Boden. - -Stehen bleibend dort, wo die Lichtkegel der Laternen zerstäubten, -vergrub sie die Unterarme tief in die Muffe, behaglich, denn sie fror -nicht, nur an der Kopfhaut merkte sie, da sie keinen Hut trug, ein wenig -Kälte. Die Chausseebäume, bleiche Stauden, wurden im Finstern kenntlich -und neben ihnen in der Grabenböschung die weißen Steine. Eilfüßig lief -sie den Weg hinunter, aber die kleine Chaussee ließ auf sich warten, -dafür machte aber die große einen immer stärkeren Bogen nach rechts. -Sieh, aber da waren ja Sterne in der Nacht, unendlich fern, winzige, -weißliche Punkte, und kaum daß sie diese gesehn, zogen mehr, rechts oben -von den ersten, ihr Auge an, das an neuen Sternen nun die unsichtbare -Wölbung emporglitt und den großen Wagen erkannte; undeutlich, matt -blinzelnd, war jeder Stern nur sichtbar, wenn sie ihn einzeln ins Auge -faßte, aber er war es doch! Sie sah sich um im Gehn und gewahrte fern -die Laternenkegel, strahlend mitten im Felde der Nacht, dahinter den -ungetümen Schattenriß des schwarzen Wagens, ganz ein glotzendes Tier. -Sie ging weiter und hatte sich bald so ans Gehen und unbestimmte vor -sich hin Sinnen gewöhnt, daß sie plötzlich die Nebenchaussee merkte, die -sie halb überlaufen hatte. Abbiegend und aufsehend, sah sie auch schon -deutlich zur Linken ein erleuchtetes Fensterviereck, wenn auch klein, -aber da kam plötzlich der Schatten eines Menschen von rechts aus der -Nacht auf die Landstraße zu, und leicht erschreckt eilte sie weiter, -während der Mann näher kam; wenige Schritte hinter ihr mußte er die -Straße betreten haben, dann hörte sie ihn ihr nachgehn, ging eiliger, -ihr Herz klopfte heftig, die Schritte hörten nicht auf, jetzt kamen sie -vielmehr näher, sie blieb Atem holend stehen, der Fremde auch. - -Sie sah ihn an; seine Züge waren nicht zu unterscheiden, er hatte eine -dunkle, englische Mütze auf dem Kopf und trug einen dunklen Havelock. -Schon wandte sie sich entsetzt, um zu fliehn, als der Fremde -- nun -erkannte sie auch den glimmenden Blick seiner Augen -- die Mütze abnahm -und mit anständiger, leiser Stimme sagte, er bäte um Entschuldigung, er -habe sie verwechselt. Sie atmete ein wenig auf und sagte rasch und -munter, es befände sich wohl selten um diese Zeit eine Dame in dieser -Gegend, noch dazu ohne Hut. Sein Gesicht veränderte sich nicht, während -er erwiderte: sie möchte nochmals entschuldigen, zumal er wohl richtig -vermute, daß sie zu dem Landhaus -- dort -- wolle. Sie bejahte, bereits -im Weitergehn, er ging schweigend mit, ein wenig voraus. Das Fenster -ward langsam größer, sie erkannte die Umrisse des Hauses, des Daches und -des Hügels. Der Fremde machte eine Bewegung zurück und fragte leise: »Zu -wem gehn Sie denn? zu Herzbruchs oder --?« - -»Zu Herzbruchs.« - -»So«, sagte er und war wieder voraus. Drei Schritte weiter wandte er -sich abermal und fragte, wieder ganz leise: »Aber -- Sie kennen -- -vermutlich auch die -- andre Dame?« - -Verwundert sagte sie: »Frau Vehm, meinen Sie, ja, ich kenne sie.« - -»Und die Kinder, -- nicht wahr? die Kinder kennen Sie auch.« - -Die Kinder --, -- nun erst fiel Renate ein, daß jetzt Doras Kinder beide -an den Masern krank lagen. »Sie haben die Masern«, murmelte sie vor sich -hin; ihre Schritte wurden langsamer, denn sie fürchtete sich nun vor der -Krankheit; bei ihrem Alter war sie gefährlich. Der Fremde war -zurückgeblieben, holte jetzt aber wieder auf und ging eilfertig weiter. -Nun sah sie auch an der Rückseite des Hauses einen Lichtschein; dort lag -die Diele, daneben war der Eingang ins Haus. Sehr unentschlossen hin und -her überlegend, ging sie doch weiter, sah die Gartenbäume, jetzt wurde -das dünne Geflecht des Drahtzauns neben der Chaussee sichtbar, und da -war die Tür; der Fremde stand dort. Plötzlich war ihr sehr unheimlich -und beklommen zu Sinne. Fuß für Fuß ging sie bis zur Tür, immer noch -schwankend, ob sie nicht lieber umkehrte, aber sie fror nun auch, die -dünnen Sohlen der Hausschuh ließen allzusehr die Kälte durch, hastig -entschlossen drückte sie die Klinke der Drahttür nieder und sagte: -»Guten Abend!« - -Der Fremde, die Augen, wie es schien, gegen das helle Fenster gerichtet, -blieb stumm. Renate ging langsam durch den Garten hinauf, am Hause -vorüber; erfreulich war das Licht in der kleinen Vorhalle, sie ging die -Stufen empor, stampfte den Schnee von den Füßen und betrat die Diele. - -Gleich vorn zur Linken, mit dem Rücken nach ihr hin, stand ein Herr, ein -Buch, in dem er las, in die Nähe der Stehlampe haltend, die auf Dora -Vehms Schreibtisch brannte. Erst jetzt drehte er sich schnell herum, -klappte das Buch zu und legte es hin; es sah wie ein Tagebuch aus, und -der Herr war jener Doktor Ägidi, den sie vor einem Jahr hier kennen -gelernt hatte. Sie gab ihm die Hand, fragte nach Irene, die Luft kam ihr -schon peinlich dumpf vor, nebenan wohnten die Kinder; so ging sie hastig -durch den Raum und traf im Flur mit Irene zusammen, die sie mit -leidenschaftlichem Entzücken begrüßte. Trotzdem schien Renate die -Wallung rascher vorüberzugehen, als ihr verständlich war. -- Noch im -Treppensteigen erklärte sie ihr Kommen, der Herzog schien auch Irene -einige Teilnahme zu entlocken, sie ging in ihrem Zimmer, während Renate -sich unter dem Fenster auf das Sofa setzte, hin und her, in ein großes, -schöngesticktes weißes Tuch mit langen Fransen gewickelt. Die Heizung -funktioniere wieder einmal nicht, klagte sie, Renate solle nur ihre -Pelzsachen sämtlich am Leibe behalten. Das Mädchen kam herein und fuhr -fort den Tisch zu decken, sagte dann im Hinausgehn, Herr Almanach -- sie -betonte den Namen wie alle Dienstleute auf der ersten Silbe -- sei -gekommen. - -»Der Tisch wird überlaufen!« rief Irene und erklärte, daß sie Besuch -erwarteten, einen Freund ihres Mannes, sie laure schon den ganzen -Nachmittag auf ihn, nun würde ihr Mann ihn wohl aus der Stadt -mitbringen. - -»Er wird doch nicht draußen am Zaun stehn?« fragte Renate mit halbem -Lachen. - -»Hat denn wer am Zaun gestanden?« - -Renate fragte, gleichzeitig mit Irene, wie ihr Besuch denn aussehe. »Du -kennst ihn ja selber,« antwortete Irene, »er heißt Klemens, er war auf -meiner Hochzeit, seitdem kann er sich allerdings verändert haben.« - -»Dann war ers glaub ich nicht,« sagte Renate, »dieser hatte keinen Bart -oder einen ganz blonden, soviel ich sah, und Klemens war doch --« - -»Einen blonden?« fragte Irene erschreckt und blieb stehn, »dann war es -wohl ... Wie sah er denn aus, was hatte er an?« - -»Einen Havelock und eine englische --« - -»Albert!« schrie Irene, »mein Schwager wars! Er ist verschwunden vor -acht Tagen! Aber das ist ja --! Entschuldige, bitte, ich muß sofort zu --- Am Zaun blieb er stehn, sagtest du? Ach, das ist ja --« damit war sie -fliegend hinaus. - -Also das wars, dachte Renate. Und Ägidi ist unten im Zimmer. Albert Vehm -war doch erst vor kurzem aus Arosa zurückgekommen. Wie er nach den -Kindern fragte ... Ich will doch lieber gehn! dachte sie und stand auf. -Überdem wurde die Tür geöffnet und Herzbruch trat ein, trotz des Winters -in seinem hellen Anzug, breit und stämmig und fröhlich, mit funkelnden -Brillengläsern. Wo denn Irene sei, fragte er gleich, und ob Klemens -- -sie kenne ja wohl seinen Freund Klemens, nicht da sei. Renate verneinte -und erzählte noch einmal ihre Begegnung mit seinem Schwager, während -jetzt Herzbruch im Zimmer auf und nieder ging, die Hände auf dem Rücken, -zuweilen am Tisch stehen bleibend und drauf nieder blickend, als zähle -er die Gedecke; als das Mädchen wieder eintrat, fragte er, welche Herde -denn da zur Krippe gehn solle, und da das Mädchen Almanach stammelte, -legte er ihr vernichtend die Hand auf die Schulter und sagte, es heiße -Manach, Manach, und sie könnte ruhig noch mal so laut reden. Das Mädchen -wurde glühend rot und entlief, -- zu Renate sagte er nur: »Das sind -alles schwere Sachen, aber auf meine Schwester kann ich mich verlassen; -was sie tut, unterschreib ich.« - -Im Augenblick danach trat sie zur Tür herein, Irene hinter ihr, dann -Ägidi. Es ist ja genau wie damals, dachte Renate, nur alles viel -deutlicher und noch bänger. Dora Vehm freilich schien, wohl durch -stärkeren Zwang als damals, gelassener, warnte mit ihrer hellen Stimme -Renate vor den Masern; Alle setzten sich wie von selber wie damals um -den Tisch; nur Georg fehlte; auch damals war Jason später gekommen. -Irene war still, auch Ägidi. Dora berichtete Renate einiges von den -Kindern, es gehe schon besser, sie seien munter, Jason sei noch bei -ihnen. -- Renate tat eine Frage nach Klemens, und Herzbruch antwortete -unbedenklich, ja, der habe seine eignen Methoden, komme oder komme -nicht, vielleicht sei er erst bei seiner Schwester, er komme aus Irland. --- Renate erinnerte sich der kleinen Virgo, die jetzt ein Kind erwarten -sollte ... - -Nun sagte niemand mehr etwas, die Schüsseln gingen umher, dann öffnete -sich die Tür, Herzbruch sah auf und sagte: »Da ist der Kalender.« - -Jason kam herein, gab Allen leise kopfschüttelnd die Hand, setzte sich -und fing an zu essen. Nach einer Weile blickte Herzbruch auf. - -»Also, Kalender,« sagte er, »können Sie nicht etwas anregend wirken? -Stellen Sie doch einmal einen Satz auf.« - -Jason erwiderte höflich: »Gewiß, gern. Indem ich den Anblick zweier -essender Ehepaare genieße, muß ich den Satz aufstellen ...« - -»Zweie?« Herzbruch ließ den Mund still stehn und sah ihn mißtrauisch von -der Seite durch die Brille an. »Sie haben ja 'n Vogel!« - -»Das sagen Sie so,« erwiderte Jason, derweil Renate den Blick auf Dora -vermeiden mußte, »aber mein Satz beruht eben darauf. Ich gedachte -nämlich zu behaupten, daß man zwischen hundert Ehepaaren beliebig viel -Vertauschungen vornehmen kann, und kein einziger der Betroffenen vermag -es zu bemerken.« - -Ägidi fragte: »Sag mal, -- bist du immer so?« - -Nicht immer. Er sei verschieden, meinte Jason. - -Früher sei er weniger nervös gewesen, bemerkte Ägidi. - -Oh, er sei nicht nervös. Ägidi meine das Kopfschütteln. Das sei -pathologisch. - -Irene erklärte, er habe damals den Schiffsuntergang mitgemacht, blieb -aber stecken und rief heftig tränenden Auges: »Wir haben Alle Esther -schon vergessen!« so daß Renate erschrak. - -»Die Zeit vergeht,« sagte Jason ruhig, »die Zeit ist sehr gut. Es giebt -nicht annähernd so Gutes. Sie wird mir auch mein Kopfschütteln wieder -nehmen. Ja, das Schiff war sehr groß und ging doch unter. Andre wurden -wahnsinnig, ich habe das Kopfschütteln.« - -Die Stille saß unheimlich und sich blähend vor Klemens' leerem Teller. -Renate war weit fort, sah Esther in ihrem Garten, in Josefs Zimmer, -immer blaß, gern lächelnd, arbeitsam, still. Sie hörte Jason durch -Schleier sprechen, dann Irene, die zu erzählen schien, wie sie ihren -Mann bekommen hatte. Herzbruchs Stimme ertönte schwer und gewichtig -dazwischen, nun sah sie wieder den Herzog im Schloßhof stehn, barhaupt, -mit einem Heiligenschein, und -- -- sieh, da war ihr Lächeln wieder da! -Renate stand auf, da die Andern aufstanden, Dora ging gleich darauf aus -dem Zimmer, das Mädchen deckte den Tisch ab, Renate fing an, auf und ab -zu wandern, nahm ihre Muffe vom Sofa und wärmte sich. Jason hatte sich -vor Irenes Vitrine gesetzt, öffnete sie, nahm dies und jenes hervor und -betrachtete es; Renate blieb hinter ihm stehn und sah zu, ohne etwas zu -sehn. Noch eben war Wageninneres, und der Herzog und hundert bewegte -Gestalten, auftretend und schwindend, -- dann nur Stille der -Winternacht, ihre Schritte, und im Dunkel, am Gartenzaun, der dunkle, -wartende, einsame Mensch ... Wie war doch alles wirr! Nun Dora Vehm, und -jemand ward erwartet, Ägidi kam und ging, Alle trugen etwas, und jeder -sagte: Nichts ... ich trage nichts ... - -Renate schreckte auf, da sie sich auf dem Sofa fand; mitten im Zimmer -stand Irene, wieder in ihrem weißen Tuch, und sagte: »Aber Jason, was -machst du denn da?« - -Renate folgte ihrem Blick, sah links in ihrer Nähe das Ende des Flügels, -sah ihn schräg ins Zimmer ragen, aus der Ecke, wo unter der hohen Figur -des delphischen Wagenlenkers, die tief im Schatten stand, Jason saß, die -Lider gesenkt, die Arme hin und her bewegend, als ob er spiele, aber er -brachte keinen Ton her. Renate sah ihn schweigend an, nichts erfolgte, -Jason bewegte hin und wieder das Gesicht, als folge er seinen Händen in -Baß und Diskant, dann hoben sich langsam seine Lider, Renate fand seine -Augen leise glänzend auf sich gerichtet, er sagte -- und im selben -Augenblick hörte Renate deutlich -- und doch gab es keinen Laut im -Zimmer als Jasons Stimme -- die Töne, die langsam sich hinzählenden, -unendlich beruhigenden Sechszehntel des ersten Präludiums aus dem -Wohltemperierten Klavier, und Jasons Stimme sagte darüber: »Ich weiß, -was du denkst.« - -Und nach einer Weile, während die Sextolen ruhig weiter perlten: - -»Das Leben ist nicht wie in Schriften und Büchern der großen und kleinen -Autoren. Es ist wie auf Triften dort klar und erkoren, wie Springen der -Lämmer, wie Singen von fern, wie des Hirten Schalmei, nicht im Dämmer -der Unzahl verloren. Es löst sich ein Schicksal wie Duft aus den Poren -der Blumen, du atmest und riechst es dabei, und da glüht es und scheint -dir, und Lippe, die redet, und Lippe, die weint, ist dir alles vertraut -und benennbar und gar nicht unsäglich, auch jenes, das dumpf und -ergraut, -- denn es waltet nur eines zur Zeit, und das Leid und das -Licht, und die Nacht des Geweines, der Tag voll Verzicht und die Treue -des Steines, sie wechseln und ruhn, sie verwechseln sich nicht, und hat -jedes sein Wort und Gesicht und besonderes Tun, und du siehst es sich -klären. -- -- Du aber gehst mit gebundenen Händen und kannst dich nicht -wehren, du wanderst und stehst, und bist niemals allein, und hast keine -Erfahrung. Wie Farben im Staube der Wasser sich bilden, ohne Gewicht, -ohne Odem und irdische Nahrung, so siehst du die wilden, die niemals -erkannten, verwandten Geschicke sich wölben am Weg, und wanderst vorüber -mit gänzlich verzaubertem Blicke, dir selber in Farben und Lichtern wie -seltsame Städte mit vielen Gebäuden und Angesichtern unkenntlich -erscheinend; und nichts ist bestimmt, und wo etwas beginnt erst, da -scheint dir ein Ende, und wo es verschwimmt, scheint dir alles -versteint, und lautere Rufe und bunteres Leuchten verschlingen dein -Eigentum, -- dunkel die Stufe, so dunkel das Zimmer und dunkel dein Auge -ins Dunkel hinein, und nur von deinem Blut der rote Schimmer, wenn die -Stunde kam, die eine, deine Stunde, -- und du bist allein.« - -Es tropfte heiß auf Renates Hand. Sie bat Jason mit einem Blick, ihre -Augen loszulassen, und gleich senkte er die Lider über die seinen. -Seltsam groß und schön, aber wie in weiter Ferne, schwebte der -mattleuchtende violette Umhang der Lampe über dem Eßtisch; davor stand -Irene unter ihrem Tuch, Renate den Rücken wendend. Mein Gott, sie weinte -ja, -- was war denn zu weinen? Leise klappte der Klavierdeckel, Jason -stand auf, ging zu Irene, legte die rechte Hand auf ihre Schulter, und -hielt seine Hand gegen das Licht, so daß Renate ihren Schattenriß sah, -und sagte: - -»Siehst du wohl, da drinnen sitzt die ganze Musik, Bach, Berlioz und -alles. Manchmal, wenn ich so in der Dämmerung sitze, kann ich die -kleinen Notenfunken herausspritzen sehn, und wenn ich sie bloß auf einer -Tischplatte die Griffe machen lasse, höre ich die herrlichste Musik. -Kein Mensch weiß, wieviel zu hören wäre, wenn es nur einmal ordentlich -still sein dürfte. Aber ihr habt euch ja nun einmal das Lärmen -angewöhnt. Wie ist es, Renate,« fragte er, sich umwendend, »ich kann -Reinhold wohl sagen, daß er noch etwas warten soll?« sprachs, nickte -winkend und ging hinaus. - -Vor Renates Augen senkten sich Schleier um Schleier; immer ferner -schwebte das sanfte Licht, das nun Jasons Stimme seltsam verschwistert -war. Auch Irene war nicht mehr da, es war nichts mehr, die Zeit war -hinausgegangen, nur noch die Stille webte im Raum, fast konnte sie die -Fäden sausen und Maschen fallen hören, und langsam schwebte der -schattiggrüne delphische Lenker herab; starr, wie die Kannelüren einer -Säule flossen die Falten seines Rockes zu Boden, er hielt die Zügel ganz -leicht, matt glänzte das Gold seiner Stirnbinde, ruhig blickte das Auge -gradaus, der volle, wie zum Pfeifen gespitzte Mund blieb stumm, und -unsichtbar in den Zügelriemen bäumten sich die Geschicke. - -Es war wieder heller; eine Stimme, Irenes Stimme sagte von drüben, vom -Kamin her, -- ihr Tuch schimmerte dort: - -»Dieser Mensch geht nun ein und aus bei dir und mir und trägt das -Jenseits in der Hand wie einen kleinen Vogel. Kannst du denn noch -wissen, wenn du ihn recht ansiehst, was Gut und Böse ist? Ist er denn -gestorben? Und nimmt er an uns und allem nur Anteil, weil er noch mit -unsrer Gestalt bekleidet ist und nicht ganz zur Ruhe kommen kann? - -»Ich glaube, er hat, noch eh wir ihn kannten, so viel menschlichen -Jammer mitgelitten, daß er sich hat dran gewöhnen müssen, und das -Schrecklichste ist ihm nun das Einfache; wie gutartig und leicht müssen -da wir ihm --« - -Sie brach ab. Tief und deutlich fragte Herzbruchs Stimme durch den -Vorhang aus dem Nebenzimmer: »Bitte, wie spät ists?« - -Irene antwortete nach einer Weile: »Dreiviertel zehn«, und im Augenblick -danach schlug die schwere Pranke der Standuhrglocke in Herzbruchs Zimmer -dreimal summend auf. Als sei nun alles wieder in Bewegung -- so schien -es Renate --, fiel neben ihr Irenens weiß und gelber Angorakater von der -Fensterlehne auf das Sofa, duckte sich, kroch dann auf ihren Schoß. -Lazarus hieß er, weil er so gern in Schößen saß. Da trat auch Jason -wieder ein. Renate hatte das Gefühl, gehen zu müssen, aber nun hatte -Jason ja gerade dem Chauffeur aufgetragen, zu warten. Einige Minuten -lang sprach niemand ein Wort im Zimmer; nebenan wurde ein Stuhlrücken -hörbar, Herzbruchs Schritte machten den Boden leise beben, er setzte -sich wieder. Jason sagte: - -»Ich hab vergessen: Ägidi läßt sich entschuldigen, er ist fort. Dafür -kommt ja nun Klemens.« - -»Heut abend noch?« fragte Irene. »Das ist ja Unsinn!« - -Jason erwiderte nichts. Renate dachte an das, was er eben vom Klavier -aus gesprochen hatte, konnte sich aber nur auf den Anfang besinnen: Das -Leben ist nicht wie in Büchern und Schriften der großen ... Nun schien -es noch stiller zu werden. Jason saß am Eßtisch, ganz grade, die -Unterarme auf der Decke. Einmal griff er nach dem Umhang, hob ihn und -blickte, die Augen halb schließend, nach den Glühbirnen; ein Lichtstreif -fiel dabei ins Zimmer. Ganz hell schrillte die Hausglocke. Renate zuckte -zusammen, Irene richtete sich im Sessel auf und saß still und grade. -Wieder gingen Minuten, Schritte wurden auf der Treppe, auf dem Flur -hörbar, das Mädchen trat ein und meldete: Ein Herr wünsche Herrn Doktor -zu sprechen. Irene stand auf, murmelte etwas Unverständliches, rief: -»Otto!« kaum laut genug, daß er es hören konnte. - -Das Mädchen wich zurück, wieder kamen Schritte, in der offenen Tür -erschien eine untersetzte kräftige Gestalt in dunklem Anzug, den -Rockkragen hochgeschlagen, und Renate erkannte Klemens' schwarze -Bartfräse, die dicken Brauen und die schwere Nase. Er verbeugte sich mit -dem Rücken statt mit dem Nacken und sagte: »Guten Abend.« - -Jason stand auf und gab ihm die Hand, Irene lief plötzlich zur -Vorhangtür und rief hindurch: »Otto! kannst du denn nicht hören?« - -Der erschien gleich darauf in der Tür, blieb stehn, sah, wie er pflegte, -durch die obere Hälfte der Brillengläser umher, sah Klemens und war mit -zwei gewaltigen Schritten bei ihm, schüttelte ihm die Hand und sagte -weiter nichts als: »Na, da bist du ja!« Klemens lächelte nur. - -»Hier ist meine Frau, du kennst sie ja noch,« sagte Herzbruch, »und das -ist Fräulein von Montfort.« - -Nun ging er zu Irene und gab ihr die Hand, ebenso Renate. - -»Jetzt essen!« meinte Herzbruch, »Irene, er will essen.« - -Klemens dankte, er habe ... - -»Keine Widerworte,« sagte Herzbruch, »du --« - -»Nein, wenn ich doch sage,« versicherte Klemens, »ich hab anderthalb -Pfund Bananen ge--« - -Bananen? Ob das Essen wäre! »Nichts da«, sagte Herzbruch, Klemens aber -beharrte: »Na, Höllenelement, ich will aber nichts fressen!« - -»Oh la la --« sagte Irene wie zu einem Kutschpferd, »schreit er immer -so, Otto?« - -Herzbruch drehte sich halb nach ihr um, sagte dann: »Ja.« Darauf zu -Klemens: »Sag mal, hast du eigentlich keinen Mantel? Hör mal, du bist ja -klatschnaß! es schneit wohl wieder?« - -Klemens lachte und erklärte, seinen Mantel hätten sie ihm unterwegs -weggenommen. »Da war so ein Knabe, weißt du,« sagte er, »kam aus Kiew, -war ausgewiesen, wollte nach England und ließ sich so von einer -jüdischen Gemeinde zur andern bugsieren, war aber leider das Frieren -nicht gewohnt wie ich.« - -Irene, die den Männern den Rücken zudrehte, sagte halblaut zu Renate, -die vor ihr stand: »Der ganze heilige Martin auf Ottos Kosten«, und -drehte sich weg. Herzbruch zog seinen Freund in einen der Sessel am -Kamin und setzte sich zu ihm. »Ja, nun also schlafen,« riet er, »Irene ---« - -Das würde kaum gehn, sagte sie obenhin, Jason bliebe doch natürlich hier -bei dem Wetter, wie immer, und im andern Zimmer hinge Doras Kinderwäsche -zum Trocknen. Herzbruch sagte, dann würde die eben abgenommen. - -Das Mädchen sei schon schlafen gegangen, es wäre zehn Uhr. - -Klemens lehnte sich derweil hintenüber und wollte sich lautlos -ausschütten vor Lachen, als ginge der Streit gar nicht ihn an. Herzbruch -schwieg eine Weile, sah seine Frau mißtrauisch an, bemerkte dann kurz: -»Also sorge bitte für eine Decke für mich, er schläft in meinem Bett. -Bring auch was zum Trinken mit.« - -»Wein oder Bier?« sagte Irene. - -»Danke, keins von beiden, ich --« - -»Denn nicht«, sagte Irene und ging hinaus. Klemens sprang auf, lief zur -Tür, machte sie auf und rief: »Ich trinke nur Wasser, Rebekka, klares, -biblisches Brunnenwasser!« und lachte. - -Herzbruch, wider Willen mitlachend, sagte: »Sie heißt nicht Rebekka«, -worauf Klemens meinte, sie schiene ihn jedenfalls für ein Dromedar zu -halten. Dabei sah er den Wagenlenker in der Ecke, ging daraufzu, faßte -ihn ins Auge und sagte: »Ah! -- Das ist schön! Wer ist das?« - -Jason, in der Vorhangtür neben ihm, erklärte, es sei der sogenannte -delphische Wagenlenker. Klemens ließ ihn nicht ausreden und beklagte den -fehlenden Arm. Aber man könnte doch sehn, wie die Zügelriemen aus den -Händen flössen! Und dieser achtsame, unbeeinflußbare Blick, dieser -pfeifende Mund! Über das Klavier gebeugt, spähte er nach den Füßen und -pfiff durch die Zähne. - -»Wetter noch mal,« sagte er, »wie die Füße dastehn! aufgesetzt, -festgesaugt, und der Faltenfall des Rocks, dieser Reichtum, wie das -niedergießt! Er hat ja Lorbeern im Gehirn. Ja, der weiß, was es heißt, -dastehn im Tumult der Begeisterten, im Toben, im Gelächter, das sich -überschlägt, und tausend winkende Hände, Kopftücher, Zweige, Tumult ... -In Marseille,« sagte er zu Herzbruch hinüber, »weißt du noch? Jean -Jaurès, der hatte sie so an den Händen, mehr als zwei glatte Gäule, -zehntausend, zehntausend Köpfe, zehntausend Herzen, aus seinem Herzen -gelenkt, daß sie schreien mußten, atemlos und lachend vor Erschöpftheit -...« - -Renate hatte schon vor einer Weile Dora Vehm in der Tür erscheinen sehn -und hörte nun ihre helle Stimme -- wie heiß und schwarz doch ihre Augen -waren und das ganze dunkle Gesicht leuchtend durch und durch von Leben -und Seele! --: »Aber Klemens, das können Sie doch auch! Wissen Sie nicht -mehr: Jena ...?« - -Klemens drehte sich um, streckte die Hand nach ihr aus und freute sich: -»Dora Vehm,« sagte er, »alter Kamrad, was macht denn die Küche?« - -Jason trat leise neben ihn, klopfte ihn auf die Schulter und sagte: -»Sie! Ich bin auch ein Redner. Ich könnte auch eine Rede halten, aber -Irene hat heut abend keinen Sinn mehr dafür.« - -Irene stand mit einem Glas Wasser auf einem Teller, das sie -augenscheinlich Jason an den Kopf werfen wollte. Der fuhr indessen fort: - -»Sehen Sie, da hat der Delphier nun jahrelang in seinem Winkel -gestanden, kein Mensch weiß wozu, und nun kommen endlich Sie und -benutzen ihn, um Ihre schöne Seele zu offenbaren. Sehen Sie nicht auch, -Dora, daß es kein Wagenlenker, sondern ein Redner ist? Wenn Naumann den -Rock anhätte --« - -»Gut, Herr Adreßbuch,« sagte Klemens, »Sie haben es vortrefflich -ausgedrückt.« - -Jason schien darauf gekränkt und meinte, er drücke alles vortrefflich -aus, und ob das vielleicht jemand für ein Vergnügen halte, worauf er -sich abwandte. - -Irene stand steif wie aus Gips mit ihrem Teller. Eben noch versunken in -Jasons >schöne Seele<, dachte Renate, und nun ist sie zur Spinne -geworden. -- Da sah Klemens das Glas, ging hin, ergriff, tranks aus, -setzte es wieder auf den Teller und bedankte sich. - -Renate war froh, daß Herzbruch ihn nun mit sich in sein Arbeitszimmer -zog; sie saß auf dem Sofa, ungeduldig fortzukommen. Klemens gefiel ihr, -aber wie laut war es auf einmal geworden! All die hellen und dunklen -Stimmen, Irenes, Herzbruchs, Doras, Klemens', dröhnten durcheinander; -sie sehnte sich wieder nach dem Schweigen ihres Zimmers, ja fast nach -dem Schweigen des ganzen Hauses. Da flog auf einmal Irenes Teller neben -ihr aufs Sofa, sie gewahrte nachträglich die schlenkernde Handbewegung, -mit der Irene, jetzt mitten im Zimmer stehend, den Teller geworfen -hatte. Jetzt raffte sie mit zwei flügelhaften Bewegungen der Ellbogen -ihr Tuch, das über den Rücken herabgesunken war, wieder um die -Schultern, warf den Kopf nach hinten gegen das Nebenzimmer zurück und -sagte nachdrücklich: »Pfui Deubel!« - -Dora trat neben sie und mahnte: »Na, na, Kind!« - -»Mich friert«, sagte Irene tief und hart. »Ich glaube, vor dem fürcht -ich mich. Man kann seine Augen nicht sehn. Hat er Augen, Dora? Renate! -Dann müssen sie durchsichtig sein, und nichts ist dahinter.« - -»Richtig! Sehr gut!« lobte Jason. »Er hat Seefahreraugen. Auf allen -Seiten das Meer.« - -»Und sein Mund,« fuhr Dora fort, »daß du's weißt, ist wie der des -Delphiers.« - -»Auch das noch«, murrte Irene. »Wenn er auch sein Kinn hätte, wär mir -der Delphier ganz verekelt.« - -Renate stand auf; sie hatte genug. Auch Doras Gesicht schien ihr jetzt -verfallen und welk. Sie ginge mit ihr hinunter, sagte sie zu Renate; zu -Irene dann: »Laß uns schlafen gehn, Kind, der Tag war voll genug. Laß -uns schlafen und geduldig sein.« - -Sie umarmten sich, gingen zum Vorhang, winkten hinein und riefen: »Gute -Nacht, ihr Männer!« Irene küßte Renate flüchtig, die mit Dora zur Tür -ging, aber sie waren noch nicht hinaus, als Renate Irene fast ängstlich -rufen hörte: »Dora! -- -- Dora! was wird aus uns werden?