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+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44271 ***
+
+ Gottfried Kölwel
+ Gesänge gegen den Tod
+
+
+ 1914
+ Kurt Wolff Verlag · Leipzig
+
+ Dies Buch wurde
+ gedruckt im März 1914
+ als siebzehnter Band der Bücherei
+ »Der jüngste Tag« bei Poeschel & Trepte
+ in Leipzig
+
+ Copyright 1914 by Kurt Wolff Verlag, Leipzig
+
+
+
+
+Es gibt keine Toten!
+
+
+
+
+Maus, Hund und Mond
+
+oder:
+
+Die dreieinige Liebe
+
+
+ Jene blutigangefahrne Maus,
+ die sich im Staub der Straße weh vertropfte,
+ als der Tag schwand und der mörderische
+ Autobus schon in der Ferne klopfte,
+ pulste auf zur Zeit der Morgenfrische
+ fern im Orient in einer neuen Maus.
+
+ Ein weißer Hund lief durch den kühlen Schatten,
+ der sich dichter in den Abend wob,
+ beschnupperte den kalten Leib und fühlte
+ seine Pflicht, die Toten zu bestatten.
+ Wie er die Leiche leicht mit Heilandszähnen hob
+ und sie in seinen Grabesrachen schluckend wühlte!
+
+ Der junge Mond verzückte sich, als er
+ die große Liebe sah, zog seinen Säbel
+ aus den Wolken, die ihn seligschwer,
+ wie Hallelujaengel hell umkränzten,
+ und zerschnitt den blauen Weihnachtsnebel,
+ daß die Menschen, die es sahen, alle glänzten.
+
+
+
+
+Ewige Stunde
+
+
+ Ich sah an einem himmelblauen Tag
+ nichts, als die wunderlichen Wolken wehn,
+ und fühlte meine Erde schaukelnd gehn,
+ auf der ich, süß vom Licht gekreuzigt, lag.
+
+ Die Stunde, die ich lebend so vollbrachte,
+ war weise wie ein hungeriges Tier;
+ ich wußte nicht mehr, daß ich selig lachte,
+ ich lachte, denn ich wußte nichts von ihr.
+
+ Als wiegte jemand ohne Aufenthalt
+ mich ewig fort von Tor zu Toren,
+ war ich plötzlich tausend Jahre alt
+ und plötzlich ungeboren.
+
+
+
+
+Ein Lied gegen den Tod
+
+
+ Wenn dir der hinterlistige Tod
+ an weißen Tagen
+ mitten auf der Gasse
+ im eigenen Schatten begegnet und droht,
+ lauf unter die Sonne und lasse
+ ihn totschlagen!
+
+ Blinkt aber des Nachts aus dem schalen Wein
+ sein bleiches Gebein,
+ ist's wohl am besten, man läuft
+ ans Faß und schüttet alles hinein,
+ daß der Tod ersäuft.
+
+ Zuweilen
+ kommt es auch vor,
+ daß er gleich tausend Nächte lang mit geilen
+ Brüsten und Schenkeln als falsche Venus erscheint und nicht ruht,
+ bis du seine Begierden stillst.
+ Grabe deiner blinden Glut
+ zeitig einen Löschgraben vor,
+ wenn du nicht als Götzenopfer verbrennen willst!
+
+ Wenn er dir aber einmal in einer müden Stunde
+ heimtückisch die Wunde
+ des Sterbens beibringt, dann zeige
+ auf deine Kinder, auf die sprossenden Zweige
+ der Bäume oder auf den roten
+ samenreichen Mohn im Feld,
+ nimm nochmal deine ganze Stimme hervor
+ und schrei es dem armseligen Scheusal höhnisch ins Ohr:
+ Du bist umsonst auf der lebendigen Welt,
+ es gibt keine Toten!
+
+
+
+
+Begegnung
+
+
+ Auf den winterlichen Höhen, die vom kalten
+ Silberlicht des Sonntaghimmels rund umflossen
+ waren, wandelte viel Volk, das aus der großen
+ Meuchelstadt geflüchtet war, in warmen Falten.
+
+ Plötzlich nahte, wie gesandt, ein kleiner Schlitten.
