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| author | nfenwick <nfenwick@pglaf.org> | 2025-03-01 19:03:15 -0800 |
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-
-This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
-almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
-re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
-with this eBook or online at www.gutenberg.org
-
-
-Title: Frühlings Erwachen
-
-Author: Frank Wedekind
-
-Release Date: March 9, 2014 [EBook #45091]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: UTF-8
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FRÜHLINGS ERWACHEN ***
-
-
-
-
-Produced by Peter Becker, the University of Toronto,
-Marc-Andre Seekamp and the Online Distributed Proofreading
-Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from
-images generously made available by The Internet
-Archive/Canadian Libraries)
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-Anmerkungen zur Transkription: Im Original gesperrt gedruckter Text
-wurde mit _ markiert. Im Original in Antiqua gedruckter Text wurde mit
-~ markiert. Im Original fett gedruckter Text wurde mit = markiert.
-
-
-
-
- Frühlings Erwachen
-
-
-
-
- Übersetzungs- und Aufführungsrecht vorbehalten. Nachdruck
- verboten
-
- Den Bühnen und Vereinen gegenüber Manuskript
-
- Das Aufführungsrecht ist ausschließlich zu erwerben
- durch _Albert Langen_, Verlag und Bühnenvertrieb,
- München
-
-
-
-
- Frank Wedekind
-
- Frühlings Erwachen
-
- Eine Kindertragödie
-
- Elfte bis fünfzehnte Auflage
-
- [Illustration]
-
- Albert Langen
- Verlag für Litteratur und Kunst
- München 1907
-
-
-
-
-Von _Frank Wedekind_ erschienen im Verlage von Albert Langen:
-
-
- _Erdgeist_ Tragödie 3. Auflage
- _Die Fürstin Russalka_ Novellen -- Gedichte -- Theater Vergriffen
- _Der Kammersänger_ Drei Szenen 5. Auflage
- _Der Liebestrank_ Schwank
- _Die junge Welt_ Komödie
- _Marquis von Keith_ Schauspiel
- _So ist das Leben_ Schauspiel
- _Frühlings Erwachen_
- Eine Kindertragödie 15. Auflage
- _Mine-Haha_ oder über die körperliche Erziehung
- der jungen Mädchen 5. Tausend
- _Die vier Jahreszeiten_ Gedichte 2. Tausend
- _Feuerwerk_ Erzählungen 3. Tausend
- _Totentanz_ Drei Szenen 4. Tausend
-
-
-
-
- Dem vermummten Herrn
- der Verfasser
-
-
-
-
-Erster Akt
-
-
-Erste Szene
-
-
-Wohnzimmer
-
-=Wendla=
-
-Warum hast du mir das Kleid so lang gemacht, Mutter?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Du wirst vierzehn Jahr heute!
-
-=Wendla=
-
-Hätt’ ich gewußt, daß du mir das Kleid so lang machen werdest, ich wäre
-lieber nicht vierzehn geworden.
-
-=Frau Bergmann=
-
-Das Kleid ist nicht zu lang, Wendla. Was willst du denn! Kann ich
-dafür, daß mein Kind mit jedem Frühjahr wieder zwei Zoll größer ist.
-Du darfst doch als ausgewachsenes Mädchen nicht in Prinzeßkleidchen
-einhergehen.
-
-=Wendla=
-
-Jedenfalls steht mir mein Prinzeßkleidchen besser als diese
-Nachtschlumpe. -- Laß mich’s noch einmal tragen, Mutter! Nur noch den
-Sommer lang. Ob ich nun vierzehn zähle oder fünfzehn, dies Bußgewand
-wird mir immer noch recht sein. -- Heben wir’s auf bis zu meinem
-nächsten Geburtstag; jetzt würd’ ich doch nur die Litze heruntertreten.
-
-=Frau Bergmann=
-
-Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich würde dich ja gerne so
-behalten, Kind, wie du gerade bist. Andere Mädchen sind stakig und
-plump in deinem Alter. Du bist das Gegenteil. -- Wer weiß, wie du sein
-wirst, wenn sich die andern entwickelt haben.
-
-=Wendla=
-
-Wer weiß -- vielleicht werde ich nicht mehr sein.
-
-=Frau Bergmann=
-
-Kind, Kind, wie kommst du auf die Gedanken!
-
-=Wendla=
-
-Nicht, liebe Mutter; nicht traurig sein!
-
-=Frau Bergmann= (sie küssend)
-
-Mein einziges Herzblatt!
-
-=Wendla=
-
-Sie kommen mir so des abends, wenn ich nicht einschlafe. Mir ist gar
-nicht traurig dabei, und ich weiß, daß ich dann um so besser schlafe.
--- Ist es sündhaft, Mutter, über derlei zu sinnen?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Geh’ denn und häng’ das Bußgewand in den Schrank! Zieh’ in Gottes Namen
-dein Prinzeßkleidchen wieder an! -- Ich werde dir gelegentlich eine
-Handbreit Volants unten ansetzen.
-
-=Wendla=
-
-(das Kleid in Schrank hängend)
-
-Nein, da möcht’ ich schon lieber gleich vollends zwanzig sein ...!
-
-=Frau Bergmann=
-
-Wenn du nur nicht zu kalt hast! -- Das Kleidchen war dir ja seinerzeit
-reichlich lang; aber ...
-
-=Wendla=
-
-Jetzt, wo der Sommer kommt? -- O Mutter, in den Kniekehlen bekommt
-man auch als Kind keine Diphtheritis! Wer wird so kleinmütig sein.
-In meinen Jahren friert man noch nicht -- am wenigsten an die Beine.
-Wär’s etwa besser, wenn ich zu heiß hätte, Mutter? -- Dank’ es dem
-lieben Gott, wenn sich dein Herzblatt nicht eines morgens die Ärmel
-wegstutzt und dir so zwischen Licht abends ohne Schuhe und Strümpfe
-entgegentritt! -- Wenn ich mein Bußgewand trage, kleide ich mich
-darunter wie eine Elfenkönigin ... Nicht schelten, Mütterchen! Es
-sieht’s dann ja niemand mehr.
-
-
-Zweite Szene
-
-_Sonntag abend_
-
-=Melchior=
-
-Das ist mir zu langweilig. Ich mache nicht mehr mit.
-
-=Otto=
-
-Dann können wir andern nur auch aufhören! -- Hast du die Arbeiten,
-Melchior?
-
-=Melchior=
-
-Spielt ihr nur weiter!
-
-=Moritz=
-
-Wohin gehst du?
-
-=Melchior=
-
-Spazieren.
-
-=Georg=
-
-Es wird ja dunkel!
-
-=Robert=
-
-Hast du die Arbeiten schon?
-
-=Melchior=
-
-Warum soll ich denn nicht im Dunkeln spazieren gehn?
-
-=Ernst=
-
-Zentralamerika! -- Ludwig der Fünfzehnte! -- Sechzig Verse Homer! --
-Sieben Gleichungen!
-
-=Melchior=
-
-Verdammte Arbeiten!
-
-=Georg=
-
-Wenn nur wenigstens der lateinische Aufsatz nicht auf morgen wäre!
-
-=Moritz=
-
-An nichts kann man denken, ohne daß einem Arbeiten dazwischen kommen!
-
-=Otto=
-
-Ich gehe nach Hause.
-
-=Georg=
-
-Ich auch, Arbeiten machen.
-
-=Ernst=
-
-Ich auch, ich auch.
-
-=Robert=
-
-Gute Nacht, Melchior.
-
-=Melchior=
-
-Schlaft wohl!
-
-(Alle entfernen sich bis auf Moritz und Melchior.)
-
-=Melchior=
-
-Möchte doch wissen, wozu wir eigentlich auf der Welt sind!
-
-=Moritz=
-
-Lieber wollt’ ich ein Droschkengaul sein um der Schule willen! --
-Wozu gehen wir in die Schule? -- Wir gehen in die Schule, damit
-man uns examinieren kann! -- Und wozu examiniert man uns? -- Damit
-wir durchfallen. -- Sieben müssen ja durchfallen, schon weil das
-Klassenzimmer oben nur sechzig faßt. -- Mir ist so eigentümlich seit
-Weihnachten ... hol’ mich der Teufel, wäre Papa nicht, heut’ noch
-schnürt’ ich mein Bündel und ginge nach Altona!
-
-=Melchior=
-
-Reden wir von etwas anderem. --
-
-(Sie gehen spazieren.)
-
-=Moritz=
-
-Siehst du die schwarze Katze dort mit dem emporgereckten Schweif?
-
-=Melchior=
-
-Glaubst du an Vorbedeutungen?
-
-=Moritz=
-
-Ich weiß nicht recht. -- -- Sie kam von drüben her. Es hat nichts zu
-sagen.
-
-=Melchior=
-
-Ich glaube, das ist eine Charybdis, in die jeder stürzt, der sich aus
-der Skylla religiösen Irrwahns emporgerungen. -- -- Laß uns hier unter
-der Buche Platz nehmen. Der Tauwind fegt über die Berge. Jetzt möchte
-ich droben im Wald eine junge Dryade sein, die sich die ganze lange
-Nacht in den höchsten Wipfeln wiegen und schaukeln läßt....
-
-=Moritz=
-
-Knöpf’ dir die Weste auf, Melchior!
-
-=Melchior=
-
-Ha -- wie das einem die Kleider bläht!
-
-=Moritz=
-
-Es wird weiß Gott so stockfinster, daß man die Hand nicht vor den Augen
-sieht. Wo bist du eigentlich? -- -- Glaubst du nicht auch, Melchior,
-daß das Schamgefühl im Menschen nur ein Produkt seiner Erziehung ist?
-
-=Melchior=
-
-Darüber habe ich erst vorgestern noch nachgedacht. Es scheint mir
-immerhin tief eingewurzelt in der menschlichen Natur. Denke dir, du
-solltest dich vollständig entkleiden vor deinem besten Freund. Du wirst
-es nicht tun, wenn er es nicht zugleich auch tut. -- Es ist eben auch
-mehr oder weniger Modesache.
-
-=Moritz=
-
-Ich habe mir schon gedacht, wenn ich Kinder habe, Knaben und Mädchen,
-so lasse ich sie von früh auf im nämlichen Gemach, wenn möglich auf ein
-und demselben Lager, zusammenschlafen, lasse sie morgens und abends
-beim An- und Auskleiden einander behilflich sein und in der heißen
-Jahreszeit, die Knaben sowohl wie die Mädchen, tagsüber nichts als
-eine kurze, mit einem Lederriemen gegürtete Tunika aus weißem Wollstoff
-tragen. -- Mir ist, sie müßten, wenn sie so heranwachsen, später
-ruhiger sein, als wir es in der Regel sind.
-
-=Melchior=
-
-Das glaube ich entschieden, Moritz! -- Die Frage ist nur, wenn die
-Mädchen Kinder bekommen, was dann?
-
-=Moritz=
-
-Wie so Kinder bekommen?
-
-=Melchior=
-
-Ich glaube in dieser Hinsicht nämlich an einen gewissen Instinkt. Ich
-glaube, wenn man einen Kater zum Beispiel mit einer Katze von Jugend
-auf zusammensperrt und beide von jedem Verkehr mit der Außenwelt
-fernhält, d. h. sie ganz nur ihren eigenen Trieben überläßt -- daß die
-Katze früher oder später doch einmal trächtig wird, obgleich sie sowohl
-wie der Kater niemand hatten, dessen Beispiel ihnen hätte die Augen
-öffnen können.
-
-=Moritz=
-
-Bei Tieren muß sich das ja schließlich von selbst ergeben.
-
-=Melchior=
-
-Bei Menschen glaube ich erst recht! Ich bitte dich, Moritz, wenn
-deine Knaben mit den Mädchen auf ein und demselben Lager schlafen und
-es kommen ihnen nun unversehens die ersten männlichen Regungen -- ich
-möchte mit jedermann eine Wette eingehen....
-
-=Moritz=
-
-Darin magst du ja recht haben. -- Aber immerhin ...
-
-=Melchior=
-
-Und bei deinen Mädchen wäre es im entsprechenden Alter vollkommen das
-nämliche! Nicht daß das Mädchen gerade ... man kann das ja freilich so
-genau nicht beurteilen ... jedenfalls wäre vorauszusetzen ...... und
-die Neugierde würde das Ihrige zu tun auch nicht verabsäumen!
-
-=Moritz=
-
-Eine Frage beiläufig --
-
-=Melchior=
-
-Nun?
-
-=Moritz=
-
-Aber du antwortest?
-
-=Melchior=
-
-Natürlich!
-
-=Moritz=
-
-Wahr?!
-
-=Melchior=
-
-Meine Hand darauf. -- -- Nun, Moritz?
-
-=Moritz=
-
-Hast du den Aufsatz schon??
-
-=Melchior=
-
-So sprich doch frisch von der Leber weg! -- Hier hört und sieht uns ja
-niemand.
-
-=Moritz=
-
-Selbstverständlich müßten meine Kinder nämlich tagsüber arbeiten, in
-Hof und Garten, oder sich durch Spiele zerstreuen, die mit körperlicher
-Anstrengung verbunden sind. Sie müßten reiten, turnen, klettern und
-vor allen Dingen nachts nicht so weich schlafen wie wir. Wir sind
-schrecklich verweichlicht. -- Ich glaube, man träumt gar nicht, wenn
-man hart schläft.
-
-=Melchior=
-
-Ich schlafe von jetzt bis nach der Weinlese überhaupt nur in meiner
-Hängematte. Ich habe mein Bett hinter den Ofen gestellt. Es ist zum
-Zusammenklappen. -- Vergangenen Winter träumte mir einmal, ich hätte
-unsern Lolo so lange gepeitscht, bis er kein Glied mehr rührte. Das war
-das Grauenhafteste, was ich je geträumt habe. -- Was siehst du mich so
-sonderbar an?
-
-=Moritz=
-
-Hast du sie schon empfunden?
-
-=Melchior=
-
-Was?
-
-=Moritz=
-
-Wie sagtest du?
-
-=Melchior=
-
-Männliche Regungen?
-
-=Moritz=
-
-M--hm.
-
-=Melchior=
-
--- Allerdings!
-
-=Moritz=
-
-Ich auch. -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
-
-=Melchior=
-
-Ich kenne das nämlich schon lange! -- schon bald ein Jahr.
-
-=Moritz=
-
-Ich war wie vom Blitz gerührt.
-
-=Melchior=
-
-Du hattest geträumt?
-
-=Moritz=
-
-Aber nur ganz kurz ....... von Beinen im himmelblauem Trikot, die über
-das Katheder steigen -- um aufrichtig zu sein, ich dachte, sie wollten
-hinüber. -- Ich habe sie nur flüchtig gesehen.
-
-=Melchior=
-
-Georg Zirschnitz träumte von seiner _Mutter_.
-
-=Moritz=
-
-Hat er dir das erzählt?
-
-=Melchior=
-
-Draußen am Galgensteg!
-
-=Moritz=
-
-Wenn du wüßtest, was ich ausgestanden seit jener Nacht!
-
-=Melchior=
-
-Gewissensbisse?
-
-=Moritz=
-
-Gewissensbisse?? -- -- -- _Todesangst_!
-
-=Melchior=
-
-Herrgott ...
-
-=Moritz=
-
-Ich hielt mich für unheilbar. Ich glaubte, ich litte an einem inneren
-Schaden. -- Schließlich wurde ich nur dadurch wieder ruhiger, daß ich
-meine Lebenserinnerungen aufzuzeichnen begann. Ja ja, lieber Melchior,
-die letzten drei Wochen waren ein Gethsemane für mich.
-
-=Melchior=
-
-Ich war seinerzeit mehr oder weniger darauf gefaßt gewesen. Ich schämte
-mich ein wenig. -- Das war aber auch alles.
-
-=Moritz=
-
-Und dabei bist du noch fast um ein ganzes Jahr jünger als ich!
-
-=Melchior=
-
-Darüber, Moritz, würd’ ich mir keine Gedanken machen. All’ meinen
-Erfahrungen nach besteht für das erste Auftauchen dieser Phantome
-keine bestimmte Altersstufe. Kennst du den großen Lämmermeier mit
-dem strohgelben Haar und der Adlernase? Drei Jahre ist der älter als
-ich. Hänschen Rilow sagt, der träume noch bis heute von nichts als
-Sandtorten und Aprikosengelee.
-
-=Moritz=
-
-Ich bitte dich, wie kann Hänschen Rilow darüber urteilen!
-
-=Melchior=
-
-Er hat ihn gefragt.
-
-=Moritz=
-
-Er hat ihn gefragt? -- Ich hätte mich nicht getraut, jemanden zu fragen.
-
-=Melchior=
-
-Du hast mich doch auch gefragt.
-
-=Moritz=
-
-Weiß Gott ja! -- Möglicherweise hatte Hänschen auch schon sein
-Testament gemacht. -- Wahrlich ein sonderbares Spiel, das man mit uns
-treibt. Und dafür sollen wir uns dankbar erweisen! Ich erinnere mich
-nicht, je eine Sehnsucht nach dieser Art Aufregungen verspürt zu
-haben. Warum hat man mich nicht ruhig schlafen lassen, bis alles wieder
-still gewesen wäre. Meine lieben Eltern hätten hundert bessere Kinder
-haben können. So bin ich nun hergekommen, ich weiß nicht wie, und soll
-mich dafür verantworten, daß ich nicht weggeblieben bin. -- Hast du
-nicht auch schon darüber nachgedacht, Melchior, auf welche Art und
-Weise wir eigentlich in diesen Strudel hineingeraten?
-
-=Melchior=
-
-Du weißt das also noch nicht, Moritz?
-
-=Moritz=
-
-Wie sollt’ ich es wissen? -- Ich sehe, wie die Hühner Eier legen,
-und höre, daß mich Mama unter dem Herzen getragen haben will.
-Aber genügt denn das? -- Ich erinnere mich auch, als fünfjähriges
-Kind schon befangen worden zu sein, wenn einer die dekolletierte
-Coeurdame aufschlug. Dieses Gefühl hat sich verloren. Indessen kann
-ich heute kaum mehr mit irgend einem Mädchen sprechen, ohne etwas
-Verabscheuenswürdiges dabei zu denken, und -- ich schwöre dir, Melchior
--- ich weiß nicht _was_.
-
-=Melchior=
-
-Ich sage dir alles. -- Ich habe es teils aus Büchern, teils aus
-Illustrationen, teils aus Beobachtungen in der Natur. Du wirst
-überrascht sein; ich wurde seinerzeit Atheist. Ich habe es auch Georg
-Zirschnitz gesagt! Georg Zirschnitz wollte es Hänschen Rilow sagen,
-aber Hänschen Rilow hatte als Kind schon alles von seiner Gouvernante
-erfahren.
-
-=Moritz=
-
-Ich habe den _Kleinen Meyer_ von A bis Z durchgenommen. Worte -- nichts
-als Worte und Worte! Nicht eine einzige schlichte Erklärung. O dieses
-Schamgefühl! -- Was soll mir ein Konversationslexikon, das auf die
-nächstliegende Lebensfrage nicht antwortet.
-
-=Melchior=
-
-Hast du schon einmal zwei Hunde über die Straße laufen sehen?
-
-=Moritz=
-
-Nein! -- -- Sag mir heute lieber noch nichts, Melchior. Ich habe noch
-Mittelamerika und Ludwig den Fünfzehnten vor mir. Dazu die sechzig
-Verse Homer, die sieben Gleichungen, der lateinische Aufsatz -- ich
-würde morgen wieder überall abblitzen. Um mit Erfolg büffeln zu können,
-muß ich stumpfsinnig wie ein Ochse sein.
-
-=Melchior=
-
-Komm doch mit auf mein Zimmer. In dreiviertel Stunden habe ich den
-Homer, die Gleichungen und _zwei_ Aufsätze. Ich korrigiere dir einige
-harmlose Schnitzer hinein, so ist die Sache im Blei. Mama braut uns
-wieder eine Limonade, und wir plaudern gemütlich über die Fortpflanzung.
-
-=Moritz=
-
-Ich kann nicht. -- Ich kann nicht gemütlich über die Fortpflanzung
-plaudern! Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann gib mir deine
-Unterweisungen schriftlich. Schreib mir auf, was du weißt. Schreib es
-möglichst kurz und klar und steck es mir morgen während der Turnstunde
-zwischen die Bücher. Ich werde es nach Hause tragen, ohne zu wissen,
-daß ich es habe. Ich werde es unverhofft einmal wiederfinden. Ich
-werde nicht umhin können, es müden Auges zu durchfliegen ... falls es
-unumgänglich notwendig ist, magst du ja auch einzelne Randzeichnungen
-anbringen.
-
-=Melchior=
-
-Du bist wie ein Mädchen. -- Übrigens wie du willst! Es ist mir das eine
-ganz interessante Arbeit. -- -- Eine Frage, Moritz.
-
-=Moritz=
-
-Hm?
-
-=Melchior=
-
--- Hast du schon einmal ein Mädchen gesehen?
-
-=Moritz=
-
-Ja!
-
-=Melchior=
-
-Aber ganz?!
-
-=Moritz=
-
-_Vollständig_!
-
-=Melchior=
-
-Ich nämlich auch! -- Dann werden keine Illustrationen nötig sein.
-
-=Moritz=
-
-Während des Schützenfestes, in Leilichs anatomischem Museum! Wenn es
-aufgekommen wäre, hätte man mich aus der Schule gejagt. -- Schön wie
-der lichte Tag, und -- o so naturgetreu!
-
-=Melchior=
-
-Ich war letzten Sommer mit Mama in Frankfurt -- -- Du willst schon
-gehen, Moritz?
-
-=Moritz=
-
-Arbeiten machen. -- Gute Nacht.
-
-=Melchior=
-
-Auf Wiedersehen.
-
-
-Dritte Szene
-
-_Thea_, _Wendla_ und _Martha_ kommen Arm in Arm die _Straße_ herauf
-
-=Martha=
-
-Wie einem das Wasser ins Schuhwerk dringt!
-
-=Wendla=
-
-Wie einem der Wind um die Wangen saust!
-
-=Thea=
-
-Wie einem das Herz hämmert!
-
-=Wendla=
-
-Geh’n wir zur Brücke hinaus! Ilse sagte der Fluß führe Sträucher und
-Bäume. Die Jungens haben ein Floß auf dem Wasser. Melchi Gabor soll
-gestern abend beinah ertrunken sein.
-
-=Thea=
-
-O der kann schwimmen!
-
-=Martha=
-
-Das will ich meinen, Kind!
-
-=Wendla=
-
-Wenn er nicht hätte schwimmen können, wäre er wohl sicher ertrunken!
-
-=Thea=
-
-Dein Zopf geht auf, Martha; dein Zopf geht auf!
-
-=Martha=
-
-Puh -- laß ihn aufgehn! Er ärgert mich so Tag und Nacht. Kurze Haare
-tragen wie du darf ich nicht, das Haar offen tragen wie Wendla darf ich
-nicht, Ponyhaare tragen darf ich nicht, und zu Hause muß ich mir gar
-die Frisur machen -- alles der Tanten wegen!
-
-=Wendla=
-
-Ich bringe morgen eine Schere mit in die Religionsstunde. Während du
-„Wohl dem, der nicht wandelt“ rezitierst, werd’ ich ihn abschneiden.
-
-=Martha=
-
-Um Gotteswillen, Wendla! Papa schlägt mich krumm, und Mama sperrt mich
-drei Nächte ins Kohlenloch.
-
-=Wendla=
-
-Womit schlägt er dich, Martha?
-
-=Martha=
-
-Manchmal ist es mir, es müßte ihnen doch etwas abgehen, wenn sie keinen
-so schlechtgearteten Balg hätten wie ich.
-
-=Thea=
-
-Aber Mädchen!
-
-=Martha=
-
-Hast du dir nicht auch ein himmelblaues Band durch die Hemdpasse ziehen
-dürfen?
-
-=Thea=
-
-Rosa Atlas! Mama behauptet, Rosa stehe mir bei meinen pechschwarzen
-Augen.
-
-=Martha=
-
-Mir stand Blau reizend! -- Mama riß mich am Zopf zum Bett heraus. So
--- fiel ich mit den Händen voraus auf die Diele. -- Mama betet nämlich
-Abend für Abend mit uns....
-
-=Wendla=
-
-Ich an deiner Stelle wäre ihnen längst in die Welt hinausgelaufen.
-
-=Martha=
-
-... Da habe man’s, worauf ich ausgehe! -- Da habe man’s ja! -- Aber
-sie wolle schon sehen -- o sie wolle noch sehen! -- Meiner Mutter
-wenigstens solle ich einmal keine Vorwürfe machen können....
-
-=Thea=
-
-Hu -- Hu --
-
-=Martha=
-
-Kannst du dir denken, Thea, was Mama damit meinte?
-
-=Thea=
-
-Ich nicht. -- Du, Wendla?
-
-=Wendla=
-
-Ich hätte sie einfach gefragt.
-
-=Martha=
-
-Ich lag auf der Erde und schrie und heulte. Da kommt Papa. Ritsch --
-das Hemd herunter. Ich zur Türe hinaus. Da habe man’s! Ich wolle nun
-wohl so auf die Straße hinunter....
-
-=Wendla=
-
-Das ist doch gar nicht wahr, Martha.
-
-=Martha=
-
-Ich fror. Ich schloß auf. Ich habe die ganze Nacht im Sack schlafen
-müssen.
-
-=Thea=
-
-Ich könnte meiner Lebtag in keinem Sack schlafen!
-
-=Wendla=
-
-Ich möchte ganz gern mal für dich in deinem Sack schlafen.
-
-=Martha=
-
-Wenn man nur nicht geschlagen wird.
-
-=Thea=
-
-Aber man erstickt doch darin!
-
-=Martha=
-
-Der Kopf bleibt frei. Unter dem Kinn wird zugebunden.
-
-=Thea=
-
-Und dann schlagen sie dich?
-
-=Martha=
-
-Nein. Nur wenn etwas Besonderes vorliegt.
-
-=Wendla=
-
-Womit schlägt man dich, Martha?
-
-=Martha=
-
-Ach was -- mit allerhand. -- Hält es deine Mutter auch für unanständig,
-im Bett ein Stück Brot zu essen?
-
-=Wendla=
-
-Nein, nein.
-
-=Martha=
-
-Ich glaube immer, sie haben doch ihre Freude -- wenn sie auch nichts
-davon sagen. -- Wenn ich einmal Kinder habe, ich lasse sie aufwachsen
-wie das Unkraut in unserem Blumengarten. Um das kümmert sich niemand,
-und es steht so hoch, so dicht -- während die Rosen in den Beeten an
-ihren Stöcken mit jedem Sommer kümmerlicher blühn.
-
-=Thea=
-
-Wenn ich Kinder habe, kleid’ ich sie ganz in Rosa. Rosahüte,
-Rosakleidchen, Rosaschuhe. Nur die Strümpfe -- die Strümpfe schwarz
-wie die Nacht! Wenn ich dann spazieren gehe, laß ich sie vor mir
-hermarschieren. -- Und du, Wendla?
-
-=Wendla=
-
-Wißt ihr denn, ob ihr welche bekommt?
-
-=Thea=
-
-Warum sollten wir keine bekommen?
-
-=Martha=
-
-Tante Euphemia hat allerdings auch keine.
-
-=Thea=
-
-Gänschen! -- weil sie nicht _verheiratet_ ist.
-
-=Wendla=
-
-Tante Bauer war dreimal verheiratet und hat nicht ein einziges.
-
-=Martha=
-
--- Wenn du welche bekommst, Wendla, was möchtest du lieber, Knaben oder
-Mädchen?
-
-=Wendla=
-
-Jungens! Jungens!
-
-=Thea=
-
-Ich auch Jungens!
-
-=Martha=
-
-Ich auch. Lieber zwanzig Jungens als drei Mädchen.
-
-=Thea=
-
-Mädchen sind langweilig!
-
-=Martha=
-
-Wenn ich nicht schon ein Mädchen geworden wäre, ich würde es heute
-gewiß nicht mehr.
-
-=Wendla=
-
-Das ist, glaube ich, Geschmacksache, Martha! Ich freue mich jeden Tag,
-daß ich Mädchen bin. Glaub’ mir, ich wollte mit keinem Königssohn
-tauschen. -- Darum möchte ich aber doch nur Buben!
-
-=Thea=
-
-Das ist doch Unsinn, lauter Unsinn, Wendla!
-
-=Wendla=
-
-Aber ich bitte dich, Kind, es muß doch tausendmal erhebender sein, von
-einem Manne geliebt zu werden, als von einem Mädchen!
-
-=Thea=
-
-Du wirst doch nicht behaupten wollen, Forstreferendar Pfälle liebe
-Melitta mehr als sie ihn!
-
-=Wendla=
-
-Das will ich wohl, Thea! -- Pfälle ist stolz. Pfälle ist stolz darauf,
-daß er Forstreferendar ist -- denn Pfälle hat nichts. -- Melitta ist
-_selig_, weil sie zehntausendmal mehr bekommt, als sie ist.
-
-=Martha=
-
-Bist du nicht stolz auf dich, Wendla?
-
-=Wendla=
-
-Das wäre doch einfältig.
-
-=Martha=
-
-Wie wollt’ ich stolz sein an deiner Stelle.
-
-=Thea=
-
-Sieh’ doch nur, wie sie die Füße setzt -- wie sie geradaus schaut --
-wie sie sich hält, Martha! -- Wenn das nicht Stolz ist!
-
-=Wendla=
-
-Wozu nur?! Ich bin so glücklich, Mädchen zu sein; wenn ich kein Mädchen
-wär’, brächt’ ich mich um, um das nächste Mal ...
-
-=Melchior=
-
-(geht vorüber und grüßt)
-
-=Thea=
-
-Er hat einen wundervollen Kopf.
-
-=Martha=
-
-So denke ich mir den jungen Alexander, als er zu Aristoteles in die
-Schule ging.
-
-=Thea=
-
-Du lieber Gott, die griechische Geschichte! -- Ich weiß nur noch,
-wie Sokrates in der Tonne lag, als ihm Alexander den Eselsschatten
-verkaufte.
-
-=Wendla=
-
-Er soll der Drittbeste in seiner Klasse sein.
-
-=Thea=
-
-Professor Knochenbruch sagt, wenn er wollte, könnte er Primus sein.
-
-=Martha=
-
-Er hat eine schöne Stirne, aber sein Freund hat einen seelenvolleren
-Blick.
-
-=Thea=
-
-Moritz Stiefel? -- Ist das eine Schlafmütze!
-
-=Martha=
-
-Ich habe mich immer ganz gut mit ihm unterhalten.
-
-=Thea=
-
-Er blamiert einen, wo man ihn trifft. Auf dem Kinderball bei Rilows
-bot er mir Pralinees an. Denke dir, Wendla, die waren weich und warm.
-Ist das nicht ...? -- Er sagte, er habe sie zu lang in der Hosentasche
-gehabt.
-
-=Wendla=
-
-Denke dir, Melchi Gabor sagte mir damals, er glaube an nichts -- nicht
-an Gott, nicht an ein Jenseits -- an gar nichts mehr in dieser Welt.
-
-
-Vierte Szene
-
-Parkanlagen vor dem Gymnasium -- _Melchior_, _Otto_, _Georg_, _Robert_,
-_Hänschen Rilow_, _Lämmermeier_
-
-=Melchior=
-
-Kann mir einer von euch sagen, wo Moritz Stiefel steckt?
-
-=Georg=
-
-Dem kann’s schlecht gehn! -- O dem kann’s schlecht gehn!
-
-=Otto=
-
-Der treibts so lange, bis er noch mal ganz gehörig ’reinfliegt!
-
-=Lämmermeier=
-
-Weiß der Kuckuck, ich möchte in diesem Moment nicht in seiner Haut
-stecken!
-
-=Robert=
-
-Eine Frechheit! -- Eine Unverschämtheit!
-
-=Melchior=
-
-Wa -- wa -- was wißt ihr denn?
-
-=Georg=
-
-Was wir wissen? -- Na, ich sage dir ...
-
-=Lämmermeier=
-
-Ich möchte nichts gesagt haben!
-
-=Otto=
-
-Ich auch nicht -- weiß Gott nicht!
-
-=Melchior=
-
-Wenn ihr jetzt nicht sofort ...
-
-=Robert=
-
-Kurz und gut, Moritz Stiefel ist ins _Konferenzzimmer_ gedrungen.
-
-=Melchior=
-
-Ins Konferenzzimmer ...?
-
-=Otto=
-
-Ins Konferenzzimmer! -- Gleich nach Schluß der Lateinstunde.
-
-=Georg=
-
-Er war der letzte; er blieb absichtlich zurück.
-
-=Lämmermeier=
-
-Als ich um die Korridorecke bog, sah ich ihn die Tür öffnen.
-
-=Melchior=
-
-Hol dich der ...!
-
-=Lämmermeier=
-
-Wenn nur ihn nicht der Teufel holt!
-
-=Georg=
-
-Vermutlich hatte das Rektorat den Schlüssel nicht abgezogen.
-
-=Robert=
-
-Oder Moritz Stiefel führt einen Dietrich.
-
-=Otto=
-
-Ihm wäre das zuzutrauen.
-
-=Lämmermeier=
-
-Wenn’s gut geht, bekommt er einen Sonntagnachmittag.
-
-=Robert=
-
-Nebst einer Bemerkung ins Zeugnis!
-
-=Otto=
-
-Wenn er bei dieser Zensur nicht ohnehin an die Luft fliegt.
-
-=Hänschen Rilow=
-
-Da ist er!
-
-=Melchior=
-
-Blaß wie ein Handtuch.
-
-(Moritz kommt in äußerster Aufregung.)
-
-=Lämmermeier=
-
-Moritz, Moritz, was du getan hast!
-
-=Moritz=
-
--- -- Nichts -- -- nichts -- -- --
-
-=Robert=
-
-Du fieberst!
-
-=Moritz=
-
--- Vor Glück -- vor Seligkeit -- vor Herzensjubel --
-
-=Otto=
-
-Du bist erwischt worden?!
-
-=Moritz=
-
-Ich bin promoviert! -- Melchior, ich bin promoviert! -- O jetzt kann
-die Welt untergehn! -- Ich bin promoviert! -- Wer hätte geglaubt, daß
-ich promoviert werde! -- Ich fass’ es noch nicht! -- Zwanzigmal hab’
-ich’s gelesen! -- Ich kann’s nicht glauben -- du großer Gott, es blieb!
--- Es blieb! _Ich bin promoviert_! -- (lächelnd) Ich weiß nicht --
-so sonderbar ist mir -- der Boden dreht sich ... Melchior, Melchior,
-wüßtest du, was ich durchgemacht!
-
-=Hänschen Rilow=
-
-Ich gratuliere, Moritz. -- Sei nur froh, daß du so weggekommen!
-
-=Moritz=
-
-Du weißt nicht, Hänschen, du ahnst nicht, was auf dem Spiel stand.
-Seit drei Wochen schleiche ich an der Tür vorbei wie am Höllenschlund.
-Da sehe ich heute, sie ist angelehnt. Ich glaube, wenn man mir eine
-Million geboten hätte -- nichts, o nichts hätte mich zu halten
-vermocht! -- Ich stehe mitten im Zimmer -- ich schlage das Protokoll
-auf -- blättere -- finde -- -- und während all der Zeit ... Mir
-schaudert --
-
-=Melchior=
-
-... während all der Zeit?
-
-=Moritz=
-
-Während all der Zeit steht die Tür hinter mir sperrangelweit offen. --
-Wie ich heraus ... wie ich die Treppe heruntergekommen, weiß ich nicht.
-
-=Hänschen Rilow=
-
--- Wird Ernst Röbel auch promoviert?
-
-=Moritz=
-
-O gewiß, Hänschen, gewiß! -- Ernst Röbel wird gleichfalls promoviert.
-
-=Robert=
-
-Dann mußt du schon nicht richtig gelesen haben. Die Eselsbank
-abgerechnet zählen wir mit dir und Röbel zusammen einundsechzig,
-während oben das Klassenzimmer mehr als sechzig nicht fassen kann.
-
-=Moritz=
-
-Ich habe vollkommen richtig gelesen. Ernst Röbel wird so gut versetzt
-wie ich -- beide allerdings vorläufig nur _provisorisch_. Während des
-ersten Quartals soll es sich dann herausstellen, wer dem andern Platz
-zu machen hat. -- Armer Röbel! -- Weiß der Himmel, mir ist um mich
-nicht mehr bange. Dazu habe ich diesmal zu tief hinuntergeblickt.
-
-=Otto=
-
-Ich wette fünf Mark, daß du Platz machst.
-
-=Moritz=
-
-Du hast ja nichts. Ich will dich nicht ausrauben. -- Herrgott, werd’
-ich büffeln von heute an! -- Jetzt kann ich’s ja sagen -- mögt ihr
-daran glauben oder nicht -- jetzt ist ja alles gleichgültig -- ich --
-ich weiß, wie wahr es ist: Wenn ich nicht promoviert worden wäre, hätte
-ich mich erschossen.
-
-=Robert=
-
-Prahlhans!
-
-=Georg=
-
-Der Hasenfuß!
-
-=Otto=
-
-Dich hätte ich schießen sehen mögen!
-
-=Lämmermeier=
-
-Eine Maulschelle drauf!
-
-=Melchior=
-
-(gibt ihm eine)
-
--- -- Komm, Moritz. Gehn wir zum Försterhaus!
-
-=Georg=
-
-Glaubst du vielleicht an den Schnack?
-
-=Melchior=
-
-Schert dich das? -- -- Laß sie schwatzen, Moritz! Fort, nur fort, zur
-Stadt hinaus!
-
-(Die Professoren _Hungergurt_ und _Knochenbruch_ gehen vorüber.)
-
-=Knochenbruch=
-
-Mir unbegreiflich, verehrter Herr Kollega, wie sich der beste meiner
-Schüler gerade zum allerschlechtesten so hingezogen fühlen kann.
-
-=Hungergurt=
-
-Mir auch, verehrter Herr Kollega.
-
-
-Fünfte Szene
-
-Sonniger Nachmittag. -- _Melchior_ und _Wendla_ begegnen einander im
-Wald.
-
-=Melchior=
-
-Bist du’s wirklich, Wendla? -- Was tust denn du so allein hier oben? --
-Seit drei Stunden durchstreife ich den Wald die Kreuz und Quer, ohne
-daß mir eine Seele begegnet, und nun plötzlich trittst du mir aus dem
-dichtesten Dickicht entgegen!
-
-=Wendla=
-
-Ja, ich bin’s.
-
-=Melchior=
-
-Wenn ich dich nicht als Wendla Bergmann kennte, ich hielte dich für
-eine Dryade, die aus den Zweigen gefallen.
-
-=Wendla=
-
-Nein, nein, ich bin Wendla Bergmann. -- Wo kommst denn du her?
-
-=Melchior=
-
-Ich gehe meinen Gedanken nach.
-
-=Wendla=
-
-Ich suche Waldmeister. Mama will Maitrank bereiten. Anfangs wollte sie
-selbst mitgehn, aber im letzten Augenblick kam Tante Bauer noch, und
-die steigt nicht gern. -- So bin ich denn allein heraufgekommen.
-
-=Melchior=
-
-Hast du deinen Waldmeister schon?
-
-=Wendla=
-
-Den ganzen Korb voll. Drüben unter den Buchen steht er dicht wie
-Mattenklee. -- Jetzt sehe ich mich nämlich nach einem Ausweg um. Ich
-scheine mich verirrt zu haben. Kannst du mir vielleicht sagen, wie viel
-Uhr es ist?
-
-=Melchior=
-
-Eben halb vier vorbei. -- Wann erwartet man dich?
-
-=Wendla=
-
-Ich glaubte, es wäre später. Ich lag eine ganze Weile am Goldbach im
-Moose und habe geträumt. Die Zeit verging mir so rasch; ich fürchtete,
-es wolle schon Abend werden.
-
-=Melchior=
-
-Wenn man dich noch nicht erwartet, dann laß uns hier noch ein wenig
-lagern. Unter der Eiche dort ist mein Lieblingsplätzchen. Wenn man den
-Kopf an den Stamm zurücklehnt und durch die Äste in den Himmel starrt,
-wird man hypnotisiert. Der Boden ist noch warm von der Morgensonne. --
-Schon seit Wochen wollte ich dich etwas fragen, Wendla.
-
-=Wendla=
-
-Aber vor fünf muß ich zu Hause sein.
-
-=Melchior=
-
-Wir gehen dann zusammen. Ich nehme den Korb und wir schlagen den Weg
-durch die Runse ein, so sind wir in zehn Minuten schon auf der Brücke!
--- Wenn man so daliegt, die Stirn in die Hand gestützt, kommen einem
-die sonderbarsten Gedanken ...
-
-(Beide lagern sich unter der Eiche.)
-
-=Wendla=
-
-Was wolltest du mich fragen, Melchior?
-
-=Melchior=
-
-Ich habe gehört, Wendla, du gehest häufig zu armen Leuten. Du brächtest
-ihnen Essen, auch Kleider und Geld. Tust du das aus eigenem Antriebe
-oder schickt deine Mutter dich?
-
-=Wendla=
-
-Meistens schickt mich die Mutter. Es sind arme Taglöhnerfamilien, die
-eine Unmenge Kinder haben. Oft findet der Mann keine Arbeit, dann
-frieren und hungern sie. Bei uns liegt aus früherer Zeit noch so
-mancherlei in Schränken und Kommoden, das nicht mehr gebraucht wird. --
-Aber wie kommst du darauf?
-
-=Melchior=
-
-Gehst du gern oder ungern, wenn deine Mutter dich sowohin schickt?
-
-=Wendla=
-
-O für mein Leben gern! -- Wie kannst du fragen!
-
-=Melchior=
-
-Aber die Kinder sind schmutzig, die Frauen sind krank, die Wohnungen
-strotzen von Unrat, die Männer hassen dich, weil du nicht arbeitest ...
-
-=Wendla=
-
-Das ist nicht wahr, Melchior. Und wenn es wahr wäre, ich würde erst
-recht gehen!
-
-=Melchior=
-
-Wieso erst recht, Wendla?
-
-=Wendla=
-
-Ich würde erst recht hingehen. -- Es würde nur noch vielmehr Freude
-bereiten, ihnen helfen zu können.
-
-=Melchior=
-
-Du gehst also um deiner Freude willen zu den armen Leuten?
-
-=Wendla=
-
-Ich gehe zu ihnen, weil sie arm sind.
-
-=Melchior=
-
-Aber wenn es dir keine Freude wäre, würdest du nicht gehen?
-
-=Wendla=
-
-Kann ich denn dafür, daß es mir Freude macht?
-
-=Melchior=
-
-Und doch sollst du dafür in den Himmel kommen! -- So ist es also
-richtig, was mir nun seit einem Monat keine Ruhe mehr läßt! -- Kann der
-Geizige dafür, daß es ihm keine Freude macht, zu schmutzigen kranken
-Kindern zu gehen?
-
-=Wendla=
-
-O dir würde es sicher die größte Freude sein!
-
-=Melchior=
-
-Und doch soll er dafür des ewigen Todes sterben! -- Ich werde eine
-Abhandlung schreiben und sie Herrn Pastor Kahlbauch einschicken. Er ist
-die Veranlassung. Was faselt er uns von _Opfer-Freudigkeit_! -- Wenn er
-mir nicht antworten kann, gehe ich nicht mehr in die Kinderlehre und
-lasse mich nicht konfirmieren.
-
-=Wendla=
-
-Warum willst du deinen lieben Eltern den Kummer bereiten! Laß dich doch
-konfirmieren; den Kopf kostet’s doch nicht. Wenn unsere schrecklichen
-weißen Kleider und eure Schlepphosen nicht wären, würde man sich
-vielleicht noch dafür begeistern können.
-
-=Melchior=
-
-Es gibt keine Aufopferung! Es gibt keine Selbstlosigkeit! -- Ich sehe
-die Guten sich ihres Herzens freun, sehe die Schlechten beben und
-stöhnen -- ich sehe dich, Wendla Bergmann, deine Locken schütteln und
-lachen, und mir wird so ernst dabei wie einem Geächteten. -- -- Was
-hast du vorhin geträumt, Wendla, als du am Goldbach im Grase lagst?
-
-=Wendla=
-
--- -- Dummheiten -- Narreteien --
-
-=Melchior=
-
-Mit offenen Augen?!
-
-=Wendla=
-
-Mir träumte, ich wäre ein armes, armes Bettelkind, ich würde früh fünf
-schon auf die Straße geschickt, ich müßte betteln den ganzen langen
-Tag in Sturm und Wetter, unter hartherzigen, rohen Menschen. Und käm’
-ich abends nach Hause, zitternd vor Hunger und Kälte, und hätte so
-viel Geld nicht wie mein Vater verlangt, dann würd’ ich geschlagen --
-geschlagen --
-
-=Melchior=
-
-Das kenne ich, Wendla. Das hast du den albernen Kindergeschichten zu
-danken. Glaub’ mir, so brutale Menschen existieren nicht mehr.
-
-=Wendla=
-
-O doch, Melchior, du irrst. -- Martha Bessel wird Abend für Abend
-geschlagen, daß man andern Tags Striemen sieht. O was die leiden
-muß! Siedendheiß wird es einem, wenn sie erzählt. Ich bedaure sie so
-furchtbar, ich muß oft mitten in der Nacht in die Kissen weinen. Seit
-Monaten denke ich darüber nach, wie man ihr helfen kann. -- Ich wollte
-mit Freuden einmal acht Tage an ihrer Stelle sein.
-
-=Melchior=
-
-Man sollte den Vater kurzweg verklagen. Dann würde ihm das Kind
-weggenommen.
-
-=Wendla=
-
-Ich, Melchior, bin in meinem Leben nie geschlagen worden -- nicht ein
-einziges Mal. Ich kann mir kaum denken, wie das tut, geschlagen zu
-werden. Ich habe mich schon selber geschlagen, um zu erfahren, wie
-einem dabei ums Herz wird. -- Es muß ein grauenvolles Gefühl sein.
-
-=Melchior=
-
-Ich glaube nicht, daß je ein Kind dadurch besser wird.
-
-=Wendla=
-
-Wodurch besser wird?
-
-=Melchior=
-
-Daß man es schlägt.
-
-=Wendla=
-
--- Mit dieser Gerte zum Beispiel! -- Hu, ist die zäh und dünn.
-
-=Melchior=
-
-Die zieht Blut!
-
-=Wendla=
-
-Würdest du mich nicht einmal damit schlagen?
-
-=Melchior=
-
-Wen?
-
-=Wendla=
-
-Mich.
-
-=Melchior=
-
-Was fällt dir ein, Wendla!
-
-=Wendla=
-
-Was ist denn dabei?
-
-=Melchior=
-
-O sei ruhig! -- Ich schlage dich nicht.
-
-=Wendla=
-
-Wenn ich dir’s doch erlaube!
-
-=Melchior=
-
-Nie, Mädchen!
-
-=Wendla=
-
-Aber wenn ich dich darum bitte, Melchior!
-
-=Melchior=
-
-Bist du nicht bei Verstand?
-
-=Wendla=
-
-Ich bin in meinem Leben nie geschlagen worden!
-
-=Melchior=
-
-Wenn du um so etwas bitten kannst ...!
-
-=Wendla=
-
--- Bitte -- bitte --
-
-=Melchior=
-
-Ich will dich bitten lehren! -- (er schlägt sie)
-
-=Wendla=
-
-Ach Gott -- ich spüre nicht das Geringste!
-
-=Melchior=
-
-Das glaub’ ich dir -- -- durch all’ deine Röcke durch....
-
-=Wendla=
-
-So schlag’ mich doch an die Beine!
-
-=Melchior=
-
-Wendla! -- (er schlägt sie stärker)
-
-=Wendla=
-
-Du streichelst mich ja! -- Du streichelst mich!
-
-=Melchior=
-
-Wart’ Hexe, ich will dir den Satan austreiben!
-
-(Er wirft den Stock beiseite und schlägt derart mit den Fäusten drein,
-daß sie in ein fürchterliches Geschrei ausbricht. Er kehrt sich nicht
-daran, sondern drischt wie wütend auf sie los, während ihm die dicken
-Tränen über die Wangen rinnen. Plötzlich springt er empor, faßt sich
-mit beiden Händen an die Schläfen und stürzt, aus tiefster Seele
-jammervoll aufschluchzend, in den Wald hinein.)
-
-
-
-
-Zweiter Akt
-
-
-Erste Szene
-
-
-Abend auf Melchiors _Studierzimmer_. Das Fenster steht offen, die Lampe
-brennt auf dem Tisch. -- _Melchior_ und _Moritz_ auf dem Kanapee.
-
-=Moritz=
-
-Jetzt bin ich wieder ganz munter, nur etwas aufgeregt. -- Aber in der
-Griechischstunde habe ich doch geschlafen wie der besoffene Polyphem.
-Nimmt mich Wunder, daß mich der alte Zungenschlag nicht in die Ohren
-gezwickt. -- Heut’ früh wäre ich um ein Haar noch zu spät gekommen. --
-Mein erster Gedanke beim Erwachen waren die Verba auf μ. --
-Himmel-Herrgott-Teufel-Donnerwetter, während des Frühstücks und den Weg
-entlang habe ich konjugiert, daß mir grün vor den Augen wurde. -- Kurz
-nach drei muß ich abgeschnappt sein. Die Feder hat mir noch einen Klex
-ins Buch gemacht. Die Lampe qualmte, als Mathilde mich weckte; in den
-Fliederbüschen unter dem Fenster zwitscherten die Amseln so lebensfroh
--- mir ward gleich wieder unsagbar melancholisch zu Mute. Ich band mir
-den Kragen um und fuhr mit der Bürste durchs Haar. -- -- Aber man fühlt
-sich, wenn man seiner Natur etwas abgerungen!
-
-=Melchior=
-
-Darf ich dir eine Zigarette drehen?
-
-=Moritz=
-
-Danke, ich rauche nicht. -- Wenn es nun nur so weiter geht! Ich will
-arbeiten und arbeiten, bis mir die Augen zum Kopf herausplatzen. --
-Ernst Röbel hat seit den Ferien schon sechsmal nichts gekonnt; dreimal
-im Griechischen, zweimal bei Knochenbruch; das letztemal in der
-Literaturgeschichte. Ich war erst fünfmal in der bedauernswerten Lage;
-und von heute ab kommt es überhaupt nicht mehr vor! -- Röbel erschießt
-sich nicht. Röbel hat keine Eltern, die ihm ihr Alles opfern. Er kann,
-wann er will, Söldner, Cowboy oder Matrose werden. Wenn ich durchfalle,
-rührt meinen Vater der Schlag, und Mama kommt ins Irrenhaus. So was
-erlebt man nicht! -- Vor dem Examen habe ich zu Gott gefleht, er
-möge mich schwindsüchtig werden lassen, auf daß der Kelch ungenossen
-vorübergehe. Er ging vorüber -- wenngleich mir auch heute noch seine
-Aureole aus der Ferne entgegenleuchtet, daß ich Tag und Nacht den
-Blick nicht zu heben wage. -- Aber nun ich die Stange erfaßt, werde
-ich mich auch hinaufschwingen. Dafür bürgt mir die unabänderliche
-Konsequenz, daß ich nicht stürze, ohne das Genick zu brechen.
-
-=Melchior=
-
-Das Leben ist von einer ungeahnten Gemeinheit. Ich hätte nicht übel
-Lust, mich in die Zweige zu hängen. -- Wo Mama mit dem Tee nur bleibt!
-
-=Moritz=
-
-Dein Tee wird mir gut tun, Melchior! -- Ich zittre nämlich. Ich fühle
-mich so eigentümlich vergeistert. Betaste mich bitte mal. Ich sehe --
-ich höre -- ich fühle viel deutlicher -- und doch alles so traumhaft --
-o, so stimmungsvoll. -- Wie sich dort im Mondschein der Garten dehnt,
-so still, so tief, als ging’ er ins Unendliche. -- Unter den Büschen
-treten umflorte Gestalten hervor, huschen in atemloser Geschäftigkeit
-über die Lichtungen und verschwinden im Halbdunkel. Mir scheint, unter
-dem Kastanienbaum soll eine Ratsversammlung gehalten werden. -- Wollen
-wir nicht hinunter, Melchior?
-
-=Melchior=
-
-Warten wir, bis wir Tee getrunken.
-
-=Moritz=
-
--- Die Blätter flüstern so emsig. -- Es ist, als hörte ich Großmutter
-selig die Geschichte von der „Königin ohne Kopf“ erzählen. -- Das
-war eine wunderschöne Königin, schön wie die Sonne, schöner als alle
-Mädchen im Land. Nur war sie leider ohne Kopf auf die Welt gekommen.
-Sie konnte nicht essen, nicht trinken, konnte nicht sehen, nicht lachen
-und auch nicht küssen. Sie vermochte sich mit ihrem Hofstaat nur durch
-ihre kleine weiche Hand zu verständigen. Mit den zierlichen Füßen
-strampelte sie Kriegserklärungen und Todesurteile. Da wurde sie eines
-Tages von einem Könige besiegt, der zufällig zwei Köpfe hatte, die sich
-das ganze Jahr in den Haaren lagen und dabei so aufgeregt disputierten,
-daß keiner den andern zu Wort kommen ließ. Der Oberhofzauberer nahm nun
-den kleineren der beiden und setzte ihn der Königin auf. Und siehe,
-er stand ihr vortrefflich. Darauf heiratete der König die Königin,
-und die beiden lagen einander nun nicht mehr in den Haaren, sondern
-küßten einander auf Stirn, auf Wangen und Mund und lebten noch lange
-lange Jahre glücklich und in Freuden.... Verwünschter Unsinn! Seit den
-Ferien kommt mir die kopflose Königin nicht aus dem Kopf. Wenn ich
-ein schönes Mädchen sehe, seh’ ich es ohne Kopf -- und erscheine mir
-dann plötzlich selber als kopflose Königin.... Möglich, daß mir nochmal
-einer aufgesetzt wird.
-
-(Frau Gabor kommt mit dem dampfenden Tee, den sie vor Moritz und
-Melchior auf den Tisch setzt)
-
-=Frau Gabor=
-
-Hier Kinder, laßt es euch munden. -- Guten Abend, Herr Stiefel; wie
-geht es Ihnen?
-
-=Moritz=
-
-Danke, Frau Gabor. -- Ich belausche den Reigen dort unten.
-
-=Frau Gabor=
-
-Sie sehen aber gar nicht gut aus. -- Fühlen Sie sich nicht wohl?
-
-=Moritz=
-
-Es hat nichts zu sagen. Ich bin die letzten Abende etwas spät zu Bett
-gekommen.
-
-=Melchior=
-
-Denke dir, er hat die ganze Nacht durch gearbeitet.
-
-=Frau Gabor=
-
-Sie sollten so etwas nicht tun, Herr Stiefel. Sie sollten sich schonen.
-Bedenken Sie Ihre Gesundheit. Die Schule ersetzt Ihnen die Gesundheit
-nicht. -- Fleißig spazieren gehn in der frischen Luft! Das ist in Ihren
-Jahren mehr wert als ein korrektes Mittelhochdeutsch.
-
-=Moritz=
-
-Ich werde fleißig spazieren gehn. Sie haben recht. Man kann auch
-während des Spazierengehens fleißig sein. Daß ich noch selbst nicht auf
-den Gedanken gekommen! -- Die schriftlichen Arbeiten müßte ich immerhin
-zu Hause machen.
-
-=Melchior=
-
-Das Schriftliche machst du bei mir; so wird es uns beiden leichter. --
--- Du weißt ja, Mama, daß Max von Trenk am Nervenfieber darniederlag!
--- Heute mittag kommt Hänschen Rilow von Trenks Totenbett zu Rektor
-Sonnenstich, um anzuzeigen, daß Trenk soeben in seiner Gegenwart
-gestorben sei. -- „So?“ sagt Sonnenstich, „hast du von letzter Woche
-her nicht noch zwei Stunden nachzusitzen? -- Hier ist der Zettel an den
-Pedell. Mach, daß die Sache endlich ins reine kommt! Die ganze Klasse
-soll an der Beerdigung teilnehmen.“ -- Hänschen war wie gelähmt.
-
-=Frau Gabor=
-
-Was hast du da für ein Buch, Melchior?
-
-=Melchior=
-
-„Faust.“
-
-=Frau Gabor=
-
-Hast du es schon gelesen?
-
-=Melchior=
-
-Noch nicht zu Ende.
-
-=Moritz=
-
-Wir sind gerade in der Walpurgisnacht.
-
-=Frau Gabor=
-
-Ich hätte an deiner Stelle noch ein, zwei Jahre damit gewartet.
-
-=Melchior=
-
-Ich kenne kein Buch, Mama, in dem ich so viel Schönes gefunden. Warum
-hätte ich es nicht lesen sollen.
-
-=Frau Gabor=
-
--- Weil du es nicht verstehst.
-
-=Melchior=
-
-Das kannst du nicht wissen, Mama. Ich fühle sehr wohl, daß ich das Werk
-in seiner ganzen Erhabenheit zu erfassen noch nicht imstande bin ...
-
-=Moritz=
-
-Wir lesen immer zu zweit; das erleichtert das Verständnis
-außerordentlich!
-
-=Frau Gabor=
-
-Du bist alt genug, Melchior, um wissen zu können, was dir zuträglich
-und was dir schädlich ist. Tu, was du vor dir verantworten kannst. Ich
-werde die erste sein, die es dankbar anerkennt, wenn du mir niemals
-Grund gibst, dir etwas vorenthalten zu müssen. -- Ich wollte dich nur
-darauf aufmerksam machen, daß auch das Beste nachteilig wirken kann,
-wenn man noch die Reife nicht besitzt, um es richtig aufzunehmen. --
-Ich werde mein Vertrauen immer lieber in dich als in irgendbeliebige
-erzieherische Maßregeln setzen. -- -- Wenn ihr noch etwas braucht,
-Kinder, dann komm herüber, Melchior, und rufe mich. Ich bin auf meinem
-Schlafzimmer. (Ab.)
-
-=Moritz=
-
--- -- Deine Mama meinte die Geschichte mit Gretchen.
-
-=Melchior=
-
-Haben wir uns auch nur einen Moment dabei aufgehalten!
-
-=Moritz=
-
-Faust selber kann sich nicht kaltblütiger darüber hinweggesetzt haben!
-
-=Melchior=
-
-Das Kunstwerk gipfelt doch schließlich nicht in dieser Schändlichkeit!
--- Faust könnte dem Mädchen die Heirat versprochen, könnte es daraufhin
-verlassen haben, er wäre in meinen Augen um kein Haar weniger strafbar.
-Gretchen könnte ja meinethalben an gebrochenem Herzen sterben. --
-Sieht man, wie jeder _darauf_ immer gleich krampfhaft die Blicke
-richtet, man möchte glauben, die ganze Welt drehe sich um P.... und
-V....!
-
-=Moritz=
-
-Wenn ich aufrichtig sein soll, Melchior, so habe ich nämlich
-tatsächlich das Gefühl, seit ich deinen Aufsatz gelesen. -- In den
-ersten Ferientagen fiel er mir vor die Füße. Ich hatte den Plötz in
-der Hand. -- Ich verriegelte die Tür und durchflog die flimmernden
-Zeilen, wie eine aufgeschreckte Eule einen brennenden Wald durchfliegt
--- ich glaube, ich habe das meiste mit geschlossenen Augen gelesen. Wie
-eine Reihe dunkler Erinnerungen klangen mir deine Auseinandersetzungen
-ins Ohr, wie ein Lied, das einer als Kind einst fröhlich vor sich
-hingesummt und das ihm, wie er eben im Sterben liegt, herzerschütternd
-aus dem Mund eines andern entgegentönt. -- Am heftigsten zog mich in
-Mitleidenschaft, was du vom Mädchen schreibst. Ich werde die Eindrücke
-nicht mehr los. Glaub’ mir, Melchior, Unrecht leiden zu müssen ist
-süßer, denn Unrecht tun! Unverschuldet ein so süßes Unrecht über sich
-ergehen lassen zu müssen, scheint mir der Inbegriff aller irdischen
-Seligkeit.
-
-=Melchior=
-
--- Ich will meine Seligkeit nicht als Almosen!
-
-=Moritz=
-
-Aber warum denn nicht?
-
-=Melchior=
-
-Ich _will_ nichts, was ich mir nicht habe erkämpfen müssen!
-
-=Moritz=
-
-Ist dann das noch Genuß, Melchior?! -- Das Mädchen, Melchior, genießt
-wie die seligen Götter. Das Mädchen wehrt sich dank seiner Veranlagung.
-Es hält sich bis zum letzten Augenblick von jeder Bitternis frei,
-um mit einem Mal alle Himmel über sich hereinbrechen zu sehen. Das
-Mädchen fürchtet die Hölle noch in dem Moment, da es ein erblühendes
-Paradies wahrnimmt. Sein Empfinden ist so frisch wie der Quell, der
-dem Fels entspringt. Das Mädchen ergreift einen Pokal, über den noch
-kein irdischer Hauch geweht, einen Nektarkelch, dessen Inhalt es, wie
-er flammt und flackert, hinunterschlingt ... Die Befriedigung, die der
-Mann dabei findet, denke ich mir schal und abgestanden.
-
-=Melchior=
-
-Denke sie dir, wie du magst, aber behalte sie für dich. -- Ich denke
-sie mir nicht gern ...
-
-
-Zweite Szene
-
-_Wohnzimmer._
-
-=Frau Bergmann=
-
-(den Hut auf, die Mantille um, einen Korb am Arm, mit strahlendem
-Gesicht durch die Mitteltür eintretend.)
-
-Wendla! -- Wendla!
-
-=Wendla=
-
-(erscheint in Unterröckchen und Korsett in der Seitentür rechts)
-
-Was gibt’s, Mutter?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Du bist schon auf, Kind? -- Sieh, das ist schön von dir!
-
-=Wendla=
-
-Du warst schon ausgegangen?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Zieh dich nun nur flink an! -- Du mußt gleich zu _Ina_ hinunter. Du
-mußt ihr den Korb da bringen!
-
-=Wendla=
-
-(sich während des folgenden vollends ankleidend)
-
-Du warst bei Ina? -- Wie geht es Ina? -- Will’s noch immer nicht
-bessern?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Denke dir, Wendla, diese Nacht war der Storch bei ihr und hat ihr einen
-kleinen Jungen gebracht.
-
-=Wendla=
-
-Einen Jungen? -- Einen Jungen! -- O das ist herrlich! -- -- Deshalb die
-langwierige Influenza!
-
-=Frau Bergmann=
-
-Einen prächtigen Jungen!
-
-=Wendla=
-
-Den muß ich sehen, Mutter! -- So bin ich nun zum dritten Mal Tante
-geworden -- Tante von einem Mädchen und zwei Jungens!
-
-=Frau Bergmann=
-
-Und was für Jungens! -- So geht’s eben, wenn man so dicht beim
-Kirchendach wohnt! -- Morgen sind’s erst zwei Jahr, daß sie in ihrem
-Mullkleid die Stufen hinanstieg.
-
-=Wendla=
-
-Warst du dabei, als er ihn brachte?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Er war eben wieder fortgeflogen. -- Willst du dir nicht eine Rose
-vorstecken?
-
-=Wendla=
-
-Warum kamst du nicht etwas früher hin, Mutter?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Ich glaube aber beinahe, er hat dir auch etwas mitgebracht -- eine
-Brosche oder was.
-
-=Wendla=
-
-Es ist wirklich schade!
-
-=Frau Bergmann=
-
-Ich sage dir ja, daß er dir eine Brosche mitgebracht hat!
-
-=Wendla=
-
-Ich habe Broschen genug ...
-
-=Frau Bergmann=
-
-Dann sei auch zufrieden, Kind. Was willst du denn noch?
-
-=Wendla=
-
-Ich hätte so furchtbar gerne gewußt, ob er durchs Fenster oder durch
-den Schornstein geflogen kam.
-
-=Frau Bergmann=
-
-Da mußt du Ina fragen. Ha, das mußt du Ina fragen, liebes Herz! Ina
-sagt dir das ganz genau. Ina hat ja eine ganze halbe Stunde mit ihm
-gesprochen.
-
-=Wendla=
-
-Ich werde Ina fragen, wenn ich hinunterkomme.
-
-=Frau Bergmann=
-
-Aber ja nicht vergessen, du süßes Engelsgeschöpf! Es interessiert
-mich wirklich selbst, zu wissen, ob er durchs Fenster oder durch den
-Schornstein kam.
-
-=Wendla=
-
-Oder soll ich nicht lieber den Schornsteinfeger fragen? -- Der
-Schornsteinfeger muß es doch am besten wissen, ob er durch den
-Schornstein fliegt oder nicht.
-
-=Frau Bergmann=
-
-Nicht den Schornsteinfeger, Kind; nicht den Schornsteinfeger. Was weiß
-der Schornsteinfeger vom Storch! -- Der schwatzt dir allerhand dummes
-Zeug vor, an das er selbst nicht glaubt ... Wa -- was glotzst du so auf
-die Straße hinunter??
-
-=Wendla=
-
-Ein Mann, Mutter -- dreimal so groß wie ein Ochse! -- mit Füßen wie
-Dampfschiffe ...!
-
-=Frau Bergmann=
-
-(ans Fenster stürzend)
-
-Nicht möglich! -- Nicht möglich! --
-
-=Wendla= (zugleich)
-
-Eine Bettlade hält er unterm Kinn, fiedelt die Wacht am Rhein drauf --
--- eben biegt er um die Ecke ...
-
-=Frau Bergmann=
-
-Du bist und bleibst doch ein Kindskopf! -- Deine alte einfältige Mutter
-so in Schrecken jagen! -- Geh, nimm deinen Hut. Nimmt mich Wunder,
-wann bei dir einmal der Verstand kommt. -- Ich habe die Hoffnung
-aufgegeben.
-
-=Wendla=
-
-Ich auch, Mütterchen, ich auch. -- Um meinen Verstand ist es ein
-traurig Ding. -- Hab’ ich nun eine Schwester, die ist seit zwei und
-einem halben Jahre verheiratet, und ich selber bin zum dritten Male
-Tante geworden, und habe gar keinen Begriff, wie das alles zugeht ...
-Nicht böse werden, Mütterchen; nicht böse werden! Wen in der Welt soll
-ich denn fragen als dich! Bitte, liebe Mutter, sag es mir! Sag’s mir,
-geliebtes Mütterchen! Ich schäme mich vor mir selber. Ich bitte dich,
-Mutter, sprich! Schilt mich nicht, daß ich so etwas frage. Gib mir
-Antwort -- wie geht es zu? -- wie kommt das alles? -- Du kannst doch im
-Ernst nicht verlangen, daß ich bei meinen vierzehn Jahren noch an den
-Storch glaube.
-
-=Frau Bergmann=
-
-Aber du großer Gott, Kind, wie bist du sonderbar! -- Was du für
-Einfälle hast! -- Das kann ich ja doch wahrhaftig nicht!
-
-=Wendla=
-
-Warum denn nicht, Mutter! -- Warum denn nicht! -- Es kann ja doch
-nichts Häßliches sein, wenn sich alles darüber freut!
-
-=Frau Bergmann=
-
-O -- o Gott behüte mich! -- Ich verdiente ja ... Geh, zieh dich an,
-Mädchen; zieh dich an!
-
-=Wendla=
-
-Ich gehe, ... Und wenn dein Kind nun hingeht und fragt den
-Schornsteinfeger?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Aber das ist ja zum Närrischwerden! -- Komm Kind, komm her, ich sag es
-dir! Ich sage dir Alles ... O du grundgütige Allmacht! -- nur heute
-nicht, Wendla! -- Morgen, übermorgen, kommende Woche ... wann du nur
-immer willst, liebes Herz ...
-
-=Wendla=
-
-Sag es mir heute, Mutter; sag es mir jetzt! Jetzt gleich! -- Nun ich
-dich so entsetzt gesehen, kann ich erst recht nicht eher wieder ruhig
-werden.
-
-=Frau Bergmann=
-
--- Ich kann nicht, Wendla.
-
-=Wendla=
-
-O, warum kannst du nicht, Mütterchen! -- Hier knie ich zu deinen Füßen
-und lege dir meinen Kopf in den Schoß. Du deckst mir deine Schürze über
-den Kopf und erzählst und erzählst, als wärst du mutterseelenallein
-im Zimmer. Ich will nicht zucken; ich will nicht schreien; ich will
-geduldig ausharren, was immer kommen mag.
-
-=Frau Bergmann=
-
--- Der Himmel weiß, Wendla, daß ich nicht die Schuld trage! Der Himmel
-kennt mich! -- Komm in Gottes Namen! -- Ich will dir erzählen, Mädchen,
-wie du in diese Welt hineingekommen. -- So hör mich an, Wendla ...
-
-=Wendla=
-
-(unter ihrer Schürze)
-
-Ich höre.
-
-=Frau Bergmann= (ekstatisch)
-
--- Aber es geht ja nicht, Kind! -- Ich kann es ja nicht verantworten.
--- Ich verdiene ja, daß man mich ins Gefängnis setzt -- daß man dich
-von mir nimmt ...
-
-=Wendla=
-
-(unter ihrer Schürze)
-
-Faß dir ein Herz, Mutter!
-
-=Frau Bergmann=
-
-So höre denn ...!
-
-=Wendla=
-
-(unter ihrer Schürze, zitternd)
-
-O Gott, o Gott!
-
-=Frau Bergmann=
-
-Um ein Kind zu bekommen -- du verstehst mich, Wendla?
-
-=Wendla=
-
-Rasch, Mutter -- ich halt’s nicht mehr aus.
-
-=Frau Bergmann=
-
--- Um ein Kind zu bekommen -- muß man den Mann -- mit dem man
-verheiratet ist ... _lieben_ -- _lieben_ sag’ ich dir -- wie man nur
-einen Mann lieben kann! Man muß ihn so sehr _von ganzem Herzen_ lieben,
-wie -- wie sich’s nicht sagen läßt! Man muß ihn _lieben_, Wendla, wie
-du in deinen Jahren noch gar nicht lieben kannst ... Jetzt weißt du’s.
-
-=Wendla=
-
-(sich erhebend)
-
-Großer -- Gott -- im Himmel!
-
-=Frau Bergmann=
-
-Jetzt weißt du, welche Prüfungen dir bevorstehen!
-
-=Wendla=
-
--- Und das ist alles?
-
-=Frau Bergmann=
-
-So wahr mir Gott helfe! -- -- Nimm nun den Korb da und geh zu Ina
-hinunter. Du bekommst dort Schokolade und Kuchen dazu. -- Komm,
-laß dich noch einmal betrachten -- die Schnürstiefel, die seidenen
-Handschuhe, die Matrosentaille, die Rosen im Haar ...... dein Röckchen
-wird dir aber wahrhaftig nachgerade zu kurz, Wendla!
-
-=Wendla=
-
-Hast du für Mittag schon Fleisch gebracht, Mütterchen?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Der liebe Gott behüte dich und segne dich! -- Ich werde dir
-gelegentlich eine Handbreit Volants unten ansetzen.
-
-
-Dritte Szene
-
-_Hänschen Rilow_ (ein Licht in der Hand, verriegelt die Tür hinter sich
-und öffnet den Deckel).
-
-Hast du zu Nacht gebetet, Desdemona?
-
-(Er zieht eine Reproduktion der Venus von Palma Vecchio aus dem Busen.)
-
--- Du siehst mir nicht nach Vaterunser aus, Holde -- kontemplativ
-des Kommenden gewärtig, wie in dem süßen Augenblick aufkeimender
-Glückseligkeit, als ich dich bei Jonathan Schlesinger im Schaufenster
-liegen sah -- ebenso berückend noch diese geschmeidigen Glieder, diese
-sanfte Wölbung der Hüften, diese jugendlich straffen Brüste -- o,
-wie berauscht von Glück muß der große Meister gewesen sein, als das
-vierzehnjährige Original vor seinen Blicken hingestreckt auf dem Diwan
-lag!
-
-Wirst du mich auch bisweilen im Traum besuchen? -- Mit ausgebreiteten
-Armen empfang’ ich dich und will dich küssen, daß dir der Atem ausgeht.
-Du ziehst bei mir ein wie die angestammte Herrin in ihr verödetes
-Schloß. Tor und Türen öffnen sich von unsichtbarer Hand, während der
-Springquell unten im Parke fröhlich zu plätschern beginnt ...
-
-Die Sache will’s! -- Die Sache will’s! -- Daß ich nicht aus frivoler
-Regung morde, sagt dir das fürchterliche Pochen in meiner Brust. Die
-Kehle schnürt sich mir zu im Gedanken an meine einsamen Nächte. Ich
-schwöre dir bei meiner Seele, Kind, daß nicht Überdruß mich beherrscht.
-Wer wollte sich rühmen, deiner überdrüssig geworden zu sein!
-
-Aber du saugst mir das Mark aus den Knochen, du krümmst mir den Rücken,
-du raubst meinen jungen Augen den letzten Glanz. -- Du bist mir zu
-anspruchsvoll in deiner unmenschlichen Bescheidenheit, zu aufreibend
-mit deinen unbeweglichen Gliedmaßen! -- Du oder ich! -- und ich habe
-den Sieg davongetragen.
-
-Wenn ich sie herzählen wollte -- all die Entschlafenen, mit denen ich
-hier den nämlichen Kampf gekämpft! --: Psyche von _Thumann_ -- noch
-ein Vermächtnis der spindeldürren Mademoiselle _Angelique_, dieser
-Klapperschlange im Paradies meiner Kinderjahre; Io von _Corregio_;
-Galathea von _Lossow_; dann ein Amor von _Bouguereau_; Ada von _J. van
-Beers_ -- diese Ada, die ich Papa aus einem Geheimfach seines Sekretärs
-entführen mußte, um sie meinem Harem einzuverleiben; eine zitternde,
-zuckende Leda von _Makart_, die ich zufällig unter den Kollegienheften
-meines Bruders fand -- _sieben_, du blühende Todeskandidatin, sind dir
-vorangeeilt auf diesem Pfad in den Tartarus! Laß dir das zum Troste
-gereichen und suche nicht durch diese flehentlichen Blicke noch meine
-Qualen ins Ungeheure zu steigern.
-
-Du stirbst nicht um _deiner_, du stirbst um _meiner_ Sünden willen!
--- Aus Notwehr gegen mich begehe ich blutenden Herzens den siebenten
-Gattenmord. Es liegt etwas Tragisches in der Rolle des _Blaubart_. Ich
-glaube, seine gemordeten Frauen insgesamt litten nicht so viel wie er
-beim Erwürgen jeder einzelnen.
-
-Aber mein Gewissen wird ruhiger werden, mein Leib wird sich kräftigen,
-wenn du Teufelin nicht mehr in den rotseidenen Polstern meines
-Schmuckkästchens residierst. Statt deiner lasse ich dann die Lurlei
-von _Bodenhausen_ oder die Verlassene von _Linger_ oder die Loni von
-_Defregger_ in das üppige Lustgemach einziehen -- so werde ich mich
-um so rascher erholt haben! Noch ein Vierteljährchen vielleicht, und
-dein entschleiertes Josaphat, süße Seele, hätte an meinem armen Hirn
-zu zehren begonnen wie die Sonne am Butterkloß. Es war hohe Zeit, die
-Trennung von Tisch und Bett zu erwirken.
-
-Brrr, ich fühle einen Heliogabalus in mir! ~Moritura me salutat!~ --
-Mädchen, Mädchen, warum preßt du deine Kniee zusammen? -- warum auch
-jetzt noch? -- -- angesichts der unerforschlichen Ewigkeit?? -- _Eine_
-Zuckung, und ich gebe dich frei! -- _Eine_ weibliche Regung, _ein_
-Zeichen von Lüsternheit, von Sympathie, Mädchen! -- ich will dich in
-Gold rahmen lassen, dich über meinem Bett aufhängen! -- Ahnst du denn
-nicht, daß nur deine _Keuschheit_ meine Ausschweifungen gebiert? --
-Wehe, wehe über die Unmenschlichen!
-
-... Man merkt eben immer, daß sie eine musterhafte Erziehung genossen
-hat. -- _Mir geht es ja ebenso._
-
-Hast du zu Nacht gebetet, Desdemona?
-
-Das Herz krampft sich mir zusammen -- -- Unsinn! -- Auch die heilige
-_Agnes_ starb um ihrer Zurückhaltung willen und war nicht halb so nackt
-wie du! -- Einen Kuß noch auf deinen blühenden Leib, -- deine kindlich
-schwellende Brust -- deine süßgerundeten -- deine grausamen Kniee ...
-
-Die Sache will’s, die Sache will’s, mein Herz!
-
-_Laßt sie mich euch nicht nennen, keusche Sterne!_
-
-Die Sache will’s! --
-
-(Das Bild fällt in die Tiefe; er schließt den Deckel)
-
-
-Vierte Szene
-
-Ein _Heuboden_ -- _Melchior_ liegt auf dem Rücken im frischen Heu.
-_Wendla_ kommt die Leiter herauf.
-
-=Wendla=
-
-_Hier_ hast du dich verkrochen? -- Alles sucht dich. Der Wagen ist
-wieder hinaus. Du mußt helfen. Es ist ein Gewitter im Anzug.
-
-=Melchior=
-
-Weg von mir! -- Weg von mir!
-
-=Wendla=
-
-Was ist dir denn? -- Was verbirgst du dein Gesicht?
-
-=Melchior=
-
-Fort, fort! -- Ich werfe dich in die Tenne hinunter.
-
-=Wendla=
-
-Nun geh’ ich erst recht nicht. -- (Kniet neben ihm nieder) Warum kommst
-du nicht mit auf die Matte hinaus, Melchior? -- Hier ist es schwül und
-düster. Werden wir auch naß bis auf die Haut, was macht _uns_ das!
-
-=Melchior=
-
-Das Heu duftet so herrlich. -- Der Himmel draußen muß schwarz wie ein
-Bahrtuch sein. -- Ich sehe nur noch den leuchtenden Mohn an deiner
-Brust -- und dein Herz hör’ ich schlagen --
-
-=Wendla=
-
--- -- Nicht küssen, Melchior! -- Nicht küssen!
-
-=Melchior=
-
--- dein Herz -- hör’ ich schlagen --
-
-=Wendla=
-
--- Man liebt sich -- wenn man küßt -- -- -- -- Nicht, nicht! -- --
-
-=Melchior=
-
-O glaub mir, es gibt keine _Liebe_! -- Alles Eigennutz, alles Egoismus!
--- Ich liebe dich so wenig, wie du mich liebst. --
-
-=Wendla=
-
--- -- Nicht! -- -- -- -- -- -- -- Nicht, Melchior! -- --
-
-=Melchior=
-
--- -- -- Wendla!
-
-=Wendla=
-
-O Melchior! -- -- -- -- -- -- -- -- nicht -- -- nicht -- --
-
-
-Fünfte Szene
-
-=Frau Gabor=
-
-(sitzt, schreibt):
-
- Lieber Herr Stiefel!
-
-Nachdem ich 24 Stunden über alles, was Sie mir schreiben, nachgedacht
-und wieder nachgedacht, ergreife ich schweren Herzens die Feder.
-Den Betrag zur Überfahrt nach Amerika kann ich Ihnen -- ich gebe
-Ihnen meine heiligste Versicherung -- _nicht_ verschaffen. Erstens
-habe ich so viel nicht zu meiner Verfügung, und zweitens, wenn ich
-es hätte, wäre es die denkbar größte Sünde, Ihnen die Mittel zur
-Ausführung einer so folgenschweren Unbedachtsamkeit an die Hand zu
-geben. Bitter Unrecht würden Sie mir tun, Herr Stiefel, in dieser
-meiner Weigerung ein Zeichen mangelnder Liebe zu erblicken. Es wäre
-umgekehrt die gröbste Verletzung meiner Pflicht als Ihre mütterliche
-Freundin, wollte ich mich durch Ihre momentane Fassungslosigkeit dazu
-bestimmen lassen, nun auch meinerseits den Kopf zu verlieren und
-meinen ersten nächstliegenden Impulsen blindlings nachzugeben. Ich bin
-gern bereit -- falls Sie es wünschen -- an Ihre Eltern zu schreiben.
-Ich werde Ihre Eltern davon zu überzeugen suchen, daß Sie im Laufe
-dieses Quartals getan haben, was Sie tun konnten, daß Sie Ihre Kräfte
-erschöpft, derart, daß eine rigorose Beurteilung Ihres Geschickes nicht
-nur ungerechtfertigt wäre, sondern in erster Linie im höchsten Grade
-nachteilig auf Ihren geistigen und körperlichen Gesundheitszustand
-wirken könnte.
-
-Daß Sie mir andeutungsweise drohen, im Fall Ihnen die Flucht nicht
-ermöglicht wird, sich das Leben nehmen zu wollen, hat mich, offen
-gesagt, Herr Stiefel, etwas befremdet. Sei ein Unglück noch so
-unverschuldet, man sollte sich nie und nimmer zur Wahl unlauterer
-Mittel hinreißen lassen. Die Art und Weise, wie Sie mich, die ich Ihnen
-stets nur Gutes erwiesen, für einen eventuellen entsetzlichen Frevel
-Ihrerseits verantwortlich machen wollen, hat etwas, das in den Augen
-eines _schlecht_denkenden Menschen gar zu leicht zum Erpressungsversuch
-werden könnte. Ich muß gestehen, daß ich mir dieses Vorgehens von
-Ihnen, der Sie doch sonst so gut wissen, was man sich selber schuldet,
-zu allerletzt gewärtig gewesen wäre. Indessen hege ich die feste
-Überzeugung, daß Sie noch zu sehr unter dem Eindruck des ersten
-Schreckens standen, um sich Ihrer Handlungsweise vollkommen bewußt
-werden zu können.
-
-Und so hoffe ich denn auch zuversichtlich, daß diese meine Worte
-Sie bereits in gefaßterer Gemütsstimmung antreffen. Nehmen Sie die
-Sache, wie sie liegt. Es ist meiner Ansicht nach durchaus unzulässig,
-einen jungen Mann nach seinen Schulzeugnissen zu beurteilen. Wir
-haben zu viele Beispiele, daß sehr schlechte Schüler vorzügliche
-Menschen geworden und umgekehrt ausgezeichnete Schüler sich im Leben
-nicht sonderlich bewährt haben. Auf jeden Fall gebe ich Ihnen die
-Versicherung, daß Ihr Mißgeschick, soweit das von mir abhängt, in Ihrem
-Verkehr mit _Melchior_ nichts ändern soll. Es wird mir stets zur Freude
-gereichen, meinen Sohn mit einem jungen Manne umgehn zu sehen, der
-sich, mag ihn nun die Welt beurteilen wie sie will, auch meine vollste
-Sympathie zu gewinnen vermochte.
-
-Und somit Kopf hoch, Herr Stiefel! -- Solche Krisen dieser oder jener
-Art treten an jeden von uns heran und wollen eben überstanden sein.
-Wollte da ein jeder gleich zu Dolch und Gift greifen, es möchte recht
-bald keine Menschen mehr auf der Welt geben. Lassen Sie bald wieder
-etwas von sich hören und seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrer Ihnen
-unverändert zugetanen
-
- mütterlichen Freundin
-
- Fanny G.
-
-
-Sechste Szene
-
-_Bergmanns Garten im Morgensonnenglanz_
-
-=Wendla=
-
-Warum hast du dich aus der Stube geschlichen? -- Veilchen suchen! --
-Weil mich Mutter lächeln sieht. -- Warum bringst du auch die Lippen
-nicht mehr zusammen? -- Ich weiß nicht. -- Ich weiß es ja nicht, ich
-finde nicht Worte ...
-
-Der Weg ist wie ein Pelücheteppich -- kein Steinchen, kein Dorn.
--- Meine Füße berühren den Boden nicht ... O, wie ich die Nacht
-geschlummert habe!
-
-Hier standen sie. -- Mir wird ernsthaft wie einer Nonne beim Abendmahl.
--- Süße Veilchen! -- Ruhig, Mütterchen. Ich will mein Bußgewand
-anziehn. -- Ach Gott, wenn jemand käme, dem ich um den Hals fallen und
-erzählen könnte!
-
-
-Siebente Szene
-
-_Abenddämmerung_. Der Himmel ist leicht bewölkt. Der Weg schlängelt
-sich durch niedres Gebüsch und Riedgras. In einiger Entfernung hört man
-den Fluß rauschen.
-
-=Moritz=
-
-Besser ist besser. -- Ich passe nicht hinein. Mögen sie einander auf
-die Köpfe steigen. -- Ich ziehe die Tür hinter mir zu und trete ins
-Freie. -- Ich gebe nicht so viel darum, mich herumdrücken zu lassen.
-
-Ich habe mich nicht aufgedrängt. Was soll ich mich jetzt aufdrängen!
--- Ich habe keinen Vertrag mit dem lieben Gott. Mag man die Sache
-drehen, wie man sie drehen will. Man hat mich gepreßt. -- Meine Eltern
-mache ich nicht verantwortlich. Immerhin mußten sie auf das Schlimmste
-gefaßt sein. Sie waren alt genug, um zu wissen, was sie taten. Ich war
-ein Säugling, als ich zur Welt kam -- sonst wär’ ich wohl auch noch so
-schlau gewesen, ein anderer zu werden. -- Was soll ich dafür büßen, daß
-alle andern schon da waren!
-
-Ich müßte ja auf den Kopf gefallen sein ... macht mir jemand einen
-tollen Hund zum Geschenk, dann gebe ich ihm seinen tollen Hund zurück.
-Und will er seinen tollen Hund nicht zurücknehmen, dann bin ich
-menschlich und ...
-
-Ich müßte ja auf den Kopf gefallen sein!
-
-Man wird ganz per Zufall geboren und sollte nicht nach reiflichster
-Überlegung -- -- -- es ist zum Totschießen!
-
--- Das Wetter zeigt sich wenigstens rücksichtsvoll. Den ganzen Tag sah
-es nach Regen aus und nun hat es sich doch gehalten. -- Es herrscht
-eine seltene Ruhe in der Natur. Nirgends etwas Grelles, Aufreizendes.
-Himmel und Erde sind wie durchsichtiges Spinnewebe. Und dabei scheint
-sich alles so wohl zu fühlen. Die Landschaft ist lieblich wie eine
-Schlummermelodie -- „_schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein_“, wie
-Fräulein _Snandulia_ sang. Schade, daß sie die Ellbogen ungraziös hält!
--- Am Cäcilienfest habe ich zum letzten Male getanzt. _Snandulia_ tanzt
-nur mit Partien. Ihre Seidenrobe war hinten und vorn ausgeschnitten.
-Hinten bis auf den Taillengürtel und vorne bis zur Bewußtlosigkeit. --
-Ein Hemd kann sie nicht angehabt haben ... -- -- -- -- -- -- -- -- --
--- -- -- --
-
--- das wäre etwas, was mich noch fesseln könnte. -- Mehr der Kuriosität
-halber. -- Es muß ein sonderbares Empfinden sein -- -- ein Gefühl, als
-würde man über Stromschnellen gerissen -- -- -- Ich werde es niemandem
-sagen, daß ich unverrichteter Sache wiederkehre. Ich werde so tun, als
-hätte ich alles das mitgemacht ... Es hat etwas Beschämendes, Mensch
-gewesen zu sein, ohne das Menschlichste kennen gelernt zu haben. -- Sie
-kommen aus _Ägypten_, verehrter Herr, und haben die _Pyramiden_ nicht
-gesehn?!
-
-Ich will heute nicht wieder weinen. Ich will nicht wieder an mein
-Begräbnis denken -- -- _Melchior_ wird mir einen Kranz auf den
-Sarg legen. Pastor _Kahlbauch_ wird meine Eltern trösten. Rektor
-_Sonnenstich_ wird Beispiele aus der Geschichte zitieren. -- Einen
-Grabstein werd’ ich ja wahrscheinlich nicht bekommen. Ich hätte mir
-eine schneeweiße Marmorurne auf schwarzem Syenitsockel gewünscht --
-ich werde sie ja gottlob nicht vermissen. Die Denkmäler sind für die
-Lebenden, nicht für die Toten.
-
-Ich brauchte wohl ein Jahr, um in Gedanken von allem Abschied zu
-nehmen. Ich will nicht wieder weinen. Ich bin so froh, ohne Bitterkeit
-zurückblicken zu dürfen. Wie manchen schönen Abend ich mit _Melchior_
-verlebt habe! -- unter den Uferweiden; beim Forsthaus; am Heerweg
-draußen, wo die fünf Linden stehen; auf dem Schloßberg, zwischen den
-lauschigen Trümmern der Runenburg -- -- -- Wenn die Stunde gekommen,
-will ich aus Leibeskräften an Schlagsahne denken. Schlagsahne hält
-nicht auf. Sie stopft und hinterläßt dabei doch einen angenehmen
-Nachgeschmack ... Auch die Menschen hatte ich mir unendlich schlimmer
-gedacht. Ich habe keinen gefunden, der nicht sein Bestes gewollt hätte.
-Ich habe manchen bemitleidet um meinetwillen.
-
-Ich wandle zum Altar wie der Jüngling im alten Etrurien, dessen letztes
-Röcheln der Brüder Wohlergehen für das kommende Jahr erkauft. -- Ich
-durchkoste Zug für Zug die geheimnisvollen Schauer der Loslösung. Ich
-schluchze vor Wehmut über mein Los. -- -- Das Leben hat mir die kalte
-Schulter gezeigt. Von drüben her sehe ich ernste freundliche Blicke
-winken: die kopflose Königin, die kopflose Königin -- Mitgefühl, mich
-mit weichen Armen erwartend ... Eure Gebote gelten für Unmündige; ich
-trage mein Freibillett in mir. Sinkt die Schale, dann flattert der
-Falter davon; das Trugbild geniert nicht mehr. -- Ihr solltet kein
-tolles Spiel mit dem Schwindel treiben! Der Nebel zerrinnt; das Leben
-ist Geschmacksache.