« - -Dora wandte sich nach ihr um. Mit tieferer Stimme sagte sie ruhig: »Was -fragst du mich? Ich will standhalten. Das andre findet sich. Sei nicht -töricht, Irene! Und mach dir keine Sorge um mich. Ich habe meine Kinder. -Solange ich die habe --« - -Sie verstummte, strich hastig mit der Hand übers Gesicht, lächelte -Renate fremd zu und führte sie hinaus. - -Auf den Treppen und dem Weg zum Automobil sprach weder Renate noch Dora -ein Wort, -- aber als sie öffnete, saß bereits Jason darin, pfiffig im -Dunkeln. Sie fuhren, ohne Licht gemacht zu haben. Bald überfiel Renate -von neuem die Unrast, sie kam nicht schnell genug vorwärts und in ihr -Zimmer, und sie preßte unter der Pelzdecke die Finger ineinander, bis -sie Jasons Hand fühlte, die er auf die ihren legte, die sich nun -leichter zusammenschlossen. Und es dauerte keine Minute, so ward sie -ruhig und ruhiger, ihr war, als ob ihr ganzes Wesen schmelze ins -Allgemeine und Sanfte, und da zogen langsam von links nach rechts die -Gesichter des Tages vorüber, das des Herzogs, Doras, Ägidis, Irenes und -ihres Mannes, und das von Klemens, und nicht nur diese, sondern auch die -nicht gesehenen Georgs, der fremden Sigune und ihres Lehrers, zwar diese -kaum sichtbar, aber sie wußte, daß sie es waren, und das Schwinden eines -jeden fügte eine neue Erleichterung zu der alten. Wie leicht rollte der -Wagen durch die Nacht! Sie freute sich auf ihr Zimmer, dachte, daß von -allen verworrenen und unkenntlichen Schicksalen keines zu ihm Zutritt -habe als das ihre, ja vielleicht nicht einmal das, und überdem fielen -Jasons Worte ihr wieder tropfend ins Herz: Das Leben ist nicht wie in -Schriften und Büchern ... Sie suchte den Weitergang, aber die rechten -Worte fand sie nicht, glaubte jedoch nun erst zu verstehn, was sie erst -nur als Musik und Wohltat empfunden hatte. Vielleicht, dachte sie, ist -wirklich das viele und frühe Lesen schuld an so mancher Wirrnis, mancher -Ungeduld, und wieder hörte sie's tönen: Das Leben ist nicht ... - -»Wie hieß es doch,« fragte sie leise nach dem unsichtbaren Jason -hinüber: »Das Leben ist nicht wie in Büchern und Schriften, denn dort -... Ich verstehe es nicht mehr ...« - -»Dort,« hörte sie seine Stimme gedämpft, »dort scheint es dir, als -sähest und hörtest du alles zum ersten Mal, was geschieht, was sie -sagen, dieser und diese, jener und jene, was sie denken, was sie tun und -erleben. Dir aber ist alles angefüllt mit der Erinnerung, weißt du es -nicht? Überall tönts dir entgegen: Erinnerung ... Erinnre dich nur! -erinnre, erinnre dich! Und: Erinnerung! denkst du versunken und siehst -von allem nichts, wie es ist, sondern immer in allem nur das, woran es -dich erinnert ...« - -»Und dies auch,« sagte sie fragend, »daß dort immer Gestalt um Gestalt -so sichtlich und klar sich erhebt; und so kenntlich und gesondert in -Farbe und Erscheinung bildet sich aus Schicksal und Anteil ein leichtes -Geflecht, -- ist es nicht so, Jason?« - -»Und eines hat soviel Gewicht wie ein andres,« vollendete er, »alles ist -abgewogen und schwer befunden. Wenn aber ein Mensch erscheint, und nur -einer ist vor ihm da, so glaubst du schon viel zu wissen, und was auch -sich ergiebt und ereignet, es scheint, als hättest du es geahnt.« - -»Am Ende aber,« begann Renate von neuem, »am Ende löst sich alles doch -irgendwie, ob im Guten oder im Bösen; wie ein längst erwarteter Gast so -einfach kommt der häufige Tod, und wenn es denn aus ist, so ist auch -immer alles gänzlich und ein für allemal zu Ende.« - -»Ja,« sagte Jason, »ja, da erwartest du denn auch in deiner eignen Welt -dergleichen und bist erbittert womöglich, gekränkt und schon ungeduldig, -wenn jenes nicht kommt, und dieses ganz andere erscheint, und --« - -»So brüchig, Jason, nicht wahr, ohne Weiche, nüchtern, ohne Absicht, -ohne Übergang, ohne alle Musik, ohne Klang und Gesang --« - -»Da in Büchern«, fuhr er ruhig fort, »doch alles gesungen scheint ...« - -»Ach, aber in Wirklichkeit, Jason, ist nichts unterschieden vom andern, -nichts ist zu ahnen, nichts wird kenntlich, es wirbelt alles und -versitzt sich, Stimmen schallen fern und nah, überschallen, bekriegen -sich fassungslos --« - -»-- und jedes«, bekräftigte er geduldig, »_scheint_, es scheint so oder -so und ist doch anders, ganz anders in Wahrheit, tiefer das Flache, -schwerer das Leichte, unerträglich das Schwere, unendlich das -Unerträgliche, und du siehst: es trägt sich doch. Nichts wird dir -zugewogen, es stürzt über dich herein, Fremdes, Verwandtes, Bittres, -Unbekanntes, Lustiges, Trübes, Buntes, Klagendes, Weinendes, alles ist -dir ein Unsal von Gewalt, und zu jedem kommst du viel zu spät, denn es -ist längst bei dir, wenn du dich aufmachst nach ihm ...« - -»-- und nichts nimmt nirgends ein Ende ...« - -»Aber dennoch, Kind,« sagte er beschließend, »wenn du allein bist mit -deinem Bett, deiner Wand, deiner Lampe, so hat dich auch alles -verlassen, denn da Bild und Erscheinung alle fern sind, woran kannst du -dich erinnern, um dein eigenes Schicksal zu erkennen? -- Du siehst dich -selber kaum, die Nacht steht fremd dabei, und vor dem Fenster rauscht -der alte Baum, und dich umrauschts, und jemand sagt: Verzeih ...« - -Renate erkannte im Dunkel die Laternen und Vorgärten der Güntherstraße. -Jasons Hand löste sich, sie schlang hastig die Arme um seine Schulter -und küßte seine Wange. -- Zu Reinhold sagte sie, er möchte Jason nach -seiner Wohnung fahren. - -Dann schien sie sich aus dem Wagen ohne Übergang in ihr Zimmer geraten, -unsichtbare Hände nahmen ihr die Kleider ab, sanfte Müdigkeit nahm ihr -auch die Glieder, rauschte es in der Nacht? Zweige oder Flügel? In -weiter Ferne zeigte sich ein ernstes Gesicht. -- Ich warte! sagte sie. - -Dann schlief sie ein. - - - Sechstes Kapitel: April - - - Zinna - (Georg an Benno) - - xten April, im Fahren - -Mein guter Benno: - -Fahrt durch Land Beuglenburg. Das Wagenverdeck ist hoch, es hat eben -aufgehört zu regnen, oder vielmehr ist Nebel aus dem Regen geworden. -Links, rechts, vor mir, hinter mir: Moorlandschaft, öde Ebenen, auf -denen die Nebel eines ewigen Februars zu stehn scheinen. Schwarze -Bohrtürme auf dem Horizont machen keinen ermutigenden Eindruck. Ich -rolle dahin, ich flüchte über diese rollende Kugel Erde, auf der wir ein -kleines, flach scheinendes Stück kennen. O Polykrates, o Schiller, o -idealische Gefühle! Ich sage nicht, daß alles käuflich sei, ich bin -milde gelaunt, obschon trostlos, und sage, daß alles gekauft sein will. -Erzählte ich Dir nicht einmal von einem sonderbaren Traum, von einem -Filmfestzug, in den ich nicht hineingelangte? Weiland Josef Montfort -prophezeite: so erginge es mir im Leben. Meine Gedanken, die es an sich -haben, immer merkwürdig leichtfüßig zu bleiben, tragen mich eben in -Hauffs Geschichte des jungen Said. Er mußte in Balsora Teppiche und -Schleier feilbieten, obgleich er das Patenkind einer Fee und im Besitze -ihrer Gabe, einer kleinen Pfeife war, die ihre Hülfe in jeder Mißlage -seines Lebens herbeizaubern würde, -- nicht jedoch --: vor seinem -einundzwanzigsten Lebensjahre. Vielleicht hab ich auch eine Flöte, eine -Fee, einen Ablauftag des Unschicksals, und dies vielleicht, dies -Mädchen, diese Heirat -- ich kehre ins obere Gleichnis zurück -- ist der -letzte, endgültige Preis, mit dem ich mich zum Handelnden in den Film -einkaufe, so daß ich mein eigen Bildnis im Schwarm der Schreitenden, -Triumphierenden irdischen Göttern gleich werde dahinfliegen sehn. -- - -Aus der Ebene, über den Nebel steigt ein schwarzer Kegel, Türme einer -kleinen Stadt werden an seinem Fuße sichtbar, jetzt auch Türme auf dem -Kegel: Schloß Zinna. Dort oben haust das andre Opfer, die arme Braut, -und macht sich von dem Kommenden die sonderbarsten Vorstellungen. -- -Herrgott, ist dies ein Land! Um diesen Morast auszubessern, werde ich -ganz Trassenberg hineinschütten müssen. Hinter der Grenze war mit einem -Schlage alles anders. Dieser Tag ist so trostlos, daß er Einöden und -Paradiese einander ähnlich machen könnte, aber bei Beuglenburg und -Trassenberg brachte ers nicht zustande. Ich kam durch Landstädte, so -langweilig wie Speisekammern, in denen alles aufs Geratewohl irgendwo -hingestellt ist. Die Dörfer armselig, verfallen, schmutzig, an keinem -Fenster mehr eine Blume, die Kinder schmierig, dickschädlig, dünnbeinig, -ekelhaft selbst die keifenden Hunde. Dann die Moorkanäle, schwarze -Lineale, entseelte Gräben; auf den breiteren, über die ich hinjagte, -- -da kommt wieder einer! diesmal läßt sich sogar ein Segel drauf sehn, ein -braunes, welkes Blatt -- diese langen Kähne, die vorwärtsgestakt werden. -Nun, wozu schreib ich das? Schloß Zinna wird sichtbar, es scheint ein -getünchtes Kloster, lange Fronten mit unzählbaren, kleinen Fenstern, -stumpfe, runde und eckige Türme. Meine Hupe wird ihnen wie ein -Gjallarhorn dröhnen, wenn ich in die eremitischen Höfe fahre. - -Guter Benno, Du bist einer der wenigen, die meine Geschichte von Anfang -kennen, ich glaube sogar der Einzige, der sie überhaupt kennt. Erinnerst -Du Dich noch der ersten Stunde im Schlößchen, wo ich von Napoleon -erzählte? Ob ich gegen Sterne kämpfe oder mit ihnen, -- wer weiß es? Ich -bin den Weg weitergegangen, der -- hoppla, das war ein Sprung auf die -Brücke! Dies muß der Styx gewesen sein, so sah er aus, trotz eines -Motorbootes, das an der Brücke lag. Vor mir liegt ein Stadttor, ganz -mittelalterlich. Später weiter. - - Nachts - -Ich fahre einfach fort: - -Durch schaurige Straßen von Kopfsteinen, über einen ganz netten -Marktplatz mit Kugellinden, wieder zur Stadt hinaus, durch eine alte -Allee zerfallender Kastanien -- braune Vorjahrsblätter an schwarzen -Ästen und auf dem schwarzen Boden -- brauchte der Wagen auf endlosen -Schlangenwegen fast eine Stunde hinauf; oben zeigte sich wenigstens -schöner Fichten- und Birkenbestand, aber die Hecken im französischen -Park -- durch die Gittertore sah ich hinein -- schienen seit hundert -Jahren nicht beschnitten, die Einfassungen der Teiche zerfielen an der -Luft, die Sandsteinfiguren fehlten auf den Postamenten -- wie enthauptet -standen sie da --, die Becken lagen voll modernden Laubes. Dann der -Schloßhof, himmelhohe Mauern im Rhombus mit violetten blassen Fenstern, -die drei Fische im Wappen überm Tor nicht mehr zu erkennen, im -Jahrhundertregen, der hier fällt, davongeschwommen, die Helmzier mit -Taubendreck besudelt, -- ja, es gab Tauben; da sie liefen und nicht -sprangen, können es keine Dohlen gewesen sein. Drinnen stand Eiseskälte, -standen erfrorene Menschen mit einem steifen Spruchband vorm Mund, -- -eine Kälte übrigens, die in meinem Blut die letzte Wärme prickeln ließ, -so daß ich mich vermutlich mit jovialer Munterkeit benommen habe ... - -Ich sitze nun an einem von diesen hundert Fenstern im längsten Bau; es -ist Nacht, aber der Mond ist da, eine kümmerliche Sichel, die sich -schwermütig durch unablässig flutendes Gewölk dahinwühlt, und wenn ich -mich hinausbeuge, kann ich diese hundert Fenster leise blitzen sehn, -flach auf die Mauer geklebt, als wäre nichts dahinter. Die Nacht ist -kühl, aber ich glühe, von Wein, Rührung und Mißmut, habe so viel -geschwiegen, daß ich mich nun sehr geschwätzig fühle, die drei Kerzen im -silbernen Leuchter schneuze und von der Schreibeschrift in die -Stenographie übergehe -- ach, Benno, wann war das, als wir Primaner, -Sekundaner waren und unsre Ferienbriefe stenographierten, teils wegen -Lernens, teils wegen überschwänglich viel zu sagender Dinge! Kannst Du -denn immer noch lesen, guter Benno? Also lies: - -Bei den erfrornen Menschen blieb ich stehn -- vielmehr wurde ich von -ihrer einem, seines Zeichens persönlicher Adjutant, zur Disposition -gestellter Jägermajor, über Treppen und Galerien in ein stockdustres -Gemach geführt, in dem jemand zu sitzen schien. Nach einer Weile -erkannte ich einen Kopf, der einem riesigen, gekochten weißen -Fischaugapfel glich (wir polkten sie als Kinder aus den Augen der -Schellfische!). Ich hörte ein Gemurmel, murmelte ebenfalls, der Adjutant -murmelte, noch ein Mensch -- der Hofkammerrat -- murmelte, wir -verbeugten uns Alle, ich stand wieder draußen. Das war der Großherzog, -königliche Hoheit. - -Ich folgte von neuem beiden Erfrorenen und kam in einen Saal; große -dunkle Gemälde an den Wänden, ein Tisch und fünf Sessel, drei um den -Tisch konstelliert, zwei an den Türen. Durch deren eine erschienen zwei -so völlig schwarze Gestalten, wie ich sie nicht für möglich gehalten -hätte, eine große, hagre, alte mit einem schauderhaft törichten Gesicht; -die kleinere, andre, zitterte am ganzen Leib, war todblaß, hatte jedoch -wider meine Erinnrung nicht gar so blasse, ein wenig vorquellende Augen; -der Mund war nur angedeutet, ein blasser Streif, die Nase anmutig, ja, -das Ganze -- im Augenblick nichts als Angst -- war nicht ohne -Lieblichkeit, nur entstellt durch Magerkeit und unglaublich sitzende -Kleidung. Dazu war das ganz hellblonde Haar so ungünstig angeordnet, daß -die breite Stirn mit zwei leichten Buckeln wie ein Felsen aussah. Dies -war Sigune, und drei Minuten war ich mit ihr allein. - -Lieber Freund Benno, Du kannst mir glauben, ich dachte nicht daran, daß -dies meine Frau werden sollte. Ihre Hülflosigkeit war unsäglich rührend, -ihre bebenden Hände wollten sich in den schwarzen Kleidfalten -verstecken, -- nie im Leben bin ich mir so robust vorgekommen. Ja, was -machte ich mit ihr? Ich holte die Hände beide hervor, nahm sie in die -Linke, klopfte mit der Rechten väterlich darauf und sprach ihr zu, so -gut ich konnte: Aber man muß doch nicht bange sein! Aber man muß sich -doch nicht vor mir fürchten ... und dergleichen mehr, und da -- ach, -dies Geschöpf! -- nachdem seine erst flehenden Augen sich gleichsam -aufseufzend an den meinen beruhigt hatten, machte sie eine Hand aus der -meinen los, legte sie um meine Hand und küßte sie ganz schnell. So -demütig war sie -- lieber Gott! Sie sagte nichts, ihr Haar duftete ganz -leise. Ich brauchte wohl eine Weile, um mich zu sammeln, fragte dann -- -und ahnte nicht, wie gut ich fragte --: »Ruft man dich denn noch Gunny -wie vor acht Jahren?« »Das wissen Sie noch?« fragte sie hastig, errötete -leidenschaftlich, brach dann aber in einen gequälten Husten aus. Ich -mußte zurücktreten, Hofdame, Kammerherr und Adjutant erschienen, gleich -hinter ihnen der Majordomus mit umflortem Stabe, der auf französisch -verkündete, daß angerichtet sei. Es waren noch einige stumme Personen -bei Tisch. Ich trank Sigune zweimal zu, was wahrscheinlich ein -Etikettefehler, sicher aber ein schönes Mittel war, sie zum Erröten und -Lächeln zu bringen. Am Nachmittag gab es bei verbesserter Witterung -einen Spaziergang, bei dem ich Sigune mit sanfter Gewalt nötigte, -englisch mit mir zu sprechen, nachdem ich herausbekam, daß die Hofdame -es nicht verstand. Ich warf ein paar Angeln nach ihrer Bildung aus. -Schiller, Uhland, Körner, Rückert, Geibel, Freytags Ahnen und -- -Hölderlin. Bei diesem Namen ging sie auf eine wunderbare Weise leicht in -Flammen auf -- wie eine weiße Papierrose. Ob sie den auch im Unterricht -kennen gelernt habe? -- Nicht im Unterricht selbst, aber doch von ihrem -Lehrer. Wer denn das sei? -- Sie zögerte eine Weile, versuchte einen -Blick zurück nach der hinter uns verbliebenen Hofdame, errötete und -sagte ganz leise, und als spräche sie das kostbarste Geheimnis aus, das -Wort: Tröstherzeleid. -- Oh, Benno, wenn Du es gehört hättest! ich -glaube, Du hättest geweint. Ja, und nun -- -- ich erschrak im Herzen, -und als ich fragte, wer denn das sei, was kam heraus? Der Hofkammerrat -war es, eben jener Graf Leunstein von Badenbach, Exzellenz, der als -erster dieser Beuglenburgschen Zunft vor mir in Erscheinung trat. Der -Name, mit dem sie ihn nannte, erzählt wohl genug. Ich fragte auch nicht -mehr. Es stellte sich noch heraus, daß sie mir in Philosophie weit -überlegen ist, Kant und Leibniz, Spinoza und Stirner, Platons Staat und -Ciceros philosophische Schriften im Urtext gelesen hatte -- armer Kopf, -armer Kopf! Dies Mädchen kennt nur zwei Menschen: ihre Hofdame und ihren -Lehrer, -- und dann war noch eine armselige Erinnerung an eine -liebevolle junge Engländerin, die Gunny gerufen hatte und früh an der -Schwindsucht gestorben war. Wie schlecht der kleine Trauerhut mit den -Kreppschleifen saß! Und diese Jacke, und dieser Rock und diese Schuh! -Alles vom Bazar in Stadt Zinna. Aber die Füße waren schmal und traten -zierlich auf. - -Die Kerzen weinen Ströme von Tränen -- Benno, sollt ich nicht weinen? -Ich stand am Fenster, beugte mich in die Nacht, suchte den Mond, er war -fort, nur noch eine rinnende Quelle von feuchtem Glanz in der Nacht, -über die es sich faltig verschob; in der Tiefe -- Nachttiefe allein, -unsichtbares Land, aus dem es dampfte, kalt und feucht, ein rotes -Bahnlicht fern, mir zu Füßen nur schwarze Leere, denn hier ist die -Rückseite des Bergs, Felsen fallen steil ab. Ein Gefühl, als könnte -- -denk nicht, ich meinte es komisch, obwohl es so klingen mag -- als -könnte die kleine Sigune jetzt an einem offenen Fenster sitzen und -Okarina blasen. Ich habe sie Augenblicke lang deutlich gehört, simple, -klagende Noten, wie Fischmunde winzig im willkürlichen Strome der Nacht -hinschwimmend, -- und da sitze ich, male langsam die sonderbaren -Schnörkel auf das Papier, und meine eignen Gedanken scheinen mir wie die -Siegel einer Geheimschrift, die zu schnell vorübergleitet, als daß ich -sie lesen könnte. Hinter den Wolken sind die Sterne, steht, wie -allnächtlich, ihre feierlich glühende Schrift, die großen Siegel -leuchten, wir dürfen sie berühren mit der Stirn, wir erbrechen sie -nicht, sie schweigen uns an. - -Und so will ich nicht weiter denken und das Kommende nur erwägen, wenn -es sich stellt. - -Ein letzter Funke im Gehirn glüht auf, und ich schreibe, schreibe in -offener Schrift: Wenn ich denn lüge, eine Abkunft heuchelnd, die nicht -besteht, so ist dies doch ein Opfer. Ein sinnloses -- wohl! denn hier -zwingen die Alten und Kranken, die Furchtsamen und Beharrenden, sie -zwingen die Jungen und in Ängstlichkeit Tapferen in ihren Willen. Wer -aber weiß, welchen Sinn all dies hat? Haben diese Kerzen sich -ausgeweint, so wird auch eine offene Sonne wieder scheinen über dies -traurige Land, das ich wieder zu ermuntern gedenke. - -Lebe wohl, Benno! auch ich beabsichtige, wohl zu leben. - - Stets treulich Dein - Georg. - - - Siebentes Kapitel: Mai - - - Klemens - -Renate hatte mit Saint-Georges in der Kapelle musiziert; während sie die -Noten zusammenlegte, Saint-Georges seine Geige verpackte, meldete das -Mädchen Doktor Klemens; Renate dachte, ihm Bogners Engel zu zeigen, und -bat, ihn herzuführen. -- Saint-Georges putzte bedächtig die Kerzen vor -der Orgel und an seinem Notenpult eine nach der andern, damit es hell -genug sei. Dann erschien Klemens, blickte sich um, noch dicht an der -Tür, verneigte sich, so tief er konnte, und sprach sie an: »Holder -Geist! Welch unschätzbare Gnade für mich, Sie in Ihrem eigensten Reich -begrüßen zu dürfen!« - -»Bitte, reden Sie weiter,« lud Renate ihn munter ein, »Sie sind ja ein -Redner!« - -Klemens fuhr heiter fort: »Was ich sehe, erstaunt mich ungemein, und ich -wähne mich im Traum oder verzaubert. Streitbare Engel sehen mich an oder -schreiten auf mich zu, Musikinstrumente wie himmlische Waffen in den -Händen. Kerzen! Rötliche Dämmrung! Und vor einer auserwählten Schar -Gepanzerter in goldnen Harnischen erscheint mir die himmlische Peri -selber, in dunkelrote Seide gekleidet wie in eine runde Glocke aus -Abendhimmel. Alles ist äußerst erstaunlich!« - -»Bloß von mir«, bemerkte Saint-Georges, »weiß er gar nichts zu sagen und -unterschlägt mich schlechtweg. Guten Abend, Meister, was macht die -Internationale, schläft sie oder wacht sie?« - -Klemens kam nun herbei, reichte Renate und Saint-Georges die Hand, sagte -drohend: »_Noli turbare ...!_« stellte sich vor den nächsten Engel und -versank in Schweigen. - -»Nun hab ich so oft von der berühmten Internationale gehört und gelesen -und sehe zum erstenmal ein lebendiges Stück von ihr«, sagte Renate, aber -er schien es nicht zu hören. Nach einer Weile sagte er, tief Atem -holend: - -»Sechs sind es, wie ich sehe, und schon einer überwältigt. Ja, wer hätte -das gedacht, als es eines Tages im Lyzeum hieß: Bob Bogner kommt nicht -wieder, der ist weggelaufen. Internationale, sagten Sie? Ach,« meinte er -abwehrend, »es giebt so viele, in diesem Augenblick weiß ich wirklich -nicht, welche Sie meinen.« - -Renate verlangte eine Erklärung, allein, in langen Pausen von einem der -Engel zum andern gehend, schwieg er sich nach Kräften aus; beim vierten -sagte er, die letzten zwei müsse er sich auf das nächste Mal versparen, -setzte sich auf einen der Klaviersessel und fing halblaut an zu -sprechen: - -»Die Internationalen ... Eine Vielzahl konzentrischer Kreise, und hier -sehen Sie den äußersten. Die Internationale der großen, rasenden Kunst, -ungeheuren Einmuts auf der Spur des alleinigen Gottes in aller Herren -Länder, wetteifernd seit ewig im geheiligten Kriege, Engelscharen, -Geniescharen, Heroenscharen, friedlich sich bekämpfend zum Ruhme Gottes, -den zu mehren, den jährlich tiefer zu entflammen die einzig fruchtbare -Schlacht seit tausend und tausend Jahren ohne Ende über die Erde -dröhnt.« - -Er stand auf. »Die Internationale der menschlichen Hoheit, deren Namen -ich nicht wage auszusprechen vor ihrem erlauchten Antlitz, das ich -sehe.« Sein Blick stand in so gerader Flamme gegen Renate, daß es sie -mit seltsamem Schauder durchbohrte, und sie errötete noch tiefer, als -schon seine Worte sie erröten machten. Dann nahm er ihr Lächeln auf, -wandte sich zu Saint-Georges und fuhr fort: - -»Damit er sich nicht wieder beklagt, begrüße ich in diesem schlichten -Manne die herrliche Internationale des Geistes, der Wissenschaft, die -Internationale der wundervoll friedlichen Eroberer in allen Räumen -dieser Welt, zu Lande, zu Wasser, im Feuer und im Sturm, im Vogel und im -Fisch und im ruhlos schweifenden Atom, Anfüller der unerschöpflichen -Arsenale, Herolde, Propheten und Poeten, einmütig heiligen Zornes im -unablässigen Grübeln über den Rätseln der unbekannten und der bekannten -Welt, Ärzte, Heilmacher des wunden Geistes, der kranken Seele vom -Weltgift. -- Ich grüße«, sagte er mit einer kreisenden Handbewegung nach -oben, »im unbekannten Erbauer dieses Raumes die nächste Internationale, -vom Präsidenten Plutus regiert, auf deutsch: das Kapital, eine -Internationale von ganz besonderer Einmütigkeit, also daß zum Beispiel, -gesetzt es gäbe Krieg, sämtliche Angehörigen dieser Internationale in -allen beteiligten Ländern wie ein Mann, Agrarier, Schwerindustrie und -Banken, Dampf in allen Kesseln, sich abmühen würden zur Überwältigung -des -- Friedens.« - -Er lachte lautlos. Renate dachte an ihren Onkel, kniff leicht die Augen -zu und hörte ihn weiter reden, nachdem er zu der weißen Säule des Ofens -in der Ecke gegangen war, dem er die Hand auflegte, während er sprach: - -»Und ich begrüße Mittelkreis und Kern aller Internationalen in diesem -Ofen und seiner Glut. Ich grüße die Kohle. Ich grüße den Mann im nassen -Stollen, den Mann im sausenden Förderstuhl, den Mann in der -explodierenden Nacht. Alle Mann grüß ich am bezwungenen Feuer, den Mann -am Amboß, den Mann am Schalter, den Mann am offenen Feuerrachen mitten -im ruhig fahrenden Schiff, mitten im Ozean, den Mann an der -Setzmaschine, den Mann am Gebläse, den Mann am Webstuhl, am Strickstuhl, -am Spinnstuhl, den Mann an der Nähmaschine, den ein und tausend Mann, -der, schmorend als Kohle im feurigen Ofen, das Lied von der einen, -meinen singt: Die Internationale! --« - -Er schwieg. »Das war schön«, sagte Renate langsam. »Vielleicht denken -Sie, ich sollte nun etwas andres sagen, aber« -- sie wandte sich -unschlüssig zu Saint-Georges um und schloß: »-- ich weiß nichts andres -als das. -- Ich weiß,« fuhr sie, da Klemens den Mund öffnete, fort, »daß -viele Tausend Mangel leiden, damit ich --« sie strich mit den Händen -über die Falten ihres Kleidrockes. - -»Nein, um Gottes willen, welche Verwechselung«, sagte Saint-Georges. Er -ließ die Vorderbeine des Stuhles, auf dessen Lehne er im Stehen die Arme -gekreuzt hatte, sich zu Boden senken, drehte ihn um seine Achse und -setzte sich reitend darauf. - -»Niemand, Renate,« sagte er, das Kinn auf die Lehne legend, »niemand -will, daß du nicht bist, weil Andre in Not sind, sondern im Gegenteil -bist du und dein Haus die Erfüllung all ihrer zartesten und tiefsten -Träume und Wünsche, und sie wollen nichts weiter, als daß sie, wenn ein -Haus voller Engel an ihrem Wege steht, hineingehn können, wann der -Wunsch sie dazu treibt, und daß, wenn es Gott gefiel, eine Schale voll -Musik über die Erde auszuleeren, der irdene Topf so geeignet sei, um sie -aufzufangen wie der goldene Becher.« - -»Ich glaube,« sagte Renate unbedenklich widersprechend, »Doktor Klemens -sprach doch von denen, die Not leiden und --« - -»Nein,« sagte Klemens, »ihr Freund hat recht. Ich fragte einmal einen -Bierfahrer in Camberwell, ob er schon die Sterne gesehn habe, und dieser -Bierfahrer sagte, er wollte verdammt sein, wenn ers getan hätte seit -Sarah Pedgewoods Tode, denn er hätte keinen Tropfen Ale gesehn seitdem. -Aber sehn Sie, doch geht dieser Bierfahrer auf nur zwei Gliedmaßen -aufrecht, und daß er es tut, das ist der Beweis, daß er die Sterne sehn -möchte, wenn er nur einen Sinn damit zu verbinden wüßte. Die -Notleidenden? Nein, verehrtes Fräulein, die gehen mich nichts an. Not -wird gelitten zu Lande und zu Wasser, zu Leibe und zu Seele, und wegen -Essens, Trinkens und der Liebe brauchten wir keine Internationale zu -gründen, sondern das bringt die Welt ganz von selber in Ordnung. Sie -leiden nicht Not, sie, die ich meine«, sagte er hart und schlug leicht -mit der Faust gegen den Ofen. - -»Was dann, Georges?« fragte Renate. - -»Ungerechtigkeit leiden sie«, sagte Klemens. »Knechtschaft, das ists, -was sie leiden. Sie leiden, daß sie verbraucht werden in den guten -Jahren, so daß sie darben müssen im Alter. Sie leiden, weil zehn -Menschen in der Welt je tausend Äcker haben, und ihrer zehntausend haben -zusammen einen. Sie leiden nicht, weil jener sich Gemälde kauft und -dieser jeden Tag eine Frau, weil jener die Zigarre mit drei Mark bezahlt -und dieser im Sommer nach Japan reist, sondern sie leiden, sie leiden -unauslöschlichen Gram, weil sie keine Zeit haben, um Gemälde zu sehn und -um an einem Sommertag im Grase zu liegen, denn weiter wollen sie nichts. -Sie wollen und sollen nicht zehn Stunden am Tage arbeiten, auch nicht -neun oder sieben, sondern allerhöchstens sechs, und ich sage, daß es -dazu kommen wird, wenn nicht heute, dann morgen.« - -Renate hatte, da er schwieg, Zeit über seine Worte nachzudenken und -sagte nach einer Weile: »Mein Vetter, Erasmus, den Sie kennen, und Ihr -Freund Herzbruch und Bogner, Ihr Schulkamerad, wie lange glauben Sie -arbeiten die am Tage?