summaryrefslogtreecommitdiff
diff options
context:
space:
mode:
authornfenwick <nfenwick@pglaf.org>2025-03-01 19:03:15 -0800
committernfenwick <nfenwick@pglaf.org>2025-03-01 19:03:15 -0800
commit84f05f33ecfbb527ba835c4b3e23e4f1849aead9 (patch)
treeadba2fd0617733dad631337c1dc8937cbc1f2905
parentc528f59bc20accff208e0a249441e0aca9d6751d (diff)
Add 45091 from ibiblio
-rw-r--r--45091-0.txt (renamed from 45091/45091-0.txt)9754
-rw-r--r--45091-h/45091-h.htm (renamed from 45091/45091-h/45091-h.htm)11975
-rw-r--r--45091-h/images/cover.jpg (renamed from 45091/45091-h/images/cover.jpg)bin34080 -> 34080 bytes
-rw-r--r--45091-h/images/grabstein.jpg (renamed from 45091/45091-h/images/grabstein.jpg)bin22224 -> 22224 bytes
-rw-r--r--45091-h/images/verlag.jpg (renamed from 45091/45091-h/images/verlag.jpg)bin14440 -> 14440 bytes
-rw-r--r--45091/45091-0.zipbin59991 -> 0 bytes
-rw-r--r--45091/45091-h.zipbin134579 -> 0 bytes
7 files changed, 10459 insertions, 11270 deletions
diff --git a/45091/45091-0.txt b/45091-0.txt
index 6b2453d..9646fb2 100644
--- a/45091/45091-0.txt
+++ b/45091-0.txt
@@ -1,5074 +1,4680 @@
-The Project Gutenberg EBook of Frühlings Erwachen, by Frank Wedekind
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
-almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
-re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
-with this eBook or online at www.gutenberg.org
-
-
-Title: Frühlings Erwachen
-
-Author: Frank Wedekind
-
-Release Date: March 9, 2014 [EBook #45091]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: UTF-8
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FRÜHLINGS ERWACHEN ***
-
-
-
-
-Produced by Peter Becker, the University of Toronto,
-Marc-Andre Seekamp and the Online Distributed Proofreading
-Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from
-images generously made available by The Internet
-Archive/Canadian Libraries)
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-Anmerkungen zur Transkription: Im Original gesperrt gedruckter Text
-wurde mit _ markiert. Im Original in Antiqua gedruckter Text wurde mit
-~ markiert. Im Original fett gedruckter Text wurde mit = markiert.
-
-
-
-
- Frühlings Erwachen
-
-
-
-
- Übersetzungs- und Aufführungsrecht vorbehalten. Nachdruck
- verboten
-
- Den Bühnen und Vereinen gegenüber Manuskript
-
- Das Aufführungsrecht ist ausschließlich zu erwerben
- durch _Albert Langen_, Verlag und Bühnenvertrieb,
- München
-
-
-
-
- Frank Wedekind
-
- Frühlings Erwachen
-
- Eine Kindertragödie
-
- Elfte bis fünfzehnte Auflage
-
- [Illustration]
-
- Albert Langen
- Verlag für Litteratur und Kunst
- München 1907
-
-
-
-
-Von _Frank Wedekind_ erschienen im Verlage von Albert Langen:
-
-
- _Erdgeist_ Tragödie 3. Auflage
- _Die Fürstin Russalka_ Novellen -- Gedichte -- Theater Vergriffen
- _Der Kammersänger_ Drei Szenen 5. Auflage
- _Der Liebestrank_ Schwank
- _Die junge Welt_ Komödie
- _Marquis von Keith_ Schauspiel
- _So ist das Leben_ Schauspiel
- _Frühlings Erwachen_
- Eine Kindertragödie 15. Auflage
- _Mine-Haha_ oder über die körperliche Erziehung
- der jungen Mädchen 5. Tausend
- _Die vier Jahreszeiten_ Gedichte 2. Tausend
- _Feuerwerk_ Erzählungen 3. Tausend
- _Totentanz_ Drei Szenen 4. Tausend
-
-
-
-
- Dem vermummten Herrn
- der Verfasser
-
-
-
-
-Erster Akt
-
-
-Erste Szene
-
-
-Wohnzimmer
-
-=Wendla=
-
-Warum hast du mir das Kleid so lang gemacht, Mutter?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Du wirst vierzehn Jahr heute!
-
-=Wendla=
-
-Hätt’ ich gewußt, daß du mir das Kleid so lang machen werdest, ich wäre
-lieber nicht vierzehn geworden.
-
-=Frau Bergmann=
-
-Das Kleid ist nicht zu lang, Wendla. Was willst du denn! Kann ich
-dafür, daß mein Kind mit jedem Frühjahr wieder zwei Zoll größer ist.
-Du darfst doch als ausgewachsenes Mädchen nicht in Prinzeßkleidchen
-einhergehen.
-
-=Wendla=
-
-Jedenfalls steht mir mein Prinzeßkleidchen besser als diese
-Nachtschlumpe. -- Laß mich’s noch einmal tragen, Mutter! Nur noch den
-Sommer lang. Ob ich nun vierzehn zähle oder fünfzehn, dies Bußgewand
-wird mir immer noch recht sein. -- Heben wir’s auf bis zu meinem
-nächsten Geburtstag; jetzt würd’ ich doch nur die Litze heruntertreten.
-
-=Frau Bergmann=
-
-Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich würde dich ja gerne so
-behalten, Kind, wie du gerade bist. Andere Mädchen sind stakig und
-plump in deinem Alter. Du bist das Gegenteil. -- Wer weiß, wie du sein
-wirst, wenn sich die andern entwickelt haben.
-
-=Wendla=
-
-Wer weiß -- vielleicht werde ich nicht mehr sein.
-
-=Frau Bergmann=
-
-Kind, Kind, wie kommst du auf die Gedanken!
-
-=Wendla=
-
-Nicht, liebe Mutter; nicht traurig sein!
-
-=Frau Bergmann= (sie küssend)
-
-Mein einziges Herzblatt!
-
-=Wendla=
-
-Sie kommen mir so des abends, wenn ich nicht einschlafe. Mir ist gar
-nicht traurig dabei, und ich weiß, daß ich dann um so besser schlafe.
--- Ist es sündhaft, Mutter, über derlei zu sinnen?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Geh’ denn und häng’ das Bußgewand in den Schrank! Zieh’ in Gottes Namen
-dein Prinzeßkleidchen wieder an! -- Ich werde dir gelegentlich eine
-Handbreit Volants unten ansetzen.
-
-=Wendla=
-
-(das Kleid in Schrank hängend)
-
-Nein, da möcht’ ich schon lieber gleich vollends zwanzig sein ...!
-
-=Frau Bergmann=
-
-Wenn du nur nicht zu kalt hast! -- Das Kleidchen war dir ja seinerzeit
-reichlich lang; aber ...
-
-=Wendla=
-
-Jetzt, wo der Sommer kommt? -- O Mutter, in den Kniekehlen bekommt
-man auch als Kind keine Diphtheritis! Wer wird so kleinmütig sein.
-In meinen Jahren friert man noch nicht -- am wenigsten an die Beine.
-Wär’s etwa besser, wenn ich zu heiß hätte, Mutter? -- Dank’ es dem
-lieben Gott, wenn sich dein Herzblatt nicht eines morgens die Ärmel
-wegstutzt und dir so zwischen Licht abends ohne Schuhe und Strümpfe
-entgegentritt! -- Wenn ich mein Bußgewand trage, kleide ich mich
-darunter wie eine Elfenkönigin ... Nicht schelten, Mütterchen! Es
-sieht’s dann ja niemand mehr.
-
-
-Zweite Szene
-
-_Sonntag abend_
-
-=Melchior=
-
-Das ist mir zu langweilig. Ich mache nicht mehr mit.
-
-=Otto=
-
-Dann können wir andern nur auch aufhören! -- Hast du die Arbeiten,
-Melchior?
-
-=Melchior=
-
-Spielt ihr nur weiter!
-
-=Moritz=
-
-Wohin gehst du?
-
-=Melchior=
-
-Spazieren.
-
-=Georg=
-
-Es wird ja dunkel!
-
-=Robert=
-
-Hast du die Arbeiten schon?
-
-=Melchior=
-
-Warum soll ich denn nicht im Dunkeln spazieren gehn?
-
-=Ernst=
-
-Zentralamerika! -- Ludwig der Fünfzehnte! -- Sechzig Verse Homer! --
-Sieben Gleichungen!
-
-=Melchior=
-
-Verdammte Arbeiten!
-
-=Georg=
-
-Wenn nur wenigstens der lateinische Aufsatz nicht auf morgen wäre!
-
-=Moritz=
-
-An nichts kann man denken, ohne daß einem Arbeiten dazwischen kommen!
-
-=Otto=
-
-Ich gehe nach Hause.
-
-=Georg=
-
-Ich auch, Arbeiten machen.
-
-=Ernst=
-
-Ich auch, ich auch.
-
-=Robert=
-
-Gute Nacht, Melchior.
-
-=Melchior=
-
-Schlaft wohl!
-
-(Alle entfernen sich bis auf Moritz und Melchior.)
-
-=Melchior=
-
-Möchte doch wissen, wozu wir eigentlich auf der Welt sind!
-
-=Moritz=
-
-Lieber wollt’ ich ein Droschkengaul sein um der Schule willen! --
-Wozu gehen wir in die Schule? -- Wir gehen in die Schule, damit
-man uns examinieren kann! -- Und wozu examiniert man uns? -- Damit
-wir durchfallen. -- Sieben müssen ja durchfallen, schon weil das
-Klassenzimmer oben nur sechzig faßt. -- Mir ist so eigentümlich seit
-Weihnachten ... hol’ mich der Teufel, wäre Papa nicht, heut’ noch
-schnürt’ ich mein Bündel und ginge nach Altona!
-
-=Melchior=
-
-Reden wir von etwas anderem. --
-
-(Sie gehen spazieren.)
-
-=Moritz=
-
-Siehst du die schwarze Katze dort mit dem emporgereckten Schweif?
-
-=Melchior=
-
-Glaubst du an Vorbedeutungen?
-
-=Moritz=
-
-Ich weiß nicht recht. -- -- Sie kam von drüben her. Es hat nichts zu
-sagen.
-
-=Melchior=
-
-Ich glaube, das ist eine Charybdis, in die jeder stürzt, der sich aus
-der Skylla religiösen Irrwahns emporgerungen. -- -- Laß uns hier unter
-der Buche Platz nehmen. Der Tauwind fegt über die Berge. Jetzt möchte
-ich droben im Wald eine junge Dryade sein, die sich die ganze lange
-Nacht in den höchsten Wipfeln wiegen und schaukeln läßt....
-
-=Moritz=
-
-Knöpf’ dir die Weste auf, Melchior!
-
-=Melchior=
-
-Ha -- wie das einem die Kleider bläht!
-
-=Moritz=
-
-Es wird weiß Gott so stockfinster, daß man die Hand nicht vor den Augen
-sieht. Wo bist du eigentlich? -- -- Glaubst du nicht auch, Melchior,
-daß das Schamgefühl im Menschen nur ein Produkt seiner Erziehung ist?
-
-=Melchior=
-
-Darüber habe ich erst vorgestern noch nachgedacht. Es scheint mir
-immerhin tief eingewurzelt in der menschlichen Natur. Denke dir, du
-solltest dich vollständig entkleiden vor deinem besten Freund. Du wirst
-es nicht tun, wenn er es nicht zugleich auch tut. -- Es ist eben auch
-mehr oder weniger Modesache.
-
-=Moritz=
-
-Ich habe mir schon gedacht, wenn ich Kinder habe, Knaben und Mädchen,
-so lasse ich sie von früh auf im nämlichen Gemach, wenn möglich auf ein
-und demselben Lager, zusammenschlafen, lasse sie morgens und abends
-beim An- und Auskleiden einander behilflich sein und in der heißen
-Jahreszeit, die Knaben sowohl wie die Mädchen, tagsüber nichts als
-eine kurze, mit einem Lederriemen gegürtete Tunika aus weißem Wollstoff
-tragen. -- Mir ist, sie müßten, wenn sie so heranwachsen, später
-ruhiger sein, als wir es in der Regel sind.
-
-=Melchior=
-
-Das glaube ich entschieden, Moritz! -- Die Frage ist nur, wenn die
-Mädchen Kinder bekommen, was dann?
-
-=Moritz=
-
-Wie so Kinder bekommen?
-
-=Melchior=
-
-Ich glaube in dieser Hinsicht nämlich an einen gewissen Instinkt. Ich
-glaube, wenn man einen Kater zum Beispiel mit einer Katze von Jugend
-auf zusammensperrt und beide von jedem Verkehr mit der Außenwelt
-fernhält, d. h. sie ganz nur ihren eigenen Trieben überläßt -- daß die
-Katze früher oder später doch einmal trächtig wird, obgleich sie sowohl
-wie der Kater niemand hatten, dessen Beispiel ihnen hätte die Augen
-öffnen können.
-
-=Moritz=
-
-Bei Tieren muß sich das ja schließlich von selbst ergeben.
-
-=Melchior=
-
-Bei Menschen glaube ich erst recht! Ich bitte dich, Moritz, wenn
-deine Knaben mit den Mädchen auf ein und demselben Lager schlafen und
-es kommen ihnen nun unversehens die ersten männlichen Regungen -- ich
-möchte mit jedermann eine Wette eingehen....
-
-=Moritz=
-
-Darin magst du ja recht haben. -- Aber immerhin ...
-
-=Melchior=
-
-Und bei deinen Mädchen wäre es im entsprechenden Alter vollkommen das
-nämliche! Nicht daß das Mädchen gerade ... man kann das ja freilich so
-genau nicht beurteilen ... jedenfalls wäre vorauszusetzen ...... und
-die Neugierde würde das Ihrige zu tun auch nicht verabsäumen!
-
-=Moritz=
-
-Eine Frage beiläufig --
-
-=Melchior=
-
-Nun?
-
-=Moritz=
-
-Aber du antwortest?
-
-=Melchior=
-
-Natürlich!
-
-=Moritz=
-
-Wahr?!
-
-=Melchior=
-
-Meine Hand darauf. -- -- Nun, Moritz?
-
-=Moritz=
-
-Hast du den Aufsatz schon??
-
-=Melchior=
-
-So sprich doch frisch von der Leber weg! -- Hier hört und sieht uns ja
-niemand.
-
-=Moritz=
-
-Selbstverständlich müßten meine Kinder nämlich tagsüber arbeiten, in
-Hof und Garten, oder sich durch Spiele zerstreuen, die mit körperlicher
-Anstrengung verbunden sind. Sie müßten reiten, turnen, klettern und
-vor allen Dingen nachts nicht so weich schlafen wie wir. Wir sind
-schrecklich verweichlicht. -- Ich glaube, man träumt gar nicht, wenn
-man hart schläft.
-
-=Melchior=
-
-Ich schlafe von jetzt bis nach der Weinlese überhaupt nur in meiner
-Hängematte. Ich habe mein Bett hinter den Ofen gestellt. Es ist zum
-Zusammenklappen. -- Vergangenen Winter träumte mir einmal, ich hätte
-unsern Lolo so lange gepeitscht, bis er kein Glied mehr rührte. Das war
-das Grauenhafteste, was ich je geträumt habe. -- Was siehst du mich so
-sonderbar an?
-
-=Moritz=
-
-Hast du sie schon empfunden?
-
-=Melchior=
-
-Was?
-
-=Moritz=
-
-Wie sagtest du?
-
-=Melchior=
-
-Männliche Regungen?
-
-=Moritz=
-
-M--hm.
-
-=Melchior=
-
--- Allerdings!
-
-=Moritz=
-
-Ich auch. -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
-
-=Melchior=
-
-Ich kenne das nämlich schon lange! -- schon bald ein Jahr.
-
-=Moritz=
-
-Ich war wie vom Blitz gerührt.
-
-=Melchior=
-
-Du hattest geträumt?
-
-=Moritz=
-
-Aber nur ganz kurz ....... von Beinen im himmelblauem Trikot, die über
-das Katheder steigen -- um aufrichtig zu sein, ich dachte, sie wollten
-hinüber. -- Ich habe sie nur flüchtig gesehen.
-
-=Melchior=
-
-Georg Zirschnitz träumte von seiner _Mutter_.
-
-=Moritz=
-
-Hat er dir das erzählt?
-
-=Melchior=
-
-Draußen am Galgensteg!
-
-=Moritz=
-
-Wenn du wüßtest, was ich ausgestanden seit jener Nacht!
-
-=Melchior=
-
-Gewissensbisse?
-
-=Moritz=
-
-Gewissensbisse?? -- -- -- _Todesangst_!
-
-=Melchior=
-
-Herrgott ...
-
-=Moritz=
-
-Ich hielt mich für unheilbar. Ich glaubte, ich litte an einem inneren
-Schaden. -- Schließlich wurde ich nur dadurch wieder ruhiger, daß ich
-meine Lebenserinnerungen aufzuzeichnen begann. Ja ja, lieber Melchior,
-die letzten drei Wochen waren ein Gethsemane für mich.
-
-=Melchior=
-
-Ich war seinerzeit mehr oder weniger darauf gefaßt gewesen. Ich schämte
-mich ein wenig. -- Das war aber auch alles.
-
-=Moritz=
-
-Und dabei bist du noch fast um ein ganzes Jahr jünger als ich!
-
-=Melchior=
-
-Darüber, Moritz, würd’ ich mir keine Gedanken machen. All’ meinen
-Erfahrungen nach besteht für das erste Auftauchen dieser Phantome
-keine bestimmte Altersstufe. Kennst du den großen Lämmermeier mit
-dem strohgelben Haar und der Adlernase? Drei Jahre ist der älter als
-ich. Hänschen Rilow sagt, der träume noch bis heute von nichts als
-Sandtorten und Aprikosengelee.
-
-=Moritz=
-
-Ich bitte dich, wie kann Hänschen Rilow darüber urteilen!
-
-=Melchior=
-
-Er hat ihn gefragt.
-
-=Moritz=
-
-Er hat ihn gefragt? -- Ich hätte mich nicht getraut, jemanden zu fragen.
-
-=Melchior=
-
-Du hast mich doch auch gefragt.
-
-=Moritz=
-
-Weiß Gott ja! -- Möglicherweise hatte Hänschen auch schon sein
-Testament gemacht. -- Wahrlich ein sonderbares Spiel, das man mit uns
-treibt. Und dafür sollen wir uns dankbar erweisen! Ich erinnere mich
-nicht, je eine Sehnsucht nach dieser Art Aufregungen verspürt zu
-haben. Warum hat man mich nicht ruhig schlafen lassen, bis alles wieder
-still gewesen wäre. Meine lieben Eltern hätten hundert bessere Kinder
-haben können. So bin ich nun hergekommen, ich weiß nicht wie, und soll
-mich dafür verantworten, daß ich nicht weggeblieben bin. -- Hast du
-nicht auch schon darüber nachgedacht, Melchior, auf welche Art und
-Weise wir eigentlich in diesen Strudel hineingeraten?
-
-=Melchior=
-
-Du weißt das also noch nicht, Moritz?
-
-=Moritz=
-
-Wie sollt’ ich es wissen? -- Ich sehe, wie die Hühner Eier legen,
-und höre, daß mich Mama unter dem Herzen getragen haben will.
-Aber genügt denn das? -- Ich erinnere mich auch, als fünfjähriges
-Kind schon befangen worden zu sein, wenn einer die dekolletierte
-Coeurdame aufschlug. Dieses Gefühl hat sich verloren. Indessen kann
-ich heute kaum mehr mit irgend einem Mädchen sprechen, ohne etwas
-Verabscheuenswürdiges dabei zu denken, und -- ich schwöre dir, Melchior
--- ich weiß nicht _was_.
-
-=Melchior=
-
-Ich sage dir alles. -- Ich habe es teils aus Büchern, teils aus
-Illustrationen, teils aus Beobachtungen in der Natur. Du wirst
-überrascht sein; ich wurde seinerzeit Atheist. Ich habe es auch Georg
-Zirschnitz gesagt! Georg Zirschnitz wollte es Hänschen Rilow sagen,
-aber Hänschen Rilow hatte als Kind schon alles von seiner Gouvernante
-erfahren.
-
-=Moritz=
-
-Ich habe den _Kleinen Meyer_ von A bis Z durchgenommen. Worte -- nichts
-als Worte und Worte! Nicht eine einzige schlichte Erklärung. O dieses
-Schamgefühl! -- Was soll mir ein Konversationslexikon, das auf die
-nächstliegende Lebensfrage nicht antwortet.
-
-=Melchior=
-
-Hast du schon einmal zwei Hunde über die Straße laufen sehen?
-
-=Moritz=
-
-Nein! -- -- Sag mir heute lieber noch nichts, Melchior. Ich habe noch
-Mittelamerika und Ludwig den Fünfzehnten vor mir. Dazu die sechzig
-Verse Homer, die sieben Gleichungen, der lateinische Aufsatz -- ich
-würde morgen wieder überall abblitzen. Um mit Erfolg büffeln zu können,
-muß ich stumpfsinnig wie ein Ochse sein.
-
-=Melchior=
-
-Komm doch mit auf mein Zimmer. In dreiviertel Stunden habe ich den
-Homer, die Gleichungen und _zwei_ Aufsätze. Ich korrigiere dir einige
-harmlose Schnitzer hinein, so ist die Sache im Blei. Mama braut uns
-wieder eine Limonade, und wir plaudern gemütlich über die Fortpflanzung.
-
-=Moritz=
-
-Ich kann nicht. -- Ich kann nicht gemütlich über die Fortpflanzung
-plaudern! Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann gib mir deine
-Unterweisungen schriftlich. Schreib mir auf, was du weißt. Schreib es
-möglichst kurz und klar und steck es mir morgen während der Turnstunde
-zwischen die Bücher. Ich werde es nach Hause tragen, ohne zu wissen,
-daß ich es habe. Ich werde es unverhofft einmal wiederfinden. Ich
-werde nicht umhin können, es müden Auges zu durchfliegen ... falls es
-unumgänglich notwendig ist, magst du ja auch einzelne Randzeichnungen
-anbringen.
-
-=Melchior=
-
-Du bist wie ein Mädchen. -- Übrigens wie du willst! Es ist mir das eine
-ganz interessante Arbeit. -- -- Eine Frage, Moritz.
-
-=Moritz=
-
-Hm?
-
-=Melchior=
-
--- Hast du schon einmal ein Mädchen gesehen?
-
-=Moritz=
-
-Ja!
-
-=Melchior=
-
-Aber ganz?!
-
-=Moritz=
-
-_Vollständig_!
-
-=Melchior=
-
-Ich nämlich auch! -- Dann werden keine Illustrationen nötig sein.
-
-=Moritz=
-
-Während des Schützenfestes, in Leilichs anatomischem Museum! Wenn es
-aufgekommen wäre, hätte man mich aus der Schule gejagt. -- Schön wie
-der lichte Tag, und -- o so naturgetreu!
-
-=Melchior=
-
-Ich war letzten Sommer mit Mama in Frankfurt -- -- Du willst schon
-gehen, Moritz?
-
-=Moritz=
-
-Arbeiten machen. -- Gute Nacht.
-
-=Melchior=
-
-Auf Wiedersehen.
-
-
-Dritte Szene
-
-_Thea_, _Wendla_ und _Martha_ kommen Arm in Arm die _Straße_ herauf
-
-=Martha=
-
-Wie einem das Wasser ins Schuhwerk dringt!
-
-=Wendla=
-
-Wie einem der Wind um die Wangen saust!
-
-=Thea=
-
-Wie einem das Herz hämmert!
-
-=Wendla=
-
-Geh’n wir zur Brücke hinaus! Ilse sagte der Fluß führe Sträucher und
-Bäume. Die Jungens haben ein Floß auf dem Wasser. Melchi Gabor soll
-gestern abend beinah ertrunken sein.
-
-=Thea=
-
-O der kann schwimmen!
-
-=Martha=
-
-Das will ich meinen, Kind!
-
-=Wendla=
-
-Wenn er nicht hätte schwimmen können, wäre er wohl sicher ertrunken!
-
-=Thea=
-
-Dein Zopf geht auf, Martha; dein Zopf geht auf!
-
-=Martha=
-
-Puh -- laß ihn aufgehn! Er ärgert mich so Tag und Nacht. Kurze Haare
-tragen wie du darf ich nicht, das Haar offen tragen wie Wendla darf ich
-nicht, Ponyhaare tragen darf ich nicht, und zu Hause muß ich mir gar
-die Frisur machen -- alles der Tanten wegen!
-
-=Wendla=
-
-Ich bringe morgen eine Schere mit in die Religionsstunde. Während du
-„Wohl dem, der nicht wandelt“ rezitierst, werd’ ich ihn abschneiden.
-
-=Martha=
-
-Um Gotteswillen, Wendla! Papa schlägt mich krumm, und Mama sperrt mich
-drei Nächte ins Kohlenloch.
-
-=Wendla=
-
-Womit schlägt er dich, Martha?
-
-=Martha=
-
-Manchmal ist es mir, es müßte ihnen doch etwas abgehen, wenn sie keinen
-so schlechtgearteten Balg hätten wie ich.
-
-=Thea=
-
-Aber Mädchen!
-
-=Martha=
-
-Hast du dir nicht auch ein himmelblaues Band durch die Hemdpasse ziehen
-dürfen?
-
-=Thea=
-
-Rosa Atlas! Mama behauptet, Rosa stehe mir bei meinen pechschwarzen
-Augen.
-
-=Martha=
-
-Mir stand Blau reizend! -- Mama riß mich am Zopf zum Bett heraus. So
--- fiel ich mit den Händen voraus auf die Diele. -- Mama betet nämlich
-Abend für Abend mit uns....
-
-=Wendla=
-
-Ich an deiner Stelle wäre ihnen längst in die Welt hinausgelaufen.
-
-=Martha=
-
-... Da habe man’s, worauf ich ausgehe! -- Da habe man’s ja! -- Aber
-sie wolle schon sehen -- o sie wolle noch sehen! -- Meiner Mutter
-wenigstens solle ich einmal keine Vorwürfe machen können....
-
-=Thea=
-
-Hu -- Hu --
-
-=Martha=
-
-Kannst du dir denken, Thea, was Mama damit meinte?
-
-=Thea=
-
-Ich nicht. -- Du, Wendla?
-
-=Wendla=
-
-Ich hätte sie einfach gefragt.
-
-=Martha=
-
-Ich lag auf der Erde und schrie und heulte. Da kommt Papa. Ritsch --
-das Hemd herunter. Ich zur Türe hinaus. Da habe man’s! Ich wolle nun
-wohl so auf die Straße hinunter....
-
-=Wendla=
-
-Das ist doch gar nicht wahr, Martha.
-
-=Martha=
-
-Ich fror. Ich schloß auf. Ich habe die ganze Nacht im Sack schlafen
-müssen.
-
-=Thea=
-
-Ich könnte meiner Lebtag in keinem Sack schlafen!
-
-=Wendla=
-
-Ich möchte ganz gern mal für dich in deinem Sack schlafen.
-
-=Martha=
-
-Wenn man nur nicht geschlagen wird.
-
-=Thea=
-
-Aber man erstickt doch darin!
-
-=Martha=
-
-Der Kopf bleibt frei. Unter dem Kinn wird zugebunden.
-
-=Thea=
-
-Und dann schlagen sie dich?
-
-=Martha=
-
-Nein. Nur wenn etwas Besonderes vorliegt.
-
-=Wendla=
-
-Womit schlägt man dich, Martha?
-
-=Martha=
-
-Ach was -- mit allerhand. -- Hält es deine Mutter auch für unanständig,
-im Bett ein Stück Brot zu essen?
-
-=Wendla=
-
-Nein, nein.
-
-=Martha=
-
-Ich glaube immer, sie haben doch ihre Freude -- wenn sie auch nichts
-davon sagen. -- Wenn ich einmal Kinder habe, ich lasse sie aufwachsen
-wie das Unkraut in unserem Blumengarten. Um das kümmert sich niemand,
-und es steht so hoch, so dicht -- während die Rosen in den Beeten an
-ihren Stöcken mit jedem Sommer kümmerlicher blühn.
-
-=Thea=
-
-Wenn ich Kinder habe, kleid’ ich sie ganz in Rosa. Rosahüte,
-Rosakleidchen, Rosaschuhe. Nur die Strümpfe -- die Strümpfe schwarz
-wie die Nacht! Wenn ich dann spazieren gehe, laß ich sie vor mir
-hermarschieren. -- Und du, Wendla?
-
-=Wendla=
-
-Wißt ihr denn, ob ihr welche bekommt?
-
-=Thea=
-
-Warum sollten wir keine bekommen?
-
-=Martha=
-
-Tante Euphemia hat allerdings auch keine.
-
-=Thea=
-
-Gänschen! -- weil sie nicht _verheiratet_ ist.
-
-=Wendla=
-
-Tante Bauer war dreimal verheiratet und hat nicht ein einziges.
-
-=Martha=
-
--- Wenn du welche bekommst, Wendla, was möchtest du lieber, Knaben oder
-Mädchen?
-
-=Wendla=
-
-Jungens! Jungens!
-
-=Thea=
-
-Ich auch Jungens!
-
-=Martha=
-
-Ich auch. Lieber zwanzig Jungens als drei Mädchen.
-
-=Thea=
-
-Mädchen sind langweilig!
-
-=Martha=
-
-Wenn ich nicht schon ein Mädchen geworden wäre, ich würde es heute
-gewiß nicht mehr.
-
-=Wendla=
-
-Das ist, glaube ich, Geschmacksache, Martha! Ich freue mich jeden Tag,
-daß ich Mädchen bin. Glaub’ mir, ich wollte mit keinem Königssohn
-tauschen. -- Darum möchte ich aber doch nur Buben!
-
-=Thea=
-
-Das ist doch Unsinn, lauter Unsinn, Wendla!
-
-=Wendla=
-
-Aber ich bitte dich, Kind, es muß doch tausendmal erhebender sein, von
-einem Manne geliebt zu werden, als von einem Mädchen!
-
-=Thea=
-
-Du wirst doch nicht behaupten wollen, Forstreferendar Pfälle liebe
-Melitta mehr als sie ihn!
-
-=Wendla=
-
-Das will ich wohl, Thea! -- Pfälle ist stolz. Pfälle ist stolz darauf,
-daß er Forstreferendar ist -- denn Pfälle hat nichts. -- Melitta ist
-_selig_, weil sie zehntausendmal mehr bekommt, als sie ist.
-
-=Martha=
-
-Bist du nicht stolz auf dich, Wendla?
-
-=Wendla=
-
-Das wäre doch einfältig.
-
-=Martha=
-
-Wie wollt’ ich stolz sein an deiner Stelle.
-
-=Thea=
-
-Sieh’ doch nur, wie sie die Füße setzt -- wie sie geradaus schaut --
-wie sie sich hält, Martha! -- Wenn das nicht Stolz ist!
-
-=Wendla=
-
-Wozu nur?! Ich bin so glücklich, Mädchen zu sein; wenn ich kein Mädchen
-wär’, brächt’ ich mich um, um das nächste Mal ...
-
-=Melchior=
-
-(geht vorüber und grüßt)
-
-=Thea=
-
-Er hat einen wundervollen Kopf.
-
-=Martha=
-
-So denke ich mir den jungen Alexander, als er zu Aristoteles in die
-Schule ging.
-
-=Thea=
-
-Du lieber Gott, die griechische Geschichte! -- Ich weiß nur noch,
-wie Sokrates in der Tonne lag, als ihm Alexander den Eselsschatten
-verkaufte.
-
-=Wendla=
-
-Er soll der Drittbeste in seiner Klasse sein.
-
-=Thea=
-
-Professor Knochenbruch sagt, wenn er wollte, könnte er Primus sein.
-
-=Martha=
-
-Er hat eine schöne Stirne, aber sein Freund hat einen seelenvolleren
-Blick.
-
-=Thea=
-
-Moritz Stiefel? -- Ist das eine Schlafmütze!
-
-=Martha=
-
-Ich habe mich immer ganz gut mit ihm unterhalten.
-
-=Thea=
-
-Er blamiert einen, wo man ihn trifft. Auf dem Kinderball bei Rilows
-bot er mir Pralinees an. Denke dir, Wendla, die waren weich und warm.
-Ist das nicht ...? -- Er sagte, er habe sie zu lang in der Hosentasche
-gehabt.
-
-=Wendla=
-
-Denke dir, Melchi Gabor sagte mir damals, er glaube an nichts -- nicht
-an Gott, nicht an ein Jenseits -- an gar nichts mehr in dieser Welt.
-
-
-Vierte Szene
-
-Parkanlagen vor dem Gymnasium -- _Melchior_, _Otto_, _Georg_, _Robert_,
-_Hänschen Rilow_, _Lämmermeier_
-
-=Melchior=
-
-Kann mir einer von euch sagen, wo Moritz Stiefel steckt?
-
-=Georg=
-
-Dem kann’s schlecht gehn! -- O dem kann’s schlecht gehn!
-
-=Otto=
-
-Der treibts so lange, bis er noch mal ganz gehörig ’reinfliegt!
-
-=Lämmermeier=
-
-Weiß der Kuckuck, ich möchte in diesem Moment nicht in seiner Haut
-stecken!
-
-=Robert=
-
-Eine Frechheit! -- Eine Unverschämtheit!
-
-=Melchior=
-
-Wa -- wa -- was wißt ihr denn?
-
-=Georg=
-
-Was wir wissen? -- Na, ich sage dir ...
-
-=Lämmermeier=
-
-Ich möchte nichts gesagt haben!
-
-=Otto=
-
-Ich auch nicht -- weiß Gott nicht!
-
-=Melchior=
-
-Wenn ihr jetzt nicht sofort ...
-
-=Robert=
-
-Kurz und gut, Moritz Stiefel ist ins _Konferenzzimmer_ gedrungen.
-
-=Melchior=
-
-Ins Konferenzzimmer ...?
-
-=Otto=
-
-Ins Konferenzzimmer! -- Gleich nach Schluß der Lateinstunde.
-
-=Georg=
-
-Er war der letzte; er blieb absichtlich zurück.
-
-=Lämmermeier=
-
-Als ich um die Korridorecke bog, sah ich ihn die Tür öffnen.
-
-=Melchior=
-
-Hol dich der ...!
-
-=Lämmermeier=
-
-Wenn nur ihn nicht der Teufel holt!
-
-=Georg=
-
-Vermutlich hatte das Rektorat den Schlüssel nicht abgezogen.
-
-=Robert=
-
-Oder Moritz Stiefel führt einen Dietrich.
-
-=Otto=
-
-Ihm wäre das zuzutrauen.
-
-=Lämmermeier=
-
-Wenn’s gut geht, bekommt er einen Sonntagnachmittag.
-
-=Robert=
-
-Nebst einer Bemerkung ins Zeugnis!
-
-=Otto=
-
-Wenn er bei dieser Zensur nicht ohnehin an die Luft fliegt.
-
-=Hänschen Rilow=
-
-Da ist er!
-
-=Melchior=
-
-Blaß wie ein Handtuch.
-
-(Moritz kommt in äußerster Aufregung.)
-
-=Lämmermeier=
-
-Moritz, Moritz, was du getan hast!
-
-=Moritz=
-
--- -- Nichts -- -- nichts -- -- --
-
-=Robert=
-
-Du fieberst!
-
-=Moritz=
-
--- Vor Glück -- vor Seligkeit -- vor Herzensjubel --
-
-=Otto=
-
-Du bist erwischt worden?!
-
-=Moritz=
-
-Ich bin promoviert! -- Melchior, ich bin promoviert! -- O jetzt kann
-die Welt untergehn! -- Ich bin promoviert! -- Wer hätte geglaubt, daß
-ich promoviert werde! -- Ich fass’ es noch nicht! -- Zwanzigmal hab’
-ich’s gelesen! -- Ich kann’s nicht glauben -- du großer Gott, es blieb!
--- Es blieb! _Ich bin promoviert_! -- (lächelnd) Ich weiß nicht --
-so sonderbar ist mir -- der Boden dreht sich ... Melchior, Melchior,
-wüßtest du, was ich durchgemacht!
-
-=Hänschen Rilow=
-
-Ich gratuliere, Moritz. -- Sei nur froh, daß du so weggekommen!
-
-=Moritz=
-
-Du weißt nicht, Hänschen, du ahnst nicht, was auf dem Spiel stand.
-Seit drei Wochen schleiche ich an der Tür vorbei wie am Höllenschlund.
-Da sehe ich heute, sie ist angelehnt. Ich glaube, wenn man mir eine
-Million geboten hätte -- nichts, o nichts hätte mich zu halten
-vermocht! -- Ich stehe mitten im Zimmer -- ich schlage das Protokoll
-auf -- blättere -- finde -- -- und während all der Zeit ... Mir
-schaudert --
-
-=Melchior=
-
-... während all der Zeit?
-
-=Moritz=
-
-Während all der Zeit steht die Tür hinter mir sperrangelweit offen. --
-Wie ich heraus ... wie ich die Treppe heruntergekommen, weiß ich nicht.
-
-=Hänschen Rilow=
-
--- Wird Ernst Röbel auch promoviert?
-
-=Moritz=
-
-O gewiß, Hänschen, gewiß! -- Ernst Röbel wird gleichfalls promoviert.
-
-=Robert=
-
-Dann mußt du schon nicht richtig gelesen haben. Die Eselsbank
-abgerechnet zählen wir mit dir und Röbel zusammen einundsechzig,
-während oben das Klassenzimmer mehr als sechzig nicht fassen kann.
-
-=Moritz=
-
-Ich habe vollkommen richtig gelesen. Ernst Röbel wird so gut versetzt
-wie ich -- beide allerdings vorläufig nur _provisorisch_. Während des
-ersten Quartals soll es sich dann herausstellen, wer dem andern Platz
-zu machen hat. -- Armer Röbel! -- Weiß der Himmel, mir ist um mich
-nicht mehr bange. Dazu habe ich diesmal zu tief hinuntergeblickt.
-
-=Otto=
-
-Ich wette fünf Mark, daß du Platz machst.
-
-=Moritz=
-
-Du hast ja nichts. Ich will dich nicht ausrauben. -- Herrgott, werd’
-ich büffeln von heute an! -- Jetzt kann ich’s ja sagen -- mögt ihr
-daran glauben oder nicht -- jetzt ist ja alles gleichgültig -- ich --
-ich weiß, wie wahr es ist: Wenn ich nicht promoviert worden wäre, hätte
-ich mich erschossen.
-
-=Robert=
-
-Prahlhans!
-
-=Georg=
-
-Der Hasenfuß!
-
-=Otto=
-
-Dich hätte ich schießen sehen mögen!
-
-=Lämmermeier=
-
-Eine Maulschelle drauf!
-
-=Melchior=
-
-(gibt ihm eine)
-
--- -- Komm, Moritz. Gehn wir zum Försterhaus!
-
-=Georg=
-
-Glaubst du vielleicht an den Schnack?
-
-=Melchior=
-
-Schert dich das? -- -- Laß sie schwatzen, Moritz! Fort, nur fort, zur
-Stadt hinaus!
-
-(Die Professoren _Hungergurt_ und _Knochenbruch_ gehen vorüber.)
-
-=Knochenbruch=
-
-Mir unbegreiflich, verehrter Herr Kollega, wie sich der beste meiner
-Schüler gerade zum allerschlechtesten so hingezogen fühlen kann.
-
-=Hungergurt=
-
-Mir auch, verehrter Herr Kollega.
-
-
-Fünfte Szene
-
-Sonniger Nachmittag. -- _Melchior_ und _Wendla_ begegnen einander im
-Wald.
-
-=Melchior=
-
-Bist du’s wirklich, Wendla? -- Was tust denn du so allein hier oben? --
-Seit drei Stunden durchstreife ich den Wald die Kreuz und Quer, ohne
-daß mir eine Seele begegnet, und nun plötzlich trittst du mir aus dem
-dichtesten Dickicht entgegen!
-
-=Wendla=
-
-Ja, ich bin’s.
-
-=Melchior=
-
-Wenn ich dich nicht als Wendla Bergmann kennte, ich hielte dich für
-eine Dryade, die aus den Zweigen gefallen.
-
-=Wendla=
-
-Nein, nein, ich bin Wendla Bergmann. -- Wo kommst denn du her?
-
-=Melchior=
-
-Ich gehe meinen Gedanken nach.
-
-=Wendla=
-
-Ich suche Waldmeister. Mama will Maitrank bereiten. Anfangs wollte sie
-selbst mitgehn, aber im letzten Augenblick kam Tante Bauer noch, und
-die steigt nicht gern. -- So bin ich denn allein heraufgekommen.
-
-=Melchior=
-
-Hast du deinen Waldmeister schon?
-
-=Wendla=
-
-Den ganzen Korb voll. Drüben unter den Buchen steht er dicht wie
-Mattenklee. -- Jetzt sehe ich mich nämlich nach einem Ausweg um. Ich
-scheine mich verirrt zu haben. Kannst du mir vielleicht sagen, wie viel
-Uhr es ist?
-
-=Melchior=
-
-Eben halb vier vorbei. -- Wann erwartet man dich?
-
-=Wendla=
-
-Ich glaubte, es wäre später. Ich lag eine ganze Weile am Goldbach im
-Moose und habe geträumt. Die Zeit verging mir so rasch; ich fürchtete,
-es wolle schon Abend werden.
-
-=Melchior=
-
-Wenn man dich noch nicht erwartet, dann laß uns hier noch ein wenig
-lagern. Unter der Eiche dort ist mein Lieblingsplätzchen. Wenn man den
-Kopf an den Stamm zurücklehnt und durch die Äste in den Himmel starrt,
-wird man hypnotisiert. Der Boden ist noch warm von der Morgensonne. --
-Schon seit Wochen wollte ich dich etwas fragen, Wendla.
-
-=Wendla=
-
-Aber vor fünf muß ich zu Hause sein.
-
-=Melchior=
-
-Wir gehen dann zusammen. Ich nehme den Korb und wir schlagen den Weg
-durch die Runse ein, so sind wir in zehn Minuten schon auf der Brücke!
--- Wenn man so daliegt, die Stirn in die Hand gestützt, kommen einem
-die sonderbarsten Gedanken ...
-
-(Beide lagern sich unter der Eiche.)
-
-=Wendla=
-
-Was wolltest du mich fragen, Melchior?
-
-=Melchior=
-
-Ich habe gehört, Wendla, du gehest häufig zu armen Leuten. Du brächtest
-ihnen Essen, auch Kleider und Geld. Tust du das aus eigenem Antriebe
-oder schickt deine Mutter dich?
-
-=Wendla=
-
-Meistens schickt mich die Mutter. Es sind arme Taglöhnerfamilien, die
-eine Unmenge Kinder haben. Oft findet der Mann keine Arbeit, dann
-frieren und hungern sie. Bei uns liegt aus früherer Zeit noch so
-mancherlei in Schränken und Kommoden, das nicht mehr gebraucht wird. --
-Aber wie kommst du darauf?
-
-=Melchior=
-
-Gehst du gern oder ungern, wenn deine Mutter dich sowohin schickt?
-
-=Wendla=
-
-O für mein Leben gern! -- Wie kannst du fragen!
-
-=Melchior=
-
-Aber die Kinder sind schmutzig, die Frauen sind krank, die Wohnungen
-strotzen von Unrat, die Männer hassen dich, weil du nicht arbeitest ...
-
-=Wendla=
-
-Das ist nicht wahr, Melchior. Und wenn es wahr wäre, ich würde erst
-recht gehen!
-
-=Melchior=
-
-Wieso erst recht, Wendla?
-
-=Wendla=
-
-Ich würde erst recht hingehen. -- Es würde nur noch vielmehr Freude
-bereiten, ihnen helfen zu können.
-
-=Melchior=
-
-Du gehst also um deiner Freude willen zu den armen Leuten?
-
-=Wendla=
-
-Ich gehe zu ihnen, weil sie arm sind.
-
-=Melchior=
-
-Aber wenn es dir keine Freude wäre, würdest du nicht gehen?
-
-=Wendla=
-
-Kann ich denn dafür, daß es mir Freude macht?
-
-=Melchior=
-
-Und doch sollst du dafür in den Himmel kommen! -- So ist es also
-richtig, was mir nun seit einem Monat keine Ruhe mehr läßt! -- Kann der
-Geizige dafür, daß es ihm keine Freude macht, zu schmutzigen kranken
-Kindern zu gehen?
-
-=Wendla=
-
-O dir würde es sicher die größte Freude sein!
-
-=Melchior=
-
-Und doch soll er dafür des ewigen Todes sterben! -- Ich werde eine
-Abhandlung schreiben und sie Herrn Pastor Kahlbauch einschicken. Er ist
-die Veranlassung. Was faselt er uns von _Opfer-Freudigkeit_! -- Wenn er
-mir nicht antworten kann, gehe ich nicht mehr in die Kinderlehre und
-lasse mich nicht konfirmieren.
-
-=Wendla=
-
-Warum willst du deinen lieben Eltern den Kummer bereiten! Laß dich doch
-konfirmieren; den Kopf kostet’s doch nicht. Wenn unsere schrecklichen
-weißen Kleider und eure Schlepphosen nicht wären, würde man sich
-vielleicht noch dafür begeistern können.
-
-=Melchior=
-
-Es gibt keine Aufopferung! Es gibt keine Selbstlosigkeit! -- Ich sehe
-die Guten sich ihres Herzens freun, sehe die Schlechten beben und
-stöhnen -- ich sehe dich, Wendla Bergmann, deine Locken schütteln und
-lachen, und mir wird so ernst dabei wie einem Geächteten. -- -- Was
-hast du vorhin geträumt, Wendla, als du am Goldbach im Grase lagst?
-
-=Wendla=
-
--- -- Dummheiten -- Narreteien --
-
-=Melchior=
-
-Mit offenen Augen?!
-
-=Wendla=
-
-Mir träumte, ich wäre ein armes, armes Bettelkind, ich würde früh fünf
-schon auf die Straße geschickt, ich müßte betteln den ganzen langen
-Tag in Sturm und Wetter, unter hartherzigen, rohen Menschen. Und käm’
-ich abends nach Hause, zitternd vor Hunger und Kälte, und hätte so
-viel Geld nicht wie mein Vater verlangt, dann würd’ ich geschlagen --
-geschlagen --
-
-=Melchior=
-
-Das kenne ich, Wendla. Das hast du den albernen Kindergeschichten zu
-danken. Glaub’ mir, so brutale Menschen existieren nicht mehr.
-
-=Wendla=
-
-O doch, Melchior, du irrst. -- Martha Bessel wird Abend für Abend
-geschlagen, daß man andern Tags Striemen sieht. O was die leiden
-muß! Siedendheiß wird es einem, wenn sie erzählt. Ich bedaure sie so
-furchtbar, ich muß oft mitten in der Nacht in die Kissen weinen. Seit
-Monaten denke ich darüber nach, wie man ihr helfen kann. -- Ich wollte
-mit Freuden einmal acht Tage an ihrer Stelle sein.
-
-=Melchior=
-
-Man sollte den Vater kurzweg verklagen. Dann würde ihm das Kind
-weggenommen.
-
-=Wendla=
-
-Ich, Melchior, bin in meinem Leben nie geschlagen worden -- nicht ein
-einziges Mal. Ich kann mir kaum denken, wie das tut, geschlagen zu
-werden. Ich habe mich schon selber geschlagen, um zu erfahren, wie
-einem dabei ums Herz wird. -- Es muß ein grauenvolles Gefühl sein.
-
-=Melchior=
-
-Ich glaube nicht, daß je ein Kind dadurch besser wird.
-
-=Wendla=
-
-Wodurch besser wird?
-
-=Melchior=
-
-Daß man es schlägt.
-
-=Wendla=
-
--- Mit dieser Gerte zum Beispiel! -- Hu, ist die zäh und dünn.
-
-=Melchior=
-
-Die zieht Blut!
-
-=Wendla=
-
-Würdest du mich nicht einmal damit schlagen?
-
-=Melchior=
-
-Wen?
-
-=Wendla=
-
-Mich.
-
-=Melchior=
-
-Was fällt dir ein, Wendla!
-
-=Wendla=
-
-Was ist denn dabei?
-
-=Melchior=
-
-O sei ruhig! -- Ich schlage dich nicht.
-
-=Wendla=
-
-Wenn ich dir’s doch erlaube!
-
-=Melchior=
-
-Nie, Mädchen!
-
-=Wendla=
-
-Aber wenn ich dich darum bitte, Melchior!
-
-=Melchior=
-
-Bist du nicht bei Verstand?
-
-=Wendla=
-
-Ich bin in meinem Leben nie geschlagen worden!
-
-=Melchior=
-
-Wenn du um so etwas bitten kannst ...!
-
-=Wendla=
-
--- Bitte -- bitte --
-
-=Melchior=
-
-Ich will dich bitten lehren! -- (er schlägt sie)
-
-=Wendla=
-
-Ach Gott -- ich spüre nicht das Geringste!
-
-=Melchior=
-
-Das glaub’ ich dir -- -- durch all’ deine Röcke durch....
-
-=Wendla=
-
-So schlag’ mich doch an die Beine!
-
-=Melchior=
-
-Wendla! -- (er schlägt sie stärker)
-
-=Wendla=
-
-Du streichelst mich ja! -- Du streichelst mich!
-
-=Melchior=
-
-Wart’ Hexe, ich will dir den Satan austreiben!
-
-(Er wirft den Stock beiseite und schlägt derart mit den Fäusten drein,
-daß sie in ein fürchterliches Geschrei ausbricht. Er kehrt sich nicht
-daran, sondern drischt wie wütend auf sie los, während ihm die dicken
-Tränen über die Wangen rinnen. Plötzlich springt er empor, faßt sich
-mit beiden Händen an die Schläfen und stürzt, aus tiefster Seele
-jammervoll aufschluchzend, in den Wald hinein.)
-
-
-
-
-Zweiter Akt
-
-
-Erste Szene
-
-
-Abend auf Melchiors _Studierzimmer_. Das Fenster steht offen, die Lampe
-brennt auf dem Tisch. -- _Melchior_ und _Moritz_ auf dem Kanapee.
-
-=Moritz=
-
-Jetzt bin ich wieder ganz munter, nur etwas aufgeregt. -- Aber in der
-Griechischstunde habe ich doch geschlafen wie der besoffene Polyphem.
-Nimmt mich Wunder, daß mich der alte Zungenschlag nicht in die Ohren
-gezwickt. -- Heut’ früh wäre ich um ein Haar noch zu spät gekommen. --
-Mein erster Gedanke beim Erwachen waren die Verba auf μ. --
-Himmel-Herrgott-Teufel-Donnerwetter, während des Frühstücks und den Weg
-entlang habe ich konjugiert, daß mir grün vor den Augen wurde. -- Kurz
-nach drei muß ich abgeschnappt sein. Die Feder hat mir noch einen Klex
-ins Buch gemacht. Die Lampe qualmte, als Mathilde mich weckte; in den
-Fliederbüschen unter dem Fenster zwitscherten die Amseln so lebensfroh
--- mir ward gleich wieder unsagbar melancholisch zu Mute. Ich band mir
-den Kragen um und fuhr mit der Bürste durchs Haar. -- -- Aber man fühlt
-sich, wenn man seiner Natur etwas abgerungen!
-
-=Melchior=
-
-Darf ich dir eine Zigarette drehen?
-
-=Moritz=
-
-Danke, ich rauche nicht. -- Wenn es nun nur so weiter geht! Ich will
-arbeiten und arbeiten, bis mir die Augen zum Kopf herausplatzen. --
-Ernst Röbel hat seit den Ferien schon sechsmal nichts gekonnt; dreimal
-im Griechischen, zweimal bei Knochenbruch; das letztemal in der
-Literaturgeschichte. Ich war erst fünfmal in der bedauernswerten Lage;
-und von heute ab kommt es überhaupt nicht mehr vor! -- Röbel erschießt
-sich nicht. Röbel hat keine Eltern, die ihm ihr Alles opfern. Er kann,
-wann er will, Söldner, Cowboy oder Matrose werden. Wenn ich durchfalle,
-rührt meinen Vater der Schlag, und Mama kommt ins Irrenhaus. So was
-erlebt man nicht! -- Vor dem Examen habe ich zu Gott gefleht, er
-möge mich schwindsüchtig werden lassen, auf daß der Kelch ungenossen
-vorübergehe. Er ging vorüber -- wenngleich mir auch heute noch seine
-Aureole aus der Ferne entgegenleuchtet, daß ich Tag und Nacht den
-Blick nicht zu heben wage. -- Aber nun ich die Stange erfaßt, werde
-ich mich auch hinaufschwingen. Dafür bürgt mir die unabänderliche
-Konsequenz, daß ich nicht stürze, ohne das Genick zu brechen.
-
-=Melchior=
-
-Das Leben ist von einer ungeahnten Gemeinheit. Ich hätte nicht übel
-Lust, mich in die Zweige zu hängen. -- Wo Mama mit dem Tee nur bleibt!
-
-=Moritz=
-
-Dein Tee wird mir gut tun, Melchior! -- Ich zittre nämlich. Ich fühle
-mich so eigentümlich vergeistert. Betaste mich bitte mal. Ich sehe --
-ich höre -- ich fühle viel deutlicher -- und doch alles so traumhaft --
-o, so stimmungsvoll. -- Wie sich dort im Mondschein der Garten dehnt,
-so still, so tief, als ging’ er ins Unendliche. -- Unter den Büschen
-treten umflorte Gestalten hervor, huschen in atemloser Geschäftigkeit
-über die Lichtungen und verschwinden im Halbdunkel. Mir scheint, unter
-dem Kastanienbaum soll eine Ratsversammlung gehalten werden. -- Wollen
-wir nicht hinunter, Melchior?
-
-=Melchior=
-
-Warten wir, bis wir Tee getrunken.
-
-=Moritz=
-
--- Die Blätter flüstern so emsig. -- Es ist, als hörte ich Großmutter
-selig die Geschichte von der „Königin ohne Kopf“ erzählen. -- Das
-war eine wunderschöne Königin, schön wie die Sonne, schöner als alle
-Mädchen im Land. Nur war sie leider ohne Kopf auf die Welt gekommen.
-Sie konnte nicht essen, nicht trinken, konnte nicht sehen, nicht lachen
-und auch nicht küssen. Sie vermochte sich mit ihrem Hofstaat nur durch
-ihre kleine weiche Hand zu verständigen. Mit den zierlichen Füßen
-strampelte sie Kriegserklärungen und Todesurteile. Da wurde sie eines
-Tages von einem Könige besiegt, der zufällig zwei Köpfe hatte, die sich
-das ganze Jahr in den Haaren lagen und dabei so aufgeregt disputierten,
-daß keiner den andern zu Wort kommen ließ. Der Oberhofzauberer nahm nun
-den kleineren der beiden und setzte ihn der Königin auf. Und siehe,
-er stand ihr vortrefflich. Darauf heiratete der König die Königin,
-und die beiden lagen einander nun nicht mehr in den Haaren, sondern
-küßten einander auf Stirn, auf Wangen und Mund und lebten noch lange
-lange Jahre glücklich und in Freuden.... Verwünschter Unsinn! Seit den
-Ferien kommt mir die kopflose Königin nicht aus dem Kopf. Wenn ich
-ein schönes Mädchen sehe, seh’ ich es ohne Kopf -- und erscheine mir
-dann plötzlich selber als kopflose Königin.... Möglich, daß mir nochmal
-einer aufgesetzt wird.
-
-(Frau Gabor kommt mit dem dampfenden Tee, den sie vor Moritz und
-Melchior auf den Tisch setzt)
-
-=Frau Gabor=
-
-Hier Kinder, laßt es euch munden. -- Guten Abend, Herr Stiefel; wie
-geht es Ihnen?
-
-=Moritz=
-
-Danke, Frau Gabor. -- Ich belausche den Reigen dort unten.
-
-=Frau Gabor=
-
-Sie sehen aber gar nicht gut aus. -- Fühlen Sie sich nicht wohl?
-
-=Moritz=
-
-Es hat nichts zu sagen. Ich bin die letzten Abende etwas spät zu Bett
-gekommen.
-
-=Melchior=
-
-Denke dir, er hat die ganze Nacht durch gearbeitet.
-
-=Frau Gabor=
-
-Sie sollten so etwas nicht tun, Herr Stiefel. Sie sollten sich schonen.
-Bedenken Sie Ihre Gesundheit. Die Schule ersetzt Ihnen die Gesundheit
-nicht. -- Fleißig spazieren gehn in der frischen Luft! Das ist in Ihren
-Jahren mehr wert als ein korrektes Mittelhochdeutsch.
-
-=Moritz=
-
-Ich werde fleißig spazieren gehn. Sie haben recht. Man kann auch
-während des Spazierengehens fleißig sein. Daß ich noch selbst nicht auf
-den Gedanken gekommen! -- Die schriftlichen Arbeiten müßte ich immerhin
-zu Hause machen.
-
-=Melchior=
-
-Das Schriftliche machst du bei mir; so wird es uns beiden leichter. --
--- Du weißt ja, Mama, daß Max von Trenk am Nervenfieber darniederlag!
--- Heute mittag kommt Hänschen Rilow von Trenks Totenbett zu Rektor
-Sonnenstich, um anzuzeigen, daß Trenk soeben in seiner Gegenwart
-gestorben sei. -- „So?“ sagt Sonnenstich, „hast du von letzter Woche
-her nicht noch zwei Stunden nachzusitzen? -- Hier ist der Zettel an den
-Pedell. Mach, daß die Sache endlich ins reine kommt! Die ganze Klasse
-soll an der Beerdigung teilnehmen.“ -- Hänschen war wie gelähmt.
-
-=Frau Gabor=
-
-Was hast du da für ein Buch, Melchior?
-
-=Melchior=
-
-„Faust.“
-
-=Frau Gabor=
-
-Hast du es schon gelesen?
-
-=Melchior=
-
-Noch nicht zu Ende.
-
-=Moritz=
-
-Wir sind gerade in der Walpurgisnacht.
-
-=Frau Gabor=
-
-Ich hätte an deiner Stelle noch ein, zwei Jahre damit gewartet.
-
-=Melchior=
-
-Ich kenne kein Buch, Mama, in dem ich so viel Schönes gefunden. Warum
-hätte ich es nicht lesen sollen.
-
-=Frau Gabor=
-
--- Weil du es nicht verstehst.
-
-=Melchior=
-
-Das kannst du nicht wissen, Mama. Ich fühle sehr wohl, daß ich das Werk
-in seiner ganzen Erhabenheit zu erfassen noch nicht imstande bin ...
-
-=Moritz=
-
-Wir lesen immer zu zweit; das erleichtert das Verständnis
-außerordentlich!
-
-=Frau Gabor=
-
-Du bist alt genug, Melchior, um wissen zu können, was dir zuträglich
-und was dir schädlich ist. Tu, was du vor dir verantworten kannst. Ich
-werde die erste sein, die es dankbar anerkennt, wenn du mir niemals
-Grund gibst, dir etwas vorenthalten zu müssen. -- Ich wollte dich nur
-darauf aufmerksam machen, daß auch das Beste nachteilig wirken kann,
-wenn man noch die Reife nicht besitzt, um es richtig aufzunehmen. --
-Ich werde mein Vertrauen immer lieber in dich als in irgendbeliebige
-erzieherische Maßregeln setzen. -- -- Wenn ihr noch etwas braucht,
-Kinder, dann komm herüber, Melchior, und rufe mich. Ich bin auf meinem
-Schlafzimmer. (Ab.)
-
-=Moritz=
-
--- -- Deine Mama meinte die Geschichte mit Gretchen.
-
-=Melchior=
-
-Haben wir uns auch nur einen Moment dabei aufgehalten!
-
-=Moritz=
-
-Faust selber kann sich nicht kaltblütiger darüber hinweggesetzt haben!
-
-=Melchior=
-
-Das Kunstwerk gipfelt doch schließlich nicht in dieser Schändlichkeit!
--- Faust könnte dem Mädchen die Heirat versprochen, könnte es daraufhin
-verlassen haben, er wäre in meinen Augen um kein Haar weniger strafbar.
-Gretchen könnte ja meinethalben an gebrochenem Herzen sterben. --
-Sieht man, wie jeder _darauf_ immer gleich krampfhaft die Blicke
-richtet, man möchte glauben, die ganze Welt drehe sich um P.... und
-V....!
-
-=Moritz=
-
-Wenn ich aufrichtig sein soll, Melchior, so habe ich nämlich
-tatsächlich das Gefühl, seit ich deinen Aufsatz gelesen. -- In den
-ersten Ferientagen fiel er mir vor die Füße. Ich hatte den Plötz in
-der Hand. -- Ich verriegelte die Tür und durchflog die flimmernden
-Zeilen, wie eine aufgeschreckte Eule einen brennenden Wald durchfliegt
--- ich glaube, ich habe das meiste mit geschlossenen Augen gelesen. Wie
-eine Reihe dunkler Erinnerungen klangen mir deine Auseinandersetzungen
-ins Ohr, wie ein Lied, das einer als Kind einst fröhlich vor sich
-hingesummt und das ihm, wie er eben im Sterben liegt, herzerschütternd
-aus dem Mund eines andern entgegentönt. -- Am heftigsten zog mich in
-Mitleidenschaft, was du vom Mädchen schreibst. Ich werde die Eindrücke
-nicht mehr los. Glaub’ mir, Melchior, Unrecht leiden zu müssen ist
-süßer, denn Unrecht tun! Unverschuldet ein so süßes Unrecht über sich
-ergehen lassen zu müssen, scheint mir der Inbegriff aller irdischen
-Seligkeit.
-
-=Melchior=
-
--- Ich will meine Seligkeit nicht als Almosen!
-
-=Moritz=
-
-Aber warum denn nicht?
-
-=Melchior=
-
-Ich _will_ nichts, was ich mir nicht habe erkämpfen müssen!
-
-=Moritz=
-
-Ist dann das noch Genuß, Melchior?! -- Das Mädchen, Melchior, genießt
-wie die seligen Götter. Das Mädchen wehrt sich dank seiner Veranlagung.
-Es hält sich bis zum letzten Augenblick von jeder Bitternis frei,
-um mit einem Mal alle Himmel über sich hereinbrechen zu sehen. Das
-Mädchen fürchtet die Hölle noch in dem Moment, da es ein erblühendes
-Paradies wahrnimmt. Sein Empfinden ist so frisch wie der Quell, der
-dem Fels entspringt. Das Mädchen ergreift einen Pokal, über den noch
-kein irdischer Hauch geweht, einen Nektarkelch, dessen Inhalt es, wie
-er flammt und flackert, hinunterschlingt ... Die Befriedigung, die der
-Mann dabei findet, denke ich mir schal und abgestanden.
-
-=Melchior=
-
-Denke sie dir, wie du magst, aber behalte sie für dich. -- Ich denke
-sie mir nicht gern ...
-
-
-Zweite Szene
-
-_Wohnzimmer._
-
-=Frau Bergmann=
-
-(den Hut auf, die Mantille um, einen Korb am Arm, mit strahlendem
-Gesicht durch die Mitteltür eintretend.)
-
-Wendla! -- Wendla!
-
-=Wendla=
-
-(erscheint in Unterröckchen und Korsett in der Seitentür rechts)
-
-Was gibt’s, Mutter?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Du bist schon auf, Kind? -- Sieh, das ist schön von dir!
-
-=Wendla=
-
-Du warst schon ausgegangen?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Zieh dich nun nur flink an! -- Du mußt gleich zu _Ina_ hinunter. Du
-mußt ihr den Korb da bringen!
-
-=Wendla=
-
-(sich während des folgenden vollends ankleidend)
-
-Du warst bei Ina? -- Wie geht es Ina? -- Will’s noch immer nicht
-bessern?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Denke dir, Wendla, diese Nacht war der Storch bei ihr und hat ihr einen
-kleinen Jungen gebracht.
-
-=Wendla=
-
-Einen Jungen? -- Einen Jungen! -- O das ist herrlich! -- -- Deshalb die
-langwierige Influenza!
-
-=Frau Bergmann=
-
-Einen prächtigen Jungen!
-
-=Wendla=
-
-Den muß ich sehen, Mutter! -- So bin ich nun zum dritten Mal Tante
-geworden -- Tante von einem Mädchen und zwei Jungens!
-
-=Frau Bergmann=
-
-Und was für Jungens! -- So geht’s eben, wenn man so dicht beim
-Kirchendach wohnt! -- Morgen sind’s erst zwei Jahr, daß sie in ihrem
-Mullkleid die Stufen hinanstieg.
-
-=Wendla=
-
-Warst du dabei, als er ihn brachte?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Er war eben wieder fortgeflogen. -- Willst du dir nicht eine Rose
-vorstecken?
-
-=Wendla=
-
-Warum kamst du nicht etwas früher hin, Mutter?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Ich glaube aber beinahe, er hat dir auch etwas mitgebracht -- eine
-Brosche oder was.
-
-=Wendla=
-
-Es ist wirklich schade!
-
-=Frau Bergmann=
-
-Ich sage dir ja, daß er dir eine Brosche mitgebracht hat!
-
-=Wendla=
-
-Ich habe Broschen genug ...
-
-=Frau Bergmann=
-
-Dann sei auch zufrieden, Kind. Was willst du denn noch?
-
-=Wendla=
-
-Ich hätte so furchtbar gerne gewußt, ob er durchs Fenster oder durch
-den Schornstein geflogen kam.
-
-=Frau Bergmann=
-
-Da mußt du Ina fragen. Ha, das mußt du Ina fragen, liebes Herz! Ina
-sagt dir das ganz genau. Ina hat ja eine ganze halbe Stunde mit ihm
-gesprochen.
-
-=Wendla=
-
-Ich werde Ina fragen, wenn ich hinunterkomme.
-
-=Frau Bergmann=
-
-Aber ja nicht vergessen, du süßes Engelsgeschöpf! Es interessiert
-mich wirklich selbst, zu wissen, ob er durchs Fenster oder durch den
-Schornstein kam.
-
-=Wendla=
-
-Oder soll ich nicht lieber den Schornsteinfeger fragen? -- Der
-Schornsteinfeger muß es doch am besten wissen, ob er durch den
-Schornstein fliegt oder nicht.
-
-=Frau Bergmann=
-
-Nicht den Schornsteinfeger, Kind; nicht den Schornsteinfeger. Was weiß
-der Schornsteinfeger vom Storch! -- Der schwatzt dir allerhand dummes
-Zeug vor, an das er selbst nicht glaubt ... Wa -- was glotzst du so auf
-die Straße hinunter??
-
-=Wendla=
-
-Ein Mann, Mutter -- dreimal so groß wie ein Ochse! -- mit Füßen wie
-Dampfschiffe ...!
-
-=Frau Bergmann=
-
-(ans Fenster stürzend)
-
-Nicht möglich! -- Nicht möglich! --
-
-=Wendla= (zugleich)
-
-Eine Bettlade hält er unterm Kinn, fiedelt die Wacht am Rhein drauf --
--- eben biegt er um die Ecke ...
-
-=Frau Bergmann=
-
-Du bist und bleibst doch ein Kindskopf! -- Deine alte einfältige Mutter
-so in Schrecken jagen! -- Geh, nimm deinen Hut. Nimmt mich Wunder,
-wann bei dir einmal der Verstand kommt. -- Ich habe die Hoffnung
-aufgegeben.
-
-=Wendla=
-
-Ich auch, Mütterchen, ich auch. -- Um meinen Verstand ist es ein
-traurig Ding. -- Hab’ ich nun eine Schwester, die ist seit zwei und
-einem halben Jahre verheiratet, und ich selber bin zum dritten Male
-Tante geworden, und habe gar keinen Begriff, wie das alles zugeht ...
-Nicht böse werden, Mütterchen; nicht böse werden! Wen in der Welt soll
-ich denn fragen als dich! Bitte, liebe Mutter, sag es mir! Sag’s mir,
-geliebtes Mütterchen! Ich schäme mich vor mir selber. Ich bitte dich,
-Mutter, sprich! Schilt mich nicht, daß ich so etwas frage. Gib mir
-Antwort -- wie geht es zu? -- wie kommt das alles? -- Du kannst doch im
-Ernst nicht verlangen, daß ich bei meinen vierzehn Jahren noch an den
-Storch glaube.
-
-=Frau Bergmann=
-
-Aber du großer Gott, Kind, wie bist du sonderbar! -- Was du für
-Einfälle hast! -- Das kann ich ja doch wahrhaftig nicht!
-
-=Wendla=
-
-Warum denn nicht, Mutter! -- Warum denn nicht! -- Es kann ja doch
-nichts Häßliches sein, wenn sich alles darüber freut!
-
-=Frau Bergmann=
-
-O -- o Gott behüte mich! -- Ich verdiente ja ... Geh, zieh dich an,
-Mädchen; zieh dich an!
-
-=Wendla=
-
-Ich gehe, ... Und wenn dein Kind nun hingeht und fragt den
-Schornsteinfeger?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Aber das ist ja zum Närrischwerden! -- Komm Kind, komm her, ich sag es
-dir! Ich sage dir Alles ... O du grundgütige Allmacht! -- nur heute
-nicht, Wendla! -- Morgen, übermorgen, kommende Woche ... wann du nur
-immer willst, liebes Herz ...
-
-=Wendla=
-
-Sag es mir heute, Mutter; sag es mir jetzt! Jetzt gleich! -- Nun ich
-dich so entsetzt gesehen, kann ich erst recht nicht eher wieder ruhig
-werden.
-
-=Frau Bergmann=
-
--- Ich kann nicht, Wendla.
-
-=Wendla=
-
-O, warum kannst du nicht, Mütterchen! -- Hier knie ich zu deinen Füßen
-und lege dir meinen Kopf in den Schoß. Du deckst mir deine Schürze über
-den Kopf und erzählst und erzählst, als wärst du mutterseelenallein
-im Zimmer. Ich will nicht zucken; ich will nicht schreien; ich will
-geduldig ausharren, was immer kommen mag.
-
-=Frau Bergmann=
-
--- Der Himmel weiß, Wendla, daß ich nicht die Schuld trage! Der Himmel
-kennt mich! -- Komm in Gottes Namen! -- Ich will dir erzählen, Mädchen,
-wie du in diese Welt hineingekommen. -- So hör mich an, Wendla ...
-
-=Wendla=
-
-(unter ihrer Schürze)
-
-Ich höre.
-
-=Frau Bergmann= (ekstatisch)
-
--- Aber es geht ja nicht, Kind! -- Ich kann es ja nicht verantworten.
--- Ich verdiene ja, daß man mich ins Gefängnis setzt -- daß man dich
-von mir nimmt ...
-
-=Wendla=
-
-(unter ihrer Schürze)
-
-Faß dir ein Herz, Mutter!
-
-=Frau Bergmann=
-
-So höre denn ...!
-
-=Wendla=
-
-(unter ihrer Schürze, zitternd)
-
-O Gott, o Gott!
-
-=Frau Bergmann=
-
-Um ein Kind zu bekommen -- du verstehst mich, Wendla?
-
-=Wendla=
-
-Rasch, Mutter -- ich halt’s nicht mehr aus.
-
-=Frau Bergmann=
-
--- Um ein Kind zu bekommen -- muß man den Mann -- mit dem man
-verheiratet ist ... _lieben_ -- _lieben_ sag’ ich dir -- wie man nur
-einen Mann lieben kann! Man muß ihn so sehr _von ganzem Herzen_ lieben,
-wie -- wie sich’s nicht sagen läßt! Man muß ihn _lieben_, Wendla, wie
-du in deinen Jahren noch gar nicht lieben kannst ... Jetzt weißt du’s.
-
-=Wendla=
-
-(sich erhebend)
-
-Großer -- Gott -- im Himmel!
-
-=Frau Bergmann=
-
-Jetzt weißt du, welche Prüfungen dir bevorstehen!
-
-=Wendla=
-
--- Und das ist alles?
-
-=Frau Bergmann=
-
-So wahr mir Gott helfe! -- -- Nimm nun den Korb da und geh zu Ina
-hinunter. Du bekommst dort Schokolade und Kuchen dazu. -- Komm,
-laß dich noch einmal betrachten -- die Schnürstiefel, die seidenen
-Handschuhe, die Matrosentaille, die Rosen im Haar ...... dein Röckchen
-wird dir aber wahrhaftig nachgerade zu kurz, Wendla!
-
-=Wendla=
-
-Hast du für Mittag schon Fleisch gebracht, Mütterchen?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Der liebe Gott behüte dich und segne dich! -- Ich werde dir
-gelegentlich eine Handbreit Volants unten ansetzen.
-
-
-Dritte Szene
-
-_Hänschen Rilow_ (ein Licht in der Hand, verriegelt die Tür hinter sich
-und öffnet den Deckel).
-
-Hast du zu Nacht gebetet, Desdemona?
-
-(Er zieht eine Reproduktion der Venus von Palma Vecchio aus dem Busen.)
-
--- Du siehst mir nicht nach Vaterunser aus, Holde -- kontemplativ
-des Kommenden gewärtig, wie in dem süßen Augenblick aufkeimender
-Glückseligkeit, als ich dich bei Jonathan Schlesinger im Schaufenster
-liegen sah -- ebenso berückend noch diese geschmeidigen Glieder, diese
-sanfte Wölbung der Hüften, diese jugendlich straffen Brüste -- o,
-wie berauscht von Glück muß der große Meister gewesen sein, als das
-vierzehnjährige Original vor seinen Blicken hingestreckt auf dem Diwan
-lag!
-
-Wirst du mich auch bisweilen im Traum besuchen? -- Mit ausgebreiteten
-Armen empfang’ ich dich und will dich küssen, daß dir der Atem ausgeht.
-Du ziehst bei mir ein wie die angestammte Herrin in ihr verödetes
-Schloß. Tor und Türen öffnen sich von unsichtbarer Hand, während der
-Springquell unten im Parke fröhlich zu plätschern beginnt ...
-
-Die Sache will’s! -- Die Sache will’s! -- Daß ich nicht aus frivoler
-Regung morde, sagt dir das fürchterliche Pochen in meiner Brust. Die
-Kehle schnürt sich mir zu im Gedanken an meine einsamen Nächte. Ich
-schwöre dir bei meiner Seele, Kind, daß nicht Überdruß mich beherrscht.
-Wer wollte sich rühmen, deiner überdrüssig geworden zu sein!
-
-Aber du saugst mir das Mark aus den Knochen, du krümmst mir den Rücken,
-du raubst meinen jungen Augen den letzten Glanz. -- Du bist mir zu
-anspruchsvoll in deiner unmenschlichen Bescheidenheit, zu aufreibend
-mit deinen unbeweglichen Gliedmaßen! -- Du oder ich! -- und ich habe
-den Sieg davongetragen.
-
-Wenn ich sie herzählen wollte -- all die Entschlafenen, mit denen ich
-hier den nämlichen Kampf gekämpft! --: Psyche von _Thumann_ -- noch
-ein Vermächtnis der spindeldürren Mademoiselle _Angelique_, dieser
-Klapperschlange im Paradies meiner Kinderjahre; Io von _Corregio_;
-Galathea von _Lossow_; dann ein Amor von _Bouguereau_; Ada von _J. van
-Beers_ -- diese Ada, die ich Papa aus einem Geheimfach seines Sekretärs
-entführen mußte, um sie meinem Harem einzuverleiben; eine zitternde,
-zuckende Leda von _Makart_, die ich zufällig unter den Kollegienheften
-meines Bruders fand -- _sieben_, du blühende Todeskandidatin, sind dir
-vorangeeilt auf diesem Pfad in den Tartarus! Laß dir das zum Troste
-gereichen und suche nicht durch diese flehentlichen Blicke noch meine
-Qualen ins Ungeheure zu steigern.
-
-Du stirbst nicht um _deiner_, du stirbst um _meiner_ Sünden willen!
--- Aus Notwehr gegen mich begehe ich blutenden Herzens den siebenten
-Gattenmord. Es liegt etwas Tragisches in der Rolle des _Blaubart_. Ich
-glaube, seine gemordeten Frauen insgesamt litten nicht so viel wie er
-beim Erwürgen jeder einzelnen.
-
-Aber mein Gewissen wird ruhiger werden, mein Leib wird sich kräftigen,
-wenn du Teufelin nicht mehr in den rotseidenen Polstern meines
-Schmuckkästchens residierst. Statt deiner lasse ich dann die Lurlei
-von _Bodenhausen_ oder die Verlassene von _Linger_ oder die Loni von
-_Defregger_ in das üppige Lustgemach einziehen -- so werde ich mich
-um so rascher erholt haben! Noch ein Vierteljährchen vielleicht, und
-dein entschleiertes Josaphat, süße Seele, hätte an meinem armen Hirn
-zu zehren begonnen wie die Sonne am Butterkloß. Es war hohe Zeit, die
-Trennung von Tisch und Bett zu erwirken.
-
-Brrr, ich fühle einen Heliogabalus in mir! ~Moritura me salutat!~ --
-Mädchen, Mädchen, warum preßt du deine Kniee zusammen? -- warum auch
-jetzt noch? -- -- angesichts der unerforschlichen Ewigkeit?? -- _Eine_
-Zuckung, und ich gebe dich frei! -- _Eine_ weibliche Regung, _ein_
-Zeichen von Lüsternheit, von Sympathie, Mädchen! -- ich will dich in
-Gold rahmen lassen, dich über meinem Bett aufhängen! -- Ahnst du denn
-nicht, daß nur deine _Keuschheit_ meine Ausschweifungen gebiert? --
-Wehe, wehe über die Unmenschlichen!
-
-... Man merkt eben immer, daß sie eine musterhafte Erziehung genossen
-hat. -- _Mir geht es ja ebenso._
-
-Hast du zu Nacht gebetet, Desdemona?
-
-Das Herz krampft sich mir zusammen -- -- Unsinn! -- Auch die heilige
-_Agnes_ starb um ihrer Zurückhaltung willen und war nicht halb so nackt
-wie du! -- Einen Kuß noch auf deinen blühenden Leib, -- deine kindlich
-schwellende Brust -- deine süßgerundeten -- deine grausamen Kniee ...
-
-Die Sache will’s, die Sache will’s, mein Herz!
-
-_Laßt sie mich euch nicht nennen, keusche Sterne!_
-
-Die Sache will’s! --
-
-(Das Bild fällt in die Tiefe; er schließt den Deckel)
-
-
-Vierte Szene
-
-Ein _Heuboden_ -- _Melchior_ liegt auf dem Rücken im frischen Heu.
-_Wendla_ kommt die Leiter herauf.
-
-=Wendla=
-
-_Hier_ hast du dich verkrochen? -- Alles sucht dich. Der Wagen ist
-wieder hinaus. Du mußt helfen. Es ist ein Gewitter im Anzug.
-
-=Melchior=
-
-Weg von mir! -- Weg von mir!
-
-=Wendla=
-
-Was ist dir denn? -- Was verbirgst du dein Gesicht?
-
-=Melchior=
-
-Fort, fort! -- Ich werfe dich in die Tenne hinunter.
-
-=Wendla=
-
-Nun geh’ ich erst recht nicht. -- (Kniet neben ihm nieder) Warum kommst
-du nicht mit auf die Matte hinaus, Melchior? -- Hier ist es schwül und
-düster. Werden wir auch naß bis auf die Haut, was macht _uns_ das!
-
-=Melchior=
-
-Das Heu duftet so herrlich. -- Der Himmel draußen muß schwarz wie ein
-Bahrtuch sein. -- Ich sehe nur noch den leuchtenden Mohn an deiner
-Brust -- und dein Herz hör’ ich schlagen --
-
-=Wendla=
-
--- -- Nicht küssen, Melchior! -- Nicht küssen!
-
-=Melchior=
-
--- dein Herz -- hör’ ich schlagen --
-
-=Wendla=
-
--- Man liebt sich -- wenn man küßt -- -- -- -- Nicht, nicht! -- --
-
-=Melchior=
-
-O glaub mir, es gibt keine _Liebe_! -- Alles Eigennutz, alles Egoismus!
--- Ich liebe dich so wenig, wie du mich liebst. --
-
-=Wendla=
-
--- -- Nicht! -- -- -- -- -- -- -- Nicht, Melchior! -- --
-
-=Melchior=
-
--- -- -- Wendla!
-
-=Wendla=
-
-O Melchior! -- -- -- -- -- -- -- -- nicht -- -- nicht -- --
-
-
-Fünfte Szene
-
-=Frau Gabor=
-
-(sitzt, schreibt):
-
- Lieber Herr Stiefel!
-
-Nachdem ich 24 Stunden über alles, was Sie mir schreiben, nachgedacht
-und wieder nachgedacht, ergreife ich schweren Herzens die Feder.
-Den Betrag zur Überfahrt nach Amerika kann ich Ihnen -- ich gebe
-Ihnen meine heiligste Versicherung -- _nicht_ verschaffen. Erstens
-habe ich so viel nicht zu meiner Verfügung, und zweitens, wenn ich
-es hätte, wäre es die denkbar größte Sünde, Ihnen die Mittel zur
-Ausführung einer so folgenschweren Unbedachtsamkeit an die Hand zu
-geben. Bitter Unrecht würden Sie mir tun, Herr Stiefel, in dieser
-meiner Weigerung ein Zeichen mangelnder Liebe zu erblicken. Es wäre
-umgekehrt die gröbste Verletzung meiner Pflicht als Ihre mütterliche
-Freundin, wollte ich mich durch Ihre momentane Fassungslosigkeit dazu
-bestimmen lassen, nun auch meinerseits den Kopf zu verlieren und
-meinen ersten nächstliegenden Impulsen blindlings nachzugeben. Ich bin
-gern bereit -- falls Sie es wünschen -- an Ihre Eltern zu schreiben.
-Ich werde Ihre Eltern davon zu überzeugen suchen, daß Sie im Laufe
-dieses Quartals getan haben, was Sie tun konnten, daß Sie Ihre Kräfte
-erschöpft, derart, daß eine rigorose Beurteilung Ihres Geschickes nicht
-nur ungerechtfertigt wäre, sondern in erster Linie im höchsten Grade
-nachteilig auf Ihren geistigen und körperlichen Gesundheitszustand
-wirken könnte.
-
-Daß Sie mir andeutungsweise drohen, im Fall Ihnen die Flucht nicht
-ermöglicht wird, sich das Leben nehmen zu wollen, hat mich, offen
-gesagt, Herr Stiefel, etwas befremdet. Sei ein Unglück noch so
-unverschuldet, man sollte sich nie und nimmer zur Wahl unlauterer
-Mittel hinreißen lassen. Die Art und Weise, wie Sie mich, die ich Ihnen
-stets nur Gutes erwiesen, für einen eventuellen entsetzlichen Frevel
-Ihrerseits verantwortlich machen wollen, hat etwas, das in den Augen
-eines _schlecht_denkenden Menschen gar zu leicht zum Erpressungsversuch
-werden könnte. Ich muß gestehen, daß ich mir dieses Vorgehens von
-Ihnen, der Sie doch sonst so gut wissen, was man sich selber schuldet,
-zu allerletzt gewärtig gewesen wäre. Indessen hege ich die feste
-Überzeugung, daß Sie noch zu sehr unter dem Eindruck des ersten
-Schreckens standen, um sich Ihrer Handlungsweise vollkommen bewußt
-werden zu können.
-
-Und so hoffe ich denn auch zuversichtlich, daß diese meine Worte
-Sie bereits in gefaßterer Gemütsstimmung antreffen. Nehmen Sie die
-Sache, wie sie liegt. Es ist meiner Ansicht nach durchaus unzulässig,
-einen jungen Mann nach seinen Schulzeugnissen zu beurteilen. Wir
-haben zu viele Beispiele, daß sehr schlechte Schüler vorzügliche
-Menschen geworden und umgekehrt ausgezeichnete Schüler sich im Leben
-nicht sonderlich bewährt haben. Auf jeden Fall gebe ich Ihnen die
-Versicherung, daß Ihr Mißgeschick, soweit das von mir abhängt, in Ihrem
-Verkehr mit _Melchior_ nichts ändern soll. Es wird mir stets zur Freude
-gereichen, meinen Sohn mit einem jungen Manne umgehn zu sehen, der
-sich, mag ihn nun die Welt beurteilen wie sie will, auch meine vollste
-Sympathie zu gewinnen vermochte.
-
-Und somit Kopf hoch, Herr Stiefel! -- Solche Krisen dieser oder jener
-Art treten an jeden von uns heran und wollen eben überstanden sein.
-Wollte da ein jeder gleich zu Dolch und Gift greifen, es möchte recht
-bald keine Menschen mehr auf der Welt geben. Lassen Sie bald wieder
-etwas von sich hören und seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrer Ihnen
-unverändert zugetanen
-
- mütterlichen Freundin
-
- Fanny G.
-
-
-Sechste Szene
-
-_Bergmanns Garten im Morgensonnenglanz_
-
-=Wendla=
-
-Warum hast du dich aus der Stube geschlichen? -- Veilchen suchen! --
-Weil mich Mutter lächeln sieht. -- Warum bringst du auch die Lippen
-nicht mehr zusammen? -- Ich weiß nicht. -- Ich weiß es ja nicht, ich
-finde nicht Worte ...
-
-Der Weg ist wie ein Pelücheteppich -- kein Steinchen, kein Dorn.
--- Meine Füße berühren den Boden nicht ... O, wie ich die Nacht
-geschlummert habe!
-
-Hier standen sie. -- Mir wird ernsthaft wie einer Nonne beim Abendmahl.
--- Süße Veilchen! -- Ruhig, Mütterchen. Ich will mein Bußgewand
-anziehn. -- Ach Gott, wenn jemand käme, dem ich um den Hals fallen und
-erzählen könnte!
-
-
-Siebente Szene
-
-_Abenddämmerung_. Der Himmel ist leicht bewölkt. Der Weg schlängelt
-sich durch niedres Gebüsch und Riedgras. In einiger Entfernung hört man
-den Fluß rauschen.
-
-=Moritz=
-
-Besser ist besser. -- Ich passe nicht hinein. Mögen sie einander auf
-die Köpfe steigen. -- Ich ziehe die Tür hinter mir zu und trete ins
-Freie. -- Ich gebe nicht so viel darum, mich herumdrücken zu lassen.
-
-Ich habe mich nicht aufgedrängt. Was soll ich mich jetzt aufdrängen!
--- Ich habe keinen Vertrag mit dem lieben Gott. Mag man die Sache
-drehen, wie man sie drehen will. Man hat mich gepreßt. -- Meine Eltern
-mache ich nicht verantwortlich. Immerhin mußten sie auf das Schlimmste
-gefaßt sein. Sie waren alt genug, um zu wissen, was sie taten. Ich war
-ein Säugling, als ich zur Welt kam -- sonst wär’ ich wohl auch noch so
-schlau gewesen, ein anderer zu werden. -- Was soll ich dafür büßen, daß
-alle andern schon da waren!
-
-Ich müßte ja auf den Kopf gefallen sein ... macht mir jemand einen
-tollen Hund zum Geschenk, dann gebe ich ihm seinen tollen Hund zurück.
-Und will er seinen tollen Hund nicht zurücknehmen, dann bin ich
-menschlich und ...
-
-Ich müßte ja auf den Kopf gefallen sein!
-
-Man wird ganz per Zufall geboren und sollte nicht nach reiflichster
-Überlegung -- -- -- es ist zum Totschießen!
-
--- Das Wetter zeigt sich wenigstens rücksichtsvoll. Den ganzen Tag sah
-es nach Regen aus und nun hat es sich doch gehalten. -- Es herrscht
-eine seltene Ruhe in der Natur. Nirgends etwas Grelles, Aufreizendes.
-Himmel und Erde sind wie durchsichtiges Spinnewebe. Und dabei scheint
-sich alles so wohl zu fühlen. Die Landschaft ist lieblich wie eine
-Schlummermelodie -- „_schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein_“, wie
-Fräulein _Snandulia_ sang. Schade, daß sie die Ellbogen ungraziös hält!
--- Am Cäcilienfest habe ich zum letzten Male getanzt. _Snandulia_ tanzt
-nur mit Partien. Ihre Seidenrobe war hinten und vorn ausgeschnitten.
-Hinten bis auf den Taillengürtel und vorne bis zur Bewußtlosigkeit. --
-Ein Hemd kann sie nicht angehabt haben ... -- -- -- -- -- -- -- -- --
--- -- -- --
-
--- das wäre etwas, was mich noch fesseln könnte. -- Mehr der Kuriosität
-halber. -- Es muß ein sonderbares Empfinden sein -- -- ein Gefühl, als
-würde man über Stromschnellen gerissen -- -- -- Ich werde es niemandem
-sagen, daß ich unverrichteter Sache wiederkehre. Ich werde so tun, als
-hätte ich alles das mitgemacht ... Es hat etwas Beschämendes, Mensch
-gewesen zu sein, ohne das Menschlichste kennen gelernt zu haben. -- Sie
-kommen aus _Ägypten_, verehrter Herr, und haben die _Pyramiden_ nicht
-gesehn?!
-
-Ich will heute nicht wieder weinen. Ich will nicht wieder an mein
-Begräbnis denken -- -- _Melchior_ wird mir einen Kranz auf den
-Sarg legen. Pastor _Kahlbauch_ wird meine Eltern trösten. Rektor
-_Sonnenstich_ wird Beispiele aus der Geschichte zitieren. -- Einen
-Grabstein werd’ ich ja wahrscheinlich nicht bekommen. Ich hätte mir
-eine schneeweiße Marmorurne auf schwarzem Syenitsockel gewünscht --
-ich werde sie ja gottlob nicht vermissen. Die Denkmäler sind für die
-Lebenden, nicht für die Toten.
-
-Ich brauchte wohl ein Jahr, um in Gedanken von allem Abschied zu
-nehmen. Ich will nicht wieder weinen. Ich bin so froh, ohne Bitterkeit
-zurückblicken zu dürfen. Wie manchen schönen Abend ich mit _Melchior_
-verlebt habe! -- unter den Uferweiden; beim Forsthaus; am Heerweg
-draußen, wo die fünf Linden stehen; auf dem Schloßberg, zwischen den
-lauschigen Trümmern der Runenburg -- -- -- Wenn die Stunde gekommen,
-will ich aus Leibeskräften an Schlagsahne denken. Schlagsahne hält
-nicht auf. Sie stopft und hinterläßt dabei doch einen angenehmen
-Nachgeschmack ... Auch die Menschen hatte ich mir unendlich schlimmer
-gedacht. Ich habe keinen gefunden, der nicht sein Bestes gewollt hätte.
-Ich habe manchen bemitleidet um meinetwillen.
-
-Ich wandle zum Altar wie der Jüngling im alten Etrurien, dessen letztes
-Röcheln der Brüder Wohlergehen für das kommende Jahr erkauft. -- Ich
-durchkoste Zug für Zug die geheimnisvollen Schauer der Loslösung. Ich
-schluchze vor Wehmut über mein Los. -- -- Das Leben hat mir die kalte
-Schulter gezeigt. Von drüben her sehe ich ernste freundliche Blicke
-winken: die kopflose Königin, die kopflose Königin -- Mitgefühl, mich
-mit weichen Armen erwartend ... Eure Gebote gelten für Unmündige; ich
-trage mein Freibillett in mir. Sinkt die Schale, dann flattert der
-Falter davon; das Trugbild geniert nicht mehr. -- Ihr solltet kein
-tolles Spiel mit dem Schwindel treiben! Der Nebel zerrinnt; das Leben
-ist Geschmacksache.
-
-=Ilse=
-
-(in abgerissenen Kleidern, ein buntes Tuch um den Kopf, faßt ihn von
-rückwärts an der Schulter)
-
-Was hast du verloren?
-
-=Moritz=
-
-Ilse?!
-
-=Ilse=
-
-Was suchst du hier?
-
-=Moritz=
-
-Was erschreckst du mich so?
-
-=Ilse=
-
-Was suchst du? -- Was hast du verloren?
-
-=Moritz=
-
-Was erschreckst du mich denn so entsetzlich?
-
-=Ilse=
-
-Ich komme aus der Stadt. -- Ich gehe nach Hause.
-
-=Moritz=
-
-Ich weiß nicht, was ich verloren habe.
-
-=Ilse=
-
-Dann hilft auch dein Suchen nichts.
-
-=Moritz=
-
-Sakerment, Sakerment!!
-
-=Ilse=
-
-Seit vier Tagen bin ich nicht zu Hause gewesen.
-
-=Moritz=
-
--- Lautlos wie eine Katze!
-
-=Ilse=
-
-Weil ich meine Ballschuhe anhabe. -- Mutter wird Augen machen! -- Komm
-bis an unser Haus mit!
-
-=Moritz=
-
-Wo hast du wieder herumgestrolcht?
-
-=Ilse=
-
-In der _Priapia_!
-
-=Moritz=
-
-_Priapia_?
-
-=Ilse=
-
-Bei _Nohl_, bei _Fehrendorf_, bei _Padinsky_, bei _Lenz_, _Rank_,
-_Spühler_ -- bei allen möglichen! -- Kling, kling -- die wird springen!
-
-=Moritz=
-
-Malen sie dich?
-
-=Ilse=
-
-_Fehrendorf_ malt mich als Säulenheilige. Ich stehe auf einem
-korinthischen Kapitäl. _Fehrendorf_, sag’ ich dir, ist eine verhauene
-Nudel. Das letzte Mal zertrat ich ihm eine Tube. Er wischt mir die
-Pinsel ins Haar. Ich versetze ihm eine Ohrfeige. Er wirft mir die
-Palette an den Kopf. Ich werfe die Staffelei um. Er mit dem Malstock
-hinter mir drein über Divan, Tische, Stühle, ringsum durchs Atelier.
-Hinterm Ofen lag eine Skizze: -- Brav sein, oder ich zerreiße sie! --
-Er schwor Amnestie und hat mich dann schließlich noch schrecklich --
-schrecklich, sag’ ich dir -- abgeküßt.
-
-=Moritz=
-
-Wo übernachtest du, wenn du in der Stadt bleibst?
-
-=Ilse=
-
-Gestern waren wir bei _Nohl_ -- vorgestern bei _Bojokewitsch_ -- am
-Sonntag bei _Oikonomopulos_. Bei _Padinsky_ gab’s Sekt. _Valabregez_
-hatte seinen Pestkranken verkauft. _Adolar_ trank aus dem Aschenbecher.
-_Lenz_ sang die _Kindsmörderin_, und _Adolar_ schlug die Guitarre
-krumm. Ich war so betrunken, daß sie mich zu Bett bringen mußten. -- --
-Du gehst immer noch zur Schule, Moritz?
-
-=Moritz=
-
-Nein, nein ... dieses Quartal nehme ich meine Entlassung.
-
-=Ilse=
-
-Du hast Recht. Ach, wie die Zeit vergeht, wenn man Geld verdient! --
-Weißt du noch, wie wir _Räuber_ spielten? -- _Wendla Bergmann_ und
-du und ich und die Andern, wenn ihr abends herauskamt und kuhwarme
-Ziegenmilch bei uns trankt? -- Was macht _Wendla_? Ich sah sie noch bei
-der Überschwemmung. -- Was macht _Melchi Gabor_? -- Schaut er noch so
-tiefsinnig drein? -- In der Singstunde standen wir einander gegenüber.
-
-=Moritz=
-
-Er philosophiert.
-
-=Ilse=
-
-_Wendla_ war derweil bei uns und hat der Mutter Eingemachtes gebracht.
-Ich saß den Tag bei Isidor Landauer. Er braucht mich zur heiligen
-Maria, Mutter Gottes, mit dem Christuskind. Er ist ein Tropf und
-widerlich. Hu, wie ein Wetterhahn! -- Hast du Katzenjammer?
-
-=Moritz=
-
-Von gestern Abend! -- Wir haben wie Nilpferde gezecht. Um fünf Uhr
-wankt’ ich nach Hause.
-
-=Ilse=
-
-Man braucht dich nur anzusehn. -- Waren Mädchen dabei?
-
-=Moritz=
-
-Arabella, die Biernymphe, Andalusierin! -- Der Wirt ließ uns Alle die
-ganze Nacht durch mit ihr allein.
-
-=Ilse=
-
-Man braucht dich nur anzusehen, Moritz! -- Ich kenne keinen
-Katzenjammer. Vergangenen Karneval kam ich drei Tage und drei Nächte in
-kein Bett und nicht aus den Kleidern. Von der Redoute ins Café, Mittags
-in Bellavista, Abends Tingl-Tangl, Nachts zur Redoute. _Lena_ war dabei
-und die dicke _Viola_. -- In der dritten Nacht fand mich _Heinrich_.