-
-=Ilse=
-
-(in abgerissenen Kleidern, ein buntes Tuch um den Kopf, faßt ihn von
-rückwärts an der Schulter)
-
-Was hast du verloren?
-
-=Moritz=
-
-Ilse?!
-
-=Ilse=
-
-Was suchst du hier?
-
-=Moritz=
-
-Was erschreckst du mich so?
-
-=Ilse=
-
-Was suchst du? -- Was hast du verloren?
-
-=Moritz=
-
-Was erschreckst du mich denn so entsetzlich?
-
-=Ilse=
-
-Ich komme aus der Stadt. -- Ich gehe nach Hause.
-
-=Moritz=
-
-Ich weiß nicht, was ich verloren habe.
-
-=Ilse=
-
-Dann hilft auch dein Suchen nichts.
-
-=Moritz=
-
-Sakerment, Sakerment!!
-
-=Ilse=
-
-Seit vier Tagen bin ich nicht zu Hause gewesen.
-
-=Moritz=
-
--- Lautlos wie eine Katze!
-
-=Ilse=
-
-Weil ich meine Ballschuhe anhabe. -- Mutter wird Augen machen! -- Komm
-bis an unser Haus mit!
-
-=Moritz=
-
-Wo hast du wieder herumgestrolcht?
-
-=Ilse=
-
-In der _Priapia_!
-
-=Moritz=
-
-_Priapia_?
-
-=Ilse=
-
-Bei _Nohl_, bei _Fehrendorf_, bei _Padinsky_, bei _Lenz_, _Rank_,
-_Spühler_ -- bei allen möglichen! -- Kling, kling -- die wird springen!
-
-=Moritz=
-
-Malen sie dich?
-
-=Ilse=
-
-_Fehrendorf_ malt mich als Säulenheilige. Ich stehe auf einem
-korinthischen Kapitäl. _Fehrendorf_, sag’ ich dir, ist eine verhauene
-Nudel. Das letzte Mal zertrat ich ihm eine Tube. Er wischt mir die
-Pinsel ins Haar. Ich versetze ihm eine Ohrfeige. Er wirft mir die
-Palette an den Kopf. Ich werfe die Staffelei um. Er mit dem Malstock
-hinter mir drein über Divan, Tische, Stühle, ringsum durchs Atelier.
-Hinterm Ofen lag eine Skizze: -- Brav sein, oder ich zerreiße sie! --
-Er schwor Amnestie und hat mich dann schließlich noch schrecklich --
-schrecklich, sag’ ich dir -- abgeküßt.
-
-=Moritz=
-
-Wo übernachtest du, wenn du in der Stadt bleibst?
-
-=Ilse=
-
-Gestern waren wir bei _Nohl_ -- vorgestern bei _Bojokewitsch_ -- am
-Sonntag bei _Oikonomopulos_. Bei _Padinsky_ gab’s Sekt. _Valabregez_
-hatte seinen Pestkranken verkauft. _Adolar_ trank aus dem Aschenbecher.
-_Lenz_ sang die _Kindsmörderin_, und _Adolar_ schlug die Guitarre
-krumm. Ich war so betrunken, daß sie mich zu Bett bringen mußten. -- --
-Du gehst immer noch zur Schule, Moritz?
-
-=Moritz=
-
-Nein, nein ... dieses Quartal nehme ich meine Entlassung.
-
-=Ilse=
-
-Du hast Recht. Ach, wie die Zeit vergeht, wenn man Geld verdient! --
-Weißt du noch, wie wir _Räuber_ spielten? -- _Wendla Bergmann_ und
-du und ich und die Andern, wenn ihr abends herauskamt und kuhwarme
-Ziegenmilch bei uns trankt? -- Was macht _Wendla_? Ich sah sie noch bei
-der Überschwemmung. -- Was macht _Melchi Gabor_? -- Schaut er noch so
-tiefsinnig drein? -- In der Singstunde standen wir einander gegenüber.
-
-=Moritz=
-
-Er philosophiert.
-
-=Ilse=
-
-_Wendla_ war derweil bei uns und hat der Mutter Eingemachtes gebracht.
-Ich saß den Tag bei Isidor Landauer. Er braucht mich zur heiligen
-Maria, Mutter Gottes, mit dem Christuskind. Er ist ein Tropf und
-widerlich. Hu, wie ein Wetterhahn! -- Hast du Katzenjammer?
-
-=Moritz=
-
-Von gestern Abend! -- Wir haben wie Nilpferde gezecht. Um fünf Uhr
-wankt’ ich nach Hause.
-
-=Ilse=
-
-Man braucht dich nur anzusehn. -- Waren Mädchen dabei?
-
-=Moritz=
-
-Arabella, die Biernymphe, Andalusierin! -- Der Wirt ließ uns Alle die
-ganze Nacht durch mit ihr allein.
-
-=Ilse=
-
-Man braucht dich nur anzusehen, Moritz! -- Ich kenne keinen
-Katzenjammer. Vergangenen Karneval kam ich drei Tage und drei Nächte in
-kein Bett und nicht aus den Kleidern. Von der Redoute ins Café, Mittags
-in Bellavista, Abends Tingl-Tangl, Nachts zur Redoute. _Lena_ war dabei
-und die dicke _Viola_. -- In der dritten Nacht fand mich _Heinrich_.
-
-=Moritz=
-
-Hatte er dich denn gesucht?
-
-=Ilse=
-
-Er war über meinen Arm gestolpert. Ich lag bewußtlos im Straßenschnee.
--- Darauf kam ich zu ihm hin. Vierzehn Tage verließ ich seine Behausung
-nicht -- eine gräuliche Zeit! -- Morgens mußte ich seinen persischen
-Schlafrock überwerfen und abends in schwarzem Pagenkostüm durchs Zimmer
-gehn; an Hals, an Knien und Ärmeln weiße Spitzenaufschläge. Täglich
-photographierte er mich in anderem Arrangement -- einmal auf der
-Sofalehne als Ariadne, einmal als Leda, einmal als Ganymed, einmal auf
-allen Vieren als weiblichen Nebuchod-Nosor. Dabei schwärmte er von
-Umbringen, von Erschießen, Selbstmord und Kohlendampf. Frühmorgens nahm
-er eine Pistole ins Bett, lud sie voll Spitzkugeln und setzte sie mir
-auf die Brust: Ein Zwinkern, so drück’ ich! -- O, er hätte gedrückt,
-Moritz; er hätte gedrückt! -- Dann nahm er das Dings in den Mund wie
-ein Pusterohr. Das wecke den Selbsterhaltungstrieb. Und dann -- Brrrr
--- die Kugel wäre mir durchs Rückgrat gegangen.
-
-=Moritz=
-
-Lebt _Heinrich_ noch?
-
-=Ilse=
-
-Was weiß ich! -- Über dem Bett war ein Deckenspiegel im Plafond
-eingelassen. Das Kabinet schien turmhoch und hell wie ein Opernhaus.
-Man sah sich leibhaftig vom Himmel herunterhängen. Grauenvoll habe ich
-die Nächte geträumt. -- Gott, o Gott, wenn es erst wieder Tag würde! --
-Gute Nacht, Ilse. Wenn du schläfst, bist du zum Morden schön!
-
-=Moritz=
-
-Lebt dieser _Heinrich_ noch?
-
-=Ilse=
-
-So Gott will, nicht! -- Wie er eines Tages Absynth holt, werfe ich den
-Mantel um und schleiche mich auf die Straße. Der Fasching war aus; die
-Polizei fängt mich ab; was ich in Mannskleidern wolle? -- Sie brachten
-mich zur Hauptwache. Da kamen _Nohl_, _Fehrendorf_, _Padinsky_,
-_Spühler_, _Oikonomopulos_, die ganze _Priapia_, und bürgten für mich.
-Im Fiaker transportierten sie mich auf _Adolars_ Atelier. Seither bin
-ich der Horde treu. _Fehrendorf_ ist ein Affe, _Nohl_ ist ein Schwein,
-_Bojokewitsch_ ein Uhu, _Loison_ eine Hyäne, _Oikonomopulos_ ein Kameel
--- darum lieb’ ich sie doch Einen wie den Andern und möchte mich an
-sonst niemand hängen, und wenn die Welt voll Erzengel und Millionäre
-wär’!
-
-=Moritz=
-
--- Ich muß zurück, Ilse.
-
-=Ilse=
-
-Komm bis an unser Haus mit!
-
-=Moritz=
-
--- Wozu? -- Wozu? --
-
-=Ilse=
-
-Kuhwarme Ziegenmilch trinken! -- Ich will dir Locken brennen und
-dir ein Glöcklein um den Hals hängen. -- Wir haben auch noch ein
-Hü-Pferdchen, mit dem du spielen kannst.
-
-=Moritz=
-
-Ich muß zurück. -- Ich habe noch die Sassaniden, die Bergpredigt und
-das Parallelepipedon auf dem Gewissen. -- Gute Nacht, Ilse!
-
-=Ilse=
-
-Schlummre süß! ... Geht ihr wohl noch zum _Wigwam_ hinunter, wo _Melchi
-Gabor_ mein Tomahawk begrub? -- Brrr! Bis es an euch kommt, lieg’ ich
-im Kehricht. (Eilt davon.)
-
-=Moritz= (allein)
-
--- -- -- Ein Wort hätte es gekostet. -- (Er ruft) -- Ilse! -- Ilse! --
--- Gottlob sie hört nicht mehr.
-
--- Ich bin in der Stimmung nicht. -- Dazu bedarf es eines freien Kopfes
-und eines fröhlichen Herzens. -- Schade, schade um die Gelegenheit!
-
-... ich werde sagen, ich hätte mächtige Kristallspiegel über meinen
-Betten gehabt -- hätte mir ein unbändiges Füllen gezogen -- hätte es
-in langen schwarzseidenen Strümpfen und schwarzen Lackstiefeln und
-schwarzen, langen Glacé-Handschuhen, schwarzen Samt um den Hals,
-über den Teppich an mir vorbeistolzieren lassen -- hätte es in einem
-Wahnsinnsanfall in meinen Kissen erwürgt ... ich werde lächeln wenn von
-Wollust die Rede ist ... ich werde --
-
-_Aufschreien! -- Aufschreien! -- Du sein, Ilse! -- Priapia! --
-Besinnungslosigkeit! -- Das nimmt die Kraft mir! -- Dieses Glückskind,
-dieses Sonnenkind -- dieses Freudenmädchen auf meinem Jammerweg! -- --
-O! -- O!_
-
- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
-
-(Im Ufergebüsch)
-
-Hab’ ich sie doch unwillkürlich wiedergefunden -- die Rasenbank. Die
-Königskerzen scheinen gewachsen seit gestern. Der Ausblick zwischen
-den Weiden durch ist derselbe noch. -- Der Fluß zieht schwer wie
-geschmolzenes Blei. Daß ich nicht vergesse ... (er zieht Frau Gabors
-Brief aus der Tasche und verbrennt ihn) -- Wie die Funken irren -- hin
-und her, kreuz und quer -- Seelen! -- Sternschnuppen! --
-
-Eh’ ich angezündet, sah man die Gräser noch und einen Streifen am
-Horizont. -- Jetzt ist es dunkel geworden. Jetzt gehe ich nicht mehr
-nach Hause.
-
-
-
-
-Dritter Akt
-
-
-Erste Szene
-
-
-_Konferenzzimmer_. -- An den Wänden die Bildnisse von Pestalozzi und
-J. J. Rousseau. Um einen grünen Tisch, über dem mehrere Gasflammen
-brennen, sitzen die Professoren _Affenschmalz_, _Knüppeldick_,
-_Hungergurt_, _Knochenbruch_, _Zungenschlag_ und _Fliegentod_. Am
-oberen Ende auf erhöhtem Sessel Rektor _Sonnenstich_. Pedell _Habebald_
-kauert neben der Tür.
-
-=Sonnenstich=
-
-....Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben? -- --
-Meine Herren! -- Wenn wir nicht umhin können, bei einem hohen
-Kultusministerium die Relegation unseres schuldbeladenen Schülers
-zu beantragen, so können wir das aus den schwerwiegendsten Gründen
-nicht. Wir können es nicht, um das bereits hereingebrochene Unglück
-zu sühnen, wir können es eben so wenig, um unsere Anstalt für die
-Zukunft vor ähnlichen Schlägen sicher zu stellen. Wir können es nicht,
-um unseren schuldbeladenen Schüler für den demoralisirenden Einfluß,
-den er auf seinen Klassengenossen ausgeübt, zu züchtigen; wir können
-es zu allerletzt, um ihn zu verhindern, den nämlichen Einfluß auf
-seine übrigen Klassengenossen auszuüben. Wir können es -- und der,
-meine Herren, möchte der schwerwiegendste sein -- aus dem jeden
-Einwand niederschlagenden Grunde nicht, weil wir unsere Anstalt vor
-den Verheerungen einer Selbstmord-Epidemie zu schützen haben, wie sie
-bereits an verschiedenen Gymnasien zum Ausbruch gelangt und bis heute
-allen Mitteln, den Gymnasiasten an seine durch seine Heranbildung zum
-Gebildeten gebildeten Existenzbedingungen zu fesseln, gespottet hat. --
--- Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?
-
-=Knüppeldick=
-
-Ich kann mich nicht länger der Überzeugung verschließen, daß es endlich
-an der Zeit wäre, irgendwo ein Fenster zu öffnen.
-
-=Zungenschlag=
-
-Es he-herrscht hier eine A-A-Atmosphäre wie in unterirdischen
-Kata-Katakomben, wie in den A-Aktensälen des weiland Wetzlarer
-Ka-Ka-Ka-Ka-Kammergerichtes.
-
-=Sonnenstich=
-
-Habebald!
-
-=Habebald=
-
-Befehlen, Herr Rektor!
-
-=Sonnenstich=
-
-Öffnen Sie ein Fenster! Wir haben Gott sei Dank Atmosphäre genug
-draußen. -- Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?
-
-=Fliegentod=
-
-Wenn meine Herren Kollegen ein Fenster öffnen lassen wollen, so habe
-ich meinerseits nichts dagegen einzuwenden. Nur möchte ich bitten, das
-Fenster nicht gerade hinter meinem Rücken öffnen lassen zu wollen!
-
-=Sonnenstich=
-
-Habebald!
-
-=Habebald=
-
-Befehlen, Herr Rektor!
-
-=Sonnenstich=
-
-Öffnen Sie das andere Fenster! -- -- Sollte einer der Herren noch etwas
-zu bemerken haben?
-
-=Hungergurt=
-
-Ohne die Kontroverse meinerseits belasten zu wollen, möchte ich an
-die Tatsache erinnern, daß das andere Fenster seit den Herbstferien
-zugemauert ist.
-
-=Sonnenstich=
-
-Habebald!
-
-=Habebald=
-
-Befehlen, Herr Rektor!
-
-=Sonnenstich=
-
-Lassen Sie das andere Fenster geschlossen! -- Ich sehe mich genötigt,
-meine Herren, den Antrag zur Abstimmung zu bringen. Ich ersuche
-diejenigen Herren Kollegen, die dafür sind, daß das einzig in Frage
-kommen könnende Fenster geöffnet werde, sich von ihren Sitzen zu
-erheben. (Er zählt) -- Eins, zwei, drei. -- Eins, zwei drei. --
-Habebald!
-
-=Habebald=
-
-Befehlen, Herr Rektor!
-
-=Sonnenstich=
-
-Lassen Sie das eine Fenster gleichfalls geschlossen! -- Ich meinerseits
-hege die Überzeugung, daß die Atmosphäre nichts zu wünschen übrig
-läßt! -- -- Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?
--- -- Meine Herren! -- Setzen wir den Fall, daß wir die Relegation
-unseres schuldbeladenen Schülers bei einem hohen Kultusministerium
-zu beantragen unterlassen, so wird _uns_ ein hohes Kultusministerium
-für das hereingebrochene Unglück verantwortlich machen. Von den
-verschiedenen von der Selbstmord-Epidemie heimgesuchten Gymnasien
-sind diejenigen, in denen fünfundzwanzig Prozent den Verheerungen
-der Selbstmord-Epidemie zum Opfer gefallen, von einem hohen
-Kultusministerium suspendiert worden. Vor diesem erschütterndsten
-Schlage unsere Anstalt zu wahren, ist unsere Pflicht als Hüter und
-Bewahrer unserer Anstalt. Es schmerzt uns tief, meine Herren Kollegen,
-daß wir die sonstige Qualifikation unseres schuldbeladenen Schülers
-als mildernden Umstand gelten zu lassen nicht in der Lage sind. Ein
-nachsichtiges Verfahren, das sich unserem schuldbeladenen Schüler
-gegenüber rechtfertigen ließe, ließe sich der zur Zeit in denkbar
-bedenklichster Weise gefährdeten Existenz unserer Anstalt gegenüber
-_nicht_ rechtfertigen. Wir sehen uns in die Notwendigkeit versetzt, den
-Schuldbeladenen zu richten, um nicht als die Schuldlosen gerichtet zu
-werden. -- Habebald!
-
-=Habebald=
-
-Befehlen, Herr Rektor!
-
-=Sonnenstich=
-
-Führen Sie ihn herauf!
-
-(Habebald ab.)
-
-=Zungenschlag=
-
-Wenn die he-herrschende A-A-Atmosphäre maßgebenderseits wenig
-oder nichts zu wünschen übrig läßt, so möchte ich den Antrag
-stellen, während der So-Sommerferien auch noch das andere Fenster
-zu-zu-zu-zu-zu-zu-zu-zu-zuzumauern!
-
-=Fliegentod=
-
-Wenn unserem lieben Kollega Zungenschlag unser Lokal nicht genügend
-ventiliert erscheint, so möchte ich den Auftrag stellen, unserm
-lieben Herrn Kollega Zungenschlag einen Ventilator in die Stirnhöhle
-applizieren zu lassen.
-
-=Zungenschlag=
-
-Da-da-das brauche ich mir nicht gefallen zu lassen! -- Gro-Grobheiten
-brauche ich mir nicht gefallen zu lassen! -- Ich bin meiner
-fü-fü-fü-fü-fünf Sinne mächtig ...!
-
-=Sonnenstich=
-
-Ich muß unsere Herren Kollegen Fliegentod und Zungenschlag um einigen
-Anstand ersuchen. Unser schuldbeladener Schüler scheint mir bereits auf
-der Treppe zu sein.
-
-(Habebald öffnet die Türe, worauf _Melchior_, bleich aber gefaßt, vor
-die Versammlung tritt.)
-
-=Sonnenstich=
-
-Treten Sie näher an den Tisch heran! -- Nachdem Herr Rentier Stiefel
-von dem ruchlosen Frevel seines Sohnes Kenntnis erhalten, durchsuchte
-der fassungslose Vater, in der Hoffnung, auf diesem Wege möglicherweise
-dem Anlaß der verabscheuungswürdigen Untat auf die Spur zu kommen, die
-hinterlassenen Effekten seines Sohnes Moritz und stieß dabei an einem
-nicht zur Sache gehörigen Orte auf ein Schriftstück, welches uns ohne
-noch die verabscheuungswürdige Untat an sich verständlich zu machen,
-für die dabei maßgebend gewesene moralische Zerrüttung des Untäters
-eine leider nur allzu ausreichende Erklärung liefert. Es handelt sich
-um eine in Gesprächsform abgefaßte, „_Der Beischlaf_“ betitelte, mit
-lebensgroßen Abbildungen versehene, von den schamlosesten Unfläthereien
-strotzende, zwanzig Seiten lange Abhandlung, die den geschraubtesten
-Anforderungen, die ein verworfener Lüstling an eine unzüchtige Lektüre
-zu stellen vermöchte, entsprechen dürfte. --
-
-=Melchior=
-
-Ich habe ...
-
-=Sonnenstich=
-
-Sie haben sich ruhig zu verhalten! -- Nachdem Herr Rentier Stiefel
-uns fragliches Schriftstück ausgehändigt und wir dem fassungslosen
-Vater das Versprechen erteilt, um jeden Preis den Autor zu ermitteln,
-wurde die uns vorliegende Handschrift mit den Handschriften sämtlicher
-Mitschüler des weiland Ruchlosen verglichen und ergab nach dem
-einstimmigen Urteil der gesamten Lehrerschaft, sowie in vollkommenem
-Einklang mit dem Spezial-Gutachten unseres geschätzten Herrn Kollegen
-für Kalligraphie die denkbar bedenklichste Ähnlichkeit mit der
-_Ihrigen_. --
-
-=Melchior=
-
-Ich habe ...
-
-=Sonnenstich=
-
-Sie haben sich ruhig zu verhalten! -- Ungeachtet der erdrückenden
-Tatsache der von Seiten unantastbarer Autoritäten anerkannten
-Ähnlichkeit glauben wir uns vorderhand noch jeder weiteren Maßnahmen
-enthalten zu dürfen, um in erster Linie den Schuldigen über das
-ihm demgemäß zur Last fallende Vergehen wider die Sittlichkeit in
-Verbindung mit daraus resultierender Veranlassung zur Selbstentleibung
-ausführlich zu vernehmen. --
-
-=Melchior=
-
-Ich habe ...
-
-=Sonnenstich=
-
-Sie haben die genau präzisierten Fragen, die ich Ihnen der Reihe nach
-vorlege, eine um die andere, mit einem schlichten und bescheidenen „Ja“
-oder „Nein“ zu beantworten. -- Habebald!
-
-=Habebald=
-
-Befehlen, Herr Rektor!
-
-=Sonnenstich=
-
-Die Akten! -- -- Ich ersuche unseren Schriftführer, Herrn Kollega
-Fliegentod, von nun an möglichst wortgetreu zu protokollieren. -- (Zu
-Melchior) Kennen Sie dieses Schriftstück?
-
-=Melchior=
-
-Ja.
-
-=Sonnenstich=
-
-Wissen Sie, was dieses Schriftstück enthält?
-
-=Melchior=
-
-Ja.
-
-=Sonnenstich=
-
-Ist die Schrift dieses Schriftstücks die Ihrige?
-
-=Melchior=
-
-Ja.
-
-=Sonnenstich=
-
-Verdankt dieses unflätige Schriftstück Ihnen seine Abfassung?
-
-=Melchior=
-
-Ja. -- Ich ersuche Sie, Herr Rektor, mir _eine_ Unflätigkeit darin
-nachzuweisen.
-
-=Sonnenstich=
-
-Sie haben die genau präzisierten Fragen, die ich Ihnen vorlege, mit
-einem schlichten und bescheidenen „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten!
-
-=Melchior=
-
-Ich habe nicht mehr und nicht weniger geschrieben, als was eine Ihnen
-sehr wohlbekannte Tatsache ist!
-
-=Sonnenstich=
-
-Dieser Schandbube!!
-
-=Melchior=
-
-Ich ersuche Sie, mir einen Verstoß gegen die Sittlichkeit in der
-Schrift zu zeigen!
-
-=Sonnenstich=
-
-Bilden Sie sich ein, ich hätte Lust, zu Ihrem Hanswurst an Ihnen zu
-werden?! -- Habebald ...!
-
-=Melchior=
-
-Ich habe ...
-
-=Sonnenstich=
-
-Sie haben so wenig Ehrerbietung vor der Würde Ihrer versammelten
-Lehrerschaft, wie Sie Anstandsgefühl für das dem Menschen eingewurzelte
-Empfinden für die Diskretion der Verschämtheit einer sittlichen
-Weltordnung haben! -- Habebald!!
-
-=Habebald=
-
-Befehlen, Herr Rektor!
-
-=Sonnenstich=
-
-Es ist ja der _Langenscheidt_ zur dreistündigen Erlernung des
-aggluttierenden Volapük!
-
-=Melchior=
-
-Ich habe ...
-
-=Sonnenstich=
-
-Ich ersuche unseren Schriftführer, Herrn Kollega Fliegentod, das
-Protokoll zu schließen!
-
-=Melchior=
-
-Ich habe ...
-
-=Sonnenstich=
-
-Sie haben sich ruhig zu verhalten!! -- Habebald!
-
-=Habebald=
-
-Befehlen, Herr Rektor!
-
-=Sonnenstich=
-
-Führen Sie Ihn hinunter!
-
-
-Zweite Szene
-
-_Friedhof_ in strömendem Regen. -- Vor einem offenen Grabe steht Pastor
-_Kahlbauch_, den aufgespannten Schirm in der Hand. Zu seiner Rechten
-Rentier _Stiefel_, dessen Freund _Ziegenmelker_ und Onkel _Probst_. Zur
-Linken Rektor _Sonnenstich_ mit Professor _Knochenbruch_. Gymnasiasten
-schließen den Kreis. In einiger Entfernung vor einem halbverfallenen
-Grabmonument _Martha_ und _Ilse_
-
-=Pastor Kahlbauch=
-
-... Denn wer die Gnade, mit der der ewige Vater den in Sünden Geborenen
-gesegnet, von sich wies, er wird des _geistigen_ Todes sterben! -- Wer
-aber in eigenwilliger fleischlicher Verleugnung der Gott gebührenden
-Ehre dem Bösen gelebt und gedient, er wird des _leiblichen_ Todes
-sterben! -- Wer jedoch das Kreuz, das der Allerbarmer ihm um der Sünde
-willen auferlegt, freventlich von sich geworfen, wahrlich, wahrlich,
-ich sage euch, der wird des _ewigen_ Todes sterben! -- (Er wirft eine
-Schaufel voll Erde in die Gruft) -- Uns aber, die wir fort und fort
-wallen den Dornenpfad, lasset den Herrn, den allgütigen, preisen
-und ihm danken für seine unerforschliche Gnadenwahl. Denn so wahr
-_dieser_ eines _dreifachen_ Todes starb, so wahr wird Gott der Herr den
-Gerechten einführen zur Seligkeit und zum ewigen Leben. -- Amen.
-
-=Rentier Stiefel=
-
-(mit tränenerstickter Stimme, wirft eine Schaufel voll Erde in die
-Gruft)
-
-Der Junge war nicht von mir! -- Der Junge war nicht von mir! -- Der
-Junge hat mir von kleinauf nicht gefallen!
-
-=Rektor Sonnenstich=
-
-(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)
-
-Der Selbstmord als der denkbar bedenklichste Verstoß gegen die
-sittliche Weltordnung ist der denkbar bedenklichste Beweis für
-die sittliche Weltordnung, indem der Selbstmörder der sittlichen
-Weltordnung den Urteilsspruch zu sprechen erspart und ihr Bestehen
-bestätigt.
-
-=Professor Knochenbruch=
-
-(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)
-
-Verbummelt -- versumpft -- verhurt -- verlumpt -- und verludert!
-
-=Onkel Probst=
-
-(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)
-
-Meiner eigenen Mutter hätte ich’s nicht geglaubt, daß ein Kind so
-niederträchtig an seinen Eltern zu handeln vermöchte!
-
-=Freund Ziegenmelker=
-
-(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)
-
-An einem Vater zu handeln vermöchte, der nun seit zwanzig Jahren von
-früh bis spät keinen Gedanken mehr hegt, als das Wohl seines Kindes!
-
-=Pastor Kahlbauch=
-
-(Rentier Stiefel die Hand drückend)
-
-Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten dienen.
-1. Korinth. 12, 15. -- Denken Sie der trostlosen Mutter und suchen Sie
-ihr das Verlorene durch verdoppelte Liebe zu ersetzen!
-
-=Rektor Sonnenstich=
-
-(Rentier Stiefel die Hand drückend)
-
-Wir hätten ihn ja wahrscheinlich doch nicht promovieren können!
-
-=Professor Knochenbruch=
-
-(Rentier Stiefel die Hand drückend)
-
-Und wenn wir ihn promoviert hätten, im nächsten Frühling wäre er des
-allerbestimmtesten sitzen geblieben!
-
-=Onkel Probst=
-
-(Rentier Stiefel die Hand drückend)
-
-Jetzt hast du vor allem die Pflicht, an dich zu denken. Du bist
-Familienvater ...!
-
-=Freund Ziegenmelker=
-
-(Rentier Stiefel die Hand drückend)
-
-Vertraue dich meiner Führung! -- Ein Hundewetter, daß einem die Därme
-schlottern! -- Wer da nicht unverzüglich mit einem Grogg eingreift, hat
-seine Herzklappenaffektion weg!
-
-=Rentier Stiefel=
-
-(sich die Nase schneuzend)
-
-Der Junge war nicht von mir ... der Junge war nicht von mir ...
-
-(Rentier Stiefel, geleitet von Pastor Kahlbauch, Rektor Sonnenstich,
-Professor Knochenbruch, Onkel Probst und Freund Ziegenmelker ab. -- Der
-Regen läßt nach)
-
-=Hänschen Rilow=
-
-(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)
-
-Ruhe in Frieden, du ehrliche Haut! -- Grüße mir meine ewigen Bräute,
-hingeopferten Angedenkens, und empfiehl mich ganz ergebenst zu Gnaden
-dem lieben Gott -- armer Tollpatsch du! -- Sie werden dir um deiner
-Engelseinfalt willen noch eine Vogelscheuche aufs Grab setzen ...
-
-=Georg=
-
-Hat sich die Pistole gefunden?
-
-=Robert=
-
-Man braucht keine Pistole zu suchen!
-
-=Ernst=
-
-Hast du ihn gesehen, Robert?
-
-=Robert=
-
-Verfluchter, verdammter Schwindel! -- Wer hat ihn gesehen? -- Wer denn?!
-
-=Otto=
-
-Da steckt’s nämlich! -- Man hatte ihm ein Tuch übergeworfen.
-
-=Georg=
-
-Hing die Zunge heraus?
-
-=Robert=
-
-Die Augen! -- Deshalb hatte man das Tuch drübergeworfen.
-
-=Otto=
-
-Grauenhaft!
-
-=Hänschen Rilow=
-
-Weißt du bestimmt, daß er sich erhängt hat?
-
-=Ernst=
-
-Man sagt, er habe gar keinen Kopf mehr.
-
-=Otto=
-
-Unsinn! -- Gewäsch!
-
-=Robert=
-
-Ich habe ja den Strick in Händen gehabt! -- Ich habe noch keinen
-Erhängten gesehen, den man nicht zugedeckt hätte.
-
-=Georg=
-
-Auf gemeinere Art hätte er sich nicht empfehlen können!
-
-=Hänschen Rilow=
-
-Was Teufel, das Erhängen soll ganz hübsch sein!
-
-=Otto=
-
-Mir ist er nämlich noch fünf Mark schuldig. Wir hatten gewettet. Er
-schwor, er werde sich halten.
-
-=Hänschen Rilow=
-
-Du bist schuld, daß er daliegt. Du hast ihn Prahlhans genannt.
-
-=Otto=
-
-Paperlapap, ich muß auch büffeln die Nächte durch. Hätte er die
-griechische Literaturgeschichte gelernt, er hätte sich nicht zu
-erhängen brauchen!
-
-=Ernst=
-
-Hast du den Aufsatz, Otto?
-
-=Otto=
-
-Erst die Einleitung.
-
-=Ernst=
-
-Ich weiß gar nicht, was schreiben.
-
-=Georg=
-
-Warst du denn nicht da, als uns Affenschmalz die Disposition gab?
-
-=Hänschen Rilow=
-
-Ich stopsle mir was aus dem _Demokrit_ zusammen.
-
-=Ernst=
-
-Ich will sehen, ob sich im _kleinen Meyer_ was finden läßt.
-
-=Otto=
-
-Hast du den Vergil schon auf morgen? -- -- -- -- --
-
-(Die Gymnasiasten ab. -- Martha und Ilse kommen ans Grab.)
-
-=Ilse=
-
-Rasch, rasch! -- Dort hinten kommen die Totengräber.
-
-=Martha=
-
-Wollen wir nicht lieber warten, Ilse?
-
-=Ilse=
-
-Wozu? -- Wir bringen neue. Immer neue und neue! -- Es wachsen genug.
-
-=Martha=
-
-Du hast recht, Ilse! -- (Sie wirft einen Epheukranz in die Gruft. Ilse
-öffnet ihre Schürze und läßt eine Fülle frischer Anemonen auf den Sarg
-regnen.)
-
-=Martha=
-
-Ich grabe unsere Rosen aus. Schläge bekomme ich ja doch! -- Hier werden
-sie gedeihen.
-
-=Ilse=
-
-Ich will sie begießen, so oft ich vorbeikomme. Ich hole Vergißmeinnicht
-vom Goldbach herüber und Schwertlilien bringe ich von Hause mit.
-
-=Martha=
-
-Es soll eine Pracht werden! Eine Pracht!
-
-=Ilse=
-
-Ich war schon über der Brücke drüben, da hört’ ich den Knall.
-
-=Martha=
-
-Armes Herz!
-
-=Ilse=
-
-Und ich weiß auch den Grund, Martha.
-
-=Martha=
-
-Hat er dir was gesagt?
-
-=Ilse=
-
-Parallelepipedon! -- Aber sag’ es niemandem.
-
-=Martha=
-
-Meine Hand darauf.
-
-=Ilse=
-
--- Hier ist die Pistole.
-
-=Martha=
-
-Deshalb hat man sie nicht gefunden!
-
-=Ilse=
-
-Ich nahm sie ihm gleich aus der Hand, als ich am Morgen vorbeikam.
-
-=Martha=
-
-Schenk’ sie mir, Ilse! -- Bitte, schenk’ sie mir!
-
-=Ilse=
-
-Nein, die behalt’ ich zum Andenken.
-
-=Martha=
-
-Ist’s wahr, Ilse, daß er ohne Kopf drinliegt?
-
-=Ilse=
-
-Er muß sie mit Wasser geladen haben! -- Die Königskerzen waren über und
-über mit Blut besprengt. Sein Hirn hing in den Weiden umher.
-
-
-Dritte Szene
-
-_Herr und Frau Gabor_.
-
-=Frau Gabor=
-
-... Man hatte einen Sündenbock nötig. Man durfte die überall
-lautwerdenden Anschuldigungen nicht auf sich beruhen lassen. Und nun
-mein Kind das Unglück gehabt, den Zöpfen im richtigen Moment in den
-Schuß zu laufen, nun soll ich, die eigene Mutter, das Werk seiner
-Henker vollenden helfen? -- Bewahre mich Gott davor!
-
-=Herr Gabor=
-
--- Ich habe deine geistvolle Erziehungsmethode vierzehn Jahre
-schweigend mit angeseh’n. Sie widersprach meinen Begriffen. Ich hatte
-von jeher der Überzeugung gelebt, ein Kind sei kein Spielzeug; ein
-Kind habe Anspruch auf unsern heiligsten Ernst. Aber ich sagte mir,
-wenn der Geist und die Grazie des Einen die ernsten Grundsätze eines
-Andern zu ersetzen im stande sind, so mögen sie den ernsten Grundsätzen
-vorzuziehen sein. -- -- Ich mache dir keinen Vorwurf, Fanny. Aber
-vertritt mir den Weg nicht, wenn ich dein und mein Unrecht an dem
-Jungen gutzumachen suche!
-
-=Frau Gabor=
-
-Ich vertrete dir den Weg, so lange ein Tropfen warmen Blutes in
-mir wallt! In der Korrektionsanstalt ist mein Kind verloren. Eine
-Verbrechernatur mag sich in solchen Instituten bessern lassen. Ich weiß
-es nicht. Ein gutgearteter Mensch wird so gewiß zum Verbrecher darin,
-wie die Pflanze verkommt, der du Luft und Sonne entziehst. Ich bin mir
-keines Unrechtes bewußt. Ich danke heute wie immer dem Himmel, daß er
-mir den Weg gezeigt, in meinem Kinde einen rechtlichen Charakter und
-eine edle Denkungsweise zu wecken. Was hat er denn so Schreckliches
-getan? Es soll mir nicht einfallen, ihn entschuldigen zu wollen --
-daran, daß man ihn aus der Schule gejagt trägt er keine Schuld! Und
-wär’ es sein Verschulden, so hat er es ja gebüßt. Du magst das alles
-besser wissen. Du magst theoretisch vollkommen im Rechte sein. Aber ich
-kann mir mein einziges Kind nicht gewaltsam in den Tod jagen lassen!
-
-=Herr Gabor=
-
-Das hängt nicht von uns ab, Fanny. -- Das ist ein Risiko, das wir mit
-unserem Glück auf uns genommen. Wer zu schwach für den Marsch ist,
-bleibt am Wege. Und es ist schließlich das Schlimmste nicht, wenn
-das Unausbleibliche zeitig kommt. Möge uns der Himmel davor behüten!
-Unsere Pflicht ist es, den Wankenden zu festigen, so lange die Vernunft
-Mittel weiß. -- Daß man ihn aus der Schule gejagt, ist nicht seine
-Schuld. Wenn man ihn nicht aus der Schule gejagt hätte, es wäre auch
-seine Schuld nicht! -- Du bist zu leichtherzig. Du erblickst vorwitzige
-Tändelei, wo es sich um Grundschäden des Charakters handelt. Ihr Frauen
-seid nicht berufen, über solche Dinge zu urteilen. Wer _das_ schreiben
-kann, was Melchior schreibt, der muß im innersten Kern seines Wesens
-angefault sein. Das Mark ist ergriffen. Eine halbwegs gesunde Natur
-läßt sich zu so etwas nicht herbei. Wir sind alle keine Heiligen;
-jeder von uns irrt vom schnurgeraden Pfad ab. Seine Schrift hingegen
-vertritt das _Prinzip_. Seine Schrift entspricht keinem zufälligen
-gelegentlichen Fehltritt; sie dokumentiert mit schaudererregender
-Deutlichkeit den aufrichtig gehegten _Vorsatz_, jene natürliche
-Veranlagung, jenen Hang zum _Unmoralischen_, weil es das Unmoralische
-ist. Seine Schrift manifestiert jene exzeptionelle geistige Korruption,
-die wir Juristen mit dem Ausdruck „_moralischer Irrsinn_“ bezeichnen.
--- Ob sich gegen seinen Zustand etwas ausrichten läßt, vermag ich
-nicht zu sagen. _Wenn_ wir uns einen Hoffnungsschimmer bewahren wollen,
-und in erster Linie unser fleckenloses Gewissen als die Eltern des
-Betreffenden, so ist es Zeit für uns, mit Entschiedenheit und mit allem
-Ernste ans Werk zu gehen. -- Laß uns nicht länger streiten, Fanny! Ich
-fühle, wie schwer es dir wird. Ich weiß, daß du ihn vergötterst, weil
-er so ganz deinem genialischen Naturell entspricht. Sei stärker als du!
-Zeig’ dich deinem Sohn gegenüber endlich einmal selbstlos!
-
-=Frau Gabor=
-
-Hilf mir Gott, wie läßt sich dagegen aufkommen! -- Man muß ein _Mann_
-sein, um so sprechen zu können! Man muß ein _Mann_ sein, um sich so
-vom toten Buchstaben verblenden lassen zu können! Man muß ein _Mann_
-sein, um so blind das in die Augen Springende nicht zu sehn! -- Ich
-habe gewissenhaft und besonnen an Melchior gehandelt vom ersten Tag
-an, da ich ihn für die Eindrücke seiner Umgebung empfänglich fand.
-Sind wir denn für den _Zufall_ verantwortlich?! Dir kann morgen ein
-Dachziegel auf den Kopf fallen, und dann kommt dein Freund -- dein
-Vater, und statt deine Wunde zu pflegen, setzt er den Fuß auf dich!
--- Ich lasse mein Kind nicht vor meinen Augen hinmorden. Dafür bin
-ich seine Mutter. -- Es ist unfaßbar! Es ist gar nicht zu glauben!
-Was schreibt er denn in aller Welt! Ist’s denn nicht der eklatanteste
-Beweis für seine Harmlosigkeit, für seine Dummheit, für seine kindliche
-Unberührtheit, daß er so etwas schreiben kann! -- Man muß keine Ahnung
-von Menschenkenntnis besitzen -- man muß ein vollständig entseelter
-Bureaukrat oder ganz nur Beschränktheit sein, um hier moralische
-Korruption zu wittern! -- -- Sag’ was du willst. Wenn du Melchior in
-die Korrektionsanstalt bringst, dann sind _wir_ geschieden! Und dann
-laß mich sehen, ob ich nicht irgendwo in der Welt Hilfe und Mittel
-finde, mein Kind seinem Untergange zu entreißen.
-
-=Herr Gabor=
-
-Du wirst dich drein schicken müssen -- wenn nicht heute, dann morgen.
-Leicht wird es keinem, mit dem Unglück zu diskontieren. Ich werde dir
-zur Seite stehen, und wenn dein Mut zu erliegen droht, keine Mühe und
-kein Opfer scheuen, dir das Herz zu entlasten. Ich sehe die Zukunft so
-grau, so wolkig -- es fehlte nur noch, daß auch du mir noch verloren
-gingst.
-
-=Frau Gabor=
-
-Ich sehe ihn nicht wieder; ich sehe ihn nicht wieder. Er erträgt das
-Gemeine nicht. Er findet sich nicht ab mit dem Schmutz. Er zerbricht
-den Zwang; das entsetzlichste Beispiel schwebt ihm vor Augen! -- Und
-sehe ich ihn wieder -- Gott, Gott, dieses frühlingsfrohe Herz -- sein
-helles Lachen -- alles, alles -- seine kindliche Entschlossenheit,
-mutig zu kämpfen für Gut und Recht -- o dieser Morgenhimmel, wie ich
-ihn licht und rein in seiner Seele gehegt als mein höchstes Gut.....
-Halte dich an mich, wenn das Unrecht um Sühne schreit! Halte dich an
-mich! Verfahre mit mir wie du willst! _Ich_ trage die Schuld. -- Aber
-laß deine fürchterliche Hand von dem Kind weg.
-
-=Herr Gabor=
-
-_Er_ hat sich vergangen!
-
-=Frau Gabor=
-
-_Er hat sich nicht vergangen!_
-
-=Herr Gabor=
-
-Er hat sich vergangen! -- -- -- Ich hätte alles darum gegeben, es
-deiner grenzenlosen Liebe ersparen zu dürfen. -- -- Heute morgen kommt
-eine Frau zu mir, vergeistert, kaum ihrer Sprache mächtig, mit diesem
-Brief in der Hand -- einem Brief an ihre fünfzehnjährige Tochter. Aus
-dummer Neugierde habe sie ihn erbrochen; das Mädchen war nicht zu Haus.
--- In dem Briefe erklärt Melchior dem fünfzehnjährigen Kind, daß ihm
-seine Handlungsweise keine Ruhe lasse, er habe sich an ihr versündigt
-etc. etc., werde indessen natürlich für alles einstehen. Sie möge sich
-nicht grämen, auch wenn sie Folgen spüre. Er sei bereits auf dem Wege
-Hilfe zu schaffen; seine Relegation erleichtere ihm das. Der ehemalige
-Fehltritt könne noch zu ihrem Glücke führen -- und was des unsinnigen
-Gewäsches mehr ist.
-
-=Frau Gabor=
-
-Unmöglich!!
-
-=Herr Gabor=
-
-Der Brief ist gefälscht. Es liegt Betrug vor. Man sucht sich seine
-stadtbekannte Relegation nutzbar zu machen. Ich habe mit dem
-Jungen noch nicht gesprochen -- aber sieh bitte die Hand! Sieh die
-Schreibweise!
-
-=Frau Gabor=
-
-Ein unerhörtes, schamloses Bubenstück!
-
-=Herr Gabor=
-
-Das fürchte ich!
-
-=Frau Gabor=
-
-Nein, nein -- nie und nimmer!
-
-=Herr Gabor=
-
-Um so besser wird es für uns sein. -- Die Frau fragt mich händeringend,
-was sie tun solle. Ich sagte ihr, sie solle ihre fünfzehnjährige
-Tochter nicht auf Heuböden herumklettern lassen. Den Brief hat sie
-mir glücklicherweise dagelassen. -- Schicken wir Melchior nun auf ein
-anderes Gymnasium, wo er nicht einmal unter elterlicher Aufsicht steht,
-so haben wir in drei Wochen den nämlichen Fall -- neue Relegation --
-sein frühlingsfreudiges Herz gewöhnt sich nachgerade daran. -- Sag’
-mir, Fanny, wo soll ich hin mit dem Jungen?!
-
-=Frau Gabor=
-
--- In die Korrektionsanstalt --
-
-=Herr Gabor=
-
-In die ...?
-
-=Frau Gabor=
-
-... Korrektionsanstalt!
-
-=Herr Gabor=
-
-Er findet dort in erster Linie, was ihm zu Hause ungerechterweise
-vorenthalten wurde; eherne Disziplin, Grundsätze, und einen moralischen
-Zwang, dem er sich unter allen Umständen zu fügen hat. -- Im übrigen
-ist die Korrektionsanstalt nicht der Ort des Schreckens, den du
-dir darunter denkst. Das Hauptgewicht legt man in der Anstalt auf
-Entwicklung einer christlichen Denk- und Empfindungsweise. Der Junge
-lernt dort endlich, das _Gute_ wollen statt des _Interessanten_, und
-bei seinen Handlungen nicht sein Naturell, sondern das _Gesetz_ in
-Frage ziehen. -- -- Vor einer halben Stunde erhalte ich ein Telegramm
-von meinem Bruder, das mir die Aussagen der Frau bestätigt. Melchior
-hat sich ihm anvertraut und ihn um 200 Mark zur Flucht nach England
-gebeten ...
-
-=Frau Gabor=
-
-(bedeckt ihr Gesicht)
-
-Barmherziger Himmel!
-
-
-Vierte Szene
-
-_Korrektionsanstalt_. -- Ein Korridor. -- _Diethelm_, _Reinhold_,
-_Ruprecht_, _Helmuth_, _Gaston_ und _Melchior_.
-
-=Diethelm=
-
-Hier ist ein Zwanzigpfennigstück!
-
-=Reinhold=
-
-Was soll’s damit?
-
-=Diethelm=
-
-Ich leg es auf den Boden. Ihr stellt euch drum herum. Wer es trifft,
-der hat’s.
-
-=Ruprecht=
-
-Machst du nicht mit, Melchior?
-
-=Melchior=
-
-Nein, ich danke.
-
-=Helmuth=
-
-Der Joseph!
-
-=Gaston=
-
-Er kann nicht mehr. Er ist zur Rekreation hier.
-
-=Melchior=
-
-(für sich)
-
-Es ist nicht klug, daß ich mich separiere. Alles hält mich im Auge.
-Ich muß mitmachen -- oder die Kreatur geht zum Teufel. -- -- Die
-Gefangenschaft macht sie zu Selbstmördern. -- -- Brech ich den Hals,
-ist es gut! Komme ich davon, ist es auch gut! Ich kann nur gewinnen.
--- Ruprecht wird mein Freund, er besitzt hier Kenntnisse. -- Ich werde
-ihm die Kapitel von Juda’s Schnur Thamar, von Moab, von Loth und seiner
-Sippe, von der Königin Vasti und der Abisag von Sunem zum besten geben.
--- Er hat die verunglückteste Physiognomie auf der Abteilung.
-
-=Ruprecht=
-
-Ich hab’s!
-
-=Helmuth=
-
-Ich komme noch!
-
-=Gaston=
-
-Übermorgen vielleicht!
-
-=Helmuth=
-
-Gleich! -- Jetzt! -- O Gott, o Gott ...
-
-=Alle=
-
-~Summa -- summa cum laude!!~
-
-=Ruprecht=
-
-(das Stück nehmend)
-
-Danke schön!
-
-=Helmuth=
-
-Her, du Hund!
-
-=Ruprecht=
-
-Du Schweinetier?
-
-=Helmuth=
-
-Galgenvogel!!
-
-=Ruprecht=
-
-(schlägt ihn ins Gesicht)
-
--- Da! (rennt davon)
-
-=Helmuth=
-
-(ihm nachrennend)
-
-Den schlag ich tot!
-
-=Die Übrigen=
-
-(rennen hinterdrein)
-
-Hetz, Packan! Hetz! Hetz! Hetz!
-
-=Melchior=
-
-(allein, gegen das Fenster gewandt)
-
--- Da geht der Blitzableiter hinunter. -- Man muß ein Taschentuch
-drumwickeln. -- Wenn ich an sie denke, schießt mir immer das Blut in
-den Kopf. Und Moritz liegt mir wie Blei in den Füßen. -- -- -- Ich
-gehe zur Redaktion. Bezahlen Sie mich per Hundert; ich kolportiere!
--- sammle Tagesneuigkeiten -- schreibe -- lokal -- -- ethisch -- --
-psychophysisch ... man verhungert nicht mehr so leicht. Volksküche,
-Café Temperence. -- Das Haus ist sechzig Fuß hoch und der Verputz
-bröckelt ab ... Sie haßt mich -- sie haßt mich, weil ich sie der
-Freiheit beraubt. Handle ich, wie ich will, es bleibt Vergewaltigung.
--- Ich darf einzig hoffen, im Laufe der Jahre allmählich ... Über acht
-Tage ist Neumond. Morgen schmiere ich die Angeln. Bis Sonnabend muß ich
-unter allen Umständen wissen, wer den Schlüssel hat. -- Sonntag Abend
-in der Andacht kataleptischer Anfall -- will’s Gott, wird sonst niemand
-krank! -- Alles liegt so klar, als wär’ es geschehen, vor mir. Über
-das Fenstergesims gelang ich mit Leichtigkeit -- ein Schwung -- ein
-Griff -- aber man muß ein Taschentuch drumwickeln. -- -- Da kommt der
-Großinquisitor. (Ab nach links.)
-
-(Dr. _Prokrustes_ mit einem _Schlossermeister_ von rechts.)
-
-=Dr. Prokrustes=
-
-... Die Fenster liegen zwar im dritten Stock und unten sind Brennesseln
-gepflanzt. Aber was kümmert sich die Entartung um Brennesseln. --
-Vergangenen Winter stieg uns einer zur Dachluke hinaus und wir hatten
-die ganze Schererei mit dem Abholen, Hinbringen und Beisetzen ...
-
-=Der Schlossermeister=
-
-Wünschen Sie die Gitter aus Schmiedeeisen?
-
-=Dr. Prokrustes=
-
-Aus Schmiedeeisen -- und da man sie nicht einlassen kann, vernietet.
-
-
-Fünfte Szene
-
-Ein _Schlafgemach_. -- _Frau Bergmann_, _Ina Müller_ und Medizinalrat
-Dr. _v. Brausepulver_. -- _Wendla_ im Bett.
-
-=Dr. von Brausepulver=
-
-Wie alt sind Sie denn eigentlich?
-
-=Wendla=
-
-Vierzehn ein halb.
-
-=Dr. von Brausepulver=
-
-Ich verordne die _Blaud_’schen Pillen seit fünfzehn Jahren und habe in
-einer großen Anzahl von Fällen die eklatantesten Erfolge beobachtet.
-Ich ziehe sie dem Lebertran und den Stahlweinen vor. Beginnen sie mit
-drei bis vier Pillen pro Tag und steigern Sie so rasch Sie es eben
-vertragen. Dem Fräulein Elfriede Baronesse von Witzleben hatte ich
-verordnet, jeden dritten Tag um eine Pille zu steigern. Die Baronesse
-hatte mich mißverstanden und steigerte jeden Tag um drei Pillen. Nach
-kaum drei Wochen schon konnte sich die Baronesse mit ihrer Frau Mama
-zur Nachkur nach Pyrmont begeben. -- Von ermüdenden Spaziergängen und
-Extramahlzeiten dispensiere ich Sie. Dafür versprechen Sie mir, liebes
-Kind, sich um so fleißiger Bewegung machen zu wollen und ungeniert
-Nahrung zu fordern, sobald sich die Lust dazu wieder einstellt.
-Dann werden diese Herzbeklemmungen bald nachlassen -- und der
-Kopfschmerz, das Frösteln, der Schwindel -- und unsere schrecklichen
-Verdauungsstörungen. Fräulein Elfriede Baronesse von Witzleben genoß
-schon acht Tage nach begonnener Kur ein ganzes Brathühnchen mit jungen
-Pellkartoffeln zum Frühstück.
-
-=Frau Bergmann=
-
-Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten, Herr Medizinalrat?
-
-=Dr. von Brausepulver=
-
-Ich danke Ihnen, liebe Frau Bergmann. Mein Wagen wartet. Lassen Sie
-sich’s nicht so zu Herzen gehen. In wenigen Wochen ist unsere liebe
-kleine Patientin wieder frisch und munter wie eine Gazelle. Seien Sie
-getrost. -- Guten Tag, Frau Bergmann. Guten Tag, liebes Kind. Guten
-Tag, meine Damen. Guten Tag. (Frau Bergmann geleitet ihn vor die Tür.)
-
-=Ina=
-
-(am Fenster)
-
--- Nun färbt sich eure Platane schon wieder bunt. -- Siehst du’s vom
-Bett aus? -- Eine kurze Pracht, kaum recht der Freude wert, wie man
-sie so kommen und gehen sieht. -- Ich muß nun auch bald gehen. Müller
-erwartet mich vor der Post und ich muß zuvor noch zur Schneiderin.
-Mucki bekommt seine ersten Höschen, und Karl soll einen neuen
-Trikotanzug auf den Winter haben.
-
-=Wendla=
-
-Manchmal wird mir so selig -- alles Freude und Sonnenglanz. Hätt’ ich
-geahnt, daß es einem so wohl um’s Herz werden kann! Ich möchte hinaus,
-im Abendschein über die Wiesen gehn, Himmelsschlüssel suchen den Fluß
-entlang und mich an’s Ufer setzen und träumen ... Und dann kommt das
-_Zahnweh_, und ich meine, daß ich morgen am Tag sterben muß; mir wird
-heiß und kalt, vor den Augen verdunkelt sich’s, und dann flattert das
-Untier herein -- -- -- So oft ich aufwache, seh’ ich Mutter weinen. O,
-das tut mir so weh -- ich kann’s dir nicht sagen, Ina!
-
-=Ina=
-
--- Soll ich dir nicht das Kopfkissen höher legen?
-
-=Frau Bergmann=
-
-(kommt zurück)
-
-Er meint, das Erbrechen werde sich auch geben; und du sollst dann nur
-ruhig wieder aufstehn ... Ich glaube auch, es ist besser, wenn du bald
-wieder aufstehst, Wendla.
-
-=Ina=
-
-Bis ich das nächste Mal vorspreche, springst du vielleicht schon
-wieder im Haus herum. -- Leb’ wohl, Mutter. Ich muß durchaus noch zur
-Schneiderin. Behüt’ dich Gott, liebe Wendla. (Küßt sie) Recht, recht
-baldige Besserung!
-
-=Wendla=
-
-Leb’ wohl, Ina. -- Bring’ mir Himmelsschlüssel mit, wenn du
-wiederkommst. Adieu. Grüße deine Jungens von mir.
-
-(Ina ab.)
-
-=Wendla=
-
-Was hat er noch gesagt, Mutter, als er draußen war?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Er hat nichts gesagt. -- Er sagte, Fräulein von Witzleben habe auch zu
-Ohnmachten geneigt. Es sei das fast immer so bei der Bleichsucht.
-
-=Wendla=
-
-Hat er gesagt, Mutter, daß ich die Bleichsucht habe?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Du sollest Milch trinken und Fleisch und Gemüse essen, wenn der Appetit
-zurückgekehrt sei.
-
-=Wendla=
-
-O Mutter, Mutter, ich glaube, ich habe nicht die Bleichsucht....
-
-=Frau Bergmann=
-
-Du hast die Bleichsucht, Kind. Sei ruhig, Wendla, sei ruhig; du hast
-die Bleichsucht.
-
-=Wendla=
-
-Nein, Mutter, nein! Ich weiß es. Ich fühl’ es. Ich habe nicht die
-Bleichsucht. Ich habe die Wassersucht ...
-
-=Frau Bergmann=
-
-Du hast die Bleichsucht. Er hat ja gesagt, daß du die Bleichsucht hast.
-Beruhige dich, Mädchen. Es wird besser werden.
-
-=Wendla=
-
-Es wird nicht besser werden. Ich habe die Wassersucht. Ich muß sterben,
-Mutter. -- O Mutter, ich muß sterben!
-
-=Frau Bergmann=
-
-Du mußt nicht sterben, Kind! Du mußt nicht sterben..... Barmherziger
-Himmel, du mußt nicht sterben!
-
-=Wendla=
-
-Aber warum weinst du dann so jammervoll?
-
-=Frau Bergmann=
-
-Du mußt nicht sterben -- Kind! Du hast nicht die Wassersucht. Du hast
-ein Kind, Mädchen! Du hast ein Kind! -- O, warum hast du mir das getan!
-
-=Wendla=
-
--- ich habe dir nichts getan --
-
-=Frau Bergmann=
-
-O leugne nicht noch, Wendla! -- Ich weiß alles. Sieh’, ich hätt’ es
-nicht vermocht, dir ein Wort zu sagen. -- Wendla, meine Wendla ...!
-
-=Wendla=
-
-Aber das ist ja nicht möglich, Mutter. Ich bin ja doch nicht
-verheiratet ...!
-
-=Frau Bergmann=
-
-Großer, gewaltiger Gott --, das ist’s ja, daß du nicht verheiratet
-bist! Das ist ja das Fürchterliche! -- Wendla, Wendla, Wendla, was hast
-du getan!!
-
-=Wendla=
-
-Ich weiß es, weiß Gott, nicht mehr! Wir lagen im Heu.... Ich habe
-keinen Menschen auf dieser Welt geliebt als nur dich, Mutter.
-
-=Frau Bergmann=
-
-Mein Herzblatt --
-
-=Wendla=
-
-O Mutter, warum hast du mir nicht alles gesagt!
-
-=Frau Bergmann=
-
-Kind, Kind, laß uns einander das Herz nicht noch schwerer machen! Fasse
-dich! Verzweifle mir nicht, mein Kind! Einem vierzehnjährigen Mädchen
-das sagen! Sieh’, ich wäre eher darauf gefaßt gewesen, daß die Sonne
-erlischt. Ich habe an dir nicht anders getan, als meine liebe gute
-Mutter an mir getan hat. -- O laß uns auf den lieben Gott vertrauen,
-Wendla; laß uns auf Barmherzigkeit hoffen und das unsrige tun! Sieh’,
-_noch_ ist ja nichts geschehen, Kind. Und wenn nur wir jetzt nicht
-kleinmütig werden, dann wird uns auch der liebe Gott nicht verlassen.
--- Sei _mutig_, Wendla, sei _mutig_! -- -- So sitzt man einmal am
-Fenster und legt die Hände in den Schoß, weil sich doch noch alles zum
-Guten gewandt, und da bricht’s dann herein, daß einem gleich das Herz
-bersten möchte.... Wa -- was zitterst du?
-
-=Wendla=
-
-Es hat jemand geklopft.
-
-=Frau Bergmann=
-
-Ich habe nichts gehört, liebes Herz. -- (Geht an die Türe und öffnet.)
-
-=Wendla=
-
-Ach, ich hörte es ganz deutlich. -- -- Wer ist draußen?
-
-=Frau Bergmann=
-
--- Niemand -- -- Schmidts Mutter aus der Gartenstraße. -- -- -- Sie
-kommen eben recht, Mutter Schmidtin.
-
-
-Sechste Szene
-
-Winzer und Winzerinnen im _Weinberg_. -- Im Westen sinkt die Sonne
-hinter die Berggipfel. Helles Glockengeläute vom Tal herauf. --
-_Hänschen Rilow_ und _Ernst Röbel_ im höchstgelegenen Rebstück sich
-unter den überhängenden Felsen im welkenden Grase wälzend.
-
-=Ernst=
-
--- Ich habe mich überarbeitet.
-
-=Hänschen=
-
-Laß uns nicht traurig sein! -- Schade um die Minuten.
-
-=Ernst=
-
-Man sieht sie hängen und kann nicht mehr -- und morgen sind sie
-gekeltert.
-
-=Hänschen=
-
-Ermüdung ist mir so unerträglich, wie mir’s der Hunger ist.
-
-=Ernst=
-
-Ach, ich kann nicht mehr.
-
-=Hänschen=
-
-Diese leuchtende Muskateller noch!
-
-=Ernst=
-
-Ich bringe die Elastizität nicht mehr auf.
-
-=Hänschen=
-
-Wenn ich die Ranke beuge, baumelt sie uns von Mund zu Mund. Keiner
-braucht sich zu rühren. Wir beißen die Beeren ab und lassen den Kamm
-zum Stock zurückschnellen.
-
-=Ernst=
-
-Kaum entschließt man sich, und siehe, so dämmert auch schon die
-dahingeschwundene Kraft wieder auf.
-
-=Hänschen=
-
-Dazu das flammende Firmament -- und die Abendglocken. -- Ich verspreche
-mir wenig mehr von der Zukunft.
-
-=Ernst=
-
--- Ich sehe mich manchmal schon als hochwürdigen Pfarrer -- ein
-gemütvolles Hausmütterchen, eine reichhaltige Bibliothek und Ämter
-und Würden in allen Kreisen. Sechs Tage hat man um nachzudenken, und
-am siebenten tut man den Mund auf. Beim Spazierengehen reichen einem
-Schüler und Schülerinnen die Hand, und wenn man nach Hause kommt,
-dampft der Kaffee, der Topfkuchen wird aufgetragen, und durch die
-Gartentür bringen die Mädchen Äpfel herein. -- Kannst du dir etwas
-Schöneres denken?
-
-=Hänschen=
-
-Ich denke mir halbgeschlossene Wimpern, halbgeöffnete Lippen und
-türkische Draperien. -- Ich glaube nicht an das Pathos. Sieh, unsere
-Alten zeigen uns lange Gesichter, um ihre Dummheiten zu bemänteln.
-Untereinander nennen sie sich Schafsköpfe wie wir. Ich kenne das. --
-Wenn ich Millionär bin, werde ich dem lieben Gott ein Denkmal setzen.
--- Denke dir die Zukunft als Milchsette mit Zucker und Zimt. Der eine
-wirft sie um und heult, der andere rührt alles durcheinander und
-schwitzt. Warum nicht abschöpfen? -- Oder glaubst du nicht, daß es sich
-lernen ließe.
-
-=Ernst=
-
--- Schöpfen wir ab!
-
-=Hänschen=
-
-Was bleibt, fressen die Hühner. -- Ich habe meinen Kopf nun schon aus
-so mancher Schlinge gezogen....
-
-=Ernst=
-
-Schöpfen wir ab, Hänschen! -- Warum lachst du?
-
-=Hänschen=
-
-Fängst du schon wieder an?
-
-=Ernst=
-
-Einer muß ja doch anfangen.
-
-=Hänschen=
-
-Wenn wir in dreißig Jahren an einen Abend wie heute zurückdenken,
-erscheint er uns vielleicht unsagbar schön!
-
-=Ernst=
-
-Und wie macht sich jetzt alles so ganz von selbst!
-
-=Hänschen=
-
-Warum also nicht!
-
-=Ernst=
-
-Ist man zufällig allein -- dann weint man vielleicht gar.
-
-=Hänschen=
-
-Laß uns nicht traurig sein! -- (Er küßt ihn auf den Mund.)
-
-=Ernst=
-
-(küßt ihn)
-
-Ich ging von Hause fort mit dem Gedanken, dich nur eben zu sprechen und
-wieder umzukehren.
-
-=Hänschen=
-
-Ich erwartete dich. -- Die Tugend kleidet nicht schlecht, aber es
-gehören imposante Figuren hinein.
-
-=Ernst=
-
-Uns schlottert sie noch um die Glieder. -- Ich wäre nicht ruhig
-geworden, wenn ich dich nicht getroffen hätte. -- Ich liebe dich,
-Hänschen, wie ich nie eine Seele geliebt habe.
-
-=Hänschen=
-
-Laß uns nicht traurig sein! -- Wenn wir in dreißig Jahren zurückdenken,
-spotten wir ja vielleicht! -- Und jetzt ist alles so schön. Die Berge
-glühen; die Trauben hängen uns in den Mund und der Abendwind streicht
-an den Felsen hin wie ein spielendes Schmeichelkätzchen....
-
-
-Siebente Szene
-
-_Helle Novembernacht_. An Busch und Bäumen raschelt das dürre Laub.
-Zerrissene Wolken jagen unter dem Mond hin. -- _Melchior_ klettert über
-die _Kirchhofmauer_.
-
-=Melchior=
-
-(auf der Innenseite herabspringend)
-
-Hierher folgt mir die Meute nicht. -- Derweil sie Bordelle absuchen,
-kann ich aufatmen und mir sagen, wie weit ich bin....
-
-Der Rock in Fetzen, die Taschen leer -- vor dem Harmlosesten bin ich
-nicht sicher. -- Tagsüber muß ich im Walde weiter zu kommen suchen ...
-
-Ein Kreuz habe ich niedergestampft. -- Die Blümchen wären heut’ noch
-erfroren! -- Ringsum ist die Erde kahl....
-
-Im Totenreich! --
-
-Aus der Dachluke zu klettern war so schwer nicht wie dieser Weg! --
-Darauf nur war ich nicht gefaßt gewesen....
-
-Ich hänge über dem Abgrund -- alles versunken, verschwunden -- O wär’
-ich dort geblieben!
-
-Warum sie um meinetwillen! -- Warum nicht der Verschuldete! --
-Unfaßbare Vorsicht! -- Ich hätte Steine geklopft und gehungert ...!
-
-Was hält mich noch aufrecht? -- Verbrechen folgt auf Verbrechen.
-Ich bin dem Morast überantwortet. Nicht so viel Kraft mehr, um
-abzuschließen ...
-
-Ich war nicht schlecht! -- Ich war nicht schlecht! -- Ich war nicht
-schlecht ...
-
--- So neiderfüllt ist noch kein Sterblicher über Gräber gewandelt.
--- Pah -- ich brächte ja den Mut nicht auf! -- O, wenn mich Wahnsinn
-umfinge -- in dieser Nacht noch!
-
-Ich muß drüben unter den Letzten suchen! -- Der Wind pfeift auf
-jedem Stein aus einer anderen Tonart -- eine beklemmende Symphonie!
--- Die morschen Kränze reißen entzwei und baumeln an ihren langen
-Fäden stückweise um die Marmorkreuze -- ein Wald von Vogelscheuchen!
--- Vogelscheuchen auf allen Gräbern, eine greulicher als die andere
--- haushohe, vor denen die Teufel Reißaus nehmen. -- Die goldenen
-Lettern blinken so kalt.... Die Trauerweide ächzt auf und fährt mit
-Riesenfingern über die Inschrift....
-
--- Ein betendes Engelskind -- Eine Tafel --
-
-Eine Wolke wirft ihren Schatten herab. -- Wie das hastet und heult! --
-Wie ein Heereszug jagt es im Osten empor. -- Kein Stern am Himmel --
-
-Immergrün um das Gärtlein? -- Immergrün? -- -- Mädchen ...
-
-[Illustration:
- Hier ruht in Gott
-
- Wendla Bergmann,
-
- geboren am 5. Mai 1878,
- gestorben an der Bleichsucht den
- 27. Oktober 1892.
-
- Selig sind, die reinen Herzens sind ...
-]
-
-Und ich bin ihr Mörder. -- Ich bin ihr Mörder! -- Mir bleibt die
-Verzweiflung. -- Ich darf hier nicht weinen. -- Fort von hier! -- Fort
---
-
-=Moritz Stiefel=
-
-(seinen Kopf unter dem Arm, stapft über die Gräber her)
-
-Einen Augenblick, Melchior! Die Gelegenheit wiederholt sich so bald
-nicht. Du ahnst nicht, was mit Ort und Stunde zusammenhängt....
-
-=Melchior=
-
-Wo kommst du her?!
-
-=Moritz=
-
-Von drüben -- von der Mauer her. Du hast mein Kreuz umgeworfen. Ich
-liege an der Mauer. -- Gib mir die Hand, Melchior....
-
-=Melchior=
-
-Du bist _nicht_ Moritz Stiefel!
-
-=Moritz=
-
-Gib mir die Hand. Ich bin überzeugt, du wirst mir Dank wissen.
-So leicht wird’s dir nicht mehr! Es ist ein seltsam glückliches
-Zusammentreffen. -- Ich bin extra heraufgekommen....
-
-=Melchior=
-
-Schläfst du denn nicht?
-
-=Moritz=
-
-Nicht was ihr Schlafen nennt. -- Wir sitzen auf Kirchtürmen, auf hohen
-Dachgiebeln -- wo immer wir wollen....
-
-=Melchior=
-
-Ruhelos?
-
-=Moritz=
-
-Vergnügungshalber. -- Wir streifen um Maibäume, um einsame
-Waldkapellen. Über Volksversammlungen schweben wir hin, über
-Unglücksstätten, Gärten, Festplätze. -- In den Wohnhäusern kauern wir
-im Kamin und hinter den Bettvorhängen. -- Gib mir die Hand. -- Wir
-verkehren nicht untereinander, aber wir sehen und hören alles, was in
-der Welt vor sich geht. Wir wissen, daß alles Dummheit ist, was die
-Menschen tun und erstreben, und lachen darüber.
-
-=Melchior=
-
-Was hilft das?
-
-=Moritz=
-
-Was braucht es zu helfen? -- Wir sind für nichts mehr erreichbar, nicht
-für Gutes noch Schlechtes. Wir stehen hoch, hoch über dem Irdischen --
-jeder für sich allein. Wir verkehren nicht miteinander, weil uns das zu
-langweilig ist. Keiner von uns hegt noch etwas, das ihm abhanden kommen
-könnte. Über Jammer oder Jubel sind wir gleich unermeßlich erhaben. Wir
-sind mit uns zufrieden und das ist alles! -- Die Lebenden verachten wir
-unsagbar, kaum daß wir sie bemitleiden. Sie erheitern uns mit ihrem
-Getue, weil sie als Lebende tatsächlich nicht zu bemitleiden sind. Wir
-lächeln bei ihren Tragödien -- jeder für sich -- und stellen unsere
-Betrachtungen an. -- Gib mir die Hand! Wenn du mir die Hand gibst,
-fällst du um vor Lachen über dem Empfinden, mit dem du mir die Hand
-gibst....
-
-=Melchior=
-
-Ekelt dich das nicht an?
-
-=Moritz=
-
-Dazu stehen wir zu hoch. Wir lächeln! -- An meinem Begräbnis war ich
-unter den Leidtragenden. Ich habe mich recht gut unterhalten. Das
-ist Erhabenheit, Melchior! Ich habe geheult wie keiner, und schlich
-zur Mauer, um mir vor Lachen den Bauch zu halten. Unsere unnahbare
-Erhabenheit ist tatsächlich der einzige Gesichtspunkt, unter dem der
-Quark sich verdauen läßt.... Auch über mich will man gelacht haben, eh’
-ich mich aufschwang!
-
-=Melchior=
-
--- Mich lüstet’s nicht, über mich zu lachen.
-
-=Moritz=
-
-... Die Lebenden sind als solche wahrhaftig nicht zu bemitleiden!
--- Ich gestehe, ich hätte es auch nie gedacht. Und jetzt ist es mir
-unfaßbar, wie man so naiv sein kann. Jetzt durchschaue ich den Trug so
-klar, daß auch nicht ein Wölkchen bleibt. -- Wie magst du nur zaudern,
-Melchior! Gib mir die Hand! Im Halsumdrehen stehst du himmelhoch über
-dir. -- Dein Leben ist Unterlassungssünde....
-
-=Melchior=
-
--- Könnt ihr vergessen?
-
-=Moritz=
-
-Wir können alles. Gib mir die Hand! Wir können die Jugend bedauern, wie
-sie ihre Bangigkeit für Idealismus hält, und das Alter, wie ihm vor
-stoischer Überlegenheit das Herz brechen will. Wir sehen den Kaiser
-vor Gassenhauern und den Lazzaroni vor der jüngsten Posaune beben.
-Wir ignorieren die Maske des Komödianten und sehen den Dichter im
-Dunkeln die Maske vornehmen. Wir erblicken den Zufriedenen in seiner
-Bettelhaftigkeit, im Mühseligen und Beladenen den Kapitalisten. Wir
-beobachten Verliebte und sehen sie voreinander erröten, ahnend, daß sie
-betrogene Betrüger sind. Eltern sehen wir Kinder in die Welt setzen,
-um ihnen zurufen zu können: Wie glücklich ihr seid, solche Eltern zu
-haben! -- und sehen die Kinder hingehn und desgleichen tun. Wir können
-die Unschuld in ihren einsamen Liebesnöten, die Fünfgroschendirne
-über der Lektüre Schillers belauschen.... Gott und den Teufel sehen
-wir sich voreinander blamieren und hegen in uns das durch nichts zu
-erschütternde Bewußtsein, daß beide betrunken sind.... Eine Ruhe, eine
-Zufriedenheit. Melchior --! Du brauchst mir nur den kleinen Finger zu
-reichen. -- Schneeweiß kannst du werden, eh’ sich dir der Augenblick
-wieder so günstig zeigt!
-
-=Melchior=
-
--- Wenn ich einschlage, Moritz, so geschieht es aus Selbstverachtung.
--- Ich sehe mich geächtet. Was mir Mut verlieh, liegt im Grabe.
-Edler Regungen vermag ich mich nicht mehr für würdig zu halten --
-und erblicke nichts, nichts, das sich mir auf meinem Niedergang noch
-entgegenstellen sollte. -- Ich bin mir die verabscheuungswürdigste
-Kreatur des Weltalls....
-
-=Moritz=
-
-Was zauderst du ...?
-
-(Ein vermummter Herr tritt auf)
-
-=Der vermummte Herr= (zu Melchior)
-
-Du bebst ja vor Hunger. Du bist gar nicht befähigt, zu urteilen. -- (Zu
-Moritz) Gehen Sie.
-
-=Melchior=
-
-Wer sind Sie?
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Das wird sich weisen. -- (Zu Moritz) Verschwinden Sie! -- Was haben Sie
-hier zu tun! -- Warum haben Sie denn den Kopf nicht auf?
-
-=Moritz=
-
-Ich habe mich erschossen.
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Dann bleiben Sie doch, wo Sie hingehören. Dann sind Sie ja vorbei!
-Belästigen Sie uns hier nicht mit Ihrem Grabgestank. Unbegreiflich
--- sehen Sie doch nur Ihre Finger an. Pfui Teufel noch mal! Das
-zerbröckelt schon.
-
-=Moritz=
-
-Schicken Sie mich bitte nicht fort....
-
-=Melchior=
-
-Wer sind Sie, mein Herr??
-
-=Moritz=
-
-Schicken Sie mich nicht fort! Ich bitte Sie. Lassen Sie mich hier noch
-ein Weilchen teilnehmen; ich will Ihnen in nichts entgegensein. -- --
-Es ist unten so schaurig.
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Warum prahlen Sie denn dann mit _Erhabenheit_?! -- Sie wissen doch,
-daß das Humbug ist -- saure Trauben! Warum _lügen_ Sie geflissentlich,
-Sie -- Hirngespinst! -- -- Wenn Ihnen eine so schätzenswerte Wohltat
-damit geschieht, so bleiben Sie meinetwegen. Aber hüten Sie sich
-vor Windbeuteleien, lieber Freund -- und lassen Sie mir bitte Ihre
-Leichenhand aus dem Spiel!
-
-=Melchior=
-
-Sagen Sie mir endlich, wer Sie sind, oder nicht?!
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Nein. -- Ich mache dir den Vorschlag, dich mir anzuvertrauen. Ich würde
-fürs erste für dein Fortkommen sorgen.
-
-=Melchior=
-
-Sie sind -- mein Vater?!
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Würdest du deinen Herrn Vater nicht an der Stimme erkennen?
-
-=Melchior=
-
-Nein.
-
-=Der vermummte Herr=
-
--- Dein Herr Vater sucht Trost zur Stunde in den kräftigen Armen
-deiner Mutter. -- Ich erschließe dir die Welt. Deine momentane
-Fassungslosigkeit entspringt deiner miserablen Lage. Mit einem warmen
-Abendessen im Leib spottest du ihrer.
-
-=Melchior= (für sich)
-
-Es kann nur _einer_ der Teufel sein! -- (laut) Nach dem, was ich
-verschuldet, kann mir ein warmes Abendessen meine Ruhe nicht
-wiedergeben!
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Es kommt auf das Abendessen an! -- So viel kann ich dir sagen, daß die
-Kleine vorzüglich geboren hätte. Sie war musterhaft gebaut. Sie ist
-lediglich den Abortivmitteln der Mutter Schmidtin erlegen. -- -- Ich
-führe dich unter Menschen. Ich gebe dir Gelegenheit, deinen Horizont in
-der fabelhaftesten Weise zu erweitern. Ich mache dich ausnahmslos mit
-allem bekannt, was die Welt Interessantes bietet.
-
-=Melchior=
-
-Wer sind Sie? Wer sind Sie? -- Ich kann mich einem Menschen nicht
-anvertrauen, den ich nicht kenne.
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Du lernst mich nicht kennen, ohne dich mir anzuvertrauen.
-
-=Melchior=
-
-Glauben Sie?
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Tatsache! -- Übrigens bleibt dir ja keine Wahl.
-
-=Melchior=
-
-Ich kann jeden Moment meinem Freunde hier die Hand reichen.
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Dein Freund ist ein Scharlatan. Es lächelt keiner, der noch einen
-Pfennig in bar besitzt. Der erhabene Humorist ist das erbärmlichste,
-bedauernswerteste Geschöpf der Schöpfung!
-
-=Melchior=
-
-Sei der Humorist, was er sei; Sie sagen mir, wer Sie sind, oder ich
-reiche dem Humoristen die Hand!
-
-=Der vermummte Herr=
-
--- Nun?!
-
-=Moritz=
-
-Er hat recht, Melchior. Ich habe bramarbasiert. Laß dich von ihm
-traktieren und nütz’ ihn aus. Mag er noch so vermummt sein -- er ist es
-wenigstens!
-
-=Melchior=
-
-Glauben Sie an Gott?
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Je nach Umständen.
-
-=Melchior=
-
-Wollen Sie mir sagen, wer das Pulver erfunden hat?
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Berthold Schwarz -- alias Konstantin Anklitzen -- um 1330
-Franziskanermönch zu Freiburg im Breisgau.
-
-=Moritz=
-
-Was gäbe ich darum, wenn er es hätte bleiben lassen!
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Sie würden sich eben erhängt haben!
-
-=Melchior=
-
-Wie denken Sie über Moral?
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Kerl -- bin ich dein Schulknabe?!
-
-=Melchior=
-
-Weiß ich, was Sie sind!!
-
-=Moritz=
-
-Streitet nicht! -- Bitte, streitet nicht. Was kommt dabei heraus! --
-Wozu sitzen wir, zwei Lebendige und ein Toter, nachts um zwei Uhr hier
-auf dem Kirchhof beisammen, wenn wir streiten wollen wie Saufbrüder!
--- Es soll mir ein Vergnügen sein, der Verhandlung mit beiwohnen zu
-dürfen. -- Wenn ihr streiten wollt, nehme ich meinen Kopf unter den Arm
-und gehe.
-
-=Melchior=
-
-Du bist immer noch derselbe Angstmeier!
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Das Gespenst hat nicht Unrecht. Man soll seine Würde nicht außer
-Acht lassen. -- Unter Moral verstehe ich das reelle Produkt zweier
-imaginärer Größen. Die imaginären Größen sind _Sollen_ und _Wollen_.
-Das Produkt heißt Moral und läßt sich in seiner Realität nicht leugnen.
-
-=Moritz=
-
-Hätten Sie mir das doch vorher gesagt! -- Meine Moral hat mich in den
-Tod gejagt. Um meiner lieben Eltern willen griff ich zum Mordgewehr.
-„Ehre Vater und Mutter, auf daß du lange lebest.“ An mir hat sich die
-Schrift phänomenal blamiert.
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Geben Sie sich keinen Illusionen hin, lieber Freund! Ihre lieben Eltern
-wären so wenig daran gestorben wie Sie. Rigoros beurteilt würden sie ja
-lediglich aus gesundheitlichem Bedürfnis getobt und gewettert haben.
-
-=Melchior=
-
-Das mag soweit ganz richtig sein. -- Ich kann Ihnen aber mit
-Bestimmtheit sagen, mein Herr, daß, wenn ich Moritz vorhin ohne
-weiteres die Hand gereicht hätte, einzig und allein meine Moral die
-Schuld trüge.
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Dafür bist du eben nicht Moritz!
-
-=Moritz=
-
-Ich glaube doch nicht, daß der Unterschied so wesentlich ist -- zum
-mindesten nicht so zwingend, daß Sie nicht auch mir zufällig hätten
-begegnen dürfen, verehrter _Unbekannter_, als ich damals, das Pistol in
-der Tasche, durch die Erlenpflanzungen trabte.
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Erinnern Sie sich meiner denn nicht? Sie standen doch wahrlich auch
-im letzten Augenblick noch zwischen _Tod_ und _Leben_. -- Übrigens
-ist hier meines Erachtens doch wohl nicht ganz der Ort, eine so
-tiefgreifende Debatte in die Länge zu ziehen.
-
-=Moritz=
-
-Gewiß, es wird kühl, meine Herren! -- Man hat mir zwar meinen
-Sonntagsanzug angezogen, aber ich trage weder Hemd noch Unterhosen.
-
-=Melchior=
-
-Leb wohl, lieber Moritz. Wo dieser Mensch mich hinführt, weiß ich
-nicht. Aber er ist ein Mensch ...
-
-=Moritz=
-
-Laß mich’s nicht entgelten, Melchior, daß ich dich umzubringen suchte!
-Es war alte Anhänglichkeit. -- Zeitlebens wollte ich nur klagen und
-jammern dürfen, wenn ich dich nun noch einmal hinausbegleiten könnte!
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Schließlich hat Jeder sein Teil -- _Sie_ das beruhigende Bewußtsein,
-_nichts_ zu haben -- _du_ den enervirenden Zweifel an _allem_. -- Leben
-Sie wohl.
-
-=Melchior=
-
-Leb wohl, Moritz! Nimm meinen herzlichen Dank dafür, daß du mir noch
-erschienen. Wie manchen frohen ungetrübten Tag wir nicht miteinander
-verlebt haben in den vierzehn Jahren! Ich verspreche dir, Moritz,
-mag nun werden was will, mag ich in den kommenden Jahren zehnmal ein
-Anderer werden, mag es aufwärts oder abwärts mit mir gehn, dich werde
-ich nie vergessen ...
-
-=Moritz=
-
-Dank, dank, Geliebter.
-
-=Melchior=
-
-... und wenn ich einmal ein alter Mann in grauen Haaren bin, dann
-stehst gerade du mir vielleicht wieder näher als alle Mitlebenden.
-
-=Moritz=
-
-Ich danke dir. -- Glück auf den Weg, meine Herren! -- Lassen Sie sich
-nicht länger aufhalten.
-
-=Der vermummte Herr=
-
-Komm, Kind! -- (Er legt seinen Arm in denjenigen Melchiors und entfernt
-sich mit ihm über die Gräber hin.)
-
-=Moritz= (allein)
-
--- Da sitze ich nun mit meinem Kopf im Arm. -- -- Der Mond verhüllt
-sein Gesicht, entschleiert sich wieder und sieht um kein Haar
-gescheiter aus. -- -- So kehre ich denn zu meinem Plätzchen zurück,
-richte mein Kreuz auf, das mir der Tollkopf so rücksichtslos
-niedergestampft, und wenn alles in Ordnung, leg’ ich mich wieder auf
-den Rücken, wärme mich an der Verwesung und lächle ...
-
-
-
-
-Albert Langen Verlag für Litteratur u. Kunst München
-
-
- =Frank Wedekind=
-
- =Der Liebestrank=
-
- Schwank in drei Aufzügen
-
- Geheftet 2 Mark
-
-=Die Nation:=
-
-Der Autor gehört zu den außer der Reihe stehenden, lebhaften und
-kraftgenialischen Geistern, deren unsere Literatur manche hat, bei
-keinem kunstverständigen Beurteiler wird er darum als Poseur, bei
-niemanden seine Art als gemacht, manieriert und eingelernt erscheinen.
-Vielmehr ist er voll einer absonderlichen, wunderlichen Eigenart, eine
-_Natur_, wenn man dies Wort auch einmal auf einen Sprung, eine Laune,
-eine Bizarrerie anwenden darf. Für die Kunst ist er voll Bedeutung,
-Anregung und Reiz ...
-
-
- =Frank Wedekind=
-
- =Die junge Welt=
-
- Komödie in drei Aufzügen
-
- Geheftet 2 Mark
-
-=Die Gesellschaft:=
-
-„_Die junge Welt_“ ist das bühnengerechteste von Wedekinds Dramen.
-Junge Mädchen geben sich in der Pension das Versprechen des
-Cölibats; natürlich hält es keine. Die Komödie erzählt das mit einem
-fast liebenswürdigen Humor und mit all der Menschenkenntnis und
-treffsicheren Charakterkunst dieses eigenartigsten unter den Dichtern
-von heute. Erzählen läßt sich das nicht, auch nicht beschreiben. Aber
-es ist sehr lustig. Es ist ein wildes Durcheinander von übermütigen
-Einfällen, tollen Gliederverrenkungen in der Charakteristik,
-Karikaturen, die wie Porträts aussehen -- kurz, ein Lachkabinett, aber
-ganz neuer Art.
-
-
- =Frank Wedekind=
-
- =Marquis von Keith=
-
- =(Münchener Szenen)=
-
- Schauspiel in fünf Aufzügen
-
- Geheftet 2 Mark 50 Pf.
-
- Elegant gebunden 3 Mark 50 Pf.
-
-=Die Nation:=
-
-Wedekind hat die irdische Unbekümmertheit, das Freisein von zeitlicher
-Satzung. Er steht außerhalb der Gesellschaft, fast außerhalb der Welt.
-Ich sagte das hier vor einem Jahr und muß es verstärken. Er ist mit
-seinen Lebensinhalten einer der tiefsten Humoristen, die sich heut
-irgendwo betätigen.
-
-
- =Frank Wedekind=
-
- =Der Kammersänger=
-
- Drei Szenen
-
- =Fünftes Tausend=
-
- Geheftet 1 Mark
-
- Elegant gebunden 2 Mark
-
-=Brünner Sonntagszeitung:=
-
-Von groteskem, überlebensgroßem Humor und geißelnder Satire und Ironie
-sind die unter dem Titel „_Der Kammersänger_“ (A. Langen) vereinigten
-Szenen von Frank Wedekind erfüllt. Gut dargestellt müßten diese ohne
-jedwede Komposition aneinander gereihten Szenen von mächtiger Wirkung
-sein. Schon in der Lektüre wirkt das Werk ganz eigentümlich. Man
-empfindet ähnliches wie beim Betrachten der Zeichnungen des dämonischen
-Th. Th. Heine.
-
-
- =Frank Wedekind=
-
- =Feuerwerk=
-
- Erzählungen
-
- =Drittes Tausend=
-
- Preis geheftet 3 Mark
-
- Elegant gebunden 4 Mark
-
-=Pfälzische Presse:=
-
-... Dabei ist Wedekind im Unterschied von vielen jener Dekadenten
-frisch, nicht ohne Humor, und von strotzender Gesundheit in der Art
-sich zu geben. Meisterstücke in ihrer Art sind einige der kleinen
-Novellen, wie „Der Brand von Egliswyl“, „Rabbi Esra“, „Der greise
-Freier“ u. a.
-
-
- =Frank Wedekind=
-
- =So ist das Leben=
-
- Schauspiel in fünf Akten
-
- Preis geheftet 2 Mark
-
- Elegant gebunden 3 Mark
-
-„_So ist das Leben_“ behandelt die Schicksale eines entthronten Königs,
-der in die unangenehme Lage kommt, sich vor einem bürgerlichen Gericht
-wegen _Majestätsbeleidigung_ verantworten zu müssen. =Die aktuelle
-Frage der Majestätsbeleidigungsprozesse= erfährt auf diese Weise in dem
-Drama eine _verblüffend vielseitige Beleuchtung_.