« - -Klemens lachte, kam bis dicht zu ihr, schüttelte den Kopf und sagte: -»Der Geist, Verehrungswürdige, hörten Sie nie vom Geist? Nie, daß er es -eben ist, der frei ist allein, und daß ich eben sagte: sie leiden -Knechtschaft, sie wollen freien Geistes sein? Und übrigens: wenn ein -Fabrikant sich durch seine geistige Arbeit zugrunde richtet, so ist das -seine Schuld und geht niemanden etwas an. Sonst hat geistige Arbeit mit -der schwersten körperlichen das Erhaltende gemein. Der Arm des Pflügers, -des Holzfällers, das Auge des Bergsteigers, der Fuß des Matrosen sind -mit siebenzig Jahren noch so scharf und sicher und kräftig wie mit -zwanzig, und das Hirn des Forschers, des Erfinders ist es nicht minder. -Was zermürbt, ist nicht die Anstrengung; was zermürbt, ist allein die -Maschine. Das ist mein Gesetz: Wer eine Maschine bedient, soll dies -sechs Stunden im Tag tun und nicht länger, soll es vierzig Jahre seines -Lebens tun und nicht länger! Nur der Geist ist frei, und sobald ein -Dichter nicht mehr das Recht haben soll, freiwillig zu verhungern oder -wahnsinnig zu werden, und sie Gewerkschaften gründen zum Schutz ihres -Geistes, sobald kann denn das Ganze zum Teufel gehn. Sie sagen -vielleicht, ein Dichter, ein Weiser muß deshalb hungern, weil er zu früh -geboren wurde, weil die Welt noch nicht reif sei für seine Werke, seine -Erfindungen, seine Lehren. Ach, wie sähe es denn aus in der Welt, wenn -jeder käme zur rechten Zeit, wenn alles grade sich einpaßte, wo ein Loch -wäre, auch der Pfropfen, wo ein Geber, auch der Nehmer, das wäre so -langweilig erstens wie Schwarzer Peter spielen, und zweitens möchte man -dann ja wohl anfangen zu verlangen, daß auch Sonnenschein und Regen -gleichzeitig auf den Acker fallen, und doch würde das dem Acker gar -nichts nützen, sondern es ist wohlweise eingerichtet, daß der Nil nur -einmal im Jahre steigt -- wenn auch auf Kosten von einem Jahr unter -zehnen, wo er gar nicht steigt, und einem, wo er zu hoch geht. Glauben -Sie, daß ich die Welt verändern will? Glauben Sie es, Saint-Georges?« -Sie lachten Beide, und Klemens lachte mit. Er war aber sehr erregt und -fing gleich wieder an, hin und her gehend im Raum: - -»Übrigens -- Ihnen kann ichs sagen -- bin ich nicht in dem Ausmaß -international, wie Sie denken, bin ein Deutscher am Ende und sehe, daß -die Not hierzulande nicht im entferntesten die Ausmessungen hat wie in -andern, in England, in Frankreich. Und was heißt denn Not? Es giebt doch -nur Ausbeutung und Arbeitslosigkeit. Arbeitsscheu ist eine Krankheit, -oder Anormalität, was Sie wollen, wie Trunksucht. Ausbeutung und -Arbeitsmangel bleiben bestehn. Arbeitsscheu und Trunksucht gehören mit -Mördern und dergleichen in die Heilhäuser und Arbeitsanstalten; niemand -gehört ins Zuchthaus noch aufs Schafott. All das wird nicht heute -geändert, aber es wird geändert werden, dafür bürge ich. Tun Sie mir die -Liebe und denken einen Augenblick nach. Wann fing das Unheil an? Im -Mittelalter gab es keine Armen; es gab Sieche, alte Weiber, Krüppel und -Soldaten, in denen sich die gesetzmäßig geregelte Arbeitsscheu -verkörperte. Wer arbeiten wollte, hatte immer zu essen. Das Unheil -begann mit der Übervölkerung und mit der Maschine. Wie alt ist die -Maschine? Knapp hundert Jahr. Nun sehen Sie bloß mal an, seit einem -halben Hundert Jahren fing man an, diese Not zu erkennen und zu -studieren, seitdem sich alles mit reißender Zeit doch nur verbösert hat, -und dabei können wir fröhlich und getrost sein, wenn in tausend Jahren -das Blatt sich gewendet hat, dann, wenn man auch im Rächer seiner Ehre, -im Totschläger, im Wüstling so wenig mehr einen Verbrecher sieht wie -heute im Geschlechtskranken, der Frau und Generationen vergiftet, und im -Säufer, der dasselbe tut. Ein Glied faßt ins andre, und keines von den -kranken läßt sich für sich allein heilen, sie müssen alle schon im einen -ihre Gesundung beginnen.« - -Er hörte auf und stand wieder bei seinem Ofen still. Renate, -hocherfreut, ihn reden zu hören, fragte, ihn weiter zu stoßen, was er -aber damit habe sagen wollen, daß er ein Deutscher sei. - -»Ganz einfach,« sagte Klemens, »ganz einfach!« - -»In Frankreich, sehen Sie, wenn ich da eine Rede halten will, muß ich -anfangen: _La gloire!_ -- In Deutschland, wie muß ich da anfangen? Ich -muß mit der Faust aufs Pult haun.« Er lachte: »Ha, ha, ha!« und freute -sich königlich. »Was ich dann sage, ist schon gleich, ich muß erst mit -der Faust aufs Pult haun. Deshalb nun,« sagte er verschmitzt, »deshalb -wäre es nun doch ein Fehler, anzunehmen, daß in Frankreich der Geist -herrsche und in Deutschland nicht. Sondern das Gegenteil ist der Fall. -In keinem Lande der Welt ist noch der schäbigste Bierfahrer so -durchdrungen vom Geist wie in diesem sonderbaren Land. Er hat die -fremdartigsten Formen. Er geht in Potsdamer Grenadierstiefeln sehr -häufig, übertrieben häufig. Aber er waltet, unsichtbar, jedoch er -waltet. Vielleicht nicht die Kultur, aber der Geist ist tiefer -hierzuland als anderswo. Deshalb, sehen Sie, beschränke ich mich auf -dies Land. Wer schaffen will, kann seine Kreise nicht eng genug ziehen. -Mißtrauen Sie meiner Behauptung? Soll ich Ihnen den Geist der -Gewerkschaften nennen, noch einmal nennen? Die Internationale, das ist -ihr Geist. Der Geist der Geistlosen. Der Geist der Geistigarmen. Und -dies ist ihr ganzer, strahlender Reichtum; die Internationale ist ihr -Reichtum. Ausgeschlossen vom Nabob, von den Betten der Reichen, träumt -jeder sich weich im Arme einer Heerschar von Brüdern, sich reich im -Bewußtsein seiner ungeheuren Kraft, im Gefühle, im Glauben, in der -Erwartung der Stunde, wo der Riesenarm aus hunderttausend Armen zum -Schlage ausholt. Die Internationale ist die große Romantische, die -Cherubsarmee, der selbsteigene Trost, die dauernde Zuflucht, das große -Asyl aller Obdachlosen, strahlend und gewaltig wie das Junifirmament -über eine nackte Erde gewölbt.« - -Eine Weile blieb es still im Raum; Klemens stand, die Hand gegen den -Ofen gestützt, den Kopf gesenkt. »Ja,« sagte er aufschreckend, »ich muß -nun aber fort, es wird höchste Zeit, ich muß noch zu meiner Schwester, -heut abend geht mein Zug.« - -Renate wollte eben verwundert fragen, ob er sie denn wirklich nur, um -sich zu verabschieden, besucht habe, als Irene in Pelzjacke und Barett -in der Tür erschien, während Klemens durch die Kapelle zum Podium kam, -wo sie sich vom Stuhl erhoben hatte. - -Irene verwurzelte sich im Eingang mit einem solchen Blick auf Klemens, -daß Renate den Ausruf ihres Namens unterschlug. Klemens schüttelte ihr -kräftig die Hand, indem er umherdeutend sagte: »Sonderbare Reden, die -wir hier gehalten haben.« - -Indem drehte er sich zu Saint-Georges um, sah Irene und fuhr mit den -Schultern zurück. Dann biß er sich auf die Lippen, sagte: »Guten Abend, -Frau Herzbruch!« und gab Saint-Georges die Hand. - -Er ging zur Tür, Irene wich nun zur Seite und neigte den Kopf grüßend. -Er blieb stehn. »Sie wußten vielleicht nicht, daß ich Otto bat, mich bei -meiner Schwester zu treffen?« fragte er. - -»Doch, ich wußte es«, sagte sie. - -»Entschuldigen Sie nur,« rief er leicht, »ich dachte, Sie wären aus -Zartgefühl hergekommen.« Und ging hinaus. - -Irene nahm eine Hand aus dem Muff und schob den Schleier hoch, ohne -etwas zu sagen. - -»Guten Abend, Irene!« rief Renate, während Saint-Georges zu ihr ging. Da -stampfte sie plötzlich mit dem Fuß auf und schrie: »Gott sei Dank! Gott -sei Dank, daß er weg ist! Lange genug hats ja gedauert!« - -Unter der dreieckigen, fest um den Kopf gezogenen Mütze sahen ihre Augen -diamantschwarz unter den Schleierfalten hervor. Sie ging mit harten -Schritten zum nächsten der beiden Flügel, warf ihren Muff darauf, zerrte -den Knoten ihres Schleiers am Hinterkopf auseinander, warf den Schleier -auf den Flügel, riß die Pelzkappe ab und warf sie dazu und fuhr sich mit -den Händen in die festgedrückten Locken, um sie aufzurichten; danach -ließ sie die Arme fallen, machte einen Schritt, stützte die Hände auf -die Hüften und blieb so stehn, mit hängendem Kopf, an der Unterlippe -nagend. Renate sah alles mit an. Irene warf den Kopf zurück, trat -rückwärts an den Flügel, legte eine Hand auf die Platte, trommelte mit -den Fingern, sagte endlich: - -»Ja, Renate, jetzt ists also aus. Nun hats eine Ende mit Schrecken -genommen, das soll nicht schaden. Gott sei Dank, ich habe durchgekämpft -und brauche mir keine Vorwürfe zu machen.« - -Was aus sei, fragte Renate unzufrieden. - -»Na was! das mit Klemens!« Oh, Renate sollte schon wissen, wie sie -gekämpft und sich erniedrigt habe! »Erst sollte es eine Probezeit auf -acht Tage sein, damals --« - -»Was sollte?« fragte Renate kurz, gestört von dem unverständlichen Hin -und Her. - -»Daß er im Hause blieb! Dann ist ein Monat draus geworden, aber hassen -habe ich ihn gelernt, ach gehaßt habe ich ihn vom ersten Augenblick an, -diesen Zerstörer, diesen Schönredner, diesen -- Tanzenden! Herrgott, wie -er mich verwundet hat, wie ich hab frieren müssen! Ich möchte wohl -wissen, wie er gegen dich gewesen ist, eben! Auch so höhnisch und so -metallen? Hat er das wohl gewagt?« - -»Georges hat Hunger,« sagte Renate, »komm, wir wollen zum Essen gehn.« - -Irene nahm wortlos ihre Pelzsachen auf, während Renate die Kerzen -löschte, brauchte eine halbe Minute, um ihren Schleier zusammen zu -raffen, folgte dann Renate, während Saint-Georges schon an der Kurbel -der kleinen Glühlampe stand, die den Raum jetzt erhellte. - - * * * * * - -Während des Abendessens verhielt Renate sich schweigsam, innerlich -unfriedlich, da der gestörte Nachhall von Klemens sich in ihr kreuzte -mit Irenens drohender Entladung. Irene verhielt sich schweigsam, -innerlich vermutlich bemüht, der vollen Schale ihrer Verdrießlichkeit, -oder was es nun sein mochte, jeden Tropfen zu erhalten. Saint-Georges -und sein Bruder schwiegen aus Zartgefühl; Erasmus schwieg wie immer. -Jasons Kommen unterbrach die Stille nicht weiter, als daß die -Begrüßungsworte laut wurden; er kannte ja kein eigentlich selbständiges -Verhalten, stets entsprach nur das seine dem der Andern, und auch wenn -er etwas Mitgebrachtes allsogleich hervorzog und dartat, schien es wie -etwas Erwartetes so natürlich. Nur als Renate eben den Mund auftun -wollte, um die Tafel aufzuheben, öffnete er den seinen, schüttelte -unmerklich den Kopf und sagte, die stillen, glänzenden Augen auf Renate -gerichtet: - -»Weißt du, Irene, was Cervantes sagt?« Und nach einem flüchtig und -leidend fragenden Blick Irenens, fuhr er fort: »Cervantes in seinem -berühmten Buche Don Quichote de la Mancha, gemeinhin der Donkischott -genannt, sagt: Ein Mensch ist nicht mehr wie ein andrer, wenn er nicht -mehr tut wie ein andrer. -- Es fiel mir grade so ein, als ich euch Alle -so schön um den Tisch sitzen sah.« - -Erasmus sah ihn an, wie Renate bemerkte, mit dem sonderbar heftig -nachdenklichen Blick, den Jason ihm öfters entlockte. Sie hatten, soviel -Renate sich erinnerte, noch nie miteinander gesprochen, doch schien -Erasmus eine gewisse Ehrfurcht vor ihm zu haben. Jetzt blieb er an der -Tür stehn, die Stirn wie immer leicht gesenkt und fragte zurück: »Wie -sagten Sie? Ein Mensch ist nicht mehr --« - -»-- wie ein andrer,« fuhr Jason fort, »wenn er nicht mehr tut wie ein -andrer. Sie sagen aber besser >als< statt >wie<, ich habe die -Übersetzung zitiert, und dann sagte ich es eigentlich nicht zu Ihnen.« - -Erasmus nickte und ging hinaus. Die Andern standen still hinter ihren -Stühlen, lösten sich nun, Saint-Georges sagte, er brächte seinen Bruder -auf sein Zimmer und ginge dann nach Hause. Sie verabschiedeten sich, und -Irene, Renate und Jason gingen in die Halle hinunter. - -Der Kamin brannte hell, niemand machte Licht. Renate setzte sich ans -Feuer und wartete ab; auch Jason setzte sich, nahm den Blasebalg, hielt -ihn gegen die Flammen und ließ ab und an einen kleinen Seufzer in die -Glut stöhnen. Irene, die hinter seinem Stuhl stehn geblieben war, schien -nach einigen Minuten von der Wiederholung dieses Verfahrens nervös zu -werden und sagte: »Aber Jason, was machst du denn?« - -Jason versetzte still: »Ich unterhalte das Feuer.« - -Renate lachte leise. Irene drehte sich um und fing an, im Dunkel des -Hintergrundes auf und nieder zu gehn. Endlich trat sie hinter Renates -Stuhl und sagte halblaut: - -»Weißt du noch, wie ich früher zu dir gekommen bin und mein Herz -verglichen hab an deinem? Meins war Angst und Sorge und deines Fülle und -Sicherheit. Nun ja, wenn man so schön ist wie du ... Seitdem bin ich -lange ausgeblieben, und nun bin ich wieder da.« - -»Ein Mensch«, sagte Jason, »ist nicht mehr wie ein andrer, wenn er nicht -mehr tut wie ein andrer.« - -Renate sah zu Irene auf; ihr rötliches Gesicht, eben noch vom -Feuerschein erreicht, blickte mit durchsichtigen Augen ratlos gegen die -Flammen. Renate sagte: - -»Kind! Ich finde es ja sehr lieb von dir, daß du wieder zu mir kommst ---« - -»Jag mich nur wieder weg«, murmelte Irene. - -»Ich dächte aber eigentlich: du hast doch nun einen Mann; oder kommst du -vielleicht seinetwegen?« - -Nach einer Weile wurde Irenes Stimme wieder aus dem Hintergrunde hörbar, -tonlos: »Auch.« - -Dann wars wieder still. Renate war des ziellosen Herumredens und Stehens -schon ziemlich müde, aber Irene fing nun zu sprechen an, so daß Renate -schon am ersten Wort merkte, sie würde so bald nicht wieder aufhören. - -»Er nimmt mir meinen Mann weg«, sagte sie. »Ja das ist nun so.« Hastig -redete sie weiter. »Erst sollte es eine Probezeit auf acht Tage sein, -denn -- ich sagte Otto gleich noch am ersten Abend, -- ach, es war alles -so sonderbar! --« Sie schwieg, fing aber nach Sekunden von neuem an. -»Ich lag noch nicht im Bett, am ersten Abend, da hörte ich, wie die -Beiden sich an den Kamin setzten und dann an zu reden fingen. Und nun -dauerte das Stunden. Immer in Pausen. Viertelstundenlang sprachen sie -unaufhörlich, am meisten Klemens. Dann wurde es still, ich wollte -einschlafen, -- da fings wieder an. Schließlich redeten sie immer -weniger, Minuten und Minuten konnte ich sie förmlich schweigen hören und -lag und wartete und wartete, und richtig: da fingen sie wieder an. Es -war zum Verrücktwerden. Endlich macht ich Licht und saß mit der Uhr in -der Hand, eine geschlagene halbe Stunde war kein Laut zu hören, ich -dachte, am Ende sind sie doch leise weggegangen. Da zog ich meinen -Kimono an, ging zur Tür und öffnete leise. Richtig waren sie noch da. -Das Feuer brannte kaum noch, aber ich sah Ottos hellen Anzug, er lag -längelangs im Sessel, hörte mich nicht, und auf dem Sofa lag Klemens. -Nun fragt ich denn, was sie bloß machten, und warum sie nicht schlafen -gingen, und Otto, halb im Schlaf, sagte glaub ich, er hörte zu, wie -Klemens sein Bart wüchse, oder so was. -- Aber nun ging Klemens doch, -und -- ja, dann stellte Otto mich zur Rede. Es war herrlich, er stellte -mich --! Er hätte ihn doch jahrelang nicht gesehn --« - -Renate dachte: Was erzählt sie mir da? Sie hat eine Nacht nicht schlafen -können und -- Irene hastete weiter, klagend und eintönig: - -»-- und -- ja, ich weiß heut auch nicht mehr, was er sagte, und ich -entschuldigte mich auch, denn ich weiß ja, ich bin im Unrecht, er ist -sein Freund, und sie kennen sich lange, und sie sind Männer, und ich bin -nur eine Frau, und ich kann nur sagen: ich mag ihn nicht!« - -»Ein Mensch ist nicht mehr als ein andrer,« sagte Jason ruhig, »wenn er -nicht mehr tut als ein andrer.« - -»Hab ich denn nicht mehr ein Recht zu sein, wie ich will?« begehrte -Irene auf. »Hab ich kein Recht als deine Frau? sag ich zu Otto. Und da, --- ich sprach grade noch von seinem rodomontierenden Wesen, seinem -breiten Bart, und wie er die Worte setzt, alles, was mir so -- so -- ich -weiß nicht! -- und seine unsichtbaren Augen ... Auf einmal steht er -wieder in der Tür und muß wohl gehorcht haben, es war ja auch nur der -Vorhang dazwischen und sagt, -- ja, was sagte er doch noch ...« - -»Ein Mensch,« sagte Jason, »ist nicht mehr wie ein andrer.« - -»Jason! -- Er sagte: weil ich von Rechten geredet hätte ... Er wollte -auch von Rechten reden. Meine Ehe, die wäre eine Jammerleistung, ich -hätte nicht mal Kinder, und sie wären zwanzig Jahre Freunde, und ich -bloß zwei Jahr verheiratet. Ja, und es wäre zum Tollwerden, sagte er, -und ich sollte doch erst mal lernen, was eine Ehe ist, ehe ich mich an -einen Mann hängte. Oh, es ist uner--, unerhört ist es!« - -Renate hörte sie aufgeregt hin und her laufen. Jason hatte es sich im -Sessel bequem gemacht, die Hände vor dem Magen gefaltet und schien jetzt -aufmerksam zu lauschen. - -»Wie gings nun weiter, Irene?« fragte er, »du erzählst sehr anschaulich. -Was hat Otto denn nun wohl gesagt? Sagte er nicht, daß Klemens weder -Vater noch Mutter gehabt habe und nicht einmal wüßte, wer sein Vater -ist, ein Student zum Beispiel, oder ein Großherzog? Sicher hat er etwas -Ähnliches gesagt und wahrscheinlich auch, daß Klemens gehungert hätte -für drei und gearbeitet für zehn. Nun, ein Mensch ist nicht mehr als ein -andrer.« - -Renate sah Irene hinten auf einer Sessellehne sitzen und die Achseln -zucken. Jason wüßte ja alles, sagte sie, es sei schon so gewesen. Ja, -sie hätte auch gesagt, daß sie ihn, Otto, nicht so lieben könnte, wenn -Klemens daneben stünde, aber sie sei schon müde gewesen, und da habe er -denn diese Probezeit von acht Tagen verlangt, aus denen dann Wochen -geworden wären, und sie hätte ihn ja auch wenig gesehn, nur bei den -Mahlzeiten, da er sonst im Zimmer ihres Schwagers gearbeitet hätte ... - -»Ja, Albert Vehm,« sagte Jason, sich aufrichtend, »gut, daß du den Namen -nennst. Ein Mensch ist nicht mehr als ein andrer, aber was ist mit ihm?« - -»Er ist weg. Wir wissen jetzt, wo er haust; bei einem Bauern aus seiner -Praxis, aber niemand bekommt ihn zu sehn.« - -Da sah Renate ihn wieder am Zaun stehn und hörte ihn fragen: Und die -Kinder ...? Renate schreckte leicht auf, da Irenes Stimme auf einmal -dicht über ihr fragte: »Bist du abergläubisch?« - -»Nun ja, wie man so ist,« gestand sie halb lachend, »Katzen und -Sternschnuppen und Spinnen, und wenn das Streichholz nicht anbrennen -will, daß man sich sagt: das und das wird geschehn, wenn ... aber --« - -»Ja, so ähnlich,« sagte Irene, »jedenfalls hab ich mir ausgedacht, daß -in diesen acht Tagen irgend etwas geschehn sollte, das mich bestärkte -oder veränderte gegen ihn, aber natürlich ist nichts geschehn, bloß daß -er mir immer unangenehmer geworden ist, und dann hab ichs eben langsam -immer weiter ertragen, und --« - -»Was war denn nun zu ertragen?« fragte Renate kühl. - -»Gott, Renate, daß _ihr_ Beide gegen mich seid, das weiß ich ja längst, -und wie soll man denn das auch beschreiben? Die Worte machens doch -nicht, das macht doch das Gesicht und die Haltung und die Tonart und -alles, oder meinst du, man kann sich da irren, und ich hätte mir bloß -eingebildet, daß er es förmlich drauf anlegte, mich aufzubringen und zu -empören und --« - -»Oh das kann ich mir sehr gut vorstellen«, sagte Jason. »Wenn einer so -in die allgemeinsten Dinge eine Spitze hineinsteckt, und man kann nichts -sagen, denn da ist gar nichts zu sehn, aber innerlich möchte man -aufschrein, nicht wahr, Irene? Und dann so dies: obenhin ... Wenn man -sich grade so schön vorgenommen hat, geduldig und artig zu sein, und tut -eine bescheidene Frage und kriegt auch eine Antwort, aber was für eine! --- So nach einer Weile, als ob sie erst abgeleckt wäre von allen Seiten, -so aus dem Mund geholt wie ein Matrosenpriem und auf die Tischkante -gelegt zum Trocknen, ja, das kenne ich ausgezeichnet. Wirklich, ein -Mensch tut nichts andres als ein andrer.« - -Irene antwortete nicht, aber Renate fing an, sich ernstlich zu sorgen, -da sie immer geschwinder und wilder durch den Raum hin und her fuhr, die -Hände geballt und mit verwirrten, weggeschleuderten Blicken. - -»Wenn Otto mir sagte,« rief sie hart anhaltend, »Klemens könnte keinen -Widerspruch vertragen, es sei überhaupt alles Beherrschung an ihm, außer -man wäre sachlich oder sächlich, -- was weiß ich, ich bin weiblich! -- --- was blieb mir denn übrig als stille zu schweigen?« - -»Gut, Irene, ausgezeichnet!« lobte Jason, »damit trafst du das -Richtige.« - -»Schweig, Jason! Und immer hackte er auf meiner Kinderlosigkeit herum! -Nein, höre, da fällt mir etwas andres ein, was er sagte. Einmal konnt -ichs nicht lassen und fragte, was das denn eigentlich für eine -Freundschaft wäre, wo einer sich um den andern jahrelang nicht kümmerte. --- Das wäre das Feine dran, sagte er. So, sage ich zu Otto, und wenn ich -mich jetzt zwei Jahre Gott weiß wo herumtreibe, dann ists dir -wahrscheinlich auch egal. -- Darüber habe ich noch nicht nachgedacht, -sagt er. Ist das nun vielleicht eine Antwort?« - -Glühäugig stand sie da und blickte Renate an. Jason machte erstaunte -Augen. - -»Ich hatte gedacht,« sagte er, während Renate ein Lächeln verbiß, »du -wolltest von Klemens reden? Nun,« sagte er und zog sich befriedigt -zurück, »du hast ja recht: ein Mensch ist nicht mehr wie --« - -»Ja, nun verwechsle ich sie schon«, murmelte Irene, kniff den Mund zu -und sagte böse: »Einer ist mir so fremd wie der andre.« - -»Höre mal übrigens,« fing Jason an, »du hast das wohl auch verwechselt. -Klemens redete von Freundschaft, und du von Ehe.« - -»Ah, sieh, Jason!« höhnte Irene spitzig, »du hast wohl auch seine -Meinungen über Liebe und Ehe und so.« - -»Wenn du mir die seinen vielleicht sagen möchtest ...« meinte Jason. - -»Also, einmal frage ich ihn ganz bescheiden, ich hätte eigentlich noch -immer etwas Zeit übrig, namentlich im Winter, ob er nicht auch meinte, -daß ich mich fürsorgerisch betätigen sollte. In meinem Staat, sagt er, -gewiß nicht. Er bemühe sich seit zehn Jahren, das Recht auf Kindersegen -für jede Frau durchzusetzen, und ich prätendierte das Recht auf -Kinderlosigkeit. In seinem Staat, und so weiter, und ob ich eigentlich -wüßte, wieviel Frauen ich die eigentliche Vollendung ihres Daseins -wegnähme. Ja, weißt du, warum? Weil ich einen Mann für mich beanspruche, -von dem andre Kinder haben könnten. Und damit --« ihre Stimme wurde -heiser und überschlug sich, »kletterte er im Handumdrehn zu der -Behaup--« Ihre Stimme versagte, sie mußte husten und hörte lange Zeit -nicht auf. - -Das sei aber mal nichts Besondres, meinte Jason enttäuscht; nein, das -fände er nun äußerst natürlich und wahrheitsgemäß geredet. Ob er denn -sonst nichts gesagt hätte? - -Sie hätte es wohl vergessen, murmelte Irene matt, es sei ja auch gleich. - -Renate sagte, damit könnte sie wohl recht haben, denn sie hätte wohl -gleich gemerkt, daß es sich hier wie immer nicht um das Was handle, -sondern um das Wie, und Irene habe sich ja auf unbegreifliche Weise -haßerfüllt und abgeneigt von vornherein gegen Klemens gezeigt ... Sie -brach ab, da sie Irene in ihrem Sessel hinten, ohne hinzuhören, sich nur -angestrengt besinnen sah. Gleich darauf fing sie auch an: Lieben, hätte -er einmal gesagt, lieben könnte man doch nur, was einem fremd sei. »Wie? -frage ich. -- Zum Beispiel: Gott, sagt er. -- Gott? frage ich erstaunt, -und da fällt mir natürlich Otto ein, und ich frage, ob er vielleicht -behaupten wollte, daß Otto mir fremd wäre. -- Er wäre überzeugt, -unterbricht er mich, daß es nichts gäbe, was einander fremder wäre als -zwei Menschen, Mann und Weib.« Jason spitzte die Ohren. »Mein Mann ist -mir lieb, nicht fremd, sage ich. -- Abgesehn, sagt er, von der Logik, -was meine Ehe denn für eine Kunst wäre. -- Liebe, sage ich, nicht Ehe. --- Ah, sagt er da und tut hocherstaunt, Sie wissen also doch sehr gut, -daß Liebe und Ehe nicht das geringste miteinander zu tun haben. -- Ich -falle aus allen Wolken und sage: Was? -- Denn Liebe, doziert er so recht -pedantisch, Liebe ist ein Gefühl, und Ehe ist eine Einrichtung.« - -»Nun, da haben wirs«, sagte Jason entzückt. »Ein Mensch kann nicht mehr -tun als ein andrer, aber dies war ja nun sehr ausgezeichnet, ein ganz -ausgezeichnet wahres Wort! Ich möchte fast glauben, daß er es mir -abgelauscht hat. Immer und immer habe ich das gesagt: Liebe und Ehe, die -beiden haben miteinander genau so viel und so wenig gemein wie das Leben -und der Tod. In der Ehe nämlich herrscht das Gesetz, ja bis in die -allerkleinste Wallung und Verrichtung des alltäglichen Ehelebens hinein -waltet der Geist der Verträglichkeit auf Grund des Vertrages. Was aber -tut das Gesetz? Es tötet. Es tötet ab, es erstarrt. Die Ehe ist recht -eigentlich die Idee aller starren Systeme, aber nun, wie es im Liede -heißt: Media in vita -- mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen. -Mitten im Leben der Liebe vom Tode der Ehe umfangen und dennoch höchst -lebendig, wohlwollend, verträglich, hülfreich und gut zueinander sein, --- das wäre die Kunst der Ehe.« Sprachs und glitt zufrieden wieder in -seinen Sessel zurück. Irene sagte nichts. - -Wie rauh und schwächlich, aber auch wie traurig hatte Irenes Stimme doch -geklungen; Renate hörte es nun erst, wo sie erloschen war. Sie hätte -gern etwas Tröstliches geäußert, aber alles, was sie hörte, brachte -keine Begriffe in ihr hervor; es war wie das Plätschern eines Wassers, -dem Wehmut und Abgeschiedenheit anzuhören ist, doch bleibt es die -betrübte Stimme eines Bachs, eine fremde, nicht zu unterbrechen oder zu -enden mit Zusprache oder Streicheln. - -»Und nun hat er ja recht behalten«, kam ihre Stimme wieder zum -Vorschein, erloschen und trostlos. »Otto ist mir fremd geworden. -Vielleicht ist ers immer gewesen, ich weiß ja nun gar nichts mehr. -Früher glaubt ich all seine Gedanken zu sehn, jetzt muß ich oft seine -Stirn ansehn und denken: Was ist dahinter? habe ich etwas damit zu tun? --- -- Wie einfach, wie natürlich war nicht alles! Es war nicht groß, du -lieber Gott, es war keine _Kunst_! aber es paßte doch zu uns, und ich -wars zufrieden. Nun heißts: es ist keine Kunst, und ich muß über die -schwierigsten Sachen nachgrübeln. Manchmal ist mirs schon gewesen, als -sei es ganz gleichgültig, ob Otto und ich zusammenleben oder irgend zwei -Andre.« - -Jason lächelte hier still und friedlich vor sich hin. Renate mußte -denken: Er scheint es ja recht leicht zu nehmen ... Irene stand auf, -hielt den Kopf gesenkt und zerrte an ihrem Taschentuch. - -»Ich weiß ja, ihr wollt mir nicht helfen«, sagte sie, Tränen dick in der -Stimme. - -Jason erhob sich. »Ich gewiß nicht, Irene,« sagte er aufrichtig, -»obgleich ich nicht weiß, was dir eigentlich fehlt. Nein, ich freue mich -im Gegenteil, dich in einer derartigen Verwirrung zu sehn. Verwirrungen -erhöhen die Lebhaftigkeit des Daseins und machen die Ruhe angenehm. -Nichts ist süßer, als auf dem Sofa liegen nach einem schönen -Schwindelanfall. Dir kann ich noch nicht helfen.« - -Noch? was das heißen solle, noch? - -»Oh nichts so Bestimmtes«, meinte Jason. »Ich wollte bloß zum Ausdruck -bringen, daß ich nichts anzufangen weiß mit Leuten, die dastehn und -schreien, sie fielen um. Wenn einer an der Erde liegt, so will ich ihn -aufrichten; ja, dazu mache ich mich anheischig.« - -Plötzlich stampfte Irene mit dem Absatz auf und schrie: »Herrgott, warum -muß denn nur alles so verkehrt kommen! Warum liebt ihr euch denn nicht, -Klemens und du, statt daß --« Sie brach verwirrt ab. »Nein, wir hassen -uns ja ...