-
-=Moritz=
-
-Hatte er dich denn gesucht?
-
-=Ilse=
-
-Er war über meinen Arm gestolpert. Ich lag bewußtlos im Straßenschnee.
--- Darauf kam ich zu ihm hin. Vierzehn Tage verließ ich seine Behausung
-nicht -- eine gräuliche Zeit! -- Morgens mußte ich seinen persischen
-Schlafrock überwerfen und abends in schwarzem Pagenkostüm durchs Zimmer
-gehn; an Hals, an Knien und Ärmeln weiße Spitzenaufschläge. Täglich
-photographierte er mich in anderem Arrangement -- einmal auf der
-Sofalehne als Ariadne, einmal als Leda, einmal als Ganymed, einmal auf
-allen Vieren als weiblichen Nebuchod-Nosor. Dabei schwärmte er von
-Umbringen, von Erschießen, Selbstmord und Kohlendampf. Frühmorgens nahm
-er eine Pistole ins Bett, lud sie voll Spitzkugeln und setzte sie mir
-auf die Brust: Ein Zwinkern, so drück’ ich! -- O, er hätte gedrückt,
-Moritz; er hätte gedrückt! -- Dann nahm er das Dings in den Mund wie
-ein Pusterohr. Das wecke den Selbsterhaltungstrieb. Und dann -- Brrrr
--- die Kugel wäre mir durchs Rückgrat gegangen.
-
-=Moritz=
-
-Lebt _Heinrich_ noch?
-
-=Ilse=
-
-Was weiß ich! -- Über dem Bett war ein Deckenspiegel im Plafond
-eingelassen. Das Kabinet schien turmhoch und hell wie ein Opernhaus.
-Man sah sich leibhaftig vom Himmel herunterhängen. Grauenvoll habe ich
-die Nächte geträumt. -- Gott, o Gott, wenn es erst wieder Tag würde! --
-Gute Nacht, Ilse. Wenn du schläfst, bist du zum Morden schön!
-
-=Moritz=
-
-Lebt dieser _Heinrich_ noch?
-
-=Ilse=
-
-So Gott will, nicht! -- Wie er eines Tages Absynth holt, werfe ich den
-Mantel um und schleiche mich auf die Straße. Der Fasching war aus; die
-Polizei fängt mich ab; was ich in Mannskleidern wolle? -- Sie brachten
-mich zur Hauptwache. Da kamen _Nohl_, _Fehrendorf_, _Padinsky_,
-_Spühler_, _Oikonomopulos_, die ganze _Priapia_, und bürgten für mich.
-Im Fiaker transportierten sie mich auf _Adolars_ Atelier. Seither bin
-ich der Horde treu. _Fehrendorf_ ist ein Affe, _Nohl_ ist ein Schwein,
-_Bojokewitsch_ ein Uhu, _Loison_ eine Hyäne, _Oikonomopulos_ ein Kameel
--- darum lieb’ ich sie doch Einen wie den Andern und möchte mich an
-sonst niemand hängen, und wenn die Welt voll Erzengel und Millionäre
-wär’!
-
-=Moritz=
-
--- Ich muß zurück, Ilse.
-
-=Ilse=
-
-Komm bis an unser Haus mit!
-
-=Moritz=
-
--- Wozu? -- Wozu? --
-
-=Ilse=
-
-Kuhwarme Ziegenmilch trinken! -- Ich will dir Locken brennen und
-dir ein Glöcklein um den Hals hängen. -- Wir haben auch noch ein
-Hü-Pferdchen, mit dem du spielen kannst.
-
-=Moritz=
-
-Ich muß zurück. -- Ich habe noch die Sassaniden, die Bergpredigt und
-das Parallelepipedon auf dem Gewissen. -- Gute Nacht, Ilse!
-
-=Ilse=
-
-Schlummre süß! ... Geht ihr wohl noch zum _Wigwam_ hinunter, wo _Melchi
-Gabor_ mein Tomahawk begrub? -- Brrr! Bis es an euch kommt, lieg’ ich
-im Kehricht. (Eilt davon.)
-
-=Moritz= (allein)
-
--- -- -- Ein Wort hätte es gekostet. -- (Er ruft) -- Ilse! -- Ilse! --
--- Gottlob sie hört nicht mehr.
-
--- Ich bin in der Stimmung nicht. -- Dazu bedarf es eines freien Kopfes
-und eines fröhlichen Herzens. -- Schade, schade um die Gelegenheit!
-
-... ich werde sagen, ich hätte mächtige Kristallspiegel über meinen
-Betten gehabt -- hätte mir ein unbändiges Füllen gezogen -- hätte es
-in langen schwarzseidenen Strümpfen und schwarzen Lackstiefeln und
-schwarzen, langen Glacé-Handschuhen, schwarzen Samt um den Hals,
-über den Teppich an mir vorbeistolzieren lassen -- hätte es in einem
-Wahnsinnsanfall in meinen Kissen erwürgt ... ich werde lächeln wenn von
-Wollust die Rede ist ... ich werde --
-
-_Aufschreien! -- Aufschreien! -- Du sein, Ilse! -- Priapia! --
-Besinnungslosigkeit! -- Das nimmt die Kraft mir! -- Dieses Glückskind,
-dieses Sonnenkind -- dieses Freudenmädchen auf meinem Jammerweg! -- --
-O! -- O!_
-
- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
-
-(Im Ufergebüsch)
-
-Hab’ ich sie doch unwillkürlich wiedergefunden -- die Rasenbank. Die
-Königskerzen scheinen gewachsen seit gestern. Der Ausblick zwischen
-den Weiden durch ist derselbe noch. -- Der Fluß zieht schwer wie
-geschmolzenes Blei. Daß ich nicht vergesse ... (er zieht Frau Gabors
-Brief aus der Tasche und verbrennt ihn) -- Wie die Funken irren -- hin
-und her, kreuz und quer -- Seelen! -- Sternschnuppen! --
-
-Eh’ ich angezündet, sah man die Gräser noch und einen Streifen am
-Horizont. -- Jetzt ist es dunkel geworden. Jetzt gehe ich nicht mehr
-nach Hause.
-
-
-
-
-Dritter Akt
-
-
-Erste Szene
-
-
-_Konferenzzimmer_. -- An den Wänden die Bildnisse von Pestalozzi und
-J. J. Rousseau. Um einen grünen Tisch, über dem mehrere Gasflammen
-brennen, sitzen die Professoren _Affenschmalz_, _Knüppeldick_,
-_Hungergurt_, _Knochenbruch_, _Zungenschlag_ und _Fliegentod_. Am
-oberen Ende auf erhöhtem Sessel Rektor _Sonnenstich_. Pedell _Habebald_
-kauert neben der Tür.
-
-=Sonnenstich=
-
-....Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben? -- --
-Meine Herren! -- Wenn wir nicht umhin können, bei einem hohen
-Kultusministerium die Relegation unseres schuldbeladenen Schülers
-zu beantragen, so können wir das aus den schwerwiegendsten Gründen
-nicht. Wir können es nicht, um das bereits hereingebrochene Unglück
-zu sühnen, wir können es eben so wenig, um unsere Anstalt für die
-Zukunft vor ähnlichen Schlägen sicher zu stellen. Wir können es nicht,
-um unseren schuldbeladenen Schüler für den demoralisirenden Einfluß,
-den er auf seinen Klassengenossen ausgeübt, zu züchtigen; wir können
-es zu allerletzt, um ihn zu verhindern, den nämlichen Einfluß auf
-seine übrigen Klassengenossen auszuüben. Wir können es -- und der,
-meine Herren, möchte der schwerwiegendste sein -- aus dem jeden
-Einwand niederschlagenden Grunde nicht, weil wir unsere Anstalt vor
-den Verheerungen einer Selbstmord-Epidemie zu schützen haben, wie sie
-bereits an verschiedenen Gymnasien zum Ausbruch gelangt und bis heute
-allen Mitteln, den Gymnasiasten an seine durch seine Heranbildung zum
-Gebildeten gebildeten Existenzbedingungen zu fesseln, gespottet hat. --
--- Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?
-
-=Knüppeldick=
-
-Ich kann mich nicht länger der Überzeugung verschließen, daß es endlich
-an der Zeit wäre, irgendwo ein Fenster zu öffnen.
-
-=Zungenschlag=
-
-Es he-herrscht hier eine A-A-Atmosphäre wie in unterirdischen
-Kata-Katakomben, wie in den A-Aktensälen des weiland Wetzlarer
-Ka-Ka-Ka-Ka-Kammergerichtes.
-
-=Sonnenstich=
-
-Habebald!
-
-=Habebald=
-
-Befehlen, Herr Rektor!
-
-=Sonnenstich=
-
-Öffnen Sie ein Fenster! Wir haben Gott sei Dank Atmosphäre genug
-draußen. -- Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?
-
-=Fliegentod=
-
-Wenn meine Herren Kollegen ein Fenster öffnen lassen wollen, so habe
-ich meinerseits nichts dagegen einzuwenden. Nur möchte ich bitten, das
-Fenster nicht gerade hinter meinem Rücken öffnen lassen zu wollen!
-
-=Sonnenstich=
-
-Habebald!
-
-=Habebald=
-
-Befehlen, Herr Rektor!
-
-=Sonnenstich=
-
-Öffnen Sie das andere Fenster! -- -- Sollte einer der Herren noch etwas
-zu bemerken haben?
-
-=Hungergurt=
-
-Ohne die Kontroverse meinerseits belasten zu wollen, möchte ich an
-die Tatsache erinnern, daß das andere Fenster seit den Herbstferien
-zugemauert ist.
-
-=Sonnenstich=
-
-Habebald!
-
-=Habebald=
-
-Befehlen, Herr Rektor!
-
-=Sonnenstich=
-
-Lassen Sie das andere Fenster geschlossen! -- Ich sehe mich genötigt,
-meine Herren, den Antrag zur Abstimmung zu bringen. Ich ersuche
-diejenigen Herren Kollegen, die dafür sind, daß das einzig in Frage
-kommen könnende Fenster geöffnet werde, sich von ihren Sitzen zu
-erheben. (Er zählt) -- Eins, zwei, drei. -- Eins, zwei drei. --
-Habebald!
-
-=Habebald=
-
-Befehlen, Herr Rektor!
-
-=Sonnenstich=
-
-Lassen Sie das eine Fenster gleichfalls geschlossen! -- Ich meinerseits
-hege die Überzeugung, daß die Atmosphäre nichts zu wünschen übrig
-läßt! -- -- Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?
--- -- Meine Herren! -- Setzen wir den Fall, daß wir die Relegation
-unseres schuldbeladenen Schülers bei einem hohen Kultusministerium
-zu beantragen unterlassen, so wird _uns_ ein hohes Kultusministerium
-für das hereingebrochene Unglück verantwortlich machen. Von den
-verschiedenen von der Selbstmord-Epidemie heimgesuchten Gymnasien
-sind diejenigen, in denen fünfundzwanzig Prozent den Verheerungen
-der Selbstmord-Epidemie zum Opfer gefallen, von einem hohen
-Kultusministerium suspendiert worden. Vor diesem erschütterndsten
-Schlage unsere Anstalt zu wahren, ist unsere Pflicht als Hüter und
-Bewahrer unserer Anstalt. Es schmerzt uns tief, meine Herren Kollegen,
-daß wir die sonstige Qualifikation unseres schuldbeladenen Schülers
-als mildernden Umstand gelten zu lassen nicht in der Lage sind. Ein
-nachsichtiges Verfahren, das sich unserem schuldbeladenen Schüler
-gegenüber rechtfertigen ließe, ließe sich der zur Zeit in denkbar
-bedenklichster Weise gefährdeten Existenz unserer Anstalt gegenüber
-_nicht_ rechtfertigen. Wir sehen uns in die Notwendigkeit versetzt, den
-Schuldbeladenen zu richten, um nicht als die Schuldlosen gerichtet zu
-werden. -- Habebald!
-
-=Habebald=
-
-Befehlen, Herr Rektor!
-
-=Sonnenstich=
-
-Führen Sie ihn herauf!
-
-(Habebald ab.)
-
-=Zungenschlag=
-
-Wenn die he-herrschende A-A-Atmosphäre maßgebenderseits wenig
-oder nichts zu wünschen übrig läßt, so möchte ich den Antrag
-stellen, während der So-Sommerferien auch noch das andere Fenster
-zu-zu-zu-zu-zu-zu-zu-zu-zuzumauern!
-
-=Fliegentod=
-
-Wenn unserem lieben Kollega Zungenschlag unser Lokal nicht genügend
-ventiliert erscheint, so möchte ich den Auftrag stellen, unserm
-lieben Herrn Kollega Zungenschlag einen Ventilator in die Stirnhöhle
-applizieren zu lassen.
-
-=Zungenschlag=
-
-Da-da-das brauche ich mir nicht gefallen zu lassen! -- Gro-Grobheiten
-brauche ich mir nicht gefallen zu lassen! -- Ich bin meiner
-fü-fü-fü-fü-fünf Sinne mächtig ...!
-
-=Sonnenstich=
-
-Ich muß unsere Herren Kollegen Fliegentod und Zungenschlag um einigen
-Anstand ersuchen. Unser schuldbeladener Schüler scheint mir bereits auf
-der Treppe zu sein.
-
-(Habebald öffnet die Türe, worauf _Melchior_, bleich aber gefaßt, vor
-die Versammlung tritt.)
-
-=Sonnenstich=
-
-Treten Sie näher an den Tisch heran! -- Nachdem Herr Rentier Stiefel
-von dem ruchlosen Frevel seines Sohnes Kenntnis erhalten, durchsuchte
-der fassungslose Vater, in der Hoffnung, auf diesem Wege möglicherweise
-dem Anlaß der verabscheuungswürdigen Untat auf die Spur zu kommen, die
-hinterlassenen Effekten seines Sohnes Moritz und stieß dabei an einem
-nicht zur Sache gehörigen Orte auf ein Schriftstück, welches uns ohne
-noch die verabscheuungswürdige Untat an sich verständlich zu machen,
-für die dabei maßgebend gewesene moralische Zerrüttung des Untäters
-eine leider nur allzu ausreichende Erklärung liefert. Es handelt sich
-um eine in Gesprächsform abgefaßte, „_Der Beischlaf_“ betitelte, mit
-lebensgroßen Abbildungen versehene, von den schamlosesten Unfläthereien
-strotzende, zwanzig Seiten lange Abhandlung, die den geschraubtesten
-Anforderungen, die ein verworfener Lüstling an eine unzüchtige Lektüre
-zu stellen vermöchte, entsprechen dürfte. --
-
-=Melchior=
-
-Ich habe ...
-
-=Sonnenstich=
-
-Sie haben sich ruhig zu verhalten! -- Nachdem Herr Rentier Stiefel
-uns fragliches Schriftstück ausgehändigt und wir dem fassungslosen
-Vater das Versprechen erteilt, um jeden Preis den Autor zu ermitteln,
-wurde die uns vorliegende Handschrift mit den Handschriften sämtlicher
-Mitschüler des weiland Ruchlosen verglichen und ergab nach dem
-einstimmigen Urteil der gesamten Lehrerschaft, sowie in vollkommenem
-Einklang mit dem Spezial-Gutachten unseres geschätzten Herrn Kollegen
-für Kalligraphie die denkbar bedenklichste Ähnlichkeit mit der
-_Ihrigen_. --
-
-=Melchior=
-
-Ich habe ...
-
-=Sonnenstich=
-
-Sie haben sich ruhig zu verhalten! -- Ungeachtet der erdrückenden
-Tatsache der von Seiten unantastbarer Autoritäten anerkannten
-Ähnlichkeit glauben wir uns vorderhand noch jeder weiteren Maßnahmen
-enthalten zu dürfen, um in erster Linie den Schuldigen über das
-ihm demgemäß zur Last fallende Vergehen wider die Sittlichkeit in
-Verbindung mit daraus resultierender Veranlassung zur Selbstentleibung
-ausführlich zu vernehmen. --
-
-=Melchior=
-
-Ich habe ...
-
-=Sonnenstich=
-
-Sie haben die genau präzisierten Fragen, die ich Ihnen der Reihe nach
-vorlege, eine um die andere, mit einem schlichten und bescheidenen „Ja“
-oder „Nein“ zu beantworten. -- Habebald!
-
-=Habebald=
-
-Befehlen, Herr Rektor!
-
-=Sonnenstich=
-
-Die Akten! -- -- Ich ersuche unseren Schriftführer, Herrn Kollega
-Fliegentod, von nun an möglichst wortgetreu zu protokollieren. -- (Zu
-Melchior) Kennen Sie dieses Schriftstück?
-
-=Melchior=
-
-Ja.
-
-=Sonnenstich=
-
-Wissen Sie, was dieses Schriftstück enthält?
-
-=Melchior=
-
-Ja.
-
-=Sonnenstich=
-
-Ist die Schrift dieses Schriftstücks die Ihrige?
-
-=Melchior=
-
-Ja.
-
-=Sonnenstich=
-
-Verdankt dieses unflätige Schriftstück Ihnen seine Abfassung?
-
-=Melchior=
-
-Ja. -- Ich ersuche Sie, Herr Rektor, mir _eine_ Unflätigkeit darin
-nachzuweisen.
-
-=Sonnenstich=
-
-Sie haben die genau präzisierten Fragen, die ich Ihnen vorlege, mit
-einem schlichten und bescheidenen „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten!
-
-=Melchior=
-
-Ich habe nicht mehr und nicht weniger geschrieben, als was eine Ihnen
-sehr wohlbekannte Tatsache ist!
-
-=Sonnenstich=
-
-Dieser Schandbube!!
-
-=Melchior=
-
-Ich ersuche Sie, mir einen Verstoß gegen die Sittlichkeit in der
-Schrift zu zeigen!
-
-=Sonnenstich=
-
-Bilden Sie sich ein, ich hätte Lust, zu Ihrem Hanswurst an Ihnen zu
-werden?! -- Habebald ...!
-
-=Melchior=
-
-Ich habe ...
-
-=Sonnenstich=
-
-Sie haben so wenig Ehrerbietung vor der Würde Ihrer versammelten
-Lehrerschaft, wie Sie Anstandsgefühl für das dem Menschen eingewurzelte
-Empfinden für die Diskretion der Verschämtheit einer sittlichen
-Weltordnung haben! -- Habebald!!
-
-=Habebald=
-
-Befehlen, Herr Rektor!
-
-=Sonnenstich=
-
-Es ist ja der _Langenscheidt_ zur dreistündigen Erlernung des
-aggluttierenden Volapük!
-
-=Melchior=
-
-Ich habe ...
-
-=Sonnenstich=
-
-Ich ersuche unseren Schriftführer, Herrn Kollega Fliegentod, das
-Protokoll zu schließen!
-
-=Melchior=
-
-Ich habe ...
-
-=Sonnenstich=
-
-Sie haben sich ruhig zu verhalten!! -- Habebald!
-
-=Habebald=
-
-Befehlen, Herr Rektor!
-
-=Sonnenstich=
-
-Führen Sie Ihn hinunter!
-
-
-Zweite Szene
-
-_Friedhof_ in strömendem Regen. -- Vor einem offenen Grabe steht Pastor
-_Kahlbauch_, den aufgespannten Schirm in der Hand. Zu seiner Rechten
-Rentier _Stiefel_, dessen Freund _Ziegenmelker_ und Onkel _Probst_. Zur
-Linken Rektor _Sonnenstich_ mit Professor _Knochenbruch_. Gymnasiasten
-schließen den Kreis. In einiger Entfernung vor einem halbverfallenen
-Grabmonument _Martha_ und _Ilse_
-
-=Pastor Kahlbauch=
-
-... Denn wer die Gnade, mit der der ewige Vater den in Sünden Geborenen
-gesegnet, von sich wies, er wird des _geistigen_ Todes sterben! -- Wer
-aber in eigenwilliger fleischlicher Verleugnung der Gott gebührenden
-Ehre dem Bösen gelebt und gedient, er wird des _leiblichen_ Todes
-sterben! -- Wer jedoch das Kreuz, das der Allerbarmer ihm um der Sünde
-willen auferlegt, freventlich von sich geworfen, wahrlich, wahrlich,
-ich sage euch, der wird des _ewigen_ Todes sterben! -- (Er wirft eine
-Schaufel voll Erde in die Gruft) -- Uns aber, die wir fort und fort
-wallen den Dornenpfad, lasset den Herrn, den allgütigen, preisen
-und ihm danken für seine unerforschliche Gnadenwahl. Denn so wahr
-_dieser_ eines _dreifachen_ Todes starb, so wahr wird Gott der Herr den
-Gerechten einführen zur Seligkeit und zum ewigen Leben. -- Amen.
-
-=Rentier Stiefel=
-
-(mit tränenerstickter Stimme, wirft eine Schaufel voll Erde in die
-Gruft)
-
-Der Junge war nicht von mir! -- Der Junge war nicht von mir! -- Der
-Junge hat mir von kleinauf nicht gefallen!
-
-=Rektor Sonnenstich=
-
-(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)
-
-Der Selbstmord als der denkbar bedenklichste Verstoß gegen die
-sittliche Weltordnung ist der denkbar bedenklichste Beweis für
-die sittliche Weltordnung, indem der Selbstmörder der sittlichen
-Weltordnung den Urteilsspruch zu sprechen erspart und ihr Bestehen
-bestätigt.
-
-=Professor Knochenbruch=
-
-(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)
-
-Verbummelt -- versumpft -- verhurt -- verlumpt -- und verludert!
-
-=Onkel Probst=
-
-(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)
-
-Meiner eigenen Mutter hätte ich’s nicht geglaubt, daß ein Kind so
-niederträchtig an seinen Eltern zu handeln vermöchte!
-
-=Freund Ziegenmelker=
-
-(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)
-
-An einem Vater zu handeln vermöchte, der nun seit zwanzig Jahren von
-früh bis spät keinen Gedanken mehr hegt, als das Wohl seines Kindes!
-
-=Pastor Kahlbauch=
-
-(Rentier Stiefel die Hand drückend)
-
-Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten dienen.
-1. Korinth. 12, 15. -- Denken Sie der trostlosen Mutter und suchen Sie
-ihr das Verlorene durch verdoppelte Liebe zu ersetzen!
-
-=Rektor Sonnenstich=
-
-(Rentier Stiefel die Hand drückend)
-
-Wir hätten ihn ja wahrscheinlich doch nicht promovieren können!
-
-=Professor Knochenbruch=
-
-(Rentier Stiefel die Hand drückend)
-
-Und wenn wir ihn promoviert hätten, im nächsten Frühling wäre er des
-allerbestimmtesten sitzen geblieben!
-
-=Onkel Probst=
-
-(Rentier Stiefel die Hand drückend)
-
-Jetzt hast du vor allem die Pflicht, an dich zu denken. Du bist
-Familienvater ...!
-
-=Freund Ziegenmelker=
-
-(Rentier Stiefel die Hand drückend)
-
-Vertraue dich meiner Führung! -- Ein Hundewetter, daß einem die Därme
-schlottern! -- Wer da nicht unverzüglich mit einem Grogg eingreift, hat
-seine Herzklappenaffektion weg!
-
-=Rentier Stiefel=
-
-(sich die Nase schneuzend)
-
-Der Junge war nicht von mir ... der Junge war nicht von mir ...
-
-(Rentier Stiefel, geleitet von Pastor Kahlbauch, Rektor Sonnenstich,
-Professor Knochenbruch, Onkel Probst und Freund Ziegenmelker ab. -- Der
-Regen läßt nach)
-
-=Hänschen Rilow=
-
-(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)
-
-Ruhe in Frieden, du ehrliche Haut! -- Grüße mir meine ewigen Bräute,
-hingeopferten Angedenkens, und empfiehl mich ganz ergebenst zu Gnaden
-dem lieben Gott -- armer Tollpatsch du! -- Sie werden dir um deiner
-Engelseinfalt willen noch eine Vogelscheuche aufs Grab setzen ...
-
-=Georg=
-
-Hat sich die Pistole gefunden?
-
-=Robert=
-
-Man braucht keine Pistole zu suchen!
-
-=Ernst=
-
-Hast du ihn gesehen, Robert?
-
-=Robert=
-
-Verfluchter, verdammter Schwindel! -- Wer hat ihn gesehen? -- Wer denn?!
-
-=Otto=
-
-Da steckt’s nämlich! -- Man hatte ihm ein Tuch übergeworfen.
-
-=Georg=
-
-Hing die Zunge heraus?
-
-=Robert=
-
-Die Augen! -- Deshalb hatte man das Tuch drübergeworfen.
-
-=Otto=
-
-Grauenhaft!
-
-=Hänschen Rilow=
-
-Weißt du bestimmt, daß er sich erhängt hat?
-
-=Ernst=
-
-Man sagt, er habe gar keinen Kopf mehr.
-
-=Otto=
-
-Unsinn! -- Gewäsch!
-
-=Robert=
-
-Ich habe ja den Strick in Händen gehabt! -- Ich habe noch keinen
-Erhängten gesehen, den man nicht zugedeckt hätte.
-
-=Georg=
-
-Auf gemeinere Art hätte er sich nicht empfehlen können!
-
-=Hänschen Rilow=
-
-Was Teufel, das Erhängen soll ganz hübsch sein!
-
-=Otto=
-
-Mir ist er nämlich noch fünf Mark schuldig. Wir hatten gewettet. Er
-schwor, er werde sich halten.
-
-=Hänschen Rilow=
-
-Du bist schuld, daß er daliegt. Du hast ihn Prahlhans genannt.
-
-=Otto=
-
-Paperlapap, ich muß auch büffeln die Nächte durch. Hätte er die
-griechische Literaturgeschichte gelernt, er hätte sich nicht zu
-erhängen brauchen!
-
-=Ernst=
-
-Hast du den Aufsatz, Otto?
-
-=Otto=
-
-Erst die Einleitung.
-
-=Ernst=
-
-Ich weiß gar nicht, was schreiben.
-
-=Georg=
-
-Warst du denn nicht da, als uns Affenschmalz die Disposition gab?
-
-=Hänschen Rilow=
-
-Ich stopsle mir was aus dem _Demokrit_ zusammen.
-
-=Ernst=
-
-Ich will sehen, ob sich im _kleinen Meyer_ was finden läßt.
-
-=Otto=
-
-Hast du den Vergil schon auf morgen? -- -- -- -- --
-
-(Die Gymnasiasten ab. -- Martha und Ilse kommen ans Grab.)
-
-=Ilse=
-
-Rasch, rasch! -- Dort hinten kommen die Totengräber.
-
-=Martha=
-
-Wollen wir nicht lieber warten, Ilse?
-
-=Ilse=
-
-Wozu? -- Wir bringen neue. Immer neue und neue! -- Es wachsen genug.
-
-=Martha=
-
-Du hast recht, Ilse! -- (Sie wirft einen Epheukranz in die Gruft. Ilse
-öffnet ihre Schürze und läßt eine Fülle frischer Anemonen auf den Sarg
-regnen.)
-
-=Martha=
-
-Ich grabe unsere Rosen aus. Schläge bekomme ich ja doch! -- Hier werden
-sie gedeihen.
-
-=Ilse=
-
-Ich will sie begießen, so oft ich vorbeikomme. Ich hole Vergißmeinnicht
-vom Goldbach herüber und Schwertlilien bringe ich von Hause mit.
-
-=Martha=
-
-Es soll eine Pracht werden! Eine Pracht!
-
-=Ilse=
-
-Ich war schon über der Brücke drüben, da hört’ ich den Knall.
-
-=Martha=
-
-Armes Herz!
-
-=Ilse=
-
-Und ich weiß auch den Grund, Martha.
-
-=Martha=
-
-Hat er dir was gesagt?
-
-=Ilse=
-
-Parallelepipedon! -- Aber sag’ es niemandem.
-
-=Martha=
-
-Meine Hand darauf.
-
-=Ilse=
-
--- Hier ist die Pistole.
-
-=Martha=
-
-Deshalb hat man sie nicht gefunden!
-
-=Ilse=
-
-Ich nahm sie ihm gleich aus der Hand, als ich am Morgen vorbeikam.
-
-=Martha=
-
-Schenk’ sie mir, Ilse! -- Bitte, schenk’ sie mir!
-
-=Ilse=
-
-Nein, die behalt’ ich zum Andenken.
-
-=Martha=
-
-Ist’s wahr, Ilse, daß er ohne Kopf drinliegt?
-
-=Ilse=
-
-Er muß sie mit Wasser geladen haben! -- Die Königskerzen waren über und
-über mit Blut besprengt. Sein Hirn hing in den Weiden umher.
-
-
-Dritte Szene
-
-_Herr und Frau Gabor_.
-
-=Frau Gabor=
-
-... Man hatte einen Sündenbock nötig. Man durfte die überall
-lautwerdenden Anschuldigungen nicht auf sich beruhen lassen. Und nun
-mein Kind das Unglück gehabt, den Zöpfen im richtigen Moment in den
-Schuß zu laufen, nun soll ich, die eigene Mutter, das Werk seiner
-Henker vollenden helfen? -- Bewahre mich Gott davor!
-
-=Herr Gabor=
-
--- Ich habe deine geistvolle Erziehungsmethode vierzehn Jahre
-schweigend mit angeseh’n. Sie widersprach meinen Begriffen. Ich hatte
-von jeher der Überzeugung gelebt, ein Kind sei kein Spielzeug; ein
-Kind habe Anspruch auf unsern heiligsten Ernst. Aber ich sagte mir,
-wenn der Geist und die Grazie des Einen die ernsten Grundsätze eines
-Andern zu ersetzen im stande sind, so mögen sie den ernsten Grundsätzen
-vorzuziehen sein. -- -- Ich mache dir keinen Vorwurf, Fanny. Aber
-vertritt mir den Weg nicht, wenn ich dein und mein Unrecht an dem
-Jungen gutzumachen suche!
-
-=Frau Gabor=
-
-Ich vertrete dir den Weg, so lange ein Tropfen warmen Blutes in
-mir wallt! In der Korrektionsanstalt ist mein Kind verloren. Eine
-Verbrechernatur mag sich in solchen Instituten bessern lassen. Ich weiß
-es nicht. Ein gutgearteter Mensch wird so gewiß zum Verbrecher darin,
-wie die Pflanze verkommt, der du Luft und Sonne entziehst. Ich bin mir
-keines Unrechtes bewußt. Ich danke heute wie immer dem Himmel, daß er
-mir den Weg gezeigt, in meinem Kinde einen rechtlichen Charakter und
-eine edle Denkungsweise zu wecken. Was hat er denn so Schreckliches
-getan? Es soll mir nicht einfallen, ihn entschuldigen zu wollen --
-daran, daß man ihn aus der Schule gejagt trägt er keine Schuld! Und
-wär’ es sein Verschulden, so hat er es ja gebüßt. Du magst das alles
-besser wissen. Du magst theoretisch vollkommen im Rechte sein. Aber ich
-kann mir mein einziges Kind nicht gewaltsam in den Tod jagen lassen!
-
-=Herr Gabor=
-
-Das hängt nicht von uns ab, Fanny. -- Das ist ein Risiko, das wir mit
-unserem Glück auf uns genommen. Wer zu schwach für den Marsch ist,
-bleibt am Wege. Und es ist schließlich das Schlimmste nicht, wenn
-das Unausbleibliche zeitig kommt. Möge uns der Himmel davor behüten!
-Unsere Pflicht ist es, den Wankenden zu festigen, so lange die Vernunft
-Mittel weiß. -- Daß man ihn aus der Schule gejagt, ist nicht seine
-Schuld. Wenn man ihn nicht aus der Schule gejagt hätte, es wäre auch
-seine Schuld nicht! -- Du bist zu leichtherzig. Du erblickst vorwitzige
-Tändelei, wo es sich um Grundschäden des Charakters handelt. Ihr Frauen
-seid nicht berufen, über solche Dinge zu urteilen. Wer _das_ schreiben
-kann, was Melchior schreibt, der muß im innersten Kern seines Wesens
-angefault sein. Das Mark ist ergriffen. Eine halbwegs gesunde Natur
-läßt sich zu so etwas nicht herbei. Wir sind alle keine Heiligen;
-jeder von uns irrt vom schnurgeraden Pfad ab. Seine Schrift hingegen
-vertritt das _Prinzip_. Seine Schrift entspricht keinem zufälligen
-gelegentlichen Fehltritt; sie dokumentiert mit schaudererregender
-Deutlichkeit den aufrichtig gehegten _Vorsatz_, jene natürliche
-Veranlagung, jenen Hang zum _Unmoralischen_, weil es das Unmoralische
-ist. Seine Schrift manifestiert jene exzeptionelle geistige Korruption,
-die wir Juristen mit dem Ausdruck „_moralischer Irrsinn_“ bezeichnen.
--- Ob sich gegen seinen Zustand etwas ausrichten läßt, vermag ich
-nicht zu sagen. _Wenn_ wir uns einen Hoffnungsschimmer bewahren wollen,
-und in erster Linie unser fleckenloses Gewissen als die Eltern des
-Betreffenden, so ist es Zeit für uns, mit Entschiedenheit und mit allem
-Ernste ans Werk zu gehen. -- Laß uns nicht länger streiten, Fanny! Ich
-fühle, wie schwer es dir wird. Ich weiß, daß du ihn vergötterst, weil
-er so ganz deinem genialischen Naturell entspricht. Sei stärker als du!
-Zeig’ dich deinem Sohn gegenüber endlich einmal selbstlos!
-
-=Frau Gabor=
-
-Hilf mir Gott, wie läßt sich dagegen aufkommen! -- Man muß ein _Mann_
-sein, um so sprechen zu können! Man muß ein _Mann_ sein, um sich so
-vom toten Buchstaben verblenden lassen zu können! Man muß ein _Mann_
-sein, um so blind das in die Augen Springende nicht zu sehn! -- Ich
-habe gewissenhaft und besonnen an Melchior gehandelt vom ersten Tag
-an, da ich ihn für die Eindrücke seiner Umgebung empfänglich fand.
-Sind wir denn für den _Zufall_ verantwortlich?! Dir kann morgen ein
-Dachziegel auf den Kopf fallen, und dann kommt dein Freund -- dein
-Vater, und statt deine Wunde zu pflegen, setzt er den Fuß auf dich!
--- Ich lasse mein Kind nicht vor meinen Augen hinmorden. Dafür bin
-ich seine Mutter. -- Es ist unfaßbar! Es ist gar nicht zu glauben!
-Was schreibt er denn in aller Welt! Ist’s denn nicht der eklatanteste
-Beweis für seine Harmlosigkeit, für seine Dummheit, für seine kindliche
-Unberührtheit, daß er so etwas schreiben kann! -- Man muß keine Ahnung
-von Menschenkenntnis besitzen -- man muß ein vollständig entseelter
-Bureaukrat oder ganz nur Beschränktheit sein, um hier moralische
-Korruption zu wittern! -- -- Sag’ was du willst. Wenn du Melchior in
-die Korrektionsanstalt bringst, dann sind _wir_ geschieden! Und dann
-laß mich sehen, ob ich nicht irgendwo in der Welt Hilfe und Mittel
-finde, mein Kind seinem Untergange zu entreißen.
-
-=Herr Gabor=
-
-Du wirst dich drein schicken müssen -- wenn nicht heute, dann morgen.
-Leicht wird es keinem, mit dem Unglück zu diskontieren. Ich werde dir
-zur Seite stehen, und wenn dein Mut zu erliegen droht, keine Mühe und
-kein Opfer scheuen, dir das Herz zu entlasten. Ich sehe die Zukunft so
-grau, so wolkig -- es fehlte nur noch, daß auch du mir noch verloren
-gingst.
-
-=Frau Gabor=
-
-Ich sehe ihn nicht wieder; ich sehe ihn nicht wieder. Er erträgt das
-Gemeine nicht. Er findet sich nicht ab mit dem Schmutz. Er zerbricht
-den Zwang; das entsetzlichste Beispiel schwebt ihm vor Augen! -- Und
-sehe ich ihn wieder -- Gott, Gott, dieses frühlingsfrohe Herz -- sein
-helles Lachen -- alles, alles -- seine kindliche Entschlossenheit,
-mutig zu kämpfen für Gut und Recht -- o dieser Morgenhimmel, wie ich
-ihn licht und rein in seiner Seele gehegt als mein höchstes Gut.....
-Halte dich an mich, wenn das Unrecht um Sühne schreit! Halte dich an
-mich! Verfahre mit mir wie du willst! _Ich_ trage die Schuld. -- Aber
-laß deine fürchterliche Hand von dem Kind weg.
-
-=Herr Gabor=
-
-_Er_ hat sich vergangen!
-
-=Frau Gabor=
-
-_Er hat sich nicht vergangen!_
-
-=Herr Gabor=
-
-Er hat sich vergangen! -- -- -- Ich hätte alles darum gegeben, es
-deiner grenzenlosen Liebe ersparen zu dürfen. -- -- Heute morgen kommt
-eine Frau zu mir, vergeistert, kaum ihrer Sprache mächtig, mit diesem
-Brief in der Hand -- einem Brief an ihre fünfzehnjährige Tochter. Aus
-dummer Neugierde habe sie ihn erbrochen; das Mädchen war nicht zu Haus.
--- In dem Briefe erklärt Melchior dem fünfzehnjährigen Kind, daß ihm
-seine Handlungsweise keine Ruhe lasse, er habe sich an ihr versündigt
-etc. etc., werde indessen natürlich für alles einstehen. Sie möge sich
-nicht grämen, auch wenn sie Folgen spüre. Er sei bereits auf dem Wege
-Hilfe zu schaffen; seine Relegation erleichtere ihm das. Der ehemalige
-Fehltritt könne noch zu ihrem Glücke führen -- und was des unsinnigen
-Gewäsches mehr ist.
-
-=Frau Gabor=
-
-Unmöglich!!
-
-=Herr Gabor=
-
-Der Brief ist gefälscht. Es liegt Betrug vor. Man sucht sich seine
-stadtbekannte Relegation nutzbar zu machen. Ich habe mit dem
-Jungen noch nicht gesprochen -- aber sieh bitte die Hand! Sieh die
-Schreibweise!
-
-=Frau Gabor=
-
-Ein unerhörtes, schamloses Bubenstück!
-
-=Herr Gabor=
-
-Das fürchte ich!
-
-=Frau Gabor=
-
-Nein, nein -- nie und nimmer!
-
-=Herr Gabor=
-
-Um so besser wird es für uns sein. -- Die Frau fragt mich händeringend,
-was sie tun solle. Ich sagte ihr, sie solle ihre fünfzehnjährige
-Tochter nicht auf Heuböden herumklettern lassen. Den Brief hat sie
-mir glücklicherweise dagelassen. -- Schicken wir Melchior nun auf ein
-anderes Gymnasium, wo er nicht einmal unter elterlicher Aufsicht steht,
-so haben wir in drei Wochen den nämlichen Fall -- neue Relegation --
-sein frühlingsfreudiges Herz gewöhnt sich nachgerade daran. -- Sag’
-mir, Fanny, wo soll ich hin mit dem Jungen?!
-
-=Frau Gabor=
-
--- In die Korrektionsanstalt --
-
-=Herr Gabor=
-
-In die ...?
-
-=Frau Gabor=
-
-... Korrektionsanstalt!
-
-=Herr Gabor=
-
-Er findet dort in erster Linie, was ihm zu Hause ungerechterweise
-vorenthalten wurde; eherne Disziplin, Grundsätze, und einen moralischen
-Zwang, dem er sich unter allen Umständen zu fügen hat. -- Im übrigen
-ist die Korrektionsanstalt nicht der Ort des Schreckens, den du
-dir darunter denkst. Das Hauptgewicht legt man in der Anstalt auf
-Entwicklung einer christlichen Denk- und Empfindungsweise. Der Junge
-lernt dort endlich, das _Gute_ wollen statt des _Interessanten_, und
-bei seinen Handlungen nicht sein Naturell, sondern das _Gesetz_ in
-Frage ziehen. -- -- Vor einer halben Stunde erhalte ich ein Telegramm
-von meinem Bruder, das mir die Aussagen der Frau bestätigt. Melchior
-hat sich ihm anvertraut und ihn um 200 Mark zur Flucht nach England
-gebeten ...
-
-=Frau Gabor=
-
-(bedeckt ihr Gesicht)
-
-Barmherziger Himmel!
-
-
-Vierte Szene
-
-_Korrektionsanstalt_. -- Ein Korridor. -- _Diethelm_, _Reinhold_,
-_Ruprecht_, _Helmuth_, _Gaston_ und _Melchior_.
-
-=Diethelm=
-
-Hier ist ein Zwanzigpfennigstück!
-
-=Reinhold=
-
-Was soll’s damit?
-
-=Diethelm=
-
-Ich leg es auf den Boden. Ihr stellt euch drum herum. Wer es trifft,
-der hat’s.
-
-=Ruprecht=
-
-Machst du nicht mit, Melchior?
-
-=Melchior=
-
-Nein, ich danke.
-
-=Helmuth=
-
-Der Joseph!
-
-=Gaston=
-
-Er kann nicht mehr. Er ist zur Rekreation hier.
-
-=Melchior=
-
-(für sich)
-
-Es ist nicht klug, daß ich mich separiere. Alles hält mich im Auge.
-Ich muß mitmachen -- oder die Kreatur geht zum Teufel. -- -- Die
-Gefangenschaft macht sie zu Selbstmördern. -- -- Brech ich den Hals,
-ist es gut! Komme ich davon, ist es auch gut! Ich kann nur gewinnen.
--- Ruprecht wird mein Freund, er besitzt hier Kenntnisse. -- Ich werde
-ihm die Kapitel von Juda’s Schnur Thamar, von Moab, von Loth und seiner
-Sippe, von der Königin Vasti und der Abisag von Sunem zum besten geben.
--- Er hat die verunglückteste Physiognomie auf der Abteilung.
-
-=Ruprecht=
-
-Ich hab’s!
-
-=Helmuth=
-
-Ich komme noch!
-
-=Gaston=
-
-Übermorgen vielleicht!
-
-=Helmuth=
-
-Gleich! -- Jetzt! -- O Gott, o Gott ...
-
-=Alle=
-
-~Summa -- summa cum laude!!~
-
-=Ruprecht=
-
-(das Stück nehmend)
-
-Danke schön!
-
-=Helmuth=
-
-Her, du Hund!
-
-=Ruprecht=
-
-Du Schweinetier?
-
-=Helmuth=
-
-Galgenvogel!!
-
-=Ruprecht=
-
-(schlägt ihn ins Gesicht)
-
--- Da! (rennt davon)
-
-=Helmuth=
-
-(ihm nachrennend)
-
-Den schlag ich tot!
-
-=Die Übrigen=
-
-(rennen hinterdrein)
-
-Hetz, Packan! Hetz! Hetz! Hetz!
-
-=Melchior=
-
-(allein, gegen das Fenster gewandt)
-
--- Da geht der Blitzableiter hinunter. -- Man muß ein Taschentuch
-drumwickeln. -- Wenn ich an sie denke, schießt mir immer das Blut in
-den Kopf. Und Moritz liegt mir wie Blei in den Füßen. -- -- -- Ich
-gehe zur Redaktion. Bezahlen Sie mich per Hundert; ich kolportiere!
--- sammle Tagesneuigkeiten -- schreibe -- lokal -- -- ethisch -- --
-psychophysisch ... man verhungert nicht mehr so leicht. Volksküche,
-Café Temperence. -- Das Haus ist sechzig Fuß hoch und der Verputz
-bröckelt ab ... Sie haßt mich -- sie haßt mich, weil ich sie der
-Freiheit beraubt. Handle ich, wie ich will, es bleibt Vergewaltigung.
--- Ich darf einzig hoffen, im Laufe der Jahre allmählich ... Über acht
-Tage ist Neumond. Morgen schmiere ich die Angeln. Bis Sonnabend muß ich
-unter allen Umständen wissen, wer den Schlüssel hat. -- Sonntag Abend
-in der Andacht kataleptischer Anfall -- will’s Gott, wird sonst niemand
-krank! -- Alles liegt so klar, als wär’ es geschehen, vor mir. Über
-das Fenstergesims gelang ich mit Leichtigkeit -- ein Schwung -- ein
-Griff -- aber man muß ein Taschentuch drumwickeln. -- -- Da kommt der
-Großinquisitor. (Ab nach links.)
-
-(Dr. _Prokrustes_ mit einem _Schlossermeister_ von rechts.)
-
-=Dr. Prokrustes=
-
-... Die Fenster liegen zwar im dritten Stock und unten sind Brennesseln
-gepflanzt. Aber was kümmert sich die Entartung um Brennesseln. --
-Vergangenen Winter stieg uns einer zur Dachluke hinaus und wir hatten
-die ganze Schererei mit dem Abholen, Hinbringen und Beisetzen ...
-
-=Der Schlossermeister=
-
-Wünschen Sie die Gitter aus Schmiedeeisen?
-
-=Dr. Prokrustes=
-
-Aus Schmiedeeisen -- und da man sie nicht einlassen kann, vernietet.
-
-
-Fünfte Szene
-
-Ein _Schlafgemach_. -- _Frau Bergmann_, _Ina Müller_ und Medizinalrat
-Dr. _v. Brausepulver_. -- _Wendla_ im Bett.
-
-=Dr. von Brausepulver=
-
-Wie alt sind Sie denn eigentlich?
-
-=Wendla=
-
-Vierzehn ein halb.
-
-=Dr. von Brausepulver=
-
-Ich verordne die _Blaud_’schen Pillen seit fünfzehn Jahren und habe in
-einer großen Anzahl von Fällen die eklatantesten Erfolge beobachtet.
-Ich ziehe sie dem Lebertran und den Stahlweinen vor. Beginnen sie mit
-drei bis vier Pillen pro Tag und steigern Sie so rasch Sie es eben
-vertragen. Dem Fräulein Elfriede Baronesse von Witzleben hatte ich
-verordnet, jeden dritten Tag um eine Pille zu steigern. Die Baronesse
-hatte mich mißverstanden und steigerte jeden Tag um drei Pillen. Nach
-kaum drei Wochen schon konnte sich die Baronesse mit ihrer Frau Mama
-zur Nachkur nach Pyrmont begeben. -- Von ermüdenden Spaziergängen und
-Extramahlzeiten dispensiere ich Sie. Dafür versprechen Sie mir, liebes
-Kind, sich um so fleißiger Bewegung machen zu wollen und ungeniert
-Nahrung zu fordern, sobald sich die Lust dazu wieder einstellt.
-Dann werden diese Herzbeklemmungen bald nachlassen -- und der
-Kopfschmerz, das Frösteln, der Schwindel -- und unsere schrecklichen
-Verdauungsstörungen. Fräulein Elfriede Baronesse von Witzleben genoß
-schon acht Tage nach begonnener Kur ein ganzes Brathühnchen mit jungen
-Pellkartoffeln zum Frühstück.
-
-=Frau Bergmann=
-
-Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten, Herr Medizinalrat?
-
-=Dr. von Brausepulver=
-
-Ich danke Ihnen, liebe Frau Bergmann. Mein Wagen wartet. Lassen Sie
-sich’s nicht so zu Herzen gehen. In wenigen Wochen ist unsere liebe
-kleine Patientin wieder frisch und munter wie eine Gazelle. Seien Sie
-getrost. -- Guten Tag, Frau Bergmann. Guten Tag, liebes Kind. Guten
-Tag, meine Damen. Guten Tag. (Frau Bergmann geleitet ihn vor die Tür.)
-
-=Ina=
-
-(am Fenster)
-
--- Nun färbt sich eure Platane schon wieder bunt. -- Siehst du’s vom
-Bett aus? -- Eine kurze Pracht, kaum recht der Freude wert, wie man
-sie so kommen und gehen sieht. -- Ich muß nun auch bald gehen. Müller
-erwartet mich vor der Post und ich muß zuvor noch zur Schneiderin.
-Mucki bekommt seine ersten Höschen, und Karl soll einen neuen
-Trikotanzug auf den Winter haben.
-
-=Wendla=
-
-Manchmal wird mir so selig -- alles Freude und Sonnenglanz. Hätt’ ich
-geahnt, daß es einem so wohl um’s Herz werden kann! Ich möchte hinaus,
-im Abendschein über die Wiesen gehn, Himmelsschlüssel suchen den Fluß
-entlang und mich an’s Ufer setzen und träumen ... Und dann kommt das
-_Zahnweh_, und ich meine, daß ich morgen am Tag sterben muß; mir wird
-heiß und kalt, vor den Augen verdunkelt sich’s, und dann flattert das
-Untier herein -- -- -- So oft ich aufwache, seh’ ich Mutter weinen. O,
-das tut mir so weh -- ich kann’s dir nicht sagen, Ina!
-
-=Ina=
-
--- Soll ich dir nicht das Kopfkissen höher legen?
-
-=Frau Bergmann=
-
-(kommt zurück)
-
-Er meint, das Erbrechen werde sich auch geben; und du sollst dann nur
-ruhig wieder aufstehn ... Ich glaube auch, es ist besser, wenn du bald
-wieder aufstehst, Wendla.
-
-=Ina=
-
-Bis ich das nächste Mal vorspreche, springst du vielleicht schon
-wieder im Haus herum. -- Leb’ wohl, Mutter. Ich muß durchaus noch zur
-Schneiderin. Behüt’ dich Gott, liebe Wendla. (Küßt sie) Recht, recht
-baldige Besserung!
-
-=Wendla=
-
-Leb’ wohl, Ina. -- Bring’ mir Himmelsschlüssel mit, wenn du
-wiederkommst. Adieu. Grüße deine Jungens von mir.
-
-(Ina ab.)
-
-=Wendla=
-
-Was hat er noch gesagt, Mutter, als er draußen war?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Er hat nichts gesagt. -- Er sagte, Fräulein von Witzleben habe auch zu
-Ohnmachten geneigt. Es sei das fast immer so bei der Bleichsucht.
-
-=Wendla=
-
-Hat er gesagt, Mutter, daß ich die Bleichsucht habe?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Du sollest Milch trinken und Fleisch und Gemüse essen, wenn der Appetit
-zurückgekehrt sei.
-
-=Wendla=
-
-O Mutter, Mutter, ich glaube, ich habe nicht die Bleichsucht....
-
-=Frau Bergmann=
-
-Du hast die Bleichsucht, Kind. Sei ruhig, Wendla, sei ruhig; du hast
-die Bleichsucht.
-
-=Wendla=
-
-Nein, Mutter, nein! Ich weiß es. Ich fühl’ es. Ich habe nicht die
-Bleichsucht. Ich habe die Wassersucht ...
-
-=Frau Bergmann=
-
-Du hast die Bleichsucht. Er hat ja gesagt, daß du die Bleichsucht hast.
-Beruhige dich, Mädchen. Es wird besser werden.
-
-=Wendla=
-
-Es wird nicht besser werden. Ich habe die Wassersucht. Ich muß sterben,
-Mutter. -- O Mutter, ich muß sterben!
-
-=Frau Bergmann=
-
-Du mußt nicht sterben, Kind! Du mußt nicht sterben..... Barmherziger
-Himmel, du mußt nicht sterben!
-
-=Wendla=
-
-Aber warum weinst du dann so jammervoll?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Du mußt nicht sterben -- Kind! Du hast nicht die Wassersucht. Du hast
-ein Kind, Mädchen! Du hast ein Kind! -- O, warum hast du mir das getan!
-
-=Wendla=
-
--- ich habe dir nichts getan --
-
-=Frau Bergmann=
-
-O leugne nicht noch, Wendla! -- Ich weiß alles. Sieh’, ich hätt’ es
-nicht vermocht, dir ein Wort zu sagen. -- Wendla, meine Wendla ...!
-
-=Wendla=
-
-Aber das ist ja nicht möglich, Mutter. Ich bin ja doch nicht
-verheiratet ...!
-
-=Frau Bergmann=
-
-Großer, gewaltiger Gott --, das ist’s ja, daß du nicht verheiratet
-bist! Das ist ja das Fürchterliche! -- Wendla, Wendla, Wendla, was hast
-du getan!!
-
-=Wendla=
-
-Ich weiß es, weiß Gott, nicht mehr! Wir lagen im Heu.... Ich habe
-keinen Menschen auf dieser Welt geliebt als nur dich, Mutter.
-
-=Frau Bergmann=
-
-Mein Herzblatt --
-
-=Wendla=
-
-O Mutter, warum hast du mir nicht alles gesagt!
-
-=Frau Bergmann=
-
-Kind, Kind, laß uns einander das Herz nicht noch schwerer machen! Fasse
-dich! Verzweifle mir nicht, mein Kind! Einem vierzehnjährigen Mädchen
-das sagen! Sieh’, ich wäre eher darauf gefaßt gewesen, daß die Sonne
-erlischt. Ich habe an dir nicht anders getan, als meine liebe gute
-Mutter an mir getan hat. -- O laß uns auf den lieben Gott vertrauen,
-Wendla; laß uns auf Barmherzigkeit hoffen und das unsrige tun! Sieh’,
-_noch_ ist ja nichts geschehen, Kind. Und wenn nur wir jetzt nicht
-kleinmütig werden, dann wird uns auch der liebe Gott nicht verlassen.
--- Sei _mutig_, Wendla, sei _mutig_! -- -- So sitzt man einmal am
-Fenster und legt die Hände in den Schoß, weil sich doch noch alles zum
-Guten gewandt, und da bricht’s dann herein, daß einem gleich das Herz
-bersten möchte.... Wa -- was zitterst du?
-
-=Wendla=
-
-Es hat jemand geklopft.
-
-=Frau Bergmann=
-
-Ich habe nichts gehört, liebes Herz. -- (Geht an die Türe und öffnet.)
-
-=Wendla=
-
-Ach, ich hörte es ganz deutlich. -- -- Wer ist draußen?
-
-=Frau Bergmann=
-
--- Niemand -- -- Schmidts Mutter aus der Gartenstraße. -- -- -- Sie
-kommen eben recht, Mutter Schmidtin.
-
-
-Sechste Szene
-
-Winzer und Winzerinnen im _Weinberg_. -- Im Westen sinkt die Sonne
-hinter die Berggipfel. Helles Glockengeläute vom Tal herauf. --
-_Hänschen Rilow_ und _Ernst Röbel_ im höchstgelegenen Rebstück sich
-unter den überhängenden Felsen im welkenden Grase wälzend.
-
-=Ernst=
-
--- Ich habe mich überarbeitet.
-
-=Hänschen=
-
-Laß uns nicht traurig sein! -- Schade um die Minuten.
-
-=Ernst=
-
-Man sieht sie hängen und kann nicht mehr -- und morgen sind sie
-gekeltert.
-
-=Hänschen=
-
-Ermüdung ist mir so unerträglich, wie mir’s der Hunger ist.
-
-=Ernst=
-
-Ach, ich kann nicht mehr.
-
-=Hänschen=
-
-Diese leuchtende Muskateller noch!
-
-=Ernst=
-
-Ich bringe die Elastizität nicht mehr auf.
-
-=Hänschen=
-
-Wenn ich die Ranke beuge, baumelt sie uns von Mund zu Mund. Keiner
-braucht sich zu rühren. Wir beißen die Beeren ab und lassen den Kamm
-zum Stock zurückschnellen.
-
-=Ernst=
-
-Kaum entschließt man sich, und siehe, so dämmert auch schon die
-dahingeschwundene Kraft wieder auf.
-
-=Hänschen=
-
-Dazu das flammende Firmament -- und die Abendglocken. -- Ich verspreche
-mir wenig mehr von der Zukunft.
-
-=Ernst=
-
--- Ich sehe mich manchmal schon als hochwürdigen Pfarrer -- ein
-gemütvolles Hausmütterchen, eine reichhaltige Bibliothek und Ämter
-und Würden in allen Kreisen. Sechs Tage hat man um nachzudenken, und
-am siebenten tut man den Mund auf. Beim Spazierengehen reichen einem
-Schüler und Schülerinnen die Hand, und wenn man nach Hause kommt,
-dampft der Kaffee, der Topfkuchen wird aufgetragen, und durch die
-Gartentür bringen die Mädchen Äpfel herein. -- Kannst du dir etwas
-Schöneres denken?
-
-=Hänschen=
-
-Ich denke mir halbgeschlossene Wimpern, halbgeöffnete Lippen und
-türkische Draperien. -- Ich glaube nicht an das Pathos. Sieh, unsere
-Alten zeigen uns lange Gesichter, um ihre Dummheiten zu bemänteln.
-Untereinander nennen sie sich Schafsköpfe wie wir. Ich kenne das. --
-Wenn ich Millionär bin, werde ich dem lieben Gott ein Denkmal setzen.
--- Denke dir die Zukunft als Milchsette mit Zucker und Zimt. Der eine
-wirft sie um und heult, der andere rührt alles durcheinander und
-schwitzt. Warum nicht abschöpfen? -- Oder glaubst du nicht, daß es sich
-lernen ließe.
-
-=Ernst=
-
--- Schöpfen wir ab!
-
-=Hänschen=
-
-Was bleibt, fressen die Hühner. -- Ich habe meinen Kopf nun schon aus
-so mancher Schlinge gezogen....
-
-=Ernst=
-
-Schöpfen wir ab, Hänschen! -- Warum lachst du?
-
-=Hänschen=
-
-Fängst du schon wieder an?
-
-=Ernst=
-
-Einer muß ja doch anfangen.
-
-=Hänschen=
-
-Wenn wir in dreißig Jahren an einen Abend wie heute zurückdenken,
-erscheint er uns vielleicht unsagbar schön!
-
-=Ernst=
-
-Und wie macht sich jetzt alles so ganz von selbst!
-
-=Hänschen=
-
-Warum also nicht!
-
-=Ernst=
-
-Ist man zufällig allein -- dann weint man vielleicht gar.
-
-=Hänschen=
-
-Laß uns nicht traurig sein! -- (Er küßt ihn auf den Mund.)
-
-=Ernst=
-
-(küßt ihn)
-
-Ich ging von Hause fort mit dem Gedanken, dich nur eben zu sprechen und
-wieder umzukehren.
-
-=Hänschen=
-
-Ich erwartete dich. -- Die Tugend kleidet nicht schlecht, aber es
-gehören imposante Figuren hinein.
-
-=Ernst=
-
-Uns schlottert sie noch um die Glieder. -- Ich wäre nicht ruhig
-geworden, wenn ich dich nicht getroffen hätte. -- Ich liebe dich,
-Hänschen, wie ich nie eine Seele geliebt habe.
-
-=Hänschen=
-
-Laß uns nicht traurig sein! -- Wenn wir in dreißig Jahren zurückdenken,
-spotten wir ja vielleicht! -- Und jetzt ist alles so schön. Die Berge
-glühen; die Trauben hängen uns in den Mund und der Abendwind streicht
-an den Felsen hin wie ein spielendes Schmeichelkätzchen....
-
-
-Siebente Szene
-
-_Helle Novembernacht_. An Busch und Bäumen raschelt das dürre Laub.
-Zerrissene Wolken jagen unter dem Mond hin. -- _Melchior_ klettert über
-die _Kirchhofmauer_.
-
-=Melchior=
-
-(auf der Innenseite herabspringend)
-
-Hierher folgt mir die Meute nicht. -- Derweil sie Bordelle absuchen,
-kann ich aufatmen und mir sagen, wie weit ich bin....
-
-Der Rock in Fetzen, die Taschen leer -- vor dem Harmlosesten bin ich
-nicht sicher. -- Tagsüber muß ich im Walde weiter zu kommen suchen ...
-
-Ein Kreuz habe ich niedergestampft. -- Die Blümchen wären heut’ noch
-erfroren! -- Ringsum ist die Erde kahl....
-
-Im Totenreich! --
-
-Aus der Dachluke zu klettern war so schwer nicht wie dieser Weg! --
-Darauf nur war ich nicht gefaßt gewesen....
-
-Ich hänge über dem Abgrund -- alles versunken, verschwunden -- O wär’
-ich dort geblieben!
-
-Warum sie um meinetwillen! -- Warum nicht der Verschuldete! --
-Unfaßbare Vorsicht! -- Ich hätte Steine geklopft und gehungert ...!
-
-Was hält mich noch aufrecht? -- Verbrechen folgt auf Verbrechen.
-Ich bin dem Morast überantwortet. Nicht so viel Kraft mehr, um
-abzuschließen ...
-
-Ich war nicht schlecht! -- Ich war nicht schlecht! -- Ich war nicht
-schlecht ...
-
--- So neiderfüllt ist noch kein Sterblicher über Gräber gewandelt.
--- Pah -- ich brächte ja den Mut nicht auf! -- O, wenn mich Wahnsinn
-umfinge -- in dieser Nacht noch!
-
-Ich muß drüben unter den Letzten suchen! -- Der Wind pfeift auf
-jedem Stein aus einer anderen Tonart -- eine beklemmende Symphonie!
--- Die morschen Kränze reißen entzwei und baumeln an ihren langen
-Fäden stückweise um die Marmorkreuze -- ein Wald von Vogelscheuchen!
--- Vogelscheuchen auf allen Gräbern, eine greulicher als die andere
--- haushohe, vor denen die Teufel Reißaus nehmen. -- Die goldenen
-Lettern blinken so kalt.... Die Trauerweide ächzt auf und fährt mit
-Riesenfingern über die Inschrift....
-
--- Ein betendes Engelskind -- Eine Tafel --
-
-Eine Wolke wirft ihren Schatten herab. -- Wie das hastet und heult! --
-Wie ein Heereszug jagt es im Osten empor. -- Kein Stern am Himmel --
-
-Immergrün um das Gärtlein? -- Immergrün? -- -- Mädchen ...
-
-[Illustration:
- Hier ruht in Gott
-
- Wendla Bergmann,
-
- geboren am 5. Mai 1878,
- gestorben an der Bleichsucht den
- 27. Oktober 1892.
-
- Selig sind, die reinen Herzens sind ...
-]
-
-Und ich bin ihr Mörder. -- Ich bin ihr Mörder! -- Mir bleibt die
-Verzweiflung. -- Ich darf hier nicht weinen. -- Fort von hier! -- Fort
---
-
-=Moritz Stiefel=
-
-(seinen Kopf unter dem Arm, stapft über die Gräber her)
-
-Einen Augenblick, Melchior! Die Gelegenheit wiederholt sich so bald
-nicht. Du ahnst nicht, was mit Ort und Stunde zusammenhängt....
-
-=Melchior=
-
-Wo kommst du her?!
-
-=Moritz=
-
-Von drüben -- von der Mauer her. Du hast mein Kreuz umgeworfen. Ich
-liege an der Mauer. -- Gib mir die Hand, Melchior....
-
-=Melchior=
-
-Du bist _nicht_ Moritz Stiefel!
-
-=Moritz=
-
-Gib mir die Hand. Ich bin überzeugt, du wirst mir Dank wissen.
-So leicht wird’s dir nicht mehr! Es ist ein seltsam glückliches
-Zusammentreffen. -- Ich bin extra heraufgekommen....
-
-=Melchior=
-
-Schläfst du denn nicht?
-
-=Moritz=
-
-Nicht was ihr Schlafen nennt. -- Wir sitzen auf Kirchtürmen, auf hohen
-Dachgiebeln -- wo immer wir wollen....
-
-=Melchior=
-
-Ruhelos?
-
-=Moritz=
-
-Vergnügungshalber. -- Wir streifen um Maibäume, um einsame
-Waldkapellen. Über Volksversammlungen schweben wir hin, über
-Unglücksstätten, Gärten, Festplätze. -- In den Wohnhäusern kauern wir
-im Kamin und hinter den Bettvorhängen. -- Gib mir die Hand. -- Wir
-verkehren nicht untereinander, aber wir sehen und hören alles, was in
-der Welt vor sich geht. Wir wissen, daß alles Dummheit ist, was die
-Menschen tun und erstreben, und lachen darüber.
-
-=Melchior=
-
-Was hilft das?
-
-=Moritz=
-
-Was braucht es zu helfen? -- Wir sind für nichts mehr erreichbar, nicht
-für Gutes noch Schlechtes. Wir stehen hoch, hoch über dem Irdischen --
-jeder für sich allein. Wir verkehren nicht miteinander, weil uns das zu
-langweilig ist. Keiner von uns hegt noch etwas, das ihm abhanden kommen
-könnte. Über Jammer oder Jubel sind wir gleich unermeßlich erhaben. Wir
-sind mit uns zufrieden und das ist alles! -- Die Lebenden verachten wir
-unsagbar, kaum daß wir sie bemitleiden. Sie erheitern uns mit ihrem
-Getue, weil sie als Lebende tatsächlich nicht zu bemitleiden sind. Wir
-lächeln bei ihren Tragödien -- jeder für sich -- und stellen unsere
-Betrachtungen an. -- Gib mir die Hand! Wenn du mir die Hand gibst,
-fällst du um vor Lachen über dem Empfinden, mit dem du mir die Hand
-gibst....
-
-=Melchior=
-
-Ekelt dich das nicht an?
-
-=Moritz=
-
-Dazu stehen wir zu hoch. Wir lächeln! -- An meinem Begräbnis war ich
-unter den Leidtragenden. Ich habe mich recht gut unterhalten. Das
-ist Erhabenheit, Melchior! Ich habe geheult wie keiner, und schlich
-zur Mauer, um mir vor Lachen den Bauch zu halten. Unsere unnahbare
-Erhabenheit ist tatsächlich der einzige Gesichtspunkt, unter dem der
-Quark sich verdauen läßt.... Auch über mich will man gelacht haben, eh’
-ich mich aufschwang!
-
-=Melchior=
-
--- Mich lüstet’s nicht, über mich zu lachen.
-
-=Moritz=
-
-... Die Lebenden sind als solche wahrhaftig nicht zu bemitleiden!
--- Ich gestehe, ich hätte es auch nie gedacht. Und jetzt ist es mir
-unfaßbar, wie man so naiv sein kann. Jetzt durchschaue ich den Trug so
-klar, daß auch nicht ein Wölkchen bleibt. -- Wie magst du nur zaudern,
-Melchior! Gib mir die Hand! Im Halsumdrehen stehst du himmelhoch über
-dir. -- Dein Leben ist Unterlassungssünde....
-
-=Melchior=
-
--- Könnt ihr vergessen?
-
-=Moritz=
-
-Wir können alles. Gib mir die Hand! Wir können die Jugend bedauern, wie
-sie ihre Bangigkeit für Idealismus hält, und das Alter, wie ihm vor
-stoischer Überlegenheit das Herz brechen will. Wir sehen den Kaiser
-vor Gassenhauern und den Lazzaroni vor der jüngsten Posaune beben.
-Wir ignorieren die Maske des Komödianten und sehen den Dichter im
-Dunkeln die Maske vornehmen. Wir erblicken den Zufriedenen in seiner
-Bettelhaftigkeit, im Mühseligen und Beladenen den Kapitalisten. Wir
-beobachten Verliebte und sehen sie voreinander erröten, ahnend, daß sie
-betrogene Betrüger sind. Eltern sehen wir Kinder in die Welt setzen,
-um ihnen zurufen zu können: Wie glücklich ihr seid, solche Eltern zu
-haben! -- und sehen die Kinder hingehn und desgleichen tun. Wir können
-die Unschuld in ihren einsamen Liebesnöten, die Fünfgroschendirne
-über der Lektüre Schillers belauschen.... Gott und den Teufel sehen
-wir sich voreinander blamieren und hegen in uns das durch nichts zu
-erschütternde Bewußtsein, daß beide betrunken sind.... Eine Ruhe, eine
-Zufriedenheit. Melchior --! Du brauchst mir nur den kleinen Finger zu
-reichen. -- Schneeweiß kannst du werden, eh’ sich dir der Augenblick
-wieder so günstig zeigt!
-
-=Melchior=
-
--- Wenn ich einschlage, Moritz, so geschieht es aus Selbstverachtung.
--- Ich sehe mich geächtet. Was mir Mut verlieh, liegt im Grabe.
-Edler Regungen vermag ich mich nicht mehr für würdig zu halten --
-und erblicke nichts, nichts, das sich mir auf meinem Niedergang noch
-entgegenstellen sollte. -- Ich bin mir die verabscheuungswürdigste
-Kreatur des Weltalls....
-
-=Moritz=
-
-Was zauderst du ...?
-
-(Ein vermummter Herr tritt auf)
-
-=Der vermummte Herr= (zu Melchior)
-
-Du bebst ja vor Hunger. Du bist gar nicht befähigt, zu urteilen. -- (Zu
-Moritz) Gehen Sie.
-
-=Melchior=
-
-Wer sind Sie?
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Das wird sich weisen. -- (Zu Moritz) Verschwinden Sie! -- Was haben Sie
-hier zu tun! -- Warum haben Sie denn den Kopf nicht auf?
-
-=Moritz=
-
-Ich habe mich erschossen.
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Dann bleiben Sie doch, wo Sie hingehören. Dann sind Sie ja vorbei!
-Belästigen Sie uns hier nicht mit Ihrem Grabgestank. Unbegreiflich
--- sehen Sie doch nur Ihre Finger an. Pfui Teufel noch mal! Das
-zerbröckelt schon.
-
-=Moritz=
-
-Schicken Sie mich bitte nicht fort....
-
-=Melchior=
-
-Wer sind Sie, mein Herr??
-
-=Moritz=
-
-Schicken Sie mich nicht fort! Ich bitte Sie. Lassen Sie mich hier noch
-ein Weilchen teilnehmen; ich will Ihnen in nichts entgegensein. -- --
-Es ist unten so schaurig.
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Warum prahlen Sie denn dann mit _Erhabenheit_?! -- Sie wissen doch,
-daß das Humbug ist -- saure Trauben! Warum _lügen_ Sie geflissentlich,
-Sie -- Hirngespinst! -- -- Wenn Ihnen eine so schätzenswerte Wohltat
-damit geschieht, so bleiben Sie meinetwegen. Aber hüten Sie sich
-vor Windbeuteleien, lieber Freund -- und lassen Sie mir bitte Ihre
-Leichenhand aus dem Spiel!
-
-=Melchior=
-
-Sagen Sie mir endlich, wer Sie sind, oder nicht?!
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Nein. -- Ich mache dir den Vorschlag, dich mir anzuvertrauen. Ich würde
-fürs erste für dein Fortkommen sorgen.
-
-=Melchior=
-
-Sie sind -- mein Vater?!
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Würdest du deinen Herrn Vater nicht an der Stimme erkennen?
-
-=Melchior=
-
-Nein.
-
-=Der vermummte Herr=
-
--- Dein Herr Vater sucht Trost zur Stunde in den kräftigen Armen
-deiner Mutter. -- Ich erschließe dir die Welt. Deine momentane
-Fassungslosigkeit entspringt deiner miserablen Lage. Mit einem warmen
-Abendessen im Leib spottest du ihrer.
-
-=Melchior= (für sich)
-
-Es kann nur _einer_ der Teufel sein! -- (laut) Nach dem, was ich
-verschuldet, kann mir ein warmes Abendessen meine Ruhe nicht
-wiedergeben!
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Es kommt auf das Abendessen an! -- So viel kann ich dir sagen, daß die
-Kleine vorzüglich geboren hätte. Sie war musterhaft gebaut. Sie ist
-lediglich den Abortivmitteln der Mutter Schmidtin erlegen. -- -- Ich
-führe dich unter Menschen. Ich gebe dir Gelegenheit, deinen Horizont in
-der fabelhaftesten Weise zu erweitern. Ich mache dich ausnahmslos mit
-allem bekannt, was die Welt Interessantes bietet.
-
-=Melchior=
-
-Wer sind Sie? Wer sind Sie? -- Ich kann mich einem Menschen nicht
-anvertrauen, den ich nicht kenne.
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Du lernst mich nicht kennen, ohne dich mir anzuvertrauen.
-
-=Melchior=
-
-Glauben Sie?
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Tatsache! -- Übrigens bleibt dir ja keine Wahl.
-
-=Melchior=
-
-Ich kann jeden Moment meinem Freunde hier die Hand reichen.
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Dein Freund ist ein Scharlatan. Es lächelt keiner, der noch einen
-Pfennig in bar besitzt. Der erhabene Humorist ist das erbärmlichste,
-bedauernswerteste Geschöpf der Schöpfung!
-
-=Melchior=
-
-Sei der Humorist, was er sei; Sie sagen mir, wer Sie sind, oder ich
-reiche dem Humoristen die Hand!
-
-=Der vermummte Herr=
-
--- Nun?!
-
-=Moritz=
-
-Er hat recht, Melchior. Ich habe bramarbasiert. Laß dich von ihm
-traktieren und nütz’ ihn aus. Mag er noch so vermummt sein -- er ist es
-wenigstens!
-
-=Melchior=
-
-Glauben Sie an Gott?
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Je nach Umständen.
-
-=Melchior=
-
-Wollen Sie mir sagen, wer das Pulver erfunden hat?
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Berthold Schwarz -- alias Konstantin Anklitzen -- um 1330
-Franziskanermönch zu Freiburg im Breisgau.
-
-=Moritz=
-
-Was gäbe ich darum, wenn er es hätte bleiben lassen!
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Sie würden sich eben erhängt haben!
-
-=Melchior=
-
-Wie denken Sie über Moral?
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Kerl -- bin ich dein Schulknabe?!
-
-=Melchior=
-
-Weiß ich, was Sie sind!!
-
-=Moritz=
-
-Streitet nicht! -- Bitte, streitet nicht. Was kommt dabei heraus! --
-Wozu sitzen wir, zwei Lebendige und ein Toter, nachts um zwei Uhr hier
-auf dem Kirchhof beisammen, wenn wir streiten wollen wie Saufbrüder!
--- Es soll mir ein Vergnügen sein, der Verhandlung mit beiwohnen zu
-dürfen. -- Wenn ihr streiten wollt, nehme ich meinen Kopf unter den Arm
-und gehe.
-
-=Melchior=
-
-Du bist immer noch derselbe Angstmeier!
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Das Gespenst hat nicht Unrecht. Man soll seine Würde nicht außer
-Acht lassen. -- Unter Moral verstehe ich das reelle Produkt zweier
-imaginärer Größen. Die imaginären Größen sind _Sollen_ und _Wollen_.
-Das Produkt heißt Moral und läßt sich in seiner Realität nicht leugnen.
-
-=Moritz=
-
-Hätten Sie mir das doch vorher gesagt! -- Meine Moral hat mich in den
-Tod gejagt. Um meiner lieben Eltern willen griff ich zum Mordgewehr.
-„Ehre Vater und Mutter, auf daß du lange lebest.“ An mir hat sich die
-Schrift phänomenal blamiert.
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Geben Sie sich keinen Illusionen hin, lieber Freund! Ihre lieben Eltern
-wären so wenig daran gestorben wie Sie. Rigoros beurteilt würden sie ja
-lediglich aus gesundheitlichem Bedürfnis getobt und gewettert haben.
-
-=Melchior=
-
-Das mag soweit ganz richtig sein. -- Ich kann Ihnen aber mit
-Bestimmtheit sagen, mein Herr, daß, wenn ich Moritz vorhin ohne
-weiteres die Hand gereicht hätte, einzig und allein meine Moral die
-Schuld trüge.
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Dafür bist du eben nicht Moritz!
-
-=Moritz=
-
-Ich glaube doch nicht, daß der Unterschied so wesentlich ist -- zum
-mindesten nicht so zwingend, daß Sie nicht auch mir zufällig hätten
-begegnen dürfen, verehrter _Unbekannter_, als ich damals, das Pistol in
-der Tasche, durch die Erlenpflanzungen trabte.
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Erinnern Sie sich meiner denn nicht? Sie standen doch wahrlich auch
-im letzten Augenblick noch zwischen _Tod_ und _Leben_. -- Übrigens
-ist hier meines Erachtens doch wohl nicht ganz der Ort, eine so
-tiefgreifende Debatte in die Länge zu ziehen.
-
-=Moritz=
-
-Gewiß, es wird kühl, meine Herren! -- Man hat mir zwar meinen
-Sonntagsanzug angezogen, aber ich trage weder Hemd noch Unterhosen.
-
-=Melchior=
-
-Leb wohl, lieber Moritz. Wo dieser Mensch mich hinführt, weiß ich
-nicht. Aber er ist ein Mensch ...
-
-=Moritz=
-
-Laß mich’s nicht entgelten, Melchior, daß ich dich umzubringen suchte!
-Es war alte Anhänglichkeit. -- Zeitlebens wollte ich nur klagen und
-jammern dürfen, wenn ich dich nun noch einmal hinausbegleiten könnte!
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Schließlich hat Jeder sein Teil -- _Sie_ das beruhigende Bewußtsein,
-_nichts_ zu haben -- _du_ den enervirenden Zweifel an _allem_. -- Leben
-Sie wohl.
-
-=Melchior=
-
-Leb wohl, Moritz! Nimm meinen herzlichen Dank dafür, daß du mir noch
-erschienen. Wie manchen frohen ungetrübten Tag wir nicht miteinander
-verlebt haben in den vierzehn Jahren! Ich verspreche dir, Moritz,
-mag nun werden was will, mag ich in den kommenden Jahren zehnmal ein
-Anderer werden, mag es aufwärts oder abwärts mit mir gehn, dich werde
-ich nie vergessen ...
-
-=Moritz=
-
-Dank, dank, Geliebter.
-
-=Melchior=
-
-... und wenn ich einmal ein alter Mann in grauen Haaren bin, dann
-stehst gerade du mir vielleicht wieder näher als alle Mitlebenden.
-
-=Moritz=
-
-Ich danke dir. -- Glück auf den Weg, meine Herren! -- Lassen Sie sich
-nicht länger aufhalten.
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Komm, Kind! -- (Er legt seinen Arm in denjenigen Melchiors und entfernt
-sich mit ihm über die Gräber hin.)
-
-=Moritz= (allein)
-
--- Da sitze ich nun mit meinem Kopf im Arm. -- -- Der Mond verhüllt
-sein Gesicht, entschleiert sich wieder und sieht um kein Haar
-gescheiter aus. -- -- So kehre ich denn zu meinem Plätzchen zurück,
-richte mein Kreuz auf, das mir der Tollkopf so rücksichtslos
-niedergestampft, und wenn alles in Ordnung, leg’ ich mich wieder auf
-den Rücken, wärme mich an der Verwesung und lächle ...
-
-
-
-
-Albert Langen Verlag für Litteratur u. Kunst München
-
-
- =Frank Wedekind=
-
- =Der Liebestrank=
-
- Schwank in drei Aufzügen
-
- Geheftet 2 Mark
-
-=Die Nation:=
-
-Der Autor gehört zu den außer der Reihe stehenden, lebhaften und
-kraftgenialischen Geistern, deren unsere Literatur manche hat, bei
-keinem kunstverständigen Beurteiler wird er darum als Poseur, bei
-niemanden seine Art als gemacht, manieriert und eingelernt erscheinen.
-Vielmehr ist er voll einer absonderlichen, wunderlichen Eigenart, eine
-_Natur_, wenn man dies Wort auch einmal auf einen Sprung, eine Laune,
-eine Bizarrerie anwenden darf. Für die Kunst ist er voll Bedeutung,
-Anregung und Reiz ...
-
-
- =Frank Wedekind=
-
- =Die junge Welt=
-
- Komödie in drei Aufzügen
-
- Geheftet 2 Mark
-
-=Die Gesellschaft:=
-
-„_Die junge Welt_“ ist das bühnengerechteste von Wedekinds Dramen.
-Junge Mädchen geben sich in der Pension das Versprechen des
-Cölibats; natürlich hält es keine. Die Komödie erzählt das mit einem
-fast liebenswürdigen Humor und mit all der Menschenkenntnis und
-treffsicheren Charakterkunst dieses eigenartigsten unter den Dichtern
-von heute. Erzählen läßt sich das nicht, auch nicht beschreiben. Aber
-es ist sehr lustig. Es ist ein wildes Durcheinander von übermütigen
-Einfällen, tollen Gliederverrenkungen in der Charakteristik,
-Karikaturen, die wie Porträts aussehen -- kurz, ein Lachkabinett, aber
-ganz neuer Art.
-
-
- =Frank Wedekind=
-
- =Marquis von Keith=
-
- =(Münchener Szenen)=
-
- Schauspiel in fünf Aufzügen
-
- Geheftet 2 Mark 50 Pf.
-
- Elegant gebunden 3 Mark 50 Pf.
-
-=Die Nation:=
-
-Wedekind hat die irdische Unbekümmertheit, das Freisein von zeitlicher
-Satzung. Er steht außerhalb der Gesellschaft, fast außerhalb der Welt.
-Ich sagte das hier vor einem Jahr und muß es verstärken. Er ist mit
-seinen Lebensinhalten einer der tiefsten Humoristen, die sich heut
-irgendwo betätigen.
-
-
- =Frank Wedekind=
-
- =Der Kammersänger=
-
- Drei Szenen
-
- =Fünftes Tausend=
-
- Geheftet 1 Mark
-
- Elegant gebunden 2 Mark
-
-=Brünner Sonntagszeitung:=
-
-Von groteskem, überlebensgroßem Humor und geißelnder Satire und Ironie
-sind die unter dem Titel „_Der Kammersänger_“ (A. Langen) vereinigten
-Szenen von Frank Wedekind erfüllt. Gut dargestellt müßten diese ohne
-jedwede Komposition aneinander gereihten Szenen von mächtiger Wirkung
-sein. Schon in der Lektüre wirkt das Werk ganz eigentümlich. Man
-empfindet ähnliches wie beim Betrachten der Zeichnungen des dämonischen
-Th. Th. Heine.
-
-
- =Frank Wedekind=
-
- =Feuerwerk=
-
- Erzählungen
-
- =Drittes Tausend=
-
- Preis geheftet 3 Mark
-
- Elegant gebunden 4 Mark
-
-=Pfälzische Presse:=
-
-... Dabei ist Wedekind im Unterschied von vielen jener Dekadenten
-frisch, nicht ohne Humor, und von strotzender Gesundheit in der Art
-sich zu geben. Meisterstücke in ihrer Art sind einige der kleinen
-Novellen, wie „Der Brand von Egliswyl“, „Rabbi Esra“, „Der greise
-Freier“ u. a.
-
-
- =Frank Wedekind=
-
- =So ist das Leben=
-
- Schauspiel in fünf Akten
-
- Preis geheftet 2 Mark
-
- Elegant gebunden 3 Mark
-
-„_So ist das Leben_“ behandelt die Schicksale eines entthronten Königs,
-der in die unangenehme Lage kommt, sich vor einem bürgerlichen Gericht
-wegen _Majestätsbeleidigung_ verantworten zu müssen. =Die aktuelle
-Frage der Majestätsbeleidigungsprozesse= erfährt auf diese Weise in dem
-Drama eine _verblüffend vielseitige Beleuchtung_.
-
- Druck von Hesse & Becker in Leipzig
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Frühlings Erwachen, by Frank Wedekind
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FRÜHLINGS ERWACHEN ***
-
-***** This file should be named 45091-0.txt or 45091-0.zip *****
-This and all associated files of various formats will be found in:
- http://www.gutenberg.org/4/5/0/9/45091/
-
-Produced by Peter Becker, the University of Toronto,
-Marc-Andre Seekamp and the Online Distributed Proofreading
-Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from
-images generously made available by The Internet
-Archive/Canadian Libraries)
-
-
-Updated editions will replace the previous one--the old editions
-will be renamed.
-
-Creating the works from public domain print editions means that no
-one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
-(and you!) can copy and distribute it in the United States without
-permission and without paying copyright royalties. Special rules,
-set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to
-copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to
-protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project
-Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
-charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you
-do not charge anything for copies of this eBook, complying with the
-rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose
-such as creation of derivative works, reports, performances and
-research. They may be modified and printed and given away--you may do
-practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is
-subject to the trademark license, especially commercial
-redistribution.
-
-
-
-*** START: FULL LICENSE ***
-
-THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
-PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK
-
-To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free
-distribution of electronic works, by using or distributing this work
-(or any other work associated in any way with the phrase "Project
-Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project
-Gutenberg-tm License available with this file or online at
- www.gutenberg.org/license.
-
-
-Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm
-electronic works
-
-1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
-electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
-and accept all the terms of this license and intellectual property
-(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
-the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy
-all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession.
-If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project
-Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the
-terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or
-entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8.
-
-1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be
-used on or associated in any way with an electronic work by people who
-agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
-things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
-even without complying with the full terms of this agreement. See
-paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
-Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
-and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
-works. See paragraph 1.E below.
-
-1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
-or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
-Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
-collection are in the public domain in the United States. If an
-individual work is in the public domain in the United States and you are
-located in the United States, we do not claim a right to prevent you from
-copying, distributing, performing, displaying or creating derivative
-works based on the work as long as all references to Project Gutenberg
-are removed. Of course, we hope that you will support the Project
-Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by
-freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of
-this agreement for keeping the Project Gutenberg-tm name associated with
-the work. You can easily comply with the terms of this agreement by
-keeping this work in the same format with its attached full Project
-Gutenberg-tm License when you share it without charge with others.
-
-1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
-what you can do with this work. Copyright laws in most countries are in
-a constant state of change. If you are outside the United States, check
-the laws of your country in addition to the terms of this agreement
-before downloading, copying, displaying, performing, distributing or
-creating derivative works based on this work or any other Project
-Gutenberg-tm work. The Foundation makes no representations concerning
-the copyright status of any work in any country outside the United
-States.
-
-1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:
-
-1.E.1. The following sentence, with active links to, or other immediate
-access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear prominently
-whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work on which the
-phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the phrase "Project
-Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed,
-copied or distributed:
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
-almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
-re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
-with this eBook or online at www.gutenberg.org
-
-1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is derived
-from the public domain (does not contain a notice indicating that it is
-posted with permission of the copyright holder), the work can be copied
-and distributed to anyone in the United States without paying any fees
-or charges. If you are redistributing or providing access to a work
-with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the
-work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1
-through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the
-Project Gutenberg-tm trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or
-1.E.9.
-
-1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
-with the permission of the copyright holder, your use and distribution
-must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional
-terms imposed by the copyright holder. Additional terms will be linked
-to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the
-permission of the copyright holder found at the beginning of this work.
-
-1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
-License terms from this work, or any files containing a part of this
-work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.
-
-1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
-electronic work, or any part of this electronic work, without
-prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
-active links or immediate access to the full terms of the Project
-Gutenberg-tm License.
-
-1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
-compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any
-word processing or hypertext form. However, if you provide access to or
-distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format other than
-"Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official version
-posted on the official Project Gutenberg-tm web site (www.gutenberg.org),
-you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a
-copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon
-request, of the work in its original "Plain Vanilla ASCII" or other
-form. Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm
-License as specified in paragraph 1.E.1.
-
-1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
-performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
-unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.
-
-1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
-access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works provided
-that
-
-- You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
- the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
- you already use to calculate your applicable taxes. The fee is
- owed to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he
- has agreed to donate royalties under this paragraph to the
- Project Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments
- must be paid within 60 days following each date on which you
- prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax
- returns. Royalty payments should be clearly marked as such and
- sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the
- address specified in Section 4, "Information about donations to
- the Project Gutenberg Literary Archive Foundation."
-
-- You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
- you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
- does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
- License. You must require such a user to return or
- destroy all copies of the works possessed in a physical medium
- and discontinue all use of and all access to other copies of
- Project Gutenberg-tm works.
-
-- You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of any
- money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
- electronic work is discovered and reported to you within 90 days
- of receipt of the work.
-
-- You comply with all other terms of this agreement for free
- distribution of Project Gutenberg-tm works.
-
-1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm
-electronic work or group of works on different terms than are set
-forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
-both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
-Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark. Contact the
-Foundation as set forth in Section 3 below.
-
-1.F.
-
-1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
-effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
-public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
-collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic
-works, and the medium on which they may be stored, may contain
-"Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or
-corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual
-property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a
-computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by
-your equipment.
-
-1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
-of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
-Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
-Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
-Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
-liability to you for damages, costs and expenses, including legal
-fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
-LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
-PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
-TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
-LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
-INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
-DAMAGE.
-
-1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
-defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
-receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
-written explanation to the person you received the work from. If you
-received the work on a physical medium, you must return the medium with
-your written explanation. The person or entity that provided you with
-the defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a
-refund. If you received the work electronically, the person or entity
-providing it to you may choose to give you a second opportunity to
-receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy
-is also defective, you may demand a refund in writing without further
-opportunities to fix the problem.
-
-1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
-in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO OTHER
-WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
-WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
-
-1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
-warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
-If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
-law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
-interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
-the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any
-provision of this agreement shall not void the remaining provisions.
-
-1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
-trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
-providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
-with this agreement, and any volunteers associated with the production,
-promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
-harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
-that arise directly or indirectly from any of the following which you do
-or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
-work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
-Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
-
-
-Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
-
-Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
-electronic works in formats readable by the widest variety of computers
-including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
-because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
-people in all walks of life.
-
-Volunteers and financial support to provide volunteers with the
-assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
-goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
-remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
-Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
-and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
-To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
-and the Foundation information page at www.gutenberg.org
-
-
-Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
-Foundation
-
-The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
-501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
-state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
-Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
-number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg
-Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
-permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
-
-The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
-Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
-throughout numerous locations. Its business office is located at 809
-North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email
-contact links and up to date contact information can be found at the
-Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact
-
-For additional contact information:
- Dr. Gregory B. Newby
- Chief Executive and Director
- gbnewby@pglaf.org
-
-Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
-Literary Archive Foundation
-
-Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
-spread public support and donations to carry out its mission of
-increasing the number of public domain and licensed works that can be
-freely distributed in machine readable form accessible by the widest
-array of equipment including outdated equipment. Many small donations
-($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
-status with the IRS.
-
-The Foundation is committed to complying with the laws regulating
-charities and charitable donations in all 50 states of the United
-States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
-considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
-with these requirements. We do not solicit donations in locations
-where we have not received written confirmation of compliance. To
-SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
-particular state visit www.gutenberg.org/donate
-
-While we cannot and do not solicit contributions from states where we
-have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
-against accepting unsolicited donations from donors in such states who
-approach us with offers to donate.
-
-International donations are gratefully accepted, but we cannot make
-any statements concerning tax treatment of donations received from
-outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
-
-Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
-methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
-ways including checks, online payments and credit card donations.
-To donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
-
-
-Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
-works.
-
-Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
-concept of a library of electronic works that could be freely shared
-with anyone. For forty years, he produced and distributed Project
-Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
-
-Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
-editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
-unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
-keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
-
-Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
-
- www.gutenberg.org
-
-This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
-including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
-subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
-
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 45091 ***
+
+Anmerkungen zur Transkription: Im Original gesperrt gedruckter Text
+wurde mit _ markiert. Im Original in Antiqua gedruckter Text wurde mit
+~ markiert. Im Original fett gedruckter Text wurde mit = markiert.
+
+
+
+
+ Frühlings Erwachen
+
+
+
+
+ Übersetzungs- und Aufführungsrecht vorbehalten. Nachdruck
+ verboten
+
+ Den Bühnen und Vereinen gegenüber Manuskript
+
+ Das Aufführungsrecht ist ausschließlich zu erwerben
+ durch _Albert Langen_, Verlag und Bühnenvertrieb,
+ München
+
+
+
+
+ Frank Wedekind
+
+ Frühlings Erwachen
+
+ Eine Kindertragödie
+
+ Elfte bis fünfzehnte Auflage
+
+ [Illustration]
+
+ Albert Langen
+ Verlag für Litteratur und Kunst
+ München 1907
+
+
+
+
+Von _Frank Wedekind_ erschienen im Verlage von Albert Langen:
+
+
+ _Erdgeist_ Tragödie 3. Auflage
+ _Die Fürstin Russalka_ Novellen -- Gedichte -- Theater Vergriffen
+ _Der Kammersänger_ Drei Szenen 5. Auflage
+ _Der Liebestrank_ Schwank
+ _Die junge Welt_ Komödie
+ _Marquis von Keith_ Schauspiel
+ _So ist das Leben_ Schauspiel
+ _Frühlings Erwachen_
+ Eine Kindertragödie 15. Auflage
+ _Mine-Haha_ oder über die körperliche Erziehung
+ der jungen Mädchen 5. Tausend
+ _Die vier Jahreszeiten_ Gedichte 2. Tausend
+ _Feuerwerk_ Erzählungen 3. Tausend
+ _Totentanz_ Drei Szenen 4. Tausend
+
+
+
+
+ Dem vermummten Herrn
+ der Verfasser
+
+
+
+
+Erster Akt
+
+
+Erste Szene
+
+
+Wohnzimmer
+
+=Wendla=
+
+Warum hast du mir das Kleid so lang gemacht, Mutter?
+
+=Frau Bergmann=
+
+Du wirst vierzehn Jahr heute!
+
+=Wendla=
+
+Hätt’ ich gewußt, daß du mir das Kleid so lang machen werdest, ich wäre
+lieber nicht vierzehn geworden.
+
+=Frau Bergmann=
+
+Das Kleid ist nicht zu lang, Wendla. Was willst du denn! Kann ich
+dafür, daß mein Kind mit jedem Frühjahr wieder zwei Zoll größer ist.
+Du darfst doch als ausgewachsenes Mädchen nicht in Prinzeßkleidchen
+einhergehen.
+
+=Wendla=
+
+Jedenfalls steht mir mein Prinzeßkleidchen besser als diese
+Nachtschlumpe. -- Laß mich’s noch einmal tragen, Mutter! Nur noch den
+Sommer lang. Ob ich nun vierzehn zähle oder fünfzehn, dies Bußgewand
+wird mir immer noch recht sein. -- Heben wir’s auf bis zu meinem
+nächsten Geburtstag; jetzt würd’ ich doch nur die Litze heruntertreten.
+
+=Frau Bergmann=
+
+Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich würde dich ja gerne so
+behalten, Kind, wie du gerade bist. Andere Mädchen sind stakig und
+plump in deinem Alter. Du bist das Gegenteil. -- Wer weiß, wie du sein
+wirst, wenn sich die andern entwickelt haben.
+
+=Wendla=
+
+Wer weiß -- vielleicht werde ich nicht mehr sein.
+
+=Frau Bergmann=
+
+Kind, Kind, wie kommst du auf die Gedanken!
+
+=Wendla=
+
+Nicht, liebe Mutter; nicht traurig sein!
+
+=Frau Bergmann= (sie küssend)
+
+Mein einziges Herzblatt!
+
+=Wendla=
+
+Sie kommen mir so des abends, wenn ich nicht einschlafe. Mir ist gar
+nicht traurig dabei, und ich weiß, daß ich dann um so besser schlafe.
+-- Ist es sündhaft, Mutter, über derlei zu sinnen?
+
+=Frau Bergmann=
+
+Geh’ denn und häng’ das Bußgewand in den Schrank! Zieh’ in Gottes Namen
+dein Prinzeßkleidchen wieder an! -- Ich werde dir gelegentlich eine
+Handbreit Volants unten ansetzen.
+
+=Wendla=
+
+(das Kleid in Schrank hängend)
+
+Nein, da möcht’ ich schon lieber gleich vollends zwanzig sein ...!
+
+=Frau Bergmann=
+
+Wenn du nur nicht zu kalt hast! -- Das Kleidchen war dir ja seinerzeit
+reichlich lang; aber ...
+
+=Wendla=
+
+Jetzt, wo der Sommer kommt? -- O Mutter, in den Kniekehlen bekommt
+man auch als Kind keine Diphtheritis! Wer wird so kleinmütig sein.
+In meinen Jahren friert man noch nicht -- am wenigsten an die Beine.
+Wär’s etwa besser, wenn ich zu heiß hätte, Mutter? -- Dank’ es dem
+lieben Gott, wenn sich dein Herzblatt nicht eines morgens die Ärmel
+wegstutzt und dir so zwischen Licht abends ohne Schuhe und Strümpfe
+entgegentritt! -- Wenn ich mein Bußgewand trage, kleide ich mich
+darunter wie eine Elfenkönigin ... Nicht schelten, Mütterchen! Es
+sieht’s dann ja niemand mehr.
+
+
+Zweite Szene
+
+_Sonntag abend_
+
+=Melchior=
+
+Das ist mir zu langweilig. Ich mache nicht mehr mit.
+
+=Otto=
+
+Dann können wir andern nur auch aufhören! -- Hast du die Arbeiten,
+Melchior?
+
+=Melchior=
+
+Spielt ihr nur weiter!
+
+=Moritz=
+
+Wohin gehst du?
+
+=Melchior=
+
+Spazieren.
+
+=Georg=
+
+Es wird ja dunkel!
+
+=Robert=
+
+Hast du die Arbeiten schon?