+ Eine Mutter saß, den weiten Schoß verhüllt,
+ darauf und lächelte, bis in das Herz erfüllt
+ von denen, die, den Schlitten ziehend, vor ihr schritten.
+
+ Daß der Vater liebend sich in ihr verzehrte,
+ um in seinem Sohn, der neben ihm auf strammen
+ Beinen lachte, himmelssüchtig aufzuflammen,
+ wie sie, als sie dieses dachte, sich verklärte!
+
+ O, wie war die Mutter Weg und Mittelpunkt,
+ weil sich die Ewigkeit in ihrem süßem Schoße
+ gnädig kreuzte; o welch ungeheuergroße
+ Liebe aus Geburt und Sterben ewig prunkt!
+
+ Und manche aus dem Volke bebten bis ins Haar,
+ weil sie erschauerten vor dieser Gottesgröße,
+ die auf einem Schlitten wie in heiliger Blöße
+ unter kalten Himmeln jäh erschienen war.
+
+
+
+
+Der Flieger
+
+
+ Im Wind ertrank
+ ein Flieger, der zur Tiefe sank.
+
+ Selig schied der schwarze Sarg,
+ der einen Fetzen Gottesgewand
+ zur Heimfahrt in sein webendes Land
+ in sich barg.
+
+ Und als die Menschen weinten, lachte
+ die Erde und schob den Schrein
+ in den unendlichen Webstuhl hinein
+ und wirkte, bis sie das große Werk, vielleicht in einem Vogel,
+ vollbrachte.
+
+
+
+
+Ein Erntelied
+
+
+ Ihr wißt, daß alle Körner, die guten und die bösen,
+ sich aus verdorrten Ähren lösen.
+
+ Die einen fallen aus dem Scheffel auf die Tenne
+ und wandern durch den Höllenleib der Henne,
+ andre werden in den Mühlen zerrissen
+ oder brechen unter den Gebissen
+ hungeriger Pferde,
+ viele aber, die unbeirrt
+ des Weges gehen, suchen ihre Gräber in der Erde,
+ bis die Auferstehung in ihnen wurzelig wird.
+
+ Fragt nicht: Warum? Denn eure Frage verendet
+ schmerzhaft im unendlichen Gewölbe,
+ wenn ihr nicht glaubt, daß alle Körner dieselbe
+ Reise gehen, die sich im Leben ewig vollendet.
+
+
+
+
+O Welt, wie bist du wundervoll!
+
+
+
+
+Brand
+
+
+ Die Abendsonne setzte sich
+ auf einen Inselberg und schwang
+ die grellen Fackeln feierlich,
+ daß Glut zu Gluten übersprang.
+ Es brannten Ströme, Watt und Meer,
+ in Flammen wehte weit das Land,
+ die Türme lohten rund umher,
+ am Wege brannte gelb der Sand.
+ Und über allem flog der Rauch
+ der Wolken, rot, grau, schwer und rund,
+ rauchsäulenwölkig dampften auch
+ die Bäume aus dem großen Grund.
+
+ Ein Wanderer, der des Weges kam,
+ blieb taumelnd stehn im Flammenland,
+ vergaß die Finsternis und nahm
+ sein Herz und warf es in den Brand.
+ Es zuckte, glühte, flammte toll
+ und jauchzte aus der grellen Glut:
+ O Welt, wie bist du wundervoll,
+ in deinem Feuer kocht mein Blut!
+
+
+
+
+Abenddämmerung
+
+
+ Wie sich der Rauch der späten Kühle
+ gespenstisch durch mein Fenster drängt,
+ die Räume, die ich sinken fühle,
+ zur Hexenstube grau verengt!
+
+ Mich zu erdrücken drohn die Wände,
+ die Ahnenbilder werden bleich
+ und aus den Bildern greifen Hände,
+ wie Hände aus dem Totenreich.
+
+ Im offnen Schrank, wo Würmlein knarren,
+ spielt mir das ganze alte Chor
+ zerlumpter Puppen, bunter Narren
+ das Todesspiel der Kindheit vor.
+
+ Aus dem Kamin die Kohlen gleißen
+ als rote Zähne, die voll Gier
+ sind, alles, alles zu zerbeißen,
+ vom letzten Ding die letzte Zier.