-
- Druck von Hesse & Becker in Leipzig
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Frühlings Erwachen, by Frank Wedekind
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FRÜHLINGS ERWACHEN ***
-
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+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 45091 *** + +Anmerkungen zur Transkription: Im Original gesperrt gedruckter Text +wurde mit _ markiert. Im Original in Antiqua gedruckter Text wurde mit +~ markiert. Im Original fett gedruckter Text wurde mit = markiert. + + + + + Frühlings Erwachen + + + + + Übersetzungs- und Aufführungsrecht vorbehalten. Nachdruck + verboten + + Den Bühnen und Vereinen gegenüber Manuskript + + Das Aufführungsrecht ist ausschließlich zu erwerben + durch _Albert Langen_, Verlag und Bühnenvertrieb, + München + + + + + Frank Wedekind + + Frühlings Erwachen + + Eine Kindertragödie + + Elfte bis fünfzehnte Auflage + + [Illustration] + + Albert Langen + Verlag für Litteratur und Kunst + München 1907 + + + + +Von _Frank Wedekind_ erschienen im Verlage von Albert Langen: + + + _Erdgeist_ Tragödie 3. Auflage + _Die Fürstin Russalka_ Novellen -- Gedichte -- Theater Vergriffen + _Der Kammersänger_ Drei Szenen 5. Auflage + _Der Liebestrank_ Schwank + _Die junge Welt_ Komödie + _Marquis von Keith_ Schauspiel + _So ist das Leben_ Schauspiel + _Frühlings Erwachen_ + Eine Kindertragödie 15. Auflage + _Mine-Haha_ oder über die körperliche Erziehung + der jungen Mädchen 5. Tausend + _Die vier Jahreszeiten_ Gedichte 2. Tausend + _Feuerwerk_ Erzählungen 3. Tausend + _Totentanz_ Drei Szenen 4. Tausend + + + + + Dem vermummten Herrn + der Verfasser + + + + +Erster Akt + + +Erste Szene + + +Wohnzimmer + +=Wendla= + +Warum hast du mir das Kleid so lang gemacht, Mutter? + +=Frau Bergmann= + +Du wirst vierzehn Jahr heute! + +=Wendla= + +Hätt’ ich gewußt, daß du mir das Kleid so lang machen werdest, ich wäre +lieber nicht vierzehn geworden. + +=Frau Bergmann= + +Das Kleid ist nicht zu lang, Wendla. Was willst du denn! Kann ich +dafür, daß mein Kind mit jedem Frühjahr wieder zwei Zoll größer ist. +Du darfst doch als ausgewachsenes Mädchen nicht in Prinzeßkleidchen +einhergehen. + +=Wendla= + +Jedenfalls steht mir mein Prinzeßkleidchen besser als diese +Nachtschlumpe. -- Laß mich’s noch einmal tragen, Mutter! Nur noch den +Sommer lang. Ob ich nun vierzehn zähle oder fünfzehn, dies Bußgewand +wird mir immer noch recht sein. -- Heben wir’s auf bis zu meinem +nächsten Geburtstag; jetzt würd’ ich doch nur die Litze heruntertreten. + +=Frau Bergmann= + +Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich würde dich ja gerne so +behalten, Kind, wie du gerade bist. Andere Mädchen sind stakig und +plump in deinem Alter. Du bist das Gegenteil. -- Wer weiß, wie du sein +wirst, wenn sich die andern entwickelt haben. + +=Wendla= + +Wer weiß -- vielleicht werde ich nicht mehr sein. + +=Frau Bergmann= + +Kind, Kind, wie kommst du auf die Gedanken! + +=Wendla= + +Nicht, liebe Mutter; nicht traurig sein! + +=Frau Bergmann= (sie küssend) + +Mein einziges Herzblatt! + +=Wendla= + +Sie kommen mir so des abends, wenn ich nicht einschlafe. Mir ist gar +nicht traurig dabei, und ich weiß, daß ich dann um so besser schlafe. +-- Ist es sündhaft, Mutter, über derlei zu sinnen? + +=Frau Bergmann= + +Geh’ denn und häng’ das Bußgewand in den Schrank! Zieh’ in Gottes Namen +dein Prinzeßkleidchen wieder an! -- Ich werde dir gelegentlich eine +Handbreit Volants unten ansetzen. + +=Wendla= + +(das Kleid in Schrank hängend) + +Nein, da möcht’ ich schon lieber gleich vollends zwanzig sein ...! + +=Frau Bergmann= + +Wenn du nur nicht zu kalt hast! -- Das Kleidchen war dir ja seinerzeit +reichlich lang; aber ... + +=Wendla= + +Jetzt, wo der Sommer kommt? -- O Mutter, in den Kniekehlen bekommt +man auch als Kind keine Diphtheritis! Wer wird so kleinmütig sein. +In meinen Jahren friert man noch nicht -- am wenigsten an die Beine. +Wär’s etwa besser, wenn ich zu heiß hätte, Mutter? -- Dank’ es dem +lieben Gott, wenn sich dein Herzblatt nicht eines morgens die Ärmel +wegstutzt und dir so zwischen Licht abends ohne Schuhe und Strümpfe +entgegentritt! -- Wenn ich mein Bußgewand trage, kleide ich mich +darunter wie eine Elfenkönigin ... Nicht schelten, Mütterchen! Es +sieht’s dann ja niemand mehr. + + +Zweite Szene + +_Sonntag abend_ + +=Melchior= + +Das ist mir zu langweilig. Ich mache nicht mehr mit. + +=Otto= + +Dann können wir andern nur auch aufhören! -- Hast du die Arbeiten, +Melchior? + +=Melchior= + +Spielt ihr nur weiter! + +=Moritz= + +Wohin gehst du? + +=Melchior= + +Spazieren. + +=Georg= + +Es wird ja dunkel! + +=Robert= + +Hast du die Arbeiten schon? + +=Melchior= + +Warum soll ich denn nicht im Dunkeln spazieren gehn? + +=Ernst= + +Zentralamerika! -- Ludwig der Fünfzehnte! -- Sechzig Verse Homer! -- +Sieben Gleichungen! + +=Melchior= + +Verdammte Arbeiten! + +=Georg= + +Wenn nur wenigstens der lateinische Aufsatz nicht auf morgen wäre! + +=Moritz= + +An nichts kann man denken, ohne daß einem Arbeiten dazwischen kommen! + +=Otto= + +Ich gehe nach Hause. + +=Georg= + +Ich auch, Arbeiten machen. + +=Ernst= + +Ich auch, ich auch. + +=Robert= + +Gute Nacht, Melchior. + +=Melchior= + +Schlaft wohl! + +(Alle entfernen sich bis auf Moritz und Melchior.) + +=Melchior= + +Möchte doch wissen, wozu wir eigentlich auf der Welt sind! + +=Moritz= + +Lieber wollt’ ich ein Droschkengaul sein um der Schule willen! -- +Wozu gehen wir in die Schule? -- Wir gehen in die Schule, damit +man uns examinieren kann! -- Und wozu examiniert man uns? -- Damit +wir durchfallen. -- Sieben müssen ja durchfallen, schon weil das +Klassenzimmer oben nur sechzig faßt. -- Mir ist so eigentümlich seit +Weihnachten ... hol’ mich der Teufel, wäre Papa nicht, heut’ noch +schnürt’ ich mein Bündel und ginge nach Altona! + +=Melchior= + +Reden wir von etwas anderem. -- + +(Sie gehen spazieren.) + +=Moritz= + +Siehst du die schwarze Katze dort mit dem emporgereckten Schweif? + +=Melchior= + +Glaubst du an Vorbedeutungen? + +=Moritz= + +Ich weiß nicht recht. -- -- Sie kam von drüben her. Es hat nichts zu +sagen. + +=Melchior= + +Ich glaube, das ist eine Charybdis, in die jeder stürzt, der sich aus +der Skylla religiösen Irrwahns emporgerungen. -- -- Laß uns hier unter +der Buche Platz nehmen. Der Tauwind fegt über die Berge. Jetzt möchte +ich droben im Wald eine junge Dryade sein, die sich die ganze lange +Nacht in den höchsten Wipfeln wiegen und schaukeln läßt.... + +=Moritz= + +Knöpf’ dir die Weste auf, Melchior! + +=Melchior= + +Ha -- wie das einem die Kleider bläht! + +=Moritz= + +Es wird weiß Gott so stockfinster, daß man die Hand nicht vor den Augen +sieht. Wo bist du eigentlich? -- -- Glaubst du nicht auch, Melchior, +daß das Schamgefühl im Menschen nur ein Produkt seiner Erziehung ist? + +=Melchior= + +Darüber habe ich erst vorgestern noch nachgedacht. Es scheint mir +immerhin tief eingewurzelt in der menschlichen Natur. Denke dir, du +solltest dich vollständig entkleiden vor deinem besten Freund. Du wirst +es nicht tun, wenn er es nicht zugleich auch tut. -- Es ist eben auch +mehr oder weniger Modesache. + +=Moritz= + +Ich habe mir schon gedacht, wenn ich Kinder habe, Knaben und Mädchen, +so lasse ich sie von früh auf im nämlichen Gemach, wenn möglich auf ein +und demselben Lager, zusammenschlafen, lasse sie morgens und abends +beim An- und Auskleiden einander behilflich sein und in der heißen +Jahreszeit, die Knaben sowohl wie die Mädchen, tagsüber nichts als +eine kurze, mit einem Lederriemen gegürtete Tunika aus weißem Wollstoff +tragen. -- Mir ist, sie müßten, wenn sie so heranwachsen, später +ruhiger sein, als wir es in der Regel sind. + +=Melchior= + +Das glaube ich entschieden, Moritz! -- Die Frage ist nur, wenn die +Mädchen Kinder bekommen, was dann? + +=Moritz= + +Wie so Kinder bekommen? + +=Melchior= + +Ich glaube in dieser Hinsicht nämlich an einen gewissen Instinkt. Ich +glaube, wenn man einen Kater zum Beispiel mit einer Katze von Jugend +auf zusammensperrt und beide von jedem Verkehr mit der Außenwelt +fernhält, d. h. sie ganz nur ihren eigenen Trieben überläßt -- daß die +Katze früher oder später doch einmal trächtig wird, obgleich sie sowohl +wie der Kater niemand hatten, dessen Beispiel ihnen hätte die Augen +öffnen können. + +=Moritz= + +Bei Tieren muß sich das ja schließlich von selbst ergeben. + +=Melchior= + +Bei Menschen glaube ich erst recht! Ich bitte dich, Moritz, wenn +deine Knaben mit den Mädchen auf ein und demselben Lager schlafen und +es kommen ihnen nun unversehens die ersten männlichen Regungen -- ich +möchte mit jedermann eine Wette eingehen.... + +=Moritz= + +Darin magst du ja recht haben. -- Aber immerhin ... + +=Melchior= + +Und bei deinen Mädchen wäre es im entsprechenden Alter vollkommen das +nämliche! Nicht daß das Mädchen gerade ... man kann das ja freilich so +genau nicht beurteilen ... jedenfalls wäre vorauszusetzen ...... und +die Neugierde würde das Ihrige zu tun auch nicht verabsäumen! + +=Moritz= + +Eine Frage beiläufig -- + +=Melchior= + +Nun? + +=Moritz= + +Aber du antwortest? + +=Melchior= + +Natürlich! + +=Moritz= + +Wahr?! + +=Melchior= + +Meine Hand darauf. -- -- Nun, Moritz? + +=Moritz= + +Hast du den Aufsatz schon?? + +=Melchior= + +So sprich doch frisch von der Leber weg! -- Hier hört und sieht uns ja +niemand. + +=Moritz= + +Selbstverständlich müßten meine Kinder nämlich tagsüber arbeiten, in +Hof und Garten, oder sich durch Spiele zerstreuen, die mit körperlicher +Anstrengung verbunden sind. Sie müßten reiten, turnen, klettern und +vor allen Dingen nachts nicht so weich schlafen wie wir. Wir sind +schrecklich verweichlicht. -- Ich glaube, man träumt gar nicht, wenn +man hart schläft. + +=Melchior= + +Ich schlafe von jetzt bis nach der Weinlese überhaupt nur in meiner +Hängematte. Ich habe mein Bett hinter den Ofen gestellt. Es ist zum +Zusammenklappen. -- Vergangenen Winter träumte mir einmal, ich hätte +unsern Lolo so lange gepeitscht, bis er kein Glied mehr rührte. Das war +das Grauenhafteste, was ich je geträumt habe. -- Was siehst du mich so +sonderbar an? + +=Moritz= + +Hast du sie schon empfunden? + +=Melchior= + +Was? + +=Moritz= + +Wie sagtest du? + +=Melchior= + +Männliche Regungen? + +=Moritz= + +M--hm. + +=Melchior= + +-- Allerdings! + +=Moritz= + +Ich auch. -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- + +=Melchior= + +Ich kenne das nämlich schon lange! -- schon bald ein Jahr. + +=Moritz= + +Ich war wie vom Blitz gerührt. + +=Melchior= + +Du hattest geträumt? + +=Moritz= + +Aber nur ganz kurz ....... von Beinen im himmelblauem Trikot, die über +das Katheder steigen -- um aufrichtig zu sein, ich dachte, sie wollten +hinüber. -- Ich habe sie nur flüchtig gesehen. + +=Melchior= + +Georg Zirschnitz träumte von seiner _Mutter_. + +=Moritz= + +Hat er dir das erzählt? + +=Melchior= + +Draußen am Galgensteg! + +=Moritz= + +Wenn du wüßtest, was ich ausgestanden seit jener Nacht! + +=Melchior= + +Gewissensbisse? + +=Moritz= + +Gewissensbisse?? -- -- -- _Todesangst_! + +=Melchior= + +Herrgott ... + +=Moritz= + +Ich hielt mich für unheilbar. Ich glaubte, ich litte an einem inneren +Schaden. -- Schließlich wurde ich nur dadurch wieder ruhiger, daß ich +meine Lebenserinnerungen aufzuzeichnen begann. Ja ja, lieber Melchior, +die letzten drei Wochen waren ein Gethsemane für mich. + +=Melchior= + +Ich war seinerzeit mehr oder weniger darauf gefaßt gewesen. Ich schämte +mich ein wenig. -- Das war aber auch alles. + +=Moritz= + +Und dabei bist du noch fast um ein ganzes Jahr jünger als ich! + +=Melchior= + +Darüber, Moritz, würd’ ich mir keine Gedanken machen. All’ meinen +Erfahrungen nach besteht für das erste Auftauchen dieser Phantome +keine bestimmte Altersstufe. Kennst du den großen Lämmermeier mit +dem strohgelben Haar und der Adlernase? Drei Jahre ist der älter als +ich. Hänschen Rilow sagt, der träume noch bis heute von nichts als +Sandtorten und Aprikosengelee. + +=Moritz= + +Ich bitte dich, wie kann Hänschen Rilow darüber urteilen! + +=Melchior= + +Er hat ihn gefragt. + +=Moritz= + +Er hat ihn gefragt? -- Ich hätte mich nicht getraut, jemanden zu fragen. + +=Melchior= + +Du hast mich doch auch gefragt. + +=Moritz= + +Weiß Gott ja! -- Möglicherweise hatte Hänschen auch schon sein +Testament gemacht. -- Wahrlich ein sonderbares Spiel, das man mit uns +treibt. Und dafür sollen wir uns dankbar erweisen! Ich erinnere mich +nicht, je eine Sehnsucht nach dieser Art Aufregungen verspürt zu +haben. Warum hat man mich nicht ruhig schlafen lassen, bis alles wieder +still gewesen wäre. Meine lieben Eltern hätten hundert bessere Kinder +haben können. So bin ich nun hergekommen, ich weiß nicht wie, und soll +mich dafür verantworten, daß ich nicht weggeblieben bin. -- Hast du +nicht auch schon darüber nachgedacht, Melchior, auf welche Art und +Weise wir eigentlich in diesen Strudel hineingeraten? + +=Melchior= + +Du weißt das also noch nicht, Moritz? + +=Moritz= + +Wie sollt’ ich es wissen? -- Ich sehe, wie die Hühner Eier legen, +und höre, daß mich Mama unter dem Herzen getragen haben will. +Aber genügt denn das? -- Ich erinnere mich auch, als fünfjähriges +Kind schon befangen worden zu sein, wenn einer die dekolletierte +Coeurdame aufschlug. Dieses Gefühl hat sich verloren. Indessen kann +ich heute kaum mehr mit irgend einem Mädchen sprechen, ohne etwas +Verabscheuenswürdiges dabei zu denken, und -- ich schwöre dir, Melchior +-- ich weiß nicht _was_. + +=Melchior= + +Ich sage dir alles. -- Ich habe es teils aus Büchern, teils aus +Illustrationen, teils aus Beobachtungen in der Natur. Du wirst +überrascht sein; ich wurde seinerzeit Atheist. Ich habe es auch Georg +Zirschnitz gesagt! Georg Zirschnitz wollte es Hänschen Rilow sagen, +aber Hänschen Rilow hatte als Kind schon alles von seiner Gouvernante +erfahren. + +=Moritz= + +Ich habe den _Kleinen Meyer_ von A bis Z durchgenommen. Worte -- nichts +als Worte und Worte! Nicht eine einzige schlichte Erklärung. O dieses +Schamgefühl! -- Was soll mir ein Konversationslexikon, das auf die +nächstliegende Lebensfrage nicht antwortet. + +=Melchior= + +Hast du schon einmal zwei Hunde über die Straße laufen sehen? + +=Moritz= + +Nein! -- -- Sag mir heute lieber noch nichts, Melchior. Ich habe noch +Mittelamerika und Ludwig den Fünfzehnten vor mir. Dazu die sechzig +Verse Homer, die sieben Gleichungen, der lateinische Aufsatz -- ich +würde morgen wieder überall abblitzen. Um mit Erfolg büffeln zu können, +muß ich stumpfsinnig wie ein Ochse sein. + +=Melchior= + +Komm doch mit auf mein Zimmer. In dreiviertel Stunden habe ich den +Homer, die Gleichungen und _zwei_ Aufsätze. Ich korrigiere dir einige +harmlose Schnitzer hinein, so ist die Sache im Blei. Mama braut uns +wieder eine Limonade, und wir plaudern gemütlich über die Fortpflanzung. + +=Moritz= + +Ich kann nicht. -- Ich kann nicht gemütlich über die Fortpflanzung +plaudern! Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann gib mir deine +Unterweisungen schriftlich. Schreib mir auf, was du weißt. Schreib es +möglichst kurz und klar und steck es mir morgen während der Turnstunde +zwischen die Bücher. Ich werde es nach Hause tragen, ohne zu wissen, +daß ich es habe. Ich werde es unverhofft einmal wiederfinden. Ich +werde nicht umhin können, es müden Auges zu durchfliegen ... falls es +unumgänglich notwendig ist, magst du ja auch einzelne Randzeichnungen +anbringen. + +=Melchior= + +Du bist wie ein Mädchen. -- Übrigens wie du willst! Es ist mir das eine +ganz interessante Arbeit. -- -- Eine Frage, Moritz. + +=Moritz= + +Hm? + +=Melchior= + +-- Hast du schon einmal ein Mädchen gesehen? + +=Moritz= + +Ja! + +=Melchior= + +Aber ganz?! + +=Moritz= + +_Vollständig_! + +=Melchior= + +Ich nämlich auch! -- Dann werden keine Illustrationen nötig sein. + +=Moritz= + +Während des Schützenfestes, in Leilichs anatomischem Museum! Wenn es +aufgekommen wäre, hätte man mich aus der Schule gejagt. -- Schön wie +der lichte Tag, und -- o so naturgetreu! + +=Melchior= + +Ich war letzten Sommer mit Mama in Frankfurt -- -- Du willst schon +gehen, Moritz? + +=Moritz= + +Arbeiten machen. -- Gute Nacht. + +=Melchior= + +Auf Wiedersehen. + + +Dritte Szene + +_Thea_, _Wendla_ und _Martha_ kommen Arm in Arm die _Straße_ herauf + +=Martha= + +Wie einem das Wasser ins Schuhwerk dringt! + +=Wendla= + +Wie einem der Wind um die Wangen saust! + +=Thea= + +Wie einem das Herz hämmert! + +=Wendla= + +Geh’n wir zur Brücke hinaus! Ilse sagte der Fluß führe Sträucher und +Bäume. Die Jungens haben ein Floß auf dem Wasser. Melchi Gabor soll +gestern abend beinah ertrunken sein. + +=Thea= + +O der kann schwimmen! + +=Martha= + +Das will ich meinen, Kind! + +=Wendla= + +Wenn er nicht hätte schwimmen können, wäre er wohl sicher ertrunken! + +=Thea= + +Dein Zopf geht auf, Martha; dein Zopf geht auf! + +=Martha= + +Puh -- laß ihn aufgehn! Er ärgert mich so Tag und Nacht. Kurze Haare +tragen wie du darf ich nicht, das Haar offen tragen wie Wendla darf ich +nicht, Ponyhaare tragen darf ich nicht, und zu Hause muß ich mir gar +die Frisur machen -- alles der Tanten wegen! + +=Wendla= + +Ich bringe morgen eine Schere mit in die Religionsstunde. Während du +„Wohl dem, der nicht wandelt“ rezitierst, werd’ ich ihn abschneiden. + +=Martha= + +Um Gotteswillen, Wendla! Papa schlägt mich krumm, und Mama sperrt mich +drei Nächte ins Kohlenloch. + +=Wendla= + +Womit schlägt er dich, Martha? + +=Martha= + +Manchmal ist es mir, es müßte ihnen doch etwas abgehen, wenn sie keinen +so schlechtgearteten Balg hätten wie ich. + +=Thea= + +Aber Mädchen! + +=Martha= + +Hast du dir nicht auch ein himmelblaues Band durch die Hemdpasse ziehen +dürfen? + +=Thea= + +Rosa Atlas! Mama behauptet, Rosa stehe mir bei meinen pechschwarzen +Augen. + +=Martha= + +Mir stand Blau reizend! -- Mama riß mich am Zopf zum Bett heraus. So +-- fiel ich mit den Händen voraus auf die Diele. -- Mama betet nämlich +Abend für Abend mit uns.... + +=Wendla= + +Ich an deiner Stelle wäre ihnen längst in die Welt hinausgelaufen. + +=Martha= + +... Da habe man’s, worauf ich ausgehe! -- Da habe man’s ja! -- Aber +sie wolle schon sehen -- o sie wolle noch sehen! -- Meiner Mutter +wenigstens solle ich einmal keine Vorwürfe machen können.... + +=Thea= + +Hu -- Hu -- + +=Martha= + +Kannst du dir denken, Thea, was Mama damit meinte? + +=Thea= + +Ich nicht. -- Du, Wendla? + +=Wendla= + +Ich hätte sie einfach gefragt. + +=Martha= + +Ich lag auf der Erde und schrie und heulte. Da kommt Papa. Ritsch -- +das Hemd herunter. Ich zur Türe hinaus. Da habe man’s! Ich wolle nun +wohl so auf die Straße hinunter.... + +=Wendla= + +Das ist doch gar nicht wahr, Martha. + +=Martha= + +Ich fror. Ich schloß auf. Ich habe die ganze Nacht im Sack schlafen +müssen. + +=Thea= + +Ich könnte meiner Lebtag in keinem Sack schlafen! + +=Wendla= + +Ich möchte ganz gern mal für dich in deinem Sack schlafen. + +=Martha= + +Wenn man nur nicht geschlagen wird. + +=Thea= + +Aber man erstickt doch darin! + +=Martha= + +Der Kopf bleibt frei. Unter dem Kinn wird zugebunden. + +=Thea= + +Und dann schlagen sie dich? + +=Martha= + +Nein. Nur wenn etwas Besonderes vorliegt. + +=Wendla= + +Womit schlägt man dich, Martha? + +=Martha= + +Ach was -- mit allerhand. -- Hält es deine Mutter auch für unanständig, +im Bett ein Stück Brot zu essen? + +=Wendla= + +Nein, nein. + +=Martha= + +Ich glaube immer, sie haben doch ihre Freude -- wenn sie auch nichts +davon sagen. -- Wenn ich einmal Kinder habe, ich lasse sie aufwachsen +wie das Unkraut in unserem Blumengarten. Um das kümmert sich niemand, +und es steht so hoch, so dicht -- während die Rosen in den Beeten an +ihren Stöcken mit jedem Sommer kümmerlicher blühn. + +=Thea= + +Wenn ich Kinder habe, kleid’ ich sie ganz in Rosa. Rosahüte, +Rosakleidchen, Rosaschuhe. Nur die Strümpfe -- die Strümpfe schwarz +wie die Nacht! Wenn ich dann spazieren gehe, laß ich sie vor mir +hermarschieren. -- Und du, Wendla? + +=Wendla= + +Wißt ihr denn, ob ihr welche bekommt? + +=Thea= + +Warum sollten wir keine bekommen? + +=Martha= + +Tante Euphemia hat allerdings auch keine. + +=Thea= + +Gänschen! -- weil sie nicht _verheiratet_ ist. + +=Wendla= + +Tante Bauer war dreimal verheiratet und hat nicht ein einziges. + +=Martha= + +-- Wenn du welche bekommst, Wendla, was möchtest du lieber, Knaben oder +Mädchen? + +=Wendla= + +Jungens! Jungens! + +=Thea= + +Ich auch Jungens! + +=Martha= + +Ich auch. Lieber zwanzig Jungens als drei Mädchen. + +=Thea= + +Mädchen sind langweilig! + +=Martha= + +Wenn ich nicht schon ein Mädchen geworden wäre, ich würde es heute +gewiß nicht mehr. + +=Wendla= + +Das ist, glaube ich, Geschmacksache, Martha! Ich freue mich jeden Tag, +daß ich Mädchen bin. Glaub’ mir, ich wollte mit keinem Königssohn +tauschen. -- Darum möchte ich aber doch nur Buben! + +=Thea= + +Das ist doch Unsinn, lauter Unsinn, Wendla! + +=Wendla= + +Aber ich bitte dich, Kind, es muß doch tausendmal erhebender sein, von +einem Manne geliebt zu werden, als von einem Mädchen! + +=Thea= + +Du wirst doch nicht behaupten wollen, Forstreferendar Pfälle liebe +Melitta mehr als sie ihn! + +=Wendla= + +Das will ich wohl, Thea! -- Pfälle ist stolz. Pfälle ist stolz darauf, +daß er Forstreferendar ist -- denn Pfälle hat nichts. -- Melitta ist +_selig_, weil sie zehntausendmal mehr bekommt, als sie ist. + +=Martha= + +Bist du nicht stolz auf dich, Wendla? + +=Wendla= + +Das wäre doch einfältig. + +=Martha= + +Wie wollt’ ich stolz sein an deiner Stelle. + +=Thea= + +Sieh’ doch nur, wie sie die Füße setzt -- wie sie geradaus schaut -- +wie sie sich hält, Martha! -- Wenn das nicht Stolz ist! + +=Wendla= + +Wozu nur?! Ich bin so glücklich, Mädchen zu sein; wenn ich kein Mädchen +wär’, brächt’ ich mich um, um das nächste Mal ... + +=Melchior= + +(geht vorüber und grüßt) + +=Thea= + +Er hat einen wundervollen Kopf. + +=Martha= + +So denke ich mir den jungen Alexander, als er zu Aristoteles in die +Schule ging. + +=Thea= + +Du lieber Gott, die griechische Geschichte! -- Ich weiß nur noch, +wie Sokrates in der Tonne lag, als ihm Alexander den Eselsschatten +verkaufte. + +=Wendla= + +Er soll der Drittbeste in seiner Klasse sein. + +=Thea= + +Professor Knochenbruch sagt, wenn er wollte, könnte er Primus sein. + +=Martha= + +Er hat eine schöne Stirne, aber sein Freund hat einen seelenvolleren +Blick. + +=Thea= + +Moritz Stiefel? -- Ist das eine Schlafmütze! + +=Martha= + +Ich habe mich immer ganz gut mit ihm unterhalten. + +=Thea= + +Er blamiert einen, wo man ihn trifft. Auf dem Kinderball bei Rilows +bot er mir Pralinees an. Denke dir, Wendla, die waren weich und warm. +Ist das nicht ...? -- Er sagte, er habe sie zu lang in der Hosentasche +gehabt. + +=Wendla= + +Denke dir, Melchi Gabor sagte mir damals, er glaube an nichts -- nicht +an Gott, nicht an ein Jenseits -- an gar nichts mehr in dieser Welt. + + +Vierte Szene + +Parkanlagen vor dem Gymnasium -- _Melchior_, _Otto_, _Georg_, _Robert_, +_Hänschen Rilow_, _Lämmermeier_ + +=Melchior= + +Kann mir einer von euch sagen, wo Moritz Stiefel steckt? + +=Georg= + +Dem kann’s schlecht gehn! -- O dem kann’s schlecht gehn! + +=Otto= + +Der treibts so lange, bis er noch mal ganz gehörig ’reinfliegt! + +=Lämmermeier= + +Weiß der Kuckuck, ich möchte in diesem Moment nicht in seiner Haut +stecken! + +=Robert= + +Eine Frechheit! -- Eine Unverschämtheit! + +=Melchior= + +Wa -- wa -- was wißt ihr denn? + +=Georg= + +Was wir wissen? -- Na, ich sage dir ... + +=Lämmermeier= + +Ich möchte nichts gesagt haben! + +=Otto= + +Ich auch nicht -- weiß Gott nicht! + +=Melchior= + +Wenn ihr jetzt nicht sofort ... + +=Robert= + +Kurz und gut, Moritz Stiefel ist ins _Konferenzzimmer_ gedrungen. + +=Melchior= + +Ins Konferenzzimmer ...? + +=Otto= + +Ins Konferenzzimmer! -- Gleich nach Schluß der Lateinstunde. + +=Georg= + +Er war der letzte; er blieb absichtlich zurück. + +=Lämmermeier= + +Als ich um die Korridorecke bog, sah ich ihn die Tür öffnen. + +=Melchior= + +Hol dich der ...! + +=Lämmermeier= + +Wenn nur ihn nicht der Teufel holt! + +=Georg= + +Vermutlich hatte das Rektorat den Schlüssel nicht abgezogen. + +=Robert= + +Oder Moritz Stiefel führt einen Dietrich. + +=Otto= + +Ihm wäre das zuzutrauen. + +=Lämmermeier= + +Wenn’s gut geht, bekommt er einen Sonntagnachmittag. + +=Robert= + +Nebst einer Bemerkung ins Zeugnis! + +=Otto= + +Wenn er bei dieser Zensur nicht ohnehin an die Luft fliegt. + +=Hänschen Rilow= + +Da ist er! + +=Melchior= + +Blaß wie ein Handtuch. + +(Moritz kommt in äußerster Aufregung.) + +=Lämmermeier= + +Moritz, Moritz, was du getan hast! + +=Moritz= + +-- -- Nichts -- -- nichts -- -- -- + +=Robert= + +Du fieberst! + +=Moritz= + +-- Vor Glück -- vor Seligkeit -- vor Herzensjubel -- + +=Otto= + +Du bist erwischt worden?! + +=Moritz= + +Ich bin promoviert! -- Melchior, ich bin promoviert! -- O jetzt kann +die Welt untergehn! -- Ich bin promoviert! -- Wer hätte geglaubt, daß +ich promoviert werde! -- Ich fass’ es noch nicht! -- Zwanzigmal hab’ +ich’s gelesen! -- Ich kann’s nicht glauben -- du großer Gott, es blieb! +-- Es blieb! _Ich bin promoviert_! -- (lächelnd) Ich weiß nicht -- +so sonderbar ist mir -- der Boden dreht sich ... Melchior, Melchior, +wüßtest du, was ich durchgemacht! + +=Hänschen Rilow= + +Ich gratuliere, Moritz. -- Sei nur froh, daß du so weggekommen! + +=Moritz= + +Du weißt nicht, Hänschen, du ahnst nicht, was auf dem Spiel stand. +Seit drei Wochen schleiche ich an der Tür vorbei wie am Höllenschlund. +Da sehe ich heute, sie ist angelehnt. Ich glaube, wenn man mir eine +Million geboten hätte -- nichts, o nichts hätte mich zu halten +vermocht! -- Ich stehe mitten im Zimmer -- ich schlage das Protokoll +auf -- blättere -- finde -- -- und während all der Zeit ... Mir +schaudert -- + +=Melchior= + +... während all der Zeit? + +=Moritz= + +Während all der Zeit steht die Tür hinter mir sperrangelweit offen. -- +Wie ich heraus ... wie ich die Treppe heruntergekommen, weiß ich nicht. + +=Hänschen Rilow= + +-- Wird Ernst Röbel auch promoviert? + +=Moritz= + +O gewiß, Hänschen, gewiß! -- Ernst Röbel wird gleichfalls promoviert. + +=Robert= + +Dann mußt du schon nicht richtig gelesen haben. Die Eselsbank +abgerechnet zählen wir mit dir und Röbel zusammen einundsechzig, +während oben das Klassenzimmer mehr als sechzig nicht fassen kann. + +=Moritz= + +Ich habe vollkommen richtig gelesen. Ernst Röbel wird so gut versetzt +wie ich -- beide allerdings vorläufig nur _provisorisch_. Während des +ersten Quartals soll es sich dann herausstellen, wer dem andern Platz +zu machen hat. -- Armer Röbel! -- Weiß der Himmel, mir ist um mich +nicht mehr bange. Dazu habe ich diesmal zu tief hinuntergeblickt. + +=Otto= + +Ich wette fünf Mark, daß du Platz machst. + +=Moritz= + +Du hast ja nichts. Ich will dich nicht ausrauben. -- Herrgott, werd’ +ich büffeln von heute an! -- Jetzt kann ich’s ja sagen -- mögt ihr +daran glauben oder nicht -- jetzt ist ja alles gleichgültig -- ich -- +ich weiß, wie wahr es ist: Wenn ich nicht promoviert worden wäre, hätte +ich mich erschossen. + +=Robert= + +Prahlhans! + +=Georg= + +Der Hasenfuß! + +=Otto= + +Dich hätte ich schießen sehen mögen! + +=Lämmermeier= + +Eine Maulschelle drauf! + +=Melchior= + +(gibt ihm eine) + +-- -- Komm, Moritz. Gehn wir zum Försterhaus! + +=Georg= + +Glaubst du vielleicht an den Schnack? + +=Melchior= + +Schert dich das? -- -- Laß sie schwatzen, Moritz! Fort, nur fort, zur +Stadt hinaus! + +(Die Professoren _Hungergurt_ und _Knochenbruch_ gehen vorüber.) + +=Knochenbruch= + +Mir unbegreiflich, verehrter Herr Kollega, wie sich der beste meiner +Schüler gerade zum allerschlechtesten so hingezogen fühlen kann. + +=Hungergurt= + +Mir auch, verehrter Herr Kollega. + + +Fünfte Szene + +Sonniger Nachmittag. -- _Melchior_ und _Wendla_ begegnen einander im +Wald. + +=Melchior= + +Bist du’s wirklich, Wendla? -- Was tust denn du so allein hier oben? -- +Seit drei Stunden durchstreife ich den Wald die Kreuz und Quer, ohne +daß mir eine Seele begegnet, und nun plötzlich trittst du mir aus dem +dichtesten Dickicht entgegen! + +=Wendla= + +Ja, ich bin’s. + +=Melchior= + +Wenn ich dich nicht als Wendla Bergmann kennte, ich hielte dich für +eine Dryade, die aus den Zweigen gefallen. + +=Wendla= + +Nein, nein, ich bin Wendla Bergmann. -- Wo kommst denn du her? + +=Melchior= + +Ich gehe meinen Gedanken nach. + +=Wendla= + +Ich suche Waldmeister. Mama will Maitrank bereiten. Anfangs wollte sie +selbst mitgehn, aber im letzten Augenblick kam Tante Bauer noch, und +die steigt nicht gern. -- So bin ich denn allein heraufgekommen. + +=Melchior= + +Hast du deinen Waldmeister schon? + +=Wendla= + +Den ganzen Korb voll. Drüben unter den Buchen steht er dicht wie +Mattenklee. -- Jetzt sehe ich mich nämlich nach einem Ausweg um. Ich +scheine mich verirrt zu haben. Kannst du mir vielleicht sagen, wie viel +Uhr es ist? + +=Melchior= + +Eben halb vier vorbei. -- Wann erwartet man dich? + +=Wendla= + +Ich glaubte, es wäre später. Ich lag eine ganze Weile am Goldbach im +Moose und habe geträumt. Die Zeit verging mir so rasch; ich fürchtete, +es wolle schon Abend werden. + +=Melchior= + +Wenn man dich noch nicht erwartet, dann laß uns hier noch ein wenig +lagern. Unter der Eiche dort ist mein Lieblingsplätzchen. Wenn man den +Kopf an den Stamm zurücklehnt und durch die Äste in den Himmel starrt, +wird man hypnotisiert. Der Boden ist noch warm von der Morgensonne. -- +Schon seit Wochen wollte ich dich etwas fragen, Wendla. + +=Wendla= + +Aber vor fünf muß ich zu Hause sein. + +=Melchior= + +Wir gehen dann zusammen. Ich nehme den Korb und wir schlagen den Weg +durch die Runse ein, so sind wir in zehn Minuten schon auf der Brücke! +-- Wenn man so daliegt, die Stirn in die Hand gestützt, kommen einem +die sonderbarsten Gedanken ... + +(Beide lagern sich unter der Eiche.) + +=Wendla= + +Was wolltest du mich fragen, Melchior? + +=Melchior= + +Ich habe gehört, Wendla, du gehest häufig zu armen Leuten. Du brächtest +ihnen Essen, auch Kleider und Geld. Tust du das aus eigenem Antriebe +oder schickt deine Mutter dich? + +=Wendla= + +Meistens schickt mich die Mutter. Es sind arme Taglöhnerfamilien, die +eine Unmenge Kinder haben. Oft findet der Mann keine Arbeit, dann +frieren und hungern sie. Bei uns liegt aus früherer Zeit noch so +mancherlei in Schränken und Kommoden, das nicht mehr gebraucht wird. -- +Aber wie kommst du darauf? + +=Melchior= + +Gehst du gern oder ungern, wenn deine Mutter dich sowohin schickt? + +=Wendla= + +O für mein Leben gern! -- Wie kannst du fragen! + +=Melchior= + +Aber die Kinder sind schmutzig, die Frauen sind krank, die Wohnungen +strotzen von Unrat, die Männer hassen dich, weil du nicht arbeitest ... + +=Wendla= + +Das ist nicht wahr, Melchior. Und wenn es wahr wäre, ich würde erst +recht gehen! + +=Melchior= + +Wieso erst recht, Wendla? + +=Wendla= + +Ich würde erst recht hingehen. -- Es würde nur noch vielmehr Freude +bereiten, ihnen helfen zu können. + +=Melchior= + +Du gehst also um deiner Freude willen zu den armen Leuten? + +=Wendla= + +Ich gehe zu ihnen, weil sie arm sind. + +=Melchior= + +Aber wenn es dir keine Freude wäre, würdest du nicht gehen? + +=Wendla= + +Kann ich denn dafür, daß es mir Freude macht? + +=Melchior= + +Und doch sollst du dafür in den Himmel kommen! -- So ist es also +richtig, was mir nun seit einem Monat keine Ruhe mehr läßt! -- Kann der +Geizige dafür, daß es ihm keine Freude macht, zu schmutzigen kranken +Kindern zu gehen? + +=Wendla= + +O dir würde es sicher die größte Freude sein! + +=Melchior= + +Und doch soll er dafür des ewigen Todes sterben! -- Ich werde eine +Abhandlung schreiben und sie Herrn Pastor Kahlbauch einschicken. Er ist +die Veranlassung. Was faselt er uns von _Opfer-Freudigkeit_! -- Wenn er +mir nicht antworten kann, gehe ich nicht mehr in die Kinderlehre und +lasse mich nicht konfirmieren. + +=Wendla= + +Warum willst du deinen lieben Eltern den Kummer bereiten! Laß dich doch +konfirmieren; den Kopf kostet’s doch nicht. Wenn unsere schrecklichen +weißen Kleider und eure Schlepphosen nicht wären, würde man sich +vielleicht noch dafür begeistern können. + +=Melchior= + +Es gibt keine Aufopferung! Es gibt keine Selbstlosigkeit! -- Ich sehe +die Guten sich ihres Herzens freun, sehe die Schlechten beben und +stöhnen -- ich sehe dich, Wendla Bergmann, deine Locken schütteln und +lachen, und mir wird so ernst dabei wie einem Geächteten. -- -- Was +hast du vorhin geträumt, Wendla, als du am Goldbach im Grase lagst? + +=Wendla= + +-- -- Dummheiten -- Narreteien -- + +=Melchior= + +Mit offenen Augen?! + +=Wendla= + +Mir träumte, ich wäre ein armes, armes Bettelkind, ich würde früh fünf +schon auf die Straße geschickt, ich müßte betteln den ganzen langen +Tag in Sturm und Wetter, unter hartherzigen, rohen Menschen. Und käm’ +ich abends nach Hause, zitternd vor Hunger und Kälte, und hätte so +viel Geld nicht wie mein Vater verlangt, dann würd’ ich geschlagen -- +geschlagen -- + +=Melchior= + +Das kenne ich, Wendla. Das hast du den albernen Kindergeschichten zu +danken. Glaub’ mir, so brutale Menschen existieren nicht mehr. + +=Wendla= + +O doch, Melchior, du irrst. -- Martha Bessel wird Abend für Abend +geschlagen, daß man andern Tags Striemen sieht. O was die leiden +muß! Siedendheiß wird es einem, wenn sie erzählt. Ich bedaure sie so +furchtbar, ich muß oft mitten in der Nacht in die Kissen weinen. Seit +Monaten denke ich darüber nach, wie man ihr helfen kann. -- Ich wollte +mit Freuden einmal acht Tage an ihrer Stelle sein. + +=Melchior= + +Man sollte den Vater kurzweg verklagen. Dann würde ihm das Kind +weggenommen. + +=Wendla= + +Ich, Melchior, bin in meinem Leben nie geschlagen worden -- nicht ein +einziges Mal. Ich kann mir kaum denken, wie das tut, geschlagen zu +werden. Ich habe mich schon selber geschlagen, um zu erfahren, wie +einem dabei ums Herz wird. -- Es muß ein grauenvolles Gefühl sein. + +=Melchior= + +Ich glaube nicht, daß je ein Kind dadurch besser wird. + +=Wendla= + +Wodurch besser wird? + +=Melchior= + +Daß man es schlägt. + +=Wendla= + +-- Mit dieser Gerte zum Beispiel! -- Hu, ist die zäh und dünn. + +=Melchior= + +Die zieht Blut! + +=Wendla= + +Würdest du mich nicht einmal damit schlagen? + +=Melchior= + +Wen? + +=Wendla= + +Mich. + +=Melchior= + +Was fällt dir ein, Wendla! + +=Wendla= + +Was ist denn dabei? + +=Melchior= + +O sei ruhig! -- Ich schlage dich nicht. + +=Wendla= + +Wenn ich dir’s doch erlaube! + +=Melchior= + +Nie, Mädchen! + +=Wendla= + +Aber wenn ich dich darum bitte, Melchior! + +=Melchior= + +Bist du nicht bei Verstand? + +=Wendla= + +Ich bin in meinem Leben nie geschlagen worden! + +=Melchior= + +Wenn du um so etwas bitten kannst ...! + +=Wendla= + +-- Bitte -- bitte -- + +=Melchior= + +Ich will dich bitten lehren! -- (er schlägt sie) + +=Wendla= + +Ach Gott -- ich spüre nicht das Geringste! + +=Melchior= + +Das glaub’ ich dir -- -- durch all’ deine Röcke durch.... + +=Wendla= + +So schlag’ mich doch an die Beine! + +=Melchior= + +Wendla! -- (er schlägt sie stärker) + +=Wendla= + +Du streichelst mich ja! -- Du streichelst mich! + +=Melchior= + +Wart’ Hexe, ich will dir den Satan austreiben! + +(Er wirft den Stock beiseite und schlägt derart mit den Fäusten drein, +daß sie in ein fürchterliches Geschrei ausbricht. Er kehrt sich nicht +daran, sondern drischt wie wütend auf sie los, während ihm die dicken +Tränen über die Wangen rinnen. Plötzlich springt er empor, faßt sich +mit beiden Händen an die Schläfen und stürzt, aus tiefster Seele +jammervoll aufschluchzend, in den Wald hinein.) + + + + +Zweiter Akt + + +Erste Szene + + +Abend auf Melchiors _Studierzimmer_. Das Fenster steht offen, die Lampe +brennt auf dem Tisch. -- _Melchior_ und _Moritz_ auf dem Kanapee. + +=Moritz= + +Jetzt bin ich wieder ganz munter, nur etwas aufgeregt. -- Aber in der +Griechischstunde habe ich doch geschlafen wie der besoffene Polyphem. +Nimmt mich Wunder, daß mich der alte Zungenschlag nicht in die Ohren +gezwickt. -- Heut’ früh wäre ich um ein Haar noch zu spät gekommen. -- +Mein erster Gedanke beim Erwachen waren die Verba auf μ. -- +Himmel-Herrgott-Teufel-Donnerwetter, während des Frühstücks und den Weg +entlang habe ich konjugiert, daß mir grün vor den Augen wurde. -- Kurz +nach drei muß ich abgeschnappt sein. Die Feder hat mir noch einen Klex +ins Buch gemacht. Die Lampe qualmte, als Mathilde mich weckte; in den +Fliederbüschen unter dem Fenster zwitscherten die Amseln so lebensfroh +-- mir ward gleich wieder unsagbar melancholisch zu Mute. Ich band mir +den Kragen um und fuhr mit der Bürste durchs Haar. -- -- Aber man fühlt +sich, wenn man seiner Natur etwas abgerungen! + +=Melchior= + +Darf ich dir eine Zigarette drehen? + +=Moritz= + +Danke, ich rauche nicht. -- Wenn es nun nur so weiter geht! Ich will +arbeiten und arbeiten, bis mir die Augen zum Kopf herausplatzen. -- +Ernst Röbel hat seit den Ferien schon sechsmal nichts gekonnt; dreimal +im Griechischen, zweimal bei Knochenbruch; das letztemal in der +Literaturgeschichte. Ich war erst fünfmal in der bedauernswerten Lage; +und von heute ab kommt es überhaupt nicht mehr vor! -- Röbel erschießt +sich nicht. Röbel hat keine Eltern, die ihm ihr Alles opfern. Er kann, +wann er will, Söldner, Cowboy oder Matrose werden. Wenn ich durchfalle, +rührt meinen Vater der Schlag, und Mama kommt ins Irrenhaus. So was +erlebt man nicht! -- Vor dem Examen habe ich zu Gott gefleht, er +möge mich schwindsüchtig werden lassen, auf daß der Kelch ungenossen +vorübergehe. Er ging vorüber -- wenngleich mir auch heute noch seine +Aureole aus der Ferne entgegenleuchtet, daß ich Tag und Nacht den +Blick nicht zu heben wage. -- Aber nun ich die Stange erfaßt, werde +ich mich auch hinaufschwingen. Dafür bürgt mir die unabänderliche +Konsequenz, daß ich nicht stürze, ohne das Genick zu brechen. + +=Melchior= + +Das Leben ist von einer ungeahnten Gemeinheit. Ich hätte nicht übel +Lust, mich in die Zweige zu hängen. -- Wo Mama mit dem Tee nur bleibt! + +=Moritz= + +Dein Tee wird mir gut tun, Melchior! -- Ich zittre nämlich. Ich fühle +mich so eigentümlich vergeistert. Betaste mich bitte mal. Ich sehe -- +ich höre -- ich fühle viel deutlicher -- und doch alles so traumhaft -- +o, so stimmungsvoll. -- Wie sich dort im Mondschein der Garten dehnt, +so still, so tief, als ging’ er ins Unendliche. -- Unter den Büschen +treten umflorte Gestalten hervor, huschen in atemloser Geschäftigkeit +über die Lichtungen und verschwinden im Halbdunkel. Mir scheint, unter +dem Kastanienbaum soll eine Ratsversammlung gehalten werden. -- Wollen +wir nicht hinunter, Melchior? + +=Melchior= + +Warten wir, bis wir Tee getrunken. + +=Moritz= + +-- Die Blätter flüstern so emsig. -- Es ist, als hörte ich Großmutter +selig die Geschichte von der „Königin ohne Kopf“ erzählen. -- Das +war eine wunderschöne Königin, schön wie die Sonne, schöner als alle +Mädchen im Land. Nur war sie leider ohne Kopf auf die Welt gekommen. +Sie konnte nicht essen, nicht trinken, konnte nicht sehen, nicht lachen +und auch nicht küssen. Sie vermochte sich mit ihrem Hofstaat nur durch +ihre kleine weiche Hand zu verständigen. Mit den zierlichen Füßen +strampelte sie Kriegserklärungen und Todesurteile. Da wurde sie eines +Tages von einem Könige besiegt, der zufällig zwei Köpfe hatte, die sich +das ganze Jahr in den Haaren lagen und dabei so aufgeregt disputierten, +daß keiner den andern zu Wort kommen ließ. Der Oberhofzauberer nahm nun +den kleineren der beiden und setzte ihn der Königin auf. Und siehe, +er stand ihr vortrefflich. Darauf heiratete der König die Königin, +und die beiden lagen einander nun nicht mehr in den Haaren, sondern +küßten einander auf Stirn, auf Wangen und Mund und lebten noch lange +lange Jahre glücklich und in Freuden.... Verwünschter Unsinn! Seit den +Ferien kommt mir die kopflose Königin nicht aus dem Kopf. Wenn ich +ein schönes Mädchen sehe, seh’ ich es ohne Kopf -- und erscheine mir +dann plötzlich selber als kopflose Königin.... Möglich, daß mir nochmal +einer aufgesetzt wird. + +(Frau Gabor kommt mit dem dampfenden Tee, den sie vor Moritz und +Melchior auf den Tisch setzt) + +=Frau Gabor= + +Hier Kinder, laßt es euch munden. -- Guten Abend, Herr Stiefel; wie +geht es Ihnen? + +=Moritz= + +Danke, Frau Gabor. -- Ich belausche den Reigen dort unten. + +=Frau Gabor= + +Sie sehen aber gar nicht gut aus. -- Fühlen Sie sich nicht wohl? + +=Moritz= + +Es hat nichts zu sagen. Ich bin die letzten Abende etwas spät zu Bett +gekommen. + +=Melchior= + +Denke dir, er hat die ganze Nacht durch gearbeitet. + +=Frau Gabor= + +Sie sollten so etwas nicht tun, Herr Stiefel. Sie sollten sich schonen. +Bedenken Sie Ihre Gesundheit. Die Schule ersetzt Ihnen die Gesundheit +nicht. -- Fleißig spazieren gehn in der frischen Luft! Das ist in Ihren +Jahren mehr wert als ein korrektes Mittelhochdeutsch. + +=Moritz= + +Ich werde fleißig spazieren gehn. Sie haben recht. Man kann auch +während des Spazierengehens fleißig sein. Daß ich noch selbst nicht auf +den Gedanken gekommen! -- Die schriftlichen Arbeiten müßte ich immerhin +zu Hause machen. + +=Melchior= + +Das Schriftliche machst du bei mir; so wird es uns beiden leichter. -- +-- Du weißt ja, Mama, daß Max von Trenk am Nervenfieber darniederlag! +-- Heute mittag kommt Hänschen Rilow von Trenks Totenbett zu Rektor +Sonnenstich, um anzuzeigen, daß Trenk soeben in seiner Gegenwart +gestorben sei. -- „So?“ sagt Sonnenstich, „hast du von letzter Woche +her nicht noch zwei Stunden nachzusitzen? -- Hier ist der Zettel an den +Pedell. Mach, daß die Sache endlich ins reine kommt! Die ganze Klasse +soll an der Beerdigung teilnehmen.“ -- Hänschen war wie gelähmt. + +=Frau Gabor= + +Was hast du da für ein Buch, Melchior? + +=Melchior= + +„Faust.“ + +=Frau Gabor= + +Hast du es schon gelesen? + +=Melchior= + +Noch nicht zu Ende. + +=Moritz= + +Wir sind gerade in der Walpurgisnacht. + +=Frau Gabor= + +Ich hätte an deiner Stelle noch ein, zwei Jahre damit gewartet. + +=Melchior= + +Ich kenne kein Buch, Mama, in dem ich so viel Schönes gefunden. Warum +hätte ich es nicht lesen sollen. + +=Frau Gabor= + +-- Weil du es nicht verstehst. + +=Melchior= + +Das kannst du nicht wissen, Mama. Ich fühle sehr wohl, daß ich das Werk +in seiner ganzen Erhabenheit zu erfassen noch nicht imstande bin ... + +=Moritz= + +Wir lesen immer zu zweit; das erleichtert das Verständnis +außerordentlich! + +=Frau Gabor= + +Du bist alt genug, Melchior, um wissen zu können, was dir zuträglich +und was dir schädlich ist. Tu, was du vor dir verantworten kannst. Ich +werde die erste sein, die es dankbar anerkennt, wenn du mir niemals +Grund gibst, dir etwas vorenthalten zu müssen. -- Ich wollte dich nur +darauf aufmerksam machen, daß auch das Beste nachteilig wirken kann, +wenn man noch die Reife nicht besitzt, um es richtig aufzunehmen. -- +Ich werde mein Vertrauen immer lieber in dich als in irgendbeliebige +erzieherische Maßregeln setzen. -- -- Wenn ihr noch etwas braucht, +Kinder, dann komm herüber, Melchior, und rufe mich. Ich bin auf meinem +Schlafzimmer. (Ab.) + +=Moritz= + +-- -- Deine Mama meinte die Geschichte mit Gretchen. + +=Melchior= + +Haben wir uns auch nur einen Moment dabei aufgehalten! + +=Moritz= + +Faust selber kann sich nicht kaltblütiger darüber hinweggesetzt haben! + +=Melchior= + +Das Kunstwerk gipfelt doch schließlich nicht in dieser Schändlichkeit! +-- Faust könnte dem Mädchen die Heirat versprochen, könnte es daraufhin +verlassen haben, er wäre in meinen Augen um kein Haar weniger strafbar. +Gretchen könnte ja meinethalben an gebrochenem Herzen sterben. -- +Sieht man, wie jeder _darauf_ immer gleich krampfhaft die Blicke +richtet, man möchte glauben, die ganze Welt drehe sich um P.... und +V....! + +=Moritz= + +Wenn ich aufrichtig sein soll, Melchior, so habe ich nämlich +tatsächlich das Gefühl, seit ich deinen Aufsatz gelesen. -- In den +ersten Ferientagen fiel er mir vor die Füße. Ich hatte den Plötz in +der Hand. -- Ich verriegelte die Tür und durchflog die flimmernden +Zeilen, wie eine aufgeschreckte Eule einen brennenden Wald durchfliegt +-- ich glaube, ich habe das meiste mit geschlossenen Augen gelesen. Wie +eine Reihe dunkler Erinnerungen klangen mir deine Auseinandersetzungen +ins Ohr, wie ein Lied, das einer als Kind einst fröhlich vor sich +hingesummt und das ihm, wie er eben im Sterben liegt, herzerschütternd +aus dem Mund eines andern entgegentönt. -- Am heftigsten zog mich in +Mitleidenschaft, was du vom Mädchen schreibst. Ich werde die Eindrücke +nicht mehr los. Glaub’ mir, Melchior, Unrecht leiden zu müssen ist +süßer, denn Unrecht tun! Unverschuldet ein so süßes Unrecht über sich +ergehen lassen zu müssen, scheint mir der Inbegriff aller irdischen +Seligkeit. + +=Melchior= + +-- Ich will meine Seligkeit nicht als Almosen! + +=Moritz= + +Aber warum denn nicht? + +=Melchior= + +Ich _will_ nichts, was ich mir nicht habe erkämpfen müssen! + +=Moritz= + +Ist dann das noch Genuß, Melchior?! -- Das Mädchen, Melchior, genießt +wie die seligen Götter. Das Mädchen wehrt sich dank seiner Veranlagung. +Es hält sich bis zum letzten Augenblick von jeder Bitternis frei, +um mit einem Mal alle Himmel über sich hereinbrechen zu sehen. Das +Mädchen fürchtet die Hölle noch in dem Moment, da es ein erblühendes +Paradies wahrnimmt. Sein Empfinden ist so frisch wie der Quell, der +dem Fels entspringt. Das Mädchen ergreift einen Pokal, über den noch +kein irdischer Hauch geweht, einen Nektarkelch, dessen Inhalt es, wie +er flammt und flackert, hinunterschlingt ... Die Befriedigung, die der +Mann dabei findet, denke ich mir schal und abgestanden. + +=Melchior= + +Denke sie dir, wie du magst, aber behalte sie für dich. -- Ich denke +sie mir nicht gern ... + + +Zweite Szene + +_Wohnzimmer._ + +=Frau Bergmann= + +(den Hut auf, die Mantille um, einen Korb am Arm, mit strahlendem +Gesicht durch die Mitteltür eintretend.) + +Wendla! -- Wendla! + +=Wendla= + +(erscheint in Unterröckchen und Korsett in der Seitentür rechts) + +Was gibt’s, Mutter? + +=Frau Bergmann= + +Du bist schon auf, Kind? -- Sieh, das ist schön von dir! + +=Wendla= + +Du warst schon ausgegangen? + +=Frau Bergmann= + +Zieh dich nun nur flink an! -- Du mußt gleich zu _Ina_ hinunter. Du +mußt ihr den Korb da bringen! + +=Wendla= + +(sich während des folgenden vollends ankleidend) + +Du warst bei Ina? -- Wie geht es Ina? -- Will’s noch immer nicht +bessern? + +=Frau Bergmann= + +Denke dir, Wendla, diese Nacht war der Storch bei ihr und hat ihr einen +kleinen Jungen gebracht. + +=Wendla= + +Einen Jungen? -- Einen Jungen! -- O das ist herrlich! -- -- Deshalb die +langwierige Influenza! + +=Frau Bergmann= + +Einen prächtigen Jungen! + +=Wendla= + +Den muß ich sehen, Mutter! -- So bin ich nun zum dritten Mal Tante +geworden -- Tante von einem Mädchen und zwei Jungens! + +=Frau Bergmann= + +Und was für Jungens! -- So geht’s eben, wenn man so dicht beim +Kirchendach wohnt! -- Morgen sind’s erst zwei Jahr, daß sie in ihrem +Mullkleid die Stufen hinanstieg. + +=Wendla= + +Warst du dabei, als er ihn brachte? + +=Frau Bergmann= + +Er war eben wieder fortgeflogen. -- Willst du dir nicht eine Rose +vorstecken? + +=Wendla= + +Warum kamst du nicht etwas früher hin, Mutter? + +=Frau Bergmann= + +Ich glaube aber beinahe, er hat dir auch etwas mitgebracht -- eine +Brosche oder was. + +=Wendla= + +Es ist wirklich schade! + +=Frau Bergmann= + +Ich sage dir ja, daß er dir eine Brosche mitgebracht hat! + +=Wendla= + +Ich habe Broschen genug ... + +=Frau Bergmann= + +Dann sei auch zufrieden, Kind. Was willst du denn noch? + +=Wendla= + +Ich hätte so furchtbar gerne gewußt, ob er durchs Fenster oder durch +den Schornstein geflogen kam. + +=Frau Bergmann= + +Da mußt du Ina fragen. Ha, das mußt du Ina fragen, liebes Herz! Ina +sagt dir das ganz genau. Ina hat ja eine ganze halbe Stunde mit ihm +gesprochen. + +=Wendla= + +Ich werde Ina fragen, wenn ich hinunterkomme. + +=Frau Bergmann= + +Aber ja nicht vergessen, du süßes Engelsgeschöpf! Es interessiert +mich wirklich selbst, zu wissen, ob er durchs Fenster oder durch den +Schornstein kam. + +=Wendla= + +Oder soll ich nicht lieber den Schornsteinfeger fragen? -- Der +Schornsteinfeger muß es doch am besten wissen, ob er durch den +Schornstein fliegt oder nicht. + +=Frau Bergmann= + +Nicht den Schornsteinfeger, Kind; nicht den Schornsteinfeger. Was weiß +der Schornsteinfeger vom Storch! -- Der schwatzt dir allerhand dummes +Zeug vor, an das er selbst nicht glaubt ... Wa -- was glotzst du so auf +die Straße hinunter?? + +=Wendla= + +Ein Mann, Mutter -- dreimal so groß wie ein Ochse! -- mit Füßen wie +Dampfschiffe ...! + +=Frau Bergmann= + +(ans Fenster stürzend) + +Nicht möglich! -- Nicht möglich! -- + +=Wendla= (zugleich) + +Eine Bettlade hält er unterm Kinn, fiedelt die Wacht am Rhein drauf -- +-- eben biegt er um die Ecke ... + +=Frau Bergmann= + +Du bist und bleibst doch ein Kindskopf! -- Deine alte einfältige Mutter +so in Schrecken jagen! -- Geh, nimm deinen Hut. Nimmt mich Wunder, +wann bei dir einmal der Verstand kommt. -- Ich habe die Hoffnung +aufgegeben. + +=Wendla= + +Ich auch, Mütterchen, ich auch. -- Um meinen Verstand ist es ein +traurig Ding. -- Hab’ ich nun eine Schwester, die ist seit zwei und +einem halben Jahre verheiratet, und ich selber bin zum dritten Male +Tante geworden, und habe gar keinen Begriff, wie das alles zugeht ... +Nicht böse werden, Mütterchen; nicht böse werden! Wen in der Welt soll +ich denn fragen als dich! Bitte, liebe Mutter, sag es mir! Sag’s mir, +geliebtes Mütterchen! Ich schäme mich vor mir selber. Ich bitte dich, +Mutter, sprich! Schilt mich nicht, daß ich so etwas frage. Gib mir +Antwort -- wie geht es zu? -- wie kommt das alles? -- Du kannst doch im +Ernst nicht verlangen, daß ich bei meinen vierzehn Jahren noch an den +Storch glaube. + +=Frau Bergmann= + +Aber du großer Gott, Kind, wie bist du sonderbar! -- Was du für +Einfälle hast! -- Das kann ich ja doch wahrhaftig nicht! + +=Wendla= + +Warum denn nicht, Mutter! -- Warum denn nicht! -- Es kann ja doch +nichts Häßliches sein, wenn sich alles darüber freut! + +=Frau Bergmann= + +O -- o Gott behüte mich! -- Ich verdiente ja ... Geh, zieh dich an, +Mädchen; zieh dich an! + +=Wendla= + +Ich gehe, ... Und wenn dein Kind nun hingeht und fragt den +Schornsteinfeger? + +=Frau Bergmann= + +Aber das ist ja zum Närrischwerden! -- Komm Kind, komm her, ich sag es +dir! Ich sage dir Alles ... O du grundgütige Allmacht! -- nur heute +nicht, Wendla! -- Morgen, übermorgen, kommende Woche ... wann du nur +immer willst, liebes Herz ... + +=Wendla= + +Sag es mir heute, Mutter; sag es mir jetzt! Jetzt gleich! -- Nun ich +dich so entsetzt gesehen, kann ich erst recht nicht eher wieder ruhig +werden. + +=Frau Bergmann= + +-- Ich kann nicht, Wendla. + +=Wendla= + +O, warum kannst du nicht, Mütterchen! -- Hier knie ich zu deinen Füßen +und lege dir meinen Kopf in den Schoß. Du deckst mir deine Schürze über +den Kopf und erzählst und erzählst, als wärst du mutterseelenallein +im Zimmer. Ich will nicht zucken; ich will nicht schreien; ich will +geduldig ausharren, was immer kommen mag. + +=Frau Bergmann= + +-- Der Himmel weiß, Wendla, daß ich nicht die Schuld trage! Der Himmel +kennt mich! -- Komm in Gottes Namen! -- Ich will dir erzählen, Mädchen, +wie du in diese Welt hineingekommen. -- So hör mich an, Wendla ... + +=Wendla= + +(unter ihrer Schürze) + +Ich höre. + +=Frau Bergmann= (ekstatisch) + +-- Aber es geht ja nicht, Kind! -- Ich kann es ja nicht verantworten. +-- Ich verdiene ja, daß man mich ins Gefängnis setzt -- daß man dich +von mir nimmt ... + +=Wendla= + +(unter ihrer Schürze) + +Faß dir ein Herz, Mutter! + +=Frau Bergmann= + +So höre denn ...! + +=Wendla= + +(unter ihrer Schürze, zitternd) + +O Gott, o Gott! + +=Frau Bergmann= + +Um ein Kind zu bekommen -- du verstehst mich, Wendla? + +=Wendla= + +Rasch, Mutter -- ich halt’s nicht mehr aus. + +=Frau Bergmann= + +-- Um ein Kind zu bekommen -- muß man den Mann -- mit dem man +verheiratet ist ... _lieben_ -- _lieben_ sag’ ich dir -- wie man nur +einen Mann lieben kann! Man muß ihn so sehr _von ganzem Herzen_ lieben, +wie -- wie sich’s nicht sagen läßt! Man muß ihn _lieben_, Wendla, wie +du in deinen Jahren noch gar nicht lieben kannst ... Jetzt weißt du’s. + +=Wendla= + +(sich erhebend) + +Großer -- Gott -- im Himmel! + +=Frau Bergmann= + +Jetzt weißt du, welche Prüfungen dir bevorstehen! + +=Wendla= + +-- Und das ist alles? + +=Frau Bergmann= + +So wahr mir Gott helfe! -- -- Nimm nun den Korb da und geh zu Ina +hinunter. Du bekommst dort Schokolade und Kuchen dazu. -- Komm, +laß dich noch einmal betrachten -- die Schnürstiefel, die seidenen +Handschuhe, die Matrosentaille, die Rosen im Haar ...... dein Röckchen +wird dir aber wahrhaftig nachgerade zu kurz, Wendla! + +=Wendla= + +Hast du für Mittag schon Fleisch gebracht, Mütterchen? + +=Frau Bergmann= + +Der liebe Gott behüte dich und segne dich! -- Ich werde dir +gelegentlich eine Handbreit Volants unten ansetzen. + + +Dritte Szene + +_Hänschen Rilow_ (ein Licht in der Hand, verriegelt die Tür hinter sich +und öffnet den Deckel). + +Hast du zu Nacht gebetet, Desdemona? + +(Er zieht eine Reproduktion der Venus von Palma Vecchio aus dem Busen.) + +-- Du siehst mir nicht nach Vaterunser aus, Holde -- kontemplativ +des Kommenden gewärtig, wie in dem süßen Augenblick aufkeimender +Glückseligkeit, als ich dich bei Jonathan Schlesinger im Schaufenster +liegen sah -- ebenso berückend noch diese geschmeidigen Glieder, diese +sanfte Wölbung der Hüften, diese jugendlich straffen Brüste -- o, +wie berauscht von Glück muß der große Meister gewesen sein, als das +vierzehnjährige Original vor seinen Blicken hingestreckt auf dem Diwan +lag! + +Wirst du mich auch bisweilen im Traum besuchen? -- Mit ausgebreiteten +Armen empfang’ ich dich und will dich küssen, daß dir der Atem ausgeht. +Du ziehst bei mir ein wie die angestammte Herrin in ihr verödetes +Schloß. Tor und Türen öffnen sich von unsichtbarer Hand, während der +Springquell unten im Parke fröhlich zu plätschern beginnt ... + +Die Sache will’s! -- Die Sache will’s! -- Daß ich nicht aus frivoler +Regung morde, sagt dir das fürchterliche Pochen in meiner Brust. Die +Kehle schnürt sich mir zu im Gedanken an meine einsamen Nächte. Ich +schwöre dir bei meiner Seele, Kind, daß nicht Überdruß mich beherrscht. +Wer wollte sich rühmen, deiner überdrüssig geworden zu sein! + +Aber du saugst mir das Mark aus den Knochen, du krümmst mir den Rücken, +du raubst meinen jungen Augen den letzten Glanz. -- Du bist mir zu +anspruchsvoll in deiner unmenschlichen Bescheidenheit, zu aufreibend +mit deinen unbeweglichen Gliedmaßen! -- Du oder ich! -- und ich habe +den Sieg davongetragen. + +Wenn ich sie herzählen wollte -- all die Entschlafenen, mit denen ich +hier den nämlichen Kampf gekämpft! --: Psyche von _Thumann_ -- noch +ein Vermächtnis der spindeldürren Mademoiselle _Angelique_, dieser +Klapperschlange im Paradies meiner Kinderjahre; Io von _Corregio_; +Galathea von _Lossow_; dann ein Amor von _Bouguereau_; Ada von _J. van +Beers_ -- diese Ada, die ich Papa aus einem Geheimfach seines Sekretärs +entführen mußte, um sie meinem Harem einzuverleiben; eine zitternde, +zuckende Leda von _Makart_, die ich zufällig unter den Kollegienheften +meines Bruders fand -- _sieben_, du blühende Todeskandidatin, sind dir +vorangeeilt auf diesem Pfad in den Tartarus! Laß dir das zum Troste +gereichen und suche nicht durch diese flehentlichen Blicke noch meine +Qualen ins Ungeheure zu steigern. + +Du stirbst nicht um _deiner_, du stirbst um _meiner_ Sünden willen! +-- Aus Notwehr gegen mich begehe ich blutenden Herzens den siebenten +Gattenmord. Es liegt etwas Tragisches in der Rolle des _Blaubart_. Ich +glaube, seine gemordeten Frauen insgesamt litten nicht so viel wie er +beim Erwürgen jeder einzelnen. + +Aber mein Gewissen wird ruhiger werden, mein Leib wird sich kräftigen, +wenn du Teufelin nicht mehr in den rotseidenen Polstern meines +Schmuckkästchens residierst. Statt deiner lasse ich dann die Lurlei +von _Bodenhausen_ oder die Verlassene von _Linger_ oder die Loni von +_Defregger_ in das üppige Lustgemach einziehen -- so werde ich mich +um so rascher erholt haben! Noch ein Vierteljährchen vielleicht, und +dein entschleiertes Josaphat, süße Seele, hätte an meinem armen Hirn +zu zehren begonnen wie die Sonne am Butterkloß. Es war hohe Zeit, die +Trennung von Tisch und Bett zu erwirken. + +Brrr, ich fühle einen Heliogabalus in mir! ~Moritura me salutat!~ -- +Mädchen, Mädchen, warum preßt du deine Kniee zusammen? -- warum auch +jetzt noch? -- -- angesichts der unerforschlichen Ewigkeit?? -- _Eine_ +Zuckung, und ich gebe dich frei! -- _Eine_ weibliche Regung, _ein_ +Zeichen von Lüsternheit, von Sympathie, Mädchen! -- ich will dich in +Gold rahmen lassen, dich über meinem Bett aufhängen! -- Ahnst du denn +nicht, daß nur deine _Keuschheit_ meine Ausschweifungen gebiert? -- +Wehe, wehe über die Unmenschlichen! + +... Man merkt eben immer, daß sie eine musterhafte Erziehung genossen +hat. -- _Mir geht es ja ebenso._ + +Hast du zu Nacht gebetet, Desdemona? + +Das Herz krampft sich mir zusammen -- -- Unsinn! -- Auch die heilige +_Agnes_ starb um ihrer Zurückhaltung willen und war nicht halb so nackt +wie du! -- Einen Kuß noch auf deinen blühenden Leib, -- deine kindlich +schwellende Brust -- deine süßgerundeten -- deine grausamen Kniee ... + +Die Sache will’s, die Sache will’s, mein Herz! + +_Laßt sie mich euch nicht nennen, keusche Sterne!_ + +Die Sache will’s! -- + +(Das Bild fällt in die Tiefe; er schließt den Deckel) + + +Vierte Szene + +Ein _Heuboden_ -- _Melchior_ liegt auf dem Rücken im frischen Heu. +_Wendla_ kommt die Leiter herauf. + +=Wendla= + +_Hier_ hast du dich verkrochen? -- Alles sucht dich. Der Wagen ist +wieder hinaus. Du mußt helfen. Es ist ein Gewitter im Anzug. + +=Melchior= + +Weg von mir! -- Weg von mir! + +=Wendla= + +Was ist dir denn? -- Was verbirgst du dein Gesicht? + +=Melchior= + +Fort, fort! -- Ich werfe dich in die Tenne hinunter. + +=Wendla= + +Nun geh’ ich erst recht nicht. -- (Kniet neben ihm nieder) Warum kommst +du nicht mit auf die Matte hinaus, Melchior? -- Hier ist es schwül und +düster. Werden wir auch naß bis auf die Haut, was macht _uns_ das! + +=Melchior= + +Das Heu duftet so herrlich. -- Der Himmel draußen muß schwarz wie ein +Bahrtuch sein. -- Ich sehe nur noch den leuchtenden Mohn an deiner +Brust -- und dein Herz hör’ ich schlagen -- + +=Wendla= + +-- -- Nicht küssen, Melchior! -- Nicht küssen! + +=Melchior= + +-- dein Herz -- hör’ ich schlagen -- + +=Wendla= + +-- Man liebt sich -- wenn man küßt -- -- -- -- Nicht, nicht! -- -- + +=Melchior= + +O glaub mir, es gibt keine _Liebe_! -- Alles Eigennutz, alles Egoismus! +-- Ich liebe dich so wenig, wie du mich liebst. -- + +=Wendla= + +-- -- Nicht! -- -- -- -- -- -- -- Nicht, Melchior! -- -- + +=Melchior= + +-- -- -- Wendla! + +=Wendla= + +O Melchior! -- -- -- -- -- -- -- -- nicht -- -- nicht -- -- + + +Fünfte Szene + +=Frau Gabor= + +(sitzt, schreibt): + + Lieber Herr Stiefel! + +Nachdem ich 24 Stunden über alles, was Sie mir schreiben, nachgedacht +und wieder nachgedacht, ergreife ich schweren Herzens die Feder. +Den Betrag zur Überfahrt nach Amerika kann ich Ihnen -- ich gebe +Ihnen meine heiligste Versicherung -- _nicht_ verschaffen. Erstens +habe ich so viel nicht zu meiner Verfügung, und zweitens, wenn ich +es hätte, wäre es die denkbar größte Sünde, Ihnen die Mittel zur +Ausführung einer so folgenschweren Unbedachtsamkeit an die Hand zu +geben. Bitter Unrecht würden Sie mir tun, Herr Stiefel, in dieser +meiner Weigerung ein Zeichen mangelnder Liebe zu erblicken. Es wäre +umgekehrt die gröbste Verletzung meiner Pflicht als Ihre mütterliche +Freundin, wollte ich mich durch Ihre momentane Fassungslosigkeit dazu +bestimmen lassen, nun auch meinerseits den Kopf zu verlieren und +meinen ersten nächstliegenden Impulsen blindlings nachzugeben. Ich bin +gern bereit -- falls Sie es wünschen -- an Ihre Eltern zu schreiben. +Ich werde Ihre Eltern davon zu überzeugen suchen, daß Sie im Laufe +dieses Quartals getan haben, was Sie tun konnten, daß Sie Ihre Kräfte +erschöpft, derart, daß eine rigorose Beurteilung Ihres Geschickes nicht +nur ungerechtfertigt wäre, sondern in erster Linie im höchsten Grade +nachteilig auf Ihren geistigen und körperlichen Gesundheitszustand +wirken könnte. + +Daß Sie mir andeutungsweise drohen, im Fall Ihnen die Flucht nicht +ermöglicht wird, sich das Leben nehmen zu wollen, hat mich, offen +gesagt, Herr Stiefel, etwas befremdet. Sei ein Unglück noch so +unverschuldet, man sollte sich nie und nimmer zur Wahl unlauterer +Mittel hinreißen lassen. Die Art und Weise, wie Sie mich, die ich Ihnen +stets nur Gutes erwiesen, für einen eventuellen entsetzlichen Frevel +Ihrerseits verantwortlich machen wollen, hat etwas, das in den Augen +eines _schlecht_denkenden Menschen gar zu leicht zum Erpressungsversuch +werden könnte. Ich muß gestehen, daß ich mir dieses Vorgehens von +Ihnen, der Sie doch sonst so gut wissen, was man sich selber schuldet, +zu allerletzt gewärtig gewesen wäre. Indessen hege ich die feste +Überzeugung, daß Sie noch zu sehr unter dem Eindruck des ersten +Schreckens standen, um sich Ihrer Handlungsweise vollkommen bewußt +werden zu können. + +Und so hoffe ich denn auch zuversichtlich, daß diese meine Worte +Sie bereits in gefaßterer Gemütsstimmung antreffen. Nehmen Sie die +Sache, wie sie liegt. Es ist meiner Ansicht nach durchaus unzulässig, +einen jungen Mann nach seinen Schulzeugnissen zu beurteilen. Wir +haben zu viele Beispiele, daß sehr schlechte Schüler vorzügliche +Menschen geworden und umgekehrt ausgezeichnete Schüler sich im Leben +nicht sonderlich bewährt haben. Auf jeden Fall gebe ich Ihnen die +Versicherung, daß Ihr Mißgeschick, soweit das von mir abhängt, in Ihrem +Verkehr mit _Melchior_ nichts ändern soll. Es wird mir stets zur Freude +gereichen, meinen Sohn mit einem jungen Manne umgehn zu sehen, der +sich, mag ihn nun die Welt beurteilen wie sie will, auch meine vollste +Sympathie zu gewinnen vermochte. + +Und somit Kopf hoch, Herr Stiefel! -- Solche Krisen dieser oder jener +Art treten an jeden von uns heran und wollen eben überstanden sein. +Wollte da ein jeder gleich zu Dolch und Gift greifen, es möchte recht +bald keine Menschen mehr auf der Welt geben. Lassen Sie bald wieder +etwas von sich hören und seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrer Ihnen +unverändert zugetanen + + mütterlichen Freundin + + Fanny G. + + +Sechste Szene + +_Bergmanns Garten im Morgensonnenglanz_ + +=Wendla= + +Warum hast du dich aus der Stube geschlichen? -- Veilchen suchen! -- +Weil mich Mutter lächeln sieht. -- Warum bringst du auch die Lippen +nicht mehr zusammen? -- Ich weiß nicht. -- Ich weiß es ja nicht, ich +finde nicht Worte ... + +Der Weg ist wie ein Pelücheteppich -- kein Steinchen, kein Dorn. +-- Meine Füße berühren den Boden nicht ... O, wie ich die Nacht +geschlummert habe! + +Hier standen sie. -- Mir wird ernsthaft wie einer Nonne beim Abendmahl. +-- Süße Veilchen! -- Ruhig, Mütterchen. Ich will mein Bußgewand +anziehn. -- Ach Gott, wenn jemand käme, dem ich um den Hals fallen und +erzählen könnte! + + +Siebente Szene + +_Abenddämmerung_. Der Himmel ist leicht bewölkt. Der Weg schlängelt +sich durch niedres Gebüsch und Riedgras. In einiger Entfernung hört man +den Fluß rauschen. + +=Moritz= + +Besser ist besser. -- Ich passe nicht hinein. Mögen sie einander auf +die Köpfe steigen. -- Ich ziehe die Tür hinter mir zu und trete ins +Freie. -- Ich gebe nicht so viel darum, mich herumdrücken zu lassen. + +Ich habe mich nicht aufgedrängt. Was soll ich mich jetzt aufdrängen! +-- Ich habe keinen Vertrag mit dem lieben Gott. Mag man die Sache +drehen, wie man sie drehen will. Man hat mich gepreßt. -- Meine Eltern +mache ich nicht verantwortlich. Immerhin mußten sie auf das Schlimmste +gefaßt sein. Sie waren alt genug, um zu wissen, was sie taten. Ich war +ein Säugling, als ich zur Welt kam -- sonst wär’ ich wohl auch noch so +schlau gewesen, ein anderer zu werden. -- Was soll ich dafür büßen, daß +alle andern schon da waren! + +Ich müßte ja auf den Kopf gefallen sein ... macht mir jemand einen +tollen Hund zum Geschenk, dann gebe ich ihm seinen tollen Hund zurück. +Und will er seinen tollen Hund nicht zurücknehmen, dann bin ich +menschlich und ... + +Ich müßte ja auf den Kopf gefallen sein! + +Man wird ganz per Zufall geboren und sollte nicht nach reiflichster +Überlegung -- -- -- es ist zum Totschießen! + +-- Das Wetter zeigt sich wenigstens rücksichtsvoll. Den ganzen Tag sah +es nach Regen aus und nun hat es sich doch gehalten. -- Es herrscht +eine seltene Ruhe in der Natur. Nirgends etwas Grelles, Aufreizendes. +Himmel und Erde sind wie durchsichtiges Spinnewebe. Und dabei scheint +sich alles so wohl zu fühlen. Die Landschaft ist lieblich wie eine +Schlummermelodie -- „_schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein_“, wie +Fräulein _Snandulia_ sang. Schade, daß sie die Ellbogen ungraziös hält! +-- Am Cäcilienfest habe ich zum letzten Male getanzt. _Snandulia_ tanzt +nur mit Partien. Ihre Seidenrobe war hinten und vorn ausgeschnitten. +Hinten bis auf den Taillengürtel und vorne bis zur Bewußtlosigkeit. -- +Ein Hemd kann sie nicht angehabt haben ... -- -- -- -- -- -- -- -- -- +-- -- -- -- + +-- das wäre etwas, was mich noch fesseln könnte. -- Mehr der Kuriosität +halber. -- Es muß ein sonderbares Empfinden sein -- -- ein Gefühl, als +würde man über Stromschnellen gerissen -- -- -- Ich werde es niemandem +sagen, daß ich unverrichteter Sache wiederkehre. Ich werde so tun, als +hätte ich alles das mitgemacht ... Es hat etwas Beschämendes, Mensch +gewesen zu sein, ohne das Menschlichste kennen gelernt zu haben. -- Sie +kommen aus _Ägypten_, verehrter Herr, und haben die _Pyramiden_ nicht +gesehn?! + +Ich will heute nicht wieder weinen. Ich will nicht wieder an mein +Begräbnis denken -- -- _Melchior_ wird mir einen Kranz auf den +Sarg legen. Pastor _Kahlbauch_ wird meine Eltern trösten. Rektor +_Sonnenstich_ wird Beispiele aus der Geschichte zitieren. -- Einen +Grabstein werd’ ich ja wahrscheinlich nicht bekommen. Ich hätte mir +eine schneeweiße Marmorurne auf schwarzem Syenitsockel gewünscht -- +ich werde sie ja gottlob nicht vermissen. Die Denkmäler sind für die +Lebenden, nicht für die Toten. + +Ich brauchte wohl ein Jahr, um in Gedanken von allem Abschied zu +nehmen. Ich will nicht wieder weinen. Ich bin so froh, ohne Bitterkeit +zurückblicken zu dürfen. Wie manchen schönen Abend ich mit _Melchior_ +verlebt habe! -- unter den Uferweiden; beim Forsthaus; am Heerweg +draußen, wo die fünf Linden stehen; auf dem Schloßberg, zwischen den +lauschigen Trümmern der Runenburg -- -- -- Wenn die Stunde gekommen, +will ich aus Leibeskräften an Schlagsahne denken. Schlagsahne hält +nicht auf. Sie stopft und hinterläßt dabei doch einen angenehmen +Nachgeschmack ... Auch die Menschen hatte ich mir unendlich schlimmer +gedacht. Ich habe keinen gefunden, der nicht sein Bestes gewollt hätte. +Ich habe manchen bemitleidet um meinetwillen. + +Ich wandle zum Altar wie der Jüngling im alten Etrurien, dessen letztes +Röcheln der Brüder Wohlergehen für das kommende Jahr erkauft. -- Ich +durchkoste Zug für Zug die geheimnisvollen Schauer der Loslösung. Ich +schluchze vor Wehmut über mein Los. -- -- Das Leben hat mir die kalte +Schulter gezeigt. Von drüben her sehe ich ernste freundliche Blicke +winken: die kopflose Königin, die kopflose Königin -- Mitgefühl, mich +mit weichen Armen erwartend ... Eure Gebote gelten für Unmündige; ich +trage mein Freibillett in mir. Sinkt die Schale, dann flattert der +Falter davon; das Trugbild geniert nicht mehr. -- Ihr solltet kein +tolles Spiel mit dem Schwindel treiben! Der Nebel zerrinnt; das Leben +ist Geschmacksache. + +=Ilse= + +(in abgerissenen Kleidern, ein buntes Tuch um den Kopf, faßt ihn von +rückwärts an der Schulter) + +Was hast du verloren? + +=Moritz= + +Ilse?! + +=Ilse= + +Was suchst du hier? + +=Moritz= + +Was erschreckst du mich so? + +=Ilse= + +Was suchst du? -- Was hast du verloren? + +=Moritz= + +Was erschreckst du mich denn so entsetzlich? + +=Ilse= + +Ich komme aus der Stadt. -- Ich gehe nach Hause. + +=Moritz= + +Ich weiß nicht, was ich verloren habe. + +=Ilse= + +Dann hilft auch dein Suchen nichts. + +=Moritz= + +Sakerment, Sakerment!! + +=Ilse= + +Seit vier Tagen bin ich nicht zu Hause gewesen. + +=Moritz= + +-- Lautlos wie eine Katze! + +=Ilse= + +Weil ich meine Ballschuhe anhabe. -- Mutter wird Augen machen! -- Komm +bis an unser Haus mit! + +=Moritz= + +Wo hast du wieder herumgestrolcht? + +=Ilse= + +In der _Priapia_! + +=Moritz= + +_Priapia_? + +=Ilse= + +Bei _Nohl_, bei _Fehrendorf_, bei _Padinsky_, bei _Lenz_, _Rank_, +_Spühler_ -- bei allen möglichen! -- Kling, kling -- die wird springen! + +=Moritz= + +Malen sie dich? + +=Ilse= + +_Fehrendorf_ malt mich als Säulenheilige. Ich stehe auf einem +korinthischen Kapitäl. _Fehrendorf_, sag’ ich dir, ist eine verhauene +Nudel. Das letzte Mal zertrat ich ihm eine Tube. Er wischt mir die +Pinsel ins Haar. Ich versetze ihm eine Ohrfeige. Er wirft mir die +Palette an den Kopf. Ich werfe die Staffelei um. Er mit dem Malstock +hinter mir drein über Divan, Tische, Stühle, ringsum durchs Atelier. +Hinterm Ofen lag eine Skizze: -- Brav sein, oder ich zerreiße sie! -- +Er schwor Amnestie und hat mich dann schließlich noch schrecklich -- +schrecklich, sag’ ich dir -- abgeküßt. + +=Moritz= + +Wo übernachtest du, wenn du in der Stadt bleibst? + +=Ilse= + +Gestern waren wir bei _Nohl_ -- vorgestern bei _Bojokewitsch_ -- am +Sonntag bei _Oikonomopulos_. Bei _Padinsky_ gab’s Sekt. _Valabregez_ +hatte seinen Pestkranken verkauft. _Adolar_ trank aus dem Aschenbecher. +_Lenz_ sang die _Kindsmörderin_, und _Adolar_ schlug die Guitarre +krumm. Ich war so betrunken, daß sie mich zu Bett bringen mußten. -- -- +Du gehst immer noch zur Schule, Moritz? + +=Moritz= + +Nein, nein ... dieses Quartal nehme ich meine Entlassung. + +=Ilse= + +Du hast Recht. Ach, wie die Zeit vergeht, wenn man Geld verdient! -- +Weißt du noch, wie wir _Räuber_ spielten? -- _Wendla Bergmann_ und +du und ich und die Andern, wenn ihr abends herauskamt und kuhwarme +Ziegenmilch bei uns trankt? -- Was macht _Wendla_? Ich sah sie noch bei +der Überschwemmung. -- Was macht _Melchi Gabor_? -- Schaut er noch so +tiefsinnig drein? -- In der Singstunde standen wir einander gegenüber. + +=Moritz= + +Er philosophiert. + +=Ilse= + +_Wendla_ war derweil bei uns und hat der Mutter Eingemachtes gebracht. +Ich saß den Tag bei Isidor Landauer. Er braucht mich zur heiligen +Maria, Mutter Gottes, mit dem Christuskind. Er ist ein Tropf und +widerlich. Hu, wie ein Wetterhahn! -- Hast du Katzenjammer? + +=Moritz= + +Von gestern Abend! -- Wir haben wie Nilpferde gezecht. Um fünf Uhr +wankt’ ich nach Hause. + +=Ilse= + +Man braucht dich nur anzusehn. -- Waren Mädchen dabei? + +=Moritz= + +Arabella, die Biernymphe, Andalusierin! -- Der Wirt ließ uns Alle die +ganze Nacht durch mit ihr allein. + +=Ilse= + +Man braucht dich nur anzusehen, Moritz! -- Ich kenne keinen +Katzenjammer. Vergangenen Karneval kam ich drei Tage und drei Nächte in +kein Bett und nicht aus den Kleidern. Von der Redoute ins Café, Mittags +in Bellavista, Abends Tingl-Tangl, Nachts zur Redoute. _Lena_ war dabei +und die dicke _Viola_. -- In der dritten Nacht fand mich _Heinrich_. + +=Moritz= + +Hatte er dich denn gesucht? + +=Ilse= + +Er war über meinen Arm gestolpert. Ich lag bewußtlos im Straßenschnee. +-- Darauf kam ich zu ihm hin. Vierzehn Tage verließ ich seine Behausung +nicht -- eine gräuliche Zeit! -- Morgens mußte ich seinen persischen +Schlafrock überwerfen und abends in schwarzem Pagenkostüm durchs Zimmer +gehn; an Hals, an Knien und Ärmeln weiße Spitzenaufschläge. Täglich +photographierte er mich in anderem Arrangement -- einmal auf der +Sofalehne als Ariadne, einmal als Leda, einmal als Ganymed, einmal auf +allen Vieren als weiblichen Nebuchod-Nosor. Dabei schwärmte er von +Umbringen, von Erschießen, Selbstmord und Kohlendampf. Frühmorgens nahm +er eine Pistole ins Bett, lud sie voll Spitzkugeln und setzte sie mir +auf die Brust: Ein Zwinkern, so drück’ ich! -- O, er hätte gedrückt, +Moritz; er hätte gedrückt! -- Dann nahm er das Dings in den Mund wie +ein Pusterohr. Das wecke den Selbsterhaltungstrieb. Und dann -- Brrrr +-- die Kugel wäre mir durchs Rückgrat gegangen. + +=Moritz= + +Lebt _Heinrich_ noch? + +=Ilse= + +Was weiß ich! -- Über dem Bett war ein Deckenspiegel im Plafond +eingelassen. Das Kabinet schien turmhoch und hell wie ein Opernhaus. +Man sah sich leibhaftig vom Himmel herunterhängen. Grauenvoll habe ich +die Nächte geträumt. -- Gott, o Gott, wenn es erst wieder Tag würde! -- +Gute Nacht, Ilse. Wenn du schläfst, bist du zum Morden schön! + +=Moritz= + +Lebt dieser _Heinrich_ noch? + +=Ilse= + +So Gott will, nicht! -- Wie er eines Tages Absynth holt, werfe ich den +Mantel um und schleiche mich auf die Straße. Der Fasching war aus; die +Polizei fängt mich ab; was ich in Mannskleidern wolle? -- Sie brachten +mich zur Hauptwache. Da kamen _Nohl_, _Fehrendorf_, _Padinsky_, +_Spühler_, _Oikonomopulos_, die ganze _Priapia_, und bürgten für mich. +Im Fiaker transportierten sie mich auf _Adolars_ Atelier. Seither bin +ich der Horde treu. _Fehrendorf_ ist ein Affe, _Nohl_ ist ein Schwein, +_Bojokewitsch_ ein Uhu, _Loison_ eine Hyäne, _Oikonomopulos_ ein Kameel +-- darum lieb’ ich sie doch Einen wie den Andern und möchte mich an +sonst niemand hängen, und wenn die Welt voll Erzengel und Millionäre +wär’! + +=Moritz= + +-- Ich muß zurück, Ilse. + +=Ilse= + +Komm bis an unser Haus mit! + +=Moritz= + +-- Wozu? -- Wozu? -- + +=Ilse= + +Kuhwarme Ziegenmilch trinken! -- Ich will dir Locken brennen und +dir ein Glöcklein um den Hals hängen. -- Wir haben auch noch ein +Hü-Pferdchen, mit dem du spielen kannst. + +=Moritz= + +Ich muß zurück. -- Ich habe noch die Sassaniden, die Bergpredigt und +das Parallelepipedon auf dem Gewissen. -- Gute Nacht, Ilse! + +=Ilse= + +Schlummre süß! ... Geht ihr wohl noch zum _Wigwam_ hinunter, wo _Melchi +Gabor_ mein Tomahawk begrub? -- Brrr! Bis es an euch kommt, lieg’ ich +im Kehricht. (Eilt davon.) + +=Moritz= (allein) + +-- -- -- Ein Wort hätte es gekostet. -- (Er ruft) -- Ilse! -- Ilse! -- +-- Gottlob sie hört nicht mehr. + +-- Ich bin in der Stimmung nicht. -- Dazu bedarf es eines freien Kopfes +und eines fröhlichen Herzens. -- Schade, schade um die Gelegenheit! + +... ich werde sagen, ich hätte mächtige Kristallspiegel über meinen +Betten gehabt -- hätte mir ein unbändiges Füllen gezogen -- hätte es +in langen schwarzseidenen Strümpfen und schwarzen Lackstiefeln und +schwarzen, langen Glacé-Handschuhen, schwarzen Samt um den Hals, +über den Teppich an mir vorbeistolzieren lassen -- hätte es in einem +Wahnsinnsanfall in meinen Kissen erwürgt ... ich werde lächeln wenn von +Wollust die Rede ist ... ich werde -- + +_Aufschreien! -- Aufschreien! -- Du sein, Ilse! -- Priapia! -- +Besinnungslosigkeit! -- Das nimmt die Kraft mir! -- Dieses Glückskind, +dieses Sonnenkind -- dieses Freudenmädchen auf meinem Jammerweg! -- -- +O! -- O!