+
+=Melchior=
+
+Warum soll ich denn nicht im Dunkeln spazieren gehn?
+
+=Ernst=
+
+Zentralamerika! -- Ludwig der Fünfzehnte! -- Sechzig Verse Homer! --
+Sieben Gleichungen!
+
+=Melchior=
+
+Verdammte Arbeiten!
+
+=Georg=
+
+Wenn nur wenigstens der lateinische Aufsatz nicht auf morgen wäre!
+
+=Moritz=
+
+An nichts kann man denken, ohne daß einem Arbeiten dazwischen kommen!
+
+=Otto=
+
+Ich gehe nach Hause.
+
+=Georg=
+
+Ich auch, Arbeiten machen.
+
+=Ernst=
+
+Ich auch, ich auch.
+
+=Robert=
+
+Gute Nacht, Melchior.
+
+=Melchior=
+
+Schlaft wohl!
+
+(Alle entfernen sich bis auf Moritz und Melchior.)
+
+=Melchior=
+
+Möchte doch wissen, wozu wir eigentlich auf der Welt sind!
+
+=Moritz=
+
+Lieber wollt’ ich ein Droschkengaul sein um der Schule willen! --
+Wozu gehen wir in die Schule? -- Wir gehen in die Schule, damit
+man uns examinieren kann! -- Und wozu examiniert man uns? -- Damit
+wir durchfallen. -- Sieben müssen ja durchfallen, schon weil das
+Klassenzimmer oben nur sechzig faßt. -- Mir ist so eigentümlich seit
+Weihnachten ... hol’ mich der Teufel, wäre Papa nicht, heut’ noch
+schnürt’ ich mein Bündel und ginge nach Altona!
+
+=Melchior=
+
+Reden wir von etwas anderem. --
+
+(Sie gehen spazieren.)
+
+=Moritz=
+
+Siehst du die schwarze Katze dort mit dem emporgereckten Schweif?
+
+=Melchior=
+
+Glaubst du an Vorbedeutungen?
+
+=Moritz=
+
+Ich weiß nicht recht. -- -- Sie kam von drüben her. Es hat nichts zu
+sagen.
+
+=Melchior=
+
+Ich glaube, das ist eine Charybdis, in die jeder stürzt, der sich aus
+der Skylla religiösen Irrwahns emporgerungen. -- -- Laß uns hier unter
+der Buche Platz nehmen. Der Tauwind fegt über die Berge. Jetzt möchte
+ich droben im Wald eine junge Dryade sein, die sich die ganze lange
+Nacht in den höchsten Wipfeln wiegen und schaukeln läßt....
+
+=Moritz=
+
+Knöpf’ dir die Weste auf, Melchior!
+
+=Melchior=
+
+Ha -- wie das einem die Kleider bläht!
+
+=Moritz=
+
+Es wird weiß Gott so stockfinster, daß man die Hand nicht vor den Augen
+sieht. Wo bist du eigentlich? -- -- Glaubst du nicht auch, Melchior,
+daß das Schamgefühl im Menschen nur ein Produkt seiner Erziehung ist?
+
+=Melchior=
+
+Darüber habe ich erst vorgestern noch nachgedacht. Es scheint mir
+immerhin tief eingewurzelt in der menschlichen Natur. Denke dir, du
+solltest dich vollständig entkleiden vor deinem besten Freund. Du wirst
+es nicht tun, wenn er es nicht zugleich auch tut. -- Es ist eben auch
+mehr oder weniger Modesache.
+
+=Moritz=
+
+Ich habe mir schon gedacht, wenn ich Kinder habe, Knaben und Mädchen,
+so lasse ich sie von früh auf im nämlichen Gemach, wenn möglich auf ein
+und demselben Lager, zusammenschlafen, lasse sie morgens und abends
+beim An- und Auskleiden einander behilflich sein und in der heißen
+Jahreszeit, die Knaben sowohl wie die Mädchen, tagsüber nichts als
+eine kurze, mit einem Lederriemen gegürtete Tunika aus weißem Wollstoff
+tragen. -- Mir ist, sie müßten, wenn sie so heranwachsen, später
+ruhiger sein, als wir es in der Regel sind.
+
+=Melchior=
+
+Das glaube ich entschieden, Moritz! -- Die Frage ist nur, wenn die
+Mädchen Kinder bekommen, was dann?
+
+=Moritz=
+
+Wie so Kinder bekommen?
+
+=Melchior=
+
+Ich glaube in dieser Hinsicht nämlich an einen gewissen Instinkt. Ich
+glaube, wenn man einen Kater zum Beispiel mit einer Katze von Jugend
+auf zusammensperrt und beide von jedem Verkehr mit der Außenwelt
+fernhält, d. h. sie ganz nur ihren eigenen Trieben überläßt -- daß die
+Katze früher oder später doch einmal trächtig wird, obgleich sie sowohl
+wie der Kater niemand hatten, dessen Beispiel ihnen hätte die Augen
+öffnen können.
+
+=Moritz=
+
+Bei Tieren muß sich das ja schließlich von selbst ergeben.
+
+=Melchior=
+
+Bei Menschen glaube ich erst recht! Ich bitte dich, Moritz, wenn
+deine Knaben mit den Mädchen auf ein und demselben Lager schlafen und
+es kommen ihnen nun unversehens die ersten männlichen Regungen -- ich
+möchte mit jedermann eine Wette eingehen....
+
+=Moritz=
+
+Darin magst du ja recht haben. -- Aber immerhin ...
+
+=Melchior=
+
+Und bei deinen Mädchen wäre es im entsprechenden Alter vollkommen das
+nämliche! Nicht daß das Mädchen gerade ... man kann das ja freilich so
+genau nicht beurteilen ... jedenfalls wäre vorauszusetzen ...... und
+die Neugierde würde das Ihrige zu tun auch nicht verabsäumen!
+
+=Moritz=
+
+Eine Frage beiläufig --
+
+=Melchior=
+
+Nun?
+
+=Moritz=
+
+Aber du antwortest?
+
+=Melchior=
+
+Natürlich!
+
+=Moritz=
+
+Wahr?!
+
+=Melchior=
+
+Meine Hand darauf. -- -- Nun, Moritz?
+
+=Moritz=
+
+Hast du den Aufsatz schon??
+
+=Melchior=
+
+So sprich doch frisch von der Leber weg! -- Hier hört und sieht uns ja
+niemand.
+
+=Moritz=
+
+Selbstverständlich müßten meine Kinder nämlich tagsüber arbeiten, in
+Hof und Garten, oder sich durch Spiele zerstreuen, die mit körperlicher
+Anstrengung verbunden sind. Sie müßten reiten, turnen, klettern und
+vor allen Dingen nachts nicht so weich schlafen wie wir. Wir sind
+schrecklich verweichlicht. -- Ich glaube, man träumt gar nicht, wenn
+man hart schläft.
+
+=Melchior=
+
+Ich schlafe von jetzt bis nach der Weinlese überhaupt nur in meiner
+Hängematte. Ich habe mein Bett hinter den Ofen gestellt. Es ist zum
+Zusammenklappen. -- Vergangenen Winter träumte mir einmal, ich hätte
+unsern Lolo so lange gepeitscht, bis er kein Glied mehr rührte. Das war
+das Grauenhafteste, was ich je geträumt habe. -- Was siehst du mich so
+sonderbar an?
+
+=Moritz=
+
+Hast du sie schon empfunden?
+
+=Melchior=
+
+Was?
+
+=Moritz=
+
+Wie sagtest du?
+
+=Melchior=
+
+Männliche Regungen?
+
+=Moritz=
+
+M--hm.
+
+=Melchior=
+
+-- Allerdings!
+
+=Moritz=
+
+Ich auch. -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
+
+=Melchior=
+
+Ich kenne das nämlich schon lange! -- schon bald ein Jahr.
+
+=Moritz=
+
+Ich war wie vom Blitz gerührt.
+
+=Melchior=
+
+Du hattest geträumt?
+
+=Moritz=
+
+Aber nur ganz kurz ....... von Beinen im himmelblauem Trikot, die über
+das Katheder steigen -- um aufrichtig zu sein, ich dachte, sie wollten
+hinüber. -- Ich habe sie nur flüchtig gesehen.
+
+=Melchior=
+
+Georg Zirschnitz träumte von seiner _Mutter_.
+
+=Moritz=
+
+Hat er dir das erzählt?
+
+=Melchior=
+
+Draußen am Galgensteg!
+
+=Moritz=
+
+Wenn du wüßtest, was ich ausgestanden seit jener Nacht!
+
+=Melchior=
+
+Gewissensbisse?
+
+=Moritz=
+
+Gewissensbisse?? -- -- -- _Todesangst_!
+
+=Melchior=
+
+Herrgott ...
+
+=Moritz=
+
+Ich hielt mich für unheilbar. Ich glaubte, ich litte an einem inneren
+Schaden. -- Schließlich wurde ich nur dadurch wieder ruhiger, daß ich
+meine Lebenserinnerungen aufzuzeichnen begann. Ja ja, lieber Melchior,
+die letzten drei Wochen waren ein Gethsemane für mich.
+
+=Melchior=
+
+Ich war seinerzeit mehr oder weniger darauf gefaßt gewesen. Ich schämte
+mich ein wenig. -- Das war aber auch alles.
+
+=Moritz=
+
+Und dabei bist du noch fast um ein ganzes Jahr jünger als ich!
+
+=Melchior=
+
+Darüber, Moritz, würd’ ich mir keine Gedanken machen. All’ meinen
+Erfahrungen nach besteht für das erste Auftauchen dieser Phantome
+keine bestimmte Altersstufe. Kennst du den großen Lämmermeier mit
+dem strohgelben Haar und der Adlernase? Drei Jahre ist der älter als
+ich. Hänschen Rilow sagt, der träume noch bis heute von nichts als
+Sandtorten und Aprikosengelee.
+
+=Moritz=
+
+Ich bitte dich, wie kann Hänschen Rilow darüber urteilen!
+
+=Melchior=
+
+Er hat ihn gefragt.
+
+=Moritz=
+
+Er hat ihn gefragt? -- Ich hätte mich nicht getraut, jemanden zu fragen.
+
+=Melchior=
+
+Du hast mich doch auch gefragt.
+
+=Moritz=
+
+Weiß Gott ja! -- Möglicherweise hatte Hänschen auch schon sein
+Testament gemacht. -- Wahrlich ein sonderbares Spiel, das man mit uns
+treibt. Und dafür sollen wir uns dankbar erweisen! Ich erinnere mich
+nicht, je eine Sehnsucht nach dieser Art Aufregungen verspürt zu
+haben. Warum hat man mich nicht ruhig schlafen lassen, bis alles wieder
+still gewesen wäre. Meine lieben Eltern hätten hundert bessere Kinder
+haben können. So bin ich nun hergekommen, ich weiß nicht wie, und soll
+mich dafür verantworten, daß ich nicht weggeblieben bin. -- Hast du
+nicht auch schon darüber nachgedacht, Melchior, auf welche Art und
+Weise wir eigentlich in diesen Strudel hineingeraten?
+
+=Melchior=
+
+Du weißt das also noch nicht, Moritz?
+
+=Moritz=
+
+Wie sollt’ ich es wissen? -- Ich sehe, wie die Hühner Eier legen,
+und höre, daß mich Mama unter dem Herzen getragen haben will.
+Aber genügt denn das? -- Ich erinnere mich auch, als fünfjähriges
+Kind schon befangen worden zu sein, wenn einer die dekolletierte
+Coeurdame aufschlug. Dieses Gefühl hat sich verloren. Indessen kann
+ich heute kaum mehr mit irgend einem Mädchen sprechen, ohne etwas
+Verabscheuenswürdiges dabei zu denken, und -- ich schwöre dir, Melchior
+-- ich weiß nicht _was_.
+
+=Melchior=
+
+Ich sage dir alles. -- Ich habe es teils aus Büchern, teils aus
+Illustrationen, teils aus Beobachtungen in der Natur. Du wirst
+überrascht sein; ich wurde seinerzeit Atheist. Ich habe es auch Georg
+Zirschnitz gesagt! Georg Zirschnitz wollte es Hänschen Rilow sagen,
+aber Hänschen Rilow hatte als Kind schon alles von seiner Gouvernante
+erfahren.
+
+=Moritz=
+
+Ich habe den _Kleinen Meyer_ von A bis Z durchgenommen. Worte -- nichts
+als Worte und Worte! Nicht eine einzige schlichte Erklärung. O dieses
+Schamgefühl! -- Was soll mir ein Konversationslexikon, das auf die
+nächstliegende Lebensfrage nicht antwortet.
+
+=Melchior=
+
+Hast du schon einmal zwei Hunde über die Straße laufen sehen?
+
+=Moritz=
+
+Nein! -- -- Sag mir heute lieber noch nichts, Melchior. Ich habe noch
+Mittelamerika und Ludwig den Fünfzehnten vor mir. Dazu die sechzig
+Verse Homer, die sieben Gleichungen, der lateinische Aufsatz -- ich
+würde morgen wieder überall abblitzen. Um mit Erfolg büffeln zu können,
+muß ich stumpfsinnig wie ein Ochse sein.
+
+=Melchior=
+
+Komm doch mit auf mein Zimmer. In dreiviertel Stunden habe ich den
+Homer, die Gleichungen und _zwei_ Aufsätze. Ich korrigiere dir einige
+harmlose Schnitzer hinein, so ist die Sache im Blei. Mama braut uns
+wieder eine Limonade, und wir plaudern gemütlich über die Fortpflanzung.
+
+=Moritz=
+
+Ich kann nicht. -- Ich kann nicht gemütlich über die Fortpflanzung
+plaudern! Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann gib mir deine
+Unterweisungen schriftlich. Schreib mir auf, was du weißt. Schreib es
+möglichst kurz und klar und steck es mir morgen während der Turnstunde
+zwischen die Bücher. Ich werde es nach Hause tragen, ohne zu wissen,
+daß ich es habe. Ich werde es unverhofft einmal wiederfinden. Ich
+werde nicht umhin können, es müden Auges zu durchfliegen ... falls es
+unumgänglich notwendig ist, magst du ja auch einzelne Randzeichnungen
+anbringen.
+
+=Melchior=
+
+Du bist wie ein Mädchen. -- Übrigens wie du willst! Es ist mir das eine
+ganz interessante Arbeit. -- -- Eine Frage, Moritz.
+
+=Moritz=
+
+Hm?
+
+=Melchior=
+
+-- Hast du schon einmal ein Mädchen gesehen?
+
+=Moritz=
+
+Ja!
+
+=Melchior=
+
+Aber ganz?!
+
+=Moritz=
+
+_Vollständig_!
+
+=Melchior=
+
+Ich nämlich auch! -- Dann werden keine Illustrationen nötig sein.
+
+=Moritz=
+
+Während des Schützenfestes, in Leilichs anatomischem Museum! Wenn es
+aufgekommen wäre, hätte man mich aus der Schule gejagt. -- Schön wie
+der lichte Tag, und -- o so naturgetreu!
+
+=Melchior=
+
+Ich war letzten Sommer mit Mama in Frankfurt -- -- Du willst schon
+gehen, Moritz?
+
+=Moritz=
+
+Arbeiten machen. -- Gute Nacht.
+
+=Melchior=
+
+Auf Wiedersehen.
+
+
+Dritte Szene
+
+_Thea_, _Wendla_ und _Martha_ kommen Arm in Arm die _Straße_ herauf
+
+=Martha=
+
+Wie einem das Wasser ins Schuhwerk dringt!
+
+=Wendla=
+
+Wie einem der Wind um die Wangen saust!
+
+=Thea=
+
+Wie einem das Herz hämmert!
+
+=Wendla=
+
+Geh’n wir zur Brücke hinaus! Ilse sagte der Fluß führe Sträucher und
+Bäume. Die Jungens haben ein Floß auf dem Wasser. Melchi Gabor soll
+gestern abend beinah ertrunken sein.
+
+=Thea=
+
+O der kann schwimmen!
+
+=Martha=
+
+Das will ich meinen, Kind!
+
+=Wendla=
+
+Wenn er nicht hätte schwimmen können, wäre er wohl sicher ertrunken!
+
+=Thea=
+
+Dein Zopf geht auf, Martha; dein Zopf geht auf!
+
+=Martha=
+
+Puh -- laß ihn aufgehn! Er ärgert mich so Tag und Nacht. Kurze Haare
+tragen wie du darf ich nicht, das Haar offen tragen wie Wendla darf ich
+nicht, Ponyhaare tragen darf ich nicht, und zu Hause muß ich mir gar
+die Frisur machen -- alles der Tanten wegen!
+
+=Wendla=
+
+Ich bringe morgen eine Schere mit in die Religionsstunde. Während du
+„Wohl dem, der nicht wandelt“ rezitierst, werd’ ich ihn abschneiden.
+
+=Martha=
+
+Um Gotteswillen, Wendla! Papa schlägt mich krumm, und Mama sperrt mich
+drei Nächte ins Kohlenloch.
+
+=Wendla=
+
+Womit schlägt er dich, Martha?
+
+=Martha=
+
+Manchmal ist es mir, es müßte ihnen doch etwas abgehen, wenn sie keinen
+so schlechtgearteten Balg hätten wie ich.
+
+=Thea=
+
+Aber Mädchen!
+
+=Martha=
+
+Hast du dir nicht auch ein himmelblaues Band durch die Hemdpasse ziehen
+dürfen?
+
+=Thea=
+
+Rosa Atlas! Mama behauptet, Rosa stehe mir bei meinen pechschwarzen
+Augen.
+
+=Martha=
+
+Mir stand Blau reizend! -- Mama riß mich am Zopf zum Bett heraus. So
+-- fiel ich mit den Händen voraus auf die Diele. -- Mama betet nämlich
+Abend für Abend mit uns....
+
+=Wendla=
+
+Ich an deiner Stelle wäre ihnen längst in die Welt hinausgelaufen.
+
+=Martha=
+
+... Da habe man’s, worauf ich ausgehe! -- Da habe man’s ja! -- Aber
+sie wolle schon sehen -- o sie wolle noch sehen! -- Meiner Mutter
+wenigstens solle ich einmal keine Vorwürfe machen können....
+
+=Thea=
+
+Hu -- Hu --
+
+=Martha=
+
+Kannst du dir denken, Thea, was Mama damit meinte?
+
+=Thea=
+
+Ich nicht. -- Du, Wendla?
+
+=Wendla=
+
+Ich hätte sie einfach gefragt.
+
+=Martha=
+
+Ich lag auf der Erde und schrie und heulte. Da kommt Papa. Ritsch --
+das Hemd herunter. Ich zur Türe hinaus. Da habe man’s! Ich wolle nun
+wohl so auf die Straße hinunter....
+
+=Wendla=
+
+Das ist doch gar nicht wahr, Martha.
+
+=Martha=
+
+Ich fror. Ich schloß auf. Ich habe die ganze Nacht im Sack schlafen
+müssen.
+
+=Thea=
+
+Ich könnte meiner Lebtag in keinem Sack schlafen!
+
+=Wendla=
+
+Ich möchte ganz gern mal für dich in deinem Sack schlafen.
+
+=Martha=
+
+Wenn man nur nicht geschlagen wird.
+
+=Thea=
+
+Aber man erstickt doch darin!
+
+=Martha=
+
+Der Kopf bleibt frei. Unter dem Kinn wird zugebunden.
+
+=Thea=
+
+Und dann schlagen sie dich?
+
+=Martha=
+
+Nein. Nur wenn etwas Besonderes vorliegt.
+
+=Wendla=
+
+Womit schlägt man dich, Martha?
+
+=Martha=
+
+Ach was -- mit allerhand. -- Hält es deine Mutter auch für unanständig,
+im Bett ein Stück Brot zu essen?
+
+=Wendla=
+
+Nein, nein.
+
+=Martha=
+
+Ich glaube immer, sie haben doch ihre Freude -- wenn sie auch nichts
+davon sagen. -- Wenn ich einmal Kinder habe, ich lasse sie aufwachsen
+wie das Unkraut in unserem Blumengarten. Um das kümmert sich niemand,
+und es steht so hoch, so dicht -- während die Rosen in den Beeten an
+ihren Stöcken mit jedem Sommer kümmerlicher blühn.
+
+=Thea=
+
+Wenn ich Kinder habe, kleid’ ich sie ganz in Rosa. Rosahüte,
+Rosakleidchen, Rosaschuhe. Nur die Strümpfe -- die Strümpfe schwarz
+wie die Nacht! Wenn ich dann spazieren gehe, laß ich sie vor mir
+hermarschieren. -- Und du, Wendla?
+
+=Wendla=
+
+Wißt ihr denn, ob ihr welche bekommt?
+
+=Thea=
+
+Warum sollten wir keine bekommen?
+
+=Martha=
+
+Tante Euphemia hat allerdings auch keine.
+
+=Thea=
+
+Gänschen! -- weil sie nicht _verheiratet_ ist.
+
+=Wendla=
+
+Tante Bauer war dreimal verheiratet und hat nicht ein einziges.
+
+=Martha=
+
+-- Wenn du welche bekommst, Wendla, was möchtest du lieber, Knaben oder
+Mädchen?
+
+=Wendla=
+
+Jungens! Jungens!
+
+=Thea=
+
+Ich auch Jungens!
+
+=Martha=
+
+Ich auch. Lieber zwanzig Jungens als drei Mädchen.
+
+=Thea=
+
+Mädchen sind langweilig!
+
+=Martha=
+
+Wenn ich nicht schon ein Mädchen geworden wäre, ich würde es heute
+gewiß nicht mehr.
+
+=Wendla=
+
+Das ist, glaube ich, Geschmacksache, Martha! Ich freue mich jeden Tag,
+daß ich Mädchen bin. Glaub’ mir, ich wollte mit keinem Königssohn
+tauschen. -- Darum möchte ich aber doch nur Buben!
+
+=Thea=
+
+Das ist doch Unsinn, lauter Unsinn, Wendla!
+
+=Wendla=
+
+Aber ich bitte dich, Kind, es muß doch tausendmal erhebender sein, von
+einem Manne geliebt zu werden, als von einem Mädchen!
+
+=Thea=
+
+Du wirst doch nicht behaupten wollen, Forstreferendar Pfälle liebe
+Melitta mehr als sie ihn!
+
+=Wendla=
+
+Das will ich wohl, Thea! -- Pfälle ist stolz. Pfälle ist stolz darauf,
+daß er Forstreferendar ist -- denn Pfälle hat nichts. -- Melitta ist
+_selig_, weil sie zehntausendmal mehr bekommt, als sie ist.
+
+=Martha=
+
+Bist du nicht stolz auf dich, Wendla?
+
+=Wendla=
+
+Das wäre doch einfältig.
+
+=Martha=
+
+Wie wollt’ ich stolz sein an deiner Stelle.
+
+=Thea=
+
+Sieh’ doch nur, wie sie die Füße setzt -- wie sie geradaus schaut --
+wie sie sich hält, Martha! -- Wenn das nicht Stolz ist!
+
+=Wendla=
+
+Wozu nur?! Ich bin so glücklich, Mädchen zu sein; wenn ich kein Mädchen
+wär’, brächt’ ich mich um, um das nächste Mal ...
+
+=Melchior=
+
+(geht vorüber und grüßt)
+
+=Thea=
+
+Er hat einen wundervollen Kopf.
+
+=Martha=
+
+So denke ich mir den jungen Alexander, als er zu Aristoteles in die
+Schule ging.
+
+=Thea=
+
+Du lieber Gott, die griechische Geschichte! -- Ich weiß nur noch,
+wie Sokrates in der Tonne lag, als ihm Alexander den Eselsschatten
+verkaufte.
+
+=Wendla=
+
+Er soll der Drittbeste in seiner Klasse sein.
+
+=Thea=
+
+Professor Knochenbruch sagt, wenn er wollte, könnte er Primus sein.
+
+=Martha=
+
+Er hat eine schöne Stirne, aber sein Freund hat einen seelenvolleren
+Blick.
+
+=Thea=
+
+Moritz Stiefel? -- Ist das eine Schlafmütze!
+
+=Martha=
+
+Ich habe mich immer ganz gut mit ihm unterhalten.
+
+=Thea=
+
+Er blamiert einen, wo man ihn trifft. Auf dem Kinderball bei Rilows
+bot er mir Pralinees an. Denke dir, Wendla, die waren weich und warm.
+Ist das nicht ...? -- Er sagte, er habe sie zu lang in der Hosentasche
+gehabt.
+
+=Wendla=
+
+Denke dir, Melchi Gabor sagte mir damals, er glaube an nichts -- nicht
+an Gott, nicht an ein Jenseits -- an gar nichts mehr in dieser Welt.
+
+
+Vierte Szene
+
+Parkanlagen vor dem Gymnasium -- _Melchior_, _Otto_, _Georg_, _Robert_,
+_Hänschen Rilow_, _Lämmermeier_
+
+=Melchior=
+
+Kann mir einer von euch sagen, wo Moritz Stiefel steckt?
+
+=Georg=
+
+Dem kann’s schlecht gehn! -- O dem kann’s schlecht gehn!
+
+=Otto=
+
+Der treibts so lange, bis er noch mal ganz gehörig ’reinfliegt!
+
+=Lämmermeier=
+
+Weiß der Kuckuck, ich möchte in diesem Moment nicht in seiner Haut
+stecken!
+
+=Robert=
+
+Eine Frechheit! -- Eine Unverschämtheit!
+
+=Melchior=
+
+Wa -- wa -- was wißt ihr denn?
+
+=Georg=
+
+Was wir wissen? -- Na, ich sage dir ...
+
+=Lämmermeier=
+
+Ich möchte nichts gesagt haben!
+
+=Otto=
+
+Ich auch nicht -- weiß Gott nicht!
+
+=Melchior=
+
+Wenn ihr jetzt nicht sofort ...
+
+=Robert=
+
+Kurz und gut, Moritz Stiefel ist ins _Konferenzzimmer_ gedrungen.
+
+=Melchior=
+
+Ins Konferenzzimmer ...?
+
+=Otto=
+
+Ins Konferenzzimmer! -- Gleich nach Schluß der Lateinstunde.
+
+=Georg=
+
+Er war der letzte; er blieb absichtlich zurück.
+
+=Lämmermeier=
+
+Als ich um die Korridorecke bog, sah ich ihn die Tür öffnen.
+
+=Melchior=
+
+Hol dich der ...!
+
+=Lämmermeier=
+
+Wenn nur ihn nicht der Teufel holt!
+
+=Georg=
+
+Vermutlich hatte das Rektorat den Schlüssel nicht abgezogen.
+
+=Robert=
+
+Oder Moritz Stiefel führt einen Dietrich.
+
+=Otto=
+
+Ihm wäre das zuzutrauen.
+
+=Lämmermeier=
+
+Wenn’s gut geht, bekommt er einen Sonntagnachmittag.
+
+=Robert=
+
+Nebst einer Bemerkung ins Zeugnis!
+
+=Otto=
+
+Wenn er bei dieser Zensur nicht ohnehin an die Luft fliegt.
+
+=Hänschen Rilow=
+
+Da ist er!
+
+=Melchior=
+
+Blaß wie ein Handtuch.
+
+(Moritz kommt in äußerster Aufregung.)
+
+=Lämmermeier=
+
+Moritz, Moritz, was du getan hast!
+
+=Moritz=
+
+-- -- Nichts -- -- nichts -- -- --
+
+=Robert=
+
+Du fieberst!
+
+=Moritz=
+
+-- Vor Glück -- vor Seligkeit -- vor Herzensjubel --
+
+=Otto=
+
+Du bist erwischt worden?!
+
+=Moritz=
+
+Ich bin promoviert! -- Melchior, ich bin promoviert! -- O jetzt kann
+die Welt untergehn! -- Ich bin promoviert! -- Wer hätte geglaubt, daß
+ich promoviert werde! -- Ich fass’ es noch nicht! -- Zwanzigmal hab’
+ich’s gelesen! -- Ich kann’s nicht glauben -- du großer Gott, es blieb!
+-- Es blieb! _Ich bin promoviert_! -- (lächelnd) Ich weiß nicht --
+so sonderbar ist mir -- der Boden dreht sich ... Melchior, Melchior,
+wüßtest du, was ich durchgemacht!
+
+=Hänschen Rilow=
+
+Ich gratuliere, Moritz. -- Sei nur froh, daß du so weggekommen!
+
+=Moritz=
+
+Du weißt nicht, Hänschen, du ahnst nicht, was auf dem Spiel stand.
+Seit drei Wochen schleiche ich an der Tür vorbei wie am Höllenschlund.
+Da sehe ich heute, sie ist angelehnt. Ich glaube, wenn man mir eine
+Million geboten hätte -- nichts, o nichts hätte mich zu halten
+vermocht! -- Ich stehe mitten im Zimmer -- ich schlage das Protokoll
+auf -- blättere -- finde -- -- und während all der Zeit ... Mir
+schaudert --
+
+=Melchior=
+
+... während all der Zeit?
+
+=Moritz=
+
+Während all der Zeit steht die Tür hinter mir sperrangelweit offen. --
+Wie ich heraus ... wie ich die Treppe heruntergekommen, weiß ich nicht.
+
+=Hänschen Rilow=
+
+-- Wird Ernst Röbel auch promoviert?
+
+=Moritz=
+
+O gewiß, Hänschen, gewiß! -- Ernst Röbel wird gleichfalls promoviert.
+
+=Robert=
+
+Dann mußt du schon nicht richtig gelesen haben. Die Eselsbank
+abgerechnet zählen wir mit dir und Röbel zusammen einundsechzig,
+während oben das Klassenzimmer mehr als sechzig nicht fassen kann.
+
+=Moritz=
+
+Ich habe vollkommen richtig gelesen. Ernst Röbel wird so gut versetzt
+wie ich -- beide allerdings vorläufig nur _provisorisch_. Während des
+ersten Quartals soll es sich dann herausstellen, wer dem andern Platz
+zu machen hat. -- Armer Röbel! -- Weiß der Himmel, mir ist um mich
+nicht mehr bange. Dazu habe ich diesmal zu tief hinuntergeblickt.
+
+=Otto=
+
+Ich wette fünf Mark, daß du Platz machst.
+
+=Moritz=
+
+Du hast ja nichts. Ich will dich nicht ausrauben. -- Herrgott, werd’
+ich büffeln von heute an! -- Jetzt kann ich’s ja sagen -- mögt ihr
+daran glauben oder nicht -- jetzt ist ja alles gleichgültig -- ich --
+ich weiß, wie wahr es ist: Wenn ich nicht promoviert worden wäre, hätte
+ich mich erschossen.
+
+=Robert=
+
+Prahlhans!
+
+=Georg=
+
+Der Hasenfuß!
+
+=Otto=
+
+Dich hätte ich schießen sehen mögen!
+
+=Lämmermeier=
+
+Eine Maulschelle drauf!
+
+=Melchior=
+
+(gibt ihm eine)
+
+-- -- Komm, Moritz. Gehn wir zum Försterhaus!
+
+=Georg=
+
+Glaubst du vielleicht an den Schnack?
+
+=Melchior=
+
+Schert dich das? -- -- Laß sie schwatzen, Moritz! Fort, nur fort, zur
+Stadt hinaus!
+
+(Die Professoren _Hungergurt_ und _Knochenbruch_ gehen vorüber.)
+
+=Knochenbruch=
+
+Mir unbegreiflich, verehrter Herr Kollega, wie sich der beste meiner
+Schüler gerade zum allerschlechtesten so hingezogen fühlen kann.
+
+=Hungergurt=
+
+Mir auch, verehrter Herr Kollega.
+
+
+Fünfte Szene
+
+Sonniger Nachmittag. -- _Melchior_ und _Wendla_ begegnen einander im
+Wald.
+
+=Melchior=
+
+Bist du’s wirklich, Wendla? -- Was tust denn du so allein hier oben? --
+Seit drei Stunden durchstreife ich den Wald die Kreuz und Quer, ohne
+daß mir eine Seele begegnet, und nun plötzlich trittst du mir aus dem
+dichtesten Dickicht entgegen!
+
+=Wendla=
+
+Ja, ich bin’s.
+
+=Melchior=
+
+Wenn ich dich nicht als Wendla Bergmann kennte, ich hielte dich für
+eine Dryade, die aus den Zweigen gefallen.
+
+=Wendla=
+
+Nein, nein, ich bin Wendla Bergmann. -- Wo kommst denn du her?
+
+=Melchior=
+
+Ich gehe meinen Gedanken nach.
+
+=Wendla=
+
+Ich suche Waldmeister. Mama will Maitrank bereiten. Anfangs wollte sie
+selbst mitgehn, aber im letzten Augenblick kam Tante Bauer noch, und
+die steigt nicht gern. -- So bin ich denn allein heraufgekommen.
+
+=Melchior=
+
+Hast du deinen Waldmeister schon?
+
+=Wendla=
+
+Den ganzen Korb voll. Drüben unter den Buchen steht er dicht wie
+Mattenklee. -- Jetzt sehe ich mich nämlich nach einem Ausweg um. Ich
+scheine mich verirrt zu haben. Kannst du mir vielleicht sagen, wie viel
+Uhr es ist?
+
+=Melchior=
+
+Eben halb vier vorbei. -- Wann erwartet man dich?
+
+=Wendla=
+
+Ich glaubte, es wäre später. Ich lag eine ganze Weile am Goldbach im
+Moose und habe geträumt. Die Zeit verging mir so rasch; ich fürchtete,
+es wolle schon Abend werden.
+
+=Melchior=
+
+Wenn man dich noch nicht erwartet, dann laß uns hier noch ein wenig
+lagern. Unter der Eiche dort ist mein Lieblingsplätzchen. Wenn man den
+Kopf an den Stamm zurücklehnt und durch die Äste in den Himmel starrt,
+wird man hypnotisiert. Der Boden ist noch warm von der Morgensonne. --
+Schon seit Wochen wollte ich dich etwas fragen, Wendla.
+
+=Wendla=
+
+Aber vor fünf muß ich zu Hause sein.
+
+=Melchior=
+
+Wir gehen dann zusammen. Ich nehme den Korb und wir schlagen den Weg
+durch die Runse ein, so sind wir in zehn Minuten schon auf der Brücke!
+-- Wenn man so daliegt, die Stirn in die Hand gestützt, kommen einem
+die sonderbarsten Gedanken ...
+
+(Beide lagern sich unter der Eiche.)
+
+=Wendla=
+
+Was wolltest du mich fragen, Melchior?
+
+=Melchior=
+
+Ich habe gehört, Wendla, du gehest häufig zu armen Leuten. Du brächtest
+ihnen Essen, auch Kleider und Geld. Tust du das aus eigenem Antriebe
+oder schickt deine Mutter dich?
+
+=Wendla=
+
+Meistens schickt mich die Mutter. Es sind arme Taglöhnerfamilien, die
+eine Unmenge Kinder haben. Oft findet der Mann keine Arbeit, dann
+frieren und hungern sie. Bei uns liegt aus früherer Zeit noch so
+mancherlei in Schränken und Kommoden, das nicht mehr gebraucht wird. --
+Aber wie kommst du darauf?
+
+=Melchior=
+
+Gehst du gern oder ungern, wenn deine Mutter dich sowohin schickt?
+
+=Wendla=
+
+O für mein Leben gern! -- Wie kannst du fragen!
+
+=Melchior=
+
+Aber die Kinder sind schmutzig, die Frauen sind krank, die Wohnungen
+strotzen von Unrat, die Männer hassen dich, weil du nicht arbeitest ...
+
+=Wendla=
+
+Das ist nicht wahr, Melchior. Und wenn es wahr wäre, ich würde erst
+recht gehen!
+
+=Melchior=
+
+Wieso erst recht, Wendla?
+
+=Wendla=
+
+Ich würde erst recht hingehen. -- Es würde nur noch vielmehr Freude
+bereiten, ihnen helfen zu können.
+
+=Melchior=
+
+Du gehst also um deiner Freude willen zu den armen Leuten?
+
+=Wendla=
+
+Ich gehe zu ihnen, weil sie arm sind.
+
+=Melchior=
+
+Aber wenn es dir keine Freude wäre, würdest du nicht gehen?
+
+=Wendla=
+
+Kann ich denn dafür, daß es mir Freude macht?
+
+=Melchior=
+
+Und doch sollst du dafür in den Himmel kommen! -- So ist es also
+richtig, was mir nun seit einem Monat keine Ruhe mehr läßt! -- Kann der
+Geizige dafür, daß es ihm keine Freude macht, zu schmutzigen kranken
+Kindern zu gehen?
+
+=Wendla=
+
+O dir würde es sicher die größte Freude sein!
+
+=Melchior=
+
+Und doch soll er dafür des ewigen Todes sterben! -- Ich werde eine
+Abhandlung schreiben und sie Herrn Pastor Kahlbauch einschicken. Er ist
+die Veranlassung. Was faselt er uns von _Opfer-Freudigkeit_! -- Wenn er
+mir nicht antworten kann, gehe ich nicht mehr in die Kinderlehre und
+lasse mich nicht konfirmieren.
+
+=Wendla=
+
+Warum willst du deinen lieben Eltern den Kummer bereiten! Laß dich doch
+konfirmieren; den Kopf kostet’s doch nicht. Wenn unsere schrecklichen
+weißen Kleider und eure Schlepphosen nicht wären, würde man sich
+vielleicht noch dafür begeistern können.
+
+=Melchior=
+
+Es gibt keine Aufopferung! Es gibt keine Selbstlosigkeit! -- Ich sehe
+die Guten sich ihres Herzens freun, sehe die Schlechten beben und
+stöhnen -- ich sehe dich, Wendla Bergmann, deine Locken schütteln und
+lachen, und mir wird so ernst dabei wie einem Geächteten. -- -- Was
+hast du vorhin geträumt, Wendla, als du am Goldbach im Grase lagst?
+
+=Wendla=
+
+-- -- Dummheiten -- Narreteien --
+
+=Melchior=
+
+Mit offenen Augen?!
+
+=Wendla=
+
+Mir träumte, ich wäre ein armes, armes Bettelkind, ich würde früh fünf
+schon auf die Straße geschickt, ich müßte betteln den ganzen langen
+Tag in Sturm und Wetter, unter hartherzigen, rohen Menschen. Und käm’
+ich abends nach Hause, zitternd vor Hunger und Kälte, und hätte so
+viel Geld nicht wie mein Vater verlangt, dann würd’ ich geschlagen --
+geschlagen --
+
+=Melchior=
+
+Das kenne ich, Wendla. Das hast du den albernen Kindergeschichten zu
+danken. Glaub’ mir, so brutale Menschen existieren nicht mehr.
+
+=Wendla=
+
+O doch, Melchior, du irrst. -- Martha Bessel wird Abend für Abend
+geschlagen, daß man andern Tags Striemen sieht. O was die leiden
+muß! Siedendheiß wird es einem, wenn sie erzählt. Ich bedaure sie so
+furchtbar, ich muß oft mitten in der Nacht in die Kissen weinen. Seit
+Monaten denke ich darüber nach, wie man ihr helfen kann. -- Ich wollte
+mit Freuden einmal acht Tage an ihrer Stelle sein.
+
+=Melchior=
+
+Man sollte den Vater kurzweg verklagen. Dann würde ihm das Kind
+weggenommen.
+
+=Wendla=
+
+Ich, Melchior, bin in meinem Leben nie geschlagen worden -- nicht ein
+einziges Mal. Ich kann mir kaum denken, wie das tut, geschlagen zu
+werden. Ich habe mich schon selber geschlagen, um zu erfahren, wie
+einem dabei ums Herz wird. -- Es muß ein grauenvolles Gefühl sein.
+
+=Melchior=
+
+Ich glaube nicht, daß je ein Kind dadurch besser wird.
+
+=Wendla=
+
+Wodurch besser wird?
+
+=Melchior=
+
+Daß man es schlägt.
+
+=Wendla=
+
+-- Mit dieser Gerte zum Beispiel! -- Hu, ist die zäh und dünn.
+
+=Melchior=
+
+Die zieht Blut!
+
+=Wendla=
+
+Würdest du mich nicht einmal damit schlagen?
+
+=Melchior=
+
+Wen?
+
+=Wendla=
+
+Mich.
+
+=Melchior=
+
+Was fällt dir ein, Wendla!
+
+=Wendla=
+
+Was ist denn dabei?
+
+=Melchior=
+
+O sei ruhig! -- Ich schlage dich nicht.
+
+=Wendla=
+
+Wenn ich dir’s doch erlaube!
+
+=Melchior=
+
+Nie, Mädchen!
+
+=Wendla=
+
+Aber wenn ich dich darum bitte, Melchior!
+
+=Melchior=
+
+Bist du nicht bei Verstand?
+
+=Wendla=
+
+Ich bin in meinem Leben nie geschlagen worden!
+
+=Melchior=
+
+Wenn du um so etwas bitten kannst ...!
+
+=Wendla=
+
+-- Bitte -- bitte --
+
+=Melchior=
+
+Ich will dich bitten lehren! -- (er schlägt sie)
+
+=Wendla=
+
+Ach Gott -- ich spüre nicht das Geringste!
+
+=Melchior=
+
+Das glaub’ ich dir -- -- durch all’ deine Röcke durch....
+
+=Wendla=
+
+So schlag’ mich doch an die Beine!
+
+=Melchior=
+
+Wendla! -- (er schlägt sie stärker)
+
+=Wendla=
+
+Du streichelst mich ja! -- Du streichelst mich!
+
+=Melchior=
+
+Wart’ Hexe, ich will dir den Satan austreiben!
+
+(Er wirft den Stock beiseite und schlägt derart mit den Fäusten drein,
+daß sie in ein fürchterliches Geschrei ausbricht. Er kehrt sich nicht
+daran, sondern drischt wie wütend auf sie los, während ihm die dicken
+Tränen über die Wangen rinnen. Plötzlich springt er empor, faßt sich
+mit beiden Händen an die Schläfen und stürzt, aus tiefster Seele
+jammervoll aufschluchzend, in den Wald hinein.)
+
+
+
+
+Zweiter Akt
+
+
+Erste Szene
+
+
+Abend auf Melchiors _Studierzimmer_. Das Fenster steht offen, die Lampe
+brennt auf dem Tisch. -- _Melchior_ und _Moritz_ auf dem Kanapee.
+
+=Moritz=
+
+Jetzt bin ich wieder ganz munter, nur etwas aufgeregt. -- Aber in der
+Griechischstunde habe ich doch geschlafen wie der besoffene Polyphem.
+Nimmt mich Wunder, daß mich der alte Zungenschlag nicht in die Ohren
+gezwickt. -- Heut’ früh wäre ich um ein Haar noch zu spät gekommen. --
+Mein erster Gedanke beim Erwachen waren die Verba auf μ. --
+Himmel-Herrgott-Teufel-Donnerwetter, während des Frühstücks und den Weg
+entlang habe ich konjugiert, daß mir grün vor den Augen wurde. -- Kurz
+nach drei muß ich abgeschnappt sein. Die Feder hat mir noch einen Klex
+ins Buch gemacht. Die Lampe qualmte, als Mathilde mich weckte; in den
+Fliederbüschen unter dem Fenster zwitscherten die Amseln so lebensfroh
+-- mir ward gleich wieder unsagbar melancholisch zu Mute. Ich band mir
+den Kragen um und fuhr mit der Bürste durchs Haar. -- -- Aber man fühlt
+sich, wenn man seiner Natur etwas abgerungen!
+
+=Melchior=
+
+Darf ich dir eine Zigarette drehen?
+
+=Moritz=
+
+Danke, ich rauche nicht. -- Wenn es nun nur so weiter geht! Ich will
+arbeiten und arbeiten, bis mir die Augen zum Kopf herausplatzen. --
+Ernst Röbel hat seit den Ferien schon sechsmal nichts gekonnt; dreimal
+im Griechischen, zweimal bei Knochenbruch; das letztemal in der
+Literaturgeschichte. Ich war erst fünfmal in der bedauernswerten Lage;
+und von heute ab kommt es überhaupt nicht mehr vor! -- Röbel erschießt
+sich nicht. Röbel hat keine Eltern, die ihm ihr Alles opfern. Er kann,
+wann er will, Söldner, Cowboy oder Matrose werden. Wenn ich durchfalle,
+rührt meinen Vater der Schlag, und Mama kommt ins Irrenhaus. So was
+erlebt man nicht! -- Vor dem Examen habe ich zu Gott gefleht, er
+möge mich schwindsüchtig werden lassen, auf daß der Kelch ungenossen
+vorübergehe. Er ging vorüber -- wenngleich mir auch heute noch seine
+Aureole aus der Ferne entgegenleuchtet, daß ich Tag und Nacht den
+Blick nicht zu heben wage. -- Aber nun ich die Stange erfaßt, werde
+ich mich auch hinaufschwingen. Dafür bürgt mir die unabänderliche
+Konsequenz, daß ich nicht stürze, ohne das Genick zu brechen.
+
+=Melchior=
+
+Das Leben ist von einer ungeahnten Gemeinheit. Ich hätte nicht übel
+Lust, mich in die Zweige zu hängen. -- Wo Mama mit dem Tee nur bleibt!
+
+=Moritz=
+
+Dein Tee wird mir gut tun, Melchior! -- Ich zittre nämlich. Ich fühle
+mich so eigentümlich vergeistert. Betaste mich bitte mal. Ich sehe --
+ich höre -- ich fühle viel deutlicher -- und doch alles so traumhaft --
+o, so stimmungsvoll. -- Wie sich dort im Mondschein der Garten dehnt,
+so still, so tief, als ging’ er ins Unendliche. -- Unter den Büschen
+treten umflorte Gestalten hervor, huschen in atemloser Geschäftigkeit
+über die Lichtungen und verschwinden im Halbdunkel. Mir scheint, unter
+dem Kastanienbaum soll eine Ratsversammlung gehalten werden. -- Wollen
+wir nicht hinunter, Melchior?
+
+=Melchior=
+
+Warten wir, bis wir Tee getrunken.
+
+=Moritz=
+
+-- Die Blätter flüstern so emsig. -- Es ist, als hörte ich Großmutter
+selig die Geschichte von der „Königin ohne Kopf“ erzählen. -- Das
+war eine wunderschöne Königin, schön wie die Sonne, schöner als alle
+Mädchen im Land. Nur war sie leider ohne Kopf auf die Welt gekommen.
+Sie konnte nicht essen, nicht trinken, konnte nicht sehen, nicht lachen
+und auch nicht küssen. Sie vermochte sich mit ihrem Hofstaat nur durch
+ihre kleine weiche Hand zu verständigen. Mit den zierlichen Füßen
+strampelte sie Kriegserklärungen und Todesurteile. Da wurde sie eines
+Tages von einem Könige besiegt, der zufällig zwei Köpfe hatte, die sich
+das ganze Jahr in den Haaren lagen und dabei so aufgeregt disputierten,
+daß keiner den andern zu Wort kommen ließ. Der Oberhofzauberer nahm nun
+den kleineren der beiden und setzte ihn der Königin auf. Und siehe,
+er stand ihr vortrefflich. Darauf heiratete der König die Königin,
+und die beiden lagen einander nun nicht mehr in den Haaren, sondern
+küßten einander auf Stirn, auf Wangen und Mund und lebten noch lange
+lange Jahre glücklich und in Freuden.... Verwünschter Unsinn! Seit den
+Ferien kommt mir die kopflose Königin nicht aus dem Kopf. Wenn ich
+ein schönes Mädchen sehe, seh’ ich es ohne Kopf -- und erscheine mir
+dann plötzlich selber als kopflose Königin.... Möglich, daß mir nochmal
+einer aufgesetzt wird.
+
+(Frau Gabor kommt mit dem dampfenden Tee, den sie vor Moritz und
+Melchior auf den Tisch setzt)
+
+=Frau Gabor=
+
+Hier Kinder, laßt es euch munden. -- Guten Abend, Herr Stiefel; wie
+geht es Ihnen?
+
+=Moritz=
+
+Danke, Frau Gabor. -- Ich belausche den Reigen dort unten.
+
+=Frau Gabor=
+
+Sie sehen aber gar nicht gut aus. -- Fühlen Sie sich nicht wohl?
+
+=Moritz=
+
+Es hat nichts zu sagen. Ich bin die letzten Abende etwas spät zu Bett
+gekommen.
+
+=Melchior=
+
+Denke dir, er hat die ganze Nacht durch gearbeitet.
+
+=Frau Gabor=
+
+Sie sollten so etwas nicht tun, Herr Stiefel. Sie sollten sich schonen.
+Bedenken Sie Ihre Gesundheit. Die Schule ersetzt Ihnen die Gesundheit
+nicht. -- Fleißig spazieren gehn in der frischen Luft! Das ist in Ihren
+Jahren mehr wert als ein korrektes Mittelhochdeutsch.
+
+=Moritz=
+
+Ich werde fleißig spazieren gehn. Sie haben recht. Man kann auch
+während des Spazierengehens fleißig sein. Daß ich noch selbst nicht auf
+den Gedanken gekommen! -- Die schriftlichen Arbeiten müßte ich immerhin
+zu Hause machen.
+
+=Melchior=
+
+Das Schriftliche machst du bei mir; so wird es uns beiden leichter. --
+-- Du weißt ja, Mama, daß Max von Trenk am Nervenfieber darniederlag!
+-- Heute mittag kommt Hänschen Rilow von Trenks Totenbett zu Rektor
+Sonnenstich, um anzuzeigen, daß Trenk soeben in seiner Gegenwart
+gestorben sei. -- „So?“ sagt Sonnenstich, „hast du von letzter Woche
+her nicht noch zwei Stunden nachzusitzen? -- Hier ist der Zettel an den
+Pedell. Mach, daß die Sache endlich ins reine kommt! Die ganze Klasse
+soll an der Beerdigung teilnehmen.“ -- Hänschen war wie gelähmt.
+
+=Frau Gabor=
+
+Was hast du da für ein Buch, Melchior?
+
+=Melchior=
+
+„Faust.“
+
+=Frau Gabor=
+
+Hast du es schon gelesen?
+
+=Melchior=
+
+Noch nicht zu Ende.
+
+=Moritz=
+
+Wir sind gerade in der Walpurgisnacht.
+
+=Frau Gabor=
+
+Ich hätte an deiner Stelle noch ein, zwei Jahre damit gewartet.
+
+=Melchior=
+
+Ich kenne kein Buch, Mama, in dem ich so viel Schönes gefunden. Warum
+hätte ich es nicht lesen sollen.
+
+=Frau Gabor=
+
+-- Weil du es nicht verstehst.
+
+=Melchior=
+
+Das kannst du nicht wissen, Mama. Ich fühle sehr wohl, daß ich das Werk
+in seiner ganzen Erhabenheit zu erfassen noch nicht imstande bin ...
+
+=Moritz=
+
+Wir lesen immer zu zweit; das erleichtert das Verständnis
+außerordentlich!
+
+=Frau Gabor=
+
+Du bist alt genug, Melchior, um wissen zu können, was dir zuträglich
+und was dir schädlich ist. Tu, was du vor dir verantworten kannst. Ich
+werde die erste sein, die es dankbar anerkennt, wenn du mir niemals
+Grund gibst, dir etwas vorenthalten zu müssen. -- Ich wollte dich nur
+darauf aufmerksam machen, daß auch das Beste nachteilig wirken kann,
+wenn man noch die Reife nicht besitzt, um es richtig aufzunehmen. --
+Ich werde mein Vertrauen immer lieber in dich als in irgendbeliebige
+erzieherische Maßregeln setzen. -- -- Wenn ihr noch etwas braucht,
+Kinder, dann komm herüber, Melchior, und rufe mich. Ich bin auf meinem
+Schlafzimmer. (Ab.)
+
+=Moritz=
+
+-- -- Deine Mama meinte die Geschichte mit Gretchen.
+
+=Melchior=
+
+Haben wir uns auch nur einen Moment dabei aufgehalten!
+
+=Moritz=
+
+Faust selber kann sich nicht kaltblütiger darüber hinweggesetzt haben!
+
+=Melchior=
+
+Das Kunstwerk gipfelt doch schließlich nicht in dieser Schändlichkeit!
+-- Faust könnte dem Mädchen die Heirat versprochen, könnte es daraufhin
+verlassen haben, er wäre in meinen Augen um kein Haar weniger strafbar.
+Gretchen könnte ja meinethalben an gebrochenem Herzen sterben. --
+Sieht man, wie jeder _darauf_ immer gleich krampfhaft die Blicke
+richtet, man möchte glauben, die ganze Welt drehe sich um P.... und
+V....!
+
+=Moritz=
+
+Wenn ich aufrichtig sein soll, Melchior, so habe ich nämlich
+tatsächlich das Gefühl, seit ich deinen Aufsatz gelesen. -- In den
+ersten Ferientagen fiel er mir vor die Füße. Ich hatte den Plötz in
+der Hand. -- Ich verriegelte die Tür und durchflog die flimmernden
+Zeilen, wie eine aufgeschreckte Eule einen brennenden Wald durchfliegt
+-- ich glaube, ich habe das meiste mit geschlossenen Augen gelesen. Wie
+eine Reihe dunkler Erinnerungen klangen mir deine Auseinandersetzungen
+ins Ohr, wie ein Lied, das einer als Kind einst fröhlich vor sich
+hingesummt und das ihm, wie er eben im Sterben liegt, herzerschütternd
+aus dem Mund eines andern entgegentönt. -- Am heftigsten zog mich in
+Mitleidenschaft, was du vom Mädchen schreibst. Ich werde die Eindrücke
+nicht mehr los. Glaub’ mir, Melchior, Unrecht leiden zu müssen ist
+süßer, denn Unrecht tun! Unverschuldet ein so süßes Unrecht über sich
+ergehen lassen zu müssen, scheint mir der Inbegriff aller irdischen
+Seligkeit.
+
+=Melchior=
+
+-- Ich will meine Seligkeit nicht als Almosen!
+
+=Moritz=
+
+Aber warum denn nicht?
+
+=Melchior=
+
+Ich _will_ nichts, was ich mir nicht habe erkämpfen müssen!
+
+=Moritz=
+
+Ist dann das noch Genuß, Melchior?! -- Das Mädchen, Melchior, genießt
+wie die seligen Götter. Das Mädchen wehrt sich dank seiner Veranlagung.
+Es hält sich bis zum letzten Augenblick von jeder Bitternis frei,
+um mit einem Mal alle Himmel über sich hereinbrechen zu sehen. Das
+Mädchen fürchtet die Hölle noch in dem Moment, da es ein erblühendes
+Paradies wahrnimmt. Sein Empfinden ist so frisch wie der Quell, der
+dem Fels entspringt. Das Mädchen ergreift einen Pokal, über den noch
+kein irdischer Hauch geweht, einen Nektarkelch, dessen Inhalt es, wie
+er flammt und flackert, hinunterschlingt ... Die Befriedigung, die der
+Mann dabei findet, denke ich mir schal und abgestanden.
+
+=Melchior=
+
+Denke sie dir, wie du magst, aber behalte sie für dich. -- Ich denke
+sie mir nicht gern ...
+
+
+Zweite Szene
+
+_Wohnzimmer._
+
+=Frau Bergmann=
+
+(den Hut auf, die Mantille um, einen Korb am Arm, mit strahlendem
+Gesicht durch die Mitteltür eintretend.)
+
+Wendla! -- Wendla!
+
+=Wendla=
+
+(erscheint in Unterröckchen und Korsett in der Seitentür rechts)
+
+Was gibt’s, Mutter?
+
+=Frau Bergmann=
+
+Du bist schon auf, Kind? -- Sieh, das ist schön von dir!
+
+=Wendla=
+
+Du warst schon ausgegangen?
+
+=Frau Bergmann=
+
+Zieh dich nun nur flink an! -- Du mußt gleich zu _Ina_ hinunter. Du
+mußt ihr den Korb da bringen!
+
+=Wendla=
+
+(sich während des folgenden vollends ankleidend)
+
+Du warst bei Ina? -- Wie geht es Ina? -- Will’s noch immer nicht
+bessern?
+
+=Frau Bergmann=
+
+Denke dir, Wendla, diese Nacht war der Storch bei ihr und hat ihr einen
+kleinen Jungen gebracht.
+
+=Wendla=
+
+Einen Jungen? -- Einen Jungen! -- O das ist herrlich! -- -- Deshalb die
+langwierige Influenza!
+
+=Frau Bergmann=
+
+Einen prächtigen Jungen!
+
+=Wendla=
+
+Den muß ich sehen, Mutter! -- So bin ich nun zum dritten Mal Tante
+geworden -- Tante von einem Mädchen und zwei Jungens!
+
+=Frau Bergmann=
+
+Und was für Jungens! -- So geht’s eben, wenn man so dicht beim
+Kirchendach wohnt! -- Morgen sind’s erst zwei Jahr, daß sie in ihrem
+Mullkleid die Stufen hinanstieg.
+
+=Wendla=
+
+Warst du dabei, als er ihn brachte?
+
+=Frau Bergmann=
+
+Er war eben wieder fortgeflogen. -- Willst du dir nicht eine Rose
+vorstecken?
+
+=Wendla=
+
+Warum kamst du nicht etwas früher hin, Mutter?
+
+=Frau Bergmann=
+
+Ich glaube aber beinahe, er hat dir auch etwas mitgebracht -- eine
+Brosche oder was.
+
+=Wendla=
+
+Es ist wirklich schade!
+
+=Frau Bergmann=
+
+Ich sage dir ja, daß er dir eine Brosche mitgebracht hat!
+
+=Wendla=
+
+Ich habe Broschen genug ...
+
+=Frau Bergmann=
+
+Dann sei auch zufrieden, Kind. Was willst du denn noch?
+
+=Wendla=
+
+Ich hätte so furchtbar gerne gewußt, ob er durchs Fenster oder durch
+den Schornstein geflogen kam.
+
+=Frau Bergmann=
+
+Da mußt du Ina fragen. Ha, das mußt du Ina fragen, liebes Herz! Ina
+sagt dir das ganz genau. Ina hat ja eine ganze halbe Stunde mit ihm
+gesprochen.
+
+=Wendla=
+
+Ich werde Ina fragen, wenn ich hinunterkomme.
+
+=Frau Bergmann=
+
+Aber ja nicht vergessen, du süßes Engelsgeschöpf! Es interessiert
+mich wirklich selbst, zu wissen, ob er durchs Fenster oder durch den
+Schornstein kam.
+
+=Wendla=
+
+Oder soll ich nicht lieber den Schornsteinfeger fragen? -- Der
+Schornsteinfeger muß es doch am besten wissen, ob er durch den
+Schornstein fliegt oder nicht.
+
+=Frau Bergmann=
+
+Nicht den Schornsteinfeger, Kind; nicht den Schornsteinfeger. Was weiß
+der Schornsteinfeger vom Storch! -- Der schwatzt dir allerhand dummes
+Zeug vor, an das er selbst nicht glaubt ... Wa -- was glotzst du so auf
+die Straße hinunter??
+
+=Wendla=
+
+Ein Mann, Mutter -- dreimal so groß wie ein Ochse! -- mit Füßen wie
+Dampfschiffe ...!
+
+=Frau Bergmann=
+
+(ans Fenster stürzend)
+
+Nicht möglich! -- Nicht möglich! --
+
+=Wendla= (zugleich)
+
+Eine Bettlade hält er unterm Kinn, fiedelt die Wacht am Rhein drauf --
+-- eben biegt er um die Ecke ...
+
+=Frau Bergmann=
+
+Du bist und bleibst doch ein Kindskopf! -- Deine alte einfältige Mutter
+so in Schrecken jagen! -- Geh, nimm deinen Hut. Nimmt mich Wunder,
+wann bei dir einmal der Verstand kommt. -- Ich habe die Hoffnung
+aufgegeben.
+
+=Wendla=
+
+Ich auch, Mütterchen, ich auch. -- Um meinen Verstand ist es ein
+traurig Ding. -- Hab’ ich nun eine Schwester, die ist seit zwei und
+einem halben Jahre verheiratet, und ich selber bin zum dritten Male
+Tante geworden, und habe gar keinen Begriff, wie das alles zugeht ...
+Nicht böse werden, Mütterchen; nicht böse werden! Wen in der Welt soll
+ich denn fragen als dich! Bitte, liebe Mutter, sag es mir! Sag’s mir,
+geliebtes Mütterchen! Ich schäme mich vor mir selber. Ich bitte dich,
+Mutter, sprich! Schilt mich nicht, daß ich so etwas frage. Gib mir
+Antwort -- wie geht es zu? -- wie kommt das alles? -- Du kannst doch im
+Ernst nicht verlangen, daß ich bei meinen vierzehn Jahren noch an den
+Storch glaube.
+
+=Frau Bergmann=
+
+Aber du großer Gott, Kind, wie bist du sonderbar! -- Was du für
+Einfälle hast! -- Das kann ich ja doch wahrhaftig nicht!
+
+=Wendla=
+
+Warum denn nicht, Mutter! -- Warum denn nicht! -- Es kann ja doch
+nichts Häßliches sein, wenn sich alles darüber freut!
+
+=Frau Bergmann=
+
+O -- o Gott behüte mich! -- Ich verdiente ja ... Geh, zieh dich an,
+Mädchen; zieh dich an!
+
+=Wendla=
+
+Ich gehe, ... Und wenn dein Kind nun hingeht und fragt den
+Schornsteinfeger?
+
+=Frau Bergmann=
+
+Aber das ist ja zum Närrischwerden! -- Komm Kind, komm her, ich sag es
+dir! Ich sage dir Alles ... O du grundgütige Allmacht! -- nur heute
+nicht, Wendla! -- Morgen, übermorgen, kommende Woche ... wann du nur
+immer willst, liebes Herz ...
+
+=Wendla=
+
+Sag es mir heute, Mutter; sag es mir jetzt! Jetzt gleich! -- Nun ich
+dich so entsetzt gesehen, kann ich erst recht nicht eher wieder ruhig
+werden.
+
+=Frau Bergmann=
+
+-- Ich kann nicht, Wendla.
+
+=Wendla=
+
+O, warum kannst du nicht, Mütterchen! -- Hier knie ich zu deinen Füßen
+und lege dir meinen Kopf in den Schoß. Du deckst mir deine Schürze über
+den Kopf und erzählst und erzählst, als wärst du mutterseelenallein
+im Zimmer. Ich will nicht zucken; ich will nicht schreien; ich will
+geduldig ausharren, was immer kommen mag.
+
+=Frau Bergmann=
+
+-- Der Himmel weiß, Wendla, daß ich nicht die Schuld trage! Der Himmel
+kennt mich! -- Komm in Gottes Namen! -- Ich will dir erzählen, Mädchen,
+wie du in diese Welt hineingekommen. -- So hör mich an, Wendla ...
+
+=Wendla=
+
+(unter ihrer Schürze)
+
+Ich höre.
+
+=Frau Bergmann= (ekstatisch)
+
+-- Aber es geht ja nicht, Kind! -- Ich kann es ja nicht verantworten.
+-- Ich verdiene ja, daß man mich ins Gefängnis setzt -- daß man dich
+von mir nimmt ...
+
+=Wendla=
+
+(unter ihrer Schürze)
+
+Faß dir ein Herz, Mutter!
+
+=Frau Bergmann=
+
+So höre denn ...!
+
+=Wendla=
+
+(unter ihrer Schürze, zitternd)
+
+O Gott, o Gott!
+
+=Frau Bergmann=
+
+Um ein Kind zu bekommen -- du verstehst mich, Wendla?
+
+=Wendla=
+
+Rasch, Mutter -- ich halt’s nicht mehr aus.
+
+=Frau Bergmann=
+
+-- Um ein Kind zu bekommen -- muß man den Mann -- mit dem man
+verheiratet ist ... _lieben_ -- _lieben_ sag’ ich dir -- wie man nur
+einen Mann lieben kann! Man muß ihn so sehr _von ganzem Herzen_ lieben,
+wie -- wie sich’s nicht sagen läßt! Man muß ihn _lieben_, Wendla, wie
+du in deinen Jahren noch gar nicht lieben kannst ... Jetzt weißt du’s.
+
+=Wendla=
+
+(sich erhebend)
+
+Großer -- Gott -- im Himmel!
+
+=Frau Bergmann=
+
+Jetzt weißt du, welche Prüfungen dir bevorstehen!
+
+=Wendla=
+
+-- Und das ist alles?
+
+=Frau Bergmann=
+
+So wahr mir Gott helfe! -- -- Nimm nun den Korb da und geh zu Ina
+hinunter. Du bekommst dort Schokolade und Kuchen dazu. -- Komm,
+laß dich noch einmal betrachten -- die Schnürstiefel, die seidenen
+Handschuhe, die Matrosentaille, die Rosen im Haar ...... dein Röckchen
+wird dir aber wahrhaftig nachgerade zu kurz, Wendla!
+
+=Wendla=
+
+Hast du für Mittag schon Fleisch gebracht, Mütterchen?
+
+=Frau Bergmann=
+
+Der liebe Gott behüte dich und segne dich! -- Ich werde dir
+gelegentlich eine Handbreit Volants unten ansetzen.
+
+
+Dritte Szene
+
+_Hänschen Rilow_ (ein Licht in der Hand, verriegelt die Tür hinter sich
+und öffnet den Deckel).
+
+Hast du zu Nacht gebetet, Desdemona?
+
+(Er zieht eine Reproduktion der Venus von Palma Vecchio aus dem Busen.)
+
+-- Du siehst mir nicht nach Vaterunser aus, Holde -- kontemplativ
+des Kommenden gewärtig, wie in dem süßen Augenblick aufkeimender
+Glückseligkeit, als ich dich bei Jonathan Schlesinger im Schaufenster
+liegen sah -- ebenso berückend noch diese geschmeidigen Glieder, diese
+sanfte Wölbung der Hüften, diese jugendlich straffen Brüste -- o,
+wie berauscht von Glück muß der große Meister gewesen sein, als das
+vierzehnjährige Original vor seinen Blicken hingestreckt auf dem Diwan
+lag!
+
+Wirst du mich auch bisweilen im Traum besuchen? -- Mit ausgebreiteten
+Armen empfang’ ich dich und will dich küssen, daß dir der Atem ausgeht.
+Du ziehst bei mir ein wie die angestammte Herrin in ihr verödetes
+Schloß. Tor und Türen öffnen sich von unsichtbarer Hand, während der
+Springquell unten im Parke fröhlich zu plätschern beginnt ...
+
+Die Sache will’s! -- Die Sache will’s! -- Daß ich nicht aus frivoler
+Regung morde, sagt dir das fürchterliche Pochen in meiner Brust. Die
+Kehle schnürt sich mir zu im Gedanken an meine einsamen Nächte. Ich
+schwöre dir bei meiner Seele, Kind, daß nicht Überdruß mich beherrscht.
+Wer wollte sich rühmen, deiner überdrüssig geworden zu sein!
+
+Aber du saugst mir das Mark aus den Knochen, du krümmst mir den Rücken,
+du raubst meinen jungen Augen den letzten Glanz. -- Du bist mir zu
+anspruchsvoll in deiner unmenschlichen Bescheidenheit, zu aufreibend
+mit deinen unbeweglichen Gliedmaßen! -- Du oder ich! -- und ich habe
+den Sieg davongetragen.
+
+Wenn ich sie herzählen wollte -- all die Entschlafenen, mit denen ich
+hier den nämlichen Kampf gekämpft! --: Psyche von _Thumann_ -- noch
+ein Vermächtnis der spindeldürren Mademoiselle _Angelique_, dieser
+Klapperschlange im Paradies meiner Kinderjahre; Io von _Corregio_;
+Galathea von _Lossow_; dann ein Amor von _Bouguereau_; Ada von _J. van
+Beers_ -- diese Ada, die ich Papa aus einem Geheimfach seines Sekretärs
+entführen mußte, um sie meinem Harem einzuverleiben; eine zitternde,
+zuckende Leda von _Makart_, die ich zufällig unter den Kollegienheften
+meines Bruders fand -- _sieben_, du blühende Todeskandidatin, sind dir
+vorangeeilt auf diesem Pfad in den Tartarus! Laß dir das zum Troste
+gereichen und suche nicht durch diese flehentlichen Blicke noch meine
+Qualen ins Ungeheure zu steigern.
+
+Du stirbst nicht um _deiner_, du stirbst um _meiner_ Sünden willen!
+-- Aus Notwehr gegen mich begehe ich blutenden Herzens den siebenten
+Gattenmord. Es liegt etwas Tragisches in der Rolle des _Blaubart_. Ich
+glaube, seine gemordeten Frauen insgesamt litten nicht so viel wie er
+beim Erwürgen jeder einzelnen.
+
+Aber mein Gewissen wird ruhiger werden, mein Leib wird sich kräftigen,
+wenn du Teufelin nicht mehr in den rotseidenen Polstern meines
+Schmuckkästchens residierst. Statt deiner lasse ich dann die Lurlei
+von _Bodenhausen_ oder die Verlassene von _Linger_ oder die Loni von
+_Defregger_ in das üppige Lustgemach einziehen -- so werde ich mich
+um so rascher erholt haben! Noch ein Vierteljährchen vielleicht, und
+dein entschleiertes Josaphat, süße Seele, hätte an meinem armen Hirn
+zu zehren begonnen wie die Sonne am Butterkloß. Es war hohe Zeit, die
+Trennung von Tisch und Bett zu erwirken.
+
+Brrr, ich fühle einen Heliogabalus in mir! ~Moritura me salutat!~ --
+Mädchen, Mädchen, warum preßt du deine Kniee zusammen? -- warum auch
+jetzt noch? -- -- angesichts der unerforschlichen Ewigkeit?? -- _Eine_
+Zuckung, und ich gebe dich frei! -- _Eine_ weibliche Regung, _ein_
+Zeichen von Lüsternheit, von Sympathie, Mädchen! -- ich will dich in
+Gold rahmen lassen, dich über meinem Bett aufhängen! -- Ahnst du denn
+nicht, daß nur deine _Keuschheit_ meine Ausschweifungen gebiert? --
+Wehe, wehe über die Unmenschlichen!
+
+... Man merkt eben immer, daß sie eine musterhafte Erziehung genossen
+hat. -- _Mir geht es ja ebenso._
+
+Hast du zu Nacht gebetet, Desdemona?
+
+Das Herz krampft sich mir zusammen -- -- Unsinn! -- Auch die heilige
+_Agnes_ starb um ihrer Zurückhaltung willen und war nicht halb so nackt
+wie du! -- Einen Kuß noch auf deinen blühenden Leib, -- deine kindlich
+schwellende Brust -- deine süßgerundeten -- deine grausamen Kniee ...
+
+Die Sache will’s, die Sache will’s, mein Herz!
+
+_Laßt sie mich euch nicht nennen, keusche Sterne!_
+
+Die Sache will’s! --
+
+(Das Bild fällt in die Tiefe; er schließt den Deckel)
+
+
+Vierte Szene
+
+Ein _Heuboden_ -- _Melchior_ liegt auf dem Rücken im frischen Heu.
+_Wendla_ kommt die Leiter herauf.
+
+=Wendla=
+
+_Hier_ hast du dich verkrochen? -- Alles sucht dich. Der Wagen ist
+wieder hinaus. Du mußt helfen. Es ist ein Gewitter im Anzug.
+
+=Melchior=
+
+Weg von mir! -- Weg von mir!
+
+=Wendla=
+
+Was ist dir denn? -- Was verbirgst du dein Gesicht?
+
+=Melchior=
+
+Fort, fort! -- Ich werfe dich in die Tenne hinunter.
+
+=Wendla=
+
+Nun geh’ ich erst recht nicht. -- (Kniet neben ihm nieder) Warum kommst
+du nicht mit auf die Matte hinaus, Melchior? -- Hier ist es schwül und
+düster. Werden wir auch naß bis auf die Haut, was macht _uns_ das!
+
+=Melchior=
+
+Das Heu duftet so herrlich. -- Der Himmel draußen muß schwarz wie ein
+Bahrtuch sein. -- Ich sehe nur noch den leuchtenden Mohn an deiner
+Brust -- und dein Herz hör’ ich schlagen --
+
+=Wendla=
+
+-- -- Nicht küssen, Melchior! -- Nicht küssen!
+
+=Melchior=
+
+-- dein Herz -- hör’ ich schlagen --
+
+=Wendla=
+
+-- Man liebt sich -- wenn man küßt -- -- -- -- Nicht, nicht! -- --
+
+=Melchior=
+
+O glaub mir, es gibt keine _Liebe_! -- Alles Eigennutz, alles Egoismus!
+-- Ich liebe dich so wenig, wie du mich liebst. --
+
+=Wendla=
+
+-- -- Nicht! -- -- -- -- -- -- -- Nicht, Melchior! -- --
+
+=Melchior=
+
+-- -- -- Wendla!
+
+=Wendla=
+
+O Melchior! -- -- -- -- -- -- -- -- nicht -- -- nicht -- --
+
+
+Fünfte Szene
+
+=Frau Gabor=
+
+(sitzt, schreibt):
+
+ Lieber Herr Stiefel!
+
+Nachdem ich 24 Stunden über alles, was Sie mir schreiben, nachgedacht
+und wieder nachgedacht, ergreife ich schweren Herzens die Feder.
+Den Betrag zur Überfahrt nach Amerika kann ich Ihnen -- ich gebe
+Ihnen meine heiligste Versicherung -- _nicht_ verschaffen. Erstens
+habe ich so viel nicht zu meiner Verfügung, und zweitens, wenn ich
+es hätte, wäre es die denkbar größte Sünde, Ihnen die Mittel zur
+Ausführung einer so folgenschweren Unbedachtsamkeit an die Hand zu
+geben. Bitter Unrecht würden Sie mir tun, Herr Stiefel, in dieser
+meiner Weigerung ein Zeichen mangelnder Liebe zu erblicken. Es wäre
+umgekehrt die gröbste Verletzung meiner Pflicht als Ihre mütterliche
+Freundin, wollte ich mich durch Ihre momentane Fassungslosigkeit dazu
+bestimmen lassen, nun auch meinerseits den Kopf zu verlieren und
+meinen ersten nächstliegenden Impulsen blindlings nachzugeben. Ich bin
+gern bereit -- falls Sie es wünschen -- an Ihre Eltern zu schreiben.
+Ich werde Ihre Eltern davon zu überzeugen suchen, daß Sie im Laufe
+dieses Quartals getan haben, was Sie tun konnten, daß Sie Ihre Kräfte
+erschöpft, derart, daß eine rigorose Beurteilung Ihres Geschickes nicht
+nur ungerechtfertigt wäre, sondern in erster Linie im höchsten Grade
+nachteilig auf Ihren geistigen und körperlichen Gesundheitszustand
+wirken könnte.
+
+Daß Sie mir andeutungsweise drohen, im Fall Ihnen die Flucht nicht
+ermöglicht wird, sich das Leben nehmen zu wollen, hat mich, offen
+gesagt, Herr Stiefel, etwas befremdet. Sei ein Unglück noch so
+unverschuldet, man sollte sich nie und nimmer zur Wahl unlauterer
+Mittel hinreißen lassen. Die Art und Weise, wie Sie mich, die ich Ihnen
+stets nur Gutes erwiesen, für einen eventuellen entsetzlichen Frevel
+Ihrerseits verantwortlich machen wollen, hat etwas, das in den Augen
+eines _schlecht_denkenden Menschen gar zu leicht zum Erpressungsversuch
+werden könnte. Ich muß gestehen, daß ich mir dieses Vorgehens von
+Ihnen, der Sie doch sonst so gut wissen, was man sich selber schuldet,
+zu allerletzt gewärtig gewesen wäre. Indessen hege ich die feste
+Überzeugung, daß Sie noch zu sehr unter dem Eindruck des ersten
+Schreckens standen, um sich Ihrer Handlungsweise vollkommen bewußt
+werden zu können.
+
+Und so hoffe ich denn auch zuversichtlich, daß diese meine Worte
+Sie bereits in gefaßterer Gemütsstimmung antreffen. Nehmen Sie die
+Sache, wie sie liegt. Es ist meiner Ansicht nach durchaus unzulässig,
+einen jungen Mann nach seinen Schulzeugnissen zu beurteilen. Wir
+haben zu viele Beispiele, daß sehr schlechte Schüler vorzügliche
+Menschen geworden und umgekehrt ausgezeichnete Schüler sich im Leben
+nicht sonderlich bewährt haben. Auf jeden Fall gebe ich Ihnen die
+Versicherung, daß Ihr Mißgeschick, soweit das von mir abhängt, in Ihrem
+Verkehr mit _Melchior_ nichts ändern soll. Es wird mir stets zur Freude
+gereichen, meinen Sohn mit einem jungen Manne umgehn zu sehen, der
+sich, mag ihn nun die Welt beurteilen wie sie will, auch meine vollste
+Sympathie zu gewinnen vermochte.
+
+Und somit Kopf hoch, Herr Stiefel! -- Solche Krisen dieser oder jener
+Art treten an jeden von uns heran und wollen eben überstanden sein.
+Wollte da ein jeder gleich zu Dolch und Gift greifen, es möchte recht
+bald keine Menschen mehr auf der Welt geben. Lassen Sie bald wieder
+etwas von sich hören und seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrer Ihnen
+unverändert zugetanen
+
+ mütterlichen Freundin
+
+ Fanny G.
+
+
+Sechste Szene
+
+_Bergmanns Garten im Morgensonnenglanz_
+
+=Wendla=
+
+Warum hast du dich aus der Stube geschlichen? -- Veilchen suchen! --
+Weil mich Mutter lächeln sieht. -- Warum bringst du auch die Lippen
+nicht mehr zusammen? -- Ich weiß nicht. -- Ich weiß es ja nicht, ich
+finde nicht Worte ...
+
+Der Weg ist wie ein Pelücheteppich -- kein Steinchen, kein Dorn.
+-- Meine Füße berühren den Boden nicht ... O, wie ich die Nacht
+geschlummert habe!
+
+Hier standen sie. -- Mir wird ernsthaft wie einer Nonne beim Abendmahl.
+-- Süße Veilchen! -- Ruhig, Mütterchen. Ich will mein Bußgewand
+anziehn. -- Ach Gott, wenn jemand käme, dem ich um den Hals fallen und
+erzählen könnte!
+
+
+Siebente Szene
+
+_Abenddämmerung_. Der Himmel ist leicht bewölkt. Der Weg schlängelt
+sich durch niedres Gebüsch und Riedgras. In einiger Entfernung hört man
+den Fluß rauschen.
+
+=Moritz=
+
+Besser ist besser. -- Ich passe nicht hinein. Mögen sie einander auf
+die Köpfe steigen. -- Ich ziehe die Tür hinter mir zu und trete ins
+Freie. -- Ich gebe nicht so viel darum, mich herumdrücken zu lassen.
+
+Ich habe mich nicht aufgedrängt. Was soll ich mich jetzt aufdrängen!
+-- Ich habe keinen Vertrag mit dem lieben Gott. Mag man die Sache
+drehen, wie man sie drehen will. Man hat mich gepreßt. -- Meine Eltern
+mache ich nicht verantwortlich. Immerhin mußten sie auf das Schlimmste
+gefaßt sein. Sie waren alt genug, um zu wissen, was sie taten. Ich war
+ein Säugling, als ich zur Welt kam -- sonst wär’ ich wohl auch noch so
+schlau gewesen, ein anderer zu werden. -- Was soll ich dafür büßen, daß
+alle andern schon da waren!
+
+Ich müßte ja auf den Kopf gefallen sein ... macht mir jemand einen
+tollen Hund zum Geschenk, dann gebe ich ihm seinen tollen Hund zurück.
+Und will er seinen tollen Hund nicht zurücknehmen, dann bin ich
+menschlich und ...
+
+Ich müßte ja auf den Kopf gefallen sein!
+
+Man wird ganz per Zufall geboren und sollte nicht nach reiflichster
+Überlegung -- -- -- es ist zum Totschießen!
+
+-- Das Wetter zeigt sich wenigstens rücksichtsvoll. Den ganzen Tag sah
+es nach Regen aus und nun hat es sich doch gehalten. -- Es herrscht
+eine seltene Ruhe in der Natur. Nirgends etwas Grelles, Aufreizendes.
+Himmel und Erde sind wie durchsichtiges Spinnewebe. Und dabei scheint
+sich alles so wohl zu fühlen. Die Landschaft ist lieblich wie eine
+Schlummermelodie -- „_schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein_“, wie
+Fräulein _Snandulia_ sang. Schade, daß sie die Ellbogen ungraziös hält!
+-- Am Cäcilienfest habe ich zum letzten Male getanzt. _Snandulia_ tanzt
+nur mit Partien. Ihre Seidenrobe war hinten und vorn ausgeschnitten.
+Hinten bis auf den Taillengürtel und vorne bis zur Bewußtlosigkeit. --
+Ein Hemd kann sie nicht angehabt haben ... -- -- -- -- -- -- -- -- --
+-- -- -- --
+
+-- das wäre etwas, was mich noch fesseln könnte. -- Mehr der Kuriosität
+halber. -- Es muß ein sonderbares Empfinden sein -- -- ein Gefühl, als
+würde man über Stromschnellen gerissen -- -- -- Ich werde es niemandem
+sagen, daß ich unverrichteter Sache wiederkehre. Ich werde so tun, als
+hätte ich alles das mitgemacht ... Es hat etwas Beschämendes, Mensch
+gewesen zu sein, ohne das Menschlichste kennen gelernt zu haben. -- Sie
+kommen aus _Ägypten_, verehrter Herr, und haben die _Pyramiden_ nicht
+gesehn?!
+
+Ich will heute nicht wieder weinen. Ich will nicht wieder an mein
+Begräbnis denken -- -- _Melchior_ wird mir einen Kranz auf den
+Sarg legen. Pastor _Kahlbauch_ wird meine Eltern trösten. Rektor
+_Sonnenstich_ wird Beispiele aus der Geschichte zitieren. -- Einen
+Grabstein werd’ ich ja wahrscheinlich nicht bekommen. Ich hätte mir
+eine schneeweiße Marmorurne auf schwarzem Syenitsockel gewünscht --
+ich werde sie ja gottlob nicht vermissen. Die Denkmäler sind für die
+Lebenden, nicht für die Toten.
+
+Ich brauchte wohl ein Jahr, um in Gedanken von allem Abschied zu
+nehmen. Ich will nicht wieder weinen. Ich bin so froh, ohne Bitterkeit
+zurückblicken zu dürfen. Wie manchen schönen Abend ich mit _Melchior_
+verlebt habe! -- unter den Uferweiden; beim Forsthaus; am Heerweg
+draußen, wo die fünf Linden stehen; auf dem Schloßberg, zwischen den
+lauschigen Trümmern der Runenburg -- -- -- Wenn die Stunde gekommen,
+will ich aus Leibeskräften an Schlagsahne denken. Schlagsahne hält
+nicht auf. Sie stopft und hinterläßt dabei doch einen angenehmen
+Nachgeschmack ... Auch die Menschen hatte ich mir unendlich schlimmer
+gedacht. Ich habe keinen gefunden, der nicht sein Bestes gewollt hätte.
+Ich habe manchen bemitleidet um meinetwillen.
+
+Ich wandle zum Altar wie der Jüngling im alten Etrurien, dessen letztes
+Röcheln der Brüder Wohlergehen für das kommende Jahr erkauft. -- Ich
+durchkoste Zug für Zug die geheimnisvollen Schauer der Loslösung. Ich
+schluchze vor Wehmut über mein Los. -- -- Das Leben hat mir die kalte
+Schulter gezeigt. Von drüben her sehe ich ernste freundliche Blicke
+winken: die kopflose Königin, die kopflose Königin -- Mitgefühl, mich
+mit weichen Armen erwartend ... Eure Gebote gelten für Unmündige; ich
+trage mein Freibillett in mir. Sinkt die Schale, dann flattert der
+Falter davon; das Trugbild geniert nicht mehr. -- Ihr solltet kein
+tolles Spiel mit dem Schwindel treiben! Der Nebel zerrinnt; das Leben
+ist Geschmacksache.
+
+=Ilse=
+
+(in abgerissenen Kleidern, ein buntes Tuch um den Kopf, faßt ihn von
+rückwärts an der Schulter)
+
+Was hast du verloren?
+
+=Moritz=
+
+Ilse?!
+
+=Ilse=
+
+Was suchst du hier?
+
+=Moritz=
+
+Was erschreckst du mich so?
+
+=Ilse=
+
+Was suchst du? -- Was hast du verloren?
+
+=Moritz=
+
+Was erschreckst du mich denn so entsetzlich?
+
+=Ilse=
+
+Ich komme aus der Stadt. -- Ich gehe nach Hause.
+
+=Moritz=
+
+Ich weiß nicht, was ich verloren habe.
+
+=Ilse=
+
+Dann hilft auch dein Suchen nichts.
+
+=Moritz=
+
+Sakerment, Sakerment!!
+
+=Ilse=
+
+Seit vier Tagen bin ich nicht zu Hause gewesen.
+
+=Moritz=
+
+-- Lautlos wie eine Katze!
+
+=Ilse=
+
+Weil ich meine Ballschuhe anhabe. -- Mutter wird Augen machen! -- Komm
+bis an unser Haus mit!
+
+=Moritz=
+
+Wo hast du wieder herumgestrolcht?
+
+=Ilse=
+
+In der _Priapia_!
+
+=Moritz=
+
+_Priapia_?
+
+=Ilse=
+
+Bei _Nohl_, bei _Fehrendorf_, bei _Padinsky_, bei _Lenz_, _Rank_,
+_Spühler_ -- bei allen möglichen! -- Kling, kling -- die wird springen!
+
+=Moritz=
+
+Malen sie dich?
+
+=Ilse=
+
+_Fehrendorf_ malt mich als Säulenheilige. Ich stehe auf einem
+korinthischen Kapitäl. _Fehrendorf_, sag’ ich dir, ist eine verhauene
+Nudel. Das letzte Mal zertrat ich ihm eine Tube. Er wischt mir die
+Pinsel ins Haar. Ich versetze ihm eine Ohrfeige. Er wirft mir die
+Palette an den Kopf. Ich werfe die Staffelei um. Er mit dem Malstock
+hinter mir drein über Divan, Tische, Stühle, ringsum durchs Atelier.
+Hinterm Ofen lag eine Skizze: -- Brav sein, oder ich zerreiße sie! --
+Er schwor Amnestie und hat mich dann schließlich noch schrecklich --
+schrecklich, sag’ ich dir -- abgeküßt.
+
+=Moritz=
+
+Wo übernachtest du, wenn du in der Stadt bleibst?
+
+=Ilse=
+
+Gestern waren wir bei _Nohl_ -- vorgestern bei _Bojokewitsch_ -- am
+Sonntag bei _Oikonomopulos_. Bei _Padinsky_ gab’s Sekt. _Valabregez_
+hatte seinen Pestkranken verkauft. _Adolar_ trank aus dem Aschenbecher.
+_Lenz_ sang die _Kindsmörderin_, und _Adolar_ schlug die Guitarre
+krumm. Ich war so betrunken, daß sie mich zu Bett bringen mußten. -- --
+Du gehst immer noch zur Schule, Moritz?
+
+=Moritz=
+
+Nein, nein ... dieses Quartal nehme ich meine Entlassung.
+
+=Ilse=
+
+Du hast Recht. Ach, wie die Zeit vergeht, wenn man Geld verdient! --
+Weißt du noch, wie wir _Räuber_ spielten? -- _Wendla Bergmann_ und
+du und ich und die Andern, wenn ihr abends herauskamt und kuhwarme
+Ziegenmilch bei uns trankt? -- Was macht _Wendla_? Ich sah sie noch bei
+der Überschwemmung. -- Was macht _Melchi Gabor_? -- Schaut er noch so
+tiefsinnig drein? -- In der Singstunde standen wir einander gegenüber.
+
+=Moritz=
+
+Er philosophiert.
+
+=Ilse=
+
+_Wendla_ war derweil bei uns und hat der Mutter Eingemachtes gebracht.
+Ich saß den Tag bei Isidor Landauer. Er braucht mich zur heiligen
+Maria, Mutter Gottes, mit dem Christuskind. Er ist ein Tropf und
+widerlich. Hu, wie ein Wetterhahn! -- Hast du Katzenjammer?
+
+=Moritz=
+
+Von gestern Abend! -- Wir haben wie Nilpferde gezecht. Um fünf Uhr
+wankt’ ich nach Hause.
+
+=Ilse=
+
+Man braucht dich nur anzusehn. -- Waren Mädchen dabei?
+
+=Moritz=
+
+Arabella, die Biernymphe, Andalusierin! -- Der Wirt ließ uns Alle die
+ganze Nacht durch mit ihr allein.
+
+=Ilse=
+
+Man braucht dich nur anzusehen, Moritz! -- Ich kenne keinen
+Katzenjammer. Vergangenen Karneval kam ich drei Tage und drei Nächte in
+kein Bett und nicht aus den Kleidern. Von der Redoute ins Café, Mittags
+in Bellavista, Abends Tingl-Tangl, Nachts zur Redoute. _Lena_ war dabei
+und die dicke _Viola_. -- In der dritten Nacht fand mich _Heinrich_.
+
+=Moritz=
+
+Hatte er dich denn gesucht?
+
+=Ilse=
+
+Er war über meinen Arm gestolpert. Ich lag bewußtlos im Straßenschnee.
+-- Darauf kam ich zu ihm hin. Vierzehn Tage verließ ich seine Behausung
+nicht -- eine gräuliche Zeit! -- Morgens mußte ich seinen persischen
+Schlafrock überwerfen und abends in schwarzem Pagenkostüm durchs Zimmer
+gehn; an Hals, an Knien und Ärmeln weiße Spitzenaufschläge. Täglich
+photographierte er mich in anderem Arrangement -- einmal auf der
+Sofalehne als Ariadne, einmal als Leda, einmal als Ganymed, einmal auf
+allen Vieren als weiblichen Nebuchod-Nosor. Dabei schwärmte er von
+Umbringen, von Erschießen, Selbstmord und Kohlendampf. Frühmorgens nahm
+er eine Pistole ins Bett, lud sie voll Spitzkugeln und setzte sie mir
+auf die Brust: Ein Zwinkern, so drück’ ich! -- O, er hätte gedrückt,
+Moritz; er hätte gedrückt! -- Dann nahm er das Dings in den Mund wie
+ein Pusterohr. Das wecke den Selbsterhaltungstrieb. Und dann -- Brrrr
+-- die Kugel wäre mir durchs Rückgrat gegangen.
+
+=Moritz=
+
+Lebt _Heinrich_ noch?
+
+=Ilse=
+
+Was weiß ich! -- Über dem Bett war ein Deckenspiegel im Plafond
+eingelassen. Das Kabinet schien turmhoch und hell wie ein Opernhaus.
+Man sah sich leibhaftig vom Himmel herunterhängen. Grauenvoll habe ich
+die Nächte geträumt. -- Gott, o Gott, wenn es erst wieder Tag würde! --
+Gute Nacht, Ilse. Wenn du schläfst, bist du zum Morden schön!
+
+=Moritz=
+
+Lebt dieser _Heinrich_ noch?
+
+=Ilse=
+
+So Gott will, nicht! -- Wie er eines Tages Absynth holt, werfe ich den
+Mantel um und schleiche mich auf die Straße. Der Fasching war aus; die
+Polizei fängt mich ab; was ich in Mannskleidern wolle? -- Sie brachten
+mich zur Hauptwache. Da kamen _Nohl_, _Fehrendorf_, _Padinsky_,
+_Spühler_, _Oikonomopulos_, die ganze _Priapia_, und bürgten für mich.
+Im Fiaker transportierten sie mich auf _Adolars_ Atelier. Seither bin
+ich der Horde treu. _Fehrendorf_ ist ein Affe, _Nohl_ ist ein Schwein,
+_Bojokewitsch_ ein Uhu, _Loison_ eine Hyäne, _Oikonomopulos_ ein Kameel
+-- darum lieb’ ich sie doch Einen wie den Andern und möchte mich an
+sonst niemand hängen, und wenn die Welt voll Erzengel und Millionäre
+wär’!
+
+=Moritz=
+
+-- Ich muß zurück, Ilse.
+
+=Ilse=
+
+Komm bis an unser Haus mit!
+
+=Moritz=
+
+-- Wozu? -- Wozu? --
+
+=Ilse=
+
+Kuhwarme Ziegenmilch trinken! -- Ich will dir Locken brennen und
+dir ein Glöcklein um den Hals hängen. -- Wir haben auch noch ein
+Hü-Pferdchen, mit dem du spielen kannst.
+
+=Moritz=
+
+Ich muß zurück. -- Ich habe noch die Sassaniden, die Bergpredigt und
+das Parallelepipedon auf dem Gewissen. -- Gute Nacht, Ilse!
+
+=Ilse=
+
+Schlummre süß! ... Geht ihr wohl noch zum _Wigwam_ hinunter, wo _Melchi
+Gabor_ mein Tomahawk begrub? -- Brrr! Bis es an euch kommt, lieg’ ich
+im Kehricht. (Eilt davon.)
+
+=Moritz= (allein)
+
+-- -- -- Ein Wort hätte es gekostet. -- (Er ruft) -- Ilse! -- Ilse! --
+-- Gottlob sie hört nicht mehr.
+
+-- Ich bin in der Stimmung nicht. -- Dazu bedarf es eines freien Kopfes
+und eines fröhlichen Herzens. -- Schade, schade um die Gelegenheit!
+
+... ich werde sagen, ich hätte mächtige Kristallspiegel über meinen
+Betten gehabt -- hätte mir ein unbändiges Füllen gezogen -- hätte es
+in langen schwarzseidenen Strümpfen und schwarzen Lackstiefeln und
+schwarzen, langen Glacé-Handschuhen, schwarzen Samt um den Hals,
+über den Teppich an mir vorbeistolzieren lassen -- hätte es in einem
+Wahnsinnsanfall in meinen Kissen erwürgt ... ich werde lächeln wenn von
+Wollust die Rede ist ... ich werde --
+
+_Aufschreien! -- Aufschreien! -- Du sein, Ilse! -- Priapia! --
+Besinnungslosigkeit! -- Das nimmt die Kraft mir! -- Dieses Glückskind,
+dieses Sonnenkind -- dieses Freudenmädchen auf meinem Jammerweg! -- --
+O! -- O!_
+
+ -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
+ -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
+
+(Im Ufergebüsch)
+
+Hab’ ich sie doch unwillkürlich wiedergefunden -- die Rasenbank. Die
+Königskerzen scheinen gewachsen seit gestern. Der Ausblick zwischen
+den Weiden durch ist derselbe noch. -- Der Fluß zieht schwer wie
+geschmolzenes Blei. Daß ich nicht vergesse ... (er zieht Frau Gabors
+Brief aus der Tasche und verbrennt ihn) -- Wie die Funken irren -- hin
+und her, kreuz und quer -- Seelen! -- Sternschnuppen! --
+
+Eh’ ich angezündet, sah man die Gräser noch und einen Streifen am
+Horizont. -- Jetzt ist es dunkel geworden. Jetzt gehe ich nicht mehr
+nach Hause.
+
+
+
+
+Dritter Akt
+
+
+Erste Szene
+
+
+_Konferenzzimmer_. -- An den Wänden die Bildnisse von Pestalozzi und
+J. J. Rousseau. Um einen grünen Tisch, über dem mehrere Gasflammen
+brennen, sitzen die Professoren _Affenschmalz_, _Knüppeldick_,
+_Hungergurt_, _Knochenbruch_, _Zungenschlag_ und _Fliegentod_. Am
+oberen Ende auf erhöhtem Sessel Rektor _Sonnenstich_. Pedell _Habebald_
+kauert neben der Tür.
+
+=Sonnenstich=
+
+....Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben? -- --
+Meine Herren! -- Wenn wir nicht umhin können, bei einem hohen
+Kultusministerium die Relegation unseres schuldbeladenen Schülers
+zu beantragen, so können wir das aus den schwerwiegendsten Gründen
+nicht. Wir können es nicht, um das bereits hereingebrochene Unglück
+zu sühnen, wir können es eben so wenig, um unsere Anstalt für die
+Zukunft vor ähnlichen Schlägen sicher zu stellen. Wir können es nicht,
+um unseren schuldbeladenen Schüler für den demoralisirenden Einfluß,
+den er auf seinen Klassengenossen ausgeübt, zu züchtigen; wir können
+es zu allerletzt, um ihn zu verhindern, den nämlichen Einfluß auf
+seine übrigen Klassengenossen auszuüben. Wir können es -- und der,
+meine Herren, möchte der schwerwiegendste sein -- aus dem jeden
+Einwand niederschlagenden Grunde nicht, weil wir unsere Anstalt vor
+den Verheerungen einer Selbstmord-Epidemie zu schützen haben, wie sie
+bereits an verschiedenen Gymnasien zum Ausbruch gelangt und bis heute
+allen Mitteln, den Gymnasiasten an seine durch seine Heranbildung zum
+Gebildeten gebildeten Existenzbedingungen zu fesseln, gespottet hat. --
+-- Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?