+
+ Ich stehe bebend und verworren
+ und meine Hand sucht irgendwo,
+ bis sich das Dunkel hat verloren,
+ erlöst zur Flamme, lichterloh.
+
+
+
+
+Nachtmärchen
+
+
+ O kommt, ihr lieben Heimatgeister,
+ Nachteule, Spuk und Kieselbach,
+ herein mit euerm Harfenmeister,
+ dem dunkeln Wind, in mein Gemach.
+
+ Ich möchte euch so gerne hören,
+ bereit sei euch mein ganzes Haus;
+ nicht eine Ratte darf euch stören
+ und Todesstrafe gilt der Maus.
+
+ Sogar die Bilder an den Wänden
+ und alle Kästen sind gespannt,
+ die Uhr will ihre Rede enden,
+ die Fliege schweigen an der Wand.
+
+ Und wenn ihr etwa argt, es fiele
+ die Sonne jäh in den Kamin
+ und schliche vor bis an die Diele,
+ um eures Märchens Anbeginn
+
+ Mit lautem, grellen Glanz zu stören --
+ Es ist nur eine Fledermaus,
+ die wollte euch auch gerne hören
+ und rutschte im Kamine aus.
+
+
+
+
+Unser Haus
+
+
+ Unser Haus hat kühle Wände,
+ Kohlen, die im Eimer lärmen,
+ Katzen, die die grauen Bälge
+ eng am braunen Ofen wärmen,
+ Äpfel, die aus alten Kästen
+ atmen und die Luft der Gärten
+ wecken, Bibelbände, die sich
+ auftun und lebendig werden,
+ und den Wind noch vor der Tür,
+ der für uns Musik bedeutet,
+ weil von allen braven Schwalben
+ keine mehr im Hausgang läutet.
+
+
+
+
+Vor dem Frühling
+
+
+ Wenn hungerdünne Vögel sich empören
+ argwöhnisch gegen Himmel, Mond und Stern,
+ im dunkeln Wind die Bäume aber röhren,
+ begnadete Propheten ihres Herrn,
+ dann ist die große Unruh nicht mehr weit,
+ die sich aus Sturm und Drang der Erde wühlt,
+ aufringt und an den Wolken reißt und schreit,
+ weil sie den Heiland in der Sonne fühlt.
+
+
+
+
+Bahnfahrt durch den Vorfrühling
+
+
+ Ziegelbauten, die wie rote
+ Schachteln als Fabriken liegen,
+ leben auf, um wintertote,
+ ferne Hügel zu erfliegen.
+
+ Und die reiserigen, leeren
+ Birken, die den Besen gleichen,
+ langen himmelhoch und kehren,
+ bis die grauen Wolken weichen.
+
+ Zwischen hundert Pappelpaaren
+ fängt ein Kirchturm an zu laufen,
+ hastend, um den ersten Staren
+ ein paar Nester abzukaufen.
+
+
+
+
+Vor der Brücke
+
+
+ Vor der Brücke, die den Strom verhöhnte,
+ neigte sich der Schlot des Dampfers, kroch
+ der Rauch wie eine Pantherkatze, dehnte
+ sich, daß jeder, der die Demut roch,
+ sein Antlitz wandte,
+ bis der Dampfer wieder sich ermannte,
+ Bläue raubte, stieg, flog, schwindendhoch.
+
+
+
+
+Frühlingserscheinung
+
+
+ Kühl in bleichen Perlen rann ein Schauern
+ über meinen Leib, der Waldbach hörte
+ auf zu rauschen, feste Luft beschwerte
+ mich, ich stand fast reglos wie in Mauern
+ eingekalkt, durch die ein Häher sägte.
+
+ Und ich sah, wie jeder Fels sich regte
+ und mit einem Sonnenauge dünnes
+ Lachen anfing, daß es jeder fühlte
+ von den nackten Bäumen und ein grünes
+ Hemd schamhaft um seinen Körper hüllte.
+
+
+
+
+Die Frühlingssonne kommt
+
+
+ Wohin sie tritt,
+ in allen Wolken
+ blühen weiße Wunder auf.
+
+ In blauen Körben
+ bringt sie Vögel
+ von der Reise mit,
+
+ und schüttet sie,
+ die heimatglücklich schauen,
+ aus in alle Nester,
+
+ scheucht das feuchte Dunkel
+ sorglich
+ aus den Wäldern
+
+ und setzt dem Moose
+ große, gelbe Augen ein,
+ daß jedes wachsam leuchte.