_ + + -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- + -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- + +(Im Ufergebüsch) + +Hab’ ich sie doch unwillkürlich wiedergefunden -- die Rasenbank. Die +Königskerzen scheinen gewachsen seit gestern. Der Ausblick zwischen +den Weiden durch ist derselbe noch. -- Der Fluß zieht schwer wie +geschmolzenes Blei. Daß ich nicht vergesse ... (er zieht Frau Gabors +Brief aus der Tasche und verbrennt ihn) -- Wie die Funken irren -- hin +und her, kreuz und quer -- Seelen! -- Sternschnuppen! -- + +Eh’ ich angezündet, sah man die Gräser noch und einen Streifen am +Horizont. -- Jetzt ist es dunkel geworden. Jetzt gehe ich nicht mehr +nach Hause. + + + + +Dritter Akt + + +Erste Szene + + +_Konferenzzimmer_. -- An den Wänden die Bildnisse von Pestalozzi und +J. J. Rousseau. Um einen grünen Tisch, über dem mehrere Gasflammen +brennen, sitzen die Professoren _Affenschmalz_, _Knüppeldick_, +_Hungergurt_, _Knochenbruch_, _Zungenschlag_ und _Fliegentod_. Am +oberen Ende auf erhöhtem Sessel Rektor _Sonnenstich_. Pedell _Habebald_ +kauert neben der Tür. + +=Sonnenstich= + +....Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben? -- -- +Meine Herren! -- Wenn wir nicht umhin können, bei einem hohen +Kultusministerium die Relegation unseres schuldbeladenen Schülers +zu beantragen, so können wir das aus den schwerwiegendsten Gründen +nicht. Wir können es nicht, um das bereits hereingebrochene Unglück +zu sühnen, wir können es eben so wenig, um unsere Anstalt für die +Zukunft vor ähnlichen Schlägen sicher zu stellen. Wir können es nicht, +um unseren schuldbeladenen Schüler für den demoralisirenden Einfluß, +den er auf seinen Klassengenossen ausgeübt, zu züchtigen; wir können +es zu allerletzt, um ihn zu verhindern, den nämlichen Einfluß auf +seine übrigen Klassengenossen auszuüben. Wir können es -- und der, +meine Herren, möchte der schwerwiegendste sein -- aus dem jeden +Einwand niederschlagenden Grunde nicht, weil wir unsere Anstalt vor +den Verheerungen einer Selbstmord-Epidemie zu schützen haben, wie sie +bereits an verschiedenen Gymnasien zum Ausbruch gelangt und bis heute +allen Mitteln, den Gymnasiasten an seine durch seine Heranbildung zum +Gebildeten gebildeten Existenzbedingungen zu fesseln, gespottet hat. -- +-- Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben? + +=Knüppeldick= + +Ich kann mich nicht länger der Überzeugung verschließen, daß es endlich +an der Zeit wäre, irgendwo ein Fenster zu öffnen. + +=Zungenschlag= + +Es he-herrscht hier eine A-A-Atmosphäre wie in unterirdischen +Kata-Katakomben, wie in den A-Aktensälen des weiland Wetzlarer +Ka-Ka-Ka-Ka-Kammergerichtes. + +=Sonnenstich= + +Habebald! + +=Habebald= + +Befehlen, Herr Rektor! + +=Sonnenstich= + +Öffnen Sie ein Fenster! Wir haben Gott sei Dank Atmosphäre genug +draußen. -- Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben? + +=Fliegentod= + +Wenn meine Herren Kollegen ein Fenster öffnen lassen wollen, so habe +ich meinerseits nichts dagegen einzuwenden. Nur möchte ich bitten, das +Fenster nicht gerade hinter meinem Rücken öffnen lassen zu wollen! + +=Sonnenstich= + +Habebald! + +=Habebald= + +Befehlen, Herr Rektor! + +=Sonnenstich= + +Öffnen Sie das andere Fenster! -- -- Sollte einer der Herren noch etwas +zu bemerken haben? + +=Hungergurt= + +Ohne die Kontroverse meinerseits belasten zu wollen, möchte ich an +die Tatsache erinnern, daß das andere Fenster seit den Herbstferien +zugemauert ist. + +=Sonnenstich= + +Habebald! + +=Habebald= + +Befehlen, Herr Rektor! + +=Sonnenstich= + +Lassen Sie das andere Fenster geschlossen! -- Ich sehe mich genötigt, +meine Herren, den Antrag zur Abstimmung zu bringen. Ich ersuche +diejenigen Herren Kollegen, die dafür sind, daß das einzig in Frage +kommen könnende Fenster geöffnet werde, sich von ihren Sitzen zu +erheben. (Er zählt) -- Eins, zwei, drei. -- Eins, zwei drei. -- +Habebald! + +=Habebald= + +Befehlen, Herr Rektor! + +=Sonnenstich= + +Lassen Sie das eine Fenster gleichfalls geschlossen! -- Ich meinerseits +hege die Überzeugung, daß die Atmosphäre nichts zu wünschen übrig +läßt! -- -- Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben? +-- -- Meine Herren! -- Setzen wir den Fall, daß wir die Relegation +unseres schuldbeladenen Schülers bei einem hohen Kultusministerium +zu beantragen unterlassen, so wird _uns_ ein hohes Kultusministerium +für das hereingebrochene Unglück verantwortlich machen. Von den +verschiedenen von der Selbstmord-Epidemie heimgesuchten Gymnasien +sind diejenigen, in denen fünfundzwanzig Prozent den Verheerungen +der Selbstmord-Epidemie zum Opfer gefallen, von einem hohen +Kultusministerium suspendiert worden. Vor diesem erschütterndsten +Schlage unsere Anstalt zu wahren, ist unsere Pflicht als Hüter und +Bewahrer unserer Anstalt. Es schmerzt uns tief, meine Herren Kollegen, +daß wir die sonstige Qualifikation unseres schuldbeladenen Schülers +als mildernden Umstand gelten zu lassen nicht in der Lage sind. Ein +nachsichtiges Verfahren, das sich unserem schuldbeladenen Schüler +gegenüber rechtfertigen ließe, ließe sich der zur Zeit in denkbar +bedenklichster Weise gefährdeten Existenz unserer Anstalt gegenüber +_nicht_ rechtfertigen. Wir sehen uns in die Notwendigkeit versetzt, den +Schuldbeladenen zu richten, um nicht als die Schuldlosen gerichtet zu +werden. -- Habebald! + +=Habebald= + +Befehlen, Herr Rektor! + +=Sonnenstich= + +Führen Sie ihn herauf! + +(Habebald ab.) + +=Zungenschlag= + +Wenn die he-herrschende A-A-Atmosphäre maßgebenderseits wenig +oder nichts zu wünschen übrig läßt, so möchte ich den Antrag +stellen, während der So-Sommerferien auch noch das andere Fenster +zu-zu-zu-zu-zu-zu-zu-zu-zuzumauern! + +=Fliegentod= + +Wenn unserem lieben Kollega Zungenschlag unser Lokal nicht genügend +ventiliert erscheint, so möchte ich den Auftrag stellen, unserm +lieben Herrn Kollega Zungenschlag einen Ventilator in die Stirnhöhle +applizieren zu lassen. + +=Zungenschlag= + +Da-da-das brauche ich mir nicht gefallen zu lassen! -- Gro-Grobheiten +brauche ich mir nicht gefallen zu lassen! -- Ich bin meiner +fü-fü-fü-fü-fünf Sinne mächtig ...! + +=Sonnenstich= + +Ich muß unsere Herren Kollegen Fliegentod und Zungenschlag um einigen +Anstand ersuchen. Unser schuldbeladener Schüler scheint mir bereits auf +der Treppe zu sein. + +(Habebald öffnet die Türe, worauf _Melchior_, bleich aber gefaßt, vor +die Versammlung tritt.) + +=Sonnenstich= + +Treten Sie näher an den Tisch heran! -- Nachdem Herr Rentier Stiefel +von dem ruchlosen Frevel seines Sohnes Kenntnis erhalten, durchsuchte +der fassungslose Vater, in der Hoffnung, auf diesem Wege möglicherweise +dem Anlaß der verabscheuungswürdigen Untat auf die Spur zu kommen, die +hinterlassenen Effekten seines Sohnes Moritz und stieß dabei an einem +nicht zur Sache gehörigen Orte auf ein Schriftstück, welches uns ohne +noch die verabscheuungswürdige Untat an sich verständlich zu machen, +für die dabei maßgebend gewesene moralische Zerrüttung des Untäters +eine leider nur allzu ausreichende Erklärung liefert. Es handelt sich +um eine in Gesprächsform abgefaßte, „_Der Beischlaf_“ betitelte, mit +lebensgroßen Abbildungen versehene, von den schamlosesten Unfläthereien +strotzende, zwanzig Seiten lange Abhandlung, die den geschraubtesten +Anforderungen, die ein verworfener Lüstling an eine unzüchtige Lektüre +zu stellen vermöchte, entsprechen dürfte. -- + +=Melchior= + +Ich habe ... + +=Sonnenstich= + +Sie haben sich ruhig zu verhalten! -- Nachdem Herr Rentier Stiefel +uns fragliches Schriftstück ausgehändigt und wir dem fassungslosen +Vater das Versprechen erteilt, um jeden Preis den Autor zu ermitteln, +wurde die uns vorliegende Handschrift mit den Handschriften sämtlicher +Mitschüler des weiland Ruchlosen verglichen und ergab nach dem +einstimmigen Urteil der gesamten Lehrerschaft, sowie in vollkommenem +Einklang mit dem Spezial-Gutachten unseres geschätzten Herrn Kollegen +für Kalligraphie die denkbar bedenklichste Ähnlichkeit mit der +_Ihrigen_. -- + +=Melchior= + +Ich habe ... + +=Sonnenstich= + +Sie haben sich ruhig zu verhalten! -- Ungeachtet der erdrückenden +Tatsache der von Seiten unantastbarer Autoritäten anerkannten +Ähnlichkeit glauben wir uns vorderhand noch jeder weiteren Maßnahmen +enthalten zu dürfen, um in erster Linie den Schuldigen über das +ihm demgemäß zur Last fallende Vergehen wider die Sittlichkeit in +Verbindung mit daraus resultierender Veranlassung zur Selbstentleibung +ausführlich zu vernehmen. -- + +=Melchior= + +Ich habe ... + +=Sonnenstich= + +Sie haben die genau präzisierten Fragen, die ich Ihnen der Reihe nach +vorlege, eine um die andere, mit einem schlichten und bescheidenen „Ja“ +oder „Nein“ zu beantworten. -- Habebald! + +=Habebald= + +Befehlen, Herr Rektor! + +=Sonnenstich= + +Die Akten! -- -- Ich ersuche unseren Schriftführer, Herrn Kollega +Fliegentod, von nun an möglichst wortgetreu zu protokollieren. -- (Zu +Melchior) Kennen Sie dieses Schriftstück? + +=Melchior= + +Ja. + +=Sonnenstich= + +Wissen Sie, was dieses Schriftstück enthält? + +=Melchior= + +Ja. + +=Sonnenstich= + +Ist die Schrift dieses Schriftstücks die Ihrige? + +=Melchior= + +Ja. + +=Sonnenstich= + +Verdankt dieses unflätige Schriftstück Ihnen seine Abfassung? + +=Melchior= + +Ja. -- Ich ersuche Sie, Herr Rektor, mir _eine_ Unflätigkeit darin +nachzuweisen. + +=Sonnenstich= + +Sie haben die genau präzisierten Fragen, die ich Ihnen vorlege, mit +einem schlichten und bescheidenen „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten! + +=Melchior= + +Ich habe nicht mehr und nicht weniger geschrieben, als was eine Ihnen +sehr wohlbekannte Tatsache ist! + +=Sonnenstich= + +Dieser Schandbube!! + +=Melchior= + +Ich ersuche Sie, mir einen Verstoß gegen die Sittlichkeit in der +Schrift zu zeigen! + +=Sonnenstich= + +Bilden Sie sich ein, ich hätte Lust, zu Ihrem Hanswurst an Ihnen zu +werden?! -- Habebald ...! + +=Melchior= + +Ich habe ... + +=Sonnenstich= + +Sie haben so wenig Ehrerbietung vor der Würde Ihrer versammelten +Lehrerschaft, wie Sie Anstandsgefühl für das dem Menschen eingewurzelte +Empfinden für die Diskretion der Verschämtheit einer sittlichen +Weltordnung haben! -- Habebald!! + +=Habebald= + +Befehlen, Herr Rektor! + +=Sonnenstich= + +Es ist ja der _Langenscheidt_ zur dreistündigen Erlernung des +aggluttierenden Volapük! + +=Melchior= + +Ich habe ... + +=Sonnenstich= + +Ich ersuche unseren Schriftführer, Herrn Kollega Fliegentod, das +Protokoll zu schließen! + +=Melchior= + +Ich habe ... + +=Sonnenstich= + +Sie haben sich ruhig zu verhalten!! -- Habebald! + +=Habebald= + +Befehlen, Herr Rektor! + +=Sonnenstich= + +Führen Sie Ihn hinunter! + + +Zweite Szene + +_Friedhof_ in strömendem Regen. -- Vor einem offenen Grabe steht Pastor +_Kahlbauch_, den aufgespannten Schirm in der Hand. Zu seiner Rechten +Rentier _Stiefel_, dessen Freund _Ziegenmelker_ und Onkel _Probst_. Zur +Linken Rektor _Sonnenstich_ mit Professor _Knochenbruch_. Gymnasiasten +schließen den Kreis. In einiger Entfernung vor einem halbverfallenen +Grabmonument _Martha_ und _Ilse_ + +=Pastor Kahlbauch= + +... Denn wer die Gnade, mit der der ewige Vater den in Sünden Geborenen +gesegnet, von sich wies, er wird des _geistigen_ Todes sterben! -- Wer +aber in eigenwilliger fleischlicher Verleugnung der Gott gebührenden +Ehre dem Bösen gelebt und gedient, er wird des _leiblichen_ Todes +sterben! -- Wer jedoch das Kreuz, das der Allerbarmer ihm um der Sünde +willen auferlegt, freventlich von sich geworfen, wahrlich, wahrlich, +ich sage euch, der wird des _ewigen_ Todes sterben! -- (Er wirft eine +Schaufel voll Erde in die Gruft) -- Uns aber, die wir fort und fort +wallen den Dornenpfad, lasset den Herrn, den allgütigen, preisen +und ihm danken für seine unerforschliche Gnadenwahl. Denn so wahr +_dieser_ eines _dreifachen_ Todes starb, so wahr wird Gott der Herr den +Gerechten einführen zur Seligkeit und zum ewigen Leben. -- Amen. + +=Rentier Stiefel= + +(mit tränenerstickter Stimme, wirft eine Schaufel voll Erde in die +Gruft) + +Der Junge war nicht von mir! -- Der Junge war nicht von mir! -- Der +Junge hat mir von kleinauf nicht gefallen! + +=Rektor Sonnenstich= + +(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft) + +Der Selbstmord als der denkbar bedenklichste Verstoß gegen die +sittliche Weltordnung ist der denkbar bedenklichste Beweis für +die sittliche Weltordnung, indem der Selbstmörder der sittlichen +Weltordnung den Urteilsspruch zu sprechen erspart und ihr Bestehen +bestätigt. + +=Professor Knochenbruch= + +(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft) + +Verbummelt -- versumpft -- verhurt -- verlumpt -- und verludert! + +=Onkel Probst= + +(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft) + +Meiner eigenen Mutter hätte ich’s nicht geglaubt, daß ein Kind so +niederträchtig an seinen Eltern zu handeln vermöchte! + +=Freund Ziegenmelker= + +(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft) + +An einem Vater zu handeln vermöchte, der nun seit zwanzig Jahren von +früh bis spät keinen Gedanken mehr hegt, als das Wohl seines Kindes! + +=Pastor Kahlbauch= + +(Rentier Stiefel die Hand drückend) + +Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten dienen. +1. Korinth. 12, 15. -- Denken Sie der trostlosen Mutter und suchen Sie +ihr das Verlorene durch verdoppelte Liebe zu ersetzen! + +=Rektor Sonnenstich= + +(Rentier Stiefel die Hand drückend) + +Wir hätten ihn ja wahrscheinlich doch nicht promovieren können! + +=Professor Knochenbruch= + +(Rentier Stiefel die Hand drückend) + +Und wenn wir ihn promoviert hätten, im nächsten Frühling wäre er des +allerbestimmtesten sitzen geblieben! + +=Onkel Probst= + +(Rentier Stiefel die Hand drückend) + +Jetzt hast du vor allem die Pflicht, an dich zu denken. Du bist +Familienvater ...! + +=Freund Ziegenmelker= + +(Rentier Stiefel die Hand drückend) + +Vertraue dich meiner Führung! -- Ein Hundewetter, daß einem die Därme +schlottern! -- Wer da nicht unverzüglich mit einem Grogg eingreift, hat +seine Herzklappenaffektion weg! + +=Rentier Stiefel= + +(sich die Nase schneuzend) + +Der Junge war nicht von mir ... der Junge war nicht von mir ... + +(Rentier Stiefel, geleitet von Pastor Kahlbauch, Rektor Sonnenstich, +Professor Knochenbruch, Onkel Probst und Freund Ziegenmelker ab. -- Der +Regen läßt nach) + +=Hänschen Rilow= + +(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft) + +Ruhe in Frieden, du ehrliche Haut! -- Grüße mir meine ewigen Bräute, +hingeopferten Angedenkens, und empfiehl mich ganz ergebenst zu Gnaden +dem lieben Gott -- armer Tollpatsch du! -- Sie werden dir um deiner +Engelseinfalt willen noch eine Vogelscheuche aufs Grab setzen ... + +=Georg= + +Hat sich die Pistole gefunden? + +=Robert= + +Man braucht keine Pistole zu suchen! + +=Ernst= + +Hast du ihn gesehen, Robert? + +=Robert= + +Verfluchter, verdammter Schwindel! -- Wer hat ihn gesehen? -- Wer denn?! + +=Otto= + +Da steckt’s nämlich! -- Man hatte ihm ein Tuch übergeworfen. + +=Georg= + +Hing die Zunge heraus? + +=Robert= + +Die Augen! -- Deshalb hatte man das Tuch drübergeworfen. + +=Otto= + +Grauenhaft! + +=Hänschen Rilow= + +Weißt du bestimmt, daß er sich erhängt hat? + +=Ernst= + +Man sagt, er habe gar keinen Kopf mehr. + +=Otto= + +Unsinn! -- Gewäsch! + +=Robert= + +Ich habe ja den Strick in Händen gehabt! -- Ich habe noch keinen +Erhängten gesehen, den man nicht zugedeckt hätte. + +=Georg= + +Auf gemeinere Art hätte er sich nicht empfehlen können! + +=Hänschen Rilow= + +Was Teufel, das Erhängen soll ganz hübsch sein! + +=Otto= + +Mir ist er nämlich noch fünf Mark schuldig. Wir hatten gewettet. Er +schwor, er werde sich halten. + +=Hänschen Rilow= + +Du bist schuld, daß er daliegt. Du hast ihn Prahlhans genannt. + +=Otto= + +Paperlapap, ich muß auch büffeln die Nächte durch. Hätte er die +griechische Literaturgeschichte gelernt, er hätte sich nicht zu +erhängen brauchen! + +=Ernst= + +Hast du den Aufsatz, Otto? + +=Otto= + +Erst die Einleitung. + +=Ernst= + +Ich weiß gar nicht, was schreiben. + +=Georg= + +Warst du denn nicht da, als uns Affenschmalz die Disposition gab? + +=Hänschen Rilow= + +Ich stopsle mir was aus dem _Demokrit_ zusammen. + +=Ernst= + +Ich will sehen, ob sich im _kleinen Meyer_ was finden läßt. + +=Otto= + +Hast du den Vergil schon auf morgen? -- -- -- -- -- + +(Die Gymnasiasten ab. -- Martha und Ilse kommen ans Grab.) + +=Ilse= + +Rasch, rasch! -- Dort hinten kommen die Totengräber. + +=Martha= + +Wollen wir nicht lieber warten, Ilse? + +=Ilse= + +Wozu? -- Wir bringen neue. Immer neue und neue! -- Es wachsen genug. + +=Martha= + +Du hast recht, Ilse! -- (Sie wirft einen Epheukranz in die Gruft. Ilse +öffnet ihre Schürze und läßt eine Fülle frischer Anemonen auf den Sarg +regnen.) + +=Martha= + +Ich grabe unsere Rosen aus. Schläge bekomme ich ja doch! -- Hier werden +sie gedeihen. + +=Ilse= + +Ich will sie begießen, so oft ich vorbeikomme. Ich hole Vergißmeinnicht +vom Goldbach herüber und Schwertlilien bringe ich von Hause mit. + +=Martha= + +Es soll eine Pracht werden! Eine Pracht! + +=Ilse= + +Ich war schon über der Brücke drüben, da hört’ ich den Knall. + +=Martha= + +Armes Herz! + +=Ilse= + +Und ich weiß auch den Grund, Martha. + +=Martha= + +Hat er dir was gesagt? + +=Ilse= + +Parallelepipedon! -- Aber sag’ es niemandem. + +=Martha= + +Meine Hand darauf. + +=Ilse= + +-- Hier ist die Pistole. + +=Martha= + +Deshalb hat man sie nicht gefunden! + +=Ilse= + +Ich nahm sie ihm gleich aus der Hand, als ich am Morgen vorbeikam. + +=Martha= + +Schenk’ sie mir, Ilse! -- Bitte, schenk’ sie mir! + +=Ilse= + +Nein, die behalt’ ich zum Andenken. + +=Martha= + +Ist’s wahr, Ilse, daß er ohne Kopf drinliegt? + +=Ilse= + +Er muß sie mit Wasser geladen haben! -- Die Königskerzen waren über und +über mit Blut besprengt. Sein Hirn hing in den Weiden umher. + + +Dritte Szene + +_Herr und Frau Gabor_. + +=Frau Gabor= + +... Man hatte einen Sündenbock nötig. Man durfte die überall +lautwerdenden Anschuldigungen nicht auf sich beruhen lassen. Und nun +mein Kind das Unglück gehabt, den Zöpfen im richtigen Moment in den +Schuß zu laufen, nun soll ich, die eigene Mutter, das Werk seiner +Henker vollenden helfen? -- Bewahre mich Gott davor! + +=Herr Gabor= + +-- Ich habe deine geistvolle Erziehungsmethode vierzehn Jahre +schweigend mit angeseh’n. Sie widersprach meinen Begriffen. Ich hatte +von jeher der Überzeugung gelebt, ein Kind sei kein Spielzeug; ein +Kind habe Anspruch auf unsern heiligsten Ernst. Aber ich sagte mir, +wenn der Geist und die Grazie des Einen die ernsten Grundsätze eines +Andern zu ersetzen im stande sind, so mögen sie den ernsten Grundsätzen +vorzuziehen sein. -- -- Ich mache dir keinen Vorwurf, Fanny. Aber +vertritt mir den Weg nicht, wenn ich dein und mein Unrecht an dem +Jungen gutzumachen suche! + +=Frau Gabor= + +Ich vertrete dir den Weg, so lange ein Tropfen warmen Blutes in +mir wallt! In der Korrektionsanstalt ist mein Kind verloren. Eine +Verbrechernatur mag sich in solchen Instituten bessern lassen. Ich weiß +es nicht. Ein gutgearteter Mensch wird so gewiß zum Verbrecher darin, +wie die Pflanze verkommt, der du Luft und Sonne entziehst. Ich bin mir +keines Unrechtes bewußt. Ich danke heute wie immer dem Himmel, daß er +mir den Weg gezeigt, in meinem Kinde einen rechtlichen Charakter und +eine edle Denkungsweise zu wecken. Was hat er denn so Schreckliches +getan? Es soll mir nicht einfallen, ihn entschuldigen zu wollen -- +daran, daß man ihn aus der Schule gejagt trägt er keine Schuld! Und +wär’ es sein Verschulden, so hat er es ja gebüßt. Du magst das alles +besser wissen. Du magst theoretisch vollkommen im Rechte sein. Aber ich +kann mir mein einziges Kind nicht gewaltsam in den Tod jagen lassen! + +=Herr Gabor= + +Das hängt nicht von uns ab, Fanny. -- Das ist ein Risiko, das wir mit +unserem Glück auf uns genommen. Wer zu schwach für den Marsch ist, +bleibt am Wege. Und es ist schließlich das Schlimmste nicht, wenn +das Unausbleibliche zeitig kommt. Möge uns der Himmel davor behüten! +Unsere Pflicht ist es, den Wankenden zu festigen, so lange die Vernunft +Mittel weiß. -- Daß man ihn aus der Schule gejagt, ist nicht seine +Schuld. Wenn man ihn nicht aus der Schule gejagt hätte, es wäre auch +seine Schuld nicht! -- Du bist zu leichtherzig. Du erblickst vorwitzige +Tändelei, wo es sich um Grundschäden des Charakters handelt. Ihr Frauen +seid nicht berufen, über solche Dinge zu urteilen. Wer _das_ schreiben +kann, was Melchior schreibt, der muß im innersten Kern seines Wesens +angefault sein. Das Mark ist ergriffen. Eine halbwegs gesunde Natur +läßt sich zu so etwas nicht herbei. Wir sind alle keine Heiligen; +jeder von uns irrt vom schnurgeraden Pfad ab. Seine Schrift hingegen +vertritt das _Prinzip_. Seine Schrift entspricht keinem zufälligen +gelegentlichen Fehltritt; sie dokumentiert mit schaudererregender +Deutlichkeit den aufrichtig gehegten _Vorsatz_, jene natürliche +Veranlagung, jenen Hang zum _Unmoralischen_, weil es das Unmoralische +ist. Seine Schrift manifestiert jene exzeptionelle geistige Korruption, +die wir Juristen mit dem Ausdruck „_moralischer Irrsinn_“ bezeichnen. +-- Ob sich gegen seinen Zustand etwas ausrichten läßt, vermag ich +nicht zu sagen. _Wenn_ wir uns einen Hoffnungsschimmer bewahren wollen, +und in erster Linie unser fleckenloses Gewissen als die Eltern des +Betreffenden, so ist es Zeit für uns, mit Entschiedenheit und mit allem +Ernste ans Werk zu gehen. -- Laß uns nicht länger streiten, Fanny! Ich +fühle, wie schwer es dir wird. Ich weiß, daß du ihn vergötterst, weil +er so ganz deinem genialischen Naturell entspricht. Sei stärker als du! +Zeig’ dich deinem Sohn gegenüber endlich einmal selbstlos! + +=Frau Gabor= + +Hilf mir Gott, wie läßt sich dagegen aufkommen! -- Man muß ein _Mann_ +sein, um so sprechen zu können! Man muß ein _Mann_ sein, um sich so +vom toten Buchstaben verblenden lassen zu können! Man muß ein _Mann_ +sein, um so blind das in die Augen Springende nicht zu sehn! -- Ich +habe gewissenhaft und besonnen an Melchior gehandelt vom ersten Tag +an, da ich ihn für die Eindrücke seiner Umgebung empfänglich fand. +Sind wir denn für den _Zufall_ verantwortlich?! Dir kann morgen ein +Dachziegel auf den Kopf fallen, und dann kommt dein Freund -- dein +Vater, und statt deine Wunde zu pflegen, setzt er den Fuß auf dich! +-- Ich lasse mein Kind nicht vor meinen Augen hinmorden. Dafür bin +ich seine Mutter. -- Es ist unfaßbar! Es ist gar nicht zu glauben! +Was schreibt er denn in aller Welt! Ist’s denn nicht der eklatanteste +Beweis für seine Harmlosigkeit, für seine Dummheit, für seine kindliche +Unberührtheit, daß er so etwas schreiben kann! -- Man muß keine Ahnung +von Menschenkenntnis besitzen -- man muß ein vollständig entseelter +Bureaukrat oder ganz nur Beschränktheit sein, um hier moralische +Korruption zu wittern! -- -- Sag’ was du willst. Wenn du Melchior in +die Korrektionsanstalt bringst, dann sind _wir_ geschieden! Und dann +laß mich sehen, ob ich nicht irgendwo in der Welt Hilfe und Mittel +finde, mein Kind seinem Untergange zu entreißen. + +=Herr Gabor= + +Du wirst dich drein schicken müssen -- wenn nicht heute, dann morgen. +Leicht wird es keinem, mit dem Unglück zu diskontieren. Ich werde dir +zur Seite stehen, und wenn dein Mut zu erliegen droht, keine Mühe und +kein Opfer scheuen, dir das Herz zu entlasten. Ich sehe die Zukunft so +grau, so wolkig -- es fehlte nur noch, daß auch du mir noch verloren +gingst. + +=Frau Gabor= + +Ich sehe ihn nicht wieder; ich sehe ihn nicht wieder. Er erträgt das +Gemeine nicht. Er findet sich nicht ab mit dem Schmutz. Er zerbricht +den Zwang; das entsetzlichste Beispiel schwebt ihm vor Augen! -- Und +sehe ich ihn wieder -- Gott, Gott, dieses frühlingsfrohe Herz -- sein +helles Lachen -- alles, alles -- seine kindliche Entschlossenheit, +mutig zu kämpfen für Gut und Recht -- o dieser Morgenhimmel, wie ich +ihn licht und rein in seiner Seele gehegt als mein höchstes Gut..... +Halte dich an mich, wenn das Unrecht um Sühne schreit! Halte dich an +mich! Verfahre mit mir wie du willst! _Ich_ trage die Schuld. -- Aber +laß deine fürchterliche Hand von dem Kind weg. + +=Herr Gabor= + +_Er_ hat sich vergangen! + +=Frau Gabor= + +_Er hat sich nicht vergangen!_ + +=Herr Gabor= + +Er hat sich vergangen! -- -- -- Ich hätte alles darum gegeben, es +deiner grenzenlosen Liebe ersparen zu dürfen. -- -- Heute morgen kommt +eine Frau zu mir, vergeistert, kaum ihrer Sprache mächtig, mit diesem +Brief in der Hand -- einem Brief an ihre fünfzehnjährige Tochter. Aus +dummer Neugierde habe sie ihn erbrochen; das Mädchen war nicht zu Haus. +-- In dem Briefe erklärt Melchior dem fünfzehnjährigen Kind, daß ihm +seine Handlungsweise keine Ruhe lasse, er habe sich an ihr versündigt +etc. etc., werde indessen natürlich für alles einstehen. Sie möge sich +nicht grämen, auch wenn sie Folgen spüre. Er sei bereits auf dem Wege +Hilfe zu schaffen; seine Relegation erleichtere ihm das. Der ehemalige +Fehltritt könne noch zu ihrem Glücke führen -- und was des unsinnigen +Gewäsches mehr ist. + +=Frau Gabor= + +Unmöglich!! + +=Herr Gabor= + +Der Brief ist gefälscht. Es liegt Betrug vor. Man sucht sich seine +stadtbekannte Relegation nutzbar zu machen. Ich habe mit dem +Jungen noch nicht gesprochen -- aber sieh bitte die Hand! Sieh die +Schreibweise! + +=Frau Gabor= + +Ein unerhörtes, schamloses Bubenstück! + +=Herr Gabor= + +Das fürchte ich! + +=Frau Gabor= + +Nein, nein -- nie und nimmer! + +=Herr Gabor= + +Um so besser wird es für uns sein. -- Die Frau fragt mich händeringend, +was sie tun solle. Ich sagte ihr, sie solle ihre fünfzehnjährige +Tochter nicht auf Heuböden herumklettern lassen. Den Brief hat sie +mir glücklicherweise dagelassen. -- Schicken wir Melchior nun auf ein +anderes Gymnasium, wo er nicht einmal unter elterlicher Aufsicht steht, +so haben wir in drei Wochen den nämlichen Fall -- neue Relegation -- +sein frühlingsfreudiges Herz gewöhnt sich nachgerade daran. -- Sag’ +mir, Fanny, wo soll ich hin mit dem Jungen?! + +=Frau Gabor= + +-- In die Korrektionsanstalt -- + +=Herr Gabor= + +In die ...? + +=Frau Gabor= + +... Korrektionsanstalt! + +=Herr Gabor= + +Er findet dort in erster Linie, was ihm zu Hause ungerechterweise +vorenthalten wurde; eherne Disziplin, Grundsätze, und einen moralischen +Zwang, dem er sich unter allen Umständen zu fügen hat. -- Im übrigen +ist die Korrektionsanstalt nicht der Ort des Schreckens, den du +dir darunter denkst. Das Hauptgewicht legt man in der Anstalt auf +Entwicklung einer christlichen Denk- und Empfindungsweise. Der Junge +lernt dort endlich, das _Gute_ wollen statt des _Interessanten_, und +bei seinen Handlungen nicht sein Naturell, sondern das _Gesetz_ in +Frage ziehen. -- -- Vor einer halben Stunde erhalte ich ein Telegramm +von meinem Bruder, das mir die Aussagen der Frau bestätigt. Melchior +hat sich ihm anvertraut und ihn um 200 Mark zur Flucht nach England +gebeten ... + +=Frau Gabor= + +(bedeckt ihr Gesicht) + +Barmherziger Himmel! + + +Vierte Szene + +_Korrektionsanstalt_. -- Ein Korridor. -- _Diethelm_, _Reinhold_, +_Ruprecht_, _Helmuth_, _Gaston_ und _Melchior_. + +=Diethelm= + +Hier ist ein Zwanzigpfennigstück! + +=Reinhold= + +Was soll’s damit? + +=Diethelm= + +Ich leg es auf den Boden. Ihr stellt euch drum herum. Wer es trifft, +der hat’s. + +=Ruprecht= + +Machst du nicht mit, Melchior? + +=Melchior= + +Nein, ich danke. + +=Helmuth= + +Der Joseph! + +=Gaston= + +Er kann nicht mehr. Er ist zur Rekreation hier. + +=Melchior= + +(für sich) + +Es ist nicht klug, daß ich mich separiere. Alles hält mich im Auge. +Ich muß mitmachen -- oder die Kreatur geht zum Teufel. -- -- Die +Gefangenschaft macht sie zu Selbstmördern. -- -- Brech ich den Hals, +ist es gut! Komme ich davon, ist es auch gut! Ich kann nur gewinnen. +-- Ruprecht wird mein Freund, er besitzt hier Kenntnisse. -- Ich werde +ihm die Kapitel von Juda’s Schnur Thamar, von Moab, von Loth und seiner +Sippe, von der Königin Vasti und der Abisag von Sunem zum besten geben. +-- Er hat die verunglückteste Physiognomie auf der Abteilung. + +=Ruprecht= + +Ich hab’s! + +=Helmuth= + +Ich komme noch! + +=Gaston= + +Übermorgen vielleicht! + +=Helmuth= + +Gleich! -- Jetzt! -- O Gott, o Gott ... + +=Alle= + +~Summa -- summa cum laude!!~ + +=Ruprecht= + +(das Stück nehmend) + +Danke schön! + +=Helmuth= + +Her, du Hund! + +=Ruprecht= + +Du Schweinetier? + +=Helmuth= + +Galgenvogel!! + +=Ruprecht= + +(schlägt ihn ins Gesicht) + +-- Da! (rennt davon) + +=Helmuth= + +(ihm nachrennend) + +Den schlag ich tot! + +=Die Übrigen= + +(rennen hinterdrein) + +Hetz, Packan! Hetz! Hetz! Hetz! + +=Melchior= + +(allein, gegen das Fenster gewandt) + +-- Da geht der Blitzableiter hinunter. -- Man muß ein Taschentuch +drumwickeln. -- Wenn ich an sie denke, schießt mir immer das Blut in +den Kopf. Und Moritz liegt mir wie Blei in den Füßen. -- -- -- Ich +gehe zur Redaktion. Bezahlen Sie mich per Hundert; ich kolportiere! +-- sammle Tagesneuigkeiten -- schreibe -- lokal -- -- ethisch -- -- +psychophysisch ... man verhungert nicht mehr so leicht. Volksküche, +Café Temperence. -- Das Haus ist sechzig Fuß hoch und der Verputz +bröckelt ab ... Sie haßt mich -- sie haßt mich, weil ich sie der +Freiheit beraubt. Handle ich, wie ich will, es bleibt Vergewaltigung. +-- Ich darf einzig hoffen, im Laufe der Jahre allmählich ... Über acht +Tage ist Neumond. Morgen schmiere ich die Angeln. Bis Sonnabend muß ich +unter allen Umständen wissen, wer den Schlüssel hat. -- Sonntag Abend +in der Andacht kataleptischer Anfall -- will’s Gott, wird sonst niemand +krank! -- Alles liegt so klar, als wär’ es geschehen, vor mir. Über +das Fenstergesims gelang ich mit Leichtigkeit -- ein Schwung -- ein +Griff -- aber man muß ein Taschentuch drumwickeln. -- -- Da kommt der +Großinquisitor. (Ab nach links.) + +(Dr. _Prokrustes_ mit einem _Schlossermeister_ von rechts.) + +=Dr. Prokrustes= + +... Die Fenster liegen zwar im dritten Stock und unten sind Brennesseln +gepflanzt. Aber was kümmert sich die Entartung um Brennesseln. -- +Vergangenen Winter stieg uns einer zur Dachluke hinaus und wir hatten +die ganze Schererei mit dem Abholen, Hinbringen und Beisetzen ... + +=Der Schlossermeister= + +Wünschen Sie die Gitter aus Schmiedeeisen? + +=Dr. Prokrustes= + +Aus Schmiedeeisen -- und da man sie nicht einlassen kann, vernietet. + + +Fünfte Szene + +Ein _Schlafgemach_. -- _Frau Bergmann_, _Ina Müller_ und Medizinalrat +Dr. _v. Brausepulver_. -- _Wendla_ im Bett. + +=Dr. von Brausepulver= + +Wie alt sind Sie denn eigentlich? + +=Wendla= + +Vierzehn ein halb. + +=Dr. von Brausepulver= + +Ich verordne die _Blaud_’schen Pillen seit fünfzehn Jahren und habe in +einer großen Anzahl von Fällen die eklatantesten Erfolge beobachtet. +Ich ziehe sie dem Lebertran und den Stahlweinen vor. Beginnen sie mit +drei bis vier Pillen pro Tag und steigern Sie so rasch Sie es eben +vertragen. Dem Fräulein Elfriede Baronesse von Witzleben hatte ich +verordnet, jeden dritten Tag um eine Pille zu steigern. Die Baronesse +hatte mich mißverstanden und steigerte jeden Tag um drei Pillen. Nach +kaum drei Wochen schon konnte sich die Baronesse mit ihrer Frau Mama +zur Nachkur nach Pyrmont begeben. -- Von ermüdenden Spaziergängen und +Extramahlzeiten dispensiere ich Sie. Dafür versprechen Sie mir, liebes +Kind, sich um so fleißiger Bewegung machen zu wollen und ungeniert +Nahrung zu fordern, sobald sich die Lust dazu wieder einstellt. +Dann werden diese Herzbeklemmungen bald nachlassen -- und der +Kopfschmerz, das Frösteln, der Schwindel -- und unsere schrecklichen +Verdauungsstörungen. Fräulein Elfriede Baronesse von Witzleben genoß +schon acht Tage nach begonnener Kur ein ganzes Brathühnchen mit jungen +Pellkartoffeln zum Frühstück. + +=Frau Bergmann= + +Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten, Herr Medizinalrat? + +=Dr. von Brausepulver= + +Ich danke Ihnen, liebe Frau Bergmann. Mein Wagen wartet. Lassen Sie +sich’s nicht so zu Herzen gehen. In wenigen Wochen ist unsere liebe +kleine Patientin wieder frisch und munter wie eine Gazelle. Seien Sie +getrost. -- Guten Tag, Frau Bergmann. Guten Tag, liebes Kind. Guten +Tag, meine Damen. Guten Tag. (Frau Bergmann geleitet ihn vor die Tür.) + +=Ina= + +(am Fenster) + +-- Nun färbt sich eure Platane schon wieder bunt. -- Siehst du’s vom +Bett aus? -- Eine kurze Pracht, kaum recht der Freude wert, wie man +sie so kommen und gehen sieht. -- Ich muß nun auch bald gehen. Müller +erwartet mich vor der Post und ich muß zuvor noch zur Schneiderin. +Mucki bekommt seine ersten Höschen, und Karl soll einen neuen +Trikotanzug auf den Winter haben. + +=Wendla= + +Manchmal wird mir so selig -- alles Freude und Sonnenglanz. Hätt’ ich +geahnt, daß es einem so wohl um’s Herz werden kann! Ich möchte hinaus, +im Abendschein über die Wiesen gehn, Himmelsschlüssel suchen den Fluß +entlang und mich an’s Ufer setzen und träumen ... Und dann kommt das +_Zahnweh_, und ich meine, daß ich morgen am Tag sterben muß; mir wird +heiß und kalt, vor den Augen verdunkelt sich’s, und dann flattert das +Untier herein -- -- -- So oft ich aufwache, seh’ ich Mutter weinen. O, +das tut mir so weh -- ich kann’s dir nicht sagen, Ina! + +=Ina= + +-- Soll ich dir nicht das Kopfkissen höher legen? + +=Frau Bergmann= + +(kommt zurück) + +Er meint, das Erbrechen werde sich auch geben; und du sollst dann nur +ruhig wieder aufstehn ... Ich glaube auch, es ist besser, wenn du bald +wieder aufstehst, Wendla. + +=Ina= + +Bis ich das nächste Mal vorspreche, springst du vielleicht schon +wieder im Haus herum. -- Leb’ wohl, Mutter. Ich muß durchaus noch zur +Schneiderin. Behüt’ dich Gott, liebe Wendla. (Küßt sie) Recht, recht +baldige Besserung! + +=Wendla= + +Leb’ wohl, Ina. -- Bring’ mir Himmelsschlüssel mit, wenn du +wiederkommst. Adieu. Grüße deine Jungens von mir. + +(Ina ab.) + +=Wendla= + +Was hat er noch gesagt, Mutter, als er draußen war? + +=Frau Bergmann= + +Er hat nichts gesagt. -- Er sagte, Fräulein von Witzleben habe auch zu +Ohnmachten geneigt. Es sei das fast immer so bei der Bleichsucht. + +=Wendla= + +Hat er gesagt, Mutter, daß ich die Bleichsucht habe? + +=Frau Bergmann= + +Du sollest Milch trinken und Fleisch und Gemüse essen, wenn der Appetit +zurückgekehrt sei. + +=Wendla= + +O Mutter, Mutter, ich glaube, ich habe nicht die Bleichsucht.... + +=Frau Bergmann= + +Du hast die Bleichsucht, Kind. Sei ruhig, Wendla, sei ruhig; du hast +die Bleichsucht. + +=Wendla= + +Nein, Mutter, nein! Ich weiß es. Ich fühl’ es. Ich habe nicht die +Bleichsucht. Ich habe die Wassersucht ... + +=Frau Bergmann= + +Du hast die Bleichsucht. Er hat ja gesagt, daß du die Bleichsucht hast. +Beruhige dich, Mädchen. Es wird besser werden. + +=Wendla= + +Es wird nicht besser werden. Ich habe die Wassersucht. Ich muß sterben, +Mutter. -- O Mutter, ich muß sterben! + +=Frau Bergmann= + +Du mußt nicht sterben, Kind! Du mußt nicht sterben..... Barmherziger +Himmel, du mußt nicht sterben! + +=Wendla= + +Aber warum weinst du dann so jammervoll? + +=Frau Bergmann= + +Du mußt nicht sterben -- Kind! Du hast nicht die Wassersucht. Du hast +ein Kind, Mädchen! Du hast ein Kind! -- O, warum hast du mir das getan! + +=Wendla= + +-- ich habe dir nichts getan -- + +=Frau Bergmann= + +O leugne nicht noch, Wendla! -- Ich weiß alles. Sieh’, ich hätt’ es +nicht vermocht, dir ein Wort zu sagen. -- Wendla, meine Wendla ...! + +=Wendla= + +Aber das ist ja nicht möglich, Mutter. Ich bin ja doch nicht +verheiratet ...! + +=Frau Bergmann= + +Großer, gewaltiger Gott --, das ist’s ja, daß du nicht verheiratet +bist! Das ist ja das Fürchterliche! -- Wendla, Wendla, Wendla, was hast +du getan!! + +=Wendla= + +Ich weiß es, weiß Gott, nicht mehr! Wir lagen im Heu.... Ich habe +keinen Menschen auf dieser Welt geliebt als nur dich, Mutter. + +=Frau Bergmann= + +Mein Herzblatt -- + +=Wendla= + +O Mutter, warum hast du mir nicht alles gesagt! + +=Frau Bergmann= + +Kind, Kind, laß uns einander das Herz nicht noch schwerer machen! Fasse +dich! Verzweifle mir nicht, mein Kind! Einem vierzehnjährigen Mädchen +das sagen! Sieh’, ich wäre eher darauf gefaßt gewesen, daß die Sonne +erlischt. Ich habe an dir nicht anders getan, als meine liebe gute +Mutter an mir getan hat. -- O laß uns auf den lieben Gott vertrauen, +Wendla; laß uns auf Barmherzigkeit hoffen und das unsrige tun! Sieh’, +_noch_ ist ja nichts geschehen, Kind. Und wenn nur wir jetzt nicht +kleinmütig werden, dann wird uns auch der liebe Gott nicht verlassen. +-- Sei _mutig_, Wendla, sei _mutig_! -- -- So sitzt man einmal am +Fenster und legt die Hände in den Schoß, weil sich doch noch alles zum +Guten gewandt, und da bricht’s dann herein, daß einem gleich das Herz +bersten möchte.... Wa -- was zitterst du? + +=Wendla= + +Es hat jemand geklopft. + +=Frau Bergmann= + +Ich habe nichts gehört, liebes Herz. -- (Geht an die Türe und öffnet.) + +=Wendla= + +Ach, ich hörte es ganz deutlich. -- -- Wer ist draußen? + +=Frau Bergmann= + +-- Niemand -- -- Schmidts Mutter aus der Gartenstraße. -- -- -- Sie +kommen eben recht, Mutter Schmidtin. + + +Sechste Szene + +Winzer und Winzerinnen im _Weinberg_. -- Im Westen sinkt die Sonne +hinter die Berggipfel. Helles Glockengeläute vom Tal herauf. -- +_Hänschen Rilow_ und _Ernst Röbel_ im höchstgelegenen Rebstück sich +unter den überhängenden Felsen im welkenden Grase wälzend. + +=Ernst= + +-- Ich habe mich überarbeitet. + +=Hänschen= + +Laß uns nicht traurig sein! -- Schade um die Minuten. + +=Ernst= + +Man sieht sie hängen und kann nicht mehr -- und morgen sind sie +gekeltert. + +=Hänschen= + +Ermüdung ist mir so unerträglich, wie mir’s der Hunger ist. + +=Ernst= + +Ach, ich kann nicht mehr. + +=Hänschen= + +Diese leuchtende Muskateller noch! + +=Ernst= + +Ich bringe die Elastizität nicht mehr auf. + +=Hänschen= + +Wenn ich die Ranke beuge, baumelt sie uns von Mund zu Mund. Keiner +braucht sich zu rühren. Wir beißen die Beeren ab und lassen den Kamm +zum Stock zurückschnellen. + +=Ernst= + +Kaum entschließt man sich, und siehe, so dämmert auch schon die +dahingeschwundene Kraft wieder auf. + +=Hänschen= + +Dazu das flammende Firmament -- und die Abendglocken. -- Ich verspreche +mir wenig mehr von der Zukunft. + +=Ernst= + +-- Ich sehe mich manchmal schon als hochwürdigen Pfarrer -- ein +gemütvolles Hausmütterchen, eine reichhaltige Bibliothek und Ämter +und Würden in allen Kreisen. Sechs Tage hat man um nachzudenken, und +am siebenten tut man den Mund auf. Beim Spazierengehen reichen einem +Schüler und Schülerinnen die Hand, und wenn man nach Hause kommt, +dampft der Kaffee, der Topfkuchen wird aufgetragen, und durch die +Gartentür bringen die Mädchen Äpfel herein. -- Kannst du dir etwas +Schöneres denken? + +=Hänschen= + +Ich denke mir halbgeschlossene Wimpern, halbgeöffnete Lippen und +türkische Draperien. -- Ich glaube nicht an das Pathos. Sieh, unsere +Alten zeigen uns lange Gesichter, um ihre Dummheiten zu bemänteln. +Untereinander nennen sie sich Schafsköpfe wie wir. Ich kenne das. -- +Wenn ich Millionär bin, werde ich dem lieben Gott ein Denkmal setzen. +-- Denke dir die Zukunft als Milchsette mit Zucker und Zimt. Der eine +wirft sie um und heult, der andere rührt alles durcheinander und +schwitzt. Warum nicht abschöpfen? -- Oder glaubst du nicht, daß es sich +lernen ließe. + +=Ernst= + +-- Schöpfen wir ab! + +=Hänschen= + +Was bleibt, fressen die Hühner. -- Ich habe meinen Kopf nun schon aus +so mancher Schlinge gezogen.... + +=Ernst= + +Schöpfen wir ab, Hänschen! -- Warum lachst du? + +=Hänschen= + +Fängst du schon wieder an? + +=Ernst= + +Einer muß ja doch anfangen. + +=Hänschen= + +Wenn wir in dreißig Jahren an einen Abend wie heute zurückdenken, +erscheint er uns vielleicht unsagbar schön! + +=Ernst= + +Und wie macht sich jetzt alles so ganz von selbst! + +=Hänschen= + +Warum also nicht! + +=Ernst= + +Ist man zufällig allein -- dann weint man vielleicht gar. + +=Hänschen= + +Laß uns nicht traurig sein! -- (Er küßt ihn auf den Mund.) + +=Ernst= + +(küßt ihn) + +Ich ging von Hause fort mit dem Gedanken, dich nur eben zu sprechen und +wieder umzukehren. + +=Hänschen= + +Ich erwartete dich. -- Die Tugend kleidet nicht schlecht, aber es +gehören imposante Figuren hinein. + +=Ernst= + +Uns schlottert sie noch um die Glieder. -- Ich wäre nicht ruhig +geworden, wenn ich dich nicht getroffen hätte. -- Ich liebe dich, +Hänschen, wie ich nie eine Seele geliebt habe. + +=Hänschen= + +Laß uns nicht traurig sein! -- Wenn wir in dreißig Jahren zurückdenken, +spotten wir ja vielleicht! -- Und jetzt ist alles so schön. Die Berge +glühen; die Trauben hängen uns in den Mund und der Abendwind streicht +an den Felsen hin wie ein spielendes Schmeichelkätzchen.... + + +Siebente Szene + +_Helle Novembernacht_. An Busch und Bäumen raschelt das dürre Laub. +Zerrissene Wolken jagen unter dem Mond hin. -- _Melchior_ klettert über +die _Kirchhofmauer_. + +=Melchior= + +(auf der Innenseite herabspringend) + +Hierher folgt mir die Meute nicht. -- Derweil sie Bordelle absuchen, +kann ich aufatmen und mir sagen, wie weit ich bin.... + +Der Rock in Fetzen, die Taschen leer -- vor dem Harmlosesten bin ich +nicht sicher. -- Tagsüber muß ich im Walde weiter zu kommen suchen ... + +Ein Kreuz habe ich niedergestampft. -- Die Blümchen wären heut’ noch +erfroren! -- Ringsum ist die Erde kahl.... + +Im Totenreich! -- + +Aus der Dachluke zu klettern war so schwer nicht wie dieser Weg! -- +Darauf nur war ich nicht gefaßt gewesen.... + +Ich hänge über dem Abgrund -- alles versunken, verschwunden -- O wär’ +ich dort geblieben! + +Warum sie um meinetwillen! -- Warum nicht der Verschuldete! -- +Unfaßbare Vorsicht! -- Ich hätte Steine geklopft und gehungert ...! + +Was hält mich noch aufrecht? -- Verbrechen folgt auf Verbrechen. +Ich bin dem Morast überantwortet. Nicht so viel Kraft mehr, um +abzuschließen ... + +Ich war nicht schlecht! -- Ich war nicht schlecht! -- Ich war nicht +schlecht ... + +-- So neiderfüllt ist noch kein Sterblicher über Gräber gewandelt. +-- Pah -- ich brächte ja den Mut nicht auf! -- O, wenn mich Wahnsinn +umfinge -- in dieser Nacht noch! + +Ich muß drüben unter den Letzten suchen! -- Der Wind pfeift auf +jedem Stein aus einer anderen Tonart -- eine beklemmende Symphonie! +-- Die morschen Kränze reißen entzwei und baumeln an ihren langen +Fäden stückweise um die Marmorkreuze -- ein Wald von Vogelscheuchen! +-- Vogelscheuchen auf allen Gräbern, eine greulicher als die andere +-- haushohe, vor denen die Teufel Reißaus nehmen. -- Die goldenen +Lettern blinken so kalt.... Die Trauerweide ächzt auf und fährt mit +Riesenfingern über die Inschrift.... + +-- Ein betendes Engelskind -- Eine Tafel -- + +Eine Wolke wirft ihren Schatten herab. -- Wie das hastet und heult! -- +Wie ein Heereszug jagt es im Osten empor. -- Kein Stern am Himmel -- + +Immergrün um das Gärtlein? -- Immergrün? -- -- Mädchen ... + +[Illustration: + Hier ruht in Gott + + Wendla Bergmann, + + geboren am 5. Mai 1878, + gestorben an der Bleichsucht den + 27. Oktober 1892. + + Selig sind, die reinen Herzens sind ... +] + +Und ich bin ihr Mörder. -- Ich bin ihr Mörder! -- Mir bleibt die +Verzweiflung. -- Ich darf hier nicht weinen. -- Fort von hier! -- Fort +-- + +=Moritz Stiefel= + +(seinen Kopf unter dem Arm, stapft über die Gräber her) + +Einen Augenblick, Melchior! Die Gelegenheit wiederholt sich so bald +nicht. Du ahnst nicht, was mit Ort und Stunde zusammenhängt.... + +=Melchior= + +Wo kommst du her?! + +=Moritz= + +Von drüben -- von der Mauer her. Du hast mein Kreuz umgeworfen. Ich +liege an der Mauer. -- Gib mir die Hand, Melchior.... + +=Melchior= + +Du bist _nicht_ Moritz Stiefel! + +=Moritz= + +Gib mir die Hand. Ich bin überzeugt, du wirst mir Dank wissen. +So leicht wird’s dir nicht mehr! Es ist ein seltsam glückliches +Zusammentreffen. -- Ich bin extra heraufgekommen.... + +=Melchior= + +Schläfst du denn nicht? + +=Moritz= + +Nicht was ihr Schlafen nennt. -- Wir sitzen auf Kirchtürmen, auf hohen +Dachgiebeln -- wo immer wir wollen.... + +=Melchior= + +Ruhelos? + +=Moritz= + +Vergnügungshalber. -- Wir streifen um Maibäume, um einsame +Waldkapellen. Über Volksversammlungen schweben wir hin, über +Unglücksstätten, Gärten, Festplätze. -- In den Wohnhäusern kauern wir +im Kamin und hinter den Bettvorhängen. -- Gib mir die Hand. -- Wir +verkehren nicht untereinander, aber wir sehen und hören alles, was in +der Welt vor sich geht. Wir wissen, daß alles Dummheit ist, was die +Menschen tun und erstreben, und lachen darüber. + +=Melchior= + +Was hilft das? + +=Moritz= + +Was braucht es zu helfen? -- Wir sind für nichts mehr erreichbar, nicht +für Gutes noch Schlechtes. Wir stehen hoch, hoch über dem Irdischen -- +jeder für sich allein. Wir verkehren nicht miteinander, weil uns das zu +langweilig ist. Keiner von uns hegt noch etwas, das ihm abhanden kommen +könnte. Über Jammer oder Jubel sind wir gleich unermeßlich erhaben. Wir +sind mit uns zufrieden und das ist alles! -- Die Lebenden verachten wir +unsagbar, kaum daß wir sie bemitleiden. Sie erheitern uns mit ihrem +Getue, weil sie als Lebende tatsächlich nicht zu bemitleiden sind. Wir +lächeln bei ihren Tragödien -- jeder für sich -- und stellen unsere +Betrachtungen an. -- Gib mir die Hand! Wenn du mir die Hand gibst, +fällst du um vor Lachen über dem Empfinden, mit dem du mir die Hand +gibst.... + +=Melchior= + +Ekelt dich das nicht an? + +=Moritz= + +Dazu stehen wir zu hoch. Wir lächeln! -- An meinem Begräbnis war ich +unter den Leidtragenden. Ich habe mich recht gut unterhalten. Das +ist Erhabenheit, Melchior! Ich habe geheult wie keiner, und schlich +zur Mauer, um mir vor Lachen den Bauch zu halten. Unsere unnahbare +Erhabenheit ist tatsächlich der einzige Gesichtspunkt, unter dem der +Quark sich verdauen läßt.... Auch über mich will man gelacht haben, eh’ +ich mich aufschwang! + +=Melchior= + +-- Mich lüstet’s nicht, über mich zu lachen. + +=Moritz= + +... Die Lebenden sind als solche wahrhaftig nicht zu bemitleiden! +-- Ich gestehe, ich hätte es auch nie gedacht. Und jetzt ist es mir +unfaßbar, wie man so naiv sein kann. Jetzt durchschaue ich den Trug so +klar, daß auch nicht ein Wölkchen bleibt. -- Wie magst du nur zaudern, +Melchior! Gib mir die Hand! Im Halsumdrehen stehst du himmelhoch über +dir. -- Dein Leben ist Unterlassungssünde.... + +=Melchior= + +-- Könnt ihr vergessen? + +=Moritz= + +Wir können alles. Gib mir die Hand! Wir können die Jugend bedauern, wie +sie ihre Bangigkeit für Idealismus hält, und das Alter, wie ihm vor +stoischer Überlegenheit das Herz brechen will. Wir sehen den Kaiser +vor Gassenhauern und den Lazzaroni vor der jüngsten Posaune beben. +Wir ignorieren die Maske des Komödianten und sehen den Dichter im +Dunkeln die Maske vornehmen. Wir erblicken den Zufriedenen in seiner +Bettelhaftigkeit, im Mühseligen und Beladenen den Kapitalisten. Wir +beobachten Verliebte und sehen sie voreinander erröten, ahnend, daß sie +betrogene Betrüger sind. Eltern sehen wir Kinder in die Welt setzen, +um ihnen zurufen zu können: Wie glücklich ihr seid, solche Eltern zu +haben! -- und sehen die Kinder hingehn und desgleichen tun. Wir können +die Unschuld in ihren einsamen Liebesnöten, die Fünfgroschendirne +über der Lektüre Schillers belauschen.... Gott und den Teufel sehen +wir sich voreinander blamieren und hegen in uns das durch nichts zu +erschütternde Bewußtsein, daß beide betrunken sind.... Eine Ruhe, eine +Zufriedenheit. Melchior --! Du brauchst mir nur den kleinen Finger zu +reichen. -- Schneeweiß kannst du werden, eh’ sich dir der Augenblick +wieder so günstig zeigt! + +=Melchior= + +-- Wenn ich einschlage, Moritz, so geschieht es aus Selbstverachtung. +-- Ich sehe mich geächtet. Was mir Mut verlieh, liegt im Grabe. +Edler Regungen vermag ich mich nicht mehr für würdig zu halten -- +und erblicke nichts, nichts, das sich mir auf meinem Niedergang noch +entgegenstellen sollte. -- Ich bin mir die verabscheuungswürdigste +Kreatur des Weltalls.... + +=Moritz= + +Was zauderst du ...? + +(Ein vermummter Herr tritt auf) + +=Der vermummte Herr= (zu Melchior) + +Du bebst ja vor Hunger. Du bist gar nicht befähigt, zu urteilen. -- (Zu +Moritz) Gehen Sie. + +=Melchior= + +Wer sind Sie? + +=Der vermummte Herr= + +Das wird sich weisen. -- (Zu Moritz) Verschwinden Sie! -- Was haben Sie +hier zu tun! -- Warum haben Sie denn den Kopf nicht auf? + +=Moritz= + +Ich habe mich erschossen. + +=Der vermummte Herr= + +Dann bleiben Sie doch, wo Sie hingehören. Dann sind Sie ja vorbei! +Belästigen Sie uns hier nicht mit Ihrem Grabgestank. Unbegreiflich +-- sehen Sie doch nur Ihre Finger an. Pfui Teufel noch mal! Das +zerbröckelt schon. + +=Moritz= + +Schicken Sie mich bitte nicht fort.... + +=Melchior= + +Wer sind Sie, mein Herr?? + +=Moritz= + +Schicken Sie mich nicht fort! Ich bitte Sie. Lassen Sie mich hier noch +ein Weilchen teilnehmen; ich will Ihnen in nichts entgegensein. -- -- +Es ist unten so schaurig. + +=Der vermummte Herr= + +Warum prahlen Sie denn dann mit _Erhabenheit_?! -- Sie wissen doch, +daß das Humbug ist -- saure Trauben! Warum _lügen_ Sie geflissentlich, +Sie -- Hirngespinst! -- -- Wenn Ihnen eine so schätzenswerte Wohltat +damit geschieht, so bleiben Sie meinetwegen. Aber hüten Sie sich +vor Windbeuteleien, lieber Freund -- und lassen Sie mir bitte Ihre +Leichenhand aus dem Spiel! + +=Melchior= + +Sagen Sie mir endlich, wer Sie sind, oder nicht?! + +=Der vermummte Herr= + +Nein. -- Ich mache dir den Vorschlag, dich mir anzuvertrauen. Ich würde +fürs erste für dein Fortkommen sorgen. + +=Melchior= + +Sie sind -- mein Vater?! + +=Der vermummte Herr= + +Würdest du deinen Herrn Vater nicht an der Stimme erkennen? + +=Melchior= + +Nein. + +=Der vermummte Herr= + +-- Dein Herr Vater sucht Trost zur Stunde in den kräftigen Armen +deiner Mutter. -- Ich erschließe dir die Welt. Deine momentane +Fassungslosigkeit entspringt deiner miserablen Lage. Mit einem warmen +Abendessen im Leib spottest du ihrer. + +=Melchior= (für sich) + +Es kann nur _einer_ der Teufel sein! -- (laut) Nach dem, was ich +verschuldet, kann mir ein warmes Abendessen meine Ruhe nicht +wiedergeben! + +=Der vermummte Herr= + +Es kommt auf das Abendessen an! -- So viel kann ich dir sagen, daß die +Kleine vorzüglich geboren hätte. Sie war musterhaft gebaut. Sie ist +lediglich den Abortivmitteln der Mutter Schmidtin erlegen. -- -- Ich +führe dich unter Menschen. Ich gebe dir Gelegenheit, deinen Horizont in +der fabelhaftesten Weise zu erweitern. Ich mache dich ausnahmslos mit +allem bekannt, was die Welt Interessantes bietet. + +=Melchior= + +Wer sind Sie? Wer sind Sie? -- Ich kann mich einem Menschen nicht +anvertrauen, den ich nicht kenne. + +=Der vermummte Herr= + +Du lernst mich nicht kennen, ohne dich mir anzuvertrauen. + +=Melchior= + +Glauben Sie? + +=Der vermummte Herr= + +Tatsache! -- Übrigens bleibt dir ja keine Wahl. + +=Melchior= + +Ich kann jeden Moment meinem Freunde hier die Hand reichen. + +=Der vermummte Herr= + +Dein Freund ist ein Scharlatan. Es lächelt keiner, der noch einen +Pfennig in bar besitzt. Der erhabene Humorist ist das erbärmlichste, +bedauernswerteste Geschöpf der Schöpfung! + +=Melchior= + +Sei der Humorist, was er sei; Sie sagen mir, wer Sie sind, oder ich +reiche dem Humoristen die Hand! + +=Der vermummte Herr= + +-- Nun?! + +=Moritz= + +Er hat recht, Melchior. Ich habe bramarbasiert. Laß dich von ihm +traktieren und nütz’ ihn aus. Mag er noch so vermummt sein -- er ist es +wenigstens! + +=Melchior= + +Glauben Sie an Gott? + +=Der vermummte Herr= + +Je nach Umständen. + +=Melchior= + +Wollen Sie mir sagen, wer das Pulver erfunden hat? + +=Der vermummte Herr= + +Berthold Schwarz -- alias Konstantin Anklitzen -- um 1330 +Franziskanermönch zu Freiburg im Breisgau. + +=Moritz= + +Was gäbe ich darum, wenn er es hätte bleiben lassen! + +=Der vermummte Herr= + +Sie würden sich eben erhängt haben! + +=Melchior= + +Wie denken Sie über Moral? + +=Der vermummte Herr= + +Kerl -- bin ich dein Schulknabe?! + +=Melchior= + +Weiß ich, was Sie sind!! + +=Moritz= + +Streitet nicht! -- Bitte, streitet nicht. Was kommt dabei heraus! -- +Wozu sitzen wir, zwei Lebendige und ein Toter, nachts um zwei Uhr hier +auf dem Kirchhof beisammen, wenn wir streiten wollen wie Saufbrüder! +-- Es soll mir ein Vergnügen sein, der Verhandlung mit beiwohnen zu +dürfen. -- Wenn ihr streiten wollt, nehme ich meinen Kopf unter den Arm +und gehe. + +=Melchior= + +Du bist immer noch derselbe Angstmeier! + +=Der vermummte Herr= + +Das Gespenst hat nicht Unrecht. Man soll seine Würde nicht außer +Acht lassen. -- Unter Moral verstehe ich das reelle Produkt zweier +imaginärer Größen. Die imaginären Größen sind _Sollen_ und _Wollen_. +Das Produkt heißt Moral und läßt sich in seiner Realität nicht leugnen. + +=Moritz= + +Hätten Sie mir das doch vorher gesagt! -- Meine Moral hat mich in den +Tod gejagt. Um meiner lieben Eltern willen griff ich zum Mordgewehr. +„Ehre Vater und Mutter, auf daß du lange lebest.“ An mir hat sich die +Schrift phänomenal blamiert. + +=Der vermummte Herr= + +Geben Sie sich keinen Illusionen hin, lieber Freund! Ihre lieben Eltern +wären so wenig daran gestorben wie Sie. Rigoros beurteilt würden sie ja +lediglich aus gesundheitlichem Bedürfnis getobt und gewettert haben. + +=Melchior= + +Das mag soweit ganz richtig sein. -- Ich kann Ihnen aber mit +Bestimmtheit sagen, mein Herr, daß, wenn ich Moritz vorhin ohne +weiteres die Hand gereicht hätte, einzig und allein meine Moral die +Schuld trüge. + +=Der vermummte Herr= + +Dafür bist du eben nicht Moritz! + +=Moritz= + +Ich glaube doch nicht, daß der Unterschied so wesentlich ist -- zum +mindesten nicht so zwingend, daß Sie nicht auch mir zufällig hätten +begegnen dürfen, verehrter _Unbekannter_, als ich damals, das Pistol in +der Tasche, durch die Erlenpflanzungen trabte. + +=Der vermummte Herr= + +Erinnern Sie sich meiner denn nicht? Sie standen doch wahrlich auch +im letzten Augenblick noch zwischen _Tod_ und _Leben_. -- Übrigens +ist hier meines Erachtens doch wohl nicht ganz der Ort, eine so +tiefgreifende Debatte in die Länge zu ziehen. + +=Moritz= + +Gewiß, es wird kühl, meine Herren! -- Man hat mir zwar meinen +Sonntagsanzug angezogen, aber ich trage weder Hemd noch Unterhosen. + +=Melchior= + +Leb wohl, lieber Moritz. Wo dieser Mensch mich hinführt, weiß ich +nicht. Aber er ist ein Mensch ... + +=Moritz= + +Laß mich’s nicht entgelten, Melchior, daß ich dich umzubringen suchte! +Es war alte Anhänglichkeit. -- Zeitlebens wollte ich nur klagen und +jammern dürfen, wenn ich dich nun noch einmal hinausbegleiten könnte! + +=Der vermummte Herr= + +Schließlich hat Jeder sein Teil -- _Sie_ das beruhigende Bewußtsein, +_nichts_ zu haben -- _du_ den enervirenden Zweifel an _allem_. -- Leben +Sie wohl. + +=Melchior= + +Leb wohl, Moritz! Nimm meinen herzlichen Dank dafür, daß du mir noch +erschienen. Wie manchen frohen ungetrübten Tag wir nicht miteinander +verlebt haben in den vierzehn Jahren! Ich verspreche dir, Moritz, +mag nun werden was will, mag ich in den kommenden Jahren zehnmal ein +Anderer werden, mag es aufwärts oder abwärts mit mir gehn, dich werde +ich nie vergessen ... + +=Moritz= + +Dank, dank, Geliebter. + +=Melchior= + +... und wenn ich einmal ein alter Mann in grauen Haaren bin, dann +stehst gerade du mir vielleicht wieder näher als alle Mitlebenden. + +=Moritz= + +Ich danke dir. -- Glück auf den Weg, meine Herren! -- Lassen Sie sich +nicht länger aufhalten. + +=Der vermummte Herr= + +Komm, Kind! -- (Er legt seinen Arm in denjenigen Melchiors und entfernt +sich mit ihm über die Gräber hin.) + +=Moritz= (allein) + +-- Da sitze ich nun mit meinem Kopf im Arm. -- -- Der Mond verhüllt +sein Gesicht, entschleiert sich wieder und sieht um kein Haar +gescheiter aus. -- -- So kehre ich denn zu meinem Plätzchen zurück, +richte mein Kreuz auf, das mir der Tollkopf so rücksichtslos +niedergestampft, und wenn alles in Ordnung, leg’ ich mich wieder auf +den Rücken, wärme mich an der Verwesung und lächle ... + + + + +Albert Langen Verlag für Litteratur u. Kunst München + + + =Frank Wedekind= + + =Der Liebestrank= + + Schwank in drei Aufzügen + + Geheftet 2 Mark + +=Die Nation:= + +Der Autor gehört zu den außer der Reihe stehenden, lebhaften und +kraftgenialischen Geistern, deren unsere Literatur manche hat, bei +keinem kunstverständigen Beurteiler wird er darum als Poseur, bei +niemanden seine Art als gemacht, manieriert und eingelernt erscheinen. +Vielmehr ist er voll einer absonderlichen, wunderlichen Eigenart, eine +_Natur_, wenn man dies Wort auch einmal auf einen Sprung, eine Laune, +eine Bizarrerie anwenden darf. Für die Kunst ist er voll Bedeutung, +Anregung und Reiz ... + + + =Frank Wedekind= + + =Die junge Welt= + + Komödie in drei Aufzügen + + Geheftet 2 Mark + +=Die Gesellschaft:= + +„_Die junge Welt_“ ist das bühnengerechteste von Wedekinds Dramen. +Junge Mädchen geben sich in der Pension das Versprechen des +Cölibats; natürlich hält es keine. Die Komödie erzählt das mit einem +fast liebenswürdigen Humor und mit all der Menschenkenntnis und +treffsicheren Charakterkunst dieses eigenartigsten unter den Dichtern +von heute. Erzählen läßt sich das nicht, auch nicht beschreiben. Aber +es ist sehr lustig. Es ist ein wildes Durcheinander von übermütigen +Einfällen, tollen Gliederverrenkungen in der Charakteristik, +Karikaturen, die wie Porträts aussehen -- kurz, ein Lachkabinett, aber +ganz neuer Art. + + + =Frank Wedekind= + + =Marquis von Keith= + + =(Münchener Szenen)= + + Schauspiel in fünf Aufzügen + + Geheftet 2 Mark 50 Pf. + + Elegant gebunden 3 Mark 50 Pf. + +=Die Nation:= + +Wedekind hat die irdische Unbekümmertheit, das Freisein von zeitlicher +Satzung. Er steht außerhalb der Gesellschaft, fast außerhalb der Welt. +Ich sagte das hier vor einem Jahr und muß es verstärken. Er ist mit +seinen Lebensinhalten einer der tiefsten Humoristen, die sich heut +irgendwo betätigen. + + + =Frank Wedekind= + + =Der Kammersänger= + + Drei Szenen + + =Fünftes Tausend= + + Geheftet 1 Mark + + Elegant gebunden 2 Mark + +=Brünner Sonntagszeitung:= + +Von groteskem, überlebensgroßem Humor und geißelnder Satire und Ironie +sind die unter dem Titel „_Der Kammersänger_“ (A. Langen) vereinigten +Szenen von Frank Wedekind erfüllt. Gut dargestellt müßten diese ohne +jedwede Komposition aneinander gereihten Szenen von mächtiger Wirkung +sein. Schon in der Lektüre wirkt das Werk ganz eigentümlich. Man +empfindet ähnliches wie beim Betrachten der Zeichnungen des dämonischen +Th. Th. Heine. + + + =Frank Wedekind= + + =Feuerwerk= + + Erzählungen + + =Drittes Tausend= + + Preis geheftet 3 Mark + + Elegant gebunden 4 Mark + +=Pfälzische Presse:= + +... Dabei ist Wedekind im Unterschied von vielen jener Dekadenten +frisch, nicht ohne Humor, und von strotzender Gesundheit in der Art +sich zu geben. Meisterstücke in ihrer Art sind einige der kleinen +Novellen, wie „Der Brand von Egliswyl“, „Rabbi Esra“, „Der greise +Freier“ u. a. + + + =Frank Wedekind= + + =So ist das Leben= + + Schauspiel in fünf Akten + + Preis geheftet 2 Mark + + Elegant gebunden 3 Mark + +„_So ist das Leben_“ behandelt die Schicksale eines entthronten Königs, +der in die unangenehme Lage kommt, sich vor einem bürgerlichen Gericht +wegen _Majestätsbeleidigung_ verantworten zu müssen. =Die aktuelle +Frage der Majestätsbeleidigungsprozesse= erfährt auf diese Weise in dem +Drama eine _verblüffend vielseitige Beleuchtung_. + + Druck von Hesse & Becker in Leipzig + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Frühlings Erwachen, by Frank Wedekind + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 45091 *** diff --git a/45091/45091-h/45091-h.htm b/45091-h/45091-h.htm index 16d1a4a..1e2cd69 100644 --- a/45091/45091-h/45091-h.htm +++ b/45091-h/45091-h.htm @@ -1,6196 +1,5779 @@ -<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.0 Strict//EN"
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- The Project Gutenberg eBook of Frühlings Erwachen, by Frank Wedekind.
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-<pre>
-
-The Project Gutenberg EBook of Frühlings Erwachen, by Frank Wedekind
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
-almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
-re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
-with this eBook or online at www.gutenberg.org
-
-
-Title: Frühlings Erwachen
-
-Author: Frank Wedekind
-
-Release Date: March 9, 2014 [EBook #45091]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: UTF-8
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FRÜHLINGS ERWACHEN ***
-
-
-
-
-Produced by Peter Becker, the University of Toronto,
-Marc-Andre Seekamp and the Online Distributed Proofreading
-Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from
-images generously made available by The Internet
-Archive/Canadian Libraries)
-
-
-
-
-
-
-</pre>
-
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_1" id="Seite_1">[1]</a></span></p>
-
-<h1>Frühlings Erwachen</h1>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_2" id="Seite_2">[2]</a></span></p>
-
-<div class="infoseite">
-<p class="center p2">
-Übersetzungs- und Aufführungsrecht vorbehalten. Nachdruck verboten</p>
-<p class="center p2">Den Bühnen und Vereinen gegenüber Manuskript</p>
-<p class="center p2">Das Aufführungsrecht ist ausschließlich zu erwerben
-durch <i class="gesperrt">Albert Langen</i>, Verlag und Bühnenvertrieb,
-München</p>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_3" id="Seite_3">[3]</a></span></p>
-
-<div class="infoseite">
-<p class="caption"><small>Frank Wedekind</small></p>
-<p class="caption">Frühlings Erwachen</p>
-<p class="center">Eine Kindertragödie</p>
-<p class="center p2">Elfte bis fünfzehnte Auflage</p>
-
-<div class="figcenter">
- <a name="verlag" id="verlag"><img src="images/verlag.jpg" width="250" height="227" alt="Verlagslogo" /></a>
-</div>
-
-<p class="center">Albert Langen<br />
-Verlag für Litteratur und Kunst<br />
-München 1907</p>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_4" id="Seite_4">[4]</a></span></p>
-
-<div class="infoseite">
-<p>Von <i class="gesperrt">Frank Wedekind</i> erschienen im Verlage
-von Albert Langen:</p>
-
-<table summary="Werke von Frank Wedekind">
-<tbody>
-
-<tr><td><i class="gesperrt">Erdgeist</i> Tragödie</td><td class="tdr">3. Auflage</td></tr>
-<tr><td><i class="gesperrt">Die Fürstin Russalka</i> Novellen — Gedichte — Theater</td><td class="tdr">Vergriffen</td></tr>
-<tr><td><i class="gesperrt">Der Kammersänger</i> Drei Szenen</td><td class="tdr">5. Auflage</td></tr>
-<tr><td><i class="gesperrt">Der Liebestrank</i> Schwank</td><td class="tdr"></td></tr>
-<tr><td><i class="gesperrt">Die junge Welt</i> Komödie</td><td class="tdr"></td></tr>
-<tr><td><i class="gesperrt">Marquis von Keith</i> Schauspiel</td><td class="tdr"></td></tr>
-<tr><td><i class="gesperrt">So ist das Leben</i> Schauspiel</td><td class="tdr"></td></tr>
-<tr><td><i class="gesperrt">Frühlings Erwachen</i> Eine Kindertragödie</td><td class="tdr">15. Auflage</td></tr>
-<tr><td><i class="gesperrt">Mine-Haha</i> oder über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen</td><td class="tdr">5. Tausend</td></tr>
-<tr><td><i class="gesperrt">Die vier Jahreszeiten</i> Gedichte</td><td class="tdr">2. Tausend</td></tr>
-<tr><td><i class="gesperrt">Feuerwerk</i> Erzählungen</td><td class="tdr">3. Tausend</td></tr>
-<tr><td><i class="gesperrt">Totentanz</i> Drei Szenen</td><td class="tdr">4. Tausend</td></tr>
-</tbody>
-</table>
-
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_5" id="Seite_5">[5]</a></span></p>
-
-<div class="infoseite">
-<p class="caption">Dem vermummten Herrn</p>
-<p class="right" style="font-size: large">der Verfasser</p>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_7" id="Seite_7">[7]</a></span></p>
-
-<h2><a name="Erster_Akt" id="Erster_Akt"></a>Erster Akt</h2>
-<h3>Erste Szene</h3>
-
-<p class="regie">Wohnzimmer</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Warum hast du mir das Kleid so lang gemacht,
-Mutter?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Du wirst vierzehn Jahr heute!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Hätt′ ich gewußt, daß du mir das Kleid so
-lang machen werdest, ich wäre lieber nicht vierzehn
-geworden.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Das Kleid ist nicht zu lang, Wendla. Was
-willst du denn! Kann ich dafür, daß mein Kind
-mit jedem Frühjahr wieder zwei Zoll größer ist.
-Du darfst doch als ausgewachsenes Mädchen
-nicht in Prinzeßkleidchen einhergehen.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Jedenfalls steht mir mein Prinzeßkleidchen
-besser als diese Nachtschlumpe. — Laß mich′s
-noch einmal tragen, Mutter! Nur noch den<span class="pagenum"><a name="Seite_8" id="Seite_8">[8]</a></span>
-Sommer lang. Ob ich nun vierzehn zähle oder
-fünfzehn, dies Bußgewand wird mir immer noch
-recht sein. — Heben wir′s auf bis zu meinem
-nächsten Geburtstag; jetzt würd′ ich doch nur die
-Litze heruntertreten.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich
-würde dich ja gerne so behalten, Kind, wie du
-gerade bist. Andere Mädchen sind stakig und
-plump in deinem Alter. Du bist das Gegenteil.
-— Wer weiß, wie du sein wirst, wenn sich die
-andern entwickelt haben.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Wer weiß — vielleicht werde ich nicht
-mehr sein.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Kind, Kind, wie kommst du auf die Gedanken!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Nicht, liebe Mutter; nicht traurig sein!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann <span class="regie">(sie küssend)</span></p>
-
-<p>Mein einziges Herzblatt!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Sie kommen mir so des abends, wenn ich
-nicht einschlafe. Mir ist gar nicht traurig dabei, und
-ich weiß, daß ich dann um so besser schlafe. —
-Ist es sündhaft, Mutter, über derlei zu sinnen?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_9" id="Seite_9">[9]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Geh′ denn und häng′ das Bußgewand in
-den Schrank! Zieh′ in Gottes Namen dein
-Prinzeßkleidchen wieder an! — Ich werde dir
-gelegentlich eine Handbreit Volants unten ansetzen.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p class="regie">(das Kleid in Schrank hängend)</p>
-
-<p>Nein, da möcht′ ich schon lieber gleich vollends zwanzig
-sein ...!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Wenn du nur nicht zu kalt hast! — Das
-Kleidchen war dir ja seinerzeit reichlich lang; aber ...</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Jetzt, wo der Sommer kommt? — O Mutter,
-in den Kniekehlen bekommt man auch als Kind
-keine Diphtheritis! Wer wird so kleinmütig sein.
-In meinen Jahren friert man noch nicht — am
-wenigsten an die Beine. Wär′s etwa besser,
-wenn ich zu heiß hätte, Mutter? — Dank′ es
-dem lieben Gott, wenn sich dein Herzblatt nicht
-eines morgens die Ärmel wegstutzt und dir so
-zwischen Licht abends ohne Schuhe und Strümpfe
-entgegentritt! — Wenn ich mein Bußgewand
-trage, kleide ich mich darunter wie eine Elfenkönigin ...
-Nicht schelten, Mütterchen! Es
-sieht′s dann ja niemand mehr.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_10" id="Seite_10">[10]</a></span></p>
-
-
-<h3>Zweite Szene</h3>
-
-<p class="regie"><i class="gesperrt">Sonntag abend</i></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Das ist mir zu langweilig. Ich mache nicht
-mehr mit.</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Dann können wir andern nur auch aufhören!
-— Hast du die Arbeiten, Melchior?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Spielt ihr nur weiter!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wohin gehst du?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Spazieren.</p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Es wird ja dunkel!</p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Hast du die Arbeiten schon?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Warum soll ich denn nicht im Dunkeln
-spazieren gehn?</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Zentralamerika! — Ludwig der Fünfzehnte! —
-Sechzig Verse Homer! — Sieben Gleichungen!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Verdammte Arbeiten!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_11" id="Seite_11">[11]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Wenn nur wenigstens der lateinische Aufsatz
-nicht auf morgen wäre!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>An nichts kann man denken, ohne daß einem
-Arbeiten dazwischen kommen!</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Ich gehe nach Hause.</p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Ich auch, Arbeiten machen.</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Ich auch, ich auch.</p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Gute Nacht, Melchior.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Schlaft wohl!</p>
-
-<p class="regie">(Alle entfernen sich bis auf Moritz und Melchior.)</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Möchte doch wissen, wozu wir eigentlich auf
-der Welt sind!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Lieber wollt′ ich ein Droschkengaul sein um
-der Schule willen! — Wozu gehen wir in die
-Schule? — Wir gehen in die Schule, damit man
-uns examinieren kann! — Und wozu examiniert
-man uns? — Damit wir durchfallen. — Sieben<span class="pagenum"><a name="Seite_12" id="Seite_12">[12]</a></span>
-müssen ja durchfallen, schon weil das Klassenzimmer
-oben nur sechzig faßt. — Mir ist so
-eigentümlich seit Weihnachten ... hol′ mich der
-Teufel, wäre Papa nicht, heut′ noch schnürt′ ich
-mein Bündel und ginge nach Altona!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Reden wir von etwas anderem. —</p>
-
-<p class="regie">(Sie gehen spazieren.)</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Siehst du die schwarze Katze dort mit dem
-emporgereckten Schweif?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Glaubst du an Vorbedeutungen?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich weiß nicht recht. — — Sie kam von
-drüben her. Es hat nichts zu sagen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich glaube, das ist eine Charybdis, in die
-jeder stürzt, der sich aus der Skylla religiösen
-Irrwahns emporgerungen. — — Laß uns hier
-unter der Buche Platz nehmen. Der Tauwind
-fegt über die Berge. Jetzt möchte ich droben
-im Wald eine junge Dryade sein, die sich die
-ganze lange Nacht in den höchsten Wipfeln
-wiegen und schaukeln läßt....</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_13" id="Seite_13">[13]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Knöpf′ dir die Weste auf, Melchior!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ha — wie das einem die Kleider bläht!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Es wird weiß Gott so stockfinster, daß man
-die Hand nicht vor den Augen sieht. Wo bist
-du eigentlich? — — Glaubst du nicht auch,
-Melchior, daß das Schamgefühl im Menschen
-nur ein Produkt seiner Erziehung ist?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Darüber habe ich erst vorgestern noch nachgedacht.