+
+=Knüppeldick=
+
+Ich kann mich nicht länger der Überzeugung verschließen, daß es endlich
+an der Zeit wäre, irgendwo ein Fenster zu öffnen.
+
+=Zungenschlag=
+
+Es he-herrscht hier eine A-A-Atmosphäre wie in unterirdischen
+Kata-Katakomben, wie in den A-Aktensälen des weiland Wetzlarer
+Ka-Ka-Ka-Ka-Kammergerichtes.
+
+=Sonnenstich=
+
+Habebald!
+
+=Habebald=
+
+Befehlen, Herr Rektor!
+
+=Sonnenstich=
+
+Öffnen Sie ein Fenster! Wir haben Gott sei Dank Atmosphäre genug
+draußen. -- Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?
+
+=Fliegentod=
+
+Wenn meine Herren Kollegen ein Fenster öffnen lassen wollen, so habe
+ich meinerseits nichts dagegen einzuwenden. Nur möchte ich bitten, das
+Fenster nicht gerade hinter meinem Rücken öffnen lassen zu wollen!
+
+=Sonnenstich=
+
+Habebald!
+
+=Habebald=
+
+Befehlen, Herr Rektor!
+
+=Sonnenstich=
+
+Öffnen Sie das andere Fenster! -- -- Sollte einer der Herren noch etwas
+zu bemerken haben?
+
+=Hungergurt=
+
+Ohne die Kontroverse meinerseits belasten zu wollen, möchte ich an
+die Tatsache erinnern, daß das andere Fenster seit den Herbstferien
+zugemauert ist.
+
+=Sonnenstich=
+
+Habebald!
+
+=Habebald=
+
+Befehlen, Herr Rektor!
+
+=Sonnenstich=
+
+Lassen Sie das andere Fenster geschlossen! -- Ich sehe mich genötigt,
+meine Herren, den Antrag zur Abstimmung zu bringen. Ich ersuche
+diejenigen Herren Kollegen, die dafür sind, daß das einzig in Frage
+kommen könnende Fenster geöffnet werde, sich von ihren Sitzen zu
+erheben. (Er zählt) -- Eins, zwei, drei. -- Eins, zwei drei. --
+Habebald!
+
+=Habebald=
+
+Befehlen, Herr Rektor!
+
+=Sonnenstich=
+
+Lassen Sie das eine Fenster gleichfalls geschlossen! -- Ich meinerseits
+hege die Überzeugung, daß die Atmosphäre nichts zu wünschen übrig
+läßt! -- -- Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?
+-- -- Meine Herren! -- Setzen wir den Fall, daß wir die Relegation
+unseres schuldbeladenen Schülers bei einem hohen Kultusministerium
+zu beantragen unterlassen, so wird _uns_ ein hohes Kultusministerium
+für das hereingebrochene Unglück verantwortlich machen. Von den
+verschiedenen von der Selbstmord-Epidemie heimgesuchten Gymnasien
+sind diejenigen, in denen fünfundzwanzig Prozent den Verheerungen
+der Selbstmord-Epidemie zum Opfer gefallen, von einem hohen
+Kultusministerium suspendiert worden. Vor diesem erschütterndsten
+Schlage unsere Anstalt zu wahren, ist unsere Pflicht als Hüter und
+Bewahrer unserer Anstalt. Es schmerzt uns tief, meine Herren Kollegen,
+daß wir die sonstige Qualifikation unseres schuldbeladenen Schülers
+als mildernden Umstand gelten zu lassen nicht in der Lage sind. Ein
+nachsichtiges Verfahren, das sich unserem schuldbeladenen Schüler
+gegenüber rechtfertigen ließe, ließe sich der zur Zeit in denkbar
+bedenklichster Weise gefährdeten Existenz unserer Anstalt gegenüber
+_nicht_ rechtfertigen. Wir sehen uns in die Notwendigkeit versetzt, den
+Schuldbeladenen zu richten, um nicht als die Schuldlosen gerichtet zu
+werden. -- Habebald!
+
+=Habebald=
+
+Befehlen, Herr Rektor!
+
+=Sonnenstich=
+
+Führen Sie ihn herauf!
+
+(Habebald ab.)
+
+=Zungenschlag=
+
+Wenn die he-herrschende A-A-Atmosphäre maßgebenderseits wenig
+oder nichts zu wünschen übrig läßt, so möchte ich den Antrag
+stellen, während der So-Sommerferien auch noch das andere Fenster
+zu-zu-zu-zu-zu-zu-zu-zu-zuzumauern!
+
+=Fliegentod=
+
+Wenn unserem lieben Kollega Zungenschlag unser Lokal nicht genügend
+ventiliert erscheint, so möchte ich den Auftrag stellen, unserm
+lieben Herrn Kollega Zungenschlag einen Ventilator in die Stirnhöhle
+applizieren zu lassen.
+
+=Zungenschlag=
+
+Da-da-das brauche ich mir nicht gefallen zu lassen! -- Gro-Grobheiten
+brauche ich mir nicht gefallen zu lassen! -- Ich bin meiner
+fü-fü-fü-fü-fünf Sinne mächtig ...!
+
+=Sonnenstich=
+
+Ich muß unsere Herren Kollegen Fliegentod und Zungenschlag um einigen
+Anstand ersuchen. Unser schuldbeladener Schüler scheint mir bereits auf
+der Treppe zu sein.
+
+(Habebald öffnet die Türe, worauf _Melchior_, bleich aber gefaßt, vor
+die Versammlung tritt.)
+
+=Sonnenstich=
+
+Treten Sie näher an den Tisch heran! -- Nachdem Herr Rentier Stiefel
+von dem ruchlosen Frevel seines Sohnes Kenntnis erhalten, durchsuchte
+der fassungslose Vater, in der Hoffnung, auf diesem Wege möglicherweise
+dem Anlaß der verabscheuungswürdigen Untat auf die Spur zu kommen, die
+hinterlassenen Effekten seines Sohnes Moritz und stieß dabei an einem
+nicht zur Sache gehörigen Orte auf ein Schriftstück, welches uns ohne
+noch die verabscheuungswürdige Untat an sich verständlich zu machen,
+für die dabei maßgebend gewesene moralische Zerrüttung des Untäters
+eine leider nur allzu ausreichende Erklärung liefert. Es handelt sich
+um eine in Gesprächsform abgefaßte, „_Der Beischlaf_“ betitelte, mit
+lebensgroßen Abbildungen versehene, von den schamlosesten Unfläthereien
+strotzende, zwanzig Seiten lange Abhandlung, die den geschraubtesten
+Anforderungen, die ein verworfener Lüstling an eine unzüchtige Lektüre
+zu stellen vermöchte, entsprechen dürfte. --
+
+=Melchior=
+
+Ich habe ...
+
+=Sonnenstich=
+
+Sie haben sich ruhig zu verhalten! -- Nachdem Herr Rentier Stiefel
+uns fragliches Schriftstück ausgehändigt und wir dem fassungslosen
+Vater das Versprechen erteilt, um jeden Preis den Autor zu ermitteln,
+wurde die uns vorliegende Handschrift mit den Handschriften sämtlicher
+Mitschüler des weiland Ruchlosen verglichen und ergab nach dem
+einstimmigen Urteil der gesamten Lehrerschaft, sowie in vollkommenem
+Einklang mit dem Spezial-Gutachten unseres geschätzten Herrn Kollegen
+für Kalligraphie die denkbar bedenklichste Ähnlichkeit mit der
+_Ihrigen_. --
+
+=Melchior=
+
+Ich habe ...
+
+=Sonnenstich=
+
+Sie haben sich ruhig zu verhalten! -- Ungeachtet der erdrückenden
+Tatsache der von Seiten unantastbarer Autoritäten anerkannten
+Ähnlichkeit glauben wir uns vorderhand noch jeder weiteren Maßnahmen
+enthalten zu dürfen, um in erster Linie den Schuldigen über das
+ihm demgemäß zur Last fallende Vergehen wider die Sittlichkeit in
+Verbindung mit daraus resultierender Veranlassung zur Selbstentleibung
+ausführlich zu vernehmen. --
+
+=Melchior=
+
+Ich habe ...
+
+=Sonnenstich=
+
+Sie haben die genau präzisierten Fragen, die ich Ihnen der Reihe nach
+vorlege, eine um die andere, mit einem schlichten und bescheidenen „Ja“
+oder „Nein“ zu beantworten. -- Habebald!
+
+=Habebald=
+
+Befehlen, Herr Rektor!
+
+=Sonnenstich=
+
+Die Akten! -- -- Ich ersuche unseren Schriftführer, Herrn Kollega
+Fliegentod, von nun an möglichst wortgetreu zu protokollieren. -- (Zu
+Melchior) Kennen Sie dieses Schriftstück?
+
+=Melchior=
+
+Ja.
+
+=Sonnenstich=
+
+Wissen Sie, was dieses Schriftstück enthält?
+
+=Melchior=
+
+Ja.
+
+=Sonnenstich=
+
+Ist die Schrift dieses Schriftstücks die Ihrige?
+
+=Melchior=
+
+Ja.
+
+=Sonnenstich=
+
+Verdankt dieses unflätige Schriftstück Ihnen seine Abfassung?
+
+=Melchior=
+
+Ja. -- Ich ersuche Sie, Herr Rektor, mir _eine_ Unflätigkeit darin
+nachzuweisen.
+
+=Sonnenstich=
+
+Sie haben die genau präzisierten Fragen, die ich Ihnen vorlege, mit
+einem schlichten und bescheidenen „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten!
+
+=Melchior=
+
+Ich habe nicht mehr und nicht weniger geschrieben, als was eine Ihnen
+sehr wohlbekannte Tatsache ist!
+
+=Sonnenstich=
+
+Dieser Schandbube!!
+
+=Melchior=
+
+Ich ersuche Sie, mir einen Verstoß gegen die Sittlichkeit in der
+Schrift zu zeigen!
+
+=Sonnenstich=
+
+Bilden Sie sich ein, ich hätte Lust, zu Ihrem Hanswurst an Ihnen zu
+werden?! -- Habebald ...!
+
+=Melchior=
+
+Ich habe ...
+
+=Sonnenstich=
+
+Sie haben so wenig Ehrerbietung vor der Würde Ihrer versammelten
+Lehrerschaft, wie Sie Anstandsgefühl für das dem Menschen eingewurzelte
+Empfinden für die Diskretion der Verschämtheit einer sittlichen
+Weltordnung haben! -- Habebald!!
+
+=Habebald=
+
+Befehlen, Herr Rektor!
+
+=Sonnenstich=
+
+Es ist ja der _Langenscheidt_ zur dreistündigen Erlernung des
+aggluttierenden Volapük!
+
+=Melchior=
+
+Ich habe ...
+
+=Sonnenstich=
+
+Ich ersuche unseren Schriftführer, Herrn Kollega Fliegentod, das
+Protokoll zu schließen!
+
+=Melchior=
+
+Ich habe ...
+
+=Sonnenstich=
+
+Sie haben sich ruhig zu verhalten!! -- Habebald!
+
+=Habebald=
+
+Befehlen, Herr Rektor!
+
+=Sonnenstich=
+
+Führen Sie Ihn hinunter!
+
+
+Zweite Szene
+
+_Friedhof_ in strömendem Regen. -- Vor einem offenen Grabe steht Pastor
+_Kahlbauch_, den aufgespannten Schirm in der Hand. Zu seiner Rechten
+Rentier _Stiefel_, dessen Freund _Ziegenmelker_ und Onkel _Probst_. Zur
+Linken Rektor _Sonnenstich_ mit Professor _Knochenbruch_. Gymnasiasten
+schließen den Kreis. In einiger Entfernung vor einem halbverfallenen
+Grabmonument _Martha_ und _Ilse_
+
+=Pastor Kahlbauch=
+
+... Denn wer die Gnade, mit der der ewige Vater den in Sünden Geborenen
+gesegnet, von sich wies, er wird des _geistigen_ Todes sterben! -- Wer
+aber in eigenwilliger fleischlicher Verleugnung der Gott gebührenden
+Ehre dem Bösen gelebt und gedient, er wird des _leiblichen_ Todes
+sterben! -- Wer jedoch das Kreuz, das der Allerbarmer ihm um der Sünde
+willen auferlegt, freventlich von sich geworfen, wahrlich, wahrlich,
+ich sage euch, der wird des _ewigen_ Todes sterben! -- (Er wirft eine
+Schaufel voll Erde in die Gruft) -- Uns aber, die wir fort und fort
+wallen den Dornenpfad, lasset den Herrn, den allgütigen, preisen
+und ihm danken für seine unerforschliche Gnadenwahl. Denn so wahr
+_dieser_ eines _dreifachen_ Todes starb, so wahr wird Gott der Herr den
+Gerechten einführen zur Seligkeit und zum ewigen Leben. -- Amen.
+
+=Rentier Stiefel=
+
+(mit tränenerstickter Stimme, wirft eine Schaufel voll Erde in die
+Gruft)
+
+Der Junge war nicht von mir! -- Der Junge war nicht von mir! -- Der
+Junge hat mir von kleinauf nicht gefallen!
+
+=Rektor Sonnenstich=
+
+(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)
+
+Der Selbstmord als der denkbar bedenklichste Verstoß gegen die
+sittliche Weltordnung ist der denkbar bedenklichste Beweis für
+die sittliche Weltordnung, indem der Selbstmörder der sittlichen
+Weltordnung den Urteilsspruch zu sprechen erspart und ihr Bestehen
+bestätigt.
+
+=Professor Knochenbruch=
+
+(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)
+
+Verbummelt -- versumpft -- verhurt -- verlumpt -- und verludert!
+
+=Onkel Probst=
+
+(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)
+
+Meiner eigenen Mutter hätte ich’s nicht geglaubt, daß ein Kind so
+niederträchtig an seinen Eltern zu handeln vermöchte!
+
+=Freund Ziegenmelker=
+
+(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)
+
+An einem Vater zu handeln vermöchte, der nun seit zwanzig Jahren von
+früh bis spät keinen Gedanken mehr hegt, als das Wohl seines Kindes!
+
+=Pastor Kahlbauch=
+
+(Rentier Stiefel die Hand drückend)
+
+Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten dienen.
+1. Korinth. 12, 15. -- Denken Sie der trostlosen Mutter und suchen Sie
+ihr das Verlorene durch verdoppelte Liebe zu ersetzen!
+
+=Rektor Sonnenstich=
+
+(Rentier Stiefel die Hand drückend)
+
+Wir hätten ihn ja wahrscheinlich doch nicht promovieren können!
+
+=Professor Knochenbruch=
+
+(Rentier Stiefel die Hand drückend)
+
+Und wenn wir ihn promoviert hätten, im nächsten Frühling wäre er des
+allerbestimmtesten sitzen geblieben!
+
+=Onkel Probst=
+
+(Rentier Stiefel die Hand drückend)
+
+Jetzt hast du vor allem die Pflicht, an dich zu denken. Du bist
+Familienvater ...!
+
+=Freund Ziegenmelker=
+
+(Rentier Stiefel die Hand drückend)
+
+Vertraue dich meiner Führung! -- Ein Hundewetter, daß einem die Därme
+schlottern! -- Wer da nicht unverzüglich mit einem Grogg eingreift, hat
+seine Herzklappenaffektion weg!
+
+=Rentier Stiefel=
+
+(sich die Nase schneuzend)
+
+Der Junge war nicht von mir ... der Junge war nicht von mir ...
+
+(Rentier Stiefel, geleitet von Pastor Kahlbauch, Rektor Sonnenstich,
+Professor Knochenbruch, Onkel Probst und Freund Ziegenmelker ab. -- Der
+Regen läßt nach)
+
+=Hänschen Rilow=
+
+(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)
+
+Ruhe in Frieden, du ehrliche Haut! -- Grüße mir meine ewigen Bräute,
+hingeopferten Angedenkens, und empfiehl mich ganz ergebenst zu Gnaden
+dem lieben Gott -- armer Tollpatsch du! -- Sie werden dir um deiner
+Engelseinfalt willen noch eine Vogelscheuche aufs Grab setzen ...
+
+=Georg=
+
+Hat sich die Pistole gefunden?
+
+=Robert=
+
+Man braucht keine Pistole zu suchen!
+
+=Ernst=
+
+Hast du ihn gesehen, Robert?
+
+=Robert=
+
+Verfluchter, verdammter Schwindel! -- Wer hat ihn gesehen? -- Wer denn?!
+
+=Otto=
+
+Da steckt’s nämlich! -- Man hatte ihm ein Tuch übergeworfen.
+
+=Georg=
+
+Hing die Zunge heraus?
+
+=Robert=
+
+Die Augen! -- Deshalb hatte man das Tuch drübergeworfen.
+
+=Otto=
+
+Grauenhaft!
+
+=Hänschen Rilow=
+
+Weißt du bestimmt, daß er sich erhängt hat?
+
+=Ernst=
+
+Man sagt, er habe gar keinen Kopf mehr.
+
+=Otto=
+
+Unsinn! -- Gewäsch!
+
+=Robert=
+
+Ich habe ja den Strick in Händen gehabt! -- Ich habe noch keinen
+Erhängten gesehen, den man nicht zugedeckt hätte.
+
+=Georg=
+
+Auf gemeinere Art hätte er sich nicht empfehlen können!
+
+=Hänschen Rilow=
+
+Was Teufel, das Erhängen soll ganz hübsch sein!
+
+=Otto=
+
+Mir ist er nämlich noch fünf Mark schuldig. Wir hatten gewettet. Er
+schwor, er werde sich halten.
+
+=Hänschen Rilow=
+
+Du bist schuld, daß er daliegt. Du hast ihn Prahlhans genannt.
+
+=Otto=
+
+Paperlapap, ich muß auch büffeln die Nächte durch. Hätte er die
+griechische Literaturgeschichte gelernt, er hätte sich nicht zu
+erhängen brauchen!
+
+=Ernst=
+
+Hast du den Aufsatz, Otto?
+
+=Otto=
+
+Erst die Einleitung.
+
+=Ernst=
+
+Ich weiß gar nicht, was schreiben.
+
+=Georg=
+
+Warst du denn nicht da, als uns Affenschmalz die Disposition gab?
+
+=Hänschen Rilow=
+
+Ich stopsle mir was aus dem _Demokrit_ zusammen.
+
+=Ernst=
+
+Ich will sehen, ob sich im _kleinen Meyer_ was finden läßt.
+
+=Otto=
+
+Hast du den Vergil schon auf morgen? -- -- -- -- --
+
+(Die Gymnasiasten ab. -- Martha und Ilse kommen ans Grab.)
+
+=Ilse=
+
+Rasch, rasch! -- Dort hinten kommen die Totengräber.
+
+=Martha=
+
+Wollen wir nicht lieber warten, Ilse?
+
+=Ilse=
+
+Wozu? -- Wir bringen neue. Immer neue und neue! -- Es wachsen genug.
+
+=Martha=
+
+Du hast recht, Ilse! -- (Sie wirft einen Epheukranz in die Gruft. Ilse
+öffnet ihre Schürze und läßt eine Fülle frischer Anemonen auf den Sarg
+regnen.)
+
+=Martha=
+
+Ich grabe unsere Rosen aus. Schläge bekomme ich ja doch! -- Hier werden
+sie gedeihen.
+
+=Ilse=
+
+Ich will sie begießen, so oft ich vorbeikomme. Ich hole Vergißmeinnicht
+vom Goldbach herüber und Schwertlilien bringe ich von Hause mit.
+
+=Martha=
+
+Es soll eine Pracht werden! Eine Pracht!
+
+=Ilse=
+
+Ich war schon über der Brücke drüben, da hört’ ich den Knall.
+
+=Martha=
+
+Armes Herz!
+
+=Ilse=
+
+Und ich weiß auch den Grund, Martha.
+
+=Martha=
+
+Hat er dir was gesagt?
+
+=Ilse=
+
+Parallelepipedon! -- Aber sag’ es niemandem.
+
+=Martha=
+
+Meine Hand darauf.
+
+=Ilse=
+
+-- Hier ist die Pistole.
+
+=Martha=
+
+Deshalb hat man sie nicht gefunden!
+
+=Ilse=
+
+Ich nahm sie ihm gleich aus der Hand, als ich am Morgen vorbeikam.
+
+=Martha=
+
+Schenk’ sie mir, Ilse! -- Bitte, schenk’ sie mir!
+
+=Ilse=
+
+Nein, die behalt’ ich zum Andenken.
+
+=Martha=
+
+Ist’s wahr, Ilse, daß er ohne Kopf drinliegt?
+
+=Ilse=
+
+Er muß sie mit Wasser geladen haben! -- Die Königskerzen waren über und
+über mit Blut besprengt. Sein Hirn hing in den Weiden umher.
+
+
+Dritte Szene
+
+_Herr und Frau Gabor_.
+
+=Frau Gabor=
+
+... Man hatte einen Sündenbock nötig. Man durfte die überall
+lautwerdenden Anschuldigungen nicht auf sich beruhen lassen. Und nun
+mein Kind das Unglück gehabt, den Zöpfen im richtigen Moment in den
+Schuß zu laufen, nun soll ich, die eigene Mutter, das Werk seiner
+Henker vollenden helfen? -- Bewahre mich Gott davor!
+
+=Herr Gabor=
+
+-- Ich habe deine geistvolle Erziehungsmethode vierzehn Jahre
+schweigend mit angeseh’n. Sie widersprach meinen Begriffen. Ich hatte
+von jeher der Überzeugung gelebt, ein Kind sei kein Spielzeug; ein
+Kind habe Anspruch auf unsern heiligsten Ernst. Aber ich sagte mir,
+wenn der Geist und die Grazie des Einen die ernsten Grundsätze eines
+Andern zu ersetzen im stande sind, so mögen sie den ernsten Grundsätzen
+vorzuziehen sein. -- -- Ich mache dir keinen Vorwurf, Fanny. Aber
+vertritt mir den Weg nicht, wenn ich dein und mein Unrecht an dem
+Jungen gutzumachen suche!
+
+=Frau Gabor=
+
+Ich vertrete dir den Weg, so lange ein Tropfen warmen Blutes in
+mir wallt! In der Korrektionsanstalt ist mein Kind verloren. Eine
+Verbrechernatur mag sich in solchen Instituten bessern lassen. Ich weiß
+es nicht. Ein gutgearteter Mensch wird so gewiß zum Verbrecher darin,
+wie die Pflanze verkommt, der du Luft und Sonne entziehst. Ich bin mir
+keines Unrechtes bewußt. Ich danke heute wie immer dem Himmel, daß er
+mir den Weg gezeigt, in meinem Kinde einen rechtlichen Charakter und
+eine edle Denkungsweise zu wecken. Was hat er denn so Schreckliches
+getan? Es soll mir nicht einfallen, ihn entschuldigen zu wollen --
+daran, daß man ihn aus der Schule gejagt trägt er keine Schuld! Und
+wär’ es sein Verschulden, so hat er es ja gebüßt. Du magst das alles
+besser wissen. Du magst theoretisch vollkommen im Rechte sein. Aber ich
+kann mir mein einziges Kind nicht gewaltsam in den Tod jagen lassen!
+
+=Herr Gabor=
+
+Das hängt nicht von uns ab, Fanny. -- Das ist ein Risiko, das wir mit
+unserem Glück auf uns genommen. Wer zu schwach für den Marsch ist,
+bleibt am Wege. Und es ist schließlich das Schlimmste nicht, wenn
+das Unausbleibliche zeitig kommt. Möge uns der Himmel davor behüten!
+Unsere Pflicht ist es, den Wankenden zu festigen, so lange die Vernunft
+Mittel weiß. -- Daß man ihn aus der Schule gejagt, ist nicht seine
+Schuld. Wenn man ihn nicht aus der Schule gejagt hätte, es wäre auch
+seine Schuld nicht! -- Du bist zu leichtherzig. Du erblickst vorwitzige
+Tändelei, wo es sich um Grundschäden des Charakters handelt. Ihr Frauen
+seid nicht berufen, über solche Dinge zu urteilen. Wer _das_ schreiben
+kann, was Melchior schreibt, der muß im innersten Kern seines Wesens
+angefault sein. Das Mark ist ergriffen. Eine halbwegs gesunde Natur
+läßt sich zu so etwas nicht herbei. Wir sind alle keine Heiligen;
+jeder von uns irrt vom schnurgeraden Pfad ab. Seine Schrift hingegen
+vertritt das _Prinzip_. Seine Schrift entspricht keinem zufälligen
+gelegentlichen Fehltritt; sie dokumentiert mit schaudererregender
+Deutlichkeit den aufrichtig gehegten _Vorsatz_, jene natürliche
+Veranlagung, jenen Hang zum _Unmoralischen_, weil es das Unmoralische
+ist. Seine Schrift manifestiert jene exzeptionelle geistige Korruption,
+die wir Juristen mit dem Ausdruck „_moralischer Irrsinn_“ bezeichnen.
+-- Ob sich gegen seinen Zustand etwas ausrichten läßt, vermag ich
+nicht zu sagen. _Wenn_ wir uns einen Hoffnungsschimmer bewahren wollen,
+und in erster Linie unser fleckenloses Gewissen als die Eltern des
+Betreffenden, so ist es Zeit für uns, mit Entschiedenheit und mit allem
+Ernste ans Werk zu gehen. -- Laß uns nicht länger streiten, Fanny! Ich
+fühle, wie schwer es dir wird. Ich weiß, daß du ihn vergötterst, weil
+er so ganz deinem genialischen Naturell entspricht. Sei stärker als du!
+Zeig’ dich deinem Sohn gegenüber endlich einmal selbstlos!
+
+=Frau Gabor=
+
+Hilf mir Gott, wie läßt sich dagegen aufkommen! -- Man muß ein _Mann_
+sein, um so sprechen zu können! Man muß ein _Mann_ sein, um sich so
+vom toten Buchstaben verblenden lassen zu können! Man muß ein _Mann_
+sein, um so blind das in die Augen Springende nicht zu sehn! -- Ich
+habe gewissenhaft und besonnen an Melchior gehandelt vom ersten Tag
+an, da ich ihn für die Eindrücke seiner Umgebung empfänglich fand.
+Sind wir denn für den _Zufall_ verantwortlich?! Dir kann morgen ein
+Dachziegel auf den Kopf fallen, und dann kommt dein Freund -- dein
+Vater, und statt deine Wunde zu pflegen, setzt er den Fuß auf dich!
+-- Ich lasse mein Kind nicht vor meinen Augen hinmorden. Dafür bin
+ich seine Mutter. -- Es ist unfaßbar! Es ist gar nicht zu glauben!
+Was schreibt er denn in aller Welt! Ist’s denn nicht der eklatanteste
+Beweis für seine Harmlosigkeit, für seine Dummheit, für seine kindliche
+Unberührtheit, daß er so etwas schreiben kann! -- Man muß keine Ahnung
+von Menschenkenntnis besitzen -- man muß ein vollständig entseelter
+Bureaukrat oder ganz nur Beschränktheit sein, um hier moralische
+Korruption zu wittern! -- -- Sag’ was du willst. Wenn du Melchior in
+die Korrektionsanstalt bringst, dann sind _wir_ geschieden! Und dann
+laß mich sehen, ob ich nicht irgendwo in der Welt Hilfe und Mittel
+finde, mein Kind seinem Untergange zu entreißen.
+
+=Herr Gabor=
+
+Du wirst dich drein schicken müssen -- wenn nicht heute, dann morgen.
+Leicht wird es keinem, mit dem Unglück zu diskontieren. Ich werde dir
+zur Seite stehen, und wenn dein Mut zu erliegen droht, keine Mühe und
+kein Opfer scheuen, dir das Herz zu entlasten. Ich sehe die Zukunft so
+grau, so wolkig -- es fehlte nur noch, daß auch du mir noch verloren
+gingst.
+
+=Frau Gabor=
+
+Ich sehe ihn nicht wieder; ich sehe ihn nicht wieder. Er erträgt das
+Gemeine nicht. Er findet sich nicht ab mit dem Schmutz. Er zerbricht
+den Zwang; das entsetzlichste Beispiel schwebt ihm vor Augen! -- Und
+sehe ich ihn wieder -- Gott, Gott, dieses frühlingsfrohe Herz -- sein
+helles Lachen -- alles, alles -- seine kindliche Entschlossenheit,
+mutig zu kämpfen für Gut und Recht -- o dieser Morgenhimmel, wie ich
+ihn licht und rein in seiner Seele gehegt als mein höchstes Gut.....
+Halte dich an mich, wenn das Unrecht um Sühne schreit! Halte dich an
+mich! Verfahre mit mir wie du willst! _Ich_ trage die Schuld. -- Aber
+laß deine fürchterliche Hand von dem Kind weg.
+
+=Herr Gabor=
+
+_Er_ hat sich vergangen!
+
+=Frau Gabor=
+
+_Er hat sich nicht vergangen!_
+
+=Herr Gabor=
+
+Er hat sich vergangen! -- -- -- Ich hätte alles darum gegeben, es
+deiner grenzenlosen Liebe ersparen zu dürfen. -- -- Heute morgen kommt
+eine Frau zu mir, vergeistert, kaum ihrer Sprache mächtig, mit diesem
+Brief in der Hand -- einem Brief an ihre fünfzehnjährige Tochter. Aus
+dummer Neugierde habe sie ihn erbrochen; das Mädchen war nicht zu Haus.
+-- In dem Briefe erklärt Melchior dem fünfzehnjährigen Kind, daß ihm
+seine Handlungsweise keine Ruhe lasse, er habe sich an ihr versündigt
+etc. etc., werde indessen natürlich für alles einstehen. Sie möge sich
+nicht grämen, auch wenn sie Folgen spüre. Er sei bereits auf dem Wege
+Hilfe zu schaffen; seine Relegation erleichtere ihm das. Der ehemalige
+Fehltritt könne noch zu ihrem Glücke führen -- und was des unsinnigen
+Gewäsches mehr ist.
+
+=Frau Gabor=
+
+Unmöglich!!
+
+=Herr Gabor=
+
+Der Brief ist gefälscht. Es liegt Betrug vor. Man sucht sich seine
+stadtbekannte Relegation nutzbar zu machen. Ich habe mit dem
+Jungen noch nicht gesprochen -- aber sieh bitte die Hand! Sieh die
+Schreibweise!
+
+=Frau Gabor=
+
+Ein unerhörtes, schamloses Bubenstück!
+
+=Herr Gabor=
+
+Das fürchte ich!
+
+=Frau Gabor=
+
+Nein, nein -- nie und nimmer!
+
+=Herr Gabor=
+
+Um so besser wird es für uns sein. -- Die Frau fragt mich händeringend,
+was sie tun solle. Ich sagte ihr, sie solle ihre fünfzehnjährige
+Tochter nicht auf Heuböden herumklettern lassen. Den Brief hat sie
+mir glücklicherweise dagelassen. -- Schicken wir Melchior nun auf ein
+anderes Gymnasium, wo er nicht einmal unter elterlicher Aufsicht steht,
+so haben wir in drei Wochen den nämlichen Fall -- neue Relegation --
+sein frühlingsfreudiges Herz gewöhnt sich nachgerade daran. -- Sag’
+mir, Fanny, wo soll ich hin mit dem Jungen?!
+
+=Frau Gabor=
+
+-- In die Korrektionsanstalt --
+
+=Herr Gabor=
+
+In die ...?
+
+=Frau Gabor=
+
+... Korrektionsanstalt!
+
+=Herr Gabor=
+
+Er findet dort in erster Linie, was ihm zu Hause ungerechterweise
+vorenthalten wurde; eherne Disziplin, Grundsätze, und einen moralischen
+Zwang, dem er sich unter allen Umständen zu fügen hat. -- Im übrigen
+ist die Korrektionsanstalt nicht der Ort des Schreckens, den du
+dir darunter denkst. Das Hauptgewicht legt man in der Anstalt auf
+Entwicklung einer christlichen Denk- und Empfindungsweise. Der Junge
+lernt dort endlich, das _Gute_ wollen statt des _Interessanten_, und
+bei seinen Handlungen nicht sein Naturell, sondern das _Gesetz_ in
+Frage ziehen. -- -- Vor einer halben Stunde erhalte ich ein Telegramm
+von meinem Bruder, das mir die Aussagen der Frau bestätigt. Melchior
+hat sich ihm anvertraut und ihn um 200 Mark zur Flucht nach England
+gebeten ...
+
+=Frau Gabor=
+
+(bedeckt ihr Gesicht)
+
+Barmherziger Himmel!
+
+
+Vierte Szene
+
+_Korrektionsanstalt_. -- Ein Korridor. -- _Diethelm_, _Reinhold_,
+_Ruprecht_, _Helmuth_, _Gaston_ und _Melchior_.
+
+=Diethelm=
+
+Hier ist ein Zwanzigpfennigstück!
+
+=Reinhold=
+
+Was soll’s damit?
+
+=Diethelm=
+
+Ich leg es auf den Boden. Ihr stellt euch drum herum. Wer es trifft,
+der hat’s.
+
+=Ruprecht=
+
+Machst du nicht mit, Melchior?
+
+=Melchior=
+
+Nein, ich danke.
+
+=Helmuth=
+
+Der Joseph!
+
+=Gaston=
+
+Er kann nicht mehr. Er ist zur Rekreation hier.
+
+=Melchior=
+
+(für sich)
+
+Es ist nicht klug, daß ich mich separiere. Alles hält mich im Auge.
+Ich muß mitmachen -- oder die Kreatur geht zum Teufel. -- -- Die
+Gefangenschaft macht sie zu Selbstmördern. -- -- Brech ich den Hals,
+ist es gut! Komme ich davon, ist es auch gut! Ich kann nur gewinnen.
+-- Ruprecht wird mein Freund, er besitzt hier Kenntnisse. -- Ich werde
+ihm die Kapitel von Juda’s Schnur Thamar, von Moab, von Loth und seiner
+Sippe, von der Königin Vasti und der Abisag von Sunem zum besten geben.
+-- Er hat die verunglückteste Physiognomie auf der Abteilung.
+
+=Ruprecht=
+
+Ich hab’s!
+
+=Helmuth=
+
+Ich komme noch!
+
+=Gaston=
+
+Übermorgen vielleicht!
+
+=Helmuth=
+
+Gleich! -- Jetzt! -- O Gott, o Gott ...
+
+=Alle=
+
+~Summa -- summa cum laude!!~
+
+=Ruprecht=
+
+(das Stück nehmend)
+
+Danke schön!
+
+=Helmuth=
+
+Her, du Hund!
+
+=Ruprecht=
+
+Du Schweinetier?
+
+=Helmuth=
+
+Galgenvogel!!
+
+=Ruprecht=
+
+(schlägt ihn ins Gesicht)
+
+-- Da! (rennt davon)
+
+=Helmuth=
+
+(ihm nachrennend)
+
+Den schlag ich tot!
+
+=Die Übrigen=
+
+(rennen hinterdrein)
+
+Hetz, Packan! Hetz! Hetz! Hetz!
+
+=Melchior=
+
+(allein, gegen das Fenster gewandt)
+
+-- Da geht der Blitzableiter hinunter. -- Man muß ein Taschentuch
+drumwickeln. -- Wenn ich an sie denke, schießt mir immer das Blut in
+den Kopf. Und Moritz liegt mir wie Blei in den Füßen. -- -- -- Ich
+gehe zur Redaktion. Bezahlen Sie mich per Hundert; ich kolportiere!
+-- sammle Tagesneuigkeiten -- schreibe -- lokal -- -- ethisch -- --
+psychophysisch ... man verhungert nicht mehr so leicht. Volksküche,
+Café Temperence. -- Das Haus ist sechzig Fuß hoch und der Verputz
+bröckelt ab ... Sie haßt mich -- sie haßt mich, weil ich sie der
+Freiheit beraubt. Handle ich, wie ich will, es bleibt Vergewaltigung.
+-- Ich darf einzig hoffen, im Laufe der Jahre allmählich ... Über acht
+Tage ist Neumond. Morgen schmiere ich die Angeln. Bis Sonnabend muß ich
+unter allen Umständen wissen, wer den Schlüssel hat. -- Sonntag Abend
+in der Andacht kataleptischer Anfall -- will’s Gott, wird sonst niemand
+krank! -- Alles liegt so klar, als wär’ es geschehen, vor mir. Über
+das Fenstergesims gelang ich mit Leichtigkeit -- ein Schwung -- ein
+Griff -- aber man muß ein Taschentuch drumwickeln. -- -- Da kommt der
+Großinquisitor. (Ab nach links.)
+
+(Dr. _Prokrustes_ mit einem _Schlossermeister_ von rechts.)
+
+=Dr. Prokrustes=
+
+... Die Fenster liegen zwar im dritten Stock und unten sind Brennesseln
+gepflanzt. Aber was kümmert sich die Entartung um Brennesseln. --
+Vergangenen Winter stieg uns einer zur Dachluke hinaus und wir hatten
+die ganze Schererei mit dem Abholen, Hinbringen und Beisetzen ...
+
+=Der Schlossermeister=
+
+Wünschen Sie die Gitter aus Schmiedeeisen?
+
+=Dr. Prokrustes=
+
+Aus Schmiedeeisen -- und da man sie nicht einlassen kann, vernietet.
+
+
+Fünfte Szene
+
+Ein _Schlafgemach_. -- _Frau Bergmann_, _Ina Müller_ und Medizinalrat
+Dr. _v. Brausepulver_. -- _Wendla_ im Bett.
+
+=Dr. von Brausepulver=
+
+Wie alt sind Sie denn eigentlich?
+
+=Wendla=
+
+Vierzehn ein halb.
+
+=Dr. von Brausepulver=
+
+Ich verordne die _Blaud_’schen Pillen seit fünfzehn Jahren und habe in
+einer großen Anzahl von Fällen die eklatantesten Erfolge beobachtet.
+Ich ziehe sie dem Lebertran und den Stahlweinen vor. Beginnen sie mit
+drei bis vier Pillen pro Tag und steigern Sie so rasch Sie es eben
+vertragen. Dem Fräulein Elfriede Baronesse von Witzleben hatte ich
+verordnet, jeden dritten Tag um eine Pille zu steigern. Die Baronesse
+hatte mich mißverstanden und steigerte jeden Tag um drei Pillen. Nach
+kaum drei Wochen schon konnte sich die Baronesse mit ihrer Frau Mama
+zur Nachkur nach Pyrmont begeben. -- Von ermüdenden Spaziergängen und
+Extramahlzeiten dispensiere ich Sie. Dafür versprechen Sie mir, liebes
+Kind, sich um so fleißiger Bewegung machen zu wollen und ungeniert
+Nahrung zu fordern, sobald sich die Lust dazu wieder einstellt.
+Dann werden diese Herzbeklemmungen bald nachlassen -- und der
+Kopfschmerz, das Frösteln, der Schwindel -- und unsere schrecklichen
+Verdauungsstörungen. Fräulein Elfriede Baronesse von Witzleben genoß
+schon acht Tage nach begonnener Kur ein ganzes Brathühnchen mit jungen
+Pellkartoffeln zum Frühstück.
+
+=Frau Bergmann=
+
+Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten, Herr Medizinalrat?
+
+=Dr. von Brausepulver=
+
+Ich danke Ihnen, liebe Frau Bergmann. Mein Wagen wartet. Lassen Sie
+sich’s nicht so zu Herzen gehen. In wenigen Wochen ist unsere liebe
+kleine Patientin wieder frisch und munter wie eine Gazelle. Seien Sie
+getrost. -- Guten Tag, Frau Bergmann. Guten Tag, liebes Kind. Guten
+Tag, meine Damen. Guten Tag. (Frau Bergmann geleitet ihn vor die Tür.)
+
+=Ina=
+
+(am Fenster)
+
+-- Nun färbt sich eure Platane schon wieder bunt. -- Siehst du’s vom
+Bett aus? -- Eine kurze Pracht, kaum recht der Freude wert, wie man
+sie so kommen und gehen sieht. -- Ich muß nun auch bald gehen. Müller
+erwartet mich vor der Post und ich muß zuvor noch zur Schneiderin.
+Mucki bekommt seine ersten Höschen, und Karl soll einen neuen
+Trikotanzug auf den Winter haben.
+
+=Wendla=
+
+Manchmal wird mir so selig -- alles Freude und Sonnenglanz. Hätt’ ich
+geahnt, daß es einem so wohl um’s Herz werden kann! Ich möchte hinaus,
+im Abendschein über die Wiesen gehn, Himmelsschlüssel suchen den Fluß
+entlang und mich an’s Ufer setzen und träumen ... Und dann kommt das
+_Zahnweh_, und ich meine, daß ich morgen am Tag sterben muß; mir wird
+heiß und kalt, vor den Augen verdunkelt sich’s, und dann flattert das
+Untier herein -- -- -- So oft ich aufwache, seh’ ich Mutter weinen. O,
+das tut mir so weh -- ich kann’s dir nicht sagen, Ina!
+
+=Ina=
+
+-- Soll ich dir nicht das Kopfkissen höher legen?
+
+=Frau Bergmann=
+
+(kommt zurück)
+
+Er meint, das Erbrechen werde sich auch geben; und du sollst dann nur
+ruhig wieder aufstehn ... Ich glaube auch, es ist besser, wenn du bald
+wieder aufstehst, Wendla.
+
+=Ina=
+
+Bis ich das nächste Mal vorspreche, springst du vielleicht schon
+wieder im Haus herum. -- Leb’ wohl, Mutter. Ich muß durchaus noch zur
+Schneiderin. Behüt’ dich Gott, liebe Wendla. (Küßt sie) Recht, recht
+baldige Besserung!
+
+=Wendla=
+
+Leb’ wohl, Ina. -- Bring’ mir Himmelsschlüssel mit, wenn du
+wiederkommst. Adieu. Grüße deine Jungens von mir.
+
+(Ina ab.)
+
+=Wendla=
+
+Was hat er noch gesagt, Mutter, als er draußen war?
+
+=Frau Bergmann=
+
+Er hat nichts gesagt. -- Er sagte, Fräulein von Witzleben habe auch zu
+Ohnmachten geneigt. Es sei das fast immer so bei der Bleichsucht.
+
+=Wendla=
+
+Hat er gesagt, Mutter, daß ich die Bleichsucht habe?
+
+=Frau Bergmann=
+
+Du sollest Milch trinken und Fleisch und Gemüse essen, wenn der Appetit
+zurückgekehrt sei.
+
+=Wendla=
+
+O Mutter, Mutter, ich glaube, ich habe nicht die Bleichsucht....
+
+=Frau Bergmann=
+
+Du hast die Bleichsucht, Kind. Sei ruhig, Wendla, sei ruhig; du hast
+die Bleichsucht.
+
+=Wendla=
+
+Nein, Mutter, nein! Ich weiß es. Ich fühl’ es. Ich habe nicht die
+Bleichsucht. Ich habe die Wassersucht ...
+
+=Frau Bergmann=
+
+Du hast die Bleichsucht. Er hat ja gesagt, daß du die Bleichsucht hast.
+Beruhige dich, Mädchen. Es wird besser werden.
+
+=Wendla=
+
+Es wird nicht besser werden. Ich habe die Wassersucht. Ich muß sterben,
+Mutter. -- O Mutter, ich muß sterben!
+
+=Frau Bergmann=
+
+Du mußt nicht sterben, Kind! Du mußt nicht sterben..... Barmherziger
+Himmel, du mußt nicht sterben!
+
+=Wendla=
+
+Aber warum weinst du dann so jammervoll?
+
+=Frau Bergmann=
+
+Du mußt nicht sterben -- Kind! Du hast nicht die Wassersucht. Du hast
+ein Kind, Mädchen! Du hast ein Kind! -- O, warum hast du mir das getan!
+
+=Wendla=
+
+-- ich habe dir nichts getan --
+
+=Frau Bergmann=
+
+O leugne nicht noch, Wendla! -- Ich weiß alles. Sieh’, ich hätt’ es
+nicht vermocht, dir ein Wort zu sagen. -- Wendla, meine Wendla ...!
+
+=Wendla=
+
+Aber das ist ja nicht möglich, Mutter. Ich bin ja doch nicht
+verheiratet ...!
+
+=Frau Bergmann=
+
+Großer, gewaltiger Gott --, das ist’s ja, daß du nicht verheiratet
+bist! Das ist ja das Fürchterliche! -- Wendla, Wendla, Wendla, was hast
+du getan!!
+
+=Wendla=
+
+Ich weiß es, weiß Gott, nicht mehr! Wir lagen im Heu.... Ich habe
+keinen Menschen auf dieser Welt geliebt als nur dich, Mutter.
+
+=Frau Bergmann=
+
+Mein Herzblatt --
+
+=Wendla=
+
+O Mutter, warum hast du mir nicht alles gesagt!
+
+=Frau Bergmann=
+
+Kind, Kind, laß uns einander das Herz nicht noch schwerer machen! Fasse
+dich! Verzweifle mir nicht, mein Kind! Einem vierzehnjährigen Mädchen
+das sagen! Sieh’, ich wäre eher darauf gefaßt gewesen, daß die Sonne
+erlischt. Ich habe an dir nicht anders getan, als meine liebe gute
+Mutter an mir getan hat. -- O laß uns auf den lieben Gott vertrauen,
+Wendla; laß uns auf Barmherzigkeit hoffen und das unsrige tun! Sieh’,
+_noch_ ist ja nichts geschehen, Kind. Und wenn nur wir jetzt nicht
+kleinmütig werden, dann wird uns auch der liebe Gott nicht verlassen.
+-- Sei _mutig_, Wendla, sei _mutig_! -- -- So sitzt man einmal am
+Fenster und legt die Hände in den Schoß, weil sich doch noch alles zum
+Guten gewandt, und da bricht’s dann herein, daß einem gleich das Herz
+bersten möchte.... Wa -- was zitterst du?
+
+=Wendla=
+
+Es hat jemand geklopft.
+
+=Frau Bergmann=
+
+Ich habe nichts gehört, liebes Herz. -- (Geht an die Türe und öffnet.)
+
+=Wendla=
+
+Ach, ich hörte es ganz deutlich. -- -- Wer ist draußen?
+
+=Frau Bergmann=
+
+-- Niemand -- -- Schmidts Mutter aus der Gartenstraße. -- -- -- Sie
+kommen eben recht, Mutter Schmidtin.
+
+
+Sechste Szene
+
+Winzer und Winzerinnen im _Weinberg_. -- Im Westen sinkt die Sonne
+hinter die Berggipfel. Helles Glockengeläute vom Tal herauf. --
+_Hänschen Rilow_ und _Ernst Röbel_ im höchstgelegenen Rebstück sich
+unter den überhängenden Felsen im welkenden Grase wälzend.
+
+=Ernst=
+
+-- Ich habe mich überarbeitet.
+
+=Hänschen=
+
+Laß uns nicht traurig sein! -- Schade um die Minuten.
+
+=Ernst=
+
+Man sieht sie hängen und kann nicht mehr -- und morgen sind sie
+gekeltert.
+
+=Hänschen=
+
+Ermüdung ist mir so unerträglich, wie mir’s der Hunger ist.
+
+=Ernst=
+
+Ach, ich kann nicht mehr.
+
+=Hänschen=
+
+Diese leuchtende Muskateller noch!
+
+=Ernst=
+
+Ich bringe die Elastizität nicht mehr auf.
+
+=Hänschen=
+
+Wenn ich die Ranke beuge, baumelt sie uns von Mund zu Mund. Keiner
+braucht sich zu rühren. Wir beißen die Beeren ab und lassen den Kamm
+zum Stock zurückschnellen.
+
+=Ernst=
+
+Kaum entschließt man sich, und siehe, so dämmert auch schon die
+dahingeschwundene Kraft wieder auf.
+
+=Hänschen=
+
+Dazu das flammende Firmament -- und die Abendglocken. -- Ich verspreche
+mir wenig mehr von der Zukunft.
+
+=Ernst=
+
+-- Ich sehe mich manchmal schon als hochwürdigen Pfarrer -- ein
+gemütvolles Hausmütterchen, eine reichhaltige Bibliothek und Ämter
+und Würden in allen Kreisen. Sechs Tage hat man um nachzudenken, und
+am siebenten tut man den Mund auf. Beim Spazierengehen reichen einem
+Schüler und Schülerinnen die Hand, und wenn man nach Hause kommt,
+dampft der Kaffee, der Topfkuchen wird aufgetragen, und durch die
+Gartentür bringen die Mädchen Äpfel herein. -- Kannst du dir etwas
+Schöneres denken?
+
+=Hänschen=
+
+Ich denke mir halbgeschlossene Wimpern, halbgeöffnete Lippen und
+türkische Draperien. -- Ich glaube nicht an das Pathos. Sieh, unsere
+Alten zeigen uns lange Gesichter, um ihre Dummheiten zu bemänteln.
+Untereinander nennen sie sich Schafsköpfe wie wir. Ich kenne das. --
+Wenn ich Millionär bin, werde ich dem lieben Gott ein Denkmal setzen.
+-- Denke dir die Zukunft als Milchsette mit Zucker und Zimt. Der eine
+wirft sie um und heult, der andere rührt alles durcheinander und
+schwitzt. Warum nicht abschöpfen? -- Oder glaubst du nicht, daß es sich
+lernen ließe.
+
+=Ernst=
+
+-- Schöpfen wir ab!
+
+=Hänschen=
+
+Was bleibt, fressen die Hühner. -- Ich habe meinen Kopf nun schon aus
+so mancher Schlinge gezogen....
+
+=Ernst=
+
+Schöpfen wir ab, Hänschen! -- Warum lachst du?
+
+=Hänschen=
+
+Fängst du schon wieder an?
+
+=Ernst=
+
+Einer muß ja doch anfangen.
+
+=Hänschen=
+
+Wenn wir in dreißig Jahren an einen Abend wie heute zurückdenken,
+erscheint er uns vielleicht unsagbar schön!
+
+=Ernst=
+
+Und wie macht sich jetzt alles so ganz von selbst!
+
+=Hänschen=
+
+Warum also nicht!
+
+=Ernst=
+
+Ist man zufällig allein -- dann weint man vielleicht gar.
+
+=Hänschen=
+
+Laß uns nicht traurig sein! -- (Er küßt ihn auf den Mund.)
+
+=Ernst=
+
+(küßt ihn)
+
+Ich ging von Hause fort mit dem Gedanken, dich nur eben zu sprechen und
+wieder umzukehren.
+
+=Hänschen=
+
+Ich erwartete dich. -- Die Tugend kleidet nicht schlecht, aber es
+gehören imposante Figuren hinein.
+
+=Ernst=
+
+Uns schlottert sie noch um die Glieder. -- Ich wäre nicht ruhig
+geworden, wenn ich dich nicht getroffen hätte. -- Ich liebe dich,
+Hänschen, wie ich nie eine Seele geliebt habe.
+
+=Hänschen=
+
+Laß uns nicht traurig sein! -- Wenn wir in dreißig Jahren zurückdenken,
+spotten wir ja vielleicht! -- Und jetzt ist alles so schön. Die Berge
+glühen; die Trauben hängen uns in den Mund und der Abendwind streicht
+an den Felsen hin wie ein spielendes Schmeichelkätzchen....
+
+
+Siebente Szene
+
+_Helle Novembernacht_. An Busch und Bäumen raschelt das dürre Laub.
+Zerrissene Wolken jagen unter dem Mond hin. -- _Melchior_ klettert über
+die _Kirchhofmauer_.
+
+=Melchior=
+
+(auf der Innenseite herabspringend)
+
+Hierher folgt mir die Meute nicht. -- Derweil sie Bordelle absuchen,
+kann ich aufatmen und mir sagen, wie weit ich bin....
+
+Der Rock in Fetzen, die Taschen leer -- vor dem Harmlosesten bin ich
+nicht sicher. -- Tagsüber muß ich im Walde weiter zu kommen suchen ...
+
+Ein Kreuz habe ich niedergestampft. -- Die Blümchen wären heut’ noch
+erfroren! -- Ringsum ist die Erde kahl....
+
+Im Totenreich! --
+
+Aus der Dachluke zu klettern war so schwer nicht wie dieser Weg! --
+Darauf nur war ich nicht gefaßt gewesen....
+
+Ich hänge über dem Abgrund -- alles versunken, verschwunden -- O wär’
+ich dort geblieben!
+
+Warum sie um meinetwillen! -- Warum nicht der Verschuldete! --
+Unfaßbare Vorsicht! -- Ich hätte Steine geklopft und gehungert ...!
+
+Was hält mich noch aufrecht? -- Verbrechen folgt auf Verbrechen.
+Ich bin dem Morast überantwortet. Nicht so viel Kraft mehr, um
+abzuschließen ...
+
+Ich war nicht schlecht! -- Ich war nicht schlecht! -- Ich war nicht
+schlecht ...
+
+-- So neiderfüllt ist noch kein Sterblicher über Gräber gewandelt.
+-- Pah -- ich brächte ja den Mut nicht auf! -- O, wenn mich Wahnsinn
+umfinge -- in dieser Nacht noch!
+
+Ich muß drüben unter den Letzten suchen! -- Der Wind pfeift auf
+jedem Stein aus einer anderen Tonart -- eine beklemmende Symphonie!
+-- Die morschen Kränze reißen entzwei und baumeln an ihren langen
+Fäden stückweise um die Marmorkreuze -- ein Wald von Vogelscheuchen!
+-- Vogelscheuchen auf allen Gräbern, eine greulicher als die andere
+-- haushohe, vor denen die Teufel Reißaus nehmen. -- Die goldenen
+Lettern blinken so kalt.... Die Trauerweide ächzt auf und fährt mit
+Riesenfingern über die Inschrift....
+
+-- Ein betendes Engelskind -- Eine Tafel --
+
+Eine Wolke wirft ihren Schatten herab. -- Wie das hastet und heult! --
+Wie ein Heereszug jagt es im Osten empor. -- Kein Stern am Himmel --
+
+Immergrün um das Gärtlein? -- Immergrün? -- -- Mädchen ...
+
+[Illustration:
+ Hier ruht in Gott
+
+ Wendla Bergmann,
+
+ geboren am 5. Mai 1878,
+ gestorben an der Bleichsucht den
+ 27. Oktober 1892.
+
+ Selig sind, die reinen Herzens sind ...
+]
+
+Und ich bin ihr Mörder. -- Ich bin ihr Mörder! -- Mir bleibt die
+Verzweiflung. -- Ich darf hier nicht weinen. -- Fort von hier! -- Fort
+--
+
+=Moritz Stiefel=
+
+(seinen Kopf unter dem Arm, stapft über die Gräber her)
+
+Einen Augenblick, Melchior! Die Gelegenheit wiederholt sich so bald
+nicht. Du ahnst nicht, was mit Ort und Stunde zusammenhängt....
+
+=Melchior=
+
+Wo kommst du her?!
+
+=Moritz=
+
+Von drüben -- von der Mauer her. Du hast mein Kreuz umgeworfen. Ich
+liege an der Mauer. -- Gib mir die Hand, Melchior....
+
+=Melchior=
+
+Du bist _nicht_ Moritz Stiefel!
+
+=Moritz=
+
+Gib mir die Hand. Ich bin überzeugt, du wirst mir Dank wissen.
+So leicht wird’s dir nicht mehr! Es ist ein seltsam glückliches
+Zusammentreffen. -- Ich bin extra heraufgekommen....
+
+=Melchior=
+
+Schläfst du denn nicht?
+
+=Moritz=
+
+Nicht was ihr Schlafen nennt. -- Wir sitzen auf Kirchtürmen, auf hohen
+Dachgiebeln -- wo immer wir wollen....
+
+=Melchior=
+
+Ruhelos?
+
+=Moritz=
+
+Vergnügungshalber. -- Wir streifen um Maibäume, um einsame
+Waldkapellen. Über Volksversammlungen schweben wir hin, über
+Unglücksstätten, Gärten, Festplätze. -- In den Wohnhäusern kauern wir
+im Kamin und hinter den Bettvorhängen. -- Gib mir die Hand. -- Wir
+verkehren nicht untereinander, aber wir sehen und hören alles, was in
+der Welt vor sich geht. Wir wissen, daß alles Dummheit ist, was die
+Menschen tun und erstreben, und lachen darüber.
+
+=Melchior=
+
+Was hilft das?
+
+=Moritz=
+
+Was braucht es zu helfen? -- Wir sind für nichts mehr erreichbar, nicht
+für Gutes noch Schlechtes. Wir stehen hoch, hoch über dem Irdischen --
+jeder für sich allein. Wir verkehren nicht miteinander, weil uns das zu
+langweilig ist. Keiner von uns hegt noch etwas, das ihm abhanden kommen
+könnte. Über Jammer oder Jubel sind wir gleich unermeßlich erhaben. Wir
+sind mit uns zufrieden und das ist alles! -- Die Lebenden verachten wir
+unsagbar, kaum daß wir sie bemitleiden. Sie erheitern uns mit ihrem
+Getue, weil sie als Lebende tatsächlich nicht zu bemitleiden sind. Wir
+lächeln bei ihren Tragödien -- jeder für sich -- und stellen unsere
+Betrachtungen an. -- Gib mir die Hand! Wenn du mir die Hand gibst,
+fällst du um vor Lachen über dem Empfinden, mit dem du mir die Hand
+gibst....
+
+=Melchior=
+
+Ekelt dich das nicht an?
+
+=Moritz=
+
+Dazu stehen wir zu hoch. Wir lächeln! -- An meinem Begräbnis war ich
+unter den Leidtragenden. Ich habe mich recht gut unterhalten. Das
+ist Erhabenheit, Melchior! Ich habe geheult wie keiner, und schlich
+zur Mauer, um mir vor Lachen den Bauch zu halten. Unsere unnahbare
+Erhabenheit ist tatsächlich der einzige Gesichtspunkt, unter dem der
+Quark sich verdauen läßt.... Auch über mich will man gelacht haben, eh’
+ich mich aufschwang!
+
+=Melchior=
+
+-- Mich lüstet’s nicht, über mich zu lachen.
+
+=Moritz=
+
+... Die Lebenden sind als solche wahrhaftig nicht zu bemitleiden!
+-- Ich gestehe, ich hätte es auch nie gedacht. Und jetzt ist es mir
+unfaßbar, wie man so naiv sein kann. Jetzt durchschaue ich den Trug so
+klar, daß auch nicht ein Wölkchen bleibt. -- Wie magst du nur zaudern,
+Melchior! Gib mir die Hand! Im Halsumdrehen stehst du himmelhoch über
+dir. -- Dein Leben ist Unterlassungssünde....
+
+=Melchior=
+
+-- Könnt ihr vergessen?
+
+=Moritz=
+
+Wir können alles. Gib mir die Hand! Wir können die Jugend bedauern, wie
+sie ihre Bangigkeit für Idealismus hält, und das Alter, wie ihm vor
+stoischer Überlegenheit das Herz brechen will. Wir sehen den Kaiser
+vor Gassenhauern und den Lazzaroni vor der jüngsten Posaune beben.
+Wir ignorieren die Maske des Komödianten und sehen den Dichter im
+Dunkeln die Maske vornehmen. Wir erblicken den Zufriedenen in seiner
+Bettelhaftigkeit, im Mühseligen und Beladenen den Kapitalisten. Wir
+beobachten Verliebte und sehen sie voreinander erröten, ahnend, daß sie
+betrogene Betrüger sind. Eltern sehen wir Kinder in die Welt setzen,
+um ihnen zurufen zu können: Wie glücklich ihr seid, solche Eltern zu
+haben! -- und sehen die Kinder hingehn und desgleichen tun. Wir können
+die Unschuld in ihren einsamen Liebesnöten, die Fünfgroschendirne
+über der Lektüre Schillers belauschen.... Gott und den Teufel sehen
+wir sich voreinander blamieren und hegen in uns das durch nichts zu
+erschütternde Bewußtsein, daß beide betrunken sind.... Eine Ruhe, eine
+Zufriedenheit. Melchior --! Du brauchst mir nur den kleinen Finger zu
+reichen. -- Schneeweiß kannst du werden, eh’ sich dir der Augenblick
+wieder so günstig zeigt!
+
+=Melchior=
+
+-- Wenn ich einschlage, Moritz, so geschieht es aus Selbstverachtung.
+-- Ich sehe mich geächtet. Was mir Mut verlieh, liegt im Grabe.
+Edler Regungen vermag ich mich nicht mehr für würdig zu halten --
+und erblicke nichts, nichts, das sich mir auf meinem Niedergang noch
+entgegenstellen sollte. -- Ich bin mir die verabscheuungswürdigste
+Kreatur des Weltalls....
+
+=Moritz=
+
+Was zauderst du ...?
+
+(Ein vermummter Herr tritt auf)
+
+=Der vermummte Herr= (zu Melchior)
+
+Du bebst ja vor Hunger. Du bist gar nicht befähigt, zu urteilen. -- (Zu
+Moritz) Gehen Sie.
+
+=Melchior=
+
+Wer sind Sie?
+
+=Der vermummte Herr=
+
+Das wird sich weisen. -- (Zu Moritz) Verschwinden Sie! -- Was haben Sie
+hier zu tun! -- Warum haben Sie denn den Kopf nicht auf?
+
+=Moritz=
+
+Ich habe mich erschossen.
+
+=Der vermummte Herr=
+
+Dann bleiben Sie doch, wo Sie hingehören. Dann sind Sie ja vorbei!
+Belästigen Sie uns hier nicht mit Ihrem Grabgestank. Unbegreiflich
+-- sehen Sie doch nur Ihre Finger an. Pfui Teufel noch mal! Das
+zerbröckelt schon.
+
+=Moritz=
+
+Schicken Sie mich bitte nicht fort....
+
+=Melchior=
+
+Wer sind Sie, mein Herr??
+
+=Moritz=
+
+Schicken Sie mich nicht fort! Ich bitte Sie. Lassen Sie mich hier noch
+ein Weilchen teilnehmen; ich will Ihnen in nichts entgegensein. -- --
+Es ist unten so schaurig.
+
+=Der vermummte Herr=
+
+Warum prahlen Sie denn dann mit _Erhabenheit_?! -- Sie wissen doch,
+daß das Humbug ist -- saure Trauben! Warum _lügen_ Sie geflissentlich,
+Sie -- Hirngespinst! -- -- Wenn Ihnen eine so schätzenswerte Wohltat
+damit geschieht, so bleiben Sie meinetwegen. Aber hüten Sie sich
+vor Windbeuteleien, lieber Freund -- und lassen Sie mir bitte Ihre
+Leichenhand aus dem Spiel!
+
+=Melchior=
+
+Sagen Sie mir endlich, wer Sie sind, oder nicht?!
+
+=Der vermummte Herr=
+
+Nein. -- Ich mache dir den Vorschlag, dich mir anzuvertrauen. Ich würde
+fürs erste für dein Fortkommen sorgen.
+
+=Melchior=
+
+Sie sind -- mein Vater?!
+
+=Der vermummte Herr=
+
+Würdest du deinen Herrn Vater nicht an der Stimme erkennen?
+
+=Melchior=
+
+Nein.
+
+=Der vermummte Herr=
+
+-- Dein Herr Vater sucht Trost zur Stunde in den kräftigen Armen
+deiner Mutter. -- Ich erschließe dir die Welt. Deine momentane
+Fassungslosigkeit entspringt deiner miserablen Lage. Mit einem warmen
+Abendessen im Leib spottest du ihrer.
+
+=Melchior= (für sich)
+
+Es kann nur _einer_ der Teufel sein! -- (laut) Nach dem, was ich
+verschuldet, kann mir ein warmes Abendessen meine Ruhe nicht
+wiedergeben!
+
+=Der vermummte Herr=
+
+Es kommt auf das Abendessen an! -- So viel kann ich dir sagen, daß die
+Kleine vorzüglich geboren hätte. Sie war musterhaft gebaut. Sie ist
+lediglich den Abortivmitteln der Mutter Schmidtin erlegen. -- -- Ich
+führe dich unter Menschen. Ich gebe dir Gelegenheit, deinen Horizont in
+der fabelhaftesten Weise zu erweitern. Ich mache dich ausnahmslos mit
+allem bekannt, was die Welt Interessantes bietet.
+
+=Melchior=
+
+Wer sind Sie? Wer sind Sie? -- Ich kann mich einem Menschen nicht
+anvertrauen, den ich nicht kenne.
+
+=Der vermummte Herr=
+
+Du lernst mich nicht kennen, ohne dich mir anzuvertrauen.
+
+=Melchior=
+
+Glauben Sie?
+
+=Der vermummte Herr=
+
+Tatsache! -- Übrigens bleibt dir ja keine Wahl.
+
+=Melchior=
+
+Ich kann jeden Moment meinem Freunde hier die Hand reichen.
+
+=Der vermummte Herr=
+
+Dein Freund ist ein Scharlatan. Es lächelt keiner, der noch einen
+Pfennig in bar besitzt. Der erhabene Humorist ist das erbärmlichste,
+bedauernswerteste Geschöpf der Schöpfung!
+
+=Melchior=
+
+Sei der Humorist, was er sei; Sie sagen mir, wer Sie sind, oder ich
+reiche dem Humoristen die Hand!
+
+=Der vermummte Herr=
+
+-- Nun?!
+
+=Moritz=
+
+Er hat recht, Melchior. Ich habe bramarbasiert. Laß dich von ihm
+traktieren und nütz’ ihn aus. Mag er noch so vermummt sein -- er ist es
+wenigstens!
+
+=Melchior=
+
+Glauben Sie an Gott?
+
+=Der vermummte Herr=
+
+Je nach Umständen.
+
+=Melchior=
+
+Wollen Sie mir sagen, wer das Pulver erfunden hat?
+
+=Der vermummte Herr=
+
+Berthold Schwarz -- alias Konstantin Anklitzen -- um 1330
+Franziskanermönch zu Freiburg im Breisgau.
+
+=Moritz=
+
+Was gäbe ich darum, wenn er es hätte bleiben lassen!
+
+=Der vermummte Herr=
+
+Sie würden sich eben erhängt haben!
+
+=Melchior=
+
+Wie denken Sie über Moral?
+
+=Der vermummte Herr=
+
+Kerl -- bin ich dein Schulknabe?!
+
+=Melchior=
+
+Weiß ich, was Sie sind!!
+
+=Moritz=
+
+Streitet nicht! -- Bitte, streitet nicht. Was kommt dabei heraus! --
+Wozu sitzen wir, zwei Lebendige und ein Toter, nachts um zwei Uhr hier
+auf dem Kirchhof beisammen, wenn wir streiten wollen wie Saufbrüder!
+-- Es soll mir ein Vergnügen sein, der Verhandlung mit beiwohnen zu
+dürfen. -- Wenn ihr streiten wollt, nehme ich meinen Kopf unter den Arm
+und gehe.
+
+=Melchior=
+
+Du bist immer noch derselbe Angstmeier!
+
+=Der vermummte Herr=
+
+Das Gespenst hat nicht Unrecht. Man soll seine Würde nicht außer
+Acht lassen. -- Unter Moral verstehe ich das reelle Produkt zweier
+imaginärer Größen. Die imaginären Größen sind _Sollen_ und _Wollen_.
+Das Produkt heißt Moral und läßt sich in seiner Realität nicht leugnen.
+
+=Moritz=
+
+Hätten Sie mir das doch vorher gesagt! -- Meine Moral hat mich in den
+Tod gejagt. Um meiner lieben Eltern willen griff ich zum Mordgewehr.
+„Ehre Vater und Mutter, auf daß du lange lebest.“ An mir hat sich die
+Schrift phänomenal blamiert.
+
+=Der vermummte Herr=
+
+Geben Sie sich keinen Illusionen hin, lieber Freund! Ihre lieben Eltern
+wären so wenig daran gestorben wie Sie. Rigoros beurteilt würden sie ja
+lediglich aus gesundheitlichem Bedürfnis getobt und gewettert haben.
+
+=Melchior=
+
+Das mag soweit ganz richtig sein. -- Ich kann Ihnen aber mit
+Bestimmtheit sagen, mein Herr, daß, wenn ich Moritz vorhin ohne
+weiteres die Hand gereicht hätte, einzig und allein meine Moral die
+Schuld trüge.
+
+=Der vermummte Herr=
+
+Dafür bist du eben nicht Moritz!
+
+=Moritz=
+
+Ich glaube doch nicht, daß der Unterschied so wesentlich ist -- zum
+mindesten nicht so zwingend, daß Sie nicht auch mir zufällig hätten
+begegnen dürfen, verehrter _Unbekannter_, als ich damals, das Pistol in
+der Tasche, durch die Erlenpflanzungen trabte.
+
+=Der vermummte Herr=
+
+Erinnern Sie sich meiner denn nicht? Sie standen doch wahrlich auch
+im letzten Augenblick noch zwischen _Tod_ und _Leben_. -- Übrigens
+ist hier meines Erachtens doch wohl nicht ganz der Ort, eine so
+tiefgreifende Debatte in die Länge zu ziehen.
+
+=Moritz=
+
+Gewiß, es wird kühl, meine Herren! -- Man hat mir zwar meinen
+Sonntagsanzug angezogen, aber ich trage weder Hemd noch Unterhosen.
+
+=Melchior=
+
+Leb wohl, lieber Moritz. Wo dieser Mensch mich hinführt, weiß ich
+nicht. Aber er ist ein Mensch ...
+
+=Moritz=
+
+Laß mich’s nicht entgelten, Melchior, daß ich dich umzubringen suchte!
+Es war alte Anhänglichkeit. -- Zeitlebens wollte ich nur klagen und
+jammern dürfen, wenn ich dich nun noch einmal hinausbegleiten könnte!
+
+=Der vermummte Herr=
+
+Schließlich hat Jeder sein Teil -- _Sie_ das beruhigende Bewußtsein,
+_nichts_ zu haben -- _du_ den enervirenden Zweifel an _allem_. -- Leben
+Sie wohl.
+
+=Melchior=
+
+Leb wohl, Moritz! Nimm meinen herzlichen Dank dafür, daß du mir noch
+erschienen. Wie manchen frohen ungetrübten Tag wir nicht miteinander
+verlebt haben in den vierzehn Jahren! Ich verspreche dir, Moritz,
+mag nun werden was will, mag ich in den kommenden Jahren zehnmal ein
+Anderer werden, mag es aufwärts oder abwärts mit mir gehn, dich werde
+ich nie vergessen ...
+
+=Moritz=
+
+Dank, dank, Geliebter.
+
+=Melchior=
+
+... und wenn ich einmal ein alter Mann in grauen Haaren bin, dann
+stehst gerade du mir vielleicht wieder näher als alle Mitlebenden.
+
+=Moritz=
+
+Ich danke dir. -- Glück auf den Weg, meine Herren! -- Lassen Sie sich
+nicht länger aufhalten.
+
+=Der vermummte Herr=
+
+Komm, Kind! -- (Er legt seinen Arm in denjenigen Melchiors und entfernt
+sich mit ihm über die Gräber hin.)
+
+=Moritz= (allein)
+
+-- Da sitze ich nun mit meinem Kopf im Arm. -- -- Der Mond verhüllt
+sein Gesicht, entschleiert sich wieder und sieht um kein Haar
+gescheiter aus. -- -- So kehre ich denn zu meinem Plätzchen zurück,
+richte mein Kreuz auf, das mir der Tollkopf so rücksichtslos
+niedergestampft, und wenn alles in Ordnung, leg’ ich mich wieder auf
+den Rücken, wärme mich an der Verwesung und lächle ...
+
+
+
+
+Albert Langen Verlag für Litteratur u. Kunst München
+
+
+ =Frank Wedekind=
+
+ =Der Liebestrank=
+
+ Schwank in drei Aufzügen
+
+ Geheftet 2 Mark
+
+=Die Nation:=
+
+Der Autor gehört zu den außer der Reihe stehenden, lebhaften und
+kraftgenialischen Geistern, deren unsere Literatur manche hat, bei
+keinem kunstverständigen Beurteiler wird er darum als Poseur, bei
+niemanden seine Art als gemacht, manieriert und eingelernt erscheinen.
+Vielmehr ist er voll einer absonderlichen, wunderlichen Eigenart, eine
+_Natur_, wenn man dies Wort auch einmal auf einen Sprung, eine Laune,
+eine Bizarrerie anwenden darf. Für die Kunst ist er voll Bedeutung,
+Anregung und Reiz ...
+
+
+ =Frank Wedekind=
+
+ =Die junge Welt=
+
+ Komödie in drei Aufzügen
+
+ Geheftet 2 Mark
+
+=Die Gesellschaft:=
+
+„_Die junge Welt_“ ist das bühnengerechteste von Wedekinds Dramen.
+Junge Mädchen geben sich in der Pension das Versprechen des
+Cölibats; natürlich hält es keine. Die Komödie erzählt das mit einem
+fast liebenswürdigen Humor und mit all der Menschenkenntnis und
+treffsicheren Charakterkunst dieses eigenartigsten unter den Dichtern
+von heute. Erzählen läßt sich das nicht, auch nicht beschreiben. Aber
+es ist sehr lustig. Es ist ein wildes Durcheinander von übermütigen
+Einfällen, tollen Gliederverrenkungen in der Charakteristik,
+Karikaturen, die wie Porträts aussehen -- kurz, ein Lachkabinett, aber
+ganz neuer Art.
+
+
+ =Frank Wedekind=
+
+ =Marquis von Keith=
+
+ =(Münchener Szenen)=
+
+ Schauspiel in fünf Aufzügen
+
+ Geheftet 2 Mark 50 Pf.
+
+ Elegant gebunden 3 Mark 50 Pf.
+
+=Die Nation:=
+
+Wedekind hat die irdische Unbekümmertheit, das Freisein von zeitlicher
+Satzung. Er steht außerhalb der Gesellschaft, fast außerhalb der Welt.
+Ich sagte das hier vor einem Jahr und muß es verstärken. Er ist mit
+seinen Lebensinhalten einer der tiefsten Humoristen, die sich heut
+irgendwo betätigen.
+
+
+ =Frank Wedekind=
+
+ =Der Kammersänger=
+
+ Drei Szenen
+
+ =Fünftes Tausend=
+
+ Geheftet 1 Mark
+
+ Elegant gebunden 2 Mark
+
+=Brünner Sonntagszeitung:=
+
+Von groteskem, überlebensgroßem Humor und geißelnder Satire und Ironie
+sind die unter dem Titel „_Der Kammersänger_“ (A. Langen) vereinigten
+Szenen von Frank Wedekind erfüllt. Gut dargestellt müßten diese ohne
+jedwede Komposition aneinander gereihten Szenen von mächtiger Wirkung
+sein. Schon in der Lektüre wirkt das Werk ganz eigentümlich. Man
+empfindet ähnliches wie beim Betrachten der Zeichnungen des dämonischen
+Th. Th. Heine.
+
+
+ =Frank Wedekind=
+
+ =Feuerwerk=
+
+ Erzählungen
+
+ =Drittes Tausend=
+
+ Preis geheftet 3 Mark
+
+ Elegant gebunden 4 Mark
+
+=Pfälzische Presse:=
+
+... Dabei ist Wedekind im Unterschied von vielen jener Dekadenten
+frisch, nicht ohne Humor, und von strotzender Gesundheit in der Art
+sich zu geben. Meisterstücke in ihrer Art sind einige der kleinen
+Novellen, wie „Der Brand von Egliswyl“, „Rabbi Esra“, „Der greise
+Freier“ u. a.
+
+
+ =Frank Wedekind=
+
+ =So ist das Leben=
+
+ Schauspiel in fünf Akten
+
+ Preis geheftet 2 Mark
+
+ Elegant gebunden 3 Mark
+
+„_So ist das Leben_“ behandelt die Schicksale eines entthronten Königs,
+der in die unangenehme Lage kommt, sich vor einem bürgerlichen Gericht
+wegen _Majestätsbeleidigung_ verantworten zu müssen. =Die aktuelle
+Frage der Majestätsbeleidigungsprozesse= erfährt auf diese Weise in dem
+Drama eine _verblüffend vielseitige Beleuchtung_.
+
+ Druck von Hesse & Becker in Leipzig
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Frühlings Erwachen, by Frank Wedekind
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 45091 ***
diff --git a/45091/45091-h/45091-h.htm b/45091-h/45091-h.htm
index 16d1a4a..1e2cd69 100644
--- a/45091/45091-h/45091-h.htm
+++ b/45091-h/45091-h.htm
@@ -1,6196 +1,5779 @@
-<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.0 Strict//EN"
- "http://www.w3.org/TR/xhtml1/DTD/xhtml1-strict.dtd">
-<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml" xml:lang="de" lang="de">
- <head>
- <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html;charset=UTF-8" />
- <meta http-equiv="Content-Style-Type" content="text/css" />
- <title>
- The Project Gutenberg eBook of Frühlings Erwachen, by Frank Wedekind.
- </title>
- <link rel="coverpage" href="images/cover.jpg" />
- <style type="text/css">
-
-body {
- margin-left: 10%;
- margin-right: 10%;
- max-width: 35em;
-}
-
-h1 {
- text-align: center;
-}
-
-h2 {
- text-align: center;
- margin-top: 3em;
-}
-
-h3 {
- text-align: center;
- margin-top: 2em;
-}
-
-p {
- text-indent: 1.5em;
- margin-top: 0;
- text-align: justify;
- margin-bottom: 0;
-}
-
-.sprecher {
- text-indent: 0;
- text-align: center;
- font-weight: bold;
- margin-top: 1em;
- margin-bottom: .25em;
- page-break-after: avoid;
-}
-
-.regie {
- text-indent: 0;
- text-align: center;
- font-weight: normal;
- margin-top: .25em;
- margin-bottom: .25em;
- font-size: smaller;
- page-break-after: avoid;
-}
-
-.infoseite {
- page-break-before: always;
- margin-top: 4em;
- margin-bottom: 4em;
-}
-
-.werke-autor {
- text-align: center;
- text-indent: 0;
- font-size: x-large;
- font-weight: bold;
- margin-top: 1em;
-}
-
-.werke-titel {
- text-align: center;
- text-indent: 0;
- font-size: xx-large;
- font-weight: bold;
-}
-
-.werke-untertitel {
- text-align: center;
- text-indent: 0;
- font-size: large;
- margin-top: 0.2em;
- margin-bottom: 0.2em;
-}
-
-.p2 {margin-top: 2em;}
-.p6 {margin-top: 6em;}
-
-table {
- margin-left: auto;
- margin-right: auto;
- margin-top: 1em;
- margin-bottom: 1em;
-}
-
-.tdr {
- text-align: right;
-}
-
-.pagenum {
- position: absolute;
- left: 92%;
- font-size: smaller;
- text-align: right;
-}
-
-.center {
- text-align: center;
- text-indent: 0;
-}
-
-.right {
- text-align: right;
-}
-
-.antiqua {
-}
-
-.gesperrt {
- letter-spacing: 0.2em;
- margin-right: -0.1em;
-}
-
-em.gesperrt {
- font-style: normal;
-}
-
-i.gesperrt {
- font-style: normal;
-}
-
-cite.gesperrt {
- font-style: normal;
-}
-
-.caption {
- font-size: x-large;
- font-weight: bold;
- text-align: center;
- text-indent: 0;
- margin-top: 1em;
- margin-bottom: 1em;
-}
-
-.figcenter {
- margin: auto;
- text-align: center;
-}
-
-@media handheld {
-
- gesperrt {
- letter-spacing: 0;
- margin-right: 0;
- font-style: italic;
- }
-
- em.gesperrt {
- letter-spacing: 0;
- margin-right: 0;
- font-style: italic;
- }
-
- i.gesperrt {
- letter-spacing: 0;
- margin-right: 0;
- font-style: italic;
- }
-
- cite.gesperrt {
- letter-spacing: 0;
- margin-right: 0;
- font-style: italic;
- }
-}
- </style>
- </head>
-<body>
-
-
-<pre>
-
-The Project Gutenberg EBook of Frühlings Erwachen, by Frank Wedekind
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
-almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
-re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
-with this eBook or online at www.gutenberg.org
-
-
-Title: Frühlings Erwachen
-
-Author: Frank Wedekind
-
-Release Date: March 9, 2014 [EBook #45091]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: UTF-8
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FRÜHLINGS ERWACHEN ***
-
-
-
-
-Produced by Peter Becker, the University of Toronto,
-Marc-Andre Seekamp and the Online Distributed Proofreading
-Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from
-images generously made available by The Internet
-Archive/Canadian Libraries)
-
-
-
-
-
-
-</pre>
-
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_1" id="Seite_1">[1]</a></span></p>
-
-<h1>Frühlings Erwachen</h1>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_2" id="Seite_2">[2]</a></span></p>
-
-<div class="infoseite">
-<p class="center p2">
-Übersetzungs- und Aufführungsrecht vorbehalten. Nachdruck verboten</p>
-<p class="center p2">Den Bühnen und Vereinen gegenüber Manuskript</p>
-<p class="center p2">Das Aufführungsrecht ist ausschließlich zu erwerben
-durch <i class="gesperrt">Albert Langen</i>, Verlag und Bühnenvertrieb,
-München</p>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_3" id="Seite_3">[3]</a></span></p>
-
-<div class="infoseite">
-<p class="caption"><small>Frank Wedekind</small></p>
-<p class="caption">Frühlings Erwachen</p>
-<p class="center">Eine Kindertragödie</p>
-<p class="center p2">Elfte bis fünfzehnte Auflage</p>
-
-<div class="figcenter">
- <a name="verlag" id="verlag"><img src="images/verlag.jpg" width="250" height="227" alt="Verlagslogo" /></a>
-</div>
-
-<p class="center">Albert Langen<br />
-Verlag für Litteratur und Kunst<br />
-München 1907</p>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_4" id="Seite_4">[4]</a></span></p>
-
-<div class="infoseite">
-<p>Von <i class="gesperrt">Frank Wedekind</i> erschienen im Verlage
-von Albert Langen:</p>
-
-<table summary="Werke von Frank Wedekind">
-<tbody>
-
-<tr><td><i class="gesperrt">Erdgeist</i> Tragödie</td><td class="tdr">3. Auflage</td></tr>
-<tr><td><i class="gesperrt">Die Fürstin Russalka</i> Novellen &mdash; Gedichte &mdash; Theater</td><td class="tdr">Vergriffen</td></tr>
-<tr><td><i class="gesperrt">Der Kammersänger</i> Drei Szenen</td><td class="tdr">5. Auflage</td></tr>
-<tr><td><i class="gesperrt">Der Liebestrank</i> Schwank</td><td class="tdr"></td></tr>
-<tr><td><i class="gesperrt">Die junge Welt</i> Komödie</td><td class="tdr"></td></tr>
-<tr><td><i class="gesperrt">Marquis von Keith</i> Schauspiel</td><td class="tdr"></td></tr>
-<tr><td><i class="gesperrt">So ist das Leben</i> Schauspiel</td><td class="tdr"></td></tr>
-<tr><td><i class="gesperrt">Frühlings Erwachen</i> Eine Kindertragödie</td><td class="tdr">15. Auflage</td></tr>
-<tr><td><i class="gesperrt">Mine-Haha</i> oder über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen</td><td class="tdr">5. Tausend</td></tr>
-<tr><td><i class="gesperrt">Die vier Jahreszeiten</i> Gedichte</td><td class="tdr">2. Tausend</td></tr>
-<tr><td><i class="gesperrt">Feuerwerk</i> Erzählungen</td><td class="tdr">3. Tausend</td></tr>
-<tr><td><i class="gesperrt">Totentanz</i> Drei Szenen</td><td class="tdr">4. Tausend</td></tr>
-</tbody>
-</table>
-
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_5" id="Seite_5">[5]</a></span></p>
-
-<div class="infoseite">
-<p class="caption">Dem vermummten Herrn</p>
-<p class="right" style="font-size: large">der Verfasser</p>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_7" id="Seite_7">[7]</a></span></p>
-
-<h2><a name="Erster_Akt" id="Erster_Akt"></a>Erster Akt</h2>
-<h3>Erste Szene</h3>
-
-<p class="regie">Wohnzimmer</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Warum hast du mir das Kleid so lang gemacht,
-Mutter?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Du wirst vierzehn Jahr heute!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Hätt′ ich gewußt, daß du mir das Kleid so
-lang machen werdest, ich wäre lieber nicht vierzehn
-geworden.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Das Kleid ist nicht zu lang, Wendla. Was
-willst du denn! Kann ich dafür, daß mein Kind
-mit jedem Frühjahr wieder zwei Zoll größer ist.
-Du darfst doch als ausgewachsenes Mädchen
-nicht in Prinzeßkleidchen einhergehen.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Jedenfalls steht mir mein Prinzeßkleidchen
-besser als diese Nachtschlumpe. &mdash; Laß mich′s
-noch einmal tragen, Mutter! Nur noch den<span class="pagenum"><a name="Seite_8" id="Seite_8">[8]</a></span>
-Sommer lang. Ob ich nun vierzehn zähle oder
-fünfzehn, dies Bußgewand wird mir immer noch
-recht sein. &mdash; Heben wir′s auf bis zu meinem
-nächsten Geburtstag; jetzt würd′ ich doch nur die
-Litze heruntertreten.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich
-würde dich ja gerne so behalten, Kind, wie du
-gerade bist. Andere Mädchen sind stakig und
-plump in deinem Alter. Du bist das Gegenteil.
-&mdash; Wer weiß, wie du sein wirst, wenn sich die
-andern entwickelt haben.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Wer weiß &mdash; vielleicht werde ich nicht
-mehr sein.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Kind, Kind, wie kommst du auf die Gedanken!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Nicht, liebe Mutter; nicht traurig sein!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann <span class="regie">(sie küssend)</span></p>
-
-<p>Mein einziges Herzblatt!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Sie kommen mir so des abends, wenn ich
-nicht einschlafe. Mir ist gar nicht traurig dabei, und
-ich weiß, daß ich dann um so besser schlafe. &mdash;
-Ist es sündhaft, Mutter, über derlei zu sinnen?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_9" id="Seite_9">[9]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Geh′ denn und häng′ das Bußgewand in
-den Schrank! Zieh′ in Gottes Namen dein
-Prinzeßkleidchen wieder an! &mdash; Ich werde dir
-gelegentlich eine Handbreit Volants unten ansetzen.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p class="regie">(das Kleid in Schrank hängend)</p>
-
-<p>Nein, da möcht′ ich schon lieber gleich vollends zwanzig
-sein&nbsp;...!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Wenn du nur nicht zu kalt hast! &mdash; Das
-Kleidchen war dir ja seinerzeit reichlich lang; aber&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Jetzt, wo der Sommer kommt? &mdash; O Mutter,
-in den Kniekehlen bekommt man auch als Kind
-keine Diphtheritis! Wer wird so kleinmütig sein.
-In meinen Jahren friert man noch nicht &mdash; am
-wenigsten an die Beine. Wär′s etwa besser,
-wenn ich zu heiß hätte, Mutter? &mdash; Dank′ es
-dem lieben Gott, wenn sich dein Herzblatt nicht
-eines morgens die Ärmel wegstutzt und dir so
-zwischen Licht abends ohne Schuhe und Strümpfe
-entgegentritt! &mdash; Wenn ich mein Bußgewand
-trage, kleide ich mich darunter wie eine Elfenkönigin&nbsp;...
-Nicht schelten, Mütterchen! Es
-sieht′s dann ja niemand mehr.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_10" id="Seite_10">[10]</a></span></p>
-
-
-<h3>Zweite Szene</h3>
-
-<p class="regie"><i class="gesperrt">Sonntag abend</i></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Das ist mir zu langweilig. Ich mache nicht
-mehr mit.</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Dann können wir andern nur auch aufhören!
-&mdash; Hast du die Arbeiten, Melchior?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Spielt ihr nur weiter!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wohin gehst du?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Spazieren.</p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Es wird ja dunkel!</p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Hast du die Arbeiten schon?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Warum soll ich denn nicht im Dunkeln
-spazieren gehn?</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Zentralamerika! &mdash; Ludwig der Fünfzehnte! &mdash;
-Sechzig Verse Homer! &mdash; Sieben Gleichungen!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Verdammte Arbeiten!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_11" id="Seite_11">[11]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Wenn nur wenigstens der lateinische Aufsatz
-nicht auf morgen wäre!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>An nichts kann man denken, ohne daß einem
-Arbeiten dazwischen kommen!</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Ich gehe nach Hause.</p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Ich auch, Arbeiten machen.</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Ich auch, ich auch.</p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Gute Nacht, Melchior.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Schlaft wohl!</p>
-
-<p class="regie">(Alle entfernen sich bis auf Moritz und Melchior.)</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Möchte doch wissen, wozu wir eigentlich auf
-der Welt sind!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Lieber wollt′ ich ein Droschkengaul sein um
-der Schule willen! &mdash; Wozu gehen wir in die
-Schule? &mdash; Wir gehen in die Schule, damit man
-uns examinieren kann! &mdash; Und wozu examiniert
-man uns? &mdash; Damit wir durchfallen. &mdash; Sieben<span class="pagenum"><a name="Seite_12" id="Seite_12">[12]</a></span>
-müssen ja durchfallen, schon weil das Klassenzimmer
-oben nur sechzig faßt. &mdash; Mir ist so
-eigentümlich seit Weihnachten ... hol′ mich der
-Teufel, wäre Papa nicht, heut′ noch schnürt′ ich
-mein Bündel und ginge nach Altona!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Reden wir von etwas anderem. &mdash;</p>
-
-<p class="regie">(Sie gehen spazieren.)</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Siehst du die schwarze Katze dort mit dem
-emporgereckten Schweif?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Glaubst du an Vorbedeutungen?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich weiß nicht recht. &mdash; &mdash; Sie kam von
-drüben her. Es hat nichts zu sagen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich glaube, das ist eine Charybdis, in die
-jeder stürzt, der sich aus der Skylla religiösen
-Irrwahns emporgerungen. &mdash; &mdash; Laß uns hier
-unter der Buche Platz nehmen. Der Tauwind
-fegt über die Berge. Jetzt möchte ich droben
-im Wald eine junge Dryade sein, die sich die
-ganze lange Nacht in den höchsten Wipfeln
-wiegen und schaukeln läßt....</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_13" id="Seite_13">[13]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Knöpf′ dir die Weste auf, Melchior!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ha &mdash; wie das einem die Kleider bläht!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Es wird weiß Gott so stockfinster, daß man
-die Hand nicht vor den Augen sieht. Wo bist
-du eigentlich? &mdash; &mdash; Glaubst du nicht auch,
-Melchior, daß das Schamgefühl im Menschen
-nur ein Produkt seiner Erziehung ist?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Darüber habe ich erst vorgestern noch nachgedacht.
-Es scheint mir immerhin tief eingewurzelt
-in der menschlichen Natur. Denke dir,
-du solltest dich vollständig entkleiden vor deinem
-besten Freund. Du wirst es nicht tun, wenn er
-es nicht zugleich auch tut. &mdash; Es ist eben auch
-mehr oder weniger Modesache.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich habe mir schon gedacht, wenn ich Kinder
-habe, Knaben und Mädchen, so lasse ich sie von
-früh auf im nämlichen Gemach, wenn möglich
-auf ein und demselben Lager, zusammenschlafen,
-lasse sie morgens und abends beim An- und
-Auskleiden einander behilflich sein und in der
-heißen Jahreszeit, die Knaben sowohl wie die<span class="pagenum"><a name="Seite_14" id="Seite_14">[14]</a></span>
-Mädchen, tagsüber nichts als eine kurze, mit
-einem Lederriemen gegürtete Tunika aus weißem
-Wollstoff tragen. &mdash; Mir ist, sie müßten, wenn
-sie so heranwachsen, später ruhiger sein, als wir
-es in der Regel sind.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Das glaube ich entschieden, Moritz! &mdash; Die
-Frage ist nur, wenn die Mädchen Kinder bekommen,
-was dann?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wie so Kinder bekommen?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich glaube in dieser Hinsicht nämlich an einen
-gewissen Instinkt. Ich glaube, wenn man einen
-Kater zum Beispiel mit einer Katze von Jugend
-auf zusammensperrt und beide von jedem Verkehr
-mit der Außenwelt fernhält, d. h. sie ganz nur
-ihren eigenen Trieben überläßt &mdash; daß die Katze
-früher oder später doch einmal trächtig wird,
-obgleich sie sowohl wie der Kater niemand hatten,
-dessen Beispiel ihnen hätte die Augen öffnen können.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Bei Tieren muß sich das ja schließlich von
-selbst ergeben.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Bei Menschen glaube ich erst recht! Ich<span class="pagenum"><a name="Seite_15" id="Seite_15">[15]</a></span>
-bitte dich, Moritz, wenn deine Knaben mit den
-Mädchen auf ein und demselben Lager schlafen
-und es kommen ihnen nun unversehens die ersten
-männlichen Regungen &mdash; ich möchte mit jedermann
-eine Wette eingehen....</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Darin magst du ja recht haben. &mdash; Aber
-immerhin&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Und bei deinen Mädchen wäre es im entsprechenden
-Alter vollkommen das nämliche! Nicht
-daß das Mädchen gerade ... man kann das ja
-freilich so genau nicht beurteilen ... jedenfalls
-wäre vorauszusetzen ...... und die Neugierde
-würde das Ihrige zu tun auch nicht verabsäumen!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Eine Frage beiläufig &mdash;</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Nun?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Aber du antwortest?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Natürlich!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wahr?!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Meine Hand darauf. &mdash; &mdash; Nun, Moritz?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_16" id="Seite_16">[16]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Hast du den Aufsatz schon??</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>So sprich doch frisch von der Leber weg! &mdash;
-Hier hört und sieht uns ja niemand.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Selbstverständlich müßten meine Kinder nämlich
-tagsüber arbeiten, in Hof und Garten, oder
-sich durch Spiele zerstreuen, die mit körperlicher
-Anstrengung verbunden sind. Sie müßten reiten,
-turnen, klettern und vor allen Dingen nachts
-nicht so weich schlafen wie wir. Wir sind schrecklich
-verweichlicht. &mdash; Ich glaube, man träumt
-gar nicht, wenn man hart schläft.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich schlafe von jetzt bis nach der Weinlese
-überhaupt nur in meiner Hängematte. Ich habe
-mein Bett hinter den Ofen gestellt. Es ist zum
-Zusammenklappen. &mdash; Vergangenen Winter träumte
-mir einmal, ich hätte unsern Lolo so lange gepeitscht,
-bis er kein Glied mehr rührte. Das
-war das Grauenhafteste, was ich je geträumt
-habe. &mdash; Was siehst du mich so sonderbar an?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Hast du sie schon empfunden?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_17" id="Seite_17">[17]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Was?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wie sagtest du?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Männliche Regungen?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>M&mdash;hm.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>&mdash; Allerdings!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich auch. &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash;
-&mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash;</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich kenne das nämlich schon lange! &mdash; schon
-bald ein Jahr.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich war wie vom Blitz gerührt.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Du hattest geträumt?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Aber nur ganz kurz ....... von Beinen
-im himmelblauem Trikot, die über das Katheder
-steigen &mdash; um aufrichtig zu sein, ich dachte, sie
-wollten hinüber. &mdash; Ich habe sie nur flüchtig
-gesehen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Georg Zirschnitz träumte von seiner <em class="gesperrt">Mutter</em>.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_18" id="Seite_18">[18]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Hat er dir das erzählt?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Draußen am Galgensteg!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wenn du wüßtest, was ich ausgestanden seit
-jener Nacht!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Gewissensbisse?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Gewissensbisse?? &mdash; &mdash; &mdash; <em class="gesperrt">Todesangst</em>!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Herrgott&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich hielt mich für unheilbar. Ich glaubte,
-ich litte an einem inneren Schaden. &mdash; Schließlich
-wurde ich nur dadurch wieder ruhiger, daß ich
-meine Lebenserinnerungen aufzuzeichnen begann.
-Ja ja, lieber Melchior, die letzten drei Wochen
-waren ein Gethsemane für mich.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich war seinerzeit mehr oder weniger darauf
-gefaßt gewesen. Ich schämte mich ein wenig. &mdash;
-Das war aber auch alles.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Und dabei bist du noch fast um ein ganzes
-Jahr jünger als ich!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_19" id="Seite_19">[19]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Darüber, Moritz, würd′ ich mir keine Gedanken
-machen. All′ meinen Erfahrungen nach
-besteht für das erste Auftauchen dieser Phantome
-keine bestimmte Altersstufe. Kennst du den großen
-Lämmermeier mit dem strohgelben Haar und der
-Adlernase? Drei Jahre ist der älter als ich.