+
+
+
+
+Tauwetter
+
+
+ Wenn die Mauerwände tief verzückt
+ im sonnengelben Wunder stehn, erbeben
+ jene Flecken, welche rundgestückt
+ wie feuchter Hauch am glatten Steine kleben.
+
+ Dächer, denen letzter Schnee zerfetzt
+ von nackten, nassen Schultern hängt, verneigen
+ sich zu wachen Gossen, glanzbenetzt,
+ und brechen rot das weiße Winterschweigen.
+
+ Was sie selig weinen, ist Gesang,
+ daß viele Menschen, ganz von Melodie
+ betört, ein Rieseln fühlen, tropfenlang,
+ aus tiefen Lenden bis ins hohle Knie.
+
+
+
+
+In der Frühe
+
+
+ Wie sich die jungen Felder unermüdlich rühren!
+ Der Morgennebel qualmt wie Rauch aus hundert Schlöten,
+ aus grauen Steinen sägt der Wind uralte Flöten,
+ die helle Arbeitslieder in den Werktag führen.
+ Allmählich schiebt die Saat sich aus dem grauen Felde
+ wie grünes Garngespinst aus großen Webmaschinen,
+ und bis die Sonne schaut, wie die Fabriken spinnen,
+ liegt schon ein großer grüner Fleck vor ihrem Zelte.
+
+
+
+
+In der Färberstube
+
+
+ Auf alten Tischen häuft sich blaues Tuch,
+ das aus der Mange rollte, leinenglatt,
+ und atmet, bis der scharfe Farbgeruch
+ die Stubenlüfte überwältigt hat.
+ Durchs aufgemachte Fenster aber stäubt
+ der Duft der Rosen, die verschwendrisch groß
+ im nahen Garten blühen, und betäubt
+ die werkstattfeuchte Luft des Indigos.
+
+
+
+
+Stiller See
+
+
+ Wenn der wolkenlose, blitzendhelle
+ Tag sich selig schweigsam auf die breiten
+ Wasser legt und sich nicht eine Welle,
+ auch nur leise, aufbäumt, dehnt in weiten
+ Flächen sich der See aus wie erstarrtes,
+ klares, grünes Glas, daß man erregt
+ aus tiefen Träumen aufwacht, wenn ein hartes
+ Ruder Scherben aus dem Spiegel schlägt.
+
+
+
+
+Vor dem Gewitter
+
+
+ Auf den grünen Hängen, die den großen
+ See umlaufen, beugen tief erschreckt sich alle
+ Bäume wie zum jähen Sprung und stoßen
+ Schreie vor dem schweren Wolkenballe
+ aus, der drohend aus dem Horizonte
+ fliegt, daß alle Wasser schwarz sich färben
+ wie die Menschen weiß vor Angst, gewohnte
+ Ruhe rings verlieren, Verderben
+ ahnen und mit schäumendweißen Wellen
+ wie mit Mövenflügeln in die regenreifen
+ Lüfte schlagen, als wollten sie im schnellen
+ Drang verstört die Flucht ergreifen.
+
+
+
+
+Mittagsstille
+
+
+ Wenn die Vögel lautlos durch den Mittag gleiten,
+ schwingenweit, um jenen Glanz, der in den Lüften
+ bebt, auf ihren Flügeln aufzuhäufen, breiten
+ sich die Wälder selig aus, in ihren Hüften
+ hochgefühlevoll, urheilig, ernst wie seltne Frauen
+ kurz vor der Empfängnis, wenn nur Hauch mehr flüstert,
+ voll Erwartung, bis die heiligengeistesblanken
+ Vögel auf sie niederkommen und den blauen
+ Ätherglanz des Mittags von den lüsternschlanken
+ Flügeln schütten, daß die Wollust in den Zweigen knistert.
+
+
+
+
+Auf der Waldwiese
+
+
+ Föhren, die im Glanz des Mittags blauten,
+ drängten an die reife Wiese, hielten
+ tiefgespannt den Atem an und schauten
+ auf die Falter, die im Tanze spielten.