« Sie schien völlig den Faden verloren zu haben, schüttelte -sich auf einmal, kam auf Renate zugeflogen, warf sich vor ihr an den -Boden, umschlang sie und schluchzte jammervoll: - -»Ach, ach, ich muß dirs ja gestehn, ich hab mich nur so herumgeredet, es -ist ja so eine furchtbare Schande, aber ich muß --« sie schüttelte sich -krampfhaft -- »ich muß es dir sagen, er hat -- er hat mich -- er hat -mich ja so wahnsinnig gedemütigt! Ach, angeschrien hat er mich wie ein -Sinnloser, niedergedonnert hat er mich -- ach, Otto! Otto!« - -»Wie, Otto hat ...« fragte Jason. - -Irene sprang auf und flammte ihn an. »Otto, bist du ganz rasend? Er, er, -er, Klemens! Auf einmal ist er ganz blau im Gesicht geworden, ich weiß -nicht, ich muß ihn wohl gereizt haben, und dann hat er gelärmt ...! Was -das für eine Schande mit mir wäre, dies kindische Wesen, und alles Alte -hat er wieder aufs Tapet gebracht, und ich gönnte ihm seinen Freund -nicht, und den Mund sollte ich halten und --« - -Ihre Stimme erstickte wieder. Renate konnte es nicht mit ansehn, wie sie -dastand und sich erniedrigte, schüttelte den Kopf, mußte sich aber nun -doch sagen, daß an allem schließlich etwas Wahres sein müsse, nicht -alles allein Irenens Schuld sein könne; sie konnte sich aber in der -Erinnerung an den Nachmittag mit Klemens ihn in keiner ungebührlichen -Haltung vorstellen. - -»Wie du dich erniedrigst, Irene!« entfuhrs ihr unbedacht. Irene zischte -wieder empor. - -»Ich will mich erniedrigen!« schrie sie wütend. »Und was er schaffte, -das sei mehr wert ... brüllte er, und eine Stimme hat er gehabt, daß -alles Glas nur so klirrte, und die Wände haben gezittert, und ich saß da -wie versteinert. Das in meinem Haus!« Fliegend, jauchzend, zitternd, -frohlockte sie: »Wahnsinnig hasse ich ihn, wahnsinnig! o ich hasse ihn, -ich hasse, ich hasse ihn. Käme er nur, käme er nur noch einmal und ... -ach, ich wollte, er täte es noch einmal!« - -Das könnte sie haben, meinte Jason gefällig, er hörte Klemens eben -draußen klingeln. - -Renate vernahm seine Worte nur halb, mit den Augen an Irene hängend, die -wie eine Eumenide vor ihr wogte, die Arme schleudernd, als stäken Dolche -in den Händen, und alle Locken hatten sich aufgerichtet um ihren Kopf -und bebten und zürnten mit. - -»Wißt ihr, was er getan hat?« zischte sie. Mit funkelnden Augen von -Renate zu Jason und zurück, hob und krümmte sie den rechten Arm, hob die -Hand und machte eine klappende Bewegung damit. »Verstehst du, Renate?« -Renate verstand und reckte sich innerlich. »Verstehst du, Jason? Ja, -nicht wahr, das habt ihr doch nicht gedacht, das habt ihr --« Ihre -Stimme und sie selber schwankte. - -In der Tür stand das Hausmädchen und sagte: »Gnädiges Fräulein -- Herr -Doktor Klemens.« - -Renate geriet in Schrecken. Was wollte das werden? Irene war nicht -anzusehn, ob sie die Meldung gehört hatte oder nicht, sie spähte mit -einem sonderbar wirren Blick im Zimmer umher, entdeckte plötzlich -zwischen Korridortür und Kamin das Telephon und stürzte darauf zu. -- -Renate hörte das Mädchen etwas fragen, nickte nur, und gleich darauf -flammte das Licht in der Krone blendend auf und übergoß alles. Irene -schrie: »Otto!« dann »Einundsiebzig einundsechzig!« - -Klemens erschien in der Tür, verbeugte sich gegen Renate, blickte dann -scheinbar abwartend auf Irene, die ihm den Rücken wandte, über das -Tischchen mit dem Fernsprecher gebeugt. - -»Bitte, schalten Sie um!« sagte Irene. Gleich darauf: »Ja, umschalten -sollen Sie, zum Oberstock, Himmeldonnerwetter, verstehn Sie denn nicht? -Um -- -- Ach, der Teufel soll dich holen!« schluchzte sie, warf den -Hörer hin und fiel in den Sessel, aus dem Jason eben aufgestanden war. - -Der ergriff nun den Hörer, fragte: »Bitte, sind Sie noch dort?« horchte -und sagte: »Ach, Sie sind selber am Telephon! Bitte, einen Augenblick! --- Dein Mann ist am Telephon, Irene,« sagte er zu ihr, »es war bereits -umgeschaltet. Soll ich ihm was sagen, oder willst du --« - -Irene unterbrach ihr Weinen und schluchzte mühsam, sie wolle ihn nicht -sprechen, er -- sie habe nur hören wollen, ob er zu Hause sei, und sie -käme auch gleich. - -Jason führte das aus und legte den Hörer hin, dann drehte er sich um und -sagte zu Klemens: - -»Das ist schön, daß Sie grade kommen. Wir sprachen von Ihnen, und da -möchte ich Sie gleich fragen: Haben Sie meiner Freundin Irene wirklich -eine Ohrfeige gegeben?« - -Irene zuckte nur, als sie merkte, daß er mit Klemens sprach, behielt -aber das Gesicht im Taschentuch, richtete sich langsam auf und trocknete -ihre Augen. Klemens sagte leutselig zu Jason: - -»Junger Mann ... Das heißt,« unterbrach er sich, »hat Frau Herzbruch -dies vielleicht behauptet?« - -»Also nicht?« rief Renate erleichtert. - -»Keine Idee! Ich habe bloß so getan«, verteidigte er sich. - -»So getan?« sagte Jason. »Das ist glänzend.« Zufriedengestellt, wie es -schien, drehte er sich ab, ging in den Hintergrund und sagte wie zur -Erklärung: »Ein Mensch ist nicht mehr als der andre, wenn er nicht mehr -tut als der andre.« - -Klemens sah ihm mißtrauisch nach, äußerte dann zu Renate: »Ich kann -Ihnen das leider nicht vormachen.« Nun wandte er sich zu Irene, die -langsam aufgestanden war und zu schwanken schien, ob sie ihn ansehn -sollte, und sagte: - -»Ja, also Frau Irene, ich bin noch einmal gekommen, -- es wird mir nicht -leicht, und ich habe wohl auch eigentlich --« - -Er wollte auf sie zugehn, aber Irene, einen Augenblick geduckt, ging ihm -plötzlich entgegen, streckte ihm die Hand hin und murmelte: - -»Ich bitte Sie um Verzeihung, Klemens, ich hatte Sie wohl zu sehr -gereizt, und -- ich bitte Sie um Gottes willen ...« - -Klemens ergriff tief erstaunt ihre Hand und brachte kaum den Mund zu. -Irene ließ wieder los, ging wie geistesabwesend zur Flurtür, murmelte: -»Wohin will ... wohin soll ich denn nun? Ach so, nach -- nach Hause ...« -Dann schluchzte sie tief und furchtbar auf. - -Renate lief hastig um die Sessel und zu ihr hin, erreichte sie in der -Tür, legte den Arm um ihre Schulter und ging mit ihr hinaus. Sie wagte -jetzt kein Wort, Irene raffte sich auch wieder zusammen, ging gefaßt in -die Kleiderablage, ließ sich von Renate in die Jacke helfen, setzte die -Mütze auf, knüllte den Schleier zusammen und steckte ihn ein. Nach einem -Blick in den Spiegel holte sie ihn wieder hervor und band ihn mit -zitternden Fingern um; Renate half ihr. - -»Gute Nacht«, sagte sie leise. Renate wollte sie an sich ziehn, aber sie -schüttelte trübe den Kopf und ging hinaus. Renate blieb ratlos zurück. - -Wieder ins Zimmer kommend, hörte sie Jason eben sagen: »Seelische -Fallsucht ist ein vortrefflicher Ausdruck!« worauf er sich zu Renate -umdrehte, mitten im Zimmer, schmal und kleiner als sonst neben Klemens -scheinend, den Kopf ein wenig schräg haltend, und erfreut zu Renate -erklärte: - -»Herr Klemens sagt, er hätte die seelische Fallsucht. Jahrelang ginge es -ihm sehr gut, und dann, auf einmal, wäre die Fallsucht wieder da; es -geht ihm also genau wie mir. Ich habe ja mehr die Zitatenfallsucht, aber -sie ist ja nun auch im Schwinden, unberufen, und eine Zeitlang hatte ich -das Kopfschütteln, aber das ist, glaube ich, auch schon wieder im -Schwinden.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, da ist es wieder,« sagte er -enttäuscht, »ich habe es berufen, nun will ich lieber gehn und Irene -noch an der Haltestelle treffen. Gute Nacht, Herr Klemens.« Er reichte -ihm die Hand. »Gute Nacht, Renate.« Er reichte ihr die Hand, lächelte -und ging sacht hinaus. - -Renate setzte sich schweigsam in einen Sessel, hielt sich grade, rieb -die Hände leicht im Schoß und blickte ins niedergebrannte Feuer. Aber -beim Anblick des Blasebalges fiel ihr Jasons Bemerkung ein: er -unterhalte das Feuer; sie mußte lächeln, sah zu Klemens auf, sah ihn in -sich gekehrt im Schatten stehn und sagte: »Ein großer Wirrwarr, wie es -scheint! Wollen Sie so gut sein und den Blasebalg etwas in Tätigkeit -setzen?« - -Klemens fuhr auf. »Blasebalg?« rief er, »meinen Sie mich oder den da?« -Er lachte, setzte sich, ergriff das Instrument, drehte eins der -Holzscheite mit ihm um, setzte ihn dann bedächtig in Tätigkeit. Als das -Feuer wieder hell brannte, legte er den Blasebalg fort, setzte sich -zurück und sagte: - -»Kluge Jungfrau! auch Ihnen wird, nehme ich an, bekannt sein, was -gemeinhin nicht viele wissen, ich aber weiß es: Nichts fängt da an, wo -es anzufangen scheint. Auch diese armen Tränen, welche Sie sahen, auch -die -- ich schwöre es! -- nicht nur Ihnen imaginär gebliebene Ohrfeige -haben ihre Wurzel nicht im heutigen, sondern in Frau Irenens -Hochzeitstage. Ich kam nicht zur Trauung, damit fing es an. Ich habe nun -eine Abneigung gegen Schwurformeln im allgemeinen, und im besondern, -wenn der, welcher sie aufsagt, nicht daran glaubt, und erschien deshalb -erst bei der Tafel. Das Ehepaar brach, wie Sie sich erinnern werden, -früh auf, so bekam ich Ottos Frau kaum zu sehn, aber was ich bekam zu -sehn, das war nicht hoffnungsvoll. Ich dagegen war so hoffnungsvoll, zu -glauben, dies werde in zwei Jahren vergessen sein, aber weit gefehlt! -Ja, ich dachte es mir ganz schön, ich hatte vor, ein Buch zu schreiben ---« - -»Ein Buch?« fragte Renate, aber er winkte großmütig ab: - -»O bloß so ein Buch! wie halt a jeder! Und da dachte ich, dies bei mehr -Behaglichkeit und Ruhe in Herzbruchs Hause als in so einem möblierten -Zimmer tun zu können, denn meine eigne Wohnung hab ich vor ein paar -Jahren aufgegeben, und meine Schwester hatte keinen Platz bisher. -Natürlich, ich hätte nach der ersten Nacht verschwinden sollen, aber -- -ja, was ist da zu sagen? Otto bat mich, ich hoffte weiter, ja, Otto, das -muß ich sagen, zwang mich gewissermaßen, indem er meine Stiefel -versteckte, und als moralischen Grund gab er vor, seine Frau müßte -aufgemuntert werden, sie würde zu dick. Alles gut und schön, aber -- na, -ich blieb doch, und Herzbruch, der hetzte ja denn nach Kräften, er fand -es herrlich, wenn wir uns die geschliffenen Partisanen gegen den Kopf -rannten, und sagte, sie wäre nicht wiederzuerkennen, und ich wäre ein -General-Stabsarzt.« - -Renate sprang auf und lief ins Zimmer hinein. »Ach, hören Sie lieber -auf,« bat sie zwischen Lachen und Weinen, »das ist ja nicht auszuhalten! -Erst kommen Sie am Nachmittag, und ich freue mich, denke, ich kenne Sie, -und wie Irene mir stundenlang etwas vorjammert, bleibe ich bei meiner -Auffassung von der Sache, bis es mir denn doch zu ernst wird, und ich -denke: was Wahres muß doch dran sein, und dieser Klemens ist kein -solcher Cherub, als welcher er sich gehabt.« »Danke!« nickte Klemens. -»Ach, nichts zu danken, denn nun kommen wieder Sie, und nun sieht die -Sache wieder noch ganz anders aus, und nun ist Otto eigentlich derjenige -welcher. Was ist denn nun das Richtige?« - -Klemens kratzte sich mit schief offnem Munde den Kinnrand im Bart und -meinte: er wüßt es nicht, er reiste ja nun ab. Daß der Zweck seines -Daseins im Hause Herzbruch vollkommen erreicht sei, das wollte er -schwören. Nun ginge er acht Tage auf Reisen, dann würde er bei seiner -Schwester wohnen und -- - -»Ach, papperlapapp,« unterbrach Renate ihn lachend und ärgerlich, »was -ist das mit der Ohrfeige gewesen?« - -Klemens wiegte verdrießlich den Kopf. »Die Ohrfeige«, sagte er, »hat -nicht stattgefunden.« - -Plötzlich wurde er dunkelrot, Renate erschrak und dachte: nun kommts! -aber die Fallsucht schien auszubleiben, er ergriff den Blasebalg, warf -ihn auf die andre Seite des Kamins, machte böse Augen, schob das Kinn -vor und sagte endlich: - -»Daß man von unechter Abkunft sei, braucht man sich nicht sagen zu -lassen, meine Teuerste. Ich habe in Zeitungen geschrieben und mich mit -mehr als einem Preßbengel herumgeschlagen, und daß ich weiß, wie und wo -die giftigsten Spitzen anzubringen und abzuschleudern sind, das kann -Frau Herzbruch freilich bezeugen. Meine Abkunft jedoch hat der -schmutzigste Schmock, obgleich ich nie ein Hehl daraus gemacht habe, nie -angetastet, denn auch so einer hat Kenntnis von gewissen Usancen. Ich -bin, wenn Sie es wissen wollen,« sagte er aufstehend, »ich bin darauf -auf sie zugegangen, so!« Er trat dicht vor Renate, »und hab die Hand -gehoben, so! Und da hat sie sich geduckt, hat kein Wort gesagt und ist -zur Tür geschlichen. Ottos Schwester, auch dies mögen Sie erfahren, war -die erste und einzige bisher, der ich es mitgeteilt habe.« - -»Genug,« sagte Renate reuevoll, »verzeihen Sie nur! genug!« - -»Ich habe ja nichts gegen Sie,« lachte er nun, »aber«, schloß er wieder -ernst und mit Würde: »wenn ich auch Proletarier bin, bin ich deshalb -kein Prolet, sondern reiner Geist; ich stabiliere mich als solchen. -Nein, sehen Sie,« fuhr er leichter fort, »zu Irene sagte ich, nachdem -ich -- Sie wissen schon! --: ja, da könnte sie nun sehen, wie verdorben -sie wäre, daß sie wahrhaftig glaubte, ich wollte sie ohrfeigen, und weiß -Gott, es ist etwas daran, und was soll dieser Otto mit einer Frau -machen, die glaubt, ihre Ehe geht in Stücke, bloß weil einer zusieht, -den sie nicht leiden kann? Ja, bitte, was sagen denn Sie dazu? Sie sind -doch ihre Freundin, Sie kennen auch Frau Vehm -- ja, du lieber Gott, ist -das ein Unterschied zwischen den Beiden!« Er atmete auf. - -Ein Mensch, dachte Renate, ist nicht mehr wie der andre, wenn er nicht -mehr tut wie der andre. Es war nicht gerade viel, was Irene zu tun -pflegte, zumal im Schatten ihrer Schwägerin betrachtet. - -»Der Mann ist ein Sonderling und verkriecht sich,« hörte sie Klemens -wieder sagen, »die Frau ist oft stundenlang, tages und nächtens, bei -Wind und Wetter unterwegs, um ihn zu finden, und was sie selber im -Herzen zu schleppen hat, das wird ja wohl auch Ihnen nicht unbekannt -geblieben sein; aber deshalb weicht sie doch keinen Schritt von ihrem -Wege und neigt das dunkle Haupt auch keinen Nagelbreit unter ihrer -aufgetürmten Last, sondern steht da, lächelnden Mundes, heller Stimme, -sichrer Hand und kräftigen Herzens, schöne, edle Karyatide unter dem -stöhnenden Gebälk ihres Daseins. Ach, man möchte singen und verzweifeln -um solch eine Frau, und Irene daneben, was tut sie? Sie glauben -vielleicht, sie sei Ottos Frau gewesen, aber weit gefehlt! Bis vor drei -oder vier Wochen war sie's nicht, sie wollte ja keine Kinder haben, -quält einen Mann zu Tode mit ihrer -- Daseinsunwissenheit und wirft sich -ihm endlich in die Arme an dem Tage, wo ein Mensch ins Haus kommt mit -unsichtbaren Augen.« - -Er lief mit großen Schritten zornig im Zimmer hin und her, warf die -Ellenbogen vor und schlug die Hände zusammen. Ob denn das zum Blasen -sei? fragte er. »Na, aber nun hat er sie ja wenigstens, und so wird denn -wohl alles in der Ordnung sein«, murrte er, kam auf Renate zu, hielt ihr -die Hand hin und bat, gehen zu dürfen. - -Renate sah ihn durch Schleier an. Seltsam erinnerte sie sich Ulrikas. -Ohne sie wüßte sie heute kaum, was das bedeutete, was Klemens ihr eben -verraten hatte, bedeuten mußte für einen Mann wie Herzbruch. - -»Ich fürchte, lieber Herr Klemens,« sagte sie leise, »so einfach wird es -nicht sein, wie Sie denken, aber -- wir können ja hoffen. Sie vergessen -doch nicht dies Haus, wenn Sie wieder in der Stadt sind, nicht wahr? Ich -würde gern noch mehr mit Ihnen sprechen, aber ich bin nun auch recht -müde geworden von allem. Also auf Wiedersehn!« - -»Ja,« sagte er, als fiele etwas ihm ein, »und wissen Sie denn -eigentlich, warum ich noch einmal zurückgekommen bin?« - -Renate schüttelte den Kopf. - -»Weil ... Ich verstehe es nicht«, murmelte er, den Kopf senkend. -- -»Weil«, fuhr der dann erklärend fort, »mich unterwegs die Reue ergriff; -weil ich dachte, ich wäre vielleicht doch im Unrecht, und -- da man -gleich tun soll, was man tun will und kann, so drehte ich wieder um, und --- -- was geschieht? Sie sahns ja, sie tat, was ich tun wollte, sie bat -mich am Verzeihung!« - -Auf dies hin wußte Renate nichts. Sie standen noch eine Weile -schweigend, dann verbeugte er sich und ging. - -Renate nickte ihm noch lächelnd zu, als er aus der Tür grüßte, dann -fielen die Schleier wieder über alles, langsam erlahmte ihr Denken, rot -glimmte die sinkende Glut vor ihren verdunkelten Augen, sie ging zur -Tür, löschte das Licht und ging schläfrig und abgespannt auf ihr Zimmer. - - - Schrecken - -Renate hob den Kopf aus dem Schlaf, weil sie jemand an die Tür klopfen -hörte; sie glaubte, nur wenige Stunden geschlafen zu haben, aber es war -schon Tag. In der Tür erschien die Köchin, ängstlich, und sagte: Frau -Herzbruch habe angerufen, das gnädige Fräulein möchte doch gleich ans -Telephon kommen, es sei etwas ganz Schreckliches passiert. Renate war -schon mit den Füßen aus dem Bett. -- Es betreffe aber nicht Frau -Herzbruch selbst, sollte sie sagen. -- Renate war schon in den -Pantoffeln, rannte durch die Zimmer hinaus und treppab in die Halle. Es -mußte mit Vehm ... Sie nahm den Hörer auf, atemlos, und sagte: »Irene?« - -Eine Weile war nichts zu hören als das Sausen und Knistern im Apparat, -dann kam Irenes Stimme leise und mühsam aus der Ferne: »Renate ...? du -wirst -- sehr erschrecken. Es ist --« Wieder war alles still. »Mein -Schwager Vehm«, hörte Renate, »ist -- -- tot. Und -- und --« - -»Dora!« schrie Renate entsetzt. - -»Nein, nicht Dora,« hörte sie nach Sekunden. »Die Kinder.« - -Renate zitterten die Knie. Sie glaubte, einen ungeheuren Schlag gegen -die Brust erhalten zu haben, rang nach Atem, fühlte lange Zeit nichts, -tastete endlich hinter sich nach dem Stuhl und sank auf ihn hin. Dann -hörte sie ihr Herz schlagen -- es mußte Sekunden ausgesetzt haben. - -Irene fragte aus der Ferne: »Bist du noch dort?« - -Sie würgte einen Laut hervor, brachte dann heraus, was das bedeute? - -Lange Zeit antwortete Irene nicht, endlich sagte sie langsam: »Er war -gestern wieder da -- als ich aus der Stadt kam. -- Und -- auch Ägidi. -- -Sie waren Alle in der Diele. Albert sah ganz -- verwirrt aus, aber -- -nachher kam Dora und sagte, er habe ziemlich ruhig gesprochen und gesagt --- er -- er könnte es nicht ändern, die Kinder wären sein, und deshalb -müßte auch die Mutter bei ihnen bleiben, oder -- so ähnlich, und -- er -ist dann gegangen, aber wiedergekommen nach einer Weile und hat gesagt, -er hätte sich besonnen -- ja, ich kann das alles nicht so sagen -- -- -- -jedenfalls, er wollte gehn, und sie sollte die Kinder behalten. Dann ist -er fortgegangen, er hat sich nicht halten lassen.« Irene schwieg wieder. - -»Laß es genug sein, Renate«, bat sie dann. »Er muß nachts ins Haus -gekommen sein, ohne daß wer von uns es hörte. Dann hat er im -Kinderzimmer erst den beiden --« Irenes Stimme brach schluchzend ab. - -Renate legte den Hörer hin und sah, noch die Hand daran haltend, das -schwarze und metallene Ding, seltsam fremd und erschreckend, als wäre es -ein gefährliches Instrument. Durch es hatte Irene gesprochen, sie hatte -Irene nicht gesehn, Irene war vielleicht gar nicht auf der Welt, es war -nur ihre Stimme gewesen, Renate glaubte plötzlich zu sehn, wie eine -finstre Gewalt Irene vom Telephon in die Nacht hineinriß, schwarze -Flocken regneten vor ihren Augen, aber dann sah sie in einem hellen -Sonnenschein einen kleinen Jungen im Kreise herumgehn, derweil er eine -Blumentopfscherbe und einen alten Kochtopfdeckel zusammenschlug und, die -großen Augen immerfort auf sie gerichtet, sang: Wenn ein Vorrat geht zu -Ende, zieh den Schieber mit die Hände! -- Immer dieselben zwei -verdrehten Zeilen, von denen später Dora sagte -- was? -- Ja, Renate sah -in der Montfortschen Küche so eine blauweiße Tafel hängen, um die -fehlenden Vorräte anzuzeigen, und darunter stand: Zieh den Schieber vor -behende ... - -Warum bin ich denn so wahnsinnig erschrocken? dachte sie und war -sekundenlang ganz ruhig. Langsam stand sie auf, konnte aber zuerst kaum -die Füße aufsetzen. Danach ging es besser, sie schlich die Treppen -hinauf und in ihr Zimmer, wo sie langsam ein paar Schlucke Wasser trank. -Sie fröstelte davon, legte sich wieder ins Bett, war auf einmal ganz -schwach und deckte sich zu. Die Gedanken verschwammen, sie wollte sich -besinnen, was denn eigentlich gewesen sei, und dämmerte ein. Da befand -sie sich plötzlich in einem großen Saal mit hohen grauen Wänden aus -Quadern und ohne Fenster. Nach oben blickend, gewahrte sie an Stelle des -Dachs einen rein blauen Sommerhimmel, den eine einzige Wolke von -schimmernder Weiße sehnsüchtig verschönte. Wieder die Augen senkend, -entdeckte sie, daß der Boden ein Wasser war, das sich in kleinen -Windungen und Strudeln emsig bewegte wie eine Menge Getier, und -zugleich, daß sie in der Spitze eines Nachens stand. Und jetzt sah sie -die Schmalwand des Raumes vor sich geöffnet; ein Tor wars, und durch den -Spalt schoß strudelnd ein dunkles Gewässer herein. Der Nachen bewegte -sich unter ihr, schwankte, stieg mit den lautlos steigenden Fluten, und -nun wußte sie, daß sie in einer Schleuse war. - -Darüber mußte sie tief aufatmen, ja seufzen aus einem von Erleichterung -und Beklommenheit angsthaft gemischten Gefühl. -- Nun wird die Fahrt -frei werden! murmelte sie, sich beruhigend, und erkannte, wieder nach -oben schauend, in der Wolke einen weit fernen Engel, der von ihr -abgewandt und in einer seltsamen Verkürzung hinter sich tretend, -stürmisch in die Bläue hineinjagte. Bleibe! schrie sie in plötzlicher -Fassungslosigkeit, o bleibe! -- Aber er war schon verschwunden, und sie -erwachte mit heftig klopfendem Herzen. - -Jählings und mit furchtbarem Erschrecken fuhr sie dann hoch, da sie eine -unhörbare Stimme traurig sagen hörte: Schöpfe, schöpfe, müde Danaide ... -Aber nicht das hatte sie hören wollen, sondern ein Wort von Klemens -- -wie hieß es? ja, wie hieß es denn? -- Schöne edle Karyatide ... - -Kaum gedacht, brach ein Strom von Tränen aus Renates Augen, ihr Herz -flatterte entsetzt auf mit tausend gestaltlosen Ahnungen, Befürchtungen, -Ängsten eigenen Schicksals, sie wühlte das Antlitz in die Kissen und -weinte, wie sie noch nie im Leben geweint hatte. - - - Achtes Kapitel: Juni - - - Krank - -Georg wachte des Morgens auf und dachte: Ach, nun bin ich auch krank! -- -Stirn und Schläfen schmerzten, er fror; er schluckte, und es tat ihm -weh. Auf den Ellenbogen sich aufrichtend, fühlte er sich zerschlagen und -müde, blinzelte gegen den Fenstervorhang, die Sonne schien draußen zu -sein, aber dies Draußen, der Garten und alles war merkwürdig weit weg -und als ob er nicht dazugehörte, sein Gehör schien dumpf und legte etwas -Entfremdendes zwischen ihn und die Welt. Ich kann nicht nach Zinna -fahren, murmelte er bitter, vielleicht gehts mit ihr heut zu Ende, aber -ich kann nicht. Und er dachte, wie glücklich er sein würde, wenn es -wirklich zu Ende ... Glücklich, -- ja, er ertappte sich, aber es war so, -und wider Willen fügte er schon hinzu: Wenn sie nur stürbe! Wenn sie nur -stürbe! -- Er zog die Decke über die Ohren, glühte und schauderte -frostig ineins, wälzte sich herum, lag minutenlang halb dämmernd. Dann -rief ein Geräusch ihn zu sich, der Diener mußte eingetreten sein, er -drehte sich um und sah einen menschlichen Schatten in der Dämmrung zum -Fenster gehn. - -»Lassen Sie zu, Egon!« sagte er, »ich stehe nicht auf, ich bin krank.« - -Der Diener kam leise ans Bett, Georg richtete sich auf. Die dunklen -Augen, das blasse Gesicht des jungen Burschen sahen ängstlich auf ihn -herunter. - -»Keine Angst, Egon,« sagte er lächelnd, »es ist nur ein bißchen -Halsentzündung, oder Influenza,« er räusperte sich, es tat scheußlich -weh, »aber ich will einen Doktor haben. Kranksein ist gemein, Egon, ich -will sofort wieder gesund werden, wissen Sie einen Doktor?« Egon wußte -keinen. »Ich auch nicht, dann fragen Sie, -- rufen Sie bei --« Er besann -sich. Es braucht ja keiner zu wissen, daß ich krank bin, -- »also rufen -Sie gegen neun bei Dr. Herzbruch an, im Verlag, und wenn er einen Doktor -weiß, -- der wird ja Telephon haben, -- dann rufen Sie auch gleich an -und bitten ihn herzukommen. So, gehn Sie aber erst ins Badezimmer und -lassen Warmwasser in die Wanne, und wenn ich drin bin, machen Sie hier -Durchzug.« - -Der Diener ging. Bald darauf zog Georg die Füße unter der Decke hervor, -saß einen Augenblick frierend auf dem Bettrand und fühlte sich aus der -Welt herausgenommen und in Krankheit gekleidet. Draußen war alles leicht -und natürlich, aber sein Wesen entstellt, verfremdet und peinlich. Er -schlürfte hinüber, spülte sich Körper und Mund und war froh, im Zimmer -wieder unter was Warmes kriechen zu können. Ach, dachte er, so war es -damals genau, als ich die Masern kriegte! Mitten im Tag fings an, ich -wurde ins Bett geschickt, und wie ich da auf dem Bettrand saß und fror -und alles so weit weg war und Altelinda mir die Stiefel auszog und ich -so schwer war am ganzen Leib und unbeschreiblich sehnsüchtig, ins Bett -zu kommen und den dumpfen Kopf ganz tief ins Kissen zu stecken, -- ja -all das war genau wie jetzt; eigentlich war es herrlich. Ach, wie -geborgen war man in seinem Bett als Kind! »Ist noch was, Egon? -Frühstück? Nein, ich mag nichts, aber die Post, nein, keine Post, aber -die Zeitung, ja, und dann -- rufen Sie auch gleich, oder -- wie spät ist -es denn? Halb acht? Also rufen Sie in einer Stunde bei Frau Dr. Schley -an: ich hätte, -- ach, warten Sie damit, bis der Doktor dagewesen ist!« -Egon entfernte sich, Georg rief ihm nach, er sollte die Tür halb offen -lassen. - -Nun lag er still auf der linken Seite und blinzelte durch die Türöffnung -ins Nebenzimmer. Da war ein Stück vom Schreibtisch, mit Aktenstößen, und -das Fenster, und die Falten der Vorhänge, und draußen die Sonne und das -Sommerliche, ein Stück Teppich unten, und all das so anders als sonst, -so ganz für sich und ohne ihn. Er hörte Schritte auf dem Flur, Türen, im -Eßzimmer eine Schranktür, deutlich alles und doch ganz dumpf und immer -vermischt mit seinem Frostschaudern und Fiebern und dem Herben in der -Nase und der Stirnhöhle, und das Ganze wiederum doch nicht unbehaglich. -Die Tür ging leise, eine schwere Frauenfigur kam ans Bett und stand -still, er öffnete die Augen und lächelte. »Oltsche,« sagte er, »ich -sterbe, mit mir hats nun ein Ende, Sie stehen im Testament.« - -Die Hausmeisterin schlug die Hände zusammen und sagte: »Nein, sowas! Und -wo unsre Prinzessin auch schon --« Georgs Husten übertönte das Übrige, -die aufgeregte Alte klopfte ihm die Kissen zurecht, er streckte sich aus -und bat sie, ihm die Zeitung zu geben. Sie ging und kam wieder mit -dumpfen, weichen Schritten, fragte noch, ob er denn gar nichts essen -wollte, und war leise hinaus. Georg setzte sich auf und riß die Zeitung -auseinander. Es war fast zu dunkel zum Lesen, er hielt die gedruckte -Seite zum Licht hin, fand die fettgedruckte Zeile: Das Befinden der -Prinzessin Sigune, -- die Buchstabenketten fielen auseinander, er raffte -sie herzklopfend zusammen und las: - -»Im Befinden der Prinzessin ist seit gestern keine Änderung eingetreten. -Eine persönliche Anfrage unsrer Redaktion bei Herrn Professor Dr. Bosse -bestätigte uns die traurige Gewißheit, daß es sich nicht um die -häufigere Art Meningitis, sondern um tuberkulöse Gehirnhautentzündung -handelt. Das Bewußtsein ist seit fünf Tagen nicht wiedergekehrt, die -Nackensteife ...