-Hänschen Rilow sagt, der träume noch bis heute
-von nichts als Sandtorten und Aprikosengelee.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich bitte dich, wie kann Hänschen Rilow
-darüber urteilen!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Er hat ihn gefragt.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Er hat ihn gefragt? &mdash; Ich hätte mich nicht
-getraut, jemanden zu fragen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Du hast mich doch auch gefragt.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Weiß Gott ja! &mdash; Möglicherweise hatte
-Hänschen auch schon sein Testament gemacht. &mdash;
-Wahrlich ein sonderbares Spiel, das man mit
-uns treibt. Und dafür sollen wir uns dankbar
-erweisen! Ich erinnere mich nicht, je eine Sehnsucht
-nach dieser Art Aufregungen verspürt zu<span class="pagenum"><a name="Seite_20" id="Seite_20">[20]</a></span>
-haben. Warum hat man mich nicht ruhig schlafen
-lassen, bis alles wieder still gewesen wäre. Meine
-lieben Eltern hätten hundert bessere Kinder haben
-können. So bin ich nun hergekommen, ich weiß
-nicht wie, und soll mich dafür verantworten, daß
-ich nicht weggeblieben bin. &mdash; Hast du nicht auch
-schon darüber nachgedacht, Melchior, auf welche
-Art und Weise wir eigentlich in diesen Strudel
-hineingeraten?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Du weißt das also noch nicht, Moritz?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wie sollt′ ich es wissen? &mdash; Ich sehe, wie
-die Hühner Eier legen, und höre, daß mich Mama
-unter dem Herzen getragen haben will. Aber
-genügt denn das? &mdash; Ich erinnere mich auch,
-als fünfjähriges Kind schon befangen worden zu
-sein, wenn einer die dekolletierte Coeurdame aufschlug.
-Dieses Gefühl hat sich verloren. Indessen
-kann ich heute kaum mehr mit irgend
-einem Mädchen sprechen, ohne etwas Verabscheuenswürdiges
-dabei zu denken, und &mdash; ich
-schwöre dir, Melchior &mdash; ich weiß nicht <em class="gesperrt">was</em>.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich sage dir alles. &mdash; Ich habe es teils aus
-Büchern, teils aus Illustrationen, teils aus Beobachtungen<span class="pagenum"><a name="Seite_21" id="Seite_21">[21]</a></span>
-in der Natur. Du wirst überrascht
-sein; ich wurde seinerzeit Atheist. Ich habe es
-auch Georg Zirschnitz gesagt! Georg Zirschnitz
-wollte es Hänschen Rilow sagen, aber Hänschen
-Rilow hatte als Kind schon alles von seiner
-Gouvernante erfahren.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich habe den <em class="gesperrt">Kleinen Meyer</em> von A bis
-Z durchgenommen. Worte &mdash; nichts als Worte
-und Worte! Nicht eine einzige schlichte Erklärung.
-O dieses Schamgefühl! &mdash; Was soll mir ein
-Konversationslexikon, das auf die nächstliegende
-Lebensfrage nicht antwortet.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Hast du schon einmal zwei Hunde über die
-Straße laufen sehen?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Nein! &mdash; &mdash; Sag mir heute lieber noch nichts,
-Melchior. Ich habe noch Mittelamerika und
-Ludwig den Fünfzehnten vor mir. Dazu die
-sechzig Verse Homer, die sieben Gleichungen, der
-lateinische Aufsatz &mdash; ich würde morgen wieder
-überall abblitzen. Um mit Erfolg büffeln zu
-können, muß ich stumpfsinnig wie ein Ochse sein.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Komm doch mit auf mein Zimmer. In<span class="pagenum"><a name="Seite_22" id="Seite_22">[22]</a></span>
-dreiviertel Stunden habe ich den Homer, die
-Gleichungen und <em class="gesperrt">zwei</em> Aufsätze. Ich korrigiere
-dir einige harmlose Schnitzer hinein, so ist die
-Sache im Blei. Mama braut uns wieder eine
-Limonade, und wir plaudern gemütlich über die
-Fortpflanzung.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich kann nicht. &mdash; Ich kann nicht gemütlich
-über die Fortpflanzung plaudern! Wenn du mir
-einen Gefallen tun willst, dann gib mir deine
-Unterweisungen schriftlich. Schreib mir auf, was
-du weißt. Schreib es möglichst kurz und klar
-und steck es mir morgen während der Turnstunde
-zwischen die Bücher. Ich werde es nach Hause
-tragen, ohne zu wissen, daß ich es habe. Ich
-werde es unverhofft einmal wiederfinden. Ich
-werde nicht umhin können, es müden Auges zu
-durchfliegen ... falls es unumgänglich notwendig
-ist, magst du ja auch einzelne Randzeichnungen
-anbringen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Du bist wie ein Mädchen. &mdash; Übrigens wie
-du willst! Es ist mir das eine ganz interessante
-Arbeit. &mdash; &mdash; Eine Frage, Moritz.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Hm?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_23" id="Seite_23">[23]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>&mdash; Hast du schon einmal ein Mädchen gesehen?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ja!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Aber ganz?!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Vollständig</em>!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich nämlich auch! &mdash; Dann werden keine
-Illustrationen nötig sein.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Während des Schützenfestes, in Leilichs anatomischem
-Museum! Wenn es aufgekommen
-wäre, hätte man mich aus der Schule gejagt.
-&mdash; Schön wie der lichte Tag, und &mdash; o so
-naturgetreu!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich war letzten Sommer mit Mama in Frankfurt
-&mdash; &mdash; Du willst schon gehen, Moritz?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Arbeiten machen. &mdash; Gute Nacht.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Auf Wiedersehen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_24" id="Seite_24">[24]</a></span></p>
-
-
-<h3>Dritte Szene</h3>
-
-<p class="regie"><i class="gesperrt">Thea</i>, <i class="gesperrt">Wendla</i> und <i class="gesperrt">Martha</i> kommen Arm in Arm
-die <i class="gesperrt">Straße</i> herauf</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Wie einem das Wasser ins Schuhwerk dringt!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Wie einem der Wind um die Wangen saust!</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Wie einem das Herz hämmert!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Geh′n wir zur Brücke hinaus! Ilse sagte
-der Fluß führe Sträucher und Bäume. Die
-Jungens haben ein Floß auf dem Wasser. Melchi
-Gabor soll gestern abend beinah ertrunken sein.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>O der kann schwimmen!</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Das will ich meinen, Kind!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Wenn er nicht hätte schwimmen können, wäre
-er wohl sicher ertrunken!</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Dein Zopf geht auf, Martha; dein Zopf
-geht auf!</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Puh &mdash; laß ihn aufgehn! Er ärgert mich<span class="pagenum"><a name="Seite_25" id="Seite_25">[25]</a></span>
-so Tag und Nacht. Kurze Haare tragen wie
-du darf ich nicht, das Haar offen tragen wie
-Wendla darf ich nicht, Ponyhaare tragen darf
-ich nicht, und zu Hause muß ich mir gar die
-Frisur machen &mdash; alles der Tanten wegen!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich bringe morgen eine Schere mit in die
-Religionsstunde. Während du „Wohl dem, der
-nicht wandelt“ rezitierst, werd′ ich ihn abschneiden.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Um Gotteswillen, Wendla! Papa schlägt
-mich krumm, und Mama sperrt mich drei Nächte
-ins Kohlenloch.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Womit schlägt er dich, Martha?</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Manchmal ist es mir, es müßte ihnen doch
-etwas abgehen, wenn sie keinen so schlechtgearteten
-Balg hätten wie ich.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Aber Mädchen!</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Hast du dir nicht auch ein himmelblaues
-Band durch die Hemdpasse ziehen dürfen?</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Rosa Atlas! Mama behauptet, Rosa stehe
-mir bei meinen pechschwarzen Augen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_26" id="Seite_26">[26]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Mir stand Blau reizend! &mdash; Mama riß mich
-am Zopf zum Bett heraus. So &mdash; fiel ich mit
-den Händen voraus auf die Diele. &mdash; Mama
-betet nämlich Abend für Abend mit uns....</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich an deiner Stelle wäre ihnen längst in
-die Welt hinausgelaufen.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>...&nbsp;Da habe man′s, worauf ich ausgehe! &mdash;
-Da habe man′s ja! &mdash; Aber sie wolle schon sehen &mdash;
-o sie wolle noch sehen! &mdash; Meiner Mutter
-wenigstens solle ich einmal keine Vorwürfe machen
-können....</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Hu &mdash; Hu &mdash;</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Kannst du dir denken, Thea, was Mama
-damit meinte?</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Ich nicht. &mdash; Du, Wendla?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich hätte sie einfach gefragt.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Ich lag auf der Erde und schrie und heulte.
-Da kommt Papa. Ritsch &mdash; das Hemd herunter.<span class="pagenum"><a name="Seite_27" id="Seite_27">[27]</a></span>
-Ich zur Türe hinaus. Da habe man′s! Ich
-wolle nun wohl so auf die Straße hinunter....</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Das ist doch gar nicht wahr, Martha.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Ich fror. Ich schloß auf. Ich habe die
-ganze Nacht im Sack schlafen müssen.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Ich könnte meiner Lebtag in keinem Sack
-schlafen!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich möchte ganz gern mal für dich in deinem
-Sack schlafen.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Wenn man nur nicht geschlagen wird.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Aber man erstickt doch darin!</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Der Kopf bleibt frei. Unter dem Kinn wird
-zugebunden.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Und dann schlagen sie dich?</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Nein. Nur wenn etwas Besonderes vorliegt.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Womit schlägt man dich, Martha?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_28" id="Seite_28">[28]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Ach was &mdash; mit allerhand. &mdash; Hält es deine
-Mutter auch für unanständig, im Bett ein Stück
-Brot zu essen?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Nein, nein.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Ich glaube immer, sie haben doch ihre Freude
-&mdash; wenn sie auch nichts davon sagen. &mdash; Wenn
-ich einmal Kinder habe, ich lasse sie aufwachsen
-wie das Unkraut in unserem Blumengarten. Um
-das kümmert sich niemand, und es steht so hoch,
-so dicht &mdash; während die Rosen in den Beeten
-an ihren Stöcken mit jedem Sommer kümmerlicher
-blühn.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Wenn ich Kinder habe, kleid′ ich sie ganz in
-Rosa. Rosahüte, Rosakleidchen, Rosaschuhe. Nur
-die Strümpfe &mdash; die Strümpfe schwarz wie die
-Nacht! Wenn ich dann spazieren gehe, laß ich
-sie vor mir hermarschieren. &mdash; Und du, Wendla?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Wißt ihr denn, ob ihr welche bekommt?</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Warum sollten wir keine bekommen?</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Tante Euphemia hat allerdings auch keine.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_29" id="Seite_29">[29]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Gänschen! &mdash; weil sie nicht <em class="gesperrt">verheiratet</em> ist.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Tante Bauer war dreimal verheiratet und
-hat nicht ein einziges.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>&mdash; Wenn du welche bekommst, Wendla, was
-möchtest du lieber, Knaben oder Mädchen?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Jungens! Jungens!</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Ich auch Jungens!</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Ich auch. Lieber zwanzig Jungens als drei
-Mädchen.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Mädchen sind langweilig!</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Wenn ich nicht schon ein Mädchen geworden
-wäre, ich würde es heute gewiß nicht mehr.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Das ist, glaube ich, Geschmacksache, Martha!
-Ich freue mich jeden Tag, daß ich Mädchen bin.
-Glaub′ mir, ich wollte mit keinem Königssohn
-tauschen. &mdash; Darum möchte ich aber doch nur
-Buben!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_30" id="Seite_30">[30]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Das ist doch Unsinn, lauter Unsinn, Wendla!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Aber ich bitte dich, Kind, es muß doch tausendmal
-erhebender sein, von einem Manne geliebt
-zu werden, als von einem Mädchen!</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Du wirst doch nicht behaupten wollen, Forstreferendar
-Pfälle liebe Melitta mehr als sie ihn!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Das will ich wohl, Thea! &mdash; Pfälle ist stolz.
-Pfälle ist stolz darauf, daß er Forstreferendar ist
-&mdash; denn Pfälle hat nichts. &mdash; Melitta ist <em class="gesperrt">selig</em>,
-weil sie zehntausendmal mehr bekommt, als sie ist.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Bist du nicht stolz auf dich, Wendla?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Das wäre doch einfältig.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Wie wollt′ ich stolz sein an deiner Stelle.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Sieh′ doch nur, wie sie die Füße setzt &mdash; wie
-sie geradaus schaut &mdash; wie sie sich hält, Martha!
-&mdash; Wenn das nicht Stolz ist!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_31" id="Seite_31">[31]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Wozu nur?! Ich bin so glücklich, Mädchen
-zu sein; wenn ich kein Mädchen wär′, brächt′ ich
-mich um, um das nächste Mal&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p class="regie">(geht vorüber und grüßt)</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Er hat einen wundervollen Kopf.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>So denke ich mir den jungen Alexander, als
-er zu Aristoteles in die Schule ging.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Du lieber Gott, die griechische Geschichte! &mdash;
-Ich weiß nur noch, wie Sokrates in der Tonne
-lag, als ihm Alexander den Eselsschatten verkaufte.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Er soll der Drittbeste in seiner Klasse sein.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Professor Knochenbruch sagt, wenn er wollte,
-könnte er Primus sein.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Er hat eine schöne Stirne, aber sein Freund
-hat einen seelenvolleren Blick.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Moritz Stiefel? &mdash; Ist das eine Schlafmütze!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_32" id="Seite_32">[32]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Ich habe mich immer ganz gut mit ihm
-unterhalten.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Er blamiert einen, wo man ihn trifft. Auf
-dem Kinderball bei Rilows bot er mir Pralinees
-an. Denke dir, Wendla, die waren weich und
-warm. Ist das nicht&nbsp;...? &mdash; Er sagte, er habe
-sie zu lang in der Hosentasche gehabt.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Denke dir, Melchi Gabor sagte mir damals,
-er glaube an nichts &mdash; nicht an Gott, nicht an
-ein Jenseits &mdash; an gar nichts mehr in dieser Welt.</p>
-
-
-<h3>Vierte Szene</h3>
-
-<p class="regie">Parkanlagen vor dem Gymnasium &mdash; <i class="gesperrt">Melchior</i>, <i class="gesperrt">Otto</i>,
-<i class="gesperrt">Georg</i>, <i class="gesperrt">Robert</i>, <i class="gesperrt">Hänschen Rilow</i>, <i class="gesperrt">Lämmermeier</i></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Kann mir einer von euch sagen, wo Moritz
-Stiefel steckt?</p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Dem kann′s schlecht gehn! &mdash; O dem kann′s
-schlecht gehn!</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Der treibts so lange, bis er noch mal ganz
-gehörig ′reinfliegt!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_33" id="Seite_33">[33]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Lämmermeier</p>
-
-<p>Weiß der Kuckuck, ich möchte in diesem
-Moment nicht in seiner Haut stecken!</p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Eine Frechheit! &mdash; Eine Unverschämtheit!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wa &mdash; wa &mdash; was wißt ihr denn?</p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Was wir wissen? &mdash; Na, ich sage dir&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Lämmermeier</p>
-
-<p>Ich möchte nichts gesagt haben!</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Ich auch nicht &mdash; weiß Gott nicht!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wenn ihr jetzt nicht sofort&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Kurz und gut, Moritz Stiefel ist ins <em class="gesperrt">Konferenzzimmer</em>
-gedrungen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ins Konferenzzimmer&nbsp;...?</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Ins Konferenzzimmer! &mdash; Gleich nach Schluß
-der Lateinstunde.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_34" id="Seite_34">[34]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Er war der letzte; er blieb absichtlich zurück.</p>
-
-<p class="sprecher">Lämmermeier</p>
-
-<p>Als ich um die Korridorecke bog, sah ich
-ihn die Tür öffnen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Hol dich der&nbsp;...!</p>
-
-<p class="sprecher">Lämmermeier</p>
-
-<p>Wenn nur ihn nicht der Teufel holt!</p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Vermutlich hatte das Rektorat den Schlüssel
-nicht abgezogen.</p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Oder Moritz Stiefel führt einen Dietrich.</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Ihm wäre das zuzutrauen.</p>
-
-<p class="sprecher">Lämmermeier</p>
-
-<p>Wenn′s gut geht, bekommt er einen Sonntagnachmittag.</p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Nebst einer Bemerkung ins Zeugnis!</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Wenn er bei dieser Zensur nicht ohnehin
-an die Luft fliegt.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
-
-<p>Da ist er!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_35" id="Seite_35">[35]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Blaß wie ein Handtuch.</p>
-
-<p class="regie">(Moritz kommt in äußerster Aufregung.)</p>
-
-<p class="sprecher">Lämmermeier</p>
-
-<p>Moritz, Moritz, was du getan hast!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>&mdash; &mdash; Nichts &mdash; &mdash; nichts &mdash; &mdash; &mdash;</p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Du fieberst!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>&mdash; Vor Glück &mdash; vor Seligkeit &mdash; vor
-Herzensjubel &mdash;</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Du bist erwischt worden?!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich bin promoviert! &mdash; Melchior, ich bin
-promoviert! &mdash; O jetzt kann die Welt untergehn!
-&mdash; Ich bin promoviert! &mdash; Wer hätte geglaubt,
-daß ich promoviert werde! &mdash; Ich fass′ es noch
-nicht! &mdash; Zwanzigmal hab′ ich′s gelesen! &mdash; Ich
-kann′s nicht glauben &mdash; du großer Gott, es
-blieb! &mdash; Es blieb! <em class="gesperrt">Ich bin promoviert</em>! &mdash;
-(lächelnd) Ich weiß nicht &mdash; so sonderbar ist mir
-&mdash; der Boden dreht sich&nbsp;... Melchior, Melchior,
-wüßtest du, was ich durchgemacht!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_36" id="Seite_36">[36]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
-
-<p>Ich gratuliere, Moritz. &mdash; Sei nur froh,
-daß du so weggekommen!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Du weißt nicht, Hänschen, du ahnst nicht,
-was auf dem Spiel stand. Seit drei Wochen
-schleiche ich an der Tür vorbei wie am Höllenschlund.
-Da sehe ich heute, sie ist angelehnt.
-Ich glaube, wenn man mir eine Million geboten
-hätte &mdash; nichts, o nichts hätte mich zu
-halten vermocht! &mdash; Ich stehe mitten im Zimmer
-&mdash; ich schlage das Protokoll auf &mdash; blättere &mdash;
-finde &mdash; &mdash; und während all der Zeit&nbsp;...
-Mir schaudert &mdash;</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>...&nbsp;während all der Zeit?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Während all der Zeit steht die Tür hinter
-mir sperrangelweit offen. &mdash; Wie ich heraus ...
-wie ich die Treppe heruntergekommen, weiß ich
-nicht.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
-
-<p>&mdash; Wird Ernst Röbel auch promoviert?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>O gewiß, Hänschen, gewiß! &mdash; Ernst Röbel
-wird gleichfalls promoviert.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_37" id="Seite_37">[37]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Dann mußt du schon nicht richtig gelesen
-haben. Die Eselsbank abgerechnet zählen wir
-mit dir und Röbel zusammen einundsechzig, während
-oben das Klassenzimmer mehr als sechzig nicht
-fassen kann.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich habe vollkommen richtig gelesen. Ernst
-Röbel wird so gut versetzt wie ich &mdash; beide
-allerdings vorläufig nur <em class="gesperrt">provisorisch</em>. Während
-des ersten Quartals soll es sich dann herausstellen,
-wer dem andern Platz zu machen hat. &mdash;
-Armer Röbel! &mdash; Weiß der Himmel, mir ist um
-mich nicht mehr bange. Dazu habe ich diesmal zu
-tief hinuntergeblickt.</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Ich wette fünf Mark, daß du Platz machst.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Du hast ja nichts. Ich will dich nicht ausrauben.
-&mdash; Herrgott, werd′ ich büffeln von heute
-an! &mdash; Jetzt kann ich′s ja sagen &mdash; mögt ihr
-daran glauben oder nicht &mdash; jetzt ist ja alles
-gleichgültig &mdash; ich &mdash; ich weiß, wie wahr es
-ist: Wenn ich nicht promoviert worden wäre,
-hätte ich mich erschossen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_38" id="Seite_38">[38]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Prahlhans!</p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Der Hasenfuß!</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Dich hätte ich schießen sehen mögen!</p>
-
-<p class="sprecher">Lämmermeier</p>
-
-<p>Eine Maulschelle drauf!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p class="regie">(gibt ihm eine)</p>
-
-<p>&mdash; &mdash; Komm, Moritz. Gehn wir zum
-Försterhaus!</p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Glaubst du vielleicht an den Schnack?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Schert dich das? &mdash; &mdash; Laß sie schwatzen,
-Moritz! Fort, nur fort, zur Stadt hinaus!</p>
-
-<p class="regie">(Die Professoren <i class="gesperrt">Hungergurt</i> und <i class="gesperrt">Knochenbruch</i>
-gehen vorüber.)</p>
-
-<p class="sprecher">Knochenbruch</p>
-
-<p>Mir unbegreiflich, verehrter Herr Kollega,
-wie sich der beste meiner Schüler gerade zum
-allerschlechtesten so hingezogen fühlen kann.</p>
-
-<p class="sprecher">Hungergurt</p>
-
-<p>Mir auch, verehrter Herr Kollega.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_39" id="Seite_39">[39]</a></span></p>
-
-
-<h3>Fünfte Szene</h3>
-
-<p class="regie">Sonniger Nachmittag. &mdash; <i class="gesperrt">Melchior</i> und <i class="gesperrt">Wendla</i> begegnen
-einander im Wald.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Bist du′s wirklich, Wendla? &mdash; Was tust
-denn du so allein hier oben? &mdash; Seit drei
-Stunden durchstreife ich den Wald die Kreuz und
-Quer, ohne daß mir eine Seele begegnet, und
-nun plötzlich trittst du mir aus dem dichtesten
-Dickicht entgegen!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ja, ich bin′s.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wenn ich dich nicht als Wendla Bergmann
-kennte, ich hielte dich für eine Dryade, die aus
-den Zweigen gefallen.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Nein, nein, ich bin Wendla Bergmann. &mdash;
-Wo kommst denn du her?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich gehe meinen Gedanken nach.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich suche Waldmeister. Mama will Maitrank
-bereiten. Anfangs wollte sie selbst mitgehn,
-aber im letzten Augenblick kam Tante Bauer
-noch, und die steigt nicht gern. &mdash; So bin ich
-denn allein heraufgekommen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_40" id="Seite_40">[40]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Hast du deinen Waldmeister schon?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Den ganzen Korb voll. Drüben unter den
-Buchen steht er dicht wie Mattenklee. &mdash; Jetzt
-sehe ich mich nämlich nach einem Ausweg um.
-Ich scheine mich verirrt zu haben. Kannst du
-mir vielleicht sagen, wie viel Uhr es ist?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Eben halb vier vorbei. &mdash; Wann erwartet
-man dich?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich glaubte, es wäre später. Ich lag eine
-ganze Weile am Goldbach im Moose und habe
-geträumt. Die Zeit verging mir so rasch; ich
-fürchtete, es wolle schon Abend werden.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wenn man dich noch nicht erwartet, dann
-laß uns hier noch ein wenig lagern. Unter der
-Eiche dort ist mein Lieblingsplätzchen. Wenn
-man den Kopf an den Stamm zurücklehnt und
-durch die Äste in den Himmel starrt, wird man
-hypnotisiert. Der Boden ist noch warm von der
-Morgensonne. &mdash; Schon seit Wochen wollte ich
-dich etwas fragen, Wendla.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Aber vor fünf muß ich zu Hause sein.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_41" id="Seite_41">[41]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wir gehen dann zusammen. Ich nehme den
-Korb und wir schlagen den Weg durch die Runse
-ein, so sind wir in zehn Minuten schon auf der
-Brücke! &mdash; Wenn man so daliegt, die Stirn in
-die Hand gestützt, kommen einem die sonderbarsten
-Gedanken&nbsp;...</p>
-
-<p class="regie">(Beide lagern sich unter der Eiche.)</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Was wolltest du mich fragen, Melchior?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich habe gehört, Wendla, du gehest häufig
-zu armen Leuten. Du brächtest ihnen Essen, auch
-Kleider und Geld. Tust du das aus eigenem
-Antriebe oder schickt deine Mutter dich?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Meistens schickt mich die Mutter. Es sind
-arme Taglöhnerfamilien, die eine Unmenge Kinder
-haben. Oft findet der Mann keine Arbeit, dann
-frieren und hungern sie. Bei uns liegt aus früherer
-Zeit noch so mancherlei in Schränken und Kommoden,
-das nicht mehr gebraucht wird. &mdash; Aber wie kommst
-du darauf?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Gehst du gern oder ungern, wenn deine
-Mutter dich sowohin schickt?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_42" id="Seite_42">[42]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>O für mein Leben gern! &mdash; Wie kannst du
-fragen!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Aber die Kinder sind schmutzig, die Frauen
-sind krank, die Wohnungen strotzen von Unrat,
-die Männer hassen dich, weil du nicht arbeitest&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Das ist nicht wahr, Melchior. Und wenn
-es wahr wäre, ich würde erst recht gehen!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wieso erst recht, Wendla?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich würde erst recht hingehen. &mdash; Es würde
-nur noch vielmehr Freude bereiten, ihnen helfen
-zu können.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Du gehst also um deiner Freude willen zu
-den armen Leuten?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich gehe zu ihnen, weil sie arm sind.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Aber wenn es dir keine Freude wäre, würdest
-du nicht gehen?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Kann ich denn dafür, daß es mir Freude
-macht?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_43" id="Seite_43">[43]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Und doch sollst du dafür in den Himmel
-kommen! &mdash; So ist es also richtig, was mir nun
-seit einem Monat keine Ruhe mehr läßt! &mdash;
-Kann der Geizige dafür, daß es ihm keine Freude
-macht, zu schmutzigen kranken Kindern zu gehen?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>O dir würde es sicher die größte Freude sein!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Und doch soll er dafür des ewigen Todes
-sterben! &mdash; Ich werde eine Abhandlung schreiben
-und sie Herrn Pastor Kahlbauch einschicken. Er
-ist die Veranlassung. Was faselt er uns von
-<em class="gesperrt">Opfer-Freudigkeit</em>! &mdash; Wenn er mir nicht
-antworten kann, gehe ich nicht mehr in die Kinderlehre
-und lasse mich nicht konfirmieren.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Warum willst du deinen lieben Eltern den
-Kummer bereiten! Laß dich doch konfirmieren;
-den Kopf kostet′s doch nicht. Wenn unsere schrecklichen
-weißen Kleider und eure Schlepphosen
-nicht wären, würde man sich vielleicht noch dafür
-begeistern können.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Es gibt keine Aufopferung! Es gibt keine
-Selbstlosigkeit! &mdash; Ich sehe die Guten sich ihres<span class="pagenum"><a name="Seite_44" id="Seite_44">[44]</a></span>
-Herzens freun, sehe die Schlechten beben und
-stöhnen &mdash; ich sehe dich, Wendla Bergmann,
-deine Locken schütteln und lachen, und mir wird
-so ernst dabei wie einem Geächteten. &mdash; &mdash; Was
-hast du vorhin geträumt, Wendla, als du am
-Goldbach im Grase lagst?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>&mdash; &mdash; Dummheiten &mdash; Narreteien &mdash;</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Mit offenen Augen?!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Mir träumte, ich wäre ein armes, armes
-Bettelkind, ich würde früh fünf schon auf die
-Straße geschickt, ich müßte betteln den ganzen
-langen Tag in Sturm und Wetter, unter hartherzigen,
-rohen Menschen. Und käm′ ich abends
-nach Hause, zitternd vor Hunger und Kälte, und
-hätte so viel Geld nicht wie mein Vater verlangt,
-dann würd′ ich geschlagen &mdash; geschlagen &mdash;</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Das kenne ich, Wendla. Das hast du den
-albernen Kindergeschichten zu danken. Glaub′
-mir, so brutale Menschen existieren nicht mehr.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>O doch, Melchior, du irrst. &mdash; Martha
-Bessel wird Abend für Abend geschlagen, daß<span class="pagenum"><a name="Seite_45" id="Seite_45">[45]</a></span>
-man andern Tags Striemen sieht. O was die
-leiden muß! Siedendheiß wird es einem, wenn
-sie erzählt. Ich bedaure sie so furchtbar, ich
-muß oft mitten in der Nacht in die Kissen weinen.
-Seit Monaten denke ich darüber nach, wie man
-ihr helfen kann. &mdash; Ich wollte mit Freuden
-einmal acht Tage an ihrer Stelle sein.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Man sollte den Vater kurzweg verklagen.
-Dann würde ihm das Kind weggenommen.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich, Melchior, bin in meinem Leben nie geschlagen
-worden &mdash; nicht ein einziges Mal. Ich
-kann mir kaum denken, wie das tut, geschlagen
-zu werden. Ich habe mich schon selber geschlagen,
-um zu erfahren, wie einem dabei ums Herz
-wird. &mdash; Es muß ein grauenvolles Gefühl sein.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich glaube nicht, daß je ein Kind dadurch
-besser wird.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Wodurch besser wird?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Daß man es schlägt.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_46" id="Seite_46">[46]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>&mdash; Mit dieser Gerte zum Beispiel! &mdash; Hu, ist
-die zäh und dünn.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Die zieht Blut!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Würdest du mich nicht einmal damit schlagen?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wen?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Mich.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Was fällt dir ein, Wendla!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Was ist denn dabei?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>O sei ruhig! &mdash; Ich schlage dich nicht.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Wenn ich dir′s doch erlaube!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Nie, Mädchen!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Aber wenn ich dich darum bitte, Melchior!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Bist du nicht bei Verstand?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich bin in meinem Leben nie geschlagen
-worden!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_47" id="Seite_47">[47]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wenn du um so etwas bitten kannst&nbsp;...!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>&mdash; Bitte &mdash; bitte &mdash;</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich will dich bitten lehren! &mdash; <span class="regie">(er schlägt sie)</span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ach Gott &mdash; ich spüre nicht das Geringste!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Das glaub′ ich dir &mdash; &mdash; durch all′ deine
-Röcke durch....</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>So schlag′ mich doch an die Beine!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wendla! &mdash; <span class="regie">(er schlägt sie stärker)</span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Du streichelst mich ja! &mdash; Du streichelst mich!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wart′ Hexe, ich will dir den Satan austreiben!</p>
-
-<p class="regie">(Er wirft den Stock beiseite und schlägt derart mit
-den Fäusten drein, daß sie in ein fürchterliches Geschrei
-ausbricht. Er kehrt sich nicht daran, sondern drischt wie
-wütend auf sie los, während ihm die dicken Tränen
-über die Wangen rinnen. Plötzlich springt er empor,
-faßt sich mit beiden Händen an die Schläfen und stürzt,
-aus tiefster Seele jammervoll aufschluchzend, in den
-Wald hinein.)</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_48" id="Seite_48">[48]</a></span></p>
-
-
-<h2><a name="Zweiter_Akt" id="Zweiter_Akt"></a>Zweiter Akt</h2>
-
-
-<h3>Erste Szene</h3>
-
-
-<p class="regie">Abend auf Melchiors <i class="gesperrt">Studierzimmer</i>. Das Fenster
-steht offen, die Lampe brennt auf dem Tisch. &mdash; <i class="gesperrt">Melchior</i>
-und <i class="gesperrt">Moritz</i> auf dem Kanapee.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Jetzt bin ich wieder ganz munter, nur etwas
-aufgeregt. &mdash; Aber in der Griechischstunde habe
-ich doch geschlafen wie der besoffene Polyphem.
-Nimmt mich Wunder, daß mich der alte Zungenschlag
-nicht in die Ohren gezwickt. &mdash; Heut′ früh
-wäre ich um ein Haar noch zu spät gekommen.
-&mdash; Mein erster Gedanke beim Erwachen waren
-die Verba auf μ. &mdash; Himmel-Herrgott-Teufel-Donnerwetter,
-während des Frühstücks und den
-Weg entlang habe ich konjugiert, daß mir grün
-vor den Augen wurde. &mdash; Kurz nach drei muß
-ich abgeschnappt sein. Die Feder hat mir noch
-einen Klex ins Buch gemacht. Die Lampe
-qualmte, als Mathilde mich weckte; in den
-Fliederbüschen unter dem Fenster zwitscherten die
-Amseln so lebensfroh &mdash; mir ward gleich wieder
-unsagbar melancholisch zu Mute. Ich band mir<span class="pagenum"><a name="Seite_49" id="Seite_49">[49]</a></span>
-den Kragen um und fuhr mit der Bürste durchs
-Haar. &mdash; &mdash; Aber man fühlt sich, wenn man
-seiner Natur etwas abgerungen!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Darf ich dir eine Zigarette drehen?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Danke, ich rauche nicht. &mdash; Wenn es nun
-nur so weiter geht! Ich will arbeiten und arbeiten,
-bis mir die Augen zum Kopf herausplatzen.
-&mdash; Ernst Röbel hat seit den Ferien schon
-sechsmal nichts gekonnt; dreimal im Griechischen,
-zweimal bei Knochenbruch; das letztemal in der
-Literaturgeschichte. Ich war erst fünfmal in der
-bedauernswerten Lage; und von heute ab kommt
-es überhaupt nicht mehr vor! &mdash; Röbel erschießt
-sich nicht. Röbel hat keine Eltern, die ihm ihr
-Alles opfern. Er kann, wann er will, Söldner,
-Cowboy oder Matrose werden. Wenn ich durchfalle,
-rührt meinen Vater der Schlag, und Mama
-kommt ins Irrenhaus. So was erlebt man nicht!
-&mdash; Vor dem Examen habe ich zu Gott gefleht,
-er möge mich schwindsüchtig werden lassen, auf
-daß der Kelch ungenossen vorübergehe. Er ging
-vorüber &mdash; wenngleich mir auch heute noch seine
-Aureole aus der Ferne entgegenleuchtet, daß ich<span class="pagenum"><a name="Seite_50" id="Seite_50">[50]</a></span>
-Tag und Nacht den Blick nicht zu heben wage.
-&mdash; Aber nun ich die Stange erfaßt, werde ich
-mich auch hinaufschwingen. Dafür bürgt mir
-die unabänderliche Konsequenz, daß ich nicht
-stürze, ohne das Genick zu brechen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Das Leben ist von einer ungeahnten Gemeinheit.
-Ich hätte nicht übel Lust, mich in die Zweige
-zu hängen. &mdash; Wo Mama mit dem Tee nur bleibt!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Dein Tee wird mir gut tun, Melchior! &mdash;
-Ich zittre nämlich. Ich fühle mich so eigentümlich
-vergeistert. Betaste mich bitte mal. Ich
-sehe &mdash; ich höre &mdash; ich fühle viel deutlicher &mdash;
-und doch alles so traumhaft &mdash; o, so stimmungsvoll.
-&mdash; Wie sich dort im Mondschein der Garten
-dehnt, so still, so tief, als ging′ er ins Unendliche.
-&mdash; Unter den Büschen treten umflorte Gestalten
-hervor, huschen in atemloser Geschäftigkeit über
-die Lichtungen und verschwinden im Halbdunkel.
-Mir scheint, unter dem Kastanienbaum soll eine
-Ratsversammlung gehalten werden. &mdash; Wollen
-wir nicht hinunter, Melchior?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Warten wir, bis wir Tee getrunken.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_51" id="Seite_51">[51]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>&mdash; Die Blätter flüstern so emsig. &mdash; Es ist,
-als hörte ich Großmutter selig die Geschichte von
-der „Königin ohne Kopf“ erzählen. &mdash; Das war
-eine wunderschöne Königin, schön wie die Sonne,
-schöner als alle Mädchen im Land. Nur war
-sie leider ohne Kopf auf die Welt gekommen.
-Sie konnte nicht essen, nicht trinken, konnte nicht
-sehen, nicht lachen und auch nicht küssen. Sie
-vermochte sich mit ihrem Hofstaat nur durch ihre
-kleine weiche Hand zu verständigen. Mit den
-zierlichen Füßen strampelte sie Kriegserklärungen
-und Todesurteile. Da wurde sie eines Tages
-von einem Könige besiegt, der zufällig zwei
-Köpfe hatte, die sich das ganze Jahr in den
-Haaren lagen und dabei so aufgeregt disputierten,
-daß keiner den andern zu Wort kommen ließ.
-Der Oberhofzauberer nahm nun den kleineren
-der beiden und setzte ihn der Königin auf. Und
-siehe, er stand ihr vortrefflich. Darauf heiratete
-der König die Königin, und die beiden lagen
-einander nun nicht mehr in den Haaren, sondern
-küßten einander auf Stirn, auf Wangen und
-Mund und lebten noch lange lange Jahre glücklich
-und in Freuden.... Verwünschter Unsinn!
-Seit den Ferien kommt mir die kopflose Königin<span class="pagenum"><a name="Seite_52" id="Seite_52">[52]</a></span>
-nicht aus dem Kopf. Wenn ich ein schönes Mädchen
-sehe, seh′ ich es ohne Kopf &mdash; und erscheine
-mir dann plötzlich selber als kopflose Königin....
-Möglich, daß mir nochmal einer aufgesetzt wird.</p>
-
-<p class="regie">(Frau Gabor kommt mit dem dampfenden Tee, den sie
-vor Moritz und Melchior auf den Tisch setzt)</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Hier Kinder, laßt es euch munden. &mdash; Guten
-Abend, Herr Stiefel; wie geht es Ihnen?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Danke, Frau Gabor. &mdash; Ich belausche den
-Reigen dort unten.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Sie sehen aber gar nicht gut aus. &mdash; Fühlen
-Sie sich nicht wohl?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Es hat nichts zu sagen. Ich bin die letzten
-Abende etwas spät zu Bett gekommen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Denke dir, er hat die ganze Nacht durch gearbeitet.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Sie sollten so etwas nicht tun, Herr Stiefel.
-Sie sollten sich schonen. Bedenken Sie Ihre Gesundheit.
-Die Schule ersetzt Ihnen die Gesundheit
-nicht. &mdash; Fleißig spazieren gehn in der frischen
-Luft! Das ist in Ihren Jahren mehr wert als
-ein korrektes Mittelhochdeutsch.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_53" id="Seite_53">[53]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich werde fleißig spazieren gehn. Sie haben
-recht. Man kann auch während des Spazierengehens
-fleißig sein. Daß ich noch selbst nicht
-auf den Gedanken gekommen! &mdash; Die schriftlichen
-Arbeiten müßte ich immerhin zu Hause machen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Das Schriftliche machst du bei mir; so wird
-es uns beiden leichter. &mdash; &mdash; Du weißt ja, Mama,
-daß Max von Trenk am Nervenfieber darniederlag!
-&mdash; Heute mittag kommt Hänschen Rilow
-von Trenks Totenbett zu Rektor Sonnenstich, um
-anzuzeigen, daß Trenk soeben in seiner Gegenwart
-gestorben sei. &mdash; „So?“ sagt Sonnenstich,
-„hast du von letzter Woche her nicht noch zwei
-Stunden nachzusitzen? &mdash; Hier ist der Zettel an
-den Pedell. Mach, daß die Sache endlich ins
-reine kommt! Die ganze Klasse soll an der Beerdigung
-teilnehmen.“ &mdash; Hänschen war wie
-gelähmt.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Was hast du da für ein Buch, Melchior?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>„Faust.“</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Hast du es schon gelesen?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_54" id="Seite_54">[54]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Noch nicht zu Ende.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wir sind gerade in der Walpurgisnacht.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Ich hätte an deiner Stelle noch ein, zwei
-Jahre damit gewartet.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich kenne kein Buch, Mama, in dem ich so
-viel Schönes gefunden. Warum hätte ich es
-nicht lesen sollen.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>&mdash; Weil du es nicht verstehst.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Das kannst du nicht wissen, Mama. Ich
-fühle sehr wohl, daß ich das Werk in seiner
-ganzen Erhabenheit zu erfassen noch nicht imstande
-bin&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wir lesen immer zu zweit; das erleichtert
-das Verständnis außerordentlich!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Du bist alt genug, Melchior, um wissen zu
-können, was dir zuträglich und was dir schädlich
-ist. Tu, was du vor dir verantworten kannst.
-Ich werde die erste sein, die es dankbar anerkennt,<span class="pagenum"><a name="Seite_55" id="Seite_55">[55]</a></span>
-wenn du mir niemals Grund gibst, dir
-etwas vorenthalten zu müssen. &mdash; Ich wollte
-dich nur darauf aufmerksam machen, daß auch
-das Beste nachteilig wirken kann, wenn man
-noch die Reife nicht besitzt, um es richtig aufzunehmen.
-&mdash; Ich werde mein Vertrauen immer lieber
-in dich als in irgendbeliebige erzieherische Maßregeln
-setzen. &mdash; &mdash; Wenn ihr noch etwas braucht,
-Kinder, dann komm herüber, Melchior, und rufe
-mich. Ich bin auf meinem Schlafzimmer. <span class="regie">(Ab.)</span></p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>&mdash; &mdash; Deine Mama meinte die Geschichte
-mit Gretchen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Haben wir uns auch nur einen Moment
-dabei aufgehalten!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Faust selber kann sich nicht kaltblütiger darüber
-hinweggesetzt haben!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Das Kunstwerk gipfelt doch schließlich nicht
-in dieser Schändlichkeit! &mdash; Faust könnte dem
-Mädchen die Heirat versprochen, könnte es daraufhin
-verlassen haben, er wäre in meinen Augen
-um kein Haar weniger strafbar. Gretchen könnte
-ja meinethalben an gebrochenem Herzen sterben.<span class="pagenum"><a name="Seite_56" id="Seite_56">[56]</a></span>
-&mdash; Sieht man, wie jeder <em class="gesperrt">darauf</em> immer gleich
-krampfhaft die Blicke richtet, man möchte
-glauben, die ganze Welt drehe sich um P....
-und V....!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wenn ich aufrichtig sein soll, Melchior, so
-habe ich nämlich tatsächlich das Gefühl, seit ich
-deinen Aufsatz gelesen. &mdash; In den ersten Ferientagen
-fiel er mir vor die Füße. Ich hatte den
-Plötz in der Hand. &mdash; Ich verriegelte die Tür
-und durchflog die flimmernden Zeilen, wie eine
-aufgeschreckte Eule einen brennenden Wald durchfliegt
-&mdash; ich glaube, ich habe das meiste mit geschlossenen
-Augen gelesen. Wie eine Reihe dunkler
-Erinnerungen klangen mir deine Auseinandersetzungen
-ins Ohr, wie ein Lied, das einer als
-Kind einst fröhlich vor sich hingesummt und das
-ihm, wie er eben im Sterben liegt, herzerschütternd
-aus dem Mund eines andern entgegentönt. &mdash;
-Am heftigsten zog mich in Mitleidenschaft, was
-du vom Mädchen schreibst. Ich werde die Eindrücke
-nicht mehr los. Glaub′ mir, Melchior,
-Unrecht leiden zu müssen ist süßer, denn Unrecht
-tun! Unverschuldet ein so süßes Unrecht über
-sich ergehen lassen zu müssen, scheint mir der
-Inbegriff aller irdischen Seligkeit.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_57" id="Seite_57">[57]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>&mdash; Ich will meine Seligkeit nicht als Almosen!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Aber warum denn nicht?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich <em class="gesperrt">will</em> nichts, was ich mir nicht habe erkämpfen
-müssen!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ist dann das noch Genuß, Melchior?! &mdash;
-Das Mädchen, Melchior, genießt wie die seligen
-Götter. Das Mädchen wehrt sich dank seiner
-Veranlagung. Es hält sich bis zum letzten
-Augenblick von jeder Bitternis frei, um mit
-einem Mal alle Himmel über sich hereinbrechen
-zu sehen. Das Mädchen fürchtet die Hölle noch
-in dem Moment, da es ein erblühendes Paradies
-wahrnimmt. Sein Empfinden ist so frisch wie
-der Quell, der dem Fels entspringt. Das Mädchen
-ergreift einen Pokal, über den noch kein
-irdischer Hauch geweht, einen Nektarkelch, dessen
-Inhalt es, wie er flammt und flackert, hinunterschlingt&nbsp;...
-Die Befriedigung, die der Mann dabei
-findet, denke ich mir schal und abgestanden.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Denke sie dir, wie du magst, aber behalte sie
-für dich. &mdash; Ich denke sie mir nicht gern&nbsp;...</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_58" id="Seite_58">[58]</a></span></p>
-
-
-<h3>Zweite Szene</h3>
-
-<p class="regie"><i class="gesperrt">Wohnzimmer.</i></p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p class="regie">(den Hut auf, die Mantille um, einen Korb am Arm,
-mit strahlendem Gesicht durch die Mitteltür eintretend.)</p>
-
-<p>Wendla! &mdash; Wendla!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p class="regie">(erscheint in Unterröckchen und Korsett in der Seitentür
-rechts)</p>
-
-<p>Was gibt′s, Mutter?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Du bist schon auf, Kind? &mdash; Sieh, das ist
-schön von dir!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Du warst schon ausgegangen?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Zieh dich nun nur flink an! &mdash; Du mußt
-gleich zu <em class="gesperrt">Ina</em> hinunter. Du mußt ihr den
-Korb da bringen!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p class="regie">(sich während des folgenden vollends ankleidend)</p>
-
-<p>Du warst bei Ina? &mdash; Wie geht es Ina?
-&mdash; Will′s noch immer nicht bessern?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Denke dir, Wendla, diese Nacht war der Storch
-bei ihr und hat ihr einen kleinen Jungen gebracht.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_59" id="Seite_59">[59]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Einen Jungen? &mdash; Einen Jungen! &mdash; O
-das ist herrlich! &mdash; &mdash; Deshalb die langwierige
-Influenza!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Einen prächtigen Jungen!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Den muß ich sehen, Mutter! &mdash; So bin ich
-nun zum dritten Mal Tante geworden &mdash; Tante
-von einem Mädchen und zwei Jungens!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Und was für Jungens! &mdash; So geht′s eben,
-wenn man so dicht beim Kirchendach wohnt! &mdash;
-Morgen sind′s erst zwei Jahr, daß sie in ihrem
-Mullkleid die Stufen hinanstieg.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Warst du dabei, als er ihn brachte?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Er war eben wieder fortgeflogen. &mdash; Willst
-du dir nicht eine Rose vorstecken?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Warum kamst du nicht etwas früher hin,
-Mutter?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Ich glaube aber beinahe, er hat dir auch
-etwas mitgebracht &mdash; eine Brosche oder was.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_60" id="Seite_60">[60]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Es ist wirklich schade!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Ich sage dir ja, daß er dir eine Brosche
-mitgebracht hat!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich habe Broschen genug&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Dann sei auch zufrieden, Kind. Was willst
-du denn noch?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich hätte so furchtbar gerne gewußt, ob er
-durchs Fenster oder durch den Schornstein geflogen
-kam.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Da mußt du Ina fragen. Ha, das mußt
-du Ina fragen, liebes Herz! Ina sagt dir das
-ganz genau. Ina hat ja eine ganze halbe Stunde
-mit ihm gesprochen.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich werde Ina fragen, wenn ich hinunterkomme.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Aber ja nicht vergessen, du süßes Engelsgeschöpf!
-Es interessiert mich wirklich selbst, zu
-wissen, ob er durchs Fenster oder durch den
-Schornstein kam.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_61" id="Seite_61">[61]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Oder soll ich nicht lieber den Schornsteinfeger
-fragen? &mdash; Der Schornsteinfeger muß es doch
-am besten wissen, ob er durch den Schornstein
-fliegt oder nicht.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Nicht den Schornsteinfeger, Kind; nicht den
-Schornsteinfeger. Was weiß der Schornsteinfeger
-vom Storch! &mdash; Der schwatzt dir allerhand
-dummes Zeug vor, an das er selbst nicht glaubt&nbsp;...
-Wa &mdash; was glotzst du so auf die Straße hinunter??</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ein Mann, Mutter &mdash; dreimal so groß wie
-ein Ochse! &mdash; mit Füßen wie Dampfschiffe&nbsp;...!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p class="regie">(ans Fenster stürzend)</p>
-
-<p>Nicht möglich! &mdash; Nicht möglich! &mdash;</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla <span class="regie">(zugleich)</span></p>
-
-<p>Eine Bettlade hält er unterm Kinn, fiedelt
-die Wacht am Rhein drauf &mdash; &mdash; eben biegt
-er um die Ecke&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Du bist und bleibst doch ein Kindskopf! &mdash;
-Deine alte einfältige Mutter so in Schrecken jagen!
-&mdash; Geh, nimm deinen Hut. Nimmt mich Wunder,<span class="pagenum"><a name="Seite_62" id="Seite_62">[62]</a></span>
-wann bei dir einmal der Verstand kommt. &mdash;
-Ich habe die Hoffnung aufgegeben.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich auch, Mütterchen, ich auch. &mdash; Um meinen
-Verstand ist es ein traurig Ding. &mdash; Hab′ ich
-nun eine Schwester, die ist seit zwei und einem
-halben Jahre verheiratet, und ich selber bin zum
-dritten Male Tante geworden, und habe gar
-keinen Begriff, wie das alles zugeht&nbsp;... Nicht
-böse werden, Mütterchen; nicht böse werden! Wen
-in der Welt soll ich denn fragen als dich! Bitte,
-liebe Mutter, sag es mir! Sag′s mir, geliebtes
-Mütterchen! Ich schäme mich vor mir selber.
-Ich bitte dich, Mutter, sprich! Schilt mich nicht,
-daß ich so etwas frage. Gib mir Antwort &mdash; wie
-geht es zu? &mdash; wie kommt das alles? &mdash; Du
-kannst doch im Ernst nicht verlangen, daß ich bei
-meinen vierzehn Jahren noch an den Storch glaube.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Aber du großer Gott, Kind, wie bist du sonderbar!
-&mdash; Was du für Einfälle hast! &mdash; Das kann
-ich ja doch wahrhaftig nicht!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Warum denn nicht, Mutter! &mdash; Warum denn
-nicht! &mdash; Es kann ja doch nichts Häßliches sein,
-wenn sich alles darüber freut!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_63" id="Seite_63">[63]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>O &mdash; o Gott behüte mich! &mdash; Ich verdiente
-ja&nbsp;... Geh, zieh dich an, Mädchen; zieh dich an!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich gehe,&nbsp;... Und wenn dein Kind nun hingeht
-und fragt den Schornsteinfeger?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Aber das ist ja zum Närrischwerden! &mdash; Komm
-Kind, komm her, ich sag es dir! Ich sage dir
-Alles&nbsp;... O du grundgütige Allmacht! &mdash; nur
-heute nicht, Wendla! &mdash; Morgen, übermorgen,
-kommende Woche ... wann du nur immer willst,
-liebes Herz&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Sag es mir heute, Mutter; sag es mir jetzt!
-Jetzt gleich! &mdash; Nun ich dich so entsetzt gesehen,
-kann ich erst recht nicht eher wieder ruhig werden.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>&mdash; Ich kann nicht, Wendla.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>O, warum kannst du nicht, Mütterchen! &mdash;
-Hier knie ich zu deinen Füßen und lege dir meinen
-Kopf in den Schoß. Du deckst mir deine
-Schürze über den Kopf und erzählst und erzählst,
-als wärst du mutterseelenallein im Zimmer. Ich<span class="pagenum"><a name="Seite_64" id="Seite_64">[64]</a></span>
-will nicht zucken; ich will nicht schreien; ich will
-geduldig ausharren, was immer kommen mag.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>&mdash; Der Himmel weiß, Wendla, daß ich nicht
-die Schuld trage! Der Himmel kennt mich! &mdash;
-Komm in Gottes Namen! &mdash; Ich will dir erzählen,
-Mädchen, wie du in diese Welt hineingekommen.
-&mdash; So hör mich an, Wendla&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p class="regie">(unter ihrer Schürze)</p>
-
-<p>Ich höre.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann <span class="regie">(ekstatisch)</span></p>
-
-<p>&mdash; Aber es geht ja nicht, Kind! &mdash; Ich kann
-es ja nicht verantworten. &mdash; Ich verdiene ja,
-daß man mich ins Gefängnis setzt &mdash; daß man
-dich von mir nimmt&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p class="regie">(unter ihrer Schürze)</p>
-
-<p>Faß dir ein Herz, Mutter!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>So höre denn&nbsp;...!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p class="regie">(unter ihrer Schürze, zitternd)</p>
-
-<p>O Gott, o Gott!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Um ein Kind zu bekommen &mdash; du verstehst
-mich, Wendla?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_65" id="Seite_65">[65]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Rasch, Mutter &mdash; ich halt′s nicht mehr aus.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>&mdash; Um ein Kind zu bekommen &mdash; muß man
-den Mann &mdash; mit dem man verheiratet ist ...
-<em class="gesperrt">lieben</em> &mdash; <em class="gesperrt">lieben</em> sag′ ich dir &mdash; wie man nur
-einen Mann lieben kann! Man muß ihn so sehr
-<em class="gesperrt">von ganzem Herzen</em> lieben, wie &mdash; wie sich′s
-nicht sagen läßt! Man muß ihn <em class="gesperrt">lieben</em>, Wendla,
-wie du in deinen Jahren noch gar nicht lieben
-kannst&nbsp;... Jetzt weißt du′s.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p class="regie">(sich erhebend)</p>
-
-<p>Großer &mdash; Gott &mdash; im Himmel!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Jetzt weißt du, welche Prüfungen dir bevorstehen!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>&mdash; Und das ist alles?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>So wahr mir Gott helfe! &mdash; &mdash; Nimm nun
-den Korb da und geh zu Ina hinunter. Du
-bekommst dort Schokolade und Kuchen dazu. &mdash;
-Komm, laß dich noch einmal betrachten &mdash; die
-Schnürstiefel, die seidenen Handschuhe, die Matrosentaille,
-die Rosen im Haar ...... dein Röckchen<span class="pagenum"><a name="Seite_66" id="Seite_66">[66]</a></span>
-wird dir aber wahrhaftig nachgerade zu kurz,
-Wendla!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Hast du für Mittag schon Fleisch gebracht,
-Mütterchen?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Der liebe Gott behüte dich und segne dich!
-&mdash; Ich werde dir gelegentlich eine Handbreit
-Volants unten ansetzen.</p>
-
-
-<h3>Dritte Szene</h3>
-
-<p class="regie"><i class="gesperrt">Hänschen Rilow</i> (ein Licht in der Hand, verriegelt
-die Tür hinter sich und öffnet den Deckel).</p>
-
-<p>Hast du zu Nacht gebetet, Desdemona?</p>
-
-<p class="regie">(Er zieht eine Reproduktion der Venus von Palma
-Vecchio aus dem Busen.)</p>
-
-<p>&mdash; Du siehst mir nicht nach Vaterunser aus,
-Holde &mdash; kontemplativ des Kommenden gewärtig,
-wie in dem süßen Augenblick aufkeimender Glückseligkeit,
-als ich dich bei Jonathan Schlesinger
-im Schaufenster liegen sah &mdash; ebenso berückend
-noch diese geschmeidigen Glieder, diese sanfte
-Wölbung der Hüften, diese jugendlich straffen
-Brüste &mdash; o, wie berauscht von Glück muß der
-große Meister gewesen sein, als das vierzehnjährige
-Original vor seinen Blicken hingestreckt auf dem
-Diwan lag!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_67" id="Seite_67">[67]</a></span></p>
-
-<p>Wirst du mich auch bisweilen im Traum
-besuchen? &mdash; Mit ausgebreiteten Armen empfang′
-ich dich und will dich küssen, daß dir der Atem
-ausgeht. Du ziehst bei mir ein wie die angestammte
-Herrin in ihr verödetes Schloß. Tor
-und Türen öffnen sich von unsichtbarer Hand,
-während der Springquell unten im Parke fröhlich
-zu plätschern beginnt&nbsp;...</p>
-
-<p>Die Sache will′s! &mdash; Die Sache will′s! &mdash;
-Daß ich nicht aus frivoler Regung morde, sagt
-dir das fürchterliche Pochen in meiner Brust.
-Die Kehle schnürt sich mir zu im Gedanken an
-meine einsamen Nächte. Ich schwöre dir bei
-meiner Seele, Kind, daß nicht Überdruß mich
-beherrscht. Wer wollte sich rühmen, deiner überdrüssig
-geworden zu sein!</p>
-
-<p>Aber du saugst mir das Mark aus den Knochen,
-du krümmst mir den Rücken, du raubst meinen
-jungen Augen den letzten Glanz. &mdash; Du bist mir
-zu anspruchsvoll in deiner unmenschlichen Bescheidenheit,
-zu aufreibend mit deinen unbeweglichen
-Gliedmaßen! &mdash; Du oder ich! &mdash; und ich habe
-den Sieg davongetragen.</p>
-
-<p>Wenn ich sie herzählen wollte &mdash; all die
-Entschlafenen, mit denen ich hier den nämlichen
-Kampf gekämpft! &mdash;: Psyche von <em class="gesperrt">Thumann</em><span class="pagenum"><a name="Seite_68" id="Seite_68">[68]</a></span>
-&mdash; noch ein Vermächtnis der spindeldürren Mademoiselle
-<em class="gesperrt">Angelique</em>, dieser Klapperschlange im
-Paradies meiner Kinderjahre; Io von <em class="gesperrt">Corregio</em>;
-Galathea von <em class="gesperrt">Lossow</em>; dann ein Amor von
-<em class="gesperrt">Bouguereau</em>; Ada von <em class="gesperrt">J. van Beers</em> &mdash;
-diese Ada, die ich Papa aus einem Geheimfach
-seines Sekretärs entführen mußte, um sie meinem
-Harem einzuverleiben; eine zitternde, zuckende Leda
-von <em class="gesperrt">Makart</em>, die ich zufällig unter den Kollegienheften
-meines Bruders fand &mdash; <em class="gesperrt">sieben</em>, du
-blühende Todeskandidatin, sind dir vorangeeilt
-auf diesem Pfad in den Tartarus! Laß dir das
-zum Troste gereichen und suche nicht durch diese
-flehentlichen Blicke noch meine Qualen ins Ungeheure
-zu steigern.</p>
-
-<p>Du stirbst nicht um <em class="gesperrt">deiner</em>, du stirbst um
-<em class="gesperrt">meiner</em> Sünden willen! &mdash; Aus Notwehr gegen
-mich begehe ich blutenden Herzens den siebenten
-Gattenmord. Es liegt etwas Tragisches in der
-Rolle des <em class="gesperrt">Blaubart</em>. Ich glaube, seine gemordeten
-Frauen insgesamt litten nicht so viel
-wie er beim Erwürgen jeder einzelnen.</p>
-
-<p>Aber mein Gewissen wird ruhiger werden,
-mein Leib wird sich kräftigen, wenn du Teufelin
-nicht mehr in den rotseidenen Polstern meines
-Schmuckkästchens residierst. Statt deiner lasse ich<span class="pagenum"><a name="Seite_69" id="Seite_69">[69]</a></span>
-dann die Lurlei von <em class="gesperrt">Bodenhausen</em> oder die
-Verlassene von <em class="gesperrt">Linger</em> oder die Loni von <em class="gesperrt">Defregger</em>
-in das üppige Lustgemach einziehen &mdash;
-so werde ich mich um so rascher erholt haben!
-Noch ein Vierteljährchen vielleicht, und dein entschleiertes
-Josaphat, süße Seele, hätte an meinem
-armen Hirn zu zehren begonnen wie die Sonne
-am Butterkloß. Es war hohe Zeit, die Trennung
-von Tisch und Bett zu erwirken.</p>
-
-<p>Brrr, ich fühle einen Heliogabalus in mir!
-<span class="antiqua" lang="la" xml:lang="la">Moritura me salutat!</span> &mdash; Mädchen, Mädchen,
-warum preßt du deine Kniee zusammen? &mdash;
-warum auch jetzt noch? &mdash; &mdash; angesichts der
-unerforschlichen Ewigkeit?? &mdash; <em class="gesperrt">Eine</em> Zuckung,
-und ich gebe dich frei! &mdash; <em class="gesperrt">Eine</em> weibliche Regung,
-<em class="gesperrt">ein</em> Zeichen von Lüsternheit, von Sympathie,
-Mädchen! &mdash; ich will dich in Gold rahmen lassen,
-dich über meinem Bett aufhängen! &mdash; Ahnst du
-denn nicht, daß nur deine <em class="gesperrt">Keuschheit</em> meine
-Ausschweifungen gebiert? &mdash; Wehe, wehe über
-die Unmenschlichen!</p>
-
-<p>...&nbsp;Man merkt eben immer, daß sie eine
-musterhafte Erziehung genossen hat. &mdash; <em class="gesperrt">Mir
-geht es ja ebenso.</em></p>
-
-<p>Hast du zu Nacht gebetet, Desdemona?</p>
-
-<p>Das Herz krampft sich mir zusammen &mdash; &mdash;<span class="pagenum"><a name="Seite_70" id="Seite_70">[70]</a></span>
-Unsinn! &mdash; Auch die heilige <em class="gesperrt">Agnes</em> starb um
-ihrer Zurückhaltung willen und war nicht halb
-so nackt wie du! &mdash; Einen Kuß noch auf deinen
-blühenden Leib, &mdash; deine kindlich schwellende Brust
-&mdash; deine süßgerundeten &mdash; deine grausamen Kniee&nbsp;...</p>
-
-<p>Die Sache will′s, die Sache will′s, mein Herz!</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Laßt sie mich euch nicht nennen, keusche Sterne!</em></p>
-
-<p>Die Sache will′s! &mdash;</p>
-
-<p class="regie">(Das Bild fällt in die Tiefe; er schließt den Deckel)</p>
-
-
-<h3>Vierte Szene</h3>
-
-<p class="regie">Ein <i class="gesperrt">Heuboden</i> &mdash; <i class="gesperrt">Melchior</i> liegt auf dem Rücken
-im frischen Heu. <i class="gesperrt">Wendla</i> kommt die Leiter herauf.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Hier</em> hast du dich verkrochen? &mdash; Alles sucht
-dich. Der Wagen ist wieder hinaus. Du mußt
-helfen. Es ist ein Gewitter im Anzug.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Weg von mir! &mdash; Weg von mir!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Was ist dir denn? &mdash; Was verbirgst du dein
-Gesicht?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Fort, fort! &mdash; Ich werfe dich in die Tenne
-hinunter.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_71" id="Seite_71">[71]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Nun geh′ ich erst recht nicht. &mdash; <span class="regie">(Kniet neben
-ihm nieder)</span> Warum kommst du nicht mit auf
-die Matte hinaus, Melchior? &mdash; Hier ist es
-schwül und düster. Werden wir auch naß bis
-auf die Haut, was macht <em class="gesperrt">uns</em> das!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Das Heu duftet so herrlich. &mdash; Der Himmel
-draußen muß schwarz wie ein Bahrtuch sein. &mdash;
-Ich sehe nur noch den leuchtenden Mohn an
-deiner Brust &mdash; und dein Herz hör′ ich schlagen &mdash;</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>&mdash; &mdash; Nicht küssen, Melchior! &mdash; Nicht küssen!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>&mdash; dein Herz &mdash; hör′ ich schlagen &mdash;</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>&mdash; Man liebt sich &mdash; wenn man küßt
-&mdash; &mdash; &mdash; &mdash; Nicht, nicht! &mdash; &mdash;</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>O glaub mir, es gibt keine <em class="gesperrt">Liebe</em>! &mdash; Alles
-Eigennutz, alles Egoismus! &mdash; Ich liebe dich
-so wenig, wie du mich liebst. &mdash;</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>&mdash; &mdash; Nicht! &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; Nicht,
-Melchior! &mdash; &mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_72" id="Seite_72">[72]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>&mdash; &mdash; &mdash; Wendla!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>O Melchior! &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; nicht
-&mdash; &mdash; nicht &mdash; &mdash;</p>
-
-
-<h3>Fünfte Szene</h3>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p class="regie">(sitzt, schreibt):</p>
-
-<p class="center">
-Lieber Herr Stiefel!
-</p>
-
-<p>Nachdem ich 24 Stunden über alles, was Sie
-mir schreiben, nachgedacht und wieder nachgedacht,
-ergreife ich schweren Herzens die Feder. Den
-Betrag zur Überfahrt nach Amerika kann ich
-Ihnen &mdash; ich gebe Ihnen meine heiligste Versicherung
-&mdash; <em class="gesperrt">nicht</em> verschaffen. Erstens habe ich
-so viel nicht zu meiner Verfügung, und zweitens,
-wenn ich es hätte, wäre es die denkbar größte
-Sünde, Ihnen die Mittel zur Ausführung einer
-so folgenschweren Unbedachtsamkeit an die Hand
-zu geben. Bitter Unrecht würden Sie mir tun,
-Herr Stiefel, in dieser meiner Weigerung ein
-Zeichen mangelnder Liebe zu erblicken. Es wäre
-umgekehrt die gröbste Verletzung meiner Pflicht
-als Ihre mütterliche Freundin, wollte ich mich
-durch Ihre momentane Fassungslosigkeit dazu<span class="pagenum"><a name="Seite_73" id="Seite_73">[73]</a></span>
-bestimmen lassen, nun auch meinerseits den Kopf
-zu verlieren und meinen ersten nächstliegenden
-Impulsen blindlings nachzugeben. Ich bin gern
-bereit &mdash; falls Sie es wünschen &mdash; an Ihre
-Eltern zu schreiben. Ich werde Ihre Eltern
-davon zu überzeugen suchen, daß Sie im Laufe
-dieses Quartals getan haben, was Sie tun konnten,
-daß Sie Ihre Kräfte erschöpft, derart, daß eine
-rigorose Beurteilung Ihres Geschickes nicht nur
-ungerechtfertigt wäre, sondern in erster Linie im
-höchsten Grade nachteilig auf Ihren geistigen und
-körperlichen Gesundheitszustand wirken könnte.</p>
-
-<p>Daß Sie mir andeutungsweise drohen, im
-Fall Ihnen die Flucht nicht ermöglicht wird, sich
-das Leben nehmen zu wollen, hat mich, offen
-gesagt, Herr Stiefel, etwas befremdet. Sei ein
-Unglück noch so unverschuldet, man sollte sich nie
-und nimmer zur Wahl unlauterer Mittel hinreißen
-lassen. Die Art und Weise, wie Sie mich,
-die ich Ihnen stets nur Gutes erwiesen, für
-einen eventuellen entsetzlichen Frevel Ihrerseits
-verantwortlich machen wollen, hat etwas, das in
-den Augen eines <em class="gesperrt">schlecht</em>denkenden Menschen gar
-zu leicht zum Erpressungsversuch werden könnte.
-Ich muß gestehen, daß ich mir dieses Vorgehens
-von Ihnen, der Sie doch sonst so gut wissen,<span class="pagenum"><a name="Seite_74" id="Seite_74">[74]</a></span>
-was man sich selber schuldet, zu allerletzt gewärtig
-gewesen wäre. Indessen hege ich die feste Überzeugung,
-daß Sie noch zu sehr unter dem Eindruck
-des ersten Schreckens standen, um sich Ihrer
-Handlungsweise vollkommen bewußt werden zu
-können.</p>
-
-<p>Und so hoffe ich denn auch zuversichtlich, daß
-diese meine Worte Sie bereits in gefaßterer Gemütsstimmung
-antreffen. Nehmen Sie die Sache,
-wie sie liegt. Es ist meiner Ansicht nach
-durchaus unzulässig, einen jungen Mann nach
-seinen Schulzeugnissen zu beurteilen. Wir haben
-zu viele Beispiele, daß sehr schlechte Schüler vorzügliche
-Menschen geworden und umgekehrt
-ausgezeichnete Schüler sich im Leben nicht sonderlich
-bewährt haben. Auf jeden Fall gebe ich
-Ihnen die Versicherung, daß Ihr Mißgeschick,
-soweit das von mir abhängt, in Ihrem Verkehr
-mit <em class="gesperrt">Melchior</em> nichts ändern soll. Es wird mir
-stets zur Freude gereichen, meinen Sohn mit
-einem jungen Manne umgehn zu sehen, der sich,
-mag ihn nun die Welt beurteilen wie sie will,
-auch meine vollste Sympathie zu gewinnen vermochte.</p>
-
-<p>Und somit Kopf hoch, Herr Stiefel! &mdash; Solche
-Krisen dieser oder jener Art treten an jeden von<span class="pagenum"><a name="Seite_75" id="Seite_75">[75]</a></span>
-uns heran und wollen eben überstanden sein.
-Wollte da ein jeder gleich zu Dolch und Gift
-greifen, es möchte recht bald keine Menschen
-mehr auf der Welt geben. Lassen Sie bald
-wieder etwas von sich hören und seien Sie
-herzlich gegrüßt von Ihrer Ihnen unverändert
-zugetanen</p>
-
-<p class="center">mütterlichen Freundin</p>
-<p class="right">Fanny G.</p>
-
-
-<h3>Sechste Szene</h3>
-
-<p class="regie"><i class="gesperrt">Bergmanns Garten im Morgensonnenglanz</i></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Warum hast du dich aus der Stube geschlichen?
-&mdash; Veilchen suchen! &mdash; Weil mich
-Mutter lächeln sieht. &mdash; Warum bringst du auch
-die Lippen nicht mehr zusammen? &mdash; Ich weiß
-nicht. &mdash; Ich weiß es ja nicht, ich finde nicht
-Worte&nbsp;...</p>
-
-<p>Der Weg ist wie ein Pelücheteppich &mdash; kein
-Steinchen, kein Dorn. &mdash; Meine Füße berühren
-den Boden nicht&nbsp;... O, wie ich die Nacht geschlummert
-habe!</p>
-
-<p>Hier standen sie. &mdash; Mir wird ernsthaft wie
-einer Nonne beim Abendmahl. &mdash; Süße Veilchen!
-&mdash; Ruhig, Mütterchen. Ich will mein Bußgewand<span class="pagenum"><a name="Seite_76" id="Seite_76">[76]</a></span>
-anziehn. &mdash; Ach Gott, wenn jemand
-käme, dem ich um den Hals fallen und erzählen
-könnte!</p>
-
-
-<h3>Siebente Szene</h3>
-
-<p class="regie"><i class="gesperrt">Abenddämmerung</i>. Der Himmel ist leicht bewölkt.
-Der Weg schlängelt sich durch niedres Gebüsch und
-Riedgras. In einiger Entfernung hört man den Fluß
-rauschen.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Besser ist besser. &mdash; Ich passe nicht hinein.
-Mögen sie einander auf die Köpfe steigen. &mdash;
-Ich ziehe die Tür hinter mir zu und trete ins
-Freie. &mdash; Ich gebe nicht so viel darum, mich
-herumdrücken zu lassen.</p>
-
-<p>Ich habe mich nicht aufgedrängt. Was soll
-ich mich jetzt aufdrängen! &mdash; Ich habe keinen
-Vertrag mit dem lieben Gott. Mag man die
-Sache drehen, wie man sie drehen will. Man
-hat mich gepreßt. &mdash; Meine Eltern mache ich
-nicht verantwortlich. Immerhin mußten sie auf
-das Schlimmste gefaßt sein. Sie waren alt
-genug, um zu wissen, was sie taten. Ich war
-ein Säugling, als ich zur Welt kam &mdash; sonst wär′
-ich wohl auch noch so schlau gewesen, ein anderer
-zu werden. &mdash; Was soll ich dafür büßen,
-daß alle andern schon da waren!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_77" id="Seite_77">[77]</a></span></p>
-
-<p>Ich müßte ja auf den Kopf gefallen sein ...
-macht mir jemand einen tollen Hund zum Geschenk,
-dann gebe ich ihm seinen tollen Hund zurück.
-Und will er seinen tollen Hund nicht zurücknehmen,
-dann bin ich menschlich und&nbsp;...</p>
-
-<p>Ich müßte ja auf den Kopf gefallen sein!</p>
-
-<p>Man wird ganz per Zufall geboren und
-sollte nicht nach reiflichster Überlegung &mdash; &mdash; &mdash;
-es ist zum Totschießen!</p>
-
-<p>&mdash; Das Wetter zeigt sich wenigstens rücksichtsvoll.
-Den ganzen Tag sah es nach Regen
-aus und nun hat es sich doch gehalten. &mdash; Es
-herrscht eine seltene Ruhe in der Natur. Nirgends
-etwas Grelles, Aufreizendes. Himmel und Erde
-sind wie durchsichtiges Spinnewebe. Und dabei
-scheint sich alles so wohl zu fühlen. Die Landschaft
-ist lieblich wie eine Schlummermelodie &mdash;
-„<em class="gesperrt">schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein</em>“, wie
-Fräulein <em class="gesperrt">Snandulia</em> sang. Schade, daß sie die
-Ellbogen ungraziös hält! &mdash; Am Cäcilienfest
-habe ich zum letzten Male getanzt. <em class="gesperrt">Snandulia</em>
-tanzt nur mit Partien. Ihre Seidenrobe war
-hinten und vorn ausgeschnitten. Hinten bis auf
-den Taillengürtel und vorne bis zur Bewußtlosigkeit.
-&mdash; Ein Hemd kann sie nicht angehabt haben&nbsp;...
-&mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_78" id="Seite_78">[78]</a></span></p>
-
-<p>&mdash; das wäre etwas, was mich noch fesseln
-könnte. &mdash; Mehr der Kuriosität halber. &mdash; Es
-muß ein sonderbares Empfinden sein &mdash; &mdash; ein
-Gefühl, als würde man über Stromschnellen gerissen
-&mdash; &mdash; &mdash; Ich werde es niemandem sagen,
-daß ich unverrichteter Sache wiederkehre. Ich
-werde so tun, als hätte ich alles das mitgemacht&nbsp;... Es hat etwas Beschämendes, Mensch gewesen
-zu sein, ohne das Menschlichste kennen gelernt
-zu haben. &mdash; Sie kommen aus <em class="gesperrt">Ägypten</em>, verehrter
-Herr, und haben die <em class="gesperrt">Pyramiden</em> nicht
-gesehn?!</p>
-
-<p>Ich will heute nicht wieder weinen. Ich will
-nicht wieder an mein Begräbnis denken &mdash; &mdash;
-<em class="gesperrt">Melchior</em> wird mir einen Kranz auf den Sarg
-legen. Pastor <em class="gesperrt">Kahlbauch</em> wird meine Eltern
-trösten. Rektor <em class="gesperrt">Sonnenstich</em> wird Beispiele
-aus der Geschichte zitieren. &mdash; Einen Grabstein
-werd′ ich ja wahrscheinlich nicht bekommen. Ich
-hätte mir eine schneeweiße Marmorurne auf
-schwarzem Syenitsockel gewünscht &mdash; ich werde
-sie ja gottlob nicht vermissen. Die Denkmäler
-sind für die Lebenden, nicht für die Toten.</p>
-
-<p>Ich brauchte wohl ein Jahr, um in Gedanken
-von allem Abschied zu nehmen. Ich will nicht
-wieder weinen. Ich bin so froh, ohne Bitterkeit<span class="pagenum"><a name="Seite_79" id="Seite_79">[79]</a></span>
-zurückblicken zu dürfen. Wie manchen schönen
-Abend ich mit <em class="gesperrt">Melchior</em> verlebt habe! &mdash; unter
-den Uferweiden; beim Forsthaus; am Heerweg
-draußen, wo die fünf Linden stehen; auf dem
-Schloßberg, zwischen den lauschigen Trümmern
-der Runenburg &mdash; &mdash; &mdash; Wenn die Stunde gekommen,
-will ich aus Leibeskräften an Schlagsahne
-denken. Schlagsahne hält nicht auf. Sie
-stopft und hinterläßt dabei doch einen angenehmen
-Nachgeschmack&nbsp;... Auch die Menschen hatte ich
-mir unendlich schlimmer gedacht. Ich habe keinen
-gefunden, der nicht sein Bestes gewollt hätte. Ich
-habe manchen bemitleidet um meinetwillen.</p>
-
-<p>Ich wandle zum Altar wie der Jüngling im
-alten Etrurien, dessen letztes Röcheln der Brüder
-Wohlergehen für das kommende Jahr erkauft.
-&mdash; Ich durchkoste Zug für Zug die geheimnisvollen
-Schauer der Loslösung. Ich schluchze vor
-Wehmut über mein Los. &mdash; &mdash; Das Leben hat
-mir die kalte Schulter gezeigt. Von drüben her
-sehe ich ernste freundliche Blicke winken: die kopflose
-Königin, die kopflose Königin &mdash; Mitgefühl,
-mich mit weichen Armen erwartend&nbsp;... Eure
-Gebote gelten für Unmündige; ich trage mein
-Freibillett in mir. Sinkt die Schale, dann
-flattert der Falter davon; das Trugbild geniert<span class="pagenum"><a name="Seite_80" id="Seite_80">[80]</a></span>
-nicht mehr. &mdash; Ihr solltet kein tolles Spiel mit
-dem Schwindel treiben! Der Nebel zerrinnt;
-das Leben ist Geschmacksache.</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p class="regie">(in abgerissenen Kleidern, ein buntes Tuch um den Kopf,
-faßt ihn von rückwärts an der Schulter)</p>
-
-<p>Was hast du verloren?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ilse?!</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Was suchst du hier?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Was erschreckst du mich so?</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Was suchst du? &mdash; Was hast du verloren?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Was erschreckst du mich denn so entsetzlich?</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Ich komme aus der Stadt. &mdash; Ich gehe nach Hause.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich weiß nicht, was ich verloren habe.</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Dann hilft auch dein Suchen nichts.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Sakerment, Sakerment!!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_81" id="Seite_81">[81]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Seit vier Tagen bin ich nicht zu Hause gewesen.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>&mdash; Lautlos wie eine Katze!</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Weil ich meine Ballschuhe anhabe. &mdash; Mutter
-wird Augen machen! &mdash; Komm bis an unser
-Haus mit!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wo hast du wieder herumgestrolcht?</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>In der <em class="gesperrt">Priapia</em>!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Priapia</em>?</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Bei <em class="gesperrt">Nohl</em>, bei <em class="gesperrt">Fehrendorf</em>, bei <em class="gesperrt">Padinsky</em>,
-bei <em class="gesperrt">Lenz</em>, <em class="gesperrt">Rank</em>, <em class="gesperrt">Spühler</em> &mdash; bei allen
-möglichen! &mdash; Kling, kling &mdash; die wird springen!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Malen sie dich?</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Fehrendorf</em> malt mich als Säulenheilige. Ich
-stehe auf einem korinthischen Kapitäl. <em class="gesperrt">Fehrendorf</em>,
-sag′ ich dir, ist eine verhauene Nudel. Das
-letzte Mal zertrat ich ihm eine Tube. Er wischt
-mir die Pinsel ins Haar. Ich versetze ihm eine<span class="pagenum"><a name="Seite_82" id="Seite_82">[82]</a></span>
-Ohrfeige. Er wirft mir die Palette an den Kopf.
-Ich werfe die Staffelei um. Er mit dem Malstock
-hinter mir drein über Divan, Tische, Stühle,
-ringsum durchs Atelier. Hinterm Ofen lag eine
-Skizze: &mdash; Brav sein, oder ich zerreiße sie!
-&mdash; Er schwor Amnestie und hat mich dann
-schließlich noch schrecklich &mdash; schrecklich, sag′ ich
-dir &mdash; abgeküßt.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wo übernachtest du, wenn du in der Stadt bleibst?</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Gestern waren wir bei <em class="gesperrt">Nohl</em> &mdash; vorgestern
-bei <em class="gesperrt">Bojokewitsch</em> &mdash; am Sonntag bei <em class="gesperrt">Oikonomopulos</em>.
-Bei <em class="gesperrt">Padinsky</em> gab′s Sekt. <em class="gesperrt">Valabregez</em>
-hatte seinen Pestkranken verkauft.
-<em class="gesperrt">Adolar</em> trank aus dem Aschenbecher. <em class="gesperrt">Lenz</em> sang
-die <em class="gesperrt">Kindsmörderin</em>, und <em class="gesperrt">Adolar</em> schlug die
-Guitarre krumm. Ich war so betrunken, daß
-sie mich zu Bett bringen mußten. &mdash; &mdash; Du
-gehst immer noch zur Schule, Moritz?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Nein, nein ... dieses Quartal nehme ich
-meine Entlassung.</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Du hast Recht. Ach, wie die Zeit vergeht,
-wenn man Geld verdient! &mdash; Weißt du noch,<span class="pagenum"><a name="Seite_83" id="Seite_83">[83]</a></span>
-wie wir <em class="gesperrt">Räuber</em> spielten? &mdash; <em class="gesperrt">Wendla Bergmann</em>
-und du und ich und die Andern, wenn
-ihr abends herauskamt und kuhwarme Ziegenmilch
-bei uns trankt? &mdash; Was macht <em class="gesperrt">Wendla</em>?
-Ich sah sie noch bei der Überschwemmung. &mdash;
-Was macht <em class="gesperrt">Melchi Gabor</em>? &mdash; Schaut er noch
-so tiefsinnig drein? &mdash; In der Singstunde standen
-wir einander gegenüber.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Er philosophiert.</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Wendla</em> war derweil bei uns und hat der
-Mutter Eingemachtes gebracht. Ich saß den Tag
-bei Isidor Landauer. Er braucht mich zur heiligen
-Maria, Mutter Gottes, mit dem Christuskind.
-Er ist ein Tropf und widerlich. Hu, wie ein
-Wetterhahn! &mdash; Hast du Katzenjammer?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Von gestern Abend! &mdash; Wir haben wie Nilpferde
-gezecht. Um fünf Uhr wankt′ ich nach
-Hause.</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Man braucht dich nur anzusehn. &mdash; Waren
-Mädchen dabei?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_84" id="Seite_84">[84]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Arabella, die Biernymphe, Andalusierin! &mdash;
-Der Wirt ließ uns Alle die ganze Nacht durch
-mit ihr allein.</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Man braucht dich nur anzusehen, Moritz! &mdash;
-Ich kenne keinen Katzenjammer. Vergangenen
-Karneval kam ich drei Tage und drei Nächte
-in kein Bett und nicht aus den Kleidern. Von
-der Redoute ins Café, Mittags in Bellavista,
-Abends Tingl-Tangl, Nachts zur Redoute. <em class="gesperrt">Lena</em>
-war dabei und die dicke <em class="gesperrt">Viola</em>. &mdash; In der
-dritten Nacht fand mich <em class="gesperrt">Heinrich</em>.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Hatte er dich denn gesucht?</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Er war über meinen Arm gestolpert. Ich
-lag bewußtlos im Straßenschnee. &mdash; Darauf kam
-ich zu ihm hin. Vierzehn Tage verließ ich seine
-Behausung nicht &mdash; eine gräuliche Zeit! &mdash;
-Morgens mußte ich seinen persischen Schlafrock
-überwerfen und abends in schwarzem Pagenkostüm
-durchs Zimmer gehn; an Hals, an Knien
-und Ärmeln weiße Spitzenaufschläge. Täglich
-photographierte er mich in anderem Arrangement<span class="pagenum"><a name="Seite_85" id="Seite_85">[85]</a></span>
-&mdash; einmal auf der Sofalehne als Ariadne, einmal
-als Leda, einmal als Ganymed, einmal auf
-allen Vieren als weiblichen Nebuchod-Nosor. Dabei
-schwärmte er von Umbringen, von Erschießen,
-Selbstmord und Kohlendampf. Frühmorgens nahm
-er eine Pistole ins Bett, lud sie voll Spitzkugeln
-und setzte sie mir auf die Brust: Ein Zwinkern,
-so drück′ ich! &mdash; O, er hätte gedrückt, Moritz;
-er hätte gedrückt! &mdash; Dann nahm er das Dings
-in den Mund wie ein Pusterohr. Das wecke
-den Selbsterhaltungstrieb. Und dann &mdash; Brrrr
-&mdash; die Kugel wäre mir durchs Rückgrat gegangen.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Lebt <em class="gesperrt">Heinrich</em> noch?</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Was weiß ich! &mdash; Über dem Bett war ein
-Deckenspiegel im Plafond eingelassen. Das
-Kabinet schien turmhoch und hell wie ein Opernhaus.
-Man sah sich leibhaftig vom Himmel
-herunterhängen. Grauenvoll habe ich die Nächte
-geträumt. &mdash; Gott, o Gott, wenn es erst wieder
-Tag würde! &mdash; Gute Nacht, Ilse. Wenn du
-schläfst, bist du zum Morden schön!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Lebt dieser <em class="gesperrt">Heinrich</em> noch?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_86" id="Seite_86">[86]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>So Gott will, nicht! &mdash; Wie er eines Tages
-Absynth holt, werfe ich den Mantel um und
-schleiche mich auf die Straße. Der Fasching
-war aus; die Polizei fängt mich ab; was ich
-in Mannskleidern wolle? &mdash; Sie brachten mich
-zur Hauptwache. Da kamen <em class="gesperrt">Nohl</em>, <em class="gesperrt">Fehrendorf</em>,
-<em class="gesperrt">Padinsky</em>, <em class="gesperrt">Spühler</em>, <em class="gesperrt">Oikonomopulos</em>,
-die ganze <em class="gesperrt">Priapia</em>, und bürgten für mich.
-Im Fiaker transportierten sie mich auf <em class="gesperrt">Adolars</em>
-Atelier. Seither bin ich der Horde treu. <em class="gesperrt">Fehrendorf</em>
-ist ein Affe, <em class="gesperrt">Nohl</em> ist ein Schwein,
-<em class="gesperrt">Bojokewitsch</em> ein Uhu, <em class="gesperrt">Loison</em> eine Hyäne,
-<em class="gesperrt">Oikonomopulos</em> ein Kameel &mdash; darum lieb′
-ich sie doch Einen wie den Andern und möchte
-mich an sonst niemand hängen, und wenn die
-Welt voll Erzengel und Millionäre wär′!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>&mdash; Ich muß zurück, Ilse.</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Komm bis an unser Haus mit!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>&mdash; Wozu? &mdash; Wozu? &mdash;</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Kuhwarme Ziegenmilch trinken! &mdash; Ich will
-dir Locken brennen und dir ein Glöcklein um<span class="pagenum"><a name="Seite_87" id="Seite_87">[87]</a></span>
-den Hals hängen. &mdash; Wir haben auch noch ein
-Hü-Pferdchen, mit dem du spielen kannst.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich muß zurück. &mdash; Ich habe noch die Sassaniden,
-die Bergpredigt und das Parallelepipedon
-auf dem Gewissen. &mdash; Gute Nacht, Ilse!</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Schlummre süß! ... Geht ihr wohl noch
-zum <em class="gesperrt">Wigwam</em> hinunter, wo <em class="gesperrt">Melchi Gabor</em>
-mein Tomahawk begrub? &mdash; Brrr! Bis es an
-euch kommt, lieg′ ich im Kehricht. <span class="regie">(Eilt davon.)</span></p>
-
-<p class="sprecher">Moritz <span class="regie">(allein)</span></p>
-
-<p>&mdash; &mdash; &mdash; Ein Wort hätte es gekostet. &mdash;
-<span class="regie">(Er ruft)</span> &mdash; Ilse! &mdash; Ilse! &mdash; &mdash; Gottlob
-sie hört nicht mehr.</p>
-
-<p>&mdash; Ich bin in der Stimmung nicht. &mdash; Dazu
-bedarf es eines freien Kopfes und eines
-fröhlichen Herzens. &mdash; Schade, schade um die
-Gelegenheit!</p>
-
-<p>...&nbsp;ich werde sagen, ich hätte mächtige
-Kristallspiegel über meinen Betten gehabt &mdash;
-hätte mir ein unbändiges Füllen gezogen &mdash;
-hätte es in langen schwarzseidenen Strümpfen
-und schwarzen Lackstiefeln und schwarzen, langen
-Glacé-Handschuhen, schwarzen Samt um den<span class="pagenum"><a name="Seite_88" id="Seite_88">[88]</a></span>
-Hals, über den Teppich an mir vorbeistolzieren
-lassen &mdash; hätte es in einem Wahnsinnsanfall in
-meinen Kissen erwürgt ... ich werde lächeln
-wenn von Wollust die Rede ist ... ich werde &mdash;</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Aufschreien! &mdash; Aufschreien! &mdash; Du sein,
-Ilse! &mdash; Priapia! &mdash; Besinnungslosigkeit!
-&mdash; Das nimmt die Kraft mir! &mdash; Dieses
-Glückskind, dieses Sonnenkind &mdash; dieses
-Freudenmädchen auf meinem Jammerweg!
-&mdash; &mdash; O! &mdash; O!</em></p>
-
-<p class="center">
-&mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash;<br />
-&mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash;
-</p>
-
-<p class="regie">(Im Ufergebüsch)</p>
-
-<p>Hab′ ich sie doch unwillkürlich wiedergefunden
-&mdash; die Rasenbank. Die Königskerzen scheinen
-gewachsen seit gestern. Der Ausblick zwischen
-den Weiden durch ist derselbe noch. &mdash; Der Fluß
-zieht schwer wie geschmolzenes Blei. Daß ich
-nicht vergesse ... <span class="regie">(er zieht Frau Gabors Brief aus
-der Tasche und verbrennt ihn)</span> &mdash; Wie die Funken
-irren &mdash; hin und her, kreuz und quer &mdash; Seelen!
-&mdash; Sternschnuppen! &mdash;</p>
-
-<p>Eh′ ich angezündet, sah man die Gräser noch
-und einen Streifen am Horizont. &mdash; Jetzt ist es
-dunkel geworden. Jetzt gehe ich nicht mehr nach
-Hause.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_89" id="Seite_89">[89]</a></span></p>
-
-
-<h2><a name="Dritter_Akt" id="Dritter_Akt"></a>Dritter Akt</h2>
-
-<h3>Erste Szene</h3>
-
-<p class="regie"><i class="gesperrt">Konferenzzimmer</i>. &mdash; An den Wänden die Bildnisse
-von Pestalozzi und J. J. Rousseau. Um einen grünen
-Tisch, über dem mehrere Gasflammen brennen, sitzen die
-Professoren <i class="gesperrt">Affenschmalz</i>, <i class="gesperrt">Knüppeldick</i>, <i class="gesperrt">Hungergurt</i>,
-<i class="gesperrt">Knochenbruch</i>, <i class="gesperrt">Zungenschlag</i> und <i class="gesperrt">Fliegentod</i>.
-Am oberen Ende auf erhöhtem Sessel Rektor
-<i class="gesperrt">Sonnenstich</i>. Pedell <i class="gesperrt">Habebald</i> kauert neben der Tür.</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>....Sollte einer der Herren noch etwas zu
-bemerken haben? &mdash; &mdash; Meine Herren! &mdash; Wenn
-wir nicht umhin können, bei einem hohen Kultusministerium
-die Relegation unseres schuldbeladenen
-Schülers zu beantragen, so können wir das aus
-den schwerwiegendsten Gründen nicht. Wir können
-es nicht, um das bereits hereingebrochene Unglück
-zu sühnen, wir können es eben so wenig, um
-unsere Anstalt für die Zukunft vor ähnlichen
-Schlägen sicher zu stellen. Wir können es nicht,
-um unseren schuldbeladenen Schüler für den
-demoralisirenden Einfluß, den er auf seinen Klassengenossen
-ausgeübt, zu züchtigen; wir können es<span class="pagenum"><a name="Seite_90" id="Seite_90">[90]</a></span>
-zu allerletzt, um ihn zu verhindern, den nämlichen
-Einfluß auf seine übrigen Klassengenossen
-auszuüben. Wir können es &mdash; und der, meine
-Herren, möchte der schwerwiegendste sein &mdash;
-aus dem jeden Einwand niederschlagenden Grunde
-nicht, weil wir unsere Anstalt vor den Verheerungen
-einer Selbstmord-Epidemie zu schützen
-haben, wie sie bereits an verschiedenen Gymnasien
-zum Ausbruch gelangt und bis heute allen
-Mitteln, den Gymnasiasten an seine durch seine
-Heranbildung zum Gebildeten gebildeten Existenzbedingungen
-zu fesseln, gespottet hat. &mdash; &mdash; Sollte
-einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?</p>
-
-<p class="sprecher">Knüppeldick</p>
-
-<p>Ich kann mich nicht länger der Überzeugung
-verschließen, daß es endlich an der Zeit wäre,
-irgendwo ein Fenster zu öffnen.</p>
-
-<p class="sprecher">Zungenschlag</p>
-
-<p>Es he-herrscht hier eine A-A-Atmosphäre
-wie in unterirdischen Kata-Katakomben, wie in
-den A-Aktensälen des weiland Wetzlarer Ka-Ka-Ka-Ka-Kammergerichtes.</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Habebald!</p>
-
-<p class="sprecher">Habebald</p>
-
-<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_91" id="Seite_91">[91]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Öffnen Sie ein Fenster! Wir haben Gott sei
-Dank Atmosphäre genug draußen. &mdash; Sollte
-einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?</p>
-
-<p class="sprecher">Fliegentod</p>
-
-<p>Wenn meine Herren Kollegen ein Fenster
-öffnen lassen wollen, so habe ich meinerseits nichts
-dagegen einzuwenden. Nur möchte ich bitten,
-das Fenster nicht gerade hinter meinem Rücken
-öffnen lassen zu wollen!</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Habebald!</p>
-
-<p class="sprecher">Habebald</p>
-
-<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Öffnen Sie das andere Fenster! &mdash; &mdash; Sollte
-einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?</p>
-
-<p class="sprecher">Hungergurt</p>
-
-<p>Ohne die Kontroverse meinerseits belasten zu
-wollen, möchte ich an die Tatsache erinnern, daß
-das andere Fenster seit den Herbstferien zugemauert
-ist.</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Habebald!</p>
-
-<p class="sprecher">Habebald</p>
-
-<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_92" id="Seite_92">[92]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Lassen Sie das andere Fenster geschlossen! &mdash;
-Ich sehe mich genötigt, meine Herren, den
-Antrag zur Abstimmung zu bringen. Ich ersuche
-diejenigen Herren Kollegen, die dafür sind, daß
-das einzig in Frage kommen könnende Fenster geöffnet
-werde, sich von ihren Sitzen zu erheben.
-<span class="regie">(Er zählt)</span> &mdash; Eins, zwei, drei. &mdash; Eins, zwei
-drei. &mdash; Habebald!</p>
-
-<p class="sprecher">Habebald</p>
-
-<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Lassen Sie das eine Fenster gleichfalls geschlossen!
-&mdash; Ich meinerseits hege die Überzeugung,
-daß die Atmosphäre nichts zu wünschen
-übrig läßt! &mdash; &mdash; Sollte einer der Herren noch
-etwas zu bemerken haben? &mdash; &mdash; Meine Herren!
-&mdash; Setzen wir den Fall, daß wir die Relegation
-unseres schuldbeladenen Schülers bei einem hohen
-Kultusministerium zu beantragen unterlassen, so
-wird <em class="gesperrt">uns</em> ein hohes Kultusministerium für das
-hereingebrochene Unglück verantwortlich machen.
-Von den verschiedenen von der Selbstmord-Epidemie
-heimgesuchten Gymnasien sind diejenigen,
-in denen fünfundzwanzig Prozent den Verheerungen
-der Selbstmord-Epidemie zum Opfer gefallen,<span class="pagenum"><a name="Seite_93" id="Seite_93">[93]</a></span>
-von einem hohen Kultusministerium suspendiert
-worden. Vor diesem erschütterndsten
-Schlage unsere Anstalt zu wahren, ist unsere
-Pflicht als Hüter und Bewahrer unserer Anstalt.