-Es scheint mir immerhin tief eingewurzelt
-in der menschlichen Natur. Denke dir,
-du solltest dich vollständig entkleiden vor deinem
-besten Freund. Du wirst es nicht tun, wenn er
-es nicht zugleich auch tut. — Es ist eben auch
-mehr oder weniger Modesache.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich habe mir schon gedacht, wenn ich Kinder
-habe, Knaben und Mädchen, so lasse ich sie von
-früh auf im nämlichen Gemach, wenn möglich
-auf ein und demselben Lager, zusammenschlafen,
-lasse sie morgens und abends beim An- und
-Auskleiden einander behilflich sein und in der
-heißen Jahreszeit, die Knaben sowohl wie die<span class="pagenum"><a name="Seite_14" id="Seite_14">[14]</a></span>
-Mädchen, tagsüber nichts als eine kurze, mit
-einem Lederriemen gegürtete Tunika aus weißem
-Wollstoff tragen. — Mir ist, sie müßten, wenn
-sie so heranwachsen, später ruhiger sein, als wir
-es in der Regel sind.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Das glaube ich entschieden, Moritz! — Die
-Frage ist nur, wenn die Mädchen Kinder bekommen,
-was dann?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wie so Kinder bekommen?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich glaube in dieser Hinsicht nämlich an einen
-gewissen Instinkt. Ich glaube, wenn man einen
-Kater zum Beispiel mit einer Katze von Jugend
-auf zusammensperrt und beide von jedem Verkehr
-mit der Außenwelt fernhält, d. h. sie ganz nur
-ihren eigenen Trieben überläßt — daß die Katze
-früher oder später doch einmal trächtig wird,
-obgleich sie sowohl wie der Kater niemand hatten,
-dessen Beispiel ihnen hätte die Augen öffnen können.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Bei Tieren muß sich das ja schließlich von
-selbst ergeben.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Bei Menschen glaube ich erst recht! Ich<span class="pagenum"><a name="Seite_15" id="Seite_15">[15]</a></span>
-bitte dich, Moritz, wenn deine Knaben mit den
-Mädchen auf ein und demselben Lager schlafen
-und es kommen ihnen nun unversehens die ersten
-männlichen Regungen — ich möchte mit jedermann
-eine Wette eingehen....</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Darin magst du ja recht haben. — Aber
-immerhin ...</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Und bei deinen Mädchen wäre es im entsprechenden
-Alter vollkommen das nämliche! Nicht
-daß das Mädchen gerade ... man kann das ja
-freilich so genau nicht beurteilen ... jedenfalls
-wäre vorauszusetzen ...... und die Neugierde
-würde das Ihrige zu tun auch nicht verabsäumen!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Eine Frage beiläufig —</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Nun?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Aber du antwortest?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Natürlich!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wahr?!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Meine Hand darauf. — — Nun, Moritz?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_16" id="Seite_16">[16]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Hast du den Aufsatz schon??</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>So sprich doch frisch von der Leber weg! —
-Hier hört und sieht uns ja niemand.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Selbstverständlich müßten meine Kinder nämlich
-tagsüber arbeiten, in Hof und Garten, oder
-sich durch Spiele zerstreuen, die mit körperlicher
-Anstrengung verbunden sind. Sie müßten reiten,
-turnen, klettern und vor allen Dingen nachts
-nicht so weich schlafen wie wir. Wir sind schrecklich
-verweichlicht. — Ich glaube, man träumt
-gar nicht, wenn man hart schläft.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich schlafe von jetzt bis nach der Weinlese
-überhaupt nur in meiner Hängematte. Ich habe
-mein Bett hinter den Ofen gestellt. Es ist zum
-Zusammenklappen. — Vergangenen Winter träumte
-mir einmal, ich hätte unsern Lolo so lange gepeitscht,
-bis er kein Glied mehr rührte. Das
-war das Grauenhafteste, was ich je geträumt
-habe. — Was siehst du mich so sonderbar an?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Hast du sie schon empfunden?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_17" id="Seite_17">[17]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Was?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wie sagtest du?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Männliche Regungen?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>M—hm.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>— Allerdings!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich auch. — — — — — — —
-— — — — — — — — — —</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich kenne das nämlich schon lange! — schon
-bald ein Jahr.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich war wie vom Blitz gerührt.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Du hattest geträumt?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Aber nur ganz kurz ....... von Beinen
-im himmelblauem Trikot, die über das Katheder
-steigen — um aufrichtig zu sein, ich dachte, sie
-wollten hinüber. — Ich habe sie nur flüchtig
-gesehen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Georg Zirschnitz träumte von seiner <em class="gesperrt">Mutter</em>.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_18" id="Seite_18">[18]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Hat er dir das erzählt?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Draußen am Galgensteg!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wenn du wüßtest, was ich ausgestanden seit
-jener Nacht!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Gewissensbisse?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Gewissensbisse?? — — — <em class="gesperrt">Todesangst</em>!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Herrgott ...</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich hielt mich für unheilbar. Ich glaubte,
-ich litte an einem inneren Schaden. — Schließlich
-wurde ich nur dadurch wieder ruhiger, daß ich
-meine Lebenserinnerungen aufzuzeichnen begann.
-Ja ja, lieber Melchior, die letzten drei Wochen
-waren ein Gethsemane für mich.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich war seinerzeit mehr oder weniger darauf
-gefaßt gewesen. Ich schämte mich ein wenig. —
-Das war aber auch alles.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Und dabei bist du noch fast um ein ganzes
-Jahr jünger als ich!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_19" id="Seite_19">[19]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Darüber, Moritz, würd′ ich mir keine Gedanken
-machen. All′ meinen Erfahrungen nach
-besteht für das erste Auftauchen dieser Phantome
-keine bestimmte Altersstufe. Kennst du den großen
-Lämmermeier mit dem strohgelben Haar und der
-Adlernase? Drei Jahre ist der älter als ich.
-Hänschen Rilow sagt, der träume noch bis heute
-von nichts als Sandtorten und Aprikosengelee.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich bitte dich, wie kann Hänschen Rilow
-darüber urteilen!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Er hat ihn gefragt.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Er hat ihn gefragt? — Ich hätte mich nicht
-getraut, jemanden zu fragen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Du hast mich doch auch gefragt.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Weiß Gott ja! — Möglicherweise hatte
-Hänschen auch schon sein Testament gemacht. —
-Wahrlich ein sonderbares Spiel, das man mit
-uns treibt. Und dafür sollen wir uns dankbar
-erweisen! Ich erinnere mich nicht, je eine Sehnsucht
-nach dieser Art Aufregungen verspürt zu<span class="pagenum"><a name="Seite_20" id="Seite_20">[20]</a></span>
-haben. Warum hat man mich nicht ruhig schlafen
-lassen, bis alles wieder still gewesen wäre. Meine
-lieben Eltern hätten hundert bessere Kinder haben
-können. So bin ich nun hergekommen, ich weiß
-nicht wie, und soll mich dafür verantworten, daß
-ich nicht weggeblieben bin. — Hast du nicht auch
-schon darüber nachgedacht, Melchior, auf welche
-Art und Weise wir eigentlich in diesen Strudel
-hineingeraten?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Du weißt das also noch nicht, Moritz?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wie sollt′ ich es wissen? — Ich sehe, wie
-die Hühner Eier legen, und höre, daß mich Mama
-unter dem Herzen getragen haben will. Aber
-genügt denn das? — Ich erinnere mich auch,
-als fünfjähriges Kind schon befangen worden zu
-sein, wenn einer die dekolletierte Coeurdame aufschlug.
-Dieses Gefühl hat sich verloren. Indessen
-kann ich heute kaum mehr mit irgend
-einem Mädchen sprechen, ohne etwas Verabscheuenswürdiges
-dabei zu denken, und — ich
-schwöre dir, Melchior — ich weiß nicht <em class="gesperrt">was</em>.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich sage dir alles. — Ich habe es teils aus
-Büchern, teils aus Illustrationen, teils aus Beobachtungen<span class="pagenum"><a name="Seite_21" id="Seite_21">[21]</a></span>
-in der Natur. Du wirst überrascht
-sein; ich wurde seinerzeit Atheist. Ich habe es
-auch Georg Zirschnitz gesagt! Georg Zirschnitz
-wollte es Hänschen Rilow sagen, aber Hänschen
-Rilow hatte als Kind schon alles von seiner
-Gouvernante erfahren.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich habe den <em class="gesperrt">Kleinen Meyer</em> von A bis
-Z durchgenommen. Worte — nichts als Worte
-und Worte! Nicht eine einzige schlichte Erklärung.
-O dieses Schamgefühl! — Was soll mir ein
-Konversationslexikon, das auf die nächstliegende
-Lebensfrage nicht antwortet.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Hast du schon einmal zwei Hunde über die
-Straße laufen sehen?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Nein! — — Sag mir heute lieber noch nichts,
-Melchior. Ich habe noch Mittelamerika und
-Ludwig den Fünfzehnten vor mir. Dazu die
-sechzig Verse Homer, die sieben Gleichungen, der
-lateinische Aufsatz — ich würde morgen wieder
-überall abblitzen. Um mit Erfolg büffeln zu
-können, muß ich stumpfsinnig wie ein Ochse sein.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Komm doch mit auf mein Zimmer. In<span class="pagenum"><a name="Seite_22" id="Seite_22">[22]</a></span>
-dreiviertel Stunden habe ich den Homer, die
-Gleichungen und <em class="gesperrt">zwei</em> Aufsätze. Ich korrigiere
-dir einige harmlose Schnitzer hinein, so ist die
-Sache im Blei. Mama braut uns wieder eine
-Limonade, und wir plaudern gemütlich über die
-Fortpflanzung.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich kann nicht. — Ich kann nicht gemütlich
-über die Fortpflanzung plaudern! Wenn du mir
-einen Gefallen tun willst, dann gib mir deine
-Unterweisungen schriftlich. Schreib mir auf, was
-du weißt. Schreib es möglichst kurz und klar
-und steck es mir morgen während der Turnstunde
-zwischen die Bücher. Ich werde es nach Hause
-tragen, ohne zu wissen, daß ich es habe. Ich
-werde es unverhofft einmal wiederfinden. Ich
-werde nicht umhin können, es müden Auges zu
-durchfliegen ... falls es unumgänglich notwendig
-ist, magst du ja auch einzelne Randzeichnungen
-anbringen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Du bist wie ein Mädchen. — Übrigens wie
-du willst! Es ist mir das eine ganz interessante
-Arbeit. — — Eine Frage, Moritz.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Hm?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_23" id="Seite_23">[23]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>— Hast du schon einmal ein Mädchen gesehen?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ja!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Aber ganz?!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Vollständig</em>!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich nämlich auch! — Dann werden keine
-Illustrationen nötig sein.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Während des Schützenfestes, in Leilichs anatomischem
-Museum! Wenn es aufgekommen
-wäre, hätte man mich aus der Schule gejagt.
-— Schön wie der lichte Tag, und — o so
-naturgetreu!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich war letzten Sommer mit Mama in Frankfurt
-— — Du willst schon gehen, Moritz?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Arbeiten machen. — Gute Nacht.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Auf Wiedersehen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_24" id="Seite_24">[24]</a></span></p>
-
-
-<h3>Dritte Szene</h3>
-
-<p class="regie"><i class="gesperrt">Thea</i>, <i class="gesperrt">Wendla</i> und <i class="gesperrt">Martha</i> kommen Arm in Arm
-die <i class="gesperrt">Straße</i> herauf</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Wie einem das Wasser ins Schuhwerk dringt!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Wie einem der Wind um die Wangen saust!</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Wie einem das Herz hämmert!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Geh′n wir zur Brücke hinaus! Ilse sagte
-der Fluß führe Sträucher und Bäume. Die
-Jungens haben ein Floß auf dem Wasser. Melchi
-Gabor soll gestern abend beinah ertrunken sein.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>O der kann schwimmen!</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Das will ich meinen, Kind!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Wenn er nicht hätte schwimmen können, wäre
-er wohl sicher ertrunken!</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Dein Zopf geht auf, Martha; dein Zopf
-geht auf!</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Puh — laß ihn aufgehn! Er ärgert mich<span class="pagenum"><a name="Seite_25" id="Seite_25">[25]</a></span>
-so Tag und Nacht. Kurze Haare tragen wie
-du darf ich nicht, das Haar offen tragen wie
-Wendla darf ich nicht, Ponyhaare tragen darf
-ich nicht, und zu Hause muß ich mir gar die
-Frisur machen — alles der Tanten wegen!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich bringe morgen eine Schere mit in die
-Religionsstunde. Während du „Wohl dem, der
-nicht wandelt“ rezitierst, werd′ ich ihn abschneiden.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Um Gotteswillen, Wendla! Papa schlägt
-mich krumm, und Mama sperrt mich drei Nächte
-ins Kohlenloch.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Womit schlägt er dich, Martha?</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Manchmal ist es mir, es müßte ihnen doch
-etwas abgehen, wenn sie keinen so schlechtgearteten
-Balg hätten wie ich.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Aber Mädchen!</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Hast du dir nicht auch ein himmelblaues
-Band durch die Hemdpasse ziehen dürfen?</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Rosa Atlas! Mama behauptet, Rosa stehe
-mir bei meinen pechschwarzen Augen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_26" id="Seite_26">[26]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Mir stand Blau reizend! — Mama riß mich
-am Zopf zum Bett heraus. So — fiel ich mit
-den Händen voraus auf die Diele. — Mama
-betet nämlich Abend für Abend mit uns....</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich an deiner Stelle wäre ihnen längst in
-die Welt hinausgelaufen.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>... Da habe man′s, worauf ich ausgehe! —
-Da habe man′s ja! — Aber sie wolle schon sehen —
-o sie wolle noch sehen! — Meiner Mutter
-wenigstens solle ich einmal keine Vorwürfe machen
-können....</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Hu — Hu —</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Kannst du dir denken, Thea, was Mama
-damit meinte?</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Ich nicht. — Du, Wendla?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich hätte sie einfach gefragt.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Ich lag auf der Erde und schrie und heulte.
-Da kommt Papa. Ritsch — das Hemd herunter.<span class="pagenum"><a name="Seite_27" id="Seite_27">[27]</a></span>
-Ich zur Türe hinaus. Da habe man′s! Ich
-wolle nun wohl so auf die Straße hinunter....</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Das ist doch gar nicht wahr, Martha.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Ich fror. Ich schloß auf. Ich habe die
-ganze Nacht im Sack schlafen müssen.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Ich könnte meiner Lebtag in keinem Sack
-schlafen!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich möchte ganz gern mal für dich in deinem
-Sack schlafen.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Wenn man nur nicht geschlagen wird.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Aber man erstickt doch darin!</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Der Kopf bleibt frei. Unter dem Kinn wird
-zugebunden.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Und dann schlagen sie dich?</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Nein. Nur wenn etwas Besonderes vorliegt.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Womit schlägt man dich, Martha?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_28" id="Seite_28">[28]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Ach was — mit allerhand. — Hält es deine
-Mutter auch für unanständig, im Bett ein Stück
-Brot zu essen?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Nein, nein.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Ich glaube immer, sie haben doch ihre Freude
-— wenn sie auch nichts davon sagen. — Wenn
-ich einmal Kinder habe, ich lasse sie aufwachsen
-wie das Unkraut in unserem Blumengarten. Um
-das kümmert sich niemand, und es steht so hoch,
-so dicht — während die Rosen in den Beeten
-an ihren Stöcken mit jedem Sommer kümmerlicher
-blühn.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Wenn ich Kinder habe, kleid′ ich sie ganz in
-Rosa. Rosahüte, Rosakleidchen, Rosaschuhe. Nur
-die Strümpfe — die Strümpfe schwarz wie die
-Nacht! Wenn ich dann spazieren gehe, laß ich
-sie vor mir hermarschieren. — Und du, Wendla?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Wißt ihr denn, ob ihr welche bekommt?</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Warum sollten wir keine bekommen?</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Tante Euphemia hat allerdings auch keine.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_29" id="Seite_29">[29]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Gänschen! — weil sie nicht <em class="gesperrt">verheiratet</em> ist.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Tante Bauer war dreimal verheiratet und
-hat nicht ein einziges.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>— Wenn du welche bekommst, Wendla, was
-möchtest du lieber, Knaben oder Mädchen?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Jungens! Jungens!</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Ich auch Jungens!</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Ich auch. Lieber zwanzig Jungens als drei
-Mädchen.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Mädchen sind langweilig!</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Wenn ich nicht schon ein Mädchen geworden
-wäre, ich würde es heute gewiß nicht mehr.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Das ist, glaube ich, Geschmacksache, Martha!
-Ich freue mich jeden Tag, daß ich Mädchen bin.
-Glaub′ mir, ich wollte mit keinem Königssohn
-tauschen. — Darum möchte ich aber doch nur
-Buben!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_30" id="Seite_30">[30]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Das ist doch Unsinn, lauter Unsinn, Wendla!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Aber ich bitte dich, Kind, es muß doch tausendmal
-erhebender sein, von einem Manne geliebt
-zu werden, als von einem Mädchen!</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Du wirst doch nicht behaupten wollen, Forstreferendar
-Pfälle liebe Melitta mehr als sie ihn!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Das will ich wohl, Thea! — Pfälle ist stolz.
-Pfälle ist stolz darauf, daß er Forstreferendar ist
-— denn Pfälle hat nichts. — Melitta ist <em class="gesperrt">selig</em>,
-weil sie zehntausendmal mehr bekommt, als sie ist.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Bist du nicht stolz auf dich, Wendla?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Das wäre doch einfältig.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Wie wollt′ ich stolz sein an deiner Stelle.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Sieh′ doch nur, wie sie die Füße setzt — wie
-sie geradaus schaut — wie sie sich hält, Martha!
-— Wenn das nicht Stolz ist!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_31" id="Seite_31">[31]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Wozu nur?! Ich bin so glücklich, Mädchen
-zu sein; wenn ich kein Mädchen wär′, brächt′ ich
-mich um, um das nächste Mal ...</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p class="regie">(geht vorüber und grüßt)</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Er hat einen wundervollen Kopf.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>So denke ich mir den jungen Alexander, als
-er zu Aristoteles in die Schule ging.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Du lieber Gott, die griechische Geschichte! —
-Ich weiß nur noch, wie Sokrates in der Tonne
-lag, als ihm Alexander den Eselsschatten verkaufte.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Er soll der Drittbeste in seiner Klasse sein.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Professor Knochenbruch sagt, wenn er wollte,
-könnte er Primus sein.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Er hat eine schöne Stirne, aber sein Freund
-hat einen seelenvolleren Blick.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Moritz Stiefel? — Ist das eine Schlafmütze!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_32" id="Seite_32">[32]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Ich habe mich immer ganz gut mit ihm
-unterhalten.</p>
-
-<p class="sprecher">Thea</p>
-
-<p>Er blamiert einen, wo man ihn trifft. Auf
-dem Kinderball bei Rilows bot er mir Pralinees
-an. Denke dir, Wendla, die waren weich und
-warm. Ist das nicht ...? — Er sagte, er habe
-sie zu lang in der Hosentasche gehabt.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Denke dir, Melchi Gabor sagte mir damals,
-er glaube an nichts — nicht an Gott, nicht an
-ein Jenseits — an gar nichts mehr in dieser Welt.</p>
-
-
-<h3>Vierte Szene</h3>
-
-<p class="regie">Parkanlagen vor dem Gymnasium — <i class="gesperrt">Melchior</i>, <i class="gesperrt">Otto</i>,
-<i class="gesperrt">Georg</i>, <i class="gesperrt">Robert</i>, <i class="gesperrt">Hänschen Rilow</i>, <i class="gesperrt">Lämmermeier</i></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Kann mir einer von euch sagen, wo Moritz
-Stiefel steckt?</p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Dem kann′s schlecht gehn! — O dem kann′s
-schlecht gehn!</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Der treibts so lange, bis er noch mal ganz
-gehörig ′reinfliegt!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_33" id="Seite_33">[33]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Lämmermeier</p>
-
-<p>Weiß der Kuckuck, ich möchte in diesem
-Moment nicht in seiner Haut stecken!</p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Eine Frechheit! — Eine Unverschämtheit!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wa — wa — was wißt ihr denn?</p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Was wir wissen? — Na, ich sage dir ...</p>
-
-<p class="sprecher">Lämmermeier</p>
-
-<p>Ich möchte nichts gesagt haben!</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Ich auch nicht — weiß Gott nicht!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wenn ihr jetzt nicht sofort ...</p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Kurz und gut, Moritz Stiefel ist ins <em class="gesperrt">Konferenzzimmer</em>
-gedrungen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ins Konferenzzimmer ...?</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Ins Konferenzzimmer! — Gleich nach Schluß
-der Lateinstunde.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_34" id="Seite_34">[34]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Er war der letzte; er blieb absichtlich zurück.</p>
-
-<p class="sprecher">Lämmermeier</p>
-
-<p>Als ich um die Korridorecke bog, sah ich
-ihn die Tür öffnen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Hol dich der ...!</p>
-
-<p class="sprecher">Lämmermeier</p>
-
-<p>Wenn nur ihn nicht der Teufel holt!</p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Vermutlich hatte das Rektorat den Schlüssel
-nicht abgezogen.</p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Oder Moritz Stiefel führt einen Dietrich.</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Ihm wäre das zuzutrauen.</p>
-
-<p class="sprecher">Lämmermeier</p>
-
-<p>Wenn′s gut geht, bekommt er einen Sonntagnachmittag.</p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Nebst einer Bemerkung ins Zeugnis!</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Wenn er bei dieser Zensur nicht ohnehin
-an die Luft fliegt.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
-
-<p>Da ist er!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_35" id="Seite_35">[35]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Blaß wie ein Handtuch.</p>
-
-<p class="regie">(Moritz kommt in äußerster Aufregung.)</p>
-
-<p class="sprecher">Lämmermeier</p>
-
-<p>Moritz, Moritz, was du getan hast!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>— — Nichts — — nichts — — —</p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Du fieberst!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>— Vor Glück — vor Seligkeit — vor
-Herzensjubel —</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Du bist erwischt worden?!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich bin promoviert! — Melchior, ich bin
-promoviert! — O jetzt kann die Welt untergehn!
-— Ich bin promoviert! — Wer hätte geglaubt,
-daß ich promoviert werde! — Ich fass′ es noch
-nicht! — Zwanzigmal hab′ ich′s gelesen! — Ich
-kann′s nicht glauben — du großer Gott, es
-blieb! — Es blieb! <em class="gesperrt">Ich bin promoviert</em>! —
-(lächelnd) Ich weiß nicht — so sonderbar ist mir
-— der Boden dreht sich ... Melchior, Melchior,
-wüßtest du, was ich durchgemacht!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_36" id="Seite_36">[36]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
-
-<p>Ich gratuliere, Moritz. — Sei nur froh,
-daß du so weggekommen!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Du weißt nicht, Hänschen, du ahnst nicht,
-was auf dem Spiel stand. Seit drei Wochen
-schleiche ich an der Tür vorbei wie am Höllenschlund.
-Da sehe ich heute, sie ist angelehnt.
-Ich glaube, wenn man mir eine Million geboten
-hätte — nichts, o nichts hätte mich zu
-halten vermocht! — Ich stehe mitten im Zimmer
-— ich schlage das Protokoll auf — blättere —
-finde — — und während all der Zeit ...
-Mir schaudert —</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>... während all der Zeit?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Während all der Zeit steht die Tür hinter
-mir sperrangelweit offen. — Wie ich heraus ...
-wie ich die Treppe heruntergekommen, weiß ich
-nicht.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
-
-<p>— Wird Ernst Röbel auch promoviert?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>O gewiß, Hänschen, gewiß! — Ernst Röbel
-wird gleichfalls promoviert.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_37" id="Seite_37">[37]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Dann mußt du schon nicht richtig gelesen
-haben. Die Eselsbank abgerechnet zählen wir
-mit dir und Röbel zusammen einundsechzig, während
-oben das Klassenzimmer mehr als sechzig nicht
-fassen kann.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich habe vollkommen richtig gelesen. Ernst
-Röbel wird so gut versetzt wie ich — beide
-allerdings vorläufig nur <em class="gesperrt">provisorisch</em>. Während
-des ersten Quartals soll es sich dann herausstellen,
-wer dem andern Platz zu machen hat. —
-Armer Röbel! — Weiß der Himmel, mir ist um
-mich nicht mehr bange. Dazu habe ich diesmal zu
-tief hinuntergeblickt.</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Ich wette fünf Mark, daß du Platz machst.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Du hast ja nichts. Ich will dich nicht ausrauben.
-— Herrgott, werd′ ich büffeln von heute
-an! — Jetzt kann ich′s ja sagen — mögt ihr
-daran glauben oder nicht — jetzt ist ja alles
-gleichgültig — ich — ich weiß, wie wahr es
-ist: Wenn ich nicht promoviert worden wäre,
-hätte ich mich erschossen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_38" id="Seite_38">[38]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Prahlhans!</p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Der Hasenfuß!</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Dich hätte ich schießen sehen mögen!</p>
-
-<p class="sprecher">Lämmermeier</p>
-
-<p>Eine Maulschelle drauf!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p class="regie">(gibt ihm eine)</p>
-
-<p>— — Komm, Moritz. Gehn wir zum
-Försterhaus!</p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Glaubst du vielleicht an den Schnack?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Schert dich das? — — Laß sie schwatzen,
-Moritz! Fort, nur fort, zur Stadt hinaus!</p>
-
-<p class="regie">(Die Professoren <i class="gesperrt">Hungergurt</i> und <i class="gesperrt">Knochenbruch</i>
-gehen vorüber.)</p>
-
-<p class="sprecher">Knochenbruch</p>
-
-<p>Mir unbegreiflich, verehrter Herr Kollega,
-wie sich der beste meiner Schüler gerade zum
-allerschlechtesten so hingezogen fühlen kann.</p>
-
-<p class="sprecher">Hungergurt</p>
-
-<p>Mir auch, verehrter Herr Kollega.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_39" id="Seite_39">[39]</a></span></p>
-
-
-<h3>Fünfte Szene</h3>
-
-<p class="regie">Sonniger Nachmittag. — <i class="gesperrt">Melchior</i> und <i class="gesperrt">Wendla</i> begegnen
-einander im Wald.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Bist du′s wirklich, Wendla? — Was tust
-denn du so allein hier oben? — Seit drei
-Stunden durchstreife ich den Wald die Kreuz und
-Quer, ohne daß mir eine Seele begegnet, und
-nun plötzlich trittst du mir aus dem dichtesten
-Dickicht entgegen!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ja, ich bin′s.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wenn ich dich nicht als Wendla Bergmann
-kennte, ich hielte dich für eine Dryade, die aus
-den Zweigen gefallen.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Nein, nein, ich bin Wendla Bergmann. —
-Wo kommst denn du her?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich gehe meinen Gedanken nach.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich suche Waldmeister. Mama will Maitrank
-bereiten. Anfangs wollte sie selbst mitgehn,
-aber im letzten Augenblick kam Tante Bauer
-noch, und die steigt nicht gern. — So bin ich
-denn allein heraufgekommen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_40" id="Seite_40">[40]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Hast du deinen Waldmeister schon?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Den ganzen Korb voll. Drüben unter den
-Buchen steht er dicht wie Mattenklee. — Jetzt
-sehe ich mich nämlich nach einem Ausweg um.
-Ich scheine mich verirrt zu haben. Kannst du
-mir vielleicht sagen, wie viel Uhr es ist?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Eben halb vier vorbei. — Wann erwartet
-man dich?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich glaubte, es wäre später. Ich lag eine
-ganze Weile am Goldbach im Moose und habe
-geträumt. Die Zeit verging mir so rasch; ich
-fürchtete, es wolle schon Abend werden.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wenn man dich noch nicht erwartet, dann
-laß uns hier noch ein wenig lagern. Unter der
-Eiche dort ist mein Lieblingsplätzchen. Wenn
-man den Kopf an den Stamm zurücklehnt und
-durch die Äste in den Himmel starrt, wird man
-hypnotisiert. Der Boden ist noch warm von der
-Morgensonne. — Schon seit Wochen wollte ich
-dich etwas fragen, Wendla.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Aber vor fünf muß ich zu Hause sein.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_41" id="Seite_41">[41]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wir gehen dann zusammen. Ich nehme den
-Korb und wir schlagen den Weg durch die Runse
-ein, so sind wir in zehn Minuten schon auf der
-Brücke! — Wenn man so daliegt, die Stirn in
-die Hand gestützt, kommen einem die sonderbarsten
-Gedanken ...</p>
-
-<p class="regie">(Beide lagern sich unter der Eiche.)</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Was wolltest du mich fragen, Melchior?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich habe gehört, Wendla, du gehest häufig
-zu armen Leuten. Du brächtest ihnen Essen, auch
-Kleider und Geld. Tust du das aus eigenem
-Antriebe oder schickt deine Mutter dich?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Meistens schickt mich die Mutter. Es sind
-arme Taglöhnerfamilien, die eine Unmenge Kinder
-haben. Oft findet der Mann keine Arbeit, dann
-frieren und hungern sie. Bei uns liegt aus früherer
-Zeit noch so mancherlei in Schränken und Kommoden,
-das nicht mehr gebraucht wird. — Aber wie kommst
-du darauf?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Gehst du gern oder ungern, wenn deine
-Mutter dich sowohin schickt?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_42" id="Seite_42">[42]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>O für mein Leben gern! — Wie kannst du
-fragen!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Aber die Kinder sind schmutzig, die Frauen
-sind krank, die Wohnungen strotzen von Unrat,
-die Männer hassen dich, weil du nicht arbeitest ...</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Das ist nicht wahr, Melchior. Und wenn
-es wahr wäre, ich würde erst recht gehen!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wieso erst recht, Wendla?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich würde erst recht hingehen. — Es würde
-nur noch vielmehr Freude bereiten, ihnen helfen
-zu können.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Du gehst also um deiner Freude willen zu
-den armen Leuten?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich gehe zu ihnen, weil sie arm sind.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Aber wenn es dir keine Freude wäre, würdest
-du nicht gehen?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Kann ich denn dafür, daß es mir Freude
-macht?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_43" id="Seite_43">[43]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Und doch sollst du dafür in den Himmel
-kommen! — So ist es also richtig, was mir nun
-seit einem Monat keine Ruhe mehr läßt! —
-Kann der Geizige dafür, daß es ihm keine Freude
-macht, zu schmutzigen kranken Kindern zu gehen?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>O dir würde es sicher die größte Freude sein!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Und doch soll er dafür des ewigen Todes
-sterben! — Ich werde eine Abhandlung schreiben
-und sie Herrn Pastor Kahlbauch einschicken. Er
-ist die Veranlassung. Was faselt er uns von
-<em class="gesperrt">Opfer-Freudigkeit</em>! — Wenn er mir nicht
-antworten kann, gehe ich nicht mehr in die Kinderlehre
-und lasse mich nicht konfirmieren.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Warum willst du deinen lieben Eltern den
-Kummer bereiten! Laß dich doch konfirmieren;
-den Kopf kostet′s doch nicht. Wenn unsere schrecklichen
-weißen Kleider und eure Schlepphosen
-nicht wären, würde man sich vielleicht noch dafür
-begeistern können.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Es gibt keine Aufopferung! Es gibt keine
-Selbstlosigkeit! — Ich sehe die Guten sich ihres<span class="pagenum"><a name="Seite_44" id="Seite_44">[44]</a></span>
-Herzens freun, sehe die Schlechten beben und
-stöhnen — ich sehe dich, Wendla Bergmann,
-deine Locken schütteln und lachen, und mir wird
-so ernst dabei wie einem Geächteten. — — Was
-hast du vorhin geträumt, Wendla, als du am
-Goldbach im Grase lagst?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>— — Dummheiten — Narreteien —</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Mit offenen Augen?!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Mir träumte, ich wäre ein armes, armes
-Bettelkind, ich würde früh fünf schon auf die
-Straße geschickt, ich müßte betteln den ganzen
-langen Tag in Sturm und Wetter, unter hartherzigen,
-rohen Menschen. Und käm′ ich abends
-nach Hause, zitternd vor Hunger und Kälte, und
-hätte so viel Geld nicht wie mein Vater verlangt,
-dann würd′ ich geschlagen — geschlagen —</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Das kenne ich, Wendla. Das hast du den
-albernen Kindergeschichten zu danken. Glaub′
-mir, so brutale Menschen existieren nicht mehr.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>O doch, Melchior, du irrst. — Martha
-Bessel wird Abend für Abend geschlagen, daß<span class="pagenum"><a name="Seite_45" id="Seite_45">[45]</a></span>
-man andern Tags Striemen sieht. O was die
-leiden muß! Siedendheiß wird es einem, wenn
-sie erzählt. Ich bedaure sie so furchtbar, ich
-muß oft mitten in der Nacht in die Kissen weinen.
-Seit Monaten denke ich darüber nach, wie man
-ihr helfen kann. — Ich wollte mit Freuden
-einmal acht Tage an ihrer Stelle sein.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Man sollte den Vater kurzweg verklagen.
-Dann würde ihm das Kind weggenommen.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich, Melchior, bin in meinem Leben nie geschlagen
-worden — nicht ein einziges Mal. Ich
-kann mir kaum denken, wie das tut, geschlagen
-zu werden. Ich habe mich schon selber geschlagen,
-um zu erfahren, wie einem dabei ums Herz
-wird. — Es muß ein grauenvolles Gefühl sein.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich glaube nicht, daß je ein Kind dadurch
-besser wird.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Wodurch besser wird?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Daß man es schlägt.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_46" id="Seite_46">[46]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>— Mit dieser Gerte zum Beispiel! — Hu, ist
-die zäh und dünn.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Die zieht Blut!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Würdest du mich nicht einmal damit schlagen?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wen?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Mich.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Was fällt dir ein, Wendla!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Was ist denn dabei?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>O sei ruhig! — Ich schlage dich nicht.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Wenn ich dir′s doch erlaube!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Nie, Mädchen!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Aber wenn ich dich darum bitte, Melchior!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Bist du nicht bei Verstand?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich bin in meinem Leben nie geschlagen
-worden!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_47" id="Seite_47">[47]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wenn du um so etwas bitten kannst ...!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>— Bitte — bitte —</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich will dich bitten lehren! — <span class="regie">(er schlägt sie)</span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ach Gott — ich spüre nicht das Geringste!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Das glaub′ ich dir — — durch all′ deine
-Röcke durch....</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>So schlag′ mich doch an die Beine!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wendla! — <span class="regie">(er schlägt sie stärker)</span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Du streichelst mich ja! — Du streichelst mich!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wart′ Hexe, ich will dir den Satan austreiben!</p>
-
-<p class="regie">(Er wirft den Stock beiseite und schlägt derart mit
-den Fäusten drein, daß sie in ein fürchterliches Geschrei
-ausbricht. Er kehrt sich nicht daran, sondern drischt wie
-wütend auf sie los, während ihm die dicken Tränen
-über die Wangen rinnen. Plötzlich springt er empor,
-faßt sich mit beiden Händen an die Schläfen und stürzt,
-aus tiefster Seele jammervoll aufschluchzend, in den
-Wald hinein.)</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_48" id="Seite_48">[48]</a></span></p>
-
-
-<h2><a name="Zweiter_Akt" id="Zweiter_Akt"></a>Zweiter Akt</h2>
-
-
-<h3>Erste Szene</h3>
-
-
-<p class="regie">Abend auf Melchiors <i class="gesperrt">Studierzimmer</i>. Das Fenster
-steht offen, die Lampe brennt auf dem Tisch. — <i class="gesperrt">Melchior</i>
-und <i class="gesperrt">Moritz</i> auf dem Kanapee.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Jetzt bin ich wieder ganz munter, nur etwas
-aufgeregt. — Aber in der Griechischstunde habe
-ich doch geschlafen wie der besoffene Polyphem.
-Nimmt mich Wunder, daß mich der alte Zungenschlag
-nicht in die Ohren gezwickt. — Heut′ früh
-wäre ich um ein Haar noch zu spät gekommen.
-— Mein erster Gedanke beim Erwachen waren
-die Verba auf μ. — Himmel-Herrgott-Teufel-Donnerwetter,
-während des Frühstücks und den
-Weg entlang habe ich konjugiert, daß mir grün
-vor den Augen wurde. — Kurz nach drei muß
-ich abgeschnappt sein. Die Feder hat mir noch
-einen Klex ins Buch gemacht. Die Lampe
-qualmte, als Mathilde mich weckte; in den
-Fliederbüschen unter dem Fenster zwitscherten die
-Amseln so lebensfroh — mir ward gleich wieder
-unsagbar melancholisch zu Mute. Ich band mir<span class="pagenum"><a name="Seite_49" id="Seite_49">[49]</a></span>
-den Kragen um und fuhr mit der Bürste durchs
-Haar. — — Aber man fühlt sich, wenn man
-seiner Natur etwas abgerungen!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Darf ich dir eine Zigarette drehen?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Danke, ich rauche nicht. — Wenn es nun
-nur so weiter geht! Ich will arbeiten und arbeiten,
-bis mir die Augen zum Kopf herausplatzen.
-— Ernst Röbel hat seit den Ferien schon
-sechsmal nichts gekonnt; dreimal im Griechischen,
-zweimal bei Knochenbruch; das letztemal in der
-Literaturgeschichte. Ich war erst fünfmal in der
-bedauernswerten Lage; und von heute ab kommt
-es überhaupt nicht mehr vor! — Röbel erschießt
-sich nicht. Röbel hat keine Eltern, die ihm ihr
-Alles opfern. Er kann, wann er will, Söldner,
-Cowboy oder Matrose werden. Wenn ich durchfalle,
-rührt meinen Vater der Schlag, und Mama
-kommt ins Irrenhaus. So was erlebt man nicht!
-— Vor dem Examen habe ich zu Gott gefleht,
-er möge mich schwindsüchtig werden lassen, auf
-daß der Kelch ungenossen vorübergehe. Er ging
-vorüber — wenngleich mir auch heute noch seine
-Aureole aus der Ferne entgegenleuchtet, daß ich<span class="pagenum"><a name="Seite_50" id="Seite_50">[50]</a></span>
-Tag und Nacht den Blick nicht zu heben wage.
-— Aber nun ich die Stange erfaßt, werde ich
-mich auch hinaufschwingen. Dafür bürgt mir
-die unabänderliche Konsequenz, daß ich nicht
-stürze, ohne das Genick zu brechen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Das Leben ist von einer ungeahnten Gemeinheit.
-Ich hätte nicht übel Lust, mich in die Zweige
-zu hängen. — Wo Mama mit dem Tee nur bleibt!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Dein Tee wird mir gut tun, Melchior! —
-Ich zittre nämlich. Ich fühle mich so eigentümlich
-vergeistert. Betaste mich bitte mal. Ich
-sehe — ich höre — ich fühle viel deutlicher —
-und doch alles so traumhaft — o, so stimmungsvoll.
-— Wie sich dort im Mondschein der Garten
-dehnt, so still, so tief, als ging′ er ins Unendliche.
-— Unter den Büschen treten umflorte Gestalten
-hervor, huschen in atemloser Geschäftigkeit über
-die Lichtungen und verschwinden im Halbdunkel.
-Mir scheint, unter dem Kastanienbaum soll eine
-Ratsversammlung gehalten werden. — Wollen
-wir nicht hinunter, Melchior?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Warten wir, bis wir Tee getrunken.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_51" id="Seite_51">[51]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>— Die Blätter flüstern so emsig. — Es ist,
-als hörte ich Großmutter selig die Geschichte von
-der „Königin ohne Kopf“ erzählen. — Das war
-eine wunderschöne Königin, schön wie die Sonne,
-schöner als alle Mädchen im Land. Nur war
-sie leider ohne Kopf auf die Welt gekommen.
-Sie konnte nicht essen, nicht trinken, konnte nicht
-sehen, nicht lachen und auch nicht küssen. Sie
-vermochte sich mit ihrem Hofstaat nur durch ihre
-kleine weiche Hand zu verständigen. Mit den
-zierlichen Füßen strampelte sie Kriegserklärungen
-und Todesurteile. Da wurde sie eines Tages
-von einem Könige besiegt, der zufällig zwei
-Köpfe hatte, die sich das ganze Jahr in den
-Haaren lagen und dabei so aufgeregt disputierten,
-daß keiner den andern zu Wort kommen ließ.
-Der Oberhofzauberer nahm nun den kleineren
-der beiden und setzte ihn der Königin auf. Und
-siehe, er stand ihr vortrefflich. Darauf heiratete
-der König die Königin, und die beiden lagen
-einander nun nicht mehr in den Haaren, sondern
-küßten einander auf Stirn, auf Wangen und
-Mund und lebten noch lange lange Jahre glücklich
-und in Freuden.... Verwünschter Unsinn!
-Seit den Ferien kommt mir die kopflose Königin<span class="pagenum"><a name="Seite_52" id="Seite_52">[52]</a></span>
-nicht aus dem Kopf. Wenn ich ein schönes Mädchen
-sehe, seh′ ich es ohne Kopf — und erscheine
-mir dann plötzlich selber als kopflose Königin....
-Möglich, daß mir nochmal einer aufgesetzt wird.</p>
-
-<p class="regie">(Frau Gabor kommt mit dem dampfenden Tee, den sie
-vor Moritz und Melchior auf den Tisch setzt)</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Hier Kinder, laßt es euch munden. — Guten
-Abend, Herr Stiefel; wie geht es Ihnen?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Danke, Frau Gabor. — Ich belausche den
-Reigen dort unten.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Sie sehen aber gar nicht gut aus. — Fühlen
-Sie sich nicht wohl?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Es hat nichts zu sagen. Ich bin die letzten
-Abende etwas spät zu Bett gekommen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Denke dir, er hat die ganze Nacht durch gearbeitet.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Sie sollten so etwas nicht tun, Herr Stiefel.
-Sie sollten sich schonen. Bedenken Sie Ihre Gesundheit.
-Die Schule ersetzt Ihnen die Gesundheit
-nicht. — Fleißig spazieren gehn in der frischen
-Luft! Das ist in Ihren Jahren mehr wert als
-ein korrektes Mittelhochdeutsch.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_53" id="Seite_53">[53]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich werde fleißig spazieren gehn. Sie haben
-recht. Man kann auch während des Spazierengehens
-fleißig sein. Daß ich noch selbst nicht
-auf den Gedanken gekommen! — Die schriftlichen
-Arbeiten müßte ich immerhin zu Hause machen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Das Schriftliche machst du bei mir; so wird
-es uns beiden leichter. — — Du weißt ja, Mama,
-daß Max von Trenk am Nervenfieber darniederlag!
-— Heute mittag kommt Hänschen Rilow
-von Trenks Totenbett zu Rektor Sonnenstich, um
-anzuzeigen, daß Trenk soeben in seiner Gegenwart
-gestorben sei. — „So?“ sagt Sonnenstich,
-„hast du von letzter Woche her nicht noch zwei
-Stunden nachzusitzen? — Hier ist der Zettel an
-den Pedell. Mach, daß die Sache endlich ins
-reine kommt! Die ganze Klasse soll an der Beerdigung
-teilnehmen.“ — Hänschen war wie
-gelähmt.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Was hast du da für ein Buch, Melchior?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>„Faust.“</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Hast du es schon gelesen?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_54" id="Seite_54">[54]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Noch nicht zu Ende.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wir sind gerade in der Walpurgisnacht.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Ich hätte an deiner Stelle noch ein, zwei
-Jahre damit gewartet.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich kenne kein Buch, Mama, in dem ich so
-viel Schönes gefunden. Warum hätte ich es
-nicht lesen sollen.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>— Weil du es nicht verstehst.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Das kannst du nicht wissen, Mama. Ich
-fühle sehr wohl, daß ich das Werk in seiner
-ganzen Erhabenheit zu erfassen noch nicht imstande
-bin ...</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wir lesen immer zu zweit; das erleichtert
-das Verständnis außerordentlich!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Du bist alt genug, Melchior, um wissen zu
-können, was dir zuträglich und was dir schädlich
-ist. Tu, was du vor dir verantworten kannst.
-Ich werde die erste sein, die es dankbar anerkennt,<span class="pagenum"><a name="Seite_55" id="Seite_55">[55]</a></span>
-wenn du mir niemals Grund gibst, dir
-etwas vorenthalten zu müssen. — Ich wollte
-dich nur darauf aufmerksam machen, daß auch
-das Beste nachteilig wirken kann, wenn man
-noch die Reife nicht besitzt, um es richtig aufzunehmen.
-— Ich werde mein Vertrauen immer lieber
-in dich als in irgendbeliebige erzieherische Maßregeln
-setzen. — — Wenn ihr noch etwas braucht,
-Kinder, dann komm herüber, Melchior, und rufe
-mich. Ich bin auf meinem Schlafzimmer. <span class="regie">(Ab.)</span></p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>— — Deine Mama meinte die Geschichte
-mit Gretchen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Haben wir uns auch nur einen Moment
-dabei aufgehalten!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Faust selber kann sich nicht kaltblütiger darüber
-hinweggesetzt haben!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Das Kunstwerk gipfelt doch schließlich nicht
-in dieser Schändlichkeit! — Faust könnte dem
-Mädchen die Heirat versprochen, könnte es daraufhin
-verlassen haben, er wäre in meinen Augen
-um kein Haar weniger strafbar. Gretchen könnte
-ja meinethalben an gebrochenem Herzen sterben.<span class="pagenum"><a name="Seite_56" id="Seite_56">[56]</a></span>
-— Sieht man, wie jeder <em class="gesperrt">darauf</em> immer gleich
-krampfhaft die Blicke richtet, man möchte
-glauben, die ganze Welt drehe sich um P....
-und V....!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wenn ich aufrichtig sein soll, Melchior, so
-habe ich nämlich tatsächlich das Gefühl, seit ich
-deinen Aufsatz gelesen. — In den ersten Ferientagen
-fiel er mir vor die Füße. Ich hatte den
-Plötz in der Hand. — Ich verriegelte die Tür
-und durchflog die flimmernden Zeilen, wie eine
-aufgeschreckte Eule einen brennenden Wald durchfliegt
-— ich glaube, ich habe das meiste mit geschlossenen
-Augen gelesen. Wie eine Reihe dunkler
-Erinnerungen klangen mir deine Auseinandersetzungen
-ins Ohr, wie ein Lied, das einer als
-Kind einst fröhlich vor sich hingesummt und das
-ihm, wie er eben im Sterben liegt, herzerschütternd
-aus dem Mund eines andern entgegentönt. —
-Am heftigsten zog mich in Mitleidenschaft, was
-du vom Mädchen schreibst. Ich werde die Eindrücke
-nicht mehr los. Glaub′ mir, Melchior,
-Unrecht leiden zu müssen ist süßer, denn Unrecht
-tun! Unverschuldet ein so süßes Unrecht über
-sich ergehen lassen zu müssen, scheint mir der
-Inbegriff aller irdischen Seligkeit.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_57" id="Seite_57">[57]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>— Ich will meine Seligkeit nicht als Almosen!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Aber warum denn nicht?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich <em class="gesperrt">will</em> nichts, was ich mir nicht habe erkämpfen
-müssen!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ist dann das noch Genuß, Melchior?! —
-Das Mädchen, Melchior, genießt wie die seligen
-Götter. Das Mädchen wehrt sich dank seiner
-Veranlagung. Es hält sich bis zum letzten
-Augenblick von jeder Bitternis frei, um mit
-einem Mal alle Himmel über sich hereinbrechen
-zu sehen. Das Mädchen fürchtet die Hölle noch
-in dem Moment, da es ein erblühendes Paradies
-wahrnimmt. Sein Empfinden ist so frisch wie
-der Quell, der dem Fels entspringt. Das Mädchen
-ergreift einen Pokal, über den noch kein
-irdischer Hauch geweht, einen Nektarkelch, dessen
-Inhalt es, wie er flammt und flackert, hinunterschlingt ...
-Die Befriedigung, die der Mann dabei
-findet, denke ich mir schal und abgestanden.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Denke sie dir, wie du magst, aber behalte sie
-für dich. — Ich denke sie mir nicht gern ...</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_58" id="Seite_58">[58]</a></span></p>
-
-
-<h3>Zweite Szene</h3>
-
-<p class="regie"><i class="gesperrt">Wohnzimmer.</i></p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p class="regie">(den Hut auf, die Mantille um, einen Korb am Arm,
-mit strahlendem Gesicht durch die Mitteltür eintretend.)</p>
-
-<p>Wendla! — Wendla!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p class="regie">(erscheint in Unterröckchen und Korsett in der Seitentür
-rechts)</p>
-
-<p>Was gibt′s, Mutter?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Du bist schon auf, Kind? — Sieh, das ist
-schön von dir!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Du warst schon ausgegangen?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Zieh dich nun nur flink an! — Du mußt
-gleich zu <em class="gesperrt">Ina</em> hinunter. Du mußt ihr den
-Korb da bringen!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p class="regie">(sich während des folgenden vollends ankleidend)</p>
-
-<p>Du warst bei Ina? — Wie geht es Ina?
-— Will′s noch immer nicht bessern?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Denke dir, Wendla, diese Nacht war der Storch
-bei ihr und hat ihr einen kleinen Jungen gebracht.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_59" id="Seite_59">[59]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Einen Jungen? — Einen Jungen! — O
-das ist herrlich! — — Deshalb die langwierige
-Influenza!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Einen prächtigen Jungen!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Den muß ich sehen, Mutter! — So bin ich
-nun zum dritten Mal Tante geworden — Tante
-von einem Mädchen und zwei Jungens!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Und was für Jungens! — So geht′s eben,
-wenn man so dicht beim Kirchendach wohnt! —
-Morgen sind′s erst zwei Jahr, daß sie in ihrem
-Mullkleid die Stufen hinanstieg.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Warst du dabei, als er ihn brachte?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Er war eben wieder fortgeflogen. — Willst
-du dir nicht eine Rose vorstecken?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Warum kamst du nicht etwas früher hin,
-Mutter?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Ich glaube aber beinahe, er hat dir auch
-etwas mitgebracht — eine Brosche oder was.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_60" id="Seite_60">[60]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Es ist wirklich schade!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Ich sage dir ja, daß er dir eine Brosche
-mitgebracht hat!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich habe Broschen genug ...</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Dann sei auch zufrieden, Kind. Was willst
-du denn noch?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich hätte so furchtbar gerne gewußt, ob er
-durchs Fenster oder durch den Schornstein geflogen
-kam.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Da mußt du Ina fragen. Ha, das mußt
-du Ina fragen, liebes Herz! Ina sagt dir das
-ganz genau. Ina hat ja eine ganze halbe Stunde
-mit ihm gesprochen.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich werde Ina fragen, wenn ich hinunterkomme.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Aber ja nicht vergessen, du süßes Engelsgeschöpf!
-Es interessiert mich wirklich selbst, zu
-wissen, ob er durchs Fenster oder durch den
-Schornstein kam.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_61" id="Seite_61">[61]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Oder soll ich nicht lieber den Schornsteinfeger
-fragen? — Der Schornsteinfeger muß es doch
-am besten wissen, ob er durch den Schornstein
-fliegt oder nicht.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Nicht den Schornsteinfeger, Kind; nicht den
-Schornsteinfeger. Was weiß der Schornsteinfeger
-vom Storch! — Der schwatzt dir allerhand
-dummes Zeug vor, an das er selbst nicht glaubt ...
-Wa — was glotzst du so auf die Straße hinunter??</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ein Mann, Mutter — dreimal so groß wie
-ein Ochse! — mit Füßen wie Dampfschiffe ...!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p class="regie">(ans Fenster stürzend)</p>
-
-<p>Nicht möglich! — Nicht möglich! —</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla <span class="regie">(zugleich)</span></p>
-
-<p>Eine Bettlade hält er unterm Kinn, fiedelt
-die Wacht am Rhein drauf — — eben biegt
-er um die Ecke ...</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Du bist und bleibst doch ein Kindskopf! —
-Deine alte einfältige Mutter so in Schrecken jagen!
-— Geh, nimm deinen Hut. Nimmt mich Wunder,<span class="pagenum"><a name="Seite_62" id="Seite_62">[62]</a></span>
-wann bei dir einmal der Verstand kommt. —
-Ich habe die Hoffnung aufgegeben.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich auch, Mütterchen, ich auch. — Um meinen
-Verstand ist es ein traurig Ding. — Hab′ ich
-nun eine Schwester, die ist seit zwei und einem
-halben Jahre verheiratet, und ich selber bin zum
-dritten Male Tante geworden, und habe gar
-keinen Begriff, wie das alles zugeht ... Nicht
-böse werden, Mütterchen; nicht böse werden! Wen
-in der Welt soll ich denn fragen als dich! Bitte,
-liebe Mutter, sag es mir! Sag′s mir, geliebtes
-Mütterchen! Ich schäme mich vor mir selber.
-Ich bitte dich, Mutter, sprich! Schilt mich nicht,
-daß ich so etwas frage. Gib mir Antwort — wie
-geht es zu? — wie kommt das alles? — Du
-kannst doch im Ernst nicht verlangen, daß ich bei
-meinen vierzehn Jahren noch an den Storch glaube.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Aber du großer Gott, Kind, wie bist du sonderbar!
-— Was du für Einfälle hast! — Das kann
-ich ja doch wahrhaftig nicht!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Warum denn nicht, Mutter! — Warum denn
-nicht! — Es kann ja doch nichts Häßliches sein,
-wenn sich alles darüber freut!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_63" id="Seite_63">[63]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>O — o Gott behüte mich! — Ich verdiente
-ja ... Geh, zieh dich an, Mädchen; zieh dich an!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich gehe, ... Und wenn dein Kind nun hingeht
-und fragt den Schornsteinfeger?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Aber das ist ja zum Närrischwerden! — Komm
-Kind, komm her, ich sag es dir! Ich sage dir
-Alles ... O du grundgütige Allmacht! — nur
-heute nicht, Wendla! — Morgen, übermorgen,
-kommende Woche ... wann du nur immer willst,
-liebes Herz ...</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Sag es mir heute, Mutter; sag es mir jetzt!
-Jetzt gleich! — Nun ich dich so entsetzt gesehen,
-kann ich erst recht nicht eher wieder ruhig werden.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>— Ich kann nicht, Wendla.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>O, warum kannst du nicht, Mütterchen! —
-Hier knie ich zu deinen Füßen und lege dir meinen
-Kopf in den Schoß. Du deckst mir deine
-Schürze über den Kopf und erzählst und erzählst,
-als wärst du mutterseelenallein im Zimmer. Ich<span class="pagenum"><a name="Seite_64" id="Seite_64">[64]</a></span>
-will nicht zucken; ich will nicht schreien; ich will
-geduldig ausharren, was immer kommen mag.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>— Der Himmel weiß, Wendla, daß ich nicht
-die Schuld trage! Der Himmel kennt mich! —
-Komm in Gottes Namen! — Ich will dir erzählen,
-Mädchen, wie du in diese Welt hineingekommen.
-— So hör mich an, Wendla ...</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p class="regie">(unter ihrer Schürze)</p>
-
-<p>Ich höre.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann <span class="regie">(ekstatisch)</span></p>
-
-<p>— Aber es geht ja nicht, Kind! — Ich kann
-es ja nicht verantworten. — Ich verdiene ja,
-daß man mich ins Gefängnis setzt — daß man
-dich von mir nimmt ...</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p class="regie">(unter ihrer Schürze)</p>
-
-<p>Faß dir ein Herz, Mutter!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>So höre denn ...!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p class="regie">(unter ihrer Schürze, zitternd)</p>
-
-<p>O Gott, o Gott!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Um ein Kind zu bekommen — du verstehst
-mich, Wendla?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_65" id="Seite_65">[65]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Rasch, Mutter — ich halt′s nicht mehr aus.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>— Um ein Kind zu bekommen — muß man
-den Mann — mit dem man verheiratet ist ...
-<em class="gesperrt">lieben</em> — <em class="gesperrt">lieben</em> sag′ ich dir — wie man nur
-einen Mann lieben kann! Man muß ihn so sehr
-<em class="gesperrt">von ganzem Herzen</em> lieben, wie — wie sich′s
-nicht sagen läßt! Man muß ihn <em class="gesperrt">lieben</em>, Wendla,
-wie du in deinen Jahren noch gar nicht lieben
-kannst ... Jetzt weißt du′s.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p class="regie">(sich erhebend)</p>
-
-<p>Großer — Gott — im Himmel!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Jetzt weißt du, welche Prüfungen dir bevorstehen!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>— Und das ist alles?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>So wahr mir Gott helfe! — — Nimm nun
-den Korb da und geh zu Ina hinunter. Du
-bekommst dort Schokolade und Kuchen dazu. —
-Komm, laß dich noch einmal betrachten — die
-Schnürstiefel, die seidenen Handschuhe, die Matrosentaille,
-die Rosen im Haar ...... dein Röckchen<span class="pagenum"><a name="Seite_66" id="Seite_66">[66]</a></span>
-wird dir aber wahrhaftig nachgerade zu kurz,
-Wendla!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Hast du für Mittag schon Fleisch gebracht,
-Mütterchen?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Der liebe Gott behüte dich und segne dich!
-— Ich werde dir gelegentlich eine Handbreit
-Volants unten ansetzen.</p>
-
-
-<h3>Dritte Szene</h3>
-
-<p class="regie"><i class="gesperrt">Hänschen Rilow</i> (ein Licht in der Hand, verriegelt
-die Tür hinter sich und öffnet den Deckel).</p>
-
-<p>Hast du zu Nacht gebetet, Desdemona?</p>
-
-<p class="regie">(Er zieht eine Reproduktion der Venus von Palma
-Vecchio aus dem Busen.)</p>
-
-<p>— Du siehst mir nicht nach Vaterunser aus,
-Holde — kontemplativ des Kommenden gewärtig,
-wie in dem süßen Augenblick aufkeimender Glückseligkeit,
-als ich dich bei Jonathan Schlesinger
-im Schaufenster liegen sah — ebenso berückend
-noch diese geschmeidigen Glieder, diese sanfte
-Wölbung der Hüften, diese jugendlich straffen
-Brüste — o, wie berauscht von Glück muß der
-große Meister gewesen sein, als das vierzehnjährige
-Original vor seinen Blicken hingestreckt auf dem
-Diwan lag!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_67" id="Seite_67">[67]</a></span></p>
-
-<p>Wirst du mich auch bisweilen im Traum
-besuchen? — Mit ausgebreiteten Armen empfang′
-ich dich und will dich küssen, daß dir der Atem
-ausgeht. Du ziehst bei mir ein wie die angestammte
-Herrin in ihr verödetes Schloß. Tor
-und Türen öffnen sich von unsichtbarer Hand,
-während der Springquell unten im Parke fröhlich
-zu plätschern beginnt ...</p>
-
-<p>Die Sache will′s! — Die Sache will′s! —
-Daß ich nicht aus frivoler Regung morde, sagt
-dir das fürchterliche Pochen in meiner Brust.
-Die Kehle schnürt sich mir zu im Gedanken an
-meine einsamen Nächte. Ich schwöre dir bei
-meiner Seele, Kind, daß nicht Überdruß mich
-beherrscht. Wer wollte sich rühmen, deiner überdrüssig
-geworden zu sein!</p>
-
-<p>Aber du saugst mir das Mark aus den Knochen,
-du krümmst mir den Rücken, du raubst meinen
-jungen Augen den letzten Glanz. — Du bist mir
-zu anspruchsvoll in deiner unmenschlichen Bescheidenheit,
-zu aufreibend mit deinen unbeweglichen
-Gliedmaßen! — Du oder ich! — und ich habe
-den Sieg davongetragen.</p>
-
-<p>Wenn ich sie herzählen wollte — all die
-Entschlafenen, mit denen ich hier den nämlichen
-Kampf gekämpft! —: Psyche von <em class="gesperrt">Thumann</em><span class="pagenum"><a name="Seite_68" id="Seite_68">[68]</a></span>
-— noch ein Vermächtnis der spindeldürren Mademoiselle
-<em class="gesperrt">Angelique</em>, dieser Klapperschlange im
-Paradies meiner Kinderjahre; Io von <em class="gesperrt">Corregio</em>;
-Galathea von <em class="gesperrt">Lossow</em>; dann ein Amor von
-<em class="gesperrt">Bouguereau</em>; Ada von <em class="gesperrt">J. van Beers</em> —
-diese Ada, die ich Papa aus einem Geheimfach
-seines Sekretärs entführen mußte, um sie meinem
-Harem einzuverleiben; eine zitternde, zuckende Leda
-von <em class="gesperrt">Makart</em>, die ich zufällig unter den Kollegienheften
-meines Bruders fand — <em class="gesperrt">sieben</em>, du
-blühende Todeskandidatin, sind dir vorangeeilt
-auf diesem Pfad in den Tartarus! Laß dir das
-zum Troste gereichen und suche nicht durch diese
-flehentlichen Blicke noch meine Qualen ins Ungeheure
-zu steigern.</p>
-
-<p>Du stirbst nicht um <em class="gesperrt">deiner</em>, du stirbst um
-<em class="gesperrt">meiner</em> Sünden willen! — Aus Notwehr gegen
-mich begehe ich blutenden Herzens den siebenten
-Gattenmord. Es liegt etwas Tragisches in der
-Rolle des <em class="gesperrt">Blaubart</em>. Ich glaube, seine gemordeten
-Frauen insgesamt litten nicht so viel
-wie er beim Erwürgen jeder einzelnen.</p>
-
-<p>Aber mein Gewissen wird ruhiger werden,
-mein Leib wird sich kräftigen, wenn du Teufelin
-nicht mehr in den rotseidenen Polstern meines
-Schmuckkästchens residierst. Statt deiner lasse ich<span class="pagenum"><a name="Seite_69" id="Seite_69">[69]</a></span>
-dann die Lurlei von <em class="gesperrt">Bodenhausen</em> oder die
-Verlassene von <em class="gesperrt">Linger</em> oder die Loni von <em class="gesperrt">Defregger</em>
-in das üppige Lustgemach einziehen —
-so werde ich mich um so rascher erholt haben!
-Noch ein Vierteljährchen vielleicht, und dein entschleiertes
-Josaphat, süße Seele, hätte an meinem
-armen Hirn zu zehren begonnen wie die Sonne
-am Butterkloß. Es war hohe Zeit, die Trennung
-von Tisch und Bett zu erwirken.</p>
-
-<p>Brrr, ich fühle einen Heliogabalus in mir!
-<span class="antiqua" lang="la" xml:lang="la">Moritura me salutat!</span> — Mädchen, Mädchen,
-warum preßt du deine Kniee zusammen? —
-warum auch jetzt noch? — — angesichts der
-unerforschlichen Ewigkeit?? — <em class="gesperrt">Eine</em> Zuckung,
-und ich gebe dich frei! — <em class="gesperrt">Eine</em> weibliche Regung,
-<em class="gesperrt">ein</em> Zeichen von Lüsternheit, von Sympathie,
-Mädchen! — ich will dich in Gold rahmen lassen,
-dich über meinem Bett aufhängen! — Ahnst du
-denn nicht, daß nur deine <em class="gesperrt">Keuschheit</em> meine
-Ausschweifungen gebiert? — Wehe, wehe über
-die Unmenschlichen!</p>
-
-<p>... Man merkt eben immer, daß sie eine
-musterhafte Erziehung genossen hat. — <em class="gesperrt">Mir
-geht es ja ebenso.</em></p>
-
-<p>Hast du zu Nacht gebetet, Desdemona?</p>
-
-<p>Das Herz krampft sich mir zusammen — —<span class="pagenum"><a name="Seite_70" id="Seite_70">[70]</a></span>
-Unsinn! — Auch die heilige <em class="gesperrt">Agnes</em> starb um
-ihrer Zurückhaltung willen und war nicht halb
-so nackt wie du! — Einen Kuß noch auf deinen
-blühenden Leib, — deine kindlich schwellende Brust
-— deine süßgerundeten — deine grausamen Kniee ...</p>
-
-<p>Die Sache will′s, die Sache will′s, mein Herz!</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Laßt sie mich euch nicht nennen, keusche Sterne!</em></p>
-
-<p>Die Sache will′s! —</p>
-
-<p class="regie">(Das Bild fällt in die Tiefe; er schließt den Deckel)</p>
-
-
-<h3>Vierte Szene</h3>
-
-<p class="regie">Ein <i class="gesperrt">Heuboden</i> — <i class="gesperrt">Melchior</i> liegt auf dem Rücken
-im frischen Heu. <i class="gesperrt">Wendla</i> kommt die Leiter herauf.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Hier</em> hast du dich verkrochen? — Alles sucht
-dich. Der Wagen ist wieder hinaus. Du mußt
-helfen. Es ist ein Gewitter im Anzug.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Weg von mir! — Weg von mir!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Was ist dir denn? — Was verbirgst du dein
-Gesicht?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Fort, fort! — Ich werfe dich in die Tenne
-hinunter.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_71" id="Seite_71">[71]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Nun geh′ ich erst recht nicht. — <span class="regie">(Kniet neben
-ihm nieder)</span> Warum kommst du nicht mit auf
-die Matte hinaus, Melchior? — Hier ist es
-schwül und düster. Werden wir auch naß bis
-auf die Haut, was macht <em class="gesperrt">uns</em> das!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Das Heu duftet so herrlich. — Der Himmel
-draußen muß schwarz wie ein Bahrtuch sein. —
-Ich sehe nur noch den leuchtenden Mohn an
-deiner Brust — und dein Herz hör′ ich schlagen —</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>— — Nicht küssen, Melchior! — Nicht küssen!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>— dein Herz — hör′ ich schlagen —</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>— Man liebt sich — wenn man küßt
-— — — — Nicht, nicht! — —</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>O glaub mir, es gibt keine <em class="gesperrt">Liebe</em>! — Alles
-Eigennutz, alles Egoismus! — Ich liebe dich
-so wenig, wie du mich liebst. —</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>— — Nicht! — — — — — — — Nicht,
-Melchior! — —</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_72" id="Seite_72">[72]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>— — — Wendla!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>O Melchior! — — — — — — — — nicht
-— — nicht — —</p>
-
-
-<h3>Fünfte Szene</h3>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p class="regie">(sitzt, schreibt):</p>
-
-<p class="center">
-Lieber Herr Stiefel!
-</p>
-
-<p>Nachdem ich 24 Stunden über alles, was Sie
-mir schreiben, nachgedacht und wieder nachgedacht,
-ergreife ich schweren Herzens die Feder. Den
-Betrag zur Überfahrt nach Amerika kann ich
-Ihnen — ich gebe Ihnen meine heiligste Versicherung
-— <em class="gesperrt">nicht</em> verschaffen. Erstens habe ich
-so viel nicht zu meiner Verfügung, und zweitens,
-wenn ich es hätte, wäre es die denkbar größte
-Sünde, Ihnen die Mittel zur Ausführung einer
-so folgenschweren Unbedachtsamkeit an die Hand
-zu geben. Bitter Unrecht würden Sie mir tun,
-Herr Stiefel, in dieser meiner Weigerung ein
-Zeichen mangelnder Liebe zu erblicken. Es wäre
-umgekehrt die gröbste Verletzung meiner Pflicht
-als Ihre mütterliche Freundin, wollte ich mich
-durch Ihre momentane Fassungslosigkeit dazu<span class="pagenum"><a name="Seite_73" id="Seite_73">[73]</a></span>
-bestimmen lassen, nun auch meinerseits den Kopf
-zu verlieren und meinen ersten nächstliegenden
-Impulsen blindlings nachzugeben. Ich bin gern
-bereit — falls Sie es wünschen — an Ihre
-Eltern zu schreiben. Ich werde Ihre Eltern
-davon zu überzeugen suchen, daß Sie im Laufe
-dieses Quartals getan haben, was Sie tun konnten,
-daß Sie Ihre Kräfte erschöpft, derart, daß eine
-rigorose Beurteilung Ihres Geschickes nicht nur
-ungerechtfertigt wäre, sondern in erster Linie im
-höchsten Grade nachteilig auf Ihren geistigen und
-körperlichen Gesundheitszustand wirken könnte.</p>
-
-<p>Daß Sie mir andeutungsweise drohen, im
-Fall Ihnen die Flucht nicht ermöglicht wird, sich
-das Leben nehmen zu wollen, hat mich, offen
-gesagt, Herr Stiefel, etwas befremdet. Sei ein
-Unglück noch so unverschuldet, man sollte sich nie
-und nimmer zur Wahl unlauterer Mittel hinreißen
-lassen. Die Art und Weise, wie Sie mich,
-die ich Ihnen stets nur Gutes erwiesen, für
-einen eventuellen entsetzlichen Frevel Ihrerseits
-verantwortlich machen wollen, hat etwas, das in
-den Augen eines <em class="gesperrt">schlecht</em>denkenden Menschen gar
-zu leicht zum Erpressungsversuch werden könnte.
-Ich muß gestehen, daß ich mir dieses Vorgehens
-von Ihnen, der Sie doch sonst so gut wissen,<span class="pagenum"><a name="Seite_74" id="Seite_74">[74]</a></span>
-was man sich selber schuldet, zu allerletzt gewärtig
-gewesen wäre. Indessen hege ich die feste Überzeugung,
-daß Sie noch zu sehr unter dem Eindruck
-des ersten Schreckens standen, um sich Ihrer
-Handlungsweise vollkommen bewußt werden zu
-können.</p>
-
-<p>Und so hoffe ich denn auch zuversichtlich, daß
-diese meine Worte Sie bereits in gefaßterer Gemütsstimmung
-antreffen. Nehmen Sie die Sache,
-wie sie liegt. Es ist meiner Ansicht nach
-durchaus unzulässig, einen jungen Mann nach
-seinen Schulzeugnissen zu beurteilen. Wir haben
-zu viele Beispiele, daß sehr schlechte Schüler vorzügliche
-Menschen geworden und umgekehrt
-ausgezeichnete Schüler sich im Leben nicht sonderlich
-bewährt haben. Auf jeden Fall gebe ich
-Ihnen die Versicherung, daß Ihr Mißgeschick,
-soweit das von mir abhängt, in Ihrem Verkehr
-mit <em class="gesperrt">Melchior</em> nichts ändern soll. Es wird mir
-stets zur Freude gereichen, meinen Sohn mit
-einem jungen Manne umgehn zu sehen, der sich,
-mag ihn nun die Welt beurteilen wie sie will,
-auch meine vollste Sympathie zu gewinnen vermochte.</p>
-
-<p>Und somit Kopf hoch, Herr Stiefel! — Solche
-Krisen dieser oder jener Art treten an jeden von<span class="pagenum"><a name="Seite_75" id="Seite_75">[75]</a></span>
-uns heran und wollen eben überstanden sein.
-Wollte da ein jeder gleich zu Dolch und Gift
-greifen, es möchte recht bald keine Menschen
-mehr auf der Welt geben. Lassen Sie bald
-wieder etwas von sich hören und seien Sie
-herzlich gegrüßt von Ihrer Ihnen unverändert
-zugetanen</p>
-
-<p class="center">mütterlichen Freundin</p>
-<p class="right">Fanny G.</p>
-
-
-<h3>Sechste Szene</h3>
-
-<p class="regie"><i class="gesperrt">Bergmanns Garten im Morgensonnenglanz</i></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Warum hast du dich aus der Stube geschlichen?
-— Veilchen suchen! — Weil mich
-Mutter lächeln sieht. — Warum bringst du auch
-die Lippen nicht mehr zusammen? — Ich weiß
-nicht. — Ich weiß es ja nicht, ich finde nicht
-Worte ...</p>
-
-<p>Der Weg ist wie ein Pelücheteppich — kein
-Steinchen, kein Dorn. — Meine Füße berühren
-den Boden nicht ... O, wie ich die Nacht geschlummert
-habe!</p>
-
-<p>Hier standen sie. — Mir wird ernsthaft wie
-einer Nonne beim Abendmahl. — Süße Veilchen!
-— Ruhig, Mütterchen. Ich will mein Bußgewand<span class="pagenum"><a name="Seite_76" id="Seite_76">[76]</a></span>
-anziehn. — Ach Gott, wenn jemand
-käme, dem ich um den Hals fallen und erzählen
-könnte!</p>
-
-
-<h3>Siebente Szene</h3>
-
-<p class="regie"><i class="gesperrt">Abenddämmerung</i>. Der Himmel ist leicht bewölkt.
-Der Weg schlängelt sich durch niedres Gebüsch und
-Riedgras. In einiger Entfernung hört man den Fluß
-rauschen.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Besser ist besser. — Ich passe nicht hinein.
-Mögen sie einander auf die Köpfe steigen. —
-Ich ziehe die Tür hinter mir zu und trete ins
-Freie. — Ich gebe nicht so viel darum, mich
-herumdrücken zu lassen.</p>
-
-<p>Ich habe mich nicht aufgedrängt. Was soll
-ich mich jetzt aufdrängen! — Ich habe keinen
-Vertrag mit dem lieben Gott. Mag man die
-Sache drehen, wie man sie drehen will. Man
-hat mich gepreßt. — Meine Eltern mache ich
-nicht verantwortlich. Immerhin mußten sie auf
-das Schlimmste gefaßt sein. Sie waren alt
-genug, um zu wissen, was sie taten. Ich war
-ein Säugling, als ich zur Welt kam — sonst wär′
-ich wohl auch noch so schlau gewesen, ein anderer
-zu werden. — Was soll ich dafür büßen,
-daß alle andern schon da waren!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_77" id="Seite_77">[77]</a></span></p>
-
-<p>Ich müßte ja auf den Kopf gefallen sein ...
-macht mir jemand einen tollen Hund zum Geschenk,
-dann gebe ich ihm seinen tollen Hund zurück.
-Und will er seinen tollen Hund nicht zurücknehmen,
-dann bin ich menschlich und ...</p>
-
-<p>Ich müßte ja auf den Kopf gefallen sein!</p>
-
-<p>Man wird ganz per Zufall geboren und
-sollte nicht nach reiflichster Überlegung — — —
-es ist zum Totschießen!</p>
-
-<p>— Das Wetter zeigt sich wenigstens rücksichtsvoll.
-Den ganzen Tag sah es nach Regen
-aus und nun hat es sich doch gehalten. — Es
-herrscht eine seltene Ruhe in der Natur. Nirgends
-etwas Grelles, Aufreizendes. Himmel und Erde
-sind wie durchsichtiges Spinnewebe. Und dabei
-scheint sich alles so wohl zu fühlen. Die Landschaft
-ist lieblich wie eine Schlummermelodie —
-„<em class="gesperrt">schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein</em>“, wie
-Fräulein <em class="gesperrt">Snandulia</em> sang. Schade, daß sie die
-Ellbogen ungraziös hält! — Am Cäcilienfest
-habe ich zum letzten Male getanzt. <em class="gesperrt">Snandulia</em>
-tanzt nur mit Partien. Ihre Seidenrobe war
-hinten und vorn ausgeschnitten. Hinten bis auf
-den Taillengürtel und vorne bis zur Bewußtlosigkeit.
-— Ein Hemd kann sie nicht angehabt haben ...
-— — — — — — — — — — — — —</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_78" id="Seite_78">[78]</a></span></p>
-
-<p>— das wäre etwas, was mich noch fesseln
-könnte. — Mehr der Kuriosität halber. — Es
-muß ein sonderbares Empfinden sein — — ein
-Gefühl, als würde man über Stromschnellen gerissen
-— — — Ich werde es niemandem sagen,
-daß ich unverrichteter Sache wiederkehre. Ich
-werde so tun, als hätte ich alles das mitgemacht ... Es hat etwas Beschämendes, Mensch gewesen
-zu sein, ohne das Menschlichste kennen gelernt
-zu haben. — Sie kommen aus <em class="gesperrt">Ägypten</em>, verehrter
-Herr, und haben die <em class="gesperrt">Pyramiden</em> nicht
-gesehn?!</p>
-
-<p>Ich will heute nicht wieder weinen. Ich will
-nicht wieder an mein Begräbnis denken — —
-<em class="gesperrt">Melchior</em> wird mir einen Kranz auf den Sarg
-legen. Pastor <em class="gesperrt">Kahlbauch</em> wird meine Eltern
-trösten. Rektor <em class="gesperrt">Sonnenstich</em> wird Beispiele
-aus der Geschichte zitieren. — Einen Grabstein
-werd′ ich ja wahrscheinlich nicht bekommen. Ich
-hätte mir eine schneeweiße Marmorurne auf
-schwarzem Syenitsockel gewünscht — ich werde
-sie ja gottlob nicht vermissen. Die Denkmäler
-sind für die Lebenden, nicht für die Toten.</p>
-
-<p>Ich brauchte wohl ein Jahr, um in Gedanken
-von allem Abschied zu nehmen. Ich will nicht
-wieder weinen. Ich bin so froh, ohne Bitterkeit<span class="pagenum"><a name="Seite_79" id="Seite_79">[79]</a></span>
-zurückblicken zu dürfen. Wie manchen schönen
-Abend ich mit <em class="gesperrt">Melchior</em> verlebt habe! — unter
-den Uferweiden; beim Forsthaus; am Heerweg
-draußen, wo die fünf Linden stehen; auf dem
-Schloßberg, zwischen den lauschigen Trümmern
-der Runenburg — — — Wenn die Stunde gekommen,
-will ich aus Leibeskräften an Schlagsahne
-denken. Schlagsahne hält nicht auf. Sie
-stopft und hinterläßt dabei doch einen angenehmen
-Nachgeschmack ... Auch die Menschen hatte ich
-mir unendlich schlimmer gedacht. Ich habe keinen
-gefunden, der nicht sein Bestes gewollt hätte. Ich
-habe manchen bemitleidet um meinetwillen.</p>
-
-<p>Ich wandle zum Altar wie der Jüngling im
-alten Etrurien, dessen letztes Röcheln der Brüder
-Wohlergehen für das kommende Jahr erkauft.
-— Ich durchkoste Zug für Zug die geheimnisvollen
-Schauer der Loslösung. Ich schluchze vor
-Wehmut über mein Los. — — Das Leben hat
-mir die kalte Schulter gezeigt. Von drüben her
-sehe ich ernste freundliche Blicke winken: die kopflose
-Königin, die kopflose Königin — Mitgefühl,
-mich mit weichen Armen erwartend ... Eure
-Gebote gelten für Unmündige; ich trage mein
-Freibillett in mir. Sinkt die Schale, dann
-flattert der Falter davon; das Trugbild geniert<span class="pagenum"><a name="Seite_80" id="Seite_80">[80]</a></span>
-nicht mehr. — Ihr solltet kein tolles Spiel mit
-dem Schwindel treiben! Der Nebel zerrinnt;
-das Leben ist Geschmacksache.</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p class="regie">(in abgerissenen Kleidern, ein buntes Tuch um den Kopf,
-faßt ihn von rückwärts an der Schulter)</p>
-
-<p>Was hast du verloren?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ilse?!</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Was suchst du hier?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Was erschreckst du mich so?</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Was suchst du? — Was hast du verloren?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Was erschreckst du mich denn so entsetzlich?</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Ich komme aus der Stadt. — Ich gehe nach Hause.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich weiß nicht, was ich verloren habe.</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Dann hilft auch dein Suchen nichts.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Sakerment, Sakerment!!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_81" id="Seite_81">[81]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Seit vier Tagen bin ich nicht zu Hause gewesen.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>— Lautlos wie eine Katze!</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Weil ich meine Ballschuhe anhabe. — Mutter
-wird Augen machen! — Komm bis an unser
-Haus mit!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wo hast du wieder herumgestrolcht?</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>In der <em class="gesperrt">Priapia</em>!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Priapia</em>?</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Bei <em class="gesperrt">Nohl</em>, bei <em class="gesperrt">Fehrendorf</em>, bei <em class="gesperrt">Padinsky</em>,
-bei <em class="gesperrt">Lenz</em>, <em class="gesperrt">Rank</em>, <em class="gesperrt">Spühler</em> — bei allen
-möglichen! — Kling, kling — die wird springen!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Malen sie dich?</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Fehrendorf</em> malt mich als Säulenheilige. Ich
-stehe auf einem korinthischen Kapitäl. <em class="gesperrt">Fehrendorf</em>,
-sag′ ich dir, ist eine verhauene Nudel. Das
-letzte Mal zertrat ich ihm eine Tube. Er wischt
-mir die Pinsel ins Haar. Ich versetze ihm eine<span class="pagenum"><a name="Seite_82" id="Seite_82">[82]</a></span>
-Ohrfeige. Er wirft mir die Palette an den Kopf.
-Ich werfe die Staffelei um. Er mit dem Malstock
-hinter mir drein über Divan, Tische, Stühle,
-ringsum durchs Atelier. Hinterm Ofen lag eine
-Skizze: — Brav sein, oder ich zerreiße sie!
-— Er schwor Amnestie und hat mich dann
-schließlich noch schrecklich — schrecklich, sag′ ich
-dir — abgeküßt.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wo übernachtest du, wenn du in der Stadt bleibst?</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Gestern waren wir bei <em class="gesperrt">Nohl</em> — vorgestern
-bei <em class="gesperrt">Bojokewitsch</em> — am Sonntag bei <em class="gesperrt">Oikonomopulos</em>.
-Bei <em class="gesperrt">Padinsky</em> gab′s Sekt. <em class="gesperrt">Valabregez</em>
-hatte seinen Pestkranken verkauft.
-<em class="gesperrt">Adolar</em> trank aus dem Aschenbecher. <em class="gesperrt">Lenz</em> sang
-die <em class="gesperrt">Kindsmörderin</em>, und <em class="gesperrt">Adolar</em> schlug die
-Guitarre krumm. Ich war so betrunken, daß
-sie mich zu Bett bringen mußten. — — Du
-gehst immer noch zur Schule, Moritz?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Nein, nein ... dieses Quartal nehme ich
-meine Entlassung.</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Du hast Recht. Ach, wie die Zeit vergeht,
-wenn man Geld verdient! — Weißt du noch,<span class="pagenum"><a name="Seite_83" id="Seite_83">[83]</a></span>
-wie wir <em class="gesperrt">Räuber</em> spielten? — <em class="gesperrt">Wendla Bergmann</em>
-und du und ich und die Andern, wenn
-ihr abends herauskamt und kuhwarme Ziegenmilch
-bei uns trankt? — Was macht <em class="gesperrt">Wendla</em>?
-Ich sah sie noch bei der Überschwemmung. —
-Was macht <em class="gesperrt">Melchi Gabor</em>? — Schaut er noch
-so tiefsinnig drein? — In der Singstunde standen
-wir einander gegenüber.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Er philosophiert.</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Wendla</em> war derweil bei uns und hat der
-Mutter Eingemachtes gebracht. Ich saß den Tag
-bei Isidor Landauer. Er braucht mich zur heiligen
-Maria, Mutter Gottes, mit dem Christuskind.
-Er ist ein Tropf und widerlich. Hu, wie ein
-Wetterhahn! — Hast du Katzenjammer?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Von gestern Abend! — Wir haben wie Nilpferde
-gezecht. Um fünf Uhr wankt′ ich nach
-Hause.</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Man braucht dich nur anzusehn. — Waren
-Mädchen dabei?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_84" id="Seite_84">[84]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Arabella, die Biernymphe, Andalusierin! —
-Der Wirt ließ uns Alle die ganze Nacht durch
-mit ihr allein.</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Man braucht dich nur anzusehen, Moritz! —
-Ich kenne keinen Katzenjammer. Vergangenen
-Karneval kam ich drei Tage und drei Nächte
-in kein Bett und nicht aus den Kleidern. Von
-der Redoute ins Café, Mittags in Bellavista,
-Abends Tingl-Tangl, Nachts zur Redoute. <em class="gesperrt">Lena</em>
-war dabei und die dicke <em class="gesperrt">Viola</em>. — In der
-dritten Nacht fand mich <em class="gesperrt">Heinrich</em>.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Hatte er dich denn gesucht?</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Er war über meinen Arm gestolpert. Ich
-lag bewußtlos im Straßenschnee. — Darauf kam
-ich zu ihm hin. Vierzehn Tage verließ ich seine
-Behausung nicht — eine gräuliche Zeit! —
-Morgens mußte ich seinen persischen Schlafrock
-überwerfen und abends in schwarzem Pagenkostüm
-durchs Zimmer gehn; an Hals, an Knien
-und Ärmeln weiße Spitzenaufschläge. Täglich
-photographierte er mich in anderem Arrangement<span class="pagenum"><a name="Seite_85" id="Seite_85">[85]</a></span>
-— einmal auf der Sofalehne als Ariadne, einmal
-als Leda, einmal als Ganymed, einmal auf
-allen Vieren als weiblichen Nebuchod-Nosor. Dabei
-schwärmte er von Umbringen, von Erschießen,
-Selbstmord und Kohlendampf. Frühmorgens nahm
-er eine Pistole ins Bett, lud sie voll Spitzkugeln
-und setzte sie mir auf die Brust: Ein Zwinkern,
-so drück′ ich! — O, er hätte gedrückt, Moritz;
-er hätte gedrückt! — Dann nahm er das Dings
-in den Mund wie ein Pusterohr. Das wecke
-den Selbsterhaltungstrieb. Und dann — Brrrr
-— die Kugel wäre mir durchs Rückgrat gegangen.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Lebt <em class="gesperrt">Heinrich</em> noch?</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Was weiß ich! — Über dem Bett war ein
-Deckenspiegel im Plafond eingelassen. Das
-Kabinet schien turmhoch und hell wie ein Opernhaus.
-Man sah sich leibhaftig vom Himmel
-herunterhängen. Grauenvoll habe ich die Nächte
-geträumt. — Gott, o Gott, wenn es erst wieder
-Tag würde! — Gute Nacht, Ilse. Wenn du
-schläfst, bist du zum Morden schön!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Lebt dieser <em class="gesperrt">Heinrich</em> noch?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_86" id="Seite_86">[86]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>So Gott will, nicht! — Wie er eines Tages
-Absynth holt, werfe ich den Mantel um und
-schleiche mich auf die Straße. Der Fasching
-war aus; die Polizei fängt mich ab; was ich
-in Mannskleidern wolle? — Sie brachten mich
-zur Hauptwache. Da kamen <em class="gesperrt">Nohl</em>, <em class="gesperrt">Fehrendorf</em>,
-<em class="gesperrt">Padinsky</em>, <em class="gesperrt">Spühler</em>, <em class="gesperrt">Oikonomopulos</em>,
-die ganze <em class="gesperrt">Priapia</em>, und bürgten für mich.
-Im Fiaker transportierten sie mich auf <em class="gesperrt">Adolars</em>
-Atelier. Seither bin ich der Horde treu. <em class="gesperrt">Fehrendorf</em>
-ist ein Affe, <em class="gesperrt">Nohl</em> ist ein Schwein,
-<em class="gesperrt">Bojokewitsch</em> ein Uhu, <em class="gesperrt">Loison</em> eine Hyäne,
-<em class="gesperrt">Oikonomopulos</em> ein Kameel — darum lieb′
-ich sie doch Einen wie den Andern und möchte
-mich an sonst niemand hängen, und wenn die
-Welt voll Erzengel und Millionäre wär′!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>— Ich muß zurück, Ilse.</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Komm bis an unser Haus mit!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>— Wozu? — Wozu? —</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Kuhwarme Ziegenmilch trinken! — Ich will
-dir Locken brennen und dir ein Glöcklein um<span class="pagenum"><a name="Seite_87" id="Seite_87">[87]</a></span>
-den Hals hängen. — Wir haben auch noch ein
-Hü-Pferdchen, mit dem du spielen kannst.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich muß zurück. — Ich habe noch die Sassaniden,
-die Bergpredigt und das Parallelepipedon
-auf dem Gewissen. — Gute Nacht, Ilse!</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Schlummre süß! ... Geht ihr wohl noch
-zum <em class="gesperrt">Wigwam</em> hinunter, wo <em class="gesperrt">Melchi Gabor</em>
-mein Tomahawk begrub? — Brrr! Bis es an
-euch kommt, lieg′ ich im Kehricht. <span class="regie">(Eilt davon.)</span></p>
-
-<p class="sprecher">Moritz <span class="regie">(allein)</span></p>
-
-<p>— — — Ein Wort hätte es gekostet. —
-<span class="regie">(Er ruft)</span> — Ilse! — Ilse! — — Gottlob
-sie hört nicht mehr.</p>
-
-<p>— Ich bin in der Stimmung nicht. — Dazu
-bedarf es eines freien Kopfes und eines
-fröhlichen Herzens. — Schade, schade um die
-Gelegenheit!</p>
-
-<p>... ich werde sagen, ich hätte mächtige
-Kristallspiegel über meinen Betten gehabt —
-hätte mir ein unbändiges Füllen gezogen —
-hätte es in langen schwarzseidenen Strümpfen
-und schwarzen Lackstiefeln und schwarzen, langen
-Glacé-Handschuhen, schwarzen Samt um den<span class="pagenum"><a name="Seite_88" id="Seite_88">[88]</a></span>
-Hals, über den Teppich an mir vorbeistolzieren
-lassen — hätte es in einem Wahnsinnsanfall in
-meinen Kissen erwürgt ... ich werde lächeln
-wenn von Wollust die Rede ist ... ich werde —</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Aufschreien! — Aufschreien! — Du sein,
-Ilse! — Priapia! — Besinnungslosigkeit!
-— Das nimmt die Kraft mir! — Dieses
-Glückskind, dieses Sonnenkind — dieses
-Freudenmädchen auf meinem Jammerweg!
-— — O! — O!</em></p>
-
-<p class="center">
-— — — — — — — — — — — — —<br />
-— — — — — — — — — — — — —
-</p>
-
-<p class="regie">(Im Ufergebüsch)</p>
-
-<p>Hab′ ich sie doch unwillkürlich wiedergefunden
-— die Rasenbank. Die Königskerzen scheinen
-gewachsen seit gestern. Der Ausblick zwischen
-den Weiden durch ist derselbe noch. — Der Fluß
-zieht schwer wie geschmolzenes Blei. Daß ich
-nicht vergesse ... <span class="regie">(er zieht Frau Gabors Brief aus
-der Tasche und verbrennt ihn)</span> — Wie die Funken
-irren — hin und her, kreuz und quer — Seelen!
-— Sternschnuppen! —</p>
-
-<p>Eh′ ich angezündet, sah man die Gräser noch
-und einen Streifen am Horizont. — Jetzt ist es
-dunkel geworden. Jetzt gehe ich nicht mehr nach
-Hause.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_89" id="Seite_89">[89]</a></span></p>
-
-
-<h2><a name="Dritter_Akt" id="Dritter_Akt"></a>Dritter Akt</h2>
-
-<h3>Erste Szene</h3>
-
-<p class="regie"><i class="gesperrt">Konferenzzimmer</i>. — An den Wänden die Bildnisse
-von Pestalozzi und J. J. Rousseau. Um einen grünen
-Tisch, über dem mehrere Gasflammen brennen, sitzen die
-Professoren <i class="gesperrt">Affenschmalz</i>, <i class="gesperrt">Knüppeldick</i>, <i class="gesperrt">Hungergurt</i>,
-<i class="gesperrt">Knochenbruch</i>, <i class="gesperrt">Zungenschlag</i> und <i class="gesperrt">Fliegentod</i>.