« Georg konnte nicht weiterlesen. -- Sie muß sterben, -sie muß sterben, vielleicht ist sie schon tot, sagte er unaufhörlich, -krampfhaft bemüht, dabei nichts zu empfinden und Mitleid hervorkommen zu -lassen, und er erzwang das Mitleid durch den Gedanken, daß sie -fürchterliche Kopfschmerzen gelitten hatte und nun aus irrem Dunkel ins -tiefere hinüberschlafen würde. Er sah sie im Bett liegen, steif, das -Gesicht hintenübergebogen, bleich und ohne die Augen schon gar nicht -mehr kenntlich für ihn, der sie kaum kannte. -- Nun ließ er die Zeitung -an die Erde gleiten, wickelte sich bis an die Ohren in die Decke, fühlte -die glatte Trockenheit und Hitze seiner Beine und zwang sich, nichts zu -denken. - -Stand jemand am Bett? Egon sagte, er habe im Herzbruchschen Büro -angefragt --. »Ja, wie spät ists denn schon?« -- Es sei gleich zehn Uhr. --- Ach, er hatte geschlafen. -- Der Arzt heiße Dr. Birnbaum, am -Theaterplatz, er würde gegen Mittag kommen. -- Birnbaum? Aber Onkel Salm --- Sigurd --, sie hatten doch keine Verwandten in der Stadt ... »Haben -Sie Herrn Prager Bescheid gesagt?« Ja, und er ließe fragen, ob er -herüberkommen sollte. Ja, Georg ließe bitten. -- Egon nahm die Zeitung -und trug sie weg. - -Benno kam und benahm sich genau wie die Menschen an Krankenbetten, -lächelte, tat hoch erstaunt und sagte, was Georg für Geschichten machte; -er war fremd und irgendwie kalt und frisch. Georg bat ihn, sich mit -Zinna verbinden zu lassen und anzufragen, wie es stünde. Er hörte ihn -nebenan sich mit dem Telephon beschäftigen, ohne Worte zu verstehn, -durch das ferne Klingen und Summen in seinem Gehör. Dann setzte Benno -sich still neben Georgs Bett und schwieg sich teilnahmsvoll aus. Als er -gerade etwas zu sagen anfing, schrillte das Telephon laut auf, Benno -ging hin, Georg wollte nichts Unverständliches hören und verschloß die -Ohren. Wenn sie schon tot ist, -- wenn sie schon tot ist ... dachte er. -Endlich kam Benno. Es stünde sehr schlimm, sagte er bekümmert, sonst sei -nichts zu sagen. - -»Ach, Benno,« fing Georg nach einer Weile an, »wie war es doch schön, -wenn man krank war als Junge!« - -»Ja,« sagte Benno begeistert, »wie gut sie gleich Alle waren! Jeder kam -herein und machte einen Scherz, mittags kam Vater, legte einem seine -große, kalte Hand um die Wange, faßte mit sonderbar harten Fingern nach -dem Puls und sagte, es würde schon werden.« - -»Hattest du je Masern, Benno?« - -»Masern?« Bennos Stimme überschlug sich, »es war herrlich, ganz -herrlich! Man war ganz gesund, bloß im Bett mußte man sitzen, und ich -lag mit meiner Schwester in einem Zimmer, die hatte sie natürlich auch, -und es war herrlich. Kleine, gebratene Tauben bekamen wir zu essen und -alle Tage Apfelmus, so ganz seimig, und eine herrliche Bouillonsuppe, -die war aus Sago und ganz goldklar, das war die Krankensuppe, Gott, den -Geschmack kann ich jetzt noch spüren und den winzigen Knochensplitter, -der drin war.« - -»Und die Stille, Benno, weißt du noch? und wie es sang in der Stille, -und wie man stundenlang lag und das Muster der Tapete verfolgte, und die -alltäglichen Geräusche draußen, die so anders klangen und so weit -entfernt, auf der Treppe und nebenan, und man kannte sie doch nicht ...« - -»Und dann bekam man die herrlichsten Spiele mitgebracht, oh Georg, -Geduldspiele aus ganz blanken Klötzen, unbeschreiblich neu und glänzend, -grüne Würfel und rote und -- nein, das war ja alles gar nichts gegen die -Flechtarbeiten! Hast du nie Flechtarbeiten gemacht? Ich will es dir -erklären: Erst kam Glanzpapier, das mußte auf der Rückseite liniiert -werden und in schmale Streifen geschnitten, aus denen wurde das Muster -geflochten, aber dies Glanzpapier, das vergesse ich nie! Es gab -silbernes und goldnes, aber das war nicht das Schönste. Das Schönste war -tiefdunkelrot, wie Samt, aber dabei war es so himmlisch glatt und -knitternd, obgleich es ganz dick aussah; das Hellgelbe war auch schön, -aber eigentlich unangenehm; es gab hellblaues und dunkelblaues, das rosa -war so beißend, herrlich war auch das Dunkelgrüne; das war wie ein -ganzer Tannenwald ...« Bennos Stimme verhauchte hingebungsvoll. - -»Nein, das hatte ich nicht,« sagte Georg, »aber ich hatte ein Reißbrett -...« - -»Ein Reißbrett?« jauchzte Benno, »ich hatte auch ein Reißbrett, weißt du -noch --« - -»Wie es ganz hart war, Benno, und eckig, wenn es in die weichen Kissen -gedrückt wurde, über den Schenkeln und gegen den Unterleib, fühlst du -das noch?« - -»Und wie man nicht dran dachte, und es ganz schief wurde, wenn man die -Knie anzog, und alles rutschte herunter!« - -»Und der Suppenteller, die Suppe floß über, und das war so klebrig und -warm ... Oh mein Reißbrett hatte Onkel Salm erfunden, der schleppte es -an, es war in Trassenberg, er saß immer bei mir und baute Zinnsoldaten -auf, mein Vater hat eine riesige Sammlung, zwanzigtausend sind es, glaub -ich, die Schlacht bei Lützen konnte man machen, und die Schlacht bei St. -Privat und bei Waterloo.« - -Benno lächelte beseligt mit Georg. »Ich hatte auch Zinnsoldaten,« -flüsterte er, »jede Weihnachten bekam ich eine Schachtel, sie waren oval -und aus Span, auf dem Deckel war ein weißblaues, rechteckiges Etikett, -und beim Auf- und Zumachen schnurpste der Deckel wundervoll!« - -»Und drinnen, Benno, drinnen lagen sie ganz still und blank, die -Fußbretter am Rand, die Gewehre und Fahnen nach innen, ganz kostbar, -immer nur drei oder vier in einer Schicht und dazwischen ovale Blättchen -aus so einem Papier ... einem Papier ...« - -»Ein herrliches Papier!« hauchte Benno, »es war wie Löschblatt, aber -dünner und fester und ganz weich ...« - -»Ja, ganz weich,« sagte Georg vor sich hin und sah die blitzenden, -unbemalten Säbel und Bajonette und die glänzenden braunen, schwarzen und -weißen Pferde, die blauen, roten und grünen Lackfarben der Monturen zum -Vorschein kommen. Trommler gingen voran und Fahnenträger, schräg nach -vorn geneigt, die Fahne hoch in der Hand, die reitenden Trompeter -bliesen immer nach rückwärts, sie bliesen das Signal zum Vorgehn, ja, -Onkel Salm machte es mit dem Munde, es war völlig natürlich, und es -klang so aufreizend: Tötötötö, tötötötö, tötötötö ... Und dann wurden -sie aufgestellt nach dem Lineal, in der vordersten Reihe die Knieenden, -dann die Chargierenden, damals sagte man noch chargieren, genau >auf -Luke<, und im dritten Gliede die stehend Schießenden. Bei jedem Regiment -war ein Gefallener und einer, der grade hintenüberfiel. Oh es gab -Schotten in roten Röcken und mit schottischen Unterröcken, mit -Dudelsackbläsern, -- die Artillerie war immer etwas unangenehm, weil sie -im Schritt ritt, die Kavallerie galoppierte mit geschwungenen Säbeln, -die Ulanen mit eingelegten Lanzen, und wie war nur alles kostbar und -selten, und wenn sie alle aufgestellt waren, mußte man von der Seite -gegen die festgeschlossenen Formierungen sehn, und Beine und Gewehre und -Arme und Köpfe waren in einer Linie ... - -Sie sprachen nicht mehr, sie träumten ... Abends kam die Lampe, wie sah -man sie zum ersten Mal, ihr stilles Licht, sie stand anders im Zimmer -als sonst, weit fort von einem, und alles lag im Schatten; das Muster -der Tapeten sah wieder anders aus, dann kam die Abendsuppe, die mußte -der gute Doktor immer selber machen, Wassersuppe von Sago wars, ganz -klar und schön sanft grau. Dann entkorkte er feierlich die Weinflasche, -hielt einen silbernen Löffel über den Teller und goß den roten Wein -darauf, bis er überfloß in die Suppe, und dann lief das dunkle Rot im -Grau aus, es gab einen wunderbaren purpurnen Fleck, dann wurde gerührt, -und die Suppe war herrlich rot. Der Löffel war kleiner als ein -Erwachsenenlöffel, hatte eine punktierte Linie am Rande des Stiels und -hieß: der Kinderlöffel. Georgs Kinderlöffel. Jeden Tag kam Mama für zehn -Minuten und erzählte etwas Lustiges ... - -Die lange schwere Locke an ihrem Hals, -- ich durfte sie ganz vorsichtig -anfassen. Ich wunderte mich im stillen, wie kühl ihr Hals war, aber die -Locke war doch das Schönste auf der ganzen Welt. Magda hatte Puppen, -deren Locken faßte ich auch an, aber es war nichts damit. Ja, diese -Locke war lebendig; sie ringelte sich um den Finger, und man mußte -unendlich vorsichtig sein, daß man ja nicht daran zog, und doch durfte -man es. Mama erzählte vom Hühnchen und Hähnchen, vom Ei und der -Stecknadel. Wie schön war Mama! -- -- - -Georg fühlte, daß sein Kinn zitterte, und daß es ihm dick im Halse -wurde. Damals war ich glücklich, dachte er, und seitdem nie wieder. -Damals wußte ich nicht, und heute weiß ich alles, alles. - -Da saß Bennos Schattenriß, nah, dunkel und hoch vor der gelblichen Helle -des Fenstervorhangs. Georg schob sich tiefer im Bett, steckte die kalt -gewordenen Arme unter die Decke, zog sie fröstelnd hoch; sein Kopf -schmerzte heftig, er wollte sich einwickeln und eindämmern wie als Kind. --- Als er nach einer Weile die Augen öffnete, sah er Benno auf den Zehen -an der Tür, ihm fiel ein, seinem Vater Bescheid sagen zu lassen, daß er -heute nichts ... »Sei so gut, Benno, und sage in Trassenberg Bescheid. -Du kannst dich ja vom Hausmeister verbinden lassen. Dr. Birnbaum sollte -heut nicht kommen. Ich könnte heut nichts Geschäftliches besprechen, -wenn Unterschriften wären, könnten sie vielleicht mit einem Kurier -geschickt werden, und sonst auch was Wichtiges ...« - -Nun war alles still. Vom Schreibtisch her tickte die Uhr sachtsam vor -sich hin. Gunny, sagte die Uhr, Gunny, Gunny ... Jetzt starb sie -vielleicht. Kein Mensch wußte mehr, was in ihr war. - -Ein helles Klingen sprang in seinem Ohr auf, er fühlte, daß er -geschlafen hatte, dann merkte er, daß nebenan die Korridortür geöffnet -und jemand die Stufen herabkam, der aber nicht sichtbar wurde. Dort -waren jetzt die Vorhänge geschlossen, eine Wand von Sonnenstäubchen -stand golden vor dem Schreibtisch, darin erschien Egon und meldete: -»Herr Doktor Birnbaum.« - -Georg setzte sich auf, ließ sich Kamm und Bürste geben, ordnete sein -Haar und ließ den Doktor hereinbitten. Da fühlte er wieder dies Andre: -im Bett zu liegen am hellen Tage und jemand von draußen hereinkommen zu -sehn, frisch und lustig und kalt, den Doktor, der ein kleiner zierlicher -Mann war mit rundlichem Kopf. Als er vor Georg stand, zeigte er ihm ein -rechtes Arztgesicht mit einem kleinen borstigen Schnurrbart, etwas -quellenden, gelblichen Augen hinter einem goldenen Kneifer und dünnem, -gescheiteltem Haar, an der gebogenen Nase als Jude kenntlich, und wenn -er sprach und lachte, wurde sein Gesicht ein wenig eulenhaft. Hin und -wieder kniff er nervös die Augen zusammen, freundlich sprechend, ein -bißchen witzelnd, er freue sich ja sehr über Georgs Krankheit, nun würde -seine Praxis noch mal so groß aufblühn, denn sterben würde er ihm ja -wohl nicht. Georg lachte, er hätte nicht die Absicht. »Na, denn wolln -wir mal sehn«, sagte der Doktor, Egon mußte den Fenstervorhang öffnen -und einen Löffel besorgen. Der Doktor fühlte den Puls, sagte: »Zwischen -acht- und neununddreißig«, ließ sich von Georg sagen, wo er Schmerzen -habe, dann kam der Löffel, Georg mußte den Mund aufsperren, der -Löffelstiel fuhr kalt und bitter schmeckend hinein, Georg krächzte: Oh -oder Ah! Der Doktor kratzte mit dem Löffel im Hals, Georg konnte sich -wieder hinlegen und zudecken. - -Ja, es wäre eine kleine Mandelentzündung, ganz ungefährlich, -Diphtheritis sei nicht zu erwarten, der Belag sei leicht zu entfernen, -in ein paar Tagen könnte es schon vorbei sein. Ob das Herz in Ordnung -sei? -- Da Georg verneinte, verlangte der gründliche Doktor, daß er die -Jacke auszöge, und klopfte ihn mit größter Sorgfalt ab. Es wäre alles -halb so schlimm, meinte er dann, aber er sollte doch lieber nur eine -Aspirintablette nehmen, dreimal täglich. Tscha, und einen Strumpf um den -Hals, wenigstens nachts und mit Wasserstoffsuperoxyd gurgeln. Da Georg -betonte, daß er so schnell wie möglich gesund werden müßte, meinte er, -das hinge ganz von ihm ab; Ruhe, wenig essen, leichte Sachen -- -Sagosuppe mit Wein, sagte Georg -- ja, auch Gebratenes -- kleine Tauben, -dachte Georg -- und solange er sich krank fühlte, sei er eben krank, und -wenn er sich gesund fühle, sei er wieder gesund. Egon stand all die Zeit -daneben, seine dunkle widerspenstige Haarwelle in der Stirn, und sah -alles besorgt und genau mit an. - -Das war erledigt. Um noch etwas zu sagen, fragte Georg den Doktor, ob er -vielleicht mit dem Studenten Sigurd Birnbaum verwandt sei. Der Doktor -lachte, daß sein Schnurrbart zitterte, kniff die Augen zusammen und -sagte: - -»Pirnbaum, Durchlaucht, Pirn, mit hartem P, nein, mit Sigurd bin ich -nicht verwandt, aber ich kannte die Beiden schon als kleine Kinder. -- -Ja, die arme Esther, das war ein böses Ende!« Ob er von Sigurd noch -hörte. -- Jetzt seit langem nicht; er sei in Rußland, in Odessa. - -Der Doktor schien zum Gehn bereit, sagte dann aber: »Darf ich noch was -fragen?« »Ja, aber bitte!« »Ach, Sie haben so eine wunderschöne, so eine -wunderschöne Miniatüre auf dem Schreibtisch, wenn ich die einmal sehn -dürfte?« - -Georg winkte Egon. -- Aber gerne! ob er sich dafür interessierte? -- Der -Doktor rückte an seinem Kneifer und lächelte, -- Georg dachte: als hätte -ich ihn gefragt, ob er was von Diphtheritis versteht. -- Egon brachte -die Miniatüre von Georgs Mutter. Der Doktor nahm den Kneifer ab, rieb -die etwas geschwollenen Lider, brachte die runden Augäpfel ganz dicht an -das kleine Bildnis und betrachtete es ungemein sorgfältig. - -»Es ist meine Mutter,« sagte Georg, »als junges Mädchen.« - -Das sei wunderschön, ausgezeichnet gemalt, wie man es gar nicht mehr zu -sehn bekomme. Er habe eine kleine Sammlung von Miniatüren, so -hundertundfünfzig Stück, ja, er sei ein Kenner davon, lachte er. - -»Miniatüren«, sagte Georg, »könnte ich auch sammeln, es ist eine -wundervolle Art Kunst und wieviel schöner, im Grunde doch wieviel -lebensvoller als unsre farblose Photographie trotz des Reizes des -Augenblicks. Aber so ein Bild kann ich immer ansehn, es hält den Blick -so ruhig aus, und sehen Sie nur die feine, durchsichtige Spitze auf der -Brust, und die Locke, wie sie gemalt ist!« - -Der Doktor sagte, er habe eine ganz ähnliche aus dem Anfang des -neunzehnten Jahrhunderts, deshalb sei ihm diese auch aufgefallen. -- -Georg hörte ihn noch einiges sagen, jedoch von fern, ohne zu verstehn; -sein Traum regte sich in ihm, er fühlte sich wieder weinen mit Cordelia --- oder war es Esther gewesen? --, sah die sonderbaren dunklen Zimmer -voller Menschen und dann Renate, nein, Dora Vehm, aber auch deren -Gesicht war nicht ganz das Doras, sondern fremde Züge waren darin ... Da -sah er den Doktor sich vom Stuhl erheben, reichte ihm die Hand, bedankte -sich und bat ihn zu erlauben, daß er sich einmal seine Sammlung ansehe, -später, jetzt sei ja ... - -Ach, ja der Prinzessin gehe es ja so schlecht, aber es sei wohl noch -nicht alle Hoffnung verloren ... Georg murmelte irgend etwas, der Arzt -ging. - -Hatte sie nicht diese Locke gehabt im Traum? Aber wie seltsam sein Herz -erregt war von dieser Frau! Ich muß sie geliebt haben im Traum, ich -empfinde noch ganz diese Süße ... Die Träume machen aus uns, was sie -wollen, murmelte er und verkroch sich frierend. - -Egon erschien mit Fragen wegen des Essens. Er sagte ihm Bescheid, trug -ihm dann auf, bei Frau Dr. Schley anzurufen, zu sagen, daß er mit einer -leichten Mandelentzündung zu Bett liege, und zu fragen, ob sie nicht -kommen könnte. - -Die Augen fielen ihm wieder zu, aber im Eindämmern störte ihn Egon mit -der Meldung, es täte der gnädigen Frau ganz schrecklich leid, aber Herr -Doktor käme am Nachmittag aus Berlin, und sie würde nicht vor fünf, halb -sechs da sein können. -- Ach, das war elend! Schlafen, dachte Georg, -schlafen! Seine Schläfen glühten, die Gedanken fingen an, rasend zu -arbeiten, er träumte oder phantasierte, er war an hundert Orten, sah -Menschen über Menschen, Gesichter, die er nie gesehn, schwebten auf ihn -zu, bewegten, verzerrten sich, manchmal nur Gebärden, Begriffe von -Gebärden, ein wüstes Wirrsal, aus dem er in ein andres von Versen, -Versstücken und Gedichten stürzte, erhitzten Gehirns, stumpf daliegend, -aber aus diesem erlöste ihn plötzlich Jason al Manachs freundliche -Gestalt. Wie er ihn einmal am Abend im Park getroffen hatte, sah er ihn -wieder: er saß, einsamer anzusehn als andre Menschen und doch nicht so -verschlossen in sich, nicht so belastet mit Einsamkeit, sondern ganz -leicht, auf der Bank auf der kleinen Anhöhe, über die niedre Böschung -und die Hecke zu seinen Füßen in die Wiesengegend hinüber schauend, aus -denen Abend dunkel und Nebel weißlich aufstiegen. Und auf Georgs -gedankenlose Frage, was er tue, hatte er wieder gefragt, ob er Libussa -von Grillparzer kenne, und da Georg verneinte, fing er gleich den -wundervollen Eingang des Stückes an, -- Georg entsann sich wieder: - - Ihr Götter! ist es denn wahr und wirklich so? - Daß ich im Walde ging ... am Gießbach ... - Und nun ein Schrei in meine Ohren fällt, - Und eines Weibes leuchtende Gewande, - Vom Strudel fortgerafft, die Nacht durchblinken. - Ich eile ... und trage ... - Die Beute, kalte Tropfen regnend, - ... und ich löse - Von ihren Füßen selbst die goldnen Schuhe, - Und breite aus den schwergesognen Schleier, - Und ... - -Ach! Jason! sieh! da saß er ja auf dem Stuhl am Bett und sah kühl und -angenehm aus. »Eben dachte ich noch an Sie,« sagte Georg erfreut -- -»erinnern Sie sich noch, wie Sie mir einmal Libussa vorgesprochen haben? -Wir haben uns lange nicht gesehn, wo kommen Sie her?« - -Jason, die schwarzen Augen mit großer Ruhe auf ihn gerichtet, sagte: - - »Man sage nicht, das Schwerste sei die Tat, - Da hilft der Mut, der Augenblick, die Regung; - Das Schwerste dieser Welt ist der Entschluß. - Mit eins die tausend Fäden zu zerreißen, - An denen Zufall und Gewohnheit führt, - Und, aus dem Kreise dunkler Fügung tretend, - Sein eigner Schöpfer zeichnen sich sein Los.« - -Im nächsten Augenblick war er völlig verschwunden. - - * * * * * - -Georg erwachte. Der warmen, sonnigen Dämmerung nach mußte es schon -Nachmittag sein; er fühlte sich leichter und freier und sah zu seiner -Verwunderung auf dem Nachtschrank eine Medizinflasche und eine Glasröhre -mit Aspirintabletten liegen, in der beim Nachsehn eine fehlte; da auch -die wasserhelle Flüssigkeit in der Flasche angebrochen war, mußte er -gegurgelt und Aspirin genommen haben, konnte sich aber durchaus nicht -entsinnen. Auf sein Klingeln erschien statt Egons Frau Vögelein, -mütterlich verhaltenes Zufriedenheitslächeln in den Augenwinkeln, weil -er so gut geschlafen habe; es sei schon drei Uhr durch, ob er denn nun -etwas essen möchte. -- Georg mochte, und richtig bekam er zwar seine -ganze Taube, aber die fein zerlegten Bestandteile davon, Keulen, Flügel -und zarte, weiße Brustschnitzel; er hätte viel um ein Reißbrett gegeben, --- der Stuhl, von dem er essen mußte, war recht kümmerlich. - -Danach ließ er von Egon und dem Hausmeister sein Bett ins Arbeitszimmer -stellen, an die Wand des Schlafzimmers, das Fußende an dessen Tür -entlang, die ausgehängt werden mußte. Das war nun sehr angenehm. Der -große Vorhang konnte ein wenig gerafft werden, er sah den sinnenden -Borgia dunkel sitzen, sah die nachmittägliche, sonnige Juniwärme im -Garten, hörte die Spatzen lärmen und fühlte sich äußerst behaglich in -der leichten Dumpfheit seines Gehirns. - - Das Schwerste dieser Welt ist der Entschluß ... - -Woher stammte das? Hatte das Jason gesagt? -- Sie hatten von Libussa -gesprochen, richtig -- vielleicht war die Zeile aus Libussa. Da fiel ihm -ein, wie er vor langer Zeit einmal in Musäus' Volksmärchen Libussa -nachgelesen hatte, Renates wegen, und -- jetzt hab ichs! frohlockte er, -jetzt hab ich meinen Festzug und das Spiel! Er dachte, wie er sich den -Kopf zerbrochen hatte, um für den üblichen historischen Festzug am Tage -der Regierungsübernahme etwas Andres zu erfinden; Renate mußte dabei, -mußte Glanz und Zentralsonne des Ganzen sein. Also Libussa! Nun schossen -Szenen und Ideen von allen Seiten herbei. Libussas Wahl zur Herzogin von -Böhmen, dann die Aussendung des weißen Rosses, ich werde Primislaw -- -nein, das wird nicht gut gehn, ein Schauspieler muß ihn in meiner Maske -darstellen, zuletzt werde ich an seine Stelle treten und mit Renate -zusammen die Huldigung des Volkes an uns vorüberziehn lassen, Gilden, -Zünfte, Wagen, Söldner, oder Ritter -- ja, welche Zeit war denn das -eigentlich? Um tausend oder so -- und wo sollten die Szenen gespielt -werden? Ein altes Schloß konnte auf dem Gehrdener oder Benter Berge -leicht gebaut werden, -- herrlich, wenn das weiße Pferd über die -Sommerwiesen bergauf kommt, zwei Reiter müssen es an langen purpurnen -Riemen unmerklich lenken, -- dann Renate, auf hohem Festwagen, an der -Spitze des Zuges in die Stadt hineinrollend, und die Huldigung -- vom -Schloß aus -- unmöglich, es hat keine Terrassen, das Theater hat eine -schöne, aber die Anlagen davor -- --, die werden beseitigt -- und es -sieht ja wie ein griechischer Tempel aus -- dorische Säulen -- ah, die -werden mit Rabitzmauern verbaut und in ein Schloß verwandelt, und Renate --- -- und Sigune? - -Sigune lag im Sterben. Sie mußte sterben, jeder sagte es ja, wenn auch -nicht mit Worten. Ließ sich denn leugnen, daß es gut sei, für sie und -für ihn? Konnte sie je glücklich, je zufrieden werden neben ihm? Mußte -sie ihn nicht täglich ... ach, wozu, wozu das denken? Sie blieb leben, -dann mußte es ertragen werden, oder sie starb -- sie starb ... - -Und recht behielten die Sterne ... - -Georg fuhr zusammen, dicht über ihm, noch ihm ungewohnt, wurde die Tür -geöffnet, Egon kam eilig die Stufen herab und flüsterte: »Seine -Durchlaucht ...« Georg warf sich im Bett herum und schrie: »Halloh!« - -Wahrhaftig, da kam sein Vater den Gang herauf, er ging ja immer -aufrechter und leichter! -- stand gleich darauf riesengroß und hoch über -Georg in der Tür, lachte und sagte: »Was sind denn das für Geschichten?« -Er war auch schön frisch und kühl und hatte pikfeine, hellgelbe -Schwedenhandschuhe angezogen. Georg schimpfte nun aus Leibeskräften, der -Herzog wurde ganz verlegen und entschuldigte sich vielmals. Es sei ja -aber ein Katzensprung im Automobil herüber ... Georg versicherte, wie -glänzend es ihm schon wieder ginge, bloß das Schlucken täte noch weh, -und überdies sei es köstlich im Bett zu liegen. »Heute morgen«, sagte -er, »habe ich mir mit Benno erzählt, wie es war, wenn wir als Jungens -krank waren, er hatte Flechtpapier, und ich hatte Zinnsoldaten, aber ein -Reißbrett hatten wir Beide, und das war das Schönste. Nein, das -Schönste« -- Georg stockte innerlich -- »war Helenes Locke, nein, die -werde ich nie, nie vergessen ...« - -»Die arme Helene ...« sagte der Herzog. - -Sie schwiegen und sahen aneinander vorüber. Aber Georg wußte, sie -brauchten sich nicht anzusehn, ihrer beider Hände lagen wie an einem -dehnbaren, festen Reifen an dem gleichen unnennbaren Gedanken, und -- so -war alles gut. - -»Und Sigune?« fragte der Herzog. Georg, innerlich die Zähne -zusammenbeißend, sah seinem Vater in die Augen und sagte: »Ich fürchte --- es geht zu Ende.« - -Der Vater antwortete nicht; aber was sie dachten, war wohl wieder das -gleiche ... - -»Und wie ist es ... giebts etwas Neues, Papa?« begann Georg nach einer -Weile. - -Von Wichtigkeit nichts Besonderes, meinte sein Vater. Von der guten -alten Beuglenburgschen Sippe habe nun auch der Letzte sich entfernt, der -gute, uralte Amtshauptmann Wahrendorff; er habe ihm selber, da sie sich -ja lange konnten, geschrieben, daß er sein Entlassungsgesuch eingereicht -habe. Im ganzen handle es sich nun also um fünf neue Männer, die zu -beschaffen wären, denn Kultus und Landwirtschaft müßten ja nun vom alten -Ministerium des Innern abgespalten werden. - -»Birnbaum übernimmt die Finanzen, ich will es so,« sagte der Herzog, -»ein Strohmann, der den Titel und die Orden umherträgt, findet sich -überall.« - -Ob er schon für den Amtshauptmann jemand in Aussicht habe? Sein Vater -meinte, er hätte genug, immerhin sei die Auswahl schwierig. Georg lachte -plötzlich und meinte: - -»Wer wird denn nun eigentlich hier der Großherzog und wer der Strohmann -mit Orden und Titel und so? Ich sehe mich schon in den Krankenhäusern -und bei Grundsteinlegungen umherfahren und verbindlich lächeln, während -im Hintergrunde der Papa >am sichern Schreibtisch sitzend Opus hinter -Opus aufs Papier wirft<, wie unser Morgenstern so herrlich sagt.« - -»Ich verbürge mich dir,« schwor der Herzog, »nach spätestens einem Jahr -ziehe ich mich nach Lesum zurück und veredle Schafe und Hühner.« Georg -lachte, bis er heiser wurde. -- Jawohl, Georg würde schon sehn, wie ihm -im Beuglenburgschen Saustall Nase und Atem vergingen. Ob er schon irgend -etwas von Kalibohrung verstünde! Ob er eine Ahnung hätte, wie die -Kaliförderung in Wiedehopf und Zainhammer sich wieder hochbringen ließe? -Wie viele neue Eisenbahnlinien er -- etwa -- im Auge habe. Und was er -von Eisen-, Kopfstein- oder Holzpflasterung denke für Beuglenburg? Wie -viele und welche Kanäle er zu ziehen gedenke? Und die Deiche, die alten, -hundertmal geflickten Deiche? Und Raschwege, das Gestüt, das einmal -berühmt war? - -Georg ließ alles fröhlich über sich ergehn und sagte, er wüßte einen -Amtshauptmann. »Schley heißt er, das heißt seit gestern; vorgestern hieß -er Freiherr von Schley-Schleyenburg, sein Vater hatte eine Wagen- und -Pumpenfabrik und kaufte den Adel von Beuglenburg für eine -Kleinkinderbewahranstalt oder dergleichen. Es ist ein Korpsbruder von -mir, hat den Adel fortgelegt, war Assessor und ist jetzt -fortschrittlicher Abgeordneter. Wir haben uns seit einiger Zeit sehr -angefreundet, das heißt, eigentlich bin ich mit seiner Frau befreundet, -aber wir haben uns in endlosen Nachtgesprächen ungemein schätzen und -kennen gelernt. Ich war auch einmal auf die Dörfer mit ihm zu einer -Wahlversammlung, und da habe ich das gesehn, weshalb ich ihn dir -vorschlage, nämlich die wundervolle Art, wie er mit den Leuten umzugehn -weiß; weder leutselig, noch so grob auf du und du, sondern fein -teilnehmend und -- nun, das läßt sich eben nicht beschreiben; er hat die -Gabe -- du hast sie ja auch --, aus jedem Menschen gleich das Beste -herauszuholen, und ist überhaupt unwiderstehlich. Genügt das? Den -Reichstag hat er satt, also --?