-Es schmerzt uns tief, meine Herren Kollegen,
-daß wir die sonstige Qualifikation unseres schuldbeladenen
-Schülers als mildernden Umstand
-gelten zu lassen nicht in der Lage sind. Ein
-nachsichtiges Verfahren, das sich unserem schuldbeladenen
-Schüler gegenüber rechtfertigen ließe,
-ließe sich der zur Zeit in denkbar bedenklichster
-Weise gefährdeten Existenz unserer Anstalt gegenüber
-<em class="gesperrt">nicht</em> rechtfertigen. Wir sehen uns in die
-Notwendigkeit versetzt, den Schuldbeladenen zu
-richten, um nicht als die Schuldlosen gerichtet zu
-werden. &mdash; Habebald!</p>
-
-<p class="sprecher">Habebald</p>
-
-<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Führen Sie ihn herauf!</p>
-
-<p class="regie">(Habebald ab.)</p>
-
-<p class="sprecher">Zungenschlag</p>
-
-<p>Wenn die he-herrschende A-A-Atmosphäre
-maßgebenderseits wenig oder nichts zu wünschen
-übrig läßt, so möchte ich den Antrag stellen,<span class="pagenum"><a name="Seite_94" id="Seite_94">[94]</a></span>
-während der So-Sommerferien auch noch das
-andere Fenster zu-zu-zu-zu-zu-zu-zu-zu-zuzumauern!</p>
-
-<p class="sprecher">Fliegentod</p>
-
-<p>Wenn unserem lieben Kollega Zungenschlag
-unser Lokal nicht genügend ventiliert erscheint, so
-möchte ich den Auftrag stellen, unserm lieben
-Herrn Kollega Zungenschlag einen Ventilator
-in die Stirnhöhle applizieren zu lassen.</p>
-
-<p class="sprecher">Zungenschlag</p>
-
-<p>Da-da-das brauche ich mir nicht gefallen zu
-lassen! &mdash; Gro-Grobheiten brauche ich mir
-nicht gefallen zu lassen! &mdash; Ich bin meiner fü-fü-fü-fü-fünf
-Sinne mächtig&nbsp;...!</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Ich muß unsere Herren Kollegen Fliegentod
-und Zungenschlag um einigen Anstand ersuchen.
-Unser schuldbeladener Schüler scheint mir bereits
-auf der Treppe zu sein.</p>
-
-<p class="regie">(Habebald öffnet die Türe, worauf <i class="gesperrt">Melchior</i>, bleich
-aber gefaßt, vor die Versammlung tritt.)</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Treten Sie näher an den Tisch heran! &mdash; Nachdem
-Herr Rentier Stiefel von dem ruchlosen
-Frevel seines Sohnes Kenntnis erhalten, durchsuchte
-der fassungslose Vater, in der Hoffnung, auf
-diesem Wege möglicherweise dem Anlaß der<span class="pagenum"><a name="Seite_95" id="Seite_95">[95]</a></span>
-verabscheuungswürdigen Untat auf die Spur zu
-kommen, die hinterlassenen Effekten seines Sohnes
-Moritz und stieß dabei an einem nicht zur Sache
-gehörigen Orte auf ein Schriftstück, welches uns
-ohne noch die verabscheuungswürdige Untat an
-sich verständlich zu machen, für die dabei maßgebend
-gewesene moralische Zerrüttung des Untäters
-eine leider nur allzu ausreichende Erklärung
-liefert. Es handelt sich um eine in Gesprächsform
-abgefaßte, „<cite class="gesperrt">Der Beischlaf</cite>“ betitelte,
-mit lebensgroßen Abbildungen versehene,
-von den schamlosesten Unfläthereien strotzende,
-zwanzig Seiten lange Abhandlung, die den geschraubtesten
-Anforderungen, die ein verworfener
-Lüstling an eine unzüchtige Lektüre zu stellen
-vermöchte, entsprechen dürfte. &mdash;</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich habe&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Sie haben sich ruhig zu verhalten! &mdash; Nachdem
-Herr Rentier Stiefel uns fragliches Schriftstück
-ausgehändigt und wir dem fassungslosen
-Vater das Versprechen erteilt, um jeden Preis
-den Autor zu ermitteln, wurde die uns vorliegende
-Handschrift mit den Handschriften sämtlicher
-Mitschüler des weiland Ruchlosen verglichen und<span class="pagenum"><a name="Seite_96" id="Seite_96">[96]</a></span>
-ergab nach dem einstimmigen Urteil der gesamten
-Lehrerschaft, sowie in vollkommenem
-Einklang mit dem Spezial-Gutachten unseres
-geschätzten Herrn Kollegen für Kalligraphie die
-denkbar bedenklichste Ähnlichkeit mit der
-<em class="gesperrt">Ihrigen</em>. &mdash;</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich habe&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Sie haben sich ruhig zu verhalten! &mdash; Ungeachtet
-der erdrückenden Tatsache der von
-Seiten unantastbarer Autoritäten anerkannten
-Ähnlichkeit glauben wir uns vorderhand noch
-jeder weiteren Maßnahmen enthalten zu dürfen,
-um in erster Linie den Schuldigen über das ihm
-demgemäß zur Last fallende Vergehen wider die
-Sittlichkeit in Verbindung mit daraus resultierender
-Veranlassung zur Selbstentleibung ausführlich zu
-vernehmen. &mdash;</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich habe&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Sie haben die genau präzisierten Fragen, die
-ich Ihnen der Reihe nach vorlege, eine um die
-andere, mit einem schlichten und bescheidenen „Ja“
-oder „Nein“ zu beantworten. &mdash; Habebald!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_97" id="Seite_97">[97]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Habebald</p>
-
-<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Die Akten! &mdash; &mdash; Ich ersuche unseren Schriftführer,
-Herrn Kollega Fliegentod, von nun an
-möglichst wortgetreu zu protokollieren. &mdash; <span class="regie">(Zu
-Melchior)</span> Kennen Sie dieses Schriftstück?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ja.</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Wissen Sie, was dieses Schriftstück enthält?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ja.</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Ist die Schrift dieses Schriftstücks die Ihrige?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ja.</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Verdankt dieses unflätige Schriftstück Ihnen
-seine Abfassung?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ja. &mdash; Ich ersuche Sie, Herr Rektor, mir
-<em class="gesperrt">eine</em> Unflätigkeit darin nachzuweisen.</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Sie haben die genau präzisierten Fragen, die
-ich Ihnen vorlege, mit einem schlichten und bescheidenen
-„Ja“ oder „Nein“ zu beantworten!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_98" id="Seite_98">[98]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich habe nicht mehr und nicht weniger geschrieben,
-als was eine Ihnen sehr wohlbekannte
-Tatsache ist!</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Dieser Schandbube!!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich ersuche Sie, mir einen Verstoß gegen
-die Sittlichkeit in der Schrift zu zeigen!</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Bilden Sie sich ein, ich hätte Lust, zu Ihrem
-Hanswurst an Ihnen zu werden?! &mdash; Habebald&nbsp;...!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich habe&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Sie haben so wenig Ehrerbietung vor der
-Würde Ihrer versammelten Lehrerschaft, wie Sie
-Anstandsgefühl für das dem Menschen eingewurzelte
-Empfinden für die Diskretion der Verschämtheit
-einer sittlichen Weltordnung haben!
-&mdash; Habebald!!</p>
-
-<p class="sprecher">Habebald</p>
-
-<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Es ist ja der <em class="gesperrt">Langenscheidt</em> zur dreistündigen
-Erlernung des aggluttierenden Volapük!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_99" id="Seite_99">[99]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich habe&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Ich ersuche unseren Schriftführer, Herrn
-Kollega Fliegentod, das Protokoll zu schließen!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich habe&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Sie haben sich ruhig zu verhalten!! &mdash; Habebald!</p>
-
-<p class="sprecher">Habebald</p>
-
-<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Führen Sie Ihn hinunter!</p>
-
-
-<h3>Zweite Szene</h3>
-
-<p class="regie"><i class="gesperrt">Friedhof</i> in strömendem Regen. &mdash; Vor einem offenen
-Grabe steht Pastor <i class="gesperrt">Kahlbauch</i>, den aufgespannten
-Schirm in der Hand. Zu seiner Rechten Rentier <i class="gesperrt">Stiefel</i>,
-dessen Freund <i class="gesperrt">Ziegenmelker</i> und Onkel <i class="gesperrt">Probst</i>. Zur
-Linken Rektor <i class="gesperrt">Sonnenstich</i> mit Professor <i class="gesperrt">Knochenbruch</i>.
-Gymnasiasten schließen den Kreis. In einiger
-Entfernung vor einem halbverfallenen Grabmonument
-<i class="gesperrt">Martha</i> und <i class="gesperrt">Ilse</i></p>
-
-<p class="sprecher">Pastor Kahlbauch</p>
-
-<p>...&nbsp;Denn wer die Gnade, mit der der
-ewige Vater den in Sünden Geborenen gesegnet,
-von sich wies, er wird des <em class="gesperrt">geistigen</em> Todes sterben!
-&mdash; Wer aber in eigenwilliger fleischlicher Verleugnung<span class="pagenum"><a name="Seite_100" id="Seite_100">[100]</a></span>
-der Gott gebührenden Ehre dem Bösen
-gelebt und gedient, er wird des <em class="gesperrt">leiblichen</em> Todes
-sterben! &mdash; Wer jedoch das Kreuz, das der Allerbarmer
-ihm um der Sünde willen auferlegt,
-freventlich von sich geworfen, wahrlich, wahrlich,
-ich sage euch, der wird des <em class="gesperrt">ewigen</em> Todes
-sterben! &mdash; (Er wirft eine Schaufel voll Erde in die
-Gruft) &mdash; Uns aber, die wir fort und fort
-wallen den Dornenpfad, lasset den Herrn, den
-allgütigen, preisen und ihm danken für seine
-unerforschliche Gnadenwahl. Denn so wahr <em class="gesperrt">dieser</em>
-eines <em class="gesperrt">dreifachen</em> Todes starb, so wahr wird Gott
-der Herr den Gerechten einführen zur Seligkeit
-und zum ewigen Leben. &mdash; Amen.</p>
-
-<p class="sprecher">Rentier Stiefel</p>
-
-<p class="regie">(mit tränenerstickter Stimme, wirft eine Schaufel voll
-Erde in die Gruft)</p>
-
-<p>Der Junge war nicht von mir! &mdash; Der Junge
-war nicht von mir! &mdash; Der Junge hat mir von
-kleinauf nicht gefallen!</p>
-
-<p class="sprecher">Rektor Sonnenstich</p>
-
-<p class="regie">(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)</p>
-
-<p>Der Selbstmord als der denkbar bedenklichste
-Verstoß gegen die sittliche Weltordnung ist der denkbar
-bedenklichste Beweis für die sittliche Weltordnung,
-indem der Selbstmörder der sittlichen<span class="pagenum"><a name="Seite_101" id="Seite_101">[101]</a></span>
-Weltordnung den Urteilsspruch zu sprechen erspart
-und ihr Bestehen bestätigt.</p>
-
-<p class="sprecher">Professor Knochenbruch</p>
-
-<p class="regie">(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)</p>
-
-<p>Verbummelt &mdash; versumpft &mdash; verhurt &mdash;
-verlumpt &mdash; und verludert!</p>
-
-<p class="sprecher">Onkel Probst</p>
-
-<p class="regie">(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)</p>
-
-<p>Meiner eigenen Mutter hätte ich′s nicht geglaubt,
-daß ein Kind so niederträchtig an seinen
-Eltern zu handeln vermöchte!</p>
-
-<p class="sprecher">Freund Ziegenmelker</p>
-
-<p class="regie">(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)</p>
-
-<p>An einem Vater zu handeln vermöchte, der
-nun seit zwanzig Jahren von früh bis spät keinen
-Gedanken mehr hegt, als das Wohl seines Kindes!</p>
-
-<p class="sprecher">Pastor Kahlbauch</p>
-
-<p class="regie">(Rentier Stiefel die Hand drückend)</p>
-
-<p>Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle
-Dinge zum besten dienen. 1. Korinth. 12, 15. &mdash;
-Denken Sie der trostlosen Mutter und suchen Sie
-ihr das Verlorene durch verdoppelte Liebe zu
-ersetzen!</p>
-
-<p class="sprecher">Rektor Sonnenstich</p>
-
-<p class="regie">(Rentier Stiefel die Hand drückend)</p>
-
-<p>Wir hätten ihn ja wahrscheinlich doch nicht
-promovieren können!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_102" id="Seite_102">[102]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Professor Knochenbruch</p>
-
-<p class="regie">(Rentier Stiefel die Hand drückend)</p>
-
-<p>Und wenn wir ihn promoviert hätten, im
-nächsten Frühling wäre er des allerbestimmtesten
-sitzen geblieben!</p>
-
-<p class="sprecher">Onkel Probst</p>
-
-<p class="regie">(Rentier Stiefel die Hand drückend)</p>
-
-<p>Jetzt hast du vor allem die Pflicht, an dich
-zu denken. Du bist Familienvater&nbsp;...!</p>
-
-<p class="sprecher">Freund Ziegenmelker</p>
-
-<p class="regie">(Rentier Stiefel die Hand drückend)</p>
-
-<p>Vertraue dich meiner Führung! &mdash; Ein Hundewetter,
-daß einem die Därme schlottern! &mdash; Wer
-da nicht unverzüglich mit einem Grogg eingreift,
-hat seine Herzklappenaffektion weg!</p>
-
-<p class="sprecher">Rentier Stiefel</p>
-
-<p class="regie">(sich die Nase schneuzend)</p>
-
-<p>Der Junge war nicht von mir ... der
-Junge war nicht von mir&nbsp;...</p>
-
-<p class="regie">(Rentier Stiefel, geleitet von Pastor Kahlbauch, Rektor
-Sonnenstich, Professor Knochenbruch, Onkel Probst und
-Freund Ziegenmelker ab. &mdash; Der Regen läßt nach)</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
-
-<p class="regie">(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)</p>
-
-<p>Ruhe in Frieden, du ehrliche Haut! &mdash; Grüße
-mir meine ewigen Bräute, hingeopferten Angedenkens,<span class="pagenum"><a name="Seite_103" id="Seite_103">[103]</a></span>
-und empfiehl mich ganz ergebenst zu
-Gnaden dem lieben Gott &mdash; armer Tollpatsch
-du! &mdash; Sie werden dir um deiner Engelseinfalt
-willen noch eine Vogelscheuche aufs Grab setzen&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Hat sich die Pistole gefunden?</p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Man braucht keine Pistole zu suchen!</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Hast du ihn gesehen, Robert?</p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Verfluchter, verdammter Schwindel! &mdash; Wer
-hat ihn gesehen? &mdash; Wer denn?!</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Da steckt′s nämlich! &mdash; Man hatte ihm ein
-Tuch übergeworfen.</p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Hing die Zunge heraus?</p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Die Augen! &mdash; Deshalb hatte man das Tuch
-drübergeworfen.</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Grauenhaft!</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
-
-<p>Weißt du bestimmt, daß er sich erhängt hat?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_104" id="Seite_104">[104]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Man sagt, er habe gar keinen Kopf mehr.</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Unsinn! &mdash; Gewäsch!</p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Ich habe ja den Strick in Händen gehabt!
-&mdash; Ich habe noch keinen Erhängten gesehen,
-den man nicht zugedeckt hätte.</p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Auf gemeinere Art hätte er sich nicht empfehlen
-können!</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
-
-<p>Was Teufel, das Erhängen soll ganz hübsch
-sein!</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Mir ist er nämlich noch fünf Mark schuldig.
-Wir hatten gewettet. Er schwor, er werde sich
-halten.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
-
-<p>Du bist schuld, daß er daliegt. Du hast ihn
-Prahlhans genannt.</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Paperlapap, ich muß auch büffeln die Nächte
-durch. Hätte er die griechische Literaturgeschichte
-gelernt, er hätte sich nicht zu erhängen brauchen!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_105" id="Seite_105">[105]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Hast du den Aufsatz, Otto?</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Erst die Einleitung.</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Ich weiß gar nicht, was schreiben.</p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Warst du denn nicht da, als uns Affenschmalz
-die Disposition gab?</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
-
-<p>Ich stopsle mir was aus dem <cite class="gesperrt">Demokrit</cite> zusammen.</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Ich will sehen, ob sich im <cite class="gesperrt">kleinen Meyer</cite>
-was finden läßt.</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Hast du den Vergil schon auf morgen? &mdash; &mdash;
-&mdash; &mdash; &mdash;</p>
-
-<p class="regie">(Die Gymnasiasten ab. &mdash; Martha und Ilse kommen
-ans Grab.)</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Rasch, rasch! &mdash; Dort hinten kommen die
-Totengräber.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Wollen wir nicht lieber warten, Ilse?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_106" id="Seite_106">[106]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Wozu? &mdash; Wir bringen neue. Immer neue
-und neue! &mdash; Es wachsen genug.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Du hast recht, Ilse! &mdash; <span class="regie">(Sie wirft einen Epheukranz
-in die Gruft. Ilse öffnet ihre Schürze und läßt
-eine Fülle frischer Anemonen auf den Sarg regnen.)</span></p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Ich grabe unsere Rosen aus. Schläge bekomme
-ich ja doch! &mdash; Hier werden sie gedeihen.</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Ich will sie begießen, so oft ich vorbeikomme.
-Ich hole Vergißmeinnicht vom Goldbach herüber
-und Schwertlilien bringe ich von Hause mit.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Es soll eine Pracht werden! Eine Pracht!</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Ich war schon über der Brücke drüben, da
-hört′ ich den Knall.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Armes Herz!</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Und ich weiß auch den Grund, Martha.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Hat er dir was gesagt?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_107" id="Seite_107">[107]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Parallelepipedon! &mdash; Aber sag′ es niemandem.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Meine Hand darauf.</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>&mdash; Hier ist die Pistole.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Deshalb hat man sie nicht gefunden!</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Ich nahm sie ihm gleich aus der Hand, als
-ich am Morgen vorbeikam.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Schenk′ sie mir, Ilse! &mdash; Bitte, schenk′ sie
-mir!</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Nein, die behalt′ ich zum Andenken.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Ist′s wahr, Ilse, daß er ohne Kopf drinliegt?</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Er muß sie mit Wasser geladen haben! &mdash;
-Die Königskerzen waren über und über mit
-Blut besprengt. Sein Hirn hing in den Weiden
-umher.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_108" id="Seite_108">[108]</a></span></p>
-
-
-<h3>Dritte Szene</h3>
-
-<p class="regie"><i class="gesperrt">Herr und Frau Gabor</i>.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>...&nbsp;Man hatte einen Sündenbock nötig.
-Man durfte die überall lautwerdenden Anschuldigungen
-nicht auf sich beruhen lassen. Und
-nun mein Kind das Unglück gehabt, den Zöpfen
-im richtigen Moment in den Schuß zu laufen,
-nun soll ich, die eigene Mutter, das Werk seiner
-Henker vollenden helfen? &mdash; Bewahre mich Gott
-davor!</p>
-
-<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
-
-<p>&mdash; Ich habe deine geistvolle Erziehungsmethode
-vierzehn Jahre schweigend mit angeseh′n.
-Sie widersprach meinen Begriffen. Ich hatte
-von jeher der Überzeugung gelebt, ein Kind sei
-kein Spielzeug; ein Kind habe Anspruch auf
-unsern heiligsten Ernst. Aber ich sagte mir,
-wenn der Geist und die Grazie des Einen die
-ernsten Grundsätze eines Andern zu ersetzen im
-stande sind, so mögen sie den ernsten Grundsätzen
-vorzuziehen sein. &mdash; &mdash; Ich mache dir
-keinen Vorwurf, Fanny. Aber vertritt mir den
-Weg nicht, wenn ich dein und mein Unrecht an
-dem Jungen gutzumachen suche!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_109" id="Seite_109">[109]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Ich vertrete dir den Weg, so lange ein
-Tropfen warmen Blutes in mir wallt! In der
-Korrektionsanstalt ist mein Kind verloren. Eine
-Verbrechernatur mag sich in solchen Instituten
-bessern lassen. Ich weiß es nicht. Ein gutgearteter
-Mensch wird so gewiß zum Verbrecher
-darin, wie die Pflanze verkommt, der du Luft
-und Sonne entziehst. Ich bin mir keines
-Unrechtes bewußt. Ich danke heute wie immer
-dem Himmel, daß er mir den Weg gezeigt, in
-meinem Kinde einen rechtlichen Charakter und
-eine edle Denkungsweise zu wecken. Was hat
-er denn so Schreckliches getan? Es soll mir
-nicht einfallen, ihn entschuldigen zu wollen &mdash;
-daran, daß man ihn aus der Schule gejagt
-trägt er keine Schuld! Und wär′ es sein Verschulden,
-so hat er es ja gebüßt. Du magst
-das alles besser wissen. Du magst theoretisch
-vollkommen im Rechte sein. Aber ich kann mir
-mein einziges Kind nicht gewaltsam in den Tod
-jagen lassen!</p>
-
-<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
-
-<p>Das hängt nicht von uns ab, Fanny. &mdash;
-Das ist ein Risiko, das wir mit unserem Glück
-auf uns genommen. Wer zu schwach für den<span class="pagenum"><a name="Seite_110" id="Seite_110">[110]</a></span>
-Marsch ist, bleibt am Wege. Und es ist schließlich
-das Schlimmste nicht, wenn das Unausbleibliche
-zeitig kommt. Möge uns der Himmel davor behüten!
-Unsere Pflicht ist es, den Wankenden zu
-festigen, so lange die Vernunft Mittel weiß. &mdash;
-Daß man ihn aus der Schule gejagt, ist nicht
-seine Schuld. Wenn man ihn nicht aus der
-Schule gejagt hätte, es wäre auch seine Schuld
-nicht! &mdash; Du bist zu leichtherzig. Du erblickst
-vorwitzige Tändelei, wo es sich um Grundschäden des
-Charakters handelt. Ihr Frauen seid nicht berufen,
-über solche Dinge zu urteilen. Wer <em class="gesperrt">das</em> schreiben
-kann, was Melchior schreibt, der muß im innersten
-Kern seines Wesens angefault sein. Das Mark ist ergriffen.
-Eine halbwegs gesunde Natur läßt sich zu so
-etwas nicht herbei. Wir sind alle keine Heiligen; jeder
-von uns irrt vom schnurgeraden Pfad ab. Seine
-Schrift hingegen vertritt das <em class="gesperrt">Prinzip</em>. Seine Schrift
-entspricht keinem zufälligen gelegentlichen Fehltritt;
-sie dokumentiert mit schaudererregender Deutlichkeit
-den aufrichtig gehegten <em class="gesperrt">Vorsatz</em>, jene natürliche
-Veranlagung, jenen Hang zum <em class="gesperrt">Unmoralischen</em>,
-weil es das Unmoralische ist. Seine Schrift
-manifestiert jene exzeptionelle geistige Korruption,
-die wir Juristen mit dem Ausdruck „<em class="gesperrt">moralischer
-Irrsinn</em>“ bezeichnen. &mdash; Ob sich gegen seinen<span class="pagenum"><a name="Seite_111" id="Seite_111">[111]</a></span>
-Zustand etwas ausrichten läßt, vermag ich nicht
-zu sagen. <em class="gesperrt">Wenn</em> wir uns einen Hoffnungsschimmer
-bewahren wollen, und in erster Linie
-unser fleckenloses Gewissen als die Eltern des
-Betreffenden, so ist es Zeit für uns, mit Entschiedenheit
-und mit allem Ernste ans Werk zu
-gehen. &mdash; Laß uns nicht länger streiten, Fanny!
-Ich fühle, wie schwer es dir wird. Ich weiß,
-daß du ihn vergötterst, weil er so ganz deinem
-genialischen Naturell entspricht. Sei stärker als
-du! Zeig′ dich deinem Sohn gegenüber endlich
-einmal selbstlos!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Hilf mir Gott, wie läßt sich dagegen aufkommen!
-&mdash; Man muß ein <em class="gesperrt">Mann</em> sein, um so
-sprechen zu können! Man muß ein <em class="gesperrt">Mann</em> sein,
-um sich so vom toten Buchstaben verblenden
-lassen zu können! Man muß ein <em class="gesperrt">Mann</em> sein,
-um so blind das in die Augen Springende nicht
-zu sehn! &mdash; Ich habe gewissenhaft und besonnen
-an Melchior gehandelt vom ersten Tag an, da
-ich ihn für die Eindrücke seiner Umgebung empfänglich
-fand. Sind wir denn für den <em class="gesperrt">Zufall</em>
-verantwortlich?! Dir kann morgen ein Dachziegel
-auf den Kopf fallen, und dann kommt dein
-Freund &mdash; dein Vater, und statt deine Wunde<span class="pagenum"><a name="Seite_112" id="Seite_112">[112]</a></span>
-zu pflegen, setzt er den Fuß auf dich! &mdash; Ich
-lasse mein Kind nicht vor meinen Augen hinmorden.
-Dafür bin ich seine Mutter. &mdash; Es ist
-unfaßbar! Es ist gar nicht zu glauben! Was
-schreibt er denn in aller Welt! Ist′s denn nicht
-der eklatanteste Beweis für seine Harmlosigkeit,
-für seine Dummheit, für seine kindliche Unberührtheit,
-daß er so etwas schreiben kann! &mdash;
-Man muß keine Ahnung von Menschenkenntnis
-besitzen &mdash; man muß ein vollständig entseelter
-Bureaukrat oder ganz nur Beschränktheit sein,
-um hier moralische Korruption zu wittern! &mdash;
-&mdash; Sag′ was du willst. Wenn du Melchior in
-die Korrektionsanstalt bringst, dann sind <em class="gesperrt">wir</em>
-geschieden! Und dann laß mich sehen, ob ich
-nicht irgendwo in der Welt Hilfe und Mittel
-finde, mein Kind seinem Untergange zu entreißen.</p>
-
-<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
-
-<p>Du wirst dich drein schicken müssen &mdash; wenn
-nicht heute, dann morgen. Leicht wird es keinem,
-mit dem Unglück zu diskontieren. Ich werde dir
-zur Seite stehen, und wenn dein Mut zu erliegen
-droht, keine Mühe und kein Opfer scheuen, dir
-das Herz zu entlasten. Ich sehe die Zukunft so
-grau, so wolkig &mdash; es fehlte nur noch, daß auch
-du mir noch verloren gingst.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_113" id="Seite_113">[113]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Ich sehe ihn nicht wieder; ich sehe ihn nicht
-wieder. Er erträgt das Gemeine nicht. Er findet
-sich nicht ab mit dem Schmutz. Er zerbricht den
-Zwang; das entsetzlichste Beispiel schwebt ihm vor
-Augen! &mdash; Und sehe ich ihn wieder &mdash; Gott, Gott,
-dieses frühlingsfrohe Herz &mdash; sein helles Lachen
-&mdash; alles, alles &mdash; seine kindliche Entschlossenheit,
-mutig zu kämpfen für Gut und Recht &mdash; o dieser
-Morgenhimmel, wie ich ihn licht und rein in seiner
-Seele gehegt als mein höchstes Gut..... Halte
-dich an mich, wenn das Unrecht um Sühne schreit!
-Halte dich an mich! Verfahre mit mir wie du
-willst! <em class="gesperrt">Ich</em> trage die Schuld. &mdash; Aber laß deine
-fürchterliche Hand von dem Kind weg.</p>
-
-<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em> hat sich vergangen!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er hat sich nicht vergangen!</em></p>
-
-<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
-
-<p>Er hat sich vergangen! &mdash; &mdash; &mdash; Ich hätte
-alles darum gegeben, es deiner grenzenlosen Liebe
-ersparen zu dürfen. &mdash; &mdash; Heute morgen kommt
-eine Frau zu mir, vergeistert, kaum ihrer Sprache
-mächtig, mit diesem Brief in der Hand &mdash; einem
-Brief an ihre fünfzehnjährige Tochter. Aus<span class="pagenum"><a name="Seite_114" id="Seite_114">[114]</a></span>
-dummer Neugierde habe sie ihn erbrochen; das
-Mädchen war nicht zu Haus. &mdash; In dem Briefe
-erklärt Melchior dem fünfzehnjährigen Kind, daß
-ihm seine Handlungsweise keine Ruhe lasse, er
-habe sich an ihr versündigt etc. etc., werde indessen
-natürlich für alles einstehen. Sie möge sich nicht
-grämen, auch wenn sie Folgen spüre. Er sei
-bereits auf dem Wege Hilfe zu schaffen; seine
-Relegation erleichtere ihm das. Der ehemalige
-Fehltritt könne noch zu ihrem Glücke führen &mdash;
-und was des unsinnigen Gewäsches mehr ist.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Unmöglich!!</p>
-
-<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
-
-<p>Der Brief ist gefälscht. Es liegt Betrug vor.
-Man sucht sich seine stadtbekannte Relegation nutzbar
-zu machen. Ich habe mit dem Jungen noch
-nicht gesprochen &mdash; aber sieh bitte die Hand!
-Sieh die Schreibweise!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Ein unerhörtes, schamloses Bubenstück!</p>
-
-<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
-
-<p>Das fürchte ich!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Nein, nein &mdash; nie und nimmer!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_115" id="Seite_115">[115]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
-
-<p>Um so besser wird es für uns sein. &mdash; Die
-Frau fragt mich händeringend, was sie tun
-solle. Ich sagte ihr, sie solle ihre fünfzehnjährige
-Tochter nicht auf Heuböden herumklettern
-lassen. Den Brief hat sie mir glücklicherweise
-dagelassen. &mdash; Schicken wir Melchior nun auf
-ein anderes Gymnasium, wo er nicht einmal
-unter elterlicher Aufsicht steht, so haben wir in
-drei Wochen den nämlichen Fall &mdash; neue Relegation
-&mdash; sein frühlingsfreudiges Herz gewöhnt
-sich nachgerade daran. &mdash; Sag′ mir, Fanny, wo
-soll ich hin mit dem Jungen?!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>&mdash; In die Korrektionsanstalt &mdash;</p>
-
-<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
-
-<p>In die&nbsp;...?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>...&nbsp;Korrektionsanstalt!</p>
-
-<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
-
-<p>Er findet dort in erster Linie, was ihm zu
-Hause ungerechterweise vorenthalten wurde;
-eherne Disziplin, Grundsätze, und einen moralischen
-Zwang, dem er sich unter allen Umständen zu
-fügen hat. &mdash; Im übrigen ist die Korrektionsanstalt
-nicht der Ort des Schreckens, den du dir<span class="pagenum"><a name="Seite_116" id="Seite_116">[116]</a></span>
-darunter denkst. Das Hauptgewicht legt man in
-der Anstalt auf Entwicklung einer christlichen
-Denk- und Empfindungsweise. Der Junge lernt
-dort endlich, das <em class="gesperrt">Gute</em> wollen statt des <em class="gesperrt">Interessanten</em>,
-und bei seinen Handlungen nicht sein
-Naturell, sondern das <em class="gesperrt">Gesetz</em> in Frage ziehen.
-&mdash; &mdash; Vor einer halben Stunde erhalte ich ein
-Telegramm von meinem Bruder, das mir die
-Aussagen der Frau bestätigt. Melchior hat sich
-ihm anvertraut und ihn um 200 Mark zur
-Flucht nach England gebeten&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p class="regie">(bedeckt ihr Gesicht)</p>
-
-<p>Barmherziger Himmel!</p>
-
-
-<h3>Vierte Szene</h3>
-
-<p class="regie"><i class="gesperrt">Korrektionsanstalt</i>. &mdash; Ein Korridor. &mdash; <i class="gesperrt">Diethelm</i>,
-<i class="gesperrt">Reinhold</i>, <i class="gesperrt">Ruprecht</i>, <i class="gesperrt">Helmuth</i>, <i class="gesperrt">Gaston</i> und
-<i class="gesperrt">Melchior</i>.</p>
-
-<p class="sprecher">Diethelm</p>
-
-<p>Hier ist ein Zwanzigpfennigstück!</p>
-
-<p class="sprecher">Reinhold</p>
-
-<p>Was soll′s damit?</p>
-
-<p class="sprecher">Diethelm</p>
-
-<p>Ich leg es auf den Boden. Ihr stellt euch
-drum herum. Wer es trifft, der hat′s.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_117" id="Seite_117">[117]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Ruprecht</p>
-
-<p>Machst du nicht mit, Melchior?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Nein, ich danke.</p>
-
-<p class="sprecher">Helmuth</p>
-
-<p>Der Joseph!</p>
-
-<p class="sprecher">Gaston</p>
-
-<p>Er kann nicht mehr. Er ist zur Rekreation
-hier.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p class="regie">(für sich)</p>
-
-<p>Es ist nicht klug, daß ich mich separiere. Alles
-hält mich im Auge. Ich muß mitmachen &mdash;
-oder die Kreatur geht zum Teufel. &mdash; &mdash; Die
-Gefangenschaft macht sie zu Selbstmördern. &mdash;
-&mdash; Brech ich den Hals, ist es gut! Komme ich
-davon, ist es auch gut! Ich kann nur gewinnen.
-&mdash; Ruprecht wird mein Freund, er besitzt hier
-Kenntnisse. &mdash; Ich werde ihm die Kapitel von
-Juda′s Schnur Thamar, von Moab, von Loth
-und seiner Sippe, von der Königin Vasti und
-der Abisag von Sunem zum besten geben. &mdash;
-Er hat die verunglückteste Physiognomie auf der
-Abteilung.</p>
-
-<p class="sprecher">Ruprecht</p>
-
-<p>Ich hab′s!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_118" id="Seite_118">[118]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Helmuth</p>
-
-<p>Ich komme noch!</p>
-
-<p class="sprecher">Gaston</p>
-
-<p>Übermorgen vielleicht!</p>
-
-<p class="sprecher">Helmuth</p>
-
-<p>Gleich! &mdash; Jetzt! &mdash; O Gott, o Gott&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Alle</p>
-
-<p><span class="antiqua" lang="la" xml:lang="la">Summa &mdash; summa cum laude!!</span></p>
-
-<p class="sprecher">Ruprecht</p>
-
-<p class="regie">(das Stück nehmend)</p>
-
-<p>Danke schön!</p>
-
-<p class="sprecher">Helmuth</p>
-
-<p>Her, du Hund!</p>
-
-<p class="sprecher">Ruprecht</p>
-
-<p>Du Schweinetier?</p>
-
-<p class="sprecher">Helmuth</p>
-
-<p>Galgenvogel!!</p>
-
-<p class="sprecher">Ruprecht</p>
-
-<p class="regie">(schlägt ihn ins Gesicht)</p>
-
-<p>&mdash; Da! <span class="regie">(rennt davon)</span></p>
-
-<p class="sprecher">Helmuth</p>
-
-<p class="regie">(ihm nachrennend)</p>
-
-<p>Den schlag ich tot!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_119" id="Seite_119">[119]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Die Übrigen</p>
-
-<p class="regie">(rennen hinterdrein)</p>
-
-<p>Hetz, Packan! Hetz! Hetz! Hetz!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p class="regie">(allein, gegen das Fenster gewandt)</p>
-
-<p>&mdash; Da geht der Blitzableiter hinunter. &mdash;
-Man muß ein Taschentuch drumwickeln. &mdash; Wenn
-ich an sie denke, schießt mir immer das Blut in
-den Kopf. Und Moritz liegt mir wie Blei in
-den Füßen. &mdash; &mdash; &mdash; Ich gehe zur Redaktion.
-Bezahlen Sie mich per Hundert; ich kolportiere!
-&mdash; sammle Tagesneuigkeiten &mdash; schreibe &mdash; lokal
-&mdash; &mdash; ethisch &mdash; &mdash; psychophysisch ... man
-verhungert nicht mehr so leicht. Volksküche, Café
-Temperence. &mdash; Das Haus ist sechzig Fuß hoch
-und der Verputz bröckelt ab&nbsp;... Sie haßt mich
-&mdash; sie haßt mich, weil ich sie der Freiheit beraubt.
-Handle ich, wie ich will, es bleibt Vergewaltigung.
-&mdash; Ich darf einzig hoffen, im Laufe der Jahre
-allmählich&nbsp;... Über acht Tage ist Neumond.
-Morgen schmiere ich die Angeln. Bis Sonnabend
-muß ich unter allen Umständen wissen, wer den
-Schlüssel hat. &mdash; Sonntag Abend in der Andacht
-kataleptischer Anfall &mdash; will′s Gott, wird sonst
-niemand krank! &mdash; Alles liegt so klar, als wär′
-es geschehen, vor mir. Über das Fenstergesims<span class="pagenum"><a name="Seite_120" id="Seite_120">[120]</a></span>
-gelang ich mit Leichtigkeit &mdash; ein Schwung &mdash;
-ein Griff &mdash; aber man muß ein Taschentuch
-drumwickeln. &mdash; &mdash; Da kommt der Großinquisitor.
-<span class="regie">(Ab nach links.)</span></p>
-
-<p class="regie">(Dr. <i class="gesperrt">Prokrustes</i> mit einem <i class="gesperrt">Schlossermeister</i> von
-rechts.)</p>
-
-<p class="sprecher">Dr. Prokrustes</p>
-
-<p>...&nbsp;Die Fenster liegen zwar im dritten Stock
-und unten sind Brennesseln gepflanzt. Aber was
-kümmert sich die Entartung um Brennesseln. &mdash;
-Vergangenen Winter stieg uns einer zur Dachluke
-hinaus und wir hatten die ganze Schererei
-mit dem Abholen, Hinbringen und Beisetzen&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Der Schlossermeister</p>
-
-<p>Wünschen Sie die Gitter aus Schmiedeeisen?</p>
-
-<p class="sprecher">Dr. Prokrustes</p>
-
-<p>Aus Schmiedeeisen &mdash; und da man sie nicht
-einlassen kann, vernietet.</p>
-
-
-<h3>Fünfte Szene</h3>
-
-<p class="regie">Ein <i class="gesperrt">Schlafgemach</i>. &mdash; <i class="gesperrt">Frau Bergmann</i>, <i class="gesperrt">Ina
-Müller</i> und Medizinalrat Dr. <i class="gesperrt">v. Brausepulver</i>. &mdash;
-<i class="gesperrt">Wendla</i> im Bett.</p>
-
-<p class="sprecher">Dr. von Brausepulver</p>
-
-<p>Wie alt sind Sie denn eigentlich?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_121" id="Seite_121">[121]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Vierzehn ein halb.</p>
-
-<p class="sprecher">Dr. von Brausepulver</p>
-
-<p>Ich verordne die <cite class="gesperrt">Blaud</cite>′schen Pillen seit
-fünfzehn Jahren und habe in einer großen
-Anzahl von Fällen die eklatantesten Erfolge beobachtet.
-Ich ziehe sie dem Lebertran und den
-Stahlweinen vor. Beginnen sie mit drei bis vier
-Pillen pro Tag und steigern Sie so rasch Sie es
-eben vertragen. Dem Fräulein Elfriede Baronesse
-von Witzleben hatte ich verordnet, jeden dritten
-Tag um eine Pille zu steigern. Die Baronesse
-hatte mich mißverstanden und steigerte jeden Tag
-um drei Pillen. Nach kaum drei Wochen schon
-konnte sich die Baronesse mit ihrer Frau Mama
-zur Nachkur nach Pyrmont begeben. &mdash; Von
-ermüdenden Spaziergängen und Extramahlzeiten
-dispensiere ich Sie. Dafür versprechen Sie mir,
-liebes Kind, sich um so fleißiger Bewegung
-machen zu wollen und ungeniert Nahrung zu
-fordern, sobald sich die Lust dazu wieder einstellt.
-Dann werden diese Herzbeklemmungen bald nachlassen
-&mdash; und der Kopfschmerz, das Frösteln, der
-Schwindel &mdash; und unsere schrecklichen Verdauungsstörungen.
-Fräulein Elfriede Baronesse von
-Witzleben genoß schon acht Tage nach begonnener<span class="pagenum"><a name="Seite_122" id="Seite_122">[122]</a></span>
-Kur ein ganzes Brathühnchen mit
-jungen Pellkartoffeln zum Frühstück.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten,
-Herr Medizinalrat?</p>
-
-<p class="sprecher">Dr. von Brausepulver</p>
-
-<p>Ich danke Ihnen, liebe Frau Bergmann.
-Mein Wagen wartet. Lassen Sie sich′s nicht so
-zu Herzen gehen. In wenigen Wochen ist unsere
-liebe kleine Patientin wieder frisch und munter
-wie eine Gazelle. Seien Sie getrost. &mdash; Guten
-Tag, Frau Bergmann. Guten Tag, liebes Kind.
-Guten Tag, meine Damen. Guten Tag. <span class="regie">(Frau
-Bergmann geleitet ihn vor die Tür.)</span></p>
-
-<p class="sprecher">Ina</p>
-
-<p class="regie">(am Fenster)</p>
-
-<p>&mdash; Nun färbt sich eure Platane schon
-wieder bunt. &mdash; Siehst du′s vom Bett aus? &mdash;
-Eine kurze Pracht, kaum recht der Freude wert,
-wie man sie so kommen und gehen sieht. &mdash; Ich
-muß nun auch bald gehen. Müller erwartet
-mich vor der Post und ich muß zuvor noch zur
-Schneiderin. Mucki bekommt seine ersten Höschen,
-und Karl soll einen neuen Trikotanzug auf den
-Winter haben.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_123" id="Seite_123">[123]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Manchmal wird mir so selig &mdash; alles Freude
-und Sonnenglanz. Hätt′ ich geahnt, daß es
-einem so wohl um′s Herz werden kann! Ich
-möchte hinaus, im Abendschein über die Wiesen
-gehn, Himmelsschlüssel suchen den Fluß entlang
-und mich an′s Ufer setzen und träumen&nbsp;...
-Und dann kommt das <em class="gesperrt">Zahnweh</em>, und ich meine,
-daß ich morgen am Tag sterben muß; mir wird
-heiß und kalt, vor den Augen verdunkelt sich′s,
-und dann flattert das Untier herein &mdash; &mdash; &mdash;
-So oft ich aufwache, seh′ ich Mutter weinen.
-O, das tut mir so weh &mdash; ich kann′s dir nicht
-sagen, Ina!</p>
-
-<p class="sprecher">Ina</p>
-
-<p>&mdash; Soll ich dir nicht das Kopfkissen höher
-legen?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p class="regie">(kommt zurück)</p>
-
-<p>Er meint, das Erbrechen werde sich auch
-geben; und du sollst dann nur ruhig wieder
-aufstehn&nbsp;... Ich glaube auch, es ist besser,
-wenn du bald wieder aufstehst, Wendla.</p>
-
-<p class="sprecher">Ina</p>
-
-<p>Bis ich das nächste Mal vorspreche, springst
-du vielleicht schon wieder im Haus herum. &mdash;
-Leb′ wohl, Mutter. Ich muß durchaus noch zur<span class="pagenum"><a name="Seite_124" id="Seite_124">[124]</a></span>
-Schneiderin. Behüt′ dich Gott, liebe Wendla.
-<span class="regie">(Küßt sie)</span> Recht, recht baldige Besserung!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Leb′ wohl, Ina. &mdash; Bring′ mir Himmelsschlüssel
-mit, wenn du wiederkommst. Adieu.
-Grüße deine Jungens von mir.</p>
-
-<p class="regie">(Ina ab.)</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Was hat er noch gesagt, Mutter, als er
-draußen war?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Er hat nichts gesagt. &mdash; Er sagte, Fräulein
-von Witzleben habe auch zu Ohnmachten geneigt.
-Es sei das fast immer so bei der Bleichsucht.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Hat er gesagt, Mutter, daß ich die Bleichsucht
-habe?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Du sollest Milch trinken und Fleisch und Gemüse
-essen, wenn der Appetit zurückgekehrt sei.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>O Mutter, Mutter, ich glaube, ich habe nicht
-die Bleichsucht....</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Du hast die Bleichsucht, Kind. Sei ruhig,
-Wendla, sei ruhig; du hast die Bleichsucht.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_125" id="Seite_125">[125]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Nein, Mutter, nein! Ich weiß es. Ich fühl′
-es. Ich habe nicht die Bleichsucht. Ich habe
-die Wassersucht&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Du hast die Bleichsucht. Er hat ja gesagt,
-daß du die Bleichsucht hast. Beruhige dich, Mädchen.
-Es wird besser werden.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Es wird nicht besser werden. Ich habe die
-Wassersucht. Ich muß sterben, Mutter. &mdash; O
-Mutter, ich muß sterben!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Du mußt nicht sterben, Kind! Du mußt
-nicht sterben..... Barmherziger Himmel, du
-mußt nicht sterben!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Aber warum weinst du dann so jammervoll?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Du mußt nicht sterben &mdash; Kind! Du hast
-nicht die Wassersucht. Du hast ein Kind, Mädchen!
-Du hast ein Kind! &mdash; O, warum hast du
-mir das getan!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>&mdash; ich habe dir nichts getan &mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_126" id="Seite_126">[126]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>O leugne nicht noch, Wendla! &mdash; Ich weiß
-alles. Sieh′, ich hätt′ es nicht vermocht, dir ein
-Wort zu sagen. &mdash; Wendla, meine Wendla&nbsp;...!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Aber das ist ja nicht möglich, Mutter. Ich
-bin ja doch nicht verheiratet&nbsp;...!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Großer, gewaltiger Gott &mdash;, das ist′s ja,
-daß du nicht verheiratet bist! Das ist ja das
-Fürchterliche! &mdash; Wendla, Wendla, Wendla, was
-hast du getan!!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich weiß es, weiß Gott, nicht mehr! Wir
-lagen im Heu.... Ich habe keinen Menschen
-auf dieser Welt geliebt als nur dich, Mutter.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Mein Herzblatt &mdash;</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>O Mutter, warum hast du mir nicht alles gesagt!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Kind, Kind, laß uns einander das Herz nicht
-noch schwerer machen! Fasse dich! Verzweifle
-mir nicht, mein Kind! Einem vierzehnjährigen
-Mädchen das sagen! Sieh′, ich wäre eher darauf
-gefaßt gewesen, daß die Sonne erlischt. Ich habe<span class="pagenum"><a name="Seite_127" id="Seite_127">[127]</a></span>
-an dir nicht anders getan, als meine liebe gute
-Mutter an mir getan hat. &mdash; O laß uns auf
-den lieben Gott vertrauen, Wendla; laß uns auf
-Barmherzigkeit hoffen und das unsrige tun! Sieh′,
-<em class="gesperrt">noch</em> ist ja nichts geschehen, Kind. Und wenn
-nur wir jetzt nicht kleinmütig werden, dann wird
-uns auch der liebe Gott nicht verlassen. &mdash; Sei
-<em class="gesperrt">mutig</em>, Wendla, sei <em class="gesperrt">mutig</em>! &mdash; &mdash; So sitzt man
-einmal am Fenster und legt die Hände in den
-Schoß, weil sich doch noch alles zum Guten gewandt,
-und da bricht′s dann herein, daß einem
-gleich das Herz bersten möchte.... Wa &mdash;
-was zitterst du?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Es hat jemand geklopft.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Ich habe nichts gehört, liebes Herz. &mdash;
-<span class="regie">(Geht an die Türe und öffnet.)</span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ach, ich hörte es ganz deutlich. &mdash; &mdash; Wer
-ist draußen?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>&mdash; Niemand &mdash; &mdash; Schmidts Mutter aus
-der Gartenstraße. &mdash; &mdash; &mdash; Sie kommen eben
-recht, Mutter Schmidtin.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_128" id="Seite_128">[128]</a></span></p>
-
-
-<h3>Sechste Szene</h3>
-
-<p class="regie">Winzer und Winzerinnen im <i class="gesperrt">Weinberg</i>. &mdash; Im Westen
-sinkt die Sonne hinter die Berggipfel. Helles Glockengeläute
-vom Tal herauf. &mdash; <i class="gesperrt">Hänschen Rilow</i> und
-<i class="gesperrt">Ernst Röbel</i> im höchstgelegenen Rebstück sich unter den
-überhängenden Felsen im welkenden Grase wälzend.</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>&mdash; Ich habe mich überarbeitet.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Laß uns nicht traurig sein! &mdash; Schade um die
-Minuten.</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Man sieht sie hängen und kann nicht mehr
-&mdash; und morgen sind sie gekeltert.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Ermüdung ist mir so unerträglich, wie mir′s
-der Hunger ist.</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Ach, ich kann nicht mehr.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Diese leuchtende Muskateller noch!</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Ich bringe die Elastizität nicht mehr auf.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Wenn ich die Ranke beuge, baumelt sie uns
-von Mund zu Mund. Keiner braucht sich zu
-rühren. Wir beißen die Beeren ab und lassen
-den Kamm zum Stock zurückschnellen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_129" id="Seite_129">[129]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Kaum entschließt man sich, und siehe, so
-dämmert auch schon die dahingeschwundene
-Kraft wieder auf.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Dazu das flammende Firmament &mdash; und die
-Abendglocken. &mdash; Ich verspreche mir wenig mehr
-von der Zukunft.</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>&mdash; Ich sehe mich manchmal schon als hochwürdigen
-Pfarrer &mdash; ein gemütvolles Hausmütterchen,
-eine reichhaltige Bibliothek und Ämter
-und Würden in allen Kreisen. Sechs Tage hat
-man um nachzudenken, und am siebenten tut man
-den Mund auf. Beim Spazierengehen reichen einem
-Schüler und Schülerinnen die Hand, und wenn
-man nach Hause kommt, dampft der Kaffee, der
-Topfkuchen wird aufgetragen, und durch die
-Gartentür bringen die Mädchen Äpfel herein.
-&mdash; Kannst du dir etwas Schöneres denken?</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Ich denke mir halbgeschlossene Wimpern,
-halbgeöffnete Lippen und türkische Draperien.
-&mdash; Ich glaube nicht an das Pathos. Sieh,
-unsere Alten zeigen uns lange Gesichter, um
-ihre Dummheiten zu bemänteln. Untereinander<span class="pagenum"><a name="Seite_130" id="Seite_130">[130]</a></span>
-nennen sie sich Schafsköpfe wie wir. Ich kenne
-das. &mdash; Wenn ich Millionär bin, werde ich dem
-lieben Gott ein Denkmal setzen. &mdash; Denke dir die
-Zukunft als Milchsette mit Zucker und Zimt.
-Der eine wirft sie um und heult, der andere rührt
-alles durcheinander und schwitzt. Warum nicht
-abschöpfen? &mdash; Oder glaubst du nicht, daß es
-sich lernen ließe.</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>&mdash; Schöpfen wir ab!</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Was bleibt, fressen die Hühner. &mdash; Ich habe
-meinen Kopf nun schon aus so mancher Schlinge
-gezogen....</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Schöpfen wir ab, Hänschen! &mdash; Warum
-lachst du?</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Fängst du schon wieder an?</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Einer muß ja doch anfangen.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Wenn wir in dreißig Jahren an einen Abend
-wie heute zurückdenken, erscheint er uns vielleicht
-unsagbar schön!</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Und wie macht sich jetzt alles so ganz von selbst!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_131" id="Seite_131">[131]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Warum also nicht!</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Ist man zufällig allein &mdash; dann weint man
-vielleicht gar.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Laß uns nicht traurig sein! &mdash; <span class="regie">(Er küßt ihn
-auf den Mund.)</span></p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p class="regie">(küßt ihn)</p>
-
-<p>Ich ging von Hause fort mit dem Gedanken,
-dich nur eben zu sprechen und wieder umzukehren.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Ich erwartete dich. &mdash; Die Tugend kleidet
-nicht schlecht, aber es gehören imposante Figuren
-hinein.</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Uns schlottert sie noch um die Glieder. &mdash;
-Ich wäre nicht ruhig geworden, wenn ich dich
-nicht getroffen hätte. &mdash; Ich liebe dich, Hänschen,
-wie ich nie eine Seele geliebt habe.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Laß uns nicht traurig sein! &mdash; Wenn wir
-in dreißig Jahren zurückdenken, spotten wir ja
-vielleicht! &mdash; Und jetzt ist alles so schön. Die<span class="pagenum"><a name="Seite_132" id="Seite_132">[132]</a></span>
-Berge glühen; die Trauben hängen uns in den
-Mund und der Abendwind streicht an den Felsen
-hin wie ein spielendes Schmeichelkätzchen....</p>
-
-
-<h3>Siebente Szene</h3>
-
-<p class="regie"><i class="gesperrt">Helle Novembernacht</i>. An Busch und Bäumen
-raschelt das dürre Laub. Zerrissene Wolken jagen unter
-dem Mond hin. &mdash; <i class="gesperrt">Melchior</i> klettert über die <i class="gesperrt">Kirchhofmauer</i>.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p class="regie">(auf der Innenseite herabspringend)</p>
-
-<p>Hierher folgt mir die Meute nicht. &mdash; Derweil
-sie Bordelle absuchen, kann ich aufatmen und
-mir sagen, wie weit ich bin....</p>
-
-<p>Der Rock in Fetzen, die Taschen leer &mdash; vor
-dem Harmlosesten bin ich nicht sicher. &mdash; Tagsüber
-muß ich im Walde weiter zu kommen suchen&nbsp;...</p>
-
-<p>Ein Kreuz habe ich niedergestampft. &mdash; Die
-Blümchen wären heut′ noch erfroren! &mdash; Ringsum
-ist die Erde kahl....</p>
-
-<p>Im Totenreich! &mdash;</p>
-
-<p>Aus der Dachluke zu klettern war so schwer
-nicht wie dieser Weg! &mdash; Darauf nur war ich
-nicht gefaßt gewesen....</p>
-
-<p>Ich hänge über dem Abgrund &mdash; alles versunken,
-verschwunden &mdash; O wär′ ich dort geblieben!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_133" id="Seite_133">[133]</a></span></p>
-
-<p>Warum sie um meinetwillen! &mdash; Warum
-nicht der Verschuldete! &mdash; Unfaßbare Vorsicht!
-&mdash; Ich hätte Steine geklopft und gehungert&nbsp;...!</p>
-
-<p>Was hält mich noch aufrecht? &mdash; Verbrechen
-folgt auf Verbrechen. Ich bin dem Morast
-überantwortet. Nicht so viel Kraft mehr, um
-abzuschließen&nbsp;...</p>
-
-<p>Ich war nicht schlecht! &mdash; Ich war nicht
-schlecht! &mdash; Ich war nicht schlecht&nbsp;...</p>
-
-<p>&mdash; So neiderfüllt ist noch kein Sterblicher
-über Gräber gewandelt. &mdash; Pah &mdash; ich brächte
-ja den Mut nicht auf! &mdash; O, wenn mich Wahnsinn
-umfinge &mdash; in dieser Nacht noch!</p>
-
-<p>Ich muß drüben unter den Letzten suchen! &mdash;
-Der Wind pfeift auf jedem Stein aus einer
-anderen Tonart &mdash; eine beklemmende Symphonie!
-&mdash; Die morschen Kränze reißen entzwei und
-baumeln an ihren langen Fäden stückweise um die
-Marmorkreuze &mdash; ein Wald von Vogelscheuchen! &mdash;
-Vogelscheuchen auf allen Gräbern, eine greulicher
-als die andere &mdash; haushohe, vor denen die Teufel
-Reißaus nehmen. &mdash; Die goldenen Lettern blinken
-so kalt.... Die Trauerweide ächzt auf und
-fährt mit Riesenfingern über die Inschrift....</p>
-
-<p>&mdash; Ein betendes Engelskind &mdash; Eine Tafel &mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_134" id="Seite_134">[134]</a></span></p>
-
-<p>Eine Wolke wirft ihren Schatten herab. &mdash;
-Wie das hastet und heult! &mdash; Wie ein Heereszug
-jagt es im Osten empor. &mdash; Kein Stern
-am Himmel &mdash;</p>
-
-<p>Immergrün um das Gärtlein? &mdash; Immergrün?
-&mdash; &mdash; Mädchen&nbsp;...</p>
-
-<div class="figcenter">
- <a name="grabstein" id="grabstein"><img src="images/grabstein.jpg" width="400" height="339" alt="Grabstein von Wendla Bergmann" /></a>
- <p class="regie">Hier ruht in Gott<br />
- Wendla Bergmann,<br />
- geboren am 5. Mai 1878,<br />
- gestorben an der Bleichsucht den<br />
- 27. Oktober 1892.<br />
- Selig sind, die reinen Herzens sind&nbsp;...</p>
-</div>
-
-
-<p>Und ich bin ihr Mörder. &mdash; Ich bin ihr
-Mörder! &mdash; Mir bleibt die Verzweiflung. &mdash;
-Ich darf hier nicht weinen. &mdash; Fort von hier!
-&mdash; Fort &mdash;</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz Stiefel</p>
-
-<p class="regie">(seinen Kopf unter dem Arm, stapft über die Gräber her)</p>
-
-<p>Einen Augenblick, Melchior! Die Gelegenheit
-wiederholt sich so bald nicht. Du ahnst nicht,
-was mit Ort und Stunde zusammenhängt....</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_135" id="Seite_135">[135]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wo kommst du her?!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Von drüben &mdash; von der Mauer her. Du
-hast mein Kreuz umgeworfen. Ich liege an der
-Mauer. &mdash; Gib mir die Hand, Melchior....</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Du bist <em class="gesperrt">nicht</em> Moritz Stiefel!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Gib mir die Hand. Ich bin überzeugt, du
-wirst mir Dank wissen. So leicht wird′s dir
-nicht mehr! Es ist ein seltsam glückliches Zusammentreffen.
-&mdash; Ich bin extra heraufgekommen....</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Schläfst du denn nicht?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Nicht was ihr Schlafen nennt. &mdash; Wir sitzen
-auf Kirchtürmen, auf hohen Dachgiebeln &mdash; wo
-immer wir wollen....</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ruhelos?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Vergnügungshalber. &mdash; Wir streifen um Maibäume,
-um einsame Waldkapellen. Über Volksversammlungen
-schweben wir hin, über Unglücksstätten,<span class="pagenum"><a name="Seite_136" id="Seite_136">[136]</a></span>
-Gärten, Festplätze. &mdash; In den Wohnhäusern
-kauern wir im Kamin und hinter den
-Bettvorhängen. &mdash; Gib mir die Hand. &mdash; Wir
-verkehren nicht untereinander, aber wir sehen
-und hören alles, was in der Welt vor sich geht.
-Wir wissen, daß alles Dummheit ist, was die
-Menschen tun und erstreben, und lachen darüber.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Was hilft das?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Was braucht es zu helfen? &mdash; Wir sind für
-nichts mehr erreichbar, nicht für Gutes noch
-Schlechtes. Wir stehen hoch, hoch über dem
-Irdischen &mdash; jeder für sich allein. Wir verkehren
-nicht miteinander, weil uns das zu langweilig
-ist. Keiner von uns hegt noch etwas, das
-ihm abhanden kommen könnte. Über Jammer
-oder Jubel sind wir gleich unermeßlich erhaben.
-Wir sind mit uns zufrieden und das ist alles!
-&mdash; Die Lebenden verachten wir unsagbar, kaum
-daß wir sie bemitleiden. Sie erheitern uns mit
-ihrem Getue, weil sie als Lebende tatsächlich
-nicht zu bemitleiden sind. Wir lächeln bei ihren
-Tragödien &mdash; jeder für sich &mdash; und stellen unsere
-Betrachtungen an. &mdash; Gib mir die Hand!<span class="pagenum"><a name="Seite_137" id="Seite_137">[137]</a></span>
-Wenn du mir die Hand gibst, fällst du um vor
-Lachen über dem Empfinden, mit dem du mir
-die Hand gibst....</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ekelt dich das nicht an?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Dazu stehen wir zu hoch. Wir lächeln! &mdash;
-An meinem Begräbnis war ich unter den Leidtragenden.
-Ich habe mich recht gut unterhalten.
-Das ist Erhabenheit, Melchior! Ich habe geheult
-wie keiner, und schlich zur Mauer, um mir vor
-Lachen den Bauch zu halten. Unsere unnahbare
-Erhabenheit ist tatsächlich der einzige Gesichtspunkt,
-unter dem der Quark sich verdauen läßt....
-Auch über mich will man gelacht haben, eh′ ich
-mich aufschwang!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>&mdash; Mich lüstet′s nicht, über mich zu lachen.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>...&nbsp;Die Lebenden sind als solche wahrhaftig
-nicht zu bemitleiden! &mdash; Ich gestehe, ich hätte es
-auch nie gedacht. Und jetzt ist es mir unfaßbar,
-wie man so naiv sein kann. Jetzt durchschaue
-ich den Trug so klar, daß auch nicht ein Wölkchen
-bleibt. &mdash; Wie magst du nur zaudern,
-Melchior! Gib mir die Hand! Im Halsumdrehen<span class="pagenum"><a name="Seite_138" id="Seite_138">[138]</a></span>
-stehst du himmelhoch über dir. &mdash; Dein
-Leben ist Unterlassungssünde....</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>&mdash; Könnt ihr vergessen?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wir können alles. Gib mir die Hand! Wir
-können die Jugend bedauern, wie sie ihre Bangigkeit
-für Idealismus hält, und das Alter, wie ihm
-vor stoischer Überlegenheit das Herz brechen will.
-Wir sehen den Kaiser vor Gassenhauern und den
-Lazzaroni vor der jüngsten Posaune beben. Wir
-ignorieren die Maske des Komödianten und sehen
-den Dichter im Dunkeln die Maske vornehmen.
-Wir erblicken den Zufriedenen in seiner Bettelhaftigkeit,
-im Mühseligen und Beladenen den
-Kapitalisten. Wir beobachten Verliebte und
-sehen sie voreinander erröten, ahnend, daß sie
-betrogene Betrüger sind. Eltern sehen wir Kinder
-in die Welt setzen, um ihnen zurufen zu können:
-Wie glücklich ihr seid, solche Eltern zu haben! &mdash;
-und sehen die Kinder hingehn und desgleichen tun.
-Wir können die Unschuld in ihren einsamen Liebesnöten,
-die Fünfgroschendirne über der Lektüre
-Schillers belauschen.... Gott und den Teufel
-sehen wir sich voreinander blamieren und hegen<span class="pagenum"><a name="Seite_139" id="Seite_139">[139]</a></span>
-in uns das durch nichts zu erschütternde Bewußtsein,
-daß beide betrunken sind.... Eine
-Ruhe, eine Zufriedenheit. Melchior &mdash;! Du
-brauchst mir nur den kleinen Finger zu reichen.
-&mdash; Schneeweiß kannst du werden, eh′ sich dir der
-Augenblick wieder so günstig zeigt!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>&mdash; Wenn ich einschlage, Moritz, so geschieht
-es aus Selbstverachtung. &mdash; Ich sehe mich geächtet.
-Was mir Mut verlieh, liegt im Grabe.
-Edler Regungen vermag ich mich nicht mehr für
-würdig zu halten &mdash; und erblicke nichts, nichts,
-das sich mir auf meinem Niedergang noch entgegenstellen
-sollte. &mdash; Ich bin mir die verabscheuungswürdigste
-Kreatur des Weltalls....</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Was zauderst du&nbsp;...?</p>
-
-<p class="regie">(Ein vermummter Herr tritt auf)</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr <span class="regie">(zu Melchior)</span></p>
-
-<p>Du bebst ja vor Hunger. Du bist gar nicht
-befähigt, zu urteilen. &mdash; <span class="regie">(Zu Moritz)</span> Gehen Sie.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wer sind Sie?</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Das wird sich weisen. &mdash; <span class="regie">(Zu Moritz)</span> Verschwinden
-Sie! &mdash; Was haben Sie hier zu tun!
-&mdash; Warum haben Sie denn den Kopf nicht auf?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_140" id="Seite_140">[140]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich habe mich erschossen.</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Dann bleiben Sie doch, wo Sie hingehören.
-Dann sind Sie ja vorbei! Belästigen Sie uns
-hier nicht mit Ihrem Grabgestank. Unbegreiflich
-&mdash; sehen Sie doch nur Ihre Finger an. Pfui
-Teufel noch mal! Das zerbröckelt schon.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Schicken Sie mich bitte nicht fort....</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wer sind Sie, mein Herr??</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Schicken Sie mich nicht fort! Ich bitte Sie.
-Lassen Sie mich hier noch ein Weilchen teilnehmen;
-ich will Ihnen in nichts entgegensein. &mdash; &mdash; Es
-ist unten so schaurig.</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Warum prahlen Sie denn dann mit <em class="gesperrt">Erhabenheit</em>?!
-&mdash; Sie wissen doch, daß das Humbug
-ist &mdash; saure Trauben! Warum <em class="gesperrt">lügen</em> Sie
-geflissentlich, Sie &mdash; Hirngespinst! &mdash; &mdash; Wenn Ihnen
-eine so schätzenswerte Wohltat damit geschieht, so
-bleiben Sie meinetwegen. Aber hüten Sie sich
-vor Windbeuteleien, lieber Freund &mdash; und lassen
-Sie mir bitte Ihre Leichenhand aus dem Spiel!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_141" id="Seite_141">[141]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Sagen Sie mir endlich, wer Sie sind, oder nicht?!</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Nein. &mdash; Ich mache dir den Vorschlag, dich
-mir anzuvertrauen. Ich würde fürs erste für
-dein Fortkommen sorgen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Sie sind &mdash; mein Vater?!</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Würdest du deinen Herrn Vater nicht an der
-Stimme erkennen?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Nein.</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>&mdash; Dein Herr Vater sucht Trost zur Stunde in
-den kräftigen Armen deiner Mutter. &mdash; Ich erschließe
-dir die Welt. Deine momentane Fassungslosigkeit
-entspringt deiner miserablen Lage. Mit
-einem warmen Abendessen im Leib spottest du
-ihrer.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior <span class="regie">(für sich)</span></p>
-
-<p>Es kann nur <em class="gesperrt">einer</em> der Teufel sein! &mdash; <span class="regie">(laut)</span>
-Nach dem, was ich verschuldet, kann mir ein
-warmes Abendessen meine Ruhe nicht wiedergeben!</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Es kommt auf das Abendessen an! &mdash; So viel
-kann ich dir sagen, daß die Kleine vorzüglich<span class="pagenum"><a name="Seite_142" id="Seite_142">[142]</a></span>
-geboren hätte. Sie war musterhaft gebaut. Sie ist
-lediglich den Abortivmitteln der Mutter Schmidtin
-erlegen. &mdash; &mdash; Ich führe dich unter Menschen.
-Ich gebe dir Gelegenheit, deinen Horizont in der
-fabelhaftesten Weise zu erweitern. Ich mache dich
-ausnahmslos mit allem bekannt, was die Welt
-Interessantes bietet.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wer sind Sie? Wer sind Sie? &mdash; Ich kann
-mich einem Menschen nicht anvertrauen, den ich
-nicht kenne.</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Du lernst mich nicht kennen, ohne dich mir
-anzuvertrauen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Glauben Sie?</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Tatsache! &mdash; Übrigens bleibt dir ja keine Wahl.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich kann jeden Moment meinem Freunde
-hier die Hand reichen.</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Dein Freund ist ein Scharlatan. Es lächelt
-keiner, der noch einen Pfennig in bar besitzt.
-Der erhabene Humorist ist das erbärmlichste, bedauernswerteste
-Geschöpf der Schöpfung!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_143" id="Seite_143">[143]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Sei der Humorist, was er sei; Sie sagen mir, wer
-Sie sind, oder ich reiche dem Humoristen die Hand!</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>&mdash; Nun?!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Er hat recht, Melchior. Ich habe bramarbasiert.
-Laß dich von ihm traktieren und nütz′
-ihn aus. Mag er noch so vermummt sein &mdash;
-er ist es wenigstens!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Glauben Sie an Gott?</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Je nach Umständen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wollen Sie mir sagen, wer das Pulver erfunden
-hat?</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Berthold Schwarz &mdash; alias Konstantin Anklitzen
-&mdash; um 1330 Franziskanermönch zu Freiburg
-im Breisgau.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Was gäbe ich darum, wenn er es hätte
-bleiben lassen!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_144" id="Seite_144">[144]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Sie würden sich eben erhängt haben!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wie denken Sie über Moral?</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Kerl &mdash; bin ich dein Schulknabe?!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Weiß ich, was Sie sind!!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Streitet nicht! &mdash; Bitte, streitet nicht. Was
-kommt dabei heraus! &mdash; Wozu sitzen wir, zwei
-Lebendige und ein Toter, nachts um zwei Uhr
-hier auf dem Kirchhof beisammen, wenn wir
-streiten wollen wie Saufbrüder! &mdash; Es soll mir
-ein Vergnügen sein, der Verhandlung mit beiwohnen
-zu dürfen. &mdash; Wenn ihr streiten wollt,
-nehme ich meinen Kopf unter den Arm und
-gehe.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Du bist immer noch derselbe Angstmeier!</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Das Gespenst hat nicht Unrecht. Man soll
-seine Würde nicht außer Acht lassen. &mdash; Unter
-Moral verstehe ich das reelle Produkt zweier
-imaginärer Größen. Die imaginären Größen<span class="pagenum"><a name="Seite_145" id="Seite_145">[145]</a></span>
-sind <em class="gesperrt">Sollen</em> und <em class="gesperrt">Wollen</em>. Das Produkt heißt
-Moral und läßt sich in seiner Realität nicht
-leugnen.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Hätten Sie mir das doch vorher gesagt! &mdash; Meine
-Moral hat mich in den Tod gejagt. Um meiner
-lieben Eltern willen griff ich zum Mordgewehr.
-„Ehre Vater und Mutter, auf daß du lange
-lebest.“ An mir hat sich die Schrift phänomenal
-blamiert.</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Geben Sie sich keinen Illusionen hin, lieber
-Freund! Ihre lieben Eltern wären so wenig
-daran gestorben wie Sie. Rigoros beurteilt
-würden sie ja lediglich aus gesundheitlichem Bedürfnis
-getobt und gewettert haben.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Das mag soweit ganz richtig sein. &mdash; Ich
-kann Ihnen aber mit Bestimmtheit sagen, mein
-Herr, daß, wenn ich Moritz vorhin ohne weiteres
-die Hand gereicht hätte, einzig und allein meine
-Moral die Schuld trüge.</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Dafür bist du eben nicht Moritz!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_146" id="Seite_146">[146]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich glaube doch nicht, daß der Unterschied so
-wesentlich ist &mdash; zum mindesten nicht so zwingend,
-daß Sie nicht auch mir zufällig hätten begegnen
-dürfen, verehrter <em class="gesperrt">Unbekannter</em>, als ich damals,
-das Pistol in der Tasche, durch die Erlenpflanzungen
-trabte.</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Erinnern Sie sich meiner denn nicht? Sie
-standen doch wahrlich auch im letzten Augenblick
-noch zwischen <em class="gesperrt">Tod</em> und <em class="gesperrt">Leben</em>. &mdash; Übrigens ist
-hier meines Erachtens doch wohl nicht ganz der Ort,
-eine so tiefgreifende Debatte in die Länge zu ziehen.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Gewiß, es wird kühl, meine Herren! &mdash; Man hat
-mir zwar meinen Sonntagsanzug angezogen, aber
-ich trage weder Hemd noch Unterhosen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Leb wohl, lieber Moritz. Wo dieser Mensch
-mich hinführt, weiß ich nicht. Aber er ist ein
-Mensch&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Laß mich′s nicht entgelten, Melchior, daß ich
-dich umzubringen suchte! Es war alte Anhänglichkeit.
-&mdash; Zeitlebens wollte ich nur klagen und
-jammern dürfen, wenn ich dich nun noch einmal
-hinausbegleiten könnte!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_147" id="Seite_147">[147]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Schließlich hat Jeder sein Teil &mdash; <em class="gesperrt">Sie</em> das
-beruhigende Bewußtsein, <em class="gesperrt">nichts</em> zu haben &mdash; <em class="gesperrt">du</em>
-den enervirenden Zweifel an <em class="gesperrt">allem</em>. &mdash; Leben
-Sie wohl.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Leb wohl, Moritz! Nimm meinen herzlichen
-Dank dafür, daß du mir noch erschienen. Wie manchen
-frohen ungetrübten Tag wir nicht miteinander
-verlebt haben in den vierzehn Jahren! Ich
-verspreche dir, Moritz, mag nun werden was
-will, mag ich in den kommenden Jahren
-zehnmal ein Anderer werden, mag es aufwärts
-oder abwärts mit mir gehn, dich werde ich nie
-vergessen&nbsp;...</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Dank, dank, Geliebter.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>...&nbsp;und wenn ich einmal ein alter Mann in
-grauen Haaren bin, dann stehst gerade du mir
-vielleicht wieder näher als alle Mitlebenden.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich danke dir. &mdash; Glück auf den Weg, meine
-Herren! &mdash; Lassen Sie sich nicht länger aufhalten.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_148" id="Seite_148">[148]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Komm, Kind! &mdash; <span class="regie">(Er legt seinen Arm in denjenigen
-Melchiors und entfernt sich mit ihm über die
-Gräber hin.)</span></p>
-
-<p class="sprecher">Moritz <span class="regie">(allein)</span></p>
-
-<p>&mdash; Da sitze ich nun mit meinem Kopf im
-Arm. &mdash; &mdash; Der Mond verhüllt sein Gesicht,
-entschleiert sich wieder und sieht um kein Haar
-gescheiter aus. &mdash; &mdash; So kehre ich denn zu
-meinem Plätzchen zurück, richte mein Kreuz auf,
-das mir der Tollkopf so rücksichtslos niedergestampft,
-und wenn alles in Ordnung, leg′ ich
-mich wieder auf den Rücken, wärme mich an
-der Verwesung und lächle&nbsp;...</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_150" id="Seite_150">[150]</a></span></p>
-
-
-
-<p class="center p6" style="page-break-before: always">Albert Langen Verlag für Litteratur u. Kunst München</p>
-
-<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p>
-<p class="werke-titel">Der Liebestrank</p>
-<p class="werke-untertitel">Schwank in drei Aufzügen</p>
-<p class="center">Geheftet 2 Mark</p>
-
-<p style="text-indent: 0; font-weight: bold">Die Nation:</p>
-
-<p>Der Autor gehört zu den außer der Reihe stehenden,
-lebhaften und kraftgenialischen Geistern, deren unsere
-Literatur manche hat, bei keinem kunstverständigen Beurteiler
-wird er darum als Poseur, bei niemanden seine
-Art als gemacht, manieriert und eingelernt erscheinen.
-Vielmehr ist er voll einer absonderlichen, wunderlichen
-Eigenart, eine <em class="gesperrt">Natur</em>, wenn man dies Wort auch einmal
-auf einen Sprung, eine Laune, eine Bizarrerie anwenden
-darf. Für die Kunst ist er voll Bedeutung, Anregung
-und Reiz&nbsp;...</p>
-
-
-<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p>
-<p class="werke-titel">Die junge Welt</p>
-<p class="werke-untertitel">Komödie in drei Aufzügen</p>
-<p class="center">Geheftet 2 Mark</p>
-
-<p style="text-indent: 0; font-weight: bold">Die Gesellschaft:</p>
-
-<p>„<em class="gesperrt">Die junge Welt</em>“ ist das bühnengerechteste von
-Wedekinds Dramen. Junge Mädchen geben sich in der
-Pension das Versprechen des Cölibats; natürlich hält es
-keine. Die Komödie erzählt das mit einem fast liebenswürdigen
-Humor und mit all der Menschenkenntnis und
-treffsicheren Charakterkunst dieses eigenartigsten unter
-den Dichtern von heute. Erzählen läßt sich das nicht,
-auch nicht beschreiben. Aber es ist sehr lustig. Es ist
-ein wildes Durcheinander von übermütigen Einfällen,
-tollen Gliederverrenkungen in der Charakteristik, Karikaturen,
-die wie Porträts aussehen &mdash; kurz, ein Lachkabinett,
-aber ganz neuer Art.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_151" id="Seite_151">[151]</a></span></p>
-
-<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p>
-<p class="werke-titel">Marquis von Keith</p>
-<p class="werke-untertitel"><b>(Münchener Szenen)</b></p>
-<p class="werke-untertitel">Schauspiel in fünf Aufzügen</p>
-<p class="center">Geheftet 2 Mark 50 Pf.</p>
-<p class="center">Elegant gebunden 3 Mark 50 Pf.</p>
-
-<p style="text-indent: 0; font-weight: bold">Die Nation:</p>
-
-<p>Wedekind hat die irdische Unbekümmertheit, das
-Freisein von zeitlicher Satzung. Er steht außerhalb der
-Gesellschaft, fast außerhalb der Welt. Ich sagte das
-hier vor einem Jahr und muß es verstärken. Er ist
-mit seinen Lebensinhalten einer der tiefsten Humoristen,
-die sich heut irgendwo betätigen.</p>
-
-<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p>
-<p class="werke-titel">Der Kammersänger</p>
-<p class="werke-untertitel">Drei Szenen</p>
-<p class="center"><b>Fünftes Tausend</b></p>
-<p class="center">Geheftet 1 Mark</p>
-<p class="center">Elegant gebunden 2 Mark</p>
-
-<p style="text-indent: 0; font-weight: bold">Brünner Sonntagszeitung:</p>
-
-<p>Von groteskem, überlebensgroßem Humor und
-geißelnder Satire und Ironie sind die unter dem Titel
-„<em class="gesperrt">Der Kammersänger</em>“ (A. Langen) vereinigten Szenen
-von Frank Wedekind erfüllt. Gut dargestellt müßten
-diese ohne jedwede Komposition aneinander gereihten
-Szenen von mächtiger Wirkung sein. Schon in der
-Lektüre wirkt das Werk ganz eigentümlich. Man
-empfindet ähnliches wie beim Betrachten der Zeichnungen
-des dämonischen Th. Th. Heine.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_152" id="Seite_152">[152]</a></span></p>
-
-<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p>
-<p class="werke-titel">Feuerwerk</p>
-<p class="werke-untertitel">Erzählungen</p>
-<p class="center"><b>Drittes Tausend</b></p>
-<p class="center">Preis geheftet 3 Mark</p>
-<p class="center">Elegant gebunden 4 Mark</p>
-
-<p style="text-indent: 0; font-weight: bold">Pfälzische Presse:</p>
-
-<p>...&nbsp;Dabei ist Wedekind im Unterschied von vielen
-jener Dekadenten frisch, nicht ohne Humor, und von
-strotzender Gesundheit in der Art sich zu geben. Meisterstücke
-in ihrer Art sind einige der kleinen Novellen, wie
-„Der Brand von Egliswyl“, „Rabbi Esra“, „Der greise
-Freier“ u. a.</p>
-
-<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p>
-<p class="werke-titel">So ist das Leben</p>
-<p class="werke-untertitel">Schauspiel in fünf Akten</p>
-<p class="center">Preis geheftet 2 Mark</p>
-<p class="center">Elegant gebunden 3 Mark</p>
-
-<p>„<cite class="gesperrt">So ist das Leben</cite>“ behandelt die Schicksale eines
-entthronten Königs, der in die unangenehme Lage kommt,
-sich vor einem bürgerlichen Gericht wegen <em class="gesperrt">Majestätsbeleidigung</em>
-verantworten zu müssen. <b>Die aktuelle
-Frage der Majestätsbeleidigungsprozesse</b> erfährt
-auf diese Weise in dem Drama eine <em class="gesperrt">verblüffend
-vielseitige Beleuchtung</em>.</p>
-
-<p class="center p6"><small>Druck von Hesse &amp; Becker in Leipzig</small></p>
-
-
-
-
-
-
-
-
-<pre>
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Frühlings Erwachen, by Frank Wedekind
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FRÜHLINGS ERWACHEN ***
-
-***** This file should be named 45091-h.htm or 45091-h.zip *****
-This and all associated files of various formats will be found in:
- http://www.gutenberg.org/4/5/0/9/45091/
-
-Produced by Peter Becker, the University of Toronto,
-Marc-Andre Seekamp and the Online Distributed Proofreading
-Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from
-images generously made available by The Internet
-Archive/Canadian Libraries)
-
-
-Updated editions will replace the previous one--the old editions
-will be renamed.
-
-Creating the works from public domain print editions means that no
-one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
-(and you!) can copy and distribute it in the United States without
-permission and without paying copyright royalties. Special rules,
-set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to
-copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to
-protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project
-Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
-charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you
-do not charge anything for copies of this eBook, complying with the
-rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose
-such as creation of derivative works, reports, performances and
-research. They may be modified and printed and given away--you may do
-practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is
-subject to the trademark license, especially commercial
-redistribution.
-
-
-
-*** START: FULL LICENSE ***
-
-THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
-PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK
-
-To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free
-distribution of electronic works, by using or distributing this work
-(or any other work associated in any way with the phrase "Project
-Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project
-Gutenberg-tm License available with this file or online at
- www.gutenberg.org/license.
-
-
-Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm
-electronic works
-
-1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
-electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
-and accept all the terms of this license and intellectual property
-(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
-the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy
-all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession.
-If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project
-Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the
-terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or
-entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8.
-
-1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be
-used on or associated in any way with an electronic work by people who
-agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
-things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
-even without complying with the full terms of this agreement. See
-paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
-Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
-and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
-works. See paragraph 1.E below.
-
-1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
-or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
-Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
-collection are in the public domain in the United States. If an
-individual work is in the public domain in the United States and you are
-located in the United States, we do not claim a right to prevent you from
-copying, distributing, performing, displaying or creating derivative
-works based on the work as long as all references to Project Gutenberg
-are removed. Of course, we hope that you will support the Project
-Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by
-freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of
-this agreement for keeping the Project Gutenberg-tm name associated with
-the work. You can easily comply with the terms of this agreement by
-keeping this work in the same format with its attached full Project
-Gutenberg-tm License when you share it without charge with others.
-
-1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
-what you can do with this work. Copyright laws in most countries are in
-a constant state of change. If you are outside the United States, check
-the laws of your country in addition to the terms of this agreement
-before downloading, copying, displaying, performing, distributing or
-creating derivative works based on this work or any other Project
-Gutenberg-tm work. The Foundation makes no representations concerning
-the copyright status of any work in any country outside the United
-States.
-
-1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:
-
-1.E.1. The following sentence, with active links to, or other immediate
-access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear prominently
-whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work on which the
-phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the phrase "Project
-Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed,
-copied or distributed:
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
-almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
-re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
-with this eBook or online at www.gutenberg.org
-
-1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is derived
-from the public domain (does not contain a notice indicating that it is
-posted with permission of the copyright holder), the work can be copied
-and distributed to anyone in the United States without paying any fees
-or charges. If you are redistributing or providing access to a work
-with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the
-work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1
-through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the
-Project Gutenberg-tm trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or
-1.E.9.
-
-1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
-with the permission of the copyright holder, your use and distribution
-must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional
-terms imposed by the copyright holder. Additional terms will be linked
-to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the
-permission of the copyright holder found at the beginning of this work.
-
-1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
-License terms from this work, or any files containing a part of this
-work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.
-
-1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
-electronic work, or any part of this electronic work, without
-prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
-active links or immediate access to the full terms of the Project
-Gutenberg-tm License.
-
-1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
-compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any
-word processing or hypertext form. However, if you provide access to or
-distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format other than
-"Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official version
-posted on the official Project Gutenberg-tm web site (www.gutenberg.org),
-you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a
-copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon
-request, of the work in its original "Plain Vanilla ASCII" or other
-form. Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm
-License as specified in paragraph 1.E.1.
-
-1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
-performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
-unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.
-
-1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
-access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works provided
-that
-
-- You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
- the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
- you already use to calculate your applicable taxes. The fee is
- owed to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he
- has agreed to donate royalties under this paragraph to the
- Project Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments
- must be paid within 60 days following each date on which you
- prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax
- returns. Royalty payments should be clearly marked as such and
- sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the
- address specified in Section 4, "Information about donations to
- the Project Gutenberg Literary Archive Foundation."
-
-- You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
- you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
- does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
- License. You must require such a user to return or
- destroy all copies of the works possessed in a physical medium
- and discontinue all use of and all access to other copies of
- Project Gutenberg-tm works.
-
-- You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of any
- money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
- electronic work is discovered and reported to you within 90 days
- of receipt of the work.
-
-- You comply with all other terms of this agreement for free
- distribution of Project Gutenberg-tm works.
-
-1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm
-electronic work or group of works on different terms than are set
-forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
-both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
-Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark. Contact the
-Foundation as set forth in Section 3 below.
-
-1.F.
-
-1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
-effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
-public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
-collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic
-works, and the medium on which they may be stored, may contain
-"Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or
-corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual
-property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a
-computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by
-your equipment.
-
-1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
-of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
-Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
-Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
-Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
-liability to you for damages, costs and expenses, including legal
-fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
-LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
-PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
-TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
-LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
-INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
-DAMAGE.
-
-1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
-defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
-receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
-written explanation to the person you received the work from. If you
-received the work on a physical medium, you must return the medium with
-your written explanation. The person or entity that provided you with
-the defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a
-refund. If you received the work electronically, the person or entity
-providing it to you may choose to give you a second opportunity to
-receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy
-is also defective, you may demand a refund in writing without further
-opportunities to fix the problem.
-
-1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
-in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO OTHER
-WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
-WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
-
-1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
-warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
-If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
-law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
-interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
-the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any
-provision of this agreement shall not void the remaining provisions.
-
-1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
-trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
-providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
-with this agreement, and any volunteers associated with the production,
-promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
-harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
-that arise directly or indirectly from any of the following which you do
-or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
-work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
-Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
-
-
-Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
-
-Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
-electronic works in formats readable by the widest variety of computers
-including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
-because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
-people in all walks of life.
-
-Volunteers and financial support to provide volunteers with the
-assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
-goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
-remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
-Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
-and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
-To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
-and the Foundation information page at www.gutenberg.org
-
-
-Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
-Foundation
-
-The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
-501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
-state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
-Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
-number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg
-Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
-permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
-
-The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
-Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
-throughout numerous locations. Its business office is located at 809
-North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email
-contact links and up to date contact information can be found at the
-Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact
-
-For additional contact information:
- Dr. Gregory B. Newby
- Chief Executive and Director
- gbnewby@pglaf.org
-
-Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
-Literary Archive Foundation
-
-Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
-spread public support and donations to carry out its mission of
-increasing the number of public domain and licensed works that can be
-freely distributed in machine readable form accessible by the widest
-array of equipment including outdated equipment. Many small donations
-($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
-status with the IRS.
-
-The Foundation is committed to complying with the laws regulating
-charities and charitable donations in all 50 states of the United
-States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
-considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
-with these requirements. We do not solicit donations in locations
-where we have not received written confirmation of compliance. To
-SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
-particular state visit www.gutenberg.org/donate
-
-While we cannot and do not solicit contributions from states where we
-have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
-against accepting unsolicited donations from donors in such states who
-approach us with offers to donate.
-
-International donations are gratefully accepted, but we cannot make
-any statements concerning tax treatment of donations received from
-outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
-
-Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
-methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
-ways including checks, online payments and credit card donations.
-To donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
-
-
-Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
-works.
-
-Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
-concept of a library of electronic works that could be freely shared
-with anyone. For forty years, he produced and distributed Project
-Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
-
-Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
-editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
-unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
-keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
-
-Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
-
- www.gutenberg.org
-
-This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
-including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
-subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
-
-
-
-</pre>
-
-</body>
-</html>
+<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.0 Strict//EN"
+ "http://www.w3.org/TR/xhtml1/DTD/xhtml1-strict.dtd">
+<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml" xml:lang="de" lang="de">
+ <head>
+ <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html;charset=UTF-8" />
+ <meta http-equiv="Content-Style-Type" content="text/css" />
+ <title>
+ The Project Gutenberg eBook of Frühlings Erwachen, by Frank Wedekind.
+ </title>
+ <link rel="coverpage" href="images/cover.jpg" />
+ <style type="text/css">
+
+body {
+ margin-left: 10%;
+ margin-right: 10%;
+ max-width: 35em;
+}
+
+h1 {
+ text-align: center;
+}
+
+h2 {
+ text-align: center;
+ margin-top: 3em;
+}
+
+h3 {
+ text-align: center;
+ margin-top: 2em;
+}
+
+p {
+ text-indent: 1.5em;
+ margin-top: 0;
+ text-align: justify;
+ margin-bottom: 0;
+}
+
+.sprecher {
+ text-indent: 0;
+ text-align: center;
+ font-weight: bold;
+ margin-top: 1em;
+ margin-bottom: .25em;
+ page-break-after: avoid;
+}
+
+.regie {
+ text-indent: 0;
+ text-align: center;
+ font-weight: normal;
+ margin-top: .25em;
+ margin-bottom: .25em;
+ font-size: smaller;
+ page-break-after: avoid;
+}
+
+.infoseite {
+ page-break-before: always;
+ margin-top: 4em;
+ margin-bottom: 4em;
+}
+
+.werke-autor {
+ text-align: center;
+ text-indent: 0;
+ font-size: x-large;
+ font-weight: bold;
+ margin-top: 1em;
+}
+
+.werke-titel {
+ text-align: center;
+ text-indent: 0;
+ font-size: xx-large;
+ font-weight: bold;
+}
+
+.werke-untertitel {
+ text-align: center;
+ text-indent: 0;
+ font-size: large;
+ margin-top: 0.2em;
+ margin-bottom: 0.2em;
+}
+
+.p2 {margin-top: 2em;}
+.p6 {margin-top: 6em;}
+
+table {
+ margin-left: auto;
+ margin-right: auto;
+ margin-top: 1em;
+ margin-bottom: 1em;
+}
+
+.tdr {
+ text-align: right;
+}
+
+.pagenum {
+ position: absolute;
+ left: 92%;
+ font-size: smaller;
+ text-align: right;
+}
+
+.center {
+ text-align: center;
+ text-indent: 0;
+}
+
+.right {
+ text-align: right;
+}
+
+.antiqua {
+}
+
+.gesperrt {
+ letter-spacing: 0.2em;
+ margin-right: -0.1em;
+}
+
+em.gesperrt {
+ font-style: normal;
+}
+
+i.gesperrt {
+ font-style: normal;
+}
+
+cite.gesperrt {
+ font-style: normal;
+}
+
+.caption {
+ font-size: x-large;
+ font-weight: bold;
+ text-align: center;
+ text-indent: 0;
+ margin-top: 1em;
+ margin-bottom: 1em;
+}
+
+.figcenter {
+ margin: auto;
+ text-align: center;
+}
+
+@media handheld {
+
+ gesperrt {
+ letter-spacing: 0;
+ margin-right: 0;
+ font-style: italic;
+ }
+
+ em.gesperrt {
+ letter-spacing: 0;
+ margin-right: 0;
+ font-style: italic;
+ }
+
+ i.gesperrt {
+ letter-spacing: 0;
+ margin-right: 0;
+ font-style: italic;
+ }
+
+ cite.gesperrt {
+ letter-spacing: 0;
+ margin-right: 0;
+ font-style: italic;
+ }
+}
+ </style>
+ </head>
+<body>
+<div>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 45091 ***</div>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_1" id="Seite_1">[1]</a></span></p>
+
+<h1>Frühlings Erwachen</h1>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_2" id="Seite_2">[2]</a></span></p>
+
+<div class="infoseite">
+<p class="center p2">
+Übersetzungs- und Aufführungsrecht vorbehalten. Nachdruck verboten</p>
+<p class="center p2">Den Bühnen und Vereinen gegenüber Manuskript</p>
+<p class="center p2">Das Aufführungsrecht ist ausschließlich zu erwerben
+durch <i class="gesperrt">Albert Langen</i>, Verlag und Bühnenvertrieb,
+München</p>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_3" id="Seite_3">[3]</a></span></p>
+
+<div class="infoseite">
+<p class="caption"><small>Frank Wedekind</small></p>
+<p class="caption">Frühlings Erwachen</p>
+<p class="center">Eine Kindertragödie</p>
+<p class="center p2">Elfte bis fünfzehnte Auflage</p>
+
+<div class="figcenter">
+ <a name="verlag" id="verlag"><img src="images/verlag.jpg" width="250" height="227" alt="Verlagslogo" /></a>
+</div>
+
+<p class="center">Albert Langen<br />
+Verlag für Litteratur und Kunst<br />
+München 1907</p>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_4" id="Seite_4">[4]</a></span></p>
+
+<div class="infoseite">
+<p>Von <i class="gesperrt">Frank Wedekind</i> erschienen im Verlage
+von Albert Langen:</p>
+
+<table summary="Werke von Frank Wedekind">
+<tbody>
+
+<tr><td><i class="gesperrt">Erdgeist</i> Tragödie</td><td class="tdr">3. Auflage</td></tr>
+<tr><td><i class="gesperrt">Die Fürstin Russalka</i> Novellen &mdash; Gedichte &mdash; Theater</td><td class="tdr">Vergriffen</td></tr>
+<tr><td><i class="gesperrt">Der Kammersänger</i> Drei Szenen</td><td class="tdr">5. Auflage</td></tr>
+<tr><td><i class="gesperrt">Der Liebestrank</i> Schwank</td><td class="tdr"></td></tr>
+<tr><td><i class="gesperrt">Die junge Welt</i> Komödie</td><td class="tdr"></td></tr>
+<tr><td><i class="gesperrt">Marquis von Keith</i> Schauspiel</td><td class="tdr"></td></tr>
+<tr><td><i class="gesperrt">So ist das Leben</i> Schauspiel</td><td class="tdr"></td></tr>
+<tr><td><i class="gesperrt">Frühlings Erwachen</i> Eine Kindertragödie</td><td class="tdr">15. Auflage</td></tr>
+<tr><td><i class="gesperrt">Mine-Haha</i> oder über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen</td><td class="tdr">5. Tausend</td></tr>
+<tr><td><i class="gesperrt">Die vier Jahreszeiten</i> Gedichte</td><td class="tdr">2. Tausend</td></tr>
+<tr><td><i class="gesperrt">Feuerwerk</i> Erzählungen</td><td class="tdr">3. Tausend</td></tr>
+<tr><td><i class="gesperrt">Totentanz</i> Drei Szenen</td><td class="tdr">4. Tausend</td></tr>
+</tbody>
+</table>
+
+</div>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_5" id="Seite_5">[5]</a></span></p>
+
+<div class="infoseite">
+<p class="caption">Dem vermummten Herrn</p>
+<p class="right" style="font-size: large">der Verfasser</p>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_7" id="Seite_7">[7]</a></span></p>
+
+<h2><a name="Erster_Akt" id="Erster_Akt"></a>Erster Akt</h2>
+<h3>Erste Szene</h3>
+
+<p class="regie">Wohnzimmer</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Warum hast du mir das Kleid so lang gemacht,
+Mutter?</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Du wirst vierzehn Jahr heute!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Hätt′ ich gewußt, daß du mir das Kleid so
+lang machen werdest, ich wäre lieber nicht vierzehn
+geworden.</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Das Kleid ist nicht zu lang, Wendla. Was
+willst du denn! Kann ich dafür, daß mein Kind
+mit jedem Frühjahr wieder zwei Zoll größer ist.
+Du darfst doch als ausgewachsenes Mädchen
+nicht in Prinzeßkleidchen einhergehen.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Jedenfalls steht mir mein Prinzeßkleidchen
+besser als diese Nachtschlumpe. &mdash; Laß mich′s
+noch einmal tragen, Mutter! Nur noch den<span class="pagenum"><a name="Seite_8" id="Seite_8">[8]</a></span>
+Sommer lang. Ob ich nun vierzehn zähle oder
+fünfzehn, dies Bußgewand wird mir immer noch
+recht sein. &mdash; Heben wir′s auf bis zu meinem
+nächsten Geburtstag; jetzt würd′ ich doch nur die
+Litze heruntertreten.</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich
+würde dich ja gerne so behalten, Kind, wie du
+gerade bist. Andere Mädchen sind stakig und
+plump in deinem Alter. Du bist das Gegenteil.
+&mdash; Wer weiß, wie du sein wirst, wenn sich die
+andern entwickelt haben.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Wer weiß &mdash; vielleicht werde ich nicht
+mehr sein.</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Kind, Kind, wie kommst du auf die Gedanken!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Nicht, liebe Mutter; nicht traurig sein!</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann <span class="regie">(sie küssend)</span></p>
+
+<p>Mein einziges Herzblatt!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Sie kommen mir so des abends, wenn ich
+nicht einschlafe. Mir ist gar nicht traurig dabei, und
+ich weiß, daß ich dann um so besser schlafe. &mdash;
+Ist es sündhaft, Mutter, über derlei zu sinnen?</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_9" id="Seite_9">[9]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Geh′ denn und häng′ das Bußgewand in
+den Schrank! Zieh′ in Gottes Namen dein
+Prinzeßkleidchen wieder an! &mdash; Ich werde dir
+gelegentlich eine Handbreit Volants unten ansetzen.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p class="regie">(das Kleid in Schrank hängend)</p>
+
+<p>Nein, da möcht′ ich schon lieber gleich vollends zwanzig
+sein&nbsp;...!</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Wenn du nur nicht zu kalt hast! &mdash; Das
+Kleidchen war dir ja seinerzeit reichlich lang; aber&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Jetzt, wo der Sommer kommt? &mdash; O Mutter,
+in den Kniekehlen bekommt man auch als Kind
+keine Diphtheritis! Wer wird so kleinmütig sein.