-Am oberen Ende auf erhöhtem Sessel Rektor
-<i class="gesperrt">Sonnenstich</i>. Pedell <i class="gesperrt">Habebald</i> kauert neben der Tür.</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>....Sollte einer der Herren noch etwas zu
-bemerken haben? — — Meine Herren! — Wenn
-wir nicht umhin können, bei einem hohen Kultusministerium
-die Relegation unseres schuldbeladenen
-Schülers zu beantragen, so können wir das aus
-den schwerwiegendsten Gründen nicht. Wir können
-es nicht, um das bereits hereingebrochene Unglück
-zu sühnen, wir können es eben so wenig, um
-unsere Anstalt für die Zukunft vor ähnlichen
-Schlägen sicher zu stellen. Wir können es nicht,
-um unseren schuldbeladenen Schüler für den
-demoralisirenden Einfluß, den er auf seinen Klassengenossen
-ausgeübt, zu züchtigen; wir können es<span class="pagenum"><a name="Seite_90" id="Seite_90">[90]</a></span>
-zu allerletzt, um ihn zu verhindern, den nämlichen
-Einfluß auf seine übrigen Klassengenossen
-auszuüben. Wir können es — und der, meine
-Herren, möchte der schwerwiegendste sein —
-aus dem jeden Einwand niederschlagenden Grunde
-nicht, weil wir unsere Anstalt vor den Verheerungen
-einer Selbstmord-Epidemie zu schützen
-haben, wie sie bereits an verschiedenen Gymnasien
-zum Ausbruch gelangt und bis heute allen
-Mitteln, den Gymnasiasten an seine durch seine
-Heranbildung zum Gebildeten gebildeten Existenzbedingungen
-zu fesseln, gespottet hat. — — Sollte
-einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?</p>
-
-<p class="sprecher">Knüppeldick</p>
-
-<p>Ich kann mich nicht länger der Überzeugung
-verschließen, daß es endlich an der Zeit wäre,
-irgendwo ein Fenster zu öffnen.</p>
-
-<p class="sprecher">Zungenschlag</p>
-
-<p>Es he-herrscht hier eine A-A-Atmosphäre
-wie in unterirdischen Kata-Katakomben, wie in
-den A-Aktensälen des weiland Wetzlarer Ka-Ka-Ka-Ka-Kammergerichtes.</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Habebald!</p>
-
-<p class="sprecher">Habebald</p>
-
-<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_91" id="Seite_91">[91]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Öffnen Sie ein Fenster! Wir haben Gott sei
-Dank Atmosphäre genug draußen. — Sollte
-einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?</p>
-
-<p class="sprecher">Fliegentod</p>
-
-<p>Wenn meine Herren Kollegen ein Fenster
-öffnen lassen wollen, so habe ich meinerseits nichts
-dagegen einzuwenden. Nur möchte ich bitten,
-das Fenster nicht gerade hinter meinem Rücken
-öffnen lassen zu wollen!</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Habebald!</p>
-
-<p class="sprecher">Habebald</p>
-
-<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Öffnen Sie das andere Fenster! — — Sollte
-einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?</p>
-
-<p class="sprecher">Hungergurt</p>
-
-<p>Ohne die Kontroverse meinerseits belasten zu
-wollen, möchte ich an die Tatsache erinnern, daß
-das andere Fenster seit den Herbstferien zugemauert
-ist.</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Habebald!</p>
-
-<p class="sprecher">Habebald</p>
-
-<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_92" id="Seite_92">[92]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Lassen Sie das andere Fenster geschlossen! —
-Ich sehe mich genötigt, meine Herren, den
-Antrag zur Abstimmung zu bringen. Ich ersuche
-diejenigen Herren Kollegen, die dafür sind, daß
-das einzig in Frage kommen könnende Fenster geöffnet
-werde, sich von ihren Sitzen zu erheben.
-<span class="regie">(Er zählt)</span> — Eins, zwei, drei. — Eins, zwei
-drei. — Habebald!</p>
-
-<p class="sprecher">Habebald</p>
-
-<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Lassen Sie das eine Fenster gleichfalls geschlossen!
-— Ich meinerseits hege die Überzeugung,
-daß die Atmosphäre nichts zu wünschen
-übrig läßt! — — Sollte einer der Herren noch
-etwas zu bemerken haben? — — Meine Herren!
-— Setzen wir den Fall, daß wir die Relegation
-unseres schuldbeladenen Schülers bei einem hohen
-Kultusministerium zu beantragen unterlassen, so
-wird <em class="gesperrt">uns</em> ein hohes Kultusministerium für das
-hereingebrochene Unglück verantwortlich machen.
-Von den verschiedenen von der Selbstmord-Epidemie
-heimgesuchten Gymnasien sind diejenigen,
-in denen fünfundzwanzig Prozent den Verheerungen
-der Selbstmord-Epidemie zum Opfer gefallen,<span class="pagenum"><a name="Seite_93" id="Seite_93">[93]</a></span>
-von einem hohen Kultusministerium suspendiert
-worden. Vor diesem erschütterndsten
-Schlage unsere Anstalt zu wahren, ist unsere
-Pflicht als Hüter und Bewahrer unserer Anstalt.
-Es schmerzt uns tief, meine Herren Kollegen,
-daß wir die sonstige Qualifikation unseres schuldbeladenen
-Schülers als mildernden Umstand
-gelten zu lassen nicht in der Lage sind. Ein
-nachsichtiges Verfahren, das sich unserem schuldbeladenen
-Schüler gegenüber rechtfertigen ließe,
-ließe sich der zur Zeit in denkbar bedenklichster
-Weise gefährdeten Existenz unserer Anstalt gegenüber
-<em class="gesperrt">nicht</em> rechtfertigen. Wir sehen uns in die
-Notwendigkeit versetzt, den Schuldbeladenen zu
-richten, um nicht als die Schuldlosen gerichtet zu
-werden. — Habebald!</p>
-
-<p class="sprecher">Habebald</p>
-
-<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Führen Sie ihn herauf!</p>
-
-<p class="regie">(Habebald ab.)</p>
-
-<p class="sprecher">Zungenschlag</p>
-
-<p>Wenn die he-herrschende A-A-Atmosphäre
-maßgebenderseits wenig oder nichts zu wünschen
-übrig läßt, so möchte ich den Antrag stellen,<span class="pagenum"><a name="Seite_94" id="Seite_94">[94]</a></span>
-während der So-Sommerferien auch noch das
-andere Fenster zu-zu-zu-zu-zu-zu-zu-zu-zuzumauern!</p>
-
-<p class="sprecher">Fliegentod</p>
-
-<p>Wenn unserem lieben Kollega Zungenschlag
-unser Lokal nicht genügend ventiliert erscheint, so
-möchte ich den Auftrag stellen, unserm lieben
-Herrn Kollega Zungenschlag einen Ventilator
-in die Stirnhöhle applizieren zu lassen.</p>
-
-<p class="sprecher">Zungenschlag</p>
-
-<p>Da-da-das brauche ich mir nicht gefallen zu
-lassen! — Gro-Grobheiten brauche ich mir
-nicht gefallen zu lassen! — Ich bin meiner fü-fü-fü-fü-fünf
-Sinne mächtig ...!</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Ich muß unsere Herren Kollegen Fliegentod
-und Zungenschlag um einigen Anstand ersuchen.
-Unser schuldbeladener Schüler scheint mir bereits
-auf der Treppe zu sein.</p>
-
-<p class="regie">(Habebald öffnet die Türe, worauf <i class="gesperrt">Melchior</i>, bleich
-aber gefaßt, vor die Versammlung tritt.)</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Treten Sie näher an den Tisch heran! — Nachdem
-Herr Rentier Stiefel von dem ruchlosen
-Frevel seines Sohnes Kenntnis erhalten, durchsuchte
-der fassungslose Vater, in der Hoffnung, auf
-diesem Wege möglicherweise dem Anlaß der<span class="pagenum"><a name="Seite_95" id="Seite_95">[95]</a></span>
-verabscheuungswürdigen Untat auf die Spur zu
-kommen, die hinterlassenen Effekten seines Sohnes
-Moritz und stieß dabei an einem nicht zur Sache
-gehörigen Orte auf ein Schriftstück, welches uns
-ohne noch die verabscheuungswürdige Untat an
-sich verständlich zu machen, für die dabei maßgebend
-gewesene moralische Zerrüttung des Untäters
-eine leider nur allzu ausreichende Erklärung
-liefert. Es handelt sich um eine in Gesprächsform
-abgefaßte, „<cite class="gesperrt">Der Beischlaf</cite>“ betitelte,
-mit lebensgroßen Abbildungen versehene,
-von den schamlosesten Unfläthereien strotzende,
-zwanzig Seiten lange Abhandlung, die den geschraubtesten
-Anforderungen, die ein verworfener
-Lüstling an eine unzüchtige Lektüre zu stellen
-vermöchte, entsprechen dürfte. —</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich habe ...</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Sie haben sich ruhig zu verhalten! — Nachdem
-Herr Rentier Stiefel uns fragliches Schriftstück
-ausgehändigt und wir dem fassungslosen
-Vater das Versprechen erteilt, um jeden Preis
-den Autor zu ermitteln, wurde die uns vorliegende
-Handschrift mit den Handschriften sämtlicher
-Mitschüler des weiland Ruchlosen verglichen und<span class="pagenum"><a name="Seite_96" id="Seite_96">[96]</a></span>
-ergab nach dem einstimmigen Urteil der gesamten
-Lehrerschaft, sowie in vollkommenem
-Einklang mit dem Spezial-Gutachten unseres
-geschätzten Herrn Kollegen für Kalligraphie die
-denkbar bedenklichste Ähnlichkeit mit der
-<em class="gesperrt">Ihrigen</em>. —</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich habe ...</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Sie haben sich ruhig zu verhalten! — Ungeachtet
-der erdrückenden Tatsache der von
-Seiten unantastbarer Autoritäten anerkannten
-Ähnlichkeit glauben wir uns vorderhand noch
-jeder weiteren Maßnahmen enthalten zu dürfen,
-um in erster Linie den Schuldigen über das ihm
-demgemäß zur Last fallende Vergehen wider die
-Sittlichkeit in Verbindung mit daraus resultierender
-Veranlassung zur Selbstentleibung ausführlich zu
-vernehmen. —</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich habe ...</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Sie haben die genau präzisierten Fragen, die
-ich Ihnen der Reihe nach vorlege, eine um die
-andere, mit einem schlichten und bescheidenen „Ja“
-oder „Nein“ zu beantworten. — Habebald!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_97" id="Seite_97">[97]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Habebald</p>
-
-<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Die Akten! — — Ich ersuche unseren Schriftführer,
-Herrn Kollega Fliegentod, von nun an
-möglichst wortgetreu zu protokollieren. — <span class="regie">(Zu
-Melchior)</span> Kennen Sie dieses Schriftstück?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ja.</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Wissen Sie, was dieses Schriftstück enthält?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ja.</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Ist die Schrift dieses Schriftstücks die Ihrige?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ja.</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Verdankt dieses unflätige Schriftstück Ihnen
-seine Abfassung?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ja. — Ich ersuche Sie, Herr Rektor, mir
-<em class="gesperrt">eine</em> Unflätigkeit darin nachzuweisen.</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Sie haben die genau präzisierten Fragen, die
-ich Ihnen vorlege, mit einem schlichten und bescheidenen
-„Ja“ oder „Nein“ zu beantworten!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_98" id="Seite_98">[98]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich habe nicht mehr und nicht weniger geschrieben,
-als was eine Ihnen sehr wohlbekannte
-Tatsache ist!</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Dieser Schandbube!!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich ersuche Sie, mir einen Verstoß gegen
-die Sittlichkeit in der Schrift zu zeigen!</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Bilden Sie sich ein, ich hätte Lust, zu Ihrem
-Hanswurst an Ihnen zu werden?! — Habebald ...!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich habe ...</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Sie haben so wenig Ehrerbietung vor der
-Würde Ihrer versammelten Lehrerschaft, wie Sie
-Anstandsgefühl für das dem Menschen eingewurzelte
-Empfinden für die Diskretion der Verschämtheit
-einer sittlichen Weltordnung haben!
-— Habebald!!</p>
-
-<p class="sprecher">Habebald</p>
-
-<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Es ist ja der <em class="gesperrt">Langenscheidt</em> zur dreistündigen
-Erlernung des aggluttierenden Volapük!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_99" id="Seite_99">[99]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich habe ...</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Ich ersuche unseren Schriftführer, Herrn
-Kollega Fliegentod, das Protokoll zu schließen!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich habe ...</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Sie haben sich ruhig zu verhalten!! — Habebald!</p>
-
-<p class="sprecher">Habebald</p>
-
-<p>Befehlen, Herr Rektor!</p>
-
-<p class="sprecher">Sonnenstich</p>
-
-<p>Führen Sie Ihn hinunter!</p>
-
-
-<h3>Zweite Szene</h3>
-
-<p class="regie"><i class="gesperrt">Friedhof</i> in strömendem Regen. — Vor einem offenen
-Grabe steht Pastor <i class="gesperrt">Kahlbauch</i>, den aufgespannten
-Schirm in der Hand. Zu seiner Rechten Rentier <i class="gesperrt">Stiefel</i>,
-dessen Freund <i class="gesperrt">Ziegenmelker</i> und Onkel <i class="gesperrt">Probst</i>. Zur
-Linken Rektor <i class="gesperrt">Sonnenstich</i> mit Professor <i class="gesperrt">Knochenbruch</i>.
-Gymnasiasten schließen den Kreis. In einiger
-Entfernung vor einem halbverfallenen Grabmonument
-<i class="gesperrt">Martha</i> und <i class="gesperrt">Ilse</i></p>
-
-<p class="sprecher">Pastor Kahlbauch</p>
-
-<p>... Denn wer die Gnade, mit der der
-ewige Vater den in Sünden Geborenen gesegnet,
-von sich wies, er wird des <em class="gesperrt">geistigen</em> Todes sterben!
-— Wer aber in eigenwilliger fleischlicher Verleugnung<span class="pagenum"><a name="Seite_100" id="Seite_100">[100]</a></span>
-der Gott gebührenden Ehre dem Bösen
-gelebt und gedient, er wird des <em class="gesperrt">leiblichen</em> Todes
-sterben! — Wer jedoch das Kreuz, das der Allerbarmer
-ihm um der Sünde willen auferlegt,
-freventlich von sich geworfen, wahrlich, wahrlich,
-ich sage euch, der wird des <em class="gesperrt">ewigen</em> Todes
-sterben! — (Er wirft eine Schaufel voll Erde in die
-Gruft) — Uns aber, die wir fort und fort
-wallen den Dornenpfad, lasset den Herrn, den
-allgütigen, preisen und ihm danken für seine
-unerforschliche Gnadenwahl. Denn so wahr <em class="gesperrt">dieser</em>
-eines <em class="gesperrt">dreifachen</em> Todes starb, so wahr wird Gott
-der Herr den Gerechten einführen zur Seligkeit
-und zum ewigen Leben. — Amen.</p>
-
-<p class="sprecher">Rentier Stiefel</p>
-
-<p class="regie">(mit tränenerstickter Stimme, wirft eine Schaufel voll
-Erde in die Gruft)</p>
-
-<p>Der Junge war nicht von mir! — Der Junge
-war nicht von mir! — Der Junge hat mir von
-kleinauf nicht gefallen!</p>
-
-<p class="sprecher">Rektor Sonnenstich</p>
-
-<p class="regie">(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)</p>
-
-<p>Der Selbstmord als der denkbar bedenklichste
-Verstoß gegen die sittliche Weltordnung ist der denkbar
-bedenklichste Beweis für die sittliche Weltordnung,
-indem der Selbstmörder der sittlichen<span class="pagenum"><a name="Seite_101" id="Seite_101">[101]</a></span>
-Weltordnung den Urteilsspruch zu sprechen erspart
-und ihr Bestehen bestätigt.</p>
-
-<p class="sprecher">Professor Knochenbruch</p>
-
-<p class="regie">(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)</p>
-
-<p>Verbummelt — versumpft — verhurt —
-verlumpt — und verludert!</p>
-
-<p class="sprecher">Onkel Probst</p>
-
-<p class="regie">(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)</p>
-
-<p>Meiner eigenen Mutter hätte ich′s nicht geglaubt,
-daß ein Kind so niederträchtig an seinen
-Eltern zu handeln vermöchte!</p>
-
-<p class="sprecher">Freund Ziegenmelker</p>
-
-<p class="regie">(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)</p>
-
-<p>An einem Vater zu handeln vermöchte, der
-nun seit zwanzig Jahren von früh bis spät keinen
-Gedanken mehr hegt, als das Wohl seines Kindes!</p>
-
-<p class="sprecher">Pastor Kahlbauch</p>
-
-<p class="regie">(Rentier Stiefel die Hand drückend)</p>
-
-<p>Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle
-Dinge zum besten dienen. 1. Korinth. 12, 15. —
-Denken Sie der trostlosen Mutter und suchen Sie
-ihr das Verlorene durch verdoppelte Liebe zu
-ersetzen!</p>
-
-<p class="sprecher">Rektor Sonnenstich</p>
-
-<p class="regie">(Rentier Stiefel die Hand drückend)</p>
-
-<p>Wir hätten ihn ja wahrscheinlich doch nicht
-promovieren können!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_102" id="Seite_102">[102]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Professor Knochenbruch</p>
-
-<p class="regie">(Rentier Stiefel die Hand drückend)</p>
-
-<p>Und wenn wir ihn promoviert hätten, im
-nächsten Frühling wäre er des allerbestimmtesten
-sitzen geblieben!</p>
-
-<p class="sprecher">Onkel Probst</p>
-
-<p class="regie">(Rentier Stiefel die Hand drückend)</p>
-
-<p>Jetzt hast du vor allem die Pflicht, an dich
-zu denken. Du bist Familienvater ...!</p>
-
-<p class="sprecher">Freund Ziegenmelker</p>
-
-<p class="regie">(Rentier Stiefel die Hand drückend)</p>
-
-<p>Vertraue dich meiner Führung! — Ein Hundewetter,
-daß einem die Därme schlottern! — Wer
-da nicht unverzüglich mit einem Grogg eingreift,
-hat seine Herzklappenaffektion weg!</p>
-
-<p class="sprecher">Rentier Stiefel</p>
-
-<p class="regie">(sich die Nase schneuzend)</p>
-
-<p>Der Junge war nicht von mir ... der
-Junge war nicht von mir ...</p>
-
-<p class="regie">(Rentier Stiefel, geleitet von Pastor Kahlbauch, Rektor
-Sonnenstich, Professor Knochenbruch, Onkel Probst und
-Freund Ziegenmelker ab. — Der Regen läßt nach)</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
-
-<p class="regie">(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)</p>
-
-<p>Ruhe in Frieden, du ehrliche Haut! — Grüße
-mir meine ewigen Bräute, hingeopferten Angedenkens,<span class="pagenum"><a name="Seite_103" id="Seite_103">[103]</a></span>
-und empfiehl mich ganz ergebenst zu
-Gnaden dem lieben Gott — armer Tollpatsch
-du! — Sie werden dir um deiner Engelseinfalt
-willen noch eine Vogelscheuche aufs Grab setzen ...</p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Hat sich die Pistole gefunden?</p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Man braucht keine Pistole zu suchen!</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Hast du ihn gesehen, Robert?</p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Verfluchter, verdammter Schwindel! — Wer
-hat ihn gesehen? — Wer denn?!</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Da steckt′s nämlich! — Man hatte ihm ein
-Tuch übergeworfen.</p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Hing die Zunge heraus?</p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Die Augen! — Deshalb hatte man das Tuch
-drübergeworfen.</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Grauenhaft!</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
-
-<p>Weißt du bestimmt, daß er sich erhängt hat?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_104" id="Seite_104">[104]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Man sagt, er habe gar keinen Kopf mehr.</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Unsinn! — Gewäsch!</p>
-
-<p class="sprecher">Robert</p>
-
-<p>Ich habe ja den Strick in Händen gehabt!
-— Ich habe noch keinen Erhängten gesehen,
-den man nicht zugedeckt hätte.</p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Auf gemeinere Art hätte er sich nicht empfehlen
-können!</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
-
-<p>Was Teufel, das Erhängen soll ganz hübsch
-sein!</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Mir ist er nämlich noch fünf Mark schuldig.
-Wir hatten gewettet. Er schwor, er werde sich
-halten.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
-
-<p>Du bist schuld, daß er daliegt. Du hast ihn
-Prahlhans genannt.</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Paperlapap, ich muß auch büffeln die Nächte
-durch. Hätte er die griechische Literaturgeschichte
-gelernt, er hätte sich nicht zu erhängen brauchen!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_105" id="Seite_105">[105]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Hast du den Aufsatz, Otto?</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Erst die Einleitung.</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Ich weiß gar nicht, was schreiben.</p>
-
-<p class="sprecher">Georg</p>
-
-<p>Warst du denn nicht da, als uns Affenschmalz
-die Disposition gab?</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p>
-
-<p>Ich stopsle mir was aus dem <cite class="gesperrt">Demokrit</cite> zusammen.</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Ich will sehen, ob sich im <cite class="gesperrt">kleinen Meyer</cite>
-was finden läßt.</p>
-
-<p class="sprecher">Otto</p>
-
-<p>Hast du den Vergil schon auf morgen? — —
-— — —</p>
-
-<p class="regie">(Die Gymnasiasten ab. — Martha und Ilse kommen
-ans Grab.)</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Rasch, rasch! — Dort hinten kommen die
-Totengräber.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Wollen wir nicht lieber warten, Ilse?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_106" id="Seite_106">[106]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Wozu? — Wir bringen neue. Immer neue
-und neue! — Es wachsen genug.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Du hast recht, Ilse! — <span class="regie">(Sie wirft einen Epheukranz
-in die Gruft. Ilse öffnet ihre Schürze und läßt
-eine Fülle frischer Anemonen auf den Sarg regnen.)</span></p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Ich grabe unsere Rosen aus. Schläge bekomme
-ich ja doch! — Hier werden sie gedeihen.</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Ich will sie begießen, so oft ich vorbeikomme.
-Ich hole Vergißmeinnicht vom Goldbach herüber
-und Schwertlilien bringe ich von Hause mit.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Es soll eine Pracht werden! Eine Pracht!</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Ich war schon über der Brücke drüben, da
-hört′ ich den Knall.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Armes Herz!</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Und ich weiß auch den Grund, Martha.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Hat er dir was gesagt?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_107" id="Seite_107">[107]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Parallelepipedon! — Aber sag′ es niemandem.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Meine Hand darauf.</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>— Hier ist die Pistole.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Deshalb hat man sie nicht gefunden!</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Ich nahm sie ihm gleich aus der Hand, als
-ich am Morgen vorbeikam.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Schenk′ sie mir, Ilse! — Bitte, schenk′ sie
-mir!</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Nein, die behalt′ ich zum Andenken.</p>
-
-<p class="sprecher">Martha</p>
-
-<p>Ist′s wahr, Ilse, daß er ohne Kopf drinliegt?</p>
-
-<p class="sprecher">Ilse</p>
-
-<p>Er muß sie mit Wasser geladen haben! —
-Die Königskerzen waren über und über mit
-Blut besprengt. Sein Hirn hing in den Weiden
-umher.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_108" id="Seite_108">[108]</a></span></p>
-
-
-<h3>Dritte Szene</h3>
-
-<p class="regie"><i class="gesperrt">Herr und Frau Gabor</i>.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>... Man hatte einen Sündenbock nötig.
-Man durfte die überall lautwerdenden Anschuldigungen
-nicht auf sich beruhen lassen. Und
-nun mein Kind das Unglück gehabt, den Zöpfen
-im richtigen Moment in den Schuß zu laufen,
-nun soll ich, die eigene Mutter, das Werk seiner
-Henker vollenden helfen? — Bewahre mich Gott
-davor!</p>
-
-<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
-
-<p>— Ich habe deine geistvolle Erziehungsmethode
-vierzehn Jahre schweigend mit angeseh′n.
-Sie widersprach meinen Begriffen. Ich hatte
-von jeher der Überzeugung gelebt, ein Kind sei
-kein Spielzeug; ein Kind habe Anspruch auf
-unsern heiligsten Ernst. Aber ich sagte mir,
-wenn der Geist und die Grazie des Einen die
-ernsten Grundsätze eines Andern zu ersetzen im
-stande sind, so mögen sie den ernsten Grundsätzen
-vorzuziehen sein. — — Ich mache dir
-keinen Vorwurf, Fanny. Aber vertritt mir den
-Weg nicht, wenn ich dein und mein Unrecht an
-dem Jungen gutzumachen suche!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_109" id="Seite_109">[109]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Ich vertrete dir den Weg, so lange ein
-Tropfen warmen Blutes in mir wallt! In der
-Korrektionsanstalt ist mein Kind verloren. Eine
-Verbrechernatur mag sich in solchen Instituten
-bessern lassen. Ich weiß es nicht. Ein gutgearteter
-Mensch wird so gewiß zum Verbrecher
-darin, wie die Pflanze verkommt, der du Luft
-und Sonne entziehst. Ich bin mir keines
-Unrechtes bewußt. Ich danke heute wie immer
-dem Himmel, daß er mir den Weg gezeigt, in
-meinem Kinde einen rechtlichen Charakter und
-eine edle Denkungsweise zu wecken. Was hat
-er denn so Schreckliches getan? Es soll mir
-nicht einfallen, ihn entschuldigen zu wollen —
-daran, daß man ihn aus der Schule gejagt
-trägt er keine Schuld! Und wär′ es sein Verschulden,
-so hat er es ja gebüßt. Du magst
-das alles besser wissen. Du magst theoretisch
-vollkommen im Rechte sein. Aber ich kann mir
-mein einziges Kind nicht gewaltsam in den Tod
-jagen lassen!</p>
-
-<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
-
-<p>Das hängt nicht von uns ab, Fanny. —
-Das ist ein Risiko, das wir mit unserem Glück
-auf uns genommen. Wer zu schwach für den<span class="pagenum"><a name="Seite_110" id="Seite_110">[110]</a></span>
-Marsch ist, bleibt am Wege. Und es ist schließlich
-das Schlimmste nicht, wenn das Unausbleibliche
-zeitig kommt. Möge uns der Himmel davor behüten!
-Unsere Pflicht ist es, den Wankenden zu
-festigen, so lange die Vernunft Mittel weiß. —
-Daß man ihn aus der Schule gejagt, ist nicht
-seine Schuld. Wenn man ihn nicht aus der
-Schule gejagt hätte, es wäre auch seine Schuld
-nicht! — Du bist zu leichtherzig. Du erblickst
-vorwitzige Tändelei, wo es sich um Grundschäden des
-Charakters handelt. Ihr Frauen seid nicht berufen,
-über solche Dinge zu urteilen. Wer <em class="gesperrt">das</em> schreiben
-kann, was Melchior schreibt, der muß im innersten
-Kern seines Wesens angefault sein. Das Mark ist ergriffen.
-Eine halbwegs gesunde Natur läßt sich zu so
-etwas nicht herbei. Wir sind alle keine Heiligen; jeder
-von uns irrt vom schnurgeraden Pfad ab. Seine
-Schrift hingegen vertritt das <em class="gesperrt">Prinzip</em>. Seine Schrift
-entspricht keinem zufälligen gelegentlichen Fehltritt;
-sie dokumentiert mit schaudererregender Deutlichkeit
-den aufrichtig gehegten <em class="gesperrt">Vorsatz</em>, jene natürliche
-Veranlagung, jenen Hang zum <em class="gesperrt">Unmoralischen</em>,
-weil es das Unmoralische ist. Seine Schrift
-manifestiert jene exzeptionelle geistige Korruption,
-die wir Juristen mit dem Ausdruck „<em class="gesperrt">moralischer
-Irrsinn</em>“ bezeichnen. — Ob sich gegen seinen<span class="pagenum"><a name="Seite_111" id="Seite_111">[111]</a></span>
-Zustand etwas ausrichten läßt, vermag ich nicht
-zu sagen. <em class="gesperrt">Wenn</em> wir uns einen Hoffnungsschimmer
-bewahren wollen, und in erster Linie
-unser fleckenloses Gewissen als die Eltern des
-Betreffenden, so ist es Zeit für uns, mit Entschiedenheit
-und mit allem Ernste ans Werk zu
-gehen. — Laß uns nicht länger streiten, Fanny!
-Ich fühle, wie schwer es dir wird. Ich weiß,
-daß du ihn vergötterst, weil er so ganz deinem
-genialischen Naturell entspricht. Sei stärker als
-du! Zeig′ dich deinem Sohn gegenüber endlich
-einmal selbstlos!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Hilf mir Gott, wie läßt sich dagegen aufkommen!
-— Man muß ein <em class="gesperrt">Mann</em> sein, um so
-sprechen zu können! Man muß ein <em class="gesperrt">Mann</em> sein,
-um sich so vom toten Buchstaben verblenden
-lassen zu können! Man muß ein <em class="gesperrt">Mann</em> sein,
-um so blind das in die Augen Springende nicht
-zu sehn! — Ich habe gewissenhaft und besonnen
-an Melchior gehandelt vom ersten Tag an, da
-ich ihn für die Eindrücke seiner Umgebung empfänglich
-fand. Sind wir denn für den <em class="gesperrt">Zufall</em>
-verantwortlich?! Dir kann morgen ein Dachziegel
-auf den Kopf fallen, und dann kommt dein
-Freund — dein Vater, und statt deine Wunde<span class="pagenum"><a name="Seite_112" id="Seite_112">[112]</a></span>
-zu pflegen, setzt er den Fuß auf dich! — Ich
-lasse mein Kind nicht vor meinen Augen hinmorden.
-Dafür bin ich seine Mutter. — Es ist
-unfaßbar! Es ist gar nicht zu glauben! Was
-schreibt er denn in aller Welt! Ist′s denn nicht
-der eklatanteste Beweis für seine Harmlosigkeit,
-für seine Dummheit, für seine kindliche Unberührtheit,
-daß er so etwas schreiben kann! —
-Man muß keine Ahnung von Menschenkenntnis
-besitzen — man muß ein vollständig entseelter
-Bureaukrat oder ganz nur Beschränktheit sein,
-um hier moralische Korruption zu wittern! —
-— Sag′ was du willst. Wenn du Melchior in
-die Korrektionsanstalt bringst, dann sind <em class="gesperrt">wir</em>
-geschieden! Und dann laß mich sehen, ob ich
-nicht irgendwo in der Welt Hilfe und Mittel
-finde, mein Kind seinem Untergange zu entreißen.</p>
-
-<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
-
-<p>Du wirst dich drein schicken müssen — wenn
-nicht heute, dann morgen. Leicht wird es keinem,
-mit dem Unglück zu diskontieren. Ich werde dir
-zur Seite stehen, und wenn dein Mut zu erliegen
-droht, keine Mühe und kein Opfer scheuen, dir
-das Herz zu entlasten. Ich sehe die Zukunft so
-grau, so wolkig — es fehlte nur noch, daß auch
-du mir noch verloren gingst.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_113" id="Seite_113">[113]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Ich sehe ihn nicht wieder; ich sehe ihn nicht
-wieder. Er erträgt das Gemeine nicht. Er findet
-sich nicht ab mit dem Schmutz. Er zerbricht den
-Zwang; das entsetzlichste Beispiel schwebt ihm vor
-Augen! — Und sehe ich ihn wieder — Gott, Gott,
-dieses frühlingsfrohe Herz — sein helles Lachen
-— alles, alles — seine kindliche Entschlossenheit,
-mutig zu kämpfen für Gut und Recht — o dieser
-Morgenhimmel, wie ich ihn licht und rein in seiner
-Seele gehegt als mein höchstes Gut..... Halte
-dich an mich, wenn das Unrecht um Sühne schreit!
-Halte dich an mich! Verfahre mit mir wie du
-willst! <em class="gesperrt">Ich</em> trage die Schuld. — Aber laß deine
-fürchterliche Hand von dem Kind weg.</p>
-
-<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em> hat sich vergangen!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er hat sich nicht vergangen!</em></p>
-
-<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
-
-<p>Er hat sich vergangen! — — — Ich hätte
-alles darum gegeben, es deiner grenzenlosen Liebe
-ersparen zu dürfen. — — Heute morgen kommt
-eine Frau zu mir, vergeistert, kaum ihrer Sprache
-mächtig, mit diesem Brief in der Hand — einem
-Brief an ihre fünfzehnjährige Tochter. Aus<span class="pagenum"><a name="Seite_114" id="Seite_114">[114]</a></span>
-dummer Neugierde habe sie ihn erbrochen; das
-Mädchen war nicht zu Haus. — In dem Briefe
-erklärt Melchior dem fünfzehnjährigen Kind, daß
-ihm seine Handlungsweise keine Ruhe lasse, er
-habe sich an ihr versündigt etc. etc., werde indessen
-natürlich für alles einstehen. Sie möge sich nicht
-grämen, auch wenn sie Folgen spüre. Er sei
-bereits auf dem Wege Hilfe zu schaffen; seine
-Relegation erleichtere ihm das. Der ehemalige
-Fehltritt könne noch zu ihrem Glücke führen —
-und was des unsinnigen Gewäsches mehr ist.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Unmöglich!!</p>
-
-<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
-
-<p>Der Brief ist gefälscht. Es liegt Betrug vor.
-Man sucht sich seine stadtbekannte Relegation nutzbar
-zu machen. Ich habe mit dem Jungen noch
-nicht gesprochen — aber sieh bitte die Hand!
-Sieh die Schreibweise!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Ein unerhörtes, schamloses Bubenstück!</p>
-
-<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
-
-<p>Das fürchte ich!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>Nein, nein — nie und nimmer!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_115" id="Seite_115">[115]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
-
-<p>Um so besser wird es für uns sein. — Die
-Frau fragt mich händeringend, was sie tun
-solle. Ich sagte ihr, sie solle ihre fünfzehnjährige
-Tochter nicht auf Heuböden herumklettern
-lassen. Den Brief hat sie mir glücklicherweise
-dagelassen. — Schicken wir Melchior nun auf
-ein anderes Gymnasium, wo er nicht einmal
-unter elterlicher Aufsicht steht, so haben wir in
-drei Wochen den nämlichen Fall — neue Relegation
-— sein frühlingsfreudiges Herz gewöhnt
-sich nachgerade daran. — Sag′ mir, Fanny, wo
-soll ich hin mit dem Jungen?!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>— In die Korrektionsanstalt —</p>
-
-<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
-
-<p>In die ...?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p>... Korrektionsanstalt!</p>
-
-<p class="sprecher">Herr Gabor</p>
-
-<p>Er findet dort in erster Linie, was ihm zu
-Hause ungerechterweise vorenthalten wurde;
-eherne Disziplin, Grundsätze, und einen moralischen
-Zwang, dem er sich unter allen Umständen zu
-fügen hat. — Im übrigen ist die Korrektionsanstalt
-nicht der Ort des Schreckens, den du dir<span class="pagenum"><a name="Seite_116" id="Seite_116">[116]</a></span>
-darunter denkst. Das Hauptgewicht legt man in
-der Anstalt auf Entwicklung einer christlichen
-Denk- und Empfindungsweise. Der Junge lernt
-dort endlich, das <em class="gesperrt">Gute</em> wollen statt des <em class="gesperrt">Interessanten</em>,
-und bei seinen Handlungen nicht sein
-Naturell, sondern das <em class="gesperrt">Gesetz</em> in Frage ziehen.
-— — Vor einer halben Stunde erhalte ich ein
-Telegramm von meinem Bruder, das mir die
-Aussagen der Frau bestätigt. Melchior hat sich
-ihm anvertraut und ihn um 200 Mark zur
-Flucht nach England gebeten ...</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Gabor</p>
-
-<p class="regie">(bedeckt ihr Gesicht)</p>
-
-<p>Barmherziger Himmel!</p>
-
-
-<h3>Vierte Szene</h3>
-
-<p class="regie"><i class="gesperrt">Korrektionsanstalt</i>. — Ein Korridor. — <i class="gesperrt">Diethelm</i>,
-<i class="gesperrt">Reinhold</i>, <i class="gesperrt">Ruprecht</i>, <i class="gesperrt">Helmuth</i>, <i class="gesperrt">Gaston</i> und
-<i class="gesperrt">Melchior</i>.</p>
-
-<p class="sprecher">Diethelm</p>
-
-<p>Hier ist ein Zwanzigpfennigstück!</p>
-
-<p class="sprecher">Reinhold</p>
-
-<p>Was soll′s damit?</p>
-
-<p class="sprecher">Diethelm</p>
-
-<p>Ich leg es auf den Boden. Ihr stellt euch
-drum herum. Wer es trifft, der hat′s.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_117" id="Seite_117">[117]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Ruprecht</p>
-
-<p>Machst du nicht mit, Melchior?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Nein, ich danke.</p>
-
-<p class="sprecher">Helmuth</p>
-
-<p>Der Joseph!</p>
-
-<p class="sprecher">Gaston</p>
-
-<p>Er kann nicht mehr. Er ist zur Rekreation
-hier.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p class="regie">(für sich)</p>
-
-<p>Es ist nicht klug, daß ich mich separiere. Alles
-hält mich im Auge. Ich muß mitmachen —
-oder die Kreatur geht zum Teufel. — — Die
-Gefangenschaft macht sie zu Selbstmördern. —
-— Brech ich den Hals, ist es gut! Komme ich
-davon, ist es auch gut! Ich kann nur gewinnen.
-— Ruprecht wird mein Freund, er besitzt hier
-Kenntnisse. — Ich werde ihm die Kapitel von
-Juda′s Schnur Thamar, von Moab, von Loth
-und seiner Sippe, von der Königin Vasti und
-der Abisag von Sunem zum besten geben. —
-Er hat die verunglückteste Physiognomie auf der
-Abteilung.</p>
-
-<p class="sprecher">Ruprecht</p>
-
-<p>Ich hab′s!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_118" id="Seite_118">[118]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Helmuth</p>
-
-<p>Ich komme noch!</p>
-
-<p class="sprecher">Gaston</p>
-
-<p>Übermorgen vielleicht!</p>
-
-<p class="sprecher">Helmuth</p>
-
-<p>Gleich! — Jetzt! — O Gott, o Gott ...</p>
-
-<p class="sprecher">Alle</p>
-
-<p><span class="antiqua" lang="la" xml:lang="la">Summa — summa cum laude!!</span></p>
-
-<p class="sprecher">Ruprecht</p>
-
-<p class="regie">(das Stück nehmend)</p>
-
-<p>Danke schön!</p>
-
-<p class="sprecher">Helmuth</p>
-
-<p>Her, du Hund!</p>
-
-<p class="sprecher">Ruprecht</p>
-
-<p>Du Schweinetier?</p>
-
-<p class="sprecher">Helmuth</p>
-
-<p>Galgenvogel!!</p>
-
-<p class="sprecher">Ruprecht</p>
-
-<p class="regie">(schlägt ihn ins Gesicht)</p>
-
-<p>— Da! <span class="regie">(rennt davon)</span></p>
-
-<p class="sprecher">Helmuth</p>
-
-<p class="regie">(ihm nachrennend)</p>
-
-<p>Den schlag ich tot!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_119" id="Seite_119">[119]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Die Übrigen</p>
-
-<p class="regie">(rennen hinterdrein)</p>
-
-<p>Hetz, Packan! Hetz! Hetz! Hetz!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p class="regie">(allein, gegen das Fenster gewandt)</p>
-
-<p>— Da geht der Blitzableiter hinunter. —
-Man muß ein Taschentuch drumwickeln. — Wenn
-ich an sie denke, schießt mir immer das Blut in
-den Kopf. Und Moritz liegt mir wie Blei in
-den Füßen. — — — Ich gehe zur Redaktion.
-Bezahlen Sie mich per Hundert; ich kolportiere!
-— sammle Tagesneuigkeiten — schreibe — lokal
-— — ethisch — — psychophysisch ... man
-verhungert nicht mehr so leicht. Volksküche, Café
-Temperence. — Das Haus ist sechzig Fuß hoch
-und der Verputz bröckelt ab ... Sie haßt mich
-— sie haßt mich, weil ich sie der Freiheit beraubt.
-Handle ich, wie ich will, es bleibt Vergewaltigung.
-— Ich darf einzig hoffen, im Laufe der Jahre
-allmählich ... Über acht Tage ist Neumond.
-Morgen schmiere ich die Angeln. Bis Sonnabend
-muß ich unter allen Umständen wissen, wer den
-Schlüssel hat. — Sonntag Abend in der Andacht
-kataleptischer Anfall — will′s Gott, wird sonst
-niemand krank! — Alles liegt so klar, als wär′
-es geschehen, vor mir. Über das Fenstergesims<span class="pagenum"><a name="Seite_120" id="Seite_120">[120]</a></span>
-gelang ich mit Leichtigkeit — ein Schwung —
-ein Griff — aber man muß ein Taschentuch
-drumwickeln. — — Da kommt der Großinquisitor.
-<span class="regie">(Ab nach links.)</span></p>
-
-<p class="regie">(Dr. <i class="gesperrt">Prokrustes</i> mit einem <i class="gesperrt">Schlossermeister</i> von
-rechts.)</p>
-
-<p class="sprecher">Dr. Prokrustes</p>
-
-<p>... Die Fenster liegen zwar im dritten Stock
-und unten sind Brennesseln gepflanzt. Aber was
-kümmert sich die Entartung um Brennesseln. —
-Vergangenen Winter stieg uns einer zur Dachluke
-hinaus und wir hatten die ganze Schererei
-mit dem Abholen, Hinbringen und Beisetzen ...</p>
-
-<p class="sprecher">Der Schlossermeister</p>
-
-<p>Wünschen Sie die Gitter aus Schmiedeeisen?</p>
-
-<p class="sprecher">Dr. Prokrustes</p>
-
-<p>Aus Schmiedeeisen — und da man sie nicht
-einlassen kann, vernietet.</p>
-
-
-<h3>Fünfte Szene</h3>
-
-<p class="regie">Ein <i class="gesperrt">Schlafgemach</i>. — <i class="gesperrt">Frau Bergmann</i>, <i class="gesperrt">Ina
-Müller</i> und Medizinalrat Dr. <i class="gesperrt">v. Brausepulver</i>. —
-<i class="gesperrt">Wendla</i> im Bett.</p>
-
-<p class="sprecher">Dr. von Brausepulver</p>
-
-<p>Wie alt sind Sie denn eigentlich?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_121" id="Seite_121">[121]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Vierzehn ein halb.</p>
-
-<p class="sprecher">Dr. von Brausepulver</p>
-
-<p>Ich verordne die <cite class="gesperrt">Blaud</cite>′schen Pillen seit
-fünfzehn Jahren und habe in einer großen
-Anzahl von Fällen die eklatantesten Erfolge beobachtet.
-Ich ziehe sie dem Lebertran und den
-Stahlweinen vor. Beginnen sie mit drei bis vier
-Pillen pro Tag und steigern Sie so rasch Sie es
-eben vertragen. Dem Fräulein Elfriede Baronesse
-von Witzleben hatte ich verordnet, jeden dritten
-Tag um eine Pille zu steigern. Die Baronesse
-hatte mich mißverstanden und steigerte jeden Tag
-um drei Pillen. Nach kaum drei Wochen schon
-konnte sich die Baronesse mit ihrer Frau Mama
-zur Nachkur nach Pyrmont begeben. — Von
-ermüdenden Spaziergängen und Extramahlzeiten
-dispensiere ich Sie. Dafür versprechen Sie mir,
-liebes Kind, sich um so fleißiger Bewegung
-machen zu wollen und ungeniert Nahrung zu
-fordern, sobald sich die Lust dazu wieder einstellt.
-Dann werden diese Herzbeklemmungen bald nachlassen
-— und der Kopfschmerz, das Frösteln, der
-Schwindel — und unsere schrecklichen Verdauungsstörungen.
-Fräulein Elfriede Baronesse von
-Witzleben genoß schon acht Tage nach begonnener<span class="pagenum"><a name="Seite_122" id="Seite_122">[122]</a></span>
-Kur ein ganzes Brathühnchen mit
-jungen Pellkartoffeln zum Frühstück.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten,
-Herr Medizinalrat?</p>
-
-<p class="sprecher">Dr. von Brausepulver</p>
-
-<p>Ich danke Ihnen, liebe Frau Bergmann.
-Mein Wagen wartet. Lassen Sie sich′s nicht so
-zu Herzen gehen. In wenigen Wochen ist unsere
-liebe kleine Patientin wieder frisch und munter
-wie eine Gazelle. Seien Sie getrost. — Guten
-Tag, Frau Bergmann. Guten Tag, liebes Kind.
-Guten Tag, meine Damen. Guten Tag. <span class="regie">(Frau
-Bergmann geleitet ihn vor die Tür.)</span></p>
-
-<p class="sprecher">Ina</p>
-
-<p class="regie">(am Fenster)</p>
-
-<p>— Nun färbt sich eure Platane schon
-wieder bunt. — Siehst du′s vom Bett aus? —
-Eine kurze Pracht, kaum recht der Freude wert,
-wie man sie so kommen und gehen sieht. — Ich
-muß nun auch bald gehen. Müller erwartet
-mich vor der Post und ich muß zuvor noch zur
-Schneiderin. Mucki bekommt seine ersten Höschen,
-und Karl soll einen neuen Trikotanzug auf den
-Winter haben.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_123" id="Seite_123">[123]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Manchmal wird mir so selig — alles Freude
-und Sonnenglanz. Hätt′ ich geahnt, daß es
-einem so wohl um′s Herz werden kann! Ich
-möchte hinaus, im Abendschein über die Wiesen
-gehn, Himmelsschlüssel suchen den Fluß entlang
-und mich an′s Ufer setzen und träumen ...
-Und dann kommt das <em class="gesperrt">Zahnweh</em>, und ich meine,
-daß ich morgen am Tag sterben muß; mir wird
-heiß und kalt, vor den Augen verdunkelt sich′s,
-und dann flattert das Untier herein — — —
-So oft ich aufwache, seh′ ich Mutter weinen.
-O, das tut mir so weh — ich kann′s dir nicht
-sagen, Ina!</p>
-
-<p class="sprecher">Ina</p>
-
-<p>— Soll ich dir nicht das Kopfkissen höher
-legen?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p class="regie">(kommt zurück)</p>
-
-<p>Er meint, das Erbrechen werde sich auch
-geben; und du sollst dann nur ruhig wieder
-aufstehn ... Ich glaube auch, es ist besser,
-wenn du bald wieder aufstehst, Wendla.</p>
-
-<p class="sprecher">Ina</p>
-
-<p>Bis ich das nächste Mal vorspreche, springst
-du vielleicht schon wieder im Haus herum. —
-Leb′ wohl, Mutter. Ich muß durchaus noch zur<span class="pagenum"><a name="Seite_124" id="Seite_124">[124]</a></span>
-Schneiderin. Behüt′ dich Gott, liebe Wendla.
-<span class="regie">(Küßt sie)</span> Recht, recht baldige Besserung!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Leb′ wohl, Ina. — Bring′ mir Himmelsschlüssel
-mit, wenn du wiederkommst. Adieu.
-Grüße deine Jungens von mir.</p>
-
-<p class="regie">(Ina ab.)</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Was hat er noch gesagt, Mutter, als er
-draußen war?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Er hat nichts gesagt. — Er sagte, Fräulein
-von Witzleben habe auch zu Ohnmachten geneigt.
-Es sei das fast immer so bei der Bleichsucht.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Hat er gesagt, Mutter, daß ich die Bleichsucht
-habe?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Du sollest Milch trinken und Fleisch und Gemüse
-essen, wenn der Appetit zurückgekehrt sei.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>O Mutter, Mutter, ich glaube, ich habe nicht
-die Bleichsucht....</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Du hast die Bleichsucht, Kind. Sei ruhig,
-Wendla, sei ruhig; du hast die Bleichsucht.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_125" id="Seite_125">[125]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Nein, Mutter, nein! Ich weiß es. Ich fühl′
-es. Ich habe nicht die Bleichsucht. Ich habe
-die Wassersucht ...</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Du hast die Bleichsucht. Er hat ja gesagt,
-daß du die Bleichsucht hast. Beruhige dich, Mädchen.
-Es wird besser werden.</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Es wird nicht besser werden. Ich habe die
-Wassersucht. Ich muß sterben, Mutter. — O
-Mutter, ich muß sterben!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Du mußt nicht sterben, Kind! Du mußt
-nicht sterben..... Barmherziger Himmel, du
-mußt nicht sterben!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Aber warum weinst du dann so jammervoll?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Du mußt nicht sterben — Kind! Du hast
-nicht die Wassersucht. Du hast ein Kind, Mädchen!
-Du hast ein Kind! — O, warum hast du
-mir das getan!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>— ich habe dir nichts getan —</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_126" id="Seite_126">[126]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>O leugne nicht noch, Wendla! — Ich weiß
-alles. Sieh′, ich hätt′ es nicht vermocht, dir ein
-Wort zu sagen. — Wendla, meine Wendla ...!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Aber das ist ja nicht möglich, Mutter. Ich
-bin ja doch nicht verheiratet ...!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Großer, gewaltiger Gott —, das ist′s ja,
-daß du nicht verheiratet bist! Das ist ja das
-Fürchterliche! — Wendla, Wendla, Wendla, was
-hast du getan!!</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ich weiß es, weiß Gott, nicht mehr! Wir
-lagen im Heu.... Ich habe keinen Menschen
-auf dieser Welt geliebt als nur dich, Mutter.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Mein Herzblatt —</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>O Mutter, warum hast du mir nicht alles gesagt!</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Kind, Kind, laß uns einander das Herz nicht
-noch schwerer machen! Fasse dich! Verzweifle
-mir nicht, mein Kind! Einem vierzehnjährigen
-Mädchen das sagen! Sieh′, ich wäre eher darauf
-gefaßt gewesen, daß die Sonne erlischt. Ich habe<span class="pagenum"><a name="Seite_127" id="Seite_127">[127]</a></span>
-an dir nicht anders getan, als meine liebe gute
-Mutter an mir getan hat. — O laß uns auf
-den lieben Gott vertrauen, Wendla; laß uns auf
-Barmherzigkeit hoffen und das unsrige tun! Sieh′,
-<em class="gesperrt">noch</em> ist ja nichts geschehen, Kind. Und wenn
-nur wir jetzt nicht kleinmütig werden, dann wird
-uns auch der liebe Gott nicht verlassen. — Sei
-<em class="gesperrt">mutig</em>, Wendla, sei <em class="gesperrt">mutig</em>! — — So sitzt man
-einmal am Fenster und legt die Hände in den
-Schoß, weil sich doch noch alles zum Guten gewandt,
-und da bricht′s dann herein, daß einem
-gleich das Herz bersten möchte.... Wa —
-was zitterst du?</p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Es hat jemand geklopft.</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>Ich habe nichts gehört, liebes Herz. —
-<span class="regie">(Geht an die Türe und öffnet.)</span></p>
-
-<p class="sprecher">Wendla</p>
-
-<p>Ach, ich hörte es ganz deutlich. — — Wer
-ist draußen?</p>
-
-<p class="sprecher">Frau Bergmann</p>
-
-<p>— Niemand — — Schmidts Mutter aus
-der Gartenstraße. — — — Sie kommen eben
-recht, Mutter Schmidtin.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_128" id="Seite_128">[128]</a></span></p>
-
-
-<h3>Sechste Szene</h3>
-
-<p class="regie">Winzer und Winzerinnen im <i class="gesperrt">Weinberg</i>. — Im Westen
-sinkt die Sonne hinter die Berggipfel. Helles Glockengeläute
-vom Tal herauf. — <i class="gesperrt">Hänschen Rilow</i> und
-<i class="gesperrt">Ernst Röbel</i> im höchstgelegenen Rebstück sich unter den
-überhängenden Felsen im welkenden Grase wälzend.</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>— Ich habe mich überarbeitet.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Laß uns nicht traurig sein! — Schade um die
-Minuten.</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Man sieht sie hängen und kann nicht mehr
-— und morgen sind sie gekeltert.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Ermüdung ist mir so unerträglich, wie mir′s
-der Hunger ist.</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Ach, ich kann nicht mehr.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Diese leuchtende Muskateller noch!</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Ich bringe die Elastizität nicht mehr auf.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Wenn ich die Ranke beuge, baumelt sie uns
-von Mund zu Mund. Keiner braucht sich zu
-rühren. Wir beißen die Beeren ab und lassen
-den Kamm zum Stock zurückschnellen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_129" id="Seite_129">[129]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Kaum entschließt man sich, und siehe, so
-dämmert auch schon die dahingeschwundene
-Kraft wieder auf.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Dazu das flammende Firmament — und die
-Abendglocken. — Ich verspreche mir wenig mehr
-von der Zukunft.</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>— Ich sehe mich manchmal schon als hochwürdigen
-Pfarrer — ein gemütvolles Hausmütterchen,
-eine reichhaltige Bibliothek und Ämter
-und Würden in allen Kreisen. Sechs Tage hat
-man um nachzudenken, und am siebenten tut man
-den Mund auf. Beim Spazierengehen reichen einem
-Schüler und Schülerinnen die Hand, und wenn
-man nach Hause kommt, dampft der Kaffee, der
-Topfkuchen wird aufgetragen, und durch die
-Gartentür bringen die Mädchen Äpfel herein.
-— Kannst du dir etwas Schöneres denken?</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Ich denke mir halbgeschlossene Wimpern,
-halbgeöffnete Lippen und türkische Draperien.
-— Ich glaube nicht an das Pathos. Sieh,
-unsere Alten zeigen uns lange Gesichter, um
-ihre Dummheiten zu bemänteln. Untereinander<span class="pagenum"><a name="Seite_130" id="Seite_130">[130]</a></span>
-nennen sie sich Schafsköpfe wie wir. Ich kenne
-das. — Wenn ich Millionär bin, werde ich dem
-lieben Gott ein Denkmal setzen. — Denke dir die
-Zukunft als Milchsette mit Zucker und Zimt.
-Der eine wirft sie um und heult, der andere rührt
-alles durcheinander und schwitzt. Warum nicht
-abschöpfen? — Oder glaubst du nicht, daß es
-sich lernen ließe.</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>— Schöpfen wir ab!</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Was bleibt, fressen die Hühner. — Ich habe
-meinen Kopf nun schon aus so mancher Schlinge
-gezogen....</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Schöpfen wir ab, Hänschen! — Warum
-lachst du?</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Fängst du schon wieder an?</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Einer muß ja doch anfangen.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Wenn wir in dreißig Jahren an einen Abend
-wie heute zurückdenken, erscheint er uns vielleicht
-unsagbar schön!</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Und wie macht sich jetzt alles so ganz von selbst!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_131" id="Seite_131">[131]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Warum also nicht!</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Ist man zufällig allein — dann weint man
-vielleicht gar.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Laß uns nicht traurig sein! — <span class="regie">(Er küßt ihn
-auf den Mund.)</span></p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p class="regie">(küßt ihn)</p>
-
-<p>Ich ging von Hause fort mit dem Gedanken,
-dich nur eben zu sprechen und wieder umzukehren.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Ich erwartete dich. — Die Tugend kleidet
-nicht schlecht, aber es gehören imposante Figuren
-hinein.</p>
-
-<p class="sprecher">Ernst</p>
-
-<p>Uns schlottert sie noch um die Glieder. —
-Ich wäre nicht ruhig geworden, wenn ich dich
-nicht getroffen hätte. — Ich liebe dich, Hänschen,
-wie ich nie eine Seele geliebt habe.</p>
-
-<p class="sprecher">Hänschen</p>
-
-<p>Laß uns nicht traurig sein! — Wenn wir
-in dreißig Jahren zurückdenken, spotten wir ja
-vielleicht! — Und jetzt ist alles so schön. Die<span class="pagenum"><a name="Seite_132" id="Seite_132">[132]</a></span>
-Berge glühen; die Trauben hängen uns in den
-Mund und der Abendwind streicht an den Felsen
-hin wie ein spielendes Schmeichelkätzchen....</p>
-
-
-<h3>Siebente Szene</h3>
-
-<p class="regie"><i class="gesperrt">Helle Novembernacht</i>. An Busch und Bäumen
-raschelt das dürre Laub. Zerrissene Wolken jagen unter
-dem Mond hin. — <i class="gesperrt">Melchior</i> klettert über die <i class="gesperrt">Kirchhofmauer</i>.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p class="regie">(auf der Innenseite herabspringend)</p>
-
-<p>Hierher folgt mir die Meute nicht. — Derweil
-sie Bordelle absuchen, kann ich aufatmen und
-mir sagen, wie weit ich bin....</p>
-
-<p>Der Rock in Fetzen, die Taschen leer — vor
-dem Harmlosesten bin ich nicht sicher. — Tagsüber
-muß ich im Walde weiter zu kommen suchen ...</p>
-
-<p>Ein Kreuz habe ich niedergestampft. — Die
-Blümchen wären heut′ noch erfroren! — Ringsum
-ist die Erde kahl....</p>
-
-<p>Im Totenreich! —</p>
-
-<p>Aus der Dachluke zu klettern war so schwer
-nicht wie dieser Weg! — Darauf nur war ich
-nicht gefaßt gewesen....</p>
-
-<p>Ich hänge über dem Abgrund — alles versunken,
-verschwunden — O wär′ ich dort geblieben!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_133" id="Seite_133">[133]</a></span></p>
-
-<p>Warum sie um meinetwillen! — Warum
-nicht der Verschuldete! — Unfaßbare Vorsicht!
-— Ich hätte Steine geklopft und gehungert ...!</p>
-
-<p>Was hält mich noch aufrecht? — Verbrechen
-folgt auf Verbrechen. Ich bin dem Morast
-überantwortet. Nicht so viel Kraft mehr, um
-abzuschließen ...</p>
-
-<p>Ich war nicht schlecht! — Ich war nicht
-schlecht! — Ich war nicht schlecht ...</p>
-
-<p>— So neiderfüllt ist noch kein Sterblicher
-über Gräber gewandelt. — Pah — ich brächte
-ja den Mut nicht auf! — O, wenn mich Wahnsinn
-umfinge — in dieser Nacht noch!</p>
-
-<p>Ich muß drüben unter den Letzten suchen! —
-Der Wind pfeift auf jedem Stein aus einer
-anderen Tonart — eine beklemmende Symphonie!
-— Die morschen Kränze reißen entzwei und
-baumeln an ihren langen Fäden stückweise um die
-Marmorkreuze — ein Wald von Vogelscheuchen! —
-Vogelscheuchen auf allen Gräbern, eine greulicher
-als die andere — haushohe, vor denen die Teufel
-Reißaus nehmen. — Die goldenen Lettern blinken
-so kalt.... Die Trauerweide ächzt auf und
-fährt mit Riesenfingern über die Inschrift....</p>
-
-<p>— Ein betendes Engelskind — Eine Tafel —</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_134" id="Seite_134">[134]</a></span></p>
-
-<p>Eine Wolke wirft ihren Schatten herab. —
-Wie das hastet und heult! — Wie ein Heereszug
-jagt es im Osten empor. — Kein Stern
-am Himmel —</p>
-
-<p>Immergrün um das Gärtlein? — Immergrün?
-— — Mädchen ...</p>
-
-<div class="figcenter">
- <a name="grabstein" id="grabstein"><img src="images/grabstein.jpg" width="400" height="339" alt="Grabstein von Wendla Bergmann" /></a>
- <p class="regie">Hier ruht in Gott<br />
- Wendla Bergmann,<br />
- geboren am 5. Mai 1878,<br />
- gestorben an der Bleichsucht den<br />
- 27. Oktober 1892.<br />
- Selig sind, die reinen Herzens sind ...</p>
-</div>
-
-
-<p>Und ich bin ihr Mörder. — Ich bin ihr
-Mörder! — Mir bleibt die Verzweiflung. —
-Ich darf hier nicht weinen. — Fort von hier!
-— Fort —</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz Stiefel</p>
-
-<p class="regie">(seinen Kopf unter dem Arm, stapft über die Gräber her)</p>
-
-<p>Einen Augenblick, Melchior! Die Gelegenheit
-wiederholt sich so bald nicht. Du ahnst nicht,
-was mit Ort und Stunde zusammenhängt....</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_135" id="Seite_135">[135]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wo kommst du her?!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Von drüben — von der Mauer her. Du
-hast mein Kreuz umgeworfen. Ich liege an der
-Mauer. — Gib mir die Hand, Melchior....</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Du bist <em class="gesperrt">nicht</em> Moritz Stiefel!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Gib mir die Hand. Ich bin überzeugt, du
-wirst mir Dank wissen. So leicht wird′s dir
-nicht mehr! Es ist ein seltsam glückliches Zusammentreffen.
-— Ich bin extra heraufgekommen....</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Schläfst du denn nicht?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Nicht was ihr Schlafen nennt. — Wir sitzen
-auf Kirchtürmen, auf hohen Dachgiebeln — wo
-immer wir wollen....</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ruhelos?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Vergnügungshalber. — Wir streifen um Maibäume,
-um einsame Waldkapellen. Über Volksversammlungen
-schweben wir hin, über Unglücksstätten,<span class="pagenum"><a name="Seite_136" id="Seite_136">[136]</a></span>
-Gärten, Festplätze. — In den Wohnhäusern
-kauern wir im Kamin und hinter den
-Bettvorhängen. — Gib mir die Hand. — Wir
-verkehren nicht untereinander, aber wir sehen
-und hören alles, was in der Welt vor sich geht.
-Wir wissen, daß alles Dummheit ist, was die
-Menschen tun und erstreben, und lachen darüber.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Was hilft das?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Was braucht es zu helfen? — Wir sind für
-nichts mehr erreichbar, nicht für Gutes noch
-Schlechtes. Wir stehen hoch, hoch über dem
-Irdischen — jeder für sich allein. Wir verkehren
-nicht miteinander, weil uns das zu langweilig
-ist. Keiner von uns hegt noch etwas, das
-ihm abhanden kommen könnte. Über Jammer
-oder Jubel sind wir gleich unermeßlich erhaben.
-Wir sind mit uns zufrieden und das ist alles!
-— Die Lebenden verachten wir unsagbar, kaum
-daß wir sie bemitleiden. Sie erheitern uns mit
-ihrem Getue, weil sie als Lebende tatsächlich
-nicht zu bemitleiden sind. Wir lächeln bei ihren
-Tragödien — jeder für sich — und stellen unsere
-Betrachtungen an. — Gib mir die Hand!<span class="pagenum"><a name="Seite_137" id="Seite_137">[137]</a></span>
-Wenn du mir die Hand gibst, fällst du um vor
-Lachen über dem Empfinden, mit dem du mir
-die Hand gibst....</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ekelt dich das nicht an?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Dazu stehen wir zu hoch. Wir lächeln! —
-An meinem Begräbnis war ich unter den Leidtragenden.
-Ich habe mich recht gut unterhalten.
-Das ist Erhabenheit, Melchior! Ich habe geheult
-wie keiner, und schlich zur Mauer, um mir vor
-Lachen den Bauch zu halten. Unsere unnahbare
-Erhabenheit ist tatsächlich der einzige Gesichtspunkt,
-unter dem der Quark sich verdauen läßt....
-Auch über mich will man gelacht haben, eh′ ich
-mich aufschwang!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>— Mich lüstet′s nicht, über mich zu lachen.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>... Die Lebenden sind als solche wahrhaftig
-nicht zu bemitleiden! — Ich gestehe, ich hätte es
-auch nie gedacht. Und jetzt ist es mir unfaßbar,
-wie man so naiv sein kann. Jetzt durchschaue
-ich den Trug so klar, daß auch nicht ein Wölkchen
-bleibt. — Wie magst du nur zaudern,
-Melchior! Gib mir die Hand! Im Halsumdrehen<span class="pagenum"><a name="Seite_138" id="Seite_138">[138]</a></span>
-stehst du himmelhoch über dir. — Dein
-Leben ist Unterlassungssünde....</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>— Könnt ihr vergessen?</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Wir können alles. Gib mir die Hand! Wir
-können die Jugend bedauern, wie sie ihre Bangigkeit
-für Idealismus hält, und das Alter, wie ihm
-vor stoischer Überlegenheit das Herz brechen will.
-Wir sehen den Kaiser vor Gassenhauern und den
-Lazzaroni vor der jüngsten Posaune beben. Wir
-ignorieren die Maske des Komödianten und sehen
-den Dichter im Dunkeln die Maske vornehmen.
-Wir erblicken den Zufriedenen in seiner Bettelhaftigkeit,
-im Mühseligen und Beladenen den
-Kapitalisten. Wir beobachten Verliebte und
-sehen sie voreinander erröten, ahnend, daß sie
-betrogene Betrüger sind. Eltern sehen wir Kinder
-in die Welt setzen, um ihnen zurufen zu können:
-Wie glücklich ihr seid, solche Eltern zu haben! —
-und sehen die Kinder hingehn und desgleichen tun.
-Wir können die Unschuld in ihren einsamen Liebesnöten,
-die Fünfgroschendirne über der Lektüre
-Schillers belauschen.... Gott und den Teufel
-sehen wir sich voreinander blamieren und hegen<span class="pagenum"><a name="Seite_139" id="Seite_139">[139]</a></span>
-in uns das durch nichts zu erschütternde Bewußtsein,
-daß beide betrunken sind.... Eine
-Ruhe, eine Zufriedenheit. Melchior —! Du
-brauchst mir nur den kleinen Finger zu reichen.
-— Schneeweiß kannst du werden, eh′ sich dir der
-Augenblick wieder so günstig zeigt!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>— Wenn ich einschlage, Moritz, so geschieht
-es aus Selbstverachtung. — Ich sehe mich geächtet.
-Was mir Mut verlieh, liegt im Grabe.
-Edler Regungen vermag ich mich nicht mehr für
-würdig zu halten — und erblicke nichts, nichts,
-das sich mir auf meinem Niedergang noch entgegenstellen
-sollte. — Ich bin mir die verabscheuungswürdigste
-Kreatur des Weltalls....</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Was zauderst du ...?</p>
-
-<p class="regie">(Ein vermummter Herr tritt auf)</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr <span class="regie">(zu Melchior)</span></p>
-
-<p>Du bebst ja vor Hunger. Du bist gar nicht
-befähigt, zu urteilen. — <span class="regie">(Zu Moritz)</span> Gehen Sie.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wer sind Sie?</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Das wird sich weisen. — <span class="regie">(Zu Moritz)</span> Verschwinden
-Sie! — Was haben Sie hier zu tun!
-— Warum haben Sie denn den Kopf nicht auf?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_140" id="Seite_140">[140]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich habe mich erschossen.</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Dann bleiben Sie doch, wo Sie hingehören.
-Dann sind Sie ja vorbei! Belästigen Sie uns
-hier nicht mit Ihrem Grabgestank. Unbegreiflich
-— sehen Sie doch nur Ihre Finger an. Pfui
-Teufel noch mal! Das zerbröckelt schon.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Schicken Sie mich bitte nicht fort....</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wer sind Sie, mein Herr??</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Schicken Sie mich nicht fort! Ich bitte Sie.
-Lassen Sie mich hier noch ein Weilchen teilnehmen;
-ich will Ihnen in nichts entgegensein. — — Es
-ist unten so schaurig.</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Warum prahlen Sie denn dann mit <em class="gesperrt">Erhabenheit</em>?!
-— Sie wissen doch, daß das Humbug
-ist — saure Trauben! Warum <em class="gesperrt">lügen</em> Sie
-geflissentlich, Sie — Hirngespinst! — — Wenn Ihnen
-eine so schätzenswerte Wohltat damit geschieht, so
-bleiben Sie meinetwegen. Aber hüten Sie sich
-vor Windbeuteleien, lieber Freund — und lassen
-Sie mir bitte Ihre Leichenhand aus dem Spiel!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_141" id="Seite_141">[141]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Sagen Sie mir endlich, wer Sie sind, oder nicht?!</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Nein. — Ich mache dir den Vorschlag, dich
-mir anzuvertrauen. Ich würde fürs erste für
-dein Fortkommen sorgen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Sie sind — mein Vater?!</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Würdest du deinen Herrn Vater nicht an der
-Stimme erkennen?</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Nein.</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>— Dein Herr Vater sucht Trost zur Stunde in
-den kräftigen Armen deiner Mutter. — Ich erschließe
-dir die Welt. Deine momentane Fassungslosigkeit
-entspringt deiner miserablen Lage. Mit
-einem warmen Abendessen im Leib spottest du
-ihrer.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior <span class="regie">(für sich)</span></p>
-
-<p>Es kann nur <em class="gesperrt">einer</em> der Teufel sein! — <span class="regie">(laut)</span>
-Nach dem, was ich verschuldet, kann mir ein
-warmes Abendessen meine Ruhe nicht wiedergeben!</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Es kommt auf das Abendessen an! — So viel
-kann ich dir sagen, daß die Kleine vorzüglich<span class="pagenum"><a name="Seite_142" id="Seite_142">[142]</a></span>
-geboren hätte. Sie war musterhaft gebaut. Sie ist
-lediglich den Abortivmitteln der Mutter Schmidtin
-erlegen. — — Ich führe dich unter Menschen.
-Ich gebe dir Gelegenheit, deinen Horizont in der
-fabelhaftesten Weise zu erweitern. Ich mache dich
-ausnahmslos mit allem bekannt, was die Welt
-Interessantes bietet.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wer sind Sie? Wer sind Sie? — Ich kann
-mich einem Menschen nicht anvertrauen, den ich
-nicht kenne.</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Du lernst mich nicht kennen, ohne dich mir
-anzuvertrauen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Glauben Sie?</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Tatsache! — Übrigens bleibt dir ja keine Wahl.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Ich kann jeden Moment meinem Freunde
-hier die Hand reichen.</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Dein Freund ist ein Scharlatan. Es lächelt
-keiner, der noch einen Pfennig in bar besitzt.
-Der erhabene Humorist ist das erbärmlichste, bedauernswerteste
-Geschöpf der Schöpfung!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_143" id="Seite_143">[143]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Sei der Humorist, was er sei; Sie sagen mir, wer
-Sie sind, oder ich reiche dem Humoristen die Hand!</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>— Nun?!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Er hat recht, Melchior. Ich habe bramarbasiert.
-Laß dich von ihm traktieren und nütz′
-ihn aus. Mag er noch so vermummt sein —
-er ist es wenigstens!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Glauben Sie an Gott?</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Je nach Umständen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wollen Sie mir sagen, wer das Pulver erfunden
-hat?</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Berthold Schwarz — alias Konstantin Anklitzen
-— um 1330 Franziskanermönch zu Freiburg
-im Breisgau.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Was gäbe ich darum, wenn er es hätte
-bleiben lassen!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_144" id="Seite_144">[144]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Sie würden sich eben erhängt haben!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Wie denken Sie über Moral?</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Kerl — bin ich dein Schulknabe?!</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Weiß ich, was Sie sind!!</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Streitet nicht! — Bitte, streitet nicht. Was
-kommt dabei heraus! — Wozu sitzen wir, zwei
-Lebendige und ein Toter, nachts um zwei Uhr
-hier auf dem Kirchhof beisammen, wenn wir
-streiten wollen wie Saufbrüder! — Es soll mir
-ein Vergnügen sein, der Verhandlung mit beiwohnen
-zu dürfen. — Wenn ihr streiten wollt,
-nehme ich meinen Kopf unter den Arm und
-gehe.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Du bist immer noch derselbe Angstmeier!</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Das Gespenst hat nicht Unrecht. Man soll
-seine Würde nicht außer Acht lassen. — Unter
-Moral verstehe ich das reelle Produkt zweier
-imaginärer Größen. Die imaginären Größen<span class="pagenum"><a name="Seite_145" id="Seite_145">[145]</a></span>
-sind <em class="gesperrt">Sollen</em> und <em class="gesperrt">Wollen</em>. Das Produkt heißt
-Moral und läßt sich in seiner Realität nicht
-leugnen.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Hätten Sie mir das doch vorher gesagt! — Meine
-Moral hat mich in den Tod gejagt. Um meiner
-lieben Eltern willen griff ich zum Mordgewehr.
-„Ehre Vater und Mutter, auf daß du lange
-lebest.“ An mir hat sich die Schrift phänomenal
-blamiert.</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Geben Sie sich keinen Illusionen hin, lieber
-Freund! Ihre lieben Eltern wären so wenig
-daran gestorben wie Sie. Rigoros beurteilt
-würden sie ja lediglich aus gesundheitlichem Bedürfnis
-getobt und gewettert haben.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Das mag soweit ganz richtig sein. — Ich
-kann Ihnen aber mit Bestimmtheit sagen, mein
-Herr, daß, wenn ich Moritz vorhin ohne weiteres
-die Hand gereicht hätte, einzig und allein meine
-Moral die Schuld trüge.</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Dafür bist du eben nicht Moritz!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_146" id="Seite_146">[146]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich glaube doch nicht, daß der Unterschied so
-wesentlich ist — zum mindesten nicht so zwingend,
-daß Sie nicht auch mir zufällig hätten begegnen
-dürfen, verehrter <em class="gesperrt">Unbekannter</em>, als ich damals,
-das Pistol in der Tasche, durch die Erlenpflanzungen
-trabte.</p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Erinnern Sie sich meiner denn nicht? Sie
-standen doch wahrlich auch im letzten Augenblick
-noch zwischen <em class="gesperrt">Tod</em> und <em class="gesperrt">Leben</em>. — Übrigens ist
-hier meines Erachtens doch wohl nicht ganz der Ort,
-eine so tiefgreifende Debatte in die Länge zu ziehen.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Gewiß, es wird kühl, meine Herren! — Man hat
-mir zwar meinen Sonntagsanzug angezogen, aber
-ich trage weder Hemd noch Unterhosen.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Leb wohl, lieber Moritz. Wo dieser Mensch
-mich hinführt, weiß ich nicht. Aber er ist ein
-Mensch ...</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Laß mich′s nicht entgelten, Melchior, daß ich
-dich umzubringen suchte! Es war alte Anhänglichkeit.
-— Zeitlebens wollte ich nur klagen und
-jammern dürfen, wenn ich dich nun noch einmal
-hinausbegleiten könnte!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_147" id="Seite_147">[147]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Schließlich hat Jeder sein Teil — <em class="gesperrt">Sie</em> das
-beruhigende Bewußtsein, <em class="gesperrt">nichts</em> zu haben — <em class="gesperrt">du</em>
-den enervirenden Zweifel an <em class="gesperrt">allem</em>. — Leben
-Sie wohl.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>Leb wohl, Moritz! Nimm meinen herzlichen
-Dank dafür, daß du mir noch erschienen. Wie manchen
-frohen ungetrübten Tag wir nicht miteinander
-verlebt haben in den vierzehn Jahren! Ich
-verspreche dir, Moritz, mag nun werden was
-will, mag ich in den kommenden Jahren
-zehnmal ein Anderer werden, mag es aufwärts
-oder abwärts mit mir gehn, dich werde ich nie
-vergessen ...</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Dank, dank, Geliebter.</p>
-
-<p class="sprecher">Melchior</p>
-
-<p>... und wenn ich einmal ein alter Mann in
-grauen Haaren bin, dann stehst gerade du mir
-vielleicht wieder näher als alle Mitlebenden.</p>
-
-<p class="sprecher">Moritz</p>
-
-<p>Ich danke dir. — Glück auf den Weg, meine
-Herren! — Lassen Sie sich nicht länger aufhalten.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_148" id="Seite_148">[148]</a></span></p>
-
-<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p>
-
-<p>Komm, Kind! — <span class="regie">(Er legt seinen Arm in denjenigen
-Melchiors und entfernt sich mit ihm über die
-Gräber hin.)</span></p>
-
-<p class="sprecher">Moritz <span class="regie">(allein)</span></p>
-
-<p>— Da sitze ich nun mit meinem Kopf im
-Arm. — — Der Mond verhüllt sein Gesicht,
-entschleiert sich wieder und sieht um kein Haar
-gescheiter aus. — — So kehre ich denn zu
-meinem Plätzchen zurück, richte mein Kreuz auf,
-das mir der Tollkopf so rücksichtslos niedergestampft,
-und wenn alles in Ordnung, leg′ ich
-mich wieder auf den Rücken, wärme mich an
-der Verwesung und lächle ...</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_150" id="Seite_150">[150]</a></span></p>
-
-
-
-<p class="center p6" style="page-break-before: always">Albert Langen Verlag für Litteratur u. Kunst München</p>
-
-<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p>
-<p class="werke-titel">Der Liebestrank</p>
-<p class="werke-untertitel">Schwank in drei Aufzügen</p>
-<p class="center">Geheftet 2 Mark</p>
-
-<p style="text-indent: 0; font-weight: bold">Die Nation:</p>
-
-<p>Der Autor gehört zu den außer der Reihe stehenden,
-lebhaften und kraftgenialischen Geistern, deren unsere
-Literatur manche hat, bei keinem kunstverständigen Beurteiler
-wird er darum als Poseur, bei niemanden seine
-Art als gemacht, manieriert und eingelernt erscheinen.
-Vielmehr ist er voll einer absonderlichen, wunderlichen
-Eigenart, eine <em class="gesperrt">Natur</em>, wenn man dies Wort auch einmal
-auf einen Sprung, eine Laune, eine Bizarrerie anwenden
-darf. Für die Kunst ist er voll Bedeutung, Anregung
-und Reiz ...</p>
-
-
-<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p>
-<p class="werke-titel">Die junge Welt</p>
-<p class="werke-untertitel">Komödie in drei Aufzügen</p>
-<p class="center">Geheftet 2 Mark</p>
-
-<p style="text-indent: 0; font-weight: bold">Die Gesellschaft:</p>
-
-<p>„<em class="gesperrt">Die junge Welt</em>“ ist das bühnengerechteste von
-Wedekinds Dramen. Junge Mädchen geben sich in der
-Pension das Versprechen des Cölibats; natürlich hält es
-keine. Die Komödie erzählt das mit einem fast liebenswürdigen
-Humor und mit all der Menschenkenntnis und
-treffsicheren Charakterkunst dieses eigenartigsten unter
-den Dichtern von heute. Erzählen läßt sich das nicht,
-auch nicht beschreiben. Aber es ist sehr lustig. Es ist
-ein wildes Durcheinander von übermütigen Einfällen,
-tollen Gliederverrenkungen in der Charakteristik, Karikaturen,
-die wie Porträts aussehen — kurz, ein Lachkabinett,
-aber ganz neuer Art.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_151" id="Seite_151">[151]</a></span></p>
-
-<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p>
-<p class="werke-titel">Marquis von Keith</p>
-<p class="werke-untertitel"><b>(Münchener Szenen)</b></p>
-<p class="werke-untertitel">Schauspiel in fünf Aufzügen</p>
-<p class="center">Geheftet 2 Mark 50 Pf.</p>
-<p class="center">Elegant gebunden 3 Mark 50 Pf.</p>
-
-<p style="text-indent: 0; font-weight: bold">Die Nation:</p>
-
-<p>Wedekind hat die irdische Unbekümmertheit, das
-Freisein von zeitlicher Satzung. Er steht außerhalb der
-Gesellschaft, fast außerhalb der Welt. Ich sagte das
-hier vor einem Jahr und muß es verstärken. Er ist
-mit seinen Lebensinhalten einer der tiefsten Humoristen,
-die sich heut irgendwo betätigen.</p>
-
-<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p>
-<p class="werke-titel">Der Kammersänger</p>
-<p class="werke-untertitel">Drei Szenen</p>
-<p class="center"><b>Fünftes Tausend</b></p>
-<p class="center">Geheftet 1 Mark</p>
-<p class="center">Elegant gebunden 2 Mark</p>
-
-<p style="text-indent: 0; font-weight: bold">Brünner Sonntagszeitung:</p>
-
-<p>Von groteskem, überlebensgroßem Humor und
-geißelnder Satire und Ironie sind die unter dem Titel
-„<em class="gesperrt">Der Kammersänger</em>“ (A. Langen) vereinigten Szenen
-von Frank Wedekind erfüllt. Gut dargestellt müßten
-diese ohne jedwede Komposition aneinander gereihten
-Szenen von mächtiger Wirkung sein. Schon in der
-Lektüre wirkt das Werk ganz eigentümlich. Man
-empfindet ähnliches wie beim Betrachten der Zeichnungen
-des dämonischen Th. Th. Heine.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_152" id="Seite_152">[152]</a></span></p>
-
-<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p>
-<p class="werke-titel">Feuerwerk</p>
-<p class="werke-untertitel">Erzählungen</p>
-<p class="center"><b>Drittes Tausend</b></p>
-<p class="center">Preis geheftet 3 Mark</p>
-<p class="center">Elegant gebunden 4 Mark</p>
-
-<p style="text-indent: 0; font-weight: bold">Pfälzische Presse:</p>
-
-<p>... Dabei ist Wedekind im Unterschied von vielen
-jener Dekadenten frisch, nicht ohne Humor, und von
-strotzender Gesundheit in der Art sich zu geben. Meisterstücke
-in ihrer Art sind einige der kleinen Novellen, wie
-„Der Brand von Egliswyl“, „Rabbi Esra“, „Der greise
-Freier“ u. a.</p>
-
-<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p>
-<p class="werke-titel">So ist das Leben</p>
-<p class="werke-untertitel">Schauspiel in fünf Akten</p>
-<p class="center">Preis geheftet 2 Mark</p>
-<p class="center">Elegant gebunden 3 Mark</p>
-
-<p>„<cite class="gesperrt">So ist das Leben</cite>“ behandelt die Schicksale eines
-entthronten Königs, der in die unangenehme Lage kommt,
-sich vor einem bürgerlichen Gericht wegen <em class="gesperrt">Majestätsbeleidigung</em>
-verantworten zu müssen. <b>Die aktuelle
-Frage der Majestätsbeleidigungsprozesse</b> erfährt
-auf diese Weise in dem Drama eine <em class="gesperrt">verblüffend
-vielseitige Beleuchtung</em>.</p>
-
-<p class="center p6"><small>Druck von Hesse & Becker in Leipzig</small></p>
-
-
-
-
-
-
-
-
-<pre>
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Frühlings Erwachen, by Frank Wedekind
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FRÜHLINGS ERWACHEN ***
-
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-Foundation
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-
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-works.