« Sein Vater stand auf und setzte sich an -den Schreibtisch, um Namen und Daten aufzuschreiben. - -Georg blickte verträumt ins Freie hinaus. Dort, in greifbarer Ferne, lag -sein Großherzogtum, so fest, so schwer und massig wie hier der Rücken -und Kopf seines Vaters am Schreibtisch, und es würde eine herrliche Zeit -anbrechen. Keine Träume brauchte es mehr zu geben, zwischen allen -Fingern spürte er schon das Gewimmel der tausend großen beweglichen -Gegenstände, -- wie der Odem eines Tieres, heiß und wild, schnob ihn der -neue Atem gesammelter Handlungen an, Land brodelte, im unterirdischen -Raum stampfte die geheizte Maschine, durch ihren unsichtbaren Dampf -blickten die gesicherten Sterne, einverstanden und wohlgefällig ... - -Wenn aber Virgo kommt, muß Papa fort sein, durchfuhrs Georg. Ich will -ihn zu Renate schicken, er scheint sie ja sehr zu lieben und kann dort -eine schöne Rede auf mich halten. »Ja, wie ist es nun, Papa,« sagte er, -als sein Vater sich mit dem Stuhl herumsetzte, »glaubst du nicht an die -Möglichkeit, daß du mir jetzt im Wege sein könntest?« - -Der Herzog kniff das linke Auge zu. »Eine Dame«, sagte er und nickte -langsam und voll Verständnis mit dem Kopfe. »Ich verschwinde«, sagte er, -»und gehe zu Fräulein von Montfort.« - -Georg sagte, das hätte er sich im stillen schon gedacht, er würde dort -vermutlich eine schöne Rede auf ihn halten. -- Sein Vater stand eilig -auf, humpelte zum Bett und ergriff seine Handschuh. »Ich komme nachher -noch einmal herein. Leb wohl, mein Junge«, sagte er plötzlich sehr warm -und legte ihm die Hand auf den Kopf. Georg, die Augen schließend, fühlte -die warme Schwere, fühlte sich kindlicher als in allen Erinnerungen des -Morgens, wohl beschützt und recht frohen Mutes ... - -Als sein Vater hinaus war, rief er Egon und ließ den Vorhang wieder -schließen, legte sich auf die Seite, schloß die Augen und verirrte sich -liebevoll in bunte Szenen und farbige Trachten. Daß Virgo nicht würde -dabei sein können, betrübte ihn, aber um jene Zeit erwartete sie ihr -Kind. Virgo, meine liebe, kleine Schwester, dachte er zärtlich, und ohne -sein Zutun schlossen sich die Worte an: Weißt du noch, wie wir uns -Blumen brachten? Und die lieben, kleinen Vogelnester, die das Herz so -zittern machten, und ... und im Park der Teich im runden Rahmen gelber -Iris, blank wie ... Mond ... Und ... und wie klangen, wenn wir riefen, -unsre Namen, durch die Stille ungewohnt? ... Er fing an, die -Unregelmäßigkeiten in den Zeilen auszufüllen, neue kamen hinzu, er -sammelte und legte fort, langsam schloß Strophe sich an Strophe, um -nichts zu vergessen, sagte er sie sich unaufhörlich wieder vor und -schlief allmählich darüber ein. - -Die Augen öffnend, wußte er, daß jemand vor ihm stand; er fühlte sich -wieder heißer, es war tiefe Dämmrung und nahe über ihm etwas Großes, -Weißes; auf seiner Stirn lag etwas Kühles, eine Hand, er schloß die -Augen wieder und dachte, noch halb im Schlaf: Sie ist da ... Ganz leise -lief hoch über ihm ihr Lachen silberflüssig durch dunkle Luft. Er schlug -die Augen auf und sah die ihren, groß und schwarz unter den dicken -Brauen, ihr kleines Gesicht, ganz weiß auf dem kleinen, leichten Hals; -sie hielt einen riesigen Armvoll weißer Narzissen an die Brust gedrückt -und ließ sie nun, sich überbeugend, auf sein Bett, auf sein Gesicht -fallen, naß, kühl, feierlich duftend. - -»Ja, was machst denn du für Geschichten, Schorse?« fragte sie. Sie -liebte ja nun diese jungenhaften Ausdrücke. - -»Jeder einzelne,« sagte Georg, »der hereinkommt, fragt, was ich für -Geschichten mache. Nun setz dich aber!« Er drückte auf die Klingel. Sie -raffte ihre Blumen vorsichtig wieder zusammen, Egon kam und holte eine -Vase, die allergrößte, einen dunkelgrünen Topf; er wurde auf den -Schreibtisch gestellt, das war kostbar anzusehn. - -»Wolfgang läßt vielmals grüßen«, berichtete sie. Halbtot sei er -angekommen und habe gebrüllt, daß die Wände gezittert und der -Kanarienvogel gezetert hätte. Er wollte lieber sterben, als sich noch -ein einziges Mal mit einem Agrarier boxen. Daß der Teufel ein Agrarier -sei, das stehe felsenfest. - -»Er soll nun Amtshauptmann in Beuglenburg werden,« sagte Georg, »Papa -war da, wir haben es schon abgemacht.« - -Virgo war hochentzückt, aber nun mußte Georg auf das genaueste erzählen, -was und wo es ihm fehle, wie er den Tag verbracht habe, was er haben -wollte, -- wobei Georg das Gedicht einfiel, das er vor dem Einschlafen -zustande gebracht hatte, und sie mußte sich auf den Bettrand nahe zu ihm -setzen, er nahm ihre Hände und sagte leise und langsam, den dichten, -weißen Strauß der zarten Sterne mit rötlichem Herzen vor Augen: - - »Virgo, meine liebe kleine Schwester! - Weißt du noch, wie wir uns Blumen brachten, - Und die lieben, kleinen Vogelnester, - Die etwas in uns so zittern machten, - Süß und gar so ängstlich, daß sich fester - Unsre Hände schlossen im Betrachten? - - Und im Park den Teich im starren Rahmen - Gelber Iris, rund, ein blanker Mond, - Wenn wir durch den stillen Mittag kamen - In den Kleidern, die wir sehr geschont ... - Und wie klangen rufend unsre Namen - Durch die Stille fremd und ungewohnt ... - - Kleines Schwesterlein, es ging so bald ... - Ach, wie kam es, Süße, Traute, sage, - Daß so früh sein Stimmlein ist verhallt? - Und wie kommt es, daß ich um es klage, - Da es doch -- o Armut meiner Tage! -- - Niemals Odem hatte und Gestalt.« - -Sie strich leise mit der Hand über seine Stirn. »Nun haben wir uns ja -doch gefunden ...« sagte sie mit ihrer tiefen Stimme. - -»Und denken, wie es hätte gewesen sein können ...« - -»Ich war so sehr allein«, sagte sie ganz wenig klagend. »Meine Mutter -ließ mich so herumlaufen, das war nicht bös gemeint, im Gegenteil, sie -sagte es mir auch später, ich hätte vor allem Freiheit haben sollen, und -sie war doch damals schon eine alte Frau ...« - -»Wenn ich an deine Kindheit denke,« sagte Georg, »sehe ich immer dein -kleines blasses Gesicht mit den übergroßen Augen an eine Fensterscheibe -gedrückt, eben dicht über dem Rahmen, und du standest vielleicht auf den -Zehen an einer Verandatür, drücktest die kleine Nase platt am Glas und -sahst ganz still auf der Terrasse die Spatzen sich um ein paar Krumen -zanken.« - -»Ja, das mag wohl gewesen sein,« lächelte sie, »wie schön du das -beschreiben kannst! nun seh ich es auch, und es sieht gar nicht so -traurig aus.« - -»Erzähl mir doch, wie warst du als Kind!« bat Georg. »Benno Prager und -ich haben uns heute morgen vorerzählt, wie es war, wenn wir krank waren -als Jungens.« Da Georg von Flechtpapier und Zinnsoldaten schon seinem -Vater erzählt hatte, fuhr er fort: »Er bekam eine Bouillonsuppe, und ich -Sagosuppe mit Rotwein: herrlich war das, wenn der rote Wein im grauen -Sago zerfloß!« - -Sie lächelte und sagte, unaufhörlich mit den Fingern durch sein -Stirnhaar streifend: - -»Wenn ich krank war, wurde mein Bett in das Zimmer meiner Mutter -gestellt, das war ziemlich beängstigend. Sie schlief in einem Saal mit -vielen Fenstern und in einem riesigen, uralten Himmelbett mit -geschnitzten und so gewundenen Säulen, an denen kleine Tiere liefen, -Eidechsen oder Molche, und ganz unten, als Fuß, hockte ein Igel und -machte listige Augen. Wenn ich fieberte, liefen die Tiere auf meinem -Bette herum, und meine Mutter mußte immer hinter ihnen her sein. Wenn -mirs wieder besser ging, setzte sie eine Brille auf, und wir spielten -Leben und Tod zusammen mit ganz alten deutschen Karten, so groß wie -Postkarten. Dabei hatte sie so putzige Ausdrücke, die mich begeisterten, -und ich machte sie kräftig nach. Spielte sie Coeur aus, sagte sie: Coeur -du dir an gar nichts! Pikaß war ein Kettenhund, hieß es, und: Trefflich -schön singt unser Küster! Wenn aber eine Neun kam, unterließ sie nie, zu -murmeln: Neun mal neun sind einundachtzig ... Kannst du dir vorstellen, -wie ich so ganz klein im Bett saß mit meinen großen Karten und die alte -Frau betrachtete?« - -»Ach, erzähl mehr,« bat Georg, »wie bist du sonst gewesen, was hast du -gespielt?« - -»Ein Spiel,« sagte sie nachdenklich, »das weiß ich noch, spielte ich, -wenn ich schon im Bett lag. Dann stieg ich wieder heraus, zog mein Hemd -aus, faltete es schön zusammen und kniete ganz nackt und klein auf dem -Bettvorleger hin. Dann war ich ein ganz armes Kind, das gar nichts mehr -hatte, aber nach einer Weile kam eine mitleidige Person, die schenkte -mir ein Kleid, das war das Hemd, das durft ich nun wieder anziehn, da -war mir schon wärmer, und dann kam meine Mutter in einer goldenen -Kutsche vorbeigefahren und nahm mich mit auf ihr Schloß, da durft ich -wieder ins Bett steigen und mich ganz warm einmummen, o das war -herrlich! Ja, da hatt ich nun ein ganzes Zimmer voll Spielsachen, aber -diese selbsterfundenen waren die schönsten. Und einmal weiß ich, da -hatte ich mir das Schaukeln verboten. Ich hatte irgend etwas Strafbares -getan, keiner wußte es aber, und da bestrafte ich mich selbst und sagte: -nun darfst du einen ganzen Tag lang nicht schaukeln. Was das für Qualen -waren, kannst du dir gar nicht vorstellen! Alle halbe Stunde ging ich -ganz langsam zur Schaukel und faßte sie an, oder ich strich mit der Hand -über das Sitzbrett und stand und sah nach dem Balken oben -- ja, und -dann, als ich am andern Tag wieder schaukeln wollte, da mocht ich nicht -mehr. Weißt du, es ging einfach nicht! ich hab nie mehr geschaukelt -seitdem.« - -Sie schwiegen Beide. Es war dunkler geworden, Georg fühlte sich wieder -fiebrischer, die Dinge entfremdeten sich von neuem, Virgos Dasein -verschwamm und wurde traumhaft, er warf sich hin und her, fühlte bald -ihre Hand auf seiner Stirn, aber alles verwirrte sich, sein Vater war -wieder da und auch nicht da, Virgo war fort, Dora Vehm, Benno, Magda und -Andre gesellten sich zusammen und führten unvorstellbare Dinge aus, er -ermannte sich am Ende, richtete sich im Bett auf und sah wie in weiter -Ferne den Schattenriß von Virgos Schultern, Hals und Profil im Dunkel. -Von ihrer tief tönenden Stimme hörte er seinen Namen, dann deutlicher: -»Georg ist solch ein schöner Name ...« Ihr Profil verschwand, er sah die -dunklen Flecke ihrer Augen, wollte etwas sagen, räusperte sich und -schluckte und spürte heftige Schmerzen im Hals. »Du bist so gut, Georg«, -flüsterte Virgo. - -Er erschrak, lachte rauh und krächzte: »Um Gottes willen!« was für ein -Unsinn, wollte er sagen, mußte aber husten, fühlte, wie sie seine Hand -ergriff und an die Wange drückte, und hörte sie sagen: »Du hast ja -wieder Fieber!« - -»Nun, das kommt so abends«, meinte er, aber sie erregte sich, schalt -über sich selbst und über ihn, er habe weder gegurgelt, noch Aspirin -genommen, klingelte nach Egon und drückte ihn in die Kissen zurück. -Georg schloß die Augen, verlor plötzlich den Zusammenhang mit sich und -Allem, fühlte eine Berührung und sah vor sich einen Eßlöffel, dann -Virgo, die ihn hielt und seinem Mund näherte; er schluckte den Inhalt -hinunter, trank Wasser und setzte sich auf. Nun mußte er auch gurgeln, -Egon stand mit einem Waschbecken, Virgo hielt das Glas, und er gurgelte -ein paarmal. Er sah eine Platte mit Weißbrotschnitten und einem Ei -dastehn, mochte aber nichts essen. Geräusche und Stimmen waren schon -unendlich fern und unhaltbar; ihm schien, als sei Virgo jetzt in seinem -Schlafzimmer, jedenfalls hörte er sie fragen, wo seine Strümpfe seien, -und nach einer Weile aus ferner Tiefe seltsam sagen: Seide! alles Seide! --- so daß er lächeln mußte. Einen Augenblick später fühlte er ihre Hände -an seinem Hals, fröstelte, als sie den Halskragen öffnete, -- und wie -kalt waren ihre Fingerspitzen! -- sein Kopf schmerzte wüst, etwas Warmes -wurde um seinen Hals geschlungen. - -Schmetterlinge ... bunte ... Georg hörte sich laut sagen: »Sieh doch mal -die Schmetterlinge!« -- Sie schwebten durch das Zimmer, leuchtende, -dunkle Farben, einer nach dem andern; plötzlich verkleinerten sie sich -und hingen still im Kreis, ein leuchtender Ring wars, wunderbar -anzusehn. Sieh, da saßen Esther und sein Vater in einer dunklen -Zimmerecke zusammen und sprachen, er wollte zu ihnen gehn, konnte es -aber nicht, und merkte, daß er, an allen Gliedern gelähmt, auf einem -Bett lag, sonderbar verkrümmt und verzerrt, die Arme ausgebreitet, das -linke Knie hochgezogen, es war qualvoll, sein Vater lachte und scherzte -mit Esther, von nebenan tönte Gläserklirren, Stimmengewirr und Lachen, -es war auf einem Dampfer, sie fuhren, er hörte das Rauschen der -Schaufelräder, nun trat sein Vater zu ihm, Georg beklagte sich heftig, -daß man ihn festgebunden hätte, aber sein Vater sagte, ob er denn nicht -wüßte, das sei doch Mamas wegen, sie dürfe nicht so viel gehn. Georg -murmelte etwas Ärgerliches, und dies hörte er plötzlich, merkte auch -seinen Mund, den er bewegte, wie etwas Fremdes und sonderbar groß, und -öffnete die Augen. Fern im Dunkel schimmerte die flache grüne Kuppel der -Schreibtischlampe, darunter hängend leuchtete tief Esthers -Schmetterlingskranz, den sie ihm gearbeitet hatte, auf lichtem, grünem -Streifen ein dunkelroter, ein gelber und ein ganz bunter Falter. An -seinem Bett standen zwei Gestalten, eine sehr große, sein Vater, und -eine kleine, Esther; nein, Virgo wars. Er versuchte zu lächeln und -setzte sich auf, fragte: »Bist du schon lange da, Papa? Entschuldige, -daß ich dich nicht vorgestellt habe ...« - -Sein Vater lachte und beugte sich zu ihm; indem sah Georg und sah auch -sein Vater, scheinbar erst jetzt, die mütterliche Rundung von Virgos -Leib. Seinen Vater schien das zu verwundern; sie senkte unter seinem -Blick langsam die Stirn und sagte unsicher: »Ich bin eine Mutter ...« - -Georg rührte das sehr, und es schien ihm natürlich, daß sein Vater auf -einmal ihr Gesicht vorsichtig in die Hände nahm und sie auf die Stirn -küßte. - -Nun war eine sehr lange Zeit alles fort. Plötzlich fuhr Georg empor; -sein Vater saß, ein breiter Schatten, im Stuhl, den Rücken am -Schreibtisch; es war undeutliche Bewegung im Zimmer, dann stand da ein -Mensch, Georg erkannte den Grafen Badenbach, dachte: Ach, richtig, er -kommt wegen der Verlobung! -- und fühlte fröstelnd die beruhigende -Anwesenheit seines Vaters. -- Aber wie still es war! - -Georg setzte sich mit einem Ruck auf und starrte den Kammerherrn an. Der -stand da in seiner Nähe, die Hände zusammengelegt, wie -- wie an einer -Bahre; sein Gesicht war sehr bleich mit roten Flecken, aber er sah sehr -würdig aus. - -»Ist sie tot?« fragte Georg entsetzt. - -Der Kammerrat neigte zweimal langsam das Haupt. Georg nahm alle Kraft -zusammen und setzte sich grade aufrecht. Sein Kopf wollte schwer nach -vorn überhangen, er bezwang sich, dachte: Gott sei Dank! Gott sei Dank! -und ein leises Mitleid mischte sich flüchtig in die Erleichterung, die -er aber nicht nur für sich, sondern auch für die Tote mit empfinden -konnte. Eine hauchende Stimme sagte: Tröstherzeleid ... Er hörte den -Grafen sprechen. - -»Sie ist erlöst, ihr ist wohl. Aber sie litt unsägliche Qualen zuvor. -Die Schuld daran trifft zunächst mich. Ich werde --« - -»Und wen außerdem?« fragte der Herzog mit gedämpfter Stimme. - -»Außerdem den Fragenden«, versetzte der Kammerrat ruhig. »Den Eingriff -in die zarteste, verletzlichste aller Seelen Ihnen, durchlauchtiger -Fürst, zum Vorwurf zu machen, habe ich kein Recht. Die Folge liegt -sichtbar vor Augen. Die Sonnenblume dreht sich zur Sonne unabänderlich, -so stand ihre Seele zu mir gerichtet, und Sie griffen zu, um sie -herumzudrehn. Sie blieb bei der Richtung, die ihr gelehrt, die ihr -innerster Sinn und eigentliches Leben war, aber sie litt unsagbar, sie -verzehrte sich, sie ward schwach, und eine Ohnmacht verursachte dem -armen Hirn die Erschütterung, der sie nun erlag. Die ganze Größe der -Schuld ist aber mein.« - -Die Worte dröhnten und rauschten stromhaft durch Georgs kranken Kopf, -und jeder Satz brannte in lichter Flamme hoch, ehe er einem neuen wich. - -»Zu meiner Verteidigung«, fuhr er fort, »habe ich nichts für mich selbst -und vor Gott als die Vasallenpflicht, die mir gebot, das Geschlecht -meines königlichen Herrn zu erhalten. Nun es erlosch, bin ich frei, -diese dumpfe und traurige Welt mit einer stilleren zu vertauschen, wo -sich meine sündige Seele unter unablässigen Kasteiungen und inniger Reue -...« - -Wenn er noch etwas sagte, so vernahm Georg es doch nicht mehr. Er -fühlte, daß irgend jemand zu ihm trat, er wurde aufgehoben, fortgetragen -und sehr tief niedergelegt. Dann war dichte Finsternis, in die er -verlöschend hineinglitt. - - * * * * * - -Im Finstern wachte Georg auf und fühlte sich schwach, jedoch klar im -Kopf. Ganz fern schien ein winziges Lämpchen zu brennen. Er lag wohl in -seinem Bett, konnte es jedoch nicht mit Sicherheit feststellen. Er faßte -nach seinem Puls, bekam ein glühend heißes Handgelenk von ungeheurer -Größe zu fassen und wußte gleich darauf schon nicht mehr, ob er träume -oder schlafe. Er hatte Angst, der Kammerrat könnte kommen, und auf -einmal wußte er, daß Sigune tot sei. Ja, sie war tot, und er selber -konnte sterben. Sterben war schrecklich. Er sah, ohne deutliche -Vorstellung, aber er fühlte sich irgendwo unter der Erde liegen, und die -ganze Welt ging ihren Gang weiter. Das war das Schreckliche, das war -unerträglich. Da war der Platz am Café, Trambahnen fuhren, Menschen -eilten hin und her, aus dem Gewühl kam Renate und ging an den Läden -hinunter, blickte seitwärts gegen eine Spiegelscheibe und faßte nach -ihrem Hut. Er aber lag begraben, und alles dies hörte keinen Augenblick -auf, oh, es war entsetzlich! -- Da fühlte er, wie das Fieber in ihm -schwoll, er wehrte sich, er wollte es nicht, lag, glühendheiß -übergossen, und stöhnte schnaufend: O dies entsetzlich Pausenlose! -- An -dieses schlossen sich deutlich die Worte an: Könnte man doch, könnte man -einmal nur, für keinen Tag, für keine Stunde, ach, für Augenblicke nur -befreit von diesem Dasein sein! Nichts sein als Aufatmen! Und daß man -hinziehn könnte einmal nur, Betrachtung nur und Geist und Seelenfriede! -Erleichterung der Brust, Bewußtsein nur des unzerteilten Seins, leicht -wie ein sommerliches Rauschen in den Bäumen, wie Blumen leicht, wie -Wiesenhalme, die im Winde stehn, jedoch es wissen, wunschlos wissen, -reuelos es wissen, -- ach, sodann verlöre wohl der Tod den Stachel, mit -welchem Ernst, mit welcher Ruhe würden wir von neuem alles Dasein auf -uns nehmen, wieviel würden wir geübter, williger und tapferer sein! O -dies entsetzlich Pausenlose! Marter, Kette dieser Tage, dieser Stunden, -dieser Atemzüge, wo nicht eine, eine Lücke, keine Leere, keine Leere, -kein Sichausruhn uns begütigt, Schlaf selbst Unrast nur und Traum und -Fieber, nirgend Aufenthalt, kein kleinster Stillstand, Neues immer, -Neues immer, hingerissen, fortgeschoben, ohne Ende, -- sondern ewig, -ewiglich, schon vor uns längst im Gang, und durch uns weiter, weiter -dröhnt das pausenlose Pochen der Sekunden ... - -Ihm stand der Angstschweiß auf der Stirn. Die Worte fingen von vorn an, -wickelten sich wie Stricke umeinander, schallten stets von neuem auf, -nicht niederzudrücken, so schnellten sie empor, nicht abzuschneiden, sie -wuchsen geradewegs weiter, -- er röchelte, sein Hals glühte, er faßte -danach und ritzte sich an einer Nadel. Nachfühlend, glaubte er eine -Brosche zu fassen, die er unter unsäglicher Mühe aufmachte, dann faßte -er das Heiße, das um seinen Hals lag, zerrte daran, es war lang, -- ein -Strumpf, ein langer Strumpf, -- endlich war sein Hals frei, er ließ ihn -wonnig die Kühle atmen und fühlte sich erleichtert. Jetzt den Strumpf -abtastend, wußte er plötzlich, daß es ein Strumpf von Virgo war. Er -lächelte erst, -- dann hob er ihn an den Mund, fühlte den weichen Flor, -preßte ihn wütend an die Lippen, grub sie und Stirn und Augen in das -glühende Kissen, schluchzte herzbrechend auf und stammelte weinend und -unaufhörlich: Ich liebe dich doch! ich liebe dich, ich liebe dich! -- - -Danach kam Dunkel, kam Schlaf, kamen andre Träume. - - - Neuntes Kapitel: Juli - - - Legende - -Renate bekam an ihrem Geburtstage ein großes Schreiben mit Jasons ganz -kleiner, schwarzer und überaus zierlicher Schrift, aus dem ein kleiner -Brief und mehrere beschriebene Bogen herausfielen. Der Brief lautete: - - Liebe Renate: - - Den Menschen Jason bekümmert es, nicht an Deinem diesjährigen - Geburtstagsfeste, sich beglückwünschend, erscheinen zu können, - also muß er schreiben. Auf der Suche nach einer Gabe erinnerte er - sich eines Wunsches von Renate, eine der Geschichten, die er in - den Zeiten der Friedliebenden Gesellschaft erzählte -- - insbesondere eine von ihr nicht gehörte -- aufgeschrieben zu - bekommen. Dies tut er gerne. Es freute ihn dabei, auch einiges - von den Menschenwesen, die sich an der Erzählung gewissermaßen - beteiligten -- wie Du sehen wirst -- mit festhalten zu können: - sein Gedächtnis erwies sich noch jugendfrisch und in Anbetracht - des guten Zweckes also einmal erfreulich. Einiges ist wohl - trotzdem erfunden worden, und es wird dann nicht das Schlechtere - sein, sintemal nur in sehr wenig Menschen das nicht zu sein - pflegt, was man in ihnen vermutet, auch wenn sie es nicht äußern. - - Herzliche Grüße sendet - Jason - -Renate, die noch am Frühstückstisch dies gelesen hatte, nahm den Brief -zusammen, wollte in ihr Zimmer hinauf, stieg aber versehentlich höher -und betrat das Josefs. Dort im Sessel sitzend und die Blätter mit Jasons -Geschichte aufschlagend, merkte sie dann freilich gleich, aus welchem -Grunde sie hier zu lesen hatte und nirgend anders. Sie las: - - Orest und die Eumenide - (eine Legende im Rahmen) - -Sie saßen zusammen im Erker des gotischen Fensters, während es Abend -wurde, Esther, Magda, der Maler Bogner und Jason, der zuletzt kam. -Zuerst war es Esther allein gewesen, die dicht neben der großen, fast -bis zur Erde reichenden, grünlichen Glaswand saß, hoch über sich die -schöne Wölbung des spitzen Bogens, das kleine, schwarze Chinahaupt, die -reine Stirn, die dunkel brennenden Augen unter den runden Brauen über -ihre buntfarbene Stickerei gebeugt, in der Faden um Faden unter den -hurtigen Schritten der Stiche aufging, während hin und wieder ein Hauch -der Sommerabendluft die kleine, lose Haarsträhne über ihrer Stirn aufhob -und sanft zauste, hereinwehend aus einem der kleinen Vierecke, die -wahllos über die Fläche der Scheibe verteilt, alle offen standen, so daß -jedes ein Quadratstück der Landschaft in der Tiefe enthielt, dieses nur -Wiesengrün, jenes einen Ausschnitt vom Bahndamm, jenes ein paar Türme -der Stadt weit hinten, und dieses die still und geruhig rauchenden -Schlote der Zuckerfabrik ganz rechts. Magda, die dann herausgekommen -war, hatte sich nach ein paar freundlichen Worten ans Fenster gestellt, -groß, schmal und blaß von Antlitz und Haar, hinausblickend durch das -Viereck, das sie gerade vor Augen hatte, in dem nur der Abendhimmel war, -licht und von jenseit zart golden durchleuchtet, aber sie hatte nun die -ganze Abendgegend unter sich, die Weiden, die dunstige Stadt mit Kuppeln -und Türmen, das Wehr und den Fluß zur Linken, und dahinter das Blau der -Hügelrücken; und so fand sie der Maler. Aber sein immer graues und -bartloses Gesicht hatte sich nur eine Minute, während er seine kurze -Pfeife stopfte, über Esther und ihre Arbeit geneigt, und er war in -seiner sachten Art wieder im schon dämmerigen Hintergrund verschwunden, -wo er vor den Bücherregalen saß; daß er nicht hinausgegangen war, -merkten sie im Fenster nur an dem süßlichen Geruch des Qualms, der ab -und zu vorüber wehte und ins Freie zog. Schließlich erschien dann Jason -al Manachs Gestalt, der, in den Sessel Esther gegenüber versinkend, -gleich sagte, er wäre im Museum gewesen. Danach machte er eine Pause, -aber der Maler schwieg natürlich, Esther hatte gerade ein paar -Seidensträhnen von ähnlichem Grün über ein halb gesticktes Blatt gelegt -und betrachtete das mit kleinen, prüfenden Grimassen der Brauen und der -Zungenspitze und so versuchte die immer Gütige, Magda, ein wenig sich -hinüberwendend, ein leises: »Nun, und?« - -»Da traf ich den jungen Stupitzka, den Archäologen, und er erklärte mir -alles. Die Archäologen sind doch die freundlichsten Menschen«, sagte -Jason. Esther blickte ihn schnell an, ein bißchen ungläubig, um nicht zu -sagen spöttisch, und was sie meinen mochte, drückte dann Magda aus: es -gäbe wohl keine Menschenart, von der er, Jason, nicht, wenn die Rede -darauf käme, versicherte, daß sie die freundlichsten seien. »Und nun, -- -was gab es Besonderes zu sehen?« -- - -Jason, zu ihr, die wieder hinausblickte, aufsehend, indem er still für -sich die Spuren der langen Krankheit, der Schlaflosigkeit und der -Schmerzen auf ihrem in sich vergehenden Gesicht zählte, sagte: - -»Etwas Einziges. Den Kopf eines schlafenden Mädchens, das unserer Ulrika -ähnlich sah, -- wißt ihr, wenn sie anfangen will zu spielen, die Brauen -sich heben, steiler scheinen und ein ernster Schatten über ihr zartes -Gesicht fällt. -- Sie war nun freilich überlebensgroß, graugelb getönter -Gips, aber dennoch ...« - -Er fuhr fort, eine Abbildung müsse in einer der Mappen auf dem Schrank -sein, und gleich ging Magda, bereit, jederzeit einen Auftrag zu hören -und ihn auf sich zu beziehn, hinüber und schleppte die Mappen her, legte -sie neben Jason auf die Erde, und der hatte bald gefunden. - -»Seht ihr, das ist sie!« sagte er erfreut. (Esther entschloß sich, einen -Augenblick aufzuhören mit Sticheln und Fadenabschneiden.) »Sie schläft. -Seht ihr hier das Ohr unter den Wellen des Haares, wie einen Eingang in -geheimnisvolle Tiefen? Sie schläft, was mag hier eindringen? Es ist -recht ernst, dies Profil, -- die Brauen ... Wie schön es im Schlaf auf -die Seite gesunken ist!« Er sah zu Magdas und Bogners -- der war -hinzugetreten -- Gesichtern auf, lächelte und fragte: »Was meint ihr, -wer ist es?« - -»Muß es jemand sein?« fragte der Maler. - -»Ja,« erwiderte Jason, »diese Griechen machten immer etwas, das etwas -war.« - -»Also vielleicht die Gorgo«, schlug Bogner vor. -- Esther, die den Kopf -nur umgekehrt, von oben, gesehen hatte, sagte, wieder zu ihrer Arbeit -zurückkehrend, die Gorgo wäre doch wohl wild und häßlich. - -»Nun, nun,« meinte Jason, »du vergißt ja die Rondanische. Denke auch an -das schöne Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer. Ja, es könnte die Meduse -sein; sie war ein geheimnisvolles Wesen, sie war nicht häßlich, ihr -Anblick versteinte, das war ein Fluch, sie konnte nichts dafür; wenn sie -schlief, war sie unschuldig, dann könnte sie so ausgesehen haben. Ich -will es euch sagen,« fuhr er fort, »denn ich selber hielt sie für die -Gorgo, aber der junge Stupitzka hat mir gesagt, daß es eine Eumenide -ist. Sie verfolgten den Orest, der seine Mutter erschlagen hatte, das -wißt ihr ja, und als er sich eines Nachts in einen Tempel geflüchtet -hatte, wohin ihm die Dämonen nicht folgen durften, lagerten sie sich -draußen auf den Stufen und schliefen auch. Dies ist eine von ihnen.« - -Es war nun eine Weile still, nachdem die dunkle und melodische Stimme -verhallt war. Sie hörten den kleinen Schrei einer Lokomotive fern, und -Magda, die wieder an ihrem Ausguck stand, und auch der Maler, der an -ihrem Kopf vorüber hinaussah, bemerkten den kleinen Zug, wie er sich -über die schnurgerade Linie des Bahndammes bewegte, und die weißen -Rauchballen, die über die Weideflächen leicht davonsprangen, sich -auflösend in die goldene Luft. - -»Das finde ich nun schön,« sagte Jason leiser: »auch die Erinnye schläft -einmal. Was uns verfolgt und quält, einmal läßt es uns ruhen; auch das -Quälende bedarf des Schlafs.