+In meinen Jahren friert man noch nicht &mdash; am
+wenigsten an die Beine. Wär′s etwa besser,
+wenn ich zu heiß hätte, Mutter? &mdash; Dank′ es
+dem lieben Gott, wenn sich dein Herzblatt nicht
+eines morgens die Ärmel wegstutzt und dir so
+zwischen Licht abends ohne Schuhe und Strümpfe
+entgegentritt! &mdash; Wenn ich mein Bußgewand
+trage, kleide ich mich darunter wie eine Elfenkönigin&nbsp;...
+Nicht schelten, Mütterchen! Es
+sieht′s dann ja niemand mehr.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_10" id="Seite_10">[10]</a></span></p>
+
+
+<h3>Zweite Szene</h3>
+
+<p class="regie"><i class="gesperrt">Sonntag abend</i></p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Das ist mir zu langweilig. Ich mache nicht
+mehr mit.</p>
+
+<p class="sprecher">Otto</p>
+
+<p>Dann können wir andern nur auch aufhören!
+&mdash; Hast du die Arbeiten, Melchior?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Spielt ihr nur weiter!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Wohin gehst du?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Spazieren.</p>
+
+<p class="sprecher">Georg</p>
+
+<p>Es wird ja dunkel!</p>
+
+<p class="sprecher">Robert</p>
+
+<p>Hast du die Arbeiten schon?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Warum soll ich denn nicht im Dunkeln
+spazieren gehn?</p>
+
+<p class="sprecher">Ernst</p>
+
+<p>Zentralamerika! &mdash; Ludwig der Fünfzehnte! &mdash;
+Sechzig Verse Homer! &mdash; Sieben Gleichungen!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Verdammte Arbeiten!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_11" id="Seite_11">[11]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Georg</p>
+
+<p>Wenn nur wenigstens der lateinische Aufsatz
+nicht auf morgen wäre!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>An nichts kann man denken, ohne daß einem
+Arbeiten dazwischen kommen!</p>
+
+<p class="sprecher">Otto</p>
+
+<p>Ich gehe nach Hause.</p>
+
+<p class="sprecher">Georg</p>
+
+<p>Ich auch, Arbeiten machen.</p>
+
+<p class="sprecher">Ernst</p>
+
+<p>Ich auch, ich auch.</p>
+
+<p class="sprecher">Robert</p>
+
+<p>Gute Nacht, Melchior.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Schlaft wohl!</p>
+
+<p class="regie">(Alle entfernen sich bis auf Moritz und Melchior.)</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Möchte doch wissen, wozu wir eigentlich auf
+der Welt sind!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Lieber wollt′ ich ein Droschkengaul sein um
+der Schule willen! &mdash; Wozu gehen wir in die
+Schule? &mdash; Wir gehen in die Schule, damit man
+uns examinieren kann! &mdash; Und wozu examiniert
+man uns? &mdash; Damit wir durchfallen. &mdash; Sieben<span class="pagenum"><a name="Seite_12" id="Seite_12">[12]</a></span>
+müssen ja durchfallen, schon weil das Klassenzimmer
+oben nur sechzig faßt. &mdash; Mir ist so
+eigentümlich seit Weihnachten ... hol′ mich der
+Teufel, wäre Papa nicht, heut′ noch schnürt′ ich
+mein Bündel und ginge nach Altona!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Reden wir von etwas anderem. &mdash;</p>
+
+<p class="regie">(Sie gehen spazieren.)</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Siehst du die schwarze Katze dort mit dem
+emporgereckten Schweif?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Glaubst du an Vorbedeutungen?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Ich weiß nicht recht. &mdash; &mdash; Sie kam von
+drüben her. Es hat nichts zu sagen.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich glaube, das ist eine Charybdis, in die
+jeder stürzt, der sich aus der Skylla religiösen
+Irrwahns emporgerungen. &mdash; &mdash; Laß uns hier
+unter der Buche Platz nehmen. Der Tauwind
+fegt über die Berge. Jetzt möchte ich droben
+im Wald eine junge Dryade sein, die sich die
+ganze lange Nacht in den höchsten Wipfeln
+wiegen und schaukeln läßt....</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_13" id="Seite_13">[13]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Knöpf′ dir die Weste auf, Melchior!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ha &mdash; wie das einem die Kleider bläht!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Es wird weiß Gott so stockfinster, daß man
+die Hand nicht vor den Augen sieht. Wo bist
+du eigentlich? &mdash; &mdash; Glaubst du nicht auch,
+Melchior, daß das Schamgefühl im Menschen
+nur ein Produkt seiner Erziehung ist?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Darüber habe ich erst vorgestern noch nachgedacht.
+Es scheint mir immerhin tief eingewurzelt
+in der menschlichen Natur. Denke dir,
+du solltest dich vollständig entkleiden vor deinem
+besten Freund. Du wirst es nicht tun, wenn er
+es nicht zugleich auch tut. &mdash; Es ist eben auch
+mehr oder weniger Modesache.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Ich habe mir schon gedacht, wenn ich Kinder
+habe, Knaben und Mädchen, so lasse ich sie von
+früh auf im nämlichen Gemach, wenn möglich
+auf ein und demselben Lager, zusammenschlafen,
+lasse sie morgens und abends beim An- und
+Auskleiden einander behilflich sein und in der
+heißen Jahreszeit, die Knaben sowohl wie die<span class="pagenum"><a name="Seite_14" id="Seite_14">[14]</a></span>
+Mädchen, tagsüber nichts als eine kurze, mit
+einem Lederriemen gegürtete Tunika aus weißem
+Wollstoff tragen. &mdash; Mir ist, sie müßten, wenn
+sie so heranwachsen, später ruhiger sein, als wir
+es in der Regel sind.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Das glaube ich entschieden, Moritz! &mdash; Die
+Frage ist nur, wenn die Mädchen Kinder bekommen,
+was dann?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Wie so Kinder bekommen?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich glaube in dieser Hinsicht nämlich an einen
+gewissen Instinkt. Ich glaube, wenn man einen
+Kater zum Beispiel mit einer Katze von Jugend
+auf zusammensperrt und beide von jedem Verkehr
+mit der Außenwelt fernhält, d. h. sie ganz nur
+ihren eigenen Trieben überläßt &mdash; daß die Katze
+früher oder später doch einmal trächtig wird,
+obgleich sie sowohl wie der Kater niemand hatten,
+dessen Beispiel ihnen hätte die Augen öffnen können.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Bei Tieren muß sich das ja schließlich von
+selbst ergeben.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Bei Menschen glaube ich erst recht! Ich<span class="pagenum"><a name="Seite_15" id="Seite_15">[15]</a></span>
+bitte dich, Moritz, wenn deine Knaben mit den
+Mädchen auf ein und demselben Lager schlafen
+und es kommen ihnen nun unversehens die ersten
+männlichen Regungen &mdash; ich möchte mit jedermann
+eine Wette eingehen....</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Darin magst du ja recht haben. &mdash; Aber
+immerhin&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Und bei deinen Mädchen wäre es im entsprechenden
+Alter vollkommen das nämliche! Nicht
+daß das Mädchen gerade ... man kann das ja
+freilich so genau nicht beurteilen ... jedenfalls
+wäre vorauszusetzen ...... und die Neugierde
+würde das Ihrige zu tun auch nicht verabsäumen!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Eine Frage beiläufig &mdash;</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Nun?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Aber du antwortest?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Natürlich!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Wahr?!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Meine Hand darauf. &mdash; &mdash; Nun, Moritz?</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_16" id="Seite_16">[16]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Hast du den Aufsatz schon??</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>So sprich doch frisch von der Leber weg! &mdash;
+Hier hört und sieht uns ja niemand.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Selbstverständlich müßten meine Kinder nämlich
+tagsüber arbeiten, in Hof und Garten, oder
+sich durch Spiele zerstreuen, die mit körperlicher
+Anstrengung verbunden sind. Sie müßten reiten,
+turnen, klettern und vor allen Dingen nachts
+nicht so weich schlafen wie wir. Wir sind schrecklich
+verweichlicht. &mdash; Ich glaube, man träumt
+gar nicht, wenn man hart schläft.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich schlafe von jetzt bis nach der Weinlese
+überhaupt nur in meiner Hängematte. Ich habe
+mein Bett hinter den Ofen gestellt. Es ist zum
+Zusammenklappen. &mdash; Vergangenen Winter träumte
+mir einmal, ich hätte unsern Lolo so lange gepeitscht,
+bis er kein Glied mehr rührte. Das
+war das Grauenhafteste, was ich je geträumt
+habe. &mdash; Was siehst du mich so sonderbar an?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Hast du sie schon empfunden?</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_17" id="Seite_17">[17]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Was?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Wie sagtest du?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Männliche Regungen?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>M&mdash;hm.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>&mdash; Allerdings!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Ich auch. &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash;
+&mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich kenne das nämlich schon lange! &mdash; schon
+bald ein Jahr.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Ich war wie vom Blitz gerührt.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Du hattest geträumt?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Aber nur ganz kurz ....... von Beinen
+im himmelblauem Trikot, die über das Katheder
+steigen &mdash; um aufrichtig zu sein, ich dachte, sie
+wollten hinüber. &mdash; Ich habe sie nur flüchtig
+gesehen.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Georg Zirschnitz träumte von seiner <em class="gesperrt">Mutter</em>.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_18" id="Seite_18">[18]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Hat er dir das erzählt?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Draußen am Galgensteg!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Wenn du wüßtest, was ich ausgestanden seit
+jener Nacht!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Gewissensbisse?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Gewissensbisse?? &mdash; &mdash; &mdash; <em class="gesperrt">Todesangst</em>!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Herrgott&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Ich hielt mich für unheilbar. Ich glaubte,
+ich litte an einem inneren Schaden. &mdash; Schließlich
+wurde ich nur dadurch wieder ruhiger, daß ich
+meine Lebenserinnerungen aufzuzeichnen begann.
+Ja ja, lieber Melchior, die letzten drei Wochen
+waren ein Gethsemane für mich.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich war seinerzeit mehr oder weniger darauf
+gefaßt gewesen. Ich schämte mich ein wenig. &mdash;
+Das war aber auch alles.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Und dabei bist du noch fast um ein ganzes
+Jahr jünger als ich!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_19" id="Seite_19">[19]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Darüber, Moritz, würd′ ich mir keine Gedanken
+machen. All′ meinen Erfahrungen nach
+besteht für das erste Auftauchen dieser Phantome
+keine bestimmte Altersstufe. Kennst du den großen
+Lämmermeier mit dem strohgelben Haar und der
+Adlernase? Drei Jahre ist der älter als ich.
+Hänschen Rilow sagt, der träume noch bis heute
+von nichts als Sandtorten und Aprikosengelee.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Ich bitte dich, wie kann Hänschen Rilow
+darüber urteilen!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Er hat ihn gefragt.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Er hat ihn gefragt? &mdash; Ich hätte mich nicht
+getraut, jemanden zu fragen.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Du hast mich doch auch gefragt.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Weiß Gott ja! &mdash; Möglicherweise hatte
+Hänschen auch schon sein Testament gemacht. &mdash;
+Wahrlich ein sonderbares Spiel, das man mit
+uns treibt. Und dafür sollen wir uns dankbar
+erweisen! Ich erinnere mich nicht, je eine Sehnsucht
+nach dieser Art Aufregungen verspürt zu<span class="pagenum"><a name="Seite_20" id="Seite_20">[20]</a></span>
+haben. Warum hat man mich nicht ruhig schlafen
+lassen, bis alles wieder still gewesen wäre. Meine
+lieben Eltern hätten hundert bessere Kinder haben
+können. So bin ich nun hergekommen, ich weiß
+nicht wie, und soll mich dafür verantworten, daß
+ich nicht weggeblieben bin. &mdash; Hast du nicht auch
+schon darüber nachgedacht, Melchior, auf welche
+Art und Weise wir eigentlich in diesen Strudel
+hineingeraten?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Du weißt das also noch nicht, Moritz?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Wie sollt′ ich es wissen? &mdash; Ich sehe, wie
+die Hühner Eier legen, und höre, daß mich Mama
+unter dem Herzen getragen haben will. Aber
+genügt denn das? &mdash; Ich erinnere mich auch,
+als fünfjähriges Kind schon befangen worden zu
+sein, wenn einer die dekolletierte Coeurdame aufschlug.
+Dieses Gefühl hat sich verloren. Indessen
+kann ich heute kaum mehr mit irgend
+einem Mädchen sprechen, ohne etwas Verabscheuenswürdiges
+dabei zu denken, und &mdash; ich
+schwöre dir, Melchior &mdash; ich weiß nicht <em class="gesperrt">was</em>.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich sage dir alles. &mdash; Ich habe es teils aus
+Büchern, teils aus Illustrationen, teils aus Beobachtungen<span class="pagenum"><a name="Seite_21" id="Seite_21">[21]</a></span>
+in der Natur. Du wirst überrascht
+sein; ich wurde seinerzeit Atheist. Ich habe es
+auch Georg Zirschnitz gesagt! Georg Zirschnitz
+wollte es Hänschen Rilow sagen, aber Hänschen
+Rilow hatte als Kind schon alles von seiner
+Gouvernante erfahren.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Ich habe den <em class="gesperrt">Kleinen Meyer</em> von A bis
+Z durchgenommen. Worte &mdash; nichts als Worte
+und Worte! Nicht eine einzige schlichte Erklärung.
+O dieses Schamgefühl! &mdash; Was soll mir ein
+Konversationslexikon, das auf die nächstliegende
+Lebensfrage nicht antwortet.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Hast du schon einmal zwei Hunde über die
+Straße laufen sehen?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Nein! &mdash; &mdash; Sag mir heute lieber noch nichts,
+Melchior. Ich habe noch Mittelamerika und
+Ludwig den Fünfzehnten vor mir. Dazu die
+sechzig Verse Homer, die sieben Gleichungen, der
+lateinische Aufsatz &mdash; ich würde morgen wieder
+überall abblitzen. Um mit Erfolg büffeln zu
+können, muß ich stumpfsinnig wie ein Ochse sein.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Komm doch mit auf mein Zimmer. In<span class="pagenum"><a name="Seite_22" id="Seite_22">[22]</a></span>
+dreiviertel Stunden habe ich den Homer, die
+Gleichungen und <em class="gesperrt">zwei</em> Aufsätze. Ich korrigiere
+dir einige harmlose Schnitzer hinein, so ist die
+Sache im Blei. Mama braut uns wieder eine
+Limonade, und wir plaudern gemütlich über die
+Fortpflanzung.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Ich kann nicht. &mdash; Ich kann nicht gemütlich
+über die Fortpflanzung plaudern! Wenn du mir
+einen Gefallen tun willst, dann gib mir deine
+Unterweisungen schriftlich. Schreib mir auf, was
+du weißt. Schreib es möglichst kurz und klar
+und steck es mir morgen während der Turnstunde
+zwischen die Bücher. Ich werde es nach Hause
+tragen, ohne zu wissen, daß ich es habe. Ich
+werde es unverhofft einmal wiederfinden. Ich
+werde nicht umhin können, es müden Auges zu
+durchfliegen ... falls es unumgänglich notwendig
+ist, magst du ja auch einzelne Randzeichnungen
+anbringen.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Du bist wie ein Mädchen. &mdash; Übrigens wie
+du willst! Es ist mir das eine ganz interessante
+Arbeit. &mdash; &mdash; Eine Frage, Moritz.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Hm?</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_23" id="Seite_23">[23]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>&mdash; Hast du schon einmal ein Mädchen gesehen?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Ja!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Aber ganz?!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Vollständig</em>!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich nämlich auch! &mdash; Dann werden keine
+Illustrationen nötig sein.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Während des Schützenfestes, in Leilichs anatomischem
+Museum! Wenn es aufgekommen
+wäre, hätte man mich aus der Schule gejagt.
+&mdash; Schön wie der lichte Tag, und &mdash; o so
+naturgetreu!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich war letzten Sommer mit Mama in Frankfurt
+&mdash; &mdash; Du willst schon gehen, Moritz?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Arbeiten machen. &mdash; Gute Nacht.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Auf Wiedersehen.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_24" id="Seite_24">[24]</a></span></p>
+
+
+<h3>Dritte Szene</h3>
+
+<p class="regie"><i class="gesperrt">Thea</i>, <i class="gesperrt">Wendla</i> und <i class="gesperrt">Martha</i> kommen Arm in Arm
+die <i class="gesperrt">Straße</i> herauf</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Wie einem das Wasser ins Schuhwerk dringt!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Wie einem der Wind um die Wangen saust!</p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>Wie einem das Herz hämmert!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Geh′n wir zur Brücke hinaus! Ilse sagte
+der Fluß führe Sträucher und Bäume. Die
+Jungens haben ein Floß auf dem Wasser. Melchi
+Gabor soll gestern abend beinah ertrunken sein.</p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>O der kann schwimmen!</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Das will ich meinen, Kind!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Wenn er nicht hätte schwimmen können, wäre
+er wohl sicher ertrunken!</p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>Dein Zopf geht auf, Martha; dein Zopf
+geht auf!</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Puh &mdash; laß ihn aufgehn! Er ärgert mich<span class="pagenum"><a name="Seite_25" id="Seite_25">[25]</a></span>
+so Tag und Nacht. Kurze Haare tragen wie
+du darf ich nicht, das Haar offen tragen wie
+Wendla darf ich nicht, Ponyhaare tragen darf
+ich nicht, und zu Hause muß ich mir gar die
+Frisur machen &mdash; alles der Tanten wegen!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Ich bringe morgen eine Schere mit in die
+Religionsstunde. Während du „Wohl dem, der
+nicht wandelt“ rezitierst, werd′ ich ihn abschneiden.</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Um Gotteswillen, Wendla! Papa schlägt
+mich krumm, und Mama sperrt mich drei Nächte
+ins Kohlenloch.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Womit schlägt er dich, Martha?</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Manchmal ist es mir, es müßte ihnen doch
+etwas abgehen, wenn sie keinen so schlechtgearteten
+Balg hätten wie ich.</p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>Aber Mädchen!</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Hast du dir nicht auch ein himmelblaues
+Band durch die Hemdpasse ziehen dürfen?</p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>Rosa Atlas! Mama behauptet, Rosa stehe
+mir bei meinen pechschwarzen Augen.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_26" id="Seite_26">[26]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Mir stand Blau reizend! &mdash; Mama riß mich
+am Zopf zum Bett heraus. So &mdash; fiel ich mit
+den Händen voraus auf die Diele. &mdash; Mama
+betet nämlich Abend für Abend mit uns....</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Ich an deiner Stelle wäre ihnen längst in
+die Welt hinausgelaufen.</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>...&nbsp;Da habe man′s, worauf ich ausgehe! &mdash;
+Da habe man′s ja! &mdash; Aber sie wolle schon sehen &mdash;
+o sie wolle noch sehen! &mdash; Meiner Mutter
+wenigstens solle ich einmal keine Vorwürfe machen
+können....</p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>Hu &mdash; Hu &mdash;</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Kannst du dir denken, Thea, was Mama
+damit meinte?</p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>Ich nicht. &mdash; Du, Wendla?</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Ich hätte sie einfach gefragt.</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Ich lag auf der Erde und schrie und heulte.
+Da kommt Papa. Ritsch &mdash; das Hemd herunter.<span class="pagenum"><a name="Seite_27" id="Seite_27">[27]</a></span>
+Ich zur Türe hinaus. Da habe man′s! Ich
+wolle nun wohl so auf die Straße hinunter....</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Das ist doch gar nicht wahr, Martha.</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Ich fror. Ich schloß auf. Ich habe die
+ganze Nacht im Sack schlafen müssen.</p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>Ich könnte meiner Lebtag in keinem Sack
+schlafen!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Ich möchte ganz gern mal für dich in deinem
+Sack schlafen.</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Wenn man nur nicht geschlagen wird.</p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>Aber man erstickt doch darin!</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Der Kopf bleibt frei. Unter dem Kinn wird
+zugebunden.</p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>Und dann schlagen sie dich?</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Nein. Nur wenn etwas Besonderes vorliegt.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Womit schlägt man dich, Martha?</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_28" id="Seite_28">[28]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Ach was &mdash; mit allerhand. &mdash; Hält es deine
+Mutter auch für unanständig, im Bett ein Stück
+Brot zu essen?</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Nein, nein.</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Ich glaube immer, sie haben doch ihre Freude
+&mdash; wenn sie auch nichts davon sagen. &mdash; Wenn
+ich einmal Kinder habe, ich lasse sie aufwachsen
+wie das Unkraut in unserem Blumengarten. Um
+das kümmert sich niemand, und es steht so hoch,
+so dicht &mdash; während die Rosen in den Beeten
+an ihren Stöcken mit jedem Sommer kümmerlicher
+blühn.</p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>Wenn ich Kinder habe, kleid′ ich sie ganz in
+Rosa. Rosahüte, Rosakleidchen, Rosaschuhe. Nur
+die Strümpfe &mdash; die Strümpfe schwarz wie die
+Nacht! Wenn ich dann spazieren gehe, laß ich
+sie vor mir hermarschieren. &mdash; Und du, Wendla?</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Wißt ihr denn, ob ihr welche bekommt?</p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>Warum sollten wir keine bekommen?</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Tante Euphemia hat allerdings auch keine.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_29" id="Seite_29">[29]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>Gänschen! &mdash; weil sie nicht <em class="gesperrt">verheiratet</em> ist.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Tante Bauer war dreimal verheiratet und
+hat nicht ein einziges.</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>&mdash; Wenn du welche bekommst, Wendla, was
+möchtest du lieber, Knaben oder Mädchen?</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Jungens! Jungens!</p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>Ich auch Jungens!</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Ich auch. Lieber zwanzig Jungens als drei
+Mädchen.</p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>Mädchen sind langweilig!</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Wenn ich nicht schon ein Mädchen geworden
+wäre, ich würde es heute gewiß nicht mehr.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Das ist, glaube ich, Geschmacksache, Martha!
+Ich freue mich jeden Tag, daß ich Mädchen bin.
+Glaub′ mir, ich wollte mit keinem Königssohn
+tauschen. &mdash; Darum möchte ich aber doch nur
+Buben!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_30" id="Seite_30">[30]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>Das ist doch Unsinn, lauter Unsinn, Wendla!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Aber ich bitte dich, Kind, es muß doch tausendmal
+erhebender sein, von einem Manne geliebt
+zu werden, als von einem Mädchen!</p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>Du wirst doch nicht behaupten wollen, Forstreferendar
+Pfälle liebe Melitta mehr als sie ihn!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Das will ich wohl, Thea! &mdash; Pfälle ist stolz.
+Pfälle ist stolz darauf, daß er Forstreferendar ist
+&mdash; denn Pfälle hat nichts. &mdash; Melitta ist <em class="gesperrt">selig</em>,
+weil sie zehntausendmal mehr bekommt, als sie ist.</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Bist du nicht stolz auf dich, Wendla?</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Das wäre doch einfältig.</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Wie wollt′ ich stolz sein an deiner Stelle.</p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>Sieh′ doch nur, wie sie die Füße setzt &mdash; wie
+sie geradaus schaut &mdash; wie sie sich hält, Martha!
+&mdash; Wenn das nicht Stolz ist!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_31" id="Seite_31">[31]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Wozu nur?! Ich bin so glücklich, Mädchen
+zu sein; wenn ich kein Mädchen wär′, brächt′ ich
+mich um, um das nächste Mal&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p class="regie">(geht vorüber und grüßt)</p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>Er hat einen wundervollen Kopf.</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>So denke ich mir den jungen Alexander, als
+er zu Aristoteles in die Schule ging.</p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>Du lieber Gott, die griechische Geschichte! &mdash;
+Ich weiß nur noch, wie Sokrates in der Tonne
+lag, als ihm Alexander den Eselsschatten verkaufte.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Er soll der Drittbeste in seiner Klasse sein.</p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>Professor Knochenbruch sagt, wenn er wollte,
+könnte er Primus sein.</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Er hat eine schöne Stirne, aber sein Freund
+hat einen seelenvolleren Blick.</p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>Moritz Stiefel? &mdash; Ist das eine Schlafmütze!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_32" id="Seite_32">[32]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Ich habe mich immer ganz gut mit ihm
+unterhalten.</p>
+
+<p class="sprecher">Thea</p>
+
+<p>Er blamiert einen, wo man ihn trifft. Auf
+dem Kinderball bei Rilows bot er mir Pralinees
+an. Denke dir, Wendla, die waren weich und
+warm. Ist das nicht&nbsp;...? &mdash; Er sagte, er habe
+sie zu lang in der Hosentasche gehabt.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Denke dir, Melchi Gabor sagte mir damals,
+er glaube an nichts &mdash; nicht an Gott, nicht an
+ein Jenseits &mdash; an gar nichts mehr in dieser Welt.</p>
+
+
+<h3>Vierte Szene</h3>
+
+<p class="regie">Parkanlagen vor dem Gymnasium &mdash; <i class="gesperrt">Melchior</i>, <i class="gesperrt">Otto</i>,
+<i class="gesperrt">Georg</i>, <i class="gesperrt">Robert</i>, <i class="gesperrt">Hänschen Rilow</i>, <i class="gesperrt">Lämmermeier</i></p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Kann mir einer von euch sagen, wo Moritz
+Stiefel steckt?</p>
+
+<p class="sprecher">Georg</p>
+
+<p>Dem kann′s schlecht gehn! &mdash; O dem kann′s
+schlecht gehn!</p>
+
+<p class="sprecher">Otto</p>
+
+<p>Der treibts so lange, bis er noch mal ganz
+gehörig ′reinfliegt!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_33" id="Seite_33">[33]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Lämmermeier</p>
+
+<p>Weiß der Kuckuck, ich möchte in diesem
+Moment nicht in seiner Haut stecken!</p>
+
+<p class="sprecher">Robert</p>
+
+<p>Eine Frechheit! &mdash; Eine Unverschämtheit!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Wa &mdash; wa &mdash; was wißt ihr denn?</p>
+
+<p class="sprecher">Georg</p>
+
+<p>Was wir wissen? &mdash; Na, ich sage dir&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Lämmermeier</p>
+
+<p>Ich möchte nichts gesagt haben!</p>
+
+<p class="sprecher">Otto</p>
+
+<p>Ich auch nicht &mdash; weiß Gott nicht!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Wenn ihr jetzt nicht sofort&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Robert</p>
+
+<p>Kurz und gut, Moritz Stiefel ist ins <em class="gesperrt">Konferenzzimmer</em>
+gedrungen.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ins Konferenzzimmer&nbsp;...?</p>
+
+<p class="sprecher">Otto</p>
+
+<p>Ins Konferenzzimmer! &mdash; Gleich nach Schluß
+der Lateinstunde.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_34" id="Seite_34">[34]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Georg</p>
+
+<p>Er war der letzte; er blieb absichtlich zurück.</p>
+
+<p class="sprecher">Lämmermeier</p>
+
+<p>Als ich um die Korridorecke bog, sah ich
+ihn die Tür öffnen.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Hol dich der&nbsp;...!</p>
+
+<p class="sprecher">Lämmermeier</p>
+
+<p>Wenn nur ihn nicht der Teufel holt!</p>
+
+<p class="sprecher">Georg</p>
+
+<p>Vermutlich hatte das Rektorat den Schlüssel
+nicht abgezogen.</p>
+
+<p class="sprecher">Robert</p>
+
+<p>Oder Moritz Stiefel führt einen Dietrich.</p>
+
+<p class="sprecher">Otto</p>
+
+<p>Ihm wäre das zuzutrauen.</p>
+
+<p class="sprecher">Lämmermeier</p>
+
+<p>Wenn′s gut geht, bekommt er einen Sonntagnachmittag.</p>
+
+<p class="sprecher">Robert</p>
+
+<p>Nebst einer Bemerkung ins Zeugnis!</p>
+
+<p class="sprecher">Otto</p>
+
+<p>Wenn er bei dieser Zensur nicht ohnehin
+an die Luft fliegt.</p>
+
+<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
+
+<p>Da ist er!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_35" id="Seite_35">[35]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Blaß wie ein Handtuch.</p>
+
+<p class="regie">(Moritz kommt in äußerster Aufregung.)</p>
+
+<p class="sprecher">Lämmermeier</p>
+
+<p>Moritz, Moritz, was du getan hast!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>&mdash; &mdash; Nichts &mdash; &mdash; nichts &mdash; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p class="sprecher">Robert</p>
+
+<p>Du fieberst!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>&mdash; Vor Glück &mdash; vor Seligkeit &mdash; vor
+Herzensjubel &mdash;</p>
+
+<p class="sprecher">Otto</p>
+
+<p>Du bist erwischt worden?!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Ich bin promoviert! &mdash; Melchior, ich bin
+promoviert! &mdash; O jetzt kann die Welt untergehn!
+&mdash; Ich bin promoviert! &mdash; Wer hätte geglaubt,
+daß ich promoviert werde! &mdash; Ich fass′ es noch
+nicht! &mdash; Zwanzigmal hab′ ich′s gelesen! &mdash; Ich
+kann′s nicht glauben &mdash; du großer Gott, es
+blieb! &mdash; Es blieb! <em class="gesperrt">Ich bin promoviert</em>! &mdash;
+(lächelnd) Ich weiß nicht &mdash; so sonderbar ist mir
+&mdash; der Boden dreht sich&nbsp;... Melchior, Melchior,
+wüßtest du, was ich durchgemacht!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_36" id="Seite_36">[36]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
+
+<p>Ich gratuliere, Moritz. &mdash; Sei nur froh,
+daß du so weggekommen!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Du weißt nicht, Hänschen, du ahnst nicht,
+was auf dem Spiel stand. Seit drei Wochen
+schleiche ich an der Tür vorbei wie am Höllenschlund.
+Da sehe ich heute, sie ist angelehnt.
+Ich glaube, wenn man mir eine Million geboten
+hätte &mdash; nichts, o nichts hätte mich zu
+halten vermocht! &mdash; Ich stehe mitten im Zimmer
+&mdash; ich schlage das Protokoll auf &mdash; blättere &mdash;
+finde &mdash; &mdash; und während all der Zeit&nbsp;...
+Mir schaudert &mdash;</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>...&nbsp;während all der Zeit?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Während all der Zeit steht die Tür hinter
+mir sperrangelweit offen. &mdash; Wie ich heraus ...
+wie ich die Treppe heruntergekommen, weiß ich
+nicht.</p>
+
+<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
+
+<p>&mdash; Wird Ernst Röbel auch promoviert?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>O gewiß, Hänschen, gewiß! &mdash; Ernst Röbel
+wird gleichfalls promoviert.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_37" id="Seite_37">[37]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Robert</p>
+
+<p>Dann mußt du schon nicht richtig gelesen
+haben. Die Eselsbank abgerechnet zählen wir
+mit dir und Röbel zusammen einundsechzig, während
+oben das Klassenzimmer mehr als sechzig nicht
+fassen kann.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Ich habe vollkommen richtig gelesen. Ernst
+Röbel wird so gut versetzt wie ich &mdash; beide
+allerdings vorläufig nur <em class="gesperrt">provisorisch</em>. Während
+des ersten Quartals soll es sich dann herausstellen,
+wer dem andern Platz zu machen hat. &mdash;
+Armer Röbel! &mdash; Weiß der Himmel, mir ist um
+mich nicht mehr bange. Dazu habe ich diesmal zu
+tief hinuntergeblickt.</p>
+
+<p class="sprecher">Otto</p>
+
+<p>Ich wette fünf Mark, daß du Platz machst.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Du hast ja nichts. Ich will dich nicht ausrauben.
+&mdash; Herrgott, werd′ ich büffeln von heute
+an! &mdash; Jetzt kann ich′s ja sagen &mdash; mögt ihr
+daran glauben oder nicht &mdash; jetzt ist ja alles
+gleichgültig &mdash; ich &mdash; ich weiß, wie wahr es
+ist: Wenn ich nicht promoviert worden wäre,
+hätte ich mich erschossen.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_38" id="Seite_38">[38]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Robert</p>
+
+<p>Prahlhans!</p>
+
+<p class="sprecher">Georg</p>
+
+<p>Der Hasenfuß!</p>
+
+<p class="sprecher">Otto</p>
+
+<p>Dich hätte ich schießen sehen mögen!</p>
+
+<p class="sprecher">Lämmermeier</p>
+
+<p>Eine Maulschelle drauf!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p class="regie">(gibt ihm eine)</p>
+
+<p>&mdash; &mdash; Komm, Moritz. Gehn wir zum
+Försterhaus!</p>
+
+<p class="sprecher">Georg</p>
+
+<p>Glaubst du vielleicht an den Schnack?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Schert dich das? &mdash; &mdash; Laß sie schwatzen,
+Moritz! Fort, nur fort, zur Stadt hinaus!</p>
+
+<p class="regie">(Die Professoren <i class="gesperrt">Hungergurt</i> und <i class="gesperrt">Knochenbruch</i>
+gehen vorüber.)</p>
+
+<p class="sprecher">Knochenbruch</p>
+
+<p>Mir unbegreiflich, verehrter Herr Kollega,
+wie sich der beste meiner Schüler gerade zum
+allerschlechtesten so hingezogen fühlen kann.</p>
+
+<p class="sprecher">Hungergurt</p>
+
+<p>Mir auch, verehrter Herr Kollega.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_39" id="Seite_39">[39]</a></span></p>
+
+
+<h3>Fünfte Szene</h3>
+
+<p class="regie">Sonniger Nachmittag. &mdash; <i class="gesperrt">Melchior</i> und <i class="gesperrt">Wendla</i> begegnen
+einander im Wald.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Bist du′s wirklich, Wendla? &mdash; Was tust
+denn du so allein hier oben? &mdash; Seit drei
+Stunden durchstreife ich den Wald die Kreuz und
+Quer, ohne daß mir eine Seele begegnet, und
+nun plötzlich trittst du mir aus dem dichtesten
+Dickicht entgegen!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Ja, ich bin′s.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Wenn ich dich nicht als Wendla Bergmann
+kennte, ich hielte dich für eine Dryade, die aus
+den Zweigen gefallen.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Nein, nein, ich bin Wendla Bergmann. &mdash;
+Wo kommst denn du her?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich gehe meinen Gedanken nach.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Ich suche Waldmeister. Mama will Maitrank
+bereiten. Anfangs wollte sie selbst mitgehn,
+aber im letzten Augenblick kam Tante Bauer
+noch, und die steigt nicht gern. &mdash; So bin ich
+denn allein heraufgekommen.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_40" id="Seite_40">[40]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Hast du deinen Waldmeister schon?</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Den ganzen Korb voll. Drüben unter den
+Buchen steht er dicht wie Mattenklee. &mdash; Jetzt
+sehe ich mich nämlich nach einem Ausweg um.
+Ich scheine mich verirrt zu haben. Kannst du
+mir vielleicht sagen, wie viel Uhr es ist?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Eben halb vier vorbei. &mdash; Wann erwartet
+man dich?</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Ich glaubte, es wäre später. Ich lag eine
+ganze Weile am Goldbach im Moose und habe
+geträumt. Die Zeit verging mir so rasch; ich
+fürchtete, es wolle schon Abend werden.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Wenn man dich noch nicht erwartet, dann
+laß uns hier noch ein wenig lagern. Unter der
+Eiche dort ist mein Lieblingsplätzchen. Wenn
+man den Kopf an den Stamm zurücklehnt und
+durch die Äste in den Himmel starrt, wird man
+hypnotisiert. Der Boden ist noch warm von der
+Morgensonne. &mdash; Schon seit Wochen wollte ich
+dich etwas fragen, Wendla.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Aber vor fünf muß ich zu Hause sein.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_41" id="Seite_41">[41]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Wir gehen dann zusammen. Ich nehme den
+Korb und wir schlagen den Weg durch die Runse
+ein, so sind wir in zehn Minuten schon auf der
+Brücke! &mdash; Wenn man so daliegt, die Stirn in
+die Hand gestützt, kommen einem die sonderbarsten
+Gedanken&nbsp;...</p>
+
+<p class="regie">(Beide lagern sich unter der Eiche.)</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Was wolltest du mich fragen, Melchior?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich habe gehört, Wendla, du gehest häufig
+zu armen Leuten. Du brächtest ihnen Essen, auch
+Kleider und Geld. Tust du das aus eigenem
+Antriebe oder schickt deine Mutter dich?</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Meistens schickt mich die Mutter. Es sind
+arme Taglöhnerfamilien, die eine Unmenge Kinder
+haben. Oft findet der Mann keine Arbeit, dann
+frieren und hungern sie. Bei uns liegt aus früherer
+Zeit noch so mancherlei in Schränken und Kommoden,
+das nicht mehr gebraucht wird. &mdash; Aber wie kommst
+du darauf?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Gehst du gern oder ungern, wenn deine
+Mutter dich sowohin schickt?</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_42" id="Seite_42">[42]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>O für mein Leben gern! &mdash; Wie kannst du
+fragen!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Aber die Kinder sind schmutzig, die Frauen
+sind krank, die Wohnungen strotzen von Unrat,
+die Männer hassen dich, weil du nicht arbeitest&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Das ist nicht wahr, Melchior. Und wenn
+es wahr wäre, ich würde erst recht gehen!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Wieso erst recht, Wendla?</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Ich würde erst recht hingehen. &mdash; Es würde
+nur noch vielmehr Freude bereiten, ihnen helfen
+zu können.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Du gehst also um deiner Freude willen zu
+den armen Leuten?</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Ich gehe zu ihnen, weil sie arm sind.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Aber wenn es dir keine Freude wäre, würdest
+du nicht gehen?</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Kann ich denn dafür, daß es mir Freude
+macht?</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_43" id="Seite_43">[43]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Und doch sollst du dafür in den Himmel
+kommen! &mdash; So ist es also richtig, was mir nun
+seit einem Monat keine Ruhe mehr läßt! &mdash;
+Kann der Geizige dafür, daß es ihm keine Freude
+macht, zu schmutzigen kranken Kindern zu gehen?</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>O dir würde es sicher die größte Freude sein!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Und doch soll er dafür des ewigen Todes
+sterben! &mdash; Ich werde eine Abhandlung schreiben
+und sie Herrn Pastor Kahlbauch einschicken. Er
+ist die Veranlassung. Was faselt er uns von
+<em class="gesperrt">Opfer-Freudigkeit</em>! &mdash; Wenn er mir nicht
+antworten kann, gehe ich nicht mehr in die Kinderlehre
+und lasse mich nicht konfirmieren.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Warum willst du deinen lieben Eltern den
+Kummer bereiten! Laß dich doch konfirmieren;
+den Kopf kostet′s doch nicht. Wenn unsere schrecklichen
+weißen Kleider und eure Schlepphosen
+nicht wären, würde man sich vielleicht noch dafür
+begeistern können.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Es gibt keine Aufopferung! Es gibt keine
+Selbstlosigkeit! &mdash; Ich sehe die Guten sich ihres<span class="pagenum"><a name="Seite_44" id="Seite_44">[44]</a></span>
+Herzens freun, sehe die Schlechten beben und
+stöhnen &mdash; ich sehe dich, Wendla Bergmann,
+deine Locken schütteln und lachen, und mir wird
+so ernst dabei wie einem Geächteten. &mdash; &mdash; Was
+hast du vorhin geträumt, Wendla, als du am
+Goldbach im Grase lagst?</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>&mdash; &mdash; Dummheiten &mdash; Narreteien &mdash;</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Mit offenen Augen?!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Mir träumte, ich wäre ein armes, armes
+Bettelkind, ich würde früh fünf schon auf die
+Straße geschickt, ich müßte betteln den ganzen
+langen Tag in Sturm und Wetter, unter hartherzigen,
+rohen Menschen. Und käm′ ich abends
+nach Hause, zitternd vor Hunger und Kälte, und
+hätte so viel Geld nicht wie mein Vater verlangt,
+dann würd′ ich geschlagen &mdash; geschlagen &mdash;</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Das kenne ich, Wendla. Das hast du den
+albernen Kindergeschichten zu danken. Glaub′
+mir, so brutale Menschen existieren nicht mehr.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>O doch, Melchior, du irrst. &mdash; Martha
+Bessel wird Abend für Abend geschlagen, daß<span class="pagenum"><a name="Seite_45" id="Seite_45">[45]</a></span>
+man andern Tags Striemen sieht. O was die
+leiden muß! Siedendheiß wird es einem, wenn
+sie erzählt. Ich bedaure sie so furchtbar, ich
+muß oft mitten in der Nacht in die Kissen weinen.
+Seit Monaten denke ich darüber nach, wie man
+ihr helfen kann. &mdash; Ich wollte mit Freuden
+einmal acht Tage an ihrer Stelle sein.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Man sollte den Vater kurzweg verklagen.
+Dann würde ihm das Kind weggenommen.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Ich, Melchior, bin in meinem Leben nie geschlagen
+worden &mdash; nicht ein einziges Mal. Ich
+kann mir kaum denken, wie das tut, geschlagen
+zu werden. Ich habe mich schon selber geschlagen,
+um zu erfahren, wie einem dabei ums Herz
+wird. &mdash; Es muß ein grauenvolles Gefühl sein.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich glaube nicht, daß je ein Kind dadurch
+besser wird.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Wodurch besser wird?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Daß man es schlägt.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_46" id="Seite_46">[46]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>&mdash; Mit dieser Gerte zum Beispiel! &mdash; Hu, ist
+die zäh und dünn.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Die zieht Blut!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Würdest du mich nicht einmal damit schlagen?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Wen?</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Mich.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Was fällt dir ein, Wendla!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Was ist denn dabei?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>O sei ruhig! &mdash; Ich schlage dich nicht.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Wenn ich dir′s doch erlaube!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Nie, Mädchen!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Aber wenn ich dich darum bitte, Melchior!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Bist du nicht bei Verstand?</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Ich bin in meinem Leben nie geschlagen
+worden!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_47" id="Seite_47">[47]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Wenn du um so etwas bitten kannst&nbsp;...!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>&mdash; Bitte &mdash; bitte &mdash;</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich will dich bitten lehren! &mdash; <span class="regie">(er schlägt sie)</span></p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Ach Gott &mdash; ich spüre nicht das Geringste!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Das glaub′ ich dir &mdash; &mdash; durch all′ deine
+Röcke durch....</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>So schlag′ mich doch an die Beine!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Wendla! &mdash; <span class="regie">(er schlägt sie stärker)</span></p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Du streichelst mich ja! &mdash; Du streichelst mich!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Wart′ Hexe, ich will dir den Satan austreiben!</p>
+
+<p class="regie">(Er wirft den Stock beiseite und schlägt derart mit
+den Fäusten drein, daß sie in ein fürchterliches Geschrei
+ausbricht. Er kehrt sich nicht daran, sondern drischt wie
+wütend auf sie los, während ihm die dicken Tränen
+über die Wangen rinnen. Plötzlich springt er empor,
+faßt sich mit beiden Händen an die Schläfen und stürzt,
+aus tiefster Seele jammervoll aufschluchzend, in den
+Wald hinein.)</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_48" id="Seite_48">[48]</a></span></p>
+
+
+<h2><a name="Zweiter_Akt" id="Zweiter_Akt"></a>Zweiter Akt</h2>
+
+
+<h3>Erste Szene</h3>
+
+
+<p class="regie">Abend auf Melchiors <i class="gesperrt">Studierzimmer</i>. Das Fenster
+steht offen, die Lampe brennt auf dem Tisch. &mdash; <i class="gesperrt">Melchior</i>
+und <i class="gesperrt">Moritz</i> auf dem Kanapee.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Jetzt bin ich wieder ganz munter, nur etwas
+aufgeregt. &mdash; Aber in der Griechischstunde habe
+ich doch geschlafen wie der besoffene Polyphem.
+Nimmt mich Wunder, daß mich der alte Zungenschlag
+nicht in die Ohren gezwickt. &mdash; Heut′ früh
+wäre ich um ein Haar noch zu spät gekommen.
+&mdash; Mein erster Gedanke beim Erwachen waren
+die Verba auf μ. &mdash; Himmel-Herrgott-Teufel-Donnerwetter,
+während des Frühstücks und den
+Weg entlang habe ich konjugiert, daß mir grün
+vor den Augen wurde. &mdash; Kurz nach drei muß
+ich abgeschnappt sein. Die Feder hat mir noch
+einen Klex ins Buch gemacht. Die Lampe
+qualmte, als Mathilde mich weckte; in den
+Fliederbüschen unter dem Fenster zwitscherten die
+Amseln so lebensfroh &mdash; mir ward gleich wieder
+unsagbar melancholisch zu Mute. Ich band mir<span class="pagenum"><a name="Seite_49" id="Seite_49">[49]</a></span>
+den Kragen um und fuhr mit der Bürste durchs
+Haar. &mdash; &mdash; Aber man fühlt sich, wenn man
+seiner Natur etwas abgerungen!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Darf ich dir eine Zigarette drehen?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Danke, ich rauche nicht. &mdash; Wenn es nun
+nur so weiter geht! Ich will arbeiten und arbeiten,
+bis mir die Augen zum Kopf herausplatzen.
+&mdash; Ernst Röbel hat seit den Ferien schon
+sechsmal nichts gekonnt; dreimal im Griechischen,
+zweimal bei Knochenbruch; das letztemal in der
+Literaturgeschichte. Ich war erst fünfmal in der
+bedauernswerten Lage; und von heute ab kommt
+es überhaupt nicht mehr vor! &mdash; Röbel erschießt
+sich nicht. Röbel hat keine Eltern, die ihm ihr
+Alles opfern. Er kann, wann er will, Söldner,
+Cowboy oder Matrose werden. Wenn ich durchfalle,
+rührt meinen Vater der Schlag, und Mama
+kommt ins Irrenhaus. So was erlebt man nicht!
+&mdash; Vor dem Examen habe ich zu Gott gefleht,
+er möge mich schwindsüchtig werden lassen, auf
+daß der Kelch ungenossen vorübergehe. Er ging
+vorüber &mdash; wenngleich mir auch heute noch seine
+Aureole aus der Ferne entgegenleuchtet, daß ich<span class="pagenum"><a name="Seite_50" id="Seite_50">[50]</a></span>
+Tag und Nacht den Blick nicht zu heben wage.
+&mdash; Aber nun ich die Stange erfaßt, werde ich
+mich auch hinaufschwingen. Dafür bürgt mir
+die unabänderliche Konsequenz, daß ich nicht
+stürze, ohne das Genick zu brechen.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Das Leben ist von einer ungeahnten Gemeinheit.
+Ich hätte nicht übel Lust, mich in die Zweige
+zu hängen. &mdash; Wo Mama mit dem Tee nur bleibt!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Dein Tee wird mir gut tun, Melchior! &mdash;
+Ich zittre nämlich. Ich fühle mich so eigentümlich
+vergeistert. Betaste mich bitte mal. Ich
+sehe &mdash; ich höre &mdash; ich fühle viel deutlicher &mdash;
+und doch alles so traumhaft &mdash; o, so stimmungsvoll.
+&mdash; Wie sich dort im Mondschein der Garten
+dehnt, so still, so tief, als ging′ er ins Unendliche.
+&mdash; Unter den Büschen treten umflorte Gestalten
+hervor, huschen in atemloser Geschäftigkeit über
+die Lichtungen und verschwinden im Halbdunkel.
+Mir scheint, unter dem Kastanienbaum soll eine
+Ratsversammlung gehalten werden. &mdash; Wollen
+wir nicht hinunter, Melchior?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Warten wir, bis wir Tee getrunken.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_51" id="Seite_51">[51]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>&mdash; Die Blätter flüstern so emsig. &mdash; Es ist,
+als hörte ich Großmutter selig die Geschichte von
+der „Königin ohne Kopf“ erzählen. &mdash; Das war
+eine wunderschöne Königin, schön wie die Sonne,
+schöner als alle Mädchen im Land. Nur war
+sie leider ohne Kopf auf die Welt gekommen.
+Sie konnte nicht essen, nicht trinken, konnte nicht
+sehen, nicht lachen und auch nicht küssen. Sie
+vermochte sich mit ihrem Hofstaat nur durch ihre
+kleine weiche Hand zu verständigen. Mit den
+zierlichen Füßen strampelte sie Kriegserklärungen
+und Todesurteile. Da wurde sie eines Tages
+von einem Könige besiegt, der zufällig zwei
+Köpfe hatte, die sich das ganze Jahr in den
+Haaren lagen und dabei so aufgeregt disputierten,
+daß keiner den andern zu Wort kommen ließ.
+Der Oberhofzauberer nahm nun den kleineren
+der beiden und setzte ihn der Königin auf. Und
+siehe, er stand ihr vortrefflich. Darauf heiratete
+der König die Königin, und die beiden lagen
+einander nun nicht mehr in den Haaren, sondern
+küßten einander auf Stirn, auf Wangen und
+Mund und lebten noch lange lange Jahre glücklich
+und in Freuden.... Verwünschter Unsinn!
+Seit den Ferien kommt mir die kopflose Königin<span class="pagenum"><a name="Seite_52" id="Seite_52">[52]</a></span>
+nicht aus dem Kopf. Wenn ich ein schönes Mädchen
+sehe, seh′ ich es ohne Kopf &mdash; und erscheine
+mir dann plötzlich selber als kopflose Königin....
+Möglich, daß mir nochmal einer aufgesetzt wird.</p>
+
+<p class="regie">(Frau Gabor kommt mit dem dampfenden Tee, den sie
+vor Moritz und Melchior auf den Tisch setzt)</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
+
+<p>Hier Kinder, laßt es euch munden. &mdash; Guten
+Abend, Herr Stiefel; wie geht es Ihnen?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Danke, Frau Gabor. &mdash; Ich belausche den
+Reigen dort unten.</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
+
+<p>Sie sehen aber gar nicht gut aus. &mdash; Fühlen
+Sie sich nicht wohl?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Es hat nichts zu sagen. Ich bin die letzten
+Abende etwas spät zu Bett gekommen.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Denke dir, er hat die ganze Nacht durch gearbeitet.</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
+
+<p>Sie sollten so etwas nicht tun, Herr Stiefel.
+Sie sollten sich schonen. Bedenken Sie Ihre Gesundheit.
+Die Schule ersetzt Ihnen die Gesundheit
+nicht. &mdash; Fleißig spazieren gehn in der frischen
+Luft! Das ist in Ihren Jahren mehr wert als
+ein korrektes Mittelhochdeutsch.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_53" id="Seite_53">[53]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Ich werde fleißig spazieren gehn. Sie haben
+recht. Man kann auch während des Spazierengehens
+fleißig sein. Daß ich noch selbst nicht
+auf den Gedanken gekommen! &mdash; Die schriftlichen
+Arbeiten müßte ich immerhin zu Hause machen.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Das Schriftliche machst du bei mir; so wird
+es uns beiden leichter. &mdash; &mdash; Du weißt ja, Mama,
+daß Max von Trenk am Nervenfieber darniederlag!
+&mdash; Heute mittag kommt Hänschen Rilow
+von Trenks Totenbett zu Rektor Sonnenstich, um
+anzuzeigen, daß Trenk soeben in seiner Gegenwart
+gestorben sei. &mdash; „So?“ sagt Sonnenstich,
+„hast du von letzter Woche her nicht noch zwei
+Stunden nachzusitzen? &mdash; Hier ist der Zettel an
+den Pedell. Mach, daß die Sache endlich ins
+reine kommt! Die ganze Klasse soll an der Beerdigung
+teilnehmen.“ &mdash; Hänschen war wie
+gelähmt.</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
+
+<p>Was hast du da für ein Buch, Melchior?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>„Faust.“</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
+
+<p>Hast du es schon gelesen?</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_54" id="Seite_54">[54]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Noch nicht zu Ende.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Wir sind gerade in der Walpurgisnacht.</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
+
+<p>Ich hätte an deiner Stelle noch ein, zwei
+Jahre damit gewartet.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich kenne kein Buch, Mama, in dem ich so
+viel Schönes gefunden. Warum hätte ich es
+nicht lesen sollen.</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
+
+<p>&mdash; Weil du es nicht verstehst.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Das kannst du nicht wissen, Mama. Ich
+fühle sehr wohl, daß ich das Werk in seiner
+ganzen Erhabenheit zu erfassen noch nicht imstande
+bin&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Wir lesen immer zu zweit; das erleichtert
+das Verständnis außerordentlich!</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
+
+<p>Du bist alt genug, Melchior, um wissen zu
+können, was dir zuträglich und was dir schädlich
+ist. Tu, was du vor dir verantworten kannst.
+Ich werde die erste sein, die es dankbar anerkennt,<span class="pagenum"><a name="Seite_55" id="Seite_55">[55]</a></span>
+wenn du mir niemals Grund gibst, dir
+etwas vorenthalten zu müssen. &mdash; Ich wollte
+dich nur darauf aufmerksam machen, daß auch
+das Beste nachteilig wirken kann, wenn man
+noch die Reife nicht besitzt, um es richtig aufzunehmen.
+&mdash; Ich werde mein Vertrauen immer lieber
+in dich als in irgendbeliebige erzieherische Maßregeln
+setzen. &mdash; &mdash; Wenn ihr noch etwas braucht,
+Kinder, dann komm herüber, Melchior, und rufe
+mich. Ich bin auf meinem Schlafzimmer. <span class="regie">(Ab.)</span></p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>&mdash; &mdash; Deine Mama meinte die Geschichte
+mit Gretchen.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Haben wir uns auch nur einen Moment
+dabei aufgehalten!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Faust selber kann sich nicht kaltblütiger darüber
+hinweggesetzt haben!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Das Kunstwerk gipfelt doch schließlich nicht
+in dieser Schändlichkeit! &mdash; Faust könnte dem
+Mädchen die Heirat versprochen, könnte es daraufhin
+verlassen haben, er wäre in meinen Augen
+um kein Haar weniger strafbar. Gretchen könnte
+ja meinethalben an gebrochenem Herzen sterben.<span class="pagenum"><a name="Seite_56" id="Seite_56">[56]</a></span>
+&mdash; Sieht man, wie jeder <em class="gesperrt">darauf</em> immer gleich
+krampfhaft die Blicke richtet, man möchte
+glauben, die ganze Welt drehe sich um P....
+und V....!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Wenn ich aufrichtig sein soll, Melchior, so
+habe ich nämlich tatsächlich das Gefühl, seit ich
+deinen Aufsatz gelesen. &mdash; In den ersten Ferientagen
+fiel er mir vor die Füße. Ich hatte den
+Plötz in der Hand. &mdash; Ich verriegelte die Tür
+und durchflog die flimmernden Zeilen, wie eine
+aufgeschreckte Eule einen brennenden Wald durchfliegt
+&mdash; ich glaube, ich habe das meiste mit geschlossenen
+Augen gelesen. Wie eine Reihe dunkler
+Erinnerungen klangen mir deine Auseinandersetzungen
+ins Ohr, wie ein Lied, das einer als
+Kind einst fröhlich vor sich hingesummt und das
+ihm, wie er eben im Sterben liegt, herzerschütternd
+aus dem Mund eines andern entgegentönt. &mdash;
+Am heftigsten zog mich in Mitleidenschaft, was
+du vom Mädchen schreibst. Ich werde die Eindrücke
+nicht mehr los. Glaub′ mir, Melchior,
+Unrecht leiden zu müssen ist süßer, denn Unrecht
+tun! Unverschuldet ein so süßes Unrecht über
+sich ergehen lassen zu müssen, scheint mir der
+Inbegriff aller irdischen Seligkeit.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_57" id="Seite_57">[57]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>&mdash; Ich will meine Seligkeit nicht als Almosen!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Aber warum denn nicht?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich <em class="gesperrt">will</em> nichts, was ich mir nicht habe erkämpfen
+müssen!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Ist dann das noch Genuß, Melchior?! &mdash;
+Das Mädchen, Melchior, genießt wie die seligen
+Götter. Das Mädchen wehrt sich dank seiner
+Veranlagung. Es hält sich bis zum letzten
+Augenblick von jeder Bitternis frei, um mit
+einem Mal alle Himmel über sich hereinbrechen
+zu sehen. Das Mädchen fürchtet die Hölle noch
+in dem Moment, da es ein erblühendes Paradies
+wahrnimmt. Sein Empfinden ist so frisch wie
+der Quell, der dem Fels entspringt. Das Mädchen
+ergreift einen Pokal, über den noch kein
+irdischer Hauch geweht, einen Nektarkelch, dessen
+Inhalt es, wie er flammt und flackert, hinunterschlingt&nbsp;...
+Die Befriedigung, die der Mann dabei
+findet, denke ich mir schal und abgestanden.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Denke sie dir, wie du magst, aber behalte sie
+für dich. &mdash; Ich denke sie mir nicht gern&nbsp;...</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_58" id="Seite_58">[58]</a></span></p>
+
+
+<h3>Zweite Szene</h3>
+
+<p class="regie"><i class="gesperrt">Wohnzimmer.</i></p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p class="regie">(den Hut auf, die Mantille um, einen Korb am Arm,
+mit strahlendem Gesicht durch die Mitteltür eintretend.)</p>
+
+<p>Wendla! &mdash; Wendla!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p class="regie">(erscheint in Unterröckchen und Korsett in der Seitentür
+rechts)</p>
+
+<p>Was gibt′s, Mutter?</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Du bist schon auf, Kind? &mdash; Sieh, das ist
+schön von dir!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Du warst schon ausgegangen?</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Zieh dich nun nur flink an! &mdash; Du mußt
+gleich zu <em class="gesperrt">Ina</em> hinunter. Du mußt ihr den
+Korb da bringen!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p class="regie">(sich während des folgenden vollends ankleidend)</p>
+
+<p>Du warst bei Ina? &mdash; Wie geht es Ina?
+&mdash; Will′s noch immer nicht bessern?</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Denke dir, Wendla, diese Nacht war der Storch
+bei ihr und hat ihr einen kleinen Jungen gebracht.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_59" id="Seite_59">[59]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Einen Jungen? &mdash; Einen Jungen! &mdash; O
+das ist herrlich! &mdash; &mdash; Deshalb die langwierige
+Influenza!</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Einen prächtigen Jungen!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Den muß ich sehen, Mutter! &mdash; So bin ich
+nun zum dritten Mal Tante geworden &mdash; Tante
+von einem Mädchen und zwei Jungens!</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Und was für Jungens! &mdash; So geht′s eben,
+wenn man so dicht beim Kirchendach wohnt! &mdash;
+Morgen sind′s erst zwei Jahr, daß sie in ihrem
+Mullkleid die Stufen hinanstieg.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Warst du dabei, als er ihn brachte?</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Er war eben wieder fortgeflogen. &mdash; Willst
+du dir nicht eine Rose vorstecken?</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Warum kamst du nicht etwas früher hin,
+Mutter?</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Ich glaube aber beinahe, er hat dir auch
+etwas mitgebracht &mdash; eine Brosche oder was.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_60" id="Seite_60">[60]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Es ist wirklich schade!</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Ich sage dir ja, daß er dir eine Brosche
+mitgebracht hat!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Ich habe Broschen genug&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Dann sei auch zufrieden, Kind. Was willst
+du denn noch?</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Ich hätte so furchtbar gerne gewußt, ob er
+durchs Fenster oder durch den Schornstein geflogen
+kam.</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Da mußt du Ina fragen. Ha, das mußt
+du Ina fragen, liebes Herz! Ina sagt dir das
+ganz genau. Ina hat ja eine ganze halbe Stunde
+mit ihm gesprochen.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Ich werde Ina fragen, wenn ich hinunterkomme.</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Aber ja nicht vergessen, du süßes Engelsgeschöpf!
+Es interessiert mich wirklich selbst, zu
+wissen, ob er durchs Fenster oder durch den
+Schornstein kam.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_61" id="Seite_61">[61]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Oder soll ich nicht lieber den Schornsteinfeger
+fragen? &mdash; Der Schornsteinfeger muß es doch
+am besten wissen, ob er durch den Schornstein
+fliegt oder nicht.</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Nicht den Schornsteinfeger, Kind; nicht den
+Schornsteinfeger. Was weiß der Schornsteinfeger
+vom Storch! &mdash; Der schwatzt dir allerhand
+dummes Zeug vor, an das er selbst nicht glaubt&nbsp;...
+Wa &mdash; was glotzst du so auf die Straße hinunter??</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Ein Mann, Mutter &mdash; dreimal so groß wie
+ein Ochse! &mdash; mit Füßen wie Dampfschiffe&nbsp;...!</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p class="regie">(ans Fenster stürzend)</p>
+
+<p>Nicht möglich! &mdash; Nicht möglich! &mdash;</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla <span class="regie">(zugleich)</span></p>
+
+<p>Eine Bettlade hält er unterm Kinn, fiedelt
+die Wacht am Rhein drauf &mdash; &mdash; eben biegt
+er um die Ecke&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Du bist und bleibst doch ein Kindskopf! &mdash;
+Deine alte einfältige Mutter so in Schrecken jagen!
+&mdash; Geh, nimm deinen Hut. Nimmt mich Wunder,<span class="pagenum"><a name="Seite_62" id="Seite_62">[62]</a></span>
+wann bei dir einmal der Verstand kommt. &mdash;
+Ich habe die Hoffnung aufgegeben.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Ich auch, Mütterchen, ich auch. &mdash; Um meinen
+Verstand ist es ein traurig Ding. &mdash; Hab′ ich
+nun eine Schwester, die ist seit zwei und einem
+halben Jahre verheiratet, und ich selber bin zum
+dritten Male Tante geworden, und habe gar
+keinen Begriff, wie das alles zugeht&nbsp;... Nicht
+böse werden, Mütterchen; nicht böse werden! Wen
+in der Welt soll ich denn fragen als dich! Bitte,
+liebe Mutter, sag es mir! Sag′s mir, geliebtes
+Mütterchen! Ich schäme mich vor mir selber.
+Ich bitte dich, Mutter, sprich! Schilt mich nicht,
+daß ich so etwas frage. Gib mir Antwort &mdash; wie
+geht es zu? &mdash; wie kommt das alles? &mdash; Du
+kannst doch im Ernst nicht verlangen, daß ich bei
+meinen vierzehn Jahren noch an den Storch glaube.</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Aber du großer Gott, Kind, wie bist du sonderbar!
+&mdash; Was du für Einfälle hast! &mdash; Das kann
+ich ja doch wahrhaftig nicht!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Warum denn nicht, Mutter! &mdash; Warum denn
+nicht! &mdash; Es kann ja doch nichts Häßliches sein,
+wenn sich alles darüber freut!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_63" id="Seite_63">[63]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>O &mdash; o Gott behüte mich! &mdash; Ich verdiente
+ja&nbsp;... Geh, zieh dich an, Mädchen; zieh dich an!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Ich gehe,&nbsp;... Und wenn dein Kind nun hingeht
+und fragt den Schornsteinfeger?</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Aber das ist ja zum Närrischwerden! &mdash; Komm
+Kind, komm her, ich sag es dir! Ich sage dir
+Alles&nbsp;... O du grundgütige Allmacht! &mdash; nur
+heute nicht, Wendla! &mdash; Morgen, übermorgen,
+kommende Woche ... wann du nur immer willst,
+liebes Herz&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Sag es mir heute, Mutter; sag es mir jetzt!
+Jetzt gleich! &mdash; Nun ich dich so entsetzt gesehen,
+kann ich erst recht nicht eher wieder ruhig werden.</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>&mdash; Ich kann nicht, Wendla.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>O, warum kannst du nicht, Mütterchen! &mdash;
+Hier knie ich zu deinen Füßen und lege dir meinen
+Kopf in den Schoß. Du deckst mir deine
+Schürze über den Kopf und erzählst und erzählst,
+als wärst du mutterseelenallein im Zimmer. Ich<span class="pagenum"><a name="Seite_64" id="Seite_64">[64]</a></span>
+will nicht zucken; ich will nicht schreien; ich will
+geduldig ausharren, was immer kommen mag.</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>&mdash; Der Himmel weiß, Wendla, daß ich nicht
+die Schuld trage! Der Himmel kennt mich! &mdash;
+Komm in Gottes Namen! &mdash; Ich will dir erzählen,
+Mädchen, wie du in diese Welt hineingekommen.
+&mdash; So hör mich an, Wendla&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p class="regie">(unter ihrer Schürze)</p>
+
+<p>Ich höre.</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann <span class="regie">(ekstatisch)</span></p>
+
+<p>&mdash; Aber es geht ja nicht, Kind! &mdash; Ich kann
+es ja nicht verantworten. &mdash; Ich verdiene ja,
+daß man mich ins Gefängnis setzt &mdash; daß man
+dich von mir nimmt&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p class="regie">(unter ihrer Schürze)</p>
+
+<p>Faß dir ein Herz, Mutter!</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>So höre denn&nbsp;...!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p class="regie">(unter ihrer Schürze, zitternd)</p>
+
+<p>O Gott, o Gott!</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Um ein Kind zu bekommen &mdash; du verstehst
+mich, Wendla?</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_65" id="Seite_65">[65]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Rasch, Mutter &mdash; ich halt′s nicht mehr aus.</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>&mdash; Um ein Kind zu bekommen &mdash; muß man
+den Mann &mdash; mit dem man verheiratet ist ...
+<em class="gesperrt">lieben</em> &mdash; <em class="gesperrt">lieben</em> sag′ ich dir &mdash; wie man nur
+einen Mann lieben kann! Man muß ihn so sehr
+<em class="gesperrt">von ganzem Herzen</em> lieben, wie &mdash; wie sich′s
+nicht sagen läßt! Man muß ihn <em class="gesperrt">lieben</em>, Wendla,
+wie du in deinen Jahren noch gar nicht lieben
+kannst&nbsp;... Jetzt weißt du′s.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p class="regie">(sich erhebend)</p>
+
+<p>Großer &mdash; Gott &mdash; im Himmel!</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Jetzt weißt du, welche Prüfungen dir bevorstehen!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>&mdash; Und das ist alles?</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>So wahr mir Gott helfe! &mdash; &mdash; Nimm nun
+den Korb da und geh zu Ina hinunter. Du
+bekommst dort Schokolade und Kuchen dazu. &mdash;
+Komm, laß dich noch einmal betrachten &mdash; die
+Schnürstiefel, die seidenen Handschuhe, die Matrosentaille,
+die Rosen im Haar ...... dein Röckchen<span class="pagenum"><a name="Seite_66" id="Seite_66">[66]</a></span>
+wird dir aber wahrhaftig nachgerade zu kurz,
+Wendla!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Hast du für Mittag schon Fleisch gebracht,
+Mütterchen?</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Der liebe Gott behüte dich und segne dich!
+&mdash; Ich werde dir gelegentlich eine Handbreit
+Volants unten ansetzen.</p>
+
+
+<h3>Dritte Szene</h3>
+
+<p class="regie"><i class="gesperrt">Hänschen Rilow</i> (ein Licht in der Hand, verriegelt
+die Tür hinter sich und öffnet den Deckel).</p>
+
+<p>Hast du zu Nacht gebetet, Desdemona?</p>
+
+<p class="regie">(Er zieht eine Reproduktion der Venus von Palma
+Vecchio aus dem Busen.)</p>
+
+<p>&mdash; Du siehst mir nicht nach Vaterunser aus,
+Holde &mdash; kontemplativ des Kommenden gewärtig,
+wie in dem süßen Augenblick aufkeimender Glückseligkeit,
+als ich dich bei Jonathan Schlesinger
+im Schaufenster liegen sah &mdash; ebenso berückend
+noch diese geschmeidigen Glieder, diese sanfte
+Wölbung der Hüften, diese jugendlich straffen
+Brüste &mdash; o, wie berauscht von Glück muß der
+große Meister gewesen sein, als das vierzehnjährige
+Original vor seinen Blicken hingestreckt auf dem
+Diwan lag!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_67" id="Seite_67">[67]</a></span></p>
+
+<p>Wirst du mich auch bisweilen im Traum
+besuchen? &mdash; Mit ausgebreiteten Armen empfang′
+ich dich und will dich küssen, daß dir der Atem
+ausgeht. Du ziehst bei mir ein wie die angestammte
+Herrin in ihr verödetes Schloß. Tor
+und Türen öffnen sich von unsichtbarer Hand,
+während der Springquell unten im Parke fröhlich
+zu plätschern beginnt&nbsp;...</p>
+
+<p>Die Sache will′s! &mdash; Die Sache will′s! &mdash;
+Daß ich nicht aus frivoler Regung morde, sagt
+dir das fürchterliche Pochen in meiner Brust.
+Die Kehle schnürt sich mir zu im Gedanken an
+meine einsamen Nächte. Ich schwöre dir bei
+meiner Seele, Kind, daß nicht Überdruß mich
+beherrscht. Wer wollte sich rühmen, deiner überdrüssig
+geworden zu sein!</p>
+
+<p>Aber du saugst mir das Mark aus den Knochen,
+du krümmst mir den Rücken, du raubst meinen
+jungen Augen den letzten Glanz. &mdash; Du bist mir
+zu anspruchsvoll in deiner unmenschlichen Bescheidenheit,
+zu aufreibend mit deinen unbeweglichen
+Gliedmaßen! &mdash; Du oder ich! &mdash; und ich habe
+den Sieg davongetragen.</p>
+
+<p>Wenn ich sie herzählen wollte &mdash; all die
+Entschlafenen, mit denen ich hier den nämlichen
+Kampf gekämpft! &mdash;: Psyche von <em class="gesperrt">Thumann</em><span class="pagenum"><a name="Seite_68" id="Seite_68">[68]</a></span>
+&mdash; noch ein Vermächtnis der spindeldürren Mademoiselle
+<em class="gesperrt">Angelique</em>, dieser Klapperschlange im
+Paradies meiner Kinderjahre; Io von <em class="gesperrt">Corregio</em>;
+Galathea von <em class="gesperrt">Lossow</em>; dann ein Amor von
+<em class="gesperrt">Bouguereau</em>; Ada von <em class="gesperrt">J. van Beers</em> &mdash;
+diese Ada, die ich Papa aus einem Geheimfach
+seines Sekretärs entführen mußte, um sie meinem
+Harem einzuverleiben; eine zitternde, zuckende Leda
+von <em class="gesperrt">Makart</em>, die ich zufällig unter den Kollegienheften
+meines Bruders fand &mdash; <em class="gesperrt">sieben</em>, du
+blühende Todeskandidatin, sind dir vorangeeilt
+auf diesem Pfad in den Tartarus! Laß dir das
+zum Troste gereichen und suche nicht durch diese
+flehentlichen Blicke noch meine Qualen ins Ungeheure
+zu steigern.</p>
+
+<p>Du stirbst nicht um <em class="gesperrt">deiner</em>, du stirbst um
+<em class="gesperrt">meiner</em> Sünden willen! &mdash; Aus Notwehr gegen
+mich begehe ich blutenden Herzens den siebenten
+Gattenmord. Es liegt etwas Tragisches in der
+Rolle des <em class="gesperrt">Blaubart</em>. Ich glaube, seine gemordeten
+Frauen insgesamt litten nicht so viel
+wie er beim Erwürgen jeder einzelnen.</p>
+
+<p>Aber mein Gewissen wird ruhiger werden,
+mein Leib wird sich kräftigen, wenn du Teufelin
+nicht mehr in den rotseidenen Polstern meines
+Schmuckkästchens residierst. Statt deiner lasse ich<span class="pagenum"><a name="Seite_69" id="Seite_69">[69]</a></span>
+dann die Lurlei von <em class="gesperrt">Bodenhausen</em> oder die
+Verlassene von <em class="gesperrt">Linger</em> oder die Loni von <em class="gesperrt">Defregger</em>
+in das üppige Lustgemach einziehen &mdash;
+so werde ich mich um so rascher erholt haben!
+Noch ein Vierteljährchen vielleicht, und dein entschleiertes
+Josaphat, süße Seele, hätte an meinem
+armen Hirn zu zehren begonnen wie die Sonne
+am Butterkloß. Es war hohe Zeit, die Trennung
+von Tisch und Bett zu erwirken.</p>
+
+<p>Brrr, ich fühle einen Heliogabalus in mir!
+<span class="antiqua" lang="la" xml:lang="la">Moritura me salutat!</span> &mdash; Mädchen, Mädchen,
+warum preßt du deine Kniee zusammen? &mdash;
+warum auch jetzt noch? &mdash; &mdash; angesichts der
+unerforschlichen Ewigkeit?? &mdash; <em class="gesperrt">Eine</em> Zuckung,
+und ich gebe dich frei! &mdash; <em class="gesperrt">Eine</em> weibliche Regung,
+<em class="gesperrt">ein</em> Zeichen von Lüsternheit, von Sympathie,
+Mädchen! &mdash; ich will dich in Gold rahmen lassen,
+dich über meinem Bett aufhängen! &mdash; Ahnst du
+denn nicht, daß nur deine <em class="gesperrt">Keuschheit</em> meine
+Ausschweifungen gebiert? &mdash; Wehe, wehe über
+die Unmenschlichen!</p>
+
+<p>...&nbsp;Man merkt eben immer, daß sie eine
+musterhafte Erziehung genossen hat. &mdash; <em class="gesperrt">Mir
+geht es ja ebenso.</em></p>
+
+<p>Hast du zu Nacht gebetet, Desdemona?</p>
+
+<p>Das Herz krampft sich mir zusammen &mdash; &mdash;<span class="pagenum"><a name="Seite_70" id="Seite_70">[70]</a></span>
+Unsinn! &mdash; Auch die heilige <em class="gesperrt">Agnes</em> starb um
+ihrer Zurückhaltung willen und war nicht halb
+so nackt wie du! &mdash; Einen Kuß noch auf deinen
+blühenden Leib, &mdash; deine kindlich schwellende Brust
+&mdash; deine süßgerundeten &mdash; deine grausamen Kniee&nbsp;...</p>
+
+<p>Die Sache will′s, die Sache will′s, mein Herz!</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Laßt sie mich euch nicht nennen, keusche Sterne!</em></p>
+
+<p>Die Sache will′s! &mdash;</p>
+
+<p class="regie">(Das Bild fällt in die Tiefe; er schließt den Deckel)</p>
+
+
+<h3>Vierte Szene</h3>
+
+<p class="regie">Ein <i class="gesperrt">Heuboden</i> &mdash; <i class="gesperrt">Melchior</i> liegt auf dem Rücken
+im frischen Heu. <i class="gesperrt">Wendla</i> kommt die Leiter herauf.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Hier</em> hast du dich verkrochen? &mdash; Alles sucht
+dich. Der Wagen ist wieder hinaus. Du mußt
+helfen. Es ist ein Gewitter im Anzug.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Weg von mir! &mdash; Weg von mir!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Was ist dir denn? &mdash; Was verbirgst du dein
+Gesicht?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Fort, fort! &mdash; Ich werfe dich in die Tenne
+hinunter.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_71" id="Seite_71">[71]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Nun geh′ ich erst recht nicht. &mdash; <span class="regie">(Kniet neben
+ihm nieder)</span> Warum kommst du nicht mit auf
+die Matte hinaus, Melchior? &mdash; Hier ist es
+schwül und düster. Werden wir auch naß bis
+auf die Haut, was macht <em class="gesperrt">uns</em> das!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Das Heu duftet so herrlich. &mdash; Der Himmel
+draußen muß schwarz wie ein Bahrtuch sein. &mdash;
+Ich sehe nur noch den leuchtenden Mohn an
+deiner Brust &mdash; und dein Herz hör′ ich schlagen &mdash;</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>&mdash; &mdash; Nicht küssen, Melchior! &mdash; Nicht küssen!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>&mdash; dein Herz &mdash; hör′ ich schlagen &mdash;</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>&mdash; Man liebt sich &mdash; wenn man küßt
+&mdash; &mdash; &mdash; &mdash; Nicht, nicht! &mdash; &mdash;</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>O glaub mir, es gibt keine <em class="gesperrt">Liebe</em>! &mdash; Alles
+Eigennutz, alles Egoismus! &mdash; Ich liebe dich
+so wenig, wie du mich liebst. &mdash;</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>&mdash; &mdash; Nicht! &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; Nicht,
+Melchior! &mdash; &mdash;</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_72" id="Seite_72">[72]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>&mdash; &mdash; &mdash; Wendla!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>O Melchior! &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; nicht
+&mdash; &mdash; nicht &mdash; &mdash;</p>
+
+
+<h3>Fünfte Szene</h3>
+
+<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
+
+<p class="regie">(sitzt, schreibt):</p>
+
+<p class="center">
+Lieber Herr Stiefel!
+</p>
+
+<p>Nachdem ich 24 Stunden über alles, was Sie
+mir schreiben, nachgedacht und wieder nachgedacht,
+ergreife ich schweren Herzens die Feder. Den
+Betrag zur Überfahrt nach Amerika kann ich
+Ihnen &mdash; ich gebe Ihnen meine heiligste Versicherung
+&mdash; <em class="gesperrt">nicht</em> verschaffen. Erstens habe ich
+so viel nicht zu meiner Verfügung, und zweitens,
+wenn ich es hätte, wäre es die denkbar größte
+Sünde, Ihnen die Mittel zur Ausführung einer
+so folgenschweren Unbedachtsamkeit an die Hand
+zu geben. Bitter Unrecht würden Sie mir tun,
+Herr Stiefel, in dieser meiner Weigerung ein
+Zeichen mangelnder Liebe zu erblicken. Es wäre
+umgekehrt die gröbste Verletzung meiner Pflicht
+als Ihre mütterliche Freundin, wollte ich mich
+durch Ihre momentane Fassungslosigkeit dazu<span class="pagenum"><a name="Seite_73" id="Seite_73">[73]</a></span>
+bestimmen lassen, nun auch meinerseits den Kopf
+zu verlieren und meinen ersten nächstliegenden
+Impulsen blindlings nachzugeben. Ich bin gern
+bereit &mdash; falls Sie es wünschen &mdash; an Ihre
+Eltern zu schreiben. Ich werde Ihre Eltern
+davon zu überzeugen suchen, daß Sie im Laufe
+dieses Quartals getan haben, was Sie tun konnten,
+daß Sie Ihre Kräfte erschöpft, derart, daß eine
+rigorose Beurteilung Ihres Geschickes nicht nur
+ungerechtfertigt wäre, sondern in erster Linie im
+höchsten Grade nachteilig auf Ihren geistigen und
+körperlichen Gesundheitszustand wirken könnte.</p>
+
+<p>Daß Sie mir andeutungsweise drohen, im
+Fall Ihnen die Flucht nicht ermöglicht wird, sich
+das Leben nehmen zu wollen, hat mich, offen
+gesagt, Herr Stiefel, etwas befremdet. Sei ein
+Unglück noch so unverschuldet, man sollte sich nie
+und nimmer zur Wahl unlauterer Mittel hinreißen
+lassen. Die Art und Weise, wie Sie mich,
+die ich Ihnen stets nur Gutes erwiesen, für
+einen eventuellen entsetzlichen Frevel Ihrerseits
+verantwortlich machen wollen, hat etwas, das in
+den Augen eines <em class="gesperrt">schlecht</em>denkenden Menschen gar
+zu leicht zum Erpressungsversuch werden könnte.
+Ich muß gestehen, daß ich mir dieses Vorgehens
+von Ihnen, der Sie doch sonst so gut wissen,<span class="pagenum"><a name="Seite_74" id="Seite_74">[74]</a></span>
+was man sich selber schuldet, zu allerletzt gewärtig
+gewesen wäre. Indessen hege ich die feste Überzeugung,
+daß Sie noch zu sehr unter dem Eindruck
+des ersten Schreckens standen, um sich Ihrer
+Handlungsweise vollkommen bewußt werden zu
+können.</p>
+
+<p>Und so hoffe ich denn auch zuversichtlich, daß
+diese meine Worte Sie bereits in gefaßterer Gemütsstimmung
+antreffen. Nehmen Sie die Sache,
+wie sie liegt. Es ist meiner Ansicht nach
+durchaus unzulässig, einen jungen Mann nach
+seinen Schulzeugnissen zu beurteilen. Wir haben
+zu viele Beispiele, daß sehr schlechte Schüler vorzügliche
+Menschen geworden und umgekehrt
+ausgezeichnete Schüler sich im Leben nicht sonderlich
+bewährt haben. Auf jeden Fall gebe ich
+Ihnen die Versicherung, daß Ihr Mißgeschick,
+soweit das von mir abhängt, in Ihrem Verkehr
+mit <em class="gesperrt">Melchior</em> nichts ändern soll. Es wird mir
+stets zur Freude gereichen, meinen Sohn mit
+einem jungen Manne umgehn zu sehen, der sich,
+mag ihn nun die Welt beurteilen wie sie will,
+auch meine vollste Sympathie zu gewinnen vermochte.</p>
+
+<p>Und somit Kopf hoch, Herr Stiefel! &mdash; Solche
+Krisen dieser oder jener Art treten an jeden von<span class="pagenum"><a name="Seite_75" id="Seite_75">[75]</a></span>
+uns heran und wollen eben überstanden sein.
+Wollte da ein jeder gleich zu Dolch und Gift
+greifen, es möchte recht bald keine Menschen
+mehr auf der Welt geben. Lassen Sie bald
+wieder etwas von sich hören und seien Sie
+herzlich gegrüßt von Ihrer Ihnen unverändert
+zugetanen</p>
+
+<p class="center">mütterlichen Freundin</p>
+<p class="right">Fanny G.</p>
+
+
+<h3>Sechste Szene</h3>
+
+<p class="regie"><i class="gesperrt">Bergmanns Garten im Morgensonnenglanz</i></p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Warum hast du dich aus der Stube geschlichen?
+&mdash; Veilchen suchen! &mdash; Weil mich
+Mutter lächeln sieht. &mdash; Warum bringst du auch
+die Lippen nicht mehr zusammen? &mdash; Ich weiß
+nicht. &mdash; Ich weiß es ja nicht, ich finde nicht
+Worte&nbsp;...</p>
+
+<p>Der Weg ist wie ein Pelücheteppich &mdash; kein
+Steinchen, kein Dorn. &mdash; Meine Füße berühren
+den Boden nicht&nbsp;... O, wie ich die Nacht geschlummert
+habe!</p>
+
+<p>Hier standen sie. &mdash; Mir wird ernsthaft wie
+einer Nonne beim Abendmahl. &mdash; Süße Veilchen!
+&mdash; Ruhig, Mütterchen. Ich will mein Bußgewand<span class="pagenum"><a name="Seite_76" id="Seite_76">[76]</a></span>
+anziehn. &mdash; Ach Gott, wenn jemand
+käme, dem ich um den Hals fallen und erzählen
+könnte!</p>
+
+
+<h3>Siebente Szene</h3>
+
+<p class="regie"><i class="gesperrt">Abenddämmerung</i>. Der Himmel ist leicht bewölkt.
+Der Weg schlängelt sich durch niedres Gebüsch und
+Riedgras. In einiger Entfernung hört man den Fluß
+rauschen.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Besser ist besser. &mdash; Ich passe nicht hinein.
+Mögen sie einander auf die Köpfe steigen. &mdash;
+Ich ziehe die Tür hinter mir zu und trete ins
+Freie. &mdash; Ich gebe nicht so viel darum, mich
+herumdrücken zu lassen.</p>
+
+<p>Ich habe mich nicht aufgedrängt. Was soll
+ich mich jetzt aufdrängen! &mdash; Ich habe keinen
+Vertrag mit dem lieben Gott. Mag man die
+Sache drehen, wie man sie drehen will. Man
+hat mich gepreßt. &mdash; Meine Eltern mache ich
+nicht verantwortlich. Immerhin mußten sie auf
+das Schlimmste gefaßt sein. Sie waren alt
+genug, um zu wissen, was sie taten. Ich war
+ein Säugling, als ich zur Welt kam &mdash; sonst wär′
+ich wohl auch noch so schlau gewesen, ein anderer
+zu werden. &mdash; Was soll ich dafür büßen,
+daß alle andern schon da waren!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_77" id="Seite_77">[77]</a></span></p>
+
+<p>Ich müßte ja auf den Kopf gefallen sein ...
+macht mir jemand einen tollen Hund zum Geschenk,
+dann gebe ich ihm seinen tollen Hund zurück.
+Und will er seinen tollen Hund nicht zurücknehmen,
+dann bin ich menschlich und&nbsp;...</p>
+
+<p>Ich müßte ja auf den Kopf gefallen sein!</p>
+
+<p>Man wird ganz per Zufall geboren und
+sollte nicht nach reiflichster Überlegung &mdash; &mdash; &mdash;
+es ist zum Totschießen!</p>
+
+<p>&mdash; Das Wetter zeigt sich wenigstens rücksichtsvoll.
+Den ganzen Tag sah es nach Regen
+aus und nun hat es sich doch gehalten. &mdash; Es
+herrscht eine seltene Ruhe in der Natur. Nirgends
+etwas Grelles, Aufreizendes. Himmel und Erde
+sind wie durchsichtiges Spinnewebe. Und dabei
+scheint sich alles so wohl zu fühlen. Die Landschaft
+ist lieblich wie eine Schlummermelodie &mdash;
+„<em class="gesperrt">schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein</em>“, wie
+Fräulein <em class="gesperrt">Snandulia</em> sang. Schade, daß sie die
+Ellbogen ungraziös hält! &mdash; Am Cäcilienfest
+habe ich zum letzten Male getanzt. <em class="gesperrt">Snandulia</em>
+tanzt nur mit Partien. Ihre Seidenrobe war
+hinten und vorn ausgeschnitten. Hinten bis auf
+den Taillengürtel und vorne bis zur Bewußtlosigkeit.
+&mdash; Ein Hemd kann sie nicht angehabt haben&nbsp;...
+&mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_78" id="Seite_78">[78]</a></span></p>
+
+<p>&mdash; das wäre etwas, was mich noch fesseln
+könnte. &mdash; Mehr der Kuriosität halber. &mdash; Es
+muß ein sonderbares Empfinden sein &mdash; &mdash; ein
+Gefühl, als würde man über Stromschnellen gerissen
+&mdash; &mdash; &mdash; Ich werde es niemandem sagen,
+daß ich unverrichteter Sache wiederkehre. Ich
+werde so tun, als hätte ich alles das mitgemacht&nbsp;... Es hat etwas Beschämendes, Mensch gewesen
+zu sein, ohne das Menschlichste kennen gelernt
+zu haben. &mdash; Sie kommen aus <em class="gesperrt">Ägypten</em>, verehrter
+Herr, und haben die <em class="gesperrt">Pyramiden</em> nicht
+gesehn?!</p>
+
+<p>Ich will heute nicht wieder weinen. Ich will
+nicht wieder an mein Begräbnis denken &mdash; &mdash;
+<em class="gesperrt">Melchior</em> wird mir einen Kranz auf den Sarg
+legen. Pastor <em class="gesperrt">Kahlbauch</em> wird meine Eltern
+trösten. Rektor <em class="gesperrt">Sonnenstich</em> wird Beispiele
+aus der Geschichte zitieren. &mdash; Einen Grabstein
+werd′ ich ja wahrscheinlich nicht bekommen. Ich
+hätte mir eine schneeweiße Marmorurne auf
+schwarzem Syenitsockel gewünscht &mdash; ich werde
+sie ja gottlob nicht vermissen. Die Denkmäler
+sind für die Lebenden, nicht für die Toten.</p>
+
+<p>Ich brauchte wohl ein Jahr, um in Gedanken
+von allem Abschied zu nehmen. Ich will nicht
+wieder weinen. Ich bin so froh, ohne Bitterkeit<span class="pagenum"><a name="Seite_79" id="Seite_79">[79]</a></span>
+zurückblicken zu dürfen. Wie manchen schönen
+Abend ich mit <em class="gesperrt">Melchior</em> verlebt habe! &mdash; unter
+den Uferweiden; beim Forsthaus; am Heerweg
+draußen, wo die fünf Linden stehen; auf dem
+Schloßberg, zwischen den lauschigen Trümmern
+der Runenburg &mdash; &mdash; &mdash; Wenn die Stunde gekommen,
+will ich aus Leibeskräften an Schlagsahne
+denken. Schlagsahne hält nicht auf. Sie
+stopft und hinterläßt dabei doch einen angenehmen
+Nachgeschmack&nbsp;... Auch die Menschen hatte ich
+mir unendlich schlimmer gedacht. Ich habe keinen
+gefunden, der nicht sein Bestes gewollt hätte. Ich
+habe manchen bemitleidet um meinetwillen.</p>
+
+<p>Ich wandle zum Altar wie der Jüngling im
+alten Etrurien, dessen letztes Röcheln der Brüder
+Wohlergehen für das kommende Jahr erkauft.
+&mdash; Ich durchkoste Zug für Zug die geheimnisvollen
+Schauer der Loslösung. Ich schluchze vor
+Wehmut über mein Los. &mdash; &mdash; Das Leben hat
+mir die kalte Schulter gezeigt. Von drüben her
+sehe ich ernste freundliche Blicke winken: die kopflose
+Königin, die kopflose Königin &mdash; Mitgefühl,
+mich mit weichen Armen erwartend&nbsp;... Eure
+Gebote gelten für Unmündige; ich trage mein
+Freibillett in mir. Sinkt die Schale, dann
+flattert der Falter davon; das Trugbild geniert<span class="pagenum"><a name="Seite_80" id="Seite_80">[80]</a></span>
+nicht mehr. &mdash; Ihr solltet kein tolles Spiel mit
+dem Schwindel treiben! Der Nebel zerrinnt;
+das Leben ist Geschmacksache.</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p class="regie">(in abgerissenen Kleidern, ein buntes Tuch um den Kopf,
+faßt ihn von rückwärts an der Schulter)</p>
+
+<p>Was hast du verloren?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Ilse?!</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Was suchst du hier?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Was erschreckst du mich so?</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Was suchst du? &mdash; Was hast du verloren?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Was erschreckst du mich denn so entsetzlich?</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Ich komme aus der Stadt. &mdash; Ich gehe nach Hause.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Ich weiß nicht, was ich verloren habe.</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Dann hilft auch dein Suchen nichts.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Sakerment, Sakerment!!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_81" id="Seite_81">[81]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Seit vier Tagen bin ich nicht zu Hause gewesen.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>&mdash; Lautlos wie eine Katze!</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Weil ich meine Ballschuhe anhabe. &mdash; Mutter
+wird Augen machen! &mdash; Komm bis an unser
+Haus mit!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Wo hast du wieder herumgestrolcht?</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>In der <em class="gesperrt">Priapia</em>!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Priapia</em>?</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Bei <em class="gesperrt">Nohl</em>, bei <em class="gesperrt">Fehrendorf</em>, bei <em class="gesperrt">Padinsky</em>,
+bei <em class="gesperrt">Lenz</em>, <em class="gesperrt">Rank</em>, <em class="gesperrt">Spühler</em> &mdash; bei allen
+möglichen! &mdash; Kling, kling &mdash; die wird springen!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Malen sie dich?</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Fehrendorf</em> malt mich als Säulenheilige. Ich
+stehe auf einem korinthischen Kapitäl. <em class="gesperrt">Fehrendorf</em>,
+sag′ ich dir, ist eine verhauene Nudel. Das
+letzte Mal zertrat ich ihm eine Tube. Er wischt
+mir die Pinsel ins Haar. Ich versetze ihm eine<span class="pagenum"><a name="Seite_82" id="Seite_82">[82]</a></span>
+Ohrfeige. Er wirft mir die Palette an den Kopf.
+Ich werfe die Staffelei um. Er mit dem Malstock
+hinter mir drein über Divan, Tische, Stühle,
+ringsum durchs Atelier. Hinterm Ofen lag eine
+Skizze: &mdash; Brav sein, oder ich zerreiße sie!
+&mdash; Er schwor Amnestie und hat mich dann
+schließlich noch schrecklich &mdash; schrecklich, sag′ ich
+dir &mdash; abgeküßt.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Wo übernachtest du, wenn du in der Stadt bleibst?</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Gestern waren wir bei <em class="gesperrt">Nohl</em> &mdash; vorgestern
+bei <em class="gesperrt">Bojokewitsch</em> &mdash; am Sonntag bei <em class="gesperrt">Oikonomopulos</em>.
+Bei <em class="gesperrt">Padinsky</em> gab′s Sekt. <em class="gesperrt">Valabregez</em>
+hatte seinen Pestkranken verkauft.
+<em class="gesperrt">Adolar</em> trank aus dem Aschenbecher. <em class="gesperrt">Lenz</em> sang
+die <em class="gesperrt">Kindsmörderin</em>, und <em class="gesperrt">Adolar</em> schlug die
+Guitarre krumm. Ich war so betrunken, daß
+sie mich zu Bett bringen mußten. &mdash; &mdash; Du
+gehst immer noch zur Schule, Moritz?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Nein, nein ... dieses Quartal nehme ich
+meine Entlassung.</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Du hast Recht. Ach, wie die Zeit vergeht,
+wenn man Geld verdient! &mdash; Weißt du noch,<span class="pagenum"><a name="Seite_83" id="Seite_83">[83]</a></span>
+wie wir <em class="gesperrt">Räuber</em> spielten? &mdash; <em class="gesperrt">Wendla Bergmann</em>
+und du und ich und die Andern, wenn
+ihr abends herauskamt und kuhwarme Ziegenmilch
+bei uns trankt? &mdash; Was macht <em class="gesperrt">Wendla</em>?
+Ich sah sie noch bei der Überschwemmung. &mdash;
+Was macht <em class="gesperrt">Melchi Gabor</em>? &mdash; Schaut er noch
+so tiefsinnig drein? &mdash; In der Singstunde standen
+wir einander gegenüber.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Er philosophiert.</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Wendla</em> war derweil bei uns und hat der
+Mutter Eingemachtes gebracht. Ich saß den Tag
+bei Isidor Landauer. Er braucht mich zur heiligen
+Maria, Mutter Gottes, mit dem Christuskind.
+Er ist ein Tropf und widerlich. Hu, wie ein
+Wetterhahn! &mdash; Hast du Katzenjammer?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Von gestern Abend! &mdash; Wir haben wie Nilpferde
+gezecht. Um fünf Uhr wankt′ ich nach
+Hause.</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Man braucht dich nur anzusehn. &mdash; Waren
+Mädchen dabei?</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_84" id="Seite_84">[84]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Arabella, die Biernymphe, Andalusierin! &mdash;
+Der Wirt ließ uns Alle die ganze Nacht durch
+mit ihr allein.</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Man braucht dich nur anzusehen, Moritz! &mdash;
+Ich kenne keinen Katzenjammer. Vergangenen
+Karneval kam ich drei Tage und drei Nächte
+in kein Bett und nicht aus den Kleidern. Von
+der Redoute ins Café, Mittags in Bellavista,
+Abends Tingl-Tangl, Nachts zur Redoute. <em class="gesperrt">Lena</em>
+war dabei und die dicke <em class="gesperrt">Viola</em>. &mdash; In der
+dritten Nacht fand mich <em class="gesperrt">Heinrich</em>.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Hatte er dich denn gesucht?</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Er war über meinen Arm gestolpert. Ich
+lag bewußtlos im Straßenschnee. &mdash; Darauf kam
+ich zu ihm hin. Vierzehn Tage verließ ich seine
+Behausung nicht &mdash; eine gräuliche Zeit! &mdash;
+Morgens mußte ich seinen persischen Schlafrock
+überwerfen und abends in schwarzem Pagenkostüm
+durchs Zimmer gehn; an Hals, an Knien
+und Ärmeln weiße Spitzenaufschläge. Täglich
+photographierte er mich in anderem Arrangement<span class="pagenum"><a name="Seite_85" id="Seite_85">[85]</a></span>
+&mdash; einmal auf der Sofalehne als Ariadne, einmal
+als Leda, einmal als Ganymed, einmal auf
+allen Vieren als weiblichen Nebuchod-Nosor. Dabei
+schwärmte er von Umbringen, von Erschießen,
+Selbstmord und Kohlendampf. Frühmorgens nahm
+er eine Pistole ins Bett, lud sie voll Spitzkugeln
+und setzte sie mir auf die Brust: Ein Zwinkern,
+so drück′ ich! &mdash; O, er hätte gedrückt, Moritz;
+er hätte gedrückt! &mdash; Dann nahm er das Dings
+in den Mund wie ein Pusterohr. Das wecke
+den Selbsterhaltungstrieb. Und dann &mdash; Brrrr
+&mdash; die Kugel wäre mir durchs Rückgrat gegangen.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Lebt <em class="gesperrt">Heinrich</em> noch?</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Was weiß ich! &mdash; Über dem Bett war ein
+Deckenspiegel im Plafond eingelassen. Das
+Kabinet schien turmhoch und hell wie ein Opernhaus.