+
+ Als die Tänzer müde waren, boten
+ farbenlaute Blumen weiche Sessel
+ an; die gelben überschrien die roten,
+ blaue drängten vor die weiße Nessel.
+
+ Wolken, die vor Neugier schwollen, tauchten
+ aus dem Himmelmeer; die Bäume hauchten
+ plötzlich mächtig auf; Applaus, das dünne
+ Donnern eines fernen Hochgewitters,
+ wehte wogend über die Tribüne.
+
+
+
+
+Die Sicheln
+
+
+ Sicheln, die in hungerigen Scheunen
+ müde schlafen, wachen auf und singen
+ schaurig, wandern, Mordlust in den Klingen,
+ aus dem Hof, entlang an hellen Zäunen.
+ Wo die reifen Ähren über dunkeln
+ Acker-Furchen furchtsam bebend schwanken,
+ lachen sie, daß ihre heillos blanken
+ Augen geisternd durch die Felder funkeln.
+
+
+
+
+Höhenernte
+
+
+ Leiterwagen schneiden blanke Stücke aus dem Horizont,
+ Garben, wunderselig besonnt,
+ warten in tanzenden Kränzen.
+ Gäule, auf denen die schaukelnde Sonne blitzt,
+ schlagen mit langen Schwänzen,
+ daß grelles Silber aus den Höhen spritzt.
+
+ Die Himmel zittern überall,
+ Bläue prangt, von Wolken entlaubt,
+ und alle Menschen wandeln in den Himmeln mit erhobenem Haupt.
+
+
+
+
+Nachtgewitter
+
+
+ An den Wänden meines weiten
+ Zimmers, das vom Licht der großen
+ Straßenlampen hell ist, gleiten
+ Schatten, die aus ruhelosen
+ Bäumen durch die Fenster schwellen,
+ lose gaukelnd hin und her,
+
+ bis einer von den schauderndgrellen,
+ ausgedehnten Blitzen, der
+ von Wolke hin zu Wolke fährt,
+ mit seinem Glanz die Schattenbilder
+ totsticht und die Bühne leert,
+
+ während an meine Fenster wilder
+ Hagel schlägt wie Trommelklang
+ bei einem lauten Leichengang.
+
+
+
+
+Die Turmuhren
+
+
+ Gleichmäßig drängen sich die Zacken
+ der harten Räder in die Lücken,
+ um jede Stunde fest zu packen,
+ zu martern und sie tot zu drücken.
+ Und werfen die erwürgte Stunde
+ hinunter auf die harten Gassen,
+ wie satte Katzen aus dem Schlunde
+ zerbissne Mäuse fallen lassen.
+
+
+
+
+Dunkle Nacht
+
+
+ Wenn die Nacht wie eine große
+ Kohle meine Stube ausfüllt, warte
+ ich wie eine regungslose
+ Urversteinerung, bis mich der harte
+ Pendelschlag
+ der Wanduhr wie ein Bergmannshammer
+ aus dem schwarzen Jammer
+ langsam fördert an den hellen Tag.
+
+
+
+
+Ach, alles ist Liebe!
+
+
+
+
+So stand ich vor dem Sterben . . .
+
+
+ Ich ging, als sich der regnerische Tag
+ verweinte und die Weihnachtsfenster lockten,
+ auf heilen Straßen, wo die Menschen stockten,
+ weil jedes Auge auf dem Glanze lag.
+
+ Da lief, als ich das Pflaster überquerte,
+ der Tod mir nach als schwerer Autobus,
+ bedrohte mich als harter Pferdefuß,
+ daß sich mein Atem jäh nach innen kehrte.
+
+ So stand ich vor dem Sterben, schmerzbeschwert --
+ der Heiland aber, der in allen bösen
+ Dingen lebt, umschwebte mich, um zu erlösen:
+ er hupte, wieherte aus einem Pferd.
+
+ Und glitt vorbei, als ich das Trottoir
+ betrat, und wartete auf keinen Dank.
+ Ich sah die Straße seligfeucht und blank
+ und stand noch, als er schon verschwunden war.
+
+
+
+
+Im Trödlerladen
+
+
+I.
+
+ Ergraute Heilige, die steif
+ sich standen am Altar das Bein,
+ pilgern, von bunter Welt gelockt,
+ ins irrsalreiche Leben ein.