« - -Esther hatte einen lichtblauen Faden zwischen den Zähnen, zog ihn mit -beiden Händen langsam hin und her, während sie irgendwohin blickte, in -das verschwommene Grün der Wipfel hinter dem Grün des Glases, bis der -Faden mit einem kleinen Ruck zerriß, und sie sagte eilfertig, von oben -auf die Abbildung herunterblickend, wie ein Schwan auf sein Spiegelbild: - -»Das ist -- --, wenn ich so deine Worte höre: Auch die Erinnye schläft -... und dies Gesicht dabei sehe, dann steigt etwas daraus auf wie --« -Sie stockte und blickte erst zu Bogner auf, der noch immer betrachtete -aus seiner Höhe, dann in Jasons Gesicht. Während ein Lächeln und das -Erröten zugleich auf ihren Wangen langsam aufschwebte, war es ihr, als -ob er magisch aus ihr herauszöge, was er sagte: - -»Wie Legende, nicht wahr? Als gäbe es etwas zu erzählen.« Da nickte sie -zufriedengestellt, als würde er flugs anfangen, und begann einzufädeln. - -»Das sagst du so,« meinte Jason, »daß ich nun erzählen soll. Freilich -ist da etwas, aber nun ist es bloß ein Anfang, und alles Übrige fehlt. -Nun, vielleicht findet ihr selber es nachher, also setzt euch.« - -Er winkte zu Magda und Bogner, und während dieser sich wieder in sein -Dunkel zurückzog, setzte sie sich auf die weiche Lehne von Esthers -Ledersessel. Jason, aus den vielfarbigen Seidendocken auf dem Tischchen -neben Esther eine dunkelrote ergreifend, die er langsam durch die Finger -gleiten ließ, fing an. - - * * * * * - -»Am siebenten Abend nach dem Beginn der Verfolgung, nachdem er ohne -Unterlaß bei Tage hinter sich die Schritte und das Rauschen der Kleider, -das Zischen der Nattern und die halblauten, höhnischen und gehässigen -Gespräche der drei Schwestern gehört -- er hörte sie nur, sie waren -fort, wenn er sich wandte --, bei Nacht aber, wenn er sich wie ein -Bündel irgendwo hingeworfen, ihre Dolche in seiner Brust, ihre Vipern um -seinen Hals, ihren giftigen Atem über seinem Gesicht gespürt hatte, -schlaflos bis zum Morgengraun, wo sie schwanden, -- am siebenten Abend -taumelte Orest eine Treppe hinauf und brach oben an etwas Kaltem und -Steinernem zusammen. Als er nach langer Zeit wieder zu sich kam, -gewahrte er, daß er im Eingange eines Tempels lag, eines großen, -dämmrigen Raums hinter einer Säulenreihe, der wie eine leere Höhle, wie -eine Lichtung in Wäldern von unzählbaren, grauweißen Säulen lag, -zwischen denen Gänge erschienen; Säulen, riesige, breite, stumme, -bedrohliche, ernste überall, aber in der Mitte der hohen Halle, auf -einem schlichten Postament, stand einsam die kleine Statue des Gottes -aus dunklem Silber, der ein junger Mann in einer knappen Tunika war. -Sein Antlitz war im Dunkel dort nicht mehr zu erkennen, deutlich jedoch -die beiden kleinen Vogelflügel an seinen Schläfen. Es war der Gott des -Schlafs. - -»Orest, Atem schöpfend, sah jetzt nach draußen aus dem breiten Tor, an -dessen Pfeiler er lag. Dreimal vier lang hingestreckte und flache Stufen -führten hinunter; drunten aber war nichts als die Ebene, die kahl war, -baumlos, hügellos, glatt und grau bis zum Rauch des düstern, geröteten -Abendhimmels. Aus dem Dunst der traurigen Ferne aber löste sich alsbald -eine graue Gestalt, gerötet, wie in Blut getaucht, und schien zu kommen. -Sie kam, und hinter ihr ein grauroter Schatten, der ersten gleich, und -ein dritter hinter der zweiten. Es waren die Schwestern, die so durch -die schweigsame Abendebene heranzogen, die an diesem Nachmittage der -Wirbel seiner rasenden Füße hinter sich gelassen hatte, und er stöhnte -leise, stand auf, und ihm fiel ein, daß hier eine Zuflucht sei, wie er -es wußte aus den Legenden von Übeltätern, die er in seiner Kindheit -gehört, -- nun war er selber solch einer. Er sah, daß seine Füße blutig -waren, und schlich mühselig bis zur Statue des Gottes, sah die blauen -Augen aus Edelstein in dem dunklen, freundlichen, kleinen Silbergesicht, -legte die Hände zusammen und bewegte die Lippen. Darauf schlürfte er -eilig zur Türe zurück, und es gelang ihm mit seiner letzten Kraft, die -großen Bronzeflügel einen nach dem andern zu bewegen und -zusammenzuschlagen. - -»Nun stand er im Finstern, schwankend auf unerträglich brennenden Füßen, -todmüde, lechzend, sich irgendwo niederzulegen zwischen den Säulen. Im -selben Augenblick jedoch, als er die schon zugefallenen Lider noch -einmal öffnete, gewahrte er zu seiner Linken ganz fern einen Lichtschein -im Dunkel. Wie es langsam heller wurde, sah er den Lichtkreis eines -Lämpchens, den Schatten einer gehenden Gestalt, sah die ersten, dunkel -droben aus dem Schatten der Wölbung auftauchenden Häupter der Säulen und -sah bei aller Müdigkeit doch, wie schön und feierlich das war, da links -und rechts Säulenpaar um Säulenpaar aus der Nacht sichtbar wurde und -hervortrat, dunkle Riesen erst, die alsbald rein und leuchtend wurden -wie in weißen Gewändern, während schon neue Säulen dunkelten, bereit, -hervorzutreten, und auch diese erglühten und strahlten, alle ernsthaft -von droben herunterblickend auf die kleine weiße, daherwandelnde -Gestalt, die zierliche Silberlampe in der linken, eine Schale von -gleichem Metall leise blitzend in der rechten Hand. - -»Jetzt, nahe dem letzten Säulenpaar drüben, blieb sie stehn, erhob die -Hand mit der Leuchte, blickte zu ihm herüber und fragte -- es war ein -Mädchen -- mit sanfter Stimme: Ist jemand hier? -- - -»Er machte ein paar Schritte, fast schreiend vor Schmerz, da die Sohlen -am Boden klebten, und stieß ein paar rauhe Worte hervor. Das Mädchen -zauderte, glitt dann herbei, hielt, da sie kleiner war als er, die Lampe -gegen sein Gesicht empor, und er sah, welch mitleidige Augen sie machte. -Du suchtest wohl Obdach? -- fragte sie freundlich. -- Er bemerkte seine -aus dem zerrissenen Mantel vorgestreckten Hände, die sie gerade -betrachtete, die grau und gelb waren und schrecklich anzusehn, -habgierig, und: Was für Hände! sagte sie ergriffen, und dein Gesicht ist -auch so! und das schwarze Haar, wie verwirrt und zottig! Du mußt -entsetzlich müde sein, und es ist noch so weit zur Stadt, fuhr sie fort, -aber hier bist du ja recht im Hause des Schlafs. Ich bin eine Dienerin -von ihm, erklärte sie errötend, hier hab ich die Milch für die -Schlangen. Es sauste ihm in den Ohren, er hörte nichts und stürzte zu -Boden. Gleich kauerte sie neben ihm, setzte das Licht auf den -spiegelnden Estrich, riß Streifen von seinem Mantel, löste die Riemen -der zerfetzten Sandalen, wusch die Füße nach kurzem Zögern mit der -heiligen Milch und verband sie. Schließlich nahm sie den Mantel unter -ihm fort, rollte ihn zusammen und schob ihn unter seinen Nacken. - -»Er richtete sich nun auf, starrte mit blöden Augen in das Licht, lachte -ein wenig und fing an, sie zu sehn. Weißt du, wer ich bin? -- fragte er -plötzlich. -- Nun, gleich, sagte sie, wenn ich dir nur helfen kann; du -bist ein Armer jedenfalls, sagte sie. Er mußte in ihr ernstes, ruhiges -Gesicht blicken, bemerkte, daß die Augen schön braun waren und auch das -Haar, wollte sich wieder legen und hörte im gleichen Augenblick draußen -Geräusch von Füßen und Stimmengewirr. Er sprang auf. - -»Auch sie war aufgestanden und sah erschreckt, wie er dastand, -gespannten Nackens, wütend, mit geballten Fäusten, wartend, lauschend -mit Augen, Ohren, mit dem ganzen Leib. Dumpfe Schläge fielen gegen das -Erz des Tors, er keuchte, Blut stieg ins Weiße seiner Augen, das Mädchen -wich langsam, an seine Augen gefesselt, gegen die Tür zurück mit von -sich gestreckten Armen und wiederholte mehrmals, angstvoll und eifrig -versichernd: Niemand kommt herein! Niemand kommt herein! -- Ist das -gewiß? schrie er laut. Wie willst du's denn wissen? Weißt du denn, wer -ich bin? Ich bin Orest! Weißt du, wer die draußen sind? Weißt du, was -sie halten, sahst du ihre Dolche, ihre Fackeln, ihre Vipern? -- Er -brüllte. Herein! Kommt doch herein, ihr, wenn ihr könnt! Hört doch, ich -bin drin! Ich, Orest, ich, der seine Mutter erschlug, ich! -- Draußen -erscholl Geschrei, die ehernen Flügel zitterten und bewegten sich, es -krachte im Gebälk. Vor der im Lichtschein glühenden Erzwand stand das -Mädchen, bleich, hinter sich ihren Schatten hochaufgereckt bis ins -Dunkel, da die Lampe noch dicht neben den Füßen des Flüchtlings auf den -Fließen stand. Auf einmal kam er mit stampfenden Schritten gegen die Tür -vor, knirschend: Geh! sie sollen herein! ich bin das satt! ich will sie -jetzt packen, ich will hier mit ihnen die Treppe hinunterkollern wie ein -Knäuel von Panthern und Schlangen! -- Das Mädchen packte seine Hände und -rang mit ihm, er schleuderte sie weg, doch sie kam wieder, warf sich an -ihn, umschlang ihn, sie keuchten, schließlich erlahmte der Mann und fiel -langsam zusammen, während sie mit fliegenden Gliedern zur Tür -zurückjagte, sich gegen die Fuge in der Mitte preßte, schlank wie ein -Baum, als wollte sie hinein, sie zu verstopfen. So glitt sie langsam -auch zu Boden und hockte dort, großäugig. - -»Nur die Stöße seines Atems waren hörbar, auch draußen war es still. -Ruhig stieg die vorher hin und her gescheuchte Flamme der silbernen -Leuchte. Plötzlich aber sank sie in sich zusammen, wie auf Befehl, zu -einem roten, glimmenden Funken, und während ein unendlich leises -Flügelrauschen durch die Finsternis hinzuschweben schien, sank von hoch -oben eine ernste, klare, langmütige Stimme hernieder und verhallte in -alle Fernen des Hauses: - - Schlaf, Mensch, so schlaf! Auch die Verfolgerin, - Auch die Erinnye schläft. - -»Wieder war alles still. Orestes lag ausgestreckt, so lang er war, die -Arme überm Kopf fortgeworfen. Da schien das Tor sich zu bewegen, das -Mädchen sprang auf und eilte zu ihrer Lampe, die einige Pulsschläge lang -wieder in ihrer früheren Größe aufgerichtet stand, aber nun langsam -erblaßte, denn die Torflügel falteten sich langsam auseinander, und -draußen war das Mondlicht. Da war die Treppe, breit und schneeweiß, die -Ebene, schattenlos, dunkel und doch erhellt vom unsichtbaren Mond in der -Höhe, und jetzt sah Orest, das Haupt erhebend, daß neben der ersten -Säule der Vorhalle über den Stufen eine dunkle Gestalt im Schatten -hockte, ganz still; und als er hinunterblickte, entdeckte er eine zweite -mitten auf der Treppe, ruhend wie eine Schlafende, ganz unten aber die -dritte, hell im vollen Licht, in sich gesunken, im Schlaf. - -»Orest stützte sich auf die Arme und stand auf. Sein Gesicht zuckte, als -ob es in Weinen zerbrechen sollte, sein Haupt schwankte, er ging mit -schweren Schritten zur Statue des Gottes und sank dort hin, den Rücken -gegen das Postament gelehnt. Stracks durchdrang unbeschreibliche -Müdigkeit magisch seine Glieder; sie lösten sich auf in Wonne der -Schlaftrunkenheit, ein sanftes Prickeln bedeckte seine Seele wie ein -vergehender Schaum, -- so verging sein Leib. Er schluchzte tief, er sank -tiefer in sich, er öffnete noch einmal die Lider, als müsse irgendwo -etwas sein, nach dem noch hinzublicken sei, doch sah er nichts mehr als -einen nächtigen Lichtschein, dann -- ging ein Schritt, rauschte Gewand? --- nur noch Finsternis, aus der eine Schattengestalt von fernher -zwischen dunklen Wänden nahte und stillhielt. Er erkannte zwei -dunkelsilberne Fittiche, zwischen ihnen den Schatten eines braunen -Antlitzes und ein bläuliches Lächeln von Augen. Da fielen ihm die seinen -zu, und er schlief.« - - * * * * * - -Jason schwieg. Im Zimmer stand jetzt die Dunkelheit, nur im höchsten der -offenen Vierecke war der noch helle Himmel zu sehn; die Bäume rauschten -im Dunkel unsichtbar; vor dem Fenster waren die lichten Gesichter der -Drei, ganz weiß das Jasons mit den schwarzen Flecken der Augen, ein -wenig dunkler das Esthers, Magdas ganz matt, kaum sichtbar über den -andern. Wie Jasons Hände im Schoß ausruhten, so auch Esthers linke, -während ihre rechte die Hand der Freundin gefaßt hielt, die über ihre -Schulter herabhing. -- - -»Soll ich Licht machen?« fragte Magda nach langer Zeit. Niemand -antwortete. Aus dem Hintergrund scholl ein leichtes Pochen; der Maler -klopfte seine Pfeife aus. -- - -»Es ist doch nicht zu Ende?« fragte Esther. - -»Ich weiß nicht.« Jasons Schultern bewegten sich. »Das Antlitz der -Eumenide erzählt eigentlich nicht mehr. Oder doch?« - -»Und wie kam das Mädchen in deine Geschichte?« - -Der Maler sagte aus dem Dunkel: »Sie haben von Schlangen gesprochen. -Verwechseln Sie das nicht mit Asklepios?« - -»Vielleicht,« erwiderte Jason leicht, »obgleich ich persönlich überzeugt -bin, daß die Schlange auch dem Schlaf heilig ist wegen seiner heilenden -Kraft. Überdies ist die Schlange dasjenige Tier, das fast immer schläft, -und schließlich dachte ich mir auch etwas Besondres dabei. Wie geht es -aber weiter?« - -»Ich sehe noch etwas«, fuhr er leise fort. »Ich sehe dies Marmorhaupt -der Schläferin. Wer hat es gesehn? Der es gemacht hat, muß es gesehn -haben, oder einer hat es ihm beschrieben. Orest vielleicht? Wann sah -denn er es?« Esther schlug vor: »Morgens früh, als er weiterging.« - -»Sieh, Esther, was für richtige Sachen du denkst! Ja, da muß er es -gesehen haben. Er erwachte vor Sonnenaufgang, erquickt und gestärkt. Die -Ebene lag unter weißen Nebeln wie eine stille See, und --« »Und das -Mädchen, die Priesterin?« fragte Magda. »Sie ist fortgegangen. Orest -will nun gehn, spricht sein Gebet, da sieht er beim Hinaustreten, daß -die Erinnyen noch dort sind und schlafen. Eilig will er -vorüberschleichen und tuts, an der ersten, der zweiten, aber wie er -unten bei der dritten angelangt ist, da ging inzwischen die Sonne auf, -und er sieht ihr Gesicht, und daß sie braunes Haar hat, das ihn an -andres Haar erinnert. Da bleibt er nun stehn und sieht ihr leise -glänzendes Gesicht, wie ernst es ist, kaum lieblich und doch schön, die -Brauen streng und groß, und daß sie unschuldig ist, wenn sie schläft, -trotz der erloschenen Fackel neben ihrem Fuß, trotz des Dolches, den sie -an die Brust drückt, und er kann sich nicht abwenden und redet leise -Worte in die Höhlung ihres Ohrs, in den seltsamen Eingang zu der -schlafenden, inneren Welt, indem er sich fragt, ob sein Flüstern wohl -eindringe und drinnen zur Gestalt eines Traumes wird, die leuchtet, so -daß die Wände der dunkelgoldenen Seelenhalle davon glänzen, oder -vielleicht wie die freundliche Silberfigur des Gottes auf der Lichtung -inmitten des dämmerweißen Säulenhains. Plötzlich -- was erschrickst du?« - -Esther, die leicht zusammengeschaudert war, schüttelte abwehrend den -Kopf und sagte: »Nur die Fledermaus ... nur weiter!« - -»Plötzlich«, fuhr Jason fort, »erblickt er den kleinen Kopf einer Viper, -die, ins Haar versteckt, auch dort schlief die Nacht und nun hervorkommt -bei der Wärme des Tages. Er wendet sich eilig und flieht.« - -»Und dann?« fragte Esther. - -»Dann bleibt er nach ein paar Schritten noch einmal stehn und dreht sich -zurück und sieht, daß sie sich aufgesetzt hat. Sie hebt die Arme und -lächelt zu ihm; ihre Augen, erst noch geschlossen, öffnen sich -schlaftrunken, sie stammelt, ihr Gesicht glüht über und über vom -Sonnenaufgang, er starrt hin, da sinkt sie wieder zusammen, fröstelt, -tastet nach einem Gewandzipfel und entschläft.« - -Es schien nun still bleiben zu wollen im Raum. Magda erhob sich, trat an -ihren Ausguck und sah im Dunkel den Horizont besteckt mit den Lichtern -der Stadt, darüber die ersten, weißlichen Sterne im Raum. Vernehmlich -rauschte das Wehr in der Ferne. - -Esther hatte ihre zusammengefaltete Stickerei wieder auseinander -genommen, die Farben leuchteten noch matt im Finstern, sie strich -glättend mit dieser und jener Hand darüber und sagte endlich: - -»Ich sehe noch etwas. Da ist solch ein Wiesental, so bunt wie dies hier -am Tage ist, und -- ich kann das nicht beschreiben, es ist etwa so wie -auf Böcklins Bild, eine kleine blaue Quelle, die sich durch die -Blumenböschungen schlängelt, herab von einem Hügel unter großen, -schattigen Bäumen. Und dort liegt Orest und --« sie stockte. - -»Nun?« mahnte Jason in guter Langmut, »was tut er dort? Ja, das weißt du -nicht? Vielleicht meinst du, er wartet. Ja, am Ende wartet er.« - -»Oder auch nur, weil es so schön dort ist ...« sagte Esther mit einem -kleinen Seufzer. - -Über ihnen klang Magdas immer noch ein wenig matte Stimme, doch sehr -gütig: »Als ich von den Toten wiederkam, die ich doch schon so nahe -gesehn, durfte ich auch wieder in den Garten, nach all den schlaflosen -Nächten, und das war gut. Freilich,« setzte sie mit dunklerer Stimme -hinzu, »sie stehn immer hinter uns.« Und fast hart: »Sie sind ja die -Unentrinnbaren.« - -Eine Weile wars wiederum still, dann begann Jason: - -»Ich glaube, daß er wartet. Er hat sich des Lächelns der Einen erinnert -und beschlossen, sie zu erwarten. Er will sich zu ihren Füßen hinwerfen -und bitten, daß sie ihn manchmal schlafen lassen. Er denkt, daß sie das -nicht werden abschlagen können. Er fühlt sich so neu, kräftig und zu -allem bereit, wenn nur etwas Hoffnung da ist. - -»Und dann kommen sie nun. Ihm gegenüber ist der Tannenwald, aus dem der -Weg hervorkommt, dem sie nahen, und die Jüngste geht voran. Er hält sich -hinter einem Felsblock verborgen und sieht, wie sie nacheinander -hervortreten und erfreut scheinen von der anmutigen Gegend. Zwei von -ihnen legen sich im Tannenschatten ins Gras, aber die eine kommt bis zum -Bach, kniet hin, legt Fackel und Dolch neben sich, bespiegelt sich und -lächelt sich an. Da übermannt es ihn, und er tritt hervor. - -»Wie er herabkommt, sieht sie auf und erschrickt. Sie greift nach ihren -Waffen und erhascht den Dolch und springt auf, sieht ihn an, und da -erkennt sie ihn nun; ihn, den sie ja zuvor nie, nur in jenem Augenblick -des halben Wachens oder im Traum gesehn hat. Er sieht wohl schrecklich -aus, in seinem grauen, zerfetzten Mantel, mit dem wirren, schwarzen Haar -und dem gelben, eingeschrumpften Gesicht, aber seine Augen strahlen -seltsam, und sie muß lächeln und streckt wieder die Arme aus, seufzt und -stammelt etwas, und -- was geschieht nun? - -»Jetzt sieht er auf einmal alles schwarz umher werden. Schwarz jede -Blume, schwarz das Gras, schwarz die Tannenwand, schwarz wie Marmor den -Quell und schwarz den Himmel. Aus der Erde schauert es eisigkalt, und es -durchschaudert sie. Sie windet sich seltsam, als werde sie unsichtbar -ergriffen und nach unten gezerrt, ihr Lächeln, wie etwas Erdrosseltes, -stirbt, sie öffnet die Lippen, will schreien, da fühlt sie, daß sie -hinunter muß, sie verzweifelt, sie zuckt, da erblickt sie ihren Dolch, -sie ringt sich noch ein Lächeln ab, erfaßt eine Strähne ihres braunen -Haares, sie schneidet zu, sie trennt die Locke, sie wirft sie gegen sein -Gesicht hin, das ihr noch glänzt. Langsam nun, blaß und blässer, wie ein -farbloser Regenschauer, gleitet sie hinunter in den schwarzen Quell; -ihre Füße, ihre Hüften, ihre Schultern verschwinden, noch schwebt ihr -schmerzliches Gesicht, lächelnd mit einer späten Qual über dem -Schwarzen, und erlischt darin. - -»Hades rief sie hinunter. Sie hatte vergessen, wer sie war, vergessen -den Haß und Tartaros, ihren Ursprung; da zog er sie zu sich herab. Und -er -- - -»Er warf sich über die Stelle hin, wo sie versunken war, griff in die -Flut und -- nun, Esther?« - -»Er faßte -- er erfaßte die großen Büschel schwarzer Iris, die rund -herum aufgeschossen waren, und --« - -»Und es ward langsam wieder hell um ihn, alles ward wie vorher, dort -aber, wo der Weg in die Tannenwand schwindet, haben sich die beiden -Schwestern aufgestellt, gleichmütig, gegürtet, abwartend. - -»Er aber, schwer aufstehend, gewahrt einen braunen Falter, rostrot -glänzend im Sonnenlicht, der gegen ihn fliegt, seinen Mund berührt und -zurückbebt und davon und wieder heran und über seine Stirn hin und -wieder fort und noch einmal heran, einen Kreis windend um seine -ausgestreckte Hand und jetzt fort, auf und nieder, hierhin und dorthin -schaukelnd, den Weg hinab und zwischen den Tannen fort. Er aber, wie an -einem goldenen Faden nachgezogen, folgt, ein wenig staunend, ein wenig -lächelnd, sich vergessend. Er sieht die Schwestern dastehn, er will -zwischen ihnen hindurch, er erschrickt, es stehen da zwei schweigsame -Fichten links und rechts vom Wege, ernsthaft, auf ihn heruntersehend, -dieweil vor ihm das rostrote Blatt in der Sonne im Tannengang leuchtet, -und er folgt.« - -Obwohl Jason schwieg, schien es den Andern, als halte er nur inne und -bedenke die kommenden Worte. Schließlich fragte die Stimme des Malers -aus dem Finstern: »Ist das alles?« - -»Die Erinnyen sind ja fort«, sagte Jason, während gleichzeitig Esther -ein tief ungläubiges »Oh nein!« hervorstieß. - -Jason schwieg und sagte nach einer Weile leise: »Kinder! Was denkt ihr -denn nun?« - -Esthers Gesicht, der weiße Schein davon, war verschwunden; an ihrer -Stimme konnten die Andern hören, daß ihre Hände davor waren; sie bat: - -»Mach ihn heil, Jason! Die Wunden von ihren Dolchen werden wieder -aufbrechen, und das Gift ... Mach ihn ganz heil!« - -Und auch Magda erklärte mitleidvoll: »Er war doch unschuldig. Daß er die -Mörderin seines Vaters erschlug, das war fromm, und die Götter wollten -es. Ich meine --« sie rang mit den Worten, »es giebt Sünde und Sühne, -Bös und Gut, aber es ist nichts einzeln davon, Eines wohnt immer im -Andern, und Orestes büßte lange und wurde schließlich befreit -- wenn -ich mich recht erinnere ...« schloß sie zaudernd. - -»Es kommt vor,« hörten sie den Maler von fern, »wenn ich ein Bild machen -will, daß ich meine, es müßten zwei gemalt werden. Nicht wegen der -Stimmung in der Natur oder so, sondern --, etwa, wenn ich einen Kranken -malen wollte, so müßte ich auch einen Gesunden machen, damit man sieht, -was all das heißt. Allerdings,« setzte er, sich räuspernd, hinzu, »das -darf nicht sein, obgleich ich mich einmal nur schwer entschließen -konnte, denn«, schloß er bedachtsam, »Kunst ist für sich und giebt -Gesetze.« - -»Orest kam nun,« fuhr Jason fort, nachdem er Bescheid erhalten, »Orest -kam nun, dem Schmetterling folgend, am neuen Abend wieder zu einer -Treppe und zu einem Tempel. Schön leuchteten sie beide von weit, Stufen, -Säulenreihn und farbiges Dach, aber der Weg war nicht gut gewesen, alle -Wunden brannten wieder, auch die Füße, und oft mußte er stehen bleiben, -wenn er hinter sich das alte Zischeln und Raunen zu hören glaubte, auch -begriff er nicht, weshalb er hinter diesem schaukelnden Blatt -einherging. Nun aber sah er die Treppe und erkannte sie gleich, auch das -Mädchen, das auf der untersten Stufe saß, gebückt, als betrachte sie -etwas in ihrem Schoße. Wie er näher kam, schaute sie auf, und da sah er -den Falter mit Heftigkeit gegen ihre Lippen fliegen, worauf er -augenblicklich in ihrem Haar verschwand. So ging er auf sie zu, die -still saß und ganz wenig lächelte. - -»Was tust du hier?« fragte er, indem er bemerkte, daß sie ihre -Silberschale voll Milch mit beiden Händen im Schoß hielt. »Still!« sagte -sie, »bleib ruhig stehn! Sie müssen gleich kommen.« Und sie pfiff ganz -leise zwischen den Zähnen. Alsbald raschelte es im Gebüsch neben dem -linken Treppenkopf, und zwei Schlangen, so lang wie ein Arm jede, die -eine dunkelbraun, die andre dunkelblau schillernd, kamen hervor, glitten -herbei, kletterten links und rechts von der Sitzenden die Stufen empor -und begannen von der Milch zu schlürfen. »Erkläre mir dieses!« sagte -Orest. - -»Dies«, erklärte das Mädchen, »sind die heiligen Schlangen. Zwei -Schlangen trägt der Gott des Schlafs, eine giftige und eine gute. Die -giftige träufelt bösen Seim auf das Herz der Bösen, die gute aber -ringelt sich über dem Herzen der Guten zusammen und macht es kühl.« - -»Oh,« sagte er enttäuscht, »so giebt es doch Böse und Gute!« - -»Jeder,« sagte sie leise, »jeder ist jedes zu dieser und jener Zeit.« - -»Und eine von diesen ist also giftig?« fragte er. - -»Diese nicht,« sagte sie lächelnd, »sie stellt ja nur eine giftige vor.« -Orestes beugte sich, um die braune zu streicheln, da zückte ihr Kopf -empor, und schon hing sie an seiner Hand. Schnell packte er mit der -Linken in das Haar des Mädchens, bog ihren Kopf zurück und schrie: -»Jetzt erkenne ich dich! Du bist --« Da er einhielt, sagte sie leise, -den Kopf zurückbiegend, um seinen Griff zu erleichtern: »Wer soll ich -denn sein?« Und während er noch, heftig atmend, die Zähne in der Lippe, -in dies Antlitz starrte, das ihm gar zu ähnlich dem andern schien, das -versank, hörte er sie, auf die Schlange deutend, flüstern: »Sieh doch, -sie saugt ja!« Plötzlich fühlte er eine rieselnde Erleichterung durch -seine Glieder strömen; wonnig aufgelöst stand er und blickte auf das -Tier herab, das von seiner Hand hing wie ein brauner Riemen, glaubte zu -sehn, wie die Wunden seiner Füße sich schlossen, seine Brust sich -schloß, und stammelte endlich, halb lachend, halb schluchzend, seine -Worte von vorhin: »Erkläre mir dieses, Kind!« - -Sie nahm seine Hand aus ihrem Haar, gab sie ihm zurück und sprach: - -»Zwei Schlangen, Gastfreund, eine giftige, eine gute. Hast du nie -gehört, daß alle Dinge verschwistert sind? Vielleicht war ich selbst -eine Schwester und habs nicht gewußt. Ja, vielleicht bin ich eine -Schwester von der, die du -- sieh!« unterbrach sie sich. - -Die Schlange, auf die ihre Augen wiesen, war heruntergefallen, lag einen -Augenblick still, ringelte sich ein paar Schritte hinweg, rollte sich -zusammen und lag in der Sonne, blinzelnd. Die andre aber schlich herbei -und legte sich schön darüber, so lang wie sie war. - -»Ich glaube,« schloß Jason mit Bedacht, »Orest konnte jetzt zu der -Gottheit hineingehn, um zu zeigen, daß er rein war.« - - * * * * * - -Lange Zeit saßen sie schweigsam. Dann hörten sie, daß der Maler aufstand -und gegen etwas im Dunkel stieß. Und dann hörten wohl nur Magda und -Esther Jason sprechen, kaum vernehmbar leise: - -»Wenn wir jetzt Licht machen, und jemand, der vielleicht unten steht, so -ein Orest, sieht den sanften grünen Schein unseres Fensters hier oben, -der weiß nichts von den drei Gesichtern und von den Leben und den -Schicksalen, die wir sind. Der denkt nur: Dort oben muß es schön sein -...« - -Seine Stimme erlosch, und als sie ihn gleich darauf wieder sprechen -hörten, schienen es ihnen Verse zu sein, doch vernahmen sie, ein jeder -in sich selber versunken, nicht mehr davon als eine ferne Musik ohne -Worte. Bald darauf stand Magda auf, ging zwischen Esther und Jason -hindurch zur Wand und drehte die Kurbel für das Licht; als es -aufflammte, kniffen sie Alle geblendet die Augen zu, und Esther sagte, -die Handrücken gegen die Lider drückend: »Aber Jason, nun sind es doch -vier Schwestern gewesen, davon drei böse und nur eine gut!« Indem ging -Magda schon durch das Zimmer, öffnete die Tür, wandte sich noch einmal, -grüßte müde und gütig und verschwand. Auch Jason schien zu lächeln, -sagte aber nichts, und so trat denn Maler Bogner, der älter war als sie -Alle, auf das Mädchen zu, legte eine Hand auf ihren Kopf und sagte -freundlich: - -»Das Gute, Esther, ist doch immer in der Minderzahl.