-
-Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
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-
-Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
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-
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-
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-Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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-</html>
+<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.0 Strict//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml1/DTD/xhtml1-strict.dtd"> +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml" xml:lang="de" lang="de"> + <head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html;charset=UTF-8" /> + <meta http-equiv="Content-Style-Type" content="text/css" /> + <title> + The Project Gutenberg eBook of Frühlings Erwachen, by Frank Wedekind. + </title> + <link rel="coverpage" href="images/cover.jpg" /> + <style type="text/css"> + +body { + margin-left: 10%; + margin-right: 10%; + max-width: 35em; +} + +h1 { + text-align: center; +} + +h2 { + text-align: center; + margin-top: 3em; +} + +h3 { + text-align: center; + margin-top: 2em; +} + +p { + text-indent: 1.5em; + margin-top: 0; + text-align: justify; + margin-bottom: 0; +} + +.sprecher { + text-indent: 0; + text-align: center; + font-weight: bold; + margin-top: 1em; + margin-bottom: .25em; + page-break-after: avoid; +} + +.regie { + text-indent: 0; + text-align: center; + font-weight: normal; + margin-top: .25em; + margin-bottom: .25em; + font-size: smaller; + page-break-after: avoid; +} + +.infoseite { + page-break-before: always; + margin-top: 4em; + margin-bottom: 4em; +} + +.werke-autor { + text-align: center; + text-indent: 0; + font-size: x-large; + font-weight: bold; + margin-top: 1em; +} + +.werke-titel { + text-align: center; + text-indent: 0; + font-size: xx-large; + font-weight: bold; +} + +.werke-untertitel { + text-align: center; + text-indent: 0; + font-size: large; + margin-top: 0.2em; + margin-bottom: 0.2em; +} + +.p2 {margin-top: 2em;} +.p6 {margin-top: 6em;} + +table { + margin-left: auto; + margin-right: auto; + margin-top: 1em; + margin-bottom: 1em; +} + +.tdr { + text-align: right; +} + +.pagenum { + position: absolute; + left: 92%; + font-size: smaller; + text-align: right; +} + +.center { + text-align: center; + text-indent: 0; +} + +.right { + text-align: right; +} + +.antiqua { +} + +.gesperrt { + letter-spacing: 0.2em; + margin-right: -0.1em; +} + +em.gesperrt { + font-style: normal; +} + +i.gesperrt { + font-style: normal; +} + +cite.gesperrt { + font-style: normal; +} + +.caption { + font-size: x-large; + font-weight: bold; + text-align: center; + text-indent: 0; + margin-top: 1em; + margin-bottom: 1em; +} + +.figcenter { + margin: auto; + text-align: center; +} + +@media handheld { + + gesperrt { + letter-spacing: 0; + margin-right: 0; + font-style: italic; + } + + em.gesperrt { + letter-spacing: 0; + margin-right: 0; + font-style: italic; + } + + i.gesperrt { + letter-spacing: 0; + margin-right: 0; + font-style: italic; + } + + cite.gesperrt { + letter-spacing: 0; + margin-right: 0; + font-style: italic; + } +} + </style> + </head> +<body> +<div>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 45091 ***</div> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_1" id="Seite_1">[1]</a></span></p> + +<h1>Frühlings Erwachen</h1> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_2" id="Seite_2">[2]</a></span></p> + +<div class="infoseite"> +<p class="center p2"> +Übersetzungs- und Aufführungsrecht vorbehalten. Nachdruck verboten</p> +<p class="center p2">Den Bühnen und Vereinen gegenüber Manuskript</p> +<p class="center p2">Das Aufführungsrecht ist ausschließlich zu erwerben +durch <i class="gesperrt">Albert Langen</i>, Verlag und Bühnenvertrieb, +München</p> +</div> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_3" id="Seite_3">[3]</a></span></p> + +<div class="infoseite"> +<p class="caption"><small>Frank Wedekind</small></p> +<p class="caption">Frühlings Erwachen</p> +<p class="center">Eine Kindertragödie</p> +<p class="center p2">Elfte bis fünfzehnte Auflage</p> + +<div class="figcenter"> + <a name="verlag" id="verlag"><img src="images/verlag.jpg" width="250" height="227" alt="Verlagslogo" /></a> +</div> + +<p class="center">Albert Langen<br /> +Verlag für Litteratur und Kunst<br /> +München 1907</p> +</div> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_4" id="Seite_4">[4]</a></span></p> + +<div class="infoseite"> +<p>Von <i class="gesperrt">Frank Wedekind</i> erschienen im Verlage +von Albert Langen:</p> + +<table summary="Werke von Frank Wedekind"> +<tbody> + +<tr><td><i class="gesperrt">Erdgeist</i> Tragödie</td><td class="tdr">3. Auflage</td></tr> +<tr><td><i class="gesperrt">Die Fürstin Russalka</i> Novellen — Gedichte — Theater</td><td class="tdr">Vergriffen</td></tr> +<tr><td><i class="gesperrt">Der Kammersänger</i> Drei Szenen</td><td class="tdr">5. Auflage</td></tr> +<tr><td><i class="gesperrt">Der Liebestrank</i> Schwank</td><td class="tdr"></td></tr> +<tr><td><i class="gesperrt">Die junge Welt</i> Komödie</td><td class="tdr"></td></tr> +<tr><td><i class="gesperrt">Marquis von Keith</i> Schauspiel</td><td class="tdr"></td></tr> +<tr><td><i class="gesperrt">So ist das Leben</i> Schauspiel</td><td class="tdr"></td></tr> +<tr><td><i class="gesperrt">Frühlings Erwachen</i> Eine Kindertragödie</td><td class="tdr">15. Auflage</td></tr> +<tr><td><i class="gesperrt">Mine-Haha</i> oder über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen</td><td class="tdr">5. Tausend</td></tr> +<tr><td><i class="gesperrt">Die vier Jahreszeiten</i> Gedichte</td><td class="tdr">2. Tausend</td></tr> +<tr><td><i class="gesperrt">Feuerwerk</i> Erzählungen</td><td class="tdr">3. Tausend</td></tr> +<tr><td><i class="gesperrt">Totentanz</i> Drei Szenen</td><td class="tdr">4. Tausend</td></tr> +</tbody> +</table> + +</div> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_5" id="Seite_5">[5]</a></span></p> + +<div class="infoseite"> +<p class="caption">Dem vermummten Herrn</p> +<p class="right" style="font-size: large">der Verfasser</p> +</div> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_7" id="Seite_7">[7]</a></span></p> + +<h2><a name="Erster_Akt" id="Erster_Akt"></a>Erster Akt</h2> +<h3>Erste Szene</h3> + +<p class="regie">Wohnzimmer</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Warum hast du mir das Kleid so lang gemacht, +Mutter?</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Du wirst vierzehn Jahr heute!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Hätt′ ich gewußt, daß du mir das Kleid so +lang machen werdest, ich wäre lieber nicht vierzehn +geworden.</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Das Kleid ist nicht zu lang, Wendla. Was +willst du denn! Kann ich dafür, daß mein Kind +mit jedem Frühjahr wieder zwei Zoll größer ist. +Du darfst doch als ausgewachsenes Mädchen +nicht in Prinzeßkleidchen einhergehen.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Jedenfalls steht mir mein Prinzeßkleidchen +besser als diese Nachtschlumpe. — Laß mich′s +noch einmal tragen, Mutter! Nur noch den<span class="pagenum"><a name="Seite_8" id="Seite_8">[8]</a></span> +Sommer lang. Ob ich nun vierzehn zähle oder +fünfzehn, dies Bußgewand wird mir immer noch +recht sein. — Heben wir′s auf bis zu meinem +nächsten Geburtstag; jetzt würd′ ich doch nur die +Litze heruntertreten.</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich +würde dich ja gerne so behalten, Kind, wie du +gerade bist. Andere Mädchen sind stakig und +plump in deinem Alter. Du bist das Gegenteil. +— Wer weiß, wie du sein wirst, wenn sich die +andern entwickelt haben.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Wer weiß — vielleicht werde ich nicht +mehr sein.</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Kind, Kind, wie kommst du auf die Gedanken!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Nicht, liebe Mutter; nicht traurig sein!</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann <span class="regie">(sie küssend)</span></p> + +<p>Mein einziges Herzblatt!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Sie kommen mir so des abends, wenn ich +nicht einschlafe. Mir ist gar nicht traurig dabei, und +ich weiß, daß ich dann um so besser schlafe. — +Ist es sündhaft, Mutter, über derlei zu sinnen?</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_9" id="Seite_9">[9]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Geh′ denn und häng′ das Bußgewand in +den Schrank! Zieh′ in Gottes Namen dein +Prinzeßkleidchen wieder an! — Ich werde dir +gelegentlich eine Handbreit Volants unten ansetzen.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p class="regie">(das Kleid in Schrank hängend)</p> + +<p>Nein, da möcht′ ich schon lieber gleich vollends zwanzig +sein ...!</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Wenn du nur nicht zu kalt hast! — Das +Kleidchen war dir ja seinerzeit reichlich lang; aber ...</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Jetzt, wo der Sommer kommt? — O Mutter, +in den Kniekehlen bekommt man auch als Kind +keine Diphtheritis! Wer wird so kleinmütig sein. +In meinen Jahren friert man noch nicht — am +wenigsten an die Beine. Wär′s etwa besser, +wenn ich zu heiß hätte, Mutter? — Dank′ es +dem lieben Gott, wenn sich dein Herzblatt nicht +eines morgens die Ärmel wegstutzt und dir so +zwischen Licht abends ohne Schuhe und Strümpfe +entgegentritt! — Wenn ich mein Bußgewand +trage, kleide ich mich darunter wie eine Elfenkönigin ... +Nicht schelten, Mütterchen! Es +sieht′s dann ja niemand mehr.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_10" id="Seite_10">[10]</a></span></p> + + +<h3>Zweite Szene</h3> + +<p class="regie"><i class="gesperrt">Sonntag abend</i></p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Das ist mir zu langweilig. Ich mache nicht +mehr mit.</p> + +<p class="sprecher">Otto</p> + +<p>Dann können wir andern nur auch aufhören! +— Hast du die Arbeiten, Melchior?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Spielt ihr nur weiter!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Wohin gehst du?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Spazieren.</p> + +<p class="sprecher">Georg</p> + +<p>Es wird ja dunkel!</p> + +<p class="sprecher">Robert</p> + +<p>Hast du die Arbeiten schon?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Warum soll ich denn nicht im Dunkeln +spazieren gehn?</p> + +<p class="sprecher">Ernst</p> + +<p>Zentralamerika! — Ludwig der Fünfzehnte! — +Sechzig Verse Homer! — Sieben Gleichungen!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Verdammte Arbeiten!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_11" id="Seite_11">[11]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Georg</p> + +<p>Wenn nur wenigstens der lateinische Aufsatz +nicht auf morgen wäre!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>An nichts kann man denken, ohne daß einem +Arbeiten dazwischen kommen!</p> + +<p class="sprecher">Otto</p> + +<p>Ich gehe nach Hause.</p> + +<p class="sprecher">Georg</p> + +<p>Ich auch, Arbeiten machen.</p> + +<p class="sprecher">Ernst</p> + +<p>Ich auch, ich auch.</p> + +<p class="sprecher">Robert</p> + +<p>Gute Nacht, Melchior.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Schlaft wohl!</p> + +<p class="regie">(Alle entfernen sich bis auf Moritz und Melchior.)</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Möchte doch wissen, wozu wir eigentlich auf +der Welt sind!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Lieber wollt′ ich ein Droschkengaul sein um +der Schule willen! — Wozu gehen wir in die +Schule? — Wir gehen in die Schule, damit man +uns examinieren kann! — Und wozu examiniert +man uns? — Damit wir durchfallen. — Sieben<span class="pagenum"><a name="Seite_12" id="Seite_12">[12]</a></span> +müssen ja durchfallen, schon weil das Klassenzimmer +oben nur sechzig faßt. — Mir ist so +eigentümlich seit Weihnachten ... hol′ mich der +Teufel, wäre Papa nicht, heut′ noch schnürt′ ich +mein Bündel und ginge nach Altona!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Reden wir von etwas anderem. —</p> + +<p class="regie">(Sie gehen spazieren.)</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Siehst du die schwarze Katze dort mit dem +emporgereckten Schweif?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Glaubst du an Vorbedeutungen?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Ich weiß nicht recht. — — Sie kam von +drüben her. Es hat nichts zu sagen.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich glaube, das ist eine Charybdis, in die +jeder stürzt, der sich aus der Skylla religiösen +Irrwahns emporgerungen. — — Laß uns hier +unter der Buche Platz nehmen. Der Tauwind +fegt über die Berge. Jetzt möchte ich droben +im Wald eine junge Dryade sein, die sich die +ganze lange Nacht in den höchsten Wipfeln +wiegen und schaukeln läßt....</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_13" id="Seite_13">[13]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Knöpf′ dir die Weste auf, Melchior!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ha — wie das einem die Kleider bläht!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Es wird weiß Gott so stockfinster, daß man +die Hand nicht vor den Augen sieht. Wo bist +du eigentlich? — — Glaubst du nicht auch, +Melchior, daß das Schamgefühl im Menschen +nur ein Produkt seiner Erziehung ist?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Darüber habe ich erst vorgestern noch nachgedacht. +Es scheint mir immerhin tief eingewurzelt +in der menschlichen Natur. Denke dir, +du solltest dich vollständig entkleiden vor deinem +besten Freund. Du wirst es nicht tun, wenn er +es nicht zugleich auch tut. — Es ist eben auch +mehr oder weniger Modesache.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Ich habe mir schon gedacht, wenn ich Kinder +habe, Knaben und Mädchen, so lasse ich sie von +früh auf im nämlichen Gemach, wenn möglich +auf ein und demselben Lager, zusammenschlafen, +lasse sie morgens und abends beim An- und +Auskleiden einander behilflich sein und in der +heißen Jahreszeit, die Knaben sowohl wie die<span class="pagenum"><a name="Seite_14" id="Seite_14">[14]</a></span> +Mädchen, tagsüber nichts als eine kurze, mit +einem Lederriemen gegürtete Tunika aus weißem +Wollstoff tragen. — Mir ist, sie müßten, wenn +sie so heranwachsen, später ruhiger sein, als wir +es in der Regel sind.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Das glaube ich entschieden, Moritz! — Die +Frage ist nur, wenn die Mädchen Kinder bekommen, +was dann?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Wie so Kinder bekommen?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich glaube in dieser Hinsicht nämlich an einen +gewissen Instinkt. Ich glaube, wenn man einen +Kater zum Beispiel mit einer Katze von Jugend +auf zusammensperrt und beide von jedem Verkehr +mit der Außenwelt fernhält, d. h. sie ganz nur +ihren eigenen Trieben überläßt — daß die Katze +früher oder später doch einmal trächtig wird, +obgleich sie sowohl wie der Kater niemand hatten, +dessen Beispiel ihnen hätte die Augen öffnen können.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Bei Tieren muß sich das ja schließlich von +selbst ergeben.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Bei Menschen glaube ich erst recht! Ich<span class="pagenum"><a name="Seite_15" id="Seite_15">[15]</a></span> +bitte dich, Moritz, wenn deine Knaben mit den +Mädchen auf ein und demselben Lager schlafen +und es kommen ihnen nun unversehens die ersten +männlichen Regungen — ich möchte mit jedermann +eine Wette eingehen....</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Darin magst du ja recht haben. — Aber +immerhin ...</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Und bei deinen Mädchen wäre es im entsprechenden +Alter vollkommen das nämliche! Nicht +daß das Mädchen gerade ... man kann das ja +freilich so genau nicht beurteilen ... jedenfalls +wäre vorauszusetzen ...... und die Neugierde +würde das Ihrige zu tun auch nicht verabsäumen!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Eine Frage beiläufig —</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Nun?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Aber du antwortest?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Natürlich!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Wahr?!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Meine Hand darauf. — — Nun, Moritz?</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_16" id="Seite_16">[16]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Hast du den Aufsatz schon??</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>So sprich doch frisch von der Leber weg! — +Hier hört und sieht uns ja niemand.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Selbstverständlich müßten meine Kinder nämlich +tagsüber arbeiten, in Hof und Garten, oder +sich durch Spiele zerstreuen, die mit körperlicher +Anstrengung verbunden sind. Sie müßten reiten, +turnen, klettern und vor allen Dingen nachts +nicht so weich schlafen wie wir. Wir sind schrecklich +verweichlicht. — Ich glaube, man träumt +gar nicht, wenn man hart schläft.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich schlafe von jetzt bis nach der Weinlese +überhaupt nur in meiner Hängematte. Ich habe +mein Bett hinter den Ofen gestellt. Es ist zum +Zusammenklappen. — Vergangenen Winter träumte +mir einmal, ich hätte unsern Lolo so lange gepeitscht, +bis er kein Glied mehr rührte. Das +war das Grauenhafteste, was ich je geträumt +habe. — Was siehst du mich so sonderbar an?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Hast du sie schon empfunden?</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_17" id="Seite_17">[17]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Was?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Wie sagtest du?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Männliche Regungen?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>M—hm.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>— Allerdings!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Ich auch. — — — — — — — +— — — — — — — — — —</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich kenne das nämlich schon lange! — schon +bald ein Jahr.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Ich war wie vom Blitz gerührt.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Du hattest geträumt?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Aber nur ganz kurz ....... von Beinen +im himmelblauem Trikot, die über das Katheder +steigen — um aufrichtig zu sein, ich dachte, sie +wollten hinüber. — Ich habe sie nur flüchtig +gesehen.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Georg Zirschnitz träumte von seiner <em class="gesperrt">Mutter</em>.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_18" id="Seite_18">[18]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Hat er dir das erzählt?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Draußen am Galgensteg!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Wenn du wüßtest, was ich ausgestanden seit +jener Nacht!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Gewissensbisse?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Gewissensbisse?? — — — <em class="gesperrt">Todesangst</em>!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Herrgott ...</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Ich hielt mich für unheilbar. Ich glaubte, +ich litte an einem inneren Schaden. — Schließlich +wurde ich nur dadurch wieder ruhiger, daß ich +meine Lebenserinnerungen aufzuzeichnen begann. +Ja ja, lieber Melchior, die letzten drei Wochen +waren ein Gethsemane für mich.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich war seinerzeit mehr oder weniger darauf +gefaßt gewesen. Ich schämte mich ein wenig. — +Das war aber auch alles.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Und dabei bist du noch fast um ein ganzes +Jahr jünger als ich!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_19" id="Seite_19">[19]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Darüber, Moritz, würd′ ich mir keine Gedanken +machen. All′ meinen Erfahrungen nach +besteht für das erste Auftauchen dieser Phantome +keine bestimmte Altersstufe. Kennst du den großen +Lämmermeier mit dem strohgelben Haar und der +Adlernase? Drei Jahre ist der älter als ich. +Hänschen Rilow sagt, der träume noch bis heute +von nichts als Sandtorten und Aprikosengelee.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Ich bitte dich, wie kann Hänschen Rilow +darüber urteilen!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Er hat ihn gefragt.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Er hat ihn gefragt? — Ich hätte mich nicht +getraut, jemanden zu fragen.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Du hast mich doch auch gefragt.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Weiß Gott ja! — Möglicherweise hatte +Hänschen auch schon sein Testament gemacht. — +Wahrlich ein sonderbares Spiel, das man mit +uns treibt. Und dafür sollen wir uns dankbar +erweisen! Ich erinnere mich nicht, je eine Sehnsucht +nach dieser Art Aufregungen verspürt zu<span class="pagenum"><a name="Seite_20" id="Seite_20">[20]</a></span> +haben. Warum hat man mich nicht ruhig schlafen +lassen, bis alles wieder still gewesen wäre. Meine +lieben Eltern hätten hundert bessere Kinder haben +können. So bin ich nun hergekommen, ich weiß +nicht wie, und soll mich dafür verantworten, daß +ich nicht weggeblieben bin. — Hast du nicht auch +schon darüber nachgedacht, Melchior, auf welche +Art und Weise wir eigentlich in diesen Strudel +hineingeraten?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Du weißt das also noch nicht, Moritz?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Wie sollt′ ich es wissen? — Ich sehe, wie +die Hühner Eier legen, und höre, daß mich Mama +unter dem Herzen getragen haben will. Aber +genügt denn das? — Ich erinnere mich auch, +als fünfjähriges Kind schon befangen worden zu +sein, wenn einer die dekolletierte Coeurdame aufschlug. +Dieses Gefühl hat sich verloren. Indessen +kann ich heute kaum mehr mit irgend +einem Mädchen sprechen, ohne etwas Verabscheuenswürdiges +dabei zu denken, und — ich +schwöre dir, Melchior — ich weiß nicht <em class="gesperrt">was</em>.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich sage dir alles. — Ich habe es teils aus +Büchern, teils aus Illustrationen, teils aus Beobachtungen<span class="pagenum"><a name="Seite_21" id="Seite_21">[21]</a></span> +in der Natur. Du wirst überrascht +sein; ich wurde seinerzeit Atheist. Ich habe es +auch Georg Zirschnitz gesagt! Georg Zirschnitz +wollte es Hänschen Rilow sagen, aber Hänschen +Rilow hatte als Kind schon alles von seiner +Gouvernante erfahren.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Ich habe den <em class="gesperrt">Kleinen Meyer</em> von A bis +Z durchgenommen. Worte — nichts als Worte +und Worte! Nicht eine einzige schlichte Erklärung. +O dieses Schamgefühl! — Was soll mir ein +Konversationslexikon, das auf die nächstliegende +Lebensfrage nicht antwortet.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Hast du schon einmal zwei Hunde über die +Straße laufen sehen?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Nein! — — Sag mir heute lieber noch nichts, +Melchior. Ich habe noch Mittelamerika und +Ludwig den Fünfzehnten vor mir. Dazu die +sechzig Verse Homer, die sieben Gleichungen, der +lateinische Aufsatz — ich würde morgen wieder +überall abblitzen. Um mit Erfolg büffeln zu +können, muß ich stumpfsinnig wie ein Ochse sein.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Komm doch mit auf mein Zimmer. In<span class="pagenum"><a name="Seite_22" id="Seite_22">[22]</a></span> +dreiviertel Stunden habe ich den Homer, die +Gleichungen und <em class="gesperrt">zwei</em> Aufsätze. Ich korrigiere +dir einige harmlose Schnitzer hinein, so ist die +Sache im Blei. Mama braut uns wieder eine +Limonade, und wir plaudern gemütlich über die +Fortpflanzung.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Ich kann nicht. — Ich kann nicht gemütlich +über die Fortpflanzung plaudern! Wenn du mir +einen Gefallen tun willst, dann gib mir deine +Unterweisungen schriftlich. Schreib mir auf, was +du weißt. Schreib es möglichst kurz und klar +und steck es mir morgen während der Turnstunde +zwischen die Bücher. Ich werde es nach Hause +tragen, ohne zu wissen, daß ich es habe. Ich +werde es unverhofft einmal wiederfinden. Ich +werde nicht umhin können, es müden Auges zu +durchfliegen ... falls es unumgänglich notwendig +ist, magst du ja auch einzelne Randzeichnungen +anbringen.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Du bist wie ein Mädchen. — Übrigens wie +du willst! Es ist mir das eine ganz interessante +Arbeit. — — Eine Frage, Moritz.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Hm?</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_23" id="Seite_23">[23]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>— Hast du schon einmal ein Mädchen gesehen?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Ja!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Aber ganz?!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p><em class="gesperrt">Vollständig</em>!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich nämlich auch! — Dann werden keine +Illustrationen nötig sein.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Während des Schützenfestes, in Leilichs anatomischem +Museum! Wenn es aufgekommen +wäre, hätte man mich aus der Schule gejagt. +— Schön wie der lichte Tag, und — o so +naturgetreu!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich war letzten Sommer mit Mama in Frankfurt +— — Du willst schon gehen, Moritz?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Arbeiten machen. — Gute Nacht.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Auf Wiedersehen.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_24" id="Seite_24">[24]</a></span></p> + + +<h3>Dritte Szene</h3> + +<p class="regie"><i class="gesperrt">Thea</i>, <i class="gesperrt">Wendla</i> und <i class="gesperrt">Martha</i> kommen Arm in Arm +die <i class="gesperrt">Straße</i> herauf</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Wie einem das Wasser ins Schuhwerk dringt!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Wie einem der Wind um die Wangen saust!</p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>Wie einem das Herz hämmert!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Geh′n wir zur Brücke hinaus! Ilse sagte +der Fluß führe Sträucher und Bäume. Die +Jungens haben ein Floß auf dem Wasser. Melchi +Gabor soll gestern abend beinah ertrunken sein.</p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>O der kann schwimmen!</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Das will ich meinen, Kind!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Wenn er nicht hätte schwimmen können, wäre +er wohl sicher ertrunken!</p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>Dein Zopf geht auf, Martha; dein Zopf +geht auf!</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Puh — laß ihn aufgehn! Er ärgert mich<span class="pagenum"><a name="Seite_25" id="Seite_25">[25]</a></span> +so Tag und Nacht. Kurze Haare tragen wie +du darf ich nicht, das Haar offen tragen wie +Wendla darf ich nicht, Ponyhaare tragen darf +ich nicht, und zu Hause muß ich mir gar die +Frisur machen — alles der Tanten wegen!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Ich bringe morgen eine Schere mit in die +Religionsstunde. Während du „Wohl dem, der +nicht wandelt“ rezitierst, werd′ ich ihn abschneiden.</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Um Gotteswillen, Wendla! Papa schlägt +mich krumm, und Mama sperrt mich drei Nächte +ins Kohlenloch.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Womit schlägt er dich, Martha?</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Manchmal ist es mir, es müßte ihnen doch +etwas abgehen, wenn sie keinen so schlechtgearteten +Balg hätten wie ich.</p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>Aber Mädchen!</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Hast du dir nicht auch ein himmelblaues +Band durch die Hemdpasse ziehen dürfen?</p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>Rosa Atlas! Mama behauptet, Rosa stehe +mir bei meinen pechschwarzen Augen.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_26" id="Seite_26">[26]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Mir stand Blau reizend! — Mama riß mich +am Zopf zum Bett heraus. So — fiel ich mit +den Händen voraus auf die Diele. — Mama +betet nämlich Abend für Abend mit uns....</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Ich an deiner Stelle wäre ihnen längst in +die Welt hinausgelaufen.</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>... Da habe man′s, worauf ich ausgehe! — +Da habe man′s ja! — Aber sie wolle schon sehen — +o sie wolle noch sehen! — Meiner Mutter +wenigstens solle ich einmal keine Vorwürfe machen +können....</p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>Hu — Hu —</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Kannst du dir denken, Thea, was Mama +damit meinte?</p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>Ich nicht. — Du, Wendla?</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Ich hätte sie einfach gefragt.</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Ich lag auf der Erde und schrie und heulte. +Da kommt Papa. Ritsch — das Hemd herunter.<span class="pagenum"><a name="Seite_27" id="Seite_27">[27]</a></span> +Ich zur Türe hinaus. Da habe man′s! Ich +wolle nun wohl so auf die Straße hinunter....</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Das ist doch gar nicht wahr, Martha.</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Ich fror. Ich schloß auf. Ich habe die +ganze Nacht im Sack schlafen müssen.</p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>Ich könnte meiner Lebtag in keinem Sack +schlafen!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Ich möchte ganz gern mal für dich in deinem +Sack schlafen.</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Wenn man nur nicht geschlagen wird.</p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>Aber man erstickt doch darin!</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Der Kopf bleibt frei. Unter dem Kinn wird +zugebunden.</p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>Und dann schlagen sie dich?</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Nein. Nur wenn etwas Besonderes vorliegt.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Womit schlägt man dich, Martha?</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_28" id="Seite_28">[28]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Ach was — mit allerhand. — Hält es deine +Mutter auch für unanständig, im Bett ein Stück +Brot zu essen?</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Nein, nein.</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Ich glaube immer, sie haben doch ihre Freude +— wenn sie auch nichts davon sagen. — Wenn +ich einmal Kinder habe, ich lasse sie aufwachsen +wie das Unkraut in unserem Blumengarten. Um +das kümmert sich niemand, und es steht so hoch, +so dicht — während die Rosen in den Beeten +an ihren Stöcken mit jedem Sommer kümmerlicher +blühn.</p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>Wenn ich Kinder habe, kleid′ ich sie ganz in +Rosa. Rosahüte, Rosakleidchen, Rosaschuhe. Nur +die Strümpfe — die Strümpfe schwarz wie die +Nacht! Wenn ich dann spazieren gehe, laß ich +sie vor mir hermarschieren. — Und du, Wendla?</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Wißt ihr denn, ob ihr welche bekommt?</p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>Warum sollten wir keine bekommen?</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Tante Euphemia hat allerdings auch keine.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_29" id="Seite_29">[29]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>Gänschen! — weil sie nicht <em class="gesperrt">verheiratet</em> ist.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Tante Bauer war dreimal verheiratet und +hat nicht ein einziges.</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>— Wenn du welche bekommst, Wendla, was +möchtest du lieber, Knaben oder Mädchen?</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Jungens! Jungens!</p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>Ich auch Jungens!</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Ich auch. Lieber zwanzig Jungens als drei +Mädchen.</p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>Mädchen sind langweilig!</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Wenn ich nicht schon ein Mädchen geworden +wäre, ich würde es heute gewiß nicht mehr.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Das ist, glaube ich, Geschmacksache, Martha! +Ich freue mich jeden Tag, daß ich Mädchen bin. +Glaub′ mir, ich wollte mit keinem Königssohn +tauschen. — Darum möchte ich aber doch nur +Buben!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_30" id="Seite_30">[30]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>Das ist doch Unsinn, lauter Unsinn, Wendla!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Aber ich bitte dich, Kind, es muß doch tausendmal +erhebender sein, von einem Manne geliebt +zu werden, als von einem Mädchen!</p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>Du wirst doch nicht behaupten wollen, Forstreferendar +Pfälle liebe Melitta mehr als sie ihn!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Das will ich wohl, Thea! — Pfälle ist stolz. +Pfälle ist stolz darauf, daß er Forstreferendar ist +— denn Pfälle hat nichts. — Melitta ist <em class="gesperrt">selig</em>, +weil sie zehntausendmal mehr bekommt, als sie ist.</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Bist du nicht stolz auf dich, Wendla?</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Das wäre doch einfältig.</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Wie wollt′ ich stolz sein an deiner Stelle.</p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>Sieh′ doch nur, wie sie die Füße setzt — wie +sie geradaus schaut — wie sie sich hält, Martha! +— Wenn das nicht Stolz ist!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_31" id="Seite_31">[31]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Wozu nur?! Ich bin so glücklich, Mädchen +zu sein; wenn ich kein Mädchen wär′, brächt′ ich +mich um, um das nächste Mal ...</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p class="regie">(geht vorüber und grüßt)</p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>Er hat einen wundervollen Kopf.</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>So denke ich mir den jungen Alexander, als +er zu Aristoteles in die Schule ging.</p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>Du lieber Gott, die griechische Geschichte! — +Ich weiß nur noch, wie Sokrates in der Tonne +lag, als ihm Alexander den Eselsschatten verkaufte.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Er soll der Drittbeste in seiner Klasse sein.</p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>Professor Knochenbruch sagt, wenn er wollte, +könnte er Primus sein.</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Er hat eine schöne Stirne, aber sein Freund +hat einen seelenvolleren Blick.</p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>Moritz Stiefel? — Ist das eine Schlafmütze!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_32" id="Seite_32">[32]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Ich habe mich immer ganz gut mit ihm +unterhalten.</p> + +<p class="sprecher">Thea</p> + +<p>Er blamiert einen, wo man ihn trifft. Auf +dem Kinderball bei Rilows bot er mir Pralinees +an. Denke dir, Wendla, die waren weich und +warm. Ist das nicht ...? — Er sagte, er habe +sie zu lang in der Hosentasche gehabt.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Denke dir, Melchi Gabor sagte mir damals, +er glaube an nichts — nicht an Gott, nicht an +ein Jenseits — an gar nichts mehr in dieser Welt.</p> + + +<h3>Vierte Szene</h3> + +<p class="regie">Parkanlagen vor dem Gymnasium — <i class="gesperrt">Melchior</i>, <i class="gesperrt">Otto</i>, +<i class="gesperrt">Georg</i>, <i class="gesperrt">Robert</i>, <i class="gesperrt">Hänschen Rilow</i>, <i class="gesperrt">Lämmermeier</i></p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Kann mir einer von euch sagen, wo Moritz +Stiefel steckt?</p> + +<p class="sprecher">Georg</p> + +<p>Dem kann′s schlecht gehn! — O dem kann′s +schlecht gehn!</p> + +<p class="sprecher">Otto</p> + +<p>Der treibts so lange, bis er noch mal ganz +gehörig ′reinfliegt!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_33" id="Seite_33">[33]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Lämmermeier</p> + +<p>Weiß der Kuckuck, ich möchte in diesem +Moment nicht in seiner Haut stecken!</p> + +<p class="sprecher">Robert</p> + +<p>Eine Frechheit! — Eine Unverschämtheit!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Wa — wa — was wißt ihr denn?</p> + +<p class="sprecher">Georg</p> + +<p>Was wir wissen? — Na, ich sage dir ...</p> + +<p class="sprecher">Lämmermeier</p> + +<p>Ich möchte nichts gesagt haben!</p> + +<p class="sprecher">Otto</p> + +<p>Ich auch nicht — weiß Gott nicht!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Wenn ihr jetzt nicht sofort ...</p> + +<p class="sprecher">Robert</p> + +<p>Kurz und gut, Moritz Stiefel ist ins <em class="gesperrt">Konferenzzimmer</em> +gedrungen.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ins Konferenzzimmer ...?</p> + +<p class="sprecher">Otto</p> + +<p>Ins Konferenzzimmer! — Gleich nach Schluß +der Lateinstunde.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_34" id="Seite_34">[34]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Georg</p> + +<p>Er war der letzte; er blieb absichtlich zurück.</p> + +<p class="sprecher">Lämmermeier</p> + +<p>Als ich um die Korridorecke bog, sah ich +ihn die Tür öffnen.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Hol dich der ...!</p> + +<p class="sprecher">Lämmermeier</p> + +<p>Wenn nur ihn nicht der Teufel holt!</p> + +<p class="sprecher">Georg</p> + +<p>Vermutlich hatte das Rektorat den Schlüssel +nicht abgezogen.</p> + +<p class="sprecher">Robert</p> + +<p>Oder Moritz Stiefel führt einen Dietrich.</p> + +<p class="sprecher">Otto</p> + +<p>Ihm wäre das zuzutrauen.</p> + +<p class="sprecher">Lämmermeier</p> + +<p>Wenn′s gut geht, bekommt er einen Sonntagnachmittag.</p> + +<p class="sprecher">Robert</p> + +<p>Nebst einer Bemerkung ins Zeugnis!</p> + +<p class="sprecher">Otto</p> + +<p>Wenn er bei dieser Zensur nicht ohnehin +an die Luft fliegt.</p> + +<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p> + +<p>Da ist er!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_35" id="Seite_35">[35]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Blaß wie ein Handtuch.</p> + +<p class="regie">(Moritz kommt in äußerster Aufregung.)</p> + +<p class="sprecher">Lämmermeier</p> + +<p>Moritz, Moritz, was du getan hast!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>— — Nichts — — nichts — — —</p> + +<p class="sprecher">Robert</p> + +<p>Du fieberst!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>— Vor Glück — vor Seligkeit — vor +Herzensjubel —</p> + +<p class="sprecher">Otto</p> + +<p>Du bist erwischt worden?!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Ich bin promoviert! — Melchior, ich bin +promoviert! — O jetzt kann die Welt untergehn! +— Ich bin promoviert! — Wer hätte geglaubt, +daß ich promoviert werde! — Ich fass′ es noch +nicht! — Zwanzigmal hab′ ich′s gelesen! — Ich +kann′s nicht glauben — du großer Gott, es +blieb! — Es blieb! <em class="gesperrt">Ich bin promoviert</em>! — +(lächelnd) Ich weiß nicht — so sonderbar ist mir +— der Boden dreht sich ... Melchior, Melchior, +wüßtest du, was ich durchgemacht!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_36" id="Seite_36">[36]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p> + +<p>Ich gratuliere, Moritz. — Sei nur froh, +daß du so weggekommen!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Du weißt nicht, Hänschen, du ahnst nicht, +was auf dem Spiel stand. Seit drei Wochen +schleiche ich an der Tür vorbei wie am Höllenschlund. +Da sehe ich heute, sie ist angelehnt. +Ich glaube, wenn man mir eine Million geboten +hätte — nichts, o nichts hätte mich zu +halten vermocht! — Ich stehe mitten im Zimmer +— ich schlage das Protokoll auf — blättere — +finde — — und während all der Zeit ... +Mir schaudert —</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>... während all der Zeit?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Während all der Zeit steht die Tür hinter +mir sperrangelweit offen. — Wie ich heraus ... +wie ich die Treppe heruntergekommen, weiß ich +nicht.</p> + +<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p> + +<p>— Wird Ernst Röbel auch promoviert?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>O gewiß, Hänschen, gewiß! — Ernst Röbel +wird gleichfalls promoviert.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_37" id="Seite_37">[37]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Robert</p> + +<p>Dann mußt du schon nicht richtig gelesen +haben. Die Eselsbank abgerechnet zählen wir +mit dir und Röbel zusammen einundsechzig, während +oben das Klassenzimmer mehr als sechzig nicht +fassen kann.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Ich habe vollkommen richtig gelesen. Ernst +Röbel wird so gut versetzt wie ich — beide +allerdings vorläufig nur <em class="gesperrt">provisorisch</em>. Während +des ersten Quartals soll es sich dann herausstellen, +wer dem andern Platz zu machen hat. — +Armer Röbel! — Weiß der Himmel, mir ist um +mich nicht mehr bange. Dazu habe ich diesmal zu +tief hinuntergeblickt.</p> + +<p class="sprecher">Otto</p> + +<p>Ich wette fünf Mark, daß du Platz machst.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Du hast ja nichts. Ich will dich nicht ausrauben. +— Herrgott, werd′ ich büffeln von heute +an! — Jetzt kann ich′s ja sagen — mögt ihr +daran glauben oder nicht — jetzt ist ja alles +gleichgültig — ich — ich weiß, wie wahr es +ist: Wenn ich nicht promoviert worden wäre, +hätte ich mich erschossen.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_38" id="Seite_38">[38]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Robert</p> + +<p>Prahlhans!</p> + +<p class="sprecher">Georg</p> + +<p>Der Hasenfuß!</p> + +<p class="sprecher">Otto</p> + +<p>Dich hätte ich schießen sehen mögen!</p> + +<p class="sprecher">Lämmermeier</p> + +<p>Eine Maulschelle drauf!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p class="regie">(gibt ihm eine)</p> + +<p>— — Komm, Moritz. Gehn wir zum +Försterhaus!</p> + +<p class="sprecher">Georg</p> + +<p>Glaubst du vielleicht an den Schnack?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Schert dich das? — — Laß sie schwatzen, +Moritz! Fort, nur fort, zur Stadt hinaus!</p> + +<p class="regie">(Die Professoren <i class="gesperrt">Hungergurt</i> und <i class="gesperrt">Knochenbruch</i> +gehen vorüber.)</p> + +<p class="sprecher">Knochenbruch</p> + +<p>Mir unbegreiflich, verehrter Herr Kollega, +wie sich der beste meiner Schüler gerade zum +allerschlechtesten so hingezogen fühlen kann.</p> + +<p class="sprecher">Hungergurt</p> + +<p>Mir auch, verehrter Herr Kollega.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_39" id="Seite_39">[39]</a></span></p> + + +<h3>Fünfte Szene</h3> + +<p class="regie">Sonniger Nachmittag. — <i class="gesperrt">Melchior</i> und <i class="gesperrt">Wendla</i> begegnen +einander im Wald.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Bist du′s wirklich, Wendla? — Was tust +denn du so allein hier oben? — Seit drei +Stunden durchstreife ich den Wald die Kreuz und +Quer, ohne daß mir eine Seele begegnet, und +nun plötzlich trittst du mir aus dem dichtesten +Dickicht entgegen!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Ja, ich bin′s.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Wenn ich dich nicht als Wendla Bergmann +kennte, ich hielte dich für eine Dryade, die aus +den Zweigen gefallen.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Nein, nein, ich bin Wendla Bergmann. — +Wo kommst denn du her?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich gehe meinen Gedanken nach.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Ich suche Waldmeister. Mama will Maitrank +bereiten. Anfangs wollte sie selbst mitgehn, +aber im letzten Augenblick kam Tante Bauer +noch, und die steigt nicht gern. — So bin ich +denn allein heraufgekommen.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_40" id="Seite_40">[40]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Hast du deinen Waldmeister schon?</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Den ganzen Korb voll. Drüben unter den +Buchen steht er dicht wie Mattenklee. — Jetzt +sehe ich mich nämlich nach einem Ausweg um. +Ich scheine mich verirrt zu haben. Kannst du +mir vielleicht sagen, wie viel Uhr es ist?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Eben halb vier vorbei. — Wann erwartet +man dich?</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Ich glaubte, es wäre später. Ich lag eine +ganze Weile am Goldbach im Moose und habe +geträumt. Die Zeit verging mir so rasch; ich +fürchtete, es wolle schon Abend werden.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Wenn man dich noch nicht erwartet, dann +laß uns hier noch ein wenig lagern. Unter der +Eiche dort ist mein Lieblingsplätzchen. Wenn +man den Kopf an den Stamm zurücklehnt und +durch die Äste in den Himmel starrt, wird man +hypnotisiert. Der Boden ist noch warm von der +Morgensonne. — Schon seit Wochen wollte ich +dich etwas fragen, Wendla.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Aber vor fünf muß ich zu Hause sein.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_41" id="Seite_41">[41]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Wir gehen dann zusammen. Ich nehme den +Korb und wir schlagen den Weg durch die Runse +ein, so sind wir in zehn Minuten schon auf der +Brücke! — Wenn man so daliegt, die Stirn in +die Hand gestützt, kommen einem die sonderbarsten +Gedanken ...</p> + +<p class="regie">(Beide lagern sich unter der Eiche.)</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Was wolltest du mich fragen, Melchior?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich habe gehört, Wendla, du gehest häufig +zu armen Leuten. Du brächtest ihnen Essen, auch +Kleider und Geld. Tust du das aus eigenem +Antriebe oder schickt deine Mutter dich?</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Meistens schickt mich die Mutter. Es sind +arme Taglöhnerfamilien, die eine Unmenge Kinder +haben. Oft findet der Mann keine Arbeit, dann +frieren und hungern sie. Bei uns liegt aus früherer +Zeit noch so mancherlei in Schränken und Kommoden, +das nicht mehr gebraucht wird. — Aber wie kommst +du darauf?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Gehst du gern oder ungern, wenn deine +Mutter dich sowohin schickt?</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_42" id="Seite_42">[42]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>O für mein Leben gern! — Wie kannst du +fragen!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Aber die Kinder sind schmutzig, die Frauen +sind krank, die Wohnungen strotzen von Unrat, +die Männer hassen dich, weil du nicht arbeitest ...</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Das ist nicht wahr, Melchior. Und wenn +es wahr wäre, ich würde erst recht gehen!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Wieso erst recht, Wendla?</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Ich würde erst recht hingehen. — Es würde +nur noch vielmehr Freude bereiten, ihnen helfen +zu können.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Du gehst also um deiner Freude willen zu +den armen Leuten?</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Ich gehe zu ihnen, weil sie arm sind.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Aber wenn es dir keine Freude wäre, würdest +du nicht gehen?</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Kann ich denn dafür, daß es mir Freude +macht?</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_43" id="Seite_43">[43]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Und doch sollst du dafür in den Himmel +kommen! — So ist es also richtig, was mir nun +seit einem Monat keine Ruhe mehr läßt! — +Kann der Geizige dafür, daß es ihm keine Freude +macht, zu schmutzigen kranken Kindern zu gehen?</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>O dir würde es sicher die größte Freude sein!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Und doch soll er dafür des ewigen Todes +sterben! — Ich werde eine Abhandlung schreiben +und sie Herrn Pastor Kahlbauch einschicken. Er +ist die Veranlassung. Was faselt er uns von +<em class="gesperrt">Opfer-Freudigkeit</em>! — Wenn er mir nicht +antworten kann, gehe ich nicht mehr in die Kinderlehre +und lasse mich nicht konfirmieren.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Warum willst du deinen lieben Eltern den +Kummer bereiten! Laß dich doch konfirmieren; +den Kopf kostet′s doch nicht. Wenn unsere schrecklichen +weißen Kleider und eure Schlepphosen +nicht wären, würde man sich vielleicht noch dafür +begeistern können.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Es gibt keine Aufopferung! Es gibt keine +Selbstlosigkeit! — Ich sehe die Guten sich ihres<span class="pagenum"><a name="Seite_44" id="Seite_44">[44]</a></span> +Herzens freun, sehe die Schlechten beben und +stöhnen — ich sehe dich, Wendla Bergmann, +deine Locken schütteln und lachen, und mir wird +so ernst dabei wie einem Geächteten. — — Was +hast du vorhin geträumt, Wendla, als du am +Goldbach im Grase lagst?</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>— — Dummheiten — Narreteien —</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Mit offenen Augen?!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Mir träumte, ich wäre ein armes, armes +Bettelkind, ich würde früh fünf schon auf die +Straße geschickt, ich müßte betteln den ganzen +langen Tag in Sturm und Wetter, unter hartherzigen, +rohen Menschen. Und käm′ ich abends +nach Hause, zitternd vor Hunger und Kälte, und +hätte so viel Geld nicht wie mein Vater verlangt, +dann würd′ ich geschlagen — geschlagen —</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Das kenne ich, Wendla. Das hast du den +albernen Kindergeschichten zu danken. Glaub′ +mir, so brutale Menschen existieren nicht mehr.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>O doch, Melchior, du irrst. — Martha +Bessel wird Abend für Abend geschlagen, daß<span class="pagenum"><a name="Seite_45" id="Seite_45">[45]</a></span> +man andern Tags Striemen sieht. O was die +leiden muß! Siedendheiß wird es einem, wenn +sie erzählt. Ich bedaure sie so furchtbar, ich +muß oft mitten in der Nacht in die Kissen weinen. +Seit Monaten denke ich darüber nach, wie man +ihr helfen kann. — Ich wollte mit Freuden +einmal acht Tage an ihrer Stelle sein.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Man sollte den Vater kurzweg verklagen. +Dann würde ihm das Kind weggenommen.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Ich, Melchior, bin in meinem Leben nie geschlagen +worden — nicht ein einziges Mal. Ich +kann mir kaum denken, wie das tut, geschlagen +zu werden. Ich habe mich schon selber geschlagen, +um zu erfahren, wie einem dabei ums Herz +wird. — Es muß ein grauenvolles Gefühl sein.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich glaube nicht, daß je ein Kind dadurch +besser wird.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Wodurch besser wird?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Daß man es schlägt.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_46" id="Seite_46">[46]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>— Mit dieser Gerte zum Beispiel! — Hu, ist +die zäh und dünn.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Die zieht Blut!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Würdest du mich nicht einmal damit schlagen?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Wen?</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Mich.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Was fällt dir ein, Wendla!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Was ist denn dabei?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>O sei ruhig! — Ich schlage dich nicht.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Wenn ich dir′s doch erlaube!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Nie, Mädchen!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Aber wenn ich dich darum bitte, Melchior!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Bist du nicht bei Verstand?</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Ich bin in meinem Leben nie geschlagen +worden!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_47" id="Seite_47">[47]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Wenn du um so etwas bitten kannst ...!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>— Bitte — bitte —</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich will dich bitten lehren! — <span class="regie">(er schlägt sie)</span></p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Ach Gott — ich spüre nicht das Geringste!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Das glaub′ ich dir — — durch all′ deine +Röcke durch....</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>So schlag′ mich doch an die Beine!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Wendla! — <span class="regie">(er schlägt sie stärker)</span></p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Du streichelst mich ja! — Du streichelst mich!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Wart′ Hexe, ich will dir den Satan austreiben!</p> + +<p class="regie">(Er wirft den Stock beiseite und schlägt derart mit +den Fäusten drein, daß sie in ein fürchterliches Geschrei +ausbricht. Er kehrt sich nicht daran, sondern drischt wie +wütend auf sie los, während ihm die dicken Tränen +über die Wangen rinnen. Plötzlich springt er empor, +faßt sich mit beiden Händen an die Schläfen und stürzt, +aus tiefster Seele jammervoll aufschluchzend, in den +Wald hinein.)</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_48" id="Seite_48">[48]</a></span></p> + + +<h2><a name="Zweiter_Akt" id="Zweiter_Akt"></a>Zweiter Akt</h2> + + +<h3>Erste Szene</h3> + + +<p class="regie">Abend auf Melchiors <i class="gesperrt">Studierzimmer</i>. Das Fenster +steht offen, die Lampe brennt auf dem Tisch. — <i class="gesperrt">Melchior</i> +und <i class="gesperrt">Moritz</i> auf dem Kanapee.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Jetzt bin ich wieder ganz munter, nur etwas +aufgeregt. — Aber in der Griechischstunde habe +ich doch geschlafen wie der besoffene Polyphem. +Nimmt mich Wunder, daß mich der alte Zungenschlag +nicht in die Ohren gezwickt. — Heut′ früh +wäre ich um ein Haar noch zu spät gekommen. +— Mein erster Gedanke beim Erwachen waren +die Verba auf μ. — Himmel-Herrgott-Teufel-Donnerwetter, +während des Frühstücks und den +Weg entlang habe ich konjugiert, daß mir grün +vor den Augen wurde. — Kurz nach drei muß +ich abgeschnappt sein. Die Feder hat mir noch +einen Klex ins Buch gemacht. Die Lampe +qualmte, als Mathilde mich weckte; in den +Fliederbüschen unter dem Fenster zwitscherten die +Amseln so lebensfroh — mir ward gleich wieder +unsagbar melancholisch zu Mute. Ich band mir<span class="pagenum"><a name="Seite_49" id="Seite_49">[49]</a></span> +den Kragen um und fuhr mit der Bürste durchs +Haar. — — Aber man fühlt sich, wenn man +seiner Natur etwas abgerungen!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Darf ich dir eine Zigarette drehen?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Danke, ich rauche nicht. — Wenn es nun +nur so weiter geht! Ich will arbeiten und arbeiten, +bis mir die Augen zum Kopf herausplatzen. +— Ernst Röbel hat seit den Ferien schon +sechsmal nichts gekonnt; dreimal im Griechischen, +zweimal bei Knochenbruch; das letztemal in der +Literaturgeschichte. Ich war erst fünfmal in der +bedauernswerten Lage; und von heute ab kommt +es überhaupt nicht mehr vor! — Röbel erschießt +sich nicht. Röbel hat keine Eltern, die ihm ihr +Alles opfern. Er kann, wann er will, Söldner, +Cowboy oder Matrose werden. Wenn ich durchfalle, +rührt meinen Vater der Schlag, und Mama +kommt ins Irrenhaus. So was erlebt man nicht! +— Vor dem Examen habe ich zu Gott gefleht, +er möge mich schwindsüchtig werden lassen, auf +daß der Kelch ungenossen vorübergehe. Er ging +vorüber — wenngleich mir auch heute noch seine +Aureole aus der Ferne entgegenleuchtet, daß ich<span class="pagenum"><a name="Seite_50" id="Seite_50">[50]</a></span> +Tag und Nacht den Blick nicht zu heben wage. +— Aber nun ich die Stange erfaßt, werde ich +mich auch hinaufschwingen. Dafür bürgt mir +die unabänderliche Konsequenz, daß ich nicht +stürze, ohne das Genick zu brechen.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Das Leben ist von einer ungeahnten Gemeinheit. +Ich hätte nicht übel Lust, mich in die Zweige +zu hängen. — Wo Mama mit dem Tee nur bleibt!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Dein Tee wird mir gut tun, Melchior! — +Ich zittre nämlich. Ich fühle mich so eigentümlich +vergeistert. Betaste mich bitte mal. Ich +sehe — ich höre — ich fühle viel deutlicher — +und doch alles so traumhaft — o, so stimmungsvoll. +— Wie sich dort im Mondschein der Garten +dehnt, so still, so tief, als ging′ er ins Unendliche. +— Unter den Büschen treten umflorte Gestalten +hervor, huschen in atemloser Geschäftigkeit über +die Lichtungen und verschwinden im Halbdunkel. +Mir scheint, unter dem Kastanienbaum soll eine +Ratsversammlung gehalten werden. — Wollen +wir nicht hinunter, Melchior?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Warten wir, bis wir Tee getrunken.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_51" id="Seite_51">[51]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>— Die Blätter flüstern so emsig. — Es ist, +als hörte ich Großmutter selig die Geschichte von +der „Königin ohne Kopf“ erzählen. — Das war +eine wunderschöne Königin, schön wie die Sonne, +schöner als alle Mädchen im Land. Nur war +sie leider ohne Kopf auf die Welt gekommen. +Sie konnte nicht essen, nicht trinken, konnte nicht +sehen, nicht lachen und auch nicht küssen. Sie +vermochte sich mit ihrem Hofstaat nur durch ihre +kleine weiche Hand zu verständigen. Mit den +zierlichen Füßen strampelte sie Kriegserklärungen +und Todesurteile. Da wurde sie eines Tages +von einem Könige besiegt, der zufällig zwei +Köpfe hatte, die sich das ganze Jahr in den +Haaren lagen und dabei so aufgeregt disputierten, +daß keiner den andern zu Wort kommen ließ. +Der Oberhofzauberer nahm nun den kleineren +der beiden und setzte ihn der Königin auf. Und +siehe, er stand ihr vortrefflich. Darauf heiratete +der König die Königin, und die beiden lagen +einander nun nicht mehr in den Haaren, sondern +küßten einander auf Stirn, auf Wangen und +Mund und lebten noch lange lange Jahre glücklich +und in Freuden.... Verwünschter Unsinn! +Seit den Ferien kommt mir die kopflose Königin<span class="pagenum"><a name="Seite_52" id="Seite_52">[52]</a></span> +nicht aus dem Kopf. Wenn ich ein schönes Mädchen +sehe, seh′ ich es ohne Kopf — und erscheine +mir dann plötzlich selber als kopflose Königin.... +Möglich, daß mir nochmal einer aufgesetzt wird.</p> + +<p class="regie">(Frau Gabor kommt mit dem dampfenden Tee, den sie +vor Moritz und Melchior auf den Tisch setzt)</p> + +<p class="sprecher">Frau Gabor</p> + +<p>Hier Kinder, laßt es euch munden. — Guten +Abend, Herr Stiefel; wie geht es Ihnen?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Danke, Frau Gabor. — Ich belausche den +Reigen dort unten.</p> + +<p class="sprecher">Frau Gabor</p> + +<p>Sie sehen aber gar nicht gut aus. — Fühlen +Sie sich nicht wohl?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Es hat nichts zu sagen. Ich bin die letzten +Abende etwas spät zu Bett gekommen.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Denke dir, er hat die ganze Nacht durch gearbeitet.</p> + +<p class="sprecher">Frau Gabor</p> + +<p>Sie sollten so etwas nicht tun, Herr Stiefel. +Sie sollten sich schonen. Bedenken Sie Ihre Gesundheit. +Die Schule ersetzt Ihnen die Gesundheit +nicht. — Fleißig spazieren gehn in der frischen +Luft! Das ist in Ihren Jahren mehr wert als +ein korrektes Mittelhochdeutsch.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_53" id="Seite_53">[53]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Ich werde fleißig spazieren gehn. Sie haben +recht. Man kann auch während des Spazierengehens +fleißig sein. Daß ich noch selbst nicht +auf den Gedanken gekommen! — Die schriftlichen +Arbeiten müßte ich immerhin zu Hause machen.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Das Schriftliche machst du bei mir; so wird +es uns beiden leichter. — — Du weißt ja, Mama, +daß Max von Trenk am Nervenfieber darniederlag! +— Heute mittag kommt Hänschen Rilow +von Trenks Totenbett zu Rektor Sonnenstich, um +anzuzeigen, daß Trenk soeben in seiner Gegenwart +gestorben sei. — „So?“ sagt Sonnenstich, +„hast du von letzter Woche her nicht noch zwei +Stunden nachzusitzen? — Hier ist der Zettel an +den Pedell. Mach, daß die Sache endlich ins +reine kommt! Die ganze Klasse soll an der Beerdigung +teilnehmen.“ — Hänschen war wie +gelähmt.</p> + +<p class="sprecher">Frau Gabor</p> + +<p>Was hast du da für ein Buch, Melchior?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>„Faust.“</p> + +<p class="sprecher">Frau Gabor</p> + +<p>Hast du es schon gelesen?</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_54" id="Seite_54">[54]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Noch nicht zu Ende.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Wir sind gerade in der Walpurgisnacht.</p> + +<p class="sprecher">Frau Gabor</p> + +<p>Ich hätte an deiner Stelle noch ein, zwei +Jahre damit gewartet.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich kenne kein Buch, Mama, in dem ich so +viel Schönes gefunden. Warum hätte ich es +nicht lesen sollen.</p> + +<p class="sprecher">Frau Gabor</p> + +<p>— Weil du es nicht verstehst.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Das kannst du nicht wissen, Mama. Ich +fühle sehr wohl, daß ich das Werk in seiner +ganzen Erhabenheit zu erfassen noch nicht imstande +bin ...</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Wir lesen immer zu zweit; das erleichtert +das Verständnis außerordentlich!</p> + +<p class="sprecher">Frau Gabor</p> + +<p>Du bist alt genug, Melchior, um wissen zu +können, was dir zuträglich und was dir schädlich +ist. Tu, was du vor dir verantworten kannst. +Ich werde die erste sein, die es dankbar anerkennt,<span class="pagenum"><a name="Seite_55" id="Seite_55">[55]</a></span> +wenn du mir niemals Grund gibst, dir +etwas vorenthalten zu müssen. — Ich wollte +dich nur darauf aufmerksam machen, daß auch +das Beste nachteilig wirken kann, wenn man +noch die Reife nicht besitzt, um es richtig aufzunehmen. +— Ich werde mein Vertrauen immer lieber +in dich als in irgendbeliebige erzieherische Maßregeln +setzen. — — Wenn ihr noch etwas braucht, +Kinder, dann komm herüber, Melchior, und rufe +mich. Ich bin auf meinem Schlafzimmer. <span class="regie">(Ab.)</span></p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>— — Deine Mama meinte die Geschichte +mit Gretchen.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Haben wir uns auch nur einen Moment +dabei aufgehalten!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Faust selber kann sich nicht kaltblütiger darüber +hinweggesetzt haben!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Das Kunstwerk gipfelt doch schließlich nicht +in dieser Schändlichkeit! — Faust könnte dem +Mädchen die Heirat versprochen, könnte es daraufhin +verlassen haben, er wäre in meinen Augen +um kein Haar weniger strafbar. Gretchen könnte +ja meinethalben an gebrochenem Herzen sterben.<span class="pagenum"><a name="Seite_56" id="Seite_56">[56]</a></span> +— Sieht man, wie jeder <em class="gesperrt">darauf</em> immer gleich +krampfhaft die Blicke richtet, man möchte +glauben, die ganze Welt drehe sich um P.... +und V....!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Wenn ich aufrichtig sein soll, Melchior, so +habe ich nämlich tatsächlich das Gefühl, seit ich +deinen Aufsatz gelesen. — In den ersten Ferientagen +fiel er mir vor die Füße. Ich hatte den +Plötz in der Hand. — Ich verriegelte die Tür +und durchflog die flimmernden Zeilen, wie eine +aufgeschreckte Eule einen brennenden Wald durchfliegt +— ich glaube, ich habe das meiste mit geschlossenen +Augen gelesen. Wie eine Reihe dunkler +Erinnerungen klangen mir deine Auseinandersetzungen +ins Ohr, wie ein Lied, das einer als +Kind einst fröhlich vor sich hingesummt und das +ihm, wie er eben im Sterben liegt, herzerschütternd +aus dem Mund eines andern entgegentönt. — +Am heftigsten zog mich in Mitleidenschaft, was +du vom Mädchen schreibst. Ich werde die Eindrücke +nicht mehr los. Glaub′ mir, Melchior, +Unrecht leiden zu müssen ist süßer, denn Unrecht +tun! Unverschuldet ein so süßes Unrecht über +sich ergehen lassen zu müssen, scheint mir der +Inbegriff aller irdischen Seligkeit.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_57" id="Seite_57">[57]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>— Ich will meine Seligkeit nicht als Almosen!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Aber warum denn nicht?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich <em class="gesperrt">will</em> nichts, was ich mir nicht habe erkämpfen +müssen!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Ist dann das noch Genuß, Melchior?! — +Das Mädchen, Melchior, genießt wie die seligen +Götter. Das Mädchen wehrt sich dank seiner +Veranlagung. Es hält sich bis zum letzten +Augenblick von jeder Bitternis frei, um mit +einem Mal alle Himmel über sich hereinbrechen +zu sehen. Das Mädchen fürchtet die Hölle noch +in dem Moment, da es ein erblühendes Paradies +wahrnimmt. Sein Empfinden ist so frisch wie +der Quell, der dem Fels entspringt. Das Mädchen +ergreift einen Pokal, über den noch kein +irdischer Hauch geweht, einen Nektarkelch, dessen +Inhalt es, wie er flammt und flackert, hinunterschlingt ... +Die Befriedigung, die der Mann dabei +findet, denke ich mir schal und abgestanden.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Denke sie dir, wie du magst, aber behalte sie +für dich. — Ich denke sie mir nicht gern ...</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_58" id="Seite_58">[58]</a></span></p> + + +<h3>Zweite Szene</h3> + +<p class="regie"><i class="gesperrt">Wohnzimmer.</i></p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p class="regie">(den Hut auf, die Mantille um, einen Korb am Arm, +mit strahlendem Gesicht durch die Mitteltür eintretend.)</p> + +<p>Wendla! — Wendla!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p class="regie">(erscheint in Unterröckchen und Korsett in der Seitentür +rechts)</p> + +<p>Was gibt′s, Mutter?</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Du bist schon auf, Kind? — Sieh, das ist +schön von dir!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Du warst schon ausgegangen?</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Zieh dich nun nur flink an! — Du mußt +gleich zu <em class="gesperrt">Ina</em> hinunter. Du mußt ihr den +Korb da bringen!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p class="regie">(sich während des folgenden vollends ankleidend)</p> + +<p>Du warst bei Ina? — Wie geht es Ina? +— Will′s noch immer nicht bessern?</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Denke dir, Wendla, diese Nacht war der Storch +bei ihr und hat ihr einen kleinen Jungen gebracht.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_59" id="Seite_59">[59]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Einen Jungen? — Einen Jungen! — O +das ist herrlich! — — Deshalb die langwierige +Influenza!</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Einen prächtigen Jungen!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Den muß ich sehen, Mutter! — So bin ich +nun zum dritten Mal Tante geworden — Tante +von einem Mädchen und zwei Jungens!</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Und was für Jungens! — So geht′s eben, +wenn man so dicht beim Kirchendach wohnt! — +Morgen sind′s erst zwei Jahr, daß sie in ihrem +Mullkleid die Stufen hinanstieg.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Warst du dabei, als er ihn brachte?</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Er war eben wieder fortgeflogen. — Willst +du dir nicht eine Rose vorstecken?</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Warum kamst du nicht etwas früher hin, +Mutter?</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Ich glaube aber beinahe, er hat dir auch +etwas mitgebracht — eine Brosche oder was.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_60" id="Seite_60">[60]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Es ist wirklich schade!</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Ich sage dir ja, daß er dir eine Brosche +mitgebracht hat!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Ich habe Broschen genug ...</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Dann sei auch zufrieden, Kind. Was willst +du denn noch?</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Ich hätte so furchtbar gerne gewußt, ob er +durchs Fenster oder durch den Schornstein geflogen +kam.</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Da mußt du Ina fragen. Ha, das mußt +du Ina fragen, liebes Herz! Ina sagt dir das +ganz genau. Ina hat ja eine ganze halbe Stunde +mit ihm gesprochen.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Ich werde Ina fragen, wenn ich hinunterkomme.</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Aber ja nicht vergessen, du süßes Engelsgeschöpf! +Es interessiert mich wirklich selbst, zu +wissen, ob er durchs Fenster oder durch den +Schornstein kam.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_61" id="Seite_61">[61]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Oder soll ich nicht lieber den Schornsteinfeger +fragen? — Der Schornsteinfeger muß es doch +am besten wissen, ob er durch den Schornstein +fliegt oder nicht.</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Nicht den Schornsteinfeger, Kind; nicht den +Schornsteinfeger. Was weiß der Schornsteinfeger +vom Storch! — Der schwatzt dir allerhand +dummes Zeug vor, an das er selbst nicht glaubt ... +Wa — was glotzst du so auf die Straße hinunter??</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Ein Mann, Mutter — dreimal so groß wie +ein Ochse! — mit Füßen wie Dampfschiffe ...!</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p class="regie">(ans Fenster stürzend)</p> + +<p>Nicht möglich! — Nicht möglich! —</p> + +<p class="sprecher">Wendla <span class="regie">(zugleich)</span></p> + +<p>Eine Bettlade hält er unterm Kinn, fiedelt +die Wacht am Rhein drauf — — eben biegt +er um die Ecke ...</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Du bist und bleibst doch ein Kindskopf! — +Deine alte einfältige Mutter so in Schrecken jagen! +— Geh, nimm deinen Hut. Nimmt mich Wunder,<span class="pagenum"><a name="Seite_62" id="Seite_62">[62]</a></span> +wann bei dir einmal der Verstand kommt. — +Ich habe die Hoffnung aufgegeben.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Ich auch, Mütterchen, ich auch. — Um meinen +Verstand ist es ein traurig Ding. — Hab′ ich +nun eine Schwester, die ist seit zwei und einem +halben Jahre verheiratet, und ich selber bin zum +dritten Male Tante geworden, und habe gar +keinen Begriff, wie das alles zugeht ... Nicht +böse werden, Mütterchen; nicht böse werden! Wen +in der Welt soll ich denn fragen als dich! Bitte, +liebe Mutter, sag es mir! Sag′s mir, geliebtes +Mütterchen! Ich schäme mich vor mir selber. +Ich bitte dich, Mutter, sprich! Schilt mich nicht, +daß ich so etwas frage. Gib mir Antwort — wie +geht es zu? — wie kommt das alles? — Du +kannst doch im Ernst nicht verlangen, daß ich bei +meinen vierzehn Jahren noch an den Storch glaube.</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Aber du großer Gott, Kind, wie bist du sonderbar! +— Was du für Einfälle hast! — Das kann +ich ja doch wahrhaftig nicht!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Warum denn nicht, Mutter! — Warum denn +nicht! — Es kann ja doch nichts Häßliches sein, +wenn sich alles darüber freut!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_63" id="Seite_63">[63]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>O — o Gott behüte mich! — Ich verdiente +ja ... Geh, zieh dich an, Mädchen; zieh dich an!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Ich gehe, ... Und wenn dein Kind nun hingeht +und fragt den Schornsteinfeger?</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Aber das ist ja zum Närrischwerden! — Komm +Kind, komm her, ich sag es dir! Ich sage dir +Alles ... O du grundgütige Allmacht! — nur +heute nicht, Wendla! — Morgen, übermorgen, +kommende Woche ... wann du nur immer willst, +liebes Herz ...</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Sag es mir heute, Mutter; sag es mir jetzt! +Jetzt gleich! — Nun ich dich so entsetzt gesehen, +kann ich erst recht nicht eher wieder ruhig werden.</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>— Ich kann nicht, Wendla.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>O, warum kannst du nicht, Mütterchen! — +Hier knie ich zu deinen Füßen und lege dir meinen +Kopf in den Schoß. Du deckst mir deine +Schürze über den Kopf und erzählst und erzählst, +als wärst du mutterseelenallein im Zimmer. Ich<span class="pagenum"><a name="Seite_64" id="Seite_64">[64]</a></span> +will nicht zucken; ich will nicht schreien; ich will +geduldig ausharren, was immer kommen mag.</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>— Der Himmel weiß, Wendla, daß ich nicht +die Schuld trage! Der Himmel kennt mich! — +Komm in Gottes Namen! — Ich will dir erzählen, +Mädchen, wie du in diese Welt hineingekommen. +— So hör mich an, Wendla ...</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p class="regie">(unter ihrer Schürze)</p> + +<p>Ich höre.</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann <span class="regie">(ekstatisch)</span></p> + +<p>— Aber es geht ja nicht, Kind! — Ich kann +es ja nicht verantworten. — Ich verdiene ja, +daß man mich ins Gefängnis setzt — daß man +dich von mir nimmt ...</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p class="regie">(unter ihrer Schürze)</p> + +<p>Faß dir ein Herz, Mutter!</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>So höre denn ...!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p class="regie">(unter ihrer Schürze, zitternd)</p> + +<p>O Gott, o Gott!</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Um ein Kind zu bekommen — du verstehst +mich, Wendla?</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_65" id="Seite_65">[65]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Rasch, Mutter — ich halt′s nicht mehr aus.</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>— Um ein Kind zu bekommen — muß man +den Mann — mit dem man verheiratet ist ... +<em class="gesperrt">lieben</em> — <em class="gesperrt">lieben</em> sag′ ich dir — wie man nur +einen Mann lieben kann! Man muß ihn so sehr +<em class="gesperrt">von ganzem Herzen</em> lieben, wie — wie sich′s +nicht sagen läßt! Man muß ihn <em class="gesperrt">lieben</em>, Wendla, +wie du in deinen Jahren noch gar nicht lieben +kannst ... Jetzt weißt du′s.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p class="regie">(sich erhebend)</p> + +<p>Großer — Gott — im Himmel!</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Jetzt weißt du, welche Prüfungen dir bevorstehen!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>— Und das ist alles?</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>So wahr mir Gott helfe! — — Nimm nun +den Korb da und geh zu Ina hinunter. Du +bekommst dort Schokolade und Kuchen dazu. — +Komm, laß dich noch einmal betrachten — die +Schnürstiefel, die seidenen Handschuhe, die Matrosentaille, +die Rosen im Haar ...... dein Röckchen<span class="pagenum"><a name="Seite_66" id="Seite_66">[66]</a></span> +wird dir aber wahrhaftig nachgerade zu kurz, +Wendla!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Hast du für Mittag schon Fleisch gebracht, +Mütterchen?</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Der liebe Gott behüte dich und segne dich! +— Ich werde dir gelegentlich eine Handbreit +Volants unten ansetzen.</p> + + +<h3>Dritte Szene</h3> + +<p class="regie"><i class="gesperrt">Hänschen Rilow</i> (ein Licht in der Hand, verriegelt +die Tür hinter sich und öffnet den Deckel).</p> + +<p>Hast du zu Nacht gebetet, Desdemona?</p> + +<p class="regie">(Er zieht eine Reproduktion der Venus von Palma +Vecchio aus dem Busen.)</p> + +<p>— Du siehst mir nicht nach Vaterunser aus, +Holde — kontemplativ des Kommenden gewärtig, +wie in dem süßen Augenblick aufkeimender Glückseligkeit, +als ich dich bei Jonathan Schlesinger +im Schaufenster liegen sah — ebenso berückend +noch diese geschmeidigen Glieder, diese sanfte +Wölbung der Hüften, diese jugendlich straffen +Brüste — o, wie berauscht von Glück muß der +große Meister gewesen sein, als das vierzehnjährige +Original vor seinen Blicken hingestreckt auf dem +Diwan lag!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_67" id="Seite_67">[67]</a></span></p> + +<p>Wirst du mich auch bisweilen im Traum +besuchen? — Mit ausgebreiteten Armen empfang′ +ich dich und will dich küssen, daß dir der Atem +ausgeht. Du ziehst bei mir ein wie die angestammte +Herrin in ihr verödetes Schloß. Tor +und Türen öffnen sich von unsichtbarer Hand, +während der Springquell unten im Parke fröhlich +zu plätschern beginnt ...</p> + +<p>Die Sache will′s! — Die Sache will′s! — +Daß ich nicht aus frivoler Regung morde, sagt +dir das fürchterliche Pochen in meiner Brust. +Die Kehle schnürt sich mir zu im Gedanken an +meine einsamen Nächte. Ich schwöre dir bei +meiner Seele, Kind, daß nicht Überdruß mich +beherrscht. Wer wollte sich rühmen, deiner überdrüssig +geworden zu sein!</p> + +<p>Aber du saugst mir das Mark aus den Knochen, +du krümmst mir den Rücken, du raubst meinen +jungen Augen den letzten Glanz. — Du bist mir +zu anspruchsvoll in deiner unmenschlichen Bescheidenheit, +zu aufreibend mit deinen unbeweglichen +Gliedmaßen! — Du oder ich! — und ich habe +den Sieg davongetragen.</p> + +<p>Wenn ich sie herzählen wollte — all die +Entschlafenen, mit denen ich hier den nämlichen +Kampf gekämpft! —: Psyche von <em class="gesperrt">Thumann</em><span class="pagenum"><a name="Seite_68" id="Seite_68">[68]</a></span> +— noch ein Vermächtnis der spindeldürren Mademoiselle +<em class="gesperrt">Angelique</em>, dieser Klapperschlange im +Paradies meiner Kinderjahre; Io von <em class="gesperrt">Corregio</em>; +Galathea von <em class="gesperrt">Lossow</em>; dann ein Amor von +<em class="gesperrt">Bouguereau</em>; Ada von <em class="gesperrt">J. van Beers</em> — +diese Ada, die ich Papa aus einem Geheimfach +seines Sekretärs entführen mußte, um sie meinem +Harem einzuverleiben; eine zitternde, zuckende Leda +von <em class="gesperrt">Makart</em>, die ich zufällig unter den Kollegienheften +meines Bruders fand — <em class="gesperrt">sieben</em>, du +blühende Todeskandidatin, sind dir vorangeeilt +auf diesem Pfad in den Tartarus! Laß dir das +zum Troste gereichen und suche nicht durch diese +flehentlichen Blicke noch meine Qualen ins Ungeheure +zu steigern.</p> + +<p>Du stirbst nicht um <em class="gesperrt">deiner</em>, du stirbst um +<em class="gesperrt">meiner</em> Sünden willen! — Aus Notwehr gegen +mich begehe ich blutenden Herzens den siebenten +Gattenmord. Es liegt etwas Tragisches in der +Rolle des <em class="gesperrt">Blaubart</em>. Ich glaube, seine gemordeten +Frauen insgesamt litten nicht so viel +wie er beim Erwürgen jeder einzelnen.</p> + +<p>Aber mein Gewissen wird ruhiger werden, +mein Leib wird sich kräftigen, wenn du Teufelin +nicht mehr in den rotseidenen Polstern meines +Schmuckkästchens residierst. Statt deiner lasse ich<span class="pagenum"><a name="Seite_69" id="Seite_69">[69]</a></span> +dann die Lurlei von <em class="gesperrt">Bodenhausen</em> oder die +Verlassene von <em class="gesperrt">Linger</em> oder die Loni von <em class="gesperrt">Defregger</em> +in das üppige Lustgemach einziehen — +so werde ich mich um so rascher erholt haben! +Noch ein Vierteljährchen vielleicht, und dein entschleiertes +Josaphat, süße Seele, hätte an meinem +armen Hirn zu zehren begonnen wie die Sonne +am Butterkloß. Es war hohe Zeit, die Trennung +von Tisch und Bett zu erwirken.</p> + +<p>Brrr, ich fühle einen Heliogabalus in mir! +<span class="antiqua" lang="la" xml:lang="la">Moritura me salutat!</span> — Mädchen, Mädchen, +warum preßt du deine Kniee zusammen? — +warum auch jetzt noch? — — angesichts der +unerforschlichen Ewigkeit?? — <em class="gesperrt">Eine</em> Zuckung, +und ich gebe dich frei! — <em class="gesperrt">Eine</em> weibliche Regung, +<em class="gesperrt">ein</em> Zeichen von Lüsternheit, von Sympathie, +Mädchen! — ich will dich in Gold rahmen lassen, +dich über meinem Bett aufhängen! — Ahnst du +denn nicht, daß nur deine <em class="gesperrt">Keuschheit</em> meine +Ausschweifungen gebiert? — Wehe, wehe über +die Unmenschlichen!</p> + +<p>... Man merkt eben immer, daß sie eine +musterhafte Erziehung genossen hat. — <em class="gesperrt">Mir +geht es ja ebenso.</em></p> + +<p>Hast du zu Nacht gebetet, Desdemona?</p> + +<p>Das Herz krampft sich mir zusammen — —<span class="pagenum"><a name="Seite_70" id="Seite_70">[70]</a></span> +Unsinn! — Auch die heilige <em class="gesperrt">Agnes</em> starb um +ihrer Zurückhaltung willen und war nicht halb +so nackt wie du! — Einen Kuß noch auf deinen +blühenden Leib, — deine kindlich schwellende Brust +— deine süßgerundeten — deine grausamen Kniee ...</p> + +<p>Die Sache will′s, die Sache will′s, mein Herz!</p> + +<p><em class="gesperrt">Laßt sie mich euch nicht nennen, keusche Sterne!</em></p> + +<p>Die Sache will′s! —</p> + +<p class="regie">(Das Bild fällt in die Tiefe; er schließt den Deckel)</p> + + +<h3>Vierte Szene</h3> + +<p class="regie">Ein <i class="gesperrt">Heuboden</i> — <i class="gesperrt">Melchior</i> liegt auf dem Rücken +im frischen Heu. <i class="gesperrt">Wendla</i> kommt die Leiter herauf.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p><em class="gesperrt">Hier</em> hast du dich verkrochen? — Alles sucht +dich. Der Wagen ist wieder hinaus. Du mußt +helfen. Es ist ein Gewitter im Anzug.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Weg von mir! — Weg von mir!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Was ist dir denn? — Was verbirgst du dein +Gesicht?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Fort, fort! — Ich werfe dich in die Tenne +hinunter.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_71" id="Seite_71">[71]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Nun geh′ ich erst recht nicht. — <span class="regie">(Kniet neben +ihm nieder)</span> Warum kommst du nicht mit auf +die Matte hinaus, Melchior? — Hier ist es +schwül und düster. Werden wir auch naß bis +auf die Haut, was macht <em class="gesperrt">uns</em> das!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Das Heu duftet so herrlich. — Der Himmel +draußen muß schwarz wie ein Bahrtuch sein. — +Ich sehe nur noch den leuchtenden Mohn an +deiner Brust — und dein Herz hör′ ich schlagen —</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>— — Nicht küssen, Melchior! — Nicht küssen!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>— dein Herz — hör′ ich schlagen —</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>— Man liebt sich — wenn man küßt +— — — — Nicht, nicht! — —</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>O glaub mir, es gibt keine <em class="gesperrt">Liebe</em>! — Alles +Eigennutz, alles Egoismus! — Ich liebe dich +so wenig, wie du mich liebst. —</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>— — Nicht! — — — — — — — Nicht, +Melchior! — —</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_72" id="Seite_72">[72]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>— — — Wendla!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>O Melchior! — — — — — — — — nicht +— — nicht — —</p> + + +<h3>Fünfte Szene</h3> + +<p class="sprecher">Frau Gabor</p> + +<p class="regie">(sitzt, schreibt):</p> + +<p class="center"> +Lieber Herr Stiefel! +</p> + +<p>Nachdem ich 24 Stunden über alles, was Sie +mir schreiben, nachgedacht und wieder nachgedacht, +ergreife ich schweren Herzens die Feder. Den +Betrag zur Überfahrt nach Amerika kann ich +Ihnen — ich gebe Ihnen meine heiligste Versicherung +— <em class="gesperrt">nicht</em> verschaffen. Erstens habe ich +so viel nicht zu meiner Verfügung, und zweitens, +wenn ich es hätte, wäre es die denkbar größte +Sünde, Ihnen die Mittel zur Ausführung einer +so folgenschweren Unbedachtsamkeit an die Hand +zu geben. Bitter Unrecht würden Sie mir tun, +Herr Stiefel, in dieser meiner Weigerung ein +Zeichen mangelnder Liebe zu erblicken. Es wäre +umgekehrt die gröbste Verletzung meiner Pflicht +als Ihre mütterliche Freundin, wollte ich mich +durch Ihre momentane Fassungslosigkeit dazu<span class="pagenum"><a name="Seite_73" id="Seite_73">[73]</a></span> +bestimmen lassen, nun auch meinerseits den Kopf +zu verlieren und meinen ersten nächstliegenden +Impulsen blindlings nachzugeben. Ich bin gern +bereit — falls Sie es wünschen — an Ihre +Eltern zu schreiben. Ich werde Ihre Eltern +davon zu überzeugen suchen, daß Sie im Laufe +dieses Quartals getan haben, was Sie tun konnten, +daß Sie Ihre Kräfte erschöpft, derart, daß eine +rigorose Beurteilung Ihres Geschickes nicht nur +ungerechtfertigt wäre, sondern in erster Linie im +höchsten Grade nachteilig auf Ihren geistigen und +körperlichen Gesundheitszustand wirken könnte.</p> + +<p>Daß Sie mir andeutungsweise drohen, im +Fall Ihnen die Flucht nicht ermöglicht wird, sich +das Leben nehmen zu wollen, hat mich, offen +gesagt, Herr Stiefel, etwas befremdet. Sei ein +Unglück noch so unverschuldet, man sollte sich nie +und nimmer zur Wahl unlauterer Mittel hinreißen +lassen. Die Art und Weise, wie Sie mich, +die ich Ihnen stets nur Gutes erwiesen, für +einen eventuellen entsetzlichen Frevel Ihrerseits +verantwortlich machen wollen, hat etwas, das in +den Augen eines <em class="gesperrt">schlecht</em>denkenden Menschen gar +zu leicht zum Erpressungsversuch werden könnte. +Ich muß gestehen, daß ich mir dieses Vorgehens +von Ihnen, der Sie doch sonst so gut wissen,<span class="pagenum"><a name="Seite_74" id="Seite_74">[74]</a></span> +was man sich selber schuldet, zu allerletzt gewärtig +gewesen wäre. Indessen hege ich die feste Überzeugung, +daß Sie noch zu sehr unter dem Eindruck +des ersten Schreckens standen, um sich Ihrer +Handlungsweise vollkommen bewußt werden zu +können.</p> + +<p>Und so hoffe ich denn auch zuversichtlich, daß +diese meine Worte Sie bereits in gefaßterer Gemütsstimmung +antreffen. Nehmen Sie die Sache, +wie sie liegt. Es ist meiner Ansicht nach +durchaus unzulässig, einen jungen Mann nach +seinen Schulzeugnissen zu beurteilen. Wir haben +zu viele Beispiele, daß sehr schlechte Schüler vorzügliche +Menschen geworden und umgekehrt +ausgezeichnete Schüler sich im Leben nicht sonderlich +bewährt haben. Auf jeden Fall gebe ich +Ihnen die Versicherung, daß Ihr Mißgeschick, +soweit das von mir abhängt, in Ihrem Verkehr +mit <em class="gesperrt">Melchior</em> nichts ändern soll. Es wird mir +stets zur Freude gereichen, meinen Sohn mit +einem jungen Manne umgehn zu sehen, der sich, +mag ihn nun die Welt beurteilen wie sie will, +auch meine vollste Sympathie zu gewinnen vermochte.</p> + +<p>Und somit Kopf hoch, Herr Stiefel! — Solche +Krisen dieser oder jener Art treten an jeden von<span class="pagenum"><a name="Seite_75" id="Seite_75">[75]</a></span> +uns heran und wollen eben überstanden sein. +Wollte da ein jeder gleich zu Dolch und Gift +greifen, es möchte recht bald keine Menschen +mehr auf der Welt geben. Lassen Sie bald +wieder etwas von sich hören und seien Sie +herzlich gegrüßt von Ihrer Ihnen unverändert +zugetanen</p> + +<p class="center">mütterlichen Freundin</p> +<p class="right">Fanny G.</p> + + +<h3>Sechste Szene</h3> + +<p class="regie"><i class="gesperrt">Bergmanns Garten im Morgensonnenglanz</i></p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Warum hast du dich aus der Stube geschlichen? +— Veilchen suchen! — Weil mich +Mutter lächeln sieht. — Warum bringst du auch +die Lippen nicht mehr zusammen? — Ich weiß +nicht. — Ich weiß es ja nicht, ich finde nicht +Worte ...</p> + +<p>Der Weg ist wie ein Pelücheteppich — kein +Steinchen, kein Dorn. — Meine Füße berühren +den Boden nicht ... O, wie ich die Nacht geschlummert +habe!</p> + +<p>Hier standen sie. — Mir wird ernsthaft wie +einer Nonne beim Abendmahl. — Süße Veilchen! +— Ruhig, Mütterchen. Ich will mein Bußgewand<span class="pagenum"><a name="Seite_76" id="Seite_76">[76]</a></span> +anziehn. — Ach Gott, wenn jemand +käme, dem ich um den Hals fallen und erzählen +könnte!</p> + + +<h3>Siebente Szene</h3> + +<p class="regie"><i class="gesperrt">Abenddämmerung</i>. Der Himmel ist leicht bewölkt. +Der Weg schlängelt sich durch niedres Gebüsch und +Riedgras. In einiger Entfernung hört man den Fluß +rauschen.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Besser ist besser. — Ich passe nicht hinein. +Mögen sie einander auf die Köpfe steigen. — +Ich ziehe die Tür hinter mir zu und trete ins +Freie. — Ich gebe nicht so viel darum, mich +herumdrücken zu lassen.</p> + +<p>Ich habe mich nicht aufgedrängt. Was soll +ich mich jetzt aufdrängen! — Ich habe keinen +Vertrag mit dem lieben Gott. Mag man die +Sache drehen, wie man sie drehen will. Man +hat mich gepreßt. — Meine Eltern mache ich +nicht verantwortlich. Immerhin mußten sie auf +das Schlimmste gefaßt sein. Sie waren alt +genug, um zu wissen, was sie taten. Ich war +ein Säugling, als ich zur Welt kam — sonst wär′ +ich wohl auch noch so schlau gewesen, ein anderer +zu werden. — Was soll ich dafür büßen, +daß alle andern schon da waren!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_77" id="Seite_77">[77]</a></span></p> + +<p>Ich müßte ja auf den Kopf gefallen sein ... +macht mir jemand einen tollen Hund zum Geschenk, +dann gebe ich ihm seinen tollen Hund zurück. +Und will er seinen tollen Hund nicht zurücknehmen, +dann bin ich menschlich und ...</p> + +<p>Ich müßte ja auf den Kopf gefallen sein!</p> + +<p>Man wird ganz per Zufall geboren und +sollte nicht nach reiflichster Überlegung — — — +es ist zum Totschießen!</p> + +<p>— Das Wetter zeigt sich wenigstens rücksichtsvoll. +Den ganzen Tag sah es nach Regen +aus und nun hat es sich doch gehalten. — Es +herrscht eine seltene Ruhe in der Natur. Nirgends +etwas Grelles, Aufreizendes. Himmel und Erde +sind wie durchsichtiges Spinnewebe. Und dabei +scheint sich alles so wohl zu fühlen. Die Landschaft +ist lieblich wie eine Schlummermelodie — +„<em class="gesperrt">schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein</em>“, wie +Fräulein <em class="gesperrt">Snandulia</em> sang. Schade, daß sie die +Ellbogen ungraziös hält! — Am Cäcilienfest +habe ich zum letzten Male getanzt. <em class="gesperrt">Snandulia</em> +tanzt nur mit Partien. Ihre Seidenrobe war +hinten und vorn ausgeschnitten. Hinten bis auf +den Taillengürtel und vorne bis zur Bewußtlosigkeit. +— Ein Hemd kann sie nicht angehabt haben ... +— — — — — — — — — — — — —</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_78" id="Seite_78">[78]</a></span></p> + +<p>— das wäre etwas, was mich noch fesseln +könnte. — Mehr der Kuriosität halber. — Es +muß ein sonderbares Empfinden sein — — ein +Gefühl, als würde man über Stromschnellen gerissen +— — — Ich werde es niemandem sagen, +daß ich unverrichteter Sache wiederkehre. Ich +werde so tun, als hätte ich alles das mitgemacht ... Es hat etwas Beschämendes, Mensch gewesen +zu sein, ohne das Menschlichste kennen gelernt +zu haben. — Sie kommen aus <em class="gesperrt">Ägypten</em>, verehrter +Herr, und haben die <em class="gesperrt">Pyramiden</em> nicht +gesehn?!