+ Und wagen sich zur Tänzerin
+ aus pudelnacktem Porzellan,
+ die lüstern schon bei der Geburt
+ in Meißen fing zu tanzen an.
+
+
+II.
+
+ Und Josef, flüchtend nach Ägypten,
+ treibt seinen Esel auch hinein
+ und hängt ihn lässig dem gerippten,
+ verstaubten Tod ans morsche Bein,
+ daß die Maria bleich erschrickt
+ und auf ihr Kind die Augen senkt,
+ weil sie, wenn gleich ihm längst entrückt,
+ noch immer an Herodes denkt.
+
+
+III.
+
+ Mephisto, sonst der Wahrheit scheel,
+ voll Argwohn, Schelmerei und Tücken,
+ naht sich dem heiligen Michael,
+ versöhnlich ihm die Hand zu drücken.
+ »Hier straft kein Himmel mehr den Zweifel
+ und keine heiße Hölle quält,
+ hier eint sich vieles«, meint der Teufel,
+ »was je sich fluchte in der Welt«.
+
+
+
+
+Der Heiland
+
+
+ Wenn der Abend niederfällt
+ leise in die lauten Straßen
+ und die Lichter heimlich quält,
+ die erstehen und verblassen,
+ geht der Heiland durch die Stadt.
+
+ Mädchen führt er an den Händen
+ vor die bunten Fenster hin,
+ daß sie Gold und Seide fänden
+ für den töricht-jungen Sinn;
+ denn der Heiland will erlösen.
+
+ Männer, die vor Sehnsucht brennen,
+ führt er weise dann herbei;
+ sündig wird er keinen nennen,
+ wer nur ehrlich brünstig sei;
+ denn der Heiland will erlösen.
+
+ Dann in Spielen und Konzerten
+ weckt er Geigen und Gesänge,
+ daß ein Rausch die wirren Herden
+ Leiden stundenlang verdränge;
+ denn der Heiland will erlösen.
+
+ Fällt die späte Nacht den Straßen
+ in den seeligmüden Schoß,
+ um sich auszuruhen, blasen
+ Engel aus dem Sternenschloß:
+ Heil den Menschen, die erlöst sind!
+
+
+
+
+Die neunte Stunde
+
+
+ Die da stehen hinter übersprochnen
+ Ladentischen, Mädchen, die vom Duft
+ der Waren taumeln, warten mit gebrochnen
+ Arbeitsaugen, bis der Heiland ruft.
+
+ Dieser schaut als zitterndweiße Zeit
+ aus einer Uhr, die langsam sieht,
+ bis sie aus Güte gegen warmes Leid
+ die Heilandsmiene immer enger zieht.
+
+ Wenn der Pförtner dann die Tore schließt
+ und runden Angesichts von Männern lacht,
+ die draußen warten, hört er, wie es fließt
+ aus seligem Mädchenmund: »Es ist vollbracht!«
+
+
+
+
+Die Liebe spricht.
+
+Ein Spiel des Schmerzes auf der Straße am Krönungstag des Königs.
+
+
+Die Liebe spricht:
+
+ Auf allen Straßen staut sich königliche Pracht.
+ Horch, wie es jubelt, jauchzt und lacht!
+ Ich will, was sich bewegt fühlt auf den Straßen,
+ weg von der Leber reden lassen.
+ Vielleicht löst sich ein heller Schrei
+ aus einer dunkeln Kehle frei,
+ heut, da in königlicher Pracht
+ ach, alles jubelt nur und lacht.
+
+
+Das Spiel.
+
+Das Pflaster:
+
+ Besinnung ist an solchen Tagen schwer,
+ wenn alles Leben wirrer rauscht,
+ ich glaub, es ist ein Menschenalter her,
+ daß Schmerz sich wieder über Schmerzen bauscht.
+ Mich martert jeder Pferdehuf, der Tritt
+ der Menschen, der vertausendfacht
+ mich trifft, und niemand, niemand leidet mit,
+ ach, alles jubelt nur und lacht.
+
+Die Gäule:
+
+ Uns zwingt ein Hoflakai, uns schlägt der Strang,
+ Geschirr zwängt unsern Atem ein
+ und Zügel foltern uns den Weg entlang
+ vor einem fremden, goldnen Schrein.