+Man sah sich leibhaftig vom Himmel
+herunterhängen. Grauenvoll habe ich die Nächte
+geträumt. &mdash; Gott, o Gott, wenn es erst wieder
+Tag würde! &mdash; Gute Nacht, Ilse. Wenn du
+schläfst, bist du zum Morden schön!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Lebt dieser <em class="gesperrt">Heinrich</em> noch?</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_86" id="Seite_86">[86]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>So Gott will, nicht! &mdash; Wie er eines Tages
+Absynth holt, werfe ich den Mantel um und
+schleiche mich auf die Straße. Der Fasching
+war aus; die Polizei fängt mich ab; was ich
+in Mannskleidern wolle? &mdash; Sie brachten mich
+zur Hauptwache. Da kamen <em class="gesperrt">Nohl</em>, <em class="gesperrt">Fehrendorf</em>,
+<em class="gesperrt">Padinsky</em>, <em class="gesperrt">Spühler</em>, <em class="gesperrt">Oikonomopulos</em>,
+die ganze <em class="gesperrt">Priapia</em>, und bürgten für mich.
+Im Fiaker transportierten sie mich auf <em class="gesperrt">Adolars</em>
+Atelier. Seither bin ich der Horde treu. <em class="gesperrt">Fehrendorf</em>
+ist ein Affe, <em class="gesperrt">Nohl</em> ist ein Schwein,
+<em class="gesperrt">Bojokewitsch</em> ein Uhu, <em class="gesperrt">Loison</em> eine Hyäne,
+<em class="gesperrt">Oikonomopulos</em> ein Kameel &mdash; darum lieb′
+ich sie doch Einen wie den Andern und möchte
+mich an sonst niemand hängen, und wenn die
+Welt voll Erzengel und Millionäre wär′!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>&mdash; Ich muß zurück, Ilse.</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Komm bis an unser Haus mit!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>&mdash; Wozu? &mdash; Wozu? &mdash;</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Kuhwarme Ziegenmilch trinken! &mdash; Ich will
+dir Locken brennen und dir ein Glöcklein um<span class="pagenum"><a name="Seite_87" id="Seite_87">[87]</a></span>
+den Hals hängen. &mdash; Wir haben auch noch ein
+Hü-Pferdchen, mit dem du spielen kannst.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Ich muß zurück. &mdash; Ich habe noch die Sassaniden,
+die Bergpredigt und das Parallelepipedon
+auf dem Gewissen. &mdash; Gute Nacht, Ilse!</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Schlummre süß! ... Geht ihr wohl noch
+zum <em class="gesperrt">Wigwam</em> hinunter, wo <em class="gesperrt">Melchi Gabor</em>
+mein Tomahawk begrub? &mdash; Brrr! Bis es an
+euch kommt, lieg′ ich im Kehricht. <span class="regie">(Eilt davon.)</span></p>
+
+<p class="sprecher">Moritz <span class="regie">(allein)</span></p>
+
+<p>&mdash; &mdash; &mdash; Ein Wort hätte es gekostet. &mdash;
+<span class="regie">(Er ruft)</span> &mdash; Ilse! &mdash; Ilse! &mdash; &mdash; Gottlob
+sie hört nicht mehr.</p>
+
+<p>&mdash; Ich bin in der Stimmung nicht. &mdash; Dazu
+bedarf es eines freien Kopfes und eines
+fröhlichen Herzens. &mdash; Schade, schade um die
+Gelegenheit!</p>
+
+<p>...&nbsp;ich werde sagen, ich hätte mächtige
+Kristallspiegel über meinen Betten gehabt &mdash;
+hätte mir ein unbändiges Füllen gezogen &mdash;
+hätte es in langen schwarzseidenen Strümpfen
+und schwarzen Lackstiefeln und schwarzen, langen
+Glacé-Handschuhen, schwarzen Samt um den<span class="pagenum"><a name="Seite_88" id="Seite_88">[88]</a></span>
+Hals, über den Teppich an mir vorbeistolzieren
+lassen &mdash; hätte es in einem Wahnsinnsanfall in
+meinen Kissen erwürgt ... ich werde lächeln
+wenn von Wollust die Rede ist ... ich werde &mdash;</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Aufschreien! &mdash; Aufschreien! &mdash; Du sein,
+Ilse! &mdash; Priapia! &mdash; Besinnungslosigkeit!
+&mdash; Das nimmt die Kraft mir! &mdash; Dieses
+Glückskind, dieses Sonnenkind &mdash; dieses
+Freudenmädchen auf meinem Jammerweg!
+&mdash; &mdash; O! &mdash; O!</em></p>
+
+<p class="center">
+&mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash;<br />
+&mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash;
+</p>
+
+<p class="regie">(Im Ufergebüsch)</p>
+
+<p>Hab′ ich sie doch unwillkürlich wiedergefunden
+&mdash; die Rasenbank. Die Königskerzen scheinen
+gewachsen seit gestern. Der Ausblick zwischen
+den Weiden durch ist derselbe noch. &mdash; Der Fluß
+zieht schwer wie geschmolzenes Blei. Daß ich
+nicht vergesse ... <span class="regie">(er zieht Frau Gabors Brief aus
+der Tasche und verbrennt ihn)</span> &mdash; Wie die Funken
+irren &mdash; hin und her, kreuz und quer &mdash; Seelen!
+&mdash; Sternschnuppen! &mdash;</p>
+
+<p>Eh′ ich angezündet, sah man die Gräser noch
+und einen Streifen am Horizont. &mdash; Jetzt ist es
+dunkel geworden. Jetzt gehe ich nicht mehr nach
+Hause.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_89" id="Seite_89">[89]</a></span></p>
+
+
+<h2><a name="Dritter_Akt" id="Dritter_Akt"></a>Dritter Akt</h2>
+
+<h3>Erste Szene</h3>
+
+<p class="regie"><i class="gesperrt">Konferenzzimmer</i>. &mdash; An den Wänden die Bildnisse
+von Pestalozzi und J. J. Rousseau. Um einen grünen
+Tisch, über dem mehrere Gasflammen brennen, sitzen die
+Professoren <i class="gesperrt">Affenschmalz</i>, <i class="gesperrt">Knüppeldick</i>, <i class="gesperrt">Hungergurt</i>,
+<i class="gesperrt">Knochenbruch</i>, <i class="gesperrt">Zungenschlag</i> und <i class="gesperrt">Fliegentod</i>.
+Am oberen Ende auf erhöhtem Sessel Rektor
+<i class="gesperrt">Sonnenstich</i>. Pedell <i class="gesperrt">Habebald</i> kauert neben der Tür.</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>....Sollte einer der Herren noch etwas zu
+bemerken haben? &mdash; &mdash; Meine Herren! &mdash; Wenn
+wir nicht umhin können, bei einem hohen Kultusministerium
+die Relegation unseres schuldbeladenen
+Schülers zu beantragen, so können wir das aus
+den schwerwiegendsten Gründen nicht. Wir können
+es nicht, um das bereits hereingebrochene Unglück
+zu sühnen, wir können es eben so wenig, um
+unsere Anstalt für die Zukunft vor ähnlichen
+Schlägen sicher zu stellen. Wir können es nicht,
+um unseren schuldbeladenen Schüler für den
+demoralisirenden Einfluß, den er auf seinen Klassengenossen
+ausgeübt, zu züchtigen; wir können es<span class="pagenum"><a name="Seite_90" id="Seite_90">[90]</a></span>
+zu allerletzt, um ihn zu verhindern, den nämlichen
+Einfluß auf seine übrigen Klassengenossen
+auszuüben. Wir können es &mdash; und der, meine
+Herren, möchte der schwerwiegendste sein &mdash;
+aus dem jeden Einwand niederschlagenden Grunde
+nicht, weil wir unsere Anstalt vor den Verheerungen
+einer Selbstmord-Epidemie zu schützen
+haben, wie sie bereits an verschiedenen Gymnasien
+zum Ausbruch gelangt und bis heute allen
+Mitteln, den Gymnasiasten an seine durch seine
+Heranbildung zum Gebildeten gebildeten Existenzbedingungen
+zu fesseln, gespottet hat. &mdash; &mdash; Sollte
+einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?</p>
+
+<p class="sprecher">Knüppeldick</p>
+
+<p>Ich kann mich nicht länger der Überzeugung
+verschließen, daß es endlich an der Zeit wäre,
+irgendwo ein Fenster zu öffnen.</p>
+
+<p class="sprecher">Zungenschlag</p>
+
+<p>Es he-herrscht hier eine A-A-Atmosphäre
+wie in unterirdischen Kata-Katakomben, wie in
+den A-Aktensälen des weiland Wetzlarer Ka-Ka-Ka-Ka-Kammergerichtes.</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Habebald!</p>
+
+<p class="sprecher">Habebald</p>
+
+<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_91" id="Seite_91">[91]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Öffnen Sie ein Fenster! Wir haben Gott sei
+Dank Atmosphäre genug draußen. &mdash; Sollte
+einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?</p>
+
+<p class="sprecher">Fliegentod</p>
+
+<p>Wenn meine Herren Kollegen ein Fenster
+öffnen lassen wollen, so habe ich meinerseits nichts
+dagegen einzuwenden. Nur möchte ich bitten,
+das Fenster nicht gerade hinter meinem Rücken
+öffnen lassen zu wollen!</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Habebald!</p>
+
+<p class="sprecher">Habebald</p>
+
+<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Öffnen Sie das andere Fenster! &mdash; &mdash; Sollte
+einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?</p>
+
+<p class="sprecher">Hungergurt</p>
+
+<p>Ohne die Kontroverse meinerseits belasten zu
+wollen, möchte ich an die Tatsache erinnern, daß
+das andere Fenster seit den Herbstferien zugemauert
+ist.</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Habebald!</p>
+
+<p class="sprecher">Habebald</p>
+
+<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_92" id="Seite_92">[92]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Lassen Sie das andere Fenster geschlossen! &mdash;
+Ich sehe mich genötigt, meine Herren, den
+Antrag zur Abstimmung zu bringen. Ich ersuche
+diejenigen Herren Kollegen, die dafür sind, daß
+das einzig in Frage kommen könnende Fenster geöffnet
+werde, sich von ihren Sitzen zu erheben.
+<span class="regie">(Er zählt)</span> &mdash; Eins, zwei, drei. &mdash; Eins, zwei
+drei. &mdash; Habebald!</p>
+
+<p class="sprecher">Habebald</p>
+
+<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Lassen Sie das eine Fenster gleichfalls geschlossen!
+&mdash; Ich meinerseits hege die Überzeugung,
+daß die Atmosphäre nichts zu wünschen
+übrig läßt! &mdash; &mdash; Sollte einer der Herren noch
+etwas zu bemerken haben? &mdash; &mdash; Meine Herren!
+&mdash; Setzen wir den Fall, daß wir die Relegation
+unseres schuldbeladenen Schülers bei einem hohen
+Kultusministerium zu beantragen unterlassen, so
+wird <em class="gesperrt">uns</em> ein hohes Kultusministerium für das
+hereingebrochene Unglück verantwortlich machen.
+Von den verschiedenen von der Selbstmord-Epidemie
+heimgesuchten Gymnasien sind diejenigen,
+in denen fünfundzwanzig Prozent den Verheerungen
+der Selbstmord-Epidemie zum Opfer gefallen,<span class="pagenum"><a name="Seite_93" id="Seite_93">[93]</a></span>
+von einem hohen Kultusministerium suspendiert
+worden. Vor diesem erschütterndsten
+Schlage unsere Anstalt zu wahren, ist unsere
+Pflicht als Hüter und Bewahrer unserer Anstalt.
+Es schmerzt uns tief, meine Herren Kollegen,
+daß wir die sonstige Qualifikation unseres schuldbeladenen
+Schülers als mildernden Umstand
+gelten zu lassen nicht in der Lage sind. Ein
+nachsichtiges Verfahren, das sich unserem schuldbeladenen
+Schüler gegenüber rechtfertigen ließe,
+ließe sich der zur Zeit in denkbar bedenklichster
+Weise gefährdeten Existenz unserer Anstalt gegenüber
+<em class="gesperrt">nicht</em> rechtfertigen. Wir sehen uns in die
+Notwendigkeit versetzt, den Schuldbeladenen zu
+richten, um nicht als die Schuldlosen gerichtet zu
+werden. &mdash; Habebald!</p>
+
+<p class="sprecher">Habebald</p>
+
+<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Führen Sie ihn herauf!</p>
+
+<p class="regie">(Habebald ab.)</p>
+
+<p class="sprecher">Zungenschlag</p>
+
+<p>Wenn die he-herrschende A-A-Atmosphäre
+maßgebenderseits wenig oder nichts zu wünschen
+übrig läßt, so möchte ich den Antrag stellen,<span class="pagenum"><a name="Seite_94" id="Seite_94">[94]</a></span>
+während der So-Sommerferien auch noch das
+andere Fenster zu-zu-zu-zu-zu-zu-zu-zu-zuzumauern!</p>
+
+<p class="sprecher">Fliegentod</p>
+
+<p>Wenn unserem lieben Kollega Zungenschlag
+unser Lokal nicht genügend ventiliert erscheint, so
+möchte ich den Auftrag stellen, unserm lieben
+Herrn Kollega Zungenschlag einen Ventilator
+in die Stirnhöhle applizieren zu lassen.</p>
+
+<p class="sprecher">Zungenschlag</p>
+
+<p>Da-da-das brauche ich mir nicht gefallen zu
+lassen! &mdash; Gro-Grobheiten brauche ich mir
+nicht gefallen zu lassen! &mdash; Ich bin meiner fü-fü-fü-fü-fünf
+Sinne mächtig&nbsp;...!</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Ich muß unsere Herren Kollegen Fliegentod
+und Zungenschlag um einigen Anstand ersuchen.
+Unser schuldbeladener Schüler scheint mir bereits
+auf der Treppe zu sein.</p>
+
+<p class="regie">(Habebald öffnet die Türe, worauf <i class="gesperrt">Melchior</i>, bleich
+aber gefaßt, vor die Versammlung tritt.)</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Treten Sie näher an den Tisch heran! &mdash; Nachdem
+Herr Rentier Stiefel von dem ruchlosen
+Frevel seines Sohnes Kenntnis erhalten, durchsuchte
+der fassungslose Vater, in der Hoffnung, auf
+diesem Wege möglicherweise dem Anlaß der<span class="pagenum"><a name="Seite_95" id="Seite_95">[95]</a></span>
+verabscheuungswürdigen Untat auf die Spur zu
+kommen, die hinterlassenen Effekten seines Sohnes
+Moritz und stieß dabei an einem nicht zur Sache
+gehörigen Orte auf ein Schriftstück, welches uns
+ohne noch die verabscheuungswürdige Untat an
+sich verständlich zu machen, für die dabei maßgebend
+gewesene moralische Zerrüttung des Untäters
+eine leider nur allzu ausreichende Erklärung
+liefert. Es handelt sich um eine in Gesprächsform
+abgefaßte, „<cite class="gesperrt">Der Beischlaf</cite>“ betitelte,
+mit lebensgroßen Abbildungen versehene,
+von den schamlosesten Unfläthereien strotzende,
+zwanzig Seiten lange Abhandlung, die den geschraubtesten
+Anforderungen, die ein verworfener
+Lüstling an eine unzüchtige Lektüre zu stellen
+vermöchte, entsprechen dürfte. &mdash;</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich habe&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Sie haben sich ruhig zu verhalten! &mdash; Nachdem
+Herr Rentier Stiefel uns fragliches Schriftstück
+ausgehändigt und wir dem fassungslosen
+Vater das Versprechen erteilt, um jeden Preis
+den Autor zu ermitteln, wurde die uns vorliegende
+Handschrift mit den Handschriften sämtlicher
+Mitschüler des weiland Ruchlosen verglichen und<span class="pagenum"><a name="Seite_96" id="Seite_96">[96]</a></span>
+ergab nach dem einstimmigen Urteil der gesamten
+Lehrerschaft, sowie in vollkommenem
+Einklang mit dem Spezial-Gutachten unseres
+geschätzten Herrn Kollegen für Kalligraphie die
+denkbar bedenklichste Ähnlichkeit mit der
+<em class="gesperrt">Ihrigen</em>. &mdash;</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich habe&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Sie haben sich ruhig zu verhalten! &mdash; Ungeachtet
+der erdrückenden Tatsache der von
+Seiten unantastbarer Autoritäten anerkannten
+Ähnlichkeit glauben wir uns vorderhand noch
+jeder weiteren Maßnahmen enthalten zu dürfen,
+um in erster Linie den Schuldigen über das ihm
+demgemäß zur Last fallende Vergehen wider die
+Sittlichkeit in Verbindung mit daraus resultierender
+Veranlassung zur Selbstentleibung ausführlich zu
+vernehmen. &mdash;</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich habe&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Sie haben die genau präzisierten Fragen, die
+ich Ihnen der Reihe nach vorlege, eine um die
+andere, mit einem schlichten und bescheidenen „Ja“
+oder „Nein“ zu beantworten. &mdash; Habebald!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_97" id="Seite_97">[97]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Habebald</p>
+
+<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Die Akten! &mdash; &mdash; Ich ersuche unseren Schriftführer,
+Herrn Kollega Fliegentod, von nun an
+möglichst wortgetreu zu protokollieren. &mdash; <span class="regie">(Zu
+Melchior)</span> Kennen Sie dieses Schriftstück?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ja.</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Wissen Sie, was dieses Schriftstück enthält?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ja.</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Ist die Schrift dieses Schriftstücks die Ihrige?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ja.</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Verdankt dieses unflätige Schriftstück Ihnen
+seine Abfassung?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ja. &mdash; Ich ersuche Sie, Herr Rektor, mir
+<em class="gesperrt">eine</em> Unflätigkeit darin nachzuweisen.</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Sie haben die genau präzisierten Fragen, die
+ich Ihnen vorlege, mit einem schlichten und bescheidenen
+„Ja“ oder „Nein“ zu beantworten!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_98" id="Seite_98">[98]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich habe nicht mehr und nicht weniger geschrieben,
+als was eine Ihnen sehr wohlbekannte
+Tatsache ist!</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Dieser Schandbube!!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich ersuche Sie, mir einen Verstoß gegen
+die Sittlichkeit in der Schrift zu zeigen!</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Bilden Sie sich ein, ich hätte Lust, zu Ihrem
+Hanswurst an Ihnen zu werden?! &mdash; Habebald&nbsp;...!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich habe&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Sie haben so wenig Ehrerbietung vor der
+Würde Ihrer versammelten Lehrerschaft, wie Sie
+Anstandsgefühl für das dem Menschen eingewurzelte
+Empfinden für die Diskretion der Verschämtheit
+einer sittlichen Weltordnung haben!
+&mdash; Habebald!!</p>
+
+<p class="sprecher">Habebald</p>
+
+<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Es ist ja der <em class="gesperrt">Langenscheidt</em> zur dreistündigen
+Erlernung des aggluttierenden Volapük!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_99" id="Seite_99">[99]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich habe&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Ich ersuche unseren Schriftführer, Herrn
+Kollega Fliegentod, das Protokoll zu schließen!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich habe&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Sie haben sich ruhig zu verhalten!! &mdash; Habebald!</p>
+
+<p class="sprecher">Habebald</p>
+
+<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
+
+<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
+
+<p>Führen Sie Ihn hinunter!</p>
+
+
+<h3>Zweite Szene</h3>
+
+<p class="regie"><i class="gesperrt">Friedhof</i> in strömendem Regen. &mdash; Vor einem offenen
+Grabe steht Pastor <i class="gesperrt">Kahlbauch</i>, den aufgespannten
+Schirm in der Hand. Zu seiner Rechten Rentier <i class="gesperrt">Stiefel</i>,
+dessen Freund <i class="gesperrt">Ziegenmelker</i> und Onkel <i class="gesperrt">Probst</i>. Zur
+Linken Rektor <i class="gesperrt">Sonnenstich</i> mit Professor <i class="gesperrt">Knochenbruch</i>.
+Gymnasiasten schließen den Kreis. In einiger
+Entfernung vor einem halbverfallenen Grabmonument
+<i class="gesperrt">Martha</i> und <i class="gesperrt">Ilse</i></p>
+
+<p class="sprecher">Pastor Kahlbauch</p>
+
+<p>...&nbsp;Denn wer die Gnade, mit der der
+ewige Vater den in Sünden Geborenen gesegnet,
+von sich wies, er wird des <em class="gesperrt">geistigen</em> Todes sterben!
+&mdash; Wer aber in eigenwilliger fleischlicher Verleugnung<span class="pagenum"><a name="Seite_100" id="Seite_100">[100]</a></span>
+der Gott gebührenden Ehre dem Bösen
+gelebt und gedient, er wird des <em class="gesperrt">leiblichen</em> Todes
+sterben! &mdash; Wer jedoch das Kreuz, das der Allerbarmer
+ihm um der Sünde willen auferlegt,
+freventlich von sich geworfen, wahrlich, wahrlich,
+ich sage euch, der wird des <em class="gesperrt">ewigen</em> Todes
+sterben! &mdash; (Er wirft eine Schaufel voll Erde in die
+Gruft) &mdash; Uns aber, die wir fort und fort
+wallen den Dornenpfad, lasset den Herrn, den
+allgütigen, preisen und ihm danken für seine
+unerforschliche Gnadenwahl. Denn so wahr <em class="gesperrt">dieser</em>
+eines <em class="gesperrt">dreifachen</em> Todes starb, so wahr wird Gott
+der Herr den Gerechten einführen zur Seligkeit
+und zum ewigen Leben. &mdash; Amen.</p>
+
+<p class="sprecher">Rentier Stiefel</p>
+
+<p class="regie">(mit tränenerstickter Stimme, wirft eine Schaufel voll
+Erde in die Gruft)</p>
+
+<p>Der Junge war nicht von mir! &mdash; Der Junge
+war nicht von mir! &mdash; Der Junge hat mir von
+kleinauf nicht gefallen!</p>
+
+<p class="sprecher">Rektor Sonnenstich</p>
+
+<p class="regie">(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)</p>
+
+<p>Der Selbstmord als der denkbar bedenklichste
+Verstoß gegen die sittliche Weltordnung ist der denkbar
+bedenklichste Beweis für die sittliche Weltordnung,
+indem der Selbstmörder der sittlichen<span class="pagenum"><a name="Seite_101" id="Seite_101">[101]</a></span>
+Weltordnung den Urteilsspruch zu sprechen erspart
+und ihr Bestehen bestätigt.</p>
+
+<p class="sprecher">Professor Knochenbruch</p>
+
+<p class="regie">(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)</p>
+
+<p>Verbummelt &mdash; versumpft &mdash; verhurt &mdash;
+verlumpt &mdash; und verludert!</p>
+
+<p class="sprecher">Onkel Probst</p>
+
+<p class="regie">(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)</p>
+
+<p>Meiner eigenen Mutter hätte ich′s nicht geglaubt,
+daß ein Kind so niederträchtig an seinen
+Eltern zu handeln vermöchte!</p>
+
+<p class="sprecher">Freund Ziegenmelker</p>
+
+<p class="regie">(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)</p>
+
+<p>An einem Vater zu handeln vermöchte, der
+nun seit zwanzig Jahren von früh bis spät keinen
+Gedanken mehr hegt, als das Wohl seines Kindes!</p>
+
+<p class="sprecher">Pastor Kahlbauch</p>
+
+<p class="regie">(Rentier Stiefel die Hand drückend)</p>
+
+<p>Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle
+Dinge zum besten dienen. 1. Korinth. 12, 15. &mdash;
+Denken Sie der trostlosen Mutter und suchen Sie
+ihr das Verlorene durch verdoppelte Liebe zu
+ersetzen!</p>
+
+<p class="sprecher">Rektor Sonnenstich</p>
+
+<p class="regie">(Rentier Stiefel die Hand drückend)</p>
+
+<p>Wir hätten ihn ja wahrscheinlich doch nicht
+promovieren können!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_102" id="Seite_102">[102]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Professor Knochenbruch</p>
+
+<p class="regie">(Rentier Stiefel die Hand drückend)</p>
+
+<p>Und wenn wir ihn promoviert hätten, im
+nächsten Frühling wäre er des allerbestimmtesten
+sitzen geblieben!</p>
+
+<p class="sprecher">Onkel Probst</p>
+
+<p class="regie">(Rentier Stiefel die Hand drückend)</p>
+
+<p>Jetzt hast du vor allem die Pflicht, an dich
+zu denken. Du bist Familienvater&nbsp;...!</p>
+
+<p class="sprecher">Freund Ziegenmelker</p>
+
+<p class="regie">(Rentier Stiefel die Hand drückend)</p>
+
+<p>Vertraue dich meiner Führung! &mdash; Ein Hundewetter,
+daß einem die Därme schlottern! &mdash; Wer
+da nicht unverzüglich mit einem Grogg eingreift,
+hat seine Herzklappenaffektion weg!</p>
+
+<p class="sprecher">Rentier Stiefel</p>
+
+<p class="regie">(sich die Nase schneuzend)</p>
+
+<p>Der Junge war nicht von mir ... der
+Junge war nicht von mir&nbsp;...</p>
+
+<p class="regie">(Rentier Stiefel, geleitet von Pastor Kahlbauch, Rektor
+Sonnenstich, Professor Knochenbruch, Onkel Probst und
+Freund Ziegenmelker ab. &mdash; Der Regen läßt nach)</p>
+
+<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
+
+<p class="regie">(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)</p>
+
+<p>Ruhe in Frieden, du ehrliche Haut! &mdash; Grüße
+mir meine ewigen Bräute, hingeopferten Angedenkens,<span class="pagenum"><a name="Seite_103" id="Seite_103">[103]</a></span>
+und empfiehl mich ganz ergebenst zu
+Gnaden dem lieben Gott &mdash; armer Tollpatsch
+du! &mdash; Sie werden dir um deiner Engelseinfalt
+willen noch eine Vogelscheuche aufs Grab setzen&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Georg</p>
+
+<p>Hat sich die Pistole gefunden?</p>
+
+<p class="sprecher">Robert</p>
+
+<p>Man braucht keine Pistole zu suchen!</p>
+
+<p class="sprecher">Ernst</p>
+
+<p>Hast du ihn gesehen, Robert?</p>
+
+<p class="sprecher">Robert</p>
+
+<p>Verfluchter, verdammter Schwindel! &mdash; Wer
+hat ihn gesehen? &mdash; Wer denn?!</p>
+
+<p class="sprecher">Otto</p>
+
+<p>Da steckt′s nämlich! &mdash; Man hatte ihm ein
+Tuch übergeworfen.</p>
+
+<p class="sprecher">Georg</p>
+
+<p>Hing die Zunge heraus?</p>
+
+<p class="sprecher">Robert</p>
+
+<p>Die Augen! &mdash; Deshalb hatte man das Tuch
+drübergeworfen.</p>
+
+<p class="sprecher">Otto</p>
+
+<p>Grauenhaft!</p>
+
+<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
+
+<p>Weißt du bestimmt, daß er sich erhängt hat?</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_104" id="Seite_104">[104]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Ernst</p>
+
+<p>Man sagt, er habe gar keinen Kopf mehr.</p>
+
+<p class="sprecher">Otto</p>
+
+<p>Unsinn! &mdash; Gewäsch!</p>
+
+<p class="sprecher">Robert</p>
+
+<p>Ich habe ja den Strick in Händen gehabt!
+&mdash; Ich habe noch keinen Erhängten gesehen,
+den man nicht zugedeckt hätte.</p>
+
+<p class="sprecher">Georg</p>
+
+<p>Auf gemeinere Art hätte er sich nicht empfehlen
+können!</p>
+
+<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
+
+<p>Was Teufel, das Erhängen soll ganz hübsch
+sein!</p>
+
+<p class="sprecher">Otto</p>
+
+<p>Mir ist er nämlich noch fünf Mark schuldig.
+Wir hatten gewettet. Er schwor, er werde sich
+halten.</p>
+
+<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
+
+<p>Du bist schuld, daß er daliegt. Du hast ihn
+Prahlhans genannt.</p>
+
+<p class="sprecher">Otto</p>
+
+<p>Paperlapap, ich muß auch büffeln die Nächte
+durch. Hätte er die griechische Literaturgeschichte
+gelernt, er hätte sich nicht zu erhängen brauchen!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_105" id="Seite_105">[105]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Ernst</p>
+
+<p>Hast du den Aufsatz, Otto?</p>
+
+<p class="sprecher">Otto</p>
+
+<p>Erst die Einleitung.</p>
+
+<p class="sprecher">Ernst</p>
+
+<p>Ich weiß gar nicht, was schreiben.</p>
+
+<p class="sprecher">Georg</p>
+
+<p>Warst du denn nicht da, als uns Affenschmalz
+die Disposition gab?</p>
+
+<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
+
+<p>Ich stopsle mir was aus dem <cite class="gesperrt">Demokrit</cite> zusammen.</p>
+
+<p class="sprecher">Ernst</p>
+
+<p>Ich will sehen, ob sich im <cite class="gesperrt">kleinen Meyer</cite>
+was finden läßt.</p>
+
+<p class="sprecher">Otto</p>
+
+<p>Hast du den Vergil schon auf morgen? &mdash; &mdash;
+&mdash; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p class="regie">(Die Gymnasiasten ab. &mdash; Martha und Ilse kommen
+ans Grab.)</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Rasch, rasch! &mdash; Dort hinten kommen die
+Totengräber.</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Wollen wir nicht lieber warten, Ilse?</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_106" id="Seite_106">[106]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Wozu? &mdash; Wir bringen neue. Immer neue
+und neue! &mdash; Es wachsen genug.</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Du hast recht, Ilse! &mdash; <span class="regie">(Sie wirft einen Epheukranz
+in die Gruft. Ilse öffnet ihre Schürze und läßt
+eine Fülle frischer Anemonen auf den Sarg regnen.)</span></p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Ich grabe unsere Rosen aus. Schläge bekomme
+ich ja doch! &mdash; Hier werden sie gedeihen.</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Ich will sie begießen, so oft ich vorbeikomme.
+Ich hole Vergißmeinnicht vom Goldbach herüber
+und Schwertlilien bringe ich von Hause mit.</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Es soll eine Pracht werden! Eine Pracht!</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Ich war schon über der Brücke drüben, da
+hört′ ich den Knall.</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Armes Herz!</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Und ich weiß auch den Grund, Martha.</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Hat er dir was gesagt?</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_107" id="Seite_107">[107]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Parallelepipedon! &mdash; Aber sag′ es niemandem.</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Meine Hand darauf.</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>&mdash; Hier ist die Pistole.</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Deshalb hat man sie nicht gefunden!</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Ich nahm sie ihm gleich aus der Hand, als
+ich am Morgen vorbeikam.</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Schenk′ sie mir, Ilse! &mdash; Bitte, schenk′ sie
+mir!</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Nein, die behalt′ ich zum Andenken.</p>
+
+<p class="sprecher">Martha</p>
+
+<p>Ist′s wahr, Ilse, daß er ohne Kopf drinliegt?</p>
+
+<p class="sprecher">Ilse</p>
+
+<p>Er muß sie mit Wasser geladen haben! &mdash;
+Die Königskerzen waren über und über mit
+Blut besprengt. Sein Hirn hing in den Weiden
+umher.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_108" id="Seite_108">[108]</a></span></p>
+
+
+<h3>Dritte Szene</h3>
+
+<p class="regie"><i class="gesperrt">Herr und Frau Gabor</i>.</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
+
+<p>...&nbsp;Man hatte einen Sündenbock nötig.
+Man durfte die überall lautwerdenden Anschuldigungen
+nicht auf sich beruhen lassen. Und
+nun mein Kind das Unglück gehabt, den Zöpfen
+im richtigen Moment in den Schuß zu laufen,
+nun soll ich, die eigene Mutter, das Werk seiner
+Henker vollenden helfen? &mdash; Bewahre mich Gott
+davor!</p>
+
+<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
+
+<p>&mdash; Ich habe deine geistvolle Erziehungsmethode
+vierzehn Jahre schweigend mit angeseh′n.
+Sie widersprach meinen Begriffen. Ich hatte
+von jeher der Überzeugung gelebt, ein Kind sei
+kein Spielzeug; ein Kind habe Anspruch auf
+unsern heiligsten Ernst. Aber ich sagte mir,
+wenn der Geist und die Grazie des Einen die
+ernsten Grundsätze eines Andern zu ersetzen im
+stande sind, so mögen sie den ernsten Grundsätzen
+vorzuziehen sein. &mdash; &mdash; Ich mache dir
+keinen Vorwurf, Fanny. Aber vertritt mir den
+Weg nicht, wenn ich dein und mein Unrecht an
+dem Jungen gutzumachen suche!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_109" id="Seite_109">[109]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
+
+<p>Ich vertrete dir den Weg, so lange ein
+Tropfen warmen Blutes in mir wallt! In der
+Korrektionsanstalt ist mein Kind verloren. Eine
+Verbrechernatur mag sich in solchen Instituten
+bessern lassen. Ich weiß es nicht. Ein gutgearteter
+Mensch wird so gewiß zum Verbrecher
+darin, wie die Pflanze verkommt, der du Luft
+und Sonne entziehst. Ich bin mir keines
+Unrechtes bewußt. Ich danke heute wie immer
+dem Himmel, daß er mir den Weg gezeigt, in
+meinem Kinde einen rechtlichen Charakter und
+eine edle Denkungsweise zu wecken. Was hat
+er denn so Schreckliches getan? Es soll mir
+nicht einfallen, ihn entschuldigen zu wollen &mdash;
+daran, daß man ihn aus der Schule gejagt
+trägt er keine Schuld! Und wär′ es sein Verschulden,
+so hat er es ja gebüßt. Du magst
+das alles besser wissen. Du magst theoretisch
+vollkommen im Rechte sein. Aber ich kann mir
+mein einziges Kind nicht gewaltsam in den Tod
+jagen lassen!</p>
+
+<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
+
+<p>Das hängt nicht von uns ab, Fanny. &mdash;
+Das ist ein Risiko, das wir mit unserem Glück
+auf uns genommen. Wer zu schwach für den<span class="pagenum"><a name="Seite_110" id="Seite_110">[110]</a></span>
+Marsch ist, bleibt am Wege. Und es ist schließlich
+das Schlimmste nicht, wenn das Unausbleibliche
+zeitig kommt. Möge uns der Himmel davor behüten!
+Unsere Pflicht ist es, den Wankenden zu
+festigen, so lange die Vernunft Mittel weiß. &mdash;
+Daß man ihn aus der Schule gejagt, ist nicht
+seine Schuld. Wenn man ihn nicht aus der
+Schule gejagt hätte, es wäre auch seine Schuld
+nicht! &mdash; Du bist zu leichtherzig. Du erblickst
+vorwitzige Tändelei, wo es sich um Grundschäden des
+Charakters handelt. Ihr Frauen seid nicht berufen,
+über solche Dinge zu urteilen. Wer <em class="gesperrt">das</em> schreiben
+kann, was Melchior schreibt, der muß im innersten
+Kern seines Wesens angefault sein. Das Mark ist ergriffen.
+Eine halbwegs gesunde Natur läßt sich zu so
+etwas nicht herbei. Wir sind alle keine Heiligen; jeder
+von uns irrt vom schnurgeraden Pfad ab. Seine
+Schrift hingegen vertritt das <em class="gesperrt">Prinzip</em>. Seine Schrift
+entspricht keinem zufälligen gelegentlichen Fehltritt;
+sie dokumentiert mit schaudererregender Deutlichkeit
+den aufrichtig gehegten <em class="gesperrt">Vorsatz</em>, jene natürliche
+Veranlagung, jenen Hang zum <em class="gesperrt">Unmoralischen</em>,
+weil es das Unmoralische ist. Seine Schrift
+manifestiert jene exzeptionelle geistige Korruption,
+die wir Juristen mit dem Ausdruck „<em class="gesperrt">moralischer
+Irrsinn</em>“ bezeichnen. &mdash; Ob sich gegen seinen<span class="pagenum"><a name="Seite_111" id="Seite_111">[111]</a></span>
+Zustand etwas ausrichten läßt, vermag ich nicht
+zu sagen. <em class="gesperrt">Wenn</em> wir uns einen Hoffnungsschimmer
+bewahren wollen, und in erster Linie
+unser fleckenloses Gewissen als die Eltern des
+Betreffenden, so ist es Zeit für uns, mit Entschiedenheit
+und mit allem Ernste ans Werk zu
+gehen. &mdash; Laß uns nicht länger streiten, Fanny!
+Ich fühle, wie schwer es dir wird. Ich weiß,
+daß du ihn vergötterst, weil er so ganz deinem
+genialischen Naturell entspricht. Sei stärker als
+du! Zeig′ dich deinem Sohn gegenüber endlich
+einmal selbstlos!</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
+
+<p>Hilf mir Gott, wie läßt sich dagegen aufkommen!
+&mdash; Man muß ein <em class="gesperrt">Mann</em> sein, um so
+sprechen zu können! Man muß ein <em class="gesperrt">Mann</em> sein,
+um sich so vom toten Buchstaben verblenden
+lassen zu können! Man muß ein <em class="gesperrt">Mann</em> sein,
+um so blind das in die Augen Springende nicht
+zu sehn! &mdash; Ich habe gewissenhaft und besonnen
+an Melchior gehandelt vom ersten Tag an, da
+ich ihn für die Eindrücke seiner Umgebung empfänglich
+fand. Sind wir denn für den <em class="gesperrt">Zufall</em>
+verantwortlich?! Dir kann morgen ein Dachziegel
+auf den Kopf fallen, und dann kommt dein
+Freund &mdash; dein Vater, und statt deine Wunde<span class="pagenum"><a name="Seite_112" id="Seite_112">[112]</a></span>
+zu pflegen, setzt er den Fuß auf dich! &mdash; Ich
+lasse mein Kind nicht vor meinen Augen hinmorden.
+Dafür bin ich seine Mutter. &mdash; Es ist
+unfaßbar! Es ist gar nicht zu glauben! Was
+schreibt er denn in aller Welt! Ist′s denn nicht
+der eklatanteste Beweis für seine Harmlosigkeit,
+für seine Dummheit, für seine kindliche Unberührtheit,
+daß er so etwas schreiben kann! &mdash;
+Man muß keine Ahnung von Menschenkenntnis
+besitzen &mdash; man muß ein vollständig entseelter
+Bureaukrat oder ganz nur Beschränktheit sein,
+um hier moralische Korruption zu wittern! &mdash;
+&mdash; Sag′ was du willst. Wenn du Melchior in
+die Korrektionsanstalt bringst, dann sind <em class="gesperrt">wir</em>
+geschieden! Und dann laß mich sehen, ob ich
+nicht irgendwo in der Welt Hilfe und Mittel
+finde, mein Kind seinem Untergange zu entreißen.</p>
+
+<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
+
+<p>Du wirst dich drein schicken müssen &mdash; wenn
+nicht heute, dann morgen. Leicht wird es keinem,
+mit dem Unglück zu diskontieren. Ich werde dir
+zur Seite stehen, und wenn dein Mut zu erliegen
+droht, keine Mühe und kein Opfer scheuen, dir
+das Herz zu entlasten. Ich sehe die Zukunft so
+grau, so wolkig &mdash; es fehlte nur noch, daß auch
+du mir noch verloren gingst.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_113" id="Seite_113">[113]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
+
+<p>Ich sehe ihn nicht wieder; ich sehe ihn nicht
+wieder. Er erträgt das Gemeine nicht. Er findet
+sich nicht ab mit dem Schmutz. Er zerbricht den
+Zwang; das entsetzlichste Beispiel schwebt ihm vor
+Augen! &mdash; Und sehe ich ihn wieder &mdash; Gott, Gott,
+dieses frühlingsfrohe Herz &mdash; sein helles Lachen
+&mdash; alles, alles &mdash; seine kindliche Entschlossenheit,
+mutig zu kämpfen für Gut und Recht &mdash; o dieser
+Morgenhimmel, wie ich ihn licht und rein in seiner
+Seele gehegt als mein höchstes Gut..... Halte
+dich an mich, wenn das Unrecht um Sühne schreit!
+Halte dich an mich! Verfahre mit mir wie du
+willst! <em class="gesperrt">Ich</em> trage die Schuld. &mdash; Aber laß deine
+fürchterliche Hand von dem Kind weg.</p>
+
+<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Er</em> hat sich vergangen!</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Er hat sich nicht vergangen!</em></p>
+
+<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
+
+<p>Er hat sich vergangen! &mdash; &mdash; &mdash; Ich hätte
+alles darum gegeben, es deiner grenzenlosen Liebe
+ersparen zu dürfen. &mdash; &mdash; Heute morgen kommt
+eine Frau zu mir, vergeistert, kaum ihrer Sprache
+mächtig, mit diesem Brief in der Hand &mdash; einem
+Brief an ihre fünfzehnjährige Tochter. Aus<span class="pagenum"><a name="Seite_114" id="Seite_114">[114]</a></span>
+dummer Neugierde habe sie ihn erbrochen; das
+Mädchen war nicht zu Haus. &mdash; In dem Briefe
+erklärt Melchior dem fünfzehnjährigen Kind, daß
+ihm seine Handlungsweise keine Ruhe lasse, er
+habe sich an ihr versündigt etc. etc., werde indessen
+natürlich für alles einstehen. Sie möge sich nicht
+grämen, auch wenn sie Folgen spüre. Er sei
+bereits auf dem Wege Hilfe zu schaffen; seine
+Relegation erleichtere ihm das. Der ehemalige
+Fehltritt könne noch zu ihrem Glücke führen &mdash;
+und was des unsinnigen Gewäsches mehr ist.</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
+
+<p>Unmöglich!!</p>
+
+<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
+
+<p>Der Brief ist gefälscht. Es liegt Betrug vor.
+Man sucht sich seine stadtbekannte Relegation nutzbar
+zu machen. Ich habe mit dem Jungen noch
+nicht gesprochen &mdash; aber sieh bitte die Hand!
+Sieh die Schreibweise!</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
+
+<p>Ein unerhörtes, schamloses Bubenstück!</p>
+
+<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
+
+<p>Das fürchte ich!</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
+
+<p>Nein, nein &mdash; nie und nimmer!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_115" id="Seite_115">[115]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
+
+<p>Um so besser wird es für uns sein. &mdash; Die
+Frau fragt mich händeringend, was sie tun
+solle. Ich sagte ihr, sie solle ihre fünfzehnjährige
+Tochter nicht auf Heuböden herumklettern
+lassen. Den Brief hat sie mir glücklicherweise
+dagelassen. &mdash; Schicken wir Melchior nun auf
+ein anderes Gymnasium, wo er nicht einmal
+unter elterlicher Aufsicht steht, so haben wir in
+drei Wochen den nämlichen Fall &mdash; neue Relegation
+&mdash; sein frühlingsfreudiges Herz gewöhnt
+sich nachgerade daran. &mdash; Sag′ mir, Fanny, wo
+soll ich hin mit dem Jungen?!</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
+
+<p>&mdash; In die Korrektionsanstalt &mdash;</p>
+
+<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
+
+<p>In die&nbsp;...?</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
+
+<p>...&nbsp;Korrektionsanstalt!</p>
+
+<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
+
+<p>Er findet dort in erster Linie, was ihm zu
+Hause ungerechterweise vorenthalten wurde;
+eherne Disziplin, Grundsätze, und einen moralischen
+Zwang, dem er sich unter allen Umständen zu
+fügen hat. &mdash; Im übrigen ist die Korrektionsanstalt
+nicht der Ort des Schreckens, den du dir<span class="pagenum"><a name="Seite_116" id="Seite_116">[116]</a></span>
+darunter denkst. Das Hauptgewicht legt man in
+der Anstalt auf Entwicklung einer christlichen
+Denk- und Empfindungsweise. Der Junge lernt
+dort endlich, das <em class="gesperrt">Gute</em> wollen statt des <em class="gesperrt">Interessanten</em>,
+und bei seinen Handlungen nicht sein
+Naturell, sondern das <em class="gesperrt">Gesetz</em> in Frage ziehen.
+&mdash; &mdash; Vor einer halben Stunde erhalte ich ein
+Telegramm von meinem Bruder, das mir die
+Aussagen der Frau bestätigt. Melchior hat sich
+ihm anvertraut und ihn um 200 Mark zur
+Flucht nach England gebeten&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
+
+<p class="regie">(bedeckt ihr Gesicht)</p>
+
+<p>Barmherziger Himmel!</p>
+
+
+<h3>Vierte Szene</h3>
+
+<p class="regie"><i class="gesperrt">Korrektionsanstalt</i>. &mdash; Ein Korridor. &mdash; <i class="gesperrt">Diethelm</i>,
+<i class="gesperrt">Reinhold</i>, <i class="gesperrt">Ruprecht</i>, <i class="gesperrt">Helmuth</i>, <i class="gesperrt">Gaston</i> und
+<i class="gesperrt">Melchior</i>.</p>
+
+<p class="sprecher">Diethelm</p>
+
+<p>Hier ist ein Zwanzigpfennigstück!</p>
+
+<p class="sprecher">Reinhold</p>
+
+<p>Was soll′s damit?</p>
+
+<p class="sprecher">Diethelm</p>
+
+<p>Ich leg es auf den Boden. Ihr stellt euch
+drum herum. Wer es trifft, der hat′s.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_117" id="Seite_117">[117]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Ruprecht</p>
+
+<p>Machst du nicht mit, Melchior?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Nein, ich danke.</p>
+
+<p class="sprecher">Helmuth</p>
+
+<p>Der Joseph!</p>
+
+<p class="sprecher">Gaston</p>
+
+<p>Er kann nicht mehr. Er ist zur Rekreation
+hier.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p class="regie">(für sich)</p>
+
+<p>Es ist nicht klug, daß ich mich separiere. Alles
+hält mich im Auge. Ich muß mitmachen &mdash;
+oder die Kreatur geht zum Teufel. &mdash; &mdash; Die
+Gefangenschaft macht sie zu Selbstmördern. &mdash;
+&mdash; Brech ich den Hals, ist es gut! Komme ich
+davon, ist es auch gut! Ich kann nur gewinnen.
+&mdash; Ruprecht wird mein Freund, er besitzt hier
+Kenntnisse. &mdash; Ich werde ihm die Kapitel von
+Juda′s Schnur Thamar, von Moab, von Loth
+und seiner Sippe, von der Königin Vasti und
+der Abisag von Sunem zum besten geben. &mdash;
+Er hat die verunglückteste Physiognomie auf der
+Abteilung.</p>
+
+<p class="sprecher">Ruprecht</p>
+
+<p>Ich hab′s!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_118" id="Seite_118">[118]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Helmuth</p>
+
+<p>Ich komme noch!</p>
+
+<p class="sprecher">Gaston</p>
+
+<p>Übermorgen vielleicht!</p>
+
+<p class="sprecher">Helmuth</p>
+
+<p>Gleich! &mdash; Jetzt! &mdash; O Gott, o Gott&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Alle</p>
+
+<p><span class="antiqua" lang="la" xml:lang="la">Summa &mdash; summa cum laude!!</span></p>
+
+<p class="sprecher">Ruprecht</p>
+
+<p class="regie">(das Stück nehmend)</p>
+
+<p>Danke schön!</p>
+
+<p class="sprecher">Helmuth</p>
+
+<p>Her, du Hund!</p>
+
+<p class="sprecher">Ruprecht</p>
+
+<p>Du Schweinetier?</p>
+
+<p class="sprecher">Helmuth</p>
+
+<p>Galgenvogel!!</p>
+
+<p class="sprecher">Ruprecht</p>
+
+<p class="regie">(schlägt ihn ins Gesicht)</p>
+
+<p>&mdash; Da! <span class="regie">(rennt davon)</span></p>
+
+<p class="sprecher">Helmuth</p>
+
+<p class="regie">(ihm nachrennend)</p>
+
+<p>Den schlag ich tot!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_119" id="Seite_119">[119]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Die Übrigen</p>
+
+<p class="regie">(rennen hinterdrein)</p>
+
+<p>Hetz, Packan! Hetz! Hetz! Hetz!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p class="regie">(allein, gegen das Fenster gewandt)</p>
+
+<p>&mdash; Da geht der Blitzableiter hinunter. &mdash;
+Man muß ein Taschentuch drumwickeln. &mdash; Wenn
+ich an sie denke, schießt mir immer das Blut in
+den Kopf. Und Moritz liegt mir wie Blei in
+den Füßen. &mdash; &mdash; &mdash; Ich gehe zur Redaktion.
+Bezahlen Sie mich per Hundert; ich kolportiere!
+&mdash; sammle Tagesneuigkeiten &mdash; schreibe &mdash; lokal
+&mdash; &mdash; ethisch &mdash; &mdash; psychophysisch ... man
+verhungert nicht mehr so leicht. Volksküche, Café
+Temperence. &mdash; Das Haus ist sechzig Fuß hoch
+und der Verputz bröckelt ab&nbsp;... Sie haßt mich
+&mdash; sie haßt mich, weil ich sie der Freiheit beraubt.
+Handle ich, wie ich will, es bleibt Vergewaltigung.
+&mdash; Ich darf einzig hoffen, im Laufe der Jahre
+allmählich&nbsp;... Über acht Tage ist Neumond.
+Morgen schmiere ich die Angeln. Bis Sonnabend
+muß ich unter allen Umständen wissen, wer den
+Schlüssel hat. &mdash; Sonntag Abend in der Andacht
+kataleptischer Anfall &mdash; will′s Gott, wird sonst
+niemand krank! &mdash; Alles liegt so klar, als wär′
+es geschehen, vor mir. Über das Fenstergesims<span class="pagenum"><a name="Seite_120" id="Seite_120">[120]</a></span>
+gelang ich mit Leichtigkeit &mdash; ein Schwung &mdash;
+ein Griff &mdash; aber man muß ein Taschentuch
+drumwickeln. &mdash; &mdash; Da kommt der Großinquisitor.
+<span class="regie">(Ab nach links.)</span></p>
+
+<p class="regie">(Dr. <i class="gesperrt">Prokrustes</i> mit einem <i class="gesperrt">Schlossermeister</i> von
+rechts.)</p>
+
+<p class="sprecher">Dr. Prokrustes</p>
+
+<p>...&nbsp;Die Fenster liegen zwar im dritten Stock
+und unten sind Brennesseln gepflanzt. Aber was
+kümmert sich die Entartung um Brennesseln. &mdash;
+Vergangenen Winter stieg uns einer zur Dachluke
+hinaus und wir hatten die ganze Schererei
+mit dem Abholen, Hinbringen und Beisetzen&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Der Schlossermeister</p>
+
+<p>Wünschen Sie die Gitter aus Schmiedeeisen?</p>
+
+<p class="sprecher">Dr. Prokrustes</p>
+
+<p>Aus Schmiedeeisen &mdash; und da man sie nicht
+einlassen kann, vernietet.</p>
+
+
+<h3>Fünfte Szene</h3>
+
+<p class="regie">Ein <i class="gesperrt">Schlafgemach</i>. &mdash; <i class="gesperrt">Frau Bergmann</i>, <i class="gesperrt">Ina
+Müller</i> und Medizinalrat Dr. <i class="gesperrt">v. Brausepulver</i>. &mdash;
+<i class="gesperrt">Wendla</i> im Bett.</p>
+
+<p class="sprecher">Dr. von Brausepulver</p>
+
+<p>Wie alt sind Sie denn eigentlich?</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_121" id="Seite_121">[121]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Vierzehn ein halb.</p>
+
+<p class="sprecher">Dr. von Brausepulver</p>
+
+<p>Ich verordne die <cite class="gesperrt">Blaud</cite>′schen Pillen seit
+fünfzehn Jahren und habe in einer großen
+Anzahl von Fällen die eklatantesten Erfolge beobachtet.
+Ich ziehe sie dem Lebertran und den
+Stahlweinen vor. Beginnen sie mit drei bis vier
+Pillen pro Tag und steigern Sie so rasch Sie es
+eben vertragen. Dem Fräulein Elfriede Baronesse
+von Witzleben hatte ich verordnet, jeden dritten
+Tag um eine Pille zu steigern. Die Baronesse
+hatte mich mißverstanden und steigerte jeden Tag
+um drei Pillen. Nach kaum drei Wochen schon
+konnte sich die Baronesse mit ihrer Frau Mama
+zur Nachkur nach Pyrmont begeben. &mdash; Von
+ermüdenden Spaziergängen und Extramahlzeiten
+dispensiere ich Sie. Dafür versprechen Sie mir,
+liebes Kind, sich um so fleißiger Bewegung
+machen zu wollen und ungeniert Nahrung zu
+fordern, sobald sich die Lust dazu wieder einstellt.
+Dann werden diese Herzbeklemmungen bald nachlassen
+&mdash; und der Kopfschmerz, das Frösteln, der
+Schwindel &mdash; und unsere schrecklichen Verdauungsstörungen.
+Fräulein Elfriede Baronesse von
+Witzleben genoß schon acht Tage nach begonnener<span class="pagenum"><a name="Seite_122" id="Seite_122">[122]</a></span>
+Kur ein ganzes Brathühnchen mit
+jungen Pellkartoffeln zum Frühstück.</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten,
+Herr Medizinalrat?</p>
+
+<p class="sprecher">Dr. von Brausepulver</p>
+
+<p>Ich danke Ihnen, liebe Frau Bergmann.
+Mein Wagen wartet. Lassen Sie sich′s nicht so
+zu Herzen gehen. In wenigen Wochen ist unsere
+liebe kleine Patientin wieder frisch und munter
+wie eine Gazelle. Seien Sie getrost. &mdash; Guten
+Tag, Frau Bergmann. Guten Tag, liebes Kind.
+Guten Tag, meine Damen. Guten Tag. <span class="regie">(Frau
+Bergmann geleitet ihn vor die Tür.)</span></p>
+
+<p class="sprecher">Ina</p>
+
+<p class="regie">(am Fenster)</p>
+
+<p>&mdash; Nun färbt sich eure Platane schon
+wieder bunt. &mdash; Siehst du′s vom Bett aus? &mdash;
+Eine kurze Pracht, kaum recht der Freude wert,
+wie man sie so kommen und gehen sieht. &mdash; Ich
+muß nun auch bald gehen. Müller erwartet
+mich vor der Post und ich muß zuvor noch zur
+Schneiderin. Mucki bekommt seine ersten Höschen,
+und Karl soll einen neuen Trikotanzug auf den
+Winter haben.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_123" id="Seite_123">[123]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Manchmal wird mir so selig &mdash; alles Freude
+und Sonnenglanz. Hätt′ ich geahnt, daß es
+einem so wohl um′s Herz werden kann! Ich
+möchte hinaus, im Abendschein über die Wiesen
+gehn, Himmelsschlüssel suchen den Fluß entlang
+und mich an′s Ufer setzen und träumen&nbsp;...
+Und dann kommt das <em class="gesperrt">Zahnweh</em>, und ich meine,
+daß ich morgen am Tag sterben muß; mir wird
+heiß und kalt, vor den Augen verdunkelt sich′s,
+und dann flattert das Untier herein &mdash; &mdash; &mdash;
+So oft ich aufwache, seh′ ich Mutter weinen.
+O, das tut mir so weh &mdash; ich kann′s dir nicht
+sagen, Ina!</p>
+
+<p class="sprecher">Ina</p>
+
+<p>&mdash; Soll ich dir nicht das Kopfkissen höher
+legen?</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p class="regie">(kommt zurück)</p>
+
+<p>Er meint, das Erbrechen werde sich auch
+geben; und du sollst dann nur ruhig wieder
+aufstehn&nbsp;... Ich glaube auch, es ist besser,
+wenn du bald wieder aufstehst, Wendla.</p>
+
+<p class="sprecher">Ina</p>
+
+<p>Bis ich das nächste Mal vorspreche, springst
+du vielleicht schon wieder im Haus herum. &mdash;
+Leb′ wohl, Mutter. Ich muß durchaus noch zur<span class="pagenum"><a name="Seite_124" id="Seite_124">[124]</a></span>
+Schneiderin. Behüt′ dich Gott, liebe Wendla.
+<span class="regie">(Küßt sie)</span> Recht, recht baldige Besserung!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Leb′ wohl, Ina. &mdash; Bring′ mir Himmelsschlüssel
+mit, wenn du wiederkommst. Adieu.
+Grüße deine Jungens von mir.</p>
+
+<p class="regie">(Ina ab.)</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Was hat er noch gesagt, Mutter, als er
+draußen war?</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Er hat nichts gesagt. &mdash; Er sagte, Fräulein
+von Witzleben habe auch zu Ohnmachten geneigt.
+Es sei das fast immer so bei der Bleichsucht.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Hat er gesagt, Mutter, daß ich die Bleichsucht
+habe?</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Du sollest Milch trinken und Fleisch und Gemüse
+essen, wenn der Appetit zurückgekehrt sei.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>O Mutter, Mutter, ich glaube, ich habe nicht
+die Bleichsucht....</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Du hast die Bleichsucht, Kind. Sei ruhig,
+Wendla, sei ruhig; du hast die Bleichsucht.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_125" id="Seite_125">[125]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Nein, Mutter, nein! Ich weiß es. Ich fühl′
+es. Ich habe nicht die Bleichsucht. Ich habe
+die Wassersucht&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Du hast die Bleichsucht. Er hat ja gesagt,
+daß du die Bleichsucht hast. Beruhige dich, Mädchen.
+Es wird besser werden.</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Es wird nicht besser werden. Ich habe die
+Wassersucht. Ich muß sterben, Mutter. &mdash; O
+Mutter, ich muß sterben!</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Du mußt nicht sterben, Kind! Du mußt
+nicht sterben..... Barmherziger Himmel, du
+mußt nicht sterben!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Aber warum weinst du dann so jammervoll?</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Du mußt nicht sterben &mdash; Kind! Du hast
+nicht die Wassersucht. Du hast ein Kind, Mädchen!
+Du hast ein Kind! &mdash; O, warum hast du
+mir das getan!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>&mdash; ich habe dir nichts getan &mdash;</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_126" id="Seite_126">[126]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>O leugne nicht noch, Wendla! &mdash; Ich weiß
+alles. Sieh′, ich hätt′ es nicht vermocht, dir ein
+Wort zu sagen. &mdash; Wendla, meine Wendla&nbsp;...!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Aber das ist ja nicht möglich, Mutter. Ich
+bin ja doch nicht verheiratet&nbsp;...!</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Großer, gewaltiger Gott &mdash;, das ist′s ja,
+daß du nicht verheiratet bist! Das ist ja das
+Fürchterliche! &mdash; Wendla, Wendla, Wendla, was
+hast du getan!!</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Ich weiß es, weiß Gott, nicht mehr! Wir
+lagen im Heu.... Ich habe keinen Menschen
+auf dieser Welt geliebt als nur dich, Mutter.</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Mein Herzblatt &mdash;</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>O Mutter, warum hast du mir nicht alles gesagt!</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Kind, Kind, laß uns einander das Herz nicht
+noch schwerer machen! Fasse dich! Verzweifle
+mir nicht, mein Kind! Einem vierzehnjährigen
+Mädchen das sagen! Sieh′, ich wäre eher darauf
+gefaßt gewesen, daß die Sonne erlischt. Ich habe<span class="pagenum"><a name="Seite_127" id="Seite_127">[127]</a></span>
+an dir nicht anders getan, als meine liebe gute
+Mutter an mir getan hat. &mdash; O laß uns auf
+den lieben Gott vertrauen, Wendla; laß uns auf
+Barmherzigkeit hoffen und das unsrige tun! Sieh′,
+<em class="gesperrt">noch</em> ist ja nichts geschehen, Kind. Und wenn
+nur wir jetzt nicht kleinmütig werden, dann wird
+uns auch der liebe Gott nicht verlassen. &mdash; Sei
+<em class="gesperrt">mutig</em>, Wendla, sei <em class="gesperrt">mutig</em>! &mdash; &mdash; So sitzt man
+einmal am Fenster und legt die Hände in den
+Schoß, weil sich doch noch alles zum Guten gewandt,
+und da bricht′s dann herein, daß einem
+gleich das Herz bersten möchte.... Wa &mdash;
+was zitterst du?</p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Es hat jemand geklopft.</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>Ich habe nichts gehört, liebes Herz. &mdash;
+<span class="regie">(Geht an die Türe und öffnet.)</span></p>
+
+<p class="sprecher">Wendla</p>
+
+<p>Ach, ich hörte es ganz deutlich. &mdash; &mdash; Wer
+ist draußen?</p>
+
+<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
+
+<p>&mdash; Niemand &mdash; &mdash; Schmidts Mutter aus
+der Gartenstraße. &mdash; &mdash; &mdash; Sie kommen eben
+recht, Mutter Schmidtin.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_128" id="Seite_128">[128]</a></span></p>
+
+
+<h3>Sechste Szene</h3>
+
+<p class="regie">Winzer und Winzerinnen im <i class="gesperrt">Weinberg</i>. &mdash; Im Westen
+sinkt die Sonne hinter die Berggipfel. Helles Glockengeläute
+vom Tal herauf. &mdash; <i class="gesperrt">Hänschen Rilow</i> und
+<i class="gesperrt">Ernst Röbel</i> im höchstgelegenen Rebstück sich unter den
+überhängenden Felsen im welkenden Grase wälzend.</p>
+
+<p class="sprecher">Ernst</p>
+
+<p>&mdash; Ich habe mich überarbeitet.</p>
+
+<p class="sprecher">Hänschen</p>
+
+<p>Laß uns nicht traurig sein! &mdash; Schade um die
+Minuten.</p>
+
+<p class="sprecher">Ernst</p>
+
+<p>Man sieht sie hängen und kann nicht mehr
+&mdash; und morgen sind sie gekeltert.</p>
+
+<p class="sprecher">Hänschen</p>
+
+<p>Ermüdung ist mir so unerträglich, wie mir′s
+der Hunger ist.</p>
+
+<p class="sprecher">Ernst</p>
+
+<p>Ach, ich kann nicht mehr.</p>
+
+<p class="sprecher">Hänschen</p>
+
+<p>Diese leuchtende Muskateller noch!</p>
+
+<p class="sprecher">Ernst</p>
+
+<p>Ich bringe die Elastizität nicht mehr auf.</p>
+
+<p class="sprecher">Hänschen</p>
+
+<p>Wenn ich die Ranke beuge, baumelt sie uns
+von Mund zu Mund. Keiner braucht sich zu
+rühren. Wir beißen die Beeren ab und lassen
+den Kamm zum Stock zurückschnellen.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_129" id="Seite_129">[129]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Ernst</p>
+
+<p>Kaum entschließt man sich, und siehe, so
+dämmert auch schon die dahingeschwundene
+Kraft wieder auf.</p>
+
+<p class="sprecher">Hänschen</p>
+
+<p>Dazu das flammende Firmament &mdash; und die
+Abendglocken. &mdash; Ich verspreche mir wenig mehr
+von der Zukunft.</p>
+
+<p class="sprecher">Ernst</p>
+
+<p>&mdash; Ich sehe mich manchmal schon als hochwürdigen
+Pfarrer &mdash; ein gemütvolles Hausmütterchen,
+eine reichhaltige Bibliothek und Ämter
+und Würden in allen Kreisen. Sechs Tage hat
+man um nachzudenken, und am siebenten tut man
+den Mund auf. Beim Spazierengehen reichen einem
+Schüler und Schülerinnen die Hand, und wenn
+man nach Hause kommt, dampft der Kaffee, der
+Topfkuchen wird aufgetragen, und durch die
+Gartentür bringen die Mädchen Äpfel herein.
+&mdash; Kannst du dir etwas Schöneres denken?</p>
+
+<p class="sprecher">Hänschen</p>
+
+<p>Ich denke mir halbgeschlossene Wimpern,
+halbgeöffnete Lippen und türkische Draperien.
+&mdash; Ich glaube nicht an das Pathos. Sieh,
+unsere Alten zeigen uns lange Gesichter, um
+ihre Dummheiten zu bemänteln. Untereinander<span class="pagenum"><a name="Seite_130" id="Seite_130">[130]</a></span>
+nennen sie sich Schafsköpfe wie wir. Ich kenne
+das. &mdash; Wenn ich Millionär bin, werde ich dem
+lieben Gott ein Denkmal setzen. &mdash; Denke dir die
+Zukunft als Milchsette mit Zucker und Zimt.
+Der eine wirft sie um und heult, der andere rührt
+alles durcheinander und schwitzt. Warum nicht
+abschöpfen? &mdash; Oder glaubst du nicht, daß es
+sich lernen ließe.</p>
+
+<p class="sprecher">Ernst</p>
+
+<p>&mdash; Schöpfen wir ab!</p>
+
+<p class="sprecher">Hänschen</p>
+
+<p>Was bleibt, fressen die Hühner. &mdash; Ich habe
+meinen Kopf nun schon aus so mancher Schlinge
+gezogen....</p>
+
+<p class="sprecher">Ernst</p>
+
+<p>Schöpfen wir ab, Hänschen! &mdash; Warum
+lachst du?</p>
+
+<p class="sprecher">Hänschen</p>
+
+<p>Fängst du schon wieder an?</p>
+
+<p class="sprecher">Ernst</p>
+
+<p>Einer muß ja doch anfangen.</p>
+
+<p class="sprecher">Hänschen</p>
+
+<p>Wenn wir in dreißig Jahren an einen Abend
+wie heute zurückdenken, erscheint er uns vielleicht
+unsagbar schön!</p>
+
+<p class="sprecher">Ernst</p>
+
+<p>Und wie macht sich jetzt alles so ganz von selbst!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_131" id="Seite_131">[131]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Hänschen</p>
+
+<p>Warum also nicht!</p>
+
+<p class="sprecher">Ernst</p>
+
+<p>Ist man zufällig allein &mdash; dann weint man
+vielleicht gar.</p>
+
+<p class="sprecher">Hänschen</p>
+
+<p>Laß uns nicht traurig sein! &mdash; <span class="regie">(Er küßt ihn
+auf den Mund.)</span></p>
+
+<p class="sprecher">Ernst</p>
+
+<p class="regie">(küßt ihn)</p>
+
+<p>Ich ging von Hause fort mit dem Gedanken,
+dich nur eben zu sprechen und wieder umzukehren.</p>
+
+<p class="sprecher">Hänschen</p>
+
+<p>Ich erwartete dich. &mdash; Die Tugend kleidet
+nicht schlecht, aber es gehören imposante Figuren
+hinein.</p>
+
+<p class="sprecher">Ernst</p>
+
+<p>Uns schlottert sie noch um die Glieder. &mdash;
+Ich wäre nicht ruhig geworden, wenn ich dich
+nicht getroffen hätte. &mdash; Ich liebe dich, Hänschen,
+wie ich nie eine Seele geliebt habe.</p>
+
+<p class="sprecher">Hänschen</p>
+
+<p>Laß uns nicht traurig sein! &mdash; Wenn wir
+in dreißig Jahren zurückdenken, spotten wir ja
+vielleicht! &mdash; Und jetzt ist alles so schön. Die<span class="pagenum"><a name="Seite_132" id="Seite_132">[132]</a></span>
+Berge glühen; die Trauben hängen uns in den
+Mund und der Abendwind streicht an den Felsen
+hin wie ein spielendes Schmeichelkätzchen....</p>
+
+
+<h3>Siebente Szene</h3>
+
+<p class="regie"><i class="gesperrt">Helle Novembernacht</i>. An Busch und Bäumen
+raschelt das dürre Laub. Zerrissene Wolken jagen unter
+dem Mond hin. &mdash; <i class="gesperrt">Melchior</i> klettert über die <i class="gesperrt">Kirchhofmauer</i>.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p class="regie">(auf der Innenseite herabspringend)</p>
+
+<p>Hierher folgt mir die Meute nicht. &mdash; Derweil
+sie Bordelle absuchen, kann ich aufatmen und
+mir sagen, wie weit ich bin....</p>
+
+<p>Der Rock in Fetzen, die Taschen leer &mdash; vor
+dem Harmlosesten bin ich nicht sicher. &mdash; Tagsüber
+muß ich im Walde weiter zu kommen suchen&nbsp;...</p>
+
+<p>Ein Kreuz habe ich niedergestampft. &mdash; Die
+Blümchen wären heut′ noch erfroren! &mdash; Ringsum
+ist die Erde kahl....</p>
+
+<p>Im Totenreich! &mdash;</p>
+
+<p>Aus der Dachluke zu klettern war so schwer
+nicht wie dieser Weg! &mdash; Darauf nur war ich
+nicht gefaßt gewesen....</p>
+
+<p>Ich hänge über dem Abgrund &mdash; alles versunken,
+verschwunden &mdash; O wär′ ich dort geblieben!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_133" id="Seite_133">[133]</a></span></p>
+
+<p>Warum sie um meinetwillen! &mdash; Warum
+nicht der Verschuldete! &mdash; Unfaßbare Vorsicht!
+&mdash; Ich hätte Steine geklopft und gehungert&nbsp;...!</p>
+
+<p>Was hält mich noch aufrecht? &mdash; Verbrechen
+folgt auf Verbrechen. Ich bin dem Morast
+überantwortet. Nicht so viel Kraft mehr, um
+abzuschließen&nbsp;...</p>
+
+<p>Ich war nicht schlecht! &mdash; Ich war nicht
+schlecht! &mdash; Ich war nicht schlecht&nbsp;...</p>
+
+<p>&mdash; So neiderfüllt ist noch kein Sterblicher
+über Gräber gewandelt. &mdash; Pah &mdash; ich brächte
+ja den Mut nicht auf! &mdash; O, wenn mich Wahnsinn
+umfinge &mdash; in dieser Nacht noch!</p>
+
+<p>Ich muß drüben unter den Letzten suchen! &mdash;
+Der Wind pfeift auf jedem Stein aus einer
+anderen Tonart &mdash; eine beklemmende Symphonie!
+&mdash; Die morschen Kränze reißen entzwei und
+baumeln an ihren langen Fäden stückweise um die
+Marmorkreuze &mdash; ein Wald von Vogelscheuchen! &mdash;
+Vogelscheuchen auf allen Gräbern, eine greulicher
+als die andere &mdash; haushohe, vor denen die Teufel
+Reißaus nehmen. &mdash; Die goldenen Lettern blinken
+so kalt.... Die Trauerweide ächzt auf und
+fährt mit Riesenfingern über die Inschrift....</p>
+
+<p>&mdash; Ein betendes Engelskind &mdash; Eine Tafel &mdash;</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_134" id="Seite_134">[134]</a></span></p>
+
+<p>Eine Wolke wirft ihren Schatten herab. &mdash;
+Wie das hastet und heult! &mdash; Wie ein Heereszug
+jagt es im Osten empor. &mdash; Kein Stern
+am Himmel &mdash;</p>
+
+<p>Immergrün um das Gärtlein? &mdash; Immergrün?
+&mdash; &mdash; Mädchen&nbsp;...</p>
+
+<div class="figcenter">
+ <a name="grabstein" id="grabstein"><img src="images/grabstein.jpg" width="400" height="339" alt="Grabstein von Wendla Bergmann" /></a>
+ <p class="regie">Hier ruht in Gott<br />
+ Wendla Bergmann,<br />
+ geboren am 5. Mai 1878,<br />
+ gestorben an der Bleichsucht den<br />
+ 27. Oktober 1892.<br />
+ Selig sind, die reinen Herzens sind&nbsp;...</p>
+</div>
+
+
+<p>Und ich bin ihr Mörder. &mdash; Ich bin ihr
+Mörder! &mdash; Mir bleibt die Verzweiflung. &mdash;
+Ich darf hier nicht weinen. &mdash; Fort von hier!
+&mdash; Fort &mdash;</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz Stiefel</p>
+
+<p class="regie">(seinen Kopf unter dem Arm, stapft über die Gräber her)</p>
+
+<p>Einen Augenblick, Melchior! Die Gelegenheit
+wiederholt sich so bald nicht. Du ahnst nicht,
+was mit Ort und Stunde zusammenhängt....</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_135" id="Seite_135">[135]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Wo kommst du her?!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Von drüben &mdash; von der Mauer her. Du
+hast mein Kreuz umgeworfen. Ich liege an der
+Mauer. &mdash; Gib mir die Hand, Melchior....</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Du bist <em class="gesperrt">nicht</em> Moritz Stiefel!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Gib mir die Hand. Ich bin überzeugt, du
+wirst mir Dank wissen. So leicht wird′s dir
+nicht mehr! Es ist ein seltsam glückliches Zusammentreffen.
+&mdash; Ich bin extra heraufgekommen....</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Schläfst du denn nicht?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Nicht was ihr Schlafen nennt. &mdash; Wir sitzen
+auf Kirchtürmen, auf hohen Dachgiebeln &mdash; wo
+immer wir wollen....</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ruhelos?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Vergnügungshalber. &mdash; Wir streifen um Maibäume,
+um einsame Waldkapellen. Über Volksversammlungen
+schweben wir hin, über Unglücksstätten,<span class="pagenum"><a name="Seite_136" id="Seite_136">[136]</a></span>
+Gärten, Festplätze. &mdash; In den Wohnhäusern
+kauern wir im Kamin und hinter den
+Bettvorhängen. &mdash; Gib mir die Hand. &mdash; Wir
+verkehren nicht untereinander, aber wir sehen
+und hören alles, was in der Welt vor sich geht.
+Wir wissen, daß alles Dummheit ist, was die
+Menschen tun und erstreben, und lachen darüber.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Was hilft das?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Was braucht es zu helfen? &mdash; Wir sind für
+nichts mehr erreichbar, nicht für Gutes noch
+Schlechtes. Wir stehen hoch, hoch über dem
+Irdischen &mdash; jeder für sich allein. Wir verkehren
+nicht miteinander, weil uns das zu langweilig
+ist. Keiner von uns hegt noch etwas, das
+ihm abhanden kommen könnte. Über Jammer
+oder Jubel sind wir gleich unermeßlich erhaben.
+Wir sind mit uns zufrieden und das ist alles!
+&mdash; Die Lebenden verachten wir unsagbar, kaum
+daß wir sie bemitleiden. Sie erheitern uns mit
+ihrem Getue, weil sie als Lebende tatsächlich
+nicht zu bemitleiden sind. Wir lächeln bei ihren
+Tragödien &mdash; jeder für sich &mdash; und stellen unsere
+Betrachtungen an. &mdash; Gib mir die Hand!<span class="pagenum"><a name="Seite_137" id="Seite_137">[137]</a></span>
+Wenn du mir die Hand gibst, fällst du um vor
+Lachen über dem Empfinden, mit dem du mir
+die Hand gibst....</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ekelt dich das nicht an?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Dazu stehen wir zu hoch. Wir lächeln! &mdash;
+An meinem Begräbnis war ich unter den Leidtragenden.
+Ich habe mich recht gut unterhalten.
+Das ist Erhabenheit, Melchior! Ich habe geheult
+wie keiner, und schlich zur Mauer, um mir vor
+Lachen den Bauch zu halten. Unsere unnahbare
+Erhabenheit ist tatsächlich der einzige Gesichtspunkt,
+unter dem der Quark sich verdauen läßt....
+Auch über mich will man gelacht haben, eh′ ich
+mich aufschwang!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>&mdash; Mich lüstet′s nicht, über mich zu lachen.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>...&nbsp;Die Lebenden sind als solche wahrhaftig
+nicht zu bemitleiden! &mdash; Ich gestehe, ich hätte es
+auch nie gedacht. Und jetzt ist es mir unfaßbar,
+wie man so naiv sein kann. Jetzt durchschaue
+ich den Trug so klar, daß auch nicht ein Wölkchen
+bleibt. &mdash; Wie magst du nur zaudern,
+Melchior! Gib mir die Hand! Im Halsumdrehen<span class="pagenum"><a name="Seite_138" id="Seite_138">[138]</a></span>
+stehst du himmelhoch über dir. &mdash; Dein
+Leben ist Unterlassungssünde....</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>&mdash; Könnt ihr vergessen?</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Wir können alles. Gib mir die Hand! Wir
+können die Jugend bedauern, wie sie ihre Bangigkeit
+für Idealismus hält, und das Alter, wie ihm
+vor stoischer Überlegenheit das Herz brechen will.
+Wir sehen den Kaiser vor Gassenhauern und den
+Lazzaroni vor der jüngsten Posaune beben. Wir
+ignorieren die Maske des Komödianten und sehen
+den Dichter im Dunkeln die Maske vornehmen.
+Wir erblicken den Zufriedenen in seiner Bettelhaftigkeit,
+im Mühseligen und Beladenen den
+Kapitalisten. Wir beobachten Verliebte und
+sehen sie voreinander erröten, ahnend, daß sie
+betrogene Betrüger sind. Eltern sehen wir Kinder
+in die Welt setzen, um ihnen zurufen zu können:
+Wie glücklich ihr seid, solche Eltern zu haben! &mdash;
+und sehen die Kinder hingehn und desgleichen tun.
+Wir können die Unschuld in ihren einsamen Liebesnöten,
+die Fünfgroschendirne über der Lektüre
+Schillers belauschen.... Gott und den Teufel
+sehen wir sich voreinander blamieren und hegen<span class="pagenum"><a name="Seite_139" id="Seite_139">[139]</a></span>
+in uns das durch nichts zu erschütternde Bewußtsein,
+daß beide betrunken sind.... Eine
+Ruhe, eine Zufriedenheit. Melchior &mdash;! Du
+brauchst mir nur den kleinen Finger zu reichen.
+&mdash; Schneeweiß kannst du werden, eh′ sich dir der
+Augenblick wieder so günstig zeigt!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>&mdash; Wenn ich einschlage, Moritz, so geschieht
+es aus Selbstverachtung. &mdash; Ich sehe mich geächtet.
+Was mir Mut verlieh, liegt im Grabe.
+Edler Regungen vermag ich mich nicht mehr für
+würdig zu halten &mdash; und erblicke nichts, nichts,
+das sich mir auf meinem Niedergang noch entgegenstellen
+sollte. &mdash; Ich bin mir die verabscheuungswürdigste
+Kreatur des Weltalls....</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Was zauderst du&nbsp;...?</p>
+
+<p class="regie">(Ein vermummter Herr tritt auf)</p>
+
+<p class="sprecher">Der vermummte Herr <span class="regie">(zu Melchior)</span></p>
+
+<p>Du bebst ja vor Hunger. Du bist gar nicht
+befähigt, zu urteilen. &mdash; <span class="regie">(Zu Moritz)</span> Gehen Sie.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Wer sind Sie?</p>
+
+<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
+
+<p>Das wird sich weisen. &mdash; <span class="regie">(Zu Moritz)</span> Verschwinden
+Sie! &mdash; Was haben Sie hier zu tun!
+&mdash; Warum haben Sie denn den Kopf nicht auf?</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_140" id="Seite_140">[140]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Ich habe mich erschossen.</p>
+
+<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
+
+<p>Dann bleiben Sie doch, wo Sie hingehören.
+Dann sind Sie ja vorbei! Belästigen Sie uns
+hier nicht mit Ihrem Grabgestank. Unbegreiflich
+&mdash; sehen Sie doch nur Ihre Finger an. Pfui
+Teufel noch mal! Das zerbröckelt schon.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Schicken Sie mich bitte nicht fort....</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Wer sind Sie, mein Herr??</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Schicken Sie mich nicht fort! Ich bitte Sie.
+Lassen Sie mich hier noch ein Weilchen teilnehmen;
+ich will Ihnen in nichts entgegensein. &mdash; &mdash; Es
+ist unten so schaurig.</p>
+
+<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
+
+<p>Warum prahlen Sie denn dann mit <em class="gesperrt">Erhabenheit</em>?!
+&mdash; Sie wissen doch, daß das Humbug
+ist &mdash; saure Trauben! Warum <em class="gesperrt">lügen</em> Sie
+geflissentlich, Sie &mdash; Hirngespinst! &mdash; &mdash; Wenn Ihnen
+eine so schätzenswerte Wohltat damit geschieht, so
+bleiben Sie meinetwegen. Aber hüten Sie sich
+vor Windbeuteleien, lieber Freund &mdash; und lassen
+Sie mir bitte Ihre Leichenhand aus dem Spiel!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_141" id="Seite_141">[141]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Sagen Sie mir endlich, wer Sie sind, oder nicht?!</p>
+
+<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
+
+<p>Nein. &mdash; Ich mache dir den Vorschlag, dich
+mir anzuvertrauen. Ich würde fürs erste für
+dein Fortkommen sorgen.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Sie sind &mdash; mein Vater?!</p>
+
+<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
+
+<p>Würdest du deinen Herrn Vater nicht an der
+Stimme erkennen?</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Nein.</p>
+
+<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
+
+<p>&mdash; Dein Herr Vater sucht Trost zur Stunde in
+den kräftigen Armen deiner Mutter. &mdash; Ich erschließe
+dir die Welt. Deine momentane Fassungslosigkeit
+entspringt deiner miserablen Lage. Mit
+einem warmen Abendessen im Leib spottest du
+ihrer.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior <span class="regie">(für sich)</span></p>
+
+<p>Es kann nur <em class="gesperrt">einer</em> der Teufel sein! &mdash; <span class="regie">(laut)</span>
+Nach dem, was ich verschuldet, kann mir ein
+warmes Abendessen meine Ruhe nicht wiedergeben!</p>
+
+<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
+
+<p>Es kommt auf das Abendessen an! &mdash; So viel
+kann ich dir sagen, daß die Kleine vorzüglich<span class="pagenum"><a name="Seite_142" id="Seite_142">[142]</a></span>
+geboren hätte. Sie war musterhaft gebaut. Sie ist
+lediglich den Abortivmitteln der Mutter Schmidtin
+erlegen. &mdash; &mdash; Ich führe dich unter Menschen.
+Ich gebe dir Gelegenheit, deinen Horizont in der
+fabelhaftesten Weise zu erweitern. Ich mache dich
+ausnahmslos mit allem bekannt, was die Welt
+Interessantes bietet.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Wer sind Sie? Wer sind Sie? &mdash; Ich kann
+mich einem Menschen nicht anvertrauen, den ich
+nicht kenne.</p>
+
+<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
+
+<p>Du lernst mich nicht kennen, ohne dich mir
+anzuvertrauen.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Glauben Sie?</p>
+
+<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
+
+<p>Tatsache! &mdash; Übrigens bleibt dir ja keine Wahl.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Ich kann jeden Moment meinem Freunde
+hier die Hand reichen.</p>
+
+<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
+
+<p>Dein Freund ist ein Scharlatan. Es lächelt
+keiner, der noch einen Pfennig in bar besitzt.
+Der erhabene Humorist ist das erbärmlichste, bedauernswerteste
+Geschöpf der Schöpfung!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_143" id="Seite_143">[143]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Sei der Humorist, was er sei; Sie sagen mir, wer
+Sie sind, oder ich reiche dem Humoristen die Hand!</p>
+
+<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
+
+<p>&mdash; Nun?!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Er hat recht, Melchior. Ich habe bramarbasiert.
+Laß dich von ihm traktieren und nütz′
+ihn aus. Mag er noch so vermummt sein &mdash;
+er ist es wenigstens!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Glauben Sie an Gott?</p>
+
+<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
+
+<p>Je nach Umständen.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Wollen Sie mir sagen, wer das Pulver erfunden
+hat?</p>
+
+<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
+
+<p>Berthold Schwarz &mdash; alias Konstantin Anklitzen
+&mdash; um 1330 Franziskanermönch zu Freiburg
+im Breisgau.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Was gäbe ich darum, wenn er es hätte
+bleiben lassen!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_144" id="Seite_144">[144]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
+
+<p>Sie würden sich eben erhängt haben!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Wie denken Sie über Moral?</p>
+
+<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
+
+<p>Kerl &mdash; bin ich dein Schulknabe?!</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Weiß ich, was Sie sind!!</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Streitet nicht! &mdash; Bitte, streitet nicht. Was
+kommt dabei heraus! &mdash; Wozu sitzen wir, zwei
+Lebendige und ein Toter, nachts um zwei Uhr
+hier auf dem Kirchhof beisammen, wenn wir
+streiten wollen wie Saufbrüder! &mdash; Es soll mir
+ein Vergnügen sein, der Verhandlung mit beiwohnen
+zu dürfen. &mdash; Wenn ihr streiten wollt,
+nehme ich meinen Kopf unter den Arm und
+gehe.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Du bist immer noch derselbe Angstmeier!</p>
+
+<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
+
+<p>Das Gespenst hat nicht Unrecht. Man soll
+seine Würde nicht außer Acht lassen. &mdash; Unter
+Moral verstehe ich das reelle Produkt zweier
+imaginärer Größen. Die imaginären Größen<span class="pagenum"><a name="Seite_145" id="Seite_145">[145]</a></span>
+sind <em class="gesperrt">Sollen</em> und <em class="gesperrt">Wollen</em>. Das Produkt heißt
+Moral und läßt sich in seiner Realität nicht
+leugnen.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Hätten Sie mir das doch vorher gesagt! &mdash; Meine
+Moral hat mich in den Tod gejagt. Um meiner
+lieben Eltern willen griff ich zum Mordgewehr.
+„Ehre Vater und Mutter, auf daß du lange
+lebest.“ An mir hat sich die Schrift phänomenal
+blamiert.</p>
+
+<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
+
+<p>Geben Sie sich keinen Illusionen hin, lieber
+Freund! Ihre lieben Eltern wären so wenig
+daran gestorben wie Sie. Rigoros beurteilt
+würden sie ja lediglich aus gesundheitlichem Bedürfnis
+getobt und gewettert haben.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Das mag soweit ganz richtig sein. &mdash; Ich
+kann Ihnen aber mit Bestimmtheit sagen, mein
+Herr, daß, wenn ich Moritz vorhin ohne weiteres
+die Hand gereicht hätte, einzig und allein meine
+Moral die Schuld trüge.</p>
+
+<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
+
+<p>Dafür bist du eben nicht Moritz!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_146" id="Seite_146">[146]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Ich glaube doch nicht, daß der Unterschied so
+wesentlich ist &mdash; zum mindesten nicht so zwingend,
+daß Sie nicht auch mir zufällig hätten begegnen
+dürfen, verehrter <em class="gesperrt">Unbekannter</em>, als ich damals,
+das Pistol in der Tasche, durch die Erlenpflanzungen
+trabte.</p>
+
+<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
+
+<p>Erinnern Sie sich meiner denn nicht? Sie
+standen doch wahrlich auch im letzten Augenblick
+noch zwischen <em class="gesperrt">Tod</em> und <em class="gesperrt">Leben</em>. &mdash; Übrigens ist
+hier meines Erachtens doch wohl nicht ganz der Ort,
+eine so tiefgreifende Debatte in die Länge zu ziehen.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Gewiß, es wird kühl, meine Herren! &mdash; Man hat
+mir zwar meinen Sonntagsanzug angezogen, aber
+ich trage weder Hemd noch Unterhosen.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Leb wohl, lieber Moritz. Wo dieser Mensch
+mich hinführt, weiß ich nicht. Aber er ist ein
+Mensch&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Laß mich′s nicht entgelten, Melchior, daß ich
+dich umzubringen suchte! Es war alte Anhänglichkeit.
+&mdash; Zeitlebens wollte ich nur klagen und
+jammern dürfen, wenn ich dich nun noch einmal
+hinausbegleiten könnte!</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_147" id="Seite_147">[147]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
+
+<p>Schließlich hat Jeder sein Teil &mdash; <em class="gesperrt">Sie</em> das
+beruhigende Bewußtsein, <em class="gesperrt">nichts</em> zu haben &mdash; <em class="gesperrt">du</em>
+den enervirenden Zweifel an <em class="gesperrt">allem</em>. &mdash; Leben
+Sie wohl.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>Leb wohl, Moritz! Nimm meinen herzlichen
+Dank dafür, daß du mir noch erschienen. Wie manchen
+frohen ungetrübten Tag wir nicht miteinander
+verlebt haben in den vierzehn Jahren! Ich
+verspreche dir, Moritz, mag nun werden was
+will, mag ich in den kommenden Jahren
+zehnmal ein Anderer werden, mag es aufwärts
+oder abwärts mit mir gehn, dich werde ich nie
+vergessen&nbsp;...</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Dank, dank, Geliebter.</p>
+
+<p class="sprecher">Melchior</p>
+
+<p>...&nbsp;und wenn ich einmal ein alter Mann in
+grauen Haaren bin, dann stehst gerade du mir
+vielleicht wieder näher als alle Mitlebenden.</p>
+
+<p class="sprecher">Moritz</p>
+
+<p>Ich danke dir. &mdash; Glück auf den Weg, meine
+Herren! &mdash; Lassen Sie sich nicht länger aufhalten.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_148" id="Seite_148">[148]</a></span></p>
+
+<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
+
+<p>Komm, Kind! &mdash; <span class="regie">(Er legt seinen Arm in denjenigen
+Melchiors und entfernt sich mit ihm über die
+Gräber hin.)</span></p>
+
+<p class="sprecher">Moritz <span class="regie">(allein)</span></p>
+
+<p>&mdash; Da sitze ich nun mit meinem Kopf im
+Arm. &mdash; &mdash; Der Mond verhüllt sein Gesicht,
+entschleiert sich wieder und sieht um kein Haar
+gescheiter aus. &mdash; &mdash; So kehre ich denn zu
+meinem Plätzchen zurück, richte mein Kreuz auf,
+das mir der Tollkopf so rücksichtslos niedergestampft,
+und wenn alles in Ordnung, leg′ ich
+mich wieder auf den Rücken, wärme mich an
+der Verwesung und lächle&nbsp;...</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_150" id="Seite_150">[150]</a></span></p>
+
+
+
+<p class="center p6" style="page-break-before: always">Albert Langen Verlag für Litteratur u. Kunst München</p>
+
+<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p>
+<p class="werke-titel">Der Liebestrank</p>
+<p class="werke-untertitel">Schwank in drei Aufzügen</p>
+<p class="center">Geheftet 2 Mark</p>
+
+<p style="text-indent: 0; font-weight: bold">Die Nation:</p>
+
+<p>Der Autor gehört zu den außer der Reihe stehenden,
+lebhaften und kraftgenialischen Geistern, deren unsere
+Literatur manche hat, bei keinem kunstverständigen Beurteiler
+wird er darum als Poseur, bei niemanden seine
+Art als gemacht, manieriert und eingelernt erscheinen.
+Vielmehr ist er voll einer absonderlichen, wunderlichen
+Eigenart, eine <em class="gesperrt">Natur</em>, wenn man dies Wort auch einmal
+auf einen Sprung, eine Laune, eine Bizarrerie anwenden
+darf. Für die Kunst ist er voll Bedeutung, Anregung
+und Reiz&nbsp;...</p>
+
+
+<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p>
+<p class="werke-titel">Die junge Welt</p>
+<p class="werke-untertitel">Komödie in drei Aufzügen</p>
+<p class="center">Geheftet 2 Mark</p>
+
+<p style="text-indent: 0; font-weight: bold">Die Gesellschaft:</p>
+
+<p>„<em class="gesperrt">Die junge Welt</em>“ ist das bühnengerechteste von
+Wedekinds Dramen. Junge Mädchen geben sich in der
+Pension das Versprechen des Cölibats; natürlich hält es
+keine. Die Komödie erzählt das mit einem fast liebenswürdigen
+Humor und mit all der Menschenkenntnis und
+treffsicheren Charakterkunst dieses eigenartigsten unter
+den Dichtern von heute. Erzählen läßt sich das nicht,
+auch nicht beschreiben. Aber es ist sehr lustig. Es ist
+ein wildes Durcheinander von übermütigen Einfällen,
+tollen Gliederverrenkungen in der Charakteristik, Karikaturen,
+die wie Porträts aussehen &mdash; kurz, ein Lachkabinett,
+aber ganz neuer Art.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_151" id="Seite_151">[151]</a></span></p>
+
+<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p>
+<p class="werke-titel">Marquis von Keith</p>
+<p class="werke-untertitel"><b>(Münchener Szenen)</b></p>
+<p class="werke-untertitel">Schauspiel in fünf Aufzügen</p>
+<p class="center">Geheftet 2 Mark 50 Pf.</p>
+<p class="center">Elegant gebunden 3 Mark 50 Pf.</p>
+
+<p style="text-indent: 0; font-weight: bold">Die Nation:</p>
+
+<p>Wedekind hat die irdische Unbekümmertheit, das
+Freisein von zeitlicher Satzung. Er steht außerhalb der
+Gesellschaft, fast außerhalb der Welt. Ich sagte das
+hier vor einem Jahr und muß es verstärken. Er ist
+mit seinen Lebensinhalten einer der tiefsten Humoristen,
+die sich heut irgendwo betätigen.</p>
+
+<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p>
+<p class="werke-titel">Der Kammersänger</p>
+<p class="werke-untertitel">Drei Szenen</p>
+<p class="center"><b>Fünftes Tausend</b></p>
+<p class="center">Geheftet 1 Mark</p>
+<p class="center">Elegant gebunden 2 Mark</p>
+
+<p style="text-indent: 0; font-weight: bold">Brünner Sonntagszeitung:</p>
+
+<p>Von groteskem, überlebensgroßem Humor und
+geißelnder Satire und Ironie sind die unter dem Titel
+„<em class="gesperrt">Der Kammersänger</em>“ (A. Langen) vereinigten Szenen
+von Frank Wedekind erfüllt. Gut dargestellt müßten
+diese ohne jedwede Komposition aneinander gereihten
+Szenen von mächtiger Wirkung sein. Schon in der
+Lektüre wirkt das Werk ganz eigentümlich. Man
+empfindet ähnliches wie beim Betrachten der Zeichnungen
+des dämonischen Th. Th. Heine.</p>
+
+<p><span class="pagenum"><a name="Seite_152" id="Seite_152">[152]</a></span></p>
+
+<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p>
+<p class="werke-titel">Feuerwerk</p>
+<p class="werke-untertitel">Erzählungen</p>
+<p class="center"><b>Drittes Tausend</b></p>
+<p class="center">Preis geheftet 3 Mark</p>
+<p class="center">Elegant gebunden 4 Mark</p>
+
+<p style="text-indent: 0; font-weight: bold">Pfälzische Presse:</p>
+
+<p>...&nbsp;Dabei ist Wedekind im Unterschied von vielen
+jener Dekadenten frisch, nicht ohne Humor, und von
+strotzender Gesundheit in der Art sich zu geben. Meisterstücke
+in ihrer Art sind einige der kleinen Novellen, wie
+„Der Brand von Egliswyl“, „Rabbi Esra“, „Der greise
+Freier“ u. a.</p>
+
+<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p>
+<p class="werke-titel">So ist das Leben</p>
+<p class="werke-untertitel">Schauspiel in fünf Akten</p>
+<p class="center">Preis geheftet 2 Mark</p>
+<p class="center">Elegant gebunden 3 Mark</p>
+
+<p>„<cite class="gesperrt">So ist das Leben</cite>“ behandelt die Schicksale eines
+entthronten Königs, der in die unangenehme Lage kommt,
+sich vor einem bürgerlichen Gericht wegen <em class="gesperrt">Majestätsbeleidigung</em>
+verantworten zu müssen. <b>Die aktuelle
+Frage der Majestätsbeleidigungsprozesse</b> erfährt
+auf diese Weise in dem Drama eine <em class="gesperrt">verblüffend
+vielseitige Beleuchtung</em>.</p>
+
+<p class="center p6"><small>Druck von Hesse &amp; Becker in Leipzig</small></p>
+
+<div>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 45091 ***</div>
+</body>
+</html>
diff --git a/45091/45091-h/images/cover.jpg b/45091-h/images/cover.jpg
index f5e184d..f5e184d 100644
--- a/45091/45091-h/images/cover.jpg
+++ b/45091-h/images/cover.jpg
Binary files differ
diff --git a/45091/45091-h/images/grabstein.jpg b/45091-h/images/grabstein.jpg
index b105230..b105230 100644
--- a/45091/45091-h/images/grabstein.jpg
+++ b/45091-h/images/grabstein.jpg
Binary files differ
diff --git a/45091/45091-h/images/verlag.jpg b/45091-h/images/verlag.jpg
index 2dda023..2dda023 100644
--- a/45091/45091-h/images/verlag.jpg
+++ b/45091-h/images/verlag.jpg
Binary files differ
diff --git a/45091/45091-0.zip b/45091/45091-0.zip
deleted file mode 100644
index 457a363..0000000
--- a/45091/45091-0.zip
+++ /dev/null
Binary files differ
diff --git a/45091/45091-h.zip b/45091/45091-h.zip
deleted file mode 100644
index 00ab479..0000000
--- a/45091/45091-h.zip
+++ /dev/null
Binary files differ