« - -Sprachs, nickte und ging hinaus. Esther folgte still, als letzter Jason, -der das Licht wieder löschte. - - * * * * * - -Die Verse aber, die er gesprochen hatte, lauteten folgendermaßen: - - O Nacht! O Tiefe! Drunten auf den Stufen, - Du weißt es, schläft die Eumenide nun ... - Noch ist die Gottheit leise anzurufen, - So wird dir, was du sehntest: du wirst ruhn. - - Die Säule klingt; die dunkle Wölbung schwindet; - Gestirne wandern über Wäldern fort. -- - Blick hin: Er steht schon längst im Dunkel dort, - Schlaf deiner Kindheit, der dich wiederfindet. - -Renate, die Augen hebend vom letzten Wort, verwunderte sich, keine -Dunkelheit, sondern nur die Dämmerung um sich her zu finden, die vom -ohnehin trüben Tage durch das verschleierte Glas bewirkt wurde. Während -ihre Lider sich zusammenzogen, sah sie immer größer den fernen gotischen -Bogen ragen, und nun war es ein Tor; es schien ausgefüllt vom -unendlichen Grün einer Ebene, und winzig klein auf ihr erschien eine -schwarze Gestalt -- Josef --, die mit rasender Geschwindigkeit -daherfuhr, ohne jedoch größer zu werden, und Renate empfand, daß die -Gestalt nicht mehr an die Zeit gebunden war, sondern außerhalb ihrer -dahinjagte wie ein Gestirn. Alsbald aber spürte sie, daß sie an ihrem -eigenen Blick hing, daß der an ihr zog, und sie zwang ihn zu Kraft und -Willen, zog mit ganzem Dasein, -- allein die Gestalt blieb so klein, wie -sie war, und auf einmal war da das Fenster. - -War es wieder da? fragte Renate sich betäubt. Aber so war es doch nie? -War doch immer nur -- Erscheinung? Wann hätte ich je selber -hineingegriffen? -- Der Gedanke aber, Josef stehe unten und warte, daß -sie ihn einlasse, überfiel sie mit solcher Gewalt, daß sie sich kaum -halten konnte im Stuhl, gequält vom Reiz, das Fenster zu öffnen, was ja -nicht möglich war, da nur die kleinen Quadrate sich auftun ließen. - -Warum denn nur, mein Gott, warum kann ich ihn nicht rufen? - -Nein, fuhr sie auf, nein! Er soll nicht meinetwegen kommen! Wenn er denn -kein Herz hat für den Vater, -- was könnte dann auch sein Kommen -auswirken? -- Und sich zur Ruhe zwingend, lenkte sie die Augen wieder -auf den Schluß der Legende, über den sie schon, ganz im Gedanken an -Josef, nur hingeglitten war, und las noch einmal: >Das Gute ist doch -stets in der Minderzahl< und dann die Verszeilen: - - >Gestirne wandern über Wäldern fort. -- - Blick hin: Er steht schon längst im Dunkel dort ...< - -Mit einem gellenden Schrei fuhr sie zur Tür herum, zitterte und -strauchelte im Stehn. Da war nichts. Ihr Herz jagte. Nach endlosem -Warten hörte sie Schritte im Treppenhaus, trat, unfähig länger -auszuhalten, zur Tür und öffnete. Unten, wo die Treppe sich wendete, -erschien die weiße Tolle des Hausmädchens, dann sie selber ganz im rosa -Waschkleid und weißer Schürze, blieb Renate erkennend stehn, lächelte -und sagte: »Frau Tregiorni ist gekommen. Und Herr Saint-Georges ist -schon lange da.« - -»Ich komme«, erwiderte Renate heiser und zog die Tür zu, nur um zu -verbergen, daß sie nicht aufrecht bleiben konnte. Minuten später hatte -sie sich wieder gewonnen und verließ den Raum. - - - Hier enden des sechsten Buches neun Kapitel oder ebenso viele - Monate. - - - - - Inhalt - - - - Viertes Buch - - Erstes Kapitel: Mai - Heimweh 7 - Magda 23 - Bei Saint-Georges 30 - Balto-Borussia 44 - Kaddisch 64 - - Zweites Kapitel: Juni - Begegnung 77 - Erasmus 89 - Mensur 96 - Esther 105 - - Drittes Kapitel: Juli - Die Friedliebende Gesellschaft 112 - Schatten 129 - Drei Gespräche: Das erste 147 - Drei Gespräche: Das zweite 158 - Drei Gespräche: Das dritte 176 - - Viertes Kapitel: August - Hora 192 - - Fünftes Kapitel: September - Vergangenheit 205 - - Sechstes Kapitel: Oktober - Abschied 222 - Sonnenblume 244 - - Siebentes Kapitel: November - Renate an Saint-Georges 255 - Erschöpfung 282 - - Achtes Kapitel: Dezember - Renate an Magda 288 - Heiliger Abend 292 - - Neuntes Kapitel: Januar - Georg an Benno 305 - - Fünftes Buch - - Erstes Kapitel: Februar - Ulrika 313 - - Zweites Kapitel: März - Leda 331 - Renate 347 - - Drittes Kapitel: April - Tandem 361 - Cora 374 - Überraschungen 383 - - Viertes Kapitel: Mai - Haus Herzbruch 397 - - Fünftes Kapitel: Juni - Emmaus 414 - Rubinglas 440 - - Sechstes Kapitel: Juli - Requiem 462 - Sommer 476 - - Siebentes Kapitel: August - Frühe 492 - - Achtes Kapitel: September - Regen 506 - Wiederkunft 528 - - Neuntes Kapitel: Oktober - Cordelia 563 - - Sechstes Buch - - Erstes Kapitel: November - Berlin 597 - - Zweites Kapitel: Dezember - Sylvester 614 - - Drittes Kapitel: Januar - Neujahr 627 - - Viertes Kapitel: Februar - Wirrnis 639 - - Fünftes Kapitel: März - Wiedersehn 675 - Neuigkeiten 688 - Flut und Ebbe 698 - - Sechstes Kapitel: April - Zinna 741 - - Siebentes Kapitel: Mai - Klemens 749 - Schrecken 782 - - Achtes Kapitel: Juni - Krank 787 - - Neuntes Kapitel: Juli - Legende 820 - - - Druck der Spamerschen - Buchdruckerei in Leipzig - - - Anmerkungen zur Transkription - -Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere -Korrekturen (vorher/nachher): - - [S. 171]: - ... »Es muß etwas anders sein. Sie nehmen die Dinge ... - ... »Es muß etwas andres sein. Sie nehmen die Dinge ... - - [S. 253]: - ... langsam in dasselbe verwandeln. So glaubten Heilige, ... - ... langsam in dasselbe verwandeln.< So glaubten Heilige, ... - - [S. 305]: - ... im Waldrand, das kaum zu sehn ist und zu dem kein Weg ... - ... am Waldrand, das kaum zu sehn ist und zu dem kein Weg ... - - [S. 491]: - ... Lange blinkte sie gedankenvoll auf ihn herunter, dann ... - ... Lange blickte sie gedankenvoll auf ihn herunter, dann ... - - - - - - -End of the Project Gutenberg EBook of Helianth. Band 2, by Albrecht Schaeffer - -*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HELIANTH. BAND 2 *** - -***** This file should be named 59187-8.txt or 59187-8.zip ***** -This and all associated files of various formats will be found in: - http://www.gutenberg.org/5/9/1/8/59187/ - -Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed -Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was -produced from images made available by the HathiTrust -Digital Library. - - -Updated editions will replace the previous one--the old editions -will be renamed. - -Creating the works from public domain print editions means that no -one owns a United States copyright in these works, so the Foundation -(and you!) can copy and distribute it in the United States without -permission and without paying copyright royalties. Special rules, -set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to -copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to -protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project -Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you -charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you -do not charge anything for copies of this eBook, complying with the -rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose -such as creation of derivative works, reports, performances and -research. They may be modified and printed and given away--you may do -practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is -subject to the trademark license, especially commercial -redistribution. - - - -*** START: FULL LICENSE *** - -THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE -PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK - -To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free -distribution of electronic works, by using or distributing this work -(or any other work associated in any way with the phrase "Project -Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project -Gutenberg-tm License (available with this file or online at -http://gutenberg.org/license). - - -Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm -electronic works - -1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm -electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to -and accept all the terms of this license and intellectual property -(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all -the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy -all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession. -If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project -Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the -terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or -entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8. - -1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be -used on or associated in any way with an electronic work by people who -agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few -things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works -even without complying with the full terms of this agreement. See -paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project -Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement -and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic -works. See paragraph 1.E below. - -1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation" -or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project -Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the -collection are in the public domain in the United States. If an -individual work is in the public domain in the United States and you are -located in the United States, we do not claim a right to prevent you from -copying, distributing, performing, displaying or creating derivative -works based on the work as long as all references to Project Gutenberg -are removed. Of course, we hope that you will support the Project -Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by -freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of -this agreement for keeping the Project Gutenberg-tm name associated with -the work. You can easily comply with the terms of this agreement by -keeping this work in the same format with its attached full Project -Gutenberg-tm License when you share it without charge with others. - -1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern -what you can do with this work. Copyright laws in most countries are in -a constant state of change. If you are outside the United States, check -the laws of your country in addition to the terms of this agreement -before downloading, copying, displaying, performing, distributing or -creating derivative works based on this work or any other Project -Gutenberg-tm work. The Foundation makes no representations concerning -the copyright status of any work in any country outside the United -States. - -1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg: - -1.E.1. The following sentence, with active links to, or other immediate -access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear prominently -whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work on which the -phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the phrase "Project -Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed, -copied or distributed: - -This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with -almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or -re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included -with this eBook or online at www.gutenberg.org/license - -1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is derived -from the public domain (does not contain a notice indicating that it is -posted with permission of the copyright holder), the work can be copied -and distributed to anyone in the United States without paying any fees -or charges. If you are redistributing or providing access to a work -with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the -work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1 -through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the -Project Gutenberg-tm trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or -1.E.9. - -1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted -with the permission of the copyright holder, your use and distribution -must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional -terms imposed by the copyright holder. Additional terms will be linked -to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the -permission of the copyright holder found at the beginning of this work. - -1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm -License terms from this work, or any files containing a part of this -work or any other work associated with Project Gutenberg-tm. - -1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this -electronic work, or any part of this electronic work, without -prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with -active links or immediate access to the full terms of the Project -Gutenberg-tm License. - -1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary, -compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any -word processing or hypertext form. 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You may charge a reasonable fee for copies of or providing -access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works provided -that - -- You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from - the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method - you already use to calculate your applicable taxes. The fee is - owed to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he - has agreed to donate royalties under this paragraph to the - Project Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments - must be paid within 60 days following each date on which you - prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax - returns. 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INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the -trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone -providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance -with this agreement, and any volunteers associated with the production, -promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works, -harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees, -that arise directly or indirectly from any of the following which you do -or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm -work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any -Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause. - - -Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm - -Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of -electronic works in formats readable by the widest variety of computers -including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists -because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from -people in all walks of life. - -Volunteers and financial support to provide volunteers with the -assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's -goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will -remain freely available for generations to come. In 2001, the Project -Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure -and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. -To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation -and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 -and the Foundation web page at http://www.pglaf.org. - - -Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive -Foundation - -The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit -501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the -state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal -Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification -number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at -http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg -Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent -permitted by U.S. federal laws and your state's laws. - -The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. -Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered -throughout numerous locations. Its business office is located at -809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email -business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact -information can be found at the Foundation's web site and official -page at http://pglaf.org - -For additional contact information: - Dr. Gregory B. Newby - Chief Executive and Director - gbnewby@pglaf.org - - -Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg -Literary Archive Foundation - -Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide -spread public support and donations to carry out its mission of -increasing the number of public domain and licensed works that can be -freely distributed in machine readable form accessible by the widest -array of equipment including outdated equipment. Many small donations -($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt -status with the IRS. - -The Foundation is committed to complying with the laws regulating -charities and charitable donations in all 50 states of the United -States. Compliance requirements are not uniform and it takes a -considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up -with these requirements. We do not solicit donations in locations -where we have not received written confirmation of compliance. To -SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any -particular state visit http://pglaf.org - -While we cannot and do not solicit contributions from states where we -have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition -against accepting unsolicited donations from donors in such states who -approach us with offers to donate. - -International donations are gratefully accepted, but we cannot make -any statements concerning tax treatment of donations received from -outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff. - -Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation -methods and addresses. Donations are accepted in a number of other -ways including checks, online payments and credit card donations. -To donate, please visit: http://pglaf.org/donate - - -Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic -works. - -Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm -concept of a library of electronic works that could be freely shared -with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project -Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. - - -Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed -editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. -unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily -keep eBooks in compliance with any particular paper edition. - - -Most people start at our Web site which has the main PG search facility: - - http://www.gutenberg.org - -This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, -including how to make donations to the Project Gutenberg Literary -Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to -subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. diff --git a/59187-h/59187-h.htm b/59187-h/59187-h.htm index 5fbef1c..df61b1e 100644 --- a/59187-h/59187-h.htm +++ b/59187-h/59187-h.htm @@ -125,44 +125,7 @@ a[title].pagenum:after { content: attr(title); color: gray; background-color: in <body> -<pre> - -The Project Gutenberg EBook of Helianth. Band 2, by Albrecht Schaeffer - -This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with -almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or -re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included -with this eBook or online at www.gutenberg.org/license - - -Title: Helianth. Band 2 - Bilder aus dem Leben zweier Menschen von heute und aus der - norddeutschen Tiefebene - -Author: Albrecht Schaeffer - -Release Date: April 1, 2019 [EBook #59187] - -Language: German - -Character set encoding: ISO-8859-1 - -*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HELIANTH. BAND 2 *** - - - - -Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed -Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was -produced from images made available by the HathiTrust -Digital Library. - - - - - - -</pre> +<div>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 59187 ***</div> <div class="frontmatter"> @@ -36071,380 +36034,7 @@ Korrekturen (vorher/nachher): -<pre> - - - - - -End of the Project Gutenberg EBook of Helianth. Band 2, by Albrecht Schaeffer - -*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HELIANTH. BAND 2 *** - -***** This file should be named 59187-h.htm or 59187-h.zip ***** -This and all associated files of various formats will be found in: - http://www.gutenberg.org/5/9/1/8/59187/ - -Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed -Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was -produced from images made available by the HathiTrust -Digital Library. - - -Updated editions will replace the previous one--the old editions -will be renamed. - -Creating the works from public domain print editions means that no -one owns a United States copyright in these works, so the Foundation -(and you!) can copy and distribute it in the United States without -permission and without paying copyright royalties. Special rules, -set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to -copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to -protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project -Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you -charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you -do not charge anything for copies of this eBook, complying with the -rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose -such as creation of derivative works, reports, performances and -research. They may be modified and printed and given away--you may do -practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is -subject to the trademark license, especially commercial -redistribution. - - - -*** START: FULL LICENSE *** - -THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE -PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK - -To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free -distribution of electronic works, by using or distributing this work -(or any other work associated in any way with the phrase "Project -Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project -Gutenberg-tm License (available with this file or online at -http://gutenberg.org/license). - - -Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm -electronic works - -1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm -electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to -and accept all the terms of this license and intellectual property -(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all -the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy -all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession. -If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project -Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the -terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or -entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8. - -1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be -used on or associated in any way with an electronic work by people who -agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few -things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works -even without complying with the full terms of this agreement. See -paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project -Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement -and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic -works. See paragraph 1.E below. - -1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation" -or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project -Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the -collection are in the public domain in the United States. If an -individual work is in the public domain in the United States and you are -located in the United States, we do not claim a right to prevent you from -copying, distributing, performing, displaying or creating derivative -works based on the work as long as all references to Project Gutenberg -are removed. Of course, we hope that you will support the Project -Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by -freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of -this agreement for keeping the Project Gutenberg-tm name associated with -the work. You can easily comply with the terms of this agreement by -keeping this work in the same format with its attached full Project -Gutenberg-tm License when you share it without charge with others. - -1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern -what you can do with this work. Copyright laws in most countries are in -a constant state of change. If you are outside the United States, check -the laws of your country in addition to the terms of this agreement -before downloading, copying, displaying, performing, distributing or -creating derivative works based on this work or any other Project -Gutenberg-tm work. 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If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is derived -from the public domain (does not contain a notice indicating that it is -posted with permission of the copyright holder), the work can be copied -and distributed to anyone in the United States without paying any fees -or charges. If you are redistributing or providing access to a work -with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the -work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1 -through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the -Project Gutenberg-tm trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or -1.E.9. - -1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted -with the permission of the copyright holder, your use and distribution -must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional -terms imposed by the copyright holder. 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Email contact links and up to date contact -information can be found at the Foundation's web site and official -page at http://pglaf.org - -For additional contact information: - Dr. Gregory B. Newby - Chief Executive and Director - gbnewby@pglaf.org - - -Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg -Literary Archive Foundation - -Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide -spread public support and donations to carry out its mission of -increasing the number of public domain and licensed works that can be -freely distributed in machine readable form accessible by the widest -array of equipment including outdated equipment. Many small donations -($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt -status with the IRS. - -The Foundation is committed to complying with the laws regulating -charities and charitable donations in all 50 states of the United -States. 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