+ Wir liefen lieber wild, statt unsern Schritt
+ zu opfern für den König, der die Pracht
+ genießt; wir leiden, niemand leidet mit,
+ ach, alles jubelt nur und lacht!
+
+Die Tannenzweige:
+
+ Wir lebten seliggrün am jungen Baum,
+ die Säge hatte keinen milden Zahn,
+ die schauerndkalte Schere keinen Traum,
+ wir fielen, drängten uns zu Kränzen an.
+ So sterben wir am wunden Schnitt,
+ wenn alle Straße lebt; das macht
+ uns traurig; ach, und niemand trauert mit,
+ ach, alles jubelt nur und lacht!
+
+Die Fahne:
+
+ Mich krümmt der Wind. (Umsonst scheint all mein Tun.)
+ Er foltert mich von Raum zu Raum,
+ und meine Sehnsucht, feierlich zu ruhn,
+ war nur ein falschgefaßter Traum.
+ Schon oft, weiß ich, daß ich am Galgen litt,
+ und stets hat sich mein Haß entfacht,
+ ich leide nur und niemand leidet mit,
+ ach, alles jubelt nur und lacht!
+
+Der Königswagen:
+
+ Ich schnaufte einst als Baum im Frühlingswind,
+ versteckte mich als Gold im harten Erz,
+ da formte mich ein gieriges Gesind
+ zum Wagen um und alle Lust zum Schmerz.
+ Nach freien Wäldern singt mein runder Schritt,
+ ich bin ein Sklave königlicher Pracht,
+ ich leide, niemand, niemand leidet mit,
+ ach, alles jubelt nur und lacht!
+
+Das Kind:
+
+ Wenn ich doch auch ein goldner König wär,
+ ich trüge Tag und Nacht die Perlenkron,
+ im goldnen Wagen reiste ich umher
+ und kaufte Schokolade und Bonbon.
+ Aber mein Schaukelpferd ist ohne Schritt,
+ aus dünner Pappe Helm und Geld gemacht;
+ ach, wenn ich König wär, ich lachte mit,
+ wenn alles jubelt, jauchzt und lacht!
+
+Die Mutter:
+
+ Wie blitzt verhöhnend jedes Bajonett!
+ Vielleicht durchblutet bald ein Krieg das Land;
+ ich sehe schon ein großes Schollenbett
+ und eine abgeschossne Jünglingshand.
+ Mein Sohn, mich schmerzt dein strenger Schritt,
+ der wehen Takt mit hundert andern macht;
+ ich bin so traurig, niemand trauert mit,
+ ach, alles jubelt nur und lacht!
+
+Der Vater:
+
+ Ich schaffte Münzen ein mit heißem Fleiß
+ und baute mir ein Nest am eignen Herd,
+ nicht eine Tagesstunde stockt der Schweiß,
+ es härtet sich die Hand die uns ernährt.
+ Ich fühl, wie jeder Steuerpfennig drückt,
+ der König aber fährt in goldner Pracht;
+ all meine Lebensfreude ist zerstückt,
+ ach, alles jubelt nur und lacht!
+
+Der König:
+
+ Ich nicke, weil ich dankend nicken muß,
+ ich fahre als ein Sklave durch den Tag
+ und meine Fahrt gleißt andern zum Genuß,
+ Gott weiß, wo die Pistole lauern mag.
+ Vielleicht ein Schuß im nächsten Augenblick --
+ im Blut ertrinkt die lügnerische Pracht:
+ Ich bin das einzig traurige Geschick,
+ wenn alles jubelt, jauchzt und lacht!
+
+Die Liebe spricht:
+
+ Habt, ihr am schwangern Jubeltag gehört,
+ wie jedes Herz sich aus dem Trug empört?
+ Daß jedes glaubt, es sei im Schmerz allein,
+ erlöst zu seinem eignen Seligsein,
+ weil jedes trachtet und nach innen ringt
+ daß auch in ihm die Lust der andern singt.
+ Im Schmerz lebt unerschöpfter seliger Sinn,
+ weil ich mit ihm in allen Dingen bin.
+
+
+
+
+
+End of Project Gutenberg's Gesänge gegen den Tod, by Gottfried Kölwel
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44271 ***