</p> + +<p>Ich will heute nicht wieder weinen. Ich will +nicht wieder an mein Begräbnis denken — — +<em class="gesperrt">Melchior</em> wird mir einen Kranz auf den Sarg +legen. Pastor <em class="gesperrt">Kahlbauch</em> wird meine Eltern +trösten. Rektor <em class="gesperrt">Sonnenstich</em> wird Beispiele +aus der Geschichte zitieren. — Einen Grabstein +werd′ ich ja wahrscheinlich nicht bekommen. Ich +hätte mir eine schneeweiße Marmorurne auf +schwarzem Syenitsockel gewünscht — ich werde +sie ja gottlob nicht vermissen. Die Denkmäler +sind für die Lebenden, nicht für die Toten.</p> + +<p>Ich brauchte wohl ein Jahr, um in Gedanken +von allem Abschied zu nehmen. Ich will nicht +wieder weinen. Ich bin so froh, ohne Bitterkeit<span class="pagenum"><a name="Seite_79" id="Seite_79">[79]</a></span> +zurückblicken zu dürfen. Wie manchen schönen +Abend ich mit <em class="gesperrt">Melchior</em> verlebt habe! — unter +den Uferweiden; beim Forsthaus; am Heerweg +draußen, wo die fünf Linden stehen; auf dem +Schloßberg, zwischen den lauschigen Trümmern +der Runenburg — — — Wenn die Stunde gekommen, +will ich aus Leibeskräften an Schlagsahne +denken. Schlagsahne hält nicht auf. Sie +stopft und hinterläßt dabei doch einen angenehmen +Nachgeschmack ... Auch die Menschen hatte ich +mir unendlich schlimmer gedacht. Ich habe keinen +gefunden, der nicht sein Bestes gewollt hätte. Ich +habe manchen bemitleidet um meinetwillen.</p> + +<p>Ich wandle zum Altar wie der Jüngling im +alten Etrurien, dessen letztes Röcheln der Brüder +Wohlergehen für das kommende Jahr erkauft. +— Ich durchkoste Zug für Zug die geheimnisvollen +Schauer der Loslösung. Ich schluchze vor +Wehmut über mein Los. — — Das Leben hat +mir die kalte Schulter gezeigt. Von drüben her +sehe ich ernste freundliche Blicke winken: die kopflose +Königin, die kopflose Königin — Mitgefühl, +mich mit weichen Armen erwartend ... Eure +Gebote gelten für Unmündige; ich trage mein +Freibillett in mir. Sinkt die Schale, dann +flattert der Falter davon; das Trugbild geniert<span class="pagenum"><a name="Seite_80" id="Seite_80">[80]</a></span> +nicht mehr. — Ihr solltet kein tolles Spiel mit +dem Schwindel treiben! Der Nebel zerrinnt; +das Leben ist Geschmacksache.</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p class="regie">(in abgerissenen Kleidern, ein buntes Tuch um den Kopf, +faßt ihn von rückwärts an der Schulter)</p> + +<p>Was hast du verloren?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Ilse?!</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Was suchst du hier?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Was erschreckst du mich so?</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Was suchst du? — Was hast du verloren?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Was erschreckst du mich denn so entsetzlich?</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Ich komme aus der Stadt. — Ich gehe nach Hause.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Ich weiß nicht, was ich verloren habe.</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Dann hilft auch dein Suchen nichts.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Sakerment, Sakerment!!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_81" id="Seite_81">[81]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Seit vier Tagen bin ich nicht zu Hause gewesen.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>— Lautlos wie eine Katze!</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Weil ich meine Ballschuhe anhabe. — Mutter +wird Augen machen! — Komm bis an unser +Haus mit!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Wo hast du wieder herumgestrolcht?</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>In der <em class="gesperrt">Priapia</em>!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p><em class="gesperrt">Priapia</em>?</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Bei <em class="gesperrt">Nohl</em>, bei <em class="gesperrt">Fehrendorf</em>, bei <em class="gesperrt">Padinsky</em>, +bei <em class="gesperrt">Lenz</em>, <em class="gesperrt">Rank</em>, <em class="gesperrt">Spühler</em> — bei allen +möglichen! — Kling, kling — die wird springen!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Malen sie dich?</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p><em class="gesperrt">Fehrendorf</em> malt mich als Säulenheilige. Ich +stehe auf einem korinthischen Kapitäl. <em class="gesperrt">Fehrendorf</em>, +sag′ ich dir, ist eine verhauene Nudel. Das +letzte Mal zertrat ich ihm eine Tube. Er wischt +mir die Pinsel ins Haar. Ich versetze ihm eine<span class="pagenum"><a name="Seite_82" id="Seite_82">[82]</a></span> +Ohrfeige. Er wirft mir die Palette an den Kopf. +Ich werfe die Staffelei um. Er mit dem Malstock +hinter mir drein über Divan, Tische, Stühle, +ringsum durchs Atelier. Hinterm Ofen lag eine +Skizze: — Brav sein, oder ich zerreiße sie! +— Er schwor Amnestie und hat mich dann +schließlich noch schrecklich — schrecklich, sag′ ich +dir — abgeküßt.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Wo übernachtest du, wenn du in der Stadt bleibst?</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Gestern waren wir bei <em class="gesperrt">Nohl</em> — vorgestern +bei <em class="gesperrt">Bojokewitsch</em> — am Sonntag bei <em class="gesperrt">Oikonomopulos</em>. +Bei <em class="gesperrt">Padinsky</em> gab′s Sekt. <em class="gesperrt">Valabregez</em> +hatte seinen Pestkranken verkauft. +<em class="gesperrt">Adolar</em> trank aus dem Aschenbecher. <em class="gesperrt">Lenz</em> sang +die <em class="gesperrt">Kindsmörderin</em>, und <em class="gesperrt">Adolar</em> schlug die +Guitarre krumm. Ich war so betrunken, daß +sie mich zu Bett bringen mußten. — — Du +gehst immer noch zur Schule, Moritz?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Nein, nein ... dieses Quartal nehme ich +meine Entlassung.</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Du hast Recht. Ach, wie die Zeit vergeht, +wenn man Geld verdient! — Weißt du noch,<span class="pagenum"><a name="Seite_83" id="Seite_83">[83]</a></span> +wie wir <em class="gesperrt">Räuber</em> spielten? — <em class="gesperrt">Wendla Bergmann</em> +und du und ich und die Andern, wenn +ihr abends herauskamt und kuhwarme Ziegenmilch +bei uns trankt? — Was macht <em class="gesperrt">Wendla</em>? +Ich sah sie noch bei der Überschwemmung. — +Was macht <em class="gesperrt">Melchi Gabor</em>? — Schaut er noch +so tiefsinnig drein? — In der Singstunde standen +wir einander gegenüber.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Er philosophiert.</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p><em class="gesperrt">Wendla</em> war derweil bei uns und hat der +Mutter Eingemachtes gebracht. Ich saß den Tag +bei Isidor Landauer. Er braucht mich zur heiligen +Maria, Mutter Gottes, mit dem Christuskind. +Er ist ein Tropf und widerlich. Hu, wie ein +Wetterhahn! — Hast du Katzenjammer?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Von gestern Abend! — Wir haben wie Nilpferde +gezecht. Um fünf Uhr wankt′ ich nach +Hause.</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Man braucht dich nur anzusehn. — Waren +Mädchen dabei?</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_84" id="Seite_84">[84]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Arabella, die Biernymphe, Andalusierin! — +Der Wirt ließ uns Alle die ganze Nacht durch +mit ihr allein.</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Man braucht dich nur anzusehen, Moritz! — +Ich kenne keinen Katzenjammer. Vergangenen +Karneval kam ich drei Tage und drei Nächte +in kein Bett und nicht aus den Kleidern. Von +der Redoute ins Café, Mittags in Bellavista, +Abends Tingl-Tangl, Nachts zur Redoute. <em class="gesperrt">Lena</em> +war dabei und die dicke <em class="gesperrt">Viola</em>. — In der +dritten Nacht fand mich <em class="gesperrt">Heinrich</em>.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Hatte er dich denn gesucht?</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Er war über meinen Arm gestolpert. Ich +lag bewußtlos im Straßenschnee. — Darauf kam +ich zu ihm hin. Vierzehn Tage verließ ich seine +Behausung nicht — eine gräuliche Zeit! — +Morgens mußte ich seinen persischen Schlafrock +überwerfen und abends in schwarzem Pagenkostüm +durchs Zimmer gehn; an Hals, an Knien +und Ärmeln weiße Spitzenaufschläge. Täglich +photographierte er mich in anderem Arrangement<span class="pagenum"><a name="Seite_85" id="Seite_85">[85]</a></span> +— einmal auf der Sofalehne als Ariadne, einmal +als Leda, einmal als Ganymed, einmal auf +allen Vieren als weiblichen Nebuchod-Nosor. Dabei +schwärmte er von Umbringen, von Erschießen, +Selbstmord und Kohlendampf. Frühmorgens nahm +er eine Pistole ins Bett, lud sie voll Spitzkugeln +und setzte sie mir auf die Brust: Ein Zwinkern, +so drück′ ich! — O, er hätte gedrückt, Moritz; +er hätte gedrückt! — Dann nahm er das Dings +in den Mund wie ein Pusterohr. Das wecke +den Selbsterhaltungstrieb. Und dann — Brrrr +— die Kugel wäre mir durchs Rückgrat gegangen.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Lebt <em class="gesperrt">Heinrich</em> noch?</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Was weiß ich! — Über dem Bett war ein +Deckenspiegel im Plafond eingelassen. Das +Kabinet schien turmhoch und hell wie ein Opernhaus. +Man sah sich leibhaftig vom Himmel +herunterhängen. Grauenvoll habe ich die Nächte +geträumt. — Gott, o Gott, wenn es erst wieder +Tag würde! — Gute Nacht, Ilse. Wenn du +schläfst, bist du zum Morden schön!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Lebt dieser <em class="gesperrt">Heinrich</em> noch?</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_86" id="Seite_86">[86]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>So Gott will, nicht! — Wie er eines Tages +Absynth holt, werfe ich den Mantel um und +schleiche mich auf die Straße. Der Fasching +war aus; die Polizei fängt mich ab; was ich +in Mannskleidern wolle? — Sie brachten mich +zur Hauptwache. Da kamen <em class="gesperrt">Nohl</em>, <em class="gesperrt">Fehrendorf</em>, +<em class="gesperrt">Padinsky</em>, <em class="gesperrt">Spühler</em>, <em class="gesperrt">Oikonomopulos</em>, +die ganze <em class="gesperrt">Priapia</em>, und bürgten für mich. +Im Fiaker transportierten sie mich auf <em class="gesperrt">Adolars</em> +Atelier. Seither bin ich der Horde treu. <em class="gesperrt">Fehrendorf</em> +ist ein Affe, <em class="gesperrt">Nohl</em> ist ein Schwein, +<em class="gesperrt">Bojokewitsch</em> ein Uhu, <em class="gesperrt">Loison</em> eine Hyäne, +<em class="gesperrt">Oikonomopulos</em> ein Kameel — darum lieb′ +ich sie doch Einen wie den Andern und möchte +mich an sonst niemand hängen, und wenn die +Welt voll Erzengel und Millionäre wär′!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>— Ich muß zurück, Ilse.</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Komm bis an unser Haus mit!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>— Wozu? — Wozu? —</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Kuhwarme Ziegenmilch trinken! — Ich will +dir Locken brennen und dir ein Glöcklein um<span class="pagenum"><a name="Seite_87" id="Seite_87">[87]</a></span> +den Hals hängen. — Wir haben auch noch ein +Hü-Pferdchen, mit dem du spielen kannst.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Ich muß zurück. — Ich habe noch die Sassaniden, +die Bergpredigt und das Parallelepipedon +auf dem Gewissen. — Gute Nacht, Ilse!</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Schlummre süß! ... Geht ihr wohl noch +zum <em class="gesperrt">Wigwam</em> hinunter, wo <em class="gesperrt">Melchi Gabor</em> +mein Tomahawk begrub? — Brrr! Bis es an +euch kommt, lieg′ ich im Kehricht. <span class="regie">(Eilt davon.)</span></p> + +<p class="sprecher">Moritz <span class="regie">(allein)</span></p> + +<p>— — — Ein Wort hätte es gekostet. — +<span class="regie">(Er ruft)</span> — Ilse! — Ilse! — — Gottlob +sie hört nicht mehr.</p> + +<p>— Ich bin in der Stimmung nicht. — Dazu +bedarf es eines freien Kopfes und eines +fröhlichen Herzens. — Schade, schade um die +Gelegenheit!</p> + +<p>... ich werde sagen, ich hätte mächtige +Kristallspiegel über meinen Betten gehabt — +hätte mir ein unbändiges Füllen gezogen — +hätte es in langen schwarzseidenen Strümpfen +und schwarzen Lackstiefeln und schwarzen, langen +Glacé-Handschuhen, schwarzen Samt um den<span class="pagenum"><a name="Seite_88" id="Seite_88">[88]</a></span> +Hals, über den Teppich an mir vorbeistolzieren +lassen — hätte es in einem Wahnsinnsanfall in +meinen Kissen erwürgt ... ich werde lächeln +wenn von Wollust die Rede ist ... ich werde —</p> + +<p><em class="gesperrt">Aufschreien! — Aufschreien! — Du sein, +Ilse! — Priapia! — Besinnungslosigkeit! +— Das nimmt die Kraft mir! — Dieses +Glückskind, dieses Sonnenkind — dieses +Freudenmädchen auf meinem Jammerweg! +— — O! — O!</em></p> + +<p class="center"> +— — — — — — — — — — — — —<br /> +— — — — — — — — — — — — — +</p> + +<p class="regie">(Im Ufergebüsch)</p> + +<p>Hab′ ich sie doch unwillkürlich wiedergefunden +— die Rasenbank. Die Königskerzen scheinen +gewachsen seit gestern. Der Ausblick zwischen +den Weiden durch ist derselbe noch. — Der Fluß +zieht schwer wie geschmolzenes Blei. Daß ich +nicht vergesse ... <span class="regie">(er zieht Frau Gabors Brief aus +der Tasche und verbrennt ihn)</span> — Wie die Funken +irren — hin und her, kreuz und quer — Seelen! +— Sternschnuppen! —</p> + +<p>Eh′ ich angezündet, sah man die Gräser noch +und einen Streifen am Horizont. — Jetzt ist es +dunkel geworden. Jetzt gehe ich nicht mehr nach +Hause.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_89" id="Seite_89">[89]</a></span></p> + + +<h2><a name="Dritter_Akt" id="Dritter_Akt"></a>Dritter Akt</h2> + +<h3>Erste Szene</h3> + +<p class="regie"><i class="gesperrt">Konferenzzimmer</i>. — An den Wänden die Bildnisse +von Pestalozzi und J. J. Rousseau. Um einen grünen +Tisch, über dem mehrere Gasflammen brennen, sitzen die +Professoren <i class="gesperrt">Affenschmalz</i>, <i class="gesperrt">Knüppeldick</i>, <i class="gesperrt">Hungergurt</i>, +<i class="gesperrt">Knochenbruch</i>, <i class="gesperrt">Zungenschlag</i> und <i class="gesperrt">Fliegentod</i>. +Am oberen Ende auf erhöhtem Sessel Rektor +<i class="gesperrt">Sonnenstich</i>. Pedell <i class="gesperrt">Habebald</i> kauert neben der Tür.</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>....Sollte einer der Herren noch etwas zu +bemerken haben? — — Meine Herren! — Wenn +wir nicht umhin können, bei einem hohen Kultusministerium +die Relegation unseres schuldbeladenen +Schülers zu beantragen, so können wir das aus +den schwerwiegendsten Gründen nicht. Wir können +es nicht, um das bereits hereingebrochene Unglück +zu sühnen, wir können es eben so wenig, um +unsere Anstalt für die Zukunft vor ähnlichen +Schlägen sicher zu stellen. Wir können es nicht, +um unseren schuldbeladenen Schüler für den +demoralisirenden Einfluß, den er auf seinen Klassengenossen +ausgeübt, zu züchtigen; wir können es<span class="pagenum"><a name="Seite_90" id="Seite_90">[90]</a></span> +zu allerletzt, um ihn zu verhindern, den nämlichen +Einfluß auf seine übrigen Klassengenossen +auszuüben. Wir können es — und der, meine +Herren, möchte der schwerwiegendste sein — +aus dem jeden Einwand niederschlagenden Grunde +nicht, weil wir unsere Anstalt vor den Verheerungen +einer Selbstmord-Epidemie zu schützen +haben, wie sie bereits an verschiedenen Gymnasien +zum Ausbruch gelangt und bis heute allen +Mitteln, den Gymnasiasten an seine durch seine +Heranbildung zum Gebildeten gebildeten Existenzbedingungen +zu fesseln, gespottet hat. — — Sollte +einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?</p> + +<p class="sprecher">Knüppeldick</p> + +<p>Ich kann mich nicht länger der Überzeugung +verschließen, daß es endlich an der Zeit wäre, +irgendwo ein Fenster zu öffnen.</p> + +<p class="sprecher">Zungenschlag</p> + +<p>Es he-herrscht hier eine A-A-Atmosphäre +wie in unterirdischen Kata-Katakomben, wie in +den A-Aktensälen des weiland Wetzlarer Ka-Ka-Ka-Ka-Kammergerichtes.</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Habebald!</p> + +<p class="sprecher">Habebald</p> + +<p>Befehlen, Herr Rektor!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_91" id="Seite_91">[91]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Öffnen Sie ein Fenster! Wir haben Gott sei +Dank Atmosphäre genug draußen. — Sollte +einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?</p> + +<p class="sprecher">Fliegentod</p> + +<p>Wenn meine Herren Kollegen ein Fenster +öffnen lassen wollen, so habe ich meinerseits nichts +dagegen einzuwenden. Nur möchte ich bitten, +das Fenster nicht gerade hinter meinem Rücken +öffnen lassen zu wollen!</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Habebald!</p> + +<p class="sprecher">Habebald</p> + +<p>Befehlen, Herr Rektor!</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Öffnen Sie das andere Fenster! — — Sollte +einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?</p> + +<p class="sprecher">Hungergurt</p> + +<p>Ohne die Kontroverse meinerseits belasten zu +wollen, möchte ich an die Tatsache erinnern, daß +das andere Fenster seit den Herbstferien zugemauert +ist.</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Habebald!</p> + +<p class="sprecher">Habebald</p> + +<p>Befehlen, Herr Rektor!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_92" id="Seite_92">[92]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Lassen Sie das andere Fenster geschlossen! — +Ich sehe mich genötigt, meine Herren, den +Antrag zur Abstimmung zu bringen. Ich ersuche +diejenigen Herren Kollegen, die dafür sind, daß +das einzig in Frage kommen könnende Fenster geöffnet +werde, sich von ihren Sitzen zu erheben. +<span class="regie">(Er zählt)</span> — Eins, zwei, drei. — Eins, zwei +drei. — Habebald!</p> + +<p class="sprecher">Habebald</p> + +<p>Befehlen, Herr Rektor!</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Lassen Sie das eine Fenster gleichfalls geschlossen! +— Ich meinerseits hege die Überzeugung, +daß die Atmosphäre nichts zu wünschen +übrig läßt! — — Sollte einer der Herren noch +etwas zu bemerken haben? — — Meine Herren! +— Setzen wir den Fall, daß wir die Relegation +unseres schuldbeladenen Schülers bei einem hohen +Kultusministerium zu beantragen unterlassen, so +wird <em class="gesperrt">uns</em> ein hohes Kultusministerium für das +hereingebrochene Unglück verantwortlich machen. +Von den verschiedenen von der Selbstmord-Epidemie +heimgesuchten Gymnasien sind diejenigen, +in denen fünfundzwanzig Prozent den Verheerungen +der Selbstmord-Epidemie zum Opfer gefallen,<span class="pagenum"><a name="Seite_93" id="Seite_93">[93]</a></span> +von einem hohen Kultusministerium suspendiert +worden. Vor diesem erschütterndsten +Schlage unsere Anstalt zu wahren, ist unsere +Pflicht als Hüter und Bewahrer unserer Anstalt. +Es schmerzt uns tief, meine Herren Kollegen, +daß wir die sonstige Qualifikation unseres schuldbeladenen +Schülers als mildernden Umstand +gelten zu lassen nicht in der Lage sind. Ein +nachsichtiges Verfahren, das sich unserem schuldbeladenen +Schüler gegenüber rechtfertigen ließe, +ließe sich der zur Zeit in denkbar bedenklichster +Weise gefährdeten Existenz unserer Anstalt gegenüber +<em class="gesperrt">nicht</em> rechtfertigen. Wir sehen uns in die +Notwendigkeit versetzt, den Schuldbeladenen zu +richten, um nicht als die Schuldlosen gerichtet zu +werden. — Habebald!</p> + +<p class="sprecher">Habebald</p> + +<p>Befehlen, Herr Rektor!</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Führen Sie ihn herauf!</p> + +<p class="regie">(Habebald ab.)</p> + +<p class="sprecher">Zungenschlag</p> + +<p>Wenn die he-herrschende A-A-Atmosphäre +maßgebenderseits wenig oder nichts zu wünschen +übrig läßt, so möchte ich den Antrag stellen,<span class="pagenum"><a name="Seite_94" id="Seite_94">[94]</a></span> +während der So-Sommerferien auch noch das +andere Fenster zu-zu-zu-zu-zu-zu-zu-zu-zuzumauern!</p> + +<p class="sprecher">Fliegentod</p> + +<p>Wenn unserem lieben Kollega Zungenschlag +unser Lokal nicht genügend ventiliert erscheint, so +möchte ich den Auftrag stellen, unserm lieben +Herrn Kollega Zungenschlag einen Ventilator +in die Stirnhöhle applizieren zu lassen.</p> + +<p class="sprecher">Zungenschlag</p> + +<p>Da-da-das brauche ich mir nicht gefallen zu +lassen! — Gro-Grobheiten brauche ich mir +nicht gefallen zu lassen! — Ich bin meiner fü-fü-fü-fü-fünf +Sinne mächtig ...!</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Ich muß unsere Herren Kollegen Fliegentod +und Zungenschlag um einigen Anstand ersuchen. +Unser schuldbeladener Schüler scheint mir bereits +auf der Treppe zu sein.</p> + +<p class="regie">(Habebald öffnet die Türe, worauf <i class="gesperrt">Melchior</i>, bleich +aber gefaßt, vor die Versammlung tritt.)</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Treten Sie näher an den Tisch heran! — Nachdem +Herr Rentier Stiefel von dem ruchlosen +Frevel seines Sohnes Kenntnis erhalten, durchsuchte +der fassungslose Vater, in der Hoffnung, auf +diesem Wege möglicherweise dem Anlaß der<span class="pagenum"><a name="Seite_95" id="Seite_95">[95]</a></span> +verabscheuungswürdigen Untat auf die Spur zu +kommen, die hinterlassenen Effekten seines Sohnes +Moritz und stieß dabei an einem nicht zur Sache +gehörigen Orte auf ein Schriftstück, welches uns +ohne noch die verabscheuungswürdige Untat an +sich verständlich zu machen, für die dabei maßgebend +gewesene moralische Zerrüttung des Untäters +eine leider nur allzu ausreichende Erklärung +liefert. Es handelt sich um eine in Gesprächsform +abgefaßte, „<cite class="gesperrt">Der Beischlaf</cite>“ betitelte, +mit lebensgroßen Abbildungen versehene, +von den schamlosesten Unfläthereien strotzende, +zwanzig Seiten lange Abhandlung, die den geschraubtesten +Anforderungen, die ein verworfener +Lüstling an eine unzüchtige Lektüre zu stellen +vermöchte, entsprechen dürfte. —</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich habe ...</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Sie haben sich ruhig zu verhalten! — Nachdem +Herr Rentier Stiefel uns fragliches Schriftstück +ausgehändigt und wir dem fassungslosen +Vater das Versprechen erteilt, um jeden Preis +den Autor zu ermitteln, wurde die uns vorliegende +Handschrift mit den Handschriften sämtlicher +Mitschüler des weiland Ruchlosen verglichen und<span class="pagenum"><a name="Seite_96" id="Seite_96">[96]</a></span> +ergab nach dem einstimmigen Urteil der gesamten +Lehrerschaft, sowie in vollkommenem +Einklang mit dem Spezial-Gutachten unseres +geschätzten Herrn Kollegen für Kalligraphie die +denkbar bedenklichste Ähnlichkeit mit der +<em class="gesperrt">Ihrigen</em>. —</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich habe ...</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Sie haben sich ruhig zu verhalten! — Ungeachtet +der erdrückenden Tatsache der von +Seiten unantastbarer Autoritäten anerkannten +Ähnlichkeit glauben wir uns vorderhand noch +jeder weiteren Maßnahmen enthalten zu dürfen, +um in erster Linie den Schuldigen über das ihm +demgemäß zur Last fallende Vergehen wider die +Sittlichkeit in Verbindung mit daraus resultierender +Veranlassung zur Selbstentleibung ausführlich zu +vernehmen. —</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich habe ...</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Sie haben die genau präzisierten Fragen, die +ich Ihnen der Reihe nach vorlege, eine um die +andere, mit einem schlichten und bescheidenen „Ja“ +oder „Nein“ zu beantworten. — Habebald!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_97" id="Seite_97">[97]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Habebald</p> + +<p>Befehlen, Herr Rektor!</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Die Akten! — — Ich ersuche unseren Schriftführer, +Herrn Kollega Fliegentod, von nun an +möglichst wortgetreu zu protokollieren. — <span class="regie">(Zu +Melchior)</span> Kennen Sie dieses Schriftstück?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ja.</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Wissen Sie, was dieses Schriftstück enthält?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ja.</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Ist die Schrift dieses Schriftstücks die Ihrige?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ja.</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Verdankt dieses unflätige Schriftstück Ihnen +seine Abfassung?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ja. — Ich ersuche Sie, Herr Rektor, mir +<em class="gesperrt">eine</em> Unflätigkeit darin nachzuweisen.</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Sie haben die genau präzisierten Fragen, die +ich Ihnen vorlege, mit einem schlichten und bescheidenen +„Ja“ oder „Nein“ zu beantworten!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_98" id="Seite_98">[98]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich habe nicht mehr und nicht weniger geschrieben, +als was eine Ihnen sehr wohlbekannte +Tatsache ist!</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Dieser Schandbube!!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich ersuche Sie, mir einen Verstoß gegen +die Sittlichkeit in der Schrift zu zeigen!</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Bilden Sie sich ein, ich hätte Lust, zu Ihrem +Hanswurst an Ihnen zu werden?! — Habebald ...!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich habe ...</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Sie haben so wenig Ehrerbietung vor der +Würde Ihrer versammelten Lehrerschaft, wie Sie +Anstandsgefühl für das dem Menschen eingewurzelte +Empfinden für die Diskretion der Verschämtheit +einer sittlichen Weltordnung haben! +— Habebald!!</p> + +<p class="sprecher">Habebald</p> + +<p>Befehlen, Herr Rektor!</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Es ist ja der <em class="gesperrt">Langenscheidt</em> zur dreistündigen +Erlernung des aggluttierenden Volapük!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_99" id="Seite_99">[99]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich habe ...</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Ich ersuche unseren Schriftführer, Herrn +Kollega Fliegentod, das Protokoll zu schließen!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich habe ...</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Sie haben sich ruhig zu verhalten!! — Habebald!</p> + +<p class="sprecher">Habebald</p> + +<p>Befehlen, Herr Rektor!</p> + +<p class="sprecher">Sonnenstich</p> + +<p>Führen Sie Ihn hinunter!</p> + + +<h3>Zweite Szene</h3> + +<p class="regie"><i class="gesperrt">Friedhof</i> in strömendem Regen. — Vor einem offenen +Grabe steht Pastor <i class="gesperrt">Kahlbauch</i>, den aufgespannten +Schirm in der Hand. Zu seiner Rechten Rentier <i class="gesperrt">Stiefel</i>, +dessen Freund <i class="gesperrt">Ziegenmelker</i> und Onkel <i class="gesperrt">Probst</i>. Zur +Linken Rektor <i class="gesperrt">Sonnenstich</i> mit Professor <i class="gesperrt">Knochenbruch</i>. +Gymnasiasten schließen den Kreis. In einiger +Entfernung vor einem halbverfallenen Grabmonument +<i class="gesperrt">Martha</i> und <i class="gesperrt">Ilse</i></p> + +<p class="sprecher">Pastor Kahlbauch</p> + +<p>... Denn wer die Gnade, mit der der +ewige Vater den in Sünden Geborenen gesegnet, +von sich wies, er wird des <em class="gesperrt">geistigen</em> Todes sterben! +— Wer aber in eigenwilliger fleischlicher Verleugnung<span class="pagenum"><a name="Seite_100" id="Seite_100">[100]</a></span> +der Gott gebührenden Ehre dem Bösen +gelebt und gedient, er wird des <em class="gesperrt">leiblichen</em> Todes +sterben! — Wer jedoch das Kreuz, das der Allerbarmer +ihm um der Sünde willen auferlegt, +freventlich von sich geworfen, wahrlich, wahrlich, +ich sage euch, der wird des <em class="gesperrt">ewigen</em> Todes +sterben! — (Er wirft eine Schaufel voll Erde in die +Gruft) — Uns aber, die wir fort und fort +wallen den Dornenpfad, lasset den Herrn, den +allgütigen, preisen und ihm danken für seine +unerforschliche Gnadenwahl. Denn so wahr <em class="gesperrt">dieser</em> +eines <em class="gesperrt">dreifachen</em> Todes starb, so wahr wird Gott +der Herr den Gerechten einführen zur Seligkeit +und zum ewigen Leben. — Amen.</p> + +<p class="sprecher">Rentier Stiefel</p> + +<p class="regie">(mit tränenerstickter Stimme, wirft eine Schaufel voll +Erde in die Gruft)</p> + +<p>Der Junge war nicht von mir! — Der Junge +war nicht von mir! — Der Junge hat mir von +kleinauf nicht gefallen!</p> + +<p class="sprecher">Rektor Sonnenstich</p> + +<p class="regie">(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)</p> + +<p>Der Selbstmord als der denkbar bedenklichste +Verstoß gegen die sittliche Weltordnung ist der denkbar +bedenklichste Beweis für die sittliche Weltordnung, +indem der Selbstmörder der sittlichen<span class="pagenum"><a name="Seite_101" id="Seite_101">[101]</a></span> +Weltordnung den Urteilsspruch zu sprechen erspart +und ihr Bestehen bestätigt.</p> + +<p class="sprecher">Professor Knochenbruch</p> + +<p class="regie">(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)</p> + +<p>Verbummelt — versumpft — verhurt — +verlumpt — und verludert!</p> + +<p class="sprecher">Onkel Probst</p> + +<p class="regie">(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)</p> + +<p>Meiner eigenen Mutter hätte ich′s nicht geglaubt, +daß ein Kind so niederträchtig an seinen +Eltern zu handeln vermöchte!</p> + +<p class="sprecher">Freund Ziegenmelker</p> + +<p class="regie">(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)</p> + +<p>An einem Vater zu handeln vermöchte, der +nun seit zwanzig Jahren von früh bis spät keinen +Gedanken mehr hegt, als das Wohl seines Kindes!</p> + +<p class="sprecher">Pastor Kahlbauch</p> + +<p class="regie">(Rentier Stiefel die Hand drückend)</p> + +<p>Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle +Dinge zum besten dienen. 1. Korinth. 12, 15. — +Denken Sie der trostlosen Mutter und suchen Sie +ihr das Verlorene durch verdoppelte Liebe zu +ersetzen!</p> + +<p class="sprecher">Rektor Sonnenstich</p> + +<p class="regie">(Rentier Stiefel die Hand drückend)</p> + +<p>Wir hätten ihn ja wahrscheinlich doch nicht +promovieren können!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_102" id="Seite_102">[102]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Professor Knochenbruch</p> + +<p class="regie">(Rentier Stiefel die Hand drückend)</p> + +<p>Und wenn wir ihn promoviert hätten, im +nächsten Frühling wäre er des allerbestimmtesten +sitzen geblieben!</p> + +<p class="sprecher">Onkel Probst</p> + +<p class="regie">(Rentier Stiefel die Hand drückend)</p> + +<p>Jetzt hast du vor allem die Pflicht, an dich +zu denken. Du bist Familienvater ...!</p> + +<p class="sprecher">Freund Ziegenmelker</p> + +<p class="regie">(Rentier Stiefel die Hand drückend)</p> + +<p>Vertraue dich meiner Führung! — Ein Hundewetter, +daß einem die Därme schlottern! — Wer +da nicht unverzüglich mit einem Grogg eingreift, +hat seine Herzklappenaffektion weg!</p> + +<p class="sprecher">Rentier Stiefel</p> + +<p class="regie">(sich die Nase schneuzend)</p> + +<p>Der Junge war nicht von mir ... der +Junge war nicht von mir ...</p> + +<p class="regie">(Rentier Stiefel, geleitet von Pastor Kahlbauch, Rektor +Sonnenstich, Professor Knochenbruch, Onkel Probst und +Freund Ziegenmelker ab. — Der Regen läßt nach)</p> + +<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p> + +<p class="regie">(wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft)</p> + +<p>Ruhe in Frieden, du ehrliche Haut! — Grüße +mir meine ewigen Bräute, hingeopferten Angedenkens,<span class="pagenum"><a name="Seite_103" id="Seite_103">[103]</a></span> +und empfiehl mich ganz ergebenst zu +Gnaden dem lieben Gott — armer Tollpatsch +du! — Sie werden dir um deiner Engelseinfalt +willen noch eine Vogelscheuche aufs Grab setzen ...</p> + +<p class="sprecher">Georg</p> + +<p>Hat sich die Pistole gefunden?</p> + +<p class="sprecher">Robert</p> + +<p>Man braucht keine Pistole zu suchen!</p> + +<p class="sprecher">Ernst</p> + +<p>Hast du ihn gesehen, Robert?</p> + +<p class="sprecher">Robert</p> + +<p>Verfluchter, verdammter Schwindel! — Wer +hat ihn gesehen? — Wer denn?!</p> + +<p class="sprecher">Otto</p> + +<p>Da steckt′s nämlich! — Man hatte ihm ein +Tuch übergeworfen.</p> + +<p class="sprecher">Georg</p> + +<p>Hing die Zunge heraus?</p> + +<p class="sprecher">Robert</p> + +<p>Die Augen! — Deshalb hatte man das Tuch +drübergeworfen.</p> + +<p class="sprecher">Otto</p> + +<p>Grauenhaft!</p> + +<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p> + +<p>Weißt du bestimmt, daß er sich erhängt hat?</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_104" id="Seite_104">[104]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Ernst</p> + +<p>Man sagt, er habe gar keinen Kopf mehr.</p> + +<p class="sprecher">Otto</p> + +<p>Unsinn! — Gewäsch!</p> + +<p class="sprecher">Robert</p> + +<p>Ich habe ja den Strick in Händen gehabt! +— Ich habe noch keinen Erhängten gesehen, +den man nicht zugedeckt hätte.</p> + +<p class="sprecher">Georg</p> + +<p>Auf gemeinere Art hätte er sich nicht empfehlen +können!</p> + +<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p> + +<p>Was Teufel, das Erhängen soll ganz hübsch +sein!</p> + +<p class="sprecher">Otto</p> + +<p>Mir ist er nämlich noch fünf Mark schuldig. +Wir hatten gewettet. Er schwor, er werde sich +halten.</p> + +<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p> + +<p>Du bist schuld, daß er daliegt. Du hast ihn +Prahlhans genannt.</p> + +<p class="sprecher">Otto</p> + +<p>Paperlapap, ich muß auch büffeln die Nächte +durch. Hätte er die griechische Literaturgeschichte +gelernt, er hätte sich nicht zu erhängen brauchen!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_105" id="Seite_105">[105]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Ernst</p> + +<p>Hast du den Aufsatz, Otto?</p> + +<p class="sprecher">Otto</p> + +<p>Erst die Einleitung.</p> + +<p class="sprecher">Ernst</p> + +<p>Ich weiß gar nicht, was schreiben.</p> + +<p class="sprecher">Georg</p> + +<p>Warst du denn nicht da, als uns Affenschmalz +die Disposition gab?</p> + +<p class="sprecher">Hänschen Rilow</p> + +<p>Ich stopsle mir was aus dem <cite class="gesperrt">Demokrit</cite> zusammen.</p> + +<p class="sprecher">Ernst</p> + +<p>Ich will sehen, ob sich im <cite class="gesperrt">kleinen Meyer</cite> +was finden läßt.</p> + +<p class="sprecher">Otto</p> + +<p>Hast du den Vergil schon auf morgen? — — +— — —</p> + +<p class="regie">(Die Gymnasiasten ab. — Martha und Ilse kommen +ans Grab.)</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Rasch, rasch! — Dort hinten kommen die +Totengräber.</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Wollen wir nicht lieber warten, Ilse?</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_106" id="Seite_106">[106]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Wozu? — Wir bringen neue. Immer neue +und neue! — Es wachsen genug.</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Du hast recht, Ilse! — <span class="regie">(Sie wirft einen Epheukranz +in die Gruft. Ilse öffnet ihre Schürze und läßt +eine Fülle frischer Anemonen auf den Sarg regnen.)</span></p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Ich grabe unsere Rosen aus. Schläge bekomme +ich ja doch! — Hier werden sie gedeihen.</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Ich will sie begießen, so oft ich vorbeikomme. +Ich hole Vergißmeinnicht vom Goldbach herüber +und Schwertlilien bringe ich von Hause mit.</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Es soll eine Pracht werden! Eine Pracht!</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Ich war schon über der Brücke drüben, da +hört′ ich den Knall.</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Armes Herz!</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Und ich weiß auch den Grund, Martha.</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Hat er dir was gesagt?</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_107" id="Seite_107">[107]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Parallelepipedon! — Aber sag′ es niemandem.</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Meine Hand darauf.</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>— Hier ist die Pistole.</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Deshalb hat man sie nicht gefunden!</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Ich nahm sie ihm gleich aus der Hand, als +ich am Morgen vorbeikam.</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Schenk′ sie mir, Ilse! — Bitte, schenk′ sie +mir!</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Nein, die behalt′ ich zum Andenken.</p> + +<p class="sprecher">Martha</p> + +<p>Ist′s wahr, Ilse, daß er ohne Kopf drinliegt?</p> + +<p class="sprecher">Ilse</p> + +<p>Er muß sie mit Wasser geladen haben! — +Die Königskerzen waren über und über mit +Blut besprengt. Sein Hirn hing in den Weiden +umher.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_108" id="Seite_108">[108]</a></span></p> + + +<h3>Dritte Szene</h3> + +<p class="regie"><i class="gesperrt">Herr und Frau Gabor</i>.</p> + +<p class="sprecher">Frau Gabor</p> + +<p>... Man hatte einen Sündenbock nötig. +Man durfte die überall lautwerdenden Anschuldigungen +nicht auf sich beruhen lassen. Und +nun mein Kind das Unglück gehabt, den Zöpfen +im richtigen Moment in den Schuß zu laufen, +nun soll ich, die eigene Mutter, das Werk seiner +Henker vollenden helfen? — Bewahre mich Gott +davor!</p> + +<p class="sprecher">Herr Gabor</p> + +<p>— Ich habe deine geistvolle Erziehungsmethode +vierzehn Jahre schweigend mit angeseh′n. +Sie widersprach meinen Begriffen. Ich hatte +von jeher der Überzeugung gelebt, ein Kind sei +kein Spielzeug; ein Kind habe Anspruch auf +unsern heiligsten Ernst. Aber ich sagte mir, +wenn der Geist und die Grazie des Einen die +ernsten Grundsätze eines Andern zu ersetzen im +stande sind, so mögen sie den ernsten Grundsätzen +vorzuziehen sein. — — Ich mache dir +keinen Vorwurf, Fanny. Aber vertritt mir den +Weg nicht, wenn ich dein und mein Unrecht an +dem Jungen gutzumachen suche!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_109" id="Seite_109">[109]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Frau Gabor</p> + +<p>Ich vertrete dir den Weg, so lange ein +Tropfen warmen Blutes in mir wallt! In der +Korrektionsanstalt ist mein Kind verloren. Eine +Verbrechernatur mag sich in solchen Instituten +bessern lassen. Ich weiß es nicht. Ein gutgearteter +Mensch wird so gewiß zum Verbrecher +darin, wie die Pflanze verkommt, der du Luft +und Sonne entziehst. Ich bin mir keines +Unrechtes bewußt. Ich danke heute wie immer +dem Himmel, daß er mir den Weg gezeigt, in +meinem Kinde einen rechtlichen Charakter und +eine edle Denkungsweise zu wecken. Was hat +er denn so Schreckliches getan? Es soll mir +nicht einfallen, ihn entschuldigen zu wollen — +daran, daß man ihn aus der Schule gejagt +trägt er keine Schuld! Und wär′ es sein Verschulden, +so hat er es ja gebüßt. Du magst +das alles besser wissen. Du magst theoretisch +vollkommen im Rechte sein. Aber ich kann mir +mein einziges Kind nicht gewaltsam in den Tod +jagen lassen!</p> + +<p class="sprecher">Herr Gabor</p> + +<p>Das hängt nicht von uns ab, Fanny. — +Das ist ein Risiko, das wir mit unserem Glück +auf uns genommen. Wer zu schwach für den<span class="pagenum"><a name="Seite_110" id="Seite_110">[110]</a></span> +Marsch ist, bleibt am Wege. Und es ist schließlich +das Schlimmste nicht, wenn das Unausbleibliche +zeitig kommt. Möge uns der Himmel davor behüten! +Unsere Pflicht ist es, den Wankenden zu +festigen, so lange die Vernunft Mittel weiß. — +Daß man ihn aus der Schule gejagt, ist nicht +seine Schuld. Wenn man ihn nicht aus der +Schule gejagt hätte, es wäre auch seine Schuld +nicht! — Du bist zu leichtherzig. Du erblickst +vorwitzige Tändelei, wo es sich um Grundschäden des +Charakters handelt. Ihr Frauen seid nicht berufen, +über solche Dinge zu urteilen. Wer <em class="gesperrt">das</em> schreiben +kann, was Melchior schreibt, der muß im innersten +Kern seines Wesens angefault sein. Das Mark ist ergriffen. +Eine halbwegs gesunde Natur läßt sich zu so +etwas nicht herbei. Wir sind alle keine Heiligen; jeder +von uns irrt vom schnurgeraden Pfad ab. Seine +Schrift hingegen vertritt das <em class="gesperrt">Prinzip</em>. Seine Schrift +entspricht keinem zufälligen gelegentlichen Fehltritt; +sie dokumentiert mit schaudererregender Deutlichkeit +den aufrichtig gehegten <em class="gesperrt">Vorsatz</em>, jene natürliche +Veranlagung, jenen Hang zum <em class="gesperrt">Unmoralischen</em>, +weil es das Unmoralische ist. Seine Schrift +manifestiert jene exzeptionelle geistige Korruption, +die wir Juristen mit dem Ausdruck „<em class="gesperrt">moralischer +Irrsinn</em>“ bezeichnen. — Ob sich gegen seinen<span class="pagenum"><a name="Seite_111" id="Seite_111">[111]</a></span> +Zustand etwas ausrichten läßt, vermag ich nicht +zu sagen. <em class="gesperrt">Wenn</em> wir uns einen Hoffnungsschimmer +bewahren wollen, und in erster Linie +unser fleckenloses Gewissen als die Eltern des +Betreffenden, so ist es Zeit für uns, mit Entschiedenheit +und mit allem Ernste ans Werk zu +gehen. — Laß uns nicht länger streiten, Fanny! +Ich fühle, wie schwer es dir wird. Ich weiß, +daß du ihn vergötterst, weil er so ganz deinem +genialischen Naturell entspricht. Sei stärker als +du! Zeig′ dich deinem Sohn gegenüber endlich +einmal selbstlos!</p> + +<p class="sprecher">Frau Gabor</p> + +<p>Hilf mir Gott, wie läßt sich dagegen aufkommen! +— Man muß ein <em class="gesperrt">Mann</em> sein, um so +sprechen zu können! Man muß ein <em class="gesperrt">Mann</em> sein, +um sich so vom toten Buchstaben verblenden +lassen zu können! Man muß ein <em class="gesperrt">Mann</em> sein, +um so blind das in die Augen Springende nicht +zu sehn! — Ich habe gewissenhaft und besonnen +an Melchior gehandelt vom ersten Tag an, da +ich ihn für die Eindrücke seiner Umgebung empfänglich +fand. Sind wir denn für den <em class="gesperrt">Zufall</em> +verantwortlich?! Dir kann morgen ein Dachziegel +auf den Kopf fallen, und dann kommt dein +Freund — dein Vater, und statt deine Wunde<span class="pagenum"><a name="Seite_112" id="Seite_112">[112]</a></span> +zu pflegen, setzt er den Fuß auf dich! — Ich +lasse mein Kind nicht vor meinen Augen hinmorden. +Dafür bin ich seine Mutter. — Es ist +unfaßbar! Es ist gar nicht zu glauben! Was +schreibt er denn in aller Welt! Ist′s denn nicht +der eklatanteste Beweis für seine Harmlosigkeit, +für seine Dummheit, für seine kindliche Unberührtheit, +daß er so etwas schreiben kann! — +Man muß keine Ahnung von Menschenkenntnis +besitzen — man muß ein vollständig entseelter +Bureaukrat oder ganz nur Beschränktheit sein, +um hier moralische Korruption zu wittern! — +— Sag′ was du willst. Wenn du Melchior in +die Korrektionsanstalt bringst, dann sind <em class="gesperrt">wir</em> +geschieden! Und dann laß mich sehen, ob ich +nicht irgendwo in der Welt Hilfe und Mittel +finde, mein Kind seinem Untergange zu entreißen.</p> + +<p class="sprecher">Herr Gabor</p> + +<p>Du wirst dich drein schicken müssen — wenn +nicht heute, dann morgen. Leicht wird es keinem, +mit dem Unglück zu diskontieren. Ich werde dir +zur Seite stehen, und wenn dein Mut zu erliegen +droht, keine Mühe und kein Opfer scheuen, dir +das Herz zu entlasten. Ich sehe die Zukunft so +grau, so wolkig — es fehlte nur noch, daß auch +du mir noch verloren gingst.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_113" id="Seite_113">[113]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Frau Gabor</p> + +<p>Ich sehe ihn nicht wieder; ich sehe ihn nicht +wieder. Er erträgt das Gemeine nicht. Er findet +sich nicht ab mit dem Schmutz. Er zerbricht den +Zwang; das entsetzlichste Beispiel schwebt ihm vor +Augen! — Und sehe ich ihn wieder — Gott, Gott, +dieses frühlingsfrohe Herz — sein helles Lachen +— alles, alles — seine kindliche Entschlossenheit, +mutig zu kämpfen für Gut und Recht — o dieser +Morgenhimmel, wie ich ihn licht und rein in seiner +Seele gehegt als mein höchstes Gut..... Halte +dich an mich, wenn das Unrecht um Sühne schreit! +Halte dich an mich! Verfahre mit mir wie du +willst! <em class="gesperrt">Ich</em> trage die Schuld. — Aber laß deine +fürchterliche Hand von dem Kind weg.</p> + +<p class="sprecher">Herr Gabor</p> + +<p><em class="gesperrt">Er</em> hat sich vergangen!</p> + +<p class="sprecher">Frau Gabor</p> + +<p><em class="gesperrt">Er hat sich nicht vergangen!</em></p> + +<p class="sprecher">Herr Gabor</p> + +<p>Er hat sich vergangen! — — — Ich hätte +alles darum gegeben, es deiner grenzenlosen Liebe +ersparen zu dürfen. — — Heute morgen kommt +eine Frau zu mir, vergeistert, kaum ihrer Sprache +mächtig, mit diesem Brief in der Hand — einem +Brief an ihre fünfzehnjährige Tochter. Aus<span class="pagenum"><a name="Seite_114" id="Seite_114">[114]</a></span> +dummer Neugierde habe sie ihn erbrochen; das +Mädchen war nicht zu Haus. — In dem Briefe +erklärt Melchior dem fünfzehnjährigen Kind, daß +ihm seine Handlungsweise keine Ruhe lasse, er +habe sich an ihr versündigt etc. etc., werde indessen +natürlich für alles einstehen. Sie möge sich nicht +grämen, auch wenn sie Folgen spüre. Er sei +bereits auf dem Wege Hilfe zu schaffen; seine +Relegation erleichtere ihm das. Der ehemalige +Fehltritt könne noch zu ihrem Glücke führen — +und was des unsinnigen Gewäsches mehr ist.</p> + +<p class="sprecher">Frau Gabor</p> + +<p>Unmöglich!!</p> + +<p class="sprecher">Herr Gabor</p> + +<p>Der Brief ist gefälscht. Es liegt Betrug vor. +Man sucht sich seine stadtbekannte Relegation nutzbar +zu machen. Ich habe mit dem Jungen noch +nicht gesprochen — aber sieh bitte die Hand! +Sieh die Schreibweise!</p> + +<p class="sprecher">Frau Gabor</p> + +<p>Ein unerhörtes, schamloses Bubenstück!</p> + +<p class="sprecher">Herr Gabor</p> + +<p>Das fürchte ich!</p> + +<p class="sprecher">Frau Gabor</p> + +<p>Nein, nein — nie und nimmer!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_115" id="Seite_115">[115]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Herr Gabor</p> + +<p>Um so besser wird es für uns sein. — Die +Frau fragt mich händeringend, was sie tun +solle. Ich sagte ihr, sie solle ihre fünfzehnjährige +Tochter nicht auf Heuböden herumklettern +lassen. Den Brief hat sie mir glücklicherweise +dagelassen. — Schicken wir Melchior nun auf +ein anderes Gymnasium, wo er nicht einmal +unter elterlicher Aufsicht steht, so haben wir in +drei Wochen den nämlichen Fall — neue Relegation +— sein frühlingsfreudiges Herz gewöhnt +sich nachgerade daran. — Sag′ mir, Fanny, wo +soll ich hin mit dem Jungen?!</p> + +<p class="sprecher">Frau Gabor</p> + +<p>— In die Korrektionsanstalt —</p> + +<p class="sprecher">Herr Gabor</p> + +<p>In die ...?</p> + +<p class="sprecher">Frau Gabor</p> + +<p>... Korrektionsanstalt!</p> + +<p class="sprecher">Herr Gabor</p> + +<p>Er findet dort in erster Linie, was ihm zu +Hause ungerechterweise vorenthalten wurde; +eherne Disziplin, Grundsätze, und einen moralischen +Zwang, dem er sich unter allen Umständen zu +fügen hat. — Im übrigen ist die Korrektionsanstalt +nicht der Ort des Schreckens, den du dir<span class="pagenum"><a name="Seite_116" id="Seite_116">[116]</a></span> +darunter denkst. Das Hauptgewicht legt man in +der Anstalt auf Entwicklung einer christlichen +Denk- und Empfindungsweise. Der Junge lernt +dort endlich, das <em class="gesperrt">Gute</em> wollen statt des <em class="gesperrt">Interessanten</em>, +und bei seinen Handlungen nicht sein +Naturell, sondern das <em class="gesperrt">Gesetz</em> in Frage ziehen. +— — Vor einer halben Stunde erhalte ich ein +Telegramm von meinem Bruder, das mir die +Aussagen der Frau bestätigt. Melchior hat sich +ihm anvertraut und ihn um 200 Mark zur +Flucht nach England gebeten ...</p> + +<p class="sprecher">Frau Gabor</p> + +<p class="regie">(bedeckt ihr Gesicht)</p> + +<p>Barmherziger Himmel!</p> + + +<h3>Vierte Szene</h3> + +<p class="regie"><i class="gesperrt">Korrektionsanstalt</i>. — Ein Korridor. — <i class="gesperrt">Diethelm</i>, +<i class="gesperrt">Reinhold</i>, <i class="gesperrt">Ruprecht</i>, <i class="gesperrt">Helmuth</i>, <i class="gesperrt">Gaston</i> und +<i class="gesperrt">Melchior</i>.</p> + +<p class="sprecher">Diethelm</p> + +<p>Hier ist ein Zwanzigpfennigstück!</p> + +<p class="sprecher">Reinhold</p> + +<p>Was soll′s damit?</p> + +<p class="sprecher">Diethelm</p> + +<p>Ich leg es auf den Boden. Ihr stellt euch +drum herum. Wer es trifft, der hat′s.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_117" id="Seite_117">[117]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Ruprecht</p> + +<p>Machst du nicht mit, Melchior?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Nein, ich danke.</p> + +<p class="sprecher">Helmuth</p> + +<p>Der Joseph!</p> + +<p class="sprecher">Gaston</p> + +<p>Er kann nicht mehr. Er ist zur Rekreation +hier.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p class="regie">(für sich)</p> + +<p>Es ist nicht klug, daß ich mich separiere. Alles +hält mich im Auge. Ich muß mitmachen — +oder die Kreatur geht zum Teufel. — — Die +Gefangenschaft macht sie zu Selbstmördern. — +— Brech ich den Hals, ist es gut! Komme ich +davon, ist es auch gut! Ich kann nur gewinnen. +— Ruprecht wird mein Freund, er besitzt hier +Kenntnisse. — Ich werde ihm die Kapitel von +Juda′s Schnur Thamar, von Moab, von Loth +und seiner Sippe, von der Königin Vasti und +der Abisag von Sunem zum besten geben. — +Er hat die verunglückteste Physiognomie auf der +Abteilung.</p> + +<p class="sprecher">Ruprecht</p> + +<p>Ich hab′s!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_118" id="Seite_118">[118]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Helmuth</p> + +<p>Ich komme noch!</p> + +<p class="sprecher">Gaston</p> + +<p>Übermorgen vielleicht!</p> + +<p class="sprecher">Helmuth</p> + +<p>Gleich! — Jetzt! — O Gott, o Gott ...</p> + +<p class="sprecher">Alle</p> + +<p><span class="antiqua" lang="la" xml:lang="la">Summa — summa cum laude!!</span></p> + +<p class="sprecher">Ruprecht</p> + +<p class="regie">(das Stück nehmend)</p> + +<p>Danke schön!</p> + +<p class="sprecher">Helmuth</p> + +<p>Her, du Hund!</p> + +<p class="sprecher">Ruprecht</p> + +<p>Du Schweinetier?</p> + +<p class="sprecher">Helmuth</p> + +<p>Galgenvogel!!</p> + +<p class="sprecher">Ruprecht</p> + +<p class="regie">(schlägt ihn ins Gesicht)</p> + +<p>— Da! <span class="regie">(rennt davon)</span></p> + +<p class="sprecher">Helmuth</p> + +<p class="regie">(ihm nachrennend)</p> + +<p>Den schlag ich tot!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_119" id="Seite_119">[119]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Die Übrigen</p> + +<p class="regie">(rennen hinterdrein)</p> + +<p>Hetz, Packan! Hetz! Hetz! Hetz!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p class="regie">(allein, gegen das Fenster gewandt)</p> + +<p>— Da geht der Blitzableiter hinunter. — +Man muß ein Taschentuch drumwickeln. — Wenn +ich an sie denke, schießt mir immer das Blut in +den Kopf. Und Moritz liegt mir wie Blei in +den Füßen. — — — Ich gehe zur Redaktion. +Bezahlen Sie mich per Hundert; ich kolportiere! +— sammle Tagesneuigkeiten — schreibe — lokal +— — ethisch — — psychophysisch ... man +verhungert nicht mehr so leicht. Volksküche, Café +Temperence. — Das Haus ist sechzig Fuß hoch +und der Verputz bröckelt ab ... Sie haßt mich +— sie haßt mich, weil ich sie der Freiheit beraubt. +Handle ich, wie ich will, es bleibt Vergewaltigung. +— Ich darf einzig hoffen, im Laufe der Jahre +allmählich ... Über acht Tage ist Neumond. +Morgen schmiere ich die Angeln. Bis Sonnabend +muß ich unter allen Umständen wissen, wer den +Schlüssel hat. — Sonntag Abend in der Andacht +kataleptischer Anfall — will′s Gott, wird sonst +niemand krank! — Alles liegt so klar, als wär′ +es geschehen, vor mir. Über das Fenstergesims<span class="pagenum"><a name="Seite_120" id="Seite_120">[120]</a></span> +gelang ich mit Leichtigkeit — ein Schwung — +ein Griff — aber man muß ein Taschentuch +drumwickeln. — — Da kommt der Großinquisitor. +<span class="regie">(Ab nach links.)</span></p> + +<p class="regie">(Dr. <i class="gesperrt">Prokrustes</i> mit einem <i class="gesperrt">Schlossermeister</i> von +rechts.)</p> + +<p class="sprecher">Dr. Prokrustes</p> + +<p>... Die Fenster liegen zwar im dritten Stock +und unten sind Brennesseln gepflanzt. Aber was +kümmert sich die Entartung um Brennesseln. — +Vergangenen Winter stieg uns einer zur Dachluke +hinaus und wir hatten die ganze Schererei +mit dem Abholen, Hinbringen und Beisetzen ...</p> + +<p class="sprecher">Der Schlossermeister</p> + +<p>Wünschen Sie die Gitter aus Schmiedeeisen?</p> + +<p class="sprecher">Dr. Prokrustes</p> + +<p>Aus Schmiedeeisen — und da man sie nicht +einlassen kann, vernietet.</p> + + +<h3>Fünfte Szene</h3> + +<p class="regie">Ein <i class="gesperrt">Schlafgemach</i>. — <i class="gesperrt">Frau Bergmann</i>, <i class="gesperrt">Ina +Müller</i> und Medizinalrat Dr. <i class="gesperrt">v. Brausepulver</i>. — +<i class="gesperrt">Wendla</i> im Bett.</p> + +<p class="sprecher">Dr. von Brausepulver</p> + +<p>Wie alt sind Sie denn eigentlich?</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_121" id="Seite_121">[121]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Vierzehn ein halb.</p> + +<p class="sprecher">Dr. von Brausepulver</p> + +<p>Ich verordne die <cite class="gesperrt">Blaud</cite>′schen Pillen seit +fünfzehn Jahren und habe in einer großen +Anzahl von Fällen die eklatantesten Erfolge beobachtet. +Ich ziehe sie dem Lebertran und den +Stahlweinen vor. Beginnen sie mit drei bis vier +Pillen pro Tag und steigern Sie so rasch Sie es +eben vertragen. Dem Fräulein Elfriede Baronesse +von Witzleben hatte ich verordnet, jeden dritten +Tag um eine Pille zu steigern. Die Baronesse +hatte mich mißverstanden und steigerte jeden Tag +um drei Pillen. Nach kaum drei Wochen schon +konnte sich die Baronesse mit ihrer Frau Mama +zur Nachkur nach Pyrmont begeben. — Von +ermüdenden Spaziergängen und Extramahlzeiten +dispensiere ich Sie. Dafür versprechen Sie mir, +liebes Kind, sich um so fleißiger Bewegung +machen zu wollen und ungeniert Nahrung zu +fordern, sobald sich die Lust dazu wieder einstellt. +Dann werden diese Herzbeklemmungen bald nachlassen +— und der Kopfschmerz, das Frösteln, der +Schwindel — und unsere schrecklichen Verdauungsstörungen. +Fräulein Elfriede Baronesse von +Witzleben genoß schon acht Tage nach begonnener<span class="pagenum"><a name="Seite_122" id="Seite_122">[122]</a></span> +Kur ein ganzes Brathühnchen mit +jungen Pellkartoffeln zum Frühstück.</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten, +Herr Medizinalrat?</p> + +<p class="sprecher">Dr. von Brausepulver</p> + +<p>Ich danke Ihnen, liebe Frau Bergmann. +Mein Wagen wartet. Lassen Sie sich′s nicht so +zu Herzen gehen. In wenigen Wochen ist unsere +liebe kleine Patientin wieder frisch und munter +wie eine Gazelle. Seien Sie getrost. — Guten +Tag, Frau Bergmann. Guten Tag, liebes Kind. +Guten Tag, meine Damen. Guten Tag. <span class="regie">(Frau +Bergmann geleitet ihn vor die Tür.)</span></p> + +<p class="sprecher">Ina</p> + +<p class="regie">(am Fenster)</p> + +<p>— Nun färbt sich eure Platane schon +wieder bunt. — Siehst du′s vom Bett aus? — +Eine kurze Pracht, kaum recht der Freude wert, +wie man sie so kommen und gehen sieht. — Ich +muß nun auch bald gehen. Müller erwartet +mich vor der Post und ich muß zuvor noch zur +Schneiderin. Mucki bekommt seine ersten Höschen, +und Karl soll einen neuen Trikotanzug auf den +Winter haben.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_123" id="Seite_123">[123]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Manchmal wird mir so selig — alles Freude +und Sonnenglanz. Hätt′ ich geahnt, daß es +einem so wohl um′s Herz werden kann! Ich +möchte hinaus, im Abendschein über die Wiesen +gehn, Himmelsschlüssel suchen den Fluß entlang +und mich an′s Ufer setzen und träumen ... +Und dann kommt das <em class="gesperrt">Zahnweh</em>, und ich meine, +daß ich morgen am Tag sterben muß; mir wird +heiß und kalt, vor den Augen verdunkelt sich′s, +und dann flattert das Untier herein — — — +So oft ich aufwache, seh′ ich Mutter weinen. +O, das tut mir so weh — ich kann′s dir nicht +sagen, Ina!</p> + +<p class="sprecher">Ina</p> + +<p>— Soll ich dir nicht das Kopfkissen höher +legen?</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p class="regie">(kommt zurück)</p> + +<p>Er meint, das Erbrechen werde sich auch +geben; und du sollst dann nur ruhig wieder +aufstehn ... Ich glaube auch, es ist besser, +wenn du bald wieder aufstehst, Wendla.</p> + +<p class="sprecher">Ina</p> + +<p>Bis ich das nächste Mal vorspreche, springst +du vielleicht schon wieder im Haus herum. — +Leb′ wohl, Mutter. Ich muß durchaus noch zur<span class="pagenum"><a name="Seite_124" id="Seite_124">[124]</a></span> +Schneiderin. Behüt′ dich Gott, liebe Wendla. +<span class="regie">(Küßt sie)</span> Recht, recht baldige Besserung!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Leb′ wohl, Ina. — Bring′ mir Himmelsschlüssel +mit, wenn du wiederkommst. Adieu. +Grüße deine Jungens von mir.</p> + +<p class="regie">(Ina ab.)</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Was hat er noch gesagt, Mutter, als er +draußen war?</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Er hat nichts gesagt. — Er sagte, Fräulein +von Witzleben habe auch zu Ohnmachten geneigt. +Es sei das fast immer so bei der Bleichsucht.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Hat er gesagt, Mutter, daß ich die Bleichsucht +habe?</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Du sollest Milch trinken und Fleisch und Gemüse +essen, wenn der Appetit zurückgekehrt sei.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>O Mutter, Mutter, ich glaube, ich habe nicht +die Bleichsucht....</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Du hast die Bleichsucht, Kind. Sei ruhig, +Wendla, sei ruhig; du hast die Bleichsucht.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_125" id="Seite_125">[125]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Nein, Mutter, nein! Ich weiß es. Ich fühl′ +es. Ich habe nicht die Bleichsucht. Ich habe +die Wassersucht ...</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Du hast die Bleichsucht. Er hat ja gesagt, +daß du die Bleichsucht hast. Beruhige dich, Mädchen. +Es wird besser werden.</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Es wird nicht besser werden. Ich habe die +Wassersucht. Ich muß sterben, Mutter. — O +Mutter, ich muß sterben!</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Du mußt nicht sterben, Kind! Du mußt +nicht sterben..... Barmherziger Himmel, du +mußt nicht sterben!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Aber warum weinst du dann so jammervoll?</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Du mußt nicht sterben — Kind! Du hast +nicht die Wassersucht. Du hast ein Kind, Mädchen! +Du hast ein Kind! — O, warum hast du +mir das getan!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>— ich habe dir nichts getan —</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_126" id="Seite_126">[126]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>O leugne nicht noch, Wendla! — Ich weiß +alles. Sieh′, ich hätt′ es nicht vermocht, dir ein +Wort zu sagen. — Wendla, meine Wendla ...!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Aber das ist ja nicht möglich, Mutter. Ich +bin ja doch nicht verheiratet ...!</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Großer, gewaltiger Gott —, das ist′s ja, +daß du nicht verheiratet bist! Das ist ja das +Fürchterliche! — Wendla, Wendla, Wendla, was +hast du getan!!</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Ich weiß es, weiß Gott, nicht mehr! Wir +lagen im Heu.... Ich habe keinen Menschen +auf dieser Welt geliebt als nur dich, Mutter.</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Mein Herzblatt —</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>O Mutter, warum hast du mir nicht alles gesagt!</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Kind, Kind, laß uns einander das Herz nicht +noch schwerer machen! Fasse dich! Verzweifle +mir nicht, mein Kind! Einem vierzehnjährigen +Mädchen das sagen! Sieh′, ich wäre eher darauf +gefaßt gewesen, daß die Sonne erlischt. Ich habe<span class="pagenum"><a name="Seite_127" id="Seite_127">[127]</a></span> +an dir nicht anders getan, als meine liebe gute +Mutter an mir getan hat. — O laß uns auf +den lieben Gott vertrauen, Wendla; laß uns auf +Barmherzigkeit hoffen und das unsrige tun! Sieh′, +<em class="gesperrt">noch</em> ist ja nichts geschehen, Kind. Und wenn +nur wir jetzt nicht kleinmütig werden, dann wird +uns auch der liebe Gott nicht verlassen. — Sei +<em class="gesperrt">mutig</em>, Wendla, sei <em class="gesperrt">mutig</em>! — — So sitzt man +einmal am Fenster und legt die Hände in den +Schoß, weil sich doch noch alles zum Guten gewandt, +und da bricht′s dann herein, daß einem +gleich das Herz bersten möchte.... Wa — +was zitterst du?</p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Es hat jemand geklopft.</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>Ich habe nichts gehört, liebes Herz. — +<span class="regie">(Geht an die Türe und öffnet.)</span></p> + +<p class="sprecher">Wendla</p> + +<p>Ach, ich hörte es ganz deutlich. — — Wer +ist draußen?</p> + +<p class="sprecher">Frau Bergmann</p> + +<p>— Niemand — — Schmidts Mutter aus +der Gartenstraße. — — — Sie kommen eben +recht, Mutter Schmidtin.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_128" id="Seite_128">[128]</a></span></p> + + +<h3>Sechste Szene</h3> + +<p class="regie">Winzer und Winzerinnen im <i class="gesperrt">Weinberg</i>. — Im Westen +sinkt die Sonne hinter die Berggipfel. Helles Glockengeläute +vom Tal herauf. — <i class="gesperrt">Hänschen Rilow</i> und +<i class="gesperrt">Ernst Röbel</i> im höchstgelegenen Rebstück sich unter den +überhängenden Felsen im welkenden Grase wälzend.</p> + +<p class="sprecher">Ernst</p> + +<p>— Ich habe mich überarbeitet.</p> + +<p class="sprecher">Hänschen</p> + +<p>Laß uns nicht traurig sein! — Schade um die +Minuten.</p> + +<p class="sprecher">Ernst</p> + +<p>Man sieht sie hängen und kann nicht mehr +— und morgen sind sie gekeltert.</p> + +<p class="sprecher">Hänschen</p> + +<p>Ermüdung ist mir so unerträglich, wie mir′s +der Hunger ist.</p> + +<p class="sprecher">Ernst</p> + +<p>Ach, ich kann nicht mehr.</p> + +<p class="sprecher">Hänschen</p> + +<p>Diese leuchtende Muskateller noch!</p> + +<p class="sprecher">Ernst</p> + +<p>Ich bringe die Elastizität nicht mehr auf.</p> + +<p class="sprecher">Hänschen</p> + +<p>Wenn ich die Ranke beuge, baumelt sie uns +von Mund zu Mund. Keiner braucht sich zu +rühren. Wir beißen die Beeren ab und lassen +den Kamm zum Stock zurückschnellen.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_129" id="Seite_129">[129]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Ernst</p> + +<p>Kaum entschließt man sich, und siehe, so +dämmert auch schon die dahingeschwundene +Kraft wieder auf.</p> + +<p class="sprecher">Hänschen</p> + +<p>Dazu das flammende Firmament — und die +Abendglocken. — Ich verspreche mir wenig mehr +von der Zukunft.</p> + +<p class="sprecher">Ernst</p> + +<p>— Ich sehe mich manchmal schon als hochwürdigen +Pfarrer — ein gemütvolles Hausmütterchen, +eine reichhaltige Bibliothek und Ämter +und Würden in allen Kreisen. Sechs Tage hat +man um nachzudenken, und am siebenten tut man +den Mund auf. Beim Spazierengehen reichen einem +Schüler und Schülerinnen die Hand, und wenn +man nach Hause kommt, dampft der Kaffee, der +Topfkuchen wird aufgetragen, und durch die +Gartentür bringen die Mädchen Äpfel herein. +— Kannst du dir etwas Schöneres denken?</p> + +<p class="sprecher">Hänschen</p> + +<p>Ich denke mir halbgeschlossene Wimpern, +halbgeöffnete Lippen und türkische Draperien. +— Ich glaube nicht an das Pathos. Sieh, +unsere Alten zeigen uns lange Gesichter, um +ihre Dummheiten zu bemänteln. Untereinander<span class="pagenum"><a name="Seite_130" id="Seite_130">[130]</a></span> +nennen sie sich Schafsköpfe wie wir. Ich kenne +das. — Wenn ich Millionär bin, werde ich dem +lieben Gott ein Denkmal setzen. — Denke dir die +Zukunft als Milchsette mit Zucker und Zimt. +Der eine wirft sie um und heult, der andere rührt +alles durcheinander und schwitzt. Warum nicht +abschöpfen? — Oder glaubst du nicht, daß es +sich lernen ließe.</p> + +<p class="sprecher">Ernst</p> + +<p>— Schöpfen wir ab!</p> + +<p class="sprecher">Hänschen</p> + +<p>Was bleibt, fressen die Hühner. — Ich habe +meinen Kopf nun schon aus so mancher Schlinge +gezogen....</p> + +<p class="sprecher">Ernst</p> + +<p>Schöpfen wir ab, Hänschen! — Warum +lachst du?</p> + +<p class="sprecher">Hänschen</p> + +<p>Fängst du schon wieder an?</p> + +<p class="sprecher">Ernst</p> + +<p>Einer muß ja doch anfangen.</p> + +<p class="sprecher">Hänschen</p> + +<p>Wenn wir in dreißig Jahren an einen Abend +wie heute zurückdenken, erscheint er uns vielleicht +unsagbar schön!</p> + +<p class="sprecher">Ernst</p> + +<p>Und wie macht sich jetzt alles so ganz von selbst!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_131" id="Seite_131">[131]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Hänschen</p> + +<p>Warum also nicht!</p> + +<p class="sprecher">Ernst</p> + +<p>Ist man zufällig allein — dann weint man +vielleicht gar.</p> + +<p class="sprecher">Hänschen</p> + +<p>Laß uns nicht traurig sein! — <span class="regie">(Er küßt ihn +auf den Mund.)</span></p> + +<p class="sprecher">Ernst</p> + +<p class="regie">(küßt ihn)</p> + +<p>Ich ging von Hause fort mit dem Gedanken, +dich nur eben zu sprechen und wieder umzukehren.</p> + +<p class="sprecher">Hänschen</p> + +<p>Ich erwartete dich. — Die Tugend kleidet +nicht schlecht, aber es gehören imposante Figuren +hinein.</p> + +<p class="sprecher">Ernst</p> + +<p>Uns schlottert sie noch um die Glieder. — +Ich wäre nicht ruhig geworden, wenn ich dich +nicht getroffen hätte. — Ich liebe dich, Hänschen, +wie ich nie eine Seele geliebt habe.</p> + +<p class="sprecher">Hänschen</p> + +<p>Laß uns nicht traurig sein! — Wenn wir +in dreißig Jahren zurückdenken, spotten wir ja +vielleicht! — Und jetzt ist alles so schön. Die<span class="pagenum"><a name="Seite_132" id="Seite_132">[132]</a></span> +Berge glühen; die Trauben hängen uns in den +Mund und der Abendwind streicht an den Felsen +hin wie ein spielendes Schmeichelkätzchen....</p> + + +<h3>Siebente Szene</h3> + +<p class="regie"><i class="gesperrt">Helle Novembernacht</i>. An Busch und Bäumen +raschelt das dürre Laub. Zerrissene Wolken jagen unter +dem Mond hin. — <i class="gesperrt">Melchior</i> klettert über die <i class="gesperrt">Kirchhofmauer</i>.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p class="regie">(auf der Innenseite herabspringend)</p> + +<p>Hierher folgt mir die Meute nicht. — Derweil +sie Bordelle absuchen, kann ich aufatmen und +mir sagen, wie weit ich bin....</p> + +<p>Der Rock in Fetzen, die Taschen leer — vor +dem Harmlosesten bin ich nicht sicher. — Tagsüber +muß ich im Walde weiter zu kommen suchen ...</p> + +<p>Ein Kreuz habe ich niedergestampft. — Die +Blümchen wären heut′ noch erfroren! — Ringsum +ist die Erde kahl....</p> + +<p>Im Totenreich! —</p> + +<p>Aus der Dachluke zu klettern war so schwer +nicht wie dieser Weg! — Darauf nur war ich +nicht gefaßt gewesen....</p> + +<p>Ich hänge über dem Abgrund — alles versunken, +verschwunden — O wär′ ich dort geblieben!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_133" id="Seite_133">[133]</a></span></p> + +<p>Warum sie um meinetwillen! — Warum +nicht der Verschuldete! — Unfaßbare Vorsicht! +— Ich hätte Steine geklopft und gehungert ...!</p> + +<p>Was hält mich noch aufrecht? — Verbrechen +folgt auf Verbrechen. Ich bin dem Morast +überantwortet. Nicht so viel Kraft mehr, um +abzuschließen ...</p> + +<p>Ich war nicht schlecht! — Ich war nicht +schlecht! — Ich war nicht schlecht ...</p> + +<p>— So neiderfüllt ist noch kein Sterblicher +über Gräber gewandelt. — Pah — ich brächte +ja den Mut nicht auf! — O, wenn mich Wahnsinn +umfinge — in dieser Nacht noch!</p> + +<p>Ich muß drüben unter den Letzten suchen! — +Der Wind pfeift auf jedem Stein aus einer +anderen Tonart — eine beklemmende Symphonie! +— Die morschen Kränze reißen entzwei und +baumeln an ihren langen Fäden stückweise um die +Marmorkreuze — ein Wald von Vogelscheuchen! — +Vogelscheuchen auf allen Gräbern, eine greulicher +als die andere — haushohe, vor denen die Teufel +Reißaus nehmen. — Die goldenen Lettern blinken +so kalt.... Die Trauerweide ächzt auf und +fährt mit Riesenfingern über die Inschrift....</p> + +<p>— Ein betendes Engelskind — Eine Tafel —</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_134" id="Seite_134">[134]</a></span></p> + +<p>Eine Wolke wirft ihren Schatten herab. — +Wie das hastet und heult! — Wie ein Heereszug +jagt es im Osten empor. — Kein Stern +am Himmel —</p> + +<p>Immergrün um das Gärtlein? — Immergrün? +— — Mädchen ...</p> + +<div class="figcenter"> + <a name="grabstein" id="grabstein"><img src="images/grabstein.jpg" width="400" height="339" alt="Grabstein von Wendla Bergmann" /></a> + <p class="regie">Hier ruht in Gott<br /> + Wendla Bergmann,<br /> + geboren am 5. Mai 1878,<br /> + gestorben an der Bleichsucht den<br /> + 27. Oktober 1892.<br /> + Selig sind, die reinen Herzens sind ...</p> +</div> + + +<p>Und ich bin ihr Mörder. — Ich bin ihr +Mörder! — Mir bleibt die Verzweiflung. — +Ich darf hier nicht weinen. — Fort von hier! +— Fort —</p> + +<p class="sprecher">Moritz Stiefel</p> + +<p class="regie">(seinen Kopf unter dem Arm, stapft über die Gräber her)</p> + +<p>Einen Augenblick, Melchior! Die Gelegenheit +wiederholt sich so bald nicht. Du ahnst nicht, +was mit Ort und Stunde zusammenhängt....</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_135" id="Seite_135">[135]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Wo kommst du her?!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Von drüben — von der Mauer her. Du +hast mein Kreuz umgeworfen. Ich liege an der +Mauer. — Gib mir die Hand, Melchior....</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Du bist <em class="gesperrt">nicht</em> Moritz Stiefel!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Gib mir die Hand. Ich bin überzeugt, du +wirst mir Dank wissen. So leicht wird′s dir +nicht mehr! Es ist ein seltsam glückliches Zusammentreffen. +— Ich bin extra heraufgekommen....</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Schläfst du denn nicht?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Nicht was ihr Schlafen nennt. — Wir sitzen +auf Kirchtürmen, auf hohen Dachgiebeln — wo +immer wir wollen....</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ruhelos?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Vergnügungshalber. — Wir streifen um Maibäume, +um einsame Waldkapellen. Über Volksversammlungen +schweben wir hin, über Unglücksstätten,<span class="pagenum"><a name="Seite_136" id="Seite_136">[136]</a></span> +Gärten, Festplätze. — In den Wohnhäusern +kauern wir im Kamin und hinter den +Bettvorhängen. — Gib mir die Hand. — Wir +verkehren nicht untereinander, aber wir sehen +und hören alles, was in der Welt vor sich geht. +Wir wissen, daß alles Dummheit ist, was die +Menschen tun und erstreben, und lachen darüber.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Was hilft das?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Was braucht es zu helfen? — Wir sind für +nichts mehr erreichbar, nicht für Gutes noch +Schlechtes. Wir stehen hoch, hoch über dem +Irdischen — jeder für sich allein. Wir verkehren +nicht miteinander, weil uns das zu langweilig +ist. Keiner von uns hegt noch etwas, das +ihm abhanden kommen könnte. Über Jammer +oder Jubel sind wir gleich unermeßlich erhaben. +Wir sind mit uns zufrieden und das ist alles! +— Die Lebenden verachten wir unsagbar, kaum +daß wir sie bemitleiden. Sie erheitern uns mit +ihrem Getue, weil sie als Lebende tatsächlich +nicht zu bemitleiden sind. Wir lächeln bei ihren +Tragödien — jeder für sich — und stellen unsere +Betrachtungen an. — Gib mir die Hand!<span class="pagenum"><a name="Seite_137" id="Seite_137">[137]</a></span> +Wenn du mir die Hand gibst, fällst du um vor +Lachen über dem Empfinden, mit dem du mir +die Hand gibst....</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ekelt dich das nicht an?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Dazu stehen wir zu hoch. Wir lächeln! — +An meinem Begräbnis war ich unter den Leidtragenden. +Ich habe mich recht gut unterhalten. +Das ist Erhabenheit, Melchior! Ich habe geheult +wie keiner, und schlich zur Mauer, um mir vor +Lachen den Bauch zu halten. Unsere unnahbare +Erhabenheit ist tatsächlich der einzige Gesichtspunkt, +unter dem der Quark sich verdauen läßt.... +Auch über mich will man gelacht haben, eh′ ich +mich aufschwang!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>— Mich lüstet′s nicht, über mich zu lachen.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>... Die Lebenden sind als solche wahrhaftig +nicht zu bemitleiden! — Ich gestehe, ich hätte es +auch nie gedacht. Und jetzt ist es mir unfaßbar, +wie man so naiv sein kann. Jetzt durchschaue +ich den Trug so klar, daß auch nicht ein Wölkchen +bleibt. — Wie magst du nur zaudern, +Melchior! Gib mir die Hand! Im Halsumdrehen<span class="pagenum"><a name="Seite_138" id="Seite_138">[138]</a></span> +stehst du himmelhoch über dir. — Dein +Leben ist Unterlassungssünde....</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>— Könnt ihr vergessen?</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Wir können alles. Gib mir die Hand! Wir +können die Jugend bedauern, wie sie ihre Bangigkeit +für Idealismus hält, und das Alter, wie ihm +vor stoischer Überlegenheit das Herz brechen will. +Wir sehen den Kaiser vor Gassenhauern und den +Lazzaroni vor der jüngsten Posaune beben. Wir +ignorieren die Maske des Komödianten und sehen +den Dichter im Dunkeln die Maske vornehmen. +Wir erblicken den Zufriedenen in seiner Bettelhaftigkeit, +im Mühseligen und Beladenen den +Kapitalisten. Wir beobachten Verliebte und +sehen sie voreinander erröten, ahnend, daß sie +betrogene Betrüger sind. Eltern sehen wir Kinder +in die Welt setzen, um ihnen zurufen zu können: +Wie glücklich ihr seid, solche Eltern zu haben! — +und sehen die Kinder hingehn und desgleichen tun. +Wir können die Unschuld in ihren einsamen Liebesnöten, +die Fünfgroschendirne über der Lektüre +Schillers belauschen.... Gott und den Teufel +sehen wir sich voreinander blamieren und hegen<span class="pagenum"><a name="Seite_139" id="Seite_139">[139]</a></span> +in uns das durch nichts zu erschütternde Bewußtsein, +daß beide betrunken sind.... Eine +Ruhe, eine Zufriedenheit. Melchior —! Du +brauchst mir nur den kleinen Finger zu reichen. +— Schneeweiß kannst du werden, eh′ sich dir der +Augenblick wieder so günstig zeigt!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>— Wenn ich einschlage, Moritz, so geschieht +es aus Selbstverachtung. — Ich sehe mich geächtet. +Was mir Mut verlieh, liegt im Grabe. +Edler Regungen vermag ich mich nicht mehr für +würdig zu halten — und erblicke nichts, nichts, +das sich mir auf meinem Niedergang noch entgegenstellen +sollte. — Ich bin mir die verabscheuungswürdigste +Kreatur des Weltalls....</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Was zauderst du ...?</p> + +<p class="regie">(Ein vermummter Herr tritt auf)</p> + +<p class="sprecher">Der vermummte Herr <span class="regie">(zu Melchior)</span></p> + +<p>Du bebst ja vor Hunger. Du bist gar nicht +befähigt, zu urteilen. — <span class="regie">(Zu Moritz)</span> Gehen Sie.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Wer sind Sie?</p> + +<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p> + +<p>Das wird sich weisen. — <span class="regie">(Zu Moritz)</span> Verschwinden +Sie! — Was haben Sie hier zu tun! +— Warum haben Sie denn den Kopf nicht auf?</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_140" id="Seite_140">[140]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Ich habe mich erschossen.</p> + +<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p> + +<p>Dann bleiben Sie doch, wo Sie hingehören. +Dann sind Sie ja vorbei! Belästigen Sie uns +hier nicht mit Ihrem Grabgestank. Unbegreiflich +— sehen Sie doch nur Ihre Finger an. Pfui +Teufel noch mal! Das zerbröckelt schon.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Schicken Sie mich bitte nicht fort....</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Wer sind Sie, mein Herr??</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Schicken Sie mich nicht fort! Ich bitte Sie. +Lassen Sie mich hier noch ein Weilchen teilnehmen; +ich will Ihnen in nichts entgegensein. — — Es +ist unten so schaurig.</p> + +<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p> + +<p>Warum prahlen Sie denn dann mit <em class="gesperrt">Erhabenheit</em>?! +— Sie wissen doch, daß das Humbug +ist — saure Trauben! Warum <em class="gesperrt">lügen</em> Sie +geflissentlich, Sie — Hirngespinst! — — Wenn Ihnen +eine so schätzenswerte Wohltat damit geschieht, so +bleiben Sie meinetwegen. Aber hüten Sie sich +vor Windbeuteleien, lieber Freund — und lassen +Sie mir bitte Ihre Leichenhand aus dem Spiel!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_141" id="Seite_141">[141]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Sagen Sie mir endlich, wer Sie sind, oder nicht?!</p> + +<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p> + +<p>Nein. — Ich mache dir den Vorschlag, dich +mir anzuvertrauen. Ich würde fürs erste für +dein Fortkommen sorgen.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Sie sind — mein Vater?!</p> + +<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p> + +<p>Würdest du deinen Herrn Vater nicht an der +Stimme erkennen?</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Nein.</p> + +<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p> + +<p>— Dein Herr Vater sucht Trost zur Stunde in +den kräftigen Armen deiner Mutter. — Ich erschließe +dir die Welt. Deine momentane Fassungslosigkeit +entspringt deiner miserablen Lage. Mit +einem warmen Abendessen im Leib spottest du +ihrer.</p> + +<p class="sprecher">Melchior <span class="regie">(für sich)</span></p> + +<p>Es kann nur <em class="gesperrt">einer</em> der Teufel sein! — <span class="regie">(laut)</span> +Nach dem, was ich verschuldet, kann mir ein +warmes Abendessen meine Ruhe nicht wiedergeben!</p> + +<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p> + +<p>Es kommt auf das Abendessen an! — So viel +kann ich dir sagen, daß die Kleine vorzüglich<span class="pagenum"><a name="Seite_142" id="Seite_142">[142]</a></span> +geboren hätte. Sie war musterhaft gebaut. Sie ist +lediglich den Abortivmitteln der Mutter Schmidtin +erlegen. — — Ich führe dich unter Menschen. +Ich gebe dir Gelegenheit, deinen Horizont in der +fabelhaftesten Weise zu erweitern. Ich mache dich +ausnahmslos mit allem bekannt, was die Welt +Interessantes bietet.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Wer sind Sie? Wer sind Sie? — Ich kann +mich einem Menschen nicht anvertrauen, den ich +nicht kenne.</p> + +<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p> + +<p>Du lernst mich nicht kennen, ohne dich mir +anzuvertrauen.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Glauben Sie?</p> + +<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p> + +<p>Tatsache! — Übrigens bleibt dir ja keine Wahl.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Ich kann jeden Moment meinem Freunde +hier die Hand reichen.</p> + +<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p> + +<p>Dein Freund ist ein Scharlatan. Es lächelt +keiner, der noch einen Pfennig in bar besitzt. +Der erhabene Humorist ist das erbärmlichste, bedauernswerteste +Geschöpf der Schöpfung!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_143" id="Seite_143">[143]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Sei der Humorist, was er sei; Sie sagen mir, wer +Sie sind, oder ich reiche dem Humoristen die Hand!</p> + +<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p> + +<p>— Nun?!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Er hat recht, Melchior. Ich habe bramarbasiert. +Laß dich von ihm traktieren und nütz′ +ihn aus. Mag er noch so vermummt sein — +er ist es wenigstens!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Glauben Sie an Gott?</p> + +<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p> + +<p>Je nach Umständen.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Wollen Sie mir sagen, wer das Pulver erfunden +hat?</p> + +<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p> + +<p>Berthold Schwarz — alias Konstantin Anklitzen +— um 1330 Franziskanermönch zu Freiburg +im Breisgau.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Was gäbe ich darum, wenn er es hätte +bleiben lassen!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_144" id="Seite_144">[144]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p> + +<p>Sie würden sich eben erhängt haben!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Wie denken Sie über Moral?</p> + +<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p> + +<p>Kerl — bin ich dein Schulknabe?!</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Weiß ich, was Sie sind!!</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Streitet nicht! — Bitte, streitet nicht. Was +kommt dabei heraus! — Wozu sitzen wir, zwei +Lebendige und ein Toter, nachts um zwei Uhr +hier auf dem Kirchhof beisammen, wenn wir +streiten wollen wie Saufbrüder! — Es soll mir +ein Vergnügen sein, der Verhandlung mit beiwohnen +zu dürfen. — Wenn ihr streiten wollt, +nehme ich meinen Kopf unter den Arm und +gehe.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Du bist immer noch derselbe Angstmeier!</p> + +<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p> + +<p>Das Gespenst hat nicht Unrecht. Man soll +seine Würde nicht außer Acht lassen. — Unter +Moral verstehe ich das reelle Produkt zweier +imaginärer Größen. Die imaginären Größen<span class="pagenum"><a name="Seite_145" id="Seite_145">[145]</a></span> +sind <em class="gesperrt">Sollen</em> und <em class="gesperrt">Wollen</em>. Das Produkt heißt +Moral und läßt sich in seiner Realität nicht +leugnen.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Hätten Sie mir das doch vorher gesagt! — Meine +Moral hat mich in den Tod gejagt. Um meiner +lieben Eltern willen griff ich zum Mordgewehr. +„Ehre Vater und Mutter, auf daß du lange +lebest.“ An mir hat sich die Schrift phänomenal +blamiert.</p> + +<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p> + +<p>Geben Sie sich keinen Illusionen hin, lieber +Freund! Ihre lieben Eltern wären so wenig +daran gestorben wie Sie. Rigoros beurteilt +würden sie ja lediglich aus gesundheitlichem Bedürfnis +getobt und gewettert haben.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Das mag soweit ganz richtig sein. — Ich +kann Ihnen aber mit Bestimmtheit sagen, mein +Herr, daß, wenn ich Moritz vorhin ohne weiteres +die Hand gereicht hätte, einzig und allein meine +Moral die Schuld trüge.</p> + +<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p> + +<p>Dafür bist du eben nicht Moritz!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_146" id="Seite_146">[146]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Ich glaube doch nicht, daß der Unterschied so +wesentlich ist — zum mindesten nicht so zwingend, +daß Sie nicht auch mir zufällig hätten begegnen +dürfen, verehrter <em class="gesperrt">Unbekannter</em>, als ich damals, +das Pistol in der Tasche, durch die Erlenpflanzungen +trabte.</p> + +<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p> + +<p>Erinnern Sie sich meiner denn nicht? Sie +standen doch wahrlich auch im letzten Augenblick +noch zwischen <em class="gesperrt">Tod</em> und <em class="gesperrt">Leben</em>. — Übrigens ist +hier meines Erachtens doch wohl nicht ganz der Ort, +eine so tiefgreifende Debatte in die Länge zu ziehen.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Gewiß, es wird kühl, meine Herren! — Man hat +mir zwar meinen Sonntagsanzug angezogen, aber +ich trage weder Hemd noch Unterhosen.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Leb wohl, lieber Moritz. Wo dieser Mensch +mich hinführt, weiß ich nicht. Aber er ist ein +Mensch ...</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Laß mich′s nicht entgelten, Melchior, daß ich +dich umzubringen suchte! Es war alte Anhänglichkeit. +— Zeitlebens wollte ich nur klagen und +jammern dürfen, wenn ich dich nun noch einmal +hinausbegleiten könnte!</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_147" id="Seite_147">[147]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p> + +<p>Schließlich hat Jeder sein Teil — <em class="gesperrt">Sie</em> das +beruhigende Bewußtsein, <em class="gesperrt">nichts</em> zu haben — <em class="gesperrt">du</em> +den enervirenden Zweifel an <em class="gesperrt">allem</em>. — Leben +Sie wohl.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>Leb wohl, Moritz! Nimm meinen herzlichen +Dank dafür, daß du mir noch erschienen. Wie manchen +frohen ungetrübten Tag wir nicht miteinander +verlebt haben in den vierzehn Jahren! Ich +verspreche dir, Moritz, mag nun werden was +will, mag ich in den kommenden Jahren +zehnmal ein Anderer werden, mag es aufwärts +oder abwärts mit mir gehn, dich werde ich nie +vergessen ...</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Dank, dank, Geliebter.</p> + +<p class="sprecher">Melchior</p> + +<p>... und wenn ich einmal ein alter Mann in +grauen Haaren bin, dann stehst gerade du mir +vielleicht wieder näher als alle Mitlebenden.</p> + +<p class="sprecher">Moritz</p> + +<p>Ich danke dir. — Glück auf den Weg, meine +Herren! — Lassen Sie sich nicht länger aufhalten.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_148" id="Seite_148">[148]</a></span></p> + +<p class="sprecher">Der vermummte Herr</p> + +<p>Komm, Kind! — <span class="regie">(Er legt seinen Arm in denjenigen +Melchiors und entfernt sich mit ihm über die +Gräber hin.)</span></p> + +<p class="sprecher">Moritz <span class="regie">(allein)</span></p> + +<p>— Da sitze ich nun mit meinem Kopf im +Arm. — — Der Mond verhüllt sein Gesicht, +entschleiert sich wieder und sieht um kein Haar +gescheiter aus. — — So kehre ich denn zu +meinem Plätzchen zurück, richte mein Kreuz auf, +das mir der Tollkopf so rücksichtslos niedergestampft, +und wenn alles in Ordnung, leg′ ich +mich wieder auf den Rücken, wärme mich an +der Verwesung und lächle ...</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_150" id="Seite_150">[150]</a></span></p> + + + +<p class="center p6" style="page-break-before: always">Albert Langen Verlag für Litteratur u. Kunst München</p> + +<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p> +<p class="werke-titel">Der Liebestrank</p> +<p class="werke-untertitel">Schwank in drei Aufzügen</p> +<p class="center">Geheftet 2 Mark</p> + +<p style="text-indent: 0; font-weight: bold">Die Nation:</p> + +<p>Der Autor gehört zu den außer der Reihe stehenden, +lebhaften und kraftgenialischen Geistern, deren unsere +Literatur manche hat, bei keinem kunstverständigen Beurteiler +wird er darum als Poseur, bei niemanden seine +Art als gemacht, manieriert und eingelernt erscheinen. +Vielmehr ist er voll einer absonderlichen, wunderlichen +Eigenart, eine <em class="gesperrt">Natur</em>, wenn man dies Wort auch einmal +auf einen Sprung, eine Laune, eine Bizarrerie anwenden +darf. Für die Kunst ist er voll Bedeutung, Anregung +und Reiz ...</p> + + +<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p> +<p class="werke-titel">Die junge Welt</p> +<p class="werke-untertitel">Komödie in drei Aufzügen</p> +<p class="center">Geheftet 2 Mark</p> + +<p style="text-indent: 0; font-weight: bold">Die Gesellschaft:</p> + +<p>„<em class="gesperrt">Die junge Welt</em>“ ist das bühnengerechteste von +Wedekinds Dramen. Junge Mädchen geben sich in der +Pension das Versprechen des Cölibats; natürlich hält es +keine. Die Komödie erzählt das mit einem fast liebenswürdigen +Humor und mit all der Menschenkenntnis und +treffsicheren Charakterkunst dieses eigenartigsten unter +den Dichtern von heute. Erzählen läßt sich das nicht, +auch nicht beschreiben. Aber es ist sehr lustig. Es ist +ein wildes Durcheinander von übermütigen Einfällen, +tollen Gliederverrenkungen in der Charakteristik, Karikaturen, +die wie Porträts aussehen — kurz, ein Lachkabinett, +aber ganz neuer Art.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_151" id="Seite_151">[151]</a></span></p> + +<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p> +<p class="werke-titel">Marquis von Keith</p> +<p class="werke-untertitel"><b>(Münchener Szenen)</b></p> +<p class="werke-untertitel">Schauspiel in fünf Aufzügen</p> +<p class="center">Geheftet 2 Mark 50 Pf.</p> +<p class="center">Elegant gebunden 3 Mark 50 Pf.</p> + +<p style="text-indent: 0; font-weight: bold">Die Nation:</p> + +<p>Wedekind hat die irdische Unbekümmertheit, das +Freisein von zeitlicher Satzung. Er steht außerhalb der +Gesellschaft, fast außerhalb der Welt. Ich sagte das +hier vor einem Jahr und muß es verstärken. Er ist +mit seinen Lebensinhalten einer der tiefsten Humoristen, +die sich heut irgendwo betätigen.</p> + +<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p> +<p class="werke-titel">Der Kammersänger</p> +<p class="werke-untertitel">Drei Szenen</p> +<p class="center"><b>Fünftes Tausend</b></p> +<p class="center">Geheftet 1 Mark</p> +<p class="center">Elegant gebunden 2 Mark</p> + +<p style="text-indent: 0; font-weight: bold">Brünner Sonntagszeitung:</p> + +<p>Von groteskem, überlebensgroßem Humor und +geißelnder Satire und Ironie sind die unter dem Titel +„<em class="gesperrt">Der Kammersänger</em>“ (A. Langen) vereinigten Szenen +von Frank Wedekind erfüllt. Gut dargestellt müßten +diese ohne jedwede Komposition aneinander gereihten +Szenen von mächtiger Wirkung sein. Schon in der +Lektüre wirkt das Werk ganz eigentümlich. Man +empfindet ähnliches wie beim Betrachten der Zeichnungen +des dämonischen Th. Th. Heine.</p> + +<p><span class="pagenum"><a name="Seite_152" id="Seite_152">[152]</a></span></p> + +<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p> +<p class="werke-titel">Feuerwerk</p> +<p class="werke-untertitel">Erzählungen</p> +<p class="center"><b>Drittes Tausend</b></p> +<p class="center">Preis geheftet 3 Mark</p> +<p class="center">Elegant gebunden 4 Mark</p> + +<p style="text-indent: 0; font-weight: bold">Pfälzische Presse:</p> + +<p>... Dabei ist Wedekind im Unterschied von vielen +jener Dekadenten frisch, nicht ohne Humor, und von +strotzender Gesundheit in der Art sich zu geben. Meisterstücke +in ihrer Art sind einige der kleinen Novellen, wie +„Der Brand von Egliswyl“, „Rabbi Esra“, „Der greise +Freier“ u. a.</p> + +<p class="werke-autor">Frank Wedekind</p> +<p class="werke-titel">So ist das Leben</p> +<p class="werke-untertitel">Schauspiel in fünf Akten</p> +<p class="center">Preis geheftet 2 Mark</p> +<p class="center">Elegant gebunden 3 Mark</p> + +<p>„<cite class="gesperrt">So ist das Leben</cite>“ behandelt die Schicksale eines +entthronten Königs, der in die unangenehme Lage kommt, +sich vor einem bürgerlichen Gericht wegen <em class="gesperrt">Majestätsbeleidigung</em> +verantworten zu müssen. <b>Die aktuelle +Frage der Majestätsbeleidigungsprozesse</b> erfährt +auf diese Weise in dem Drama eine <em class="gesperrt">verblüffend +vielseitige Beleuchtung</em>.</p> + +<p class="center p6"><small>Druck von Hesse & Becker in Leipzig</small></p> + +<div>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 45091 ***</div> +</body> +</html> diff --git a/45091/45091-h/images/cover.jpg b/45091-h/images/cover.jpg Binary files differindex f5e184d..f5e184d 100644 --- a/45091/45091-h/images/cover.jpg +++ b/45091-h/images/cover.jpg diff --git a/45091/45091-h/images/grabstein.jpg b/45091-h/images/grabstein.jpg Binary files differindex b105230..b105230 100644 --- a/45091/45091-h/images/grabstein.jpg +++ b/45091-h/images/grabstein.jpg diff --git a/45091/45091-h/images/verlag.jpg b/45091-h/images/verlag.jpg Binary files differindex 2dda023..2dda023 100644 --- a/45091/45091-h/images/verlag.jpg +++ b/45091-h/images/verlag.jpg diff --git a/45091/45091-0.zip b/45091/45091-0.zip Binary files differdeleted file mode 100644 index 457a363..0000000 --- a/45091/45091-0.zip +++ /dev/null diff --git a/45091/45091-h.zip b/45091/45091-h.zip Binary files differdeleted file mode 100644 index 00ab479..0000000 --- a/45091/45091-h.zip +++ /dev/null |
